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]]> »is gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte Frankreich
eine aufs engste mit der nationalen Monarchie verbundn? Staats¬
religion, deren Bekenntnis für jeden französischen Untertan obli¬
gatorisch war, wenn er im Vollbesitz der bürgerlichen und der
I politischen Rechte leben wollte. Nur der zatholische Kultus war
öffentlich erlaubt. Die Herrschaft der Kirche stützte sich auf einen reichen feu¬
dalen Besitzstand; und wie sie die Gewissen lenkte, und wie alle Akte des sozialen
Lebens unter ihrer Botmäßigkeit standen, so nahm sie auch für sich das Recht
in Anspruch, in alle Staatsangelegenheiten einzugreifen, die öffentlichen Ein¬
richtungen und Anschauungen wie die privaten Sitten und Gewohnheiten zu be¬
herrschen. Um so merkwürdiger erscheint die plötzliche Umgestaltung der kirchlichen
Verhältnisse am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts. In dem seit der frühesten
Zeit dem Katholizismus treu ergebner, strenggläubigen Lande, das sich mit Stolz
die älteste Tochter der Kirche nannte und sich der Msta ohl xsr ?ran<zos rühmte,
wurde damals nicht nur die katholische Kirche ihrer bevorrechtigten Stellung auf
immer beraubt, sondern auch die Existenz des Christentums selbst in Frage ge¬
stellt. Innerhalb weniger Jahre gelangten die beim Beginn der Revolution
in ihrer großen Mehrheit keineswegs antiklerikalen Volksvertreter von fast
ängstlich bescheidnen Reformversuchen zur Verkündung der absoluten Kultus¬
freiheit, zur Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1794, endlich zur syste¬
matischen Entchristlichung des Landes und zu blutiger Glaubensverfolgung. Ein
Rückblick auf diesen Zusammenbruch der alten Einrichtungen und die religiösen
Kämpfe der Revolutionszeit scheint gegenwärtig von besonderm Interesse, da die
französischen Republikaner wiederum vor ähnlichen kirchlichen Fragen stehn, wie
sie schon einmal das Land in seinen Grundfesten erschüttert und auf den Ver¬
lauf der Revolution bestimmend eingewirkt haben. Waldeck - Rousseau sprach
einmal von „den zwei Frankreichs, die durch eine unüberbrückbare Kluft von¬
einander getrennt seien." In der Tat handelt es sich bei dem jetzigen franzö¬
sischen „Kulturkampf" nicht um ein Zurückweisen einzelner hierarchischer Übergriffe,
sondern um einen Prinzipienkampf auf Leben und Tod zwischen der katholischen
Kirche, die auf ihren altgewohnten Einfluß im öffentlichen und im privaten Leben
nicht verzichten kann und will, und den parlamentarischen Vertretern des „Frei-
denkertums," die Familie, Gesellschaft und Staat, unter ausdrücklicher Verwerfung
einer auf Gottesglauben beruhenden Weltanschauung, einzig auf den Gesetzen
der Vernunft aufbauen, den Staat — den ZZWt talauf — von jedem klerikalen
und religiösen Einfluß befreit wissen wollen. Hoch gehn die Wogen der Leiden¬
schaften; jede Partei denkt nur an die Vernichtung des Gegners, und auf beiden
Seiten fehlt es meist an wahrhaft freier, toleranter Gesinnung; die Vorurteile
sind verschieden, das Mißtrauen, die gehässige Verblendung in beiden Lagern
gleich. Unabsehbar und von der höchsten Bedeutung für die gesamte europäische
Kultur sind die Folgen dieses gewaltigen Kampfes, da von dessen Ausgang
hauptsächlich die politische Machtstellung des Katholizismus im zwanzigsten
Jahrhundert bestimmt werden wird. Die Wiedergewinnung einer auch politisch
einflußreichen Stellung in Frankreich als wirklicher „Volksreligion" — wenn
auch auf der breitesten demokratischen Grundlage — ist für den Katholizismus
beinahe eine Lebensfrage und darum wohl geeignet, Rom mehr als alles andre
zu beschäftigen. Gegenwärtig sind seine Verluste ungeheuer, und das kirchliche
Leben ist, trotz großartigen Anstrengungen zur Verteidigung, in weiten Kreisen
tief geschädigt, fast ausgerottet worden. Alle Siege anderwärts können aber
für Rom seine Einbußen in Frankreich, dessen Einfluß auch für die andern ro¬
manischen Länder so maßgebend ist, nicht ersetzen, da dieses, sein ältestes Herrscher¬
gebiet im Norden der Alpen, bisher noch immer die Vormacht der römischen
Politik, die Hauptstütze aller katholischen kirchlichen Werke gewesen ist. Ebenso
erscheint es als das einzige wirkliche Gegengewicht, das Rom der fortwährend
wachsenden Bedeutung der orthodox-orientalischen Kirche entgegenzustellen vermag.
Bei dem Zusammenbruch des römischen Weltreichs, als auch der letzte
lorbeerumkränzte goldne Adler Roms, der noch in Gallien der letzten Legion
zum Kampfe voranzog, den nordischen Barbaren zur Beute fiel, war dieses Land
zum größten Teil heidnisch: ante Narkinnin (Bischof von Tours, geb. 316,
geht. 400) xg.nei aclmocluui, Im» xsue vcmnulli in illis rsZionidus vornsn
vbrisri rsesxorrmt — berichtet Sulpicius Severus. Burgunder und Westgoten
bekannten sich zum Arianismus, und nur dem Wirken des Hilarius, des Bischofs
von Poitiers, geht. 366, war es zu verdanken, daß diesem nicht das ganze
Land zufiel. Die Bekehrung des fränkischen Gaukönigs, Chlodovech, geb. 466,
geht. 511, entschied endlich den Sieg des Katholizismus. Die weltklugen ka¬
tholischen Bischöfe, von denen viele den senatorischen und infulierten gallischen
Familien entstammten, in denen die Senatur in den Kurier der Städte wie
der Vischofstab von Geschlecht zu Geschlecht tatsächlich erblich war, erach¬
teten es der geistlichen Pflicht und der weltlichen Klugheit gleich entsprechend,
die treuesten Verbündeten des Merowing zu werden. Ohne Bedenken unter¬
stützten sie die vor keiner Freveltat zurückschreckende blutige Gewaltpolitik dieses
andern Konstantiuus mit aller ihrer Macht. Die mit Chlodovechs Hilfe be¬
gründete Staatskirche wurde während des Mittelalters durch grausame Ver¬
folgung aller Irrgläubigen — zum Beispiel der Albigenser — befestigt und
ausgebaut. Entsprechend der Lehre der ältern Kirchenväter: „Der Glaube darf
nicht aufgezwungen, freiwillig muß er angenommen werden" (Tertullian), wurde
zwar immer die Fiktion aufrecht erhalten, daß die Kirche nicht nach dem Blute
der Abtrünnigen dürste, aber der Herrscher verpflichtete sich, durch den weltlichen
Arm den Gehorsam gegen die Gebote der Kirche zu erzwingen und alle Greuel
der Ketzerei in seinem Reiche auszurotten. Die Aufhebung des Edikts von
Nantes bestätigte nochmals das enge Bündnis, das in Frankreich zwischen Kirche
und Staat bis zum Sturze der Monarchie bestand. Bei dem alljährlich am
15. August in der Notre-Damekirche in Paris zelebrierten feierlichen Hochamt
zur Erneuerung des Gelübdes Ludwigs des Dreizehnter, durch das dieser sein
Land und seine Krone der allerheiligsten Jungfrau geweiht hatte, waren die
Spitzen aller Staatsbehörden und der Armee vertreten. In Jahren des Mi߬
wachses und andrer schwerer Heimsuchungen ordneten die Parlamente selbständig
kirchliche Bittgänge und Bußprozessionen an oder ließen Reliquien — in Paris
die der heiligen Genoveva, der volkstümlichen Schutzpatronin der Hauptstadt —
zur Verehrung ausstellen.
Der Klerus war der erste Stand im Staate. Er führte alle standesamtlichen
Register, was ihm zum Beispiel Gelegenheit gab, allen kirchlich Mißliebigen,
unter anderen den Schauspielern, ein anständiges Begräbnis zu versagen. Die
weltliche Gewalt sorgte für die pünktliche Einhaltung der kirchlichen Vorschriften,
Beobachtung der vielen Feste und der Fasten. Die geringste Anfeindung kirch¬
licher Lehren verfiel dem Strafrichter. Und was wurde nicht alles als hierher
gehörend betrachtet! Ließ doch zum Beispiel der Bischof von Laon noch 1774
den Unterricht in der Physik am Gymnasium als dem Glauben gefährlich ver¬
bieten. Alle Stunde, besonders Beamte und Offiziere, wurden in der Er¬
füllung ihrer religiösen Pflichten streng überwacht. Für die Ketzer ersetzten im
siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert die Dragonaden, die Galeeren und die
Bastillen oder die Verbannung die Scheiterhaufen des sechzehnten Jahrhunderts.
Für ungläubige Schriftsteller, Spötter und Gotteslästerer blieben sie bis zum
Sturze des auoiku rs^uns erhalten, wurden auch häusig durch grausame Folte¬
rungen verschärft. Die kirchlichen Zuchtgesetze wurden mit wechselnder Strenge
angewandt. Unter Heinrich dem Vierten und Richelieu war die Regierung nach¬
sichtiger als unter Marie von Medici, Anna von Osterreich oder dem alternden
Ludwig dem Vierzehnten. Aber noch 1766 wurde zum Beispiel der Chevalier
de la Barre wegen Singens eines Spottliedes auf irgendeinen Heiligen und
wegen unehrerbietiger Haltung vor einem Kruzifix zum Feuertode verurteilt.
Wie in Toulouse alljährlich die Niedermetzelung der Hugenotten von 1562
kirchlich gefeiert wurde, so übernahm jeder französische Herrscher bei seiner Krönung
die eidliche Verpflichtung, sich ihrer Ausrottung zu weihen. Die grausamen
Verfolgungen der französischen Protestanten, wie man sie aller bürgerlichen Rechte
beraubte, auf die Galeeren schickte oder in die Verbannung trieb und ihre Pre¬
diger zum Tode verurteilte, sind allbekannt. Auf der kirchlichen Seite klagte
man über unerlaubte Toleranz, als nach dem Tode des „Sonnenkönigs" während
dreißig Jahren nur acht hugenottische Prediger gehängt oder gerädert worden
waren. Immerhin fehlte es sogar zu der Zeit der schlimmsten Verfolgung nicht
an einzelnen Beispielen von Toleranz, die aber von den Zeitgenossen oft nicht
verstanden wurden. Auch ein so freigeistiger Staatsmann wie d'Argenson er-
klärte sich in seinem allgemein hochgeschätzten Werk: «HonsictsrÄtions für 1s ^ou-
vernsrnent as ig. ?rg.no6 — ebenso wie der Philosoph Condorcet noch 1781 —
durchaus für die Ausschließung aller Nichtkatholiken von jeder Art staatlicher,
richterlicher, polizeilicher und finanzieller Ämter. Die meisten Philosophen der
Aufklärungszeit hielten eine bevorzugte Staatsreligion für durchaus unentbehrlich.
Montesquieu und I. I. Rousseau wagten nur eine engbegreuzte, kleinliche und
unvollkommne Toleranz zu empfehlen; erst gegen Ende seines Lebens erfreute
sich Voltaire in vertraulichen Briefen an der Hoffnung auf eine bessere, völlig
tolerante Zeit, die er nicht mehr zu erleben erwartete. Öffentlich aber vertrat er
bis zuletzt die Notwendigkeit einer Staatsreligion, wobei er freilich strenge Unter¬
ordnung der Geistlichkeit und aller kirchlichen Einrichtungen unter die Staats¬
gewalt forderte und Grundsätze aufstellte, die später in der unheilvollen von-
stiwtion olons co <A6rZ6 wiederkehrten und der Hauptanlaß zum Bürgerkrieg
und der grausamsten Glaubensverfolgung wurden. Bis zum Vorabend der Re¬
volution standen so der katholischen Kirche Frankreichs alle Machtmittel des
Staats zur Verfügung, die sie auch mit Zustimmung fast des ganzen Volkes
ungescheut und schonungslos gegen alle Gegner zur Geltung brachte. Ein be¬
sondrer Vorwurf kann ihr hieraus nicht gemacht werden, da jede Toleranz in
Religionssachen in jenen Jahrhunderten überhaupt nur als sündhafte Gleich-
giltigkeit erschien, und auch die Hugenotten, obschon sie Opfer der grausamsten
Verfolgung waren, sehr weit davon entfernt waren, in ihren eignen Gemeinden
Duldung zu üben.
Wenn die jahrhundertelang aufrecht erhaltne kirchliche Allgewalt für Frank¬
reich nicht so verhängnisvolle Folgen wie in andern Ländern, zum Beispiel in
Spanien, hatte, daneben auch die weltliche, staatliche Macht immer zur ge¬
bührenden Geltung kam, war es allein den großen Vorrechten und Freiheiten
zu danken, die die gallikcmische Kirche, hierin vor allen Ländern, besonders vor
Deutschland begünstigt, von alters her gegen die unumschränkte Machtvollkommen¬
heit des päpstlichen Stuhls behauptete. Ohne ihre gallikanische Eigentümlichkeit,
durch die sich hier ein so reiches, lebendiges, durchaus nationales Geistesleben
entwickelte, hätte die katholische Kirche Frankreichs weder jahrhundertelang ihre
vorherrschende Stellung in der absoluten Monarchie behauptet, noch so innig mit
dem Leben und Wesen der Nation verwachsen können, daß trotz aller Strenge
ihre Herrschaft nicht als unerträglicher Druck von den Massen empfunden wurde,
sondern bis zuletzt volkstümlich blieb. Dieselben Männer, die vor allem aus
patriotischen Gründen für die blutige Unterdrückung der Häretiker wirkten,
widerstanden andrerseits den Anmaßungen der Ultramontanen durch unerschütter¬
liche Verteidigung des Gallikanismus, der ein nationaler Protest gegen die
Übergriffe und die staatsrechtliche Allgewalt der römischen Kurie war — oder
wie Sainte-Beuve (?orr üoM IV, 332) sagte: „Der gallikanische Katho¬
lizismus war immer beschäftigt, sich gegen irgend etwas zu wehren: so hat
er der Reihe nach den Protestantismus, den Jansenismus und den Jesuitismus
abgelehnt." Der gelehrte Gul Coquille, der im siebzehnten Jahrhundert lebte,
erklärte ausdrücklich: „Diese Freiheiten bestehn darin, daß die Kirche von Frank¬
reich viele päpstliche Konstitutionen nicht angenommen hat" — also die Unfehl-
harten des Papstes verwarf. So mußten sie verschwinden, als die Kirche jene
zum Dogma erklärte. Aber noch nnter Karl dem Zehnten, dem letzten Bour-
boncnherrscher, traten getreue Royalisten und glaubensstarke Katholiken strengster
Observanz wie der Graf von Montlosier, der Herzog von Fitz-James und andre
öffentlich mit Begeisterung für diese alten Vorrechte der Kirche Galliens ein.
Durch die unermüdliche Minierarbeit der ultramontanen Partei sind in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die letzten Spuren dieser nationalen Eigen¬
tümlichkeit verschwunden, und die strikteste Disziplin im römischen Sinn ist durch¬
geführt worden, wenn auch in staatsrechtlicher Beziehung gewisse gallikanische
Vorrechte durch die sogenannten „Organischen Artikel" weiter bestanden, die von
Napoleon dem Ersten, als eigenmächtige Beifügung zum Konkordat von 1801
— feierlich verkündet am 18. April 1802 —, durch das Dekret vom 25. Fe¬
bruar 1810 zum Gesetz erhoben wurden. Bisher in Giltigkeit geblieben, werden
sie neuerdings von Pius dem Zehnten heftig angefeindet. Gerade die Kreise, die
sonst eine Menge veralteter Anschauungen und Vorurteile getreulich bewahrten,
aus Haß gegen die moderne Entwicklung das Alte über die Maßen verherrlichten
und es sich zur Ehre rechneten, überall als die eigentlichen Bewahrer der na¬
tionalen Traditionen des alten Frankreichs aufzutreten, haben es durchgesetzt,
eine Lehre völlig außer Geltung zu bringen, die während der ganzen Dauer der
Monarchie der geistige Mittelpunkt der katholischen Kirche in Frankreich, ihr
Stolz und ihre Kraft war und das festeste Band zwischen ihr und dem Volke
bildete. Man vergaß absichtlich die stolze Vergangenheit oder wollte sogar be¬
haupten, die „Bier Artikel" von 1682, in denen die Grundsätze der Gallikcmer
voll zum Ausdruck kamen, seien das alleinige Werk Colberts gewesen, und die
Versammlung des Klerus habe sich bei dieser Gelegenheit den Wünschen des
Ministers „lakaienhaft" unterworfen. Dagegen ist von gallikanischer Seite aus
öfters versucht worden, diese Freiheiten und Vorrechte auf die älteste Zeit, zum
Beispiel schon auf den heiligen Irenäus, seit 177 Bischof von Lyon und Vienne,
zurückzuführen. Auch Bossuet, ihr berühmtester Vorkämpfer, berief sich auf den
heiligen Bernhard und König Ludwig den Neunten, den Heiligen. In seinem
zur Zeit Heinrichs des Vierten verfaßten Werk, das noch im achtzehnten Jahr¬
hundert der berühmte Kanzler d'Aguesfeau als „das Palladium von Frankreich"
betrachtete, sagte Pater Pithou: „Unsre allerchristlichen Könige schwören bei ihrer
Krönung feierlich, diese schönen Rechte zu schirmen, und unverletzt erhalten zu
lassen das kostbare Palladium, das unsre weisen und frommen Vorfahren uns
mit viel Bemühen und tapfrer Tugend getreulich bewahrt haben, unter der Be¬
zeichnung der Freiheiten der gallikanischen Kirche."
Wenn sich diese Vorrechte gelegentlich bei der Kirchenpolitik der Regierung
förderlich erwiesen, so darf man sie doch nicht ohne weiteres als Hilfsmittel
des königlichen Absolutismus ausgeben. Wie sie der Negierung dazu halfen,
den übermäßigen Forderungen Roms und dem Anwachsen der Güter der „toten
Hand" zu widerstehn, die kirchliche Disziplin aufrecht zu erhalten, der Aus¬
breitung des Ultramontanismus und der diesem vorgeworfnen laxen Moral
— die als solche schon im Jahre 1700 von der gallikanischen Kirche aus¬
drücklich verurteilt wurde — entgegenzuwirken, vor allem auch die Rechte der
Bischöfe ebenso wie die der Pfarrgeistlichkeit zu schützen, deren Interessen die
Kurie öfters den von ihr allein abhängigen Bettelorden zu opfern geneigt war,
so wurden sie auch von dem Klerus oft erfolgreich den Übergriffen der könig¬
lichen Gewalt oder der Parlamente entgegengestellt. Weder Ludwig der Fünf¬
zehnte noch Ludwig der Sechzehnte wagten es, diese ihnen oft unbequemen,
aber volkstümlich-nationalen Grundsätze zu verleugnen. Ludwig der Sechzehnte
schrieb dem Papst am 7. Juni 1777: „Für treulos an seinem König und an
seinem Vaterlande würde ich den halten, der deren geringste Verletzung wagen
würde."
In der ersten Regierungszeit Ludwigs des Vierzehnten hätten die Galli-
kaner leicht ein Schisma herbeiführen können. Die „Deklaration" von 1682
erfolgte jedoch gerade zu dem Zwecke, solchen Extremen vorzubeugen, und wurde
nur deshalb von Bossuet so eifrig verteidigt. Auch haben gerade diese von
Rom oft schmerzlich empfundnen „gallikanischen Freiheiten" in ausschlaggebender
Weise dazu beigetragen, daß die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts in
Frankreich trotz den anfänglichen großen Erfolgen scheiterte, weil im Volke das
Bewußtsein lebte, in und durch sie jederzeit ausreichende Mittel und gesetzliche
Wege zu haben, Übergriffen der römischen Kurie zu begegnen, erkannte Mi߬
bräuche in der Kirche abzustellen, diese selbst, bei aller Wahrung der katholischen
Einheit, mit vaterländischen Geiste zu erfüllen und sie in die engste Verbindung
mit dem angestammten Königtum, den nationalen praktischen Bedürfnissen und
den idealen Zielen zu bringen. Fast scheint es deshalb, als ob mit der Ver¬
nichtung dieser Freiheiten aus der katholischen Kirche Frankreichs eine Macht
beseitigt worden sei, die wie keine andre geeignet war, alle Schichten des Volks
an ihre Herrschaft zu fesseln und diese wahrhaft volkstümlich zu erhalten.
Ihre von den weltlichen Gewalten gestützte bevorrechtigte Stellung mußte
jedoch die Kirche selbst mit hohen Opfern entgelten, und durch die gänzliche
Beimengung von Weltlichen und Geistlichen sah sie sich nur zu häufig zu un¬
würdigen Diensten und schweigender Duldung der schlimmsten Mißbrüuche ge¬
zwungen. Für das so vielfach maßlos bedrückte Volk erhob sich kaum eine
Stimme in kirchlichen Kreisen, die nur zugunsten des unbedingten leidenden
Gehorsams eintraten. Die Kirche vermochte darum auch nicht, wie es doch ihrer
hohen Mission entsprochen hätte, zu der Abstellung der furchtbaren Mißstände
beizutragen, die die ins ungemessene gesteigerte Königsmacht und die Laster¬
haftigkeit der letzten Ludwige hervorriefen, und so blieb diese verdienstvolle Auf¬
gabe allein dem kulturfördernden Wirken der Philosophen und der Enzyklopädisten
vorbehalten, gegen die sich als die Vertreter der politischen und der kirchlichen Frei¬
heit der fanatische Zorn der klerikalen Despoten richtete. Die vielfachen Eingriffe
der Kirche in das bürgerliche und das staatliche Leben führten natürlich die welt¬
lichen Behörden zu ebensolchen Eingriffen in die geistliche Domäne, sodaß während
der ganzen Dauer der Monarchie unaufhörliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen
beiden herrschten. Bei der Verleihung der geistlichen Pfründen setzten sich die
Könige oftmals über alle Bestimmungen der Konzilien hinweg und vergaben
die Abteien nach Gutdünken an durchaus unwürdige Personen, Heinrich der
Vierte und Ludwig der Vierzehnte zum Beispiel an die Verwandten ihrer
Maitressen. Diesem Vorbild ahmte der hohe Adel getreulich nach, belohnte
seine Diener und Kreaturen mit den geistlichen Pfründen und Würden oder
betrachtete diese nur als gute Versorgungsanstalten für seine Angehörigen, ganz
wie das bei den Fürsten in den protestantischen Ländern mit den Bischofsitzen
geschah. Jüngere Söhne des Hochadels übten als Bischöfe, Erzbischöfe und
Kardinäle, ohne je die Priesterweihe empfangen zu haben, dennoch in ihren
Diözesen mancherlei rein geistliche Funktionen aus, was viele nicht verhinderte,
den ausschweifendsten Lebenswandel zu führen, sogar das Heiligste in skandalöser
Weise zu profanieren. Auch viele der doch sonst aller bürgerlichen Rechte be¬
raubten „Nichtkatholiken" vornehmen Standes — die Bezeichnung als Pro¬
testanten oder Hugenotten war amtlich verpönt — verfügten als Patronats¬
und Lehnsherren über geistliche Würden und Güter. Andre wurden ganz
willkürlich durch die Parlamente vergeben. Auch zu polizeilichen Zwecken oft der
kleinlichsten Art forderten diese den Beistand der Geistlichkeit, und sie bestraften
jede Weigerung mit Gehaltssperre und Verbannung. Zwar verbot ihnen
Ludwig der Fünfzehnte Eingriffe in das geistliche Amt, sie verweigerten jedoch
den Gehorsam, weil die kirchlichen Angelegenheiten auch solche des Staats seien,
und eine Unterscheidung unmöglich durchzuführen wäre. Mit der königlichen
Zustimmung ließen sie Priester bestrafen, die Sterbenden wegen jansenistischen Irr¬
glaubens die Sakramente verweigert hatten, und zwangen sie trotz den Protesten
der Bischöfe „mit der Spitze der Bajonette" zur Unterwerfung. Die von dem
Klerus oft durch willkürliche Verweigerung der „Beichtzettel" ausgeübte
Tyrannei — eine Verweigerung, die für die Betroffnen auch im bürgerlichen
Leben schwere Schädigungen mit sich brachte — erregte so allgemeine Er¬
bitterung, daß das gewalttätige Vorgehn der Parlamente in der öffentlichen
Meinung gerechtfertigt erschien.
Schon im siebzehnten Jahrhundert machte die Negierung aus eigner
Machtvollkommenheit und ohne die Zuziehung der geistlichen Behörden ver-
schiedne Reformversuche auf kirchlichem Gebiete, besonders bei den Orden und
den Klöstern, deren Zahl sich immer mehr gesteigert hatte. Äbte und Äbtissinnen
übten eine so bedeutende Macht aus, daß sie oft mit Erfolg den Bischöfen, den
Parlamenten und den Königen opponierten. Viele Nonnenklöster waren sehr
freie, fast rein weltliche Niederlassungen, wie überhaupt die damaligen Klöster
in ihrer großen Mehrheit kaum nach dem hohen religiösen Ideal zu beurteilen
sind, das unsre Zeit als selbstverständlich und unerläßlich bei ihnen voraussetzt
und fordert. D'Argenson, der 1721 starb, hatte als Großkanzler unter andern
Reformen schon die Aufhebung aller feudalen Vorrechte der Kirche geplant,
und 1766 kam man auf dieses Projekt zurück. Es begann ein wahrer „Kultur¬
kampf," nur daß er nach der Gepflogenheit jener Zeit von den königlichen
Behörden mit einer Härte durchgeführt wurde, wie neuzeitliche „kultur-
kümpferische" Aktionen nichts ähnliches aufweisen. Zur Prüfung des Kloster¬
wesens ernannte der König eine Kommission, auf deren Bericht hin im
Jahre 1768 mehr als tausend Niederlassungen aufgehoben, und verschiedne
Orden ganz aufgelöst wurden. Auch unter Ludwig dem Sechzehnten setzte
diese Kommission ihre Tätigkeit fort, sodaß der Klerus 1780 erklärte, daß das
ohnehin durch den Geist der Zeit schwer geschädigte Ordenswesen bis in die
Wurzel erschüttert sei. Die hohen geistlichen Würdenträger in diesen Kom¬
missionen gingen um so schärfer gegen die Orden vor, als sie bei aller Aner¬
kennung ihrer Verdienste um die Kirche doch auch ihre Konkurrenz, besonders
in finanzieller Hinsicht, immer bitter empfunden hatten. Damals wie noch jetzt
waren die Interessen der Orden denen der Weltgeistlichkeit vielfach entgegen¬
gesetzt. Zwar gab es immer auch arme Klöster. Viele andre aber sammelten
durch die Tätigkeit ihrer Mitglieder, die doch als Einzelpersonen das Gelübde
der Armut abgelegt hatten, ungeheure Reichtümer an und beherrschten so die
Finanzen aller kirchlichen Werke. Ihr daraufhin fest begründeter Einfluß in
Rom sicherte diesen „Janitscharen der Kirche" immer neue Privilegien und Ab¬
lässe, die wiederum zu Quellen weiterer Einnahmen wurden. Auch klagten die
Pfarrer lebhaft über den schamlosen Handel mit falschen Reliquien, Ablässen
und Messen, womit die Kongregationen die Leichtgläubigkeit der Massen in
jeder Weise ausbeuteten. Hatten die Klöster, einst Oasen der Kultur und der
moralischen Schönheit, mildere, reinere Sitten in der feudalen mittelalterlichen
Welt verbreitet, den Bedrückten, vor allem dem weiblichen Geschlecht, Schutz
und eine Freiheit gewährt, wie sie in diesem eisernen Zeitalter außerhalb der
Klostermauern nicht anzutreffen waren, so trug ihr Einfluß später dazu bei, in
der Kirche rückschrittlich zu wirken, geisttötende Zeremonien und leeres Formel¬
wesen zu Pflegen und die Vorliebe besonders der ihnen eifrig ergebner Frauen¬
welt für allerlei unwürdigen Aberglauben zu fördern. Aus diesen und ähnlichen
Gründen wurde das Vorgehn der Regierung gegen die Klosterleute von der
Pfarrgeistlichkeit mit Zustimmung begrüßt.
Gewöhnlich schreibt man der kirchenfeindlichen Einwirkung der Enzyklopädisten,
die als Vorkämpfer einer neuen Ideenwelt schonungslos die Wunden der Zeit
aufdeckten, einen Hauptanteil an dem Zusammenbruch der katholischen Staats¬
religion in Frankreich zu. Selten ist in der Tat der Einfluß der Literatur
auf das Leben so gewaltig gewesen wie im „Zeitalter der Aufklärung." Wohl
fehlte es nicht an Frechheit und Flachheit, an Übertreibung und innerm Wider¬
spruch, aber der umgestaltende Einfluß der neuen aus England herübergebrachten
Popularphilosophie auf das gesamte Zeitbewußtsein war tonangebend für das
Leben und die Bildung aller übrigen Völker. Wie aber das Aufklärungszeit¬
alter erst in dem tiefen, reinen Menschentum Goethes und Schillers seine im
höchsten Sinne dichterische, idealste Vollendung fand, so war es freilich auch
erst der deutschen Wissenschaft vorbehalten, in späterer Zeit die überlieferten
Glaubenslehren mit gründlicher Gelehrsamkeit und aufrichtigem Ernst zu prüfen,
zu bekämpfen und auf ihre Grundwahrheiten zurückzuführen. Den franzö¬
sischen Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts waren sie dagegen fast aus¬
schließlich eine Sache des Witzes und des Hohnes gewesen. Als eine haltlose
Übertreibung aber erscheint es, daß von einer Seite, wo man auch jetzt
noch und lebhafter als jemals zuvor Lust zeigt, die Berechtigung dieser be¬
freienden Kämpfe von Grund auf in Frage zu stellen, der kirchliche Verfall
in Frankreich einzig oder doch hauptsächlich auf die Angriffe aus den Kreisen
der philosophierenden Literaten und Enzyklopädisten zurückgeführt wird. Der
Unglaube, den man dem Aufklärungszeitalter vorwirft, war weder so allgemein
verbreitet noch so tiefgreifend, als daß er solche Wirkungen hervorgebracht hätte.
Vor allem war er keineswegs etwas so neues, wie man oft behaupten hört.
Schon die mittelalterliche Vulgärpoesie, besonders die der romanischen Länder,
ist voll von unerhört frechen Verspottungen der Kirche, ihrer Mysterien und
Diener, das Haupt der Kirche nicht ausgenommen. Zahllos sind die Beweise,
daß die Moralität in jenen angeblich so glaubensinnigen Zeiten auf der tiefsten
Stufe stand, eine nie wieder erreichte Licenz in Sitten und Literatur herrschte.
Und als unter Ludwig dem Vierzehnten die Frömmigkeit Mode und für jede
Karriere unerläßlich war, eiferten alle berühmten Prediger gegen die herrschende
Heuchelei, die hinter einem frommen Äußern den schlimmsten Unglauben verberge,
schrieb Moliere seinen „Tartüffe" und erklärte Bourdaloue: „Die Großen
halten offne Schulen des Unglaubens und des Atheismus." Viele folgten
damit nur der Zeitströmung, ohne feste Überzeugung, und bauten wie die Frau
des Marschalls de la Meilleraye darauf, daß der Herrgott es sich doch sehr
überlegen werde, ehe er Standespersonen zur Hölle verdamme! Die meisten
Vornehmen huldigten schon im siebzehnten Jahrhundert der scharfen, nüchternen
Skepsis Montaignes, der in allen adlichen, gebildeten Kreisen mit Begeisterung
gelesen wurde. Bei allen Klagen über weit verbreiteten Unglauben und offne
Feindschaft gegen die Kirche läuft jedenfalls viel Übertreibung mit unter, wie
schon die lebhafte Teilnahme weiter Volkskreise an religiösen und moralischen
Streitfragen, die zu Staatsangelegenheiten aufgebauscht wurden, genügend be¬
weist. Angewidert von den mit größter Gehässigkeit geführten theologischen
Streitigkeiten wandten sich freilich nach und nach immer mehr Personen einem
gewissen skeptischen Freidenkertum zu, doch begnügten sie sich, Toleranz zu
fordern, und fanden, „daß wenn man die Religion lieben wolle, es nicht nötig
sei, die zu hassen und zu verfolgen, die ihr nicht anhingen, und deren Glauben
ein wenig von dem des Herrschers abweiche" — wie Montesquieu in den zuerst
im Jahre 1721 erschienenen I^ttros xe-rsimss schrieb.
Die „Philosophen" triumphierten zwar über die Vertreibung der Jesuiten,
scheinen aber kaum dabei mitgewirkt zu haben. Nicht philosophische, sondern
rein politische Gründe kamen zunächst in Betracht. Voltaire selbst hegte keine
Feindschaft gegen seine frühern Lehrer; er wie viele seiner Gesinnungsgenossen
fürchteten, daß der Sturz der Jesuiten nur den Einfluß der pietistischen Jan-
senisten fördern werde. Auf direkten Einfluß der neuen Weltanschauung und
Philosophie muß man wohl erst das im Jahre 1787 zugunsten der „Nicht-
katholiken" erlassene königliche Edikt zurückführen, das unter der Berufung auf
„das den Menschen eingeborne natürliche Recht" den nichtkatholischen Untertanen
eine beschränkte Duldung zusicherte.
Die nationale Kirche, mit allen öffentlichen und privaten Lebensäußerungen
aufs engste verwachsen, war noch am Vorabend der Revolution so volkstümlich,
daß trotz allen später auch von der Kirche zugestcmdnen Mißständen sich der
Zorn des Volkes zunächst nicht gegen sie wandte. In den „Cahiers" von 1789,
in denen die Provinzen ihre Forderungen zusammenstellten, erscheinen Reformen
auf kirchlichem Gebiet von geringer Wichtigkeit. In den meisten Cahiers sind
ihnen nur wenige Worte gewidmet, in andern fehlen sie gänzlich. Der Adel
und der dritte Stand hielten zum Klerus, da „ein Volk ohne Religion bald
ohne Sittlichkeit sein würde." Ein gewisser Zwiespalt bestand einzig wegen des
erwähnten Toleranzedikts, das sowohl von der hohen wie von der niedern
Geistlichkeit leidenschaftlich bekämpft wurde, während die beiden andern Stände
eher geneigt waren, es noch weiter auszugestalten. Aber über die bevorrechtigte
Stellung des Katholizismus herrschte völlige Übereinstimmung. Auch fernerhin
sollte allein der katholische Kultus öffentlich erlaubt, und die Kirchenlehre gegen
Angriffe strengstens geschützt sein. Andersgläubigen soll Toleranz nur so weit
gewährt werden, als sie sich ihrer maßvoll bedienen und die privilegierte
Stellung der nationalen Religion anerkennen. Wünsche, der Geistlichkeit die
standesamtlichen Register oder die Schule zu entziehn, werden nirgends laut.
Überhaupt sah man in den alten kirchlichen Traditionen und Gewohnheiten des
Landes nichts, was den Forderungen des neuen Geistes, der sich jetzt in der
Umgestaltung aller Staatseinrichtungen geltend machte, widersprochen hätte.
Auch erwies sich gerade der niedre Klerus als feste Stütze für die Sache des
Volkes, der er sich mit Begeisterung anschloß, und die er besonders unter der
Landbevölkerung durch seinen Einfluß mächtig förderte. Bei den großen patrio¬
tischen Festen galt darum seine Mitwirkung als unentbehrlich. Die Erstürmer
der Bastille stellten sich unter den Schutz der Mutter Gottes und erbaten für ihre
Fahnen die priesterliche Weihe. Nach dem Siege zogen sie in feierlichen Pro¬
zessionen — am 24. August und am 14. September — zum Heiligtum der
Schutzpatronin von Paris, der heiligen Genvveva ein Modell der Bastille
darzubringen. In den Jahren 1790, 1791, 1792 und sogar noch 1793
wurde in Paris das Fronleichnamsfest mit altgewohnter Prachtentfaltung, unter
großer Beteiligung auch der Behörden, begangen. Die Sitzungen der Kon¬
stituante und der Legislative fielen aus. Die erste nahm nicht nur an den
Prozessionen, sondern sogar an allen kirchlichen Feiern der Oktave vor dem
Fest teil. Noch im Mai 1793, als schon die Jakobiner triumphierten, präsen¬
tierten die Pariser Nationalgarten vor den das Viatikum tragenden Priestern
und begleiteten sie zu den Kranken. Nach wie vor erließen die städtischen Be¬
hörden Bestimmungen über das geweihte Brot, den Verkauf von Eiern in der
Fastenzeit usw. In dem von der Pariser Gemeindeversammlung — Commune —
1790 am Schluß ihres Maubads über ihre Tätigkeit herausgegebnen offiziellen
Bericht wird unter ihren Verdiensten um die Allgemeinheit ausdrücklich hervor¬
gehoben, „daß die Versammlung, überzeugt von der Notwendigkeit des Glaubens
und der Heiligkeit der katholischen Lehre, keine Gelegenheit versäumt habe, feier¬
lich und inbrünstig alle die sich hieraus für sie ergebenden kirchlichen Pflichten
fromm zu erfüllen." Auch die neue Wahlversammlung ließ ein feierliches Hoch¬
amt in Notre-Dame abhalten. Die revolutionären Führer waren zu dieser,
ihrer innern Überzeugung wohl sehr wenig entsprechenden, Haltung gezwungen,
weil fast das ganze Volk treu zum alten Glauben und zur Kirche hielt, so
lange es überzeugt blieb, daß diese ihm in seinem Kampfe gegen die unhalt¬
baren Einrichtungen einer verrotteten Monarchie in Treue zur Seite stünde.
Um so lvilder entflammte sein Haß, als es später in der „Priesterpartei"
den Hauptgegner der neuen Staatsordnung zu sehen veranlaßt wurde. Das ein¬
stimmige Zeugnis vieler hervorragender Zeitgenossen, wie der Madame de Stae'l,
Tocquevilles, des Grafen Lanjuinais, des Herzogs Decazes, Georg Forsters,
des Abgeordneten von Mainz, und andrer mehr bestätigt, daß gerade die eifrigsten
Vorkämpfer des aneisu rsZiius einen Hauptanteil an der Entfesselung der
wilden, revolutionären Volksleidenschaften hatten, weil sie so am ehesten eine
Gegenrevolution herbeizuführen hofften. Die Prälaten selbst. hatten in der
revolutionären religiösen Verfolgung das sicherste Mittel erkannt, die niedere
Geistlichkeit von der Volkssache loszulösen und für ihre politischen Zwecke zurück¬
zugewinnen. Diese geistlichen und weltlichen „Scharfmacher" waren der Kirche
ebenso verhängnisvoll wie dem Königtum und tragen die Hauptschuld an vielen
der furchtbaren Greueltaten, die man gewohntermaßen vor allem der atheistischen
Philosophie oder dem jakobinischen Fanatismus zuschreibt. Deshalb fand später
der royalistische Graf Montlosier, daß die ganze Revolution einem Selbstmord-
gleichkäme, und daß die schlimmsten Feinde des Königtums die Royalisten ge-^
Wesen seien. „Für Gott und seine Kirche" kämpften aus ehrlicher Überzeugung
in den von provinzialem Sondergeist erfüllten, trutzigen Städten des Südens
wie auch auf den blutigen Feldern der Vendee wohl die Bauern und die kleinen
Leute aus dem Bürgerstand, aber viele der Führer leitete, bei aller helden¬
mütigen Begeisterung für die Sache ihres unglücklichen Königs und obersten
Lehnsherrn, doch zunächst der auf sehr egoistischen persönlichen Gründen be¬
ruhende fanatische Haß gegen die neue Staatsordnung und Verfassung. Und
als die eifrigsten Verteidiger von Thron und Altar spielten sich unter ihnen
nun gerade die hohen geistlichen Würdenträger auf, deren skandalöses Lotter¬
leben und zynischer Unglaube früher den Unwillen aller wahrhaft frommen
Katholiken erregt hatten. „Im Namen Gottes wird das gläubige Volk von
Leuten aufgehetzt, schrieb voll Entrüstung Andree Chenier, die sich in laster¬
haften Ausschweifungen erschöpft haben, jetzt aber schreien, daß es keine Religion
mehr gäbe." Ein allgemein hochgeschätzter, keineswegs liberaler Geistlicher, der
Abbe Emery, Superior der berühmten geistlichen wissenschaftlichen Anstalt von
Saint-Sulpice, schrieb 1795 an einen geistlichen Freund: „O hätte man sich
doch einzig oder doch wenigstens hauptsächlich mit den Angelegenheiten Gottes
beschäftigt! Sie würden entsetzt sein, wenn Sie Zeuge wären, bis zu welchem
Grade verderblich für die Religion die Voreingenommenheit gewisser Persön¬
lichkeiten ist, die ganz von den Anschauungen der Gegenrevolutionäre beherrscht
sind, und für die die Religion anstatt Endzweck nur ein Mittel zum Zweck ist."
So wurde im ganzen Königreiche die tiefwurzelnde Religiosität des Volkes von
fanatischen Priestern gänzlich in den Dienst der extremsten Gegenrevolution,
gestellt, bis dieses politische Bündnis dem Christentum selbst zum Verderben
gereichte, und bis eine blutige Verfolgung über die Kirche hereinbrach, wie sie
sie seit den Tagen der römischen Imperatoren kaum ähnlich wieder zu erleiden,
gehabt hatte. Ebenso trug nach der Rückkehr der Bourbonen der Versuch, das
alte staatsrechtliche Verhältnis wiederherzustellen, viel zum Sturze des legitimen
Könighauses bei und machte diesen Sturz für die Kirche 1830 zu einem fast
vernichtenden Schlage. Zwar hatte Graf Lanjuinais schon 1819 in der Kammer
sagen können: „Was sehen wir jetzt, wo der Katholizismus wieder Staats¬
religion geworden, und es ihm erlaubt ist, seine Reichtümer und politischen
Vorrechte ohne Beschränkung wieder einzunehmen, die vormals seinen Klerus
verderbt hatten? Die frühere Intoleranz hat ihr abscheuliches Haupt wieder
erhoben, der Ultramontanismus, der Aberglaube und die Unwissenheit eilen ihr
zu Hilfe. Man scheut sich nicht, unsre weisesten Staatsgesetze anzufeinden."
Aber trotz allen Bemühungen der reaktionären Machthaber ließ sich das Alte
nicht wieder herstellen. Die Charte erkannte die verschiednen Bekenntnisse an,
die protestantischen Geistlichen erhielten staatliche Besoldungen, eine Staats¬
religion gab es nur noch dem Namen nach. Die Revolution hatte das Werk
der mittelalterlichen Staatskunst für immer vernichtet. Von nun an unterschied
man streng das weltliche und das geistliche Gebiet und schritt trotz vielfachen
Reaktionen immer weiter auf das Ziel der modernen französischen Gesellschafts¬
entwicklung zu: eine Staatsordnung, deren Einrichtungen, Gesetze, Schule und
bürgerliche Moral von jeder Art theologischen und priesterlichen Einflusses
vöPg frei und abgeschlossen sein sollen. Diese vollständige Laisation, deren
Folgen für die Zukunft des französischen Volkes von höchster Bedeutung sind,
und neben der die formelle Trennung von Kirche und Staat, wie sie nur
eine Frage der Zeit ist, fast nebensächlich erscheint, ist auf so vielen Gebieten
des öffentlichen Lebens, auch in der Schule schon, durchgeführt und eingebürgert
worden, daß auch eine politische Reaktion hierin wenig mehr ändern würde.
Jahrhundertelang mit der alten Monarchie innig verbunden und unter
ihr eine bevorzugte Stellung einnehmend, verfiel der französische Klerus in den
begreiflichen Fehler, die Religion ganz in den Dienst der alten Parteien zu
stellen und im Liebäugeln mit deren politischen Zielen die Massen des sich
demokratisch entwickelnden Volkes zu vernachlässigen. Während noch 1848 die
Pariser Arbeiter das Kruzifix im Triumph durch die Straßen trugen und die
„Freiheitsbüume" von Bischöfen und Priestern einweihen ließen, viele Republi¬
kaner getreue Katholiken waren, beruht jetzt die Republik auf dem entschiedensten,
ausdrücklichen Gegensatz zum Katholizismus. Eine lange Reihe politischer
Fehler hat den einstigen großen Einfluß der Kirche auf die breiten Massen des
Volkes vernichtet, sodaß es ihr zum Beispiel auch bisher nicht geglückt ist, eine
„katholische Partei," ähnlich dem deutschen Zentrum, im Parlamente zu bilden.
Jedenfalls aber haben zu diesem für die Kirche so beklagenswerten Ergebnis
die „weißen Ultras" fast noch mehr als die roten beigetragen.
Die französische Geistlichkeit nimmt durch ihre Bildung, geistige Regsamkeit,
eifrige, wahre Frömmigkeit und begeisterte Hingebung an ihren hohen Beruf einen
Ehrenplatz in der katholischen Welt ein. In der schweren Schule, die sie unter den
wechselnden Regierungen durchgemacht hat, ist sie freier von Engherzigkeit und
Unduldsamkeit geworden, und Beispiele klerikaler hochmütiger Überhebung sind
äußerst selten. In materiell meist sehr armseliger Lage, ist sie sich wohl be¬
wußt, daß ihr Einfluß nur auf der persönlichen Tüchtigkeit, der sittlichen Makel¬
losigkeit, der strengen Disziplin und der patriotisch-vaterländischen Gesinnung
ihrer Mitglieder beruht. Bezeichnend für sie scheint aber ein Ausspruch des
Kardinal-Primas der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu sein, der beim
Anblick Vertriebner französischer Ordensleute diese armen Opfer der kirchenfeind¬
lichen Politik bedauerte, doch hinzufügte: „Wie sehr werden sie sich umwandeln
müssen, wenn sie bei uns mit Erfolg wirken wollen!" Wenn die geplante
Trennung von Kirche und Staat, wie sie wahrscheinlich die Aufhebung oder
doch die Milderung der jetzigen sehr weitgehenden staatlichen und kommunalen
Bevormundung der Kirche einschlösse, zugleich auch für den Klerus die definitive
Lösung von den kirchenpolitischen Idealen einer unwiderbringlich entschwundnen
Zeit bedeutete, so könnten die von den Gegnern der katholischen Kirche gehegten
Pläne dieser wohl zum Heil gereichen und sie unter dem Regime der Freiheit
und der Selbständigkeit auch im republikanischen Frankreich einer neuen Blüte¬
zeit und glänzenden Machtentfaltung entgegengehn, da durch die gegenwärtigen
Kämpfe eine Zunahme der „katholischen Republikaner" alten Schlages nicht
ausgeschlossen erscheint. Das absolute, patriarchalische Regiment aber hat in
katholischen und in protestantischen Ländern die Religion oft den schlimmsten
Schädigungen ausgesetzt, während die Freiheit, wie im neuzeitlichen England,
oder die Trennung zwischen weltlichen und geistlichen Gewalten, wie in ver-
schiednen europäischen und überseeischen Staaten, gerade für die katholische Kirche
überall nur die wohltätigsten Folgen gehabt hat, wie jeder Vergleich der Ver¬
>cum man, wie wir, MißHelligkeiten mit England als eine uner¬
freuliche Erscheinung ansieht, so ist man gleichwohl, ja vielleicht
noch mehr genötigt, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und
seine Schlüsse daraus zu ziehn. Und eine Tatsache ist es eben,
Idaß die englische Politik zurzeit kein Ziel so beharrlich verfolgt
wie die Errichtung einer Bündnispolitik unter Isolierung Deutschlands. Mögen
dazu auch manche sehr wohl vermeidbaren Fehler in einem Teile der deutschen
Zeitungen beigetragen haben, indem sie die argwöhnische Stimmung gegen uns
immer steigerten und dem schon gereizten Gegner Stoff lieferten, uns vor
andern Nationen anzuschwärzen: jetzt haben wir es mit Umständen zu tun,
die auch für die maßgebend sind, die sich vorher um ihre Abwendung die
größte Mühe gegeben haben. England ist nun einmal von einem seine ganze
Politik leitenden Mißtrauen gegen Deutschland erfüllt. Es ist unberechtigt,
dies allein auf unsre wachsende Flotte zu schieben. England hat eine fran¬
zösische Flotte entstehn sehen, die noch dann die deutsche, wenn unser Bauplan
durchgeführt sein wird, übertrifft, die jedoch der englischen weit näher kam, ehe
diese neuerlich stark ausgedehnt wurde. Es hat sich dadurch nicht beunruhigt
gefühlt. Auch die russische Flotte war im Verhältnis zu der frühern englischen
Seemacht weit bedeutender, als die unsrige es in Zukunft sein wird. Obgleich
nun Rußland der traditionelle Gegner Englands war, mit dem es einen Ent-
scheidungskampf um Indien und Ostasien führen zu müssen erwartete, hat es
sich niemals um dessen Seerüstung aufgeregt. Auch als der Zweibund entstand
und damit die Möglichkeit eines Krieges der ersten Seemacht gegen die
Koalition der zweiten und der dritten Macht am Horizont erschien, hörte man
nichts davon, daß sich England um die Sicherheit seines Heimatbodens sorge.
Gegenwärtig geht die amerikanische Kriegsflotte mit Riesenschritten einem An¬
wachsen auf den zweiten Platz im Range der Seemächte entgegen. Der
Marinesekretür Taft hob es in seinem Jahresbericht rühmend hervor, daß für die
amerikanische Marine mehr Schiffe vom Stapel gelaufen seien als für irgend¬
eine andre auf der Welt. Das rührt England nicht, obgleich der Panamerikanis-
mus und der Imperialismus manches bedrohliche für das britische Reich ent¬
halten. Amerikas Macht liegt in seinen materiellen Hilfsmitteln; sie sind um
so furchtbarer, als diese reiche Nation von 80 Millionen Einwohnern kein
nennenswertes stehendes Heer zu unterhalten braucht. Deutschland wendet
jetzt an dauernden und einmaligen Ausgaben für seine Kriegsflotte 229 Millionen
auf, England 850. Wenn Deutschland zu höhern Zahlen gelangen sollte,
würde England unfehlbar ansteigen. Aber Deutschland ist durch seine ganzen
materiellen Verhältnisse, durch die Notwendigkeit, 645 Millionen Mark auf
sein Heer zu verwenden, der Möglichkeit von Mehraufwendungen, die gegen
die britischen Summen irgend etwas verschlügen, gänzlich entrückt. Die Ver¬
einigten Staaten können das, aber nicht gegen sie wenden sich britische Be¬
sorgnisse, sondern gegen Deutschland.
Es müssen ethische Gründe sein, die zu einem so befremdenden Geistes¬
zustand geführt haben. Und eben hier ist der Punkt, wo man auf deutscher
Seite, namentlich in der Presse, große Fehler gemacht hat. Doch nicht darauf
wollen wir heute näher eingehn, sondern auf die nunmehr entstandne politische
Situation.
Solange noch Nußland in dem Nimbus einer übergewaltigen Großmacht
dastand, der in Asien kaum ein ebenbürtiger Gegner entsteh» könnte, und von
deren Entschlüssen vielleicht die Karte Europas abhinge, mußte England auch
immer die Möglichkeit in Frage ziehn, daß es in einem Kriege mit Rußland
Deutschland auf seiner, der englischen Seite habe. Zwar hatte unser Vater¬
land von jeher mit Recht alle Versuchungen abgelehnt, sich auf ein britisches
Bündnis einzulassen, bei dem uns die Aufgabe der Deckung Indiens zuge¬
fallen wäre, ohne daß wir an England einen von schwankenden Parlaments¬
mehrheiten unabhängigen Mitstreiter gehabt hätten. Aber es hätte doch recht
wohl sein können, daß eine aus andern Gründen ins Rollen kommende An¬
gelegenheit Deutschland und England auf dieselbe Seite geschleudert hätte.
Solange Rußlands Macht unerschüttert dastand, durfte sich England keinem
solchen Gegensatz gegen den nächsten Nachbar Rußlands hingeben, den einzigen,
der es mit der Landarmee des Zaren aufnehmen konnte. Auch verfügte bis
zu dem Ausbruch des ostasiatischen Krieges Rußland gleichsam über Frank¬
reich mit, weil dieses noch immer auf den Revanchekrieg hoffte. Vor dem
ostasiatischen Kriege war Frankreich in Händen Rußlands, sodaß eine Politik,
den Zweibund zu sprengen, als ganz aussichtslos gelten mußte.
Man hat oft darauf hingewiesen, daß der Krimkrieg, der so wenig an
der Karte Europas änderte, die Ursache der folgenreichsten Umgestaltungen
wurde. Die Einigung Italiens, die Besiegung Österreichs und Frankreichs
durch das sich einigende Deutschland wurden möglich dadurch, daß Kaiser
Nikolaus der Erste die Rolle eines Schiedsrichters in Europa verlor. Ob
der ostasiatische Krieg so weit in die Ferne wirkt, muß man abwarten. Einige
bedeutsame Folgen sind schon erkennbar. Als sich Rußland im Kampfe mit
Japan festbiß, als es den Krieg unter so unglücklichen Auspizien eröffnete,
mußte Frankreich die Hoffnung auf seine Partnerschaft bei der großen Ab¬
rechnung mit Deutschland sinken lassen. Diesen Augenblick nahm England
wahr und unterbreitete dem Nebenbuhler eines halben Jahrtausends einen
Verständigungsplan, worin Marokko die Hauptrolle spielte. England zielte auf
einen hohen, doppelten Zweck. Einmal wollte es den Zweibund sprengen,
und sodann wollte es sich aus seiner europäischen Isolierung befreien, es wollte
Frankreich zu sich herüberziehn, um ein Bündnis gegen andre Gefahren zu
gewinnen.
Es heißt immer, England habe bei dem Vertrag an sich das günstigere
Los gezogen, weil es Ägypten erlangt habe, während Frankreich bestenfalls
das weit weniger wertvolle Marokko erwerbe, vielleicht aber dieses sich ent-
gehn lassen müsse. Ob Marokko weniger wertvoll ist, bleibe dahingestellt.
Als die beiden Mächte den Vertrag schlössen, nahmen sie an, daß die Er¬
werbung sachte und ohne Aufhebens vor sich gehn und keiner Störung unter¬
liegen werde. Aber es ist falsch, daß England erst dnrch den Vertrag in den
Besitz Ägyptens gelangt wäre. Es war dort längst doux xosssssor und hätte
sich nicht daraus vertreiben lassen. Die formelle Anerkennung des Besitzrechts
durch Frankreich war ein Gewinn von nicht allzu hohem Belang. Dagegen
opferte England mit Marokko viel. Es bekam zum Nachbar auf der andern
Seite der Straße von Gibraltar eine Großmacht; die Verpflichtung, Tanger
nicht in einen Kriegshafen zu verwandeln, stand doch immer nur auf dem
Papier. Ebenso die Verpflichtung, für dreißig Jahre den Freihandel zu be¬
wahren. Was sind dreißig Jahre im Völkerleben!
England zahlte diesen hohen Preis, um einen hohen Gegenwert dafür zu
erlangen. Es wollte Frankreich der russischen Umarmung entreißen und es
an seine eigne Brust ziehn. Nur teilweise ist ihm das gelungen. Die Voll¬
ständigkeit des Erfolges scheiterte nicht so sehr daran, daß Frankreich noch
immer auf Rußland hoffte, als daß ihm das Bündnis gegen Deutschland doch
etwas gewagt vorkam. England mußte, um den Wert seines Bündnisses zu
steigern, alles aufbieten, Marokko dem deutschen Widerspruch zum Trotz in die
Hände Frankreichs zu bringen. Je schwerer die deutsche Einsprache wog, um
so wertvoller mußte den Franzosen die englische Hilfe werden, vorausgesetzt
daß schließlich das Ziel erreicht wurde. Es mußte den Briten daran liegen,
Frankreich und Deutschland zu entzweien, um Frankreich desto fester an sich zu
fesseln. Darin sind die Regierung und die öffentliche Meinung Hand in Hand
gegangen. Durch die eilige Ablehnung der voni Sultan angeregten Konferenz
hat die Regierung bewiesen, daß sie gänzlich im Fahrwasser der Times segelt.
Es wäre für England eine Verschiebung der Dinge von der allergrößten
und vorteilhaftester Bedeutung gewesen: Rußland äußerlich besiegt und innerlich
schwer erschüttert und vielleicht am Rande der Revolution, Frankreich aus dem
russischen Bündnis gelöst und zum Eintritt in ein britisches bewogen, Deutsch¬
land auf das durch die nationalen Kämpfe gelähmte Österreich-Ungarn an¬
gewiesen, Italien, immer das unsicherste Element des Dreibundes, halb für
Frankreich gewonnen. Dieses schöne Ziel sollte den britischen Staatsmännern
aber noch nicht vergönnt sein. Es fand unerwarteterweise Widerstand an
Frankreich, dem das marokkanische Geschenk zugedacht war. Ein witziger fran¬
zösischer Schriftsteller sagte von diesem: „Ein Korb Champagner ist ein hübsches
Angebinde, aber wenn man ihn in den Bärenzwinger stellt, so wird der Wert
stark reduziert." Frankreich hätte sich Marokko unter dem Nachteil eines
Konflikts mit Deutschland holen müssen, denn dieses wollte nicht auf seine
international verbürgten Meistbegünstigungsrechte verzichten.
Ohne die Einsprache Deutschlands hätte Frankreich Marokko davongetragen.
Keine andre Macht hätte protestiert. Nun denke man sich einmal den Schrei
der Entrüstung, der, dirigiert von dem englischen Taktstock, durch die ganze
Welt gegangen wäre, wenn Deutschland die Hand nach dem Atlaslande aus¬
gestreckt hätte! Da hat man an einem greifbaren Beispiel den Nachteil, den
wir davon haben, daß ein Teil der deutschen Zeitungen die odiose Rolle des
chauvinistischen Mciulheldeutums, durch die sich bis 1870 die Franzosen aus¬
gezeichnet hatten, auf das so wenig prahlsüchtige deutsche Volk gebracht hat.
Den Franzosen sitzen die Erfahrungen von 1870 noch im Wege. Sie
sind viel klüger geworden. Sie haben auch sehr wohl die Rolle des Ramm¬
bocks begriffen, die England ihnen zugedacht hatte. Sie wären es gewesen,
die unter allen Umständen die Macht Deutschlands Hütten fühlen müssen, die,
je nach dem Ausgang eines etwaigen (übrigens doch kaum denkbaren) Kampfes,
die Kosten hätten tragen müssen. Wenn die Sache des westmächtlichen Bünd¬
nisses schief gegangen wäre, so hätte England immer den Vorteil davon ge¬
tragen, die deutsche Kriegs- und Handelsflotte vernichtet, Deutschlands Handel
gestört, sich aus seinen Kolonien das Beste angeeignet zu haben. Frankreich
würde dann den Deutschen eine Entschädigung haben verschaffen müssen. Die
Wahrscheinlichkeit eines umgekehrten Ganges der Dinge schien den Franzosen
nicht groß genug, als daß sie den Tanz hätten wagen mögen. Das ist
immerhin ins Gedächtnis zu nehmen, obwohl niemand glauben wird, daß die
Franzosen in ihrem innersten Charakter anders geworden wären. Bei einer
glücklichern Kombination werden sie doch der Versuchung, uns zu überwältigen
und uns Elsaß-Lothringen wieder abzunehmen, nicht widerstehn können.
Noch fester sollten wir uns allezeit einprägen, daß England jetzt von
feindseligen Gesinnungen gegen uns erfüllt ist. Die Marokkofrage wird vorüber¬
gehn, das Schaumspritzen kleiner Hetzreden und Hetzartikel wird vom Gange
der Tagesereignisse abhängen. Bleiben wird auf absehbare Zeit der ernste
Umstand, daß nicht nur Frankreich, sondern auch England auf jede Möglich¬
keit einer uns nachteiligen Kombination bauen werden; um sie auszunutzen.
Deutschland muß und wird nach jeder Richtung auf seiner Hut sein. „Ver-
trauet auf Gott und haltet euer Pulver trocken," sagte Oliver Cromwell.
Dem stimmen wir vollkommen zu und knüpfen nur noch die Mahnung an
Leute, deren allzu heißes Blut mit der notwendigen Kühle des Kopfes nicht
vereinbar ist, daran: Bedenket, daß auch Bismarck die Vorsicht nie außer
Augen ließ! Von den kleinen Zänkereien und Stänkereien wollte auch er
nichts wissen.
^^?^F-U
-^E?er römische Geschichtschreiber Tacitus glaubt aus der Unwirklich¬
keit des von unsern Vorfahren bewohnten, von unermeßlichen
Wäldern und Sümpfen bedeckten Landes schließen zu müssen, daß
die Germanen Ureinwohner seien, denn „wer möchte wohl, so
meint er in seiner »Germania«, ganz abgesehen von den Gefahren
des grausenhaften und unbekannten Meeres, Asien, Afrika oder Italien verlassen
und nach Germanien ziehen, in jenes anmutlose Land von so rauhem Klima
und zum Bewohnen und fürs Auge nur für den nicht traurig, dessen Vater¬
land es ist." Der ausdauernde Fleiß der Bewohner hat die dem Sohne des
heitern Südens einst unheimlichen weiten Gebiete längst zu einem der gesegnetsten
Länder Europas gemacht; sogar in den rauhesten Strichen des Erzgebirges und
des Vogtlands, deren finstre Wälder und schwer zu durchdringendes „Gemörricht"
noch zu der Zeit des Schmalkaldischen Krieges den Spaniern in Kaiser Karls des
Fünften Umgebung das tiefste Mißfallen erregten, hat sich seit langen, eine hohe
und eigentümliche Kultur entwickelt, und auch die ernste Schönheit beider Land¬
schaften, die man noch vor einem halben Jahrhundert mit ungeheuerlicher Über¬
treibung das „sächsische Sibirien" zu nennen liebte, wird mehr und mehr erkannt
und gewürdigt. Und gerade deshalb, weil hier der Boden nur dem liebevollen,
zähen Fleiße seine Schätze bietet, ist dem Vvgtländer und dem Erzgebirger seine
Heimat doppelt ans Herz gewachsen. „Mit meinen Landsleuten, sagt der Vogt-
ländische Dichter Julius Mosen in seinen schönen »Erinnerungen«, habe ich
immer die Anhänglichkeit an die heimatliche Erde des Vogtlands gemeinsam
gehabt. Wie es Menschen gibt, von welchen man, hat man sie einmal liebge¬
wonnen, nie wieder lassen kann, so geht es uns auch mit Ortschaften und Gegenden.
Es sind gewöhnlich solche, in welchen sich eine bestimmte Gemütsstimmung aus¬
drückt. Zu diesen gehört das vogtländische Hügelland an der Abdachung des
sächsische» Erzgebirges mit seinen Waldeinsamkeiten, in welche gar schmale Wiesen-
tüler, oft nur wie grüne Streifen, mit hier und dort weit, gar weit auseinander¬
liegenden kleinen verirrten Häusern sich hineinverlieren und stundenweit den Blick
nach sich ziehn, als müßte dort weit hinten in der Ferne unter den harz¬
tropfenden Tannen, dort, wo die Berge terrassenartig in dunkler Bläue empor-
steigen, irgendein Geheimnis verborgen sein, das uns an sich lockt und sich uns
gern enthüllen möchte. Und wie klar und hell eilen aus dem dunkeln Grunde
die plätschernden Bäche herunter, immer mit sich sprechend wie Kinder, welche
etwas in einem fremden Hause bestellen sollen und den Auftrag unterwegs sich
oft laut vorsagen, um ihn nicht zu vergessen, bis sie ihn wirklich vergessen haben
und nun zwecklos weinend am Wege stehn." Seine Heimat, deren „melancho¬
lisch träumenden Charakter" er mit so dichterischer Beseelung zu schildern ver¬
stand, hat Mosen nie vergessen können. Das Heimweh, nach Wilhelm Raabe
„die Quelle aller Poesie," hielt ihn in seinem Bann. Zahlreich sind die Stellen in
seinen Schriften, in denen er mit rührender Sehnsucht der Wälder und der Höhen
seines geliebten Vogtlands gedenkt, so in den Novellen „Heimweh" und „Is-
mael" in den „Bildern im Moose," in „Georg Venlot." „Aus der Fremde,"
aus Oldenburg, wohin der Einundvierzigjährige im Jahre 1844 als Dramaturg
des Hoftheaters berufen wurde, läßt er das schwermütige Lied erklingen:
Fern von der Heimat hat der liebenswürdige Sänger am 10. Oktober 1867
nach langjährigem schwerem Siechtum die letzte Ruhe gefunden. Zwei Fichten
aus dem geliebten Vogtländischen Walde rauschen über seinem Grabe.
Auch ich, nicht gar weit von Mosers Geburtsort Marieney in einer der
höchstliegenden und rauhesten Gegenden des Vogtlands geboren und aufgewachsen,
hänge mit ganzer Seele an der Stätte, wo meine Wiege stand, denn sie ist meine
Heimat. Der große Römer hat feinsinnig zu verstehn vermocht, warum man
auch ein von der Natur wenig begnadetes Land so herzlich lieben kann.
Das sächsische Vogelart ist bekanntlich nur ein Teil des historischen Vogt¬
lands an der obern Saale und Elster, der alten tsrra g,ävoog.eorum, die seit
dem zwölften Jahrhundert in den erblichen Besitz der Reichsvögte gekommen
war. Von den Vögten, die es im Namen des Kaisers regierten, hat das
Vogelart seinen Namen erhalten. Im Jahre 1569 wurde es mit Kursachsen
vereinigt. Es umfaßte ursprünglich die jetzigen sächsischen Amtshauptmannschaften
Planen, Ölsnitz und Auerbach, die reußischen Fürstentümer, das altenburgische
Amt Ronneburg, den Sachsen-weimarischen Kreis Ziegenrück, das bayrische Be¬
zirksgericht Hof mit dem Regnitzlande und die böhmische Herrschaft Asch (Neu¬
berg), die noch im achtzehnten Jahrhundert den reichsunmittelbaren Herren von
Zedtwitz gehörte. Meine schlichten Betrachtungen werden sich nicht mit diesem
ganzen Gebiete beschäftigen, sondern nur mit einem kleinen Ausschnitt, der Um¬
gebung meines Geburtsorts Ebmath, wo das sächsische, das bayrische und das
böhmische Vogelart zusammenstoßen. In dem kleinen böhmischen Orte Kaiser¬
hammer, eine gute halbe Stunde von meinem Heimatdorfe, berühren sich die
drei Grenzen, und mit Stolz und Befriedigung wird dem Fremdling der von
einem erlenumsäumten Bächlein durchflossene Wiesengrund gezeigt, auf dem die
Beherrscher der drei Länder, jeder auf seinem eignen Grund und Boden, sich
um einen Tisch zum Mahle niederlassen könnten.
Ebmath, ein Bauern- und Weberdorf, das gegen dreihundert Einwohner
in etwa fünfzig „Nummern" hat, liegt unmittelbar an der böhmischen und eine
Stunde von der bayrischen Grenze entfernt in der Amtshauptmanuschaft Ölsnitz,
an der alten Straße von Ölsnitz nach Asch, zwischen Adorf und Hof, über
sechshundert Meter hoch auf der Hochebne des westvogtlündischen Höhenrückens,
der sich vom Fichtelgebirge her allmählich zum Elstertal herabsenkt. Die blauen
Linien des Fichtelgebirges, den Frankenwald, den seit kurzem mit einem statt¬
lichen Bismarcktürme gekrönten Hainberg bei Asch, das Schönecker Plateau und
die Höhen des reußischen Landes habe ich von meinem Vaterhause aus täglich
vor Augen gehabt. Ein in Ebmath entspringender Bach, im Volksmunde der
„Schwammeböch" genannt, der sein klares Wasser nach kurzem Laufe in die
Regnitz und mit ihr zur Saale führt, trennt Sachsen vom „Kaiserlichen," das
ist Böhmen. Äcker, Wiesen und Wald und die von dem Kamme des Höhen¬
rückens herabschauenden kleinen Häuser auf dem linken, südlichen Ufer des
Schwammebachs gehören zu dem volkreichen böhmischen Marktflecken Roßbach,,
Ortsteil Einöd <Ann-ed)*) und zu der ebenfalls böhmischen Gemeinde Gottmanns¬
grün, im Volksmunde „die Wuschtumm" genannt, das ist wohl „Wüstung,"
wüste Mark. Eine Ortsbezeichnung „uff der Wustuben" südlich von Hof „bei
Eppenreuth" ist mir auch in den Kirchenbüchern der Stadt Hof vom Jahre 1650
entgegengetreten. Nach einem königlich böhmischen Lehnbriefe vom Jahre 1716
gehörte zu dem einst reichen Besitz der hochadlichen Herren von Zedtwitz auch
das Dorf Gottmannsgrün „oder die Wüsten." Den Namen Wnstung führt
eine Gastwirtschaft am Kleinen Kornberg im Fichtelgebirge. Der wie der
Schwammebach auf Ebmather Flur entspringende Triebelbach mündet unterhalb
der Stadt Ölsnitz in die Elster, die Ebmather Hochebne bildet also die Wasser¬
scheide zwischen Saale und Elster. Die Nähe der österreichischen Grenze und
die schützenden Wälder begünstigen das „Paschen," insonderheit den Viehschmuggel^
dem, wie böse Menschen behaupten, besonders einige Nachbardörfer trotz dem
geringen Verdienst mit liebevoller Hingebung obliegen. Etwas sittlich Verwerfliches
sehen die Männer und die Jünglinge, die diesem von zahlreichen „Grenzgegern"
beeinträchtigten Nahrungszweige huldigen, meines Wissens nicht, und sie würden
sicherlich auch die Erklärung des nach seiner Ableitung dunkeln Zeitwortes
„paschen" in dem „Etymologischen Wörterbuche" Friedrich Kluges, der es als
ein „Gaunerwort" bezeichnet, ohne tiefere Gemütsbewegung lesen.
Unsre Zeit, die jede Eigentümlichkeit wegzutilgen und alles gleichzumachen
strebt, erfüllt den Freund von des Volkes Art und Sitte mit schmerzlichem Be¬
dauern über das unaufhaltsame Dahinschwinden der letzten Reste der Volks¬
altertümer und Volksüberlieferungen. Noch gilt das Dorf als eine Heimstätte
der „guten alten Zeit," aber auf wie lange noch? Täglich sehen wir auch hier
die alte Herrlichkeit mehr und mehr zusammenschrumpfen, und bald wird „mit
dem letzten echten Bauernrock auch das letzte echte Bauernhaus verschwunden
sein." Die alten malerischen Höfe mit ihrer Schindel- oder Strohdachung werdeu
immer mehr in kahle, zweistöckige Steinbauten mit Schieferdach umgewandelt;
schlimme Feinde des alten Bauernhauses sind die Brandversicherung mit ihren
architekturverwüstenden Vorschriften und die Überredungsgabe städtischer, das
platte Land bereisender Baumeister. Auch die prächtigen alten Truhen und
Schränke mit ihrer unverwüstlichen bunten Malerei werden meist nicht mehr ge¬
schätzt, man überstreicht oder zerschlüge sie; „mir is a fetter Schöfhämel lieber
wie sedes alls Zeig!" sagte mir ein Fleischer und Gastwirt in einem bayrischen
Dorfe an der Grenze. Burschen und Mädchen tragen jetzt auch in meiner Heimat
städtische Kleider, und die Jugend arbeitet in den Fabriken der benachbarten
Städte. In meinen jungen Jahren habe ich noch Flachs und Hanf brechen
und Frauen und Mädchen in ihren derben „vierschkftigen" Röcken, in den mit
bunten Fransen geschmückten Kopftüchern die selbstgesponnene Leinwand bleichen
sehen. Aber der alte Spruch: „Selbstgespvunen, selbstgemacht ist die beste
Bauerntracht" hat keine unbestrittne Geltung mehr, die modischen städtischen
Fähnchen und Hüte von wunderlichem Geschmack dringen immer siegreicher vor.
Auch mancher Brauch aus den Tagen der Väter ist dahingeschwunden. An den
langen Herbst- und Winterabenden ging man oft zum Nachbar „dutzen"; die jungen
Leute beiderlei Geschlechts, die Mädchen mit dem Spinnrad oder dem Strick¬
strumpf, kamen zur Rockenstube zusammen: die trübe Beleuchtung, die die Nüböl-
lampe oder wohl auch hier und da noch der qualmende Lühhut spendete — eine
mit Schleißen oder Kienspäneu gefüllte eiserne Pfanne mit einem trichterförmigen,
den Rauch aufsaugenden Hute darüber —, wurde keineswegs schmerzlich empfunden.
In der Rockenstube wurden die alten Volkslieder gesungen, je schwermütiger
desto lieber; in ihnen war nach meiner Erinnerung viel von Scheiden und Meiden,
Sterben und Verderben die Rede. In einer räuchrigen und nach dem Grund¬
satz: „Besser derstickt wie derfrörn" wohl kaum jemals aus sanitären Gründen
ernsthaft gelüfteten Bauernstube habe ich als Junge solchen zwanglosen Zu¬
sammenkünften einigemal unter andachtsvollen Schauern beigewohnt. Der
freundliche Lühhut — meines Wissens schou damals, vor vierzig Jahren, einer
der letzten seines Stammes in meinem Heimatdorfe — liegt jetzt, gerettet aus
dem Brande, der das malerische hölzerne alte Bauernhaus mit mehreren andern
verzehrt hat, unter altem Gerümpel und wird hoffentlich demnächst in dem
Museum für sächsische Volkskunde in Dresden seine Auferstehung feiern. In
dem benachbarten böhmischen Gottmannsgrün hat noch vor zwanzig Jahren der
Lühhut seines Amtes gewaltet, und noch heute werden dort einige freilich
nunmehr in den Ruhestand versetzte Exemplare dieses in den Sammlungen selten
zu findenden altvogtlündischen Hausgerätes aufbewahrt. Die zinnernen Rüböl¬
lampen und die Lichtputzen aus dem Urväterhausrat, mit denen ich in meiner
Jugend noch vertraut war, sind zum größten Teile verschwunden. Das behagliche
Schnurren der oft uralten Spinnräder ist fast ganz verstummt. Die Rockenstuben
find vou der Polizei, die kein Verständnis für ihre Poesie und für die „Rocken¬
philosophie" (vgl. Rudolf Hildebrand, Gesammelte Aufsätze und Vortrüge usw.
Leipzig, 1890. S. 115ff.) hatte, längst verboten worden, aus Gründen der Sittlich¬
keit, aber ich kann nicht finden, daß sich diese seitdem wesentlich gehoben hätte.
Auch anderwärts hat man ähnliche Beobachtungen gemacht; so sagt ein treff¬
licher Kenner des Volkstums im Spreewalde: „Wo noch ein Nest der alten
Spinnstuben oder des gemeinsamen Strohflechtens das Zeitalter polizeilicher und
pastoraler Verfolgung überdauert hat, erweist er sich als ein Hort feinerer Ge¬
sittung." (Otto Eduard Schmidt in den Grenzboten 1904, S. 231.) Auch
der Tanz im Freien unter der alten Dorflinde auf der „Brück," einem aus
glatten Brettern zusammengefügten, mit Maien und Fichten geschmückten und
auf starkem Gebälk ruhenden Tanzplatz von ansehnlichem Umfang, wie ich ihn
noch als Student, die ländlichen Schönen im vogtlündischen Volkstanze, dem
Dreher, „auswechelud," erlebt habe, ist der sittehütenden Polizei zum Opfer
gefallen. Diese besonders im bayrischen Vogtlande (vgl. Ludwig Zapf sMünch-
berg^j, Altdeutsche Sommerlust im Vogelart: Unser Vogelart, 4. Band f1898^,
S. 126ff.) beliebten „Brucktänze," die oft mehrere Tage dauerten, waren der
letzte Nachklang der alten Sonnwendfeste, der Maientänze, die man in der Zeit
der vollentwickelten Schaffenskraft der Natur festlich beging. Verschwunden sind
auch nach und nach die besonders im Bayrischen und im „Kaiserlichen" häufigen
niedrigen hölzernen „Tanzböden," auf denen bei einer oft ohrenzerreißenden Musik
der Jüngling, ein dickes wollnes Tuch um den Hals und die kurze Pfeife im
Munde, sein mit der „Kappen" geziertes Haupt mit zärtlichem Gefühl anlehnte
an das der kopftuchgeschmückten Jungfrau, die in der ererbten, um den Hals
geschlungner langen Silberkette mit Schloß prangte. Die oft mit reicher Stickerei
verzierten stattlichen „Buckelhauben" sind vor einem halben Jahrhundert be¬
sonders im Bayrischen noch in Gebrauch gewesen. Auch den „Spenzer," eine
kurze Jacke mit oben sehr weiten, nach der Hand zu enger werdenden Ärmeln,
habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.
Sonntags ging man in das altertümliche, noch Reste des romanischen Bau¬
stils und bunte Deckenmalerei aufweisende Kirchlein des eine halbe Stunde ent¬
fernten Pfarrdorfes Eichigt zum Gottesdienst. Frauen und Mädchen trugen
hierbei auf ihrem meist recht umfangreichen Gesangbuch das zierlich gefaltete
weiße Schnupf- oder Wischtüchel — das im übrigen nur Schaustück war und,
im Verlauf der Wochentage wenigstens, nicht abgenützt wurde — und oft einen
Blumenstrauß, worin der stark duftende, von den Katzen leidenschaftlich begehrte
Ug,rinn vsrnm uicht fehlen durfte. Dieser Strauß, der, wenn Bedarf vorlag,
auf der Kirchenbank von einer Beterin zur andern weitergegeben wurde, wirkte
im Verein mit dem noch heute seines Amtes waltenden Klingelbeutel leben¬
weckend auf die Frauen, die von der harten Berufsarbeit, dem ungewohnten,
geheimnisvoll düstern, kühlen Raum und von der eindringlichen Predigt des
Pfarrers in gleichem Maße angegriffen waren. Der die Kirche umgebende
Friedhof ist von einer alten, aus dem vierzehnten Jahrhundert stammenden
Mauer umgeben. Daß in der Eichigter Pfarre so viele noch amtierende Pfarrer
gestorben sind, hat nach dem Volksglauben seinen Grund darin, daß man einst
bei der Erbauung des Pfarrgebäudes Grabsteine mit vermauert hat.
Betrachten wir uns die vom Schweiße der Ahnen getränkte Scholle etwas
näher.
Über den Ursprung ihres Heimatortes machen sich wohl die wenigsten
meiner Dorfgenossen ernstere Gedanken. Ebmath ist ein echtes deutsches Wald¬
hufendorf. Die Deutschen pflegten bei der Besiedlung im Gegensatz zu den
Slawen den Grund und Boden in handtuchförmigen Streifen zu verteilen, die
in der Regel nicht breiter als ein bis zwei Ackerbreiten waren, gerade hinreichend,
eine Bauernfamilie zu ernähren und vier bis acht Stück Vieh zu halten. Ebmath
ist eine deutsche Gründung, wie die Dörfer der nächsten Nachbarschaft; die
rauhen Höhen meiner Heimat hatten für die slawischen Sorben, die bis in das
neunte Jahrhundert das ganze westliche Vogelart mit einer Menge (über hundert)
dicht nebeneinander liegender Ortschaften bedeckten, wenig Verlockendes, sie sie¬
delten sich mehr in dem untern (mittlern und nördlichen) Vogelart und in den
Flußtülern an, so im Elstertal, wie die zahlreichen Orte auf -itz, -Witz, -an
andeuten. Seit der Mitte des elften Jahrhunderts werden das östliche und das
südliche Vogelart dicht mit deutschen Waldhufendörfern bedeckt, die Blütezeit
der deutschen Besiedlung füllt in das dreizehnte und das vierzehnte Jahrhundert.
Die Frage, welche deutschen Stämme mit Axt und Feuer das Vogelart kolonisiert
und die schon vorhandnen Sorben nach und nach aufgesogen oder verdrängt
haben, ist noch nicht genügend geklärt; die einen, so Max Schmidt (Zur Ge¬
schichte der Besiedlung des sächsischen Vogtlandes. Beilage zum 7. Jahres¬
bericht der Städtischen Realschule zu Dresden-Johannstadt, 1897), nehmen vor¬
wiegend bayrische Besiedlung an, andre, so Emil Gerbet (Die Mundart des
Vogtlandes. Jnaugurnl-Dissertation, Leipzig, 1896), verfechten mehr die ost-
frünkische Herkunft und nehmen erst an zweiter Stelle bayrische und thüringische,
im Norden des Gebiets sächsische Herkunft der Vogtländer an.
Ebmath, mundartlich J-enet, erscheint 1328 urkundlich als „Dorf zu Eben¬
ode," 1378 als Ebinod, 1499 Ebnode, d. i. Ebenheit. Noch auf den Ho-
mannschen Karten des achtzehnten Jahrhunderts wird es Ehren genannt; die
Form Ebinod in der Urkunde vom Jahre 1378 wurde fälschlich Ebmod gelesen,
und die Behörden haben, wie es auch sonst nicht selten vorkommt, diese falsche
Form festgehalten, daher das falsche in in der heutigen Schreibweise. Ein Dorf
desselben Namens, nur in der richtigen Form Ebnat und also wohl angelegt
von Siedlern desselben Stammes, finden wir in der Oberpscilz, südöstlich von
Kcmnath, und zwei Orte Ebmath, Ebmet im nördlichen Böhmen im Egerlande.
Ein hochliegendes Dorf Ebnat liegt im württembergischen Jagstkreis und ein
Ehret in Baden.
Dieselbe Wurzel -öde wie in Ebenode, Ebinod tritt uns entgegen in dem
Namen des zwei Stunden nordwestlich von Ebmath liegenden Dorfes Dröda, 1279
urkundlich „zue der Oede." Daß die meisten unsrer Ortsbezeichnungen ursprünglich
Dative sind, oft mit Präposition, dafür liefern außer Dröda noch einige Orts¬
namen meiner Heimat den Beweis. Unser Pfarrdorf Eichigt heißt im Volks -
munde Möglich oder Mäglet,*) d, i. im Eichenwald, im Eichigt. Meßband bei
Planen, d. i. im Espich. M'r gänge no „die" Pöstleiten: nach Pabstleithen,
einem Dorf bei Ebmath. Untereichigt heißt im Volksmunde noch heute „das
Loch," wie in der Urkunde vom Jahre 1328 „zue dem Loche." In den ältern
Körnerausgabeu ist ein Brief Theodor Körners aus dem Jahre 1813 datiert
„im Biwak vor Auhigt zwischen Plauen und Hof" statt „Eichigt." Körner
hatte wohl Aichigt geschrieben mit fehlendem oder undeutlichem I-Punkt, und
so ist durch einen Lesefehler Auhigt entstanden. Unter der schönen alten Pfarr¬
linde, unter der der junge Freiheitssänger und Held nach der Überlieferung
damals gesessen hat, habe ich in meiner Jugend mit den mir befreundeten Söhnen
des Pfarrers und des Kautors so manches fröhliche Spiel gespielt.
Die Dörfer in der nähern Umgebung von Ebmath sind deutschen Ursprungs:
Eichigt, Bergen, Gettengrün (Grün eines Getto: 1295), das Kruckenhaus bei
Obertriebel („die Höllkrucken"), Haselrain, Grünpöhl und Höllensteg, Tiefen¬
brunn mit den Ortsteilen Oberwieden, Unterwieden, Birkigt, Kugelreuth, Gräben
im Tal, Hammerleithen und Stockhaus, Pabstleithen, Burkhardtsgrün, Neubram-
bach, Süßebach, Sachsgrün, Hasenreuth, Loddeureuth, Weidigt, Freiberg, das
bayrische Faßmannsreuth, vielleicht auch Triebel bei Ebmath. Auch die benach¬
barten böhmischen Orte haben deutsche Namen: Roßbach, Gottmannsgrün mit
dem. Kaiserhammer, Kirchbrünnlem, Ziegenrück, Neuberg, Krugsreuth, Steinvöhl,
Thonbrunn, Grün, Pfannenstiel, Rommersreuth, Ottengrün, Steingrün, Frieders-
reuth, Wernersreuth u. a. Eine Stunde westlich von Ebmath beginnen die
Orte mit slawischen Namen: Prex, Nentzschau, Raitzschin, Trogenau, Regnitz-
Losau; vielleicht ist auch das sächsische Grenzdorf Posseck („die Possig") slawischen
Ursprungs. Schluß folgt)
I on Strindberg hatte ich bis vor kurzem nur einige Kleinigkeiten
gelesen, die ich in Zeitschriften fand. Aus Zeitungsberichten
hatte ich erfahren, daß er Weiberfeind sei und seit einigen Jahren
daran arbeite, die Chemie im Sinne der Alchemisten zu refor¬
mieren. Jetzt erscheint nun bei Hermann Seemann Nachfolger
in Leipzig eine deutsche Gesamtausgabe seiner Schriften, unter Mitwirkung
von Emil Schering vom Verfasser selbst veranstaltet. Schering fügt der
Anzeige das Motto bei: „Die Eindeutschung August Strindbergs ist meine
Lebensaufgabe," Von dieser neuen Ausgabe hat mir auf Scherings Wunsch
der Verleger sieben Bände und Bändchen zugeschickt. Da die meisten Grenz-
botenlescr wahrscheinlich meinen Geschmack teilen und für die skandinavische
„Moderne" nicht gerade schwärmen, so werden auch viele von ihnen Strind¬
berg noch nicht gelesen haben, und diesen wird es vielleicht angenehm sein,
wenn ich ihnen von dem merkwürdigen Vogel ein paar Federn vorlege. Zu
einer gründlichen und allseitigen Würdigung des Mannes befähigen mich die
sieben Hefte nicht, denn das Verzeichnis seiner Schriften enthält vierzig
Dramen, neun Bände Romane und Novellen, einen Band Gedichte, vier
Bünde „Autobiographisches" und fünf Bände „Wissenschaftliches." Aber
etwas mehr als Stichproben bedeuten die sieben Werke doch wohl, da sie vom
Bearbeiter und Verleger selbst ausgewählt sind.
Es sind darunter zwei Dramen: Erich XIV. und Die Nachtigall
von Wittenberg. Aus ihnen erkennt man schon, daß Strindberg ein wirk¬
licher Dichter ist. Sie sind geschickt aufgebaut, die spannende Handlung schreitet
im straffen, prägnanten Dialog rasch vorwärts, die Personen charakterisieren
sich in ihren Worten und Handlungen deutlich mit wenigen kräftigen Zügen,
und in dem historischen Trauerspiel ist der Untergang des Helden gut motiviert,
was freilich insofern keine Kunst war, als der Dichter zu diesem Zweck uur
die geschichtlichen Tatsachen wiederzugeben brauchte. Erich, ein schöner, be¬
gabter, gelehrter und in den schönen Künsten geübter Mann, aber hochmütig
und jähzornig, folgte seinem Vater Gustav Wasa 1560, erfreute sich der Gunst
des Volkes, aber verfuhr auf den Rat seines „Prokurators" Göran Persfon
hart mit den Großen und mit seinem verräterischen Bruder Johann, ließ
dessen gefangne Freunde im Gefängnis ermorden und erzürnte den Adel
außerdem noch durch die Vermählung mit einer schönen armen Bürgertöchter,
Karln (Katharina) Mansdotter, die ihm schon zwei Kinder geschenkt hatte.
Im Jahre 1568 wurde er von seinem Bruder und Nachfolger überwältigt, zu
lebenslänglichem Gefängnis verurteilt und nach erlittner grausamer Behand¬
lung 1577 vergiftet. Die plötzlichen Stimmungsumschlüge, durch die Erich
unfähig zur Regierung erscheint — tolle Wutausbrüche und Grausamkeiten
wechseln mit Anfällen von Sentimentalität und mit demütigen Bitten um
Verzeihung —, hat der Dichter seinen historischen Vorlagen entnommen. Aber
unmotiviert und auch für das Stück nicht vorteilhaft erscheint es, daß er die
liebenswürdigen Eigenschaften des Königs zu wenig zeigt und ihn gleich von
Anfang an in seinen grundlosen Zornausbrüchen, seinem Argwohn und Ver¬
folgungswahn als den halben Narren darstellt, der er erst durch schreckliche
Erlebnisse geworden ist. Strindberg führt die Handlung nicht bis zum Tode
des Unglücklichen fort, sondern läßt den Vorhang schon nach seiner Gefangen¬
nehmung fallen. Interessant, wenn auch vielleicht nicht streng historisch, ist
die Charakteristik des Prokurators. Der arme Mann erledigt, ohne Besoldung
zu fordern, die Staatsgeschäfte in der Koch- und Wohnstube seiner Mutter.
Mildherzig und weichmütig, gewährt er ohne selbstsüchtige Nebenabsicht einem
armen jungen Weibe und dessen Kinde Obdach, läßt aber im Interesse des
Königs und des Staates, wie er es versteht, ohne Bedenken und Gewissens¬
skrupel die Großen abschlachten. Den Vetter und Liebhaber der königlichen
Maitresse möchte er retten, da aber dieser die Karln nicht aufgeben will, läßt
er ihn in einen Sack stecken und ersäufen, was ihn nicht mehr aufregt, als
wenn der Fähnrich ein neugebornes Hündlein gewesen wäre.
Das Lutherschauspiel führt uns eine Reihe von Bildern vor, die über
einen Zeitraum von dreißig Jahren verstreut liegen, trägt aber trotzdem den
Charakter eines Dramas: wir sehen Luther keimen, werden und siegen. Als
den Zeitpunkt des Sieges, mit dem das Stück schließt, hat Strindberg sehr
gut den Augenblick gewählt, wo Luther auf der Wartburg erfährt, daß das
Wormser Edikt wirksam geblieben, und beinahe ganz Deutschland ihm zuge¬
fallen ist. Und auch das beweist ein seines historisches Verständnis, daß der
Doktor Johannes, alias Faust, der ihm die Nachricht bringt, ihn zugleich
nach Wittenberg ruft, damit er dort dem Unfug der wiedertäufcrischen Schwarm¬
geister secure, die sein Werk gefährden. Denn damit begann Luthers kirchen¬
gründende Tätigkeit, die zu der bisherigen zerstörenden im Gegensatz zu stehn
schien, während doch die scheinbare Zerstörung zugleich eine Schöpfung ge¬
wesen war. „Das Kind ist geboren, spricht Faust; erzieht es jetzt! Das ist
eine lange und mühsame Arbeit." Sehr wirksam sind die beiden Szenen in
Luthers Vaterhause. Mit der ersten beginnt das Stück.
Mo, Iiaso, too, Genitivus iisjus.
Martin:
Jakob (sein Bruder): Ilujus heißt es.
Martin: So steht es hier, aber es muß falsch sein, da es heißt is, sg,, la. Geni¬
tivus 0M.
Jakob: Du mußt Imju» sagen, Martin, weil es so im Buche steht.
Martin: Ich sage es doch nicht, ich will nicht, daß es Iiuius heißt, ich will nicht!
Jakob: Dann kriegst du wieder Schläge, Martin.
Martin: Die kriege ich doch, auch wenn ich meine Aufgabe kann.
So sehen wir, wie sich der Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn des Knaben
im Widerstande gegen Ungerechtigkeit und Mißhandlungen zum unbezwing¬
baren Trotz verhärtet. Auf der Flucht von Worms kehrt Luther ins Vater¬
haus ein, zum Scheine Labung und Obdach suchend. Der Vater wünscht ihm
den Galgen und sagt ihm, er solle zur Hölle fahren.
Luther: Bravo! Ich möchte deine Hand fassen!
O schäme dich !
Vater: Luther: Wie der Vater, so der Sohn!
(lächelnd): Vater Meiner Treu, ich glaube, du bist mein Sohn. Die Faust her!
Um alle Größen der Zeit in packenden Auftritten zusammenbringen zu
können, ist Strindberg mit der Chronologie und mit den Ereignissen ganz
willkürlich umgesprungen. Für Aufführungen bei evangelischen Vereins- und
Gemeindefesten, die doch einen halb religiösen Charakter tragen, ist das Stück
leider nicht zu gebrauchen, weil Strindberg als Realist modernen Stils die
Nachtseiten des Zeitalters unverhüllt zeigt. So beklagt Hütten in einem Liede
seine bekannte Krankheit; und das geht doch nicht, mag auch die letzte Strophe
lauten:
Die Schweizer Novellen sind schön dargestellte Zeitbilder, das heißt
Bilder von dem, was Leute wie Strindberg an unsrer Zeit interessiert. Die
erste, Neubau, hat sozialistische Tendenz. Zwei alte vermögende Schwestern,
die eine Witwe, die andre ledig, nehmen eine arme Nichte zu sich und lassen
sie studieren, damit sie ihre unbefriedigten Tanten an den Männern räche.
Sie sehnt sich aus ihrem von den beiden Drachen bewachten Gefängnis hinaus
und freut sich auf die Freiheit, die ihr das Studium an der Universität
bringen wird. Sie studiert Medizin, aber die akademische Freiheit enttäuscht
sie. Das Leben der Schweizer Studenten und Studentinnen, namentlich der
aus Rußland, wird Strindberg wohl wahrheitsgetreu geschildert haben. Noch
weniger bringt ihr die ärztliche Praxis die Freiheit, besonders da sie die ver¬
bitterten Tanten mit durchschleppen muß, die ihr Vermögen verloren haben.
Eine Anstellung in Gobius Familistere beschert ihr endlich verhältnismäßige
Unabhängigkeit und den geliebten Gatten. Es ist der Assistent, der ihre
Laboratoriumarbeiten geleitet hat, und der klug und rechtschaffen genug ge¬
wesen war, sich von ihr zu trennen, ehe sie zusammen die Dummheit begingen,
zu der sie bereit war. Godin ist keine fingierte Persönlichkeit. Er hat sich
vom armen Arbeiter zum Besitzer von Gruben, Hütten und Fabriken in Frank¬
reich und Belgien emporgeschwungen und 1862 zu Guise, Departement Aisne,
seiner Arbeiterschaft sein Vermögen und eine sozialistische Verfassung gegeben.
Nach seinem 1888 erfolgten Tode hat seine Witwe die kleine Republik im
Sinne des Stifters weitergeleitet; ob sie noch besteht, ist mir nicht bekannt. —
Rückfall handelt von einem vornehmen Russen, der, aus der Heimat mit
Frau und Kindern geflüchtet, in der Nähe von Genf eine Gärtnerei betreibt,
das sozialistische Evangelium von der Gleichheit und der Brüderlichkeit zu
verwirklichen strebt, seinen Knecht als Bruder behandelt, seine Blumen und
Gemüse selbst auf dem Schiebkarren zur Stadt fährt, auch seiner Frau und
seinen noch kleinen Kindern nicht befiehlt sondern sie nur bittet. Der Rück¬
fall besteht darin, daß seine Frau, die noch einen Sohn bekommt, den Jungen
taufen läßt. Der Mann kann es ihr, da er grundsätzlich niemand seine
Freiheit beschränkt, nicht wehren, aber er geht dem Taufen aus dem Wege
und verreist. In Evian erleidet er selbst einen Rückfall: er, der grimme
Pfaffenfeind, bemitleidet einen armen alten Priester, der als Hofmeister eines
protzenhaften zwölfjährigen Buben von diesem kujoniert wird. Er überlegt.
„Savoyen war ein armes Land, und bettelten die Priester von den Reichen,
so gaben sie auch den Armen. Als Paul aufstand, um fortzugehn und sich
niederzulegen, fühlte er die größte Sympathie für die Priester, die wenigstens
noch an etwas andres als an irdischen Erwerb zu denken fähig waren."
Dieser Rückfall bestimmte ihn, seiner Frau ihren Rückfall zu verzeihen und>
heimzukehren. — Über den Wolken spielt in einem Berghotel. Zwei Pariser
Schriftsteller treffen sich dort, ehemals Freunde, dann durch die Konkurrenz
Todfeinde geworden. Beide noch in den besten Jahren, aber vom Pariser
Leben auf den Hund gebracht. Des einen Krankenwagen schiebt die Frau, den
des andern die noch rüstige Mutter. Die Männer versöhnen sich angesichts
des ihnen nahe bevorstehenden Todes, die Frauen bleiben unversöhnlich.
Der eine von beiden sagt in einem Rückblick auf seine Laufbahn: „Wenn ich
ein gerades ernsthaftes Wort sprach, da schrie man: Nein, du sollst ein Stück
schreiben! So schrieb ich ein Stück. Da applaudierte man dem Stück, den
Dekorationen, den Aktricen, aber die Wahrheit, die man in sich aufnehmen
sollte, über die schwieg man. Das war die zweite Todsünde des Kaisertums,
daß es den Schönheitskult einführte. Diese Methode hat die Despotie immer
angewandt, um durch den Schein die Aufmerksamkeit von der Wahrheit ab¬
zulenken. Ein Firnistag bedeutete in unserm Leben mehr als eine Wahl zu
den Kammern, ein neues Stück war ein wichtigeres Ereignis als ein Säknlar-
verbrechen." Er unterbricht sich, um zu fragen, was das für Leute seien, die
mit Musik anmarschiert kommen. Die Mitglieder des Weltpost- und Tele-
graphenbureaus in Bern. „Hin! Siehst du, wie wir geschlafen, wie wir im
Traume gelebt haben, während kluge Menschen für die Zukunft gearbeitet und
nützliche Dinge geschaffen haben! Wir lasen nie etwas andres in den Zei¬
tungen als Theater, Musik und Kunst. Für uns spielte das Leben bei Lampen¬
schein mit Leimfarbenlandschaften, und wenn wir einmal durch den Lärm draußen
gestört wurden, so wurden wir böse und fuhren gegen die Schreihälse los,
oder wir lächelten über sie. So gingen wir einher, groß in unsrer Ein¬
bildung, mit Papierkronen auf dem Kopfe, und glaubten Könige im Reiche
der Geister zu sein. Das Universum war Paris, und die Welt war das
Theater." — Gewissensqual ist von der Abneigung gegen den Militarismus,
vielleicht auch gegen Preußen eingegeben. Es spielt im deutsch-französischen
Kriege. Ein Leutnant, der kurz vor dem Beginn des Feldzugs geheiratet hat,
muß drei Franktireurs erschießen lassen. Die Gewissensangst, die ihn darob
befällt, macht ihn wahnsinnig. Man bringt ihn in ein Sanatorium am Genfer
See. Als er das erstemal nach seiner Frau fragt, erklärt ihn der Arzt für
geheilt. Er bleibt in der Schweiz. In einer internationalen Gesellschaft, der
er beiwohnt, trinkt man auf die Vereinigten Staaten Europas und auf den
Bölkerfrieden, den die eben eingetroffne Kunde von dem Erfolge des ersten
internationalen Schiedsgerichts zu verbürgen scheint. Strindberg verrät keine
Ahnung davon, daß die Franzosen den Krieg angefangen haben, daß das
Franktireurtum, mag es auch der Patriotismus entschuldigen, gerade vom
Standpunkte der Humanität und der Friedensliebe aus beurteilt ein wahn¬
sinniger Frevel, von demselben Standpunkt aus die Strenge der Deutschen
geboten war, und daß die Franzosen als Sieger in Deutschland noch ganz
anders verfahren sein würden. Falsch ist auch die Ansicht, daß in dem
Leutnant ein Konflikt eingetreten sei zwischen seinem ursprünglichen, natürlichen
Gewissen und dem diesem widersprechenden anerzogncn, künstlichen Gewissen.
Zweierlei Gewissen, das kommt vor. Aber in diesem fingierten Falle handelte
es sich nicht um zwei Gewissen, sondern um einen gewöhnlichen Gewissens¬
konflikt, der darin besteht, daß ein und dieselbe Pflicht der Nächstenliebe unter
gewissen Umständen Entgegengesetztes gebietet: sowohl zu töten als zu erhalten,
weil die Interessen der Objekte der Liebe einander widersprechen. Die Frank¬
tireurs haben natürlich das Interesse, am Leben zu bleiben, aber das Interesse
der Deutschen, und sogar das richtig verstandne Interesse der Franzosen im
allgemeinen, fordert ihren Tod.
Einen Roman aus der schwedischen Gesellschaft hat Strindberg Die
Gotischen Zimmer betitelt, weil in einem so benannten Lokale die Haupt¬
personen zu Anfang und am Ende der Erzählung zusammenkommen. Sie ist
eigentlich kein Roman, denn sie hat keinen Helden, sondern es werden Ereig¬
nisse und Szenen aus dem Leben einer Menge von Personen aneinandergereiht,
die durch das Band der Verwandtschaft miteinander verknüpft sind. „Familien¬
schicksale vom Jahrhundertende" lautet der Untertitel. Die Hauptpersonen sind
Literaten, Berufspolitiker, Frauenrechtlerinnen, Geistliche, ein Landwirt, eine
Ärztin und ihr mystischer Liebhaber. Dieser gibt dem Verfasser Gelegenheit,
die Alchimie zu loben. Denn er glaubt, daß die Naturwissenschaften in die
Irre gegangen seien. Er bezeichnet Lcmgbehn (Rembrandt als Erzieher), Nietzsche
und Peladan als Repräsentanten .eines großen Umschwungs. „Der Menschen¬
geist erwachte aus seiner Isolierung und fühlte, wie seine Kräfte schwanden,
weil sein Kontakt mit dem Jenseits unterbrochen war. Dieses Suchen nach
einer Verbindung mit dem Immateriellen war ein bezeichnender Zug für die
neunziger Jahre. Nachdem nämlich Haeckel sein LMsmg. us-turas oder die
Stammtafel der Schöpfung aufgestellt hatte, war es aus mit der Naturwissen¬
schaft; nicht eine neue Entdeckung wurde gemacht; die Serumtherapie machte
großen Lärm, erwies sich aber als falsch." Diese Wendung ist eine Wendung
zur Humanität, denn „wenn die Naturalisten sagten: laßt uns Menschen sein,
so meinten sie: laßt uns Tiere sein!" Strindberg haßt die Tiere, besonders
die Hunde. Seinen Mystiker läßt er sagen: „Ich wünschte, alles Tierische
könnte weggeschnitten werden." Das Leben der Stockholmer Literaten und
Politiker mit seinen Ränken und Eheirrungen mag wohl so häßlich aussehen,
wie er es beschreibt. Die unerfreulichen Zustünde der schwedischen Staatskirche
zeigt er in einem vielleicht zu grellen, aber wahrscheinlich nicht fälschenden
Licht. Vertreter der schwedischen Landwirtschaft ist bei ihm ein bankrotter
Pächter. Die Bauern bauen bloß noch Hafer, der leicht verkäuflich ist, und
für den man nicht zu düngen braucht. Die einzige Rettung ist Auswanderung;
die Zukunft der Schweden liegt in Amerika.
Den breitesten Raum nimmt die Frauenfrage ein. Strindberg ist nicht
Weiberfeind im Sinne Schopenhauers oder Weiningers, vielmehr nur ent-
schiedner Feind aller perversen Neigungen und Gelüste. Auch predigt er nicht
den Schwachsinn des Weibes wie Möbius; er bekämpft nur die verrückte
Frauenrechtlerei und den Feminismus der Männer. „Doktor Borg wurde
natürlich Weiberhafser genannt. Das schreckte ihn nicht, denn er wußte, daß
es eine Lüge war. Er konnte antworten: Wenn ich einsehe, daß das Kind
schwächer ist als das Weib, so heißt das nicht, die Kinder hassen; und wenn
ich anerkenne, daß die Weiber hinter den Männern zurückgeblieben sind, so
heißt das nicht, die Weiber hassen." Dieser Doktor „hatte sich mit einer
norwegischen Dame vom Noratypus verheiratet, dem Typus der falschen
Märtyrerin, der hysterischen Närrin, die nie vorher existiert hatte, bis sie in
einem strophischen Männergehirn entstand, als es sich auf demselben Niveau
mit Frauen und Kindern zu fühlen anfing." Der Doktor sieht ein, daß mit
dem unlenksamen, für Gründe, Tatsachen und Logik unempfänglicher Weibe
nichts zu machen ist. „Aber er blieb vorläufig in der Schlangengrube, der
Kinder wegen, die Stunde abwartend, wo er sicher war, daß die Kinder ihn
nicht vermissen würden, wenn er ging. Das war ein eigentümlicher Zug bei
den Männern der Zeit, daß ihre Gefühle für die Kinder stärker waren als
die der Mütter, die die gesunden Instinkte verloren zu haben schienen und
ein Leben außerhalb des Hauses suchten, während der Mann noch für das
häusliche Leben schwärmte."
Der Frauenfrage ist auch die erste der Modernen Fabeln: Die
Möwen, gewidmet. Im allgemeinen finde ich die sogenannten modernen
Fabeln überflüssig. Für Kinder, die ja die Tendenz nicht verstehn, sind sie
nicht geschrieben, und Erwachsne lesen sie nicht — der kindischen Form wegen.
Aber Strindbergs Geschicklichkeit hat aus dieser Literaturgattung wenigstens so
viel gemacht, als sich daraus machen ließ. Bei den Möwen ist die Frauen-
rcchtlereiseuche ausgebrochen, und ein Möwerich fliegt davon, die Frage zu
studieren. Ein Enterich unterrichtet ihn über die Generationseinrichtungen bei
Wassertieren, Landmollusken und Ameisen, wobei sich denn die verschiedensten
Formen von Polygamie, Polyandrie und die verschiedensten Arten der Be¬
teiligung der Geschlechter und der Ungeschlechtigen an der für den Unterhalt
nötigen Arbeit ergeben. Die Möwe wundert sich über den Widerspruch zwischen
der Wirklichkeit und den Geschichten, die man den Kindern erzählt. Glaub an
keine Geschichten, spricht die Tauchente, oder doch nur an unanständige Ge¬
schichten; die Wahrheit ist immer unanständig. Bei einer Vergleichung der
verschiednen Einrichtungen erscheint der Ente das Hühnerhaus besser als der
Ameisenhaufen. Die Möwe aber findet alle Einrichtungen gleich unbefriedigend
und meint, nach dem, was sie erfahren habe, habe es keinen Sinn, in der Welt
herumzureisen und nach einem Ideal zu suchen; man müsse die Wirklichkeit
nehmen, wie sie ist. Der heilige Ochse erzählt, wie ein rechtschaffner Apis-
Priester dem Volke begreiflich machen will, daß der Apis nur ein Symbol des
Gottes, nicht der Gott selbst ist, und wie wütende Weiber den Frevler er¬
würgen. So mancher rechtschaffne katholische Geistliche wird sich seufzend in
ihm wiedererkennen. Von den übrigen Fabeln erwähne ich nur noch Lilaris
in^'orura sxeinplis, weil darin Strindberg der Schmutzrealistik Zugeständnisse
macht, die er nicht nötig hat; denn wenn er Wirkung erreichen will, so stellt
ihm seine Erfindungskraft bessere Mittel zur Verfügung. Im Ritterhaussaal
zu Stockholm frischt ein Maler ein altes Wappen auf, und eine aus hundert¬
jährigem Erstarrungsschlaf aufgeweckte — Wanze erzählt ihrer Tochter die
Geschichte der Familie, der das Wappen gehört. Natürlich will Strindberg
durch die Wahl der Erzählerin seine Verachtung des Adels ausdrücken, aber
das kann man doch, wenn man nun einmal von Vorurteilen gegen den Adel
beherrscht wird, ohne den Lesern Ekel zu erregen.
Zwei kleine Schriften philosophischen Inhalts: Aus den Tagen der
Götterdämmerung und Der bewußte Wille in der Weltgeschichte,
Skizze zu einem Buch, beweisen, daß der sechsundfünfzigjährige Mann noch
im Ringen um eine Weltanschauung begriffen ist. In der ersten neigt er dem
Atheismus, in der zweiten, 1903 erschienenen dem Theismus zu. In der
ersten, die schon durch die Form des Aphorismus an Nietzsche erinnert, gibt
er sich als dessen Jünger. Die Aphorismen 42 und 43 lauten: „Das Christen¬
tum als Produkt einer alten Kultur konnte nur wieder durch Kulturprodukte
überwunden werden. Die Germanenvölker in aller ihrer physischen Überkraft
waren doch unfähig, ihm zu widerstehn. Aber von dem Zeitpunkt ab, wo
eine Kultur imstande war, ohne das Christentum zu leben, begann sein Ver¬
fall. Also mit der Renaissance, mit Goethe. — Eine Volksreligion kann nur
so lange herrschen, als sie das absolut höchste Ideal in sich darstellt. Sobald
ein neues, höheres Ideal entdeckt wird außerhalb des Kreises dieser Religion,
muß sie absterben. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet ist das einzige, was
ernsthaft die christliche Religion bedroht, das neue Ideal des Übermenschen."
Worauf u. a. zu erwidern wäre, daß Goethe in seinen letzten Jahren das
Christentum als die nicht zu übertreffende Religion geschätzt hat, und daß
Nietzsches Ideal gar kein Ideal, sondern nur eine Phrase ist, weil es ihm nicht
gelungen ist. klar zu machen, was er mit dem Übermenschen gemeint hat, ja
selbst nicht gewußt hat, was er damit meinte: er meinte etwas Vollkommnes,
das er suchte, aber nicht fand. Übrigens gesteht Strindberg mit Nietzsche zu,
daß das Christentum für das Volk auch heute noch das beste sei, nur der geistigen
und der sittlichen Aristokratie genüge es nicht mehr. Von dem Haß Nietzsches
gegen das Christentum ist er frei; dieser habe Jesus mißverstanden. Wenn
Jesus die Armen, Schwachen und Kranken liebte, so liebte er nicht ihr Elend,
sondern ihre Gesundheit und Stärke, die er mit seiner Heilkraft wiederherzu¬
stellen vermochte. Die Liebe, die er predigte, ist die edelste Kraft des Welt¬
alls. Heute handelt es sich besonders um die Liebe, die den Einzelnen sterben
heißt „für unsrer Kinder Land, das unentdeckte." Zwei schöne und wahre,
wenn auch nicht neue Gedanken sprechen die beiden Aphorismen 230 und 252
aus. „Unsre tierische Natur soll sein wie das Pferd zwischen den Schenkeln
des Reiters, gelenkt und beherrscht mit Zaum und Sporn. Doch dürfen wir
den Mut dieses Rosses, das uns durchs Leben tragen soll, nicht gänzlich
brechen. Der gute Reiter hat seine Freude an dem Feuer des Tieres. — Die
Kirche hat den unschätzbaren Vorzug, daß bei ihren künstlerischen Darbietungen:
Musik, Liturgie und Predigt, der Pöbel nicht das Recht hat, Kritik zu üben;
das Theater ist befleckt durch die Prostitution vor dem Beifall der Massen."
In der zweiten Schrift geht er davon aus (wie weit das tatsächlich zu¬
trifft, lassen wir dahingestellt sein), daß um die Zeit des Moses eine religiöse,
philosophische und Kulturbewegung durch die ganze zivilisierte Welt gegangen
sei von Griechenland bis China. Es sehe so aus, als ob die ganze damalige
gebildete Welt auf einmal zum Bewußtsein von den gemeinsamen großen
Zielen und Aufgaben der Menschheit erwacht sei. Die einen nun hielten die
weltgeschichtlichen Begebenheiten für Wirkungen der den Menschenseelen von
Natur innewohnenden blinden Triebkräfte, andre glaubten, daß ein transzen¬
denter Wille die Menschenseelen geschaffen habe und sich ihrer als Werkzeuge
bediene, sie zu ihnen selbst unbekannten Zielen leite. „An diese zweite Ansicht
möchte sich der Verfasser anschließen, nachdem er sie auf seinen Streifzügen
durch die Weltgeschichte bestätigt gefunden hat." Diese Streifzüge sind sehr
hübsch. An einer Reihe von geschichtlichen Ereignissen zeigt er, wie aus den
politischen Kämpfen und Bestrebungen immer etwas Vernünftiges hervor¬
gegangen ist, wovon die Kämpfenden und Strebenden keine Ahnung hatten,
und wovon sie mitunter das Gegenteil wollten. Besonders gut sind seine Be¬
trachtungen über das Zeitalter der Religionskriege. Auch dem Mittelalter
wird er gerecht. Die Erwähnung der weltlichen Macht der Päpste gibt ihm
Anlaß zu der Bemerkung: Über Weltereignisse muß man nicht böse werden.
Er erkennt es an, daß abendländische Kultur soviel bedeutet wie Christentum
und Antike. Der Olymp liege uns näher als Walhall. Ein Ziel sieht er
allmählich aus dem Dunkel der Zukunft auftauchen, und zwar das von
Herbert Spencer beschriebne: die Völkerunterschiede verschwinden durch An¬
passung in der Gleichförmigkeit. Er macht auch eine Bemerkung, die ich zuerst
in Trollopes Geschichte von Florenz gefunden habe. Weil in den wenigen
Zeilen einer Erzählung Unglücksfälle und Greueltaten, die sich über Jahre
und weite Räume verteilen, auf einen Haufen zusammengedrängt erscheinen,
während von dem friedlichen und glücklichen Leben von Millionen, das doch
zugleich daneben bestand, gar nichts sichtbar wird, so sieht die Weltgeschichte
grausamer aus, als sie in Wirklichkeit verlaufen ist. Die Anmerkung auf
Seite 81 muß er im Rausch oder im Halbschlaf geschrieben haben: Jerusalem
sei von Pompejus in demselben Jahre eingenommen worden, wo unter Nero
Rom abbrannte. Beides ist allerdings im Jahre 64 geschehen, aber das eine
Jahr 64 liegt vor, das andre nach Christus. Theistisch mutet auch eine der
Fabeln an. Der Sprößling einer atheistischen Familie wird Pastor, nachdem
ihn die Beobachtung des Bienenstaats zum Glauben an Gott bekehrt hat.
In Westindien jedoch überzeugt er sich davon, daß das Treiben der Bienen
nicht aus einem von Gott eingepflanzten Instinkt hervorgeht, sondern daß sie,
wie die Menschen, mit Verstand und Überlegung handeln; sie bereiten dort
keinen Honig, weil es keinen Winter gibt, für den sie Nahrung aufspeichern
müßten. Wütend zerschlüge er die Bienenkörbe und wird von den Bienen
zerstochen. „Von seiner Mutter gepflegt, deren fromme Ansichten sich unbe¬
rührt von dem abergläubischen Theismus gehalten hatten, gab er seinen Geist
in ihren Armen auf, seinem Kinderglauben zurückgewonnen, indem er sich laut
zu der wahren, atheistischen Religion bekannte, zur großen Freude seiner
schwarzen Gemeindemitglieder, die so schwer unter den nadelspitzen Beweisen
vom Dasein Gottes gelitten hatten." Der Übersetzer meint zu dieser Fabel,
sie sei natürlich ironisch gemeint, was der „große" Georg Brandes in seinem
Essay über Strindberg nicht begriffen habe. Die Ironie ist für jeden nicht
gar zu dummen Leser handgreiflich.
Im Faust des Lutherschauspiels hat Strindberg die göttliche Leitung der
Weltgeschichte und zugleich sich selbst als Beschauer der Weltgeschichte symbo¬
lisiert. Faust sucht Luthers Elternhaus heim, wo er Tetzel, einen Wander¬
gesellen und einen Landsknecht beisammen findet, und erregt des Knaben
Martin Gemüt durch geheimnisvolle Andeutungen und Weissagungen. Er ist
es auch, der dem jungen Doktor auf der Bibliothek zu Wittenberg die Bibel
in die Hand gibt, und der ihn zuletzt im entscheidenden Augenblicke von der
Wartburg zurückruft nach Wittenberg. Und als Karlstadt diesen Faust fragt:
Seid Ihr Papist? so läßt ihn Strindberg antworten: „Ich weiß nicht, was das
ist. Ich bin ein Zuschauer, der seine Vernunft behält, wenn andre sie ver¬
lieren; ich bin nichts von dem, was du glaubst, und du findest keinen Namen
für mich, der paßt. Alles, was Ihr sagt, ist leerer Schall; und die Wege,
die Ihr geht, führen nicht dorthin, wohin Ihr glaubt. Der, der ist, war und
sein wird, lächelt über Euch, aber er benutzt Euch!" Strindberg ist offenbar
nicht bloß ein Dichter, sondern auch ein Denker und ein ehrlicher Forscher,
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Mils Begründer der modernen Ästhetik hat Kant auch auf das
musikalische Urteil großen Einfluß geübt. Versteckt zwar aber
stark wirkte seine Lehre bis in die neuste Zeit, hauptsächlich mit
Sätzen, die von ihm entlehnt waren, wurde noch die neudeutsche
! Schule Richard Wagners und Franz Liszts bekämpft. Darum
ist es sehr willkommen zu heißen, daß die Säkularfeier Kants wenigstens eine
Arbeit über seine Stellung zur Musik gebracht hat; wenn auch knapp gehalten,
ist sie doch um so erfreulicher, als sie von Hermann Kretzschmar herrührt, die
Frage an der Wurzel packt und zudem eine Fülle allgemein klärender Ge¬
danken birgt.*)
Kretzschmar stellt sich vom Standpunkte des Musikers aus Kant gegenüber.
So kommt er zunächst zu der Frage über dessen persönliches Verhältnis zur
Tonkunst, und aus dieser erwächst die Forderung, daß die musikalische Urteils¬
fähigkeit der Philosophen erst geprüft werden müsse, ehe man ihre Sätze an¬
erkenne und darauf weiterbaue. Diese Forderung auszusprechen ist heute um
so notwendiger, als die Musiker oft in äußerlicher Nachahmung Wagners
blindlings für alles, was Philosophie heißt, schwärmen. Sogar ein Geschicht¬
schreiber der modernen Musikästhetik scheint sich nicht völlig darüber klar ge¬
wesen zu sein, daß eine stichhaltige Musikästhetik nur auf Grund genauer
Kenntnis und wirklichen Verständnisses der Musik möglich ist, wenn er sich
zu folgendem Vergleich versteigt: „Wie der Arzt, ohne selbst krank zu sein, die
Gründe und den Verlauf der Krankheit besser kennt als der Patient, so war
es den großen Philosophen beschieden, das Wesen des Schönen mit dem Ver¬
stände tiefer zu durchdringen als die Künstler."**) Treffend bemerkt dagegen
Kretzschmar: „Um die Philosophen als die gebornen musikalischen Ärzte an¬
zuerkennen, braucht es Sicherheit, daß sie die Musik so genau studiert haben
und kennen, wie die Mediziner den gesunden und kranken Menschen, und daß
bei ihren musikalischen Nichtersprüchen prozessuale Irrtümer ausgeschlossen sind.
Mit dieser Vorbedingung aber hapert es. Gelehrte, welche von Posaunen in
der Eroica sprechen oder die Behauptung von der seit der Zeit der Wiener Klassiker
erfolgten Tempobeschleunigung als erwiesen annehmen, sind bei aller sonstigen
Ehrfurcht als musikalische Kronzeugen abzulehnen, und die musikalische Urteils¬
fähigkeit eines Nietzsche, der zwischen Wagner und Bizet schwankt, oder eines
Schopenhauer, dem Rossini das höchste ist, muß mit einem Fragezeichen ver¬
sehen werden. Die neuere Musikschriftstellerei baut häufig leichtgläubig auf
Vergleichen und Aussprüchen großer Philosophen auch in solchen Füllen weiter,
wo sie hohl oder trivial sind."
Auch Kants musikalische Urteilsfähigkeit muß also zunächst geprüft werden.
Er war musikalisch nur schwach begabt und gar nicht geschult. Kretzschmar
führt einige Sätze aus Bvrowskis Biographie an, aus denen hervorgeht, daß
er zwar die Musik „vor unschuldige Sinnenlust" ansah, ihr aber persönlich
doch möglichst auswich und seine Schüler von ihr abmahnte, weil sie zum
Nachteil andrer, ernsthafterer Wissenschaften viel Zeit wegnehme. Kants Ver¬
standesnatur war überhaupt den Künsten fremd. Ich kann mir nicht versagen,
ein paar Sätze aus der trefflichen Charakteristik, die ein unter den Augen
Kants aufgewachsner Musiker, der heute noch als Komponist Goethischer Lieder
bekannte I. F. Reichardt, gibt,*) hier einzuschalten. Er sagt: „Kant war ein
an Leib und Seele ganz trockner Mann. Magerer, ja dürrer als sein kleiner
Körper hat vielleicht nie einer existiert, kälter, reiner, in sich abgeschlossener
nie ein Weiser gelebt. Eine hohe, heitre Stirn, feine Nase und helle klare
Augen zeichneten sein Gesicht vorteilhaft aus. Aber der untere Teil desselben
war dagegen auch der vollkommenste Ausdruck grober Sinnlichkeit, die sich an
ihm besonders beim Essen und Trinken übermäßig zeigte. Schöne Künste
hatte er nie geübt und liebte sie auch nicht besonders; denn wie sehr man sich
auch laut für dieselben erklären mag, übt man sie nicht selbst, dringt man
nicht einigermaßen in ihr inneres Wesen ein, so sind und bleiben sie doch
meist nur eine angenehme vorübergehende Spielerei."
Kants Musikästhetik gibt dieser Schlußüberlegung Reichardts völlig Recht.
Wo darin des Philosophen eigenste Meinung hervortritt, wird die Tonkunst
nicht höher geschützt als eine angenehme Spielerei. Ihre Schönheit gilt ihm
nicht mehr als die des Papageis, des Kolibris, des Paradiesvogels, der
Schaltiere des Meeres, einer Zeichnung ü 1s, Zi-kL^us oder des Laubwerks zu
Einfassungen oder auf Tapeten; er meint ferner, ihr Endzweck sei überhaupt
kein geistiger, sondern ein rein körperlicher, vergleicht sie deshalb mit dem
Glücksspiel und setzt sie an den untersten Platz unter den Künsten. Aber die
Bedeutung von Kants Musikästhetik beruht eben gerade darin, daß er sich
nicht damit begnügt, seine eignen Gedanken wiederzugeben, sondern daß er
versucht, das vor ihm geleistete zusammenzufassen. Er gewann dadurch eiuen
höhern Standpunkt, und darin liegt auch hauptsächlich der von ihm erreichte
Fortschritt; aber es gelang ihm nicht, die Meinungen seiner Vorgänger zu
einer einheitlichen Lehre zu verbinden, statt einer solchen gibt er vielmehr nur
ein Nebeneinander von Gegensätzen. Das wichtigste, was er vorfand, ist die
sogenannte Affektenlehre. Diese geht von der Voraussetzung aus, daß die
Musik eine Art Sprache sei, die zu verstehn und auch zu sprechen man lernen
könne, und die hauptsächlich zum Ausdruck der menschlichen Leidenschaften ge¬
eignet sei. Sie war den Musikern des achtzehnten Jahrhunderts ganz geläufig
und nahm in den Lehrbüchern eine wichtige Stellung ein; weil sie in ihren
Grundanschauungen durchaus richtig ist, ist es sehr zu bedauern, daß sie heute
fast völlig vergessen ist.*) Kant sucht auch dieser auf einer hohen Auffassung
der Musik beruhenden Lehre gerecht zu werden; aber bei seinem mangelnden
musikalischen Verständnis mußte ihm dies schwer werden. Wenn Kretzschmar
meint, Kant habe der Affektenlehre Wert und Bedeutung abgesprochen, so ist
damit wohl etwas zu viel gesagt**); aber richtig ist, daß er sie so stark ver¬
klausuliert und ihr so viel Gegensätzliches gegenüberstellt, daß sie so gut wie
wieder aufgehoben wird. Und richtig ist ferner, daß die Musikästhetiker, die
von ihm ausgingen, sie ganz beiseite ließen und den Formalismus in seiner
Lehre als das wesentliche betrachten. Das „Spiel der Empfindungen," ein
bekannter Hauptpunkt der Kantschen Ästhetik, und der schon genannte Vergleich
mit der Zeichnung ig. ZreoMs wurden die Stützen für die nachfolgenden
Spezialisten. Der Schweizer Hans Georg Nägeli unternahm es als erster,
auf diesen eine selbständige Musikästhetik aufzubauen. Ihre gefährlichen« Mängel
weist Kretzschmar treffend nach durch einen Vergleich mit Schiller, indem er
sagt: „Während Schiller sin den Briefen über ästhetische Erziehung) Kants
Spiel dadurch vor Mißverständnissen geschützt hatte, daß er den Spieltrieb als
Produkt von »Stofftrieb« und »Formtrieb« hingestellt hat, weist Nägeli als
Pestalozzianer dem Spieltrieb eine souveräne Stelle in der Tonkunst zu und
bricht damit der Phantastik eine breite Gasse."
Zunächst blieb übrigens die Nägelische Lehre ohne größern Einfluß auf
das angewandte musikalische Schrifttum. Die führenden Musikliteraten, voran
E. Th. A. Hoffmann und F. Rochlitz, dann namentlich auch Robert Schumann,
hielten an der Affektenlehre fest, fuhren fort, die Musik als eine Sprache,
als den Ausdruck geistiger Ideen zu betrachten. Erst als Eduard Hanslick
in seiner berühmten Schrift „Vom musikalisch Schönen" Kant-Nägelische Grund-
sähe kleingemünzt hatte, trat ein Einfluß auf die Masse ein, und spalteten sich
die musikalischen Kreise in zwei Lager. Die innere Triebfeder, die Hanslick
eigentlich erst auf das ästhetische Gebiet geführt hatte, war bekanntlich die
Absicht, die neudeutsche Richtung theoretisch zu vernichten — Kretzschmar nennt
die Schrift kurzweg ein Pamphlet —, daß ihr dies, trotz zahlreichen Anhängern
im Anfang, nicht gelungen ist, braucht nicht erst gesagt zu werden, und daß
ihre Grundansichten falsch sind, ist heute eine ziemlich allgemein anerkannte
Tatsache. Hanslick hat seine Vorgänger nicht genannt, aber er übernahm von
Nägeli den Vergleich mit der Arabeske, die jener an Stelle der Kantschen
Zeichnung ^ 1a Freo^us gesetzt hatte; er sprach gleich dem erstem, nur in noch
schrofferer Form, der Musik geistigen Inhalt ab, und statt des Spiels der
Empfindungen gibt es für ihn sogar nur noch „tönend bewegte Formen." Es
muß nun freilich gesagt werden, daß wenn man auch die Sprachgewalt der
Tonkunst anerkennt, man sich doch darüber klar bleiben muß, daß diese nicht
unbeschränkt ist; Hanslick schrieb in einer Zeit, wo die Komponisten, Liszt an
der Spitze, die von der Natur gesteckten Grenzen überspringen zu können
glaubten, und eine Richtung der Musikschriftstellerei zu seichter Gefühlsduselei
neigte; er setzte den Übertreibungen auf der einen Seite die seinigen auf der
andern gegenüber und hat dadurch in jener Zeit trotz seinen fundamentalen
Irrtümern heilsam gewirkt.
Ferner hat die Hanslicksche Schrift, die sich bekanntlich durch scharfe
Dialektik, Witz, gefällige Darstellung und manche feine Bemerkung im ein¬
zelnen auszeichnet, unleugbar das Verdienst, das Interesse der Musiker an
der Ästhetik stark belebt zu haben. Wenn die schreibenden Tonkünstler auch
der Affektenlehre treu geblieben waren, so hatten sie sie doch nicht theoretisch,
der neuen Zeit entsprechend, ausgebaut, nicht einmal zu Lehrzwecken wurde
sie mehr dargestellt. So lebten Wohl die Grundideen in den Köpfen der
führenden Geister fort; aber der Gesamtheit gingen sie allmählich verloren.
So kam es auch, daß die Philosophen, die seit Kant regelmäßig die Musik
mit berücksichtigten, ganz ihre eignen Wege gingen und sich zum Teil in halt¬
lose Phantasien verstiegen. Es laufen im neunzehnten Jahrhundert zwei
Richtungen zusammenhanglos nebeneinander her, die in den Systemen der
Philosophen enthaltne Musikästhetik und die in musikalischen Aufsätzen und
Kritiken verstreute Musikerästhetik, wie Kretzschmar sie zutreffend bezeichnet.
Ein weiteres Verdienst Hcmslicks ist es, daß er die wünschenswerte Ver¬
bindung der beiden Richtungen angebahnt hat.
Und endlich wohnt der Kant - Nägeli - Hanslickschen Lehre doch auch ein
positiver Kern inne. Gewiß hat die Musik Sprachgewalt; aber ihre Wirkung
beruht nicht in dieser allein. Wäre sie nur mit einer Sprache zu vergleichen,
so müßten die regelmäßig geübten Wiederholungen zum Beispiel störend
wirken und wären als unsinnig abzulehnen. Vielmehr wirkt sie außer durch
den unmittelbaren sprachverwandten Ausdruck auch durch schöne Verhältnisse,
ganz ähnlich wie die bildende Kunst, nur daß jene vom Raum in die Zeit
übertragen sind. Darum ruht der Vergleich mit der Zeichnung ^ 1a ^roeaus
und der Arabeske auf einer richtigen Anschauung; er ist nur zu niedrig.
Diese dienen einer höhern Kunst als bloß verzierende Hilfsmittel, und der
Vergleich müßte sich auf jene beziehen; es ist natürlich keine andre als die
Architektur. Diese ist denn auch in der Tat bei Nägeli schon in diesem
Sinne angeführt; der Vergleich der Tonkunst mit ihr war früher überhaupt
beliebt und ist mit Unrecht in Mißkredit gekommen. Aufgabe einer zukünftigen
Musikästhetik wird es sein, die Affektenlehre mit der formalistischen in richtiger
!amender machte eine sorgenvolle Miene, Tauenden war in lebhafter
Unruhe, Tauenden rang, wenn sie allein war, die Hände. An jenem
bösen Schacktarptage und in der Nacht darauf hatte sie nicht mit
den Augen gezuckt und die Pein der Ungewißheit mit Heldenmut
ertragen. Sie war ganz still in ihre Kammer gegangen und hatte
Ida das Vertrauen zu ihrem himmlischen Vater, ohne den kein
Sperling vom Dache fällt, und der einen Menschen wie den Doktor nicht mir nichts
dir nichts ertrinken läßt, wiedergewonnen. Sie hatte Wolf, der mit großen Augen
und geballten Fäusten umherging und Groppoff für alles Unglück verantwortlich
machte, beschwichtigt, hatte dafür gesorgt, daß der Herr Kandidat zur rechten Zeit
seinen Kaffee kriegte, und daß Schwechting, der selbst die Nachricht von dem Unglück
gebracht hatte, trockne Strümpfe anzog, und war dann zu Groppoff gegangen, um
sich zu erkundigen, was man zur Rettung des Doktors und der Fischer getan habe.
Tauenden konnte auch zu Groppoff gehn, denn sie hatte keinen Feind, auch Groppoff
war kein Feind von ihr. Der Herr Amtshauptmann war sehr kühl gewesen und
hatte die ganze Sache als Bagatelle angesehen. Es seien schon oft Fischer mit
dem Eise abgeschwommen, aber es sei noch nie ein Unglück passiert. Auch werde
schon ein Boot aus dem Eise gehauen, um sie wieder hereinzuholen. — Aber es
sei doch Nebel, und das Eis sei morsch, hatte Tauenden eingewandt. — Das
mache nichts.
Als Tauenden das Amt verließ, war sie auf Eva getroffen, die reisefertig
damit beschäftigt war, ein Pferd vor den Jagdwagen ihres Vaters zu spannen.
Eva! hatte Tauenden gerufen, wo willst du hin?
Am Strande herum nach Raster Ort. Dort muß die Scholle antreiben, und
dort muß ihm ein Zeichen gegeben werden.
Aber du kannst doch nicht allein fahren!
Wer soll mir etwas tun? hatte Eva mit sorglosen Stolze geantwortet.
Nein nein, hatte Tauenden erwidert, das geht nicht. Schwechting, tun Sie
mir die Liebe und fahren Sie mit.
Und so war Schwechting mitgefahren.
Am andern Morgen war der Doktor, zwar etwas übernächtig und in einem
Anzüge, dem man die Eis- und die Landpartie ansah, aber vergnügt und zufrieden
angekommen, als habe es sich um einen etwas lang geratnen Jagdausflug gehandelt.
Dann hatte er sich ein paar Stunden niedergelegt, und am Nachmittag sah Eva
vom Pferde aus durchs Fenster. Sie war sorgfältiger gekleidet als sonst und sah
prachtvoll aus, keck und siegesgewiß wie sonst, aber freudiger und glücklicher als
sonst. Der Doktor eilte hinaus, hob sie vom Pferde und führte sie wie eine
Prinzessin ins Haus.
Kinder, rief Tauenden, indem sie sich geistig in ein mütterliches Alter versetzte,
was habt ihr miteinander? was ist zwischen euch geschehen?
Eva fiel der Tante stürmisch um den Hals und rief: Tauenden, er ist mein!
Daß sich Gott erbarme! sagte Tauenden statt der Antwort.
Darauf faßte Eva den Doktor an der Hand und trat mit etwas spöttischer
Feierlichkeit vor Tauenden, kniete auf eine dastehende Fußbank nieder und sagte:
Wir bitten um den ländlichen Segen.
Kind! Kind! rief Tauenden entsetzt, versündige dich nicht. Wie willst du das
Glück finden, ohne Gottes Segen demütig zu erbitten?
Eva sprang auf, küßte ihren Doktor, küßte ihr Tauenden und war in ihrem
strahlende» Glücke hinreißend schön und unwiderstehlich liebenswürdig.
Auf jedem jungen Mädchenleben liegt es in der Zeit, in der die Frage, wer
der Erwählte sein werde, noch nicht gelöst ist, wie ein Schleier, der die Gestalt
umhüllt und die freie Bewegung hemmt. Ist die Wahl getroffen, und der Schleier
gefallen, so kommt der eigentliche Mensch zum Vorschein; das Menschenkind, das
die große Frage ans Schicksal im Rücken hat, tut die Augen auf und wird froh
und sicher. Was wollt ihr? fragen ihre stolzen Blicke, ich habe den Meinen, ich
habe Zweck und Beruf in der Welt. — Und so sah man es Eva, die übrigens
besagten Schleier mit ziemlicher Freiheit getragen hatte, an, daß sie ihres Doktors
und ihrer Zukunft sicher war; sie war freier und größer geworden. Prinzeßchen
war sie gewesen, nun war sie Prinzessin geworden.
Aber die Tante ließ sich durch die blanken Augen und den plaudernden roten
Mund nicht täuschen. Sie hatte dieses Ende seit langem kommen sehen, sie hatte
es gefürchtet, aber doch nicht gewagt, dagegen zu arbeiten. Was sollte nun werden?
Daß Groppoff durch die Verlobung seiner Tochter mit dem Doktor nicht erfreut
sein, und daß er seine Pläne mit dem Baron Bordeaux, die durch diese Verlobung
durchkreuzt wurden, nicht aufgeben werde, stand fest. Er mußte doch dadurch, daß
seine Eva gerade diese» Doktor, seinen Feind, gewählt hatte, tief verletzt sein, und
er, Groppoff, war nicht der Mann dazu, sich fremden Wünschen zu beugen. Man
konnte darauf rechnen, daß zu den vielen Schwierigkeiten, mit denen man in Tap-
nicken zu kämpfen hatte, durch die Verlobung neue hinzukommen würden. Aber
das war es dennoch nicht, was sie in „Zustände" versetzte, sondern die Sorge um
den Doktor und Eva. Lieber Gott, die Eva! Ein Prachtkind, eine Kreatur, über
die sich der liebe Gott selber freuen mußte, ein Juwel, aber viel zu spröde, als daß
sie sich hätte fassen lassen können. Die Eva heiraten und hoffen, mit ihr glücklich
zu werden, wer konnte das wagen? Tauenden schüttelte sorgenvoll das Haupt.
Und Heinz! Sie hätte ihm das beste in der Welt gewünscht und darum eine
andre Frau als Eva. Eins stand ihr fest, wenn das Geschehene auch nicht un¬
geschehen gemacht werden konnte, die Verlobung mußte vorerst streng geheim ge¬
halten werden. Eva und Heinz mußten es versprechen, sich so zu betragen, daß
niemand merken konnte, was geschehen war. Sie durften sich nicht öfter treffen
als bisher, und insonderheit mußte Eva geloben, wöchentlich nur einmal zum
Schlößchen zu kommen, was denn, wenn auch widerwillig, geschah.
Später fanden die beiden Beteiligten, daß diese heimlichen Zusammenkünfte
ihren besondern Reiz hatten, und daß es eine belustigende Sache war, vor der
Welt ehrbar und fremd nebeneinander herzugehn und im Herzen ein süßes Ge¬
heimnis zu trage». Eva freute sich, daß sie ihren gestrengen Herrn Vater und
den dicken Baron, der sich immer noch um sie bemühte und von Zeit zu Zeit mit
seinem Töff-Töff ankam, überlistet hatte, und Heinz genoß die schöne Zeit seiner
jungen Liebe mit um so vollem Zügen, als ihm der Becher nur selten gereicht
wurde. Sein ganzes Herz schlug seiner Eva entgegen, wenn sie ihm im Walde
auf ihrem „Walkürengaul" entgegentrabte, oder wenn sie unter Tantchens Aufsicht
im Triumphstuhl des Salons lag und ihm Audienz gewährte, oder wenn sie auf
seinen Knien saß und ihn? Bart und Stirnlocke zauste.
Und doch war sein Himmel nicht ganz wolkenlos. Es war etwas dabei, was
ihm fast unbewußt ein gewisses Mißbehagen verursachte, gleich einem leichten Mißton
in einem schönen Konzert, etwas, was ihn zwang, zu denken, statt sich einem vollen,
nicht reflektierenden Glücke hinzugeben. „Jetzt bist du mein," hatte sie am Strande
gerufen, als sie sich mit ihm Verlobte. Sie sich mit ihm! Er hätte das Wort
längst wieder vergessen, wenn nicht ab und zu etwas daran angeklungen hätte,
und wenn ihn Eva nicht wirklich manchmal behandelt hätte, als wenn er ihr Eigen¬
tum wäre. Sie hatte ihn gerufen und geschickt, gut und schlecht behandelt, als ob
sie die Prinzessin und er ein begünstigter Ritter, und als ob ein Verlöbnis statt
einer zweiseitigen eine einseitige Sache wäre. War das Wohl das richtige Ver¬
hältnis, wenn sich die Braut den Bräutigam nimmt und sagt: So, jetzt bist du
mein? Hatte er selbst nicht mindestens dasselbe Recht? Durfte ein Mädchen, auch
ein solches, das von freiem Geist und herrischem Willen ist, sich ihren Mann nehmen
und sagen: Jetzt bist du mein? — Er hatte früher die Gleichberechtigung des
Frauenwillens neben dem des Mannes mit großer Freudigkeit als eine Forderung
moderner Kultur, als einen Ausdruck seines philosophischen Denkens vertreten. Er
hatte dienende, gehorchende, schüchterne Frauen für Wesen niedriger Gattung an¬
gesehen, die des Mannes, wie er sein soll, des Herrenmenschen, nicht würdig seien;
aber ist das Verhältnis nicht noch unwürdiger, wenn die Frau sich herausnimmt,
der Herrenmensch zu sein, und der Mann duckt und sichs gefallen läßt? Der
Wohlverdieute Spott der Jahrhunderte richtet sich gegen den weibischen Mann.
Ist es denn denkbar, daß zwei Willen, die ihren Antrieb nur in sich selbst finden,
ein ganzes Leben lang nebeneinander herlaufen, ohne zu kollidieren? Es wäre
ein Kunststück, größer als das der zwei Uhren Karls des Fünften. Wenn aber
nicht, was dann?
Es ist merkwürdig, wie die Dinge ihre Gestalt verändern, je nachdem man
sie von fern oder so nahe betrachtet, daß man ihre Wirkung am eignen Leibe spürt.
Über ferne Dinge kann man sehr klug reden, gegen so nahe und wirksame Dinge
hilft papierne Weisheit nichts.
Dies alles stellte sich dem Doktor nicht als ein Unglück oder als einen Zweifel
an der Zukunft dar, sondern als ein leichtes Hemmnis, das durch die Zeit, durch das
Zusammenleben und durch die Liebe überwunden werden mußte. Durch die Liebe?
Hin! Was ist eigentlich Liebe? Und welchen Wert hat sie gegenüber dem wissen¬
schaftlichen Axiom, und welche Kraft hat sie gegenüber dem souveränen Eigenwillen?
Es gibt zwei Formen des menschlichen Lebenslaufs. Nach der einen beginnt
man mit Juchhe, und der ganze Himmel hängt voll Geigen. Aber dann kommt
man auf den absteigenden Ast. und es geht durch das ganze Leben langsam aber
sicher bergab. So wie eine Rakete, die zischend aufsteigt und in verlöschenden
Funken langsam zur Erde zurückkehrt. Der andre Lebenslauf hat keinen glänzenden
Aufschwung. Es geht langsam bergauf, jedoch so, daß mit jeder Wegwendung die
Aussicht freier wird, und daß die Hoffnung lebendig bleibt, das Schönere liege
noch vorn. Dem Doktor schien die erste Form für seinen Lebenslauf nicht beschieden
zu sein. Seine Rakete wollte nicht glatt steigen. Zu der Zeit seines Brautstandes
hing ihm der Himmel nicht voll Geigen, vielmehr folgte ein Verdruß dem andern.
Eine heruntergekommne Wirtschaft zu heben ist, wenn man nicht in einen
großen Geldbeutel greifen kann, eine mühsame Sache, besonders wenn einem von
allen Seiten Steine in den Weg geworfen werden, und wenn man mit so heil¬
losen Schlendrian und so alteingewurzelten Vorurteilen zu kämpfen hat, wie dem
Doktor mit seinen Litauern zu tun oblag. Vor der Drillmaschine, „dem roten
Satan," fürchteten sich nicht allein die Pferde, sondern auch die Knechte. Es war
nicht möglich, einen von ihnen dazu zu bringen, daß er die Maschine bediente; und
so mußte der Doktor, wenn der Inspektor anderweit zu tun hatte, den ganzen Tag
hinter der Maschine gehn, was eine zwar gesunde, aber anstrengende und keines¬
wegs geistvolle Tätigkeit war. Wozu tue ich das? sagte der Doktor zu sich, wenn
ihm Kreuz und Beine schmerzte», wozu tue ich diese Kuechtsarbeit? Warum kündige
ich nicht mein Kapital und gehe davon? Mag Mary sehen, wie sie sich heraus¬
wickelt. Ich bin doch ihr Vormund nicht. Ich baue mir irgendwo mein Nest,
rufe meine Eva und bin aus aller Not. Statt dessen mühe ich mich um eine
hoffnungslose Aufgabe und habe das Vergnügen, mich mit dem alten Querkopf
um seine Tochter herumbalgen zu müssen. So sagte Ramborn wohl manchesmal
zu sich, aber er wußte auch ganz genau, daß er nicht tun werde, daß er nicht tun
könne, was er sagte. Warum nicht? Ja, wer darauf hätte Antwort geben können.
Der Prozeß gegen Heinemann oder, richtiger gesagt, gegen dessen Deckmann,
einen Winkeladvokaten in N., an den Heinemann seine Forderung abgetreten hatte,
war in erster Instanz verloren gegangen. Der Richter hatte, da das Original des
Kontrakts fehlte, bloß auf Grund der Photographie nicht die Überzeugung gewinnen
können, daß zweifellos eine Fälschung vorliege, und hatte mit Bedauern gegen
Frau Van Tereu entscheiden müssen. Der Kerl sei zweifellos ein Halunke, hatte
er gesagt, aber es sei, so lange der Kontrakt fehle, nichts zu machen. Natürlich
legte der Doktor sogleich Berufung ein, aber es war wenig Hoffnung vorhanden,
in zweiter Instanz zu gewinnen, wenn es inzwischen nicht gelänge, neues Beweis¬
material zu finden.
Von Mary war aus Cannes ein Brief eingelaufen, worin sie meldete, daß
sie glücklich angelangt sei, aber schwerlich in Cannes bleiben werde. Von da an
hatte sie monatelang geschwiegen. Es war unbegreiflich, warum sie nicht schrieb.
Man hatte in Cannes angefragt und die Antwort erhalten, die russischen Herr¬
schaften und Frau Van Term seien mit dem Dampfschiff abgereist, man wisse aber
nicht, wohin. So mußte man sich also in Geduld fassen. Nun lief gerade in
dieser Zeit ein Brief aus Brindisi ein, der nichts weiter enthielt als Blumen für
Wolf und tausend Grüße für alle Lieben. Das war nun zwar ein Lebenszeichen,
aber für die Wißbegierde der Lieben waren die tausend Grüße doch etwas wenig.
Der Brief lag noch auf dem Tische, da ließ sich ein Herr Assessor melden,
in dessen Begleitung ein andrer Herr war, dessen Erscheinen in der Küche Sensation
hervorrief. Der Herr Assessor sah aus wie ein junger Greis. Er hatte dünne,
rötliche Haare auf dem Kopfe, die Andeutung eines Juristenbartes im Gesicht und
machte nicht gerade einen überwältigenden Eindruck; und der andre, ein großer und
breiter Mann, der mit einem Gemisch von Furcht und Frechheit breitbeinig unter
der Tür stehn geblieben war, war kein andrer als unser alter Freund Heinemann.
Der Herr Assessor trat steifbeinig und mit vorwärts gezogne» Schultern, wie es
der vornehme junge Mann vom Kavallerieoffizier zu lernen Pflegt, näher, stellte
sich ordnungsmäßig vor und präsentierte ein Aktenstück, demzufolge laut Versäumnis¬
urteil vom soundsovielten und nach Paragraph Soundso der Zivilprozeßordnung
erkannt war, daß das preußische Schlößchen in Verwaltung zu nehmen sei, da die
Besitzerin verschollen und Gefahr vorhanden sei, daß bei Verkauf oder Abtretung
des Gutes Personen, die Forderungen an die Besitzeritt hätten (nämlich bewußte
10000 Mark), um ihr Recht kommen könnten. Das Gericht habe ih», den Assessor,
beauftragt, ein Inventar aufzunehmen, und habe einen tüchtigen Landwirt, der
über die hiesigen Verhältnisse unterrichtet sei, als Verwalter bestellt — Herrn
Heinemann. Demselben seien täglich zehn Mark zu zahlen.
Der Doktor hörte die Auseinandersetzung mit steigendem Erstaunen an.
Darauf griff er nach der Hundepeitsche, die neben der Tür am Nagel hing, und
sagte: Sie erlauben wohl, daß ich abgekürztes Verfahren einschlage. Damit ging
er, die Peitsche erhebend, auf die Tür zu. Der Herr Assessor erschrak, wich zurück,
wurde bleich und rief, das Aktenstück in gestreckten Armen vor sich haltend: Ich
muß doch sehr bitten — Sie werden doch nicht so weit gehn! Aber Heinemann
verschwand schleunigst spurlos.
Bitte um Entschuldigung, sagte der Doktor, die Peitsche wieder aussaugend,
wenn ich Sie erschreckt haben sollte, aber mit diesem Menschen verkehre ich nur
noch per Hundepeitsche. Und einen solchen Lumpen, Betrüger und Mordbrenner,
den man vom Flecke weg verhaften sollte, hat die Weisheit des Gerichts ersehen,
um dieses Gut, das das Gericht nichts angeht, zugrunde zu richten? Wollen Sie
die Gefälligkeit haben, zu sagen, an wen wir uns mit Ersatzansprüchen zu halten
haben bei dem Schaden, den der Mensch unzweifelhaft anrichten wird?
Der Herr Assessor wußte nicht Auskunft zu geben, hatte auch nicht die Auf¬
gabe, das Urteil des Gerichts zu vertreten. Nachdem aber einmal Frau Van Term
unter Hinterlassung von Schulden verschollen sei —
Frau Van Term ist durchaus nicht verschollen, erwiderte der Doktor. Hier
liegen ihre neusten Briefe. Sie hat nur die Caprice, inkognito eine Auslandsreise
zu machen. Sie weigert sich auch durchaus nicht, ihren Verpflichtungen nachzu¬
kommen, wenn diese rechtlich begründet sind. Aber sie denkt nicht daran, sich durch
diesen Heinemann betrügen und berauben zu lassen. Wir erheben formellen Wider¬
spruch gegen den Versuch des Gerichts, uns in der freien Disposition unsers Eigen¬
tums stören zu wollen. Wie kommt das übrigens, daß man uns verurteilt, ohne
uns zuvor gehört zu haben?
Der Herr Assessor blätterte in seinen Akten und wies eine vom Doktor unter¬
schriebe Empfangsbescheinigung für eine Vorladung vor. Ramborn bestritt trotz¬
dem, eine Vorladung erhalten zu haben. Er erinnerte sich, eine Empfangs¬
bescheinigung ausgestellt zu haben, aber der Umschlag hatte nichts weiter als eine
Kostenberechnung enthalten.
Unbegreiflich! sagte der Herr Assessor, dessen Sicherheit anfing ins Schwanken
zu geraten. Dem Doktor war die Sache weniger unbegreiflich, indem er sich er¬
innerte, welche Briefunterschlagungen schon in Tapnicken vorgekommen seien. Sie
sehen also, Herr Assessor, sagte er, hier ist ein Punkt, der erst aufgeklärt werden
muß, ehe ich mich auf etwas weiteres einlassen kann. Damit erhob er sich, und
der Herr Assessor fühlte das Peinliche seiner Lage. Sollte er unverrichteter Sache
wieder abziehn? Er stellte dem Doktor vor, daß er von seiner vorgesetzten Be¬
hörde hergesandt sei, ein Inventar aufzustellen. Ob ihm der Herr Doktor nicht
gestatten wolle, dies zu tun. Der Doktor entgegnete, wenn dem Herrn Assessor
daran gelegen sei, so wolle er ihm nicht im Wege stehn.
Darauf kroch der Herr Assessor ein paar Stunden in den Ställen herum,
fragte Knechte und Mägde um Rat und brachte ein Protokoll zustande, worin
keine Schiebkarre fehlte, aber alle Zahlen falsch waren. Dieses präsentierte er dem
Doktor zur Unterschrift. Der Doktor lachte und erklärte, daß es ihm nicht ein¬
falle, irgend etwas zu unterschreiben. Ob er wenigstens nicht zu Protokoll erklären
wolle, daß er seine Unterschrift verweigere. Damit war der Doktor einverstanden,
und der Herr Assessor zog nach einer wenig ruhmvollen Kampagne ab.
Aber Heinemann blieb da, forderte täglich durch irgendeinen Boten, wiewohl
gänzlich vergeblich, seinen Gehalt, trieb sich in der Nähe des Hofes umher, zeigte
jedermann seine Bestallung als gerichtlicher Verwalter und legte auf Grund des¬
selben, wo er nur konnte, einen Borg an.
Der Doktor begab sich zu Groppoff; er fand ihn majestätischer als je und
leutseliger, als er erwartet hatte. Er selbst hatte ja Evas wegen allen Grund, mit
Hoheit säuberlich zu Verfahren, und so kam man gut miteinander aus. Der Doktor
stellte das Verlangen, daß Heinemann, der wegen Verdachts von Brandstiftung ge¬
fangen gesetzt und ausgebrochen sei, wieder in Haft genommen werde, und Groppofs
versprach, die Sache sogleich dem Staatsanwalt zu melden.
Jeder, der im schriftlichen Verkehr mit Behörden Bescheid weiß, weiß auch,
daß ein geschickter Bericht die Antwort möglichst wörtlich enthalten muß. Groppoff
berichtete also, daß gegen Heinemann der Verdacht geäußert worden sei, daß er
am soundsovielten die Kiele auf dem preußischen Schlößchen angezündet habe.
Dieser Verdacht habe indessen keine feste Begründung, er habe sich auch inzwischen
nicht verdichtet. Auch habe Heinemann in Tapnicken als gerichtlich bestellter Ver-
Walter des genannten Schlößchens festen Wohnsitz. Ob derselbe in Haft genommen
werden solle? Darauf lief natürlich die Antwort ein: Von einer Verhaftung sei
Abstand zu nehmen, vielmehr sei zu berichten . . . und so weiter.
Von dieser Verhandlung erhielt Heinemann Kenntnis, und nun stieg seine
Frechheit ins Abenteuerliche. Er prophezeite dem Doktor das Zuchthaus, versetzte
die Arbeiter, konspirierte mit den Mägden, vermied aber den Wirkungsbereich der
Hundepeitsche auf das sorgfältigste. Zugleich lief eine Klage Heinemanns gegen
den Doktor auf Zahlung seiner zehn Mark Diäten ein.
Das waren also vier Prozesse, die der Doktor zugleich auf dem Halse hatte.
Es gibt Leute, denen ein Prozeß ein gewisses dramatisches Vergnügen gewährt.
Sie spielen ihn wie ein Kartenspiel. Dem Doktor war das Prozessieren höchst
unangenehm. Er empfand diese Klagen und Klagebeantwortungen, diese Vor¬
ladungen und Vernehmungen als eine widerrechtliche Beschränkung seiner Selbst¬
bestimmung, ja als Feindseligkeiten, die ihm von einer gewissen bekannten Seite
aus erwiesen wurden. Um seinem Herzen Luft zu machen, besuchte er Schwechting.
Er komme sich vor, sagte er, wie eine Fliege, die in ein Spinnennetz geflogen sei.
Er bemühe sich, sich los zu machen, aber bei jeder Bewegung lege sich ihm eine
neue Schlinge um die Flügel. Und dagegen erlahme znlcht auch die rüstigste Kraft.
Und an dem allen sei dieser Tyrann Groppoff schuld, dessen Absicht, ihn weg¬
zudrängen und das Schlößchen zu ruinieren, offen zutage liege.
Schwechtiug hatte aufmerksam zugehört und dabei die Rauchringe betrachtet,
die von seiner Zigarre aufstiegen. Doktor, sagte er, Ihre Geschichte kommt mir
vor wie ein Jbsensches Drama, von dem man noch im dritten Akte nicht weiß,
ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel werden will. — Sagen Sie mal, ließe
sich da nicht eine Fortsetzung von Schillers Taucher malen oder dichten? Der
Jüngling ist mich das zweitemal mit dem Becher in seiner Linken ans Land ge¬
kommen. Da steht er um mit seinem blendenden Nacken und seiner rotgestreiften
Badehose, und des Königs Tochter, die eine gewisse Mütze mit Adlerfedern auf
dem Kopfe trägt, hat sich mutig eingehenkelt, und so treten sie vor und bitten um
etwas Krone. Aber dem König paßt dies gar nicht. Er reißt seine Krone vom
Haupte und wirft sie dein Jüngling um den Kopf. Sehen Sie, Doktor, das kann
nun je nachdem ein Lustspiel oder ein Trauerspiel werden. Ein Trauerspiel, wenn
der König dem Jüngling mit seiner Krone ein Loch in den Kopf schmeißt, und
ein Lustspiel, wenn der Jüngling die Krone auffängt und sie sich selber ans den
Kopf setzt oder sie mit eiuer eleganten Handbewegung zurückreicht. Was will dann
der Vater machen? Er muß sein Wort halten. Aber freilich hat jetzt der Jüng¬
ling zum Fangen nur eine Hand frei.
Der Doktor hatte mit Verwunderung zugehört und den Sinn der Geschichte
einigermaßen verstanden.. Was wollen Sie damit sagen? rief er. Woher wissen
Sie . . .?
Doktor, sagte Schwechting behaglich schmunzelnd, man ist doch nicht blind.
Man hat doch in einer gewissen Nacht nicht weit davon gestanden, wo ein gewisser
Schiffbrüchiger einer gewissen jungen Dame seine Rettung dankte.
Hier schwindelte jedoch Schwechting. Er hatte in jener Nacht gar nichts ge¬
merkt, sondern Tauenden hatte ihn in ihrer Seelenangst ins Vertrauen gezogen.
Und er hatte in längern Unterredungen Tauenden das Herz gestärkt mit der Ver¬
sicherung, es werde alles gut gehn. Der Doktor und Eva seien alle beide zu
verständige Menschenkinder, als daß sie sich nicht schließlich zurechtfinden sollten.
Und sie seien doch im Grunde wie füreinander geschaffen.
Der Doktor also gestand seine Verlobung ein, und Schwechting brachte seine
Glückwünsche an. Und dem Doktor war es nicht unwillkommen, einen Vertrauten
zu haben, mit dem er reden konnte, ohne mit Seufzen und Kopfschütteln bedacht
zu werden. Er nahm also die Glückwünsche dankbar an, und beide einigten sich
über die Moral der Geschichte: Gleichviel, ob ein Lust- oder ein Trauerspiel daraus
werde, werfen lassen dürfe man sich keinesfalls. Woran Schwechting noch die
nicht ganz neuen Wahrheiten anknüpfte: Recht müsse doch Recht bleiben, und ein
Krug gehe so lange zu Wasser, bis er breche.
Nun bildete sich ein aus zwei Personen bestehender Verein, der füglich den
Namen „Verein Eva" hätte führen können. Denn von Eva war in den Sitzungen
des Vereins fast allein die Rede. Der Doktor wurde nicht müde, das Lob seiner
Eva zu singen, und zwar dann am lautesten, wenn aus der Tiefe seiner Seele
leichte Gedankenranken aufwuchsen, die die Neigung hatten, die Gestalt von Frage¬
zeichen anzunehmen.
Schwechting hörte geduldig und andächtig zu, zuletzt aber sagte er: Doktor,
das ist alles ganz richtig, was Sie sagen. Es ist ein Prachtmädel. Es ist Rasse
darin, und es ist eine gesunde Natur, nicht so baumltg wie unsre jungen Mädchen
in der Stadt. Und ich hoffe auch, daß sie noch einmal gut wird, wenn die richtige
Hand über sie kommt. Aber jetzt kommt sie mir vor wie ungebrochner Hanf,
daraus kann man keinen Faden spinnen. Wenn sie etwas mehr von der Art von
Tauenden hätte! setzte er nachdenklich und mit verklärtem Lächeln hinzu.
Nicht doch, erwiderte Ramborn, gerade so wie sie ist, ist sie mir lieb. Ich bin
kein Eheegoist, ich will kein Weib haben, das die Stellung einer höhern Dienerin
einnimmt. Frei will ich den Mann, frei auch die Frau. Auf derselben Höhe
sollen sie stehn als Herren ihres Willens.
So sagte der Doktor, und er glaubte auch, daß es seine wirkliche Über¬
zeugung sei.
Doktor, erwiderte Schwechting kopfschüttelnd, der Mann sei des Weibes Haupt.
Und das ist ganz gut, denn in des Weibes Haupt sieht es manchmal etwas kurios
aus. Krauses Haar, krauser Sinn.
Ramborn zuckte geringschätzig die Achseln.
Na na na! meinte Schwechting. Hier liegt eine alte Weisheit, die ihr Mo¬
dernen nicht werdet aus der Welt schaffen können.
Bald kam noch ein Wissender hinzu. Wolf trat unerwartet ins Zimmer, als Heinz
und Eva eine zärtliche Gruppe bildeten, und blieb mit großen Augen in der Tür stehn.
Komm nur herein, Junge, rief der Doktor, ohne seine Eva freizugeben.
Freust du dich nicht, daß du eine neue Tante kriegst? Und noch dazu die Eva?
Wolf erwiderte kein Wort und machte eine verstockte Miene.
Komm her, Wolf, sagte Eva.
Wolf kam nicht.
Darauf fing Eva sich ihn ein und hielt ihn mit ihren kräftigen Armen fest.
Nun beichte, sagte sie, was hast du gegen mich?
Wolf besann sich. Du sollst mit den Mädels Froschkönigin spielen, aber du
bist keine Frau für meinen Onkel Heinz.
Was fehlt mir denn dazu? fragte Eva belustigt und in dem Bewußtsein ihrer
sieghaften Frauenschönheit.
Wolf weigerte die Antwort, und dann sagte er leise: Du bist gar keine Frau,
du bist eine Wildkatze.
O o! Wolf! wer wird gesittete Menschen Wildkatzen nennen! rief Eva. Und
was wärest denn du?
Ich? sagte Wolf — ich bin ein armer Wolf, der keinen Menschen hat. Nur
Onkel Heinz und Tauenden. Und Tauenden sagt —
Hier sprang der Doktor dazwischen und entzog Wolf das Wort.
Nein, ich will dir sagen, was du bist, sagte Eva, du bist eifersüchtig.
Eifersüchtig? Was ist das?
Das ist etwas ganz Schlechtes, entgegnete der Doktor. Gleich sei artig und
gib der Tante Eva einen Kuß.
Wie schön sah der Junge in seiner Erregung und in seinem Trotz aus! Eva
aber würde ihren Kuß schwerlich gekriegt haben, wenn sie Wolf nicht gebändigt,
und wenn sie sich ihren Kuß nicht geraubt hätte.
Wolf zog ab, besiegt und beschämt, und Eva sah aus — wie eine Walküre,
dachte der Doktor, die ihren Feind niedergestreckt hat. Auch er konnte nicht ernst
bleiben und rief lachend: Würde man nun das, was Wolf widerfahren ist, eine
tätliche Beleidigung nennen können? Komm her, Wolf, sie solls nicht wieder tun.
Das macht gar nichts aus, was du sagst, erwiderte Wolf, die tut doch, was
sie will.
Und das soll sie auch, sagte Onkel Heinz stolz. Sie ist mir viel zu schade
dazu, Zaum und Zügel zu tragen.
In der Bibel steht geschrieben, sagte Wolf: Und Gott sprach zu Eva: Er soll
dein Herr sein.
Das war auch Eva im Paradiese, zu der es Gott sagte, antwortete der Doktor,
der gerade nichts besseres zu sagen wußte, weil er dem Jungen doch nicht klar
machen konnte, daß dieser Ausspruch das Produkt einer von der modernen Menschheit
längst überwundnen rabbinisch-orientalischen Kultur sei, eine Anschauung, die auf die
moderne Frau keine Anwendung finde.
Das ist auch eine Eva, rief Wolf, auf Eva zeigend, womit zwar das Problem
nicht gelöst, aber eine prompte Antwort gegeben war.
Unser Denken gleicht nicht selten der Bewegung einer Wage. Die Schalen
steigen auf und nieder, bis ein geringes Übergewicht nach der einen oder der
andern Seite den „Ausschlag" gibt. Was sich der Doktor über Frauendienst ganz
im stillen gedacht, und was ihm Schwechting darüber laut gesagt hatte, das lag in
der einen Wagschale, und in der andern, was die Theorie vom freien Menschen¬
willen forderte, und was er darüber zu sagen gewohnt war. Das hielt sich un¬
gefähr die Wage und ließ das Zünglein bald nach rechts, bald nach links aus¬
schlagen. Jetzt kam nun Wolfs kindliche These: Er soll dein Herr sein, und: Das
ist auch eine Eva, hinzu und drückte die eine Schale nieder. Unser kleiner Prophet,
sagte der Doktor nachdenklich, hat uns keine leichte Ausgabe gestellt. Eva, glaubst
du, daß es sich von selbst macht: Zwei Seelen und ein Gedanke, zwei Herzen und
ein Schlag? Es ist ein Kunstwerk der Selbsterziehung. Ich denke an zwei edle
Pferde, die nebeneinander laufen, ohne des Zügels zu bedürfen, weil sie immer
eine leise Fühlung miteinander haben. So sollen Menschen, die zusammengehören,
jederzeit Seelenfühlung miteinander haben, eine ganz leise und doch sichre Fühlung.
Dann gehts.
Und doch geht es nur, wenn die Peitsche dahintersteht, sagte Eva.
Freilich, Eva. Und viel Arbeit gehört dazu, bis man sich diese innere Frei¬
heit in der Zusammengehörigkeit erworben hat. Meinst du nicht, daß es Zeit wird,
mit dieser Arbeit zu beginnen?
Ach, Heinz, sagte Eva sorglos, sei doch nicht so ein alter Schulmeister!
Kondrot hatte schwere Sorgen. Jetzt merkte er es, wie schön es gewesen
war, alle Monate seinen Gehalt einzustreichen, und wie schwer es war, den Be¬
trag, der ihm nun verloren gegangen war, durch Arbeit einzubringen. Denn nicht
überall ist Zeit Geld. In Tapnicken war schlechte Zeit. Der Fischreichtum der
See hatte merklich nachgelassen. Man hätte sich seine Fischgründe wahrscheinlich
schon längst durch Raubwirtschaft verdorben, wenn nicht die Fischereipolizei ein
wachsames Auge gehabt und die Größe der Maschenweite der Netze vorgeschrieben
und überwacht hätte. Auf dringende Bitten der fischereitreibenden Bevölkerung
hatte nun vor einigen Jahren die Behörde gestattet, bei der sogenannten Kurren¬
fischerei statt des weitern Garns ein engeres zu verwenden. Diese Erlaubnis war
auf fünf Jahre erteilt worden. Da sich jedoch zeigte, daß sich in den engmaschigen
Netzen unausgewachsne Zander und andre Edelfische in großen Mengen fingen, so
erklärten die Sachverständigen den Versuch für mißlungen, und nach Ablauf der
fünf Jahre wurde die Erlaubnis, das engere Garn zu benutzen, zurückgezogen.
Dies erregte unter den Fischern großen Unwillen. Denn nun konnten sie mit
ihren weitmaschigen Netzen nicht mehr halb das fangen wie zuvor. Sie hatten
vom Kapital gelebt, und nun wollte das Kapital keine Zinsen mehr bringen. Man
zürnte heftig und warf all seinen Groll auf die Obrigkeit und deren Ungerechtig¬
keit, das heißt auf den Amtshauptmann, der übrigens mit dieser Sache überhaupt
nichts zu tun hatte. Da man aber gewöhnt war, ihn als den Herrn in allen
Dingen anzusehen, so mußte er auch daran schuld sein, daß der Fischereimeister
eine ungewöhnliche Strenge anwandte und alles engmaschige Zeug, das er antraf,
konfiszierte.
In dieser ungünstigen Zeit begann Kondrot seinen Fischhandel. Er hatte all
sein bares Geld und all seinen Kredit daran gewandt, sein Schiff in Stand zu
setzen und zu bemannen. Er fuhr mit ihm hinaus auf See und kaufte den Fischern
ihren Fang ab, um ihn nach Strcmßbeck zu fahren, wo die Eisenbahn nahe an die
See kam, und ihn nach N. oder Berlin zu verfrachten. Aber dieser Fang war
zu klein, als daß er die Spesen hätte tragen können. Wenn man ein Motorboot
gehabt hätte, das in wenig Stunden, und ohne Rücksicht auf den Wind zu nehmen,
die ganze Fischereiflotte besuchen konnte!
Die Herren Kupscheller waren natürlich von der neuen Konkurrenz wenig er¬
baut, sie schimpften in drei Sprachen, drohten mit furchtbarer Rache und rüsteten
gleichfalls Kaufboote aus. Und der Jtzig, von dessen Verwegenheit wir schon zu
berichten Gelegenheit gehabt haben, überwand seine natürliche Abneigung gegen das
Wasser, bestieg sein Boot — hast du nicht gesehen —, wurde ein Kapitän, setzte
eine Kapitänsmütze auf und verschwor sich, er werde den Kondrot übersegeln, daß er
müßte versaufen wie ne Ratte. Auf See gab es nun zwischen den Käufern harte
Zusammenstöße — Seeschlachten, sagte der Jtzig —, bei denen Kondrot als der
friedfertigere und schlechter ausgerüstete den kürzern zu ziehn Pflegte. Bei einer
solchen Gelegenheit wurde sein schweres Boot in einer nebligen Nacht so angerannt,
daß der alte morsche Kasten in allen Fugen krachte und nur mit Mühe so lauge
über Wasser gehalten werden konnte, bis man die Nähe der Küste erreicht hatte.
Da löste er sich in seine Bestandteile auf, und Kondrot und seine Leute hatten
Mühe, das Leben zu retten.
Nun stellte der Amtshauptmann eine Untersuchung an, bei der Kondrot die
Stelle des Angeklagten einnahm, und bei der natürlich nichts herauskam. Kondrot
wurde der Vorwurf gemacht, daß er die Schiffahrt nicht verstehe und im ent¬
scheidenden Augenblick falsch gesteuert habe, und es fehlte nicht viel, daß er dem
Jtzig, der der Täter gewesen war, auch noch eine Entschädigung hätte leisten und
dafür Strafe zahlen müssen, daß er mit einem seeuntüchtigen Fahrzeug auf See
gegangen sei. Die Folge dieser durch das Seeamt bestätigten Entscheidung war,
daß die Versicherungsgesellschaft sich weigerte, die Versicherungssumme auszuzahlen.
Kondrot hätte klagen können, aber Kondrot war arm und hatte auch keinen Mut.
Er verdiente also nichts mehr und hatte dabei die für ihn unerfüllbare Verpflichtung
auf den Schultern, den alten Leuten im Altenteile ihr Gedinge pünktlich aus¬
zuzahlen. Und zwar das meiste in barer Münze, die jetzt nirgends zu haben war.
Die alten Leute waren von häßlicher und habgieriger Gesinnung. Sie gönnten
niemand etwas, am wenigsten dem eignen Schwiegersohne. Sie hatten einen
ganzen Strumpf voll Geldstücke, und dieses Geldchen zu bewachen, war neben Essen
und Trinken ihre einzige Lebensaufgabe. Der Strumpf lag im Bett, und eins
der beiden Alten saß immer darauf wie eine Henne auf ihren Eiern. Als nun
Kondrot kein Geld auftreiben konnte und der Zahlungstermin zum erstenmal
vorüberging, ohne daß die Taler auf dem Tische lagen, erhob sich ein großes Ge¬
wimmer, und der Alte, der aus Furcht, sein Geldchen könne ihm genommen werden,
seit Jahren nicht sein Haus verlassen hatte, kroch aus dem Bett, zog eine zweite
Jacke über die erste und stellte sich an die Straße, wo er jeden, der vorüberging,
anrief, um ihm seine Not zu klagen. So kam er auch an den Schneider Quaukies
und damit in die richtigen Hände. Der Schneider versprach, sich der Alten an¬
zunehmen und den Fall dem Amtshauptmcmu zu melden. Dann folgten lange ge-
Heime Verhandlungen, und das Ende war, daß eines Tags eine Klage auf Zahlung
des Gebirges einlief. Kondrot mußte aufs Gericht. Dort stellte er in aller Demut
seine bedrängte Lage Vor. Er wolle die Alten solange ernähren, als er selbst noch
etwas habe, aber bar Geld könne er nicht schaffen. Der Richter war ein ver¬
ständiger Mann und hielt dem Vertreter des Klägers vor, daß er in Gefahr sei,
gar nichts zu kriegen, denn ein mit so hohem Ausgedinge belastetes Haus werde
niemand kaufen, wenn es Kondrot werde aufgeben müssen. Man möchte sich doch
vergleichen. Aber der Vertreter, der uns wohl bekannte Winkeladvokat, bestand
auf seinem Schein und setzte eiuen Zahlungsbefehl durch. Das einzige, was der
Richter erreichen konnte, war, daß der Zahlungstermin so weit als möglich hinaus¬
gerückt wurde.
Kondrot tat kaum einen Schritt, das Unheil abzuwenden. Er wußte, daß
kein Geld im Orte war, da die Fischer kaum das liebe Leben hatten, er wußte
auch, daß die, die ihm vielleicht hätten helfen können, es nicht tun würden aus
Furcht vor dem Herrn Amtshauptmann. Denn jedermann konnte es ja merken,
wessen Hand die „Anfechtungen" schuf, die über Kondrot kamen. Daß Kondrot
die Forstkasse bestohlen habe, glaubte kein Mensch mehr, denn dann hätte Kondrot
längst hinter Schloß und Riegel sitzen müssen. Für die Unbeteiligten handelte es
sich auch gar nicht um eine Rechtsfrage, sondern um eine Machtfrage, nämlich um
den hoffnungslosen Kampf eines Kleinen gegen den Zorn eines allgewaltigen Herrn,
und das Volk hat von jeher die gemieden, die von den hohen Göttern gezeichnet
waren. Kondrot hätte den Doktor um Hilfe bitten können, aber dazu war er zu
stolz und zu schüchtern. Er ergab sich mit christlichem Fatalismus in sein Schicksal
und trug sein Los als seiner Sünden Strafe. Hatte er einst aus Geiz und Genu߬
sucht seine Seele Groppoff verschrieben, so hoffte er, seine Schuld abgetragen zu
haben, wenn er, den Bettelstab in der Hand, aus seinem Hause auswandern mußte.
Nur eins schmerzte ihn, daß er seinen Jurgis nicht mehr auf der Schule erhalten
konnte und ihn heimrufen niußte. Jurgis kam denn auch tief verbittert zurück, um
zuhause zu warten, bis sich für ihn Verdienst und Unterkommen bieten werde.
Einen Trost gewahrten Kondrot die Abende, an denen sich eine kleine Ge¬
meinde in seinem Hause versammelte, um die Schrift zu lesen und auszulegen. Es
war der Schulze, der, als Kondrot das Amt des Verkündigers niedergelegt hatte,
an seine Stelle hatte treten müssen, und etliche verzweifelte Fischer, in Summa
Leute, die mit dem Laufe der Dinge nicht einverstanden waren und das Ende der
Welt erwarteten. Man las die Offenbarung Johannis, ein Buch, das in den
Köpfen von Leuten, die ihrem Verstand mehr zugemutet hatten, als er tragen
konnte, Verwirrung genug angerichtet hat. Zu ihnen kam die Arte Beit und Jurgis.
Alle Sonnabend Abend, wenn der Sabbat angegangen war, versammelte man sich,
nachdem man den Sonntagsrock angezogen, das Gesicht gewaschen und die Haare
glatt gekämmt hatte. Kondrot saß in seinem Lehnstuhle, der Schulze am Tisch
bei einer dürftigen Lampe, während der Schein des schwindenden Tages durch die
Spalte der Tür hereinleuchtete und dennoch nicht gut machen konnte, was die
Lampe versäumte. Und im Kreis herum saßen die Hörer, die Hände gefaltet und
die Blicke ins Weite gerichtet.
Der Schulze hatte vor sich die Bibel, hatte die Fäuste eine auf die andre
gelegt, das Kinn darauf gestützt und las mit dem Tone tiefer Andacht: Und ich
trat an den Sand des Meeres und sahe ein Tier aus dem Meer steigen, das
hatte sieben Häupter und zehn Hörner und ans seinen Hörnern zehn Kronen und
auf seinen Häuptern Namen der Lästerung. Und das Tier, das ich sahe, war
gleich einem Pardel. Der, Schulze seufzte tief.
Gleich einem Pardel, wiederholte einer der Hörer kopfschüttelnd und seufzte
ebenfalls tief.
Der Schulze fuhr fort: Und seine Füße gleich Bärensnszen, und sein Mund
eines Löwen Mund. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und
große Macht. Der Leser seufzte abermals und sagte: Lasset uns den Geist ernst-
lich anrufen, daß er uns erleuchte. Ich meine aber im Geiste zu reden, wenn ich
sage: das Tier — das ist der Amtshauptmann. Er wohnt am Sande des Meers,
und er hat eine große Macht, und sein Mund redet Worte der Lästerung.
Man schwieg und erwog den Gedanken, während Jurgis im Hintergrunde
kurz auslachte.
Michelis, sagte der Schulze zu Kondrot, rede du.
Kondrot erwiderte: Bist du gewiß, Johannes, daß dir der Geist Zeugnis gibt?
Sollten wir glauben, daß der heilige Prophet vor zweitausend Jahren Tapnicken
gesehen habe, und daß er Groppoff bezeichnet habe vor tausend andern, die vom
Drachen Macht erhalten haben?
Ja, Michelis, erwiderte der Schulze, der Geist gibt Zeugnis, daß Geist Wahr¬
heit sei. Es ist Groppoff. Und die Häupter sind Päsch und Quaukies und Heine¬
mann und der PostVerwalter und der Fischmeister.
Sie schnauben, sie schnauben fürchterlich! sagte die Arte.
Der Schulze fuhr fort: Und ich sahe seiner Häupter eins, als wäre es töd¬
lich wund, und seine tödliche Wunde ward heil, und der ganze Erdboden ver¬
wunderte sich des Tieres.
Wieder seufzte die Hörerschaft tief und sagte: Es ist Groppoff.
Ja, es ist Groppoff, wiederholte der Schulze. Siehst du nicht, Michelis, der
dem Tiere die tödliche Wunde gegeben hat, ist Doktor Rambvrn. Aber sie wird
heil werden. Wer will gegen seine große Macht bestehn? . . . Und ward ihm
gegeben, daß es mit ihm währte zweiundvierzig Monate. — Michelis, zweiund¬
vierzig Monate.
Groppoff ist aber hier seit zwanzig Jahren.
Einer aus dem Kreise sagte, man möchte den Herrn Pastor fragen, was die
zweiundvierzig Monate bedeuteten. Aber dieser Vorschlag fand keinen Anklang.
Man hatte eine heimliche Furcht vor des Herrn Pastors klarer Rede, und man
wollte sich nicht sein mystisches Dunkel ausheilen lassen.
Jurgis, sagte Arte, du bist in Danzig gewesen und hast studiert, rede du.
Ich meine, sagte Jurgis, wartet! Dann wird euch der Geist Zeugnis geben,
wenn die Zeit um ist. Und wenn nicht, dann nehmt die Faust und rückt den
Zeiger an der Uhr. Ein Hund, der sich knechten läßt.
(Fortsetzung folgt)
In Kieler Berichten wird dem Kaiser oder doch „einer
autoritativen Persönlichkeit seiner Umgebung" das Wort zugeschrieben, das über das
Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in der Nachtischunterhaltung im
Kaiserlichen Jachtklub gefallen sei: „Der König von Preußen konnte allenfalls eine
offensive Kabinettspolitik treiben, der Deutsche Kaiser kann das nicht." Der historische
Grundgedanke dieses Ausspruchs kann nur der sein, daß sich Preußen zuerst seine
Stellung in Deutschland hatte erkämpfen müssen und dann dem unter seiner Führung
geeinten Deutschland seine Stellung in der Welt. Nur insofern kann von einer
„offensiven Kabinettspolitik" die Rede sein. Schon 1870 war die preußische Politik
nicht mehr offensiv, sondern nur en veäotw gegenüber den in Frankreich vorhandnen
offensiven Tendenzen. Von dem Augenblick an, wo die Einigung vollzogen war
— in, Nordbunde durch die Verfassung, nach Süden hin durch die Schutz- und
Trutzverträge —, wurde aus der preußischen Politik der offensive Zug, der sie von
1362 bis 1866 beherrscht hatte, ausgeschieden. Sie benutzte den Anlaß, den die
luxemburgische Angelegenheit einer offensiven Politik geboten hätte, nicht, sie be-
gnügte sich im September 1867, den Napoleonisch-Beustscheu Konferenzen in Salz¬
burg gegenüber durch die berühmte Zirkulardepesche warnend den Finger aufzu¬
heben, im übrigen wartete sie geduldig ihrer Zeit. Charakteristisch in dieser
Beziehung ist eine Äußerung Bismarcks aus dem Jahre 1869 einem Franzosen
gegenüber, die Bernhardt nach einer Mitteilung Abekens wiedergibt. Ein Franzose
hatte dem Bundeskanzler die Situation in Paris mit den Worten geschildert: „Der
Kaiser schwankt zwischen der Lust, Ihnen den Krieg zu machen, und der Furcht,
sich mit Deutschland zu messen." Bismarck erwiderte: „Bei uns ist gerade das
Gegenteil der Fall. Wir haben weder diese Lust noch die Furcht." (vue» nous
e'the tont ^justo Is nordi-airs, nous u'g.voi>s ni estts snvis ni la ers-mes.) Demgemäß
ist denn auch der Krieg von 1870 kein „Kabinettskrieg" gewesen, wie für die
Kriege von 1864 und 1866 vielleicht behauptet werden kann, wenngleich auch sie
unabweisbaren politischen und historischen Notwendigkeiten entsprachen. Der Krieg
von 1870 war ein Volkskrieg in dem besten Sinne des Wortes, ein Ausbrennen
des heiligen Funkens vom Bodensee bis Memel, eine breite mächtige Woge der
populären Strömung, an die Bismarck wohl gedacht haben mag, als er später in das
Stammbuch des Germanischen Museums die Worte eintrug: 1'fre unes, nee rc-Kitur.
Diese breite Woge wird durch alle Zukunft auch den Deutschen Kaiser tragen müssen,
denn die europäischen Kriege des geeinten Deutschlands werden immer Existenzkämpfe
sein, für die die Nation nicht nnr den letzten Blutstropfen, sondern auch den letzten
Schlag des zornigen tat- und siegbereiten Herzens einzusetzen hat. Die deutsche
Politik wird auch in Zukunft so wenig offensiv sein, gleichviel welcher europäischen
Macht gegenüber, wie sie es nach 1866 überhaupt nicht mehr gewesen ist. Politische
Defensive kann sehr wohl zur militärischen Offensive zwingen; in der Verteidigung
seiner bedrohten oder mißachteten Rechte kann Deutschland eines Tages zu den Waffen
greifen müssen und durch Stellung eines Ultimatums einen Krieg beginnen. Das
würde aber immer nur ein Krieg des Rechts und der Ehre gegenüber fremder
Bedrohung oder Herausforderung sein.
Was die Anwendung dieser Hypothesen auf unser jetziges Verhältnis zu Frank¬
reich anlangt, so wäre eine kriegerische Entwicklung nicht nur möglich, sondern
vielleicht sogar wahrscheinlich gewesen, wenn Herr Delcasft am Ruder geblieben
Wäre, dessen Politik darauf ausging, gemeinsam mit England dem Deutschen Reiche
eine für uns unannehmbare Position zu bereiten. Herr Rouvier hat das durch¬
schaut, den Delcasseschen Faden abgeschnitten und damit dem europäischen Frieden
einen großen Dienst geleistet. Von diesem Augenblick an war die marokkanische
Frage der Möglichkeit entkleidet, zu einem Kriegsgrund aufgebauscht oder als
Kriegsvorwand mißbraucht zu werden. Nun ist auch die Annahme der Konferenz
erfolgt. Da die Beschlüsse der Konferenz einmütig gefaßt sein müssen, damit sie
für alle Beteiligten bindend sind, bleibt für friedestörende Absichten immer noch
ein weiter Spielraum. Die Frage: Was wird, wenn die Konferenz ergebnislos
bleibt? liegt gar nicht so fern. Jedoch, die Strömungen und die Persönlichkeiten,
die sich als hinreichend stark erwiesen haben, die Konferenz zustande zu bringen,
ohne daß Frankreich darin eine Niederlage zu sehen braucht, werden sich auch stark
genug erweisen, der Konferenz ein befriedigendes Ergebnis zu sichern und dem
bedeutungsvollen marokkanischen Reformwerk seinen friedlichen Weg zu ebnen. Für
die internationale Konstellation ist das jüngste Telegramm des Präsidenten Roose-
velt an Kaiser Wilhelm bei dem Besuch in Havarden wohl ebenso wenig ohne
Bedeutung wie der Umstand, daß gleichzeitig im englischen Unterhause von „notwen¬
digen Kämpfen in der Nordsee" die Rede sein konnte, ohne daß von der Negierung
anch nur der leiseste Einspruch erfolgt wäre, wie er sonst in solchen Fällen den
üblichen diplomatischen Gepflogenheiten entspricht. Mag es immerhin sein, daß das
Kabinett Balfour des Spielens mit diesem Feuer zu Wahlzwecken bedarf und sich
aus diesem Grunde gern gefallen läßt, vor der Nation als der besondre Wächter
und Hüter der Macht und der Interessen Großbritanniens zu gelten — ein um
so billigeres Vergnügen, als die englische Regierung genau weiß, daß eine „deutsche
Gefahr" in keiner Weise besteht. Für die nicht englische politische Welt bleibt
mit der Tatsache zu rechnen, daß England durch die unverhoffte äußere und innere
Schwächung Rußlands eine unerwartete weite Ellbogenfreiheit gewonnen hat, deren
Ausnutzung für ehrgeizige und entschlossene britische Staatsmänner eine große Ver¬
suchung ist. Seit Peter dem Großen hat es uoch keinen einzigen Augenblick ge¬
geben, wo Rußland so vollständig aus deu Berechnungen der großen Politik aus¬
geschieden gewesen wäre, wie gegenwärtig.
Mögen immerhin zahlreiche Vorgänge der jüngsten Zeit durch maßlose Über¬
treibungen in der Presse ein völlig entstelltes Aussehen gewonnen haben, die Tat¬
sache bleibt bestehn, daß die Regieruugsnnfähigkeit im Zarenreiche einen sehr hohen
Grad erreicht hat — am deutlichsten illustriert durch den Umstand, daß, während
beim Tode des Kaisers Alexander des Zweiten ein fertiger Verfassungsentwurf
vorlag, die jetzige Regierung in sechs Monaten nichts zustande zu bringen ver¬
mocht hat! Unsre deutsche bundesstaatliche Verfassung, die sich jetzt seit achtunddreißig
Jahren bewährt hat, ist das Werk eines halben Tags gewesen! Nun sagt man
nicht mit Unrecht: für ein Land, wo sechzig Prozent, nach andrer Version gar
neunzig Prozent der Landesangehörigen nicht lesen und schreiben können, ist eine
moderne Verfassung unmöglich. In diesem Sinne mag Zar Nikolaus im Rechte
sein mit dem Ausspruch, daß die Verfassung Rußlands eine russische sein müsse,
aber das Wichtigste wäre gewesen, daß man eine Verfassung rechtzeitig erließ,
um damit einer gefährlichen Gärung vorzubeugen. Auch im Zarenreiche kaun es
ein „zu spät" geben. Wie die Dinge heute liegen, wird auch eine Verfassung
von der verloren gegangnen Regierungsautorität mir wenig retten. In Augen¬
blicken wie der, deu Rußland gegenwärtig erlebt, ist gewiß das Wort: „Männer,
nicht Maßregeln" am Platze. Männer, die der Niesenaufgabe gewachsen sind,
scheint Rußland entweder nicht zu haben, oder man vermag sie nicht zu finden und
an die richtige Stelle zu bringen; die Maßregeln aber, zu denen man sich bisher
entschlossen hat, sind widerspruchsvoll, schwankend und ziellos. Kein beherrschender
Gedanke und keine beherrschende Hand. Dieselben Erscheinungen wie in der Bc-
fehlsführung auf dem Kriegsschauplatz spiegeln sich auch in der gesamten innern
Lage. Unnützes Blutvergießen, wo es durch geschickte Vorbeugungsmaßregeln zu ver¬
meiden gewesen wäre, und Versagen der staatlichen Autorität, wo sie notwendig
war. So ist die Marseillaise in Kronstäbe und Petersburg im Jahre 1891 doch
die Drachensaat gewesen, aus der die geharnischten Männer entstanden sind, die
demi russischen Selbstherrschertum das Ende bereiten werden. Alexander der Dritte
hat sie damals widerwillig mit angehört, heute rächt sich das, Rußland erlebt die
zweite und gewaltigere Auflage der Dekabristen, die schier unvermeidliche Frucht
seiner intimen Berührungen mit Frankreich.
Was der französische Adel am Vorabend der „großen" Revolution, das ist
die russische vornehme Welt in den letzten Jahrzehnten ihrem Lande gewesen. Auch
Ludwig der Sechzehnte war ein gutmütiger Monarch, aber ihm fehlte ebenso wie
dem heutigen Regiment in Rußland die Erkenntnis, daß Regieren Voraussehen
bedeutet, obwohl gerade die französische Sprache diesen Gedanken am prägnantesten
zum Ausdruck gebracht hat. Aus Vernachlässigung und Pflichtversäumnis ist die
Fäulnis hervorgegangen. Dazu dann die Halbheit des russischen Universitätswesens,
die in der heranreifenden Jugend alle Ideale vernichtete und dadurch das Staats¬
wesen einer seiner besten Stützen, des hingebungsvollen Idealismus, beraubt. Jeder
uniformierte russische Student, der im Sommer unsre Straßen sowie die deutscheu
und die österreichischen Bäder als eine auffallende Erscheinung belebt, ist in seiner
Person eine lebendige Anklage gegen eine selbstmörderische Regierungsform, deren
unausbleibliche Frucht, der Nihilismus, Rußland verwüstet. Ju Berlin konnte einst
Dubois-Reymond die Universität als die geistige Leibwache des Hauses Hohen-
zollern bezeichnen. Dieser eine Satz erklärt ein großes Stück unsrer Geschichte. Was
hat dagegen Nußland aus seinen Universitäten gemacht, nicht nur aus deu russischen,
sondern aus Dorpat, das — eine Oase in der Wüste — ihm doch so viele tüchtige
Männer geliefert hat?
Sicherlich wird auch Rußland schließlich neugekräftigt aus dieser Krisis hervor¬
gehn, die vielleicht notwendig war, die kranken und wunden Stellen am Staatskörper
der trügerischen Hülle zu entkleiden und sie in ihrer ganzen Gefährlichkeit bloßzulegen.
Deutschland kann aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen nur wünschen, daß
in dem östlichen Nachbarreiche bald wieder gefestigte Zustände eintreten mögen, wobei
wir uns keineswegs verhehlen wollen, daß ein liberal, womöglich konstitutionell
regiertes Rußland uns bet weitem nicht so freundlich gesinnt sein wird, wie es das
zarische mit geringen Ausnahmen gewesen ist. Die populären Strömungen in den
breitern Massen werden sich mehr gegen Deutschland richten und die Koketterie mit
der französischen Republik, die die Zaren widerwillig über sich haben ergehn lassen,
um so aufrichtiger betreiben. Hierzu kommt dann noch die größere Rolle, die das
polnische Element zu gewinnen wissen wird. Wie jetzt schon einer Führung in der
Presse wird es sich auch einer solchen in den zu schaffenden Vertretungskörpern zu
bemächtigen suchen, wenn es nicht etwa vorziehn sollte, die Schwäche der russischen
Staatsgewalt zu einer neuen revolutionären Erhebung zu benutzen, für die der
Augenblick gekommen wäre, bevor Rußland neu erstarkt und Kräfte gewinnt.
Alle diese Verhältnisse legen uns in Deutschland die Pflicht zur innern Samm¬
lung doppelt nahe. Niemand kann wissen, welchen Gefahren Deutschland in den
nächsten Jahren gegenüberstehn mag, denen gegenüber unser gesamter innerer Partei¬
hader als ein Nichts verschwindet. Deshalb ist es auch von hohem Werte, daß
die Landtagssession ohne Disharmonien ausgeklungen ist, und daß das Herrenhaus
die Berggesetznovelle angenommen hat, so groß und so gerechtfertigt die Bedenken
dagegen auch gewesen sein mögen. Ein Teil der Presse hat aus dem Umstände,
daß der Vorwärts und andre sozialdemokratische Blätter, auch Redner der Partei,
an dem Gesetzentwurf kein gutes Haar ließen, folgern zu müssen geglaubt, daß sich
die Vorlage schon aus diesem Grunde, wegen des Mißfallens der Sozialdemokratin
zur Annahme empfehle. Über diese sozialdemokratische Taktik sollten sich unsre Politiker
doch endlich klar sein. Die Soztaldemokraten schimpfen auf jedes sozialpolitische Gesetz,
stimmen im Reichstage dagegen, weil sie dann um so sicherer sind, daß die andern
Parteien es annehmen. Gesetzentwürfe, die die Ideale der Sozialdemokratie ver¬
wirklichen, sind ja nicht zu erwarten, deshalb sind die Genossen innerlich froh über
jede Abschlagszahlung, die ihnen entgegengebracht wird, wobei sie freilich kräftig der
Vorlage fluchen, die ihnen statt Brot Steine gewähre. Es ist das für sie immer
das sicherste Mittel, die Annahme eines Gesetzes herbeizuführen, dessen Ablehnung
sie sonst vielleicht mit Sicherheit zu gewärtigen hätten. Die Genossen lachen sich
hinterher in die Faust. Sie selbst stimmen niemals für eine Vorlage, um nicht
damit indirekt zuzugeben, daß die Regierung etwas „zur Befriedigung des Volkes"
getan habe, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, bei denen es eben nicht
anders ging. Würden die staatserhaltenden Parteien konsequent jede sozialpolitische
Vorlage ablehnen, ans die die Sozialdemokraten schimpfen, so würde man sehr
bald erleben, daß diese die Mehrzahl solcher Vorlagen zu retten suchen dürften,
die ihnen ja doch mehr oder minder sämtlich Sprossen an der Leiter sind. Freilich,
müssen sie Regierungsvorlagen, wenn auch unter Protest, annehmen, so würden
sie das Agitationsmaterial verlieren, das sie sich jetzt dadurch zu erhalten wissen,
daß sie den Inhalt der ihnen höchst willkommnen Gesetze verwerfen, zugleich aber
die Annahme dem „dummen Bourgeois" überlassen.
Nationalliberale Stimmen haben jüngst wieder einmal den üblichen Chorgesang
angestimmt, mit dem sie in ziemlich regelmäßigen Intervallen den Diätenkultus zu
begleiten Pflege«. Die Kölnische Zeitung hatte ihnen entgegengehalten, daß damit
auch nichts gewonnen sei, und daß die große Zahl von Doppelmandaten, Reichstag
und Landtag, die Diäten um so überflüssiger mache. Auch liege gerade hierin für
die Beschlußfähigkeit eine große Erschwerung. In andern nationalliberalen Organen
wurde darauf entgegnet, die Doppelmandcite seien eben der Fluch der bösen Tat der
Diätenlosigkeit; well sie bei dieser nicht bestehn könnten, müßten viele Abgeordnete
zum Doppelmandat ihre Zuflucht nehmen. Mit Verlaub, ihr Herren, so liegt die
Sache in ihrer historischen Entwicklung doch nicht. Es existieren recht sprühende
Reden, z. B. des Abgeordneten Nickert und andrer, die zu der Zeit, als die Zu-
lässigkeit des Doppelmaudats im Norddeutschen Reichstage erörtert wurde, erklärten,
daß die Doppelmandate nötig seien, „um den Zusammenhang zwischen dem Reichstage
und dem Abgeordnetenhause, der Vundesgesetzgebung und der Landesgesetzgebung zu
erhalten." Möglich, daß Herrn Nickert und andern Rednern schon damals der
Gedanke vorgeschwebt hat, die Landtagsdiäten als Äquivalent für die Reichstags-
diätenlosigkeit anzunehmen. Was in den neuern Ausführungen als besonders un¬
zulässig erscheint, ist der Hinweis auf die andern großen, diätenbegabten Parlamente.
Erstens steht diesen allen ein Senat, ein Oberhaus gegenüber, zweitens sind das
gesetzgebende Versammlungen einheitlicher Staaten, während unser Reichstag die
Vertretung eines bundesstaatlich organisierten Staatsgebildes darstellt neben dem
Zweikammersystem der Einzelstaaten. Der Reichstag ist somit mit den parlamen¬
tarischen Körperschaften andrer Nationen überhaupt nicht zu vergleichen. Leider hat
er sich ganz anders entwickelt, als er ursprünglich gedacht war und sich im ersten
Jahrzehnt seines Bestehens auch erhalten hat. Der damalige Reichstag hätte Diäten-
zumutungen, wie sie jetzt gäng und gäbe sind, als beleidigend abgewiesen, dem heutigen
Wenn meine Augen vom Wandern über die grauen Zeilen der Arbeiten,
worin die Schüler die Künste der ?a,Is,ostriz (Ziesromaug, üben, müde geworden sind,
kann ich sie, was in der Großstadt nichts Kleines ist, auf dem dichte« Blätter¬
gewebe benachbarter Gärten ruhn lassen. Da erfreut sie außer dem Grün der
Ahorne oft ein anmutiges Pentathlon. Spielend und dürrend üben die Kinder
eines hohen Hofbeamten auf Lohe und Rasen die junge Kraft. Gewöhnlich ist der
Vater selbst 7rtttckor^/?^s und verwendet in der körperlichen Erziehung seiner
eignen Kinder die pädagogische Erfahrung und Kunst, die er sich als Offizier in
der Ausbildung seiner Rekruten erworben hat. Mehrmals in der Woche erscheint
am Abend ein Unteroffizier des Jnfanterie-Leib-Regiments und unterweise mit unver¬
kennbarem Takt und mit pädagogischen Geschick die drei Knaben und die zwei
ältern von den Mädchen im Reckturnen, im Klettern, im Dauerlauf, im Hoch- und
im Weitsprung. Drollig sieht es aus und das Herz erfreut es, wenn die jüngere
der kleinen Amazonen, ein fünfjähriges Kind, in Übungen wie die Kniewelle es
den Brüdern nachzutun versucht. Weiter drüben im Grün, jenseits des nächsten
Zauns, ragt ein zweites Turngerüst ins Ahorngettst. Der glückliche Besitzer, der
jüngste Sohn eines Offiziers, teilt dieses Gut mit Quartanern aus der Häuser¬
wüste, die außer der Straße keinen Spielplatz haben, und an freien Nachmittagen
sehe ich oft länger, als dem Gymnasiallehrer in mir zulässig erscheint, den kleinen
Turnplatz und das Gerüst belebt von fröhlicher Jugend. Wird so wie hier durch
die Einsicht der Eltern und durch die Gunst der Verhältnisse die karge körperliche
Erziehung, die das Gymnasium gibt, ergänzt, dann legen die Kinder den weiten
Weg durch die Schule freilich ohne Schaden oder doch mit geringem Schaden
zurück. Aber die Wohltat der körperlichen Erziehung muß auch den Kindern
minder wohlhabender und minder weiser Eltern zuteil werden, nicht bloß einem
kleinen Kreise durch die Freundlichkeit eines guten Kameraden, sondern allen armen
„Tintenbnben," deren Tummelplatz die Straße ist, durch die Fürsorge des Staats.
Diese Forderung schon wieder auszusprechen, drängt mich die Mahnung, die
aus dem Buche des bayrischen Generalstabsarztes z. D. Dr. Anton von Vogt über
„Die wehrpflichtige Jugend Bayerns"*) klingt.
Generalstabsarzt Dr. von Vogt bezeichnet in diesem Buche Serings Satz „Die
Landbevölkerung bildet nach wie vor die Hauptquelle der physischen Kraft der
Nation" in der Auffassung, „daß das Land, aber nicht die Landwirtschaft die meisten
und die tüchtigsten Rekruten liefert," als vollgiltig für Bayern. Das Stadtleben
äußert eine verderbliche Wirkung nach seiner Ansicht dadurch, daß es die Nach¬
kommen der nach der Erfüllung der Wehrpflicht vom Lande einwandernden körperlich
schwach macht. Berlin erhält einen fortwährend steigenden Zuzug aus der Provinz
Brandenburg, die eine ungewöhnlich hohe Tauglichkeitszahl, 82 Prozent, hat. Aber
trotz dem reichlich nach der Hauptstadt strömenden gesunden Blut sinkt die Tauglich¬
keitszahl Berlins fortwährend, bis zu 38 Prozent. So prompt arbeitet die Sybaris
von Brandenburg. Doch sieht der Verfasser in der „Industrialisierung" keine Gefahr
und in der Vergrößerung und der Vermehrung der Städte nicht die Hauptgefahr
für die Wehrfähigkeit. Er bezeichnet die Kindersterblichkeit und die Tuberkulose
als die Schäden, die die Zahl und die Tauglichkeit der bayrischen Wehrpflichtigen
am tiefsten herabsetzen. Im Jahre 1901 fielen 41.3 Prozent aller Sterbefälle
männlicher Wesen in das erste Lebensjahr. „Fast aller Verlust an Wehrkraft und
aller Gewinn drängt sich in der Kindersterblichkeit bzw. ihrer Bekämpfung zusammen."
Die Vorenthnltung der Mutterbrust und damit eine unvollkommne und fehlerhafte
Ernährung sind der Hauptgrund der hohen Kindersterblichkeit in Bayern. Der
Verfasser erhärtet und beleuchtet diese Behauptung, indem er eine wichtige Beobach¬
tung mitteilt, die im letzten deutsch-französischen Kriege gemacht worden ist: in
Paris sank während der Belagerung die Kindersterblichkeit von 30 Prozent auf
17 Prozent, weil die Mütter infolge der Absperrung der Milchzusuhr gezwungen
waren, ihre Kinder zu stillen. Und auf dem Lande rings um Paris nahm die
Kindersterblichkeit ab, weil in der schweren Kriegszeit die schwerste Not für die
Neugebornen, die Muttermilchnot, schwand, da die Mütter keine Ammenstellen in
der Hauptstadt annehmen konnten. — Wo die Sterblichkeit infolge der Tuberkulose
sehr hoch ist, sind die Wehrpflichtigen körperlich von geringem Wert, „sei dies nun
durch sogenannte Disposition oder durch latente oder manifeste Tuberkulose." Ebenso
ist die Tauglichkeitszahl niedrig, wo die Kindersterblichkeit hoch ist. Mit dem jähr¬
lichen Verluste von 50000 Neugebornen ist es nicht abgetan, nicht bloß die Zahl
der Wehrpflichtigen, sondern auch die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen wird durch
die verkehrte Ernährung der Säuglinge herabgesetzt. Die Geographie der Kinder¬
sterblichkeit und der Tuberkulose ergibt, daß die beiden Übel in ihrem tiefsten
Stande örtlich zusammenfallen.
Neben der Bekämpfung der Kindersterblichkeit und der Tuberkulose bezeichnet
Dr. von Vogt die Erhöhung der Tauglichkeit der Wehrpflichtigen zur Tüchtigkeit
als die dringendste Aufgabe der Volkswirtschaft und fordert zu diesem Zweck
energisch eine Umgestaltung unsrer körperlichen Jugenderziehung. Er hat gefunden,
daß die Wehrpflichtigen vom Lande, die Wehrpflichtigen des Handelsstandes und
die Studierenden der Mittelschulen am deutlichsten den Mangel körperlicher Er¬
ziehung zeigen. Sein Urteil über die aus den Mittelschulen hervorgehenden
Wehrpflichtigen lautet: „Die Studierenden der Mittelschulen, namentlich der huma¬
nistischen, erweisen sich fast durchaus körperlich zurückgeblieben; wenn in Deutschland.
60—70 "/g zum Einjährigfreiwilligen-Dienst Berechtigter, worunter diese Mittel¬
schüler überwiegen, untauglich befunden worden find, so ist dies eine Tatsache, die
zu denken gibt, speziell auch bei uns; denn es ist hier nicht besser. Sie findet
allerdings eine Erklärung auch in der durch Schwächlichkeit bestimmten Berufswahl
und in der Häufigkeit anderer Gebrechen, besonders Fehler der Sinnesorgane etc.,
aber der Hauptsache nach muß sie doch auf Schwächlichkeit zurückgeführt werden
und diese auf mangelhafte körperliche Erziehung; es wäre sonst nicht möglich, daA
mitunter Studierende der Mittelschulen bei den ersten Versuchen am Gerüste eirr
geradezu beschämendes Defizit an Kraft zur Schau tragen. Wir haben in unseren
Landschulen keine Analphabeten im Lesen und Schreiben, aber auf unseren Hoch¬
schulen eine Fülle von Analphabeten in der Schule des Körpers, d. h. solcher
junger Leute, die es hier nicht einmal zu elementaren Leistungen gebracht haben.
Es soll mit dieser Feststellung nach keiner Richtung ein Tadel verknüpft werden,
am allerwenigsten gegen die Turnlehrer; es tragen an diesem beklagenswerten
Mißstände so viele in den Zeitverhältnissen gelegene, sachliche und auch Persönliche
Faktoren, worunter Eltern und Schüler nicht die letzten sind, eine Mitschuld, sodaß
es richtiger ist, sich mit dieser gar nicht zu befassen, sondern nur mit der Frage,
auf welchem Wege man zur Besserung gelangen könne."
Schonend, fast schüchtern geht der Kritiker an den Mängeln der Schule vorüber,
die nicht allein, aber vor allem die Schuld an der körperlichen Schwäche ihrer
Zöglinge trägt. Es muß allerdings anerkannt werden, daß in der Schulverwaltung
und in den Kreisen der Gymnasiallehrer selbst die Erkenntnis der Schäden unsers
Erziehungswesens und der Wunsch, zu bessern, allmählich immer wacher und lauter
wird. Wie einst in Preußen Kultusminister von Goßler die verödeten, verwilderten
Turnplätze seiner Knabenzeit wieder in Dienst stellte und von fröhlicher Jugend
ihre Dornröschenhecke durchbrechen ließ, hat der jetzige bayrische Kultusminister
Dr. von Wehner am 17. Dezember 1903 in einem Erlaß an die Rektorate der
Mittelschulen angeordnet, „den Schülern, soweit es nach den örtlichen Verhältnissen
irgendwie geschehen kann, Gelegenheit zu körperlichen Übungen außerhalb der Turn¬
stunden zu geben." Turnlehrer und wissenschaftliche Lehrer regten die Einführung
des Ruderns an den Mittelschulen an, auf dem Main bei Aschaffenburg und auf
der Donau bei Straubing laufen fünfundzwanzig Jahre, nachdem in Rendsburg
der erste deutsche Schülerruderverein gegründet worden ist, die ersten bayrischen
Schülerboote, Schülerwanderungen werden von Gymnasiallehrern befürwortet und
gefördert. Das sind lauter sehr erfreuliche Tatsachen, aber es sind auch Anfänge
neuer Lehrfächer, die zum Gedeihen Raum brauchen und als kraftverbrauchende
Arbeit anerkannt werden müssen. Der Münchner Jrrenarzt Professor Dr. Kraepelin
hat beobachtet, daß ein zweistündiger Spaziergang die geistige Leistungsfähigkeit in
demselben Maße herabsetzt wie eine einstündige Addition. Diese Beobachtung er¬
klärt den von vielen Eltern beklagten und von vielen Lehrern als Beweis unge¬
nügender Begabung gedeuteten Übelstand, daß Schüler oft dreimal so viel Zeit
über den Büchern zubringen, als sie bei stetiger Arbeit brauchen sollten. Dieser
nicht in der Schwierigkeit und in dem Maß der Aufgaben begründete Zeitaufwand
kommt nicht selten davon, daß sich die Schüler nach dem Unterricht vor der Er¬
ledigung der Hausaufgaben durch einen nicht ganz vorsichtig bemessenen Spazier¬
gang erholt haben. Diese Erholung war mit einem Kräfteverbrauch verbunden.
Durch den Unterricht und durch den Spaziergang geistig und körperlich ermüdet
sind sie an die Arbeit gegangen. Nun träumen sie über den Büchern.
Ich bin der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß an den Gymnasien
viel Schülerkraft durch übertriebne, nicht der Fassungskraft des Durchschnitts der
Schüler angepaßte Forderungen vergeudet wird. Nicht nur Geistes- und Körper¬
kraft, sondern auch sittliche. Wenn ich aus deu Jahresberichten unsrer Gymnasien
ersehe, was alles in dem abgelaufnen Jahre gelesen worden ist, drängt sich mir
immer der Gedanke auf: Ja, das ist alles gelesen worden, aber nur von dem
Lehrer und ein Paar für das Studium der alten Sprachen begabten Schülern, für
die übrigen war die Lektüre dreier Gesänge Homers in der Untersekunda oder der
Miloniana in der Prima nichts als ein Zwang, sich bei der Vorbereitung uner¬
laubter Hilfsmittel zu bedienen oder sich tage-, Wochen-, monatelang unvorbereitet
„durchzuschwindeln." Wo von der Untersekunda bis zur Oberprima alle Gesänge
Homers gelesen werden und so ein Ideal der Schulordnung erfüllt wird, da ver¬
läßt der größte Teil der Schüler nicht an Geist und Körper und Gemüt gerade
gewachsen wie Hektor und Achilles, sondern mit odysseischer Verschlagenheit behaftet
die Schule. Man wundre sich nicht, daß es unter den Literaten und Künstlern
der Witzblätter soviele Thersitesgestalten gibt. Die meisten von ihnen hat die
hin», water ihrer Knabenzeit, das Gymnasium, mit Gift statt mit Milch genährt.
Es ist unbegreiflich, daß man sich den Mißerfolg der Klassikerlektüre an den Gym-
mahlen so ganz verhehlen kann. Mehr als die Hälfte der schönen und guten Worte,
die einst zu griechischen und römischen Männern gesprochen worden sind, und die
jetzt bei unreifen deutschen Knaben Verständnis und Teilnahme finden sollen, bleiben
der Mehrzahl der Schüler fremd trotz aller Mühe der Lehrer. Und dazu unter¬
schätzt man den schweren Schaden, der dem Charakter vieler Schüler dadurch zu¬
gefügt wird, daß man sie zwingt, mit der Waffe des Schwachen Notwehr zu üben.
Ich kann nicht zugeben, daß der Wert der humanistischen Mittelschule sinkt, wenn
sie aus einer nicht eben ängstlich mit der körperlichen und sittlichen Gesundheit der
Schüler haushaltenden Drillanstalt zu einer wirklichen Erziehungsanstalt mit dem
Ziele der xK/i-ox«^«^/« wird. Ein kräftiger Schnitt tut hier not.
Treffend zeigt Generalstabsarzt or. von Vogt den jetzigen Stand der Körper¬
erziehung an den bayrischen Mittelschulen: „Der (Turnsptele anordnende) Erlaß
(des bayrischen Kultusministers) hat vor allem Erholung von geistiger Anstrengung
und zum Teil auch Fernhaltung der Schüler von Allotriis im Auge und findet
mit Recht in der Förderung der Jugendspiele die größte Aussicht auf Erfolg; die
Schulordnung beschränkt sich auf das Turnen als eine körperliche Übung, aber in
einer Betätigung, die weder Erholung noch genügend Kräftigung bringt." So
schonend er bei der Kritik der Schule verfährt, so scharf fordert er „methodisches
Turnen, Schulturnen im strengen Sinne des Wortes" zur Beseitigung des
schlimmsten Mangels unsers zum Schaden der Jugend der Palästra entbehrenden
Didaskaleions: „Dem Schulturnen mit dem, was dazu gehört, müssen die Nach¬
mittagsstunden zur Verfügung stehen; einer entsprechenden Anzahl tüchtiger Lehrkräfte,
Turnlehrer vom Fach, wird es nicht schwer fallen, sämtliche Klassen täglich in
einem der Turnfächer zu üben. . . . Dem Schulturnen mit seinem obligaten Cha¬
rakter und seinem ernsten Betrieb ist es einzig und allein vorbehalten, die »körper¬
liche Jugenderziehung« zu übernehmen, sofern man sich entschließen will, eine solche
anzuerkennen und zu betätigen und sich nicht mit »Erholung« zu begnügen. Wenn
es jedem jungen Menschen zur Pflicht gemacht wird, sich ebenso wie geistig auch
körperlich auszubilden und wenn es keinem Gesunden möglich gemacht wird, sich
dieser Pflicht zu entziehen, dann werden Hunderte von Schwächlingen und Weich¬
lingen, die bei Dispens oder bei der Unzulänglichkeit des nunmehrigen Turnbetriebes
beklagenswerte Geschöpfe bleiben, gesunde und wehrfähige Männer werden; die
Zahl der Tauglichen wird gehoben und die Tauglichen werden tüchtiger werden.
Man möge es nicht unterschätzen, was es heißt, wenn das Durchschnittsmaß an
Größe, Brustumfang und Gewicht von jährlich 30000 Wehrpflichtigen auch nur
um wenige Zentimeter bzw. Kilogramm höher gestellt wird und somit der Armee,
der Familie, der Landwirtschaft, der Industrie etc. tüchtigere Kräfte zugeführt
werden. Ein solcher Erfolg kann von einer Jugenderziehung mit nüchterner Zu¬
versicht schon nach wenigen Jahren erwartet werden; er hat die Bedeutung der
Hebung der Körperkonstitution; er ist Rassenverbesserung!"
Ein solcher Erfolg ist wert, daß man nach ihm strebt und auf den Schein¬
erfolg der jetzt noch geltenden Schulordnung verzichtet.
Kenner der Stormschen Novellen werden sich
erinnern, manchmal auf das Wort xsssl gestoßen zu sein, ohne freilich über dessen
Geltung viel mehr zu erfahren, als daß damit ein Wohnraum im holsteinischen
Bauernhause gemeint ist. Aber in Schützers Holsteinischen Idiotikon und besonders
in Müllenhoffs Glossar zum Quickborn wird die Bedeutung des Wortes genau
bestimmt. Nach Müllenhoff ist der xsssl im Dithmarscher Bauernhause das größte
Zimmer, das dem Eingange, der Aioten äst, gegenüber an der Hinterseite des
Hauses liegt und dessen ganze Breite einnimmt, meist keinen Ofen hat und als
Festsaal dient. In frühern Zeiten war es auch die allgemeine Wohnstube, wie
denn z. B. Neoeorns (geht. 1629) in der Dithmarscher Chronik die Bedeutung des
Wortes also feststellt: su snrlik Asinaou se bstvut xisvll, äarin so vor oläsrs tlo
winters uvä Sommers dicit, nun ^vsrst bi as msisten clef sowmsvs okr vessnt
bebbsn mit Ström Aosinäs unä Icinciern AsdÄkt, ok äorin so soso kromäen A^se
xsvorst nncio xotraoterst. Nach dem Bremischen Wörterbuch aber bezeichnet oder
bezeichnete das Wort eine kleine Stube mit einem Ofen — „der warme Winkel"
heißt es in einer andern Quelle —, und auf den friesischen Inseln versteht man
darunter gar den lehmgestampften Küchenraum, wie das z. B. aus W. Jensens
Erzählung „Auf Maus und Fcmö" hervorgeht. Ebenso wurde schon im Mittelalter
das niederländische xrjsel durch oulins, glossiert. Von Holstein aus ist das Wort
auch nach Dänemark und Norwegen vorgedrungen, wo es sich bis heute in der
Lnntform xsis behauptet hat (siehe Nyerup-Vogt: Das Leben der Wörter). Da¬
gegen nach dem Osten, nach Mecklenburg und Pommern, scheint es nicht gekommen
zu sein. Ebenso unbekannt ist es heute in den mitteldeutsche» Mundarten, auch
im Westen, am Rhein, und im Südwesten bei Schwaben und Alemannen findet es
sich nicht. Nur im Bayrisch-Österreichischen ist das Wort noch anzutreffen, natürlich
in der oberdeutschen Lautform xtiessl, es hat aber eine Bedeutung angenommen,
die sich von der oben angegebnen weit genug entfernt. Denn es bezeichnet nach
Schmeller „ein Gemach, in welchem durch einen stark geheizten Ofen das in die
Berkuffen gestoßene ausgesottene Salz auf eignem Gerüste gedörrt und gehärtet
(gepfieselt) wird." Also im äußersten Norden und im fernen Südosten ist das Wort
noch bodenständig, wenngleich, wie gesagt, in sehr verschiednen Sinne angewandt.
Anders im Mittelalter. Da galt das Wort so ziemlich in ganz Deutschland
und hatte im Gegensatz zu seinem jetzt so vieldeutigen Inhalt einen ziemlich fest
umschriebnen Sinn. Denn es bezeichnete vorzugsweise das Zimmer, wo die Frauen
und Mägde zu arbeiten pflegten, das später kurzweg „das Frauenzimmer" genannt
wurde. So läßt in der bunten Legendensammlung, die den Namen Kaiserchronik
trägt, weil sie eine poetische Reichsgeschichte sein will, die Gemahlin des oströmischen
Kaisers Zeno dem Aetius höhnend sagen, er solle in ihren xcksssl kommen, um mit
den Mägden Wolle zu zupfen — beiläufig gesagt ein grober, aber für die Kaiser¬
chronik nicht ungewöhnlicher Verstoß gegen die Überlieferung, da Zeno und Aetius
keine Zeitgenossen waren, und überdies die Geschichte von Sophia, der Gemahlin
Justins des Zweiten, und dem Gotenbezwinger Narses erzählt wird. Die Ver¬
bindung des Wortes xüsssl mit gaclem (Gemach) ergibt ein xlieselgacism, was man
als eine der Doppelungen ansehen könnte, die wie Imtvurm, maultisr, Mön-vsr-
xnüsssn u. a. zu entstehn pflegen, wenn der Sinn des ersten Wortes ins Schwanken
gerät und sozusagen einer Stütze bedarf, wenn man hier nicht Grund hätte anzu¬
nehmen, daß durch die Zusammensetzung mit xüsssl das Mähen als ein heizbares
charakterisiert werden soll.
Das Wort erscheint schon in althochdeutscher Zeit, die Form Mös,I ist durch
die am Ende des achten Jahrhunderts zusammengestellten, aber auf eine wesentlich
ältere Quelle zurückgehenden Kasseler Glossen bezeugt. Natürlich ist es kein Erb¬
wort, sondern es stammt, worauf schon der Amiant xb, für das man später xk
schrieb, hinweist, aus der Fremde. Aus dem lateinischen Grundwort xensils schwand
zunächst das n vor dem s, das ist eine Lautverändernng, die nicht nur dem jüngern
Latein eigen ist, sondern sich auch in germanischen Mundarten findet, wie die
Doppelformen --infer und ason, F-ins und Avos (englisch Avoss), ssnso und sois und
andre beweisen; dann wird das neu entstandne Miliz durch Lautdifferenzierung in
Male umgeformt, worauf unter dem Druck des auf der ersten Silbe ruhenden
Hochtons das s der letzten Silbe gänzlich verklingt. Nun tritt die Lautverschiebung
ein, wodurch wenigstens in Oberdeutschland die Tennis x durch die Affricata M
oder xk ersetzt wird, wahrend später das e der Stammsilbe mit regelrechtem Laut¬
wechsel (vgl. teZnIa — sxoouium — sx>ig,Aa,I) durch Sö, hindurch in is. über¬
geht. Das ist, als wenn jemand heutzutage für Wol erst Isadt und dann mit Er¬
höhung des Tons Ils,de spräche. So entsteht aus xiss-ü zunächst xkgg.8s,1 und-
Msal, weiterhin aber, indem das la zu lo erleichtert wird, und andrerseits,
wiederum durch die Schuld des die erste Silbe nachdrücklichst hervorhebenden Hoch-
tous, die letzte Silbe um Schallfülle verliert, das mittelalterliche ptiossl. Nun ist
die Endsilbe des Wortes, die früher noch einen Nebenton (pkiasÄ) trug, tonlos
geworden, oder anders ausgedrückt: der Redende verschwendet alle Energie des
Tons an die erste Silbe, sodaß er für die zweite nichts mehr übrig hat und sie
verkümmern läßt, während früher der Ton auf beide Silben, wenn auch nicht
gleichmäßig, verteilt wurde. Diese Schwächung der Endsilbe tritt auch im Nieder¬
deutschen ein; dagegen bleibt hier der alte Amiant ebenso wie der Vokal der ersten
Silbe unverändert, sodaß die lautgerechte Form das noch jetzt bestehende xssol ist.
Durch die Lautverschiebung erhalten wir übrigens einen Fingerzeig, wenn wir die
Zeit, wo das fremde Wort nach Deutschland gelangt ist, genauer bestimmen wollen.
Denn wenn man annehmen darf, daß diese Bewegung etwa in der Mitte oder am
Ausgang des sechsten Jahrhunderts beginnt, so muß unser Wort um diese Zeit
schon in Deutschland bekannt gewesen sein, sonst wäre es nicht mehr von der Laut¬
verschiebung betroffen, sondern es hätte wie manches nach dem Abschluß dieser Be¬
wegung, seit dem Ende des achten Jahrhunderts etwa aufgenommne Wort den
lateinischen Amiant gewahrt (vgl. pM aus pollis, xoin aus xosng. u. a.). Wenn
man später manchmal tissl für Msssl geschrieben findet, so kommt das daher, daß
späterhin in Mitteldeutschland das infolge einer leicht erklärbaren Erleichterung
der Aussprache in reines k (die Spirans) überging. Bekanntlich sprechen die meisten
Mitteldeutschen und ebenso die Niederdeutschen, wenn sie hochdeutsch reden, nicht
xttai^k, sondern klein^iz, nicht xtsrä, sondern tora usw., was ihnen oft von den
Süddeutschen vorgehalten wird, obwohl es ja im Grunde auf einem ähnlichen Vor¬
gange beruht, als der ist, wodurch ehemals in Süddeutschland das x in xk ver¬
wandelt wurde. Und wie das xt, so ist auch später das is in einen Laut zusammen¬
gezogen.
Man nimmt gewöhnlich an, das Wort xsnsils sei von xsnsuw abzuleiten und
habe zunächst den Raum bezeichnet, worin die Frauen ihr xsusum, d. h. das ihnen
zugewogne Quantum Wolle, zu verarbeiten pflegten. Aber das ist schwerlich richtig;
das Wort hängt vielmehr, wie auch Kluge im Etymologischen Wörterbuch angibt,
mit den xsusilös bg.1mög.iz zusammen, die nach dem Zeugnis des Plinius und andrer
von einem gewissen Sergius Orakels, einem bekannten Lebemann, erfunden sind;
das waren Badestuben, die über einem Untergeschoß errichtet waren und von hier
ans geheizt wurden (sog. b^povaustg.), also, wenn man den lateinischen Ausdruck
Wiedergeben will, darüber „hingen oder schwebten," wie ja auch die schwebenden
Gärten der Semiramis auf einem terrassenartigen Unterbau liegend gedacht sind.
Z?önsi1<z ist also nur ein abgekürzter Ausdruck für äomns oder dalinsg. xensilis und
bedeutete zunächst wie dieses die Badestube, sodann mit Betonung des charakteristischen
Merkmals der Heizbarkeit jedes heizbare Gemach, weiterhin, weil die Frauen bei
ihren Handarbeiten in der winterlichen Jahreszeit eines geheizten Raumes bedurften,
das Frauenzimmer, schließlich jeden Wvhnrcinm auch ohne Rücksicht auf die Heizbar¬
keit, während noch ein besondrer Strang zu der oben besprochnen, heute noch in
Bayern und Österreich geltenden Bedeutung führt.
Wie sich leicht denken läßt, ist das Wort auch dem Romanischen verblieben.
Wenigstens gilt das für das Französische. Hier wurde xiz(r>)fils nach der Laut¬
regel, wonach langes ü durch si in ol übergeht (vgl. of, moi, moi, rsAsru, rsi,
roi usw.), in xoislo und weiterhin nach dem Schwund des s (vgl. !1s für Isis) in
polls verwandelt. Wenn man später, wie noch heute, xoölg schrieb, so gab man
damit nur den Laut wieder, da ol lange Zeit, bis zum Ende des achtzehnten
Jahrhunderts, wie vo gesprochen worden ist (vgl. ovos aus wuiboich. Nun spricht
man bekanntlich xoÄö, wie ja überall für das ol die breite plebejische Aussprache os,
durchgedrungen ist. ?c>ki«z bedeutet aber uicht wie das Grundwort xensils die
Badestube, sondern den Ofen (xools im Sinne von Pfanne kommt von dem
lateinischen Mslia her).
Sonnt ist im Französischen der Bedeutungswandel so ziemlich in der entgegen¬
gesetzten Richtung verlaufen wie im Deutschen. Wenn sich hier der Inhalt des
lateinischen Wortes erweitert hat, ist er im Französischen in die Enge gezogen.
Mit der Betonung des Nebenbegriffs der Heizbarkeit wurde das Wort an die
Wärmequelle gebunden und ist darauf beschränkt geblieben. Es zeigt sich hier wie
so oft, daß ein kräftig hervortretender Nebensinn die Herrschaft an sich reißt und
die Bedeutung eines Wortes entscheidend bestimmt. Das nämliche gilt übrigens erst
recht von dem idiomatischen Gebrauch des Wortes in Bayern und in Österreich.
Es liegt ucche, die Geschichte unsers Wortes mit der des sinnverwandten Stubs
zu vergleichen. Noch jetzt ist über dessen Herkunft nicht endgiltig entschieden. Man
leitet es gewöhnlich aus dem Romanischen ab, indem man es als eine dem Deutschen
angepaßte Umbildung des romanischen seuls, (spanisch sswia, französisch 6ovo) auf¬
faßt, das dann wieder auf das griechische kxr^se-) (Wasser in Dampf verwandeln)
zurückgehn soll. Dann hat man das Wort für einen Sproß aus germanischem
Stamm erklärt: es sei von stisosn abzuleiten und habe zunächst eine Verrichtung
zur Erzeugung von Wasserdämpfen bezeichnet. Auf jeden Fall ist die Grundbe¬
deutung aufs engste mit dem Begriff der Wärme verbunden. Es mag ursprünglich
die Wärmequelle bezeichnet haben, dann wurde es lange Zeit ausschließlich für den
Baderaum, wie noch jetzt im Romanischen, gebraucht, bis es dann in Deutschland
zu seiner jetzigen, erweiterten Bedeutung gelangte. Im achten Jahrhundert schon
nachweisbar hat sich das Wort über das ganze Gebiet der germanischen Sprachen
verbreitet, mit mancherlei Spaltungen der Bedeutung, wie namentlich das englische
stovs und step beweist, und ist sogar »ach dem fernen Osten ins slawische, Finnische,
Ungarische und Türkische gedrungen. Einen deutlichen Anklang an den ältern
Brauch zeigt das isländische vÄästokg,, das freilich heute nicht mehr im eigentlichen
Sinne gilt: es bezeichnet vielmehr jetzt den gemeinsamen Wohn- und Schlafraum
im isländischen Bauernhause.
Die Geschichte des deutschen Wohnungswesens in sachlicher und in sprachlicher
Hinsicht zu verfolgen ist eine lohnende Beschäftigung. Wer dafür Zeit und Teil¬
nahme übrig hat, sei verwiesen auf das ebenso gründliche als anregende Werk von
Moritz Heyne: „Das deutsche Wohnungswesen von den ältesten geschichtlichen Zeiten
bis zum sechzehnten Jahrhundert," das natürlich auch für die vorstehende Skizze
beuutzt ist. Vielleicht kommen wir später noch einmal darauf zurück.
Nach den übereinstimmenden Angaben hervorragender Forscher entspricht
Odol zurzeit den Anforderungen der Hygiene am vollkommensten und wird
daher als das beste von allen gegenwärtig bekannten Mundwässern anerkannt.
Wer Hdol Konsequent täglich vorschriftsmäßig anwendet, not die
nach dem Heutigen Stande der Wissenschaft denkbar veste Zahn- «ut
Mundpflege aus.
^'^^)
^^^)aß in der Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs und des Nordischen
Kriegs ein Spezialgesandter des Zaren neun Monate lang in der
hannoverschen Residenz geweilt und mit dem Kurfürsten Georg
Ludwig und seinen Ministern Bernsdorff, Göritz und Andern ein-
! gehende Verhandlungen über ein Schutz- und Trutzbündnis gegen
Schweden, in Braunschweig aber mit Herzog Anton Ulrich über die Vermählung
der Prinzessin Charlotte Christine Sophie und des Zarewitsch Alexei verhandelt
hat, dürfte nicht Vielen bekannt sein. Die Aufmerksamkeit des Historikers wird
in jener Zeit durch den Niedergang des roi solsil und den Kampf der West¬
mächte sowie durch das Ringen Peters des Großen mit dem Schwedenkönig Karl
dein Zwölften so in Anspruch genommen, daß für die Berücksichtigung der
diplomatischen Verhandlungen, die sich damals weit mehr als heilte hinter den
Kulissen abspielten, nicht viel Raum übrig bleibt. So ist es denn ein günstiger
Zufall, daß uns über die erwähnte Gesandtschaft ein eingehender und interessanter
Bericht erhalten ist, der, von beteiligter Seite herrührend, den Schlüssel für
manche Zeitereignisse liefert. Kurakin, der Gesandte selbst, hat ausführliche Auf¬
zeichnungen hinterlassen, die im Märzheft des Russischen Archivs von S. Kedrow
zunächst der russischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Manches hiervon
hat Interesse für die deutsche Geschichte im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
und besonders für Hannover und für Braunschweig.
Der russische Diplomat mißt die deutschen politischen Verhältnisse natürlich
mit besonderm Maßstabe; aber man wird zugeben, daß sein Urteil im allge¬
meinen objektiv, und daß das tatsächliche Material, das er liefert, zuverlässig
ist. So nimmt man denn auch einige Indiskretionen und Pedanterien des
Fürsten Kurakin mit in den Kauf, der mit bemerkenswerter Ausdauer und Hart¬
näckigkeit seine diplomatische Mission in Hannover und in Braunschweig zur
Befriedigung beider Teile zu Ende geführt hat.
Peter der Große suchte sich nach der siegreichen Schlacht bei Poltawa am
8. Juli 1709 über Karl den Zwölften auch in Westeuropa den Einfluß zu
sichern, den bis dahin sein starker Gegner gehabt hatte. Preußen, Polen und
Dünemark hatten bald nach der Schlacht ein Bündnis mit dem Zaren geschlossen;
jetzt bemühte sich dieser, in der richtigen Erkenntnis der politischen Konstellation,
Hannover zu gewinnen. Das Kurfürstentum Hannover nahm damals eine be¬
sonders angesehene Stellung ein. An und für sich schon achtunggebietend, mußte
es durch den ihm binnen kurzem mit der englischen Krone zufallenden Macht¬
zuwachs noch bedeutend an Ansehen gewinnen. Hannover war den schwedischen
Provinzen Bremen lind Verden benachbart, deren Schicksal dem Kurfürsten nicht
gleichgiltig war; Hannover verfolgte aufmerksam die Entwicklung Dänemarks,
dessen König mit dem Zaren ein Offensiv- und Defensivbündnis geschlossen hatte;
und Hannover endlich hatte für den Schwedenkönig, als Beschützer des Pro¬
testantismus in Norddeutschland, weitgehende Sympathien. Diesen Staat zu
gewinnen und zu einem Bündnis gegen Schweden zu veranlassen, war für
Peter von größter Wichtigkeit. Zum mindesten konnte der Kurfürst die Schweden
an dem Durchmarsch aus ihren pommerschen Besitzungen nach Sachsen hindern,
dessen Kurfürst August der Zweite als König von Polen mit dem Zaren ver¬
bündet war.
Vor der Schlacht bei Poltawa war an ein Bündnis Rußlands mit Han¬
nover nicht zu denken gewesen. Die Alliierten Rußlands, Polen und Dänemark,
waren von Karl dem Zwölften geschlagen worden — was war da von Rußland
selbst zu erwarten! Hannover hatte Schweden sogar unterstützt und den Abschluß
eines russischen Bündnisses mit Österreich verhindert. Jetzt lagen die Dinge
anders. Schweden war entscheidend besiegt; Deutschland konnte hoffen, die ihm
im Dreißigjährigen Krieg entrissene Ostseeküste wieder zu gewinnen; Hannover
konnte Bremen und Verden erwerben. Alles das sah Peter sehr wohl ein und
beschloß, eben deswegen eine Gesandtschaft nach Hannover zu entsenden.
Die Wahl des Zaren fiel auf den Fürsten B. I. Kurakin, der sich als
Diplomat schon bewährt und den Zaren nach Thorn zu der Zusammenkunft und
dem Bündnisabschluß mit König August und weiter nach Marienwerder zur
Begegnung mit dem König von Preußen begleitet hatte. In Thorn erhielt
Kurakin den Auftrag, sich nach Hannover und von dort weiter nach England
zu begeben. Die Mission forderte mit Rücksicht auf die frühere Haltung Han¬
novers ganz besondre Behutsamkeit. Zwar hatte der Wiener Gesandte Urbins
gemeldet, der Kurfürst von Hannover sei einem Schriftwechsel und einer freund¬
schaftlichen Annäherung an Nußland nicht abgeneigt; und serner hatte der Ge¬
sandte des Rußland verbündeten Polens, Graf Nostiz, dem Kurfürsten ein
Bündnis mit Polen gegen Schweden vorgeschlagen, wonach Hannover Bremen
und Verden erhalten sollte — aber dieser Vorschlag war abgelehnt worden. Und
die Bemühungen desselben Nostiz um ein Bündnis zwischen König August in
seiner Eigenschaft als Kurfürst von Sachsen mit Hannover hatten weder eine
Zusage noch eine Ablehnung erfahren. Zwar konnte man annehmen, daß die
Gesandten der mit Nußland verbündeten Mächte in Hannover den Fürsten
Kurakin in seinem Bemühen unterstützen würden. Dennoch erheischte es die
Borsicht, Urbichs Meldung von der Geneigtheit des Kurfürsten zum Bündnis
mit Rußland zunächst einmal nachzuprüfen, bevor man durch offnes Entgegen¬
kommen der Sache vielleicht schadete.
Kurakin begab sich also inkognito als Moskaner Kavalier Popow nach
Hannover. Das war erstens billiger und befreite ferner den Fürsten von den
Vorschriften der Etikette. Aus der ihm unter dem 23. Oktober 1709 in Marien¬
werder erteilten Instruktion geht hervor, daß sich Kurakin zunächst orientieren
sollte, „welcher Minister in Hannover die Macht in Händen Hütte, und welches
die Gegner Schwedens seien." Namentlich sollte er herauszubringen suchen,
ob der erste Minister, Bernsdorff, ein Gegner Schwedens sei. Bewahrheitete
sich das Gerücht, so sollte Kurakin ihm mitteilen, er sei der Überbringer einer
eigenhändigen Botschaft des Zaren an den Kurfürsten, die er diesem in einer
Privataudienz überreichen möchte. Dann sollte der Fürst etwas von Gerüchten
einfließen lassen, die dem Zaren zu Ohren gekommen seien, und die besagten,
daß der Kurfürst einer Annäherung an Rußland nicht abgeneigt sei. Glückten
diese einleitenden Schritte, so sollte Kurakin in der Privataudienz die freund¬
schaftlichen Gesinnungen des Zaren betonen und in einer darauf folgenden
Konferenz folgendes auseinandersetzen: Dem Zaren sei das frühere freundschaft¬
liche Verhältnis zwischen Hannover und Schweden wohlbekannt, und ebenso das
Wohlwollen und die guten Dienste, die der hannoversche Hof dem schwedischen
bei jeder Gelegenheit erwiesen hätte. Dem Kurfürsten sei von Schweden aber
nicht mit Dankbarkeit, sondern mit allerhand Verdrießlichkeiten gelohnt worden,
und wenn der Zar nicht den Stolz Schwedens mit Waffengewalt gedämpft
hätte, würde Schweden auch weiterhin den Herzog und die übrigen deutschen
Fürsten seine Macht gelegentlich haben fühlen lassen! Wenn jetzt der Kurfürst
sein Interesse richtig wahrnähme, müsse er als Nachbar Schwedens (durch
Bremen und Werden) erkennen, wie gefährlich das ständig an Größe zunehmende
Reich ihm werden könne. Der Zar wünsche nach seinem glücklichen Siege über
Schweden dessen Macht auf den frühern Umfang zu beschränken, damit es weder
dem russischen noch dem Deutschen Reiche hinfort gefährlich werden könne. Der
Zar wünsche Schweden nicht völlig zu vernichten, wie dieses die Absicht Schwedens
gegen Rußland sei. Die Wünsche des Zaren und seiner Verbündeten seien ge¬
müßigt. Um Schwedens Macht zu beschränken, mache der Zar dem Kurfürsten
durch den Gesandten Kurakin jetzt das Anerbieten, dem Nordischen Bunde bei¬
zutreten. Hannover könne dies ohne jede Gefahr nach dem Beispiel Polens und
Dänemarks tun; als Lohn würde es Bremen und Werden erhalten, die Schweden,
als früher zum Deutschen Reich gehörende Provinzen, nicht zu Recht besäße.
Die Instruktion Kurakins sieht auch den Fall vor, daß „Hannover ein
schon mit Schweden abgeschlossenes Bündnis vorschützt." In diesem Falle sollte
Kurakin einfließen lassen, daß jeder Herrscher verpflichtet sei, die Interessen
seines Landes bei jeder sich bietenden günstigen Gelegenheit bestens wahrzu¬
nehmen, besonders wenn sonst andre Mächte sofort an seine Stelle träten (An¬
spielung auf Mecklenburg, Preußen und andre norddeutsche Staaten). Wenn
aber Hannover mit dem Einwand käme, daß Österreich und Preußen die Besitz¬
ergreifung von Bremen und Werden nicht zulassen würden, so sollte Kurakin
hierauf erwidern: den Schutz Hannovers vor Preußen nähme der Zar auf sich,
und den Kaiser würde man zum Beitritt zum Nordischen Bunde veranlassen.
Die schwedischen Streitkräfte in Livland und in Finnland nähme ebenfalls Ruß-
land auf sich, die in Schweden und Norwegen aber Dänemark. So würde
man Schweden leicht zum Frieden zwingen. Willigte der Kurfürst in die Vor¬
schläge Kurakins ein, so konnte dieser gleich mit einer Vollmacht zum Bündnis¬
abschluß aufwarten. Die Bedingungen waren: Der Zar versprach dem Kur¬
fürsten, Bremen und Werden erwerben zu helfen und nicht eher mit Schweden
Frieden zu schließen, als bis diese Bedingung erfüllt sei. Hierzu verpflichtete
sich der Kurfürst ebenfalls. Weiter sollte Peter auch seine Verbündeten zu
einem Bündnis mit Hannover veranlassen, das seinerseits England und die
deutschen Staaten von Feindseligkeiten gegen den Nordischen Bund abzuhalten
sich verpflichtete und die Westmächte dem Zaren günstig stimmen sollte.
Man scheint in Rußland keine feste Zuversicht auf das Zustandekommen
dieses Offensivbündnisses gehegt zu haben; wenigstens ist in Kurakins Instruktion
dieser Fall vorgesehen. Kurakin sollte dann ein Defensivbündnis auf der Grund¬
lage vorschlagen, daß der Kurfürst den Schweden nicht aus ihren deutschen Be¬
sitzungen gegen den Zaren und seine Verbündeten zu Felde zu ziehn erlaubte,
und diese sich verpflichteten, kein schwedisches Gebiet im Deutschen Reich zu be¬
treten. Würde sich Hannover auch hierauf nicht einlassen, so sollte Kurakin
wenigstens die Neutralität des Kurfürsten zu erlangen suchen, dergestalt, daß
er die kriegerischen Aktionen der Verbündeten nicht hinderte; andernfalls würde
der Zar Vergeltung zu üben suchen. Von den drei letzten Punkten: einem
Defensivbündnis, der Neutralität und endlich der Drohung des Zaren sollte
Kurakin nur in dem äußersten Notfalle reden, wenn alle andern Mittel erschöpft
seien. Überhaupt wurde dem Gesandten dringend empfohlen, vorsichtig zu Werke
zu gehn und seine Reserven nur in dem Falle des hartnäckigsten Widerstandes
Hannovers vorzuführen.
Am 23. Oktober erhielt Kurakin seine Order; am nächsten Tage fuhr er
nach Deutschland, in Begleitung eines Sekretärs und eines Kanzlisten. Von
Marienwerder bis Berlin fuhr man dreizehn Tage, und am Freitag, den
11. November traf man mit der Post in Hannover ein, wo zunächst im Gast¬
hof „Rvthschenk" abgestiegen wurde. Acht Tage darauf bezog man ein eignes
Quartier, das für achtzig Taler monatlich gemietet wurde. Überhaupt lebte
man auf ziemlich großem Fuße, trotz des vorläufigen Inkognitos. Kurakins
Ausgabenbuch bezeugt das: für Geschirr und Speisebereitung 2^ Taler täglich,
Wäsche und Bett 23 Groschen, Licht 5 Groschen täglich. Es wurden engagiert:
drei Lakaien, jeder erhielt zehn Taler monatlich mit Beköstigung, ein Page,
zwei Hausbediente für sieben Taler. Für Auffahrten kaufte Kurakin eine Karosse
für 210 Taler; Lakaien und Kutscher wurden eingekleidet, Livreen, Hüte, Strümpfe,
Degen kosteten 130 Taler. Für „kleine Ausgaben" rechnete der Fürst 20 Taler,
und zu all den laufenden kamen noch die Extraausgaben! Bei der ersten Audienz
beim Kurfürsten erhielten: Kammerfurier 20 Taler, Pagen 15, Lakaien 10,
Stallknechte, Köche 15, Musikanten 5 Taler. Beim Besuch der Kurfürstin
duchte der Gesandte 10 Dukaten an Ausgaben, beim Bruder des Kurfürsten 5,
und zwar 3 weniger als beim ersten Minister Bernsdorff. Im ganzen erhielt
der Fürst in Marienwerder zur Reise nach Hannover 3410 Taler, und er gab
vom 24. Oktober 1709 bis 21. März 1710 insgesamt 2378 Taler aus.
Am Tage nach seiner Ankunft, also am 12. November, ließ sich Kurakin
beim Grafen Bernsdorff melden und für den nächsten Tag um eine Audienz
beim Kurfürsten bitten. Da aber Sonntag und Konseilsitzung war, wurde die
Audienz um einen Tag verschoben. Mittags wurde dem Fürsten ein Wagen
mit zwei Lakaien gesandt, wie sie in Hannover zur Aufnahme der koröigusrs
(vornehmer Ausländer) dienten. Im Schloß des Kurfürsten empfing den Ge¬
sandten im ersten Zimmer ein Furier, im nächsten der Hofmarschall Fahren-
berg, im übernächsten der oberste Kammerherr Graf Platen und im Audienz¬
saal, an der Tür, der Kurfürst selbst. Fürst Kurakin verbeugte sich und sprach:
„Seine Majestät der Zar, mein allergnädigster Herr, empfinden ganz
besondre Zuneigung und Verehrung gegen Eure Kurfürstliche Durchlaucht und
hegen den Wunsch, nicht allein die früher persönlich angeknüpfte Bekanntschaft
und Freundschaft mit Eurer Durchlaucht zu erneuern, sondern auch in freund¬
schaftlichen Schriftwechsel zu treten, und haben mir befohlen, einige notwendige
Punkte vorzutragen."
Der Kurfürst Georg Ludwig erwiderte:
„Seine Majestät der Zar hat mir seine besondre Zuneigung und eine
Ehre dadurch erwiesen, daß Ihre Person mit der Mission beauftragt worden.
Ich wünsche lebhaft eine Fortsetzung des freundschaftlichen Schriftwechsels und
bemühe mich, so weit als möglich, zu Diensten zu sein."
Hierauf begann Fürst Kurakin mit dem Kurfürsten direkt von einem Bündnis
zu sprechen und fragte am Schluß seiner Rede, wohin die Absicht des Kur¬
fürsten in bezug auf Schweden gehe, und ob Seine Durchlaucht mit Peters
Wünschen, Schweden auf seine frühere Größe zurückzuführen, einverstanden sei.
Auf diese Frage gab der Kurfürst keine direkte Antwort, sondern sagte: „Ich
denke, der Zar wird im Deutschen Reich keine Absichten hegen, aus denen
den mit Frankreich kriegführenden Verbündeten Schaden erwachsen kann, und
denke ferner, der Zar wird in diesem Winter mit Karl dem Zwölften Frieden
schließen." Mit andern Worten: der Kurfürst gab zu verstehn. daß eine Ein¬
mischung des Zaren in die deutschen Angelegenheiten, auch in der Absicht, die
Macht Schwedens im Reiche zu verringern, doch nicht den Zweck haben könne,
Deutschland durch Ablenkung seiner Streitkräfte von Frankreich zu schwächen.
Andrerseits: war das Reden über ein Bündnis nicht verfrüht, wenn der Zar
in diesem Winter mit Karl dem Zwölften Frieden schließen würde?
Kurakin verstand die Antwort des Kurfürsten wohl und erklärte, der Zar
habe immer ein freundschaftliches Verhältnis zu allen Alliierten gesucht und
suche es noch jetzt; seine Absicht sei, Schwedens Macht zu brechen, damit es
weder dem russischen noch dem Deutschen Reich in Zukunft gefährlich werden
könne. In einen Frieden mit Schweden würde der Zar nicht eher willigen, als
bis auch seiue Verbündeten (d. h. auch Hannover, wenn es dem Bunde beiträte)
befriedigt wären. Nach dieser Antwort ließ der Kurfürst den Gegenstand fallen
und sprach von andern Dingen, zum Beispiel von der Schlacht bei Poltawa und
dem umgehenden Gerücht von dem Tode Karls des Zwölften. Kurakin konnte
also weder eine Zusage noch eine Absage verzeichnen. Er besuchte dann noch
die Kurfürstin Sophie, die Mutter des Herzogs, der er Grüße Peters über¬
brachte. Beide Audienzen endeten mit einer Einladung zum Mittagessen. Dann
kehrte Kurakin in seine Wohnung zurück.
Der russische Fürst hat interessante Aufzeichnungen über den Kurfürsten
und seinen Hof hinterlassen, von denen einiges hier mitgeteilt sei. Kurfürst
Georg Ludwig trug bei der Audienz einen englischen Orden am blauen Bande
mit einem kleinen Bündchen (also den Hosenbandorden). Er lag damals in
Scheidung mit seiner Gemahlin, die wegen der bekannten Königsmarkaffäre in
einem Kloster (auf dem Schloß zu Ahlden) eingesperrt gehalten wurde. Einer
der Brüder Georgs, Ernst August, war Junggeselle und lebte am Hofe; er
erhielt 24000 Gulden Apanage. Der andre, Maximilian, lebte in Wien und
erhielt 60000 Gulden. Georgs Sohn, Georg August, Erbe der englischen
Krone, trug dieselben Orden wie sein Vater. Besonders imponierte dem Russen
die dreiundachtzigjührige Mutter des Kurfürsten, Sophie, die Enkelin König
Jakobs von England. Trotz ihrem Alter hatte sie viel Unternehmungsgeist,
gesundes Gefühl, frischen Verstand, gutes Gedächtnis und sprach fast alle euro¬
päischen Sprachen. Außer der deutschen Sprache las, schrieb und sprach sie
perfekt Französisch, Englisch, Holländisch, Italienisch. Sie war sehr freundlich
gegen Ausländer, nahm nicht nur an allen Vergnügungen und Belustigungen
des Hofes, sondern sogar noch an Maskeraden teil; sie sprach mit jedermann
und ging im Sommer drei Stunden und länger spazieren.
Kurfürst Georg verbrachte den Morgen bis zum Mittagessen meist in seinem
Kabinett mit Arbeiten. Zu Mittag gegessen wurde um ein Uhr, bisweilen um
halb zwei, und an Tagen, wo Ministerberatungen stattfanden, aß der Kurfürst
mit den Ministern um zwei Uhr. An der gewöhnlichen Tafel nahmen vierzehn
Personen teil. Auf dem Ehrenplatz mitten vor der Tafel saß in einem Lehnstuhl
die Kurfürstinmutter, rechts von ihr der Kurfürst, links von ihr die Frau des
Kurprinzen, dann der Bruder des Kurfürsten, hierauf der Kurprinz, neben dem
Kurakin zu sitzen kam. Außerdem waren Gesandte und mehrere Damen zugegen.
Wenn es Zeit war, zur Tafel zu gehn, versammelte man sich in den Appar¬
tements der Fürstinmutter. Der Hofmarschall erschien mit einem gewöhnlichen
Rohr und machte der Mutter, dem Herzog und der Prinzessin seine Verbeugung,
zum Zeichen, daß die Tafel bereit sei. Hierauf geleitete der Herzog seine Mutter
zur Tafel, und der Bruder des Herzogs die Prinzessin. Ins Speisezimmer
traten zuerst die Kavaliere und die fremden Gesandten, dann der Kurprinz, und
zuletzt der Fürst mit seiner Mutter. Gesundheiten in Reden wurden nicht aus¬
gebracht, wohl aber trank man sich einzeln zu.
Eine Auszeichnung der fürstlichen Familie fand in bezug auf das Besteck
statt: ihre Löffel, Messer und Gabeln, Salzfüßchen waren aus Gold, die der
andern aus Silber. Nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, sprach ein
Page das „Vaterunser," und der Marschall trat an den Nebentisch, wo die
Hofdamen und die Kavaliere speisten. Hier war ebenfalls für vierzehn Personen
gedeckt. Das Mittagessen bestand aus drei Gängen: Suppe, Braten und Nach¬
tisch: „Konfituren." Bei der Beendigung der Tafel kam wieder der Marschall,
ein Page sprach ein Dankgebet, und man entfernte sich in derselben Reihen-
folge, in der man gekommen war, wieder in die Gemächer der Fürstinmntter.
Dann kehrten die Gäste bald heim.
Gegen sechs Uhr Abends fuhren die Gesandten und die Kavaliere wieder
zur Reunion ins Schloß. Man kam wieder bei der Fürstinmutter zusammen.
Im ersten Zimmer spielten die Kavaliere, im Audienzzimmer stand in einer Ecke
der Tisch für die Fürstinmutter, in der andern der für die Prinzessin. Der Kur¬
prinz saß gewöhnlich bei den Kavalieren. Der Kurfürst kam um acht Uhr; am
Spiel nahm er nicht teil, sondern unterhielt sich mit den Ministern und den
Gesandten. Diese benutzten die Gelegenheit, mit dem Kurfürsten über ihre ge¬
schäftlichen Angelegenheiten zu sprechen. Im Zimmer der Fürstinmutter waren
die Sitzgelegenheiten folgendermaßen unterschieden: die alte Dame saß in einem
Lehnstuhl, die Prinzessin auf einem gewöhnlichen Stuhl, und die übrigen auf
Taburetts, viereckigen Schemeln. Hier durften nur Spieler Platz nehmen; wer
aufhörte zu spielen, konnte ins Kavalierzimmer gehn. „Ich tat alles das nicht,
schreibt Kurakin, sondern ging umher, und es kostete mir Mühe, den schuldigen
Respekt zu bewahren." Es muß ein anziehendes Bild gewesen sein, wie der
an reichliche Ungebundenheit gewöhnte russische Bojar aus der Zeit Peters des
Großen in verzweifelter Stimmung zwischen der gezierten Hofgesellschaft auf und
ab spazierte. Eines Tages widerfuhr Kurakin bei Hofe eine schwere Kränkung —
allerdings nicht von deutscher, sondern von schwedischer Seite. An einem Mitt¬
woch im März war Kurakin zum Mittagessen ins Schloß gebeten. An dem¬
selben Morgen war der schwedische Gesandte Friesendorf im Schloß angelangt.
Als man zur Tafel ging, sagte der Gesandte zu Kurakin: Ncmsiour, ^ us
savAis xas, eins vous serW g,ujourcl'b.ni s, ig. ecmr; wais vou8 Wveis Kien,
aus js suis loi avso <zg.rg<ztörö; sse-ve czus ^js pouvais lÄirs ÄntreMsvt?
Mit andern Worten: Friesendorf gab zu versteh«, daß eine Begegnung mit
einem russischen Gesandten ohne „Charakter," d.h. in nichtamtlicher Eigenschaft,
unter seiner Würde sei. Hierauf ging man zu Tisch, und der schwedische Ge¬
sandte nahm Platz; Kurakin aber ertrug die Kränkung nicht, sondern beurlaubte
sich beim Kurfürsten und fuhr nach Hause. „Diesen Affront, schreibt Kurakin,
werde ich niemals vergessen."
Nach der Reunion gingen die Gäste wieder in derselben Reihenfolge zur
Abendtafel. Hier fand eine kleine Abwechslung statt: mitten auf der Tafel
stand Konfekt; rings herum standen Auflagen, und in kleinen Tassen wurde
Suppe gereicht. Nach dem Abendessen verabschiedete man sich. Diese Haus¬
ordnung am hannoverschen Hofe wurde bei Festlichkeiten, beim Besuch kaiser¬
licher Prinzen oder berühmter Persönlichkeiten unterbrochen. Kaiserliche Prinzen
nahmen im Schlosse Wohnung. Als Prinz Eugen von Savoyen und Lord
Marlborough nach Hannover kamen, wurde auch ihnen die Auszeichnung einer
Wohnung im Schlosse zuteil. „Bei Tisch erhielten sie aber keinen andern
Platz als ich," bemerkt Kurakin. Der Kurprinz und Ernst August gaben ihnen
nicht die rechte Hand, und im Gespräch wurden sie altössö (Hoheit) tituliert.
Mit dem Handgeben hatte es nach Kurakin auch seine besondre Bewandtnis:
die rechte Hand gaben der Kurfürst und seine Mutter nur regierenden Fürsten;
nicht regierenden aber, sogar den Thronerben, gab nicht einmal der Kurprinz
(der doch in derselben Lage war) die Rechte, Bei jeder Gelegenheit die Rechte
gab der Kurfürst nur seinem Schwiegersohn, dem Sohne des Königs von
Preußen.
Im Januar, bei der Ankunft des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-
Wolfenbüttel, wurde im Schloß ein „Karneval" veranstaltet. Bevor man zu
Tisch ging, schreibt Kurakin, wurden von Herren und Damen aus einem Hut
Zettel mit Nummern gezogen. Dieselben Nummern gingen miteinander zu
Tisch, damit keine Rangstreitigkeiten wegen der Plätze entstünden. Abends bei
der Reunion spielte die Fürstinmutter mit dem Wolfenbüttler; beide saßen „in
Lehnstühlen." Am zweiten Tisch saßen die Gemahlin des Kurprinzen mit dem
Prinzen von Wolfenbüttel und eine Dame; am dritten eine Prinzessin von
Wolfenbüttel mit dem Prinzen von Bayreuth und dem schwedischen Gesandten;
am vierten der jüngere Prinz von Wolfenbüttel, die Frau des schwedischen
Gesandten und Fürst Kurakin. Aus der Anordnung der Spielenden will unser
Fürst ersehen haben, daß die Prinzessin von Wolfenbüttel hinter der hannoverschen
rangierte. „Ich blickte absichtlich oft hin und sah, daß der Kurfürst wenig mit
ihnen sprach, und daß sich namentlich der Kurprinz gar nicht unterhielt. Auf
dem Gesicht stand ihm Stolz geschrieben; aber das ist ihre gewöhnliche Politik,"
bemerkt der russische Diplomat. Unterhaltung wurde während der Reunion
zwischen den Herren und ihren Damen überhaupt nicht gepflogen. Während
der Tafel spielte zu Ehren der Wolfenbüttler eine „ungeheure Musik," und
unter den Musikanten bemerkte Kurakin einen Geiger, der „so berühmt war,
daß man in Italien nicht seinesgleichen fand!" Mittag- und Abendessen wurde
an zwei Tafeln eingenommen. Besondre Rangunterschiede, außer den durch
goldnes und silbernes Service gekennzeichneten, gab es nicht. Nur war der
erste Tisch von einem Baldachin überdacht, unter dem der Kurprinz und der
Prinz von Bayreuth saßen.
Während der Karnevalszeit starb eine Prinzessin von Wolfenbüttel am
Hofe. Sofort wurden alle Festlichkeiten eingestellt. Der Hofmarschall ließ bei
allen vornehmen Persönlichkeiten den Todesfall ansagen und Trauerkleidung,
ohne Binde am Ärmel, anzulegen bitten. Es gab schon damals eine „große"
und eine „kleine," d. h. tiefe und Halbtrauer. Bei der großen „legt man ein
drittehalb Finger breites Stück schwarzer Leinwand unten um den Arm und
bedeckt rin schwarzem Leinen auch die Knöpfe mit Ausnahme von vieren am
Gürtel und einem oben. Die Kleidung besteht aus grobem Tuch. Der Degen
wird auch schwarz umwickelt, die Schnallen sind schwarz, die Schuhe ebenfalls
schwarz aus hämisch Leder, Manschetten werden nicht getragen. Bei leichter
Trauer, wie zum Beispiel dem Tode der Prinzessin, werden die Knöpfe nicht
bedeckt, nur trägt man wollne statt seidner, Halstuch und Manschetten wie ge¬
wöhnlich, aber ohne Spitzen. Das Kleid besteht aus gutem Tuch; Degen und
Schnallen wie gewöhnlich, Hut ebenfalls. Der Kurfürst und sein Sohn trugen
wie gewöhnlich Orden am Bande."
Wenn man nach der ersten Begegnung Kurakins mit dem Kurfürsten
urteilen will, so versprach seine diplomatische Sendung in Hannover für die
Zukunft einen günstigen Erfolg, wenngleich Kurakin selbst später in Dänemark
dem Fürsten Dolgorukow und Golowkiu erzählte, er rechne ans Grund der
Gesinnung des Fürsten und seiner Minister nicht auf ein Bündnis; das meiste,
was er von Hannover erwarten könne, sei dessen Neutralität. Offizielle Unter¬
redungen über ein Bündnis begann Kurakin mit den Ministern Bernsdorff und
Elze am 26. November. Aus diesen Unterredungen ging hervor, daß Kurfürst
Georg nicht abgeneigt war, Freundschaft und Schriftwechsel mit dem Zaren zu
unterhalten, was aber ein Bündnis anlange, so versprachen die Minister dem
Fürsten Kurakin am nächsten Tage Mitteilung zu machen. Diese Mitteilung
kam aber nicht. Am 30. November war Bernsdorff bei Kurakin und erklärte,
der Kurfürst habe, auf Vorschlag des polnischen Gesandten, England, Holland
und Österreich vom Wunsche des Zaren Mitteilung gemacht: mit August von
Sachsen Schiedsrichter (Vermittler) beim Friedensschluß im Spanischen Erb¬
folgekriege zu sein. Also wünschte Peter der Große schon damals eine Ein¬
mischung in den Spanischen Erbfolgekrieg, um beim Friedensschluß Vorteile für
Nußland herauszuschlagen! Um diese Vermittlung gingen ein halbes Jahr
später die Franzosen den Zaren durch ihren Gesandten Baluze an.
Auf Bernsdorffs Mitteilung erwiderte Fürst Kurakin, er könne hierzu nichts
sagen, da er keine Instruktionen vom Zaren habe; er bat dann nochmals um
Antwort auf seinen Vorschlag. Bernsdorff sagte diese Antwort für Montag
zu; einstweilen machte er die Mitteilung, der Kurfürst habe beschlossen, nicht
zuzulassen, daß das schwedische Korps des Generals Krassau, das in den
schwedischen Provinzen im Reiche stand, den dänischen König angriffe, weil
hierdurch ein „Brand" im Reiche entsteh» könne. Es handelte sich um die
zehntausend Mann schwedischer Truppen, die nach der Schacht bei Poltawa
aus Polen nach Pommern geführt und später von dem vorsichtigen General
auf achtzehntausend Mann verstärkt worden waren. Er konnte jeden Augenblick in
die dänischen Lande einfallen und nach Sachsen vorstoßen, wodurch dann der
„Brand" im Reiche entstanden wäre; Bernsdorffs Mitteilung deutete also die
Geneigtheit des Kurfürsten für die nordischen Mächte an.
Am festgesetzten Montag begab sich Kurakin selbst zu Bernsdorff, um
diesem zugleich seinen Besuch zu machen. Eine definitive Antwort erfolgte
wieder nicht; Bernsdorff sagte, der Kurfürst beabsichtige mit dem Zaren in guter
Freundschaft zu leben, ein Offensivbündnis könne er aber mit ihm nicht schließen,
das wäre allen Alliierten zuwider, die mit Frankreich Krieg führten; es zöge
die Truppen des Kurfürsten, die bei den Alliierten stünden, nach der entgegen¬
gesetzten Seite und würde einen Krieg im Reiche entfesseln, da dann die mit
Schweden verbündeten oder befreundeten Mächte für Schweden eintreten und
gegen Hannover ziehn, die übrigen Mächte aber ans Neid den Krieg nicht
glücklich würden zu Ende führen lassen. Jedenfalls könne der Kurfürst ohne
Zustimmung der kriegführenden Westmächtc kein Offensivbündnis schließen. Und
ein Defensivbündnis könne der Kurfürst einmal wegen der weiten Entfernung
Rußlands und dann deswegen nicht eingehn, weil, wenn der Krieg durchkreuzt
würde, der König von Schweden Vergeltung üben würde. Vielleicht würde der
Vorteil des Reichs später einmal den Abschluß eines solchen Bündnisses er¬
heischen; jetzt sei das noch nicht der Fall. Dagegen würde der Kurfürst dem
Gesandten Peters besondre „Projekte" vorlegen lassen, aus denen sich zeigen
würde, wie der Kurfürst gegenwärtig Nußland Dienste zu erweisen hoffe.
Diese „Projekte," die Fürst Kurakin am 25. November (russischen Stils)
erhielt, bestanden im wesentlichen in folgendem: 1. Rußland und Hannover
wollen miteinander in Frieden und guter Freundschaft leben und sich durch
Rat und Tat zu gegenseitigem Vorteil unterstützen. 2. Demzufolge versprechen
beide Staaten einander alles mitzuteilen und gestatten ihren Gesandten, in und
außerhalb Deutschlands freundschaftlichen Verkehr und Schriftwechsel zu unter¬
halten. 3. Wenn solche Fälle eintreten, daß eine Macht von der andern be¬
waffnete Unterstützung wünscht, so treten die beiden Mächte darüber in besondre
Beratungen. 4. Da der Zar verspricht, die Schweden in ihren deutschen Be¬
sitzungen nicht zu beunruhigen und seine Bundesgenossen von einem Einfall in
diese Provinzen abzuhalten, damit dadurch keine Unruhen im Reich entstehn,
und die deutschen Streitkräfte vom Kriege mit Frankreich nicht abgezogen
werden, so 5. verspricht der Kurfürst auch seinerseits, nach Möglichkeit und
eifrigst dafür zu sorgen, daß die Verbündeten des Zaren, die Könige von Polen
und Dänemark, in ihren deutschen Provinzen nicht von Schweden angegriffen
werden. 6. Wenn endlich eine fremde Macht wegen des zwischen Hannover
und Rußland getroffnen Übereinkommens aus Neid oder Böswilligkeit in die
hannoverschen Lande einfallen oder sie ungerechtfertigt bedrängen sollte, so ver¬
spricht der Zar in diesem Falle „kräftige Hilfe zu erweisen."
Kurakin schickte diesen Entwurf sofort in Ziffernschrift an seinen Hof, und
zugleich teilte er am 3. Dezember dem Minister Bernsdorff seine Ansicht über
das Schriftstück mit und erklärte, daß er mit seinem Hof in Relation getreten
wäre. Kurakin wünschte die Punkte 4, 5 und 6 geändert und begründete dieses
Verlangen. Wie zu erwarten war, ging Hannover auf den Wunsch nicht ein,
und es begannen nun Verhandlungen, die sich fast neun Monate, bis Ende
Juli, bis zur Abreise Kurakius aus Hannover, hinzogen. Der Kurfürst war
einem Bündnis nicht abgeneigt, suchte aber möglichst vorteilhafte Bedingungen
für sich herauszuholen. ^Mfz ^g^
eit Jahren beklagt sich die deutsche Geschäftswelt über die Schürfe,
!mit der die Vereinigten Staaten ihr Schutzzollsystem ausbauen,
kund über einen Handelsvertrag zwischen Deutschland und der
! Union, der Deutschland alle Nachteile, der Union alle Vorteile
I zuweist. Man hat zwar geglaubt, daß wir in den Vereinigten
Staaten meistbegünstigt seien, wunderte sich aber doch darüber, daß diese Meist¬
begünstigung, die doch für andre Länder, die mit uns in einem Handelsvertrags-
Verhältnis stehn, so großen Nutzen bringt, gerade bei dem Zollsystem der Ver¬
einigten Staaten ihre Wirkung versagt. Da wir vor der Einleitung neuer
Verhandlungen über die Handelsbeziehungen der Union zu Deutschland stehn,
so empfiehlt es sich wohl, einmal zu fragen, auf welchen Grundlagen denn
eigentlich diese Beziehungen beruhen. Und damit erörtern wir eins der merk¬
würdigsten Kapitel der neuen Handelsgeschichte, reich an Irrtümern und Fehlern,
die uns in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht haben. Wir würden über
die Streitfragen, die sich daran knüpfen, schon längst gut unterrichtet sein können,
wenn sich die öffentliche Meinung und vor allem die Tagespresse die einschlägigen
wissenschaftlichen Arbeiten etwas genauer ansehen wollten, denn schon 1900 hat
Professor Dr. George M. Fisk im neunzigsten Bande der Schriften des Vereins
für Sozialpolitik eine Arbeit über die Handelspolitik der Vereinigten Staaten
von 1890 bis 1900 veröffentlicht, die über die deutsch-amerikanischen Handels-
Vertragsbeziehungen ganz zutreffende Auskunft gibt. Der neueste Bearbeiter des
Gegenstandes, Dr. Glier, hat sein Buch „Die Meistbegünstigungsklausel"*) auf
breiterer wissenschaftlicher Grundlage aufgebaut, hätte aber doch bei der Be¬
handlung der Spezialfrage, die uns hier angeht, Veranlassung nehmen sollen,
der voraufgegangnen Arbeit von Fisk zu gedenken.
Wenn wir in einem Buche über die Meistbegünstigungsklausel Aufschluß
gerade über unser handelspolitisches Verhältnis zur Union finden, so ist das kein
Zufall, sondern die ganze Streitfrage dreht sich in Wahrheit nur um diesen
einen Punkt, darum, was der preußisch-amerikanische Handelsvertrag über diese
Angelegenheit sagt, und wie seine Bestimmungen auszulegen sind.
Dr. Glier weist sehr gut an einem außergewöhnlich reichen Material nach,
wie im Laufe der Zeiten die Art der Handelsverträge darin gewechselt hat, wie
in ihnen andre Staaten behandelt worden sind, denn darauf kommt es ja immer
an. Die Handelsverträge zwischen zwei Ländern wären sehr einfach abzuschließen
und würden lange nicht die große Bedeutung erlangt haben, wenn nicht auch
fast immer in ihnen geordnet wäre, ob und in welchem Umfange man die Vor¬
teile, die der eine vertragschließende Teil dem andern zugestanden hat, dritten
Staaten zuwenden will, mit denen der eine oder der andre Vertragsstaat ent¬
weder schon einen Handelsvertrag abgeschlossen hat oder künftig abschließt. Im
achtzehnten Jahrhundert, wo wir schon eine kleine Zahl von Tarifverträgen
finden, herrschte in den Handelsverträgen der Grundsatz der unbedingten Meist¬
begünstigung mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der Vereinigten Staaten,
die nur Reziprozitätverträge abschlossen. Dies ändert sich im neunzehnten Jahr¬
hundert, vor allem, nachdem die Tarifverträge die Meistbegünstigungsklausel von
passiver zu aktiver Bedeutung zu bringen begannen. Bis 1860 ist die unbe¬
dingte Meistbegünstigung fast ganz verlassen, die Reziprozität an ihre Stelle
gesetzt worden. Doch dieser Zustand war von kurzer Dauer. Der Umschwung
brachte sehr bald mit zahlreichen Tarifverträgen die Meistbegünstigung unter
den handelsvertragschließenden Ländern wieder zur Geltung, deren Wertschätzung
am besten durch die Tatsache bezeichnet wird, daß 1871 Deutschland mit Frank¬
reich im Frankfurter Friedensverträge die unkündbare und unbedingte, wenn auch
auf gewisse Staaten beschränkte Meistbegünstigung verabredete. Bis 1891 nimmt
die Zahl der Tarifverträge weiter zu, doch erfolgt 1891 bis 1893 eine scharfe
Wendung; eine große Zahl von Handelsverträgen wird gekündigt. Deutschland,
das bisher auf diesem Gebiet etwas zurückgehalten hat, greift nun mit dem
Abschluß der bekannten sieben großen Tarifvertrüge ein, in denen überall die
unbedingte Meistbegünstigung verabredet wird. Diese erhält jedoch bei andern
Staaten nicht mehr so ausschließlich Geltung, und in all dem Wandel der An¬
schauung hat ein Staat unerschütterlich an dem zuerst gewählten Grundsatze der
Reziprozität festgehalten: die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Erfahrungen
und die Erfolge dieses Staates sind es denn auch, die die Frage nicht zur Ruhe
kommen lassen, ob nicht auch Deutschland dazu ttbergehn müsse, die unbedingte
Meistbegünstigung einzuschränken. Mau wendet nicht mit Unrecht gegen sie ein,
daß sie es unmöglich mache, die Wirkung einer handelspolitischen Abmachung zu
übersehen, wenn der einem Staate gewährte Handelsvorteil, Zollerlasse u. a.
sofort kraft der früher einem Dutzend andrer Staaten gewährten Meistbegünstigung
dieser Vielheit mit zufalle, und man umgekehrt jeden von einem andern Staat
erlangten Vorteil mit einem Dutzend andrer Wettbewerber teilen müsse. Die
Sache wird dadurch uoch besonders verwickelt, daß z. B. Deutschland Tarif¬
verträge mit sieben Staaten soeben abgeschlossen hat, in denen an Zollschutz
beträchtliche Opfer am inländischen Markte gebracht werden mußten. Wenn
sich dies auch vielleicht den übrigen sechs Tarifvertragstaaten gegenüber dadurch
rechtfertigen läßt, daß diese ebenfalls Tarifzugeständnisse beim Abschluß der
Verträge haben machen müssen, so ist es doch bitter, diese Zollnachlüsse auch
den Staaten zu gewähren, die nichts andres als einen reinen Meistbegünstigungs¬
vertrag mit uns haben, also einen Vertrag, bei dem uns auf den Zolltarif
selbst keinerlei Nachlaß oder Bindung der Zölle gegeben worden ist.
Mit den Vereinigten Staaten hat Preußen am 1. Mai 1828, also in der
Zeit, wo die Reziprozität an Boden gewann, einen Handelsvertrag abgeschlossen,
der noch heute die so viel umstrittne Grundlage unsrer Handelsbeziehungen zur
Union ist. Von diesen. Vertrage gehn uns nur die Artikel 5 und 9 an, die
die Frage regeln, in welchem Umfange Preußen an den Vorteilen teilnimmt,
die die Union etwa einem andern Lande einräumt, oder in dem wir andrerseits
die Union an solchen, andern Staaten gewährten Begünstigungen teilnehmen
lassen müssen. Sie lauten:
Artikel 5. Auf den Eingang der Erzeugnisse des Bodens oder des Kunst¬
fleißes des Königreichs Preußen in die Vereinigten Staaten und auf den Eingang
der Erzeugnisse des Bodens oder des Kunstfleißes der Vereinigten Staaten in das
Königreich Preußen sollen weder andre noch höhere Abgaben gelegt werden, als die¬
jenigen, welche auf dieselben Artikel gelegt sind oder gelegt werden, wenn sie Erzeug¬
nisse des Bodens oder des Kunstfleißes irgendeines andern fremden Landes sind.
Artikel 9. Wenn von einem der vertragschließenden Teile in der Folge
andern Staaten irgendeine besondre Vergünstigung des Handels oder der Schiff¬
fahrt zugestanden werden sollte, so soll diese Begünstigung sofort auch dem andern
Teile mit zugute kommen, der sie, weim sie ohne Gegenleistung zugestanden ist,
ebenfalls ohne solche, wenn sie aber an die Bedingung einer Vergeltung geknüpft
ist, gegen Bewilligung derselben Vergeltung genießen wird.
Wenn wir uns die Bedeutung dieser Abmachungen ganz klar machen wollen,
so müssen wir mit einer Abschweifung erst einmal den Begriff Meistbegünstigung,
von dem im Artikel 5 die Rede ist, feststellen, und es ist ein Verdienst Dr. Gliers,
dies im Gegensatz zu frühern Beurteilern dieser Frage gründlich getan zu haben.
Er weist uns darauf hin, daß vor allem früher die Meistbegünstigung ihre
Wirkung nach zwei Richtungen äußerte. Sie gibt ein Recht auf alle Tarif¬
minderungen, mindestens aber auf die Satze des Generaltarifs. Die meistbe¬
günstigte Nation hatte einen Anspruch auf den Generaltarif und darauf, daß
sie keine andern und hohem Zölle zu zahlen brauchte, als dieser sie enthält;
sie hatte ferner einen Anspruch auf Tarifminderungen, die sie aber besonders
erkaufen mußte. Nach der einen Seite unterlag sie also, wie sich Dr. Glier
ausdrückt, dem Gleichbenachteiliguugszwang mit andern Ländern (vgl. Artikel 5
des angezognen Vertrags), auf der andern kam ihr zugute der Gleichbegünstigungs-
zwcmg (Artikel 9 des Vertrags), der aber in unserm Fall an Gegenleistungen
gebunden ist.
Aus diesen beiden maßgebenden Artikeln hat man herausgelesen, daß in allen
Zollfragen die unbedingte Meistbegünstigung zwischen Deutschland und der Union
bestehe, bei allen besondern Begünstigungen andrer Art aber die bedingte Meist¬
begünstigung, die Bindung eines Zugeständnisses um ein Gegenzugeständnis.
I)r. Glier dagegen sagt, es könne aus Artikel 5 eine allgemeine und unbegrenzte
Meistbegünstigung Deutschlands nicht gefolgert werden. Er sage vielmehr nur,
daß Preußen (Deutschland) mit seinen Waren in den Vereinigten Staaten keine
andern und keine höhern Abgaben zu zahlen habe, als im allgemeinen Zolltarif
der Vereinigten Staaten verzeichnet stehn. Gewährt einer der beiden vertrag¬
schließenden Staaten einem dritten Staat eine Begünstigung, so soll sie dem
andern Vertragsstaat auch zufallen, und zwar entweder mit oder ohne Gegen¬
leistung, je nachdem sie dem dritten Lande mit oder ohne eine solche gegeben
worden ist. Nun hat man weiter gesagt, daß der Artikel 2 des Frankfurter
Friedensvertrags Deutschland zwinge, alle Vergünstigungen, die es Frankreich
aus den andern Handelsverträgen geben müsse, anch den Vereinigten Staaten
zuzubilligen, weil Frankreich diese Vergünstigungen ohne Vergeltung bekomme.
Das ist aber nicht richtig. Ohne Zweifel hat Deutschland von Frankreich für
das Zugeständnis der unkündbaren Meistbegünstigung eine starke Vergeltung
bekommen und erhält sie immer wieder in Gestalt des französischen Mindest¬
zolltarifs. Der Frankfurter Friedensvertrag zwingt uns also nicht, den Ver¬
einigten Staaten ohne Gegenleistung Zollbegünstigungen zu gewähren. Diese
Sachlage ist ziemlich klar, und dazu kommt die gleiche, ständig immer wieder
betonte Auffassung der Vereinigten Staaten selbst. Im Jahre 1891 wurde das
sogenannte Saratogaabkommcn Deutschlands mit den Vereinigten Staaten ab¬
geschlossen, dnrch das man verhindern wollte, daß der deutsche Zucker in Amerika
nach dem Me. Kinley-Gesetz einem Zollzuschlag unterworfen würde. Um dem zu
entgehn, bot Deutschland die Aufhebung des deutschen Einfuhrverbots von numeri-
konischen Schweinen, Schweinefleisch und Würsten an und die Zollermäßigungen
für landwirtschaftliche Erzeugnisse, die durch die Handelsverträge Rußland, Öster¬
reich-Ungarn usw. gewährt worden waren. Die Antwort, in der der Präsident der
Vereinigten Staaten dieses Abkommen annimmt, hat in ihrem Schlüsse folgenden
charakterisüschen Wortlaut: „Der Präsident erachtet die Bereitwilligkeit der Kaiser¬
lichen Regierung, diese Zollermäßigungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse auch
den gleichen Waren aus den Vereinigten Staaten zu gewähren, als ein ge¬
nügendes Entgegenkommen für die Gewährung der von dem Kongreß
der Vereinigten Staaten der Sektion III des Zolltarifgesetzes vorgesehenen Ver¬
günstigungen." Sowohl die deutschen wie die amerikanischen diplomatischen Ver¬
treter haben also damals ganz richtig im Sinne und Geiste des preußisch¬
amerikanischen Handelsvertrags gehandelt. Sie boten und empfingen Leistung
und Gegenleistung, beschränkt auf gewisse Dinge. Wären die deutschen Vertreter
damals der Meinung gewesen, die Vereinigten Staaten seien unbedingt und
unbegrenzt meistbegünstigt bei uns, so hätte man die Zugeständnisse nicht auf
die landwirtschaftlichen Erzeugnisse beschränken dürfen, sondern mußte sie auf
alle Vergünstigungen ausdehnen, die wir den europäischen Handelsvertrngstaaten
gewährt hatten. Und umgekehrt hätte unser Zucker nicht differenziert werden
können, weil man Hawai in den Vereinigten Staaten die Zollfreiheit des Zuckers
zugestanden hatte, die infolgedessen auch Deutschland durch die Meistbegünstigung
zufallen mußte. Trotz dieser richtigen Auffassung zog Deutschland, als die
Me. Kinleybill fiel und die ihr folgende Wilsonbill den Zucker mit einem Zoll
belegte, nun nicht etwa bei der veränderten Sachlage seine begünstigte Be¬
handlung der amerikanischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse zurück,") sondern
ließ sie weiter bestehn, und als durch den Dingleytarif die amerikanischen
Zölle 1897 abermals stark gesteigert wurden, gaben wir für ein paar Zuge¬
ständnisse in dem Abkommen von 1900 gleich den ganzen Vertragtarif als
Gegenleistung. Das heißt, von einer Gegenleistung, von einer „Bewilligung
derselben Vergeltung," kaun hier nicht mehr gesprochen werden, sondern nur noch
von einem Geschenk ohne jeden Gegenwert. Zu alledem kommt, daß die Ver¬
einigten Staaten in der allerletzten Zeit mit Kuba einen Vorzugstarif vereinbart
haben, der Vergünstigungen von 20 bis 40 Prozent auf die Zölle beider Staaten
enthält, die keinem andern Staate gewährt werden dürfen; insbesondre ist das
für Zucker abgemacht worden.
Bisher haben wir unsre Erörterungen darauf aufgebaut, daß der alte
preußische Vertrag von 1828 mit den Vereinigten Staaten auch für das Reich
gelte, weil durch einen Bundesratsbeschluß 1885 diesen im Reiche die Rechte
der meistbegünstigten Nation zugesprochen worden sind. Jedoch auch das ist
hinfällig. Abgesehen davon, daß es auch bei diesem Vorkommnis sehr merk¬
würdig ist, daß Deutschland den Vereinigten Staaten ohne weitere Gegen¬
leistung die unbedingte Meistbegünstigung zum Geschenk machte, hat der Be¬
schluß keine rechtliche Bedeutung, da die Vereinigten Staaten nicht darum
gefragt worden sind und ihr Einverständnis nicht erklärt haben; im Gegenteil
hat 1894 der Staatssekretär Gresham ausgeführt, die oben wiedergegebnen Be¬
stimmungen stellten den Handelsvertrag zwischen den Vereinigten Staaten und
Preußen, nicht dem gesamten Deutschen Reich, auf die Grundlage der Meiste
begünstigung. Schatzsekretär Olney bestätigte die Auffassung, daß der alte
Handelsvertrag mit Preußen keine Wirkung für andre Teile des Deutschen
Reichs haben könne. Da nun Preußen keine selbständige Handelspolitik mehr
treiben kann, so ist der Vertrag zwar historisch sehr interessant, hat uns Geld
genug gekostet lind uns die Hände gebunden, aber praktische Bedeutung für die
Reichspolitik kann er nur noch haben oder wieder erlangen, wenn er formell
mit Anerkennung der Vereinigten Staaten auf das Deutsche Reich ausgedehnt,
und das Verhältnis der Reziprozität auch tatsächlich an Stelle der unbedingten
Meistbegünstigung gesetzt wird.
Das siud zunächst einmal die rechtlichen Grundlagen, wie sie Dr. Glicr
darstellt. Wie steht es nun weiter mit den praktischen Aussichten und den
Forderungen der demnächst beginnenden Vertragsverhandlungen? Begonnen
werden müssen solche Verhandlungen, denn das Abkommen mit den Vereinigten
Staaten sicherte diesen die Tarife der Handelsverträge von 1891 bis 1894
zu, die im nächsten Jahre verschwinden.
Handelsvertragsverhandlungen zwischen zwei Staaten können nur gepflogen
werden, soweit sie sich im Rahmen der autonomen Zollgesetzgebung der ver¬
handelnden Staaten halten. Das deutsche Zolltarifgesetz sagt, daß „die Zölle
nach Maßgabe des neuen Tarifs erhoben werden, soweit nicht für die Einfuhr
aus bestimmten Ländern andre Vorschriften (nämlich Vertragtarife) gelten."
Die Befugnis, Vertragtarife abzuschließen, ist — abgesehen von der nachzu¬
holenden Genehmigung des Reichstags und des Bundesrath — materiell nicht
beschränkt bis auf die Höhe der Getreidezölle. Anders in der Dingleybill der
Vereinigten Staaten, deren Eingang lautet: „Nach Annahme dieses Gesetzes
sollen, soweit in demselben nicht anders bestimmt ist, von allen aus fremden
Ländern eingeführten, in den folgenden Gruppen erwähnten Artikeln die daneben
angegebnen Zollsätze erhoben und entrichtet werden." Diese Fassung ist aller¬
dings sehr ungenau und unrichtig, denn auch die Artikel, die nicht in den be¬
sonders aufgeführten Gruppen genannt sind, unterliegen Zöllen (vgl. Abschnitt 6
und 22 des Dingleygesetzes). Aber darauf kommt es nicht an, sondern auf die
Feststellung, daß die Vereinigten Staaten Zollbegünstigung nur in den von dem
Gesetze selbst gezognen Grenze» bewilligen können, und diese sind sehr eng.
Das Dingleygesetz kennt nur drei Gruppen von Vertrügen über Zölle. Allge¬
meine Tarifvertrüge für fünf Jahre mit einer Zollermüßigung von höchstens
20 Prozent, Versetzung gewisser Waren (Naturerzeugnisse der fremden Länder,
aber nicht der Vereinigten Staaten) auf die Freiliste, oder Bindung gewisser
Waren in der Freiliste. Diese drei Arten der Gruppe Tarifverträge scheiden
für die künftigen deutsch-amerikanischen Verhandlungen aus, da sie nur inner¬
halb zweier Jahre nach Erlaß des Dingleygesetzes abgeschlossen werden konnten.
Ob die Möglichkeit vorhanden ist, diesen Abschnitt 4 des Dingleygesetzes durch
ein neues Gesetz aufzuheben, kann nur von dem Präsidenten der Union beurteilt
werden. Die zweite Gruppe der Verträge hat den Charakter der Abwehr,
wenigstens in der sehr geschickten äußern Fassung des letzten Absatzes von
Artikel 3 des Dingleygesetzes, und bezieht sich nur auf Staaten, die unmittel¬
bar oder mittelbar Kaffee, Tee, Tonkabohnen oder Vanillebohnen nach den
Vereinigten Staaten ausführen. Handelsverträge kann man Abmachungen auf
Grund dieser Bestimmungen kaum nennen, da sie sagen, daß der Präsident der
Vereinigten Staaten die genannten Waren mit Zollen in gewisser Hohe belegen
kann, wenn in diesen Ländern von amerikanischen Waren nach seiner Ansicht un¬
verhältnismäßige Zölle erhoben werden. Es handelt sich also im Grunde um
Kampfzölle. Da die Bestimmungen außerdem offenbar auf Südamerika zuge¬
schnitten sind, so kommen sie ebenfalls für uns nicht in Frage; es bleibt nur
der Rest des Artikels 3 des Dingleygesetzes, worin bestimmt wird, daß den
Staaten, die Weinstein, rohen Weinstein, rohe Weinhefe, Branntwein, stille
Weine, Champagner, Wermut, Gemälde- und Bildhauerarbeiten herstellen und
nach den Vereinigten Staaten ausführen, eine Zollermäßigung im bestimmten
Betrage zugestanden wird, wenn der Ausfuhr der Vereinigten Staaten in diesen
Ländern gegenseitige und gleichwertige Zugeständnisse gemacht werden. Sie
ist offenbar auch ebenso auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten, wie man bei der
zweiten Gruppe der Verträge auf die südamerikanischen Staaten geachtet hat.
Nach Lage der heute giltigen Gesetze können wir mir diese letzte Be¬
stimmung nutzbar machen, wie das schon durch das Abkommen für 1900 ge¬
schehen ist. Nur dürfen unsre Gegenleistungen nicht wieder bis ins Ungemessene
gehn. Unsre Ausfuhr betrug 1902 an:
Unsre Gesamtausfuhr nach den Vereinigten Staaten betrug 1902 13 Mil¬
lionen 62 im Werte von 449 Millionen Mark; wenn uns für 660000 6-: im
Werte von etwa 7 Millionen Mark die Zölle ermäßigt werden, so ist das keine
Gegenleistung für die Gewährung sämtlicher Vertragzölle an die Vereinigten
Staaten, denen zu derselben Zeit allein für 11430611 62 Getreide im Werte
von 140817624 Mark die ermäßigten Zölle gegeben wurden. Schon diese
beiden Zahlen beweisen die Ungeheuerlichkeit der bestehenden Unterschiede. Wenn
wir die deutsche Reichsstatistik des auswärtigen Handels für 1902 aufschlagen,
so finden wir unter den Vereinigten Staaten in der Einleitung an Haupt¬
einfuhrgegenständen aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland namentlich
nachgewiesen für 835,1 Millionen Mark Warenwert, an Hauptausfuhrgegen-
stünden 312,7 Millionen Mark Warenwert. Von jenen 835,1 Millionen Mark
Einfuhr sind 410,9 Millionen Mark, von den 312,7 Millionen Mark Ausfuhr
sind höchstens 27,2 Millionen Mark zollfrei geblieben. Also auch bei dieser
Gegenüberstellung stoßen wir auf ganz abnorme Verschiedenheiten. Im allge¬
meinen kann man sagen, daß in den Vereinigten Staaten 42 Prozent, in
Deutschland bisher 52 Prozent der Einfuhr zollfrei blieben, daß die zoll¬
pflichtige Einfuhr belastet ist in den Vereinigten Staaten mit 50 Prozent, in
Deutschland mit 20 Prozent des Wertes.
Man muß deshalb den Wunsch aussprechen, daß es doch gelinge, die
Vereinigten Staaten zu bewegen, durch Abänderung des Dingleygesetzcs den
Abschluß eines Tarifvertrags mit Deutschland möglich zu machen.
Die einzelnen Forderungen aufzustellen, die bei dieser Gelegenheit zur
Wahrung deutscher Interessen vorgebracht werden müssen, ist nicht Aufgabe
eiues Aufsatzes wie des vorliegenden, sondern muß den Denkschriften der
einzelnen Handelskammern überlassen bleiben.
. s ist in weitern Kreisen leider noch nicht genügend bekannt, daß
durch das neue Bürgerliche Gesetzbuch den Frauen ein höchst
wichtiges Ehrenamt eingeräumt worden ist, nämlich die Übernahme
von Vormund- und Pflegschaften. Viele wissen nur von der Über-
! nähme der Vormundschaft der verwitweten Mutter für ihre ehe¬
lichen Kinder; sie wissen nicht, daß jeder verheirateten oder unverheirateten Frau,
soweit sie unbescholten ist, die Übernahme dieses öffentlichen Amtes erlaubt ist,
daß sich hier Gelegenheit bietet, als Staatsbürgerin das Vertrauen zu recht¬
fertigen, das ihnen der Gesetzgeber erwies, als er sie zu diesem Amte zuließ.
Hiermit aber ist den Frauen ein weites Feld fruchtbarer und sozial wertvoller
Arbeit gegeben. Hier können Tausende gebildeter Frauen, die sich nach nutz¬
bringender Tätigkeit sehnen, ein Arbeitsfeld finden, auf dem sie dem Manne
nicht als Feinde im Konkurrenzkampf erscheinen werden, sondern auf dem er sie
freudig als Genossin und Helferin begrüßen wird. Freiwillig wird er ihr
Pflichten anvertrauen, die ihm im gesteigerten Berufsleben zu schwer wurden,
und die er dadurch nicht so ausfüllen konnte, wie es im Interesse des allge¬
meinen Wohles nötig ist.
Zunächst einige erklärende Worte über Vormund- und Pflegschaften, und
zwar werde ich mich mir auf die für Minderjährige beziehen. Die Vormund¬
schaft soll der Ersatz für die elterliche Schutzgewalt sein. Sie wird demnach
nötig durch den Tod der Eltern, durch die Unchelichkeit der Geburt, durch ein
Verbrechen, das der Vater an dem Kinde begangen hat, durch VerWirkung der
elterlichen Gewalt, durch Gefährdung des geistigen oder leiblichen Wohles des
Kindes, durch ehrloses oder unsittliches Leben der Eltern oder durch Ruhen
der elterlichen Gewalt. Wann und unter welchen Voraussetzungen die elter¬
liche Gewalt ruht, findet man unter dem „Verwandtschaftsrecht" im Bürger¬
lichen Gesetzbuch; es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden. Die
Pflegschaft ist eine Unterart der Vormundschaft im weitern Sinne, da auch sie
die vormundschaftliche Fürsorge schutzbedürftiger Personen bezweckt. Sie unter¬
scheidet sich von der Vormundschaft dadurch, daß sich diese auf alle Angelegen¬
heiten des Mündels bezieht, während sich die Pflegschaft oft nur auf eine
Angelegenheit des Pfleglings erstreckt. Für die übrigen bleibt die Sorge des
Gewalthabers oder Vormundes unberührt.
Man unterscheidet nun zwischen Pflegschaft für das Verfahren, d. h. zwischen
einer solchen bei dem gerichtlichen Verfahren, bei dem der Pfleger als un¬
parteiischer Dritter in einem Streite zwischen dem Gewalthaber oder Vormunde
und dem Kinde die Rechte des Kindes vertreten soll — und einer Erziehungs¬
pflegschaft. Diese tritt dann ein, wenn dem Inhaber der elterlichen Gewalt die
Erziehungsrechte entzogen und einem Erziehungspfleger übertragen werden, der
nun die volle Erzichungsgewalt ausübt, nur beschränkt durch die vormundschafts¬
gerichtliche Aufsicht.
Da jeder, der ein Amt übernehmen will, zunächst über die Pflichten auf¬
geklärt sein muß, die ihn erwarten, so werde ich kurz auf die Pflichten des
Vormundes eingehn. Diese bestehn zunächst in der Sorge für die Person
des Mündels, d. h. der Vormund hat das Recht und die Pflicht, den Mündel zu
erziehen, zu beaufsichtigen, seinen Aufenthalt zu bestimmen und ihn bei der Berufs¬
wahl zu beraten. Das Erziehungsrecht schließt sogar, wie das Gesetz in Absatz 2
des Paragraphen 1681 noch besonders hervorhebt, die Befugnis der körperlichen
Züchtigung ein. Ferner liegt dem Vormund auch die Pflicht der Sorge für
das Vermögen des Mündels und dessen Vertretung vor Gericht ob. Bei der
Übernahme von Vormundschaften durch Frauen wird es sich, abgesehen von
der der eignen Kinder, wohl nur um solche in Arbeiterfamilien handeln. Denn
in den besser gestellten Familien findet sich wohl meist ein Verwandter oder
Freund des Verstorbnen bereit, soweit nicht überhaupt schon testamentarische
Bestimmungen über diesen Punkt getroffen sind. Anders ist es dagegen in den
Familien des Volkes. Da kann man von einer wirklichen Vormundnot
reden, denn Vormundschaftsrichter und Waisenrüte können ein Lied davon singen,
wie sich die vorgeschlagnen Vormünder sträuben, die Vormund- oder Pfleg¬
schaft zu übernehmen, obgleich hier durch Wegfall der Vermögensverwaltung
ein großer Teil von Mühe erspart wird, wie sie einen Ablehnungsgrund nach
dem andern vorbringen.
Nach Paragraph 1786 haben folgende Personen das Recht der Ablehnung:
1. eine Frau, 2. wer das sechzigste Jahr vollendet hat, 3. wer mehr als vier
minderjährige eheliche Kinder hat, 4. wer durch Krankheit oder durch Gebrechen
verhindert ist, die Vormundschaft ordnungsmäßig zu führen, 5. wer wegen Ent-
fernung seines Wohnsitzes von dem Sitze des Vormundschaftsgerichts die Vor¬
mundschaft nicht ohne besondre Belästigung führen kann, 6. wer mehr als eine
Vormundschaft oder Pflegschaft führt, und noch einige unwesentliche Gründe.
Da durch die heutigen erschwerten Anforderungen im Berufe, im geselligen
Leben usw. dem Einzelnen kaum genügend Zeit bleibt, sich so um die eigne
Familie zu kümmern, wie es sein sollte, so kann man sich kaum wundern, daß
sich gebildete Männer mit Händen und Füßen gegen die Übernahme von Vor¬
mund- und Pflegschaften sträuben, besonders wenn es sich um solche unter
schwierigen Verhältnissen handelt. Anderseits wird man aber auch versteh»,
wenn sie sich so wenig als möglich um die ihnen anvertrauten Mündel kümmern,
wenn sie meinen, es sei alles in Ordnung, wenn sie nur nichts mit der Polizei
zu tun haben. Hier muß nun die Tätigkeit der Frau der gebildeten Stände
anfangen. Man wird mir einwenden, daß viele Frauen zu unerfahren dazu
seien, daß sie eine starke Behördescheu oder Mangel an Selbstvertrauen Hütten,
daß andern wieder Bedenken kämen, sich mit dunkeln, unsaubern Verhältnissen
abzugeben usw. Alle diese Einwände kann man leicht widerlegen. Gegen Un-
erfcchrenheit gibt es ein vorzügliches Mittel — Bildung und Belehrung. Es
ist Sache der fast in allen großem Städten gegründeten Nechtsschutzstellen, die
Frauen über die Pflichten als Vormund aufzuklären und ihnen in schwierigen
Verhältnissen mit Rat und Tat beizustehn. Andrerseits müßte das Beispiel
Berlins nachgeahmt werden, wo erstens ein Verband für weibliche Vormund¬
schaft gegründet worden ist, der seinen Mitgliedern alle nötigen Kenntnisse und
Belehrungen vermitteln will, und wo zweitens der „Freiwillige Erziehungs¬
beirat für schulentlassene Waisen" seinen Sitz hat.
Da diese segensreiche Einrichtung leider ebenfalls noch nicht genügend be¬
kannt ist, möchte ich hier etwas näher darauf eingehn, besonders da ich dringend
wünsche, daß sich nach dem Muster dieses Erziehungsbeirats auch in andern
Städten Vereine bilden möchten. Ich beziehe mich in den folgenden Aus¬
führungen auf die vom Vorstande herausgegebne Schrift des Vereins: „Allerlei
Wissenswertes über den Freiwilligen Erziehungsbeirat für schulentlassene Waisen."
Dieser Verein ist in der kurzen Zeit von acht Jahren auf mehr als 4000 Mit¬
glieder, darunter 150 Vereinsärzte, 200 fachmännische Beistände und 1500 Pfleger
und Pflegerinnen angewachsen, er hat alljährlich 1400 bis 1600 Waisen unter¬
gebracht und jedes Jahr 15000 bis 25000 Mark ausgeben können. Als
Waisen betrachtet der Erziehungsbeirat alle vaterlosen oder elternlosen, unehe¬
lichen oder dauernd vom Vater verlassenen Kinder. Dazu gehören etwa
10 Prozent aller Berliner Gemeindeschüler, d. h. über 20000 Kinder, von denen
jährlich etwa 2400 bis 2700 aus der Schule entlassen werden. Er beschränkt
sich mir auf Schulentlassene, weil seiner Ansicht nach während der Schulzeit
in der Regel der Einfluß der Mutter oder der sonstigen Gewalthaber in Ver¬
bindung mit der Schulzucht zur Erziehung ausreicht. Der Verein will den
Vormund, den Waisenrat und die städtischen Waisenpfleger in ihrer Arbeit
wirksam unterstützen. Zur Mitgliedschaft sind erwachsne Personen beiderlei
Geschlechts ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses, Berufs oder der Partei
berechtigt, ferner Vereine, Behörden und Körperschaften. Die Pfleger und
Pflegerinnen und fachmännischer Beistände leisten persönliche Arbeit und sind
von Zahlung eines Beitrags befreit. (Jahresbeiträge spenden u. a. der Kaiser,
die Kaiserin, Prinz Heinrich.) Die Arbeit des Vereins erstreckt sich darauf,
die Pfleglinge mit Hilfe der Schulen zu ermitteln und für ihre Unterkunft und
Berufswahl zu sorgen. Der Verein hat dafür ebenfalls eine Schrift heraus¬
gegeben unter dem Titel: „Wegweiser für die Berufswahl" (von Professor
Dr. meat. Th. Sommerfeld, Dr. MI. Edgar Jaffe und Joh. Sauer), den ich
allen Eltern, Lehrern und Lehrerinnen der Volks- und der Mittelschulen em¬
pfehlen möchte.
Nach dieser Abschweifung kehre ich zu meinem eigentlichen Thema zurück.
Gegen die Vehördescheu der Frauen muß man schon schwerer ankämpfen, aber
diese Scheu ist eben etwas, was um des guten Zweckes willen überwunden
werden muß. Die Frau soll nicht nur als Lückenbüßerin für den Mann ein¬
treten, sondern sie soll sich in den Dienst der Öffentlichkeit stellen, weil sie von
der Natur mit einer ganz besondern Gabe zu dem Amte als Vormund aus¬
gestattet ist, nämlich mit dem Gefühle der Mütterlichkeit. Durch dieses warme
Gefühl, das sie zu allem hinzieht, was schwach und hilfsbedürftig ist, kann sie,
ganz anders als der kühler empfindende Mann, heilen und helfen. Nicht als
Last wird sie die ihr anvertrauten Mündel ansehen, wie der durch seinen Beruf
in Anspruch genommene Mann, sondern sie wird ihnen gegenüberstehn als
warm empfindende mütterliche Freundin. Mit dem durch Mütterlichkeit ge¬
schärften Auge kann sie besser die Umgebung erkennen, in die sie das ihr an¬
vertraute Kind verpflanzen will, äußerer und innerer Schmutz wird von ihr
schneller bemerkt werden als vom Manne, dem dafür nicht so wie ihr die Augen
geschärft sind. Zu ihr kann das Mündel voll großem Vertrauens kommen als
zu dem Manne, der oft durch Bildung und Lebensweise turmhoch über ihm
steht und zu dem kein Weg führt, da das Herz nicht mitspricht. Eine Frau
liest in einem Kindergesicht wie in einem offnen Buche, sie findet mit Leichtig¬
keit, was ein Mann mit Mühe entziffert, und darum kann sie besser vorbeugen
bei einem Kinde, das zur sittlichen Verwahrlosung neigt als der Mann, darum
wird sie auch sehen, ob die Aussagen der Pflegeeltern über das Wohlbefinden
des Kindes mit den Tatsachen übereinstimmen.
Aber nicht nur dem Volke würde durch Ausnutzung brachliegender Kräfte
gedient werden, sondern mindestens in demselben Maße auch den Frauen der
obern Stunde und damit auch indirekt diesen selbst. Es gibt so viele Frauen
in guten, sichern Verhältnissen, die wohl ein vergnügliches, aber nutzloses
Drohnenleben führen, Frauen, die noch nichts von dem Wachwerden ihres
sozialen Gewissens gespürt, Frauen, die nie einen Blick in den oft schauerlichen
Abgrund des Volkslebens getan haben. Welche Bereicherung ihres Innen¬
lebens, welche Erweiterung ihres Gesichtskreises, welche Vertiefung des Ge¬
fühles würden diese erfahren, wenn sie sich entschließen könnten, für eins der
ärmsten der armen Kinder zu sorgen. Oder es gibt ältere Frauen, deren
eigne Kinder ans dem Hanse gegangen sind, um sich eine eigne Familie zu
gründen, die nun ein einsames Alter haben und sich nach Kindern sehnen.
Sollten sie nicht in der Fürsorge für ein schutzbedürftiges Kind Ersatz finden?
Da sehen wir ältere, unverheiratete Frauen, die einen reichen Schatz von
Mütterlichkeit in sich tragen, der so oft verkümmert, wenn er sich nicht be¬
tätigen kann, die sollten sich an das Wort Helene Langes erinnern: Das größte
Ziel der Frauenbewegung ist Mutterfürsorge im öffentlichen Leben, Da sind
kinderlose Frauen, die den unverbrauchter Liebesreichtnm so oft an Hunde und
Vögel verschwenden oder ihn auf leblose Dinge wie Toiletten, Sport usw.
übertragen.
Nicht darin zeigt sich soziale Hilfsbereitschaft, daß man Basare abhält und
unterstützt, denn bei allen solchen Veranstaltungen handelt es sich doch bei den
meisten besonders um das damit verbundne Vergnügen, sondern in dem tat¬
kräftigen eignen Handanlegen. Viele kleinliche und eingebildete Nöte würde die
gebildete Frauenwelt verlieren, wenn sie mutig und ohne Scheu der großen
sozialen Not ins Auge sehen würde, der Gewinn aber würde ein doppelter sein,
die Folgen würden sich segensreich bei den untern wie den obern Ständen des
Volkes bemerkbar machen. Es gähnt eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich,
fast scheint sie unüberbrückbar — und doch könnte Frauenliebe und Franensorge
hier Erfolg haben. ____
in 1. April ist nach einem Zeitraum von mehr als dreißig Jahren
dem einheitlichen Arzneibuch für das Deutsche Reich eine deutsche
Arzneitaxe für das ganze Reichsgebiet gefolgt. Der Gedanke, diese
Taxe zu schaffen, der auf eine vor wenig Jahren von dem Zentral¬
verband deutscher Ortskrankenkassen gegebne Anregung zurückgeht,
hat sich mit ungewohnter Schnelligkeit verwirklicht, und so konnte man sich mit
dem Gegenstand erst vertraut machen, als er schon in fester Gesetzesform vorlag.
Heute aber, nachdem eine große Zahl von Äußerungen aus den nächstinteressierten
Kreisen: von Apothekern, Ärzten, Krankenkassen vorliegen, ist man in der Lage,
ein Urteil darüber abzugeben, wie sich die neue Taxe bewähren wird, und in
welcher Richtung der Fortschritt liegt, der mit ihr geschaffen worden ist.
Was zunächst ihre Aufnahme betrifft, so hat die Taxe auf keiner Seite
eine grundsätzliche Mißbilligung gefunden. Dem Apotheker bringen vor allem
die Einheitlichkeit — durch die nun die unliebsamen Preisunterschiede in den
einzelnen Bundesstaaten wegfallen — und die große Vereinfachung des Tax¬
modus wertvolle Vorteile, denen gegenüber von einem höhern Nutzen (durch
Aufbesserung der Arzneipreise) kaum die Rede sein kann. Für die Konsumenten
des nördlichen Gebiets bringt ja die Taxe den bisherigen gegenüber im Durch¬
schnitt eine Erhöhung der Preise, während sie den bayrischen und den württem¬
bergischen gegenüber eine Verbilligung bedeutet. Tatsächlich sind die Warenpreise
auf Ermittlung der durchschnittlichen Engrospreise für das ganze Reichsgebiet
aufgebaut (die sich übrigens nur wenig unterscheiden), und die Resultante mußte
notwendig zwischen den Komponenten verlaufen. Eine größere Erhöhung, wie
sie manche Apotheker wünschten, eine stärkere Herabsetzung, wie sie die Kranken¬
kassen forderten, erschien von vornherein als ausgeschlossen.
Was aber das wesentliche ist, der Taxmodus und die dahinterstehende
Tendenz der neuen Taxe ist allseitig offen oder stillschweigend gebilligt worden,
und das Ergebnis, daß die veränderte Auffassung der Arzneivergütung und
damit der Apotheke überhaupt mit der wirklichen Entwicklung im Einklang steht,
gibt die Berechtigung, an die neue Taxe eine Betrachtung und eine Hoffnung
über die zukünftige Gestaltung des Apothekenwesens zu knüpfen.
Die neue Auffassung äußert sich in zwei Punkten, bei den Arzneimittel-
preiscn und bei den Arzneibereitungspreisen (oder Arbeitspreisen). Es sind
nämlich alle gangbaren Arzneimittel, sobald sie in größern Mengen entnommen
werden, wo also das Arzneiobjekt als Handelsgegenstand in Betracht kommt,
sehr verbilligt, dem Marktwert entsprechend. Hierin liegt ausgedrückt, daß das
Arzneimittel als solches keinen Vorrang vor andern Handelsartikeln haben soll,
daß es so billig wie möglich sein soll, daß der Apotheker im Grunde nichts
daran verdienen soll. Dasselbe gilt für die Gefäßpreise.
Andrerseits find für die Bereitung der Arzneien zum Teil gegen früher
ziemlich stark erhöhte Pauschalpreise eingeführt, sodaß nicht mehr jede einzelne
Manipulation mit ein paar Pfennigen vergütet wird, sondern für die Gesamt¬
zubereitung eine Gebühr in Ansatz kommt, die zwischen fünfundzwanzig und
fünfundfünfzig Pfennigen, bei einzelnen Arzneiformen auch noch höherm Preise
schwankt. Leider ist man hier auf halbem Wege stehn geblieben. Eine einzige
Nezeptgebühr von fünfzig Pfennigen etwa wäre das richtige gewesen. Tat¬
sächlich würde sich das durchschnittlich fast mit den jetzigen Arzneipreisen decken.
Für die allerhäufigsten Verordnungen, einfache Arzneimittellösungen, beträgt
die Rezepturgebühr schon jetzt genau fünfzig Pfennige. Es wäre also zur
Einführung einer allgemeinen Rezepturgebühr von fünfzig Pfennigen nur noch
ein Schritt. Freilich ein Schritt über den sehr fließenden Rezepturbegriff,
über den erst eine feste Begriffsbestimmung als Brücke geschlagen werden müßte.
Festzuhalten ist jedenfalls, daß sich die jetzigen Arzneipreise dem Begriff einer
Gebühr nähern, durch die der Apotheker für seine Tätigkeit im Dienste des Ge¬
meinwohls hinlänglich entschädigt werden soll, durch die aber zugleich ein An¬
wachsen der Rezeptpreise ins Ungeheure unterbunden wird. Daß durch die
Herabsetzung der Preise für komplizierte Arzneien die Rückkehr zur mittelalter¬
lichen Hexenküche angebahnt werde (wie von einer Seite behauptet worden ist),
ist nicht zu befürchten. Diese Nezeptformen haben sich überlebt. Es wird das
Gegenteil eintreten, da der Apotheker, der einzig noch ein Interesse an der Auf¬
rechterhaltung dieser Formen hatte, jetzt nur noch ein Interesse an ihrem Ver¬
schwinden haben kann. Die Rezeptur wird immer mehr zur Dispensur hinabsinken.
Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt ist allerdings die Taxe, da sie immer
noch viel zu hoch ist, der Verdienst an einzelnen Medikamenten besonders im
kleinen ganz enorm ist, kein Fortschritt. Besonders in einer Zeit, wo man in
dem Medikament durchaus nicht mehr das alleinseligmachende Hilfsmittel für
den Kranken sieht, ist die Berechtigung hoher Arzneipreise nicht mehr ammer-
kennen. Der Nimbus, den man früher mit bezahlte, ist zu durchsichtig geworden.
Gleichwohl ist eine weitere Herabsetzung ohne Gefährdung vieler Apotheker nicht
möglich. Die Erwerbsverhältnisse im Apvthekerberufe siud durchaus nicht günstig.
Die Angestellten beziehn einen im Verhältnis zu ihrer Ausbildung sehr mäßigen
Gehalt, in sozialer Hinsicht sind die halbpatriarchalischen Verhältnisse der Ge¬
sellen zum Besitzer so rückständig wie nirgends. Die Besitzer selber aber leben
zum Teil in der schwierigsten finanziellen Abhängigkeit oder in der beschränktesten
persönlichen Lage, wenn ihnen ihre Geschäfte keinen Gehilfen standesgemäß zu
honorieren erlauben. Der Apothekerstand hat sich unter dem Privilegienschutz¬
dach, das ihm eine entschwundne Zeit errichtet hatte, neben der pharmazeutischen
Großindustrie in die unpraktischsten und zersplittertsten Verhältnisse hinein nicht
entwickelt sondern verwickelt. Wäre er frei gewesen, so hätte er sich eine ähn¬
liche Organisation wie der deutsche Buchhandel schaffen können. Und für die
Spekulativnswerte, die unter der Ungunst der Verhältnisse aus wirklichen Gold¬
gruben entstanden sind, trägt noch immer das Publikum seine Haut zu Markte.
Mit Rücksicht auf die alten schwerbelasteten Realrechte ist eine schnellere
Vermehrung der Apotheken nicht möglich. Das Angebot der nach Selbständig¬
keit strebenden wächst von Jahr zu Jahr. Die guten Geschäfte bleiben solange
wie möglich in festen Händen, und der Wertsteigerung ist kein Ziel gesetzt: also
eine Bewegung, die sich im Kreise dreht.
Der einzige Weg, aus diesen ungesunden Verhältnissen herauszukommen
und die schwere Last, die die Apotheken jetzt nur noch sind, wieder nützen zu
können, ist ohne Zweifel in der veränderten Auffassung der Arzneitaxe ange¬
deutet. Es ist derselbe, der schon lange von sozialisn'scher und von Kranken¬
kassenseite, neuerdings von liberaler und von ärztlicher Seite empfohlen worden
ist: die Verbilligung der Arzneimittel und die Annäherung der Arzneipreise an
Einheitsgebührcn sind Stationen nicht am Wege zu wirtschaftlicher Freimachung
der Apotheken, sondern zu weiterer Entrechtung und Entindividualisierung, zur
Expropriierung und Umwandlung in kommunistische aus kapitalistischen Betrieben,
die sich auch mit den deutschen Apothekenverhältnissen am besten vertrüge. Freilich
die Frage, woher die Mittel nehmen, ist nicht leicht zu beantworten. Dem
Staatssäckel die Kosten dieser Umwandlung aufzubürden, wäre sehr bequem;
aber abgesehen davon, daß die Sache eine solche Niesencmleihe, wie sie dazu
nötig wäre, doch nicht rechtfertigte, würde es auch wirtschaftlich ein Fehler sein.
Denn die teuer erworbnen Jdealwerte würden eben von dem Augenblick an, wo
sie Staatsbesitz sind, aufhören zu existieren. Auch der Gedanke, die Summe
zur Ablösung der Jdealwerte dnrch Abgaben von den verliehenen und noch zu
verleihenden Personalkonzessionen aufzubringen, ist wenig aussichtsvoll.
Am glattesten würde sich eine Umwandlung der Apotheken mit Hilfe ihrer
Hauptabnehmer, der Krankenkassen, in Kassen- und Gemeindeapotheken vollziehn.
Neue Apotheken würden nur noch als Kassen- oder Gemeindeapotheken errichtet
werden. Welche Unsummen dabei erspart werden könnten, mag ein Beispiel zeigen.
Der Arzneibedarf der Leipziger Ortskrankenkasse belief sich im Jahre 1904 auf
mehr als eine halbe Million. Das sind Zinsen, die einem Kapital entsprechen,
für das man alle Apotheken Leipzigs und der nähern Umgebung kaufen könnte.
Aber wieviel praktischer ließe sich dieser ganze Betrieb gestalten! Die Kasse
würde sich beispielsweise in den Besitz einer größern Zentralapotheke im Innern
der Stadt setzen, dann in allen Stadtteilen etwa zwanzig Dispensatorien oder
mich nur Rezeptannahmestellen errichten, die, da sie alle Arzneien aus der Zen¬
trale beziehn, ganz einfach eingerichtet sein könnten. Diese Kassenapotheken
würden viel nützlichere Institute sein als die jetzigen. Ein paar hundert Büchsen
und Kräuterkästen würden verschwinden; warum soll auch dieser Ballast aus ver¬
gangnen Jahrhunderten immer noch mitgeschleppt werden? Während einem
frühern abergläubischen Volke die Arzneimittel nach Tausenden zählten, kennt der
Staat jetzt deren nur knapp fünfhundert, der Kassenarzt gar hat mit fünfzig
oder sechzig davon sein Leben lang genug. Dadurch würde der Geschäftsbetrieb
so vereinfacht, daß die Apotheken andre wichtigere Pflichten mit übernehmen
könnten, wie die von Meldungsstellen und Zahlstellen der Kasse, wodurch wieder
die geschäftliche Zentrale erleichtert würde, die Auszahlung der Invaliden- und
Altersrenten, kurz daß sie moderne soziale Vermittlungsstellen von gleicher Voll¬
kommenheit wie unsre Verkehrsanstalten würden (auch im Äußern etwa ähnlich
den Postämtern mit Schaltern usw. eingerichtet).
Nach Erledigung der jetzigen persönlichen Konzessionen würden sie von den
Kassen oder Gemeinden übernommen werden. In Sachsen würden bei einer
Weiterkonzessionierung, wie sie in den letzten fünf Jahren geschehn ist. in fünf¬
undzwanzig bis dreißig Jahren die Hälfte aller Apotheken schon ohne Schwierig¬
keiten von selbst kommunalisiert sein. Die andern könnten zum Teil durch Über¬
schüsse erworben oder durch Verzicht der Besitzer, von denen gewiß mancher gern
pensionsberechtigter Beamter sein würde, umgewandelt werden.
Freilich stellen sich einer allgemeinen Umwandlung der Apotheken in solche
Anstalten oder Arzneiämter jetzt noch große Hindernisse entgegen. Der Umsatz
der Apotheken setzt sich außer ans der Rezeptur noch aus zwei wichtigen Be¬
standteilen zusammen, dem Kleinverkauf von Droguen und Chemikalien zu Heil¬
zwecken, aber auch zu technischen und Genußzwecken, und dem Handel mit
Spezialitüten, den Erzeugnissen der pharmazeutischen Großindustrie, für die der
Apotheker nur Wiederverkäufer ist, und für die keine Bedürfnisfrage vorliegt,
die deshalb größtenteils Gegenstand einer unaufhörlichen Reklame sind, ohne die
sie wieder in Vergessenheit versinken und durch andre abgelöst werden würden.
Aber auch hier läßt sich die Weiterentwicklung der Dinge mit ziemlicher
Sicherheit aus der bisherigen schließen, und zwar sind es zwei verschiedne Er¬
scheinungen, die diese beiden Glieder der Summe des Apothekerumsatzes zeigen.
Der eigentliche Handverkauf ist überall im Schwinden; der Staat hat es in der
Hand, diesen natürlichen Prozeß zu beschleunigen. Seit Jahren führen die
Droguisten einen vergeblichen Kampf um die Freigebung einiger harmloser Haus¬
mittel, wie Rhabarber, Brusttee usw. Es ist nicht einzusehen, warum für solche
Stoffe nicht eine ähnliche Kontrolle, wie sie doch für den Massenbedarf unsrer
Genußmittel ausreicht, an denen die Volksgesundheit in ganz andrer Weise beteiligt
ist, genügen sollte. Dagegen wäre es angebracht, alle jetzt gewöhnlich als stark
wirkende Medikamente zusammengefaßten Droguen und Chemikalien und den
gesamten Gifthandel in die Apotheken zu verweisen. In ähnlicher Weise könnte
eine Trennung zwischen harmlosen, dem freien Verkehr überlassenen und den
stärker wirkenden Geheimmitteln durchgeführt werden.
Während aber der Mcdizinalhcmdverkauf im Sinken ist, macht der Speziali¬
tätenhandel einen immer mehr steigenden Anteil am Umsatz der Apotheken aus.
Ihm ist darum auch schwer beizukommen. Dem Publikum ist die Formel: „Zu
haben in den Apotheken" durch die Reklame schon tief ins Bewußtsein geprägt
worden. Immerhin hat weder der Staat noch das Volk an dem Geheimmittel¬
handel ein Interesse, und dem widerspricht es, daß dieser Handel in staatlich
monopolisierten Betrieben geradezu gepflegt wird. Neuerdings werden von den
Apothekern massenhaft unter Zusammenschluß der zersplitterten Kräfte Nach¬
ahmungen oder Ersatzprüparate solcher Geheimmittel hergestellt, wozu Wohl außer
dem Gewinntrieb das leise Gefühl mit beigetragen hat, daß der bloße Wieder¬
verkauf von Geheimmitteln, für die man keine Bürgschaft übernehmen kann, doch
nicht recht in die Apotheke gehörte, und daß ihr über kurz oder lang das
Spezialitätengeschäft verloren gehn könnte. Freilich ist es seiner Stellung ebenso
unwürdig, daß er sich seines Ansehens bei dem unaufgeklärten Publikum dazu
bedient, ihm Nachahmungen auszureden von Mitteln, für die Andre Kapital und
Arbeitskraft eingesetzt haben. Aus der Zukunftsapotheke müßte jedenfalls der
Geheimmittelhandel ebenso wie der andre Handverkauf ganz verschwinden, und
es würde sich dies wohl in der Weise vollzieh», daß eben die Rezeptur ganz
von selbst an die Dispensierapotheken überginge, und daß die Geschäfte, deren
Umsatz schon jetzt zum größern Teile aus Geheimmitteln besteht, und die sich
der Umwandlung darum am meisten widersetzen würden, der Rezeptur allmählich
verlustig gehn und ganz zu Geheimmittelniederlagen hinabsinken würden.
Besonders aber für das flache Land würde eine solche Reform der Arznei¬
versorgung große praktische Vorteile haben und eine große Ersparnis bedeuten.
Was für Unsummen von Kapital werden heute verschwendet dadurch, daß an
jeden kleinen Land- oder Vorstadtapotheker dieselben Betriebsanforderungen ge¬
stellt werden wie an Großstadtgeschäfte, die selbst teilweise gezwungen sind, durch
Großfabrikation von Präparaten ihre Laboratorinmseinrichtungen zu verzinsen!
Wir haben nun einmal den Unterschied von Großstadt, Kleinstadt und flachem
Lande. In allen amtlichen Betrieben wird darauf Rücksicht genommen. Im
freien gewerblichen Verkehr regeln sich die Verhältnisse von selbst, nur die kleine
Apotheke soll genau so umständlich und kostspielig ausgestattet sein wie die große.
Will man eine Einrichtung schaffen, die allen in möglichst gleicher Weise zugute
kommen und dabei doch praktisch sein soll, so muß sie auf dem Grundsatze der
Zentralisation und der Arbeitsteilung beruhen.
Schon heute ist die Apotheke keine gewerbliche Stätte mehr, wo Kunst und
Wissenschaft gepflegt werden. Aber es ist auch kein kaufmännisches Geschüft.
Es ist eine im Dienste der Wohlfahrt stehende Expedition für alles, was der
Staat dem Volke in bestimmter Güte zugehn lassen oder vorenthalten will, deren
Betrieb bis ins kleinste durch gesetzliche Vorschriften geregelt ist. Tatsächlich ist
der Apotheker Beamter, nur in seiner wirtschaftlichen Stellung ist er eine un¬
zeitgemäße Zwittererscheinung zwischen einem privilegierten Zünftler des Mittel¬
alters und einem modernen Kaufmann.
Fassen Wir noch einmal kurz zusammen, auf welchem Wege die Gesetz¬
gebung im Sinne einer vernünftigen Apothekenreform weitergehn muß, so ist es
folgendes: Freigebung aller belanglosen Mittel und sämtlicher Spezialitäten. Die
starkwirkenden Arzneimittel und Geheimmittel werden nach aufzustellenden Listen
den Apotheken vorbehalten; ebenso wird die offizielle Apotheke Verkaufsftätte
für Gifte, Heilsera, gewisse notwendige Apparate zur Krankenpflege, Eis usw.
Endlich Verwendung der Apotheken als Melde- und Verwaltungsstellen im
medizinalpolizeilichen Betrieb. Daneben Genehmigung des Übergangs von Apo¬
theken in Kassenbesitz und Kommunalbesitz.
n den einst in der Gegend betriebnen oder versuchten Bergbau
erinnern noch heute zahlreiche Flur- und Ortsbezeichnungen: der
Schacht (Schacht), ein zum vormaligen Rittergute Ebmath ge¬
hörender großer Wald; die Zech, ein paar Häuser in Bayern un¬
mittelbar an der Grenze; der Kaiserhammer, ein schon im zwölften
Jahrhundert genanntes, von Kaiser Friedrich Barbarossa 1153 begnadetes, mit
einer Waffenschmiede verbundnes vormaliges Hammerwerk; man findet in diesem
kleinen böhmischen Orte noch umfangreiche Halden und Schlacken (Eisenerz). In
dem benachbarten bayrischen Regnitzlosau gab es im achtzehnten Jahrhundert
eine Alaunsiederei, in Triebel grub man Eisenstein. Noch ist in meiner Heimat
die Walensage lebendig: Venediger Männlein sollen einst nach Erz und Zinn
gegraben haben, zwei Bäche in der Nähe führen den Namen Zinnbach.
Verschiedne von den alten Flur- und Waldraum meines Heimatortes und
der sächsischen und böhmischen Nachbarschaft drohen aus dem Gedächtnis des
heutigen Geschlechts zu verschwinden: Katzenböhl (Kcchenbü-el), Katzenschwanz,
Armetei, Menschenbein, Hühnergatzen, die Schanz, der kalte Frosch, der Bremsen-
grnnd, die alte J-enet, der Lohteich u. v. a. Über manche von ihnen — den
Jrrwald, Spaltenschädel, Pumpenstock — haben sich im Volke Sagen erhalten,
in denen von dem Doppelmord feindlicher Brüder, von unheimlich tiefen Mooren,
von versunkner flüchtigen Kriegsknechten und andern grausigen Dingen die Rede
ist. Von Kriegsdrangsalen, Seuchen und Hungersnot aus der Zeit der Hussiten-
grenel und des Dreißigjährigen Krieges, besonders damals, als der General
Holle das obere Vogelart peinigte, ist noch eine dunkle Kunde geblieben bis
auf den heutigen Tag, so soll in den Tagen einer schweren Teuerung das
Hetzschenholz um einen Laib Brot verkauft worden sein. Bon den Freveltaten,
die französische Soldaten in der napoleonischen Zeit verübt haben, ist manche
Erinnerung lebendig geblieben, so fanden mit ihrem Vieh geflohene Bauern aus
Großzöbern gastliche Aufnahme in dem Hetzschenhause^) und andern Gehöften
unsrer hochgelegnen Gegend. Kürzlich hat man beim Urpflanzen von Wald¬
bäumen einen Steigbügel und eine ganze Anzahl von ziemlich kleinen Hufeisen
ausgegraben, die der Franzosenzeit angehören sollen. Auch einige uralte ver¬
witterte Steinkreuze (bei Roßbach, im Kaiserhammer, in Posseck, das „hohe Kreuz"
bei Lauterbach an der Ölsnitz-Ascher Straße) regen die Phantasie des Volkes
lebhaft an.
Der Reichtum ein alten Volkssagen ist nicht eben groß. Meine 1801 ge-
borne und im Alter von mehr als achtzig Jahren gestorbne Großmutter hat noch
vom wilden Jäger, vom „Wütenheer" erzählen hören, dessen wilde Hetzrufe man
aus den Lüften über dem am Walde liegenden Bauerngut meines Vetters ver¬
nommen habe. Die Holzweible oder Holzfräle, die sich wie das grane Männle
zuweilen im Walde sehen lassen, retten sich vor dem wilden Jäger, indem sie
zu Bäumen oder Stöcken (Baumstümpfen) eilen, in die vom Holzfäller drei
Kreuze beim Umschlagen während des Fallens eingehauen worden waren. Wenn
der Erdschmied (ein Holzkäfer) in den Balken des Hauses hell „schmiedet" oder
hämmert, ist das glückbedeutend, wenn „es aber dus' (dumpf) gi-et" (geht), so
stirbt jemand. Oster wird gesprochen vom „grauen Männle" und vom Schrack-
egerle,**) einem neckischen Hausgeist oder Kobold: wenn ein Mädchen früh¬
morgens nach dem Aufstehn recht wirres Haar trägt, so heißt es wohl noch
heute: „'s Schrackegerle is 'ucig'fohrn."
Das Besenbrennen in der Walpurgisnacht ist besonders im böhmischen
Vogtlande heute noch üblich; drei Kreuze an Stalltür und Butterfaß bannen
den Hexenzauber; das Hexenaustreiben durch Knallen mit der Peitsche ist auch
bei uns noch im Schwange, ebenso das Schießen mit altmodischen „Schlüssel¬
büchsen" und Pistolen am Osterheiligavend und am Morgen des ersten Oster-
tages. In meinen Knabenjahren habe ich mit Gruseln und Haarsträuben von
der Klög- oder Winselmutter erzählen hören, einem runden Kopf mit glühenden
Augen, der unter greulichen Tönen Wiesenabhänge hinabrolle. Auch im bay¬
rischen Vogelart kennt man die „Wihklog": sie sieht wie ein Wickel Werg aus
und wälzt sich auf der Gasse hin. (Ludwig Zapf in Münchberg: „Unser Voge¬
lart" III, S. 445.) Ein andres Nachtgespenst ist die Drud: das „Druddrücken"
(Alpdrücken) im Schlafe ist gefürchtet. Vor wichtigern Ereignissen sieht man
in der Nacht „kleine Hühnle" laufen. Viele glauben an Irrlichter; mir selbst
sind einstmals solche auf einer feuchten Wiesenniederung meines Heimatdorfes
hin und her flackernde Flämmchen gezeigt worden. (Über die Irrlichter, eine
noch immer nicht genügend aufgeklärte Erscheinung, vgl. Gartenlaube 1900,
Ur. 24, S. 403 f.)
Noch immer sind ältere Leute von der heilenden Kraft des Oster- und des
Karfreitagwassers überzeugt, das man vor Sonnenaufgang in tiefem Schweigen
geholt haben muß. Am ersten Osterfeiertag macht die Sonne, wenn sie über
den Horizont emportaucht, drei Sprünge. Gnug und gäbe ist immer noch bei
den Bauern die Zeitrechnung nach Heiligentagen: Lichtmeß, „Varthelme," Jo¬
hannistag („Khannestog"), Jakobi.
Die urwüchsige Derbheit in Wesen und Sprache gilt seit alter Zeit als
ein unterscheidendes Merkmal des Vogtländers. Das Sprichwort: „Vogtländische
Köpf, grobe Ochsen" war, wie Luther an den Pfarrer zu Werdau, Johann
Riemann, 1543 schreibt (Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken, heraus¬
gegeben von de Wette, V, 579), in aller Munde. Ein andermal — in einem Briefe
an Spalatin (Goldammer, Die Einführung der Reformation im Vogtlande in
den Beiträgen zur Sächsischen Kirchengeschichte, achtzehntes Heft ^1904), S. 43) —
spricht er von dem „ungeschlachten Volk im Vogtlande." So wenig erfreulich
diese Charakteristik der Vogtländer ist, so ist sie doch immer noch günstiger als
das Urteil, das man in jener Zeit über das Mischvolk der Obersachsen fällte:
„Ein Meißner, ein Gleisner." Der im Meißner Lande übliche Ausdruck „vogt-
lündern" bedeutet etwa: kurz, bündig und grob reden, wie die vorwiegend frän¬
kischen Bewohner des Vogtlands. (Nach O. Weise, Die deutschen Volksstämme
und Landschaften. Erste Auflage. Leipzig 1900, S. 76. Die Wendung: „Hier
wird nicht gevogtlündert" bedeutet freilich etwas anders, etwa soviel als: Hier
werden keine Umstände gemacht, es wird gleich zugeschlagen. Noch schwieriger
zu deuten ist die Redensart: „pirnsch machen.")
„Die Armut, wo sie von einer kargen Natur aufgedrungen wird, so heißt
es bei W. H. Riehl, erhält bis zu einem gewissen Grade das Volk hart und
kraftvoll; die Armut der Zivilisation macht das Geschlecht siech und elend. Der
Westerwalder, ob er gleich wenig Fleisch isset, ist doch ein starker Mann. . . .
Die Wucht einer Westerwalder Faust, wenn sie Schläge austeilt, hat historischen
Ruf." Die vogtländische Grobheit hat, wie die westerwüldische, ihre innere Be¬
rechtigung, „denn sie ist eine höchst natürliche Grobheit," und woher sollte auch
einem unter rauhem Himmelsstriche in harter Arbeit ringenden kartoffelesfenden
Geschlechte die Feinheit kommen? Was Riehl (Land und Leute. Stuttgart,
Cotta, 1861, S. 324) von den Westerwäldern sagt, gilt auch für die Vogtländer,
zumal für die in den obern Strichen. Freilich hat sich die Bewohnerschaft der
Dörfer meiner obervogtländischen Heimat in den letzten Jahrzehnten, seitdem diese
im Zeitalter des Dampfes und der sich immer mehr entwickelnden Industrie
aus ihrem weltentrückten Stillleben dem Strome der großen Welt näher gerückt
ist, nicht unwesentlich verändert. Verschiedne Familien, deren Vorfahren seit
Jahrhunderten auf der alten Scholle gesessen haben, sind dem leichtern Ver¬
dienst in die vogtländischen Fabrikstädte nachgezogen, hie und da sind fremde
Geschlechter zugewandert. Die alteingesessenen Familien werden noch immer oft
mit ihren Spitznamen gerufen, deren Ursprung vielfach gar nicht mehr zu er¬
mitteln ist, längere Familiennamen werden zu bequemeren Gebrauche gekürzt: der
Hoppersch Gottlieb und der Hvppersch Johann, zwei herzerquickende Originale
mit noch unverfälschter Mundart, hießen eigentlich Hopperdiezel, aber so wurden
sie nur von dem Pfarrer und dem Lehrer genannt. Die Wettengel heißen all¬
gemein Schalter; zwei Linien Wilfert werden seit Menschengedenken Haumer
gerufen — der Haumersch Beck und der Haumersch Johann; denselben Namen
Haumer führt aber seit alten Zeiten auch die Familie meines Nachbars, der
„Görngshcmmer," die sich amtlich des auch „drum b'r uns" nicht ungewöhnlichen
Namens Müller erfreut und mit den Wilfert keinerlei Verwandtschaft nachweisen
kann. Der Hans Adels Edeward und der Hans Adels Andres schreiben sich
Wunderlich. Weit und breit bekannt waren der Schneidersch Lu-i, der Fuchsen
sehn-efter und der Hansens Seff, der eigentlich Joseph Woldert hieß. Die
Handwerker ohne Konkurrenz im Orte werden als der Wönger, der Schul, der
Beck, der Büttner bezeichnet.
Die alten Taufnamen, besonders die einst beliebten Doppelnamen, sind von
den neumodischen in den Hintergrund gedrängt worden; Gottlieb, Gottlob, Trau¬
gott, Leberecht, auch Johann, Christian, Christoph, August gelten nicht mehr für
Zeitgemäß. Nur in den von der „Kultur" weiter abliegenden bayrischen Grenz¬
dörfern und im böhmischen Vogtlande trifft man noch da und dort eine Rettet oder
Margret, eine Bärbel, Christel, Eve, einen Hannickel, Hannadel oder Hansadel
(Johann Adam), Hansmichel, Hansgörg. Noch heute heißt, soviel ich weiß, ein
Truppenteil, der im Egcrlande seinen Aushebungsbezirk hat, allgemein das
Hansadelregiment. Die Adorfer werden im ganzen obern Vogtlande nach dem
einstmals häufigen Vornamen Gottlob als „die Lobel" bezeichnet. Der veraltete
Rufname Hansmichel wird verächtlich etwa gleichbedeutend mit Hanswurst ge¬
braucht. Betagte Inhaberinnen der Vornamen Kümmel (Kunigunde) und Kuttel
(Katharina) habe ich noch gekannt. Hie und da findet man noch die Vornamen
der Kinder des Hauses in farbigen Buchstaben eingerahmt als Wandschmuck.
Die Mundart meines Heimatorts und der ihm benachbarten Dörfer an der
böhmischen und bayrischen Grenze unterscheidet sich nicht unwesentlich von der des
mittlern und des untern, viel stärker vom Obersächsischen beeinflußten — „ver-
sächselten" — Vogtlands. Sie enthält eine große Anzahl von Wörtern, Wort¬
formen und Wendungen, die in der Schriftsprache längst erloschen und auch in
dem tiefer liegenden Vogtlande selten geworden sind. Ein genaueres Studium
der Volkssprache meiner Heimat würde eine unerwartete Ausbeute ergeben. Ich
greife aufs Geratewohl einige Worte und Wendungen heraus: der Bensel (Pinsel),
das Schüssel oder Schäffele (Holzgefüß), der Odel (Jauche), der Mockel, das
Mockele (junges Kalb), der Born (die Futterkrippe im Stalle unterhalb der Rafn,
d. i. der Futterleiter), die Eiden (Egge), das Kannelholz (Gestell zur Auf¬
bewahrung des Küchengeräth), die Olme (Brodschrank), die Docken (Puppe),
die Tappen (Filzschuhe), die Hcidkretzen*) (Handkorb), das Lummelmesser (ganz
billiges Messer mit Holzgriff und einer Klinge), die Sprengstitz (Gießkanne), das
Krummlm (Schlachtfest), der Schüpfspeck (Wellfleisch), die Schüpfsuppen (Wurst¬
suppe), der Hosen (Ofentopf), der Mamber (Mond), nänig (noch nicht); die Kufen
(Fichten- und Tannenzapfen), rauhwüzig (rauh), wulchern (zwischen den Fingern
reiben), mög! (wenn auch, das schadet nichts!), zewanner (miteinander), Blumen
„zupfen," Kirschen „pflöcken," Schnee schürr (durch den Schnee Bahn machen), die
Dreksuttn, der Drekpichel (Schmutzlache, Schmutzfleck); die Azucht (g-ein^säuews),
der Klänetgärten (Blumen- und Gemüsegarten), der Krä (Meerrettich), der Troll¬
bart (das Kinn), der Schnaupfen (Schnupfen), der Beschnitz (geröstete Brodschnitte),
das Härrle und das Frate (Großvater und Großmutter, wohl nur im Bayrischen
noch üblich), das Enigle (Enkel), die Zwinle (Zwillinge), die Greisletsbeer
(Preiselbeeren), die Krichele (Pflaumen), die Vrämebeer (Brombeeren), die Aung-
kinnle (Pupillen des Auges); serem (voriges Jahr: nur im Bayrischen), weil
(während, als: Konjunktion der Zeit), 's Stick ze ren Pfeng (das Stück zu
einem Pfennig), das Mehl schmeckt nieder (dumpfig), die Butter ist stolz (läßt
sich schlecht schmieren), er is härrlich (verwöhnt im Essen); itze rud sei! (jetzt
reize mich aber nicht weiter!), schick dich! (beeile dich!), dörmlich (schwindlig), wie
noch denn? (warum denn?), rasen (rennen), baten (spielen), verlaunge (verleugnen),
letzenweis (nach und nach), es krizelt (kitzelt), mich freißt (friert), er verleißt (ver¬
liert), es greißt (sagete), der Kaffee grelle (schmeckt bitter), tapfer (hinken), helseln
(auf dem Eise mit den Füßen dahinrutschen), gutzen (Weiterbildung von gucken:
im Böhmischen heißt ein kleines Guckfenster ein Gutzerl), das Staffele (Absatz,
einer „Stiege"), die Kunnele (Feldkümmel?), ökuln (etwas verderben), der Schneider
geht auf die Stör (zur Wochenarbeit in die Häuser), „der" Drossel (die Gurgel),
der Kragen drösselt (würgt) usw. Vom Schriftdeutschen verschiednes Geschlecht
haben der Öl, der Lust, der Gift, der Lau, das Ort.
Die Mundart einer Landschaft hängt aufs engste mit der Besiedlung zu¬
sammen. Der mächtigste Strom von Kolonisten drang von Südwesten her durch
das obere Maingebiet über den niedrigen Gebirgssattel zwischen Fichtelgebirge
und Frankenwald in meine Heimat herein aus der Bciyreuther, Nürnberger,,
Erlanger und Fürth - Nürnberger Gegend: es waren Oberfranken, Ostfranken.
(Emil Gerbet, Die Mundart des Vogtlandes, S. 22. Im Gegensatz zu Gerbet
nimmt Max Schmidt, Zur Geschichte der Besiedlung des sächsischen Vogtlandes,.
S. 44, hauptsächlich bayrische Besiedlung des obern Vogtlands an.) Vielleicht
geschah dies seit dem dreizehnten Jahrhundert, wo sich das alte fränkische Ge¬
schlecht der Ritter von Streitberg, deren Stammburg zwischen Erlangen und
Bayreuth lag, an der bayrisch-sächsischen Grenze ansiedelte und fränkische Kolo¬
nisten Hierherzog. Im Jahre 1296 besaß ein Berthold von Streitberg unter
andern die Rittergüter Gattendorf, Sachsgrün und Ebmath. Hans Wilhelm
von Streitberg starb 1690 als der Letzte seines Stammes und wurde in der
Kirche zu Sachsgrün mit umgekehrtem Helm und Wappenschild begraben. Die
Zusammengehörigkeit des waldreichen schriftsüssigen Ritterguts Ebmath mit dem
anderthalb Stunden westlich an der bayrischen Grenze liegenden Rittergute Sachs¬
grün, das seit 1723 den Freiherren von Brandenstein gehört, ist erst vor einigen
Jahren dadurch gelöst worden, daß es vom sächsischen Staate angekauft worden
ist. Die vielen Ortsnamen auf -reuth, -brunn, -grün, -loh, die Orts- und
Flurnamen auf -post, -hübel weisen auf fränkische (und bayrische?) Einwanderung
hin, während die viel weiter nördlich, zum Beispiel in der Zwickauer Gegend,
häufigen Ortsnamen auf -horn, -rota, -dorf, -Walde, -Hain (-Hagen) thüringischen
Ursprungs find.
Unverkennbare Kennzeichen der oberfränkischen Mundart meiner Heimat, die
Gerbet als eine Übergangsmundart vom Ostfränkisch-Oberpfälzischen zum Ober¬
sächsischen bezeichnet, sind die Verkleinerungssilben auf -l, -el, -le (Bühel, Buhle,
Mädle: in den bayrischen Grenzorten Bübla, Madla), während dafür das Mittel¬
deutsche -chen und das niederdeutsche -k, -ken, -ke hat. Mehr auf das Ober¬
deutsche weisen ferner verschiedne Erscheinungen der Lautverschiebung hin, zum
Beispiel die Lautverbindung Pf: der „Pferreiter," der Epfel (Apfel), die Schupf
»n), das Dipfle (Töpfchen), der Schnörpfcl (Schnauze einer Kanne); auch
zimpferlich, der Stempfel, während das Mitteldeutsche auch hier dem Nieder¬
deutschen näher steht als die oberdeutschen Mundarten: der Appel, der „tappre"
Landsoldat, der Zippel, der Schuppen.
Auch die noch deutlich erkennbare Nasalierung vieler Vokale weist unsre
Mundart dem Fränkischen zu: der Ma, Matig, Döstig, das Krd, die sahet, na
für Mann, Montag, Donnerstag, Kind, Sense, nein; er Hot hält Lau, d. i.
er fühlt sich wieder nicht wohl. Mehr nach Oberdeutschland weist ferner die
Verlängerung der Vokale nicht bloß in offner, sondern auch in geschlossener
Silbe. Von Obersachsen nach Oberfranken hinüber nimmt die Zahl der Wörter
mit verlängertem Stammvokal zu: das Kid, der Hud, Mehrzahl: die Hund, der
Schofhümel, der J-esel (diphthongiert, der Esel), der Mist, der Flek, der
Sylt, das Bret, die Bieter, sol (genung und sol), gschniten, itze kimmt einer
g'rnen, die Rien (die Rippen, geht zurück auf mittelhochdeutsch ribe), 'nei d'
Stodt. der Wirt, der seu-et (Stock), der Bond. das Lu-ces, der Kripel, der
der Tü-apf (Topf), der Ku-apf (Kopf). Noch weiter freilich als das Ober¬
fränkische und das Mitteldeutsche geht in der Verlängerung ursprünglich kurzer
Vokale vor Doppelkonsonanz das Schwäbische, die sogenannte schwäbische
Streckung: die Pvscht (Post) usw.
Die eben berührte Dehnung so vieler Vokale, die weiter nördlich nicht zu
finden ist, läßt außer mehreren andern Kennzeichen auf einen Nebenstrom von
Besiedlung neben dem von Südwesten hereindringenden Oberfränkischen schließen,
nämlich auf eine Besiedlung durch Oberpfülzer (Nordgcmer) von Süden her.
Im südlichsten Vogelart, sagt Gerbet a. a. O., S. 27, von Adorf - Markneu¬
kirchen bis gegen Eger hin hat sich das Oberpfülzische über die natürlich ge¬
gebne Grenze des Elstergebirges, über den Brcnnbacher Paß, den Sattel zwischen
Elster- und Erzgebirge und die Elster herein ausgebreitet: „die ursprüngliche
Bevölkerung, wohl zum größten Teil aus dem Süden eingewandert, hat trotz
jahrhundertelanger politischer Zugehörigkeit zu Sachsen die angestammte nord-
gauische Mundart bewahrt; die Schmalheit des in Böhmen eingeschobnen Land¬
zwickels ist dem förderlich gewesen. Schönberg, Brambach, Landwüst, Elster
mit ihren Umgebungen und in der Hauptsache noch Adorf und Markneukirchen
sprechen dieses Vogtländische Oberpfälzisch."
Noch ausgeprägter oberpfälzisch als in den zuletzt genannten Ortschaften
zeigt sich die Asch-Noßbacher Mundart in dem einstmals reichsunmittelbaren
Gebiete der Herrschaft Neuberg, die nach langen Streitigkeiten erst 1770 und
1771 der Krone Böhmen völlig einverleibt wurde. Diese sofort über der Eb-
mather Kammhöhe drüben beginnende Mundart ist eine Untermundart der eger-
lündischen (über die außerordentlich verwickelten Verhältnisse vgl. Heinrich Grabt,
Die Mundarten Westböhmens. München, Chr. Kaiser, 1895. S. Iss.), die wieder
mit der Nürnberger Mundart entschiedn« Verwandtschaft hat. Oberpfälzisch
(nordgcmisch) sind in der Roßbach-Ascher Mundart alte Dualformen (diatz —
ihr, entre — eure), die sonst überall, das Oberpfälzische und Bayrische ausge¬
nommen, im Hochdeutschen verschwunden sind. Oberpfälzisch ist ferner im Dialekt
der Roßbach-Ascher Gegend -on für altes no: „gout" gut, „bones" hoch;
e-i für i: dös is mir leib (lieb); das „Moltke" das Mädchen; Wegfall des es:
streck ti(es)! Die Gottmannsgrüner sprechen wie die Noßbacher, aber die Be¬
wohner des politisch zum böhmischen Gottmannsgrün gehörenden Ortsteils Kaiser¬
hammer haben in der Hauptsache den fränkisch-bayrischen Dialekt, weil noch heute
die Kinder nach dem bayrischen Prex in die Schule und in das bayrische Regnitz-
losau in die Kirche gehn, hier werden sie auch „eingesegnet." Große Ähnlich¬
keit in Tonfall und Wortschatz mit der Asch-Roßbacher Mundart soll, wie mir
befreundete Roßbacher Herren versichert haben, die Sprache der Gottscheeer in
dem österreichischen Kronlande Kram haben. Die Herkunft der Gottscheeer, die
ihr Deutschtum mitten in einer fremdsprachigen Umgebung seit Jahrhunderten
mit Zähigkeit bewahrt haben, ist bisher nicht mit genügender Sicherheit festzu¬
stellen. Ihre Sprache hat im allgemeinen den Charakter der bayrisch-österreichischen
Oberlechmundart.
Der Ebmather Dialekt zeigt mancherlei oberpfülzische Einflüsse: „mir stenge,"
„genge" für wir stehn, gehn (ostfrünkisch: Sterne, gerne); do Hot er gsögd: ost¬
fränkisch: gsöchd; oberpfälzisch ist die Kulin. sulln, die Stumm für die Kohlen,
Sohlen, die Stube. Aber im großen und ganzen ist die Mundart meines
Heimatortes ostfränkisch, auch im Wortschatz: die Vogtländischen Klöße, die
„Griegenifften," heißen „Du-es," nicht oberpfälzisch Gnedl (Knötel) (im benach¬
barten Böhmischen werden sie Tu-apfgni-edle genannt). Das oberpfülzische
Grabfm (Krapfen) kennen wir nicht, ebensowenig die soch (Säge), dafür ost¬
fränkisch die Sees. In Ebmath und allen sächsischen, böhmischen und bayrischen
Orten ringsum wird das Zungen-r gesprochen, nur die Dörfer Triebe!, Lauter¬
bach und Hermsgrttn bilden in dieser Hinsicht eine Art Sprachinsel, hier herrscht
das jüngere Gemmen-r.
Wie unser „Schwammebach" sein Wasser in die Regnitz führt, so haben
auch sonst seit den ältesten Zeiten die innigsten Beziehungen bestanden zwischen
meiner Heimat und dem jetzt bayrischen Regnitzlande. Die ganze Gegend hat
im Mittelalter zum Bistum Bamberg gehört, wenn auch nicht unbestritten. Unsre
Pfarrkirche Eichigt war eine der vogtländischen „Streitpfarren" im Ölsnitzer
Sprengel längs der bayrischen Grenze, streitig zwischen den Bischöfen von Bam¬
berg und Naumburg. Die übrigen waren Mißlareuth, Zöbern, Krebes, Wieders-
berg und Sachsgrün. Das Patronatrecht über einige dieser Streitpsarren
(Sachsgrün und Wiedersberg) ist erst 1845 von der Krone Bayern an Sachsen
abgetreten worden. Der Name des anderthalb Stunden nordwestlich von Ebmath
liegenden Dorfes Bobenneukirchen (Baden-Neukirchen) weist auf Bamberg hin.
Die Mundart der Ebmathcr, Pabstleithner, Tiefenbrunner, Possecker, Gassen-
reuther usw. hat mancherlei Gemeinsames mit der der bayrischen Grenzbewohner,
doch ist der Tonfall etwas anders, auch sprechen die Bayern langsamer. Die
lange staatliche Verbindung mit dem Norden und die Änderung der Verkehrs¬
wege und der Arbeitsgelegenheit hat freilich diesen Zusammenhang stark gelockert;
schon seit einigen Jahrzehnten zieht sich der Zug der Bevölkerung mehr nach
Ölsnitz und Planen hin, und dadurch werden auch Volksart und Sprache be¬
einflußt. Doch immer noch haben die bayrischen und sächsischen Grenznachbarn
mancherlei gemeinsame Interessen: noch heute liefern zahlreiche bayrische Weber
wie früher ihre Ware an sächsische Weberfaktore ab, und die Bewohner der
sächsischen Grenzdörfer trinken mit Vorliebe Hofer und ReHauer Biere; erst
neuerdings findet daneben das Ölsnitzer Bier mehr und mehr Eingang, und diese
Tatsache wird zumal von den ältern Leuten und den aus dem „Kaiserlichen"
herüberkommenden Gästen aufrichtig bedauert.
An der Zersetzung und der Untergrabung der alten Mundart und des alten
Brauches arbeiten zahlreiche Maulwürfe: nicht zum wenigsten die heimgekehrten
Soldaten, aus der Stadt zurückgekehrte Dienstmädchen und Fabrikarbeiter,
Sommerfrischler, aus der Stadt hergezogne Gastwirte, die statt der „Arichtn"
ein Blocke oder Biwe auftun und sich über den Einheimischen bergehoch er¬
haben dünken, wenn er „a Nächterle" Schnaps und „en Viering Wu-erscht"
bestellt. Von den Bauern werden die immer zahlreicher werdenden „Fabriker"
verächtlich als „Fabrikleitich" bezeichnet in dem richtigen Gefühl, daß mit ihnen
etwas Feindseliges in ihren ländlichen Frieden gekommen sei. Ein schlimmer
Feind der von den Vätern ererbten Sprache war früher die Schule, von der
die Mundart törichterweise als ein verdorbnes Hochdeutsch in Acht und Bann
getan und gelegentlich wohl mit Hohn und Zorn bekämpft wurde. Noch jahre¬
lang bleiben die Kleinen im Banne der lieben Mundart, die in Wahrheit ihre
„Muttersprache" war, wie jenes kleine Vogtländische Mädchen bezeugt, das die
Mutter des zwölfjährigen Jesus im Tempel sagen ließ: „Mein Sohn, warum
hast du uns das getun? Dein Vatter und ich hatten dich mit Schmerzen gesucht
gehalten!"
Ein gefährlicher Gegner erwächst der Mundart auch in der Eitelkeit und
in dem leidigen Zug unsers Volkscharakters, der alles Fremde für „feiner" und
besser hält als das Heimische. Einer Ortsgenossin, die — es war vor vielen
Jahren — einige Monate in Leipzig bei Verwandten zugebracht hatte und dann
sehr „gebildet" wieder zu den heimischen Penaten zurückgekehrt war, wurde von
den in der Rauheit der Urväter beharrenden Jugendgespielen der Ausspruch
nachgesagt: „Ich hab mir die Leipziger Sprache angewöhnt und — ka se
nimmer lohn." Schon beginne» sich auch ältere Leute ihres heimischen Dialekts
zu schämen und geben sich die traurige Mühe, im Verkehr mit Städtern Worte
und Wendungen aus der Schriftsprache in ihre Rede einzumischen. Aber noch
immer hat der vom großen Verkehrsleben abliegende und von der Wissenschaft
noch unerforschte Winkel an der böhmisch-bayrisch-sächsischen Grenze in Sprache,
Volksart und Sitte das Alte treuer und reiner bewahrt als so manche andre
Gegend unsers deutschen Vaterlandes. Wenn die von meinen Heimatgenossen
seit einem Menschenalter vergeblich ersehnte Eisenbahn endlich die in ihrer Be¬
völkerungszahl meist zurückgegangnen sächsischen, bayrischen und böhmischen
Grenzorte verbinden wird, so wird sich das seit Jahren daniederliegende Er¬
werbsleben heben, aber ein Opfer wird der von Herzen zu erhoffende Aufschwung
fordern: das aus der Väter Tagen Überlieferte wird noch weiter verdrängt
werden und verkümmern, und das echte Volkstum, das im Kampf mit so starken
Gegnern schon schwere Wunden erlitten hat, wird in absehbarer Zeit auch aus
den waldumrauschten Höhen meiner lieben Heimat verschwunden sein.
^ W^AM> le schlimmen Erfahrungen konnten mich in meinem Vorsatze, Dänemark
zu bereisen und Kopenhagen zu besuchen, nicht irre machen. Ich aß
also in aller Gemütsruhe mein Abendbrot, ließ mir um zehn Uhr,
als die Kunden ihr Nachtlager aufsuchten, meine „Finne volldeisten"
(Flasche füllen) und verabschiedete mich zum allgemeinen Erstaunen
!mit den Worten: Kinder, in Dänemark sehen wir uns wieder. Schon
bei dem ersten Besuch an der Grenze hatte ich mir die Lokalitäten genau gemerkt
und namentlich ein scharfes Auge auf die Nebenwege gehabt, das sollte mir jetzt
zugute kommen. Ich wanderte also ohne Berliner und Sterz in einer kühlen April¬
nacht bei schwachem Mondlicht vorwärts, gerade auf Dänemark los, überschritt die
Grenze, ohne mit der Grenzwache in Berührung zu kommen, und zog durch Wälder
und einsame Dörfer weiter, bis ich um Morgen gegen neun Uhr Kolding, die erste
dänische Stadt, erreichte. In Kolding stieß ich in aller Eile die Krauterer, wobei
mir meine dänischen Sprachkenntnisse sehr zustatten kamen. Sie steckten alle recht
gut, sodaß ich aus der kleinen Stadt wohl vier Kronen mitnahm. Auch das deutsche
Geld, das ich noch bei mir hatte, ließ ich hier in dänische Münze umwechseln. Außer¬
halb der Stadt lag ein Wirtshaus, dort kehrte ich, müde und hungrig wie ich war,
ein, aß ordentlich zu Mittag und erwärmte mich mit sechs Kaffeepunschen. Dann
aber begann eine böse Zeit; ich irrte fünf bis sechs Tage umher, vermied nach
Möglichkeit die Nähe menschlicher Behausungen, übernachtete im Freien oder legte
mich, wenn die Sonne warm schien, hinter irgendeine Hecke, um zu schlafen. Endlich
traf ich einen fechtenden Kunden, den ich eine Weile beobachtete, und der sich, als
ich ihn ansprach, als Deutscher zu erkennen gab. Er riet mir, nach Möglichkeit die
Städte zu vermeiden und in den Dörfern zu übernachten, da dort nicht nach den
Papieren gefragt.würde.
Eine Eigentümlichkeit der dänischen wie auch der jütischen Landschaft sind die
an der Straße liegenden Dorfwirtshäuser, die vor dem Eingang einen großen
Schuppen haben, wo die Pferde mit den Wagen untergestellt werden. Auf meiner
Reise durch Dänemark bis Kopenhagen sparte ich mir siebzig Kronen, eine ganz
ansehnliche Barschaft, deren sichere Aufbewahrung mir einige Sorge machte. Ein
Landsmann, den ich unterwegs traf, riet mir, alles Geld über den Betrag von
zehn Kronen zu „verkapuren" (verstecken), da es in Dänemark Brauch sei, den
Kunden ohne Aufenthaltsbuch, die verschüttgehn, das Geld abzunehmen. Ich nahm
mir diesen Reit zu Herzen, besorgte mir ein Stück Stoff von derselben Art, wie
mein Wnllmisch war, schnitt an diesem sämtliche Knöpfe ab, überzog ein Paar zu¬
sammengelegte Kronenstücke mit Stoff und nähte die so entstandnen Knöpfe an
meinen Wallmisch.
Den Großen Belt passierte ich in einem Segelboot, bezahlte dem Fährmann
eine Kleinigkeit für die Überfahrt und gelangte so an mein Reiseziel: das schöne
Kopenhagen. Hier logierte ich zum erstenmal in einer dänischen Herberge, die sich
von einer deutschen höchstens dadurch unterschied, daß die Kunden noch mehr „Soruff
schwachem," als es bei uns der Brauch ist. Meine Freude, in Kopenhagen zu leben,
war leider von kurzer Dauer: am vierten Tage meines Aufenthalts wurde ich von
einem Polizisten angehalten, der mich sogleich Deutsch ansprach und nach meinem
Aufenthaltsbuch fragte. Mit einem solchen konnte ich ihm natürlich nicht dienen,
dafür übergab ich ihm meine deutscheu Papiere, die er an sich nahm, während er
mich selbst höflich einlud, mit ihm zu gehn. Ich wurde einem Verhör unterworfen,
und nachdem meine Aussagen zu Protokoll genommen worden waren, zu drei Tagen
Knechen bei Wasser und Brot „verdonnert." Ich mußte meine Kluft ausziehn,
die sorgfältig durchsucht wurde, und erhielt einen Drillichanzug. Dieses Mißgeschick
faßte ich nicht gerade von der tragischen Seite auf, da meine Absicht, Kopenhagen
zu sehen, ja erreicht war; überdies hatte ich meine Ersparnisse ja gerettet, da man
auf der Polizei nicht auf deu Gedanken gekommen war, die Knöpfe zu untersuchen,
und so beschränkte sich mein Verlust auf die vier oder fünf Kronen, die ich bei
meiner Verhaftung in der Tasche gehabt hatte. Am Morgen des vierten Tages
erhielt ich meine Kleider zurück, bekam vom Staate Dänemark ein halbes Brot und
eine Krone als Reiseverzehr, wurde auf ein Schiff gebracht und auf diese etwas
gewaltsame Art wieder in das deutsche Vaterland zurückbefördert. Als das Schiff
in Kiel anlangte, gab mir der Kapitän meine Papiere zurück, setzte mich auf freien
Fuß und sagte zum Abschiede: Nun reisen Sie in Gottes Namen weiter. Die
Reise hatte von Morgens acht Uhr bis zum nächsten Morgen um zehn Uhr
gedauert.
In Kiel ging ich zunächst auf eine Bank, um meine dänischen Knöpfe in gang¬
bare deutsche Reichsmünze umzuwechseln. Der Bankbeamte, mit dem ich zu tun
hatte, sah mich nicht ohne Mißtrauen an, erfüllte aber meinen Wunsch, nachdem ich
ihn darüber aufgeklärt hatte, wie ich zu dem Gelde gekommen war. Nach Er¬
ledigung dieses Geschäfts begab ich mich zu einem Trödler, um mich von Kopf bis
zu Fuß neu „einzupuppen," da mein Äußeres in Dänemark stark mitgenommen
worden war. Ich kaufte mir einen „Wallmisch" (Rock), ein Paar „Weilchen"
(Hosen), ein Paar „Trittchen" (Schuhe), zwei „Stauden" (Hemden) und einen
„Obermann" (Hut). So ausgerüstet machte ich mich auf den Weg nach Hamburg.
Unterwegs traf ich einen Ökonomen, der auch auf der Walze war und einem Sol¬
daten auf dem Marsche nicht unähnlich sah. Er trug nämlich statt des Berliners
einen Tornister mit darumgerolltem Mantel. Wir setzten unsre Wanderung ge¬
meinsam fort und stießen unterwegs auf noch etwa sechs andre Kunden, sodaß wir
am Abend zu achten auf dem Heuboden eines Dorfkruges „türmten" (schliefen).
Wie bei allen Bauernhäusern in der dortigen Gegend waren sämtliche Räumlich¬
keiten, also auch die Ställe, Scheunen usw. unter einem Dach vereinigt. Als ich
am Morgen erwachte, bemerkte ich, wie eine Henne, die gerade ein El gelegt hatte,
dieses Ereignis dem ganzen Hause durch ihr Gegacker verkündete. Ich suchte nach
dem Nest, fand es auch und „zottelte" die darin liegenden sechs Eier, die ich später
als willkommnes Frühstück verzehrte.
Beim Einwandern in Hamburg verteilten wir uns, ich ging auf die Bäcker¬
herberge und hielt mich dort vierzehn Tage auf. Meine freie Zeit benutzte ich
wieder zu Wanderungen durch die Stadt und die Hafenanlagen und sah bei dieser
Gelegenheit eines Tags, daß alle im Hafen liegenden Schiffe Flaggenschmuck an-
gelegt hatten, wodurch der Hafen ein ungemein buntes Aussehen erhielt. Was die
Veranlassung dazu war, habe ich nicht in Erfahrung gebracht.
Von Hamburg reiste ich mit dem Dampfer nach Harburg, von dort wanderte
ich über Stade nach Bremerhaven."
In Bremerhaven gab es damals zwei Herbergen, den „Anker und den
„Schlüssel." In diesem kehrte ich ein und erstaunte nicht wenig, als den Abend
um sechs ein Mann eintrat, der die anwesenden Kunden einlud, der christlichen An¬
dacht der Baptistengemeinde beizuwohnen. Ich ging mit einigen andern hin und
hörte die Predigt, an deren Schluß der Geistliche erklärte, jeder müsse ein Neues
Testament haben, und uns riet, ein solches bei ihm für zweiunddreißig Pfennige zu
kaufen. Bei der Besichtigung des Hafens sah ich mir auch den großen Hof des
Norddeutschen Lloyds an, wo mir ganz besonders eine Art Rumpelkammer auffiel,
worin defekte Schiffsteile, wie Anker, Schiffsschrauben, Ketten, Maschinenteile usw.,
aufbewahrt wurden. Sehr merkwürdig war auch das Verladen einer etwa tansend-
köpfigen Schafherde. Diese Tiere wurden an Bord in eine Art von großer Hürde
eingepfercht und dann auf schrägliegender Bretterbahnen drei Etagen tief in den
Schiffsraum hinunterbefördert, was auf eine ziemlich einfache Weise geschah. Man
ergriff ein beliebiges Stück der Herde, ließ es die Bretterbahn hinunterrutschen,
worauf sich die übrigen von selbst nachstürzten. Unten wurde das zuerst angekommne
Schaf ergriffen, und die zweite und schließlich auch die dritte Bretterbahn hinunter¬
befördert, wobei sich der Vorgang mit den übrigen Schafen wiederholte.
Auf der Wanderung von Bremerhaven nach Vegesack kam ich auch durch das
Teufelsmoor, wo einzelne Dörfer sind, deren Höfe sehr weit auseinander zerstreut
liegen. Wenn man die Dorfstraße passierte, so mußte man bald nach rechts, bald
nach links einige Minuten weit gehn, ehe man ein Bauernhaus erreichte. Solche
Verhältnisse sind für einen Kunden, da sie viel Zeitverlust mit sich bringen, nicht
günstig, sie wurden aber einigermaßen dadurch wieder gebessert, daß die Kaffern
gut steckten. Die Wege waren allerdings so mit Schlamm bedeckt, daß man bis
an die Knöchel darin waten mußte. Das Teufelsmoor ist eine malerische Gegend,
die eigentlich einen bessern Namen verdient hätte. Namentlich sah ich dort schöne
alte Eichen, in deren Schatten imposante Bauernhöfe lagen. Bei einem der Bauern
erhielt ich eine sehr ansehnliche Wurst, von der ich mir einen großen Genuß ver¬
sprach. Als ich sie am Abend in Scharmbeck auf der Herberge verzehren wollte,
stellte es sich jedoch heraus, daß sie nichts als Blut enthielt. Ich ließ sie mir in
Fett braten und hatte so immerhin ein leidliches Abendessen. Vegesack ist ein
hübsches Städtchen mit lebhafter Zigarrenindustrie und zugleich der Wohnsitz vieler
Schiffskapitäne. Ich traf dort einen „Sonnenschmied" (Klempner), der ins Olden¬
burgische wollte, wovon ihm der Herbergsvater entschieden abriet, weil es dort sehr
heiß sei. Der Klempner ließ sich aber dadurch nicht in seinem Vorsatz beirren, und
ich schloß mich ihm an. Wir fuhren über die Weser und gelangten nach Elsfleth,
wo wir einen Schulmeister trafen, der ebenfalls auf der Walze war und bei seinen
Berufsgenossen talfen ging. Es war ein rechter „Schmorbruder," der mit seinem
langen Vollbart und einer Brille eine seltsame Figur machte. Er hatte das Prinzip,
beim Einwandern in ein Dorf die Schulkinder nach der Schule zu fragen, wo er
dann seinen Kollegen in bewegten Worten eine Beschreibung seiner mißlichen Ver¬
hältnisse machte und dabei selten weniger als eine Mark erhielt. Hatte er genügend
Kies beisammen, so ging er auf die Penne und löschte seinen Durst. Von Elsfleth
kamen wir nach Brake an der Weser, wo wir ungefähr einen Tag blieben. Als
wir gerade im Begriff waren, wieder weiter zu wandern, bemerkte ich den Laden
eines Krauterers, bei dem ich noch nicht umgeschaut hatte. Ich ließ den Klempner
deshalb langsam vorangehn und ging zu dem Bäcker hinein. Als ich wieder heraus
kam, stand ein Butz vor mir, der mich fragte, was ich dadrinnen gemacht Hütte.
Ich erklärte, ich hätte nach Arbeit gefragt, und glaubte, der Butz würde mich nun
meines Weges ziehn lassen; der aber arretierte mich und nahm mich mit auf die
Wache. Der Klempner beging die Torheit, uns dahin zu folgen, obwohl er Ge¬
legenheit gehabt hätte, zu verduften. Wir wurden beide auf der Wache verhört,
und weil man uns nachweisen konnte, daß wir am Tage vorher in dem Orte ge-
talft hatten, zu drei Tagen Knechen verdonnert. Das Gefängnislokal war sehr
„mich" (schlecht) und kalt und erweckte bei mir sehnsüchtige Erinnerungen an das
erste Verschüttgehn in Mecklenburg. Wir erhielten dreimal des Tags ein Essen,
das nur aus einer Blechschüssel mit dünnem Kaffee und einem Stück trocknen Brotes
bestand. Um uns die Zeit zu verkürzen, verfertigten wir uns aus einem Stück
Papier, das wir zufällig bei uns hatten, kleine Spielkarten, die in Ermanglung
von Bildern eine kurze Bleistiftaufschrift, wie z. B. Schellenas, grüne Neun, Herz¬
dame, trugen. Mit diesen Karten, die freilich keinen Stempel trugen, spielten wir
von früh bis spät Sechsundsechzig. Am vierten Tage, als wir entlassen und zugleich
auf die Dauer von zwei Jahren des Landes verwiesen wurden, stand schon ein
Fischerkahn bereit, der uns über die Weser bringen mußte, was mit der größten
Eile bewerkstelligt wurde, weil gerade die Ebbe eintrat. Nach der Entlassung freute
ich mich am meisten darauf, wieder meine Pfeife rauchen zu können, die ich in Er¬
manglung von andern: Tabak mit sogenanntem schwarzem Krusel stopfte, der im
allgemeinen nur als Kautabak verwandt wird, und von dem ich einen gehörigen
Vorrat in Hamburg und in Bremerhaven getalft hatte. Bei dem traurigen Zu¬
stande, worin sich mein Magen nach der dreitägigen Fastenzeit befand, bekam mir
der außerordentlich schwere Tabak schlecht, ich vermochte mich kaum aufrecht zu er¬
halten und wäre bei meiner Bemühung, das auf den Sand geratne Fischerboot
wieder flott zu machen, beinahe über Bord gestürzt. Als wir drüben glücklich an¬
gelangt waren, gingen wir über eine große Wiese, ich voran, der Klempner hinter
mir her. Plötzlich fiel mir auf, daß ich keine Schritte mehr hörte, ich drehte mich
um, konnte aber im ganzen Umkreis nichts entdecken, was einem Klempner ähnlich
gesehen hatte. Auf mein Rufen erhielt ich Antwort, aber es war mir zunächst un¬
möglich, zu ermitteln, woher die Stimme des Vermißten kam. Endlich fand ich ein
vier Meter tiefes Loch, das durch den Strudel eines Hochwassers ausgewühlt
worden sein mochte, und worin mein Begleiter verschwunden war. Ich trat be¬
hutsam bis zum Rande vor, reichte ihm meinen Sterz und zog ihn unter großen
Anstrengungen wieder an die Oberfläche. Als wir nach diesem Abenteuer wieder
in Vegesack ans der Herberge anlangten, machte sich der Penneboos über uns lustig
und meinte, er habe es ja gleich gesagt, daß wir es nicht lange in Oldenburg aus¬
halten würden.
Von Vegesack wanderte ich nach Werden an der Aller. Dort waren zu da¬
maliger Zeit zwei Herbergen, die miteinander in offner Fehde lagen. Die eine er¬
freute sich großen Zuspruchs, während die andre gewöhnlich leer war. Infolge¬
dessen veröffentlichte der Penneboos der schlecht besuchten Herberge in der Zeitung
einen Artikel, worin er seinen Konkurrenten herabzusetzen gedachte; dieser blieb ihm
die Antwort nicht schuldig, und auch die in seiner Penne anwesenden Kunden ver¬
faßten und unterzeichneten einen Artikel, worin sie für den von ihnen begünstigten
Penneboos Partei ergriffen. Ich war natürlich auf der beliebten der beiden
Pennen eingekehrt und fand es dort recht gemütlich. Die Wand war mit Empfehlungs¬
karten von Herbergen aller Länder bedeckt. Einer der anwesenden Kunden ent¬
puppte sich als Virtuos im Harmonikaspielen. Werden ist ein hübsches Städtchen,
dessen Einwohner bei den Kunden für „dufte" (gut) gelten und gut stecken. Dort
gibt es besonders viel „Piependreher" (Zigarrenmacher), bei denen man gewöhnlich
eine Zigarre erhält, die sich, wenn man sie nicht selber rauchen will, bei den Reise¬
kollegen leicht zu Gelde machen läßt. Auch herrscht dort der Brauch, daß die an¬
sässigen Zigarrenmacher die Kunden, die bei ihnen als Berufsgenossen vorsprechen,
auffordern, sich selbst ein paar Zigarren zu machen. Sie sehen bei dieser Gelegen¬
heit, ob der Besucher wirklich ein Berufsgenosse ist. Die so hergestellten Zigarren
werden in der Regel beim Penneboos verkauft.
Bei der Abreise von Werden traf ich einen Artisten, der ebenfalls nach Bremen
wollte. Wir wanderten zusammen, und mein Begleiter besuchte in Bremen zu
allererst einen berühmten Kollegen, den Seiltänzer Blondin, der in einem Eta¬
blissement vor der Stadt seine Künste zeigte. Von dort ging ich über Burgdorf
nach Hannover, wo gerade Schützenfest gefeiert wurde. Ich bemühte mich ver¬
gebens, auf dem Festplatze Arbeit zu finden, und wanderte weiter nach Hildesheim.
In Hildesheim blieb ich einige Tage und besuchte dort auch eine Barbier¬
stube, um mich rasieren zu lassen. Der Meister sah in mir ein geeignetes Ver¬
suchsobjekt für seinen Lehrling und erklärte mir, daß dieser mich umsonst rasieren
solle, was er dem? auch zu meiner vollen Zufriedenheit tat. Von Hildesheim wan¬
derte ich auf Göttingen zu. Bevor ich diese Stadt erreichte, traf ich an einem
Abend gegen sechs Uhr einen alten Kunden, der mir nach der üblichen Begrüßung
mitteilte, die „Kaschemme" (Wirtshaus) im nächsten Dorfe sei „link" (schlecht), und
mich einlud, in seiner „Villa" zu übernachten. Ich war über diese Einladung nicht
wenig erstaunt und fragte den Kunden, wo seine Villa denn liege. Da wies er
ans einen mitten im Felde stehenden Strohfeim und forderte mich auf, ihm dorthin
zu folgen. Er hatte gerade eingeholt, seine Finne war voll Soruff, und ein statt¬
licher Vorrat von „Hanf" (Brot) und „Unvernunft" (Wurst) wies darauf hin, daß
er für die Beköstigung einer größern Gesellschaft gesorgt hatte. Als wir an den
Strohfeim herangekommen waren, und ich ziemlich ratlos davor stand, fragte er
mich: „Du suchst wohl die Haustür?" Denn pfiff er, worauf von oben eine Strick¬
leiter heruntergeworfen wurde. Da es anfing dunkel zu werden, zündete er eine
Blendlaterne an, und wir kletterten die Strickleiter hinauf. Oben angelangt fand
ich eine Art von Schacht, der in den Strohfeim hinabführte, und in diesem selbst
zwei bequeme Kammern, die mit großer Kunstfertigkeit ausgehöhlt waren und eiuen
höchst gemütlichen Aufenthalt boten. Im Innern dieser Wohnung trafen wir einen
Kunden an, der sich sehr darüber zu freuen schien, daß sein Kollege Besuch mit¬
brachte, und die beiden einigten sich darüber, daß ich in der „guten Stube," d.h. der
größern der beiden Höhlen, logieren sollte. Ungefähr nach einer Stunde kam der
dritte Bewohner des Strohfeims, der in der Umgegend ein größeres „Kommando
geschoben" (Ausflug gemacht) hatte. Sie erzählten mir, daß sie den Schlupfwinkel
schon einige Monate inne hätten, und daß immer einer von ihnen zuhause sei,
während die beiden andern die weitere Umgegend abtalften. Wir speisten zu¬
sammen zu Nacht und verkürzten uns die Zeit mit Gesprächen, wobei hauptsächlich
„geschäftliche" Dinge und die Verhältnisse in der Umgegend berührt wurden. Meine
Gastfreunde verrieten mir, daß sie sich beim „Kommandoschieben" der Vorsichts¬
maßregel bedienten, die Kleider untereinander zu wechseln, um die Kaffern irre zu
führen. Am andern Morgen verabschiedete ich mich mit dem üblichen Gruß: Adieu,
Kinder, machts gut! und setzte meine Reise nach Göttingen fort.
In Göttingen gab es ein Stadtgeschenk von dreißig Poschern, das allerdings
mit Steineklopfer verdient werden mußte. Wir waren zu sechs Mann, jeder von
uns bekam einen Haufen Steine und einen Kasten als Maß zugewiesen, eine Draht¬
brille auf die Nase und mußte ein und eine halbe Stunde Steine klopfen. Das
Stadtgeschenk mußte später zu einer gewissen Stunde abgeholt werden, und dabei
gab es eiuen „kräftigen Zinken" (großer Stempel) in die Fleppe, was deren In¬
haber nicht gerade angenehm ist. Auf der Wanderung nach Braunschweig, die ich
in Gemeinschaft mit einem Kameraden machte, hielten wir auf einem Bauerngute
um ein Mittagessen an. Wir bekamen eine Schüssel voll kalter, vollständig ver¬
schimmelter Kartoffeln vorgesetzt, eine Maßnahme, die ich jedoch sofort durchschaute.
Ich begann also zu essen und gab auch meinem Kollegen ein Zeichen, dasselbe zu
tun. Als der Bauer das sah, sagte er: Halt, ich sehe, daß ihr Hunger habt, ihr
sollt gutes Essen bekommen. Wir mußten nun eine Weile warten, wurden über
unsre Wanderschaft ausgefragt und hörten vou dem Bauern, daß ihm vor kurzem
ein paar Kunden das ihnen gereichte gute Essen in die langen Stiefel gegossen
hätten; seitdem pflege er die bei ihm vorsprechenden Handwerksburschen erst einer
Prüfung zu unterziehn, ehe er ihnen etwas verabreiche. Wir ließen uns das in
der Tat vortreffliche Essen schmecken und erhielten zum Abschied jeder noch eine
Mark. Über Braunschweig ging es nach Helmstedt, wo ich an einem Sonnabend
Nachmittag ankam. Auf der Herberge, die mir am ersten Tage einen sehr guten
Eindruck machte, erhielt ich für zwanzig Pfennige ein gutes Bett, am Sonntag Abend
aber, als ungefähr sechzig bis siebzig Kunden dort zusammengekommen waren, wurde
mir angekündigt, daß ich nun für ein Bett fünfundzwanzig Pfennige zahlen und es
noch dazu mit einem andern teilen sollte. Auf diese Zumutung mochte ich nicht eingehn
und wanderte deshalb mit etwa zwölf andern Kunden noch eine halbe Stunde weiter, bis
wir an ein großes Feld kamen, wo das Getreide in Puppen stand. Ans diesen Getreide¬
puppen richteten wir unser Nachtlager her und hörten, bevor wir einschliefen, noch eine
Zeit lang der Tanzmusik zu, die aus dem nächsten Dorfe zu uns herüberscholl. In der
Nacht spürte ich an meinem Körper etwas Eiskaltes, wurde darüber wach und fand
in meiner Hose einen Frosch, der offenbar auch auf ein warmes Nachtquartier
Wert gelegt hatte. Ich holte ihn heraus und schlenderte ihn in weitem Bogen
weg. Am andern Morgen plünderten wir zum Frühstück einige Apfelbäume und
machten im nächsten Dorfe an einem Wassertröge Toilette, wobei es an Zuschauern
nicht fehlte. In Magdeburg kam ich gerade zur Messe an, ich suchte bei der
Menagerie Kauffmann, die eine große Bretterbude aufgeschlagen hatte, Arbeit, fand
aber keine und wanderte über Halle nach Kassel. Dort blieb ich acht Tage, be¬
suchte die berühmte Gemäldegalerie, das Gewerbemuseum, das Zoologische Museum
und machte einen Ausflug nach Wilhelmshöhe.
Beim Weiterwandern über Homberg nach Frankfurt zu kam ich auch nach
Marburg, wo ich einige Tage blieb. Dort machte ich ein merkwürdiges Geschäft.
Als ich nämlich „auf der Fahrt" bei einem Studenten focht, fragte mich dieser, ob
ich ihm Läuse verkaufen könne. Ich hatte selbst keine, versprach ihm aber, welche
zu besorgen. Er gab mir eine silberne Dose, die mit Watte gefüllt war, die ich
mit Läusen besetzen sollte. Auf der Herberge fand sich denn auch ein Töpfer, der
das gesuchte Wild im Überfluß hatte. Er gab mir einen gehörigen Vorrat davon,
und mit diesem kehrte ich zu meinem Studenten zurück, der mir einen blanken
Taler dafür gab. Ob er die Insekten zu wissenschaftlichen Zwecken oder zu einem
Ulk gebraucht hat, habe ich nicht erfahren.
Über Gießen kam ich nach Butzbach, dort holte mich einer von der Herberge
weg zum Lohkäsemachen. Ich mußte die Maschine drehen und erhielt für den Tag
zwei Mark fünfzig Pfennige und eine Flasche Bier.
In Bockenheim bekam ich am 18. August endlich Arbeit; es war auch die
höchste Zeit, denn ich war so abgerissen, daß mir die Haare aus dem Hute und
die Zehen aus den Trittchcn sahen. Der Meister war sehr grob, der erste Geselle,
ein Bayer, nicht minder, dafür waren aber Kost und Bett gut. Ich erhielt in der
Woche sechs Mark, mußte Abends gegen acht Uhr mit der Arbeit beginnen und
war des Nachmittags gegen drei Uhr damit fertig. Morgens mußte ich auch die
Brötchen austragen, was ich bis dahin noch nicht getan hatte. Die Meisterin zeigte
mir selbst den Weg zu den Kunden, und mit ihr mußte ich auch abrechnen. Ich
ließ mir meinen Koffer von Apenro.de nachsenden, der aber versehentlich nach Frank¬
furt geschickt wurde, von wo ich ihn holen und auf dem Rücken nach Bockenheim
tragen mußte. Die Backstube war gerade über dem Ofen, und der Fußboden war
so heiß, daß man ihn ohne Schuhe nicht betreten konnte. Da uns das Dienst¬
mädchen gewöhnlich zu spät weckte, bekam der grobe Bayer mit dem Meister Streit
und nahm sich vor, dem Dienstmädchen einen Streich zu spielen. Eines Abends
um neun gingen wir, nachdem wir vorher nicht geschlafen hatten, an die Arbeit
und schlössen die Hoftür zu, damit das Dienstmädchen über die Holztreppe bei dem
Ofen vorbei müßte, wenn sie aus dem Hofe in das Haus gehn wollte. Dort lauerte
ihr der Bayer auf und schmierte ihr eine gehörige Portion frischen Teiges in ihr
dichtes schwarzes Haar. Das Mädchen weckte den Meister, der großen Lärm machte,
worauf zuerst der Bayer und dann auch ich kündigten. Wir gingen zunächst nach
Frankfurt a. M. auf die Herberge, wohin mir der Hefeumnnn meinen Koffer brachte.
Ich benutzte den Aufenthalt in Frankfurt, mir die Sehenswürdigkeiten der alten
Krönungsstadt anzusehen, besah mir den Römer, das Zoologische Museum usw. und
machte, da ich meine Absicht, nach Wiesbaden zu gehn, wegen der vom Hochwasser
überschwemmten Straße nicht sobald verwirklichen konnte, Schulden.
Meinen Vorsatz, nach Wiesbaden zu gehn, verwirklichte ich aber doch, und
ich hielt mich einige Tage in der berühmten Bäderstadt auf. Von Wiesbaden
wanderte ich nach Mainz und ging dort auf die Herberge. In Mainz war wenig
zu holen, die Leute hatten unter dem Hochwasser gelitten, die Geschäfte lagen da¬
nieder, und darunter hatten auch wir Kunden zu leiden. Als ich am Abend mit
viel „Kohldampf" (Hunger) und ohne einen Poscher Kies in der Tasche in der
Herberge saß, trat plötzlich ein großer starker Mann ein, der erklärte, er brauche
zwanzig Leute. Ich war einer der ersten, der sich erhob, und fragte, wozu er Ar¬
beiter brauche. Er sagte, daß er Leute zur Bedienung des Floßes suche, das auf
der andern Rheinseite liege und am nächsten Morgen die Fahrt zu Tal (rhein-
abwärts) antreten solle. Nicht weniger als achtzehn Mann, darunter auch ich, er¬
klärten sich bereit, mit ihm zu gehn und die Reise auf dem Floß anzutreten. Der
Mann bezahlte für jeden noch ein Glas Bier und hieß uns dann ihm folgen.
Wir gingen über die Pontonbrücke nach Kastell und dort eine große Strecke lang
rheinabwärts. Plötzlich blieb der Mann stehn und pfiff auf den Fingern. Trotz
der Dunkelheit sahen wir, wie scheinbar von der Mitte des Stromes ein Boot
herankam und an der Stelle, wo wir standen, anlegte. Wir stiegen ein und wurden
zum Floß hinübergebracht. Das Floß, das aus riesigen Fichtenstämmen bestand,
die durch gedrehte Fichtenzweige miteinander verkoppelt waren, mochte eine Länge
von zweihundert, eine Breite von siebzig Metern haben. An den beiden Schmal¬
seiten waren lange Bretterflöße aufgeschichtet, auf denen die „Lappen" (Ruder)
lagen; es waren lange Bäume, an deren unterm Ende noch Bretter aufgenagelt
waren. Auf dem Floß standen vier Bretterhäuser, deren eines als Küche diente.
Hier lagen auch die Lebensmittel für die Bemannung, darunter ein ganzer Ochse
und acht Tonnen Bier. Die andern Häuser dienten als Schlafräume, waren mit
Strohlagern und Kanonenöfen ausgestattet, und einer wies sogar ein paar Betten
auf. Gleich nach unsrer Ankunft wurden wir mit mächtigen Portionen Reis und
Rindfleisch bewirtet und erhielten Bier, soviel wir trinken wollten. Das galt auch
für die ganze Reise, Schnaps und Kaffee mußten wir jedoch bezahlen. Am andern
Morgen, als es hell wurde, weckte man uns und rief uns zum Kaffee. Dann be¬
stiegen zwei Mann den Nachen, der uns zum Floß herübergebracht hatte, und
fuhren eine halbe Stunde voraus, um den zu Berg fahrenden Schiffen das Signal
zum Ausweichen zu geben, das Ausführen der Schiffbrücken zu veranlassen und
rechtzeitig eine Landungsstelle zu suchen. Gegen acht Uhr wurden wir an die
„Lappen" gerufen, deren jeder von acht Mann bedient wurde. In der Nacht
— es war schon im Dezember — hatte es gereift, die Stämme waren infolge¬
dessen so glatt, daß man nur mit Vorsicht darauf gehn konnte. Einer von uns,
ein Fleischer aus Sachsen, glitt aus und verschwand in einem Loche zwischen den
Stämmen. Zum Glück war ich unmittelbar hinter ihm, griff ihn bei den Haaren
und zog ihn aus dem eiskalten Wasser. Der arme Teufel hatte keine Zeit, seine
Kleider zu trocknen, sondern mußte, naß wie er war, an die Arbeit gehn. Der
Floßführer bestieg die Kommandobrücke, das Fesselseil wurde gelöst, und die „Hunde"
(Anker) gelichtet. Das Floß setzte sich langsam in Bewegung und wurde in die
Mitte der Strömung dirigiert, wobei der Floßführer die Kommandos durch Arm¬
bewegungen gab, die wir genau beobachten und durch den Ruf „Hesseland" (nach
rechts) und „Frankreich" (nach links) bestätigen mußten. Als das Floß richtig
trieb, wurden die „Lappen" hochgezogen und eingehängt, sodaß sie außer Wasser
waren, dann lüftete der Floßführer den Hut und sprach ein Gebet; wir alle folgten
seinem Beispiel. Überhaupt wurde das Hutabnehmeu und Beten fleißig geübt, es
geschah bei jeder Kirche, die wir passierten. Dafür entschädigte sich der Floßführer
aber in der Zwischenzeit bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit durch
reichliches Fluchen, besonders beim Länder, das jedesmal ein schweres Stück Arbeit
war. Zum erstenmal geschah es am Nachmittag gegen vier Uhr bei Eltville; dort
hatten die beiden Leute, die im Nachen vorausgefahren waren, Halt gemacht und
gaben uns schon aus weiter Entfernung Zeichen. Wir warfen ihnen eine lange
Leine zu, an deren Ende das schwere Halttau befestigt war, das auf der hintern
Schmalseite in Form einer riesigen Rolle lag, und das durch ein Gefüge von
Rundhölzern geleitet und zur Verminderung der Reibung mit Wasser begossen
wurde. Dieses Tau wurde zum Ufer hinübergezogen und dort mehrmals um einen
starken Pfahl gewunden. Darauf wurden die vier „Hunde" (Anker), die an jeder
Ecke des Flosses befestigt waren, ins Wasser geworfen. Es dauerte lange, bis das
Floß still lag. Mit dieser beschwerlichen Arbeit war unser erstes Tagewerk voll¬
bracht, und wir eilten in die Bretterbuden, um uns zu wärmen und an dem Biere,
das in einem eisernen Topf warm gemacht wurde, zu stärken. Nach einer Stunde
gab es ein warmes Abendbrot, das, was Quantität und Qualität anlangte, nichts
zu wünschen übrig ließ. Die Zeit nach dem Abendessen wurde mit Erzählungen
und gemeinsamem Gesänge alter Schifferlieder verkürzt. Andre wußten sich auch
nützlicher zu beschäftigen, so z. B. ein Schneider, dem von der Polizei die „Fleppe"
konfisziert worden war, und der an ihrer Stelle eine sogenannte „Marschroute"
erhalten hatte. Eine solche Marschroute, in Sachsen gewöhnlich die „Grüne" ge¬
nannt, ist unter allen Staatspapieren das am wenigsten erfreuliche. Sie ver¬
pflichtet nämlich den Inhaber, an einem bestimmten Tage wieder in seiner Heimat
zu sein, berechtigt ihn aber auch allerdings dazu, sich bei jedem Ortsvorstand eine
Unterstützung zu holen. Der Schneider hatte keine Lust, sich an die ihm vor-
geschriebue Tour zu binden, sondern trug sich mit dem Gedanken, die ihm ab¬
genommn? „Fleppe" durch eine neue zu ersetzen, deren Beschaffung ihm zwar wenig
Gewissensbisse, aber desto mehr Arbeit machte. Unter der sehr gemischten Gesell¬
schaft der Flößer — es mochten etwa siebzig Mann sein — war auch ein ver¬
krachter Kaufmann, der eine schöne Hand schrieb und sich bereit finden ließ, dem
Schneider ein neues Legitimationspapier zu schreiben. Natürlich war dieses Papier
inhaltlich weit schöner, als „Fleppen" gewöhnlich zu sein pflegen. Es dokumen¬
tierte, daß der Inhaber bei den besten Meistern gearbeitet und von ihnen die
wunderbarsten Empfehlungen erhalten hatte. Eine Fleppe ohne „Zinken" (Stempel)
hat aber bekanntlich wenig Wert, und so mußte auch ein glaubwürdiger Stempel
verschafft werden. Auch dafür wußte der Schneider Rat, er hatte sich vorsorglich
ein Stückchen Schiefer mitgebracht, in das er mit einer Stopfnadel beim trüben
Lichte einer Petroleumlampe unter unsäglichen Anstrengungen einen Stempel gra¬
vierte, der, als er nach mehreren Abenden glücklich fertig war, an Schönheit und
Schärfe nichts zu wünschen übrig ließ. Mit Hilfe dieses Stempels, der.mit Öl
und Lampenruß angeschwärzt wurde, stellte er dann den vorschriftsmäßigen Zinken
her und konnte nun als ein Mann, dessen Papiere in der besten Ordnung waren,
der Zukunft entgegensehen.
Am zweiten Tage ereignete sich nichts besondres, wir landeten in Geisenheim
und hörten noch an demselben Abend von ein paar alten Kunden, die die Reise
schon mehrmals mitgemacht hatten, daß am andern Tage eine sehr schwere Arbeit
bevorstehe. Am andern Morgen bekamen wir zeitig den Niederwald mit dem
Denkmal zu Gesicht, bald darauf erschien der Mäuseturm, von dessen Flaggenmast
eine weiße Fahne wehte, ein Zeichen für die zu Berg fahrenden Schiffe, daß sie
halten mußten. Wir waren bis gegen halb elf Uhr gefahren, als plötzlich auf dem
vordem Teil des Floßes ein großer Lärm ausbrach, und die Ankerknechte mit einem
armstarken Tau gelaufen kamen, das sie quer über das Floß schleppten und mit
Klammern befestigten. Das war kaum geschehn, so senkte sich auch schon die linke
Seite des Flosses und ging so tief unter Wasser, daß die Bedienungsmannschaften
der vorder:? linken Lappen, wozu auch ich gehörte, bis an den Hals in das eis¬
kalte Wasser gerieten. Die Strömung hatte die Bretterlagen, auf denen die Lappen
ruhten, weggerissen, und uns war der Boden unter den Füßen verloren gegangen.
Jeder ergriff, was er gerade zu fassen bekam, und aller Gesichter waren vor
Schrecken kreideweiß. Ein Bauer, der auf der Rüdesheimer Seite stand und Zeuge
des Unfalls gewesen war, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, was auf
mich trotz dem Ernste der Lage einen außerordentlich komischen Eindruck machte.
Das Floß hob sich endlich, und die Stämme kamen wieder zum Vorschein, aber die
Verwüstung war groß, wir mußten die Bretter auf der Mitte des Flosses wieder
zusammensuchen. In aller Eile wurden die Stellagen wieder aufgebaut, die Lappen
darauf gelegt, und dann wurde die Reise fortgesetzt. Der Unfall war dadurch ent-
standen, daß das letzte Hochwasser eine Sandbank zusammengeschlemmt hatte, die
gerade in der Fahrstraße lag. Wir mußten den ganzen Tag in unsern nassen
Kleidern an den Rudern stehn und begrüßten mit doppelter Freude den Augenblick,
wo in Camp gelandet wurde. Unsre Gefährten, für die die Reise glücklich ab¬
gelaufen war, zahlten jeder ein oder zwei Groschen zu Schnaps „für die Wasser¬
beschädigten."
Am vierten Tage luden wir zuvor in Camp einen Teil des Holzes ab und
fuhren dann weiter bis Linz. Am fünften Tage gelangten wir nach Köln, unserm
Reiseziel, wo das Floß auseinandergenommcn, und wir entlassen wurden.
(Fortsetzung folgt)
Mittlerweile war der Frühling gekommen und auch schon wieder ge¬
gangen. Er kommt dortzulande später als anderwärts, wenn er aber
kommt, dann mit Macht, und Wald und Feld können gar nicht schnell
genug ihre Pracht entfalten. Und je weiter nach Osten, desto kürzer
ist das Regiment der Übergangszeit. Das russische Hinterland holte
sich erwärmt und heiße Winde gesandt, die dem Frühling seinen
Blumenkranz schnell verwelkt vom Kopfe warfen und das Korn mit Macht hervor¬
riefen. Die Kühe und Pferde waren auf der Weide, und draußen auf der See
schwebten die Segel der Fischereiflotte. Und der Inspektor Schlewecke mit seinen
Leuten zog Gräben, um das Urlaub in der Nähe des Bruchs trocken zu legen.
Der Doktor aber ritt in den Wald und traf sich mit Eva an der verabredeten
Stelle. Meist waren beide zu Pferde, und da sie schon mehr als einmal von
Holzarbeitern bei ihren Spazierritten gesehen worden waren, so verlegten sie die
Zusammenkunft in die entlegnen Teile des Forstes, dahin, wo die Elche ihren
Stand hatten. Schade, daß der alte Jakob nicht mehr lebte, das war Evas be¬
sondrer Liebling gewesen.
Es war ja nun schon manche Woche seit der Nacht vergangen, in der Eva
sich ihren Doktor gerettet hatte. Wer die beiden beobachtet hätte, wie sie mit¬
einander verkehrten, wie der Doktor seine Eva auf Händen trug, und wie Evas
Gesicht strahlte, wenn ihr Doktor am Horizont auftauchte, würde sie für glückliche
Brautleute gehalten haben. Und sie waren es auch. Und doch war in verborgner
Tiefe etwas nicht in Ordnung. Es gab etwas Fremdes zwischen beiden, eine un¬
sichtbare und doch spürbare Scheidewand. Die seelische Fühlung, von der der
Doktor gesprochen hatte, hatte sich noch nicht finden wollen. Man war äußerlich
einig, aber darunter lag jederzeit die Gefahr des Zwistes. Prinzeßchen war, wenn
sie gute Lanne hatte, von großer Liebenswürdigkeit, und sie hätschelte ihren Doktor
nach Noten, aber wenn es ihr nicht danach zumute war, war sie Prinzessin und
als solche unnahbar und herbe. Wir müssen versuchen, Eva recht zu verstehn. Sie
war nicht bloß ein schönes Mädchen, sie hatte auch eine schöne Seele. Aber diese
Seele war verborgen und von niemand gekannt, nicht einmal von Eva selbst. Sie
offenbarte sich bisweilen so, wie wenn unter dem Gipfel eines hohen Berges die
wallenden Wolken auseinandergehn und einen Blick in die blaue, goldne und grüne
Tiefe eröffnen. Eva war auch ein kluges Mädchen. Sie hatte ein feines Gefühl,
aber sie war unfrei. Es gab eine gewisse Grenze, über die sie nicht hinauskam,
und die sie sich selbst zu berühren scheute. Man konnte bei ihr an König Reuss
Tochter denken, die klug und poetisch zu sprechen wußte, in deren Rede aber nichts
vorkam, was eine Farbe bezeichnete, denn sie war blind. War das nun bei Eva
ein Fehler der natürlichen Anlage oder ein Mangel in der Entwicklung? Man
kann erleben, daß eine Rose, die alle Kraft daran setzt, aufzublühn, es doch nicht
vermag, die grünen Knospenblätter der Schattenseite zu sprengen, bis ein warmer
Sonnenstrahl um die schattige Seite herumleuchtet und das Werk vollendet. Und dieser
warme Sonnenstrahl fehlte bei Eva, hatte ihr schon ihr ganzes Leben lang gefehlt.
Und der Doktor konnte seine Neigung zu dozieren und zu erziehen nicht
meistern, was zur Folge hatte, daß seine Eva bei erster Gelegenheit mutwillig aus
der Bahn brach.
Eva und der Doktor ritten über eine Waldblöße, auf der in Gruppen junges
Holz stand. Der Doktor hing seinen Gedanken nach und hielt eine längere Rede,
und Eva hörte mit halbem Ohr zu und ließ ihre Reitgerte fallen. Der Doktor
beeilte sich, abzusteigen, die Reitgerte aufzuheben und sie ihrer Besitzerin zuzu¬
stellen. Das gefiel Eva, sie lächelte süß und nickte ihrem Heinz zu. Sie kam
sich mehr als je als Prinzessin vor und war stolz darauf, von einem so schmucken
Kavalier bedient zu werden. Heinz stieg wieder auf und setzte seine Erörterung
fort. Nach einiger Zeit lag die Peitsche wieder am Boden. Sie hatte sie nicht
mit Absicht fallen lassen, Gott bewahre! sie wußte nicht, wie es zugegangen war, daß
sie ihren Händen wieder entglitten war. Der Doktor stieg abermals ab und reichte
die Reitgerte zurück, und Eva nahm sie gnädig in Empfang.
Eva, sagte der Doktor, ich würde mich nun aber vorsehen, daß ich meinem
Kavalier nicht unnötige Mühe mache.
Ach Heinz, erwiderte Eva sorglos, du als Kavalier bist ja dazu da, deiner
Dame zu dienen.
Nicht jeder Dame, sagte Ramborn. Es kommt auf die Dame an.
Wieso?
Eine Dame, die sich bedienen läßt, erkennt damit ihre Schwäche an. Man
erweist dem schwachen Geschlechte Ritterdienste, nicht dem starken.
Ich gehöre nicht zu dem schwachen Geschlechte, ich will Herrin sein, wie du
minds gelehrt hast.
Tue das. Dann darfst du aber auch keine Dienste von jemand in Anspruch
nehmen, der deinesgleichen ist, sondern mußt dir selbst helfen. Wer auf Höhen
wohnen will, muß Höhenluft vertragen können. Die bevorzugte Stellung der Frau
hört auf, sobald sie sich dem Manne gleichstellt.
Eva lachte und ließ, jetzt mit klärlicher Absicht, ihr Taschentuch zu Boden
fallen. Namborn stieg ohne zu zögern abermals ab und sagte: Du hast wieder
einen Dienst beansprucht. Nun erkenne an, daß du zum schwachen Geschlechte ge¬
rechnet sein willst. Reiche deine Hand zum Kusse und sage: Danke schön.
Ich erkenne gar nichts an, erwiderte Eva sorglos.
Des Doktors Mienen verfinsterten sich. Aber er entgegnete nichts, stieg auf
und setzte seine Erörterung fort. Eva war nicht sehr eifrig im Zuhören, sondern
blieb ein wenig hinter dem Doktor zurück. Neben dem Wege in einem niedrigen
Gebüsch stand eine Elchkuh mit ihrem Kalbe, die sich durch die beiden ihr wohl
bekannten Reiter keineswegs beunruhigen ließ. Eva ritt vorsichtig aus die Elchkuh
zu und kam ihr so nahe, daß sie sie mit der Reitgerte erreichen konnte.
Also gestehe, schloß der Doktor, der halten geblieben war und sich umgewandt
hatte, seine Rede, daß wenn du Dienst in Anspruch nimmst, dir also von einem
andern etwas leisten läßt, was du nicht leisten kannst oder magst, du dich dadurch
dem andern gegenüber verpflichtest und damit unfrei machst. Also reiche deine
Hand her, Eva, und sage: Danke schön.
Nein, rief Eva aufjauchzend und schlug im Übermute mit ihrer Reitgerte der
Elchkuh über den Rücken.
Die Elche, so träge sie auch zu sein scheinen, besonders eine Elchkuh, die sich
einbildet, daß ihrem Kalbe etwas geschehen könnte, können sehr bösartig werden,
und die stahlharten Schalen der Vorderfüße sind eine nicht ungefährliche Waffe.
Eva jagte, des Doktors Pferd mit sich reißend, davon, und die Elchkuh
galoppierte schnaubend hinterher. Es wurde Eva nicht schwer, auf ihrem Pferde,
mit dem sie wie verwachsen war, Vorsprung zu gewinnen. Der Doktor folgte,
und auch sein Pferd hielt sich im Anfang gut, und so ging die wilde Jagd über
Stock und Stein bis auf den Weg, der von Tapnicken in die Pempler Heide
führte. Da ermüdete das Pferd Ramborns, weil sein Reiter für seine Kräfte zu
schwer war, fing an zu straucheln, blieb in einer morastigen Stelle stecken und
kam zu Fall. Der Doktor, der das Unglück hatte kommen sehen, war geschickt
aus dem Sattel gesprungen und hatte nur noch Zeit gehabt, eine an der Erde
liegende Stange aufzuraffen, da war auch schon die Elchkuh da, deren Schnauben
und boshafte Augen nichts Gutes weissagten. Die Elchkuh schlug mit den Vorder¬
läufen, und der Doktor mußte mit seiner Stange die Schläge parieren und die
Stange gut festhalten, damit sie ihm nicht aus der Hemd geschlagen wurde. Und
da der Kampf auf nassem Boden ausgefochten wurde, so dauerte es nicht lange,
bis der Doktor von oben bis unten mit schwarzem Schlamme befleckt war. Nicht
weit davon hielt Eva und ließ ihr Helles Lachen erklingen. Es mochte wohl lustig
aussehen, wie sich der Doktor des Elches erwehrte, aber es war doch ein ernster
Kampf, nicht bloß um die gesunden Glieder, sondern auch um die Mannesehre.
Da hörte man das Töff-Töff eines Automobils, und alsbald erschien auf seiner
Maschine Baron Bordeaux.
Die Elchkuh roch das Benzin, hörte die befremdlichen Töne, sah das heran¬
schnaubende Untier, kehrte um und nahm Reißaus.
Donnerwetter, Doktor, rief Baron Bordeaux, wie sehen Sie denn aus? Zwei¬
kampf mit einer Elchknh! Ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorge¬
kommen! Da steckt gewiß das Satansmädel, die Eva, dahinter. Lassen Sie sich
mit der nicht ein. Die führt jeden in den Sumpf, und dann will sie sich tot¬
lachen. Sehen Sie, wie die Göre lacht!
Der Doktor bedankte sich für die rechtzeitige Hilfe.
Danken? sagte Baron Bordeaux — ich wüßte nicht, wofür. Aber Sie können
mir einen Gefallen tun. Behalten Sie die Eva. Ich mag sie nicht.
Es war vom Baron nicht undiplomatisch gehandelt, das wegzugeben, von dem
er sah, es gehöre ihm nicht mehr. Denn anzunehmen, daß sich der Doktor und
Eva zufällig im Walde getroffen hätten, dazu war er denn doch nicht einfältig
genug. Er schüttelte dem Doktor freundschaftlich die Hand und anleite weiter.
Der Doktor half seinem Pferde auf die Füße und führte es, da es hinkte, am
Zügel. Als er vor Eva vorüberkam, grüßte er höflich und kalt und ließ sie stehn.
An demselben Abend erschien Groppoff in Evas Zimmer mit rotem Kopfe
und sehr erregt. Eva, es ist ein Skandal, was man von dir hört.
Ella sah mit bleichem Gesicht und ohne zu antworten fragend von ihrem
Buche auf.
Tue doch nicht so, als wüßtest du nicht, um was es sich handelt, rief
Groppoff.
Warum schreist du so? erwiderte Eon, ich habe nichts getan, dessen sich deine
Tochter schämen müßte.
Nichts? Ist das nichts, daß du dich an diesen Ramborn wegwirfst?
Beruhige dich, ich mag ihn nicht.
Das mit kalter Sicherheit gesprochn? Wort entwaffnete ihren Vater. Er ging
grollend ab, indem er sich ausbat, daß keine Dummheiten gemacht würden.
Hinterher aber weinte Eva die halbe Nacht. Aber es waren nicht die linden
Tränen, die Wein und Öl für Wunden der Seele sind, es war das bittere Naß,
das der Zorn weint. Er will der Herr sein; mag er herrschen, über wen er
kann, ich will nicht dienen! Aber damit war es nicht abgetan. Ein herbes Weh,
ein Mitleid mit ihr selbst, eine Furcht, ob der Boden, auf dem sie stand, auch
trage, stieg aus ihrer Seele auf. Und als sie gegen Morgen in unruhigen Schlaf
sank, träumte ihr, sie sei eine Walküre, sie sei besiegt und entwaffnet worden und
an den Pflug gebunden, und Tarent>n komme hinzu und sagte: Zieh nur, zieh,
Kind, das ist Frauenlos und tut auch gar nicht sehr weh.
Es verging eine geraume Zeit, ehe sich der Doktor und Eva wiedertrafen,
und als es geschah, war es eine kühle und verlegne Sache. Es kam zu keiner
Aussprache, es war der Zustand des verborgnen Konflikts, der dem offnen Kriege
vorcmszugehn pflegte. Der Doktor litt offenbar unter diesem Zustande, aber er
sagte nichts, was als Nachgeben ausgelegt werden konnte. Und Eva litt auch, sie
war hart und unnahbar, sie lachte, aber es war kein froher Klang in ihrem Lachen.
Doktor, fragte Tauenden, was haben Sie mit Eon?
Eine notwendige Auseinandersetzung, Tauenden, erwiderte der Doktor.
Gott sei Dank, sagte Tauenden zu sich, daß dies vor der Hochzeit gekommen
ist und nicht nachher.
Mit dem kommenden Sommer hatte auch die Malerei in der Kolonie einen
neuen Aufschwung genommen. Schwechting vollendete jetzt schon den sechsten Elch.
Jetzt „konnte" er es. Er war sich über die Knochen in den Läufen völlig im
klaren und strichelte die Haare der Decke mit großer Ausdauer. Leider müssen wir
sagen, daß keins seiner Bilder an die Skizze heranreichte, die er einst im Walde vom
alten Jakob gemalt hatte, und daß seine Bilder zwar mit solidem Fleiße gemalt,
aber doch recht langweilig waren. Mit Staffelsteiger hatte er sich viele Mühe
gegeben, aber er hatte nicht erreichen können, daß dieser Künstlerphilosoph eine
ordentliche Naturstudie machte. Ich bin kein Schmetterlingsfänger, Pflegte Staffel¬
steiger auf die Ermahnungen Schwechtings zu antworten, der die Kreatur aufs
Brett spannt, ich bin ein Maler. Mein Malen ist ein buntes Erinnern an die
wallenden Farbenzüge meines Innern, ist eine Ahnung der wirklichen verborgnen
Gedankenwelt, ein weinendes Verachten der Komödie dieses Daseins. Was ich
fühle, lebe, kämpfe, das soll der Beschauer aus meinem Bilde herauslesen, nein,
vielmehr herausleben, nicht was der Zufall da oder dort zusammengewürfelt hat.
Mein Bild ist meine innere Welt.
Wenn das Ihre innere Welt ist, sagte Schwechting, ein Auge zukneifend, indem
er auf ein Staffelsteigersches Bild wies, das aus unheimlichen Schattentiefen bestand,
dann würde ich für meinen Teil einen richtigen grauen Katzenjammer vorziehn.
Schwechting war ein guter Kamerad, trotz seinem sanguinischen Temperament
geduldig, und trotz seinen Kraftausdrücken zartfühlend. Aber im Laufe der Zeit fing
er an, sich über Staffelsteiger zu ärgern. Dieser Mensch war zu rein nichts zu
gebrauchen, uicht einmal zum Feueranmachen. Und alle guten Lehren, die er ihm
gab, seine Malerei auf eine gesundere Basis zu stellen, prallten ab von einer
Selbstüberzeugung, die wahrhaft heroisch war. Schwechting hatte ihn den Winter
durch gefüttert in der Hoffnung, er werde zur Einsicht kommen und Bilder malen,
die verkäuflich seien. Staffelsteiger aber stellte sich auf seine eingebildete Höhe und
erklärte: Ich will meine Kunst nicht zur Magd machen, die für Geld dient. — Das
war ja recht nett und sah so aus, als werde man diesen Staffelsteiger nie wieder
loswerden. Man konnte das Wurm doch unmöglich auf die Straße hinauswerfen.
Schwechting hatte wieder einmal eine seiner Catilinarien gehalten und damit
geschlossen, das Elend sei dies: die Herren Zukunftsmaler hätten nichts gelernt und
meinten, Halbgedachtes und Halbgemaltes sei höhere Kunst. Und Staffelsteiger
hatte in den Haaren gewühlt und sein Lied von der reinen, zick- und zwecklosen
Kunst gesungen, worauf Schwechting geantwortet hatte: Hören Sie, Staffelsteiger,
Sie kommen mir vor wie ein Musikant, der mit einem Bogen ohne Haare auf
einer Geige ohne Saiten spielt und verlangt, daß man über solche Übermusik vor
Entzücken auf den Bauch fällt. Nun will ich Ihnen etwas sagen: Wenn Sie nicht
vernünftig werden, dann verheirate ich Sie an Ihre Kunsttante, damit Sie bei
Ihren Weissagungen wenigstens etwas in den Kaldaunen haben. Denn das ist
nun einmal außer allem Zweifel: es gibt nichts Lächerlicheres in der Welt als
einen hungernden Propheten.
Damit hatte Schwechting, wie er bei seinen Schlußsentenzen zu tun Pflegte,
das Atelier im Theaterschritt verlassen und den Weg an Kondrots Hause vorüber,
der zum Strande führte, eingeschlagen. Hinter dem Giebel des Hauses unter einer
alten Weide saß Arte Beit. Sie hatte ein Netz auf den Knien, strickte aber nicht
daran, sondern schaute träumend nach der See hinaus und sang: Zu Fischern gehn
wir, gehn zu Fischern...
Arte, was machst du da? fragte Schwechting.
Ich warte, Herr Schwechting, ich warte, sagte die Arte. Schon seit dreißig
Jahren warte ich.
Wohl auf einen, der da hinausgefahren ist?
Arte nickte.
Arte, sagte Schwechting, der ist vielleicht lange tot.
Weiß ich, Herr Schwechting, aber ich warte auf den jüngsten Tag. Der
jüngste Tag ist nicht mehr fern; die zweiundvierzig Monate sind bald um. Und
dann kommt ein neuer Himmel und eine neue Erde. Jetzt liegt „er" vielleicht
in der tiefen See, aber dann wird er auferstehn und den Seeschlamm und die
Muscheln von sich abschütteln und wieder kommen und fragen: Arte, hast du auf
mich gewartet? Und dann will ich sagen: Ja, Ansas, ich habe alle Tage ge¬
wartet — -—
Schwechting setzte sich auf ein Boot, das kieloben neben dem Hause lag, und
es wurde ihm beweglich zumute. Man trifft doch überall auf Wasser, wenn man
nur tief genug in die Erde gräbt, auch da, wo die obere Schicht aus harten
Schollen besteht. Und warum soll die arme alte Arte nicht auch ein Herz im Leibe
haben, ein Herz, das still blutet?
Wer war denn der Ansas? fragte Schwechting.
Arte machte eine Bewegung, als wollte sie eine aufsteigende Erinnerung ab¬
wehren. Sie ließ den Kopf sinken. Man hätte denken können, sie weinte; und sie
tat es wohl auch innerlich, jedoch Tränen zu vergießen vermochte sie nicht, dazu
war ihr Leben zu hart gewesen. Herr Schwechting. sagte sie, die Leute nennen mich
närrisch, und ich bin es wohl auch manchmal. Besonders wenn der Wind über
Raster Ort herkommt. Aber das ist nur, weil ich warte und singe.
Warum singst dn denn? Hat dein Lied eine besondre Bedeutung?
Nein. Es ist nur, daß die Gedanken Fahrwasser unter die Füße bekommen.
Nun schwieg sie eine Weile, und dann fing sie an zu erzählen. Sie erzählte
sonst nie. Auch Kondrot hatte sie ihre Geschichte nicht berichtet. Aber zu Schwechting
hatte sie Vertrauen. Schwechting hatte sie ja alte Margell genannt und auf die
Wangen geklopft und hatte ihr ein Zuckerherz geschenkt. Sie erzählte eine Ge¬
schichte, die nichts Romantisches an sich hatte, und die wohl ähnlich oft genug vor¬
gekommen sein mochte, eine von den alten Geschichten, die immer wieder neu werden.
Sie war die Tochter eines Bauern in Kalgillen. Das Gut hatte zu wenig Ertrag,
als daß es alle Kinder hätte ernähren können, besonders weil der Vater krank, und
der älteste Sohn träge war. Darum mußten sich die Töchter bei andern Herren
als Mägde vermieten. Die Arte kam zu einem Bauer» in Possukai und lerute dort
ihren Ansas kennen und lieben. Er war armer Leute Kind und hatte nichts als
sein schmuckes Gesicht, sein braves Herz und seine derben Fäuste. Er hätte seine
Arte wohl ernähren können. Aber der Vater widersetzte sich der Verheiratung.
Sein Bauernstolz wollte es nicht dulden, daß seine Tochter einen Bettler heirate.
Und doch hatte er selbst seine Tochter nicht ernähren können und hatte sie zu
fremden Leuten gestoßen, und doch war der Knecht ein tüchtiger Mensch, der seine
Hände rührte und nicht trank. Um dem Verhältnis ein Ende zu bereiten, nahm
sie ihr Vater in sein Haus zurück, wo sie härter arbeiten mußte als eine Magd,
ohne jedoch den Lohn einer Magd zu bekommen. Da ist sie bei Nacht und Nebel
aus ihrem Vaterhaus entflohn und zu ihrem Ansas zurückgekehrt. Aber kein Pastor
wollte sie trauen, und es währte nicht lange, so hatten sie ihren Ansas aus seiner
Stellung weggebissen. Er nahm Heuer auf einem Memeler Schiff und wollte,
wenn er genug Geld verdient hätte, zurückkehren und sich selbständig machen.
Draußen am Strande hatten sie zuletzt gestanden, früh vor Sonnenaufgang, und
Ansas hatte gesagt: Warte auf mich. Und dann hatte er ihre beiden Hände in
seine Hände genommen und sie zusammengepreßt und gesagt: So binde ich dich.
Jetzt bist du mein bis zum jüngsten Tage. Und dann war er langsam und mit
gesenktem Kopfe davongegangen. Von da an hatte sie gewartet. Sie war nicht
nach Hause zurückgekehrt, fondern Kondrots Vater gefolgt, der sie gefunden hatte,
wie sie am Wege saß und wartete, und hatte ihm treu gedient und hatte nichts
weiter verlangt als warten zu dürfen. Und später, als des jüngern Kondrots
Frau gestorben war, war sie in dessen Hans gezogen und hatte weiter gewartet.
Es war die alte Geschichte von zwei Menschen, die sich nicht kriegen durften, die
sich aber die Treue hielten, der Zeit und den Menschen zum Trotz. Und die Arte
Beit erzählte sie ohne Erregung wie etwas ihr Fremdes, ohne Schmuck, hart wie
mit dem Beile zugehauen.
Schwechting hörte der Geschichte mit innerer Teilnahme zu. Und während
er ihr nachdachte, gestalteten sich ihm Personen und Orte zu lebendigen Bildern.
Er sah den Ansas und die Arte vor Tage am Strande und empfand den tiefen
Eindruck, deu ihre kargen Worte auf seine Seele machten. Wie wenig gehört dazu,
sagte er zu sich, Eindruck zu machen, wenn das Wenige wahr und echt ist! Dann
kehrte sein Blick zu der Arte zurück. Hottsdonnerwetter, sagte er, das ist ja ein
großartiges Motiv, ein Bild zuni hinschreiben. Sogleich nahm er sein Skizzenbuch
heraus und zeichnete das Bild nieder. Den alten Hausgiebel und den Weiterbauen
und die Arte mit dem Netz und das Drum und Dran, das den Vordergrund füllen
und das Bild runden sollte, und dahinter die See. Wenn man nun etwas gelernt
hätte, sagte er zu sich selbst, so müßte man das in Öl malen.
Noch während Arte erzählte und Schwechting zuhörte, erklang aus dem Hause
hinter ihnen Gestöhn und Gewimmer, und jetzt, als der Maler sein Skizzenbuch
zuschlug, hörte man zweistimmig und in jammervollen Tönen den Choral: „Wenn
wir in höchsten Nöten sein und wissen weder aus noch ein." Schwechting sah auf
und rief: Hoppe bewahre! was ist denn da los?
Das sind die alten Schwiegereltern, sagte die Arte, die denken, sie müssen
verhungern, weil sie ihr Gedinge zum Ersten nicht gekriegt haben.
Na erlaub mal, Arte, es ist aber auch schlimm genug für alte Leute, hungern,
zu müssen.
Die müssen nicht hungern, die bekommen allemal eher ihr Essen, als wir uns
selbst hinsetzen. Aber sie wollen Geld haben, und das haben wir nicht. Herr
Schwechting, es ist schwer, die zwölfhundert Mark zu verdienen, die uns jetzt
fehlen. Und seitdem sie uns das Boot in den Grund gefahren haben, verdienen
wir gar nichts mehr. Herr, dein Zorn liegt schwer auf uns. Aber die zweiund¬
vierzig Monate, die zweiundvierzig Monate sind bald um. . . .
Statt zu antworten öffnete Schwechting die Haustür, die in das Zimmer
führte, aus dem der Jammergesang heraustönte. Das Zimmer sah dunkel und
unordentlich aus, und es herrschte eine müssige Luft. Der alte Mann, ein alter
krummer Knorren mit einem kahlen Kopf und einem großen Mund ohne Zähne,
saß auf dem Bettrande, vermutlich auf dem Geldstrumpfe, und die alte Frau, die
schief und bucklig und schlecht angezogen war, störte im Ofen herum, der weder Glut
noch Asche hatte. Und dabei sangen sie ihre zittrige Trauermelodie. Als Schwechting
eingetreten war, kamen sie ihm entgegen wie ein paar neugierige Tierchen.
Nun seht mal, ihr alten Eulen, sagte Schwechting, der sich über sie belustigte,
was lamentiert ihr denn? Habt ihr denn so großen Hunger?
Flinsen! Flinsen! jammerten die beiden Alten.
Arte, so backe ihnen doch Flinsen.
Die essen sie nicht, sagte die Arte, sie essen nur, was sie selber gebacken haben.
Ach, sagte Schwechting scherzend, ihr denkt wohl, daß ihr vergiftet werdet?
Die Alten grinsten. Schwechting würde die Sache nicht zu einem Gegenstande
des Scherzes gemacht haben, wenn er gewußt hätte, daß es eine litauische Eigen¬
tümlichkeit ist oder war, alte Leute, die lästig wurden, mit Flinsen und Arsenik
ins bessere Jenseits zu befördern. Schwechting, der eben in guten Vermögens¬
verhältnissen war, gab der Arte ein Geldstück, damit sie dafür einlaufe, was die
Alten für ihre Flinsen brauchten. Von um an verstummten die Klagetöne einige
Tage, dann aber fingen sie wieder an, und wenn anzunehmen war, daß Schwechting
in der Nähe sei, oder wenn die Tür des Ateliers aufstand, erklang sogleich der
Notruf: „Wenn wir in höchsten Nöten sein." Und das dauerte so lange, bis es
einmal wieder Flinsengeld gab.
Schwechting stellte eine neue Leinwand auf die Staffelet und ging um sie
herum wie eine Katze, die nicht weiß, ob sie den heißen Brei berühren soll oder
nicht. Das dauerte so lange, bis er eines Tages sein Malgerät aufpackte und hinter
dem Kondrotschen Giebel aufstellte. Arte war leicht zu haben, und Baum, Haus und
Zubehör standen da wie arrangiert, und so machte er sich einigermaßen zaghaft an
die Arbeit. Als das Bild halb fertig war, sah es aus, als wollte etwas aus ihm
werden, je weiter es aber fortschritt, desto nüchterner wurde es, desto mehr ver¬
flüchtigte sich das, was Schwechting zeigen wollte: die Treue, die bis zum jüngsten
Tage wartet. Ein Detail, eine Hand oder eine Falte oder ein Schatten hielten ihn
fest, und darüber verfiel er ins Tifteln und Pinseln. Er fühlte es selbst, daß ihm
der lebendige Eindruck, den er bei der Erzählung der Arte Beit gehabt hatte, all-
mühlich verloren ging, und so stellte er sein Bild beiseite, ließ sich die Geschichte
noch einmal erzählen und schrieb sie nieder. Er wollte damit nur die ursprüngliche
Stimmung festhalte». Aber bald gewann seine Geschichte ein selbständiges Leben und
wuchs ihm über die schreibende Hand hinaus, und merkwürdig, diese Niederschrift
gewährte ihm eine größere Befriedigung als sein Bild, vor dem der greulichste
Küustlerkater immer weitern Besitz von ihm nahm.
Was ist das? fragte er eines Tages Staffelsteiger, der neben ihm stand und
tiefsinnig das Bild betrachtete. Er hoffte von ihm eine Bestätigung seiner Meinung
und Hoffnung zu vernehmen.
Ich weiß es nicht, sagte Staffelsteiger.
Schwechting wurde ärgerlich und erwiderte: Staffelsteiger, ich bitte Sie um
Gottes Jesu willen, stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.
Dies Bild ist stumm, sagte Staffelsteiger dumpf.
Natürlich, denn es ist kein Kanarienvogel und auch kein Phonograph. Wer
daß dies die Arte Beit ist, und daß sie ein Netz strickt und wartet, das könnte
doch wohl auch Ihr verfinstertes Gemüt fassen.
Nein, erwiderte Staffelsteiger, ich vernehme keine Töne, die die Seele in
Schwingungen versetzen. Es wallt nicht, es strebt nicht.
Na dann lassen Sie es doch zum Teufel selber einmal wallen und streben.
Andre kritisieren und selbst nichts tun, das kann jeder! Ich will Ihnen sagen,
was Sie sind. Faul sind Sie.
Staffelsteiger antwortete nicht, ließ auch nicht merken, daß die Worte auf ihn
tiefen Eindruck gemacht hatten, und fing an in feinem Winkel zu kramen. Dann
spannte er ein graues, grobes Papier auf eine Tafel und fing an zu arbeiten in
drei Tönen, in vollem Schwarz, vollem Weiß und einem Halbtone, den der Papier¬
grund abgeben mußte. Nach ein paar Tagen stellte er sein Bild neben das Bild
von Schwechting. Es stellte eine Megäre dar, die auf dem äußersten Gipfel eines
Berges saß. Mit ihren kralligen Händen, die so genial gezeichnet waren, daß
man nicht wußte, ob sie vier oder sechs Finger hatte, griff sie krampfhaft in den
Boden wie in Kartoffelbrei hinein. Die Augen standen weit aufgerissen vor dem
Kopfe, die nackte Brust trug nicht zu ihrer Verschönerung bei, die dürftigen Haare
flatterten als Stränge im Winde, und der Kopf war an seinem langen dürren
Halse so gewaltsam aus den Schultern gerückt, daß es aussah, als werde er an
einer unsichtbaren Schlinge vorwärts gezogen. Der Himmel war mit Reihen von
Wolken bedeckt, die die Form von weißen Schnecken mit weißen Schneckenhäusern
hatten.
Dieses Bild redet, sagte Staffelsteiger, als er es Schwechting zeigte.
Es brüllt sogar, antwortete Schwechting, aber in Tönen, daß ein Mensch,
der die Sprache nicht gewöhnt ist, Gehirnerweichung bekommt! Und das soll die
Arte Beit sein?
Die Kunst, sagte Staffelsteiger stolz, kennt keine Arte Beit, noch sonst einen
Titel und Namen. Glauben Sie mir, Schwechting, ich bin ein echter Maler. Ich
bin ein Prophet des innern Schauens. Ich hasse die unlautern Künste der
Anekdotenmaler, die die hehre Kunst mit fremdem Gewürz vergiften. Ich bete an
die Farbe, den bunten Schein der abgrundtiefen Wallung.
Und dabei vermurksen Sie Farbe und Leinwand und Ihre schöne Zeit und
malen Sachen, die Ihnen kein Mensch abkauft, und dann müssen Sie hungern.
Ich bin stolz auf meine Armut, sagte Staffelsteiger.
Aber dich von andern Leuten füttern zu lassen, dazu bist du nicht zu stolz.
Das Wort trat Schwechting auf die Zunge, aber er sprach es nicht aus.
Das war ja nun alles dummes Zeug, was da Stasfelsteiger von seiner ab¬
grundtiefen Wallung auftischte, und doch trat eine Frage, die er angeregt hatte,
und über die sich schon viele Leute — vor Lessing und nach Lessing — den Kopf
zerbrochen haben, störend in den Vordergrund, die Frage: Kann man alles malen?
soll man alles malen? Und wo ist die Grenze zwischen Poesie und Malerei?
Und ist das Bild, das die wartende Treue darstellt, ein malerisches oder ein
poetisches Thema? Schwechting konnte darüber nicht ins klare kommen. Pogge
sollte entscheiden, Pogge, der eben geschrieben hatte, daß er kommen werde. In¬
zwischen stellte er sein Bild beiseite und setzte sich wieder an sein Manuskript, ging
seine Geschichte nochmals durch und gab ihr einen andern, weniger herben Schluß.
Wenige Tage waren vergangen, da stand Pogge auf der Landungsbrücke, und
Burpel und Petereit hatten genug damit zu tun, sein Gepäck ans Land zu bringen.
Im Vorübergehn begrüßte er den Herrn Amtshauptmann, der am Herrentische
vorm Kurhause saß, und lud ihn ein, am Abend zur Villa Mopswende zu kommen.
Man müsse den Tag seiner Ankunft feiern, und er habe einen feinen Tropfen mit¬
gebracht. Groppoff sagte gnädig zu. Auf der Dorfstraße begegnete Pogge Tauenden,
die eben einen Krankenbesuch machte, und Tauenden übernahm den Auftrag, den
Doktor einzuladen. Es gebe eine Sitzung wie vorm Jahre, als er selbst, der
Doktor und der Prometheus angekommen waren. Tauenden entledigte sich ihres Auf¬
trags und redete dem Doktor dringlich zu. Er komme ja ganz herunter, er ver¬
kümmere ja an Leib und Seele, er müsse unter Menschen gehn und sich in seinen
Gedanken mit etwas anderm beschäftigen als mit seinen Sorgen. Christus habe
Recht, wenn er seinen Jüngern gebiete: Sorget nichts, denn solches tun die Heiden.
Durch diese Gründe ließ sich die Doktor überwinden, und er versprach der Ein¬
ladung zu folgen.
Unterdessen war Pogge in der Villa Mopswende eingetreten. Man war
gerade beim großen Reinemachen, und Schwechting und die Arte Beit arbeiteten
im Schweiße ihres Angesichts, während Staffelsteiger überall im Wege stand.
Kinder, rief Pogge, nehmt mirs nicht übel, daß ich euch überfalle, aber ich
habe es zuhause nicht länger ausgehalten. Ich habe meine Maljnngfern — glaubt
mir, es gab Szenen verzweifelten Schmerzes — zum Teufel geschickt und bin los¬
gegondelt.
Und deine Frau? fragte Schwechting.
Kommt nach, kommt nach, mein Sohn, erwiderte Pogge.
Man schüttelte sich die Hände und freute sich, daß „die ganze bucklige Freund¬
schaft" wieder „frisch, gesund und meschugge" beisammen war.
Und daß ihr reinmacht, sagte Pogge, ist ein Gedanke von Schillern. Heute
Abend veranstalten wir eine Festfeier wie damals, als wir Strunks Prometheus hier
hatten. Den Amtshauptmann und den Doktor habe ich auch schon eingeladen.
Hottsdonnerwetter, sagte Schwechting perplex, wenn das nur gut geht!
Pogge griff nun auch zu, das heißt, er packte seine Kisten aus und brachte
viel Stroh in den kaum gereinigten Raum. Und dann untersuchte er das Atelier
und drehte die Bilder um, die verdeckt an der Wand standen. Die Zeichnung
Staffelsteigers fiel ihm zuerst in die Hand. El verflucht! sagte er. Dann brachte
er das Bild ans Licht und betrachtete es aufmerksam, indem er es hin und her
wandte. Det is ja beinahe schon ja nich mehr wahr, bemerkte er erfreut. Hast
du das gelästert, Ranke?
Schwechting wies mit dem Daumen über die Achsel dahin, wo sich Staffel¬
steiger in einen Haufen von Plataeer vertieft hatte, die aus Pogges Kiste ausge¬
packt waren.
Nun nahm Pogge das Bild in die Hand, das Schwechting gemalt hatte,
betrachtete es und sagte Hin! und Ja!
Schwechting beobachtete Pogge mit Spannung. Da nun Pogge nichts sagte,
so fing Schwechting zögernd an: Ich habe da eine Sache gemalt, die ich dir erst
zeigen wollte, ehe ich sie fertig mache. Es ist die Arte Beit, wie sie —
Stille, erwiderte Pogge, nichts verraten! Diese beiden Bilder werden heute
Abend uf't Trapez gebracht.
Pogge, sagte Schwechting, verulkt mir mein Bild nicht. Ich habe es ernst
gemeint; ich weiß nur nicht, ob ich damit auf dem rechten Wege bin. Pogge,
fügte er nach einer Weile verschämt wie ein junges Mädchen hinzu, ich habe da
auch was aufgeschrieben — einen erklärenden Text für den Katalog. Ich weiß,
daß du das Kleingedruckte in den Katalogen nicht leiden kannst, aber hier ging
es nicht anders. Ich mußte es schreiben mit der Feder, weil ich fühlte, der Pinsel
reichte nicht aus. Was willst du? Beethoven hat in der neunten Sinfonie auch
das Wort zu Hilfe genommen, wo ihm der Ton nicht ausreichte. — Lies es einmal.
Damit steckte er Pogge sein Manuskript in die Hand, und Pogge begab sich damit
in sein Privatzimmer; er legte sich aufs Sofa und las.
Währenddessen räumte Schwechting das Atelier auf, und dann nahm er
Staffelsteiger die zehn Plakate aus der Hand, die dieser noch immer traumver¬
loren anstarrte. Es waren Plakate der verschiedensten Form und Ausführung.
Auf dem ersten stand: Schmücke dein Heim, auf dem zweiten: Huste nicht, auf
dem dritten: Koche mit Gas, auf dem vierten: Platte mit Dally, auf dem fünften:
Bcicke mit Otters Backpulver und so weiter. Schwechting freute sich über die
hübschen Bilder und die hübsche Idee und nagelte „die zehn Gebote" in schöner
Gruppierung an die Wand. (Fortsetzung folgt)
Bismarck erklärte bei einem gegebnen Anlaß die französische
Phrase: I/L>uMi8 ohl in^uvais oouensur, it dirs toujours 1^ eouvsiwrs äAxrss
im. An diesen Satz, der sich auch in der neuesten französisch-englischen Entente
von neuem bewährt hat, mag Herr Rouvier in diesen der Herstellung des Ein¬
verständnisses mit Deutschland gewidmeten Wochen oft gedacht haben. Frankreich
war doch tatsächlich in die von England aufgestellte marokkanische Falle gegangen
und hat sich nun bei Deutschland zu bedanken, wenn es jetzt mit Ehren und An¬
stand wieder herauskommt. Deutschland hat ihm zwar keine rSls xr6xonäöi-g,nes,
aber immerhin besondre Interessen an der algierischen Grenze zugestanden. Darüber
hinaus konnte Deutschland nicht gehn, wenn es nicht den Rechtsboden der Madrider
Konvention und die Rechte ans seinem eignen Vertrage mit Marokko preisgeben
wollte. Dieser deutsch-marokkanische Vertrag ist bis jetzt wenig zu Worte ge¬
kommen, er stellt immer uoch eine starke Reserve für die Zukunft dar. So ist
denn das marokkanische Gewölk, das eine Zeit lang ein recht drohendes Aussehen
gewonnen hatte, wieder zerstreut, und wir Deutschen könnten mit nicht geringer
Befriedigung uus dieses Erfolges unsrer Diplomatie und ihrer bei diesem Anlaß
bewiesnen Überlegenheit freuen, wenn nicht im allgemeinen bei uns das Bedürfnis
der Kritik weit größer wäre als das Anerkennungsbedürfnis. Bismarck schreibt
am 16. November 1870 aus Versailles an seine Gattin in bezug auf Delbrück,
dem er dabei ein besondres Postskript widmet: „Du weißt, daß meine Anerkennungs¬
fähigkeit nicht groß ist, aber dieser kommt mir durch." Bismarck ist gelegentlich
noch weiter gegangen als in diesem Postskript voll herzlicher Anerkennung und hat
offen ausgesprochen, daß er ohne Delbrück die Sache nicht zustande gebracht hätte.
Die ihm mangelnde „Anerkennungsfähigkeit" scheint in ihrer Mangelhaftigkeit ein
Stück Nationaleigenschaft der Deutschen zu sein. Bismarck hat erst wirkliche Herkules¬
arbeiten vollbringen müssen, bis er sich die Anerkennung wenigstens eines großen
Teils seiner Landsleute erworben hatte, aber erst bei und nach seinem Ausscheiden
aus dem Amte machte sich die Nation wirklich klar, was sie an ihm verlor.
Mit dieser mangelnden Anerkennungsfähigkeit der Deutschen wird sich auch
der jetzige Reichskanzler abfinden müssen. Er kann selbstverständlich Bismarcks
Taten nicht mehr vollbringen, aber an ernsten diplomatischen und innerpolitischen
Schwierigkeiten hat auch sein Amt ein vollgerüttelt und geschüttelt Maß inmitten
einer völlig veränderten Weltlage. Diese bringt es denn auch mit sich, daß während
für Bismarck die Ziele klar zutage lagen, und es sich wesentlich um die Auffindung
geeigneter Mittel und Wege sowie um die nicht leicht zu gewinnende Zustimmung,
des Königs für ihn handelte, das nunmehr geeinte Deutschland festen großen Zielen
einstweilen nicht nachgehn kann, sondern seine Aufmerksamkeit auf die Erhaltung des
mühevoll Gewonnenen und auf die Sicherung vor Überraschungen richten muß.
Dazu kommt, daß in allen internationalen Fragen und Beziehungen die politische
von der wirtschaftlichen Seite mehr und mehr untrennbar wird. Bismarck konnte
im Jahre 1887 Rußland gegenüber noch das Prinzip der Trennung der Politik
von der Wirtschaftspolitik geltend machen. Heute wäre das kaum noch möglich.
Für Amerika, für England, für Japan — um mir diese drei Mächte zu nennen —
gibt es im Grunde keine Trennung der wirtschaftlichen von den politischen Zielen,,
wenigstens nicht auf die Dauer; bei diesen Mächten steht die Politik ausgesprochen
im Dienste der Wirtschaftsinteressen. In Europa selbst ist es kaum anders: eine
Nation, die sich behaupten will, muß nicht nur militärisch, sondern auch wirt¬
schaftlich stark und in starker Position sein.
Wir sehen, daß Italien sein politisches Verhältnis zu Frankreich wesentlich
um wirtschaftlicher Vorteile willen geändert hat, und der marokkanische Streitfall
zwischen Deutschland und Marokko war eine Politische Differenz wegen wirtschaft¬
licher Ziele. Deutschland muß sich für alle diese Fragen eiuen weiten, vorschauenden
Blick bewahren, und ohne unsre starke Rüstung abzutun oder auch nur in einem
Punkte zu vernachlässigen, müssen wir emsig Ausguck halten, was die andern, auch
jenseits der Meere, tun und treiben. Wie sehr die andern ans uns aufpassen, ergibt
sich aus der Frage, die dieser Tage ein Mitglied des englischen Oberhauses an
die Regierung richtete, ob und was ihr darüber bekannt sei, daß die Hamburg-
Amerika-Linie Luxusfahrten auf dem Nil einzurichten beabsichtige und damit in den
ägyptischen und englischen Interessenkreis eindringe. Bekanntlich fährt der Bremer
Lloyd von Marseille nach Alexandrien, von Genua nach Neapel und nach Capri;
längs der Riviera ist der Schiffsdienst unter deutscher Flagge längst der beste und
mustergiltigste. Lernen wir diese kühne und ununterbrochne Pionierarbeit unsrer
großen Schiffahrtslinien dankbar würdigen. Wenn der Kaiser jüngst in Hamburg
während seines Verweilens bei Generaldirektor Ballin auf dem Hause der Hamburg-
Amerika-Linie seine Flagge hat nufziehu lassen, so war es der Dank für erfolgreiche
Vorarbeit und Mitarbeit, der damit ausgedrückt werden sollte. Vielen unsrer
Landratten will das noch nicht recht zu Hirn, aber schließlich werden sie einsehen,
daß anch die Landwirtschaft nur mit der Nation im Ganzen prosperieren oder
sinken kann. Nicht nur der liberale Doktrinarismus gibt recht häufig zu Bedenken
Anlaß, auch der konservative bleibt nicht der Lehre eingedenk, daß konservativ sein
nicht gleichbedeutend sein darf mit Einrosten.
Der liberale Doktrinarismus hatte es richtig wieder fertig gebracht, die Arbeit
der Sozialdemokratie zu verrichten, indem er sich ihren „Warnungen" an die Re¬
gierung anschloß, der dem Herrn Jaures von der Sozialdemokratie zugedachten
Gastrolle doch ja keine Hindernisse in den Weg zu legen! Der Reichskanzler aber
hat auch bei dieser Gelegenheit bekundet, daß ihm doch ein sehr viel weiterer Blick
eigen ist als unsern Durchschnittspolitikern im Parlament und in der Presse. Sein
Erlaß an den Botschafter in Paris in dieser Angelegenheit ist ein diplomatisches
Kabinettstück. Fürst Bülow sagt darin Herrn Jaures in verbindlichsten Formen,
aber doch zugleich in sehr bestimmter Weise, daß er doch eigentlich viel zu gut
dazu sei, dieser rein negierenden, doktrinären und rückständigen deutschen Sozial¬
demokratie als Folie zu dienen. Jaures hat das — wie aus seinen Kundgebungen
hervorgeht — ganz richtig verstanden und ist dem Reichskanzler sicherlich dankbar,
daß er ihn vor dieser Gastrolle — in einem Vorstadttheater bewahrt hat. Unsre
Sozialdemokraten können sich eigentlich nicht beklagen. Sie haben Peremptorisch
gefordert, daß nicht „irgendein Polizeipräsident," sondern der Reichskanzler unter
eigner Verantwortlichkeit das Verbot erlassen müsse, falls eine solche Ungeheuerlich¬
keit überhaupt möglich wäre. Fürst Bülow hat nicht versäumt, die Antwort zu
geben, indem er durch sofortige Veröffentlichung des Erlasses die von den Sozial¬
demokraten verlangte Verantwortung vor aller Welt übernahm und damit zugleich
dafür sorgte, daß das Verbot nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland
Geltung erhielt. Für Herrn Jaures aber wiegt das Aktenstück doch bedeutend
schwerer als aller Beifall, den er in der Berliner Hasenheide von einem Publikum,
das ihn nicht verstanden hätte, hätte einheimsen können.
Eine Angelegenheit, die großes aber unberechtigtes Aufsehen in weiten Kreisen
gemacht und zugleich die durch unsre gebildeten Stände gehenden sozialen Gegen¬
sätze in bedauerlichster Weise in den Vordergrund gezerrt hat, ist die des sogenannten
Zehn-Millivnenfonds. Sein geistiger Urheber, Fürst Donnersmarck, hat sich
darüber in öffentlicher Erklärung ausgelassen, die von den Blättern zum Teil mit
recht unreifen und unverständigen Bemerkungen aufgenommen worden ist. Es war
von vornherein anzunehmen, daß eine Persönlichkeit wie Fürst Donnersmarck, den
in jungen Jahren ein Augenleiden zum Militärdienst untauglich machte, am Abend
seines Lebens die Anregung zu dem Gedanken, einen Stipendienfonds für junge
Offiziere zu stiften, nicht aus sich selbst, sondern nur aus hohen militärischen Kreisen
empfangen haben konnte. Wer das langjährige und schließlich sehr enge Freund¬
schaftsverhältnis zwischen dem Fürsten und dem verstorbnen Generalfeldmarschall
Grafen Waldersee gekannt hat, durfte ohne weiteres zu der Folgerung gelangen,
daß der Gedanke von diesem ausgegangen war. Graf Waldersee hat in seinen
verschiednen Dienststellungen jederzeit einen tiefen Einblick in die Verhältnisse seiner
Offizierkorps bekundet; besonders als kommandierender General des neunten Armee¬
korps, der er eine Reihe von Jahren gewesen ist, war er über Einzelheiten und
Persönlichkeiten sehr genau unterrichtet. Ganz besonders hat der verewigte Feld¬
marschall nach seiner Rückkehr aus China die Frage des Offizierersatzes im Auge
behalten, und er hat sich im engern Kreise immer in dem Sinne ausgesprochen,
daß der Zugang zur Offizierslaufbahn den Söhnen der minder begüterten Familien
erleichtert werden müsse, aus denen die Offizierkorps früher ihren Ersatz bezogen.
Dies um so mehr, als bei den großen Fortschritten von Industrie und Technik die
bürgerlichen Berufe von Jahr zu Jahr mehr die befähigten und tüchtigen jungen
Leute an sich zögen, ihnen ein reichlicheres Auskommen bei geringerer Anstrengung
böten, als dies die Offizierslaufbahn mit ihrer strengen Disziplin und den unauf¬
hörlich wachsenden körperlichen und geistigen Anforderungen des durch die zweijährige
Dienstzeit so gesteigerten'Dienstes vermöchte. Die vielfachen Änderungen in den
Bekleidungsvorschriften waren infolgedessen nicht nach seinem Sinne. Bei der Ein¬
führung der hellgrauen Litewken mußte er sich für die Uniformen seiner verschiednen
Dienststellungen deren vier oder fünf anfertigen lassen, und er äußerte damals, daß
das ein für den armen Leutnant viel zu kostspieliges Kleidungsstück sei. Ihm waren
eben Fälle genug bekannt, in denen unbemittelte Eltern oder gar Witwen kümmerlich
darben mußten, um eine Zulage für den Sohn zu ermöglichen, oder arme Offiziere
bis zum Hauptmann ein Leben voller Entbehrung führten, um sich für die kranke
Mutter oder unversorgte Geschwister Ersparnisse aufzuerlegen. Die Zahl solcher
Fälle ist in der Armee viel größer, als im Publikum angenommen werden mag
oder bekannt wird, und in der Regel gehören solche Offiziere, von denen ihr Beruf
doppelte Charakterfestigkeit fordert, und die frühzeitig vollen Einblick in den Ernst
des Lebens haben, zu den tüchtigsten. Gewiß ist demgegenüber die Ansicht be¬
rechtigt, daß es Sache des Reichs sei, die Offiziere auskömmlich zu besolden. Aber
die Frage ist sehr schwierig zu lösen, einmal bei dem chronischen Defizit in den
Reichsfinanzen, sodann weil sich eine Gehaltsausbesserung, wenn sie endlich einmal
finanziell erreichbar sein sollte, nicht auf die Leutnants allein beschränken und
dadurch wieder schwieriger werden würde, schließlich weil eine durchgreifende Ge¬
haltsverbesserung in der Armee auf die Beamtengehalte des Reichs und der Einzel¬
staaten zurückwirkt. Kaiser Wilhelm der Erste Pflegte grundsätzlich niemals seine
Einwilligung zu Beamtenaufbesserungen zu geben, wenn eine solche nicht zugleich
für die Armee gesichert war.
Der Erklärung des Fürsten Donnersmarck zufolge sollten 10 Millionen Mark
aufgebracht und dem Kaiser zur Verfügung gestellt werden, um aus dem Zinsertrage
jüngern Offizieren bis zum Hauptmann, also Leutnants und Oberleutnants, eine jähr¬
liche Zulage von 600 Mark zu gewähren. Bei einem Zinsertrag von 400000 Mark
(zu 4 Prozent) würden mithin jährlich 600 bis 700 Offiziere einer solchen Zulage
teilhaftig geworden sein. Das deutsche Landheer hat etatsmnßig 15416 Leutnants
und Oberleutnants. Auf die Kavallerie kommen davon 1763, auf die Feldartillerie
2067, zusammen 3830. Zieht man diese beiden Waffengattungen ab, weil die
ihnen angehörenden Leutnants Wohl von Hause aus besser gestellt siud, so bleiben
für Infanterie, Fußartillerie, Pioniere, Verkehrstruppen usw. noch 11586 Leutnants
und Oberleutnants. Zieht man davon noch 1586 Offiziere ab, die solchen Regi¬
mentern angehören, die über eigne Fonds verfügen, so sind 10000 Offiziere vor¬
handen, von denen jährlich 600 bis 700 die Zulage aus dem geplanten Fonds
empfangen können! Es bedcirf keines weitern Nachweises, daß es sich bei dieser
kleinen Zahl nur um Fälle wirklicher dringender Not handeln kann, immerhin aber
wird damit den Söhnen unbemittelter Familien eine Erleichterung für den Eintritt
in die Offizierslaufbahn geschaffen. Besser wäre es freilich, man könnte den Fonds
verdoppeln, oder der Reichstag machte ihn unnötig.
Die seit dem Herbst in engern, auch höchsten militärischen Kreisen bekannte
Absicht ist nun, schon ehe sie durch bedauerliche Indiskretion an die Öffentlichkeit
gelangte, sehr verschieden beurteilt worden. Mehrere kommandierende und andre
Generale, auch inaktive, haben die Sache durchaus gebilligt und sich bereit erklärt,
mit Namensunterschrift in ein zu bildendes Komitee einzutreten. An andern Stellen
hat man — hoffentlich zu Unrecht — befürchtet, daß später die Gehaltsaufbesserung,
beim Reichstage darunter leiden könnte; eine andre Kategorie, besonders die ver¬
abschiedeten Offiziere, befürchten dasselbe für das Pensivnsgesch. Dazu kam die
Anschauung, das Offizierkorps dürfe nicht auf Wohltaten, nicht auf die Ergebnisse
einer Sammlung, sondern müsse auf gesetzlich auskömmliche Einkünfte angewiesen
sein; eine starke Unterströmung wandte sich dann noch besonders dagegen, daß das
Geld unter Mitwirkung der Börse und der Juden aufgebracht werden solle. Das
ist nur insofern richtig, als doch, sobald man zur Bildung eines Komitees schritt,
Vertreter der Finanz, des Handels und der Industrie uicht grundsätzlich ausgeschlossen
werden konnten. Die Auswahl der für diesen Zweck zu Vorbesprechungen einge-
ladnen Personen mag nun vielleicht nicht glücklich gewesen sein, am wenigsten
freilich konnten Einwendungen, die vom semitischen Standpunkt ausgingen, erwartet
werden. Auf der einen Seite der Antisemitismus, der aus Klassengegensatz von
einem unter Mitwirkung israelitischer Geber zustande gebrachten Fonds nichts an¬
nehmen will, auf der andern Seite der Semitismus, der — ebenfalls aus
Klassengegensatz — die Beteiligung ablehnt! Welche soziale Zerklüftung!
Die Behauptung, die hier und da auftaucht, daß durch solche Zulagen Un¬
gleichheiten im Offizierkorps hervorgerufen würden, ist absolut hinfällig. Gar
manche von den ältern Regimentern, die durch Zuwendungen ihrer Chefs oder
durch Vermächtnisse früherer Kameraden in den Besitz von Fonds gelangt sind,
die zum Teil nicht unbedeutend sind, geben aus diesen Mitteln Zulagen; so empfing
z. B. ein zur Zentralturnanstalt kommcmdierter Offizier von seinem Regiment
monatlich neunzig Mark Zulage. Auch aus Familienstiftungen werden solche gewährt.
Es ist nie bekannt geworden, daß daraus Ungleichheiten im Offizierkorps entstanden
wären, oder den Zulageempfängern damit ein Makel angeheftet worden sei. Wird
denn bei den Studenten ein Unterschied gemacht, ob sie aus der Tasche ihres
Vaters, oder ob sie aus einem Stipendienfonds leben, der vielleicht gar von einem
israelitischen Stifter herstammt? Dasselbe gilt von wissenschaftlichen Forschern,,
namentlich Forschungsreisenden, die sich bisher wohl noch niemals den Kopf darüber
zerbrochen haben, von welchen Gebern die Fonds etwa stammen, ans denen ihre
Reisen bestritten werden. In der österreichischen Armee hatte der verstorbne Erz¬
herzog Albrecht bei Lebzeiten die Rolle eines Wohltäters des Offizierkorps; er
sorgte durch ein großes Vermächtnis dafür, daß seine edelmütige Tätigkeit nach
seinem Tode fortgesetzt werden konnte.
Eine nationalliberale Parteikorrespondenz hat nun mit großer Emphase den
Reichskanzler vor ihre Schranken gefordert und von ihm Rechenschaft, sofort und
noch vor Zusammentritt des Reichstags, verlangt, wie er sich zu „dieser unglaub¬
lichen Sache" stelle. Wir glauben nicht, daß der Rein,^ Kanzler die Notwendigkeit
anerkennen wird, jeder publizistischen Anrempelei .-,,ne weiteres Folge zu leisten,,
aber sicherlich denkt Fürst Bülow genau wie s "irst Bismarck, daß der Reichskanzler
gar nicht genug Geld für die Armee lctommen kann. Von diesem Standpunkt
aus würde darum auch Fürst BM,o schwerlich zur Ablehnung raten, wenn von
privater Seite dem Kaiser eine Stiftung für Armeezwecke zur Verfügung ge¬
stellt würde. Die Hair,'urger Nachrichten — oder Harders Zukunft — haben die
Meinung ausgesprochen, Bismarck würde seinem Freunde, dem Fürsten Donners-
marck, geraten haben, die Hand von der Sache zu lassen. Wir glauben, daß
Vismarck als Reichskanzler empfohlen haben würde, den Fonds womöglich zu
Der Haß im allgemeinen
und der Konfessionshaß im besondern macht blind, darum hat, wer in dieser kon¬
fessionell aufgeregten Zeit als Friedensstifter waltet, bald hüben bald drüben Star-
vperationen vorzunehmen. In Ur. 23 der „Wartburg" beschwert sich der Heraus¬
geber darüber, daß eine Anzahl Schriften seines Verlags in Preußen auf das
Verzeichnis der Bücher gesetzt worden seien, die in sittlicher oder religiöser Be¬
ziehung Ärgernis zu erregen geeignet sind und darum nicht auf dem Wege der
Kolportage vertrieben werden dürfen. Es sind, wie man aus den angeführten
Titeln ersieht, Flugschriften zur Förderung der Los von Rom-Bewegung, zum Teil
von bekannten in Osterreich tätigen „Evangelisatoren." Der Titel der ersten lautet:
Die neueste katholische Bewegung zur Befreiung vom Papsttum. Das Papsttum ist
eine Einrichtung der katholischen Kirche, und eine von Evangelischen geleitete Be¬
wegung zur Befreiung vom Papsttum heißt auf deutsch Proselytenmacherei unter
den Katholiken. Wenn Schriften zu solchem Zweck in katholischen Häusern feil¬
geboten werden, so erregt das bei der bekannten Stimmung der Katholiken im
Deutschen Reich Erbitterung gegen die Evangelischen — an Bekehrung ist gar nicht
zu denken; evangelische Käufer aber, die bis dahin harmlose Bürger, Bauern oder
Arbeiter waren, werden durch solche Schriften ganz unnötiger- und zweckloserweise in
das schädliche Konfessionsgezänk hineingesetzt. Man kann der Ansicht sein, daß Bücher¬
zensur und Kolportageverbote unterbleiben sollten, weil die Freiheit die Übel, die sie
erzeugt, selbst am besten heilt; aber solange die Einrichtung besteht, werden Schriften
der bezeichneten Art mit Recht von ihr getroffen; wir setzen voraus, daß frieden¬
störende katholische Flugschriften und populäre Bücher nicht anders behandelt werden.
Nun zur andern Seite! Der Dürrsche Verlag in Leipzig gibt eine „Deutsche
Bibliothek" für Lehrerseminare heraus, die auch in katholischen Seminaren benutzt
wird. Die Schlesische Volkszeitung gesteht dem Werke zu, daß es manche Vorzüge
habe, nennt es aber taktlos, daß in den Band: „Deutsche Dichter und Prosaisten
von Luther bis Lessing" auch Luthers Schrift: „An den christlichen Adel deutscher
Nation von des christlichen Standes Besserung" und „das wüste Tendenzgedicht"
von Sachs: „Die Wittenbergische Nachtigall" aufgenommen worden seien. Luthers
Mahnruf an den christlichen dentschen Adel gehört in der Tat, wie der Verleger
sagt, zum Schönsten und Vollendetsten von allem, was Luther geschrieben hat, und
von Hans Sachsens berühmtem Gedicht schreibt der milde, religiöse und sittlich
ernste Otto von Leixner, es leuchte aus ihm „in untrüglichen Zügen warme und
echte Überzeugung hervor." In beiden Literaturdenkmälern werden allerdings die
unerträglichen Zustände des damaligen Kirchenwesens geschildert, aber diese muß
unser Lehrerstand, anch der katholische, kennen lernen, damit er die Notwendigkeit
der Reformation, die sich ja auch auf den der alten Kirche treu gebliebner Teil
erstreckt hat, begreifen lerne. Dahin müssen wir die Katholiken bringen, daß sie
die Reformation als ein weltgeschichtlich unvermeidliches Ereignis und die Evan¬
gelischen nicht mehr als Abgefallne, sondern als Christen einer andern, der katho¬
lischen religiös gleichberechtigten Konfession ansehen lernen; nur unter dieser Be¬
dingung kann ihnen die volle bürgerliche Gleichberechtigung eingeräumt werden, und
nur auf dieser Grundlage ist der konfessionelle Friede möglich.
Dem Verleger Eugen Diederichs (in
Jena und Leipzig) geht es nahe, daß die Bildungsfrönerei die Deutschen dahin
gebracht hat, nicht mehr die großen Persönlichkeiten der Vergangenheit selbst auf
sich wirken zu lassen, sondern bloß noch Bücher über sie zu lesen. Um die Wirkung
aufs neue herzustellen, gibt er unter dem Gesamttitel „Erziehung zu deutscher
Bildung" nette kleine Bändchen heraus, deren jedes Beiträge zur Charakteristik
eines literarischen Großgeistes und eine Blütenlese aus seinen Schriften samt Porträt
enthält. Drei davon sind uns zugegangen: Herder, Fichte und Friedrich Schlegel.
Herderu hat Friedrich von der Leyen bearbeitet. Wir führen aus dem „Denkmal
Johann Winkelmanns" zwei Gedanken an, die in den letzten Jahren unzähligemal
variiert worden sind, weil die Leser wahrscheinlich ebensowenig wie der Referent
bisher gewußt haben, daß sie schon Herder ausgesprochen hat; und vielleicht ist
auch dieser nicht der erste gewesen. „Der arme Winkelmann muß als Korrektor
in Seehausen und als Exzerptor zur Bünauischen Reichsgeschichte sich Stunden er¬
arbeiten und erflehten, damit er andern einst Augen gebe, Schätze zu genießen, die
er selbst nicht besaß, und für welche jene nur die Aufkäufer und Geldverschwender
werden konnten. Aber so ists in Deutschland lange gewesen und wird vielleicht
«och lange, weder zum Ruhm noch zum Vorteil der Nation, so bleiben. Denn
woher kommts, daß das Sprichwort: Sie vos non voois! von jeher der Deutschen
Schicksal gewesen? woher kommts, daß sie immer die besten Erfindungen gemacht
und nicht genutzt haben und am Ende nur immer die Stiege, der Fußtritt gewesen
sind, auf die eine andre Nation mit leichter Mühe steigt, um sich darauf mit
schwerem Anstande zu brüsten?" Der zweite Ausspruch bezieht sich auf den Streit
zwischen Künstlern und Kritikern oder Kunstschriftstellern, der ja erst jüngst wieder
einmal getobt hat. Gewisse Künstler, die Winkelmann angreifen, „sagen nichts mehr,
als der Koch soll nur für Köche kochen, der Dichter nur für Dichter dichten, der
Straßenfeger nur für Straßenfeger fegen; sonst, wehe dem Gaumen, der eine Speise
schmeckt, sie lobt oder tadelt und nicht selbst Koch ist! usw." — Fichte, nicht der
MetaPhysiker, sondern der Ethiker und Patriot Fichte, ist eine der besten Mediziner
für Magen, die moderne Kost verdorben hat. Max Rieß hat seine Sammlung
von Kraftstellen und Dokumenten „Ein Evangelium der Freiheit" betitelt. Wir
empfehlen der Beherzigung die „bittern Erfahrungen eines idealistischen Professors
mit den Studenten" (S. 30). Rieß hätte noch den Ausspruch Fichtes über die
akademische Freiheit aufnehmen sollen, den dieser Tage die Kölnische Volkszeitung
(aus den vor gerade hundert Jahren gehaltnen Vorlesungen über das Wesen des
Gelehrten) abgedruckt hat. Dem guten Fichte würden wohl auch heute die Fenster
eingeworfen werden. — Der geniale Liederjan Schlegel hat es nach seinem
Bearbeiter von der Leyen oft nur zu Aphorismen oder, wie man damals sagte,
Fragmenten gebracht, weil er zur Ausführung zu faul war. Der von ihm grund-
verschiedne Nietzsche ist aus ganz andern Ursachen Aphoristiker geworden, aber bei
aller Verschiedenheit beschränkt sich die Ähnlichkeit beider doch nicht auf die Vor¬
liebe für die aphoristische Form. Eine nicht ganz angenehme Überraschung wird
den Anbetern Nietzsches folgende Stelle aus Lehens Einführung bereiten. „Wir
wissen, daß Erwin Rohde und Nietzsche, aus Zufall gleichzeitig, sich in romantische
Werke vertieften. . . . Friedrich Schlegel hat zuerst die Worte »apollinisch« und
»dionysisch« geprägt und vielleicht auch das ungeheure Problem, das sich in ihnen
verbirgt, geahnt; Friedrich Schlegel schon sagte gelegentlich, daß die Griechen sich
ihres übergroßen Reichtums an Genialität nicht hätten erwehren können; derselbe
Friedrich Schlegel betonte bereits, man dürfe die griechische Philosophie nicht mit
Thales wie aus dem Nichts entstehn lassen, sondern müsse die Anfänge der Philo¬
sophie in der Religion und in den religiösen Kulten wie in denen der Orphiker
suchen. Friedrich Schlegel hat von der »fröhlichen Wissenschaft« gesprochen und
seine Zeit als Zeit der »Morgenröte« gepriesen; Nietzsche nannte seinen Zarathustra
ein Buch für alle und keinen, und Friedrich Schlegel sagte, ein rechter Autor müsse
für niemanden schreiben. Der Zarathustra kündete den Übermenschen, und Schlegel
schrieb, es sei der Menschheit eigen, daß sie sich über die Menschheit erheben müsse."
Von Schlegels kleinen, epigrammatischen Aphorismen wollen wir zwei Proben vor¬
legen. „Das erste in der Liebe ist der Sinn füreinander, und das Höchste der
Glaube aneinander." „Jeder Begriff von Gott ist leeres Geschwätz. Aber die
Idee der Gottheit ist die Idee aller Ideen."
en modernen Menschen ist der Begriff Fremdenlegion kaum noch
geläufig. Die einzigen Staaten, die davon noch etwas in ihren
Armeen übrig behalten haben, wenn man das Wort in seiner
engern Fassung nimmt, sind die Franzosen und die Holländer.
Aber auch in den Heeren dieser Völker sind die Regimenter, die
auf den alten Stamm gesetzt sind, jetzt schon so nationalisiert, daß sie kaum
noch den Namen von Fremdenlegionen verdienen. Besonders muß das von
den Truppen gesagt werden, die im holländischen Ostindien den Kolonialdienst
versehen.
Die Regimenter, die von der niederländischen Regierung in Dienst gehalten
werden, um ihre Herrschaft auf der Insel Sumatra zu behaupten, bestehn zu
zwei Dritteln aus Nationalholläudern und Eingebornen der Inseln, während
den Rest Deutsche stellen, die aus Rheinland. Westfalen und Hannover zu¬
fließen. Kann schon aus diesem Grunde das letzte Drittel kaum als fremd¬
ländisch bezeichnet werden, so kommt noch hinzu, daß es hauptsächlich die
Grenzdistrikte der genannten Provinzen sind, die den Niederlanden den ge¬
wünschten Bedarf liefern. Meist sind es auch Leute, die schon in preußischen
Kavallerieregimentern gedient haben, und denen die Aussicht auf guten Sold
und eine hohe Pension die Kapitulation im Heere des Nachbarstaats nahelegen.
Noch etwas andres darf man hierbei nicht außer acht lassen.
Von früher her ist man vielfach noch der Meinung, daß es der großen
Mehrzahl nach sogenannte entgleiste Existenzen seien, die den Dienst in der
holländischen Kolonialarmee suchen. Das ist keineswegs der Fall und stimmt
ebensowenig für die nationalhollündischen Soldaten wie für die, die von
außenher zugezogen sind. Daß allerdings aus guten bürgerlichen Stellungen
keine Kapitulanten zugelaufen kommen, ist selbstverständlich, aber andrerseits
liegt es auch auf der Hand, daß mit dem Abhub der Bevölkerungen der nieder¬
ländischen Armeeverwaltung keineswegs gedient wäre. Mag immerhin hier
und da ein Verlorner Sohn mit unterlaufen, dem der Boden der Heimat zu
heiß wurde, so vermag doch seine Erscheinung den Truppen, in die er tritt,
auch nicht entfernt den Charakter aufzudrücken. Im Gegenteil, im Laufe der
Jahre hat schon mancher Gescheiterte in dem festen militärischen Verbände den
Halt wiedergefunden, den er ans dem schwankenden Boden des bürgerlichen
Lebens verloren hatte. Auch mag das noch gesagt werden, daß viele Leute
mehr als einmal kapitulieren, und daß nicht wenige mit Leib und Seele in
diesem auswärtigen Dienste aufgehn.
Alle diese Verhältnisse nehmen der niederländischen Kolonialtruppe in
Form und Wesen das Kennzeichen des Fremdländischen und Internationalen
und prägen ihr dafür das des Inländischen und nationalen auf. Einen
ähnlichen oder denselben Gang hat die Entwicklung des Heerwesens in Frank¬
reich genommen. Auch hier ist die löZion 6trg,nK«zr6 mehr und mehr ihres
fremdländischen Charakters entkleidet worden und steht nach den mannigfachsten
Wandlungen auf nationalem Boden. Es ist das für den, der den Umschwung
im Leben der Völker Europas seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts
überhaupt ins Auge faßt, eine ganz natürliche Erscheinung. Denn in dem¬
selben Maße, wie mit den Wirkungen der französischen Revolution die
dynastischen Interessen in der Politik zurück und die nationalen in dem Vorder¬
grund traten, änderten sich auch die militärischen Einrichtungen, deren die Staaten
zu ihrer Sicherheit bedürfen.
Nach seiner Erhebung in den Jahren 1809 bis 1815 hat Preußen zuerst
das Beispiel gegeben, und diesem sind nach und nach die übrigen europäischen
Staaten gefolgt. Nur England macht davon eine Ausnahme, denn es fußt
mit seinem Rekrutierungsverfahren noch auf denselben Grundsätzen, die vor
mehr als zweihundert Jahren für die Aufstellung seiner Wehrkraft galten.
Die Folge davon ist, daß denn auch, wenn man den Ausdruck Fremdenlegion
im weitesten Sinne nimmt, Großbritannien das einzige eigentliche europäische
Land ist, wo der Heerkörper aus Fremdenlegionen besteht, nicht in dem Sinne,
den man früher mit dem Worte verband, sondern in der weiter gefaßten Be¬
deutung, daß die militärischen Einheiten eines Volkes als fremd bezeichnet
werden dürfen, die uicht nach organischem Gesetz aus der Gesamtheit der
Nation hervorwachsen, sondern durch das mechanische Mittel der Anwerbung
aufgestellt werden.
Dabei verschlüge es nichts, daß sich das englische Rekrutierungsverfahren
für den eigentlichen Kern der Armee auf dem Boden und innerhalb der
Grenzen der Nation hält, sondern darauf kommt es an, daß der britische
Soldat nicht durch dasselbe nationale Recht und dieselbe nationale Pflicht,
sondern nur durch den Sold an die Fahne gefesselt wird. Die Angehörigen
des englischen Heeres auf den untern Stufen find nichts andres als die
Lohnempfänger der herrschenden Klassen und stehn zum Staatsganzen in
einem ähnlichen Verhältnis, wie vor der servianischen Verfassung die Plebejer
in Rom zur Vollbürgerschaft der Patrizier. Man kann noch weiter gehn und
sagen, daß die englischen Regimenter dasselbe sind wie alle Söldnerscharen,
die jemals in Dienst gehalten wurden, wie zum Beispiel die Miettruppen,
die der karthagische Staat zum Schutz seiner Kolonien verwandte.
Den Engländern klang es in neuester Zeit schmeichelhaft in den Ohren,
als man die Ausdehnung ihrer Herrschaft mit der xrvxg.Ag.die> des Imperium,
Romimum verglich. Aber sie sollten auf diese Vergleichung nicht zu sehr
pochen: eine in allen Teilen durchgeführte Parallele könnte zu einem Ergebnis
führen, das ihrem nationalen Selbstgefühl einen argen Stoß versetzen müßte.
Im besondern aber müßten sie sich, wenn sie anders ihren altbritischen Stolz
weiter pflegen wollen, vor der Provokation einer Vergleichung hüten, die ihr
Heerwesen denen der antiken Staaten gegenüberstellte. Allein deshalb schon,
weil die ganze Geschichte des Altertums lehrt, daß da, wo der Staat auf
nationaler Bewaffnung beruht, Gedeihen und Wohlfahrt herrscht, daß aber
mit der Einführung des Söldnerwesens der Niedergang verknüpft ist.
In den griechischen Staaten war das oberste Prinzip aller Verfassungen
die Verpflichtung zum nationalen Heeresdienst. Nirgends war die Einführung
des Jünglings in seinen Verband weihevoller als in Athen, denn der Eid,
womit sich der junge Athener zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtete,
rief alle Gottheiten zu Zeugen auf, die der Staat als die heiligsten verehrte.
So lange dieser Grundsatz der solonischen Gesetzgebung in den Gemütern
lebendig blieb, war das Gemeinwesen der Athener in aufsteigender Bewegung.
Die großen Siege zu Wasser und zu Lande, die sie in den Perserkriegen
davontrugen, wurden nur durch den aufopferungsvollen Mut der Bürgerschaft
selbst gewonnen. In den letzten Jahren des Peloponnesischen Krieges konnte
es geschehen, daß sich die Bürger, die auf der Flotte dienten, auf der Insel
Samos als Staat konstituierten und die demokratische Verfassung gegen die
Umtriebe der Oligarchie retteten. Hierher gehört noch, daß im Jahre 404
Thrasybulos an der Spitze von siebenhundert Bürgersoldaten den dreißig
Tyrannen die usurpierte Gewaltherrschaft entreißen konnte. Nach der Wieder¬
herstellung ihrer Demokratie haben die Athener, wie es natürlich war, viele
Anstrengungen gemacht, ihre Unabhängigkeit, auch den frühern Machtumfang
wieder zu gewinnen, aber die Mittel, die sie dazu verwandten, waren überall
unzulänglich. Besonders trat die Schwäche ihres Willens darin hervor, daß
sie die Aufgaben des Staates, wo doch der persönliche Heeresdienst nötig war,
mit Söldnern bewältigen wollten. Das war eine Schlaffheit in der Auf¬
fassung ihrer nationalen Pflichten, die sich später mit der Unterwerfung unter
die Herrschaft der Makedonier schwer genug gerächt hat.
Länger als bei den Athenern hat sich der kriegerische Geist im Volke der
Spartaner erhalten. Und das war natürlich, denn noch mehr als in irgend¬
einem andern griechischen Gemeinwesen war der Staat des Lykurgos auf die
militärische Tüchtigkeit seiner Angehörigen gegründet. Die berühmte Gesetz¬
gebung dieses Königs wuchs unmittelbar aus der Notwendigkeit hervor, die
Herrschaft der Spartiaten vor der durch die Heloten drohenden Umsturzgesahr
zu schützen. So wurde die spartanische Disziplin die lebendige Illustration
zu dem Satze, daß Herrschaften mit den Mitteln erhalten werden, wodurch sie
gewonnen wurden. Mit einer Konsequenz, die sogar zur Erstarrung führte,
hat der lakedämonische Staat hieran festgehalten. Die Spartaner konnten es
nicht einsehen, daß das Prinzip beweglich war, und daß es auf dem Meere
so gut galt wie auf dem Festlande. Hier aber wurde es in dem Maße Ge¬
wöhnung, daß es das Leben der Bürger Spartas bedeutete und sogar ihre
Unabhängigkeit überdauerte. Spartaner wurden in den trüben Zeiten des
nationalen Verfalls Reisläufer in den Kriegen der ans Mittelmeer stoßenden
Großmächte.
Kein Volk des Altertums hat den Beweis, daß die Kraft der Staaten
auf der Verschmelzung des Bürgers mit dem Soldaten beruht, so schlagend
geführt wie das römische. Positiv dadurch, daß auf dieser innigen Vereinigung
die xroxg,Ag,tlo des iinxsrwin Köln^nun beruhte, und mit keinem andern
Mittel soweit Hütte durchgeführt werden können, und negativ durch den end¬
lichen Zusammenbruch seines Weltreichs. Als es in den spätern Zeiten der
Kaiser nicht mehr möglich war, die Reihen der Legionen mit Bürgersoldaten
auszufüllen, sahen sie sich gezwungen, zur Werbung ihre Zuflucht zu nehmen
und die Söldner aufzugreifen, wo man sie nur haben konnte. Die germanischen
Söldner in den Heeren der Römer haben schließlich die feste Fügung des
Staates von innen heraus gesprengt.
Wenn von altrömischen Heereseinrichtungen die Rede ist, so kann das
Thema nicht angeschlagen werden, ohne daß auch ihr Gegensatz gestreift wird.
Als Rom und Karthago nach längerm Zaudern an einem der Punkte, wo sich
beider Machtkreise berührten, feindlich aufeinander stießen, da waren die Mittel,
womit sie in den Kampf eintraten, von Grund aus verschieden. Hier das
Landheer und die nationale Zusammensetzung, dort die Flotte und das Söldner¬
wesen. Wenn auf keiner Seite hierin eine Änderung getroffen wurde, dann
mochte eine Entscheidung überhaupt unmöglich sein. Das mußte über kurz
oder lang die Parteien auf den Gedanken bringen, daß die Besiegung des
Gegners nur dann möglich war, wenn man ihn auf seinem eigensten Gebiete
mit den ihm eigentümlichen Mitteln angriff. Man weiß, daß die Römer
zuerst damit vorgingen, und daß die Karthager erst später ihrem Beispiele
folgten. Aber nicht in dem Vorsprunge, den jene voraus hatten, lag die
Gewähr ihres Sieges, sondern darin, daß sie ihre ganze nationale Stoß- und
Wehrkraft einfach aufs Meer zu verlegen brauchten. Umgekehrt konnten die
Karthager dies nicht tun, oder sie hätten die Grundlage ihrer bisherigen
Heereseinrichtungen ändern müssen, und das war nicht möglich. Daher kam
es, daß nur geniale Heerführer das mangelnde volkstümliche Bindemittel zu
ersetzen vermochten. Das haben diese, der Vater Hamilkar und der Sohn
Hannibal, eine lange Reihe von Jahren mit beispiellosem Erfolge getan, aber
es blieb doch nicht zweifelhaft, wohin schließlich der Sieg fallen mußte. Die
Römer haben gesiegt, weil sie die Herrschaft des Meeres in Händen hatten,
aber dann auch, weil sie zu Lande ihre Schlachten mit Bürgerheeren schlugen.
Die Römer waren die Vermittler zwischen der alten und der neuen Zeit,
aber in dieser Zwischenstellung haben sie von ihrer Kultur den Barbaren des
Westens von Europa kaum etwas andres als die Idee überliefert. Ihre
religiösen Kulte hatte das Christentum verschlungen, und ihre staatlichen und
militärischen Einrichtungen waren unter den: Gewaltschritt der Germanen zer¬
malmt worden. Jedoch auch diese hatten, wo sie seßhaft geblieben waren,
unter der Verwüstung der Völkerwanderung und der spätern Kriege, die im
Namen der Christianisierung geführt wurden, alles verloren, was sie an ent¬
wicklungsfähigen Ansätzen im Staats- und im Heerwesen gehabt hatten. Von
der Wehrverfassung der Suchen und später der Goten ist zur Weiterentwicklung
nichts auf eine kommende Zeit übertragen worden.
Nach Jahrhunderten der Zerstörung mußten die Völker des Westens ganz
von neuem anfangen, als wenn niemals eine nachahmenswerte Ordnung ge¬
wesen wäre, selbst die Wege suchen, sich das Leben aufzubauen. Mit dem
endgiltigen Siege der Franken über den europäischen Westen, der in gewissem
Sinne im Jahre 1066 mit der Schlacht von Hastings seinen Abschluß fand,
wurde das Feudalwesen maßgebend für die Heereseinrichtungen. Mit der
Vorherrschaft des Adels im Staate und der Geistlichkeit auf dem religiösen
Gebiete trat mich bei der Aufstellung der Wehrkraft die Volksbewaffnung
zurück, und die Ritterheere entschieden auf den Schlachtfeldern. Die Massen
in ihnen kämpften nicht ans eignem Recht und eigner Pflicht, sondern im
Dienst und zur Ehre der Herren. So waren sie nicht von größerm Gewicht
und hatten nicht mehr Bedeutung als die Scharen, die die Könige Odysseus
und Diomedes, Ajax und Teuker vor die Mauern von Troja führten. Die
aufrührerische Rede des Thersites in diesem Griechenheere hat denselben Inhalt
wie die zwölf Artikel, die am Ausgang des Mittelalters die deutschen Bauern
ihren hellen Haufen vorantrugen.
Aus der beschränkten Auffassung, die das Mittelalter von Leben und
Staat hatte, hat sich die moderne Zeit nur langsam, aber in scharfen Zügen
emporgerungen. Die Erfindung des Schießpulvers räumte mit dem Glanz
der Nitterheere auf, wie die Buchdruckerkunst den von den bevorrechtigten
Ständen ausgehenden geistigen Druck brach. Die kriegerische Bedeutung, die
bis dahin in den stahlgepanzerten glänzenden Scharen des Adels gelegen
hatte, ging auf die Schlachthaufen der Landsknechte über, die gegen Sold und
uuter selbstgewählten Führern dem dienten, der sie am besten bezahlte. Von
diesen bildeten die Schweizer, als Reisläufer bekannt, und die deutschen Lands¬
knechte den Hauptbestandteil, wie sie denn auch die gesuchtesten Truppen
waren. In vielen mörderischen Schlachten ging von ihrer Tapferkeit die
Entscheidung aus, große Feldherren haben von ihrer Führung den glänzenden
Namen.
Die Heere, die unter dem Befehl des Grafen von Armagnac und des
Connetable von Bourbon, Schürtlins von Burtenbach und Georgs von Frunds-
berg standen, waren die Versuche zu den spätern stehenden Heeren. Diese
grundstürzende Ordnung wurde in Frankreich schon bei der Beendigung des
englisch-französischen Krieges eingeführt, als die Entlassung der zahlreichen
Söldnerscharen Schwierigkeiten machte. Das war ein mächtiger Hebel in der
Hand der Könige von Frankreich, zum Besten des Landes ihren Willen gegen
die großen Vasallen durchzusetzen. Umgekehrt wie in England wurde hier
also die neue Einrichtung das stärkste Mittel zu nationaler Einigung. Auch
nach außen hin erhielt Frankreich damit einen ungeheuern Vorsprung. Seine
Könige hätten in den folgenden Jahrhunderten nicht die Rolle spielen können,
die sie gespielt haben, wenn ihnen das Mittel nicht zu Gebote gestanden hätte.
Als ungefähr vierzig Jahre später unter Ferdinand und Jsabella der
erste Schritt zur Vereinigung Spaniens getan wurde, da wurde diese nationale
Verschmelzung hauptsächlich durch die Errichtung eines stehenden Heeres ge¬
sichert. Nur im deutschen Reiche konnte man den Weg zur Einheit nicht
finden, weil die führende Macht es dauernd versäumte, die Ansprüche, die sie
nach innen und außen hin machte, mit dem Gewicht einer jeden Augenblick
zu Gebote stehenden Waffenbereitschaft zu unterstützen. Kzlix ^.ustria,
nubs. Heirath- und andre Staatsverträge mochten im Interesse der Habs¬
burgischen Dynastie von Bedeutung sein, aber zur Stärkung und Konsolidierung
des Reiches trugen sie nicht nur nichts bei, sondern hatten eher die entgegen¬
gesetzte Wirkung.
In Deutschland und Italien blieb deshalb das Söldnerwesen nach wie
vor im Schwange, und was noch während des Dreißigjährigen Krieges an
Truppen eigentlich nationalen Charakters innerhalb der deutschen Grenzen
auftrat, waren französische und schwedische Regimenter. Es wurden wohl hier
und da Ansätze zu staatlicher Wehrkraft gemacht, aber sie verschwanden neben
den starken Armeen, die die Werbetrommeln der großen Feldherren unter ihre
Fahnen riefen. Erst gegen das Ende des furchtbaren Krieges stellte der
brandenbnrgisch-preußische Staat unter Führung des Großen Kurfürsten das
nationale Prinzip in der Wehrhaftmachung seines Volkes auf, das Preußen
und Deutschland zu ihrer jetzigen Größe emporgetragen hat. In großen
Wandlungen mit steigender Tendenz hat sich der Grundsatz zu seinem augen¬
blicklichen Stande entwickelt und hat vermutlich noch weitere Evolutionen
vor sich.
Welcher Art diese sein mögen, kann füglich dahingestellt bleiben, aber
was sich gerade bei der Entwicklung des preußischen Staatswesens jedem
denkenden Menschen aufdrängt, das ist die Bemerkung, daß auch die Geschichte
der modernen Völker dasselbe lehrt, was im vorhergehenden von der des Alter¬
tums gesagt worden ist. Gegen die nationale Wehrverfaffung treten alle andern
Staatseinrichtungen, wie vortrefflich sie an und für sich auch sein mögen,
zurück. Die Wehrkraft eines Volkes, die von diesem selbst mit seinen Knochen
und mit seinem Blute geleistet wird, ist der sicherste Wertmesser für seine
Lebenskraft. Läßt eine Nation die notwendigen Geschäfte des Krieges von
gewordnen Truppen oder durch Söldnerscharen besorgen, so steckt sie ent¬
weder noch in den ersten Stadien ihrer Entwicklung, oder sie ist aus seniler
Übermüdung wieder im Niedergange begriffen.
Es ist eine Wahrheit, die uns besonders in der deutschen Geschichte greif¬
bar entgegentritt. Als Friedrich der Große unter dem bewaffneten Protest
von Kaiser und Reich die Geschicke Deutschlands einer bessern Zukunft ent-
gegenftthrte, da bestand der Kern seiner Armeen aus Nationalpreußen, und
nur mit der Disziplin und der Vaterlandsliebe solcher Truppen konnte er die
Hitze des Schmelzofens überstehn, womit die Großmächte Europas seinen
kleinen Staat umfangen hatten. Zwar waren auch die Friderieianischen Heere
durch Streif- oder Freiwilligenkorps flankiert, die als fremde Bestandteile
außerhalb des festen Gefüges seiner sonstigen militärischen Einrichtungen
standen, aber das waren Ausnahmen und bestätigten als solche die Regel.
Denn auch in der Umgebung des großen Königs bringen sie den Beweis, daß
der preußisch-deutsche Staatsgedanke uoch nicht durchgedrungen war, und daß,
wie glänzend auch schon sein Aufsteigen war, er doch auch noch zu den un¬
zulänglichen Mitteln greifen mußte, die das Erbe einer trostlosen Zeit waren.
Für den hohen Geistesflug Friedrichs reichte seine regelmäßige Wehr¬
kraft nicht aus, aber er hatte auch nicht nötig, oder vielmehr, er konnte nicht
in die Versuchung kommen, sie als Fremdenlegionen in den Dienst fremder
Mächte zu stellen. „Es traten wohl so etliche vorlaute Bursche vor die
Fronte heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch
Menschen verkaufe? — Aber ..." Jedermann weiß, wo diese Worte stehn,
und daß damit der Dichter die Schmach der Zeit am schärfsten gebrandmarkt
hat. Aber auch noch andre haben sich über den oasus ausgelassen. Friedrich
der Zweite sagte mit seinem kaustischer Witz, daß es billig sei, von den durch
sein Land ziehenden Soldaten fremder Fürsten den üblichen Viehzoll zu er¬
heben: keiner hatte besseres Recht dazu als er. Wenn aber auch im englischen
Parlament wegen des Seelenhandels von den Deutschen und ihren Fürsten
mit Verachtung gesprochen wurde, so Hütten die Redner lieber bedenken sollen,
daß die britische Nation selbst bei der Befestigung ihrer Nationalität mit ihrer
Wehrverfassung auf halbem Wege stehn geblieben war.
Auch der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, dem die napoleonischen
Eroberungskriege den Stempel aufdrücken, hat in Deutschland Freischaren oder
Fremdenlegionen noch die Hülle und Fülle gesehen, aber diese Heerkörper
tragen einen wesentlich andern Charakter, als sie in aller Zeit vorher gehabt
hatten. Die Regimenter, die Ferdinand von Braunschweig im Jahre 1809
gegen Napoleon aufbot, die Freischaren, mit denen Lützow und viele andre
im großen Völkerkämpfe den kleinen Krieg führten, waren Leute aus dem
Volke, die aus sich selber und von unten her in die allgemeine Wehrpflicht
hinein drängten und damit sich selber das Grab gruben.
Nach dem Ende der Freiheitskriege hat man in Deutschland von Fremden¬
legionen und Freischaren im Dienste einer nationalen Erhebung wenig ge¬
sprochen, denn die revolutionäre Auflehnung des Jahres 1849 in Baden und
in der Pfalz gehört nicht hierher. Wohl aber hat die Einheitsgeschichte
Italiens im Jahre 1860 Veranlassung zu derselben Erscheinung gegeben, denn
niemals hat jemand an der Spitze von irregulären Truppen eine größere
Rolle gespielt als Garibaldi, der mit seinen Freischaren das Königreich Neapel
über den Haufen warf. Doch nicht in dem Umstürzen lag die eigentliche Be¬
deutung dieses merkwürdigen Mannes, sondern in dem Aufbauen, und nur
aus einer Verkennung der Tatsachen kann man es erklären, wenn sich derselbe
Garibaldi im Jahre 1870 gegen das nationale Recht Deutschlands auf die
Seite des revolutionierten Frankreichs stellte.
Es beruht ebenfalls auf einer gänzlichen Verkennung der nationalen
Pflichten, die der deutschen Reichsregierung obliegen, wenn sich in unsern
Parlamenten die linksliberalen Parteien noch immer der Notwendigkeit wider¬
setzen, daß die Wehrkraft des Volkes auch aufs Meer ausgedehnt werden müsse.
In den Verhandlungen des Reichstags, die zur Annahme des jetzt bestehenden
Flottengesetzes führten, hatte Graf Bülow, damals Staatssekretär des Äußern,
zur Verteidigung der Vorlage die Worte gebraucht, daß wir selbstherrlich
werden müßten, daß wir auf freiem Erdenrund keine Knechte im Dienste
andrer mehr zu sein brauchten.
Das war ein starkes Manneswort und für den, der die Geschichte nicht
nur als Tabelle im Gedächtnis mit sich herumtrüge, von greifbaren Inhalt.
Trotzdem wurde damals von den Sozialdemokraten die Redewendung als eine
leere Phrase bezeichnet und zugleich darauf hingewiesen, daß wenn überhaupt
von Knechtschaft die Rede sein könne, der Vertreter der Regierung, der den
Mund so voll nehme, in die Zeit zurückschauen solle, wo deutsche Landes¬
fürsten ihre eignen Untertanen als Söldlinge an fremde Mächte verschachert
hätten.
Noch jetzt, wenn man sich diesen wilden Angriff auf den Grafen Bülow
ins Gedächtnis zurückruft, muß man sich darüber wundern, daß in den Reihen
der nationalen Parteien kein Redner die einzig richtige Antwort darauf ge¬
funden hat. Wenn die Parteimitglieder, die den Worten ihres Redners das
rauschende Bravo zuriefen, davon keine Ahnung hatten, daß sie sich mit diesem
Beifall selber ins Gesicht schlugen, so hätte ihnen doch die Gegenpartei eine
satirische Beleuchtung nicht ersparen dürfen. Es ist die Frage, wer den landes¬
herrlichen Partikularismus, unter dem der schmähliche Menschenschacher ge¬
schehen konnte, endgiltig aus dem Lande gejagt hat. Das haben nicht die
Redner aus der Paulskirche in Frankfurt, auch nicht die ganze Demokratie
aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts getan, sondern der viel¬
geschmähte preußische Militarismus, den ein großer Mann in die Hand nahm
und als eisernen Kehrbesen gebrauchte, das alte Gerümpel aus den Ecken zu
fegen, nachdem sich die Zeit erfüllt hatte.
Die Zeiten haben sich von Grund aus geändert. Auch in Italien gibt
es keine Frage mehr, die einen Garibaldi veranlassen könnte, ihre Lösung an
der Spitze von Freischaren zu versuchen. Nur das Oberhaupt der römisch¬
katholischen Kirche hat sich noch nicht in das freie staatliche Gefüge finden
können, aber die internationalen, konfessionell gebundnen Legionen, die diese
Weltmacht ausschickt, um Verlorne Posten wieder zu gewinnen, sind andrer
Art, als die von Staats wegen unter Donner und Blitz der Kanonen im
Felde stehn. England ist von allen europäischen Großstaaten der einzige, der
in der nationalen Heeresrüstung noch rückständig ist, nicht bloß mit seiner
Landmacht, sondern auch mit seiner Marine. Die englische Flotte beherrscht
noch immer das Meer, aber wie gewaltig sie auch ist, so hat sie doch ihre
verwundbare Stelle. Abgesehen davon, daß die Bemannung für alle die vielen
Kriegsschiffe, mit denen Großbritannien feinen riesigen Länderbesitz schützen
will, nicht ausreicht, ist auch die vorhandne mit einem starken Prozentsatz
von Angehörigen fremder Nationen durchsetzt. Das braucht noch nicht ge¬
fährlich zu sein, aber es kann in dem Zusammenstoß mit mehreren Mächten,
die in der Vereinigung der englischen Macht gewachsen sind, verhängnisvoll
werden.
In dem Landkriege mit dem kleinen Volke der Buren ist der Mangel
einer auf nationaler Aushebung beruhenden Wehrkraft den Engländern schon
sehr fühlbar geworden, und noch ist nicht abzusehen, wie der mehr und mehr
steigenden Not mit den vorhandnen landesüblichen Mitteln gesteuert werden
könnte. Der britische Stolz, der sich in frühern Zeiten mit der Verspottung
deutscher Bettelpolitik ein Genüge tat, würde in den gegenwärtigen Bedrängnissen
seine Lust an Ironie und Satire gern unterdrücken, wenn er wie seinem Be¬
darf an Pferden so seinem Menschenmangel durch Kauf abhelfen könnte. Ob
es währ ist, was vor Jahr und Tag von dem Umherschleichen englischer
Werber auf deutschem Boden in den Zeitungen erzählt wurde, kann füglich
dahingestellt bleiben. Jedenfalls klangen die Nachrichten nicht unwahrscheinlich,
und neben den Heldentaten Tommys würde sich die Disziplin deutscher Fremden¬
legionen noch immer stattlich genug ausnehmen.
Aber die Pforten des Reichs, die früher für jeden Werbeoffizier weit
offen standen, sind jetzt geschlossen und werden für alle Menschenexportgelüste
zu Kriegszwecken fest zugehalten. In der äußern Politik steht England in
einer bedenklichen Vereinsamung, die die Briten selbst aus Mangel an einem
bessern Ausdruck früher sxleiMä isolation nannten. Von Zeit zu Zeit hört
man das Wort jetzt auch noch, aber denen, die es gebrauchen, ist selbst nicht
recht wohl dabei. In der Einsamkeit schleicht den Menschen, wenn es immer
stiller und dunkler wird, Beklommenheit ins Gemüt, und um ihrer Herr zu
werden, suchen sie sich mit der eignen Stimme zu helfen. Daß die stolzen
Engländer jetzt schon Angst hätten, soll nicht behauptet werden, aber wenn sie
sich vor einer kommenden bewahren wollen, täten sie besser, statt so laut zu
schreien, sich an eine stille Arbeit zu machen. Denn auf die Dauer kommen
die glücklichen Bewohner des meerumflossenen Albions auch nicht um das
herum, was andre Völker in der Erkenntnis, daß für die Gesundheit ihres
Leibes nichts dienlicher ist als eine straffe Erziehung, schon lange zum Gesetz
bei sich gemacht haben.
uf die spätere Nachgiebigkeit Hannovers hatte Kurakins diplo¬
matische Tätigkeit Einfluß, dann aber besonders auf das im Haag
und in Regensburg geschlossene Bündnis, das die Westmüchte
mit dem Nordischen Bunde zusammenführte und der Ruhe im
Innern des Reichs dienen sollte. Dieses Bündnis wurde auf
Anregung der russischen, preußischen, polnischen und dänischen Gesandten ge¬
schlossen und bestand im wesentlichen darin, daß sich England, Holland und
Deutschland verpflichteten, Fürsorge zu tragen, daß die nordischen Kriegführenden
den Brand nicht in das Reich hineintrügen; Deutschlands Neutralität sollte
unter Umständen mit Waffengewalt aufrecht erhalten werden. Im einzelnen
kamen die Vertragsmächte überein, die deutschen Provinzen Polens und Däne¬
marks wie auch Schleswig und Holstein vor jedem Angriff durch die in
Pommern stehenden Schweden zu beschützen. Diesem Bündnis traten Hannover
und die Nordmächte bei; für die Westmüchte war es wichtig, daß die Streit¬
kräfte der Verbündeten nicht durch Unruhen im Reiche von dem Kriege mit
Frankreich abgezogen wurden. Die nordischen Mächte aber hielten auf diese
Weise die Schweden von einem Vorstoß gegen die deutschen Provinzen der
Verbündeten Peters des Großen ab und konzentrierter so ihre eignen Streitkrüfte
gegen Schweden außerhalb Deutschlands.
In der Zeit, um die es sich hier handelt, nämlich in den letzten Monaten
des Jahres 1709, zielte das Bündnis zunächst auf die erwähnten Truppen
Krassaus in Pommern, deren kriegerische Aktionen gegen Sachsen und das
südliche Dänemark verhindert werden sollten. Aber die Verhandlungen über
die „Neutralität Deutschlands," die im Haag geführt wurden, zogen sich in die
Länge. Die Westmächte erklärten zwar, die Schweden in Pommern zurück¬
halten zu wollen, gaben aber nicht die nötigen Garantien, sondern beschränkten
sich auf Drohungen gegen Schweden, wenn es Pommern verließe, und ver¬
trödelten die Zeit. Die Schweden willigten in die Neutralität Deutschlands
wohl ein, aber unter der Bedingung, daß die dänischen Truppen keinen Vorstoß
gegen die schwedischen Provinzen im Reich unternähmen. Solange diese Unter¬
handlungen geführt wurden, konnten die Schweden, da zunächst keine feindliche
Streitmacht vorhanden war, die Drohungen einfach ignorieren und aus Pommern
herausziehn, während den Verbündeten durch die Unterhandlungen die Hände
gebunden waren. Deswegen eben hatte der Bündnisabschluß mit Hannover solche
Eile, Rußland hätte wenigstens an ihm einen Bundesgenossen gehabt.
Die Verhandlungen im Haag suchte Fürst Kurakin zu benutzen, einen
Druck auf den Kurfürsten auszuüben. Am 24. Dezember erfuhr er in einer
Konferenz mit dem Kurfürsten, daß der Vorschlag, der wegen der schwedischen
Truppen in Pommern gemacht worden war, in Holland und auf dem deutschen
Reichskonzil angenommen sei; aber dann zogen sich die Verhandlungen über
den weitergehenden Vorschlag der nordischen Verbündeten: nicht nur aus
Pommern, sondern auch aus den übrigen Provinzen im Reich keine Feindselig¬
keiten zu eröffnen, sehr in die Länge. Unterdessen erhielt Fürst Kurakin am
3. Januar die Nachricht, der Kurfürst habe trotz seinem in Worten gegebnen
Versprechen sechs schwedische Dragonerabteilungen (6000 Mann) aus Pommern
durch sein Land nach Bremen ziehn lassen. Dieses Zugeständnis bedeutete
nach Kurakins Auffassung eine Begünstigung Schwedens und eine Benachteiligung
des Zaren, weil die Schweden in Bremen Zuzug erhalten und dann über
Rußlands Verbündeten Dänemark herfallen konnten. Bernsdorff beruhigte
Kurakin und erklärte, der Kurfürst habe dieses Zugeständnis wegen früherer
Verträge mit Schweden gemacht; ein Verbot hätte andeuten können, daß er
einseitig auf feiten Rußlands stehe, und diesen Anschein wünsche er nicht zu
erwecken. Hannover begünstige Schweden nur dann, wenn es ihm erlaube, in
fremde Provinzen zu ziehn, nicht aber in seine eigne: Bremen. Auch sei der
Durchzug wirklich nötig gewesen. In Pommern allein könne Schweden nicht
genügend Proviant und Furage finden. Ferner sei der Durchmarsch nur
unter bestimmten Bedingungen gemacht worden: die Truppen marschierten unter
hannoverscher Aufsicht, müßten in Bremen friedlich im Winterquartier bleiben
und dürften niemand angreifen. Endlich erfolge durch Gewährung des Durch¬
marsches eine Teilung des Korps Krasfau, wodurch dieses geschwächt würde.
Eine Nückschaffung der Schweden aus Bremen nach Pommern geschehe nicht;
davon sei zwischen Schweden und Hannover nicht die Rede gewesen. Wenn
die Schweden Dänemark angreifen wollten, würden sie aus Bremen nicht
hinausgelassen werden. Hannover habe also den Zaren durch Gewährung des
Durchmarsches in keiner Weise geschädigt.
Diese Antwort Bernsdorffs befriedigte Kurakin nur zum Teil. Am
15. Januar bat er den Minister wiederum, die Zahl der nach Bremen durch¬
zulassenden Truppen zu beschränken, und erhielt zur Erwiderung, mehr als
fünf- bis sechstausend würden nicht durchgelasfen werden. Dann verhandelte
man weiter über das Bündnis. Bernsdorff glaubte, die Frage der garantierten
Neutralität des Reichs läge eher im Interesse Schwedens als Rußlands. Denn
falls die Garantien gegeben würden, könnten die nordischen Mächte keinen An¬
griff mehr gegen Schweden unternehmen; die Garantiestaaten müßten ihren
Vorteil wahren, und wenn der Spanische Erbfolgekrieg beendet wäre, würde
nicht nur Hannover, sondern auch die übrigen deutschen Fürsten nicht imstande
sein, etwas zugunsten Rußlands zu tun, denn die Garantien banden ihnen die
Hände.
Fürst Kurakin legte diese Bemerkungen Bernsdorffs dahin aus, daß
Hannover in Zukunft einem Bündnis mit Rußland nicht abgeneigt sei. Aber
trotz den beruhigenden Worten drang der Fürst in den weitern Konferenzen
darauf, daß man ihm die definitive Antwort des Kurfürsten über die Garantien
mitteile, damit der Zar und seine Verbündeten für alle Fälle ihre Entscheidung
treffen könnten. Für Peter war vor allem eine Aufklärung der Dinge in
Deutschland, ein effektiver Schutz des polnischen und des dünischen Verbündeten
vor Krassaus Truppen erwünscht. Kurakin erhielt zur Antwort, Hannover
wolle die Garantie übernehmen, aber nur unter der Bedingung, daß die übrigen
Alliierten damit einverstanden wären; allein könne es die Verantwortung in
einer so wichtigen Sache nicht übernehmen. In Übereinstimmung hiermit schrieb
der Kurfürst dem Vertreter Hannovers im Haag, Boehmer, er solle gemeinsam
mit den andern Mächten für das Zustandekommen des Abkommens über die
Garantie sorgen.
Obgleich also Hannover in Übereinstimmung mit Kurakins Vorschlägen
handelte, zog es doch die Sache in die Länge und war inzwischen auch nicht
abgeneigt, Schweden zu helfen. So bat unter anderm der schwedische Hof den
Kurfürsten um Geld. Das wurde ihm allerdings abgeschlagen; aber Hannover
willigte in eine Unterstützung Schwedens durch Kauf einiger Bremer Landes¬
teile nicht weit von Hamburg, die der schwedischen Regierung jährlich sechs¬
tausend Speziestaler einbrachten. Kurakin konnte den Kurfürsten hieran nicht
hindern. In einem Brief an Golowkin vom 5. Januar schreibt er offen, es
sei schwer, von der gegenwärtigen Lage genaue Mitteilung zu machen. „Ich
habe von Anfang an keine einzige der hiesigen bedeutenden Persönlichkeiten ins
Vertrauen ziehen können und sehe hier mehr Gegner als Freunde. Der Sohn
des Kurfürsten zeigt mir keine Anhänglichkeit, sondern eher Abneigung. Und
wenn mir der Kurfürst ein wenig geneigt ist, so ist er es nur infolge der
Politik, zu der ihn Poltawa veranlaßt hat."
Später deutet Kurakin auch die Ursachen dieses Verhaltens Hannovers
gegen ihn an. Seit Anfang Januar 1710 waren mehr oder minder bestimmte
Gerüchte über einen Frieden mit Frankreich in Umlauf. Mitte Januar sagte
der Kurfürst selbst zu Kurakin, daß gute Aussichten auf den Frieden mit
Frankreich wären; man sei nur noch über einen Punkt uneinig, nämlich die
Abgrenzung der spanischen Monarchie. Da aber der Hauptimpuls der in den
Spanischen Erbfolgekrieg verwickelten Mächte zu einer Annäherung an den
Nordischen Bund die Furcht gewesen war, der Nordische Krieg möchte auf das
Reich übertragen und dadurch die Truppen von Frankreich abgelenkt werden,
so hörten mit Beendigung des Erbfolgekriegs natürlich die Annäherungswünsche
auf. Kurakin deutet auch noch einen andern Grund für das geringe Entgegen¬
kommen Hannovers an. „Der hiesige Hof verfolgt eifersüchtig die Fortschritte
des dänischen Königs und wünscht natürlich nicht, daß Dünemark eine Gro߬
macht wird." Darum die Unterstützung Schwedens. Darum, sagt Kurakin,
sind die Hannoveraner innerlich Freunde Schwedens!
Die Politik Hannovers wurde besonders deutlich, als Kurakin am 14. Februar
die Anmerkungen seiner Regierung zu dem eingesandten Vertragsentwurf er¬
hielt. Aus der erhaltnen ersten Niederschrift kann man ersehen, wie langsam
der Entwurf zustande kam, und wie Kurakin jedes russische Wort, jeden einzelnen
Ausdruck verteidigte. Die Hauptschwierigkeiten machten die Punkte 1, 4 und 5.
Es würde zu weit führen, alle die einzelnen Phasen der Verhandlungen zu
verfolgen. Am 1. März 1710 einigten sich Bernsdorff und Kurakin dahin,
daß man nunmehr den Text des Vertrags definitiv feststellen und zu ihm
nichts mehr hinzufügen noch etwas weglassen wolle. Aber trotzdem verstrich
noch lange Zeit. Am 23. März schreibt Kurakin an Golowkin, er habe gestern
mit dem Kurfürsten eine zufriedenstellende Unterredung gehabt, in der seine
(Kurakins) Unzufriedenheit mit den Abänderungen des Entwurfs und der langen
Hinzögerung der Angelegenheit zum Ausdruck gekommen sei. Die Folge dieses
Protestes Kurakins war, daß der Kurfürst „große Geneigtheit" zeigte, den
Vertrag in der frühern Form, so wie er von Kurakin ausgearbeitet worden
war und in Übereinstimmung mit den Moskaner Anmerkungen, abzuschließen,
das andre Projekt aber fallen zu lassen. Bernsdorff drückte sogar die Hoffnung
aus, der Kurfürst werde einen beglaubigten Gesandten nach Nußland schicken. '
Freitag, den 23. Juni erfolgte im Beratungssaal des Schlosses um sieben Uhr
Abends die feierliche Bestätigung des Vertrags. Als Fürst Kurakin den
Korsen betrat, empfingen ihn auf der Flur die Minister Bernsdorff und Göritz.
Dann ließ man den Fürsten in den Saal treten, wo die Plätze um den Tisch
bestimmt waren. Der Fürst saß am Tischende auf einem besondern Platz; an
der Wandseite saß Baron Göritz, auf der andern Bernsdorff. Dem Fürsten
gegenüber saßen die Sekretäre, der hannoversche: Reigh und der russische: Wehe-
lowski. Da Kurakin zum Abschluß des Vertrags unbedingt Vollmacht haben
mußte, so legte er nunmehr sein Beglaubigungsschreiben vor, das ihm die
weitestgehende Vollmacht gab. Bis dahin hatten die Minister wohl nach
Kurakins Akkreditiv gefragt, er hatte es aber niemals vorgelegt, da es sich ohne
Eigenschaft eines Gesandten weit einfacher in Hannover leben ließ, und da die
Minister ihm auch ohnedies Glauben schenkten. Der Vertrag wurde in drei
Exemplaren unterschrieben: eins, in deutscher Sprache, wurde dem Kurfürsten
eingehändigt; die beiden andern, in deutscher und russischer Sprache, erhielt
Kurakin zur Absendung nach Rußland. Unten rechts auf dem Vertrage stand:
„Auf Befehl Sr. Majestät des Zaren unterfertigt vom Oberstleutnant der
Garde Fürst Boris Kurakin" und links: „Minister Bernsdorff, Minister Baron
Göritz." Dann folgten die Siegel der drei Bevollmächtigten. Außer diesem
Vertrag wurde dem Fürsten Kurakin ein Meleks sspMö eingehändigt, der von
dem Rechte des Kurfürsten handelte, Land und Leute von der schwedischen
Krone durch Kauf oder durch Verpfändung zu erwerben. Kurakin nahm
den Artikel entgegen, der von den Sekretären Reigh und Weselowski unter¬
zeichnet war.
Am 7. Juli wurde durch besondern Kurier aus Petersburg die Be¬
glaubigung des Vertrags geschickt. Am 18. Juli erhielt Reigh „im Namen
seiner zarischen Majestät 100 Dukaten als Präsent"; am 21. Juli erhielten
auch die Minister Geschenke. Kurakin schrieb hierüber am 29. Juni dem Grafen
Golowkin: Geschenke mündlich versprechen sei unmöglich; daraus entstünde „nicht
geringer Argwohn," wenn die Minister hinterher nicht befriedigt würden. „Was
ich schicken kann, werde ich hergeben." Am 21. Juli erhob Fürst Kurakin bei
Matthäus Poppe 700 Dukaten, legte das übrige aus seinen Mitteln hinzu
und beschenkte die Minister so: Bernsdorff 500 Dukaten, Göritz 500; Ge¬
heimer Rat Gottorf, der die Ratifikation beglaubigt hatte: 100, die Kanzlei
100 Dukaten; insgesamt mit den früher an Reigh gegebnen hundert: 1300 Du¬
katen, von denen Kurakin 600 aus seinen Mitteln hinzufügte.
Die Geschenke sandte Kurakin nicht nur, weil das so üblich war, sondern
weil es Nußland Vorteil brachte. „Im gegenwärtigen Nordischen Kriege, schrieb
er, wird der hannoversche Hof uns immer nützlich sein, nicht nur im Reich,
sondern auch in England und in Holland; Hannover ist überall geachtet und
hat mehr Kredit als die andern Mächte." Kurakin bat Golowkin, die Geschenke
möchten durch seine (Golowkins) Hände gehn; wenn sie durch fremde Hände
gingen, könnte ihm „einiger Affront" daraus entstehn. Kurakin wollte natür¬
lich sein Geld zurückerstattet haben; das veranlaßte ihn, von einem eventuellen
„Affront" zu schreiben. Das Geschenk an Bernsdorff schickte der Fürst durch
den Kammerdiener Ogarkow in einem saueren, mit Borten eingefaßten Beutel,
mit einem Zettel, versiegelt; das an Göritz besorgte ein Page, der den Beutel
„seiner Dame und dem Sohne, welcher Oberschenk hieß," ablieferte.
Auf den glücklichen Abschluß des Vertrags hatte sicherlich das Kriegs¬
glück des Zaren Einfluß. Während der Verhandlungen berichtete Fürst Kurakin
dem Kurfürsten von der Einnahme Elbings, Rigas, Wiborgs und andrer
Städte, was mindestens von derselben Wirkung war wie das diplomatische
Talent Kurakins. Zugleich mit dem russischen Vertrage schloß Hannover mit
Dünemark ein Defensivbündnis auf fünf Jahre. In Rußland war man mit
dem Vertragsabschluß sehr zufrieden. Graf Golowkin schrieb an Kurakin, der
Zar habe seine Dienste und Mühen in dieser Angelegenheit sehr gnädig auf¬
genommen. Ebenso war man auch in Hannover zufrieden und handelte dem¬
entsprechend: den hannoverschen Gesandten im Auslande wurde durch Weisung
des Kurfürsten befohlen, sich mit den Russen in Verbindung zu setzen. Kurakin
hatte hierzu die Anregung gegeben. Als er bei Hofe die Einnahme Wiborgs
mitteilte, ließ er gegenüber den Ministern einfließen, es wäre angebracht, daß
Hannover dem Zaren eine „glückwünschende Botschaft" schicke, die dieser zuerst
erwartete. Auf diese Weise würde am besten der Anfang mit einem schrift¬
lichen Verkehr gemacht. Kurakin erhielt zur Antwort, der Petersburger Hof
habe selbst sein Versprechen nicht gehalten; wenigstens habe er von der damals
bevorstehenden Verlobung der Nichte Peters, Anna Johannowna, mit dem
Herzog von Kurland keine Mitteilung gemacht. Kurakin bemühte sich dann,
dieses Versehen wieder gut zu machen, und empfahl auch eine geeignete Persön¬
lichkeit, durch die man, nach seiner Abreise, Botschaften schicken könne: es war
der Hamburger Resident Böttcher, der jederzeit leicht zu erreichen war.
Kurakin fürchtete, man möchte ihn selbst zum ständigen Residenten in
Hannover machen, wozu er absolut keine Neigung hatte. Der sehr beschränkte
Wirkungskreis sagte ihm nicht zu; andrerseits hatte er sich während seines
Aufenthalts in Hannover infolge ungenügender Mittel nicht die Stellung schaffen
können, die ihm nach seiner Herkunft und der nahen Verwandtschaft mit dem
Zaren zukam.
Außer dem Bündnis hatte Kurakin in Hannover noch andre Geschäfte zu
erledigen. Man hat Grund, anzunehmen, daß er bei der Verlobung der
Prinzessin von Wolfenbüttel mitwirkte. Peter hatte, im Wunsch, seine Be¬
ziehungen zu Norddeutschland fester zu gestalten, für den Zarewitsch Alexei eine
Braut aus dem Hause Braunschweig-Wolfenbüttel gewählt. Es war die Enkelin
Anton Ulrichs, Tochter seines Sohnes Ludwig Rudolf und Christine Luisens:
die Prinzessin Charlotte Christine Sophie, Schwester der Gemahlin des zu¬
künftigen deutschen Kaisers Karls des Sechsten. Der Zar wünschte diese Ehe,
der Zarewitsch dagegen, der Peters Politik nicht billigte, wünschte sie nicht.
Während der ersten Anwesenheit Anton Ulrichs in Hannover, Anfang Januar
1710, traf Kurakin mit dem Herzog zusammen und hatte eine Audienz bei ihm.
Der Herzog kam ihm respektvoll entgegen. Die Unterhaltung wurde Französisch
geführt. Anton Ulrich titulierte Kurakin „Exzellenz," dieser den Herzog „Altesse."
In der Unterredung sagte Anton Ulrich: „Ich weiß, daß der Zar seine Ab¬
sicht nicht ändert und sein Wort über die Ehe mit dem Zarewitsch hält. Ob¬
gleich ich viele Bemerkungen über den Zaren höre, daß er mit seinem Wort
nicht zuverlässig ist, so bin ich persönlich doch sicher." Hierauf erwiderte
Kurakin, der Zar hielte immer sein Wort, ohne jede Ausnahme! Wenn die
beabsichtigte Ehe bis jetzt noch nicht zum guten Ende gekommen sei, so sei der
Krieg daran schuld. Nach dessen Beendigung würde sie ohne Frage vollzogen
werden. Der Herzog antwortete, der Papst bemühe sich, die Ehe zu ver-
hindern; er habe nach Dresden, wo der Zarewitsch Studien halber weilte, seinen
Neffen Hannibal geschickt, der dem König August insgeheim Anerbieten gemacht
habe, Alexei mit einer katholischen Prinzessin aus sächsischem Hause, die in
Wien erzogen und mit dem Prinzen von Fürstenberg verwandt war, zu ver¬
heiraten. Es war dessen Nichte, eine Tochter des Fürsten von Liechtenstein.
Kurakin erwiderte, so viel ihm bekannt sei, sei das Gerücht nicht richtig; der
Zar bräche sein Wort nicht und sei auch der lutherischen Religion mehr zugetan
als der katholischen.
Tags darauf sagte der Herzog, Matwejew (der russische Gesandte im Haag)
hätte die Ehe als unmöglich bezeichnet, wenn die Prinzessin nicht ihren Glauben
änderte. Da aber ihre Schwester, die den König von Spanien (Karl den
Sechsten) geheiratet, ihren Glauben ebenfalls geändert habe, so könne auch
Charlotte zur griechisch-katholischen Kirche übertreten. „Trotzdem glauben wir
nicht, daß man uns zu dieser Glaubensänderung nötigen wird." Kurakin er¬
widerte: „Was die Religion anlangt, so läßt sich darüber immer noch reden."
Um dieselbe Zeit schrieb Kurakin an Golowkin, man habe in der Wolfen-
büttler Familie Nachricht von der Rückkehr des Zarewitsch aus Krakau (wohin
er aus Dresden gefahren war) nach Moskau erhalten, während die Prinzessin
mit ihrer Mutter eigens nach Dresden gereist sei, um dem Zarewitsch zu be¬
gegnen. Dieses Gerücht erregte die herzogliche Familie um so mehr, als sie
immer und überall von der Verlobung geredet hatte. Jetzt hielt man die plötz¬
liche Rückkehr des Zarewitsch für einen „nicht kleinen Affront" — wie Kurakin
schrieb.
Aber das Gerücht war nicht richtig. Briefe aus Polen und Sachsen be¬
sagten etwas ganz andres. Fürst Menschikoff sandte einen Sekretär nach
Dresden, um die Abwesenheit des Zarewitsch zu entschuldigen und die Gründe
mitzuteilen, die ihn veranlaßt hätten, diesesmal in Krakau zu bleiben. Es war
auf Veranlassung Menschikoffs bei der Abreise König Augusts nach Sachsen ge¬
schehen.
Ende Januar kam Kurakin mit dem Kurfürsten, den er begleitete, persön¬
lich nach Braunschweig und hatte wieder mit dem Herzog eine Unterredung
über die Ehe. Kurakin kam wieder inkognito; beim Eintritt in die Stadt am
Tore nannte er sich wieder „Kavalier Luka Popow" aus Moskau. Von dort
fuhr er direkt ins Schloß, wo er Quartier bei einem Hofbeamten, einem
„Konseiller," angewiesen erhielt; zur Bedienung war ein Lakai da; „Essen und
Trinken herzoglich." Am nächsten Morgen um zehn Uhr kam der Hofmarschall,
begrüßte ihn und fragte nach seinem Wohlergehn. Der Herzog lud Kurakin
zum Mittagessen ein und versprach, einen Wagen zu senden. Der Hofmarschall
titulierte ihn immer „Hoheit." Um den Zeremonien zu entgeh«, wartete Kurakin
den Wagen nicht ab und erschien als Privatmann in einer Portechaise, aus
der er sofort in einen Saal trat und den Marschall nebst Kavalieren antraf.
Da der Herzog noch nicht angekleidet war, mußte Kurakin eine halbe Stunde
warten. Um seiner Würde nichts zu vergeben, begab er sich in die anstoßenden
Appartements, wo fremde Fürstlichkeiten abfliegen. Dann wurde er ins Audienz¬
zimmer gerufen, und es fand die übliche Begrüßung statt. Vom Herzog begab
sich Kurakin zur Mutter der Braut des Zarewitsch, Herzogin Luise, die er über
die Absichten des Zaren beruhigte. Die Herzogin begleitete ihn dann bis zur
Tür. An diesem wie an den nächsten Tagen seines Braunschweiger Aufenthalts
aß Kurakin mit der herzoglichen Familie zu Mittag.
Am 4. Februar hatte er Morgens um zehn Uhr beim Kaffee mit dem
Herzog eine Konferenz wegen der Ehe. Anton Ulrich wiederholte, er glaube
nicht den am sächsischen Hofe verbreiteten Gerüchten von der Absicht des Zaren,
eine katholische Prinzessin zu wählen. Bei dieser Gelegenheit warnte der Herzog,
Kurakin vor dem hannoverschen Hofe, der „zugunsten Schwedens handle" und
Wolfenbüttel nicht gern in einer Position sähe, die ihm unangenehm werden
könne. „Wenn aber der Kurfürst die Ehe zugunsten der schwedischen Politik
hintertreiben will, so schließen wir mit den andern Alliierten ein Bündnis mit
dem Zaren und schwächen Hannover." Kurakin schrieb dann an Golowkin, der
Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel wünsche mit Rußland ein Bündnis zu
schließen unter der Bedingung einer Unterstützung vom Zaren „für 3000 Mann
Infanterie." Kurakin fand das vorteilhaft, weil Braunschweig „im Reich jeg¬
liche Unordnung anrichten und die Fürsten an einer Unterstützung Schwedens
verhindern" könne. Über dieses Bündnis konferierte in Braunschweig mit
Kurakin auch der Minister Schleinitz, wie früher der Herzog selbst mit dem
russischen Gesandten in Wien, Urbins, darüber gesprochen hatte.
Weiter äußerte der Herzog in der obigen Konferenz über die Ehe seine
Befürchtung über den Aufenthalt des Zarewitsch in Dresden. „Wenn daraus
nur kein Unheil entsteht! In Sachsen brant man einen starken Trank, von
dem manchem schwach wird." Der Herzog sprach dann mit Kurakin über Ge¬
rüchte, wonach der Zar beabsichtige, seine Nichten zu verheiraten; die eine an
den Fürsten von Hessen-Kassel, die andre an den Fürsten von Kurland; er
sprach weiter von dem Argwohn des Zaren gegen König August und der Ab¬
sicht, den polnischen Thron Menschikow zu überliefern; von dem Wunsche des
Königs von Preußen, die „polnischen Preußen" als Untertanen zu gewinnen,
wofür Kurland an Polen abgetreten und der Herzog von Kurland in Deutsch¬
land entschädigt werden sollte. Dann fragte der Herzog Kurakin, durch wen
er seinen Schriftwechsel mit dem Zaren am besten besorgen lassen könnte, und
bat schließlich um Empfehlungen an den Zaren.
Aus Kurakins Mitteilungen über den Besuch bei Anton Ulrich geht hervor,
daß zwischen diesem und dem Kurfürsten von Hannover damals Eifersüchteleien
bestanden. Für Kurakin war dieser Umstand natürlich wertvoll; er erfuhr auf
diese Weise alle Neuigkeiten vom hannoverschen Hofe, lernte die deutschen Zu¬
stände genau kennen und handelte dementsprechend. So erfuhr er vom Herzog,
daß die Schweden Bremen und Werden niemals an Hannover verkaufen,*) und
daß sich ganz Deutschland diesem Kauf widersetzen würde. Zum letztenmal sah
Kurakin den Herzog Anton Ulrich Ende Juli bei der Abreise aus Hannover.
Graf Golowkin teilte ihm mit, der russische Gesandte in Dänemark, Fürst
Dolgoruki, hätte dem Zaren über den Wolfenbüttler General Jordan berichtet,
der Peter in Marienwerder zum Siege bei Poltawa gratuliere habe. Jordan
machte in Hamburg dem schwedischen Residenten vom Wunsche des Zaren nach
Frieden Mitteilung, unter der Bedingung, daß alle von den Russen eroberten
Landesteile mit Ausnahme von Petersburg und Schlüsselburg abgetreten würden.
Auch sonst handelte Jordan mehrfach gegen das Interesse des Zaren, der dann
schließlich den Wunsch äußerte, daß man Jordan etwas „dämpfen" möchte.
Aus diesem Anlaß kam Kurakin noch einmal nach Vraunschweig, wo er mit
großen Ehren empfangen wurde. Der Herzog saß bei Tisch neben ihm und
trank ihm vor dem schwedischen Gesandten zu, was Kurakin mit Befriedigung
feststellte. In der Sache gab Anton Ulrich die Versicherung ab, daß er an
der Einmischung in die Friedensverhandlungen unbeteiligt sei; das lüge ihm
gänzlich fern. Jordan hätte niemals einen solchen Auftrag von ihm erhalten.
Kurakin zog aus der Bekanntschaft mit Anton Ulrich auch persönlichen
Vorteil: er hatte einen damals dreizehnjährigen Sohn, dem er eine europäische
Erziehung geben wollte. Diesen Sohn brachte er in der Wolfenbüttler Aka¬
demie unter. Kurakin schreibt darüber: „Ich habe hier eine gute Okkasion ge¬
funden: der Herzog von Wolfenbüttel hat mir versprochen, Alexander (den Sohn)
in seine Akademie aufzunehmen, woraus ich großen Vorteil habe. Hier lernt
er Sprachen, und ich lasse meinen Sohn hier in guter Zuversicht." Die Ge¬
legenheit, den Sohn im Hause des Herzogs unterzubringen, war wegen der
Ehe des Zarewitsch wirklich günstig. Die Ehe wurde am 14. Oktober 1711
in dem Städtchen Torgau vollzogen. Unstreitig hat Kurakin an dem Zustande¬
kommen fleißig mitgewirkt. Hierauf deutet u. a. ein interessantes Dokument,
das auch für den Gesandten in Wien, Urbins, Bedeutung hat und von der Vor¬
sicht des Fürsten Kurakin Zeugnis ablegt. Einem Briefe, den Kurakin am
29. Juni aus Hannover abschickte, war als Postskriptum ein Billett beigefügt, das
Ogarkow, der Kammerdiener Kurakins, geschrieben hatte. Das Billett lautet:
„Letzte Woche traf ich mit dem Herzog von Wolfenbüttel zusammen, der die
Sache (die Ehe) zu Ende bringen will und den Vertrag (Ehevertrag) von Ge¬
sandten einer kompetenten, nicht aber einer fremden Macht ratifiziert wünscht;
auch sagt er offen, daß die Verzögerung (der Ehe) vom Residenten in Wien
(Urbins) herrührt. Ich habe aus diesen Gesprächen entnommen, daß man den
baldigen Abschluß wünscht. Durch andre weiß ich, daß hier eine Belohnung
des Hofes von mindestens 15—20000 Speziestalern abfällt."
Kurakin wollte, indem er dieses dem Adressaten, russischen Vizekanzler
Schafirow mitteilte, diesem offenbar gefällig sein; Urbins, der die Sache ein¬
gefädelt hatte, genoß offenbar in Wolfenbüttel kein Vertrauen; es ist möglich,
daß der Adressat des Briefes, Schafirow, zum Vollzug des Ehevertrags aus¬
ersehen war. Kurakin selbst gehörte nicht zu der russischen Partei, die die Ehe des
Zarewitsch mit einer ausländischen Prinzessin, noch dazu evangelischen Glaubens,
ungern sah. Sonst hätte er sicher niemals seinen Sohn auf die Wolfenbüttler
Akademie gegeben.
Nach Erledigung seiner Geschäfte in Hannover sollte Kurakin nach Eng¬
land gehn. Aber dazu gehörte Geld. Und die Mittel des Fürsten waren
erschöpft. Er schrieb mehrfach um Geld, aber immer umsonst. „Mit wenig
Geld läßt sich in England nichts ausrichten; bei dem teuern Leben in London
erhalten alle Residenten den doppelten Gehalt im Vergleich mit andern euro¬
päischen Höfen. In England ist ein Parlament und eine zahlreiche vornehme
Gesellschaft. Inkognito in London leben hat keinen Zweck und schädigt die
Staatsinteressen. Umgang und gute Bekanntschaft kosten aber Geld." Erst im
September erhielt Kurakin in Holland 4000 Taler, und bald darauf fuhr er
nach England.
In Hannover hatte er am 27. Juli 1710 die letzte Audienz beim Kurfürsten,
in Herrenhausen, im Lustschloß. Die Unterhaltung wurde Italienisch geführt.
Georg Ludwig dankte Kurakin für seine Dienste und bat ihn, dem Zaren die
Versicherung seiner Freundschaft zu übermitteln. Kurakin erwiderte sehr kurz,
da er eine volle Stunde hatte warten müssen und infolgedessen verstimmt war.
Der Kurfürst teilte ihm dann den Inhalt seines Antwortschreibens auf das
Kreditiv Kurakins mit, das ihm Nachts ins Haus geschickt wurde. Als Er¬
läuterung fügt Kurakin hinzu: Es besteht an allen Höfen Europas die Gewohn¬
heit, das Beglaubigungsschreiben eines Gesandten nicht dem Souverän selbst
bei der Vorstellung zu überreichen, sondern es wird vorher zum Marschall zur
Durchsicht geschickt, und dann wird die Audienz gewährt. Ähnlich ist es bei
der Entlassung eines Gesandten. Die Antwort auf das Beglaubigungsschreiben
wird ihm zunächst zur Durchsicht geschickt, dann wird die Abschiedsaudienz an¬
beraumt, in der der Inhalt mitgeteilt und die Absendung an den Hof bekannt
gegeben wird.
Kurakin hatte während der Audienz die italienisch-französischen Worte des
Kurfürsten: Isters, al rsorsanov saro su roof xour moi g. urg. ins-son nicht
richtig verstanden. Nach der Audienz beim Kurfürsten war Kurakin bei der
Kurfürstin Sophie, die ihn sehr liebenswürdig verabschiedete. Er bemerkt über
sie in einem Briefe, sie habe immer „besondre Achtung und Neigung für die
Interessen des Zaren" bewiesen. Von dem Kurprinzen und der Prinzessin da¬
gegen, von denen er sich dann verabschiedete, schreibt er: „Sie sind jederzeit
gegen unsre Interessen gewesen."
Am nächsten Morgen, am 28. Juli, reiste Kurakin aus Hannover ab. Bei
der Abschiedskonferenz mit den Ministern Bernsdorff, Elze und Göritz sagte
Kurakin, das Bündnis Rußlands mit Hannover solle im gegenwärtigen Nor¬
dischen Kriege dazu dienen, die Neutralität des Reichs zu sichern, die Truppen
Kmssaus nicht aus Pommern nach Polen und Sachsen zu lassen und eben¬
falls nicht aus Bremen; ferner den Gegner nicht mit Geld zu unterstützen.
Der Zar würde sein Wort halten. Die Minister erwiderten hierauf zustimmend
und sprachen die Hoffnung aus, daß der Kurfürst einen Gesandten zum Zaren
schicken würde. Damit endete Kurakins Mission am hannoverschen Hofe.
evor ich über die Bevölkerung Afghanistans berichte, will ich die
Hauptstadt Kabul, in deren unmittelbarer Nähe ich gewohnt habe,
zu schildern versuchen. Die Stadt liegt an den Ufern des Kabul¬
flusses, über den drei Brücken, zwei in der Stadt, geschlagen sind,
und besteht aus Häusern mit flachen Dächern, wie sie überall im
Orient gefunden werden. Erbaut sind die Häuser aus rohen Ziegeln oder aus
Lehm, und manche von ihnen haben zwei Stockwerke. Auf der Gassenseite sind
Fenster nicht vorhanden, etliche Häuser haben erkerartige Anbauten. Die Fenster
schauen in die Hofräume, die zumeist mit Maulbeerbüumen bepflanzt sind, sodaß
die Stadt, wenn sich diese Bäume belauben, in freundlichem Grün zu ver¬
schwinden scheint. Ein Gewirr kleiner und enger Gassen trennt die Häuserreihen,
doch ist der allgemeine Verkehr auf die Basar- oder Handelsstraße beschränkt,
in der die Verkaufsladen liegen. Die Stadt ist zum Teil mit einer Mauer
umgeben, auf längern Strecken bilden aber Häuser die äußere UmWallung. Vier
Tore, von denen zwei diese Bezeichnung allerdings nicht verdienen, da sie
einfache Öffnungen in der Mauer sind, gewähren Durchlaß und Eintritt. Sie
sind beständig militärisch bewacht. Die Basarstraße, in der ein sehr bedeutender
Verkehr herrscht, ist mit einem fragwürdigen, aus runden und flachen Steinen
bestehenden Pflaster versehen. Fußgänger, Kamel- und Maultiertreiber mit ihren
Tieren sowie Reiter beleben diese Straße täglich mit Ausnahme des Freitags,
des mohammedanischen Feiertags. Das Gewühl ist so groß, daß man sich nur
mit Mühe einen Weg bahnen kann. Die Stadt wird von zwei etwa fünfhundert
und sechshundert Meter hohen Hügeln beherrscht und lehnt sich an die nord¬
westlich von ihr liegende Erhebung an. Diese Hügel sind befestigt und mit
militärischen Wachen besetzt. Früher waren sie durch eine teilweise noch erhaltne
Mauer verbunden, die über ihre Höhen hinzog. Im Südosten der Stadt liegt
das alte Schloß Baka Hissar, wo jetzt Lagerräume für Kriegsmunition und
Gefängnisse sind. Gegenwärtig zählt Kabul, das weder eine Beleuchtung noch
andre dem Verkehr dienende Einrichtungen hat, mit seiner Besatzung von
30000 Mann und ungefähr 12000 männlichen und weiblichen Gefangnen
150000 Einwohner. Die Angaben, die von 60000 Köpfen sprechen, reichen
weit zurück und stehn mit der Zunahme der Bevölkerung nicht im Einklange.
Von den Einwohnern der Stadt sind gegen 10000 Hindu, durchgehends Kauf¬
leute und Händler. Als Abd-ur-Rahmän zur Herrschaft kam, sollen auch Juden
und Armenier in Kabul ansässig gewesen sein, sie sind aber jetzt verschwunden.
Die Bevölkerung des Landes zeigt nach meinen Beobachtungen und Er¬
kundigungen teils die Merkmale der kaukasischen (arischen), teils der semitischen,
teils der mongolischen Nasse; es finden sich nur äußerst selten Individuen mit
blonden Haaren. Blauäugige Männer sah ich niemals. Im allgemeinen sind
die Afghanen hochgewachsne, schlanke, fast hagere Leute mit schlichten schwarzen
Haaren und dunkeln Voll- und Schnurrbärten. Vorderhaupt und Scheitel pflegt
sich der Afghane ganz kahl zu scheren. Der Volksstamm der Hasareh, wie sich
dessen Angehörige selbst nennen, nicht Hesareh, weist mongolischen Typus auf,
aber die Haut der Leute ist nicht gelb, sondern weiß, und ihre Augen sind nur
sehr wenig geschlitzt. Sie haben ziemlich stumpfe platte Nasen und hervortretende
Backenknochen. Ältern Forschungen zufolge sind sie Verlas, Abkömmlinge eines
mongolischen Ösbeghenzweiges aus Timurs Zeit, und sabinische Moslems. Im
Jahre 1889 empörten sie sich gegen die Gewaltherrschaft des Emirs, der seine
ganze Macht aufbieten mußte, die in dem Hochgebirgslande zwischen Ghasna
und Herat als Viehzüchter und Jäger lebenden Feinde seiner Tyrannei zu
Gehorsam und Botmäßigkeit zu zwingen. Da die meisten Afghanen Sunniten
sind und die Schiiten tödlich hassen, so war der Kampf gegen die Empörer in
den Augen des Volks ein „heiliger Krieg," der auch, mit schonungsloser Grau¬
samkeit geführt, alle Eigentümlichkeiten eines solchen zeigte. Freilich erwiesen
sich die Hasareh, von früher Jugend an mit selbstverfertigten Schießwaffen ver¬
traut und geübt in deren Gebrauch, als furchtbare Gegner, die nicht wußten,
was Flucht ist, und sich, wenn verwundet oder wehrlos, noch mit Zähnen und
Fäusten zur Wehr setzten.
Im dritten Jahre des Krieges mußten sie, weil sie Flinten und Schie߬
bedarf nicht mehr in hinreichender Menge hatten, mit spitzen Holzpfählen gegen
Soldaten kämpfen, die mit modernen Hinterladern bewaffnet waren, aber sie
rannten mit todverachtender Tapferkeit gegen die geschlossenen Linien ihrer Feinde
an. So mußte es denn geschehn, daß der größte Teil dieses kühnen Volkes
hingeschlachtet wurde, und der Rest, Männer, Weiber und Kinder, in Gefangen¬
schaft geriet. Halbwüchsigen Jungen wurde von den erbitterten und vor der
Rache zitternden Siegern die rechte Hand abgehauen. Die als Verwundete ge¬
fangnen Männer wurden nach Kabul geschleppt und ohne Ausnahme mit Ge¬
schützen erschossen.
Von einer mutigen Frau wurde mir folgende Heldentat erzählt: Als die
Soldaten des Emirs von zwei Seiten in dem von den Hasareh bewohnten Hoch¬
gebirge vordrangen, die Häuser plünderten und zerstörten sowie Frauen und
Kinder zu Gefangnen machten, schwang sich das Weib eines tapfern Aufrührers,
der auf Leben und Tod kämpfte, auf ein Roß und floh, mit einer Flinte be¬
waffnet, in ein sichres Versteck, das sie von Jagdausflügen kannte. Fünfzehn
Soldaten des Emirs verfolgten sie zu Fuß und umringten das Versteck, um die
kühne Amazone zu ihrer Gefangnen zu machen. Das wackre Weib „forcht sich
aber nit." Sobald sich einer ihrer Verfolger unvorsichtig zeigte, streckte ihn
eine Kugel nieder. Die Frau erschoß zehn Soldaten, die übrigen gaben Fersen¬
geld und legten Zeugnis von dem unerschrocknen Sinn der Heldin ab. Die
gefangnen Weiber und Kinder verkaufte der Emir. Er traut übrigens dem
Landfrieden nicht und verwendet deshalb die zum Militärdienst ausgehöhlten
Neste des Volkes zu Straßenbauten.
Ein sonderbares Völkchen lebt zwischen Kabul und der indisch-afghanischen
Grenze in zerstreuten Wohnsitzen. Die Angehörigen dieses Stammes, Wuthil
genannt, ähneln in Gewohnheiten und Lebensweise den Zigeunern und waren
früher für Indien eine wahre Landplage, da sie sich häufig über die Grenze
dorthin begaben und — stahlen. Die britisch-indische Regierung entschloß sich
deshalb, dem Emir für dieses Diebsvolk jährlich eine bedeutende Summe Geldes
unter der Bedingung zu zahlen, daß die Langfinger die indische Grenze nicht
wieder überschritten. Der Emir soll für jeden Mann vom Stamm Wuthil
dreißig Rupien im Monat erhalten und zahlt jedem männlichen Angehörigen des
Stammes, von den Neugebornen bis zu den Greisen, acht Rupien monatlich.
Er verwendet die Leute als Soldaten, und man sieht häufig einen vierzehnjährigen
Knirps, der die Flinte kaum tragen kann, Wache stehn, während der Vater des
Jungen die Wache befehligt. Um viele Söhne und damit ein größeres Ein¬
kommen zu haben, kaufen sich die meisten Männer vom Stamme Wuthil zwei
bis vier Frauen.
Mehrere tausend Beduinen, die ein Nomadenleben führen und den Winter
in der Gegend von Dschelalabad in Zelten verbringen, wandern, sobald es Früh¬
ling wird, mit ihren zahlreichen Viehherden in die höher liegenden Gebirgstäler,
wo ihre Rinder, Pferde, Esel, Kamele und Schafe gute Weide finden. Im
Oktober kehren sie in ihre Winterquartiere zurück. Im Gebirge erzeugen sie
Butter und Käse, und diese Waren bringen sie in Kabul zu Markte, um von
dem Erlöse Lebensmittel und Kleider zu kaufen. Sie berühren auf ihren regel¬
müßigen Wanderungen die Hauptstadt, und ich fragte einen ältern Mann, wie
oft er schon mitgewandert sei. Die dreiundfünfzigste Reise mache er schon, gab
mir der Alte zur Antwort. Dieses Völkchen wird bei der Steuererhebung sehr
gnädig behandelt; es hat nämlich von je vierzig Tieren, seien es Rinder oder
Schafe, ein Stück als Steuer abzuliefern. Im Osten des Landes, nahe bei der
Grenze von Kafiristan, und in diesem Lande selbst wohnen zwei merkwürdige
Volksstämme, Siah-Posch und Sefid-Posch („Schwarze Ziegen" und „Weiße
Ziegen"), die sich nur durch ihre Bekleidung unterscheiden, da die einen schwarze,
die andern Weiße Ziegenfelle als hauptsächlichstes Gewand tragen. Die Siah-
Posch, deren Gesichtsbildung in geradezu auffallender Weise an den Typus in
Althellas gemahnt, sind als „Heiden" geschworne Feinde der muselmanischen
Afghanen. Sie schlichen, namentlich zur Nachtzeit, an die Wohnungen dieser
heran und suchten die Insassen zu überfallen und zu ermorden. Wenn es ihnen
glückte, den Ermordeten die Ohren abzuschneiden und sie als Trophäen mitzu¬
nehmen, so empfanden sie eine besondre Freude und erhielten für ihre „Helden¬
tat" Auszeichnungen, die aus silbernen Ringelchen bestanden und von den Meuchel¬
mördern an der Ohrmuschel befesügt wurden. Manche Männer der Siah-Posch
sollen beide Ohren mit solchen Ringelchen besetzt gehabt haben. Mein bester
Arbeiter erzählte mir, sein Vater habe einmal einen Mann der Siah-Posch ge¬
tötet, weil dieser eines seiner Kinder am hellen Tage habe ermorden wollen.
Das Kind habe Wasser holen wollen und sei dabei von dem Siah-Posch
überfallen worden, der von einer bedeutenden Anhöhe herabgesprungen sei. Da
er sich bei dem Sprunge an einem Fuße verletzte, vermochte er sein Vorhaben
nicht sogleich auszuführen, das Kind erschrak und schrie, worauf der Vater des
Kleinen herbeieilte und den Feind erschlug. Da die in der Nachbarschaft der
Siah-Posch lebenden Mohammedaner fortwährend der Gefahr ausgesetzt waren,
ermordet zu werden, sandte der Emir vor etlichen Jahren eine größere Militür-
abteilung aus, die das von den Siah-Posch bewohnte Gebiet durchstreifte und
mehrere Tausende dieses Volkes, Männer, Weiber und Kinder, gefangen nahm
und nach Kabul brachte. Dort wurden viele ältere Männer, die sich weigerten,
den Islam anzunehmen, hingerichtet. Etwa zweitausend Angehörige der Siah-
Posch leben noch in Kabul, darunter ungefähr zweihundert Knaben und Männer
im Alter von zwölf bis fünfundzwanzig Jahren. Eine größere Anzahl ist außer¬
halb der Stadt am Fuße des Pagmcmgebirges untergebracht. Jene bewohnen
eine kleine Kaserne, in der sie angenehm Hausen und gut behandelt werden. Sie
tragen hübsche Kleider, deren Farbe jeder nach Gutdünken wählen kann, und
machen täglich von sieben bis acht Uhr Morgens vor ihrer Kaserne militärische
Übungen. In ihren Gewändern von verschiedner Farbe stellen sie sich freilich
als eine bunte Gesellschaft dar, fallen aber dem Europäer durch ihre eigentüm¬
liche Gesichtsbildung und ihre gute Haltung sofort auf. Nach den täglichen
Übungen werden die jungen Leute im Koran unterwiesen. Die britisch-indische
Regierung unterhält mit den Sefid-Posch gute Beziehungen und gibt den vor¬
nehmen Männern dieses eigentümlichen Volkes öfter Gelegenheit, nach England
zu reisen.
Wenn von den in Kabul herrschenden Zustünden und Verhältnissen, unter
denen die Mehrzahl der Einwohner schwer zu leiden hat, auf die Lage der Ge¬
samtbevölkerung des Landes zu schließen erlaubt wäre, würde es schwer fallen,
das unbeschreibliche Elend des afghanischen Volkes auch nur annähernd zu
schildern. Obschon die Leute sehr genügsam sind, gehn nämlich in der Haupt¬
stadt gewiß sechzig Prozent an Nahrungsmangel frühzeitig zugrunde, und von
diesen sterben fast zehn Prozent tatsächlich Hungers. Dreißig Prozent, darunter
die Soldaten, haben ausreichende Nahrung, und nur zehn Prozent leben in
Hülle und Fülle. Zu diesen gehören die höhern Beamten und der Hofstaat des
Emirs. Wenn man in Kabul einem beleibten Mann begegnet, so kann man
mit Sicherheit annehmen, daß der Dickwanst ein höherer Beamter sei. Die Haupt¬
nahrung des armen Volkes in Kabul besteht zumeist aus Brot, Früchten und
rohem Gemüse, doch haben die Leute davon selten in genügender Menge. Ich
sah im Frühjahr Kinder und Erwachsne, wie sie auf den Feldern grünen Klee
abrissen, ihn wie das liebe Vieh sogleich verzehrten oder in Tüchern nach Hause
trugen. Im Sommer fristen die Ärmsten ihr Dasein übrigens noch leichter als
im Winter, da sie eher im Taglohn etwas verdienen können. Allerdings erhält
ein erwachsner Mann, der im Taglohn arbeitet, nur einen Abasi (dreißig Pfennige),
und oft muß dieser geringe Betrag hinreichen, fünf bis sechs hungrige Magen
zu sättigen, aber es ist doch die Möglichkeit eines Erwerbes durch Arbeit vor¬
handen. Wie Familien, die aus fünf oder sechs Personen bestehn, bei einem
solchen Verdienste des Familienoberhaupts Kleidung kaufe» und Wohnungs-
miete bezahlen können, ist freilich schwer zu begreifen, wenn die Miete auch nur
eine Rupie im Monat beträgt. Manche Familien leben in kleinen Lehmhütten,
die sie selbst gebaut haben, und liegen auf dem nackten Boden. Nur sehr wenige
können sich den Aufwand von Teppichen erlauben. Der Winter macht das Los
der armen Bewohner Kabuls überaus schlimm, namentlich wenn er sich so streng
anläßt wie der von 1900/01; der Schnee lag damals einen Meter hoch, und
die Temperatur sank bis zu 25 Grad Celsius. Da Zimmeröfen im ganzen
Lande unbekannt sind — in den Schlössern des Emirs sind englische Ka¬
mine gebaut —, macht sich die Kälte empfindlich bemerkbar. Die Bevölkerung
sucht sich dagegen folgendermaßen zu schützen. In der Mitte der Wohnräume
sind im Lehmboden geringe Vertiefungen, in denen kleine Holzfeuer angezündet
werden, die den Räumen Wärme geben. In den Häusern der Wohlhabenden
werden eiserne Pfannen aufgestellt, in denen Holzkohlen brennen. An den Feuern
und Pfannen sitzen die Bewohner mit untergeschlagnen Beinen, um sich zu er¬
wärmen. Wenn es Abend wird, pflegen die Leute niedrige Tische über die
Pfannen zu stellen. Große, zu diesem Zwecke verfertigte Decken werden über
die Tischchen gebreitet, und unter den Decken liegen die Leute, mit den Füßen
nächst den Pfannen. Häufig geschieht es, daß die Leute erkranken, weil sie, bis
über den Kopf zugedeckt, Kohlengas einatmen. Auch ein fünfzehnjähriger Sohn
des Emirs erkrankte im vergangnen Winter aus diesem Grunde, da er keinen
Ofen in seiner Wohnung hatte und deshalb eine Pfanne mit Holzkohlen unter
dem Tische aufstellen ließ, an dem er saß.
Die ärmsten Leute liegen in ihren Lehmhütten, die keine Fenster, sondern
nur eine Öffnung über der Tür haben, in Lumpen oder in gewöhnliche Schaf¬
pelze gehüllt, auf dem nackten Boden, so nahe wie nur möglich aneinander, um
nicht zu erfrieren. Nicht jeden Tag sind diese Darbenden und Frierenden so
glücklich, ein wenig Holz zu ergattern, denn sie haben oftmals nicht Geld genug,
Brot zu kaufen. Not und Elend machen es erklärlich, daß manche dieser Un¬
glücklichen zu Dieben werden, und daß viele Kinder betteln gehn.
Während des Fastenmonats Rmnascm (21. Dezember bis 21. Januar) läßt
der Emir täglich auf einem öffentlichen Platze in großen Kesseln Reis und
dergleichen für die ärmsten Leute kochen, und es werden dorthin auch einige
mit Brot beladne Wagen gebracht. Um vier Uhr Nachmittags werden diese
Speisen verteilt. Schon um die Mittagstunde versammeln sich die Hungernden
und warten sehnsüchtig auf die Stunde der Verteilung, die durch einen Kanonen¬
schuß angekündigt wird. Männer und Weiber drängen sich hinzu; es herrscht
bei der Verteilung nicht immer Unparteilichkeit, und die Anstellenden kommen,
insbesondre beim Brote, nicht zu kurz. Während des Fastenmonats bleiben
auch die Basare und Verkaufsladen, die sonst beim Eintritt der Dunkelheit
unweigerlich geschlossen werden müssen,*) bis zehn Uhr Nachts und noch länger
geöffnet. Um zwei Uhr Nachts verkündet wieder ein Kanonenschuß den Beginn
des täglichen Fastens. Am Tage darf weder gegessen noch getrunken noch
geraucht werden. Wenn ein Mann dieses Verbot außer acht läßt und dabei
betroffen wird, so wird sein Gesicht mit Ruß geschwärzt und der „Sünder"
sodann auf einen Esel gebunden und dieser durch die Basarstraße geführt, wobei
die Leute den Frevler anspeien. Übertretungen des Fastengebots ereignen sich
übrigens sehr selten.
Die im Staatsdienste stehenden Arbeiter sind keineswegs aller Sorgen um
ihr leibliches Wohlergehn und das ihrer Angehörigen enthoben, da der Einzelne
nicht mehr als acht bis neun Rupien (sieben bis acht Mark) im Monate ver¬
dient. Mein bester Arbeiter erhielt einen Monatlohn von neun Rupien und
mußte damit eine aus sechs Personen bestehende Familie ernähren und kleiden.
Es wunderte mich nicht, daß mich der Mann fast jeden dritten oder vierten Tag
um ein Geschenk bat, wobei er häufig bemerkte, er getraue sich ohne Brot nicht
nach Hause zu gehn, da ihn die kleinen Kinder immer fragten, ob er Brot für
sie mitgebracht habe. Wenn er ihr Verlangen gefüllt habe, und sie satt gegessen
hätten, dann schliefen sie die ganze Nacht ruhig und glückselig. Der Leser kann
sich denken, daß ich den beweglichen Bitten des Mannes nicht zu widerstehn
vermochte.
Die Taglöhner bekommen in Zwischenräumen von vier zu vier Wochen ihren
Lohn, die andern Arbeiter erhalten jedoch häufig monatelang keinen Lohn, ja
die Arbeiter in dem allgemeinen Arbeitshause müssen oft sechs, sieben und acht
Monate auf ihren Lohn warten. Dadurch werden die armen Teufel gezwungen,
Lebensmittel und andres auf Borg zu nehmen, was ihnen natürlich zum Schaden
gereicht, da sie die Waren um zwanzig Prozent teurer bezahlen müssen. Die
Ursachen dieses Vorgehns sind mir unbekannt, da täglich Geld geprägt wird,
und der Emir auch uns Europäern gegenüber gelegentlich äußerte, Geld besitze
er genug und könnte er sich, wenn er dessen bedürfte, jederzeit verschaffen. Es
scheint also die Absicht verfolgt zu werden, die Leute durch äußerste Not zu
fügsamen Untertanen zu machen und in Unterwürfigkeit zu erhalten.
Die Bekleidung der Männer und Frauen in Afghanistan erinnert an die
Volkstracht in der Türkei. Die Männer tragen weite, oberhalb der Knöchel
zusammengebundne oder sich nach unten verengende (knapp anschließende) Bein¬
kleider aus Baumwollleinen, Hemden aus demselben Stoffe und rockartige Ober-
kleider, kürzer als die darunter vorschauenden Hemden. Ein Turban und eine
Art Halbschuhe, die, nicht mit Schnüren gebunden, leicht von den Füßen gestreift
werden können, vervollständigen die Männerkleidung. Die Frauen und Mädchen,
die man niemals von Angesicht zu Angesicht sehen kann, da sie, mohammedanischer
Sitte gemäß, mit vollständig verhülltem Antlitz auf die Straße gehn, tragen
ebenfalls Beinkleider und Hemden sowie ein weites, bis auf die Knöchel
reichendes weißes Oberkleid und einen sehr dichten Schleier. Ich habe Mädchen
im Alter von vier bis fünf Jahren gesehen, die noch nicht verhüllt gingen, und
schließe aus dem Aussehen dieser hübschen, rotbäckiger Kinder, daß die Frauen
des Landes wohlgestaltet sind und auch für europäische Begriffe ansprechende
Gesichtszüge haben.
Die Ehen kommen in Afghanistan nicht wie bei uns zustande, denn gegen¬
seitige Neigung spielt dabei gar keine Rolle, und die Mädchen fügen sich ohne
Widerspruch dem Willen der Eltern. Liebschaften werden nicht nur nicht ge¬
duldet, sondern streng bestraft. Als Ehestifterinnen erscheinen Großmütter, Mütter
und solche Frauen, die daraus ein Gewerbe machen. Die letzten kennen immer
eine Anzahl heiratsfähiger Männer und Mädchen sowie Witwen, die sich wieder
verheiraten wollen. Eine untere Altersgrenze gibt es für Mädchen nicht, sodaß
schon Kinder mit vier Jahren in giltiger Ehe verbunden werden können. Nicht
selten werden Mädchen mit acht Jahren verehelicht, zumeist zählen aber die
Mädchen zwölf Jahre, wenn sie verheiratet werden. Diese Angaben gelten für
Kabul selbst, auf dem Lande werden die Mädchen meist in etwas vorgeschrittnerm
Alter verheiratet, und die Hasareh halten streng darauf, daß kein Mädchen vor
dem fünfzehnten Lebensjahr einen Mann bekommt. Wenn sich ein Mann zu
verehelichen wünscht, so wird von seiner Mutter, Großmutter oder einer Ver¬
mittlerin Ausschau nach einem passenden Mädchen gehalten, worauf von beiden
Seiten Erkundigungen eingezogen werden. Dem Manne wird berichtet, das
Mädchen sei hübsch und gäbe eine gute Ehefrau für ihn ab; dem Mädchen wird
mitgeteilt, der N. N. wünsche sie zu heiraten, er sei ein tüchtiger, braver Mann,
der eine Familie zu ernähren vermöge und dergleichen. Dann pflegt der Vater
des Mädchens mit dem Heiratslustigen Unterhandlungen über den Preis der
Braut. Die für Mädchen gezählten Preise sind verschieden. Gewöhnlich findet
die Bestimmung des Preises im Einklange mit den Vermögensverhältnissen
des Freiers statt, doch ist auch die diesem freilich unbekannte Schönheit der
Erkornen von großem Einfluß auf die Preislage, sodaß Preise von 5 bis
1000 Rupien und mehr für ein Mädchen bezahlt werden. Ist dieser wichtigste
Teil des Handels erledigt, so wird die Nachbarschaft davon in Kenntnis gesetzt,
und es werden die Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen. Dann ergehn
die Einladungen zur Teilnahme für einen bestimmten Tag, wo der moham¬
medanische Geistliche (Mullah) in dem Hause der Braut erscheint, wohin auch
der Bräutigam mit seinen Angehörigen und Freunden kommt. Nach vollzogner
Trauung wird ein aus Süßigkeiten sowie aus frischen und getrockneten Früchten
bestehendes Festmahl eingenommen. Alkoholische Getränke fehlen auch bei diesen
Gelegenheiten- Wenn das Mahl verzehrt ist, begibt sich die ganze Hochzeits¬
gesellschaft in das Haus des Bräutigams.
Die Frauen gehn selbstverständlich vollständig in ein weißes Überkleid einge¬
hüllt aus dem Hause. Die Braut wird gewöhnlich auf ein Pferd gesetzt, auf dem
sie nach Männerart reitet. Wenn die Entfernung groß ist, reiten wohl auch alle,
Männer und Frauen. Die Ausstattung der Braut wird auf Pferden oder Maul¬
tieren, die dem Anlasse gemäß geschmückt und geputzt sind, in das Haus des Ehe¬
manns geschafft. Musikanten, in deren Reihen Trommler die Hauptrolle spielen,
geleiten den Hochzeitszug.
Ehebruch wird gewöhnlich mit dem Tode bestraft. Wenn ein Mann seine
Frau auf frischer Tat ertappt, kann er den Ehebrecher ohne irgendeine Gefahr
für sich selbst töten; erschlägt er ihn später, so wird er zwar bestraft, aber nicht
mit dem Tode. Ich kannte einen Mann, der wegen eines Ehebruchs sieben
Jahre als Gefangner die Fesseln tragen mußte, eine nach europäischen An¬
schauungen sehr strenge Strafe. Macht ein Mann einem andern die erwählte
Braut abspenstig, so hat er eine empfindliche Strafe zu gewärtigen, wenn er sich
mit dem Getäuschten nicht auf dem Wege eines Ausgleichs auseinandersetzt. In
einem solchen Falle, der zu meiner Kenntnis gelangte, mußte der schuldige Mann
seinem Gegner fünfzig Rupien zahlen, um einer Bestrafung zu entgehn und die
Ehe mit der frühern Braut seines Widerparts schließen zu können. Eheschei¬
dungen werden ohne besondre Förmlichkeiten dadurch vollzogen, daß der Mann
vor Zeugen oder schriftlich die Erklärung abgibt, daß er die Scheidung wünsche
oder damit einverstanden sei. Dem Manne steht es übrigens, da das Weib als
rechtlos betrachtet wird, jederzeit frei, seine Frau zu verkaufen oder zu ver¬
schenken.
Hier will ich erwähnen, daß in Afghanistan Frauen und Mädchen nach
moslemitischer Anschauung von jeder öffentlichen Arbeit und Beschäftigung aus¬
geschlossen sind. Sie schalten und walten im engsten Familienkreise; man sieht
gänzlich verhüllte Gestalten, die dadurch als Weiber kenntlich sind, auch auf
Straßen und Plätzen, doch spielen sie im öffentlichen Leben nicht die geringste
Rolle. Die überaus phantastischen und romantischen Berichte, die vor nicht gar
langer Zeit auch in der großen Presse Deutschlands wiedergegeben wurden,
und wonach sich die Frau des Emirs bei einem Aufstande in Kabul in Männer¬
kleidung an die Spitze der Truppen gestellt und die Empörer zur Botmäßigkeit
gezwungen habe, weil ihr Gemahl, der Fürst, fern von der Hauptstadt gewesen
sei — diese abenteuerliche Geschichte mit der daran geknüpften Weissagung, beim
Tode des Emirs seien wegen des herrschsüchtigen und unweiblichen Wesens
seiner Gattin ernste Thronstreitigkeiten zu befürchten, verweise ich unbedenklich
in das Reich der Fabeln. Aus innern und äußern Gründen. Wenn der Emir,
was nur ganz ausnahmsweise geschieht, Kabul verläßt, so bleiben militärische
Oberbefehlshaber zurück, die doch vor allem berufen sind, die Truppen auch gegen
Aufrührer zu führen. Es entsteht aber auch die Frage, wo damals, als jener
„Aufstand" stattgefunden haben soll, der Thronfolger geweilt habe; ferner, ob
bei der strengen mohammedanischen Auffassung von der Stellung des Weibes
die Truppen einer Frau, und wenn sie auch die Gemahlin eines Herrschers ist,
würden Folge geleistet haben. Von einem solchen Ereignisse wäre mir gewiß
Kunde geworden, da ich doch Berichte über viel unbedeutendere Geschehnisse
erhielt. Der Emir begab sich meines Wissens als Herrscher einmal nach Britisch-
Jndien und einmal nach dem afghanischen Turkestan, wo von einem Soldaten
ein Schuß gegen ihn abgegeben wurde, der sein Ziel verfehlte.
Ob irgendeine und welche Absicht mit der Verbreitung des oben erwähnten
Märchens verbunden war, vermag ich nicht zu entscheiden; es ist übrigens auch
denkbar und ganz gut möglich, daß ein findiger Zeitungsschreiber die „Räuber¬
geschichte" in der Voraussetzung erfunden hat, daß es nur schwer gelingen dürfte,
sie auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Ich hätte mich auch mit der Münchhausiade
nicht eingehender befaßt, wenn sie nicht, durch vielgelesne Zeitungen verbreitet,
ganz irrige Vorstellungen erzeugen könnte und den Schimmer einer aller¬
dings lächerlichen Romantik auf Verhältnisse würfe, die nichts weniger als ro-
""NW sind. folgt)
M
W>velde hatte von Jugend auf eine wahre Herzenslust am Dasein
und glaubte ein Recht darauf zu haben, sich all des Schönen
zu erfreuen, das sich ihm darbot. Darin aber unterschied er sich
von den meisten frohsinnigen Naturen, daß ihm schon in der
! Jugend die glückliche Gabe zur Seite stand, sich dieser Freuden
wert zu zeigen, Ehrfurcht vor dem Schönen und Scheu vor allem Gemeinen
zu haben. In den Jahren, in denen sich ihm die Welt erschloß, hat auch er
allerlei Übermut getrieben, und doch sehen wir bei allen tollen Streichen einen
Jüngling vor uns, der ein starkes Bewußtsein seiner Menschenwürde in sich
trägt und bereut, wenn sein Mutwillen Schaden angerichtet hat. Alles, was
Menschen anging, interessierte ihn, denn das Ziel, das er nie vergaß, war,
sein eignes Wesen auszubilden und im Zwiespalt mit den Schwächen der
menschlichen Natur nach persönlicher Vervollkommnung zu ringen. Keine
Äußerung der Natur erschien ihm so geringfügig, daß er daran achtlos vor¬
über gegangen wäre. Auch feine wiederholten Schilderungen des Zweikampfes
sind für uns lehrreich, weil sie uns einen Einblick in die Sitten und Ge¬
bräuche seiner Zeit verschaffen und mancherlei kulturhistorische Ausblicke ge¬
währen. Auch dieser Gegenstand kann unser Interesse wecken, wenn ein
Dichter wie Goethe ihn darstellt, der wie wenig Menschen dazu begabt war,
die Welt um sich mit scharfem Auge zu beobachten und die Dinge zu zeigen,
wie sie sich in Wirklichkeit darstellen. Er schildert die meisten Zweikämpfe
mit köstlicher Naivität, moralisierende Absichten lagen ihm fern. Wenn wir
aber alles überschauen, was er über den Zweikampf erzählt, erkennen wir
doch, wie er selbst darüber empfand, und wie er sich zu den Auswüchsen seiner
Zeit persönlich stellte. Wer aber als strenger Sittenrichter mit dem Dichter
ins Gericht geht, möge sich an dem offnen Freimut genügen lassen, mit dem
sich Goethe in den zahmen Xenien (VI) als Sohn seiner Zeit bekennt:
Wie leicht man in Goethes Jugendzeit zur Selbsthilfe und zum Degen
griff, zeigt die Aufzeichnung aus einem Tagebuche jener Zeit. Der Gro߬
vater des Dichters, Schultheiß Textor, war das Haupt der herrschenden
österreichischen Partei. Aus einem noch erhaltnen amtlichen Schriftstücke
(Kriegks Senckenberg S 135) geht hervor, daß er den österreichisch-preußischen
Krieg einfach „die dermalige preußische Empörung" nannte. Der größere Teil
der Familie hielt es mit Österreich, der kleinere Teil, darunter der Rat Goethe,
hing mit Leidenschaft Friedrich dem Großen an. Daher kam es, daß sich die
Familienglieder nach der Darstellung Goethes auf der Straße nicht begegnen
konnten, ohne daß es Händel gab wie in Romeo und Julie. Bei einer
Tauffeier kam es im Jahre 1760 zu einer bösen Szene zwischen Textor und
seinem Schwiegersohne Goethe. Der Arzt Senckenberg erzählt darüber in
seinem Tagebuch unter dem 1. April 1760 (Kriegks Senckenberg S. 136)
folgendes: Der Schultheiß hatte eine Beschwerde des Rates Goethe wegen
der französischen Einquartierung abgelehnt. Bei Tische sprachen beide Männer
von diesem Gegenstande, und Textor gab seinem Schwiegersohne keine guten
Worte. Der Rat fuhr auf und sagte, er verfluche das Geld, das Textor
genommen habe, um die Stadt den Franzosen zu verraten, und verfluche die¬
jenigen, die sie hereingelassen hätten. Da warf Textor mit einem Messer
nach ihm, und der Rat zog den Degen. Der Taufvater, Pastor starck, der
eine andre Tochter Textors geheiratet hatte, wurde krank vor Schreck, dem
anwesenden Pfarrer Claudi gelang es mit Mühe, Frieden zu stiften.
In die Zeit der französischen Einquartierung fällt der erste Ehrenhandel
des Dichters selbst. Der Knabe, der bis dahin in ruhigen Verhältnissen auf¬
gewachsen war, sah erstaunt in eine Märchenwelt, als ihm zum erstenmal im
Grafen Thoranc ein wahrhaft vornehmer Mann von ritterlichem Wesen und
echt männlicher Art entgegentrat, und das französische Theater ihm Herz und
Sinn umstrickte. Mit dem jungen Derones vom französischen Theater sollte
er sich schlagen. Der ganze Handel verlief ungefährlich und ganz theatralisch,
wie aus Dichtung und Wahrheit (I, 3) bekannt ist. Der junge Wolfgang,
als Märchenprinz gekleidet, den Hut unter dem Arm, mit einem kleinen
Degen, dessen Bügel mit einer seidnen Bandschleife geziert war, spielte mit
feinen Kameraden in der Nähe des Theaters. Da fiel es dem jungen Derones
ein, Wolfgang zu erklären, er habe ihn beleidigt und müsse ihm Genugtuung
geben. Der Märchenprinz begreift nicht, um was es sich handelt, läßt sich
aber die Herausforderung gefallen. Hinter einer Scheune geht dann der
Zweikampf vor sich, die Klingen klirren, aber die Stöße gehn neben aus.
Derones bleibt mit der Spitze seines Degens an der Bandschleife seines
Gegners hängen, erklärt vollkommen Genugtuung zu haben, umarmt Wolf¬
gang und geht mit ihm in ein Kaffeehaus, um bei einem Glase Mandelmilch
den alten Freundschaftsbund desto fester zu schließen. Den Zweikampf des
Grafen Thoranc, der sich im französischen Schauspiel entsponnen hatte, berührt
der Dichter nur kurz und zählt zu den Gründen, die den Grafen Heranlaßt
haben mochten, sich vor der Welt möglichst abzuschließen und in sich selbst
zurückzuziehn, dieses Duell, bei dem Thoranc verwundet wurde. Ebenso kurz
fügt Goethe hinzu, man habe es dem Königsleutnant verarge, daß er selbst
als oberster Polizeimeister eine verpönte Handlung begangen habe.
In Dichtung und Wahrheit (I, 4) erzählt Goethe, wie es ihm und seinen
Genossen nicht nur durch die kriegerischen Zustände, sondern auch durch das
bürgerliche Leben selbst, durch Lesen von Geschichten und Romanen nur allzu
deutlich geworden sei, daß es sehr viele Fälle gäbe, in denen die Gesetze
schweigen und dem Einzelnen nicht zu Hilfe kommen, der dann zusehen möge,
wie er sich aus der Sache ziehe. Deshalb erhielt er in den letzten Jahren
vor dem Abgange zur Universität Feast- und Reitunterricht, um sich gelegent¬
lich seiner Haut zu wehren und zu Pferde kein schülerhaftes Ansehen zu
haben. Schon damals wurde er in die verschiednen Arten der Fechtkunst, die
deutsche und die französische Methode, eingeweiht, und dies Interesse für
kunstgemäßes Fechten war ihm bis in sein höheres Alter treu. Durch seine
Verbindung mit Jena blieb er mit den verschiednen Fechtmethoden vertraut,
besonders in der Zeit, als sein Sohn in Jena studierte.
In Wilhelm Meisters Lehrjahren (IV, 5) sehen wir deutlich, welches
Gewicht er auf diese Fertigkeit legte. Als die Theatergesellschaft, der sich
Wilhelm angeschlossen hat, auf ihrer Wanderung zu einem andern Schauplatz
ihrer Künste Rast macht, greifen Wilhelm und Laertes zu den Rapieren und
beginnen in theatralischer Absicht ihre Übungen. Sie wollen den Zweikampf
in Shakespeares Hamlet darstellen, wo Hamlet und Laertes ein tragisches
Ende finden. Beide sind der Ansicht, daß man in dieser Szene nicht unge¬
schickt hin und wieder stoßen dürfe, wie es wohl auf der Bühne zu geschehen
pflege. Sie wollen ein Muster darstellen, wie man bei der Aufführung auch
den Kenner der Fechtkunst befriedigen könne. Die Genossen schließen einen
Kreis um sie her, beide fechten mit Eifer und Geschick, sodaß das Interesse
der Zuschauer mit jedem Gange wächst. In dem Augenblick werden sie von
Marodeuren überfallen, die Gesellschaft führt erschrocken auseinander, und die
Männer greifen zu den Pistolen.
In Dichtung und Wahrheit (II, 6) urteilt der Dichter über das studentische
Treiben in Jena und in Halle äußerst streng. Er erzählt, daß an diesen Uni¬
versitäten körperliche Stärke, Gewandtheit im Fechten und die wildeste Selbst¬
hilfe an der Tagesordnung waren, und daß sich ein solcher Zustand nur
durch Saus und Braus erhalten und fortpflanzen konnte. Über das Treiben
in Leipzig urteilt er wesentlich günstiger, räumt aber selbst ein, daß sich gerade
in Leipzig in ihm ein verwegner Humor entwickelt habe, der die Gefahr mut¬
willig herbeilockt, und daß seine Natur zwischen den Gegensätzen ausgelassener
Lustigkeit und melancholischen Unbehagens geschwankt habe. In solcher Stimmung
mag der Dichter gewesen sein, als er es in studentischen Übermut dahin
brachte, daß er sich selbst schlagen mußte. Zu den Livländern, die sich unter
der Schönkopfschen Tischgesellschaft befanden, gehörte nach W. von Biedermanns
Goethe und Leipzig (I, 222) der Theologe Gustav Bergmann, der Ostern 1767
die Leipziger Hochschule bezog und später als Geistlicher, besonders aber durch
seine Wirksamkeit für die Armen und Kranken über die engern Grenzen seiner
Heimat hinaus bekannt geworden ist. Goethe traf ihn einst im Schauspiel¬
hause und sagte im Gefühl seiner Würde als Studiosus, der schon drei
Semester hinter sich hatte, zu seinen Bekannten gewandt: „Hier flinkes nach
Füchsen." Kaum hatte der junge Renommist diese Worte gesprochen, so gab
ihm Bergmann eine Ohrfeige. Die Folge war ein Zweikampf, bei dem Goethe
am Oberarm verwundet wurde. Aus diesen Gründen können wir es ver-
stehn, wenn der junge Dichter nicht nur infolge seiner schweren Erkrankung,
sondern auch in der Erinnerung vergeudeter Zeit und peinlicher Vorgänge
bei der Rückkehr von Leipzig in sein Vaterhaus in Dichtung und Wahrheit
fil, 8) mit offnem Freimut eingesteht, daß es für ihn ein niederschlagendes
Gefühl gewesen sei, gleichsam als ein Schiffbrüchiger zurückzukehren. Auch in
Straßburg war der junge Dichter Zeuge studentischer Händel. Unter seinen
Studiengenossen nennt er Lerse das Muster eines deutschen Jünglings von
guter Sinnesart und sagt von ihm, er habe sich bei allen kleinen und größern
Händeln, die in dem geschlossenen Kreise vorkamen, als Schieds- und Kampf¬
richter allezeit bewährt. Dabei habe Lerse stets die größte Unparteilichkeit
gezeigt, und wenn ein Handel nicht mehr mit Worten und Erklärungen aus¬
gemacht werden konnte, die zu erwartende Genugtuung als sekundäre auf
ehrenvolle Weise ins Unschädliche zu leiten gewußt. Goethe machte einst mit
seinen Genossen, unter denen sich der wunderliche Ludwigsritter, sonst auch
Hauptmann genannt, einen Spaziergang ins Freie. Der Hauptmann trifft
dabei auf einen ihm bekannten jungen Mann und stichelt auf ihn ohne jeden
Grund. Der andre sucht in verständiger Weise auszuweichen, aber der Haupt¬
mann fährt fort, schonungslos unartig zu sein. Da bleibt dem Gegner nichts
andres übrig, als Hut und Stock zu ergreifen und beim Abschied eine un¬
zweideutige Herausforderung zurückzulassen. Goethe vertraut die Sache seinem
Freunde Lerse an und geht am andern Morgen mit ihm zu dem jungen
Manne, den Lerse mit seinem trocknen Humor zum Lachen bringt. Es wird
ein ungefähres Zusammentreffen verabredet, wobei der Ausgleich vor sich
gehn soll. Der Hauptmann hatte seine Unart verschlafen und ließ sich zur
Begütigung seines Gegners bereit finden.
Ergötzlich ist die Freude, die der Dichter einst an seinem Sohne August
hatte, der damals noch junger Student war. Er war 1807 nach Karlsbad
gegangen und ließ gegen Ende der Kur seinen Sohn dorthin kommen, um
ihm den Anblick des lieblichen Ortes, von dem zuhause oft die Rede war, zu
gönnen. Zu jener Zeit war eine Art Pekesche Mode, grün, mit Schnüren
von derselben Farbe vielfach besetzt, beim Reiten und auf der Jagd sehr bequem
und deshalb sehr verbreitet. Einige versprengte preußische Offiziere legten
gern diese Pekesche an und konnten überall unter Pächtern, Gutsbesitzern,
Jägern, Pferdehändlern und Studenten unerkannt umhergehn. Aber man
hatte in Karlsbad einige dieser verkappten Offiziere ausgewittert und deutete
nun sehr bald diese Tracht auf einen Preußen. Besonders war dies bei den
zahlreichen Polen der Fall, deren Haß gegen die Preußen schon seit langer
Zeit entbrannt und nach den letzten Unglücksfällen der Preußen in Verachtung
übergegangen war.
Eines Tages ging August auf dem Platze vor den Häusern der Wiese
umher; vier Polen begegnen ihm und mustern ihn, weil sie unter der grünen,
ursprünglich polnischen Jacke einen Preußen vermuten. Einer der Polen geht
an ihm vorbei, sieht ihm dreist ins Gesicht und gesellt sich wieder zu den
andern. Der junge Student weiß es so einzurichten, daß er ihnen nochmals
begegnet, in der Mitte des Weges auf sie losgeht, die vier durchschreitet und
dabei kurz erklärt, wie er heiße, wo er wohne, daß seine Abreise für den
andern Tag bestimmt sei, und daß, wer etwas an ihm zu suchen habe, es
noch denselben Abend tun könne. Der Vater Goethe, der diese kleine Episode
in den Tag- und Jahresheften 672 bis 674 erzählt, sagt ausdrücklich, sie
hätten den Abend, ohne beunruhigt zu sein, verbracht und so am andern Morgen
die Reise angetreten, er fügt aber ernster hinzu, es war, als könnte diese
Komödie nicht ohne Ehrenhändel endigen. In dem Gedichte „Rechenschaft,"
das im Jahre 1810 gedichtet, für die Berliner Liedertafel bestimmt war und
von Zelter noch in demselben Jahre in Musik gesetzt wurde, prüft der Meister
einer geschlossenen Gesellschaft jeden Gast, der sich zur Aufnahme meldet, ob er
seine Pflicht getan hat. Einer der Gefragten zählt zu seinen guten Taten
eine Mensur mit einem Renommisten:
Der Meister ist mit der Auskunft der Novizen zufrieden und ruft stolz im
Kreise der Genossen aus:
In den Tag- und Jahresheften (488) erzählt der Dichter von einem
Duell, das uns zugleich einen Einblick in die Vorliebe jener Zeit für mystische
Dinge gewahrt. Er besuchte im Jahre 1805 auf einer längern Reise den
Hofrat Beireis in Helmstedt, der sich mit mancherlei geheimnisvollen Künsten
brüstete. Der Hofrat zeigte ihm unter andern Kostbarkeiten eine magische
Uhr, die die Eigenschaft haben sollte, auf des Hofrats Befehl still zu stehn
oder weiter zu gehn. Die Uhr ging damals natürlich nicht mehr, denn
Beireis hatte geschworen, sie nicht wieder aufzuziehn, und teilte dem Dichter
mit, ein Offizier, den man wegen der Erzählung dieses Wunders Lügen ge¬
straft hätte, sei im Duell erstochen worden, und seit der Zeit habe er sich
fest vorgenommen, seine Bewundrer nie wieder einer solchen Gefahr auszu¬
setzen oder die Ungläubigen zu so übereilten Greueltaten zu treiben.
Die scharfe Beobachtung des Dichters und seine helle Freude am kecken
Wagemute zeigt eine kleine Erzählung in der Kampagne in Frankreich aus
dem November 1792. Die Verbündeten waren nach ruhmlosen Kampfe aus
Frankreich zurückgekehrt, das Regiment des Herzogs von Weimar biwakierte
in den Dörfern gegenüber von Neuwied. Eines Tages ging Goethe in Koblenz
zum Rhein hinab, um sich übersetzen zu lassen, blieb aber am Ufer stehn und
sah zu, wie ein österreichischer Wagentransport zum andern Ufer hinüber¬
gefahren werden sollte. An der Brücke ist ein österreichischer Unteroffizier
postiert, um die möglichst schnelle Überfahrt der Wagenkolonne zu beaufsichtigen
und kein andres Fahrzeug dazwischen zu lassen. Da kommt ein preußischer
Unteroffizier heran und verlangt für sein Wägelchen, auf das Frau und Kind
mit seinen Habseligkeiten gepackt waren, freie Bahn. Der Österreicher ver¬
weigert gelassen die Forderung und beruft sich auf seinen Befehl, keine Aus¬
nahme zu gestatten. Der Preuße wird heftiger, der andre womöglich noch
gelassener. Da schlägt der Preuße an seinen Säbel und fordert den Gegner
heraus. Unter Drohen und Schimpfen sucht er ihn in das nächste Gäßchen
zu locken und die Sache dort auszumachen. Der andre aber, der die Pflichten
seines Postens kennt, bleibt verständig, rührt sich nicht und hält Ordnung
nach wie vor. Goethe hatte an dieser Szene seine Freude und wünschte sie
von einem Charakterzeichner festgehalten, weil beide Männer die Eigenart ihrer
Nation erkennen ließen. Der Gelassene war stämmig und stark, der Preuße
hager, lang, schmächtig und rührig.
Am häufigsten erscheint der Zweikampf in den Jugendtraum des Dichters,
in denen sein eignes ungestümes Brausen am deutlichsten hervortritt und die
Anschauungen seiner Zeit unverhüllt zeigt.
In dem Lustspiele „Die Mitschuldigen," das in seiner ältesten Gestalt
schon dem Jahre 1768 anzugehören scheint, will der sittlich verkommne Söller
Nachts Alcest bestehlen, um eine Spielschuld bezahlen zu können. Zur Geld¬
gier gesellt sich Eifersucht, die ihm den Diebstahl berechtigter erscheinen läßt,
denn er weiß, daß Alcest um seine junge Frau Sophie herumschleicht. Darum
haßt er ihn, aber er wagt sich (I, 7) nicht an ihn heran, weil Alcest sogleich
bereit sei, zu hauen und sich zu schießen. Als Alcest später fill, 9) mit
Söller in Wortwechsel gerät, zieht er wirklich den Degen, um den Gegner
zu strafen, der immer unverblümter auf die Beziehungen zwischen Alcest und
Sophie stichelt.
Von besondern: Interesse ist für uns das Trauerspiel Clavigo, weil der
Dichter selbst in einem Briefe an F. H. Jacobi (Briefwechsel mit Jacobi S. 30)
gesteht, daß sich Clavigos Charakter und Taten mit seinem eignen Charakter
und seinen eignen Taten amalgamicrt hätten. Beaumarchais erscheint bei
Clavigo, um seine Schwester Marie an ihm zu rächen. Er kommt bewaffnet
mit der besten Sache und aller Entschlossenheit, den Verräter zu entlarven,
mit blutigen Zügen seine Seele auf seinem Gesichte zu zeichnen. Er zwingt
ihn, vor seinen Bedienten eine schimpfliche Erklärung niederzuschreiben, in der
er bekennt, Marie ohne jeden Grund belogen und sich meineidig gemacht zu
haben, und wenn diese Satisfaktion der Beleidigten nicht genügen sollte,
bereit zu sein, sie auf alle andre nötige Weise zu geben. Clavigos Freund
Carlos sagt von dieser Erklärung, die er dem Wortlaute nach nicht kennt, sie
sei das Gescheiteste gewesen, wer werde sein Leben gegen einen so romantischen
Fratzen wagen. Als Marie anscheinend verzeiht, zerreißt Beaumarchais die
schriftliche Erklärung und übergibt sie Clavigo. Carlos aber weiß den schwachen
Freund wieder umzustimmen und rät ihm, an Beaumarchais zu schreiben, er
finde es nicht für gut, seine Schwester zu heiraten; die Ursache könne er er¬
fahren, wenn er sich Nachts, von einem Freunde begleitet und mit beliebigen
Waffen versehen, da oder dort einfinden wolle. Dann aber ändert er seinen
Rat mit dem Einwände, daß sie beide keinen Grund hätten, sich gegen den
aufgebrachten Abenteurer zu wagen; er selbst will die Verhaftung des Gegners
durchsetzen. Teuflisch fügt er hinzu, wer den Bruder einstecken läßt, gibt
pantomimisch zu verstehn, daß er die Schwester nicht mag. Marie stirbt vor
Aufregung und Schmerz, an ihrem Sarge kämpft Beaumarchais mit Clavigo
und stößt ihm den Degen in die Brust. Nach der blutigen Tat legt sich seine
Wut, und er verzeiht dem Mörder seiner Schwester.
In der ältern prosaischen Gestalt des Singspiels „Erwin und Elmire"
singt Erwin, ganz so, als wenn jede Art von Rauferei an der Tagesord¬
nung Ware:
Im Singspiel „Klaudine von Villa Bella," das in der ältern prosaischen
Fassung 1775 beendet und 1788 in dramatische Verse umgearbeitet wurde,
beginnt der Wechselgesang zwischen dem vermeintlichen Räuberhauptmann
Nugantino und seinen Genossen mit einem echten Vagantenliede:
Rugantino gerät in: ersten Aufzuge mit seinem Genossen Basko in Streit und
ruft ihm drohend zu:
Basko ist sogleich zum Kampfe bereit. Als Rugantino Nachts in den
Schloßgarten Alonzos eindringt, begegnet er seinem Bruder Pedro, den er
nicht kennt, kämpft mit ihm und verwundet ihn in den rechten Arm. Der
Verwundete wird von Rugantino geschont und in die Herberge der Räuber
gebracht. Luzinde, die Nichte Alonzos, geht in Männertracht, mit Federhut
und Degen ebenfalls in den Park, um Pedro zu suchen. Sie trifft dort mit
Basko zusammen und fordert ihn auf, die Waffen niederzulegen und sich zu
ergeben. Als Basko auf ihr Geheiß nicht achtet, reizt sie ihn zum Kampfe:
Sie kämpfen, Luzinde wird entwaffnet, aber durch die ankommenden Freunde
geschützt.
In dem Schauspiele „Die Geschwister," das in der ersten Zeit von Goethes
Aufenthalt in Weimar 1776 entstand, tritt uns ein treues Abbild der Auf¬
fassung entgegen, wie sich junge Mädchen jener Zeit den Geliebten dachten
und im Traum vorstellten. Marianne gesteht ihrem vermeintlichen Bruder
Wilhelm, daß er ihr ganzes Herz, ihren ganzen Kopf einnehme, daß die
liebsten und besten Menschen in den Romanen alle aussahen wie er, daß sie
ihn in den großen Gärten spazieren, reiten, reisen und sich duellieren sah.
In dem Singspiele „Die ungleichen Hausgenossen," das unvollendet ge¬
blieben ist und in den Tag- und Jahresheften in das Jahr 1789 verwiesen
wird, sollte es nach den vorhandnen Aufzeichnungen des Dichters wahrscheinlich
auch zum Duell kommen. In diesem Sinne ist das Fragment zu verstehn:
In dem Lustspiel „Der Grvßkophta" erkennt der Ritter den Betrug des
Grafen und ruft ihm drohend zu, daß seine Geister ihn nicht erschrecken, und
daß eine Klinge gegen ihn bereit sei. Der Graf weicht feige aus, ein drei¬
facher Harnisch der Rechtschaffenheit, der Weisheit und der Zauberkraft schütze
seine Brust, der Ritter werde darum die Stücke der zerbrochnen Klinge beschämt
zu seinen Füßen suchen. Schluß folgt)
es blieb einige Tage in Köln auf der christlichen Herberge, wo es
ziemlich schmutzig war, und wanderte dann über Deutz, wo ich eine
Nacht zubrachte, Mülheim a. Rh. und Düsseldorf nach Krefeld. Hier
ging ich wieder einmal auf falschen Tappen und besuchte die Metzger.
Einer von ihnen stellte mit mir ein regelrechtes Examen an, zeigte
mir allerhand Fleischstücke, über deren Kenntnis ich mich ausweisen
mußte, und erlaubte mir dann, ein Stück Wurst abzuschneiden, eine Aufforderung,
der ich mit mehr Eifer als Bescheidenheit nachkam, wobei er mit einer gewissen
Anerkennung bemerkte, ich sei ein „zünftiger" Metzger. In Elberfeld langte ich
gerade zum Weihnachtsfeste auf der Herberge zur Heimat an. Es fand dort eine
größere Weihnachtsfeier statt, an der etwa siebzig Kunden teilnahmen, und wobei
ein Geistlicher die Andacht leitete. Nachher gab es umsonst ein warmes Abendbrot
sowie eine Anzahl Geschenke, als Strümpfe, Mützen u. tgi. Am ersten Weihnachts¬
feiertage ging ich „auf die Fahrt" und besuchte auch die Nachbarstadt Barmer,
wo ich drei Mark zusammeufocht. Dort traf ich in einer Wirtschaft einen Lands-
mann aus Treuen i. V. namens Putlit, der in Barmer mit Treuenschen Tüchern
handelte, seinen Wohnsitz aber in Krefeld hatte, wohin er mich auch einlud. Dann
wanderte ich nach München-Gladbach. Von München-Gladbach ging ich nach Viersen,
wo es auf der Herberge sehr gemütlich war, und wo ich deshalb mehrere Tage
blieb. Die Gegend war dufte (gut), und das Kommandoschieben in die weitere
Umgegend lohnte sich.
Auf der Herberge ging es am Sonntag, wo sich auch eine ganze Anzahl
Bauernburschen und Mädchen aus der Umgegend einfand, höchst lustig zu. Es
war dort ein lahmer Schneider, ein Original ersten Ranges, der an einem solchen
Abende den Vorschlag machte, einen Junggesellenverein zu gründen, und den Namen
und das genaue Personale jedes Anwesenden gegen eine Einschreibegebühr von
zwanzig Poschern in sein Notizbuch schrieb. Diese Tätigkeit erwies sich als höchst
einträglich, denn seine Kasse füllte sich zusehends und würde vermutlich zu einer
sehr ansehnlichen Summe angeschwollen sein, wenn er nicht das Bedürfnis gehabt
hätte, seine Einkünfte sofort wieder in Soruff umzusetzen. Über deu Zweck und
die Statuten seines Vereins ließ er nichts verlauten, sondern begnügte sich, was
ja auch wohl für ihn die Hauptsache war, mit dem Einkassieren der Gebühren.
Nach einigen vergnügten Tagen wanderte ich nach München-Gladbach zurück und
von dort nach Krefeld, wo ich meinen Landsmann aus Treuen besuchte. Es war
dort gerade Wochenmarkt; ich half meinem Gastfreunde beim Aufbauen seines Standes
und blieb zwei Tage dort. Zum Karneval ging ich nach Düsseldorf, wo ich mich
vortrefflich amüsierte und dem Fastnachtsumzug beiwohnte. Am Abend, als wir
schon in unsern Betten lagen, gab es in der Herberge Krawall, und am nächsten
Tage hörten wir, daß der Boos von einem Düsseldorfer Tunichtgut bei einem
Streite in den Arm gestochen worden war. In Düsseldorf ließ sich ein Bäcker¬
meister meine Papiere aushändigen und fragte mich dann nach meinem Namen,
Geburtsdatum und der Stelle, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Als er merkte, daß
meine Papiere mit den Aussagen übereinstimmten, gab er mir eine Mark, die wohl
die einzige war, die ich von einem Meister je erhalten habe.
Von Düsseldorf wanderte ich über Solingen nach Remscheid, wo ich gleich
bei einem Meister Arbeit fand. Zum Mittagessen bekam ich „weißen Kappes," ein
Gericht, dem ich wenig Geschmack abzugewinnen vermochte. Auch die Arbeit mutete
mich höchst seltsam an; ich mußte mit dem Meister zusammen den Schwarzbrotteig
kneten und erhielt, als ich glaubte, der Teig sei glücklich fertig, die Weisung, Schuhe
und Strümpfe cmszuzieh», mir die Füße zu waschen und in den Teig hinein¬
zusteigen. Über der Beute (Backtrog) war eine Stange angebracht, um der man
sich festhalten konnte, während man mit den Füßen, hauptsächlich mit den Fersen,
den Teig bearbeitete. Dies dauerte etwa drei Stunden, dann wurde der Teig ab¬
gewogen, zu Broden geformt, wobei das Dienstmädchen und ein Nachbar helfen
mußten, und endlich, d. h. um sechs Uhr Abends, wurden die Brote in den Ofen
geschoben, den der Meister, nachdem er ihn geschlossen hatte, mit Lehm verklebte.
Um zehn Uhr Abends holten wir die fertigen Brote aus dem Backofen und konnten
uns zu Bett legen, mußten aber um ein Uhr in der Nacht schon mit der Her¬
stellung des Teiges sür die weiße Ware beginnen. Diese Art der Arbeit kam mir
spanisch vor, und da mir überdies die „Krone" (Frau, besonders Meisterin) am
zweiten Tage wieder weißen Kappes vorsetzte, beschloß ich, den Remscheider Staub
von den Füßen zu schütteln und weiter zu wandern. Ich durchzog das Sieger¬
land und gelangte im März über Kassel nach Eschwege.
Hier erhielt ich in einer großen Dampfbäckerei, die acht Gesellen und einen
Konditor beschäftigte, Arbeit. Der Besitzer war kein gelernter Bäcker, sondern ein
Bauunternehmer, der sich die englischen Öfen in dem benachbarten Hansen angesehen
und mit ebensolchen seine Bäckerei ausgestattet hatte. Ich bekam hier den höchsten
Lohn, den ich jemals in: Bäckereigewerbe erhalten habe, nämlich acht Mark die
Woche. Zu dem Betrieb gehörte eine Dampfanlage mit einer durch Dampf be-
triebnen Teigmaschine. Die Bäckerei unterhielt sechs Filialen in Eschwege und eine
in Kassel, wohin die Brote in ganzen Wagenladungen transportiert wurden. Zu
dem weitern Personal gehörten zwei Buchhalter und endlich drei Hausknechte,
denen auch die Versorgung der drei Pferde oblag. Die freie Zeit, über die wir
verfügen konnten, wenn das Brot im Ofen war, benutzten wir gewöhnlich zu einer
musikalischen Unterhaltung; einer der Gesellen, der Lehrer hatte werden wollen und
schon einige Jahre das Seminar besucht hatte, war ein Meister auf der Geige.
Der Konditor war Zithervirtuos, ein dritter wußte mit den Drückhölzern vortreff¬
lich zu trommeln, und ich schlug den Triangel. Sobald die andern die Musik ver¬
nahmen, kamen sie herbei. Auch die Frau des Besitzers und das Dienstmädchen
erschienen dann in der Backstube und beteiligten sich gelegentlich an einem Tänzchen.
Ich will nicht verschweigen, daß ich mich bei einer solchen Gelegenheit zum ersten¬
mal in meinem Leben ernstlich verliebte.
Die guten Lohnverhältnisse in Eschwege benutzte ich, mich wieder einmal neu
„einzupuppen" und mir sogar eine „Lupe" (Taschenuhr) zuzulegen. Um diese
Zeit stellte ich mich auch zum drittenmal beim Militär und wurde zur Ersatzreserve
Ur. 1 ohne Übung beim Train überschrieben. In Eschwege sah ich wieder einmal,
daß das Sprichwort: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt" Recht hat. Der Prinzipal,
bei dem ich besondres Vertrauen genoß, erzählte mir, daß der Leiter der Kasseler
Filiale das Brot dort billiger verkauft habe, als es herzustellen sei, und daß er
mit dem Gelde das Weite gesucht habe. Auch die beiden Buchhalter betrachtete er
unausgesetzt mit Mißtrauen und meinte, die Zahlen in ihren Büchern stimmten
wohl, aber das Geld in der Kasse würde immer weniger. Er mochte nicht so ganz
Unrecht haben, denn die beiden Buchhalter wurden täglich dicker und taten nur das
Allernotwendigste. Eines Sonntag Morgens stellte sich heraus, daß ein Kuchen,
der über die gewöhnliche Anzahl gebacken worden war, fehlte. Der erste Buch¬
halter fragte den „Schulmeister" nach dem Verbleib, und dieser erklärte der Wahr¬
heit gemäß, daß er nicht wisse, was mit dem Kuchen geschehen sei. Die Kellerräume
des Hauses waren vermietet, und die dort wohnenden Leute kamen fortwährend an
der Bäckerei vorbei. Es war also möglich, daß einer von ihnen den Kuchen hatte
angehn heißen. Als der Schulmeister uns andern mitteilte, welchen Verdacht der
Buchhalter gegen uus ausgesprochen habe, wurden wir erregt und benutzten die Ge¬
legenheit, bei der Frau des Prinzipals anzufragen, weshalb wir in den letzten vier¬
zehn Tagen das übliche Geld für Schnaps nicht erhalte» hätten. Sie verwies uns
an den ersten Buchhalter, und wir baten sie nun, ihn uus in die Backstube hinunter-
zuschicken. Er kam denn auch bald und begann, als wir ihn wegen des Schnaps¬
geldes mahnten, wieder nach dem verlornen Kuchen zu fragen und uns alle des
Diebstahls zu beschuldigen. Nun war aber unsre Geduld erschöpft, wir gingen alle
acht, einer nach dem andern, ins Kondor und kündigten. Ich ging zunächst nach
Kassel, wo ich für zwei Wochen eine Aushilfsstelle annahm, und von dort nach
Fulda. Dort traf ich mit einem Kellner zusammen, der über eine so schlechte Kluft
verfügte, daß er es für aussichtslos hielt, in den Hotels um Arbeit vorzusprechen.
Er gab mir deshalb seine Fleppe und ersuchte mich, für ihn „Umschau zu halten."
Das tat ich auch, da mehr dabei herauskam, als wenn ich meine eignen Meister
besucht hätte. In einem bessern Restaurant nahm mich der Wirt beiseite und fragte
mich, ob ich schon so tief gesunken sei, daß ich in den Restaurationen umschauen
müsse. Ich mußte diese Frage bejahe», zog aber zugleich die Papiere des Kellners
hervor, unter denen eine Postkarte war, durch die der Kellner aufgefordert wurde,
in eine frühere Stellung nach Frankfurt zurückzukehren. Nachdem der Wirt diese
Karte gelesen hatte, zahlte er mir das Reisegeld und wünschte mir Glück auf den
Weg. Ich begab mich zu dem Kellner zurück, teilte mit ihm den sehr ansehnlichen
Erlös meiner Fahrt und wanderte mit ihm und einem Sattler zunächst nach Schlüch-
tern. Hier trafen wir mit zwei Tippelschicksen zusammen, die auf den Sattler einen
so starken Eindruck machten, daß er bei ihnen blieb und uns allein weiter ziehn
ließ. Am andern Tage stießen wir mit dem Kleeblatt wieder zusammen und rich¬
teten es so ein, daß wir zuerst die Dörfer abfochten und den drei andern die Nach¬
lese überließen. Am Ausgange des Dorfes erwarteten wir sie dann und hatten
Gelegenheit zu beobachten, daß die Schicksen immer bessere Geschäfte gemacht hatten
als wir. Sie brachten außer reichlichem Kies und Lebensmitteln gewöhnlich einen
Pack Kinderwäsche mit, den sie aber in das nächste beste Wasser warfen. So ge¬
langten wir nach Gelnhausen, wo die eine der Schicksen der andern die Papiere
zottelte und damit auf Nimmerwiedersehen verschwand. Über Hann und Offen¬
bach kamen wir nach Aschaffenburg und stellten uns zum Mittagessen in einem
Kloster ein. Dort war ein Vorraum mit zwei oder drei Tischen und einer An¬
zahl Bänken ausgestattet, wo jeden Tag die Armen gespeist wurden. Um zwölf
Uhr erschienen zwei Mönche, die einen großen Blechkübel mit Essen trugen und
ihn in dem Raume niederstellten, worauf sie ein Gebet sprachen. Dann kamen ein
paar andre Mönche mit Tonschüsseln, die als Teller dienen mußten. Wer mit einem
Löffel essen wollte, mußte seinen Hut zum Pfande geben, woraus ich schloß, daß
die frommen Brüder mit ihren Gästen schon schlimme Erfahrungen gemacht hatten.
Das Essen bestand aus einem Gemisch von Erbsen, Linsen, Brodstücken, Kartoffeln
und Fleischresten, alles Dinge, die nicht von der besten Qualität waren, und die
offenbar als für die Tafel der Mönche ungeeignet aussortiert worden waren. Da
wir aber Hunger hatten, langten wir gehörig zu und verließen das Kloster wenigstens
mit dem Gefühl, gesättigt zu sein. Auf dem Wege nach Würzburg sprachen wir
noch mehreremal in Klöstern vor und erhielten regelmäßig eine Maß „Schöps"
(billiges Hausbier) nebst einem Stück Brot. In Würzburg kehrte ich in der Her¬
berge ein und besuchte am andern Tage um die Mittagszeit das Juliusspital, eine
großartige, mit einem Krankenhaus verbundne Anlage. Auch hier gab es wieder
ein aus verschiednen Kohlsorten und Fleischstücken gemischtes Essen, das in irdnen
Schüsseln verabreicht wurde. Allerdings war es nicht ganz leicht, mit dem Essen
fertig zu werden, da man uns keine Löffel einhändigte, und wir also gezwungen
waren, die ganze Schüssel an den Mund zu setzen und das Gemisch hinunter-
zuschlurfen. Auf der Herberge war ein Techniker, der bis vor kurzem wohl bessere
Tage gesehen und die Scheu vor dem Umschauen noch nicht überwunden hatte. Er
musterte mich von Kopf bis zu Füßen und händigte mir im Vertrauen auf meine
neue Kluft seiue Papiere ein, worunter sich die Zeichnung irgendeiner technischen
Anlage befand. Mit diesen Papieren besuchte ich die Ingenieure und erregte bei
einem davon mit der, wie er vermutete, von mir selbst angefertigten Zeichnung
so viel Bewunderung, daß er mir zwei Mark schenkte.
Auf der Reise nach Bamberg traf ich mit einem Bäcker aus Böhmen zu¬
sammen, der mir mitteilte, wir könnten in einem Dorfe zwischen Regensburg und
Landshut Arbeit bekommen, müßten uns aber dazu halten, wenn wir zur rechten
Zeit anlangen wollten. Als ich mich danach erkundigte, welcher Art die Arbeit sei,
sagte er mir, es handle sich um Hopfenzupfeu, er sei schon im letzten Sommer dort
gewesen und habe diese Arbeit verrichtet. Wir gingen zunächst über Kulmbach nach
Bayreuth, wo wir in einem Gasthofe logierten, und wo ich mir in der Gesellschaft
mehrerer Touristen das Grab Richard Wagners im Garten der Villa Wnhnfried
ansah, zu dem uus ein älterer Gärtner gegen ein Trinkgeld geleitete. Das Grab
war sehr einfach und wies als einzigen Schmuck eine schwarze Marmortafel ohne
Inschrift auf.
Nach diesem Abstecher, zu dem ich meinen Wanderkollegen überredet hatte,
weil ich Bciyreuth, von dem alle Welt sprach, sehen wollte, mußten wir in wahren
Eilmärschen, zu denen wir häufig auch die Nacht gebrauchten, weiter wandern und
gelangten über Erlangen, Nürnberg und Regensburg nach dem Dorfe Neuhauser,
wo mein Kollege schon bekannt war. Wir wanderten nach der Mühle, und mein
Begleiter begrüßte den Müller mit den Worten: „Griaß Gott, he Bauer, wenn
fangets a mit Hopfebrucke?" Der Müller erwiderte, nachdem er uns von oben
bis unten betrachtet hatte: „Mer fangets am Montag a, kennets komme." Damit
waren wir engagiert und wanderten auf das nächste Dorf, wo mir mein Begleiter
ein freies Nachtquartier in Aussicht stellte. Als wir dort angekommen waren,
gingen wir in das erste beste Bauernhaus, und hier fragte der Böhme nach der
üblichen Begrüßung den Besitzer: „He Bauer, wollts uns über Nacht behalte?"
was dieser, nachdem er uns ebenfalls sorgfältig geprüft hatte, bejahte. Wir setzten
uns an einen großen runden Tisch auf der Hausflur und erhielten bald unser
Abendbrot aufgetragen. Die Bauernfamilie ließ aber wohlweislich die Wohnstuben-
tür auf, um uns beobachten zu können. Unsre Wirte begannen mit dem üblichen
Gebet, und auch wir folgten diesem Brauche und unterließen auch nicht, das Kreuz
zu schlagen.
Dann löffelten wir unsre Suppe und wurden bald darauf zum Übermächten
in den Kuhstall geführt. Ich hatte mich, müde wie ich war, ein wenig entkleidet
und auf das Stroh gestreckt, ohne das Lokal und meine Nachbarschaft genau zu
mustern. In der Nacht spürte ich etwas Weiches und Warmes, das meine Füße
bedeckte, und merkte am andern Morgen, daß ich meinen spinatgrünen Fußwttrmer
einer Kuh zu verdanken hatte, die mir ihr Hinterteil zukehrte. Am Morgen machten
wir an der Pumpe Toilette und wuschen uns das Gesicht auf eine mir bis dahin
ungewohnte Weise: wir füllten einen Maßkrug mit Wasser, nahmen davon einen
gehörigen Mund voll, ließen es langsam in die Hände laufen und wuschen uns so
das Gesicht. Das Taschentuch mußte bei dieser Reinigung das fehlende Handtuch
ersetzen. Zum Frühstück gab es wieder eine Suppe, für die wir mit den Worten
„Vergelts Gott" dankten, worauf uns der Bauer mit einem „Segns Gott" ent¬
ließ. Wir benutzten den Sonntag dazu, in den Wirtschaften „schmal zu machen,"
d. h. die Gaste anzubetteln, die auch reichlich steckten. Am Abend begaben wir uns
nach einem andern Dorfe, fanden auch wieder ein freies Nachtquartier und waren
am Montag früh um fünf Uhr schon unterwegs nach Neuhauser. Bevor wir mit
Pferd und Wagen nach dem Hopfengarten aufbrachen, erhielten wir eine Suppe,
der natürlich wieder ein Gebet voranging und folgte. Dann machten wir uns auf
den Weg und erreichten in etwa einer Viertelstunde das Arbeitsfeld, auf dem
wir uns zunächst betätigen sollten. Der Hopfen wurde dort an langen Stangen
gezogen, die er von unten bis oben umwickelte. Wir mußten die Pflanzen dicht
über der Erde abschneiden und die Stange samt ihrer grünen Umhüllung mit dem
Heber aus der Erde heben, umlegen und dann das Hopfengerank abwickeln. Diese
Ranken wurden zu Bündeln vereinigt und nach der Tenne gefahren, wo sich der
Besitzer selbst, seine beiden Töchter, zeitweise auch seine Frau, und vier Handwerks¬
burschen damit beschäftigten, die Blüten abzupflücken, die in Körben gesammelt und
nachher auf dem Boden zum Trocknen ausgebreitet wurden. Zum zweiten Früh¬
stück gab es eine Maß Bier, einen Rettich und ein Stück trocknes Brot, Mittags
Knötel und Fleisch auf Holztellern, Nachmittags wieder eine Maß Bier mit Rettich
und Brot, Abends eine dicke Suppe oder Dampfnudeln. Bei der Arbeit wurde ge¬
sungen und erzählt. Nachts schliefen wir auf dem Heuboden.
In Neuhauser brachte ich mit dem Hopfenznpfcn vierzehn Tage zu, und als
die Arbeit fertig war, wurde ich um einem Sonntag früh entlassen und wanderte
noch an demselben Tage nach Landshut, wo ich Nachmittags um drei Uhr anlangte.
Ich will nicht verschweigen, daß ich auf dieser Wanderung in einem Dorfe, dessen
Name mir leider entfallen ist, das beste Bier getrunken habe, das mir in meinem
Leben vorgekommen ist.
Vor Landshut war ich mit einem andern Kunden zusammengetroffen und
wanderte mit ihm zusammen in die Stadt ein. Schon ans der Ferne vernahmen
wir Musik. Wir gingen den Tönen nach und sahen auf einem Platze eine lange
mit „Tierschildern" geschmückte Bude, über der in riesigen Lettern zu lesen war:
Christian Bergs große Menagerie. Wir mischten uns unter das Publikum, das
vor der Bude stand und die Schilder anstaunte, und wohnten der sogenannten
Parade bei. Unter Parade versteht man die Aufstellung aller Mitwirkenden eines
Schangeschäfts vor der Bude, die dazu dienen soll, das Publikum anzulocken und
die Erwartungen auf das höchste zu spannen. Auch die Musikkapelle nahm an
der Parade teil und musizierte, wahrend in den Zwischenpausen der „Rekommcm-
deur" eine Ansprache hielt, die ungefähr folgenden Wortlaut hatte: „Hier gibt es
zu sehen Tiere, die zu Wasser, Tiere, die zu Laude leben, aus allen Zonen, aus
allen Gegenden der Erde. Die Vorstellung besteht aus drei Abteilungen. Erstens
die Explikation; hierbet werden alle Tiere namhaft gemacht, es wird erklärt, wo
sie wohnen, wie sie leben, und welche Nahrung sie zu sich nehmen. Zweitens die
Dressur; hierbei wird Miß Pora, die Löwenbraut, auftreten. Die junge Dame
hat schon viele Erfolge errungen, sie ist u. a. schon im Zirkus Nerz aufgetreten.
Zum Schluß wird die Fütterung sämtlicher Raubtiere stattfinden." Nach dieser Rede
des Rekommandeurs spielte die Musik noch einen Galopp und zog sich dann mit
den Angestellten des Geschäfts in das Innere der Bude zurück, wo sie ein neues
Stück begann. Das war das Zeichen zum Beginn der Vorstellung, und das
Publikum stieg die Treppe empor, um ein Billett zu lösen. Mein Kollege und ich
begaben uns ebenfalls an die Kasse, legitimierten uns als mittellose Reisende und
baten um freien Einlaß, der uns auch bereitwillig gewährt wurde. Der Inhalt
der Menagerie bestand aus sieben Löwen, darunter einem Paar aus Nubien, einem
bengalischen Tiger, einem braunen Bären, einem Eisbären, einem Leoparden, einem
Jaguar, einem Panther, einer gefleckten und einer gestreiften Hyäne, zwei Wölfen,
einem Kamel, einem Rehbock, einem Alligator, einem Pelikan, einer Riesenschlange
(Python), zwei schottischen Ponys, einer kleinen Kollektion Affen und einigen Papa¬
geien und andern exotischen Vögeln. Derselbe Mann, der draußen vor der Bude
die „Rekommnndcition" gemacht hatte, machte drinnen die „Explikation," d. h. er
hielt einen „allgemein-wissenschaftlichen" Vortrag, worin er über die Lebensweise,
Heimat, Nahrung der Tiere usw. sprach, und wobei ihm seine Berliner Zungen¬
fertigkeit zustatten kam. Danach gab es eine Dressurnummer mit einer „gemischten
Gruppe," die aus einem Löwen, einem Spitzhunde, einer gefleckten, einer gestreiften
Hyäne und einem braunen Bären bestand. Die Dame, die sich in dieser Nummer
produzierte, war die schon genannte „Miß Pora," in ihrem Zivilverhältnis das
Dienstmädchen des Menageriebesitzers. Darauf erschien der Explikateur wieder und
sagte zu dem Publikum: „Bevor wir mit der Fütterung beginnen, wird die junge
Dame so frei sein, sich den geehrten Herrschaften für ein Douceur oder Trinkgeld
zu rekommandieren; es ist niemand gezwungen, etwas zu geben, aber die kleinste
Gabe wird mit Dank angenommen." Natürlich öffneten sich viele Börsen, und
Miß Pora, die ihr Douceur in einer großen Seemuschel einheimste, zog sich mit
einem leidlichen Erlös zurück. Den Schluß der Vorstellung machte die Fütterung,
wobei die Raubtiere ihre Fleischrationcn erhielten, der Pelikan einige Fische.
Nach der Vorstellung begab ich mich kurz entschlossen an die Kasse und fragte,
ob man in der Menagerie Arbeit für mich habe. Frau Berg sah mich mit prü¬
fenden Blicken an und bestellte mich für den andern Tag, wo ich Auskunft erhalten
sollte. Ich ging um mit meinem Kollegen auf die Herberge, besuchte noch an
demselben Nachmittag die vierzehn Klöster der Stadt und fand mich am Montag
früh in der Menagerie ein, wo man meine Papiere prüfte und mir sagte, ich
könnte anfangen, wenn ich mit einem Monatslohn von zwölf Mark und einem
Teil des Trinkgeldes zufrieden sei. Dieses Angebot war alles andre als glänzend;
bei ich aber für das Menageriewesen schon lange eine stille Leidenschaft hatte und
mir überdies sagte, daß ich als Backer in Bayern kaum Arbeit finden würde, so
entschloß ich mich, die Stelle bei Berg anzunehmen. Zu der Menagerie gehörte
ein Wohnwagen, worin der Besitzer mit seiner Frau, zwei Kindern und dem Dienst¬
mädchen wohnte, der Wagen des Zentralkäfigs, worin die kleinern Holzteile, die
Leinwand und Gerätschaften verwahrt wurden, und außerdem gehörten dazu fünf
Tierwagen. Während bei andern Menagerien das Budenholz einen besondern Last¬
wagen beansprucht, der in der Regel von einem Spediteur gestellt wird, wurde
bei der Bergheher Menagerie das gesamte Holz unter die Wagen geladen. Ich
bekam nun zwei Tierwagen zugewiesen und mußte die zu diesen Wagen gehörenden
Käfige reinigen und die Tiere verpflegen. Meine Schutzbefohlnen waren der Eis¬
bär, der bengalische Tiger, die beiden Hyänen, die Wölfe und der Rehbock. Von
Personal waren bei der Menagerie außer dem schon genannten Dienstmädchen, das
die Dressur „machte," ein Kutscher, der den Ponywagen zu Reklamezwecken kut¬
schierte und die Einkäufe besorgte, drei Wärter, von denen einer zugleich die Re-
kommendation und die Explikation machte, und sieben böhmische Musiker, die als
„echte Böhmen" an ihren hohen Mützen kenntlich waren. Diese Musikanten er¬
hielten an den Tagen, wo sie spielten, jeder drei Mark, sonst zwei Mark bis zwei
Mark fünfzig Pfennige. Sie kochten selbst und lebten sehr bescheiden, da sie Geld
für die Heimreise im Herbst nach Böhmen und für die Rückreise im Frühjahr
sparen mußten und außerdem ihren Familien daheim Geld zu schicken pflegten. Sie
mußten auch beim Aufbau und beim Abbrechen der Bude zugreifen, sich beim Reine¬
machen beteiligen und etwaige Reparaturen vornehmen. Sie schliefen in der Bude
selbst auf dem dritten Platze, während die übrigen Angestellten im Zentralkäfig auf
Stroh ihr Nachtlager aufschlugen.
Eines Tages wurde nach der Abendvorstellung bekannt gemacht, daß die
Menagerie nur noch wenig Tage in Landshut bliebe. Als die letzte Vorstellung
um zehn Uhr beendet war, brachen wir ab, versorgten noch einmal die Tiere und
schlössen die Wagen. Früh um sechs ging es dann nach der Bahn, wo die Wagen
auf Loris verladen und nach Deggendorf, wo ein großes Volksfest stattfinde» sollte,
verfrachtet wurden. Dort waren auf der Festwiese schon zwei Menagerien, die
von Wilhelm Böhme und die von Endres. Wir mußten uns deshalb mit dem
Ausladen auf der Bahn und dem Transport nach der Wiese beeilen. Der Platz
war schon abgesteckt; dem Rekommandeur und mir wurde nun der Auftrag, die
Wagen in einer langen Reihe aufzustellen, was in der Regel keine leichte Arbeit
ist, denn da das Terrain gewöhnlich uneben ist, muß der Platz stellenweise vertieft,
stellenweise durch untergelegte Holzstücke erhöht werden. Außerdem Pflegt man die
Wagen an der hintern Seite etwas höher zu stellen als vorn, damit das Wasser
leichter ablaufen kann. Während wir dieses Geschäft verrichteten, schraubten die
Musikanten die Holzteile zusammen und stellten die Wände auf. Dann besorgten
sie die Dekoration der Kasse und bauten ihr Orchester in der Bude und das
Paradepodium vor der Bude auf, während wir Tierwttrter die Wagen öffneten und
die Käfige reinigten. Bei diesem Volksfeste veranstalteten wir jeden Tag sechs
Vorstellungen und konnten mit dem Erfolge zufrieden sein, obwohl wir einen harten
Konkurrenzkampf mit den beiden andern Menagerien zu bestehn hatten. Wir mußten
alles mögliche tun, das Publikum anzulocken, mußten Zettel austragen, den Reklame¬
wagen fahren lassen und anstrengende Paraden machen.
Nach Ablauf des Volksfestes, das acht Tage gedauert hatte, reisten wir nach
Freising, wo wir „privat" standen, d. h. ohne besondern festlichen Anlaß Vor¬
stellungen gaben. Von Freising ging es zum Oktoberfest nach München. Dort
wurde unsre Menagerie mit der von Wilhelm Böhme unter der Firma „Christian
Berg" vereinigt, jedoch so, daß jeder der Teilhaber die Futterkosten für seine Ab¬
teilung auf eigne Rechnung übernahm. Dadurch war die Menagerie wesentlich ver¬
größert worden, wir hatten jetzt vierzehn Wagen, darunter einen Affenwagen, und
als besondres Zugstück einen Elefanten. Mit der Böhmeschen Menagerie hatten
wir eine neue Drcssnrnummer bekommen, eine Dame (Böhmes Tochter), die sich
mit Wölfen und Hyänen produzierte. Allerdings war auch ein Tierbändiger namens
Robert Webelhorst vorhanden, der aber noch nicht auftrat, sonder» erst mit drei
etwa zweieinhalbjährigen Löwen übte. Unter den Tieren war eine Löwin, die dem
Unterricht wenig Geschmack abzugewinnen wußte und sich eines Tages dazu hin¬
reißen ließ, ihren Lehrmeister in die Wade zu beißen. Die Löwin wurde fortan
als unbrauchbar aus der Gruppe ausgeschieden, aber Webelhorst hatte sechs Wochen
an seiner Wunde zu laborieren.
Das Geschäft in München ging sehr flott, besonders der dritte Platz war gut
besucht, sodaß einmal die sich dort drängenden Bauern beinahe das Lattenspalier
durchbrochen hätten. Schon frühmorgens wurde mit Parademachen und Vor-
stellunggebeu begonnen, dafür mußte die Bude aber Abends um sieben schon ge¬
schlossen werden. Außer den Schaubuden gab es auf der Theresienwiese noch manche
andre Sehenswürdigkeiten und Zerstreuungen; so eine Tombola, ein Wettrennen
und eine Ochsenbraterei, auch war mit dem Volksfeste eine landwirtschaftliche Aus¬
stellung verbunden. Gegen Schluß des Oktoberfestes trat plötzlich Winterwetter
mit Schneefall ein. Ehe wir abbrachen und einpackten, verließ einer der Böhmischen
Angestellten, ein Luzerner namens Anton Brunner, den Dienst und trat bei Böhmes
Bruder, dem Panoramenbesitzer, ein. Ich erwähne dieses, weil ich mit dem Manne
später wieder zusammengetroffen bin und lange Zeit mit ihm gemeinsam ge¬
arbeitet habe.
Nach dem Abbrechen und Verladen der Menagerie, was bis zum Abend gegen
fünf Uhr gedauert hatte, erhielt ich den Auftrag, in Gesellschaft des Kutschers zwei
Schlachtpferde uach Regensburg zu bringen, wo wir Vorstellungen geben wollten.
Wir nahmen den kleinen Wagen, der zum Einholen des Proviants diente, be¬
spannten ihn mit den beiden Schlachtopfern und fuhren vom Abend fünf bis zur
nächsten Nacht um zwei Uhr früh. In Regensburg stellten wir die Pferde in den
Stall eines Gasthofs, gingen auf die Bahn und suchten uns unser Nachtquartier
im Zentralkäfig. Am andern Morgen luden wir aus, brachten unsre vierzehn
Wagen auf den uns angewiesnen Platz in Stadt am Hof, gegenüber von Regens¬
burg, und bauten dort auf. Hier blieben wir vier Wochen, machten gute Geschäfte
und erwarben von der Kaufmannschen Menagerie, die damals gerade in Augsburg
ihren Ticrbestand verkaufte, einen Wagen mit Affen, worunter drei der sehr seltnen
Dscheladaaffen (cÜMoooxlilllns (ZÄ-M) waren, und ein Lama. Die Dscheladas ge¬
hören zu deu Hundskopfaffen, stammen aus Abessinien und zeichnen sich durch ihre
lange schwarze Behaarung, durch die pelerinenartig hängenden Schulterhaare und
ganz besonders durch eine kahle Stelle auf der Brust aus, deren Farbe je nach
der Gemütsstimmung des Tieres wechselt. Der Fleck ist gewöhnlich fleischfarben,
wird aber, sobald das Tier gereizt wird, hochrot. Man sieht diese Affen in Me¬
nagerien und zoologischen Gärten sehr selten, ich selbst habe nach diesen nie wieder
welche zu Gesicht bekommen.
Von Regensburg reisten wir wieder nach München, wo wir bei einem Zimmer¬
meister einen großen Bretterbau für unser Winterquartier bestellt hatten. Vier
der Angestellten, d. h. der Kutscher, zwei Böhmische Leute und ich, sollten von
Regensburg neun Schlachtpferde nachbringen und erhielten als Wegzehrung für
uns und die neun Pferde im ganzen neun Mark. Wir luden zur Vorsicht das
Werkzeug zum Schlachten und etwas Futter auf den Wagen und machten uns mit
unsern neun Schutzbefohlnen bei naßkalten Novemberwetter auf den Weg, Die
Pferde Sachen nicht gerade verführerisch aus, einer der Gäule war so mager, daß
ihm die Knochen an allen Seiten herausstanden, ein andrer war blind, ein dritter
lahm. Unterwegs mußten wir hier und da auch uoch Chausseegeld bezahlen, wo¬
durch unser Reisestipeudium sehr zusammenschmolz. Ich kam ans den Gedanken, mich
beritten zu macheu, und kletterte mit Hilfe eines Bauern auf einen alten, hoch-
deinigen Postgaul, der im Galopp dem Wagen folgte. Am Abend um zehn Uhr
kehrten wir, bis auf die Knochen durchfroren, in einem Dorfgasthof ein, genossen
Abendbrot und Bier und schliefen im Stalle. Am andern Morgen früh ging es
weiter, und so gelangten wir am zweiten Abend nach Abensberg, wo wir die
schmerzliche Entdeckung machten, daß wir mit unserm Reisegeld zu Eude waren.
Von den Böhmischen Leuten hatte einer, ein früherer Unteroffizier, zum Glück eine
Taschenuhr bei sich, die wir schleunigst versetzten, und wofür wir acht Mark er¬
hielten. Wir schliefen auf einem Heuboden und bemerkten am andern Morgen,
daß unser magerer Gaul im Stalle zusammengebrochen war. Wir hatten unend¬
liche Mühe, das Tier wieder auf die Beine zu bringen, zerbrachen dabei noch eine
Leiter, die wir ihm unter den Bauch geschoben hatten, und mußten ihn, als wir
ihn glücklich auf den Beinen hatten, beim Weiterreisen auf beiden Seiten halten,
damit er nicht umfiel. Das blinde Pferd lief unterwegs, ohne angebunden zu sein,
nebenher, sein Instinkt schien ihm das fehlende Augenlicht zu ersetzen, jedenfalls
vermied es, anzustoßen oder vom rechten Wege abzukommen. Inzwischen war der
magere Gaul schon wiederholt gestürzt und blieb schließlich um neun Uhr früh auf
der Landstraße liegen, wo wir ihn an Ort und Stelle kunstgerecht schlachteten.
Von den acht Mark waren nur noch fünfzig Pfennige übrig geblieben, und für
diesen geringen Betrag wollten wir zur Fütterung der Pferde Heu kaufen; es zeigte
sich aber, daß die Bauern nicht gesinnt waren, uns solches für Geld abzulassen,
sondern uns hier und da eine Handvoll umsonst gaben. Ich „talfte" das ganze
Dorf um Heu ab, wobei ich meist als Zigeuner angesehen und entsprechend behandelt
wurde. Für unsre fünfzig Pfennige kauften wir nun Brot und Schnaps, teilten
alles gewissenhaft ein, und so konnte jeder Mann und jedes Pferd zum Frühstück
einen Happen Brot, der mit Schnaps begossen war, erhalten. Gänzlich mittellos
gelangten wir um sieben Uhr Abends in Freising an, stellten unsre Gäule in den
ersten besten Gasthof, nahmen, als wir uns unbeobachtet sahen, von einem Wagen
ein paar Körbe Haferspreu und fütterten damit die Pferde. Nun blieb uns nur
noch übrig, die Frage zu löse», wie wir uns wieder Geld verschaffen sollten, und
da hatte der Kutscher, ein biedrer Schwabe, den glücklichen Einfall, die Haut des
geschlachteten Pferdes zu verkaufen. Er wußte in Freising Bescheid, und so trugen
wir zuzweit unser letztes Wertobjekt zu einem Gerber, der uns elf Mark fünfzig
Pfennige dafür gab und jeden mit einer Zigarre regalierte. Nun waren wir
wieder obenauf, bestellten uns warme Weißwurst und Bier und schliefen feit langer
Zeit zum erstenmal wieder in schönen reinlichen Betten. Am andern Morgen
leisteten wir uns sogar Kaffee und setzten dann unsre Reise fort.
Natürlich waren wir mit unserm baren Gelde ziemlich schnell zu Ende gekommen
und mußten uns deshalb wieder auf irgendeine Art Futter für unsre Pferde zu
beschaffen suchen. Zum Glück passierten wir ein großes Rübenfeld, das zu einem
Bauernhofe gehörte, der auf der andern Seite in der Tiefe lag. Wir hielten an,
zottelten eine Anzahl Rüben und bemerkten dabei, daß der Besitzer des Feldes
gerade mit einer Fuhre Mist seinen Hof verließ und uns bei unsrer Tätigkeit
beobachtete. Als er ans weiter Ferne mit seiner Peitsche drohte, schwang unser
schwäbischer Kutscher drei Rüben in der Luft und rief ihm in seinem Dialekt zu:
„Komm nur rauf, du Herrgottssakrament, ich hau der de Riede um de Schädel!"
Als wir einen genügenden Vorrat in unsern Wagen geladen hatten und die Fahrt
fortsetzten, kam nach einer Weile der Bauer mit seinem Fuhrwerk hinter uns her,
sah auch, wie ich die Rüben putzte und für die Pferde zurechtschnitt, wagte aber
nicht, uns noch einmal anzureden. Gegen elf Uhr an diesem Morgen gesellte sich
ein Kunde zu uns, der uns bat, wir möchten ihn mitfahren lassen. Wir hatten
aber im Wagen keinen Platz mehr und stellten ihm deshalb ein Reitpferd zur Ver¬
fügung. Wir halfen ihm hinauf und gaben ihm die Halfterstricke von zwei andern
Pferden in die Hände. Eine Weile kam er auch ganz gut fort, als aber an einem
Vorderhnf des Pferdes ein Eisen los wurde, stolperte das Pferd, fiel in die Knie
und ließ seinen Reiter in weitem Bogen über den Hals fliegen. Das war für
diesen ein Glück, denn das Tier überschlug sich und rollte den steilen Abhang hin¬
unter. Der Kunde hatte offenbar die Lust zu weitem Neitversuchen verloren, er
entfernte sich ohne Gruß und Dank, wahrend wir Mühe hatten, den Gaul wieder
auf die Beine zu bringen und den Abhang hinauf zu führen. Um acht Uhr am
Abend langten wir endlich in München an und erkundigten uns bei einem Schutz¬
mann nach dem Jsartorplatz, wo wir die Menagerie finden sollten. Der Schutz¬
mann betrachtete uns mit erstaunte» Blicken und fragte gleich: „Geltens, Sie san von
der Menagerie?" Er teilte uns dann mit, daß man bei der Polizei Anzeige er¬
stattet habe, vier Angestellte seien mit neun Pferden durchgegangen. Er hielt es
für nötig, uns bis zur Menagerie zu begleiten und unserm Prinzipal richtig ab¬
zuliefern. Dort wurde gerade gefüttert. Wir pochten an die Bretterbude und
erwiderten auf die von innen an uns gerichtete Frage, was los sei, mit den
Worten: Die Pferde sind da. Frau Berg kam selbst heraus, zählte die Pferde,
bemerkte, daß eins davon fehlte, und wollte wissen, wo das Fleisch und die Haut
geblieben seien. Mit dem Fleische konnten wir ja aufwarten, von der Haut aber
mußten wir bekennen, daß wir sie unterwegs zu Gelde gemacht hätten. Damit war
Frau Berg nicht einverstanden und erging sich in einer langen Schimpferei, bet
der sie in der Wahl ihrer Ausdrücke uicht sehr heilet war. Als sie sich endlich
beruhigte, brachten wir die Pferde in einen Gasthof, setzten uns zum Abendessen
und gaben uns danach der wohlverdienten Ruhe hin. Am andern Tage mußten
die Angestellten der Böhmischen Menagerie ein ähnliches Donnerwetter über sich er¬
geb» lassen, da ein Postbote ein kleines Nachnahmepaket überbrachte, worin sich die
versetzte Uhr vorfand. ^sMma folgt)
in Abend kam der Doktor und bald darauf Groppoff. Der Doktor
sah müde und bekümmert aus, und auch Groppoff war nicht, der
er sonst gewesen war. Er war unruhig im Blick und nervös in
der Bewegung. Als sich beide unvermutet begegneten, wurde der
Doktor blaß und Groppoff rot. Man grüßte sich höflich und nahm
Platz. Man erkundigte sich nach dem Ergehn, man sprach von dem
und dem, man ging dem und dem aus dem Wege, es war eine kühle und etwas
verlegne Sache. Aber das war nicht die Tonart, die Pogge gewünscht hatte. — Et
muß ville mehr jetruukeu werden, sagte er und goß fleißig ein. Aber es half
nichts. Nur Groppoff griff zu und trank mit einer gewissen unruhigen Hast.
Vor der Schmnlwand des Ateliers standen auf Staffeleien zwei Bilder. Sie
waren verdeckt, das eine mit einem Plaid und das andre mit einer Tischdecke.
Pogge erhob sich, räusperte sich, zog seinen Hemdkragen in die Höhe und begann
in dem künstlich heisern Tone, der seit Helmerding für gewisse Beifall begehrende
Reden Mode geworden ist: Meine Herren, als wir uns vor einem Jahre an dieser
Stelle versammelten, stand vor uns Strunks Prometheus. — Er ist übrigens noch
auf der Walze und für zweitausend Meter zu haben. — Dieser Prometheus hat
damals einige unvergessene Reden ausgelöst. Gleiche Auflösungen erwarten wir
von diesem Abend. Wir haben Ihnen etwas aufgebaut — kostet 'n Sechser und
macht füm Taler Spaß. Sehen Sie diese beiden Bilder? Ich bemerke, daß
Sie sie sehen. Ich bitte Eure Hoheit, das Zeichen zu geben, daß die Hülle falle,
damit Sie sie wirklich sehen.
Groppoff gab das Zeichen, und die Hülle fiel.
Dieses Bild, fuhr Pogge fort, Kohle auf Löschpapier, hat Staffelsteiger gezaubert.
Wissen Sie, mit dem Zislawcing und ohne allen Doppelboden. Und dieses andre
hat Schwechting mit Farbe, Geduld und Spucke auf die Leinwand genötigt. Beide
stellen dasselbe vor, es fragt sich aber, was? Und das sollen Sie, meine Herren,
herausfinden. Hoheit haben das Wort.
Hoheit setzte den Kneifer auf und betrachtete die Bilder. Das eine ist die
verrückte Arte, sagte er, und das andre — ja wie soll ich das Wissen, wenn ich
keinen Katalog in Händen habe?
Das andre, sagte Schwechting, ist dem Teufel seine Großmutter, die der Herr
Sohn an der Halsleiue hat.
I wo! entgegnete Pogge, das andre ist der süss oder vielmehr der große Durst.
Währenddessen hatte Staffelsteiger, den Ellbogen aufgestützt und die Faust
im Haarschopf, am Tische gesessen und die Farbe seines Weinglases studiert. Eure
schlechten Witze, sagte er, berühren mich nicht. Ich habe nicht für euch oder das
öde Volk gemalt, das sich Maler nennt, es aber nicht ist. Was ich innerlich er¬
schaut habe, das habe ich gestaltet. Denn die Kunst ist der Aufguß unmittelbarer
Seelenströme. Malen ist das Befruchten des Auges des Beschauers, ein Zeugen
seelischer Gebilde, ein Singen in Tönen von Farbe ohne Worte, ein Anwälten der
sinnlichen Welt mit Farbe und Form. Alles übrige ist — ein Vcrachtungswürdtges!
Ja ein Verachtungswürdiges!
Pogge war über diesen Redegang perplex geworden, sah Schwechting an und
sagte: Du, der Mensch redet ja!
Ja, erwiderte Schwechting mitleidig, seit er in Berlin gehungert hat, ist er
beredt geworden.
Der Doktor nahm das Wort und sagte zu Staffelsteiger: Was die Herren
von Ihrem Entwürfe gesagt haben, ist natürlich nur Scherz. Ich glaube Ihren
Gedanken zu versteh», es ist das sich verzehrende Verlangen. Wonach, ist nicht zu
ersehen.
Dorsche, schaltete Pogge ein.
Auch das erkenne ich an, fuhr der Doktor fort, daß ein herber Gedanke auch
eine herbe Form fordert. Aber warum der herbe Gedanke, warum die unerfreuliche
Form? Die Kunst soll nicht nach Brot gehn, gewiß nicht, sie soll singen, wie der
Vogel singt, der in den Zweigen wohnt. Und doch ist sie nicht ohne Beruf, sie
soll Freude macheu, sie soll der Schmuck des Lebens sein, sie soll helfen, das große
Defizit des Lebens, an dem wir alle kranken, auszugleichen. Nicht bloß indem sie
die Gedanken ablenkt, sondern indem sie die großen Linien des Lebens, die das
Leben unfertig läßt, im Kunstwerk vollendet. Wie der Zaun der Zähne eine Schranke
ist, die nicht jedes Wort durchschlüpfen lassen darf, so soll auch der bildende Geist
prüfen, ob das, was er bildet, frommt, das heißt erfreut.
Hin! sagte Pogge, hat der Doktor in diesem Jahre auch gehungert?
Nein, lieber Pogge, erwiderte Ramboru lächelnd, gehungert nicht, aber man
wird mittlerweile müde. Wenn man früh seine Wanderung anhebt, tut einem ein
steiniger Weg nichts. Man schleudert den Stein, der im Wege liegt, mit dem Fuße
weit von sich. Wenn man sich aber müde gegangen hat, und der Fuß wund ist.
dann geht man vorsichtig um den Stein herum und ist denen dankbar, die den
Weg erleichtern, das ist die schöne Kunst und —
Und — ?
Der Doktor antwortete nicht darauf. Pogge aber hatte währenddessen in seinem
Skizzenbuche gezeichnet. Jetzt wandte er es so, daß Ramborn hineinsehen konnte.
Er hatte mit ein paar flotten Strichen das Staffelsteigersche Bild kopiert, aber etwas
verändert. Die Nase, die Augen und die Lippen der Person waren mit geringen
Abweichungen von Original so gestaltet, daß das Bild einer Säuferin entstand. Auf
ihrem Schoße lag eine leere Schnapsflasche, und die Wolkenhäufchen am Himmel waren
so wiedergegeben, daß sie den Schaum von vielen „Kühlen Blonden" bildeten.
Und es ist doch der Dorsche, sagte er, auf seine Zeichnung Weisend.
Pogge, erwiderte der Doktor, Sie sind ein boshafter Mensch. Zur Strafe
sollen Sie nun das andre Bild selbst erklären und sollen gutes von ihm sagen.
Pogge legte den Kopf auf die Seite, machte seine Modellierbewegungen,
dachte nach und sagte: Gutes kann ich am besten von dem Bilde reden, wenn ich
erzähle, was nicht auf dem Bilde steht. — Und er erzählte die Geschichte der
Arte Beit, die er eben gelesen hatte, und schloß: Und das stellt das Bild dar, die
Treue, die bis auf den jüngsten Tag wartet.
Das ist aber doch nicht auf dem Bilde zu sehen! sagte Ramboru.
Det sag ick ja, erwiderte Pogge.
Die Treue ist bildnerisch überhaupt nicht darstellbar.
Det sag ick ja. Doktor, lesen Sie mal das. Damit steckte Pogge dem Doktor
Schwechtings Manuskript zu. — Ich glaube, Sie verstehn das besser als ich.
Aber behandeln Sie den Sohn Absalom fein säuberlich. Ich glaube, er ist eben
dabei, sein Herz zu entdecken, und es sollte mir leid tun, wenn er dabei ver¬
grämt würde.
Treue, sagte Groppoff mit kalter Geringschätzung — Treue gibt es über¬
haupt nicht.
Da drüben wohnt sie, rief Schwechting, indem er durch das Fenster auf
Kondrots Haus wies.
Lieber Schwechting, entgegnete Groppoff mitleidig, diese alte Person ist
närrisch, und verrückte Hartnäckigkeit ist noch keine Treue. Sie sind Künstler, und
als Künstler kennen Sie die Welt nicht. Aber ich kenne sie. Treue gibt es nicht,
es gibt nur zusammengehenden Vorteil. Wo die Interessen auseinandergehn, da
bricht auch die Treue. Ich kenne nnr die Treue eines Menschen zu sich selber.
Sich ausleben, so sein, wie man ist, das ist Treue.
Das ist keine Treue, sagte Schwechting, sondern schnöder Egoismus.
In der Tat, fügte der Doktor hinzu, Treue beruht auf dem Verhältnis
zweier Menschen zueinander. Sie besteht darin, daß einer dem andern das Wort,
das er gegeben hat, hält, daß er den Dienst, den er gelobt hat, tut, daß er an
seinem Glauben und seiner Meinung über den andern nicht irre wird. Wer
sich auf die einsame Höhe seines Ich zurückzieht, kann nicht erwarten, daß er
Treue finde.
Erwarte ich auch nicht. Mir hat noch keiner die Treue gehalten. Ich er¬
warte es auch nicht.
Es muß ville mehr getrunken werden, sagte Pogge und schenkte wieder ein.
Und Groppoff trank sein Glas hastig leer.
Mich friert bei dieser einsamen Größe, sagte Ramborn. Ich will lieber herab¬
steigen und Treue halten, um Treue zu empfangen.
Nun? Und der Prometheus, den Sie vorn, Jahre rühmten? fragte Groppoff.
Das war der echte Prometheus nicht, erwiderte der Doktor. Der echte Pro¬
metheus hat das Feuer vom Himmel herabgeholt für seine Menschenbrüder. Seine
Größe besteht in seinem Werke, durch das er die Menschen auf eine höhere Kultur¬
stufe erhoben hat. Und das ist die Tragik in seiner Geschichte, daß er um dieser
Guttat willen leiden mußte, weil er das Feuer gestohlen hatte — nicht für sich,
sondern für seine Menschenbrüder.
Aber der Prometheus, der hier stand! rief Groppoff. Was sagten Sie
von dem?
Ich weiß es nicht mehr.
Haben Sie nicht von der Selbstherrlichkeit des Willens geredet und gering¬
schätzige Worte vom Mitleid gebraucht?
Mag sein. Es war wohl ein Philosophen!, das mir im Kopfe lag. Inzwischen
habe ich Gelegenheit gehabt, dieses Philosophem in der Praxis ans seine Richtig¬
keit zu prüfen. Ob es diesen Übermenschen, diesen Heros des selbstherrlichen Eigen¬
willens, der den Mitmenschen unter die Füße tritt, je geben wird, weiß ich nicht.
Wenn es der Fall sein sollte, so würde er es mehr als sein Vorbild verdienen,
an den Kaukasus geschmiedet zu werden.
Hört, hört! rief Schwechting.
Es ist mir inzwischen fraglich geworden, fuhr der Doktor fort, ob man über
den „Vordergrund," „das Diesseitige" so schnell hinwegkommt, wie ich glaubte.
Es ist mir fraglich geworden, ob das auch wirkliche Größe ist, das sich dafür ausgibt.
Zuletzt scheitert die menschliche Größe an den kleinen Mitteln, die man braucht, um
diese Größe zu betätigen. Wie mancher Berg sieht fest und gewachsen aus und ist
bei näherm Zusehen ein — Faulhorn, ein bröckliges Geschiebe. Wie manche Menschen-
seele ist hart, aber nicht groß, wie mancher Mensch ein Egoist, aber kein Herr, wie
mancher Baum bringt die Frucht nicht, die er in einer Blüte versprach.
Groppoff fing an, sich scheinbar grundlos zu erregen. Es scheint, sagte er
spöttisch, daß sich diese Bekenntnisse auf Sie selbst beziehn. Ich würde nun an
Ihrer Stelle, nachdem Sie hier soviel gelernt haben — abreisen.
Der Doktor schaute überrascht auf Groppoff.
Reisen Sie ab, fuhr Groppoff heftig fort. Gehn Sie mir aus dem Wege.
Ich halte es mit dem Prometheus, der über die hinwegschreitet, die ihm in den
Weg treten.
Ihrem Scharfsinn wird es nicht entgangen sein, erwiderte der Doktor, daß
ich nicht zu meinem Vergnügen hier bin, daß mich vielmehr die Pflicht festhält.
Pah! Pflicht! Haben Sie die Pflicht, jungen Mädchen die Köpfe zu ver¬
drehn? Ich sage Ihnen, rief Groppoff aufspringend und in helle Wut ausbrechend,
wer mir nimmt, was mein ist, den trete ich zu Boden. Was haben Sie hier zu
suchen? Tapnicken ist mein, und Sie kommen hierher und stören meine Kreise und
verhetzen die Leute gegen mich! Und Eva ist mein und keinem andern, und wer
nur nimmt, was mein ist, den trete ich.
Ich fürchte mich vor Ihrer Drohung uicht, erwiderte der Doktor in ruhigem
Tone. Ich denke auch nicht daran, Ihnen zu nehmen, was Ihr Eigentum ist.
Freilich weiche ich auch nicht Ihren ungerechtfertigten Ansprüchen. Ich weiß gut
genug, wer mir heimlich Steine in den Weg geworfen hat. Bieten Sie mir jetzt
offnen Kampf an, gut, ich nehme ihn auf und werde mich zu wehren wissen. Und
ob Fräulein Eva Ihr Eigentum ist, das machen Sie mit ihr selbst ab.
Pogge und Schwechting sprangen dazwischen, um den so unerwartet aus¬
brechenden Streit zu beschwichtigen.
Aber Groppoff ließ sich nicht halten, sondern schrie in höchster Erregung,
während er rot und blau im Gesicht wurde: Sie ist mein! mein! und keinem
andern. Und ich bin der Herr dieses Landes, und die Negierung tut, was ich
will. Mir hat jedermann zu gehorchen, und wer mir den Gehorsam weigert, den
zerdrücke ich wie — wie —. Sie haben Kondrot gegen mich verhetzt, Sie sollen
sehen, wie es ihm geht. Und wie es Ihnen selbst gehen wird. Ich habe euch
alle in der Hand, und mir ist noch niemals etwas mißlungen, was ich unternommen
habe, noch nie, nie--mals--et — was.
Groppoff griff suchend nach der Lehne seines Stuhls und geriet ins Wanken.
Schwechting unterstützte ihn und brachte ihn zum Sitzen. Es war ein Schwindel¬
anfall, der den erregten Mann betroffen hatte, der aber schnell vorüberzugehn schien,
nachdem man ihm ein Glas Wasser gegeben hatte.
Siehste, Wellen. sagte Pogge leise zum Doktor, was is nu deine Majestät,
wenn du seekrank wirst?
Groppoff hatte es gehört und antwortete mit etwas schwerer Zunge: Ich
heiße nicht Wilhelm!
Ick meinte Ihnen auch nicht, Hoheit, erwiderte Pogge.
Es ist zu warm hier, sagte Groppoff, wie um sich zu entschuldigen, ich hatte
wohl auch zuviel von Ihrem Wein getrunken. Es ist nichts — gar nichts, aber
Sie gestatten wohl, daß ich mich nach Hause begebe.
Groppoff erhob sich und wies jede Begleitung auf das bestimmteste zurück.
Dennoch folgte ihm der Doktor in einiger Entfernung. Bis zum Damm in der
Nähe des Amtes hielt sich Groppoff straff aufrecht, dann aber kam er ins Schwanken,
und Ramborn mußte sich beeilen, ihn zu stützen, um ihn vorm Fallen zu behüten.
Aus sein Klingeln erschien in der Tür des Amtes die Dienstmagd, die das Gesicht
breit zog, als sie ihren Herrn am Arm des Doktors schwankend eintreten sah. Sie
hielt ihn offenbar für betrunken.
Fassen Sie zu, sagte der Doktor, der Herr ist krank. Die Magd faßte zu,
und so brachte man Groppoff, der halb bewußtlos war, auf sein Sofa. Der Doktor
schickte die Magd nach Eis ins Kurhaus.
Die Tür öffnete sich, und Eva trat herein. Als sie den Doktor erblickte, er¬
schrak sie.
Dein Vater ist schwer krank, Eva, sagte der Doktor leise, pflege ihn gut,
lege ihm Eis auf den Kopf. Er könnte sonst leicht von einem Schlagfluß ge¬
troffen werden.
Groppoff mußte die Worte verstanden haben. Er sammelte mit Anstrengung
aller seiner Willenskraft seine Gedanken, erregte sich von neuem und wies zornig
nach der Tür.
Der Doktor ging.
Am andern Morgen brachte der Postbote einen dicken Brief. Er enthielt
ein Schreiben, worin die zweite und die dritte Hypothek, die auf dem Gute lagen,
gekündigt wurden. Der Brief war in Tapnicken aufgegeben worden und rührte
offenbar von Groppoff her, obwohl er die Unterschrift eines Rechtsanwalts in N.
trug. Das war ein harter Schlag. Er bedeutete, wenn er nicht pariert wurde,
den Verlust des Gutes. Es lohnte nicht der Mühe, darüber nachzudenken, wie
Groppoff diese Hypotheken in die Hand bekommen habe, es war nur eins zu tun,
neue Hypotheken zu schaffen und dazu vielleicht auch noch die 10000 Mark für
den Lumpen, den Heinemann.
Ramborn reiste sogleich nach Berlin zum Onkel Stackelberg. Er hatte ja selbst
einiges Vermögen, das in Wertpapieren angelegt war. Wenn er diese Papiere
verkaufte, so konnte er die Hypotheken selbst übernehmen, und das wäre ihm das
liebste gewesen. Er trug seinem Onkel die Sache vor, aber dieser war von dem
Plane, dieses Geld auch noch in Tapnicken anzulegen, durchaus nicht erbaut, sondern
sagte: Daß du in Tapnicken tätig eingegriffen hast, um dir dein Kapital zu sichern,
kann ich nur billigen, und es ist mir lieber, daß du Landwirtschaft treibst als die
brodlosen Künste, mit denen du dir die Zeit verdarbst. Aber willst du denn ewig
in dem Winkel bleiben?
Ramborn schwieg. Wie gern Hütte er geantwortet: Ja, ewig! wenn er seiner
Eva sicher gewesen wäre.
Siehst du! fuhr Onkel Stackelberg fort. Wenn du die Hypotheken erwirbst,
wirst du zuletzt auch das Gut übernehmen müssen. Denn du wirst es ohne Ver¬
lust nicht verkaufen können. Dann sitzest du fest und hast auch noch Mary auf
dem Nacken.
Aber ich darf jetzt nicht nachgeben, rief Rnmborn, ich darf mich Groppoff
gegenüber nicht für besiegt erklären. Und es wäre feige, Mary und die Ihren im
Stiche zu lassen.
Heinz, höre einmal zu, sagte der Justizrat. Wenn ein Geschäftsmann sieht,
daß das Unternehmen, das er begonnen hat, verfehlt ist, so wird er verständiger-
weise danach trachten, es los zu werden. Es ist nun klüger und heldenmütiger
zugleich, den sichern Verlust auf sich zu nehmen, als sich trügerischen Hoffnungen
hinzugeben und eine Sache halten zu wollen, die unhaltbar ist. Laß es doch zum
Verkaufe kommen, und dann sieh zu, daß du für Mary etwas rettest.
Darauf wollte jedoch Ramborn nicht eingehn. Aber freilich mußte er ein¬
sehen, daß seine Aktien, die aus Industrie- und Montanunternehmungen stammten,
bei der schlechten Konjunktur unverkäuflich waren, und daß es geheißen hätte, sein
Vermögen verschleudern, wenn man die Aktien bei dem tiefen Kursstande in bar
Geld hätte umwandeln wollen, während sie vermutlich in ein paar Jahren wieder
Wert gewannen. Onkel Stackelberg, der sich als langjähriger Vormund Namborns
eine dauernde Autorität erworben hatte, setzte denn auch seinen entschiednen Willen
durch, die Aktien nicht zu verkaufen.
So mußte der Doktor den Gedanken aufgeben, selbst die Hypotheken zu er¬
werben, und es, so unangenehm ihm auch das Geschäft war, versuchen, das Geld
durch Vermittlung von Geldmenschen zu beschaffen. Aber alle Verhandlungen waren
vergeblich. Tapuicken? Wo lag das? was war das? Wer konnte Auskunft er¬
teilen? Doch nur Groppoff. Aber dieser Ehrenmann war natürlich für das vor¬
liegende Geschäft nicht zu haben.
Und so kehrte Namborn verdrießlich nach vierzehn Tagen wieder nach Tap-
nicken zurück, und es gewährte ihm nur einen geringen Trost, unterwegs mit Herrn
von Kügelchen zusammenzutreffen, der sich diesesmal als Globetrotter verkleidet hatte
und behauptete, es äuferst sicher festgestellt zu haben, wie man sich auf der Reise
kleiden müsse. Der einzige Trost, den Ramborn hatte, war, daß die Entscheidung
erst in einem Vierteljahr fiel, und daß in der Nähe vielleicht eher Geld zu haben
war als in der Ferne. Er dachte ernstlich an Baron Bordeaux.
Wer Eva in der Zeit, in der sie innerlich bewegt war, wie noch nie in ihrem
Leben, gesehen hätte, würde nichts weiter an ihr bemerkt haben, als daß sie ernster,
oder richtiger gesagt, herber aussah als sonst. Ihr Vater merkte mit seinen scharfen
Augen sehr wohl, daß in seiner Tochter etwas vorging, und deutete sichs zu seinen
Gunsten. Sie wird zu Verstände kommen, sagte er zu sich, und einsehen, daß
Herrin in Bernauken zu werden noch lange nicht das schlechteste ist. Er äußerte
kein Wort, schrieb aber an Baron Bordeaux, die Sache sei reif, und Eva werde
jetzt vernünftig, er möchte kommen. Aber Baron Bordeaux kam nicht. Diese Rose
war ihm zu dornig.
Nun war auch der Doktor abgereist. Wohin? auf wie lange? kam er über¬
haupt wieder? Eva wußte es nicht. Sie hätte es leicht von ihrem Vater erfahren
können, aber sie scheute sich zu fragen. Abschied hatte „er" nicht genommen. Aber
würde sie sich haben beklagen können, wenn er ohne Gruß von ihr geschieden wäre?
Wars ihm zu verdenken, wenn er das herrschsüchtige und herzlose Mädchen schweigend
aufgab? Sie empfand darum einen brennenden Schmerz, und sie zürnte sich selbst,
daß sie diesen Schmerz empfand. War es verletzte Eigenliebe, gekränkter Stolz,
der in ihr zürnte? Sie ahnte und fürchtete, daß des Schmerzes Wurzel viel
tiefer saß.
Wie einsam fühlte sie sich! Wen in der ganzen weiten Welt hatte sie, nachdem
„er" gegangen war, dem sie ihr Herz hätte aufschließen, dem sie hätte Vertraue»
entgegenbringen können? Wer blieb ihr übrig? Tauenden! Ja, Tauenden!
—
Aber würde Tauenden ihr nicht zürnen? Aber was hatte sie denn getan?
Der unbesonnene Streich, der den Kampf mit dem Elch zur Folge gehabt hatte,
war der denn ein Verbrechen gewesen? Kann man sich denn nicht wieder ver¬
ständigen, nachdem man eine Dummheit gemacht hat? Man hätte das doch mit
einem einzigen Worte wieder gut machen können. Aber dieses eine Wort hatte sie
nicht gesprochen. Sie hätte sich zu tief demütigen müssen, es auszusprechen, und
das hatte ihr unbändiger Stolz nicht geduldet. Sie hatte deutlich gefühlt, daß es
der Anfang vom Ende ihrer Selbstherrlichkeit gewesen wäre, wenn sie gesagt hätte:
Heinz, sei wieder gut. Darum hatte sie nicht nachgegeben, nicht mit einer Silbe,
sondern verlangt, daß er sich beugen solle. — Ich mag ihn nicht, hatte sie zu
ihrem Vater gesagt, und es war ihr ernst mit diesen Worten gewesen. Sie hätte
ihn hassen mögen, daß er so klar und sicher auf seinem Rechte bestand und nicht
nachgab.
Und aus der Tiefe ihrer Seele schrie weinender Jammer auf: Ich kann ihn
ja nicht lassen, ich muß ja ohne ihn sterben. O Heinz!
Was War das? War sie denn gefangen? Hatte sie denn einen Strick am
Fuße? Stricke kann man zerreißen, sie hätte nur zu Heinz zu sagen brauchen:
Gib mir meinen Ring wieder. Aber sie hatte es nicht zu sagen gewagt. Wie,
wenn das Band tiefer und fester sitzt? Am Herzen? an der Seele? Kann man
das mich lösen durch ein: Ich will nicht? Jsts da auch mit einem: „Ich mag
ihn nicht" getan? — Wo bleiben wir? Wo bleibt unsre Herrschaft über uns
selbst, wenn es unser Los ist, von Mächten überfallen zu werden, die wir nicht
bändigen können, denen wir nicht trotzen können, die uns zu Boden werfen und
uns mit Ketten binden, da, wo es uns am meisten schmerzt, gebunden zu sein?
Einem Pferde legt man den Zügel ins Maul, nicht um den Hals; ist dem Menschen
der Zügel ans Herz gelegt, so ist er sicherer gebändigt als ein Pferd durch den
Zügel im Maule. Es ist nicht Amor der himmlische Gassenbube, der Pfeile versendet,
es sind die Machte, die in uns liegen, die mit uns geboren sind und erwachsen,
und die uns eines Tages mit Rüstung und Wehr überfallen und knechten. Was
hilft dagegen alles kluge Reden, und was weiß man von sich, wenn man das noch
nicht erfahren hat? ^ " ^
Eva hatte in der Pension im Geschichtsunterricht davon gehört, daß eine un¬
glückliche Königin auf der Flucht nach Memel diese Worte mit ihrem Ring in die
Glasscheibe des Fensters eines Bauernhauses geritzt habe. Es hatte ihr nicht imponiert,
sie hatte über den kleinmütigen Jammer gelacht, und als sie einen deutschen Aufsatz
über die Sentenz hatte schreiben sollen, hatte sie das Thema mit kecker Ungezogen¬
heit und völliger Verkennung seines Sinnes behandelt und dafür eine Strafpredigt
erhalten, die sie zu den übrigen gelegt hatte. Jetzt fing sie an einzusehen, daß sie
recht wenig von dem verstanden hatte, was sie sich leichtherzig zu beurteilen er¬
laubte. Wie die Wasserspinne über das Wasser, so war sie über die glatte,
glänzende Oberfläche ihres Lebens gelaufen, ohne auch nur den Fuß zu netzen;
wenn sie jetzt in langen Nächten in ihrem Bette saß, ohne schlafen zu können, fing
das Verständnis an, ihr aufzugehn, daß es uuter der sonnigen Oberfläche des
Lebens dunkle Tiefen gibt, und daß Kräfte in der innern Welt wirken, die die
eigentlichen Herren sind, nicht der Mensch, der sich töricht Herr nennt, weil er
den Zügel, der ihn leitet, verbergen kann. Und wer hatte ihr die Binde von den
Augen genommen? Er! Heinz! Sie hätte ihm darum zürnen mögen, wenn sie
ihn nicht so heiß geliebt hätte. Wie nahe liegen Haß und Liebe beieinander!
Aber Tauenden wurde nicht von finstern Mächten ins Leid hineingestoßen.
Wenn Eva an Tauenden dachte, war es ihr, als wenn sich alle Schatten auseinauder-
täten. Tauenden, die es in ihrem Leben doch wahrlich nicht leicht hatte, ging leichten,
und sichern Schrittes ihres Weges. Alles lag auf ihrer Schulter, jeder hatte sein
Anliegen an sie, keine Minute hatte sie für sich, und doch hatte noch nie jemand sie
unzufrieden gesehen. Wie machte sie das? Sie kämpfte nicht um die Herrschaft
und war doch unbestrittne Herrin ihrer Umgebung; alle, auch „er" mußten tun,
was sie wollte. Wenn man dem Tauenden unter die Flügel kriechen könnte, wenn
man sie um Rat fragen, ihr das Herz ausschütten könnte! Aber das war un-
möglich. Eva fühlte es ganz genau, daß sie das nicht vermochte. Sie trug drei
eiserne Reifen ums Herz, und die erlaubten ihr nicht, das Herz aufzutun.
Nachdem Eva hierüber zum Schluß gekommen war, nämlich daß es unmöglich
sei, Tauenden aufzusuchen, bemerkte sie mit Erstaunen, daß sie ihren Hut aufgesetzt
hatte und auf einem Wege war, der klarlich zu Tauenden führte. „Er" war ja
nicht da. Es war Abend. Ein trübes gelbes und graues Licht erhellte den
Himmel, und vor ihm standen die dunkeln Schatten des Waldes wie ein Lichtschirm
vor einer verlöschenden Lampe. Der Weg, der durch den Wald zum Schlößchen
führte, gab in mattem Lichte den Schein des Himmels wieder, aber unter den
Bäumen war es Nacht. Dort am jenseitigen Rande des Waldes stand vor dunkeln
Bäumen das preußische Schlößchen. Und dort das rotleuchtende Mansardenfenster
gehörte zu Tantchens Zimmer. Bis zu dem Punkte, von dem aus das Fenster
gesehen werden konnte, reichte die Kraft, die Eva fast gegen ihren Willen herge¬
führt hatte, weiter nicht. Denn nun trat die Frage in den Weg: Darf ich so spät
um Abend noch anklopfen? Und was kann ich antworten, wenn sie fragt: Kind, was
willst du? Wußte sie es doch selbst nicht. Aber auch aus der Ferne das stille
rote Licht zu sehen war tröstlich, so wie es dem Schiffer auf stürmischer See
tröstlich ist, das Licht vorm Hafen zu sehen, den Stern, der still und treu über
dem Horizont steht und mit jedem Auftun seines Auges zu sagen scheint: Komm
nur, hier ist stille See und Ankergrund.
Wolfs Bohnenlaube, die im vorigen Jahre mit der Kiele niedergebrannt war,
war nicht wieder aufgebaut worden, dagegen hatte sich Wolf mit Hilfe des Herrn
Kandidaten um Waldrande und gerade da, wo Eva eben stand, ein Gebäude er¬
richtet, das halb Köhlerhütte und halb Jndicmerzelt war. In diese Hütte begab
sich Eva, und sie setzte sich, wie sie schon manchmal getan hatte, auf die Moos¬
bank, die im Innern erbaut war, um von da aus den Pharus ihres Lebensweges,
das erleuchtete Fenster von Tantchens Zimmer zu betrachten.
Sie hatte noch nicht lange da gesessen, als sie die Tritte und die halblaut
geführte Unterhaltung von zwei Mägden vernahm, die vom Hofe her kamen. Sie
setzten sich auf die Bank außerhalb der Hütte und redeten miteinander, die eine mit
weinerlicher, die andre mit tröstender Stimme. Sie sprachen litauisch. Aber Eva ver¬
stand so viel von dieser Sprache, daß sie den Inhalt des Gesprächs fassen konnte.
Du hättest dich mit demi schlechten Menschen nicht einlassen sollen, sagte die eine.
Ach Gott, ach Gott ja, erwiderte die andre, meine Mutter hat mir das auch
schon gesagt; aber man ist ja als Mädchen so dumm. Es war doch ein Inspektor,
und ich wäre gern Frau Jnspektorn geworden. Ich habe es auch selber gewußt,
daß der Mensch schlecht ist, aber für so schlecht habe ich ihn doch nicht gehalten. —
Damit fing sie an zu schluchzen.
Na, so rede doch, drängte die erste.
Er sagt jetzt, ich wäre ihm nicht gut genug. Er habe jetzt zehntausend Mark
und nehme täglich zehn Mark ein, und damit könne er eine ganz andre Frau
kriegen als mich. Ja, wie er nichts hatte, da war ich gut genug, für ihn Brot
und Wurst zu stehlen, und nun gibt er mir einen Tritt.
Das darfst du dir nicht gefallen lassen.
Ich habe es mir auch nicht gefallen lassen. Ich habe ihm gesagt, wenn er
mich nicht heiraten wolle, so würde ich meiner Herrschaft sagen, wo der Kontrakt
liegt. Da hat er gebrüllt wie ein Stier und hat mich an die Wand gedrängt
und gehauen, daß ich dachte, ich müßte am Leben verzagen.
Nein, das darfst du dir nicht gefallen lassen, wiederholte die andre eifrig.
Gib dem Herrn den Schein wieder, dann ist er gleich seine zehntausend Mark los.
Ich traue minds nicht.
Dann laß den Deckel aufstehn, so finden sie ihn von allein.
Nun wandte sich das Gespräch auf andre Dinge, und dann entfernten sich
die Mädchen.
Jetzt hätte Ella Mut gehabt, bei Tauenden einzutreten, aber es war inzwischen
zu spät geworden, und morgen war ja auch noch ein Tag,
Als Tauenden am andern Tage um das Haus herum kam, dahin, wo einst
Wolfs Bohnenlaube gestanden hatte, und wo noch immer die Milchgefäße gescheuert
wurden, sah sie zu ihrem größten Erstaunen Eva, die ihre Ärmel aufgestreift hatte
und damit beschäftigt war, den Mägden beim Reinigen der Gefäße zu helfen.
Kind, was machst du da? rief Tauenden fast erschrocken.
Eva hob ihre Angen auf zu Tauenden und sagte mit Lachen auf den Lippen,
aber tiefem Ernst im Blick: Ich möchte Ihnen so gern helfen.
Aber dies ist keine Arbeit für dich, sagte Tauenden, dies ist eine Arbeit für
die Mägde. — Darauf nahm sie Eva mit ins Haus, packte ihr Stöße von Wäsche
auf die Arme und schickte sie treppauf und treppab. Es ist keine kleine Arbeit,
alles wieder dahin zu bringen, wohin es gehört, wenn in einem großen Haus¬
stande Wäsche gewesen ist. Eva, die sonst keine Freundin von Arbeiten gewesen
war, die Ausdauer forderten, ließ sichs nicht verdrießen, Tauenden bei ihrer großen
Arbeit zu helfen. Ja sie tat es gern, sie hatte das Gefühl eines Menschen, der
nach unsicherer Fahrt den festen Boden wieder unter den Füßen hat und kräftig
auftritt, um seine Festigkeit zu erproben. Und dazu achtete sie beim Umhergehn
im Hanse auf alles, was einen Deckel hatte. Aber sie fand keinen Deckel, der
offen gestanden hätte. Sie versuchte, aus der Sprache die Magd wieder zu
erkennen, die sich am Abend vorher schuldig bekannt hatte, aber auch hier kam sie
zu keinem Resultat. Tauenden warf manchen forschenden und mitleidigen Blick auf
das schöne, stolze Mädchen, das so bereitwillig war, ihr zu helfen. Sie ahnte wohl,
was in ihrem Innern vorging.
Als alles beiseite gepackt war, und die Schränke geschlossen waren, schob
Tauenden ihre Hand unter den Arm Evas und sagte vergnügt: Nun komm, Kind,
jetzt haben wir uns ein Vesperbrot redlich verdient. Eva ergriff die Hand Tantchens
und versuchte, sie an die Lippen zu ziehn, aber Tauenden wehrte erschrocken und
beschämt ab und sagte: Nicht doch, nicht! schloß aber Eva mit sozusagen mütter¬
licher Zärtlichkeit in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Und Eva ließ es sich
gefallen — zum erstenmal. Sie hatte den innern Stachelpanzer abgelegt und
freute sich dessen, daß sie es gekonnt hatte. Und so saßen die beiden lange bei¬
einander und hielten die Hände ineinander gelegt. Sie sprachen wenig, und von
dem Doktor kein Wort, obwohl beiden nichts näher lag als er.
Dagegen teilte Eva mit, was sie den Abend vorher von den Mägden er¬
lauscht hatte. Diese Nachricht war sehr wichtig und sehr erfreulich. Sie eröffnete
die Hoffnung, daß man zur zweiten Instanz in Sachen des gegen Heinemann ge¬
führten Prozesses noch Beweismaterial finden werde. Denn nun war es klar, daß
das verschwundne Dokument noch vorhanden, und daß es im Hause selbst versteckt
sei. Es mußte also auch wieder gefunden werden können. Freilich hatte man nur
den einen Anhalt, daß das Papier in einem mit einem Deckel verschloßnen Gefäße
liege. Die Mägde selbst durfte man nicht fragen, um sie durch Fragen nicht scheu
zu machen, und so blieb nichts übrig, als nochmals das ganze Haus zu durch¬
suchen und alles, was einen Deckel hatte, vom Flügel bis zur Mehlkiste und zum
Salzfaß aufzuklappen. Dies geschah, aber man fand nichts.
(Fortsetzung folgt)
Der Zusammentritt des Bundesratsausschusses für die aus¬
wärtigen Angelegenheiten hat in einem süddeutschen Blatte die Deutung erfahren,
„der Reichskanzler habe das Bedürfnis empfunden, die Minister der auswärtigen
Angelegenheiten in den Bundesstaaten einen weitern Einblick in den Verlauf der
marokkanischen Angelegenheiten tun zu lassen, um sie in den Stand zu versetzen,
die Frage mit doller Sachkenntnis zu behandeln, falls sie in den parlamentarischen
Körperschaften der einzelnen Staaten zur Sprache gebracht werden sollte; es sei
ziemlich wahrscheinlich, daß dies geschehen werde." Eine solche Ansicht ist völlig
unverständlich. Erstens vergeh» Monate, bis die deutschen Landtage zusammen¬
treten, zweitens wäre es ein völlig unerwünschtes Novum, wenn die deutschen
Einzellandtage die auswärtige Politik, die Sache des Reichs ist und im Reichs¬
tage mit großer Delikatesse behandelt wird, vor ihr Forum ziehn wollten. Die
Information der deutscheu Bundesregierungen über auswärtige Politik geschieht
nicht erst im Bundesratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten, der eigentlich
keine verfassungsmäßig umschriebne Kompetenz hat, und dessen Existenz — ein
Höflichkeitspflaster für weiland König Ludwig den Zweiten — genau betrachtet
nicht im Einklange steht mit Artikel 11 der Reichsverfassung, der bestimmt: „der
Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten." Da der Ausschuß aber um
einmal da ist, und Bayern verfassungsmäßig (Artikel 8) den Vorsitz darin führt,
so verlangt es die bundesfreundliche und verfassungsmüßige Korrektheit, dem Aus¬
schuß bei großen Phasen der auswärtigen Politik des Reichs einen Überblick über
den Verlauf der Dinge, eine Art Rechenschaftsbericht vorzulegen und sich dabei
der Zustimmung der im Ausschusse vertretnen größern Bundesregierungen zu ver¬
gewissern. Insofern ist der Ausschuß auch eine sehr nützliche Einrichtung. So ist
es bei dem Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses, bei der Expedition nach
China im Sommer 1900 und auch jetzt wieder geschehen, nachdem die marokkanische
Frage ihr ernsteres Stadium hoffentlich hinter sich hat.
Es ist schon in frühern Jahren hervorgehoben worden, daß die deutschen
Bundesgenossen nicht erst durch den Bundesratsausschuß über die deutsche aus¬
wärtige Politik auf dem laufenden erhalten werden, sondern daß dies in allen
wichtigern Dingen fortlaufend durch die Gesandten in Berlin oder durch die preußischen
Gesandten in den deutschen Hauptstädten geschieht. Am 11. Juli 1900 erließ der
jetzige Reichskanzler, damals Staatssekretär des Auswärtigen, ein Rundschreiben an
die deutschen Bundesregierungen, worin er die Entwicklung der Dinge, die schließlich
zur Entsendung der Expedition nach China führten, ausführlich darlegte und zum
Schlüsse hervorhob, daß die in dem Rundschreiben enthaltnen Gesichtspunkte die volle
Billigung des Bundesratsausschusses für die auswärtigen Angelegenheiten gefunden
hätten. Damit war diesem die Stellung als einer Art Koutrollinstanz zuerkannt
worden, und in diesem Sinne ist auch jetzt seine Einberufung veranlaßt worden. Es
mochte dem Reichskanzler daran gelegen sein, nicht nur für die bedeutsame Ausein¬
andersetzung mit Frankreich, die er hinter sich hat, sondern vor allen Dingen für alles,
was uns noch bevorsteht, der Zustimmung der deutschen Bundesgenossen sicher zu
sein, als deren amtlicher Ausdruck der Bundesratsausschuß somit anzusehen ist.
Ob gegenwärtig ebenfalls ein Rundschreiben an die deutschen Regierungen
ergangen ist oder beabsichtigt wird, ist nicht bekannt. Eine Notwendigkeit, wie im
Jahre 1900, wo das Reich mit starken Kräften zu Wasser und zu Lande in eine
kostspielige, in ihrer Tragweite gar nicht übersehbare kriegerische Aktion eingetreten
war, liegt nicht vor. Freilich bot, wie die Enthüllungen des bisherigen fran¬
zösischen Ministers Delcasst nunmehr von neuem erhärtet haben, das jetzt glücklich
überwundne Stadium ernste Augenblicke genug. Durch die Enthüllungen des fran¬
zösischen Ministers hat die Haltung der deutschen Regierung die von ihm schwerlich
beabsichtigte volle Rechtfertigung erfahren. Blieb Delcasst im Amt, so trieben beide
Länder unaufhaltsam, wie im Juli 1870, einen, Konflikte zu, dem — wenn Frank¬
reich ihn wirklich wollte — Deutschland weder ausweichen konnte noch durfte. Im
Gegenteil, wir hätten uns das Gesetz des Kriegs nicht vom Feinde vorschreiben
lassen können. Alle diese Zettelungen, deren Etappen an verschiednen Plätzen
deutlich zu beobachten waren und ebenso rechtzeitig wie sorgfältig beobachtet worden
sind, drängten zu der Erkenntnis, daß wir unvermeidlich gezwungen werden würden,
Frankreich die Frage: Krieg oder Frieden? zu stellen, wenn Delcasse im Amt blieb,
und seine Politik, bei der er 1o eceur I6Uhr den Krieg ins Auge faßte, die Zu¬
stimmung der andern Minister, der französischen Regierung, fand.
Sobald Rouvier das erkannte, säumte er nicht, einer Spekulation ein Ende zu
machen, deren Folgen ihm nicht im Interesse Frankreichs zu liegen schienen. Diese
friedliche Gesinnung des französischen Ministerpräsidenten bürgt auch dafür, daß es
den Umtrieben, die immer noch an der Arbeit sind, nicht gelingen wird, die
Konferenz schließlich resultatlos zu machen. England, dessen diplomatische Vertreter
den Konferenzgedcmken nach Möglichkeit bekämpft haben, hat jetzt durch den Mund
des Staatssekretärs des Auswärtigen seine Bereitwilligkeit verkündet, die Konferenz
zu beschicken, und so ist denn Aussicht vorhanden, daß der von Deutschland ver-
tretne Rechtsstandpuukt doch der Grundstein einer neuen international verbürgten
Ordnung der Dinge in Marokko wird. Die Eröffnungen, die der Reichskanzler am
12. d. M. dem Bundesrntsausschuß gemacht hat, und die übrigens durchaus ver¬
traulicher Natur waren, also schon aus diesem Grunde nicht ohne weiteres zur
Mitteilung an die deutscheu Landtage bestimmt und geeignet sein konnten, haben
selbstverständlich auch die Ziele der deutschen Politik in Marokko berührt, sodaß die
Reichsregieruug in die Verhandlungen mit Frankreich über das Konferenzprogramm
sowie in die Konferenz selbst mit der Gewißheit eintreten kann, der Zustimmung
und des Vertrauens der deutschen Bundesgenossen sicher zu sein.
Diese Gewißheit wird um so wünschenswerter und notwendiger in einer
Situation, wo ernste Spannungen zu überwinden waren, andre vielleicht noch zu
überwinden sein werden. Auch wenn man die französisch-englische „Flotten¬
verbrüderung" nicht höher bewertet, als sie es verdient, darf man doch nicht ver¬
gessen, daß sie sich auf dem Hintergründe des Delcasseschen Kriegsbündnisprojekts
und einer starken gegen Deutschland gerichteten Gereiztheit in England vollzieht.
Daß die französischen und die englischen Kriegsschiffe in Brest bunte Reihe machten,
und daß bei den Trinksprüchen alle möglichen Versicherungen ausgetauscht wurden,
das alles ist auch in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der
Glanzzeit des dritten Napoleon schon dagewesen, und wie jetzt in Brest und
Portsmouth mit der englischen, hat sich die französische Flotte in Kronstäbe und
Toulon mit der russischen verbrüdert. Das sind nur Vorgänge von dekorativer
Bedeutung auf dem Welttheater, bei denen es hinterher immer zweifelhaft bleibt,
ob sie die Kosten wert waren. Was wir im Auge behalten wollen, ist die Tat¬
sache, daß sich den Delcasfüschen Enthüllungen gegenüber noch keine autoritative
Stimme in England erhoben hat, die der Bündnisidee widersprochen hätte. Im
Gegenteil, eine Äußerung im Unterhause, die von eiuer Unterstützung des Ver¬
bündeten Englands bei Kämpfen in der Nordsee sprach, hat vom Regierungstisch
keinerlei Zurückweisung erfahren, sodaß die Grenze, bis zu der das Verhalten
Englands gegen uns noch als korrekt angesehen werden kann, nicht mehr so fern
ist. Dennoch ist mit einiger Zuversicht anzunehmen, daß die gegenseitigen Be¬
ziehungen, wenn auch vorläufig kaum eine gründliche Besserung, so doch jedenfalls
keine weitere Verschlechterung erfahren werden, namentlich seitdem England die
Gewißheit hat, daß Frankreich für den deutscheu Krieg nicht zu haben ist, weder
die Regierung noch die öffentliche Meinung.
Dem deutschen Volke wird diese Wetterwolke, die ja vorüberzuziehn scheint,
aber eines Tages sehr wohl von neuem am Horizont erscheinen kann, hoffentlich
eine ernste Mahnung sein, sich nicht zu gedankenlos dem Genuß der erworbnen
Güter hinzugeben und über dem Behcigen am Besitz die Sorge um seine Erhaltung
zu vergessen. Eine entschlossene Politik der Abwehr, des Beharrens auf dem Recht
und der Würde eiuer großen Nation, ist auf die Dauer nur möglich bei dem Be¬
wußtsein vollkommner Bereitschaft, und wir haben allen Grund, für die Schließung
der in unsrer Rüstung noch vorhandnen Lücken zu sorgen.
Auch die Parteien sollten endlich klug werden. Es ist fast unglaublich, daß
liberale badische Blätter mit ihrer Regierung über das Verbot hadern, das diese
gegen die Zulassung fremder sozialdemokratischer Redner am 9. d. M. in Konstanz
erlassen hat. Gerade im badischen Lande sollten doch die Erinnerungen von 1849
noch nicht vergessen sein. Immer wieder ist es der liberale Doktrinarismus, der sich
in der Entfesselung der Massen nicht genug tun kann, und dem damit die Verant¬
wortung für die unvermeidlichen Folgen zufällt. Die Sozialdemokraten brauchen
nur tüchtig zu schreien, und sie werden in der bürgerlichen liberalen Presse sofort
jede erwünschte Unterstützung finden — Leute, die aus Furcht und Verblendung
Selbstmord begehn! Daß das Konstanzer Garnisonkommando, gleichviel auf wessen
Anordnung, seine Vorkehrungen getroffen hatte, im gebotnen Falle dem inter¬
nationalen Faschingstaumel ein Ende zu machen, kann nur mit Dank und An¬
erkennung verzeichnet werden. Unsre Sozialdemokratie bekundet durch ihre Stellung
zu der russischen Revolution und durch deren offne Unterstützung, ebenso durch ihre
geradezu zynischen Hinweise auf die im Grunde gleichen Ziele in Deutschland, eine
solche Neigung zu Übergriffen, daß das Einschreiten sowohl des Reichskanzlers wie
der basischen Regierung nur zu gerechtfertigt war. Was Bismarck im August 1866
nach Petersburg telegraphierte: „Wenn Revolution sein soll, wollen wir sie lieber
machen als erleiden" — würde auch unsrer Sozialdemokratie gegenüber, wenn sie
es nicht anders haben will, leitender Staatsgrundsatz werden. Einstweilen stehn
die pathetischen Behauptungen, daß die Verbote der Sozialdemokratie nur von großem
Nutzen gewesen wären, in einem recht auffälligen Gegensatz zu den Schalen voll
sozialdemokratischen Zornes, die sich über das Haupt des Reichskanzlers ergießen,
weil er der Bebelschen Nebenregieruug den bereits betretnen Weg verlegt hat.
Der Staub, den die iudiskreteu und unrichtigen Veröffentlichungen über den
Zehnmillionenfonds aufgewirbelt haben, ist verflogen; Was neuerdings noch darüber
veröffentlicht worden ist, war ziemlich inhaltleer. Von einer Seite wird ausge¬
sprochen, daß eine solche Zulage nur für die aus dem Kadettenhause kommenden
Offiziere ausführbar sei. Damit steht es mindestens nicht im Widerspruch, wenn
in der Kölnischen Zeitung Klage geführt wird, „daß die Kreise, die den Kadetten¬
anstalten die Zöglinge liefern, die Offiziere in den kleinen Garnisonen, die ver¬
abschiedeten Offiziere, Gutsbesitzer, Beamte und Pfarrer in kleinen Orten usw., mehr
Zutrauen zu den Leistungen der Kadettenanstalten fassen und diesen ihre Söhne
bald anvertrauen sollten, nicht erst dann, wenn sie auf den Gymnasien Schiffbruch
gelitten haben oder ihnen dort der Schiffbruch droht." Mit andern Worten räumt
dieser von der Kreuzzeitung übernommne Appell ein, daß der Zugang zu den Ka¬
dettenhäusern aus den Schichten, die ehedem vorzugsweise den Ersatz für das
Offizierkorps geliefert haben, nachgelassen hat, also genau der vom Fürsten Donners-
marck übernommne Gedanke des Feldmarschalls Grafen Waldersee. Würde man
nach den Gründen forschen, weshalb dieser Zugang versagt, so würde man in der
großen Mehrzahl der Fälle auf die Schwierigkeiten stoßen, die den Eltern durch
die Zulagen bereitet werden. Die fortgesetzten, unter Mißbrauch der Koalitions¬
freiheit betriebnen Arbeitseinstellungen mit ihren unglaublichen Lohnsteigerungen
haben ganz natürlich zu einer immer größern Entwertung des Geldes geführt, die
alle von Gehalt oder Pension lebenden Familien am härtesten trifft, und das sind
gerade die in der Kölnischen Zeitung genannten Kategorien. Der Zehnmillionen¬
fonds würde also vor allem den Nutzen für die Armee gehabt haben, den Zugang
zu den Kadettenhäusern wieder zu beleben.
Niemand würde dann etwas darin finden können, wenn die Zulage an die Er-
reichung einer bestimmten Höhe wissenschaftlicher und militärischer Qualifikation, also
an Zeugnisse geknüpft würde, sie wäre solchergestalt eine Prämie für Fleiß und
Tüchtigkeit, eine Art Stipendium, wie sie die Universitäten, Kunstakademien usw.
ebenfalls verleihen. Wie übrigens verlautet, hat Fürst Donnersmarck so viele Zu¬
stimmungszuschriften von angesehenen Persönlichkeiten erhalten, daß die Annahme, der
an sich sehr gute Gedanke werde dennoch in der einen oder der andern Form Leben und
Gestalt gewinnen, hoffentlich noch nicht von der Hand gewiesen zu werden braucht.
Sollte die Anregung zu einer gesetzlichen Aufbesserung der Gehalte für Leutnants
und Oberleutnants in der nächsten Reichstagssession sichren, so würde der Urheber
sicherlich auch mit diesem Erfolge zufrieden sein, denn nur um die Sache handelt
es sich. Wir werden in den Tagen des Ernstes nie genug Offiziere haben können.
Daß sich überhaupt Lücken einstellen konnten, und daß zu deren Ausfüllung über
die unmittelbar beteiligten militärischen Kreise hinaus an Hilfsmittel außerordent¬
licher Natur gedacht werden konnte, beweist, daß uns allmählich das Gefühl für die
harte Notwendigkeit der Dinge, die aira, neesssitas, zu schwinden beginnt. Vielleicht
werden wir eines Tages Herrn Delcasst dafür noch besonders dankbar sein, daß
In den Artikeln über Mystik
und über Giordano Bruno im vorjährigen dritten Bande der Grenzboten haben
wir des Unternehmens von Eugen Diederichs gedacht, durch seinen Verlag (Jena
und Leipzig) die Suche nach der Religion der Zukunft zu organisieren »ut zu
diesem Zweck unter anderm auch die Schriften alter Mystiker und Naturphilosophen
herauszugeben. Von dieser Sammlung sind uns vier weitere, im vorigen und im
laufenden Jahre erschienene Bände zugegangen. Giordano Brunos Zwiegespräche
vom unendlichen All und den Welten werden vielen willkommen sein wegen
des Abrisses der Geschichte der kosmologtschen Anschauungen bis ans Bruno, die
der sachkundige Bearbeiter, Ludwig Kuhlenbeck, vorausschickt. Aus Brunos
Text (S. 40) und der dazu gehörigen Anmerkung 45 (S. 187; Kuhlenbecks An¬
merkungen sind auch in diesem Bande wiederum sehr wertvoll und gehaltvoll) er¬
fahren wir, daß Bruno nicht Pcmtheist oder ehrlich gesprochen Atheist gewesen ist.
Gott geht ihm nicht in der Welt auf, sondern behält neben seiner Betätigung in
der Schöpfung seine eigne Persönlichkeit. Kuhlenbeck nennt diese Ansicht Persönlichkcits-
pantheismus; früher hieß sie SemiPantheismus. — Daß Haeckels Apostel Wilhelm
Bölsche des Angelus Silesius Cherubinischen Wandersmann bearbeitet
hat, setzt seine Freunde einigermaßen in Erstaunen. Aber schon ein Blatt, dem
Haeckel sonst sympathisch ist, hat richtig bemerkt, die Sache sei nicht so gar wunder¬
bar, weil ja auch Haeckel, wie Bölsche, mehr phantasievoller Naturphilosoph als
exakter Forscher sei. Was Bölsche angezogen hat, das ist natürlich die pantheistisch
klingende Mystik des Silesius, der nebenbei ein wirklicher Dichter genannt werden
muß, und der namentlich die epigrammatische Form — das ganze Buch besteht
aus Epigrammen — virtuos handhabt. Bölsche hebt hervor, daß Scheffler diese
schönen Gedichte als Protestant verfaßt habe und nach seiner Konversion ein wüster
Fanatiker geworden sei. Sollte nicht der Fanatiker der legitime Sprößling des
Mystikers gewesen sein? In Bölsches Weltansicht würde Scheffler die seine schwerlich
wiederfinden. Jene tritt am deutlichsten in den Sätzen hervor: „Weltkörper und
geschüttelte Kartoffeln in einem Sack und sich anpassende Tierarten gehn alle den
gleichen Weg: je länger sie geschüttelt werden, desto sieghafter triumphiert die
Balance, die Ordnung, die Anpassung zuletzt. Alle disharmonischen Bewegungen
blitzen auf und sind sogleich wieder fort: alle harmonischen summieren sich, bilden
Reihen, endlich eine Macht, die Übermacht, den Sieg," und den Menschen, der
diese werdende Weltharmonie wahrnimmt, beseligt sie. In des Silesius Epigrammen
findet sich viel orthodoxer Christenglaube neben dem, was wie Pantheismus klingt,
was man aber auch in zweifellos orthodoxen Schriften, ja auch in liturgischen
Büchern und in der Bibel finden kann. — Ebenso scheint uns Immanuel Sweden¬
borg nicht ganz mit Recht von den Neumystikern annektiert worden zu sein. Seine
Theologischen Schriften hat Lothar Brieger-Wasservogel übersetzt und
eingeleitet. Dem Bemühen, ihn für die Diesseitigkeitslehre mit Beschlag zu belegen,
widerstreben doch allzusehr viele seiner Äußerungen, die beweisen, daß er seine
Visionen nicht als Symbole des innern Wesens der diesseitigen Welt gemeint,
sondern für Besuche aus dem Jenseits gehalten, und daß er aufrichtig an das
Fortleben der Seele nach dem Tode geglaubt hat. Interessant ist, wie heftig er
die „Dreigötterlehre" und das Dogma von der Rechtfertigung bekämpft. Von
dessen protestantischer Fassung meint er, die Reformatoren hätten nur in der
Theorie, nicht in der Praxis die Liebe und die Werke vom Glauben getrennt, um
zwischen sich und der alten Kirche eine unüberschreitbare Kluft zu reißen. Daß
dies ihr Beweggrund gewesen sei, hätten ihm die Herren selbst gesagt; denn sie
haben ihn gleich allen andern verstorbnen Großgeistern besucht. Im Anhange wird
auch der Brief Kants an Fräulein Charlotte Knobloch abgedruckt, worin der
rationalistische Philosoph mehrere Fälle von Hellsehen oder Telepathie Swedenborgs
mitteilt, die so sicher bezeugt seien, daß an den Tntsachen nicht gezweifelt werden
könne. — Das einzig Notwendige, ein Laienbrevier von Amos Comenius,
hat Ludwig Keller in der Übersetzung von Johannes Seeger mit biographischer
Einleitung herausgegeben. Dieser edle Prediger eines humanen Christentums in
einer wilden Zeit ist ohne Frage der Mehrheit der heute Lebenden in hohem
Grade sympathisch und verdient als Vorläufer heutiger Richtungen, besonders der
pädagogischen, in Erinnerung gebracht zu werden, aber auch ihm tut man Gewalt
an, wenn man ihn schlankweg als einen Vertreter der Alleinslehre in Allspruch
nimmt. Daß er der Alleinslehre Platos und des Neuen Testaments anhängt, wie
auf S. 10 gesagt wird, geben wir zu, ja es versteht sich eigentlich von selbst; aber
von der modernen Alleinslehre war er doch weit entfernt. Die Regel Christi, mit
der er das Leben vereinfachen und die Menschen aus dem Labyrinth erretten will,
in das sie ihre Jagd nach unnützen Dingen geführt hat; diese Regel fordert nach
ihm unter anderen, daß die Schulen „nur ihrem Meister, Christo folgen und allen
andern Führern, besonders denen aus der Schar der blinden Heiden, den Abschied
geben. Das Hauptbuch ihrer Bibliothek müßte die Bibel sein." Das und sein
Glaube an die Erbsünde is. 46) sieht nicht nach moderner Weltanschauung ans.
Natürlich haben wir nicht das mindeste dagegen, sondern finden es sogar sehr
schön, daß es gerade ganz moderne Denker sind, die unser heutiges Publikum mit
den gläubigen Frommen vergangner Jahrhunderte bekannt machen.
iinige halten ihn geradezu für dumm; Wohlmeinendere für para¬
graphenkundig, aber haarspaltend; die meisten für ein leidlich ge¬
lehrtes Tier, das am grünen Tische der Schreibstube statt auf
grüner Flur des praktische» Lebens weidet, unbewandert in den
Gebräuchen des Verkehrs und fremd gegenüber seinen Bedürf¬
nissen. Das ist der Eindruck von der Wertschätzung des deutschen Richters
bei seinen lieben Mitbürgern, den man erhält, wenn man die Urteile über
seine Urteile in den Zeitungen liest und an der Bierbank hört. Der Richter
schweigt hierzu. Es ist nicht jedermanns Sache, sich gegen den Vorwurf der
Beschränktheit zu verteidigen. Er weiß, alle diese Urteile beruhen ja zum
großen Teil auf Mißverständnissen, gründen sich auf irrige Berichte der Zei¬
tungschreiber oder richten sich in Wahrheit gegen die Bestimmungen des Ge¬
setzes selbst, nicht gegen die, die nur berufen sind, es anzuwenden. Wie wurde
zum Beispiel das Reichsgericht verhöhnt, als es seinerzeit die Entziehung des
elektrischen Stroms nicht als Diebstahl anerkannte. Und warum? Weil die
meisten daraus den falschen Schluß zogen, daß nun überhaupt diese Entziehung
erlaubt sei, und dem Verletzten nicht einmal ein Entschädigungsanspruch zustehe.
Ich sehe noch das erstaunte Gesicht des Mannes, der weidlich darüber ge¬
schimpft hatte, als ich ihn über seinen Irrtum aufklärte. Und es war ein
Studierter Mann. Vielleicht wäre es oft besser, wenn in ähnlichen Fällen
weniger vornehme Zurückhaltung vou den Richtern geübt und verstündige Auf
klärung gegeben würde. Denn es ist nicht gleichgiltig, wie das Volk über
die Richtigkeit der Sprüche seiner Richter denkt. Doch die deutschen Richter
trösteten sich bisher mit dem Bewußtsein, streng ihre Pflicht zu tun, und wem,
nicht ihre geistigen Leistungen, so doch ihre Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue
anerkannt zu wissen.
Jetzt ist es unternommen worden, auch diese ihnen abzusprechen, ihnen
Rechtsbeugung und Pflichtvergessenheit vorzuwerfen. Da wäre Schweigen
Schwäche. Nicht nur die persönliche Ehre der deutschen Richter fordert, diesen
Vorwürfen ins Auge zu sehen. Würde sich die Meinung festsetzen, daß sie
berechtigt seien, so wäre die Rechtsordnung und mit ihr der Bestand des
Staates aufs schwerste gefährdet. Wer diese Vorwürfe gegen die deutschen
Richter erhebt, verdient also den Dank des Vaterlands, wenn er rechtzeitig
den Finger auf eine wirklich vorhandne Wunde gelegt hat, um sie zu heilen.
Wer sie aber leichtfertig und unberechtigt erhoben hat, muß gebrandmarkt
werden als ein Mensch, der die Ehre pflichttreuer Männer frevelhaft verletzt
und das Vertrauen des Volks in seine Richter schmählich untergraben hat.
Zwei solcher Angriffe sind in jüngster Zeit erfolgt. Ursache zum einen
gab das Urteil eines Dresdner Schöffengerichts, das einen russischen Fürsten
wegen einer das Leben gefährdenden Körperverletzung eines deutschen Portiers
unter Zubilligung mildernder Umstände nicht zu Gefängnis, sondern zu tausend
Mark Geldstrafe verurteilte. Dieses Urteil soll nach der Meinung des Simpli-
cissimus „das deutsche Nationalgefühl verletzen." „Wenn ein russischer Fürst
einen sächsischen Bürger in Sachsen halbtot treten dürfe, so werde das in
Sachsen nicht als schamlos empfunden," und der Simplicissimus veröffentlicht
nach Namen und genauer Adresse die Richter, die den Russen „zu einer ge¬
ringen Geldstrafe wegen der Körperverletzung, begangen »nur« an einem
Deutschen, verurteilten." Jeder erkennt, daß hiermit die Richter der Liebe¬
dienerei gegen den Russen zum Nachteil des Deutschen, mit andern Worten
einer Rechtsbeugung geziehn werden. Und so ist es auch vom Publikum und
andern Blättern verstanden worden, wie die zahllosen Schmähschriften be¬
weisen, die auf die Artikel des Simplicissimus den Dresdner Richtern zuge¬
gangen sind. Entblöden sich doch sogar manche nicht, die Richter geradezu
als durch den russischen Fürsten bestochen zu bezeichnen!
Rechtfertigt nun der Sachverhalt die schweren und beleidigenden Vorwürfe
gegen die Unparteilichkeit und Pflichttreue der sächsischen Richter? Der Tat¬
bestand ist folgender. Der in einem Dresdner Hotel wohnende russische Fürst
erhält von dem Portier eine Nummer des Simplicissimus auf sein Zimmer
geschickt, die in Wort und Bild die gröblichsten Verhöhnungen der Russen enthält.
In der Erregung hierüber und in der irrigen Meinung, die Nummer sei ihn,
vom Portier mit Kenntnis ihres Inhalts unterbreitet worden, läßt er ihn
rufen, macht ihm Vorwürfe und versetzt ihm hierbei mit dem Fuß, der übrigens
nur mit einem leichten Lederhausschuh bekleidet war, einen heftigen Tritt hinten
an das Gesäß (nicht von vorn an den Unterleib, wie russenfeindliche Blätter
nach der Stuttgarter Verhandlung wieder und wieder falsch berichtet haben).
Dieser Tritt hatte die unglückliche Folge, daß der Portier an Darmstörungeu
und innern Blutungen auf mehrere Wochen erkrankte. Nach dem ärztlichen
Gutachten sind solche Erschütterungen des Beckens jedesmal lebensgefährlich.
Niemand wird die Tat des Russen beschönigen wollen, niemand dem mißhan¬
delten Portier seine Teilnahme versagen. Bei Ausmessung der Strafe hat der
Richter aber vor allem die Schwere der subjektiven Verschuldung zu ermessen
und die Umstände zu prüfen, aus denen heraus die Tat geboren wurde.
Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob der Täter ein Ausländer, der Ver¬
letzte ein Deutscher ist. Nationale Rücksicht bei der Findung des Rechts ist
oft von deutschen Zeitungen den ausländischen Gerichten zum Vorwurf gemacht
worden. Der deutsche Richter steht auf einer höhern Warte: er beurteilt den
Menschen und seine Tat, berücksichtigt dabei seine Umwelt, aber nationale
Sympathien und Antipathien spielen nicht mit. Ist es nun bei Prüfung der
subjektiven Verschuldung des Täters so ungeheuerlich, daß die Schöffenrichter
ihn mit einer Gefängnisstrafe verschonten, muß dies notwendig auf russischer
Liebedienerei beruhn unter schmählicher Mißachtung der Rechte des verletzten
Deutschen, oder gar darauf, daß es sich um einen Fürsten handelte und nicht
um einen Arbeiter? Der Tüter war bisher noch unbestraft. Er ist von Natur
ein sehr nervöser Mann, der seines Leidens wegen in einer Dresdner ärzt¬
lichen Anstalt in Behandlung war. Er war durch den Inhalt des ihm über¬
reichten Blattes schwer gereizt worden. Das Schöffengericht selbst nennt die
Artikel und Bilder schamlos. Der Simplicissimus entrüstet sich sehr darüber
und spricht den Richtern das Recht ab, ihn so zu beurteilen. Gott sei
Dank, daß wir noch Richter haben, die sich nicht scheuen, das Kind mit dem
rechten Namen zu nennen, ohne Furcht vor Preßangriffen. Hielt das Schöffen¬
gericht die Artikel für schamlos, so war es in diesem Falle auch geboten, es
offen auszusprechen. Und es hat damit wahrlich nur die Meinung eines
großen Teils der verständigen Deutschen ausgedrückt, denen die planmäßige,
geistlose und plumpe Verhöhnung der Russen und andrer Nationen dnrch
einige deutsche Witzblätter für die Dauer längst widerwärtig geworden ist, und
die die Gefahr nicht verkennen, die solche Verhetzung zweier Völker schließlich
auch für die Politik haben muß. Das dem russischen Fürsten überreichte Blatt
zeigte auf der ersten Seite einen russischen Priester mit der Schnapsnase, der
zu einem russische» sterbenden Soldaten sagt: „Den Trost nimm in das Jen¬
seits mit, Bruder! Dein Heldentod ist photographiert worden und wird unserm
erhabnen Herrscher im Kinematographen vorgeführt." Ein andres Bild zeigt
einen russischen Großfürsten beim Diner mit einer Dame der Halbwelt, darunter
die Worte: „Dreißigtausend Tote? Kellner, noch 'n Schnaps!" Muß einem
Angehörigen des russischen Volks, einem russischen Fürsten, bei solchen Artikeln
nicht die Zornader anschwellen? Ist es verwunderlich, wenn dieser dadurch
aufs tiefste in seinem Nationalgefühl verletzt und erregt wird? Welchen
Deutschen würden ähnliche Beschimpfungen seines Volkstums kalt lassen?
Glaubte nun vollends der russische Fürst, diese Bilder und Artikel seien ihm
absichtlich vorgelegt worden, um ihn zu verhöhnen, so muß bei billigdeukender
Beurteilung seine Tat allerdings in mildern Licht erscheinen, und wir ver-
stehn offen gestanden nicht, wie demgegenüber auch ein Stuttgarter Staats¬
anwalt an sehr ungeeigneter Stelle die Dresdner Schöffenrichter ebenfalls des¬
halb tadeln konnte, daß sie nicht eine Gefängnisstrafe über den Täter verhängt
haben. Der Fürst hat übrigens sofort, als er erfuhr, der Portier habe ihm
das Blatt ohne böse Absicht geschickt, diesen um Verzeihung gebeten. Und ans
welchen Gründen hat nun der Simplicissimus gegen die Dresdner Richter
wegen ihres Urteils die schwere Anklage erhoben? Wollte er zur Rettung
des Vaterlandes auf die pflichtvergessenen und parteiischen Richter aufmerksam
machen, wollte er den Finger legen an die Wunde deutscher Rechtspflege?
Zur Wahrung der Rechte des verletzten Portiers war es offenbar nicht nötig.
Dieser hatte sich der vom Staatsanwalt gegen den russischen Fürsten erhabnen
öffentlichen Anklage als Nebenkläger angeschlossen; er hatte gegen das Urteil
des Schöffengerichts zunächst auch Berufung eingelegt, dann aber das Rechts¬
mittel vor der Entscheidung wieder zurückgenommen. Ihn kann es also augen-
scheinlich nicht in seinem Rechtsgefühl so sehr gekränkt haben, daß der Täter
keine Gefängnisstrafe erhielt. Und er war doch der Verletzte! Es ist eben
allein die persönliche Kränkung des Simplicissimus gewesen, die diesen zu seinem
Vorgehn bestimmte, der Umstand, daß die Schöffenrichtcr seine Artikel als
schamlos bezeichnet haben! Aber ist nicht in der Tat eine Geldstrafe von
1000 Mark bei einem Manne, der, wie der Fürst, jährlich 200000 Mark
Einkommen hat, keine zureichende Sühne? Wer wollte das leugnen, nur darf
die niedrige Summe nicht den Richtern zur Last gelegt werden. Und das ist
es eben, was allen denen vorgehalten werden muß, die sich über die niedrige
Strafe entrüsten: keiner erwähnt, daß das Gericht mit 1000 Mark die höchste
Geldstrafe ausgeworfen hat, die das Gesetz hier zuläßt, Strafgesetzbuch Para¬
graph 228. Da zeigt sich die Berechtigung der ganzen Kritik! Entweder
kennt man die Vorschriften des Strafgesetzbuchs überhaupt nicht — dann hat
man auch uicht die Fähigkeit, richterliche Sprüche zu kritisieren; oder man
verschweigt den Umstand, daß die verhängte Geldstrafe die höchste zulässige ist,
absichtlich — dann macht mau sich einer unehrlichen auf Täuschung gerichteten
Kritik schuldig. Die verstündige Kritik also, die das Dresdner Schöffenurteil
allerdings herausfordert, hat sich gegen die Bestimmungen des Gesetzes zu
richten, die bei einem Vergehn nach dem Strafgesetzbuch Paragraph 223 g, ent¬
weder nnr eine Gefängnisstrafe oder eine Geldstrafe im Höchstbetrage von
1000 Mark zulassen. Die Umstände können sehr wohl so liegen, daß auch
die niedrigste entehrende Gefängnisstrafe zu hart erscheint, dagegen eine empfind¬
liche Geldstrafe ganz angezeigt ist. Dies war der Fall bei der Tat, um die
es sich hier handelt. Mit der entehrenden Gefängnisstrafe glaubten die Richter
den Tüter aus den oben dargelegten Gründen verschonen zu müssen. War
dies aber ihre Meinung, so durften sie selbstverständlich dann uicht deshalb
uur zu der für ungerecht gehaltnen Strafe greifen, weil andrerseits die ihnen
gebotne Geldstrafe keine ausreichende Sühne zuließ. Sie durften nicht zu hart
strafen, weil sie zu milde zu strafen genötigt waren. Die zu milde Strafe
mag dann der Gesetzgeber verantworten, wenn sie bei der gewählten Strafart
das höchste zulässige Maß verhängten. Das aber haben die Dresdner Schöffen¬
richtcr getan, und zwar unter dem Ausdruck des Bedauerns, keine Höhere
Geldstrafe auswerfen zu können. Somit hat der besprochnc Fall wieder ein¬
mal die Aufmerksamkeit des großen Publikums auf einen Mangel unsers
Strafgesetzbuchs gelenkt, den die Juristen schon längst empfunden haben, auf
die ganz ungenügende Regelung der Geldstrafen, insbesondre ans die viel zu
niedrig gesetzte höchste Grenze. Es ist bei der Beleidigung nicht anders; dort
ist als höchste Geldstrafe nach dem Strafgesetzbuch Paragraph 185 eine solche
von 1500 Mark angedroht. Die Strafbestimmung über den Betrug «Straf¬
gesetzbuch Paragraph 263) kennt als höchste Geldstrafe nur 3000 Mark. Was
sind das alles für lächerliche Summen! Hier tut allerdings eine Reform des
Strafgesetzes not, und wir können von den Franzosen und den Engländern
lernen, die ganz andre Beträge von Geldstrafen kennen.
Nicht minder schwer, aber nicht minder unbegründet ist der zweite gegen
deutsche Richter erhobne Angriff, und zwar zum Teil von einer Stelle aus,
die unter allen Umständen Beachtung zwar nicht immer verdient, aber bean¬
sprucht. In der Sitzung des Reichstags vom 18. Mai d. I. haben die Ab¬
geordneten Brühn und von Chrzanowski die Behauptung aufgestellt, nicht
revisible Sachen würden bei den Oberlandesgerichten mit geringerer Sorgfalt
behandelt, und die Urteile in solchen seien weniger gründlich erwogen als die,
in denen eine Nachprüfung durch das Reichsgericht zu besorgen sei. Und in
einem Vortrag im Berliner Anwaltverein erklärte ein Herr Salinger, Justizrat,
Rechtsanwalt und Notar in Berlin: „Regelmäßig werden die Urteile der Ober¬
landesgerichte in nichtrevisibeln Sachen nicht mit der eingehenden Sorgfalt
begründet wie die revisibeln Entscheidungen. Das ist auch ganz natürlich,
weil für Urteile, die einem Rechtsmittel nicht unterliegen, die Mitteilung der
Entscheidungsgründe an und für sich überflüssig ist. Die geringere Sorgfalt
bei der Ausarbeitung der Entscheidungsgründe in nichtrevisibeln Sachen würde
auch nicht ins Gewicht fallen, wenn damit nicht überhaupt eine unterschiedliche
Behandlung der revisibeln und nichtrevisibeln Sachen Hand in Hand ginge.
Wir können uns der Tatsache nicht verschließen, daß eine solche verschiedne
Behandlung geübt wird." „Auch die Geltendmachung einer vom Reichsgericht
abweichenden Rechtsansicht — bei den Reichstagsverhandlungen im Jahre 1898
wurde konstatiert, daß es zumeist nur nichtrevisible Sachen sind, in denen die
Obcrlandesgerichte die Autorität des Reichsgerichts ablehnen — muß der Sache
nicht immer zum Schaden gereichen — durch eine solche selbständige Judikatur
in nichtrevisibeln Sachen muß aber notwendigerweise die Rechtseinheit Schaden
nehmen."
Es ist wohl ausgeschlossen, daß denen, die solche Behauptungen aufstellen,
das Bewußtsein und die Empfindung dafür abginge, daß sie damit gegen
sämtliche Richter der Zivilsenate der Oberlandesgerichte den Vorwurf einer
schweren Pflichtverletzung erheben, und es ist unverständlich, wie Herr Salingcr
seinen Anschuldigungen die Floskel anhängen kann, „daß hiermit unsern Richtern
nicht Mangel an Gewissenhaftigkeit vorgeworfen werde." Was denn sonst?
Der schwersten Pflichtverletzung werden sie geziehn, wenn behauptet wird, sie
behandelten Sachen, bloß weil sie darin das letzte Wort sprächen, weniger
sorgsam und gründlich als andre, in denen sie eine Überprüfung zu gewärtigen
haben, und wäre dies wirklich der Fall, so müßten solche pflichtvergessene
Richter schleunigst vom Amt entfernt werden, und Herr Salinger und Ge¬
nossen verdienten Dank, wenn sie diese Richter bezeichneten. Aber freilich, den
Beweis dürfen die Richter der Oberlaudcsgerichte wohl erwarten, wenn ihnen
eine so schwere Beschuldigung ins Gesicht geschleudert wird. Andernfalls
müssen sie diese als leichtfertig und dreist mit Entrüstung zurückweisen. Ober-
landesgcrichtsrat Fuchs hat dies schon in der Deutschen Juristenzeitung gegen¬
über den Beschuldigungen der Reichstagsabgeordneten getan, die sich auf nichts
weiter zu stützen vermochten, als aus angebliche Äußerungen einiger Herren
Referendare. Es ist wirklich stark, auf solche nicht nachprüfbare Redereien von
ungenannten Referendaren hin solche Anschuldigungen zu erheben!
Aber Herr Salingcr behauptet, „die Tatsache, daß im allgemeinen der
Revision nicht unterliegende Sachen eben anders behandelt werden, werde
gerichtsseitig auch ganz offen zugestanden," und nennt als Beweismittel hierfür
die Reden der Abgeordneten von Dziembowski und Nintelen bei den Neichs-
tagsverhandlungen 1898. Nun, diese Beweise versagen. Herr von Dziembowski
zunächst ist Rechtsanwalt, nicht Richter, und seine denen gleichartigen Beschul¬
digungen, wie sie jetzt Herr Salinger vorbringt, sind und bleiben auch um
deswillen, weil sie im Reichstag erhoben worden sind, nicht mehr als eben leere,
beweislos gelassene Behauptungen. Jedenfalls kann man diese Äußerungen und
Ansichten eines Urwalds nicht als Beweis dafür vorbringen, daß gerichtsseitig
die behauptete Tatsache ganz offen zugestanden worden sei. So bleibt als
maßgebend nur die Rede des Abgeordneten Rintelen übrig, eines Richters.
Dieser hat bei der Beratung über die Erhöhung der Revisionssumme
nun folgendes gesagt: „Wenn die Oberlandesgerichte wissen, daß ihr Urteil ein
letztinstanzliches ist, so ist meines Trachtens für sie die moralische Verpflichtung
vorhanden, die Sache um so gründlicher zu prüfen, weil eben ihr Urteil ein letzt¬
instanzliches ist. In den Kollegien, in denen ich gesessen, habe ich denn auch oft
erlebt, daß meine Kollegen mit mir derselben Ansicht waren, daß die Sache um
so gründlicher behandelt werde. Aber es kamen auch Fälle vor, wo einige sagten,
wir können das kürzer abmachen und brauchen auf die und die streitigen
Fragen nicht weiter einzugehn, da die Sache nicht an das Reichsgericht gehn
kann." Wo in aller Welt gesteht hier Rintelen ganz offen zu, daß allgemein
der Revision nicht unterliegende Sachen weniger sorgfältig und gründlich bei
den Oberlandesgerichten behandelt würden? Im Gegenteil, er sagt, er habe
es oft erlebt, daß gerade diese Sachen besonders sorgfältig behandelt würden,
und stellt es offenbar als Ausnahmefälle hin, wenn einige Kollegen in nicht-
revisibeln Sachen auf gewisse streitige Fragen nicht näher eingehn wollten.
Daß diese damit ihrerseits diese Fragen nicht erwogen hätten und nur eine
nähere Ausführung in den Entscheidungsgründen für unnötig hielten, geht aus
dieser Äußerung auch noch nicht hervor, jedenfalls aber nicht, daß sie mit ihrer
Auffassung bei den übrigen Richtern durchgedrungen wären. Eine solche Ver¬
allgemeinerung mit der von Rintelen wiedergegebnen Äußerung zu machen, muß
deshalb als ganz unzulässig erachtet werden.
Ebenso unrichtig ist die Behauptung Salingers, es sei bei den Rcichs-
tagsverhcmdlungen „konstatiert" worden, daß es zumeist nichtrevisible Sachen
seien, in denen die Oberlandesgerichte von der Ansicht des Reichsgerichts ab¬
wichen. Diese „Konstatierung" schrumpft dcchiu zusammen, daß der Rechts¬
anwalt und Abgeordnete von Dziembowski diese Behauptung aufgestellt, aber
ebenfalls beweislos gelassen hat. Aber behaupten ist noch nicht konstatieren.
Das möchten wir nur hier konstatieren, damit nicht künftig einmal die Be¬
hauptung der Herren Brühn, von Chrzanowski und Salinger als „Kon¬
statierungen" bewertet werden. So fehlt also bisher jeder Beweis für die
schweren Vorwürfe, die gegen die Richter der Oberlandesgerichte erhoben
worden sind. Denn daß aus einer allerdings vorkommenden weniger ein¬
gehenden Begründung der Urteile nicht auf eine weniger gründliche Behandlung
und Prüfung der Sache selbst zu schließen ist, gesteht Salinger in seinem Vor-
trage selbst sehr richtig zu. Man kann bei der Beratung gewiß sehr gründlich
zwanzig Zeugenaussagen prüfen und gegeneinander abwägen und braucht dann
doch in den Entscheidungsgründen nur zu sagen, das Berufungsgericht habe
durch die Zeugenangaben nicht die Überzeugung erlangt, daß dies und das
geschehen sei. Und wenn man, wie von Salinger, die Meinung vertreten
hört, in nichtrevisibeln Sachen sei die Mitteilung von Entscheidungsgründen
überhaupt an und für sich überflüssig, und weiß, daß sie in der Tat in folchen
Sachen von den Parteien und ihren Anwälten kaum gelesen werden, so reizt
dies allerdings nicht zu besonders eingehender schriftlicher Wiedergabe der
Gründe. Erwogen aber sind die Sachen ebenso gründlich. Die gegenteilige
Annahme zeugt in der Tat von gänzlicher Verkennung des richterlichen Pflicht¬
gefühls sowohl als vom Gang der Beratung im richterlichen Kollegium. Bei
dieser Beratung kommt der Wert und die Höhe des Streitgegenstands fast
niemals zur besondern Erwähnung, es ist den Richtern kaum gegenwärtig, ob
der Kläger 1000 oder 3000 Mark fordert, allein die Sache interessiert, diese
wird beraten, um sie wird debattiert, über sie wird abgestimmt, und oft stellt
dann erst der Referent bei der schriftlichen Ausarbeitung des beschlossenen
Urteils die Klagsumme fest, die bis dahin nur als etwas unbekanntes be¬
handelt wurde.
Und noch eine Frage sei zum Schluß erlaubt. Warum wird gerade den
in Zivilsenaten tätigen Richtern der Oberlandesgerichte die Gewissenlosigkeit
zugetraut, nichtrevisible Sachen minder sorgsam zu erwügeu als revisible?
Auch die Richter der Strafsenate am Oberlandesgericht urteilen in letzter
Instanz. Sind deshalb auch ihre Urteile wertlos? Und vollends das Reichs¬
gericht hat keine weitere Instanz über sich. Sind aus diesem Grunde seine
Urteile nicht sorgsam begründet? Oder stehn diese Richter, was Gewissen¬
haftigkeit und Pflichttreue anlangt, auf einer höhern Stufe als die Richter
der Zivilsenate der Oberlandesgerichte? Welche armselige Vorstellung vom
Pflichtgefühl eines deutschen Richters, welche Bedientenseele muß doch der
habe», der glaubt, der Richter arbeite wie ein Schulbube nur dann sorgfältig,
wenn der Lehrer mit dem Bakel hinter ihm stehe.
Wir können nicht glauben, daß dies wirklich die Ansicht des deutschen Volkes
n der Verzinsung der festen Schuld ist am 1. Januar 1903
durch Herabsetzung des Zinsfußes auf 2^ Prozent eine Er¬
sparnis von 1'/^ Million eingetreten, aber die Anleihen für den
südafrikanischen Krieg, die seitdem der festen Schuld einverleibt
sind, haben sie wieder zunichte gemacht, und der Zinsaufwand
betrug 16 390445 weit mehr als vor der Herabsetzung. Mr die schwebende
Schuld kamen hinzu 2422435.^, für Zeitrentcn 6 538014 und für Ver-V
waltungskosten 185019 -F. Der noch an 27 Millionen fehlende Rest von
1464087 °F wurde dem Tilgungstock überwiesen.
Mit der jährlichen Bewilligung dieser Ausgaben hat sich dus Parlament
nicht zu befassen. Sie sind durch Gesetz festgelegt und müssen unter alleu
Umstünden vorweg bestritten werden. Nur die Überweisungen an den Tilgung¬
stock köunen ausgesetzt werden, wie in den beiden Jahren 1900/01 und 1901/02
geschehe» ist.
Unter den übrigen gesetzlich festgelegten Zahlungen, die 2781136-F be¬
trugen, stehn obenan die Zivilliste des Königs mit 470000 und die Jahr¬
gehalte der Mitglieder des regierenden Hauses mit 118000 -F. Dann folgen
die Pensionen der Zivilliste, die gewöhnlich bedürftigen Männern der Feder
oder ihren Hinterbliebnen gewährt werden. Doch dürfen Neubewilligungen
nicht die Gesamtsumme von 1200 ^ jährlich überschreiten. Den nächsten
Posten bilden Ruhegehalte für die Mitglieder des Haushalts der verstorbnen
Königin. Weiter werden ziemlich hohe Pensionen für kriegerische Verdienste
gezahlt. Mehrere davon sind erblich. So sind dem Lord Rodney und allen,
die ihm im Titel folgen, 2000 °F gesichert als Anerkennung der Siege ihres
Ahnherrn, und der jeweilige Carl Nelson erhält 5000 -F.
Mehrere Personen sind mit Pensionen für politische Verdienste bedacht,
wie Viscount Peel, der frühere Sprecher des Unterhauses und ehemalige
Kabinettminister. Ehemalige Richter erhalten, wenn sie dem Reichsgericht
(M^n Oonry angehört haben, einen Ruhegehalt von 3500 -F, wenn sie einem
Grafschaftgerichte vorgesessen haben, von 1000 ^. Ans demselben Fuße stehn
ferner die Gehalte des Sprechers des Unterhauses und sämtlicher Richter des
Vereinigten Königreichs, da es mit Recht nicht als der richterlichen Würde
angemessen gilt, ihre Stellung auch nur der Möglichkeit parlamentarischer Be¬
krittlung auszusetzen.
Endlich gehören zu dieser Klasse von Ausgaben noch bestimmte Über-
weisnngen an die Ortsverwaltuugsbehörden. Sie betrugen 1156705-F. Da¬
neben erhalten zwar diese Behörden noch bedeutende Summe» (9811579 ^L"),
die vom Staat eingezogen werden, wie ein Teil des Ertrags der inländischen
Verbrauchssteuern auf Bier lind Spirituosen und der entsprechenden Einfuhr¬
zölle. Aber da diese Gelder unmittelbar abgeführt werden, ohne den Weg
dnrch das Schatzamt zu mache», erscheinen sie nicht im Staatshaushalt.
Mit Ausnahme eines Beitrags von 215000 -F zur Pensionskasse des
indischen Heeres gehören alle diese Ausgaben zur Klasse des Zivildieustes.
Für die jährliche Vorlage des Budgets dagegen bilden sie zusammen mit denen
der Schuldverwaltung eine eigne Klasse unter der Bezeichnung 0onso1la!it.6<Z
?unä Lörvioss, weil sie schon auf den vonsoliäatöä I'unä angewiesen sind, die
Hauptstaatskasse, in der alle Neineinnahmen des Staats zusammenfließen. Alle
übrigen Ausgabe,: fallen unter die Bezeichnung Suppig Servives, weil das
Unterhaus als LominiUss c>l' 8uxxl.f die dazu nötigen Mittel erst be¬
willigen muß.
Die nachstehende Aufstellung gibt das Bild der Ausgaben nach dieser
Einteilung, wobei zu bemerken ist, daß sich die Zahlen, wie auch die schou
gegebnen, auf die wirklich gemachten Ausgaben des Jahres 1903/04 beziehn,
nicht auf den am Anfang des Rechnungsjahres dem Unterhause vorgelegten
Anschlag, der die nachträglichen Forderungen noch nicht kennen kann und um
volle 3 Millionen geringer ist.
In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts machten die festen
Ausgaben noch die weit größere Hälfte aus. Seitdem jedoch hat sich das
Verhältnis gewaltig verschoben. Gneist konnte noch im Jahre 1867 im Nord¬
deutschen Reichstage bei der Beratung der Verfassung angeben, die Hälfte der
Ausgaben sei durch gesetzliche Bestimmungen der Willkür des Unterhauses ent¬
zogen. Zwanzig Jahre später, 1886/87, waren es nur noch 29 Prozent und
1903/04 bloß 20.27 Prozent. Mit dem Wachsen des Staatshaushalts ist
also auch das Budgetrecht des Unterhauses gewachsen, das allein über den
Staatssäckel verfügt. Es gibt zwar kein Gesetz, das dem Oberhause verwehrte,
sich eingehend mit dem Staatshaushalte zu befassen. Aber tatsächlich hat es
sich seines Rechtes begeben, und obwohl ihm auch alle Finanzvorlagen zur
Genehmigung vorgelegt werden müssen, um Gesetzeskraft zu erlangen, so ist
es doch schon lange Gewohnheitsrecht, daß das Oberhaus eine solche Vorlage
entweder annehmen oder verwerfen, nicht aber abändern darf. Die Folgen
einer Ablehnung würden nur auf das Oberhaus zurückfallen. Darum ist es
selbstverständlich, daß es alle Geldvorlagen, die ihm vom Unterhause zugehn,
ohne weiteres gutheißt.
Das Unterhaus selbst macht aber auch nur einen bescheidnen Gebrauch
von seinem Budgetrechte. Vor allem gibt es auch in der Abteilung der Luxxl^
Lörviess Posten, die genau dieselbe Stellung einnehmen wie die schon durch
Gesetz auf die Hauptstaatskasse angewiesnen Zahlungen. Da sind die außer¬
ordentlichen, aus Kapitalaufnahmen bestrittnen Ausgaben, bei deren Bewilligung
schon die Tilgung der Anleihen durch Zeitrenten bestimmt wurde. Die Summen
dieser Zeitrenten werden alljährlich unter den Forderungen der einzelnen Zweige
der Verwaltung aufgeführt. Aber des Rechtes, sie zu verweigern, hat sich das
Unterhaus entäußert, als es die Ausgaben guthieß. Sie sind gesetzlich genau
so festgelegt wie die Verzinsung der festen Schuld, und auch dem redeeifrigsten
Parlamentmitgliede wird es nicht einfallen, auch nur ein Wort über sie zu
verlieren. Bei andern Forderungen hält es natürlich die Partei, die nicht am
Ruder ist, für angebracht, einige Ausstellungen zu machen, doch nur um bei
der Gelegenheit Beschwerden und Wünsche zur Sprache bringen zu können,
nicht in der Hoffnung, Abstriche zu erreichen. Denn sie weiß ganz genau,
daß sie dergleichen nicht erreicht. Die Regierung muß eine verläßliche Mehr¬
heit hinter sich haben und würde einen ernstlichen Angriff leicht abschlagen.
Es müßte schon ein recht unfähiger Schatzkanzler sein, den seine eigne Partei
im Stiche ließe. Außerdem sind auch das britische Volk und seine Abgeordneten
politisch geschult genug, sich zu sagen, daß die Regierungsmaschine weitergehn
muß, und was Heer und Flotte angeht, so haben sie längst die Scheu vor
der bewaffneten Macht überwunden. Was die Regierung dafür verlangt, wird
ohne Anstand bewilligt. Roseberys Kabinett fiel im Jahre 1895, weil Campbell-
Bannerman als Kriegsminister darin zu wenig getan und die Vorräte an
Schießbedarf nicht auf der nötigen Höhe gehalten hatte. Seine Nachfolger
freilich waren noch nachlässiger. Als der Burenkrieg ausbrach, waren nicht
mehr als fünfhundert Reservesättel und achtzig Reservesübel vorhanden. Schie߬
bedarf mußte aus den Beständen der Flotte entliehen werden, und einmal war
der Vorrat an Gewehrpatronen in England bis auf zwei oder drei Kisten
hinuntergegangen. Aber all das kam erst später ans Tageslicht, bei der
Untersuchung durch den dafür eingesetzten Ausschuß, die ein recht trübes Bild
der Kriegsbereitschaft des britischen Heeres gewährte. Soweit die Abstellung
der Mängel durch Geld möglich ist, läßt das Parlament es an nichts fehlen,
wie das Anschwellen der Friedensausgaben für das Heer in den letzten Jahren
beweist. Der deutschen Heeresverwaltung, die durch ihre Leistungen Anspruch
auf unbeschränktes Vertrauen hat, bringt der Reichstag nicht halb so viel Ver¬
trauen entgegen.
Noch weniger als beim Heere wird bei der Flotte geknausert, die dem
Briten ans Herz gewachsen und für seine Sicherheit auch am wichtigsten ist.
Sie weist seit 1898/99 eine Aufwandvermehrung im ordentlichen Haushalt von
24 fast auf 35^ Millionen Pfund auf, und wenn die Regierung noch mehr
verlangte, so würde sie es erhalten. England hat auch einen Flvttenverein,
die im Jahre 1895 gegründete Mo? I^sAZns. Ihre Aufgabe braucht jedoch
nicht zu sein, im Volke Stimmung für eine starke Flotte zu machen. Das
hieße Eulen nach Athen und Kohlen nach Newcastle tragen. Sie sucht viel¬
mehr einen Druck auf die Negierung auszuüben, daß diese der Flotte noch
mehr Aufmerksamkeit zuwende. Nach den gegenwärtigen Flottenbauplänen
scheint ihr das gelungen zu sein. Denn unverkennbar ist die Absicht, nicht
bloß zwei, sondern drei Gegnern zugleich gewachsen zu sein.
Von dem Teile der Zivilausgabcn. der der jährlichen Bewilligung des
Parlaments nicht unterliegt, ist schon die Rede gewesen. Der andre Teil be-
lief sich 1903/04 auf 26870000 -F. Er bezieht sich auf die eigentliche Staats¬
verwaltung, den vivit Lsrvios, mit Ausschluß der Zweige für Zölle, Steuern,
Posten und Telegraphen, die als Einkommen abwerfend besonders stehn.
Die Ausgaben des Lion LsrviM sind in sieben Klassen verteilt:")
1. Öffentliche Arbeiten und Gebäude 2563642-F. Darunter fallen die
Erhaltung der königlichen Paläste, Parke und Gärten, soweit sie nicht, wie
Sandringham und Balmoral, Privateigentum sind, und die Erhaltung der
Staatsgebäude und Häfen, ferner die kartographische Landesaufnahme und die
von Staatseigentum zu entrichtenden Ortssteuern. 2. Gehalte und sonstige
Ausgaben der Zivilbehörden 2595182 3. Rechtspflege 3939579 -F.
Diese Klasse umfaßt neben der rechtlichen Wahrnehmung der Staatsangelegen¬
heiten sämtliche Kosten der Rechtsprechung ohne die schon auf die Hauptstaats¬
kasse cmgewiesnen Gehalte der Richter, die Führung des Grundbuchs, wo ein
solches besteht, die Polizei, die Gefängnisse und die Besserungsanstalten.
4. Erziehung, Wissenschaft und Kunst 14580 324-F. Den Löwenanteil davon
nimmt, wie zu erwarten, die Erziehung in Anspruch, nämlich 14284065 -F,
doch fällt für höhere Schulen und Universitäten nur sehr wenig ab. 5. Aus¬
wärtiger Dienst 2223998 -F. Hierunter stehn die diplomatische und die kon¬
sularische Vertretung im Auslande und der Kolonialdienst mit Ausnahme des
Kolonialamtes in London, dessen Bedürfnisse unter 2 gedeckt sind. 6. Ruhe¬
gehalte und Ausgaben für Unterstützungs- und Wohltätigkeitszwecke 693521 -F.
7. Verschiednes, 324123 -F, umfaßt Ausgaben, die sich anderswo nicht gut
einreihen lassen, wie zum Beispiel die für die Ausstellung in Se. Louis.
Schuldenverwaltung, Heer, Flotte und Zivildienst bilden die Gruppe der
reinen Ausgabeabteilungen. An sie schließen sich nun noch die Einkommen
abwerfenden Zweige. Es betrugen die Kosten für die Verwaltung der Zölle
897000 -F, der Steuern 2188000-F, der Posten 9758000 ^. der Tele¬
graphen 4 528000 -F, der überseeischen Post 786000 Alle Posten zu¬
sammen ergeben die Summe von 146961136für Ausgaben, die durch
laufendes Einkommen zu decken waren. Doch waren damit die Ausgaben
noch nicht abgeschlossen, sondern weitere 7305000waren Kapitalausgaben
aus Anleihen für besondre Zwecke, hauptsächlich des Heeres und der Flotte,
die schon oben bei der Behandlung der Staatsschuld als außerhalb des Kreises
der eigentlichen Schuldverwaltung erwähnt worden sind.
Wenn nun das Unterhaus die Forderungen der Regierung genehmigt hat,
ist diese noch keineswegs imstande, auch die in Betracht kommenden Ausgaben
zu machen. Nachdem das Haus als (üominittgg ok Luxxi>, Bewilligungs¬
ausschuß, beraten hat, tagt es als Lorrunitwö ok Vi^s sua Nsans, als
Ausschuß für Mittel und Wege, um der Regierung das nötige Geld bereit zu
stellen. Die Beschlüsse werden dann in die Form einer Vorlage gefaßt und
müssen den Weg aller Vorlagen mit dreimaliger Lesung durch Unterhaus und
Oberhaus machen. Wenn die Vorlage durch königliche Bestätigung Gesetz
geworden ist, erst dann darf das Schatzamt die Bank von England und die
von Irland anweisen, dem Generalzahlmeister aus den Beständen der Haupt¬
staatskasse s<Ü0it80liäg.doa?raa), oder falls nicht genügend vorhanden ist, aus
dem Erlöse von Schatzscheinen die bewilligten Gelder auszuzahlen. Eine
Appropriationsakte im Verein mit besondrer Rechnungsprüfung durch den
Ooinxtrollsr ana ^Mor SönsM, der dem Rechnungshofe des Deutschen
Reichs entspricht, sichert, daß die Gelder nur für den bestimmten Zweck ver¬
wandt werden, sodaß Ersparnisse in einem Zweige nicht einem andern zugute
kommen können, und ferner gilt alle Ermächtigung nur für das laufende Jahr.
Ist eine angewiesne Summe nicht aufgebraucht worden, so kann der Nest nicht
auf das nächste Jahr übertragen werden. Am 31. März schließt alles ab.
Was noch übrig ist an Geld, fließt in die Hauptstaatskasse zurück, und für
jede Ausgabe nach diesem Tage ist eine neue Bewilligung des Parlaments
nötig.
Die Staatseinkünfte scheiden sich nach ihren Quellen in zwei große
Gruppen, in solche, die aus Abgaben fließen, und solche andern Ursprungs.
Die erste Gruppe ergab 1903/04 119350000 -F, die zweite 22195579-F,
zusammen 141545579 -F.
Nehmen wir die zweite kleinere Gruppe vorweg. Die Einkünfte aus
Posten und Telegraphen weisen mit jedem Jahre eine starke Zunahme auf.
Fünfzehn Jahre früher, 1889/90, betrugen sie nur 9450000 °L und 2320000 -F.
Aber diese gesteigerte Einnahme setzte auch gesteigerte Betriebskosten voraus,
und der Reinertrag und das Verhältnis des Reinertrags zur Gesamtein¬
nahme sind großen Schwankungen unterworfen. Der Reinertrag war 1889/90
3524003 ^^29,8 Prozent, 1903/04 4369067-F28 Prozent. In
den Zwischenjahren ist der Satz bis auf 22,35 Prozent hinuntergegangen.
Die Einkünfte aus den Kronländereien werden nur mit dem Reinertrage,
nach Abzug aller Kosten, aufgeführt und zeigen im Laufe der Jahre wenig
Veränderung. Die höchste Summe, die sie seit 1839/90 abgeworfen haben,
war 500000 -F, die niedrigste 410000 -F.
Die Suezkanalanteile treten erst seit 1894/95 unter den Einnahmequellen
auf, zuerst mit 394995 -F, seitdem aber mit immer größern Erträgen. Die
angegebne Summe von 982475 -F enthält auch 46324 -F, die zur Abzahlung
und Verzinsung von Darlehn von auswärts eingingen. Der Kanal selbst
brachte 936151 -F.
Unter den verschiednen Einnahmen finden sich eine Anzahl von Gebühren
für Eintragung in Register, für Erfindungspatente und dergleichen, die man
eigentlich unter der Abteilung der Abgaben erwartet. Ferner gehören dazu
der Nutzen der Münze aus der Prägung von Silber- und Kupfergeld, Zah¬
lungen der Bank von England für ihre Vorrechte, und endlich auch eine als
Gewissensgeld (oonsoisnes mons^) bezeichnete Summe. Die Briten zahlen
Abgaben ebenso ungern wie andre Leute, und Steuerhinterziehungen sind nicht
unerhört. Wenn einem dann wegen Benachteiligung der Staatskasse das Ge¬
wissen schlüge, so sucht er es zu beschwichtigen, indem er dem Schatzkanzler
ein paar Banknoten einsendet. Böswillige Leute freilich behaupten, daß das
Gewissen erst auf einen starken Wink von zuständiger Seite hin schlägt. Wie
dem auch sein mag, entweder sind die Briten dem Staate gegenüber von pein¬
licher Ehrlichkeit, oder das Gewissen ist von seinem Eigentümer für gewöhn¬
lich gut gezogen; denn 268 -F genügten augenscheinlich, die Wogen des Ge-
wisfenssturms zu besänftigen.
Das Einkommen aus Abgaben scheidet sich wie anderswo nach der Weise
der Erhebung in direkte und indirekte Steuern, für die Aufstellung des Staats¬
haushalts jedoch in Zölle (Oustouis) und Binnensteuern (Iulg,na Rsvenus), von
denen ein bedeutender Teil indirekt erhoben wird.
Früher waren die binnenländischen Verbrauchs- und Verkehrsabgaben am
ergiebigsten, und 1900/01 erreichten sie eine Höhe von 33100000-F. Dann
trat durch die Anspannung der Steuerschraube während des Kriegs die Ein¬
kommensteuer an die Spitze. Für 1903/04 warfen die Zölle den höchsten
Ertrag ab, der aber um 583000 hinter dem für 1902/03 zurückstand.
Sonst zeigen die Zolleinnahmen eine stündige Zunahme, und wenn man be¬
denkt, daß der Tarif fast nur Gegenstände umfaßt, die zum Leben nicht un¬
bedingt nötig sind, so kann man aus dieser Zunahme kaum auf ein Sinken
des britischen Wohlstandes schließen. Die Zölle sind reine Finanzzölle, meist
auf Dinge, die im Vereinigten Königreiche nicht erzeugt werden, wie Tee,
Kaffee, Kakao, Zucker, Tabak und Wein, oder Ausgleichzölle, um im Lande
erzeugte und mit Verbrauchsteuern belastete Waren nicht zu benachteiligen,
wie Vier, Glykose, Saccharin, Spirituosen usw.
Der in der Aufstellung angegebne Ertrag der Zölle stellt jedoch nur den
Teil der Einnahme dar, der in die Schatzkasse abgeführt wurde, nach Abzug
der Überweisungen an die Ortsbehörden und die außerhalb des Vereinigten
Königreichs stehende Insel Man. Den Hauptanteil an den der Schatzkasse
zufließenden Summen stellte der Tabak, der in Großbritannien ganz gehörig
bluten muß, ohne daß der Brite darüber murrt. Er hat es nie anders ge¬
kannt. Auf dem Rohtabak lag 1903/04 ein Zoll von 3 sZi, bis 3 su. 4 et.
für das Pfund 0,454 Kilo), entsprechend dem Feuchtigkeitsgehalt, auf
Zigarre» von 5 sK. bis 5 sit. 6 ä., auf andern Tabakfabrikaten von 3 öd. 7 ä.
bis 4 su. 4 ä. (für 1904/05 sind die Sätze noch um 3 bis 6 ä. erhöht worden),
und der Staat zog daraus nicht weniger als 12627059-F, etwa dreimal
soviel als der Einfuhrwert der Ware betrug. Nun wird Tabak im Vereinigten
Königreich überhaupt nicht gebaut. Wenigstens sind die Versuche, die in
Irland gemacht worden sind, zu geringfügig, als daß sie in Betracht kämen.*)
Der Verbrauch läßt sich also leicht durch Abziehn der Ausfuhr von der Ein¬
fuhr ermitteln und stellt sich aus dem Durchschnitt der letzten sieben Jahre
auf etwa 96 Millionen Pfund oder über 2^ Pfund im Jahre auf den Kopf
der Bevölkerung. Es scheint danach nicht, als ob der Tabakzoll die Raucher
vom Genusse ihres Krauts abschreckte. Bei seiner um 18 Millionen größern
Bevölkerung brauchte das Deutsche Reich den Tabak noch gar nicht einmal
so stark bluten zu lassen, wenn es sämtliche Kosten seiner Flotte daraus be-
streiten wollte.
Dem Tabak zunächst an Ergiebigkeit, aber in weiten: Abstände, folgt der
Tee, der mit 6 et. auf das Pfund (1904/05 8 ä.) 6559705 °F abwarf. Der
Kaffee, 14 su. auf den Zentner, spielte mit 188065 -F dagegen eine sehr
untergeordnete Rolle. Größere Beträge ergaben ferner Zucker (2 su. bis 4 Zu. 2 ä.
auf den Zentner, je nach dem Grade der Polarisation) 5 725913-F, spiri¬
tuösen 4458182 ^ und Wein 1335792-F, sowie die 1901 eingeführte Aus¬
fuhrabgabe auf Kohle (1 su. für die Tonne) 2051653 ^. Der Kornzoll, der
1902/03, dem Jahre der Einführung, 2346796 -F einbrachte, ist am 1. Juli 1903
wieder aufgehoben worden und steuerte nur noch 101234bei. Der Rest
der Zolleinnahmen von weniger als einer Million verteilte sich auf eine An¬
zahl Gegenstände von geringerer Bedeutung, wie Kakao, Zichorien, Spielkarten,
Saccharin, Früchte, die alle aufzuführen nicht nötig ist.
An zweiter Stelle stehn die Verbrauchs- und Verkehrssteuern, die Lxoisk
Outiös. Die Haupteinnahme geht hier wie bei den Zöllen auf wenige Quellen
zurück. Als Müßigkeitsapostel darf der Schatzkanzler nicht auftreten, wenn er
sich nicht ins eigne Fleisch schneiden will. Auf den Kopf der Bevölkerung
kommt eine jährliche Ausgabe von ziemlich 4 -F für alkoholische Getränke,
und dem entspricht auch der Nutzen, den der Staat aus dem Alkohol zieht.
Die Besteuerung der starken geistigen Getränke brachte 17815142 in die
Kasse, die des Bieres 13027047 und die Verwendung von Glykose anstatt
des ehrlichen Malzes außerdem noch 82625 -F. Die Verbrauchsteuern auf
Zichorien und sogenannte Kaffeemischungen brachten bloß 3612 ^. Aus Tabak
und geistigen Getränken zog also der Staat etwa 49^/g Millionen oder mehr
als ein Drittel seines ganzen Einkommens.
Unter die Spitzmarke Lxoisö Outiss fällt noch eine lange Reihe von
Steuern mannigfaltiger Art. Da haben die Eisenbahnen eine Abgabe von
ihrer Einnahme aus dem Personenverkehr zu zahlen. Die Hunde müssen sich
das Recht zum Dasein erkaufen. Die Zulassung zur Anwaltschaft als Barrister
kostet 50 -F, als Solicitor 25 ^. Jeder Solicitor oder Notar hat ferner
jährlich 6 -F, in London 9 ^ zu erlegen, ein Bankier 30 -F, ein Auktionator
10-F. Tabakfabrikanten, Tabakhändler, Brauer, Spritfabrikanten, scheint-
Wirte, Speisewirte, Bierhändler, Weinhändler, Hausierer, Pfandleiher, Geld-
leiher, Wildhändler, Händler mit Gold- und Silberwaren, mit Zuckersachen
und Patentmedizinen, sie alle haben sich die Erlaubnis zur Ausübung ihres
Berufs durch eine größere oder geringere jährliche Gebühr zu erwerben.
Dann kommen die Luxussteuern. Wer sich eine Kutsche leisten will, hat
dafür je nach der Zahl der Ruder 15 bis 42 öd. zu entrichten, für einen Kraft¬
wagen nach dem Gewichte bis zu 5 Guineen. Das Führen von Wappen¬
zeichen (nach der Berechtigung fragt der Schatzkanzler nicht) kostet 1 Guinee,
auf dem Kutschenschlag 2 Guineen. Wer die Würde seines Haushalts durch
männliche Dienstboten aufrecht halten zu müssen glaubt, wird für jeden von
diesen um 15 öd. erleichtert. Das Führen eines Schießgewehrs und das Recht,
Hasen, Kaninchen, Rebhühnern und anderm Wild (den Fuchs ausgenommen,
der heilig und unverletzlich ist) das Lebenslicht aufzublasen, fordert ebenfalls
Opfer bis zu 3 -F. Endlich sind anch Titel und Rangerhöhungen für die
also Beglückten mit nicht geringen Gebühren verknüpft, von 30 -F an steigend
bis zu 350 °F, die für die Verleihung der Herzogwürde zu zahlen sind.
Solche Luxussteuern sind nur recht und billig. Zum Leidwesen des
Schatzkanzlers aber werfen sie nur eine verhältnismäßig bescheidne Summe ab,
etwas über eine Million. Sie sind nicht zu verachten, so wenig wie die
600000-F der Hundesteuer, doch sie sind nicht entwicklungsfähig, und zur
Deckung von Fehlbeträgen heißt es sich nach andern Mitteln umschauen.
Viel größere Freude macht es dem Schatzkanzler, wenn die Luxussteuer¬
zahler das Jammertal, worin sie sich so wohl befunden haben, verlassen müssen.
Wenn sie der Natur ihren Zoll entrichten, dann füllt auch für ihn etwas ab;
er ist immer ein lachender Erbe. Bis 1894 gab es nicht weniger als fünf
verschiedne Todesfallsteucrn, die in ihrer Wirkung sehr ungleich waren und
bewegliches Vermögen mehr als doppelt so stark heranzogen als Grundbesitz.
Da nun der Haushaltanschlag für 1894/95 einen Fehlbetrag von mehr als
4 Millionen aufwies, hielt es Sir William Harcourt, der damals Schatz¬
kanzler war, für angebracht, die Todesfallsteuem so zu ändern, daß die
Ungleichheiten gemindert, aber die Ertrüge vermehrt wurden. Nur die Ver-
müchtnissteuer bei beweglichem Vermögen und die Erbfolgesteuer bei Grund¬
besitz blieben bestehn. Die andern drei fielen weg und wurden durch eine
einheitliche Steuer auf den gesamten Nachlaß ersetzt, die mit 1 Prozent be¬
ginnend bis zu 8 Prozent bei Nachlassen von mehr als 1000000 -F steigt
und vor der Verteilung erhoben wird. Eine ganz gleiche Behandlung von
beweglichem und unbeweglichem Vermögen ist zwar dadurch noch nicht be¬
wirkt worden, nur eine Annäherung, aber dem Staate sind seitdem sehr viel
höhere Summen zugeflossen. Die alten Steuern ergaben 1893/94 9941855 -F;
1895/96 nach Einführung der neuen war der Betrag 14048936 -F, wovon
nach Abzug der Überweisungen an die Ortsbehörden 11639900 -F in die
Schatzkasse gingen. In den folgenden Jahren sind die Ergebnisse noch stark
gestiegen, obwohl, wie bei dem Wesen der Abgaben nicht anders zu erwarten
ist, starke Schwankungen sichtbar sind. Bei kleinen und mittlern Nachlassen
ist eine gewisse Stetigkeit in der Zahl wie im Gesamtwerte, sodaß ein Vor-
anschlag der aus ihnen zu erwartenden Steuerbeträge nicht sehr fehlgeht.
Bei den großen Nachlassen dagegen muß ein Anschlag äußerst unsicher sein.
Die umfangreichste Klasse, Nachlasse von 1000 bis 10000 -F, hat sich in den
letzten fünf Jahren innerhalb der Grenzen von 61'^ Millionen (16419 Fälle)
und 58 Millionen (15773 Fälle) gehalten, während sich die Nachlasse von
mehr als 1 Million in derselben Zeit zwischen 12 Millionen (4 Fälle) und
38^ Millionen (8 Fälle) bewegt haben.
Im Durchschnitt der neun Jahre seit der Einführung der neuen Steuer
haben die Nachlasse von mehr als 100000 -F, die 6 bis 8 Prozent zu ent¬
richten haben, 30,7 Prozent der ganzen schatzpflichtigcn Masse ausgemacht.
Der niedrigste Anteil war 26,5 Prozent 1895/96, der höchste 36,8 Prozent
1901/02, wo die Vermögen von acht Millionären mit zusammen 38'/^ Millionen
der Teilnahme des Staats anheimfielen. Durch den höhern Steuersatz sind
diese großen Nachlasse natürlich im Verhältnis weit mehr als die kleinen an
dem Steuerertrage beteiligt, und es ergibt sich daraus, wie sehr die Höhe des
Einkommens aus dieser Steuer vom Zufall abhängt. Im Laufe der Zeit
muß ja jedes Vermögen seinen Zoll entrichten; für ein einzelnes Jahr jedoch
tut der Schatzkanzler gut, in seinem Anschlage mit einem mäßigen Ertrage zu
rechnen. Für 1903/04 hatte er mit Einschluß der vom Einkommen von
Körperschaften erhobnen Korporationssteuer, die mit den Todesfallsteuern zu¬
sammengerechnet wird, auf 13300000 ^ gerechnet, aber nur 13 Millionen
erhalten. Insgesamt hatte die Nachlaßsteuer 13615344 ^ ergeben, aber nach
Überweisung von 4291191 an die örtlichen Behörden blieben bloß noch
9324153 -F; Vermächtnissteuer 2966959-F, Erbfolgesteuer 698184-F und
Korporationssteuer 45649 °F brachten den dem Schatzamte zukommenden Er¬
trag auf 13034946 -F, wovon die runde Summe von 13000000 -F an die
Schatzkasse abgeführt wurde. Schluß folgt)
issenschaftlich gebildete einheimische Ärzte gibt es in Afghanistan
nicht, sogar der Emir und die Prinzen rufen die Hilfe von Quack¬
salbern an, da sie ihr Leben europäischen Ärzten nicht anvertrauen
wollen. Als hauptsächliche Arznei gegen alle innern Krankheiten
wird ein gewisser Grassamen angewandt, der leichte Diarrhöen
erzeugt. Bei vorübergehender Unpäßlichkeit erweist sich diese Arznei selbstver¬
ständlich wirksam, schweren Krankheiten gegenüber ist sie aber völlig unwirksam,
und die Kranken sterben. Die Ärzte wissen die Hinterbliebnen mit den: im Islam
begründeten fatalistischen Troste zu beruhigen, daß der Patient infolge höherer
Bestimmung habe aus dem Leben scheiden müssen. Dagegen sei kein Kraut
gewachsen. Äußerlichen Krankheiten und Verwundungen stehn die afghanischen
Kurpfuscher nicht minder machtlos und ratlos gegenüber als den innern Leiden.
Blinde Leute gibt es in Kabul viele, da die Augenkrankheiten von den „Medizin¬
männern" uicht geheilt werden können.
Für das Krankenhaus in Kabul ist eine einzige englische Ärztin, Mrs. Kate
Daly, bestellt, die trotz bestem Willen und großer Anstrengung nicht allen
Kranken helfen kann, einerseits, weil nicht alle Leidenden in das Spielet gebracht
werden, andrerseits, weil dort manche Kranke nur von Personen Arzneien nehmen
wollen, die ihnen bekannt sind. Jeder Europäer erscheint übrigens den Afghanen
als eine Art Universalmensch, und auch ich wurde auf vieles Bitten meiner
Arbeiter und Wachleute — ein Kurpfuscher. Zum eignen Gebrauch hatte ich
von Europa eine kleine Handapotheke mitgebracht, in der sich verschiedne Arznei¬
mittel samt genauer Gebrauchsanweisung fanden, und so vermochte ich denn tat¬
sächlich viele Fieberkranke durch Chinin vollständig gesund zu machen. Das
Mittel versagte nie, weshalb es geschah, daß ich auch in andern Fällen zu Rate
gezogen wurde. Einer meiner besten Arbeiter fiel vom Pferde und zog sich
dadurch einen Leistenbruch zu. Selbstverständlich sollte ich helfen. Um meinen
guten Willen zu bekunden, sandte ich den Mann mit der schriftlich ausgesprochnen
Bitte, Hilfe zu leisten, zu Mrs. Daly. Sie gab ihm den Rat, ein Bruchband zu
tragen. Woher aber in Kabul ein solches nehmen? Durch meinen Diener ließ
ich ein Stück Leinwand und ein bißchen Baumwolle kaufen und gab diese Sachen
meinem Kranken, den ich genau darüber belehrte, wie er das Bruchband her¬
stellen solle. Voll Freude dankte er mir und eilte nach Hause. „Doch mit des
Geschickes Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten." Am nächsten Morgen
erschien er wieder auf der Bildfläche, trug aber kein Bruchband. Glaubwürdig
und treuherzig berichtete er, daß ihn sein Weib in der vergangnen Nacht mit
einem Stammhalter beschenkt habe. Da keine Vorbereitungen für den Empfang
des neuen Erdenbürgers getroffen waren, mußte sich die für das Bruchband be¬
stimmte Leinwand zu einem Hemdchen verarbeite»? lassen. Da stand er nun,
mein armer Tor, und war so krank als wie zuvor! Was blieb mir angesichts
der Sachlage übrig, als dem Glücke des „gebrochnen" Vaters durch etliche
Rupien die rechte Weihe zu geben!
Verstorbne werden wenig Stunden nach eingetretnem Tode begraben. Die
allgemeinen Friedhöfe in Kabul liegen außerhalb der Stadt und find nicht ein¬
gefriedet. Kleine Steine werden auf den Gräbern aufgestellt. Wohlhabende
Afghanen haben in den Hofräumen ihrer Häuser eigne Begräbnisstätten, die mit
schön behauenen Steinen geschmückt sind. An hohen Stangen, deren jede in eine
nach aufwärts gerichtete Hand aus Weißblech mit ausgestreckten Fingern aus¬
läuft, flattern über den Gräbern rotweiße Fähnchen. Auch eine Art Totenfeier
wird begangen, an der sich Verwandte und Bekannte beteiligen, und drei Nächte
nach dem Begräbnisse versammeln sich in dem Sterbehause ältere Frauen aus der
Nachbarschaft, um zu beten, zu klagen und zu essen. Dem Dahingegangnen soll
auf diese Weise der Eingang ins Paradies leichter gemacht werden.
Am 21. Mnrz wird in Afghanistan das von den Persern überkommne
Frühjahrsfest, genannt Nauruz (sprich Nauruß), gefeiert. An den drei dieser
Feier vorangehenden Freitagen finden auf einem freien Platze außerhalb der
Stadt große Volksbelustigungen (Persisch Tcimascha) statt, an denen immer an die
40000 bis 50000 Menschen teilnehmen. Der am Fuße eines zuerst sanft und
dann steiler ansteigenden Berges liegende Platz ist nur von Männern bevölkert,
während sich die in ihre weißen Oberkleider gehüllten Frauen an der Berglehne
versammeln, die im Glänze der vielen hellen Gewänder schimmert. Höher an
dem Hange des Berges ist ein vorn geöffnetes Zelt aufgeschlagen, von dem aus
der Emir das Leben und Treiben in der Ebne überschaut und verfolgt. Ver-
schiedne Spiele ergötzen die Menge; Seiltänzer ans Turkestan, vom Emir be¬
zahlt, rufen die Bewunderung der Zuschauer hervor; soldatische und bürgerliche
Reiter rennen um die Wette. Fast jedesmal ereignen sich bei diesen Wettrennen
schwere Unglücksfälle, weil die Reiter eine schmale, durch zusammengepreßte
Menschenleiber gebildete Gasse benutzen müssen. Im Jahre 1900 wurde ein
ganz junger Mann zu Tode gestoßen, einem andern wurden mehrere Knochen
gebrochen.
Wenig Jahre zuvor ritten bei einem solchen Volksfeste, wie mir erzählt
wurde, zwei Reiter um die Wette nach einem bestimmten Ziele, das inmitten
ihrer Rennbahn lag. Da sie von den gegenüberliegenden Endpunkten der Bahn
gegeneinander ritten, vermochten sie ihre Pferde am Ziele nicht zu zügeln und
prallten so zusammen, daß ein Reiter und beide Gäule tot auf dem Platze
blieben, während der zweite Reiter mit mehreren gebrochnen Knochen lebend
davonkam. Die Reiter jagen eben bei diesen Festen wie toll zwischen der Menge
umher, um dieser anch auf diese Weise Vergnügen zu bereiten. Selbstverständlich
wird bei diesen Gelegenheiten des Gaumens auch nicht vergessen: verschiednes
Eßbare, gebratnes Schaffleisch, gekochter und in Dunst erweichter Reis, feines
und gewöhnliches Brot, frische und getrocknete Früchte, Zuckerwerk, Tee und
andre Dinge werden feilgeboten und genossen.
Acht Tage nach Nauruz wird das höchste Fest im Lande, Id genannt,
begangen, das gewöhnlich drei Tage währt. An dem ersten Festtage bringen
die Vornehmen dem Emir ihre Glückwünsche dar, der sich dem Volke im Fest¬
kleide zeigt und die Wünsche entgegennimmt. Im Jahre 1900 war der Herrscher
unwohl und ließ sich durch den Thronfolger vertreten. Auch wir Europäer
brachten, der Sitte gemäß, unsre Glückwünsche dar und wurden, wie alle andern
Gratulanten, mit verschiednen Speisen, Fleisch und Reis, Zuckerwerk, Früchten,
Tee und dergleichen bewirtet. Wir zogen uns in ein abgesondertes Gemach
zurück und tranken bei unserm Mahle von dem in Kabul von mir erzeugten
Weine, den wir mit einem ganz kleinen Sodawasserapparat in Schaumwein ver¬
wandelten. Damals spielten auch drei kleine Musikbanden, und Hindustanische
Mädchen tanzten und sangen bei den Klängen der Musik. Nach dem Id findet
noch ein mit einer Ninderschau verbundnes Volksfest auf einem großen freien
Platze, zumeist nahe bei einem der Sommerschlösser des Emirs statt. Die Köpfe
der Rinder werden mit Blumen geschmückt und ihre Leiber mit verschiednen
Farben bestrichen. Auch Stierkmnpfc werden bei diesem Anlasse veranstaltet,
doch erweisen sich die Afghanen dabei gesitteter als Spanier und Franzosen,
denn es kämpfen nur Stiere miteinander.
Für Spiele bekundet das Volk einen regen Sinn. An Freitagen kann
man junge Männer um die Wette laufen und springen sowie ringen sehen,
wobei die Teilnehmer nur eine schmale Leinwandbinde um ihre Hüften schlingen.
Auch Steinstoßen und Fechten mit Stöcken habe ich gesehen. Die Fechter
schützen sich mit Holzschilden und entwickeln mitunter viel Geschick und große
Gewandtheit. Auch das Kartenspiel wird eifrig betrieben, und mancher arme
Schlucker verliert dabei seinen letzten Senar. Eine besondre Vorliebe haben
die Afghanen, in Kabul wenigstens, für den Wachtelkampf. Es gibt eine Menge
Wachteln, die im Frühjahr gefangen und zu niedrigen Preisen verkauft werden.
Fast jeder Afghane, auch die Arbeiter des Werkhauses, trügt in einem kleinen
Vogelbauer, das einen festen Boden hat und nach oben zu durch Leinwand
geschlossen ist, eine Wachtel mit sich herum, um das Tier, dessen Flügel ge¬
stutzt sind, in jeder freien Minute in die Hände zu nehmen und zu liebkosen.
Häufig sieht man zwei Hungerleider, die ihre Wachteln miteinander kämpfen
lassen und ihre im Schweiße des Angesichts erworbnen und erübrigten Senare
auf den Ausgang des Kampfes verwelken. Die Freude an diesen Kämpfen
hat übrigens einen recht triftigen Grund, da am Ausgange des Sommers
Wachtelkämpfe vor dem Emir stattfinden, woran sich jedermann mit seinem
Tiere beteiligen darf und dadurch die Anwartschaft auf einen der hohen Sieges¬
preise erwirbt, die der Herrscher zu verleihen Pflegt. Als erster Preis wurden
schon 2000 Rupien ausbezahlt. Auch an Hahnenkämpfen ergötzen sich die Af¬
ghanen gern.
Da Kutschen und Lastwagen in Afghanistan zu den ungebräuchlichen Dingen
gehören, pflegen die Leute, Männer und Frauen, auf Pferden (Hengsten, nie¬
mals Stuten), Eseln und Kamelen zu reiten, und man sieht häufig zwei Männer
oder eine aus Mann, Weib und zwei, drei Kindern bestehende Familie auf
einem Pferde sitzen. Auch benutzen wohl zwei Frauen einen Esel als Reittier.
Zum Tragen von Lasten werden auch Ochsen verwandt, und die Wüscher von
Kabul bedienen sich ausschließlich dieser Tiere zum Fortschaffen der Wäsche.
Die Fauna ist in Afghanistan durch verschiedne Arten vertreten. Es
kommen große und kleine Steinböcke, wilde Ziegen, Wölfe, Füchse, Marder
und in den Waldgebirgen Bären und das Nashorn vor. Auch Schwarzwild
ist einheimisch. Vom Federwilde finden sich im Kabultal und in den nahen
Gebirgen große und kleine Geier, Raben, Krähen, Wachteln lpers. Loäaim),
Nebhühner (Pers. Lo-üK), Steinhühner (pers. LarÄ^ra), die ein vorzügliches
Gericht sind, in den kleinen Seen und Sümpfen große und kleine Reiher, Wild¬
enten und Nohrhühncr. Diese beiden zuletzt genannten Fcderwildarten pflegte
der damalige Thronfolger Habib Allah, der ein guter Schütze ist, zu jagen; er
ist ein großer Liebhaber der Jagd, aber dem großen Wilde spürt er wegen der
damit verknüpften Beschwerlichkeit und Unsicherheit nicht nach. Eine Jagd auf
Raub- und Schwarzwild forderte zudem nicht nur einen großen Zeitaufwand,
sondern machte auch die Aufbietung einer starken militärischen Bedeckung not¬
wendig, und dazu wäre die Zustimmung des Emirs nicht zu haben. Die auf
eigne Faust in den Gebirgen birschenden Jäger hatten vom Emir und von dem
Thronfolger den Auftrag, während des Sommers und Herbstes wöchentlich ein
oder zwei Stück größeres Wild für die Hoftafel zu liefern, und die Nimrode
kamen diesem Befehle getreulich nach.
Auf seinen Jagdausflügen verwandte der Kronprinz öfter Elefanten, auf
deren mit schönen roten, goldgestickten Decken belegten Rücken Sitze befestigt
wurden. Zum Besteigen der Elefanten dienten hierfür gefertigte Treppen, die
mit besondern Gurten an den Tieren festgebunden und von diesen mitgetragen
wurden. Der Thronfolger wurde bei seinen Jagden von einer halben Kompagnie
Fußtruppen und einer halben Schwadron Reitern begleitet. Zelte, Mundvorrat,
Kochgeschirre wurden mitgenommen, und ein Reiter trug eine Wasserpfeife mit
festem Rohr (pers. für den Prinzen. Auf den Jagden schoß der
Thronfolger oft an einem Tage mehr als zweihundert Enten und Rohrhühner.
In frühern Jahren machte auch der damalige Emir solche Jagdausflüge in die
Umgebung Kabuls. Er gab zwar keinen Schuß ab, erlustigte sich aber sehr an
dem Treiben seiner „Pagen," etwa zwei Dutzend zehn- bis siebzehnjähriger
Jungen, die munter drauflos schössen, und spendete Lobsprüche und Geschenke
ohne es für die minder Treffsichern an Rügen fehlen zu lassen. In den letzten
Jahren mußte der Fürst wegen seines heftiger auftretenden Gichtleidcns auf
dieses Vergnügen verzichten.
Im Frühjahre kommen von Indien unzählige Wachteln in die Gebirgs¬
täler des Landes. Sie werden nicht geschossen, sondern mit Netzen gefangen.
Auch Rebhühner werden sehr selten geschossen, sondern mit Schlingen gefangen
und am häufigsten mit Falken gejagt. Auch zur Jagd auf Wildenten werden
Falken verwandt. Diese Jagden finden folgendermaßen statt. Um Rebhühner
oder Steinhühner mit dem Falken zu beizen, steigen die Jäger, die sehr gute
Kletterer sind, mit einen: oder zwei Hunden in eine steile Bergwand ein und
rücken, womöglich in einer Linie, vor. Der zuhöchst Kletternde trägt den
Falken, dessen Kopf mit einer Haube verhüllt ist. Sobald ein Huhn aufgestöbert
ist, erheben die Jäger ein großes Geschrei, und der Falke wird losgelassen. Er
stößt auf das Huhn, das er meist rasch einholt, und die Jäger laufen und
klettern an den Ort, wo der Falke mit dem Huhn niedergegangen ist, um ihm
die Bente abzunehmen. Obwohl diese Jagd in zerklüfteten, steilen Felswänden
sehr gefährlich und beschwerlich ist, finden doch schwindelfreie Kletterer großes
Gefallen daran. Besonders gewinnbringend ist das Vergnügen allerdings nicht,
da ein Rebhuhn oder Steinhuhn nur mit einem Abasi (30 Pfennigen) bezahlt
wird. Zur Jagd auf Wildenten werden größere Falken abgerichtet. Wenn
eine Ente aufgetrieben ist, wird der Falke losgelassen und stößt von oben auf
die Beute, die er jedoch mit einer blitzschnellen Drehung am Bauche faßt, um
sich eben so rasch wieder umzudrehn, sodaß die Ente unfähig ist zu fliegen.
Solchen Jagden huldigen viele Afghanen, doch dürfen sie die Jagdgründe des
Emirs, die überdies immer bewacht sind, nicht besuchen.
Am Schlüsse dieses Abschnitts mögen einige allgemeine Bemerkungen am
Platze sein. Afghanistan hat mit seinen reichen mineralischen Schätzen und der
wunderbaren Fruchtbarkeit mancher Landstriche zweifellos eine große Zukunft,
wenn es einmal durch Schienenwege mit dem Weltverkehr wird verbunden sein,
und wenn ein befreiender Hauch echter Kultur und Gesittung die starren Über-
liefenmgen einer barbarischen Vergangenheit wird hinweggefegt haben. Be¬
merkenswerte Ansätze zu fortschreitender Entwicklung sind heute schon vorhanden,
und das Volk wäre unter einem einsichtigen Herrscher, dem das Wohl seiner
Untertanen und die Zukunft des Landes am Herzen lägen, ohne Zweifel be¬
fähigt, einem gesunden Fortschritte Bahn zu brechen. Jetzt vermögen die wenigen
Europäer, denen der Emir Einlaß in sein Reich gewährt, Werke des Friedens
nur in sehr beschränktem Maße zu vollbringen und in den Gemütern des ge¬
knechteten Volks eine Ahnung von den auf ihren Wert geprüften Segnungen
aufstrebender Kultur und politischer Freiheit wachzurufen. Würde das Land,
in vieler Beziehung merkwürdig und sehenswert, dem Forschungsreisenden, dem
Kaufmann, dem Gelehrten und dein gebildeten Laien zugänglich gemacht, so
vollzögen sich in wenig Jahrzehnten Veränderungen, wie sie in allen Ländern
beobachtet werden, wo europäischer Zivilisatiousdrang und der aufklärende Geist
unsrer Zeit mit überlieferten und festgewurzelten Anschauungen einer längst ver-
sunkner Periode in Berührung kommen. Dann hätte Afghanistan bald aufgehört,
eine asiatische Despotie zu sein, in der an der Menschheit ungestraft Verbrechen
begangen werden können.
In Europa hat sich die öffentliche Meinung nachgerade daran gewöhnt,
asiatische Herrscher in der rechten Beleuchtung zu betrachten, d. h. in ihnen weder
unermeßlich reiche Nabobs noch blutgierige, jeder menschlichen Regung bare
Gewaltherren zu sehen, die sich, barbarisch vom Scheitel bis zur Sohle, trotz¬
dem aber listig und verschlagen, wie eben Orientalen zu sein Pflegen, mit ihrem
Tun und Lassen jenseits der Grenzen bewegten, wo das Urteil gesitteter
Menschen sie erreichen könnte. Man weiß also hente, wenigstens in den Kreisen,
die sich mit solchen Dingen ernsthaft beschäftigen, daß asiatische Despoten der
Kultur des Abendlandes nicht mehr so feindselig gegenüberstelln wie ehedem, ja
daß einige von ihnen sogar von dieser ihnen vielleicht innerlich tief verhaßten
Gesittung einigermaßen beleckt sind, jedenfalls aber, daß sie, wenn sich ihnen
die Gelegenheit dazu bietet, nicht Anstand nehmen, die Errungenschaften euro¬
päischer Kultur zu ihrem Vorteil auszunutzen. Dies ist ja zu allen Zeiten
und allerorten beobachtet worden, wo und wann eine höhere mit einer niedrigern
Kultur oder mit Barbarei zusammentraf.
Von diesem Standpunkt aus muß auch die Herrschaft des 1901 gestorbnen
Emirs von Afghanistan, Abd-ur-Rahmän Khans, betrachtet werden, damit ein
richtiges Bild sowohl der Persönlichkeit dieses asiatischen Despoten als auch
seiner Taten gewonnen werde. Hierbei wird um der strengen geschichtlichen
Wahrheit willen auch auf gewisse in Mittelasien überlieferte Anschauungen und
auf die politischen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen sein, die mit zwingender
Gewalt auf Entschlüsse und Absichten einzuwirken vermögen.
Abd-ur-RahmSn Khan, 1845 als der Sohn Afzal Khans geboren, gehörte
dem Geschlechte der Barikzehi an, das im Jahre 1829 in Afghanistan zur
Herrschaft gelangt war. Afzal Khan, der im Jahre 1866 nach der Niederlage
schir-Ali Khans bei Schekabad (5. Mai) aus dem Gefängnisse geholt und in
Kabul zum Emir ausgerufen wurde, scheint für die geistige Ausbildung seines
Sohnes keine Sorge getragen zu haben, denn dieser lernte kaum notdürftig
lesen und schreiben. Der im Oktober 1867 erfolgte Tod seines Vaters ver¬
wickelte den kaum zweiuudzwnnzigjährigen Abd - ur - Nahmnu Khan, der als
Gouverneur nach Balkh gegangen war, in einen blutigen Thronstreit mit seinem
Oheim schir-Ali Khan, dem Sohne Dose Mohammeds, in dessen Verlauf er
von seinem Nebenbuhler zuerst bei Bamian Witte Dezember 1868) und sodann
bei Ghasna (Januar 1869) so geschlagen wurde, daß er das Feld räumen
mußte. In dem Kampfe bei Ghasna war Abd-ur-Rahmän Khan mit Azim
Khan, dem Halbbruder schir-Ali Khans, verbündet gewesen und floh auch nach
der Niederlage mit jenem auf britisches Gebiet, um in der Folge schir-Ali
Khan unter dessen Nachbarn Feinde zu erwecken. Später genoß Abd-ur-Rahmän
elf Jahre lang die Gastfreundschaft der Russen in Samarkand, die ihm eine
jährliche Unterstützung von 25000 Rubeln gewährten. Während dieser Zeit
war es ihm unmöglich, tütig auf das Geschick seines Vaterlandes einzuwirken,
er erschien aber im Jahre 1879, als indisch-britische Truppen unter General
Roberts Sühne für die Ermordung einer britischen Gesandtschaft erzwangen
und den Emir Jakub, den Sohn schir-Alis, als Gefangnen nach Indien
brachten, wiederum auf der Bildfläche und bemächtigte sich in Balkh der Herr¬
schaft. Ein Bruder des entthronten Emirs Jakub, Ejub Khan, hatte sich zu
derselben Zeit in Herat zum Herrscher aufgeworfen, da auch er, ein geschworner
Feind der Engländer, die Hoffnung nährte, sich zum Emir des Reichs aufzu¬
schwingen. Die britische Regierung in Indien mißtraute jedoch sowohl Abd-ur-
Rahmän Khan als Ejub Khan und knüpfte mit jenem erst Unterhandlungen
an, nachdem ihre Bemühungen, im Einvernehmen mit den angesehensten Stammes¬
fürsten Afghanistans einen Herrscher ausfindig zu machen, gescheitert waren.
Abd-ur-Rahmän Khan verzögerte den Abschluß dieser Verhandlungen absichtlich
und rückte inzwischen mit einem Heere von zehntausend Mann gegen Kabul vor,
in dessen Nähe, im Lager von Scherpur, General Roberts mit neuntausend
Mann stand. Am 22. Juli 1880 berief dieser ein Durbar der afghanischen
Fürsten zusammen, auf dem Abd-ur-Rahmän Khan, der nicht erschienen war,
zum Emir des Reichs ausgerufen wurde. Die britische Regierung gewährte
ihm, da eine dauernde Besetzung Kabuls und Kandahars bedeutende Kosten
verursachte und der Herstellung eines dauernden Friedens im Lande entgegen¬
wirken mußte, sehr günstige Bedingungen: sie verzichtete darauf, in Kabul eine
ständige Gesandtschaft zu unterhalten, sicherte die Räumung des ganzen Reichs
zu, einschließlich des im Frieden von Gandamak (26. Mai 1879) erworbnen
Kurumtals, ferner die Auslieferung eines großen Teils der erbeuteten Waffen
und Geschütze und versprach die Zahlung einer jährlichen Rente im Betrage
von 1800000 indischen Rupien in barem sowie die alljährliche Lieferung von
Kriegsmaterial im Werte von 200000 indischen Rupien.
Der neugewählte Emir mußte sich dagegen nur verpflichten, mit keiner
fremden Regierung in politische Verbindung zu treten. Aus der Wahl Abd-ur-
Nahman Khans zum Emir, die unter der Zustimmung der britischen Regierung
in Indien und der Mitwirkung des Oberbefehlshabers der indisch-britischen
Streitkrüfte erfolgte, und aus dem Inhalte des schon erwähnten Vertrages er-
hellt unzweifelhaft, daß der Emir in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber
England war, ob er dieses auch immerhin in Abrede stellte. Ein Herrscher,
der von einer fremden Negierung eine fortlaufende Unterstützung empfängt und
sich verpflichtet hat, mit keiner andern Regierung politische Beziehungen zu
unterhalten, darf nicht behaupten, freie Hand in Fragen der auswärtigen Politik
zu haben, so lange er durch sein Tun und Lassen bekundet, daß er an den gc-
troffnen Vereinbarungen festhält. Abd-ur-Rahmän Khan suchte nun in Europa
allerdings deu Glauben zu erwecken, als fühlte er sich vollkommen unabhängig,
ja seine Sprache gegenüber England war sogar drohend und herausfordernd,
eine Tatsache, die zu dem Gerücht Anlaß gab, er rüste zum Kriege, jedoch von
prahlerischer Drohungen bis zur Tat ist doch ein großer Schritt, wenn auch
nicht übersehen werden darf, daß der Emir durch die Feldzüge in Südafrika
und in China wohl hätte verleitet werden können, mit Waffengewalt einen
Versuch zur Zerreißung seines Abhängigkeitsverhältnisfes zu machen.
Diese kurze Abschweifung auf das Gebiet der Tagespolitik möge der Leser
entschuldigen. Sie schien mir geboten, wenn ich Abd-ur-Rahmän Khan, dessen
Herrscherbild in diesem Kapitel entworfen werden soll, im Hinblick auf seinen
„diplomatischen Schachzug," der durch die Veröffentlichung seiner „Lebensbe¬
schreibung" in London im Jahre 1901 gemacht wurde, als einen der asiatischen
Politiker kennzeichnen wollte, die sich durch Verschlagenheit nicht minder als
durch Treulosigkeit einen gewissen Ruf in Europa erworben haben. Mit diesen
Wesenszügen standen der despotische Sinn und die unersättliche Habgier, das
nie schlummernde Mißtrauen und die grausame Laune Abd-ur-Rahman Khans
in innigem Einklange. Er war ohne Zweifel ein böser Mensch, dem nur
Bildungsmangel und asiatische Gepflogenheit einigermaßen zur Entschuldigung
gereichen können, aber in der Tat nur einigermaßen, da er in dein Bewußtsein
seiner Untertanen schon längst als blutbefleckter Gewaltherr gerichtet ist. Die
Politik Abd-ur-Rahmän Khans bewegte sich auf krummen Wegen, da er seine
Afghanen und vermutlich auch die Perser glauben machen wollte, er hätte die
Macht, sowohl England als Nußland zu trotzen, jedenfalls aber als Bundes¬
genosse der einen dieser beiden Großmächte auf die künftige Gestaltung der poli¬
tischen Verhältnisse Mittelasiens einen ausschlaggebenden Einfluß auszuüben.
Von der Geschichte Asiens dürfte Abd-ur-Rahmän Khan vermutlich gerade
so viel gewußt haben, als mit seinen eignen Erlebnissen zusammenhing, und
über die Machtmittel europäischer Großmächte war er gewiß noch viel schlechter
unterrichtet. Das ist aber hier gar nicht die Hauptsache. Diese ist der gegen
den Emir in seinem Reiche gäreude Haß, erzeugt durch die grausame Willkür-
Herrschaft Abd-ur-Rahmän Khans, der alles getan hat, sich die Liebe seines
Volks zu verscherzen. Der Emir hätte darum, wenn es beispielsweise zu einem
Kriege mit England gekommen wäre, nnr auf sein Söldnerheer zählen können,
das allerdings eine nennenswerte Stärke hat, er durfte aber keineswegs auf
die tatkräftige Unterstützung seiner übrigen Untertanen rechnen und würde infolge¬
dessen zweifellos den kürzern gezogen haben, zumal wenn sein Gegner genug
diplomatisches Geschick gehabt hätte, die dem Emir feindlich gesinnten Teile
der afghanischen Bevölkerung rechtzeitig für sich zu gewinnen. Das gilt
namentlich von den Überresten des tapfern Stammes der Hasareh, der sich am
Ausgang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gegen die Tyrannei
des Emirs empörte und erst nach drei und einem halben Jahr (1893), zum
größten Teile hingeschlachtet, zur Ruhe gebracht wurde. Dieser Hinweis auf
die Kurzsichtigkeit der Politik Abd-ur-Nahmnn Khans und seine gefährliche
Prahlsucht sei mit der Bemerkung geschlossen, daß sein Nachfolger, Habib Allah,
ein Sohn Abd-ur-Rahmnn Khans aus erster Ehe, weitaus befähigter zu sein
scheint als sein Vater, Afghanistan zu einem geordneten, nach den Grundsätzen
wahrer Gesittung geleiteten Staatswesen zu machen und seine Bewohner mit
den Segnungen europäischer Kultur zu beschenken. Er ist, um diesen einge¬
bürgerten Ausdruck zu gebrauchen, entschieden reformfreundlich.
(Fortsetzung folgt)
n dem politischen Drama „Die Aufgeregten" braust der Chirurgus
Breme von Bremenfeld auf, als seine Tochter Karoline von der
zudringlichen Werbung des Barons erzählt. Die Tochter dürfe
ihm nichts weiter sagen, er sei hitzigen Temperaments, ein alter
Soldat; er würde sich nicht fassen können und einen tollen
Streich machen. Aber der alte Herr läßt es bei der Drohung, er tröstet sich
mit der sozialen Umwälzung, die er plant, in kurzem werde alles anders sein,
die Hunde würden von der Kette losgelassen und den Füchsen den Weg zum
Taubenschlag verrennen.
Im ersten Teil des „Faust" kämpft Valentin mit Faust, um seiue Schwester
Gretchen an ihm zu rächen. Er fällt nach kurzem Kampfe, weil Mephisto
Fausts Klinge führt. Im vierten Akte des zweiten Teils fühlt sich der Kaiser
mächtig getrieben, mit dem Empörer, der sich Gegenkaiser nennt, in eigner
Person zu kämpfen und ihn mit eigner Hand ins Totenreich zu stoßen. Faust
aber weist darauf hin, daß der Kaiser nicht wohl daran tue, das Haupt zu
verpfänden, das alle schützen soll.
In den Theaterstücken jener Zeit, die auf die Bühne kamen und meist
bald wieder verschwanden, spielte der Zweikampf allgemein eine gewisse Rolle.
In seinen Rezensionen in den Frankfurter gelehrten Anzeigen der Jahre 1772
und 1773 gibt Goethe unter der Überschrift „Neue Schauspiele, aufgeführt in den
Kaiserlich Königlichen Theatern zu Wien" den gedrängten Inhalt des Schau¬
spiels „Hannchen" und sagt zum Schluß, man schießt, sticht, heult, zankt, fällt
in Ohnmacht und auf die Knie, spricht Sentenzen, versöhnt sich, und wie am
Schluß versichert wird, alle bezeugen ihre Freude, daß der Vorhang fällt. In
denselben Rezensionen sagt der Dichter unter der Überschrift „Lustspiele ohne
Heiraten, von dein Verfasser der empfindsamen Reise durch Deutschland" von
dem zweiten Lustspiele „Das Duell," die Herren Raufbolde fanden in drei
Aufzügen alle Regeln der Schlägerei in einem treuen Auszüge.
In Wilhelm Meisters Lehrjahren (II, 14) speist Philine mit ihrem
neuesten Liebhaber, dem Stallmeister des Grafen, zu Abend allein und befiehlt
Friedrich, ihnen bei Tische aufzuwarten. Der Knabe ist in seiner rasenden
Liebe für Philine über diese Zumutung unwirsch und wirft eine Schüssel mit
Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu stellen, zwischen das Pärchen, worauf
ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gibt und ihn zur Tür
hinauswirft. Anfangs lacht Friedrich über seine gelungne Rache, dann aber
packt ihn der Zorn über den Schimpf, den ihm der Stärkere angetan hat, er
fordert ihn zum Zweikampfe heraus. Der Stallmeister weigert sich nicht,
schlägt aber statt andrer Waffen ein paar Rapiere vor, weil die Ungleichheit
der Jahre und der Kräfte die Sache etwas abenteuerlich mache. Sie bestreichen
die Knöpfe der Rapiere mit Kreide, wer dem andern den ersten oder die
meisten Stöße auf den Rock zeichnet, soll für den Überwinder gehalten werden
und von dein Partner mit dem besten Weine, der in der Stadt zu haben ist,
bewirtet werden. So verläuft der Handel ungefährlich und endigt mit einem
fröhlichen Gelage. Wilhelm selbst wird von starker Eifersucht gegen den Stall¬
meister gequält, auch er würde gern seine wilde Laune befriedigt und den
Nebenbuhler herausgefordert haben, wenn ihn der Anstand nicht zurückgehalten
Hütte. Als dann die Versöhnung zwischen Friedrich und dem Stallmeister
erfolgt ist, kann er sich nicht verhehlen, daß er selbst das Rapier, lieber noch
einen Degen gegen den Stallmeister führen möchte, obwohl er einsieht, daß
ihm dieser in der Fechtkunst weit überlegen ist. So entschließt er sich, jede
Äußerung, die seine Empfindung hätte verraten können, zurückzuhalten und
auf sein Zimmer zu eilen, wo tausend unangenehme Gedanken auf ihn ein¬
stürmen. Philine erzählt später (IV, 4) eine Episode aus dem Leben des
Laertes. Er war achtzehn Jahre alt. als er bei einer Theatergesellschaft ein
schönes Mädchen fand, die eben mit ihrem Vater zu einer andern Truppe zu
gehn willens war. Er verliebt sich ohne Umstünde, bittet den Vater zu bleiben
und verspricht das Mädchen zu heiraten. Nach einigen angenehmen Stunden
des Brautstandes wird er getraut. Als er am andern Morgen aus über¬
großer Zärtlichkeit allzu früh aus der Probe nach Hause eilt, findet er einen
ältern Liebhaber an seiner Stelle, schlägt in unsinniger Leidenschaft darein,
fordert Liebhaber und Vater heraus und kommt mit einer leidlichen Wunde
davon. Philine fügt hinzu, besonders tue es ihr leid, daß der arme Narr
jetzt die Weiber hasse, denn wer die Weiber hasse, wie könne der leben.
Einen merkwürdigen Einblick in die Sitten jener Zeit gewähren die Be¬
kenntnisse einer schönen Seele in Wilhelm Meisters Lehrjahren. Überschrift
und Inhalt dieser Bekenntnisse sind bekanntlich durch die Erinnerung an Susanna
Katharina von Klettenberg hervorgerufen, die fromme, den Herrnhntern zu¬
geneigte Freundin von Goethes Mutter, die den jungen Dichter pflegte, als
er im Jahre 1769 von Leipzig krank ins Elternhaus zurückgekehrt war. Die
schöne Seele wird mit ihrem Liebhaber Narciß zu einer Gesellschaft geladen.
Schon bei der Tafel haben sie manches aufzustehn, den» einige Männer haben
stark getrunken. Nach Tische werden Pfänder gespielt, Narciß hat ein Pfand
zu lösen, man gibt ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen,
das jedem angenehm ist. Bei der Fran eines Hauptmanns mochte er zu lange
verweilt haben. Da gibt ihm dieser eine Ohrfeige, daß der schönen Seele, die
gleich daneben sitzt, der Puder in die Augen fliegt. Als sie die Augen aus¬
gewischt und sich vom Schrecken etwas erholt hat, sieht sie beide Männer mit
bloßen Degen. Narciß blutet stark, und der andre kann kaum von den Männern
gebändigt werden. Sie nimmt den Verwundete» am Arm und führt ihn eine
Treppe hinauf in ein andres Zimmer. Auf seinein Kopfe gewahrt sie eine
große Wunde, auf der rechten Hand eine andre Wunde. Denn der Haupt¬
mann hatte sogleich, nachdem er ihn geschlagen, den Degen gezogen und Narciß
von hinten verwundet. Endlich kommt eine Tochter des Hauses heraufge-
sprungen und will sich über den tollen Spektakel und über die verfluchte Komödie
fast zu Tode lachen. Als der Verwundete verbunden und nach Hause getragen
ist, eilt sie zu ihren Eltern, die über den ganzen Vorfall sehr verdrießlich sind.
Wenig fehlte, so hätte ihr Vater, um den Freund zu rächen, den Hauptmann
herausgefordert. Es wird nun in diesem Kreise davon gesprochen, ob man
sich mit einer Abbitte begnügen könne, oder ob die Sache vor Gericht kommen
müsse. Narciß liegt zwei Monate krank, dann kommt es doch zum Zweikampf,
worin der Hauptmann stark verwundet wird.
Nach Wilhelm Meisters Lehrjahren (VII, 2) hat Lothario mit einer Dame,
die sich lange von ihren: Manne getrennt hatte, ein kleines Abenteuer. Als
sie sich später von ihm gemieden sieht, ist sie beleidigt und wünscht gerächt
zu werden. Aber es findet sich kein Ritter, der diese Rolle übernehmen will,
bis endlich ihr Mann die Sache erfährt, sich ihrer annimmt und Lothario
herausfordert. Es kommt zum Zweikampf ans Pistolen, bei dem beide ver¬
wundet werden. In der neuen Melusine in Wilhelm Meisters Wanderjahren
(III, 6), die der Dichter ein wahrhaftes Märchen und märchenhafte Geschichte
nennt, sitzt der Erzähler mit seiner Liebsten bei einem Bankett. Da kommt
unvermutet ein älterer Freund des Mädchens herein, setzt sich zu ihr und
macht ohne große Umstünde seine alten Rechte geltend. Daraus entsteht dann
Hader und Streit, beide Männer ziehn vom Leder, und der spätere Liebhaber
wird halb tot nach Hause getragen. In der eingestreuten Erzählung „Die
gefährliche Wette" in den Wanderjahren (III. 8) wird ein Schwank aus dein
Studentenleben mitgeteilt, der tragisch endet. Eine Anzahl Studenten wandert
in den Ferien in tollem Übermut über Berg und Tal. Auf ihrer Wanderung
kommen sie in ein liebliches Bergdorf und beschließen, dort einige Zeit zu
bleiben. Während sie nach Tisch in ihren Zimmern teils schlafen, teils Ge¬
legenheit suchen, ihren Mutwillen auszulassen, kommt ein schöner Wagen mit
vier Pferden auf den Hof. Die Bedienten springen vom Bock und helfen
eine», ältern Herrn von stattlichem, vornehmem Aussehen heraus. Seine
große, wohlgebildete Nase fällt allgemein auf. Einen der tollen Gesellen packt
ein böser Geist; er wettet mit seinen Genossen, daß er den alten Herrn an
der Nase zupfen werde, ohne daß ihm etwas übles widerfahren solle. Die
Wette wird angenommen, jeder soll ihm einen Louisdor zahlen, wenn er ge-
wirrt. Sogleich läßt er sich bei dem Reisenden als Barbier melden, rasiert
ihn mit der linken Hand am offnen Fenster, packt ihn bei der Nase und biegt
sie merklich hin und her. Der Herr ist zufrieden und gibt dem vermeintlichen
Barbier einen Gulden für seine Mühe, fügt aber hinzu, er solle sich für
künftige Fälle merken, daß man Leute von Stande nicht an der Nase faßt.
Die Wette ist gewonnen, aber das Nachspiel folgt. Der tolle Streich wird
dem Herrn verraten, in rasender Wut erbricht er die Tür zu dem Zimmer,
worin die Studenten über den bösen Scherz in ihrer Ausgelassenheit jubeln.
Sie können noch entfliehn, aber der alte Herr zieht sich die Kränkung, die er
nicht rächen kann, so zu Gemüte, daß er bald darauf stirbt. Sein Sohn sucht
die Täter aufzuspüren und fordert nach Jahren einen der frühern Studenten
heraus. Er selbst erhält eine entstellende Wunde, auch seinem Gegner ver¬
dirbt dieser Handel einige schöne Jahre des Lebens. Die Erzählung schließt
mit den Worten, da jede Fabel eigentlich etwas lehren solle, so sei wohl
überklar und deutlich, wohin diese Fabel ziele.
In Werthers Leiden fragt Werther in seinem Briefe vom 12. August,
wer wohl den ersten Stein gegen den Ehemann aufheben werde, der im ge¬
rechten Zorn sein uugetreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer auf¬
opfere, da die Gesetze selbst, die kaltblütigen Pedanten sich rühren ließen und
ihre Strafe zurückhielten.
In dem Briefe vom 8. Januar 1772 klagt Werther über die Menschen,
deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie sich um einen Stuhl
weiter hinauf bei Tische einschieben wollen. Darüber habe es in der letzten Woche
bei der Schlittenfahrt Händel gegeben, und der ganze Spaß sei verdorben.
Als Werther in einer vornehmen Gesellschaft gegen die Sitte der Zeit
bleibt und sich als Bürgerlicher nicht rechtzeitig zurückzieht, flüstern sich die
Damen am Ende des Saales in die Ohren, sprechen mit ihren Männern,
und eine von ihnen wendet sich an den Gastgeber. Dieser kommt in ver¬
bindlicher Weise auf Werther zu und sagt, er kenne doch die wunderbaren
Verhältnisse, die Gesellschaft sei unzufrieden, ihn hier zu sehen, und drückt
ihm zum Abschiede die Hand. Werther entfernt sich sachte aus dem vornehmen
Kreise, ohne eine Ahnung von den Sticheleien zu haben. Schon an dem¬
selben Abend hört er in der Gaststube, daß seine Neider triumphieren und
einander zuraunen, mau sähe nun, wo es mit den Übermütigen Hinanswolle,
die sich ihres bißchen Kopfes überhoben und glaubten, sich über alle Verhält¬
nisse hinaussetzen zu dürfen. Am andern Tage trifft er eine junge Dame
aus jenem geschlossenen Kreise, die ihm unter Tränen mitteilt, was über ihn
gesprochn, werde, und wie man sich über die Strafe für seinen Übermut und
für seine Geringschätzung andrer freue. Da bäumt sich der tief Gekränkte auf,
aber er begnügt sich damit, am 16. März an seinen Freund zu schreiben, er
wünsche, daß sich einer unterstünde, ihm dies vorzuwerfen, daß er ihm den
Degen durch den Leib stoßen könnte, wenn er Blut sähe, würde es ihm besser
werde».
In dem geselligen Scherze „Die guten Weiber," der zuerst im Taschen¬
buch für Damen uns das Jahr 1801 erschien, erzählt Armidoro, wie ein
Hündchen zu einem tragischen Abenteuer Anlaß gab. Ferrand und Cardcuw
hatten von Jugend auf in einem freundschaftlichen Verhältnis gelebt, zuerst
als Pagen an einem Hofe, dann als Offiziere bei demselben Regiment. Car-
dcmo hatte Gluck bei den Weibern, Ferrand im Spiel. Cardano schenkte einer
Dame, als er die Beziehungen mit ihr abbrach, einen kleinen schönen Löwen-
Hund, verschaffte sich eiuen neuen und schenkte diesen einer andern Dame, als
er auch sie zu meiden gedachte. Von der Zeit ab wurde es sein Vorsatz, einer
jeden Dame zum Abschied ein solches Hündchen zu schenken. Ferrand wußte
um diese Posse, ohne jemals besonders darauf zu achten. Er verheiratete sich
später und lebte auf seinen Gütern, Cardano war ein Jahr lang teils bei
ihm, teils in der Nachbarschaft zum Besuch. Eines Tages sieht Ferrand bei
seiner Frau ein allerliebstes Löwenhündchen und fragt sie, woher sie das schöne
Tier habe. Als sie sagt, es sei von Cardano, erwacht blitzschnell in ihm die
Erinnerung an frühere Ereignisse und an die äußern Zeichen des Wankelmuth
bei seinem Freunde. In Wut wirft er das Tierchen zur Erde und verläßt
die erschrockne Frau. Ein Zweikampf und mancherlei unangenehme Folgen,
Entfremdung der Ehegatten und ein zerrüttetes Hauswesen bilden den Schluß
dieser Geschichte.
In Reineke Fuchs (X, 464 ff.) klagt Isegrim dem Könige seine Not und
verlangt, daß Reineke mit ihm kämpfe. Bei dem folgenden Zweikampfe werden
alle alten Formen und Gebräuche beobachtet, wie sie das Gottesgericht
vorschrieb.
In der Lebensbeschreibung des Benvenuto Cellini, der im Jahre 1500
geboren wurde und im Jahre 1571 starb, sehen wir den Künstler nach der
Sitte seiner Zeit oft wegen geringer oder eingebildeter Verletzung seines Be¬
sitzes oder seiner Ehre zum Degen und zu blutiger Rache greife». Goethe
sagt im Anhang (XII) zu seiner Übersetzung dieser Lebensbeschreibung, daß
diese Weise zu empfinden und zu handeln furchtbar ausgebreitet war in einer
Zeit, in der die rechtlichen Bande, kaum geknüpft, durch Umstände wieder
loser geworden, und jeder tüchtige Mensch bei mancher Gelegenheit sich durch
Selbsthilfe zu retten genötigt war. So habe Mann gegen Mann, Bürger und
Fremder gegen Gesetz und gegen dessen Pfleger und Diener gestanden. Und
wie gewaltsam zeigte sich in solchen Fällen der italienische Charakter. Der
Beleidigte verfalle, wenn er sich nicht augenblicklich räche, in eine Art Fieber,
das ihn als eine Physische Krankheit verfolge, bis er sich durch das Blut
seines Gegners geheilt habe. Wenig fehle, daß Papst und Kardinäle dem,
der sich auf diese Weise geholfen habe, zu seiner Genesung Glück wünschten.
In solchen Zeiten eines allgemeinen Kampfes trete eine Natur wie Benvenuto
Cellini zuversichtlich hervor, bereit, sich mit Degen und Dolch zu verteidigen
und Andern zu schaden, denn jede Reise war Krieg, und jeder Reisende ein
gewnffneter Abenteurer.
In seiner Iphigenie und im Tasso stellt Goethe den Zweikampf in
andern: Lichte dar; hier reinigt er ihn von den Schlacken des wechselnden
Zeitgeistes und irdischer Schwäche und lenkt unser Auge zu lichten Höhen,
zu gereinigter Sitte hin. In der Iphigenie kehrt der Dichter von der antiken
Welt aus eigner Kraft zur deutschen Muttererde zurück. Mit Staunen sehen
wir in griechischem Gewände deutsche Landschaft, deutsche Sitte lind eine
deutsch empfindende Frauenseele, die Roheit, Gewalt und List der Männer
bändigt und sie zu edlerer Sitte führt. Orestes will für seine und des Pylades
Freiheit, aber auch für die Einführung des Gastrechts nach griechischer Sitte
sein Leben wagen. Darum fordert er (V, 6) vom Könige Thoas, er möge
aus der Zahl der Edeln den besten auswählen und ihm gegenüberstellen,
soweit die Erde Heldensöhne nähre, sei keinem Fremdling dieses Gesuch ver¬
weigert worden. Thoas erwidert stolz, die Zahl der edeln und tapfern Männer
in seiner Begleitung sei groß, aber er selbst stehe noch dem Feinde und sei
bereit, mit ihm das Los der Waffen zu wagen. Iphigenie sucht den Kampf
zu verhüten. Die griechische Priesterin, die sich allein durch Wahrheit und
Liebe leiten läßt, bannt Zorn und mißverstcmdnes Ehrgefühl der streitenden
Männer, sie weckt die edlern Triebe der kampfbereiten Gegner und ruft ihnen
aus der Tiefe ihres reinen Herzens die Worte zu, die heute und für alle
Zeiten gelten: Der rasche Kampf verewigt einen Mann;
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
Allein die Tränen, die unendlichen
Der überbliebnen, der verlaßnen Frau
Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt
Von tausend durchgemachten Tag- und Nächten,
Wo eine stille Seele den Verlornen,
Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich
Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.
Thoas ist bereit, den Zorn in seiner Brust zu bändigen, aber seine Vor¬
urteile nicht. Die Fremden sind nach Tauris gekommen, um das heilige Bild
der Göttin zu rauben, das fordert die Entscheidung der Waffen heraus. Erst
dann, als Orest erkennt, daß die Schwester, die der Orakelspruch des Gottes
meint, nicht Diana, sondern seine eigne Schwester Iphigenie ist, reicht Thoas
die Hand zur Versöhnung.
Im Torquato Tasso wünscht die Prinzessin, daß Tasso mit Antonio
Freundschaft schließe. Sie läßt bei diesem Wunsche die Verschiedenartigkeit
ihrer Naturen unberücksichtigt und stellt damit eine Forderung auf, die Un¬
mögliches verlangt und zum dramatischen Konflikt führen muß. Antonio er¬
kennt bei seiner Rückkehr nach Ferrara, daß Tasso ihn in der Gunst des
Fürsten und der beiden Frauen überholt hat. Der Neid treibt ihn, das
stürmische Werben Tassos um seine Freundschaft zurückzuweise». Er reizt ihn
dadurch, daß er an alle Worte Tassos einen guten Rat oder eine Zurecht¬
weisung knüpft, spricht von der Unmäßigkeit des Herzogs in seinen Be¬
lohnungen, von der Kühnheit des Jünglings, sich neben die großen Meister
der Vorzeit zu stellen, und nennt ihn sogar unsittlich, d. h. er wirft ihm
Mangel an Takt und richtigem Gefühle vor, weil sich Freundschaft nicht er¬
zwingen lasse. Zuletzt erklärt Tasso, den Schimpf nicht länger ertragen zu
können, und zieht unter Verletzung des Burgfriedens im Palast des Fürsten
den Degen. Der Herzog findet die Streitenden in dieser Lage und erklärt
zunächst zu Tasso gewandt:
Wenn dich Antonio beleidigt hat,
So hat er dir auf irgendeine Weise
Genug zu tun, wie du eS fordern wirst.
Als Tasso mit einer gelinden Strafe verabschiedet ist, und Antonio voll
Mißgunst über die milde Auffassung des Fürsten die Forderung stellt, daß
das Schwert den Zwist entscheiden soll, sagt Alfons noch ganz im Sinne des
ritterlichen Ehrbegriffs:
Wenn es die Meinung fordert, mag es sein!
Dann erst gibt Antonio die erste klare Auskunft über den Ursprung des
Streites: „ . . ^ . „-^ ....
Als Menschen hab ich ihn vielleicht gekränkt,
Als Edelmann hab ich ihn nicht beleidigt,
Und seinen Lippen ist im größten Zorne
Kein sittenloses Wort entflohn.
Nunmehr ist es dem Fürsten möglich, mit seinem gerechten Urteil und
seinem weitschauenden Blick den Handel zu ordnen. Antonio muß auf sein
Geheiß Tasso den Degen zurückbringen und den Beleidigten versöhnen. Diese
Ehrensache zwischen Tasso und Antonio muß man scharf im Auge behalten,
wenn man der Auffassung des Dichters über diesen Gegenstand gerecht werden
will. Sie fesselt uns gerade deshalb, weil Goethe, als er den Tasso in
Italien umarbeitete, zur Höhe seiner poetischen Entwicklung aufgestiegen war,
und weil er darin den Weg zeigt, der bei jedem Ehrenhandel einzuschlagen
ist. In seinem Tasso ist es der weise Fürst,, der Antonio nötigt, seine
Kränkung zurückzunehmen, und dadurch den Zweikampf verhütet, zugleich aber
auch deutlich zu erkennen gibt, daß es ritterlich ist, das Unrecht wieder gut
machen und die Hand zum gütlichen Ausgleiche zu bieten, und daß der Be¬
leidigte die zur Versöhnung gebotne Hand annehmen muß, wie es die wahr¬
haft gute Sitte fordert. Wer die versöhnende Macht der innern Einkehr und
der guten Sitte kennt, wird den tiefen Sinn in den Worten des Dichters
versteh«, die er in ein Exemplar seiner Iphigenie schrieb:
Alle menschlichen Gebrechen
Sühnet reine Menschlichkeit,
> er die Kultur einer hoher» Zivilisation auf ein wildes Boll über¬
trage» will, muß erst in die Denk- und Anschauungsweise des
Naturvolkes eindringen. Nach diese»! alten Erfahrungssätze sollten
sich unsre Missionare, Lehrer. Beamten, Farmer und Kaufleute, ehe
^sie in die Kolonien gehn, bestreben, sich ein lebendiges, vom Zwange
unsrer gewohnheitsmäßigen Anschauungen befreites Bild von dem psychischen
Zustande der Stämme, die unsre Kolonien bewohnen, zu verschaffen. Vor kurzem
ist nun ein Buch erschienen, das für diesen Zweck von großem Wert ist. Es ist die
Sammlung von „Märchen und Sagen der afrikanischen Neger" von T. von Held
(Jena, H. W. Schmidt, 1904). Dieses Buch ist das erste seiner Art, das sämt¬
liche Zweige der Unterhaltlmgslitcrntur der verschiedensten Stämme südlich vom
Äquator auf eiuen Raum vereinigt. Vornehmlich sind die Bcmtuvölker ver¬
treten, aber auch Hottentotten, Buschmänner und Damara sowie östliche und
westliche Küstenstämme haben Beitrüge geliefert. Die Sammlung umfaßt Sagen,
Fabeln, schwanke, Märchen, Novellen und bietet am Schluß einige Proben
von Sprichwörtern. Am zahlreichsten sind die Tiersageu vertreten, wie das bei
der großen Rolle, die der Tierglaube im Vorstellungsleben der Schwarzen spielt,
nicht anders zu erwarten ist. Auch die ätiologische Sage ist mit vierzehn Bei¬
spielen stark vertreten, ein Beweis, wie beliebt diese älteste Art der Naturforschung
auch bei den Negern ist. Eine besondre Klasse bildet eine Anzahl von Ketten¬
märchen, von denen später die Rede sein soll. Eigentliche Märchen, mit Menschen
als Helden, finden sich nur etwa vierzehn. Ein sehr interessantes Beispiel der
nicht geringen Erzählungskunst der Wanyoro am nördlichen Rande des Viktoria
Nyanza bietet eine Novelle Kimyera (Ur. 32).»)
Ehe wir nun versuchen, ans einigen Beispielen an dein innern Wesen der
Märchen Schlüsse ans den Charakter und die Denkweise der Negervölker zu
ziehn, möchten wir darauf hinweisen, daß die Erzählungen auch reichen Stoff
für die Erkenntnis der äußern Kulturverhältnisse enthalten. Wir brauchen darauf
nicht näher einzugehn, weil die Verfasserin in zahlreichen Anmerkungen auf die
wichtigsten äußern Einrichtungen und Gewohnheiten der verschiednen Stämme
hingewiesen hat. Der Vortrag der Sagen und Märchen legt eine» Beweis ab
von der ziemlich hoch entwickelten Erzählungskunst der Neger. Weniger episch
als der des europäischen Märchens, löst sich der Vortrag, wo sich immer Ge¬
legenheit bietet, in Rede und Gegenrede auf. Manche Märchen, wie zum Bei¬
spiel das von Cakhane (Ur. 41), sind fast gänzlich dialogisch gehalten. Man
erkennt hierin leicht die Freude des Negers an frischer, lebendiger Erzählung.
Die Weise vorzutragen ist dabei schlicht und naiv. Vor Widersprüchen und Ab¬
schweifungen scheut der schwarze Märchenerzähler so wenig zurück wie der weiße
oder der gelbe, trotzdem überrascht, besonders in den Tiersagen, eine gewisse
logische Schärfe, die besonders in Einzelzügen hervortritt, und eine hervorragende
Charakterisierungskuust, die sich weniger in der Zeichnung der Menschen- als
der Tiercharaktere kundgibt. Man lese daraufhin das prächtige Märchen von
der Ziege, dem Löwen und der Schlange (Ur. 31) dnrch, das die Basotv er¬
zählen, eines der schönsten Stücke der Sammlung. Die scharfe Beobachtungs¬
gabe und das große Nachahmungstalent, worüber der Schwarze verfügt, be¬
fähigen ihn in hohem Grade, die Besonderheit eines jeden Tieres genau und
überzeugend wiederzugeben. Die stolze Art des auf seine Stärke pochenden
Löwen, der sich freundlich herablassend von schwächern Tieren Weihrauch streuen
läßt, und der im Gefühl seiner Macht den Kampf mit der Schlange als mit
seiner Würde nicht vereinbar betrachtet, sich aber schließlich durch die auf¬
stachelnden Reden der Ziege bewegen läßt, den Kampf mit dem tückischen Gegner
in lässiger, gleichsam spielender Weise zu beginnen, ist vorzüglich wiedergegeben.
Nicht weniger getreu ist die etwas hinterhältige Art der Ziege gekennzeichnet.
Das feinste aber an Beobachtung und Darstellung des Tiercharakters leistet der
Neger in der Zeichnung der listigen Tiere: des Schakals, der Schildkröte und
des Wiesels.
Im großen und ganzen ist wohl das Eigentümliche am Stil der Neger¬
märchen die außerordentliche Lebhaftigkeit des Vortrags, die scharf absticht von
der verweilenden, behaglichen Erzühlungsweise unsers deutschen Märchens. Fast
durchweg liegt über den Erzählungen, auch über den ernst gehaltnen, ein Schimmer
von Humor, der im Tiermärchen leicht ins schalkhafte übergeht. Als Beispiel
mag die köstliche Geschichte der Wolvssen vom Hasen und vom Affen (Ur. 48)
hierhergesetzt werden. „Der Affe warf dem Hasen vor, daß er die unangenehme
Gewohnheit habe, sich fortwährend umzusehen. Darauf erwiderte der Hase, das
ewige Jucken und Kratzen des Affen sei jedenfalls viel lustiger fiir andre mit¬
anzusehen. Schließlich kamen beide überein, daß sie einen ganzen Tag von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nebeneinandersitzen wollten; der Affe sollte
sich in der ganzen Zeit nicht kratzen, der Hase sich nicht umschauen. Der fest¬
gesetzte Tag hatte kaum gegraut, als sich beide an dem bestimmten Platz ein¬
fanden. Regungslos hielt der Hase seinen Blick auf die Erde geheftet; ruhig
und unbeweglich ruhten die Hände des Affen in seinem Schoß. Stunde um
Stunde verrann, und nur noch mit Überwindung war es beiden möglich, still
zu sitzen. Es wurde Mittag, da sagte der Affe, der es vor Pein kaum noch
aushalten konnte: »Als ich im Kriege war, trafen mich die Pfeile der Feinde
hier und hier und da und dort«, und wohin er mit dem Finger wies, da kratzte
er sich schnell. Auch der Hase konnte es schließlich nicht mehr über sich ge¬
winnen, seine Augen ans dem Boden ruhen zu lassen, und so begann er seine
Erzählung: »Als ich im Kriege war, verfolgten mich eines Tages die Feinde.
Vor Entsetzen sprang ich bald hierhin, bald dorthin, bald nach rechts, bald nach
links«. Mit Blitzesschnelle folgten dabei seine Augen, die solange starr vor
sich hingeblickt hatten, den Bewegungen seiner Glieder."
Man erkennt in dieser köstlichen Fabel nicht nur den kindlich heitern Sinn
des Negers, der, wie alle Kenner behaupten, ein Grundzug seines Wesens ist,
sondern auch eine nicht zu verachtende psychologische Einsicht, wie einem sofort
klar wird, wenn man die Fabel auf menschliche Verhältnisse übertragen denkt.
Der Grundzug des Negermärchens ist Einfachheit. Das macht sich be¬
sonders auffällig bemerkbar, wenn man sich mitten unter diesen schlichten Er¬
zählungen durch ein Märchen aus Tausend und einer Nacht (Der trüge Ma-
homed Ur. 10), das auf Sansibar aufgezeichnet ist, plötzlich in die Zauber- und
Wunderwelt des Orients versetzt sieht. Die Phantasie des Negers ist nicht
schöpferisch genug, daß sie die Erzeugnisse seines Geistes in ein schimmerndes
Gewand kleiden könnte. Tiefere Ideen finden sich nur hier und dort. Aus
diesen anspruchlosen Erzählungen spricht ein ganz andrer Geist als etwa aus
den phantastischen, farbenprächtigen und dabei gedankenreichen Sagen und Märchen
unsrer snmoanischen Brüder. Selbstverständlich findet sich auch das religiöse
Leben der Schwarzen in ihren Dichtungen abgespiegelt, aber es ist doch auf¬
fällig, wie sparsam im Vergleich zu andern Völkern die mythischen Bestandteile
in das Märchen übergegangen sind. Die Erzählungen des Negers dienen eben
nur dem Zeitvertreib, sie wollen nichts als gesellig unterhalten.
Was den ethischen Gehalt der Unterhaltungsliteratur der Neger betrifft,
so wird man überrascht sein, zu finden, daß eine außerordentlich große Anzahl
der Sagen und Märchen moralisierend ist. Freilich oft genug zeigt es sich,
daß der Geschichte erst am Schluß ein moralischer Zusatz angehängt ist, aber
sehr viele der Märchen bauen sich auf ethischen Gedanken auf. Ein immer
wiederkehrendes Thema ist das vom bestraften Hochmut. Ein Häuptling vermißt
sich: „Ich erliege keinem Dinge, und alles vermag ich!" Ein kleiner Vogel lehrt
ihn jedoch bald die richtige Selbsteinschätzung. Eines Tages verfolgt er diesen
Vogel, der ihn immer weiter ins Dickicht hineinlockt und schließlich einen Ter¬
mitenhügel öffnet, in den ihm der Häuptling folgt. Sofort schließt sich der
Hügel wieder, und der kluge Häuptling ist gefangen. Natürlich benutzt der Vogel
diese schöne Gelegenheit, ihm unter vier Augen eine kleine Moralpredigt zu
halten. Auch sonst lassen die Märchen erkennen, daß die ethische Entwicklung,
der Neger so weit vorgeschritten ist, daß ihnen ein moralischer Ausgleich für böse
und verwerfliche Handlungen als ein ethisches Bedürfnis erscheint. Bosheit, Neid
Überhebung, Undankbarkeit finden ihre gerechte Strafe, während Dankbarkeit,
Bescheidenheit, hilfreiches, freundliches Wesen belohnt werden.
Doch ist bei diesem Schluß auf die moralischen Anschauungen der Neger
Vorsicht geboten, denn es ist schwer zu erkennen, wie weit hier christlicher oder
mohammedanischer Einfluß wirksam gewesen ist. Nicht immer liegt der fremde
ethische Einfluß so klar zutage wie in der folgenden erbaulichen Suahclifabek
(Ur. 6). Eine Löwin hatte ein Junges. Da sie es eben zur Welt gebracht-
hatte, verspürte sie großen Hunger und konnte ihn gar nicht stillen. Am siebenten
Tage machte sie sich auf den Weg mit dem festen Vorsatz, das erste Tier zu-
töten, das ihr in den Weg käme. Da traf sie eine friedlich grasende Antilope.
Gerade wollte sie losspringen, als sich die Antilope umsah und die Löwin
freundlich anschauend rief: „Willkommen, Gevatterin!" Da schämte sich die Löwirr
ihres bösen Vorhabens und verschonte die Antilope, die sie so freundlich be¬
grüßt hatte.
Im Märchen von der treuen Liebe (Ur. 17), das die Mkiputa am Nyassa-
see erzählen, wird die Gattenliebe verherrlicht. Es waren einmal ein Mann und
eine Frau, die sich sehr lieb hatten. „Wenn ich einmal sterben werde, sagte
der Mann zu der Frau, so werde ich doch wieder zu dir zurückkommen, denn
ich liebe dich sehr!" Dasselbe sagte die Frau zum Manne. Die weitere Ent¬
wicklung zeigt nun, wie die Gattenliebe den Tod überwindet. Auch der Schutz!
der Schwachen und Unmündigen findet, sehr gegen die wirklichen Gewohn¬
heiten vieler Stämme, seinen Ausdruck in verschiedenen Märchen. Ebenso charak¬
teristisch aber ist andrerseits für das Märchen die Sympathie mit dem listigen
Betrüger. In diesem Falle siegt die Freude des Naturmenschen an der Über¬
legenheit der Schlauheit über die plumpe Stärke über alle moralischen Bedenken.
Mit großer Behaglichkeit erzählen die Neger die zahllosen Listen, Ränke und
Anschläge ihres Reineke Fuchs, des Schakals, dessen Stelle zuweilen die Schild¬
kröte einnimmt. Die Geprellten sind meist der Löwe und die Hyäne, nicht selten
auch der Hase.
Aus diesen wenigen angeführten Proben läßt sich wenigstens eine Idee ge¬
winnen, wie man mit Hilfe dieser anspruchslosen Geschichten auf den Kern des
seelischen und geistigen Lebens der Neger vordringen kann. Hiermit ist aber
der Wert der Sammlung nicht erschöpft. Die Märchenforscher werden der Ver¬
fasserin dankbar sein für das zusammenhängende Material, das sie der ver¬
gleichenden Forschung mit ihren sechzig Märchen und Sagen darbietet. Es möge
uns erlaubt sein, auch hierüber einige Andeutungen, soweit sie des allgemeinen
Interesses sicher sind, folgen zu lassen.
Die Hauptergebnisse der vergleichenden Märchenforschung sind setzt wohl
auch weitern Kreisen bekannt geworden. Die überraschende bis ins einzelne
gehende Gleichartigkeit der meisten Märchen, die sich als eine aus bestimmten
immer wiederkehrenden Typen zusammengefügte Masse internationaler Erzählungs¬
stoffe darstellen, zwingt zu der auf den ersten Blick seltsam erscheinenden An¬
nahme, daß eine Anzahl Motive von irgendeinem Punkte aus über die ganze
Welt gewandert ist. Daneben kommt natürlich die auf der Gleichartigkeit der
sozialen Zustände, der Phantasie und der Denktütigkeit beruhende Urerzeugung
gleichartiger Züge bei räumlich entfernten Völkern in Betracht. Eine besondre
Rolle spielt dabei das Märchenland xg,r exoellenog, Indien, das zu gewissen
Zeiten ganze Ströme von Märchen über die Erde ergossen hat.
Die schwerste Aufgabe für den Märchenforscher ist es darum, in einer
Sammlung die einheimischen Märchen zu erkennen und auszusondern. In der
vorliegenden Sammlung scheinen mir von den reinen Märchen die aus Indien
zu sein, die einen einfachen, in den Kulturverhältnissen der Volker begründeten
Vorgang in novellistischer Form erzählen, wobei das Märchenhafte nur durch die
Einfügung von irgend etwas Wunderbarem hervorgebracht wird. Zwei Beispiele
mögen das erläutern. Ein Hereromürchen, die fliehenden Kinder Mr. 15), er¬
zählt, wie mehrere Herervschwestern, die von ihrem Stamme abgekommen waren,
in das Dorf zurückkehrend fanden, daß es von den Damaras in Besitz ge¬
nommen war. Die Feinde ergriffen sofort die Mädchen und machten sie zu
ihren Weibern. Am nächsten Morgen zogen sie auf die Jagd und überließen
die Bewachung der Mädchen einem Alten, der sich quer vor ihre Hütte legte.
Als sie merkten, daß der Greis eingeschlafen war, töteten sie ihn und flohen,
den Spuren der fortgewanderten Hereros folgend. Endlich kamen sie an einen
Felsen. Soweit ist die Handlung durchaus natürlich und in den sozialen Ver¬
hältnissen des Volkes begründet, nun tritt das Märchenhafte mit folgendem Zuge
ein: Das älteste Mädchen stand vor ihm still und rief: „Felsen, öffne dich!"
da tat der Felsen sich auf, ließ die Mädchen eintreten und schloß sich dann
wieder. Die verfolgenden Damaras kamen auch an den Felsen, bei dem sich die
Spur verlor. Ratlos standen sie da und mußten unverrichteter Sache wieder
umkehren. Als sie weit genug entfernt waren, rief das Mädchen wieder:
„Felsen, öffne dich!" Und der Felsen ließ die Verfolgten wieder heraustreten.
Nur eine, die sich undankbar erwiesen hatte, behielt er zurück Alsbald erreichen
dann die Mädchen ihre Verwandten wieder. Ein zweites Märchen, das Kind
und der Regen (Ur. 18), beruht ebenfalls von Anfang bis zu Ende auf ein¬
heimischen Vorstellungen. Es berichtet, daß sich in einer dürren Zeit einstmals
Kinder mit Spielen vergnügten. Eins von ihnen schlug vor, daß alle Kinder
Wasserköpfe herbeiholen und in einem Kreise aufstellen sollten. Nachdem dies
geschehn war, stellte es sich in die Mitte und schaute gen Himmel, wo sich
alsobald einige Wolken zusammenballten und Tropfen fallen ließen, die aber
nur in die Kochtöpfe hineinsielen. Das Kind wird vor den Sultan geführt, in
dessen Gegenwart es einen Wolkenbruch herbeizaubert und unter Donner und
Blitz in den Wolken verschwindet. Man sieht, daß das Wunderbare in diesem
Märchen auf dem allen Negern gemeinsamen Regenglauben beruht.
Eine besondre Klasse bilden sieben Kettenmärchen, die sich in ähnlicher Form
auch bei den meisten europäischen Völkern finden. Das Wesen dieser Märchen be¬
steht darin, daß der Bericht einer Reihe gleichartiger Erlebnisse (im vorliegenden
Falle das mehrfach wiederholte Eintauschen eines Gegenstandes gegen einen andern)
kettenartig aneinandergebunden wird zu einem immer länger werdenden Satz. So
findet nach dem Märchen Ur. 53 ein Kind eine Frucht und gibt sie der Mutter
zur Verwahrung; diese ißt die Frucht auf und gibt dem Mädchen dafür eine
Nadel, für die Nadel tauscht es vom Vater eine Axt ein, für diese von einigen
Knaben Honig, für den Honig von einem alten Weibe Negerkorn, für das Korn
von einigen Pfauen Federn. Jedesmal, wenn das Mädchen den geliehenen
Gegenstand zurückfordert, ist er verzehrt oder zerbrochen. So kommt denn am
Ende die lange Klage des Kindes zustande. „Warum habt ihr meine Federn
zerbrochen, die ich von den Pfauen bekommen hatte, die mein Negerkorn ver¬
zehrt hatten, das ich von dem alten Weibe erhalten hatte, das meinen Honig
aß, den mir die Kinder gegeben hatten, die meine Axt zerbrachen, die ein Ge¬
schenk war von meinem Vater, der meine Nadel zerbrochen hat, die mir meine
Mutter gab, die meine Eingui gegessen hat, die ich für mich von unserm Baume
gepflückt habe?" Wer fühlt sich hierbei nicht von ferne an unsern Schwank
vom Läuschen und vom Flöhchen erinnert, das Grimm in Kassel aufgezeichnet
hatte (Ur. 30)? Ein Läuschen und ein Flöhchen lebten zusammen und branden
Bier in einer Eierschale. Da fiel das Läuschen hinein und verbrühte sich.
Darüber fing das Flöhchen laut an zu schreien. Da sprach die kleine Stuben¬
tür: „Was schreist du, Flöhchen?" „Weil Läuschen sich verbrannt hat." Da
sing die Tür an zu knarren. Da sprach ein Besenchen in der Ecke: „Was
knarrst du, Türchen?" „Soll ich nicht knarren? Läuschen hat sich verbrannt,
Flöhchen weint." Nacheinander mischen sich dann noch ein Wägelchen, das
Mistchen, das Bäumchen ein, bis am Ende folgende Kette entsteht:
Um die weite Verbreitung dieses Kettenmärchens wenigstens anzudeuten,
möchte ich darauf aufmerksam machen, daß es sich in Lothringen, in der Bretagne,
in Norwegen, in Italien, in Katalonien, in Portugal, in Rumänien, bei den
kleinasiatischen Griechen und schließlich in Nordindien aufgezeichnet findet. Ein
andres Kettenmärchen. Goso (Ur. 27), das dem Märchenforscher schon früher
aus der Steereschen Sammlung von L^tilli taksh bekannt war, erzählt, wie
eine Gazelle auf einen Baum gestiegen war und durch eine Frucht den unter
demi Baume liegenden Goso tötete. Die Rächer suchen nacheinander den Wind,
die Steinmauer, die Ratte, die Katze, den Strick, das Messer, das Feuer, das
Wasser, den Ochsen, den Holzbock zur Verantwortung zu ziehn. Jedes aber
weist auf den folgenden als den stärkern hin, wie könnte es also der Täter ge¬
wesen sein? Schließlich verweist der Holzbock auf die Gazelle mit den Worten:
„Wenn ich Häuptling wäre, keine Gazelle würde mich fressen." So war die
Gazelle, die keine Ausrede hatte, als die Schuldige erkannt. Dieses Märchen
läßt sich fast durch alle europäischen Länder bis in den Orient hinein verfolgen.
Die älteste erreichbare Form steht im Pantschatantra, dem ältesten indischen
Märchenbuch, wo die Sonne den Vrcchmanen zur Wolke schickt, die stärker sei
als sie, die Wolke schickt ihn zum Berge, der Berg zur Ratte.
Auf die schwierige Tatsache, daß die Reineke-Fuchs-Geschichten zum Teil
fast Zug um Zug in den Hottentottensagen wiederkehren, kann hier nicht näher
eingegangen werden, es sei nur darauf hingewiesen, daß nach einer vorläufig
zwar noch unbewiesnen Annahme der Ursprung der Hottentotten in Ägypten
gesucht wird, wo allerdings die Berührung mit den Europäern eher möglich war.
Nur mit geringen Abweichungen wird die Geschichte vom Hasen und vom Igel
(Grimm, Ur. 187) in dem Märchen vom Wettlauf zwischen dem Hasen und der
Schildkröte bei unsern Landsleuten in Kamerun erzählt. Das bekannte Märchen
vom Adler und vom Zaunkönig findet sich bei den Negern so berichtet, daß bei
dem allgemeinen Wettlauf der Tiere die Schildkröte siegt, weil sie sich in der
Mähne des Löwen, der als erster das Ziel erreicht, festgekrallt hat (Ur. 35: der
Löwe und die Schildkröte). Ähnlich erzählen die Indianer am Amazonas, daß
der Geier und die Schildkröte einst wetteten, wer schneller in den Himmel käme.
Die schlaue Schildkröte versteckt sich in den Provicmtkvrb des Geiers und ver¬
sichert ihm nachher, sie sei lange vor ihm dagewesen.
Für den, der sich viel mit der Vergleichung von Märchen beschäftigt, liegt
die Gefahr nahe, daß er Übereinstimmungen sieht, wo vielleicht nur zufällige
Ähnlichkeiten bestehn. So möchte ich nicht dafür bürgen, daß in dem Märchen
vom Ccckyane (einer Wieselart) Ur. 41 ein Zug aus unserm Rotkäppchenmürchen
wiederkehrt. Man wird sich erinnern, daß der Wolf, nachdem er die Gro߬
mutter gefressen hat, deren Kleider anzieht, ihre Haube aufsetzt und sich in ihr
Bett legt. Vom Ccckyane wird nun erzählt, daß er in eine Hütte einbricht, das
alte Weib, das darin haust, tötet, sich in ihren ledernen Rock einhüllt und sich
dann schlafend stellt, als die beiden Enkel der Alten heimkehren. Diese bereiten
ein Reh zu, das sie erlegt hatten; dabei sagte der jüngere: „Schau einmal
dorthin, das scheint die Hand unsrer Großmutter zu sein." Darauf entgegnete
der ältere: „Schweige, siehst du denn nicht, daß die Alte im Sterben liegt?"
Bemerkenswert ist auch, daß sich in einem Schwank der Suaheli das alte weit¬
verbreitete Thema von den drei guten Ratschlägen findet, das bekanntlich, ernst¬
haft angewandt, in unserm ältesten Roman Nuodlieb eine bedeutende Rolle spielt.
Im Negermärchen lauten die drei Ratschläge folgendermaßen: Glaube dem nicht,
der dir sagt, Sklaverei sei besser als Freiheit. Sollte sich jemand finden, der
dir sagt, Armut bringe Glück, Reichtum Unglück, so glaube es nicht. Glaube
niemand, der es versucht, dir einzureden, Hunger tue nicht weh.
Leider hat in der neuern Märchenwissenschaft — wenigstens in der deutschen —
das Problem der Stoffgeschichte alle andern nicht minder wichtigen Probleme,
so namentlich die Erforschung der mythischen oder allgemeiner der religiösen Be¬
standteile im Märchen, fast vollständig absorbiert. Wir möchten hier an der
Hand einiger mythischer Züge, die die Negermärchen bieten, die Aufmerksam¬
keit auf diese wichtigen Fragen lenken, und zwar zunächst auf einen Zug, der
wohl jedem aus der Jonassage bekannt ist. Es handelt sich um das Thema
von dem von einem Ungeheuer verschluckten und wieder ausgespienem oder sonstwie
befreiten Helden. Das fünfte Märchen der vorliegenden Sammlung, vom Häupt¬
ling der Tiere, erzählt diesen Zug folgendermaßen: Einer Frau, die mit zwei
scharfen Eisenstückeu in den Wald gegangen war, um Holz zu schneiden, be¬
gegnete der Häuptling der Tiere, der sie verschluckte, wie er schon vorher ihre
Kinder gefressen hatte. Da nahm die Frau die spitzen Eisenstücke und schnitt
von den Eingeweiden des Tieres Stücke ab, dann machte sie Feuer mit zwei
Stücken Holz, die sie auch im Leibe des Tieres faud. So wütete die Frau
im Magen des Ungeheuers, bis es unter großen Qualen starb. Die Mutter
aber arbeitete mit ihren Kindern im Innern des toten Körpers immer weiter,
bis sie ein großes Loch geschnitten hatte; aus dem kamen sie alle nacheinander
heraus. Es waren in dem Leibe des Ungeheuers auch Tiere gewesen, die alle
verschluckt waren. Sie alle wurden nun befreit.
Die vergleichende Sagenforschung nun bietet in diesem Falle die seltene
Möglichkeit, das Motiv Schritt für Schritt bis in seinen mythischen Ursprung
zu verfolgen. Gleich auf demselben Boden, nämlich bei den Basutos, finden wir
dieselbe Sage mit deutlichern Beziehungen. Sie berichten, wie ihr Tageshervs
Litnolama samt der ganzen Welt von dem Ungeheuer Nacht verschlungen wird,
wie er sich dann mit der Waffe den Weg aus dem Leibe des Ungeheuers bahnt
und so sich und die ganze Welt befreit. Hier ist der Mythus Kar ausgesprochen.
Der Tag wird von der Nacht verschlungen und am Morgen wieder aus der
dunkeln Haft entlassen. Der Tag ist in diesen Mythen meist als Sonne per¬
sonifiziert, sodaß es sich um einen Sonnenherosmythus handelt. Der Zusammen¬
hang dieses Mythus mit dem allen Wilden gemeinsamen Glauben, daß bei Finster¬
nissen Sonne und Mond von verfolgenden Ungeheuern verschlungen werden, liegt
klar auf der Hand. Besonders häufig wird diese Sage von dem verschlungnen
und wieder befreiten Sonnenhelden bei den Indianern des Algonkinkreiscs erzählt.
Auch bei den Neuseeländern findet sie sich in verschiednen Formen. Am inter¬
essantesten ist wohl wegen der Einführung der am Abend zur Ruhe gehenden
Vögel die folgende Sage: Mawi, der kosmische Held der Neuseeländer, beschließt
zu seiner Urahne (der Nacht) zu wallfahrten. Sie wohnt dort, wo der Rand
des Horizonts mit dem Himmel zusammenstößt. Es war Abend, als Mawi
mit den Vögeln, seinen Begleitern, dort anlangte. Sie fanden die Alte im
Schlaf. Da sagte Mawi zu den Vögeln, sie dürften nicht lachen, wenn sie ihn
in die Alte hineinkriechen sähen. Erst wenn er zum Munde wieder herauskäme,
dürften sie lachen. So kroch Mawi hinein usw. Schließlich sei noch auf eine
karenische Sage aufmerksam gemacht. Ta Moa (der Tag) wurde als ganz
kleines Kind geboren. Seine Mutter, die Sonne, aber machte ihn zum Riesen.
So zog er aus über die Erde, bis er von einer riesigen Schlange verschluckt
wurde. Aber man schlitzte das Ungeheuer auf, und Ta Jewa kam unversehrt
zum Vorschein.
Ein andres weitverbreitetes Motiv führt uns in seinem Ursprung auf den
Glauben an die Pflanzenseele zurück. Es ist das Motiv von dem Fruchtkinde.
Der Verlauf ist sehr einfach: Eine Frau findet eine durch Schönheit und Größe
ausgezeichnete Frucht (meist Apfel oder Kürbis). Sie öffnet die Frucht, und
ein wunderschönes Kind tritt daraus hervor. In der Heldschen Sammlung
weisen zwei Märchen diesen merkwürdigen Zug auf, nämlich ein Zulumärchen,
der verwandelte Kürbis (Ur. 23), und ein Aaomärchen, Masewe (Ur. 57). Die
Vorstellungen, auf denen dieses Motiv beruht, sind durchaus primitiv. Es ist
Wohl aus mehreren Anschauungskreisen zusammengeflossen. Der Glaube an den
Zusammenhang der menschlichen Fruchtbarkeit mit der Pflanzen-, insbesondre
der Baumhecke ist, weil er so natürlich ist, nicht nur den primitiven Völkern,
sondern auch den niedern Schichten der Naturvölker eigen. Unfruchtbare Weiber
können nach diesem Aberglauben Kinder bekommen, wenn sie an heiligen Bäumen
gewisse Zeremonien vornehmen. Andrerseits sind die Früchte selbst — ebenso
natürlich — Symbole der Fruchtbarkeit. Besondres Ansehen genießen bei den
verschiedensten Völkern die körnerreichen Früchte, wie der Granatapfel und der
Kürbis. Der erste war das Symbol der kyprischen Astarte, um nur ein Bei¬
spiel aus dem Altertum anzuführen. Durch den Genuß des Granatapfels
können nach vielfach und zu allen Zeiten belegten Glauben unfruchtbare Weiber
schwanger werden. So erhalt — um auch aus germanischem Glauben ein
Beispiel beizubringen — Wärirs Gemahlin von Odin einen Apfel zugesandt,
nach dessen Genusse sie ein Kind gebiert. Diese beiden Vorstellungsreihen, die
sich auf der innigen Verbindung von der Fruchtbarkeit des Menschen mit den
Bäumen und ihren Früchten gründen, verschmolzen sich mit den allgemeinen
Vorstellungen des Pflanzenseelenglaubens, wonach die Pflanzen Träger von Seelen
und fernerhin von Geistern sind, die unter gewissen Bedingungen in leiblicher
Gestalt erscheinen können. Es ist dabei zu beachten, daß fast bei allen Völkern
die Baumgeister mit Vorliebe als weiblich gedacht werden. Durch die Ver¬
bindung dieser beiden Vorstellungen nun erzeugte sich der Glaube an weibliche
Geister, die in Früchten inkorporiert sind, und die zum Vorschein kommen, sobald
der Rechte sie öffnet. Im Märchen spielen diese Fruchtkinder eine große Rolle.
Das oben angeführte Iaomärchen lautet in kurzer Analyse etwa so: Eine Frau,
die keine Kinder hatte, nahm von einem Masewebaum zwei Früchte, legte sie
in einen Topf und deckte ihn vorsichtig zu. Nach sechs Tagen hob sie den
Deckel auf und sah, daß aus den Früchten Kinder geworden waren. Als sie
herangewachsen waren, halfen sie der Mutter; aber einst, als sie mit allerhand
Forderungen ihrer Mutter unbequem wurden, rief diese im Unmut aus: „Ihr
seid nie und mit nichts zufrieden, das kommt davon, daß ihr Masewe seid!"
Da liefen die Kinder davon und eilten nach den: Baume, von dem sie gepflückt
waren, sprangen hinauf und wurden wieder zu Früchten des Sewebaumes. In dem
abendländischen Märchenkreise sind die Früchte, in denen sich diese „Ungebornen,
niegesehenen" verbergen, meist Äpfel oder Zitronen, Orangen und Pomeranzen.
Zu beachten ist, daß die Märchen, die diesen Zug aufweisen, fast alle dem Süden
Europas angehören, also besonders bei den Slawen und den Romanen beliebt
sind.*) Das Motiv kann man übrigens bis nach Indien und darüber hinaus
nach Japan verfolgen.
Ähnlich wie dieses Motiv ließe sich nun noch das von den dankbaren
Tieren, das in den Negermärchen besonders häufig auftritt, auf seinen Ursprung
im Tierseelenglauben, ebenso wie das Motiv von den Hindernissen, die der ver¬
folgte Held hinter sich hervorzaubert, auf naturmythische Elemente des primitiven
Glaubens zurückführen. Leider reicht zu diesen etwas verwickelten Untersuchungen
der zur Verfügung stehende Raum nicht aus. Statt dessen wollen wir lieber
in aller Kürze auf einige soziologische Motive aufmerksam machen, die man in
den afrikanischen Märchen findet. So wird man hier das bekannte Thema von
der Aufbietung der Jungfrau mit der Bedingung, schwere Aufgaben zu erfüllen,
wiederfinden (Ur. 36), ferner den Zug von den ausgesetzten Kindern, sowie das
Thema von den guten und schönen Mädchen und der häßlichen, neidischen Stief¬
schwester. Eine typische Erscheinung in der Märchentechnik ist die, daß sich der
Held auf der Wanderschaft in einem Walde verirrt und in einer anscheinend
unbewohnten Hütte Unterkunft findet (Ur. 1 und 15.) Hiermit rühren wir an
eine Grundeigentümlichkeit des Märchenstils, auf die wohl noch nicht mit dem
gehörigen Nachdruck aufmerksam gemacht worden ist. Das ist die Tatsache, daß
sich die Handlung des eigentlichen Märchens nie anders vollzieht als im Ver¬
lauf einer Wanderung. Niemals ereignet sich das Abenteuer des Märchens
an ein und demselben Orte. Held oder Heldin müssen immer einen Weg zurück¬
legen, damit sich das Abenteuer ereignen kann. Es wäre eine dankbare, für
die Erforschung der Technik wie des Stils des Märchens gleich wichtige Aufgabe,
zu untersuchen, auf welche Weise das Märchen den Helden auf die Wander¬
schaft bringt.
Um nun noch zum Schluß an einem speziellen Beispiel zu zeigen, wie sich
ein internationales Märchenmotiv verändert, wenn es in die Kulturwelt des
afrikanischen Negers eintritt, möchten wir die Grundgestalt der allgemein ver¬
breiteten Geschichte von der rechten und der falschen Braut mit der Form, die
sie in einem Märchen der Kaffern, die Geschichte von den zwei Frauen (Ur. 50),
angenommen hat, vergleichen. Folgende Grundform könnte man aus der Er¬
zählung von der wahren und der falschen Braut herausschälen: Ein Jüngling
sieht auf der Fahrt ein wunderschönes Mädchen. Er entbrennt in Liebe zu
ihm und verspricht ihm, es an seines Vaters Hof holen zu lassen. Die Heldin
aber hat eine böse Stiefmutter und eine häßliche neidische Stiefschwester, die mit
ihr zu Hofe fahren. Auf der Fahrt weiß die Stiefmutter, die eine Hexe ist,
dem Kutscher Augen und Ohren zu verzaubern und die Braut zu veranlassen,
ihre Kleider mit der Schwester zu vertauschen. Als sie über eine Brücke fahren,
stoßen sie die rechte Braut ins Wasser; die falsche wird dem Königssohn über¬
liefert, der sie mit Ehren und ohne Arg aufnimmt, weil auch ihm die Hexe die
Sinne umnebelt hat. Indessen steigt die wahre Braut allnächtlich an einer langen
Kette aus dem Grunde des Wassers in den Palast und sucht dem Königssohn
die Erinnerung an sie zu wecken. Endlich gelingt ihr das, und sie wird aus
der Haft des Wasserdämons befreit. Die falsche Braut wird uach selbstgewühlter
Strafe grausam getötet. (Bei Grimm Ur. 135 mit Verwandlung der Braut in
eine Ente.)
Das Kaffernmärchen lautet uun mit Weglassung der nebensächlichen Züge
etwa so: Ein Mann und eine Frau hatten eine hübsche Tochter von Heller Haut¬
farbe und eine häßliche Tochter, die dunkel war. Als die schöne Tochter eines
Tages Wasserholen gegangen war, begegnete ihr ein Häuptlingssohn, der ans
Freite ausgezogen war. Das Mädchen gefällt ihm sehr, und er holt als Morgen¬
gabe viele schöne Tiere und freit um sie. Da holen die Eltern die schwarze
Tochter herbei, und als der Jüngling sich weigert, diese als seine Braut anzu¬
erkennen, übergibt man ihm die wahre Braut. Die Mutter aber weiß es dahin
zu bringen, daß er auch das häßliche Mädchen mit heimführt. So wurde mit
beiden Hochzeit gehalten, aber die schwarze Braut behandelt der Hüuptlingssohn
so zurücksetzend, daß sie ergrimmt und neidisch wird. Als sie beide eines Tages
eine Ausfahrt machen und dabei über einen Abhang am See kommen, stößt sie
die bevorzugte Schwester ins Wasser und kehrt heim. Der Ochse der Ermordeten
aber rennt spornstreichs an den See, springt hinein und holt den leblosen Körper
der guten Schwester heraus und beleckt ihn so lange, bis sie wieder zum Leben
erwacht. Die böse Schwester aber wird mit Schimpf und Schande aus dem
Kraal gejagt.
Man sieht sofort, welche Veränderungen der Stoff erleiden mußte, sobald
er in den Kulturkreis des Negers eintrat. Zunächst macht sich die Einrichtung
der Vielweiberei in der Richtung geltend, daß der Jüngling beide Mädchen
heiraten konnte. Damit fiel das Motiv der Substitution auf der Fahrt weg,
und die Beseitigung der wahren Braut wird in die Zeit nach der Heirat ver¬
schoben. Die Motivierung, die dort auf dem Wunsch der Stieftochter, die Frau
des Königssohnes zu werden, beruhte, erlitt damit die Veränderung, daß die
Eifersucht und das Gefühl erlittner Zurücksetzung in der bösen Schwester den
Plan zur Ermordung der rechten Braut entstehn ließen. In der weitern Ent¬
wicklung fehlt nun wieder dem Neger das Verständnis für die occidentalische
mythologische Vorstellung eines Meergottes, der das Mädchen an einer Kette
in Haft hält, dafür setzt er die seinem mythischen Denken geläufigere Vorstellung
vom hilfreichen Tier ein. Schließlich paßt die grausame Todesstrafe nicht in
die Rechtsanschauungen des Schwarzen hinein. So mildert er denn den Spruch
dahin, daß der Held die Übeltäterin schimpflich verstößt. Man sieht, es ist
hauptsächlich das Prinzip der Vereinfachung und die unmittelbare Umsetzung der
fremden Züge in einheimische, wodurch das etwas verschlungne fremde Mnrchen
dem Vorstellungskreise und den Knlturanschcmungen des Negers angepaßt wird.
Und der, der das Kaffermmirchen liest, wird zugeben, daß die Umschmelzung
vollständig gelungen ist.
>is Eva das Haus verlassen wollte, um heimzukehren, trat ihr in der
Haustür Heinemann entgegen, ungeschlacht, schmutzig und betrunken
!wie immer.
Was wollen Sie hier? fragte Eva streng.
Maul halten, kleiner Schäker, sagte Heinemann.
Wissen Sie nicht, wer ich bin? fragte Eva entrüstet.
Wer wirst du denn sein? Dem Doktor seine Liebste. Aber das sage ich dir,
Margell, daß du bald Witwe werden wirst, denn den Hund, den Doktor, schieße
ich über den Haufen.
Hinaus! rief Eva, sich dem unverschämten Menschen entgegenstellend. Aber
der faßte sie derb am Arm und schob sie mit überlegner Kraft beiseite. Wäre sie
doch eine Brunhilde gewesen, aber das war sie ja nicht, sondern ein Mädchen, deren
Kraft nicht weit reichte. Heinemann versuchte den Eintritt in die Hausflur zu
gewinnen. Aber Eva eilte zurück und ergriff den geladner Revolver, der, wie sie
wußte, im Schiebfache des Schreibtisches lag, um das Haus gegen den Eindringling
zu verteidigen. Aber Tauenden trat dazwischen und nahm ihr den Revolver ab.
Gib her, Kind, sagte sie, das ist eine Waffe, die man nie brauchen darf, denn sie
macht zwei Menschen unglücklich, den, der getroffen wird, und den, der schießt.
Darauf wandte sich Tauenden an Heinemcmn und sagte in ruhiger Freundlich¬
keit: Was wollen Sie, Heinemann?
Was ich will? Mein Geld will ich. Ich bin jetzt fünf Wochen hier, macht
dreihundertfünfzig Mark.
Lassen Sie sich Ihr Geld von dem geben, der Sie hierher geschickt hat, sagte
Tauenden, wir haben Sie nicht gerufen.
Den Teufel werde ich tun. Ich habe meinen gerichtlichen Auftrag, und da
steht drin — er holte ein Schriftstück aus der Tasche, das in den bewußten fünf
Wochen schwer gelitten hatte und unglaublich schmierig aussah, schlug mit dem
Handrücken darauf und suchte zu lesen, was in dem Schreiben stand. Aber er hatte
zu viel Alkohol im Kopfe, als daß es ihm gelungen wäre. — Da steht drin, rief
er und suchte mit dem Finger nach einer besonders schmutzigen Stelle, zehn Mark
für den Tag. Und wenn ich um mein Geld betrogen werden soll, so mag der
Teufel die ganze Hnndewirtschaft holen. Und dann soll noch mehr brennen wie
so ne lumpige Kiele.
Heinemann, rief Tauenden, schämen Sie sich der Sünde! Ich kann Ihnen
nicht helfen, auch wenn ich wollte. Der Herr Doktor ist nicht da. — Das hätte
sie nicht nötig gehabt zu sagen, das wußte Heinemcmn ganz genau. Sonst wäre
er schwerlich ins Haus eingedrungen. — Ich habe kein Geld und brauche auch
keins. Sehen Sie hier — sie nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche — elf
Mark fünfzig Pfennige.
Heinemann sah mißtrauisch auf die kleine Summe, wagte aber dem Tauenden
gegenüber nicht zu behaupten, daß sie ihn deluge.
Sie müssen also warten, fuhr Tauenden fort, bis der Herr Doktor zurückkommt.
Heinemann erhob einen großen Lärm, schimpfte auf Gott und alle Welt und
auf eine nicht näher bezeichnete verdammte Wirtschaft und erklärte, daß er unmöglich
warten könne, und daß er sein Geld haben müsse.
Weil Sie ein böses Gewissen haben, sagte Tauenden mit überlegner Bestimmt¬
heit, und fort wollen. Aber Heinemann, mit Schimpfen machen Sie Ihr Gewissen
nicht besser, als es ist.
Mein Gewissen, entgegnete Heinemann, ist gerade so gut wie das von manchem
Großnwgel, der groß dasteht und meint, der Teufel müsse deu Hut vor ihm ab¬
nehmen. Haben Sie nicht wenigstens fünfzig Mark?
Elf Mark fünfzig, erwiderte Tauenden, und die sollen Sie haben, wenn Sie
bescheinigen, daß Sie damit für alle Ihre Forderungen abgefunden find.
Seh einer das Tauenden!
Das war denn doch zu wenig, und Heinemann zog grollend und drohend ab.
Nach einiger Zeit folgte Evci. Doch vermied sie, um nicht mit dem Menschen
zusammenzutreffen, die Landstraße, schlug vielmehr den Waldweg zum Badestrand
ein, um von da aus, dem Strande folgend, zum Amtshorn zu gelangen.
Als sie sich Lockens Giftbude näherte, kam ihr dienernd, mit schlürfenden
Schritten Herr von Kügelchen entgegen. Er trug gelbe Ledergamaschen, Khakianzug
und einen Tropenhelm und war mit einer Doppelflinte neuster Konstruktion aus¬
gerüstet. Als er Eva erblickt hatte, war er wie von einer Feder geschnellt aufge¬
sprungen, und nun hob er militärisch grüßend drei Fingerspitzen an den Rand des
Tropenhelms und rief mit ekstatischen Ausdrucke: Fabelhaft unheimliches Glück, daß
ich den Vorzug habe, gnädiges Fräulein gleich beim Landen an diesem glücklichsten
aller Planeten begrüßen zu dürfen. Ich sehe mit Vergnügen, daß gnädiges Fräulein
ganz die alte — tausendmal um Verzeihung —, ganz die junge geblieben sind.
Eva sah verwundert und nicht ohne Interesse auf das Gewehr, das Herr
von Kügelchen am Riemen auf der Schulter trug.
Sind Sie denn Jäger, Herr von Kügelchen? fragte sie.
Offen gestanden, mir vorübergehend, aber geben Sie zu, gnädiges Fräulein,
daß bei einem Globetrotterkostüm eine Büchse oder wenigstens eine Doppelflinte eine
unentbehrlich notwendige Sache ist.
Nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie Papa nicht in den Weg laufen.
Kann mir nicht gefährlich werden, Ihr Herr Papa. Gefahr liegt auf ganz
andrer Seite, hu! hu! Dazu machte Herr von Kügelchen verliebte Augen und
präsentierte eine funkelnagelneue Jagdkarte.
Sehr vorsichtig von Ihnen, Herr von Kügelchen, aber die Karte hilft Ihnen
nichts. Um schießen zu dürfen, muß man die Erlaubnis des Jagdinhabers haben,
und das ist Papa.
O, vers — o xaräcm, wills Mrclons, das hatte ich nicht gedacht. Ich hatte
gedacht, hier in dieser Wildnis könnte man nach Belieben knallen. Wissen Sie,
gnädiges Fräulein, dann trage ich mein Gewehr als Dekoration. Jedenfalls freue
ich mich Luferst intensiv, wieder hier zu sein. Denn nirgends anders als hier — er
wies mit schwungvoller Handbewegung auf die Stelle vor den Füßen Evas — fließt
die Quelle meines Lebensschiffleins.
So weit war diese kuriose, auf feiten Herrn von Kügelchens mit vielen Ver¬
beugungen verzierte Unterhaltung gediehen, als vom Strande her ein dünnes Hurra
von Kinderstimmen ertönte, und bald stürmte auch eine Kinderschar, die Badeanzüge
schwingend, heran. Es waren die Erstlinge der Rotte Kornes, die sich wieder zu
versammeln anfing. Sogleich war Eva von einem Gedränge ihrer jungen Ver¬
ehrerinnen umgeben, und sogleich drängte man nach dem Strande zurück, um ein
großes Empfangsextrabad zu veranstalten, obwohl man eben erst aus dem Bade
kam. Aber Eva lehnte zum großen Befremden ihrer Verehrerschaft den Vorschlag
bestimmt ab, verabschiedete sich und wandte sich dem Amte zu, begleitet von Herrn
von Kügelchen, der sich nicht nehmen ließ, dem allergnädigsten Fräulein seinen
Schutz zu gewähren und ihr tels neuste zu erzählen, was er in der Zeitung ge¬
lesen hatte, das aber Eva wenig interessierte.
An einem der nächsten Tage schob der kleine Benno seine Hand in die
Tantchens, die er auf der Straße getroffen hatte, ging neben ihr her und sagte:
Tante Van Term, weißt du was? Die Eva ist ganz dumm geworden. Sie will
nicht einmal baden. Sie will nicht mit uns baden und ist doch Froschkönigin.
Und was hat man denn hier weiter als das Bad? fügte er altklug und im Ton¬
falle seiner Frau Mutter hinzu.
In der Tat, Eva wollte nicht mit der Schar baden. Sie kam sich vor, als
wäre sie früher blind gewesen und nun sehend geworden. Sie hatte eine gewisse
Scheu vor sich selbst gewonnen. Vorm Jahre hatte sie als eine Märchenprinzessin,
als ein großes Kind mit den Kleinen gespielt, jetzt stand sie im Begriff, Weib zu
werden, und dies unter großen Schmerzen ihrer Seele.
Laßt sie, sagte Tauenden zu dem kleinen Benno; die Eva ist krank. Und
damit traf Tauenden genau das Richtige. Eva war krank, etwa so wie ein Mensch,
in dessen Leibe Hitze und Kälte kämpfen. Zwei Kräfte rangen in ihr um die
Oberhand, ihr Herren- und Freiheitssinn, der ihre ganze alte Natur ausgemacht
hatte, und etwas Neues, ihr bisher Unbekanntes, ihre Liebe zu dem, vor dem sie
sich nicht beugen wollte. Und je länger und je mehr sie einsah, daß sich ihr
Herrensinn gegen diese Elementargewalt, die Besitz von ihr genommen hatte, nicht
werde halten können, und je mehr sie ahnte, daß der Verlust des Kampfes ein
großer und süßer Gewinn sein mußte, desto größer wurde der Jammer in ihr,
daß sie sich dies Glück verscherzt hatte. „Ich mag ihn nicht/' damit hatte sie „ihn"
verleugnet. Und sie hatte nicht den Mut gefunden, das Wort zurückzunehmen und
zu bekennen: Ich habe gelogen, er ist mir das Liebste auf der Welt. Sie hatte
sich ihren Heinz aus Nacht und Eis geholt, aber durch ihren kindischen Trotz hatte
sie ihn doch verloren. Sie hatte ihn von sich gestoßen. Und nun war er weg.
Kam er wieder? Hatte er die Brücke hinter sich abgebrochen? Sie hatte nicht
gewagt, danach zu fragen.
Und Tauenden kam ihr nicht entgegen und half ihr nicht, das auszusprechen,
was ihr auf der Seele lag. Tauenden war eine gute Köchin und wußte, daß man
die Suppe nicht zu zeitig vom Feuer nehmen dürfe, wenn sie gut werden soll.
Tauenden war auch eine gute Krankenpflegerin und wußte, daß eine gründliche
Heilung Zeit braucht.
Tauenden, sagte Eva schüchtern, ist es wahr, daß die Frauen in der Ehe
dienen müssen?
Ja, Kind, erwiderte Tauenden. Doch nicht in der Ehe allein, sondern auch
sonst, und auch nicht die Frauen allein, sondern auch die Männer. In der Welt
dient alles, vom Kaiser und vom Minister herab bis zur letzten Dienstmagd. Und
wer nicht dienen will, ist ein unnützes Glied in der Menschheit.
"
„Er sagte, fuhr Eva fort, eine Ehe müsse ein Kunstwerk sein, eine Harmonie
wie die der zwei Uhren Karls des Fünften.
Ach das ist ja dummes Zeug, antwortete Tauenden. Ich will dir was sagen,
wer immer von sich als Künstler und von seinem Werke als Kunstwerk redet, von
dem kannst du annehmen, daß er nicht viel kann. Dem rechten Künstler geht es
von der Hand — spielend leicht, und er merkt es nicht, daß es Kunst ist, was
er schafft. Sag einmal, hat denn Karl der Fünfte seine zwei Uhren in gleichen
Schlag gebracht? Soviel ich mich erinnere, hat ers nicht. Und es wird auch nie
gelingen, wenn es zwei Uhren sind, von denen jede ihr eignes Gewicht hat. Wenn
aber dasselbe Gewicht beide Uhren treibt, ich glaube, dann kommt auch ein gleicher
Gang heraus. Eva, es gibt eine Kraft, die Himmel und Erde durchdringt. Von
Gott geht sie aus, in seinem Sohne offenbarte sie sich, und im Menschenherzen
wirkt sie Glück und Leben. Das ist die Liebe. Nicht die Liebe, die begehrlich
ist und spricht: Du bist mein, sondern die Liebe, die dient. Wer die hat, dem wird
alles leicht, kinderleicht. Auch das Schwerste — die Ehe."
Wenn sonst Tauenden zu Eva geredet hatte und dabei „fromm geworden
war, hatte Eva gelacht und sich ihren Händen entwunden. Jetzt hörte sie auf¬
merksam zu und fing an zu begreifen, daß sie noch recht wenig von dem verstanden
und gelernt hatte, was zum „glücklich werden" nötig ist, obgleich sie sich für klüger
als manchen andern gehalten hatte.
Ich bin ein recht dummes und ungezognes Kind gewesen, sagte Eva ein
andermal. Weil ich Prinzeßchen war, und weil ich von jedermann verzogen wurde,
so meinte ich, ich konnte alles regieren. Ihn auch. Und er hat sichs nicht gefallen
lassen, und damit hatte er ganz Recht. Und ich freue mich, daß ers sich uicht hat
gefallen lassen. Und wenn er jetzt böse ist, so hat er Recht. Ach, und um ist
er weg!
Kind, er kommt wieder, sagte Tnntchen.
Kommt er? fragte Eva mit aufleuchtenden Blicke.
Ja, er kommt wieder. Und zwar bald. Wenn dn ihn gekränkt hast, so mußt
du es ihm abbitten. Hörst du, Eva?
Eva schwieg. Aber man sah ihr an, daß ein bebendes Ringen in ihr ar¬
beitete. Ich kanns nicht, sagte sie mit dem Tone der Verzweiflung.
Und doch mußt du es können. Eher wirst du nicht von dir selbst frei.
Ich kanns nicht. Ich habe noch niemals nachgegeben oder jemand etwas ab-
gebeten. Es ist mir, als wenn ich mich selbst zerbrechen müßte.
Du mußt auch das können. Und du kannst es auch, wenn du ihn liebst.
Tauenden, rief Eva verzweifelt, es ist schrecklich, daß mau lieben muß. Es
ist eine Gewalt wie ein Sturm. Ich habe es früher nicht gewußt, und jetzt, da
ich es weiß —
Die Hunde erhoben ein Freudengebell, und dazwischen hörte man die Stimme
Wolfs, der seinen Onkel Heinz bewillkommnete. Der Dampfer war angekommen
und hatte den Doktor zurückgebracht, früher, als Tauenden angenommen hatte. Eva
sprang auf und schaute nach der Tür, die nach der Küche führte, um zu entweichen.
Bleibe, Kind, sagte Tauenden.
Nein, jetzt nicht, nein, heute uicht, antwortete Eva, und sie verschwand, während
Ramborn eintrat.
Wer ging da? fragte nach der ersten Begrüßung der Doktor, als er die
Haustürglocke läuten hörte.
Eva, sagte Tauenden.
Die Mienen Ramborns bewölkten sich.
Lassen Sie sie gehn, sagte Tauenden, sie ist auf dem Wege, sich zu finden.
Was der Doktor zu berichten hatte, war wenig erfreulich. Eine Hypothek
zur zweiten und dritten Stelle war nicht zu haben gewesen oder nur unter so
harten Bedingungen, daß die bösen Absichten des Verleihers nur zu deutlich zu
merken gewesen waren. Und doch waren das nur spätere Sorgen. Das Näher¬
liegende war die Jnstruierung des Prozesses zweiter Instanz gegen Heinemann
wegen der zehntausend Mark. Ging dieser Prozeß auch in der zweiten Instanz
verloren, so mußte mau diese Summe, die Prozeßkosten und die Hypothek zugleich
schaffen, und dann war das Gut nicht mehr zu halten.
Tauenden freute sich, wenigstens die Hoffnung eröffnen zu können, daß das
Dokument noch gefunden werden könnte. Freilich war es ihr und Eva nicht ge¬
lungen. Der Doktor, der eine lange Reise hinter sich hatte, wünschte sich umzu¬
kleiden und ging, von Wolf begleitet, in sein Zimmer. Als sie eintraten, sahen
sie, daß die Kissen von dem Diwan weggenommen waren, und daß der Deckel der
Kiste, die die Unterlage des Diwans bildete, aufgeklappt war. Der Kasten war
mit alten Akten und Rechnungsbüchern bis oben angefüllt."
Da drin liegt es, rief Wolf — „bei den andern Papieren! Er sprang auf
den Kasten zu, schlug den Einband des obersten Rechnungsbuchs auf, und da lag
der Kontrakt. Der kleine Prophet hatte Recht gehabt.
Gott sei Dank! Das Dokument war gänzlich unversehrt, und die Freude war
groß. Der Doktor machte sogleich eine neue Kopie seiner photographischen Ver¬
größerung der gefälschten Stelle und beschloß, beides, Kontrakt und Kopie selbst
nach N. zum Staatsanwalt zu bringen und beim Landgericht zu beantragen, daß
der Prozeß zweiter Instanz nicht eher entschieden werden sollte, als bis das Urteil
in dem zu erwartenden Strafverfahren gegen Heinemann gesprochen sei.
Als Ramborn an einem der nächsten Tage, sein Beweismaterial in der Tasche,
den Weg durch den Wald nach Tapnicken zurücklegte, sah er jemand auf einem Stein¬
haufen neben der Straße sitzen. Es war Heinemann, zerlumpter und betrunkner als
je. Die Begegnung war dem Doktor nicht gerade angenehm, denn es war nicht un¬
möglich, daß der Mensch zum Äußersten heruntergekommen, auch zum Äußersten ent¬
schlossen sei. Er faßte also seineu schweren und zuverlässigen Stock, ohne den er
nicht ausging, fester und trat derb auf den Boden. Und er hatte auch nicht ganz
falsch gedacht. Heinemann erhob sich, steuerte unsicher auf den Doktor zu und
forderte frech sein Geld. Es war ein Akt der Verzweiflung. Seine Stellung in
Tapnicken war unhaltbar geworden, niemand wollte ihm weiter borgen, und seine
gerichtliche Bestallung zog nicht mehr. Schon bereute er es, die elf Mark fünfzig
Pfennige von Tauenden nicht genommen zu haben. Dazu kamen böse Ahnungen, die
durch die kecken Reden der Mägde vom preußischen Schlößchen erweckt waren, und
so wagte er es mit dem Mute der Verzweiflung, dem Doktor entgegenzutreten.
Und dies um so mehr, da ja der Doktor unmöglich die Hundepeitsche bei sich haben
konnte, und da er selber einen Revolver in der Tasche trug, von dem er freilich
im Zweifel war, ob er überhaupt funktioniere» würde.
Geld wollen Sie haben? fragte der Doktor. Hundert Mark haben Sie zu
erhalten, und die werden Ihnen gezahlt werden, wenn Ihr Prozeß zu Ende ist.
Das heißt, falls Sie nicht inzwischen im Zuchthause sitzen.
—
Herr Doktor, lallte Heinemann, ich bin ein Ehrenmann.
Sie sind ein Lump und Betrüger, antwortete der Doktor, von der Mord¬
brennerei ganz abgesehen.
Beweisen Sie mir, daß der Kontrakt gefälscht war. Beweisen Sie mir das,
beweisen Sie mir das.
Das soll geschehen, sagte der Doktor, und zwar heute noch.
Heinemcmn ging neben dem Doktor her, und dieser bemühte sich, aus dem
Fuseldunste zu kommen, den der Mensch um sich verbreitete.
Herr Doktor, sagte Heinemann, wenn es denn nicht anders ist, dann will ich
meine Klage wegen der zehntausend Mark zurückziehn. Aber geben Sie mir fünf¬
hundert Mark. . . . Geben Sie mir hundert Mark. .. . Geben Sie mir die elf
Mark fünfzig Pfennige, die mir Fräulein Tauenden schon versprochen hatte.
Nicht einen Pfennig.
Herr Doktor, fuhr Heinemann in bettelnden Tone fort, ich will Ihnen auf
Ehre und Gewissen sagen, wie die Geschichte gewesen ist. Ich habe den Kontrakt
nicht geschrieben, und ich habe ihn auch nicht gefälscht. — Und er erzählte eine
lange konfuse Geschichte, der man es anhörte, daß sie beim Erzählen zusammen¬
gelogen wurde. Und als das keinen Eindruck machte, sagte er: Geben Sie mir
hundert Mark, und ich sage Ihnen, was ich von Groppoff weiß, und was Ihnen
mehr wert ist als hundert Mark.
Ich will von Ihnen weder etwas hören, noch kaufen, antwortete der Doktor
ungeduldig. Sie wissen doch, daß ich mit Ihnen nur noch auf dem Fuße der
Reitpeitsche Verkehre.
So! rief Heinemann wütend, dann mag kommen, was der Teufel will. Aber
das sage ich Ihnen, wenn ich einmal zum Teufel fahren soll, so will ich wenigstens
nicht allein gehn. Einen — Sie nehme ich mit.
Es ist nur fraglich, antwortete der Doktor kühl, ob ich nicht eine andre Gesell¬
schaft der Ihrigen vorziehe.
Heinemann griff mit der Hand nach seiner Brusttasche.
Lassen Sie das Ding da stecken, rief der Doktor drohend, ich bin fixer als
Sie! Und er erhob seinen Stock zum Schlage.
Heinemann ließ erschrocken seine Hand sinken.
Man war bis an den Rand des Busches gekommen, und dort standen die
ersten Häuser von Tapnicken. Der Inspektor blieb zurück, und Ramborn ging
weiter, fest überzeugt, daß Heinemann viel zu feige sei, aus seiner Drohung Ernst
zu machen. Wer Heinemann griff doch noch einmal in seine Rocktasche, in der
Absicht, zu versuchen, ob sein verrosteter Revolver Feuer geben werde, sah sich aber
vorher noch einmal um.
Da kam Marike, die des Doktors Handtasche trug. Verflucht! Er sprang
ihr entgegen und schrie mit heiserer Stimme: Hund von einem Madchen! Hast
dn dem Doktor das Papier wiedergegeben?
Gegeben nicht, aber er hat es! antwortete Marike mit Hellem Hohne.
Heinemann machte Anstalt, dem Mädchen an die Kehle zu fahren.
Rühre mich nicht an, schrie Marike, oder ich rufe um Hilfe. Und damit
eilte sie schnellfüßig hinter dem Doktor her.
Heinemann blieb zurück in ohnmächtiger Wut. Dort kündete die schwarze
Rauchwolke um Horizont das Kommen des Dampfers an. In ein paar Stunden
hatte der Staatsanwalt das gefälschte Dokument in Händen. Es war unmöglich,
das rollende Verhängnis aufzuhalten. Und er hatte keinen Groschen, die russische
Grenze zu erreichen, keinen brauchbaren Revolver und kein Gewehr, um sich und —
den da totzuschießen.
Der Doktor hatte das Manuskript Schwechtings, als er Groppoff in Eile
folgte, mitzunehmen vergessen. Pogge betrachtete es, nachdem er es andern Tages
gefunden hatte, mit nachdenklichen Blicken, schrieb einen Brief, packte Brief und
Manuskript ein und schickte beides an die Redaktion einer bekannten großen Zeit¬
schrift. In überraschend kurzer Zeit lief eine in verbindlichen Ausdrücken abgefaßte
Antwort der Redaktion ein, die Novelle sei willkommen, und man wünsche mehr
dieser Art, womöglich mit Illustrationen. Pogge reichte den Brief Schwechting
dar und sagte: Es ist dir doch weiter nicht unangenehm, Ranke?
Pogge, rief Schwechting, der sich so plötzlich als Dichter in die Öffentlichkeit
gezogen sah, erschrocken, was hast du angerichtet?
Nur wat scheenes, sagte Pogge, ohne eine Spur Reue zu verraten. Ich
habe den Hampelmann ins Wasser geworfen, daß er schwimmen lernen sollte. —
Ranke, fuhr er fort, als er sah, daß sein Freund ganz außer Fassung geraten war,
ich hab es ja immer gesagt, das Entscheidende im Menschenleben sind die Leitungs¬
verhältnisse. Es kann einer einen ganz scharfen und richtigen Blick haben, ist aber
die Leitung vom Auge bis in den Zeichenfinger zu lang, so verzettelt sich die Sache
unterwegs, und was schließlich aufs Papier kommt, das is man so so. Siehst du,
so einer wie Menzel, der verliert gar nichts zwischen Auge und Hand. — Und
mancher andre weiß die Sache ganz genau, kanns aber nicht sagen. Da ist die
Leitung zwischen Zirbeldrüse und Maulwerk zu lang. Da dachte ich, Schwechting,
du solltest es doch einmal mit dem Maulwerk probiere». Vielleicht ist bei dir
die Leitung zwischen Kopf und Maul kürzer als zwischen Auge und Hand. Bringt
was ein und kostet nichts. Du brauchst kein Modell und keine Leinwand, und —
allmächtiger Strohsack! was veraast man so das Jahr durch für Farbentuten. Du
kaufst dir eine Flasche Tinte, und dann los füm Dreier!
Schwechting stützte sein Haupt auf die Hand und machte ein Gesicht, als
wenn man ihm etwas Unerhörtes zuleide getan habe. Pogge, sagte er, du hast
schändlich an mir gehandelt. Du hast mich aus meinem Hause vertrieben, und wo
soll ich nun wohnen?
Ach was, erwiderte Pogge, du machst jetzt denselben Fehler wie damals, als
du sagtest, du wärst kein Tiermaler. Im Grunde gibt es überhaupt nur eine
Kunst, wenns auch Maler, Dichter und Musiker gibt. Wie man auch nur ein
Fichtenholz hat, ans dem allerlei Resonanzboden geschnitten werden. Daraus macht
man eine Geige oder ein Klavier oder eine Zither — aber der Bewwerig ist bei allen
derselbe. Siehst dn, so gibt es nur eine Kunst, und der hat sie, der den Bewwerig
dazu im Leibe hat. Manchmal versieht sich der Mensch im Zuschnitte von seinem
Resonanzboden und baut eine Geige, während es eine Zither werden sollte, das
heißt, er wird ein Maler, während er eigentlich ein Dichter ist — oder umge¬
kehrt. Und dann gibt es ein Elend. Nun überlege dir einmal deinen Zuschnitt,
Rente. Mir kommt es manchmal vor, als hättest du dich darin versehen. Sieh
bloß mal dein Bild von der Arte Veit an. Der Doktor hat Recht, wenn er sagt,
es ist ein dichterisches und kein malerisches Motiv.
Schwechting hatte zuerst zweifelnd und dann aufmerksam diese schöne Rede
angehört, war aufgestanden, im Zimmer auf und ab gelaufen und zuletzt in Auf¬
regung geraten.
Ha, rief Pogge lachend, geht dir jetzt so was wie eine Mondscheibe auf?
Schwechting stand still, kratzte sich den Kopf und sagte verlegen: Pogge, meinst
du, daß man als Dichter auch heiraten kann?
Gott soll mich bewahre», rief Pogge, Ranke will heiraten! Ich will dir was
sagen, mein Sohn, als reiner Dichter kannst du allerdings keine Frau ernähren.
Aber wenn Handwerk und Kunst zusammen kommen, dann geht es. Ich werde dir
meine Maljumfern abtreten, meine Frau hat die Sache sowieso satt, und ich brauche
sie nicht mehr; dann wirst du ein Schuh-Macher und Poet dazu, verdienst dir
am Morgen dein täglich Brot und besteigst Abends den Pegasus.
Nach einiger Zeit standen Pogge und Schwechting in der Haustür ihres
Künstlerhauses und verzehrten ihr Frühstück aus der Faust. Da erklang jämmer¬
liches Gewimmer aus dem gegenüberliegenden Hause Kondrots, an das sich, im
Tone der Verzweiflung gesungen, das Klagelied: Wenn wir in höchsten Nöten sind,
anschloß.
Pogge schaute verwundert Schwechting an. Was ist denn da los? fragte er.
Das sind meine beiden alten Leutchen, antwortete Schwechting, die haben seit
vierzehn Tagen keine Flinsen bekommen. Komm, Pogge!
Sie traten in die Stube der beiden alten Leute ein. Der zahnlose Mann
und die bucklige Frau kamen ihnen entgegen wie ein paar Tierchen, die aufs Futter
gewartet hatten. Der alte Mann zog grinsend seinen Mund von einem Ohr bis
zum andern, und die alte Frau fing in Erwartung der Genüsse, die ihr bevor¬
standen, schon im voraus zu kauen an.
I Gott bewahre! rief Pogge erstaunt und belustigt.
Was wollt ihr? fragte Schwechting.
Als Antwort stimmten die Alten ihren Trauergesang an.
Aha, Flinsen, sagte Schwechting und sandte die Arte Beit ans, Eier, Butter
und Mehl zu holen. Und darauf buken die beiden Alten Flinsen, einen ganzen
Haufen, der nicht ohne Mühe aufgezehrt wurde. Und Pogge sah zu und freute
sich darüber, wie wenn einer im Zoologischen Garten ein paar närrische Kreaturen
füttert. Er wiederholte sich das Vergnügen in den nächsten Tagen und machte
die Gaben so reichlich, daß die Alten nicht mehr imstande waren, die Flinsen zu
bewältigen, und Pausen machen mußten, um Atem zu schöpfen. Schwechting warnte.
Pogge, sagte er, sei vorsichtig I Die Alten werden sich zu Tode essen, und dann trifft
dich der Vorwurf. Aber Pogge lachte und wiederholte seine Fütterung.
Eines Morgens, als die Arte Beit die Läden und die Tür an der Wohnung
der alten Leute öffnete, fand sie sie tot und starr auf ihrem Bette liegen. Sogleich
erhub sie und gellenden Tönen die ortsübliche Totenklage, worauf alles herbeieilte.
Es war richtig, die Alten waren tot. Gestern Abend hatten sie noch vergnügt
Flinsen gegessen, und hente waren sie tot. Woran waren sie gestorben? an zuviel
Flinsen? Aber daran stirbt man doch nicht gleich zu zweien. Der Arte war auf¬
gefallen, daß schlechte Luft im Zimmer war, darum hatte sie gleich Tür und Fenster
aufgerissen, aber schlechte Luft war doch eigentlich immer in dieser Wohnung. Es
war nicht möglich, den Grund des Todes zu finden.
Niemand soll sich über den Tod eines andern Menschen freuen, auch dann
nicht, wenn er durch diesen Tod aus großer Sorge befreit wird. Es wäre Kondrot
nicht zu verdenken gewesen, wenn er gesagt hätte: Gott sei Lob und Dank, daß
die alten Quälgeister endlich tot sind. Denn er wurde in der Tat durch ihren
Tod aus einer verzweifelten Lage befreit. Nach drei Tagen hätte er das schuldige
Gedinge auszahlen müssen, und er wußte nicht, woher Geld nehmen. Er mußte
darauf gefaßt sein, ausgepfändet zu werden, ja er konnte es nicht verhindern, daß
mau ihm das Haus über demi Kopfe verkaufte und ihn auf die Straße setzte. Von
dieser Furcht war er nun befreit, zugleich auch vou der schweren Last, die auf seinem
Hause ruhte. Und nun kam auch uoch die Arte und brachte einen Strumpf voll
von harten Talern. Die alten Leute waren sehr zur rechten Zeit gestorben.
Sehr zur rechten Zeit, drei Tage vor dem Zahlnngstage und alle beide zugleich,
und vermutlich — an Flinsen.
Böse Gerüchte siud wie Seequallen. Niemand weiß, wo sie herkommen, sie
ziehn still unter der Oberfläche des Wassers ihren Weg und sehen harmlos aus,
wen sie aber berühren, den brennt es wie von Nesseln. So entstanden im Dorfe
Gerüchte, die, ohne daß man es in der Öffentlichkeit spürte, von Haus zu Haus
zogen. Man teilte sich die Tatsachen mit bezeichnenden Blicken mit, man zuckte die
Achseln, man sagte Hin! Von sittlicher Entrüstung war nicht viel zu spüren. Das
Volksgewissen hielt es, wenn auch nicht gerade für erlaubt, so doch für begreiflich,
daß alte Leute, die zur Last geworden waren, beseitigt wurden, wenn es ohne
eigne Gefahr geschehen konnte. — Aber Kondrot! So ein Mann! So ein Frommer!
Und zwei auf einmal! — Und mit Flinsen! Und drei Tage vor dem Zahlungs¬
termine! Hin!
Das Gerücht fand auch seinen Weg durch Vermittlung von Qucmkies und
andre Ehrenmänner zum Amte, wo der Herr Amtshauptmann von der Sache ge¬
bührend Notiz nahm, äußerlich mit kalter Amtlichkeit, innerlich mit dem Gefühle
großer Befriedigung. So mußte es kommen! Jetzt konnte er diesen Schleicher
fassen und ihn seine Macht spüren lassen.
Päsch, sagte der Herr Amtshauptmann.
Herrrr Amtshcmptmcmn, erwiderte Päsch, die Hacken zusammenklappend und
eine dienstliche Haltung annehmend.
Haben Sie sich nach Kondrot erkundigt? fragte Groppoff.
Herrrr Amtshcmptmauu, erwiderte Päsch, dieser Kondrot ist unter allen Um¬
ständen ein Filou.
Und Sie sind ein Esel. Ich will nicht Ihr dummes Geschwätz haben, sondern
Tatsachen, Verdachtsgründe.
Herrrr Amtshauptmann, das ganze Dorf weiß es, daß Koudrot seine Schwieger¬
eltern vergiftet hat. Errr hat Arsenik auf die Flinsen gestreut und sie mit dem
Revolver in der Hand gezwungen, die Flinsen zu essen. Und da waren sie natür¬
lich Trnllarum. Alle beide. Er und sie. Tot wie die Rrrratten.
Bestellen Sie zu morgen früh neun Uhr —
Morgen?
Sie hören es ja. Zu morgen früh neun Uhr die beiden Forstläufer, und
kommen Sie selbst mit Hirschfänger und Büchse — hierher.
Auf den andern Tag zehn Uhr war das Begräbnis der alten Leute angesetzt.
Aber schon lange vorher hatten sich die Leidtragenden eingefunden, namentlich Frauen
in ihren breiten faltigen Sonntagskleidern und großen Hauben. Die beiden Särge
standen, von außen durch die offne Tür sichtbar, auf Stühlen in der Stube. Brennende
Lichter und ein Kruzifix waren aufgestellt, und weißer Sand war auf die Diele und
auf den Platz vor dem Hause gestreut. Rechts und links von der offnen Tür standen
zwei Knaben, die die weiß und bunt bemalten Kreuze trugen, die auf die Gräber
gepflanzt werden sollten, und in weitem Bogen bis zum Hause der Künstlerkolonie
standen die Leidtragenden, ein ansehnlicher Teil der Gemeinde. Denn die Alten
hatten eine große Verwandtschaft gehabt, und es gab nach dem Begräbnis einen
großen Leichenschmaus. In der Tür von Mopswende standen unsre drei Maler.
Pogge rieb sich die Nase und sagte: Na überhaupt. Es war ihm nicht wohl
zumute, Schwechting erfreute sich an der malerischen Wirkung der Trauerversammlung
und murmelte: Wenn man nun etwas gelernt hätte! und Staffelsteiger träumte in
Blau, Grün und Braun und staunte jeden roten Punkt des Bildes an wie eine
Offenbarung. Man stimmte schon das dritte Sterbelied an, und die Trauergemeinde
sang es mit Trillern und Verzierungen in großer Andacht. Und nun kam auch der
Herr Kantor mit der Schuljugend hinter einem vorangetragnen Kreuze die Dorfstraße
her angesungen, was schwierige kontrapunktische Verhältnisse zur Folge hatte.
Aber der Herr Pastor war noch nicht da. Jurgis war mit einem Boote bei
guter Zeit ausgefahren, ihn zu holen, aber inzwischen hatte sich der Wind gelegt,
und es war schwer, mit Ruder und Stange allein vorwärts zu kommen. Statt seiner
erschien zum Befremden der Versammlung der Herr Amtshauptmann mit einer roten
Aktenmappe unterm Arm — rot ist die Kriminalfarbe —, gefolgt von seiner be¬
waffneten Macht.
Er durchbrach den Kreis der Singenden und fragte herrisch: Wo ist Kondrot?
Kondrot saß in seiner Stube am Tische, hielt die Hände gefaltet, hatte die
aufgeschlagne Bibel vor sich und las den neunzigsten Psalm. Leidtragender konnte
er ja nicht sein, so wollte er es wenigstens nicht an Andacht und Erbauung fehlen
lasten.
Groppoff trat ein, setzte sich Kondrot gegenüber und betrachtete ihn mit funkelnden
Augen, wie ein Raubtier seine Beute betrachtet, ehe es zuspringt. Kondrot erschrak,
wenn er auch nicht wußte, weswegen er sich zu fürchten haben sollte.
Sie begraben heute Ihre Schwiegereltern, begann Groppoff.
Ja.
Alle beide! Es ist merkwürdig, daß sie beide an einem Tage gestorben sind.
Unsre Zeit steht in Gottes Händen, sagte Kondrot andächtig.
Heucheln Sie nicht, Kondrot, erwiderte Groppoff heftig. Fromme Redensarten
aus Ihrem Munde machen auf mich gar keinen Eindruck. — Sie hatten ja wohl
heute die Zahlung des Gebirges zu leisten?
Ja.
Und jetzt, wo die Alten tot sind, sind Sie ja wohl von der Verpflichtung frei?
Wie meinen Sie das? fragte Kondrot mit bebender Stimme. Der schreckliche
Verdacht, daß man ihn für einen Mörder halten könnte, stieg in ihm auf.
Mir liegt mehr daran, zu wissen, antwortete Groppoff kalt, wie Sie das
meinen. — Was haben die Alten am Abend vor ihrem Tode gegessen?
Ich weiß es nicht, sagte Kondrot.
Sie wissen das nicht? entgegnete Groppoff mit unverhohlnem Hohn. Flinsen! —
Fünfen! Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, daß man alten Leuten Arsenik
auf die Flinsen streut, um sie ins Jenseits zu befördern?
Wenn sie Arsenik erhalten haben, sagte Kondrot, sich zur Ruhe zwingend, so
wird man es ja finden.
Seien Sie gewiß, erwiderte Groppoff, man wird es.
Groppoff rief seine bewaffnete Macht und übergab ihr Kondrot zur Bewachung.
Dann fragte er nach dem Sterbezimmer und begab sich dahin.
Warum ist hier alles aufgeräumt? fragte er die Arte Veit.
Warum fragen Sie, erwiderte die Arte Beit, den gestrengen Amtshauptmann
dreist ansehend, was Sie sich allein sagen können?
Wo sind die Reste der letzten Mahlzeit dieser Leute?
Sie haben alles aufgegessen.
Natürlich! Und dann hat man schön aufgeräumt, um etwaige Spuren zu ver¬
wischen. Wer hat den Alten Flinsen gegeben?
Herr Pogge.
Waas? — Herr Pogge hat doch nicht Flinsen gebacken?
Nein, aber er hat das Geld gegeben, und sie haben sich die Flinsen selbst
gebacken.
Und wer hat den Zucker darauf gestreut?
Ich nicht, sagte die Arte.
Ich glaube in der Tat, Herr Amtshauptmanu, sagte Pogge, der während
dieses Gesprächs herangetreten war, daß ich an der Sache nicht unbeteiligt bin. Ich
habe es zu gut gemeint. Ich habe ihnen zu viel Geld gegeben, und sie haben zu
viel Flinsen gebacken und sich daran tot gegessen.
Seien Sie beruhigt, antwortete Groppoff, diese Sorte ißt sich an Flinsen nicht
tot, wenn nicht sonst eine Teufelei dabei ist.
Dies beruhigte Pogge ungemein, erweckte aber die Frage, wer diese Teufelei
wohl ausgeübt haben möchte.
Nun folgte eine Haussuchung. Man brauchte nicht lange zu suchen, so fand
man in der Schlafkammer von Jurgis offen auf dem Schranke stehend eine Flasche,
in der sich ein weißes Pulver unter einer gelblichen Flüssigkeit befand. Auf der
Etikette war ein Totenkopf und zwei Kreuze abgebildet. Groppoff ergriff diese
Flasche und kehrte zu Kondrot zurück.
Was ist das? fragte er.
Arsenik, antwortete Kondrot mit tonloser Stimme.
Wozu haben Sie diesen Arsenik im Hause nötig?
Mein Sohn braucht ihn zu seinen Vogelbälgen.
Jawohl! Und um Ratten zu vergiften, und um ihn in den Zucker zu mischen.
Kondrot, Sie sind verhaftet.
Kondrot sank in sich zusammen. Die Schande dieser Verhaftung drückte thu
zu Boden. Mein Gott, mein Gott, flüsterte er, ist meine Sünde so schwer, daß
du mich so straffe?
Sehen Sie, Sie Tor, fuhr Groppoff mit leiser Stimme fort, dahin haben
Sie sich gebracht. Bedanken Sie sich bei dem, der Ihnen eingegeben hat, mir
^chM' (Fortsetzung folgt)
Die Begegnung des Kaisers mit dem König von Schweden
ist von einigen deutschen Zeitungen zum Gegenstand einer Kritik gemacht worden,
deren Bedeutung nur in einem auffällig hervorragenden Grade von politischer
Kurzsichtigkeit beruht und allein aus diesem Grunde eine Erwähnung beanspruchen
darf. Die Rheinisch-Westfälische Zeitung findet in dieser Begegnung und in der
Verleihung der Würde eines Großadmirals an den König Oskar eine öffentliche
Parteinahme. Die durch ein zwanzigjähriges wohlwollendes Verhalten in Nor¬
wegen geschaffne sympathische Stimmung gegen Deutschland werde dadurch aus¬
gelöscht, unsrer Politik fehle es, wie schon so oft beklagt worden sei, an innerm
Zusammenhang und logischer Folgerichtigkeit, sie werde von persönlichen Ein-
gebungen beherrscht, und was dergleichen mehr ist. Als ob der Essener Nedaktions-
tisch der Ort wäre, über den innern Zusammenhang und die logische Folgerichtigkeit
einer Politik zu rechten, von deren Zusammenhang mau dort offenbar absolut nichts
weiß und allem Anschein nach auch nichts versteht. Wer über auswärtige Politik
aburteilen will, sollte das doch nur mit Sachkenntnis und mit dem Gefühl der Ver¬
antwortlichkeit dafür tun, daß er möglicherweise durch eine unbedachte und einfältige
Kritik die Interessen seines Landes schwer schädigt. Man darf nachgerade meinen,
daß die Leitung der deutschen Politik für jeden auf nationalem Boden stehenden
Publizisten hinreichende Beweise von innerm Zusammenhang und logischer Folge¬
richtigkeit gegeben habe. Namentlich von persönlichen Eingebungen kann in diesem
Sinne durchaus keine Rede sein, der Besuch in Tanger vollzog sich nicht nur im
vollsten Einverständnis mit dem Reichskanzler, sondern war auch eine sehr positive
Zahl in dessen politischer Rechnung, und diese Rechnung war keineswegs kurzerhand
aufgestellt.
Ganz dasselbe gilt von der Begegnung mit dem König von Schweden. Was
die Sympathien der Norweger anlangt, so find sie zum allergrößten Teil
materieller Natur. Die Besuche Kaiser Wilhelms haben dem Lande einen Fremden¬
strom zugeführt und dort eine „Fremdenindustrie" erzeugt, vou der man vordem
keine Ahnung hatte. Es sind mithin sehr reale Interessen, auf denen die Sympathien
der Norweger für die Deutschen oder eigentlich für den deutschen Kaiser beruhen.
Als sich nun die Norweger ihres rechtmäßigen Königs in einer wenig löblichen
Weise entledigten, war keine Möglichkeit mehr für den Kaiser, Norwegen zu be¬
suchen. Nicht um einer „Neutralität" willen, denn diese kann es im vorliegenden
Falle für einen Monarchen überhaupt nicht geben, sondern um nicht in die Lage
zu kommen, daß sein Besuch als eine Anerkennung des Verhaltens der Norweger
und ihrer Regierung mißdeutet würde. Wäre Kaiser Wilhelm der Erste nach
Gastein gegangen, wenn das Salzburger Laud in Aufruhr gegen den Kaiser Franz
Joseph gewesen wäre und dessen Absetzung ausgesprochen hätte? Das Verhalten
der Norweger gegen ihren König war nicht nur eine Beleidigung dieses Monarchen,
sondern ein Verstoß gegen das monarchische Prinzip überhaupt, und da ist es für
einen Souverän von dem starken Herrschergefühl Kaiser Wilhelms ganz selbstver¬
ständlich, daß er seine Besuche in Norwegen vorläufig einstellt. Das ist nicht
etwa „Neutralität," zu einer solchen lag und liegt gar keine Veranlassung vor,
sondern die ganz selbstverständliche Stellung eines dem König Oskar persönlich so
nahe stehenden mächtigen Herrschers. Der Rheinisch-Westfälischen Zeitung scheint
als mustergiltig für den Kaiser das Beispiel jenes Oberpräsidenten der Provinz
Sachsen vorzuschweben, der nach den Märztagen des Jahres 1848 eine Bekannt¬
machung des Inhalts erließ: „In Berlin hat eine Revolution stattgefunden, ich
werde meine Stellung über den Parteien nehmen." Sein König war ihm einfach
„Partei." In dem Streite zwischen Schweden und Norwegen kann König Oskar
für Kaiser Wilhelm aber nicht „Partei" sein. Zudem ist der Kaiser bei seinen
langjährigen persönlichen Beziehungen zu König Oskar, der ein intimer Freund
seines Vaters war und Pate eines seiner Söhne ist, wie bei seinen langjährigen
Besuchen in Norwegen über die einschlägigen politischen Verhältnisse so hinreichend
orientiert, daß er über den innern Zusammenhang und die Folgerichtigkeit der
deutschen Politik keinen Augenblick im unklaren sein konnte.
Der schwedisch-norwegische Konflikt ist nicht Plötzlich und unerwartet zum Aus-^
bruns gekommen, sondern er ist das Resultat langjähriger Spannungen, die sich
immer mehr zu unvereinbarer Gegensätzen entwickelt haben, ein Verhältnis, das
ebenso wie bei einer unglücklichen Ehe zu einer Scheidung drängte, von deren
früherer oder späterer Notwendigkeit einsichtige Schweden ebenso überzeugt waren
wie die politischen Führer in Norwegen. Aber die Art, wie der Bruch herbei¬
geführt worden ist, setzt die Norweger ins Unrecht. Der Kronprinz von Schweden
ist bekanntlich erst vor sechs Wochen als Hochzeitsgast bei der Vermählung unsers
Kronprinzen einige Tilge in Berlin gewesen, und der Kaiser hat Zeit und Gelegen¬
heit gefunden, mit ihm die schwedisch-norwegischen Verhältnisse, die gerade in jenen
Togen zur Krisis reiften, eingehend durchzusprechen. Von Berlin aus begab sich
Kronprinz Gustav dann bekanntlich als Hochzeitsgast nach London, Wo er sicherlich
auch mit dem König Eduard diese Dinge eingehend besprochen haben wird. Man
darf bei dem sehr freundschaftlichen und ja auch nahe verwandtschaftlichen Ver¬
hältnis des Kronprinzen Gustav zum Berliner Hofe überdies wohl mit Recht an¬
nehmen, daß er mit dem König Eduard auch noch einiges mehr zu erörtern
hatte. Jedenfalls knüpft die Begegnung Kaiser Wilhelms mit König Oskar an
die Berliner Anwesenheit des Kronprinzen Gustav an, wobei dahingestellt bleiben
kann, ob die Anregung von deutscher oder von schwedischer Seite erfolgt ist. Die¬
selben Blätter, die heute die Begegnung auffällig finden, würden das Unterbleiben
einer solchen, als Kaiser Wilhelm in die Nähe der schwedischen Küste kam oder
gar seinen Fuß auf diese setzte, mit viel größerm Recht auffällig finden. Was die
Großadmiralswürde anlangt, so ist König Oskar von allen fremden Fürstlichkeiten,
die zur deutschen Marine in Beziehungen stehn, nicht nur bei weitem der älteste,
sondern er steht auch am längsten in diesen Beziehungen. Er wurde im Jahre 1889
vom jetzigen Kaiser zum deutschen Admiral ernannt, während der jetzt zum Gro߬
admiral beförderte Admiral von Koester den Admiralsrang seit 1897 bekleidet.
Nach dem Avancement des Admirals von Koester zum Großadmiral war es also
nur selbstverständlich und „folgerichtig," daß König Oskar diese Würde ebenfalls
empfing, und es war ebenso auch nur selbstverständlich, daß Kaiser Wilhelm ihm
diese neue Würde persönlich überbrachte. Dazu kommt, daß König Oskar Seemann
aus vollster innerster Neigung und Liebe zu dem Beruf ist, wie nur je ein Kadett,
der sich aus demselben Drange diese Laufbahn erwählt hat.
Somit ehrten der Kaiser und die deutsche Flotte durch die Großadmiralswürde
nicht nur den langjährigen Freund zweier deutscher Kaiser und den seit sechzehn
Jahren im deutschen Admtralsrange stehenden Souverän, sondern auch den passionierten
Seemann, der er ungeachtet seiner hohen Jahre geblieben ist, wie er sich einst in
jungen Jahren dem Seemannsberuf mit ganzer Hingebung zugewandt, ihn auch in
seinen Seemannsliedern verherrlicht hat. Er trägt also die deutsche Großadmirals¬
würde in Ehren, und sie hat ihm viel Freude gemacht, ebenso wie es dem Kaiser
zur hohen Freude gereicht hat, eiuen Souverän damit zu schmücken, der sich seit
seiner Thronbesteigung als treuer Freund Deutschlands erwiesen und zumal während
der Regierung des jetzigen Kaisers nicht einen Augenblick in diesen Freundschafts¬
beziehungen geschwankt hat. König Oskar war bekanntlich auch der letzte Gast Kaiser
Friedrichs, den er noch wenige Tage vor dessen Hinscheiden besuchte. Und da vermißt
die Rheinisch-Westfälische Zeitung — und andre Blätter beten es ihr nach — einem
so langjährigen treuen Freunde des Kaisers gegenüber „den innern Zusammenhang
und die Folgerichtigkeit der deutschen Politik," wenn Kaiser Wilhelm mit dem König
in dessen Küstengewässern eine Begegnung hat und ihm dabei eine militärische Aus¬
zeichnung überbringt, auf die König Oskar nach der Beförderung des Admirals
von Koester allen Anspruch hatte. 1,-z, ol'itiyus ost aisös, pflegte Bismarck zu sagen.
Was nun die besondern Interessen Deutschlands zu Schweden und Norwegen
anlangt, so können sie nur dahin gerichtet sein, daß sich die Auseinandersetzung
zwischen den beiden Ländern nicht nur in Frieden, sondern so vollzieht, daß künftige
freundschaftliche und enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen ihnen möglich bleiben.
Schweden kann nicht daran denken, Norwegen militärisch zu unterwerfen. Um so
wünschenswerter ist die friedliche und baldige Verständigung, diese auch im Inter¬
esse des monarchischen Prinzips. Wenn sich Kaiser Wilhelm, wie ja sehr wahr¬
scheinlich ist, dem Kronprinzen Gustav wie dem König Oskar gegenüber über den
schwedisch-norwegischen Konflikt geäußert hat, so hat er es sicherlich nur in diesem
Sinne und vom Standpunkt des wohlverstcmdnen deutschen Interesses aus getan,
„folgerichtig und im richtigen innern Zusammenhange" der deutschen Politik, als
Freund des Königs wie als Freund Norwegens. Es ist also nur bedauerlich, wenn
deutsche Zettungen, die auf nationalem Boden stehn und auf ihren Ruf halten, bei
ihren Kritiken nicht lieber erst zweimal zusehen, ob ihr Platz im gegebnen Falle nicht
besser hinter ihrem Kaiser und hinter der das Reichsbanner tragenden Leitung der
deutschen Politik wäre, anstatt dem feindlichen Ausland und der Sozialdemokratie
als Parteigänger und Schrittmacher zu dienen. Merkwürdig, wie sehr im Lande der
allgemeinen Wehrpflicht doch unsrer Presse dem Auslande gegenüber der Begriff
„in Reih und Glied," der Begriff des einsichtsvollen Dienens fehlt, des Dienens nicht
einer Person, sondern dem Vaterlande! Oder soll es dem Lande ein Dienst sein, wenn
der Kaiser und die Leitung der deutschen Politik, zumal in den jetzigen schwierigen
und recht ernsten Zeiten, dem Auslande gegenüber fortdauernd in ebenso unbedachter
wie unbegründeter Weise herabgesetzt werden? Etwas mehr vom Geschäft als die
Essener Redaktion werden Kaiser und Kanzler ja doch wohl verstehn.
Voraussichtlich wird die Begegnung des Kaisers mit dem Kaiser Nikolaus
in gewissen Blättern auch nur vom Standpunkt der „Überraschung" und der „per¬
sönlichen Eingebung" beurteilt werden, obgleich sie vom menschlichen wie vom
monarchischen und Politischen Standpunkte hinlänglich erklärlich und begreiflich ist.
Es ist schon vor einigen Wochen an dieser Stelle auf die Dienste hingewiesen worden,
die Kaiser Wilhelm dem Zaren in der Friedensfrage geleistet hat; jeder Rat, den
Kaiser Nikolaus etwa weiter von Kaiser Wilhelm gewünscht haben sollte, ist sicherlich
nur in dem Sinne der baldigen Wiedererstarkung Rußlands nach innen und außen
erteilt worden, an der Deutschland ein sehr begreifliches Interesse hat.
Wenngleich sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Haltung einiger
deutscher Blätter steht, so greift stark doch in das Gebiet der auswärtigen Politik
hinüber die Haltung, die andre deutsche Organe gegenüber dem Präsidenten Roosevelt
beobachten. Dieser ist ja im Lande der absoluten Preßfreiheit in bezug auf publi¬
zistische Behandlung nicht verwöhnt, auch schadet es ihm in Amerika schwerlich, wenn
deutsche agrarische Zeitungen ihn angreifen. Aber gerade wenn in diesen Blättern
auf die Bemühungen Englands hingewiesen wird, Amerika für ein Bündnis ein-
zufangen, wenn ferner zugegeben wird, daß sich Roosevelt mit seinem unausgesetzten
Betonen der Notwendigkeit einer starken Flotte in seinen letzten Zielen gegen Eng¬
land richtet, so ist nicht recht verständlich, daß ihm zugleich dieser Standpunkt zum
Vorwurf gemacht wird. Ob Amerika recht daran getan hat, die Philippinen zu
nehmen und damit in die Reihe der Kolonialmächte zu treten und überseeische Politik
zu machen — das zu beurteilen ist doch zunächst Sache der Amerikaner, die die
Kosten und die sonstigen Folgen zu tragen haben.
Weiterschauend als europäische Politiker haben die Amerikaner rechtzeitig das
Expansionsbedürfnis und die Expansionsfähigkeit Japans erkannt und haben es
vorgezogen, die Philippinen lieber selbst zu nehmen als sie in die Hände Japans,
Englands oder Deutschlands fallen zu lassen. Die Zeit, wo sich Amerika aus¬
schließlich seiner innern Entwicklung widmete, ist vorüber. Schon die Samoa-
cmgelegenheit, die Besitzergreifung der Hawaiinseln lehrten uns, daß die Ameri¬
kaner begannen, sich nach ihren Nachbarn auf dem Meere umzusehen. Amerika ist
nicht ein Land, sondern ein mitten in den Ozean hineingeworfner, von allen
Seiten von seinen Wogen umspülter Weltteil, der alle Zonen, alle Klimate um¬
faßt, alle Rohprodukte sein eigen nennt; daß eine solche Macht, die im Besitze der
meisten Häfen und der meisten Seeleute ist, eines Tages aus den Gedanken kommen
mußte, durch eine möglichst starke Flotte die Unangreifbarkeit nicht nur ihrer Küsten,
sondern auch ihrer Interessen gegen jeden Feind auf dem Meere zu sichern, ist
selbstverständlich. Die Ereignisse in China haben dazu ebenso den Anstoß gegeben
wie der Konflikt mit Spanien. Amerika wollte für seinen Export die offne Tür
in China erhalten sehen und wandte sich deshalb gegen jede Aufteilungspolitik.
Damit näherte es sich Deutschland, und damit war für Deutschland und die Ver¬
einigten Staaten der erste Brennpunkt großer gemeinsamer Interessen geschaffen.
Je mehr sich unser Verhältnis zu England verdunkelte, zum wesentlichen Teile
gerade um Chinas willen, desto mehr haben wir uns Amerika politisch genähert
und bei Roosevelt und seinem großen Verständnis für das Deutschtum ein sehr
freundliches Entgegenkommen gefunden, dessen Einzelheiten erst später einmal klar
werden dürften. Ein gutes Einvernehmen zwischen Deutschland und Amerika ist
vielleicht das einzige sichere und zuverlässige Mittel, England die Notwendigkeit
eines freundlichern Verhältnisses zu Deutschland nahezulegen. Wenn jüngst ein
französischer Admiral in völliger Verkennung der Situation nussprach, die englisch¬
französische Entente vervierfache nicht nur Frankreichs Seemacht, indem sie ihr alle
englischen Häfen und Kohlenstativnen auf der ganzen Erde öffne, sondern sie ge¬
währe endlich auch die Möglichkeit, die Nordsee völlig abzusperren, so muß
man sich in Deutschland klar machen, was das für uns bedeuten würde, da siebzig
Prozent unsers Handels in Ein- und Ausfuhr zur See gehn, Seehandel sind.
Wenn solchen Plänen gegenüber Amerika den Standpunkt einnähme, daß eine
Sperrung der Nordsee seinen Interessen zuwiderlaufe, so wäre das für uns die
wertvollste politische Kombination und eine ganz neue Betätigung des vielfach ange-
fochtnen und doch einzig richtigen Wortes, „daß unsre Zukunft auf dem Wasser liegt."
Die
auf eine mehr als hundertjährige kritisch-wissenschaftliche Tätigkeit vornehmster Art
zurückschallende englische Vierteljahrsschrift Ins ^äinbuiKb Rovion bringt in ihrer
Nummer 410 einen in England Aufsehen erregenden und für Deutschland inter¬
essanten Aufsah: int<zik6olu»l Oonciiticm ok Romsn Latnolieism in AorwAn?.,
Der Aufsatz ist, wie es ja in den englischen kritischen Journalen Sitte ist, nicht
gezeichnet: lebte Lord Acton noch, so würden wir auf ihn als Verfasser raten; ist
er in Deutschland geschrieben, so spricht der Geist eines Döllinger und Franz Xaver
Kraus aus ihm. Wir wollen uns aber hier nicht mit Raten nach dem Verfasser
abgeben, auch nicht den weitern Inhalt des bemerkenswerten Essays wiederholen,
der vor allem auch den abnormen geistigen Tiefstand des bayrischen Zentrumskatholi¬
zismus bei Abgeordneten, Wählern und im Journalismus sowie des ländlichen
bayrischen Klerus mit außerordentlicher Vertrautheit mit den Verhältnissen schildert;
sondern ohne uns mit den Erörterungen des Katholicus im einzelnen zu identi¬
fizieren, nur das wiederholen, was der Verfasser des Aufsatzes in seiner im geistigen
Interesse seines Glaubens geschriebnen Kritik über Chamberlains „Grundlagen des
neunzehnten Jahrhunderts" vom wissenschaftlich-katholischen Standpunkt aus schreibt:
Je geringer an Zahl die deutschen katholischen Schriftsteller sind, die in der Tat
ein gutes Buch zu schreiben imstande wären, desto größer ist der Einfluß litera¬
rischen Verdienstes auf das gebildete deutsche katholische Publikum. Man hat dieses
dahin gebracht, daß es beständig auf der Hut vor mögliche» Irrtümern in der
katholischen Doktrin bei Theologen und solche sofort als heterodox anzuschauen ge¬
wohnt ist. Bis jetzt hat sich die Majorität der Katholiken dies willig gefallen
lassen. Bei „Outsiders," über deren Schriften die Kirche nichts zu sagen hat, sind
sie aber weniger ängstlich. Hier glauben die Katholiken auf sicherm Grund zu
wandeln und zeigen einen außerordentlichen Mangel an kritischen Eigenschaften.
Ein Beispiel dafür ist der von Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des
neunzehnten Jahrhunderts" nicht allein auf das große Publikum, sondern auch auf
wahrhaft gläubige Gemüter — allerdings nicht auf geistig geschulte Denker —
gemachte Eindruck, während sich doch die Gläubigen durch viele Behauptungen des
Autors hätten gewarnt fühlen sollen. Chamberlain haßt die Juden, und diese
Antipathie hat ihm die Sympathie der Antisemiten erworben; dann aber tritt er
für eine germanische Religion ein, weil er an die exklusive Superiorität der ger¬
manischen Nasse glaubt. Und er beweist diese Superiorität damit, daß er die hervor¬
ragendsten Geister, die man bis jetzt als zu andern Rassen gehörend betrachtet hat,
als Teutonen hinstellt! Dante, der kaum ein Christ gewesen sei, war sicher ein
Germane! Betrachtet sein Werk! Betrachtet sein Gesicht! Das entschiedenste Gegen¬
stück zu dem Luthers! Und gerade deswegen verrät es die innige Verwandtschaft
zwischen diesen beiden, Luther und Dante gehören zu der Skala der großen Ger¬
manen! (500. 502). Die Mutter des Apostels Paulus war Griechin, „sein In¬
tellekt absolut unjüdisch" (581). Christus, unser Herr, war kein Jude; Chcimberlciin
kann allerdings nur von der Wahrscheinlichkeit sprechen, daß er ein Arier war
(214 bis 218). Mit Rücksicht auf Christi Lehre geht er jedoch stärker ins Zeug.
Die Jndoeuropäer hatten nichts von dem widerwärtigen Aberglauben von Himmel
und Hölle, von Belohnung und Bestrafung, den die Juden erfunden haben. Die
Erlösung ist die Umkehr des innern Menschen, Ewigkeit ist nicht der künftige Zu¬
stand (Fnturity). „Religion ist die Auffassung der Ewigkeit in der Gegenwart!"
Franz von Assisi, der auf seinem Totenbett ein „Freidenker" geworden ist, brach
in das göttliche Jubellied des we-toan-g-si aus, das aus allem Kirchentum befreit
ist; dies ist das direkte Gegenteil von dem „kalten, seelenlosen Glaubensbekenntnis
Dantes," der plötzlich orthodox geworden ist, nachdem er ein paar Seiten vorher
„kaum ein Christ" genannt worden war (887/8. 567. 573 usw.). Für Leute, die
daraus nicht klug werden, hat Chamberlain ein eigens fabriziertes Evangelium be¬
reit: „Worte Christi," das selbstverständlich das Johannesevangelium und alle
andern Texte, die zu seiner Erklärung von Christi Christentum nicht passen, aus¬
schließt. Diese Interpretation räumt mit Dogmen, d. h. „Mythentransformationen,"
mit dem historischen Christentum und den Kirchen gründlich auf. Die Germanen,
die die Slawen und die Kelten mit in sich begreifen, müssen untergehn oder eine
eigne Religion hervorbringen, ein Christentum, das ihnen exklusiv gehört, im Gegen¬
satz zu dem römischen Völkerchaos.
Dieses Buch — das von hellenischer Kunst und Philosophie, vom römischen
Recht, von der Erscheinung Christi, vom Völkerchaos, vom Eintritt der Juden,
dann von den Germanen im Westen und in der Geschichte der Welt, von Religion,
vom Staat und der neuen zwischen 1200 und 1800 durch die Germanen ge¬
schaffnen Kultur handelt — hat denkende Leser und ernst zu nehmende Kritiker
Chamberlains zur Zersplitterung getrieben. Jeder Gelehrte, der seine Lebensauf¬
gabe in einer einzigen Frage von denen gesehen hat, die alle dem Autor in den
Weg gelaufen sind, hat ihm bewiesen, daß er entweder total Unrecht hat oder von
den unzähligen Autoritäten, denen zu folgen er gezwungen war, irregeführt worden
ist. Ein hervorragender Franzose von höchster Wissenschaftlichkeit, Ernest Seilliere,
hat mit Chamberlain in der Re-vus clvs vsux Noncies (Dezember-Januar 1903/04)
in der amüsantesten aber sehr ernst zu nehmenden Weise in drei Essays abgerechnet,
die er I^g, Million Impöriitlists nennt. Anstatt Chamberlain direkt zu bekämpfen,
nimmt er die falschen oder falsch verstandnen Autoritäten her, von denen Chamber¬
lain entlehnt: Gobineau, Schopenhauer, Kant, Richard Wagner nicht zu vergessen,
mit dessen Biographie der Verfasser der „Grundlagen" zuerst literarisch aufgetreten
ist. So vorsichtig ist Chamberlain allerdings, daß er darauf besteht, Wagner habe
keine Philosophie, sondern nur eine Weltanschauung; das hat ihm bei seinen Bay-
reuther Freunden und Protektoren auch die Suppe versalzen. Dieser Al-an riünto
war aber auch höchst notwendig. Denn Wotans Theologie und Philosophie, wie
sie in der Götterdämmerung und an andern Stellen von Wagner dargelegt worden
ist, ist doch wahrhaftig nicht ernst zu nehmen. Das können Wagners offenste Be¬
wundrer nicht tun. Aber Wagner, der Künstler, bleibt Chamberlains Kunstprophet,
und hier ist er ihm treu. So zeigt ihn das Kapitel „Über die Kunst der Hellenen"
von seiner besten Seite, als einen Meister des Stils, einen großen Rhetoriker,
immer klar, lebhaft, oft wahrhaft beredt und von dem verblüffendsten Mut in seinen
Phantastischen Behauptungen.
Der Grund, warum wir hier überhaupt von ihm sprechen, ist der, daß viele
Katholiken ihn mit naiver Bewundrung gelesen und andre mit einer Nachsicht gegen
ihn geschrieben haben, die sie sonst Feinden ihres Glaubens gegenüber im all¬
gemeinen nicht zeigen, noch weniger gegenüber Glaubensgenossen, wenn sie selbst
in geringfügigen Punkten mit ihnen nicht harmonieren. Professor Ehrhard, der doch
zu dem Schlüsse kommen mußte, daß Chamberlains „Zukunftsreligion" die Negation
jeder Religion, gewiß aber des Christentums bedeutet, zögert das von einem Manne
geschriebn« Buch zu verdammen, der ihm — sagt Ehrhard — wegen seiner nicht
anzuzweifelnden Wahrhaftigkeit sympathisch geworden ist. Professor Grauert, ein
andrer katholischer Gelehrter, ist von Chamberlains absoluter Verläßlichkeit vielleicht
weniger überzeugt. Nachdem Chamberlain die erstaunliche Konstatierung gemacht
hat, daß Christi Namen in der Divina OomwocliÄ nicht vorkomme, hat sich der
Danteforscher Grauert die Mühe genommen, in einer eignen Broschüre nachzuweisen,
daß Christus in der göttlichen Komödie mehr als achtundvierzigmal genannt, und
daß unzähligemal ausdrücklich auf ihn angespielt worden ist. Aber auch Grauert
ist wie Ehrhard unter dem Banne und führt in seiner Broschüre einen Dialog
ausdrücklich zu dem Zweck ein, „der Seele des vornehmen und gebildeten Chamber¬
lain" die Fürbitten verschiedner Heiligen zu verschaffen. Unter den Heiligen,
die — noch dazu durch Dante — dafür in Anspruch genommen werden, ist auch
der heilige Augustin, den Chamberlain standhaft „den afrikanischen Mestizen" nennt,
und der ihm besonders in der Seele verhaßt ist.
Es ist wahrhaftig schwer, die christliche Milde weiter zu treiben. Ein hervor¬
ragender Katholik hat dieses außergewöhnliche Betragen gegenüber einem Autor,
der zweifellos eine neue und beklagenswerte Ausnahme in einem Lande ist, wo
bis jetzt skrupulöse und unabhängige Forschung von allen Arbeitern gefordert wurde,
die in wissenschaftlicher Disziplin an serieux genommen werden wollten, mit
folgenden Worten gezeichnet: „Die Katholiken sind einmal — kein einziger unter
ihnen — gute oder wirksame Schreiber. Sie können nicht brillant schreiben. Vor
einem solch vollendeten Stil stehn sie stumm, sie sind blind gegen seine Fehler,
seine oft lächerlichen Irrtümer, geblendet durch das Talent, mit dem seine Behaup¬
tungen auftreten."
Unsrer Ansicht nach ist übrigens der katholische ReViewer Chamberlains in
Minbui'Kli lisvisv? ein „guter und wirksamer Schreiber." Hier harmonieren
wir nicht mit dem eminent vatuolie, der solche den Katholiken abspricht.
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur auf die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breitem Rande erbeten.
itleid ist ein schlechter Arzt, Wenn Menschen jemand, den sie lieb
haben, leiden sehen, z, B. an einer schweren Krankheit, so suchen
sie zu helfen, und jeder Teilnehmende hat sofort ein Mittelchen
bereit, jeder ein andres, der eine Luft, der andre Wasser, der eine
Kräuter, der andre Pillen. Wenn aber der Arzt kommt, dann
wehe, wenn er nicht mehr weiß als Mitleid und nur zu jedem Vorschlage nickt!
Sagt er vielleicht: Ich weiß keine Hilfe, dann werden alle Angehörigen ant¬
worten: Welche Hartherzigkeit! Seht doch dieses Leiden an! Da muß es doch
Hilfe geben. Diese naive Wendung: So groß ist die Not, da muß es doch
Hilfe geben, spielt auch in den sozialpolitischen Erörterungen eine große Rolle.
Auch der deutsche Wohnungskongreß wurde, nachdem die Kritik aller kleinen
Mittel einen schlechten Eindruck gemacht hatte, von zwei geistlichen Herren
wiederum auf die Höhe der sozialen Stimmung gehoben, wodurch? Durch eine
ergreifende Schilderung der Wohnungsnot. Aber Mitleid ist ein schlechter Arzt,
und von einem Kongreß erwartet man mehr als Mitleid, nämlich Hilfe, und
zwar solche, die hilft. Die aber darf sich nicht allein mit ihrem guten Herzen
ausweisen, sondern mit ihrem klaren Verstände.
Das Mitleid, d. i. die humane oder soziale oder christliche Gesinnung, ist
im Staatsleben mit einem Fluch beladen. In England hat es zwei Jahrhunderte
lang eine Armengesetzgebung gegeben, die verlangte, daß jeder Arme auf Ge¬
meindekosten erhalten werde, daß er um so mehr Barzuschuß bekäme, je mehr
Kinder er hätte, daß ihm, wenn er keine Arbeit fände, Arbeit gegeben würde.
Nachdem das Gesetz zwei Jahrhunderte gewirkt hatte, war die Folge die, daß
die Zahl der unterstützungsbedürftigen Armen ins ungemessene gestiegen war,
ebenso natürlich auch die Armenlasten, die der Grundbesitz aufzubringen hatte.
Unter dieser Armenlast war der Kleinbesitz zum größten Teil eingegangen.
Der kleine selbständige freie Arbeiter, der ohne öffentliche Hilfe von seiner Hände
Arbeit lebt, war aus dem Lande wie ausgefegt. Sein Leben war zu teuer,
als daß er mit den von der Gemeinde unterstützten Armen Hütte konkurrieren
können. Die Ortsarmen wurden ja rudelweise jedem Arbeitgeber angeboten, und
jeder Arbeitgeber war durch die Konkurrenz gezwungen, sie zu nehmen. So
wurde der selbständige Arbeiter und Kleinwirt zu einer Seltenheit im Lande.
Damals kam die Ansicht auf, daß man dem Volke am besten täte, wenn man
die Armut hart behandelt. Wird man wohltätig gegen sie, so mißhandelt man
den, der, obwohl arm, sich doch aus eigner Kraft erhalten will. Man hat das
Wort gebraucht: Bei eurer Nächstenliebe muß immer ein Fernerer sterben, ohne
es zu ahnen, seid ihr Totschläger, So sollte man bei jeder Wohlfahrtsgesetz¬
gebung fragen: Wer wird hier erschlagen? Durch unsre moderne Arbeiterschutz¬
gesetzgebung und Arbeiterwohlfahrtsgesetzgebung, Krankenkassen und Jnvaliden-
tassen wird z, B. der kleine Selbstwirtschafter erschlagen. Auf diesem liegen ja
auch — und am schwersten — Kosten, Risiko und Verwaltungsarbeit unsrer
Gesetzgebung. Je sicherer man den Stand des Lohnarbeiters macht, ein um so
größerer Teil des Volkes wird es vorziehn, Lohnarbeiter statt Selbstwirtschafter
zu werden. Auch die Reformationszeit war eine Zeit, wo man beschloß, gegen
die Armut hart zu sein, und zwar darum, weil man glaubte, erfahren zu haben,
daß die ungeheure Mildtätigkeit der katholischen Kirche Armut und Bettelei er¬
zogen habe. Die Charitas ist von jeher ein Freund des Elends gewesen, auch
in dem schlimmen Sinne, daß sie Elend und Armut zu ihrem seelischen Wohl¬
befinden nicht entbehren kann. Ebenso gibt es unter unsern Sozialreformern
Leute, die ordentlich vor Vergnügen schmatzen, wenn sie das Schmntüchlein von
einem Stückchen Armut, Elend und Unsittlichkeit am Körper des deutschen Volkes
aufdecken können.
Der Entwurf des preußischen Wohuungsgesetzes ist aus einer solchen
Stimmung des Mitleids mit der Wohnungsnot hervorgegangen. Es ist darum
berechtigt und notwendig, zu fragen: Wen erschlägt man hier? Ist es nicht der
kleine Eigeuwirt? Es wird wohl von allen Wohnungsreformern anerkannt, daß
das kleine Eigenhaus die beste Lösung des Wohnnngsproblems ist. In den
deutschen Mittelstädten besteht die Mehrzahl aller Häuser nicht aus Miet¬
kasernen, sondern aus kleinen Eigenhäusern im Werte von 4000 bis 15000 Mark.
Ganze Straßen bestehn uur aus solchen. In ihnen wohnt der kleine Hand¬
werker, Krümer und Lohnarbeiter als Eigentümer. Sie vermieten einen Teil
davon an ihresgleichen, aber sie leben nicht vom Vermieter. Sie leben uns
das vollkommenste Miteinander von Arbeit und Besitz vor. Sie arbeiten um
Lohn, um in ihrem Besitz wohnen zu können, und sie wohnen in ihrem Besitz,
um ihre Arbeitskraft vorteilhafter verwerten zu können. Soviel freilich ist klar,
daß die Wohnungen weder für den Eigentümer noch für den Vermieter den
Anforderungen entsprechen, die das preußische Wohnungsgesetz stellen will.
Eben darum könnte eine weise Stadtverwaltung keinen bessern Gebrauch von
dem preußischen Wohnungsgesetz machen, als es von diesen Wohnungen möglichst
fernzuhalten.
Die Regulierung des Wohnungsbedarfs in unsern Mittelstädten gestaltet
sich folgendermaßen: Die reichern Stände bauen sich neuere modernere Häuser
in der Umgebung der Stadt. In die verlassenen Wohnungen, die eben noch
die vornehmsten waren, ziehn Minderbegüterte ein. Ein Stand läßt seine Wohn¬
stätte dem andern, nächsten. In meiner Vaterstadt kenne ich zum Beispiel in
deren Mitte eine Wohnung, wo vor dreißig Jahren eine verwitwete Frau Ober-
tribnnalspräsidcnt, Schwester eines berühmten Generalfeldmarschalls, gewohnt
hat. Heute würde dort kein Gerichtssekretür hineinziehn, sondern Handarbeiter
und kleine Handelsleute wohnen darin. Kommt das preußische Wohnungsgesetz,
so kann es geschehn, daß die Wohnung für wohuschüdlich erachtet wird. In
die zu großen Wohnungen teilen sich gewöhnlich einige kleine Familien. Nach
dem preußischen Wohnnngsgesetz wird es unmöglich werden, die Wohnungen
nach Belieben zu teilen, weil die Abortanlngen und ähnliches nicht beliebig
vermehrt werden können.
In der erwähnten Stadt, nämlich Naumburg a. S., wird viel gebaut, aber
fast nur Wohnungen für Wohlhabende, kleine Wohnungen sehr wenig, nicht
nur verhältnismäßig, sondern absolut. Versagt hier die private Bautätigkeit
ihrer Aufgabe gegenüber, oder sind es die allzuhohen Anforderungen der Bciu-
ordnnng, die Höhe der Anliegerbeiträge, die es unrentabel machen, kleine Häuser
im Werte von 5000 bis 20000 Mark zu bauen? Hohe Bodenwerte sind hier
nicht schuld, denn 100 Quadratmeter kosten nur 800 Mark, was auf den Preis
des Ganzen kaum aufschlägt. Nach meiner bisherigen Kenntnis der Sache sind
neue Wohnungen für kleine Leute unter 150 Mark jährlichem Mietzins nicht
herzustellen, und zwar wegen der Höhe der Arbeitslöhne und der Material¬
preise, in denen wiederum zumeist Arbeitslöhne stecken. So fühlt beim Ver¬
brauch das Volk das Wachstum der eignen Ansprüche auf hohen Lohn der
Arbeit. In den aufgeteilten Wohnungen der innern Stadt wohnen die Arbeiter
billiger, aber allerdings auch schlechter.
Die Wohnungsreformcr beweisen gewöhnlich die Wohnungsnot, indem sie
darauf hindeute», daß die Arbeiter ein volles Viertel ihres Verdienstes für die
Wohnung ausgeben müssen. Sie finden das zuviel, aber mit welchem Rechte?
Angenommen, es gelänge ihnen, diesen Bruchteil hinunterzudrttcken, so könnte
ein andrer Nationalvkonom mit demselben Rechte behaupten, daß die Arbeiter
unverhältnismäßig viel für Nahrung und Kleidung ausgeben müßten. Was
sagt denn die Verhültniszahl? Gar nichts. In Wohnung, Nahrung und Kleidung
geht der Aufwand des Arbeiters auf, der von der Hand in den Mund lebt.
Und für ein Volk, im ganzen genommen, ist diese Art zu leben notwendig und
natürlich und sogar für seine Zukunftskraft nützlich. Die Erkenntnis, daß die
Armut des Arbeiters von der Wohnungsnot herkäme, scheint mir nicht höher
zu stehn als die andre, daß die Armut von der Pauvrete herkäme. Auch
wenn der Wohnungsaufwand des Arbeiters in den Großstädten über dem
Durchschnitt steht, so beweist das noch nichts. Man darf doch uicht aus dem
Durchschnitt, einer rein rechnerischem Größe, eine Art Postulat für alle Orte
machen.
Hilfe liegt nur in der Erkenntnis dessen, was möglich ist, und was nicht.
Fragen wir also: Was ist möglich? Ich würde es versteh», wenn man verlangte,
das deutsche Volk sollte besser und teurer wohnen, etwa weil man meint, es sei
reich genug, sich das leisten zu können, man müsse nur erst das Bediirfnis für
das, was gut wohnen heißt, wecken. Ich würde auch die entgegengesetzte An¬
sicht verstehn, wenn man annimmt, das Volk könnte billiger wohnen. In ameri¬
kanischen und in englischen Großstädten wohnt man billiger, allerdings zugleich
schlechter. In der Peripherie der Städte gibt es kein Pflaster mehr, keine
Kanalisation und keine Beleuchtung. Unsre deutschen Städte verlangen mit ihren
Bauordnungen vielleicht zuviel Aufwand und verteuern damit das Wohnen.
Aber die Wohnungsreformer wollen beides auf einmal leisten: daß das Volk
besser und zugleich billiger wohne. Ein kühnes Wagnis! Sie wollen das er¬
reichen mit einer Art Wvhnungspolizei. Auf dem Wohnungskongreß ist die
Wendung gebraucht worden: Wenn das neue Gesetz mit seiner Wohnungsauf¬
sicht erst eingeführt ist, und wenn dann eine Vielzahl von menschenunwürdigen
Wohnungen geschlossen ist, dann tritt die Aufgabe an uns heran, Ersatzwohnuugen
zu schaffen. Dann! Erst dann! Es kommt mir geradezu frivol vor dieses dann.
Ich meine, es müßte heißen: bevor irgendeine Wohnung auf Grund dieses Ge¬
setzes geschlossen werden darf, muß nachgewiesen sein, daß eine bessere Ersatz¬
wohnung neu über den Bedarf hergestellt ist. Aber wenn dieses gefordert wird,
so wird sofort klar, welche Arbeit geleistet und welche ungeheuern Kosten auf¬
gewandt werden, müssen, wenn dieses Zweckgesetz etwas erreichen soll.
Die Miete des kleinen Mannes für einen Kubikmeter Raum steht höher, als
die der Reiche zahlt, der doch kostbares Material aufwendet. Warum? Weil
es kostspielig, unsicher und mitunter sogar unanständig ist, an die Allerärmsten
zu vermieten. Unsre Gesetze verbieten, dem Verarmten seine letzte Habe zu
nehmen, sie verbieten auch, ihn auszutreiben, bevor er nicht zweimal mit dem
Mietzins rückständig wird. Liederliches Volk macht sich diese Gesetze zunutze,
es zahlt nie und zieht immer. Es ist nicht jedermanns Sache, arme Mieter
auf die Straße zu setzen, darum versteht sich nicht jeder Hausbesitzer dazu, die
Allerärmsten zu nehmen. Gerade die Mildtätigen und Weichherzigen bleiben
weit weg von diesem Geschäft, und mir die Hartherzigen und Unbedenklichen
bleiben dabei. Das geschieht alles zum Nachteil des ordentlichen Mannes, der
auf eignen Füßen steht. Er muß den Ausfall decken. Seine Miete ist um so
höher, je mehr andre sich darum zu drücken verstehn. So versündigt sich wieder
einmal Mitleid und Schwäche gerade an dem, dem es helfen will. Wenn das
preußische Wohnungsgesetz erst Wirklichkeit geworden ist, wenn die Wvhnungs¬
polizei durchgeführt wird, so wird das Vermieter an die Ärmsten erst recht ein
unsichres und unanständiges Geschäft werden. Alle Tage kann ja die Wohnungs¬
aufsicht finden, daß die Wohnung menschenunwürdig sei. Wer an kleine Leute
vermietet, muß sich von der Polizei wie ein Wucherer beaufsichtigen lassen.
Werden dadurch die Mieter sinken? Nein, sie müssen steigen, gerade wegen der
Willkürstrenge jener Polizeiaufsicht.
Nun wollen doch alle Wvhnungsreformer, daß das Volk billiger wohne.
Wie denken sie sich diese Möglichkeit? Der grundlegende Fehler liegt in ihrer
Auffassung von der Rente. Sie meinen, das Gewinninteresse des Privateigen¬
tümers ließe die Rente entstehn. Wenn nur gemeinnützig gebaut würde von
der Gemeinde oder vom Staat oder von irgendwelchen Genossenschaften, so
könnte die Rente erspart oder verhindert werden, zu steigen, und damit würde
das Wohnen billiger. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle darzulegen,
wie die Grundrente entsteht und entstehn muß. Hier soll, und nur in negativer
Beweisführung, diese Vorstellung act adsuräuin geführt werden. Wenn die
Bodenreformer gegen die Grundrente mobil machen, so weisen sie gewöhnlich
auf ein städtisches Grundstück hin, das vor fünfzig Jahren vielleicht 50000 Mark
gegolten hat, heute aber für eine halbe Million verkauft wird, und sagen: Mit
welchem Rechte macht diesen Gewinn das Privateigentum, und wieviel besser
wäre der Gesamtheit gedient, wenn ihr dieser Gewinn zufiele? Wieviel wohl¬
tätige Verbesserungen könnten daraus geleistet werden! Ich habe einmal einen
Biertisch kleinstädtischer Philister gründlich kennen gelernt, wo eine ähnliche Logik
üblich war. Man unterhielt sich damit, folgendermaßen zu rechnen: Hätte ich
vor fünf Jahren diese oder jene Aktien gekauft, zum Beispiel Gasglühlichtgesell¬
schaft, welchen Gewinn würde ich heute machen! Hätte ich! In diesem liegt die
Tücke der Zeit; aus dem nachher gesehen erscheint leicht, was im voraus ein
großes Wagnis gewesen wäre. So könnte auch einer sagen: Hätte ich die
Nummer gekauft, die jetzt das große Los gewonnen hat, so wäre ich ein reicher
Mann. Sehr einfach! Wer immer vorher weiß, welche Nummer das große Los
zieht, der wird bald ein reicher Mann. Aber dann wäre ja keine Lotterie mehr
möglich. Es liegt eben so, daß der, der das große Los gewinnen will, sämt¬
liche Lose kaufen muß, und damit gibt er mehr aus, als er je gewinnen kann.
So muß auch, wer allen Jndustriegewinn haben will, die Verluste auf sich
nehmen, und es ist im voraus nicht zu sagen, ob er mehr gewinnen oder ver¬
lieren wird. Endlich: Will sich eine Stadt das Wachstum der Grundrente zu¬
wenden, so muß sie einen Landring um ihre letzte Zone legen und muß ge¬
duldig warten, bis das natürliche Wachstum diesen Ring werttragend macht.
Wenn sie dann nach zehn Jahren ihr Geschäft besieht, so wird sie wahrscheinlich
die Erfahrung machen, daß sie an zugewachfner Grundrente nicht so viel ge¬
wonnen hat, als der Zinsverlust ihres in Bodenwerten angelegten Kapitals,
d. h. der Verzicht auf andre Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals, sie ge¬
kostet hat. Man nehme nur aus den Bilanzen mehrerer Bauterraingesellschaften
den Durchschnitt der Dividende, so wird man erfahren, daß an der Grundrente
mehr verloren als gewonnen wird. Will die Stadt aber ihre Grundwerke nnter
allen Umständen nicht verlieren, so wird man ihr mit größerm Rechte als der
privaten Spekulation den Vorwurf machen, daß sie die Arbeit ihrer Bürger
auswuchere. Freilich würde sie diese Bodenpolitik mit dem Rückgang ihres
Wachstums bezahlen müssen. Es ist ein Irrtum, die Grundrente entstünde aus
der Habgier und der Willkür der Privateigentümer und könnte, wenn das Privat¬
eigentum eingeschränkt würde, sozusagen erspart werden. Die Grundrente ent¬
steht nicht, weil irgend jemand sie haben will, sondern entsteht auf natürliche und
notwendige Weise in der menschlichen Arbeit bei jeder Wirtschaftsform. Das
Eigentum an ihr ist erst Folge aber nicht Ursache ihrer Existenz. Diese kann
darum durch keine Änderung der Eigentumsverhältnisse abgeschafft werden. Keine
Gesetzgebung vermag das. Wird die Rente nach dem Vorschlag der Boden-
reformer weggesteuert, so ist sie doch nicht weg, sondern heißt nur jetzt Steuer
und liegt auf der Arbeit genau so wie vorher. Ebenso, wenn eine Gemeinde
aus öffentlichen Mitteln gemeinnützig für sich baut, so kann sie doch keine Grund¬
rente ersparen und die Kosten des Bauens nicht verringern. Sie kann die
Grundrente nur anderswohin verrechnen, zum Beispiel auf Kosten andrer an
einige verschenken.
Auch die Wohnungsreformer fühlen sich unsicher in ihrer Behauptung, daß
es, um dem Volke billige Wohnungen zu verschaffen, genüge, mit dem privaten
Bvdenwucher durch die Bauarbeit öffentlicher Wohnungsorganisationen zu kon¬
kurrieren, Sie tun diese Unsicherheit kund damit, daß sie verlangen, es sollten
öffentliche Gelder unter dem Marktpreise und andre geldwerte Vorteile dem zu¬
gewandt werden, was sie gemeinnütziges Bauen nennen. Auf dem Wohnungs¬
kongreß erhob sich lebhafte Empörung, als ein Gegner solche Zuwendungen
Wohltaten nannte: das seien keine Wohltaten, sondern sei Gemeinnützigkeit. Diese
Gemeinnützigkeit definiert sich folgendermaßen: Herstellung von Wohnungen für
Arbeiter und wirtschaftlich gleichstehende Volksstände. Ich muß bekennen, daß
auch mir das noch kein Gemeinnutzen, sondern Sondernntzen zu sein scheint.
Es ist auch hier wieder dieselbe Nächstenliebe, die zum Totschläger am Fernern
wird. Wer wird hier erschlagen? Um so viel mehr man diesem gemeinnützigen
Bauen zuwendet, um so viel beraubt man jeden, er sei Arbeiter oder sonst etwas,
der bisher einen kleinen Grundbesitz oder ein kleines Hans erspart hat oder mit
mühsamer Arbeit seit langen Jahren zu erhalten bestrebt war. Wie in einem
Bankkrach läßt man einen Teil vom Werte seines Besitztums verschwinden,
nicht einen imaginären Wert, sondern einen Wert, den der Eigentümer mit sehr
vielen Aufwendungen, viel Schweiß, Entbehrungen und schwerer Arbeit erkauft
hat. Ich weise noch einmal auf die vielen Straßen mit kleinen Häusern in
unsern Mittelstädten hin. Je erfolgreicher das gemeinnützige Banen fortschreitet,
um so mehr wird die bisher getane Arbeit entwertet, nicht weil überhaupt ge¬
baut wird, sondern weil zu gefälschten Preisen gebaut wird. Ist denn nicht das
mühsam erarbeitete Vermögen des kleinen Mannes, auch wenn er kein Lohn¬
arbeiter ist, auch wenn er kein Objekt für hochmögende Hilfe ist, auch wenn er
selbsttätig und selbständig ist, oder gerade darum, „sozial" wertvoller als das
Wohlbefinden einer Art Lohnarbeiter, die sich schon gewöhnt hat, vom Staate
pünsm zu verlangen, wie einst das Volk von Rom?
Es ist den Wohnungsreformern vorgehalten worden, wie ungeheuer viel
die private Bautätigkeit in den letzten dreißig Jahren gegenüber dem ungeheuern
Volkswachstum geleistet hat, wie gering gegenüber dem großen Bedarf die ge¬
meinnützige Bautätigkeit noch ist, und daß darum auch in Zukunft die private
Bautätigkeit das meiste zu leisten haben werde. Wenn nun aber durch Hergabe
öffentlicher Gelder unter dem Werte die Preise gefälscht werden, dann entmutigt
man in demselben Maße, wie das geschieht, die private Bautätigkeit. Wer wird
denn sein Vermögen und seine Arbeit in den Schornstein schreiben wollen? Die
private Bautätigkeit muß notwendigerweise zagen. Welche ungeheure Verant¬
wortung für die gemeinnützige Bautätigkeit! Wird sie der wachsenden Last, die
sich auf ihre Schultern legt, gewachsen sein? Die private Bautätigkeit ist wie
eine Wassermühle auf ein wenn auch schwankendes, so doch reelles Niveau des
Wassers über ihr eingestellt, nämlich auf die Preise des Geldes und der Arbeit.
Nun kommt jemand, nämlich die gemeinnützige Bautätigkeit, und bohrt ein Loch
in deu Damm des Mühlbachs. Die Folge ist, die Mühle steht still, und in
wachsendem Maße brechen die Wasser durch das Loch. Habt ihr denn nun
auch eine Mühle bereit, auf die ihr die Wasser leiten könnt, und die ebensoviel
Mehl schafft wie jene? Sollte die gemeinnützige Bautätigkeit nicht zu leisten
vermögen, was die private fallen lassen muß, dann wird die Wohnungsnot des
Volkes nur um so größer werden, und der allgemeine Zorn wird die leichtsinnigen
Wohuungsreformer treffen, um so mehr, als sie mit moralischem Pathos an ihr
Herz geschlagen und versichert haben, daß sie das Volk mehr lieben als andre.
Man sollte etwas mehr Respekt vor den natürlichen Preisen haben. Sie
verdanken ihre Entstehung nicht nur dein privaten Eigennutz des Einzelnen,
sondern weil sie von taufenden widersprechenden Einzelnen ausgerechnet und immer
wieder geprüft werden, so sind sie wirklich wahrhaftig und reell und eben ge¬
meinnützig darum, weil über diese reelle Zahl keiner sich beklagen kann. Solche
angeblich gemeinnützigen Zinssätze unter dem Marktpreis sind aber willkürlich
und müssen, wie dem einen zum Vorteil, so dem andern zum Nachteil werden.
Es wäre nützlich, man hörte wieder etwas mehr auf die Ideen des beginnenden
neunzehnten Jahrhunderts, die man heute Manchesterideeu nennt und damit ge¬
richtet zu haben glaubt, die aber einst die wirtschaftlichen Ideen der Wieder¬
geburt unsrer Gesellschaft von 1808 gewesen sind, nämlich das Vertrauen ans
die freie Kraft des Einzelnen und auf die regelnde Kraft des freien Verkehrs,
der die Sonderinteressen der Einzelnen am besten ins Gleichgewicht setzt. Dann
würde man gewiß mißtrauisch werden gegen die Wohlfahrtsgesetze mit Sonder¬
zwecken, die eine Art irdischer Vorsehung mit sehr unvollkommnen Erfolg spielen.
Jene Zeit der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert kannte
nur zu gut die UnVollkommenheit der patriarchalischen Fürsorge von oben. Sie
hatte einige Menschenalter unter der wirtschaftlichen Fürsorge ihrer Regierungen,
zum Beispiel auch der Friedrichs des Großen, geseufzt. Sie erwartete von der
befreite» Kraft des Einzelnen einen unendlichen Aufschwung aller, und hat sie
denn nicht Recht gehabt? Man vergleiche doch den ungeheuern Reichtums- und
Volkszuwachs im neunzehnten Jahrhundert mit den Zeiten vorher. Hätte das
irgendwelche Wohlfahrtspolitik gekonnt? Nein, nur die befreite Kraft des Ein¬
zelnen hat es gekonnt.
Damit man mich nicht falsch versteht, will ich betonen, daß das genossen¬
schaftliche Bauen an sich wie jede freie Genossenschaft ganz in den Geist der
freien Privatwirtschaft paßt. Freie Genossenschaft ist ja nur Vereinigung der
freien Willen Einzelner. Es kann auch nichts dagegen gesagt werden, daß sich
wohltätige Baugenossenschaften bilden. Im Gegenteil, es gehört geradezu zur
Freiheit des ten,88ör lÄirs l^isssr allor und ist dessen notwendige Korrektur, daß
die freiwillige Wohltätigkeit das Unglück im freien Verkehr ausgleicht. Aber
das Falsche liegt darin, daß man diesen Genossenschaften für einen bestimmten
Zweck öffentliche Gelder unter dem Werte geben will.
Niemand kommt bei der Diskussion über die Wohnungsfrage schlechter weg
als die preußischen Stadtverwaltungen mit ihrem Privileg der Hausbesitzer. Man
erkennt in ihnen den stärksten Feind und denunziert ihren Widerstand als die
eigennützige Interessenpolitik einer Cliqnenregierung- Man nimmt den Wider¬
spruch der Hausbesitzer geradezu für einen Beweis für die Güte der Sache.
Aber wenn ihr Häuser bauen wollt, auch wenn es gemeinnützige sind, so werdet
ihr in Kürze auch Hausbesitzer sein, und jener Klagen werden eure Klagen sein
Von dem Augenblick ein, wo ihr das von fremdem Gelde gebaute mit eignem
Gelde erhalten müßt.
Mir ist es in meiner bisherigen Arbeit als Stadtverordneter immer nur
aufgefallen, daß in keinem Instinkt die Stadtverordnetenversammlung sichrer ist
als darin, daß keinem Einzelnen, zumal uicht einem Stadtverordneten oder einem
Stadtrat, ein Vorteil auf öffentliche Kosten zugewandt werde. Man haßt nichts
mehr als diese Korruption. Keiner darf zu einem andern Preise kaufen oder
liefern, den nicht jeder andre auch täglich verlangen konnte, und die Leute
gleicher Interessen, zum Beispiel die Bauhandwerker, passen am schärfsten auf¬
einander auf. In Amerika scheint das anders zu sein. Dort soll es ja viel
Korruption in den Stadtverwaltungen geben. Bei uns bleibt mancher vorteil¬
hafte Grundftückskcmf für die Stadt unmöglich, weil man dem Verkäufer auch
nicht den kleinsten Vorteil gönnt. Manches größere Unternehmen, zum Beispiel
eine lukrative Straßenbahn oder eine Parkanlage, die nach dem Latein der
Sozialpolitiker gemeinnützig heißt, weil sie einen Sondernutzen unentgeltlich oder
unter dein Preise an einzelne Interessenten abgibt, wird in der Stadtverordneten¬
versammlung unmöglich gemacht, weil sie Einzelnen nützt und andern nicht. Diese
häßliche Eigenschaft der Deutschen, die Neidhammelei, hat die gute Folge, daß
nach meinem Empfinden die Korruption in einer öffentlichen Versammlung
Deutschlands psychologisch unmöglich ist.
Eine solche Versammlung soll öffentliche Gelder und andre geldwerte Vor¬
teile nach dem Prinzip der Gemeinnützigkeit verteilen, d. h. einem Sonder¬
zweck zuwenden, den „sozial" zu nennen für heute gerade modern ist? Das
heißt viel verlangen von dem Mißtrauen einer Stadtverordnetenversammlung,
zumal in einer mittlern Stadt. Sie wird nicht über das Empfinden hinweg¬
kommen, daß irgendwem, und man weiß noch nicht einmal wem endgiltig, ein
unrechtmäßiger Vorteil zugewandt werden soll.
Einzelne Wohnungsrefvrmer rufen als Bundesgenossen gegen die vis
wörtig.s der städtischen Körperschaften die Feindschaft auf, die gegen das städtische
Wahlrecht weit verbreitet ist. Der moderne Aberglaube lehrt, daß die Politik,
auch die innere, eine Sache der materiellen Interessen wäre, daß darum eine
Volksvertretung, die nicht nach dem allgemeinen gleichen und geheimen Wahl¬
recht gewählt ist, das Gemeininteresse gar nicht wahrnehmen könne, sondern nnr
ihr Sonderinteresse, und darum eine Mißgeburt sei; nur die gleiche Vertretung
aller bringe das Gemeininteresse zu Wort. Aber das ist ein Irrtum, nicht das
Gemeininteresse, sondern eine Unzahl von Sonderiuteressen kommen so zu Wort,
und nicht einmal alle, denn in der größten demokratischen Versammlung ist die
Summe aller Sonderinteressen verfälscht. Wenn nun die Volksvertreter in einer
demokratischen Versammlung nnr blind die materiellen Interessen derer vertreten,
die sie hingeschickt haben, so verdammt sich die Versammlung zur politischen
Ohnmacht. Aus dem Streit der materiellen Sondcrinteressen ringt sich nur
schwer ein dauerhafter politischer Wille auf ein gemeinnütziges Ziel frei.
Aber die Politik ist eben nicht eine Arithmetik der Interessen, sondern eine
Aufgabe des Gewissens. Auch in einer demokratischen Versammlung müssen sich
die Einzelnen nicht an ihre unzähligen Sonderinteressen, sondern an ihr Ge-
wissen wenden, wenn sie das Gemeinwohl fördern wollen. Ebenso kann eine
aristokratische Versammlung das Wohl der Gesamtheit fördern, wenn sie mir
ihr Gewissen befragt. Nicht die Form des Wahlrechts, sondern die Gewissen¬
haftigkeit der Volksvertreter ist der Hort, wo das Wohl des Volkes verwahrt
wird. Benutze eine aristokratische Vertretung ihre politische Macht für ihren
Sondernutzen, so ist es allerdings Zeit, sie abzuschaffen, aber ebenso oft taugt
eine demokratische Vertretung nicht, weil sie nicht die nötige Gewissenhaftigkeit
für die königliche Arbeit des Regierens aufzubringen vermag.
In den deutschen Verfassungen gilt der gesunde Grundsatz: Soviel Lasten,
soviel Rechte, im Reich Kopfsteuer und Kopfwahlrecht, in Preußen Klassensteuer
und Klassenwahlrecht. Aus andrer Leute Beutel bewillige» demoralisiert. Mit¬
regieren soll mir, wer mitstenert. Damit ist nnn aber nicht gesagt, daß eine
Klassenwahlrechtsvertretung berechtigt wäre, von ihrem Gelde Klassenpolitik zu
treiben. Das Amt als Obrigkeit verlangt, daß das selbstgesteuerte Geld zum
Wohle des Ganzen verbraucht werde, wie ja auch der Hauptaufwand der Ge¬
meinden für die Schulen aufgeht. Geschähe das nicht, so wäre es Zeit, die
Verfassung zu ändern. Aber ein Irrwahn ist es, das demokratische Wahlrecht
an sich wäre dem Gemeinwohl irgendwie vorteilhafter. Der Vorzug liegt nur
bei dem stärkern Gewissen.
Wenn es nach dem preußischen Wohnungsgesetz möglich wird, daß die Orts¬
polizeibehörde, das heißt die Negierung, die Gemeinden zu bedeutenden finan¬
ziellen Opfern zwingen kann, so wird die Selbstverwaltung geschwächt, nämlich
das Selbständigkeitsgefühl und Verantwortlichkeitsgefühl der Gemeinde bei ihrer
Verwaltuugsarbeit. Darum sind mehrere Oberbürgermeister dagegen aufgetreten.
Und mit Recht! Der Steiuschen Städteordnung ist gelungen, innerhalb des
großen preußischen Staates viele kleine wahre Republiken zu errichte«, nämlich
Volksvertretungen, die nicht nur schwatzen, sondern wirklich regieren und die
Verantwortlichkeit des Regierens am eignen Leibe fühlen. Es ist vielleicht
einmal am Platze, auf den hohen politischen Wert dieser Einrichtung hinzuweise»,
sie ist gegen die Macht eines Eroberers, als die gewaltigste Waffe der Freiheit
unsers Volkes, geschaffen worden. Als Magdeburg 1806, die stärkste wohl¬
bewaffnete Festung, von ihrem General ohne jede Verteidigung übergeben werden
sollte, und als die Bürgerschaft darüber murrte, da fiel das Wort, das den
verhängnisvollen Fehler verriet: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Ein Volk,
das nichts gelernt hat, als blinden Gehorsam, ist die leichte Beute eines siegreichen
Eroberers. Die Leibeskraft seiner männlichen Jugend, sein Geld, seine Intelligenz
dienen sofort dem Eroberer gegen den alten Herrn; es ist waffenlos. Dagegen
ein Volk, das sich selbst verwalten gelernt hat, kann auch mit dem größten
Wasserdruck wohl vorübergehend niedergeworfen aber nicht geknechtet und aus¬
genutzt werde«, bis es gelungen ist, diese Selbstverwaltung und die Gewohnheit
der Freiheit in ihm zu ersticken. Das ist der Sinn des alten Preußenliedes:
Nicht Roß, nicht Reisige, sondern Liebe des freien Volkes schützen den Thron
des angestammten Königs. Ein blind gehorsames Volk gehört immer dem Mäch¬
tigsten. Ein freies Volk gehört immer dem angestammten Herrn. Darum heißt es
seit 1808: Nicht Ruhe, sondern freie Vaterlandsliebe ist die erste Bürgerpflicht.
Das ist gerade das Wertvolle an der Städteordnung, daß sie dem Bürger
nicht nur das Schwatzen erlaubt, sondern ihn in der Verwaltungsarbcit erzieht.
Als bloßes Regierungsinstrument wäre für diesen oder jenen materiellen Zweck
die Präfektur eines Regierungskommissars vielleicht praktischer. Aber die Selbst¬
verwaltung soll, wie ein Oberbürgermeister sehr gut gesagt hat, die Allgemein¬
heit erziehn. Das ist ihr politischer Daseinszweck. Fängt man an um einer
kurzsichtigen Wohlfahrtsgesetzgebung willen die Selbstverwaltungskörper zu bevor¬
munden, so nimmt man ihnen die Seele, das Gewissen, das Gefühl der Ver¬
antwortlichkeit, man nimmt das Wörtchen „selbst" aus der Selbstverwaltung, und
übrig bleibt nur der passive Begriff Verwaltung, das Sichregierenlassen, die
Unmündigkeit.
Unsre Wohnungsreformer sind der Meinung, sie könnten oder müßten die
Sittlichkeit stützen oder heben. Auch Geistliche und gute Christen glauben, gutes
Wohnen könne die Sittlichkeit fördern und schlechtes sie schädigen. Meine Er¬
fahrung und mein Glaube lehrt anders. Die Sittlichkeit, die materielle Stützen
braucht, ist schon halb verloren. Sittlich starke Familien vermögen auch in
großstädtischen Kasernen sittenrein zu wohnen. Sittlich schwache und liederliche
Leute machen jedes Hans zur Lasterhöhle. Die Guten suchen einander, und
die Schlechten suchen einander, um miteinander zu wohnen. Gibt es mehr gute
und tüchtige Elemente ini Volke, so werden die Guten auch bei ihresgleichen
Wohnung finden. Und so ist es auch. Gewöhnlich sind es die Liederlichen und
Schlechten, die nirgends dauernd Unterkommen finden. Nach meiner Meinung
ist es nur ein materialistischer, echt moderner Aberglaube und Irrtum, wenn
man meint, mit materiellen Werten sittliche Werte kaufen zu können. Die Sitt¬
lichkeit läßt sich nicht erkaufen. Die Sittlichkeit der zukünftigen Generationen
unsers Volkes liegt, gut oder schlecht verwahrt, in den Gewissen aller Eltern,
besonders der untern Stände. Die Allgemeinheit, Staat oder Gemeinde, kann
wenig zu dieser Arbeit der Kinderstube tun. Materielles hilft gar nicht. Sie
kann nur mit Achtung und Anerkennung die Eltern verehren, die ihre Pflicht
bd-ur-Rahmnn Khan offenbarte seinen Charakter sehr bald nach
seiner Thronbesteigung, denn als ihm seine Mutter, eine Frau,
die früher in äußerst bescheidnen Verhältnissen zu Kandahar ge¬
lebt hatte, Vorstellungen wegen seines despotischen und grau¬
samen Vorgehns machte, fuhr er sie mit rohen Worten an und
wies sie aus seinem Gemache fort. Kurze Zeit nach diesem Auftritt starb die
Frau. Ob die Vermutung richtig ist, die in Kabul auch heute noch uuter
den Leuten gang und gäbe ist, daß die Frau eines gewaltsamen Todes ge¬
storben sei, vermag ich nicht zu entscheiden. Einen Bruder seines Vaters bestellte
der Emir als Gouverneur in Herat und setzte ihm den ungewöhnlich hohen
Gehalt von 50000 Rupien im Jahre aus. Nach zwei Jahren wurde der
Mann ohne erkennbare Ursache von seinem Posten abberufen — böse Zungen
meinten, weil er zu wenig geraubt habe — und mit der Aufsicht in der Waffen¬
fabrik des Emirs zu Kabul betraut. Was er sich in dieser Stellung etwa hat
zuschulden kommen lassen, weiß niemand, doch wurde er nach kurzer Frist seines
Dienstes enthoben und führte seitdem, ohne jegliche Unterstützung durch seinen
Neffen, ein erbärmliches Leben. In einem schäbigen Aufzuge ritt er, der
Oheim des Emirs, von seinem elenden Häuschen in die Stadt (Kabul) und
borgte sich, selbstverständlich für Zeit und Ewigkeit, von hindostanischen Kauf¬
leuten etliche Rupien, um sein trauriges Dasein zu fristen. Ich habe den
Mann wiederholt mit eignen Augen gesehen. Diese Beispiele sollen dartun, wie
gemütsroh und gefühllos sich der Emir den nächsten Blutsverwandten gegen¬
über zeigte. Ein Mann von solcher Sinnesart war selbstverständlich auch mi߬
trauisch und grausam. Sein Mißtrauen wird durch die Tatsache beleuchtet, daß
er seinen zum Thronfolger bestimmten Sohn Habib Allah ebenso wie andre
Würdenträger von Spähern belauern ließ, die jedes Wort, das der junge
Mann sprach, getreulich berichteten. Die Angeberei ist in Kabul überhaupt zu
einem förmlichen „System" ausgebildet, wie ich sogleich erzählen werde. Habib
Allah suchte sich vor den Spionen seines Vaters dadurch zu schützen, daß auch
er sich durch Vertraute, die in dem Gefolge seines Vaters waren, von allem
unterrichten ließ, was über ihn geredet wurde.
Zum Angeber ist in Kabul und demgemäß auch im ganzen Reiche jeder,
sogar der Gefangne und Sträfling, befähigt. Auf solche niedrige Weise suchen
ja Gewaltherren ihre Herrschaft und ihr Leben zu schützen. Jede Anzeige, möge
sie herrühren, von wem immer, wird berücksichtigt und gibt Anlaß zu einer
peinlichen Untersuchung. Stellt sich die Anzeige als unbegründet heraus, so
steht dem Angeber allerdings eine harte Strafe bevor; wie erbärmlich ist aber
trotzdem ein Denunziantentum, das um gemeinen Vorteils willen immer auf
der Lauer liegt, sodaß der Vater dem Sohne, der Bruder dem Bruder, der
Freund dem Freunde unablässig mit Argwohn begegnet! Die Angeberei ver¬
fehlt übrigens gerade in den Fällen, wo es sich um hochgestellte und darum
einflußreiche Persönlichkeiten handelt, meist ihren Zweck, da sich diese, mögen
die wider sie erstatteten Anzeigen immerhin begründet sein, zu sichern und zu
wahren wissen. Die Opfer der Denunziationen sind denn auch zum größten
Teil arme Teufel, die nicht viel mehr ihr eigen nennen als das nackte Leben.
In den Gefängnissen zu Kabul schmachteten während meines dortigen Aufent¬
halts etwa zehntausend männliche und zweitausend weibliche Häftlinge, von
denen bei weitem die meisten nach europäischen Begriffen unschuldig der Freiheit
beraubt worden waren. Diese Opfer einer verabscheuungswürdigen Tyrannei
werden auch von ihren Landsleuten nicht als Sträflinge, sondern als Märtyrer
betrachtet. Ein Damoklesschwert hängt ja in der Tat über jedem Afghanen¬
schädel.
Sehr bezeichnend für die Gewaltherrschaft des Emirs war die widersinnige
Gepflogenheit, die Verwandten Schuldiger und Unschuldiger ohne weiteres ge¬
fangen zu setzen, auch die Witwen Gerichteter oder deren Kinder. Als Beleg
hierfür einige Beispiele. Vor etlichen Jahren erhielt der Statthalter von Kan-
dahar vom Emir den Befehl, nach Kabul zu kommen. Der Mann wußte, was
das zu bedeuten hatte, und ließ sich vom Schlage rühren, wie „man" im Volke
sagte, d. h. er zog, da er vermutlich einiges auf dein Kerbholz hatte, ein rasch
wirkendes Gift dem unvermeidlichen Stricke vor. Damit wäre der Gerechtigkeit
Genüge getan, sollte man glauben. Weit gefehlt! Der Emir rast und muß
sein Opfer haben. Der Befehl, vor dem Fürsten zu erscheinen, wurde dein
Sohne des Dahingeschiednen erteilt, der denn auch nach Kabul kam und ohne
Umstände hingerichtet wurde. Von einem gerichtlichen Verfahren, wie es in
den Kulturstaaten gebräuchlich ist, kann in Afghanistan selbstverständlich nicht
gesprochen werden. Der Emir sprach Recht nach Laune und Willkür, einzig
und allein beraten von seiner unersättlichen Habgier. Dreizehn Jahre vor meiner
Anwesenheit in Kabul wurde ein hundertjähriger Greis zum Emir berufen, der
viele Jahre Minister in Kaschmir und später unter dem Vorgänger Abd-ur-
Nahmüus Statthalter in Dschelalcibad gewesen war. Er verbrachte den Rest
seines Lebens in seiner Vaterstadt Kandahar, wo er fünf Häuser und große
Landgüter besaß. Dieser Wohlstand forderte die Habsucht des Emirs heraus.
Der Greis wurde zu Kabul in das Gefängnis geworfen und seines ganzen
Vermögens beraubt, sodaß Abd-ur-Rcchmän durch diese verruchte Tat in den
Besitz von 60000 Rupien, vou vier Häusern und des ganzen Grundeigentums
sowie des bedeutenden Viehstandes des Vergewaltigten gelangte. Das kleinste
Haus samt einem Garten wurde der Frau des Beraubten zur Benutzung über¬
lassen, eine Gnade, die mich in der Annahme bestärkt, daß dem Greis irgend¬
eine Schuld nicht angesonnen werden konnte. Er wurde drei Jahre in Haft
gehalten und besaß, als ihm endlich die Freiheit wiedergegeben wurde, nicht
einen Senar (15 Pfennige), womit er sich ein Stückchen Brot hätte kaufen
können, geschweige die Mittel, nach Kandahar zurückzukehren. Wie nur gesagt
wurde, hat der Thronfolger Habib Allah dein Ärmsten ein kleines Geldgeschenk
gegeben; er kam aber nicht mehr nach Kandahar zurück, sondern starb bald
darauf in Kabul. Der Sohn dieses Opfers fürstlicher Habgier und Grausam¬
keit, der als fünfzehnjähriger Junge von seinem Vater nach Indien geschickt
worden war, damit er etwas lerne, war ohne Erlaubnis seines Vaters ans ein
englisches Schiff gegangen und sieben Jahre mit ihm auf allen Meeren herum¬
gekommen. Er hatte mit Opium und Seide einen kleinen Tauschhandel ge¬
trieben und dabei 3000 Rupien erübrigt. Hierauf in die Heimat zurückgekehrt
und endlich nach Kabul gekommen, fand er in der Waffenfabrik als Dolmetsch
mit einem Monatslohn von 50 Rupien Stellung. Dieser völlig schuldlose Mann
wurde, nachdem sein Vater in den Kerker geworfen worden war, ohne Angabe
eines Grundes ebenfalls verhaftet und seiner Ersparnisse beraubt. Zwei Jahre
trug er eiserne Fesseln an den Beinen und mußte nach wie vor, selbstverständlich
ohne Bezahlung, seinen Dienst als Dolmetsch verrichten. Hernach „begnadigt,"
erhielt er einen Monatslohn von 12 Rupien und erfreute sich, da er auch beim
Montiere» verschiedner Maschinen Geschicklichkeit bekundete, einer Erhöhung
seines Lohnes um 13 Rupien, sodaß er endlich wieder 25 Rupien im Monat
bezog. Seine Ersparnisse sind freilich unwiederbringlich dahin, aber die Weis¬
heit und die Gerechtigkeit des Emirs wird er nicht müde zu bewundern.
In welcher ebenso grausamen als geschäftskundigen Weise Abd-ur-Rahmün
seinen Vorteil mit strafrechtlicher Strenge zu paaren verstand, möge folgender
Vorfall dartun. Drei mir persönlich bekannte Brüder, die als gute Arbeiter
in der Waffeufabrik beschäftigt waren, verfertigten im Jahre 1899 in ihrem
Vaterhause in Kabul etwa dreißig Gewehre. Sie arbeiteten an den Feiertagen
und bei Nacht. Im Dezember jenes Jahres verkauften sie einige dieser Flinten.
Dies kam an den Tag, dem Emir wurde darüber Bericht erstattet, und es
wurde sofort die Vernehmung aller in der Waffenfabrik beschäftigten Arbeiter
angeordnet. Diese Untersuchung ergab, daß fünfunddreißig Arbeiter von der
Anfertigung der Gewehre Kenntnis gehabt hatten. Sie wurden verhaftet und
erhielten eiserne Beinfesseln. Da jedoch die Arbeit in der Gewehrfabrik ohne
Unterbrechung fortgesetzt werden sollte, wurden diese Häftlinge Tag für Tag,
von einer militärischen Wache geleitet, aus dem Gefängnis in die Fabrik ge¬
trieben, wobei immer drei durch schwere Wagcnketten, die um ihre Hälse ge¬
schlungen waren, aneinander gefesselt wurden. Diese Ketten wurden ihnen in
der Fabrik abgenommen, damit sie arbeiten konnten, am Abend wurden sie in
derselben Weise in das Gefängnis zurückgeführt. Diese Marter währte vom
20. Dezember 1899 bis Anfang April 1900. Dann wurden die armen Teufel
„begnadigt." Während des genannten Zeitraums erhielt jeder dieser Arbeiter
täglich 15 Pics (20 Pfennige) für seine Beköstigung, eine Milde, die sich aus
der Gepflogenheit erklärt, tüchtige Arbeiter auch als Häftlinge und Sträflinge
zu schonen, damit ihre Arbeitskraft ausgenutzt werden kann. Viel schlimmer
als den Verkäufern der Flinten erging es denn auch den Käufern, die zu
Beginn des März 1900 ermittelt wurden. Es waren ihrer fünf, von denen
einer als Käufer und Verkäufer am meisten belastet schien.
Mit diesen Leuten wurde kurzer Prozeß gemacht: der Hauptschuldige
wurde zum Tode durch Pfählen, die andern zum Galgen verurteilt. Am
7. März um zehn Uhr Vormittags sollte das Urteil vollstreckt werden. Die
armen Sünder wurden eine Stunde früher unter militärischer Bedeckung ans
den Übungsplatz der Truppen geführt, wo drei Galgen, an denen achtzehn
Delinquenten zugleich baumeln können, zu jeweiligem Gebrauche aufgerichtet
sind. Bevor die Hinrichtung vor sich ging, begab sich ein Reiter mit einem
Gnadengesuche zum Emir. Da ich jeden Tag dienstlich auf der an dem
Übungsplatze vorbeiftthrenden Straße zu meiner Arbeitsstätte ritt, kam ich auch
an jenem Tage um zehn Uhr dort vorbei und hielt meinen Gaul an. Eine
große Menschenmenge war an der Richtstätte versammelt, wo die Verurteilten
auf den Knien lagen und beteten. Die Stricke waren schon in den Spulen
der Galgenhölzer, und jedem der armen Sünder tanzte eine verhängnisvolle
Schlinge vor den Augen. Neben den Galgen war an einer langen Stange
ein Riesenplakat befestigt, auf dem in großer Schrift „Verbrechen" und Urteil
zu lesen standen. Um elf Uhr kehrte der mit dem Gnadengesuch abgeschickte
Reiter zurück und verkündete den Entschluß des Emirs, wonach die Verurteilten
nur begnadigt würden, wenn jeder zehntausend Rupien bezahlte. Zur Beschaffung
dieser Summe wurde jedem eine Frist von sieben Tagen gewährt. Der Haupt¬
schuldige, dem das Pfählen bevorstand, eine barbarische Art der Hinrichtung,
wobei dem armen Sünder ein Pfahl von unten in den Leib getrieben wird,
erlegte den genannten Betrag noch an demselben Tage und wurde in Freiheit
gesetzt, seine Mitschuldigen vermochten jedoch die für ihre Verhältnisse überaus
hohen Beträge nicht so rasch aufzubringen und wurden noch sechs Tage nachher
Morgens um acht Uhr aus dem Gefängnisse auf den Richtplatz geführt, wo sie
bis vier Uhr Nachmittags unter den Galgen beteten, worauf sie wieder in
Gewahrsam gebracht wurden. Am achten Tage sah ich die bedauernswerten
Menschen nicht mehr unter den Galgen, weiß aber nicht, ob es ihnen gelungen
war, die vom Emir verhängte Buße voll zu bezahlen. Ich erfuhr, daß Abd-
ur-Rahmän in solchen Fällen auch mit sich handeln lasse, zumal da von seinen
Schergen genau ermittelt wird, wieviel Vermögen so ein armer Sünder und
seine Verwandten besitzen. Die Verwandten Verurteilter leisteten in solchen
Fällen meist mit ihrem ganzen Hab und Gut Hilfe, und wenn die geforderte
Buße nicht aufgebracht werden konnte, so wurde vom Emir wohl auch eine ge¬
ringere Summe großmütig angenommen, da er als „Geschäftsmann" asiatischer
Herkunft dem Grundsatze zu huldigen schien, daß man armen Teufeln nicht
mehr abnehmen dürfe, als sie eben besitzen. Auch war ihm ein lebender Mann,
der hundert Rupien bezahlt, lieber als ein toter, aus dem auch kein Pies
(sprich Pels) mehr herauszupressen ist. Geldstrafen verbirg der Emir sehr
häufig, und es ist seltsam, daß trotz der großen Armut der Leute die Bußen
meist bezahlt wurden. Eine Erklärung hierfür liegt in der Tatsache, daß das
Volk überaus sparsam und genügsam ist. Freilich zeitigen diese Tugenden mit¬
unter böse Früchte.
Ein zwanzigjähriger Bursche, ein sehr fleißiger und geschickter Maurer, er¬
sparte sich im Verlauf zweier Jahre von seinem Lohne zweihundert Rupien.
Er erhielt wegen seiner Geschicklichkeit einen Taglohn von anderthalb Abasi
(45 Pfennigen), wogegen andre Maurer und Handlanger nur einen Abasi
(30 Pfennige) erhalten. Der junge Mann verwahrte das ersparte Geld in
seinem Leibgürtel, den er immer trug, und die andern Maurer nahmen dies
wahr. Ein neidischer Wicht berichtete dem Emir, daß der Arbeitsgenosse eine
Menge Geldes habe, worauf dieser durch eine Militärwache vor den Fürsten
geführt und von ihm befragt wurde, woher er das Geld habe. Der Mann gab
wahrheitsgetreu Aufschluß, doch wurde seinen Worten nicht geglaubt. Auf solche
Weise könne er das Geld nicht erworben haben, hieß es, das sei gestohlen.
Daraufhin wurden ihm die im Schweiße des Angesichts verdienten zweihundert
Rupien abgenommen; er wurde in das Gefängnis gesteckt. Zwei Jahre lang
trug der Unschuldige Fesseln an den Beinen. Darauf wurde er begnadigt, denn
er war ja ein guter Arbeiter, doch arbeitete er nur wenige Tage. Dann suchte
er das Weite und dürfte über die britisch-indische Grenze entkommen sein. Glück¬
licherweise hatte der Entflohene weder lebende Eltern noch andre Verwandte.
Diese wären wegen der Flucht des Jünglings zur Verantwortung gezogen und
zweifellos hart bestraft worden. Ohne ausdrückliche Erlaubnis darf kein Afghane
das Land verlassen. Mitte Dezember 1900 machte sich ein Arbeiter der Waffen¬
fabrik aus dem Staube, weil ihm seit sieben Monaten keine Löhnung bezahlt
worden war, und er Lebensmittel auf Borg nicht mehr erhielt. An der Grenz¬
station Data wurde er festgenommen und mit einer schweren Kette um den Hals
unter militärischer Bewachung nach Kabul zurückgebracht, wo er an den Beinen
gefesselt und gezwungen wurde, wiederum zu arbeiten. Solche Fälle ereignen
sich sehr häufig.
Empörend ist auch die grausame Vergewaltigung tüchtiger und geschickter
Arbeiter, die der Emir nicht etwa durch hohe Löhne, sondern durch despotische
Willkür zwingt, in seiner Fabrik zu arbeiten. Am Ausgange des Jahres 1899
wurde einem Schlosser oder Schmiede, der in Kabul eine eigne Werkstätte
besaß und als guter Arbeiter bekannt war, der Auftrag gegeben, in dem Werk¬
hause des Emirs zu arbeiten. Der Mann wollte diesem Anerbieten nicht Folge
leisten, da er sich in seiner Werkstütte täglich eine Rupie verdiente, in der Fabrik
des Emirs aber nur einen Monatslohn von zehn Rupien erhalten sollte. Sein
Widerstand währte freilich nicht lange, denn er wurde verhaftet und gezwungen,
unter Bewachung Steine auf die Bauplätze des Emirs zu tragen. Nach zehn
Tagen war sein Trotz gebrochen, und er erklärte sich bereit, in dem allgemeinen
Werkhause zu arbeiten. Auf solche Weise verstand es Abd - ur-Rcchman, die
Arbeitskraft seiner „lieben" Untertanen zu seinem Vorteile zu verwenden.
Den despotischen Sinn des Emirs mögen ferner folgende Geschehnisse kenn¬
zeichnen: Vor etwa acht Jahren starb in Kabul ein Hausbesitzer, der einen vier¬
zehnjährigen Knaben als einzigen Erben zurückließ. Dies wurde dein Emir
berichtet, der den Knaben zu sich rief und ihm viertausend Rupien für ein er¬
erbtes Haus anbot, für das dem Erben von andrer Seite schon das Doppelte
geboten worden war. Der Erbe wollte jedoch sein Vaterhaus nicht veräußern,
zumal da er von dem Erträgnisse leben konnte, und lehnte das Anerbieten des
Emirs ab. Das wurde selbstverständlich sehr übel aufgenommen, der Knabe
erhielt eine Tracht Prügel, und sein Haus wurde von den Schergen des Emirs
gesperrt. So wurde der unmündige Junge von dem Landesherrn, dem obersten
Hüter des Rechts, beraubt und hilflos auf die Straße gestoßen. Mitleidige
Nachbarn nahmen sich des Bedauernswerten an, der zu einem kräftigen Manne
aufwuchs und gegen einen Monatslohn von acht Rupien für den Emir arbeitete,
als ich in Kabul weilte.
Sechzehn Jahre vor meinem Aufenthalt in Afghanistan sollte ein großes
Staatsgrnndstück bei Kandcchar verpachtet werden. Es meldete sich ein Pächter,
der nach Kabul berufen und befragt wurde, welchen Pachtzins er zu entrichten
vermöge. Der Mann versprach, jährlich sechzigtausend Rupien zu bezahlen, und
der Pachtvertrag wurde abgeschlossen. Im ersten Jahre gewann der Pächter
nur fünfzigtausend Rupien als Erträgnis, dem Vertrage gemäß mußte er jedoch
sechzigtausend Rupien abliefern, wodurch er in Schulden geriet. In den nächsten
Jahren wurde das Erträgnis aus der Bewirtschaftung des Gutes immer höher,
da die Grundstücke durch fleißige Bearbeitung fruchtbarer wurden. Der Pächter
erreichte deshalb einen gewissen Nutzen für Fleiß und Mühe. Nach mehreren
Jahren wurde dem Emir berichtet, der Pächter besitze viel Geld, Dieser wurde
deshalb nach Kabul gebracht und so lange gefangen gehalten und gefoltert,
bis ihm ein Bekenntnis seines Vermögens bis auf den letzten Senar erpreßt
worden, und das Geld in dem unergründlichen Säckel des Emirs verschwunden
war. Durch diesen gemeinen Raub bereicherte sich Abd-ur-Rahmän mit dem
Betrage von 60000 Rupien.
Ein vornehmer Afghane, der sich auf Handelsgeschäfte gut verstand, erhielt
vom Emir mehrere hunderttausend Rupien zu Geschüftszwecken geliehen. Es
wurde dabei eine Verzinsung des Kapitals mit fünf vom Hundert vereinbart.
Der Handel ging gut, und der Emir ließ die fülligen Zinsen zum Kapital schlagen.
Das dauerte drei bis vier Jahre. Selbstverständlich wurde der Händler durch
die Zollämter strengstens überwacht, und dem Emir wurde von Zeit zu Zeit
Bericht erstattet. Eines Tages wurde der Kaufmann ohne jede Ursache in das
Gefängnis geworfen und blieb solange in Haft, bis das ihm geliehene Geld
samt allem Gewinn im Besitze des Emirs war. Dann sagte Abd-ur-Rahmän
zu dem freigelassenen: Du weißt, daß alles Geld mir gehört. Es tut mir leid,
daß dir solches widerfahren ist, aber du hast ja die Jahre her ein gutes Leben
gehabt. Ich will dir wieder Geld leihen, damit du neuerdings Geschäfte machen
kannst. Dieser Vorgang wiederholte sich, der Kaufmann saß schon dreimal in
Haft und wurde jedesmal seines Vermögens beraubt, damit der edelmütige Emir
das Seinige zurückerhalte.
In einem Reiche, dessen Herrscher sich offenkundiger Räubereien schuldig
macht, scheuen selbstverständlich auch die, deren Gewalt dazu ausreicht, und
deren Vorteil damit verknüpft ist, vor verdammenswerten Arkaden nicht zurück.
Von einem durchaus glaubwürdigen Manne wurde mir erzählt, daß zum Bürger¬
meister von Kabul der Vertrauensmann des Emirs ernannt würde, der diesem
die größten Einnahmen versprach. Wie und wo er das Geld aufbrachte, war
ziemlich gleichgiltig, jedesmal wurde dem Bürgermeister hierbei freie Hand ge¬
lassen. Es ist deshalb begreiflich, daß es unter so bewandten Umständen nicht
immer mit rechten Dingen zuging. Von dem vorigen Bürgermeister von Kabul
werden recht wenig erbauliche Dinge berichtet. Er soll während seiner zehn¬
jährigen Amtstätigkeit mehrere hundert Raubmorde durch seine Schergen haben
ausführen lassen, ohne daß es jemand gewagt hätte, auch nur ein Wort darüber
zu sprechen. Die Leute zitterten eben vor ihm. Schließlich ereilte ihn das Ver¬
hängnis unter Umstünden, die einen furchtbaren Verdacht gegen den Emir ent¬
halten. Der Bluthund von einem Bürgermeister hatte nämlich durch seine
„Schutzleute" einen vermögenden Mann verhaften, seines Bargeldes im Betrage
von 20000 Rupien berauben und dann ermorden lassen. Von dieser Beute
übergab er dem Fürsten 2000 Rupien, den Rest behielt er für sich; ein Zufall
hatte es jedoch so gefügt, daß ein Knabe wußte, welche Summe Geldes in diesem
Falle geraubt worden war. Möglicherweise ist dem Knaben die Summe von
wissenden Leuten genannt worden, jedenfalls wurde er veranlaßt, an den Emir
zu berichten. Der Bürgermeister, auf Grund dieser Anzeige zu dem Herrscher
gerufen und befragt, welchen Betrag er dem Ermordeten habe abnehmen lassen,
beteuerte, es seien 2000 Rupien gewesen. Der Emir hielt ihn, die Anzeige
unter die Nase und meinte grimmig, solche Betrügereien habe der Bürgermeister
offenbar schon öfter begangen. Da entschwand dem Mordbuben aller Mut, denn
er ahnte, daß sein Stündlein geschlagen habe. Er wurde verhaftet und gestand
auf der Folter, daß zehn Lek oder eine Million Rupien in seinem Hause lägen
und ein ebenso großer Betrag nach Persien gebracht worden sei. Er wurde
sodann gezwungen, in einem eigenhändig unterschriebnen Briefe das nach Persien
geschickte Geld zurückzuverlangen, und der Emir ließ es von dort nach Kabul
schaffen, worauf er es samt der im Hause des Schurken lagernden Million zu
seinen „Ersparnissen" legte. Der Bürgermeister wurde an einem Nußbaum auf¬
geknüpft, und die Leiche wurde von einem Pferde durch die Basarstraße geschleift,
wo sie dieselben Leute, die vor dem Lebenden fast auf die Knie gesunken waren,
nun anspielt.
Jedem, der die in Kabul herrschenden Verhältnisse kennt, drängte sich die
Frage auf, ob der Emir von dein nichtswürdigen Treiben seines Bürgermeisters
vor dem mitgeteilten Falle keine Kenntnis gehabt habe, und jeder, zunächst die
Untertanen des Fürsten, war von der Überzeugung durchdrungen, daß er den
Elenden als ein willkommnes Werkzeug benutzt habe, das er schließlich, um dem
Volke einen Beweis der Weisheit und Gerechtigkeit seines Herrschers zu liefern,
als verbraucht und abgenützt verächtlich zu den andern Toten warf. Der jetzige
Bürgermeister von Kabul soll, wie mir gesagt wurde, nicht so scheußlich wüten
und morden oder morden lassen wie sein Vorgänger, doch kann ich bezeugen,
daß in der zweiten Hälfte des Jahres 1900 sieben mir persönlich gut bekannte
Männer von der Schutzmannschaft in Haft genommen wurden und damit auf
Nimmerwiedersehen verschwanden. Als ich mich, nichts Böses ahnend, nach
einigen dieser Leute erkundigte, erhielt ich die Auskunft, sie seien „gestorben."
Diese Männer hatte ich zwei Jahre lang als ehrliche und rechtschaffne Menschen
gekannt. Ich wußte nach jener Auskunft genug. Die armen Teufel hatten nicht
nur mit ihrem bißchen Habe, sondern auch mit ihrem Leben das unschätzbare
Glück bezahlen müssen, Untertanen seiner fürstlichen Hoheit des Emirs von Af¬
ghanistan zu sein.
Der Bürgermeister ist übrigens auf dem besten Wege, ein würdiger Nach¬
folger seines Vorgängers zu werden, er wagt sich sogar an Europäer heran.
Er war seinerzeit mit dem ältesten Bruder des Kronprinzen in England und
pumpte sich, als es ihm an Kleingeld zu mangeln begann, von dem Londoner
Geschäftshause Martin K Co. den Betrag von 12000 indischen Rupien. An
die Wiedergabe dieses Darlehns dachte der Edle selbstverständlich nicht, und so
geschah es, daß der als leitender Ingenieur in dem Werkhause des Emirs be¬
schäftigte Teilhaber der Firma Martin K Co., Herr Frank Martin, ein Eng¬
länder, im Jahre 1900 einmal eine Mahnung an den säumigen Schuldner zu
Händen des Fürsten ergehn ließ, der übrigens demselben Geschäftshause die
Summe von 300000 indischen Rupien schuldet. Abd - ur - Nahmnn stellte den
Bürgermeister zur Rede, und dieser erklärte frischweg, den von Ingenieur Martin
genannten Betrag nicht schuldig zu sein, vielleicht aber die Hälfte. Diese Schuld
werde er abtragen, sobald er seinen Gehalt erhalten werde. Mit diesen frechen
Lügen war es jedoch nicht abgetan, denn der Bürgermeister schnaubte Wut und
Rache. Eines Tages verdichteten sich diese Gefühle zu einem Mordanschlag,
dem der Ingenieur Martin gewiß zum Opfer gefallen wäre, hätte ihn ein glück¬
liches Ungefähr nicht vor dem Schlimmsten behütet. Herr Martin befand sich
an jenem Tage wie immer im Werkhause, umgeben von etlichen seiner Arbeiter,
und bückte sich, um bei dem Bau eines Metallschmelzofens nachzusehen. In
demselben Augenblick schleuderte ein afghanischer Arbeiter, der hinter Martin
stand, ein schweres Geschoß (Schrapnell, Sechspfünder) mit voller Wucht nach
dem Hinterkopf des Gebückten. Da sich Martin gerade wieder erhob, verfehlte
der Wurf sein Ziel, und das Geschoß traf den Ingenieur am Rücken, knapp
neben der Wirbelsäule, sodaß es ihm, wie er mir selbst sagte, dunkel vor den
Augen wurde. Der Attentäter wollte noch ein zweites Schrapnell, das er in
den Händen hielt, gegen Martin schleudern, aber die andern Arbeiter stürzten
sich auf ihn und prügelten ihn weidlich. Der Ingenieur, der gewiß getötet
worden wäre, wenn das Geschoß seinen Schädel oder die Wirbelsäule getroffen
hätte, mußte vierzehn Tage das Zimmer hüten, bevor er sich wieder ganz erholt
hatte. Der Mordbube wurde in das Gefängnis gesteckt, aber nicht gehenkt, eine
Milde, die uns Europäer nachdenklich machte und über die Ursache des An¬
schlags aufklärte, zumal als sich der Grimm des gereizten Bürgermeisters in der
Folge gegen die afghanischen Diener des Ingenieurs richtete, von denen im Laufe
der nächsten Monate nach und nach sechs eines plötzlichen Todes starben. Nach¬
dem der Pferdewärter Martins spurlos verschwunden war, äußerte dessen Sohn,
ein vierzehnjähriger Junge, die Absicht, dem Emir schreiben zu lassen, um zu
erfahren, wohin sein Pater geraten sei. Diese Äußerung mußte der arme Junge,
den ich gut kannte, mit dem Leben bezahlen, denn die militärischen Wachleute
im Hause Martins schlugen ihn so, daß er an den Folgen dieser Mißhand¬
lung starb.
Da weder diese gewaltsame Vernichtung eines Menschenlebens noch die Er¬
mordung der andern Diener Martins geahndet wurde, so ergibt sich die Schlu߬
folgerung von selbst, daß diese Bluttaten auf „höhere Weisung" geschahen. Ob
der Emir von den Verbrechen des ruchlosen Bürgermeisters Kunde erhielt, weiß
ich nicht, doch ist es immerhin seltsam, daß er gerade davon nichts sollte er¬
fahren haben, da ihm doch sogar über sehr geringfügige Dinge Bericht erstattet
wurde. Ich neige zu der Ansicht, daß Abd-ur-Rahmän in dieser Sache nichts
hören und sehen wollte.
Handelte es sich um seine eigne überaus werte Person, dann blieb ihm
nichts verborgen, und furchtbar offenbarte sich in solchen Fällen seine neronische
Grausamkeit. Am 1. September 1900 sprengten aus einem mir unbekannten
Grunde fünfzehn Häftlinge in einem großen Gefängnisse zu Kabul das Ge¬
rücht aus, der Emir sei gestorben. Schon am Abend des 2. Septembers wurde
das vom Emir wegen dieses „Verbrechens" gefällte Urteil verkündet, und am
3. September wurde es folgendermaßen vollstreckt: fünf Gefangne wurden ge¬
henkt, fünf mit Bajonetten erstochen, fünf wurden die Augen mit ungelöschtem
Kalk ausgebrannt. Am 5. Oktober wurde wegen desselben „Verbrechens" ein
Mann zerschnitten, zwei wurden lebendig begraben. Diese drei Unglücklichen
waren nicht Häftlinge und hatten das im Lande umlaufende Gerücht von dem
Tode des Despoten, das ja einem innigen Wunsche seine Entstehung verdanken
mochte, weiter verbreitet.
Nach dem Erzählten wird es den Leser nicht wundernehmen, zu hören,
daß in Afghanistan auch das Abschneiden von Ohren und Nasen gebräuchlich
ist, selbstverständlich nur als Strafe für geringfügige Vergehn. Wenn ein Händler
in Kabul seinen Verkaufsladen zu spät schließt, kann es ihm widerfahren, daß
er mit seinen Ohren dafür büßen muß. Ein solcher Fall ereignete sich Ende
Dezember 1899. Der Besitzer eines kleinen Geschäftsladens in Kabul wurde
vom Bürgermeister wegen verspäteten Ladenschlusses zum Verluste seiner Nase
und beider Ohren verurteilt. Der Mann wandte sich in seiner Not an den Emir,
der ihn vor sich kommen ließ und auf die Bitte des armen Teufels, man möge
ihm wenigstens die Nase im Gesichte lassen, er wolle sie bezahlen, den gnädigen
Bescheid von sich gab: Gut, geh, lasse dir deine Nase schätzen. Sie wurde mit
2000 Rupien bewertet. Jedenfalls war vorher ermittelt worden, wieviel der
arme Mensch zu zahlen vermöge. Die 2000 Rupien flössen in den Geldbeutel
des Emirs, und der Händler verlor nur seine Ohren. Einen andern Händler,
der auch durch einen Urteilsspruch des Bürgermeisters wegen verspäteten Schließens
seines Ladens die Ohren verloren hatte, sah ich mit eignen Augen. Er ver¬
barg seine Verunstaltung durch den Turban. Die Ohrmuscheln waren ihm
knapp am Schädel abgeschnitten worden. Auch für diese barbarischen Ver¬
stümmlungen trifft den Emir die Schuld, da es ganz und gar von ihm abhing,
der abscheulichen Gepflogenheit ein Ende zu bereiten, die allein schon seiner
Herrschaft ein unauslöschliches Schandmal aufdrückt.
(Fortsetzung folgt)
l eitschriften wie die Grenzboten, die sich nur verhältnismäßig selten
mit der Besprechung erscheinender Bücher beschäftigen können, haben
dadurch eins voraus. Der Umstand, daß sie einem Buch einen
besondern, namentlich einen lungern Artikel widmen, ist für ihre
! Leser ein Wink, daß ein Werk in Frage ist, dem von dem Bericht¬
erstatter, sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, eine besondre Bedeutung bei¬
gemessen wird.
„Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert" von Max Marter¬
steig*) würde, wenn es nicht eine kulturgeschichtliche Darstellung, sondern eine
Chronik, ein Samuel- und Nachschlagewerk wäre, bei allem Nutzen, den ein
solches Werk den verschiedensten Kreisen bieten könnte, kaum zu einer längern
Besprechung und jedenfalls nicht zu einer solchen Veranlassung geben, bei der
die Erörterung des Standpunkts, von dem aus das Buch geschrieben ist, einer
allgemeinen Beurteilung unterzogen werden könnte. Wie erklärt sich aber die
verspätete Besprechung? Die gegenwärtige Überfüllung des Marktes mit
Büchern von hohem Wert kann allein als Grund für den sonst unbegreiflichen
Umstand angeführt werden, daß ein Buch wie das in Frage stehende erst ein
halbes Jahr nach seinem Erscheinen in einer Zeitschrift empfohlen wird, die
an dem darin Besprochnen namentlich wegen des vom Verfasser eingenommnen
hohem und unparteiischen Standpunkts den größten und wärmsten Anteil nimmt.
Ein gutes Buch eilt man zu besprechen und zu empfehlen, sobald man es —
gelesen hat. Das Unglück ist, daß es für unaufgeschnittne Bücher nicht ein
Reagens gibt, mit dessen Hilfe man sich im Handumdrehn über das darin ent-
haltne Gold ins klare kommen könnte. Gäbe es ein solches Reagens, würde
sich jeder auf das Lesen der Bücher beschränken, bei denen er auf eine Aus¬
beute rechnen kann, während man, bis ein solches entdeckt wird, darauf ange¬
wiesen ist, einen Klumpen nach dem andern auszuschmelzen, wobei viel Zeit
verloren wird, und wobei obendrein die von den Musen Geladnen von den
unaufgefordert Erschienenen verdrängt zu werden Gefahr laufett.
Berichterstattungen über Bücher mit hohem Goldgehalt sind der Natur
der Sache nach nur eine sehr unvollkommne Wiedergabe dessen, was man
Lobendes und Empfehlendes zu sagen von ganzem Herzen bereit wäre, und
nur wenn es möglich wäre, dem Leser der Zeitschrift ein Bild von dem ge¬
samten Inhalt und Aufbau des Kunstwerks zu geben, würde man dem dop¬
pelten Zweck einer solchen Besprechung, einerseits die Aufmerksamkeit des in
Frage kommenden Leserkreises auf das Buch zu lenken, andrerseits etwaige
Zweifel, die es anregt, möglichst vorurteilsfrei zu würdigen, wirklich gerecht
werden können. Wie die Sachen liegen, läuft eine solche Berichterstattung
bei der Lückenhaftigkeit dessen, was sie zu bieten imstande ist, doch immer nur
darauf hinaus, daß durch Hervorhebung einiger Hauptpunkte das Interesse
der lesenden Welt angeregt und hie und da ein Urteil, das mit dem des
Berichterstatters nicht übereinstimmt, besonders bezeichnet wird, während sich
in der Hauptsache die in unzähligen Tonarten variierte dringliche Aufforderung
wiederholt, man möge sich das Buch je eher je lieber anschaffen, es in Muße
studieren und dann selbst urteilen, ob das ausgesprochne Lob nicht ein völlig
verdientes, oft sogar hinter dem Verdienste der Auffassung und der Darstellung
des Verfassers zurückbleibendes sei.
Bücher wie das von M. Martersteig geschriebne — ich stelle mir die
Wiege seiner Ahnen als ein am Fuß eines Kalvarienberges zwischen hohen
Bäumen und Buschwerk verborgnes, Stroh- oder schindelgedecktes Häuschen
vor — wurden in früherer Zeit als Kompendien bezeichnet. Das Buch gibt
neben vielen, und soweit ich aus eigner Kenntnis urteilen kann, meist richtig
dargestellten, in allen Fällen aber vom Verfasser ohne Zweifel für wahr und
richtig gehaltnen Einzelheiten ein Bild davon, unter welchen Umständen und
auf Grund welcher allgemeinen Bedingungen und Tatsachen sich das deutsche
Theater im Laufe des jüngstverflossenen Jahrhunderts entwickelt hat; wer die
hundert und aberhundert Verzweigungen, denen dabei hat Rücksicht getragen
werden müssen, auch nur annähernd kennt, wird die Schwierigkeit der Auf-
gäbe und das Verdienst einer erfolgreichen und allgemein verständlichen Lösung
zu schützen wissen.
Die Martersteig eigne Sprache ist die des mit Kulturfragen beschäftigten,
mit allen in dieses Gebiet einschlagenden Werken und deren bisweilen etwas
sonderbaren Kunstausdrücken wohlbekannten Forschers und Denkers. Durch
eine Häufung solcher nicht immer recht gebräuchlicher, unter Umstünden etwas
gekünstelter technischer Ausdrücke wird es dem Leser bisweilen bei Auseinander¬
setzungen philosophischer und kunstästhetischer Natur schwer gemacht, den Kern
aus der mit allerhand „ihnen, im, heilen" und dergleichen wie mit einem
Stachelpanzer umgebnen Schale herauszuschälen, und man begreift, daß die
Beklagenswerten, die jahraus jahrein mit einer solchen Schreibweise zu tun
haben, sich von Zeit zu Zeit zur Kräftigung ihrer Nerven ins Engadin flüchten
müssen, aber die Mühe, die ein solches Herausschälen eines vollsaftigen Kerns
verursacht, ist schließlich doch nebensächlich gegenüber der, wo es sich um Bücher
wie das Martersteigsche handelt, nicht wegzuleugnenden Tatsache, daß auch
der schwer zu erreichende Kern immer die Mühe des Herausschälens lohnt.
Es würde leicht sein, an einem beliebigen Satze nachzuweisen, daß das Ge¬
botene auch ohne diese bisweilen etwas breitspurig einherschreitenden, in ihrer
Häufung an alte Folianten erinnernden Fremdwörter und Kunstausdrücke Hütte
gesagt werden können, und daß das Gesagte bei größerer Schlichtheit, man
möchte fast sagen Natürlichkeit des Ausdrucks für mehr als einen Leser nicht
bloß an Deutlichkeit, sondern auch an überzeugender Eindringlichkeit gewonnen
hätte; aber der Wunsch, durch ein solches Beispiel zu veranschaulichen, wie
das kunstgerecht Gefaßte auch in einer für den Durchschnittsleser verständlichern
und schmackhaftem Weise hätte ausgedrückt werden können, hat doch schließlich,
da es sich um eine bloße Geschmacksache handelt, etwas Willkürliches, und ob
man ein Freund oder ein Feind von künstlich gebildeten Hauptwörtern sei,
die, wie eine Hieroglyphe, einen ganzen Satz zu vertreten bestimmt sind, und
bei denen man an das berühmte Ng,rAl)a,og.8g.Qsr». Covielles erinnert wird,
an dem Wert eines an sich bedeutenden Buches ändern dergleichen Neben¬
dinge nichts.
Nur im Vorbeigehn und da gerade von Nebendingen die Rede ist, mag
erwähnt werden, daß die verhältnismäßig hohe Zahl der Druckfehler in einem
so schön ausgestatteten Werke, und namentlich in einem Werke, das eine so
schöne Ausstattung auch verdient, wohl hätte vermieden werden sollen. Flüchtig¬
keiten der Korrektur, obwohl auch diese dem gediegnen Eindruck Abbruch tun,
würde man noch eher hinnehmen; wo dagegen die Druckfehler nur bei hin¬
reichender Vertrautheit mit fremden Sprachen hätten ausgemerzt werden können,
und wo man daran erinnert wird, daß das Herrschaftsgebiet des Lateinisch,
Griechisch, Italienisch und Französisch „kommenden" Korrektors nicht allum¬
fassend ist, sind dergleichen Ungenauigkeiten besonders störend. Es soll hier
nur unter anderm auf Osäixus Kolcmos (statt Kolonsus), riMssöirwAons als
Plural, lüvuunöäui äst' arts (statt äsll' arts), vspöranos (mit einem über¬
flüssigen Aigu auf der ersten Silbe), Rosoiu8 rsclivius hingewiesen und bei
dieser Gelegenheit der von mir seit Jahren vergeblich verfolgten, in dem Sinne
von Liedersängerin auftretenden Chansonnette ein nochmaliger, leider wohl
kaum tödlicher Dolchstich versetzt werden.
Was Wnstmann auf Seite 428 seines Werkes über allerhand Sprach¬
dummheiten von den Fremdwörtern sagt, daß sie von der obersten deutschen
Bildungsklasse gar nicht gebraucht würden, ist ja freilich in solcher Allgemein¬
heit ein schöner Wahn, und wenn ich auch ganz im Wustmannschen Sinne
nicht einsehe, warum der Chauffeur ein feinerer Mann sein soll als der Heizer,
so bin ich doch für die Gestattung einiger besonders bequemer Ausnahmen von
der Wustmannschen Regel. Dagegen dem falschen Gebrauch eines Fremd¬
worts, den Wustmmm als Merkmal der untersten deutschen Bildungsklasse
bezeichnet, in einem Werke wie dem Martersteigschen zu begegnen, geht mir
über die Hutschnur. Es ist doch, das wird man zugeben, nicht erlaubt, einer
fremden Sprache ein Wort zu entlehnen, um es ohne weiteres und recht ge¬
flissentlich in einer Bedeutung zu gebrauchen, die es in der Sprache, der es
entlehnt ist, niemals gehabt hat, ja schon der Wortbildung halber nie hat haben
können. Chansonnette ist, wie der bis in die untersten französischen Arbeiter¬
kreise verbreitete kleine Laroufse den „Forscher" überzeugen wird, ein kleines
Lied, ein Liedchen, und nichts andres. Oder sollten unsre sich an dem guten
Rufe der wahren Chansonnette versündigenden Schöngeister gar vielleicht
glauben, wo sich ihr Kollege M. Trissotin, um dem gelehrten M. Vadius zu
schmeicheln, der Frage als rhetorischer Figur bedient und ausruft: L8t-it risn
ä'g.in0urenx eornrns ?c>s vNMsonnsttss? wolle er in perfider Weise auf dessen
galante Bekanntschaften in Kunstkreisen anspielen? Wenn der über Tingeltangel¬
herrlichkeiten berichtende „Gelehrte" das Bedürfnis nach einem schnurpsenden
Ausdruck für eine nette, wie sich Martersteig an einer andern Stelle köstlich
ausdrückt, „gut aber wenig gekleidete" Liedersängerin hat, so muß er entweder
selbst etwas erfinden oder sich mit seinem Anleihegelüste wo anders hin wenden
als an unsre überrheinischen Nachbarn. Sie können ihm in diesem Falle reichlich
genug mit Exemplaren der in Frage stehenden Gattung, aber nicht mit einem
anmutigen Kunstausdruck zu deren Bezeichnung aushelfen. Wäre die mi߬
bräuchliche Chansonnette durch das Alter in gleicher Weise geheiligt wie das
ebenso mißbräuchliche Parterre, würde ich mich mit Wallenstein bescheiden:
„Weh dem, der an den würdig alten Hausrat ihm rührt, das teure Erbstück
seiner Ahnen." Aber da die Chansonnette als lebendes weibliches Wesen erst
vor wenig Jahren durch die saloppen Sprach- und Schreibgepslogenheiten halb¬
gebildeter Federviehs bei uns eingeschmuggelt worden ist und sich auf der
Jahre „heiligende Kraft" nicht berufen kann, so sollte doch Wustmanns oberste
Bildungsklasse, zu der wir alle zu gehören hoffen, nicht lange fackeln und das
Scheusal kurz entschlossen in die Wolfsschlucht befördern.
Ob die Seite 22 erwähnten „Adaptionen" ein Druckfehler oder auf eine
philologische Grille zurückzuführen sind, wage ich nicht zu entscheiden. Auch
in diesem Falle hätte mir der Satz besser gefallen, wenn statt des Fremd¬
worts der ziemlich den gleichen Dienst verrichtende Ausdruck „Bearbeitungen"
gebraucht worden wäre; wenn man aber in der mittlern Wustmannschen
Bildungsklasse zu bleiben vorzieht, so würden sich doch, meinem unmaßgeblichen
Dafürhalten nach, die regelmäßig gebildeten und üblichen „Adaptationen" statt
Adaptionen empfehlen.
Die überlegne Sicherheit, mit der einzelne Schriftsteller die Regeln der
Wortbildung geringachten, wo es sich um einen ihnen gerade in die Feder
gekommnen, das, was gesagt werden soll, ungefähr bezeichnenden Ausdruck
handelt, ist überhaupt ab und zu eine Eigenheit der Martersteigschen Schreib¬
weise. Man hat bisweilen den Eindruck, daß er, wie die Verkäufer in basar¬
artigen Kleidergeschäften, denkt: Wenn es nur ungefähr paßt. Wegen ein paar
Falten hie und da bringt mirs doch keiner zurück. Seite 30 sagt er von
Moliere: Je kühner sein „sozialkritischer" Geist sich regte, desto mehr stieß er
nach oben an. Was genreint ist, sieht man ja sofort; je kühner nämlich sein
kritischer Geist sich regte, „und je entschiedn er er gegen die Schwächen der
Gesellschaft vorging," desto mehr usw. Der ganze von mir zwischen Gänse¬
füßchen gesetzte Satz soll mit mehr als taciteischer Prägnanz durch das dem
Wort „kritisch" flott vornangeleimte „sozial" ersetzt werden. Die Frage ist
nur die, ob das möglich ist, denn was ist, bei Lichte besehen, ein sozialkritischer
Geist, und nach welchen Gesetzen der Sprache und der Logik ist dieser neue,
nicht gewachsene, sondern fabrizierte literarisch-ästhetische Kunstausdruck geformt
worden? Was ein kritischer Geist ist, weiß man. Es ist ein Geist, der zur
Beurteilung von Zuständen, Vorgängen, Charakteren, Leistungen und Richtungen
befähigt und dazu geneigt macht. Aber ein „sozialkritischer" Geist! Hat Marter¬
steig wirklich geglaubt, daß damit ein zur Beurteilung geselliger Zustände und
Vorgänge befähigender Geist bezeichnet werden könne, und würde ein solcher
Glaube nicht auf einer allzu optimistischen Vorstellung von der begrenzten
Möglichkeit von Sprnchneubildungen und von der wunderbaren Wirkung eines
aufs Geratewohl angebrachten Präfixes beruhen? Der Schreiber hat, wenn
er so ein — man möchte sagen — Ungeheuer zur Welt gebracht hat, freilich
keinen weitern Kummer davon, aber vergegenwärtigt er sich anch, was er dem
Leser damit für Kopfzerbrechen zumutet? Sein „sozialkritischer" Geist. Da
man dieses Eigenschaftswort nie zuvor gehört hat und sich nichts recht Be¬
stimmtes dabei denken kann, so läßt man in der Angst die einzige einiger¬
maßen verläßliche Handhabe, mit deren Hilfe man den Ausdruck bewältigen
könnte, den kritischen Geist fahren und sucht bei der Sozialkritik Rettung, nach
dem, wie man sich einbildet, unfehlbaren Rezept, daß man die Worte sozial¬
demokratisch und sozialpolitisch versteht, wenn man weiß, was Sozialdemokrat
und Sozialpolitik bedeuten. Aber ist die Sozialkritik, deren man sich als
Scheinwerfer bedienen will, nicht schon an sich ein ziemlich dunkler Wort¬
körper, dem nur die Sonne Martersteigscher Gnade einen ungewissen mond-
artigen Schimmer verleiht? Nachdem man ein paar Stunden vergeblich in
Nietzsches Werken geblättert hat, wobei freilich die Möglichkeit nicht ausge¬
schlossen werden darf, daß man an dem im Verborgnen blühenden Veilchen
vorbeigegangen ist, gibt man die Sache auf und sagt sich, daß auch des
dichtenden Goethe Wechseldcmer und Nachesegen harte Nüsse sind. Und was
dem einen recht ist, ist dem andern billig.
Eine noch viel härtere Nuß als der sozialkritische Geist wird uns auf
Seite 71 zu knacken gegeben. Es ist da von dem ersten Wiederaufblühen
deutscher Bühnendichtung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts
die Rede, und nachdem Lessings Minna von Barnhelm das ihr gebührende
Lob zuteil geworden ist, schreibt Martersteig: „Dennoch schöpfte Lessing von
der bewegten Oberflüche des Zeitstroms; er langte nicht hinunter bis auf den
Grund, wo aus verborgnen Quellen dem Strome die Wasser zufließen. Der
aber, der das vermochte, der aus der Klaue des Löwen das deutsche Drama
schuf, der in seinem erleidender Helden, in seiner bunten Bilderreihe die Seele
der Vergangenheit an die der Freiheit winkenden Zukunft knüpfte, der kam
dann für das deutsche Theater um zehn Jahre zu spät."
Wie also der Mensch nach 1. Mos. 2, 7 von Gott dem Herrn aus einem
Erdenkloß, wie der olympische Zeus von Phidias ans Elfenbein, wie Galatea
von Pygmalion aus Marmor geschaffen worden sind, so hätte, wenn wir
Martersteig glauben dürfen, Goethe, indem er den Götz dichtete, das deutsche
Drama „aus der Klaue des Löwen" geschaffen? Ich bekenne, daß mir, ehe ich
mich durch ein Gläschen Tokaier und eine „rosige Scheibe saftigen Ochsensleischcs"
gestärkt hatte, Götzens eiserne Hand als das zur Goethischen Schöpfung ver¬
wandte Material vorgeschwebt hatte — eine Art Löwenklaue war ja diese
eiserne Hand doch —, wie sich aber infolge des eingenommnen Imbisses mein
mantokritischer Blick — da! — geschärft hatte, kam ich nach einigem zaghaften
Zögern zu der Vermutung, daß Martersteig das ex uvK^s Isonsin vorge¬
schwebt habe, und daß man nur das Gestrüpp und das Wurzelwerk, das
einem den von Martersteig gewandelten Pfad verberge, wegzuräumen brauche,
um ohne drei Viertel der Sonntagshose an den Dornen unmöglicher Tropen
zu lassen, auf geradesten Wege von der Goethe zu Gesicht gekommnen Löwen¬
spur zu dessen Vergangenheit und Zukunft verknüpfendem Drama zu gelangen.
Bezüglich des zur Ergänzung des sx un^us Isonsni hinzuzudenkenden
Zeitworts ist der Sprachgebrauch nicht überall der gleiche. Wenn man sich
streng an Plutarch und Lucian halten wollte, denen wir ja wohl die Redens¬
art verdanken, so könnte es sich dabei eigentlich immer nur um die Schilderung
eines Gegenstandes (lebend oder tot) handeln, von dem der Künstler nur einen
Teil kennt, wie zum Beispiel wenn er einen Löwen, von dem er nur die
Klaue gesehen hätte, zu malen imstande wäre. Man bedient sich jedoch oft
auch des ox rin^us in dem Sinne, daß man zum Beispiel behauptet, man
erkenne den Meister dieses oder jenes nicht signierten Bildes an seiner Pinsel¬
führung, an seiner Manier.
Martersteig scheint von der zuerst genannten strikter» Auffassung ausge¬
gangen zu sein, aber er ist dabei so frei und willkürlich verfahren, daß man
Mühe hat, seinem Gedankengange zu folgen und sich darüber klar zu werden,
was er eigentlich als den Löwen und was als dessen Klaue angesehen hat.
Wenn sich jemand, der Nebelbilder, ckiWolvinA ol^s, zeigt, mit dem
Wechsel der aufeinander folgenden Bilder so übereilte, daß man, schon während
Napoleon mit der Fahne in der Hand über die Brücke von Arcole stürmt,
die zu seiner Krönung geschmückte Notre-Dame-Kathedrale und den Kreml
im Winterkleide zu sehen bekäme, würde er dem Zuschauer ungefähr denselben
unbehaglichen Eindruck verursachen wie Mnrtersteig seinem Leser durch die
Häufung und den zu raschen Wechsel auf einmal zum Vorschein kommender,
nicht zur Reife gelangender, sich gegenseitig um jede Wirkung dringender Bilder.
Im Gegensatz zu Lessing, der als nur von der bewegten Oberfläche des
Zeitstroms schöpfend dargestellt wird, vermochte nach Martersteigs Schilderung
Goethe bis hinunter auf den Grund zu „langen," wo aus verborgnen Quellen
dem Strome die Wasser zufließen. Sehr schön! Wenn man nur dem Bilde,
das jeden, der in seiner Jugend krebsen gewesen ist, anheimeln muß, nach¬
hängen dürfte: aber nein, im Handumdrehn hat sich das Bild geändert, und
derselbe Goethe, der hinunter zu langen vermochte, schafft — ob er dabei von
der Fähigkeit des Hinunterlcmgens Gebrauch macht oder nicht, bleibt unent¬
schieden — aus der Klaue des Löwen den Götz von Berlichingen! Um
Martersteig zu folgen, muß man also 1. bereit sein, zu erlauben, daß das
«x ruiAus Isoirsni in ein ox un^us Isonis umgewandelt werde; 2. darf man
keinen Anstoß daran nehmen, daß ans der Klaue des Löwen nicht ein Löwe,
sondern das deutsche Drama geschaffen worden sein soll, und 3. muß man
erraten, daß unter der Klaue, die als Anhalt gedient hat, höchst wahrscheinlich
die Überlieferungen zu verstehn sind, mit deren Hilfe Goethe seinen Helden,
seinen Löwen, wie sich Martersteig ausdrückt, das deutsche Drama geschaffen
hat. Oder wäre — czlanÄits rivos, xusri! — mit der Klaue des Löwen
gar Lessings Minna gemeint?
Der Grundsatz, von dem Martersteig ausgeht, und auf den er die von
ihm geschilderten Wandlungen des deutschen Theaters im vorigen Jahrhundert
zurückführt, ist der, daß alles, was zum Wesen der Bühne gehört und zu
ihrer Entwicklung beiträgt, Dichtung, Schauspielkunst, Musik, Gesang und
Tanz, Regie und Inszenierung zu jeder Zeit nichts andres ist als ein treues
Spiegelbild der in fortwährender Entwicklung begriffnen, sich ihrer sittlichen Ziele
heute in dieser, morgen in jener Form bewußt werdenden Volksseele. Obwohl
die gegenteilige Anschauung, daß man die Tendenz der Bühnenbestrebungen
von der Volksseele ablösen und sie dem Volksgeschmack in ähnlicher Weise
zur Führerin geben könne, wie Jehovas Feuersäule dem nächtlichen Zuge des
Volkes Israel durch die Wüste vorangeleuchtet hatte, hie und da Anhänger
findet, so ist die Martersteigsche doch ohne Zweifel die allein richtige. Neu ist
sie freilich uicht, und ausdrücklicher Begründung Hütte sie, weil in der Haupt¬
sache wirklich unangefochten, kaum bedurft. Was in dem Martersteigschen
Buche wirklich neu ist und sein Hauptvorzug sein dürfte, ist die geistreiche und
zugleich gründliche Art, in der der aufgestellte Satz, die These, bei jeder neuen
Erscheinung und bei jeder Wandlung der Bühnenwelt als maßgebend und ent¬
scheidend nachgewiesen ist. Der Satz, von dem der Verfasser ausgeht, ist an
sich so wahr und unbestreitbar, daß man in dem Bestreben, dessen jedesmalige
Giltigkeit zu erweisen, kaum irregehn kann: um dabei aber allen Neben¬
umständen Rechnung tragen zu können und sich nicht hier oder da durch eine
vorgefaßte Meinung oder durch den Umstand, daß diese oder jene Auffassung
so gut zu dem behaupteten Satze passen würde, zu leichten Entstellungen ver¬
leiten zu lassen, ist nicht bloß eine so bewundrungswürdige allseitige Sach-
terrenis wie die Mcirtersteigsche nötig, es gehört auch dessen klares, gerades
Urteil und die nicht hoch genug zu schätzende Vornehmheit seiner Gesinnung
dazu, die ihn befähigt, auch da sachlich und billig zu urteilen, wo es sich um
Besprechung von Einrichtungen, Persönlichkeiten und Zielen handelt, denen er
entweder als grundsätzlicher Widersacher gegenübersteht, oder gegen die sich in
seinem Innern ein unwillkürliches Mißtrauen, eine fast unbewußte Abneigung
regt. Solche dunkle Gefühle, die Imponderabilien der Einzelseele, leiten jeden
von uns, nur mit dem Unterschiede, daß wir uns dessen je nach der vor-
handnen Selbsterkenntnis und je nach der betriebnen Selbsterforschung mehr
oder weniger bewußt sind.
Martersteig sucht sich mit einer Unparteilichkeit, die weder in politischen,
noch in religiösen, noch in rein literarischen Dingen eine häufig vorkommende
Tugend ist, von jedem Vorurteile frei zu machen, und das hat den für den
Leser unschätzbaren Erfolg, daß man mehr und mehr geneigt wird, sich in
Fällen, wo man den Tatbestand nicht kennt, seinem Urteile mit unbedingtem
Vertrauen anzuschließen. Ja auch da, wo man zu wissen glaubt, daß er
im Irrtum ist, oder wo er doch, weil nicht von beiden Seiten belehrt, nicht
ganz das Richtige zu treffen scheint, behält man das wohltuende Gefühl, daß
er sich mit dem, was er berichtet und behauptet, durchaus in gutem Glauben
befindet. Ein Beispiel wird leicht klar machen, was mit dem angedeuteten
Vorbehalt gemeint ist.
Er ist für die sogenannten Kavalierintendanturen und für die italienische
Oper, wie sie im achtzehnten Jahrhundert an den deutschen Fürstenhöfen sehr
in Gunst stand, nicht besonders eingenommen. Das fühlt man hier und da
an den von ihm gebrauchten Wendungen, und daß einem neuzeitlichen Fach¬
mann wie ihm das Herz bluten mußte, wenn er die unglaublichen Fehlgriffe
sah, zu denen sich einzelne mit Bühnenleitungen betraute Kavaliere im Be¬
wußtsein ihrer UnVerantwortlichkeit und infolge einseitigen Geschmacks und
Urteils in Kunstsachen verleiten ließen, ist durchaus begreiflich. Auch sein Be¬
dauern, daß zu der damaligen Zeit von den deutschen Höfen unverhältnismäßig
große Geldaufwendungen für ausländische Theater- und Musikware gemacht
wurden, während man oft deutsche Truppen, denen es weder an Geschmack,
noch an gutem Willen, noch an Talent fehlte, ohne Unterstützung ließ, wird
jeder teilen, der durch die auf uns gekommne zum Teil sehr interessante
Memoiren- und Briefliteratur mit den damaligen Verhältnissen bekannt ge¬
worden ist.
Und doch scheint mir Martersteigs Urteil zuungunsten des damals vor-
handnen Verständnisses und der dadurch veranlaßten Einrichtungen durch den
Umstand beeinflußt zu sein, daß er den heutigen Geschmack und die heutige
Kunsttendenz als Richtschnur und Maßstab für die damaligen Verhältnisse
ansehen zu dürfen glaubt, und daß er bei seinen Erwägungen von einer sich
mit den Tatsachen in einseitiger Weise abfindenden Erbitterung gegen die
führenden Klassen, namentlich aber auch gegen das italienische Gesangspersonal
geleitet wird. Selbstverständlich im besten Glauben und in der festen Zuver¬
sicht, daß seine Abneigung gerecht ist, und daß ihn das zur Beurteilung der
Höfe, der mit Theaterleitungen betrauten Kavaliere und der italienischen Oper
zusammengebrachte Material trotz seiner Lückenhaftigkeit nicht zu einseitigen
Urteilen hat verführen können. Seine Erbitterung gegen den durch die Gunst
des kursächsischen Hofes zu Ansehen und Vermögen gelangten Kastraten Sorlisi
würde sogar etwas Komisches haben, wenn man sich nicht sagen müßte, daß
die Sache auch ihre ernste Seite habe, und daß ein den ungebildeten Volks¬
klassen besonders ans Herz gewachsnes Vorurteil nicht recht in den idealem
Anschauungskreis eines Kunstästheten passen will. Es ist offenbar zweierlei,
ob man eine uns heutzutage unbegreiflich erscheinende musikalische Modetor¬
heit mit Recht als barbarisch verurteilt, oder ob man, wie Martersteig, weiter
geht und mit sittlicher Entrüstung nicht bloß gegen die Teilnehmer daran,
sondern auch gegen deren Opfer zu Felde zieht. Daß man sich auch am Hofe
des „Hauptes der Christenheit" mit orientalischer Verachtung von Menschen¬
würde und Menschenrechten für das Fehlen der Frauenstimmen, zunächst im
Kirchenchore, schadlos zu halten und der Kurzlebigkeit mit Kunst und Mühe
geschulter Knabenstimmen in tölpischer Weise abzuhelfen suchte, ist leider Tat¬
sache; auch den hemmenden Einfluß, den die Vorliebe der Großen für italienische
Oper und Gesangskunst auf die Entwicklung des deutschen Theaters gehabt
hat, kann man nicht in Abrede stellen. Nur den Maßstab unsrer inzwischen
fortgeschrittnen Erkenntnis und Kultur soll man nicht ohne weiteres an jene
längst vergangnen Zustände anlegen, weil man damit dieselbe Unbilligkeit
begeht, deren sich in zwei- bis dreihundert Jahren ein Forscher schuldig macheu
würde, der das heutige Duellwesen nach den geläuterten Begriffen dieser
künftigen vorurteilsfreiern Weltbürger beurteilen wollte. Das Duell wird
ihnen ebensowenig beweiskräftig und darum ebenso anstößig erscheinen wie
uns die Ordalien, aber wenn sie billig sein wollen, werden sie in Betracht
Ziehn müssen, was es leider für uns heutzutage noch ist: ein Notbehelf. Wenn
man sich in Rom wie durch ein Wunder mit einemmal von dem Vorurteile
hätte frei machen können, daß weiblicher Kirchengesang mit der Weihe des
Gottesdienstes unvereinbar sei, würden die Diskantvirtuosen der Sixtina sofort
entbehrlich geworden sein. Schade nur, daß kein Geschlecht und keine In¬
stitution einen Luftsprung aus dem Gebiete des Vorurteils in das der Wahr¬
heit zu tun vermag, und daß man deshalb, wenn man das Richten durchaus
nicht lassen kann, nicht den seinem Vorurteil gemäß handelnden um dieses
willen, sondern die göttliche Vorsehung wegen der uns versagten Springfähig¬
keit verantwortlich machen müßte.
Was in dem Buche über die Theaterleitung des Dresdner General¬
intendanten von Lüttichau und besonders über dessen Verhalten gegenüber Karl
Maria von Weber gesagt ist, lasse ich fürs erste unerörtert: ich denke, es wird
sich in kurzem Gelegenheit finden, alles in dieses persönliche Kapitel Ein¬
schlagende an der Hand von kaum zu beanstandendem Beweismaterial zu be¬
sprechen.
Eine Auseinandersetzung als Rettungsbeitrag für die in dem Buche ziem¬
lich hart beurteilte italienische Musik und für die womöglich noch schlechter
wegkommende „Gesellschaft" des achtzehnten Jahrhunderts ist hier nicht am
Platze und würde auch überflüssig sein, denn wer mit den Verhältnissen be¬
kannt ist, weiß, daß hier, wie auch sonst meist, die Wahrheit mitteninneliegt.
Einige der von Martersteig im Kapitel: Lehr- und Wanderjahre des deutschen
Theaters angeführten Tatsachen erinnern an Dr. Vehse, Dessen Geschichte
der deutschen Höfe ist ein überaus unterhaltendes, stellenweise sehr lehrreiches
Buch, das ich, namentlich wenn ich zu aufgewärmten Kohl Appetit habe, mit
Vergnügen lese; daß er aber nicht immer recht zuverlässig ist, weil er unbe-
sehens aus jeder Quelle schöpft, wenn sie nur die ihm erwünschten Gasperlen
aufwirft, ist in überzeugendster Weise an einzelnen Beispielen nachgewiesen
worden. Ich will hier noch einen Fall anführen, dessen Einzelheiten ich, da
es sich dabei um meinen Ururgroßvciter väterlicherseits, einen um die Mitte
des vorvorigen Jahrhunderts während eines kursächsischen Vikariats in den
sogenannten Reichsgrafenstand erhobnen Oberkonsistorialpräsidenten handelt,
ein wenig nachgegangen bin, nachdem mich eine lesenswerte genealogische
Studie eines preußischen Lehnsvetters dazu veranlaßt hatte. Dr. Vehse war
die Lebensgeschichte des bekannten Karl Friedrich Bahrdt — wie sich der Herr
Lehnsvetter nicht ganz mit Unrecht ausdrückt, eines verdorbnen Genies — in
die Hände gekommen, und er berichtet, auf das Zeugnis des gedachten Genies
gestützt, dessen Vater habe sich durch sein angenehmes Wesen im geselligen
Kreise fröhlicher Zecher die Gunst des Oberkonsistorialpräsidenten erworben
und sei von ihm, ohne daß er gewußt habe, wie er dazu gekommen sei, erst
zum Superintendenten und später zum Professor und Stadtpfarrer in Leipzig
ernannt worden. Statt sich nun umzutun und in Erfahrung zu bringen, was
an dem Schützling des Präsidenten gewesen sei, ist es Dr. Vehse bequemer
und paßt besser in seinen Kram, die Sache dnrch eine ihn und seine Richtung
bezeichnende Schlußfolgerung zu erledigen: da an dem Sohne nicht viel war,
war wahrscheinlich an dem Vater gar nichts, und man konnte den Vorfall
getrost als einen neuen Beweis der Willkür und des unverantwortlichen
Leichtsinns auftischen, mit denen von den Vertrauten der Landesfürsten Ämter
und Stellen vergeben wurden. Der Fall war freilich nicht ganz so schön,
wie er hätte sein können, wenn es sich um einen Herrn von Bahrdt und einen
Neffen des Präsidenten gehandelt hätte, aber wie der Teufel in der Not
Fliegen frißt, so konnte man sich auch, bis man etwas besseres fand, mit
diesem Pröbchen leichtsinniger Kavaliersgnade begnügen. Schade nur, daß es
mit der Vehseschen Schlußfolgerung haperte, weil sie auf der falschen Prämisse
beruhte, daß verdortme Genies notwendig Nullen, oder doch, wie man sich
heutzutage ausdrückt, „minderwertige" Männer zu Vätern haben müßten.
Soweit das Zeugnis der Zeitgenossen reicht, wird K. Fr. Bahrdts Vater all¬
seitig als ein achtbarer, seinem verantwortlichen Berufe durchaus gewachsner
Mann bezeichnet; wenn man also, da es sich auch hier nun doch einmal um
ein Kavalierstückchen handeln soll, nicht annehmen will, daß der Präsident
über den Römer weg recht gesehen habe, so muß man doch zugeben, daß er in
dem gegen ihn geltend gemachten Falle eine glückliche Hand gehabt hat, was
von dem uns heutzutage mit Beamten versorgenden Examinativnsgotte mit dem
besten Willen nicht immer behauptet werden kann.
Die dem Juristen sehr bald zur andern Natur werdende Vorsicht, sich
zu fragen, ob auch wirklich alle für die Berechtigung einer Anklage nötigen
Unterlagen lückenlos vorliegen, geht dem lesenden Publikum meist ab, und bei
dem berechtigten Zweifel, ob sich nach Ausweis der vorgebrachten Tatsachen
nicht ein von dem in Vorschlag gebrachten Urteile abweichendes empfehlen
möchte, hält es sich nicht auf. Es ist sogar für die sonderbarsten Nachlässig¬
keiten, die sich ein Schriftsteller beim Erweise dieser oder jener Behauptung
zuschulden kommen lassen kann, ziemlich blind, und ich möchte wissen, wie
viele Leser über folgendes übrigens ganz unschuldige Martersteigsche Hnsareu-
stückchen weggelesen haben, ohne sich der ihnen seinerzeit im OollöZwm, I^lonen
ans den Lebensweg angegebnen Vorsichtsmaßregeln zu erinnern. Nachdem
er auf Seite 68 seiner Entrüstung über die vom sächsisch-polnischen Hofe für
Opern, Maskeraden, Balletts und Karussells verschwendeten Summen Luft
gemacht hat, bemerkt er in mehr elegischem Tone, das Schlimmste sei, daß es
sowohl die von ihm als Stiluugeheuer bezeichnete italienische Oper als das
junge deutsche Schauspiel mit einem Publikum zu tun gehabt habe, „das
keinen Funken selbständigen Lebens und Empfindens in der Seele trug."
„Nicht einmal die »Gesellschaft«, die zu den italienischen Opern eingeladen
wurde, fährt er fort, die also keine Opfer zu bringen brauchte, zeigte aus¬
dauerndes Kunstinteresse: in den Gasthöfen der Residenzen wurden durch¬
reisenden Fremden Eintrittskarten aufgenötigt, und der famose Karl Eugen
von Württemberg ließ eines Tages, um vor seinen hohen Gästen das Opern¬
haus gefüllt zu zeigen, seine Soldaten in bürgerliche Röcke stecken und auf
die Galerien kommandieren." Das Kolon, das den Beweis von der Be¬
hauptung trennt, ist nicht von mir, sondern von Martersteig: ich würde mir
bei einem Zitat die perfide Veränderung eines harmlosen Punktes in ein
äußerst brenzliges Kolon nie erlaubt haben. Also — die Beweiskraft der
Hotelfremdenpressung lasse ich gelten — wenn die Gesellschaft „andauerndes
Kunstinteresse" gezeigt hätte, würden die Galerien auch ohne oas Potemkinsche
Auskunftsmittel des Herzogs besetzt gewesen sein! Wie in aller Welt kann
sich Martersteig das gedacht haben? Hält er ein so leidenschaftliches Auf¬
lodern des Kunstinteresses für möglich, daß sich Abend für Abend der Teil
der Gesellschaft, der unten keinen Platz fand, Hals über Kopf auf die Galerien
hätte stürzen müssen? Oder hätte sich die Gesellschaft, wenn sie „einen
Funken selbständigen Lebens und Empfindens in der Seele getragen" hätte,
an den Abenden, wo es italienische Oper gab, ohne ihre Diener, Köche, Läufer,
Sänftenträger, Kutscher usw. behelfen sollen, damit das Haus voll sei? Das
würde die Gepflogenheiten der römischen Saturnalien erneuert haben, und wer
steht uns dafür, daß Dr. Vehse in einem solchen Vorgehn nicht einen be¬
sonders bedauerlichen Beweis der Entartung des württembergischen Adels ge¬
sehen hätte?
Wer nie das Tüpfelchen über dem i vergessen hat, werfe wegen dieses
Nickerchens — <zuMäo<zM bonus äorinitg,t Homerus — auf unsern Verfasser
den ersten Stein: er steht fest auf seinen zwei Beinen, und es braucht ihm
vor ein paar Steinwürfen ab und zu nicht zu bangen. Am festesten steht er
und als ein mit erstaunlichem Verständnis tobender und tadelnder Kritiker
bewährt er sich da, wo er nicht aus fremden Quellen schöpft, sondern von
seinem eignen Urteil und seinem eignen Geschmacke geleitet wird. Der Teil
seines Werkes, der sich mit dem Wagnerschen Musikdrama beschäftigt, entzieht
sich meiner Beurteilung, da ich bei allem Gefallen, das ich an den allgemein
verstündlichen Schöpfungen des Meisters finde, das von diesem ersehnte natio¬
nale Musikdrama nicht als das einzig zu erstrebende Ziel unsrer musikalischen
Entwicklung ansehe; wo Martersteig dagegen zum Beispiel auf Kleist, Immer-
mann, Grillparzer, Anzengruber, Ibsen und Hauptmann zu sprechen kommt,
erscheint mir sein oft in ein glänzendes, farbenprächtiges Gewand gekleidetes
Urteil von überraschender Schärfe und dabei von einer jedem in Frage
kommenden Umstände Rechnung tragenden Sachlichkeit und Unparteilichkeit,
die dem Verfasser das Vertrauen des Lesers von Seite zu Seite mehr ge¬
winnen. So ist auch was er über Maeterlinck sagt, sehr lesenswert, und ich
bedaure lebhaft, daß mir der der Natur der Sache nach begrenzte Raum einer
solchen Besprechung nicht erlaubt, den Leser durch ausführlichere Proben mit
der Anschauungs- und Darstellungsweise des Verfassers bekannt zu machen.
Sein Buch kann jedermann warm empfohlen werden. Um dessen Benutzung als
Nachschlagewerk zu erleichtern, sind ein Literaturverzeichnis und ein Personen-
und Sachregister beigegeben, denen ich, soweit die von mir damit gemachten Er¬
fahrungen reichen, das Lob lückenloser Vollständigkeit erteilen kann.
>le Musik ist die Kunst, die sich am meisten an das Gemüt und
das Herz des Menschen wendet. Sie setzt ein Mitempfinden, ein
Mit- und Nachschaffen bei ihrem Vortrag oder Studium voraus,
sie rechnet auf ein williges, vorurteilsloses Ohr und auf ein
I poetisches Empfinden des, der ihrer oft so zart sich verschließenden
Sprache bis in die dämmernden Tiefen verständnisvoll nachgeht. Sie flieht
und zieht sich scheu zurück vor dem erbarmungslos zerpflückenden, kalten Ver¬
stände, sie verschließt ihre eigentlichen Schönheiten vor den gleichgiltigen Blicken
der Oberflächlichkeit. Sie will zuerst empfunden, vom Herzen willkommen ge¬
heißen und dann erst auch vom Verstände begriffen sein.
Wir leben heute in der Zeit einer alles umfassenden, wissenschaftlichen
Gründlichkeit. Unsre Dichter und Romanschriftsteller möchten wir am liebsten
nur in kommentierten Ausgaben lesen, ja wir glauben, ohne solche Kommentare,
lange Einführungen usw. an sie nicht herangehn zu dürfen, geschweige sie völlig
verstehn zu können- In der bildenden Kunst stehn wir im Zeitalter der
„führenden" Kataloge, der Kunstgeschichten und der Spezialarbeiten in wahr¬
haft beängstigend anwachsender Fülle. In der Musik nehmen wir ganz die-
selben Erscheinungen wahr. Nur treten sie hier mit mancherlei Abweichungen
auf. Auch hier derselbe Reichtum an Führern, Spezialarbeiten, dieselbe immer
bedrohlicher anwachsende Fülle der gleichgiltigsten Briefsammlungen, Memoiren,
der ästhetischen und historischen Arbeiten. Kunstgenuß und Belehrung sind heute
überall zwei so unzertrennliche Schwestern, daß wir Konzertprogramme mit
chronologisch-historischen Dispositionen, Programme, die in gedrängtem Rahmen
einen Überblick über eine musikalische Stilgattung (Sinfonie, Lied, Ouvertüre usw.)
geben wollen, als etwas selbstverständliches hinnehmen, uns über das Lehr¬
hafte, das immer neben dem Kunstgenuß lauert, meist gar nicht klar werden.
Wir haben beinahe, wenn wir recht gebildet sein wollen, verlernt, ein musikalisches
Kunstwerk allein ohne Einführungen in den Tageszeitungen, ohne Führer (leider
meist im Konzert) in der Hand auf uns wirken zu lassen. Wir lesen meist
mehr über Kunstwerke, als daß wir diese selbst auf uns wirken ließen.
Das ist nun freilich nicht immer bedauernswert, denn der Kunstgenuß
wird durch solche geistige Beihilfe nur vertiefter. Aber freilich, die Art solcher
literarisch-musikalischen Hilfswerke ist oft nicht einwandfrei. Neben den künst¬
lerisches Mitempfinden und nachschaffende Phantasie mit peinlicher Gewissen¬
haftigkeit vereinenden Erläuterungen, wie sie in Kretzschmars „Führer durch den
Konzertsaal" in unsrer Zeit einen klassischen Typus darstellen, stehn die mit
Beseitigung des Künstlerischen nur begrifflich-philologisch verfahrenden Schriften,
die ich musikalisch-kunstanatomische nennen möchte. Schrecklich ist es mit ihnen
bestellt! Das arme zu erläuternde Werk wird auf den Seziertisch der musik¬
wissenschaftlich-philologischen Analyse geschnallt, und nun gnade ihm Gott! An
Herz und Nieren, an die edeln und die unedeln Organe gehts ihm dann. Seine
Rippen — die Zahl der Takte — werden untersucht. Das Schaffen der
freien Phantasie des Tondichters, der in den Augenblicken des Schaffens an
alles andre als an Motiventwicklungen, Phrasenenden, Taktverschiebungen, Um-
deutungen, Accentuierungen auf leichte und schwere Taktzeiten, an Zählzeiten
und harmonisch-modulatorische Raffiniertheiten dachte, wird höhnisch als regel¬
rechte oder regellose logische oder unlogische Aneinanderreihung dieser Dinge
proklamiert. Hier widerspricht die Stimmenführung den wissenschaftlich als
normal erkannten Gesetzen des ordentlichen musikalischen Staatsbürgers, dort
lassen sich ein paar unverschämt neuartige Modulationen nicht mit den ge¬
wohnten Instrumenten packen. Ach, und nun soll das Resultat der Unter¬
suchungen dem Wißbegierigen in Form einer analytischen Einführung in das
Werk übermittelt werden! Da wimmelts denn von den stützenden Attributen
dieser Methode: Zählen der Takte und der Perioden, sofortige wonnevolle
exakte Umarbeitung der Phrasierung, die der Komponist eben im sträflichen
Leichtsinn vernachlässigt oder nicht verstanden hat, qualvoll eingehende Dar¬
legung der harmonischen und der modulatorischen Struktur des Stückes mit
genauer Vergleichung ihrer kleinsten Unregelmäßigkeiten, ein bienenfleißiges nach¬
gehn in die geheimsten Gänge der thematisch-motivischen Kleinarbeit des Kom¬
ponisten. Er ist rührend anzusehen, dieser brennende Eifer, die notwendige
Einheit durch die ausgeklügelten motivisch-thematischen Beziehungsversuche her-
zustellen. Da wird gezeigt: dieses Thema von sechs Noten hat der Komponist
unbedingt aus jenem von vier heraus gearbeitet, hier — wie fein rhythmisch mas¬
kiert! — kommts teilweise wieder, dort in der Verlängerung oder Verkürzung im
Basse oder in deu Mittelstimmen. In der Opernanalyse: eine wahre Heerschau von
gesucht benannten Leitmotiven, die in sinnverwirrender Fülle als Notenbeispiele
oder gar „am Rande" im Text prangen. Und das alles, nein die ganze
Komposition hat der Kunstverstand des Komponisten fertig gebracht, der Kunst¬
verstand, der überhaupt das Wichtigste beim Schaffen ist. Und wir, wir musi¬
kalischen Chirurgen, haben seine kleinsten Betätigungen hier nachgewiesen und
vor euch ausgebreitet. Dieser Art von musikalischer Analyse kann man eine
Berechtigung nur für das wissenschaftliche Studium der Berufsmusiker, aber nicht
für die große Mehrheit der einer verständigen Einführung in die musikalischen
Kunstwerke bedürftigen Laien zuerkennen. Solche musikanatomische Präparate
sind es, die ihnen den Geschmack an jeder Aufklärung, deren gerade die kompli¬
zierten Schöpfungen moderner Musik unbedingt bedürfen, genommen haben.
Heute bürgert sich die Sitte analytischer Programme immer mehr ein,
sowohl bei uns im alten Europa wie in den großen Konzerten der Neuen
Welt. Nur fallen diese Erläuterungen zum ersten Drittel auf den schlechten
Boden der unselbständigen Abschreiber und der unnützen, flachen Ästhetiker, zum
zweiten auf den noch schlechtem der Kunstanatomen und zum letzten Drittel
auf den richtigen Boden als Samen, der zum Leben verhelfen kann. Die
Gefahr, in die musikalische Anatomie zu verfallen, liegt ja nahe. Diese ver¬
langt keine Produktivität, kein Mitempfinden, Nachschaffen, kein künstlerisch und
warm schlagendes Herz, keine Phantasie, keinen weiten, das zu erläuternde
Werk als Glied der strahlenden musikalischen Riesenkette erkennenden Horizont,
sie hält das Hineinziehn musik- und kulturgeschichtlicher Vergleichspunkte, die
Nützlichkeit, an geeigneter Stelle ein treffendes Bild aus den verwandten
Künsten oder der Literatur einzuschalten, für unter ihrer Würde oder für ein
gefährliches „Ästhetisieren," sie tranchiert die Komposition mit scharfen Messern
so seelenruhig und kalt wie einen Braten, interessiert sich nur insoweit für sie,
als etwas „dabei herauskommt," und freut sich selbst herzlich ihrer gelungner
Operation, wenn sie eine möglichst negative Analyse zutage gefördert hat. Da
den meisten historisch-philologisch Geschulten, die zum sehr großen Teil nicht
anders als in dieser Methode arbeiten können, das Vorurteil gegen alles Neue
eigen ist in dem cmerzognen Glauben, in einer entsetzlich jammervoll unproduk¬
tiven Gegenwart zu leben, die ein Gegensatz sei zu der eitel Großes und Bestes
bietenden Vergangenheit, so führen diese musikanatomischen Operationen eben
meist zum kritischen Tode des Komponisten. Andre sind schlauer. Sie ana¬
lysieren das Werk nach allen Regeln der Musikanatomie, ohne aber ihre eigne
wirkliche Meinung über das erläuterte Werk zu verraten oder zu gestehn, daß
sie es selbst nicht verstanden haben, weil sie sich sonst hätten sagen müssen, daß
eben ihre Methode nicht zur erschöpfenden und richtigen Auslegung genügte,
daß ihr das fehlt, was sich nicht lehren läßt: das künstlerisch-warme, dein Werke
liebevoll und vorurteilslos entgegenkommende Wesen. Sie bleiben als fleißige
Inspektoren in dem Werke stecken und genügen mit ihren Analysen nur ihrer
eignen, oft von größtem Scharfsinn zeugenden Lust am musikalischen Sezieren;
die wahren Ausleger stehn über dem Werke und verlieren bei seiner Analyse
keinen Augenblick den Umstand aus dem Auge, daß sie diese nicht nur für sich
selbst, sondern für die große Zahl der musikalisch Aufklärungsbedürftigen schreiben,
die vieles von dem, was sie wissen, was ihnen selbstverständlich erscheint, erst
lernen sollen.
Das ist nun freilich eine edle Aufgabe und ein sehr schweres Ding, wenn
man bedenkt, daß sich die meisten Ausleger von dem wissenschaftlichen Stand¬
punkt nur schwer lossagen können und nicht bedenken, daß der Zweck der musi¬
kalischen Analyse im allgemeinen künstlerisch, nicht wissenschaftlich ist. Sie be¬
zweckt, das Werk, dem der Ausleger mit Wohlwollen ohne allzu fühlbare Kritik
entgegenkommen muß, der des tiefern Verständnisses bedürftigen Menge nicht
in fachwissenschaftlicher oder technischer Form, sondern in einer ihren: geistigen
Horizont möglichst angenäherten Form zu erschließen. Also der Kunst, nicht
der Wissenschaft gilt hier der Kern. Die Auslegung wird dabei die wissen¬
schaftliche, d. h. die gründliche, dem Wesen des Werkes, seines Schöpfers und
seiner umgebenden Zeit nachgebende Behandlung nicht ohne Schaden entbehren
wollen, nnr bezweckt sie nicht, wie manche glauben, alles Wissen ihres Meisters
zur Schau zu stellen und einen von fachtechnischen Ausdrücken strotzenden, ge¬
lehrten Ton anzuschlagen.
Was gute musikalische Auslegung ist, welche Voraussetzungen und Eigen¬
schaften sie verlangt, ist klar, wenn man die positiven Ergänzungen zu dem
Negativen der philologisch-anatomischen Methode vornimmt. Wenn Burney
uns ein Händelsches ^oneörto grosso erläutert, wenn uns Louis Köhler eine
Thalbergsche Komposition beschreibt, Kretzschmar in eine Sinfonie einführt,
wenn der alte Forkel uns Bachsche Eigenheiten nur durchs Wort erzählt,
wenn uns Marx, Jahr und andre in einzelne Werke ihrer Lieblinge unter
den Klassikern den rechten Weg zeigen, so spüren wir sofort: das ist die
wahre musikalische Auslegung. Ein paar prägnante Worte, ein treffendes
Gleichnis oder Bild — wir denken an Goethes Grundriß der Gvttschedischen
Zeit im dritten Buch von „Dichtung und Wahrheit" —, und das Werk ersteht
gleichsam vor unserm geistigen Auge. Solche Ausleger sind freilich sehr selten
anzutreffen. Einen guten Zweck hat die richtige Auslegung ganz gewiß, nament¬
lich in der modernen Instrumentalmusik, von der ein großer Teil, die pro¬
grammatischen Tondichtungen, ohne Verbindung mit der Literatur und den
übrigen Künsten gar nicht gründlich verstanden werden kann. Die Voraussetzung
dazu ist freilich wiederum die, daß die Analyse vor oder nach, doch nie während
der Aufführung studiert wird, und die noch wichtigere, daß der Leser möglichst
in die Elementarbegriffe nulsikalischer Form- und Harmonielehre eingeweiht ist.
Die meisten Ausleger sehen jede Analyse als willkommnen Vorwand an,
ihre empfangner theoretischen Kenntnisse in möglichst prunkvollen Kleide wieder
an den Mann zu bringen. Sie schrecken den Leser durch unausgesetzte Be¬
ziehungen auf musiktheoretische Begriffe und Lehren von der Lektüre ihrer Arbeit
ab. Dem Leser, der das Kunstwerk als geistiges Ganze mit allen seinen Einzel¬
heiten verstehn will, ist es höchst gleichgiltig, zu erfahren, in welcher Tonart
es steht, welche harmonischen Umdeutungen und Periodengliederungen vor sich
gehn. Mit der schulmeisterlich übertriebnen Rücksicht auf solche Dinge entfernen
sich die musikalischen Ausleger weit von dem Zweck ihrer Analyse, der allein
Nutzen stiften, d, h. die kunstliebende Menge über ein Werk in einer ihr ver¬
ständlichen Weise aufklären kann. Am fruchtbringendsten werden die musikalischen
Auslegungen wirken, wenn man mit ihrem Studium ein der Aufführung voraus¬
gehendes praktisches Studium (im Klavierauszug) verbindet. Dann wird die
musikalische Analyse lebensvoll wirken. Eine Verständigung darüber, was eine
musikalische Auslegungskunst bei richtiger Anwendung ihrer Mittel sein kann,
was ihr versagt bleibt, was für sie schädlich oder überflüssig ist, ist heutzutage
sehr an der Zeit. Denn die jüngste Entwicklung der Musikanalyse mit ihrem
rationalistisch-philologischen Zuge droht hier einzureihen, was einige berufne
Vertreter einer im Grunde ausgezeichneten Idee mühevoll aufgebaut haben.
achten die Menagerie einer großen Reinigung unterzogen worden
war, begannen an dem darauffolgenden Sonntage die Vorstellungen.
Wir ließen den Reklamewagen, der mit Gemälden dekoriert war,
durch die Stadt fahren und engagierten ein Musikchor von zwölf
Mann der schweren Reiter, deren Kaserne uns gegenüber lag, da
unsre böhmische Kapelle schon nach Hause gereist war. Wir hatten
eine große Bretterbude eingerichtet, die von einem Zimmermeister erbaut worden
war und drei Öfen enthielt. Der Zimmermeister bekam als Entschädigung den
fünften Teil unsrer Einnahme. Nach Weihnachten erfanden wir einen neuen Trick,
von dem wir uns eine starke Anziehungskraft auf das Publikum versprachen. Bet
der Böhmischen Menagerie war ein Zwerg, Jakob, der zu Reklamezwecken in
einem Portierkostüm an der Kasse zu stehn pflegte. Eines Tages, als mit den
drei jüngsten Löwen der Bergheher Menagerie geprobt wurde, kam dieser Zwerg
dazu und wurde vom Prinzipal aufgefordert, mit in den Käfig zu gehn, worauf
Jakob mit großer Bereitwilligkeit und sichtbarem Stolze den Käfig betrat. Er er¬
hielt die nötigen Weisungen, und es zeigte sich, daß die kleinen Löwen ihrem ebenso
kleinen Dompteur willig Folge leisteten. Nachdem er etwa vierzehn Tage mit den
Tieren geprobt hatte, wurde dem Münchner Publikum durch Zcituugsannonceu und
Plakate zu wissen getan, daß sich an einem bestimmten Tage der kleinste Tier¬
bändiger der Gegenwart, der Zwerg Jakob, fünfundsiebzig Zentimeter hoch und
dreißig Pfund schwer, zum erstenmal mit seinen drei wohldressierteu Löwen pro¬
duzieren werde. Das Publikum, das in der Menagerie schon bekannt war, glaubte,
daß es sich hierbei um die drei großen Löwen der Böhmischen Menagerie handelte,
und war nicht wenig überrascht, als es den Knirps mit drei Löwen, die nicht viel
größer als ansgewachsne Spitze waren, arbeiten sah. Trotzdem wurden die Zu¬
schauer zufriedengestellt, weil alles bei der Vorstellung vorzüglich klappte. Der
Applaus wollte gar nicht enden, und der Zwerg erhielt aus den Händen der Frau
Böhme einen mächtigen Lorbeerkranz. Diese erste Vorstellung ist Wohl der Glanz¬
punkt im Leben des kleinen Jakob gewesen.
Mitte Januar kam ein Elefant von Hagenbeck an, den ein Singalese als
Wärter begleitete. Er wurde von der Bahn abgeholt und durch ganz München
geführt, was großes Aufsehen erregte. Dieser Elefant — er hieß Jolly — be¬
nahm sich gesitteter als sein schwarzer Begleiter, der sehr schmutzig war, widerwillig
seiue Arbeit tat und jede Gelegenheit benutzte, sich aus der Menagerie zu entfernen.
Eines Tages kamen um neun Uhr früh Besucher, und dabei stellte sich heraus, daß
der Schwarze wieder nicht auf seinem Posten war. Nun hatte Berg, der den
Singalesen von Anfang an nicht hatte leiden können, schon früher einmal die Frage
an mich gerichtet, ob ich mich Wohl getraue, mit dem Elefanten fertig zu werden,
was ich bejahte. Da nun jetzt bei dem Elefanten der Mist noch nicht entfernt
war, forderte mich Berg auf, die Reinigung zu übernehmen. Ich ergriff Besen
und Schippe und näherte mich arglos dem Tiere. Dieses nahm aber den Eingriff
in die Rechte oder vielmehr die Pflichten seines schwarzen Wärters übel, faßte mich
mit dem Rüssel um den Leib und schlenderte mich in weitem Bogen bis an den
zweiten Platz. Bei dieser Luftreise blieb ich mit den Beinkleidern an der Barriere
hängen und kam deshalb in etwas defekter Toilette auf dem Erdboden an. Der
Prinzipal fragte mich, ob meine Knochen noch ganz wären, und gab mir eine
Peitsche aus Nilpferdleder mit der Aufforderung, Rock und Weste auszuziehn und
den Elefanten nach Kräften zu züchtigen Ich ließ mir das nicht zweimal sagen,
sondern nahm die Peitsche, die aus einem Stück Leder geschnitten war und etwa
1,39 Meter lang sein mochte, und prügelte damit das Tier eine gute halbe Stunde.
Der Elefant trompetete und würde mich, wenn er mich erwischt hätte, vielleicht ge¬
tötet haben, aber ich hütete mich, in den Bereich seines Rüssels zu kommen. Als
er sich endlich umdrehte, gab mir der Prinzipal die Weisung, eine Mohrrübe zu
nehmen und damit getrost an den Kopf des Elefanten hinanzutreten, der mir nun
nichts mehr zuleide tun würde. Das tat ich auch, gab ihm die Rübe, streichelte
sein Ohr, redete ihm in freundlichem Tone zu, und von da an waren wir die besten
Freunde. Ich machte nun den Stand des Elefanten rein, worauf der Schwarze
wieder auf der Bildfläche erschien, große Augen machte und sofort entlassen wurde.
Von diesem Tage an war ich der Wärter des Dickhäuters und hatte einen an¬
genehmen Dienst, bei dem nur das eine Mißliche war, daß ich meinen Schutz-
befohlnen nicht verlassen durfte. Der Elefant war noch in halbrohem Zustande,
Berg gab mir deshalb eine Anleitung, wie ich die Pflege der Haut und der Hufe
zu handhaben hätte. Die Haut mußte gebürstet, gewaschen und eingefettet werden,
während die Hufe mit einem Hufmesser ausgeschnitten und mit einer Raspel ge¬
glättet werden mußten. Zu diesem Zwecke wurde dem Tiere beigebracht, den Fuß
auf einen Holzklotz oder ein Faß zu setzen, und es begriff bald, daß man ihm
mit diesen Manipulationen eine Wohltat erweise. Nach etwa einer Woche begann
ich auch mit der Dressur, erhielt als Handwerkszeug dazu außer der Peitsche einen
Elefantenhaken, der mit einer Spitze und einem Haken versehen ist.
Mein Freund, der Schweizer, verließ uns nach einiger Zeit. Ich blieb noch
eine Weile dort, verlor aber schließlich infolge von Differenzen mit dem Rekomman-
deur auch die Lust, meine Stellung beizubehalten, und kündigte.
Dann ging ich zu Fuß über Ulm nach Landau und Konstanz und sah mich
genötigt, wieder einmal zu talfen. Unvermutet bemerkte ich an der Münze, die ich
erhielt, daß ich auf Schweizer Boden war. Allerdings durfte ich mich meines Auf¬
enthalts in der freien Schweiz nicht lange erfreuen, denn in Kreuzungen fiel ich
einem Butz in die Hände, der mich mit nach der Grenzstation nahm, mein Buch
mit einem Zinken: „Polizeiposten Kreuzungen" versah und mir den nächsten Weg
in das deutsche Vaterland zeigte. Von Konstanz wanderte ich nach Radolfzell und
traf dort meinen ehemaligen Kollegen aus der Böhmischen Menagerie, Anton
Brunner, der mir mitteilte, daß er mit Peter Böhmes Panorama in Radolfzell sei,
und mich einlud, ihm zu seinem Prinzipal zu folgen, da sie gerade einen An¬
gestellten suchten. Ich fand denn auch sogleich Arbeit, erhielt im Monat achtzehn
Mark und einen Teil der Trinkgeldeinnahme. Die Besitzer des Geschäfts waren
ältere Leute ohne Kinder. Ich mußte zunächst die Orgel drehn, die Bude reinigen
und die Panoramagläser Putzen. Die Bude war französisch gebaut, d. h. hinten
tief und vorn hoch, und hatte eine Länge von etwa zwanzig Metern. An der
Fassade der Bude waren einige bewegliche Tableaus, Schweizer Landschaften, eine
Karawane in der Wüste und ähnliche Gegenstände angebracht. Auch die Orgel
war mit einer beweglichen Gruppe, einer Schusterfamilie, wo der Meister einen
Schuh klopfte, der Lehrling den Pechdraht zog und die Meisterin ein Kind auf
ihrem Arme wiegte, dekoriert. Im Innern gab es fünf größere Tableaus mit be¬
weglichen Figuren, darunter die Notredamekirche zu Paris mit Andächtigen, der
Golf von Neapel mit Wellenschlag und segelnden Schiffen, die Tuilerien in Paris
während der Kommune und noch verschiedne Panoramengemälde. In dem Extra¬
kabinett gab es eine Gruppe mechanischer Singvögel und zwei Panoramengemälde:
der Tod des Königs Friedrich August von Sachsen in Tirol und die Inquisition
in Spanien. Das Personal bestand aus dem Neffen der Frau Böhme, mit Namen
Gustav Lindig, der einen Teil der Tableaus und die mechanischen Singvögel auf-
zuziehn hatte und abwechselnd mit dem Dienstmädchen das Extrakabinett öffnete,
meinem Freunde Brunner, der die andern Tableaus aufzog und die Lampen be¬
sorgte, und mir. Zu der Bude gehörte ein Wohnwagen, ein Packwagen und ein
Beiwagen, den der Fuhrmann stellen mußte.
Vou Radolfzell reisten wir über Donaueschingen, Villingen, Schwenningen,
Se. Georgen, Triberg, Emmendingen nach Kolmcir, wobei wir Nachts bei Alt¬
breisach über den Rhein fuhren. In Kolmar langten wir am Nachmittag bei
großer Hitze an, und wir begannen am andern Morgen mit dem Aufbau unsrer
Bude. Es war gerade Messe, und außer uns waren auf dem Meßplatze noch der
Zirkus Blumenfeld, Rosts Walfischausstellung, in der es das Skelett eines Wal¬
fisches zu sehen gab, zwei andre Panoramen, einige Velozipedkarussells und endlich
Schichtls Zcmbertheater. Die Familie Schindel erfreut sich sowohl bei den reisenden
Schaustellern wie bei dem Publikum der von ihr besuchten Städte seit langem des
größten Ansehens. Der Stammvater betrieb mit seiner Fran ein kleines Kasperle¬
theater, worin er dank seinem urwüchsigen Münchner Humor den Grund zu seinem
spätern Wohlstand legte. Augenblicklich gibt es vier Brüder des Namens Schindel,
von denen einer, August, ein Zauber- nebst Varietütheater, der zweite, Johann,
ein Marionettentheater, der dritte, Xaver, ebenfalls ein Marionettentheater, und
der vierte, Julius, einen Schießsalon besitzt. Wo auf einem Meßplatze oder einer
Festwiese ein Mitglied der Familie Schindel erscheint, da haben alle andern Schau¬
steller geschäftlich einen schwere» Stand, denn die Schindel sind unermüdlich im
Erfinden überraschender Tricks bei ihren Paraden, in der saubern und korrekten
Durchführung ihrer Vorstellungen und in den originellen Ideen, die sie ihren Ver¬
anstaltungen zugrunde legen.
Um unserm Panorama eine besondre Anziehungskraft zu verleihe», errichteten
Wir einen sogenannten Präsentenstand. Ein solcher Stand ist eine Ausstellung von
allerlei nützlichen Gegenständen, die auf einer treppenartigen Stellage im Innern
der Bude, aber so, daß sie von außen gesehen werden kann, aufgebaut wird. Jeder
Besucher erhält zugleich mit seinem Billett eine Nummer und kann auf diese Nummer
einen Gegenstand gewinnen. Wir hatten vom Schwarzwald her eine Anzahl Uhren,
darunter ein paar schöne Kuckucksuhren, sowie eine Anzahl Ramschporzellansachen
mitgebracht, alles Dinge, die dem Publikum in die Auge stachen und Manchen zum
Besuch der Bude verlockten. Ich will aber offen bekennen, daß sich die meisten
Gewinne auf Bleistifte, Federhalter, im besten Fall auf eine Tasse beschränkten,
während die wertvollern nach wie vor auf dem Präsentenstande blieben. Zur Er¬
munterung des Publikums mischten wir uns ab und zu selbst unter die Menge, be¬
traten die Bude, empfingen beim Ausgange ein Wertobjekt, verliehen unsrer Freude
über den Gewinn sehr deutlich Ausdruck und lieferten nach einiger Zeit unsern
Gewinn wieder im Wohnwagen ab.
Zur Unterhaltung der Priuzipalin waren im Wohnwagen drei lebende Wesen,
ein Papagei und zwei verhätschelte, fette englische Möpse, über deren Wohlergehn
Frau Böhme Tag und Nacht ängstlich wachte. Beim Packwagen war ein Ratten¬
fänger, der Liebling Gustav Lindigs, der mit dem Dienstmädchen, seiner nach¬
maligen Frau, im Packwagen wohnte, während wir übrigen Angestellten in der
Bude unser Quartier hatten. Eines Mittags war der Rattenfänger verschwunden
und wurde überall ohne Erfolg gesucht. Endlich sahen wir ihn über den zu dieser
Stunde gerade menschenleeren Meßplatz kommen und eine Kalbskeule herbeischleppe«,
die ihm vom Prinzipal abgenommen und als gute Prise betrachtet wurde. So
verdankten wir dem Hunde eine sehr erwünschte Abwechslung in unsrer Abend¬
mahlzeit.
So war die letzte Woche herangekommen, und es galt nun, dem schon
etwas ermüdeten Publikum neue Lockmittel zu bieten. Der Zirkus Blumenfeld in¬
szenierte zu diesem Zwecke eine Pantomime „Aschenbrödel" oder „Der gläserne Pan¬
toffel," eine Veranstaltung, die wohl keinen aufmerksamem Zuschauer gehabt haben
wird als August Schicht!, der immer von Andern zu lernen und ihnen ihre Tricks
abzusehen bestrebt war. Er übertrug deshalb seiner Frau die „Physik" (das
Zaubern) und sorgte selbst für eine neue Attraktion, indem er neben seinen männ¬
lichen Ringkämpfern, den Herkulessen Gebrüder Kaiser, jetzt auch Damen im Ring¬
kampf auftreten ließ. Ich pflegte, wenn diese Ringkampfe vor sich gingen, zu
Schicht! hineinzugehn und dem Kampfe beizuwohnen. Dabei belustigte mich am
meisten, wie der „August" dem Publikum die Preise zeigte, die aus einer goldnen
Uhr mit Kette und einem goldnen Armband bestanden. Natürlich mußten die
Siegerinnen diese Preise immer wieder Herausgeber, und ich neige zu der Ver¬
mutung, daß diese Wertgegenstände nur von einem Juwelier entliehen waren.
Von Kolmar zogen wir zur Messe nach Mülhausen, wohin auch Schicht! mit
seinem Zaubertheater kam. Wir standen auch dort nebeneinander, und ich hatte
Gelegenheit, den erfinderischen Mann aufs neue zu bewundern. Da ihn: ein andres
Znnbertheater, das Schmidtsche, immer stärkere Konkurrenz machte, entschloß er sich
in der letzten Woche, nun auch seinerseits die dem Zirkus Blumenfeld abgesehene
Pantomime zu geben, die ihm große Vorarbeiten verursachte.
Nach der Messe in Mülhausen, die auch uns ein gutes Geschäft gebracht hatte,
reisten wir in die Schweiz und blieben in Solothurn, NeufchStel und Uverdon
überall acht Tage. In Neufchatel begegneten wir der Böhmischen Menagerie, die
sich inzwischen von der Bergheher wieder getrennt hatte. Daß in der Schweiz
nicht alles so gut und schön ist, wie es die Schweizer bei jeder Gelegenheit her¬
vorzuheben belieben, mußte ich hier wieder einmal erfahren. Ich hatte in Neuf-
chatel meine Wäsche einer Frau zum Waschen und Ausbessern gegeben und machte
in Se. Croix die Entdeckung, daß sich diese Frau ihre Arbeit sehr leicht gemacht
und auf die Nisse und Löcher meiner Oberhemden einfach kleine Stückchen Leinwand
mit Stärke aufgeklebt und festgeplättet hatte. Eines dieser Hemden hob ich mir
in diesem Zustande auf, um es bei einem etwaigen spätern Besuche in meiner
Heimat meiner Mutter zu zeigen.
Von Iverdon ging es den Berg hinauf uach Se. Croix, einem kleinen Orte
mit bemerkenswerter Spieldosen- und Musikwerkiudustrie. Auch hier ging das Ge¬
schäft vorzüglich. Ich kam gar nicht dazu. die Orgel zu drehn, da ich das Publikum
mit ein paar französischen Redensarten, die ich mir in der Eile eingelernt hatte,
zum Vvrwärtsgehn auffordern mußte. Hier engagierte der Prinzipal auch einen
neuen Angestellten, einen Bayern namens Martin Bimmlein, der fließend Französisch
und Italienisch sprach und die Rekommandation in französischer Sprache machen
mußte.
In Bern langten wir zur Wintermesse auf der Schützenmatte an. An einem
der Meßtage, wo gerade der sogenannte Maidelemarkt stattfand, mußte ich mit der
Madame zum Einkaufen in die Stadt gehn. Ich trug einen großen Korb mit
leeren Flaschen, deren Inhalt Frau Böhme ganz allein konsumiert hatte. Diese
originelle Frau hatte nämlich eine große Schwäche für geistige Getränke der aller-
stärksten Sorte, wie sie auch einem Kartenspielchen nicht abhold war, wozu sie zu¬
weilen die Angestellten aufforderte. Wir wußten diese Ehre zu schätzen, hüteten
uns aber, bei einem solchen Spiel zu gewinnen, da das ihre Laune sehr verschlechterte.
Bei unsrer gemeinsamen Wanderung in die Stadt trug ich zum erstenmal die Holz¬
schuhe, die ich mir mit Rücksicht auf das beginnende Winterwetter gekauft hatte.
Zum Unglück war an diesem Tage gerade Glatteis, und ich hatte Mühe, mich in
meiner ungewohnten Fußbekleidung auf den Beinen zu halten. Wir kauften in
einem Magazin über dem Kornhauskeller einen großen Vorrat von Erbsen, Linsen,
Bohnen, Reis und Kaffee und gingen dann in den großen als Merkwürdigkeit be¬
kannten Keller hinab, wo große Fässer Schnaps in langen Reihen lagen. Dort
ließ die Madame für jeden von uns einen Schnaps kommen und schickte mich dann
mit den eingekauften Vorräten nach Hause, während sie sich selbst noch für eine
Weile dem Zauber, den das Lokal auf sie ausübte, hingab. Auf dem Heimweg
hatte ich das Unglück, dreimal hinzustürzen, und beim drittenmal fiel mir der Korb
in den Schnee, wobei die Düten platzten und ihr Inhalt sich in buntem Durch¬
einander auf die Straße ergoß. Ich raffte alles, so schnell ich konnte, zusammen,
füllte damit den Korb und eilte nach dem Platze. Dort herrschte schon reges
Treiben, weshalb ich den Korb auf die Veranda des Wohnwagens stellte und mich
in die Bude an die Orgel begab. Nach einiger Zeit kehrte die Madame zurück,,
sah die Bescherung und machte in Gegenwart des Publikums einen gewaltigen
Lärm. Sie gab mir alle Titel, über die ihr Sprachschatz verfügte, und erteilte
mir den Auftrag, Abends nach Schluß des Geschäfts die Erbsen, Bohnen usw. fein
säuberlich zu Sortieren.
Eines Tages ging in allen Buden ein Zirkular herum, das von einer Anzahl
Rekommandeuren unterzeichnet war und die Aufforderung an die Angestellten ent¬
hielt, sich bei der Veranstaltung eines geselligen Abends zu beteiligen. Die Kosten
waren mäßig und beliefen sich für den Kopf auf zwei Franken, sodaß alle ohne
Ausnahme unterschriebe». Der festliche Abend kam heran, und jeder machte, so gut
er es konnte, Toilette. Wer etwas besondres auf sich hielt, lieh sich bei dem
Trödler eine weiße Weste und einen Gehrock, der eine und der andre auch noch
einen Zylinder. Nach Schluß des Geschäfts, es mochte gegen zehn Uhr Abends
sein, formierte sich ein Festzug, dem die Musik des Theaters Weissenbach und eine
Fahne in den Schweizer Farben vom Doppelkarussell vorangingen. Dann folgten die
Angestellten sämtlicher Schausteller in Reih und Glied mit ihren Damen. Ein
solcher von Musik begleiteter Zug wäre in Deutschland zu so später Abendstunde
unmöglich, in der freien Schweiz aber hatte die Polizei gegen eine solche Ver¬
anstaltung nichts einzuwenden. Am Eingange des Festlokals, das sogar mit einer
kleinen Bühne versehen war, standen zwei von uns in Portieruniform, die die Fest¬
teilnehmer empfingen und in den Saal wiesen. Als gelcidne Gäste erschienen sämt¬
liche Prinzipale, der Platzmeister und der Polizist, der auf dem Platze die Aufsicht
hatte. Nach einigen Musikvorträgen wurden zunächst komische Vorträge veranstaltet,
dann gab es ein warmes Abendessen mit Wein und endlich Tanz. Es ging dabei
recht lustig, aber doch höchst anständig zu, und ich verfehlte nicht, Madame Böhme
zu einem Walzer zu engagieren, wodurch unsre Freundschaft wieder befestigt wurde.
Bevor früh um sieben Uhr das Fest zu Ende war, veranstalteten die Prinzipale
eine Kollekte zu unserm Besten, wobei keiner unter fünf Franken zahlte, die Wohl¬
habendsten steuerten sogar zwanzig Franken bei. Hierdurch wurden nicht nur die
Kosten unsers Festes gedeckt, sondern wir erhielten auch noch einen Überschuß, der
am andern Tag in Bier und Zigarren nützlich angelegt wurde. Einige Tage
später veranstalteten die Prinzipale in einem andern Lokal ebenfalls einen Gesell¬
schaftsabend, der sich von dem unsrigen dadurch unterschied, daß die Gemütlichkeit
zum Schluß in eine regelrechte Prügelei ausartete.
In Thun, wohin wir nach der Berner Messe gezogen waren, begingen wir
ein andres Fest: die Hochzeit Gustav Lindigs, der das Böhmesche Dienstmädchen
heiratete. Abends gab es Freibier, und bei den komischen Vortragen, die wir
hielten, fehlte es nicht an mehr oder minder zarten Anspielungen auf die lange,
mit sechs Kindern gesegnete Brautzeit des jungen Ehepaares.
Nach Genf reisten wir am Tage vor dem Weihnachtsheiligabend ab. Wir
Angestellten fuhren „schwarz," d. h. ohne Billett. Wir erhielten am Abend vor der
Abreise unsern Proviant, der aus einem Butterbrot und einen, Stück Schweizer¬
käse bestand, und schlüpften gegen sieben Uhr mit dem Rattenfänger in den Pack¬
wagen. Leider hatten wir versäumt, uns mit etwas Trinkbarem zu versehen, und
mußten vierundzwanzig Stunden lang den Durst ertragen, zu dem uns der scharfe
Käse bald verhalf. Die Madame fuhr mit ihren beiden Möpsen im Wohnwagen
ebenfalls schwarz, während Herr Böhme selbst mit einem Billett auf durchaus legi¬
time Weise reiste. Am andern Nachmittag gegen drei Uhr merkten wir, daß der
Zug länger als gewöhnlich anhielt. Wir verhielten uns in unsern Betten so still
wie möglich und hörten, wie von außen an den Wagen geklopft und von mehreren
Leuten in französischer Sprache etwas gesagt wurde. Mein Freund Brunner, der
besser französisch als deutsch sprach, teilte uns mit leiser Stimme mit, daß draußen
jemand gesagt habe, im Wagen müßten Leute sein. Wir verbrachten eine Viertel¬
stunde in der größten Furcht, die Wagen möchten ans dem Zuge rangiert und
zurückbehalten werden, und atmeten erst erleichtert auf, als sich der Zug samt uns
wieder in Bewegung setzte. Am Weihnachtsabend um sieben Uhr fuhren wir endlich
in Genf ein und hörten, ehe noch der Zug hielt, die Stimme unsers Prinzipals,
der uns beim Namen rief und uns aufforderte, so schnell wie möglich den Wagen
zu verlassen. Wir sprangen hinaus, erhielten jeder von ihm fünf Franken und be¬
folgten seine Aufforderung, sofort auszureißen und uns am nächsten Morgen zum
Ausladen der Wagen wieder einzufinden. Wir gingen in den Gasthof „Zum
deutschen Rehbock," aßen mit gutem Appetit zu Nacht, löschten ausgiebig unsern
Durst und erquickten uns nach der langen Fahrt an einem guten Nachtlager. Am
andern Morgen waren wir pünktlich an der Rampe, luden aus und fuhren nach dem
Quai du Montblanc, wo die Neujahrsmesse abgehalten wurde. Dort herrschte drei
Tage lang Tag und Nacht ein ununterbrochnes Treiben. Wir mußten die Bude
von früh acht bis zum andern Morgen vier Uhr geöffnet halten und schliefen wäh¬
rend der ganzen Zeit nicht. Wir hatten so viel zu tun, daß der Prinzipal noch
einen weitern Angestellten, einen französischen Rekommandeur namens Felix, enga¬
gierte. Außer uns war auf dem Meßplatz eine Bude mit den Münchner Athleten
Müller und Daniel, die tausend Franken Prämie dem, der ihre Leistungen nach¬
machte, boten, ein Flohzirkus, eine Bude mit Seelöwen und die Menagerie Wilhelm
Böhme. Eine Anzahl andrer Schaugeschäfte und dergleichen stand noch zerstreut
in deu Straßen. Hier in Genf hörte ich auch zum erstenmal von der Menagerie
Nouma Hawa, die auf einer der Rhonebrücken ihre Bude aufgeschlagen hatte. Das
Geschäft ging so gut, daß mir am Morgen des zweiten Tages die Madame, um
ihrer Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen, ein Trinkgeld von fünf Franken gab,
das in lauter Kupferstücken bestand. Am dritten Tag, einem Sonnabend, wurde
in der Nacht um zwei geschlossen und abgebrochen. Ein Fuhrmann brachte uns
nach dem Rout Point des Plainpalais, wo wir wieder aufbauten und am Sonntag
Nachmittag vier Uhr wieder öffneten. In diesem Winterquartier blieben wir bis
Ende Februar.
In Genf hatte ich Gelegenheit, die Abneigung der französischen Schweizer
gegen das Deutsche Reich kennen zu lernen. Das Weißersche Karussell hatte auf
beiden Seiten seiner Wagen ein Schild angebracht, auf dein der deutsche Reichs¬
adler mit der Umschrift „Deutsches Neichspateut" zu sehen war. Nach dem Ab¬
brechen des Karussells und beim Einfahren in die Stadt erregten diese Wagen die
Aufmerksamkeit des Publikums in so hohem Maße, daß die Angestellten stutzig
wurden und die Entdeckung machten, daß die Reichsadler von böswilliger Hand
mit Kot beschmutzt worden waren.
Im Februar 1885 verließen wir unser Genfer Winterquartier und reisten
nach Rolle. Der Prinzipal und der französische Rekommandeur Felix fuhren mit
dem Schiffe voraus und erwarteten uns Andre, die wir wieder schwarz fuhren,
auf dem Bahnhofe. Dort erschienen eine halbe Stunde vor Ankunft des Zuges
zwei Gendarmen in langen Mänteln und Dreimastern, deren Gebaren dem Ne-
kommandeur verdächtig vorkam. Er beobachtete sie und ermittelte, daß von Genf
eine Depesche angekommen sei, worin gemeldet worden war, es seien in den beiden
ankommenden „Künstlerwagen" neun Personen und drei Hunde. Felix hatte nun
nichts Eiligeres zu tun, als seine Beobachtung dem Prinzipal zu melden, und er
erhielt von diesem die Weisung, sich mit den beiden Vertretern der hohen Obrig¬
keit bekannt zu machen und sie zu einer Flasche Wein in das Bahnhofsrestaurant
einzuladen. Das gelang denn auch ganz nach Wunsch, die Gendarmen tranken und
beteiligten sich lebhaft an der Unterhaltung, die der geriebne Felix auf das Lieb-
lingsthema der französischen Schweizer, die hohe Politik, gelenkt hatte. So kam
es, daß die beiden Hüter der öffentlichen Ordnung das Einfahrtsignal überhörten
und nicht einmal acht darauf gaben, daß Felix unter irgendeinem Vorwande das
Restaurant verließ, dem Zuge entgegeneilte und uns zum schleunigen Verlassen der
Wagen aufforderte. Wir sprangen aus dem fahrenden Zuge, rannten die hohe
Böschung des Bahndammes hinunter und verschwanden. So liefen die Wagen ohne
Passagiere in den Bahnhof ein, und die Gendarmen, denen der Prinzipal auf ihr
Verlangen bereitwilligst den Schlüssel der Wagen ausgeliefert hatte, fanden nichts
Verdächtiges. Wir gingen inzwischen in die Stadt, blieben dort bis zum Einbruch
der Dunkelheit und kehrten zum Schlafen in die Wagen zurück. Nach einem acht¬
tägigen Aufenthalt in Rolle, bei dem ein leidliches Geschäft gemacht wurde, fuhren
wir über Lausanne, Vevey, Payerne und Averdon nach Flenrier. In Fleurier war
eine Absinthfabrik, die in unsrer Madame eine gute Kundin bekam. Frau Böhme
trank den Absinth ohne Zusatz von Wasser, ließ sich von dieser Gepflogenheit auch
dnrch Warnungen nicht abbringen und gelangte so in einen Zustand, der auch
eine Weile nach unsrer Abreise vou Fleurier andauerte. Beim Abfahren vom Platze
forderte uus ein Gendarm auf, mehr links zu fahren, wodurch aber der Wohn¬
wagen auf eine feuchte Stelle der Wiese geriet, tief einsank und mit Winden wieder
flott gemacht werden mußte. Über diese Verzögerung geriet die Madame in große
Erregung, stieg aus dem Wagen heraus, zwängte sich hinter den Pferden vorbei
und ließ ihre Wut an mir aus, der ich doch an dem Mißgeschick gänzlich unschuldig
war. Als ich sie zu beruhigen suchte, prügelte sie mit der Faust meinen Rücken
und wollte sich, als auch das mich kalt ließ, eines Hebebaums als Waffe bedienen,
was ihr aber bei dem Gewicht dieses Instruments uicht gelang. Sie konnte noch
von Glück sagen, daß der Gendarm seine Absicht, sie zu arretieren, nicht verwirk¬
lichte. Als wir nach diesem Erlebnis in Sonvilier anlangten, rief mich der Prin¬
zipal in den Wagen und gab mir zwei Franken mit der Weisung, sie zu vertrinken
und das Abenteuer und seiner Frau zu vergessen. Von Sonvilier reisten wir nach
Freiburg, einer schönen, altertümlichen Stadt, in der mir die große Anzahl der
Geistlichen auffiel. Wir standen in einiger Entfernung auf einer Wiese, wo wir
das malerische Panorama inimer vor Augen hatten. Der Platz, worauf wir standen,
war sehr schmutzig und mußte mit einer Fuhre Sägemehl bedeckt werden. In
Freiburg verließ uns der französische Rekommcmdeur Felix wieder, dessen wir jetzt
nicht mehr bedurften, da wir wieder in Gegenden mit deutschsprechender Bevölkerung
gelangt waren.
Zur Frühjahrsmesse fanden wir uns in Bern ein, wo wir auf der Schützeu-
matte standen und der großen Konkurrenz wegen wieder einen „Präsentenstand"
errichten mußten. An die Stelle des französischen Rekommandeurs trat jetzt ein
andrer Neffe der Madame, mit Namen Karl Lindig. Nach etwa vierzehn Tagen
reisten wir weiter über Burgdorf, Aarburg und einige kleinere Orte nach Zürich-
Außersihl, wo wir zehn Tage blieben und in der Nähe einer Kaserne aufbauten.
Dann ging es weiter nach Winterthur. Auf dem Platze, wo wir aufbauten, standen
schon das Theatre Lorrain, ein Variete, dessen Besitzer, Karl Böhme, der Bruder
unsers Prinzipals war. Seine Söhne traten als Athleten auf, außerdem hatte er
Jongleure und die beiden Herkulesse Müller und Daniel aus München, die wir
schon in Genf getroffen hatten. Karl Böhme, der in der Absicht, am Sonntag
ein recht volles Haus zu bekommen, noch einen Ringkämpfer suchte, betrachtete sich
meine Muskel» und fragte, ob ich Lust hätte, auf seiner Bühne aufzutreten. Als
ich mich hiermit einverstanden erklärte, wurde eine Ankündigung in die Zeitung ge¬
setzt, worin zu lesen stand, daß sich der berühmte Ringkämpfer aus dem Berner
Oberlnnde, Robert Thomas, zu einem Kampfe mit den Herkulessen des THLätre
Lorrain bereitgefunden habe und am nächsten Sonntag zur Abendborstellung auf¬
treten werde. Am Tage vorher fanden auf der mit Sägemehl bedeckten Bühne
Proben statt. Ich wurde in den Verbeugungen gegen das Publikum und in den
Regeln und Griffen beim Kampfe unterwiesen und sah der kommenden Vorstellung
selbst mit einiger Spannung entgegen. Am Sonntag Abend war das Theater bis
ans den letzten Platz besetzt. Ich stand gerade im Panorama an der Orgel und
spielte die „Donanwellen," als ich zum Ringkampf abgeholt wurde. Im Wagen
des Herkules Müller mußte ich einen Trikot anziehn, ein Glas Wein trinken, um
mir Mut zu macheu, und ging dann auf die Bühne, wo uoch eine andre Nummer
gearbeitet wurde. Als diese zu Ende war, trat eine kleine Pause ein, worauf der
Direktor in „Wichskasten" Minder), Frack und weißer Weste erschien und eine
Ansprache hielt, worin er betonte, daß der Berner Oberländer eine Prämie von
tausend Franken erhalten werde, wenn es ihm gelänge, den Herkules Müller zu
werfen. Die Musikkapelle intonierte einen Marsch, mein Gegner und ich traten
rechts und links aus deu Kulissen hervor, verbeugten uns gegen das Publikum,
reichten uns die Hände, worauf wir unsre Plätze wechselten und dann erst den
Kampf begannen. Dann packten wir uns und rangen etwa fünf Minuten — scheinbar
mit Aufbietung aller Kräfte, aber in Wirklichkeit ohne uns sonderlich anzustrengen —,
endlich warf mich mein Gegner und drückte mich mit beiden Schultern an den
Boden, sodaß ich mich für besiegt erklären mußte. Ich sprang wieder auf und
forderte in sehr energischem ToAe Revanche, worauf sich das Spiel wiederholte, bis
ich endlich zum zweitenmal am Boden lag. Ein nicht endenwollender Beifall be¬
lohnte die Bravour des Herkules. Ich zog mich zurück, erhielt fünf Franken Spiel¬
honorar und wurde überdies vou meinem Gegner noch eingeladen, nach Geschäfts-
schluß mit ihm eine Flasche Wein zu trinken. Ich kleidete mich schleunigst wieder
um, eilte nu meine Orgel, setzte die unterbrochner Donnuwellen fort und fand mich
pünktlich in dem Gasthause ein, wo wir einige Liter des feurigen Schweizer Not¬
weins tranken.
Am folgenden Montag reiste das TlMre Lorrain nach Weinfelder, während
wir noch ein paar Tage in Winterthur blieben. An demselben Montag wurde
ich aufgefordert, in der Stadt Kohlen zu holen, und machte mich mit einem Sack
auf den Weg. Als ich an einem Zigarrengeschäft vorüberkam, trat ich ein, um
mir eine Zigarre zu kaufen, und wunderte mich nicht wenig, als ein alter Herr
mit langen grauen Locken, der schon im Laden war, mich bei meinem Erscheinen
mit den Worten empfing: Da kommt der Berner Oberländer! Sie wollen sich
Zigarren kaufen, nehmen Sie sich nur, soviel Sie wolle». Der alte Herr war
ein Bildhauer, auf den ich großen Eindruck gemacht zu haben schien, und der mir
jetzt seine Anerkennung beweisen wollte. In einer Anwandlung vo« Bescheidenheit
nahm ich ein Paket Virginiazigarren, wurde aber genötigt, auch noch fünfzig Stück
deutscher Zigarren einzustecken.
Nach Ablauf einer Woche brachen wir ab und fuhren mit der Bahn nach
Amriswyl. Dort besuchte mich der Sohn von Karl Böhme und forderte mich auf,
mit nach Weinfelder zu kommen und dort wieder als Berner Oberländer zu ringen.
In Weinfelder wurde mir ein wahrhaft fürstlicher Empfang bereitet, indem mich
die Böhmeschen Künstler und Athleten unter Musikbegleitung vom Bahnhof ab¬
holden. Zuvor mußte ich in der Bahnhofstoilette einen Turneranzug mit weißrvter
Schärpe anlegen und wurde dann im Triumph durch die ganze Stadt geführt.
Bei diesem „Paradezug" ging die Musik voran, dann folgte ich zwischen den beiden
Athleten, und hinterher kamen die Böhmeschen Künstler und Künstlerinnen in Kostüm.
Der Ringkampf verlief in ähnlicher Weise wie der in Winterthur, und mein Gegner
erntete hier denselben Beifall wie dort.
Am andern Morgen bei Tagesgrauen fuhren wir alle zusammen per Achse
nach Amriswyl zum Knntonalschützenfest. Auf dem Festplatze waren mehrere kleinere
Schaubuden, darunter das Zaubertheater von Schulz aus Magdeburg, dessen Sen¬
sationsstück eine Enthauptung war, ein kleines Panorama, das einem Schwarzen
namens Gustav gehörte, und ein sogenannter Piktus von Kuhnert aus Hannover.
Ein solcher Piktus ist eine nur für Herren berechnete Schaubude mit Extrakabinetten,
die meist recht wertlosen Inhalt hat, aber durch vielversprechende Schilder das
männliche Publikum anlockt. Im Innern war beispielsweise eine Bühne errichtet,
über der eine Anzahl Glocken aufgehängt waren. Eine phantastisch gekleidete, weit¬
dekolletierte Dame erschien nun und spielte, mit einem Stahlstabe um die Glocken
schlagend, eine Melodie. Für diese bescheidne Kunstleistung mußten die Besucher
fünfzig Centimes entrichten, fielen dann aber einer andern, nicht minder eleganten
Dame in die Hände, die ihnen für weitere fünfzig Centimes ein Extrakabinett auf¬
schloß, worin ein paar mechanische Vögel sangen. Hatte der Besucher damit noch
nicht genug, so konnte er in einem weitern Extrakabinett eine „elektrische Dame"
sehen und bewundern, deren Fingerringe bei der Berührung einen elektrischen Schlag
von sich gaben. Mehr als die Bude mit ihrem Inhalt imponierte mir deren Re-
kvmmandeur, der seine Rekommandation in improvisierten Versen sprach. Mit Rück¬
sicht auf die etwas gar zu plumpe Ausbeutung des Publikums wird den Piktussen
in viele» Städten die Erlaubnis zu Vorstellungen verweigert.
(Fortsetzung folgt)
> d'hrend der Zeit war das Boot, das den Herrn Pastor trug, um die
nächste Landspitze herumgekommen, und bald darauf fingen die Glocken
an zu läuten.
Päsch, sagte Groppoff in herrischem Tone zu seinem Adjutanten,
gehn Sie hinaus und sagen Sie, das Begräbnis findet nicht statt.
> Das war etwas für Päsch. Er warf sich gewaltig in die Brust,
ging hinaus und kommandierte: Allerrrhöchste Orderrrr! Das Begrräbnis findet
Umstände halber nicht statt.
Ein Murmeln der Überraschung und des Unwillens antwortete ihm. Man
war ungehalten — nicht darum allein, daß nun der schöne Leichenschmaus ver¬
dorben war, sondern auch, weil es noch nie vorgekommen war, daß ein Begräbnis
gestört worden wäre, und weil man die Störung der heiligen Handlung als eine
Beschimpfung ansah. Die Frauen führten ihre Taschentücher vor den Mund, und
im Hintergrunde, wo die Männer standen, ballten sich Fäuste und hörte man leise
Verwünschungen.
Der Amtshauptmann verließ das Haus, gefolgt von seinen beiden Forstläufern,
die Kondrot, dem man die Hände auf den Rücken gebunden hatte, in ihrer Mitte
führten. Kondrot, niedergebeugt von der Schande, die man ihm antat, sah leichen¬
blaß aus. Eben kam auch sein Sohn Jurgis. Der schrie wie ein Wilder, hatte
ein bloßes Messer in der Hand und versuchte, sich auf den Amtshauptmann zu
stürzen. Aber man hielt ihn fest und suchte ihn zu beruhigen.
Vorwärts! sagte Groppoff ungeduldig.
Da trat ihm der Herr Pastor entgegen, im Talar, hinter ihm der Kantor
und die Schuljugend mit dem Kreuze.
Herr Amtshauptmann, sagte Pastor Peternelle, ich bitte Sie, tun Sie kein
Unrecht, das Sie nie wieder gut machen können.
Herr — Pastor, erwiderte Gropposf hochfahrend, was nehmen Sie sich heraus?
Nur, was meine Pflicht ist.
Ach was, Pflicht! Predigen Sie den Leuten Gottes Wort, und kümmern Sie
sich nicht um Dinge, die Sie nichts eingehn.
Ich predige Gottes Wort — Ihnen — eben jetzt, da ich rede. Denn das
Wort Gottes ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. Herr Amts¬
hauptmann, fragen Sie sich, ob Sie im Dienste der Gerechtigkeit handeln, wenn
Sie Kondrot gebunden ins Gefängnis führen, oder aus — andern Gründen. Ein
Verdacht ist noch kein Urteil. Ein Verdacht kann trügen. Wie, wenn Kondrot
unschuldig ist, und ich halte ihn für unschuldig, und Sie haben ihn behandelt wie
einen Mörder? Kondrot wird nicht fliehen. Dafür verbürge ich mich. Kondrot,
versprechen Sie vor Gott, daß Sie nicht fliehen wollen?
Ich verspreche es, so wahr mir Gott helfe, antwortete Kondrot feierlich.
Die ganze Gemeinde verbürgt sich, fuhr Pastor Peternelle fort. Verbürgt ihr
euch, meine Freunde? wandte er sich an die Männer, die im Kreise standen.
Jawohl, Herr Pastor, antwortete man von allen Seiten, wir verbürgen uns.
Der arme Mensch! sagte einer zum andern. Jetzt waren alle davon über¬
zeugt, daß er unschuldig sei, auch die, die vorher dabei geholfen hatten, böse Ge¬
rüchte zu verbreiten.
Lassen Sie das Haus bewache», rief der Herr Pastor, wenn Sie es für nötig
halten, aber führen Sie ihn nicht wie einen Verbrecher ins Gefängnis.
Der Herr Amtshauptmann lachte verächtlich und sagte: Vorwärts!
Man drängte den Herrn Pastor zur Seite, und der Herr Amtshauptmann,
seine bewaffnete Macht und sein Gefangner verließen die Trauerversammlung. Da
erhob sich über den Köpfen der Menge eine drohende Faust, und eine harte Frauen¬
stimme rief: Groppoff, du Satan! Deine zweiundvierzig Monate sind um. Du
bist der nächste, den Gottes Hand trifft.
Schlagt doch derr verrdammten alten Hexe auf den Schädel, sagte Päsch.
Aber niemand tat es.
Als Groppoff wieder in seiner Wohnung angekommen war, warf er das
Aktenstück mit dem Aufatmen eines Satter auf den Tisch. Jetzt hatte er seine
Macht gezeigt und seine Rache gebüßt. Er hatte dem Kondrot, diesem Lump und
Verräter, das Ärgste gedroht und hatte sein Wort wahr gemacht. Ganz gleich-
giltig, ob er schuldig oder nicht schuldig war, diesen Schlag verwand er so leicht
nicht. Und die andern würden sichs wohl zur Lehre nehmen und nicht wider den
Stachel löcken. Groppoff sandte ein Telegramm an den Herrn Staatsanwalt,
worin er ihm den Vorfall mitteilte.
Aber Rache, die man genommen hat, sättigt nicht; der Sieg, den die Macht
davonträgt, befriedigt nicht, wenn nicht das Bewußtsein des guten Rechts oder der
guten Absicht hinzukommt. Ehe Groppoff sich dessen selbst bewußt wurde, sing er
an, sich vor sich selbst zu rechtfertigen. — Da lag der Nietzsche ans dem Tische.
Groppoff hatte ja das Buch im Zusammenhange nicht verstanden, aber die tröst¬
lichen Stellen hatte er angestrichen, und er brauchte das Buch nur zu öffnen, so
fielen sie ihm in die Augen. Er las: Man vergebe mir die Entdeckung, daß alle
Moralphilosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte — und
daß die Tugend durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist als
durch die Langeweile ihrer Fürsprecher. . . . Man bemerke, daß der Gegensatz gut
und schlecht so viel bedeutet wie vornehm und verächtlich. . . . Daß die Lämmer
den großen Raubtieren gram siud, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund,
es den großen Raubtieren zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. . . .
Priester sind, wie bekannt, die bösesten Feinde — weshalb doch? weil sie ohn¬
mächtig siud. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure. . . .
Auch unsre alte Moral gehört in die Komödie.
Groppoff las diese Sentenzen mit Befriedigung. Er sagte sich zum Hundertsten¬
male, daß mit dieser Lehre alle die heiligen Schranken, die sich die Kleinen zum
Schutze gegen die Großen errichtet haben, umgeblasen würden. Sehr gut! sehr
gut! Er hätte dem Mann, der ihm den neuen Propheten gebracht hatte, dankbar
sein können, wenn dieser Mann nicht anch für sich in Anspruch genommen hätte,
einer von den Großen zu sein. Und zwee Herren nebeneinander, das geht nun
einmal nicht. Einer muß weichen. Und ein Priester ist der ärgste Feind, weil
er der ohnmächtigste ist. Haha! Sehr gut.
Die Magd erschien und meldete den Herrn Pastor. Dieser selbst trat gleich
darauf ein.
Maas? rief Groppoff, vor Erregung im ganzen Gesichte rot werdend. Ich
meinte, wir hätten vor Kondrots Hause das letzte Wort miteinander geredet.
Damals nicht, aber vielleicht jetzt, antwortete der Herr Pastor. Herr Amts-
hauptmann, man soll jedes ernste und wohlmeinende Wort, das man spricht oder
anhört, so ansehen, als wäre es das letzte vor der Tür des jüngsten Gerichts.
Ich bitte Sie um Gottes willen, Pastor, rief Groppoff, verschonen Sie mich
mit Predigten.
Ich versuche uicht, Sie zum Einsehen zu bringen. Ich weiß, es ist vergeblich.
Ich komme nur, um Sie zu warnen. Einige Leute, die ich kenne, deren Namen
ich aber natürlich verschweige, haben sich verbunden, Ihr Haus in die Luft zu
sprengen.
Unsinn! rief Groppoff verächtlich, jedoch mit weniger Sicherheit, als er bisher
gezeigt hatte.
Ich brauche uicht zu sagen, fuhr Pastor Peteruelle fort, daß ich den Anschlag
aufs höchste mißbillige, aber ich kann ihn nicht hindern, ich kaun nur warnen.
Verrücktheit! Wie kommen diese Menschen darauf? rief Groppoff. Hat man
sie nicht aufgehetzt?
Herr Amtshauptmann, Ihre Hand hat schwer auf dem Dorfe geruht. Sie
wissen es selbst. Heute haben Sie die Gemeinde tief verletzt. Es war Ihr Recht,
die Leichen in Beschlag zu nehmen, aber das konnten Sie auch gestern tuu. Daß
Sie das Leichenbegängnis störten, empfindet die Gemeinde als Härte und als Be¬
schimpfung. Sie wissen, die Fischer sind der Verzweiflung nahe wegen der Netz-
Verordnung. Und Sie macht man als Herrn der Gemeinde für alles verantwortlich,
anch für das, woran Sie keinen Teil haben. Ich habe Sie warnen wollen.
Schicken Sie Fräulein Eva weg, verlassen Sie selbst das Haus, bis sich die Auf¬
regung gelegt hat.
Groppoff hätte gern mit scharfen Worte» geantwortet und sich verbeten, daß
sich der Pastor in seine Angelegenheiten mische, aber er fand die Worte nicht, die
er suchte, und antwortete etwas unsicher: Ich muß bitten, es mir selbst zu über¬
lasse», zu tun, was ich für angemessen halte. Adieu.
Noch ein Wort, sagte Pastor Peternelle, indem er auf das aufgeschlagne Buch
wies, das auf dem Tische lag. Ich sehe, Sie haben von dem süßen Gifte gekostet,
das ein unseliger Mensch bereitet hat, der seine schönen Gaben dazu gemißbraucht
hat, das niederzureißen, was allen heilig sein sollte, Herr Amtshauptmann, auf
diesem Acker Wächst kein Glück, kein Sieg, kein Herrentum, sondern etwas, was
nur die Karikatur davon ist. Es gibt einen Herrn im Himmel, und hier auf
Erden so viel Herren, als Menschen ihrer selbst Herr geworden sind, so viele, als
sich durch Dienst und Treue die Herzen der Menschen erworben haben. Glaube»
Sie mir, es gibt nichts Großes, wenn es nicht zugleich gut ist. Groppoff! mein
letztes Wort, halten Sie ein, kehren Sie um!
Groppoff wies zornig nach der Tür, und Pastor Pcternelle ging.
Groppoff ging erregt im Zimmer auf und ab. Was? ein Pastor, ein arm¬
seliger Landpastor, ein Mensch, der bisher den Hut wer weiß wie tief vor ihm abge¬
zogen hatte, wagte ihm das zu sagen? Er, Groppoff, die Karikatur eines Herrn?
Dieser Pastor wagte es, sich an die Spitze aufrührerischer Fischer zu stellen? Er
hatte den Mut, ihm bittre Wahrheiten zu sagen? Ja, er hatte den Mut. Groppoff
konnte nicht umhin, sich davon imponieren zu lassen. — Und Gefahr? Pah! Diese
Gesellschaft ist viel zu knechtisch gesinnt, als daß sie gefährlich sein könnte. Es
könnte aber doch ein verrückter Kerl darunter sein, der um sein Leben spielte. Ein
Stück Blei an einer falschen Stelle, eine Dymnnitpntrone unter den Füßen — ein
unbehaglicher Gedanke. — Groppoff nahm seinen Revolver aus dem Gewehr¬
schranke und lud ihn. Er war jetzt zwanzig Jahre am Orte. Er war unbeschränkter
Herr gewesen. Es war ihm alles gelungen. Er hatte manchen Feind gehabt und
ihn weggebissen oder unterworfen. Auch die Herren Räte seiner vorgesetzten Be¬
hörde hatte er bei ihrer schwachen Stelle zu fassen gewußt. Er hatte sie alle an
der Hand. Nur dieser Ramborn widerstand ihm! Aber mit ihm war das letzte
Wort noch nicht gesprochen. Und nun kam auch dieser Pastor! Mau wird ihm
zeigen, daß mau sich nicht ungestraft gegen die erheben darf, die die Macht in
Händen tragen.
Es war Nachmittag geworden. Als Groppoff aus seinem Fenster sah, be¬
merkte er, daß ein Mensch um die Ecke seines Stallgcbttndcs schlich. Das war
der Weg, auf dem solche Leute zu ihm zu kommen pflegten, die Grund hatten,
ihre Wege nicht jedermann wissen zu lassen. Es war Jakob Madre, der Post-
Verwalter, einer seiner Getreuen. Was war da los? Madüe trat ein, aschgrau im
Gesicht, mit zitternden Gliedern, einen Brief in der Hand. Herr Amtshauptmnnn,
sagte er bebend und mit trockner Kehle, der Postinspektor ist da und hält Hnus-
suchnng.
Was geht mich Ihr Postinspektor an? erwiderte Groppoff unwillig.
Er hätte auch nichts gefunden, fuhr Madüe fort, wenn ihm nicht die Magd
gesagt hätte, er möchte den großen Schrank abrücken lassen. Und da hat er zwischen
Schrank und Wand das Nest gefunden.
Welches Nest?
Die uuterschlagnen Briefe.
Aber Mensch, rief Groppoff, sind Sie denn verrückt? Wer wird denn solche
Briefe ausheben? Die verbrennt man!
Ich konnte es nicht.
Das mußten Sie können. Wer ein Spitzbube sein will und ist es nur halb,
der kommt zweimal ins Loch. Und nun werden Sie wahrscheinlich kommen und
sagen, daß ich daran schuld sei.
Ja, Sie! Sie! Sie haben mich gezwungen, die Briefe zu öffnen, Sie haben
mich in der Knechtschaft gehalten, Sie sind schuld!
Madüe, überlegen Sie, was Sie reden. Bin ich schuld, daß Sie ein solcher
Esel sind, Briefe aufzuheben, statt sie zu verbrennen? Wer könnte Ihnen etwas
nachweisen, wenn Sie sich nicht selber ausgeliefert hätten? Nun sehen Sie zu, wie
Sie durchkommen.
Ich darf nicht nach Hause zurückkehren. Man würde mich sogleich festnehmen.
Und da kommen Sie nun bei helllichtem Tage hierher, um den Leuten zu
zeigen, wo Sie zu finden sind, und wer mit Ihnen zu tun gehabt hat? Und nun
stehn Sie da und zittern? Madüe, Sie sind ebenso feige, wie Sie dumm sind.
Madüe stand da, ein Bild des Jammers. Meine arme Frau! meine armen
Kinder! stammelte er, die Hände ringend. Was soll aus ihnen werden? Und
ich Schuft bin an allem Unglück schuld, das nun kommt. Nein, Sie sind schuld,
schrie er auf, indem er einen Anlauf von Mut nahm. Sie sind schuld und sollen
es rin aufessen. Ich werde mich der Behörde stellen und werde alles gesteh«,
ich werde erzählen, wie Sie mich gefangen, geknechtet und ins Verbrechen hinein¬
gesetzt haben. Ich werde die Gerechtigkeit anrufen gegen Sie! Sie!
Damit knickte er wieder zusammen.
Madüe, sagte Groppoff mit kaltem Hohn, Sie sind ein Esel. Glauben Sie
denn, daß jemand auf Ihr Geschwätz hören würde, wenn Sie keine Beweise haben?
Bringen Sie mir Ihre Beweise. Sie haben keine. Also wird man Ihre Tugend¬
haftigkeit nur für einen Versuch ansehen, Ihre Schuld von sich abzuwälzen. Für
weiter nichts.
Madüe sah es ein. Herr, rief er verzweifelt, helfen Sie mir! und er wollte
sich Grovvoff zu den Füßen werfen.
So, sagte Groppoff, indem er den Fußfall verhinderte, jetzt klingt die Melodie
anders. Helfen will ich Ihnen, schon darum, weil mir nichts daran liegt, in
Ihrer Geschichte eine Rolle zu spielen. Sie müssen weg. Entweder hinüber nach
Schweden oder über die russische Grenze.
Madüe atmete auf.
Halten Sie sich bis heute Abend nach Dunkelwerden verborgen — nicht hier.
Da oben im Laternenhäuschen. Da sucht Sie niemand. Dort hängt der Schlüssel.
Aber sehen Sie sich vor, daß niemand Sie bemerkt, wenn Sie hineinsteigen. Nach
Dunkelwerden gehn Sie hinab an den Strand und auf dem Stege durchs Rohr,
dort werden Sie ein Boot finden, das mit allem Nötigen ausgerüstet ist. Mit dem
fahren Sie auf See. Wie Sie dann weiterkommen, das ist Ihre Sache.
Madüe verschwand, und Groppoff trat ans Fenster und sah hinaus. Er konnte
von seinem Standpunkt aus zwischen den alten Bäumen, die das Haus umgaben,
nach dem Strande hinabsehen. Der Strand war hier, wo das Wasser flach war,
mit einem breiten Saume von Rohr eingefaßt. Darin hausten Rohrsperlinge, die
den ganzen Tag nicht müde wurden, ihr eintöniges Karre-karre-kik zu singen. Durch
die Breite des Rohrdickichts führte ein schmaler hölzerner Steig, und an seinem
Ende lag — noch im Rohre verborgen — ein Boot. Es war außer der Landungs¬
brücke des Hafens die einzige Stelle, an der man trocknen Fußes ans Land kommen
konnte. Dieser Steg war die Ausfallpfvrte von Groppoffs Burg, und er hatte
sie schon manchmal benutzt, um ungesehen zu kommen oder zu gehn.
Als Groppoff sich umdrehte, sah er, daß Madüe einen Brief aus dem Tische
hatte liegen lassen. Er war an den Doktor gerichtet, kam von N. und enthielt
ein Dokumentblatt. Offenbar war Madüe damit beschäftigt gewesen, den Brief zu
öffnen und zu lesen, als er von dem Postinspektor überrascht wurde. Er hatte den
Brief in der Eile nicht los werden können und hatte ihn im Zimmer Groppoffs
von sich geworfen. Das Dokument war eine Abschrift des Grundbuchblattes des
preußischen Schlößchens. Groppoff las es und fand zu seinem maßlosen Erstaunen,
daß als Besitzer der ersten Hypothek nicht Justizrat Stackelberg, sondern Doktor
Ramborn eingetragen war. Das hatte er nicht geahnt. Er hätte es wissen können.
Er hätte nur nötig gehabt, Einblick in das Grundbuch zu nehmen. Jetzt brach
sein ganzer gegen das Schlößchen geschmiedeter Plan zusammen. Denn wenn
Ramborn beabsichtigte, das Schlößchen zu halten, so brauchte er mit seiner Hypothek
nur an zweite Stelle zu treten. Zu erster Stelle bekam er auf das Gut so viel
Geld, als er brauchte, und die Kündigung der spätern Hypotheken konnte ihn nicht
in Verlegenheit bringen. Groppoff ärgerte sich, wie er sich noch nie geärgert hatte.
Über wen? Über sich nicht, sondern über das Grundbuch, über seinen Vertrauens¬
mann, der ihn falsch berichtet hatte, und über den Doktor, gegen den er einen
glühenden Haß zu empfinden begann.
Draußen läutete die Haustür. Gab es denn heute gar keine Ruhe? Es war
Heiuemann, der in seiner ganzen verlotterten Breite eintrat.
Was wollen Sie? fragte Groppoff heftig.
Na na, sagte Heinemann, nicht gleich so patzig. Mein Kontrakt rin Frau
Ban Term, Sie kennen ihn ja, den ich hatte verschwinden lassen, ist wieder¬
gefunden worden. Oder vielmehr die Marike, das Tier, der ich die Beine zer¬
schlagen werde, wenn ich sie kriege, hat es dem Doktor verraten.
Wieder halbe Arbeit, grollte Groppoff. Euch geschieht Recht, daß ihr den
Hals brecht, wenn ihr nnr einen Knoten ins Seil macht, wo zwei nötig sind.
Der Doktor hat herausgebracht, fuhr Heinemann fort, daß die Zahl 10000 Mark
gefälscht ist. Sie werden ihm das vielleicht glauben. Und gestern ist er mit dem
Kontrakt nach N. zum Staatsanwalt gefahren.
Und das sagen Sie mir erst heute, Sie Mensch mit dem großen Maul und
dem kleinen Gehirn? Warum sind Sie ihm gestern nicht nachgereist? Oder wenn
Sie dazu zu feige Ware», warum haben Sie sich nicht aus dem Staube gemacht?
Ich hatte kein Geld. Ohne Geld kommt man nicht über die Grenze. Und
dann habe ich hier erst noch ein Geschäft abzumachen. Einer muß erst noch dran
glauben, einer muß erst noch eine Kugel vor den Kopf kriegen. Soll ich zum
Teufel gehn, so will ich wenigstens nicht allein gehn. Einer muß mit. Aber mit
dieser Klappbüchse — er warf seinen verrosteten Revolver auf den Tisch —, was
ist damit einzufangen? Ich muß ein Gewehr haben, und ich muß Geld haben. Geben
Sie mir zwanzig Taler.
Sind Sie verrückt? fragte Groppoff. Bin ich Ihr Bankier? Habe ich Sie
hergerufen? Habe ich Ihnen den Rat gegeben, Dokumente zu fälschen? Wenn Sie
das Gesetz übertreten haben, haben Sie es auf eigne Rechnung und Gefahr getan.
Aber Sie haben zugewinkt und geschoben und geholfen. Und wenn Sie mir
nicht helfen, dann —
Sie wollen mir drohen, unterbrach ihn Groppoff, Sie. Heinemann, Sie
Jammerkerl? Sie schüttle ich ub wie eine Wanze und trete Sie tot.
Heinemann stand da in kläglicher Hilflosigkeit.
Was hindert mich, fuhr Groppoff fort, Sie hier auf dem Flecke zu ver¬
haften? Sie wissen ganz genau, was Sie auf dem Kerbholz haben, und daß
Ihnen das Zuchthaus blüht, wenn es an den Tag kommt. Es kostet mich nur ein
Wort, so kriegen Sie, was Sie verdienen.
Aber wenn ich über die Grenze ginge, das müßte Ihnen doch lieber fein.
Kümmern Sie sich gefälligst nicht um das, was mir lieb oder nicht lieb ist.
Darauf schloß Groppoff seinen Schreibtisch auf, legte einige Talerstücke auf
den Tisch, ohne etwas zu sage», ging an das Fenster und sah hinaus. Heinemann
strich das Geld ein, ohne sich zu bedanken, und sagte: Und nun noch eine Büchse.
Sehen Sie selbst zu, woher Sie eine Büchse kriegen, antwortete Groppoff.
Ein Mensch wie Sie wird doch kein Herzklopfen kriegen, wenn er eine Büchse hiingeu
sieht und sie mitnimmt.
Aber Groppoff selbst bekam Herzklopfen, indem er das sagte. Denn er wußte
wohl, wer der Eine sein sollte, dem die Kugel dieser Büchse galt. Einen Augen¬
blick wich er innerlich vor der Untat zurück, dann gewann der Haß wieder die
Herrschaft über ihn, und er entließ Heinemann, indem er ihm den Weg durch sein
Bureau wies, wo, wie er wohl wußte, seine Doppelbüchse und seine Patronen-
tasche hing.
Heinemann ging ohne Dank und Abschied davon, und Groppoff, der an dem
Klänge der Tritte durch die geschlossene Tür hörte, daß Heinemann die Büchse
von der Wand nahm, sagte: Ich bin nicht daran schuld, ich habe ihm nicht meine
Büchse gegeben, ich habe dem Doktor nicht diesen Lumpen in den Weg gestoßen.
Mag er sich vorsehen. Und treffen wird der betrunkne Mensch auch schwerlich.
Doch ists gut, daß der Doktor einen Schreck kriegt. Denn weg muß er. Er und
seine ganze Sippschaft. Ich muß für meine Eva sorgen. „Es ist den großen Raub¬
tieren nicht zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen." Und wenn sich die
kleinen Lämmer selbst totfallen, oder wenn sie vom kleinen Raubzeug geschlagen
werden, was kaun ich dafür?
Groppoff schlug die tröstlichen Stellen in seinem Buche auf und versuchte weiter
zu lesen, aber er fand die Ruhe nicht dazu. Er war nicht so sorglos seiner sicher,
wie er es Madüe und Heineinnnn gegenüber gezeigt hatte, er war in schwerer
Sorge uni sein Herrentum. Ja, fragte er sich, kann es denn im preußischen Staate
überhaupt wirkliche Herrenmenschen geben? Das heißt solche, die es mit der Um¬
wertung der Werte und damit ernst nehmen, das auch zu sein, was sie sein zu
dürfen glauben? Wird es etwas helfen, dem Staate gegenüber zu behaupten:
Deine Gesetze haben für mich keine Giltigkeit? Und ist etwas dabei zu gewinnen,
wenn man als Märtyrer seines Herrenglaubens ins Loch kommt?
Er begab sich in sein Bureau und versuchte die unbequemen Gedanken durch
Arbeit zu verdrängen, aber es gelang nicht. Die Spannung in seinem Innern war
zu groß, er fühlte, daß seine Nerven angespannt waren wie die Sehne eines Bogens,
eines Bogens, der nahe vor dem Zerbrechen steht.
Nach einiger Zeit trat Eva ein, die ihrem Vater die Postsachen brachte. Sie
sah sich im Zimmer um, als vermisse sie etwas, und rief: Vater, wo ist deine
Büchse? Vorhin hing sie noch an ihrem Platze, und jetzt ist sie verschwunden.
Ich weiß es nicht, antwortete Groppoff, äußerlich gelassen, aber innerlich beun¬
ruhigt. Er scheute seines Kindes Auge, und das war groß und fragend auf ihn
gerichtet.
Heinemann hat sie mitgenommen, rief Eva, kein andrer als er war da.
Kann sein, sagte Groppoff. Vielleicht um Karnickel zu schießen.
Nein, um einen Mord damit zu begehn. Gerechter Gott! Und du hast ihm
die Waffe dazu gegeben?
Donnerwetter, Mädel, nein! Nichts habe ich ihm gegeben.
Eva sah ihren Vater an, als glaubte sie ihm nicht, und sagte mit tiefem Ernste
Wenn geschieht, was ich fürchte, sehen wir uns niemals wieder.
Damit eilte sie zur Stube und zum Hause hinaus.
Was war das? sagte Groppoff zu sich. Er war erschrocken wie einer, der im
Dunkeln unerwartet an ein Hindernis anstößt. Sie weiß etwas! Hat sie vielleicht
gelauscht? Nein. Aber sie weiß, was Heinemann vorhat. Und darum die Szene?
Ist sie denn auf einmal so moralisch geworden, daß sie aus der Haut fahren will,
wenn ein Lump dem andern den Tod geschworen hat? „Wir sehen uns nie
wieder." Was heißt das? Will sie davongehn oder — ins Wasser? Sie brächte
es weiß Gott fertig.
Bei Nebelbildern, die mit der I^tern^ ins-Floh. an die Wand geworfen werden,
wächst immer ein Bild aus dem andern heraus. Eine solche I^terna, irisssioa, arbeitet
auch in unserm Innern. Ein Gedankenbild wächst aus dem andern hervor. Schein¬
bar unmotiviert erscheint es, und — wenige Gedankenminuten — so beherrscht das
neue Bild das ganze Gedankenfeld. So ging es auch Groppoff. Plötzlich stand vor
seinem innern Auge mit voller Klarheit das Bild Evas und des Doktors, und zwar
in einer Haltung, daß über ihre Zusammengehörigkeit kein Zweifel sein konnte. Sie
hat gelogen, rief es in ihm. Sie hat gesagt: Ich mag ihn nicht, und sie will ihn
doch. Sie hat sich an diesen Doktor weggeworfen, sie spielt gegen ihren Vater
mit dessen Feinde» unter einer Decke. Sie zittert für das Leben ihres Liebhabers.
Sie verläßt ihren Vater, um sich diesem Kerl an den Hals zu werfen. — Was
sollte nun werden? Sollte er ihr nachlaufen, oder sollte er dem Heinemcmn das
Gewehr wieder abnehnien? Vergeblich! Die Kugel war im Rollen, es war nicht
möglich, sie einzuholen und anzuhalten. Aber was auch geschehen mochte, er hatte
seine Eva verloren. So oder so. Und er saß einsam auf seinem Horst, und es
hatte keinen Zweck mehr, den Herrn zu spielen und in das Räderwerk der Dinge
einzugreifen. Es war nur noch eins zu tun, sich zu wehren, daß man nicht selbst
unter die Räder kam
Der Doktor war mit dem Dampfer aus N. zurückgekommen. Vor dem Kur¬
hause saß Herr von Kügelchen, den Tropenhelm auf dem Kopfe, und betrachtete
die Gegend durch sein Doppelfernrohr. Unten am Strande machte sich die Rotte
Korah unnütz. Der Ort und die Gegend lagen so friedlich da, daß kein Mensch
hätte vermuten können, welche Gärung und welcher Haß in den friedlichen Hütten
herrschte. Schwechting stand auf der Landungsbrücke und winkte dem Doktor schon
von weitem zu.
Gut, daß Sie kommen, Doktor, rief er ihm zu. Ich leurs nicht schaffen. Die
Menschen sind ja hier reinweg verrückt. Und wenn Sie sie nicht zur Vernunft
bringen, geschieht ein Unglück.
Was gibts denn? fragte der Doktor.
Was es gibt? Die reine Revolution. Sie wollen Groppoff das Haus an¬
stecken und wollen ihn verhauen, und ihre engmaschigen Netze wollen sie wieder
haben, und ich weiß nicht, was sie alles wollen.
Der Doktor gab seine Tasche dem Panisat zur Aufbewahrung und wandte
sich mit Schwechting dem Hause Kondrots zu, indem er den Weg am Strande
einschlug. Hier und da stand eine Gruppe von Fischern. Die Leute rauchten ihre
Pfeife und grüßten Ramborn mit sichtbarer Achtung. Und Schwechting erzählte
dem Doktor unterwegs, was sich begeben hatte.
Als Ramborn in die Stube Kondrots eintrat, fand er sie gefüllt von Männern,
die gleich vom Begräbnisse her sitzen geblieben waren und mehr getrunken hatten,
als ihnen gut war. Die Luft war erfüllt von Schnapsgeruch und dem dicken
Qualm eines schlechten Tabaks. Man sprach nicht viel, aber man trank, und ab
und zu schlug einer, um seinem innern Groll Ausdruck zu geben, mit der Faust
auf den Tisch. Und Arte Beit ging umher und schenkte ein und weissagte über
den stebeuköpfigen Drachen und bestand auf ihren zweiundvierzig Monaten. Die
seien um, das habe ihr der Geist eingegeben. Und nun müßten die Mächtigen
vom Stuhl gestoßen werden, und die Häuser der Gottlosen müßten brennen, und
dem armen Manne müßte sein Recht werden. Sie war damit die Stimme des
Volks und sprach aus, was die Männer alle deutlicher oder undeutlicher dachten.
Denn da waren einige, die es sür zeitgemäß hielten, daß der Amtshauptmanu
davongejagt oder wenigstens verhauen würde. Und dann war da der Sohn
Kondrots, Jurgis, der hatte eine Dynamitpatrone in der Tasche, und da waren
seine Freunde, die nicht gerade den Amtshauptmann in die Luft sprengen wollten,
aber meinten, eine Flasche Petroleum und brennendes Papier in des Amtshaupt¬
manns Scheune geworfen wäre eine gerechte Sache. Und alle waren darin einig,
daß es eine Schande sei, ein christliches Begräbnis zu stören und so einen Mann
wie Kondrot, der Verkündiger in der Gemeinde gewesen sei, ohne Urteil und Recht
ins Gefängnis zu setzen.
Der Doktor würde von alledem nicht viel gemerkt oder erfahren haben, wenn
er als Fremder in die Versammlung getreten wäre. Aber er hatte ja den Leuten
im Winter Kaffee gespendet, er hatte ihnen die Fische verkauft, er war mit ihnen
auf der Eisscholle in die See hinaus getrieben, er hatte in dunkler, schwerer Stunde
mit thuen gebetet. Sie rechneten ihn zu den ihrigen, schon darum, daß sie wußten,
daß er unter der Feindschaft Groppoffs gerade so litt wie sie selbst.
Ramborn setzte sich an den Tisch, an dem man ihm bereitwillig Platz machte,
und die Arte Veit setzte ihm einen Rest Kaffee und einen großen Teller Kuchen
vor. Ramborn erkundigte sich und ließ sich erzählen, Was geschehen war, und dabei
kam zutage, was man vorhabe. Man wolle Kondrot befreien, und man wolle dem
Amtshauptmann ins Haus rücken und wolle ihn zwingen, die engmaschigen Netze
wieder freizugeben, denn es sei ein Unrecht, daß die Fischer hungern müßten, wahrend
es in der See genug Fische gebe. Und wenn das nicht helfe, dann wolle man
dem Amtshauptmann das Haus anstecken.
Hin, sagte der Doktor, habt ihr euch das auch recht überlegt?
Wir haben es überlegt und besprochen, antwortete sein Nachbar, viele Stunden
lang, und wenn die Sonne untergegangen ist, dann gehn wir los.
Jawohl, rief die Arte Veit, dann gehn wir los, denn die zweiundvierzig
Mouate sind um und um.
Arte, du schweigst! sagte der Doktor. Und dann wandte er sich an die Ver¬
sammlung. Darüber seid ihr euch doch wohl klar, sagte er, daß ihr ungesetzlich
handelt, wenn ihr tut, was ihr vorhabt. Habt ihr auch bedacht, daß ihr Groppoff
gar keinen größern Gefallen tun könnt, als wenn ihr etwas tut, wobei er euch
fassen und strafen kann?
Man wunderte sich und konnte es nicht hindern, einzusehen, daß der Doktor
Recht hatte.
Aber, sagte einer, wir können doch Kondrot nicht im Gefängnis sitzen lassen,
wenn er unschuldig ist.
Er wird nicht im Gefängnis bleiben, wenn er unschuldig ist, das versichre
ich euch, rief der Doktor. Daß er drin ist, das läßt sich jetzt nicht mehr unge¬
schehen machen. Er wird auch nicht gleich davon sterben, wenn er eine Nacht laug
sein Bett nicht hat. Aber ist denn das ein Gewinn für ihn, wenn ihr ihn aus
dem Gefängnisse holt und ihn zum landflüchtigen Manne macht? Morgen muß er
entlassen werden, wenn er unschuldig ist; wartet bis morgen.
Wir haben genng gewartet, antwortete man.
Wir wollen an den König gehn und Groppoff verklagen.
Das tut, sagte Ramborn lebhaft zustimmend. Das tut, und ich verspreche
euch, zu helfen, wie ich kann. Aber gebraucht keine ungesetzliche Selbsthilfe.
Und nun erwog man, was man dem König unterbreiten wolle, und daraus
ergab sich ein langes Hin- und Herreden, und darüber wurde die Sache wieder
unklar, und die Aktionspartei gewann wieder die Überhand. Ramborn unterbrach
die Debatte und sagte: Nun aber genug! Hört mein letztes Wort: Ich wills nicht.
Ich will nicht, daß ihr euch selbst ins Unglück stürzt. Ich wills durchaus nicht.
Das Herrenwort machte tiefen Eindruck und entschied.
Morgen um diese Zeit, fuhr der Doktor fort, sind wir alle wieder hier und
besprechen, was weiter geschehen soll.
Man wars zufrieden; aber aus dem Hintergrund ertönte verächtliches Lachen.
Es war Jurgis, der mit roten Wangen und glühenden Augen die Verhandlung
angehört hatte und nun entschlossen schien, seinen eignen Weg zu gehn.
Jurgis, sagte der Doktor, geben Sie mir die Hand darauf, daß Sie nichts
gegen Groppoff unternehmen wollen.
Jurgis verweigerte die Hand.
Was hat er vor? fragte der Doktor.
Er will das Amt in Brand stecken, wurde leise geantwortet.
Schämen Sie sich, Jurgis, sagte der Doktor. Wenn Ihr Vater morgen frei¬
gegeben wird, wollen Sie ihm dann die Freude bereiten, daß Sie selbst als Mord¬
brenner im Gefängnis sitzen? Geben Sie mal her, was Sie in der Tasche haben.
Geben Sie nur her.
Jurgis brachte zögernd eine Dhünmitpatrone zum Vorschein.
Wenn ich jetzt könnte, wie ich wollte, sagte der Doktor unwillig, dann steckte
ich Sie zu Ihrem Vater ins Loch. Aber Sie kommen heute nicht aus dieser
Stube heraus. Ihr versprecht mir, sagte der Doktor zu der Versammlung, daß
ihr den jungen Menschen bewacht, daß er kein Unheil anrichtet. Und du, Arte,
gehst zum Amtshauptmann und bestellst ihm, ich ließe ihm sagen, er möchte auf
sein Haus achten.
Ach, Herr Doktor, sagte die Arte Veit.
Es muß sein, erwiderte der Doktor; denke, Kondrot befehle es dir. Also geh
hin und richte meine Bestellung aus.
Als der Doktor und Schwechtiug, der sich im Hintergrunde gehalten hatte,
das Haus verlassen hatten, sagte Schwechting: Hottsdonnerwetter, Doktor, Sie haben
aber Ihre Leute schön an der Longe. Wie machen Sie das eigentlich?
(Fortsetzung folgt)
Die, wie zugegeben werden mag, überraschende Ankündigung
von dem Erscheinen eines englischen Geschwaders in der Ostsee, nicht zu Besuchs¬
zwecken, sondern zu Manöverzwecken „in dem offnen Meere," kommt fast zugleich mit
der Meldung, daß die schottischen konservativen Kandidaten von der Parteileitung
offiziell angewiesen worden seien, sich spätestens Ende Oktober für die allgemeinen
Wahlen bereit zu halten. Sollte nicht zwischen beiden Nachrichten ein gewisser
Zusammenhang bestehn? Das Kabinett Bcilfour ist längst dazu übergegangen, die
Notwendigkeit seiner Existenz ans der auswärtigen Politik Großbritanniens zu er¬
weisen und sich selbst als ein unabweisbares Bedürfnis dieser Politik hinzustellen.
Die deutschen Flottenbesuche in Dänemark und in Schweden, die Begegnung Kaiser
Wilhelms mit den andern drei Monarchen der Ostsee haben ein gewisses Un¬
behagen in England hervorgerufen, und englische Blätter haben sich beeilt, die
Erfindung zu verbreiten, daß Deutschland sich als Beherrscherin des Baltischen
Meeres und die Ostsee als ein w.-n-s olMsum einzusehen beabsichtige. Flugs ist
daraus der Gedanke entstanden, dem deutschen „Ehrgeiz" ein Paroli zu biegen,
um bei den englischen Wählern den Eindruck hervorrufen zu können: Seht, die
Deutschen haben es doch nicht gewagt, gegen das Einlaufen einer englischen Flotte
in die Ostsee Einspruch zu erheben, das Kabinett Balfour hat das britische Prestige
der deutschen Anmaßung gegenüber aufrecht erhalten.
Zu der Ankündigung, daß die englische Flotte in der Ostsee keine Besuchs¬
zwecke verfolge, steht die amtliche Anzeige, daß sie Swinemünde und Neufahrwasser
(Reede von Danzig) anlaufen werde, in einem direkten Widerspruch, der die An¬
nahme, es sei im Gegenteil eine Berührung des englischen Geschwaders mit den
deutschen Küstenbehörden oder mit der deutschen Marine durchaus nicht unbe¬
absichtigt, sehr wohl zuläßt. Die Absicht, im Herbst die Ostsee aufzusuchen, ist
übrigens im englischen Kanalgeschwader seit Anfang des-Jahres bekannt und in
den Offizierkreisen besprochen worden, ist auch schon im Mai als Mitteilung nach
Berlin gelangt, ohne hier besondres Aufsehen zu machen, das jetzt wohl nur durch
die scheinbar plötzliche Entschließung hervorgerufen worden ist. Aller Voraussicht
nach wird der Kaiser als i»äwir-ü ok tus liest, Gelegenheit nehmen, das Kanal¬
geschwader in der Ostsee zu begrüßen und zu besichtigen. In England ist ungeachtet
vieles Mißbehagens politischer und wirtschaftlicher Natur sowie vieles Neides doch der
Wunsch, mit Deutschland wieder in ein besseres Verhältnis zu kommen, bis in sehr hohe
Kreise hinauf vorhanden. Wenn wir recht berichtet sind, hatte dieser Wunsch schon
nach Berlin hin Ausdruck gefunden, und es ist vielleicht der Gedanke nicht von der
Hand zu weisen, daß das unerwartete Erscheinen des Kanalgeschwaders vor deutschen
Häfen nach der andern Seite eine Art Ergänzung zu Brest und Portsmouth dar-
stellen und die an die französisch-englische „Flottensolidarität" hie und da geknüpften
Besorgnisse auch vor dem eignen Lande und der Wählerschaft abschwächen soll.
Für die deutsche Presse liegt aber wirklich nicht der geringste Anlaß vor, sich
darüber aufzuregen, wenn ein Teil der englischen Flotte, sogar das verstärkte Knnal-
geschwader, in der Ostsee manövriert. Hat nicht unsre Manöverflotte jahrein jahraus
in den englischen Gewässern, im Kanal, an den Küsten von Irland und Schott¬
land usw. geübt, ohne daß auch nur eine Stimme in England darüber laut geworden
wäre, obwohl unsern Vettern der Besuch unsrer Flotte in Irland sicherlich wenig
sympathisch gewesen ist?
Auch siud Wir in den letzten Jahren wiederholt Gäste in englischen Kriegs¬
hafen gewesen. Die Landheere sind in Friedenszeiten an ihre Landesgrenzen ge¬
bunden, Flotten nicht. Flotten bewegen sich frei und unbehindert auf deu Wogen
aller Meere, sie halten an fremden Küsten Schießübungen ab, die ihnen niemand
verübelt, gehn zu Anker und nehmen Kohlen, wo sie wollen und können; sie bleiben
als Gäste immer die schwerbewaffneten Repräsentanten ihres Landes und seiner
Macht. Wollen die Deutschen ein seefahrendes Volk sein, so dürfen sie sich nicht
darüber wundern, wenn fremde Flotten oder Kriegsschiffe, sogar zu Rekognoszierungs¬
zwecken, bei ihnen erscheinen. Kriegsschiffe rekognoszieren immer, stellen Ver¬
messungen an, machen Aufzeichnungen und sehen sich nach den Befestigungen um.
Ob die englische Kanalflotte auf dieser Fahrt in die Ostsee der deutschen Schlacht¬
flotte begegnen wird, hängt von den beiderseitigen Dispositionen ab, die sehr leicht
einer Abänderung für Begegnung oder Nichtbegeguung unterzogen werden können.
Unsre Marineverwaltung wird diese unerwartete englische Machtentfaltung an den
deutschen Küsten sicherlich nicht unlieb sein, sie wird vielen Deutschen als al-Auinoutura
sa bominsm dienen, sich über den Abstand zwischen der deutschen und der eng¬
lischen Seemacht klar zu werden. Damit ist zugleich die „theoretische" Erörterung
zweier Berliner Zeitungen beantwortet, die Ostsee gegen fremde Flotten abzusperren.
Um das Baltische Meer für fremde, „nicht ortszuständige" Flotten zu schließen,
ist Deutschland heute auch im Bunde mit den andern Ostseeländern doch nicht
stark genug, dazu würde mindestens Rußland über eine wesentlich andre Seemacht
verfügen müssen, als sie ihm heute zur Verfügung steht. England würde sich gut¬
willig eine solche Sperrung schwerlich gefallen lassen, und was wollte Deutschland
machen, wenn die Sperrung der Ostsee von englischer Seite mit einer Sperrung des
Kanals beantwortet würde, die auszuführen für England sehr viel leichter sein dürfte
als die Sperrung der Ostsee für die Ostseestaaten. Auf alle Fälle würde die eine
Wie die andre Sperre den Krieg bedeuten. Sie wäre auch dem Wesen des Meeres,
das Völker verbinden und nicht trennen soll, völlig zuwider. Wie sich diese Ver¬
hältnisse bei Eintritt eines Kriegsfalles gestalten würden, ist eine andre Frage, aber
doch ebenfalls eine Machtfrage, deren Schwierigkeit für Deutschland nicht zum
wenigsten darin besteht, daß die beiden Belte nicht in seiner Hand sind. Statt
uns darüber aufzuregen und „theoretische" Räsonnements zu veranstalten, die
dem uus unfreundlich gesinnten englischen Kabinett Wahlvorspann leisten, sollten
wir darauf bedacht sein, in aller Stille und ohne viel Aufhebens unsre Flotte
weiterzubauen: große schnelle Linienschiffe mit vorzüglichster Artilleriebewaffnung,
tüchtige Panzerkreuzer, die an Kampffähigkeit und an Geschwindigkeit von denen
der andern Nationen nicht übertroffen würden, und daneben für eine möglichst
lückenlose Küstenbefestigung sorgen. Darin ist noch sehr viel zu tun. Für den
Krieg müssen wir ausgiebig sorgen, da darf nichts fehlen. Aber im Frieden
der englischen Flotte die Ostsee verwehren wollen, wenn sie ein Bedürfnis fühlt,
sich dort sehen zu lassen, hat in der Tat keinen Sinn und läßt uns das Er¬
reichbare mit dem Wünschenswerten verwechseln, hätte außerdem einen ewigen
Bund mit Rußland, Schweden und Dänemark zur unabweisbaren Voraussetzung.
Daß ein solcher Bund, auch wenn er allen vier Staaten augenblicklich sehr opportun
erschiene, was keineswegs sicher ist, in hohem Grade von populären Strömungen
in Dänemark und in Schweden abhängig sein würde, ist gewiß. Dazu hat Däne-
mark auch noch eine Nordseeküste, die wie die deutsche dann von dem „Ostsee-
Vierbund" mit verteidigt werden müßte. Kurzum — die Frage aufwerfen heißt
sie verneinen. Augenblicklich handelt es sich für die englische Regierung weit mehr
um ein Wahlmanöver als um ein Flottenmanöver in der Ostsee. Es ist das ein
tÄrs xr-ma, ein „Wirtschaften auf Prestige," vor dem Bismarck das Deutsche
Reich einst ernstlich gewarnt hat. Wir können dem Kabinett Balfour keinen größern
Gefallen tuu, als uns ärgern und ihm damit zu einem Wahlerfolg verhelfen.
Auch in der Politik wird nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird. Gewiß gibt es
auch recht viele Engländer, denen diese Fahrt des Kanalgeschwaders recht überflüssig
erscheint. Solche Stimmen werden schon laut werden, aber es würde ihnen von
deutscher Seite erschwert, wollten wir jetzt unnötig Unfreundlichkeit gegen England
zeigen. Im Gegenteil! Während die Engländer vor Swinemünde und Neufahr¬
wasser liegen werden, sollten wir mit unsrer Heimatflutte Besuche an der
englischen Küste abstatten, zum Zeichen, daß wir durchaus nichts übel nehmen.
Ein Londoner Sensationsblatt hat nun herausgefunden, daß Deutschland auf
der Suche nach Königskronen für die Söhne des Kaisers, insbesondre den Prinzen
Eitel Fritz sei. Wir können unsre preußischen Prinzen hier zu Hause besser ge¬
brauchen, insbesondre den Prinzen Eitel Fritz, dem sein Vater die Aufgabe „eines
ernsten, dem Leben zugewandten preußischen Offiziers" zugewiesen hat, und der
vielleicht einmal seinem Bruder sein wird, was einst der Prinz von Preußen
dem König Friedrich Wilhelm dem Vierten gewesen ist, das feste Band zwischen
dem Heere und dem Königshause. Eine neue Auflage solcher Gerüchte wird sich
ohne Zweifel an den Besuch Kaiser Wilhelms in Kopenhagen knüpfen. Nachdem
der Kaiser auf seiner Ostseefahrt den König von Schweden und den Kaiser von
Rußland gesehen hat, ist es eine einfache Höflichkeitspflicht, wenn er nun auch bei
dem Nestor der europäischen Souveräne vorspricht, zu dem er in vortrefflichen per¬
sönlichen Beziehungen steht. Es wäre im Gegenteil auffällig, wenn der Besuch in
Kopenhagen unterbliebe, wo eben erst die deutsche Flotte mit so vieler Auszeichnung
und Sympathie aufgenommen worden ist; sie wird ja auch ihren neuen Gro߬
admiral, König Oskar von Schweden, in seiner Hauptstadt begrüßen.
Von der Flotte zur Landarmee. In einem Dresdner Blatt ist kürzlich herz¬
bewegende Klage angestimmt worden Wer „die Nervosität in der Armee."
Daß diese Nervosität leider vorhanden ist, hat niemand nnumwundner zugegeben
als in seiner offnen, verbindlichen Weise der Kriegsminister. Man könnte sagen:
im heutigen Zeitalter des Telephons, des Automobils usw. ist alle Welt nervöser,
weshalb soll es die Armee nicht sein? Aber auch über die Ursachen dieser Ner¬
vosität in der Armee hat sich der Kriegsminister ausgesprochen, und er hat sie,
wenn auch nicht allein, so doch zum größten Teil in den sehr hohen Anforderungen
gefunden, die die zweijährige Dienstzeit an die Offiziere und die Unteroffiziere stellt.
Es ergibt sich das schon aus der Tntsache, daß bei der Kavallerie und der
reitenden Artillerie mit ihrer dreijährigen Dienstzeit die Nervosität viel geringer
ist. Wenn nun Klage geführt wird über die angeblich unaufhörlichen neuen Regle¬
ments, die zahllosen Deckblätter zu bestehenden Vorschriften, wenn ferner als
angebliche Tatsache behauptet wird, daß Offiziere und Unteroffiziere die Dienst¬
vorschriften in der Rocktasche bei sich führen und sie in oder vor der Front nach¬
schlagen, weil niemand mehr wisse, was eigentlich giltige Vorschrift sei (!), so find das
maßlose Übertreibungen, die allenfalls in einem Roman von Bilse am Platze wären,
nicht aber in einer ernsthaften Zeitung. Solche Vorgesetzte würden doch so schnell
wie möglich beseitigt. Sodann aber darf folgendes nicht übersehen werden: gerade
von liberalisierender und reformerischer Seite ist unter den Eindrücken des Buren¬
kriegs viel vou einer „Burentaktik" gefabelt worden, die in Südafrika unter den
dortigen Entfernungs-, Verpflegungs- und Terrainverhältnissen, wo meist berittne
Infanterie gegeneinander zum Gefecht kam, ganz am Platze sein mag, die aber auf
europäische Entscheidungen, bei denen Riesenheere aufeinander stoßen, um womöglich
in einer Schlacht eine grundlegende Wendung des Krieges zu erzwingen, gar
nicht angewandt werden kann. Aber „probiert" wurde dennoch viel, ja allerlei.
Ware nicht probiert worden, welchen Höllenlärm hätte es in der Presse, der Fach¬
presse wie der politischen, gegeben. Am lautesten von solchen Autoren, die längst
aus der Armee heraus sind und Südafrika nur aus den Zeitungen kennen.
Dann kam die chinesische Expedition. Wiederum neue Erfahrungen! Der
Aufstand in Südwestafrika und endlich gar der russisch-japanische Krieg! Eine
Armee, die so unablässig darauf bedacht ist, in ihrer Ausbildung, Taktik usw. an
der Spitze zu bleiben, kann ans sorgfältige Beobachtung und genaues Studium
solcher kriegerischer Vorgänge nicht verzichten. Sie muß alle Erscheinungen, alle
Vorkommnisse prüfen und dann zusehen, was davon als Verbesserung oder als
Notwendigkeit in die bestehenden Vorschriften zu übernehmen ist. Diese Studien
dauern natürlich so lange, wie die militärischen Vorgänge, denen sie gelten, also
seit dem Burenkricge, schon fünf bis sechs Jahre. Bei jedem Armeekorps nicht
nur, nein fast bei jedem Regiment wird da etwas Neues erfunden und probiert,
alles ringt um die Palme. Dazu nun die ohnehin so erhöhten Anforderungen, die
die zweijährige Dienstzeit stellt, sowie die Änderungen in Taktik und Gefechtsweise,
die durch Neubewaffnungen bei der eignen sowie bei fremden Armeen hervorgerufen
werden. Ferner Ausprobieren neuer Schußwaffen, Bekleidungsstücke, neuen Ge¬
päcks usw. Fällt nun in eine solche Periode auch noch ein Aufstellen neuer
Truppenteile, das von großen Veränderungen innerhalb der bestehenden Verbände
unzertrennlich ist, dann sind freilich Ursachen zur Nervosität im Übermaß vor¬
handen, aber leider Ursachen, von denen ein großer Teil unvermeidlich ist, die aber
ihre Quelle am allerwenigsten in Überstürzung der maßgebenden Stellen, sondern
einzig in der rastlosen Arbeit der Armee selbst haben. Leider ist da zunächst
geringe Aussicht auf Besserung vorhanden, denn die am meisten treibende Ursache
ist gottlob — der Ehrgeiz im besten Sinne des Worts.
Die französische Regierung hatte vor einiger Zeit den Wunsch ausgesprochen, die
Gebeine der in Deutschland verstorbnen Kriegsgefangnen sammeln und nach Frankreich
überführen zu lassen. Der Kaiser hat jetzt seine Zustimmung gegeben und zugleich
angeordnet, daß die Übergabe uuter militärischen Ehren vollzogen werden soll.
Da
eine Änderung der Eisenbahnfahrpreise bevorzustehn scheint, möchte ich diese Ge¬
legenheit benutzen, auf einen Umstand in der Berechnung dieser Fahrpreise auf
Grund des Einheitssatzes und der Entfernung aufmerksam zu machen, der wohl
längst einer öffentlichen Besprechung hätte unterzogen werden können, der jedoch
gegenüber andern gewichtigen Kräften für sich allein kaum vermocht haben würde,
eine Änderung herbeizuführen, während er bei einer allgemeinen Neuberechnung
mit Leichtigkeit berücksichtigt werden kann und einer solchen Berücksichtigung auch
wert ist.
Vergleicht man die Preise einzelner Fahrkarten mit der Strecke, für die sie
gelten, so ergibt sich in vielen Fällen, daß sie auf Grund der bekannten Einheits¬
sätze von 2, 4, 6, 8 Pfennigen für den Kilometer in den vier Wagenklassen nach
einem rechnerisch richtigen Verfahren nicht ermittelt sein können, daß vielmehr die
nötige Abrundung auf volle Zehnpfennigbeträge oder also auf ganze Groschen sogar
dort zu einer Erhöhung greift, wo der überschießende Betrag weniger als die
Hälfte von 10 Pfennigen ausmacht und deshalb einfach zu vernachlässigen wäre,
wie es die Regeln der Bruchrechnung fordern. Während nämlich zum Beispiel die
Entfernung von Hagen nach Arnsberg 57,2 Kilometer beträgt und sich deshalb
der Fahrpreis dritter Klasse zu 57,2 x 4 228,8 Pfennigen berechnet, folglich
zu 230 Pfennigen angesetzt werden müßte, kostet die Fahrkarte in Wirklichkeit
240 Pfennige. Erklären läßt sich diese Zahl 240 durch stete Abrundung nach
oben: erst werden aus den 57,2 Kilometern 58 gemacht und dann aus den sich
ergebenden 58 x 4 — 232 Pfennigen 240; außer der Ungehörigkeit, daß beide Ab- Abzurunden Wirklicher Genauer Ent¬
rundungen nach oben vorgenommen sind, von 57,2 auf 58 statt auf 57 und von
232 auf 240 statt auf 230, steckt in einer solchen Art zu rechnen noch der Fehler,
daß vor Ausführung der Multiplikation 57,2 x 4 abgerundet ist auf 58 x 4 ^ 232,
anstatt erst die Multiplikation auszuführen und dann den sich ergebenden Betrag
57,2x4 — 228,8 ordnungsmäßig auf 229 Pfennige abzurunden, woraus dann
schließlich 230 Pfennige werden. Also stecken drei Fehler in der Rechnung, mit
der sich vorstehender Fahrpreis von 240 Pfennigen bei 57,2 Kilometern erklären
W
eitere Beispiele sind:
auf
Pfennige
Fahrpreis
Pfennige
Preis
Pfennige
fernung
Kilometer
In allen diesen Beispielen müßte also der wirkliche Fahrpreis um 10 Pfennige
niedriger sein. Sie bilden nur eine Auslese aus den vielen Fahrpreisen, die ich
durchgesehen habe, und sollen zur Erläuterung dessen dienen, was ich dabei ge¬
funden habe, daß nämlich, wo Abfindungen eingetreten sind, diese immer nach
oben geschehen sind, während ich keinen Fall entdeckt habe, wo eine Abrundung
nach unten geschehen wäre, auch wenn sie hätte geschehen müssen. Nicht erklären
kann ich mir folgenden besondern Fall, der sich auf die Strecke Halle a. S--Nord¬
hausen bezieht; hier beträgt die Entfernung genau 97 Kilometer, der Fahrpreis
ergibt sich also zu 97x4-^ 388 Pfennigen und wäre mit 390 Pfennigen anzu¬
setzen, während die Fahrkarte 400 Pfennige kostet.
Bei solchen Festsetzungen des Preises für die Fahrkarten kann man nicht sagen,
daß die Fahrpreise nach einem Durchschnittssatz vou 4 Pfennigen für den Kilometer
dritter Klasse berechnet seien, sondern es würde sich als Durchschnittssatz ein höherer
Betrag ergeben. Spricht man aber von einem Durchschnittssatz, so muß man ihn
auch als solchen behandeln, d. h. bei den Abrnndungen der zunächst nach der Länge
des Wegs ausgerechneten Fahrpreise, wenn man sie nicht auf Heller und Pfennig
genau erheben will, die Abrundungen auf volle Groschen ebensogut nach unten
wie nach oben eintreten lassen, und zwar das erste, wenn der über volle Groschen
überschießende Pfennigbetrag weniger als 5 Pfennige beträgt, das andre aber erst,
wenn er mehr als 5 Pfennige beträgt. 5 Pfennige sind eben genau die Hälfte
von 10 Pfennigen oder einem Groschen, und die Hälfte gibt genau die Mitte
zwischen zwei aufeinanderfolgenden zahlbaren Einheiten an. Im ersten Falle sind
also Beträge von 1 bis 4 Pfennigen einfach wegzulassen, im andern Falle ist statt
der Beträge von 6 bis 9 Pfennigen der volle Betrag von 10 Pfennigen zu setzen;
will man den Betrag von genau 5 Pfennigen auf 10 Pfennige erhöhen, so mag
das ohne Einwendung hingehn, nicht jedoch, wenn 5 erst aus etwa 4,8 entstanden
sind und dann für die 5 munter 10 gesetzt werden.
Bei einem solchen Abrnndungsverfahren, das sowohl Herabsetzungen wie auch
Erhöhungen bringt, kommen Geldgeber und Geldnehmer abwechselnd in den Genuß
des kleinen Vorteils, den nun einmal Abrnndungen bringen, und damit gleicht sich
die Sache im großen und ganzen aus. In den oben angeführten Fällen ist da¬
gegen die Abrundung regelmäßig nach oben statt nach unten geschehen, und dadurch
ist die Abrundung überhaupt nur zugunsten des Geldnehmers ausgefallen, und wenn
die Mehrbeträge im einzelnen auch klein sind, so verhelfen sie doch dem Geldnehmer,
in diesem Falle der Eisenbahnkasse, zu einem Vorteil, der ihr nach den von ihr
selbst der Rechnung zugrunde gelegten Durchschnittssätzen nicht zukommt.
Auf der andern Seite wird der Geldgeber, also das die Eisenbahn benutzende
Volk, um denselben Betrag geschädigt, und das kann empfindlich werden, wenn
jemand solche zu hoch berechneten Fahrkarten in größerer Anzahl zu kaufen ge¬
nötigt ist, entweder bei öfterer Wiederholung derselben Reise, oder wenn mehrere
seiner Angehörigen ihn begleiten. Betrachtet man ferner die Fahrtverteuerung im
Verhältnis zum Fahrpreis, so wird allerdings bei großen Strecken der eine Groschen
wenig ins Gewicht fallen, wie zum Beispiel wenn statt 12,60 Mark ein Betrag
von 12,70 Mark gezahlt werden muß. Anders bei kleinen Strecken. Wird zum
Beispiel ein berechneter Fahrpreis von 62 Pfennigen auf 70 anstatt auf 60 ab¬
gerundet, so zahlt der Erwerber der Fahrkarte 8 Pfennige über den wahren nach
dem Durchschnittssatz berechneten Preis von 62 Pfennigen, und das ist eine Er¬
höhung seiner Ausgabe um "/^ oder um 13 Prozent, eine Erhöhung, die man
sich im Geschäfts- und Handelsverkehr nicht ohne weiteres gefallen läßt; geht man
aber von 60 Pfennigen als dem nach ordnungsmäßiger Abrundung zu erhebenden
Fahrpreise aus, so bedeutet die Erhöhung von 60 auf 70 sogar eine Verteuerung
um ^/gg oder um 17 Prozent.
Also man halte die alte Regel über die Abrundung von Bruchteilen in Ehren!
Eine Nichtbefolgung dieser Regel führt zu einer Verschiebung des Vorteils auf die
eine Seite der an einem Geschäft beteiligten. Es unterliegt wohl keinem Zweifel,
daß man an maßgebender Stelle dieser Erwägung einer gleichmäßigen Verteilung
der bei der Abrundung unvermeidlich entstehenden Vorteile auf beide Beteiligten
zugänglich sein wird.
Zum Schluß noch eine Schulgeschichte! Bei der Prüfung fragt der Schulrat
den kleinen Meyer: Was habe ich zu zahlen, wenn ich mir zu einem Anzug
3^ Meter Stoff kaufe, von dem das Meter 9^ Mark kostet? Darauf der kleine
Meyer: Der Herr Schulrat sind ein stattlicher' Mann und werden brauchen zu
einem Anzug uicht 3'^ Meter sondern 4 Meter, und der Herr Schulrat sind ein
feiner Mann und werden nicht kaufen das Meter zu 9^ Mark sondern zu
10 Mark; 4 mal 10 macht 40, also haben der Herr Schulrat zu bezahlen
40 Mark. — Für schwache Rechner sei hinzugefügt, daß die Antwort hätte lauten
er von Rom nach Neapel führt, am Albanergebirge vorbei das
breite Saccotal hinab, der sieht eine nicht nur höchst malerische,
sondern auch eine historisch, insbesondre kirchengeschichtlich inter¬
essante Landschaft sich entfalten. Wie er weiter südwärts an der
Burg Rocca secca bei Aquino, der Heimat des großen Schola¬
stikers Thomas, und an Monte Cassino, dem ehrwürdigen Mutterkloster des
abendländischen Mönchtums, vorüberkommt, so liegt am Saccotale links, weit
entfernt von der Eisenbahnstation, die seinen Namen trägt, auf breitem Höhen¬
rücken inmitten fruchtbarer Felder Anagni, die Vaterstadt Bonifatius des Achten;
rechts an der zackigen, trotzig aufgebauten Kette der alten Volskerberge, der
Monti Lepini erhebt sich segni, das antike sigilla, der Geburtsort Jnnozenz
des Dritten. Von dort führt jetzt eine gute vielgewundne Straße tiefer hinein
und höher hinauf nach einem Felsenneste, das auf seinem isolierten Bergkegel
hoch aufgebaut weit ins Land hineinschaut; es ist Carpineto Romano, die Heimat
Joachim Peccis, Papst Leos des Dreizehnter. Gleich am Eingang des Städtchens
in der Via Cavour steht der bescheidne Palazzo Pecei, sein Geburtshaus, davor
spenden zwei Marmorbrunnen, die er seiner Vaterstadt hat errichten lassen, das
frische Gebirgswasser; der Palast enthält jetzt eine Bibliothek, eine naturwissen¬
schaftliche Sammlung und ein Observatorium, die er gestiftet hat; er hat dann
nicht nur die alte gotische Kirche Seine' Agostino erneuert, sondern auch eine
neue Kirche hinzugefügt, außerdem eine Mädchenschule, ein Kinderasyl und ein
Hospital errichtet, das alles in einem kleinen weltentlegnen Bergstädtchen, von
dessen Verlassenheit sich nur der eine richtige Vorstellung machen kann, der
ähnliche Gebirgslandschaften Italiens bereist hat, in einem Orte, wo der Stifter
selbst nur in seinen ersten Kinderjahren dauernd gelebt, später immer nur einige
Wochen zugebracht hat, und den er als Papst niemals hat betreten können.
Noch unter seinen letzten Jubiläumsgeschenken war ihm eins der liebsten ein
illustriertes Familienalbum, das neben seinem eignen Porträt aus verschiednen
Lebensaltern die Bildnisse seiner Eltern und seiner Brüder und zahlreiche An¬
sichten aus Carpineto enthielt. Das alles sind Beweise dafür, daß in diesem
Manne, der mehr als ein Vierteljahrhundert die römische Weltkirche geleitet hat,
die echt italienische Anhänglichkeit an die Familie und an die Heimat ein aus¬
geprägter Charakterzug gewesen ist.
Man ist leicht versucht, sich Prälaten und vollends Päpste sozusagen als
bloße Inkarnationen der kirchlichen Idee, nicht als lebendige Menschen vorzu¬
stellen, und die allezeit unter dem Zwange ihrer Würde stehende Art ihres Auf¬
tretens, die ihnen eine lange Gewöhnung zur zweiten Natur gemacht hat, be¬
günstigt diese Auffassung. Und doch entspricht sie nicht der Wirklichkeit. Auch
in diesen Kreisen hat die Persönlichkeit ihr gutes Recht und ihren Wert. Es
ist wahrlich nicht ohne Bedeutung, daß auf den kampflustigen, alle Welt durch
seine Ansprüche herausfordernden Pius den Neunten der kluge, von den mannig¬
fachsten Interessen bewegte Staatsmann Leo der Dreizehnte folgte, auf diesen
der schlichte, milde Seelsorger Pius der Zehnte, auf zwei Männer aus dem
Adel Mittelitaliens der Bauernsohn aus dem venezianischen Flachlande. Gewiß,
die Zeit erzieht nur das Genie, aber sie schafft es nicht, und es ist vergebliche
Mühe, die Persönlichkeit einfach aus ihrer Umwelt ableiten zu wollen. Immerhin,
ihre Bildungskraft ist nicht zu unterschätzen, und so ist es ein großes Verdienst
des oft genannten katholischen Historikers Martin spähn in Straßburg, uns
das Werden und Wachsen Leos auf Grund sorgfältigen Studiums des ver¬
öffentlichten Materials, im steten Zusammenhang mit den Strömungen seiner
Zeit, namentlich innerhalb des Katholizismus, mit unbefangner Würdigung der
verschiednen Parteirichtungen und mit freimütigem Urteil, auch über katholische
Dinge, wenn auch mit einiger Malerei ins Helle geschildert zu habend) Darin
liegt der Hauptwert des gut geschriebnen und vortrefflich ausgestatteten Buches;
die Zeit des Papsttums von 1878 bis 1903, also die historisch wichtigste, nimmt
nur einen kleinen Teil, von 248 Seiten nur 48, ein, und eine Würdigung
seiner Bedeutung und seiner Erfolge lehnt der Verfasser geradezu ab (vgl. S. 222.
243). Um so genauer, kleine persönliche Züge und die Zeichnung seiner je¬
weiligen Umgebung fast gänzlich verschmähend, geht er auf den innern Ent¬
wicklungsgang Peccis ein, sodaß schließlich das, was er als Papst getan hat,
als die notwendige Folge, als die Ausführung und Vollendung dessen erscheint,
was er als Joachim Pecei gesonnen und erlebt hat.
Die Pecei sind erst in der Zeit Karls des Fünften angeblich aus Toscana
(Siena) in den Kirchenstaat eingewandert und dort zunächst als Pächter und
Lehnsleute der Borghese emporgekommen. Im achtzehnten Jahrhundert legten
sie sich den Titel Conte bei, bauten sich in Carpineto ein stattliches Herrenhaus
und richteten es standesgemäß in der Weise des kleinen römischen Landadels
ein. Zu Ende des Jahrhunderts war Lodovico Pecei das Familienhaupt, eine
schlanke, hochgewachsne Gestalt, ein Ehrenmann von einfacher Art, der wenig
aus sich herausging, für seine Familie lebte und am liebsten träumerisch den
Abendglocken lauschte, deren Klang der Wind von nah und fern nach der Höhe
von Carpineto trug. Aber sein Interesse reichte über diesen engen Kreis hinaus;
er verfolgte eifrig die zeitgenössischen Ereignisse und war den neuen Ideen nicht
abhold, die die französische Revolution vollends in der Zeit der Napoleonischen
Herrschaft über Rom (1803 bis 1814) auch dem Kirchenstaate zuführte. Seit
1791 war er mit Anna Prosperi-Buzi verheiratet, die den „Tribunen" Cota
ti Nienzo zu ihren Vorfahren zählte. Sie stammte ans der uralten, noch heute
von zyklopischen Mauern umgebnen Latinerstadt Cori (Cora) am westlichen Ab¬
Hange des Volskergebirges, deren graziöser Herkulestempel weit über das Ge¬
birge und über die grüne Ebne der pontinischen Sümpfe bis zum blauen Meer
hinwegschaut. Innig religiös — sie gehörte den Terziarierinnen des Franzis¬
kanerordens an —, klug, energisch gab sie sich „mit unsäglicher Leidenschaft"
ihren Pflichten als Mutter hin, erfüllte ihre Kinder mit dem Gefühl engster
Familiengemeinschaft, half den schmalen Einkünften durch eine Seidenwurmkultur
in ihrem Hause auf, hatte aber auch für Arme und Bedürftige allezeit eine offne
Hand und war zum Beispiel im Hungerjahre 1815 die allgemeine Helferin.*)
Als ihr vierter Sohn wurde Joachim (Giacomo) Vincenz Ludwig am
2. März 1810 noch als französischer Untertan (wie in demselben Jahre Camillo
Cavour in Turin) geboren. Bald wurde der anmutige, schlanke, bewegliche,
fröhliche Knabe mit deu großen strahlenden Augen, der sich gern mit seinen
Brüdern und derben Bauernjungen als Kletterer und Vogelsteller in seiner
wilden Gebirgseinsamkeit tummelte, unter den fünf Brüdern und zwei Schwestern
der Liebling der Mutter, die ihn kosend Nino (Abkürzung aus Vincenzo) nannte
und von ihm wie von dem dritten Sohne Joseph Großes für die Familie er¬
wartete, während die beiden ältesten Söhne Landedelleute bleiben sollten und
blieben. Deshalb entschlossen sich die Eltern, Nino und Joseph im September
1817, kurz nachdem der Kirchenstaat mit allen seinen Mißbräuchen einschließlich
des Brigcmtenwesens, das jede Sicherheit um Rom aufhob und sogar Carpineto
bedrohte, 1814 wiederhergestellt war, nach Rom zum Oheim Anton Pecei zu
geben, und folgten den Söhnen, von Sehnsucht getrieben, schon im November
selbst dahin. Aber zur weitern Ausbildung vertrauten sie beide schon am
1. Oktober 1818 dem soeben wiederhergestellten Jesuitenkollegium in Viterbo an
und sicherten ihnen dadurch wie den Verkehr mit den Söhnen des italienischen
Adels so die beste wissenschaftlich-humanistische Bildung, die damals in Italien
zu finden war, freilich eine ganz formale und logische Bildung. Doch blieben
die Knaben immer in enger Verbindung mit der Heimat, schrieben fleißig Briefe
nach Hause, sahen oft einmal die zärtliche Mutter bei sich und brachten die
Ferien dort in der frischen Gebirgsluft zu. Nino erwies sich als ein fleißiger
und begabter Schüler; des Lateinischen bemächtigte er sich allmählich so ganz,
daß er es in Prosa und Vers vollkommen beherrschte und darin als echter
Humanist geradezu den seiner Art am meisten entsprechenden Ausdruck seiner
Gedanken fand. Zu den hohem Studien, zunächst zur Klasse der Rhetorik,
bezog er im Herbste 1824 das (üslleZio romg.no der Jesuiten in Rom. Nun
ist zwar die jesuitische Erziehung niemals das düstre Gespenst gewesen, als das
sie zuweilen von Unkundigen gemalt worden ist, auch nicht eine das nationale
Element zugunsten des kirchlichen Universalismus unterdrückende Institution, sie
hat vielmehr dem Bedürfnis der Jugend nach Abwechslung und Lebensfreude immer
Rechnung getragen, deshalb z. B. auch die Schulkomödie eifrig gepflegt, aber sie
war allerdings vor allem auf Vertiefung des innern, persönlichen Lebens und auf
möglichste Abschließung von der Außenwelt gerichtet.*) Gerade diese Seite kam
nun bei Pecei weniger zur Geltung. Denn er wohnte nicht als Interner in dem
gewaltigen Mauerviereck des Kollegiums, sondern bei seinem Oheim Anton in der
Nähe von Aracoeli auf dem Kapitol und hatte somit völlige Freiheit, Rom
kennen zu lernen. In „Weltsinn und Herrengeist" wurde er ganz Römer; von
religiöser Stimmung war damals wenig in ihm, obwohl er kurz vor dem Tode
der Mutter 1824 auf deren dringenden Wunsch die Tonsur genommen hatte,
und während Joseph zu derselben Zeit in das Noviziat des Jesuitenordens trat,
hatte Nino gar kein inneres Verhältnis zu dem Orden. Ehrgeizig vielmehr,
selbstbewußt, klug, beweglich, gemessen und ohne das Bedürfnis nach persön¬
licher Freundschaft, deshalb auch wenig beliebt, faßte er das Ziel der eignen
Größe bald fest ins Auge. Er arbeitete fleißig, damals in mathematischen,
philosophischen und theologischen Studien, aber die Wissenschaft, die ihm ja nach
alter scholastischer Art als etwas Fertiges, Anzueignendes dargeboten wurde,
nicht als Gegenstand der Forschung, diente ihm nur als Mittel zum Zwecke;
eifrig verfolgte er die politischen Vorgänge, er sprach verächtlich über die ver¬
rotteten Zustünde des Kirchenstaats und mit kühler Überlegenheit über die Per¬
sonen der Päpste, Leos des Zwölften, Pius des Achten, Gregors des Sech¬
zehnten. Auch in der Familie zeigte er sich energisch und herrisch; um ihre
Zukunft zu sichern, willigte er 1829 in ein Abkommen, wodurch die beiden
ältesten Brüder als Erben des Vermögens eingesetzt, die jüngern mit einer
schmalen Rente abgefunden wurden; damals gelobte er auch dem Vater, für die
Größe der Familie zu sorgen. Gern kehrte er auch damals immer wieder nach
Carpineto zurück und durchstreifte als eifriger Jäger mit einem langen Gewehr,
zu dessen Ankauf ihm ein Bruder das Geld gegeben hatte, von einem Bauern
begleitet, die Berge und Wälder der Heimat. In der Richtung auf sein Ziel
war es ein großer Schritt vorwärts, daß es ihm durch die besondre Gnade
Leos des Zwölften, der ihn unter das Patriziat von Anagni aufnahm, gelang,
im November 1832 in die ^ve^äsinia äei uobili einzutreten, die Pslanz-
schule des päpstlichen Beamtentums; zugleich begann er das Studium der Rechts¬
wissenschaft an der Sapienza, ein ganz theoretisches, dem Leben abgewandtes
Studium, und beendete es 1837 mit der Promotion zum voetoi-MriZ utriusMs
Iiorioris vausa. Es war sein Kummer, daß sein Vater diesen ehrenvollen
Abschluß nicht mehr erlebte (gestorben 1836). In diesem ganzen Studien¬
gange lernte er aber keine einzige fremde lebende Sprache, und die Sprache
der Wissenschaft was das Lateinische. Trotz dem Mangel jeder Vorbildung
für das praktische Leben wurde Pecei doch schon am 28. Juni 1837 zum
Rate im Staatssekretariat ernannt (vovsrckö äst Aovsrno). Damals erst brach
das religiöse Gefühl mächtig in ihm hervor, als die Cholera im Sommer
dieses Jahres Rom ergriff. Er machte die geistlichen Exerzitien der Jesuiten
mit, empfing am 31. Dezember 1837 die Weihen und las am 1. Januar 1833
tief ergriffen und innerlich beglückt seine erste Messe. Ausgewachsen unter der
Hut zärtlicher Mutterliebe und starken Familiensinns, aber fest und biegsam wie
Stahl, erfüllt von römischem Herrenwillen und ein überzeugter Hierarch, der
in seiner Kirche die sooiöwZ xsrksetg, sah und für den Staat keinerlei Ver¬
ständnis hatte, vielseitig, aber ganz theoretisch und scholastisch in enggeschlossenen
Kreisen gebildet, eine mehr weltliche und politische als religiöse Natur, so trat
Joachim Pecei in die Welt ein, die er außerhalb von Carpineto, Viterbo und
Rom gar nicht kannte, als er am 12. Februar 1838, noch nicht achtundzwanzig
Jahre alt, das Amt eines Delegaten (Statthalters) von Benevent übernahm.
Auf dem Wege dahin hielt er sich ein paar Tage in Monte Cassino auf, wo
er am 24. April seinen Namen in die Fremdenliste eintrug; er erschien damals
„würdevoll in seinein Benehmen, gemessen in seiner Sprache, in gerader Haltung,
mit geröteten Gesicht, blauen Augen und mit einer Bildung, die über sein Alter
ging." Das kleine Gebiet lebte noch ganz in mittelalterlichen Zuständen; der
Adel beherrschte es, und bei seiner eingeschlossenen Lage war es unter heim¬
licher Mitwirkung dieses Adels ein Nest von Schmugglern und Briganten ge¬
worden, wirtschaftlich aber völlig zurückgeblieben. Da griff der junge Delegat,
nachdem er eben einen Typhusanfall überwunden hatte, kräftig durch. Er
brachte die stockende Verwaltung in Gang, organisierte die Polizei, machte dem
Brigcmtentum ein Ende, begann den Bau von Straßen, suchte überall tüchtige
Leute in die Verwaltung zu bringen, den Intriguen und dem Vetternschafts¬
wesen des einheimischen Adels zum Trotze. Dessen Intriguen in Rom gelang
es freilich bald, den unbequemen Delegaten zu beseitigen; im Sommer 1841
wurde Pecei in dieselbe Stellung nach Perugia versetzt, wo er am 17. August
eintraf. Die alte Etruskerstcidt, die auf ihrer luftigen Höhe über dem obern
Tibertale noch heute von ihren uralten Mauern umgeben ist, der Sitz eines
Bischofs, einer alten (1304 gegründeten) Universität und ehemals der umbrischen
Malerschule, die nächste Nachbarin von Assisi und ein wichtiger Schauplatz der
merkwürdigen umbrischen Provinzialkultur, die im heiligen Franziskus und in
jener mit seinem Orden eng verbundnen Malerschule ihren religiösen und künst¬
lerischen Ausdruck gefunden hat, war im Gegensatz zu dem rückständigen Bene¬
vent der Mittelpunkt einer intelligenten und wirtschaftlich rührigen Bevölkerung
von der italienisch-guelfischen Gesinnung, in der Vincenzo Gioberti eine nationale
Regeneration Italiens als Bundesstaat unter der Führung des Papsttums er¬
strebte. Für solche Ideen, die, von einem bedeutenden Manne vertreten, um
1840 wohl noch durchführbar gewesen wären, hatte Pecei damals noch kein
Verständnis; er begnügte sich mit der laufenden Verwaltung und strebte von
Perugia hinweg nach Rom. Es sollte anders kommen. Zu Anfang des Jahres
1843 erhielt er mit dem Range eines Erzbischofs den Auftrag, als päpstlicher
Nuntius und 1kssg,tus g. late-rs nach Brüssel zu gehn, in die große Welt hinaus,
die ihm so fremd war; erst ans der Reise nach Brüssel lernte er Französisch.
Er trat auf einen heißen Boden. Vor einem Jahrzehnt erst hatte sich
Belgien infolge einer demokratisch-klerikalen Bewegung als selbständiger Staat
konstituiert, es war neben Frankreich der Hauptschauplatz der großen katholischen
Bewegung, die als ein Rückschlag gegen die Ideen der französischen Revolution
unter eifriger Teilnahme der Laien eine Erneuerung der Kirche von innen heraus
und eine politisch-soziale Umgestaltung der Völker unter Führung der Kirche
erstrebte. Noch fand dazu Rom kein Verhältnis; Gregor der Sechzehnte ver¬
dammte schon 1832 die in der neuen belgischen Verfassung vorgeschriebne
Trennung der Kirche vom Staate. Infolgedessen entrissen die Liberalen der
katholischen Partei bei den Wahlen alle Städte, und Nothomo (seit April 1841)
bildete ein Koalitionsministerium aus liberalen und katholischen Elementen. Dieses
setzte 1842 ein Volksschulgesetz durch, das die Bischöfe verwarfen, weil es den
kirchlichen Charakter der Volksschule nicht wahrte. In diese schwierigen Ver¬
hältnisse trat Pecei ein. Zum erstenmal in seinem Leben sah er in Belgien
bewundernd die moderne Industrie und die politische Demokratie an der Arbeit;
er studierte die große flämische Kunst, er besuchte das Schlachtfeld von Water-
loo, er verkehrte freundlich mit dem Hofe und mit dem Adel, auch mit den
Jesuiten, er bewunderte die Kirchenregierung der belgischen Bischöfe, er erwirkte
1844 die Errichtung eines belgischen Kollegiums in Rom für die Heranbildung
belgischer Geistlicher. Aber er verstand die Kunst noch nicht, in diesen Gegen¬
sätzen eine ausgleichende Stellung zu behaupten. Er übernahm direkt die Leitung
des Ordenswesens, er trat für die Universität Löwen gegen die Jesuiten ein,
er begeisterte sich für die katholische Partei und brachte dadurch das Mittel¬
schulgesetz der Regierung zu Fall. Die Folge war der völlige Wahlsieg der
Liberalen und der Rücktritt des vermittelnden Ministeriums Nothomb am
19. Juni 1845. Das neue Ministerium forderte in der schroffsten Form in
Rom die Abberufung des Nuntius, und im Oktober wurde Pecei zu seiner
eignen peinlichen Überraschung und zur Entrüstung seiner Familie, die ganz
andre Dinge von ihm erwartet hatte, zum Bischof von Perugia ernannt. Die
Zeit bis zu seiner Rückkehr benutzte er zu einer Reise in die Rheinlands, wo
er den Kardinal-Erzbischof von Köln, Johannes von Geissel, in seiner Arbeit
für die Disziplinierung seines Klerus und seiner Diözese kennen und bewundern
lernte; dann ging er nach England, wo damals unter John Newman und
Nikolaus Wiseman eine starke katholische Bewegung begonnen hatte; zum erften-
und letztenmal trat er damals persönlich in germanisch-protestantische Kultur¬
kreise ein, aber er hat auch nachmals weder Englisch noch Deutsch gelernt, sodaß
ihm das Geistesleben beider Völker verschlossen blieb. Die Rückreise führte ihn
über Paris; am 16. Juli 1846 hielt er zu Pferde, unter einem kostbaren Seiden¬
baldachin, vom Geläute der Glocken und Kanonendonner begrüßt, seinen fürst¬
lichen Einzug in Perugia.
Wenig Wochen vorher, am 16. Juni, war Pius der Neunte erhoben worden,
eine im Kerne des Wesens milde und religiöse Natur, aber ohne Verständnis
für die soziale und nationale Bewegung. Und doch setzten die Neoguelfen, die
Anhänger Giobertis, ihre ganze Hoffnung auf ihn. Auch Pecei teilte damals
diese Hoffnungen. Er kannte Gioberti von Brüssel her, wo dieser damals in
Armut° lebte, er ließ sich von der Glut seines „Primato" ergreifen, er ließ im
Januar 1848 eine Trauerfeier für die im Straßenkampf gefallnen Palermitancr
zu und segnete die Fahnen der Peruginer Freiwilligen, die in den Krieg gegen
Österreich zogen, als auch Pius seine Truppen gegen die Habsburger ins Feld
sandte; noch im Juni nahm der Bischof Gioberti freundlich auf und dankte ihm
am 14. Juni für seinen Besuch „voll herzlicher Achtung und Verehrung" als
„sein ihm aufs innigste zugetaner Joachim Pecei." Aber schon hatte der Papst
durch seine Allokution vom 29. April den Traum, daß er die Leitung der natio¬
nalen Bewegung übernehmen werde, zerstört, und der unter der Leitung der
Piemontesischen Krone so hoffnungsreich begonnene Feldzug in der Lombardei
nahm mit dem Waffenstillstand vom 9. August ein unrühmliches Ende. Seitdem
kamen überall in Mittelitalien die republikanisch gesinnten Anhänger Mazzinis
empor; sie verjagten am 8. August die Österreicher aus Bologna, sie rissen in
Toscana das Ministerium an sich, sie nötigten den Papst, eine liberale Ver¬
fassung zu gewähren, die Graf Rossi, seit dem 15. September sein Minister,
ehrlich durchzuführen versuchte, um den Mazzinisten das Heft zu entwinden, sie
bildeten auch in Perugia radikale Vereine. Aber als Rossi am 15. November
unter ihrem Dolche gefallen war, und Pius am 24. November, alle Zugeständnisse
widerrufend, flüchtig Rom verlassen, und dort das Parlament am 29. Dezember
die Berufung einer Konstituante beschlossen hatte, da wurde auch in Perugia
jede bischöfliche Tätigkeit gelähmt. Erst die Einnahme der ewigen Stadt durch
die Franzosen am 29. Juni 1849 stellte die Herrschaft des Papstes mit
fremden Bajonetten wieder her, fortan aber nahm diese Regierung unter der
Leitung des Staatssekretärs Antonelli einen ganz reaktionären, antinationalcn
Charakter an. Damit war der Fall des Kirchenstaats entschieden, denn fortan
übernahm das liberale piemontesische Königtum die Leitung der nationalen
Erhebung.
Um so eifriger wandte sich Pecei seiner kirchlichen Aufgabe zu. Gegenüber
der unkirchlichen Gesinnung des Kleinadels und des Bürgertums seiner Diözese
wie der mangelhaften Bildung seines Klerus, der ganz unfähig war, die
modernen Ideen zu bekämpfen, weil er sie gar nicht kannte, wollte er nach dem
niederrheinischen und belgischen Vorbilde, das für Mittelitalien etwas ganz
Neues war, die kirchlichen Kräfte organisieren. Darauf zielte die umbrische
Synode, die unter seinem Vorsitze vom 13. Oktober bis zum 29. November 1849
achtzehn Bischöfe in Spoleto versammelte und eine Reihe von Statuten auf¬
stellte. Sie erstrebten bessere Kirchenzucht, bessere Vorbildung des Klerus
namentlich in den weltlichen Wissenschaften, wofür in jedem Sprengel eine
„Akademie" für Apologetik und Polemik errichtet werden sollte, und Übung
im Predigen, dazu Sicherung der geistlichen Herrschaft über die Schule, Grün¬
dung von Mädchenschulen, Zusammenfassung der männlichen Jugend in Jüng¬
lingsvereinen, Verbreitung guter Bücher, Ausbildung einer katholischen Presse.
Rüstig ging Pecei an die Ausführung, er besuchte fast täglich das bischöfliche
Seminar, berief seinen Bruder Joseph zu dessen Leitung, errichtete eine Mädchen¬
schule und ein Knabenwaisenhaus und hielt mit seinem Klerus geistliche Kon¬
ferenzen ab. Aber die Visitation im Herbst 1853 ergab trotz alledem wenig
befriedigende Resultate, denn so schnell ließ sich die verwahrloste Bildung seines
Klerus nicht heben, und die „modernen" Ideen wurzelten um so tiefer ein, als
in der Verwaltung des Kirchenstaats alles beim alten blieb.
Da glaubte nun Pecei als Grundlage des theologisch-philosophischen Unter¬
richts das System des Thomas von Aquino, auf den ihn sein Bruder hin¬
gewiesen hatte, einführen zu müssen, da ein modernes, den kirchlichen Bedürfnissen
entsprechendes nicht vorhanden sei. Er selbst wurde für Zeit seines Lebens ein
begeisterter Thomist. Aber so energisch er hier zur mittelalterlichen Scholastik
zurücklenkte, so wenig entging ihm, daß Reformen im Kirchenstaate unumgänglich
seien, und er wurde zum Gegner Antonellis, da dieser sich dagegen starr ab¬
lehnend verhielt. Nichtsdestoweniger erhielt Pecei schon 1853 den Kardinals¬
hut, er stimmte auch 1854 in Rom der Erklärung des Dogmas von der unbe¬
fleckten (sündlosen) Empfängnis Marias zu und empfing 1857 den Papst feierlich
in Perugia. Aber die liberale und nationale Bewegung ließ sich durch der¬
gleichen nicht aufhalten.
So kamen 1859 der Krieg und die Revolution. Noch ehe die Österreicher
den Ticino überschritten, mußte Großherzog Leopold am 27. April Florenz
verlassen, am 1. Mai flüchtete die Herzogin-Regentin Luise aus Parma, nach
der Niederlage der Österreicher am 4. (nicht am 12.) Juni zog Herzog Franz
am 9. Juni aus Modena ab, am 12. begann Ravenna die Erhebung in der
päpstlichen Romagna, am 14. sagte sich auch Perugia von der päpstlichen Herr¬
schaft los, der päpstliche Delegat entfloh. Doch erschien dort am 20. ein
Schweizerregiment unter Oberst Schmidt und brachte die Stadt unter den Greueln
einer mehrstündigen Plünderung wieder zum Gehorsam. Pecei tat nichts, um
sie abzuwenden oder zu mildern, er hielt sich bis zum 23. in seinem Palais
eingeschlossen, und Napoleon der Dritte überließ die Stadt ihrem Schicksale,
weil er den Papst nicht noch mehr reizen wollte. Denn er hatte ihm die
Führung des italienischen Bundesstaats zugedacht, den der Friede von Zürich
am 10. November in Aussicht nahm. Es war vergebne Mühe. Pius lehnte
alle Verhandlungen ab, Toscana, die Romagna, Parma und Modena wurden
schon im August 1859 zu einer „mittelitalienischen Liga" vereinigt, konstituierten
sich selbständig und vollzogen im April 1860 ihren Anschluß an Piemont (vgl.
Grenzboten 1903, 4. Vierteljahr, S. 536 ff.). Ein drohender Reaktionsversuch des
mit Neapel und Österreich im geheimen verbündeten Vatikans trieb rasch weiter:
im Mai 1860 führte Garibaldi seine „Tausend" nach Sizilien, im September
brach General Cialdini in die päpstlichen Marken ein, General Fcmti in Umbrien;
am 14. wurde Perugia erstürmt, und am 9. November erklärte sich Umbrien
gegen nur 386 Stimmen für König Viktor Emanuel. Mit dem 17. März 1861
war auch Pecei „Bischof im Königreich Italien" geworden.
Es war ein schwerer, für ihn wie für den gesamten Klerus sehr harter
Übergang. Schon im September 1860 verlor der nmbrische Klerus seine
Gerichtsbarkeit und seine Herrschaft über die Schule, im Oktober wurde die
Zivilehe eingeführt. Die Orden wurden unterdrückt, die Kirchengüter unter
staatliche Aufsicht gestellt, der Klerus auf dürftige Besoldungen angewiesen und
zur Militärpflicht herangezogen. Weiter forderte die königliche Regierung das
Bestätignngsrecht für die neuernannten Pfarrer, sie mißachtete geflissentlich die
Autorität der Bischöfe, sie ließ protestantische Missionare und in Perugia sogar
eine waldensische Schule zu. Seit 1862 hatte Pecei den Vertreter dieser
„kirchenräuberischen" Regierung in nächster Nähe, denn Perugia wurde damals
Sitz einer Präfektur, und an der Stelle der geschleiften alten päpstlichen
Zwingburg erhob sich ihr stattlicher Palast, vor dem König Viktor Emanuel
über „das befreite Umbrien" schaut.
Als Bischof und vollends als ein ehemals kirchenstaatlicher Bischof konnte
Pecei der neuen Ordnung der Dinge zunächst nur feindlich gegenüberstehn. Er
sah hier Gott und Belial im Kampfe. In zahlreichen Kundgebungen, mit
feurigem Idealismus verwahrte er sich gegen die Kirchenpolitik der Regierung,
gegen die Zivilehe, die Trennung der Kirche vom Staate, die Zulassung pro¬
testantischer Missionare, die Eingriffe in die Erziehung der Geistlichkeit. Aber
Praktisch zeigte er sich als Diplomat. In seinen vertraulichen Briefen suchte
er sich mit den neuen Machthabern möglichst gut zu stellen, dreimal schrieb er
an Viktor Emanuel, das Totenamt für Cavour erlaubte er, als man ihm sagte,
der Minister sei als katholischer Christ gestorben. Auch innerlich rückte er
unter dem Einfluß ihm befreundeter Laien dem modernen Staate näher; die
xsi-tgotg. sooiewL blieb ihm zwar die Kirche, aber er wies doch jetzt neben ihr
dem Staat eine selbständige Aufgabe in seiner Sphäre zu und befahl seinem
Klerus, den Gesetzen zu gehorchen. Praktisch zog er sich auf die Seelsorge
zurück. Denn noch immer befriedigte ihn der religiöse Zustand seiner Diözese
nicht. Deshalb wandte sich sein Hirtenbrief vom Mürz 1864 gegen die Ent-
christlichung und betonte die Vertiefung des religiösen Lebens, der von 1866
mahnte die Geistlichen, durch ihr Leben ein Beispiel zu geben und nicht Partei
zu ergreifen. Als alleinige Grundlage der philosophisch-theologischen Studien
hielt er am Thomismus fest. Unermüdlich sorgte er für bessern Religions¬
unterricht, für sein Seminar schrieb er selbst Lehrbücher, und in den Pfarr¬
kirchen Perugias führte er regelmäßige Katechesen ein. An Kirchen sind unter
seiner Verwaltung im ganzen sechsunddreißig neu erbaut worden, den Dom
ließ er restaurieren. Doch er suchte auch an der Hand französischer Katholiken,
wie Veuillot, Montalembert, Dupanloup, Chateaubriand, tiefer in die Kenntnis
der katholischen Bewegung einzudringen und begann an die Möglichkeit einer
Versöhnung zwischen der Kirche und der modernen Kultur zu glauben. Deshalb
verhielt er sich gegenüber der Encyklika Pius des Neunten Huantg, oura vom
8. September 1864 und dem daran geschlossenen „Syllabus," die nach allge¬
meiner Auffassung der gesamten „modernen" Weltanschauung und Kultur den
Krieg erklärten, sehr kühl; er veröffentlichte sie nur, ohne seine Meinung darüber
zu äußern. Auf dem vatikanischen Konzil 1870 stimmte er für die Unfehlbar¬
keit, aber in den Debatten hielt er sich sehr zurück.
Ob er damals geahnt hat, daß es mit der weltlichen Papstherrschaft un¬
aufhaltsam zu Ende gehe? Er hatte im Herbst 1867 erlebt, wie sich in Perugia
und Temi die Freiwilligen Garibaldis sammelten, ohne daß die königlichen Be¬
hörden irgend etwas dagegen taten, wie Garibaldi sie von hier aus gegen Rom
führte, wie nur die „wundertätigen" französischen Chassepots bei Mendana den
Ansturm abwehrten, und wie nun abermals die französische Trikolore über der
Engelsburg aufstieg; es konnte ihm aber auch nicht entgehn, wie sich der Ruf
nach der Koma vaMals immer leidenschaftlicher erhob. Und doch erschütterte
ihn das Ende, der Einmarsch der Italiener in Rom am 20. September 1870
aufs tiefste, und ein Unglück war diese gewaltsame Lösung unter allen Um¬
ständen, denn sie machte auf absehbare Zeit eine Versöhnung des universalen
Papsttums mit dem italienischen Nationalstaate, dem Ergebnis der modernen
Weltanschauung, unmöglich. Die Versöhnung beider Kulturmächte aber wurde
immer mehr Peccis Programm. Er erschwerte sie sich freilich selbst dadurch,
daß er infolge seines Bildungsgangs von der modernen Kultur zu wenig wußte.
Er kannte die moderne Wissenschaft, die sich eben vor allem in protestantischen
Völkern entwickelt hat, fast gar nicht, er identifizierte ohne weiteres Ratio¬
nalismus, Freimaurerei und Protestantismus, er unterschied die verschiednen
Richtungen des Protestantismus nicht, und von Luther hat er niemals auch
nur eine Zeile gelesen.
Doch was er auf wissenschaftlichem Wege nicht erreichen konnte, das lehrte
ihn die Beobachtung der Praxis. Im Februar 1877 ließ er seinen Hirtenbrief
„Kirche und Zivilisation" ausgehn. Alle materielle Kultur, sagt er darin, be¬
ruht auf der Arbeit. Diese hat die Kirche immer gewollt und selbst geübt. Sie
erkennt auch die moderne Arbeit an, sie bekämpft ebensowenig die Naturwissen¬
schaften, sie bekämpft nur die egoistische Ausnutzung der Menschenkraft, da mit
dieser der Fortschritt der materiellen Kultur seinen Wert verliert, und die
materialistische Auffassung der Volkswirtschaft, denn im Wesen der Kirche liegt
mit der oariws der soziale Gedanke und soziales Handeln, und nur sie kann die
unvermeidlichen Härten jedes materiellen Fortschritts durch ihre Predigt und
ihre <zg.ritW mildern. Sie verlangt nur, daß sich die Gesellschaft dessen bewußt
bleibe. Es war das Programm des werdenden Papstes. Aus Perugia
drängte es ihn weg; bald nach dem Tode des Kardinalstaatssekretärs Antonelli
(Ende 1376) ging er nach Rom, und am 21. September 1877 vollzog Pius
die Ernennung Peccis zum Camerlengo, d. h. zum Stellvertreter des Papstes
im Falle der Erledigung des Heiligen Stuhls. Am 7. Februar stand er am
Sterbelager Pius des Neunten, am 18. Februar Nachmittags vier Uhr betrat
er als der letzte das Konklave. Schon aus dem dritten Wahlgang am
20. Februar ging sein Name mit 44 von 61 Stimmen siegreich hervor. Wohl
hatte er dieses Ergebnis selbst erwartet, ja gewünscht, wie es schon seit Jahren
von manchem Kundigen (zum Beispiel Ruggiero Bonghi) erwartet wurde; denn
alle Gegner Pius des Neunten sahen auf Pecei, dem dieser Papst wenig geneigt
und Antonelli feindlich gewesen war, und er hatte keinen ernsthaften Mit¬
bewerber; auch eine seltsame Weissagung seines Landsmannes, des Abts Gessi,
hatte ihm schon vor Jahrzehnten die päpstliche Tiara prophezeit. Als aber die
Wirklichkeit an ihn herantrat, da war er aufs tiefste erschüttert; seine Familie
glaubte kaum, daß er die Krönung (3. März) erleben werde, so schwach erschien
er in diesen Tagen.
Es war ihm beschieden, die römische Kirche mehr als ein Vierteljahr¬
hundert zu leiten. Auch als Greis und als Papst hat er noch immer gelernt
und sich innerlich weiter entwickelt. Das zeigen vor allem seine zahlreichen in
fließendem, elegantem Latein geschriebnen Encykliken. Sie bewegen sich aller¬
dings überwiegend in abstrakten, theoretischen allgemeinen Wendungen, wie es
diese Stelle und der amtliche Charakter der Schriftstücke Wohl mit sich brachte,
aber auch in hohem Gedankenflug und in edeln Empfindungen. Sein Ziel
blieb die Versöhnung der Kirche mit der modernen Kultur, also auch mit dem
modernen Staate. Immer hat, so meinte er jetzt (1881), die Kirche den gött¬
lichen Ursprung auch des Staats gelehrt. Seine Aufgabe ist, „alles das zu
liefern und zu schützen, was dazu beitragen kann, die Bürger zu einem moralisch
tüchtigen Leben vorzubilden" (1893). Deshalb muß die Kirche nicht nur
Frieden mit dem Staate halten, sondern sie muß mit ihm zusammenarbeiten in
der Kulturpflege. Dabei ist der Staat freier als die Kirche, denn wenn diese
an ihre göttlichen Prinzipien gebunden ist, so kann der Staat manches dulden,
was weder wahr noch gerecht ist, um Übles zu vermeiden oder Gutes zu er¬
reichen. Dem hat sich dann auch die Kirche zu fügen (1888). An einer be¬
stimmten Staatsform hat die Kirche kein Interesse; sie kann auch, wie Nord¬
amerika ihm zeigte, die völlige Trennung von Staat und Kirche ertragen (die
Leo früher unbedingt verworfen hatte). Deshalb mahnte Leo die Katholiken,
auch überall gute Patrioten zu sein. Kirchlich politische Parteien lehnte er
noch 1885 ab, vielmehr sollten sich die Katholiken mit andern Elementen
zusammentun, und in politischen Fragen sollten sie völlig freies Urteil haben.
Das Zentrum des deutschen Reichstags erschien ihm, weil es in seiner poli¬
tischen Haltung von der kirchlichen Autorität frei sein will, als Muster einer
solchen Partei. Den Priestern aber verbot er, sich in den politischen Partei¬
kampf zu mischen: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist." Über das Grenz¬
gebiet sollten sich Staat und Kirche friedlich verständigen; eine Souveränität
des Staats über die Kirche als irdische Genossenschaft erkannte er also — be¬
greiflicherweise — prinzipiell nicht an, in dieser Beziehung beruht seine An¬
schauung doch auf der mittelalterlichen Theorie von den beiden Schwertern (so in
der Encyklika ImmortAls Asi 1885). Gemeinsam sollen nun beide Institutionen
arbeiten zunächst auf dem Gebiete der Schule. Leo würdigte die Berechtigung
der Staatsschule für die weltlichen Fächer durchaus, und er wies die „freien"
(katholischen) Schulen zur Unterwerfung unter die Staatsgesetze an. Als Grund¬
lage für den philosophisch-theologischen Unterricht schrieb er schon 1879 allge¬
mein das System des Thomas von Aquino vor, er ließ auch seine Werke
durch seineu gelehrten Bruder, den 1879 zum Kardinal erhobnen Joseph Pecei,
neu herausgeben. Ebenso sollten Staat und Kirche gemeinsam die sozialen
Verhältnisse regeln. Die Encyklika Rsrum »vo^rum vom 15. Mai 1891 be¬
tonte, daß weder die Kirche durch ihre Laritg,« noch der Staat allein durch
seine Gesetze und seine Aufsicht die soziale Frage lösen könne, das könne nur
die Gesellschaft selbst unter der Leitung beider. Die „christliche Demokratie"
freilich, die unter dem Abbate Muri rasch große Verbreitung in Italien gewann,
erschien ihm bald bedenklich, sodaß er ihre Entfaltung hemmte. Damals hatte
sich ihm das Verständnis auch für die deutschen Verhältnisse endlich erschlossen;
er sah hier den Sozialstaat neben dem romanischen Rechtsstaat verwirklicht,
und er wußte das Pflicht- und Dienstverhältnis des deutschen Fürsten- und
Beamtentums gegenüber dem Staate zu würdigen.
Freilich in dem Verhältnis zu dem Staate, der sein Rom umschloß und
ihm seine Soldaten und Karabinieri bis auf den Petersplatz und bis an die Porta
ti bronzo schickte, stellte er sich auf den Standpunkt Pius des Neunten. Er
betrachtete sich als den Gefangnen im Vatikan, er spendete den ersten Segen
nicht von der äußern Loggia der Peterskirche aus, sondern von der innern des
Domes, er erneuerte die Proteste gegen den Kirchenraub; und doch, er traute
sich zu, auch „die qualvolle römische Frage in Frieden zu lösen." Er be¬
günstigte deshalb die Organisation der „Katholiken," die 1874 ihren Anfang
genommen hatte, denn er hoffte von ihr eine Förderung der provinzialen und
der kommunalen Selbstverwaltung als Gegengewicht gegen die büreaukratische
Uniformierung der Halbinsel. Nach 1884 kam er bis zu einem gewissen Grade
auf die alten Gedanken Giobertis zurück, er hielt fest an dem moll e-xysciit für
die „katholischen" Wühler des Königreichs. Er hoffte vertragsmäßig den
Kirchenstaat etwa im Umfange des Patrimoniums Petri wiederherzustellen, aber
dieser sollte als Bundesstaat ein Glied des italienischen Reichs mit einer ge¬
wissen Militärhoheit, selbständiger Verwaltung und Gesandtschaftsrecht bilden,
und er sollte seinen Halt an einer künftigen katholischen Partei im italienischen
Parlament finden. Er wollte dabei der Kirche auch in der modernen Zeit und
mit modernen Mitteln ihr altes „Kulturprimat" wahren, und in der Tat hat
er sich selbst als hochherziger Mäcen erwiesen. Er baute das vatikanische
Observatorium und das Leoinstitut in Anagni, er ließ die Borgiasüle (woraus
beiBarthS. 62 eine „Borgiasäule" geworden ist!) prächtig erneuern, eröffnete
1893 das Vatikanische Archiv der wissenschaftlichen Forschung, indem er er¬
klärte: „Wir haben keine Furcht vor der Veröffentlichung der Urkunden," und
er gründete die „Bibelkommission" für das kritische Studium der biblischen
Texte. Von 1886 an glaubte er seinem Ziele nahe zu sein, er hoffte auf die
Fürsprache Österreichs und Deutschlands, er knüpfte mit Crispi Beziehungen
an. Aber der kirchenfeindliche Liberalismus und Radikalismus in Italien setzte
alles daran, diesen Ausgleich zu verhindern — in diese Zeit fällt die Errichtung
des provozierenden Giordnno-Vruno-Denkmals in Rom 1889 —, und um 1890
zerschlugen sich die Aussichten. Was zwischen 1860 und 1870 möglich gewesen
wäre, was auch der feurige Patriot Masstmo d'Azeglio im Auge gehabt hatte
(I,«z <zu68ti(mi urgönti 1861), wenn er den Satz aufstellte: „Rom eine italienische
Stadt, doch nimmermehr unsre Hauptstadt," das war uach 1870 unmöglich;
Pius hatte den günstigen Augenblick versäumt. Seit 1890 verbitterte sich
beiderseits das Verhältnis noch mehr, sogar den Tod König Hunderts (1900)
ignorierte der Vatikan vollständig, und ihre Hoffnungen auf Wiederherstellung
des Kirchenstaats setzte die Kurie jetzt auf Frankreich.
Und doch machte ihm Frankreich, das Hauptland des modernen Katho¬
lizismus, die dringendste Sorge. Aber seinem Grundsatze getreu, daß die
römische Kirche keine bestimmte Staatsverfassung vorschreibe, wandte er sich
seit 1890 der Republik zu, trotz ihrer Bekämpfung der Orden, und forderte in
der Encyklika vom 18. Februar 1892 die Franzosen auf, sie als die gesetzliche
Stnatsform anzuerkennen. Er hat keinen Dank dafür geerntet, und sein Nach¬
folger erlebt die Trennung der Kirche vom Staate. In Deutschland beendete
Leo den Kulturkampf, auf den Spahn uicht näher eingeht, mit einem un¬
zweifelhaften Siege seiner Kirche, weil er in der Form so viel nachgab, als
der Staat verlangen mußte, und die Aufhebung der Maigesetze der souveränen
Preußischen Gesetzgebung überließ, wozu sich Pius sicherlich nie verstanden hätte;
er erlebte sogar den Triumph, daß Bismarck 1885 den „Gefangnen im Vatikan"
zum Schiedsrichter in, Karolinenstreit aufrief. Die Größe des Kanzlers er¬
kannte er bewundernd an, und Kaiser Wilhelm den Zweiten hat er dreimal
Persönlich empfangen wie ein Souverän den andern. Auch mit Rußland knüpfte
er wieder an; indem er 1894 den Polen riet, sich den Verhältnissen zu fügen,
erreichte er die Errichtung einer russischen Gesandtschaft beim Vatikan, er trat
sogar mit Japan in diplomatische Verbindung. Wie sein Blick so umspannten
seine Organisationen die Welt. Er vollzog die Gründung einer katholischen
Hierarchie in Schottland wie in Ostindien, er vereinigte 1890 die südameri¬
kanischen Bischöfe zu einem Konzil in Rom, er errichtete eine apostolische
Delegation in Nordamerika, er nahm den alten Lieblingsgedanken der Päpste,
die Wiedervereinigung der griechischen Kirche mit der römischen, wieder auf,
er wagte es, sich in der Encyklika vom 20. Juni 1894 an alle Fürsten und
Völker der Erde zu wenden und ihnen die Rückkehr zur kirchlichen Einheit,
von der sie sich durch „eine ganz ungewöhnliche Umwälzung aller Zustände
und Verhältnisse" getrennt hätten, zu empfehlen.
Gewiß ein höchst merkwürdiges Schauspiel, wie dieser sich selbst im Vatikan
einschließende Greis in alle Welt hinauswirkt, wie er von aller Welt bei seinen
Persönlichen Jubiläen 1888, 1893 und 1903 gefeiert wird, und wie dabei sein
Blick immer freier und weiter wird, gemessen an dem Maßstabe seines einseitig
theoretischen Bildungsgangs und der ungeheuern Stärke der kirchlichen Tradition.
Er hat diesen Widerspruch zwischen seiner weltumspannenden Aufgabe und der
räumlichen Beschränkung seines persönlichen Daseins im Anfange seines Papst¬
tums höchst peinlich empfunden. „Welches Elend, rief er da wohl, indem er
auffahrend Feder und Bücher an die Wand seines Arbeitszimmers warf, daß
ich hier eingeschlossen bin, der ich die freie Luft und das tätige Leben so liebte!" —
ein menschlicher Zug, der zeigt, welche ungeheure Selbstverleugnung seine er¬
habne Stellung von ihm verlangte. Und menschlich ist es auch, wenn er seine
Empfindungen in formvollendeten lateinischen und italienischen Dichtungen nach
dem Muster seines Lieblingspoeten Horaz ausströmte, wie er denn schon seit
1832 Mitglied der „Arkadier" (als Neaudro Emcleo) war. Als er, ein drei-
undneunzigjühriger Greis, am 20. Juli 1903 verschied, hat er das Bewußtsein
mit sich nehmen können, daß er das Papsttum, das sein Vorgänger mit aller
Welt in Gegensatz gebracht hatte, der modernen Welt angenähert und zu einer
anerkannten geistigen Weltmacht erhoben habe, ein Sieg des Universalismus
und zugleich ein Beweis mehr dafür, daß wir in ein Zeitalter gebundner Welt¬
anschauung eingetreten sind. Das mögen die einen beklagen, die andern freudig
begrüßen, dem Historiker ziemt es, diese Wendung zu verstehn, dem Staats¬
mann, danach zu handeln.
Die hohen Aeischpreise
vUß>
(iM^?e
ST?me an sich wirtschaftliche Frage, die nicht aus den Marktbe¬
richten und dem Handelsteil der Zeitung herausfällt, die Frage
der hohen Fleischpreise rückt jedesmal dann an die leitende
Stelle der öffentlichen Meinung und wird zur politischen An¬
gelegenheit ersten Ranges, wenn die Preishöhe so extravagant
wird, daß es sich für die Agrarier lohnt, auf den Zwischenhandel zu schelten,
für die Fleischer aber, den Agrariern und der Regierung zu Leibe zu gehn
und die Änderung unsrer Veterinärabkommen mit den übrigen Vieh produ¬
zierenden Staaten stürmisch zu verlangen, und daß es schließlich für die Sozial¬
demokraten eine Genugtuung ist, zwei der lebensfähigsten Teile des Mittel¬
standes: Fleischer und Viehzüchter noch mehr aufeinander zu Hetzen. Die
Sozialdemokratie behält schließlich den Trumpf in der Hand, daß die „kapi¬
talistische Regierung" durch Zoll und Veterinärpolitik die breite Masse des
konsumierenden Volkes abwechselnd dem Zwischenhandel oder dem Produzenten
zur Auspowerung ausliefere. Das ist der regelmäßige Gang der Debatten bei
den von Zeit zu Zeit eintretenden Fleischteuerungen.
Ohne Frage haben wir gegenwärtig höchst unerfreuliche Fleischpreise, und
nicht nur der Arbeiterhaushalt verspürt die Kalamität der Nahrungsmittel¬
versorgung des deutschen Volkes. Auch die Hausfrauen des Mittelstandes
kommen mit dem alten Monatsbudget nicht mehr aus und machen Nach-
forderungen geltend. Man hat zu derselben Zeit im vorigen Jahre ge¬
wöhnliches Schweine- und Rindfleisch um 20 bis 30 Pfennige für das
Pfund billiger haben können als jetzt, und die Marktnotierungen für Rinder,
Ochsen, Kühe gehn über die des Notjahres 1902 noch um ein Beträcht¬
liches hinaus, die Preise für Schweine sind ebenfalls etwa 2 Prozent über
die von 1902 derselben Jahreszeit gestiegen. Also muß der Ausnahme¬
charakter der gegenwärtigen Preisbildung ohne Einschränkung zugegeben werden.
Der politische Streit erhebt sich erst bei der Ergründung der Ursachen und
bei den Abhilfevorschlägen. Was sind die Ursachen? Die Einen erklären,
die Unzulänglichkeit der deutschen Viehproduktion im Verhältnis zum Bedarf
der Bevölkerung bewirke immer wieder von Zeit zu Zeit ein Ansteigen der
Preise über ein vernünftiges und erträgliches Maß hinaus. Mit der industriellen
Entwicklung des Landes trete überall eine Steigerung des Fleischverbrauchs
ein, und die Konkurrenz des Auslandes hätte keine regulierende Kraft mehr,
da die aus sanitären Gründen durchgeführten Vieheinfuhrbeschrünkungen den In¬
landspreis unerschütterlich festhalten. Wenn aber namentlich in der sozialistischen
Presse behauptet wird, daß die deutschen Grenzen gegen die Vieh- und Fleisch¬
einfuhr überhaupt gesperrt seien, so ist das eine irreführende Behauptung.
Die Einfuhr von einwandfreien frischem und zubereitetem Fleisch ist erlaubt,
ebenso die Einfuhr von lebendem Schlachtvieh aus solchen Ländern, die nicht
stark verseucht sind. Wir haben im ersten Vierteljahr 1905 zum Beispiel über
80000 Stück Rindvieh und ungefähr 93000 Doppelzentner Fleisch eingeführt.
Man kann auch nicht behaupten, daß neuerdings die Veterinäre Abwehrschraube
stärker angezogen worden sei; im Gegenteil, in den ersten fünf Monaten dieses
Jahres ist gegen denselben Zeitraum des vergangnen Jahres die Einfuhr von
Großvieh, Kälbern und Schweinen um 17 vom Hundert, von frischem und zu¬
bereitetem Fleisch um 33 vom Hundert gestiegen. Immerhin soll nicht bestritten
werden, daß zeitweilig die Aufhebung aller Einfuhrbeschränkungen, verbunden
womöglich mit Tarifherabsetzung für Viehbeförderung die Preise zum Sinken
bringen könnte. Es fragt sich nur, ob das nicht andre Gefahren im Gefolge
haben würde. Also: Unzulänglichkeit der deutschen Viehproduktion und Ab¬
sperrung der Grenzen sind nach der Ansicht der einen Partei die Ursachen der
hohen Fleischpreise.
Die andre Partei — die Landwirtschaft vor allem — versucht den Nach¬
weis, daß die deutsche Viehproduktion durchaus normal sei. In den letzten vier
Jahren habe die Bevölkerung um 6 vom Hundert zugenommen, der Rindvieh¬
bestand um 2,4 vom Hundert, der Schweinebestand um 14 vom Hundert, das
Manko an Rindvieh sei durch die Steigerung der Vieheinfuhr um 17 vom Hundert
ausgeglichen. Die Marktlage sei eben so gestaltet, daß auf vielen Märkten
das Angebot des fetten Schlachtviehs stärker sei als die Nachfrage, und daß
demnach von einem Viehmangel durchaus nicht überall gesprochen werden
könnte. Diese Partei meint, die Preissteigerung sei die volkswirtschaftlich
notwendige Folge des Umstandes, daß wegen der im vorigen Sommer in ganz
Mitteleuropa eingetretnen Futternot die Preise für Futtermittel außerordentlich
angezogen Hütten. Die Futtermittel sind die Hauptposten in den Produktions¬
kosten, und hieraus folgt natürlich, daß bei gestiegnen Produktionskosten die
Warenpreise ebenfalls erhöht sind. Niemand kann beim Verkauf unter die
Produktionskosten hinabgehn. Man darf aber wohl noch hinzufügen, daß
infolge der Futternot im vorigen Jahre über das gewöhnliche Maß hinaus
Vieh verkauft worden ist, und die Reserven zu schwach eingestellt worden sind,
und daß sich hieraus an einigen Plätzen Nachfrage und Angebot nicht in Ein¬
klang haben bringen lassen.
Nach meiner Ansicht findet die Erklärung, daß die vorjährige Futternot
die jetzige Kalamität verschuldet habe, die meiste Anerkennung, und dement¬
sprechend müssen die radikalen Abhilfemittel, die auf eine Aufhebung unsers
Veterinärschutzcs zielen, mit dem größten Bedenken aufgenommen werden. Denn
diese Abhilfemittel sind Verlegenheitsmaßregeln, die mit dem Grundübel nicht
in Zusammenhang zu bringen sind. Die Landwirtschaft beruft sich auf die Tat¬
sache, daß wir eine mindestens normale Futterernte an Gras und Getreide
haben werden, und sagt ein baldiges Sinken der Preise für Vieh und Fleisch
in allen gängigen Sorten voraus. Wir sind genötigt, die Bestätigung dieser
Prophezeiung abzuwarten; denn das Abhilfemittel der Steigerung der fremden
Viehzufuhr ist erstens nicht von unbedingter Sicherheit und ist sodann mit der
größten Gefahr für die Gesundheit des deutschen Viehstapels verbunden. Das
Ausland hat nämlich durchweg höhere Preissteigerungen ans dem Viehmärkte
durchgemacht als wir, es kann uns also nicht wesentlich aushelfen, wenigstens
nicht zu viel billigern Preisen. Die Viehpreissteigerung ist gegenwärtig inter¬
nationaler Natur. Wichtiger aber noch für Volkswirtschaft und Volksernährung
ist das zweite Argument, daß nämlich mit dem bedingungslosen Öffnen der
Grenzen die Gefahr der Viehverseuchung bei uns ins ungemessene steigen müßte..
Nach vielen Mühen und Sorgen haben wir es dahin gebracht, daß wir heute
den günstigsten Seuchenstand seit achtzehn Jahren haben; nur noch vier Ort¬
schaften, zwei in Preußen und zwei in Süddeutschland, waren am 15. Juni
mit Maul- und Klauenseuche behaftet. Man halte dem gegenüber, daß wir
von 1886 bis 1900 durch die Maul- und Klauenseuche über 800 Millionen
Mark, in jedem Jahre über 50 Millionen Mark verloren haben, ferner infolge
von Notlauf jährlich über 3 Millionen Mark, durch die Geflügelcholera ebenfalls
beträchtliche Summen. Von dieser furchtbaren Gefahr konnte uns nur eine
Politik befreien, wie sie das freihändlerische England seit 1885 schon betrieben
hat, nämlich eine sachgemäße und energische Veterinärpolizei an den Grenzen
der verseuchten Länder und eine scharf durchgeführte Gehöft- und Distriktsperrung
im Innern, sobald Verseuchung bei uns festgestellt war.
Man muß, das ist das Ergebnis einer sachlichen und vorurteilsfreien
Prüfung der Lage, die überagrarischen Angriffe auf den deutschen Viehhündler-
stand und das Fleischergewerbe als durchweg unbegründet zurückweisen; man
kann auch die Versuche, den Zwischenhandel zu beseitigen, bisher als gescheitert
erklären; Handel und Wandel sind auch berechtigt auf der Welt, und gerade
die verunglückten Experimente mancher Genossenschaften beweisen dies. Man
soll auch weiter zugeben, daß eine Zollpolitik, die aus Futtermittelverteuerung
hinauslief, für den deutschen Viehzüchterstand wie auch für das konsumierende
Publikum direkt lebensgefährlich genannt werden darf. Dann muß man aber
auch ebenso entschieden auf Grund von Tatsachen alle Vorschläge, die mit
dem Schlachtrufe: Die Grenzen auf! die mit Erfolg angewandten Gesundungs¬
maßregeln für den deutschen Viehstapel, alle bisherigen Opfer und Mühen mit
einem Schlage illusorisch machen würden, im Interesse nicht nur der Land¬
wirtschaft, sondern auch des gesamten Volkswohlstandes und unsrer Volks¬
ernährung verwerfen. Die Organisation der Viehverwertung ist bei uns noch
nicht auf der Höhe; seit Jahren sind Produzenten, Zwischenhandel und die
Behörden des Staates und der Gemeinden an der Arbeit, Verbesserungen und
Vereinfachungen herbeizuführen. Hinter diese Bestrebungen möge etwas mehr
Dampf kommen, damit das konsumierende Volk endlich die Erfolge verspüre.
Mit gewalttätiger Verlegenheitsmaßregeln jedoch, die als einzige dauernde
Wirkung verseuchtes Vieh und ungenießbares Fleisch im Gefolge haben, soll
man uns verschonen.
us zahlreichen Artikeln der letzten Zeit geht hervor, daß in einem
großen Teile der deutschen Presse über das Wesen der katholischen
Studentenkorporationen eine große Unkenntnis verbreitet ist. Man
betrachtet sie ohne weiteres als politische und kirchliche Organi¬
sationen. Nicht nur die wenigen Blätter tun das, die nach dem
Polizeiknüppel gerufen haben. Man findet solche Anschauungen auch in Zei¬
tungen, die einsehen, daß man nicht im Namen der akademischen Freiheit die
Auflösung unliebsamer Gebilde verlangen kann, wenn sie sich innerhalb der ge¬
setzlichen Schranken beendigen.
Diese Zeitungen sollten einmal erwägen, ob ihre prinzipielle Gegnerschaft
gegen die katholischen Korporationen nicht wenigstens teilweise auf falschen Vor¬
aussetzungen beruht, und ob nicht die scharfe Betonung der Gegensätze das Gegen¬
teil des beabsichtigten Erfolges erreicht. Das darzutun, ist die Aufgabe dieser
Zeilen. Sie stammen von einem Alten Herrn des (farbentragenden) Kartellver¬
bandes der katholischen deutschen Studentenverbindungen (V. V.), des größten
Verbandes konfessioneller Korporationen und des drittgrößten studentischen Ver¬
bandes überhaupt.
Wenn man gewissen Blättern glauben will, so beschäftigen sich die katho¬
lischen Korporationen vorwiegend damit, politische Fragen zu erörtern und ihre
Mitglieder für das öffentliche Leben heranzubilden. Nichts davon ist der Fall.
Ich habe während meiner ganzen Zugehörigkeit zu verschiednen Verbindungen
des V. und trotz meinen ausgedehnten Beziehungen in diesem Verbände nie¬
mals etwas davon gehört, daß eine politische Frage irgendwelcher Art zum
Gegenstand einer Besprechung von Verbindungs wegen gemacht worden wäre.
Wissenschaftliche Abende bestehn bei mehreren Verbindungen, aber das politische
Gebiet wird nie auch nur gestreift. Ja sogar in privaten Unterhaltungen findet
man äußerst selten solche Erörterungen, da die erdrückende Mehrzahl für Politik
überhaupt nur ein verschwindend geringes Interesse hegt, während sich die
Minderheit aus allen nationalen politischen Parteien zusammensetzt. Jedenfalls
ist die Bestimmung in den Satzungen des Verbandes „Politische Bestrebungen
liegen dem v. V. fern" kein Schlagwort.
Diese Behauptung mag manchen Leser überraschen, wenn er an die
Reden denkt, die Abgeordnete (großenteils Alte Herren der Korps!) auf Fest¬
kommersen zuweilen über die Hoffnungen gehalten haben, die sie auf die katholisch
inkorporierte Jugend setzen. Das ist aber nur als ein geschickter Schachzug
dieser Politiker anzusehen, nicht ein Beweis für eine politische Betätigung der
genannten Korporationen. Die katholischen Korporationen sollen in der Öffent¬
lichkeit als politische kompromittiert werden. Wenn infolgedessen die Presse
Stellung gegen sie nimmt, dann bieten sich die parlamentarischen Freunde ihnen
als einzige Helfer in der Not an, um sich auf diese Weise einen Einfluß zu
verschaffen. Soweit solche Berechnungen bisher fehlgeschlagen sind, ist das gewiß
nicht das Verdienst der Presse, auf deren Blindheit man baute; sie hat die ihr
vou jener Diplomatie zugedachte Rolle immer bereitwillig gespielt.
Wie verträgt sich aber, so wird man fragen, mit der angeblichen politischen
Gleichgültigkeit die Beteiligung der katholischen Studentenkorporationen an den
Katholikenversammlungen? Hierauf ist zu erwidern, daß die Kartellversammlung
des 0. V., die zum Beispiel der jährlichen Tagung der Korps in Kösen ent¬
spricht, allerdings örtlich und zeitlich mit den Katholikenversammlungen zusammen¬
fällt; über diesen rein äußerlichen Zusammenhang hinaus sind jedoch keine
Beziehungen weiter vorhanden. Als auf der letzten Kartcllversammlung zu
Regensburg im vorigen Jahre der Antrag gestellt wurde, die Vertreter der Ver¬
bindungen zum Erscheinen in der Schlußsitzung des Katholikentages zu ver¬
pflichten, weil der dem Verbände angehörende Abgeordnete Porsch die Bewegung
gegen die konfessionellen Studentenkorporationen erwähnen würde, scheiterte der
Antrag an der einmütiger Gegnerschaft der Verbindungsvertreter (Seite 25
und 26 des Protokolls). Ja ich darf noch weitergehn: die Aktivitas ist in
ihrer Mehrheit gegen ein solches rein äußerliches Zusammenlegen beider Ver¬
anstaltungen; und es besteht begründete Hoffnung, daß die Trennung demnächst
beschlossen wird.
Wen diese Ausführungen noch nicht überzeugen, für den will ich noch fol¬
gendes mitteilen. Die Regensburger Kartellversammlung ist einstimmig über
den Antrag zur Tagesordnung übergegangen, der katholischen Presse den Dank
auszusprechen wegen ihres Eintretens für die Verbindung Sugambria in Jena,
der im vorigen Jahre wegen des Katholizitätsprinzips bekanntlich die Farben
entzogen wurden (Seite 26 des Protokolls). Nicht uninteressant ist auch die
Tatsache, daß der d V. trotz wiederholten Einsprachen einzelner Alter Herren
sein Mitgliederverzeichnis bei der Firma Du Mont-Schauberg drucken läßt, dem
Verlage der Kölnischen Zeitung und der Straßburger Post.
Diesen Vorgängen aus der jüngsten Vergangenheit gegenüber, die sich leicht
um Dutzende vermehren ließen, kann man unmöglich bei der Ansicht verharren,
die katholischen Studentenkorporationen seien politische Organisationen.
Aber auch als kirchliche Körperschaften dürfen sie nicht angesehen werden.
Die Zeiten, wo jede Verbindung die Ortsgeistlichen zu Ehrenmitgliedern, den
Bischof zum Protektor ernannte, sind längst vorüber. Es gibt auch im v. V.
keine Verbindung mehr, die die regelmäßige Erfüllung der kirchlichen Pflichten
ihrer Mitglieder beaufsichtigt; die gemeinsamen Beichten und Kommunionen der
ältern Verbindungen sind abgeschafft. Einige Reste in dieser Hinsicht finden
sich allerdings noch, wie die Beteiligung süddeutscher Verbindungen an Fron¬
leichnamsprozessionen, das Veranstalter von Kommersen bei Papstjubilüen usw.
Erst in diesem Jahre hat der v. V. beschlossen, seine Verbindungen von der
Teilnahme an den Ortsgruppen des akademischen Bonifatiusvereins, Mo sie mit
den Korporationen der andern drei katholischen Verbände zusammensaßen, zu be¬
freien und nur noch einen Gesamtbeitrag zu zahlen (der akademische Bonifatius-
verein erstrebt die Erbauung katholischer Kirchen in Universitätsstädten mit
armer katholischer Bevölkerung). Ferner vereinigte auf der Kölner Kartellver¬
sammlung im Jahre 1903 der Antrag, statt des Prinzips der Katholizität das
der Religion zu setzen, zwölf Stimmen auf sich (gegen zwanzig); sechs Verbin¬
dungen erklärten sich sogar dafür, religiöse Bestrebungen überhaupt auszuschließen
(Seite 5 des Protokolls).
Die Entwicklung läuft klar darauf hinaus, daß sich eine Unterscheidung an¬
bahnt zwischen Religion als Grundsatz und Religion als Zweck. Eine Korpo¬
ration aber, die die Religion als Bindemittel für ihre Mitglieder, als Gewähr für
eine gedeihliche Wirksamkeit nur zum Prinzip erhebt, ohne jedoch kirchliche Zwecke
zu verfolgen, kann schlechterdings nicht als eine kirchliche bezeichnet werden.
Das wird man noch besser einsehen, wenn man sich einmal klar die Frage
vorhält, welchen Korporationen denn eigentlich die gläubigen Katholiken beitreten
sollten. Etwa denen, die die Satisfaktion mit der blanken Waffe auf ihre Fahne
geschrieben haben? Oder denen, die die Erfüllung religiöser Pflichten, besonders
den Kirchenbesuch, als „uncouleurfähig" verpönen? Und das tun so ziemlich
alle mit Ausnahme der konfessionellen. Wer ist also unduldsam? Wer sondert
sich ab? „Auch uns Kcstholiken, schreibt Pfarrer or. Wurm, der Redakteur der
Zeitschrift des d V., wäre es lieber, wenn sie (die katholischen Korporationen)
nicht zu sein brauchten. Auch uns ist es nicht erfreulich, daß unsre katholischen
Studenten sich in eignen Korporationen zusammenschließen müssen, um uicht an
ihrem Glauben und ihrer Sitte gefährdet zu werden." (Allgemeine Rundschau
vom 26. März 1905.) Denselben Punkt berührte der Würzburger Theologie-
Professor Merkle am 17. Februar d. I. in der Vereinigung für staatswissen¬
schaftliche Fortbildung zu Berlin mit den Worten: „Das einzige Mittel, den
verhaßten Vereinigungen den Boden zu entziehen, besteht darin, daß die übrigen
Korporationen ihre Statuten so weitherzig gestalten und jedem Mitgliede so viel
Freiheit gewähren, daß auch ein Katholik ihnen beitreten kann, ohne mit den
Satzungen seiner Kirche in Konflikt zu kommen."
Für meine Behauptung, daß sich die katholischen Korporationen von poli¬
tischen und kirchlichen Bestrebungen fernhalten, schließlich noch einige unver¬
dächtige Zeugnisse. Ein großer, immer wachsender Teil der katholischen Geistlich¬
keit, besonders die allein in Konvikten ausgebildeten, die niemals die Luft
akademischer Freiheit geatmet haben, warnt die Abiturienten dringend vor dem
Eintritt in die katholischen Korporationen, wenigstens die farbentragenden.*) Die
Mehrzahl der deutschen Bischöfe hat den an Universitäten studierenden Theologen
den Eintritt schlechthin untersagt! Die Jesuiten gar denken, wie ich ganz be¬
stimmt weiß, äußerst abfällig über diese Gebilde des deutschen Individualismus.
Sehr treffend hat Merkle in seinem schon genannten Vortrage die Lage
charakterisiert: „Der Vorwurf endlich, daß die katholischen Studenten in ihren
Vereinigungen ultramontane Politik treiben, wird am besten beleuchtet durch
den von entgegengesetzter Seite ihnen gemachten, daß sie sich um solche »Inter¬
essen« nicht kümmern." Ein solcher Vorwurf findet sich zum Beispiel in der
Allgemeinen Rundschau vom 12. März d. I., wo der Redakteur selbst, Armin
Kaufen, schreibt: „Wenn in dieser Hinsicht ein offenes Wort nötig sein sollte,
so wäre es höchstens eine Warnung vor übertriebnen Kritizismus gegenüber
denjenigen Politikern und Zeitungen, welche notorisch von jeher die zuver¬
lässigsten Freunde der katholischen Studentenkorporationen waren. Wenn heute
gefehlt wird, geschieht es sicherlich nicht durch blindes, kritikloses Schwören auf
Partei und Parteipresse, sondern im Gegenteil durch eine vorschnelle Überkritik,
die nicht immer durch ein entsprechendes Maß von Kenntnissen in der Partei¬
geschichte der Vergangenheit und Gegenwart gestützt ist."
In der Tat, solche Politiker sind die einzigen Leute, die Grund zur
Freude über die Bewegung gegen die konfessionellen Studentenkorporationen
haben. Das ist heute wohl die Ansicht aller Verständigen. Ich führe wieder
Merkle an: „Will man die katholischen Studentenkorporationen gewaltsam zu
dem erst machen, wofür man fälschlich sie ausgibt, zu Brutstätten eines unduld¬
samen, engbrüstigen Katholizismus, dann fahre mau nur in der schnöden,
fanatischen Mißhandlung fort." Denselben Gedanken führt der protestantische
Tübinger Geschichtsprofesfor Below im Tag (10. März d. I.) weiter aus:
„Wenn man wünscht, daß die Studenten, aus denen sich die katholischen Ver¬
bindungen rekrutieren, sich immer enger zusammen- und von den andern immer
mehr abschließen, daß sie das katholische und gar das ultramontane Prinzip
immer konsequenter ausbilden und sich aneignen, daß die Zentrumsabgeordneter,
die aus den katholischen Verbindungen hervorgehen, sich in nationalen Fragen
möglichst lau zeigen, dann setze man die jetzige Art der Agitation fort. Wenn
man jedoch auf eine leidliche Mitwirkung der deutschen Katholiken an den
nationalen Fragen rechnet und nicht eine Steigerung der kirchlichen Abschließung
wünscht, dann stelle man den übereilt unternommnen Feldzug möglichst bald ein
und gewähre den katholischen Korporationen die Anerkennung ihrer Existenz¬
berechtigung, welche unzweifelhaft ein Stück der notwendigen akademischen
Freiheit ist. Das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der katholischen Ver¬
bindungen mit den andern Vereinigungen wird jedenfalls bessere Früchte tragen
als ihre Bekämpfung." In demselben Sinne äußert sich auch der dem Ver¬
band der katholischen Studentenvereiue angehörende Philister Dr. Seidenberger
in Friedberg im Tag (23. Maid. I.): „Man will ihre (der konfessionellen Ver¬
bindungen) Absonderung bekämpfen und drängt sie erst recht zur Absonderung.
Sind die konfessionellen Verbindungen zur Vertretung der studentischen Inter¬
essen zugelassen, zur Mitarbeit mit ihren Kommilitonen berufen, so kommen sie
in öftere Berührung und in Gedankenaustausch mit ihnen und schleifen konfes-
sionelle Einseitigkeiten viel leichter ab; schließt man sie von gemeinsamer Mit¬
arbeit aus, so ziehen sie sich auf sich selbst zurück und unterliegen unkontrollier¬
baren Einflüssen." Das mögen sich insbesondre die gesagt sein lassen, die kein
höheres Ziel kennen, als Studentenausschüsse ohne die konfessionellen Kor¬
porationen zu gründen.
Ein Blick auf die bisherigen „Erfolge" der Bewegung bestätigt denn auch
diese Warnungen vollkommen. Nur zwei Beispiele. Sämtliche vier Verbände
katholischer Korporationen, die sich vorher an den meisten Hochschulen kühl, ja
oft geradezu feindlich gegenüberstanden, haben einen Gesamtausschuß gegründet
als praktischeres Gegenstück zu dem Verbände deutscher Hochschulen. Und beim
Bonifatiusjubiläum in Fulda waren die beiden größten offiziell vertreten, der
Verband der Vereine und der d V.
Ein weiterer „Erfolg" droht, den abzuwenden ich vor allem diese Flucht
in die Öffentlichkeit unternehme, zumal da der internen Diskussion von gewisser
Seite Schwierigkeiten bereitet werden. Gegenwärtig wird nämlich im v. V.
die Frage eines zwangsweisen Zusammenschlusses aller Philister zu einem
Alten-Herren-Bund eifrig erörtert. Dieser Bund soll nach dem schon ver¬
öffentlichten Satzungsentwurf in gewissen Angelegenheiten ein sehr weitgehendes
Stimmrecht erhalten und wird natürlich die aktiven Verbindungen insoweit
an die Wand drücken. Eine wie gewaltige Stärkung des geistlichen Ein¬
flusses damit verbunden wäre, wird man erkennen, wenn man hört, daß am
1. Juni 1905 von 1337 ortsanwesendeu studierenden Mitgliedern des 0. V. nur
59 oder 4,4 Prozent Theologen waren, während die Zahl unter den Alten
Herren im Juni 1905 nicht weniger als 1353 von 3950 oder 34,3 Prozent
ausmachte! Die Gefahr ist aber viel kleiner, wenn sich der Bund auf korpo¬
rativer Grundlage aufbauen würde, d. h. wenn sich die schon bestehenden
Philisterverbände jeder einzelnen Verbindung zu einem Bunde zusammenfanden.
Der (ü. V. hat gegenwärtig 50 Verbindungen/') aber nur in 13 Philister¬
verbänden haben die Theologen wegen der geringen Zahl ihrer Fakultäten und
der bischöflichen Beitrittsverbote die Mehrheit, in 5 davon die absolute. Zudem
stehn an der Spitze der Philisterverbände durchweg Alte Herren, die sich für
das studentische Leben als solches, insbesondre für ihre Verbindung interessieren
und sich um diese verdient gemacht haben. Sie werden einer Ausnutzung des
V. zu unstudentischen Zwecken immer im Wege sein. Darum wird von
den im politischen Leben stehenden Alten Herren (meist Norddeutschen) eine
Organisation auf lokaler Grundlage befürwortet, sodaß die Philister eines Land¬
strichs sogenannte Gauverbände bilden sollen ohne Rücksicht auf ihre Zugehörig¬
keit zu den einzelnen Verbindungen. In diesem Falle kämen Alte Herren an
die Spitze, die, dem freien Geiste des akademischen Lebens entrückt, auf lokalem
Gebiet eine große Rolle spielen, in der Regel durch ihre politische Tätigkeit.
Die Anwärter für diese Posten sind überall schon da und stehn im Vordergrunde
der Bewegung. Es sind dieselben, von denen die erwähnten Anträge ausge¬
gangen sind, die den L. V. in das politische Leben hineinzerren wollten. Ihr
vornehmstes Agitationsmittel ist — die Bewegung gegen die katholischen Kor¬
porationen!
Auf diese Bestrebungen passen wirklich die Worte des katholischen Finken
Konstantin Kleefisch, die er auf die katholischen Korporationen überhaupt ge¬
prägt hat: „Wir wissen wohl, daß eine romanisierende Richtung in unsrer
Kirche uns Studenten zu uniformen Organisationen sammeln, daß eine poli¬
tisierende Richtung uns als Werkzeug und Nachwuchs benutzen möchte"
(Rheinische Hochschulzeitung vom 15. Mai d. I.). Möge endlich auch der Teil
der deutschen Studentenschaft und der deutschen Presse, der zurzeit unbewußt
eine Richtung stärkt, die er sonst bekämpft, die katholischen Studentenkorpo¬
rationen als das erkennen, was sie in Wahrheit sind, studentische Korporationen.
Sonst könnte der Fall eintreten, daß binnen weniger Monate in einem großen
Bruchteil der deutschen Studentenschaft der Untergang des Studententums zur
Tatsache geworden wäre. Das nämlich wäre für den <ü. V. die Folge des
Sieges der Gauverbände.
isher habe ich versucht, Streiflichter auf das Leben einer Lehrerin
zu werfen, soweit es sich auf die Berufstütigkeit, auf die Arbeit
an den schulpflichtigen Kindern, deren Elternhaus und auf die
soziale Hilfsarbeit bezieht. Diese soziale Hilfsarbeit erstreckt sich
nicht nur auf die schulpflichtigen Kinder, sie muß bei ihnen be¬
ginnen und dann auf die aus der Schule entlassenen Mädchen ausgedehnt
werden. In dieser weiter ausgedehnten Arbeit ist die Schule, die Lehrerin
auf die Mithilfe einsichtiger Männer und Frauen angewiesen. Hier heißt es
gemeinsam Hand in Hand arbeiten, das Nötige weiter ausbauen oder über¬
haupt erst schaffen. Die Schule kann nur die Anregung geben, die Unter¬
stützung muß uns von außen kommen.
Die deutsche Volksschule ist Standesschnle, bestimmt, die Kinder der um
Lohn arbeitenden Klassen für das Leben vorzubereiten. Diese Aufgabe ist den
Mädchen gegenüber schwerer, denn neben dem allgemein Menschlichen soll in
den Mädchen das spezifisch Weibliche entwickelt werden. Die Schule soll den
sichern Grund legen, auf dem das Leben weiter bauen kann, damit die Mädchen
einst als Frauen brauchbare Glieder des Gemeinschaftslebens in Gemeinde,
Staat und Kirche, des öffentlichen Lebens als Berufsarbeiterin, des Familien¬
lebens als Hausfrau und als Mutter werden können. -
Der Entwicklungsgang der Volksschule, die anfangs nur für Knaben be¬
stimmt war, und in die bei der Einführung des Schulzwangs die Mädchen
einfach eingeschoben wurden, macht es erklärlich, daß auch heute noch in den
meisten Füllen beide Geschlechter nach demselben Lehrplan unterrichtet werden,
Was schon durch den sehr häufig vorkommenden gemeinsamen Unterricht sin
den Landschulen) verursacht wird. Früher war der Handarbeitsunterricht nur
eine Ausnahme. Zu Anfang der siebziger Jahre aber wurde er für die
Mädchen der Volksschule gesetzlich eingeführt. Viele Schulleiter ließen ihn nur
ungern zu und werteten ihn denn auch jahrelang dementsprechend. So gab
die Volksschule für die Mädchen außer dem Handarbeitsunterricht bisher in
dem Lehrstoff und dem Lehrgang nur das, was auch den Knaben geboten wird.
Etwa seit zwanzig Jahren wird auch die Frage, den Haushaltungs¬
unterricht einzuführen, lebhaft erörtert, praktische Versuche werden mehr und
mehr gemacht. Man behandelt jetzt Lehrgegenstände schulgemäß, die man bis
dahin ohne weiteres dem Hause, der Mutter überließ. Lehrstoffe haben jetzt
Anerkennung gefunden, die man bis dahin für der Schule unwürdig hielt.
Trotz dem Spotte der Schule und des Hauses erobert sich der Haushaltungs¬
unterricht langsam eine Stadt nach der andern, denn der Spott verwandelt
sich nun in Anerkennung, seit man die praktischen Erfolge sieht. Die Eltern
der Volksschülerinnen freuen sich, daß ihre Kinder hierin etwas für das
Haus Verwendbares lernen, die Hausfrauen hoffen dadurch besser vorbereitete
Dienstboten zu erhalten, und die echten Volksfreunde denken dadurch sozial¬
wirtschaftliche Erfolge zu erreichen. Die Lehrerin aber erkennt gern die er¬
ziehende Bedeutung dieser Stunden an. Hier hat sie mehr Gelegenheit, zu
Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Achtsamkeit zu erziehn als in jeder
andern Stunde, hier wird sich manches schwachbegabte Kind, das ohne Lust
durch die Klassen geht, betätigen; denn es ist allen Lehrerinnen wohlbekannt,
daß oft die geistig untüchtigsten die praktisch brauchbarsten Schülerinnen sind.
Manches verschüchterte Kind kann hier Selbstvertrauen auf seine Leistungen
bekommen und auf ein Gebiet hingewiesen werden, auf dem es etwas
leisten kann.
Die Erfahrungen im Haushaltungsunterricht siud noch nicht von langer
Dauer, denn erst im September 1888 wurde in der Generalversammlung des
Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in Karlsruhe öffentlich ausge¬
sprochen, daß die Unterweisung in häuslichen Arbeiten für die Mädchen des
Volkes in die obligatorische Schulzeit gelegt werden müßte. Zu Ostern 1889
wurde in Kassel der erste Versuch gemacht, der so gut ausfiel, daß der Haus-
haltungsunterricht als obligatorisches Fach für alle ersten Klassen der Mädchen¬
bürgerschulen in Kassel eingeführt wurde. Jedes neue Schulhaus für Mädchen
erhielt eine oder zwei Schulknaben und einen kleinen Küchenschulgarten. Schon
nach einem Jahre wurde dieser Unterricht durch Lehrerinnen, die in Kassel
gelernt hatten, in andern Städten, besonders in Industriestädten eingeführt,
und von da an ist in jedem Jahre die Zahl der Städte gewachsen, in deren
Volksschulen hauswirtschaftlicher Unterricht erteilt wird.
Der Staat bekundete sein Interesse zu der Frage dadurch, daß er Aus-
bildungsmöglichkeiten für Haushaltungslehrerinnen schuf. Diese sind entweder
wissenschaftliche oder technische Lehrerinnen, die sich durch den Besuch eiues
staatlichen Kursus für Haushaltungsunterricht die Befähigung für diesen
Unterricht geholt haben. Der Unterricht selbst wird sehr verschieden erteilt, das
Alter der beteiligten Kinder schwankt vom zwölften bis zum vierzehnten Jahre,
auch die Anzahl und die Lage der Stunden richtet sich nach den Verhältnissen.
In den meisten Städten kochen die Kinder an einem Vormittage, machen die
dazu nötigen Vor- und Nacharbeiten und vereinen sich dann zu dem selbstge¬
kochten Mittagsmahle.
Mit Leichtigkeit läßt sich hier behandeln, was im Rechen- und im Natur¬
geschichtsunterricht Schwierigkeiten bereitet, weil es dort abstrakt an die Kinder
herangebracht wird. Ich meine zum Beispiel Nährwerte, Nahrungsmittellehre,
Einkaufspreise, praktische und hygienische Zusammenstellung der Mahlzeiten usw.
Die Kinder selbst haben das größte Interesse an den Arbeiten, und mancher
Vater hat dankbar seine Anerkennung für diesen Unterricht ausgedrückt, wenn
in Zeiten der Erkrankung der Mutter die Tochter der Familie ein warmes
Mittagessen bereiten konnte. Bei solchen Erkrankungen erteilt die Schule
jederzeit dem ältesten Kinde zur Besorgung des Haushalts, zur Pflege der
Mutter, zur Beaufsichtigung der noch nicht schulpflichtigen Geschwister Urlaub.
So ist es im Interesse von Schule und Haus zu wünschen, daß es bald
keine deutsche Stadt mehr ohne Haushaltungsunterricht in den Volksschulen
geben möge, denn es ist eine traurige Wahrheit, daß viele Mädchen des Volkes
in diesem Unterricht die einzige Gelegenheit haben, mit einem Kochtopf umgehn
zu lernen, denn ein sehr großer Teil tritt in die Fabriken oder in Berufe ein,
die ihnen keine Gelegenheit bieten, sich näher um das Kochen zu kümmern.
Die Folgen dieser Unkenntnis machen sich in der Ehe bald traurig bemerkbar;
denn man behauptet, daß bei neun Zehnteln der Männer, die durch Trunk ver¬
kommen, die unwirtschaftlichen Frauen die Schuld tragen.
Die Volksschule kann aber in ausgedehntem Maße auf die veränderten
wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrem Lehrplan keine Rücksichten nehmen, denn
sie ist doch zunächst Erziehungsschule. Auch die beste und gründlich refor¬
mierte Volksschule könnte nicht die Mädchen genügend für das Leben vor¬
bereiten, denn alle ihre Erfolge werden durch die zu frühe Entlassung der
Kinder in Frage gestellt. Wir müssen unsre Zöglinge in einem Alter ent¬
lassen, wo sich schärferes Erfassen, klare Einsicht, sittliches Bewußtsein erst
zu regen beginnen. Ich habe bei dem Abschnitt über meine Hausbesuche darauf
hingewiesen, daß durch die ungünstigen Wohnungsverhältnisse in den Gro߬
städten ein feineres sittliches Empfinden nicht aufkommen kann. Ich habe
angedeutet, daß die Eltern unsrer Kinder oft genug nicht deren Erzieher und
Leiter zum Guten, sondern ihre Verderber sind; die Begriffe von gut und
böse, rein und unrein sind unklar. Ein falsches Lebensbild steht oft genug
den Kindern vor Augen. Und nun entläßt die Volksschule, die oft der einzige
Halt im Leben solcher Kinder war, diese Mädchen ohne Führer, ohne Welt-
und Menschenkenntnis, ohne engern sittlichen Halt, oft mit früh geweckten
Sinnen, ohne ausreichende Kenntnisse und Fertigkeiten ins moderne Leben,
das alles so rücksichtslos verschlingt, was sich nicht behaupten kann.
Während man dem Knaben im allgemeinen eine Lehrzeit gewährt, ihn
auf Fach- und Fortbildungsschulen sendet, verlangt man von dem Mädchen
ein möglichst schnelles Erwerben. So entsteht die ungeheure Zahl der „un-
gelernten Arbeiterinnen," die durch ihre Massen, durch das Mnssenangebot
eben jene Hungerlöhne geschaffen und damit sich selbst die geordneten Wege
des Erwerbens versperrt und an deren Stelle Erwerbsquellen gesetzt haben,
die verderblich sind. Die Volksschule kann unmöglich die doppelte Aufgabe
erfüllen, die Mädchen für den Beruf und die Ehe tüchtig zu machen, diese
Arbeit kann nur die Fortbildungsschule leisten. Da die Kraft eines Volkes
von der Tüchtigkeit seiner Mütter abhängt, so erscheint mir die obligatorische
Fortbildungsschule für Mädchen uicht nur ebenso wichtig wie die für Knaben,
sondern noch weit notwendiger zu sein. Wenn diese die Knaben für bürger¬
liche Berufe stählen und tüchtig machen soll, so muß es jener daran gelegen
sein, dem Volke gute Mütter zu bilden.
Viele Lehrerinnen haben nun schon Versuche gemacht, mit ihren
Schülerinnen nach der Entlassung in engern Beziehungen zu bleiben. Sie
haben Abende eingerichtet, an denen sie geselliges Beisammensein mit Be¬
lehrung und Weiterbildung verbanden. Aber fast alle haben die Erfahrung
machen müssen, daß nach längerer oder kürzerer Zeit die Abende aus Mangel
an Beteiligung wieder eingingen, und daß zu diesen überhaupt nur die Besten
kamen. Ich glaube deshalb, daß es sich weniger um eine persönliche Arbeit
der Lehrerinnen an den Entlassener handelt als um ein energisches Eintreten
für die Mädchen. Wir müssen Pionierarbeit für die obligatorische Fort¬
bildungsschule tun, müssen freiwillige Arbeit in etwa schon privat eingerichteten
Schulen leisten. Die Volksschullehrerinnen müssen dafür eintreten, daß auch
für Mädchen allgemeine Handels-, Gewerbe-, Koch- und Haushaltungsschulen
eingerichtet werden.
Gerade in den Kreisen der gebildeten Frauen, der Hausfrauen, findet
man oft heftige Gegnerinnen der Mädchenfortbildungsschulen. Sie glauben,
daß dnrch diese die schon schwere Dienstbotenfrage noch erschwerter, noch un¬
erquicklicher für sie werden würde, wenn sie genötigt wären, ihre Dienstboten
an bestimmten Abenden und Stunden zu entlassen. Ich meine darum, daß
es notwendig ist, einmal ausführlicher auf die Aufgaben der Mädchenfort¬
bildungsschule einzugehn; wir werden dann vielleicht aus Gegnern Freunde
machen. Denn es handelt sich doch für einen Menschen, dessen soziales Ge¬
wissen erwacht ist, überhaupt nicht um die Frage: Was ist mir mehr oder
weniger angenehm? sondern darum: Was dient der Allgemeinheit zum Segen?
Die Fortbildungsschule soll die entlassenen Mädchen vom vierzehnten bis
zum achtzehnten Jahre aufnehmen und in dieser Zeit an dem weiter bauen,
was die Volksschule begonnen hatte. Wie wichtig die Tätigkeit dieser Schule
ist, geht am besten aus Zahlen hervor. In Preußen gehörten der angegebnen
Altersklasse 661000 erwerbstätige junge Mädchen an, die sich selbst und dem
harten Leben überlassen bleiben.
Die Aufgaben der Fortbildungsschulen sind dreifacher Art, nämlich ethischer,
sozialer und wirtschaftlicher. Wie ich schon erwähnt habe, kann die sittliche
Erziehung eines Mädchens mit dem vierzehnten Jahre nicht abgeschlossen sein,
denn nun beginnt erst für die Mädchen des Volkes die Zeit der gefährdeten
Sittlichkeit und der Verlockungen, denen gegenüber sie weder über einen innern
noch einen äußern Halt verfügen. Wenn es auch die „goldne Zeit" auf sitt¬
lichem wie auf jedem andern Gebiete früher so wenig gegeben hat wie jetzt,
was dem aufmerksamen Leser der Kulturgeschichte des Mittelalters besonders
auffallen muß, so kann man doch nicht verkennen, daß in unsrer Zeit Mächte
zu versagen beginnen, die in frühern Zeiten doch noch einen gewissen Einfluß
ausübten, ich meine die Kirche, das Haus und das Arbeitsleben. Das letzte
besonders führte früher die arbeitenden Frauen in feste, kleinere Hausgemein¬
schaften, während es sie jetzt dem verderblichen Einfluß der Fabriken aussetzt.
Ein junger Mensch gebraucht wie ein junger Baum einen festen Halt, wenn
er sich gedeihlich entwickeln soll; da die frühern traditionellen Kräfte den Halt
nicht mehr geben können, müssen neue Mächte an die Stelle der alten treten,
und dies kann eben nur die Fortbildungsschule tun.
Man hat neuerdings den Gedanken viel besprochen, durch Aufklärungen
auf geschlechtlichem Gebiete den Kindern eine vertiefte, sittlichere Auffassung
des geschlechtlichen Lebens zu geben, sie dadurch zu sittlichem Persönlichkeiten
zu erziehn. Die Meinungen gehn darüber weit auseinander, ob diese Auf¬
klärung Arbeit des Hauses oder der Schule sei. Man hat gegen das Haus
den Einwand erhoben, daß unsern Frauen des Volkes alles das mangle, was
zu einer so schwierigen Aufgabe gehört, nämlich eine hohe Auffassung der
Frage selbst, der sittliche Ernst und Takt, die nötige Muße, den geeigneten
Augenblick zu wählen usw. Lehrer und Lehrerinnen haben sich nun dafür
ausgesprochen, daß hier die Schule notwendig eintreten müsse, sie wollen einen
stufenweise aufgebauten, aufklärenden Naturgeschichtsunterricht haben. Ich per¬
sönlich bin ein vollständiger Gegner dieses Gedankens. Wenn ich auch ohne
weiteres zugebe, daß auf viele, sehr viele unsrer Kinder das Wort „kindliche
Unschuld" durch die ungünstigen häuslichen Verhältnisse nicht anwendbar ist,
so würde ich mich doch dagegen wehren, diese Arbeit zu übernehmen. Wann
sollte sie auch geschehen? Gerade die geistig Unbegabtesten sind meist die
sinnlich erregtesten, sollen diese doppelt gefährdeten Kinder, die etwa aus der
fünften oder der vierten Klasse der Volksschule entlassen werden, dann nicht
berücksichtigt werden, wenn man den Abschluß dieses Naturgeschichtsunterrichts
etwa in die erste Klasse legt?
Jeder, der einmal das sechste Gebot durchgenommen hat, kann mir be¬
stätigen, wie schwer schon dieses ist, wie dazu der ganze sittliche Ernst gehört,
wie scharf man dabei die Verdächtigen im Auge behalten muß, wenn man mit
einem ernsten, klaren, ruhigen Blick das gemeine, versteckte Lachen, das An¬
stoßen usw. sogleich im Entstehn unterdrücken will; denn wenn man erst ge¬
nötigt ist, mit Worten zu tadeln, dann hat man verspielt. Ich halte eine
solche Naturgeschichtsstunde für so angreifend, daß jeder, der sie ernst erteilt,
für weitere Unterrichtsstunden ermattet ist. Auch dies ist ein wichtiger Grund,
die obligatorische Mädchenfortbildungsschule einzuführen. Ob man in ihr diesen
Unterricht der Lehrerin oder der Ärztin anvertraut, halte ich für belanglos,
denn es kommt meiner Ansicht nach dabei gar nicht daraus an, ob dies eine
geschulte Püdagogin tut, sondern nur darauf, daß er einer sittlich hochstehenden
Persönlichkeit anvertraut wird, mag diese nun Ärztin, Lehrerin oder Mutter sein.
Die Fortbildungsschule hat aber auch soziale Aufgaben, Wer Gelegen¬
heit hat, einen Blick in das Volksleben zu tun, der weiß, wie Not, unge¬
nügende Vorbildung und Tüchtigkeit, Verhetzung und Urteilslosigkeit zusammen
eine tiefe Verbitterung der untern Stände gegen die Bessergestellten erzeugt
haben. Wenn die Frauen auch von Natur aus in allen Dingen und somit
auch in politischen konservativer gesinnt sind, so wird man doch bei einigen
von ihnen einen Haß finden, den man nur mit Schillers Worten: „Da
werden Weiber zu Hyänen" bezeichnen kann. Die Belehrung über das
politische Leben für die Frauen des Volkes ist durchaus notwendig. Die
Fortbildungsschule hat die soziale Aufgabe, die unklaren Gedanken der Jugend
durch ruhige, objektive Belehrung zu lenken, zu veredeln und zugleich dem
jungen Geschlecht zu einem den Kräften und Gaben der einzelnen angemessenen
Vorwärtskommen im Leben zu helfen.
Damit komme ich zu der dritten Aufgabe der Fortbildungsschule, der
wirtschaftlich-praktischen. Die zahllosen Heere der „ungelernten Arbeiterinnen"
haben die Hungerlöhne und damit den sittlichen Tiefstand so vieler geschaffen.
Die Fortbildungsschule muß nun die heutigen Erwerbsverhältnisse berück¬
sichtigen, sie muß eine grundlegende Ausbildung für alle einfachen Berufe
geben. Dagegen muß sie alle Vorbildung für höhere Arbeitsleistungen den
Fachschulen, also den Koch-, den Gewerbe- und den Handelsschüler überlassen.
Sie darf nicht vergessen, daß ihre Hauptaufgabe die ist, die jungen Mädchen
für den Hausfrauen- und Mutterberuf vorzubereiten. Sie soll die Mädchen
tüchtig machen, sich bis zu ihrer Ehe ihr Brot in Ehren zu verdienen und
später in der Ehe ihren Platz ausfüllen zu können. Aus dieser doppelten
Aufgabe ergeben sich die zu wählenden Unterrichtsfächer. Im Mittelpunkt
steht als ethisches Fach Deutsch, man verbinde es mit Besprechungen aus dem
Gebiete der Gesundheitsleyre, der Erziehungslehre, der Volkswirtschaftslehre
und der Bürgerkunde. Die Pflege des Zeichnens und auch des Gesangs soll
den Bestrebungen der „Kunsterziehung" entgegenkommen, die Freude am Schönen
wecken, zu seinem Genießen fähig machen.
Die hauswirtschaftlichen Fächer müssen Maschinennähen, Ausbessern,
Stopfen, einfaches Schneidern, Plätten, Kochen und hauswirtschaftliche Rech¬
nungsführung lehren. Die Berufsbildung kann durch Unterweisung in Rechnen,
Buchführung, Korrespondenz, Stenographie, Maschinenschreiben, Schneidern,
Putz und Wäschenähen usw. gefördert werden.
Bestimmte Normen kann man natürlich für die obligatorische Fortbildungs¬
schule nur so weit aufstellen, daß man sich über die Grundprinzipien einig
wird, im übrigen muß sie sich den örtlichen Verhältnissen anpassen. Das,
was als wirklich erreichbar von der zukünftigen Gesetzgebung verlangt werden
kann, ist eine wenigstens dreijährige Fortbildungsschulpflicht mit sechs bis acht
obligatorischen Stunden in der Woche. Zur Erreichung dieser Änderung in der
Jugendbildung ist zweierlei notwendig: eine Änderung der Gesetzgebung und
eine tatkräftige Unterstützung durch alle Freunde des Volkes und der Jugend.
Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft, das ist ein wahres Wort.
Man hört so oft Klagen von Gliedern der höhern Stunde über die so sieht-
bar zunehmende Verrohung der Jugend des Volkes. Man versucht, um dieser
zu steuern, der Schule immer mehr Verantwortung und Pflichten aufzupacken.
Die Schule aber kann unmöglich „Mädchen für Alles" sein. Eine wirkliche
Änderung kann man nur dann herbeiführen, wenn sich Frauen und Männer
der obern Stände eingehender als bisher um die Wohlfahrt der Kinder des
Volkes bekümmern. Hierzu bietet sich reichlich Gelegenheit. Wahre Hilfe ist
nicht Wohltätigkeit, und wiederum Wohltätigkeit soll nicht mit dem eignen
Vergnügen verbunden sein. Mir liegt eine engere Verbindung der obern
Stunde mit den Kindern des Volkes so am Herzen, daß ich nicht umhin kann,
besonders auf zwei Gelegenheiten hinzuweisen, die geeignet sind, weitere Kreise
mit der Schule in Berührung zu bringen, nämlich die Weihnachtsbescherungen
und die Ferienkolonie.
Ich würde es nun für ein großes Glück ansehen, wenn sich die Familien,
die armen Kindern eine Weihnachtsfreude bereiten wollen, zuvor mit den
Lehrern und den Lehrerinnen der Volksschulen in Verbindung setzten. Ich
glaube, daß dadurch in vielen Fällen der Not wirksam gesteuert und viele
Kinderherzen erfreut werden könnten. Denn die im Dienste der Volksschule
stehn, wissen es, daß gerade die Weihnachtszeit, die doch Freude und Frieden
auf Erden bringen soll, für viele eine traurige Zeit des Elends und des
Hasses ist, da für viele Väter um diese Zeit der Verdienst aufhört, und die
Zeit der Arbeitslosigkeit beginnt. Wie oft hat es mir aus Kindermund ent¬
gegengetönt: Mein Vater hat jetzt keine Arbeit — oder: Mein Vater ver¬
dient nur 4 Mark 50 Pfennige die Woche! Andrerseits könnte mit Hilfe der
Lehrerinnen das Beschenken der Unwürdigen vermieden werden.
Bei Nachfragen zur Weihnachtszeit habe ich oft mit Bedauern gefunden,
daß Eltern mit reichlichen Geschenken von Vereinen und Familien bedacht
find, die es durchaus nicht nötig hatten, oder die dadurch nur in ihrer Lieder¬
lichkeit und Faulheit bestärkt wurden. Es gibt unter den Eltern unsrer Kinder
viele, die beständig im Verkehr mit besser gestellten Stünden das Wort anzu¬
wenden scheinen: ^. la Ausrrs ovinus Z. Ig. Auerrs. Heuchelei, Lüge usw.
sind ihnen nur kleine Kriegslisten. Ich habe es wiederholt erlebt, daß die
Väter von Schülerinnen, die von Vereinen Stiefel geschenkt bekommen hatten,
diese sofort versetzten, um durch den erbarmungswürdigen Zustand, worin
die alten Stiefel des Kindes waren, wieder an einer andern Stelle neue zu
erlangen.
Ganz auf die Wohltätigkeit der Freunde des Volkes ist auch die Ferien¬
kolonie angewiesen, und auch sie scheint mir noch nicht so genügend bekannt
zu sein, wie sie es verdient. Die Großstadtbewohner wissen es, wie die
Wangen ihrer Kinder in den heißen, staubigen Sommermonaten zu bleichen
anfangen, wie die Kinderaugen matt zu blicken beginnen, wie sehnsüchtig die
großen Ferien herbeigesehnt werden, damit durch Land-, See- oder Gebirgs-
cmfenthalt die alte Frische wiederhergestellt werden könne.
Nicht besser aber ist es mit den Kindern der Volksschule, ungünstiger
gestaltet sich nur das Wohlbefinden noch durch die dumpfen Wohnungsver¬
hältnisse, die in engen Gassen liegen, in denen weder Vorgärten noch Spreng-
wagen für Verbesserung der Lust sorgen, und durch die schlechtere Kost, die
ihnen zuteil wird. Jedem Großstadtkinde wäre ein mehrwöchiger Aufenthalt
in guter Luft zu gönnen, notwendig aber ist er für die Kranken. Seit man
eingesehen hat, wieviel Millionen dem deutschen Volke alljährlich die Aus¬
breitung der Tuberkulose kostet, wendet man auch den Kindern des Volkes
größeres Interesse zu. Bei den Kindern muß man beginnen, wenn man
ein gesundes Volk haben will. Überall bemüht man sich Gelder zu sammeln,
um den ärmsten der Kinder, den kranken, einige Wochen der Erholung zu
ermöglichen. Leider sind nie soviel Mittel als Kinder da. Lehrer und
Lehrerinnen, die hofften, ein schwächliches Kind mit entsenden zu können, sehen
sich oft enttäuscht. Und doch wissen sie am besten, wie segensreich ein solcher
Ferienaufenthalt für ihre Schüler und Schülerinnen ist. Wie verwandelt
diese zurückkehren, frischer an Körper und dadurch auch an Geist, bereichert
an Eindrücken, die ihnen vielleicht das künftige Leben nicht wieder bieten kann.
Diese Kinder sind mir oft wie Pflanzen erschienen, die aus dumpfen Keller¬
räumen hinaufgebracht in den hellen Sonnenschein zu wachsen und zu blühn
beginnen. Viele unsrer Kinder lernen das Wort „sorglose Kindheit" niemals
kennen, man sehe sich nur einmal darauf die vielen alten, sorgenvollen Kinder¬
gesichter an! Hier in vier Wochen der Abgelöstheit scheint auch ihnen hell
die Sonne, und die Lehrerinnen, die eine Ferienkolonie geleitet haben, wissen
nicht genug zu erzählen von dem Frohsinn, der Dankbarkeit der erst so müden,
blassen Großstadtkinder.
Ich bin mir bewußt, vielen, und besonders meinen Berufsgenossen, durchaus
nichts Neues gesagt zu haben, aber es gibt eben Dinge, die gar nicht oft
genug gesagt werden können, für die man jede Gelegenheit wahrnehmen muß,
UM sie in immer weitere Kreise zu bringen. Wenn man bedenkt, daß allein
18000 bis 20000 Lehrerinnen an den deutschen Volksschulen angestellt sind,
daß sich diese wiederum nur an Anzahl in den Großstädten wie 30:100 zu
den Lehrern verhalten, so kann man, wenn man nur je fünfzig Kinder auf
diese rechnet, sich vorstellen, welche Macht eigentlich die Volksschule ist. Eine
Macht, die es wert ist, daß alle Kreise an ihrer Wohlfahrt arbeiten.
i le Botschaft, womit der Präsident Quintana jüngst die Tagungen
des argentinischen Kongresses eröffnete, hat die Aufmerksamkeit
unsrer Sozialpolitiker wieder auf dieses seltsame Land gelenkt,
das sich in den beiden letzten Jahrzehnten so mächtig empor-
__I gearbeitet hat. Noch vor zwanzig Jahren ein importierender
Staat mit unbedeutendem Handel und berüchtigt schlechter Geldwirtschaft steht die
Republik heute unter den Getreide exportierenden Ländern an der dritten Stelle,c^«^
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und die Finanzverwaltung gehört zu den besten Amerikas. Unser Handel mit
ihr ist in fortwährendem Wachsen begriffen, und das dort arbeitende deutsche
Kapital beläuft sich auf viele hundert Millionen Mark. Unter diesen Umständen
hat denn auch die deutsche Presse der Eröffnung des argentinischen Kongresses,
ebenso wie im vorigen Jahre dem dortigen Regierungswechsel, weit mehr Auf¬
merksamkeit geschenkt als ähnlichen Ereignissen in den übrigen südamerikanischen
Staaten. Dabei ist die Frage aufgeworfen worden, ob sich die Rechtsverhält¬
nisse in der argentinischen Republik so weit konsolidiert hätten oder in abseh¬
barer Zeit konsolidieren würden, daß sie an Stelle der Vereinigten Staaten
als Aufnahmeland für unsre Auswandrung eintreten könnte. Diese Frage ist
um so berechtigter, als die Vereinigten Staaten längst aufgehört haben, ein
Emigranteneldorado zu sein, und die dorthin Auswandernden bald der alten
Heimat verloren gehn, was in den lusospanischen Ländern nicht oder wenigstens
nicht so schnell der Fall ist. Ob aber die La-Platcistaaten als Hauptziel für
deutsche Auswandrung in Betracht kommen, hängt unsers Erachtens weniger
von der Besserung der Rechtszustände und von guten Ernten als von der Be¬
siegung des Gauchotums ab. Es ist demnach vielleicht ganz zeitgemäß, sich mit
diesem Volksstamm, oder richtiger gesagt, dieser Klasse des argentinischen Volkes
näher zu beschäftigen, die es verstanden hat, der eindringenden Kultur seit Jahr¬
hunderten jeden Schritt streitig zu machen, und die in ihrer Kulturfeindlichkeit
vielleicht nur noch von den Tagalen auf den Philippinen und den Mayos in
Jucatan übertroffen wird.
Die Gauchos, die ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung Argentiniens und
Uruguays ausmachen, sind, obwohl sie sich als Weiße betrachten, Mestizen und
beschäftigen sich vorwiegend mit Viehzucht. Sie zerfallen in zwei Klassen:
Gauchos und Gauchos natos (schlechte Gauchos). Unter diesen versteht man
die Gauchos, die an den Grenzen der Kulturgebiete, besonders im Norden der
Republik und im Sumpfgebiet des Parana Hausen. Sie leben recht eigentlich
von Raub und stechen durch ihre Wildheit und Mordlust recht unvorteilhaft
von ihren schon etwas zivilisierten Brüdern im mittlern und im östlichen Argen¬
tinien ab. Durch ihr Zusammenleben mit Indianern, besonders im äußersten
Osten, im Westen und im Süden tragen die Gauchos viel dazu bei, die Be¬
völkerung Argentiniens wieder den Urbewohnern zu nähern. Sie bewohnen das
ganze Ländergebiet zwischen Bolivia und der Magelhaensstraße, das sie bisher
mit geradezu beispielloser Zähigkeit gegen jede fremde Invasion verteidigt haben.
Der argentinische Schriftsteller D. Jose' Marmol*) gibt von ihnen nachstehende
fesselnde Schilderung, die wir in folgendem wiedergeben: „Die Natur hat das
Trostlose, Wilde und doch Imponierende, das auch ihr Kind, den Gaucho,
charakterisiert, den Gaucho, dieses Wesen, das sich seinen Instinkten nach dem
Naturmenschen, seiner Religion und Sprache nach den Kulturvölkern nähert.
Man hat den Gaucho mit dem Araber, mit dem Zigeuner, mit dem Urbewohner
unsrer Wildnisse verglichen, aber er ist und bleibt ein Typus für sich. Die
Natur erzieht ihn, sie singt ihm das Wiegenlied, mit ihr kämpfend und von
ihr lernend wächst er heran. Einsam und auf sich selbst angewiesen, beständig
im Kampf mit den Elementen und den Gefahren der Wildnis wird er melan¬
cholisch, sein Ideenkreis konzentriert sich auf sich selbst, anstatt sich nach außen
zu wenden. Freiheit und Unabhängigkeit sind die Grundbedingungen seiner
Existenz, und das Pferd ist gleichsam das materielle Element, das zu seiner
Freiheit gehört. Er wird auf dem Pferde groß, und so verliert die endlose
Pampa für ihn ihre weiten Entfernungen. Das Pferd ist sein Freund und
Diener zu gleicher Zeit, auf ihm fürchtet er weder die Elemente noch die
Menschen, und an Grazie und Gewandtheit kommt ihm niemand gleich. Der
Hirtenberuf vervollständigt seine Erziehung und macht ihn hart und verwegen
und leider auch gleichgiltig gegen blutige Schauspiele, die seine Moral so sehr
beeinflussen. Sein Beruf bringt Blutvergießen mit sich, und das Blutvergießen
wird ihm schließlich nicht nur zur Gewohnheitssache, sondern zum Vergnügen.
Dieses Leben gibt ihm ein solches Selbstgefühl, daß er voll tiefer Verachtung
auf den Städter hinabschaut. Der Stadtbewohner ist ein schlechter Reiter, er
ist unfähig, sich in den endlosen Ebnen zurechtzufinden, unfähiger womöglich
noch, in ihnen zu leben, und vor allem versteht er es nicht, den Stier mit
dem nimmer fehlenden Lasso des Gaucho an den Hörnern zu fangen, fürchtet
sich, das Messer dem gefangnen Tier bis ans Heft in die Gurgel zu stoßen,
und kann nicht einmal ohne Erregung einen blutigen Arm sehen. Der Gaucho
verachtet den Städter und mit diesem auch die Justiz; denn sie kommt aus den
Städten, und er braucht sie nicht; er hat ja sein Pferd, sein Lasso und seine
Einöden, in denen er verschwinden kann, wenn er verfolgt wird. Diese Leute,
die das argentinische Volk im eigentlichen Sinne des Wortes sind, umschwärmen
immer Gewitterwolken gleich den Horizont der Städte. Sie verachten die
Städter, aber sie bewundern jeden, der ihnen in Gauchotugenden überlegen ist.
Im zivilisierten Staat ist es nichts Ungewöhnliches, daß man an der
Spitze großer Heere unfähige Führer findet; aber bei den Gauchos wäre so
etwas unmöglich. Wer bei ihnen Häuptling sein will, muß fortgesetzte und
öffentliche Beweise seiner Fähigkeiten abgelegt haben. Auf dem Pferde, das
Lasso in der Hand, zwischen Blutlachen muß er aufgewachsen sein, unter freiem
Himmel muß er bei jedem Wetter schlafen können, unsre Pampas Schritt für
Schritt kennen, den Behörden muß er beständig trotzen, jeden Fortschritt der
Kultur verspotten und nach Möglichkeit anfeinden."
So war der Gaucho vor einem halben Jahrhundert, und so ist er noch
heute. Marmols klassische Schilderung paßt auch jetzt noch beinahe Wort für
Wort auf ihn. Der berüchtigte Diktator Don Juan Manuel Rosas (1829
bis 1852), der dreiundzwanzig Jahre lang Argentinien knechtete, war der Typus
eines Gauchos. Die Schlacht bei Montes Cciseros (1852) war ein Sieg der
Zivilisation, denn sie gab der Gauchoherrschaft den Todesstoß. Seitdem ist der
Gaucho aus den großen Städten fast verschwunden, aber auf dem Lande ist
er nach wie vor der Herr, und wenn man auch in Buenos Aires die malerischen
Gestalten in Poncho und Neithose selten sieht, so haben sie doch dort eine ge¬
wichtige Stimme, und keine Regierung kann sich ihrem Einfluß entziehn.
Die Gauchos sind Christen und sind stolz auf ihr Christentum. Einmal
erklärte mir einer, daß es außer Christen nur noch ^.nimÄlss (Tiere) gäbe; aber
trotz dieser Verachtung Andersgläubiger ist der Gaucho doch nur dem Namen
nach Christ, wie er sich etwa Radikaler oder Mitrist nennt, ohne zu wissen,
welche Ziele die Partei, zu der er sich bekennt, erstrebt. Fromm zu tun ver-
stehn die alten Gauchoweiber freilich ebensogut wie unsre Betschwestern, aber
daß ein Gaucho zur Kirche ginge oder für einen religiösen Zweck etwas opferte,
oder daß ihm auch nur die Grundwahrheiten des Christentums geläufig wären,
habe ich in dem Jahre, das ich während eines lungern Aufenthalts in Argentinien
allein unter den Gauchos zubrachte, weder gesehen noch gehört. Die Haupt¬
tugend der Christen, die Demut, ist dem Gaucho unbegreiflich; ein sogenanntes
sanftes Gemüt ist für ihn der Inbegriff alles Verächtlicher. Angenehm auf¬
gefallen ist mir nur der Respekt vor dem Alter. Ein Greis, und mag er noch
so zerlumpt und schmutzig sein, wird immer und überall mit der größten Hoch¬
achtung behandelt werden.
Mit der vielgepriesenen Gastfreundschaft ist es nicht weit her; der eingeborne
und anerzogne Fremdenhaß macht sie nur zu oft illusorisch. Dieser oft geradezu
fanatische Fremdenhaß will auch nicht so recht zum Christentum passen, aber
unerklärlich ist er keineswegs, ja nicht einmal sonderbar. In der Wildnis sind
alle frei, erst die Kultur schafft Herren und Knechte. Die Kultur durchzieht die
endlosen Ebnen mit einem Netz von Schienenwegen und Drahtzüunen, sie ver¬
scheucht das Wild, läßt Städte und Ansiedlungen mit ihrem geräuschvollen Leben
erstehn, wo einst nur das Blöken des Rindes und die metallnen Laute der
Viscachas*) die Stille der einsamen Pampas durchbrachen, sie bemächtigt sich des
Landes, schränkt den Sohn der Wildnis immer mehr in seinen Bewegungen
ein und zwingt ihm den Kampf ums Dasein auf. Was Wunder, wenn er sie
haßt, sie und ihre Vertreter, die ihm Stück um Stück seine schöne Heimat nehmen
und ihm das Leben immer unerträglicher machen; zumal wenn diese Eindring¬
linge auftreten, als wären sie seit Adams Zeiten Herren des Landes. Unsre
Kolonisten sollten mehr Pädagogen sein. Wer dem Kinde der Straße Manieren
aufzwingen will, wird niemals gute Resultate erreichen oder wird nicht so weit
kommen wie der, der es allmählich die Vorteile und Annehmlichkeiten eines ge¬
sitteten Lebens kennen lehrt. Und solch ein Kind der Gasse (oder der Wildnis)
ist der Gaucho, und nicht allein er, sondern jeder Halbwilde oder Wilde. Unsre
Kolonisten würden weiter kommen, wenn sie sich, anstatt geringschätzig auf den
Eingebornen hinabzusehen, bemühen würden, seine Eigentümlichkeiten kennen zu
lernen und ihn danach zu behandeln. Der argentinische Gaucho ist ein ehr¬
geiziger und im großen und ganzen arbeitsamer Mensch, der mit seinem faulen
Stammesbrüder in Brasilien und Paraguay wenig gemein hat; er ist überhaupt
nicht schlecht begabt, man hat ihn nur schlecht gemacht. Es ist mir aufgefallen,
daß die Gauchos den Italienern und Spaniern viel weniger abgeneigt sind als
den Deutschen, Engländern, Schweden usw. Warum? Nun, die Antwort liegt
nahe. Einmal sind die Romanen im allgemeinen überhaupt anpassungsfähiger,
und dann ist auch der Kulturnnterschied zwischen ihnen und den Gauchos nicht
so übergroß, wodurch es ihnen leichter wird, den Gaucho zu verstehn und ihn
dementsprechend mit einer gewissen Rücksicht zu behandeln. Auf die Behandlung
kommt es aber sehr an, da die Gauchos ein maßlos zartes Ehrgefühl haben,
und man sie sich durch eine ganz unbeabsichtigte Kränkung zu Todfeinden
machen kann. Es ist zum Beispiel eine schwere Beleidigung, einen Male oder
eine Zigarette abzulehnen Das Mätetrinken ist eine ebenso alte als schöne, nicht
gerade appetitliche Sitte, die sich bisher unter allen Völkern Süd- und Zentral¬
amerikas bis hinauf zum Rio Grande del Norte erhalten hat, und die auch sehr
viele Fremde annehmen, die aber trotzdem in den großen Städten, entsprechend
der Zunahme der Europäer, immer mehr an Boden verliert. Das Wort Mäte¬
trinken ist eigentlich unsinnig; denn der Male ist nicht das Getränk, sondern
eine kleine kürbisartige Frucht, die ausgehöhlt wird, und deren Schale dann als
Behälter für den Paraguaytee Gerda) dient. Man füllt den Male zur Hälfte
mit Tee, steckt ein silbernes Rohr (Bombilla), das unten in ein Sieb ausläuft,
hinein, gießt heißes Wasser daraus und reicht es seinem Nachbar, der das Wasser
durch das Rohr aussaugt, den Male wieder füllt und ihn weitergibt. So geht
der Male im Kreise herum, und alle saugen an demselben Rohr. Diese Sitte
ist, wie man zugeben wird, sehr demokratisch, und das besonders, wenn, wie es
nicht selten geschieht, Arbeitgeber und Arbeiter an derselben Bombilla saugen.
Das ist aber auch das einzige Gute, das man ihr nachsagen kann. Einen Male
abzulehnen, gilt als Beleidigung, eine Bombilla, an der eben jemand gesogen
hat, abzuwischen, als besondre Taktlosigkeit und kann für den Täter leicht
schlimme Folgen haben. Davon weiß Wohl jeder etwas zu erzählen, der sich
auch nur vorübergehend im argentinischen Kamp aufgehalten hat.
Wird einem eine angerauchte Zigarette angeboten, so darf man sie nicht
ablehnen, einen Brief geschlossen zur Beförderung zu geben, gilt als UnHöflich¬
keit gegen den Überbringer. Sieht man von solchen Eigentümlichkeiten ab, so
ist der oft- und der südargentinische Gaucho ein guter Kerl. Schont man sein
Ehrgefühl und schenkt man ihm etwas Vertrauen, so gewöhnt er sich bald an
zivilisierte Verhältnisse, und man wird an ihm einen tüchtigen und ergebner
Arbeiter haben. Mit dem Gaucho malo, der noch ganz wild in den Nord- und
den Westprovinzen haust, ist es freilich etwas anders. Das ist ein gefährlicher
Bursche, der nur auf Raub und Mord sinnt, und dem niemals zu trauen ist.
Im Reiten und im Lassowerfen sind die Gauchos Meister. Von frühester
Jugend an üben sie sich darin, Tiere mit der Schlinge zu fangen und aller¬
hand Reiterkunststückchen zu machen. So ist es am Ende nichts Wunderbares,
daß sie es zu geradezu fabelhafter Gewandtheit bringen; aber auch bei der Feld¬
arbeit leisten sie Erstaunliches. Beim Dreschen ist es, wenigstens in der Provinz
Buenos Aires, nichts seltnes, daß von drei Uhr Morgens bis zehn Uhr Abends
mit nur einer Stunde Mahlzeit gearbeitet wird, und im Maispflücken kann sich
auch der fleißigste italienische Arbeiter nicht mit dem Gaucho messen. Die
Lebensweise der Gauchos ist höchst einfach. Mit den Hühnern stehn sie auf,
und mit den Hühnern gehn sie zur Ruhe. Ihre Hütten, die gewöhnlich bloß
einen Raum, selten aber mehr als zwei haben, bauen sie nur aus einer
Mischung von Lehm und Kuhmist, die Sturm und Regen kaum solange Wider-
steht Wie das dünne Schilfdach. Diese traurigen Behausungen schwanken bei
jedem Windhauch hin und her und wimmeln von Flöhen; aber in den holz-
und steinarmen La-Plataländern sind Bauten aus solidern Material ein Luxus,
den sich nicht jedermann erlauben kann. Die Wohlhabenden haben ganz ordent¬
liche Betten, die weniger Bemittelten schlafen dagegen auf Matten oder Schaf¬
fellen am Boden, wobei meist der Sattel als Kopfkissen und der Poncho als
Decke benutzt wird. Die Kost ist höchst einförmig, und das viele Fleischessen
auf die Dauer entschieden gesundheitsschädlich. Fleischbrühe, gekochtes Rind¬
fleisch mit gekochtem oder geröstetem Kürbis, geröstetes Schaffleisch und Mais¬
brei, das sind die Hauptteile des Gauchomenüs. Ab und zu bringt wohl ein
Huhn oder ein Schwein etwas Abwechslung in diese geiht- und magentötende
Speisekarte; aber immer ist es Fleisch und nichts als Fleisch. Auch Paraguay¬
tee wird in unglaublichen Mengen konsumiert. Früh, wenn die Hähne krähn,
brodelt schon der Kessel über dem Feuer, und das Mätetrinken beginnt und
wird mit kurzen Pausen bis zum Abend fortgesetzt. Brot kennt der Gaucho
nicht oder hat es wenigstens nicht in seinem Hause, weil seine Weiber zum
Backen zu faul sind. An Stelle des Brotes hat er die Galleta, eine Art Schiffs-
zwieback, die in Säcken aus den nächsten Kampstädtchen geholt wird und so hart
ist, daß man sie in Wasser oder Milch auflösen muß, um sie zu genießen. Alle
Gauchos männlichen Geschlechts sind leidenschaftliche Raucher, ein rauchendes Weib
ist mir dagegen während eines mehrjährigen Aufenthalts in Argentinien nicht
zu Gesicht gekommen. In sittlicher Hinsicht stelle ich die Ganesa sehr hoch, das
einzige, was man ihr nachsagen kann, wäre, daß sie maßlos faul und häßlich ist.
Fassen wir unsre Ausführungen zusammen, so sind die Gauchos ein durchaus
kulturfähiges, gutbegabtes Volk, mit dem sich leben und arbeiten läßt, wenn
man es nur recht anzufassen versteht. Die Gauchos im Süden der Provinzen
Santa Fe, Cordoba, Euere Rios sowie im nördlichen und im zentralen Teil der
Provinz Buenos Aires sind schon jetzt so weit zivilisiert, daß es keiner besondern
Sittenstudien bedarf, wenn man mit ihnen gut auskommen will. Die genannten
Gebiete lassen sich darum auch schon heute der deutschen Auswandrung als
Ziel empfehlen, zumal da Boden und Klima dort durchweg gut sind, und dort
auch zahlreiche große deutsche und schweizerische Kolonien liegen. Ob aber die
übrigen Teile der Republik für unsre Auswandrung in Betracht kommen werden,
das hängt von der Zivilisierung der wilden Gauchos ab. Der vorige Präsident
der Republik, General I. Rom. hat in dieser Beziehung viel getan, ihm ist es
auch zu danken, daß Argentinien mit Mexiko, was Sicherheit des Lebens und
Eigentums anlangt, an der Spitze aller amerikanischen Staaten steht, und
auch Manuel Quintana, der jetzt die Geschicke Argentiniens lenkt, scheint ein
energischer fortschrittlich gesinnter Mann zu sein. Wir glauben, daß dieses
schöne fruchtbare Land, das sich wie kaum ein zweites dazu eignet, in abseh¬
barer Zeit ein Hauptziel der deutschen Auswandrung sein wird.
> uf dem Wege, der vom preußischen Schlößchen nach Tapnicken führte,
stand Heinemann, das Gewehr unter dem Arme, und schaute bald
dem Schlößchen, bald dem Dorfe zu. Das war der Weg, auf dem
der Doktor kommen mußte, wenn er mit dem Dampfer aus N. zurück¬
gekehrt war. Hier gab es auch zwischen Busch und Kraut Gelegenheit
I genug, sich in den Hinterhalt zu legen. Aber dazu, sich niederzulegen,
war noch Zeit übrig.
Da kam Marike, einen Korb am Arm, die Straße vom Dorfe her. Das traf
sich ja gut.
Na, komme nur her, du Aas, schrie Heinemann schon auf weite Entfernung,
ich werde dir schon die Beine zerbrechen.
Marike schrie auf, sprang über den Graben und schlug sich seitwärts in den
Wald. Heinemann hatte schon die Büchse, die er vom Amte mitgenommen hatte,
erhoben, um auf das Mädchen zu schießen, aber er überlegte, daß er damit seinen
Hauptschuß auf den Doktor verlöre, und ließ das Gewehr wieder sinken. Darauf
sprang er selbst über den Graben und setzte sich hinter eine Klafter Holz, die nahe
am Wege aufgeschichtet war.
Er sah Eva kommen und mit fliegender Eile vorüberschreiten, duckte sich hinter
seine Deckung und lachte grimmig. Hilft dir nichts, Margell, sagte er zu sich, deinen
Liebsten kriege ich doch vors Rohr, und dann rettet ihn kein Gott. Er muß ran.
Eva kam atemlos im Schlößchen an und erfuhr auf ihre Frage, der Doktor
sei mit dem Dampfschiff angekommen, aber noch nicht heimgekehrt, er müsse irgendwo
im Dorfe sein; aber er könne jeden Augenblick kommen.
Ach du barmherziger Gott! rief Eva, die Hände ringend, und kehrte auf der
Stelle um.
Kind, Kind, sagte Tauenden erschrocken, was hast du? Komm her, erzähle.
Es geht um Tod und Leben, antwortete Eva und eilte davon.
Da war auch die Marike, bleich und zitternd, und erzählte, im Walde läge
Heinemann und habe ihr alle Beine zerbrechen und auf sie schießen wollen.
Jetzt verstand Tauenden, um was es sich handle, rief den Inspektor Schlewecke,
und wen sie gerade von den Knechten fand, und sandte sie Eva nach.
Es war Eva nicht zweifelhaft, daß Heinemann, wenn er sich in den Hinter¬
halt legte, eine Stelle des Weges wählen würde, der durch den Wald von dem
Schlößchen zum Dorfe führte. Darum hielt sie scharfen Ausblick nach rechts und
nach links in der Hoffnung, daß der Mensch nach rückwärts weniger gute Deckung
genommen haben werde als nach vorwärts. Aber sie sah nichts. Als sie an die
Stelle kam, wo der Weg eine leichte Biegung machte, wo man also von einem
Versteck im Gebüsch aus eine längere Strecke Weges überschauen konnte, fiel ihr
eins, daß dort, seitlich vom Wege, eine Holzklafter aufgebaut war, mitten in einem
Gebüsch hoher Brennesseln. Wenn irgendwo, so mußte Heinemann hier auf der
Lauer liegen. Noch war sie im ungewissen, ob sie hingehn und sich davon über¬
zeugen sollte, daß sie richtig vermute, als ein kleiner Vogel, den Warnruf aus-
stoßend, aufflog, und sich die Brennesseln bewegten. Und dort kam ein Stiefel zum
Vorschein, und dort schob sich vorsichtig ein Büchsenlauf hinter der Holzklafter vor.
Und dort kam auch schon ihr Heinz, den Strohhut auf dem Kopfe, in leichten
elastischen Schritten. Ihr Heinz! Ihr Heinz, der in seinen gewissen Tod hineineilte.
Sie wollte ihm zurufen, aber ihre Stimme versagte, und sie konnte nichts weiter
tun, als mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuzueilen und dabei die Richtung so zu
nehmen, daß sie in die Schußlinie kam und Heinemann am Zielen hinderte.
Heinz! Heinz! Halt! Zurück! rief sie mit erstickter Stimme. Aber der Doktor,
der die Worte und den Zusammenhang nicht verstand, eilte desto schneller auf
Eva zu.
Verflucht, rief Heinemann, der, von Eva verhindert, nicht genau Ziel nehmen
konnte, und — da krachte der Schuß hiu, und eine von den goldnen Locken Evas
segelte im Winde und siel zu Boden. Eva sank in die Knie, und der Doktor sing
sie mit seinen Armen auf.
Bist du getroffen? rief er entsetzt.
Nein! nein! Aber spring zur Seite hinter den Baum. Er hat noch einen Schuß.
Es war nicht nötig. Heinemann hatte das Gewehr von sich geworfen, war
aufgesprungen und floh in großen Sätzen durch den Wald. Und dabei lief er den
Leuten, die Tauenden Eva nachgesandt hatte, geradeswegs in die Arme. Diese ver¬
abreichten ihm zunächst eine Tracht Prügel und fesselten ihn in nicht gerade
glimpflicher Weise.
Der Doktor hob Eva auf und küßte sie, und sie sah zu ihm auf mit Wonne
im Blick und zugleich mit Tränen in den Augen und sagte: Vergib mir, Heinz.
Eva! rief der Doktor, was hätte ich dir zu vergeben? Du hast dein Leben
zum zweitenmal für das meine eingesetzt, und du sagst: Vergib mir?
Ja, vergib mir. Ich war ein dummes, trotziges Ding. Du sollst der Herr
sein. Du ganz allein. Ich habe ja auch auf der ganzen Welt keinen weiter
als dich.
Nein, Eva, ich auch nicht. Unsre Liebe soll der Herr sein. Er bückte sich
und hob die Locke auf, die die Kugel vom Haupte Evas abgetrennt hatte. Diese
Locke will ich in Gold fassen lassen, sagte er, und sie soll unser Nibelungenhort
sein, ein Schatz nicht des Fluches, der auf dem Golde liegt, sondern ein Schatz
des Segens, der auf der edeln Tat liegt. Eva, wenn ich je vergessen sollte, was
du für mich getan hast, dann zeige mir unsern Hausschatz.
Man brachte das Gewehr. Eva wandte sich ab, es war ihres Vaters Doppel¬
büchse. Nun führten sie auch Heinemann herbei, der nach der Behandlung, die er
empfangen hatte, nicht gerade heroisch aussah.
Was habe ich Ihnen getan, fragte der Doktor ernst, daß Sie auf mich schießen?
Sie sind schuld, antwortete Heinemann finster. Sie haben mir den Weg ver¬
treten. Wenn Sie nicht dazwischen gekommen wären, wäre ich zu dem Meinen
gekommen.
Zu dem Ihren? antwortete der Doktor. Ist das, um das Sie durch Ihre
Fälschung Frau Van Term betrügen wollten, das Ihre? Und was hat Ihnen
Fräulein Eva getan?
Sie ist die Tochter ihres Vaters, sagte Heinemann. Er ist schuld. Er hat
mich auf diesen Weg gestoßen. Wenn ich nun zum Teufel gehe, er ist schuld.
Nein, Sie selbst sind schuld, Sie ernten, was Sie gesät haben. Und dabei
können Sie noch Gott danken, daß er Sie gnädig behütet hat. Wie, wenn Ihre
Kugel getroffen hätte? Viel hat wahrlich nicht daran gefehlt. — Der Doktor zeigte
Heinemann die abgeschossene Locke, und was wahrscheinlich viele Worte nicht erreicht
hätten, das tat das kleine goldne Ding, das, wie wenn es lebendig wäre, auf des
Doktors Hand tanzte. — Heinemann wurde blaß und fing an zu zittern. Aber
bald verstockte er sich von neuem und brummte: Zum Teufel gehe ich doch einmal,
und wenn nicht in guter Gesellschaft, dann allein.
Man brachte ihn zum Schulzen und berichtete, was geschehen war. Der
Schulze stellte sich breitbeinig vor Heinemann hin, blickte ihn mitleidig an und
sagte: Heinemann, unser Herr Jesus Christus sagt Matthäi am sechsten: Wer seinem
Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig. Wird nicht Gott am jüngsten Tage
zu dir sagen, du Schweinehund, stoßt ihn in die äußerste Finsternis? Und dieses-
mal sollst du nicht wieder davonkommen wie das vorigemal, wo der Amtshaupt¬
mann den Schlüssel hatte, darauf gebe ich dir mein Wort.
Er öffnete das Gefängnis und führte Heinemann hinein. Im Hintergrunde
auf einer Schütte Stroh saß Kondrot, ein Bild des Jammers. Bis morgen,
Kondrot, bloß bis morgen, sagte der Schulze, ihm zunickend.
Eva und der Doktor wanderten zusammen zum preußischen Schlößchen. Eva
hängte sich ihrem Heinz an den Arm und war so glücklich wie noch nie in ihrem
Leben. Sie hatte die alte dumme Walkürenrüstung, die ihr übrigens nie recht
gepaßt hatte, ausgezogen und von sich geworfen und fühlte es als einen seligen
Gewinn, folgen zu können, wo ein andrer vorausging.
Tauenden hatte den Schuß gehört und stand im Tor des Hofes in schweren
Sorgen. Als sie ihren Doktor und ihre Eva einträchtig die Straße kommen sah,
faltete sie die Hände und sprach ein lautloses und vielleicht auch wortloses Dankgebet.
Tauenden, sagte Eva leise und glücklich, nachdem man sich begrüßt und mit¬
geteilt hatte, was geschehen war, ich habe es gekonnt. Ich habe ihm gesagt, daß
ich im Unrecht war. Und ich sehe es jetzt auch ein, das ganze Herrentum ist
Schwindel.
Was ist Schwindel, Eva? fragte der Doktor.
Das ganze Herrentum ist Schwindel. Das heißt, fügte sie hinzu, als sie
merkte, daß ihr Heinz dieser ihrer neuesten Sentenz doch nicht ganz zustimmte, das
heißt, was mich angeht. Dir will ich nicht dreinreden. Und du sollst auch immer
Recht haben. Aber ich — Heinz, ich gebe für mein Herrentum kein Dittchen. Ich
bin zufrieden, wenn du mich lieb hast, und wenn ich dich lieb haben darf.
Onkel Heinz, sagte nach einiger Zeit Wolf, der den Vorgang mit großer
Aufmerksamkeit beobachtet hatte, weißt du was? Eva ist jetzt ganz anders, als
sie erst war. Ich glaube, sie wird nun.
Groppoff verlebte einen unruhigen Nachmittag und Abend. Er ging in zahl¬
losen Gängen durch sein Zimmer, er suchte das ganze Haus ab. Niemand war
da, er hatte ja die Mägde und die alte Magdalene weggeschickt, und Eva war
davongegangen, um nicht wiederzukehren. Dann setzte er sich in seinen alten leder¬
gepolsterten Lehnstuhl und dachte nach: Sich nur keine Gewissensbisse machen!
Gewissensbisse sind ein heilloser Unsinn, den die Pfaffen erdacht haben, um das
dumme Volk damit zu knechten. Wie hatte doch der Doktor gesagt? Wer sein
Gewissen dressiert, den beißt es. Sehr gut. Bissige Hunde hält man sich vom
Leibe. Und wenn sie doch kommen, so gibt man ihnen einen Tritt. Und hier in
dem Buche steht es geschrieben. — Es ist eine sehr gute Sache, daß das alles wissen¬
schaftlich bewiesen ist. Die Wissenschaft hat Recht. Die Wissenschaft hat immer
Recht. — Aber die Nerven! Was hilft alle Wissenschaft, wenn die Nerven die
Spannung nicht aushalten. Was helfen Gründe, wenn das Blut in den Kopf
steigt, als wollte es den Schädel sprengen. — Ohs denn heute gar nicht Nacht
werden will? — Wer singt denn da draußen? — Erst einmal geschlafen haben
und wissen, daß Heinemann über die Grenze und Madüe auf See ist, dann sieht
die Welt wieder anders aus. — Donnerwetter! wer singt denn da draußen?
Grvppoff trat ans Fenster. Da stand die Arte Beit mitten in einem Schwarm
von Haffmücken und saug: Zu Schiffern gehn wir, gehn zu Schiffern, und dabei
blickte sie starr auf das Fenster von Gropposfs Stube. Groppoff wollte sie mit
zorniger Gebärde wegscheuchen, aber sie ging nicht. Mochte sie stehn bleiben, was
ging ihn die alte Närrin an? — Er kehrte zu seinem Lehnstuhl zurück. Was
war das? Ein Schuß? Dem Amtshauptmann lief ein kalter Schauder durchs
Gebein. Es duldete ihn nicht auf seinem Stuhle, er trat wieder ans Fenster.
Da stand die Arte Bett immer noch und sang, und der Schwarm großer grauer
Mücken summte ihr um den Kopf. — Was willst du? rief er zum Fenster hinaus.
Der Herr Doktor läßt Ihnen sagen, antwortete die Arte mit harter, feind¬
seliger Stimme, Sie möchten auf Ihr Haus achten.
Den Herrn Doktor soll der Teufel holen, erwiderte der Amtshauptmann
wütend und warf das Fenster zu.
Die Arte kehrte sich gleichmütig um und ging.
Verrückter Unsinn, dachte Groppoff. Wollte man ihn einschüchtern? Er war
nicht der Mann dazu, sich graulig machen zu lassen. Und doch war es eine un¬
heimliche Sache, einen Angriff erwarten zu sollen und nicht zu wissen, von welcher
Seite er kommen werde. Etwas mußte im Werke sein. Und daß ihn mancher
im Dorfe nicht liebte, wußte er. Er hatte auch keinen Wert darauf gelegt, geliebt
zu werden; es hatte ihm genügt, gefürchtet zu werden. — Wie aber geht es dem
alten Löwen, dessen Zähne stumpf werden? Jeder Esel glaubt ihm einen Fu߬
tritt versetzen zu können. Vielleicht hielten sie ihn für einen alten Löwen, der
anfängt stumpf zu werden, und vielleicht hatten sie damit nicht ganz Unrecht.
Er ging durch sein Haus. Alle Türen standen offen, aber kein Mensch war
da, dem er hätte gebieten, oder den er hätte verantwortlich machen können. Vou
der Wegseite aus, wohin die Fenster seines Zimmers gingen, war nichts zu fürchten.
Aber an die Scheune, die jenseits des Weges lag, konnte man von unten, dem
Strande aus, ungesehen gelangen. Und auch die Gartenseite des Hauses war ge¬
fährdet. Groppoff durchsuchte seinen Garten, ohne etwas zu finden. Horch! War
das nicht der Klang von Schritten, die sich eilig entfernten? — Er suchte weiter
und fand zwischen Gras und Laub versteckt eine Zündschnur, die zu einem Haufen
Steine führte, der gerade unter dem Fenster seines Schlafzimmers lag. Und in
diesem Haufen fand er eine Dynamitpatrone, die so groß war, daß sie Unheil
genug hätte anrichten können. Groppoff lachte grimmig auf, schnitt die Zündschnur
durch und warf die Patrone in ein Wasserfaß. So hatten der Pastor und der
Doktor doch Recht gehabt.
Groppoff kehrte, obgleich er das Unheil glücklich abgewandt hatte, weniger
selbstvertrauend in sein Haus zurück. Die Lage war ernst, es gab mehr Dynamit¬
patronen in der Welt als diese eine, der Anschlag konnte sich jeden Augenblick
wiederholen. Vielleicht war es das beste, zu tun, was der Pastor geraten hatte,
zu verschwinden, bis sich die Aufregung gelegt hatte, und dann das Wespennest
gründlich auszunehmen. Vielleicht mit Madüe zusammen auf See gehn. Nein, das
war unmöglich. Er hätte sich damit selbst als schuldig bekannt. Oder Madüe in
seinem Laternenkasten sitzen lassen und in dem Boote ohne ihn davongehn. Das
war ein Gedanke, der nicht eines gewissen grausamen Humors entbehrte; aber auch
das ging nicht. Wenn er sein Spiel nicht verloren geben wollte, mußte er auf
seinem Posten ausharren und allem, was auch kommen mochte, die Stirn bieten..
Jedenfalls mußte, wenn erst die Dämmerung gekommen war, das Boot ausge¬
rüstet werden. Und inzwischen galt es, kalt Blut zu behalten und auf dem Posten
zu bleiben. — Was war das? Fiel da nicht ein Schuß? Ja, diesesmal war es
wirklich ein Schuß, und Groppoff glaubte wahrnehmen zu können, daß es der Ton
seiner Büchse war. Wenn dieser Schuß getroffen hatte, dann hatte er das Herz
seiner Eva getroffen! Nur ruhig Blut, nur ruhig Blut! Die Kugel ist aus dem
Rohre, die hält niemand auf, und was kommt, das kommt. Es gibt keine Sünde,
und es gibt keine Schuld — aber es gibt Nerven!
Die Sonne war untergegangen. Die Mondsichel schwamm wie eine goldne
Barke auf der lichten Flut des Abendroth. Es war ein warmer, schöner Abend,
kaum daß sich ein leichter Wind regte, und die See hatte fast keine Welle. Dort
saß ein Segel auf See, das bei dem schwachen Winde nicht von der Stelle kommen
konnte. — Aber über den schönen Abend war Asche gestreut, lebendige Asche,
Myriaden von großen grauen Mücken verfinsterten die Luft. Die Bäume waren
eingehüllt in einen Nebel von Mücken, und dort unten über dem Schilfe lag es
wie eine Rauchwolke, lauter Mücken, lauter Mücken. Ein feiner summender Ton
durchdrang alles, und ein übler Geruch erfüllte die Luft. Glücklicherweise stechen
die Tiere nicht, aber auch so bilden sie in den Tagen, wo sie ihren Flug halten,
eine arge Plage. Und wer in einen solchen Schwarm hineingerät, hat allen Grund,
sich seiner Haut zu wehren, den Mund zu schließen und die Augen zu schützen.
Mancher schöne Tag ist schon vom Höhenrauch verdorben worden, hier war es ein
Höhenrauch von Haffmücken, der den schönen Abend verdarb.
Groppoff kümmerte sich nicht darum, er hing seinen Gedanken nach, und diese
Gedanken zogen in die Vergangenheit zurück. Er sah sich selbst in seiner schmucken
Uniform als Leibjäger am herzoglichen Hofe. Er erinnerte sich jener schönen Zeit,
wo er ohne Sorge um die Zukunft in den Tag hineingelebt hatte, wo er immer
Geld in der Tasche und Glück bei den Frauen gehabt hatte. Er erinnerte sich
des Abends, wo er mit Prinzeß Olga allein im Schloßparke gewesen war, wo sie
vor ihm geflohen und ihm doch in die Arme gesunken war. Er erinnerte sich
der süßen heißen Worte, die sie im Rausche der Liebe zu ihm gesprochen hatte.
Damals hatte er sich gesagt: Greif zu, nütze dein Glück, sie wird dich hoch erheben
und zum Herrn machen. Und er hatte zugegriffen. Geliebt — nein, geliebt hatte
er sie eigentlich nicht. Geliebt hatte er die kleine Flete, die, als er sie aufgab,
erst tat, als wenn sie ins Wasser gehn wollte und hernach den Hofgärtner ge¬
heiratet hatte. Es war vielmehr befriedigte Eigenliebe gewesen, die ihn bewegt
hatte, der Prinzessin Liebhaber zu werden. Damals war der heiße Durst nach
Macht in ihm erwacht, und die Leidenschaft, Herr sein zu wollen. Ein Mensch,
den sich Prinzessinnen aussuchen, mußte ja doch zu etwas Hohem geboren sein und
konnte unmöglich in der Reihe der andern Menschenkinder seinen Platz haben.
Darauf hatte man ihn mit Schimpf und Schande davongejagt. Das war eine
weniger schöne Erinnerung. Aber man hatte dadurch seinen Trotz wachgerufen.
Er hatte sich auf keine Abfindung eingelassen. Olga hatte mit Heldenmut um ihren
schönen Jäger gekämpft. Und als sie nichts erreichte, hatte sie alles daran ge¬
geben, Macht, Stand und Reichtum, und war ihm gefolgt. Ha! was wäre aus
ihm geworden, wenn er folgsam gewesen wäre und hätte die kleine Flete ge¬
heiratet? Ein Revierförster hinten im Walde, der seine Hunde füttert und seine
Pfeife Tabak raucht.
Man hatte ihn zum Amtshauptmann gemacht. Man — das heißt, der Herzog
hatte dafür gesorgt, daß seine Verwandte ein leidlich anständiges Unterkommen habe.
Und er hatte seinen Platz ausgefüllt und hatte sich hinauf gearbeitet. Seine Frau
war eine gute und edle Dame gewesen. Aber sie war nach zehn Jahren einge¬
gangen, wie ein Baum, den man aus dem Garten herausgenommen und in ein
unfruchtbares Land verpflanzt hat. Und da war wieder eine Stelle, um die seine
Gedanken vorsichtig herumgingen. Denn er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren,
als wenn seine Frau an dem großen Irrtume ihres Lebens gestorben sei, nachdem
sie erfahren hatte, daß der, den sie gewählt, um den sie alles daran gegeben hatte,
den sie zu sich hinaufziehn wollte, innerlich weniger schön war als äußerlich, daß
er vielmehr einen Zug der Gemeinheit nicht los wurde, und daß er seiner Frau
nicht würdig war. Sie hatte sterbend ihm ihre Eva zurückgelassen, und dieser ihr
Testament, ihren letzten Willen: Verlaß den Vater nicht. Und nun war Eva auch
weg. Sie kam nicht wieder, wenn jener Schuß getroffen hatte.
Und dann war sein Tag gekommen, die Zeit, wo er sich den Titel: Hoheit
erwarb, wo er mit hohen Personen Elche schoß, mit Präsidenten und andern Ge¬
waltigen seiner Rehböcke und seines Weinkellers wegen auf gleichem Fuße verkehrte,
wo er manche tolle Nacht pokuliert und gespielt hatte, und nun war es Abend
geworden, so ein Abend wie draußen, ganz schön, aber sinkende Sonne, und alles
mit Asche bestreut. Wenn er seine Flete geheiratet hätte, der Tag wäre vielleicht
weniger schön, aber der Abend wäre schöner geworden. Oder wenn er Tauenden
geheiratet hätte! Vorausgesetzt, daß ihn diese gewollt hätte!
Die Zeit war gekommen, wo er es wagen konnte, sein Boot für Madüe aus¬
zurüsten. Er holte Mast und Segel aus dem Stall und trug beides, um die
Scheune herumgehend, hinab nach dem Strande. Er füllte ein Faß mit Wasser
und rüstete einen Korb mit Proviant und trug alles hinab. Noch fehlte ein
Kompaß und ein Legitimationspapier. Er holte den Kompaß und stellte eine
Legitimation aus, die er vorsichtigerweise einige Wochen zurückdatierte, und trug auch
das hinab. Als er an den Bäumen vorbeikam, die auf dem Lande zwischen Scheune
und Strand standen, geriet er in eine Wolke von Mücken. Er war gezwungen
den Kopf zu senken und die Augen zu schließen und so halb blind seinen Weg zu
suchen. So kam er in der Nähe des Schiffs an und schaute auf. Da stand vor
ihm wie aus der Erde gewachsen eine weiße Frauengestalt. Er erkannte es in dem
dämmernden Lichte des Abends genau, es war Frau Mary. Nicht die vergrämte
und verzweifelte Mary, die er gequält und in den Tod getrieben hatte, sondern
jung und froh, als käme sie aus dem Jenseits zurück. Und der Mann, der ihr
folgte, hatte gerade so einen Bart und trug gerade so einen Panamahut, wie ihn
einst Van Term getragen hatte.
Er blieb entsetzt stehn. Seine Gesichtsfarbe war leichenfahl geworden, seine
Augen schienen aus ihren Höhlungen treten zu wollen, sein Mund war geöffnet,
und seine Hände ließen kraftlos fallen, was sie trugen. Und so blieb er stehn,
nachdem die Erscheinung, die ihm den tödlichen Schreck eingeflößt hatte, verschwunden
war — blieb stehn im Dämmerlichte des scheidenden Tages, umgeben von einem
dichten Schwarm von Haffmücken, ohne den Gesichtsausdruck zu ändern und ohne
ein Glied zu rühren. Dann kam er ins Wanken und fiel schwer und leblos nieder,
indem er sich im Fallen in eins der am Strande hängenden Netze verwickelte und
es urit sich zu Boden riß.
Es war spät in der Nacht, als er nach langem Suchen gefunden und nach
Hause gebracht wurde. Er war einseitig gelähmt, und die eine Hälfte des Gesichts
hatte den entsetzten Ausdruck beibehalten, den seine Mienen angenommen hatten,
In derselben Nacht saßen Heinemann und Kvndrot im Gefängnis, ohne schlafen
zu können. Kondrot betete, und Heinemann fluchte und lästerte. Ach, Herr Gott,
betete Kondrot, aus der Tiefe, aus der Tiefe rufe ich zu dir. Was habe ich getan,
daß du mich so tief verstößt? Unter die Betrüger und Meuchelmörder! Was habe
ich getan? — er unterbrach sein Gebet. Eine Erinnerung tauchte in ihm auf. Die
Nacht, wo er Van Term den Revolver in die Manteltasche gesteckt hatte, mit dem
dieser sich erschoß. Er hatte es aus Mitleid getan. Er hatte sich später dieser
Tat vor sich selber gerühmt, nun aber erschien sie ihm in anderen, blutigrotem Lichte.
War seine Tat nicht ebenso schlimm, als wenn er selbst den Revolver auf Van Terens
Brust gerichtet hätte? Er stöhnte.
Hören Sie auf zu heulen, rief Heinemann unwillig. Damit macht man nicht
gut, was man getan hat. Immer vorwärts! Gibt es keinen Weg rückwärts, gibts
einen vorwarf — in die Hölle!
Heinemann, erwiderte Kondrot, lästern Sie nicht. Es gibt einen Weg rück¬
wärts, die Buße.
Blödsinn! sagte Heinemann. Buße hilft mir nicht aus diesem Loche heraus.
Man hörte Tritte über den Köpfen der Gefangnen. Lehm bröckelte herab,
und eine Bohle der Decke wurde hochgehoben.
Vater! rief eine halblaute Stimme. Es war Jurgis, der als Knabe oft genug
erprobt hatte, wie man bei Benutzung eines Zaunes und eines Baumes auf den
Boden des alten Spritzenhauses und von da hinab in den untern Raum gelangen
konnte. Vater, rief er, der Weg ist frei, komm!
Mein Sohn, was tust du? antwortete Kondrot, Soll ich mich schuldig be¬
kennen, indem ich fliehe?
Schuldig oder nicht. Du mußt fliehn, Gerechtigkeit gibt es hier nicht.
Es gibt eine Gerechtigkeit auf Erden, und wenn da nicht, so gibt es eine
Gerechtigkeit im Himmel.
Vater! Vater! drängte Jurgis ungeduldig. Ich habe unser Geld bei mir,
wir fliehn und wandern ans. Überall ist es besser als hier.
Er ließ ein Seil hinab, in das, um den Füßen Halt zu geben, Knoten ge¬
knüpft waren. Und sogleich begann einer daran empor zu klettern und sich durch
den Spalt in der Decke durchzudrängen. Jurgis erkannte, daß es nicht sein Vater
war, und versuchte den Mann zurückzuschieben. Für Sie, sagte er, habe ich das
Seil nicht hinabgelassen.
Aber ich habe es benutzt, antwortete der andre. Und nun halten Sie das
Maul, sonst gibt es was. Damit kletterte er durch die offne Dachluke ins Freie,
und dabei machte er soviel Gerttusch, daß Jurgis erschrak und seine Leine einzog.
Siehst du, mein Sohn, sagte Kondrot, was dein Fürwitz angerichtet hat? Den
Unschuldigen hast du vor ungerechter Strafe bewahren wollen, und den Schuldigen
hast du der gerechten Strafe entzogen. Und ich werde morgen deinetwegen kein
reines Gewissen haben
Es war in der Tat Mary gewesen, die Groppoff gesehen hatte, als sie, ge¬
folgt von einem Herrn, der wahrlich nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit Van Term
hatte, und einer ältern Dame aus dem Schilfe hervortrat. Sie waren eben auf
dem Schifferboote angekommen, dessen Segel Groppoff eine Stunde vorher beobachtet
hatte. Die Dame war Frau Staatsrat Wedenbaum, und der Herr war ihr Bruder,
Herr von Bodenpois.
Als Frau Staatsrat Wedenbaum und Mary an die Riviera gereist waren, hatten
sie Herrn von Bodenpois als hilflosen Menschen in einem Hotel in Nizza getroffen.
Dieser arme Herr litt damals an hochgradigen Rheumatismus und konnte kein
Glied rühren. Frau Staatsrat hatte allerdings gewußt, daß sie ihren Bruder in
Nizza treffen würde, hatte aber Mary nichts davon gesagt. Für den Kranken
war nun das Klima an der Riviera nicht beständig und warm genug gewesen,
und so hatte man sich entschlossen, den Winteraufenthalt in Ägypten zu nehmen,
was denn auch geschah, und allen Beteiligten überaus wohl tat. Frau Mary und
Frau Staatsrat Wedenbaum hatten ein inniges Freundschaftsbündnis geschlossen,
das Herr von Bodenpois sprengte, indem er sich — mit Frau Mary Verlobte.
Frau Mary hatte den Gedanken einer Verlobung zuerst weit von sich gewiesen, sie
hatte alles vorgebracht, was als Hindernis gelten konnte. Da aber darunter nicht
das geheiligte Andenken an ihren verstorbnen Mann war, so hielten auch die übrigen
Gegengründe nicht Stich, das tägliche Beisammensein zu Medinet el Fayum, wo
Man Wohnung genommen hatte, tat sein Teil, Ägypten tat seine Wunder, und zuletzt
sagte Mary verschämt und glücklich: Ja. Hatte sie zuerst ihre Krankheit und die
Furcht, ihre Briefe möchten in die Hand Groppoffs fallen, vom Briefschreiben zurück¬
gehalten, so war es jetzt ihre Verlobung, die das Briefschreiben nach Hause hinderte.
Man konnte ja das alles mündlich viel besser erörtern. Und so reiste man über
Brindisi heim, blieb einige Zeit zur Nachkur in Montreux und kehrte in den Osten
zurück — natürlich über Tapnicken, wo die Trauung in aller Stille stattfinden sollte.
Aber Frau Mary, die Tapnicken bei Nacht und Nebel verlassen hatte, scheute
sich bei Tage über den Landungssteg und betrachtet und beredet von den verehrten
Badegästen zurückzukehren. Auch den beiden Kurländer Herrschaften war es nicht
angenehm, als Gegenstände der allgemeinen Aufmerksamkeit einzuziehn, und so hatte
Man telegraphisch einen Fischer in Raster Ort bestellt, der an den Dampfer heran-
fahren, sie aufnehmen, nach Tapnicken bringen und unbemerkt landen sollte. Da
aber der Wind während der Fahrt abflaute, hatte es bis nach Sonnenuntergang
gedauert, ehe man Tapnicken erreichte. Um ungesehen ans Land zu kommen, war
das Fischerboot am Schilfstege vorgefahren.
Herr von Bodenpois und Frau Staatsrat Wedenbaum begaben sich ins Kur¬
haus, und Frau Mary suchte noch an demselben Abend ihr Schlößchen auf. Sie
mußte lange vergeblich an der Haustür klingeln. Endlich kam Tauenden mit Licht
die Treppe herab und schloß auf. — Um Gottes Jesu willen, rief Tauenden ganz
entsetzt, die Mary!
Still, wo ist Wolf?
Wolf lag in seinem Bette. Mary beugte sich über das Bett und küßte ihr
Kind in tiefer Bewegung. Wolf erwachte, schlang seine Arme um der Mutter Hals
und rief noch halb im Schlafe: Mama, ich habe dich seit neun Tagen erwartet.
Mama, nun darfst du aber nicht wieder fortlaufen, nnn mußt du immer, immer
hier bleiben.
Nein, mein Kind, sagte Frau Mary, nie wieder, ohne dich mitzunehmen.
Mary, siehst du aber gut aus, sagte Tauenden, indem sie den Arm um ihre
Schulter schlug und sie zum Sofa führte. Nun erzähle.
Nein, Dora, heute kein Wort mehr; aber morgen sollt ihr alles erfahren.
Am andern Morgen war Doktor Ramborn damit beschäftigt, sich anzukleiden,
als er hörte, wie Wolf die Treppe heraufgestampft kam, und wie er sich dabei
bemühte, einen mehrstimmigen Festmarsch anzustimmen und ihn auch noch mit
Trommel und Pauke zu verzieren. Als er bei Onkel Heinz eintrat, ging er zum
Trio seines Marsches über, das er nach dem Texte: Die Mama, die Mama, die
ist schon wieder da, sang.
Onkel Heinz, rief er, seinen Marsch unterbrechend, die Mama ist wieder da
und sitzt unten und trinkt Kaffee.
Der Doktor war nicht wenig überrascht und schüttelte den Kopf, indem er im
stillen Betrachtungen über die Unberechenbarkeiten gewisser sensibler Frauennaturen
anstellte. Wolf sah es; er faßte seinen Onkel Heinz bei der Hand und sagte
bittend: Du mußt auf Mama nicht böse sein, Onkel Heinz. Mama hat dir auch
etwas Schönes mitgebracht. Und Mama ist auch sehr glücklich. Ich weiß nur
nicht recht, fügte er nachdenklich hinzu, worüber. — Und weißt du noch was, Onkel
Heinz? den Kerl hat der Schlag gerührt. Die eine Seite ist schon ganz tot geschlagen.
Bald darauf trat der Doktor Frau Mary im Frühstückszimmer entgegen.
Mary reichte ihm bewegt ihre beiden Hände und sagte: Sie armer Heinz,
ich habe Ihnen schweres Unrecht abzubitten. Ich dachte ja, es gäbe auf der ganzen
Welt nur das eine Opfer, das ich brachte, indem ich floh, aber ich habe Ihnen
das größere Opfer aufgelegt, indem ich Sie zwang, an meiner Stelle zu bleiben.
Wußten Sie denn, Mary, fragte Ramborn, daß ich bleiben würde?
Ja, ich wußte es. Ich vertraute darauf. Aber ich wußte nicht, wie Schweres
ich von Ihnen forderte. Vergeben Sie mir.
Mary, antwortete der Doktor, ich habe Ihnen nichts zu vergeben, ich habe
Ihnen zu danken. Es klingt etwas unmodern, wenn man von „Fügungen" redet,
aber ich bin fast so weit, daran zu glauben.
Mama, sagte Wolf, Onkel Heinz hat sich mit der Eva verlobt. Und ich habe
jetzt auch nichts mehr dagegen.
Man lachte, und Mary gratulierte, und da kamen auch schon Herr von Boden¬
pois und Frau Staatsrat Wedenbaum an, Herr von Bodenpois steif und vornehm,
wohinter er seine Befangenheit versteckte, und Frau Wedenbaum bereit, gerührt zu
werden und jedermann zu umarmen.
Und nunmehr stellte Frau Mary mit graziöser Verlegenheit Herrn von
Bodenpois als ihren Bräutigam vor, worauf sie Tauenden in aller Form und
Onkel Heinz beinahe umarmte. Seid mir nicht böse, rief sie, aber man hat mich
mit List und Gewalt gefangen genommen, und ich konnte nicht anders.
Und wo war Wolf? Er war in seinen Winkel gekrochen und beobachtete mit
großen Augen, wie sich Herr von Bodenpois und Onkel Heinz die Hände schüttelten,
wie sich Mama voll Vertrauen auf den Arm ihres Bräutigams stützte, und wie
Frau Staatsrat und Tauenden den Chor im Schauspiel darstellten, die Hände
emporhoben und jedermann alles Gute wünschten.
Wo ist Wolf? rief Frau Mary.
Wolf kam aus seinem Winkel hervor.
Hier ist dein neuer Papa, Wolf.
Und der neue Papa legte die Hände auf Wolfs Schulter und sagte: Gefällt
er dir? Willst du ihn haben?
Ja, Papa, sagte Wolf und reichte ihm die Hand. — Und damit wurde eine
gute und treue Freundschaft fürs Leben geschlossen.
(Schluß folgt)
Die hohe Politik will in diesem Sommer nicht zur Ruhe
kommen, eine „Sensation" löst die andre ab. Bei allen aber bewährt sich das
Wort, daß nichts im Leben so schlimm ist, wie es aussieht, und nichts so gut, wie
es aussieht. Ungarn und Norwegen, der russisch-japanische Krieg und Friede, die
französisch-englische Entente, Marokko, die Kaiserbesuche bei den Ostseemonarchen,
die Fahrt der englischen Flotte in die Ostsee, die in Aussicht gestellte Begegnung
zwischen Kaiser Wilhelm und König Eduard — wir haben erst Anfang August,
und die Reihe der Ereignisse kann noch viel weiter fortgesetzt werden. Der Um¬
stand, daß der Besuch des deutschen Kaisers in Kopenhagen erst nach der Be¬
gegnung mit Kaiser Nikolaus stattfand, hat in der Presse wenig Beachtung ge¬
funden. Da schon vor diesem Besuch die Londoner Meldung durch die Blätter
lief, König Eduard habe sich über die Begegnung zwischen dem Kaiser und dem
Zaren nicht unfreundlich, sondern dahin ausgesprochen, er erwarte, daß etwas
Gutes daraus hervorgeht? werde, so läßt sich daraus entnehmen, daß in London
Informationen von russischer Seite vorlagen; von deutscher Seite ist darüber schwer¬
lich nach London berichtet worden. Vergegenwärtigt man sich nun die Beziehungen,
die zwischen den Höfen von Kopenhagen und von London bestehn, so darf an¬
gesichts der Herzlichkeit und Intimität, mit der Kaiser Wilhelm von der dänischen
Königsfamilie empfangen worden ist, wohl ohne weiteres vorausgesetzt werden, daß
der dänische Hof eine Art natürlicher Vermittlerrolle zwischen Berlin und London
als seine Aufgabe ansieht und diese auch mit aller Loyalität übt. Bet dem
Charakter und dem Verlauf des Kaiserbesuchs hat diese Annahme um so weniger
einen Widerspruch zu befürchten, als König Christians ehrwürdiges Alter ihn zu
einer vermittelnden Tätigkeit ganz besonders geeignet macht. Dänemark hat aber
auch sehr reelle Gründe, keine Verschlechterung der deutsch-englischen Beziehungen
zu wünschen, denn wenn diese, was allerdings schwer glaublich ist, sich jemals zu
einem Konflikt zuspitzen sollten, würde Dänemark dabei in eine üble Lage kommen.
Da wir von England absolut nichts weiter wollen als eine ehrliche und loyale
Respektierung unsrer Interessen auf dem Fuße der vollen Gegenseitigkeit, so ist
das Vorhandensein so tiefgehender Verstimmungen an sich schwer begreiflich und aus
den realen Interessen beider Nationen kaum recht erklärbar. Die eigentliche Ursache
mag, abgesehen von persönlichen Dingen, darin zu suchen sein, daß beide Nationen
die eine von der andern eine Vorzngsbehandlung beanspruchen und das Fehlen
einer solchen doppelt empfinden. Hierbei ist die Fahrt des englischen Kanal¬
geschwaders in die Ostsee ein ganz eignes Kapitel. Die Grenzboten haben schon
im vorigen Heft hervorgehoben, daß im Offizierkorps des Kanalgeschwaders von
dieser Fahrt schon seit einer Reihe von Monaten die Rede ist, auch sind schon im
Mai auf Grund amtlicher englischer Andeutungen die ersten Mitteilungen nach
Berlin gelangt. Da aber die formelle Anzeige ausblieb und tatsächlich erst in der
allerjüngsten Zeit erfolgt ist, so mag man in Berliner amtlichen Kreisen der Nachricht
keinen besondern Wert beigelegt haben. Auch jetzt noch nicht, als infolge einer
gewissen Saumseligkeit der englischen Admiralität die amtliche Anzeige etwas spät
und dadurch etwas überraschend nach Berlin gelangte, denn viel mehr als für
Deutschland ist dieses Erscheinen einer starken englischen Flotte in der Ostsee gegen¬
wärtig wohl für Rußland von Belang.
England ist immerhin der Verbündete Japans, die russische baltische Flotte
ist im Kampfe gegen Japan untergegangen. Wenn nun jetzt die mit Japan Ver¬
bündete englische Flotte an den wehrlosen oder doch durch keine Flotte verteidigten
Küsten Rußlands erscheinen würde, so ist das immerhin ein Vorgang, der in Ru߬
land tief berühren muß. Man kann zwar sagen, zwischen den Höfen von Petersburg
und London bestehe eine so große Intimität, und die beiderseitigen Regierungen
haben es trotz allem so sehr verstanden, auf einem guten Fuße zu bleiben, daß der
Fahrt der englischen Flotte auch von dem lebhaftesten russischen Nationalgefühl kein
demonstrativer Charakter beigemessen werden könne. Dennoch scheint es tatsächlich
der Fall zu sein. Unzweifelhaft sind die Engländer berechtigt, in der Ostsee zu
kreuzen, und niemand kann daran denken, sie hieran hindern zu wollen. Aber bei.
den zwischen England und Deutschland bestehenden Spannungen sowie bei den Ver¬
hältnissen Rußlands hat die seit langen Jahren unterlassene und gerade für dieses
Jahr herausgesuchte Kreuzung in jenen Gewässern doch einen stark unfreundlichen
Beigeschmack. Gewiß übt die englische Admiralität damit nur ein Recht aus ob
es aber immer gerade geschickt ist, ein bestehendes Recht auszuüben, darüber sind
die Ansichten in der Regel geteilt, und aus London verlautet denn auch, daß der
russische Botschafter dem Lord Lcmdsdowne über die russische Beurteilung dieser
Flottenfahrt keinen Zweifel gelassen habe. Wie es scheint, ist die britische Admiralität
mit diesen Maßnahmen ziemlich selbständig vorgegangen. Es wird deshalb von
einigem Interesse sein, ob die englischen Schiffe von Weichselmünde an die russische
Küste oder gleich nordwärts nach Schweden dampfen werden. Finden sie dort einen
freundlichen Empfang, so ist es nach den warmen Worten, mit denen König Oskar
soeben unsre Flotte in deutscher Sprache begrüßt hat, völlig ausgeschlossen, daß der
Empfang der Engländer irgendeine Spitze gegen Deutschland erhalten könnte. Der
König selbst wird ohnehin kaum anwesend sein.
Im formellen Recht sind auch die englischen Behörden in Südafrika, wenn sie
die uns feindlichen Eingebornen, die auf britisches Gebiet flüchten, zwar nicht als
kriegführende Macht aber doch mit großer Schonung behandeln und uns damit die
Parteinahme der öffentlichen Meinung in Deutschland während des Bnrenkriegs
zurückzahlen. Ob es aber gerade politisch geschickt ist, in die deutsch-englischen Be¬
ziehungen diesen neuen Stachel einzudrücken, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls
geht durch das Verhalten der englischen Behörden gegen Deutschland ein Zug
starker Unfreundlichkeit, der fast in allen deutsch-englischen Berührungen auf dem
Erdball einen Widerhall findet, und der ebenso in der für Deutschland unfreund¬
lichen Beeinflussung der Mächte durch die Londoner Hof- und Regieruugskreise zutage
getreten ist. Erst in der allerjüngsten Zeit ist eine leichte, sehr langsame Aufhellung
des bis dahin recht verdunkelten Horizonts wahrnehmbar, die auch wohl noch er¬
kennbarer werden wird. Kommt es, wie ja festzustehn scheint, zu einer Begegnung
des Königs mit Kaiser Wilhelm auf deutschem Boden, so wird man das als eine
tatsächliche Bekundung eines guten Willens auffassen dürfen, zu Deutschland wieder
in ein besseres Verhältnis zu gelangen.
Unser Kaiser bleibt mindestens bis zum 18. d. M. in Wilhelmshöhe, wo an
diesem Tage das Geburtsfest des Kaisers Franz Joseph begangen wird, eine Be¬
gegnung mit König Eduard auf dessen Reise nach Marienbad ist darum sehr wohl
ausführbar, ebenso wie eine Besichtigung des englischen Geschwaders in der zweiten
Hälfte des Monats. Nach einer Begegnung mit dem Könige würde eine solche
Besichtigung einen noch wesentlich freundlichern Charakter annehmen. Der Umstand,
daß in der englischen Presse die Möglichkeit einer solchen Begegnung weit bei¬
fälliger besprochen wird als im vorigen Jahre die Fahrt des Königs nach Kiel,
deutet doch darauf hin, daß man in den einsichtigern Kreisen der Nation des zweck¬
losen Haders mit Deutschland müde geworden ist, und daß der Gedanke sich
Bahn bricht, ein Krieg zwischen England und Deutschland würde zunächst dritten
Mächten zugute kommen, ganz abgesehen davon, daß weder Engländer noch Deutsche
wüßten, weshalb sie sich eigentlich schlügen. Bei dieser Gelegenheit darf auch
wohl noch auf den ziemlich hohen Grad von Sympathie hingewiesen werden, der
bisher zwischen der deutschen und der englischen Flotte bestanden hat. Mögen
selbstverständlich die Begegnungen des Kaisers mit seinem erlauchten Nachbarn in
der Ostsee Stoff zu allen möglichen Erörterungen geboten haben, auch zu der der
norwegischen Thronfrage — die Schließung der Ostsee auf gemeinschaftliche Kosten
war schon aus dem Grunde nicht darunter, weil ein mars olausuw nicht von innen,
sondern Von außen abgeriegelt zu werden pflegt. Rußland hat in dieser Hinsicht
an dem Schwarzen Meere mehr als genug, und Deutschland hat ganz und gar
kein Bedürfnis, sich in dieselbe Lage zu bringen. Wohl aber hat der Besuch in
Kopenhagen reichlich Gelegenheit geboten, eine Fühlung zwischen London und Berlin
herzustellen. Wie nach der französischen, so hellt sich wohl auch nach der englischen
Seite der Horizont jetzt auf.
Das französische Memorandum in der marokkanischen Angelegenheit umfaßt
eine ganze Reihe von Fragen, mit denen deutsche Interessen verquickt sind, und
bedarf deshalb der Prüfung durch alle dafür in Betracht kommenden amtlichen
Stellen. Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß von deutscher Seite, auch wenn man
vielleicht nicht mit allen Einzelheiten einverstanden sein sollte, besondre Schwierig¬
keiten erhoben werden. Es besteht die ernste Absicht, Frankreich ein ehrliches und
loyales Entgegenkommen zu zeigen, soweit die deutschen Interessen das irgend er¬
möglichen, und alles weitere der Konferenz anheimzugeben. Hoffen wir, daß der
Wunsch eines beiderseitigen Einvernehmens auf der Konferenz in Paris so groß ist,
als er in Berlin tatsächlich zu sein scheint. Beide Länder haben kein Interesse
daran, an ihrem Leibe eine marokkanische Wunde offen zu halten, zumal da in naher
Zukunft Ostasien alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wird. Denn alle Mächte
werden mit einer von Japan angeregten und geleiteten chinesischen Emanzipations¬
tendenz rechnen müssen, und die englische Regierung hatte sicherlich gute Gründe,
daß sie jüngst im Unterhause, die Frage des japanischen Bündnisses scheinbar nur
gelegentlich streifend, Zweifel daran zuließ, ob die Erneuerung überhaupt wünschens¬
wert sei. Auf ein umfassendes Schutz- und Trutzbündnis einzugehn, wie die Japaner
es zu wünschen scheinen, wird jede englische Negierung sich zweimal besinnen. Ein
solches Schutz- und Trutzbündnis gleichsam als Blankowechsel zu acceptieren, ist
immer eine eigne Sache: man weiß nicht, wohin die Reise geht, und ist in allen
andern Beziehungen gehemmt. Kaiser Wilhelm der Erste war ans Grund seiner
langen Lebenserfahrung ein entschiedner Gegner aller nicht für einen bestimmten,
übersehbaren Zweck abgeschlossenen Bündnisse und hat sich gegen Vorschläge, die
darüber hinausgingen, immer ablehnend Verhalten; für eine sicher auf sich selbst
beruhende Großmacht dürfte das auch die richtigste Politik sein. Deshalb wird auch
Wohl England, falls es sein Bündnis mit Japan überhaupt erneuert, dies nur in
einem gewissen Umfange tun; Japan aber kann kaum, wenn es soeben einen Frieden
mit Rußland geschlossen hat, von neuem ein Bündnis gegen Rußland aufsuchen, zumal
da die Tendenz der russische» Politik einem Bündnisse mit Japan zustrebt. Jedenfalls
aber werden die asiatischen Angelegenheiten für die europäischen Mächte, die dort
große Interessen haben, in der nächsten Zeit wichtiger werden als der häusliche
europäische Streit.
Wie verlautet, stehn für den Spätherbst Beratungen über die Reorganisation
unsrer Kolonialverwaltung bevor. Hoffentlich wird dabei eine der unge¬
eignetsten Einrichtungen, das Oberkommando der Schutztruppen, beseitigt und das
gesamte Militärweseu der Kolonien endlich unter das Kriegsministerium gestellt. Das
Kriegsministerium ist zwar „königlich preußisch," aber ebensogut wie das Reichs¬
militärgericht und die ostasiatische Brigade können auch die „Schutztruppen" — auch
diese komische Bezeichnung sollte beseitigt werden — dem Etat, und was richtiger
ist, der Fürsorge des Kriegsministeriums dauernd angehängt werden. Wie die
Erfahrung lehrt, sind in kritischen Zeiten die Kolonien doch auf die Hilfe der
Armee oder der Marine, wahrscheinlich beider, angewiesen. Das Oberkommando der
Schutztruppen ist eine Behörde, der in der Heimat jede reale Unterlage fehlt, und
dessen selbständige Existenz für die Beschleunigung der Hilfe, sobald solche nötig wird,
ein großes Hindernis ist. In Südwestafrika kam die Sache erst in Gang, als das
Kriegsministerium sich ihrer annahm, das jetzt für alles sorgen muß, ohne „zu¬
ständig" zu sein. Auch für die Kolonialverwaltung selbst liegt darin eine große
Erschwerung. Daß sie bei ihrem gewaltig angewcichsnen, allmählich alle Ressorts
umfassenden Umfange auf ein andres Niveau gehoben werden muß, ist längst von
allen Seiten anerkannt, aber sie muß auch von allem befreit werden, was — wie
Militärwesen, Post- und Telegraphenwesen — Sache der betreffenden Reichs¬
instanzen ist. Die Unruhen in Kilwa (Ostafrika) sind eine neue Warnung vor allzu¬
großer Vertrauensseligkeit den Eingebornen gegenüber. Eine solche wird auch bei der
besten Behandlung niemals gerechtfertigt sein. Ein umsichtiger Gouverneur wird nie
der Meinung sein dürfen, daß er „mit einem Spazierstock durch ganz Ostafrika gehn
kann," sondern er muß immer daran denken, daß ein Aufstand möglicherweise schon
am nächsten Tage zu erwarten ist, und dem alle seine Maßnahmen unterordnen.
Was eine übel angebrachte Vertrauensseligkeit schließlich an Menschen und an Geld
kostet, haben wir in Südwestafrika zur Genüge erfahren. Welcher Grad von
Selbständigkeit und Unabhängigkeit in Zukunft einerseits der Zentralverwaltung der
Schutzgebiete, andrerseits nach englischem Vorbilde den Gouverneuren gewährt
werden soll, dürfte hauptsächlich von dem Resultat der Beratungen abhängen. Auch
die Vertretung der deutschen Ansiedler in der Verwaltung der einzelnen Kolonien
wird dabei ihre gesetzliche Regelung erhalten. Daneben mahnen uns die Verhältnisse
Nachdem die Würfel im ostasiatischen See¬
kriege endgiltig gefallen sind, wäre es Wohl an der Zeit, daß man sich anch in
Deutschland allmählich etwas mit den Folgen beschäftigte, die der unerwartete Aus¬
gang für uns selbst haben kann. Als unerwartet muß es jedenfalls bezeichnet
werden, daß es den Japaner,: gelungen ist, zwei russische Flotten völlig zu ver¬
nichten, ohne selbst eine nennenswerte Einbuße an ihrem Schiffsmaterial zu erleiden.
Wohl hatte Japan schon während der Belagerung Port Arthurs zwei seiner sechs
Linienschiffe erster Klasse, also ein Drittel dieses Teils seiner Seemacht, verloren;
dafür hat es jedoch in der letzten Seeschlacht, ohne selbst ein großes Schiff einzu¬
büßen, außer zwei Küstenpanzern zwei große russische Linienschiffe, Orel (jetzt Swami)
und Nikolai I. (jetzt Iki), gewonnen, die, wenn auch beschädigt und an Wert den
japanischen Verlornen Schiffen nicht ebenbürtig, doch als ein leidlicher Ersatz für
diese betrachtet werden können. So tritt Japan intakt aus dem Seekriege und
kann Zeit und Geld, statt auf die Wiederherstellung, auf die Verstärkung seiner
Seemacht verwenden. Daß es dies tun wird, daran wird wohl niemand Zweifel
hegen, und uns liegt es ob, beizeiten Stellung dazu zu nehmen, natürlich nur im
Hinblick auf unsern Besitzstand in Ostasien. Wir haben dort Kiautschou zu ver¬
teidigen, und die Frage ist: Muß man von Japan einen Angriff auf Kiautschou
befürchte», und welche Mittel stehn uns zur Verfügung, einem solchen zu begegnen?
Die erste Frage muß zweifellos bejaht werden, ja man darf behaupten, daß wenn
überhaupt ein Staat in Ostasien von Japan bedroht ist, wir zu allererst in Be-
kracht kommen. Allerdings hat Frankreich ebenso wie wir vor zehn Jahren nach
dem Frieden von Schimvnoseki in Gemeinschaft mit Rußland die Festsetzung Japans
auf dem Festlnnde von Asien vereitelt, aber für Frankreich war dies doch viel
ungefährlicher als für uns, denn erstens liegen seine ostasiatischen Besitzungen viel
weiter als die unsrigen von der japanischen Operationsbasis entfernt, zweitens steht
Frankreich für einen Seekrieg eine bedeutend größere Flotte als uns zur Verfügung,
und drittens ist der französische Besitz in Asien so ausgedehnt, daß er auch zu
Lande selbständig von größern Truppenmassen verteidigt werden kann. Wenn also
Japan Rache nehmen will, wird es sicher mit uns anfangen. Man wird darauf
hinweisen, daß sich Japan aus einem solchen Gefühl nicht in einen Krieg mit
Deutschland stürzen wird, zumal da es ja durch seineu Sieg über Nußland seinen
Zweck, die Festsetzung auf dem asiatischen Festlande, erreicht hat. Aber auch ange¬
nommen, daß Japan durch seinen Erfolg nicht so in seinem Selbstbewußtsein ge¬
hoben wird, daß es leichten Herzens in einen Krieg mit Deutschland eintritt, so
ist doch die Frage, ob nicht gerade die Festsetzung auf dem Festlande Asiens zu
einem Zusammenstoße mit Deutschland führen muß.
Es ist zweifellos, daß die Festsetzung in Korea und die Verdrängung Ru߬
lands aus der Mandschurei für die Japaner nur Mittel zum Zweck ist: sie selbst
haben es ausgesprochen, daß sie die wirtschaftliche Erschließung und Ausbeutung
Chinas als ihre Aufgabe betrachten. Daß sie mit den ihnen zunächst liegenden
Teilen, außer Tschiki mit der Hauptstadt Peking also vor allem mit Schenkung,
beginnen werden, wie sie es zum Teil schon getan haben, ist klar, zumal da sie
ja im Süden mit ihrem jetzigen Verbündeten, England, zusammenstoßen würden:
so werden wir auch aus diesem Grunde den ersten Stoß aushalten müssen. Japan
wird aber auch durch sein Bündnis mit England, das die englischen Staatsmänner
ja, wie es natürlich ist, beibehalten und weiter ausbauen wollen, direkt zum Kriege
wie gegen Rußland so gegen Deutschland getrieben. Wir sind nicht nur sonst in
der Welt, sondern auch gerade in Ostasien die Konkurrenten Englands, und kein
besseres Mittel für England gäbe es, uns endgiltig aus dem Jangtsegebiet zu ver¬
drängen, als wenn uns Kiautschou, unser ostasiatischer Stützpunkt, verloren ginge.
England wird also zum Kriege hetzen, und wer will die Verantwortung dafür
übernehmen, daß Japan den englischen Verlockungen, wozu Wohl eine Teilung
Chinas gehören wird, auf die Dauer widersteht? Wollen wir also nicht wie Ru߬
land von den Ereignissen überrascht werden, so müssen wir mit der Möglichkeit,
ja Wahrscheinlichkeit rechnen, daß der nächste Angriff Japans unsrer Stellung in
Ostasien gilt.
Und wie sehr muß die Hilflosigkeit unsrer dortigen Lage Japan zu einem
solchen Angriff auffordern! Welcher Art sind denn die Mittel, die uns dort zu
Gebote stehn? Japan kann in der kürzesten Zeit eine starke Flotte und beliebig viele
Landtruppen nach Schenkung werfen: was haben wir dem gegenüberzustellen?
Unser kleines Kreuzergeschwader ist natürlich in keiner Weise der japanischen
Seemacht gewachsen; sogar unsre Brandenburgdivision würde dazu nicht genügen,
wenn sie noch in Ostasien wäre. Neuerdings ist ja der Plan aufgetaucht, Kiautschou
zu befestigen, um es gegen einen Handstreich von der See her zu schützen. Dieser
Zweck mag dadurch erreicht werden, aber Japan gegenüber sind wir dadurch uicht
gesichert. Auch Port Arthur hat sich nach der See hin gehalten und ist doch vom
Lande aus genommen worden. Unendlich leichter noch ist ein Landangriff auf
Kiautschou: Japan braucht nur unter dem Schutze seiner weit überlegnen Flotte
irgendwo auf chinesischem Gebiete, etwa in Wei-hai-wei oder Tschifu, genügend
Truppen zu landen, um unsre kleine Besatzung, die dann zu Land und zur See
eingeschlossen ist, mit leichter Mühe zu bewältigen. Oder glaubt jemand, daß
Japan in einem solchen Falle das neutrale chinesische Gebiet mehr respektieren werde,
als es dies mit dem ebenso neutralen koreanischen im gegenwärtigen Kriege getan
hat? Ist dann die Stadt genommen, so ist auch unser Kreuzergeschwader end¬
giltig verloren, und alle diese Ereignisse werden sich abgespielt haben, ehe eine
deutsche Entsatzflotte auch nur in die Nähe des Kriegsschauplatzes gelangen könnte.
Man erinnere sich nur, wie bei den Chinawirren im Jahre 1900 erst nach der Ein¬
nahme Pekings, zwei bis drei Monate nach dem Beginn der Feindseligkeiten, unsre
Entsatzschiffe und -truppen in Tatu eintrafen. Es würde also, wenn man überhaupt
an die Behauptung von Kiautschou denkt, unbedingt notwendig sein, schon vorher
eine genügend starke Flotte dort zu haben, um jeder japanischen Landung durch
rechtzeitige Offensive vorbeugen zu können. Daß diese Flotte neugebaut werden
muß und nicht etwa zum Teil unsrer für andre Zwecke bestimmten heimischen
Schlachtflotte entnommen werden darf, versteht sich von selbst. Sie würde dagegen
als Ersatz für die 1900 vertagte Verstärkung unsrer Auslandsflotte dienen können.
Die Stärke dieser Flotte für Kiautschou müßte nach der jeweiligen Stärke der
japanischen Flotte bemessen werden, müßte dieser überlegen sein und auch eine ge¬
nügende Materialreserve haben, da gerade der gegenwärtige Krieg die Not¬
wendigkeit einer solchen mit der größten Klarheit gezeigt hat. Nach der jetzigen
japanischen Seestärke wären also mindestens nötig: sechs moderne Linienschiffe von
je 15000 Tonnen und zwei als Materialreserve, sowie mindestens dieselbe Zahl
Panzerkreuzer von je 10000 Tonnen, dazu fünfzehn geschützte Kreuzer (und fünf
als Reserve) von je 3000 bis 5000 Tonnen, etwa zwanzig Torpedobootszerstörer
(dazu fünf als Reserve), sowie neunzig Torpedoboote erster bis dritter Klasse (dazu
zehn als Reserve). Bei einer Verstärkung der japanischen Marine nach dem Kriege
müßte natürlich unsre Schutzflotte entsprechend verstärkt werden; zunächst bietet uns
aber der gegenwärtige Krieg die Möglichkeit, sie in der ausgeführten Stärke zu
bauen. Auch England könnte gegen eine solche Verstärkung unsrer Marine nichts
einwenden, da diese nur zum Schutz unsrer ostasiatischen Besitzungen bestimmt ist,
die in Europa stationierte Flotte also nicht vermehrt wird. Die Kostenfrage darf
uns nicht abhalten, das Notwendige zu tun. Denn abgesehen davon, daß unser
jetziges Geschwader in Ostasien mit drei großen und zwei kleinen Kreuzern sowie
die 1900 in sichere Aussicht gestellte Vermehrung unsrer Auslandsflotte um sechs
große und sieben kleine Kreuzer schon den gesamten Bedarf an großen und die
Hälfte der kleinen Kreuzer decken würde, ist auch schon auf dem Dresdner Flotten¬
vereinstag eine Vermehrung unsrer Schlachtflotte um zehn Linienschiffe, einen großen,
acht kleine Kreuzer und sechsundfünfzig Torpedoboote gefordert worden, was etwa
dem Nest unsrer Schutzflotte (acht Linienschiffe, zehn kleine Kreuzer und hundert-
fünfundzwanzig Torpedoboote) entsprechen würde. Der Bau der notwendigen Schiffe
würde also durchaus keine übermenschlichen oder unerhörten Anstrengungen ver¬
langen; sieht man von jeder Aufrechnung ab, so kosten acht Linienschiffe etwa
200 Millionen Mark, acht Panzerkreuzer 160 Millionen, zwanzig kleine Kreuzer
120 Millionen, hundertfünfundzwanzig Torpedoboote etwa 130 Millionen, alles
in allem also rund 600 Millionen Mark. Als Anleihe zu 3^ Prozent und so
amortisiert, daß die Schuld getilgt ist, wenn die veralteten Schiffe durch neue ersetzt
werden müssen, bedeutet dies eine jährliche Mehrbelastung des Reichsbudgets von
durchschnittlich 35 Millionen Mark. Niemand wird zu behaupten wagen, daß das
Deutsche Reich diese Summe nicht aufbringen könne als Versicherungsprämie für
seine Handels- und sonstigen Interessen in Ostasien und als einziges Mittel, einen
langen, blutigen und verlustreichen Krieg zu verhüten.
Wie sich falsch angebrachte Sparsamkeit rächt, haben wir an Südwestafrika
hoffentlich genügend gesehen; würden wir jetzt in Ostasien die Kosten scheuen, so
würden uns ungeheuer viel größere Kosten an Geld und Blut bevorstehn, und
noch dazu ohne Erfolg. Denn ist Kiautschou, unser Stützpunkt, einmal verloren,
so sind wir in einer ebenso schwierigen Lage wie Rußland nach dem Falle von
Port Arthur, wenn wir etwa mit einer später ausgesandten Entsatzflotte, die uns
ebenso wie jetzt Rußland die heimische Seegeltung kosten würde, die japanische See¬
herrschaft brechen wollten. Daß uns aber schon wenige Kriegswochen mehr kosten
werden als jetzt der Bau einer Schutzflotte, daran ist nicht zu zweifeln. Daß uus
der Bau einer solchen Flotte aber noch andre Vorteile bringen wird, wie zum
Beispiel eine Entlastung unsrer heimischen Flotte (schon einmal mußten wir von
dieser eine Division nach Ostasien senden), eine machtvolle Stellung im Stillen Ozean
und damit auch die Aussicht auf Verbündete, wobei an Frankreich und die Ver¬
einigten Staaten zu denken wäre, dies nur nebenbei. Die Hauptsache bleibt der
Schutz Kiautschous und unsrer Interessen in China, der nur auf diese Weise ohne
unermeßliche Opfer nu Gut und Blut erreicht werden kann. ViSe-me oonsulss!
Von der Sammlung: Kulturprobleme
der Gegenwart, die Leo Berg herausgibt, sind uns zwei weitere Bändchen
zugegangen. Der Idealstaat von Dr. Eugen Heinrich Schmitt (Berlin,
Johannes Rabe, 1904) ist eine Geschichte der Utopien, denen auch die Ideale der
Bodenreformer, der Zivilisten und Franz Oppenheimers beigezählt werden. Der
Jesuitenstaat Paraguay wird beschrieben, weil der Verfasser glaubt, in ihm sei das
soziale Ideal der römischen Kirche verwirklicht gewesen, was nicht ganz stimmt, da
uicht einmal die Jesuiten, geschweige denn alle angesehenen katholischen Theologen
geglaubt haben, daß sich die Völker Europas jemals wie südamerikanische Indianer
würden behandeln lassen. Sachlich erfahren wir von Schmitt nichts neues, aber
sein Buch ist dennoch interessant, weil er den Utopismus von seinem gnostischen
Standpunkt aus beurteilt, den wir bei Besprechung seiner „Gnosis" im vierten
vorjährigen Hefte dargelegt haben. Zwar sieht er im kirchlichen Christentum das
Gegenteil und den Erzfeind der Gnosis Jesu, im Liberalismus und im Kommu¬
nismus, die die Zwingburg der Geister untergraben, Fortschrittsmächte, aber Positives,
den wirklichen Idealstaat, vermag nach ihm keine der beiden zu schaffen, weil auch
sie dem Materialismus, „der Tierheit" verfallen sind. Der Liberalismus kennt
nicht die wahre Würde der menschlichen Persönlichkeit, ihre göttliche Natur. Ihm
sind die Individuen nur elende Nullen im unendlichen Universum, oder im besten
Falle raffinierte Bestien, die sich im Kampf ums Dasein balgen. Darum sind die
Freiheit und die Brüderlichkeit, die er verkündigt, nur Illusionen. Dasselbe gilt
von der Sozialdemokratie, die nur äußerliche Fesseln kennt, während in Wirklich¬
keit „der Materialismus der Weltanschauung die große Sklavenkette ist, die die
Menschheit seit Jahrtausenden mit sich schleppt." Der allergrößte ihrer Irrtümer
besteht in Marxens materialistischer Geschichtskonstruktion. Weit entfernt davon,
daß die Ideen bloße Spiegelbilder wirtschaftlicher Verhältnisse sein sollten, sind
diese, sind sogar die Bedürfnisse des Kulturmenschen ein Produkt der Denktätig¬
keit, die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse ein Erzeugnis des mathema¬
tischen Denkens. Und nachdem der Verfasser das Utopische aller Utopien ganz
vortrefflich nachgewiesen hat, bereitet er uns die reinste Heiterkeit durch die aller-
lustigste aller Utopien. Die Vernunfterkenntuis wird uns ins Paradies führen —
durch das mathematische Denken. Wenn wir ihn recht verstehn, soll uns die
Infinitesimalrechnung erlösen. Vielleicht erfahren wir aus dem versprochnen zweiten
Teile seiner „Gnosis" genauer, wie er sich die Sache denkt.
ist ein ehrlich radikaler Jude, dessen Buch: Das Wesen des
Judentums (Berlin, Leipzig, Paris, bei Hüpeden und Merzyn, 1905) seinen
Glaubens- und Stammesgenossen so schlecht gefallen hat, daß ihm, wenn die Zei¬
tungen wahr berichtet haben, der Berliner Synagogenvorstand sein Amt als
Bibliothekar entzogen hat. Er verwirft bei Erörterung der Fragen, welches die
Ursache der schlimmen Lage der Juden sei, und wie sich ihr Volkstum erhalten
konnte, die „transzendente" Erklärung sowohl der Talmudjuden, die Gottes Erwählung,
wie die der Reformjuden, die die Roheit und Schlechtigkeit der Wirtsvölker als
Ursache angeben. Fromer ist überzeugt, daß die Ursache immanent sei. d. h. in
den Juden selbst liege, in ihrer Eigentümlichkeit, die darin bestehe, daß sie von
den drei Trieben, deren harmonische Entwicklung den Vollmenschen ausmache, dem
logischen, dem ästhetischen und dem ethischen, nur den letzten ausgebildet hätten. Aus
ihm seien die Gesetzesreligion, das Zeremouienwesen und die spitzfindige Kasuistik
der Juden hervorgegangen, was alles zwischen ihnen und den Völkern eine Scheide¬
wand aufgerichtet und so die Erhaltung ihrer Nationalität in der Zerstreuung be¬
wirkt habe, die wie ein Wunder aussehe. Die einzige Lösung der Judenfrage
würde darin bestehn, daß die Juden ihre Eigentümlichkeit aufgaben und mit den
Wirtsvölkern verschmölzen. Das werde freilich nicht so bald geschehen können, weil
im Osten Europas die Zahl der Juden so groß ist, daß ihre Masse von den Wirts¬
völkern nicht verdaut werden kann. Das Buch enthält viel Wahres, zum Beispiel
daß sich die Juden an jede Bewegung des modernen Geistes anhängen und sie
dadurch zugrunde richten, aber es ist zu grob naturalistisch, als daß es völlig wahr
sein könnte. Wir wenigstens glauben an die transzendente Ursache der eigentüm¬
lichen Schicksale des Judenvolks, an den Gott, der es zu seinem Werkzeuge erwählt
hat. Und in andrer Beziehung ist der Verfasser wieder zu wenig materialistisch,
da er die wirtschaftlichen Verhältnisse gar nicht erwähnt, die wirklich eine große
Rolle in allen Judenfrngen gespielt haben.
selbst hat in diesem Jahre (bei Hüpeden und Merzyn) zwei starke
Bände — nicht als Nummern der Kulturprvbleme — veröffentlicht: Deutsche
Märchen des neunzehnten Jahrhunderts; eine Sammlung, die vierzehn Märchen
von Wieland, Goethe, Novalis, Ernst Moritz Arndt usw. enthält, mit einer Ein¬
leitung über das Wesen und die Berechtigung des modernen Märchens, und eine
Sammlung von Zeitschriftenaufsätzen unter dem Titel: Aus der Zeit — gegen
die Zeit. Er teilt diese Essays in drei Gruppen. Unter den „Charakteren und
Werken" finden wir auch Theodor Duimchen, den frühern Kaufmann, der seine
schriftstellerische Laufbahn in den Grenzboten begonnen hat. Berg rühmt ihn als
einen Meister in der Kunst des Erzählens. Außerdem bespricht er u. a. Grabbe,
Lenau, Raabe, Gorki. Er ist glücklich im Treffen gut charakterisierender Ausdrücke,
wie wenn er Emerson einen überzuckerten Puritaner nennt. Die zweite „Literatur
und Literaturmache" überschriebne Gruppe enthält u. a. eine Abhandlung über den
Aphorismus, in der Nietzsche bloß als Meister in dieser Kunstform gewürdigt wird,
dann über die politische Komödie, über das Publikum, „Zur Psychologie des Plagiats"
und über Bölsches „Liebesleben in der Natur." Diese Abhandlungen rechtfertigen
alle die Sonderaufgabe durch Gedanken, die der Aufbewahrung wert erscheinen.
In der zuerst genannten heißt es: „Die beiden Komödien von Sudermann (Sturm¬
geselle Sokrates) und Rosenow (Kater Lampe) sind schwach und unbedeutend; jene
vielleicht, weil der Autor nichts mehr kann, diese, weil ihr inzwischen verstorbner
Autor noch nichts Rechtes gekonnt hat. Sudermann hat möglicherweise in seinen
guten Tagen eine Intuition gehabt: was ist unser Liberalismus für ein dankbarer
Stoff für einen Komöden! Er glaubte eine politische Komödie zu schreiben, indem
er ein paar Idioten und ihre Albernheiten auf die Bühne brachte." Unser heutiges
Publikum, das die Künstler verdirbt und tyrannisiere und zur Strafe dafür das¬
selbe von ihnen erleidet, wird in Gegensatz gestellt zu dem aristokratischen Kunst¬
publikum früherer Zeiten, in denen gute Kunst und erfolgreiche Kunst zusammen¬
fiel. In dem Aufsatz über das Plagiat wird eine hübsche Anekdote erzählt.
Gymnasiasten bekommen als Aufsatzthema: den Inhalt eines Gedichts von Schiller
in Prosa und nicht mit den Worten des Dichters wiedergeben. Ein Junge, der
es nicht übers Herz bringt, seinen Lieblingsdichter zu mißhandeln, schreibt das
Gedicht einfach ab und erklärt: besser machen konnt ichs nicht, schlechter machen
wollt ichs nicht, und bekommt für diese Frechheit zwei Stunden Kärzer. Von
Wilhelm Bölsche hat der Rezensent nur Kleinigkeiten gelesen und daraufhin ge¬
legentlich einmal in den Grenzboten geäußert, daß er ihm zwar nicht als Natur¬
philosophen aber als Poeten des Darwinismus ganz gern einmal begegne. Nach
dem, was Leo Berg über das vielgelesene Buch dieses Poeten berichtet, müssen
wir das in jener Äußerung enthaltne Lob zurücknehmen; nach diesem Bericht ist
Bölsche gemein und sonst nichts. Berg wundert sich darüber, daß sich Häckel diesen
Bölsche als Jünger und Ruhmesherold gefallen lasse. Als Philosoph habe sich ja
Häckel auch blamiert, aber er schreibe wenigstens sauber, „besonders solange er sich
auf dem festen Boden der Naturwissenschaft befindet." In der dritten „Fragen"
überschriebnen Gruppe werden u. a. die Judenfrage und der heutige Größenwahn
behandelt. „Die Träume moderner Techniker grenzen ans Irrsinnige, und die
Unternehmungen der Kapitalisten scheuen vor keinem Verbrechen mehr zurück."
Philanthropen, Juristen, Polizeibeamte, Psychologen, Physiologen,
Volkswirte, Patrioten und — spekulative Literaten haben in den letzten Jahrzehnten
den Vagabunden und den Verbrechern so eingehende Studien gewidmet, daß man
kaum erwarten darf, über den Gegenstand noch etwas Neues zu erfahren. Wenn
wir trotzdem von einem neuen Buche dieser Gattung Notiz nehmen (Auf der
Fahrt mit Landstreichern. Aus dem englischen IiamxinA vnd. Ir^mxs von
Josias Flynt von Lili du Bois-Reymond. Berlin, I. Guttentag, 1904), so
geschieht es, weil der Verfasser eine von der herrschenden abweichende Ansicht von
den Verbrechern gewonnen hat, weil das amerikanische Vagabundenleben einige von
dem europäischen abweichende interessante Züge aufweist, und weil die Sache ein
wenig mit der Politik zusammenhängt. Der Verfasser hat nämlich seine Arbeiten
dem Gesandten der Vereinigten Staaten in Berlin übersandt, und dieser hat ihm
in einem Briefe gedankt, worin die ungehinderte Zunahme der Verbrechen in
Amerika beklagt und dann bemerkt wird: „Dieser Zustand ist den verbrecherischen
Klassen von Europa so wohlbekannt, daß sie die Vereinigten Staaten als einen
guten Jagdgrund betrachten und immer zahlreicher dorthin gehn, zum Schaden
unsers Landes und all dessen, was uns darin am teuersten ist." Die Einwcmdrung
ist ja aus diesem Grunde schon längst stark eingeschränkt worden, aber es könnte
Wohl sein, daß Flynts Buch zur Begründung weiterer Einschränkungen benutzt
würde, und daß sich auch die englische Bewegung für eine Grenzsperre darauf
stützte. Flynt will als Berliner Student durch das Studium der Parasiten in
den wissenschaftlichen Laboratorien auf den Gedanken verfallen sein, das Verbrechen
und das Stromerleben auf der Walze zu studieren. Aber wenn es wahr ist, was
die Übersetzerin schreibt, daß er zehn Jahre lang als Tramp gelebt hat (größten¬
teils in Nordamerika, doch hat er auch Studienfahrten in Deutschland, England
und Rußland unternommen), und wenn man in der Beschreibung seiner Fahrten
vernimmt, wie vertraut er mit den Pennbrüdern gelebt hat, in ganz Nordamerika
als Zig (Zigarette war sein Trampname) bekannt, wie er es zur Virtuosität im
Betteln und im schwindeln gebracht hat und lügen kann, daß sich die Balken
biegen, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß es nicht reiner Wissens¬
durst, mit Patriotismus verbunden, gewesen ist, was ihn auf die Landstraße geführt
hat, sondern daß einige Tropfen Vagabundenblut in seinen Adern einen kräftigen
Zug ausgeübt haben.
Von den Eigentümlichkeiten des amerikanischen Stromerlebens wollen wir nur
zwei erwähnen. Der Prozentsatz der Knaben vom zehnten Lebensjahr aufwärts ist
drüben unter den Stromern bedeutend. Das ließ sich bei der Ungebundenheit des
amerikanischen Lebens, bei der Weiträumigkeit des Landes, bei der Mangelhaftigkeit
der Polizei und dem Selbstbewußtsein und der Selbständigkeit der dortigen Jugend
von vornherein vermuten. Flynt unterscheidet drei Hauptklassen der vagabundierenden
Jungen. Die auf der Landstraße gebornen Kinder verfallen selbstverständlich
rettungslos dem Stromertum, dem Laster und dem Verbrechen, wenn sie nicht ein
früher Tod davor bewahrt, was ja glücklicherweise bei den meisten der Fall ist.
Andre werden durch die häusliche Not auf die Straße getrieben oder wohl anch
von den Eltern gezwungen, durch Hausierer, Betteln oder Stehlen Geld zu er¬
werben. Die Zahl dieser Unglücklichen ist nach Flynts Wahrnehmung nicht so groß,
als die Philanthropen anzunehmen geneigt sind, und wo der Fall vorkommt, trägt
gewöhnlich ein Trunkenbold von Vater die Schuld. Viel größer ist die Zahl der
Verlockten, und die Verlockung wird systematisch betrieben. Der Tramp verschafft
sich gern einen Sklaven, indem er in einer großen Stadt, am liebsten in Newyork,
gleich dem Rattenfänger von Hcuneln, Jungen um sich versammelt und ihnen das
Lied von der goldnen Freiheit vorpfeift. Manche sind so geschickt im Erzählen
von amüsanten Abenteuern, daß sie die Jungen zu wahrer Begeisterung hinreißen.
Jndtanergeschichten und Gerichtsverhandlungen wirken kräftig mit. So hat sich
eine förmliche Lehrlingschaft gebildet. Der Lehrling wird von seinem Meister zu
allem möglichen und unmöglichen gemißbraucht und selbstverständlich auch gemi߬
handelt. Fühlt er sich befähigt, auf eigne Faust durchzukommen, so entläuft er
seinem Tyrannen und sucht sich selbst einen Lehrling, an den er die empfangner
Prügel mit Zinsen weiterzahlt. Als eine Unterart können die vom Wanderfieber
befallnen Jungen bezeichnet werden, deren es ja auch bei uns gibt. Kehren sie
zurück, so werden sie gewöhnlich hart gezüchtigt; das verleidet ihnen dann, besonders
wenn es wiederholt geschehen ist, das Elternhaus so, daß sie auf der Walze bleiben.
Dem Verfasser ist ein Fall vorgekommen, wo der Junge, ein Sohn wohlhabender
Eltern, so oft er zurückkehrte, jedesmal liebevoll aufgenommen wurde. Das Wander-
sieber ging vorüber, und es erschien ihm später unbegreiflich, wie er so dumm habe
sein können. Gewinnendes Aussehen erleichtert dem kleinen Vagabunden sehr das
Fortkommen. In Denver lernte Flynt einen schönen Jungen kennen, der täglich
drei Dollar einnahm. Er stellte sich an Läden auf, wo Damen verkehrten, und
bettelte diese an.
Eine zweite Eigentümlichkeit Amerikas besteht darin, daß seine Vagabunden
ganz allgemein auf der Eisenbahn fahren, und zwar meist in den Güterwagen und
fast immer umsonst. Die Bahnbeamten dulden sie und helfen ihnen. Auf seiner
ersten Stromerfahrt, die acht Monate dauerte, hat Flynt, wenn er nicht aufschneidet,
über zwanzigtausend Meilen mit der Bahn zurückgelegt, und nur zehnmal ist Be¬
zahlung von ihm verlangt worden, die er in Waren: Tabak, Messern, Halstüchern
leistete; einmal mußte er mit dem Schaffner die Schuhe tauschen. Ein energischer
Bahndtrektor hat die Linien seiner Gesellschaft von dem Gesindel befreit, das
natürlich in den Güterwagen gelegentlich auch Diebstähle verübt, und Flynt auf
eine Inspektionsreise geschickt, die er als Tramp unternehmen mußte, um darüber
zu berichten, in welchem Maße die Reinigung durchgeführt sei. Flynt glaubt, daß
die Stromerei gewaltig abnehmen würde, wenn alle Eisenbahnen die blinden Passa¬
giere abschüttelten, denn diese seien schon so verwöhnt, daß ihnen lange Fußreisen
kein Vergnügen mehr machen würden. Jedenfalls würde der jetzt sehr lebhafte
Saisonverkehr zwischen den weit entfernten Gebieten des ungeheuern Landes, zum
Beispiel der Winteraufenthalt im Süden, der Wechsel zwischen Newyork und „Frisco"
aufhören, denn das alles würde dann unmöglich sein.
Was nun endlich den Verbrecher anlangt, so behauptet Flyut, die Gefängnis¬
beamten lernten ihn niemals wirklich kennen, und ebensowenig Gelehrte wie Lom-
broso, die ihn im Gefängnis studierten. Nur in der Freiheit sehe man sein wirk¬
liches leibliches und seelisches Gesicht. Geborne Verbrecher gebe es, aber sie seien
selten; auch die Gelegenheitsverbrecher und die Verbrecher aus Not seien nicht sehr
häufig. Die bei weitem zahlreichste Klasse sei die der Berufsverbrecher. Der Berufs¬
verbrecher sei in keinem Sinne ein minderwertiger Mensch, sondern ein Bursche
oder Mann von normaler leiblicher und geistiger Gesundheit und mehr als mittel¬
mäßiger Begabung. Der Lumpenproletarier bleibe in seinem Elend, das er nicht
als Elend empfinde, worin er sich im Gegenteil so wohl fühle, daß er um keinen
Preis den Anstandszwang der wohlhabenden Klassen dafür eintauschen möchte. Ver¬
brecher werde der begabte Proletarier, dem das Proletarterdasein nicht genüge,
und der keinen andern Weg sehe, aus ihm Hinauszugelangen. Stunde ihm ein
andrer Weg offen, so würde er diesen vorziehn. Er ist gewöhnlich ein kluger,
erfindungsreicher, energischer Mensch von starkem Körper und guter Gesundheit,
dem, wenn er in einem anständigen Anzüge stecke, kein Mensch den Verbrecher an¬
sehe; die von Lombroso angegebnen körperlichen Kennzeichen seien alle falsch. Den
„Verbrecherblick" eigne er sich erst im Gefängnis an, und der sei nicht ihm allein
eigen, denn alle, die mit ihm zu tun haben: Poltzetbeamte, Gefängnisbeamte, seien
damit behaftet. Auch von moral lo.Sö,me^, die allerdings vereinzelt vorkomme, könne
im allgemeinen nicht die Rede sein. Im Gegenteil habe er lebhafte und feine
moralische Gefühle und habe sogar zwei Moralen. Die eine in Beziehung auf die
Gesellschaft. Dieser habe er den Krieg erklärt. Er sei entschlossen, sie zu schädigen,
soweit es sein Interesse fordert, erkenne aber auch ihr Recht an und betrachte die
Strafe, die er erleidet, wenn er erwischt wird, als gerechte Vergeltung. Einen
Mord begehe er nur im Notfall und nicht gern. Daß er dafür den Tod verdiene,
wisse er und wundre sich darüber, daß manchmal sehr schwere Verbrechen sehr milde
bestraft werden. Gegen seine Kameraden — das ist die andre Moral — übe er
alle Tugenden; er sei mitleidig, freigebig, hilfbereit, treu und wahrhaft; auch tue
es ihn, sehr leid, wenn er nach verübtem Diebstahl oder Raub erfahre, daß er sich
in der Person geirrt habe, und daß der Beraubte bedürftiger sei als er selbst.
Ostere und längere Gefängnishaft breche ihn körperlich und geistig. Habe er solche
durchgemacht, so verzweifle er am Erfolg und werde ein Strömer. Flynt sieht
darin einen Fingerzeig für die Strafjustiz. Nicht die humane amerikanische Theorie
sei die richtige, sondern die alte Abschreckungstheorie. Die Gesellschaft müsse die
Kriegserklärung des Verbrechers annehmen und ihm zeigen, daß sie stärker sei als
er, dann werde er beizeiten am Erfolg verzweifeln und zu Kreuze kriechen. Flynt
scheint nicht zu wissen oder nicht daran zu denken, daß der Diebstähle in England
nicht zu der Zeit, wo mau jeden Dieb hängte, den man erwischte, weniger geworden
sind, sondern erst, nachdem man von dieser barbarischen Praxis abgekommen war.
Wie weit seine neue Naturgeschichte des Verbrechers zutrifft, können wir leider bei
unsrer Unbekanntschaft mit dieser Klasse von Lebewesen nicht beurteilen.
Dieses Berliner Couplet schwebt einem im
Orient beständig auf der Zunge. Es fehlt nämlich an Stühlen. Man setzt sich
hier auf die Erde oder auf den Diwan — man setzt sich überhaupt nicht immer.
Ich entsinne mich noch, wie ich einmal an einem warmen Frühlingstage mit zwei
Griechen aus Stambul durch die Straßen von Athen spazierte. Da fiel es mir
auf, daß sich meine beiden Begleiter aller Augenblicke, wo ein schattiges Plätzchen
war, niederkauerten, um ein wenig auszuruhn. Sie hockten auf der Erde, indem
sie auf ihren Fersen saßen, flaua» eoeeoloui, wie der Italiener sagt; und verharrten
eine Weile in dieser Stellung. Ich blieb neben ihnen stehn — hätte ich eine
Bank gefunden, so hätte ich mich gesetzt, aber das bloße Kauern und Höcker wäre
mir beschwerlich gefallen. ' Ist denn kein Stuhl da? — summte ich vor mich hin.
Ach, eine solche Sitzgelegenheit gab es kaum in den Häusern.
Ich war noch ein Neuling im Orient: alsbald wurde ich gewahr, daß die
Hellenen, nicht gerade die wohlhabenden Stände in Athen und in den größern
Städten, aber die Landbewohner, auch bei ihren Mahlzeiten kauerten. Sie hockten
wie meine beiden Freunde oder saßen mit untergeschlagnen Beinen an einem runden
Tischchen. Das war schon deshalb nötig, weil dieses Tischchen sehr niedrig und
keinen halben Meter hoch war. Ist denn kein Stuhl da? — Gott bewahre, sogar
in den Herbergen oder Charis findet man gewöhnlich bloß hölzerne Bänke oder
den langen, einförmigen Diwan, den sie Kanapee oder Sofa nennen. Das ist
türkische Sitte, denn in alter Zeit hatten die Griechen Stühle so gut wie wir.
Sie hießen Throne. Ein fremder König betritt das Haus des Odysseus auf
Ithaka: Telemach eilt dem Ankömmling entgegen, nimmt ihm den Spieß ab und
stellt ihn in den Spießständer, dann führt er den Gast zu einem Throne, über
den er eine Decke wirft, und bittet ihn Platz zu nehmen. Derselbe Telemach kommt
»ach Pylos, um dem greisen Nestor einen Besuch zu machen: er trifft den alten
Herrn draußen am Strand und begibt sich mit ihm ins Schloß, wo Throne und
Lehnstühle reichlich vorhanden sind. Auch bei der Mahlzeit sitzen die Gäste im
homerischen Zeitalter; später taten das nur noch die Frauen und die Kinder, die
Männer lagen ans der Kulte.
Aber die Türken, die Türken haben die Stühle abgeschafft; denn sie sitzen
nicht ordentlich. Sie kauern am liebsten den ganzen Tag auf ihren Polstern,
Tabak rauchend und Kaffee trinkend. Kommt man zu ihnen, so wird man auf den
Diwan genötigt, der die Wände entlang läuft, und dessen Lehne mehrere Kissen
bilden, sodaß es allerdings aussieht, als ob einzelne Polsterstühle dicht aneinander
in einer Reihe stünden; aber auf dem Diwan sitzen sie wieder mit untergeschlagnen
Beinen, die roten Babuschen vor sich, wie die Schneider auf ihrem Schneidertische.
Auch die Frauen sitzen in ihren Gemächern nicht anders, bis nach Ägypten hin;
ja Ärzte, die diese Zustände genan kennen, sind geneigt, die allgemeine Anämie der
Frauen im Orient darauf zu schieben, indem das ewige Höcker und Sitzen mit
untergeschlagnen Beinen den Kreislauf des Blutes behindre. Sogar von Japan
wird etwas ähnliches behauptet. In Asien sind es nur die Chinesen, die auf
Stühlen sitzen; die Japaner hocken ebenfalls mit untergeschlngnen Beinen, sie hocken
auf Matten. Man will nun wissen, daß der kleine Wuchs der Japaner mit dieser
Sitte zusammenhänge, weil sie die Zirkulation und damit das Wachstum der
Glieder hemme. Erst neuerdings hat man in den japanischen Schulen Bänke ein¬
geführt; seitdem sollen die Beine der Japaner fünf bis sechs Zentimeter länger
geworden sein, sodaß sie nun schon bis nach Port Arthur reichen.
Ob das steife, zeremonielle Hochsitzen mit herabhängenden Beinen gesünder sei
als das Höcker auf der Erde, will ich dahingestellt sein lassen — auf die Dauer
ist alles Sitzen schädlich, und die sitzende Lebensart mit Recht bei allen Hygienikern
verrufen. Man muß sich Wundern, wie es die Leute bei uns in Gesellschaften und
Vereinen aushalten können, stundenlang um den Tisch herumzusitzen, ohne sich zu
rühren. Jedenfalls aber ist der Erdboden unser erster Sitz gewesen: ursprünglich
setzen und legen sich alle Menschen auf die Erde, wie das noch die Kinder tun.
Auch die alten Griechen werden einmal eine Zeit gehabt haben, wo sie es machten
wie die Türken, von den Urmenschen in den hohlen Bäumen gar nicht zu reden.
Das Höcker und Kauern kann nicht unnatürlich sein, wenn es auch noch kein
richtiges Sitzen ist, denn dazu gehört, daß der Körper auf dem natürlichen Fett¬
polster wie auf einem elastische» Kissen aufruht; die Affen sieht man gewöhnlich in
dieser Stellung, und die Vögel nehmen sie sogar ein, wenn sie schlafen, indem sie
sich auf die eingeschlagnen Füße niederlassen und den Kopf in die Federn stecken.
Auf der bloßen Erde zu sitzen und entweder die Beine zu kreuzen oder sie aus¬
zustrecken, se nuztti's 6n son «Haut,, wie der Franzose sagt, ist vollends das aller-
natürlichste.
Das erste, was dann folgt, ist, daß sich die Menschen eine Unterlage schaffen:
eine Matte oder einen Teppich. Sobald diese künstlichen Gewebe eingeführt sind,
setzt man sich nicht mehr auf die unbekleidete Erde, sondern dann wird, wo eine
Bedeckung fehlt, gekauert. Das ist der Unterschied zwischen einem Neger und dem
fortgeschrittnen Asiaten: eine Negerfamilie in Ostafrika setzt sich beim Essen einfach
auf den Erdboden um den dampfenden Maisbrei herum. Der Türke breitet einen
Teppich aus, auch auf dem Fußboden eines Innenraums. Aber immer noch sitzt
er auf der Erde, wie ein Kind auf dem Mutterschoße. Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß sich die Menschen nicht von Anfang an ebenfalls gelegentlich hätten
hoch setzen können, wenn es ihnen gerade paßte; das Hochsitzen war nur noch nicht
obligat. Als Demeter atemlos ihre von Pluto entführte Tochter suchte, soll sie sich
auf einen Stein gesetzt haben, um auszuruhen: dieser Stein, der Trauerstein, wird
in Griechenland noch gezeigt. Es gibt viele solcher Steine: König Rother, der
Held einer altdeutschen Dichtung, hat Boten nach Konstantinopel gesandt, die für
ihn um die Kaisertochter werben sollen. Da sie gar zu lange ausbleiben, wird er
traurig und setzt sich auf einen Stein. Er sitzt drei Tage und drei Nächte auf
dem Steine, ohne etwas zu genießen und ohne ein Wort zu sprechen. Und Karl
der Große, der dem Roland zu Hilfe eilt, aber seine Paladine tot und die Nach¬
hut geschlagen findet, setzt sich in den Pyrenäen bei Roncevnl ans einen Stein und
weint. Er weint bitterlich; der Stein, auf dem Karl der Große geweint hat, ist
noch naß. Wohlbekannt ist die Legende von dem heiligen Gregorius auf dem Steine^
wonach der mittelalterliche Ödipus siebzehn Jahre lang ans einer Klippe ange¬
schmiedet saß, um Buße zu tun.
Aber allmählich wurde es eine Auszeichnung, auf einem solchen Stein zu
sitzen. Die Steine hatten etwas für sich, sie schienen den Inhaber zu erhöhen:
der erhabne Ruhesitz gab Würde, gab Autorität; keine offizielle Persönlichkeit, die
etwas auf sich hielt, durfte mehr auf der bloßen Erde hocken. Der König saß auf
seinem heiligen, mit Öl gesalbten Steine, wenn alles um ihn kniete und kauerte;
hoch und majestätisch saß er wie Nestor, in der Rechten den langen Stab, die
Füße auf einen vorgeschobnen niedrigen Stein gestützt, so oft er Audienzen erteilte
oder Huldigungen entgegennahm, namentlich so oft er Recht sprach. Und das Volk
hob ihn auf diesen Stein, wenn er König geworden war, zum Zeichen, daß er
über ihm schwebe und sein Herr sei — es inthronisierte seinen König wie in
Stuhlweißenburg, den Kiraly auf den Stuhl seiner Vorfahren erhebend.
Wir haben in Deutschland verschiedene Königs- und Kaiserstuhle, meist Basalte;
der berühmteste ist der am Rhein, unterhalb Rhens. Ein achteckiger, von alten
Nußbäumen beschatteter Rasenplatz, zu dem eine Treppe hinaufführt; rundherum
läuft eine gemauerte Bank mit acht Sitzen, die durch Steinplatten bezeichnet sind.
Hier versammelten sich die Kurfürsten von alters her, um über deutsche Retchs-
angelegenheiten zu beraten und um den König zu küren, der dann den Hochsitz
einnahm. Das Gebäude wurde erst nachträglich aufgeführt. Solche Königsstuhle,
oft bloß einfache Felskuppen, standen auch anderwärts, bei Heidelberg und im
Breisgau, in Schweden einer bet Upsala, in Schottland einer bei Edinburg
(Arthur's Seal); wahrscheinlich ist auch der sogenannte Altvater in den Sudeten
und der herrliche Gipfel auf der böhmischen Seite des Riesengebirges, der den
Namen Großvaterstuhl trägt, als ein alter Köntgsstuhl anzusehen. Die Götter
selbst ließ man auf solchen Steinen thronen: auf einen Berg steigt der Mensch,
wie das Kind ans einen Stuhl, um näher am Angesicht der unendlichen Mutter
zu stehn und sie zu erlangen mit seiner kleinen Umarmung.
In den römischen Basiliken, auf den wunderbaren Mosaiken der altchristlichen
Tribünen sieht man gewöhnlich das Lamm zwischen den sieben Leuchtern auf dem
mit Edelsteinen geschmückten Stuhle, vor dem die vierundzwanzig Ältesten ihre
Kronen niederlegen. Mitunter steht es auch aufrecht auf einem Berge, dem die
vier Paradiesesströme entspringen, wie der Apollo des Bathykles, der ebenfalls auf
seinem Throne stand.
Die Folge war, daß nun auch jedermann in seinem Interieur eines primitiven
Gestühls bedürfte, um den Austand zu wahren und der Familie zu imponieren —
und zwar nicht bloß der Vater, sondern der König selbst. Alle diese Stühle standen
ja draußen unter Gottes freiem Himmel, auf Anhöhen oder Wiesen vor den Toren,
oder wo man immer nach den alten Bräuchen tagte; nun man tagte doch nicht
fortwährend. Wie machten es nun die Menschen, wenn sie nach Hause kamen, um
auch hier einen Hochsitz einzunehmen und nicht auf der Erde zu liegen wie die
Hunde? Pah! Sie staffierten ihre Wohnung wieder mit Steinen aus, sie machten
es wie König Eduard der Erste, der den Krönungsstein der schottischen Könige,
den Saone, in seine Westminsterabtei schaffen ließ, um bei seiner eignen Krönung
darauf zu sitzen; oder wie die alten Deutschen, die in den Fensternischen Stein¬
barke und rechts und links von der Haustür einen Steinsitz anzubringen liebten.
Man sieht solche steinerne Sitze noch an alten Häusern, zum Beispiel an den alten
Predigerhäusern der Stadt Leipzig; in Florenz wird der Sasso ti Dante noch ge¬
zeigt, auf dem der Dichter vor seiner Verbannung zu sitzen pflegte. Aber wer
konnte immer gleich Berge versetzen und Felsblöcke in seine Höhle rollen, wie ein
Polyphem! Mein Gott, die Menschen nahmen überhaupt nur ausnahmsweise Steine,
sie hielten sich gewöhnlich an die Klötze. Sie gingen ins Holz, fällten einen Baum
und röteten den Stubben: den postierten sie an den Herd. Auf dem konnten sie
wieder sitzen und im Familienkreise thronen wie ein Götzenbild oder Wie ein Mikado.
In den norwegischen Bauernhäusern sieht man einen originellen Stuhl, den
sogenannten Kubbestol. Es ist ein massiver Lehnstuhl, der aus einem einzigen
Eichen- oder Rotbuchenstock besteht. Er hat keine Beine, weil der mächtige Stumpf
bis auf den Boden reicht; auch die Rückenlehne ist gleich den beiden Arnim ge¬
wachsenes Holz, der Sitz aus dem Ganzen herausgeschnitten, sodaß man sich gleich¬
sam in den Klotz hineinsetzt. Es ist noch ganz und gar der Baumstumpf, der
draußen im Walde steht, und der gewissermaßen schon den Ansatz zu einem Stuhle
zeigt, weil der Baum von zwei Seiten angehauen zu werden Pflegt; er ist der
Übergang zu unserm Bauernsessel, der herauskommt, sobald man ein Brett absagt
und auf vier Beine stellt. Wenn dann im Laufe der Zeit noch Kissen aufgelegt
und die Felle und die Decken, die bisher als Teppich auf dem Boden lagen,
darüber gebreitet werden, eine Sitte, die nachgerade zur Polsterung und zum Leder¬
überzuge führt: so entsteht allmählich das, was die Griechen als Thron bezeichnen,
und was wir, des Gestells wegen, das die Sitzplatte trägt, als Stuhl ansprechen.
Niemand ahnt Wohl, daß dieses alte deutsche Wort, das in den slawischen
Sprachen die Bedeutung eines Tisches und sogar die des Altars angenommen hat,
auch in dem französischen Fauteuil enthalten und in dieser Verkleidung nach
Deutschland zurückgekehrt ist. Die Soldaten führen jetzt Faltbote; noch älter sind
die Faltstühle, die wir mißbräuchlich Feldstühle benennen. Schon der kurulische Stuhl
der alten Römer war ein Faltstuhl, weil er zusammengelegt werden konnte; im
Mittelalter saß der Bischof nach seiner Inthronisation und bei allen Pontifikalieu
auf einem Faltstuhl, der keine Lehne hatte. Nun das althochdeutsche Valtestuol
wurde im mittelalterlichen Latein zu Faldistolium, und dieses lebt im italienischen
Faldistoro und eben in Fauteuil fort. Es ist der Sache nach dasselbe, was
die Franzosen jetzt ni> sißxo xliant nennen.
In den meisten Sprachen heißt der Stuhl einfach der Sitz, weil man nach
unsern Begriffen erst auf einem Stuhl ordentlich sitzt. Das bedeutet das griechische
Cathedra, das im englischen Chair, im französischen Chaise und in unserm
Katheder fortlebt; das bedeutet das Wort Thron selbst, das lateinische Solium
und das italienische Sedia. In England und Frankreich sagt man einfach: Bitte,
nehmen Sie einen Sitz (?ra?, kath a shal; ?rouW un sioAs, s'it vous M!t,)I>
Ursprünglich hat es in jeder Familie nur einen einzigen Sitz gegeben, der dem
Familienhaupte, dem Vorsitzenden zukam. Der Vorsitzende war der Chairman,
wie man in England sagt. Die übrigen Hausgenossen, die Knechte und die Mägde,
saßen auf Bänken, wie die Schüler auf den Subsellien, auf den die Wände ent¬
lang laufenden hölzernen Bänken, die die erste Sitzgelegenheit für die Familie
waren, und aus denen nachgerade der Diwan und das Sofa entstanden ist. Die
Bank ist, nach dem Orient zu urteilen, älter als der Stuhl, ein solcher wurde erst
nachmals abgesondert und für den Herrn als Ehrensitz hingestellt, während die
Knechte und die Mägde wie die Schüler auf der Bank verblieben.
Genau dieselbe Entwicklung, wie der Stuhl, hat auch das Bett gehabt; auch
dieses ist vom Erdboden aufgestiegen. Zunächst schlafen die Menschen wie die Land¬
streicher bei Mutter Grün; allmählich legen sie sich eine Decke oder eine Matratze
unter, liegen aber noch immer auf der Erde. Hierauf folgt der Diwan, der bei
Nacht die Stelle des Bettes vertreten muß und zum Schlafsofa wird: auf den
Polstern, auf denen er am Tage gesessen, lagert sich der Türke auch des Abends,
um zu schlafen; er behält sogar die nämlichen Kleider an. Zu einer Bettstelle hat
er sich noch nicht aufgeschwungen. Die Einzelbettstelle sondert sich erst vom Diwan
ab, wie der Stuhl von der Bank. Auch davon finden sich noch Spuren in Griechen¬
land: auch in wohlhabenden Häusern bekommt man hier das Bett auf dem Fu߬
boden gemacht, während schon die alten Griechen eigne hölzerne und bronzene Bett¬
stellen hatten. Ist denn kein Bett da? fragt der Ankömmling verwundert. So
>n einer Beurteilung der deutschen Sozialdemokratie und ihrer
positiven Leistungen für Gegenwart und Zukunft dürfte es von
Nutzen sein, an der Hand einer objektiven Darstellung festzu¬
legen, wie sich die parlamentarische Vertretung dieser Partei gegen¬
über der sozialpolitischen Gesetzgebung des Deutschen Reichs von
Anbeginn an verhalten hat. Wenn es unzweifelhaft richtig ist, daß jedes
sozialpolitische Gesetz, mag es auch noch so verbesserungsfähig sein, eine Ver-
vesserung der davon betroffnen Vevölkerungsteile gegenüber ihrer bisherigen
Lage bedeutet, so hätte folgerichtig die deutsche Sozialdemokratie für jedes dieser
Gesetze stimmen müssen, soweit nicht direkt politische Vorgänge in Frage kamen,
mit dem Vorbehalt, sich die Verbesserung dieses unzureichenden Gesetzes durch
immer von neuem wiederkehrende sachliche Vorschläge angelegen sein zu lassen.
Da die Möglichkeit nicht bestand und nicht besteht, den „heutigen Klassenstaat"
an einem Tage einzureihen, so hätte es für eine richtig operierende soziale Partei
in der Natur der Dinge gelegen, sich mit Abschlagszahlungen, auch mit den
kleinsten, zu begnügen und sie immer wieder zum Ausgangspunkt weiterer Be¬
strebungen zu machen. Tritt man von dieser Erwägung ausgehend der Frage
näher: Wie hat die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags zu allen den
Gesetzen usw. gestimmt, die seit der Errichtung des Norddeutschen Bundes und
des Deutschen Reichs in sozialpolitischer Beziehung zum Wohle der wirtschaft¬
lich schwachen erlassen worden sind? — so bekommt man bei objektiver Prüfung
doch ein recht eigentümliches Bild von der legislativen Betätigung der sozial¬
demokratischen Partei. Es sind im ganzen vom Jahre 1867 an bis zum
Schlüsse des Jahres 1904 einhundertfünfundzwanzig sozialpolitische Gesetze
erlassen worden, eine Zahl, die an sich Bände spricht, und die man sich gegen¬
wärtig halten muß bei dem Ausspruche des Staatssekretärs Grafen Posa-
dowsky, daß unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung der Unterbau fehle. In allen
übrigen europäischen Kulturländern wird man es wahrscheinlich kaum für
möglich halten, daß ein nicht einmal einheitlicher, sondern bundesstaatlicher
Organismus wie das Deutsche Reich binnen siebenunddreißig Jahren, innerhalb
deren es noch einen großen Existenzkrieg geführt hat, seine ganze innere
Organisation aufbaut, Heer und Flotte schafft, sein Münzwesen, sein Straf¬
recht, sein bürgerliches Recht und viele andre Dinge reformiert und dennoch
Zeit findet, eine solche Fülle von Gesetzen, die sich um die Zahl der nicht
zustande gekommnen noch bedeutend vermehren würde, allein auf dem Gebiete der
Sozialpolitik zu erlassen! Da viele dieser Gesetze sehr umfassender Natur sind
und einer mehrjährigen umfangreichen Vorbereitung bedurft haben, unter Enqueten
oller Art, so ist in dieser Zahl nicht nur die Fülle des Geschaffnen zu be¬
wundern, sondern vielleicht mehr noch die Fülle des Fleißes und der Arbeit,
die hatte vorangehn müssen, bevor die Vorlagen an den Bundesrat und an
den Reichstag gebracht werden konnten. Schon als Denkmal des Fleißes und
ber Arbeitskraft der mit der legislativen Vorbereitung betrauten Behörden und
Persönlichkeiten ist diese Zahl hundertfünfundzwanzig von bleibender historischer
Bedeutung. In diese Zahl eingeschlossen sind außer den Neichsgesetzen nur die
Verordnungen, die mit der Zustimmung des Reichstags vom Bundesrat erlassen
worden sind, also alles, was an positiven Vorschriften in sozialpolitischer Be¬
ziehung und überhaupt zum Wohle der wirtschaftlich schwachen unter Mit¬
wirkung des Reichstags zustande gekommen ist. Berücksichtigt sind dabei nur
die Gesetze, die die grundlegenden Vorschriften für die betreffenden Materien
enthalten, also zum Beispiel nicht die, in denen der Anfangstermin einer Be¬
stimmung abgeändert wird, und ferner auch nicht die Initiativanträge des Reichs¬
tags, wie zum Beispiel über den Befähigungsnachweis, die die Zustimmung der
verbündeten Regierungen nicht gefunden haben.
In dem folgenden soll versucht werden, an der Hand der stenographischen
Sitzungsprotokolle das Verhalten der sozialdemokratischen Fraktion zu diesen
hundertundfünfundzwanzig Gesetzen geschichtlich festzustellen.
Selbstverständlich hat nicht in allen Fällen die Art der Abstimmung und
das Ergebnis voll berücksichtigt werden können. Man wird dabei in zwei Rich¬
tungen zu unterscheiden haben. In sehr vielen Fällen hat überhaupt keine
namentliche Abstimmung stattgefunden; der Gesetzentwurf wurde vielmehr ohne
eine solche entweder mit großer Majorität oder doch mit Sttmmenmehrheit
angenommen. Kommt dann hinzu, daß Mitglieder der sozialdemokratischen
Fraktion zu der Vorlage nicht das Wort ergriffen haben, so kann man die
Art ihrer Abstimmung überhaupt nicht feststellen. Einer Einwendung der Sozial¬
demokraten etwa dahin, es sei unter solchen Umständen anzunehmen, daß sie
für die Vorlage gestimmt hätten, wird aber entgegengehalten werden müssen,
daß das ohne weitern Beweis nicht möglich ist, und daß man gerechterweise
nicht mehr zu sagen vermag als: Die Abstimmung kann hier nicht festgestellt
werden. Hiernach hat man es allerdings mit einer ganzen Reihe nicht fest¬
stellbarer Abstimmungen zu tun. Derselbe Fall liegt vor, wenn unter den
sonst gleichen Voraussetzungen bei der Annahme mit Stimmenmehrheit sozial¬
demokratische Redner zwar zu einer Vorlage gesprochen haben, jedoch aus
ihren Reden die Stellung der Partei nicht endgiltig oder nicht unanfechtbar
hervorgeht. Andrerseits muß in zwei Fällen, auch wenn keine namentliche
Abstimmung stattgefunden hat, angenommen werden, daß die Sozialdemokraten
für einen bestimmten Gesetzentwurf gestimmt haben, erstens, wenn eine Vorlage
einstimmig angenommen worden ist, ohne daß sich ein sozialdemokratischer Redner
dazu geäußert hat, oder aber, wenn eine Annahme mit Stimmenmehrheit
erfolgt ist, und der Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion ausdrücklich erklärt
hat, seine Fraktion werde dem Entwurf zustimmen. In diesen beiden Fällen
wird man einer Behauptung der Sozialdemokraten dahin, sie hätten für das
fragliche Gesetz gestimmt, nicht entgegentreten können, wenngleich ein klarer
Beweis für eine solche Behauptung nicht zu erbringen ist.
Ergänzt werden die amtlichen Sitzungsberichte des Reichstags für den
obigen Zweck durch die Protokolle über die alljährlich stattfindenden sozial¬
demokratischen Parteitage und die Berichte des Parteivorstands. Solche Proto¬
kolle liegen allerdings erst seit 1890 vor. Von 1867 bis 1878 gab es solche
Protokolle nicht, wohl deshalb, weil bis 1875 die beiden sozialistischen Rich¬
tungen noch nicht vereinigt waren, und weil von 1875 bis 1878 die Organi¬
sation der nun vereinigten Parteien noch nicht so straff und festgefügt gewesen
ist. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes, also von 1878 bis 1890,
sind selbstverständlich solche Protokolle oder Berichte nicht erschienen, obwohl
ja auch in dieser Zeit Parteitage, wenn auch außerhalb der deutschen Neichs-
grenzen, abgehalten worden sind. Übrigens ist auch noch nach 1890 einigemal
der Fall zu verzeichnen, daß man, auch wenn man die Parteitagsprotokolle zu
Hilfe nimmt, keine endgiltige Feststellung über die Abstimmung treffen kann. Die
Angaben in den Parteiprotokollen selbst dürfen wohl nicht in Zweifel gezogen
werden, wenigstens ist ein Widerspruch wegen der Angaben über die Abstimmung
nicht bekannt geworden. Von Interesse ist dabei, festzustellen, daß nur in
einem einzigen Fall, und zwar bei dem Gesetz über die Bekämpfung gemein¬
gefährlicher Krankheiten, die Partei sich im Reichstage gespalten hat, der größere
Teil hat für, der kleinere gegen das Gesetz gestimmt, und der Abgeordnete
Zubeil erklärte in der Sitzung vom 12. Juni 1900 ausdrücklich: „Dieser Ent¬
wurf ist bei uns nicht zur Parteisache gemacht worden und unterliegt nicht
dem Fraktionszwange. Jeder kann dazu Stellung nehmen, wie er es für seine
Person für richtig befindet."
Zunächst dürfte folgende Übersicht von Interesse sein. In den seit der
Errichtung des Norddeutschen Bundes verflossenen zwölf Legislaturperioden,
von denen die zwölfte allerdings noch andauert, weist die sozialdemokratische
Vertretung im Reichstage folgende Zahlen auf:
Die Abstimmungen bei den hundertfünfundzwanzig Gesetzen usw. gliedern
sich nun wie folgt: die sozialdemokratische Fraktion hat mit Ja gestimmt in
44 Fällen, mit Nein (abgelehnt) in 34 Fällen, nicht feststellbar ist die Ab¬
stimmung in 47 Fällen. Hiernach hat also wenig mehr als ein Drittel der
gesamten sozialpolitischen Gesetzgebung des Reichs die offne Zustimmung der
sozialdemokratischen Partei gefunden.
Greift man einzelne Gruppen dieser Abstimmungen heraus, so hat die
Sozialdemokratie zum Beispiel bei zehn die Fürsorge für den Soldatenstand
betreffenden Vorlagen wie folgt votiere: sie hat zugestimmt dem Gesetz vom
8. April 1868 betreffend die Unterstützung der bedürftigen Familien zum
Dienst einberufner Mannschaften der Ersatzreserve (das Gesetz wurde ein¬
stimmig angenommen. Ob die vier Sozialdemokraten im Reichstag anwesend
waren, läßt sich nicht feststellen); dem Gesetz vom 28. Februar 1888 betreffend
die Unterstützung von Familien in den Dienst eingetretner Mannschaften (eine
namentliche Abstimmung hat nicht stattgefunden; dagegen hat sich der Abge¬
ordnete Harm zustimmend zu der Vorlage ausgesprochen); dem Gesetz vom
10. Mai 1902 betreffend die Unterstützung der zu Friedensübungen einberufnen
Mannschaften (auch hierbei hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden.
Aus den Reden der Abgeordneten Harm und Singer sowie aus dem Partei¬
tagsbericht geht jedoch hervor, daß die Sozialdemokraten dem Gesetz zugestimmt
haben); dem Gesetz vom 14. Januar 1894 betreffend die Gewährung der Unter¬
stützung von Invaliden aus dem Kriege von 1870 und an deren Hinterbliebne
(ebenfalls keine namentliche Abstimmung. Der Abgeordnete Herbert erklärte in
der Sitzung vom 2. Dezember 1893 die Zustimmung); dem Gesetz vom
13. Juni 1895 betreffend die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Per¬
sonen des Soldatenstandes, des Reichsheeres und der kaiserlichen Marine vom
Feldwebel abwärts (keine namentliche Abstimmung, doch Zustimmung durch einen
Redner und den Parteitagsbericht); dem Gesetz vom 31. Mai 1901 betreffend
die Versorgung der Kriegsinvaliden und der Kriegshinterbliebnen und dem
Unfallfttrsorgegesetz vom 18. Juni 1901 für Beamte und für Personen des
Soldatenstandes. Bei diesen beiden letzten Gesetzen fand keine namentliche Ab¬
stimmung statt. Zu dem ersten erklärte jedoch der Abgeordnete Singer, daß
die Sozialdemokratie auf diesem Gebiete mit den übrigen Parteien vollständig
Hand in Hand gehe, was auch durch den Parteitagsbericht bestätigt wird
(Bericht von 1901, Seite 66). Bei dem andern Gesetz kann man die Ab¬
stimmung nur aus dem Parteitagsbericht feststellen.
Nicht feststellbar sind die Abstimmungen bei folgenden drei Gesetzentwürfen:
Gesetz vom 14. Juni 1873 betreffend außerordentliche Ausgaben für die Jahre
1873 und 1874 zur Verbesserung der Lage der Unteroffiziere; Gesetz vom
15. März 1886 betreffend die Fürsorge für Personen des Beamten- und Sol¬
datenstandes infolge von Betriebsunfällen; Gesetz vom 5. März 1888 betreffend
den Erlaß der Witwen- und Waisengeldbeiträge von Angehörigen der Reichs¬
zivilverwaltung des Reichsheeres und der kaiserlichen Marine. Zu diesen Vor¬
lagen hat kein Sozialdemokrat das Wort ergriffen. In allen drei Fällen
hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden. Es ist aber immerhin
charakteristisch, daß diese drei Vorlagen, von denen die eine nur Unteroffiziere,
die andre die Beamten der Reichszivilverwaltung des Reichsheeres und die
dritte die Fürsorge für Personen des Beamten- und Soldatenstandes infolge
von Betriebsunfällen betrifft, die Sozialdemokratie allerdings weniger inter¬
essieren konnten, weil damit Gründe der Unzufriedenheit im Heere beseitigt
worden sind. Nicht minder auffallend ist, daß bei drei Gesetzentwürfen, die die
Fürsorge für Witwen und Waisen anlangen, die Abstimmung der Sozial¬
demokratie ebenfalls nicht aufzufinden ist. Es sind dies die Gesetze: 1. vom
20. April 1881 betreffend die Fürsorge für die Witwen und Waisen der Neichs-
beamten der Zivilverwaltung, 2. vom 17. April 1887 betreffend die Fürsorge
für die Witwen und Waisen von Angehörigen des Reichsheeres und der kaiser¬
lichen Marine, 3. vom 17. Mai 1897 wegen anderweiter Bemessung der Witwen-
und Waisengelder. Auch hierbei kann man die Abstimmung nicht feststellen.
Zwar hat sich im Laufe der Beratung der Abgeordnete Stadthagen zustimmend
zu der Vorlage ausgesprochen, doch hat er nicht gesagt, wie die Partei zu dem
Gesetz stimmen werde, auch durch den Parteitagsbericht von 1897 ist das nicht
feststellbar. Immerhin ist es auffällig, daß die Abstimmungen der Sozial¬
demokratie nicht aufzufinden sind, sobald es sich um die Fürsorge für Beamte
und Unteroffiziere oder deren Hinterbliebne handelt.
le Spitzmarke Stempelgebühren umfaßt eine ziemlich lange Liste
von Abgaben, denen Geschäftsabschlüsse unterliegen. Alle Ur¬
kunden, Verträge, Anteilscheine, Wechsel, Versicherungspolicen usw.
bedürfen zur rechtlichen Giltigkeit einer Stempelmarke von höherm
oder geringerm Werte. Jeder Scheck, der im Vereinigten König¬
reich ausgestellt wird — wer das britische Leben kennt, weiß, welche Bedeutung
der Scheckverkehr hat —, bringt dem Staat einen Penny ein, und ebenso
fordert jede Quittung über einen 2 -F übersteigenden Betrag eine Penny-
marke, bei 10 ^ Strafe. Gesellschaften mit beschränkter Haftung haben für
jedes 100 -F ihres Kapitals 5 su. 0,25 Prozent zu erlegen, und wenn
irgendeine Körperschaft eine Anleihe aufnehmen will, so fordert der Staat von
jedem 100 des Betrags 2 su. 6 6.^- 0,125 Prozent. Ferner wird auch das
Pillenschlucken, dem die Briten mit Leidenschaft frönen, vom Schatzamt aus¬
genutzt. Daß für das Feilhalten von sogenannten Patentmedizinen ein Ge¬
werbeschein zu lösen ist, ist schon erwähnt worden; aber daneben wird von
den Schächtelchen und Fläschchen selbst noch eine Abgabe erhoben, die zwischen
^/i2 und des Verkaufspreises schwankt. Aus dem Ertrage der Abgabe,
323446 -F, läßt sich abnehmen, wie groß der Verbrauch und wie einträglich
das Geschäft sein muß.
Alle bisher erwähnten Abgaben werden als vutios, Gebühren, bezeichnet
zum Unterschied von den drei noch übrigen Einnahmequellen, die als 1g,xs8
gelten, weil die Steuerpflichtigen dafür eingeschätzt werden. Es sind dies die
alte Grundsteuer, die Steuer auf bewohnten Häusern und endlich die Besitz-
und Einkommensteuer, gewöhnlich kurzweg Einkommensteuer genannt.
Über die Grundsteuer ist nach dem, was früher gesagt worden ist, nur
noch zu bemerken, daß sie sich dem Verschwinden zuneigt. Vor zehn Jahren
noch brachte sie über eine Million Pfund, jetzt noch nicht Millionen.
Die Haussteuer betrifft alle bewohnten Häuser, die zu einem jährlichen
Werte von 20 -F und darüber eingeschätzt sind, mit 2 bis 9 ä. aufs Pfund.
Den Steuerreigen schließt die Einkommensteuer, der Rettungsanker eines
jeden Schatzkanzlers, der in Verlegenheit ist. Es ist die Einkommensteuer, die
der britischen Staatswirtschaft ihre Elastizität gibt, sodaß sie, von Kriegszeiten
abgesehen, auskommen kann, ohne, wie leider im Deutschen Reiche noch immer
nötig ist, alljährlich große Anleihen machen zu müssen. Ganz gelingt es ihr
auch nicht, wie der hohe Betrag der schwebenden Schuld und die mehrfach er¬
wähnten Anleihen für besondre Zwecke zeigen, aber für gewöhnlich pflegt eine
Erhöhung der Einkommensteuer um einen Penny über alle Schwierigkeiten
hinwegzuhelfen, und nichts ist einfacher, als einen Penny mehr aufzulegen.
Die Einkommensteuer hat auch den Vorteil, daß sie dem Schatzkanzler schon,
zeitig im Jahre große Beträge in die Kasse liefert, weil sie von den Zinsen
aller Anleihen von vornherein einbehalten wird, ohne Rücksicht darauf, ob der
Empfänger steuerpflichtig ist oder nicht. Zinsscheine, wie sie in Deutschland
mit allen Wertpapieren ausgegeben werden, gibt es nicht. Die Übertragung
von Wertpapieren geschieht durch Eintragung des neuen Besitzers in die
Bücher*), und am Zinszahlungstage erhält der Berechtigte eine Anweisung,
auf der die Einkommensteuer schon abgezogen ist. Ist er nicht Steuerpflichtige
oder hat er Anspruch auf einen Nachlaß, so kann er wohl den Betrag zurück¬
fordern, aber erst nach dem Ablauf des ganzen Jahres. Die Gewinnanteile
der Aktiengesellschaften werden ebenfalls erst nach Abzug der Steuer ausge¬
zahlt. Bei Einkommen, die aus solchen Zinsen bestehn, ist also eine Steuer¬
hinterziehung einfach unmöglich. Bei andern, die der Staat nicht so genau
überwachen kann, ist eine zu niedrige Angabe wohl nicht ausgeschlossen, doch
in den meisten Fällen ist es nicht ratsam, dem Staate ein Schnippchen zu
schlagen. Gesetzt, ein blühendes Geschäft wird, wie jetzt so häufig geschieht,
in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Dann muß der
Stand des Geschäfts offen dargelegt werden, und wehe, wenn früher das
Einkommen zu gering angegeben war! Die Steuerbeamten haben ihre Augen
offen. Nun mag einer sein ganzes Leben lang dem Staate Sand in die
Augen gestreut haben. Endlich aber schlägt auch einem Methusalah die Stunde,
da er die irdischen Güter lassen muß, und dann gewährt die Abwicklung des
Nachlaßgeschäfts den Spürnasen des Schatzkanzlers Gelegenheit, Vergleiche an-
zustellen. Ergibt sich der Nachlaß als wertvoller, als der Verstorbne bei der
letzten Einschätzung angegeben hatte, nun so haben die Erben das zweifelhafte
Vergnügen, nicht nur nachzählen, sondern auch eine recht beträchtliche Geld¬
strafe aus der Masse entrichten zu müssen.
Wieviel das Einkommen des britischen Volks beträgt, läßt sich nicht be¬
rechnen, höchstens im allgemeinen beurteilen. Professor A. L. Bowley schätzte
es erst auf etwa 1900 Millionen Pfund; jetzt, nach neuer Prüfung, nimmt
er es zu 1800 Millionen an. Sir Robert Giffon glaubt mit 1750 Millionen
der Wahrheit näher zu kommen. Welche der Schätzungen richtiger ist, wer
vermag das zu entscheiden? Möglicherweise irren beide um Hunderte von
Millionen. Denn Arbeiter und alle, deren Lebensführung die Einkommen¬
steuerpflicht als unwahrscheinlich erscheinen läßt, werden gar nicht um die An¬
gabe ihres Einkommens ersucht oder der Einschätzung unterworfen. Die Summe
der Einkommen, über die dem Schatzkanzler Rechenschaft abgelegt wurde, be¬
trug im Jahre 1902/03, dem letzten, über das volle Zahlenangaben vorliegen,
über 879 Millionen, gegen 679 Millionen im Jahre 1892/93, und die Summe
derer, die Steuer entrichteten, war für dieselben Jahre 608606903 -F und
537565400 -F. In den zehn Jahren zeigt sich also eine Zunahme des steuer¬
pflichtigen Einkommens um mehr als 70 Millionen, trotzdem daß die Grenze
der Steuerfreiheit im Jahre 1894 von 150 auf 160 -F hinaufgerückt worden
ist. Dementsprechend bringt auch jeder Penny der Steuer jetzt einen höhern
Ertrag, nämlich 2535862 ^> (1902/03) gegen 2239856 zehn Jahre früher.
Aus welchen Quellen das Einkommen floß, zeigt die folgende Aufstellung.
Es geht daraus hervor, daß die große Zunahme hauptsächlich dem ge¬
schäftlichen Leben zu verdanken ist. Die Landwirtschaft ist in ständigen Rück¬
gang begriffen, und die daraus folgende Entwertung des landwirtschaftlichen
Bodens hat wieder das Einkommen aus Grund- und Hauseigentum ungünstig
beeinflußt, obwohl der eingeschätzte Gesamtwert infolge der städtischen Bau¬
tätigkeit fast um ein Fünftel gestiegen ist. Dagegen lassen Handel und Ge¬
werbe von dem Niedergang, den Chamberlain bejammert, herzlich wenig spüren,
und die Zunahme der Einkommen aus Staatspapieren läßt ebensowenig einen
Schluß auf Verarmung zu. Es wird noch ein Weilchen dauern, bevor ein
andres Volk die Briten an Kapitalkraft überholt. Noch steht Großbritannien
<in der Spitze, trotz der amerikanischen Milliardäre.
Wie schon angeführt worden ist, betrug 1902/03 die Summe der ein¬
geschützten Einkommen 879 Millionen, mehr als die Hälfte des von Sir
Robert Giffen veranschlagten Einkommens des ganzen Volks; das will sagen.
die Einkommen von mehr als 160 -F machten die Hälfte des Volkseinkommens
aus. Nun gilt auch in Großbritannien ein Einkommen von 160 ^ durchaus
nicht für verächtlich. Aber derer, die so viel und mehr haben, ist nur eine
kleine Zahl, etwa ein Zehntel der Bevölkerung. Die übrigen neun Zehntel
müssen sich in die andre Hälfte teilen, und wenn es in Großbritannien größern
Reichtum gibt als anderswo, so findet sich daneben und oft in unmittelbarer
Nachbarschaft auch größeres Elend. In London sind 1903 nicht weniger als
39 Personen buchstäblich Hungers gestorben, 1898 gar 48. Vielleicht in
keinem Lande ist der Besitz ungleicher verteilt als in Großbritannien. Dafür
werden freilich die Wohlhabenden scharf zur Einkommensteuer herangezogen.
Wenn von den eingeschätzten 879 Millionen Pfund Einkommen nur 608
Millionen wirklich Steuer entrichteten, so beruht das vornehmlich auf der Ab¬
stufung, die nur Einkommen von mehr als 700 -F mit dem ganzen Betrage
heranzieht.
So eingehend wie jetzt ist die Abstufung nie gewesen, obwohl Einkommen
unter 160 -F steuerfrei sind, während die Zeit von 1853 bis 1875, wo bloß
100 -F frei waren, nur zwei Stufen kannte. Jetzt genießen Einkommen
Bei dem für 1904/05 geltenden Steuersatze von 1 su. auf das Pfund
entrichten somit Einkommen
Wie die Liste zeigt, geht die Steigerung ganz allmählich vor sich, bis
bei mehr als 700 -F der höchste Satz von 5 Prozent eintritt. Aber obgleich
allmählich, ist die Steigerung nicht gleichmäßig. Zwischen Steuerfreiheit und
1 Prozent liegt ein Zwischenraum von 40 ^° Einkommen, zwischen 1 und
2 Prozent von 67 -F, zwischen 2 und 3 Prozent von 133 -F, zwischen 3 und
4 Prozent von 200 ^° und zwischen 4 und 5 Prozent von 100 ^. Im
ganzen kann man jedoch die Verteilung nicht unbillig finden. Die Haupt¬
masse der Steuerpflichtigen, etwa 500000 an Zahl, gehört in die Klasse der
Einkommen bis zu 500 <F und ist mit einem Höchstbetrage von 3^ Prozent
nicht zu schwer belastet. Dagegen könnte man wünschen, daß die Grenze der
Steuerfreiheit tiefer gelegt wäre, sodaß das Gefühl der Verantwortlichkeit,
das eine direkte Steuer erweckt, auch breitern Volksschichten mitgeteilt würde,
die bei der bestehenden Verfassung ausschlaggebend sind. Aber bei dem Wett¬
kriechen der beiden großen Parteien um die Gunst der Wählermassen hat ein
so unvolkstümlicher Schritt wenig Aussicht.
Bei der Ansammlung großer Vermögen in wenig Händen ist es natürlich
ganz gerechtfertigt, daß die Wohlhabenden stark besteuert werden, und die auch
nach englischen Begriffen wirklich reichen Leute könnten ganz gut auch noch
mehr leisten, ohne es zu merken. Wenn man aber den radikalen Wortführern
glauben soll, dann muß das arme Volk für alles aufkommen, und die Reichen
gehn ganz frei aus. Für jeden, der auch nur ein ganz klein wenig denken
kann, liegt der Unsinn offen zutage. Doch leider ist gerade das Denken eine
Kunst, die der Mann auf der Straße nicht versteht. Er bezieht seine Ansichten
und Überzeugungen fertig aufgebügelt aus der Druckerei seiner Zeitung.
In Wirklichkeit drückt die Steuerlast den kleinen Mann gar nicht so stark,
jedenfalls nicht so stark, daß er sich deswegen auch nur ein Glas Bier oder
eine Pfeife Tabak versagen müßte. Um zu sehen, wie die Abgaben verteilt
sind, haben wir zunächst die Staatseinnahmen aus den Kronländereien, aus
den Suezkanalanteilen, aus Post und Telegraphie sowie aus dem Kohlen¬
ausfuhrzoll auszuscheiden, sodaß für 1903/04 bloß noch 117298347^ übrig
bleiben. Hiervon werden ausschließlich von den begüterten Klassen beigetragen:
So decken die Wohlhabenden von dem ganzen durch Abgaben aufge¬
brachten Betrage vorweg schon 47,77 Prozent. Der kleine Mann wird nur
durch die Zölle und die Verbrauchsabgaben herangezogen, und an den Ein¬
nahmen aus diesen Quellen sind auch die Wohlhabenden mit den zu ihrem
Haushalte gehörenden, oft recht zahlreichen Personen in einem bedeutenden,
aber kaum näher festzustellenden Maße beteiligt. Als sicher kann man an¬
nehmen, daß die Masse des Volks weit weniger als 50 Prozent beiträgt, und
der größte Teil dieses Beitrags wird geleistet beim Einkauf von Dingen, die
zur Erhaltung des Lebens nicht nötig sind. Von den nach Abzug der Er¬
träge aus Tabak, Bier, Wein und Schnaps übrig bleibenden Einnahmen aus
Tee, Kaffee, Zucker usw. fallen bloß 6 su. 8 ä. auf den Kopf.
Wenn man nun gedankenlos urteilen wollte, könnte man mit einigem
Aufwand unanfechtbarer Zahlen einen Vergleich mit den Summen anstellen,
die etwa ein Preuße für die Kasse seines Königreichs und die des Deutschen
Reichs aufzubringen hat. Der Vergleich würde jedoch so gewaltig hinken,
daß er allen Wert verlöre. Denn die Verhältnisse sind gar zu verschieden,
weil sich in Deutschland die Staatstätigkeit auf weite Gebiete erstreckt, die in
Großbritannien vom Staate ganz unberührt bleiben. Um nur ein paar Punkte
hervorzuheben, sei an die großen Summen erinnert, die vom Reiche für die
Arbeiterversicherung verwandt werden, und die Fürsorge, die Preußen gleich
den übrigen Bundesstaaten dem höhern Unterrichtswesen angedeihen läßt,
während bei den Briten eine Altersversicherung noch in nebelhafter Zukunft
liegt, und die Ausgaben für höhere Schulen und Universitäten so geringfügig
sind, daß sie kaum Erwähnung verdienen. Dem britischen Bater erwachsen
deshalb für die höhere Erziehung seiner Kinder sehr hohe Kosten, die bei
einem Vergleiche mit deutschen Verhältnissen angesetzt werden müssen; aber
diese Kosten zu berechnen ist schlechterdings unmöglich.
Ferner dürfte bei einem Vergleiche nicht vergessen werden, daß mancher¬
lei, was in Deutschland vom Staat ausgeführt wird, in Großbritannien den
Ortsverwaltungen zugeschoben ist, sowie daß auch die Tätigkeit der deutschen
Kreis-, Gemeinde- und Stadtverwaltungen vielfach weiter geht als die der
entsprechenden britischen Behörden.
Von einer Begleichung der Steuerkasten sei deshalb hier ganz abgesehen.
Doch um das Bild der für öffentliche Zwecke zu leistenden Abgaben zu ver¬
vollständigen, seien die Kosten der Ortsverwaltungen angegeben, wie sie in
den amtlichen Aufstellungen erscheinen.
Bis 1899 umfaßten diese Aufstellungen auch den Lotsendienst und die Be-
dornung und die Beleuchtung der britischen Küsten. Jetzt werden diese Rech¬
nungen ganz abgesondert für sich geführt. Für den Lotsendienst betrugen
1902 die Einnahmen 555668 -F, die Ausgaben 544829 für Bedornung
und Beleuchtung waren die Einnahmen 555696 -F, die Ausgaben 500431 -F.
Die Unterhaltung der Häfen dagegen, die 1901/02 6231987-F forderte, ist
nach wie vor unter den entsprechenden Ortsbehörden.
Die gesamten Ausgaben der mannigfaltigen Behörden für die Verwaltung
der Grafschaften, Städte, Bezirke und Kirchspiele beliefen sich im Jahre 1901/02,
dem letzten, für das die Zahlen vollständig vorliegen, auf 144461511 -F gegen
eine Einnahme von 145150858 -F. Die Mittel flössen zum größten Teil aus
der von der Königin Elisabeth eingeführten Armensteuer, unter deren Deck¬
namen fast alle Gelder erhoben werden, ob sie der Armenpflege dienen oder
nicht. Dazu kommen die Erträge von Gewinn abwerfenden Unternehmungen,
die städtisches oder sonst öffentliches Eigentum sind, wie Gasanstalten, Wasser¬
werke, elektrische Anlagen, Pferdebahnen und dergleichen, gewisse Gebühren
und Strafgelder und ferner Zuschüsse aus der Staatskasse. Ein Teil dieser
Zuschüsse erfolgt aus dem eonsaliäatkÄ Vunä, und dieser Betrag wird im
Staatshaushalt angeführt und verrechnet. Nicht angeführt und verrechnet sind
dagegen die Zahlungen aus der Nachlaßsteuer, den Zollertrügen und den
binnenländischen Abgaben, die gar nicht erst in die Hauptstaatskasse gehn,
sondern gleich dem I^vest rg-xstiov. ^ooount überwiesen werden.
Die Verwaltungen der Zölle und Steuern überwiesen 1903/04 so
9795073 ^?, aus dem eonsoliäatöÄ ?uuÄ flössen 1156705 -F, und andre
Zahlungen für Ortszwecke, die noch von der Staatskasse bestritten werden,
beliefen sich auf 3398599-F, sodaß der Staat insgesamt 14350377bei¬
steuerte. Für 1901/02 machten die Beiträge des Staates dem LtMstioal
^dstraot zufolge 16022897^ aus. Bei einer Berechnung der vom Steuerzahler
zu tragenden Lasten müßten also die Beiträge aus dem Lor>so1i<Zg,doa 1?rin<1
und die andern von der Staatskasse übernommnen Zahlungen vom Staats¬
haushalt abgesetzt werden oder gar unberücksichtigt bleiben.
Ein ungesunder Zug in der jüngsten Entwicklung ist, daß die Ortsver¬
waltungsbehörden je länger je weniger imstande sind, ihre Ausgaben aus dem
laufenden Einkommen zu bestreiten. Die vielen notwendigen Verbesserungen
der neuern Zeit haben Summen gefordert, die nur aus Anleihen beschafft
werden konnten. Vielfach sind Anlagen gemacht worden, die sich gut ver¬
zinsen. Aber für viele Anleihen besteht bei dem fast gänzlichen Mangel an
städtischem oder Gemeindebesitz keine festere Sicherheit, als der etwas künstliche
Kredit der borgenden Körperschaft. Für 1901/02 betrugen die neuen Anleihen
nicht weniger als 39873491 -F, wodurch die Schuldensumme auf 407069045-^
stieg. Der Anteil von England und Wales an dieser Summe war über
343000000 -F, während der gesamte jährliche Wert des Ortssteuern unter¬
liegenden Besitzes nur auf 186^ Millionen eingeschätzt war.
Billig ist die Selbstverwaltung der Grafschaften, Städte usw. nicht.
Anderswo pflegt sie ja auch teurer zu sein als der Staat. Die Oberaufsicht
des Selbstverwaltungamts kann bei den viele Tausende zählenden Behörden
nur den gröbsten Mißbräuchen begegnen und muß im übrigen den Dingen
ihren Lauf lassen, nach der größern oder geringern Weisheit der Erwählten
des Volkes. Wähler und Steuerzahler bedeutet dabei durchaus nicht dasselbe.
In dem Stadtbezirke Holborn der Grafschaft London zum Beispiel ist der für
die Steuern heranzuziehende Besitz auf 341296 eingeschätzt. Davon fällt
die Summe von 97400 28,53 Prozent auf Handelsgesellschaften und
dergleichen, denen als bloß juristischen Personen kein Wahlrecht zusteht. Da¬
gegen führt die Wählerliste, die 11979 Namen enthält, 6712 56,03 Prozent
Wahlberechtigte auf, die selbst keine Steuer entrichten. Die Leute, die von
den Steuern selbst nicht oder doch nur mittelbar betroffen werden, haben die
Mehrheit, und nach deren Pfeife haben die Erkornen zu tanzen. Allzugrvße
Sparsamkeit ist unter solchen Umständen nicht zu erwarten, und die Führung,
der Geschäfte scheint auch recht nachlässig zu sein. Sonst hätte der Stadt¬
schreiber von Holborn nicht mit solcher Leichtigkeit das Sümmchen von
12000 -F in der eignen Tasche verschwinden lassen können.
Wenn die Steuerzahler von Holborn nicht in besonders rosiger Stimmung
sind, so ist es ihnen kaum zu verdenken. Aber an andern Orten beginnt man
auch etwas wie Katzenjammer zu verspüren. Es wird zwar noch lustig weiter
geborgt, und der Mühlstein, den die kommenden Geschlechter zu tragen haben
werden, setzt wie ein Baum Jahresringe an, noch dazu immer dickere, doch
wer rechnen kann, muß sich sagen, daß die Borgwirtschaft nicht so weiter gehn
darf, sonst nimmt sie ein Ende mit Schrecken.
In seiner Budgetrede vom 19. April 1904 wies der Schatzkanzler Austen
Chamberlain auf die Notwendigkeit hin, mit den Anleihen der Ortsbehörden
einzuhalten, damit sich der angekränkelte Kredit erholen könnte. Aber in
richtiger Selbsterkenntnis gab er die Notwendigkeit, sparsam zu wirtschaften,
auch für den Staat zu, der gerade in den letzten Jahren unter konservativer
Führung ein arger Sünder gewesen ist. Wie es scheint, ist die Reihe der
magern Jahre noch nicht abgeschlossen, und es ist nur die Wahl, entweder
die gegenwärtig herrschende Besteuerung beizubehalten, vielleicht auch noch zu
verschärfen, oder den Leibriemen etwas fester zu schnallen, d. h. sich einzu¬
schränken.
Doch wo soll die Einschränkung beginnen? Sie müßte vor allem bei
Heer und Flotte beginnen, die allein an der großen Steigerung der Ausgaben
schuld sind und soviel verschlingen, wie vor noch gar nicht langer Zeit für
den ganzen Staatsdienst ausreichte. An Einschränkung der Rüstung denken
nun die Imperialisten am allerwenigsten. Sie hoffen größere Mittel durch
Einführung eines Zolltarifs zu erlangen und suchen das britische Volk mit
dem Gedanken zu befreunden, indem sie ihm als Frucht den engern Anschluß
der Kolonien an das Mutterland in Aussicht stellen, sowie ein Wiederaufblühn
von Handel und Gewerbe, die ihnen zufolge arg daniederliegen. Ohne Zweifel
werden die Kolonien gern alle Vorteile annehmen, die das Mutterland ihnen
gegenüber andern Völkern einräumen will, sehr zweifelhaft aber ist, ob sie
sich zu einem festern Anschlusse verpflichtet fühlen werden, der ihnen bedeutende
Gegenleistungen auflegt. Unter solchen Umständen ist es nicht wahrscheinlich,
daß die imperialistische Lockung das britische Volk zur Annahme eines Zoll¬
tarifs bewegen wird, und die Klage von dem Daniederliegen von Handel und
Gewerbe ruht auch auf schwachem Grunde. Die Zahlen, die das Handelsamt
veröffentlicht, beweisen eher das Gegenteil.
Der britische Ackerbau ist freilich übel dran, wie die zunehmende Ent¬
völkerung des Landes und das Sinken des Laubwerkes beweisen. Ein mäßiger
Getreidezoll würde dem abhelfen, ohne das Brot sehr zu verteuern. Wären
nun die alten Kornzölle nicht so übertrieben gewesen, so wäre der Umschlag
zum reinen Freihandel wohl kaum erfolgt, und ein mäßiger Zoll hätte sich
halten können. So aber hat sich die britische Volkswirtschaft ebenso einseitig
wie früher unter den Sperrzöllen auch unter dem Freihandel entwickelt. Dank
der Lage, der großen Kapitalkraft und dem Fehlen ebenbürtigen Wettbewerbs
in früherer Zeit ist diese Entwicklung durchaus günstig für Großbritannien
gewesen. Sie hat das Inselreich in seiner Stellung als Haupthandelsmacht
der Welt befestigt. Niemand aber kann mit Sicherheit vorhersagen, ob nicht
ein Zolltarif dem Handel mehr schaden als dem Gewerbe nützen, und ob sich
die bittere Enttäuschung mit der Usrolmnäiss Ug-rief ^.ot nicht in größerm
Maßstabe wiederholen würde. Was nun in der Frage der Zölle auf Lebens¬
mittel den Ausschlag gibt, das ist die noch nicht verblaßte Erinnerung an die
Zeit der Kornzölle mit ihren künstlich auf die Höhe getriebnen Brotpreisen
und der daraus folgenden Not. Jetzt rächt sich die übermäßige Selbstsucht
der Grundherren, die aus hohen Getreidepreisen hohe Pachtgelder für ihr
Land gewonnen haben. Zölle auf Lebensmittel find dem Briten gleichbedeutend
mit Not, und darum hat er selbst vor einem ganz müßigen Schutzzölle Furcht
Die Liberalen und die Radikalen wollen von ihm nichts wissen, und da sie
alle Aussicht haben, demnächst ans Ruder zu gelangen, wird ein Zolltarif so
bald nicht ins Dasein treten.
Eine liberal-radikale Negierung wird natürlich noch »veniger als eine
konservative den kleinen Mann belasten. Sie würde eher den Einkommen-
stcuerzahlern noch einige Pennies mehr abnehmen, um seine Bürde zu er¬
leichtern. Doch die Einkommensteuer muß ein Rückhalt für außergewöhnliche
Bedürfnisse sein und darf für gewöhnliche Zeiten nicht über Gebühr in An¬
spruch genommen werden. Wenn nötig, werden darum die Liberalen nicht
zögern, das Gleichgewicht im Staatshaushalt durch Verminderung der Aus¬
gaben für Heer und Flotte herzustellen. Der Aufwand der letzten Jahre ist
auch wirklich durch nichts gerechtfertigt, besonders jetzt, wo die russische Macht
auf längere Zeit gelähmt ist.
Gänzlich ausgeschlossen aber ist eine Verminderung der Rüstung auf ein
Maß, das auch nur den geringsten Zweifel zuließe an der Fähigkeit, das
britische Weltreich nach jeder Richtung hin zu schützen. Die Erkenntnis von
der Bedeutung der Seemacht liegt jedem Briten im Blute. Darin besteht
kein Unterschied zwischen den Parteien, und was die Entwicklung des Heer¬
wesens angeht, so können die Liberalen auf bessere Leistungen zurückschauen
als ihre Gegner. Die Abschaffung des Ofsizierstellenschachers hat eine liberale
Regierung durchgeführt, und auf den liberalen Kriegsminister Cardwell geht
die Organisation des Heeres zurück, die dreißig Jahre lang bestanden hat und
erst vor kurzem von den Konservativen durch einander überstürzende Änderungen
in Verwirrung gebracht worden ist.
Also was für die Sicherheit des britischen Reichs nötig ist, werden auch
die Liberalen schwerlich zu tun versäumen. Nur werden sie sich nicht auf
kostspielige Eroberungen einlassen und keine Rüstung unternehmen, die von
andern Staaten bloß als eine Drohung aufgefaßt werden kann. Sie werden
auch neue Anleihen zu vermeiden suchen. Aber wenn es die Sicherheit des
Reichs fordert, werden sie sich nicht scheuen, die Staatsschuld um Hunderte
von Millionen Pfund zu vermehren. Für die Staatsschuld hat sich der Brite
seine Kolonien und seine herrschende Stellung als Handelsmacht eingetauscht,
und wenn deren Erringung eine so große Summe wert war, so ist ihre Er¬
haltung mindestens ebensoviel wert.
Wo es ein großes Ziel zu erreichen galt, da hat das britische Parlament
nie versagt, sondern hat seiner Regierung freigebig alles bewilligt, was sie
verlangte. Manche Million ist dabei in eitel Dunst aufgegangen, um einen
milden Ausdruck zu gebrauchen, und darin braucht Deutschland dem britischen
Vorgange nicht zu folgen. Aber in der rechtzeitigen Opferwilligkeit für ein
großes Ziel könnte sich das deutsche Volk das britische Beispiel zu Herzen
nehmen. Freilich, wenn es große nationale Ziele erkennen will, muß sich
das deutsche Auge erst wieder gewöhnen, ohne eine Parteibrille zu scheu.
RA
Ä'W^/M^>n Zeiten ernster Gefahr hatte der prahlsüchige Emir nicht den
Mut, in der Mitte seiner Untertanen auszuharren, eine Feig¬
heit, die er mit vielen Gewaltherrschern gemein hatte. Als am
16. Juni 1900 in Kabul die Cholera zum Ausbruche kam, floh
!Abd-ur-NahmSn mit seinem Hofstaate und in Begleitung eines
kleinen Armeekorps schleunigst in sein dreißig Kilometer von der Hauptstadt ent¬
ferntes Schloß im Pagmangebirge, das dreitausend Meter über dem Meere pracht¬
voll liegt, von Maulbeer- und andern Fruchtbäumen umgeben ist, schone Garten¬
anlagen und das beste Gebirgsquellwcisser hat. In der ersten Nacht nach der
Ankunft im Schlosse wurde viel mit Geschützen geschossen, weil in Afghanistan
die Meinung verbreitet ist, die schreckliche Krankheit ließe sich dadurch verscheuchen.
Die Cholera machte jedoch den albernen Aberglauben rasch zuschanden, denn
sie befiel einen Mann der Geleitsmannschaft, der am Tage daraus starb. Dieser
Todesfall veranlaßte den tapfern Emir, sofort tiefer in das Gebirge zu fliehen.
Seinen Hofstaat ließ er zurück. Erst vierzehn Tage hernach getraute er sich in
das Schloß zurückzukehren, da sich dort kein neuer Krankheitsfall ereignet hatte.
Die Cholera raffte jedoch in Kabul täglich fünfzig bis siebzig Menschen,,
groß und klein, alt und jung, hinweg, bis es der englischen Ärztin Mrs. Kate
Daly gelang, eine Arznei herzustellen, die unfehlbar wirkte, wenn sie nur recht¬
zeitig genommen wurde. Von hundert Erkrankten rettete die wackre Frau mit
ihrem vorzüglichen Heilmittel fünfundneunzig. Davon überzeugte ich mich selbst.
Leider gingen die nötigen Medikamente bald auf die Neige, und Mrs. Daly bat,
daß ihr aus den Lagerhäusern Ersatz möge geboten werden. Da erfuhr sie zu
ihrem Staunen, daß der Befehl erteilt worden war, nichts, gar nichts von den
Vorräten auszufolgen, und bei diesem Befehle blieb es. Dieses Verbot unter
solchen Umstünden muß man sich vor Augen halten, wenn man die grenzenlose
Gleichgiltigkeit des Emirs gegen seine Untertanen verstehn will. Zweimal täglich
ließ er sich zwar über den Stand der Krankheit und über Staatsangelegenheiten
vom Bürgermeister und vom Stadtkommandanten berichten, aber diese Maßregel
war nicht der Ausfluß von Fürsorge und Mitleid. Sechs reitende Boten be¬
förderten diese Berichte, indem sie einer dem andern übergab, damit nur der aus
Kabul kommende Bote nicht in die Nähe des Schlosses gelange. Als Mrs. Daly
durch das erwähnte Verbot der Möglichkeit beraubt war, den zahlreichen Kranken
zu helfen, gingen Ingenieur Martin und ich daran, Abhilfe zu schaffen. Außer
uns und der Ärztin weilte damals kein Europäer in Kabul, und wir standen
selbstverständlich treu und eiutrüchtig zusammen. Ingenieur Martin, der auch
Chemiker ist, erzeugte in seinem Laboratorium die nötigen Chemikalien, und ich
lieferte den reinen Weinspiritus, mit dessen Erzeugung ich die Afghanen vertraut
gemacht hatte. Diese Unterstützung ermöglichte es Mrs. Daly, ihre wunderbare
Arznei wiederherzustellen und viele Kranke vor dem Tode zu retten. Vom
Emir erntete die brave Frau keinen Dank, obwohl sie beauftragt wurde, Ver¬
zeichnisse der geretteten Kranken mit genauer Anführung der Namen einzusenden.
Dadurch sollte offenbar der Schein erweckt werden, als sei der Emir von tiefstem
Mitgefühl für seine Untertanen beseelt, obwohl er in der Tat nur zu wissen
wünschte, ob die verheerende Seuche zu erlöschen beginne. Zu Beginn des Ok¬
tobers 1900 war dieser Zeitpunkt endlich gekommen, der Emir getraute sich
jedoch erst in der zweiten Hälfte des Novembers uach Kabul zurückzukehren, als
auf dem Pagmangebirge schon Schneefall eingetreten war. Der durch die Cholera
verursachte Aufenthalt im Gebirge war dem Emir allerdings nicht gut bekommen:
er hatte unter gichtischen Anfällen zu leiden, und seine afghanischen Leibarzte,
von denen einer schon dreißig Jahre um ihn war, mußten diese Erkrankung teuer
bezahlen. Sie wurden Ende Dezember 1900 verhaftet und in das Gefängnis
gesteckt; ihr Vermögen floß selbstverständlich in die Taschen des kranken Wüterichs,
der dadurch gewiß 200000 Rupien ergatterte.
So viel über Abd-ur-Rahman als Herrscher. Zur Vervollständigung seines
Bildes bleibt noch übrig, einiges Persönliche hinzuzufügen. Der Fürst war,
wie die Mehrzahl seiner Untertanen, Mohammedaner der sunnitischen Richtung
und nannte sich selbst „das Licht der Religion und des Glaubens" Stiglit ok
löliAion Ma taitlr), womit seine Stellung als geistliches Oberhaupt im Reiche
bezeichnet werden sollte. Mit den geistlichen Würdenträgern im Lande, auch
mit den höchsten, pflegte er, wenn sie sich über seine Herrschaft mißliebig
äußerten, nicht viele Umstände zu machen. Er ließ sie einfach hinter Schloß
und Riegel setzen.
Der Emir hatte einen Harem, worin sich etwa fünfzig Frauen befanden, doch
hatte nur eine von ihnen die Rechte einer Gattin. Die erste Gemahlin des
Fürsten, die Mutter des jetzigen Emirs Habib-Allah, ist gestorben. Abd-ur-
Nahmän, der nach seinen eignen Worten von den Frauen nicht viel gehalten
hat, huldigte übrigens dem im Orient weit verbreiteten Laster der Knabenliebe.
Der jetzige Stadtkommandant von Kabul, den der Emir vor Jahren als Knaben
von einer Gauklerbande kaufte, soll einer seiner Lieblinge gewesen sein. Abd-
ur-Rahman war ein mittelgroßer, stark beleibter Mann mit schwarzem Haupt¬
haar und gekrausten Vollbart. In seinen dunkeln Augen, die gewöhnlich finster
blickten, spiegelte sich die grausame Härte seines Wesens wider.
Der Fürst war wenig sichtbar. Bei hohen Festen zeigte er sich früher,
mit den Abzeichen seiner Würde angetan und von großem Gefolge begleitet,
seinem Volke in einer Sänfte. Auch nahm er vor Jahren an Jagdausflügen
als Zuschauer teil. Jetzt brachte er den halben Tag — bis Mittag pflegte er
zu schlafen — in einem Gemache seines Schlosses zu, wo er Audienzen erteilte,
Berichte empfing und Staatsgeschüfte erledigte. Diese letzte Tätigkeit nahm zu¬
meist auch die halben Nächte in Anspruch- Alles in allem: Abd-ur-Rahmän
war nach europäischen Begriffen ein überaus grausamer, gewalttätiger und hab-
gieriger Herrscher, dessen Andenken in seinem Lande nichts weniger als gesegnet
sein wird. Wenn er sich selbst einredete, oder wenn schlecht unterrichtete Rat¬
geber ihm einreden wollten, er sei der Mann, die völlige Unabhängigkeit Af¬
ghanistans und seiner Nachbarreiche in der Gegenwart anzubahnen und für die
Zukunft sicherzustellen, so war er das Opfer eines ungeheuerlichen Irrtums,
der nicht nur für ihn, sondern auch für seine Nachfolger und Erben verhängnis¬
voll werden könnte. Auch Afghanistan wird, gleich wie andre Mittel- und ost¬
asiatische Reiche, vor der immer drohenden Gefahr, von einer europäischen Gro߬
macht seiner Unabhängigkeit beraubt zu werden, um so besser geschützt sein, je
ernsthafter die Lenker seiner Geschicke bestrebt sein werden, dem Kulturfortschritte,
der politischen Freiheit und der allgemeinen Gesittung des übermächtigen Abend¬
landes Tür und Tor zu öffnen. Die so sinnfällig ungleiche Stellung Chinas
und Japans im Rate der Völker redet doch für die asiatischen Herrscher und
Politiker, die hören und sehen und mit Tatsachen rechnen wollen, eine überaus
deutliche Sprache: Aufschwung auf der einen, Niedergang auf der andern Seite.
Das berühmte Wort Goethes bewahrheitet sich auch hier: Wer nicht vorwärts
kommt, der geht zurück.
Bon einer geordneten, gewissenhaft geübten, Schutz des Eigentums und
Sicherheit der persönlichen Freiheit und des Lebens verbürgender Rechtspflege
kann in einem Lande nicht geredet werden, dessen Herrscher nicht nur aller
Bildung in gewöhnlichem Sinne bar, sondern auch zu Gewalt und Willkür ge¬
neigt ist und unablässig darauf ausgeht, seinen Besitz zu vermehren. Von dem
Wahn erfüllt, daß Armut, Furcht und Schrecken die treuesten Wächter seines
Thrones und die festesten Stützen seiner Gewaltherrschaft seien, ließ sich der
Emir Abd-ur-NahmSn, wie ich in dem vorigen Abschnitte gezeigt habe, bei seiner
Rechtspflege von bestimmten Grundsätzen überhaupt nicht leiten, doch fanden auf
einzelnen Gebieten des Zivilrechts gewisse überlieferte Anschauungen Anwendung,
die sich als Ausfluß der religiösen Überzeugung des Volkes, des Islams also,
darstellen. Die mit der Rechtsprechung betrauten Beamten sind kaum des Lesens
und des Schreibens kundig. Auch spielt Backschisch in Afghanistan eine sehr
große Rolle, und in allen wichtigern Angelegenheiten, namentlich dort, wo es
sich um Geld handelt, ist der Emir selbst der Richter, der zuletzt immer zu seinen
Gunsten entscheidet. Rechtsanwälte, Vertreter der Parteien, wie sie in Europa
zu finden sind, gibt es nicht, und von den Beamten, die mit dem Richteramte
betraut sind, bekommen drei Fünftel keinen Gehalt, sodaß sie gezwungen sind,
sich an den Parteien schadlos zu halten.
Erbschaftsangelegenheiten werden sehr rasch erledigt. Erbberechtigt sind nur
männliche Nachkommen, Witwen und Töchter erben nichts. Das Weib ist in
Afghanistan nach mohammedanischer Anschauung durchaus rechtlos, sodaß also
jedes Erbe, das keinen männlichen Erben findet, dem Staate, d. h. dem Emir,
anheimfällt, der selbstverständlich für die auf solche Weise enterbten Witwen und
Töchter Verstorbner nicht die geringste Sorge trägt. Ich kannte einen jungen
Mann, der einen ziemlich großen Grundbesitz sein eigen nannte. Nach kurzer
Krankheit starb er und hinterließ eine Witwe mit vier unmündigen Mädchen.
Der Gesamtbesitz des Verstorbnen, mindestens 30000 Rupien wert, fiel dem
„Staate" zu, ohne daß den Hinterbliebnen auch nur eine Rupie ausbezahlt
worden wäre. Sie mußte» bei Verwandten das Gnadenbrod erbetteln. Ein
solcher Unrechtszustand ist ohne Zweifel höchst barbarisch und muß zu der gänz¬
lichen Verarmung des Volkes führen, das darunter zu leiden hat, weil Erwerbs¬
trieb und Sparsamkeit allmählich erstickt werden.
Das Eherecht, wofern von einem solchen in Afghanistan überhaupt geredet
werden darf, hat eine den mohammedanischen Begriffen entsprechende Gestalt
angenommen, sodaß das Weib als Ware betrachtet, gekauft und verkauft wird.
Jede Eheschließung ist mit einer Steuer belegt, die bei Verheiratung von Jung¬
frauen mit elf, bei Verehelichung von Witwen mit sechs Rupien festgesetzt ist.
Dem mohammedanischen Geistlichen, der die Förmlichkeiten bei der Eheschließung
vollzieht, wird eine Gebühr von einer Rupie zugewiesen, die in den oben ge¬
nannten Beträgen enthalten ist, sodaß in den Säckel des Emirs bei jeder Ver¬
ehelichung zehn oder fünf Rupien fließen. Dem Ehemann steht es jederzeit frei,
sein Weib zu veräußern oder zu verschenken. Für die überaus rohen Rechts¬
begriffe, die in Afghanistan herrschen, ist es bezeichnend, daß die Sklaverei dort
noch nicht verschwunden ist, ja daß der Emir selbst, wenn die Gelegenheit günstig
ist, Menschenhandel treibt. Nach der furchtbar grausamen Niederwerfung des
Aufstandes der Hasareh, von dem in einem andern Abschnitte (Land und Leute)
erzählt wird, verkaufte Abd-ur-Rahnmn etwa vierhundert Frauen und Mädchen,
jedes Weib zum Preise von zehn Rupien, nach Persien. In Afghanistan selbst
wurden für ein Weib oder ein Kind, worunter auch Knaben waren, fünf Rupien
begehrt und bezahlt.
Die Strafrechtspflege, die zum Teil schon in dem vorigen Abschnitte ge¬
schildert worden ist, stellt sich als ein Gemisch von Willkür, Gewalttätigkeit und
Grausamkeit dar. Verhaftungen und Beraubung der Freiheit auf unbestimmte
Zeit gehören, in Kabul wenigstens, zu den gewöhnlichsten Dingen. Einer Schuld
des also Vergewaltigten bedarf es gar nicht. Wachen dringen Nachts in seine
Behausung ein und schleppen den Unglücklichen in das Gefängnis; auf seine
Frage, warum so mit ihm verfahren werde, wird ihm die lakonische Antwort
zuteil: „Du wirst es schon erfahren." Ich habe schon erzählt, daß in Kabul
während der Zeit meines dortigen Aufenthalts immer acht- bis zehntausend männ¬
liche und zweitausend weibliche Häftlinge in den Gefängnissen schmachteten. Ein
großer Teil dieser Gefangnen kennt die Ursachen der Haft nicht. Alle männ¬
lichen und einige wenige der weiblichen Häftlinge tragen während der ganzen
Dauer ihrer Gefangenschaft eigentümliche Fesseln verschiednen Gewichts. Diese
Fesseln bestehn aus einer prismatischen oder runden Eisenstange, die mit einem
Ringelchen an dem Leibgurte einerseits und zwei Ringen an starken, eisernen
Spangen andrerseits befestigt wird. Diese Spangen werden dem Häftling an
den Beinen oberhalb der Fußgelenke angelegt. Die Eisenstangen haben ein
Gewicht von einem Tscharak bis sechs Ser (1^ bis 36 Kilogramm). Die mit
schweren Fesseln belasteten Häftlinge vermögen sich nicht zu bewegen und müssen
in den Gefängnisrüumen sitzen. Die andern Gefangnen verrichten verschiedne
Arbeiten. Auch mir wurden vierzehn Häftlinge als Arbeiter zugewiesen, die im
Sommer um acht Uhr Morgens aus dem Gefängnisse kamen und um vier Uhr
Nachmittags dorthin zurückgeführt wurden. Im Winter war die Arbeitszeit um
zwei Stunden kürzer bemessen.
Die Sorge für die Häftlinge liegt in Kabul dem Bürgermeister der Stadt
ob, der die mit leichtern Fesseln belastet, die ihm oder seinen Beamten mindestens
eine Rupie bezahlen. Auch die mir zugeteilten Häftlinge hatten Fesseln ver-
schiednen Gewichts von anderthalb bis sechs Kilogramm. Die mit sechs Kilo¬
gramm beschwerten armen Teufel vermochten nur mit großer Anstrengung zu
arbeiten und baten mich oft, ich möge mich beim Bürgermeister verwenden,
damit sie leichtere Fesseln erhielten. Ich willfahrte diesen Bitten auch, aber
ohne die wirksame Unterstützung des Ersuchens durch harte Rupien war nichts
zu erreichen. Ich konnte deshalb nicht allen, die mich zu ihrem Mittler und
Fürsprecher erkoren, helfen, wenn ich nicht meinen ganzen Gehalt daransetzen
wollte. Bis zum Jahre 1899 erhielt jeder Gefangne täglich 750 Gramm Brot,
von diesem Zeitpunkt an wurden jedem auf vieles Bitten 1500 Gramm verab¬
reicht. Von diesem Brote verkaufen die Häftlinge zumeist die Hälfte zum Preise
von sechs bis siebeneinhalb Pfennigen, um sich dafür Tabak u. tgi. zu kaufen.
Dieser Schacher ist seltsamerweise nicht untersagt. Während des ersten Jahres
ihrer Gefangenschaft erhalten übrigens die Häftlinge keinen Bissen Brot, sodaß
die, die nicht Verwandte oder mitleidige Freunde haben, einfach Hungers sterben
müßten, wenn sich nicht die Mitgefangnen ihrer erbarmten. Die ganz Unbe¬
mittelten müssen also im ersten Jahre der Haft ihr Dasein mit dem Gnaden¬
brote ihrer Leidensgefährten fristen. Gefangne, die vermögende Verwandte haben,
dürfen sich von diesen Nahrung und Kleidung bringen lassen, doch gibt es nur
sehr wenig Häftlinge, die sich einer solchen Gunst des Schicksals erfreuen. Für
die Bekleidung der Gefangnen trägt die Verwaltung der Gefängnisse in keiner
Weise Sorge; ebensowenig für die Erwärmung der Lokale im Winter. Es er¬
eignet sich, daß Häftlinge, die schon längere Zeit ihrer Freiheit beraubt sind,
nur noch Lumpen auf dem Leibe haben, von Wäsche gar nicht zu reden. Unter
den mir als Arbeiter zugewiesnen Gefangnen war einer, der keine Kleidung besaß,
sondern nur eine vollständig zerrissene Pferdedecke um seinen Leib geschlungen
hatte, die eigentlich nur aus Lumpenflicken und Garn bestand. Der bedauerns¬
werte Mensch mußte sich auch im Winter mit diesem traurigen Kleidungsstücke
begnügen. Er ging zu jeder Jahreszeit, auch in Schnee und Eis, barhaupt
und barfuß an seine Arbeit, die er allerdings kaum verrichten konnte, da ihm
der Lumpenmantel von den Gliedern fiel, wenn er ihn nicht mit den Händen
zusammenhielt. Im Herbste, von Mitte Oktober bis Ende November, hatten
meine Arbeiter verhältnismäßig gute Zeiten, da ich fast täglich eine Tonne
Weintrauben Pressen ließ, von denen sie eine erkleckliche Menge verzehrten, da
ich es nicht übers Herz brachte, ihnen diesen Genuß zu verbieten. Wenn es
in den letzten Tagen des Novembers kühl wurde, zündeten meine Arbeiter ein
kleines Feuer an, um sich zu wärmen, und der „Lumpenmann" ließ es sich
daran selbstverständlich auch wohl sein. Da geschah es denn, daß ihn seine Ge¬
nossen neckten, indem sie ihm sagten, er würde fernerhin keine Trauben erhalten,
Wenn er nicht arbeiten wolle. Diese Drohung veranlaßte den Geneckten, seinen
Flickenmantel von sich zu werfen und splittcrfaserncickt, wie ihn der liebe Herr¬
gott geschaffen hatte, unter dem unauslöschlichen Gelächter seiner Gefährten an
der Traubenquetsche aus Leibeskräften zu drehen. Dieser arme Teufel — er
stammte aus Turkestan — mußte siebenundeinhalb Jahre im Gefängnisse schmachten,
weil er desertiert war. Niemand kümmerte sich während dieser Zeit um ihn,
niemand unterstützte ihn. Im Mai 1900 wurde er begnadigt. Da weder er
noch seine Verwanden imstande waren, das Brot zu bezahlen, das er während
seiner Haft genossen hatte — diese Gepflogenheit ermöglicht es, eine ungezählte
Menge von Leuten der Freiheit zu berauben, ohne daß der Säckel des Emirs
dadurch empfindlich getroffen würde —, so wurde ihm dies erlassen. Trotzdem
konnte er nicht in seine Heimat abreisen, da er hierzu eines vom Bürgermeister
ausgestellten Entlassungsscheins bedürfte, für den er zwei Rupien bezahlen sollte.
Sonst kostete ein solcher Schein fünf Rupien, in Anbetracht der Bettelarmut
des „Begnadigten" war die Gebühr ermäßigt worden, aber auch diesen Betrag
vermochte er nicht aufzubringen. In seiner Not kam er zu mir und bat mich,
ihm zu helfen. Ich gab ihm das Geld, und damit erkaufte er sich die Freiheit.
Als ich an demselben Tage nach Hause ritt, erwartete mich der Mann auf der
Straße und wollte mir in überschwenglichen Dankgefühle die Füße küssen, was
ich selbstverständlich nicht geschehn ließ. Eine lange Strecke Wegs ging er
neben meinem Pferde her. Ich erklärte ihm, daß es mich freue, ihn befreit zu
sehen, und riet ihm, den Staub Kabuls von den Füßen zu schütteln und die
Heimat aufzusuchen. Trauerten Auges verließ mich der Ärmste. Dieses Einzel¬
geschickes habe ich deshalb ausführlicher Erwähnung getan, weil es typisch ist,
und sich die große Mehrzahl der Gefangnen in einer ganz ähnlichen Notlage
befindet wie der arme Fahnenflüchtling aus Turkestan, wenn sich auch ihre
Leiden nicht immer so ergreifend dem Mitleid aufdrängen. Das Los der Häft¬
linge, die schwerer Vergehn oder Verbrechen bezichtigt werden, ist selbstverständ¬
lich noch um vieles härter.
In den Gefangnenhüusern gibt es weder Bettstellen noch Öfen, sodaß die
Gefangnen in ihren Kleidern auf dem Lehmboden schlafen und im Winter bei
strenger Kälte frieren müssen. Da sechs bis zwölf dieser Unglücklichen in einem
Raum zusammen sind, vermögen sie sich vor der Kälte einigermaßen zu schützen,
indem sie sich so nahe wie möglich aneinanderschmiegen, um sich gegenseitig zu
Wärmen. Ab und zu mag es einzelnen Häftlingen gelingen, auf den Arbeits¬
plätzen einige Stückchen Holz zu stehlen, womit dann in den Arrestlokalen Heiz¬
versuche angestellt werden. Es ist begreiflich, daß von Gefangnen öfter Flucht¬
versuche gemacht werden, doch laufen diese Versuche sehr selten gut ab. Die
wieder eingefangnen Ausreißer werden ohne Gnade und Barmherzigkeit aufge¬
knüpft. Ich sah solche Hinrichtungen selbst. Unverehelichte Gefangne, die nur
leichter Vergehn wegen ihre Freiheit verloren, erlangen diese nicht selten wieder,
wenn sie zu heiraten wünschen und dem Emir ein dahinzielendes Bittgesuch
überreichen lassen. Ein solcher Fall trug sich folgendermaßen zu: Im Sommer
1899 wollten sich zwei in der Waffenfabrik beschäftigte Häftlinge, Brüder, ver¬
ehelichen, hatten aber nicht das nötige Geld dazu, die Bräute zu kaufen. Sie
baten deshalb den Leiter der Fabrik, Herrn Gebhard Fleischer, der als Dolmetsch
mit mir die Reise nach Kabul gemacht hatte, er möge ihnen die Summe geben.
Dieser willfahrte, und der Preis der Brande wurde mit je zehn Rupien ermittelt.
Dieser Betrag floß jedoch in die Tasche des Emirs als Ehesteuer, sodaß die
Bräute auf Borg den beiden heiratslustigen Gefangnen überlassen werden mußten.
Sie freuten sich, ihrer Fesseln ledig geworden zu sein und Frauen zu haben.
Die Ehesteuer ist in solchen Fällen offenbar die Ursache der Milde des Emirs.
Von den weiblichen Häftlingen befindet sich ein Teil wegen leichtfertigen
Lebenswandels, was als Verbrechen betrachtet wird, in Gefangenschaft, die meisten
schmachten jedoch aus keinem andern Grunde in den Gefängnissen, als weil ihre
Väter, Brüder oder Ehemänner irgendeines Verbrechens oder Vergehns beschuldigt
werden oder in das Ausland entflohen sind. Die weiblichen Gefangnen, die
Verwandte haben, erhalten weder Nahrung noch Bekleidung. Sie werden mit
verschiednen Handarbeiten beschäftigt. Ans einem Beispiele möge der Leser er¬
sehen, aus welchen nichtigen Ursachen auch Frauen in Afganistan ihrer Freiheit
beraubt werden. Eine Witwe heiratete einen der Berichterstatter des Emirs,
der aus irgendwelchem Grunde aufgeknüpft wurde. Die zweifache Witwe wurde,
obwohl sie beteuerte, daß sie von dem Verbrechen ihres Mannes nicht das
Geringste wisse, und obgleich ihr eine Schuld tatsächlich nicht nachgewiesen werden
konnte, ihrer Freiheit beraubt und schmachtete, als ich in Kabul weilte, schon
mehrere Jahre im Gefängnisse. Hin und wieder veranlassen außerordentliche
Geschehnisse eine Begnadigung der wenig verdächtigen, d. h. unschuldigen Häft¬
linge. Vor etlichen Jahren führte ein heftiges Erdbeben, bei dem der Emir mit
dem Schrecken davonkam, eine solche Beendigung der Gnade des Herrschers herbei.
Damals wurde fünftausend Gefangnen die ersehnte Freiheit wieder geschenkt. Auch
tüchtige Arbeiter, die um leichter Vergehn willen in Haft gehalten werden,
erlangen mitunter, wenn sie ein Bittgesuch an den Emir richten, die Freiheit
wieder. Die meisten Gefangnen erhofften Befreiung, wenn der Thronfolger
Prinz Habib Allens zur Herrschaft gelangte. Sie dürften sich in dieser Annahme
auch nicht getäuscht haben, denn der neue Emir scheint ein gut gearteter, ge¬
rechter und weichherziger Mann zu sein. Unter den Vergehn und Verbrechen
im Sinne des modernen Strafrechts nehmen Diebstähle und Raubmorde in Af¬
ghanistan die erste Stelle ein. Die Hauptursachen dieser Delikte sind ohne
Zweifel die grenzenlose Not und Armut der weitaus überwiegenden Mehrheit
des geknechteten Volkes. Die Bestrafung der Diebe und der Raubmörder ist
in den meisten Fällen barbarisch. Am 2. Dezember 1899 wurde ein Pferdewärter
aufgeknüpft, weil er ein Viertel Ser (1^ Kilogramm) Gerste gestohlen hatte;
am 20. Dezember 1899 ereilte zwei Männer wegen eines ähnlichen Delikts
dasselbe Schicksal. Einem Arbeiter, der in dem allgemeinen Arbeitshause ein
kleines Stückchen Leder gestohlen hatte, wurde eine Hand am Gelenke abge¬
schnitten. Die im ganzen Reiche vorhandnen bezahlten und unbezahlten Bericht¬
erstatter und Angeber des Emirs wandeln nicht immer auf rechten Wegen und
werden meist furchtbar bestraft. Am 28. November 1899 wurde ein Bericht¬
erstatter wegen Geschenkannahme zerschnitten; ein andrer wurde gehenkt. Solche
Strafen werden sehr häufig verhängt und vollzogen.
Auch mit seinen Beamten, die übrigens in der Tat ein sehr weites Ge¬
wissen haben, pflegt der Emir nicht besonders glimpflich zu verfahren. Am
25. Mai 1899 wurde der Zahlmeister samt seinen drei nächsten Unterbeamten
mit einem Geschütz erschossen, am 11. Januar 1900 wurde ein höherer Beamter
nebst zwei Häftlingen aufgeknüpft. Diese hatten zu entfliehen versucht, waren
aber sogleich gefangen worden. ^
n Nordeuropa ist der Zahn der Zeit zu eifrig am Werke ge¬
wesen, als daß viele Städte in dem Zustand einer entlegnen
Vergangenheit auf uns Hütten kommen können. Während die
Mittelmeerländer an Verkehr, Wohlstand und politischer Be¬
deutung hinabsanken, kam Nordeuropa empor. Dort konnte vieles
erhalten bleiben, was hier verschlungen wurde und Neuem Platz machte. Wohl
blieben Kirchen und Schlösser, aber die Masse der Bürgerhäuser verschwand.
Man sagt wohl, daß Nürnberg, Lübeck und Hildesheim in wesentlichen Teilen
das Mittelalter auf unsre Zeit gebracht hätten. Das ist aber eine starke
Übertreibung. Nur von der hansischen Gründung Wisby auf der schwedischen
Insel Gotland kann man es sagen, und wenn auch nicht mit ganz demselben
Recht von Flanderns Hauptstadt, von Brügge. Ehedem eine blühende Gro߬
stadt, die zu den Zeiten der burgundischen Herzöge beinahe mit London und Paris
wetteifern konnte, ist es heute nur noch eine Stadt von fünfundvierzigtausend
Einwohnern. Es ist vor vierhundert Jahren in Schlaf verfallen und verharrt
noch heute darin, bis eben jetzt die Wiedererweckung vor sich gehn soll.
Brügge ist nicht nur überreich an Kirchen und stattlichen Profanbauten aus
dem Mittelalter, es enthält noch ganze Straßen, an denen seit vierhundert,
vielleicht fünfhundert Jahren kaum ein Neubau entstanden ist. Wenn man
an den stillen Kannten, die die ganze Stadt durchzieh», entlang wandert,
wenn unser von den Wänden widerhallender Schritt zuweilen das Einzige
ist, was die Ruhe unterbricht, so wähnt man sich ins Mittelalter zurückversetzt,
mit der einzigen, allerdings höchst bedeutsamen Ausnahme, daß das brausende
Leben von damals fehlt, das Leben, das in dem benachbarten Gent den
Warnungsruf an die Kinder erzeugte, schnell ins Haus zu kommen, sie seien
in Lebensgefahr, denn die Weber gingen zum Mittagessen.
Brügge ist im Gegensatz zur Industriestadt Gent die Seehandelsstadt ge¬
wesen. Wenn man die Gegend von einer Kirchturmspitze überschaut, und soweit
das Auge reicht, nichts als Kuhweiden sieht, wenn man auf der Karte aus¬
mißt, daß Brügge wenigstens zwölf Kilometer von der See und mehr alK
doppelt so weit von der Scheide entfernt liegt, so sucht man befremdet
nach der Seeverbindung. Die Sache erklärt sich dadurch, daß das große
gemeinsame Delta der Schelde, der Maas und des Rheins, das heute noch
aus acht Mündungsarmen und vielen dazwischen liegenden Inseln besteht,
damals noch weit vielgestaltiger war. Heute ist der Hort oder die Wester-
schelde der südlichste Arm. Im Mittelalter gab es noch einen südlichern, sehr
gut schiffbaren Arm, das Zwyn (Schwein). An ihm lag Brügge. Noch
heute ist ein ganz kleiner Rest dieses Scheldearms vorhanden: eine schmale
Rinne bei der holländischen Festung Sluis. Das Zwyn stand mit dem
übrigen untern Flußgebiet der Scheide in Verbindung. Täglich strömte zwei¬
mal die Flut hier herein, und täglich strömte zweimal die Ebbe hinaus.
Durch diese starke Bewegung wurde das Fahrwasser offen gehalten; die
Schlammmassen konnten sich nicht ablagern. Aber teils die Natur, teils
der Mensch bereiteten dem Meeresarm die Vernichtung. Stürme rissen ge¬
legentlich die Ränder des Landes und der Inseln durch, womit dann Sand¬
bänke und Verlegungen der Stromrinne eintraten. Verhängnisvoller war noch,
das; die Bewohner der stromaufwärts liegenden Ländereien dem Strom immer
mehr Land abgewannen, indem sie es mit Deichen (Dämmen) umgaben, sodaß
es der Überschwemmung entzogen wurde. Damit wurde die Masse ein- und
allsströmenden Wassers verringert, und neue Schlammablagerungen wurden
begünstigt, die dann wieder zu Landgewinnungen führten. So wurde all-
mühlich aus dem Meeresarm, wo die Galeeren der Genuesen und der Vene¬
zianer mit Wein, Südfrüchten, Teppichen und Seidenstoffen einliefen, um die
wetterfesten hanseatischen Segler mit russischem Flachs, Hanf und Talg, mit
schwedischen Holz und norwegischen Heringen und Stockfischen an den Knif
von Brügge zu treffen, weite Kuhweiden, auf denen höchstens ein Möwenschrei
an die See erinnert.
Um 1100 war der südlichste Scheldearm, das Zwyn, noch unter den
Mauern Brügges. Um 1200 hatte er sich schon nach Damme, vier Kilometer
von Brügge, zurückgezogen. Die Stadt baute einen Seekanal von dort her
und fesselte die Schiffahrt an sich. Bei Damme, das heute mitten im Weide¬
land liegt, war 1213 noch eine meerbusenartige Erweiterung der Schelde,
sodaß dort 1213 zwischen Franzosen und Engländern eine große Seeschlacht
geschlagen werden konnte, wo Philipp August von Frankreich seine ganze
Flotte, viele hundert Segel, verlor. Immer weiter rückte das Land nach
Nordwesten vor, und die Brügger mußten mit, um Verbindung mit der See
zu behalten, die sie dann doch wieder durch Dämme von dem niedrigen Lande
abwehren mußten. Der Ruhm dieses heldenmütigen Kampfes drang bis zu
Dantes Ohren; er spricht von dem Damm, der den Tränenstrom von der
Sandwüste trennt, gleich dem, den die Brügger von ihrer Stadt nach Kadzand
gebaut haben. Das wachsende Unheil spottete allen Anstrengungen, sodaß sich
die Stadt um 1400 entschließen mußte, einen ganz andern Kanal nach dem
22 Kilometer entfernt liegenden, schon erwähnten Hafen Sluis herzustellen.
Der Erfolg war überwältigend. Die größten damaligen Schiffe, 400 bis
500 Tonnen groß, konnten auf diesem Wege Brügge erreichen. Man liest
in den Chroniken, daß im Jahre 1468 bei einer einzigen Flut zweihundert¬
funfzig Schiffe in Sluis einliefen. Bei Sluis, das heute nur durch einen
winzigen Wasserfaden mit dem Meere verbunden ist, war damals eine weite
Bucht, in der 1340 Eduard der Dritte von England die französische Flotte
besiegte. Schon bald nachdem der neue Kanal nach Sluis das Schicksal
Brügges abzuwenden schien, stellten sich neue Zeichen unheilvoller Versandung
ein. Von 1470 bis 1480 verschlimmerte sich das Übel reißend schnell, und
dann brach der Glanz Brügges in jähem Sturze zusammen.
Brügge war eine Stadt passiven Handels gewesen. Unähnlich den
deutschen Hanseaten, den Spaniern. Genuesen und Venezianern hatte es — wie
Antwerpen auch heute noch nicht — keine stolzen Handelsflotten in alle Meere
hinausgesandt, um die Märkte aufzusuchen. Es war vielmehr den fremden
Nationen eine Börse, zu der sie alle kamen, um ihre Erzeugnisse miteinander
auszutauschen. Die deutschen Hanseaten brachten die englische Rohwolle, auf
die sie in den Rosekriegen ein Handelsmonopol hatten, das erst Eduard der
Sechste um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aufhob. Englische Wolle
wurde in Brüssel, Ipern, Lilie, Doornik zu Tücher und Teppichen verarbeitet
und ging dann über Brügge nach London zurück. In Brügge versorgten sich
die Hanseaten mit Waren aus den Weinländern, aus der Levante, aus Indien
und bedienten damit ganz Europa. In Brügge kauften die Venezianer die feinen
Pelze aus Skandinavien und aus Rußland, den schneeweißen Flachs, die ge¬
trockneten und gesalznen Fische für die Fastenspeise.
Brügge fiel der goldne Regen in den Schoß. Als nun aber die Ver¬
bindung der Stadt mit dem Meere aufhörte, war sein Handel mit einem
Schlage aus. Die Hanseaten beschlossen, ihr jahrhundertelang dort Unter¬
haltes Kondor nach Antwerpen zu verlegen, die andern Kaufmannschaften
machten es ebenso, und Brügge war mit einemmal eine verlassene Stadt.
Nur von dem lang aufgespeicherten Reichtum konnte es noch eine Zeit lang
blühen. Und als ein Jahrhundert später der Kampf der Niederlande gegen
Spanien zur Sperrung der Scheide führte, die noch bis ins neunzehnte Jahr¬
hundert in Gestalt des Scheldezolls angedauert hat, war Brügge nicht wesent¬
lich schlimmer daran als Antwerpen. Seitdem ist dieses eine blühende Welt-
Handelsstadt geworden, während Brügge, abgeschnitten vom Meere, kein Leben
hat wieder gewinnen können. Gent, einst die Schwesterstadt Brügges, ist nicht
so tief gesunken, weil es mehr Industriestadt war, auch früher als Brügge wieder
zu einer brauchbaren Verbindung mit der See gelangte.
Mittelalterliche Großstädte hatten ein meist begründetes Mißtrauen gegen
ihre Fürsten. Sie ließen nur eine begrenzte Zahl von Rossen und Reisigen
der Machthaber ein. Auch Gent und Brügge samt den andern flandrischen
und brabantischen Städten deckten sich durch Mauern und Bürgerwehr und
verkehrten mit ihren Fürsten wie Macht zu Macht. Den Grafen von Flandern
erlaubte man den Einritt erst, wenn sie die alten städtischen Freiheiten be¬
schworen hatten. Als Graf Ludwig der Erste mit Hilfe Frankreichs die Städte
mit Gewalt bezwingen wollte, zogen die Bürger von Brügge und Gent unter
Führung von Breydel und de Coninck hinaus und lieferten dem Feinde am
11. Juli 1302 die berühmte Sporenschlacht, wo zwölfhundert französische
Ritter erschlagen und die Freiheiten des Landes gerettet wurden. Das Denk¬
mal der beiden bürgerlichen Führer ziert seit 1889 den Marktplatz von Brügge.
Gegen die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begann die Mrstenmacht die
Oberhand zu gewinnen. Im Jahre 1440 unterwarf sich Brügge demütig
seinem Herzog Philipp dem Guten von Burgund. Den Frieden besiegelte ein
glänzendes Einzugsfest, von dem eingehende Beschreibungen auf uns gekommen
sind, die den damaligen Glanz der berühmten Handelsstadt zeichnen.
Alle Handelsnationen hatten damals ihre Vertreter dort; die angesehensten
unter ihnen waren die Kaufleute der deutschen Hansa. Sie hatten beim Einzug
Philipps den Ehrenplatz gleich nach der Geistlichkeit, die den Herzog am Tor
begrüßte und ihm dann voranschritt. Hundertsechsunddreißig Kaufleute zu
Pferde, sämtlich in Scharlach gekleidet, mit schwarzen gehäkelten Mützen, über
die schwarze Filzhüte gestülpt waren, vertraten Deutschland; das Pferd ihres
Führers trug Schabracken mit dem Reichswappen, die bis zur Erde hinunter¬
gingen. Den Hanseaten schlössen sich die Spanier und die Lombarden an,
jene achtundvierzig Manu stark, in Wämsern von rotem und grünem Tuch,
die von oben bis unten durchschnitten waren und gelbseidnen Unterstoff sehen
ließen. Die vierzig Lombarden waren violett gekleidet und hatten einen
Herold unter dem Wappen des Herzogs von Mailand an ihrer Spitze. Auch
die nun folgenden Venezianer trugen violett, aber dunkle Seide. Ihnen schlössen
sich die Kaufleute aus Lucca in grauseidnen Gewändern mit großen grauen
Filzhüten an. Dann sechsunddreißig Genuesen, zweiundzwanzig Florentiner,
diese in blauem Damast, dann Katalonier und endlich Portugiesen. Man
kann danach beurteilen, was für ein Welthandelsplatz für damalige Zeit
Brügge gewesen ist. Erst nach den Fremden zogen die Bttrgergilden einher.
Am Markt und an allen Straßen waren die Häuser mit bunten Teppichen
geschmückt. An geeigneten Punkten hatte man Ehrenpforten errichtet. Über
dem Eingangstore der Stadt bliesen beim Einzuge achtzig Trompeter auf
silbernen Instrumenten ein solches „xlaisant euäs möloäiöux Allselaiuck, daß
sich ein jeder darüber freuen und Vergnügen mochte, der es hörte." Als
außerordentliches noch unbekanntes Schaugepränge hatte man lebende Bilder
mit Beziehung auf die Leiden der Stadt, die Güte des Fürsten und die Ver¬
söhnung gestellt. Zur Freude des Volkes gaben mehrere Springbrunnen
Wein statt Wasser. Oben auf dem noch heute stehenden riesigen Hallenturm
hatte zwischen zwei Ecktürmchen ein Seiltänzer sein Tau ausgespannt und ließ
dort seine Künste sehen. Eine prächtige Illumination beschloß den Tag. Acht
Tage lang währte das Fest. Philipp feierte es seinerseits durch glänzende
Turniere. Die Stadt aber hatte Buße tun müssen. Beim Einzug hatten alle
Würdenträger und angesehenen Personen, vierzehnhundert an der Zahl, bar¬
häuptig, barfüßig und schwarz gekleidet den Herzog um Gnade anflehen müssen.
Die Schicksale des so meteorartig auftauchenden und erlöschenden bur¬
gundischen Herzogsgeschlechts waren auch für Brügge bedeutungsvoll. Philipps
Sohn Karl der Kühne verlor 1477 bei Nancy das Leben. Mit seiner Tochter
Maria kam das ganze burgundische Erbe an Kaiser Maximilian den Ersten
von Deutschland. Dessen Sohn Philipp von Österreich heiratete die Erbtochter
von Spanien, als dieses Land im Begriff war, die Herrschaft über beide Erd¬
hälften anzutreten. Sein Sohn Karl der Fünfte vereinigte Österreich, Burgund
und Spanien und vermachte durch sein unseliges Testament, aus dem der
Aufstand der Niederlande hervorging, Burgund an Spanien, sodaß die kaum
erneuerte Verbindung des burgundischen Kreises mit dem Deutschen Reiche
wieder zerschnitten wurde.
In all dieser Zeit war Flandern auf dem Gipfel seiner Blüte. Sogar
das Versinken der Herrlichkeit Brügges machte für das Land wenig aus, da
Antwerpen die gesamte Herrschaft antrat. Die köstlichste Frucht der mittel¬
alterlichen Zivilisation in Flandern war die altflümische Malerei. Ihre
glänzendsten Namen sind Gent und Brügge. Für den Dom Se. Bavo in
Gent wurde 1420 bis 1432 der wunderbare Doppelflügelaltar der Brüder
Hubert und Jan van Eyck gebaut, mit dem nicht nur die Ölmalerei auf ein¬
mal glanzvoll hervortritt, sondern der auch an Größe der Auffassung und
technischer Durchführung sogar alles das weit hinter sich läßt, was Italien
bis dahin bieten konnte. Die Flügel sind jetzt im Berliner Museum, das
Mittelstück nebst alten trefflichen Kopien von den Flügeln ist noch jetzt im
Dome zu Gent. Brügge war der ständige Wohnort beider Brüder; in Brügge
starb Hubert 1426 und Jan 1440. Von dem nahen Sluis aus sandte
Philipp der Gute 1426 seinen Freund und Hofmaler Jan van Esel nach
Lissabon mit dem vertraulichen Auftrage, die Infantin Jsabella zu porträtieren,
damit Philipp — ein großer Frauenkenner, der sich rühmte, wohl Frauen,
aber niemals Männern sein Wort gebrochen zu haben — wisse, wie die
Jungfrau aussehe, die er zur dritten Gemahlin begehre. Er verließ sich auf
seines Malers Rat. Aus dieser Ehe entsprang 1433 Karl der Kühne.
Der dritte große Mann der altflämischen Kunst, Rogier van der Weyden,
ist nicht an Brügge geknüpft, sondern vorzugsweise an Brüssel. Aber der
vierte und (wenn man Quinten Massys zur mittlern Schule rechnet) letzte
Name gehört jedoch ganz und gar Brügge. Hans Memling ist deutscher
Abkunft; er ist in Mömlingen bei Aschaffenburg geboren. Aber seine ganze
Schaffenszeit fällt mit seinem Brügger Aufenthalt zusammen, der von etwa
1477 bis 1494, wo er starb, dauerte. Er lebte also in Brügge, als die
Stadt den geschilderten Verlust ihrer Schiffahrt- und Handelsstellung erlitt.
Und sie bewahrt noch eins seiner köstlichsten Werke: den berühmten Ursula¬
schrein. Das Johanneshospital, ein Krankenhaus, dessen ältester Teil schon
im vierzehnten Jahrhundert stand und den (nach einer falschen Sage ver¬
wundet aus der Schlacht bei Nancy hier zusammenbrechenden) Memling be¬
herbergte, das im übrigen aber unsrer Zeit entstammt, ist schon durch seine
Lage und Umgebung ein vollständiges Stück Mittelalter. An einer der zahl¬
losen Kanalbrücken liegt der ganz unscheinbare Bau; kaum einen Schritt ver¬
nimmt man hier. Fliederbüsche Hunger über das schweigende Gewässer, wo
weiße Seerosen den Spiegel bedecken, und Schwäne langsam rudernd dahin-
ziehn. Hüben eine kleine gotische Kirche, drüben ein Bürgerhaus mit Treppen¬
giebel und Spitzbogenmvtiven: das Johanneshospital. In einem mäßig großen
Zimmer wird hier eine Anzahl meist mittelalterlicher Gemälde bewahrt, in der
Mitte steht auf einem Postament der Memlingsche Schrein mit sechs figuren¬
reichen Miniaturmalereien vom Zuge der heiligen Ursula von England nach
Rom und ihrer Ermordung in Köln, unter denen eins den Kölner Dom mit
dem alten Wahrzeichen, dem Krämer, sowie die Kirche Groß-Se.-Martin zeigt,
woraus die Gewißheit hervorgeht, daß der Künstler Köln gekannt hat. Die
Schmalseiten enthalten die heilige Maria und die heilige Ursula. An Größe
der Auffassung reicht Memling nicht ganz an die Van Eycks heran; an
Innigkeit übertrifft er sie und alle Maler des fünfzehnten Jahrhunderts. Der
Ursulaschrein lockt alljährlich Tausende von Fremden in den unscheinbaren
Raum, und wohl niemand verläßt ihn ohne Entzücken.
Fast gegenüber liegt ein andres, noch weit reicheres Heiligtum der Kunst:
die Liebfrauenkirche, ein Bau, der sich an Zahl und Wert seiner Kunstschätze
mit Santa Croce in Florenz, mit San Giovanni e Paulo und der Frari-
kirche in Venedig vergleichen läßt. Zwar kann sich die altflämische Kunst und
selbst so mancher Maler der spätern Zeit, der hier vertreten ist (zum Beispiel
Seghers, Pourbus), nicht mit den Venezianern und den Florentinern messen,
aber die Brügger Liebfrauenkirche birgt ein unschätzbares Werk von Michel¬
angelo: eine liebliche Madonna von Marmor mit dem Kinde, aus früher
Zeit (1503). Die anfänglich bezweifelte Autorschaft des großen Florentiners
steht unbedingt fest. Vasari erzählt, daß Michelangelo das Werk für den
Brügger Kaufmann Moscheroni geschaffen habe: auf dem Erbbegräbnis der
Familie Moscron hat die Madonna von jeher gestanden. Das Kind erinnert
an Raffaels lieblichste Schöpfungen, aber die Madonna verrät den Meister
der Pietü in der Peterskirche. In einer Chorkapelle stehn zwei herrliche
Sarkophage aus Marmor mit den bronzenen Statuen Karls des Kühnen und
seiner Tochter Maria von Burgund. Der Sarkophag der Tochter ist der
jüngere; 1495 bis 1502 geschaffen, vertritt er noch wesentlich den gotischen
Stil; man kann ihn mit Peter Wischers Grabmal Maximilians in Innsbruck
vergleichen, nur hat er nicht so viele Figuren; wie bei diesem geht aber die
Auffassung des Figürlichem ganz in die Renaissance über. Das Grabmal
Karls des Kühnen, ebenfalls eine liegende Vronzefigur, hat Philipp der
Zweite seinem Ururgroßvater 1558 errichten lassen. Es ist ein vortreffliches
Werk der Renaissanceskulptur, nur äußerlicher, dekorativer aufgefaßt als
das andre.
Noch reicher an Kunstwerken ist die Kathedrale, hier drängen sich an
Altären und Epitaphien die Werke der alten und der mittlern flämischen
Schule zusammen. Im einzelnen nehmen sie jedoch einen weit weniger hohen
Rang ein als die der Liebfrauenkirche und des Johanneshospitals. Eine
kleine, zum Teil aus vortrefflichen Werken bestehende Gemäldesammlung be¬
sitzt die Akademie. Es befindet sich darunter eine hervorragend durchgeführte
Madonna von Jan van Eyck und ein leider etwas beschädigtes Triptychon von
Memling sowie zwei Werke von Gerard David.
Will man sich im Geiste in die Zeit zurückversetzen, wo Handel und
Schiffahrt hier in ihrer höchsten Blüte standen, so muß man nicht den ganz
modernisierten, jetzt als Bahnhofsplatz dienenden Freitagsmarkt aufsuchen, wo
ehedem die Bürger ihre politischen Versammlungen hielten, sondern die
Grande Place, den Mittelpunkt der Stadt. Hier ragt noch der 1300 bis
1500 erbaute riesige Hallenturm empor, das Wahrzeichen der Stadt. Die
„Hallen" waren eine öffentliche Warenniederlage und Börse. Das Rathaus,
ein überaus zierlicher und geschmackvoller Bau, wohl der reizendste, den die
niederländische Gotik hervorgebracht hat, liegt ganz in der Nähe, wo auch
noch die Überreste der burgundischen Herzogsburg sind. Die Tore der alten
Stadtmauer, die von Auszug und Verteidigung, von Sieg und Niederlage
manches erzählen könnten, hat man pietätvoll erhalten. Ihre mächtigen
Kolosse liegen träumend in der sich doch fühlbar umgestaltenden Umgebung.
Im Gewirr der kleinen Straßen fehlt nur das Menschengewühl von 1400,
sonst könnte man sich mit einem Zaubermantel wieder in die Vergangenheit
hinübergetragen denken.
Von den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien bis zur Einverleibung in
Frankreich war Belgien tatsächlich und rechtlich vom Meer abgeschlossen. Durch
die Aufhebung des Scheldezolls ist Antwerpen zu einer großartigen See¬
handelsstadt geworden. Eben jetzt hat der belgische Staat Brügge eine Wasser¬
straße nach dem Meere gegeben. Käme es nur darauf an, so hätte Brügge
eine glänzende Zukunft. Leider hat aber Antwerpen eine günstigere Lage,
weil es tiefer im Lande, näher seinem Hinterkante liegt. Das ist heutzutage
das Entscheidende. Nur für einen ganz kleinen Umkreis liegt Brügge günstiger
als Antwerpen. Fast für ganz Belgien, für Westdeutschland und Nordfrankreich
liegt Antwerpen so günstig, daß Brügge ihm nicht viel Konkurrenz wird machen
können. Die Stadt wird das beklagen, der Freund altertümlicher Stadt¬
bilder nicht.
on Amriswyl reisten wir zum Bundesschießen nach Bern und fuhren
über die Kirchenfeldbrücke zum Festplatze. Dort herrschte schon ein
internationales Leben, da Schützen aus aller Herren Ländern, sogar
aus Amerika, anlangten. Wir waren an einem Nachmittag ange¬
kommen, hatten noch an demselben Tage die Wagen zurechtgestellt
und benutzten die übrigen Stunden zu einem Spaziergang über den
Festplatz. Die bedeutendste Sehenswürdigkeit war die Menagerie Bach, die über
zweiundzwanzig Wagen verfügte und Tiere enthielt, die sonst selten oder gar nicht
in Menagerien angetroffen werden. Dazu gehörte vor allem ein Nilpferd, das
einen Wagen für sich allein bewohnte, und ein Nashorn. Von andern Tieren
waren vorhanden: ein Elefant, ein Zebra, ein Gnu, ein Lama, zwei Giraffen, sehr
viele Raubtiere, darunter drei Tiger, ferner ein ganzer Wagen voll Affen. Von
Dressurgruppen waren zwei vorhanden, deren jede aus drei Löwen bestand. Außer¬
dem gab es noch eine Dressur für eine Dame mit Hyänen und Wölfen. Das
Personal der Menagerie bestand aus achtzehn Mann, außer der Böhmischen Musik¬
kapelle.
Nach der Besichtigung des Festplatzes aß ich zu Abend und ging dann in die
Stadt, von wo ich gegen zehn Uhr über die Kirchfelder Brücke zurückkam. Dabei
bemerkte ich, daß vor der Menagerie ein Petroleumflambeau brannte, und daß sich
eine erregte Menschenmenge darum hin und her bewegte. Als ich näher kam, fiel
mir auf, daß die Menschen sich trotz ihrem eiligen Treiben schweigsam verhielten,
und auf meine Frage, was es gebe, wurde mir zugeflüstert, der Königstiger sei
ausgebrochen und sitze unter einem der Wagen. Am Nachmittag hatte eine Hündin
gerade unter dem Käfig des Tigers geworfen, und das Gewinsel der jungen Hunde
mochte den Tiger in Aufregung versetzt haben. Er hatte den Boden seines Käfigs
durchgekratzt und sich durch das Loch auf die Hündin gestürzt, der er sogleich die
Kehle durchgebissen hatte. Das Geschrei des Hundes machte die Leute aufmerksam,
und einer davon, der den Hund zu Pflegen hatte, näherte sich im Dunkeln dessen
Lager und versuchte das Tier durch Streicheln zu beruhigen. Dabei bemerkte er
zu seinem Entsetzen, daß er statt des Hundes den Tiger streichelte, der über diese
Liebkosung mit einem unheimlichen Geknurr quittierte, worauf der Mann sich schleunigst
entfernte und Lärm schlug. Da die Bachschen Leute offenbar völlig den Kopf ver¬
loren hatten, warnte ich sie, sich mit dem Petroleumflambeau dem Tiger zu nähern,
und schlug vor, in der Dunkelheit so schnell wie möglich die Holzschranken des
dritten Platzes zu holen und um den Wagen zu stellen, wo sie dann mit Pfählen
und Stricken befestigt wurden. Wir entwickelten hierbei eine fieberhafte Tätigkeit,
bis wir die Überzeugung hatten, daß die Bestie ihren Schlupfwinkel nicht mehr
verlassen konnte. Dann holten wir den Umsatzkasten, einen schweren hölzernen
Kasten mit zwei Gitterschiebern, den jede größere Menagerie bei sich führt, schoben
ihn an den verbarrikadierten Wagen hinan, stellten eine Öffnung her, machten Licht
und bearbeiteten den Tiger so lange mit dem Kratzeisen, bis er nach vielen ver¬
geblichen Bemühungen das Schlupfloch fand und in den Umsatzkasten hineinging.
Als wir ihn so in Sicherheit wußten, atmeten wir erleichtert auf, und Ehlbeck, der
Schwiegersohn des Prinzipals, lud uns noch um halb ein Uhr in der Nacht ein,
in einer benachbarten Wirtschaft ein Faß Bier zu trinken, verpflichtete uns aber,
über den ungemütlichen Vorgang nichts verlauten zu lassen. Wir blieben bis gegen
drei Uhr beisammen und besprachen noch lebhaft das große Ereignis der Nacht.
Nach einigen Tagen war der Bau der Menagerie annähernd vollendet. Die
Bude war schon mit Leinwand bezogen, und im Innern begann ein großes Reine¬
machen, wobei es galt, den Mist von acht Tagen zu beseitigen. Einer der Wärter,
der erst kurze Zeit bei der Menagerie war und unter anderm auch den Käfig mit
dem schwarzen Panther und dem Jaguar zu besorgen hatte, wollte sich die Arbeit
erleichtern, indem er den Gitterschieber in die Höhe hob, und da dieser natürlich
wieder herunterfiel, mit einem Holzstück feststellte. Als er sich umwandte, um das
Kratzeisen zu ergreifen, sprang der schwarze Panther aus dem Käfig. Die übrigen
Angestellten, die gerade in der Bude waren, ergriffen die Flucht, und ich konnte
bemerken, wie sie sich mit allen Anzeichen des Schreckens in der Nähe der Bude
hielten und durch die Leinwand ängstliche Blicke in das Innere warfen. Sogleich
verbreitete sich das Gerücht, daß bei Bach schon wieder ein Raubtier ausgebrochen
sei. Madame Böhme hatte nichts Eiligeres zu tun. als ihre beiden Möpse in
Sicherheit zu bringen. Der Mann in der Menagerie verlor jedoch seine Geistes¬
gegenwart nicht, sondern sagte sich, daß er die Pflicht habe, sein leichtsinniges Unter¬
fangen wieder gut zu machen. Er stürzte sich auf den Panther, faßte ihn mit der
einen Hand im Genick, mit der andern beim Schwanz und schleuderte unter Auf¬
bietung aller Kräfte das sich windende Tier in den Käfig. In der Eile war es
ihm jedoch nicht möglich, das Sperrholz schnell zu beseitigen, und der Panther ent¬
wischte zum zweitenmal. Der Wärter faßte ihn wieder und hielt ihn auch fest,
obgleich die Bestie ihm den rechten Arm zerfleischte und die Unterlippe mit einer
Kralle zerriß. Diesmal gelang es ihm, nachdem er das Tier wieder in den Käfig
befördert hatte, das Sperrholz wegzuziehn, und so war auch dieser zweite Unfall
verhältnismäßig glücklich abgelaufen. Der Mann wurde in das Krankenhaus ge¬
bracht, wo sein Arm mit einem Gipsverband versehen wurde. Ehlbeck entließ ihn,
gab ihm aber zwanzig Franken als Entschädigung. Meiner Ansicht nach hätte er
besser getan, den Wärter zu behalten, da dieser höchstwahrscheinlich durch den
Schaden klug geworden war und fernerhin die einfachsten Vorsichtsmaßregeln nicht
außer acht gelassen haben würde.
Das Schützenfest dauerte im ganzen drei Wochen, und die meisten der Schau¬
steller machten ein ausgezeichnetes Geschäft. Das Schießen selbst begann am Morgen
früh um sechs Uhr und dauerte ununterbrochen bis zum Einbruch der Dunkelheit.
Es ist bezeichnend für die Schweizer Zustände, daß auf dem Festplatze kein Eintritts¬
geld erhoben wird, wie das in Deutschland allgemein der Fall ist. Der Platz ist
nicht eingezäunt, und jedem steht es frei, ihn so oft er will zu besuchen.
Als sich das Schützenfest seinem Ende näherte, forderte uns Ehlbeck auf, bei
dem Abbrechen und Verladen der Menagerie zu helfen. Wir brachen unsre eigne
Bude in der Nacht ab und waren am folgenden Nachmittag gegen drei Uhr mit
dem Verladen fertig. Dann gingen wir zu der Bachschen Menagerie, die gerade noch
eine Vorstellung begann, und fingen schon damit an, die Leinwand loszuzwicken.
In demselben Augenblick, wo das Publikum die Bude verließ, sank auch die Lein¬
wand, wurde zusammengelegt, und darauf brachen wir das Holzwerk ab, luden es
auf die Wagen, schoben die Wagen auseinander und steckten die Deichseln ein, sodaß
Nachts halbem Uhr alles zum Bespannen fertig war. Bei dieser Arbeit erhielten
wir rechtzeitig unser Abendbrot sowie ein Faß Bier und bekamen endlich jeder fünf
Franken Entschädigung. In der Nacht gingen wir nach der Rampe und legten
uns in unsre eignen Wagen zum Schlafen nieder.
Unser Reiseziel war Innsbruck, wohin auch die Bachsche Menagerie mit uns in
einem gemeinsamen Extrazug fuhr. Mehrere der Wärter machten die Reise in den
kleinen Conpös, mit denen die Menageriewagen versehen waren, andre, darunter ich,
fuhren in der dritten Klasse. In Zürich kamen wir Abends um neun Uhr an und
blieben dort bis zum andern Morgen um vier Uhr liegen. Der nun folgende Reisetag
ist mir als einer der angenehmsten in der Erinnerung geblieben; ich konnte mich
an den herrlichen Gebirgslandschaften und den malerischen Ortschaften, an denen
wir vorüber kamen, nicht satt sehen. Wir gaben uns, alle mit einer Virginiazigarre
bewaffnet, dem Genusse des köstlichen Sommermorgens hin und schwelgten im An¬
blick des Züricher Sees, dessen langgestreckter, von Städten und Dörfern umsäuinter
Spiegel lange Zeit zu unsrer Seite blieb.
Nachdem wir die Schweizer Grenze passiert hatten, gelangten wir an eine
Station, wo wir, wie uns der Schaffner sagte, fünfzehn Minuten Aufenthalt haben
sollten. Da wir Durst verspürten, eilten wir nach einem vom Bahnhof etwas ent¬
fernten Restaurant und ließen uus Bier geben. Die Wärter, die in den Menagerie-
coupüs fuhren und dort in ihren Betten gelegen hatten, bekamen auch Durst und
verließen ihre Wagen, als wir schon wieder zurückkehrten, sie gelangten auch zu der
Bierquelle, hörten aber plötzlich zu ihrem Schrecken das Abfahrtssignal des Zuges
und blieben zurück.
Als wir ins Inntal hinabfuhren, wurden die Bremsklötze so heiß, daß wir
bei einem kurzen Aufenthalt unsre Zigarren daran anzünden konnten. Unterwegs
machte ich die Bekanntschaft eines Steinalten Affenwärters mit Namen Lagouois,
der mir durch sein ehrwürdiges Aussehen und seine Erzählungen sehr imponierte.
Am Abend gegen elf Uhr langten wir endlich in Innsbruck an, wo sich, als in
der Menagerie noch gefüttert werden sollte, herausstellte, daß von den achtzehn An¬
gestellten nur sechs mitgekommen waren. Einer davon war schon in Bern am
Gabentempel arretiert worden, konnte jedoch seine Unschuld beweisen und kam, wie
auch die andern, langsam nach.
In Innsbruck wurde das zweite Österreichische Bundesschicßen mit großem
Pomp gefeiert. Am andern Morgen früh wurde zuerst die Bachsche Menagerie
und dann unser Panorama ausgeladen. Beim Verlassen des Wagens wurde der
Elefant scheu und ging durch; zum Glück hielt ihn aber Ehlbeck, der ihn führte,
am Ohre fest und ließ auch nicht los, als der Elefant im schnellsten Laufe die
Straße weiter rannte, wobei beide in eine dichte Staubwolke gehüllt waren. Das
Tier beruhigte sich endlich und konnte ohne weitern Zwischenfall auf den Festplatz
geführt werden. Dieser lag auf einer Wiese bei dem großen Viadukt und war mit
einer Plankenwand eingezäunt. Man betrat den Platz durch ein großes Portal
und hatte dann die Schießstände gerade vor sich, während rechts die Festhalle und
eine Anzahl Schaubuden, links die übrigen Schaubuden stauben. In der Mitte
des Platzes waren zwei Musikpavillons sowie der Gabentempel errichtet. Von
Sehenswürdigkeiten und Vergnügungsetablissements waren außer uns und der
Bachschen Menagerie das Theater Weissenbach, der Kühnertsche Piktus, das Dampf¬
karussell von Kitzmann und Mannsfeld aus Harburg, Henschel aus Dresden mit
einer Athletendame, die seine Frau war, und endlich ein sogenannter „Stabuf" vor¬
handen, worin eine kleine Menagerie, die hauptsächlich Seehunde, Schlangen und
Krokodile enthielt, gezeigt wurde. Ein „Stabuf" ist eine Schaubude, bei der die
Bühne in der Mitte, und zwar vertieft, angebracht ist, während das Publikum auf
einem Podium ringsherum steht. Eine solche Bude ist gewöhnlich mit Zumache¬
tüchern versehen, die nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden. Merkt der Be¬
sitzer der Bude, daß das hereinströmende Publikum das vor der Bude stehende
ebenfalls zum Besuch anlockt, so läßt er die Zumachetücher auf, wo aber das umgekehrte
der Fall ist, oder wo die Bude schlecht besucht wird, schließt er sie, um die Draußen-
stehenden über die Anziehungskraft seiner Schaustellung im unklaren zu lassen.
Außerhalb des Festplatzes stand noch eine Reihe andrer Geschäfte, darunter
die Sountagsche Menagerie, ein Zirkus, ein Hippodrom, eine Bude mit Zwergen
und mehrere Karussells. Am ersten Sonntag früh neun Uhr setzte sich in der Stadt
der Festzug in Bewegung, an dem viel hundert Schützen aus aller Herren Ländern
in ihren kleidsamen Trachten und Uniformen sowie eine Anzahl prächtig dekorierter
Prunkwagen teilnahmen. Wir benutzten jeden freien Augenblick, die Festhalle zu be¬
suchen, das heitere Treiben zu beobachten und uns mit dem vorzüglichen Bier und
dem ebenso vortrefflichen Gulasch, der dort verabreicht wurde, zu stärke». Auch
meine Prinzipalin saß nach Schluß des Geschäfts regelmäßig in der Halle, und ihr
schiefsitzender Hut bewies, daß sie ebenfalls in die richtige Stimmung gekommen war.
Eines Morgens besuchte ich mit meinem Freunde Anton Brunner die Bachsche
Menagerie und bemerkte von dort aus, daß an unserm Panorama einer der Vor¬
hänge schon geöffnet war. Wir eilten hin und bekamen Vorwürfe darüber, daß
wir nicht rechtzeitig auf unserm Posten gewesen wären. Da wir mit Gustav Lindig
in der letzten Zeit schon häufig in Meinungsverschiedenheiten geraten waren, be¬
nutzten wir die Gelegenheit, zu kündigen, halfen aber nach Ablauf der vierzehn¬
tägiger Frist noch bei dem Abbrechen und dem Verladen und suchten uns andre
Stellen. An eineni der letzten Tage besuchte ich in Gesellschaft der Frau Böhme
die Stadt, und wir sahen vor dem Portal der Hofburg einige Hofequipageu vor¬
fahren. Wir stellten uns zu dem schaulustigen Publikum und warteten, bis der
Kaiser in seiner weißen Uniform herauskam und einen der Wagen bestieg. Der
Jubel, mit dem er begrüßt wurde, bewies, welcher Beliebtheit sich der alte Herr
bei seinen Tirolern erfreute.
Inzwischen hatte ich bei der Bachschen Menagerie Anstellung gefunden, und
mein Koffer war schon im Nilpferdwagen untergebracht, als ich von meinem Freunde
Brunner erfuhr, daß er bei dem Dampfkarussell von Kitzmann und Mannsfeld
untergekommen sei. Er überredete mich, die Stelle bei der Bachschen Menagerie
fahren zu lassen und lieber mit dem Dampfkarussell zu gehn, wo man noch einen
weitern Angestellten suchte. Ich war mit diesem Vorschlag einverstanden, händigte
Brunner, da ich zum Glück meine Papiere noch nicht abgegeben hatte, meinen Koffer
ein, den er schleunigst wegtrug, und machte mich selbst aus dem Staube.
Bei Kitzmann und Mannsfeld wurde ich sehr freundlich aufgenommen und
nahm um sieben Uhr am Abendessen teil, das aus Bratkartoffeln, belegten Butter¬
broten und Tee bestand. Überhaupt war die Kost vorzüglich, als Lohn erhielt ich
vierundzwauzig Mark im Monat und außerdem einen Anteil am Trinkgeld. Die
Besitzer waren ältere Leute, und die Frau besorgte mir auch die Wäsche, was bei
reisenden Leuten etwas ganz Ungewöhnliches ist. Das Dampfkarussell blieb nach
Schluß des Bundesschießens noch einige Tage in Innsbruck, weil an dem darauf
folgenden Sonntage noch ein Geschäft gemacht werden sollte. In der Zwischenzeit
hatten wir nicht viel zu tun, sondern beschäftigten uns mit Reparaturen und der¬
gleichen und konnten über viel freie Zeit verfügen.
Bei dem Dampfkarussell waren außer dem alten Ehepaar Kitzmann der Kom¬
pagnon Mannsfeld und ein Geschäftsführer mit Namen Seehausen, der früher
Schauspieler gewesen war und aus seiner glänzenden Vergangenheit den Brauch
beibehalte» hatte, im Hotel zu logieren, während die übrigen mit den vier An¬
gestellten im Wohnwagen schliefen. Der Wohnwagen war sehr praktisch eingerichtet
und wurde durch eine Scheidewand in zwei Abteilungen geteilt, deren jede eine
besondre Tür hatte. Wir Angestellten bewohnten die Hintere Abteilung, wo wir
anfangs zu je zweien in einem Bett schliefen, während später an jeder Seite zwei
Betten übereinander angebracht wurden. Unter den beiden untern Betten waren
je zwei Kasten zur Aufnahme unsrer Habseligkeiten. Betrat man die andre Ab¬
teilung des Wagens, so gelangte man zuerst in die Küche, deren ganzes Mobiliar
aus einem kleinen Kochherd, einer Bank und einem Küchenschrank bestand, und kam
von hier aus in den Wohnraum, worin ein Tisch, ein paar Klappstühle, ein Kleider¬
schrank und eine Kommode standen, während die beiden Betten für gewöhnlich durch
einen Vorhang verhüllt wurden. In dem untern Bett schlief das Kitzmannsche Ehe¬
paar, in dem obern der Kompagnon.
An dem letzten Sonntage, den wir in Innsbruck zubrachten, heizte der Maschinist
um zwei Uhr Nachmittags den Kessel, wir nahmen die Umhangleinwcmd ab und
eröffneten um drei Uhr das Geschäft. Das Karussell wurde durch eine Zwillings¬
maschine von sechs Pferdekräften getrieben, die Orgel durch einen kleinen Motor
von einer halben Pferdekraft. Die sechs Schiffe des Karussells, die mit Masten und
Segeln dekoriert waren, schaukelten in ihrer Schmalachse; zu jedem Schiffe führte
«me besondre Treppe hinauf. Die beiden Prinzipale und der Geschäftsführer
kassierten an den einzelnen Schiffen, und Frau Kitzmann saß zum Wechseln an der
Kasse. Meine Obliegenheiten waren das Herbeischaffen von Wasser und Feuerungs¬
material sowie die Aufsicht an der Außenseite des Karussells. Die Beleuchtung bestand
aus vierundzwanzig Petroleumlaternen, von denen sechs auf Kandelabern angebracht
waren und mit kreisten, während die übrigen an der Dachkonstruktion hingen.
Am Abend um neun Uhr wurde mit dem Abbrechen begonnen. Am andern
Morgen verluden wir auf der Rampe des Bahnhofes und fuhren über Kufstein
ohne Unterbrechung bis Nürnberg, wo auf dem Plärrer die Messe abgehalten wurde.
Dort sah ich die Menagerie Christian Berg wieder, die sich inzwischen bedeutend
vergrößert hatte; außerdem waren an Sehenswürdigkeiten vorhanden: Philipp Ohrs
Museum, der Zirkus Lorenz Wulf, eine Bude mit Raritäten aus dem Münchner
Aquarium, die hauptsächlich aus ausgestopften Amphibien und Fischen usw. bestanden,
die kleine Menagerie Zscharrer und Sondermcmns Illusion „Die Dame ohne Unter¬
leib, genannt Tauina."
Diese Art der Illusion, die jetzt wohl allgemein von den Meßplätzen ver¬
schwunden ist, wurde in ziemlich einfacher Weise hergestellt. Die ganze Bude samt
dem Zuschauerraum war mit schwarzen Tüchern verhängt, sodaß kein Strahl des
Tageslichts hineindringen konnte. Die Bühne selbst war mit schwarzem Sammet
ausgeschlagen und wurde durch eine Lampe mit blankem Reflektor beleuchtet. Von
der Decke der Bühne hing an zwei Seilen nach Art eines Trapezes ein kleines
Brett, auf dem der Oberkörper einer Dame sichtbar wurde, die sich mit beiden
Händen an den Stricken festhielt. Bei der scharfen Beleuchtung und der absoluten
Dunkelheit des Hintergrundes hatte man vollkommen den Eindruck, als wenn auf
dem Brett tatsächlich nur der Oberkörper einer Dame befestigt sei, und dieser Ein¬
druck wurde dadurch erhöht, daß die das Wunder vorführende Dame mit einem
blanken Degen unter dem Brett herumfuchtelte. Das Geheimnis, oder wie der tech¬
nische Ausdruck lautet, die „Maloge" besteht darin, daß der Unterkörper der zur
Schau gestellten Dame mit schwarzen Sammethosen bekleidet ist und durch den
ebenfalls von der Decke herabhängenden schwarzen Strick in der Schwebe erhalten
wird. Früher machte diese Illusion auf das Publikum großen Eindruck, seit man
aber die Lösung des Rätsels allgemein kennt, ist die Anziehungskraft des Phänomens
vorbei. Bezeichnend für die Nürnberger Messe sind die vielen Heringsbrntereien,
die mit ihrem eigentümlichen Duft die Luft in weiter Umgegend verpesten.
Von Nürnberg reisten wir nach Cannstatt zum Volksfeste. Wir kamen dort
am Sonnabend an, luden Sonntag früh aus, fuhren auf den Platz, benutzten den
freien Nachmittag zum Spazierengehen und verfehlten nicht, den Kurbrunnen im
nahen Berg zu kosten. Als wir am Abend gegen sieben Uhr beim Abendbrot vor
dem Wagen saßen, hörten wir auf der andern Seite des Neckars einen feierlichen
Chorgesang und sahen, wie eine Anzahl Menschen, darunter einer in einem weißen
Gewände, zum Flusse hinabstieg und dort seltsame Zeremonien vornahm. Der
mit dem weißen Gewände Bekleidete stieg in das Wasser, und nun konnten wir
deutlich vernehmen, wie ein andrer mit lauter Stimme die Taufformel sprach. Wir
wollten uns den Vorgang in der Nähe ansehen, kamen aber zu spät, da die ganze
Gesellschaft sehr schnell wieder verschwand. Es waren offenbar Mitglieder einer
Sekte, die hier ohne Vorwissen der Polizei eine Taufe vorgenommen hatten.
Von Cannstatt fuhren wir nach Freiburg im Breisgau und dann nach Se.
Gallen. Dort stellten wir beim Aufbau wie gewöhnlich die Orgel nach der Seite
des Platzes, woher wir das meiste Publikum erwarteten. Dadurch hatte der
Rekommandeur des uns gegenüberstehenden Panoramas schwere Arbeit, und er
machte aus seinem Grolle kein Hehl. Als mein Freund Brunner und ich an einem
der nächsten Abende von einer kleinen Zecherei im „Schwert," wo es vortrefflichen
neuen Wein gab, heimgehn wollten, trafen wir mit dem Rekommandeur zusammen,
der uns einlud, mit ihm noch einen Liter „sufer" zu trinken. Wir gingen mit
ihm, obgleich wir uns seine Liebenswürdigkeit nicht recht erklären konnten, und
mußten uns, als wir beim Weine saßen, von ihm Vorwürfe machen lassen, daß wir
die Orgel nach seiner Bude hin aufgestellt hätten. Wir sagten ihm, daß unser
Prinzipal dies so angeordnet habe, und nun begann er gewaltig auf Herrn Kitz¬
mann zu schimpfen. Die lebhafte Erörterung setzte sich auf der Straße fort und
artete schließlich in eine Prügelei aus, die durch den pfeifenden Nachtwächter unter¬
brochen wurde. Ein Se. Galler Bürger, der offenbar für uns Partei ergriffen
hatte, zog mich schleunigst weg und brachte mich dadurch wieder zur Besinnung,
worauf ich so schnell wie möglich in unserm Wagen verschwand. Der Nachtwächter,
der inzwischen auf der Walstatt angekommen war, fand, da mein Freund Brunner
auch schon das Hasenpanier ergriffen hatte, niemand mehr vor als den Rekomman¬
deur, den er auch arretierte, und der auf der Wache fünf Franken Buße bezahlen
mußte. Diese Strafe schien ihn mürbe gemacht und zur Einsicht seines Unrechts
gebracht zu haben, denn er kam am andern Morgen zu uns und leistete Abbitte.
Von Se. Gallen fuhren wir nach Basel zu der Messe auf dem Barfüßler Platze.
Der dortige Polizeileutnant, dem die Beaufsichtigung der Messe oblag, hatte sich
zum Grundsatze gemacht, nur die allerbesten Schaugeschäfte zuzulassen, und pflegte
deshalb andre Messen zu besuchen, wo er seine Wahl traf und die Besitzer von
Schaubuden usw., die ihm besonders zusagten, zur Beteiligung an der Basler Messe
aufforderte. Dabei ließ er es aber keineswegs bewenden, sondern er sorgte auch
auf dem Meßplatze selbst in einer ganz ungewöhnlichen Weise für die Aufrecht¬
erhaltung der Ordnung und der Sauberkeit. Daß sich seine Aufmerksamkeit auch
auf scheinbar geringfügige Dinge erstreckte, davon konnte der Besitzer des Weißerschen
Karussells ein Liedchen singen. Der Polizeileutnant hatte sich das Karussell genau
angesehen und dabei die Entdeckung gemacht, daß die Messingteile nicht so blank
geputzt waren, wie er es für nötig hielt. Er schickte deshalb am andern Morgen
sechs Dienstmänner mit dem nötigen Putzzeug, die sich zum großen Erstaunen Weißers
sofort an die Arbeit machten und die Messingteile reinigten. Als alles an dem
Karussell blitzte und blinkte, überreichten sie dem Besitzer eine Rechnung, die
dieser, wenn auch mit saurer Miene, bezahlte. Von da an ließ die Sauberkeit
des Weißerschen Karussells nichts mehr zu wünschen übrig.
Von Basel ging es nach Frauenfeld und von dort nach Ma zur Wintermesse.
Die Reise ging über Romanshorn und Friedrichshafen. Wir hatten Billetts ge¬
nommen, blieben aber in unserm Wohnwagen und wurden mit dem sogenannten
„Dreieck," einer Art Dampffähre, über den Bodensee gesetzt. Die Miner Winter¬
messe wurde auf zwei Plätzen, dem Münsterplatz und dem Judenhof, abgehalten.
Wir standen auf dem Judenhof und konnten, da wir zeitig angekommen waren
und deshalb über freie Zeit verfügten, Spaziergänge durch die Stadt unternehmen,
wobei wir nicht verfehlten, das herrliche, damals noch nicht vollendete Münster zu
besuchen. Gegen Ende der Messe traten Schnee und Kälte ein, sodaß mir einmal
die Hand an der Stange des Wasserwagens festfror. Ulm war unsre letzte Station,
da das Geschäft zum Winter eingestellt wurde, und die Prinzipale in ihre Heimat
zurückreisten. Wir erhielten unsre Kündigung, bekamen nach Ablauf der vierzehn
Tage unsre Papiere, Zeugnisse und unsern Lohn und außerdem die Zusicherung,
daß wir im Frühjahr wieder Anstellung finden würden. Unsre Prinzipale erklärten
uns überdies, daß sie gern bereit seien, uns, falls es uns in der Zwischenzeit schlecht
gehn sollte, eine Unterstützung zukommen zu lasse». Wir brachen ab, packten alles
sorgfältig zusammen, fetteten die Maschine ein und stellten alles in eine Scheune,
worauf wir unsern Abschied feierten und uus trennten. Am andern Tage Puppte
ich mich vom Kopf bis zu den Füßen neu ein und fuhr über Nürnberg in meine
Heimat.
Gegen Ende des Winters schrieb ich an meinen Prinzipal, der mir Reisegeld
schickte und mich aufforderte, nach Frankfurt am Main zu kommen. Ich meldete
mich nun wieder beim Bezirksfeldwebel ab nach Frankfurt. Meine Reise nach
Frankfurt unterbrach ich in Bebra, wo mich meine Braut erwartete und zu einem
kurzen Besuch mit nach ihrem Heimatsort Spangenberg nahm. In Frankfurt kam
ich zur Ostermesse 1836 an. Die Schaubuden standen auf dem Juxplatze in der
Nähe der landwirtschaftlichen Halle.
Wir fanden dort die sehr bedeutende Menagerie Scholz, die aus Raummangel
ihren Giebel nach der Straße zu gebaut hatte, das Zaubertheater Melini in einem
großen Bretterbau, Johann Schichtls Marionettentheater, Weißers Dampfkarussell,
mehrere Panoramen, Museen usw., endlich eine lange Rutschbahn, die dem frühern
Menageriebesitzer Taggesell gehörte.
Da in Frankfurt des schlechten Wetters wegen die Messe an manchen Tagen
sehr wenig besucht war, konnten wir unser Dampfkarussell schon zu früher Stunde
schließen und benutzten die freie Zeit, uns in den übrigen Buden, wo wir ja überall
freien Eintritt hatten, umzusehen. Ich besuchte bei dieser Gelegenheit das Zauber¬
theater Melini, das wirklich Hervorragendes leistete. So wurde z. B. ein Mädchen¬
kopf gezeigt, der auf einer frei auf der Bühne stehenden Lattenstellage lag, sprach
und ein Licht ausblies, ohne daß der dazu gehörige Körper durch schwarze Sammet¬
verhüllungen, wie bei der Dame ohne Unterleib, verborgen gewesen wäre. Die
Dekoration der Bühne war vielmehr in lichten Farben gehalten, und der Direktor,
der das Wunder vorführte, beschrieb mit einem Degen Kreise um den Kopf herum,
die deutlich zu beweisen schienen, daß kein Körper vorhanden war. So scharf ich
auch achtgab, gelang es mir doch nicht, hinter das Geheimnis dieses Tricks zu kommen.
Ein andres, nicht minder merkwürdiges Zauberstück war die sogenannte „Goldne
Fliege." Es war eine schwebende Dame in einem mit durchsichtigen Flügeln ver¬
sehenen Kostüm, die scheinbar durch die Bewegung eines Fächers in der Hand des
Direktors in die Höhe getrieben wurde und bald auf der Bühne langsam kreiste,
bald in gerader oder schräger Richtung emporstieg und den Bewegungen des Fächers
genau zu folgen schien. Von Stricken, Drahtseilen oder Stangen, an denen die
Dame befestigt gewesen wäre, war nicht das Geringste zu bemerken.
Nach Beendigung der Frankfurter Messe brachen wir ab und verluden nach
Offenburg in Baden, ohne jedoch vorher zu wissen, ob wir dort „Permission" be¬
kommen würden. Vor der Abreise begab ich mich zum Bezirksfeldwebel, um mich
auf Reisen oder auf Wanderschaft abzumelden, wurde aber nicht sehr freundlich von
ihni behandelt, da er diese Art der Abmeldung nicht gelten lassen wollte und des¬
halb den Vermerk „Abgemeldet nach Offenburg" in meine Militärpapiere eintrug.
Hier hätte ich die Pflicht gehabt, mich bei der Militärbehörde an- und ab¬
zumelden, versäumte dies aber, da ich mir sagte, daß eine solche Unterlassung den
Kopf nicht kosten könne.
Von dort reisten wir nach Fretburg im Breisgau zur Messe, wo wir im
Stadtgarten aufbauten. In unsrer Nähe standen die Menagerien von Kleeberg
und von Böhme sowie das Affentheater Jean Bässe, das nach dem Mainzer Brand-
unglück mit bewundernswerter Schnelligkeit neue Tiere und Künstler angeschafft
hatte, ferner eine Bude, worin ein Panorama und ein photographisches Atelier ver¬
einigt waren, und deren Besitzer, Fritz Erhardt, weil er sich weigerte, das Über¬
gewicht seines Wagens der Bahn nachzuzählen, mit der Behörde in einen Konflikt
geraten war. Er warf zunächst den Gerichtsvollzieher, der die Orgel pfänden
wollte, vom Podium, beförderte dann in derselben Weise einen Schutzmann ins
Freie, wurde aber endlich von drei Schutzmännern und drei Dienstmännern über¬
wältigt, mit Gurten gefesselt, und da er den wilden Mann spielte, auf einen Wagen
gebunden weggeführt. Seine Frau klammerte sich an den Wagen fest und schrie
in herzbewegendem Tone: „Laßt ihn doch gehn, es ist ja mein Mann!"
Unter den kleinern Buden war auch ein Kasperletheater, dessen Besitzer in
Gemeinschaft mit seiner Frau die Bewegungen der kleinen Künstler leitete und in
der Bude wohnte. Wir luden das Ehepaar, das gegen geistige Getränke durchaus
keine Abneigung verspürte, an einem Sonntag Abend nach Schluß des Geschäfts zu
einer kleinen Kneiperei ein und erwartete» mit Sehnsucht den Augenblick, wo die
beiden ihren Durst hinreichend gestillt haben und ihrer Bude zusteuern würden.
Vorher hatte einer von uns mit einer Hacke die Verankerungen der Bude gelockert,
und als dann das Ehepaar den Heimweg angetreten hatte, begaben wir uns nach
einiger Zeit, wo wir annehmen konnten, daß das Ehepaar im tiefsten Schlafe liege,
zu dem Kasperletheater, faßten so geräuschlos wie möglich die Bude an den vier
Seiten an, hoben sie über das auf dem niedrigen Podium schlafende Ehepaar weg
und trugen sie ein paar hundert Schritt weiter in die Anlagen, wo wir sie nieder¬
setzten. Dann begaben wir uns selbst zur Ruhe.
Am andern Morgen wurde zeitig an unsern Wagen geklopft, und als wir
hinausschauten, sahen wir den Puppenspieler mit seiner Frau draußen stehn, die
uns sogleich in herzbewegenden Worten ihr Unglück erzählten. Wir suchten sie zu
trösten, und ich sagte ihnen, daß es sich wohl nur um einen Studentenstreich han¬
deln könne, und daß das verschwundne Geschäft sicherlich irgendwo wieder auf¬
zufinden sein würde. Wir erboten uns, ihnen demi Suchen zu helfen, und während
die andern nach verschiednen Seiten auseinandergingen, führte ich den Mann in
unauffälliger Weise nach der Gegend hin, wo wir in der Nacht die Bude deponiert
hatten. Ich zeigte ihm die durch das Grün der Gebüsche schimmernde Leinwand,
und als wir näher kamen, erkannte er, daß er in der Tat sein Theater vor sich
hatte. Seine Freude erreichte ihren höchsten Punkt, als er wahrnahm, daß von
der innern Einrichtung nicht das Geringste fehlte. Er unterließ nicht, uns zur
Feier seines wiedergefundnen Besitztums für den Abend zu einem kleinen Trink¬
gelage einzuladen. Auf dem Nachhausewege empfahlen wir ihm noch, in Zukunft
sein Haus besser zu bewachen.
Über Se. Gallen, wo wir zum Frühjahr auf dem Schulplatze standen, fuhren
wir per Achse zum Kantonalschützenfeste nach Se. Fiber. Dort war der Festplatz
eine feuchte Wiese, wohin wir über den Chausseegraben, der mit Hölzern ausgelegt
wurde, fahren mußten. Als die Hinterräder der Maschine auf den Hölzern standen,
sanken die Vorderräder bis an die Achse in den Boden ein. Wir entließen die
Fuhrleute, hoben die Maschine mit Winden hoch, schoben Bohlen unter die Räder
und beförderten sie in dieser Weise mit Hebeln vorwärts, bis sie auf dem uns an-
gewiesnen Platze stand. Den Wohnwagen sowie die Wagen, auf denen die Karussell¬
teile lagen, ließen wir auf der Straße stehn und trugen alles einzeln auf unsern
Platz, was bei dem strömenden Regen keine leichte Arbeit war. Als wir das
Karussell endlich in Betrieb hatten, zeigte es sich, daß der Erdboden in einem weiten
Umkreis schwankte.
Von Se. Fiber ging es nach Baden-Baden zum Mitteldeutschen Bundesschießen.
Auch hier lag der Festplatz sehr ungünstig, da der Weg einen steilen Berg hinan¬
führte. Außer uns waren das Theater Weissenbach, Hentschel mit seiner Athleten¬
dame, die russische Schaukel von Horz, die während des Festes dreimal abgebrochen
und neu aufgebaut werden mußte, weil sich der Boden senkte, sowie ein sogenannter
„Socker" (Spielbude) auf der Festwiese.
Über Lahr sollten wir nach Zofingen in der Schweiz fahren und erhielten,
da unsre Herrschaft einen Abstecher machen wollte, Billetts bis Basel, wo wir, wie
uns gesagt wurde, den Geschäftsführer treffen würde«. Dieser sollte uns dann Geld
zur Weiterfahrt geben. Wir kamen am Vormittag gegen elf Uhr in Basel an, er¬
hielten das Reisegeld, nahmen uns aber vor, schwarz zu fahren, und schlichen uns
um die Mittagsstunde, wo auf dem Bahnhofe wenig Verkehr war, quer über die
Geleise in unsern Wagen, wo wir uns sogleich zu Bett legten. Nach einigen Stunden
setzte sich der Zug in Bewegung, und wir freuten uns, unbemerkt die Fahrt machen
zu können. Bevor wir nach Otter kamen, wurde es plötzlich finster, der Zug fuhr
in einen Tunnel ein, und zugleich hörten wir einen fürchterlichen Lärm, den wir
uns nicht erklären konnten, und der uns mit ängstlicher Besorgnis um unser Leben
erfüllte. Wir gelangten aber unversehrt wieder ins Freie und kamen gegen acht
Uhr in Zofingen an. Beim Einbruch der Dunkelheit verließen wir den Wagen,
aßen in der Stadt unser Abendbrot und kehrten zur Nachtruhe in unsern Wagen
zurück. Am andern Morgen beim Ausladen untersuchte ich den ganzen Zug, weil
ich ermitteln wollte, wodurch der Lärm im Tunnel entstanden sein könnte, und
fand denn auch bald die Erklärung. Vor unserm Wagen stand der von Hentschels
Athletendame auf der Lori, und dieser hatte versäumt, sein Ofenrohr einzuziehn,
für das die Tunnelwölbung zu niedrig gewesen war, und das sich deshalb nach
hinten gebogen und die Wölbung gestreift hatte.
Nach Schluß des Schützenfestes reisten wir nach Horgen am Züricher See.
Als wir dort eben angekommen waren, traf die Nachricht ein, daß der Menagerie¬
besitzer Kleeberg in La Chaux de Fonds, wo ein größeres Schützenfest stattfand,
tödlich verunglückt sei. Er hatte, da er sich mit dem Aufbau seiner Bude beeilen
mußte, beim Aufstellen der Wagen selbst mit zugegriffen und hatte einen Wagen,
der auf dem unebnen Terrain gestützt dastand, mit einer Winde gerade richten
wollen. Auf seine Weisung waren die Stützen weggenommen worden, worauf die
Winde abgerutscht, und der Wagen auf ihn gestürzt war. Dabei hatte sich der
Dreher in seinen Unterleib gebohrt. Zu dem Begräbnis des bekannten und be¬
liebten Mannes reisten alle Prinzipale und Geschäftsführer nach La Chaux de
Fonds; sogar sein Schwiegersohn, der Menageriebesitzer Paulsen, der gerade in
Schweden war, scheute die weite Reise nicht, um seinem Schwiegervater das letzte
Geleit zu geben.
Bei unsrer Abreise von Horgen zur „Kilbe" (Kirmes) in Zürich-Riesbach
hätten wir beinahe einen Unfall gehabt, den ich jedoch noch rechtzeitig verhüten
konnte. Beim Hinabfahren von der Anhöhe ging ich gerade hinter dem Wohn¬
wagen, um an den steilsten Stellen die Bremse einzuziehn, und bemerkte hierbei,
daß die Bremsstange abgebrochen war. Zum Glück war der Wagen noch nicht so
in Schuß gekommen, daß die Pferde ihn nicht mehr hätten halten können, und so
konnten wir die Bremsstange in aller Eile durch eine Kette ersetzen. In Zürich-
Riesbach machten wir ein sehr gutes Geschäft, es drängte sich mehr Publikum an
unser Karussell, als wir zu befördern vermochten. Dabei verlor ein Soldat sein
Portemonnaie mit dreißig Franken, das ich fand, und das der Geschäftsführer am
andern Morgen in der Kaserne ablieferte. Nach der Niesbacher „Kilbe" verließen
wir wieder die Schweiz und fuhren zur landwirtschaftlichen Ausstellung nach Karls¬
ruhe in Baden und dann nach Rcistatt, wo wir in Gesellschaft verschiedner andrer
Schausteller privat standen. Mutter Kitzmann, die eine große Tierfreundiu war,
hatte in Se. Fiber einen Stamm Hühner gekauft, der unsre Reise in einer Kiste
mitmachte, die ihm auch bei Nacht als Aufenthaltsort diente. Sobald wir irgendwo
aufbauten, wurde der Hahn und jede Henne mit einem langen Bindfaden unter
dem Wagen angebunden, und die Prinzipalin verfehlte nicht, sich so oft wie möglich
von dem Wohlbefinden ihrer Lieblinge zu überzeugen. Sie empfahl sie meiner
ganz besondern Aufmerksamkeit, und ich mußte von Zeit zu Zeit frisches Heu holen,
womit der Boden der Kiste belegt wurde, weil Mutter Kitzmann vermutete, daß
die Hühner warm sitzen müßten. Sie erwartete mit Sehnsucht den Tag, wo die
Hühner, die inzwischen das legeftthige Alter erreicht hatten, ihre Mühe mit frischen
Eiern belohnen würden. Eines Morgens sah ich in einer Wirtschaft gekochte Eier,
ließ mir eins davon geben und legte es in eine aus Heu gebildete Mulde in der
Hühnerkiste. Ich war kaum wieder bei dem Karussell, als die Prinzipalin aus
dem Wohnwagen kam und einen Blick in die Kiste warf. Sie fand das El, brach
in einen wahren Jubel aus, zeigte mir das El und meinte, das könne nur die
Schenke gelegt haben, die gestern schon einmal gegackert hätte. Nachdem ich das
angebliche Produkt der Schenke genügend bewundert hatte, lief sie damit weiter zu
den Nachbarbuden und erntete auch dort ungeheuchelte Bewunderung. Eine Nach¬
barin, die Frau des Schießbudenbesitzers Kühnel, gab ihr den guten Rat, das Datum
auf das El zu schreiben, und bemerkte, mau mache das am besten mit Rödel. Das
leuchtete ihr auch ein, und sie gab mir einen Groschen mit der Weisung, dafür
einen Brocken dieses Farbstoffes zu holen. In der Freude ihres Herzens fügte sie
noch einen Groschen für mich selbst hinzu, den ich ans das Wohl der Schenke ver¬
trinken sollte. Ich kam nach einer Weile mit einem ganzen Block Rödel wieder,
der für einige tausend Eier zugelangt hätte. Nun wartete sie von Tag zu Tag
darauf, daß ihre Hühner sie mit weitern Eiern beglücken sollten, was aber zu
ihrem großen Leidwesen nicht geschah. Als sie nach längerer Zeit einmal beim
Kochen war und schnell ein El brauchte, entschloß sie sich schweren Herzens, das
kostbare El zu verbrauchen, holte es aus dem Küchenschrank, wo es die ganze Zeit
zu ihrer Augenweide gelegen hatte, schlug es auf und merkte zu ihrem größten
Entsetzen, daß es hart gekocht war. Merkwürdigerweise fiel ihr Verdacht sogleich
auf mich, aber sie trug mir den Scherz nicht nach.
(Fortsetzung folgt)
> le glücklichen Menschen im preußischen Schlößchen hatten sich viel zu
viel zu erzählen, als daß sie daran gedacht hätten, was draußen vor¬
ging. Aber auch in der Glücklichen Hütte regnet es — wenn auch
nur tropfenweise — hinein, wenn draußen ein Platzregen vorüber¬
zieht. Ein solcher Tropfen war die alte Lore, die ein höchst frag¬
würdiges Gesicht zur Tür hereinsteckte.M
Erbarn dich! rief Tauenden, was ist denn geschehen?
Lore war so erfüllt von der Neuigkeit, die sie berichten wollte, daß sie kaum
zu Worte kam und nur mit Mühe und mit hochgehobnen Händen herausbrachte, der
Teufel habe den Amtshauptmann holen wollen; aber der Amtshauptmann habe den
Teufel in den Finger gebissen, und da habe er ihn noch einmal losgelassen. Das
sei ganz gewiß, denn die eine Hälfte Gropposfs sei verbrannt, als wenn sie schon
in der Hölle gewesen wäre.
Ja, Fräulein Van Term, sagte Marike, die hinzugetreten war, es ist richtig.
Das ganze Dorf ist im Aufstande, und vorm Amte stehn die Menschen in Haufen,
und den Amtshauptmann hat diese Nacht der Schlag gerührt.
Das weiß ich längst, sagte Wolf.
Und hast es uns nicht gesagt? fragte Tauenden vorwurfsvoll.
Was geht uns der Kerl an? sagte Wolf mit dem Ausdrucke unverhohlner
Verachtung.
Aber Wolf! rief Tauenden.
Und Herr von Bodenpois lachte und sagte zu Frau Mary: Dein Wolf scheint
mir, während dn nicht da warst, gemütlich etwas verwildert zu sein.
Nicht verwildert, Alfred, antwortete Mary, aber krank ist er. Er hat es
nötig, aus dieser Umgegend fortzukommen.
Die Nachricht, daß Groppoff vom Schlage getroffen sei, machte natürlich
tiefen Eindruck, und mancher dachte im stillen an Gottes Gerichte, sprach es aber
nicht aus. Und Tauenden wurde unruhig, ging aus und ein, gab den Mägden
Aufträge, und es dauerte nicht lange, so trat sie fertig zum Ausgehn und aus¬
gerüstet mit ihrer Krankentasche ins Zimmer. Ich muß einmal hinübergehn und
zusehen, wie es dort steht, sagte sie.
Der Doktor reichte dem Tauenden dankbar die Hand und sagte: Tun Sie das,
Tauenden, seien Sie ganz Sie selbst.
Tauenden eilte zum Amt und traf da, wo der Weg über den Damm führte,
eine Menge neugieriger Menschen, die leise miteinander sprachen. Als sie ankam,
machte man ihr bereitwillig und respektvoll Platz. Sie fand den Hausstand Gropposfs
in voller Auflösung. Die alte Margarete hatte den Kopf verloren und kochte große
Töpfe voll Kamillentee, den niemand bestellt hatte und niemand brauchen konnte.
Die Mägde waren, von einer abergläubischen Furcht getrieben, davongelaufen, und
Eva stand zitternd und bebend in der Hausflur und wagte es nicht, die Tür zu
ihres Vaters Zimmer zu öffnen.
Tauenden trat ein und erschrak. Das Gesicht, das ihr entgegenstarrte, hatte
einen furchtbaren Ausdruck. Das Auge blickte starr, und die Mienen drückten
großes Entsetzen aus. Aber es war uur die eine, die gelähmte Hälfte des Ge¬
sichts, die diesen Ausdruck hatte, und es war offenbar der Ausdruck, den Groppoff
in dem Augenblicke gehabt hatte, als er gelähmt worden war. Der Kranke war
in einer bejammernswerten Lage. Er war zu halbem Leibe von dem Sofa, auf
das man ihn gelegt hatte, hinuntergerutscht und außerstande, sich zu helfen. Er
versuchte, zu befehlen, aber er brachte nur lallende und unverständliche Töne heraus.
Tauenden schaffte sogleich Ordnung. Sie ließ den Kranken ins Bett bringen und
das Bett so stellen, daß die gelähmte Gesichtshälfte der Wand zugekehrt war. Sie
sandte einen Boten zum Arzte, sie sorgte dafür, daß dem Kranken, der offenbar
halb verschmachtet war, eine Erquickung beigebracht wurde. Ja sie selbst hielt den
Löffel in der Hand und fütterte den gestrengen Herrn Amtshauptmcmn wie ein
Kind. Darauf suchte sie Eva auf, um ihr die Pflege ihres Vaters zu übergeben.
>;es leurs nicht, sagte Eva.
Kind, du mußt das können, erwiderte Tauenden, es ist dein Vater.
Mein Vater! sagte Eva mit überquellender Bitterkeit.
Mag dein Vater was auch immer getan haben, Eva, er ist dein Vater. Und
du hast die Kindespflicht, ihm zu dienen, solange er lebt.
Eva
versuchte es, ihren Pflegedienst anzutreten, aber Tauenden sah, daß es
und einem innern Grauen geschah. So ging es also nicht, und es blieb nichts
andres übrig, als sich im Dorfe uach einer Pflegerin umzusehen. Aber wenn man
auch sonst gesprungen war, solange Groppoff gesund gewesen war und kommandiert
hatte, so ließ sich jetzt niemand finden, der für Geld und noch weniger aus gutem
Willen die Pflege übernommen hätte. Die einzige, die sich zuletzt überreden ließ,
war die Arte Beit, die sich an das Bett des Kranken setzte, ihr ewiges Lied von
den Fischern summte und wartete. Die zweiundvierzig Monate waren ja bald um.
Und Tauenden übernahm es zu ihren andern Arbeiten und Verpflichtungen, die
überdem durch die Anwesenheit der russischen Gäste beträchtlich vermehrt worden
waren, wann sie nur konnte, aufs Amt zu gehn und den Platz an Groppoffs Bett
einzunehmen. Ihre Dauergeschichten von Nichte Emma und Julie, und wie sie
hießen, konnte sie hier zwar nicht anbringen, aber wenn sie neben dem Bette saß,
und ihre Stricknadeln leise erklangen, oder wenn sie ihre Hand auf die Stirn des
Kranken legte, so ließ die Spannung nach, und der Kranke versuchte sein beweg¬
liches Auge ihr zuzukehren und Worte zu murmeln, die freilich unverständlich blieben.
Welche Wendung! Der Mann, der sich einen Halbgott gedeucht hatte, dessen Willen
überall als Gesetz hatte gelten wollen, der lag nun hilflos da, ein Gefangner in
seinem eignen Leibe, und mußte sich füttern lassen und dankbar sein, wenn ihm
einer eine Fliege aus dem Gesicht scheuchte. Und dies alles, weil ein Äderchen die
Spannung einer schweren Stunde nicht ausgehalten hatte.
An demselben Morgen kam im Regierungsdampfer eine Gerichtskommission zur
Untersuchung des Todesfalls der Schwiegereltern Kondrots an. Sie bestand aus
einem Vertreter der Staatsanwaltschaft, dem Kreisarzte, einem Referendar, einem
Gerichtsschreiber und dem Herrn Gendarmen. Die Herren vernahmen beim Früh¬
stück im Kurhause mit Bedauern, daß Groppoff einen Schlagfluß erlitten habe, und
hielten ihm bei einem Glase Sherry eine Art von Leichensermon: Schade! An¬
ständiger Mensch gewesen.
Guten Wein im Keller.
Kapitale Rehböcke.
Famose Tochter.
Ja, sagen Sie mal, was wird aus der?
Baron Bordeaux will sie heiraten.
Donnerwetter! Schade!
Hierauf „besichtigte" man das Sterbehaus, d. h. man besah mit offiziellen
Augen das, was die andern Menschen mit ihren gewöhnlichen Augen auch schon
gesehen hatten. Der Kreisarzt machte die vorgeschrtebne Sektion und stellte mit
Hilfe der Wasserstoffprobe ohne Mühe fest, daß von einer Arsenikvergiftung nicht
die Rede sein könne. Dagegen ließ der Zustand des Blutes in den Lungen darauf
schließen, daß eine Kohlenoxydgasvergiftnng vorliege. Man untersuchte also den
Ofen und fand im Ofenrohr eine alte Nachtjacke, in die eine Hand voll Taler ein¬
gewickelt war. Wie das Geld und das Bündel in den Ofen gekommen waren, ließ
sich leicht erklären, da Zeugen angaben, daß die alten Leute ihr Geld teils im
Bette, teils im Ofen zu verstecken pflegten. Sie hatten also wohl an dem ver¬
hängnisvollen Tage, an dem sie das letztemal Musen gebacken hatten, das Bündel
Wieder in das Ofenrohr geschoben, ehe das Feuer ganz erloschen war, es hatte
sich Kohlenoxydgas gebildet, und daran waren die beiden Alten gestorben. Damit
war also die Vermutung eines Verbrechens hinfällig geworden, und der Regierungs¬
dampfer konnte sich zur Rückfahrt rüsten. Zu Groppoff zu gehn, fanden die Herren
keine Veranlassung.
Aber Kondrot, meine Herren! sagte der Schulze.
Lassen Sie den Mann frei, antwortete der Staatsanwalt.
Mit Verlaub, Herr Staatsanwalt, sagte der Schulze, Kondrot ist gestern auf
Veranlassung der hohen Obrigkeit wie ein Verbrecher ins Gefängnis geführt worden,
heute ist die hohe Obrigkeit ihm eine Ehrenerklärung schuldig.
Das war dem Herrn Staatsanwalt nun zwar nicht gerade willkommen, aber
-es leuchtete ihm ein, daß hier ein Fehler gut zu machen war, und er sagte ver-
drießlich: Meinetwegen! ging zum Gefängnis, ließ aufschließen und sagte: Herr
Kondrot, Sie sind frei. Wir bedauern, daß Ihnen der Übereifer des Herrn Amts¬
hauptmanns Ungelegenheiten bereitet hat. Guten Morgen.
Die Herren gingen, und Kondrot kam aus der Tiefe seines Gefängnisses her¬
vor, wie wenn er schon ein Jahrhundert im Fegefeuer gesessen hätte. Der Schulze
legte seine Hand auf die Schulter Kondrots und sagte: Singet dem Herrn ein
neues Lied, denn er tut Wunder mit seiner Rechten, und, Kondrot, zuletzt muß
alles ins Lot kommen. »
Ja, Johannes, erwiderte Kondrot, unser Gott ist ein Gott, der Sünden ver¬
gibt. Wohl dem, der auf ihn traut. Sela.
Aber er spricht auch zu denen, fuhr der Schulze fort, die wider den Gerechten
schnauben: Ihr sollt vom Stuhle geworfen werden und Gras fressen euer Leben
lang. Kondrot, die zweiundvierzig Monate sind um, und des Herrn Finger hat
den Stolzen berührt, daß er zu Boden gefallen ist wie ein Stück Holz.
Der Arzt hatte von dem Zustande Groppoffs keine gute Meinung, er sprach
von der Lähmung innerer Organe und riet, auf die scheinbare Besserung keine zu
große Hoffnung zu setzen. In der Tat, die Gedanken des Kranken wurden freier,
und er vermochte es, mit lallender Stimme zu reden. Und damit kehrte auch
etwas von seiner herrischen und ungeduldigen Art zurück. Wenn es nach ihm ge¬
gangen wäre, so hätte Tauenden weder bei Tag noch bei Nacht von seiner Seite
gehn dürfen, und es ergriff ihn eine wahre Eifersucht, wenn sie nur mit jemand
anders redete. Da stand nun Tauenden schon wieder vor der Tür und verhandelte
mit jemand. Groppoff klingelte ungeduldig. Wer — ist — da? sagte er lallend
und sich auf seine Worte besinnend.
Schwechting ist draußen, antwortete Tauenden freundlich.
Was hat Schwechting hier zu tun, was haben Sie mit Schwechting zu tun?
Wollen Sie mich auch verlassen?
Nein, Herr Groppoff.
Schwören Sie mirs.
Schwören — nein; aber ich will es Ihnen versprechen.
Eva, sagte er ein andermal, bist du da?
Ja, Vater.
Eva, es ist anders gekommen, als ich dachte. Ich habe mein Spiel verloren.
Ich bin gefallen. Meine Pläne sind zerbrochen. Jetzt trittst du die Herrschaft
an. Eva, deine Mutter war eine hohe Dame, zum Herrschen geboren, nun tritt
du ihr Erbe an. Wenn du willst, Eva, dann kannst du es.
Vater, antwortete Eva, ich will keine Herrin sein, sondern eine Gehilfin, und
wenns sein muß. eine Dienerin. Ich habe gelernt, daß der Eigenwille nicht glück¬
lich macht.
Groppoff wollte sich bewegen und eine heftige Antwort geben, aber Zunge
und Glieder duldeten es nicht.
Vater, fuhr Eva fort, du hast dem Doktor Ramborn viel Unrecht getan. Du
hast ihm geschadet, wo du nur konntest. Und du hast dir dein Gewehr nehmen
lassen, mit dem auf ihn geschossen worden ist. Und mir ist er das Liebste, was
ich auf der Welt habe, und ich würde mein Leben für ihn hingeben. Vater, ver¬
söhne dich mit ihni. Gib es zu, daß ich ihn dir bringe, und lege unsre Hände
ineinander.
Groppoff schwieg.
Ich habe den Menschen geliebt, sagte er, ich habe ihn geliebt; warum mußte
er mein Feind werden?
Er ist nie dein Feind gewesen. Er hat nur dasselbe Recht für sich begehrt,
das du für dich in Anspruch nimmst.
Tut, was ihr wollt, sagte Groppoff grollend. Ich bin ein armer Krüppel.
Wenn jetzt ein andrer vor die Front tritt, ich kanns nicht wehren.
Eva wollte fortfahren zu bitten, aber Tauenden gab ihr einen Wink und riet,
mit dieser Zusage vorerst zufrieden zu sein. Denn es war doch ein Jawort, und man
konnte darauf hin Verlobungskarten drucken und sich öffentlich sehen lasten.
Diese öffentliche Vorstellung der Verlobten fand auf dringendes Bitten der
Rotte Kornes eines schönen Vormittags am Badestrande statt. Der Doktor und Eva,
Mary und Herr von Bodenpois, die Frau« Staatsrat in einem besonders schönen
Staatskleide und ein Publikum von Freunden und Badegästen stellten sich zur ver¬
abredeten Stunde ein. Hier hatte die Rotte Korah zwei Ehrenpforten aus Schilf
gebaut und hatte sie, unterstützt von Onkel Fips und Onkel Faps, mit Fahnen und
Sinnsprüchen verziert. Und die ganze Rotte war aufmarschiert, und der kleine
Benno stand als Fahnenträger vor der Front und hielt eine Stange in der Hand,
an der seine Badehöschen angenagelt waren. Und auf die Rückseite der Höschen
waren zwei schöne, rote, flammende Herzen gemalt. Ein eigens zu diesem Feste
gedichtetes Lied wurde gesungen, eine Rede gehalten, und ein Hoch ausgebracht.
Und dann verlangte das Kriegsvolk stürmisch, daß ein großes Extraverlobungsbad
genommen werden sollte.
Aber Mädchen, erwiderte Eva lachend, ich kann doch jetzt als Braut meinem
Doktor nicht ins Wasser davonlaufen!
Er kann ja mit baden, riefen die Mädchen.
Fabelhaft, sagte Herr von Kügelchen, ich finde das wirklich üuferst — und
wundre mich, daß unsereinem nicht einmal so etwas angeboten wird.
Worauf Pogge sagte: Jott erhalte Sie, aber — möglichst bald.
Nun folgte einer jener im Menschenleben so notwendigen Ständer, wo sich
die Beteiligten, in Gruppen geteilt, scheinbar wichtige Dinge mitzuteilen haben.
Währenddessen hatten auch die Mitglieder der Rotte Korah heimliche Beschwerden
auszutauschen, und der kleine Benno gab den verborgnen Gefühlen Ausdruck, indem
er laut sagte: Wo bleibt denn nun die Limonade? Die großen Mädchen wollten
ihn beschwichtigen, er aber warf entrüstet seine Fahne weg und rief: Wenn ich
gewußt hätte, daß sie so gnietschig sind, dann hätte ich mir meine Badehose nicht
verschmieren lassen.
Der Doktor hatte von dem Intermezzo nichts bemerkt, doch beschäftigte ihn
derselbe Gedanke wie die Mitglieder der Rotte Korah. Daß er die Pflicht habe,
sich der kleinen Gesellschaft gegenüber, die ihn und seine Eva so gefeiert hatte, zu
revanchieren, war ihm klar, und auch dies, daß seine Leistung in Limonade und großen
Tellern voll Kuchen bestehn müsse. Es fragte sich nur, wo das Zauberfest ge¬
feiert werden sollte. Auf dem Amte war es wegen der Krankheit Groppoffs un¬
möglich, im preußischen Schlößchen ging es auch nicht gut, und die Sache mit
einer Abspeisung im Kurhause und in Gegenwart des verehrten Publikums abzu¬
machen, war auch kein erfreulicher Gedanke.
Das ist ja ganz einfach, sagte Schwechting, dem der Doktor seine Zweifel
mitgeteilt hatte. Sie kommen zu uns nach Mopswende. Wir richten einen Fest¬
platz ein, und die Sache muß glorios werden.
Dies leuchtete allen ein, die ins Geheimnis gezogen wurden, und so erging denu
an die Rotte Korah zu deren großer Genugtuung die Einladung, sich am nächsten
Sonntag Nachmittag in Mopswende zu Kaffee, Kuchen und Limonade einzufinden.
Die Arbeit der Vorbereitung fiel, wie nicht anders zu erwarten war, auf
Tauenden und Schwechting. Tauenden mußte den Kuchen backen, und Schwechting
gestaltete, unterstützt von Pogge und Kondrot, den Platz zwischen dem Künstler¬
heim und Kondrots Hause, auf dem einst die Belagerung stattgefunden, und auf
dem sich kürzlich die Trauerversammlung aufgestellt hatte, zum Festplatz um, indem
aus Segeln und Stangen Wände gebaut wurden, die von Haus zu Haus reichten
und den Platz von der Außenwelt abschlossen. Am Eingange wurden zwei Masten
errichtet und daran Flaggen hochgezogen, auf deren einer das Mopswender Künstler¬
wappen gemalt war, während die andre einen gekrönten Frosch zeigte. Eine lange
Tafel wurde aus Brettern gezimmert, und Stühle wurden aus der ganzen Nachbar¬
schaft zusammengeborgt.
Als nun Tauenden und die Fran Staatsrat gekommen waren, um die Vor¬
bereitungen zu besichtigen, ging Schwechting unruhig um die Tafel herum und
sagte zu Pogge: Pogge, so gehts nicht. Wir haben unsre Flagge hochgezogen,
wir müsse» als Kolonie Mopswende auch etwas leisten.
So leiste doch was, sagte Pogge.
Wir müssen eine Bowle schmeißen.
Na, dann schmeiß doch eine Bowle.
Ja aber — können wir denn die Damen in unsre Junggesellenburg einladen?
Wenn wenigstens deine Alte schon da wäre!
Die war nun freilich nicht da, und Wünsche holten sie auch nicht herbei.
Ranke, sagte Pogge, was man nicht hat, das borgt man sich. — Damit warf
er einen bezeichnenden Blick auf Tauenden.
Hottsdonnerwetter, sagte Schwechting und schob sich verlegen den Hut aufs
Ohr. Dann nahm er innerlich einen Anlauf, trat den Hut in der Hand auf
Tauenden zu und sagte bittend: Tauenden, wir möchten heute Abend den hohen
Herrschaften mit einer Bowle aufwarten und haben keine Hausfrau im Hause.
Sie müssen heute Abend bei uns die Dame des Hauses vorstellen.
Tauenden wurde verlegen und erwiderte: Aber Herr Schwechting!
Sie brauchen keine Messer zu putzen, Fräulein Van Term, sagte Pogge, und
keine Gläser zu polieren, das wird alles besorgt.
Aber ich kann doch nicht —
Sie brauchen bloß, fuhr Pogge fort, unsre Einladung mit zu unterzeichnen
und am Abend den Platz der Hausfrau einzunehmen — zunächst vorläufig!
Und damit warf er einen Blick auf Schwechting, der den Hut in der Hand
mit einem kindlichen Ausdruck ini Gesicht dastand und sein Urteil erwartete.
Ah, sagte Frau Staatsrat Wedenbcmm, die Herren brauchen — uno ob^oronno?
Ja, meine Liebe, dann müssen Sie das unbedingt übernehmen.
Entweder konsequent oder inkonsequent, fügte Pogge hinzu, nur nicht schwanken.
Wenn Tauenden plausibel gemacht wurde, daß sie etwas müsst, hielt sie es
für ihre Pflicht, den Widerspruch aufzugeben. Und so tat sie denn anch hier, und
Schwechting reichte ihr deu Arm und führte sie vorsichtig, wie wenn sie aus Schaum¬
zucker bestünde, ins Künstlerhaus.
Sogleich setzte sich Pogge hin und zeichnete auf ein großes Blatt Papier in
seiner flotten Weise mit Tinte und Feder den Kopf und die Umrahmung zu einem
Einladungsbriefe, nämlich die figürliche Darstellung eines Märchens von einer Frosch¬
königin, die, ihr Badetuch als Mantel tragend, auf ihrem Pferde im Wasser reitet
und von einem Prinzen, der ebenfalls zu Pferde sitzt, nach einem Schlosse, das
unverkennbare Ähnlichkeit mit dem preußischen Schlößchen hatte, entführt wird.
Diesem Paare folgte Unfug treibend die Rotte Kornes, und auch Fische und Frösche
kamen an die Oberfläche des Wassers und schauten aus, um zu erfahren, was denn
los sei. Unten auf dem Blatte war eine stilvolle Bowle abgebildet, die ernst und
breit im Bewußtsein ihres gediegnen Inhalts dastand. Dieses Blatt wurde mit
dem erforderlichen Text und den drei Unterschriften der Maler sowie Fräulein
Van Tereus versehen und durch Eilboten an die Einzuladenden, das heißt an Eva,
die Bewohner des preußischen Schlößchens und an Herrtt von Kügelchen geschickt.
Das Fest verlief glänzend. Man hatte zwei mit Schilf geschmückte Ehren¬
stühle für das Brautpaar an die Tafel der jungen Gesellschaft gestellt, aber Eva
verschmähte es. sich als Königin verehren zu lassen, vielmehr band sie eine weiße
Schürze vor, bemächtigte sich einer Kaffeekanne und bediente ihre jungen Gäste mit
Grazie. Diese tranken Kaffee und Limonade und aßen Kuchen, bis ganze Stoße
Von Kuchen, die für eine Armee berechnet zu sein schienen, verschwunden waren,
und bis der kleine Benno an der Grenze der Möglichkeit angekommen war und
nur noch stöhnte. Dann wurden am Strande Spiele gespielt, und dann zerstreute
sich die junge Gesellschaft und machte den ganzen weitern Umkreis unsicher.
Währenddessen war Herr von Bodenpois in das Künstlerhaus eingetreten,
hatte seine Merkwürdigkeiten bewundert, war mit Staffelsteiger ins Gespräch ge¬
kommen und hatte sich von ihm seine Entwürfe und Bilder zeigen lassen. Herr
von Bodenpois war als gebildeter und selbständiger Russe modernen Ideen zu¬
gänglich. Er war auch für moderne Kunst begeistert. Nun entging ihm ja nicht,
daß dieser Herr Staffelsteiger etwas gar zu modern war, und daß seine Bilder
noch sehr der Klärung und Ausreifung bedurften, aber er bemerkte doch, daß in
ihnen künstlerische Qualität zu liegen schien. Und so brachte er Staffelsteiger den
Gedanken nahe, diese Einsamkeit in einem Winkel Litauens zu verlassen, eine Kunst¬
zentrale, Berlin oder noch besser München aufzusuchen und sich dort an den
Werken moderner Meister weiterzubilden. Als er aber an den verlegner Antworten
Staffelsteigers erkannte, woran es diesen« Künstler fehlte, riß er ein Blatt aus
seinem Scheckbuche, beschrieb es und kaufte dem Maler einige seiner Werke für
einen ansehnlichen Preis ab.
Da stand nun Staffelsteiger mit rotem Gesicht und gesträubtem Haar, seinen
Scheck, von dem er freilich nicht recht wußte, was er bedeute, in der Hand, in
dem stolzen Gefühl, endlich auch in seinem Werte erkannt und gewürdigt zu sein,
und erwog den Plan, diese unwürdige Umgebung so bald wie möglich zu ver¬
lassen, der Natur definitiv den Rücken zu kehren und in die höhern Kreise denkender
Künstler einzutreten.
Alfred, sagte Frau Mary, die Zeugin des Vorgangs gewesen war, willst du
denn diese — Bilder aufhängen?
Bewahre, Schatz, entgegnete Herr von Bodenpois, für Kunstwerke dieser Art
habe ich Platz auf meinem Boden.
Mary sah ihren Verlobten mit freudigen Augen an. Sie verstand, wie der
Kauf der Bilder gemeint war.
Herr von Kügelchen hatte Gesellschaftsanzug angelegt und seine relativ besten
Handschuhe angezogen. Er hatte sich niedlich bei der kleinen Gesellschaft gemacht,
aber über dem Kuchen und der Limonade nur vorübergehende Beachtung gefunden.
Nun trat er in das Künstlerhaus ein. Dort stellte er sich wie in einem Museum vor
alle Wände, studierte, was da auf den Borten stand und an den Wänden hing,
und fand es äuferst — in der Tat äuferst — ja ganz ungemein —. Und dann
fiel er Staffelsteiger in die Hände, der an diesem größten Tage seines Lebens, an
dem er soviel Bilder auf einmal verkauft hatte, und an dem sich ihm die Pforte des
Ruhms zu öffnen schien, jemand haben mußte, dem er seine künstlerischen Ideen
auseinandersetzen konnte. Ach, er hatte die niederdrückende Ahnung, daß er damit
bei Schwechting und Pogge nicht zu seinem Rechte kommen werde. Aber Herr von
Kügelchen war brauchbar. Er hatte Verständnis für den Scheck, er hatte auch
Verständnis für Bilder, die mit einer so hohen Summe bezahlt wurden. Staffel¬
steiger mußte seine Bilder der Reihe nach aufstellen und erläutern, und Herr von
Kügelchen fand sie — äuferst, nein wirklich ganz ungemein — eh, und verriet,
daß er auch Künstlerblut in seinen Adern habe, daß er früher auch gemalt, aber
sich leider diesen Rettungsanker bodenlos verscherzt habe.
Pogge schenkte unermüdlich Bowle ein und nahm die Lobsprüche über die
Bowle, die er übrigens gar nicht gemacht hatte, mit gebührendem Selbstbewußtsein
entgegen und sagte: Pardon, meine Herrschaften, bei Kleinigkeiten immer nobel.
Und Schwechting improvisierte mit Hilfe von Tauenden ein kleines Abendessen, denn
die Gäste äußerten kein Verlangen, sich zu empfehlen. Und so blieb man bis spät
Abends beieinander, und beim Nachhausegehn hängte sich Eva an den Arm des
Doktors und sagte: Heinz, so froh bin ich mein Lebtag noch nicht gewesen. —
Warum? Ja, wenn sie das hätte sagen können! Nach dem Grunde zu fragen, wes¬
wegen man sich freut, ist gar nicht nötig, es vermindert das volle Glück.
Auf diese frohen Feste folgten Zeiten strenger Arbeit und ernster Erwägungen.
Herr von Bodenpois wollte möglichst bald heiraten — gleich hier in Tapnicken —
und dann mit seiner jungen Frau und Wolf in seine Heimat reisen. Auch Tauenden
hätte er am liebsten gleich mitgenommen. Aber Tauenden erklärte, das ginge vorder¬
hand nicht an, sie könne hier noch nicht abkommen. Und so blieb sie also in Tap¬
nicken. Aber der Herr Kandidat war sehr damit einverstanden, seine Lehrtätigkeit
abzubrechen, denn es hatte sich ihm die Aussicht auf eine Pfarrstelle eröffnet. Nur,
was sollte aus dem preußischen Schlößchen werden? Herr von Bodenpois dachte
nicht daran, sich mit der Verwaltung dieses Gutes zu beladen. Er hätte es am
liebsten verkauft. Aber an wen? Und wie teuer? Es war doch Wolfs Erbe und
durfte nicht verschleudert werden. Und der Doktor hatte ja auch nicht die Absicht,
dauernd da zu bleiben. Er konnte zufrieden sein, wenn sich hier die Verhältnisse
in Frieden und Ordnung lösten, und wenn er seine Hypothek zurückziehn konnte.
Auch wäre es eine peinliche Sache gewesen, wenn er ein Kaufangebot gemacht hätte,
das dem wirklichen Werte des Gutes entsprach, das aber nicht so hoch ausgefallen
wäre, wie vielleicht Mary geglaubt hätte.
Und so war es dem Doktor am liebsten, wenn die Lage dieselbe blieb, wie
sie war. Er hatte es unternommen, das Gut, das allerdings am Rande des
Untergangs gestanden hatte, zu retten und wirtschaftlich sicher zu stellen, und konnte
hoffen, daß es ihm jetzt, wenn er nicht mehr mit der Feindschaft Groppoffs zu
ringen hatte, gelingen könnte; er wollte nicht gern ein unvollendetes Werk aus
der Hand geben. Er wollte die schwebenden Prozesse beenden und den Weg durch
die Pempler Heide, der eine Lebensfrage für das Gut bedeutete, sichern. Dazu
kam, daß Eva durch ihren Vater in Tapnicken festgehalten wurde, und daß eine
bessere Lösung gar nicht gefunden werden konnte, als daß Eva zunächst, und besonders
in der Zeit, wo es auf dem Amte zu Ende ging, eine Heimat in dem preußischen
Schlößchen fand. Später konnte man ja immer noch tun, was man wollte.
Ja später!
Inzwischen waren alle Formalitäten erledigt, die für die Trauung Marys
nötig waren. Es kam der Tag, wo Tauenden sich selbst übertraf, wo der Herr
Pastor in der Kirche zu Tapnicken eine ernste und eindringliche Traurede hielt,
und wo man dem neugetrauten Paare das Geleit über die Landungsbrücke zum
Dampfer gab. Des Amtshauptmanns Nero fehlte nicht und beantwortete die Ab¬
schiedsgrüße Marys und Wolfs, die sie vom Schiffe aus herüberwirkten, mit leb¬
haftem Schwanzwedeln. Zuletzt kam noch im Zustande gänzlicher Verwirrung und
gefolgt von Purpel und Petereit, die einen wirren Haufen von Taschen und Mal¬
geräten schleppten, Stasfelsteiger an. Es war eben noch Zeit, ihn und sein Gepäck
auf das Boot zu werfen, da setzte sich das Dampfschiff auch schon in Bewegung.
Noch ein Gruß mit den Tüchern, und ein unsichtbarer Vorhang senkte sich über
einen inhaltreichen Akt des Lebensdramas aller Beteiligten.
Darauf kehrte der Zug unsrer Freunde, die den Abreisenden Geleit gegeben
hatten, zum Lande zurück. Tauenden und Schwechting waren hinter den andern
zurückgeblieben. Schwechting war in großer innerer Bewegung. Staffelsteiger war
er glücklich los, Pogge blieb nicht ewig, und dann war er Herr von Mopswende
und konnte daran denken, einen Plan auszuführen, der ihn seit lange Tag und
Nacht beschäftigte. Und wann hätte er wohl bessere Gelegenheit gehabt als jetzt,
das auszusprechen, was sein Herz bewegte? Tauenden konnte nicht entflieh«. Rechts
Wasser, links Wasser, hinten Wasser, und den Weg zum Lande versperrte er mit
seiner Liebe. Durfte er es wagen? — Er wagte es aber doch noch nicht, und
der Weg bis zum Lande wurde sichtlich kürzer. Da erinnerte er sich an Pogges
Ausspruch: Entweder konsequent oder inkonsequent, nur nicht schwanken. Dieser
Weisheitssatz gab ihm Mut, und er begann mit tiefem Aufseufzen: Tauenden!
Was denn, Herr Schwechting?
Tauenden, Sie waren schon einmal Herrin von Mopswende, seien Sie es für
immer!
Aber Herr Schwechting! sagte Tauenden errötend. Als sie jetzt versuchte, an
ihrem Verehrer vorüberzukommen und Anschluß bei denen zu gewinnen, die voraus¬
gingen, trat ihr Schwechting entschlossen entgegen und sagte: Tauenden, ich kann
hier auf dieser Hühnersteige keinen Fußfall tun, aber das müssen Sie hören, was
Sie schon wissen, daß mein Herz Ihnen gehört, und daß Sie mir den größten
Gefallen täten, wenn Sie mich heirateten.
Aber mein Gott, Schwechting, antwortete Tauenden ganz verzweifelt, was
verlangen Sie von mir? Sie wissen doch, daß ich zum Heiraten keine Minute
Zeit habe.
Jawohl, das weiß ich, sagte Schwechting nicht ohne Bitterkeit. Für jeder¬
mann haben Sie Zeit, für die Kuhmägde und die alte Henne, und für Groppoff,
und für jeden, der etwas von Ihnen will, haben Sie Zeit, aber für Ihre Freunde
und für die, die Sie lieben, haben Sie keine Zeit.
Aber ich kann doch nicht anders, sagte Tauenden, indem ihr die Tränen in
die Augen traten.
O ja, Sie können anders, wenn Sie nur wollen. Wer zwingt Sie denn diesen
Gropvoff, diesen „Überkrüppel," zu pflegen, als wenn er ein Heiliger wäre?
Ach Schwechting, sagte Tauenden, der arme Mensch hat ja niemand auf der
Welt, der ihm in seinem Unglück beistünde, nicht einmal seine Tochter, die jetzt
dem Doktor gehört. Schwechting, Sie sind ein guter Mensch, und ich schätze Sie
hoch, aber — jetzt kommt es, sagte Schwechting zu sich —, aber Sie müssen doch
selbst einsehen, daß ich mich von meinen Verpflichtungen nicht losmachen kann. Ich
kann nicht, ich kann nicht.
Aber wenn dieser Groppoff, was ich hoffe, bald abgesegelt ist — dann,
Tauenden, kann ich wiederkommen?
Schwechting, Sie sind ein schrecklicher Mensch, sagte Tauenden, aber sie sagte
nicht nein. Damit erzwang sie sich freien Weg und eilte dem Doktor und Eva nach.
Als Schwechting das Ufer erreicht hatte, kam ihm eine ganz in Weiß ge¬
kleidete Gestalt entgegen. Von weitem sah sie aus wie ein junges Mädchen, in der
Nähe besehen verschwand die Jugend, und es kam etwas zutage, was man ein
altes Weib hätte nennen können, wenn man so unhöflich gewesen wäre, so zu
reden. Die weiße Dame eilte in großen Schritten auf Schwechting zu, ergriff ihn
am Arm und rief atemlos: Wo ist er? wo ist Staffelsteiger?
Schwechting besann sich, wer die Dame in Weiß sein möchte, dann kam ihm
die Erinnerung, und er sagte zu sich: Hoppewahre, der Kunstdrache!
Der Kunstdrache fuhr fort, ihn am Arme zu schütteln. Schwechting aber nahm
seinen Hut ab, verbeugte sich tief und sagte: Der Lord läßt sich entschuldigen, er
ist zu Schiff nach Frankreich.
Was ist er? fragte die Dame.
Abgedampft, antwortete Schwechting, indem er auf die schwarze Rauchwolke
wies, die das abfahrende Schiff zurückgelassen hatte.
Die Dame nahm eine sehr majestätische Haltung an, kehrte ihm den Rücken
und eilte davon.
Nach einiger Zeit kam ein Brief aus Berncmken an, worin Schwechting gebeten
wurde, zu Baron Bordeaux zu kommen, dem es schlecht gehe, und der dringend
verlange, ihn zu sehen. Ehe noch Schwechting Zeit gehabt hatte, darauf zu ant¬
worten, hielt am frühen Morgen der gelbe Landauer vor Mopswende, und der
Kutscher überreichte Schwechting einen Brief, worin der Inspektor mitteilte, es gehe
mit dem gnädigen Herrn zu Ende, und Herr Schwechting möchte sich doch des Wagens
bedienen. Schwechting zögerte nicht, sich zurecht zu machen und einzusteigen.
Er fand das Schloß in Berncmken noch vernachlässigter und unfreundlicher
als im letzten Winter. Alle Türen standen offen, und die Mägde und Johann
machten Mienen, aus denen man mit einiger Sicherheit auf ein böses Gewissen
schließen konnte. Baron Bordeaux lag in seinem großen geschnitzten Bett und sah
kläglich aus, schwammig und bleich, und sein Starostenbart hing müde herab und
zeigte weiße Fäden. Emma führte Schwechting in das Krankenzimmer und drückte,
um den Ernst der Lage zu markieren, die Schürzenzipfel vor die Augen.
Baron Bordeaux drehte sich schwerfällig herum, drohte mit der Faust und
rief mit einer Stimme, die nichts mehr von ihrem frühern Glänze hatte: Emma,
Sie Kamel, heulen Sie nicht. Denn ihr heult doch bloß darum, daß die Mauserei
hier bald ein Ende haben wird. — Dann streckte er Schwechting die Hand ent¬
gegen und sagte: Ich danke Ihnen, Schwechting, daß Sie gekommen sind, um einem
alten Kameraden das Sterben zu erleichtern.
Aber bester Baron, erwiderte Schwechting, reden Sie nicht vom Sterben.
Soweit sind wir denn doch noch nicht.
Ja, soweit sind wir, sagte der Baron, mühsam atmend. Sehen Sie, soweit
steht das Wasser schon, und wenn es noch zwei Zoll höher kommt, dann heißt es:
Trallarum. Sagen Sie mal, ist das nicht ein hartes Geschick für einen, der sein
Lebtag kein Wasser hat leiden können, daß er zuletzt innerlich im Wasser ver¬
saufen muß?
Schwechting wandte ein, daß es doch Ärzte in der Welt gebe, und daß der
Mensch an der Wassersucht nicht gleich sterben müsse, und so kam man ins Ge¬
spräch. Baron Bordeaux suchte zu scherzen, aber es war nur ein trüber Humor,
den er herausbrachte. Und man konnte merken, daß ihn etwas quäle, während
er hastig von einem Gegenstande zum andern sprang.
Herr Baron, sagte Schwechting, Sie haben mich kommen lassen, womit kann
ich Ihnen dienen?
Ja, lieber Schwechting, antwortete Baron Bordeaux, ich habe etwas ans der
Seele, und Sie können mir einen großen Gefallen tun. Sehen Sie hier die beiden
Hypothekenbriefe. Ich habe sie gekauft und auch gekündigt zu der Zeit, wo ich
wußte, daß Doktor Ramborn in Verlegenheit war. Es war ein schofler Streich, und
ich habe es auch nicht tun wollen, aber Groppoff hat mich dazu gezwungen. —
Schon wieder einer, dachte Schwechting, der sich von Groppoff hat zwingen lassen. —
Das drückt mich, das muß ich los sein, das läßt mich nicht in Frieden sterben.
Zum Fenster hinauswerfen, das nutzt nichts, und auch nicht, wenn ich die Kapitalien
an eine Wohltätigkeitsanstalt verschenkte. Kein andrer als Ramborn muß das Geld,
das ich schoflerweise gegen ihn angelegt habe, erhalten. Gehn Sie zu ihm, grüßen
Sie ihn von mir und geben Sie ihm die beiden Hypotheken.
Schwechting faltete die Dokumente auseinander und sagte: Baron, es ist
ein fürstliches Geschenk. Solche Summen verschenkt man nicht, höchstens vermacht
man sie.
Darauf kann ich nicht warten, antwortete Baron Bordeaux unruhig. Ich will
das schlechte Konto abgeschlossen haben, wenn — wenn —
Und dann, fuhr Schwechting fort, weiß ich nicht, ob der Doktor das Geschenk
annual.
Das wäre der Teufel! Aber Sie haben Recht. Ramborn ist stolz. Er wird
jagen: Wie kommt der Baron Bordeaux dazu, mir Geld schenken zu wollen?
Schenken Sie es doch Fräulein Eva.
Wenn ich das dürfte! rief der Baron, und sein Gesicht verklärte sich. Ich
habe wohl daran gedacht, habe es aber nicht gewagt. Ja, Eva! für sie war es
in bestimmt, und sie solls haben. Und meinen Sie. daß sie einem armen Ver¬
lornen Kerl wie mir die Liebe tut, es zu nehmen?
W:r
müssen es versuchen, sagte Schwechting.
Ja, wir müssen es versuchen.
Er klingelte, klingelte hastig zum zweitenmal, ließ den Inspektor, der zugleich
Amtsvorsteher war, kommen und diktierte ihm eine formgerechte Schenkungsurkunde.
Währenddessen aß Schwechting ein paar Bissen, und dann übernahm er die Ur-
künden und versprach, sobald Eva Ja gesagt hätte, zu telegraphieren. Baron
Bordeaux sank, als er die Hand zum Abschied gegeben hatte, ermattet zurück, und
Schwechting erkannte, daß der Kranke schwerer krank sei, als er angenommen hatte,
und daß er nicht mehr lange zu leben habe. Dann bat er sich einen leichten
Jagdwagen aus und fuhr zurück, was die Pferde laufen konnten.
Er kam bei guter Zeit, das heißt gegen Abend in Tapnicken an und begab
sich sogleich aufs Amt. Eva saß auf der Bank am Laternenhäuschen und sah über
die See hinweg in die Ferne. Sie hatte gar nichts Walkürenhaftes mehr, sie
hatte Frieden geschloffen. Sie überdachte ihr Leben und war mit einer tiefen
Dankbarkeit erfüllt. Und damit war eine neue besondre Schönheit über fie aus¬
gegossen.
Schwechting grüßte, setzte sich neben sie und sagte: Prinzeßchen, Sie können
ein gutes Werk tun.
Was denn, Onkel Schwechting?
Sie können einem Menschen, der bei allen seinen Schwächen doch ein guter
Kerl und nobler Charakter war, das Sterben erleichtern.
Eva verstand, wer gemeint war, und sagte mitleidig: Dem Baron? Was kann
ich denn für ihn tun? Soll ich ihn aufsuchen?
Nein, Prinzeßchen, Sie sollen nur annehmen, was er Ihnen schenkt. Damit
legte Schwechting die Dokumente auf die Bank zwischen sich und Eva.
Eva war blaß geworden und entgegnete: Das ist das Geld, um das mich
mein Vater an ihn verkauft hat.
Nein, Fräulein Eva, erwiderte Schwechting, Ihr Vater hat Sie nicht ver¬
kauft, und Baron Bordeaux hat Sie auch nicht kaufen wollen. Das Geld war für
Sie bestimmt. Sie sollten Herrin des preußischen Schlößchens werden. Der Plan
war nun freilich nicht schön, und das möchte der Baron wieder gut machen, indem
er Ihnen das Kapital schenkt.
Eva sah mißtrauisch auf die Dokumente, die neben ihr lagen, und rückte von
ihnen weg.
Es ist herrenloses Gut, sagte Schwechting, nehmen Sie es. Und außerdem
erwerben Sie sich einen Gotteslohn, indem Sie einem armen Kerl, wie dem Baron,
den letzten Wunsch erfüllen.
Eva konnte sich noch immer nicht entschließen, Ja zu sagen.
Wir wollen Tauenden fragen, sagte Schwechting.
Ja, wir wollen Tauenden fragen, antwortete Eva.
Und was sie sagt, das tun Sie dann auch.
Ja, das tue ich, sagte Eva aufatmend.
Tauenden war noch bei Groppoff. Man trat ins Haus und rief sie in Evas
Zimmer. Schwechting trug den Fall vor, der zur Entscheidung stand, aber Tauenden
verstand nicht sogleich, um was es sich handle. Sie blieb mit ihren Gedanken bei
des Barons Krankheit hängen und beklagte das traurige Ende eines so guten und
im Grunde auch edeln Menschen.
Aber die Frage ist, sagte Schwechting, ob sich Eva von dem Baron etwas,
sagen wir, etwas Großes schenken lassen darf.
Warum nicht? erwiderte Tauenden. Wenn das Geschenk aus gutem Herzen
kommt, wenn es niemand anders schädigt, wenn es zu nichts Unehrenhaftem ver¬
pflichtet, warum nicht? Eva, Goldkind, man muß auch das können. Man muß
sich auch etwas schenken lassen können. Geben ist seliger denn nehmen. Vielleicht
ists auch leichter. Aber auch das Schwerere muß ein guter Mensch können. Danken
können ist die Kunst eines edeln Herzens. Der leidige Stolz fühlt sich durch die
Gabe erniedrigt und verschmäht lieber das Geschenk, als daß er sich durch danken
demütige. Man muß die Kunst lernen, eine herzliche Gabe herzlich anzunehmen.
Und wenn es zwei Hypotheken wären!
Tauenden, sagte Eva, Sie predigen wie der Herr Pastor.
Aber sie hat Recht, rief Schwechting begeistert.
Gut, sagte Eva, für Heinz und um des preußischen Schlößchens willen will
ich das Geschenk annehmen.
Nein, Eva, erwiderte Tauenden, um des armen Barons und um seiner Liebe
zu dir und um seines guten Herzens willen sage Ja.
Eva kämpfte in ihrem Innern eine widerstreitende Regung nieder und sagte
leise: Ja, Tauenden, ich will.
Sogleich setzte Schwechting seinen Hut auf, eilte, fast ohne Abschied zu nehmen,
auf die Post und telegraphierte: Sie will. Tauenden streichelte Eva die Wange und
sagte: Kind, schreibe ihm morgen ein paar herzliche Worte. Darauf begab sie sich
zu Groppoff.
Groppoff saß in seinem Lehnstuhl, ein Schatten von dem, was er früher ge¬
wesen war. Er vegetierte, er lebte kaum noch. Groppoff suchte Tauenden mit den
Augen, als sie eintrat, sagte aber kein Wort. Und Tauenden sprach ihm langsam
und deutlich ins Ohr: Baron Bordeaux hat Eva die beiden Hypotheken geschenkt.
Sie wissen schon, welche. Und Eva hat sie angenommen.
Groppoff antwortete nicht, aber er faltete die Hände, und seine ungelähmte
Gesichtshälfte ließ erkennen, daß seine Seele tief bewegt war.
"
Das war etwas von dem „Später, das die Lage durchaus änderte, und
das es dem Doktor erschwerte zu sagen: So, Eva, nun wollen wir den Staub
von den Füßen schütteln und davon ziehn.
Nach einiger Zeit hatte der Herr Pastor auf dem preußischen Schlößchen zu
tun. Es handelte sich um die Vorbereitung der Hochzeit des Doktors und Evas,
die aus naheliegenden Gründen möglichst beschleunigt werden sollte. Der Doktor
brachte den Herrn Pastor durchs Dorf zu seinem Boote. Man sprach von mancherlei
und auch von dem Herrn Kandidaten und belustigte sich darüber, daß dieser Gottes¬
mann noch beim Abschiede beim Doktor Bekehrungsversuche gemacht und mit dem
jüngsten Gerichte gedroht hatte.
Wie kommt es, sagte der Doktor, daß Sie das bei mir nicht versuchen? Sie
haben doch Herrn von Bodenpois in der Traurede ernstlich ins Gewissen geredet, und
es ist doch eigentlich Ihr Beruf, die Menschen zu Ihrem Glauben zu bekehren.
Lieber Doktor, erwiderte der Pastor, man muß als verständiger Gärtner nicht
eine Pflanze behandeln wie die andre. Manches Samenkorn keimt leicht, und manches
schwer. Daran herum pokern hilft nichts. Man muß seine Zeit abwarten.
Und so warten Sie Ihre Zeit ab?
Ja. — Sie gingen eine Strecke schweigend nebeneinander. Ich habe mir
erzählen lassen, nahm der Pastor die Unterhaltung wieder auf, daß Sie mit den
Fischern auf dem Eise gebetet haben. Ich kann Ihnen sagen, daß mich selten etwas
so gefreut hat wie das. Haben Sie seitdem einmal wieder die Hände gefaltet?
Der Doktor sah den Pastor erstaunt an, als wollte er sagen: Wozu denn? ich
bin ja seitdem nicht wieder auf der Eisscholle gewesen.
Versteh» Sie mich recht, sagte der Pastor. Beten ist nicht ein Zaubermittel,
durch das wir in die Machtsphäre Gottes einbrechen. Beten ist das Bekenntnis
des Glaubens an einen lebendigen Gott, es ist ein Wort des Vertrauens, eine
demütige kindliche Bitte, an den gerichtet, der alles am besten weiß und kann.
Meinen Sie nicht, daß ein Mensch, der durch die Erfahrung feines Lebens gelernt
hat, ersonnene Bücherweisheit als das anzusehen, was sie ist, nämlich als papierne
Weisheit, und der zu dem Schlüsse gekommen ist: ohne einen Gott gehts doch nicht,
seine Freude und seinen Trost daran haben müsse, im Gebet einen solchen Glauben
zu be euren? Aber ich fordere Sie nicht auf. das äußerlich zu zeigen, was Sie
innerlich noch nicht geworden sind. Ich gebe Ihnen Zeit.
DerDo
ktor antwortete nachdenklich: Ja. lassen Sie mir Zeit.
Das Pariser ?oeil Journal hat sich bemüßigt gefunden, die
Nachricht der Grenzboten ohne weiteres als falsch zu bezeichnen, daß sich die
französische Regierung um die Exhumierung der sterblichen Überreste der 1870/71
in der deutschen Gefangenschaft gestorbnen französischen Soldaten bemüht und der
Kaiser diese jetzt mit der ausdrücklichen Anordnung militärischer Ehren für die
Übergabe genehmigt habe. Leider hat sich der Telegraph die Verbreitung dieser
Pariser Behauptung angelegen sein lassen, und ein großer Teil unsrer Zeitungen,
für die das Fremde immer eine größere Autorität hat als das, „was nicht weit
her ist," hat es ohne Prüfung nachgedruckt. Das ?seit ^ourn^l muß sich, wenn
überhaupt, an einer sehr schlecht unterrichteten Stelle erkundigt haben, sonst hätte
es dort erfahren müssen, daß sowohl im Jahre 1904 wie im Jahre 1905 in
Paris und in Berlin über diesen Gegenstand amtlich verhandelt worden ist. Die
Anregung dazu ist ausgegangen von einem Komitee in Havre, das die Überreste
der ans dem Departement Seine Jnferieure gebürtigen, in Deutschland gestorbnen
Kriegsgefangnen in die Heimat übergeführt und auf den oimstisrss röAimEQtA.irs8
bestattet zu scheu wünschte. Es wurden zunächst Verhandlungen mit der deutschen
Votschaft in Paris eingeleitet, die jedoch ohne Erfolg blieben. Gegen Ende des
vorigen Jahres wurde dann der französische Botschafter in Berlin angewiesen, sich
der Sache anzunehmen; die von Herrn Bihourd getaner Schritte hatten jedoch
auch kein Ergebnis. Neuerdings hat Herr Bihourd die Sache wieder aufgenommen.
Bei den inzwischen veränderten Beziehungen zu Frankreich war man in Berlin
eher geneigt, einem Werke der Pietät entgegenzukommen, und nachdem der Kriegs¬
minister erklärt hatte, daß keine militärischen Bedenken entgegenstünden, erfolgte auf
Jmmediatvortrag des Reichskanzlers die kaiserliche Genehmigung. Es ist schon
zwischen dem Reichskanzler und dem Kriegsminister das Nötige wegen der zu er¬
weisenden militärischen Ehren verabredet worden, und Herr Bihourd ist davon
amtlich verständigt worden. Es handelt sich um die in Glatz, Stralsund und
Stettin bestatteten Toten. Mitte Februar 1871 waren in Deutschland als Kriegs¬
gefangne 11860 Offiziere und 371981 Mannschaften; die Zahl der Kranken und
der den Krankheiten Erlegnen ist namentlich bei den Gefangnen von Metz und
Sedan anfänglich recht groß gewesen.
Die Behandlung dieser Angelegenheit im ?edle Journal ist für die französische
Presse geradezu typisch. Das französische Ministerium des Auswärtigen, wenn nicht
auch noch andre Ressorts, ist von Anbeginn an amtlich an den Verhandlungen be¬
teiligt gewesen; wie kann also das Z?seit -louriml „auf Erkundigungen" es als
„falsch" bezeichnen, daß die französische Regierung einen solchen Schritt getan habe!
Trotzdem wird das in Paris amtlich bekannte Ergebnis vom ?seit ^oni-rat mit
einer bei diesem Blatt völlig ungewohnten Autorität in Abrede gestellt, und die
deutsche Presse glaubt ihm das ohne weiteres! Hiernach kann man ermessen, welcher
Wert überhaupt französischen Nachrichten, sobald sie Deutschland betreffen, beizulegen
ist, insbesondre auch den Lügennachrichten, die über das deutsche Auftreten, die
deutschen Ansprüche und die deutschen „Intriguen" in Marokko neuerdings wieder
mit einer Leichtfertigkeit sondergleichen verbreitet werden. Trotz der gegenteiligen
Behauptung des ?seit .lourn-^I steht also die von den Grenzboten gemeldete Tat¬
sache fest, daß die französische Regierung auf Wunsch eines privaten Komitees die
Exhumieruug seit Jahr und Tag auf diplomatischem Wege nachgesucht, und daß der
Kaiser sie jetzt genehmigt hat.
Bei Erscheinen dieser Zeilen hat König Eduard von Großbritannien und
Irland seine Kur in Marienbad schon begonnen, ohne seinen kaiserlichen Neffen
zuvor gesehen zu haben. Da Kaiser Wilhelm gegen den 10. September an den
Rhein geht, so würde eine Begegnung am Rhein nach einer dreiwöchigen Kur des
Königs immer noch möglich sein, falls dieser den Rückweg über Köln nähme, und
der Kaiser zu einer Begegnung bereit wäre. Nachdem die englische Presse ihren
Monarchen für eine Zusammenkunft mit dem deutschen Kaiser nahezu festgelegt
hatte, werden zunächst in England mancherlei Erwartungen enttäuscht sein. Wir
sagen ausdrücklich „in England," denn in Deutschland hat man sich gegen die von
London aus so fleißig betriebne Ankündigung einer Begegnung von Anfang an
recht skeptisch Verhalten, da trotz der so positiven Ankündigung jede Mitteilung des
englischen Hofes oder der englischen Regierung ausblieb. König Eduard ist dem
deutschen Kaiser einen Besuch in Berlin schuldig, und bevor dieser nicht geleistet
wird, werden alle gelegentlichen Berührungen nicht ausreichen, die Beziehungen
zwischen den beiden Ländern in das richtige Fahrwasser zu bringen. Seit der
vorjährigen Kieler Begegnung und den dort unter Kanonendonner gewechselten
Trinksprüchen ist wenig mehr als ein Jahr verflossen. König Eduard sagte da¬
mals (25. Juni) beim Festmahl an Bord der „Hohenzollern," nachdem er den
Wunsch geäußert hatte, „die innigen verwandtschaftlichen Beziehungen, welche
Unsre Häuser seit so lauger Zeit verbunden haben, durch erneuerten persönlichen
Verkehr womöglich noch enger zu knüpfen": „Möchten Unsre beiden Flaggen bis
in die fernsten Zeiten ebenso wie heute nebeneinander wehen zur Aufrechterhaltung
des Friedens und der Wohlfahrt nicht allein Unsrer Länder, sondern auch aller
andern Nationen." Der König sagte das in deutscher Sprache, die er bekanntlich
uicht nur gut, sondern auch gern spricht. Der weitere Verlauf des Jahres hat
diesen guten Wünschen wenig entsprochen, die deutsch-englischen Beziehungen haben
seitdem einen Tiefstand erreicht wie nie zuvor; sie waren bis in die jüngste Zeit
von einer in London ausgegebnen und ziemlich auf dem gesamten Erdball befolgten
Parole der Unfreundlichkeit beherrscht, von der neuen Dislokation der englischen Flotte
ganz abgesehen, die sich nicht notwendig gegen Deutschland allein zu richten braucht.
Wenn das nach dem sechstägigen Besuch in Kiel möglich war, so ist nicht an¬
zunehmen, daß eine flüchtige Begegnung von wenig Stunden hinreichen werde,
durch eine Aussprache von Monarch zu Monarch den Beziehungen beider Reiche
zueinander ein andres Gepräge zu verleihen. Dazu gehören doch Handlungen,
gehört namentlich von englischer Seite eine wesentlich andre Lenkung des Staats¬
schiffes, ein andrer politischer Kurs. Im übrigen ist es durchaus begreiflich, daß der
König auf der Reise nach Marienbad nicht gleich aus der französischen Umarmung
in die deutsche eilen konnte. Aber auch wenn es auf der Rückreise unterbleiben
sollte, wird man gut tun, das so wenig zu überschätzen, wie jetzt das Unterbleiben
nicht überschätzt werden darf. Ist doch von Londoner Blättern schon ausgesprochen
worden, die ganze Nachricht sei von Deutschland (!) erfunden, um die Bedeutung
des französischen Flottenbesuchs in Portsmouth abzuschwächen und die französisch-
englische Entente zu stören. Was Deutschland wohl ruhig dem Lauf der Dinge
überlassen wird! Wird doch schon von Paris aus daran erinnert, daß die Welt
schon mehr französisch-englische Flottenbegegnungen gesehen hat. nach denen die
schärfsten Gegensätze nicht ausgeblieben sind.
Die Rechnung der englischen Politik ist dahin gegangen, Frankreich, das an
Rußland keine Stütze mehr findet und nicht in der Vereinsamung bleiben will,
durch englische Umarmung zu verhindern, sich Deutschland zu nähern. Es ist das
König Eduards Persönliche und von ihm persönlich betriebne Politik, die ihm, wie
der französische Botschafter in London noch eben in einem zu Cowes ausgebrachten
Toast ausdrücklich versichert hat, in Frankreich „nicht vergessen werden wird."
Aber — derlei internationale Tischreden sind doch nur rednerische Momentphoto¬
graphien, Stimmungsbilder des Augenblicks. Wie wenig sie auf die Dauer für
die praktische Politik zu bedeuten haben, dafür ist die Erinnerung an die vorjährige
Kieler Woche ein sehr naheliegendes Beispiel. Wer sich übrigens die Mühe nimmt,
Kaiser Wilhelms vorjährigen Toast nachzulesen, auf den König Eduard in der oben
erwähnten Weise erwiderte, wird finden, daß der Kaiser Wort für Wort sorgfältig
abgewogen hatte, man blickt rückschauend wie in einen Spiegel hinein, der das
deutsch-englische Verhältnis von damals ohne jeden Überschwang wiedergibt. Wie
Englands UmWerbungen auf die französische Politik gewirkt haben, beweist der Del-
cassesche Bündnisvorschlag. Seitdem hat die englische Politik die Miene ange¬
nommen, als sei sie durch den Pariser Szenenwechsel vom Anfang Juni gar nicht
berührt worden und Frankreichs nach wie vor sicher. „Sie sind auf jegliche Be¬
dingung mein." Wie das in Paris aufgefaßt wird, geht unter anderm aus einer
Äußerung des ZZolair vom 11. August hervor, der wörtlich sagt: „Die über¬
triebnen Freundschaftskundgebungen, mit denen England die französische Flotte
buchstäblich erdrückt, haben im Publikum Überraschung hervorgerufen. Die Nation
der sxlsnäiä jsolatiou scheint von einem menschenfreundlichen Delirium befallen zu
sein (sie). ..." Der Artikel gibt weiter diesen Freundschaftsbeteuerungen eine aus¬
schließlich gegen Deutschland gerichtete Spitze. Dasselbe tun andre französische Blätter,
und der Gedanke hat dort ziemlich Wurzel geschlagen, daß Frankreich nicht der
Soldat Englands sein dürfe. Zunächst wird das auch in England nicht verlangt,
man ist zufrieden, der Sorge um eine deutsch-französische Flottenkombination ledig
zu sein. Die Führer der englischen Liberalen, die sich mit aller Entschiedenheit
gegen einen Konflikt mit Deutschland erklären, wollen damit im Grunde nur der
englisch-französischen Annäherung den Kriegsstachel nehmen, mit dem britische See¬
lords und Admiräle neuerdings einigen Unfug getrieben haben.
Im übrigen werden auch die Liberalen die Politik fortsetzen, Frankreich im
englischen Fahrwasser zu erhalten, damit es nicht in das deutsche gerate. Es ist das
nicht liberale oder konservative Politik, sondern die Politik des Königs, schon deshalb
werden sich auch die Nachfolger des heutigen Kabinetts nicht davon trennen. Tat¬
sächlich liegt darin ein Kompliment für Deutschland, nämlich eine Furcht vor der
deutschen Politik, die der ungeheuerlichsten Pläne für fähig gehalten wird, unge¬
achtet der großen Überlegenheit der englischen Flotte an Zahl! Wie zu Bismarcks
Zeit kaum irgendwo auf der Welt ein Schornstein einstürzen konnte, ohne daß der
damalige Reichskanzler die Hand im Spiele gehabt hätte, so wird heute der Kaiser
in der französischen wie in der englischen Presse als Urheber der unglaublichsten
Pläne gegen beide Länder angesehen. Wurde doch jüngst sogar das irgendwo
signalisierte Anlaufen dreier niederländischer Kriegsschiffe in Tanger als ein Schachzug
des Kaisers gegen Frankreich interpretiert! Daher kommt es denn, daß Rede¬
wendungen wie die, daß die französisch-englische Entente den Weltfrieden verbürge,
auch in französischen Ohren angenehm widerklingen.
All diesem Wohlwollen bei unsern lieben Nachbarn gegenüber macht es einen
um so seltsamem Eindruck, wenn in einzelnen deutschen Blättern Material für einen
innern Konflikt zusammengetragen, und ein solcher in aller Form angekündigt wird.
Die irgendwo erfundne Nachricht, daß noch fünftausend Mann nach Südwestafrika
gehn sollen, hat ein Zentrumsblatt zu der Drohung mit einem Konflikt bewogen,
wenn nicht sofort der Reichstag einberufen werde, während dus Organ der deutschen
Kolonialgescllschaft wiederum die sofortige Einberufung des Reichstags verlangt, um
eine Bahn von Lüderitzbucht in das Innere, und zwar „in außergewöhnlichem
Tempo" zu bauen. Es ist ganz selbstverständlich, daß die durch Tod, Verwundung oder
Krankheit entstandnen Lücken in Südwestafrika wieder ergänzt werden müssen, ebenso
der Pferdebestand, das Material usw. Ob in solchem Falle Etatsüberschreitungen vor¬
kommen, läßt sich doch überhaupt erst nach Abschluß des Etatsjahrs, in bezug auf die
Formationen in Südwestafrika aber jetzt doch um so weniger übersehen, als die be¬
rechtigte Hoffnung besteht, noch vor Schluß des Etatsjahrs einen wesentlichen Teil
der Truppen in die Heimat zurückrufen zu können. Würden heute neue taktische
Formationen in der Höhe von fünftausend Mann aufgestellt, so wäre die Forderung,
daß der Reichstag zuvor gehört werden müsse, allenfalls berechtigt, obwohl es in
England keiner Regierung einfallen würde, deshalb das Parlament einzuberufen.
In Deutschland nimmt sich die Forderung um so seltsamer aus, als der
Reichstag bekanntlich nur sehr selten beschlußfähig, und die große Mehrzahl aller
von ihm beschlossenen Gesetze eigentlich verfassungsmäßig rechtsungiltig ist. Die Tat¬
sache, daß Regierungen und Reichstag stillschweigend eine solche Gesetzgebung zu¬
lassen müssen, ist eine der moralischen Schwächen unsrer durch die Verfassung nicht
hinreichend ausgebauten parlamentarischen Einrichtungen. Aber um so zurückhaltender
sollte man mit der Forderung einer Einberufung des Reichstags wegen angeblicher
Neuaufstellung von fünftausend Maun sein, jeder einzelne Abgeordnete wäre sicherlich
zornig über die Zumutung, deshalb im Monat August eine Woche in Berlin zu¬
zubringen. Dazu kommt, daß der gesamte Behördenapparat der Zentralstellen in
seiner Urlaubszeit beeinträchtigt würde. Wollte sich der Reichskanzler revanchieren
und den Reichstag wirklich wegen der in Aussicht genommnen geringen Transporte nach
Südwestnfrika einberufen, die Abgeordneten würden ihm wahrscheinlich wenig Dank
wissen. Zudem darf Fürst Bülow wohl für sich in Anspruch nehmen, daß die
verfassungsmäßigen Befugnisse des Reichstags von ihm mit Peinlichkeit gewahrt
werden, und daß ihm jedwede verfassungsgegnerische Tendenz sicherlich völlig fern
liegt. Vergegenwärtigt man sich dazu die Tatsache, daß von dreihundert Abge¬
ordneten (ohne Sozialdemokraten) nur mit Not und Mühe einige Herren zu der
Fahrt nach Kamerun zu haben waren, so sind doch die gesamten Räsonnements über
die Nichteiuberufung des Reichstags hinfällig! Was die Bahn von Lüderitzbucht
ins Innere anlangt, die in Zukunft sowohl für die materielle Entwicklung wie für
die militärische Sicherheit des Landes unerläßlich ist oder in der letzten Hinsicht
dnrch starke militärische Kräfte notdürftig ersetzt werden muß, so würde eine eng¬
lische Regierung die Bahn längst als ein Kriegsmittel in Angriff genommen und
energisch gefördert haben, mit der vollen Sicherheit, daß kein Parlament die Aus¬
gabe hinterher ablehnen würde. Bei uns freilich rechtfertigt der „Segen" des all¬
gemeinen Stimmrechts alle Bedenken.
Unter den japanischen Friedensbedingungen ist eine, die die andern Nationen
indirekt berührt, weil sie einen eigentümlichen Präzedenzfall im Seekriegsrecht schaffen
würde. Es ist das Verlangen der Auslieferung der in neutrale Häfen geflüchteten
russischen Schiffe. Ein solches Verlangen ist noch niemals gestellt worden, und
Rußland wäre im vollen Recht, wenn es darauf nicht einginge, auch wären die
in Betracht kommenden Mächte gar nicht in der Lage, diese Rußland gehörenden
Schiffe ohne ausdrückliche Ermächtigung an Japan zu übergeben. Hat dieses sich
der Schiffe im Kriege nicht bemächtigen können, so kann es doch nicht den Anspruch
erheben, sie durch den Friedensschluß erobern zu wollen. Eine solche Bestimmung
im russisch-japanischen Friedenstraktat würde das gesamte internationale Seerecht
b
Die im letzten Heft (Ur. 32) von einem
besorgten Freunde vorgeschlagnen Maßnahmen zur „Rettung" Kiautschous dürften
schwerlich auf Zustimmung in den Marine- und Armeekreisen zu rechnen haben.
Erstens brauchen wir uns wirklich wegen der Absichten der Japaner auf Kiautschou
keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wären aber Ursachen zu ernsten Bedenken
vorhanden, so würde es gerade diesem rührigen Volke gegenüber recht verkehrt sein,
diese Bedenken öffentlich zu diskutieren. Alles, was geschrieben würde, würde
doch nur für die Japaner geschrieben; unsre Behörden bedürfen in dieser Hinsicht
keiner Belehrung. Noch weniger würden sie es aber für richtig erachten, an die
große Glocke zu hängen, was sie in dem einen Falle tun, in dem andern lassen
wollten. Außerdem hat sich der Herr Einsender die Sache aber sehr leicht gemacht.
15000 Tonnen-Linienschiffe kosten nicht 20, sondern 30 Millionen Mark, sodann
ist es nicht mit dem Schiffbau allein getan. Ob die Flotte, die er für Kiautschou
vorschlägt, in dem Hafen von Tsingtau überhaupt untergebracht werden könnte,
wollen wir hier nicht erörtern; er verlangt ja nicht weniger als 8 Linienschiffe,
8 Panzerkreuzer, 20 geschützte Kreuzer, 20 Torpedobootszerstörer und 100 Torpedo-
boote — 156 Schiffe. Wenn wir uns das leisten könnten, würden wir es viel
dringender für die Heimatflotte nötig haben, denn in unsrer Schlachtflotte
liegt die Entscheidung zur See.
Es gibt aber weder einen Bundesrat noch gar einen Reichstag, der das
neben dem Ausbau der Heimatflotte, oder auch nur für diese selbst, jetzt bewilligen
würde. Auch würde eine solche Flotte für Ostasien wahrscheinlich von allen Mächten
als eine Bedrohung, nicht als eine defensive Friedensbürgschaft angesehen werden.
Denn den Wert hätte Kiautschou auf absehbare Zeit für uns nicht, daß wir neben
allen andern Zuschüssen noch 50 Millionen jährlich für eine Flotte dort aufzuwenden
geneigt sein könnten. Der Herr Verfasser rechnet zwar „nur" 35 Millionen, aber
abgesehen davon, daß er auch diese nie bekommen würde, rechnet er eben viel zu
niedrig. Zu den Schiffen gehören auch die Stäbe und die Besatzungen, die Kosten
der Jndiensthaltung, die sehr hoch sind, die Kosten der Ablösuugstrausvorte, die
Erbauung von noch mindestens zwei großen Docks in Tsingtau (für 15000 Tounen-
schiffe geeignet), ferner die Errichtung einer vollständigen Werft, die Kohlen¬
vorräte, Schiffskammern, Proviant- und Munitionsvorräte, Kasernen, Lazarette,
Dienstwohnungen und Arrestlokale an Land, ein Geschützarsenal usw., sodasz min¬
destens noch 15 Millionen Mark jährlich hinzugerechnet werden müßten. Auch
im Hafen selbst wären noch zahlreiche Vorkehrungen zur Aufnahme einer so großen
Flotte zu treffen, ebenso Forts und Batterien in größerm Umfange anzulegen.
Sodann aber haben wir Stäbe und Besatzungen leider nicht vorrätig, die Offiziere
müßten erst herangezogen, die vielen Spezialisten unter den Besatzungen mühsam
ausgebildet werden. Gelänge es, hierfür die Mittel zu erhalten, so wäre es ein
Leichtsinn ohnegleichen, sie nicht für die heimische Schlachtflotte zu verwenden. Je
stärker wir zuhause sind, desto weniger wird man uns draußen inkommodieren.
Japan hat gar keine Veranlassung, sich um Kiautschous willen mit Deutsch¬
land zu überwerfen, denn unsre dortige Niederlassung würde erst zur Bedrohung,
wenn wir ein zweites Port-Arthur — absit omsu — daraus machen wollten.
Das freilich würden die Japaner sich wahrscheinlich nicht ohne weiteres gefallen
lassen. So lange wir das nicht tun und dem Prinzip der „offnen Tür" treu
bleiben, haben sie nicht den geringsten Grund, uns in Kiautschou und Schankung
zu belästigen. Im Gegenteil! Wir bauen ihnen dort die Eisenbahnen, auf denen
ihre Handelspioniere vorwärts dringen, und die jeder europäischen Bemühung
spottenden unverzeihlich billigen Arbeitslöhne der Japaner erobern ihnen
Handelsgebiete weit einfacher und bequemer als Flotten und Heere. Wenigstens
für alle Gegenstände, die sie selbst fabrizieren können. Für die andern sind sie
selbst Käufer und schlagen auch da wieder die europäische und die amerikanische
Konkurrenz durch viel geringere Unkosten und durch großes Maßhalten im Rein¬
gewinn. Sagte doch Balfour jüngst im Unterhause, nachdem er den Rückgang
nicht nur des deutschen, sondern auch des englischen Handels nach China konstatiert
hatte: „Mit jeder Bahn, mit der wir in das Innere Chinas eindringen, werden
wir dort auf die japanische Konkurrenz stoßen; der japanische Handel ist der einzige,
der dort entschieden vorwärts geht." Japan denkt auch gar uicht daran, ohne
Not mit noch mehr europäischen Mächten anzubinden. Es richtet seine gesamten
Schiffahrtslinien nach Europa hin ein, um seine europäischen Bedürfnisse auf
japanischen Schiffen einzuholen, wie wird es also an Krieg mit Europa denken.
Die europäischen Grossisten und Importeure, die in den chinesischen Hafenplätzen
sitzen, bedürfen der Detailverkäufer — und das sind ihnen die Japaner. Dem
deutschen, englischen und amerikanischen Kaufmann, der ihnen die Bahn bricht,
hängen sie sich als erfolgreiche Zwischenhändler an.
Ganz abgesehen von allen politischen Motiven hat Japan also auch in seinen
wirtschaftlichen Interessen durchaus keinen Grund, einen Konflikt mit Deutschland
zu suchen oder herbeizuführen. Käme es je dazu, und die Japaner wollten sich
Tsingtaus bemächtigen, so würden sie das viel bequemer durch Landangriff als
von der Seeseite her tun. Wir können dort nicht etwa auch noch ein halbes Dutzend
Armeekorps halten. Vor allen Dingen muß doch der Schutz im richtigen Ver¬
hältnis zur Summe der zu schützenden Interessen stehn. Fordern diese einmal
in künftigen Generationen eine solche Flotte, wie der Herr Einsender sie verlangt,
so wird Deutschland auch in der Lage sein, diesen Schutz ohne Rücksicht auf irgend¬
eine andre Macht zu sthasfen und zu leisten. Warten wir zunächst einmal die
Entwicklung von China selbst ab. Kommt dort früher oder später die chinesische
Reformpartei an das Regiment, die den Japanern schon vor zehn Jahren riet,
Rußland vor Fertigstellung der sibirischen Bahn anzugreifen und aus Ostasien zu
werfen, dann können sich dort sehr merkwürdige Verhältnisse ausbilden, denn der
reformfreundliche Chinese wird zwar eine starke patriotische Fiber entwickeln, aber
seine Anlehnung doch auf lange Zeit an die wirklichen Kulturkräfte Europas suchen
müssen, unter denen Deutschland hoffentlich immer in der vordersten Linie bleibt.
Nach Beendigung des Deutsch-französischen Krieges hat der
Protestantische Prediger Arbousse-Bastide in Predigten und in einer diese zusammen¬
fassenden Schrift: 1>hö xgeuss as la, Frauos den Franzosen ihr Sündenregister vor¬
gehalten. Ein Ultramontaner, der sich Franko - Germanus nennt, findet das
Register unvollständig; die schlimmsten Verschuldungen habe der Protestant, als
solcher, natürlich nicht wahrnehmen können, die Ungerechtigkeiten, die die fälschlich
sogenannten allerchrtstlichsten Könige gegen die katholische Kirche und den Papst
verübt hätten. Diese stellt er nun in der Schrift: Frankreichs Versündigungen
an der Kirche und Christenheit (München, Joseph Roth, 1904) vom ultra¬
montanen Standpunkt aus dar, der selbstverständlich nicht der unsre ist. Daß
Monarchen wie Ludwig der Vierzehnte den Klerus für die schwarze Garde des
Polizeistaats ansahen und als solche gebrauchten, billigen auch wir nicht; aber wenn
sich die französischen Könige, gleich den englischen, besonders von Philipp dem
Schönen an, in Eintracht mit den Ständen die päpstlichen Einmischungen in die
Staatsverwaltung vom Leibe gehalten und die päpstlichen Anmaßungen energisch
zurückgewiesen haben, so haben sie damit nur eine der ersten Pflichten gegen Staat
und Vaterland erfüllt. Der Verfasser irrt auch, wenn er sich die Behauptung des
ultramontanen Staatslexikons aneignet, der Gallikcmismns, wie das Streben der
französischen Kirche nach relativer Unabhängigkeit von Rom genannt wird, ver¬
schulde das Elend Frankreichs. Frankreich ist doch erst unter dem dritten Napoleon
elend geworden, der der Bigotterie des Klerus und der Weiber, auf die er sich
stützte, die Zügel schießen ließ. Die französische Männerwelt ist viel zu weltlich¬
praktisch, zu skeptisch und zu spottsüchtig, als daß sie fromm sein könnte; das
gallische Blut herrscht bei ihr vor. Die aber fromm sind, das heißt die meisten
Frauen und eine Minderheit der Männer, sind es auf abergläubische und kindische
Weise. Ihre Frömmigkeit äußert sich in Wundersucht, in einer Häufung täppischer
und widerlicher Andachten und in einem fanatischen Orthodoxismus. Sie besonders
sind es, die, wie Dupanloup klagen mußte, mit ihrer Pöbelagitation die törichten
Dogmatisierungen des neunten Pius betrieben haben, sie sind es, die nach 1870
vor den „Herzen," den wirklichen fleischernen Herzen, natürlich nur gemalten, Jesu
und Mariä geheult haben: Sauvs? Roms se Is, Graues! und die zuerst auf den
Teufel Bitrou und die Miß Vaughcm hineingefallen sind. Die französischen Staats¬
behörden tun nur ihre Schuldigkeit, wenn sie diese Art Frömmigkeit eindämmen,
die der Religion nicht weniger schadet als dem Staate. Der Verfasser ist ehrlich
genug, zu erwähnen, daß die französischen Könige des sechzehnten Jahrhunderts,
während sie mit den deutschen Protestanten und sogar mit den Türken verbündet
waren, über die Protestanten im eignen Lande blutige Verfolgungen verhängten,
aber er vergißt, daß die Verfolgungen ganz im Sinne Roms waren und von den
Päpsten sicherlich nicht als ein ihnen zugefügtes Unrecht empfunden worden sind.
Als eine brauchbare Übersicht über die Geschichte des Gallikanismus kann die
Broschüre empfohlen werden. — Als eine erfreuliche Erscheinung begrüßen wir:
nostra Maxims, oulpg,. Die bedrängte Lage der katholischen Kirche, deren Ur¬
sachen und Vorschläge zur Besserung. Von Anton Vogrinec, Pfarrer in Leifling,
Körnten. (Wien und Leipzig, Carl Fromme, 1904.) Der wackre Pfarrer meint,
den Teufel könne man unmöglich für das Elend der Kirche in Österreich verant¬
wortlich machen, denn den habe ja Christus besiegt, und die Schuld der Weltkinder
und sonstiger Kirchenfeinde zu erörtern habe keinen Zweck, denn über die habe ein
Pfarrer keine Gewalt; der Klerus habe nur nach seinem eignen Anteil an der
Schuld zu fragen und ihn durch Reformen zu beseitigen. Er schlägt nun eine
Reihe sehr vernünftiger Reformen vor und beschäftigt sich besonders mit der Reform
des Religionsunterrichts so ausführlich, daß man sein Buch beinahe ein Lehrbuch
der Katechetik nennen kann. Den Bischöfen spricht er auf Grund ihres Verhaltens
bei den Visitationen jedes pädagogische Verständnis ab und wagt überhaupt manches
kühne Wort gegen die stolzen, reichen und mächtigen Kirchenfürsten Österreich-
Ungarns, zum Beispiel, man möge ihnen wehren, mitten unter einem halbverhungerter
Volke, dem sie die Seligkeit der Armen predigen sollen, Paläste zu bewohnen und
in vierspännigen Prunkwagen herumzufahren. Wenn von Verschuldungen des öster¬
reichischen Klerus die Rede ist, kann billigerweise wohl nur die des hohen gemeint
sein; denn der Seelsorgklerus wird so jämmerlich bezahlt und lebt in so schmach¬
voller Abhängigkeit von den geistlichen und den weltlichen Behörden, daß in ihm
— auch noch seine jämmerliche Vorbereitung in Betracht gezogen — höhere Bil¬
dung, ideales Streben und männliche Gesinnung nicht aufkommen können. Ein
Mann wie Vogrinec, in dem trotz solcher Lage das Gefühl der Verantwortlichkeit
lebendig und stark bleibt, ist darum doppelter Ehren wert. — Der Kirchenhistoriker
Friedrich Nippold gehört zu den eifrigen Förderern des Evangelischen Bundes
und klagt gleich seinen Gesinnungsgenossen darüber, daß die Regierung dem Ultra¬
montanismus zur Herrschaft verhelfe, die evangelische Kirche benachteilige und be¬
drücke. Besonders beschwert er sich darüber, daß die evangelische Heidenmission
hinter der katholischen zurückgesetzt und entweder ignoriert oder verleumdet werde,
wie dies namentlich in den chinesischen Händeln und im Hererokriege geschehen sei.
Und die liberale Presse, namentlich die Kölnische Zeitung, habe an dieser Ungerechtig¬
keit teilgenommen. Solche Beschwerden machen den Hauptinhalt eines Vortrags
aus, den er am 29. September 1903 in Görlitz gehalten hat über das Thema:
Aus welchen Bedürfnissen ging der Allgemeine evangelisch-protestantische Missions¬
verein hervor, und inwiefern hat er denselben entsprochen? Darin wird namentlich
über den unheilvollen Einfluß des Bischofs Unzer geklagt. Der Vortrag veran¬
laßte eine lebhafte Zeitungspolemik, und diese samt dem Vortrage selbst faßt er in
der (als Beigabe zu seinem Handbuche der neuesten Kirchengeschichte gedruckten)
Broschüre zusammen: Bischof von Unzer. die Berliner amtliche Politik
und die evangelische Mission (Berlin. C. A. Schwetschke und Sohn, 1905).
Er teilt darin zwei Aktenstücke mit, die den schlechten Charakter Anzers beweisen
sollen. Beide sind Aufzeichnungen eines or. H., der 1890 mit Unzer von Schanghai
nach Port Said gefahren ist. In der einen, die im altkatholischen Deutschen Merkur
veröffentlicht worden ist, wird berichtet, wie Unzer versichert hat, Döllinger habe
bis zu seinem Lebensende mit ihm im Briefwechsel gestanden und in seinen Briefen
die altkatholische Bewegung verurteilt; die Durchsicht der Papiere Döllingers aber
habe ergeben, daß Briefe von Unzer nicht darunter seien; dieser habe also gelogen.
Die zweite Aufzeichnung berichtet, wie Unzer im angetrunknen Zustande einen Mit¬
reisenden ohne jeden vernünftigen Grund ins Gesicht geschlagen habe und von
diesem geohrfeigt worden sei. Beide Urkunden seien dem preußischen Kultus¬
ministerium und dem Auswärtigen Amte eingereicht worden, hätten aber keine
Wirkung gehabt. Wir zweifeln nicht im mindesten an der Ehrlichkeit und Loyalität
des von uns hoch geschätzten Professors Nippold. Auch ist dieser kein fanatischer
Hasser des Katholizismus. Er erkennt zum Beispiel die Berechtigung des katho¬
lischen Missionswesens an. Er schreibt sehr schön: „Die katholischen Missionare
gehören fast ausnahmslos den Mönchsorden an, die evangelischen entstammten bis
vor kurzem fast ausnahmslos unserm Pietismus. Mönchtum und Pietismus aber
entspringen beide der gleichen Geistesrichtung. Beiderseits handelt es sich bei den echten
Glaubensboten um die Nachfolge des Weltenrichters, der das, was den geringsten
seiner Brüder erwiesen wird, als ihm selber erwiesen ansieht. Wir haben hier die
echte Grundlage des Humanitätsgedankens in der Solidarität der Menschheit. Aber es
ist allerdings zugleich der schlechtsinnige Mechthinige?) Gegensatz zu dem Nietzschischen
Übermenschentum, das die Taten eines Pizarro auch bei uns landesüblich gemacht
hat. Denn die echte Mission geht gerade davon aus, daß auch in den Verwahr¬
losesten und Verachtetsten das göttliche Ebenbild geachtet und soweit möglich wieder¬
hergestellt wird." Das und viel andres in der Broschüre ist gut und richtig, aber
zu einem Urteil über Unzer, seine Tätigkeit und die Haltung der hohen Reichs¬
behörden in den chinesischen und den afrikanischen Angelegenheiten reicht das von
Nippold vorgelegte Material nicht hin. Ein vollkommen sichres Urteil konnte man
wohl überhaupt nicht auf Grund von Schriftstücken fällen, sondern nur, wenn man
China und Afrika aus eigner Anschauung kennen gelernt hätte. Den Eindruck
macht das Mitgeteilte allerdings, daß Unzer mehr herrschsüchtiger Kirchenfürst
— großer Zivilmandarin — und schlauer Diplomat gewesen ist als seeleneifriger,
demütiger, entsagender Apostel.
Unter diesem Titel hat
I. Baumann, ordentlicher Professor der Philosophie in Göttingen (Gotha, Friedrich
Andreas Perthes, 1904), Charakteristiken von Dichtern und Dichterwerken und
Urteile von Dichtern über ihren eignen Wert und den ihrer Werke in großer
Menge zusammengestellt, um der Selbstüberschätzung der „Modernen" entgegen¬
zutreten. „Die neueste Dichtung erhebt den Anspruch, Wissenschaft und Poesie in
eins zu arbeiten, Poesie als Wahrheit neben oder über die wissenschaftliche Wahr¬
heit zu stellen, und einigermaßen hat die Poesie immer diesen Anspruch erhoben.
Bewährt sich diese Annahme an Beispielen großer von allen als solche anerkannter
Dichter?" Die Antwort lautet: nein. Unter den Dichtern selbst gibt es einzelne,
die ihre Leistungen ganz nüchtern abgeschätzt haben. So Walter Scott, der die
Literatur nur als ein Zierat des Lebens betrachtete, die Tätigkeit eines Generals,
Richters, Staatsmannes für wertvoller erklärte als die des Dichters und meinte,
seine Romane seien nicht würdig, in einem Atem genannt zu werden mit Davys
Sicherheitslampe oder mit Watts Verbesserung der Dampfmaschine. Shakespeares
Dramen hat man der darin enthaltnen Gelehrsamkeit wegen Bacon zuschreiben
wollen. Baumann weist nach, daß diese Gelehrsamkeit gar nichts Erstaunliches hat,
und daß Shakespeare hinter dem Wissen seiner Zeit, das er sich aus einigen
Büchern leicht aneignen konnte, in mancher Beziehung zurückgeblieben ist. „Nach
Grillparzer war er in erster Linie Theatermann (Schauspieler und Theaterunter¬
nehmer), und nur weil er ein Genie war, ist er hinter seinem Rücken der größte
Dichter geworden." Bei der Wahl der Stoffe richtete er sich, um sich den Erfolg
zu sichern, nach der gerade herrschenden Mode. Sein Ziel war, beim Theater
so viel zu verdienen, daß er Gutsbesitzer werden konnte. Als solcher hat er sich
auch an den schon von Thomas Morus beklagten Einzäunungen beteiligt, d. h. am
Raub des Gemeindelandes. Ibsen und andre neuere Dichter richten nach Bau¬
mann dadurch Schaden an, daß sie von einem Teile des Publikums für wissen¬
schaftliche Autoritäten angesehen werden, und daß die wissenschaftlichen Ansichten,
die sie verbreiten, zum Teil falsch sind. Gegenüber den Ansprüchen der Ästheten
und Dekadenten wird betont, daß man die Wahrheit bei den Wissenschaften suchen
müsse, und Nordaus Wort gelobt: „Der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer
Bezwingung des Tieres im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung, immer
feinern Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühls — die Emanzipation des Urteils,
nicht der Begierde." Die Dichtung könne zwar nichts beweisen, immerhin aber
Gutes wirken, wenn sie einer gesunden Ausicht oder Empfindung einen packenden
Ausdruck verleihe und so die Wissenschaft und die Moral unterstütze.
Vor einiger Zeit machte ein ans ^ (>VacI natui'ö äov» rvquirs
Frankfurt datierter Brief Bismarcks — wars an seine Frau oder an seine
Schwester? — die Runde durch die Zeitungen, worin sich der Schreiber gelegent¬
lich als „der Zeit hinfälligen Sohn" bezeichnet. Das Beiwort mag auch ein
andres, sinnverwandtes sein, für den Zweck dieser Zeilen ist das gleichgiltig. Jeden¬
falls ist der wunderliche, einigermaßen fragwürdige Ausdruck eine Reminiszenz aus
Shakespeares Heinrich dem Achten, wo Akt 3, Szene 2 der Kardinal Wolsey zum
Kö'"g sWt
:
Für ihr Erhalten eine Zeit, die leider
Ich, ihr Hinfällger Sohn, ihr pflichten muß
Wie jeder Sterbliche.
Hör tiruss oj pi'Lsoi'vstion, vvlucu psi'loi'vo
I, luzr kiAÜ son, suvoiig'se in^ brstlii'SQ ani'tÄ
UllSt WVö luz? tsriÄsnov.)
Man sieht, der Ausdruck des Briefes stimmt zu dem vorstehenden Text, aber die
Stelle ist offenbar mißverstanden: Wolsey nennt sich natürlich nicht den hinfälligen
Sohn der Zeit, sondern der Natur, deren Erhaltung jeder Sterbliche einen Teil
seiner Zeit opfern muß. Bismarck aber hat, was bei flüchtigem Lesen der Verse
passieren kann, das Pronomen ihr auf das nächststehende Hauptwort bezogen.
Immerhin ist das Zitat aus einem Drama, das nicht gerade zu den allgemein
bekannten Stücken Shakespeares gehört, ein neues Zeugnis für Bismarcks Belesen¬
heit und Gedächtnis.
Wer Gdot Konfeqncnt
täglich vorschriftsmäßig
a»we»det, libe die «ach
den» »»euttgen Stande
der Wissenschaft denn-
dar beste Dalin- und
Mnndvfl-s- ans.
er an sich vortreffliche Aufsatz in Nummer 25 dieses Jahrgangs
„Vom Avancement" erschöpft die Frage noch nicht. Mit Rück¬
sicht auf ihre Wichtigkeit für die Zukunft des deutschen Heeres
und damit des Vaterlandes sei es erlaubt, nochmals auf sie
zurückzukommen. Vielleicht gelingt es gemeinsamen Bemühungen,
einer in weiten Kreisen herrschenden Unkenntnis oder Verblendung ein Ende
zu machen.
Ich gehe von einem konkreten Beispiel aus. Der Sohn einer mir be¬
kannten Familie entschied sich als Primaner für die militärische Laufbahn.
Vielmehr: er hatte seinen Wunsch bis dahin unterdrückt, weil er sich infolge
einer schweren im fünfzehnten Lebensjahr überstandnen Krankheit, auch nach
dem Ausspruch des Arztes, für körperlich untüchtig hielt. Das Gefühl wieder
erstarkender Kraft drängte ihm dann das heimliche Verlangen auf die Lippen
zur Überraschung der Seinigen. Aber zunächst mußte das Abiturientenexamen
abgelegt werden, darauf bestanden Vater und Sohn. Den Ausfall der Prüfung
charakterisiert das Wort des königlichen Kommissars: „Ein solches Zeugnis
habe ich doch noch nicht unterschrieben!" Im nächstfolgenden Sommer bestand
der junge Mann sein militärisches Examen mit dem Prädikat „Vorzüglich,"
also mit „Allerhöchster Belobigung," und sein Regimentskommandeur schickte
ihm den Degen vor der Offizierswahl. Gegen Ende des zweiten Leutnants¬
jahres wurde er nach China kommandiert als einer der Jüngsten des gesamten
Expeditionskorps. Mit zwei Schwerterorden dekoriert kehrte er in die Heimat
zurück, körperlich nicht ganz intakt, weshalb er nach vierjähriger Offizierszeit
aus der Front auf einen Adjutantenposten kommandiert wurde, der sonst in
der Regel einem Oberleutnant, ausnahmsweise einem ältern Leutnant zufällt,
diesesmal als der Jüngste in der ganzen Armee.
Ein Blick auf diese Laufbahn beweist, daß der junge Mann alles erfahren
hat, was ihm eine glänzende Zukunft verbürgen sollte: das Wohlwollen seiner
Vorgesetzten, die Gnade seines Kriegsherrn und daneben ein reichliches Teil
Soldatenglück. Nun aber die Kehrseite der Medaille! Um einen vorzeitigen
Abgang zur Universität zu verhindern, hatte ihn sein Vater trotz der erfolgten
Versetzung ein zweites Jahr in einer untern Gymnasialklasse zurückgehalten,
sodaß er die Reifeprüfung erst mit achtzehn Jahren acht Monaten ablegen konnte.
Bei seiner Ernennung zum Offizier hatte er somit das zwanzigste Lebensjahr
um einen reichlichen Monat überschritten. Die wohltätige, gerechte, aber der
rückwirkenden Kraft entbehrende Bestimmung, nach der jeder mit dem Reife¬
zeugnis, auch dem schwächsten, versehene Leutnant um mindestens ein Jahr vor¬
patentiert wird, erschien erst nach seiner Ernennung, sodaß ihm ein zweites
Jahr verloren ging. Die beiden Feldzugsjahre werden ihm nur bei der
Pensionierung angerechnet, nicht für das Avancement. Heute ein Siebenund¬
zwanziger, wird er — wenn die Aussichten nicht noch schlechter werden —
mit dreißig Jahren Oberleutnant. Nach 1870 gab es zweiunddreißigjährige
Majors! Und was hat er dann zu erwarten? Sechzehnhundert bare Mark
Gehalt, über die er selbständig verfügen kann, denn die ihm obliegenden
Not- und Ehrenausgaben sind so beträchtlich, daß sie den Servis und
etwaige Lokalzulagen vollständig aufzehren. Ein dreißigjähriger Richter bezieht
3000 > 480 Mark jährlich an Gehalt und Wohnungsgeld, die Klasse der
Oberlehrer, unter denen es heute fünfundzwanzig- bis siebenundzwanzigjährige
Herren gibt, in demselben Lebensalter noch 200 Mark mehr!
Andrerseits wäre die Einwendung, daß es für einen jungen Mann von
den angeführten Antezedentien noch Wege schnellerer Beförderung gibt, wenig
stichhaltig. Erstens bürgt auch der glänzendste Anfang einer militärischen
Laufbahn keineswegs für die Fortsetzung. Ganz abgesehen von persönlichen
Zufälligkeiten, die sich hier wohl reichlicher einstellen als anderwärts, treten
an den jungen Offizier so verschiedne Anforderungen, mit jeder besondern
Dienststellung neue, heran, daß sich auch über seine nächste Zukunft niemals
etwas voraussagen läßt. Er kann der einen in vollem Maße gewachsen sein,
ohne doch die andre zu erfüllen. Er kann in der untersten Stufe das Beste
leisten und doch schon auf der folgenden versagen. Jeder rechnet also ver¬
ständigerweise mit der „Ochsentour." Dann wird der dreißigjährige Ober¬
leutnant mit siebenunddreißig bis achtunddreißig Jahren Hauptmann, mit acht¬
undvierzig Major, und vom Regimentskommandeur kann überhaupt keine Rede
sein! Zweitens aber kann es sich bei der allgemeinen Frage nach der Zukunft
unsrer Offiziere doch gar nicht um eine Ausnahme — die nur die krassen
Folgen der gegenwärtigen Verhältnisse beleuchten sollte —, sondern um die
Regel handeln. Diese aber wird immer darin bestehn, daß sich junge Leute
von Durchschnittsbefühigung, wie sie das Gros jedes Berufsstandes ausmachen,
dem militärischen zuwenden, teils aus innerer Neigung, teils weil es die
Familientradition so vorschreibt, teils von dem Irrtum geleitet, daß er unter
allen die geringsten pekuniären Opfer fordre. Wer die unvermeidliche Differenz,
die sich auch für den solidesten Offizier zwischen den jährlichen Einnahmen
und Ausgaben ergibt, mit zehn, beim Oberleutnant dann noch mit sieben
oder acht multiplizieren will und dazu die Kosten der ersten anderthalb Jahre
rechnet, der wird finden, daß man für das. was die Leutnantsjahre überhaupt
kosten, dreimal studieren kann. Vielleicht ist beim ersten Entschluß auch ein
bißchen Eitelkeit mit im Spiel gewesen, die bestraft werden muß. Aber der
äußere Schein ist bald verflogen, und was übrig bleibt, heißt Entsagung oder
Elend, auch für den Empfänger der „Königszulage" von 120 Mark jährlich.
Abgesehen natürlich von dem Falle, daß der junge Offizier noch einen Vater
hat, der ihm aus eignen, vielleicht beschränkten Mitteln das Notwendige ge¬
währt. Aber in welchem andern Lebenskreise ist es erhört, daß der Vater
seinem siebenunddreißigjährigen untadligen Sohne noch zu einer anständigen
Existenz verhelfen muß? Besonders kluge Leute werden ja den Soldaten auf
die übliche reiche Heirat verweisen, und gewiß ist sie für manchen der einzige
Weg der Rettung. Ob dabei eine Stärkung des persönlichen Ehrgefühls und
schließlich das erwünschte Familienglück herauskommt, ist eine andre Frage.
Natürlich kann auch echte Herzensneigung mit im Spiele gewesen sein, und
es gibt gewiß reiche Mädchen genug, die außerdem liebenswürdig und wohl-
erzogen sind. Aber wenn in Offiziersehen die bekannten Irrungen öfter vor¬
kommen sollten als in andern — was trotz Forbach bestritten werden darf —,
so würde die Zwangslage, in der sie eingegangen worden sind, das oft genug
erklären, wenn auch selbstverständlich nicht entschuldigen. Andrerseits läßt sich
leicht behaupten, daß ein Leutnant immer eine „gute Partie" machen kann.
Die Zeiten, wo zweierlei Tuch den Ausschlag gab, sind vorüber; auch unsre
Mädchen sind praktischer und nüchterner geworden. Allenfalls blendet sie noch
der Kavallerist; im übrigen wünscht das im wohlhabenden Elternhause ver¬
wöhnte Töchterchen auch in Zukunft auf Gummi, womöglich im scheußlichen
Automobil, zu fahren und auf Eiderdaunen zu schlafen. Überhaupt aber hat
der Reichtum, den Deutschland über Nacht erworben hat, wenig Segen über
uns gebracht. Von ihm haben nur die Händler mit Einschluß der Speku¬
lanten, die Industrie- und die Bergmagnaten sowie die Arbeitermassen den
Vorteil. Solange die gesegnete Armut noch in Preußen regierte, Arbeit und
Tüchtigkeit allein etwas galten, war für den Beamten und den Offizier, aber
auch für das geistige Leben unsers Volkes die bessere Zeit. Damals sagte
der Bataillonskommandeur zu seinen Gästen: „Bei einem armen Major gibt
es nur einen Kalbsbraten." Heute traktiert er mit Pommery und Austern,
muß sich aber trotzdem von dem Protzen, dem ers nicht gleich tun kann, über
die Achsel ansehen lassen.
Also für die große Mehrzahl der jungen Offiziere, insbesondre der In¬
fanterie und der technischen Waffen, ist der angepriesene Weg ungangbar.
Andrerseits finden sich innerhalb der deutschen Kriegsmacht selbst noch Ungleich¬
heiten, die weithin drückend, oft entmutigend wirken. Zunächst die unleugbare,
wenn auch nach ihrem Ursprung nicht unverständliche Bevorzugung des Adels.
In der preußischen und der sächsischen Garde herrscht er, von wenigen
Artilleristen abgesehen, ausschließlich, aber auch außerhalb der geschichtlichen
Elitetruppe lassen gewisse Regimenter das deutliche Bestreben erkennen, sich
von bürgerlichen Elementen „rein" zu erhalten. Ein ebenso unsittliches wie
törichtes Beginnen! Denn der Geburtsadel ist heute selbst nur eine geschicht¬
liche Reminiszenz, wenn auch eine schöne. Fällt ihm aber die Kameradschaft
des Bürgerlichen so beschwerlich, so müßte er sich erst recht ablehnend gegen
den Talmi-, d. h. den sogenannten „Finanzadel," verhalten, namentlich bei der
Wahl seiner Frauen. Immerhin ist anzuerkennen, daß in der Hauptsache ein
Anfang zum bessern gemacht ist. Haben doch in den letzten Jahren Mieder¬
holt Generale bürgerlichen Namens Armeekorps befehligt.
Fast noch empfindlicher wird der Landoffizier überhaupt durch die Begün¬
stigung der Marine betroffen, die ihm vom Oberleutnant an um durchschnittlich
vier Jahre voraus ist. Eine gewisse Rücksicht kann immerhin gebilligt werden.
Ist unser Landheer längst und unbestritten das erste der Welt, so hat die
Flotte noch im großen Stil zu beweisen, daß sie der ältern Schwester eben¬
bürtig ist. Wieviel aber von ihrer vollen Leistungsfähigkeit abhängt, weiß
heute jedermann. Ein unglücklicher Tag kann bei Deutschlands geographischer
Lage vernichten, was Generationen geschaffen haben. Und da gilt es denn
alle Fähigkeiten anzuspannen; höchste Anspannung aber setzt höchste Kraft
voraus. Namentlich auch die physische, die nach den frischesten Jugendjahren
doch allmählich abnimmt. Andrerseits ist die Zahl der Friedensopfer, der
Natur des Dienstes gemäß, bei der Marine größer als innerhalb des Landheeres.
Somit würden die Aussichten, in die mittlern und die höhern Stellungen
zu gelangen und namentlich länger in ihnen verbleiben zu können, bei völliger
Gleichheit der Altersverhältnisse dort noch ungünstiger sein als hier. Aber
das jetzt bestehende „eiserne Avancementsgesetz" ist trotzdem ungesund, besonders
soweit der Infanterist in Frage kommt. Der Verfasser des eingangs erwähnten
Aufsatzes nimmt Anstoß daran, daß der junge Leutnant schon nach vier, fünf
Jahren unzufrieden wird, wenn er kein „Extrakommando" erhält. Aber er
muß wohl einer berittnen Truppe angehört haben oder angehören, sonst würde
er den durchschlagenden Grund würdigen, der einen Wechsel der Tätigkeit für
den Fußgänger zur Lebensbedingung macht. Oder sollte er wirklich nicht
wissen, daß bei ununterbrochenem Frontdienst mit dreißig Jahren „die Knochen
hin sind"?
Und was hat nun der junge Offizier in seinem schweren, entsagungs¬
vollen, auch in Friedenszeiten ihn tausendfach gefährdenden Beruf zu leisten
und zu leiden? Daß der Leutnant, wie er sein soll und der großen Mehr¬
zahl nach ist, die Blüte der deutschen Jugend darstellt, muß doch einmal ausge¬
sprochen werden, trotz der auf der demokratischen Seite zu erwartenden Grimasse.
Leiblich, das versteht sich von selbst, da er sonst gar nicht zu seiner Stellung
gelangt wäre. Aber auch geistig bleibt er, zumal nach den erhöhten An¬
forderungen der Gegenwart, hinter dem bloßen Wissenschaftsjünger nicht zurück;
in bezug auf alles, was Ausbildung der edeln Lebensform und zugleich des
sittlichen Charakters angeht, übertrifft er ihn in der Regel, dank der unver¬
gleichlichen Erziehung durch das Regiment.") Und während er so eine volle
Persönlichkeit einsetzt, hat er die goldne Freiheit des akademischen Bürgers
niemals kennen lernen. Erzieher des wehrhaften Volkes, muß er das Be¬
wußtsein von dem Adel seines Berufs mit der unvermeidlichen, aber drückenden
Einförmigkeit des täglichen Dienstes erkaufen, nud das lange Jahre, die
zugleich die schönsten des Lebens sind. Und dieser Dienst ist nicht bloß ein¬
förmig, sondern auch über die Maßen hart. Schon Moltke hat einmal im
Reichstage gesagt: „Ich kenne keinen Leutnant, der Zeit zum Spazierengehn
hätte!" Seit Einführung der zweijährigen Dienstzeit aber, dieses Molochs
der militärischen Jugend, ist das noch ganz anders geworden. Der Soldat
soll dasselbe leisten wie früher, womöglich mehr, da ja die Kriegskunst ebenso¬
wenig stillsteht wie andre Künste, wie alle menschlichen Fertigkeiten und Wissen¬
schaften. So muß also der Lehrmeister mit verdoppelten Kräften eintreten,
was bei vielen nichts andres heißt als sich aufreiben. Die Vorgesetzten, die
ihrerseits getrieben werden, treiben in immer steigendem Maße, und das Schlu߬
ergebnis ist eine dem gesamten Militärwesen ausgeprägte Nervosität, die zwar
das Äußerste erreicht, aber niemand innerlich beglückt und viele Existenzen
vernichtet.
Auf der andern Seite bleibt der Offizier der niemals rastenden Kontrolle
der Sozialdemokratie so gut wie schutzlos preisgegeben. Diese selbst liefert
freilich nicht bloß schlechtes Soldatenmaterial. Vielmehr gehört ein Teil des
sozialdemokratisch angesteckten Nachwuchses zu den brauchbarsten Leuten der
Truppe, ganz dem „System" entsprechend, das für den Tag des großen
Kladderadatsches militärisch geschulte Kräfte zur Verfügung haben will. Aber
es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die schlimmsten, den Lehrer zur Ver¬
zweiflung treibenden Rekruten ebenfalls Handlanger der staatsfeindlichen Sekte
sind, darauf eingeschworen, durch Trotz, Ungeschick oder erheuchelte Stupidität
das Ausbildungspersonal zu reizen und herauszufordern. Beide Kategorien
haben zugleich die Verpflichtung, jede Ausschreitung oder Übereilung, wenn
nötig, vergröbert und verzerrt, den bekannten Führern anzuzeigen und so
„Mißhandlungen" konstruieren zu helfen. Daß auch der Unteroffizier und
der Leutnant junge Menschen von heißem Blute sind, daß die Leute, wie
tägliche Zeitungsberichte beweisen, unter sich im Zivilverhältnis viel schlimmere
Roheiten begehn, als der ungeschickteste oder widerhaarigste Rekrut jemals
von seinen Vorgesetzten erfährt, wird dann nicht als mildernder Umstand an¬
erkannt. Wer die geringste Anlage zum „Soldatenschinder" verrät, hat den
Rock Seiner Majestät auszuziehn. Welche Natur aber soll es auf die Länge
vertragen, beständig zwischen zwei Feuern zu stehn? Und am letzten Ende
wird der junge Offizier noch von den Bilse, Beyerlein, Baudissin mit Schmutz
beworfen, von dem Simplicissimus, diesem Inbegriff witzloser Roheit, nicht
zu reden.
Wen kann es nach alledem wundernehmen, daß unsre jungen Offiziere
in zunehmender Zahl ihrem Beruf untreu werden? Nur völlig uneigennützige
Begeisterung kann sie darin festhalten, oder die schmerzliche Überzeugung, daß
es für einen Wechsel zu spät ist. Und nicht minder begreiflich ist die Schwierig¬
keit des Ersatzes, eines geeigneten Ersatzes nämlich. Schon werden die alten
bewährten Überlieferungen vielfach durchbrochen, nur um die Cadres zu füllen,
was schließlich doch nicht gelingt. Denn ein Leutnant braucht „Kinder¬
stube" — neben manchem andern natürlich, was bei einem sonst tüchtigen und
ehrenwerten jungen Manne selbstverständlich ist. Früher wurden die gesellschaft¬
liche und die Bildungssphäre des Aspiranten peinlich geprüft, was heute nicht
immer der Fall ist. Aber weiter, als schon geschehen ist, wird man nicht
hinabsteigen dürfen, ohne die Grundlagen der Einrichtung zu erschüttern.
Zur Deckung des Bedürfnisses würde also nur die eine Möglichkeit übrig
bleiben, mit dieser Einrichtung selbst zu brechen, das preußische und das deutsche
Heer, wie es in dritthalbhundertjähriger ruhmreicher Geschichte geworden ist,
durch eine Miliz zu ersetzen. Leute von der Beschaffenheit der englischen
Tonnies und Volunteers würden sich immer noch zur Genüge finden, und
Herr Bebel würde als Feldmarschall oder Generalstabschef einer solchen Armee
keine üble Figur machen. Schade nur, daß unser Menschenmaterial und alles,
was in Deutschland des Schutzes bedarf, zu kostbar ist, als daß man es auf
die Probe ankommen lassen dürfte!
Aber auch der Zeitpunkt wäre übel zu einem solchen Scherze gewählt.
Denn Deutschlands Lage ist ohne Zweifel heute ernster als jemals. England
ist sein geschworner Feind, daran ist aber nicht, wie auch in diesen Blättern
behauptet worden ist, vor allem die deutsche Presse schuld, sondern einzig und
allein die brutale englische Selbstsucht. Wenn sich viele unsrer Zeitungen im
Burenkriege von vornherein auf die Seite der Schwachen stellten, so vertraten
sie, mochten die Eigenschaften der Buren sein, welche sie wollten, die Sache
göttlichen und menschlichen Rechts gegen eine wahrhaft verruchte Frivolität.
Inzwischen ist der wahre Grund des wütenden Hasses, mit dem uns der edle
Vetter jenseits des Kanals beehrt, allgemein erkannt worden; er liegt aber
an zweiter Stelle auch in der wachsenden Erkenntnis, daß er uns über seine
wahre Gesinnung immer weniger zu täuschen vermag. Sein frömmelnder
Augenaufschlag und sein von Sittlichkeit triefendes Gerede macht nur noch
auf die Bedientennaturen Eindruck, an denen Deutschland immer noch reicher
ist als irgendein Land. Wir andern wissen, wessen wir uns zu versehen
haben; wir hören und verstehn die zornigen Rufe, die bei Lordmayorbanketten
und an Gesandtentafeln mit zynischer Deutlichkeit ertönen. Und wer von
Geschichte so viel weiß, wie es im „gelehrten Germanien" eigentlich bei jedem
der Fall sein müßte, der denkt an Kopenhagen und das Jahr 1807 und sagt
sich, daß uns jeden Tag dasselbe widerfahren kann.
Was Frankreich betrifft, so sind wir von ihm für wenigstens zwei Jahr¬
hunderte geschieden. Solange hat Deutschland gebraucht, seine alten Provinzen
wiederzugewinnen, warum soll der Franzose nicht ebensolange an der Hoffnung
festhalten, Elsaß und Lothringen, die inzwischen Glieder seines politischen
Organismus geworden waren, zurückzuerobern? Wollten wir sie ihm aber
von neuem überlassen, so würden andre Dinge und Namen auftauchen, um
derenwillen er Genugtuung vom Schicksal, also von uns, verlangt. Man wird
das bedauern müssen, denn ohne Zweifel sind Franzosen und Deutsche von
Natur zu Führern der Menschheit und zu guten Freunden bestimmt. Aber die
Eitelkeit unsers gallischen Nachbarn ist eben noch größer als seine Intelligenz,
und so wird uns nichts übrig bleiben, als jederzeit mit scharfem Schwert an
den Grenzen Wacht zu halten, länger als Graf Moltke einst voraussah. Eine
Staatskunst, die wirklich einmal wieder an vergangne große Zeiten erinnert,
hat eben eine neue blutige Begegnung zu verhindern gewußt, aber auch sie
vermag nicht über den nächsten Augenblick hinaus Bürgschaft zu leisten.
Auch Rußlands Stellung uns gegenüber kann nicht zweifelhaft sein. Ich
habe im Lande selbst noch die Zeit erlebt, wo Erinnerungen an die preußische
Waffenbrüderschaft in den ältern Offizierkreisen wert gehalten wurden, während
uns zugleich der literarische Feldzug der Katkoff und Aksakoff gegen den „faulen
Westen" und die Hetzerei der Jgnatieff und Skobeleff die jüngere Generation
entfremdeten. Die schöne Darin und ihr in ungeschminkten Deutschenhaß auf¬
gezogner Gemahl wirkten in demselben Sinne, nachdem schon vorher die Korrektur
des Friedens von San Stefano — mit einem Schein des Rechts vom russischen
Standpunkt aus — eine allgemeine Erbitterung gegen uns hervorgerufen hatte.
Am meisten aber würden sich die täuschen, die aus dem kläglichen Zusammen¬
bruch der russischen Militärmacht den Schluß auf die Ungefährlichkeit des großen
Slawenreichs ziehn wollten. Je tiefer das Ansehen der dortigen Regierung
sinkt, um so mehr wird sie gezwungen sein, den Juden und den Polen Zu¬
gestündnisse zu machen; damit aber schleudert sie die Brandfackel auch in unser
Hans. Dazu kommt der Stachel des Hohns, den sie innerhalb wie außerhalb
des Landes jetzt täglich erfahren muß. „Ja, wenn ihr eine Ahnung von
preußischer Zucht und Ordnung hättet, wäre das alles nicht vorgekommen!"
Musterknaben sind eben nirgends beliebt, am wenigsten natürlich bei den zu
ihren größern Ehren Getadelten.
Österreich vermag sich selbst nicht zu helfen, geschweige denn uns; Italien
hat trotz dem <ZÄlg,rrwoirw und trotz Nenezien die für Königgrätz schuldige
Treue im Jahre 1870 schlecht bewährt.
Also Feinde oder halbe Freunde ringsum! Die Zeiten des großen
Friedrichs, der mit ganz Europa um seine Existenz zu ringen hatte — freilich
auch mit ganz Europa fertig wurde —, können über Nacht wiederkehren.
Also gilt das Wort des großen Friedrichs: toujours so, vsästts, heute
ebensogut wie zu seiner Zeit. Und kein ernsthaft denkender im Volke wird
glauben, daß wir die Macht und unsre Stellung zu halten vermöchten, wenn
der Nachwuchs unsers Offizierstandes versagte. '
Zweierlei muß geschehen zur Sicherung von Deutschlands Zukunft. Erstens
muß das von einem Jahr zum andern verschleppte Pensionsgesetz endlich an¬
genommen werden mit allen schon vorgeschlagnen Verbesserungen, insbesondre
auch zugunsten der alten Offiziere. Denn es kann doch nichts törichteres
geben, als die nicht völlig leistungsfähigen mitzuschleppen bis zu einem neuen
Jena, oder sich künstlich eine Fronde zu schaffen, indem man sie mit Nahrungs¬
sorgen ins Leben hinausstößt. Zweitens muß wenigstens dem Oberleutnant
eine Gehaltserhöhung von 600 Mark zugebilligt werden. Damit wird er dem
im Zivildienst stehenden Altersgenossen, wie oben nachgewiesen worden ist,
noch lange nicht gleichgestellt, aber er kann doch eine anständige, obwohl be¬
scheidne Existenz aus dem Eignen führen. Bei 5000 bis 6000 Offizieren
dieses Ranges würde es sich um 3^ Millionen Mark jährlich handeln — oder
will der Reichstag warten, bis ein unglücklicher Krieg dem deutschen Volke,
von dem unmittelbaren Einsatz abgesehen, 5 Milliarden kostet?
Mit einer „Zulage für bedürftige Offiziere," das muß noch ausdrücklich
bemerkt werden, ist es nicht getan. Die Idee des Fürsten Henckel von Donners-
marck, ein Zehnmillionenkapital mit Hilfe der „Hochfinanz" aufzubringen und
dem Kaiser zur Verfügung zu stellen, ist gewiß gut gemeint, aber glücklich war
sie nicht. Denn die Armut kann sich in jedem Stande mit Ehren behaupten
und die höchste Achtung auch der Wohlhabenden erringen, wenn sie schweigen
darf. Sich vor den Kameraden und vor der Öffentlichkeit dazu bekennen zu
müssen, ist eine Demütigung, die der deutsche Offizier am wenigsten ertragen
wird. Er kann sich nur zwei Dinge gefallen lassen: die Gnade seines Landes¬
herrn oder die Gewährung seines Rechts durch die Volksvertretung. Und es
wird höchste Zeit, daß sich der deutsche Reichstag auf dieses Recht und seine
arch den Erlaß des deutschen Kaisers vom 26. November 1900,
ferner durch die unterm 29. Mai 1901 veröffentlichten neuen
„Lehrpläne und Lehraufgaben für die höhern Schulen in Preußen,"
endlich durch die verschiednen Erlasse, die sich mit der Gleich-
I berechtigung der Abiturienten der drei höhern Schulgattungen be¬
schäftigen, schien die Schulreform zu einem gewissen Abschluß gekommen zu sein.
Zwar sind auch in Preußen noch nicht alle Wünsche für die Gleichberechtigung
erfüllt, zwar sträuben sich noch einige deutsche Bundesstaaten gegen die Ge¬
währung der in Preußen zu Recht bestehenden Gleichberechtigung, aber das sind
Kleinigkeiten, die den Gang der Dinge nicht aufzuhalten vermögen, und die bald
verschwinden werden. Wenn auch manche Leute, Lehrer wie Laien, mit dem
Inhalt der oben genannten Verfügungen nicht durchweg einverstanden waren,
so hofften sie wenigstens, daß endlich der lange, verderbliche Streit um die
höhern Schulen, insbesondre der Angriff auf das vielgeschmähte Gymnasium mit
seinem Berechtigungsmonopol ein Ende nehmen und den Schulen die ihnen so
nötige Ruhe zu stetiger innerer Arbeit gegeben werden würde. Aber auch diese
Hoffnung ist getäuscht worden, und wenn man die Sache recht betrachtet, konnte
es gar nicht anders kommen. Denn eine große innere Reform der Lehrpläne
und des ganzen Schulbetriebs fehlt uns anch heute noch; dadurch, daß man dem
einen Fach eine oder zwei Stunden genommen und sie einem andern zugesetzt hat,
ist nichts erreicht als Verdruß und Mißmut bei den Fachlehrern, die davon ge¬
troffen worden sind. Auf das deutsche Elternpublikum kann man bei einer Schul¬
reform leider kaum rechnen; die Eltern, auch wenn sie Lehrer sind, scheuen sich,
auf die Schäden aufmerksam zu machen, weil sie fürchten, daß das Fortkommen
ihrer Kinder auf der Schule dadurch gefährdet werde; die ganze Zukunft der
Söhne hängt ja von der auf der höhern Schule erworbnen Berechtigung ab.
Von den akademisch gebildeten Männern sind es, abgesehen von einem Teil der
Lehrer, nur die Ärzte, die hier und da auf ihren Versammlungen eine Lanze
für die überbürdeten Schüler der höhern Lehranstalten brechen, aber nicht ohne
von einzelnen Lehrern die schärfste Zurückweisung zu erfahren. Oskar Jäger
äußerte 1903 in Halle, auf dem Naturforschertag in Kassel seien die Schul-
hygieniker mit Zähnefletschen gegen den gegenwärtigen Gymnasialunterricht ins
Feld gezogen, und in dem sonst ganz verständigen Buch eines Gymnasialprofessors,
das im Jahre 1904 erschienen ist, heißt es u. a.: „Über den Betrieb der Schulen
haben in erster Linie (!) ihre unterrichtlichen (!) und erzieherischen (!) Ziele zu
entscheiden und nicht hygienische Rücksichten. Die höhern Schulen sind nicht
dazu da, um (!) die Gesundheit ihrer Schüler zu behüten, sondern um ihren
Geist und Charakter tüchtig zu machen zur Erfüllung der schweren Aufgaben,
die das wirtschaftliche und sdas^ geistige Gedeihen unsers Volkes gerade von den
leitenden Klassen gebieterisch verlangt." Es bleibt das Geheimnis des Ver¬
fassers, wie die Schüler im spätern Leben ohne körperliche Gesundheit diese
schweren Aufgaben erfüllen sollen.
Die Gegner der Ansicht, daß die Schüler der höhern Lehranstalten über¬
bürdet sind, vergessen meist, daß sich das Leben in den letzten dreißig Jahren
wesentlich geändert hat. Die meisten Schüler höherer Lehranstalten wachsen
jetzt nicht mehr in Klein- sondern in Großstädten auf, die mit ihrem haftenden
Verkehr, ihrem einförmigen Grau der Häuser, mit ihrem Staub und mit ihrem
Asphaltgeruch, aber ganz besonders mit ihren weiten Schulwegen und meist be¬
schränkten Wohnungsverhältnissen viel höhere Anforderungen an die Nerven und
an die Kraft der heranwachsenden Jugend stellen als die idyllischen Kleinstädte
vor dreißig und vierzig Jahren, wo das Grün der Berge in alle Straßen
hcreinwinkte, wo ein Wagen erwünschte Abwechslung in die träumende Stille
der Straße brachte, und wo man noch nichts von elektrischen Straßenbahnen
ahnte. Auch der innere Betrieb der höhern Schulen verlangt heutzutage mehr
von den Schülern als früher; diese sind tatsächlich überbürdet, und diese Über¬
bürdung ist eine schwere Gefahr für die Zukunft unsers Volkes.
Als äußerer Beweis für die Überbürdung mögen zunächst die Stunden¬
zahlen der höhern Lehranstalten dienen. Die höchste Stundenzahl des preu¬
ßischen Gymnasiums ist, Turnen, Singen und die wahlfreien Fächer eingeschlossen,
30 in Sexta und 41 in Prima, die des Realgymnasiums und der Oberreal¬
schule 30 und 38. Dazu kommt an manchen Schulen noch Handfertigkeits¬
unterricht und Turnspiel; der Schulweg nimmt in der Großstadt viel Zeit in
Anspruch, da wegen der hohen Stundenzahl und wegen technischer Schwierig¬
keiten meist noch vier Nachmittage mit Stunden belegt werden müssen, auch
Wenn am Vormittag fünf Stunden erteilt werden. Die häusliche Arbeitszeit
ist nach ganz sichern Erfahrungen mit drei bis vier Stunden täglich für die
Schüler der Oberstufe nicht zu hoch bemessen, ja es gibt schon Untersekundaner,
und zwar ganz begabte, die nach einem anstrengenden Schultag, dessentwegen
sie erst nach sechs Uhr in das elterliche Haus zurückkehren, noch vier Stunden
gearbeitet haben. Daß manche Schüler noch Musik treiben, kann man auch
nicht verbieten. Rechnet man alles dies zusammen, so kommt man, die Woche
zu sechs Arbeitstagen angenommen, auf eine tägliche Arbeitszeit von elf bis
zwölf Stunden für einen Schüler der Oberstufe, gewiß zu viel für einen jungen,
in der Entwicklung begriffnen Körper.
Aber auch die Art der täglichen Arbeit trägt zur Überbürdung bei: es gibt
auf den höhern Schulen infolge des durchgeführten „Fachlehrersystems" keine
Nebenfächer mehr, und gerade für die Fächer, für die der junge Mann am
wenigsten Begabung und Neigung hat, muß er am meisten arbeiten; denn mehrere
„Nichtgenügend" in Nebenfächern oder ein „Nichtgenügend" in einem Hauptfach
gefährden das Aufrücken in die höhere Klasse. Auf dem Gymnasium muß ein
Schüler der Oberstufe vier fremde Sprachen (Griechisch, Lateinisch, Französisch
und Englisch — denn ohne Englisch kann ein Gebildeter heutzutage kaum aus¬
kommen), unter Umständen auch noch eine fünfte (Hebräisch) bewältigen; dazu
kommen Mathematik, Physik, Deutsch, Geschichte, die sämtlich gewissenhafte Vor¬
bereitung verlangen, wenn der Schüler den an ihn gestellten Anforderungen
genügen will. Auf vier Fächer muß er sich wohl jeden Tag vorbereiten und
sich dabei immer nach kurzer Zeit von einem Gedankenkomplex in den andern
stürzen; ruhige Vertiefung in ein oder zwei Fächer ist ausgeschlossen. Es ist
ein fortwährendes Hasten und Hetzen, bei dem oft die mitternächtige Stunde
herankommt. Und doch ist langsame Arbeit die Voraussetzung ruhiger Bildung,
und auch eine gewisse Beschränkung in den Fächern ist die Voraussetzung ruhigen
Bildungserwerbes. Es ist unmöglich, ein Vielerlei zugleich zu treiben; Halb¬
wissen, Widerwille oder Dünkel sind die Folgen.
Auch die Freude an der Arbeit entsteht nur bei einer beschränkten Anzahl
von Fächern. Die Schüler können das, was heute von ihnen verlangt wird,
mit den gewöhnlichen Mitteln einfach nicht mehr leisten, und auch ihre Lehrer
sehen das ein. Darum ist eine ganz neue Vorbereitungsliteratur entstanden,
die noch über die altbekannten Freundschen Präparationen hinausgeht und dem
Schüler nur wenig eigne Arbeit mehr zumutet. Sogar die Texte der fremd¬
sprachigen Schriftsteller sind gegliedert und mit deutschen Überschriften versehen,
sodaß der Schüler nicht mehr nötig hat, sich aus dem Gelesnen den Kern heraus¬
zuschälen. Er hat eben gar nicht die Zeit dazu, wenn er die vorgeschriebne
Aufgabe bewältigen will. Am allerbedenklichsten bei der jetzigen Einrichtung ist
der Umstand, daß die höchste Belastung der Schüler mit Schulstunden und
häuslicher Arbeit gerade zu der Zeit anfängt, wo sie in die Geschlechtsreife ein¬
treten. Nicht nur die Ärzte, sondern auch aufmerksame Eltern wissen, wie große
Veränderungen körperlicher und seelischer Art in dieser Zeit bei dem jungen
Manne vor sich gehn, wie reizbar er ist, und wie gerade da Bewegung in freier
Luft, körperliches Austoben, fröhliches Wandern durch Wald und Feld das innere
Gleichgewicht wiederherstellen kann. Was da versäumt wird, kann oft nie
wieder gut gemacht werden, und schon viele junge Leute sind an dieser Klippe
gescheitert. Die Familie aber ist während dieser Zeit fast ganz außer Wirkung
gesetzt, weil der Schüler gar nicht die Zeit hat, in dem Kreise von Eltern und
Geschwistern zu verkehren und diese fast nur bei den Mahlzeiten sieht. Benutze
er einen Sonnabendnachmittag zu einem Ausflug mit seinen Mitschülern, zum
Rudern oder zum Ballspiel, dann muß er sicher am Sonntag vor dem Schreib¬
tisch sitzen und Schularbeiten anfertigen.
Die Schule kann die Erziehung des jungen Menschen nicht allein über¬
nehmen, besonders nicht in den Großstädten (und um diese handelt es sich hier
immer), wo die überfüllten Klassen und die daraus erwachsende Überbürdung
mit Arbeiten den Lehrer hindern, sich mit dem einzelnen Schüler eingehend zu
beschäftigen; wenn nun auch noch das Hauptmittel in der Erziehung, das Eltern¬
haus, durch die bestehenden Verhältnisse gelähmt wird, dann liegt die Gefahr
nahe, daß die jungen Leute nicht gefestigt und kräftig genng ins Leben hinaus¬
treten und sehr oft den an sie herantretenden Versuchungen erliegen. In der
Bummelei des ersten Semesters auf den Hochschulen reagiert das mißhandelte
Gehirn des jungen Mannes gegen den Drill und die Hatz der höhern Schule.
Leider findet sich mancher vielversprechende Jüngling oft nicht wieder heraus aus
diesem Leben und geht zugrunde. Sehr bedenklich muß eine Aufstellung machen,
die seinerzeit unwidersprochen durch verschiedne deutsche Blätter gegangen ist;
danach leiden im Deutschen Reich vier vom Hundert der Soldaten, neun vom
Hundert der Arbeiter, sechzehn vom Hundert der Kaufleute und fünfundzwanzig
vom Hundert der Studenten an Geschlechtskrankheiten. Was in Großstädten
von Schülern höherer Lehranstalten in geschlechtlicher Beziehung gesündigt wird,
ist schlimmer, als die meisten glauben. Die Ärzte können am besten darüber
Auskunft geben, die Schule hat sich diesen Dingen gegenüber bisher fast ohne
Ausnahme ablehnend verhalten und sie der Familie zugewiesen. Und doch trägt
sie durch die Überbürdung einen Teil der Schuld an solchen Ausschreitungen
und wird im Interesse der Volksgesundheit nicht umhin können, sich in Zukunft
auch mit dieser Frage zu beschäftigen. So dankenswert es ist, daß im letzten
Jahre die Direktoren einiger höhern Lehranstalten die Abiturienten vor ihrem
Abgang von der Schule durch Ärzte über die traurigen Folgen geschlechtlicher
Verirrungen haben aufklären lassen, so ist das für manche doch zu spät; es
muß schon früher damit begonnen werden. Wann und wie, das zu erörtern
muß den Fachzeitschriften überlasten werden. Ohne innige Verbindung mit dem
Haus geht es nicht; diese aber kann nur hergestellt und aufrecht erhalten
werden, wenn die schwer überbürdeten Lehrer und Direktoren in ihrer Last
erleichtert werden.
Die ältern Schülergeschlechter, die vor dreißig und vierzig Jahren auf der
Schulbank gesessen haben, denken im allgemeinen gern an jene frohe und glück¬
liche Zeit zurück; bei den jüngern dagegen scheint sich allmählich ein förmlicher
Schulhaß zu entwickeln. Zum Beweise dafür mag auf das in vieler Beziehung
maßlose Buch von Arthur Borns „Vom Kulturwert der deutschen Schule"
verwiesen werden. Er behauptet, daß das Gymnasium direkt zur Lüge und
Heuchelei erziehe, und schlägt als einfachstes und gründlichstes Mittel zur Ab¬
hilfe vor, die altklassischer Pädagogen auf irgendeinen deutschen Karmel, einen
Teutoburger Wald zusammenzutreiben und sie allda zu schlachten wie Elias die
Priester der toten Götter. Was in Schülerkreisen an Erbitterung und Ver¬
bitterung gegen die Schule aufgespeichert ist, das wissen Wohl viele Leser aus
eigner Erfahrung; den schärfsten Ausdruck hat es in den „Schulgedanken eines
Gymnasialabiturienten von 1903" von A. von Waldberg gefunden. Der Name
des Verfassers ist wohl Deckname, die ganze Schreibweise und die Unreife, die
sich in den positiven Vorschlägen zu einer Besserung der Mißstände zeigt, be¬
weisen, daß die Schrift tatsächlich von einem Schüler verfaßt ist. „Mir war
trotz meiner Befähigung oder gerade vielmehr deshalb das Pennal ein Ort des
Grauens, eine Anstalt zur Unterdrückung der Gedankenfreiheit." „Täglich wird
gelogen. Daß dieser Krebsschaden in so erschreckender Weise um sich gegriffen
hat, kommt nur von dem polizeilichen Überwachungssystem, das natürlich eine
Arbeit an Herz und Seele, ein Streben nach Wahrheit in den Schülern aus¬
schließen muß." Das Buch hat mindestens als Symptom einer großen Unzu¬
friedenheit Bedeutung, und einzelne darin aufgestellte Behauptungen wiegen um
so schwerer, wenn sie mit den Beobachtungen übereinstimmen, die man an den
eignen Söhnen gemacht hat. Es würde verkehrt sein, das Buch totzuschweigen;
vielmehr sollte es jeder Lehrer gründlich lesen und mit seinen Kollegen prüfen,
ob nicht Verbesserungen im Schulbetrieb notwendig und möglich sind. Die Tat¬
sache, daß die deutschen Schüler lügen und die Schullüge für etwas ganz Er¬
laubtes, für nichts Ehrenrühriges halten, steht fest, ebenso daß es in England
nicht für gentlemanlike gilt, den Lehrer zu belügen und zu betrügen.
Wie ist den erwähnten Mängeln abzuhelfen? Der Krebsschaden unsrer
höhern Schulen ist das Berechtigungswesen, insbesondre das Recht, nach dem
erfolgreichen Besuch der Untersekunda einer Vollanstalt als Einjährig-Freiwilliger
dienen zu dürfen. Das Berechtigungswesen kann nicht von heute auf morgen
geändert werden; es scheide deshalb zunächst bei den Vorschlägen zu einer
Besserung der Dinge aus! Nochmals aber sei betont, daß eine freie, aufwärts
strebende Entwicklung der höhern Schulen nur möglich ist, wenn die mit dem
Besuch der einzelnen Klassen verbundnen Berechtigungen schwinden. Alle großen
Reformen auf dem Gebiet der praktischen Pädagogik sind von Privatschulen aus¬
gegangen; diesen ist es heutzutage nicht mehr möglich, neue Versuche zu machen,
da ihr erstes Bestreben sein muß, die Berechtigung zur Ausstellung von Zeug¬
nissen für den einjährig-freiwilligen Dienst zu bekommen, denn nur dadurch er¬
halten sie die Möglichkeit zu existieren. Erwerben können sie sich diese Be¬
rechtigung aber wieder nur dadurch, daß sie genau nach den vorgeschriebnen
Lehrplänen unterrichten. Die öffentlichen Schulen sind für die Anstellung von
Versuchen unbrauchbar; wer das nicht glaubt, möge einmal beantragen, daß an
irgendeiner höhern Schule der Anfangsunterricht in der ersten fremden Sprache
um ein oder zwei Jahre hinausgeschoben werde, was aus verschiednen Gründen
wünschenswert ist.
Auf dem Gebiete des höhern Mädchenschulwesens liegen die Dinge vielleicht
etwas, doch nicht viel besser, ja die jetzige Art der Ausbildung der Lehrerinnen
ist geradezu ein Hohn auf die gesunde Vernunft. Dabei ist es bezeichnend für
unsre radikalen Frauenrechtlerinnen, daß sie zwar das Bestehende in Grund und
Boden hinein verdammen, aber an dessen Stelle nur eine Kopie der Einrichtungen
der höhern Knabenschulen zu setzen vermögen, daß sie alle die Einrichtungen, die
man dort schon als überlebt und verkehrt erkannt hat, auf die höhern Mädchen¬
schulen übertragen wollen und mit den „Mädchengymnasien" den Gipfel der
Weisheit erstiegen zu haben glauben. Unfruchtbarkeit! — Doch zurück zu den
Maßregeln, die geeignet sind, die Schäden unsrer heutigen höhern Schulen zu
beseitigen oder zu verringern!
Vor allem muß eine Herabsetzung der Stundenzahl und für die Großstädte
die Einrichtung erstrebt werden, daß alle Stunden am Vormittag gegeben werden,
die Nachmittage aber frei bleiben oder nur zum Turnen, zum Spiel oder zu
Ausflügen der mannigfachsten Art in die Umgebung der Stadt verwandt werden.
So kämen wir auf eine wöchentliche Stundenzahl von dreißig; denn mehr als
fünf Stunden am Vormittag zu geben ist von gesundheitlichen und pädago¬
gischen Standpunkt aus kaum empfehlenswert. An der Oberrealschule in Elber-
feld hat man jahrelang sechs Lektionen zu fünfundvierzig Minuten an einem
Vormittag erteilt, und zwar, wie der Direktor versichert, mit dem besten Erfolg
und unter allgemeiner Zustimmung von Schülern und Eltern, bis schließlich
die rauhe Hand eines preußischen Provinzialschulkollegiums dem interessanten
Versuche durch ein kategorisches Verbot ein Ende gemacht hat. Fest steht jeden¬
falls durch viele Beobachtungen, daß anch die unter den ungünstigsten Be¬
dingungen erteilte fünfte Vormittagsstunde immer noch besser ist als jede Nach¬
mittagsstunde, die außerdem den Schüler seelisch bedrückt und das Gefühl der
Freiheit nicht aufkommen läßt. Der ungelenke Vormittagsunterricht in Ver¬
bindung mit der Befreiung der Nachmittage von jedem Unterricht wird auch
schon deshalb kommen, weil die ganze soziale und wirtschaftliche Entwicklung
Deutschlands zur Einführung der englischen Arbeitszeit zwingt. Das hier näher
auszuführen, hat keinen Zweck. Von mancher Seite wird gegen die freien Nach¬
mittage eingewandt, daß die Schüler dadurch ins Bummeln geraten und scheitern
könnten. Dieses Bedenken erscheint grundlos; mit demselben Recht könnte man
jede Sonntagsruhe und jede weitere Verkürzung der Arbeitszeit im Handels¬
gewerbe und in den Fabrikbetrieben ablehnen. Außerdem gilt auch hier der
Satz: Es müssen Jünglinge gewagt werden, wenn wir tüchtige Männer be¬
kommen wollen. Daß in den Großstädten der Unterricht nicht vor acht Uhr
Morgens beginnen darf, auch im Hochsommer nicht, ist zweifellos. Der Nach¬
teil, daß die fünfte Stunde dann in die heißeste Zeit des Tages (12 bis 1 Uhr)
fällt, kann dadurch beseitigt werden, daß man das Schuljahr Ende Juni oder
Anfang Juli schließt und Ende August oder Anfang September das neue be¬
ginnen läßt. Übrigens besteht in Hamburg die Einrichtung des ungeteilten
Unterrichts, der sogar in die Stunden von neun bis drei Uhr fällt, schon seit
vielen Jahren zu allgemeiner Zufriedenheit.
Eine notwendige aber heilsame Folge der Herabsetzung der höchsten Stunden¬
zahl auf dreißig wird die Einschränkung sein, daß jede höhere Schule nur zwei
fremde Sprachen als Pflichtfächer treiben darf. Die Oberrealschule ist ja schon
so organisiert, hat aber wieder in andern Fächern so hohe Ziele, daß auch hier
von einer Überbürdung gesprochen werden kann. Wem dieser Gedanke der Be¬
schränkung auf zwei fremde Sprachen unfaßbar scheint, der möge das schöne
lateinische Wort multuw, v.on inultg,, beherzigen, das in der modernen Päda¬
gogik viel gebraucht aber nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Teilung der
Arbeit ist hier das richtige. Es wird für Lehrer und Schüler eine Wohltat
sein, wenn sie sich auf zwei fremde Sprachen beschränken und in diesen dann
auch Tüchtiges leisten können. Gut begabten Schülern soll und darf nicht ver¬
wehrt werden, sich mehr fremde Sprachen anzueignen. Mit der Beschränkung
auf zwei fremde Sprachen ließe sich dann leicht eine Hinausschiebung des Be¬
ginnes des ersten fremdsprachigen Unterrichts um mindestens ein Jahr verbinden,
die für Lehrer und Schüler gleich segensreich wäre und in einigen deutschen
Bundesstaaten schon besteht.
Für die Oberstufe endlich muß ein freierer Betrieb des Unterrichts einge¬
führt werden, einmal um die ältern Schüler bei dem Eintritt in das Alter der
Mannbarkeit zu entlasten und dann, um ihnen die Möglichkeit zu einer freiern
Entwicklung, besonders zur Pflege ihrer Lieblingsfächer zu geben. Lust und
Liebe sind die Fittiche zu großen Taten. Gewiß schadet niemand, besonders
auch nicht einem jungen Mann, ein heilsamer Zwang; aber den Jüngling zu
zwingen, gerade auf die Fächer, für die er keine Begabung hat, und die er des¬
halb nicht liebt, die meiste Zeit zu verwenden, das erscheint unpraktisch und
grausam. Die Einrichtung selbst ist nicht schwer: bestimmte Fächer wie Religion^
Deutsch und Geschichte müssen in ihrem vollen Umfang für alle Schüler ver¬
bindlich bleiben, die übrigen Fächer müßten in zwei Gruppen geteilt werden, in
eine sprachliche und eine mathematisch-naturwissenschaftliche, zwischen denen die
Schüler wählen könnten. An der Gruppe ihrer Wahl nehmen sie dann mit
einer erhöhten Stundenzahl teil, in den andern Fächern wird für sie die Stunden¬
zahl und das Ziel niedriger gesteckt; die Mehrleistung in den Wahlfächern
gleicht die Minderleistung in den andern Fächern aus. Allen Einwendungen
gegenüber mag der wohl von niemand bezweifelte Satz hingestellt werden: „Er-
zwungne und mit Unlust geleistete Arbeit ist für die Bildung wertlos, und alles
kommt darauf an, daß man mit Freudigkeit und mit ganzer Seele arbeite."
Wir kommen auf diese Weise zu einem der Unterweisung auf den Hochschulen
ähnlichen Unterricht, gewiß nicht zum Schaden unsrer Jugend. Übrigens haben
ähnliche Einrichtungen früher auf dem Carolineum in Braunschweig und auf
dem Johanneum in Hamburg bestanden, und die Männer, die unter tüchtigen
Lehrern an dieser Art des Unterrichts teilnehmen durften, sprechen noch heute
mit wahrer Begeisterung davon. Ins Wasser wurden sie geworfen, damit sie
das Schwimmen lernten; es war die richtige Vorbereitung für das Universitüts-
studium, eine Erziehung zu ernster wissenschaftlicher Arbeit und zu früher Selb¬
ständigkeit und geistiger Unabhängigkeit, während heute in den obern Klassen
vielfach der bloße Drill zur Abiturientenprüfung herrscht. Der Geheime Ober¬
regierungsrat Matthias im preußischen Kultusministerium, einer der unbe¬
fangensten, weitschauendsten und tüchtigsten Schulmänner der Gegenwart, glaubt,,
daß auch schon heute, bei der bestehenden Lehrordnung ein so freier Betrieb
möglich sei, und fordert die Direktoren der höhern Lehranstalten zu den ent¬
sprechenden Anträgen auf. Die Einrichtung ist leicht, ihre Durchführung schwer,
ja unmöglich, wenigstens in Preußen, solange die Abiturientenprüfung besteht.
Diese muß fallen, wenn die Überbürdung unsrer Schüler beseitigt und der Unter¬
richt auf der Oberstufe freier gestaltet werden soll.
Über die Abiturientenprüfung ließe sich ein dickes Buch schreiben, hier müssen
ein paar Sätze genügen. „Es erben sich Gesetz und Rechte" usw., das kann
man auch von dieser menschlichen Einrichtung sagen. Sie ist in Preußen im
Jahre 1788 eingeführt worden, die übrigen Staaten folgten bis zum Jahre 1830.
Die Absicht, die die Regierung dabei hatte, war, die Universitäten vor unreifen,
unwissenden Hörern und damit später den Staat vor schlechten Beamten zu be¬
wahren- Der Besuch der Universität war damals auch den Jmmaturis freige¬
stellt, auch sie konnten später Staatsümter bekleiden; allmählich bildete sich als
Regel heraus, daß keiner ohne die Ablegung der Abiturientenprüfung ein höheres
Staatsamt erhielt. Als die Abiturientenprüfung eingeführt wurde, war von
einer einheitlichen Organisation der Gymnasien nicht die Rede, es herrschte Willkür
im weitesten Maße. Der Leiter der Schule oder auch der einzelne Lehrer be¬
stimmte, was getrieben und welches Ziel erreicht werden sollte; die Abiturienten¬
prüfung ersetzte damals den einheitlichen Lehrplan, auch die Staatsaufsicht war
bei weitem nicht so ausgebildet wie heutzutage. Jedenfalls kann man, ohne
Widerspruch zu finden, behaupten, daß die Gründe, die seinerzeit die Ein¬
führung der Abiturientenprüfung veranlaßten, heute hinfällig sind. Wir haben
ausführliche Lehrpläne und Schulordnungen, eine wirksame Aufsicht des Unter¬
richtsbetriebs durch die Direktoren und die Schulräte, die Bekleidung eines
Staatsamts ist von dem erfolgreichen Besuch einer höhern Lehranstalt abhängig.
Gewiß lassen sich viele Gründe für das Weiterbesteht der Abgangsprüfung vor¬
bringen — nur nicht der, daß sie eine gute Kontrolle für die Lehrer sei —,
aber alle müssen, abgesehen von der durch diese Prüfung veranlaßten Über¬
bürdung der Schüler, vor der Tatsache zurücktreten, daß die Maturitäts¬
prüfung eine Quelle der größten und kleinen Betrügereien, sagen wir lieber
Mogeleien ist. Es muß das einmal mit aller Offenheit ausgesprochen werden.
Welchen Eindruck muß es auf den Schüler machen, der bei der Prüfung be¬
trogen hat, wenn er dann in seinem Abgangszeugnis liest, daß ihm die Kommission
die „sittliche Reife" zum Besuch der Universität zuerkannt hat. Die Betrügerei
bei den Prüfungen ist so alt wie diese selbst; schon 1783 wurden durch eine
Preußische Verordnung die Rektoren mit schweren Geldstrafen für den Fall be¬
droht, daß sie den Unterschleif bei den Prüfungen begünstigten. Wenn einmal
die Akademiker unter sich sind und auf die Abgangsprüfung zu sprechen kommen,
so sind es sicher neun von zehn, die offen eingestehn, daß betrogen worden ist.
Es gibt krasse und weniger krasse Fälle, und die Schüler müssen dabei das Gefühl
haben, daß auch die Lehrer ihre Seele nicht frei von Schuld und Fehle be¬
wahren. Wenn zum Beispiel die Prüflinge vor der Prüfung das Thema oder
die drei vorgeschlagnen Themen für den deutschen Aufsatz kennen und bearbeiten,
so ist das eben Betrug. Und dabei verlangt man, daß die Schüler zu ihren
Lehrern als Vorbildern emporschauen, daß sie in Heller Begeisterung für die
Reinheit einer hohen Seele wie Iphigenie entflammen sollen! Wozu der ganze
Aufwand von Zeit, Kraft und Scharfsinn, den die Abiturientenprüfung fordert?
Wenn ein Lehrerkollegium nach zwei- bis dreijähriger Arbeit nicht ohne Prüfung
beurteilen kann, ob ein Schüler die geistige und die sittliche Reife zum Übertritt
ins Leben oder zum Besuch der Hochschule hat, dann soll es sich pensionieren
lassen. Wenn man aber die Prüfung als Kontrolle für die Arbeit der Lehrer
benutzen will, so heißt das einen ehrenwerten Stand beleidigen. Nur Persönlich¬
keiten können Persönlichkeiten bilden, und auch nur dann, wenn ihnen die größte
Freiheit in der Betätigung ihrer Vorzüge gewährt wird. Die Abiturienten¬
prüfung aber führt meist zum Drill und läßt den armen Schüler nicht zum
ruhigen, reinen Genuß der herrlichen Schönheiten kommen, die gerade in den
letzten Jahren der Schulzeit an seinem Auge vorüberziehn. Das Schreckgespenst
der Prüfung wird ihm fast jeden Tag vorgeführt; man halte Umfrage bei den
Nervenärzten, und man wird staunen über die Verheerungen, die unser Schul¬
betrieb anrichtet. Was vor hundert Jahren erträglich war, kann heute tief
schädigend wirken, und wenn das feststeht, dann muß eben Abhilfe geschafft
werden, ohne daß dabei Lebensinteressen des Staates und der menschlichen Ge¬
meinschaft geschädigt werden. Durch die Abschaffung der Abiturientenprüfung
geschieht das sicher nicht; bekümmerten Vätern und Müttern aber wird dadurch
ein Stein von der Seele gewälzt. Unsre deutschen Jungen aber werden auch
ohne Abgangsprüfung zeigen, daß sie pflichttreue, gewissenhafte, mutige Männer
werden können.
Fassen wir noch einmal die Vorschläge für die Entlastung der Schüler
unsrer höhern Lehranstalten zusammen, so ergeben sich folgende:
Mit dem Glückwunsch „Mehr Freude an der Schule" hat Geheimrat
Matthias das erste Heft des neuen Jahrgangs seiner Monatsschrift in die Welt
geschickt; er wünscht mehr Freude an der Schule „uns allen, die wir an der
Schule oder für die Schule wirken und leben." Wir bekennen, lange nicht ein
so freundliches Wort von oben gehört zu haben, und drücken sicher die Empfin¬
dungen unsers gesamten Standes aus, wenn wir dem verehrten Herrn Verfasser
der Neujahrsbetrachtung herzlichen Dank aussprechen. Es ist erfreulich, aus dem
Munde eines e?rtar^de^ und en^r«^ zu hören, daß nicht der Lehrer allein
schuld an der weitverbreiteten, durch Presse und Bühne geschürten Mißstimmung
gegen die höhere Schule ist, er klagt auch das System an, ja mit liberaler
Offenheit auch — die Behörden selbst.
Aber auch da, wo er Fehler und Schwächen des Lehrpersonals dafür
verantwortlich macht, verurteilt er nicht ohne weiteres, sondern entschuldigt und
billigt mildernde Umstünde zu, soviel er kann. Wenn zum Beispiel der Unterrichts¬
ton und das ganze Verhältnis der Lehrer zu den Schülern nicht immer einen
freundlichen Charakter hat, wenn Direktor und Lehrer griesgrämlich und finster
in die Welt schauen, „wenn an vielen Stellen eine gewisse Gereiztheit und
Empfindlichkeit das freundliche Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern stört,"
so gibt Matthias nicht den Lehrern allein die Schuld: „Sie werden eben heim¬
gesucht von den Sünden der Väter . . . Dazu kommt, daß erst spät, für ein
freudiges Leben in der Schule vielleicht allzuspüt, für Rang, Würden und
materielle Stellung der Lehrer so gesorgt worden ist, wie es einem Stande von
dieser Bedeutung zukommt. Alles das mag zur Erklärung und vielleicht auch
zu einiger Entschuldigung dienen; Berechtigung gibt es trotzdem dem unfreund¬
lichen Verhältnis nicht, das an nicht wenigen Stellen die Freude an der Schule
beeinträchtigt."
Ich unterschreibe jedes Wort und fühle und erkenne es klar, daß der
Lehrer ein warmes Herz im Busen haben, daß er freundlich in die Welt schauen,
daß er die Liebe im Herzen tragen muß, die Liebe, die geduldig und langmütig
und uneigennützig ist, nicht unbescheiden, aufgeblasen, ehrgeizig. So sollte es
sein, so wünschte jeder zu sein, es wäre eine Lust zu leben; wie aber sieht es
in der Wirklichkeit aus? Ich muß es sagen und bekennen. Wie manchen spät
angestellten Kollegen, wie manchen andern auch habe ich schon sagen hören:
„Wie konnte ich nur Lehrer werden! Weshalb bin ich nicht Jurist geworden?
Mein Sohn soll es besser haben und etwas andres werden als der Vater."
Es ist traurig, aber wahr, daß in der Tat dem Vater in diesem Berufe nur
sehr, sehr wenig Söhne nacheifern, gegenwärtig aus meiner Provinz ein einziger,
der Sohn eines Kollegen an einer landwirtschaftlichen Schule. Welche Anklagen
und Klagen enthält diese Tatsache! Ich lese eben die Landtagsverhandlungen
über den Forstetat und finde in der Rede des Geheimen Finanzrath Noelle
folgendes: „Die Forstlehrlingsschulen rekrutieren sich jetzt schon zum größten
Teil aus Söhnen von Förstern. Das spricht nicht für schlechte Verhältnisse
im Försterberuf, wenn die Söhne wieder zum Beruf des Vaters zurückkehren";
in der Rede des Abgeordneten Schubert: „Erfreulicherweise ergreifen viele Söhne
von Förstern wieder den Beruf des Vaters. Wir haben alle Veranlassung
uns zu freuen, daß es in dieser mißvergnügten Zeit noch eine Beamtenkategorie
gibt, die nichts besseres kennt, als auf den bescheidnen Bahnen ihres Vaters
vorwärts zu kommen. Darum sollten wir alles daran setzen, die Berufsfreudigkeit
und Berufsanhänglichkeit zu erhalten." Weshalb ist es nicht auch bei uns
Lehrern so? Weshalb finden sich im niedern Lehrfach so viele, die den Beruf
des Vaters wählen, dagegen im höhern Lehrfach so wenig Söhne von Lehrern
und Leitern, so gut wie keine von Schul- und Ministerialrüten? Weshalb so
wenig Freude an der Schule in Kreisen, die ihr so nahe stehn? Matthias
erklärt dies zunächst damit, daß „erst spät, vielleicht allzuspät für Rang, Würden
und materielle Stellung der Lehrer gesorgt worden sei."
Ein freimütiges, sehr wahres Wort! Freimütig insofern, als man sonst von
oben her zu hören gewöhnt war, daß das, was wir Lehrer ein ideales Streben
und Kämpfen um Hebung des Berufs und des Standes nennen, ein Streben,
dein allein wir die Besserstellung in Gehalt und Rang zu danken haben, eine
Agitation sei, in der Geschichte des preußischen Beamtenstandes sondergleichen.
Hier wird freimütig eingestanden und beklagt, daß die Forderungen dieser „Agi¬
tation" zu spät erfüllt worden sind. Ähnlich schrieb an den Herausgeber der
Grenzboten der Kultusminister Bosse: „. . . Endlich wird ja doch auch die
minderwertige Behandlung der höhern Lehrer durch Miquel aufhören. Ich habe
als Minister für sie im Staatsministerium gekämpft, bis es fast zur Explosion
kam. Schließlich mußte ich nachgeben, weil auch die andern Minister mit ihren
Ressortinteressen sich gegen die Lehrer wandten. Ich mache es mir noch heute
zum Vorwurf, daß ich damals die Sache nicht bis zum Bruch getrieben habe.
Miquel verweist die höhern Lehrer auf ihren Idealismus. Gut. Dann muß
man sie aber nicht wie Schuhputzer behandeln . . ." (Grenzboten 1902, Ur. 15).
Hoffentlich greift diese Stimmung „da droben" allgemein Platz und bemächtigt
sich auch der viri imtiyuiWiwi, die das Streben nach äußern Dingen für un¬
vereinbar mit Idealismus und Eifer im Beruf halten, die Schweigen und
Warten, bis >/<^o-,' spricht, mit Pythagoras und mit dem Dichter des schönen
Verses: „Hier ist zu leiden und zu schweigen Zeit" für das Eine notwendige
halten. Wer nämlich der ^/vros ist. und wann er kommen wird, das weiß
keiner, und darum haben wir die Botschaft zwar gehört, aber nicht daran ge¬
glaubt und nicht ruhig zugesehen, wie die Welt verteilt wurde, sondern haben
uns zusammengetan und auch Ansprüche erhoben und dürfen uns rühmen, was
wir sind und haben, selbst erkämpft zu haben. Es ist edel von Männern wie
Matthias, daß sie mit dem Ausdruck des Bedauerns, daß der Kampf zu lange
gedauert habe, zugleich den Ausdruck der Anerkennung verbinden, daß sie frei¬
mütig einen Grund, weshalb nicht immer und überall Freude an der Schule
bei den Lehrern sei, in der verspäteten Velehnung mit „Rang und Würden"
anerkennen.
Aber es ist nicht allein die Verspätung, es ist das Bewußtsein, daß man
sich alles selbst hat erkämpfen müssen, die Art, wie die „Belehnung" erfolgt
ist — in fortlaufenden Nachtrügen und zum Teil mit av ut clss (vgl. Miquels
Erlaß über die Normalstundenzahl) —, das niederdrückende Gefühl, doch nicht
das Ziel erreicht zu haben, die Tatsache, daß der Staat den Beruf des Lehrers
und Erziehers nicht so wertet wie das Amt des Richters — das alles kommt
hinzu, die Mißstimmung im eignen Lager zu erklären. Wie viel Liebe und
Opfergeist gehört dazu, dies alles schweigend zu tragen, „das empörte Herz
hinabzudrücken in den Busen," immer freundlich zu erscheinen und gesund und
rot? Wie schwer ist es, zu vergessen, daß man achtunddreißig Jahre alt war,
als die Anstellung endlich erfolgte, daß man als Mann in den letzten Vierzigern
noch nicht 4500 Mark Einkommen hat, daß andre gleichaltrige Kollegen in
demselben Kollegium, die das Glück gehabt haben, vor der Zeit der Über¬
füllung, ohne Probejahr, nach einem Dienstjahr als wissenschaftlicher Hilfslehrer,
zur Anstellung zu kommen, hoch über unsereinem auf dem S^ovos sitzen und
das Maximum genießen — ich sehe schon gern davon ab, daß man nach drei¬
undzwanzig Dienstjahren noch nicht den Professortitel trägt, daß die Schul¬
freunde, die Jura studiert haben, schon lange als Räte auf den Oberlehrer
herniederschauen. . . . Und wie unterscheidet sich schließlich unser IV. oousilwm,
wenn es einem verliehen wird, von dem juristischen Rat! Was bedeutet bei
unsereinem Rang und Würde! Der Rang wird uns besonders verliehen, ge¬
trennt vom Titel, der spe^er^ bringt sich wieder in angenehme Erinnerung:
aber wenn der „Rat" zu Wert und Geltung kommen soll, versagt er, er
ist — von Papier. Wie billig ist so ein Rat — und wird doch vom König
verliehen!
Ich spreche hier gar nicht von der sauern, entsagungsvollen Arbeit des
Lehrers, von dem schweren Beruf des Erziehers, von der fortwährenden
.Mauserung unter „Anstaltsleitern" und Schulräten, die alle ihre Existenz¬
berechtigung beweisen wollen, von der steten Bevormundung, die das Recht der
Individualität an den Schülern geschützt und gepflegt wissen will, die mit
Pathos und Emphase auch von den Lehrern als von „Trügern einer Persönlich¬
keit" spricht, von Männern, die den herrlichen Beruf haben, Leben und Freiheit
zu entbinden, die in Wirklichkeit aber den Lehrern den Tag der Freiheit raubt
und damit zugleich die Hälfte des Wertes, die zum Beispiel so weit geht, daß
die Rede zu Königs Geburtstag vorher „aufgezeigt" werden muß. Weshalb
hat der große Umwerter für unsern Stand das Wort geprägt von den „Staats¬
sklaven mit Inbrunst"? Weshalb meiden ihn die Söhne der „bessern Häuser"
geflissentlich?*) Weshalb so wenig Freude an der Schule?
Doch bleiben wir bei uns. Gibt es nichts weiter, was uns die Freude
an der Schule unterbindet, als die Zurücksetzung in der materiellen Stellung,
die „äußern Härten," unter denen man leidet? Wir wollen aufrichtig sein
und bekennen, nicht um dem Manne, der uns in nobler Art den herzlichsten
Neujahrswunsch dargebracht hat, etwas vorzujammern und unmännlich zu er¬
widern, sondern um ihm, der ein Herz für uns hat und uns Vertrauen entgegen¬
bringt, mit Vertrauen zu lohnen und zu sagen, wo der Schuh drückt. Matthias
weiß es selbst, denn er hat ja lange unterrichtet, hat deutschen, griechischen usw.
Unterricht in Prima erteilt: es ist die schematische Verteilung der Unterrichts¬
fächer auf Lehrkräfte zu vierundzwanzig, zweiundzwanzig und zwanzig Stunden,
die seit Miquels bekanntem Erlaß wegen der Normalstundenzahl ohne Wahl
und Billigkeit die Kräfte, die in I unterrichten, denen in VI gleichstellt. Wäre
es wirklich nicht möglich, wenigstens den deutschen Unterricht in I mit der
schweren Korrektur richtig zu ästimieren und die Stunden als Doppelstunden
zu werten? Es bleibt ja immer noch die Korrektur übrig, die entsagungsvolle,
die den Lehrer des Deutschen in dem, was er zu arbeiten hat, weit über alle
Kollegen stellt, auch wenn sie fünf Korrekturen haben, schon mit der deutschen
Korrektur allein. Und die Ungleichheit, um nicht zu sagen Ungerechtigkeit in
der Verteilung der Arbeit ist nicht der einzige Grund, weshalb ich diese Bitte
hier vortrage; der Hauptgrund ist der, daß man zu keiner wissenschaftlichen
Beschäftigung mehr Zeit übrig hat. Denn ich unterschreibe Paniscus Wort,
daß der höhere Lehrerstand den Anspruch auf die Zugehörigkeit zum Gelehrten¬
stand nicht aufgeben darf, daß er nicht allein Beamter mit sechs bis acht
Stunden Bureauarbeit am Tage sein darf und sein kann: wenn der Lehrer
aufhört zu lernen, so hört er auf Lehrer zu sein. Ich beklage es tief, auch
aus diesem Grunde, daß unser Stand durch den Kampf um die borg, exterug.
so viel Zeit und Kraft zu opfern gezwungen ist. Wann wird es einmal ge¬
lingen, die entscheidenden Instanzen davon zu überzeugen, daß „dieser Kampf
ein gerechter und notwendiger ist," „daß ihn durchzuführen nicht bloß Recht,
sondern Pflicht ist"? (Paulsen). Wann wird, mit andern Worten, die alte
Forderung des höhern Lehrerstandes, die Gleichstellung mit den Richtern, schon
vor fünfzig Jahren erhoben, von den meisten Kultusministern seit Eichhorn und
von Kaiser Wilhelm dem Ersten selbst anerkannt, eine Forderung, für die sich
das preußische Abgeordnetenhaus ebenfalls vor einigen Jahren entschieden hat,
erfüllt und Friede geschlossen werden? Herr von Miquel sagte einmal von den
Oberlehrern: „Die Herren sind nie zufrieden." Ich versichere, sie wären zu¬
frieden, wenn diese Forderung erfüllt würde. Solange das nicht geschieht,
solange nicht Unterrichtspolitik getrieben wird statt der kleinlichen Finanzpolitik,
die immer halbe Arbeit macht und sich selbst korrigiert und ergänzt und sich
sogar auf den Stundenplan erstreckt,*) so lange nehmen wir «xx«^devot, was
man uns gibt, bestehn aber auf der Lösung unsrer czuasstio psrvewa und
denken auch im Hinblick aus etwaige „wohlgefällige Geschenke" nicht daran,
das eine Ziel aufzugeben.
Mehr Freude an der Schule würde endlich sein, wenn — die Behörden
so wären, wie sie sein sollten, wenn die richtigen Männer immer am richtigen
Platze wären. Hören wir darüber Matthias selbst: „Bei manchem Leser wird
sich sicherlich — und das mit gutem Grund und gutem Recht — die Frage
auf die Lippen gedrängt haben: »Geschieht denn auch in den obern Regionen
alles, um die Freude an der Schule zu fördern? Sorgt ihr für den nötigen
Sonnenschein, der zu allem Wachsen und Gedeihen erstes Erfordernis ist?«
Diese Frage ist berechtigt. Vorweg seis gesagt: man wird nicht besser, wenn
man seine Fehler verbirgt. Auch die Behörden sind keine vollkommnen und
unfehlbaren Abstrakt«: sie bestehn aus Persönlichkeiten, denen nichts Menschliches
fremd ist, und deren Wirksamkeit nicht immer unfehlbar Arbeitsfreude fördert.
Wenn, wie in vergangnen Zeiten, auch heute noch manche Dinge die Freude
an der Schule stören, so ist das nicht nur die Schuld der Regierten. Mit
Recht fragen diese, ob denn nicht manche Unfreundlichkeit, manch unnötiger
Zwang unterbleiben könnte. Ist es zum Beispiel nötig, daß die Revisionen,
die zur guten Ordnung gehören und tüchtiger Arbeit nur willkommen sind, so
»schulmeisternd« oder so nervös, so nörgelnd ausgeübt werden? Könnten sie
nicht neben dem Mangelhaften, das ja allem menschlichen Wesen, auch dem
revidierenden anhängt, auch das Gute sehen und anerkennen? Könnte nicht
mehr erfreuliche und ermunternde Anregung von dieser Tätigkeit ausgehn?
Könnte nicht in aller Kritik etwas mehr Freude am Sonnenschein vorwalten
und etwas weniger Behagen am erkältenden Schatten?"
Hier hört man einmal von einem, der es wissen kann, daß auch die obern
Instanzen nicht immer Recht haben, hier spricht einmal einer ans den heitern
Regionen, und zwar der besten einer, wie ein Mensch zu Menschen, nicht wie
einer aus der Zeus der gerechten Kammacher zu „andern Wesen." Wie wohl
tun solche Worte an sich, wie wohl unserm Stande, der ja immer Unrecht hat,
wenn der Erfolg versagt, wie wohl aber erst denen von uns, die das Regime,
wie es Matthias schildert, am eignen Leibe erfahren haben und nun verbittert,
resigniert, gleichgiltig geworden sind, die Freude an der Arbeit verloren haben!
Jeder von uns weiß, daß die Freude am Erfolg das Leben im Unterricht
bedeutet, und jeder unterrichtet danach das Kind und den fröhlichen Knaben.
Aber der Jüngling schon soll und muß sich selbst erkennen, er muß wissen,
wenn er ein Gymnasium besucht, daß es eine Ringschule des Geistes ist, nicht
eine „Anstalt" zum Massendrill mit absolutem Erfolg; er darf nicht bloß aus¬
wendig lernen und mit belasteten Gedächtnis frei und leicht von Klasse zu
Klasse bis zum „Ziel der Anstalt" emporsteigen, er muß seinen Geist allseitig
bilden, er muß Hemmnisse und Schwierigkeiten finden zur Stählung des
Willens, er muß denken, fühlen, urteilen lernen. In welchen Stunden lernt
er das? Nicht sowohl in den Fächern, in denen Gedächtnisstoff übermittelt
wird,*) sondern im Unterricht im Deutschen und in den fremden Sprachen.
Wie fruchtbar er für die Bildung unsrer Jünglinge ist, brauche ich nicht aus¬
zuführen; ich wünschte jedem, daß er Muffs Rede über Sophokles in der
Schule auf der letzten Philologenversammlung in Halle gehört hätte. Eine
so unmittelbar von Herzen kommende, frei vorgetragne, mit prophetischer Be¬
geisterung gesprochne Rede habe ich noch nie gehört.""") Im deutschen, griechischen,
lateinischen Unterricht liegen Schätze von Gold und Edelstein, Schätze des
Wahren, Guten, Schönen; aber sie wollen gehoben und herausgeholt sein aus
der Tiefe, mit heißem Bemühen, mit Anspannung der Kraft. Hier auf dem
eigentlichen Felde des Gymnasiums kann sich das geistige Ringen entfalten wie
nirgends sonst, hier ist nicht auswendig zu lernen, was „mundgerecht" gemacht
und vorgekaut ist, hier hat jeder selbst zu suchen und kann zeigen, was er zu leisten
imstande ist. Hier auf diesem Boden ist deshalb noch möglich, was den
modernen Anstalten bei der stark entwickelten Individualität der Schüler und
der Eltern, bei der hohen methodischen Schulung der Lehrer und der Schüler
ziemlich fremd geworden ist, und was doch so natürlich ist und früher auch
ohne die nervöse Empfindlichkeit von heute hingenommen wurde, daß jemand
einmal ausgleitet, fällt, liegen bleibt, wieder aufsteht oder — auch nicht. Es
ist ein Krebsschaden, der an unsern Gymnasien frißt, eine Degradierung zu
Paul- und Triezanstalten, daß sozusagen niemand mehr, zumal auf den obern
Klassen, sitzen bleibt, niemand mehr im Abiturium durchfällt.")
Jene Fächer können ja manchen Schwächling zurückhalten und halten ihn
auch tatsächlich zurück; aber wie schwer wird es den Lehrern gemacht, die sie
vertreten, wie wird die Freude an der Schule ihnen vergällt! Zunächst stehn
sie in der Regel allein und sehen sich vergeblich nach einem Bundesgenossen
um. Die Mathematik, die ich von meiner Schulzeit her als eine Wissenschaft
verehre, die uns zeigt, wer scharf erfassen, leicht begreifen, sicher schließen, richtig
anwenden kann, die mit einem Wort den klaren, spekulativen Kopf erkennen
läßt, die sich also mit den oben genannten Fächern in manchem berührt und
für die Beurteilung der Schüler häufig, ich sage nicht immer, mit ihnen har¬
moniert, sie ist vielfach von ihrer Höhe gesunken und hohler Gedächtniskram
geworden.**) Ein so widerwärtiges Herplappern von Formeln und Beweisen,
wie ich es an manchen Anstalten gefunden und aus Briefen von Bekannten
gehört habe, kommt in keinem andern Unterrichtsfach vor und müßte als Unfug
gerügt, nicht als vorbildliche Leistung prüdiziert werden. In dem Brief eines
Freundes lese ich: „Ich habe Unterrichtsstunden beigewohnt, in denen die
Antwort schon erfolgte, ehe die Frage kaum noch gestellt war, Schlag auf
Schlag, in denen, im andern Bilde gesprochen, ein Hagel von Kenntnissen
herniedersauste, für den Laien — und das sind sie in der Regel alle — un¬
faßbar und über alles Lob erhaben — swxst ki^so, <Mi jam xost dei-Ag.
rsliauit ssxÄAintg. tmnos, würde Juvenal sagen..." Was zeitigt dieser
Unterricht? Glänzende Erfolge. Kunz und Hans prangen mit 1 und 2, das
dritte Prädikat ist ziemlich selten, 4 und 5 sind nicht bekannt. Und doch weiß
jeder, daß das Mittelmaß die Welt regiert, daß die Extreme selten sind (vgl.
Platos schönes Kapitel über die ^o-o/i-o^«). Die Zensur „genügend," oder
wie es früher hieß, „ausreichend" und „ziemlich befriedigend" muß demnach
nicht nur vorkommen, sie muß sogar häufig, ja am häufigsten vorkommen —
wenn eben die Schule auch in diesem Punkte dem Leben dienen soll und nicht
dem Schein, wenn sie jedem zeigen soll, auf welchen Platz er gehört, welchen
Platz im öffentlichen Leben er einzunehmen befähigt ist. Wehe der Schule,
wenn sie durch das leidige Pauksystem und den Götzendienst des Erfolgs der
Torheit und der Dummheit zu leichtem Avancement verhilft, wenn sie geistes¬
armen Schülern, die in den Stunden, in denen das Denken großgezogen und
geübt wird, vollständig versagen, den Nimbus anerzieht, daß sie „berufen" sind,
wenn sie die Eltern dazu verleitet, ihren Söhnen ein Studium freizugeben, dem
sie durchaus nicht gewachsen sind! Das Ende ist im besten Falle so, wie es
Frau Wegscheider-Ziegler in ihrem Vortrag über „Alkohol und Erziehung"
sagt: „Einochsen und Einbüffeln. . . hat Halbbildung und Einseitigkeit zur
Folge und züchtet den Bureaukratismus groß, von dem der bekannte Spott¬
vers gilt:
Das ist ja, wird mancher erwidern, für die meisten Sterblichen das er¬
strebte, ersehnte Ziel, mehr will ja selten einer, es reicht aus, „etwas" zu
werden. Ganz richtig, leider Gottes ist es so, aber es glückt nicht immer, nur
diese Tagelöhnerstellung zu erreichen und das geistige Banausentum zu mehren,
viele gehn über Bord oder werden Hauslehrer oder sonst etwas. Das Kapital,
das die Eltern in ihnen angelegt haben, hat sich nicht nur nicht verzinst, es
ist nutzlos dahingeopfert. Das machen die „Lernanstalten" und ihre Leiter
und Oberleiter — wenig Frende für den Lehrer, der es redlich meint!
Wie schön, wenn auch hier schon das apollinische ?«^rov der Leit¬
stern wäre und nicht der Erfolg; wie herrlich, wenn auch heute noch von jedem
höhern Lehrer verlangt würde, was F. A. Wolf verlangte: „Habe Geist und suche
Geist zu wecken." Heute lautet die Forderung: „Habe Erfolg" — wir leben
ja in dem Zeitalter des Grundsatzes, daß der Zweck die Mittel heiligt. Die
stille, gründliche, ehrliche Arbeit wird nicht gewertet, wenn nicht ein glänzender
Erfolg zu sehen ist. Wie bescheiden muß hier in der Regel der Lehrer des
Deutschen, der Lehrer der alten Sprachen zurücktreten! Wie oft ist er gerade
allein das Opfer bei Revisionen, bei der Reifeprüfung usw., wie einseitig und
unbillig ist unser Regiment! Was die Behörde nicht versteht, das läßt sie
ungeschoren, geht still vorüber an den Männern, die Erfolge machen und haben,
^soo-^os ja sie läßt sich x für u vormachen und freut sich über den
„flotten Ton." Wo es aber nicht so flott geht, wo es stockt und hapert, wo
nicht bloß Auswendiggelerntes „wiederzugeben," sondern etwas aus eigner
Kraft zu leisten ist — das sällt den meisten Schülern schwer —, da treffen
die Vorwürfe des Herrn Revisors, mündlich und schriftlich in g-cels, die ver¬
haßten Philologen. Hören wir darüber Matthias selbst, den kompetentesten
Richter:
„Ist es erfreulich, den Tag der Abiturientenprüfung zu einer Art von
«lies iras äiss nig. auszugestalten? An solchen Tagen soll Vertrauen gegen
Vertrauen herrschen und Freude da, wo sie hingehört und verlangt werden
darf, nicht aber Mißtrauen, wo es übel angebracht ist, und keine harte Kritik
an Lehrern und Schülern, die ihre Pflicht getan, aber dem Examen ihren
Schmerzeustribut durch weniger gute Leistungen haben zahlen müssen, wie das
in der Natur der Dinge liegt. Auch mangelhafte Leistungen und schließlich
auch gänzlichen Durchfall eines Schülers kann Wohlwollen begleiten, wenn
kein Betrug oder keine gröbliche Nachlässigkeit erwiesen ist. Das hebt die
Ehrlichkeit der Arbeit! — Und noch etwas, was die Freude stört. Muß die
Kritik bei Revisionen und Prüfungen immer so öffentlich geübt werden? Gibt
es nicht irgendwo eine stille Stätte, wo man Auge in Auge sagen kann, was
man an Ausstellungen und Tadel auf dem Herzen hat? In solchen zurück¬
gezognen Zwiegesprächen erfährt man oft sehr wichtige Dinge und kann tief
hineinblicken in die Herzen der Lehrer und in die Arbeit der Schule. Es gibt
aber leider eine recht freudlose Art der Kritik, womit nichts gewonnen, niemand
gebessert wird und vom sichern Port des Vorsitzes aus nur die Absicht zu
verletzen erreicht wird; es gibt eben auch eine andre stille und geistvolle, wohl¬
wollende Art der Kritik, durch welche die Arbeit und die Freude an der Arbeit
nicht wenig gefördert werden kann...."
Ein Bild, durchaus nach dem Leben, nicht aus Akten! Wir kennen die
Wirklichkeit und können bestätigen, daß sie getreu kopiert ist, daß die Freude
an der Schule in den Kreisen der Lehrer fehlt, weil häufig nicht die richtigen
Männer am richtigen Platze sind.
Wo sind sie, die Männer mit der evxo>>.t« im Herzen, der svxo^« im
Auge? Wo sind die schlichten Menschen, die feinen Pädagogen, die begeisterten
Jünger der Wissenschaft, die unermüdlichen Arbeiter in der Schule und für die
Schule? Wo sind die bescheidnen Männer, die nach ihrer Beförderung zum
Direktor oder Schulrat sich nicht andre Wesen zu sein deuchten, sondern die
Stellung, die ihnen sei es wirkliche Überlegenheit, sei es der Zufall verliehen
hatte, sich noch einmal errangen durch das Bestreben «te? «^ni-re^Leo x«5
v/rst^o/vo e^e^ «/).c-^ durch Wissen, durch Lehren, vor allem aber durch
Arbeiten? Wo sind die Direktoren, die sich vor allem und zuerst als Lehrer
fühlten und Lehrer sein wollten, die ihre Befriedigung darin fanden, mit
den Kollegen mitzukämpfen und anzuleiten in einer respektabeln Zahl von
Unterrichtsstunden, in Korrekturen (auch der deutschen in I), in Vertretungs¬
stunden, ja wie ich es noch erfahren habe, sogar im Beaufsichtiger der Schüler
während der Pausen? Wo sind sie, die im Stundenplan, den sie selber machten,
nicht machen ließen, nur das Interesse der Schule im Auge hatten, nicht die
eigne Bequemlichkeit, die mit zarter Aufmerksamkeit Wünsche und Neigungen
der Kollegen von selbst berücksichtigten und als brave Männer an sich selbst
zuletzt dachten? Wo sind sie, die die Schüler nicht nur als tote Namen im
Notizbuch führten, sondern auch kannten und in Leistungen und Charakter zu
beurteilen vermochten? Wo sind sie, die nicht durch äußeres Repräsentieren
und Figurieren, durch fleißiges Besuchen der Ressource, durch orgUuiuzrÜÄS
bei allen möglichen Anlässen das Gymnasium zu vertreten wußten, sondern,
wie Wiese erzählt, wenn er zur Revision kam, „regelmäßig zuhause waren,
bei einer Beschäftigung für die Schule, beim Korrigieren von Heften oder
in der Unterhaltung mit einem Kandidaten," die die Schule mit ihrem Geist
erfüllten und ihr Glück in der Hingebung für andre fanden, die durch die
Uneigennützigkeit in der Führung des Amtes ein Kollegium um sich, nicht
unter sich hatten, das freudig und einmütig mit dem Direktor seine Pflicht
erfüllte, das in ihm nicht einen „Vorgesetzten" sah, sondern den geschätzten,
bewunderten, verehrten xriinus inde-r M-KL? Wo sind sie? Ich kenne noch
manche, Gott sei Dank, ich kenne aber auch schon andre, Schulräte und
Schulleiter, die mit Vorliebe Methode reiten,*) die, wie Matthias oben mit-
teilte, durch fortwährendes Tadeln, Nörgeln und Höhnen, durch rücksichtsloses
Bloßstellen der ganzen Anstalt und ihrer Lehrer vor jungen, nicht angestellten
Kandidaten und technischen Lehrern soweit von der herrlichen Aufgabe, Freiheit
und Leben zu entbinden, sich entfernen, daß sie vielmehr zerstören und nieder¬
reißen, Gleichgiltigkeit und Unlust erzeugen und bei allen, die ihnen „unter¬
stellt" sind, den einen Wunsch nähren, daß sie bald das schwarze Schiff be¬
packen und in die heilige Salzflut ziehn mögen. Die Hauptsache ist und bleibt,
heute mehr denn je, daß der Lehrer des Gymnasiums „etwas kann," daß er
in wissenschaftlichem Sinne seinen Beruf erfaßt, daß er selbst weiter arbeitet
und 7^«<7xet ?ro^« se6«?xo^loof (Oskar Jäger: „Der beste Lehrer ist der,
der von Tag zu Tag besser wird"). Darauf sehe die Behörde vor allem und
übersehe gern, wenn er einmal nicht richtig fragt oder die Antwort wiederholt,
oder auch — in mancher pädagogischen Frage verschiedner Meinung ist. Frei
sein muß der, der andre frei machen will; er muß ein Mann sein voll von
töroxerÄlltia und nurnWitÄs; er muß Humor haben, muß lachen können, er
muß wenig sprechen, um sich nicht zu widersprechen und sich nicht zu entwöhnen,
andrer Menschen Stimme und Rede hören zu können. Wenn solche Männer
durchweg Leiter und Schulräte wären, dann würde die Freude an der Schule
nicht fehlen, dann wäre es eine Lust, Lehrer zu sein.
Aber — wir leben an einem Gymnasium. Wir haben unsre Kraft dem
Studium der Alten gewidmet, wir nähren uns aus diesem Quell und Quick¬
born Tag für Tag, wir möchten auch andre daraus nähren, gründlich und
nicht oberflächlich, so lange wir leben und den Atem ziehn. Leider ist die Zeit
diesen Studien und ihren Jüngern nicht bloß abhold, sondern feindlich gesinnt;
sie will und braucht nur das Neue, Nützliche, das, wovon sie lebt. Wenn
darum auch Friede geschlossen und die Gleichberechtigung der drei Anstalten
feierlich proklamiert ist, so fühlt sich das Gymnasium doch immer bedroht und
kann so recht nicht froh werden. Matthias selbst, dem gewiß, wie Cauer sagt,
niemand vorwerfen wird, daß er ein Schwarzseher sei und dazu neige, die
Dinge schlimmer darzustellen, als sie sind, erklärte auf der Kasseler Versamm¬
lung der Neformschulmünner, daß auch nach dem Waffenstillstand von 1901
der griechische Unterricht in Zukunft den allergrößten Gefahren ausgesetzt sei.
„Wir dürfen uns keiner Täuschung darüber hingeben, sagte der Redner, daß der
griechische Unterricht in der Achtung derjenigen, die sich für unsre höhern Lehr¬
anstalten besonders interessieren, nicht besonders gewachsen ist, daß er schon
nahe daran war, stark eingeschränkt, stark verkürzt zu werden, und daß die
Frage, ob er nicht fakultativ zu machen sei, ernstlich in Erwägung gezogen
worden ist. Daß dem so ist, daran ist das Gymnasium selbst schuld durch die
Art, wie dieser Unterricht vielfach von ihm betrieben worden ist." Cauer fügt
hinzu: „Ob der damit gegen die philologischen Lehrer erhobne Vorwurf in
solcher Schürfe und Allgemeinheit verdient war, könnte nur auf Grund um¬
fassender Beobachtungen entschieden werden. So viel aber ist gewiß richtig,
daß der griechische Unterricht feinere und weichere Geisteskräfte in Anspruch
nimmt als zum Beispiel der lateinische, daß er deshalb leichter verunglückt.
Wie läßt sich dem nun vorbeugen? Matthias empfahl die Ahrenssche Methode,
d. h. mit Homer anzufangen statt mit dem Attischen; aber er empfahl sie als
Prüfstein für den Lehrer: an dessen Kunst stelle sie so hohe Anforderungen,
daß, wer sich ihnen gewachsen gezeigt habe, überhaupt als tüchtig für diesen
Unterricht gelten könne. Heißt das nicht ein wenig den Teufel durch Beelzebub
austreiben? Wenn für das Griechische die Stützen, die ein bloß »normal be¬
gabter gewissenhafter Lehrer« im Stoffe selbst findet, ohnehin schwächer sind
als in andern Fächern, täte man gut, eine Methode einzuführen, durch die diese
Stützen vollends weggeschlagen und die Lehrer ganz auf ihre persönlichen Fähig¬
keiten gestellt werden? Dann würde ja das Mißlingen noch häusiger, die Unzu¬
friedenheit derer, »die sich für unsre höhern Lehranstalten besonders interessieren,«
noch stärker, die Gefahr, daß das Griechische zu einem fakultativen Lehrfach
hinabsänke, noch näher gerückt werden. Etwas der Art hatte wohl auch
Dr. Lahmeyer, der Direktor des Provinzialschulkollegiums in Hessen-Nassau, im
Sinn, als er wohlmeinend davor warnte, die Frage der Ahrensschm Methode
mit der Frage des Frankfurter Lehrplans zu verquicken: eine Warnung, der
um so größeres Gewicht beizumessen ist, als der erfahrne und würdige Mann,
der sie aussprach, selbst am Lyceum zu Hannover unter Ahrens Lehrer gewesen
ist" (Jahrbuch für das klassische Altertum 1903, II, 283 bis 284). Ich bin der¬
selben Meinung und möchte um keinen Preis den griechischen Unterricht mit
Homer beginnen. Was dagegen absolut notwendig erscheint, wenn man die
Eigentümlichkeit jeder der verschieonen Schulen schützen will, wie das Schlag¬
wort der Behörde lautet, wenn man dafür sorgen will, daß der griechische
Unterricht, zumal in den obern Klassen, nur von Kräften ersten Ranges erteilt
werde, ist, daß man nur Philologen an die Spitze der Gymnasien stellt, Männer,
die, wie seinerzeit der Minister Bosse, fest daran glauben, „daß das Gymnasium,
und zwar das wieder rechtschaffen humanistisch gewordne Gymnasium, die andern
Schulen doch schlagen wird" (Grenzboten 1902, S. 81), die mit dem König
Albert von Sachsen denken und empfinden: „Gott erhalte uns die humanistische
Bildung! Ich werde für sie kämpfen bis ans Ende." Ich wiederhole aber:
es müssen ganze Männer sein, entschlossen und unverzagt, nicht weich und lau,
nicht gewillt nachzusprechen, was das Licht von oben her kündet. Die schlimmsten
Gegner des Gymnasiums stehn in den eignen Reihen. Auch hier gilt das
Wort: no^ot ^«co vel^^xo<jvo^>ot, ?r«5^ot 6^ ^«x^vt. Die kg,en1t,g,s
äoosiM, schwarz auf weißem Papier, ist oft papieren, macht keinen zum Lehrer.
Wenn bei der ^v^?tL das Herz nicht mit dabei gewesen ist, dann ist die
<5</^«//s ein leerer Orden, nicht das Siegel, „das alle Geister ihm henget."
Diese von jenen zu unterscheiden, zu erkennen und zu berufen, wird nur der
Philologe Lust und Fähigkeit haben. Soll also das Schlagwort von der Aus-
prügung der verschiednen Schulen ein Wort sein, soll Freude und Ruhe in die
Gymnasien einziehn, dann lasse man nur den Fachmann, und zwar einen, der
es wirklich und aufrichtig ist bis in die Knochen, an die Spitze treten, und
bringe auch diese Philologen höher hinauf in der Stellung, so hoch es geht,
nicht bloß die Reformphilologen, die ja heute auf Hefe gehn, durch deren Be¬
rufung in das Schulregiment, wie Cauer bemerkt, „im stillen gewirkt und wohl
ein künftiges ausgedehnteres Vorgehn vorbereitet werde" (Humanistisches Gym¬
nasium IV, 167).
Unser Wunsch, daß mehr Freude in die Schule komme, mehr Freude an
der Schule um sich greife, gründet sich auf die Erfüllung der Wünsche, die ich
oben vorgetragen habe, Wünsche, die durchaus nicht in das Gebiet der Träume
und der Ideale gehören. Möge Matthias, dem wir für den Reisesegen in das
neue Jahr nochmals von Herzen danken, dessen Wunsch wir von ganzem Herzen
teilen und sehnsüchtig erfüllt sehen möchten, nach Kräften dazu beitragen, daß
diese Wünsche verwirklicht werden. Dann würde auch uns Lehrern, die wir in
diesem Jahre allerorten mit Reden und Vorträgen, Broschüren und Büchern
den großen Idealisten gefeiert haben, das Herz so warm werden wie ihm, da
er den Hymnus an die Freude dichtete; dann würde Ruhe und Frieden in die
Schule kommen und mehr Freude.
OH^MS^H^
^as Opiumraucher wird mit dem Tode bestraft, das Opinmessen
hingegen ist erlaubt. Viele Leute machen von dieser Erlaubnis
Gebrauch, und der Emir zieht aus dem Opiumhandel einen großen
Nutzen, denn er ist „Staatsmonopol." In Kabul wird täglich
für zwei- bis dreitausend Rupien Opium verbraucht. Opium¬
raucher werden in zisternenartigen Schächten gefangen gehalten und erhalten
täglich Brot und Wasser, doch bleiben diese Unglücklichen nicht lange am
Leben. Einer dieser Sträflinge soll die Gefangenschaft sieben Jahre ertragen
haben. Der Emir ließ sich den Mann nach diesem Zeitraum vorführen und
staunte ihn wegen seiner Zähigkeit an. Er begnadigte ihn auch, doch starb der
Unselige bald hernach. Mehrere Jahre vor meinem Aufenthalt in Kabul wurden
sieben Raubmörder in einen der zisternenähnlichen Schächte geworfen, doch er¬
hielten sie weder Speise noch Wasser. Als nach Ablauf eines Monats Nach¬
schau gehalten wurde, fehlte schon einer. Die andern hatten ihn aufgegessen.
Nach einem Jahre war nur noch ein einziger am Leben. Dieser erzwungne
Kannibalismus, geeignet, Schauder zu erregen, dürfte dem Emir vielen Spaß
gemacht haben. Zu Beginn des Mais 1900 wurde in einem mir gut bekannten
Vororte Kabuls ein Soldat von Kameraden ermordet und seines Monatssoldes
im Betrage von acht Rupien beraubt. Der Leichnam wurde von den Mördern
verscharrt. Der Mord wurde sehr bald ruchbar, die Leiche gefunden, und die
Mörder wurden verhaftet. Am 7. Mai wurden diese unter den Galgen auf dem
Übungsplatze der Truppen zerschnitten. Diese Art der Hinrichtung, die ich ans
eigner Anschauung kenne, ist grauenhaft Dem Verurteilten wird zuerst ein
Schnitt am Halse beigebracht, worauf ihm die Arme und dann die Beine an
den Gelenken vom Leibe getrennt werden. Die abgeschnittnen Gliedmaßen werden
beiseite geworfen. Früher konnte jeder Schlächtermeister in Kabul den Befehl
erhalten, eine solche Hinrichtung zu vollziehn. Um sich vor solchen Aufträgen
zu schützen, bestellten die Schlächter einen von ihnen bezahlten Menschen, der
die geschilderten Hinrichtungen vollzieht. Die Ermordung des Soldaten war
aber durch die Schlachtung der Mörder nicht gesühnt. Zwei Bürger, die im
Verdachte standen, von dem Verbrechen genaue Kenntnis gehabt zu haben, wurden
ebenfalls furchtbar bestraft: einer wurde ertränkt, dem andern wurden die Augen
ausgestochen. Zehn andre Männer, die von dem Morde wissen konnten, aber
nicht sogleich eine Anzeige erstattet hatten, wurden auch zum Tode verurteilt,
aber zum Schleppen von Bausteinen „begnadigt." Sie mußten insgesamt fünf¬
hundert Kubikgaß Bausteine (ein Gaß ist etwas größer als ein Meter) aus den
Steinbrüchen auf bestimmte Bauplätze tragen — auch eine harte Strafe in An¬
betracht des Vergehns.
Im höchsten Grade unmenschlich muß die Bestrafung eines Arbeiters, der
in dem allgemeinen Arbeitshause Seife gestohlen hatte, und seines völlig schuld¬
losen Bruders genannt werden. Der Dieb wurde nämlich bei lebendigem Leibe
in einen mit Siedender Lauge gefüllten Kessel geworfen, worauf der Bruder des
Unglücklichen herbeigeholt und aufgefordert wurde, von dem entstellten Leichnam
etwas zu genießen. Ohne sich lange zu besinnen, erwiderte der in so empörender
Weise Gequälte, er werde diesem Befehle nimmermehr gehorsamen, man möge
ihn nur aufknüpfen. Dies geschah denn auch sofort. Diese Greuel kennzeichnen
die Strafrechtspflege in Afghanistan und rechtfertigen meine Behauptung, daß
sie barbarisch sei, in jeder Hinsicht. Im Ausdenken besonders grausamer Strafen
entwickelten der vorige Emir und seine Ratgeber in diesen Dingen eine unge¬
wöhnliche Erfindungsgabe, was auch aus folgenden Geschehnissen hervorgeht:
Zwei Brüder, die sich auf den Straßenrand verlegt hatten, machten, jeder mit
einigen Genossen, die Straßen zwischen Dschelalabad und Kabul und zwischen
Kandahar, Ghasna und Kabul unsicher, indem sie die durchziehenden Karawanen
überfielen und beraubten. Als diese Überfälle sich mehrten, wurden durch Späher
die Schlupfwinkel der beiden Räuber ausgekundschaftet, worauf zwei Kompagnien
Soldaten ausgesandt wurden, die die Übeltäter einfangen sollten. Dies glückte
auch. Die Genossen der Räuber entkamen. Die Gefangnen wurden selbstver¬
ständlich zum Tode verurteilt, und diese Urteile wurden folgendermaßen vollstreckt:
der Wegelagerer, der zwischen Dschelalabad und Kabul geraubt hatte, wurde
gefesselt an der Straße bewacht und erlag am einundzwanzigsten Tage dem
Hunger und dem Durste, da er weder Speise noch Trank erhielt. Der andre
wurde nach Kabul gebracht und mit zusammengeschnürten Gliedmaßen über einen
sehr steilen Felsberg hinabgerollt, sodaß er sich zu Tode fiel. Ein andrer Wege¬
lagerer erschlug nahe bei Kabul einen Mann, bei dem er Geld vermutete, da
der Überfallne einen dicken Leibgurt trug. In diesem stak allerdings nur eine
große Zwiebel. Der Mörder wurde bald dingfest gemacht und auf folgende Weise
getötet: sein vollständig entblößter Oberkörper wurde fortwährend mit Wasser
begossen, das bei der strengen Winterkülte sehr rasch gefror und den Leib des
Delinquenten mit einer Eiskruste bedeckte. Nach zwölf Stunden war der Mann
tot. Als ein lebendiges Wunder wurde mir ein Mann gezeigt, der schon dreimal,
sozusagen versuchsweise, gehenkt worden war. Der arme Teufel war jedesmal im
letzten Augenblick gerettet worden. Es ist sehr leicht möglich, daß dieser Galgen-
kandidat noch ein viertesmal aufgeknüpft wird. Ob er dabei wieder so glimpflich
wegkommen wird, ist freilich eine andre Frage.
Die Folter wird in Afghanistan auch noch angewandt. Gewöhnlich wird
dabei so verfahren: Die Füße des verstockten Sünders, der hierbei auf der Erde
sitzt, werden mit einem Strick an einen starken viereckigen Pflock festgebunden,
der unbeweglich in der Erde steckt. Die Fußsohlen des Delinquenten sind an
den Pflock gepreßt. Durch Holzkeile, die zwischen Fußsohle und Pflock einge¬
trieben werden, erzeugen die Folterknechte eine unerträgliche Spannung der die
Füße umschließenden Stricke. Sehr häufig spritzt Blut unter den Zehennägeln
der Gefolterten hervor, und die Nägel fallen später ab. Wird ein Geständnis
durch diese Marter nicht erzwungen, so tritt eine Verschärfung ein. In einem
Kessel wird Pechöl zum Sieden gebracht und dann mit einer Art Pinsel auf
den entblößten Oberkörper des Delinquenten gespritzt. Führt auch diese Tortur
nicht zu dem gewünschten Ziele, so rasiert man dem armen Teufel das Haar
vom Kopfe und belegt diesen mit einem Kranze von Mehl oder Teig, worauf
siedendes Pechöl auf den Schädel gegossen wird. Dieses kann wegen jenes
Kranzes nicht abfließen.
Ich wollte den Erzählungen von diesen Martern anfänglich keinen Glauben
beimessen, überzeugte mich aber mit meinen eignen Augen von ihrer Wahrheit,
da ich die schrecklichen Spuren sah, die solche Foltern auf den Leibern der Mi߬
handelten zurücklassen. Folgenden Vorfall kann ich auch als verbürgt berichten:
Ein Mann war mit zehn Gefährten längere Zeit in einem Lagerräume der
Waffenfabrik beschäftigt, wo Kupferblech aufbewahrt wurde. Bei einer Nachschau
wurde entdeckt, daß für tausend Rupien Kupferblech fehlte, das wahrscheinlich
von Beamten verkauft worden war. Da diese die Schuld den Arbeitern auf¬
bürdeten, wurden die Ärmsten auf die beschriebne Weise gefoltert. Als einer
von ihnen, der schon zum zweitenmal die qualvolle Marter erduldete, von einem
höhern Beamten des Emirs gefragt wurde, ob er sich schuldig bekenne, ant¬
wortete der vor unerträglichen Schmerzen fast wahnsinnig gewordne Mensch:
„Ja, ich habe es (das Kupferblech) genommen, die eine Hälfte habe ich, die
andre Hälfte hast du gefressen. Geh und sage dies dem Emir!" Selbstverständlich
wurde dieses erzwungne Geständnis eines Unschuldigen dem Emir nicht mit dem
Beisatze berichtet. Der Arbeiter wurde gefangen gesetzt und trug fünfundein-
halbes Jahr die beschrieben Fesseln. Er wurde nach diesem Zeitraum begnadigt,
weil es ihm glückte, einen andern Häftling bei einem Diebstahle zu ertappen
und anzugeben. Er war ein sehr geschickter Arbeiter.
Die in Afghanistan gebräuchliche Folter kennt noch einen schärfsten Grad,
den ich aus Schicklichkeitsgründen hiermit nur andeutend erwähne. Anarchisten
in Spanien sollen vor etlichen Jahren auf solche bestialische Weise gepeinigt
worden sein.
Die Verwaltung des Reichs ist Statthaltern oder Gouverneuren anvertraut,
die in allen Städten bestellt sind und umfassende Vollmacht haben. Sie stehn
unter einer wachsamen, geheimen Aufsicht und werden nicht selten nach Kabul
berufen, damit sie dem Emir über ihre Verwaltung und die Einnahmen Bericht
erstatten und Rechnung legen. Ohne besondern Anlaß erfolgen übrigens diese
Berufungen nicht: meist mögen die Berichte der bezahlten und der unbezahlten
Angeber sie verursachen, sei es nun, daß einer der Beamten nicht genug Gelder
einzutreiben versteht, sei es, daß der Verdacht rege wird, er habe nicht alle
Einnahmen an den Emir abgeführt. Hat sich einer der Beamten, die bedeutende
Einnahmen zu machen wissen, einer solchen Unterschlagung schuldig gemacht, so
wird er auf eine nicht gerade zarte Weise zur Herausgabe seines ganzen Ver¬
mögens gezwungen, dann aber auf seinen Posten zurückgeschickt. Selbstverständlich
sind die Statthalter in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade heilet, wenn es hohe
Einnahmen hereinzubringen gilt. In dieser Richtung wird ihnen auch freie
Hand gelassen. Die Verwaltung stellt sich demnach auch als überaus willkürlich
dar, was ja nicht wunderlich ist, da sie sich nach dem Willen des Emirs ge¬
staltet. Wie der Herr, so die Knechte.
Die Steuern werden in Afghanistan teils in barem Gelde, teils in Natu¬
ralien geleistet. Grundbesitzer müssen von jeder Frucht ein Drittel, Pächter von
Grundstücken, deren es sehr viele gibt, zwei Drittel als Steuer entrichten. Die
als Steuerleistung abzuliefernden Erträgnisse der Obst- und der Landwirtschaft
werden gewöhnlich geschätzt, und die Steuer muß nach diesen Schätzungen in
barem Gelde bezahlt werden.
Da der Staat aber auch Getreide, namentlich Weizen, Gerste und Mais,
braucht, so müssen die Grundbesitzer und die Pächter von den ihnen nach Abzug
der Steuer verbleibenden Ertrügnissen fast alles zu niedrigen Preisen dem Fiskus
überlassen. Sie sind dann häufig gezwungen, von diesem wieder zurückzukaufen,
selbstverständlich zu doppelt hohen Preisen, wenn sie ihren eignen Bedarf decken
wollen. Auf diese Weise werden Grundbesitzer und Grundpächter geradezu aus¬
gebeutet, und es ist nur zu erklärlich, daß der sehr fruchtbare Boden nicht besser
und fleißiger bearbeitet wird, als es geschieht. Es könnte leicht das dreifache
Erträgnis des gegenwärtigen aus der Landwirtschaft gewonnen werden. Von
Rosinen, Kischmisch genannt, wird der fünfte Teil in ng.to.rg, als Steuer ge¬
nommen. Diese Rosinen werden zur Erzeugung von Branntwein und Spiritus
für Rechnung des Fiskus verwandt. Vieh ist verschieden besteuert. Für ein
Rind ist eine Rupie, für ein Schaf oder eine Ziege ein Abasi zu bezahlen.
Diese Besteuerung könnte gerecht genannt werden, wenn nicht eine seltsame Ge¬
pflogenheit eine ungerechte Härte erzeugte. Ein Viehbesitzer, der beispielsweise
hundert Schafe sein eigen nennt, zahlt so lange für diese hundert Stück die ent¬
sprechende Steuer, als er noch überhaupt Schafe besitzt, mögen es auch nur
noch fünfzig oder dreißig sein. Vermehrt sich dagegen sein Viehbesitz, so muß
er die entfallende höhere Steuer entrichten.
Die Ursachen dieser Steuerbemessung sind vor allem Sucht und Eifer der
Beamten, hohe Einnahmen zu machen, und vielleicht der Wille, die Viehbesitzer
zu veranlassen, ihren Besitz wenigstens auf derselben Höhe zu erhalten. Dieser
Wille wirkt jedoch, wenn er schon vorhanden ist, keine Wunder, zumal da das
Volk unter der Ausbeutung durch den Steuerfiskus bitter leidet und mehr und
mehr verarmt. Die Steuern werden durch das Militär eingetrieben, wie das
beispielsweise bis zum Jahre 1848 auch in Österreich üblich war. Ein Be-
ander kommt mit vier bis fünf Soldaten in das Haus des Steuerträgers und
quartiert sich dort ein. Die von dem Beamten eingeforderte Steuer ist ge¬
wöhnlich um vieles höher, als vorgeschrieben ist. Die Steuereintreiber bleiben
so lange in dem Hause des Steuerpflichtigen, bis die Steuer bezahlt ist, und
müssen selbstverständlich gut verpflegt werden. Sie lassen sich sogleich ein Schaf
schlachten, und wenn ein solches nicht vorhanden ist, so wird unter dem Hühner¬
volke ordentlich aufgeräumt. Die Mehrzahl der Steuerträger vermag den ver¬
langten Betrag nicht sogleich aufzubringen, und so lassen die Steuereintreiber
es sich gut sein. Eine sehr hohe Steuer trifft die Schafherdenbesitzer im Herbst,
wenn die Schafe von den Gebirgen Heiingetrieben werden, wo sie den Sommer
über auf der Weide waren. Für jedes Schaf, alt oder jung, müssen vier Abasi
(1 Mark 20 Pfennige) als Steuer bezahlt werden. Um dieser Steuer wenigstens
teilweise zu entgehn, lassen die Herdenbesitzer die Zuchtschafe und Ziegen den
Winter über auch auf dem Gebirge, wo die Hirten für die Tiere und deren
Sicherheit Sorge tragen müssen.
Auch eine Handelssteuer wird in Afghanistan erhoben. Die kleinen Kauf¬
leute und die Händler, deren es in Kabul gewiß mehr als tausend gibt, müssen
ihre Waren aus den großen Warenlagern beziehn, die samt und sonders dem
Emir gehören, der das Betriebskapital zur Verfügung stellt. Die Waren werden
stückweise, je nach dem Werte, mit Steuerstempeln versehen, den Zwischen¬
händlern verkauft, die danach Ware und Steuer zu bezahlen haben. Händler
mit Früchten und andre Kleinhändler müssen eine dem Wert ihrer Waren ent¬
sprechende Steuer entrichten. Die Händler mit Früchten werden übrigens zu¬
weilen furchtbar gebrandschatzt, wovon ich mich selbst überzeugen konnte. Im
Sommer 1899 machte ich den Vorschlag, aus den billigen und vortrefflichen
Aprikosen und Pfirsichen Branntwein zu Handelszwecken zu erzeugen. Die
mohammedanische Bevölkerung des Landes verabscheut ja den Genuß alkoho¬
lischer Getränke, aber nach Britisch-Indien könnte Wein und Branntwein mit
großem Vorteile verkauft werden. Mein Vorschlag wurde gutgeheißen, und den
Aprikosenhändlern in Kabul wurde der Auftrag erteilt, mir große Mengen dieser
Frucht zu liefern. Binnen sechs Tagen erhielt ich denn auch 1700 Ser (1 Ser
— 6,128 Kilogramm) zum Preise von einer Rupie (80 Pfennige) für zwei Ser.
Die Bauern hätten gern vier Ser für denselben Preis geliefert. Ich fragte den
nur zugeteilten Beamten, der den Einkauf besorgte, warum das Anerbieten der
Landwirte abgelehnt worden sei. Der Mann lächelte und meinte, der höhere
Preis sei doch bedeutend niedriger, da die Händler für die gelieferten Früchte
keinen Senar bekommen würden. Den Bauern hätten die Früchte aber bezahlt
werden müssen. Die Händler hatten in der Tat das Nachsehen, sie mußten sich
mit Gutscheinen (Anweisungen) zufrieden geben, für die sie niemals Geld erhielten.
Nach mehr als Jahresfrist kamen mehrere dieser Händler zu mir, um sich wegen
dieser Übervorteilung zu beklagen und mich zu bitten, ich möchte ihnen behilflich
sein, ihre Forderungen vom Fiskus hereinzubringen. Ich konnte den Geprellten
nur erklären, daß ich mit dieser Angelegenheit gar nichts zu tun Hütte, und daß
der Branntwein nicht für mich, sondern auf Rechnung des Emirs erzeugt würde.
Als dieselben Händler Weintrauben zur Erzeugung von Wein liefern sollten,
Weigerten sie sich entschieden, wurden aber durch Soldaten gezwungen, dem Auf¬
trage zu entsprechen.
Ich habe diese Episode hier erzählt, um die willkürliche Ausbeutung der
kleinen Steuerträger an einen: sprechenden Beispiele darzutun.
Mit dem 1. März 1900 wurde in Afghanistan eine Personaleinkommen¬
steuer eingeführt, die nicht nur die Beamten, sondern auch alle Arbeiter bezahlen
müssen, die Monatslöhne beziehn. Auch wir Europäer mußten diese Steuer
tragen. Eine Art Kopf- und Schutzsteuer ist den seit längerer Zeit im Lande
lebenden Hindu auferlegt, deren acht- bis zehntausend in Kabul ihren ständigen
Wohnsitz haben. Sie müssen eine Kopfsteuer von zehn Rupien im Jahre ent¬
richten und genießen dann dieselben Rechte wie die Eingebornen. Die Frauen
der Hindu sind von dieser Steuer befreit. Wird ein Hindu, der die Kopfsteuer
nicht entrichtete, von einem Afghanen mißhandelt, verwundet oder gar getötet,
so geht der Frevler straflos aus; ist hingegen die Steuer bezahlt worden, so
wird der Afghane ebenso bestraft, als wenn der Hindu ein Eingeborner wäre.
Die in Afghanistan lebenden Hindu müssen an ihrer Kopfbedeckung kenntlich sein
und tragen deshalb rote oder gelbe Turbane, da die Afghanen solche in weißer
Farbe, weiß und blau gestreifte oder schwarze Turbane benützen.
In Kabul hat der Emir eine Münzprägestätte, in der Tag für Tag ge¬
arbeitet wird. Folgende Münzen werden dort geprägt: 5 Rupien aus Silber
gleich 4 Mark 50 Pfennigen, 1 Rupie aus Silber gleich 90 Pfennigen, ^ Rupie
aus Silber gleich 45 Pfennigen, 1 Abasi aus Silber gleich 30 Pfennigen, 1 Senar
aus Silber gleich 15 Pfennigen.
Scheidemünzen (Pies, sprich Pels) werden gewöhnlich aus Kupfer, in dessen
Ermanglung aber auch aus Messing geprägt, und zwar Stücke zu 5 Pies und
1 Pies gleich 1^ Pfennig, da 1 Rupie gleich 60 Pies ist.
Afghanistan hat keine einheitliche Geldwährung, da die Provinzen Turkestan
und Kandahar früher eigne Münzprägestätten hatten und jetzt uoch ihre Münzen
im Verkehre benutzen. 1 Rupie von Kandahar ist beispielsweise gleich 65 Pfennigen.
In Herat gilt dieselbe Währung wie in Kabul, und persische Münzen sind mit
demselben Werte in großer Menge in Afghanistan in Umlauf. Die persischen
Münzen gelangen auf dem Handelswege von Persien nach Afghanistan. Auch
im asiatischen Rußland werden afghanische Waren mit persischem Gelde bezahlt,
da die Afghanen russisches Geld nicht annehmen. Es wird jetzt von Kabul aus
der Versuch gemacht, in Afghanistan Einheit der Währung herzustellen, die Ver¬
wirklichung dieser Absicht wird jedoch lange Zeit beanspruchen, weil die alten
Münzen nicht eingezogen, sondern im Verkehr gelassen werden. Es dürften eben
von den neuen Münzen nicht genügende Mengen vorhanden sein. Im Handels¬
verkehr mit Indien kommen indische Münzen in Verwendung, womit der Emir
in seinem Lande den Kurswert bestimmt. Er erhält ja indisches Silbergeld und
setzt es in Kabul in Umlauf. Die in Kabul lebenden Europäer und einige
indische Werkmeister in der Waffenfabrik erhielten und erhalten ihre Gehalte
und Löhne noch immer in indischem Silbergelde. Wir konnten den schwankenden
Kurs der Kabulrupie genau beobachten, da wir für unsre Einkäufe in Kabul
afghanisches Silbergeld benötigten. Nach diesen Beobachtungen schwankte der
Wert einer Rupie zwischen 54 Pfennigen und 1,10 Mark, obwohl ihr Wert
90 Pfennige betragen sollte. Der Emir erläßt jedesmal, wenn er eine be¬
deutende Anzahl indischer Rupien zu hohem Preise hat umwechseln lassen, eine
Kundmachung, wonach der Wert einer indischen Rupie mit 4 Abasi festgesetzt
wird. Nach Ablauf von zwei bis drei Monaten stehn die indischen Rupien
wieder hoch im Preise, und wir Europäer ließen es uns angelegen sein, in solchen
Zeitpunkten unsern Bedarf an Kabuler Rupien zu decken. In der Prägestütte
zu Kabul sind an die dreißig Menschen, darunter mehrere Knaben von zwölf
bis fünfzehn Jahren, beschäftigt. Diese Knaben haben die Pflicht, die neuge-
prägten Rupien Stück für Stück zu wiegen und die mindergewichtigen dadurch
zu vollwichtigen zu machen, daß sie die Münzen durchkochen und in die Öff¬
nungen nieder schlagen. Das in der Prägestätte verwandte Personal wird
häufig gewechselt, da trotz aller Aufsicht und grausamen Strenge viel gestohlen
wird. Die Beamten werden samt den Arbeitern eingekerkert, wenn ein Personal¬
wechsel stattfindet, aber die Diebstähle nehmen trotzdem kein Ende. Jeder Be¬
amte und jeder Arbeiter, der in der Prägestätte beschäftigt war, ist auch in Haft
gewesen.
Im Frühjahr 1899 wurden einmal Nachts fünftausend Rupien aus der
Prügestätte gestohlen, obwohl das Geld in starken, mit Eisen beschlagnen Kisten
aufbewahrt wird, und Militär die abgesperrten Räume bewacht. Damals wurden
mehrere Arbeiter und die Beamten, denen die Verwahrung des Geldes obliegt,
verhaftet und gefoltert, aber sogar die „peinliche Frage" hatte kein Ergebnis.
Die Beamten und die Arbeiter blieben selbstverständlich im Gefängnisse. Wir
Europäer mutmaßten, daß der Diebstahl von der Militärwache verübt worden
sei, doch fühlten wir uns nicht veranlaßt, dem Emir unsre Vermutung mit¬
zuteilen.
ur Beurteilung des Verhaltens und der Taktik der sozialdemo¬
kratischen Reichstagsfraktion sind die 34 Fälle, in denen sie
mit Nein votiere hat, viel lehrreicher als die 44, in denen
sie Ja gesagt hat. Von den 47 nicht feststellbaren Abstimmungen
dürfte die große Mehrzahl den ersten zuzuzählen sein. Be¬
dauerlich bleibt in mannigfacher Hinsicht, daß unsre parlamentarischen Ein¬
richtungen keine Handhabe bieten, die Stellung der Parteien bei den einzelnen
Abstimmungen amtlich zu verzeichnen. Das Land erhält dadurch ein völlig
unrichtiges Bild von den Leistungen seiner Volksvertretung. Daß der größere
Teil unsrer Reichsgesetze, weil nur durch dürftige Minoritäten zustande ge¬
kommen, verfassungsrechtlich ungiltig ist, ist in den Grenzboten schon wieder¬
holt ausgesprochen worden. Würde der Bundesrat einfach allen nicht nach
Maßgabe des Artikels 28 der Reichsverfassung zustande gekommnen Gesetzen
die Zustimmung versagen — und der Bundesrat hätte es ja in der Hand, das
festzustellen —, so wäre damit ein sichreres Korrektiv gegenüber der perma¬
nenten Beschlußunfähigkcit gewonnen, als es alle Diäten und sonstigen Pillen
des parlamentarischen Doktor Eisenbart zu bieten vermögen. Die Nation würde
sich einen Reichstag, der nichts zustande bringt, schwerlich sehr lange gefallen
lassen. Unser heutiger Parlamentarismus krankt vor allem an dem Mangel der
Kontrolle durch die Wähler. Sie kommen in der Verfassung nicht zu ihrem
Rechte. Sie können einen Abgeordneten ernennen, können in der Wahl und
in der Stichwahl stimmen, aber es fehlt ihnen jede gesetzliche Kontrolle über die
Ausübung des Maubads. Für diesen Zweck genügte es, an den Schluß jedes amt¬
lichen Sitzungsberichts die Präsenzliste zu stellen. Das würde sofort einen wesent¬
lich andern Reichstag geben. Vor jeder andern Verfassungsänderung möchten
wir diese Einrichtung vorschlagen, sie wäre bei weitem die erfolgreichste.
Also nun die 34 Nein! Das erste Nein fiel in der Sitzung vom
12. Mai 1871, zu der Zeit, wo der Pariser Kommuneaufstand Herrn Bebel
den Kamm mächtig geschwellt hatte. Dieses erste „Nein" der deutschen Sozial¬
demokratie gegenüber einer wirtschaftlichen Vorlage ist historisch und inhaltlich
interessant. Es galt der am 7. Juni 1871 Gesetz gewordnen Vorlage über
die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betrieb von Eisenbahnen,
Bergwerken usw. herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen. Für dieses
Gesetz, das seitdem Tausenden eine Quelle des Segens, der Bewahrung vor
Elend und Not geworden ist, war die Sozialdemokratie nicht zu haben. Warum
nicht? Herr Bebel sah wohl ein, daß das Gesetz zur Beseitigung mancher
berechtigten Unzufriedenheit führen müsse. Da aber die Sozialdemokratie
nur von der Unzufriedenheit lebt, besonders von der berechtigten, so wollte
er ihr begreiflicherweise nicht so wertvolle Nährwurzeln abschneiden helfen. Er
sprach sich am 8. Mai dahin aus (stenographischer Bericht S. 577—581), daß
das Gesetz ihm nicht genug biete. Er wünschte, „daß man sich nicht allein
daraus eingelassen hätte, die Haftpflicht der Unternehmer auszusprechen, sondern
dieses Gesetz auf einen weitern Umfang auszudehnen und es zugleich zu einem,
ich möchte sagen Arbeiterschutzgesetz umzugestalten." Zudem verspricht sich der
Redner insofern von dem Gesetze nichts, als jedenfalls ein unparteiisches Ge¬
richtsverfahren infolgedessen doch nicht zustande komme. (!) Wiederum eine
der vielen Bebelschen Voraussichten, die später durch das Gegenteil widerlegt
worden sind.
Die beiden nächsten Nein betreffen das Gesetz vom 7. April 1876 über
die eingeschriebnen Hilfskasfen und vom 8. April 1876 betreffend die Ab¬
änderung des Titels VIII der Gewerbeordnung (Hilfskassen). Bebel verlangte,
daß der Staat das Recht des Arbeiters anerkenne, seine Kassen nach dem
Prinzip der unbeschränkten Selbstverwaltung zu verwalten, das sei in dem
Gesetzentwurf nicht geschehen. namentliche Abstimmung hat über beide Vor-
lagen nicht stattgefunden, doch ist aus der Rede Bebels auf die Stellung der
Partei zu schließen. Dieselbe Folgerung muß auf das Gesetz vom 17. Juli 1878
angewandt werden, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, das die
gewerblichen Arbeiter, die Sonntags- und die Kinderarbeit zum Gegenstande
hat. Der Abgeordnete Most gab zu, es sei nicht zu leugnen, daß die Vor¬
lage „einige geringfügige Verbesserungen" enthalte, doch sprach er sich nach der
Annahme des Paragraphen 124 gegen das Gesetz aus, weil dann kein Arbeit¬
geber mehr einen Arbeiter annehmen werde, der ihm nicht systematisch nach¬
weise, daß er nicht einen Kontraktbruch begangen habe. (!) Bei dem Gesetz
vom 15. Juli 1880 betreffend die Abänderung des Paragraphen 32 der
Gewerbeordnung: „Schauspielunternehmungen bedürfen der Erlaubnis" usw.,
stimmte der einzige anwesende Sozialdemokrat (Auer) gegen die Vorlage, die
andern sozialdemokratischen Abgeordneten fehlten sämtlich ohne Entschuldigung.
Es folgt das Gesetz vom 15. Juni 1883 betreffend die Krankenversicherung
der Arbeiter. Die sozialdemokratische Partei hatte damals dreizehn Abgeordnete.
Die in der Sitzung vom 31. Mai 1883 anwesenden neun Mitglieder: Blos,
Dietz, Frohne, Geifer, Grillenberger, Hasenclever, Kayser (Freiberg), Liebknecht
und Rittinghausen stimmten sämtlich gegen die Vorlage. Krank war der Ab¬
geordnete Kranker, entschuldigt der Abgeordnete von Vollmar, ohne Ent¬
schuldigung fehlte der Abgeordnete Stolle (Zwickau), Bebel war damals nicht
Mitglied des Hauses; die von den Abgeordneten Grillenberger und Rittinghausen
zur Vorlage gehaltnen Reden beweisen jedoch die Absicht der Sozialdemokraten,
das Gesetz einstimmig abzulehnen. In namentlicher Abstimmung abgelehnt
wurde ferner am 2. Juni 1883 die allerdings einschränkende Vorlage be¬
treffend Abänderung der Gewerbeordnung (Gewerbeschein, Arbeitsbuch usw.).
Der Abgeordnete Kayser erklärte am 8. Mai, die Sozialdemokraten wollten
nicht dazu beitragen, die Polizei zu stärken, indem sie ihr den kleinen Mann
preisgaben. Das nächste (achte) Nein wurde gegen die Vorlage betreffend
Abänderung des Gesetzes über die eingeschriebnen Hilfskassen (Gesetz vom
1. Juni 1884) in der Sitzung vom 28. April 1884 ausgesprochen. Ab¬
geordneter Grillenberger erklärte ausdrücklich, seine Partei werde gegen das
Gesetz stimmen, weil die Absicht der Negierung dahin gehe, die Entwicklung
der Hilfskassen soviel wie möglich zu beschränken. Das neunte Nein fiel
gegen das Unfallversicherungsgesetz vom 27. Juni 1884. Eine namentliche
Gesamtabstimmung hat nicht stattgefunden, aber der Abgeordnete Blos erklärte
bei der dritten Beratung der Vorlage am genannten Tage: „Wir werden
gegen die Vorlage stimmen, weil wir in dieser Vorlage einen bureaukratisch
organisierten Apparat erblicken müssen, der weit weniger als eine hilfsbereite,
Handhabe denn als eine Belästigung empfunden werden wird." (!) Außerdem
seien die Karenzzeit und die zu geringe Entschädigung zwei Gründe, weshalb die
sozialdemokratische Partei das Gesetz ablehne. Mit dieser außerordentlich faden¬
scheinigen Motivierung lehnte also die Partei ebenso wie im Jahre zuvor das
Krankenversicherungsgesetz nun auch das Unfallversicherungsgesetz ab. In nament¬
licher Abstimmung abgelehnt wurde (zehntens) das Gesetz vom 8. Dezember 1884,
das die Gewerbeordnung abändernd bestimmt: „Arbeiter, die nicht Innungs-
Mitglieder sind, dürfen Lehrlinge nicht mehr annehmen." Bebel erklärte, daß
er sich auch von dieser Maßregel zur Hebung des Handwerks nichts verspreche
und deshalb dagegen stimme. Abgekehrt wurde (elftens) die Unfall- und
Krankenversicherung der in land' und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten
Personen (Gesetz vom 5. Mai 1886). Der Abgeordnete Blos erklärte am
9. April, daß die Sozialdemokraten gegen den Gesetzentwurf stimmen würden,
die Regierungsvorlage sei für die Partei diskutabel gewesen, aber nachdem
die Kommission die Vorlage wie geschehen zugerichtet habe, würden sie dagegen
sein. Diese Erklärung entspricht freilich nicht der Wahrheit, da der Abgeordnete
Frohne schon während der ersten Lesung am 3. Februar 1886 ausgesprochen
hatte, „daß die sozialdemokratische Partei die Vorlage aus den verschiedensten
Gründen nicht acceptieren könne, namentlich deshalb nicht, weil vom Kranken¬
versicherungszwang Abstand genommen worden sei." Wiederum ein Beweis,
daß sich die Sozialdemokratie gegen alle Vorlagen ablehnend verhält, die dazu
bestimmt sind, durch Verbesserung der Lage der notleidenden Arbeiter auf eine
Verminderung der Unzufriedenheit hinzuwirken. 12. Das Gefetz vom 6. Juli 1887
über das Innungswesen (Abänderung der Gewerbeordnung) wurde in nament¬
licher Abstimmung ohne jede Motivierung durch die Partei abgelehnt, kein
Sozialdemokrat hatte das Wort ergriffen. Ebenso 13. am 24. Mai 1889 das
Gesetz vom 22. Juni 1889 betreffend die Jnvaliditäts- und Altersver¬
sicherung. Auch in diesem Falle ist die Motivierung dieser Abstimmung
außerordentlich dürftig. Der Abgeordnete Singer versuchte sie dadurch zu geben,
daß er erklärte, das Gesetz schaffe keine wirkliche soziale Reform, weil es nicht
genug biete, die Rentensätze seien durchaus mangelhaft und ungenügend. Im
Parteitagsbericht von 1890 (S. 86) heißt es ferner: „Wir haben gegen das
Alters- und Jnvaliditütsgesetz gestimmt, weil es uns zu wenig für die Arbeiter
geboten hat. Das Bettelgeld, welches in Form einer Rente den durch
Alter und Invalidität erwerbsunfähig gewordnen Arbeitern gegeben wird,
meinten wir, Hütte Deutschland sich schämen sollen, der Arbeiterklasse anzubieten."
Das „Bettelgeld" beläuft sich im Etat von 1905 schon auf 50 Millionen
Mark, die wenn es nach den Sozialdemokraten ginge, heute den alten und
invaliden Arbeitern fehlen würden! Am 1. Januar d. I. waren es 871600
Invaliden- und Altersrenten. Aber die Sozialdemokraten konnten sich die
Ablehnung und deren großsprecherische Motivierung ruhig leisten, denn sie
wußten, daß die andern Parteien das Gesetz annehmen würden. Eigentlich
sollte jede Rentenquittung den Ausdruck tragen: „Von der Sozialdemokratie
versagt!" Als Nummer 14 wurde das Gesetz betreffend die Gewerbegerichte
abgelehnt, dessen Inhalt sich die Sozialdemokraten dann bekanntlich so zunutze
gemacht haben, daß sie weitaus in den meisten Gewerbegerichten dominieren.
(Gesetz vom 29. Juli 1890.) Der Abgeordnete Auer knüpfte in der Sitzung
vom 28. Juni 1890 die Zustimmung der Partei an drei Bedingungen, deren
Ablehnung er im voraus sicher war: 1. Herabsetzung der Altersgrenze für das
aktive und passive Wahlrecht, 2. Verleihung des aktiven Wahlrechts an die
Frauen, 3. Ausscheidung der Bestimmungen über die Jnnungsschiedsgerichte
aus dem Entwurf. Die drei Bedingungen wurden abgelehnt. Eine ramene-
liebe Abstimmung hat nicht stattgefunden, aber der Parteitagsbericht von 1890
sagt Seite 87: „Wir haben das Gesetz abgelehnt, weil die Teilnahme an den
Wahlen an eine viel zu hohe Altersgrenze gebunden war, weil den Arbeiterinnen
das Stimmrecht nicht gewährt ist, usw." Von dem Genossen Werner wurde
deshalb der Partei Inkonsequenz vorgeworfen. Am 8. Mai 1891 wurde als
Nummer 15 das Arbeiterschutzgesetz abgelehnt. (Gesetz vom 1. Juni 1891
betreffend Abänderung der Gewerbeordnung.) Der Abgeordnete Joche be¬
zeichnete in der dritten Beratung am 5. Mai das Gesetz als unannehmbar,
weil die darin enthaltnen Vorteile durch die Nachteile bedeutend überwogen
würden, das Streikrecht sei eingeschränkt, der zehnstündige Maximalarbeitstag
nicht eingeführt usw. Also immer im Widerspruch zu dem alten Grundsatz,
daß das Bessere der Feind des Guten ist. — 16. wurde die Abänderung
des Krankenversicherungsgesetzes (Gesetz vom 10. Mai 1892) abgelehnt. Eine
namentliche Abstimmung hat nicht stattgefunden, aber in einer Rede des Ab¬
geordneten Bruhns vom 14. Mürz sowie im Parteitagsbericht werden als
Gründe der ablehnenden Haltung angegeben, daß die Arbeiter dem Ver¬
sicherungszwange nicht unterstellt seien, und daß Trunkfälligkeit und geschlecht¬
liche Ausschweifungen die Kassen zur Nichtgewährung von Krankengeld be¬
rechtigen sollten. — 17. wurde das Gesetz vom 20. April 1892 betreffend
den Verkehr mit Wein usw. abgelehnt, und zwar in namentlicher Abstimmung.
Der Abgeordnete Dietz motivierte am 23. März dieses Votum dahin, daß kein
Mensch, der Wein genieße, wissen könne, ob er Wein oder Kunstwein trinke,
wenn der Paragraph 3 mit dem Absatz 4 Gesetz werde.
Außerordentlich charakteristisch ist — Nummer 18 — die Motivierung
der Ablehnung des Gesetzes vom 27. Mai 1896 betreffend die Bekämpfung
des unlautern Wettbewerbs. Der Abgeordnete Singer begründete dieses Votum
in der Sitzung vom 9. Mai aus dem Paragraphen 9 des Gesetzes, der Geld-
und Gefängnisstrafen für Angestellte und Arbeiter bei Verrat von Geschäfts¬
geheimnissen vorsieht. Einer Erschwerung des Verrath konnte die Sozial¬
demokratie allerdings nicht zustimmen. Ferner wurden im Jahre 1896 als
Nummern 19 bis 22 noch folgende vier Gesetze abgelehnt: das Börsengesetz
vom 22. Juni 1896 (angeblich wegen des in zweiter Lesung beschlossenen
Verbots des Terminhandels für Getreide und Mühlenfabrikate; Abgeordneter
Singer), ohne namentliche Abstimmung. Sodann das Gesetz vom 6. August 1896,
das Abänderungen der Gewerbeordnung in bezug auf Konzessionsgewerbe und
Hausierhandel enthält. Der Abgeordnete Reißhaus erklärte vor der nament¬
licher Abstimmung, daß es der Partei nicht möglich sei, für den Entwurf zu
stimmen, weil er so viele Einschränkungen der Gewerbe- und Bildungsfreiheit (!)
enthalte. Bei dem Vertrieb svzialdemokratischer Kalender und andrer Er¬
zeugnisse sozialdemokratischer „Bildungsfreiheit" auf dem Lande spielt der
Hausierer freilich eine leider nur zu große Rolle. Sodann wurde das Gesetz
vom 12. August 1896 betreffend die Abänderung des Gesetzes über die
Erwerbs- und Wirtschaftsgenvssenschaften vom 1. Mai 1889 sowie den Ge¬
schäftsbetrieb der Konsumanstalten abgelehnt, weil sich laut Erklärung des
Abgeordneten Wurm das Gesetz als eine Einengung und Einschränkung der
Genossenschaften darstelle. Selbstverständlich war ferner die Ablehnung des
Bürgerlichen Gesetzbuchs (Gesetz vom 18. August 1896), das vom Abge¬
ordneten Stadthagen in der dritten Beratung als Produkt der Klassengesetz¬
gebung bezeichnet wurde, das nur die Interessen der Besitzenden wahre, da¬
gegen kein einheitliches Recht auf dem Gebiete des Arbeitsvertrags schaffe.
Mit dieser geradezu lächerlichen Begründung wurde das Gesetzbuch in nament¬
licher Abstimmung abgelehnt.
Im Jahre 1897 wurden drei Vorlagen (23 bis 25) abgelehnt: ohne
namentliche Abstimmung das Gesetz vom 9. Juni 1897 über das Auswanderungs¬
wesen wegen der angeblich darin enthaltnen Beschränkung des Auswanderungs¬
wesens (Bebel am 6. Mai), in namentlicher Abstimmung das Gesetz vom
15. Juni 1897 betreffend den Verkehr mit Butter, Käse, Schmalz und deren
Ersatzmitteln. Die ebenfalls sehr dürftige Motivierung gab der Abgeordnete
Herbert in der Sitzung vom 8. Mai dahin: „Wenn die Bestimmung über
die getrennten Verkaufsräume nicht eingefügt worden wäre, so würden auch
wir für das vorliegende Gesetz stimmen. Unter diesen Umstünden können wir
aber nicht dafür stimmen, weil nach unsrer Überzeugung eine schwere Schädigung
des Mittelstandes mit der Annahme des Gesetzes verbunden ist." Zu deutsch:
„Weil die Einführung getrennter Verkaufsräume die Umgehung des Gesetzes,
also den Betrug, erschwert." Jedenfalls enthält diese Bestimmung das
Gegenteil einer „Schädigung des Mittelstandes." Ebenfalls in namentlicher
Abstimmung wurde das sogenannte „Handwerkergesetz," Gesetz betreffend die
Abänderung der Gewerbeordnung vom 26. Juli 1897, abgelehnt. Der Ab¬
geordnete Schmidt (Berlin) machte sich die Motivierung der Ablehnung in
der Sitzung vom 19. Mai sehr leicht, indem er erklärte, durch die Vorlage
würden die Handwerker enttäuscht, seine Partei wolle die Handwerker vor Ent¬
täuschungen bewahren und stimme deshalb dagegen. (!) Die Enttäuschung
der Handwerker bei diesem Gesetz besteht nur darin, daß es der Erwartung,
es werde der destruktiven Arbeit der Sozialdemokratie Einhalt tun, zu wenig
entspricht. Aus den Jahren 1898 und 1899 ist als einziges Gesetz (Ur. 26>
das vom 20. Mai 1898 betreffend die Entschädigung der im Wiederaufnahme¬
verfahren freigesprochner Personen zu verzeichnen. Der Abgeordnete Stadt¬
hagen begründete die verneinende Abstimmung, die eine namentliche war, damit,
daß der Gesetzentwurf es mehr oder weniger in die Willkür des Richters
setze, ob er entschädigen wolle oder nicht, und daß er an der Hauptsache, der
Entschädigung der unschuldig Sistierten und der Untersuchungsgefangnen, vor¬
beigehe. Die Vorlage sei deshalb kein Anfang zum Bessern, sondern nur
eine Hinderung des Bessern. Die Motivierung verhüllt sehr ungeschickt, daß
die Sozialdemokratie mit der Entschädigung der Sistierten und der Unter¬
suchungsgefangnen nur die Tätigkeit der Polizei zu erschweren beabsichtigt.
Im Jahre 1900 wurde das Gesetz vom 3. Juni betreffend die Schlacht¬
vieh- und Fleischbeschau sowie die sogenannte Lex Heinze abgelehnt (Ur. 27
und 28), wenn anders man die Lex Heinze zu den eigentlichen Vorlagen
sozialpolitischer oder wirtschaftlicher Natur rechnen will. Vor der namentlicher
Abstimmung über das Fleischbeschaugesetz motivierte der Abgeordnete Baudert.
die ablehnende Haltung der Sozialdemokratie mit den auf Antrag der Kommission
beschlossenen Einfuhrverboten. Die Partei sei geneigt gewesen, aus hygienischen
Gründen für die Regierungsvorlage zu stimmen, „nicht aber für die Kommissions¬
vorschläge, die nur auf eine Verteuerung des Fleisches für die breitesten Volks¬
schichten hinauslaufen." Die Ablehnung der Lex Heinze wurde von Herrn
Singer mit Bedenken gegen den Paragraphen 184 ^ sowie gegen andre Para¬
graphen des Entwurfs motiviert. Abgekehrt wurden ferner im Jahre 1902
die Seemannsordnung (Gesetz vom 2. Juni 1902) und das Süßstoffgesetz.
Die ablehnende Abstimmung über beide Vorlagen war nicht namentlich und
ist bei der Seemannsordnung auch aus den von Parteimitgliedern gehaltnen
Reden nicht zu erkennen, die Tatsache selbst ergibt sich aus dem Partei¬
tagsbericht. Bei der Seemannsordnung begreift es sich, daß die Sozial¬
demokratie jede „Ordnung" ablehnt, die ihr das Agitationsgebiet beschneidet.
Die Nützlichkeit der Vorlage hat die Partei nicht verkannt, sie wußte ja auch,
daß für die Annahme eine ausreichende Majorität vorhanden war, und konnte
sich somit auch diesesmal auf die Rolle des „größern Wohltäters" zurückziehn.
Die Abstimmung gegen das Süßstoffgesetz wurde mit dem Hinweis auf die
darin enthaltne Abfindung motiviert. Entweder sei das Saccharin schädlich,
dann müsse es verboten werden, und eine Entschädigung sei nicht gerechtfertigt;
oder es sei nicht schädlich, dann sei das Verbot ein Gewaltakt. Ein Gesetz
zur Abänderung der Seemannsordnung (Ur. 31) vom 23. März 1903 wurde
abgelehnt, angeblich weil — wie aus dem Parteitagsbericht Seite 107 hervor¬
geht — die Sozialdemokraten dem Leichtmatrosen schon vom zweiten Jahre an
die Heuer des Vollmatrosen geben wollten, während die Vorlage hierfür erst
das dritte Jahr vorsieht. Eine Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes
vom 25. Mai 1903 wurde, wie aus dem Parteitagsbericht hervorgeht, wegen
der angeblich darin enthaltnen Beschränkung der Selbstverwaltung abgelehnt.
Im Jahre 1904 stimmte die sozialdemokratische Fraktion gegen das Gesetz
betreffend die Kaufmannsgerichte und gegen das Gesetz betreffend die Ent¬
schädigung für unschuldig erlittne Untersuchungshaft (Ur. 33 und 34), beide
wurden vom Reichstag ohne namentliche Abstimmung angenommen. Gegen
das Gesetz über die Kaufmannsgerichte stimmten der Erklärung Bebels vom
16. Juni zufolge die Sozialdemokraten, weil die Vorlage „den weiblichen
Angestellten das aktive und das passive Wahlrecht für die Beisitzerposten
vorenthielt," eine Begründung, die nur den Zweck hat, die sozialdemo¬
kratische Propaganda in die Reihen der weiblichen Angestellten zu tragen.
Das Entschädigungsgesetz für unschuldig erlittne Untersuchungshaft wurde als
unzureichend abgelehnt, „es fehlten die, die im Vorverfahren verhaftet worden
seien," wie der Abgeordnete Thiele am 13. Mai zur Motivierung der
Ablehnung erklärte. Gerade nach der Begründung, mit der die Partei im
Jahre 1898 die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochnen
Personen abgelehnt hatte, Hütte sie logischerweise dieses Gesetz annehmen
müssen, weil es die damals vermißte Entschädigung der Untersuchungs¬
gefangnen brachte. Aber es kommt der Sozialdemokratie eben nur auf die
Erschwerung der Handhabung der Polizei an.
Diese 34 ablehnenden Abstimmungen ergeben deutlich, daß die Partei
dabei fast immer nur von parteipolitischer Tendenzen, nicht von sachlichen Er¬
wägungen geleitet wurde, sonst hätte ihr Verhalten gegenüber den weitaus
meisten dieser Vorlagen gerade das entgegengesetzte sein müssen.
er in aller Welt hat nur die blaue Hyazinthe hier vor das Fenster
gestellt? Es ist gar nicht gut für junge Mädchen, so etwas in
ihrem Zimmer zu haben, dann träumen sie des Nachts nur wirres
Zeug.
Habe Vater vorhin die Treppe damit heraufkommen sehen.
So, das hast du gesehen, Ärmchen? Dann bitte doch deinen
Vater, einen Augenblick heraufzukommen.
Ja, Mutter; meinst du aber nicht —
Was soll ich meinen?
Daß wir den alten Schaukelstuhl heraushetzen könnten? Im Boudoir nimmt
er sich eigentlich nicht gut aus.
Glaubst du, daß ich einen Schaukelstuhl gehabt habe, als ich beim Grafen
Erzieherin war? — Geh jetzt hinunter, und dann sage Stine gleich, daß sie
einen Leuchter bringen solle. Die Lampe ist in dieser Jahreszeit gänzlich überflüssig.
Annas blonder Zopf verschwand durch die Tür.
— Und das Streichholzstativ — es steht alles auf dem Küchentisch, rief die
Mutter hinter ihr her, und dann sagte sie, in die Stube hinein: Wir wollen dieser
dummen kleinen Gouvernante doch wahrhaftig keine Graupen in den Kopf setzen,
nicht wahr, Desideria?
Desideria schüttelte ihren vierzehnjährigen Kopf mit den dunkeln Locken ein wenig
verächtlich und bemerkte: Ne Prinzessin ist sie ja wohl auch gerade nicht, Mutter!
Frau Lönberg sah sich um. Sie soll es nett haben, damit Ludvigsens Er¬
zieherin nicht auf uns sticheln kann; die hat es ja wie eine Hofdame. Ach, da
bist du ja, Mads!
Der Apotheker erschien in diesem Augenblick in der Tür.
Was wünschst du, liebe Jelde?
Ich wünsche keine blauen Hyazinthen hier oben zu haben. Wie kommst du
nur darauf?
Ich dachte nur —
Sein Gesicht nahm eine Färbung an, die stark an die der Hyazinthe er¬
innerte.
So, du dachtest! Ach, Desideria, laufe doch mal hinunter und sieh nach, ob
Stine nicht kommt!
Da ist Stine, Mutter!
Stine kam mit dem Leuchter und den Streichhölzern herein.
Da sind die Sachen. Kann ich Ihnen sonst noch helfen?
Wie oft soll ich es sagen, Stine, daß Sie mich in der dritten Person an¬
reden sollen. Es schickt sich nicht, daß Sie die Herrschaft Sie anreden! Nicht
einer von den Dienstboten beim Grafen nimmt sich das heraus, und sie sind doch
alle nur vom Lande. Stellen Sie die Sachen hier auf den Tisch, und dann gehn
Sie schnell hinunter, Desideria kann angehn und Ihnen helfen; ja, Desideria, du
hörst, was ich sage. Ihr müßt vor der Gartentür und um den Rasen herum noch
etwas Harken.
Stolz schritt Desideria zur Tür hinaus, und Stine watschelte hinterdrein.
Es entstand ein peinliches Schweigen, man hörte die Schritte der sich Ent¬
fernenden über die Flur und die Treppe hinabgehn. Als sie allein waren, setzte
sich Frau Lönberg hin, spiegelte mit Wohlbehagen ihr noch ganz jugendliches Gesicht
in dem kleinen Toilettenspiegel, sah den Apotheker drohend an und sagte: Das will
ich dir nur ein für allemal sagen, Mads, mach dich nicht lächerlich diesem jungen
Mädchen gegenüber. Mir kann es ja einerlei sein, denn ich bin nicht bange. Aber
du solltest doch um deiner selbst willen ein klein wenig vorsichtig sein. Du hast
immer eine kleine Schwäche für ein hübsches Gesicht gehabt, ja das weiß ich recht
gut; das war doch auch der Grund, warum du mich genommen hast — wenigstens
einer von den Gründen —
Nein, ich versichre dir —
Ach wast — Aber so laß doch das ewige Spielen mit den Quasten an der
Chaiselongue!
Ich mache mir nichts aus Schönheit, ich habe nie danach gesehen!
Der Apotheker hatte Recht. Er war im Grunde verliebter in den Totenkopf
auf den Giftetiketten als in das schönste Frauengesicht.
Nun ja, ich glaube dir schon, lieber Lönberg, sagte sie milder gestimmt; aber
sage mir doch, warum hast du nur die blaue Hyazinthe hier im Zimmer der Er¬
zieherin vor das Fenster gestellt? Glaubst du, der Graf hätte mir Hyazinthen
hingestellt? Das würde sich die Gräfin sehr verbeten haben. Denk doch, wenn
die Damen aus der Umgegend hier Toilette machen und fragen: Nein, was für
eine schöne Hyazinthe! Von wem haben Sie die bekommen? — Ach, die hat mir
Herr Apotheker Lönberg geschenkt! Denk dir doch, die Erzieherin verliebte sich in
dich — Erzieherinnen sind immer verliebt —, dann stiege es dir zu Kopf, viel
kannst du ja nicht vertragen, lieber Mads. — Aber was ist denn da? Ist da
nicht jemand an der Tür?
Schnell schlich sie an die Tür, riß sie auf, und der Apothekerlehrling taumelte
ins Zimmer herein, gefolgt von dem neunjährigen Preber, der sofort in ein lautes
Geheul ausbrach.
Was soll das bedeuten, Brask? fragte Frau Lönberg streng.
Da ist ein schweres Rezept, das kann der Provisor nicht lesen. Die Schrift
vom Herrn Physikus wird immer undeutlicher.
Brask, sagte der Apotheker, nehmen Sie die Hyazinthe und tragen Sie sie in
das Zimmer des Provisors.
Gehn Sie, Brask, und kümmern Sie sich um die Apothekerkruken; das ist
das beste, was Sie tun können, sagte Frau Lönberg und zeigte auf die Tür, durch
die der Lehrling verschwand.
In das Zimmer des Provisors! bist du verrückt, Mads! Du kennst doch
seine giftige Zunge; der brüstet sich sofort damit, daß ich sie ihm geschenkt
hätte! — Preber, nimm die Blume und stelle sie in das Boudoir. Geh aber
vorsichtig damit.
Preber nahm die Blume und ging vorsichtig damit, solange er sich im Zimmer
befand.
Als er hinaus war, sagte Frau Lönberg: Ich habe mich schon immer über
den alten Kaktus geärgert, der unten steht, der kann hier herauf kommen! Er
füllt doch seinen Platz aus; und wir sagen natürlich, daß es etwas seltnes ist.
Das ist es auch, murmelte der Apotheker, es ist ja ein versus FranäiSorus.
In demselben Augenblick verkündete ein Getöse, daß Preber die Treppe
hinunterfiel. Der Apotheker öffnete die Tür und rief: Hast du schon wieder ein
Unheil angerichtet?
Nein, heulte Preber, der Blumentopf ist ganz heil geblieben, bloß die Hya¬
zinthe ist abgebrochen.
Sieh doch, ob sich das Kind nichts getan hat! sagte Frau Lönberg.
Der Apotheker eilte hinaus.
Sie sah sich in dem kleinen Zimmer um und sagte: Wenn jetzt hier in der
Gegend von Erzieherinnen die Rede ist, so kann sich Frau Ludvigsen nicht mehr
halb so wichtig machen wie bisher. Von heute Abend an habe ich anch ein Wort
mitzureden!
In diesem Augenblicke hörte man ein lautes Stoßen auf den Dielen der Flur;
die Tür tat sich auf, und Großmutter trat langsam ein, einen Stock in der Hand.
Was willst du. Mutter?
Großmutter sah sich um und sagte mit tiefer Stimme: Dein Werk bewundern!
Die Tochter lächelte ängstlich.
Was ist das für eine Vogelscheuche? sagte Großmutter und zeigte mit dem
Stock auf eine Lithographie, die über dem Bett hing.
Vogelscheuche! — das ist ja einer von den alten gräflichen Ahnen aus dem
Dreißigjährigen Kriege.
Der soll wohl beim Unterrichte benutzt werden?
Wie meinst du das?
Als Anschauungsmittel in der Weltgeschichte und Vaterlandskunde, sagte Gro߬
mutter und ging hinaus.
Der Dampfer fuhr über das Kattegatt. Er steuerte auf Jütland zu. Auf
Deck war es still und einsam. Der Kapitän stand auf der Kommandobrücke, und
der Steuermann am Ruder. Eine zierliche Gestalt wanderte auf und nieder und
spähte über die See hinaus. Es war ein junges Mädchen, das nie zuvor auf
den schäumenden Wellenbergen geschaukelt worden war und das zum erstenmal in
seinem Leben das imponierende Schauspiel einer Mondnacht auf See genoß. Über
die schimmernde, wogende Brücke schweiften ihre Gedanken zu der fremden Küste
hinüber, an der ihre Zukunft wachsen sollte. Aus dem stillen Heim in Kopenhagen
reiste sie jetzt nach Jütland hinüber.
Sie wollte aus das Land und hoffte, dort alles das zu finden, wovon sie
gelesen hatte: frische Naturmenschen, ländliche Freuden, Wagen- und Schlittenfahrten,
gemütliche Pfarrhäuser, gemütliche Landleute.
Es war Ende April. Die hellen Nächte waren noch nicht angebrochen, heute
aber ersetzte sie der Mond.
Der Kapitän sah erstaunt dem jungen Mädchen nach; er hörte, wie sie ein Lied
summte, dessen Töne und Rhythmus von einer so überströmenden Lebensfreude
zeugten, daß er den Steuermann warnen mußte, der, als er sie so mitten im
Mondschein stehn sah, den Kurs einen Strich zu weit nach Backbord hielt.
In ihr wogte ein leuchtender, brausender Strom, ganz wie die Wasser des
Meeres, auf die sie hinaus sah. Und halblaut summte sie ein Lied vor sich hin,
das sie einmal gelesen hatte:
Die Kajütenwärterin, die ein wenig eingenickt gewesen war, vermißte die eine
Dame und war besorgt um ihre Koje und das zu erwartende Trinkgeld. Sie fuhr
deswegen etwas erschrocken in die Höhe, beruhigte sich aber, als die junge Dame
mit einem strahlenden Lächeln, als schimmre all der Mondglanz der Nacht in den
dunkeln Augen, die Treppe hinabkam und sagte: Wollen Sie mich, bitte, wecken,
wenn wir in die Bucht einfahren?
Dann legte sie sich in die Koje, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sie
hörte das Plätschern des Wassers gegen die Seiten des Schiffes und den sonderbar
seufzenden Laut, der die Fahrt eines Schiffes durch die Wellen begleitet. Sie
hörte Schnarchen und Sprechen im Schlaf; ein Kind weinte, eine Dame bat um
ein Glas Wasser. Doch das alles störte sie gar nicht. Sie lag in ihre Gedanken
versunken da und sah ihr ganzes vergangnes Leben an sich vorüberziehn.
Das stille Heim in Kopenhagen, wo der Vater, der bleiche, magere Hilfs¬
lehrer, fast immer, wenn er zuhause war, saß und Hefte korrigierte, während die
Mutter genug mit dem Haushalt und dem Ausbessern der Kleider zu tun hatte.
Ein friedliches und glückliches Heim, und doch ein rümpfendes Heim. Denn die
bescheidne Einnahme des Vaters reichte nur eben für den Lebensunterhalt hin.
Sie sah so deutlich die Mutter an einem Winterabend zu dem Vater gehn,
der bei seiner kleinen Studierlampe in einer Ecke des Eßzimmers saß — das war
sein Arbeitsraum —, und ihm über die Stirn streichen. Er sah dankbar und
müde zu ihr auf, die ihm liebevoll zulächelte und die hohe, weiße Stirn unter
dem ergrauenden Haar küßte — Dankbarkeit von seiner Seite, Liebe von der ihren,
das war diese Ehe.
Er hatte als nicht mehr ganz junger Student bei ihrer Mutter gewohnt, die
eine arme Witwe war und Zimmer vermietete. In einer schweren Krankheit hatte
ihn die Tochter gepflegt. Als er vom Krankenlager aufstand, hatte er aus Dankbar¬
keit gegen das sanfte, schöne Gesicht, das in langen Nächten über ihm gewacht hatte,
ihr seine Hand angeboten. Sie hatte ihn lange geliebt, und er gewann sie von Herzen
lieb. Aber die Krankheit hatte ihn gebrochen. Er hatte niemals sein Oberlehrer¬
examen gemacht. Auf Grund seiner guten Kenntnisse gelang es ihm jedoch endlich,
eine Stelle als Hilfslehrer zu erlangen. Er hatte eine kleine poetische Ader, schrieb,
immer anonym, allerlei Kleinigkeiten, die von den Zeitungen angenommen wurden,-
dies im Verein mit einigen Übersetzungen verschaffte ihm kleine Nebeneinnahmen,
die in der Hauptsache zu kleinen Ausflügen mit der Bahn in die herrlichen Wälder
Nordseelands benutzt wurden. Wie freuten sich nicht Helene und ihre kleine Schwester
Betty auf diese Ausflüge, kleine erfrischende Oasen in der Wüste des täglichen Lebens!
Wenn sie dann im Grase saßen, und die angenommnen Speisen verzehrt waren,
zündete der Vater seine kurze Pfeife an. Dann vergaß er die Schule, die Korrek¬
turen und die tägliche Plage und erzählte von fern und nah. Er konnte viel
amüsanter erzählen als die meisten Bücher. Und oft kleidete er seine Erzählung
in das Gewand eines Märchens.
Du hättest Dichter werden sollen! sagte dann die Mutter zu ihm.
Nein nein, sage das nicht! entgegnete er und schüttelte den Kopf; ein Dichter,
das ist ein ganz andrer Mann; ich bin nur ein Erzähler. Ich kann euch allerlei
erzählen, was ihr nicht wißt, weil ihr so wenig kennt. Ich kann euch eine kurze
Weile amüsieren. Aber ein Dichter, das ist ein Mann, der die Leute zugleich
lachen und weinen macht. Und was er schildert, das vergißt man niemals!
Trotz seinem stillen Wesen war er es, der die lange Arbeitsnacht des Heims
erleuchtete, nicht wie eine Sonne, sondern wie ein sanft schimmernder Stern.
Aber dann erlosch der Stern in einer Nacht, während sie alle um sein
Lager saßen.
Kurz zuvor hatte Helene ihren Eltern die große Freude gemacht, ihr
Lehrerinnenexamen zu bestehn. Sie hatte im Grunde keine Lust dazu gehabt, nur
die bittre Notwendigkeit regte ihr Pflichtgefühl so weit an, spannte den Bogen so
straff, daß der Pfeil das Ziel nicht verfehlte. Sie hatte das Glück, daß ihre
Persönlichkeit alle bezauberte; ihr ganzes Auftreten gab weitgehende Verheißungen,
die man von vornherein für den vollen Wert annahm.
Da die Mutter nur eine kleine Pension erhielt, und dies alles war, wovon
die Familie leben mußte, suchte Helene nach einem Ausweg. Da las sie denn
eines Tages in der Zeitung folgende Annonce: „Ein anspruchsloses junges Mädchen
kann zum ersten Mai Stellung als Erzieherin für zwei kleine Mädchen und einen
Knaben (im Alter von vierzehn, elf und neun Jahren) bei einer gebildeten Familie
in einer schonen, ländlichen Gegend an der Ostküste von Jütland erhalten. Sie
muß außer in den gewöhnlichen Unterrichtsgegenständen auch in Gesang und Musik
unterrichten können. Gehalt 250 Kronen jährlich, eignes Zimmer und freier
Aufenthalt im Schoße der Familie. Sie wird, falls sie es wünschen sollte, auch
Gelegenheit haben, sich im Haushalt, unter der tüchtigen Anleitung der Hausfrau,
auszubilden. Selbstgeschriebnes Angebot unter Chiffre ^lobte-ssö MjZo 717 nimmt
im Laufe der nächsten acht Tage die Expedition dieses Blattes entgegen."
Das war gerade das, was sich Helene wünschte.
Wie es schien, wurden ja keine übertrieben große Anforderungen an sie ge¬
stellt. Und 250 Kronen im Jahr außer all dem andern — das war ja geradezu
brillant! Und dann — aufs Land zu kommen, frei von dem langweiligen Treiben
der Großstadt! Es schwindelte ihr bei dem Gedanken.
Mit ihrer feinen Handschrift schrieb sie ein Billett, stutzte einen Augenblick,
als sie die sonderbare Adresse machte, und trug es dann selbst in die Zeitungs¬
expedition. Wenn sie die Augen gesehen hätte, mit denen der tintenbekleckste
Schreiber von seinem fürchterlichen Löschblatt aufsah und ihren unbewußt strahlenden
Blick beantwortete, würde sie uicht an einem glücklichen Ergebnis gezweifelt haben.
Sie achtete jedoch dieses Omens nicht, sondern war sehr zaghaft. Es würden sich
natürlich unzählige Bewerberinnen für diesen Platz melden.
Da wurde sie eines Tages durch einen Brief aus der Schwanenapotheke in
Nakkerup überrascht, der Henriette Lönberg unterzeichnet war und eine Annahme
ihres Anerbietens enthielt.
Sie hatte jeden Morgen dem Postboten aufgepaßt, und als er ihr den Brief
überreichte mit der fremden, ein wenig geschnörkelten Handschrift und dem großen
roten Siegel mit einem Schwan, da sandte sie ihm einen Blick zu, der seinen Weg
die vielen Treppen hinauf und hinab bedeutend erleichterte.
Sie erbrach das Siegel, überflog den Inhalt und lief direkt gegen einen
ältern Herrn an, der seinen Morgenspaziergang machte und mit einem: Aber mein
Gott, Fräulein! gegen eine Hauswart taumelte. Als aber Helene ihn mit ihrem
ausdrucksvollsten Lächeln um Verzeihung bat, war sein Zorn sogleich besänftigt.
Dann prallte sie an eine Dame an, die in der Hand ihr kleines Netz trug, worin
sie „matte" Hechte für ihr Pensionat einzufangen Pflegte. Ein scharfes: Na. die
Straße ist doch breit genug, sollt ich meinen! jagte Helene in die Flucht. Dann
war sie die Treppe hinauf und in die Stube hinein.
Auf dem Sofa saß die Mutter, und vor ihr stand die alte Dienerin des
Hauses, Katrine, und legte Rechenschaft ab, indem sie die Ausgaben von einer
alten rahmenlosen Tafel, die einen Sprung hatte, ablas. Ganz entsetzt ließ sie
sie fallen, als Helene ins Zimmer gestürmt kam.
Aber Helene! sagte die Mutter, nun ist sie in zwei Stücke zerbrochen!
Das schadet gar nichts, sagte Katrine, die immer die guten Seiten bei allem
entdeckte. Fran Rörby haben ja so oft gewünscht, daß wir jeder unsre Tafel hätten;
jetzt ist der Wunsch in Erfüllung gegangen!
Betty stand vor ihrer Schultasche, im Begriff, die Riemen zuzuschnallen, um
in Fräulein Kaspersens höhere Töchterschule zu gehn.
Helene blieb atemlos vor der Mutter stehn und überreichte ihr den Brief,
nachdem sie ihr erzählt hatte, daß es die Antwort auf die Annonce sei.
Als die Mutter den Brief vorgelesen hatte, rief sie: Soll ich mein Kind
verlieren?
Mutter, sagte Betty, die die Vernunft im Hause vertrat, ich finde, Helene
hat sehr verständig gehandelt. Nun schlafe ich mit dir zusammen, und dann können
wir eine kleinere Wohnung nehmen.
Ja, sagte Katrine, mein Schlafsofa stellen wir ins Eßzimmer, dann brauche
ich keine Kammer. Mein Haar kann ich ganz gut vor dem Entreespiegel machen.
Also abgemacht! sagte Helene und küßte die Mutter, die durch Tränen lächelte.
Das wird amüsant, sagte Betty, wenn ich in der Schule erzähle, daß meine
große Schwester Erzieherin in Jütland wird!
Ja, in ganz Jütland! sagte Helene und wirbelte Katrine rund herum. —
Bei dem Gedanken an Katrines Tanzpas mußte Helene laut lachen.
Können Sie wirklich noch lachen! tönte eine scharfe Damenstimme ans der
gegenüberliegenden Koje. Finden Sie, daß es amüsant ist, hier eine ganze Nacht
zu liegen und keinen Schlaf in die Augen zu bekommen? Ach Gott — jetzt geht
es wieder los — Fräulein — Fräulein — so kommen Sie doch, Menschenkind!
In dem Halbdunkel über Damenstiefel und Hutschachteln stolpernd kam die
Wärterin mit Hoffmannstropfen herbeigestürzt.
Und dann wurde es still. Und schließlich fiel auch Helene in einen leichten Schlaf.
Als sie erwachte, schien das Tageslicht durch das runde Fenster. Sie stand
auf und ließ die frische Luft herein.
In dem dämmernden Tageslicht sah man einige hohe Hügel, und die Morgen¬
luft strömte wohltuend in die stickige Kajüte herein. Gleich aber ließ sich die
Stimme der erzürnten Dame wieder hören: Mein Gott! Soll man sich nun auch
noch eine Lungenentzündung zuziehn?
Nach einer Weile saß Helene mit einer Tasse Kaffee auf Deck; sie zündete
sich eine Zigarette an und sah hinaus auf die schöne Bucht, die von hohen Ufern
und großen Wäldern umrahmt war. Ganz am Ende der Bucht tauchte die Stadt
mit dem hohen Domtüren in undeutlichen Umrissen auf. Jetzt ging die Sonne
auf und hüllte Himmel, Meer und Land in rosenrote Farben, aber sie schwanden
bald hin, und vor ihr lag das Land ihrer Zukunft, Jütland, in dem kalten,
scharfen Morgenlicht.
Das Schiff näherte sich mehr und mehr der Stadt. Jetzt fuhr es in den
Hafen ein und legte an der Dampferbrücke an. Einige träge Packträger standen
da und kauten auf ihrem Priem, ein Zollbeamter gähnte, und ein paar Hoteldiener
reckten und streckten sich.
Da wurde das Tau an Land geworfen. Es brachte Leben in die Menschen¬
gruppe, die schnell zur Seite wich.
Die Landungsbrücke wurde angelegt.
Dann ging Helene von Bord. Der Kapitän grüßte galant, fast zu galant.
Sie winkte einem Hoteldiener und folgte ihm durch die menschenleere Straße,
wo sie hier und da einen Bäckergesellen mit aufgestreiften Ärmeln in der Haustür
stehn und seine Morgenpfeife rauchen sah.
Sie stand vor dem Theaterzettel einer umherreiseuden Gesellschaft still: „Der
Elfenhügel" mit „Jeppe vom Berge" als xises as riäsau.
Nach einer Weile betrat sie das erste Hotel der Stadt.
Sobald er ihrer eleganten Erscheinung ansichtig wurde, trat der Portier im
Frack, die Feder hinterm Ohr, aus seiner Loge, verbeugte sich und sagte, daß im
ersten Stockwerk noch ein Salon frei sei.
Ein wenig verlegen antwortete Helene: Ich bleibe nur bis heute Nachmittag
hier; mein Zug geht um drei Uhr. Geben Sie mir ein einfaches Zimmer.
Der Portier lächelte herablassend: Ich werde nachsehen, ob etwas frei ist.
Dann stellte er sich vor die große Hoteltafel, ließ langsam den Zeigefinger
auf und nieder gleiten und seufzte tief auf.
Endlich machte der Finger halt; er wandte sich um und sagte überlegen zu
einem flotten Zimmermädchen in rosa Kattunkleid: Nummer siebenundsechzig!
Das Mädchen musterte Helene etwas naseweis und ging stolz die Treppe
hinan. Im dritten Stockwerk blieb sie stehn und zeigte einen langen Gang entlang,
den Helene hinabschritt; in einem Spiegel sah sie, wie ein Kellner im Vorüber-
gehn dem Mädchen einen Kuß raubte.
Und dann bekam Helene ein kleines Zimmer mit einem Fenster nach dem
Hofe hinaus.
Sie war müde und ging schnell zu Bett.
Ehe sie einschlief, sah sie zu einem grausamen Farbendruck hinüber, der eine
Landschaft darstellte; neben einem Felsblock stand ein Ziegenbock und schnappte
nach dem Mond, der einem großen Fastnachtswecken glich.
Die Nakkeruper Apotheke war erst vor wenig Jahren in einem dazu ange¬
kauften Bauernhause, an das man einen Flügel angebaut hatte, errichtet worden.
Hier war das Laboratorium, das Magazin, die Zimmer des Provisors und
des Lehrlings. Die Apotheke lag an dem einen Ende des Hauptgebäudes nach
dem Seitenflügel zu. Über dem Eingang schaukelte ein Seekräuter Schwan auf
einem blauen Weltenmeer. In dem übrigen Teile des Gebäudes wohnte „die
Herrschaft," wie Frau Lönberg zu sagen pflegte. Denn es läßt sich nicht ver¬
hehlen, daß diese kleine Frau nicht nur vornehme, sondern auch aristokratische
Empfindungen hatte. Sie war in frühern Jahren Gouvernante bei einem Grafen
gewesen; so etwas tut man nicht ungestraft. Wer einmal drinnen im Berge war,
streift das Gepräge das ganze Leben nicht wieder ab.
Der Übergang von dem Gräflichen zu dem Bürgerlichen wurde ihr nicht leicht.
Aber ein großer Trost war es, daß ihr Mann infolge von Protektion die
Nakkeruper Apotheke errichten konnte. Diese lag auf einem gräflichen Gut, dessen
Lehnsbesitzer mit ihrer Lieblingsschülerin, Komtesse Desideria, verheiratet war.
Nach dieser wurde denn auch ihre erstgeborne Tochter genannt.
Das gräfliche Schloß lag nur eine Meile entfernt; einmal im Jahre wurde
der Apotheker zu einem Herrendiner eingeladen, und ein andermal erhielten beide
eine Balleinladung.
Sehr geschmeichelt fühlte sich Frau Lönberg, wenn die Gräfin ihre frühere
Gouvernante zum Vormittagstee besuchte.
Der Graf erwies in der Regel einmal im Jahre dem Apotheker die Ehre,
seinen feinen Madeira zu trinken — „Lönbergs Madeira" war ein geflügeltes
Wort — und einen Rehrücken zu verzehren, den er selbst dem Apotheker ge¬
schenkt hatte.
Dieser ging selbstverständlich auf die Ideen seiner Frau ein, hauptsächlich
jedoch um ihretwillen; und da er nicht con awors mitmachte, fiel er natürlich leicht
aus der Rolle. Frau Lönberg dagegen führte die ihre bis in alle Einzelheiten
durch. So hatte sie zum Beispiel von der gräflichen Kastellanin das große Schlüssel¬
bund angenommen. Das ist noch das einzige Gute an ihr, sagte der Lehrling,
denn da kann man doch hören, wenn sie kommt.
Der Garten des Apothekers war nicht groß aber sehr zierlich. Und wenn
es Frau Lönberg auch nicht gelungen war, den Versailler Stil durchzuführen, so er¬
innerten doch ein kleiner Springbrunnen und ein paar Buchenhecken su minis-durs
an den gräflichen Park.
Derselbe hochstrebende Geist machte sich auch in dem Interieur geltend, wie
Frau Lönberg zu sagen pflegte, wenn sie von dem Innern des Hauses sprach.
So zeichnete sich das Eßzimmer durch hohe Paneele aus, auf denen hochadliche
Gläser friedlich neben bäuerlichen Krügen standen, die nie von einer solchen Ehre
geträumt hatten, während getriebne Teller mit Rosen und andern lieblichen Blumen
sowie ein Paar Bilder die Wand bedeckten. Von diesen stellte das eine eine italienische
Fogliette mit dazu gehörenden Trauben und Pfirsichen dar, das andre ein Wild¬
schwein, das zu Tode gehetzt wird. Alles Reizmittel für den Appetit.
In dem Boudoir der Hausfrau standen nur Empiremöbel, und über ihrem
Schreibtisch hing eine Photographie von Mads, garniert mit den Bildern der
gräflichen Familie.
Die Kinder waren bisher von der Erzieherin des Kaufmanns, Fräulein Ipser,
unterrichtet worden. Da aber der letzte Jahresabschluß des Apothekers ein be¬
deutendes Plus aufgewiesen hatte, sagte Frau Lo'nberg eines Tages zu ihrem Gatten:
Wollen wir nicht Ernst damit machen und eine Gouvernante ins Haus nehmen?
Fräulein Ipser mag ja eine sehr gute Lehrerin sein; aber ich habe diese Kommun¬
schaft mit Kaufmann Ludvigsens satt.
Ja, es kann ja ganz nett sein, wenn man etwas Jugend ins Haus bekommt!
Jugend! entgegnete Frau Lönberg scharf, vergiß nicht, daß du bald ein alter
Mann bist, und bewahre immer deine Würde, Mads!
Auf dem Boden der Apotheke lag außer den übrigen Schlafzimmern der
Familie auch Großmutters Stube. Sie lebte fast ausschließlich hier oben. Da es
ihr schwer wurde, die Treppe zu steigen, war der Boden ihre Promenade. Es
war auch ein schöner und großer Boden, auf dem überall Reinlichkeit und Ordnung
herrschten.
Hier sah man im Herbst Kamillenblüten, Wermut und Perikum, während
Salbei, Rosen und Lavendel einen würzigen Duft verbreiteten. Holunder- und
Lindenblüten sowie Baldrian lagen zum Trocknen auf Kisten und Kasten.
Tulpen- und Hyazinthenzwiebeln waren im Sommer auf dem Fußboden aus¬
gebreitet. Und während des ganzen Winters hingen Gladiolus- und Georginen¬
knollen zwischen den Dachsparren.
Im Winter verbrachte Großmutter ihre ganzen Tage hier oben.
Es herrschte hier oben nur selten strenge Kälte, da der Hauptschornstein aus
der Küche gut wärmte. Wenn es hier aber doch zu kalt wurde, band sie ihren
Mantel um. Und es gab Tage, wo sie in einer Stimmung war, daß sie fast
unablässig unter den Dachbalken auf und nieder ging. Dann wagte niemand mit
ihr zu reden. An Mondscheinabenden konnte es einem ganz sonderbar zumute
werden, wenn man sie hier oben umherwandern, im Dunkel verschwinden und im
Mondlicht, das von oben hereinfiel, wieder auftauchen sah. In der Regel wurde
ihr im Sommer wie im Winter das Essen heraufgebracht; nur bei feierlichen
Gelegenheiten aß sie unter mit der Familie zusammen. An ihren Wandertagen
aber kamen fast alle Speisen unberührt wieder herunter.
An dem Tage, an dem die Erzieherin erwartet wurde, saß Großmutter in
ihrem Zimmer am Fenster, von wo aus sie eine freundliche Aussicht über den
Garten bis zu grünen Wiesen und fernen Hügeln und Wäldern hatte.
Wenn der Wald grün wurde, feierte Großmutter ihren Festtag. Dann mußte
Kutscher Ricks sie bei Sonnenaufgang hinausfahren, und sie wanderte lange unter
den hellgrünen Kuppeln auf und nieder.
Wie schön ist sie, wie sie so dasitzt, von der scharfen Nachmittagssonne be¬
schienen!
Übrigens ist Großmutter immer schön, man sieht es nur zuweilen nicht, wenn
sie ein wenig krumm gebeugt an ihrem Stock über den Boden geht. Sie hat
einmal, als sie noch ganz jung war, eine Verletzung davongetragen, die sie zwingt,
am Stock zu gehn. Wenn sie sitzt, ist sie aber stattlich und schön wie in den
Tagen ihrer Jugend. Sie hat ein Goetheprofil und ein paar lebhafte braune
Augen, und es wird schwer sein, einen Silberfaden in ihrem vollen dunkeln Haar
zu finden.
Heute sieht sie so froh und jung aus. Die Unruhe des Frühlings hat sie
erfaßt. Sie öffnet das Fenster und sieht sehnsuchtsvoll zu den Buchenwäldern
hinüber, die von Tag zu Tag brauner werden. Vor ihr auf einem kleinen Tisch
liegt Shakespeare aufgeschlagen, das ist ihre Lieblingslektüre: „Romeo und Julie/'
die wunderbare Szene, wo sie sich zum erstenmal begegnen.
Großmutter blättert zurück und liest den berückenden Vers:
Sie wiederholt diese Worte und seufzt, sieht aber doch so strahlend aus, als
sei sie Julie selber, die hier am Fenster saß, während Romeo unten im Garten
lustwandelte.
Großmutter erhob sich und sah hinab.
Vor ihrem Fenster lief ein langer, schattiger Nußgaug entlang, der gewöhn¬
lich „Großmutters Gang" genannt wurde, denn hier konnte sie im Sommer ganze
Tage zubringen, spazieren gehn, lesen, zu den Wäldern hinübersehen.
Sie ging auf und nieder, das Zimmer wurde ihr aber zu eng, sie trat auf
den Boden hinaus und vergaß den Stock. Freilich wurde es ihr schwer, zu gehn,
aber es hing ganz vom Wetter und von der Stimmung ab, in der sie war, wie
sehr sie unter ihrem kranken Bein litt. Und oft war es nur eine alte Gewohn¬
heit, daß sie sich des Stockes bediente. Sie blieb unter einem Bodenfenster stehn
und sah zu dem blauen Himmel und den treibenden Frühlingswolken auf.
Der Apotheker war bei den Seinen, und der Lehrling lief die Bodentreppe
herauf und hinunter, um durch eine Luke den Weg zu übersehen. Der Provisor,
Herr Kruse, mit der üppigen Künstlermähne — er war ein tüchtigerer Pianist
als Pharmazeut — hatte es sehr eilig. Er lief in der Apotheke umher, machte
schlechte Witze und erteilte gute Ratschläge.
Der Apotheker saß mit seiner Frau im Rauchzimmer, dessen Fenster nach der
Einfahrt hinauslagen. Er saß wie angewurzelt da, während Frau Lönberg ihre
Unruhe nicht zu verbergen vermochte. Wie sie so dasaßen, stürzte sie plötzlich in
das Boudoir, beugte sich über die Visitenkartenschale und rief: Wer ist nun wieder
hier dran gewesen und hat die Karte des Tierarztes obenauf gelegt?
Ja, was tut denn das? meinte der Apotheker.
Was das tut? Es liegt mir doch daran, daß man beim Eintritt in ein
Haus weiß, daß man es mit einer Familie zu tun hat, die auf Umgang hält.
Und wenn man einen Landrat aufzuweisen hat, so ist es doch das Natürlichste, daß
der obenauf liegt!
Da stürzte Preber in einem Socken und einem Holzschuh herein und rief
atemlos: Nun kommt sie!
Wie siehst du denn aus? brauste Frau Lönberg auf. Du kommst auf Holz¬
schuhen ins Zimmer? Wo bist du nur gewesen?
Preber war von Kopf zu Fuß beschmutzt, und der Schirm der Mütze hatte
sich gelöst, sodaß sein Haar zwischen Mütze und Schirm hervorguckte. Mit strahlendem
Gesicht rief er: Ich bin mit den Jungens vom Küster oben im Kirchturm ge¬
wesen. Wir konnten den Wagen ganz deutlich beim Rademacher um die Ecke
biegen sehen. Und da haben wir um zwei Öre Lakritzen gewettet, wer zuerst mit
der Nachricht nach Hause käme. Ich bin in eine Pfütze gefallen und bin doch
zuerst gekommen.
Frau Lönberg schellte. Stine trat ein. Wenn der Wagen jetzt kommt, gehn
Sie hinaus und nehmen das Fräulein in Empfang. Sorgen Sie dafür, das
Preber zurecht gemacht wird, und lassen Sie die Kinder hereinkommen.
Stine ging mit Preber ab.
Nach einer Weile wurden laute Stockstöße hörbar, die näher und näher kamen
und an das Erscheinen des Konturs im „Don Juan" erinnerten, ja fast denselben
Schrecken hervorriefen.
Der Apotheker und seine Frau sahen sich an.
Deine Mutter kommt!
Ja, das kann ich hören!
Sie ist über einen Monat nicht hier unten gewesen!
Da trat die Mutter in all ihrem Glanz und ungewöhnlich strahlend ein.
Der Apotheker und seine Frau stutzten.
Großmutter sagte lächelnd: Ja, ihr seht mich an! Bin ich heute nicht hübsch? —
Ich muß doch deu Empfang der so viel besprochnen Gouvernante feiern, deren An¬
kunft ein Ereignis in den Annalen des Hauses ist!
Mit der blauen Schleife habe ich dich noch nie hier im Hause gesehen, be¬
merkte die Tochter in einschmeichelnden Ton.
Ich auch nicht, sagte Großmutter.
Die kleidet dich gut, Schwiegermutter, murmelte der Apotheker.
Nach einer kleinen Pause sagte Großmutter: Ich sehe, daß das Haus zu
beiden Seiten der Diele für die Premiere fast ausverkauft ist — aber hier ist
doch noch ein Sitzplatz in der ersten Reihe.
Und sie setzte sich an das Fenster, der Tochter gegenüber, und sah erwartungs¬
voll auf den Platz hinaus.
Die Augen des Ehepaares begegneten sich.
Es lag heute etwas so Abgeklärtes, so Mildes, Warmes über Großmutters
ganzem Wesen! Sie war gar nicht so wie sonst.
Nach einer Weile erschien Preber glattgekämmt und reingewaschen mit seinen
Schwestern.
Sideria! sagte die Mutter. Komm her und laß dich ansehen!
Defideria gehorchte widerstrebend und kam langsam auf die Mutter zu, die sie
verhätschelte, weil sie eine Schönheit zu werden versprach.
Du bist ja ganz schick heute!
Anna, die des Vaters erklärter Liebling war, stand regungslos hinter seinem
Stuhl.
Großmutter hatte Preber am liebsten, sein lebhaftes Temperament gefiel
ihr sehr.
Er ging sofort zu ihr und erhielt Erlaubnis, mit allen den Kleinigkeiten an
der langen goldnen Kette zu spielen, die um ihren Hals geschlungen war.
Da ertönte ein wildes Geheul, das die Gassenjungen anstimmten.
An allen Fenstern der Apotheke erschienen Gesichter, und aus der Bodenluke
guckte der rote Haarbüschel des Lehrlings.
Der Einspänner des Apothekers fuhr auf den Platz ein.
Hinten darin lagen ein Koffer und ein Zweirad. Und neben dem grinsenden
Ricks in der hausgenähten Livree saß Helene in einem kleidsamen Reisekostüm, eine
rote Mütze auf dem Kopf.
Sie hatte die Zügel ergriffen und lenkte den Wagen flott vor die Haustür.
Frau Lönberg erblaßte und rief mit bebender Stimme: Sie fängt also gleich
damit an, die Zügel an sich zu reißen!
Ein bildschönes Kind! sagte Großmutter. Gott sei Dank! Wir haben genug
häßliche Frauensleute hier in der Gegend!
Jetzt hielt der Wagen. Und Stine schritt majestätisch die Treppe hinab, als
sie aber den Wagentritt hinablassen wollte, war Helene schon mit einem Sprung
vom Wagen hinunter und ins Haus hinein.
< - ^ ^ Diele betrat, kam ihr Frau Lönberg entgegen und sagte: Fräu¬
lein Rörby, wie ich vermute. Seien Sie uns willkommen! — Stine, zeigen Sie
dem Fräulein ihr Zimmer. In einer halben Stunde wird der Tee serviert. Wir
hoffen, Sie dann hier unten im Schoße der Familie zu sehen.
Helene sah die steife Apothekerfrau erstaunt an, wandte sich aber schnell um
und folgte der gaffenden Stine die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie überschaute
flüchtig ihre künftige Wohnstätte und fühlte sich beruhigt, als sie sah, daß es ein
ganz gemütlicher kleiner Raum war. Ohne die Jacke auszuziehen, setzte sie sich
an das offne Fenster und sah zwischen den Häusern und Höfen durch, wo sich die
Aussicht auf eine kleine Dorfkirche in der Ferne erschloß.
Sie sah, daß es schon spät war, sprang schnell auf und machte hastig Toi¬
lette — es war die höchste Zeit. Schnell auf den Boden hinaus, wo sie ein
lebendes Wesen mit der gewöhnlichen Anzahl Arme und Beine sowie einem roten
Haarbüschel die Treppe mehr hinabverschwinden hörte als sah.
Nicht ohne Herzklopfen ging sie denselben Weg.
Und einen Augenblick später hielt sie ihren Einzug in der Familie.
(Fortsetzung folgt)
Von Wien her macht sich das Bestreben bemerkbar, den
Besuch des Königs von England beim Kaiser Franz Joseph weniger im Licht
einer persönlichen Huldigung zum fünfundsiebzigsten Geburtstag erscheinen zu lassen,
als vielmehr von dem Wunsche getragen, die Vermittlung des ehrwürdigen Ver¬
bündeten Kaiser Wilhelms zur Herstellung freundlicherer Beziehungen zwischen diesem
und seinem britischen Oheim in Anspruch zu nehmen. Die Neue Freie Presse hat
diese Note zuerst angeschlagen, und in einer Wiener Korrespondenz der Germania
klingt sie weiter. Weder zwischen dem Berliner und dem Londoner Hofe noch
zwischen der deutschen und der englischen Regierung bedarf es einer Vermittlung.
Dem König Eduard stehn Wege genug zu seinem kaiserlichen Neffen offen, und
für eine dem Londoner Kabinett erwünschte Besserung der deutsch-englischen Be¬
ziehungen reichen die beiderseitigen diplomatischen Vertretungen vollkommen aus.
Es ist nicht recht klar, welche Rolle Kaiser Franz Joseph dabei übernehmen sollte,
der von dem deutschen Kaiser nur erfahren könnte, daß die Verschlechterung der
Beziehungen nicht von Deutschland ausgegangen ist. Auch weiß nach Kaiser Wil¬
helms Besuch in Kopenhagen König Eduard ebensogut wie Kaiser Franz Joseph,
daß an der Bereitwilligkeit Deutschlands, das Verhältnis zu England freund¬
licher zu gestalten, auch für den englischen Hof kein Zweifel zulässig ist. Bedurfte
es dazu einer fürstlichen Persönlichkeit, so wäre König Christian in diesem Falle
doch vielleicht die berufnere als Kaiser Franz Joseph. Aber wie gesagt, es ist
keine Vermittlung nötig. Eine Erklärung an den deutschen Botschafter in London
oder eine Mitteilung des englischen Botschafters in Berlin würde vollkommen
ausreichen, daß die britischen Botschafter in Paris, Wien, Petersburg, Washington
und Tokio angewiesen seien, die bisherige Methode der Vertretung der englischen
Interessen, die den Gegensatz gegen Deutschland zur Richtschnur hatte, aufzugeben
und die Erfüllung ihrer diplomatischen Obliegenheiten im möglichsten Einver¬
nehmen mit der deutschen Vertretung zu suchen. Von dem Augenblick an würde
die Lage selbstverständlich sofort eine andre sein, gleichviel ob sich die beiden
Monarchen jetzt sähen oder nicht. Denn auch bei einer Begegnung am Rhein, die
bis jetzt keineswegs wahrscheinlich ist, bliebe auf der deutschen Seite die berechtigte
Forderung eines Besuchs des Königs in Berlin oder in Potsdam bestehn. Jeden¬
falls ist aus den deutsch-englischen Verhältnissen zu entnehmen, daß verwandtschaft¬
liche Beziehungen und Monarchenbegegnungen im Leben der Völker doch nur den
Wert und die Bedeutung haben, die man ihnen durch Tatsachen beilegen will.
Sehr erwünscht wäre es freilich, wenn Kaiser Franz Joseph seinen erlauchten
Gast in Ischl davon überzeugt hätte, daß niemand in England sich über den Zer-
fall Österreichs graue Haare wachsen zu lassen brauche, und daß die englischen
Botschafter also auch nicht nötig haben, andre Regierungen mit der Behauptung
zu beunruhigen, daß Deutschland die Einverleibung mindestens der deutschen Teile
der Habsburgischen Monarchie mit Einschluß von Trieft plane. Das ist nicht nur
von der französischen und der englischen Presse, sondern auch von amtlichen diplo¬
matischen Vertretern Großbritanniens in aller Form behauptet und ausgesprochen
worden, freilich ohne daß sie damit Glauben gefunden hätten. Allerdings scheint
es in England eine nicht geringe Anzahl politischer Persönlichkeiten zu geben, die
eine dereinstige Annexion der deutschen Landesteile Österreichs an das Reich als
eine für Deutschland unvermeidliche Notwendigkeit ansehen, der wir uns gar nicht
entziehn könnten, auch nicht, wenn wir es wollten, und daß demnach die andern
Mächte dieser unabweislich bevorstehenden Veränderung des europäischen Gleich¬
gewichts gegenüber ihre Vorkehrungen zu treffen hätten. Daß ein Deutschland
unter Preußens Führung an einen solchen Schritt gar nicht denken kann, der nicht
mehr und nicht weniger bedeuten würde als ein Aufgebe» des heutigen Reichs¬
gedankens, ist jüngst mit voller Deutlichkeit in der Öffentlichkeit dargetan worden.
Hoffentlich hat König Eduard in Ischl Gelegenheit gehabt, sich über die Unfrucht¬
barkeit solcher Ideen aufzuklären.
Die übertriebne Meldung über eine Konferenz des Reichskanzlers mit dem
österreichischen Botschafter ist anscheinend geeignet, jenen Wiener Kombinationen
Vorschub zu leisten. Möglich, daß von der deutschen Seite Anlaß genommen
worden ist, dem verbündeten Österreich-Ungarn amtlich die Auffassungen mit¬
zuteilen, die den erwähnten englischen Ausstreuungen gegenüber diesseits aus¬
gesprochen worden sind. Das Bismarckische Wort: „Wenn Österreich nicht da wäre,
müßte man es schaffen," wird auch in Zukunft für die deutsche Politik Geltung
behalten. Es ist also selbstverständlich, daß die Erhaltung der Integrität Österreichs
auch zu dem politischen Programm der uns befreundeten und Verbündeten Mächte,
die Österreichs Nachbarn sind, gehören muß, und man geht sicherlich nicht fehl
in der Annahme, daß in dieser Hinsicht bindende Verabredungen bestehn. Daß
Rußland irgendein Bedürfnis hätte, seinen polnischen Besitz noch zu vergrößern,
ist wohl ohnehin ausgeschlossen, aber auch Italien wird sich bescheiden und auf
die italienischen Provinzen Österreichs ebenso verzichten müssen wie Deutschland aus
die deutschen Landesteile der Habsburgischen Monarchie. Die andern europäischen
Mächte haben somit nicht nur keine Ursache, gegenüber einer bei Deutschland ver¬
muteten Bedrohung des europäischen Gleichgewichts neue politische Gruppen zu
bilden, sondern im Gegenteil: Deutschland hat dafür gesorgt, daß jede Bedrohung
dieses Gleichgewichts von andrer Seite ausgeschlossen bleibt. Also auch Versuche,
eine solche Bedrohung zur gegebnen Zeit zu veranlassen, die von dem einen oder
dem andern Kabinett in Europa unternommen werden könnten, würden völlig aus¬
sichtslos sein. Es ist dafür gesorgt, daß die Intriguen, die man Deutschland gern
zuschreiben möchte, sich auch andre Leute versagen müssen. So wenig Deutschland
daran denkt und denken kann, alles Land, soweit die deutsche Zunge klingt, unter
dem deutschen Zepter zu vereinigen, so wenig darf sich Italien mit den Bestrebungen
der ItÄlig, irrsäenra identifizieren. Das würde eine ernste Gefahr für den europäischen
Frieden sein.
Im übrigen bietet die Lage der Handelsvertragsbeziehungen zwischen den
beiden Reichen bei den innern Verhältnissen in Österreich-Ungarn hinreichend Anlaß
zu Verhandlungen, aber auf der deutschen Seite besteht auch in dieser Hinsicht der
Wunsch, die Schwierigkeiten, mit denen Kaiser Franz Joseph in den beiden Reichs¬
hälften zu kämpfen hat, so wenig wie möglich zu vermehren. Das Deutsche Reich
wird immer in aller und jeder Beziehung der Freund seiner Freunde sein.
Inzwischen nähert sich die englische Flotte den deutschen Küsten. König
Eduard soll ihr den Wunsch mit auf den Weg gegeben haben, daß ihr Erscheinen
vor Swinemünde und vor Danzig den Ausgangspunkt zur Besserung der Beziehungen
zwischen beiden Ländern bieten möchte. Andrerseits ist von dem Kommando der
Kanalflotte dem deutschen Marineattachä in London ausgesprochen worden, daß die
Flotte in der Ostsee keine Besuche machen, sondern nur üben solle, man habe an
Festivitäten für dieses Jahr mehr als genug gehabt und sei davon ermüdet. Alle
Begrüßungen werden sich deshalb in einem bescheidnen Rahmen halten, aus diesem
Grunde kommt die Flotte auch nicht nach Kiel. Unsre Flotte ist im vorigen Jahre
in Plymouth sehr freundlich und gastfrei aufgenommen, bei ihrer Ankunft auch von
einem Adjutanten des Königs in dessen Auftrage begrüßt worden. Diese Tatsache
steht noch in zu frischer Erinnerung, als daß sie um politischer Verstimmungen willen,
die eigentlich keine sind, ignoriert werden könnte.
Swinemünde steht ebensowenig wie Weichselmünde unter der Marine, sondern
unter einer Kommandantur der Landarmee, der Hafen unter den preußischen Hafen¬
behörden. Vielleicht wäre es nützlich, wenn dem Kommandanten ein gewandter
Seeoffizier beigegeben würde, ebenso in Weichselmünde, das unter der Komman¬
dantur Danzig steht. Bei allen Mariner spielen die Formen im internationalen
Verkehr eine große Rolle, und es wäre gerade bei der freundlichen Aufnahme, die
unsre Flotte jederzeit in England gefunden hat, gewiß nicht erwünscht, wenn aus
Unkenntnis oder Versehen Verstöße in der Form vorkämen, für die man hinterher
um Entschuldigung bitten müßte. Ob Admiral Wilson seine Offiziere oder Mann¬
schaften über den notwendigen dienstlichen Verkehr landen lassen wird, hängt von
mancherlei Umständen ab, doch darf von dem Takt der Einwohner und auch
der Badegäste erwartet werden, daß sie es den Engländern gegenüber an der
internationalen Höflichkeit nirgend fehlen lassen werden. Swinemünde hat einen
Kommandanten, aber an Garnison nur ein Bataillon Fußartillerie, das jüngst vor
dem Kaiser seine Schießübungen abgehalten hat. Die Infanterie» esatzung vom
42. Regiment, die es früher hatte, ist nach Greifswald verlegt worden; jetzt ist
eine Jnfanteriegarnison nur als Kriegsbesatzung in Aussicht genommen. Von der
Garnison können mithin größere Veranstaltungen zu Ehren etwaiger englischer
Gäste nicht geschehen. Swinemünde hat jedoch als Badeort manche Gelegenheit,
den an Land kommenden britischen Offizieren und Mannschaften Annehmlichkeiten
zu bieten. Jedenfalls wäre es ein grober Fehler, die politischen Verstimmungen,
die zurzeit zwischen den beiden Ländern bestehn, die einzelnen Engländer fühlen
zu lassen, die doch nicht freiwillig, sondern im Dienst ihrer Flagge an die deutsche
Küste kommen. Eine „würdige Zurückhaltung," wie einzelne Blätter empfehlen,
wäre schwerlich am Platze. Ob einzelne englische Admiräle und Seelords gegen
Deutschland gesprochen und geschrieben haben, kann dabei gar nicht in Betracht
kommen; jedenfalls wäre es nicht Aufgabe einer kleinen Provinzicilstadt, im Gegen¬
satz zu der amtlichen Politik des Landes dem Auslande gegenüber zu demonstrieren.
Das Seemannslos ist ein so hartes und ernstes, daß er auf die Gastlichkeit aller
fremden, nicht feindlichen Küsten von alters her Anspruch hat; es würde kein
Ehrentitel für Deutschland sein, das Beispiel der Ungastlichkeit gegeben zu haben.
Wir wollen doch wohlerzogne Leute sein und unsern Platz zwischen den großen
Nationen auch hierin ebenbürtig behaupten.
In der marokkanischen Angelegenheit ist die deutsche Erwiderung auf die
französische Note fertig; die Übergabe wird entweder schon geschehn sein, wenn
diese Zeilen im Druck erscheinen, oder doch nahe bevorstehn. Deutschland hat die
ehrliche Absicht, in Marokko mit Frankreich Hand in Hand zu gehn, soweit das
ohne Preisgebung deutscher Interessen für Gegenwart und Zukunft möglich sein
wird; es ist das wohl das beste Mittel, für fremde Intriguen keinen Raum zu lassen.
Dem Straßburger Katholikentage ist diesesmal nicht nur die Gnesener Kaiser¬
rede vorausgegangen, sondern auch noch die öffentliche Kundgebung der Erzbischöfe
von Köln und Breslau in demselben Sinne. Vielfach ist man davon überrascht
gewesen, daß sich der Kaiser die Worte Leos des Dreizehnter jahrelang gleichsam
für eine gute Gelegenheit ausgehoben hat. Ein nachhaltiger Eindruck auf die pol-
mische Bevölkerung wird — das beweist schon die Haltung der polnischen Presse —
leider nicht zu erwarten sein. Vielleicht wäre es recht zweckmäßig gewesen, die
Rede in allen Gemeinden von Posen, Westpreußen und Oberschlesien in deutscher
und polnischer Sprache amtlich anschlagen zu lassen, wozu es auch wohl jetzt noch
nicht zu spät ist. Sonst bleibt die Regierung für die Verbreitung einzig auf die
feindliche polnische Presse angewiesen, und in die breitesten Schichten dringt sie über¬
haupt nicht. Der Nachfolger Leos des Dreizehnter denkt sicherlich dem Kaiser gegen¬
über nicht anders als sein Vorgänger. Will er aber seiner Ansicht und den Worten
des heimgegcmgnen Papstes Geltung verschaffen, so wird der Druck von Rom aus
auf die Diözese Posen-Gnesen viel stärker sein müssen. Tatsächlich bereitet sich
Von katholischer Seite geht uns die Nummer 151 des Mainzer
Journals zu, aus der wir ersehen, daß die Universität Cambridge dem in der
letzten Zeit viel genannten päpstlichen Archivar eine Ehrung zugedacht hat, um die
er durch den plötzlich eingetretnen Tod gekommen ist. Am 14. Juni sollte er zum
Ehrendoktor promoviert werden. Die lateinische Ansprache des Promotors, die schon
entworfen war, und die das genannte Blatt abdrückt, zählt die Früchte der Forscher¬
arbeit des gelehrten Dominikaners auf und erwähnt auch das Lutherwerk mit den
Worten: Nartinum I/utusr, ad soäom naso monumsutorum äsxietum, ohne eine
kritische Bemerkung beizufügen. Wir bezweifeln die Gelehrsamkeit Denifles und
seine Verdienste um die Quellenforschung auf mehreren Gebieten der mittelalter¬
lichen Geschichte so wenig, daß wir uns sogar für inkompetent erklären, sie zu
würdigen. Trotzdem bleiben wir dabei, daß ihm die Würde eines Historikers im
höchsten Sinne des Wortes abgesprochen werden muß, weil er es fertig bringt,
die größte und heilsamste weltgeschichtliche Begebenheit der letzten vier Jahrhunderte,
die Gründung des Protestantismus, auf die Schlechtigkeit eines verdorbnen Mönchs
zurückzuführen. Leute von solcher Blindheit dürfen sich nicht darüber wundern und
beschweren, wenn ein Hoensbroech in der ganzen Geschichte des Papsttums, ein
Haeckel im ganzen Christentum nichts als einen greuelvollen Unsinn findet. Daß
die protestantische Universität Cambridge die wirklichen Verdienste Denifles um die
gelehrte Forschung anerkennt, ist in Ordnung. Daß sie sich auch durch das Luther¬
werk nicht abhalten läßt, diese Verdienste mit ihrem höchsten akademischen Grade
zu ehren, macht ihrer Gerechtigkeit und Vorurteilslosigkeit Ehre. Die Art und
Weise aber, wie der Promotor dieses Werk erwähnt, können wir uns trotz der
eigentümlichen Beschaffenheit des englischen Protestantismus und der Abneigung der
heutigen respektabel» und prüden Engländer gegen Luthers Redeweise nur dadurch
erklären, daß der Herr das Werk — nicht gelesen hat.
Seit einiger Zeit sind
in verschiednen Zeitungen Abhandlungen erschienen über das Verhältnis alter und
neuer Geigen, so auch vor einigen Wochen in den Grenzboten. Der Aufsatz ist
höchst interessant und entspricht der Hauptsache nach den Anschauungen, die ich
schon im vorigen Herbste zu Papier gebracht habe, die aber leider erst am 13. Juni
in der ersten Abendbeilage der Leipziger Zeitung zum Abdruck gelangt sind.
Da die Angelegenheit allgemeines Interesse hat, dürfte es geboten sein, dem
erwähnten Aufsatz der Grenzboten noch einige Erläuterungen und nicht unwesentliche
Vervollständigungen zuzufügen.
Während im Mittelalter die Vivis. 6a Akwbg, (unser Cello) und die Viola ela
braeüio (Bratsche) herrschten, suchte man im fünfzehnten Jahrhundert Instrumente
mit höherer Tonlage herzustellen. Als die ersten Erbauer solcher Instrumente gelten
I. Kerlino (1449) in Brescia und Pietro Dardelli in Mantua. Bessere Instru¬
mente lieferte Kaspar Duiffenpruggar in Bologna (1516), von dem noch ein paar
Instrumente existieren, die im Format etwas größer als unsre heutigen Geigen,
doch sonst in Bauart und Klang diesen sehr ähnlich sind. Von nun an verbreitete
sich die Kunst des Geigenbaues immer mehr in Italien. Es entstand zunächst die
Schule von Brescia mit Gaspar ti Salv (1560 bis 1610) und I. Paolo Maggini
(1590 bis 1640), deren Geigen noch heute wertvoll sind. Die höchste Bedeutung
erlangte die Schule von Cremona mit Andreas Amati (1520 bis 1580), Hiero-
nymus, Antonius und Nikolaus Amati (1596 bis 1684), von denen der letzte die
besten Instrumente lieferte, die sich besonders durch kräftigen Ton auszeichneten.
Ferner sei erwähnt: Andreas Qnarnerius, Paolo Gramino und vor allem Antonio
Stradivari (1644 bis 1736) sowie des Andreas Qucirnerius Söhne und Schüler,
Joseph Quarnerius. Karlo Bergonzi, Peter Qucirnerius (1690 bis 1725) und be¬
sonders der berühmte Joseph Antonius Quarnerius. Außer den Genannten gab
es noch eine große Anzahl Geigenbauer, so zum Beispiel in Mailand, Piacenza
(Joh. Bayl. Quadagnini 1755 bis 1785), Mantua und Venedig.
Aus den Werkstätten dieser Meister, die streng abgeschlossene Innungen hatten,
gingen außerordentlich viel Instrumente hervor, sodaß sie anfänglich wenigstens die
ganze Welt damit versorgen konnten. Die alten Meister arbeiteten im allgemeinen
sehr sorgfältig und beachteten besonders die Güte des Holzes. Namentlich achteten
sie genau darauf, zu welcher Jahreszeit die Bäume gefällt, und daß sie dabei
nicht geworfen, sondern an Stricken befestigt langsam herabgelassen wurden, indem
sie annahmen, daß durch den Fall im Holze kleine, dem Auge unsichtbare Risse
entstünden, die die Tonbildung beeinträchtigten. Auch durften die Brettchen nicht
gesägt, sondern mußten vorsichtig herausgespalten werden, damit bei der Bearbeitung
die Kontinuität der Fasern erhalten blieb.
Die Geigen hatten für die damaligen Verhältnisse einen hohen Wert und
waren sehr begehrt; wie sie jedoch kurz nach ihrer Herstellung wirklich geklungen
haben, darüber ist nichts sicheres zu ermitteln, da jeder Vergleich ausgeschlossen
war. Nach spätern Beobachtungen dürfte man aber annehmen, daß ihr Ton an¬
fänglich nicht besser war als der jetzt von erfahrnen Meistern und aus ausge¬
wählten Holz gebauter Instrumente, und daß sie ihre Tonschönheit erst mit den
Jahren erlangten. Ich glaube nicht, daß der Spieler der Instrumente einen so
wesentlichen Einfluß ausübt; ich habe zum Beispiel vor Jahren eine echte Stradi¬
vari gesehen, die im Schlosse eines ungarischen Magnaten Wohl unberührt gelegen
hatte. Sie wurde geöffnet, mit neuem Balken, Steg und Stimme versehen und
war zwar nicht vom ersten Range, hatte jedoch ganz den Ton einer alten, abge¬
spielten Geige. Übrigens darf man nicht annehmen, daß alle italienischen Geigen,
nicht einmal solche von den berühmtesten Meistern auf derselben Höhe stehn, schwankt
doch ihr Preis von 1500 bis 40000 Mark. Auch erlaubten sich die alten
Meister, sogar Amati und Stradivari, zu den verschiednen Zeiten ihres Schaffens
kleine Abweichungen im Format, in der Dicke und in der Wölbung der Decke,
obwohl die Meister der einzelnen Schulen gewisse Eigentümlichkeiten in der Bauart
aufrecht erhielten. Da man früher mehr auf leichte Ansprache und lieblichen Ton
gab, wurden die Instrumente von Amati vorgezogen und waren auch teurer als die
von Stradivari und Quarneri, die jetzt wieder im Werte sehr gestiegen sind, da
sie einen mächtigern Ton haben und sich zum Solospiel mehr eignen.*)
Gegenwärtig haben wir in verschiednen Städten sehr gute Geigenbauer, die
natürlich die altbewährten Formen treu festhalten müssen, dann aber bei Ver¬
wendung guten Holzes fast ausnahmlos die Klangfarbe und die sonstigen Eigen¬
schaften des Instruments wenigstens annähernd erreichen können, das sie sich zum
Vorbilde nahmen. Auf welche Kleinigkeiten es dabei ankommt, ist fast unglaublich.
So gibt zum Beispiel eine Erhöhung oder Erniedrigung der aus Ahornholz her-
gestellten Zarger, eine Verbreiterung der Brust, eine Änderung der Wölbung oder
der Dicke der Decke um ^ bis 1 Millimeter sowie eine Verbreiterung oder ver¬
änderte Lage der ^-Löcher dem Instrument schon ganz andre Eigenschaften. Daß
übrigens auch die jetzt gebauten Geigen (ich scheide natürlich die fabrikmäßig ge¬
bauten billigen Instrumente aus) nicht so sehr zurückstehn, beweist schon der Um¬
stand, daß sich manche namhafte Musiker mit Vorliebe den neuen Instrumenten
zuwenden; ich erinnere nur an unsern frühern. Konzertmeister am Gewandhause
Schradick, der sogar zum Konzertspiel häufig neue Geigen benutzte, ferner, daß die
Geiger im großen Konzerthause jetzt zum großen Teil neue Instrumente spielen,
während der noch unvergeßliche David immer darauf achtete, daß die Geiger ihre
eignen besten Instrumente mitbrachten.
Der Gedanke, daß die Geigen durch fleißiges Spielen einen bessern Ton er¬
langten, ist nicht neu, jedoch mit Vorbehalt aufzunehmen. In dieser Beziehung
hat vor etwa fünfzig Jahren Villaume in Paris großartige Versuche gemacht,
indem er durch einen Motor Geigen in reiner aber wechselnder Stimmung monate¬
lang anspielen ließ, ohne jedoch wesentliche Vorteile damit zu erreichen, und infolge-
dessen von seinen Experimenten Abstand nahm. Dagegen gibt es verschiedne ein¬
fache Mittel, den Ton neuer Instrumente zu verbessern, zum Beispiel Verwendung
eines Steges von weicheren Ahornholze, Versetzen der „Stimme," dünnere Be-
faitnng, kurz alles Mittel, die die Spannungsverhältnisse und die Resonanzfähigkeit
des Holzes herabsetzen. Das letzte kann man durch ein einfaches Experiment be¬
weisen, wodurch man die Sprödigkeit und Rauheit des Tones neuer Instrumente
wesentlich verbessern kann, indem man unter die zwei Füßchen des Steges je zwei
bis drei Streifchen von wenig geleimtem Papier, zum Beispiel Zeitungspapier,
legt, jedoch so, daß an keiner Stelle eine direkte Berührung der Stegfüße mit der
Decke stattfindet.
Das Fichtenholz, noch mehr aber das Ahoruholz enthalten gewisse Mengen Kalk-
und Kalisalze (Pottasche), von denen jene gewiß für die Tonbildung ohne Belang
find, diese dagegen einen entschieden nachteiligen Einfluß haben müssen, da sie im
hohen Grade hygroskopisch sind und demnach bei feuchter Luft andre Spannnngs-
verhältnisse herbeiführen. Diese Stoffe können vor der Znsammensetzung der einzelnen
Teile durch ein einfaches Verfahren, das die Holzfasern nicht im geringsten an¬
greift, ausgezogen werden."') Alle sonstigen chemisch stärker einwirkenden Mani¬
pulationen sind zu verwerfen, das einzige, von dem man vielleicht Erfolg erwarten
könnte, das jedoch noch nicht genügend durchprobiert worden ist, dürfte die längere
Einwirkung von stark ozonhaltiger Luft auf das Holz der Decke sein.
Auf jeden Fall muß man daran festhalten, daß es physikalische und chemische
Vorgänge sind, die es mit sich bringen, daß sich der Ton der Geigen mit der Zeit
Zu höherer Klangschönheit entwickeln kann. Die Physik hat Mittel, den Ton jedes
Instruments auf seiue Qualität zu prüfen. So findet mau bei jedem einzelnen
Ton der Geige noch andre anklingende Töne, zum Beispiel die Oktave, die Quinte
und die Terz in der nächsten Oktave, die dem Ton des Instruments den eignen
Charakter geben. Außer diesen „harmonischen Obertönen" finden sich aber noch
andre mit sehr hohen Schwingungszahlen, die in die Harmonie nicht passen, die
sogenannten „unharmonischen Obertöne." Diese sind es, die bei neuen Instrumenten
vorherrschen und das Rauhe, Kratzige des Tones verursachen, bei alten dagegen
sehr zurücktreten. Das ist so zu erklären, daß diese außerordentlich hohen Töne
von dem frischen, also am elastischsten und resonanzfähigsten Holze leicht aufgenommen
werden köunen, dagegen dann, wenn die Elastizität in einem gewissen Grade ab¬
genommen hat, nicht mehr zur Geltung kommen. Wie jeder organische Körper, so
ist anch das Holz in einer fortwährenden, wenn auch sehr langsamen chemischen
Umwandlung begriffen, die nach hundert bis zweihundert Jahren einen Zustand
erzeugt, wo bei den Instrumenten die höchste Schönheit des Tones eintritt. Später
verliert das Holz seine Elastizität mehr und mehr, es wird morsch, der Ton geht
zurück, und die Instrumente nahen sich ihrem Verfall, während später gebaute In¬
strumente berufen sind, ihren Platz wieder auszufüllen.
Schon oft ist mir bei der
Betrachtung der immer noch so grassierenden allegorischen Gestalten am Sockel von
Dichterdenkmälern der Gedanke gekommen, warum man nicht etwas Sinn- und
Lebensvolleres an deren Stelle setze. Neuerdings hat man dadurch mit jenem
konventionellen Brauche zu brechen gesucht, daß man Figuren aus den bedeutendsten
und bekanntesten Werken des Dichters am Sockel anbringt, zum Beispiel am
Richard-Wagnerdenkmal in Berlin, oder doch die Allegorie in Beziehung setzt zu
den Werken, wie am Beethovendenkmal in Wien mit seiner lieblichen Verkörperung
der neun Symphonien oder am Bismarckdenkmal in Leipzig mit der prächtigen
Figur des Schmiedes vor dem Sockel. Der Zweck dieser Zeilen soll jedoch sein,
einen andern Gedanken anzuregen, der meines Wissens noch nicht ausgesprochen
worden ist, aber vielleicht doch einige Beachtung verdient. Wie wäre es, wenn
man versuchte, am Fuße von Dichterdenkmälern die Gestalten, Büsten oder
Medaillons der Männer anzubringen, die es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht
haben, des Dichters Lebenswerk und Lebensgang entwickelnd darzustellen, nämlich
seine Biographen? Haben sie nicht zu allererst ein Recht darauf, sie, die das
Verständnis des Dichters und die Liebe zu ihm in die weitern und tiefern Kreise
des Volkes getragen haben, die gleichsam die Vermittler sind zwischen Dichter und
Publikum, die zur Verbreitung seiner Ideen, zur Wiedererweckung und zur Erneuerung
seines Wesens durch ihr Werk beigetragen haben? Sollen sie nicht auch ihr be¬
scheidnes Teil haben, sie, die des Dichters Bild lebendig erhalten helfen im Bewußt¬
sein der Nachwelt? Natürlich dürften nur solche Männer dieser Ehre gewürdigt
werden, die wirklich den Dichter, den sie schildern, in sich aufgenommen und
künstlerisch dargestellt haben, die also eine Art Geistesverwandtschaft — Kongenialität,
wie es jetzt heißt — mit ihrem Helden verbindet. Es würde also um ein neues
Goethedenkmal nicht etwa der ganze Chor der Goethephilologen von Eckermann
bis Richard M. Meyer aufmarschieren, sondern nur die Auserwählten daran Platz
finden dürfen, die seinen Geist sozusagen gebannt und im großen in sich aufgebaut
haben, auf die selbst ein Abglanz von des Dichters Stirn fällt, die selbst kleine
Fürsten sind im Reiche des Geistes, also etwa die Büsten von Herman Grimm
und Viktor Hehn. Nach diesem Grundsatz müßte dann auch bei den Denkmälern
unsrer übrigen Dichterfürsten Verfahren werden, wobei freilich die Auswahl nicht leicht
ist. Auch darf ja die Idee nicht pedantisch durchgeführt werden, was auch gar
nicht immer möglich ist, zum Beispiel für Schiller, der noch keinen überragenden
Interpreten seines Wesens gefunden hat. Auch scheint sich für ihn wegen seiner
größern Popularität eine bildliche Darstellung von Gruppen und Figuren aus den
berühmtesten seiner Dramen besser zu eignen — wir wünschten uns Wohl ein
solches Schillerdenkmal wie das Grillparzers in Wien! Der gemachte Vorschlag
soll nur dazu dienen, das langweilige Einerlei unsrer Denkmäler zu durchbrechen,
den Sockelgestalten mehr Bedeutung zu verleihen und das Andenken der um den
Dicht
>le Geschichte der Entwicklung politischer Parteien im modernen
Sinne in Rußland ist nicht alt. Zwei, drei Jahrzehnte nur
wurden mit der Vorbereitung des Bodens für ihr Entstehn
ausgefüllt — zwei, drei Jahre genügten zum Aufkeimen der
! politischen Saat, und noch ist kein volles Jahr seit dem offnen
Hervortreten der ersten bürgerlichen Partei hingegangen, und schon haben
sich fast alle gebildeten Schichten der russischen Gesellschaft mit dem unge¬
wohnten Panzer politischer Gemeinsamkeit umgürtet zum Kampfe gegen die
Regierung, gegen die Bureaukratie und die Selbstherrschaft oder zur Abwehr
der Revolution und der Konstitution.
Aus diesen Tatsachen dürfen wir aber durchaus nicht schließen, daß nun
in der Gesellschaft an die Stelle duldsamer Trägheit gleichmäßig eine Selbst¬
tätige Initiative getreten wäre. Die große Masse d. r Bauernbevölkerung und
der größere Teil der Handel- und Gewerbetreibend. >l stehn auch heute uoch
jeder politischen Betätigung fern, und die Mehrzahl des grundbesitzenden Adels
schließt sich nur unter dem Druck der Bauernunruhen widerwillig politischen
Abwehrorganisationen an. Zweifellos hat sich manches gebessert. Der mi߬
vergnügte russische Edelmann geht schon seit Jahren nicht mehr wie sonst
gewöhnlich nach Baden-Baden, Paris oder Monaco, um das traurige Schicksal
seines Vaterlandes bei Spiel und Champagner zu vergessen. Die Mehrzahl
der russischen Patrioten besucht heute die Universitäten, die großen Industrie¬
zentren, studiert die sozialen Verhältnisse des Proletariats in der ganzen Welt,
sucht die Organisation der modernen Staaten mit ihren tausendfachen Glie¬
derungen zu begreifen und stellt sich dann in den Dienst der Selbstverwal¬
tungen, wo sie sich bemüht, die im Auslande gewonnenen Ideen in die Praxis
zu übertragen. Aber auch diesen besten Bestandteilen der russischen Gesellschaft
fehlt es nach wie vor noch an System und Vorbedacht, an der Fähigkeit, sich
zu vertiefen, intensiv vorzubereiten und im entscheidenden Augenblicke von der
stillen Arbeit zu entschiednen Auftreten überzugehn. Die Stärke des Russen
liegt in der Defensive. Zu bequem, zu sehr in Abhängigkeit von seinen:
Gefühl, zu wenig anspruchsvoll auf der einen und maßlos ans der andern
Seite versteht es der Vollblutrusse noch immer nicht, um seinen eignen Vor¬
teil zu kämpfen. Von außen muß er darauf gestoßen werden. Gut geleitet
und vorsichtig beaufsichtigt, daß seine Eigenliebe nicht leide, wird der Russe
wegen seiner hohen Intelligenz auf jedem Gebiet Ausgezeichnetes leisten. Ist
ihm aber die Freiheit beschert, dann träumt er ins Uferlose und ist maßlos
in seinen Forderungen, die zu erzwingen ihm in den meisten Fällen die moro^
lischen und die materiellen Mittel fehlen. Wir haben das bei dem ganzen Zu¬
standekommen der großen Reformen von 1861 bis 1863 gesehen, wir konnten
es in dem Verhalten der Sjemstwo in den Jahren nach diesen Reformen
beobachten. Entweder trieben die Sjemstwo weitschweifende Politik, oder sie
vernachlässigten ihre Pflichten vollständig — auf eine ernste lokale Tätigkeit
beschränkten sich nnr wenige, und an die Schaffung des für spätere politische
Tätigkeit unentbehrlichen Rückhalts bei der Bevölkerung dachte niemand. In
ähnliche Fehler verfiel die Sjemstwo und mit ihr der gesamte Adel auch jetzt
wieder, als Fürst Swiatopolk-Mirski die Gesellschaft zum Vertrauen gegen die
Regierung ermahnte. Die einen sahen den schnell aufeinanderfolgenden Er¬
eignissen tatenlos zu, die andern feierten gemeinsam mit der Intelligenz und
mit den Studenten geräuschvolle Freiheitsorgien. Wenige nur gemähnten von
Anfang an zu Ruhe und Vorsicht. Die natürliche Folge hiervon war, daß
die Leitung der fortschrittlichen Bewegung von Anfang an in die Hände solcher
Leute geraten ist, die seit Jahrzehnten im geheimen an der Verbesserung ihrer
eignen politischen Lage gearbeitet haben, und die seit langer Zeit unter Dar¬
bringung heroischer Opfer mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln im
In- und im Auslande Propaganda für sich und ihre Ideen getrieben haben.
Diese Kreise haben den etwas anspruchsvoll klingenden Namen „Intelligenz."
Als ein „Intelligent" bezeichnet sich heute in Rußland jeder Feind der gegen¬
wärtigen Regierung, der schreiben und lesen kann und der die nationale
pach'ovkg, mit dem westeuropäischen Gehrock vertauscht hat; während doch die
Bezeichnung nur denen zukommt, die eine höhere Bildung genossen haben.
Auch hier wie auf allen Gebieten des Volkslebens hat eben die Regierung die
Untertanen zum Schaden des Staats und der Gesellschaft demokratisiert.
Die Zusammensetzung der Intelligenz ist infolge der Annexion der West¬
provinzen der Zahl nach nicht vorwiegend russisch, sondern „fremdvölkisch"
(inoroäst?). Denn in den westlichen Provinzen ist sowohl die Bildung wie
die Unzufriedenheit größer als in denen des Stammlandes, ganz abgesehen
davon, daß auch die Bildung der russischen Gesellschaft nicht auf nationalem
Boden entstanden, sondern vom Westen übernommen worden ist. Das hier¬
durch zutage tretende Versagen der nationalen Kräfte erkläre ich mir haupt¬
sächlich aus der Verknöcherung der orthodoxen Kirche, die dem nach Bildung
lechzender Volke nichts andres zu geben vermochte als bigotten Bilderdienst
und grausame Beschränkung. Dadurch wurde auch die geistige Kluft zwischen
dem Adel und dem Volk immer tiefer, trotz den so ausgedehnten gemein¬
samen ethischen und materiellen Interessen. Die höhern nationalgesinnten
Klassen fanden keine Ergänzung aus dem Volk, und die starken Bestandteile,
die sich aus der großen Masse emporzuheben vermochten, streiften mit der
Bildung nicht nur die Anhänglichkeit zur Kirche ab, sondern verloren auch
jedes nationale Gefühl, an dessen Stelle kosmopolitische Tendenzen und ein
unersättlicher Kulturdünger traten. Die einen wurden Glieder der Beamten¬
hierarchie, die andern Revolutionäre. Dementsprechend ist denn auch das
moderne Parteileben in Rußland recht eigentlich kein Kind der russischen Erde;
es hat sich nicht folgerichtig aus den Anschauungen und den Bedürfnissen der
alteingesessenen russischen Gesellschaft entwickelt, wie das etwa in England der
Fall war, sondern es ist mit der Bildung künstlich von außen, vom Westen
hereingetragen worden. Das trifft ohne jede Einschränkung für alle aktiven,
angreifenden Parteien des Fortschritts zu, während sich die später nur als
natürliche Folge jener entstandnen passiven Parteien wenigstens bemühen, den
Zusammenhang mit altrussischen slawophilen und panslawisüschen Ideen auf¬
recht zu erhalten. Wie ich später zeigen werde, gelingt solches Streben nicht
immer, und wo überhaupt von ernster politischer Tätigkeit die Rede sein kann,
da sind es reine westeuropäische Ideen, die zur Geltung kommen. Das kann
auch gar nicht anders sein. Sie wurden dem alten russischen Baum unbewußt
aufgepfropft, als die baltischen Provinzen, das Zartum Polen und Litauen
mit ihrer gemischten Bevölkerung von Deutschen, Polen und Juden der
Zarenkrone unterworfen wurden. Erst nachdem diese Landesteile in russischen
Besitz übergegangen waren, konnte von einer Sicherstellung der Bemühung
Peters des Ersten, Moskowien zu europäisieren, gesprochen werden. Die
Bewohner der Westprovinzen knüpften erst die unzähligen Adern und Fasern,
durch die sich die Säfte des alten Holzes mit denen des neuen verbinden
konnten. Eine völlige, innige Bereinigung des wilden Baumes mit dem
Pfropfreis der Kultur wurde aber erst möglich, nachdem beide von demselben
Regen befeuchtet und von denselben Stürmen — von der Willkür der Bureau¬
kratie — zerzaust worden waren. Erst das Auftreten Murawjoffs in Polen,
die Jgnatjewschen Gesetze gegen die „Fremdvölker" (moroäos), die Ungerechtig¬
keit der neuesten Gesetzgebung gegen die Juden und das Joch eines Pobje-
donostzew haben im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung des
Landes die Gemeinsamkeit ethischer und materieller Interessen geschaffen, auf
deren Humusboden die Opposition gegen die kulturfeindliche Regierung nnr
aufwachsen und gedeihen konnte. Damit hat die Regierung, wenn auch nicht
in der gewollten Form, in den letzten fünfundzwanzig Jahren das erreicht,
was sie erstrebt hat: die Assimilation der Fremdvölker mit den Russen,
wenigstens soweit die gebildeten Klassen in Betracht kommen; aber nicht die
Deutschen, Polen, Juden haben russische Gewohnheiten angenommen, sondern
umgekehrt; die stärkere westeuropäische Kultur hat über die halbasiatische ge¬
siegt. Mit dieser Auffassung will ich durchaus nicht bestreiten, daß es schon
zur Zeit Peters des Großen WMäviKi, d. h. Freunde westeuropäischer Kultur
unter den Moskowitern gegeben habe. Zu allen Zeiten sind die Bestrebungen
der sogenannten „Intelligenz" mit westeuropäischen Ideen durchtränkt gewesen,
besonders nach der großen Revolution in Frankreich. Aber die heutige poli-
lische Bewegung in Nußland bleibt unter Berücksichtigung der oben kurz
skizzierten Regierungspolitik in den letzten fünfundzwanzig Jahren dennoch ein
Kind der allerjüngsten Geschichte, modern wie ihre Träger, die sogar mit der
Bewegung der sechziger Jahre nur lose Verbindung haben.
Worauf diese Verbindung beruht, soll — soweit sie für die Gegenwart
von Interesse ist — später im einzelnen ausgeführt werde».*) Im allgemeinen
können wir uns darauf beschränken, mit den achtziger Jahren zu beginnen,
weil damals nach der Bankrotterklärung des russischen slawophilen Kommu¬
nismus die älteste der heutigen oppositionellen Parteien öffentlich hervortrat:
in der Schweiz begründete sich aus den geflüchteten Überbleibseln der Nihilisten
und Narodniki die sozialrevolutionäre Partei.
Die Sozialrevolutionäre waren und sind „Bodenreformer." Was sie
wollen, läßt sich ausdrücken mit den Worten, die Thomas Spence im Jahre
1796 in seiner Schrift Ins inöriäig,n sun ol libsrt^ niedergeschrieben hat:
„Das Land mit allem Zubehör wird in jedem Gemeindebezirk Eigentum der
Körperschaft oder der Gemeinde mit eben derselben freien Befugnis zum Ver¬
pachten, Wiederhersteller oder zur Veränderung des Ganzen oder eines Teils,
wie sie der Gutsherr genießt; aber das Recht, auch nur das kleinste Stück, in
welcher Art es auch sei, aus dem Gemeindebesitz zu veräußern, wird für jetzt
und immer versagt." Einen Nutzen am Boden soll nur der haben, der ihn
selbst bearbeitet. In einer von den Sozialrevolutionären verfaßten und von
hundertundvierunddreißig Chersoner Bauern im April 1905 unterschriebnen
Petition lautet Punkt 9: „Unsre Vertreter werden dafür Sorge tragen, daß
nach und nach den Gutsbesitzern alles Land abgenommen und uns zugeteilt
wird durch Übergabe an die Gemeinden, damit nur der das Land besitze, der
es auch tatsächlich bearbeitet." Das Gebaren dieser Partei ist eben so töricht
wie gefährlich und erinnert lebhaft an das Treiben der Anhänger Spences.
Sie will, ebenso wie es die Narodniki wollten, die Verteilung des Gutslandes
an die Bauern durch den Bauernaufstand erreichen. In einem Lande, wo so
wenig Bildung herrscht wie in Rußland, muß ihre Tätigkeit auch dann staats¬
gefährlich sein, wenn es eine Republik auf der breitesten demokratischen Grund¬
lage wäre. Ihre Taktik besteht im Betrüge des Volks, da ihre Anhänger
anders Gefahr laufen, von denselben Leuten aufgehängt zu werden, die sie
mit ihren Ideen beglücken wollen. So erreichten sie im Jahre 1902 in
Poltawa, wo tatsächlich von Landmangel bei den Bauern gesprochen werden
darf — das Gouvernement ist ebenso dicht bevölkert wie Belgien —, nur
dadurch eine Bauernrevolte, daß einer von ihnen in der Uniform des Kreis¬
chefs ein mit goldnen Buchstaben geschriebnes, angeblich vom Zaren unter¬
zeichnetes Manifest verlas, worin den Bauern bekannt gegeben wurde, das
Land der und der benachbarten Großgrundbesitzer gehöre ihnen. In jedem
geordneten Staatswesen würden die praktische Propaganda treibenden Anhänger
der radikalen Bodenreform als gemeine Verbrecher vor den Strafrichter ge¬
zogen werden. In Rußland paktiert die Gesellschaft mit ihnen, weil sie ihrer
bedarf, um den herrschenden Klassen Unannehmlichkeiten zu bereiten und die
Regierung zu diskreditieren. Das Organ der Gruppe sind die „Schriften der
sozialrevolutionären Partei," die in der Schweiz erscheinen, und Krestjanskaja
Gazeta in Ssamara.
Daß sich eine Partei wie die gekennzeichnete fünfundzwanzig Jahre lang
zu halten vermochte, läßt darauf schließen, in welcher unnormalen Richtung
sich die Landwirschaft in Nußland entwickelte. Dennoch wäre es falsch, an¬
zunehmen, die traurigen Wirtschaftsverhältnisse hätten die weitere Bildung
regierungsfeindlicher Parteien allein hervorgerufen, woraus wiederum ge¬
schlossen werden könnte, diese Parteien seien die notwendige Folge der nationalen
Mißwirtschaft. Sogar unbedingte Alihänger der materialistischen Geschichts¬
auffassung werden sich aber hier in Nußland überzeugen können, wie wenig
die wirtschaftliche Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die
Entwicklung der Fortschrittsparteien beeinflußt hat, und sie werden zugeben
müssen, daß in den achtziger Jahren die sozialistischen Ideen nicht im Dienste
der Bauern standen, sondern umgekehrt, daß die Bauern gezwungen wurden,
sich in den Dienst dieser Ideen zu stellen. So wird von den Sozialrevolutio¬
nären der Gemeindebesitz noch zu einer Zeit verteidigt, wo die Bauern nur
durch Härten und Ungerechtigkeiten aller Art von der Negierung zum Fest¬
halten am Gemeindebesitz gezwungen werden können. Weiter sei darauf
hingewiesen, daß diese einzige noch an die Narodniki anknüpfende Fortschritts¬
partei, wie wir sehen werden, zu ihrem größten Teil im Lager der Sozial¬
demokraten verschwand, weil für ihre Ideen im russischen Volke der Boden
fehlte. Von Westen her begannen die Lehren Marxens durchzusickern, und die
Sozialdemokraten in Deutschland durften ihre Theorien öffentlich vertreten.
Das Eindringen der Sozialdemokratie ging aber fo langsam vor sich, daß sich
die Industrie in Nußland schon längst zu ihrem heutigen Umfang entwickelt
hatte, ohne daß es unter den Arbeitern Sozialdemokraten gegeben hätte. Also
auch hierin ein Kampf der Geister, kein Ringen wirtschaftlicher Kräfte!
Das Eindringen der Sozialdemokratie und ihr Sieg über die kommu¬
nistischen Überbleibsel bei den Sozialrevolutionären unterstützt von neuem
meine Behauptung, das Parteileben in Nußland sei nicht russischen Ursprungs.
Die Organisation der russischen sozialdemokratischen Partei kam wie die
vorher erwähnte in der Schweiz zustande. Sie nahm das bekannte Programm
der internationalen Sozialdemokratie an und machte es sich zur nächsten Auf¬
gabe, das städtische Arbeiterproletariat zu organisieren. Theoretisch war sie
im Gegensatz zu der ältern Schwester nicht als eine revolutionäre Partei zu
bezeichnen, praktisch hat sie seit diesem Jahre das Gegenteil bewiesen. Ihre
Organe sind Jskra (der Funke) und Wperjod (Vorwärts), dieser herausgegeben
von Lenin und Bontsch-Vrujewitsch.
Innerhalb der großen sozialdemokratischen Partei bildeten sich um das
Jahr 1900 Spaltungen, die anfänglich aus organisatorischen Rücksichten not¬
wendig geworden waren, dann aber doch eine tiefere Scheidung hervorriefen,
als beabsichtigt worden war. Es entstanden: die lettische sozialdemokratische
Arbeiterpartei (I.. L. v. L,. ?.), die polnische sozialdemokratische Partei (?. ?. 3.),
die armenische sozialdemokratische Organisation 8. v. 0.) und der jüdische
„Bund." Besonders unter den Mitgliedern der drei letzten Gruppen wurden
bald nationalistische Tendenzen bemerkbar. Das ist bei den Parteien ver¬
ständlich unter Berücksichtigung der politischen Verfolgung, der die Armenier,
die Polen und die Juden durch Pobjedonostzew ausgesetzt waren, während
die Letten von der Regierung als willkommnes Werkzeug gegen das Deutschtum
in den baltischen Provinzen in Ruhe gelassen wurden. Schließlich darf auch
nicht die Tätigkeit des famosen Spitzels Subatow außer acht gelassen werden,
der anfangs in Odessa, später in Moskau und in Petersburg die Fabrikarbeiter
auf christlich-sozialer Grundlage für einen ausgesprochnen Antisemitismus zu
dressieren versuchte. Für kurze Zeit wenigstens hat er begünstigend auf die
Spaltung gewirkt. Alle die aufgeführten Gruppen haben ihre eigne Presse.
Sie erscheint in russischer, polnischer, hebräischer, armenischer und keltischer
Sprache und im jüdischen Jargon. Die Auslagen der Zeitungen schwanken
zwischen hundert und hunderttausend Exemplaren. Sie werden alle in der
Schweiz gedruckt, doch läßt der „Bund" seit dem Ausbruch der Revolution
im Ansiedlungsrahon*) ein Filialblatt erscheinen, das ziemlich regelmäßig auf
die Kaiserliche Post (!) gegeben und von dieser in die Hände der Abonnenten
befördert wird. Dieses Filialblatt unterrichtet uns über den Stand der gegen¬
wärtigen revolutionären Bewegung und bringt ein Verzeichnis von Mitgliedern
der politischen Polizei sowie aller derer, die im Verdacht stehn, Spionage¬
dienste zu leisten. Besonders gefährlich erscheinende Gegner werden durch
Veröffentlichung ihrer Photographie den Mitgliedern der Partei vorgestellt,
und es ist beobachtet worden, daß schon wenig Tage später in den offiziellen
Telegrammen zu lesen steht: „Dieselbe Persönlichkeit fiel einem Mordanschlage
zum Opfer."
Überhaupt ist der „Bund" unter den radikalen Gruppen die tüchtigste.
Er mußte es werden, weil die Juden nicht nur um materielle Besserstellung
kämpfen müssen, sondern um das ursprünglichste Menschenrecht: die Daseins¬
berechtigung — er konnte es werden, weil er seine Kraft aus dem nationalen
Ideal, aus dem Zionismus schöpft. Der Zionismus wurde unter der Ein¬
wirkung des Sozialismus seiner utopischen Träumereien entkleidet; der moderne
jüdische Zionist erkennt sein Zion nicht mehr in den sterilen Landstrichen
Palästinas, sondern in den weiten, fruchtbaren Ebnen Westrußlands, in denen
sein Volk seit fast neunhundert Jahren heimisch ist. Es ist sehr verlockend,
dieses Thema hier weiter auszuspinnen, wenn man dem Leser ein richtiges
Bild von der großen Kraft der Bundorganisation geben und zeigen will,
welchen gewaltigen Zuwachs an moralischer Kraft das Judentum in Rußland
seit einem Menschenalter gewonnen hat, und eine wie starke politische Macht
mit den Juden unter den Slawen herangewachsen ist. Der mir zur Verfügung
gestellte Raum verbietet es mir leider. Es sei darum nur noch erwähnt, daß
die Organisation des Bundes selbst von zurückgekehrten Auswandrern aus
Amerika und aus England importiert wurde. Sie beruht auf einer be¬
wunderungswürdigen Hingebung der Massen an ihre Führer und auf straffer
Disziplin. Es bedürfte einer einzigen Mitteilung (am 10./23. Januar 1905),
in Petersburg sei die Revolution ausgebrochen, und das jüdische Prole¬
tariat von ganz Litauen und Polen griff zu den Waffen, ihre christlichen
Gesinnungsgenossen mit sich reißend. Es wird ein Wink von den Führern
genügen, die heutigen Straßenkämpfer in friedliche Arbeiter zu verwandeln.
Mit Rücksicht auf diese straffe Disziplin wird jeder, der dem Befreiungskampf
der russischen Gesellschaft überhaupt sympathisch gegenübersteht, auch den
jüdischen „Bundisten" eine gewisse Achtung nicht verweigern dürfen. Ihre
Kampfmittel sind zwar gemein, aber es sind dieselben, mit denen die Reaktion
die Juden seit Jahren zu vernichten strebt.
Die Zahl der Sozialrevolutionäre, der Bodenreformer, ist gering. Hier
in Rußland werden zurzeit schwerlich mehr von ihnen sein als fünfzig. Ihre
Propagandistische Tätigkeit ist im Wolgagebiet, wo Tataren, Kalmücken und
auch Russen den Gemeindebesitz nicht aus der Praxis kennen, besonders stark
und auch von Erfolg begleitet. Die Zahl der Sozialdemokraten — ich meine
damit alle von den Sozialdemokraten organisierten männlichen Arbeiter —
setzt sich zusammen aus ungefähr 20000 bis 25000 Russen, 6000 Polen,
6000 Letten und Ehlen und 250000 Juden — zusammen höchstens 300000
von der 2 Millionen starken städtischen Arbeiterbevölkerung. Die Theoretiker,
wie Professor Jssajeff und Tugan-Barauowski, gehören zurzeit nicht zu der
Partei
Außer den beiden organisierten revolutionären Parteien gibt es auch in
Rußland noch eine ganz kleine Gruppe, die den engherzigen, an Anarchismus
streifenden Standpunkt des individuellen Egoismus, dem kein Opfer ver¬
weigert werden darf, vertritt. Familie, Freundschaft, Religion, Vaterland,
Persönliche Ehre — das sind in den Augen dieser Leute keine Ideale, für sie
gibt es nur das eigne „Ich," den eignen Magen und die eignen Sinne!
Sie rekrutieren sich vorwiegend aus den sogenannten besten russischen Familien
des Landes, deren sonstige Mitglieder der Reaktion dienen. Man erinnere
sich an Trepow und Leontjew, beides nahe Verwandte des gegenwärtigen
Polizeiministers! Im Pagenkorps, dessen Zöglinge mit der größten Sorgfalt
ausgewählt werden, wurden im Mürz 1905 zwei junge Leute der Beteiligung
an anarchistischen Umtrieben überführt. Ein trauriges Zeichen der Verwahr¬
losung der sogenannten „staaterhaltenden Elemente"! Mit Rücksicht auf die
maßlosen, törichten Anschuldigungen, die fortwährend gegen die Mitglieder der
kaiserlichen Familie erhoben werden, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen,
daß kein objektiv urteilender Beobachter der Verhältnisse in das Geschrei der
„Professor" Rechner und Ko. einstimmen kann. Der Hauptfehler der Groß-
fürsten liegt darin, daß sie ohne genügende Vorbildung allerhand wichtige
Stellungen im Staatsdienst einnehmen. Dadurch werden sie hoffnungslos
den Machenschaften der sie umgebenden Kreaturen ausgeliefert, die sich unter
dem Schutz des großfürstlichen Namens die Taschen füllen, Sie sind ebenso
ein Opfer der Bureaukratie geworden wie das gesamte Volk. Auch was die
moralischen Eigenschaften der Großfürsten anlangt, ist maßlos übertrieben
worden, nur um damit politische Erfolge zu erreichen, Sie sind Menschen
wie wir alle, und es gibt unter ihnen Gerechte und Ungerechte,
Die Leute, die Rußland an den Rand des Abgrundes geführt haben,
sind die Schmeichler und Speichellecker, die ebenso wie der überzeugte Anarchist
unter dem Deckmantel eines gerade praktisch verwendbaren Ideals nur an den
eignen Vorteil denken. Das ist auch der Grund, daß ich sie hier mit den
revolutionären Parteien in einem Atemzuge nenne.
Wir kommen damit zu der Gruppe, die häufig fälschlicherweise konservativ
genannt wird, die aber in Wirklichkeit als die Nährerin und die Trägerin
der Anarchie zu bezeichnen ist. Es sind das die Leute, in deren Dienst sich
seit geraumer Zeit die Bnrecmkatie und die Neptilienpresse wie Moskowskija
Wjedomosti, swjet, Nowoje Wremja u, a. gestellt haben. Sie segeln unter
der Flagge „Interesse des Vaterlandes." Die Mittel, die sie anwenden, ab¬
sorbieren alle Kräfte des Landes — moralische, geistige und materielle — für
den Dienst einer durch den Entwicklungsstand des Landes nicht gerechtfertigten
Expansionspolitik, an der sich einige an den Fingern aufzählbare Personen
bereichern, ohne auch nur im geringsten die Reichtümer, die im Lande und in
dem hochintelligenten Russenvolke schlummern, für die fortgesetzte Stärkung
des „Staates" zu nutzen. Willkür, Diebstahl und Demoralisation waren die
nächsten Folgen der der Reaktion dienenden Politik, der unglückliche Verlauf
des Krieges gegen Japan ihre weitern.
Seit dem Beginn der Regierungszeit Alexanders des Dritten hat es in
Rußland keine bauende Hand gegeben. Die Regierung zerstörte, die Bureau¬
kratie stahl und erzog auch die Gesellschaft zu Zerstörung und Diebstahl.
Unter diesen Verhältnissen, die uns in besonders charakteristischen Strichen
E. von der Brügger („Das heutige Rußland," Leipzig, Veit und Co., 1902)
gezeichnet hat, konnte sich natürlicherweise kein konservatives Element als
Stütze der Regierung erhalten oder gar entwickeln. Und als diese durch den
Krieg in Schwierigkeiten geriet, als Meuchelmord Minister und Angehörige
des Zarenhauses aus dem Leben riß, da hatten die empörten Kreise der
Gesellschaft, sogar solche, die durch ihre Herkunft, Bildung und wegen ihres
Besitzes als konservatives Element eigentlich für den Staat und seine Autorität
eintreten mußten, nur Sympathien für die Mörder und rückhaltlose Verurteilung
des „Systems" übrig. Eine furchtbare Verwirrung aller Begriffe ist dadurch
in die russische Gesellschaft hineingetragen worden, aus der hinaus ein Weg
noch nirgends erkennbar ist. (Fortsetzung folgt)
^"NW?I
/Ä^ZU> le kleinen Staaten im Deutschen Reiche sind nahe daran, in eine
finanziell unhaltbare und damit auch politisch unhaltbare Lage
zu geraten. So ungefähr klang wiederholt die Klage im deutschen
Reichstage und ebenso die Klage in der deutschen Presse aller
! Parteien, kürzlich auch in den Grenzboten. Wenn die Frage bis
dahin nicht akut geworden ist, so hat das nur der Beschluß des Bundesrath
und des Reichstags verhindert, daß im Reichshaushaltsetat die Matrikular-
beitrcige der Einzelstaciten nicht, wie es nach der Reichsverfassung hätte geschehen
sollen, entsprechend erhöht sind, daß vielmehr zur Deckung des Fehlbetrags im
Reichshaushaltsetat Jahr für Jahr neue Neichsschulden gemacht worden sind
und gemacht werden.
Die Finanznot der kleinen Staaten wirkt natürlicherweise auf die Ge¬
meinden und die Kreise zurück; sie sind durchweg, soweit nämlich nicht das Ein¬
kommen aus altüberliefertem Grundbesitz, insbesondre Forsten, die Kommunal¬
lasten erleichtert, in derselben Finanznot wie ihre Staaten, die ihnen keine
Hilfe gewähren können, sodaß die Kommunallasten schon in sehr vielen Städten
eine solche Höhe erreicht haben, daß der Zuzug von Personen, die ihren Aufent¬
halt frei wählen können, aufhört, und der Wegzug solcher meist recht leistungs¬
fähigen Personen mehr und mehr zunimmt. Es steht nun einmal für alle
diese Personen bei der Wahl des Aufenthalts die Frage nach der Höhe der
Steuern und die Frage nach den Mietpreisen an der ersten Stelle; daß diese
von den Steuern wesentlich beeinflußt werden, liegt ja auf der Hand.
Am schlimmsten scheinen die Verhältnisse für fast alle kleinen Staaten in
Thüringen zu liegen; und dasselbe ist der Fall für deren Gemeinden. Die
Staatseinkommensteuern beginnen durchweg schon bei einem Einkommen von
etwa 2000 Mark mit 3 Prozent und steigen rasch auf 4 Prozent, während
in Preußen vom Einkommen erst bei etwa 30000 Mark 3 Prozent und bei
etwa 100000 Mark 4 Prozent erhoben werden; die Folge ist, daß 100 Prozent
dieser Steuer für den Staat und 100 Prozent einer ebenso hohen Gemeinde¬
steuer in den Staaten und den Gemeinden Thüringens etwas ganz andres,
weit mehr bedeuten als in Preußen und in den preußischen Gemeinden.
Auf diese hohen Einkommensteuern wirkt nun ganz wesentlich ein Um¬
stand ein, den wir hier einmal besprechen wollen, nämlich die Unterbindung
bestimmter Einkommensteuerquellen durch die mit Preußen abgeschlossenen
Staatsverträge wegen der Eisenbahnen in den thüringischen Staaten, in denen
unsers Trachtens die preußische Eisenbahnverwaltung von Anfang an den vor-
nehmen Standpunkt: „Jedem das Seine" nicht eingehalten und mehr den Stand¬
punkt: „Denn ich bin groß, und du bist klein" eingenommen und durchgeführt hat.
Wir erinnern uns, daß in einer Kommissionssitzung des Landtags, insbesondre
zugunsten der Gemeinden, betont worden ist, es sei doch, wo alle preußischen
Gemeinden das Recht zur Einkommenbesteuerung des Eisenbahnfiskus haben,
nicht loyal, sich in Staatsvcrträgen gegenüber außerpreußischen Gemeinden die
Freiheit von der Einkommen- usw. Besteuerung auszubedingen, worauf der
damalige Eisenbahnminister nur die kühle Erwiderung gehabt hat, es hätten
sich ihre Regierungen solches gefallen lassen.
Genug, es steht fest, daß die Staaten und die Gemeinden in Thüringen
den preußischen Eisenbahnfiskus nicht besteuern dürfen — auf Ausnahmen in
bestimmtem Umfange kommen wir später zu sprechen —, weiter aber, daß
Preußen Eisenbahnunternehmungen, mögen sie private sein oder andern Staaten
gehören, mindestens mit der Eisenbahnabgabe für den Staat, teilweise auch
mit andern Staatssteuern belegt, insbesondre aber den preußischen Gemeinden
die vollständigste Besteuerung vom Einkommen der in den Gemeinden liegenden
Eisenbahnstationen nach ihrem Ertrag erlaubt. Ferner steht fest, daß infolge
dieser Steuerfreiheit in andern Staaten die preußische Eisenbahnverwaltung
ganz bedeutende Ersparnisse macht, die auf mehrere Millionen Mark jährlich
zu schätzen sein werden, sodaß der Überschuß der preußischen Eisenbahnver¬
waltung zu solchem Teile in Steuerersparnissen besteht, in der Ersparnis von
Steuern, die andern deutschen Staaten und ihren Gemeinden zukommen sollten
und müßten, wenn anders bei Abschluß der Staatsverträge der Grundsatz:
„Jedem das Seine" hochgehalten wäre und würde. Das ist leider nicht der
Fall gewesen und auch heute noch nicht der Fall, da auch die neuesten
Staatsverträge die Klausel der Steuerfreiheit für den preußischen Eisenbahn¬
fiskus enthalten, so noch, um nur ein Beispiel zu geben, in dem Staats¬
verträge zwischen Preußen, Sachsen-Weimar und Sachsen-Koburg-Gotha wegen
der Erbauung und des Betriebes der Eisenbahn Schleusingen-Ilmenau durch
Preußen vom 12. Mürz 1898, wo Artikel X lautet: „Die Großherzoglich
Sächsische und die Herzoglich Sachsen-Koburg-Gothaische Regierung verpflichten
sich, von der Eisenbahnunternehmung und dem zu derselben gehörigen Grund und
Boden keinerlei Staatsabgaben zu erheben, noch auch eine Besteuerung derselben
zugunsten der Gemeinden und sonstigen korporativen Verbände zuzulassen."
Man wende nicht ein, der preußische Staat habe vielleicht in Thüringen
einige weniger rentable Eisenbahnen gebaut, und diese Tatsache rechtfertige
das Verlangen nach Steuerfreiheit von Staats-, Kreis- und Gemeindesteuern.
Die neu gebauten Eisenbahnen rentieren wohl ohne Ausnahme gut; wenn
aber auch die eine oder die andre kleinere Eisenbahnlinie nicht sofort voll-
stündig rentiert hat, so hat sie doch der Hauptbahn indirekt Vorteil gebracht,
als Zubringer für Personen- und Frachtverkehr gedient; unbedingt verstößt
aber diese Steuerfreiheitsklausel bei jeder einzelnen neuen Eisenbahnlinie gegen
den Grundsatz: „Jedem das Seine" in dem Augenblicke, von dem an anzu¬
erkennen ist, daß sich die neue Eisenbahnlinie angemessen rentiert, mag man
die Rente so oder so billigmäßig in dem Staatsverträge vereinbart haben.
Für die Hauptbahn in Thüringen — von Bebra-Eisenach bis Leipzig —
besteht aber ohne Frage eine großartige Rentabilität, sodaß die an ihr liegenden
preußischen Städte große Kommunalsteuern vom Eisenbahnsiskns beziehen, die
thüringischen Staaten, die von ihr und ihren Nebenlinien, wie sie beim Über¬
gange an den preußischen Staat bestanden, durchschnitten werden, nichts all
Steuern und ihre Gemeinden ebenfalls nichts an Steuern erhalten.
Der Übergang dieser Privateisenbahn geschah im Jahre 1882 an den
preußischen Staat auf Grund des Gesetzes vom 28. März 1882; diesem Ge¬
setze liegen, da die thüringischen Staaten Sachsen-Weimar, Sachsen-Koburg-
Gotha, Sachsen-Meiningen, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sonders¬
hausen und Reuß jüngere Linie bei der Thüringischen Eisenbahngesellschaft
teils durch Besitz von Aktien, teils durch Übernahme der Garantie für einzelne
Eisenbahnlinien, teils durch einen Anteil an der von der Gesellschaft zu
zahlenden Eisenbahnabgabe finanziell beteiligt waren. Verträge (nicht Staats¬
verträge) vor, worin die finanzielle Auseinandersetzung zwischen diesen Staaten
und der preußischen Eisenbahnverwaltung niedergelegt worden ist.
Außerdem wurden mit denselben Staaten von Preußen Staatsverträge
wegen der zu der Zeit dem thüringischen Eisenbahnunternehmer angehörenden
Eisenbahnen im Jahre 1882 abgeschlossen, und diese sind in der Gesetz¬
sammlung Preußens vom Jahre 1832 veröffentlicht worden. Sie sind im
wesentlichen gleichlautend und enthalten im Artikel 3 die Bestimmung, daß die
Landeshoheit über die Eisenbahnen den gedachten Staaten vorbehalten bleibt,
jedoch mit bestimmten Beschränkungen, von denen für die hier besprochne Frage
die Nummer 4 folgendermaßen lautet:
„Die Befreiung von Staats-, Kommunal- und sonstigen Abgaben, soweit
dieselbe dem thüringischen Eisenbahnunternehmer nach den bezüglichen Ver¬
einbarungen, insbesondre nach Artikel 15 des Staatsvertrags vom 19. April 1844,
eingeräumt ist, bleibt auch nach dem Übergange des Eigentums der genannten
Eisenbahn auf den preußischen Staat mit der Maßgabe bestehn, daß sofern
diesen Vereinbarungen zuwider solche Steuern oder Abgaben zur Erhebung
gelangen sollten, die betreffende Territorialregierung die hierfür geleisteten
Ausgaben zu erstatten hat.
Bei einer Veränderung der Steuergesetzgebuug im — Staate sollen die
auf seinem Gebiete liegenden, zurzeit der Thüringischen Eisenbahngesellschaft
gehörigen Grundstücke, soweit deren Belastung mit Grundsteuer nach den be¬
stehenden Vereinbarungen zulässig erscheint, nach gleichen Grundsätzen behandelt
werden wie die übrigen Liegenschaften des — Staates."
Den Staaten ist also nur die Möglichkeit einer Grundsteuer in gewissem
Umfange gegeben; den Gemeinden dieser Staaten ist jede Möglichkeit, den
preußischen Eisenbahnfiskus zu Steuern heranzuziehn, genommen.
So verfuhr die preußische Eisenbahnverwaltung den außerpreußischen Ge¬
meinden gegenüber; wenn nun ein solches Verfahren in dem Umstände seine
Begründung gefunden zu haben scheint, daß der Thüringischen Eisenbahngesell¬
schaft, allein um ihre Gründung zu erleichtern, durch den Staatsvertrag vom
19. April 1844 die Steuerfreiheit insbesondre von Kommunalabgaben zuge-
sichert worden war, also doch auch den preußischen Gemeinden gegenüber, so
hätte doch die Konsequenz verlangt, daß auch diesen preußischen Gemeinden
gegenüber die Steuerfreiheit der Thüringischen Eisenbahn festgehalten wäre.
Das ist aber nicht geschehen; im Gegenteil spricht Paragraph 10 des Gesetzes
vom 28. März 1882 den preußischen Gemeinden auch wegen der Thüringischen
Eisenbahn das Recht der Besteuerung des preußischen Eisenbahnfiskus aus¬
drücklich zu.
Welchen Einfluß diese ungleichmäßige Behandlung der an der Thüringischen
Eisenbahn liegenden Gemeinden hat, je nachdem sie zu Preußen oder zu den
thüringischen Staaten gehören, dafür ist der beste Beweis, daß die Stadt
Erfurt von dem preußischen Eisenbahnfiskus jährlich eine Kommunalsteuer von
etwa 100000 Mark erhält, während die Städte Eisenach, Gotha, Weimar,
Apolda usw. nichts an Kommunalsteuern von dem preußischen Eisenbahnfiskus
wegen der frühern Thüringischen Privateisenbahn erheben dürfen.
Daß ein solches Verhältnis von einem ganz bedenklich ungünstigen Ein¬
fluß auf den Gemeindehaushalt dieser Städte ist, liegt klar auf der Hand.
Sie haben das dem Drucke, der von dem Großstaate gegen die Kleinstaaten
ausgeübt worden ist, zu danken und können ja eigentlich und besonders nur
ihren Regierungen vorwerfen, daß sie einem solchen Drucke nachgegeben haben;
jedenfalls leiden sie unter diesen Verhältnissen ohne eignes Verschulden; müßten
sie sich auch dabei für alle Zeit beruhigen, die Härte, eine große Härte ist
vorhanden und bleibt bestehn, wenn nicht nachträglich diesen Gemeinden ihr
Kommunalbesteuerungsrecht wieder verschafft wird. Daß der königlich preußische
Eisenbahnfiskus, freilich nicht formell, um so mehr moralisch, dazu verpflichtet
wäre, ist unsre Ansicht; es wäre aber auch politisch klug, denn die in weiten
Kreisen herrschende Unzufriedenheit gegen Preußen, die dadurch genährte Reichs¬
verdrossenheit und die Gefahr, daß in den thüringischen Staaten die Sozial¬
demokratie bald alle Landtage und Gemeindevertretungen für sich erobert, wie
sie ja schon jetzt an manchen Stellen einen großen Teil der Mandate er¬
worben hat, müssen zu so großen Bedenken Anlaß geben, daß Preußen alle
Ursache hätte, ihnen auch mit finanziellen Opfern zu steuern.
Daß Preußen für seine Gemeinden anders gesorgt hat, als es, wie nach¬
gewiesen worden ist, andern Staaten zugestanden hat, dafür nur ein Beispiel.
Die königlich sächsische Regierung erwarb im Jahre 1895 die Altenburg-Zeitzer
Privateisenbahn, die teilweise in Preußen liegt. In dem wegen dieser Eisen¬
bahn zwischen Preußen, Sachsen und Sachsen-Altenburg am 12. November 1895
abgeschlossenen Staatsverträge nimmt einmal die preußische Regierung von
dem Betriebe der in ihrem Gebiet liegenden Eisenbahnstrecke die Eisenbahn¬
abgabe nach Maßgabe des preußischen Gesetzes vom 16. März 1867 in An¬
spruch, und dann heißt es weiter: „Das Altenburg-Zeitzer Eisenbahnunter¬
nehmer wird innerhalb des Königreichs Preußen zu den Kommunalabgaben
nach den dort jeweilig geltenden gesetzlichen Bestimmungen herangezogen."
Also, was Preußen von seinen Eisenbahnen den Gemeinden andrer Staaten
nach Staatsverträgen, die ohne Frage unter einem gewissen Drucke zustande
gekommen sein müssen, vorenthält, hat es sich in dem vorstehenden Falle aus-
drücklich für die preußischen Gemeinden ausbedungen; Preußens ungleichmäßige
Behandlung der kleinen Staaten und ihrer Gemeinden wird auch dadurch be¬
sonders bezeichnet, daß in demselben Staatsverträge dem Herzogtum Sachsen-
Altenburg dem Königreich Sachsen gegenüber für die in dessen Gebiet liegende
Eisenbahnstrecke (Artikel 11) nicht nur nach den dort jeweilig geltenden gesetz¬
lichen Bestimmungen die Heranziehung zu den Staatssteuern und Abgaben,
samt den Grundsteuern, sondern daß auch die Heranziehung zu den Kommunal¬
abgaben vorbehalten ist. Der sächsische Eisenbahnfiskus muß also die Steuern
zahlen, während sich der preußische Eisenbahnfiskus bei ganz gleichen Verhält¬
nissen davon durch Staatsverträge befreit hat.
Übrigens hat die preußische Eisenbahnverwaltung bei dem spätern Erwerb
von Privateisenbahnen in Thüringen den beteiligten Staaten und ihren Ge¬
meinden gegenüber in der vorliegenden Frage etwas eingelenkt. Durch Gesetz
vom 16. Juli 1895 sind die Privateisenbahnen Weimar-Gera, Saal-Eisen¬
bahn, Werra-Eisenbahn, Eisfeld-Unterneubrunn und Hildburghausen-Friedrichs¬
hall für den preußischen Staat erworben. Dieserhalb sind im Jahre 1895
mit Sachsen-Weimar, Sachsen-Koburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Sachsen-
Altenburg, Schwarzburg - Rudolstadt und Reuß jüngere Linie Staatsverträge
abgeschlossen und in der Gesetzsammlung von Preußen 1895 veröffentlicht worden.
In dem die hier vorliegende Frage am günstigsten behandelnden Staats¬
verträge mit Sachsen-Altenburg heißt es: „Zu den staatlichen Steuern und
Abgaben, einschließlich der Grundsteuern, sowie zu den Kommunalabgaben
(das bedeutet also: aller kommunalen Verbände) werden die preußischen Bahnen
innerhalb des altenburgischen Gebiets nach den jeweilig im Herzogtum Sachsen-
Altenburg geltenden gesetzlichen Bestimmungen herangezogen werden." Die
Sachsen-Altenburgische Regierung hat es hier also allein verstanden, sich für
den Staat selber wie für ihre Gemeinden völlig freie Hand zu bewahren.
Dagegen geht das den übrigen Staaten von Preußen gemachte Zuge¬
ständnis nur dahin:
„Auf die Gemeindebesteuerung der in diesen thüringischen Staaten liegenden
Bahnstrecken, insbesondre auf die Berechnung des gemeindesteuerpflichtigen
Reineinkommens und dessen Verteilung unter die beteiligten Gemeinden finden
die Bestimmungen des preußischen Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 1893
oder die künftig etwa an dessen Stelle tretenden spätern Gesetze in der gleichen
Weise Anwendung, als wenn die Bahnen auf königlich preußischem Gebiete
gelegen wären.
Eine weitere Besteuerung der betreffenden Eisenbahnstrecken durch die Ge¬
meinden oder andre korporative Verbände ist unzulässig. (Damit ist zum Bei¬
spiel den Kreisen jede Besteuerung der Eisenbahnen unterbunden.)
Als Eisenbahnabgabe ist eine Aversionalvergütung vereinbart und jährlich
zu zahlen; daneben werden Grund- und Gebäudesteuer nach der Gesetzgebung des
betreffenden thüringischen Staates gezahlt.
Anderweite Staatssteuern dürfen aber für die Preußen gehörigen Eisen¬
bahnen nicht gehoben werden." (Damit ist insbesondre Staatssteuer vom Ein¬
kommen unzulässig.)
Für die Gemeinden auch dieser Staaten ist also bei diesen von Preußen
erworbnen Eisenbahnen die Frage günstiger geordnet; der Druck von preußischer
Seite hat vielleicht nachgelassen, und die thüringischen Regierungen haben für
die Zukunft ihre Gemeinden nicht schlechter gestellt sein wollen, als sie es
wahrscheinlich, was wir nicht näher untersuchen können, bisher gegenüber den
Privatbahnen gewesen sind.
Das Ergebnis ist nun nach diesem Zugeständnis aber doch ein recht
sonderbares, wie einige Beispiele zeigen mögen. Die Stadt Weimar darf von
der alten thüringischen Hauptbahn, an der die Stadt liegt, keine Kommnnal-
steueru erheben, dagegen von der Weimar-Geraer Eisenbahn, die in dem Stadt¬
bezirk Weimar beginnt. Die Stadt Eisenach darf ebenso von der thüringischen
Hauptbahn keine Kommunalsteuern erheben, dagegen von der in ihrem Bezirk
beginnenden Werra-Eisenbahn. Im Herzogtum Sachsen-Koburg-Gotha darf
die Stadt Gotha von der frühern thüringischen Hauptbahn und ihren von
Gotha ausgehenden Nebenbahnen keine Kommunalsteuern erheben, dagegen
darf die an der Werra-Eisenbahn liegende Stadt Koburg von dieser Eisenbahn
Kommunalsteuern erheben.
Genug der Beispiele; sie ließen sich vermehren. Aber die angeführten
ergeben klar, welche Ungleichheit in dem Rechte der thüringischen Städte, juristische
Personen, insbesondre den preußischen Eisenbahnfiskus, zur Kommunalsteuer
heranzuziehn, im Laufe der Jahrzehnte entstanden ist. Teils haben sie dieses
Recht durch Staatsverträge ganz verloren, teils ist es durch solche Staats¬
verträge eingeschränkt; und nur wenig Gemeinden ist dasselbe Recht gewährt,
wie es alle preußischen Gemeinden, in denen Stationen, Werkstätten und der¬
gleichen sind, dem preußischen Eisenbahnfiskus und den noch etwa bestehenden
Privatbahnen sowie den Eisenbahnen andrer Staaten gegenüber ausüben dürfen
und zur wesentlichen Erleichterung ihrer Kommunallasten ausüben.
Nach unsrer Ansicht ist es Sache des Königreichs Preußen, wenn anders
ihm das Gedeihen auch der außerpreußischen Staaten und Gemeinden im
Deutschen Reich am Herzen liegt — und das müßte im wohlverstandnen
eignen politischen Interesse von Rechts wegen der Fall sein —, hier aus freier
Entschließung Wandel zu schaffen, insbesondre den Gemeinden in den andern
deutschen Staaten dasselbe Recht auf Besteuerung des Eisenbahnfiskus zu
geben, das die preußischen Gemeinden haben.
Übrigens spürt man nicht nur in den thüringischen Staaten die nach¬
gewiesene Beschränkung in der Besteuerung der juristischen Person des preußischen
Eisenbahnfiskus empfindlich; das ist in andern deutschen Staaten ebenso der
Fall, wie der am 7. März d. I. einstimmig gefaßte Beschluß des lippischen
Landtags in Detmold beweist; er fordert den Staatsminister auf, Verhand¬
lungen mit Preußen zu führen, daß Lippe an den Überschüssen der in diesem
Lande liegenden preußischen Eisenbahnen teilnehme. Dieses Verlangen ist
sicher in dem Umstände wohl begründet, daß in Lippe wie in Thüringen
keine Staatssteueru und Kommunalsteuern von dem preußischen Eisenbahnfiskus
erhoben werden dürfen.
Diesem Antrage im lippischen Landtage läuft parallel eine in der Reichs-
tagssitzung vom 28. März d. I. — der Reichsschatzsekretär hatte die Notlage
der Einzelstaaten besonders stark betont — gegebne Anregung, für das Reich
eine Besteuerung der Reinertrage der Eisenbahnen in Aussicht zu nehmen,
wobei bemerkt wurde: wenn Preußen dabei am meisten zahlen müsse, so sei
es doch auch der mächtigste und stärkste der Einzelstaaten, und hinzugefügt
wurde: MdlöSM odligs!
In drastischer Weise bemerkte zu dieser Anregung ein andrer Abgeordneter:
„Aber eher können Sie Gelder aus der vierten Dimension holen als aus dem
Säckel des preußischen Eisenbahnfiskus."
Jedenfalls geht auch aus dieser Verhandlung deutlich hervor, daß das
Verhältnis des preußischen Eisenbahnfiskus zu den Einzelstaaten und ihren
Gemeinden nicht so ist, wie es billigerweise sein sollte.
Die Eisenbahnstrecken, die von dem preußischen Staatsbahnnetz in den
kleinern deutschen Staaten liegen, sind verhältnismäßig sehr bedeutend; sie be¬
tragen nach dem an den preußischen Landtag über die Eisenbahnverwaltung
im Rechnungsjahre 1903 am 5. Januar 1905 (S. 4) erstatteten Berichte in:
Ohne Frage würde die volle Besteuerung der Reinertrage dieser Eisen¬
bahnstrecken, also des Reineinkommens des preußischen Eisenbahnfiskus aus
diesen deutschen Bundesstaaten, durch diese Bundesstaaten selbst und durch ihre
Gemeinden und andre Kommunalverbände eine für sie ganz bedeutende Summe
ausmachen. Das Ergebnis wäre aber auf der einen Seite eine nicht un¬
wesentliche Linderung der Finanznot der deutschen Kleinstaaten und ihrer Ge¬
meinden, auf der andern Seite freilich eine entsprechende Schmälerung des
Überschusses der preußischen Staatseisenbahnverwaltung. Diese sollte einmal
für ein Jahr berechnen, welche Summe für die Staaten und ihre Gemeinden
(außerdem kämen noch Bayern mit nur 10. Sachsen mit 135,06, Hessen-
Darmstadt mit 123,83 Kilometern in Betracht, dieses jedoch nur, wenn nicht
der Vertrag über die Preußisch-Hessische Eisenbahngemeinschaft die Frage schon
geregelt hat) nötig ist; sie wird gewiß nicht unbedeutend sein, aber ebensowenig
als unerschwinglich erachtet werden können, und noch weniger, wenn schließlich
politische Rücksichten, wie wir meinen, die königlich preußische Staatsregierung
dazu bestimmen müßten, den andern Staaten freiwillig verhältnismäßig dasselbe
zu gewähren, was der preußische Staat in dem Überschusse der Staatseisenbahnen
erhält, und den außerpreußischen Gemeinden dasselbe zu gewähren, was die
preußischen Gemeinden immer erhalten haben, deren gesetzlich anerkanntes Recht
es war und ist, den Eisenbahnfiskus von seinem Reineinkommen in jeder Ge¬
meinde zu besteuern. Daß es sich nicht um eine unerschwingliche, d. h. für
den preußischen Eisenbahnfiskus unerschwingliche Summe handelt, wird ein
Blick auf die Summe ergeben, die der Eisenbahnfiskus jetzt an „Steuern,
Kommunalabgaben und öffentlichen Lasten," wie der Ausgabetitel 12 unter 1
heißt, nach dem oben genannten Berichte Seite 97 im Jahre 1903 gezahlt hat;
es waren 13371731 Mark, davon nur 168513 Mark Abgaben an „außer¬
preußische Staaten," 563611 Mark an Straßenanlagen, Straßenkanalisations-,
Deichabgaben und dergleichen und 12639607 Mark Kommunal-, Einkommen-
und Realsteuern.
Wenn die preußischen Gemeinden im Jahre 1903 eine solche Summe er¬
halten haben, so spricht doch die volle Wahrscheinlichkeit dafür, daß die außer¬
preußischen Gemeinden verhältnismäßig höchstens bis zu etwa zwei Millionen
Mark bei gleicher Behandlung würden haben beanspruchen können, und daraus
folgt dann weiter, daß sich die Summe an Staatssteuern etwa auf derselben
Linie bewegen würde. Dieses Opfer ist unsrer Meinung nach klein gegenüber
den politischen Vorteilen, gegenüber der Zufriedenheit, die in den weitesten
Kreisen der beteiligten Staaten und Gemeinden einkehren und gute Früchte
zum Besten des Deutschen Reichs bringen würde!
Da der Verfasser nicht in einem Kleinstaate, sondern in Preußen wohnt,
spricht er nicht xrc> Äoino; als preußischer Steuerzahler könnte er sich den
jetzigen Zustand ja gefallen lassen. Es fehlt aber diesem gänzlich an „aus¬
gleichender Gerechtigkeit." Und diese ist höher zu stellen.
Die Darstellung wäre unvollständig, wenn nicht schließlich noch auf eine
andre Beeinträchtigung des Besteuerungsrechts der kleinern deutschen Staaten
hingewiesen würde. Im Paragraphen 4 des Reichsgesetzes über die Beseitigung
der Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870, glücklicherweise wenigstens nur für
die Staatssteuern geltend, ist vorgeschrieben: „Gehalt, Pension, Wartegeld,
welche deutsche Militürpersonen und Zivilbeamte sowie deren Hinterbliebne
aus der Kasse eines Bundesstaats beziehn, sind nur in demjenigen Staate
zu besteuern, welcher die Zahlung zu leisten hat."
Bei Erlaß dieses Reichsgesetzes handelte es sich im großen ganzen um
Einzelfälle, und das Gesetz konnte da ohne Bedenken den Standpunkt ein¬
nehmen, daß der Staat, der Gehalt usw. zahlt, auch davon die Steuer
haben sollte.
Heute aber, wo Tausende preußischer Eisenbahnbeamten nach der Ver¬
staatlichung fast aller Privatbahnen in außerpreußischen Staaten wohnen, liegt
die Sache sehr, sehr anders. Sie nehmen an allen Einrichtungen dieser Staaten
gleich den übrigen Einwohnern teil, haben davon dieselben Vorteile, denselben
Nutzen; aber an Staatssteuern zahlen sie nichts, dadurch wird aber indirekt
wieder die Erhöhung der Staatssteuern bewirkt; denn der Staat muß seine
Einrichtungen nach der Gesamtzahl seiner Einwohner treffen, kann die nicht
zahlenden Einwohner nicht ausschließen. Die zahlenden Einwohner müssen
also den Ausfall an Staatssteuern decken, d. i. mehr zahlen, als sonst not¬
wendig wäre. Die ausgleichende Gerechtigkeit kommt auch hier zu kurz. Die
preußische Steuerkasse wird auf Kosten der Steuerzahler in den andern deutschen
Staaten bereichert!
ante erklärt die Kraft und die Gesundheit des europäischen Lebens
einmal daraus, daß in Europa niemals eine einzelne Idee die
ungestörte Alleinherrschaft behauptet. Sobald eine mächtig wird,
tritt ihr eine andre feindlich gegenüber, und das Ringen der Ver-
! treter der beiden Gegnerinnen um den Sieg schützt vor dem Ein¬
schlafen und vor Verknöcherung. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
hat unter anderm die sozialistische Strömung einen Persönlichkeitskultus geweckt,
dessen auffälligste Blüten bei den Nietzschianern und Jbseniten bewiesen, daß
die berechtigte Opposition schon ebenso wie die Gegenströmung ins Krankhafte
ausgeartet war. Selbstverständlich mußte zugleich statt des Altruismus, wie
die Sozialwissenschaft die christliche Nächstenliebe umzutaufen beliebte, der
Egoismus das Feldgeschrei werden, das jedoch seines unmusikalischen Klanges
wegen mehr in den Herzen als auf der Straße und in Volksversammlungen
angestimmt wurde. Ein neuer Versuch, den alten Epikur in zeitgemäßer Form
wieder zu beleben, zeichnet sich durch Gründlichkeit, Verständigkeit und Origi¬
nalität aus: Die Tugend des Genusses von Allostis <Jena, Hermann
Costenoble, 1904).
Die philosophische Grundlage schafft sich der Verfasser durch eine Ver¬
urteilung der Philosophie in Bausch und Bogen. Daß aus unorganischen
Stoffen Organismen werden, daß Organismen anfangen zu empfinden und zu
denken, ist nicht wunderbarer, als daß Wasserstoff und Sauerstoff zusammen
Wasser bilden. Das allumfassende große Wunder besteht darin, daß es über¬
haupt Daseinsformen gibt, die Eigenschaften und Kräfte haben, die ihren Be¬
standteilen nicht innewohnen. Dieses Wunder kann kein Mensch erklären, und
darum ist es eine Torheit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir sollen
demnach nicht fragen: Wie sind diese Erscheinungen geworden, sondern nur:
Wie sind sie beschaffen? Auf die Erklärung des Unerkennbaren verzichten und
sich auf die Erforschung dessen beschränken, was wir zu erkennen vermögen,
das ist die wahre Weisheit. Was jenseits der Erfahrungsmöglichkeit liegt,
mag man ruhig Gott nennen, nur soll man nicht vergessen, daß dieser Gott
eben unerkennbar ist. Sich ihn als einen ins Unendliche vergrößerten Menschen
vorstellen, als den bewußten allmächtigen Schöpfer und Ordner des Weltalls,
ist Gotteslästerung, denn damit macht man ihn für die Leiden der Geschöpfe
verantwortlich und charakterisiert ihn als ein grausames Wesen. Wenn wir
nun die Beschaffenheit der Welt erforschen, so finden wir als ihre auffälligste
Eigentümlichkeit, daß sie unendlich viele Daseinsformen enthält, die untereinander
verschieden sind, und von denen jede ihr eignes Glück hat. Dieses Glück zu
erstreben, muß der Daseinszweck jedes Wesens sein, ein andrer ist nicht denk¬
bar, und ein Handeln ohne Zweck ist ebensowenig denkbar. Die Zwecke des
unbekannten großen Wesens, das jenseits unsrer Erfahrung waltet, und dessen
Leib das Weltall ist, die kennen wir nicht, können wir also auch nicht mit
Bewußtsein fördern. Handeln wir gegen dessen Absichten, so können wir damit
niemals dieses Wesen, sondern immer nur uns selbst schädigen, denn seine Macht
übersteigt ja unendlich die unsre. Es wird sich bei allen Veränderungen, die
es in seinen Teilen erleidet, schon selbst helfen, und konnte es das nicht, so
könnte ich, ein so winziger Teil von ihm, es erst recht nicht. Daraus folgt:
der Mensch hat keinen andern erkennbaren und denkbaren Daseinszweck, als sich
selbst zu entfalten, sich so gesund und tüchtig wie möglich und dadurch glücklich
zu machen. Das einzige sittliche Gebot lautet also: Sorge für dein Glück!
Dadurch wirst du auch am besten für das Glück der andern, für das Ganze
sorgen, denn der ganze Leib ist nur gesund, wenn alle seine Teile gesund sind.
Ist der einzelne Mensch seelisch gesund, dann ist das Glück seiner Angehörigen
und Freunde ein wesentlicher Bestandteil seines eignen Glücks; die Sorge für
dieses schließt die Sorge für jenes, ja unter Umständen das Opfer des eignen
Lebens ein, wie es ja das höchste Glück der Mutter ausmacht, sich für ihr
Kind zu opfern. Soweit die übrigen Wesen nicht Werkzeuge für meine einzelnen
Zwecke sind, in die sich mein höchster Zweck zerlegt, gehn sie mich nichts an;
also geht mich das ganze Universum nur soweit an, als es meinem Glück,
meinem Genuß dient. Allostis wirft sich selbst ein, daß es keine sehr erhabne
Weltansicht sei, den kleinen, schwachen, vergänglichen Menschen und sein Glück
als einzigen Weltzweck zu betrachten, besonders da bei fortschreitendem Erkalten
des Weltalls die Zahl der Menschen immer kleiner, ihr Leben immer ärmer
werden, und nach der Vernichtung alles organischen Lebens das Leben der ge¬
samten Menschheit als ein zweckloses eitles Spiel erscheinen wird. Doch tröstet
er sich mit der Wahrscheinlichkeit, daß im Allgeiste, der das Universum beseelt,
die geistigen Errungenschaften der bedeutenden Menschen fortleben, also nicht
verloren sein werden.
Da seine Moral im schärfsten Gegensatz steht zu der des gefeiertsten aller
Moralphilosophen, so unterzieht er Kants Lehre vom kategorischen Imperativ
einer Kritik, die man durchaus gelungen nennen muß. Schwierig ist eine solche
Kritik ja eigentlich nicht. Zunächst hat wohl noch niemand den kantischen
Menschen verstanden, der aus zwei Menschen bestehn soll, dem der Natur¬
kausalität unterworfnen empirischen und dem mit dem freien Willen begabten
intelligibeln Menschen. Die Aufgabe, die menschliche Willensfreiheit mit der
Naturkcmsalitüt in Einklang zu bringen, gehört nun einmal zu den Aufgaben,
die bisher noch nicht gelöst worden sind und wohl auch niemals werden gelöst
werden. Man muß sich bescheiden, aus jeder der beiden erfahrungsmäßig fest¬
stehenden Tatsachen die praktischen Folgerungen zu ziehn, was ohne theoretische
Lösung des Rätsels ganz gut möglich ist. Daß Kants kategorischer Imperativ
eine Form ohne Inhalt ist, wird ihm allgemein vorgeworfen, und der Verfasser
unsers Büchleins zeigt nur noch ausführlich, daß die Form ihren Inhalt nirgend
anders woher empfangen könne als vom Zweck, und daß der Zweck wirklich
das Mittel heiligt. Ganz allein vom Zwecke hängt es ab, ob das Bearbeiten
eines Menschenleibes mit einem Messer eine grausame Mißhandlung oder eine
wohltätige Operation genannt, ob ein Totschlag als Mord verurteilt oder als
Heldentat gepriesen wird. Und die berühmte Forderung Kants: „Handle so,
daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte," ist unerfüllbar. Da Kant der verkörperte kate¬
gorische Imperativ sein wollte, so müßten also, meint der Verfasser, alle
Männer Professoren der Philosophie werden und unbeweibt bleiben, während
gerade die laut-fichtische Moral die Verehelichung zur allgemeinen Pflicht
stempelt, Kant selbst also als unsittlich erscheint. Sehr gut beleuchtet Allostis
die bekannten Beispiele, an denen Kant die Richtigkeit seiner Regel nachzu¬
weisen versucht, wie: wenn es einmal erlaubt wäre, ein Depositum abzu¬
leugnen, so würde kein Mensch mehr einem andern etwas anvertrauen. „Wenn
es ein Gesetz gäbe: Jedermann darf ein Depositum ableugnen, dessen Nieder¬
legung ihm niemand beweisen kann, so würde das keineswegs zur Folge haben,
daß es nun kein Depositum mehr gäbe. Höchstens könnte man annehmen, daß
dann niemand mehr ein Depositum hingeben würde, ohne sich ein Beweismittel
zu sichern. Aber auch das wäre nicht zutreffend. Denn daraus, daß jemand
etwas darf, folgt noch nicht, daß er es auch wirklich tut. Erließe der Staat
das Gesetz: Jede Mutter darf ihre Kinder töten, so würden keineswegs alle
Mütter ihre Kinder umbringen. So würde auch der Freund sein Eigentum
dem Freunde anvertrauen, trotzdem daß es diesem erlaubt wäre, das Depositum
abzuleugnen. Ist er wirklich mein Freund, so gibt er mir das Anvertraute
zurück. Leugnet er den Empfang, so tut er es nicht, weil er es tun darf,
sondern weil er nicht mein Freund ist." Der Verfasser hat einmal mit einem
Fabrikanten über Kants Moral disputiert und einen armen Arbeiter verteidigt,
der seinem Brodherrn eine Kleinigkeit gestohlen hatte, um für seine kranke
Mutter Arznei zu kaufen. Der Fabrikant meinte: Der arme Mann ist ja zu
bedauern, aber was sollte daraus werden, wenn jeder meiner Arbeiter aus
meiner Kasse nehmen dürfte, was er gerade braucht. „Da haben wir Kants
Moralgesetz! Aber wir sehen auch deutlich seinen Ursprung. Was der Philosoph
für die heiligste Offenbarung der ewigen Vernunft ansieht, das ist nichts andres
als ein Ausfluß kleinlichster, buntester Ichsucht. Möchte es auch ganz allgemein
für erlaubt gelten, in der Lage jenes Arbeiters eine Kleinigkeit zu stehlen, so
folgt daraus noch nicht, daß ich bestohlen werden müsse, auch wenn ich tausend
Arbeiter habe. Nicht jeder Arbeiter hat eine kranke Mutter, und wenn schon,
so würde nicht allen das Geld für Arznei fehlen, und wenn schon, so würde
nicht für alle ein Diebstahl das einzige Mittel sein, sich Geld zu verschaffen.
Und gibt es für einen meiner Arbeiter wirklich keinen andern Ausweg aus der
Not, so fragt es sich noch sehr, wer von beiden der Schuldige ist: ich oder er."
Ein allgemeines Moralgesetz gibt es nicht; jeder Fall muß einzeln für sich nach
seinen Umständen geprüft werden. Von diesen hängt die Güte oder Schlechtigkeit
der Handlung ab. Seinen Inhalt empfängt das „Soll" von der Liebe, die
den Liebenden zwingt, das Wohl des Nächsten als sein eignes Wohl zu fördern.
Wo die Liebe fehlt, kann die Pflicht, die sozusagen kalte Liebe ist, ergänzend
eintreten. Was aber Pflicht sei, erfährt man dadurch, daß man sich fragt: Wie
würde ich handeln, wenn ich diesen Menschen liebte?
Die Betrachtungen des Verfassers über die heilsamen Wirkungen einer
vernünftigen und edeln Selbstliebe und über das Unheil, das man mit
uniformierender Menschenbeglückung anrichtet, sind den Beglückern und Welt¬
verbesserern von Profession zu empfehlen, den Leuten, die niemand nach seiner
Facon wollen selig werden lassen. Es gehören dazu nicht nur die Bekehrungs¬
wütigen, die Proselytenmacher, die Seelenfänger, von denen schon Jesus gesagt
hat, daß sie den Eingefangnen erst recht zu einem Sohn der Hölle machen
(auf die schwierige Frage der Berechtigung der Heidenmission, die nicht mit
einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten ist, gehn wir nicht ein), sondern
auch die Agitatoren der politischen Parteien, die Anhänger der wissenschaftlichen,
der ästhetischen und der volkswirtschaftlichen Sekten, die propagandistischen Mit¬
glieder gemeinnütziger Vereine, die Humanitätsapostel der verschiednen Richtungen,
die Philanthropen und die einmischungssüchtigen Wohltäter, die Wohltaten auf¬
drängen und in den Lebensgang widerstrebender Schützlinge gewalttätig ein¬
greifen. Wie weit Allostis Kant gegenüber Recht hat, ist angedeutet worden.
Aber Kant hat auch nicht in allem Unrecht. Er hat Recht mit dem Preise
des kategorischen Imperativs, des leeren „du sollst"; denn wenn wir durch das
Gewissen auch noch nicht erfahren, was wir sollen, so liegt doch tatsächlich in
ihm unsre Menschenwürde; sie liegt darin, daß wir ein Sollen empfinden, daß
wir es als unsre Aufgabe anerkennen, durch selbständiges Handeln unsre
Persönlichkeit zu vollenden. Und wenn Kants Maxime falsch ist, so ist die
von Allostis darum noch nicht unbedingt richtig. Kant meinte, Glückseligkeit
könne nicht die allgemeine Regel fürs Handeln abgeben, weil jeder unter Glück
etwas andres versteht. Ganz dasselbe hat aber auch Herbert Spencer gegen
Benthams Formel: das größte Glück der größten Zahl, eingewandt. Zwar
erkennt er im Unterschiede von Kant an, daß Glück das Ziel alles menschlichen
Strebens sein müsse, aber er meint ganz richtig, ein Maximum von Glück werde
dann am sichersten erreicht, wenn die Menschen nicht unmittelbar das Glück er¬
streben, sondern die Moralgesetze befolgen, deren Nützlichkeit die Erfahrung be¬
weise. Die Menschen sind doch nun einmal nicht alle, ja nicht einmal zum
größern Teil so geartet, daß das Glück des Nebenmenschen den wesentlichsten,
den als wesentlichsten empfundnen Teil ihres Glücks ausmachte. Wenn nun
ein Mensch, der nichts als Sinnengenuß oder Befriedigung seiner Eitelkeit oder
Habgier erstrebt, mit der Befriedigung seiner Lüste bloß sich selbst schädigte,
dann könnte man die Regel des Allostis gelten lassen. Aber er schädigt andre,
darum muß eine Regel aufgestellt werden, die diese Schädigung verhütet. Wenn
Allostis meint, man müsse eben die Jugend zur vernünftigen und edeln Selbst¬
liebe erziehn, so ist das zwar richtig; aber es wird ein bißchen lange dauern,
ehe die ganze Menschheit so erzogen sein wird, und es würde sehr unzweckmäßig
sein, der Jugend ausdrücklich zu sagen, daß man sie dazu erziehe. Sich selbst
über alles zu lieben, das liegt ihr schon nahe genug, und gerade seine Selbst¬
liebe für höchst edel zu halten, ist jeder von Haus aus geneigt. Die Gefahr
ist um so größer, weil sogar auch die Nächstenliebe durch ihre Verwechslung
und Verschmelzung mit verschiednen Formen der geschlechtlichen Liebe sehr leicht
in gröbste, das Wohl des Nächsten vernichtende Selbstsucht ausartet oder um¬
schlägt. Darum darf der Liebestrieb nicht einfach der Natur überlassen, sondern
muß durch Belehrung und Zucht geläutert und gelenkt werden. Zudem genügt
das Wohlwollen allein gar nicht, den Pflichtenkreis vollständig auszufüllen
und genau zu bestimmen, sondern es müssen auch die übrigen sittlichen Ideen:
Gerechtigkeit, Billigkeit, Freiheit, Vollkommenheit zur Mitwirkung herangezogen
werden. Und der Trieb, diese Ideen zu verwirklichen, das Pflichtgefühl, muß
der Jugend anerzogen werden. Schürfung des Pflichtgefühls ist das zweite
Verdienst, das sich die laut-fichtische Moralphilosophie erworben hat. Es ist
wahr, daß manchmal das Allerverrückteste für Pflicht gehalten wird, und daß
die Weltgeschichte keine schlimmern Wüteriche kennt als die Wüteriche aus
Pflichtgefühl. Und was für wunderliche Wirkungen kann nicht Gewissenhaftig¬
keit hervorbringen! Ein Australneger wurde krank aus Gewissensangst, weil
man ihm nicht erlaubte, den Mörder seiner Frau zu erschlagen, und gesundete
wieder, nachdem es ihm gelungen war, zu entkommen und die heilige Pflicht
der Blutrache zu erfüllen. Was aber im Namen der christlichen Religion aus
lauter fanatischer Gewissenhaftigkeit schon für Scheußlichkeiten verübt worden
sind, das predigen ja die liberalen Zeitungen alle Tage. Das Gewissen bedarf
also der Erleuchtung und Leitung durch die Vernunft. Kant und Fichte hatten
nun das Glück, daß sie ihre Pflichtenmoral in einen: Lande und in einer Zeit
verkündigten, wo eine verstündige und wohlgesinnte Regierung dem Volke im
ganzen vernünftige Pflichten auferlegte, und darum hat die preußische Pflicht¬
treue kein Unheil angerichtet, sondern Segen gestiftet.
Erstrebe dein eignes Glück, damit wirst du am besten das Glück der andern
fördern, und: wirke pflichtgetreu für das Wohl der andern, die dir Gott zuge¬
wiesen hat, damit wirst du dich selbst glücklich machen — die Regeln sind
beide an sich richtig. Aber die erste ist gefährlich; wer sie predigt, der führt
damit, ohne es zu wollen, die meisten derer, die ihm glauben, in die Irre.
Die zweite richtet auch zuweilen, aber viel seltner Unheil an; im allgemeinen
ist sie sichrer.
»Meine Ansicht über den Altruismus ist diese: Wenn von zwei Menschen
jeder sich zum Endzweck seines Daseins setzte, die Seele des andern zu erhöhen
— und dies nenne ich Altruismus —, so können möglicherweise beide irren,
weil der eine auf keine Weise erfahren kann, was in der Seele des andern
vorgeht, ob also die Erhöhung des Glückseligkeitsgefühls des andern, die er
anstrebt, auch wirklich erreicht wird. Eine Vertauschung der Seelen ist
unmöglich, und das Streben nach einer solchen ist Wider jede Vernunft.
Wogegen die Mystiker und die Anhänger Schopenhauers einwenden werden,
daß die von allen Seelen unbewußt erstrebte Glückseligkeit gerade in der Auf¬
hebung der Jndividualitätsschrcmken, in der Verschmelzung der Seelen, in der
Rückkehr in die Allseele bestehe, und daß die Sehnsucht nach solcher Ver¬
schmelzung die metaphysische Ursache der geschlechtlichen Liebe sei.s Wenn aber
dieselben zwei Menschen als letzten Endzweck die Erhöhung ihrer eignen Seele
betrachten — und dies verstehe ich unter Egoismus —, so müssen sie not¬
wendig den ersten Weg gehn, d. h. soweit jeden sein freies vernünftiges Denken
lehrt, die falschen Wegweiser von den richtigen unterscheiden. Deshalb ist der
Egoismus (der die tätige Nächstenliebe einschließt) meiner Vernunft gemäß, der
Altruismus aber ihr entgegen." Das sind Worte eines ungenannten Frank¬
furter Mathematikers, aus dessen hinterlassenen Papieren Theodor Poppe
Bruchstücke herausgegeben hat unter dem Titel: Auch eine Philosophie
oder Religion? (Frankfurt a. M, Gebrüder Kraner, ohne Jahreszahl).
Gleich Allostis hat der verstorbne einsame Grübler die christliche Dogmatik und
die Kirche verabscheut. Diese hat er freilich nur, ohne sie näher zu kennen,
nach gewissen abstoßenden Erscheinungen beurteilt, die ungerechterweise für ihr
Wesen gehalten zu werden pflegen. Doch steht er dem Theismus einige
Schritte näher als Allostis. Es gibt nach ihm keine voraussetzungslose Philo¬
sophie, und seine Voraussetzung ist, daß in dieser Welt, von der wir nur ein
winziges Bruchstück kennen, alles zweckmüßig geordnet ist, und alles Geschehen
einen vernünftigen Zweck hat. Diese Voraussetzung hat er aus seiner persön¬
lichen Lebenserfahrung gewonnen. Darin offenbarte sich ihm „ein sinnreicher
Plan, den wirklich nicht mein vernünftiger Wille ersonnen hat. Heute schon
sehe ich ganz klar, daß die zweckmäßige Anordnung der Wechselfälle meines
Lebeus als Mittel diente, um mich in meine jetzige Geistesrichtung gelangen
zu lassen, die einzuhalten jetzt allerdings auch mein eigner vernünftiger Wille
mit wachsendem Erfolg bestrebt ist." Er glaubt darum einen „obersten
Bezwecker" annehmen zu müssen, der zweifellos etwas Wirkliches sei. Was
für ein Wirkliches? Das weiß er nicht; er habe nicht die Fähigkeit, dieses
Wesen zu erkennen. „Christus hatte diese Fähigkeit, Spinoza hatte sie; mir
geht sie leider ab." Hcieckel gegenüber beweist er sehr hübsch, daß man un¬
möglich die Entstehung der verschiednen Lebewesen aus mechanischen Ein¬
wirkungen und Anpassungen ohne den die Entwicklung leitenden „Bezwecker"
erklären könne. Wir haben öfter gesagt: wenn es nichts als Anpassung und
Überleben des Passendsten gäbe, dann wäre die Entwicklung niemals über die
Monere hinausgekommen, denn diese ist unter alleu Organismen der am besten
angepaßte und am wenigsten gefährdete. Ähnlich meint unser Mathematiker:
Anpassung besteht in der Abschleifung der Ecken und Auswüchse, und die an¬
gepaßteste organische Form ist die Kugelform. Regierte das Gesetz der An¬
passung die Welt, dann müßten die heutigen vielgliedrigen Wesen aus noch
weit vielgliedrigern entstanden und auf dem Wege sein, durch den fortschreitenden
Verlust ihrer Organe sich allmählich der Kugelform zu nähern. „Gerade das
Gegenteil aber lehren die Anpassungstheoretiker: Aus einer Plasmakugel
stammen alle organischen Körper, aus dem ganz Angepaßten also das ganz
Uncmgepaßte, nämlich Wesen mit 5, 6, 100, 1000 und mehr Auswüchsen, Kopf,
Beine, Arme, Hörner, Flügel, Pfoten, Äste, Blätter genannt; und die höchsten
dieser Wesen haben sogar im Kopfe eine Großhirnrinde, die die alleruncmge-
paßtesten Gedanken und Gefühle produziert." Seine Unzufriedenheit mit den
bestehenden Zuständen drängt ihn, ein Reformprogramm zu entwickeln, dessen
Kern darin besteht, daß der Staat die Jugend zur Freiheit erziehn, die Kirchen
aber als Privatvereine gewähren lassen soll.
Auch or. Richard Münz er, der (bei Otto Wigand in Leipzig, 1905)
Bausteine zu einer Lebensphilosophie herausgibt, hat sich eine Positivistische,
auf Selbstbeobachtung und Beobachtung des Lebens gegründete Psychologie
und eine dem edeln Epikurcismus verwandte Ethik zurecht gemacht. Die
Religion schätzt er höher als die Philosophie. „Die richtige Unterrichtsmethode,
meint er sehr gut, würde darin bestehn, die Weisheit unsrer Vorfahren zu
lehren und gleichzeitig — unter Aufforderung zum selbständigen Prüfen —
ihre beschränkte Giltigkeit aufzudecken. Aber bei uns gibt es nur entweder
fanatischen Dogmenglauben oder fanatischen Unglauben oder völligen Jn-
differentismus." Aus der Schrift: Unabhängiges Christentum von Paul
Graue, Pastor an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin (Berlin,
Alexander Duncker, 1904) können die Edelegoisten lernen, daß sie vom Christen¬
tum nicht so weit entfernt sind, wie sie sich einbilden. Das Evangelium sei
gekommen als Glücks-, als Seligkeitsmacht; es habe das Sittengesetz in ein
Gesetz der Freiheit verwandelt. Christus gebiete: Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst; er gebiete also die Selbstliebe, woraus folge, daß mit
der Selbstverleugnung, die er fordert, nicht die Verleugnung des edlern, sondern
nur die des schlechtem Selbst gemeint sei. Freilich lehrt das alles das Neue
Testament auch schon ohne Kommentar, aber das wird wahrscheinlich weniger
gelesen als die Kommentare. Im übrigen kämpft Graue als Mitglied des
Protestantenvereins gegen die Orthodoxie für Freiheit des Glaubens und Freiheit
der weltlichen Kultur, für die unbedingte Selbständigkeit beider.
Wenn wir bei dieser Gelegenheit, nur um ein wenig zu räumen, von den
vielen bei uns lagernden Büchern religionsphilosophischen Inhalts noch einige
anzeigen, so möge man aus dieser äußerlichen Zusammenstellung nicht auf
Geistesverwandtschaft mit Allostis schließen. Arthur Borns gibt unter dem
Titel: Der lange Tag (Heilbronn, Eugen Salzer, 1905) Meditationen
heraus, die dem allerinnerlichsten, allersubjektivsten religiösen Gefühl entströmen
und die entschiedenste Abneigung gegen alles äußerliche Kirchenwesen bekunden.
„Glauben, was die Gemeinschaft glaubt, das ist in sich der Unglaube, die
Schwäche. Nur einsame Seelen können Gemeinschaft haben. Die andern haben
nicht Gemeinschaft; sie sind in sich weiter nichts als Gemeinschaft." Er spottet:
„Dem Trinker wird Alkohol in jede Speise gekocht. Das verleidet ihm den
Trunk. Nach diesem Rezept wirft unsre Frömmigkeit die christliche Pille in jede
Suppe. Christliche Unterhaltung, christliche Literatur, christliche Kunst, christ¬
liche Politik — das Christentum hat viele und heftige Feinde ausgehalten und
überlebt, ob es diese Freunde aushalten wird?" Man erbaut sich an diesen
aus dem Innersten quellenden und ins Innerste dringenden Meditationen, aber
man legt sie mit einem Gefühl unbefriedigter Neugier weg. Dieser ganz inner¬
liche Mensch ist Pfarrer in einer Landgemeinde gewesen. Wie konnte er auf
Menschen wirken, die ganz äußerlich angepackt werden wollen? „So sah ich
denn vor mir die großen grobgeschnittnen Gesichter wie so oft. Und mir war,
als könnte ich schwer beschreiben, wie ich sie liebte. Meine Gemeinde. So
kann nur ein Künstler den Stein lieben, aus dem er Götter zu schlagen sich
rüstet." Wie er das Götterschlagen angefangen hat mit seiner Innerlichkeit,
davon möchten wir eine Andeutung haben. Wir sehen die Brücke nicht, die
von seiner Auffassung des Christentums hinüber führt zu einer Dorfgemeinde,
die doch eben ein Stück jener von ihm verworfnen äußerlichen Gemeinschaft ist.
Eine verwandte innerliche und sinnige Natur ist C. Wagner. Aber sein Büch¬
lein: Die Seele der Dinge sans dem Französischen übersetzt von Dr. Fr.
Fliedner; Paris, W. Fischbacher, Berlin, Martin Warneck, 1904) ist ganz
anders gestaltet als das von Borns. Es malt uns in kleinen Skizzen eben
Dinge: Felder, Meere, Berge, Baumstümpfe, Leute von der Straße und läßt
uns ihre Seele erraten. „Meinen lieben Mitarbeitern, den Blumen, Tieren,
Wanderern" hat er sein Buch gewidmet. Eine der geschilderten Straßenszenen
erwähnen wir, weil die daran gehängte Nutzanwendung in so schönem Gegen¬
satz zur Egoismustheorie steht. Eine Katze ist in die Seine gefallen. Natürlich
bleiben auf der Brücke und auf dem Quai alle Leute stehn und sehen dem
Todeskampfe des Tierchens zu. Schon ist es am Versinken, da rettet es ein
Gassenjunge mit eigner Lebensgefahr. „Eine geschäftige Menge hemmt ihren
Lauf, vergißt ihr Ziel, vernachlässigt ihre Angelegenheiten und wird leiden¬
schaftlich erregt durch eine Katze, die nicht sterben will. Und der lose Gassen¬
junge, der sonst nichts tut als Fensterscheiben einwerfen, Tiere quälen und
Autoritäten foppen, wird, von plötzlichem Mitleid ergriffen, der Retter eines
Tieres, auf die Gefahr hin, selbst zu ertrinken. Erkennen wir doch hierin das
Walten Gottes, der das Leben will, und der sich den Besten unter den Menschen
offenbart durch den göttlichen Trieb, die zu suchen und zu retten, die verloren
sind." Ein Buch ganz andrer Art als alle vorher genannten ist: natura¬
listische und religiöse Weltansicht von Rudolf Otto, Privatdozenten
der Theologie. (Tübingen, I. C. B. Mohr, 1904.) Es ist bei bescheidnen Um¬
fang ein gründliches, wissenschaftliches Werk, das unter anderm eine vortreff¬
liche Kritik des Darwinismus und eine vollständige Darstellung des gegen¬
wärtigen Standes der Abstammungslehre enthält. Am Schlüsse schreibt der
Verfasser über die Schöpfung: „Die dogmatische Lehre ist auch hier nur ein
Surrogat des Mysteriums. Und wieder weist uns kritische Selbstbesinnung
viel richtiger als Schöpfungslehren, die als Ausdrucksmittel frommer Rede und
Dichtung völlig am Platze aber als eigentliche Erkenntnisse ganz unzulänglich
sind. Diese Welt als anfangende weder denken noch nicht denken können, das
ist das erkenntnismäßige Analogon dessen, was Frömmigkeit im Mysterium
erlebt, und diese Welt als die zufällige und bedingte gründen lassen im ewigen
notwendigen wahren Sein, wobei uns alle Vorstellungen von einer zeitlichen
oder andern Form des Gegründetseins verschwinden, das ist das Analogon zu
dem, was Frömmigkeit im andächtigen Gefühle unmittelbar und viel deutlicher,
als Begriffe es vermitteln können, besitzt und weiß von dem Verhältnisse Gottes
zur Welt."
is unser Vaterland in den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts
unter dem Joche der Fremdherrschaft seufzte, das ihm ein Mann
von bestrickender, sogar einen Goethe befangender Gewalt der
Persönlichkeit aufgezwungen hatte, da war es vor allem des
deutschen Volkes inneres Freiheitsbewußtsein, in dessen Glut sich
die Bande der Tyrannis versengen sollten. Unter denen aber, die diese heilige
Glut entfachten, schürten und nährten, stand obenan Johann Gottlieb Fichte.
Der stolze, mächtige Eroberer mochte ihn als „Ideologen" verspotten, er ahnte
nicht, daß das Schwert, das die Fesseln politischer Knechtschaft durchhciuen und
unserm Volke die politische Freiheit wiedergeben sollte, schon in der Werkstatt
geistiger Freiheit geschmiedet wurde, während er sich noch in seinen Herrscher¬
träumen wiegte. Er ahnte nicht, wie sehr der Mann, den er als „Ideologen"
nicht beachten zu dürfen glaubte, ein Philosoph der Tat, ja der Philosoph der
Tat war; er ahnte nichts von den letzten und tiefsten Wurzeln der Realität, in
denen das Freiheitsbewußtsein dieses Idealisten verankert lag, ahnte nicht, welcher
reale Gehalt aus den Gedanken dieses Idealisten floß, während ihn, den Rea¬
listen, die zügellose Herrschgier zu nach außen zwar bewunderungswürdigen, in
ihrem Wesen aber doch „ideologischen" Utopien und damit „ins Nichts" zurück¬
drängte.
Wer an die Erhebung unsers Volks zur Freiheit denkt, an die Erhebung
aus der Knechtschaft, in die es der große Korse geschlagen hatte, der kann,
wenn ihm nur etwas historischer Sinn beschieden ist, ihrer nicht gedenken, ohne
sich auch Fichtes zu erinnern. Sein Name ist nicht bloß in die Geschichte der
Philosophie, er ist auch in die Freiheitsgeschichte unsers Volkes unauslöschlich
eingegraben. Eine merkwürdige Erscheinung fürwahr, um so wunderbarer, je
mehr wir uns des äußern Gegensatzes bewußt werden. Auf der einen Seite
ein Mann von erdumspannender Tatengewalt, dem sich in dieser Hinsicht kaum
ein zweiter vergleichen kann, auf der andern Seite ein simpler Philosoph mit
einem, wie es scheint, nach außen recht verworrnen Lebensgange. Erst treibt
ihn eine ewige Studenten- und Hauslehrerzeit unstet umher, bald ist er Philo¬
sophieprofessor, bald Privatgelehrter, bald wieder Professor, bald privatisiert er
wieder. Aber dieser Zickzack des äußern Lebenswegs ist allein verursacht durch
die ewig freie, gerade Richtung des Innern dieses Mannes. Seine innere Frei¬
heit mußte die „bloßen Dinge" zwingen. Für sie gab es nur die ewig kom¬
promißlose Alternative: biegen — oder brechen. Da sich ihm oft das Äußere
nicht bog, mußte es eben brechen. Darum ist der äußere Weg nicht krumm
und gewunden, darum ist er auch nicht eine einfache Gerade, aber er ist gerade.
Nur bricht er die gerade Richtung oft ab und setzt sie an demselben Punkte
unter einem andern Winkel fort, und doch den Blick immer auf ein und das¬
selbe Ziel gerichtet. Ein Ziel, das nicht im Raume, nicht in der Zeit zu suchen
ist, und auf das unser Lebensweg immer gerichtet sein kann, mag er sich räumlich¬
zeitlich bewegen, wie er will. Denn:
Das ist das Ziel der Freiheit. Von ihm floß die Kraft, die Fichte auf die
politische Lage seines Vaterlandes ausstrahlen ließ, von ihm empfing er selbst
eine stählerne Energie, die Unbiegsamkeit und Unbeugsamkeit seines eignen
Charakters, die durch das eigne Vorbild die Herzen der Mutigen zur Be¬
geisterung und zur Nacheiferung entflammte. In dieser Kraft seines Wesens
liegt das Geheimnis seiner wesenhaften Lebensarbeit und der ungeheuern Wirkung
auf seine Zeit. In ihr vor allem liegt auch das Geheimnis seiner Wirkung
auf die akademische Jugend, der seine heiligste Arbeit galt. Er war ein Lehrer
von Gottes Gnaden. Hätte ein andrer seine abstrakten Materien behandelt, er
würde die Süle, in die man sich zu Fichte drängte, wohl bald verwaist gesehen
haben. Daß Fichte es war, dieser Mann, der nichts Persönlichen, sondern
allein der Sache diente in jenem heiligen Ernste, den keine Mühe bleichet, daß
er es war, der in dem echtesten Priesterdienste der Freiheit zur Überzeugung
aufrief, das war es, was die so vielen unbegreifliche Wirkung tat. In der
Geschichte des deutschen Idealismus ist er der Philosoph der Tat und der Frei¬
heit. Das bezeichnet seine Lehrwirksamkeit. Denn er hat, soweit das möglich
ist, auch dieses Ideal gelehrt, d. h. er hat es in begrifflicher Arbeit umschrieben
und vorgezeichnet, wie er als Mensch an seiner Verwirklichung gearbeitet hat.
Aber er hat nicht bloß das Ideal überhaupt gezeichnet und umschrieben.
Auch seinen besondern Formen — eine solche ist ja auch die politische Frei¬
heit — hat er seine Arbeit zugewandt. Der Mann, der in den tiefsten Wurzeln
seines Wesens Lehrer war, und den dieses Wesen zum Ideal der Freiheit trieb,
er mußte sich auch Rechenschaft geben über die Freiheit seines Lehrberufs. Da
dieser aber eine Wechselwirkung ist zwischen Lehrenden und Lernenden, so mußte
er sich, dem Lehrenden, Rechenschaft geben und sie ablegen vor den Lernenden,
so mußte der Lehrer „Über die akademische Freiheit" zu den Lernenden reden.
Die sechste Vorlesung über das Wesen des Gelehrten trügt den Titel
„Über die akademische Freiheit." Er will hier ohne Polemik und ohne Satire
sprechen, nur die positive Seite hervorkehren. Die Kritik hat er einer andern
Gelegenheit vorbehalten. Sein Rektorat an der Berliner Universität tritt er an
mit einer Rede „über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit."
Es versteht sich von selbst, daß ich im folgenden nicht einfach die Inhalts¬
angaben beider Arbeiten Fichtes aneinander reihen kann, zumal da noch ge¬
legentliche Äußerungen, zwar nicht in systematischem Zusammenhange vorgetragen,
in Betracht kommen. Ich will vielmehr in freieren Gedankengange das Mannig¬
faltige zur Einheit zusammenschließen, mich aber immer streng an Fichtes An¬
schauungen — wenn auch nicht immer an ihre Form — halten, sodaß meine
Untersuchung selbst eine rein historische Betrachtung bleibt.
Fichte selbst betrachtet sein Problem historisch, er behandelt es aber auch
systematisch. Der Begriff der akademischen Freiheit ist so alt wie der der
Akademie. Er ist aber zugleich ein von der Vernunft als mit dem Wesen der
Akademie aufs innigste verbundner, ihr wesentlich eignender Begriff, also eine
Art von Vernunftbegriff, wenn ich mich dieses Wortes in einem etwas freiern
Gebrauch bedienen darf. Und wer diesen Begriff für eine bloß momentane
Fiktion erklärt, von dem meint Fichte: er sei ebenso bar alles historischen Sinnes,
wie er bar sei aller Vernunft. Betrachten wir freilich zunächst diesen Begriff
bloß geschichtlich, so zeigt sich, daß der Vernunftzweck, der diesen Begriff rea¬
lisieren soll, und den die philosophische Betrachtung aufzudecken hat, so gut wie
gar nicht in die Erscheinung tritt.
Die Akademie als höhere Schule ist geschichtlich hervorgegangen aus den
niedern vorbereitenden Schulen, den, wie Fichte sagt, „eigentlich sogenannten
Schulen." Dieser Gegensatz bezeichnet auch den Unterschied zwischen den Stu¬
dierenden und den eigentlichen Schülern. Die spezifische Freiheit der Studierenden
muß also eine Freiheit sein, die der Schüler nicht hat, auch eine Freiheit von
einem Zwange, unter dem der Schüler steht. Worin aber besteht dieser rein
geschichtliche Unterschied? Der Unterschied der Lehrer kündigt ihn uns an. Der
Lehrer auf der Schule ist zugleich immer und überall Aufseher und Richter
über seine Schüler. Und solange es keine Universitäten gab, solange gab es
auch nur Lehrer, die über die Lernenden Aufsicht übten, sie richteten, belohnten
und bestraften. „Die Stifter der Universitäten aber, so sagt Fichte wörtlich,
waren Gelehrte von ausgezeichnetem Talent und Kraft. ... Sie konnten keines¬
wegs geneigt sein, sich zu dem Geschäft eines Aufsehers und Pädagogen ihrer
Zuhörer herunterzulassen."
Das ist aber in der Geschichte, in der geschichtlichen Entstehung der aka¬
demischen Freiheit nur ein Zug. Zu ihm gesellen sich noch einige andre,
weniger erfreuliche. Zunächst, so führt Fichte aus, zeigt die Geschichte den
Dünkel und den Hochmut des akademischen Lehrers als eine die akademische
Freiheit sehr stark bestimmende Macht. Viele hatten sich aus dem Stande
der gewöhnlichen Lehrer emporgearbeitet. Sie schauten nun von ihrem neuen
Stande aus mit Verachtung auf den alten. Sie mochten den Pädagogen nicht
bloß deswegen nicht mehr spielen, weil sie es des Gelehrten für unwürdig.
hielten, sondern sie hielten es des Gelehrten einfach für unwürdig, das zu tun
und zu treiben, was der niedere Lehrerstand tun und treiben mußte, und bloß
deshalb, weil dieser es mußte.
Dazu kam die materielle Gewinnsucht der akademischen Lehrer. Durch den
äußern Glanz berühmten Namens wuchs die Menge der Zuhörer, und durch
sie wuchsen die Einkünfte der Lehrer. Diese „konnten nicht geneigt sein, auf
irgendeine Weise denen, die ihnen dieses alles verschafften, beschwerlich zu fallen."
Die Person der aus allen Ländern herbeiströmenden Studierenden war den
Lehrern gleichgültig. „Und damals war die Erfindung eines bekannten latei¬
nischen Sprichworts, das vom Gold nehmen und ins Vaterland schicken redet,
sehr natürlich. Die akademische Freiheit, als Befreiung vom Schulzwang und
von aller Aufsicht der Lehrer über die Sittlichkeit, den Fleiß und die wissen¬
schaftlichen Fortschritte der Studierenden, welche für diese Lehrer bloß und ledig¬
lich Zuhörer wurden, war entstanden."
Der ganze letzte Passus ist wörtlich aus Fichtes Vorlesung. Welchen
hohen Glauben an den Zweck und den Wert und an die Bedeutung seines
Standes mußte dieser akademische Lehrer haben, der von der Entstehung der
akademischen Freiheit so freimütig reden konnte, obgleich oder gerade weil
er sich auch nicht scheute, zu sagen, „ein Teil dieser Denkart" wenigstens sei
„auf seine Zeit gekommen." Nur wer, wie Fichte, aus tiefster Überzeugung sagen
kann, daß „die Universität die wichtigste Anstalt und das Heiligste ist, was das
Menschengeschlecht besitzt," nur ein von dieser heiligen Überzeugung durchglühter
Mann wird nicht allein das Recht, sondern auch nur die Kraft haben, so frei¬
mütig über die /^co-es zu sprechen, damit sie durch Wandlung und Läuterung
zum ö'^rc^s ö'"> zum eigentlichen Wesen, zum Zweck der Universität führe und
diesen Zweck selber auspräge und in die Erscheinung werfe.
Läge dieser Zweck bloß in der 7^0^, dem bloß Geschichtlichen, bloß darin,
was da ist und geschieht, dann freilich wäre es um die akademische Freiheit
schlecht bestellt. Nicht bloß, daß deren Entstehung eine unglaubliche Gering¬
schätzung, ja eine sündliche Verachtung des ganzen Standes der Studierenden
und seine Herabwürdigung zum bloßen Mittel an den Tag legt, würde der
Studierende, wenn er sich mit einer solchen Form der Freiheit begnügte, konse¬
quenterweise diese Verachtung und Geringschätzung seiner selbst gut heißen, ja
als sein gutes Recht in Anspruch nehmen müssen. Das heißt, er würde sich
aller Vernunft begeben. Dieses Recht wäre ein Recht auf Unvernunft, nicht
auf eine vernünftige Lebensbestimmung nach objektiven Zwecken.' Auf Arbeit,
Anstand, Sittlichkeit wäre Verzicht getan. Der swüiosus g, von swäönäo wäre
proklamiert. Der Student, der so entstanden wäre, wäre nicht der — Stu¬
dierende.
Das ist in Kürze die rein historische Betrachtung Fichtes. Sie hat aber
schon zur philosophischen geführt.
Indem ich mich vorhin platonischer Wendungen bedient habe, habe ich schon
angedeutet, daß die methodologische Unterscheidung beider Betrachtungsweisen auf
den „göttlichen Platon" selbst zurückgehe. Der „erstaunliche Kant" hat sie aber
zur höchsten Klarheit erhoben. Diese fruchtbare Unterscheidung beruht, um es
ganz kurz zu sagen, einfach darin, daß mit dem Dogma, es habe etwas schon
Wert, bloß weil es da sei und um seines bloßen Daseins willen, daß von Kant
mit diesem Dogma gründlich aufgeräumt worden ist.
Kant bezeichnete als Natur das Dasein, sofern es nach allgemeinen Ge¬
setzen bestimmt ist, und er verlangte fein säuberliche Trennung der natur¬
wissenschaftlichen Betrachtungsweise von allen Zweckideen. Die Vermengung
beider nannte er eine faule Teleologie, und diese galt ihm als der Tod aller
Naturphilosophie. Das bloße Dasein kennt nur allgemeine Gesetze der Natur,
aber keine Zwecke. Nichts, was da ist, hat auch nur den mindesten Wert bloß
dadurch, daß es ist, durch sein bloßes Dasein. Soll es Wert haben, dann darf
es eben nicht bloß da sein, sondern es muß Zwecken dienen, die allgemeine
Aufgaben für dieses Dasein bezeichnen, die über das bloße gegebne Dasein eben
dadurch, daß sie nicht gegeben, sondern aufgegeben sind, hinausliegen. Diese
Zwecke ins bloße Dasein hineinzudenken, ist und bleibt eine faule Teleologie, sei
sie nun naturphilosophischer oder naturalistisch-geschichtsphilosophischer Art. Sie
ist immer ein falscher Schein, der seine Täuschungen und Vorspiegelungen nur
nach diametral auseinandergehenden Richtungen verbreitet.
Es ist seltsam, daß sich der sogenannte gesunde Menschenverstand aus der
faulen Liebe zum lieben faulen Leben gegen diese ausdrückliche kritische Über¬
legung so sträubt, wo er doch selbst von ihr praktisch die ergiebigste Anwendung
macht. Ein Fall solcher praktischer Anwendung ist nun auch der unsrige, ist
Fichtes philosophische Untersuchung über das Wesen der akademischen Freiheit.
Ob sie freilich einem allgemeinen Menschenverstande, dessen einziges Prädikat
das seines Gesundseins wäre, einleuchtet, dürfte fraglich erscheinen. Hat er aber
zu seiner Gesundheit noch etwas philosophische Kraft, so wird er sich ihr nicht
verschließen können.
Die akademische Freiheit ist das Problem. Darauf ist von Anbeginn zu
merken. Wir haben es also mit einer besondern Form der Freiheit zu tun,
eben der zur Akademie, der Universität gehörenden Freiheit. Nun ist der Be¬
griff der Freiheit aber selbst ein zwei Bestimmungen in sich schließender Begriff.
Gewöhnlich versteht man darunter nur negativ das Freisein von einem Zwang.
Diese negative Bedeutung erhält aber erst Sinn durch die positive des Frei¬
seins für die Erfüllung eines Zwecks, sodaß nun das Freisein von einem Zwang
erst dahin bestimmt wird, daß es das Freisein von dem bedeutet, was das
Freisein für einen Zweck stört. Ohne die Rücksicht auf einen solchen wäre der
Begriff der Freiheit absolut leer und sinnlos.
Die besondre Form der Freiheit wird nun näher bestimmt durch die Be¬
sonderheit des Zwecks, die akademische Freiheit also durch den Zweck der Aka¬
demie, der Universität. Ihn müssen wir also kennen lernen, wollen wir das
Wesen der akademischen Freiheit verstehn.
Auch die Universität hat, wie alles, was da ist, nicht den mindesten Wert
bloß dadurch, daß und bloß deshalb, weil sie ist, sondern allein durch den
Zweck, den sie erfüllt. Dieser Zweck aber ist der ununterbrochne und stetige
Fortschritt der Geistesbildung unsers Geschlechts, der menschlichen Gesellschaft.
Denn auch diese Gesellschaft hat nicht etwa dadurch, daß sie ist, einen Wert,
daß in ihr Menschen überhaupt zur Sicherung des bloß physischen Daseins
zusammenleben, sondern der soziale Zusammenschluß erhält selbst erst Wert
dadurch, daß er, um mit Kant zu reden, einerseits zu einer „ethischen Gemein¬
schaft," und daß er andrerseits zu einer Kulturgemeinschaft wird. Der sittliche
Zweck des Menschen und die Zwecke der Kultur, die zuletzt alle in dem obersten
sittlichen Zwecke verankert liegen, werden in ihrer Erfüllung durch die menschliche
Sozietät ermöglicht. Und darum hat diese, obwohl sie kausal aus dem bloßen
Triebe der Erhaltung des Daseins hervorgegangen ist, einen Wert durch
teleologische Wertübertragung, den sie e^e^e/«, d. h. positiv dadurch erhält,
daß sie jene Zwecke realisiert.
Für diese Realisierung müssen diese aber der menschlichen Gesellschaft selbst
dadurch zugänglich gemacht werden, daß sie durch Erkenntnis in den Geist des
Menschengeschlechts versenkt und ihm zum Bewußtsein gebracht werden. Darin
besteht das eigentliche Wesen der Bildung, die, wie Fichte sagt, das einzige ist,
wodurch das Menschengeschlecht in den Stand gesetzt wird, seine Bestimmung
zu erfüllen, und „wodurch jedes Zeitalter seinen Platz sich verdient in der Reihe
der Zeitalter." Und er führt fort: „Die Universität aber ist die ausdrücklich
für die Sicherung der Ununterbrochenheit und Stetigkeit dieses Fortgangs ge-
troffne Anstalt, indem sie derjenige Punkt ist, in welchem, mit Besonnenheit
und nach einer Regel, jedes Zeitalter seine höchste Verstandesbildung dem
folgenden Zeitalter übergibt, damit auch dieses dieselbe vermehre und in dieser
Vermehrung sie übergebe dem folgenden, und so fort bis an das Ende der
Tage."
Aber, wohl gemerkt, diese Verstandesbildung hat selbst nur Wert durch die
Zwecke, zu denen sie eben emporführt und heranbildet. Sie ist selbst ihr leben¬
diger Ausdruck und das Mittel, das Überzeitliche in der Zeit darzustellen, um
die zeitliche Menschheit durch die Erkenntnis zu ihrer überzeitlichen Bestimmung
emporzuheben, die — hierin ist Fichte ganz Kantianer — im Sittlichen, als
dem Zentralzwecke des Systems der Zwecke, wie eine vollendete Sittenlehre es
zeigen muß, sich zusammenschließt; emporzuheben durch die Erkenntnis der
Wahrheit, die nicht bloß heute und morgen, sondern die selbst zeitlos gilt.
Diese Darstellung zur Realisierung durch die Erkenntnis ist nnn die Auf¬
gabe der Universität. Die Geistesbildung ist der Zweck, den sie selbst zu er¬
füllen hat. Und dieser Zweck allein bezeichnet ihr Wesen. „Ist nun die Uni¬
versität dies, so ist klar, sagt Fichte, daß sie die wichtigste Anstalt und das
Heiligste ist, was das Menschengeschlecht besitzt."
So ist das Wesen und der Wert der Universität bestimmt durch ihren
Zweck. Dadurch aber ist auch bestimmt die Freiheit, die auf der Universität
herrschen soll, die akademische Freiheit. Wie die Freiheit überhaupt — nach
unsern frühern Ausführungen — nicht bloß negativ bedeutet ein Freisein von
einem Zwange, sondern vor allem positiv das Freisein zur Erfüllung eines
Zwecks, und wie erst durch diese positive Bedeutung jene negative einen Sinn
erhält, indem das Freisein von einem Zwange das Freisein von dem bedeutet,
was das Freisein für einen Zweck stört, so bedeutet die akademische Freiheit
die für die Erreichung der Geistesbildung als des Zwecks der Universität not-
wendige Freiheit und damit die Freiheit von allem, was den Zweck der Geistes¬
bildung stört und hindert. Sie ist es also, die für die Ununterbrochenheit und
die Stetigkeit des Fortgangs dieser Bildung die Sicherung bietet. Sie kann
also nicht eine leere Fiktion oder ein toter Begriff sein, sondern sie bezeichnet
selbst eine lebendige Aufgabe tatkräftiger Wirksamkeit. Und da jede Aufgabe
bestimmter Mittel bedarf, so sind auch in dieser Aufgabe selbst solche mit ein¬
geschlossen.
Diese aber werden durch die Eigentümlichkeit der Aufgabe selbst bestimmt;
denn diese Aufgabe ist ja selbst durch einen Zweck bestimmt, von dem aus sie
gestellt ist, und für dessen Realisierung sie selbst zu erfüllen ist.
Da die Freiheit es also ist, die den Fortgang der Geistesbildung sichern
soll, so folgt, daß sie nicht Gesetzlosigkeit, sondern Gesetzmäßigkeit ist. Denn
eine solche Sicherung ist nur durch eine positive Ordnung möglich, durch Organi¬
sation, Verfassung, kurz durch Gesetze, die selbst die Mittel zur Erfüllung des
allgemeinen Zwecks der Universität sind. Aber diese Gesetze sind von vornherein
keine Zwangsgesetze, sie sind Freiheitsgesetze. Sie sind eine Form der Gesetz¬
gebung durch Freiheit. Denn da sie zur Erreichung des allgemeinen Zwecks der
Universität dienen, so muß, wer diesen will, logischerweise auch jene als Mittel
wollen. Er muß sich jene Gesetze selbst geben, sofern er sich den allgemeinen Zweck
der Universität setzte, den wir hinlänglich beschrieben haben. Für ihn bedeutet
diese Gesetzgebung keinen Druck. Was sie verbietet, will er ohnedies nicht, auch
wenn es nicht ausdrücklich verboten wäre, und das Rechte, das sie gebietet,
„will er ohnedies, ohne alle Rücksicht auf das Gebot" bloß um des Gebots
willen, sondern an sich schon um des Zwecks willen. Ganz analog wie im
Staate, worin der Gelehrtenstand selbst eben nur einen Stand bezeichnet, der
gerechte Bürger die Staatsgesetze will um des Staatszwecks willen. Wie aber
unter anderen Betracht, auf den wir hier nicht ausführlich eingehn können, im
Staate alle Gesetze als Zwangsgesetze und nur als solche erscheinen, so können
auch die hier für uns in Betracht kommenden akademischen Gesetze selbst zu
Zwangsgesetzen werden; aber freilich in einem andern Sinn als die Staats¬
gesetze. Staatsbürger ist jeder Bürger der Kulturwelt, aber akademischer Bürger
braucht nicht jeder zu sein. Die Universität ist eine durch ihren besondern
Kulturzweck individuierte Kulturgemeinschaft als ein besondrer Stand, der durch
eben diesen Zweck seine besondern Gesetze hat.
Die Staatsgesetze werden, um das der Klarheit wegen doch kurz anzudeuten,
zugleich immer Zwangsgesetze sein müssen, weil jeder Bürger der Kulturwelt
immer Staatsbürger sein muß, ohne daß er den Staatszweck zu wollen braucht.
Die akademischen Gesetze werden Zwangsgesetze werden können, weil nicht jeder
Bürger akademischer Bürger zu sein braucht, aber weil er es durch irgendwelche
für ihn und für die Universität unglücklichen äußern Bedingungen, ohne eignen
freien Entschluß zur Realisierung des Universitätszwecks werden kann. Ein
Grundsatz, der für die Störung der akademischen Freiheit von weittragender
Bedeutung ist.
Der Zwangscharakter der Gesetze fällt aber in beiden Füllen für den fort,
der auf der einen Seite den allgemeinen Staatszweck, auf der andern den
Vorhin beschriebnen und für uns allein in Betracht kommenden Universitäts¬
zweck will.
Daß beide freilich von jedem an der allgemeinen Kulturgemeinschaft teil¬
habenden gewollt werden sollen, begründet eine neue Gemeinsamkeit im Zwangs¬
charakter beider; daß aber nicht jeder an der besondern Kulturgemeinschaft des
besondern Standes teilzuhaben braucht, begründet den spezifischen Freiheits¬
charakter wie den spezifischen Zwangscharakter der zweiten. Frciheitsgesetze sind
sie aber für den, der sich durch eignen freien Entschluß die Mitarbeit an dem
besondern Zwecke zum Ziele setzt, durch eignen Willen und im Hinblick auf
dieses Ziel Mitbürger dieser besondern Kulturgemeinschaft, Mitarbeiter an der
besondern Kulturaufgabe geworden ist. Zwangsgesetze sind sie für den, der
nicht durch den innern freien Entschluß zur Mitarbeit in die besondre Gemein¬
schaft eingetreten ist, sondern durch äußerliche Gründe und äußere Umstände in
sie hineingeraten, der also von vornherein ein innerlich unfreier Bürger der
freien Gemeinschaft ist.
Die allgemeinen Gesetze folgen aus der dargelegten Bestimmung der
Universität selbst, und zwar: Erstens, die gesamte Geistesbildung des Zeitalters
und die gesamten Hilfsmittel und Gegenstände dieser Bildung müssen in der
Gesamtheit der Lehrer als den Stellvertretern des Zeitalters, das seine Bildung
übergibt, vollständig umfaßt sein, und jeder einzelne Lehrer muß für sein Fach
sowohl auf der Höhe der Ausbildung seines Faches in seinem Zeitalter stehn
als auch die Fähigkeit und die Geschicklichkeit haben, sich vollständig und innigst
mitzuteilen.
Zweitens, von feiten des Zeitalters, dem die Bildung des gegenwärtigen
übergeben wird, müssen „Stellvertreter" vorhanden sein, die durch früher
erhaltnen Unterricht gehörig vorbereitet und gewillt sind, das Mitgeteilte zu
empfangen.
Drittens, zwischen Lehrer und Studierenden besteht die Unbeschränktheit der
Wechselbeziehung, daß der Mitteilung durchaus keine Grenze gesetzt werde, daß
kein Gegenstand bezeichnet und ausgenommen werde, über den nicht frei gedacht,
das Gedachte unbegrenzt mitgeteilt, und das Mitgeteilte unbegrenzt angehört
werden dürfte.
Viertens, wie in den Forderungen an den Lehrer, daß er auf der Höhe
der Bildung seines Faches stehe und sich vollständig und innig mitteile, die
Forderung liegt, daß er seine Sache ernst nehme und wirklich ein Lehrer sei,
so liegt in der Forderung an den Studierenden, daß er gehörig vorgebildet sei
und zur Geistesbildung vordringe, die Forderung, daß auch er seine Sache ernst
nehme, sein Studium als Pflicht erkenne, daß also nur ein solcher etwas auf
der Universität zu suchen habe, der deren Zweck durch tätiges Studieren realisieren
will, daß er also ein Studierender sei.
Fünftens, wer das aber als seine Pflicht erkennt, der muß ein sittlicher
Mensch sein. Nur ein solcher kann eine Pflicht anerkennen. Nur ein solcher
kann auch das Studium als seine Pflicht anerkennen und nach ihr sein Leben
gestalten und aus seinem Leben, wie er soll, ausschließen, was ihn an der Er¬
füllung seiner Pflicht hindert.
Sechstens, der Studierende muß für die Zeit seines Studierens andrer
bürgerlicher Lasten enthoben sein, um sich seinem hochheiligen Zwecke des
Studierens mit ganzen Kräften widmen zu können; befreit sogar von der
strengen bürgerlichen Rechtsform wird er eines möglichst einfachen Gerichts¬
standes bedürfen.
Das sind die allgemeinen Normen, unter denen immer und überall das
Prinzip der akademischen Freiheit wirksam sein muß, wenn es alle akademischen
Bürger zu einer einigen Kulturgemeinde zusammenschließen soll. Die durch das
zuletzt genannte Prinzip gesetzte materiale Anwendung dieser Prinzipien, also die
Technik, wird mit dem materialen Fortgang des Zwecks mit fortgehn müssen, die
Prinzipien selbst bleiben. Und aus der besondern Technik werden besondre
Normen für den jeweiligen Stand und das jeweilige Zeitalter hervorgehn müssen,
die diesem Fortgang angepaßt sind und sich nicht g, xriori in ihrem eignen
materialen Inhalt bestimmen lassen. Nur daß sie da sind, ist allgemeine Be¬
stimmung, eben der eignen akademischen Ordnung, die die angeführten Prinzipien
selbst in der durch ihren Kulturzweck gesetzten Kulturgemeinschaft, Kulturorgani¬
sation auswirken muß.
Das ist in Kürze die positive Bestimmung der akademischen Freiheit. Es
bleiben noch einige Worte über die Möglichkeiten ihrer Gefährdung zu sagen
und zuzusehen, wo die Gefahr für sie liegt. Es scheint, da der Stand der
Studierenden eben ein Stand unter andern Ständen ist, daß die Gefahr für
seine Freiheit ihn: von diesen komme. Doch das ist nicht möglich. Es greift
der universale Zweck der Universität ja fördernd über auf die besondern Zwecke
der besondern andern Stunde. Diese werden also in ihren Zwecken durch jenen
nicht gestört, und werden sie selbst nicht gestört, so ist kein Grund, daß sie selbst
jenen stören sollten.
Zweitens scheint der Staat als die organische Gesamtheit der Stände die
Freiheit des akademischen Standes stören zu können. Diese Möglichkeit ver¬
neint Fichte unter zwei Gesichtspunkten. Erstens, historisch verneint er sie im
absoluten Vertrauen zu dem preußischen Staate seiner Zeit. Und mit Recht!
„Die Tage Wöllners, so heißt es in Medicus Buch über Fichte, waren vorbei.
Und unter Friedrich Wilhelm dem Dritten bestand keine Geneigtheit mehr,
Zwistig leiten, die zwischen sonst friedlichen Leuten und dem lieben Gott aus¬
gebrochen sein sollten, von Staats wegen zu schlichten." Der des Atheismus
verdächtigte, in der Tat aber seiner wahren Religiosität wegen verfolgte Mann
fand in Preußens Hauptstadt Aufnahme und wurde der erste gewählte Rektor
an Preußens erster Universität. Er durfte dem Staate, der Regierung das
größte Vertrauen schenken. Aber auch philosophisch muß eine Gefährdung
der wahren akademischen Freiheit durch den Staat verneint werden. Auch der
Staat bedeutet ja nichts, bloß dadurch, daß er ist, sondern nnr etwas durch
seine Bestimmung nach seinem Zweck. Und sein Zweck fällt inhaltlich mit
dem der Universität zusammen, und diese arbeitet kraft ihrer Freiheit durch Er¬
füllung ihres Zwecks auch an der des Staatszwecks. Wie könnte also eine
weise Regierung jene stören? Freilich eine weise Regierung ist die Voraus¬
setzung der akademischen Freiheit.°
Noch bleibt aber eine dritte Möglichkeit der Störung der akademischen
Freiheit. Stört diese zwar weder ein einzelner Stand außerhalb des akademischen,
noch der Staat als die organische Gesamtheit der Stände, so wäre die letzte
und einzige Möglichkeit, daß ihr innerhalb des akademischen Standes selbst eine
Gefahr erwachsen könnte. Und das ist in der Tat der Fall. Eine Gefahr
entsteht wirklich innerhalb des akademischen Standes, freilich von denen seiner
Glieder, die nicht in ihn gehören, die nicht aus eignem freiem Entschluß zur
Verwirklichung seines Zwecks in ihn eingetreten, die auf eine sonderbare Art
nur in ihn geraten sind.
„Eine Menschenart, so führt Fichte aus, von äußerst verschrobnen und
wissenschaftlicher Begriffe durchaus unfähigen Köpfen," deren Fassungskraft sich
nun einmal absolut nicht soweit erstrecken kann, zu begreifen den Zweck der
Universität, gänzlich unvermögend zu verstehn, daß das „Studieren ein Beruf"
ist, eine solche Menschenart also gewahrt den „Studentenstand." Sie sieht ihn
unter den übrigen Stünden als einen besondern Stand. Wie sie aber von
diesen nicht weiß, wozu sie eigentlich da sind, so weiß sie anch vom Stande der
Studierenden nicht, wozu er eigentlich da ist. Ohne jede Ahnung seiner hohen
Mission meint sie, er müsse „in der Welt sein, aus keinem andern Grunde,
als um bloß zu sein, und um die Zahl der Stände voll zu machen." Diese
Menschen beobachten, daß der Stand der Studierenden von der strengen Form
bürgerlicher Lasten privilegiert sei; daß er das sei, nur um ganz seinem Berufe
des Studiums gehören zu können, leuchtet ihrem schwachen Verstände nicht ein,
und so halten sie ihn denn für einen schlechtweg privilegierten Stand, der über¬
haupt keine Pflichten, überhaupt keine Zwecke Hütte und darum auch schlechtweg
wertlos sein müßte. Und so treibt die eigne Nichtigkeit gewisse Menschen in
den Studentenstand, weil sie diesen selbst für nichtig ansehen.
Unbekümmert um dessen Zweck, von dem er allein seinen Wert empfüngt,
sprechen sie sich selbst von diesem Zwecke frei. Das nennen sie dann aka¬
demische Freiheit, wohl weil sie mit der Akademie nichts zu tun haben
wollen. Von allem, was mit dieser zusammenhängt, wesenhaft zu ihr gehört,
wollen sie ja frei sein. Und mit Verachtung schauen sie ja auf die Studenten,
die eben Studierende sind. An Stelle des allgemeinen Universitätszwecks setzen
sie ihre von diesem Zwecke freien Sonderinteressen, die in der absoluten Zweck-
losigkeit ihres Daseins, das sie führen, bloß um so angenehm wie möglich da¬
zusein, gipfeln. Sie kennen nichts als das Dasein genießen, das gemein macht.
„Die wirklich Studierenden" gelten denen, „die bloß diesen Namen sich geben,"
als Streber, weil diesen die Geistesbildung nichts gilt. Wer sich die Kultur¬
arbeit und nicht den gemeinen Genuß zum Ziele setzt, der muß jener Menschen¬
klasse, der „Trinkgelage als Herkommen" gelten, die „am Geiste verschroben,
am Leibe als Siechlinge" ihr jämmerliches Genußdasein fristen, durch sein eignes
gutes Beispiel als übler unwillkommner Mahner erscheinen. Am liebsten
möchten sie ihn ganz beseitigen. Da sie das nicht ohne weiteres können, fangen
sie mit ihm Händel an. Da er sich auf ihre gemeine brutale Art des „Blut¬
vergießens und Mordes" nicht einläßt, verhängen sie den „Bann" über ihn.
Und so tun sie alles, um die Freiheit derer, die sich frei ihrer Bestimmung
hingeben, auf denen „die Hoffnung unsers Geschlechts beruht," zu beschränken,
und die Lehrer betrachten sie „als vom Staate zu ihrer Belustigung angestellte
Schauspieler einer besondern Art, die nur das sagen dürften, was solche Zu¬
hörer gern hörten." Kurz die Universität mit der ihr spezifisch eignenden, in
ihrem Zwecke liegenden Freiheit sucht diese „Menschenklasse" in „das härteste
Diensthaus" zu verwandeln, weil sie an die Stelle der durch den Zweck der
Universität gesetzten Kulturarbeit die mit diesem Zweck nicht bloß nichts gemein-
habendcn, sondern ihm diametral entgegengesetzten und feindlich widerstrebenden
Sonderinteressen des bloßen Genusses setzen, liege dieser nun in dem unmittel¬
baren Sinnenkitzel oder in der egoistischen Berechnung eines angenehmen und
glücklichen aber unverdienten sozialen Fortkommens.
Hier also liegt nach Fichte die größte und einzige Gefahr für die akademische
Freiheit. Und bei aller plumpen Possenhaftigkeit, wie er sagt, mit der die
geschilderte Menschenklasse die Freiheit gefährdet, warnt er doch davor, diese
Gefahr etwa bloß als eine „lustige Narrheit" anzusehen, wie das außerhalb
der Universitäten geschieht. Die Gefahr sei viel zu ernst und müsse auch ernst
genommen, d. h. von jedermann, wer er auch sei, bekämpft werden. Denn ohne
die akademische Freiheit, die wirklich diesen Namen verdient, die wirklich
Freiheit und wirklich akademisch ist, zum Wesen der Universität gehört, müßte
diese ihren Sinn und Wert verlieren. „Der eigentlich belebende Odem der
Universität, erklärt Fichte, die himmlische Luft, in welcher alle Früchte der¬
selben aufs fröhlichste sich entwickeln und gedeihen, ist ohne Zweifel die aka¬
demische Freiheit."
on Rastatt reisten wir über Heilbronn und Pforzheim, wo wir
auch einige Tage zum Brunnenfeste standen, zur Herbstmesse nach
Mannheim. Der Meßplatz, der in der Neckarvorstadt lag, war da¬
mals noch neu, und die angefahrnen Erdmassen füllten das große
Loch, das früher dort gewesen war. noch nicht vollständig aus. Wir
waren an einem Mittwoch angekommen und gerade mit dem Aufbauen
beschäftigt, als ein reisender Photograph in Begleitung eines Schutzmanns zu uns
kam und uns mitteilte, daß der Meßplatz durch viele Rowdys unsicher gemacht
würde. Der Schutzmann wußte uns keinen bessern Rat zu geben, als zur Selbst¬
hilfe zu greifen und uns im Notfalle an die weitentfernte Polizeiwache zu wenden.
Am Sonntag Nachmittag gegen drei Uhr war der Platz, wo ringsherum Schau¬
buden und Waffelbäckereien, in der Mitte drei Karussells standen, mit Menschen
dicht gefüllt, und das Geschäft ging vorzüglich. Gegen sieben Uhr Abends kam
eine Anzahl Sackträger, von denen fünfzehn bis achtzehn Mann unser Karussell
benutzten, aber als sie zahlen sollten, kein Geld herausrücken wollten. Wir ver¬
suchten es mit Güte und sagten ihnen, sie dürften noch einmal umsonst fahren,
sollten dann aber weitergehn, was sie auch taten. Sie gingen darauf zu andern
Geschäften und fingen überall Streit ein. Als wir am Abend nach zehn Uhr in
die Wirtschaft „zur Kanone" kamen, fanden wir die eine Seite der Gaststube ganz
mit unsern Bekannten vom Nachmittag besetzt. Sie verhielten sich anfangs ruhig,
als wir aber auf der andern Seite der Stube Platz nahmen, fingen die Sticheleien
an, was uns nach einem vergeblichen Protest veranlaßte, das Lokal zu verlassen
und uns zu unsern Geschäften zu begeben, wo wir schon Gegenstände bereitliegen
hatten, die sich als Waffen gebrauchen ließen. Ich hatte mich mit einem Schrauben¬
schlüssel versehen, während die Andern Wagenscheite und Lattenstücke zur Hemd
nahmen. Nach einer Weile erschienen auch die Sackträger auf dem Platze, gingen
bei unserm Dampfkarussell vorüber und begannen bei dem Weißerschen Karussell
das Zumachetuch mit Messern zu zerschlitzen. Plötzlich ertönte ein Pfiff, und auf
dieses Signal fielen alle, Prinzipale und Angestellte, bis an die Zähne bewaffnet
über die Sackträger her und prügelten sie so gewaltig, daß einige auf dem Platze
liegen blieben. Als die Schlacht am heftigsten tobte, blitzten Helinspitzen auf, und
eine Anzahl Schutzleute erschien auf dem Platze. Wir hielten es für das Geratenste,
in das Loch an der Seite des Platzes hinunterzurennen, wo wir in der Dunkelheit
Deckung fanden, während die Hüter der öffentlichen Ordnung alles, was sie auf
dem Platze antrafen, arretierten und zur Wache brachte». Am andern Tage, als
ich gerade beim Putzen der Messingstangen war, erschien wieder der Photograph
rin dem Schutzmann, und dieser erkundigte sich in höchst gemütlicher Weise nach
dem Verlauf des gestrigen Abenteuers. Wir gingen dann zusammen in die Kanone
und feierten den Sieg mit einem Schoppen Wein, wobei uus der Schutzmann er¬
zählte, daß einige der Sackträger in das Krankenhaus geschafft worden seien. Von
da an verhielten sich die Mannheimer Sackträger ruhig, und auch in spätern Zeiten
ist es nie wieder zu einer Störung der Messe gekommen.
Von Mannheim fuhren wir mit der Bahn nach Heidelberg. Die dortige
Messe wurde auf dem Jubiläumsplatz am Neckar abgehalten. Zu unsern Fahr¬
gästen um Dampfkarussell gehörte auch eine lustige Studentengesellschaft, die uns
Angestellte auf den Abend zu einer Kneiperei einlud. Wir gingen auch hin und
kamen dort in eine so gehobne Stimmung, daß wir in der Nacht auf dem Nach¬
hausewege laut sangen. Als wir einen Schutzmann hinter uns bemerkten, liefen
wir, was wir konnten, und verschwanden in unsern Wagen, bis auf einen, den
der Schutzmann erwischt und mit nach der Wache genommen hatte, wo er bis zum
andern Morgen festgehalten wurde, und wo man ihm 5 Mark Strafe abnahm.
Über Neustadt an der Hardt und Landau ging es nach Kaiserslautern zum
Markt. Zscharrer, der früher eine kleine Menagerie gehabt hatte, zeigte hier in
einem Stabuff das „Meerweib, halb Fisch, halb Mensch," und den lebenden,
sprechenden Kopf. Das Meerweib war ein Mädchen, das auf einer tischartigen
Bühne so lag, daß man nur den Oberkörper sehen konnte, während der Rücken in
einen langen Fischschwanz auslief. Da der Tisch nicht kastenartig war, sondern
nur aus einer Platte bestand, unter der man hindurch sehen konnte, so legte sich
jeder Beschauer die Frage vor, wo der Unterkörper und die Beine der Dame seien,
zu deren Aufnahme der Fischschwanz zu schmal war. Ich vermute, daß die ganze
Illusion durch einen unter dem Tisch befestigten Spiegel hervorgerufen wurde.
Bei Zscharrer war ein jüdischer Rekommandeur namens Moses, der jeden Tag
8 bis 12 Mark verdiente. Aber Moses war ein leidenschaftlicher Hasardspieler
und verlor, wenn er Abends mit seinem Prinzipal, dem Schaukelbesitzer Sening,
und einigen Andern in der Wirtschaft saß und „sockte" (spielte), regelmäßig seine
ganze Tageseinnahme. An einem Abend hatte er besondres Unglück und verlor
seine ganze Barschaft. Er zog sich auf eine Viertelstunde zurück und kehrte mit
6 Mark wieder, die er sich mit „Neppen" verdient hatte. Zu diesem Zwecke führte
er immer ein ganzes Paket wertloser Ketten und Ringe mit sich, die er einzeln
unter dem Vorwande, sie seien von echtem Gold, und er sei augenblicklich in Geld¬
verlegenheit, an den Mann zu bringen verstand. Nachdem auch diese 6 Mark
verspielt waren, und der vorgerückten Zeit wegen an ein weiteres Neppgeschäft nicht
zu denken war, verpfändete er seinen Kettenvorrat für 3 Mark. Aber auch diese
3 Mark gingen den Weg alles Geldes, und so kam dann sein Überzieher daran,
für den ihm der Wirt 6 Mark vorschoß. Dem Überzieher folgte der Rock, für
den er wieder 4 Mark erhielt, die ihm ebenso schnell wieder abgenommen wurden.
Aber auch jetzt geriet er nicht in Verlegenheit, sondern wandelte die Gaststube in
eine Bühne samt Zuschauerraum um und veranstaltete komische Vorträge in jüdischem
Dialekt, die ihm wenigstens so viel einbrachten, daß er seinen Rock wieder einlösen
konnte und noch einige Groschen Schlafgeld übrig behielt.
Über Pirmasens fuhren wir nach Gießen, wo wir des schlechten Wetters wegen
unsre diesjährige Tournee beendeten, und wo die Angestellten entlassen wurden,
während der Prinzipal mit seiner Familie und dem Geschäfte nach Harburg reiste.
Wir Angestellten fuhren über Kassel nach Hamburg. Ich machte bei dieser Ge¬
legenheit einen Abstecher nach Spangenberg zu meiner Braut, deren Vater in¬
zwischen gestorben war. In Hamburg war gerade der „Dom," der vom 4. Dezember
bis zum 1. Januar dauerte. Dort hoffte ich Anstellung zu finden und traf in
Se. Pauli außer meinen Kollegen auch den Juden wieder, der in Innsbruck mit
von Peter Böhmes Panorama weggegangen war. Der Jude verschaffte mir eine
Anstellung bei „Ben Ali Bey, das schwarze Kabinett" in Kieles Gesellschaftsgarten.
Das schwarze Kabinett war eine Illusion der orientalischen Zauberei. Die ganze
Bühne war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und der Zauberer, der darauf
arbeitete, trug ein phantastisches weißes Kostüm, das sich gegen den Hintergrund
wirkungsvoll abhob. Mit einem Zauberstab schien er alle Gegenstände, die er zu
seinen Kunststücken gebrauchte, aus der Luft zu holen, und es war in der Tat
überraschend, wie er zum Beispiel zwei Marmortischchen mit goldnen Füßen, ein
Paar Pokale in der Form von Straußeneiern und andre Dinge plötzlich in den
Händen hielt, ohne daß man gesehen hätte, woher sie gekommen waren. Er stellte
die beiden Tischchen rechts und links von sich auf, setzte auf jeden einen Pokal und
ließ sich aus dem Publikum eine Uhr und eine Zigarrenspitze reichen, von denen
er die Uhr in den rechten, die Zigarrenspitze in den linken Pokal legte. Hierauf
richtete er einige Worte an das Publikum und erklärte, daß die Uhr jetzt in dem
linken und die Zigarrenspitze in dem rechten Pokal sei, und so war es auch. Sodann
zeichnete er mit Kreide auf eine schwarze Tafel, die auch dem Publikum gezeigt
wurde, ein Gerippe und meinte, als die Zeichnung fertig war, die zeichnerische
Leistung sei für einen Dilettanten nicht übel, aber es komme nun darauf an, dem
Gerippe auch Leben einzuflößen. Er blies nun die Zeichnung an, und zum Er¬
staunen der Zuschauer begann das Gerippe mit Armen und Beinen zu zappeln.
Sein Haupttrick war folgender: Er nahm einen Reisekorb aus der Luft, öffnete
ihn, rief sein Kind, ein kleines himmelblau gekleidetes Mädchen, und setzte es in
den Korb, der dann geschlossen und mit Stricken sorgfältig verschnürt wurde. Dann
zog er einen Degen und stach damit von allen Seiten und von oben tief in den
Korb hinein, wobei man das Gejammer des Kindes hörte. Als er den Korb
öffnete, war er leer. Dann schloß er den Korb wieder, verschnürte ihn noch einmal
und öffnete ihn zum zweitenmal, worauf er fragte: Mein Kind, wo bist du? Aus
dem Innern des Korbes hörte man die Stimme: Hier, Papa! und in der Tat
war das Kind, als der Korb geöffnet wurde, nun wirklich darin. Dieses und noch
viele ähnliche Kunststücke wirkten auf das Publikum geradezu verblüffend, aber die
Erklärung dieser Wunder war merkwürdig einfach. Der Zauberer hatte als Gehilfin
seine Frau neben sich, die vom Kopf bis zu den Füßen in schwarzen Samt ge¬
kleidet war, und die man wegen des schwarzen Hintergrundes, des schwarzen Fu߬
bodens und der schwarzen Decke nicht sehen konnte. Sie reichte ihm die Gegenstände
zu, die mit schwarzen Samtdecken verhüllt auf der Bühne gestanden hatten, befestigte,
ohne daß das Publikum eine Ahnung davon hatte, auf der Tafel einen Hampel¬
mann aus schwarzer Pappe, auf den ihr Mann das Gerippe zeichnete, und den sie
dann mit einem schwarzen Faden in Bewegung setzte, und war in ähnlicher Weise
behilflich, das Kind aus dem Korbe zu entfernen und wieder hineinzulegen.
So hübsch die Zauberkünste meines Prinzipals auch waren, so schlecht war
der Besuch der Vorstellungen wegen der großen Konkurrenz. Meine Obliegenheit
war das Auf- und Zuziehn des Vorhangs sowie das Zettelaustragen. Der Lohn
war aber so gering, daß ich meine Ersparnisse zusetzen mußte, um leben zu können.
Als Ben Ali Bey nach dem Ende des „Doms" nach Kiel reiste, trennte ich mich
von ihm und fuhr über Harburg, wo ich Kitzmann besuchte, nach Spangenberg zu
meiner Braut. Diese holte mich vom Bahnhof ab und sagte mir, ich hätte lieber
vierzehn Tage früher kommen sollen, da sie da gerade ein Schwein geschlachtet
hätten. Ich suchte mich nun nach Kräften in der Wirtschaft nützlich zu machen,
zerkleinerte Holz, reinigte den Ziegenstall, holte den Speck und die Würste aus
der Räucherkammer, wobei mitunter auch gekostet wurde, fühlte mich in dem kleinen
Städtchen jedoch so einsam, daß ich mich bemühte, wieder in die große Welt hinaus¬
zukommen. Als die Mutter meiner Braut mir den Vorschlag machte, ich sollte in
Spangenberg eine Bäckerei anfangen, machte ich kurzen Prozeß und schrieb nach
Harburg, um mich bei Kitzmann zu erkundigen, ob es bei ihm nichts zu tun gebe. Er
lud mich denn auch ein, zu ihm zu kommen, und schickte mir sogar das Reisegeld.
Das Kitzmcmnsche Dampflarussell wurde gerade zur Reparatur nach Mona
in die Fabrik von Hosermann und Jürgens geschafft, wo es mit einem größern
Dampfkessel und elektrischer Beleuchtung versehen wurde. Wir beteiligten uns bei
der Arbeit und fuhren längere Zeit zwischen Harburg und Altona hin und her.
Als ich mich in Harburg bei der Polizei anmelden wollte, wurde ich nach meinen
Militärpapieren gefragt, die nun freilich in schönster Unordnung waren. Man
schickte mich einstweilen nach Hause, und ich erhielt vierzehn Tage darauf eine Vor¬
ladung zum Bezirksfeldwebel, der mir wegen meines Versäumnisses Vorwürfe machte,
einen ganzen Stoß Akten, darunter verschiedne Steckbriefe vorwies und mir sagte,
ich solle nur gehn, das weitere werde sich finden. Nach etwa drei Wochen erhielt
ich einen Strafbefehl, demzufolge ich 20 Mark bezahlen oder im Unvermögens¬
falle drei Tage Haft absitzen sollte. Ich hatte das letzte vorgezogen und meldete
mich bei dem Polizeiinspektor, wurde aber nicht angenommen, da man mich zwingen
wollte, die 20 Mark zu bezahlen. Inzwischen war der Umbau des Karussells be¬
endet, und wir hatten zu Ostern in Blankenburgs Vergnügungslokal in Wilsdorf
aufgebaut. Als wir dort abgebrochen hatten und nach Marburg an der Lahn
fahren wollten, meldete ich mich beim Bezirksfeldwebel ab. Als wir in Marburg
angekommen waren, meldete ich mich sofort bei dem dortigen Feldwebel und erbat
die Abmeldung auf Reisen, die ich auch erhielt. Da mein Prinzipal erkrankt war
und mit seiner Frau in Harburg bleiben mußte, trat sein Sohn an seine Stelle.
Bei der neuen Arbeitseinteilung fiel mir das Kassierer bei zwei Schiffen sowie
die Überwachung der Lichtmaschine zu. Zu unsern dortigen Fahrgästen gehörte ein
alter Student, der es für seine wichtigste Lebensaufgabe hielt, das sauer verdiente
Geld seines Vaters möglichst rasch an den Mann zu bringen. Er zahlte nur mit
großer Münze, gab reichliche Trinkgelder und warf, was er an Pfennigen und
Nickelstücken herausbekam, beim Herumfahren unter das Publikum. Sein Stamm¬
lokal war die Wirtschaft „zum Jägerheim," wo er alles Trinkbare wahllos durch¬
einander trank.
Zur Frühjahrsmesse kamen wir nach Frankfurt am Main, wo ich mich mit
meinem Freunde Anton Brunner entzweite, dann nach Kaiserslautern, wo Brunner
auch mit einem andern Kollegen Streit begann, darauf nach Mannheim zur Früh¬
jahrsmesse, wo uns Brunner verließ. Der Geschäftsführer, mit dem er auf gutem
Fuße stand, hatte ihm eine Stelle bei Prinzlaus mechanischer Uhrenausstellung ver¬
schafft. Von Mannheim ging es per Achse nach Heidelberg. Unterwegs lief sich
ein Rad des Maschinenwagens heiß, wobei sich die gußeiserne Büchse lockerte und
mit Stroh und Kuhmist wieder festgemacht werden mußte.
Von Heidelberg fuhren wir nach Bingen, wo wir unmittelbar am Rhein auf¬
bauten. Als wir damit beschäftigt waren, den Unterbau des Karussells fertig zu
stellen, war die Arbeitszeit in einer benachbarten Maschinenfabrik beendet, und die
vorüberkommenden Schlosser blieben bei uns stehn, sahen uns bei der Arbeit zu,
und einer fragte mich: „Katzenkovp?" (Schlosser). Ich erwiderte: „Kenn!" (Ja).
Darauf gingen vier von den Leuten fort und kamen jeder mit einem Schoppen
Wein zurück, den sie uns Angestellten kredenzten. Sie fragten dabei, wann wir
Feierabend machten, und luden uns zum Wein in eine benachbarte Wirtschaft ein.
Nach dem Abendessen gingen wir auch hin und wurden als tüchtige Schlosser ge¬
bührend gefeiert. Die Wirtschaft gehörte einer Witwe, und die Bedienung machte
deren neunzehnjährige Tochter Knieheben, die auf alle Gäste dieselbe Anziehungskraft
ausübte. Ich zog es deshalb am andern Tage auch vor, anstatt wie gewöhnlich
im Wagen in der Wirtschaft zu frühstücken und fragte, als ich fertig war, was
ich schuldig sei. Knieheben antwortete: Das Wiederkommen. Eine solche Art des
Wirtschaftsbetriebs hatte ich bis dahin noch nicht kennen gelernt und versäumte uun
keine Gelegenheit, von der Gastfreundschaft der hübschen Wirtstochter Gebrauch zu
machen. Am ersten Pfingstfeiertag durfte unser Geschäft nicht betrieben werden,
und wir benutzten den freien Vormittag zu einem Ausflug auf den Niederwald,
wo wir unter der Führung eines liebenswürdigen Bingers die Sehenswürdigkeiten,
vor allem das Nationaldenkmal und die Zauberhöhle besichtigten. Nachdem wir
acht Tage in Bingen gewesen waren, wo wir namentlich am zweiten und am
dritten Pfingstfeiertag ein gutes Geschäft gemacht hatten, brachen wir ab und
ließen uns bet dieser Gelegenheit von einem benachbarten Schnellphotographen mit
dem von uns allen angebeteten Kutscher photographieren. Als wir den Wohn¬
wagen mit Hilfe der Winde ein Stück seitwärts schoben, fiel der Spiegel von der
Wand und zerbrach. Uns allen kam bet diesem Unfall eine bange Ahnung, denn
das Zerbrechen des Spiegels gilt bet den fahrenden Leuten als eine schlimme Vor¬
bedeutung. Wir sprachen uns darüber aus und äußerten unsre Vermutungen darüber,
was wohl geschehen sein möchte. Wir sollten nicht lange darüber im unklaren bleiben,
denn in demselben Augenblick, wo wir den Wohnwagen verluden, kam ein Tele¬
graphenbote, der uns die Todesnachricht von unserm Prinzipal brachte, der an dem¬
selben Tage in Harburg seinem Leiden erlegen war. Wir hatten den alten Mann
alle aufrichtig gern gehabt, und so erfüllte uns die Nachricht mit tiefer Trauer.
Den Abend blieben wir noch in Bingen, erhielten am andern Morgen Reise¬
geld nach Karlsruhe und verabschiedeten uns in aller Eile von Käthchen, die jedem
von uns einen mit Wein gefüllten Aßmcmnshäuser Mineralwasserkrug sowie eine
Kiste Zigarren mitgab.
In Karlsruhe kamen wir Abends spät bei schrecklichem Regenwetter an, mußten
aber, da es schon Freitag war, noch an demselben Abend ausladen und bei strömendem
Regen auf den Platz fahren. Wir wurden naß bis auf die Knochen, konnten aber,
als wir um ein Uhr in der Nacht Feierabend machten, zu unserm Glück über den
ganzen Wohnwagen verfügen, da Kitzmanns Sohn mit seiner Frau nach Harburg
gereist war. Wir machten im vordern Raum des Wagens ein gehöriges Feuer
und trockneten unsre Kleider daran. Ich durchsuchte den Küchenschrcmk, fand eine
Büchse mit Kaffee und braute einen heißen Trank, der aus Kaffee und Rum bestand,
und mit dem wir uns wieder erwärmten. Dann gingen wir schlafen und setzten
am andern Morgen wiederum bei strömendem Regen das Aufbauen fort, womit
wir um zwölf Uhr in der Nacht fertig wurden. Das Geschäft war am Sonntag
sehr gut, aber das Karussell erlitt einen Schaden, der nur mit Mühe repariert
werdeu konnte, weil des katholischen Feiertags wegen kein Schlosser zu haben war.
Schließlich fanden wir einen jungen Meister, der den Lagerbock mit einer Metall¬
komposition ausgoß und so den Schaden provisorisch reparierte.
Nachdem der junge Kitzmann wieder zurückgekommen war, reisten wir nach
Frankfurt zum Bundesschießen. Auf dem Festplatze an der Eschenheimer Landstraße
warm außer uns die Kleebergsche Menagerie, das Doppelkarussell von Viel, das
Dampfkarussell von Albert Kitzmann, Taggesell mit seiner Rutschbahn, Augoston
mit seinem Zaubertheater, Philipp Lenins und Johann Schindel mit dem Mario¬
nettentheater. Schicht! bewährte sich hier wieder in seiner Kunst, das Publikum
anzulocken und trotz aller Konkurrenz den Vogel abzuschießen. Da das Publikum
wenig Neigung zeigte, die Buden zu besuchen, sondern sich nur gaffend ans dem
Platze umhertrieb, mischte sich Schindel sehr auffällig als Engländer gekleidet unter
das Publikum, bewunderte seine eigne Bude, stieg die Treppe hinan, faßte den
Rekommandeur am Kragen und wirbelte ihn im Kreise um sich herum, wodurch
die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Schichtlsche Geschäft gelenkt wurde. Als
er dann in der Bude verschwand, drängten sich die Umherstehenden ihm nach, in
der sichern Erwartung, daß der Engländer darin weitem Unfug treiben werde.
Natürlich war noch eine Anzahl kleinerer Geschäfte, wie Schießbuden, Photo¬
graphiebuden und PMusse anwesend. Das Geschäft dauerte von drei Uhr Nach¬
mittags bis ein Uhr Nachts und war ganz ausgezeichnet.
Von Frankfurt fuhren wir aufs Geratewohl nach Erbach im Odenwald zum
Wiesmmarkt. Mit uns zusammen traf dort ein andres Dampfkarusfell ein, dessen
Besitzer, mit Namen Mehl, uns erklärte, er komme schon viele Jahre nach Erbach,
und er würde uns, wenn wir ihm keine Konkurrenz machen wollten, fünfzig Mark
Entschädigung zahlen. Damit waren wir einverstanden und ließen unser Geschäft
deshalb vier Tage auf der Lore stehn. Wir Angestellten hatten nun freie Zeit,
und da wir in Frankfurt große Reichtümer gesammelt hatten, hielt ich es für an¬
gebracht, meinen Kollegen in einer Schcmkbude auf dem Platze ein Fäßchen Bier
zum besten zu geben, das wir am Abend zusammen auskramten, und wobei die
Schichtlsche Kapelle konzertierte. Als die Gemütlichkeit ihren Höhepunkt erreicht
hatte, brach plötzlich ein furchtbares Unwetter los, und ich bemerkte bei einem be¬
sonders starken Donnerschlag, daß ich allein in der Bude war, und daß meine
Festgenossen schon das Weite gesucht hatten. Ich machte mich deshalb auch auf
und suchte mir in der pechschwarzen Nacht meinen Weg nach dem Schützenhause,
wobei ich mich mit Hilfe der Blitze orientierte. Im Schützenhaus fand ich sämt¬
liche Kollegen wieder, und wir blieben noch bis gegen drei Uhr am Morgen in
sehr gehobner Stimmung beisammen.
Von Erbach gings zum Schützenfest nach Gera. Dort erhielt unser Geschäfts¬
führer einen Brief vou der Menagerie Böhme, die damals in Pirmasens war,
worin mitgeteilt wurde, daß der Tierbändiger Schlöpfer von seinen vier Löwen
zerrissen worden sei. Er hatte ein Pferd geschlachtet und hatte versäumt, die dabei
getragne Kleidung mit einer andern zu vertauschen, war in eine Meinungsver¬
schiedenheit mit seiner Schwiegermutter geraten, und um den Streit zu beenden,
ins Wirtshaus gegangen, wohin ihm die Schwiegermutter gefolgt war. Da sie
ihm auch hier keine Ruhe lassen wollte, hatte er sich wieder in die Menagerie
begeben und mit den Worten: Hier werde ich wohl Ruhe haben! den Löwenkäfig
betreten, wo er sich nach seiner Gewohnheit mitten unter seinen vier Zöglingen
zum Schlafen niedergelegt hatte. Die Löwen hatten anfangs keine Notiz von ihm
genommen, dann war aber das jüngste der Tiere durch den Blutgeruch der Kleidung
munter gemacht worden, hatte Schlöpfer zuerst beschnuppert und dann angebissen,
worauf dieser nach der Futtergabel schrie, mit der er sich zu verteidigen gedachte.
In demselben Augenblicke stürzten sich die drei andern Löwen ebenfalls über ihn
her, und ehe Hilfe gebracht werden konnte, war er so zerfleischt, daß er am
folgenden Tage starb. Seine Angehörigen brachten die Leiche nach Se. Johann,
wo sie in der Familiengruft beigesetzt wurde.
In Gern herrschte der merkwürdige Brauch, daß die Schützen jeden der
Prinzipale arretierten und unter Musikbegleitung auf die Wache brachten, wo er
einen Geldbetrag in der Höhe von zehn bis zwanzig Mark zum besten der
Schützengesellschaft zahlen mußte. Mutter Kitzmann erlitt dasselbe Schicksal und
schritt puterrot vor Verlegenheit zwischen den beiden Schützen, die sie abführten,
zur Wache.
Dem Geraer Schützenfeste folgte das Weimarer. Dort war der Festplatz auf
der Schießhauswiese auf dem rechten Jlmufer. An dem Tage, bevor wir ankamen,
war der Zirkus Hagenbeck, der dort gestanden hatte, wieder abgereist und hatte
das Unglück gehabt, daß einer seiner beiden Packwagen, als er in der Nacht um
zwölf Uhr zur Bahn fuhr, verunglückt war. Die Bremse hatte versagt, und die
Fuhrleute hatten den Packwagen an einen mit zwei Bremsen versehenen andern
Wagen angekettet. Aber die Kette war gerissen, der Fuhrmann gestürzt, und die
mit dem Wagen den Berg hinabstürmenden Pferde hatten das Geländer der Jlm-
brücke durchgebrochen und waren in den Fluß hinabgestürzt, wo sie tot liegen blieben.
Eine merkwürdige Erscheinung des Festplatzes war der „Einsiedler vom
Thüringer Walde," ein Publikspieler im Eremitenkostüm, der sich mit dressierten
Katzen, Mäusen, Tauben und einem zahmen Iltis produzierte. Er nahm gewöhn¬
lich den Iltis auf den Arm und wanderte damit auf dem Platze umher, bis eine
genügend große Menschenmenge um ihn versammelt war, die ihm dann zu seinem
Stande folgte und der Vorstellung beiwohnte. Später vergrößerte er sein Geschäft,
indem er sich zwei Käfige mit Affen anschasste.
Über Apolda, Fulda und Ludwigshafen reisten wir nach Mannheim zur Messe,
wo unter andern auch Johann Schindel mit seinem Marionettentheater stand. Dieser
leitete seine Vorstellungen mit einem sogenannten „Kaulautzki" ein, d. h. einer
komischen Szene, wobei die beiden Darsteller auf einer Bühne erscheinen, die durch
eine so hohe Schranke nach dem Publikum zu abgesperrt ist, daß man nur die
Oberkörper sieht. An dem Rumpse der Darsteller sind kleine Gliedmaßen ange¬
bracht, die ähnlich wie auf dem Kasperletheater bewegt werden. Eine stehende
Figur bei dem Schichtlschen „Kaukautzki" war ein französischer Veteran in Uniform,
der gebrochen Deutsch sprach und in seinem Kauderwelsch mit dem Direktor ver¬
handelte. Dieser gab ihm scherzhafte Rätsel auf und erzählte ihm von seinem
Rundgang über die Messe, wobei er seine Erlebnisse in den einzelnen Geschäften
in humoristischer Weise schilderte. Das wirkte hier in Mannheim um so stärker,
als des schlechten Wetters wegen die übrigen Schaubudenbesitzer geschlossen hatten
und sich ziemlich vollzählig bet Schichtls Vorstellungen einfanden.
Von Mannheim zogen wir weiter über Heidelberg, Pforzheim, Lindau, Pirmasens
nach Se. Ingbert in der Rheinpfalz, wo Markt war, und wir trotz unsern: schlechten
Platz ein gutes Geschäft machten. Hier wollten wir die diesjährige Tournee
beschließen und suchten nach einem Raume, wo wir unser Geschäft einstellen konnten.
Schließlich fanden wir außerhalb des Orts eine Mühle, deren Besitzer uns eine
Remise zur Verfügung stellte. Wir wurden der Verabredung gemäß entlassen,
unsre Herrschaft begab sich wieder nach Harburg, und ich reiste über Bingen, wo
ich eine Kiste Wein kaufte und nicht verfehlte, Kätchen einen Besuch abzustatten,
nach Reichenbach im Vogtlande, wo ich mich bei einem dort verheirateten Bruder
angemeldet und nach Arbeit erkundigt hatte. Von Reichenbach aus machte ich zu¬
nächst meinen Eltern in Lengenfeld einen Besuch, blieb dort einige Tage und bekam
dann in Reichenbach Arbeit in der Färberei, wo mein Bruder beschäftigt war. Ich
mußte den ganzen Tag in dem feuchten Raume der Spülerei stehn und erhielt
einen Wochenlohn von vierzehn Mark. An einem Donnerstag Abend gegen sechs
Uhr kam einer der Arbeiter zu mir und sagte, draußen stehe ein Schutzmann, der
mich zu sprechen wünsche. Ich händigte der Vorsicht wegen das Portemonnaie
und das Taschenmesser meinem Bruder ein und behielt nur die Primdose bei mir.
Der Schutzmann fragte mich nach meinem Namen und forderte mich auf, ihn zum
Bürgermeister zu begleiten. Dieser teilte mir mit, es sei aus Harburg ein Schreiben
eingetroffen, worin angezeigt würde, daß ich in Militärangelegenheiten noch eine
Strafe von zwanzig Mark zu zahlen hätte. Auf meine Erwiderung, ich hätte
aber kein Geld, fragte mich der Bürgermeister, ob ich vorzöge, die drei Tage ab-
zusitzen, womit ich mich einverstanden erklärte. Die Harburger Polizei schien zu
der Einsicht gekommen zu sein, daß von mir kein Geld zu erlangen sei, und hatte
sich deshalb wohl dazu entschlossen, auf die zwanzig Mark zu verzichten und mich
meine Strafe absitzen zu lassen. Wie sehr ihr die ganze Angelegenheit am Herzen
gelegen hatte, konnte ich daraus merken, daß während der Zeit, wo Mutter Kitz¬
mann zur Pflege ihres Mannes in Harburg gewesen war, aller acht Tage ein
Polizist bei ihr vorgesprochen hatte, der sich danach erkundigte, wo sich das Geschäft
jetzt aufhielte. Ich wurde nun in das „Knechen" geführt, wo drei Kunden saßen,
die sehr erpicht auf meinen Kautabak waren, und deren jedem ich ein Stückchen
abgab. Am letzten Tage meiner Haft, einem Sonntage, platzte im Gefängnis das
Wasserleitungsrohr, wodurch eine Überschwemmung entstand. Ich half den Schaden
reparieren und wurde um sechs Uhr entlassen. Da mir der Lohn in der Fabrik
gar zu gering war, suchte ich meinen Verdienst durch Überstunden bis spät in die
Nacht zu erhöhen und entschloß mich eines Tages, im Kondor um Zulage zu bitten.
Man fragte mich dort, ob ich verheiratet wäre, und wieviel Kinder ich hätte,
worauf ich frischweg erwiderte, ich hätte eine Frau und zwei Kinder zu ernähren.
Das wirkte, und seitdem bekam ich für die Stunde zwei Pfennige mehr. In
Reichenbach blieb ich bis zum Frühjahr und besuchte dann noch einmal meine
Eltern in Lengenfeld. Inzwischen hatte ich von Mutter Kitzmann Reisegeld er¬
halten und begab mich nach Se. Ingbert. Auf der Reise machte ich in Saarbrücken
einen kurzen Aufenthalt und bemerkte dabei, daß viele der dortigen Einwohner eine
umflorte Kornblume im Knopfloch trugen. Es war nämlich gerade der Tag, wo
der alte Kaiser bestattet wurde.
In Se. Ingbert erhielten wir einen neuen Geschäftsführer namens Haselwcmger.
Sein Vorgänger bei uns heiratete die Witwe des Menageriebesitzers Böhme, der
einige Zeit vorher wahnsinnig gestorben war. Auch Anton Brunner, von dem ich
seinerzeit in Feindschaft geschieden war, fand sich wieder ein, und wir verkehrten
miteinander, als sei nie etwas zwischen uns vorgefallen. Dann reisten wir über
Zweibrücken, Germersheim, Kaiserslautern, Worms, Mannheim und Heidelberg nach
Pforzheim. Dort gab gerade, als wir beim Aufbauen waren, der Zirkus Hagen-
beck seine letzte Vorstellung, während der er schon mit dem Einladen begann. Die
neun Elefanten, worunter ein Zwergelefant war, wurden gleich, nachdem sie ihre
Nummer beendet hatten, aus der Manege auf die Bahn geführt. Wir beobachteten
noch eine Weile das Abbrechen des Zirkus, das mit erstaunlicher Schnelligkeit vor
sich ging, und wobei alles bis in die kleinsten Kleinigkeiten vorbereitet war. Die
Fuhrleute standen schon bereit und schafften die Wagen nach der Rampe, wo sie
auf die von Hagenbeck für die Saison gemieteten Waggons verladen wurden. Wir
erhielten zum Verladen unsers Geschäfts zwei ganz neue Loren mit Querbohlen,
worüber wir uns sehr freuten, da diese Wagen uns eine Garantie für die glück¬
liche Beförderung unsrer schweren Maschine waren. Wir blieben noch den Abend
in Pforzheim und fuhren am andern Tage weiter nach Heilbronn. Als wir in
Mühlacker zufällig zum Fenster hinaussahen, bemerkten wir an der Rampe unsre
Maschine, die merkwürdigerweise auf einer andern Lore stand. Die Angestellten
der Eisenbahn waren dabei beschäftigt, und wir ahnten gleich, daß hier ein Unfall
eingetreten sein müsse. So verhielt es sich denn auch: bei der neuen Lore hatten
sich die Lager heiß gelaufen, und man war deshalb gezwungen gewesen, die Maschine
auf eine andre umzuladen. Zum Unglück hatte man einen ganz alten Wogen ge¬
nommen, dessen Boden mit Längsbohleu versehen und überdies schon morsch war,
und so war die Maschine mit allen vier Rädern durchgebrochen. Wir sahen uns
den Schaden an und erklärten der Bahnverwaltung, wir müßten sie dafür verant¬
wortlich machen, wenn die Maschine nicht rechtzeitig in Heilbronn eintreffe. Am
Nachmittag, als wir in Heilbronn beschäftigt waren, den Wohnwagen auszuladen,
kam ein Personenzug an, der die Maschine mitbrachte.
Wir besuchten noch eine größere Anzahl Städte und beendeten in Alzey unsre
Tournee, verluden das Geschäft nach Harburg und wurden in der üblichen Weise
entlassen. Ich fuhr mit meinem Freunde Brunner nach Weimar, wo ich im Dezember
meine Braut heiratete, und zog von dort auf gut Glück nach Apolda. Trotz allen
meinen Bemühungen fand ich hier erst im Februar Arbeit, und zwar als Haus¬
mann und Hilfsarbeiter im Laboratorium der Löwenapotheke. Dort bestand meine
Tätigkeit hauptsächlich im Gläserspülen, Kräuterstoßen, Mandelölpressen und in der
Anfertigung von Brustbonbons. Außerdem mußte ich gangbare Medikamente, wie
Choleratropfen, Kinderhnstensaft und ähnliche Mixturen, in die zum Handverkauf
bestimmten Mschchen füllen. Ich erhielt die Woche anfangs zehn Mark, später
zwölf Mark Lohn, wobei ich natürlich keine Reichtümer gesammelt habe.
(Fortsetzung folgt)
! is Helene von der Diele in das Wohnzimmer trat, nachdem sie zuvor
mehrmals angeklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, blieb sie
einen Augenblick erstaunt stehn.
^ Das Zimmer war nämlich trotz dem hellen Frühlingsabend
> ziemlich dunkel, sodaß sie nur eben die Hauptzüge seiner Physiognomie
! erkennen konnte. Vor den großen Fenstern waren Ronleaus herab¬
gelassen, auf denen Bilder des Bernstorfer und des Fredensborger Schlosses an¬
gebracht waren — in Ermanglung gräflicher Schlösser mußte man sich mit den
königlichen begnügen. Der verhüllte Kronleuchter hing wie eine schwebende Ball¬
dame unter der Decke. Alle Möbel waren zugedeckt. Auf dem Teppich gingen
Läufer in zwei Richtungen auseinander; Helene folgte dem zur Rechten.
Wieder klopfte sie; immer noch keine Autwort.
Dann trat sie in das Eßzimmer, wo sie ebenfalls niemand antraf.
Hatte sie Frau Lönberg mißverstanden, war es noch zu früh?
Da hörte sie Stimmen im nächsten Zimmer. Nach einem bescheidnen Pochen
und einem energischen Untreu! trat sie in das Boudoir, wo sie die Familie ver¬
sammelt fand.
Frau Lönberg kam ihr jetzt recht freundlich entgegen: Darf ich Sie in unserm
Hanse willkommen heißen, Fräulein Rörby? Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl
fühlen und der Stellung gewachsen sein, die Sie übernommen haben. Dann er¬
folgte ein feuchter, matter Händedruck.
Helene hatte das Gefühl, als habe sie den Schwanz einer Natter in der
Hand gehalten.
Jetzt trat auch der Apotheker vor.
Darf auch ich--die Ehre haben — — Sie----
Als er stotternd Helenens Hand reichlich lange in der seinen hielt, sagte Frau
Lönberg, ihn unterbrechend:
Und hier sehen Sie Ihre Schülerinnen: Desideria, meine älteste Tochter, ein
gut begabtes Mädchen von vierzehn Jahren, deren ungewöhnliche Fähigkeiten Sie,
wie ich hoffe, gut entwickeln werden.
Desideria sah ihre künftige Erzieherin ein wenig trotzig von der Seite an
und reichte ihr widerstrebend die schlaffe Hand.
Frau Lönberg fuhr fort:
Anna, meine jüngste Tochter, oukant Wut K tont, eben elf Jahre geworden,
es sollte mich freuen, wenn Sie bei der ein wenig mehr entdecken könnten, als
es ihrer bisherigen Lehrerin, Fräulein Josen, der Erzieherin von Kaufmann
Ludvigsens Kindern, gelungen ist. Jedenfalls seit sie guten Willen, was ja in
hohem Maße das fehlende Talent ersetzen kann, wo dieses nicht vorhanden ist.
Desiderias Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln über die Logik
der Mutter.
Helene und Anna sahen sich in die Augen und begegneten sich in eineni
warmen Kuß.
Frau Lönberg fuhr fort:
Und hier sehen Sie die jüngste Hoffnung der Familie! — Aber Preber, wo
bist du denn?
Ein Lärm hinter dem Lehnstuhl, auf dem Großmutter saß, ließ vermuten, daß
sich „die Hoffnung" hier verkrochen habe.
Lönberg! sagte die Mutter, willst du nicht deinen Sohn vorstellen?
Dies Miaut tsrridlk überließ sie gern ihrem Manne.
Der Apotheker grübelte noch darüber, wie er diese Mission erfüllen sollte, als
Preber auf allen Vieren durch das Zimmer gekrochen kam.
Er ist ein Vollblutgymnastiker, sagte die Mutter entschuldigend und fügte mit
bebender Wut hinzu: Steh auf, mein lieber Junge! Der liebe Junge kam diesem
Befehl augenblicklich nach, indem er sich auf den Kopf stellte, worauf er dann sehr
schnell auf die Beine kam, dank einem tüchtigen Klaps, den ihm die Mutter zu
verabreichen sich erlaubte.
Da fing er aber an aus vollem Halse zu brüllen.
Frau Lönberg schellte.
Stine, die darauf abgerichtet war, unverzüglich zu erscheinen, kam so schnell,
als sei sie durch das Schlüsselloch geflogen.
Bringen Sie Preber zu Bett! kommandierte die Mutter.
Stine führte die Hoffnung der Familie hinaus.
Jetzt sah sich Helene in dem gemütlichen Boudoir um.
Eine dunkelrote Portiere rin weißen Schwänen bedeckte die ganze Gartentür,
das Rouleau — mit dem Frederiksborger Schloß — war herabgelassen, und die
Hängelampe war angezündet.
Die künstliche Nacht wurde jedoch durch einzelne verräterische Lichtstrahlen
unterbrochen, die hinter dem Rouleau und der Portiere hervorblitzten und von dem
hellen Frühlingsabend da draußen erzählten.
Ein sehr kleiner Tisch trug eine Schale mit ganz dünnen, dreieckig geschulteren
Butterbroten.
Auf einem etwas größern Tisch stand ein Kessel über einer brennenden
Spirituslampe und daneben eine silberne Teekanne.
Ja, sagte Frau Lönberg, so trinken wir immer des Abends Tee — Sideria,
gieß mal auf!
Da ertönte es plötzlich vom Lehnstuhl her:
Guten Tag, Fräulein Rörby, und: Willkommen in Nakkerup wünscht Gro߬
mutter Ihnen!
Sie war aufgestanden und stand Helene nun von Angesicht zu Angesicht
gegenüber, sie ganz benommen anstarrend, als wolle sie ihren Augen nicht trauen.
Nur Helene hatte den starken Eindruck bemerkt, den sie auf Großmutter machte.
Beide fühlten, daß sie sich in diesem Augenblick gefunden hatten.
Nun, plazieren wir uns, der Tee ist eingeschenkt, sagte Frau Lönberg und
fügte hinzu, als man sich setzte: Wir genießen des Abends nie etwas andres,
sollten Sie aber nach der langen Reise vielleicht etwas mehr wünschen, so können
wir schnell noch ein wenig schneiden lassen.
Nein, vielen Dank! antwortete Helene.
Vielleicht noch einen ganz kleinen Zwieback? fragte Frau Lönberg, als das
Butterbrot verzehrt war. Es war allerdings ein „ganz kleiner Zwieback" von
der Größe einer Pfeffernuß.
Die Nakkeruper Apotheke war berühmt wegen ihrer kleinen Zwiebacke, die in
der ganzen Umgegend als Grafenbrötchen bekannt waren.
Als der Tee getrunken und die leichte Mahlzeit verzehrt war, sagte Frau Lönberg:
Vielleicht kann ich Ihnen gleich das Programm des Hauses mitteilen. Der
Morgentee wird im Winter wie im Sommer präzise acht Uhr im Eßzimmer ein¬
genommen. Dann fängt die Schule um neun Uhr an. Das Dejeuner wird für
Sie und Ihre Zöglinge um elfeinviertel Uhr im Schulzimmer angerichtet. Die
Schule währt bis ein Uhr. Darauf Musik. Der kleine Preber scheint eigentümlicher¬
weise ausgesprochen musikalische Anlagen zu verraten. Um viereinhalb Uhr wird
das Diner serviert, worauf es Kaffee gibt — wenn Besuch da ist oder bei außer¬
gewöhnlichen Gelegenheiten — sonst niemals! Um achteinhalb Uhr trinken wir
hier im Boudoir Tee. Um zehn Uhr ist alles abgeschlossen und ausgelöscht! Was
Ihr Rad anbetrifft, so hoffe ich, daß Sie auf Ihren Ausflügen nach jeder Richtung
hin vorsichtig sind und nichts unternehmen, was auf irgendeine Weise Ihnen schaden
könnte — oder uns! Ich erwarte, daß Sie schon morgen einen Stunden- und
einen Lehrplan ausarbeiten werden, der mir übermorgen vorgelegt werden kann.
Ja, das ist wahr, sobald Gelegenheit dazu da ist, werden Sie sich mit den nötigen
Abänderungen im Schulplan in der feinern Landwirtschaft ausbilden können. Ich
denke, Sie werden nichts hiergegen einzuwenden haben!
Ein scharf ausgestoßnes Hin! das vom Stuhl der Großmutter her ertönte,
machte Frau Lönberg zusammenfahren.
Das Blut schoß Helene in die Wangen, als sie die Frau des Hauses in einem
kurzen, bestimmten Ton dies offenbar auswendig gelernte Programm hersagen hörte.
Obwohl Helene noch nicht viel Welterfahrung hatte, begriff sie doch sofort,
daß es jetzt darauf ankam, ihre Stellung zu behaupten, aber auf eine Weise, die
sie nicht auf Kriegsfuß mit ihrer Prinzipalin brachte. Deshalb sagte sie mit etwas
bebender Stimme, die jedoch allmählich sichrer wurde, während sie zugleich das
blonde Haar aus Annas hoher Stirn strich: Ich zweifle nicht daran, daß alle
Arrangements Frau Lönbergs vortrefflich sind, muß es mir aber trotzdem vorbe¬
halten, meine Schüler erst näher kennen zu lernen, ehe ich die Schulzeit und den
Lehrplan feststellen kann, wozu ich mir die nötige Freiheit vorbehalten muß, wenn
ich meinen Pflichten genügen will.
Frau Lönberg schnappte etwas nach Luft, und Großmutter ließ ein er¬
munterndes Hin! hören.
Helene, deren Mut und Sicherheit wuchsen, fügte noch hinzu: Soweit ich es
kann, und soweit meine Zeit es mir erlaubt, werde ich Ihnen mit dem größten
Vergnüge» im Hause behilflich sein; ich muß aber doch gleich darauf aufmerksam
machen, daß ich ausdrücklich geschrieben habe, wirtschaften sei nicht mein Fach, und
daß ich ausschließlich als Gouvernante engagiert zu werden wünsche; und als solche
haben der Herr Apotheker und Frau Lönberg mich auch engagiert.
Sie wandte sich hier mit einem strahlenden Lächeln an den Apotheker, der
tief errötend stammelte:
Meine Frau meint auch — natürlich — ganz dasselbe wie Siel — Meine
Frau und ich — ich und meine Frau —
Hier hielt er plötzlich inne, da ihn seine Frau, von den andern unbemerkt,
auf den Fuß trat.
Helene fuhr fort: Was mein Rad anbetrifft, so kann ich nur sagen, daß ich
ganz dasselbe hoffe wie Frau Lönberg.
Es folgte ein peinliches Schweigen.
Frau Lönberg schnappte nach Luft. Desideria lächelte trotzig.
Der Apotheker klopfte an das Barometer und murmelte: Es steigt!
Da erhob sich Großmutter, trat vor und sagte: Jetzt möchte ich auch ein
kleines Wort mitreden!
Es war in der Nakkeruper Apotheke allemal ein historischer Augenblick, wenn
Großmutter das Wort ergriff — so wie Bismarck oder Palmerston in den großen
Tagen in einer entscheidenden Debatte.
Frau Lönberg schauderte immer vor diesen Augenblicken, in denen ihr Thron
schwankte, aber sie wagte nicht, Großmutter zu trotzen.
Diese legte die linke Hand auf Helenens Schulter und sagte, indem sie ihr
in die Augen sah: Sie haben ein gutes Gesicht — ich irre niemals, Fräulein
Rörby. Und meine Tochter meint es auch gut mit Ihnen. Sie sind jung und
allein zwischen Fremden. Das ist meine Tochter auch gewesen. Sie fand große
Freundlichkeit und Nachsicht. Sie werden dasselbe immer hier im Hause finden!
Sie küßte Helene auf die Stirn und fügte hinzu: Haben Sie Rat und Hilfe
nötig, so kommen Sie zu Großmutter, mein liebes Kind! — Und nun geht alle
hinaus und seid vergnügt!
Großmutters Augen erstrahlten von einem ungewöhnlichen Feuer; sie stieß
den Stock bei jedem Tritt hart auf den Fußboden und verließ das Zimmer.
Die Zurückbleibenden standen schweigend da und lauschten ihren Stößen mit
dem Stock.
Als diese nur noch schwach aus der Ferne drangen, ergriff Frau Lönberg
das Wort. Sie sah ein, daß sie zu weit gegangen war und vorläufig die Schlacht
verloren hatte, daß sie aber Zeit hatte, eine neue zu gewinnen. So sagte sie denn
in einem gewissen angenehmen Mtttelton: Meine Mutter spielte darauf an, daß
heute Walpurgisabend ist; wir haben deshalb viel früher als sonst Tee getrunken;
oben auf dem Skraldhügel wird ein großes Feuer angezündet, dabei pflegen wir
immer zugegen zu sein, und dort werden Sie alle Honoratioren der Gegend treffen.
Ja, alle Honoratioren! murmelte der Apotheker.
Ich hoffe, Sie werden mitkommen; haben Sie Lust, Fräulein Rörby?
Ja, große Lust! Aber darf ich denn nicht ein Wort für meinen jüngsten
Schiller einlegen?
Ach, Sie meinen Preber! Ja, mit Vergnügen. Wenn ich ihn recht kenne,
ist er nicht weit!
Da kam Preber zur Eßstubentür hereingesprungen, die Großmutter nur an¬
gelehnt hatte, und rief: Hurra! ich habe alles gehört. Danke vielmals, Fräulein
Rörby!
Jetzt hatte sie auch sein Herz gewonnen.
Walpurgisabend! Von alten Zeiten her einer der größten Festabende in
Dänemark, mit flammendem Feuer als Schutz gegen Unwetter und böse Geister,
noch heute in Jütland in Ehren gehalten mit brennenden Holzhaufen, die von einem
Hügel zum andern leuchten.
Abermals hat sich das Rad des Jahres herumgedreht, und der Walpurgis¬
abend ist gekommen.
Der Himmel ist grau, der letzte Widerschein der Sonnenglut färbt die Linien
der Wolkenbänke im Westen, dann verschwindet auch dieser Schimmer, und die dunkeln
Schatten lagern kalt und grau am Horizont.
Der Abend ist still und milde, nur ein schwacher Lufthauch macht sich bemerkbar.
Oben auf dem Skraldhügel versammelte sich allmählich eine große Volksmenge.
Der Hügel lag herrlich am Rande des großen Roßgartens mit einer weiten
Aussicht über die ganze Gegend und das Meer.
Oben auf dem Gipfel waren Teertonnen, Reisig und Stroh aufgestapelt.
Knaben und Mädchen hatten schon mehrere Stunden lang den Hügel belagert,
und nur mit äußerster Mühe gelang es dem Ortsrichter, mit Hilfe seines großen
Hundes Snap sie in Zucht zu halten und sie daran zu hindern, den Holzstoß
anzuzünden. Jetzt sah man in dem unsichern Schein des schwindenden Tageslichts
endlose Scharen zu Fuß und zu Wagen sich nähern.
Bald wimmelte es von Menschen auf dem Gipfel des Hügels.
Das Feuer war ja noch nicht angezündet, deswegen war die Familie des Apo¬
thekers die Zielscheibe aller Blicke.
Man sah flüsternd zu der jungen schlanken Dame mit der roten Mütze
hinüber.
Der Provisor, der Erlaubnis erhalten hatte, auf ein flüchtiges Retourbillett
zu dem Feuer zu kommen, sah sie mit ungewöhnlich brennenden Blicken an.
Der arme Didrik aber, der als Wache in der Apotheke bleiben mußte, war
in Heller Wut; er hatte nur einen Augenblick gebraucht, einzusehen, daß sie es war
und nur sie allein, jetzt und in alle Ewigkeit. Da er nichts andres hatte, womit
er sich trösten konnte, ließ er seine Wut an den Pfefferminzpastillen und der Schoko¬
lade aus.
Als der Ortsvorsteher meinte, daß der Augenblick gekommen sei, gab er das
Signal.
Und in einem Augenblick lohte das Feuer auf; knisternd, trallernd, zischend
und prasselnd leckten die Flammen an den Teertonnen hinauf, Stroh und Reisig
zwischen den roten Zahnen zermalmend und funkensprühende Rauchwirbel in die
Luft aussendend.
Bald flammte ein Helles Feuer und warf einen leuchtenden Schein auf die
Versammelten.
Der Apotheker meinte jetzt, daß die Zeit gekommen sei, und nach einigen
krampfhaften Mundbewegungen sagte er: Meinst du nicht, liebe Jelde, daß wir
Fräulein Rörby vorstellen sollten —?
An einem Walpurgisabend sie den Honoratioren vorstellen, nein, weiß Gott,
das meine ich nicht — das ist ganz und gar nicht oomme it taut. Aber ich kann
dem Fräulein vielleicht die Honoratioren xar äistÄnes vorstellen.
Sehen Sie, die Familie dort im Landauer, das ist unser Seelsorger, Seine
Hochehrwürden Propst Hansen-Bjerg, mit Frau und Sohn. Sie ist eine geborne
von, das sieht man gleich an der Haltung. Und ihm kann man es beinahe nicht
anhören, daß er von Bauern abstammt.
Dort ganz in der Nähe von Propst Hansen-Bjergs Wagen steht unser alter
Hausarzt, der Kreisphysikus, Medizinalrat Naerum. Der Schein des Feuers fällt
auf seine Nase, denn so rot ist sie wirklich nicht; er ist ein ausgezeichneter Arzt,
sobald ernste Gefahr im Anzüge ist. Und, du lieber Gott, daß die Mutter die
kleine Berta gern verheiratet haben will, darüber kann man sich ja nicht wundern!
Es ist eine gründlich gebildete Familie, und das Fräulein ist sehr musikalisch.
Das ist die Dame auch, mit der sie jetzt spricht, die frühere Lehrerin unsrer
Kinder, Fräulein Ipser, die große Dame mit dem Spazierstock in der Hand und
der Mütze auf dem Kopf. Sie ist ungewöhnlich intelligent.
Und dicht daneben steht Großhändler Ludvigsen, im Zylinder, mit Frau und
Tochter. Sie sind nicht gerade hervorragend, bemühen sich aber, in bezug auf
Bildung und Kenntnisse Schritt zu halten.
Astrid ist vorige Ostern konfirmiert worden, und ihre Ausbildung wird jetzt
von Fräulein Ipser vollendet, die der Ansicht ist, daß sie ein großes musikalisches
Talent hat. Bedeutend niedriger stehn ja freilich Pächter Sörensens; das sind
die in dem Jagdwagen dort. Aber es ist doch sehr anerkennenswert, daß er sich
aus dem Bauernstande heraufgearbeitet hat. Ich respektiere ihn sehr. Der Sohn
besucht das Gymnasium. Die Tochter, Nielfine, ist bei Propstens im Hause, um
sich Bildung anzueignen. Leider sind Mutter und Tochter durch und durch bäurisch.
Aber wo in aller Welt steckt denn der Hochschulvorsteher?
Hier! ließ sich eine volltönende Stimme hinter ihnen hören.
Eine große, kräftige Gestalt mit einer Dame am Arm trat vor und sagte:
Koltrup, Hochschulvorsteher. Mille, seine Frau; da habe» Sie den ganzen Theater¬
zettel. Willkommen hier bei uns, Frnuleiu!
Und er und seine Frau drückten Helene warm die Hand.
In diesem Augenblick machte sich eine große Bewegung in der Menge bemerkbar.
Alle wandten die Gesichter vom Feuer ab und sahen nach der entgegengesetzten
Richtung.
Es war die gräfliche Familie, die angefahren kam.
Bei dem schönen, milden Wetter hatte das gräfliche Paar nach Tische Lust
bekommen, noch eine Spazierfahrt zu machen und das Feuer anzusehen. Und nun
kam der gräfliche Wagen mit vier weißen, reichgeschirrter Pferden daher. Der
junge Stammherr ritt auf einem schwarzen Vollblutpferd hinterdrein.
Die Pferde, von der Glut geblendet, scheuten und bäumten sich, und Frau
Lönberg tat beinahe dasselbe, von dem gräflichen Glanz geblendet, als der Jäger
kam und die Familie des Apothekers bat, sich an den Wagen zu bemühen.
Es war ein stolzer Augenblick, als die kleine Frau an der Spitze der Familie,
von allen Blicken gefolgt, hocherhobnen Hauptes den Hügel hinabschritt, wobei sie
eifrig flüsterte: Lönberg — verberge dich nicht zu tief, Desideria — sieh ein wenig
liebenswürdig aus, Anna — halte dich gerade, Preber — putz dir die Nase!
Da sie den Kopf so hoch trug, wäre Frau Lönberg beinahe über einen Maul¬
wurfshaufen gefallen, aber sie behielt Contenance und erreichte den gräflichen Wagen
mit dem wünschenswerten Anstand.
Guten Abend, liebe Frau Lönberg, sagte die Gräfin freundlich.
Und der Graf fügte hinzu: Ein schöner Abend, Herr Apotheker!
Ja, ganz — unge - ge - gewöhnlich, stotterte der Apotheker.
Die Herrschaften machen eine kleine Spazierfahrt nach der Tafel, bemerkte
Frau Lönberg verbindlich.
Man widersprach nicht.
Und Preber erhielt den Befehl, die Gouvernante zu holen, die nun dem
gräflichen Paar, der Komtesse sowie der französischen Bonne, einer üppigen Brünetten
namens Madame Rouhcm vorgestellt wurde. Der Stammherr, der seine Frühjahrs¬
ferien zuhause verlebte und zum Herbst sein Abiturium machen wollte, ritt vor
und begrüßte Helene sehr ehrerbietig mit einem warmen Blick, der Desideria nicht
entging.
Die gräfliche Familie betrachtete Helene bewundernd; aber sie nahm sich auch
ganz glänzend aus. Und als sie sich zurückzog, nachdem sie auf eine natürliche
Weise verschiedne Fragen beantwortet hatte, sagte die Gräfin: Da haben Sie eine
Acquisition gemacht, liebe Frau Lönberg!
Diese Worte befestigten Helenens Stellung im Hause des Apothekers, erregten
aber auch den schlummernden Neid bei der kleinen Frau und der süßen Desideria.
Als Helene mit der Familie zu dem Feuer zurückkehrte, umtanzte die Jugend
es schon unter Singen und Jubelgeschrei.
Da sah Helene einen großen Mann stehn, der ein wenig von der Menge
entfernt außerhalb des Feuerscheins zurückgezogen und einsam dastand; jetzt schlugen
die Flammen in die Höhe und warfen ein Helles Licht auf seine Gestalt. Man
sah unter der Sportmütze ein paar ungewöhnlich tiefe Augen. Es lag etwas be¬
obachtendes in diesem Gesicht, das Helene fesselte.
Da sank das Feuer prasselnd zusammen.
Man rief nach Helene; sie wandte sich um. Es war die Frau Apotheker,
die zum Aufbruch mahnte. Als Helene sich noch einmal nach der geheimnisvollen
Erscheinung umsah, war sie verschwunden.
Wer konnte das gewesen sein?
Da kam der Hochschulvorsteher mit seiner Frau, und Helene hatte die größte
Lust, sie auszufragen, doch fehlte ihr der Mut. Koltrup rief aus: Nun, Apotheker,
wollen wir nicht zum Ortsvorsteher gehn? Der Hexenkessel steht parat, die Ge¬
tränke haben Sie geliefert. Was meinen Sie zu einem Glas Walpurgispunsch auf
den Schrecken?
Ja ich weiß nicht, ich habe w-w-wirklich—
Fragen Sie meinen Hofmeister! flüsterte Koltrup Helene zu.
Nein, vielen Dank! sagte Frau Lönberg, aber aus Rücksicht auf Fräulein
Rörby, die nach der langen Reise müde sein muß, müssen wir uns leider zurück-
ziehn; wollen Sie, bitte, die übrige Gesellschaft von uns grüßen.
Ach, meinetwegen, entgegnete Helene.
Auf keinen Fall, liebes Fräulein; das fehlte auch noch, daß Sie sich den ersten
Abend erkälten sollten, die jüdische Luft ist scharf!
Und kann hin und wieder recht unangenehm sein, namentlich wenn man in
die höhern Regionen gelangt, sagte Koltrup, und er fügte hinzu: Nun ja, wie
Sie wollen! Kommen Sie nur bald einmal zu uns herüber, Fräulein Rörby, und
kosten Sie meiner Frau Apfelmost!
Danke, das werde ich sehr gern tun.
Frau Koltrup drückte Helenen abermals die Hand und sagte: Dann erwarten
wir Sie also in der Hochschule!
Damit verschwand das Ehepaar.
Dann wollen wir nur sehen, daß wir nach Hause kommen, sagte Frau Lönberg.
Darf ich dir nicht in-in-meinen— stotterte der Apotheker.
Du möchtest mir deinen Arm anbieten, den nehme ich mit Dank an, Lönberg.
Fräulein Rörby achtet wohl auf die Kinder.
Auf mich braucht niemand zu achten, sagte Desideria spitz.
So nahm denn Helene Annas Arm. Wo aber war Preber?
Endlich kam er, pechschwarz und mit Schmutz bedeckt, glänzend von Ruß und
Wonne und erhielt den Befehl voranzugehn.
Der Provisor, der schon lange gemerkt hatte, daß er überflüssig sei, hatte schon
den Rückweg angetreten. Er traf Didrik wutschäumend an.
Jetzt wurde die Apotheke geschlossen, und die beiden Jünglinge zogen sich in
das Zimmer des Provisors zurück, das mit einer gewissen Üppigkeit ausgestattet
war. Es hatte sein eignes Klavier. An der Wand hingen flotte Bilder von ver-
schiednen Schönheiten, von der Königin von Saba bis hinab zu Cleo de Merode.
Auf einem kleinen Tisch stand ein Spiritusapparat, auf dem der Provisor
Wasser ins Kochen brachte, worauf er einen Grog für sich und den Lehrling
braute. Dieser tröstete sich jetzt so kräftig, daß er in seiner Umnebelung sein
Herz dem Provisor ausschüttete. Der Provisor lachte über den dummen Jungen.
Er selber wollte sich dieses schöne Weib schon erobern! Er wußte, wie die Art
zu nehmen war!
Und angefeuert von dem starken Arrak Toddy setzte er sich ans Klavier und
improvisierte eine glühende Tondichtung an die Schöne.
Als Helene und die Familie des Apothekers zuhause anlangten, hörten sie die
Töne; niemand aber ahnte, daß der inspirierte Komponist diese Improvisation in
seinen Gedanken „Helenens Brautmarsch" getauft hatte.
Als Helene am nächsten Morgen erwachte, erging es ihr, wie es allen geht,
die zum erstenmal an einem fremden Ort erwachen; sie war ganz verwirrt. Endlich
wurde es ihr klar, wo sie sei.
Sie sah nach der Uhr. Es war sechs.
Da sprang sie schnell aus dem Bett, ging hin und öffnete ein Fenster.
Die frische Frühlingsluft strömte herein. In einem Nu war sie angezogen.
Sie sah hinaus. Gegenüber, im Garten des Küsters, standen eine Tanne, eine
Eberesche und eine Birke.
Sie jubelte. Das waren ihre Lieblingsbäume.
Plötzlich schimmerte die Sonne durch die regeugesättigte Luft auf die berstenden
Knospen und die nassen Zweige.
Nein, es hielt sie nicht mehr im Hause. Sie mußte hinaus!
Schnell ging sie auf den Boden hinaus. Im Hause war noch alles still.
Sie schlich die Treppe hinab und suchte ihr Rad.
Dann trug sie es durch das Dorf, auf das Feld hinaus. Der Frühlingsregen
hatte Wunder getan. Es war, als habe ein Pinsel in einem Augenblick die ganze
Natur aufgefrischt.
Endlich erreichte sie den Wald und fuhr hinein. Die Wiese stand voll von
blühenden Kuhblumen, deren braungefleckte Kelche ihr freundlich zunickten, und die
Ufer des Baches waren von großblumigen gelben Jrisblüten umrandet.
Drinnen unter den Buchen, die große, braune, schwellende Knospen trugen,
war es weiß wie Schnee von halb und voll erblühten Anemonen, von denen sie
einen Strauß an die Brust steckte; und da war ein ganzer Rasen von stark
duftenden Waldmeister, der so wichtig gerade dastand wie kleine Konfirmandinnen
mit grünen Sonnenschirmen.
Sie war vom Rade gesprungen und hatte sich an einem AbHange nieder¬
geworfen, von wo aus sie durch hängende, glitzernde Zweige über grüne, gold¬
schimmernde Wiesen sah.
Da sang sie auf einmal jubelnd:
Plötzlich, Wie aus der Erde gewachsen, stand Fräulein Ipser in ihrer ganzen
imponierender Strenge vor Helene.
Helene unterbrach sich und sprang verlegen auf.
Einen Augenblick musterten sich die beiden, die so verschieden waren wie ein
welker Baum und eine frisch anschlagende Buche.
Endlich eröffnete Fräulein Ipser das Feuer: Vermutlich die neue Gouvernante
bei Apothekers — ich bin Adelciide Ipser, Lehrerin beim Großhändler Ludvigsenl
Das ist ja amüsant — sagte Helene, die nicht recht wußte, was sie sagen sollte.
Amüsant — was — Lehrerin zu sein? Ja, allerdings, für den, der seiner
Aufgabe gewachsen ist, ist es ein interessanter Beruf, den jungen Seelen Kenntnisse
einzuflößen. Ich will Ihnen wünschen, daß Sie Glück damit haben. Ihre
Schülerinnen sind sehr schwer von Begriffen, und Frau Lönberg stellt große An¬
forderungen. Darf ich Ihnen viel Glück wünschen zu Ihrer neuen Stellung!
Kalt und fest ergriff sie Helenens warme Hand und drückte sie energisch.
Helene entzog sie ihr schnell, sprang nuf das Rad und sagte: Auf Wiedersehen!
Bald hatte sie die Begegnung im Walde vergessen. Sie sah wieder hinaus
in die frühlingsgrüne Landschaft, und auf einmal fiel es ihr ein, daß heute der
erste Mai, der Walpurgistag war. Das Tageslicht hatte gesiegt; Luft und sprossende
Keime verkündeten, daß der Sommer nahe war.
Und nun fuhr Helene den Somnier ins Land hinein mit Anemonen am
Busen und wehenden klatschenden Jrisblätteru vorn am Rade.
Fräulein Jpseu war stehn geblieben und sah Helene empört nach, bis sie in
der Ferne wieder ihren frischen Gesang vernahm; dann pflückte sie einen Strauß
welker Buchenblätter für ihre Vase und ging langsam weiter.
Da hörte sie schnelle Schritte hinter sich im Laube, sie wandte sich um und
stand Berta Naerum gegenüber.
Berta war nicht eigentlich schön, aber was man niedlich nennt. Nach dem
Morgenspaziergang sah sie recht frisch und anziehend aus.
Sie gingen einen Augenblick nebeneinander her, Fräulein Naerum atemlos,
Fräulein Ipser noch immer Buchenzweige und vorjähriges Laub pflückend.
Warum warten Sie nicht ein wenig? In acht Tagen können Sie frische
Buchenzweige pflücken, sagte Fräulein Naerum.
Danke bestens, diese sind solider, sie welken nicht, sondern können den ganzen
Sommer stehn, ohne daß man ihnen frisches Wasser zu geben braucht.
Ja, im Winter, da kann ich es versteh», aber im Frühling und im Sommer —
Ach, Sie mit Ihrem Frühling und Sommer! Was soll man mit all dem
Plunder? Ich habe den Winter am liebsten, da wird man auch nicht von diesem
ewigen Vogelgesang gepeinigt. So ein schöner klarer Frosttag, was das ist, weiß
man doch; da läßt sichs gut gehn, und die Luft ist am kräftigendsten.
Aber wie oft haben wir solche Tage?
Da bleibt man eben im Hause und bringt etwas vor sich. Der Sommer ist
das reine Getrödle: Kaffeetrinken in der Laube, Waldpartien — Blumensträuße!
Hu, wie ich all den Unsinn hasse!
Jetzt sah man einen Herrn im Sportanzug dahergeradelt kommen. Er fuhr
etwas langsamer, schien aber weiter radeln zu Wollen, nachdem er die Damen be¬
grüßt hatte.
Fräulein Naerums Wangen färbten sich stärker, und sie hielt sich unwillkürlich
aufrechter.
Guten Morgen, Herr Doktor! rief sie mit bebender Stimme.
Fräulein Jpsens Mund zog sich zu einem breiten Strich zusammen, während
sie die beiden jungen Leute beobachtete.
Guten Morgen, meine Damen, sagte Doktor Holmsted, vermied aber Fräulein
Naerums Augen, die sich infolgedessen inquisitorisch auf ihn richteten.
Es lag etwas ungewöhnlich edles, etwas wie frische Luft über der hohen
elastischen Gestalt, einem Gemisch von Offizier in Zivil und einem Gelehrten. Die
Augen beherrschten das Gesicht. Es lag ein fesselndes Leben darin, zugleich aber
ein gewisser wachsamer Ausdruck.
Haben Sie es denn so eilig? fragte Fräulein Naerum den Doktor, der noch
immer auf seinem Rade saß.
Ja sehr, antwortete Holmsted, stieg aber doch ab, indem er hinzufügte: Ich
komme von einem Kranken jenseits des Waldes — muß heute Vormittag zuhause
impfen.
Ja, dann allerdings, sagte Fräulein Naerum etwas spitz.
Wie schade, daß Sie beide nicht ein klein wenig früher hier waren, meinte
Fräulein Ipser, da hätten Sie die Bekanntschaft unsrer neuen Schönheit machen
können!
Der Gouvernante? rief Fräulein Naerum. Ist sie wirklich so — schön?
Das wird der Herr Doktor wohl am besten beurteilen können, erklärte Fräulein
Jpseu.
Ich habe sie gestern Abend beim Walpurgisfeuer gesehen, nur ganz aus der
Ferne, was sagen Sie denn, Herr Doktor — das heißt, wenn Sie überhaupt
dagewesen sind? fügte Fräulein Naerum in einem Ton hinzu, der gleichgiltig
klingen sollte.
Holmstedt, der das Talent hatte, schwerhörig zu sein, wenn er wollte, über-
hörte die Frage, sah nach der Uhr, stieg auf sein Rad und sagte: Es ist die
höchste Zeit.
Kommen Sie nicht heute Abend, daß wir den Schumann singen können?
fragte Fräulein Naerum ängstlich.
Heute Abend — vielen Dank —, aber das kann ich wirklich nicht; doch hoffe
ich bestimmt, in der allernächsten Zeit. Darf ich die Damen bitten, mich in den
respektiven Häusern gütigst empfehlen zu wollen?
Wie ein Blitz schoß er davon.
Fräulein Naerum sah ihm sinnend nach.
Parodierend wiederholte Fräulein Ipser: Die Damen, die Damen! Dann
lächelte sie boshaft und sagte: Er war ganz sonderbar heute!
So, finden Sie? Er ist ja immer sehr retirö. Ich habe wenigstens noch
keinen Menschen gekannt, der sich so wenig hätte gehn lassen.
Er hat sie natürlich gesehen.
Glauben Sie wirklich?
Ich vermute es! Haben Sie nicht die Eile bemerkt, die er plötzlich hatte?
Er hofft natürlich, sie einzuholen und einen Schimmer von der Schönheit zu er¬
Haschen!
Eine brennende Röte ergoß sich über Fräulein Naerums Wangen, als sie er¬
widerte: Doktor Holmsted läßt sich nicht so leicht düpieren. Guten Morgen!
Kommen Sie doch bald einmal zu uns, damit wir ein wenig über Musik plaudern
können.
Und damit entfernte sie sich schnell.
Fräulein Ipser sah ihr spöttisch nach und murmelte: Diese Gouvernante ist
ihr ein böser Strich durch die Rechnung!
Auch diese Zwei trugen nun den Sommer ins Land: welke Blätter und junge
Schosse von dem Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen!
Was aber trug Holmsted mit nach Hause?
Er hielt einen Augenblick in der Nähe der Stelle an, wo das Feuer gestern
Abend geflammt hatte.
Dann brach er einen grünen Zweig von dem Gesträuch ab, befestigte ihn an
sein Rad und ritt den Sommer ins Land hinein, über alle Hügel dahin!
(Fortsetzung folgt)
Die erregte Preßdiskussion über die Reise König Eduards
und über die Fahrt der englischen Flotte ist endlich glücklich zur Ruhe gekommen.
Man kann nicht behaupten, daß Presse und öffentliche Meinung, hüben wie drüben,
dabei in Übereinstimmung gewesen wären. Während bei uns die Zeitungen mehr
oder minder temperamentvolle Leitartikel des Mißbehagens über England veröffent¬
lichten und in den literarischen Beilagen die Barden ansingen, Schlachtgesänge gegen
Albion zum Kampf um die Herrschaft über die Wogen anzustimmen, wurde der An¬
drang zu den Extrazügen, die die preußische Eisenbahnverwaltung nach Swinemünde
zur Besichtigung der englischen Flotte veranstaltete, so groß, daß die ursprünglich dabei
in Aussicht genommnen Grenzen weit überschritten werden mußten. Auch in Eng¬
land begann allmählich die Vernunft dem Unsinn die Wage zu halten, und so
werden wir denn über diese Episode deutsch-englischer — richtiger englisch-deutscher—-
Spannung glücklich hinwegkommen.
Die britische Admiralität hat den Offizieren der Kanalflotte ein möglichst
liebenswürdiges Verhalten ausdrücklich vorgeschrieben, und König Eduard selbst hat
dem Wunsch Ausdruck verliehn, daß die Anwesenheit der Kanalflotte an den deutschen
Küsten der Ausgangspunkt zu einem freundlichern Verhältnis zwischen beiden Nationen
werden möge. Kaiser Wilhelm hat sich diesem Gedankengang dadurch angeschlossen,
daß er die Schlachtflotte zur Begrüßung der Kanalflotte nach Swinemünde entsandt
hat, und so lagen die beiden „ideellen Gegner" zu freundschaftlichem Verkehr ein¬
ander gegenüber. Unter diesen Umständen ist es wirklich von geringerm Belang,
ob der Kaiser und der König einander jetzt in Deutschland begegnen oder nicht,
eine Begegnung würde vielleicht kaum einen Einfluß auf die Situation ausüben,
würde jedoch immerhin dartun, daß eine persönliche Spannung zwischen den beiden
Souveränen nicht oder nicht mehr besteht. Über die Rückreise König Eduards
kursieren allerlei Versionen. Die eine läßt ihn nochmals nach Paris gehn, um mit
Herrn Loubet einen „letzten" Händedruck zu tauschen, die zweite über Vlissingen,
also über Köln, die dritte und nicht unbeglaubigte läßt ihn gar in Kopenhagen
zugleich mit der englischen Kanalflotte erwartet werden. Der Weg dorthin müßte
von Marienbad direkt über Berlin führen. Man wird das alles in Ruhe abwarten
müssen. In Berlin war zu Anfang der Woche näheres darüber nicht bekannt.
Wenn aber das „Neue Wiener Tagblatt" in einem Marienbader Telegramm „von
besondrer Seite" behauptet, „daß vor der Marienbader Reise alle Vorbereitungen
zu einer Zusammenkunft mit Kaiser Wilhelm getroffen gewesen seien, die Entrevue
jedoch infolge der erregten Preßstimmen hüben und drüben, aufgegeben worden sei,"
so sagt diese „besondre Seite" wissentlich oder unwissentlich nicht die Wahrheit.
Weder dem Berliner Hofe noch den Berliner Regierungskreisen noch der deutschen
Botschaft in London war irgendeine Mitteilung einer solchen Absicht zugegangen.
Selbstverständlich wird es auch in Zukunft an gelegentlichen Reibungen und
an geringen oder starken Interessengegensätzen in andern Weltteilen zwischen den
beiden Nationen nicht fehlen, aber von diesen Gegensätzen wird hoffentlich keiner
groß genug sein, zu ernsten Koalitionen oder gar zu kriegerischen Bedrohungen
Anlaß zu bieten. In allen ernstern Streitfragen zwischen Deutschland und Frank¬
reich hat sich England jederzeit aus die französische Seite geneigt, mögen auch noch
so viele koloniale Differenzpunkte zwischen beiden Ländern vorhanden gewesen sein.
Ebenso hat Frankreich Englands schwierige Lagen nicht gegen England ausgenutzt,
so verführerisch die Gelegenheit auch gewesen sein mochte. Hieran werden auch
einzelne koloniale Friktionen nichts ändern, die den Gang der hohen Politik zwischen
beiden Ländern nicht beeinflussen. Dies wird und mag auch in Zukunft noch lange
so bleiben! Deutschland wünscht keinerlei englisch-französische Konflikte, die uns nur
zu einer uns unbequemen Parteiergreifung nötigen würden. Nachdem die jetzige
Situation zur Genüge erkennbar gemacht hat, daß Frankreich trotz allem nicht so
leicht geneigt sein wird, England als Landsoldat gegen Deutschland zu dienen,
wollen wir aus dieser Verstimmungsepisode alle Lehren und allen Nutzen ziehn,
aber sie im übrigen als abgeschlossen betrachten. Wir haben den russisch-französischen
Zweibund fünfzehn Jahre lang ertragen und brauchen auch einem englisch-fran¬
zösischen Zweibund gegenüber, wenn er je zur Wahrheit werden sollte, nicht aus
dem Häuschen zu geraten. Der liebe Gott hat unser deutsches Volk mit einer
reichen Fülle guter Eigenschaften gesegnet: entwickeln wir diese Kräfte, die vielleicht
unser größter Nationalreichtum siud, verhüten wir in Pflichttreue und Vaterlands¬
liebe ein Einrosten auf den Lorbeeren der Väter — und wir werden eine Welt in
Waffen nicht zu fürchten brauchen.
Die Neigung, auf den Lorbeeren der Väter einzuschlafen, tritt namentlich in den
Parteikämpfen zutage, in unsern innern politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen
Gegensätzen, diesem Luxus eiuer langen Friedenszeit mit allen Auswüchsen einer
solchen. Je mehr der alte Partikularismus, der einst die deutschen Stämme trennte
nud sie schließlich widereinander zu den Waffen rief, zu verblassen beginnt — wir
sagen „verblassen," ungeachtet mancher wenig erfreulichen Erscheinungen der jüngsten
Zeit —, desto breiter macht sich der Fraktionsparlamentarismus in seiner ganzen
zersetzenden Tätigkeit. Ohne dieses Unwesen, das am Marke des Reichs zehrt, wäre
zum Beispiel eine umfassende Neichsfinanzreform sicherlich mit Leichtigkeit zu er¬
ledigen; der blöde Fraktionsgeist, der nur nach seinen eignen Interessen sieht, ist
es, der das verhindert. Und doch hätten gerade die Parteien, die sich mit Vor¬
liebe als Vertreter der Massen geben, am allermeisten Grund, eine ausgiebige
Reichsfinanzreform ins Leben zu rufen, weil die Verpflichtungen, die das Reich
durch seine Arbeiterfürsorgegesetzgebung übernommen hat, bei der es Lasten trägt,
wie sie keine andre Nation auf sich hat, ganz wesentlich dazu beitragen, die
Finanzreform ebenso dringend wie unabweislich zu machen. Wer sich darüber be¬
lehren will, mag das neuste Heft des Reichsarbeitsblatts zur Hand nehmen. Allein
der Zuschuß des Reichs zur Invalidenversicherung beläuft sich in den zwanzig Jahren
von 1885 bis 1905 auf weit über drei Milliarden Mark! Für die Kranken¬
versicherung sind in diesem Zeitraum ebenfalls bald drei Milliarden Mark be¬
ansprucht worden.
Und nun die Vermögensbestände der einzelnen Versicherungszweige: das Ver¬
mögen der Arbeiterversicherung nähert sich der zweiten Milliarde, nachdem es im
Jahre 1899, also nach vierzehn Jahren, schon die erste Milliarde überschritten
hatte. Die von der Arbeiterversicherung geleisteten Entschädigungen, d. h. die
Summe dessen, was den Versicherten und deren Angehörigen entweder bar gezahlt
worden oder ihnen mittelbar und unmittelbar in Gestalt von Heilbehandlung usw.
zugute gekommen ist, hat ebenfalls den Betrag von vier Milliarden Mark weit
überschritten. Von allen diesen enormen Milliardenzahlen haben die Massen, zu deren
Gunsten sie aufgewandt worden sind, keine Ahnung mit Ausnahme der wenigen
Einsichtigen unter ihnen, die im Parlament oder aus den Zeitungen davon erfahren,
aber „im Parteiinteresse" darüber schweigen. Sollte es da nicht im dringendsten
Staatsinteresse liegen, den breiten Schichten klar zu machen, daß in zwanzig Jahren
für die Arbeiterversicherungen weit über sechs Milliarden aufgewandt worden sind?
Wäre es nicht von der größten Wichtigkeit, diese Zahlen endlich einmal auf alle
Quittungskarten der Alters- und Invalidenversicherung auszudrücken und jeden
Neudruck mit dem neusten Rechnungsabschluß zu versehen? Jetzt sind es vielleicht
noch nicht dreitausend Personen im ganzen Deutschen Reiche, die Behörden mit ein¬
gerechnet, die von diesen Summen erfahren; was die Zeitungen davon bringen,
bleibt als „langweiliger Zahlenkram" bei den meisten Lesern unbeachtet.
Diese gewaltige Steuer, die sich das Reich und die besitzenden Klassen frei¬
willig zugunsten der unbemittelten auferlegt haben, findet sich — von schwachen
Anfängen abgesehen — in keinem andern Lande. Ein um so größeres Interesse
haben diese unbemittelten Schichten daran, das Reich leistungsfähig zu erhalten
und namentlich den besitzenden Klassen, insbesondre der dem scharfen Wettbewerb
auf dem Weltmarkt ausgesetzten Industrie, das weitere und dauernde Tragen dieser
Lasten zu ermöglichen. Das kann nur noch durch eine ergiebige Reichsfinanzreform
geschehen, die für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Reichs zugunsten der
Gesamtheit seiner nationalen Aufgaben die nötigen Bürgschaften bietet. Wenn die
Sozialdemokraten eine wirkliche Arbeiterpartei wären, müßte ihnen das vor allem
am Herzen liegen, aber sie kämpfen mit großen Worten für allerlei phantastische
Ideen, nicht für das wirtschaftliche Gedeihen der deutschen Arbeiter. Alle diese Auf¬
wendungen der deutschen Versicherungsgesetzgebung, die mehr als alle durch Arbeits¬
einstellungen erreichten Lohnerhöhungen dazu beigetragen haben, die deutschen Arbeiter¬
familien bei Krankheiten und Unfällen von Not und Elend zu bewahren, die dem alten
oder invaliden Arbeiter die Existenzmöglichkeit wenn nicht sichern, so doch wesent¬
lich erleichtern — sind nur gegen die Stimmen der Sozialdemokratie möglich ge¬
wesen, denn sie hat im Reichstage gegen die gesamte Versicherungsgesetz¬
gebung der Reihe nach gestimmt. Ginge es also nach den Sozialdemokraten, so
wäre die Aufwendung von sechs Milliarden für unsre Arbeiterbevölkerung nicht
geschehen, wäre jetzt nicht ein Vermögen von mehr als anderthalb Milliarden
in den Versicherungsanstalten als Deckung künftiger Ansprüche angesammelt. Ist
es nicht geradezu widersinnig, daß gegen einen staatlichen Organismus, der
bahnbrechend und mit leuchtendem Beispiel der Arbeiterwelt das zu bieten ver¬
mag, die Sozialdemokratie einen ununterbrochnem Vernichtungskampf führt? Um so
notwendiger ist es, der Arbeiterwelt diese Zahlen näher zu bringen, die früher
oder später doch die besten Verbündeten des Staats im Kampfe gegen die sozia¬
listischen Utopien sein werden. Zahlen reden — sagt ein altes Sprichwort, so lasse
man sie endlich reden und gebe ihrer unwiderstehlichen Beredsamkeit freien Lauf!
Den Reichstag wird voraussichtlich in seiner nächsten Session ein neuer wichtiger
Schritt auf dem Gebiete der sozialpolitischen Gesetzgebung beschäftigen: die Gewährung
der Rechtsfähigkeit an die Arbeitervereine, ein langjähriges Pelidna der Sozial¬
demokratie, das auch von andrer Seite lebhaft Unterstützung gefunden hat. Die
Sozialdemokratie hat sich darunter selbstverständlich nur eine Einrichtung gedacht,
die den Arbeitern neue Rechte ohne Pflichten gewährt. Der Gedanke, daß es kein
Recht gibt ohne entsprechende Pflicht, ist ihr längst abhanden gekommen, wenn sie
ihn überhaupt je gehabt hat. Die Frage hat aber neuerdings eine praktische Gestalt
dadurch bekommen, daß das Gewerbegericht zu München-Gladbach jüngst 62 Ar¬
beiter, die ohne Kündigung die Arbeit eingestellt hatten und deshalb von der ge¬
schädigten Firma auf Schadenersatz verklagt worden waren, zu einem solchen
von mehreren tausend Mark sowie zu den Kosten des Verfahrens verurteilt hat.
Es ist dies ein Vorgang von höchster Wichtigkeit und unabsehbarer Tragweite, der
übrigens insofern nicht vereinzelt dasteht, als noch eine Anzahl ähnlicher Prozesse
schweben soll. Es wäre durchaus wünschenswert, daß die Arbeitgeber jeden Kontrakt¬
bruch ohne alle Rücksicht auf den Erfolg eines Prozesses mit einer Schadenersatz¬
klage beantworteten. Da die meisten Arbeitseinstellungen von den Gewerkschaften und
deu Fachverbänden ausgehn, so ist es nicht mehr als billig, diese zur Leistung jedes
gerichtlich zuerkannten Schadenersatzes zu verpflichten. In England bewegt sich die
Praxis fortgesetzt in dieser Richtung, und es ist kürzlich darauf aufmerksam ge¬
macht worden, wie konsequent die dortigen Gerichte in der Vollstreckung von
Schadenersatzurteilen gegen die Kassen der Gewerkschaften (Trade-Unions) vorgehn.
Denn es kann sich natürlich nicht uur um eine akademische Verurteilung zum Schaden¬
ersatz handeln, er muß auch geleistet werden. Demgemäß kann die Rechtsfähigkeit
der Arbeiterorganisationen auch in Deutschland nur unter der Bedingung gewährt
werden, daß alle Schadenersatzurteile gegen ihre Angehörigen bei dieser Organisation
zur Vollstreckung gelangen. Nur mit dieser Bedingung würde die Rechtsfähigkeit
nicht dem sozialen Kriege sondern dem sozialen Frieden dienen.
Der Sozialdemokratie wird daran freilich wenig gelegen sein. Aber wie die
Versicherungsgesetzgebuug gegen ihre Stimmen zustande gekommen ist und doch
Resultate ergeben hat, um die uns alle andern Länder, und insbesondre deren Ar¬
beiter, beneiden, so ist auch nicht nur nicht nötig, sondern sogar wünschenswert, daß
auch das Gesetz über die Rechtsfähigkeit gegen die Stimmen der Sozialdemokratie
zur Annahme gelangen möge. Auf diesem Felde einer ruhig fortschreitenden sozial¬
politischen Gesetzgebung haben wir noch ein ganzes Arsenal von wirksamsten Waffen
gegen die Sozialdemokratie, es ist nur nötig, daß wir sie aufnehmen und mit ihrer
ganzen Wucht anwenden. Dann werden wir selbst trotz dem allgemeinen Stimiu-
recht, trotz dem demokratischsten Wahlgesetz und trotz dem Mangel eines Oberhauses
oder eines Senats, worin Deutschland einzig in Europa dasteht, ihrer Herr werden,
solange sie auf dem Boden der Gesetzgebung kämpfen will, und erst recht, wenn sie
Unsre Zeit hat eine merkwürdige
Vorliebe für Wörter, die nach Papier und Tinte riechen und sich besonders da
unangenehm fühlbar machen, wo ein rein geistiger Inhalt durch sie bezeichnet werden
soll. Hierher gehört auch die immer mehr mißbrauchte Verwendung von „Schrift¬
steller." Nicht als ob das Wort an sich bekämpft werden sollte, so unschön, äußer¬
lich und nichtssagend es auch ist — es bedeutete ursprünglich den Verfertiger
gerichtlicher Aktenstücke, was also heute „Aktuarius" bezeichnet —, aber seitdem die
Schriftstellers ein Brotberuf geworden ist, nimmt es immer mehr überHand, sodaß
es nicht nur die bürgerliche, sondern auch schon die literarische Seite des Berufs
ausdrückt und das alte edle Wort Dichter immer mehr zu verdrängen droht. Es
heißt heute nicht mehr: „Ein neues Werk des berühmten Bühnendichters Soundso
ist erschienen," sondern: „Ein neues Werk aus der Feder des berühmten Theater¬
schriftstellers Soundso usw." Oder: „Der bekannte Romanschriftsteller . . .
hat ein neues Werk unter der Feder," anstatt: „Der bekannte Romandichter ...
arbeitet an einem neuen Werk." Als ob Schrift und Feder die Hauptsache bei
der Entstehung eines Dichtwerkes wären, und der geistige Prozeß des Dichtens nur
Nebensache! Nach dieser Auffassung müßte man folgerichtig von einem erst kon¬
zipierten Werke sagen, der Schriftsteller habe es „in der Tinte." Was unterscheidet
dann noch den Dichter vom Schreiber, wenn Tinte, Feder -und Papier erst seine
Hauptattribute sind? Diese „vergeistigte" Anwendung rein mechanischer Tätigkeits¬
bezeichnungen ist auch darum unpassend, weil ja sehr viele Dichter die Gewohnheit
haben, ihre Werke zu diktieren. Es ist übrigens sehr bezeichnend für die Art
unsrer literarischen Produktion, daß diese Übertragung vom Werkzeug auf den Geist
nur auf die Schriftstellerei beschränkt ist, während in der Malerei, wo Farbe,
Pinsel und Leinwand eine so viel größere Rolle spielen, niemals die Rede ist von
einem Werk, das ein Maler „unter dem Pinsel" hat. Das Banausische der Wen¬
dung fällt hier sofort in die Augen, und man denkt unwillkürlich an einen Stuben¬
maler. Die Malerei ist also offenbar doch noch nicht in dem Maße zum Gewerbe
geworden wie die Schriftstellerei. Wendet man aber das Wort Schriftsteller auf
den nicht eigentlich schöpferischen Geistesarbeiter an, so kann man nichts dagegen
haben. Nur die echte hohe Kunst möchten wir davon verschont und für sie wieder
das Wort Dichter mehr zu Ehren gebracht wissen; dabei ist natürlich die Be¬
dingung, daß der Schöpfer des Werkes — Verfasser hat auch einen etwas biblio¬
thekarischen Beigeschmack — ein wirklicher Dichter ist. Aber wie viele sind das,
die sich heute unter der Maske des Schriftstellers verbergen? Wir möchten also
für eine umgekehrte Anwendung des Wortes eintreten, wie sie heute üblich ist:
gewöhnlich versteht man unter einem Schriftsteller einen Belletristen, während es
an einer feststehenden Bezeichnung für den mehr wissenschaftlich tätigen Darsteller
fehlt. Gerade für diesen aber erscheint uns das Wort Schriftsteller geeigneter als
für den Schöpfer von Werken der Phantasie. Für den gewerbsmäßigen Tages¬
> le Kenntnis des uns zunächst liegenden wird oft durch uns merk¬
würdig vernachlässigt. Es kommt dies wohl daher, daß unser
Sinn phantastisch ins Weite schweift, während das Nähere als
das Gewöhnliche und leicht Erreichbare als etwas, das uns, wenn
! auch lange hinausgeschoben, immer zur Hand ist, leicht verabsäumt
wird. Ich habe zum Beispiel zehn Jahre in Mannheim gewohnt und all die
Zeit das nachbarliche Worms mit seinen großen historischen Erinnerungen und
später seinem weltberühmten Lutherdenkmal zu besuchen hinausgeschoben, während
ich keineswegs versäumte, die weiter abwärts liegenden Rheinlande, die Natur¬
schönheiten des Schwarzwalds und das damals noch französische Straßburg zu
wiederholten malen zu besichtigen. Auch in dieser Beziehung gilt das viel
verwendbare und viel angewandte Dichterwort: „Willst du immer weiter schweifen
Sieh, das Gute liegt so nah," sowie das andre, daß man nur das Naheliegende
zu packen habe, um zu merken, wie interessant auch dieses sein könne — wenigstens
wenn man das Anpacken versteht.
Dieses Verhältnis gilt auch für uns Deutsche in bezug auf das nachbar¬
liche Holland. Wie genau sind wir häufig unterrichtet über Land und Leute
nicht bloß der großen Kulturstaaten, sondern auch von dem weiter abliegenden
Rußland, von Nordamerika und sogar von manchen exotischen Ländern, und
über Holland kursieren noch antiquierte Anekdoten, und werden auch noch in
den Kreisen der Gebildeten Pikanterien verbreitet und geglaubt, die schon vor
langer Zeit nur noch geeignet erscheinen konnten, einzelne Vorkommnisse in ein
kaum verdientes Licht zu rücken, nun aber kritiklos weitererzählt und durch die
Fama aufgebauscht ein sehr schiefes Bild von dem Wesen eines wichtigen
Kulturvolkes geben, während doch die Mittel, das Bild zurecht zu rücken, vor
unsrer Tür liegen.
Allerdings mögen dazu außer dem Umstände, von dem wir ausgegangen
sind, noch besondre Umstände mitgewirkt haben. Holland entbehrt, obwohl
keineswegs der malerischen, so doch der Naturschönheiten im gewöhnlichen Sinne
des Worts. Es fehlen die Berge und die hohe Luft, die einen so großen
Reiz für die moderne, nervös etwas überspannte Menschenseele haben, und die
der Anziehungspunkt von der von Fremden überfüllten Schweiz und später
von Norwegen geworden sind. Das Reisen ist dort wie in jedem Lande von
alter und ökonomisch kräftiger Kultur verhältnismäßig teuer. So werden die
eigentlichen Sehenswürdigkeiten von Holland überwiegend von den auf Anti¬
quitäten erpichten aber schweigsamen Engländern besucht, und die reisenden
Deutschen, denen man begegnet, sind meist schwadronierende Handlungsbeslissene.
die andre Dinge zu berichten haben, als die uns hier interessieren, oder Be¬
sucher der luxuriösen Seebäder, und diese mögen freilich wohl selten unterlassen,
einen kurzen Abstecher zu den Kunstsammlungen der Hauptstädte zu machen,
aber von Land und Leuten wissen sie in der Regel nur wenig bedeutende
Außendinge zu erzählen. Jedenfalls sind Berichte aus neuerer Zeit über
Holland aus deutscher Feder von einer Gründlichkeit, wie der von Georg Forster
vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts, so selten, daß sie noch wenig auf
Urteil und Vorurteil auch des gebildeten deutschen Publikums eingewirkt haben.
Weitere Aufklärung dürfte darum erwünscht sein, und jemand, der ein ganzes
sogenanntes Menschenalter in dem Lande verweilt hat, wird dazu als be¬
rufen gelten dürfen.
Unglaubliche Geschichten werden noch immer über Holland in Deutschland
herumerzühlt, zwar ohne nationale Gehässigkeit, aber sie verzerren doch dnrch
großartige Übertreibung mancher eigentümlicher Züge den Charakter der Holländer
zu einer Karikatur, die allerdings lächerlich genug ist, daß man.den Reiz zum
Wieder- und Wiedererzählen begreift. Aber daß solche Übertreibungen Glauben
finden, beweist eben die Unbekanntschaft mit der Sache selber. Gewöhnlich
gipfeln diese Erzählungen in einer einseitigen Vergrößerung des phlegmatischen
Zuges im holländischen Volkscharakter, der Auswüchse des nationalen Reinlich¬
keitssinnes und in einer Verhöhnung der Sprache, deren Anklänge an platt¬
deutsche Dialekte mit Zusätzen freier Erfindung versehen geradezu als ein kindisch¬
läppisches Idiom vorgeführt werden. Sogar die holländische Bibel hat zu dieser
Verballhornuug herhalten müssen. Dann auch die Kommandoausdrücke beim
Militär, die allerdings als Illustrationen für die in Wirklichkeit ziemlich ver¬
lotterte Disziplin dazu Anlaß bieten. — Die Wurzel dieser die Menge amü¬
sierenden Karikaturen muß unstreitig zum Teil in Erzählungen vielgelesner
deutscher Schriftsteller, zum Beispiel Heines in dessen berüchtigten „Schnabelo-
wvpski" und namentlich Immermanns in dessen „Münchhausen" gefunden
werden, wo allerdings mit viel Talent eine unverbesserlich komische Figur als
typischer Holländer gezeichnet wird.
Man hat eben aus der Lektüre geschöpft, anstatt aus der Anschauung, die
nicht einmal als Korrektiv in genügender Qualität vorhanden war, und dann
hat Jungfer Fama das schon an sich verzeichnete Bild mehr und mehr mit
frei erfundnen Lichtern ausgeschmückt, sodaß es zwar auf Unbeteiligte sehr er¬
heiternd wirkt, aber endlich Freunden und Verwandten kaum mehr erkennbar
ist. Den: gegenüber erscheint es geradezu als Pflicht, ein nach Kräften berichtigtes
Porträt zu zeichnen.
Zunächst das Nötigste über das Land selbst, wie es von der Natur ge¬
geben ist,, da der Charakter der Bewohner hiervon abhängig ist, wie das Ge-
beiden des Säuglings von seiner Nahrung. Um so inniger ist im vorliegenden
Falle diese überall nachzuweisende Abhängigkeit, als der Grund und Boden in
Holland nicht allein seine Bewohner erzeugt und ernährt, sondern von diesen
großenteils erst im eigentlichen Sinne hat geschaffen werden müssen, daß er vor
ihnen diesen Dienst zu leisten vermochte, woraus sich natürlich eine weit innigere
Verflechtung der beiden aufeinanderwirkenden Kräfte ergibt.
Die Etymologie erklärt den Namen Holland als „Holtland" (Holzland).
Sie mag darin Recht haben,*) aber jedenfalls find das tsmxi xassati, denn
das Land hat jetzt nur noch 7^/z Prozent Wald, und dieser wächst erst langsam
bei der jetzt erst beginnenden staatlichen Forstwirtschaft wieder an auf Kosten
der sich noch in großem Umfange ausdehnenden Heide. Und dieser Wald
besteht größtenteils aus Föhren und Eichenschülwald, wovon die ersten meist
als Bergwerkstützen nach Belgien gehn, und nur der letzte ein klein wenig
Brennholz liefert, während seine Hauptnutzung der Gerberlohe gilt. Als Brenn¬
stoff dient heimischer Torf, Kohle ans dem Ruhrgebiet, Belgien und England,
neuerdings auch etwas eignes Bergprodukt aus der ganz im Süden liegenden
Provinz Hollands, aus Limburg.
Auf frühere größere Bewaldung deutet allerdings das viele Heideland,
das nachweislich größtenteils aus ehemaligem Holze entstanden ist, wobei die
weidenden Schafe nach der sorglosen AbHolzung den jungen Bestand nicht haben
aufkommen lassen, und ebenso deuten die vielen Baumreste in und unter den
Hochmooren darauf hin. Doch findet sich das eine und das andre weniger in
dem eigentlichen Holland, noch jetzt als die beiden Provinzen „Nord- und
Südholland" mit diesem Namen bezeichnet, als in den äußern an Deutschland
und Belgien grenzenden Landschaften, die zum Teil erst später hinzugekommen
sind, sodaß wir die Übereinstimmung der Etymologie mit Wirklichkeit und Ge¬
schichte auf sich beruhen lasten müssen.
Heutzutage und seit lange ist jedenfalls Holland als Landschaft durch
andre Dinge charakterisiert als durch seinen Waldbestand, nämlich und bekannt¬
lich durch sein Verhältnis zum Wasser. Nicht daß die klimatischen Verhältnisse
hieran die Schuld trügen, obgleich diese ja auch wieder durch die große Feuchtig¬
keit des Bodens und die vielen offnen Wasserflüchen beeinflußt werden. Der
Regenfall ist sehr mäßig und viel geringer als in den mitteleuropäischen Ge¬
birgen, die sich noch gar nicht einmal durch Übermaß an Feuchtigkeit auszeichnen,
und Nebel gibt es viel weniger als in England und in den Industriebezirken
des benachbarten Niederrheins. Das eigentümliche Verhältnis Hollands zum
Wasser wird vielmehr durch seine niedrige Lage im Verhältnis zum Ozean
veranlaßt, wodurch der Abfluß des das Land reichlich durchströmendem süßen
Wassers so ungemein verzögert wird. Ein großer Teil Hollands liegt beinahe
auf gleicher Höhe mit der Nordsee, teilweise sogar tiefer als diese, sodaß der
Einbruch des Wassers nur mit Mühe und mit Kunst verhindert werden kann.
Von Natur Deltaland und Sumpfland ist es durch die Mühe und Kunst seiner
energischen Bewohner im wesentlichen Polderland. In diesem Ausdruck ist alles
gesagt, freilich nur für den, der ihn ganz begreift. Man trifft aber nur selten
Leute, die die Sache nicht aus eigner Anschauung kennen und sie trotzdem gut
erfaßt haben.
Der Begriff von Potter oder von Koog, wie man in manchen Teilen von
Nordwestdeutschland sagt, wo sich diese Einrichtung und ebenso Verhältnisse, die
denen in Holland ähneln, auch finden, ist zunächst nur der einer „Wassergemein¬
schaft," d. h. einer Vereinigung von nebeneinander wohnenden Grundbesitzern zu
dem Zweck, sich das Übermaß von Wasser vom Halse zu schaffen. Daß dazu
gewöhnlich Deiche und Schleusen nötig sind, steht erst in zweiter Linie.
Die Bildung ist ganz analog der Dorfgemeinde, die sich auch zum gegen¬
seitigen Schutz zusammentut, nur zum Schutz vor Dingen, die überall in hoch
und tief liegenden Ländern wiederkehren und deshalb von jedermann empfunden
werden, während die in Rede stehende Gemeinschaft nur den einen, aber in den
Deltalündern über Sein und Nichtsein entscheidenden Kampf gegen das Er¬
trinken des Landes zum Ziele hat. Daß sich die Dorfgemeinde hiermit co ipso
nicht befaßt, liegt einfach darin, daß sich die gemeinschaftlichen „Antiwasserinter-
essen" je nach der Lage des Landes auf sehr große oder auch sehr kleine Flächen
erstrecken können. Es gibt Potter, die ganze Landschaften mit Städten und
Dörfern umschließen, und wieder andre, zu deren Errichtung ein paar Nachbarn
zusammentreten, wozu die einfachsten Mittel genügen. Entsprechend der großen
praktischen Bedeutung der Poldergemeinschaft ist sie denn auch vom Mittelalter
her mit sehr kräftigen Organen ausgerüstet worden, die sich ost mit denen des
politischen Staates vergleichen lassen. So hatten Rijnland und Delftlcmd in
der jetzigen Provinz Südholland, die allerdings dem verheerenden Einbruch des
Wassers besonders ausgesetzt sind, in jenen gewalttätiger Zeiten ihren eignen
Henker, der solche Menschen, die den Erlassen der Gemeinschaft zuwider handelten,
im äußersten Falle vom Leben zum Tode zu bringen kommandiert werden
konnte; und auch jetzt noch erinnert der übrigens auch in Norddeutschland be¬
kannte, von Machtbefugnis strotzende Titel „Dcichgraf" für den Oberst¬
kommandierenden der Gemeinschaft oder der holländische Ausdruck „Wasser¬
staat" für die Gesamtorganisation des Polderwesens an diese kräftige Organisation,
obgleich deren Machtbefugnisse gemildert und teilweise an die größere und nun
xar «tzox^ als Staat bezeichnete Gemeinschaft übergegangen ist.
Wenn wir uns hente alle Schutzwehren wegdenken, die den Einbruch des
Wassers in Holland verhindern, so dürfte ein sehr großer Teil des Landes
— man spricht von der Hälfte — verloren sein. Nicht daß dann all dieses
Land dauernd unter Wasser stünde. Aber eine so ausgedehnte Flache wäre
für die Hochfluten erreichbar und bis zur Unbrauchbarkeit Überschwemmungen
ausgesetzt. Dazu wird das Verhältnis von Jahr zu Jahr ungünstiger, da sich
die Küste der Nordsee wie die meisten Deltaländer langsam zu senken scheint,
und neue versumpfte Ländereien im Binnenlande und Anschwemmungen in den
Meerbusen und Buchten dem Feinde abgenommen werden, wo dann eben neue
Deiche gegen das Meer zu errichtet werden, was als Einpolderung bezeichnet
wird. Da heißt es also den Besitz verteidigen gegen den immer stärker
werdenden Feind. Die Deiche werden erhöht und durch ein flacher verlaufendes
Profil verstärkt, neue Deiche werden errichtet, wobei bemerkt werden muß, daß
ein Deich eben einen Damm bedeutet, der das Land bor dem Wasser schützt,
während Dämme an sich auch bloß der Passage durch das Wasser dienen
können. Dann müssen Schleusen in den Deichen angebracht und die vorhandnen
überwacht werden, daß sie auch wirklich möglichst günstig funktionieren, d. h. im
allgemeinen das Wasser aus dem Potter heraus aber nicht in denselben hinein
lassen, womit nicht im Widerspruch steht, daß in ausnahmsweise trocknen Zeiten
dieselben Schleusen auch den umgekehrten Zwecken dienen können und sollen,
das Wasser dem Potter zu erhalten, um für das Pflanzenwachstum die günstigsten
Verhältnisse herzustellen.
Das alles macht Arbeit und Wachsamkeit nötig. Der Boden, die Grund¬
lage der Bewohnbarkeit und der Bebaubarkeit eines Landes, in andern Ländern
das von der Natur gegebne, ist in dem eigentlichen Holland selbst schon Arbeits¬
produkt. Daher das sprichwörtliche: Gott hat die See erschaffen, aber der
Mensch (in Holland) das Land. Und dies muß offenbar auf den Charakter der
Bewohner des Landes einwirken. Zähe Ausdauer, Entschlossenheit mußten
auf dem Wege der natürlichen Züchtung in den jeweils Überlebenden mehr
und mehr gehäuft werden, und wir werden uus bei dieser Gelegenheit auch
daran erinnern müssen, daß der deutsche Dichterfürst den alternden Faust in
dem letzten und vollendetsten Stadium seines Lebenslaufs an den Meeresstrand
gelangen und für die Probleme der Landgewinnung aus dem flüssigen
Elemente seine durch allerlei Menschenschicksal geläuterte Kraft einsetzen läßt.
Goethe hatte in seiner alles Menschliche umfassenden Genialität offenbar den
die Energie stählenden und damit sittlichenden Einfluß — denn Sittlichkeit ist
doch im Grunde Energie — der Trockenlegung von Land mit der ihm eignen
Klarheit erkannt. Daher die Worte:
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehn.
Man beachte dabei auch das an der klassischen Stelle angebrachte Wortspiel:
Der zu Entwässerungszwecken angelegte Graben kann leicht zum Grabe werden.
Die Gefahr der Arbeit ist groß. Aber auch diese führt, im Gegensatz zu der
mephistophelischen bösen Absicht, zum Guten, zur Stählung des Charakters.
Wenn so ein Teil des Volkscharakters aus den Umständen erklärt werden
muß, so kommt natürlich auch die Abstammung für ihn in Betracht. Von dieser
kann gesagt werden, daß die Holländer im wesentlichen Germanen sind, wie ja
schon aus dem Idiom hervorgeht, das ein zu einer vollständigen Sprache ent¬
wickeltes niederdeutsch ist. Nichtgermanische Beimischungen sind in Holland
weit spärlicher als in Deutschland selber, wo sich bekanntlich im Südwesten
noch keltisches und im Nordosten noch viel slawisches Blut (auch außerhalb der
polnischen Gegenden) erhalten hat. Nur auf dem Archipel der Provinz See¬
land macht sich auch in Holland eine starke keltische Einwanderung (Hugenotten
aus Frankreich) geltend, die dort den Volkstypus auch im äußern Aussehen
wesentlich verändert hat; und auch in den wenig holländisch gearteten, erz-
kntholischcn Provinzen Limburg und Nordbrabant ist eine ähnliche nur in viel
früherer Zeit geschehene und darum politisch ganz anders wirkende Beimischung
deutlich zu spüren. Das am südlichsten liegende halbinselförmig vorspringende
Limburg muß überhaupt für Betrachtungen über das Wesen von Holland ganz
unberücksichtigt bleiben, da es nur infolge von unwesentlichen Umständen daran
hängen geblieben ist und seinem ganzen Wesen nach entschieden nach Belgien
gravitiert. Die übrigen acht Provinzen, auch Brabant noch zum größern Teile,
sind so gut wie ganz germanisch, von der nicht ganz unbedeutenden Bei¬
mischung von überseeischen Blute in den großen Handelsstädten abgesehen,
wobei namentlich von den Jsraeliten und den Portugiesen in Amsterdam zu
sprechen wäre.
Unter den germanischen Stämmen, die Holland bevölkert haben, find vor
allem die Bataver, die Franken, die Flamingen, die Niedersachsen und die
Friesen zu erwähnen. Außerdem wird auch, jedoch ohne deutlichen Nachweis
dieses Einflusses, noch von Goten und Vandalen gesprochen.
Die Bataver, deren schon die Römer gedachten, sitzen in der Mitte des
Landes, die Franken und die Flamingen, denen die holländische Sprache ihre
Diminutiv« verdankt, im Süden, die Niedersachsen im Osten (Groningen,
Overijssel und Drente) und die Friesen, verwandt mit den Angelsachsen (was
noch im friesischen Dialekte sehr wahrnehmbar ist), im Norden (Friesland und
Nordholland). Eine befriedigende Charakterisierung der Wohl nirgends mehr
rein auftretenden, sich später mit fränkischem Blute amalgamierenden Bataver
dürfte wohl kaum gelingen. Dagegen sind der Franke und der Flaminge mehr
leicht beweglich, die Friesen und die Riedcrsachsen aber zähe, eigensinnig, kunst¬
feindlich, wie ja das ?risia nov. oantg-t des Tacitus sprichwörtlich geworden
ist. Es muß offenbar auf die Bildung des holländischen Volkscharakters von
großem Einfluß sein, daß diese letzten Stämme einen so großen Beitrag zum
Ganzen geliefert haben.
Andrerseits wäre auch eines Unterschieds zu gedenken, den Frenssen in
seinem Jörn Abt zum Gegenstande seiner dichterischen Darstellung gemacht hat.
Man erinnert sich aus diesem viel gelesnen Roman des Gegensatzes der „Asien"
und der „Kraien." Die ersten die trotzigen Bewohner der fetten Marschen,
und daneben die beweglichen, findigen Kraien, die auf dem von jenen übrig
gelassenen armen Geestboden angesiedelt sind und diesem in ihrer Anspruchs¬
losigkeit noch einigen Ertrag abgewinnen. Derselbe Unterschied findet sich auch
in Holland, und zwar wiederholt im Groninger gegenüber dem Drentener, dem
Bewohner der Provinzen Holland gegenüber dem Brabanter, und sogar in einer
und derselben Provinz im Bewohner der Betuwe, der alten Insula Batavorum
des Tacitus, mit ihrem schweren Boden gegenüber den Bewohnern des Heide¬
landes, der sogenannten Veluwe in Gelderland.
Hier wird aber gewöhnlich nicht so ausschließlich der Charakterunterschied
der Verschiedenheit des Stammes zugeschrieben wie bei Frenssen, der die Asien
von friesischen, die Kraien von wendischen, also slawischen Stamme herleitet.
Die Wahrheit wird wohl sein, daß die Wirkung von Land auf Leute und von
Leuten auf die Wahl des Landes wechselseitig ist, und daß die niederdeutschen
Volksstümme schon von Hause aus die trotzigen zur Überhebung neigenden
Eigenschaften haben, die so gut zum reichen Boden passen, während biegsamere
Naturen auch noch da zu finden sind, wo diese der wenig dankbaren Heide
ein spärliches Brot abgewinnen. Die letzten brauchen aber nicht notwendig
fahrende Slawen zu sein. Auch germanische Stämme sind hierzu geeignet, wie
sich nachweislich die fränkischen und die flämischen Stämme in Holland zu
dieser Rolle bequemt haben. Und auch aus jenen schwerfälligem Stämmen
können sich die leichtern Bestandteile zu dieser Aufgabe absondern und ihr mehr
und mehr anpassen, sodaß, um mit Frenssen zu sprechen, der leichtere Boden
nicht bloß die Kraieu anlockt, sondern auch solche, wenn auch vielleicht in ge¬
ringerm Maße, aus den Asien erzeugt.
Jedenfalls ist die Tatsache, auf die wir hier gestoßen sind, für die Er¬
klärung des holländischen Volkscharakters von Bedeutung; denn gerade die
angeschwemmten Bodenarten zeigen die so sehr ins Auge fallenden Unterschiede
von Reich und Arm in hohem Maße, während in andern Ländern mit Ver¬
witterungsboden mehr alle Schattierungen von mittelreichen Boden vertreten
sind. Und Holland ist beinahe ganz und gar angeschwemmtes Land, nur das
bißchen Kreideformation in Limburg abgerechnet, in dieser südlichsten Provinz,
die nur durch eine politische Zufälligkeit und ohne alle Neigung von hüben
und drüben dem Hauptland angegliedert geblieben ist. In Holland findet man
in der Tat auf der einen Seite den fruchtbarsten Boden der Welt, auf der
andern Seite noch beinahe ein Fünftel der gesamten Bodenfläche Wüstland,
Heide und Moore, die erst in der allerneusten Zeit durch Aufforstung und
anderweitige Urbarmachung eine langsame Abnahme erfahren. Diese späten
Fortschritte in der Urbarmachung hängen, wie wir später sehen werden, mit
der Bewirtschaftung ausgedehnter Kolonien zusammen, die lange Zeit das
Kapital des Landes beinahe allein in Beschlag genommen haben.
Was nun von ursprünglicher Heide in Ackerland verwandelt ist, trügt eine
Bevölkerung, die teilweise recht wohl dem Charakter der Frenssenschen Kraien
entspricht. Die größten und für den Charakter des Ganzen maßgebenden
Landstriche sind aber der Sitz einer rein germanischen Bevölkerung, die sich
wohl ursprünglich mit Aufwand von großer Energie in den Besitz ihres Bodens
gesetzt hat, aber dann mit Bequemlichkeit durch lange Zeiten aus ihm großen
Gewinn gezogen hat, wodurch sich dann die Züge des niederdeutschen Volks¬
charakters, Trotz, Zähigkeit, konservativer Sinn, Selbstzufriedenheit, manchmal
bis zur Selbstüberschätzung gesteigert, mehr und mehr befestigt haben.
Ehe wir auf diese Elemente weiter bauen, wollen wir noch ein Wort über
die Sprache sagen, einen Gegenstand, der ja mit der Abstammung in der aller¬
nächsten Beziehung steht. Das Idiom der Holländer ist ihrer Abstammung
gemäß ein zur Sprache entwickelter niederdeutscher Dialekt, der nur durch die
fränkische Mundart in der oberdeutschen Richtung beeinflußt worden ist. Aus
diesem Einfluß sind u. a. die viel gebrauchten Diminutiva mit „dje" herzuleiten.
Man muß sich bekanntlich ursprünglich das ganze deutsche Sprachgebiet in eine
große Anzahl von Dialekten verteilt denken, die sich zunächst in zwei große
Gruppen, die niederdeutschen und die oberdeutschen, gliedern. Dann wurde,
dem Sitze der ältern Kultur entsprechend und sehr unterstützt durch die Lnthersche
Bibelübersetzung, ein oberdeutscher Dialekt, die sächsische Kanzleisprache, zur
herrschenden Sprache erhoben, und in dieser Sprache wurde gepredigt und
wurden in der Folge obrigkeitliche Erlasse verkündigt; in dieser Sprache konnte
sich jeder Deutsche dem andern verständlich machen. Deshalb wurde sie in der
Schule gelehrt und verdrängte in jedem neuen Geschlecht vollständiger die
lokalen Dialekte, die daneben nur noch für das intimere heimische Leben be¬
halten blieben.
Im Norden war die neue Sprache so abweichend von dem gebräuchlichen
Dialekt, daß sie sich ganz von ihm abtrennte, und er als ein niedriger stehendes
Platt ein gesondertes Dasein führte. Der Süd- und der Mitteldeutsche aber
verstanden das seinem Idiom verwandte Hochdeutsch unmittelbar und hand¬
habten es sogleich, während sie die gewohnten Abweichungen aber nur unvoll¬
ständig ausmerzten. Daher kommt es dann, daß der norddeutsche das Hoch¬
deutsche wie eine fremde Sprache korrekter spricht, aber weit seltner sprachschöpferisch
bereichert.
Die niederdeutschen Dialekte Hollands unterwarfen sich nun aber nicht der
Vorherrschaft des Hochdeutschen, da dieses Land inzwischen auch politisch eine
selbständige und rühmliche Geschichte erlebte, die zu einem großen Teil auch
wieder auf den schon angedeuteten Charakter seiner Bewohner zurückgeführt
werden kann. Der niederdeutsche Dialekt wurde sonach zu einer vollständigen
Sprache, die alle Kennzeichen einer solchen hat. Als solche muß bekanntlich
gelten, daß man alle und jeden menschlichen Gedanken bequem darin aus¬
drücken kann, was mit einem Dialekt ja nicht der Fall ist. Eine philosophische
Abhandlung läßt sich weder im flämischen noch im mecklenburgischen Dialekt
schreiben, und ebensowenig in der pfälzischen oder der oberbayrischen Mundart,
wenigstens nicht ohne fortwährend von den wirklichen, nach allen Richtungen
ausgebauten Sprachen die wichtigsten Ausdrücke zu entlehnen.
Es ist merkwürdig, wie häufig dieses so einfache Verhältnis in dem uns
interessierenden Falle verkannt wird. Von holländischer Seite aus wird manch¬
mal die nahe Verwandtschaft mit dem Deutschen geleugnet, offenbar in der
freilich zunächst verschwiegnen Absicht, daß nicht ungewünschte politische Folge¬
rungen aus dieser Beziehung gezogen werden sollen; und von deutscher Seite,
auf der das Übelwollen kleiner, aber die Unkenntnis des Zustandes oft noch
größer ist, wird zuweilen das Holländische als bloßer plattdeutscher Dialekt
oder gar als verdorbnes Deutsch bezeichnet. Man will es dem Hochdeutschen
unterordnen statt beiordnen, was natürlich ebenso verkehrt ist.
Hierzu mag allerdings beitragen, daß das Holländische, soweit es vom
deutschen Ohr unmittelbar verstanden wird, oder besser gesagt, soweit man es
zu verstehn glaubt — denn es laufen bei der Identität der Wurzeln manche
Mißverständnisse mit unter —, oft recht läppisch klingt. Das ist aber, wenn¬
schon in geringerm Grade, auch umgekehrt der Fall und rührt daher, daß das
holländische Idiom, das mehr unmittelbar aus dem Leben schöpft, das naivere
ist. Es kommt darin dem Englischen nahe und eignet sich deshalb besonders
zur Intimität des Ausdrucks, während das abstraktere Hochdeutsch mehr zur
volltönenden Rhetorik und namentlich zur wissenschaftlichen Ausdrucksweise
geeignet ist. Im übrigen kann in einer ernstlichen Diskussion das Verhältnis
natürlich nicht geleugnet werden. Dasselbe ist zum Überfluß in der in Holland
selbst gebräuchlichen Bezeichnung des eignen Idioms als niederdeutsch festgelegt.
Die schiefe Beurteilung des Holländischen bei den hochdeutsch sprechenden
beruht ferner auch zum Teil daraus, daß sich in einem größern Sprachgebiet
Worte rascher verbrauchen, oder daß sie wenigstens in ihrer Bedeutung sinken.
So ist im Deutschen das Wort „Mensch" mit dem sächlichen Artikel schon ein
arges Schimpfwort geworden, während noch der freilich etwas derbe Friedrich
Wilhelm der Erste seinem hochstrebenden Sohne die diesem bestimmte Braut
mit den Worten empfahl: „Ein braves, gottesfürchtiges Mensch." Im Holländischen
dagegen hat dies in unsern Ohren jetzt so häßlich klingende Wort etwa die
farblose Bedeutung des deutschen „Frauenzimmer." Das Wort Fräulein (Freule)
dagegen, womit heute in Deutschland auch Köchinnen angeredet zu werden be¬
anspruchen, ist in Holland noch für adliche Jungfrauen reserviert und fängt
eben erst an für nichtadliche der höhern Stände in Gebrauch zu kommen.
Holland ist also in diesem Prozesse der Entwertung des Ausdrucks ungefähr
auf dem Punkt angekommen, wo Deutschland zu der Zeit Goethes (der Herr
dich für ein Fräulein hält) stand. Wenn mithin eine deutsche Dame in Holland
das Prädikat Fräulein verliert und plötzlich Mensch tituliert wird, so ist natürlich
ihre Entrüstung über die geringe Höflichkeit des Idioms groß, und das ist
natürlich eine Quelle der Geringschätzung. Dagegen hat wieder der deutsche
Ausdruck Kopf (Kop) für den obersten menschlichen Körperteil im Holländischen
eine gemeine Bedeutung, und es muß dafür Haupt (tiookcl) gebraucht werden.
Versäumt man dies, so ist es, als wollte man im Deutschen Maul statt Mund
sagen. Deshalb ist das beiderseitige Urteil über die Plattheit der Sprachen
zum Teil korrelativ, aber doch im ganzen wegen des raschem Sinkens der
Worte im größern Sprachgebiete mehr zuungunsten des Holländischen.
Die Erhebung der holländischen Mundart zu einer alles Menschliche um¬
fassenden Sprache hat sie der politischen Selbständigkeit des Landes und seiner
von Deutschland schon lange völlig losgerissenen Geschichte zu verdanken.
Warum es mit dem Schweizer Deutsch trotz dem in diesem Punkte bestehenden
Parallelismus mit Holland nicht ebenso gegangen ist, dürfte wohl dem Um¬
stände zuzuschreiben sein, daß sich der alemannische Dialekt nicht genügend,
wohl in Klang und Aussprache, aber nicht in Grammatik und Redewendung,
vom Hochdeutschen unterschied, daß es eine völlige Abzweigung notwendig ge¬
macht hätte. Wird doch tatsächlich in den Schweizer Schulen Schweizerdeutsch
gesprochen und Hochdeutsch geschrieben, sodaß die Schwierigkeiten der Nicht-
kongrnenz nicht unüberwindlich zu sein scheinen. Dann kommt die viel größere
politische Bedeutuug des seefahrenden und kolonisierenden Hollands im sechzehnten
und im siebzehnten Jahrhundert hinzu; die Bewohner des Landes begannen
sich als Weltmacht zu fühlen und glaubten sich auch in der Sprache nicht mehr
nach dem damals im Zerfall begriffnen Deutschland richten zu müssen, während
die ebenfalls stolze Geschichte der Schweiz doch mehr darin bestand, der
Eroberung der Nachbarn siegreich zu widerstehn, und die Schweizer ihre
nationale Überkraft verbrauchten in fremden Diensten, da sie nicht in der Lage
waren, sie zu eignen politischen Unternehmungen nach außen zu verwerten.
In jedem Fall ist die holländische Sprache rein germanisch, reiner als die
deutsche Sprache selber, da die mehr wissenschaftlichen Abstrakta, die im
Deutschen aus Stämmen der antiken Sprachen gebildet und ihnen ganz und
gar entlehnt werden, wie System, Idee, Prinzip, im Holländischen rein ger¬
manische Synonyme haben. Nur in der Konversationssprache macht sich, aber
hier ganz unnötigerweise und mehr aus einer Art von Koketterie, französischer
Einfluß geltend.
Haben wir in dem vorhergehenden schon die Rolle Hollands als See-
und Kolonialmacht gestreift, so müssen wir noch etwas näher auf diese Dinge
eingehn, um eine weitere Seite des Wesens seiner Bewohner kennen zu lernen.
Ein Volk, das zumal an der Küste aus den kraftvollen und trotzigen nieder¬
deutschen Stämmen der Friesen, Niedersachsen und Bataver gemischt ist, und
das in dem Kampfe, die Scholle, die es bewohnt, dem flüssigen Element ab¬
zugewinnen gestählt wird, mußte notwendig in eine innige Beziehung zum
Meere treten, sobald die Schiffahrt eine Höhe der Entwicklung erreicht hatte,
die größere Unternehmungen erlaubte. Dazu kam eine äußerst günstige politische
Konstellation. Während Deutschland durch den furchtbaren Krieg, der dreißig
Jahre dauerte, die ganze glänzende Kultur des sechzehnten Jahrhunderts ein¬
büßte und auf ein Drittel seiner frühern Einwohnerschaft entvölkert beinahe
wieder zur Barbarei zurückkehrte, kämpften die vereinigten Provinzen mit nieder¬
deutscher Zähigkeit den freilich noch längern, aber schließlich glücklichen Kampf
gegen die Heere des entfernten Spaniens, und dieser Kampf gab den trotzigen
Herzen aufs neue Stärkung des Selbstbewußtseins und der Unternehmungslust.
Dazu die Rolle des Protestantismus. Während Deutschland, die Wiege der
Reformation, die Folgen der von ihr unzertrennlichen Kämpfe am eignen Leibe
erfahren mußte — genau wie später Frankreich die Folgen der großen Revo-
lution —, war die größere Freiheit des religiösen Denkens Holland zugute
gekommen und hatte den trotzigen Wagemut seiner Bewohner gestärkt, während
die Knechtung der Gewissen im Lande der größten See- und Kolonialmacht
jener Zeit zwar zu einer großen, aber kurzen Blüte verhalf, aber bald genug
die herben Früchte des Fanatismus, des Übermuts und der Grausamkeit zeitigte,
die Spaniens Stern erbleichen machten. So wurde das kleine Holland, ähnlich
wie Venedig einige hundert Jahre früher, eine Seemacht ersten Ranges, und
da der spätere mächtigere Konkurrent, England, damals erst im Beginne seiner
Laufbahn stand, entdeckten, eroberten, kolonisierten die kühnen Weltumsegler ein
fernliegendes Land nach dem andern, wie noch hente außer dem stattlichen Reste
des Besitzes die vielen holländischen Namen von Kapland bis Neuseeland be¬
weisen. Natürlich wurde dadurch das Selbstgefühl des kleinen und nun doch
so mächtigen und vor allein finanzkräftigen Landes hoch gesteigert.
(Fortsetzung folgt)
KP>le verhält es sich nun mit den 44 Ja-Abstimmungen? Gleich
bei der ersten ist ein Beweis überhaupt nicht zu erbringen. Es
handelt sich um das Gesetz vom 8. April 1868 betreffend die
Unterstützung der bedürftigen Familien zum Dienst ein-
! berufner Mannschaften der Ersatzreserve. Eine nament¬
liche Abstimmung fand nicht statt, doch wurde das Gesetz „einstimmig" ange¬
nommen. Wenn von den vier Sozialdemokraten, die damals im Reichstage
saßen, in der Sitzung der eine oder der andre anwesend war, hat er wohl
für die Vorlage gestimmt. Ein Beweis, daß keiner von ihnen anwesend war,
läßt sich nicht erbringen. Das nächste „Ja" finden wir erst am 18. Dezember 1884.
Es handelt sich um die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes
dahin, daß der Versicherte in den Hilfskasscn bleiben könne, auch wenn diese
bisher noch nicht die Forderungen des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt
hatten. Die Sozialdemokratie hatte gegen das Krankenversicherungsgesetz ge¬
stimmt, stimmte aber nun für diese Abänderung. Wenigstens erklärte der
Abgeordnete Kayser, daß „ein Notstand vorliege." Daß die Sozialdemokratie
für die Vorlage gestimmt hat (Gesetz vom 28. Januar 1885), läßt sich danach
annehmen, mangels einer namentlicher Abstimmung aber ebenfalls nicht be¬
weisen. Am 1. Mai 1885 erklärte derselbe Abgeordnete bei der Ausdehnung
der von seiner Partei abgelehnten Unfall- und Krankenversicherung auf
Post, Eisenbahn, Fuhrwerk, Binnenschiffahrt usw.: „Ich darf von
vornherein erklären, daß meine Partei nur einer Notlage folgt, und weil
wir glauben, daß die in Paragraph 1 aufgeführten Personen, Industrien usw.
auch sehr wohl unfallversicherungsbedürftig sind, wollen wir für diesen Gesetz¬
entwurf, wie er vorliegt, stimmen" (S. 2464 des stenographischen Berichts).
Man sieht, mit der Logik hat sich die Partei nie aufgehalten, sobald das
Parteiinteresse in Frage kam. Dieses wäre freilich schwer geschädigt worden,
wenn man durch Ablehnung der Vorlage die davon betroffnen Kreise gegen die
Sozialdemokratie eingenommen hätte. Eine namentliche Abstimmung hat in
der entscheidenden Sitzung vom 6. Mai nicht stattgefunden. Ebensowenig bei
dem Gesetz vom 23. April 1886, das den Jnnungsverbänden die Korpo¬
rationsrechte verleiht. Nach der Rede des Abgeordneten Kranker vom
23. März 1886 ist die Annahme jedoch gerechtfertigt, daß die Partei für den
Gesetzentwurf gestimmt hat: „Ich habe im Namen meiner Partei zu erklären,
daß wir gar keinen Anstand nehmen, das Gesetz zu genehmigen." Auch über
das Gesetz vom 12. Juli 1887 betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln
für Butter hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden, doch liegt die
Rede des Abgeordneten Sabor vom 26. März vor, in der es heißt: „Wir
werden dem Regierungsentwurf zustimmen als zweckentsprechend." Bei der
Beratung der Vorlage betreffend die Unfallversicherung der Seeleute
und andrer bei der Seeschiffahrt beteiligten Personen fand ebenfalls keine
namentliche Abstimmung statt, jedoch erklärte der Abgeordnete Krücker in der
Sitzung vom 15. Juni: „Wir werden nach unsern Kräften dazu beitragen, daß
diese Vorlage Gesetz werde." Eine namentliche Abstimmung hat ebenfalls nicht
stattgefunden bei der Vorlage betreffend die Unterstützung von Familien
in den Dienst eingetretner Mannschaften (Gesetz vom 28. Februar 1888).
Der Abgeordnete Harm gab in der Sitzung vom 5. Dezember 1887 seiner
Freude über die Vorlegung des Gesetzentwurfs Ausdruck. Bei der Beratung
des Gesetzes vom 20. April 1892 betreffend die Gesellschaften mit be¬
schränkter Haftung hat auch keine namentliche Abstimmung stattgefunden,
und die Abstimmung ist überhaupt nicht feststellbar, auch hat kein Sozial¬
demokrat das Wort ergriffen. Ans dein Parteibericht für 1892 (S. 68) geht
aber hervor, daß die Sozialdemokraten für das Gesetz stimmten. Bei den:
Gesetz betreffend die Unterstützung von Familien der zu Friedens¬
übungen einberufnen Mannschaften hat ebensowenig eine namentliche
Abstimmung stattgefunden, doch lassen die Reden des Abgeordneten Harm in
der Sitzung vom 8. Mai 1891 und des Abgeordneten Singer in der Sitzung
vom 31. Mürz sowie auch der Parteitagsbericht (S. 69) die Annahme zu, daß
die Sozialdemokraten für das Gesetz gestimmt haben. Auch nur nach der
Wahrscheinlichkeit feststellbar ist die Abstimmung bei der das Wuchergesetz
ergänzenden Vorlage (Sachwnchergesetz vom 19. Juni 1893). Eine namentliche
Abstimmung über den gesamten Entwurf hat nicht stattgefunden, doch ergibt
sich aus der namentlicher Abstimmung zu Paragraph 302 s des Gesetzes sowie
aus den Reden der Abgeordneten Frohne, Stadthagen und Kunert und aus
dem Parteitagsberichte (S. 90), daß die Sozialdemokraten wohl für den Gesetz¬
entwurf gestimmt haben.
Auch zu dem Gesetz vom 14. Januar 1894 betreffend die Gewährung
von Unterstützungen an Invalide aus den Kriegen vor 1370 und
an deren Hinterbliebne hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden.
Der Abgeordnete Herbert hat jedoch in der Sitzung vom 2. Dezember 1893
erklärt: „Wir werden für den vorliegenden Gesetzentwurf stimmen, weil er
eine Ungerechtigkeit beseitigt." Bei der Beratung der Vorlage betreffend
Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz und Er¬
gänzung des Strafgesetzbuchs (Gesetz vom 12. März 1894), wobei es sich
um die Heruntersetznng des Alters zum selbständigen Erwerb eines Unter¬
stützungswohnsitzes von vierundzwanzig Jahren auf achtzehn handelt, geht aus
den Reden der Abgeordneten Molkenbuhr und Auer vom 1. Februar hervor,
daß die Sozialdemokraten für das Gesetz gestimmt haben, nachdem die Straf¬
vorschrift in Artikel 2 nach ihren Anträgen abgeändert worden war. Auch
bei den acht folgenden Gesetzen kann die Zustimmung mangels namentlicher
Abstimmungen nur aus den Äußerungen ihrer Redner festgestellt werden:
1. Das Gesetz vom 16. Mai 1894 betreffend die Abzahlungsgeschäfte
(vom Abgeordneten Auer für „eine Errungenschaft" erklärt, „mit der wir zu¬
frieden sein können").
2. Das Gesetz vom 22. Mai 1895, Abänderung des Gesetzes vom
23. Mai 1873 betreffend die Gründung und Verwaltung des Neichsinvaliden-
fonds. Aus den Reden des Abgeordneten Singer und dem Parteibericht
<S. 60) ist die Zustimmung zu entnehmen.
3. Das Gesetz vom 13. Juni 1895 betreffend die Fürsorge für die
Witwen und Waisen der Personen des Soldatenstands des Reichsheercs und
der Kaiserlichen Marine vom Feldwebel abwärts. Aus den Reden des Ab¬
geordneten Harm und dem Parteitagsbericht ist die Zustimmung zu entnehmen.
4. Das Gesetz vom 29. März 1897, Abänderung des Gesetzes betreffend
die Beschlagnahme des Arbeits- oder Dienstlohnes und der Zivilprozeßordnung.
Zustimmende Erklärung des Abgeordneten Stadthagen vom 8. Februar.
5. Das Gesetz vom 6. Juli 1898 betreffend den Verkehr mit künstlichen
Süßstoffen. Abgeordneter Wurm erklärte in der Sitzung vom 29. April:
„Wir treten für diesen Gesetzentwurf ein und sind damit einverstanden, daß
der Verwendung des Saccharins in Nahrungsmitteln ein Riegel vorge¬
schoben wird."
6. Das Gesetz vom 1. Juli 1899 wegen Verwendung von Mitteln des
Reichsinvalidenfonds. Abgeordneter Singer gab am 7. Juni namens seiner
Freunde die Erklärung ab, daß auch sie für dieses Gesetz stimmen würden.
7. Hypothekenbankgesetz vom 13. Juli 1899. Auch hierbei läßt sich
die Abstimmung nur aus einer Rede des Abgeordneten Calwer feststellen, der
am 7. März erklärte: „Wenn wir nun also prinzipiell für die Vorlage ein¬
treten, so haben wir doch im einzelnen verschiedne Bedenken. . . . Sonst aber
sind wir bereit, die Vorzüge, die dieser Gesetzentwurf im Gegensatz zu so vielen
andern Gesetzentwürfen politischer und wirtschaftlicher Natur aufweist, in der
Weise anzuerkennen, daß wir sagen: die bürgerlichen Parteien opfern bei
Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs ihre bisherigen wirtschaftlichen
Prinzipien auf Kosten solcher, die dem Sozialismus näher stehn als denen der
heutigen Wirtschaftsordnung." Man darf wohl annehmen, daß diese Erklärung
eine Zustimmung bedeutet.
8. Das Jnvalidenversicherungsgesetz vom 13. Juli 1899 wurde am 15. Juni
mit allen gegen drei Stimmen angenommen. Es ist anzunehmen, daß diese
drei nicht Sozialdemokraten waren, da der Abgeordnete Molkenbuhr bei der
Generaldiskussion zur dritten Beratung erklärt hatte (Sitzung vom 13. Juni):
„Deshalb können wir angesichts der minimalen Verbesserungen, welche das
Gesetz für die Versicherten enthält, gegenwärtig eine andre Stellung einnehmen
als bei Schaffung des Gesetzes, weil die gegenwärtigen Verschlechteruugen
nicht derartig sind, daß sie wesentlich auf die Arbeiter einwirken." In dem¬
selben Sinne äußert sich auch der Parteitagsbericht.
Auch bei den folgenden vierundzwanzig Gesetzen liegt keine namentliche
Abstimmung vor, die Stellung der Partei kann mit größerer oder geringerer
Bestimmtheit nur aus den Äußerungen ihrer Redner und aus den Partei¬
tagsberichten gefolgert werden. Es bleibt jedenfalls eine auffallende Er¬
scheinung, daß sogar bei wichtigsten und grundlegenden Gesetzen die nament¬
licher Abstimmungen im Reichstage vermieden werden.
Bei dem Gesetz vom 30. Juni 1900 betreffend die Bekämpfung gemein-
gefährlicher Krankheiten ist, wie schon früher erwähnt, der einzige Fall
zu verzeichnen, daß sich die Fraktion in der Abstimmung getrennt lind dies
auch vorher angekündigt hat. Der größere Teil hat dem Parteitagsbericht
zufolge für das Gesetz, der kleinere dagegen gestimmt. Es folgt das Gesetz
vom 30. Juni 1900, Abänderung der Gewerbeordnung (Neunuhrladen¬
schluß). Aus den zahlreichen Reden der sozialdemokratischen Abgeordneten,
die mit vielen Bestimmungen nicht einverstanden waren, kann man die Ab¬
stimmung nicht feststellen, sondern nur aus dem Parteitagsbericht für 1900
(S. 55). Dasselbe gilt von der Abänderung des Krankenversicherungs¬
gesetzes (Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Hausgewerbetreibenden
durch Bundesratsbeschluß) vom 30. Juni 1900 sowie von dem Gesetz betreffend
die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze von demselben Tage.
In beiden Fällen ist die Zustimmung nur aus dem Parteitagsbericht von 1900
(S. 59) zu erkennen, bei dem Unfallversicherungsgesetz wenigstens soweit das
sogenannte „Hauptgesetz," die Errichtung von Schiedsgerichten, in Betracht
kommt. Bei den vier Spezialgesetzen (Gewerbeunfallversicherungsgesetz, Unfall¬
versicherungsgesetz für Land- und Forstwirtschaft, Bauunfallversicherungsgesetz
und Seeunfallversicherungsgesetz) ist die Annahme entweder „einstimmig" oder
„nahezu einstimmig" erfolgt, sodaß sowohl hieraus wie aus dem Parteitags¬
bericht die Zustimmung der Sozialdemokraten zu folgern ist. Das Gesetz vom
30. Juni 1900 betreffend die Unfallfürsorge für Gefangne wurde ein¬
stimmig angenommen; es ist vorauszusetzen, aber nicht mit Sicherheit festzu¬
stellen, daß auch die Sozialdemokraten bei der Abstimmung zugegen waren.
Bezüglich des Gesetzes vom 12. Mai 1901 über die privaten Versicherungs¬
unternehmungen ist nur aus dem Parteitagsbericht (S. 69) erkennbar, daß
die Sozialdemokraten das Gesetz angenommen haben, aus der Rede des Ab¬
geordneten Calwer am 29. November 1900 wäre eher das Gegenteil zu schließen.
Auch zu dem Gesetz betreffend den Verkehr mit Wein (24. Mai 1903) ist
keine namentliche Abstimmung erfolgt, und die Stellung der Partei aus den
Reden ihrer Mitglieder (Ehrhard und Wurm) nicht mit Sicherheit erkennbar.
Der Parteitagsbericht für 1901 (S. 69) stellt jedoch fest, daß die Sozial¬
demokraten für das Gesetz gestimmt haben. Zu dem Gesetz betreffend die
Versorgung der Kriegsinvaliden und der Kriegshinterbliebnen
(31. Mai 1901) erklärte der Abgeordnete Singer ausdrücklich die Zustimmung
der Partei, die sich auch aus dem Parteitagsbericht ergibt. Bei dem Unfall¬
fürsorgegesetz für Beamte und für Personen des Soldatenstandes
(Gesetz vom 18. Juni 1901) ist die Abstimmung nicht aus den Reden der
Parteimitglieder, sondern aus dem Parteitagsbericht (S. 67) erkennbar, der
die Zustimmung ausspricht. Auch zu dem Gesetz über das Verlagsrecht vom
19. Juni 1901 kann die Zustimmung nur aus dem Parteitagsbericht ent¬
nommen werden, ebenso bei dem Gesetz über das Urheberrecht an Werken
der Literatur und der Tonkunst von demselben Tage, es wurde mit
einer „an Einstimmigkeit grenzenden Majorität" angenommen. Eine Ab¬
änderung des Gesetzes über die Gewerbegerichte: Einführung obliga¬
torischer Gewerbegerichte für alle Gemeinden über zwanzigtausend Einwohner
(Gesetz vom 30. Juni 1901) war aus den Antrügen der Sozialdemokratie und
des Zentrums (Tutzauer und Trimborn) hervorgegangen und deckt sich im
wesentlichen mit deren Vorschlägen. Es ist anzunehmen, in Übereinstimmung
mit dem Parteitagsbericht, daß die Sozialdemokraten für diese Vorlage ge¬
stimmt haben.
Hieran reiht sich eine Gruppe von vier Gesetzen vom 2. Juni 1902, die
das Seewesen betreffen. Das erste davon, die Seemnnnsordnung, wurde
von den Sozialdemokraten abgelehnt, wie schon nach dem Parteitagsbericht
festgestellt ist. Dagegen scheint es, nach der Fassung dieses Berichts (S. 58),
als ob die Sozialdemokraten für die andern drei Vorlagen gestimmt Hütten:
das Gesetz betreffend die Verpflichtung der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme
heimzuschaffender Seeleute, das Gesetz betreffend die Stellenvermittlung für
Seeleute, das Gesetz betreffend Abänderung seerechtlicher Vorschriften des
Handelsgesetzbuchs.
Dem Gesetz vom 30. März 1903 betreffend die Kinderarbeit in den ge¬
werblichen Betrieben haben die Sozialdemokraten sowohl laut einer Rede des
Abgeordneten Wurm als auch dem Parteitagsbericht für 1903 (Seite 94) zufolge
zugestimmt. Ebenso ist die Zustimmung zu dem Gesetz vom 10. Mai 1903
betreffend die Phosphorzündwaren aus einer Rede desselben Abgeordneten
und dem Parteitagsbericht zu folgern. Das Gesetz vom 18. Mürz 1904 be¬
treffend den Schutz von Erfindungen, Mustern und Warenzeichen auf
Ausstellungen wurde einstimmig, d. h. ohne jeden Widerspruch, also auch
wohl von den Sozialdemokraten angenommen. Ebenso sind einstimmig ange¬
nommen das Gesetz vom 12. Mai 1904 betreffend Abänderung der See¬
mannsordnung und des Handelsgesetzbuchs (der Schiffsmann, der nach
Antritt des Dienstes erkrankt, erhält freie Verpflegung auf Kosten des Reeders)
und das Gesetz vom 6. Juli 1904 betreffend die Bekämpfung der Reblaus.
Bezüglich beider erklärt auch der Bericht des Partcivorstandes von 1904 die
Zustimmung der Partei.
Diese Zusammenstellung der Ja-Abstimmungen der Sozialdemokraten
im Reichstage ist mit einer weitgehenden Unparteilichkeit verfaßt, alle Ab¬
stimmungen, bei denen auch nur anscheinend ein zustimmendes Verhalten der
Partei angenommen werden kann, sind ihr ohne weiteres gutgeschrieben worden.
Bemerkenswert ist die Häufung dieser Zustimmungen in den letzten drei bis
vier Jahren, sei es nun, daß die Gesetzgebung in dieser Zeit einen sozialistischern
Zug in den einzelnen Vorlagen angenommen hat, oder daß die Betätigung
der sozialpolitischen Fürsorge mehr in die Einzelheiten gegangen ist und da¬
durch die Zahl der Vorlagen vergrößert hat, denen sich die Sozialdemokratie
nicht entziehn konnte. Das Zusammenwirken beider Umstände ist das wahr¬
scheinlichere. Bei der Beratung vieler dieser Vorlagen ist die rednerische Be¬
teiligung der Sozialdemokratie entweder ganz unterblieben, oder sie ist so
geringfügig und so unklar gewesen, daß eine Folgerung auf die Stellung der
Partei zu den Vorlagen nicht gewonnen werden kann. Auch dieser Umstand
spricht dafür, daß bei vielen ihrer Abstimmungen die Partei nicht von rein
sachlichen, sondern von parteitaktischen und parteipolitischer Erwägungen ge¬
leitet wird. Die grundsätzliche Zustimmung zu der Regierungsvorlage beschränkt
sich auf wenig Fälle.
Noch auffälliger als die meisten verneinenden Abstimmungen der Sozial¬
demokratie sind die nicht feststellbaren Abstimmungen, obwohl darunter
eine Reihe von Gesetzen ist, die für die Sozialdemokratie geradezu grundlegend
waren. Hierzu gehören die folgenden: Gesetz vom 1. November 1867 be¬
treffend die Freizügigkeit; Gesetz vom 4. Mai 1868 über die Aufhebung der
polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung; ferner aus dem Jahre 1868
die Gesetze betreffend die Aufhebung der Schuldhaft, die Schließung und Be¬
schränkung der öffentlichen Spielbanken, und das Gesetz über den Betrieb der
stehenden Gewerbe. 1869 das Gesetz betreffend die Beschlagnahme des Arbeits¬
und Dienstlohns, sowie die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund.
Die Abstimmung ist auch hierbei ungeachtet vieler Reden von Bebel, Schweitzer
und Hasenclever nicht feststellbar. 1870 das Strafgesetzbuch für den Nord¬
deutschen Bund (Abstimmung trotz Reden von Bebel nicht zu ermitteln), das
Gesetz über den Unterstützungswohnsitz und das Gesetz betreffend das Urheber¬
recht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen usw. In
der Gesetzgebung nach dem Kriege ist die Abstimmung der Sozialdemokratie
nicht feststellbar bei der Seemannsorduuug (Gesetz vom 27. Dezember 1872),
dem Gesetz über die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme
hilfsbedürftiger Seeleute und dem Gesetz über die Gründung des Reichs¬
invalidenfonds.
Dasselbe gilt von folgenden Gesetzen: betreffend außerordentliche Aus¬
gaben für die Jahre 1873 und 1874 zur Verbesserung der Lage der Unter¬
offiziere, den Markenschutz, das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste,
Schutz der Photographien gegen unbefugte Nachbildung, das Urheberrecht an
Mustern und Modellen, Kaiser-Wilhelm-Stiftung für die Augehörigen der
Reichspostverwaltnng; das Patentgesetz; Gesetz betreffend den Verkehr mit
Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen, die Anfechtung
von Rechtshandlungen eines Schuldners, Abänderung der Gewerbeordnung
vom 23. Juli 1879 (Pfandleihe, Wirtschaftskonzessivnen usw.); Gesetz vom
24. Mai 1880 betreffend den Wucher. Bei diesem Gesetz ist folgendes fest¬
zustellen: Von den damals vorhandnen nenn sozialdemokratischen Abgeordneten
hat bei den drei Beratungen der Vorlage nur der Abgeordnete Kayser am
20. April das Wort genommen. Er erklärte, daß er für seine Person für die
Vorlage stimme. Die Fraktion als solche „habe keine Gelegenheit gehabt, zu der
Vorlage Stellung zu nehmen," doch glaube er, daß der größte Teil der Partei¬
genossen seinen Standpunkt teile, obwohl es unter seinen Parteifreunden auch
Leute gebe, die diese Vorlage von der Hand wiesen, weil sie meinten, daß
innerhalb der heutigen Gesellschaft solche einzelne Reformen unwirksam seien.
Eine namentliche Abstimmung fand nicht statt, der Gesetzentwurf wurde „von
der großen Mehrheit des Hauses" angenommen. Ferner nicht feststellbar ist
die Abstimmung der Partei bei folgenden Gesetzen: Abwehr und Unterdrückung
von Viehseuchen; Fürsorge für die Witwen und Waisen der Reichsbeamten
der Zivilverwaltung; Abänderung der Gewerbeordnung vom 18. Juni 1881
(Jnnungsgesetz); Gesetz betreffend Erhebung einer Berufsstatistik (13. Fe¬
bruar 1882). Die Abstimmung der Sozialdemokraten ist trotz Reden von
Kranker und Frohne nicht zu ermitteln, ungeachtet des großen Interesses,
das sie zum Beispiel an der Berufsstatistik doch haben mußten.
Zu den Gesetzen betreffend die Abwehr und die Unterdrückung der Reblaus¬
krankheit hat kein Sozialdemokrat das Wort ergriffen, ebenso bei dem Gesetz
über Anfertigung und Verzollung von Zündhölzern und bei dem Gesetz
gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen
(vom 9. Juni 1884). Leider hat auch hierbei eine namentliche Abstimmung
nicht stattgefunden. Zu dem Gesetz betreffend die Fürsorge für Beamte und
Personen des Soldatenstandes infolge von Betriebsunfällen hat der Abge¬
ordnete Frohne mehrfach das Wort ergriffen, die Abstimmung seiner Partei
ist trotzdem nicht zu ermitteln. Es folgen wiederum sechs Gesetze, bei denen
kein Sozialdemokrat das Wort genommen hat und auch die Abstimmung nicht
zu ermitteln ist: Die Fürsorge für die Witwen und Waisen von Angehörigen
des Neichsheeres und der Kaiserlichen Marine (17. April 1887); Unfallver¬
sicherung der bei Bauten beschäftigten Personen (!); Verkehr mit blei- und
zinkhaltigen Gegenständen; die Verwendung gesundheitschüdlicher Farben bei
Herstellung von Nahrungsmitteln usw.; Erlaß der Witwen- und Waisengeld¬
beiträge von Angehörigen der Neichszivilverwaltung, des Reichsheeres und der
Kaiserlichen Marine; Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen¬
schaften (1. Mai 1889).
Wir kommen nunmehr in das Zeitalter der Parteitagsberichte, nach Auf¬
hebung des Sozialistengesetzes. Da sind zuerst aus dem Jahre 1891 das
Patentgesetz und das Gesetz betreffend den Schutz von Gebrauchsmustern. Zu
beiden hat kein Sozialdemokrat das Wort ergriffen, die Abstimmung ist auch
nach dem Parteitagsbericht nicht festzustellen. Auch das Gesetz zum Schutze
der Warenbezeichnungen (12. Mai 1894) hat für die Sozialdemokratie kein
Interesse gehabt; ihre Vertreter haben im Reichstage geschwiegen, und auch
der Parteitngsbericht schweigt sich darüber aus. Dasselbe gilt vou dem Gesetz
betreffend die Pflichten der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wertpapiere
(5. Juli 1896). Zu dem Gesetz wegen anderweiter Bemessung der Witwen-
und Waisengelder hat sich der Abgeordnete Stadthagen verschiedentlich aner¬
kennend und zustimmend ausgesprochen, doch hat weder er noch der Parteitags¬
bericht die Abstimmung der Partei verraten. Eine Bekanntmachung betreffend eine
Abänderung des Verzeichnisses der gewerblichen Anlagen (Kugelfräsmaschinen)
hat ebensowenig Interesse für die Sozialdemokratie gehabt wie das Gesetz vom
24. Mai 1894 betreffend Abänderungen des Gesetzes über die Naturalleistungen
für die bewaffnete Macht im Frieden. Ihre Redner haben geschwiegen, der
Parteitagsbericht auch. Dasselbe gilt von einer weitern Abänderung des eben
erwähnten Verzeichnisses aus dem Jahre 1899 sowie von dem Gesetz betreffend
die gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuldverschreibungen.
Damit ist dieses Verzeichnis zu Ende. Es ist in seinem ersten Teile
dadurch bemerkenswert, daß sich die Sozialdemokratie auch solchen Gesetzent¬
würfen gegenüber gleichartig verhält, die in der Richtung ihrer eignen An¬
schauungen liegen und für die wirtschaftliche Befreiung, mit der der nord¬
deutsche Bund und das Reich in das Leben unsers Volks so tief eingegriffen
haben, eigentlich grundlegend gewesen sind. Was wäre zum Beispiel heute
die Sozialdemokratie ohne die Freizügigkeit! Später, in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre und namentlich nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes
wird die Beteiligung an der gesetzgeberischen Arbeit reger. Da sind es dann
namentlich die Interessen des Kaufmannsstandes und des „kapitalistischen"
Publikums sowie die des Heeres, die die Sozialdemokratie gleichgiltig lassen.
Seltsam ist, daß die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen
das Interesse der Partei scheinbar nicht im geringsten berührte, obwohl die
Bauarbeiter mit das stärkste und zuverlässigste Kontingent in der sozialdemo¬
kratischen Armee stellen. Gegen die Vorlage zu stimmen, ging nicht gut an,
f ü r die Vorlage zu stimmen wäre gleichbedeutend gewesen mit der Anerkennung
der staatlichen Fürsorge. So schwieg man lieber. Nachdem die Partei gegen
die Unfallversicherung wie gegen alle andern Versicherungszweige gestimmt
hatte, Hütte sie konsequenterweise auch gegen die Ausdehnung der Unfall¬
versicherung auf die Bauten stimmen müssen. Das wäre ihr aber doch vielleicht
zu sehr verdacht worden, und so zog sie eine unauffindbare Haltung vor.
Geht man die Verzeichnisse der Ja- und Neinabstimmnngen sowie der
Stimmenthaltungen prüfend durch, so füllt es doch schwer, prinzipielle Ursachen
für das Verhalten der Partei den einzelnen Gesetzen gegenüber aufzufinden.
Abgesehen davon, daß in den ersten Jahren eine Beteiligung an der positiven
Arbeit für den gehaßten „kapitalistischen" Staat überhaupt abgelehnt wurde,
machen die meisten spätern Abstimmungen den Eindruck, als wären sie mehr
durch das zufällige Ergebnis der vorhergehenden Fraktionsberatung als durch
geläuterte Anschauungen über die Aufgaben der Partei oder gar die Interessen
der Nation hervorgerufen worden. Eine Auflehnung gegen die Fraktions¬
tyrannei und ihre jeweilige Stellung spricht aus der Erklärung des Abgeordneten
Kayser zum Wuchergesetz. Vom Jahre 1899 an läßt sich eine Zunahme der
bejahenden Abstimmungen erkennen. Die „Nein" werden seltner, die Ent¬
haltung hört ganz auf. Will man hierin ein positives Mitarbeiten gegenüber
der absoluten Verneinung der ersten Jahre erkennen, so läßt sich dagegen
nichts einwenden. Ausschlaggebend für diese Wandlung scheint zu sein, daß
mit der Zunahme der sozialdemokratischen Wähler der von der Parteileitung
zu schonende Interessenkreis zu groß wird, und mit der Zunahme der Er¬
wählten die Neigung in demselben Maße abnimmt, der Tyrannis der Partei¬
leitung regelmäßig das Opfer des Intellekts zu bringen. Mit der reaktionären
Rückstündigkeit der Partei, wie der Reichskanzler sie so treffend gekennzeichnet
hat, geht es eben auf die Dauer doch nicht.
Die stärkere Beteiligung während der letzten Jahre läßt eher der Annahme
Raum, daß die bis in das letzte Jahrzehnt hinein revolutionäre Partei
— als solche war sie geboren und groß geworden —, wenigstens zum Teil
und sehr allmählich den Charakter einer radikalen Reformpartei anzunehmen
beginnt, und zwar unter dem Druck innerer, nicht äußerer Nötigung.
«' F
ez^)lie bürgerlichen Fortschrittsparteien haben sich abseits und unab-
I hängig von den Sozialisten entwickelt. Es ist mir kein einziger
Fall bekannt, wo sich ein Sozialist zu einem bürgerlichen Demo¬
kraten durchgemausert hätte, wogegen ich unzählige Personen vor
I Augen habe, die aus ruhigen Demokraten revolutionäre Sozia¬
listen geworden sind. Die ersten Anfänge der Bürgerparteien liegen in der
alten Richtung der 8avg,ÄniKi; in den sechziger Jahren traten sie zum erstenmal
reformatorisch hervor, und seit der Einführung der Selbstverwaltung sind bei
ihnen zwei bis heute dauernd getrennt marschierende Kolonnen zu berücksichtigen:
die der wirklichen Intelligenz und daraus hervorgegangen und durch liberale
Gutsbesitzer ergänzt die der Sjemstwo.
In meinen Betrachtungen nehme ich die Sjemstwo vorweg, weil sie als
politische Organisation früher auf dem heutigen Kampfplatz erschien als die
Intelligenz. Die Sjemstwo, vorwiegend Repräsentanten der gebildeten und
der besitzenden Landbevölkerung, sind, wenn wir von ihrem Jahrzehnte währenden,
in den Kanzleien geführten Kampf gegen die Bureaukratie absehen wollen, zur
offnen Opposition gegen die Negierung erst getrieben worden durch das Ver¬
halten der Negierung seit der Thronbesteigung Nikolaus des Zweiten. Erst
unter Plehwe kam es zum offnen Bruch.
Sypjagin und Plehwe begnügten sich nicht mehr damit, die Institution
der Sjemstwo als solche zu bedrängen und zu bevormunden, sie konzentrierter
vielmehr ihre ganze Tätigkeit darauf, einzelne ihnen unbequeme Persönlich¬
keiten aus den Sjemstwo zu vertreiben. Dadurch verletzten sie aber die Eitelkeit
der ganzen Gesellschaft. Wie unangebracht solches Vorgehn war, ergibt sich
schon ganz allein aus dem Umstände, daß die Zusammensetzung der Sjemstwo
seit dem Wahlgesetz von 1890 schon so konservativ garantiert war, wie
das in Rußland überhaupt nur möglich sein konnte. Die Grundlage des
Gesetzes beruhte einmal in der Vorschrift, daß nur Besitzer von mindestens
dreihundert Hektaren Land zu Abgeordneten gewählt werden konnten, und
zweitens in der Bestimmung, daß sämtliche Adelsmarschälle des Gouvernements
so iz>80 auch Landschaftsvertreter sein mußten. Wenn die Regierung selbst
mit einer solchen Körperschaft nicht auszukommen vermochte, so ist das meines
Erachtens trotz allen Fehlern, die die Sjemstwo gemacht haben, trotz manchen
Phantastereien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die sie sich zuschulden
haben kommen lassen, hauptsächlich ein Zeichen der Unfähigkeit der Regierungs-
vertreter. Es wäre aber dennoch ungerecht, wollte man die beiden genannten
Minister allein für die Bedrückung der Selbstverwaltung verantwortlich machen.
Diese hatte einen weit gefährlichern, heimlichen Gegner in der Person des
Finanzministers Witte. Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß sich der
Vorgänger Sypjagins, Goremykin, große Mühe gegeben hat, ganz Rußland
mit dem Institut der Sjemstwv zu Versehen. Witte paßte das nicht, aus dem
einfachen Grunde, weil mit der Sjemstwo ein neuer Stcuererhcber als Kon¬
kurrent des Finanzministers aufgetreten wäre. Darum beschloß er kurzerhand
die Sjemstwo als „staatsgefährlich" anzuschwärzen und den Kaiser Nikolaus
den Zweiten vor die Alternative zu stellen, entweder die Sjemstwo oder die
Selbstherrschaft aufzugeben. Er reichte im Jahre 1899 dem Zaren eine
umfangreiche Denkschrift darüber ein, die besonders lebhaften Beifall bei der
Zarin-Mutter und deren Schwager, dem Großfürsten Sergej Alexandrowitsch
fand, und in deren Folge nicht nur die Sjemstwo nicht allgemein eingeführt,
sondern auch Goremykin in den Reichsrat berufen wurde. Nachdem von so
„anerkannt liberaler" Seite die Schädlichkeit der Sjemstwo nachgewiesen
worden war, hatten Sypjagin und Plehwe leichtes Spiel, beim Zaren selbst
die widersinnigsten Maßnahmen gegen die einzelnen Vertreter der Selbstver¬
waltung auszuwirken. Hätte sich Witte damals nicht aus engherzigen fis¬
kalischen Gründen in die Speichen des Fortschrittswagens geworfen, dann
wäre vor allen Dingen das geschehen, was heute, acht bis neun Jahre später,
nachgeholt werden soll: die Agrarreform wäre nach den ausgezeichneten Vor¬
schlägen Goremykins durchgeführt worden, und die Agrarfrage wäre keine
Existenzfrage für Rußland geworden, wie sie es heute ist. Mit Rücksicht auf
die Verschärfung der Agrarfrage durch die Politik Wildes scheint es mir
— ohne daß ich an dieser Stelle in eine Beweisführung eintreten möchte —
nicht übertrieben, wenn ich behaupte, die Ära Sypjagin-Plehwe wäre über
Rußland nicht mit dieser furchtbar zerstörenden Gewalt hereingebrochen, wenn
Witte nicht das Land auch wirtschaftlich ausgehöhlt und ausgepreßt und damit
der Selbstverwaltung die Möglichkeit, zu wirtschaften, genommen hätte. So
aber wurden die tüchtigsten Vertreter der Selbstverwaltung — Adelsmarschällc
und Verwaltungspräsidenten — ihrer Ämter entsetzt, in entfernte Gouverne-
ments, in das Ausland und nach Sibirien verbannt, sobald sie es wagten,
mit den Verhältnissen unzufrieden zu sein und dieser Unzufriedenheit offnen
Ausdruck zu geben. Sogar Reden, die in den Kommissionen der Gouverne¬
ments, also in vertraulicher Form gehalten worden waren, wurden Gründe
zur Verfolgung. Die berüchtigten Revisionen des Ministergehilfen Sinowjew
beleidigten alle, auch die politisch gleichgiltigsten Mitglieder der Sjemstwo.
Die Redefreiheit, sogar in den geheimen Versammlungen, wurde vollständig
unterbunden, und so blieb diesen recht eigentlich konservativen Kreisen nichts
andres übrig, als sich entweder tatenlos vom öffentlichen Leben zurückzuziehn
oder aber konspirativ zu wirken. Die besten Männer entschlossen sich zu dem
letzten.
Im Jahre 1902 begann in Stuttgart die von Peter Struve, einem
selbstlosen Idealisten, geleitete Halbmonatsschrift Oswoboshdenije zu erscheinen,
eine Ablagerungsstätte für allen Groll, den die russische Gesellschaft auf dem
Herzen hatte — kein Parteiblatt. Im Mai desselben Jahres wurde in Moskau
die Zentrale für Angelegenheiten der Sjemstwo geschaffen. Die Initiative gaben
D. N. Schipow, sein Freund A. A. Stachowitsch, I. I. Petrunkewitsch, die
Fürsten Peter und Paul D. Dolgorukow, D. I. Schachowskoj und G. E. Lwow;
ihnen schlössen sich bald die hervorragendsten Männer der Selbstverwaltung
ans dem ganzen Reiche an, während Gelehrte wie der Philosoph Fürst
S. Trubetzkoj in Moskau und sein Vetter Eugen in Kijew, ein bedeutender
Rechtslehrer, ferner allgemein anerkannte Größen der Journalistik wie Arsenjew
(Wjestnik Jewropy), der Historiker Miljukow (Rußkoje Bogatstwo), W. M. und
I. W. Gessen (Prawo) ihre Feder in den Dienst der Sjemstwo stellten. Als
ausführendes Organ der Zentrale wurde das „Organisationsbureau" mit
F. A. Golowin, dem Präsidenten der Moskaner Sjemstwoverwaltung, und F. F.
Kokoschkin, Privatdozenten für Staatsrecht, an der Spitze geschaffen. Die
Wahl dieser beiden noch jungen Männer ist die allerglücklichste gewesen, die
die Gesellschaft hätte treffen können. Golowin ist ein mit stoischer Ruhe und
eisernen Nerven ausgerüsteter wortkarger Mann, der scheinbar gleichgiltig
gegen alles ist, was um ihn her vorgeht; dabei ist er klug und umsichtig und
von unerschütterlicher Willensstärke. Kokoschkin ist dagegen wegen seiner Leb¬
haftigkeit im Verein mit gründlichem Wissen und der Fähigkeit, zu jeder Zeit
und unter den schwierigsten Verhältnissen das richtige Wort zu finden, mehr
der diplomatisch-repräsentative Mann. Beide sind jedoch ein harmonisches
Ganze. Wer diese beiden Männer des neuen Rußlands in den verschiednen
Versammlungen beobachten durfte, den einen kurz und ruhig, mit zwei klaren
Worten die bewegten Gemüter meisternd, den andern in hinreißender Bered¬
samkeit aus einem schier unversiegbarer Born des Wissens schöpfend, der
schaut sich in einem Parlament um und findet wenig Würdige, die er geneigt
wäre, über diese Freiheitskämpfer zu stellen. Eine nicht weniger auffallende
Persönlichkeit ist auch Graf Alexander Heyden-Pskow, der Leiter der meisten
Sitzungen. Seinem Äußern nach scheint er ein Gelehrter oder ein Quäker
zu sein — mit schneeweißem Haupthaar und Vollbart, die Oberlippe glatt
rasiert. Feine, scharfgebogne Hakennase, kleine wasserblaue Augen unter
buschigen, weißen Brauen. Ein idealerer Präsident für die parlamentarisch
ungeschulte Gesellschaft ist schwer denkbar. Wie ein scharfes Schwert fährt
sein Wort dem erhitzten Redner in den Satz, und sogar Männer wie Roditschew
und Koljubakin, radikale Gegner der Selbstherrschaft und Redner, deren
Worte hinbrausen wie der Vergstrom, fügen sich dem eisernen Willen des
Grafen. Er bannt sie hypnotisch. Unter den Führern der Sjemstwo ist wohl
eine der merkwürdigsten Erscheinungen Roditschew-Twer, ein Hüne von Gestalt,
der mit erhobner Faust den Gegner scheinbar nicht nur mit dem Wort sondern
auch mit der rohen Kraft seines Armes zerschmettern will. Einmal im Leben
habe ich — ein halber Knabe noch — Bismarck sprechen hören; es war 1888,
wo er eine seiner letzten großen Reden hielt. Als ich Roditschew das erstemal
in Petersburg sein Wahlprogramm entwickeln, ihn seine gedankenreichen Sätze
in derselben Art hervorstoßen hörte, wie unser eiserner Kanzler es tat, da
stand ich ganz unter demselben Banne, wie damals im alten Hause an der
Leipziger Straße in Berlin.
Nicht minder auffallend, aber ganz andrer Art sind die Brüder Fürsten
Dolgorukowy. Typen des vornehmsten russischen Adels, der niemals den
Romanows gedient hat, weil er weit mehr Blut der Ruriks in seinen Adern
spürt als die heutigen Romanowy. Bei diesen modernen Aristokraten tritt
aber das Standesbewußtsein vor ihrem politischen Ideal — vor der Demo¬
kratie — völlig in den Hintergrund. Und wenn ich mir diese Söhne des
reichen russischen Adels mit ihrem Vermögen und Landbesitz betrachte und
denken muß, daß sie gemeinsam mit armen Schriftstellern, jüdischen Hand¬
werkern und Ärzten der Demokratie dienen, während sie doch als „Herren"
die um ihren Landbesitz herumwohnende Bevölkerung erziehn und bilden
könnten, dann komme ich immer wieder auf meine Ansicht zurück, daß nur
Schwache aufrichtige Demokraten sein können, nur Leute, die sich aus irgend¬
welchen Gründen nicht befähigt fühlen, energisch in das Leben einzugreifen
und darum auch nicht zu herrschen verstehn. Es ist die Erkenntnis ihrer
eignen Ohnmacht, die sie zur Suche nach Bundesgenossen zwingt. Und da
wir bei solchen Menschen eine stark entwickelte Neigung zur Philanthropie
finden, die wohl geleitet wird von weitausschauenden, aber doch nicht an die
reelle Wirklichkeit anknüpfenden Grundsätzen, so erwachsen ihnen natürlich ihre
Bundesgenossen aus solchen Kreisen, die die Vorspiegelung, die goldne Zeit
der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit würde eine unbedingte materielle
Besserung gegen das Heute mit sich bringen, als unumstößliche Wahrheit hin¬
nehmen. Der russische Adel als Stand ist zu schwach, sich seine Rechte zu
erkämpfen und solidarisch für sie einzutreten — gegen jedermann, auch gegen
die Regierung! Hierin sehe ich den Schlüssel zur Erkenntnis der Demokratie
unter dem reichen russischen Adel. Praktische Erwägungen sind nur die Folge,
nicht, wie unsre Apostel der Demokratie behaupten, die Ursache. Die Eigen¬
schaften des größten Teils der gebildeten russischen Gesellschaft bestätigen
meine Ansicht. Werfen wir einen Blick in die Wirtschaft eines russischen Gro߬
grundbesitzers. Persönliche Initiative und im verständigen Sinn egoistische
Wirtschaftlichkeit finden wir sehr vereinzelt. Der Egoismus findet nur seinen
Ausdruck in der Furcht vor Differenzen mit der umwohnenden Bauern¬
bevölkerung, uicht aber im zähen Festhalten am guten Recht oder in wirtschaft¬
licher Nutzbarmachung der menschlichen und der natürlichen Arbeitskräfte. Man
laviert, vermeidet Reibungen, und doch sind es diese, die dem Leben erst die
notwendige Wärme geben. Die Schwachheit ist der Nährboden der Demo¬
kratie, ihre gleichmachende Tendenz beruht auf der Assoziativ« der Unselbständig¬
keit. Es leuchtet ein, daß auf einem solchen Boden auch die demokratisierende
Tätigkeit der Regierung seit fünfundzwanzig Jahren nicht ohne Einwirkung
hat bleiben können.
Darum passen die demokratischen Ideen auch so gut in die heutige russische
Gesellschaft; darum sind die Juden, die gegen jahrhundertalte Vorurteile kämpfen
müssen, ihre hauptsächlichsten Träger. Und so sehr ich die Fürsten Dolgorukowy
als selbstlose, vaterlandsliebende Männer von großer Sittenreinheit und um¬
fassender Bildung schätzen gelernt habe, in ihrem einzigen Mangel, in ihrer
an Schwäche grenzenden Herzensgüte sind sie echte Söhne ihres weitherzigen
russischen Volkes, ohne die Spannkraft und ohne die Rücksichtslosigkeit, deren
die politischen Führer einer Nation bedürfen. Das sind nicht die starren
Felsen, an denen die brandenden Wogen des Aufruhrs zerschellen müssen.
Gerade das Gegenteil von ihnen ist Fürst S........., der hagere Mann
mit dem gelben Gesicht, dem schwarz-braunen, wenig gepflegten Vollbart, der
Geiernase und den schwarzen, leidenschaftlichen Augen, entschlossen, finster und
fanatisch, der echte Typus eines Revolutionärs. Er wird vielleicht einer von
denen sein, die den Mut haben, bei dem Ausbruch der Revolution in Moskau
an der Spitze der Arbeiterbataillone zu stehn — die einzige Möglichkeit, das
Land vor dem Furchtbarsten zu bewahren.
Es würde zu weit führen, alle diese unter den herrschenden Verhältnissen
interessanten Gestalten am Auge des Lesers vorüberzuführen, ich hoffe die
Gruppe der demokratischen Sjemstwo durch diese wenigen Personen genügend
charakterisiert zu haben.'
Nachdem die Sjemstwoorgmnfallor einmal geschaffen worden war, sorgte
Plehwe dafür, ihr Anhänger zuzuführen. Leute, die niemals daran gedacht
hätten, auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse hinzuarbeiten, schlössen
sich der Sjemstwozentrale an, um die Bureaukratie zu beseitigen. Als Plehwe
vor der Kopfwand des Warschauer Bahnhofs zu Petersburg am 15./28. Juli
1904 einem von langer Hand vorbereiteten Mordanschlag zum Opfer siel,
hatten viele nicht eben streng kritische Beobachter der russischen Gesellschaft
geglaubt, nun würde sich ein gewaltiger Sturm gegen die Bureaukratie er¬
heben, die Zeitungen, die verschiednen Vereine und die Selbstverwaltungskörper
würden über die Leute herfallen, die den Krieg gegen Japan und seinen un¬
glücklichen Verlauf verschuldet hatten. Nichts davon geschah, man war nicht
gerüstet! Die tüchtigsten Leute waren in der Verbannung. Alle Blicke richteten
sich, wie in allen schweren Zeiten vorher, auf den Zaren, und in allen stand
die Frage zu lesen: Wen wirst du an Plehwes Stelle setzen? So vergingen
Wochen. Es wurde im geheimen gearbeitet. Die Führer der Sjemstwo und
der Intelligenz besprachen die fernere Taktik. Falls ein Mann wie Kleigels
Minister des Innern werden sollte, wollte man sich nicht unnötig exponieren;
man wollte es stillschweigend den Terroristen überlassen, das Feld weiter vor¬
zubereiten. Da kam die Ernennung des Fürsten Swiatopolk-Mirski, eines
Soldaten und Günstlings Alexanders des Dritten. Die Kaiserin-Mutter hatte
ihren ganzen Einfluß beim Zaren und bei dem kränkelnden Fürsten selbst
geltend gemacht, um den schwierigen Posten würdig zu besetzen. Ihr Haupt¬
argument war das günstige Resultat der Wahl des Fürsten Obolensky an
Bobrikows Stelle in Finnland, die ebenfalls auf ihr Betreiben erfolgt war.
Fürst Swiatopolk-Mirski ist aus demselben Holze, aus dem die Dolgo¬
rukowy geschnitzt sind. Er trägt eine vornehme Gesinnung zur Schau, ist
gianäsöiMöur, lauter von Charakter, ohne ausgeprägtes Standes- und
nationales Bewußtsein. Statt dessen hat er einen unbezwinglichen Drang
nach Kultur und den Wunsch in? Herzen, alles um sich herum zufrieden zu
sehen. Ein Mann also ohne ausgesprochne politische Richtung, aber auch
ohne die eiserne Faust, die imstande gewesen würe, das Steuer des Staats¬
schiffs in jeder Strömung festzuhalten, ein sympathischer Mensch, keine poli¬
tische Persönlichkeit.
Swiatopolk-Mirski gab der Gesellschaft durch zwei Äußerungen — eine
gegen den französischen Journalisten Marcel Hutin in Wilna, die andre gegen
eine Abordnung der Sjemstwo ausgesprochen — das Zeichen zur freien Rede.
Er sagte ungefähr, die Gesellschaft solle sich nur mit Vertrauen an die Re¬
gierung wenden, wenn sie Klagen habe, ihre Offenheit würde (wie solches
unter Plehwe geschah) keinen Anlaß zur Verfolgung geben. Zugleich schärfte
er seinen Beamten und den Gouverneuren ein, sich gegen die Gesellschaft
entgegenkommend zu zeigen. Den ersten Widerhall fand seine „Aufforderung
zum Vertrauen" in zwei glänzenden Aufsätzen des Professors Eugen Trubetzkoj-
Kijew in der Wochenschrift Prawo (Ur. 39, 1904) und des Rechtsanwalts
Hansmann (Hypolytow) in Petersburg in der Monatsschrift Wjestnik Prawa
(Heft VII, S. 212 ff.). Beide Aufsätze führten den Gedanken aus, daß es für
einen Patrioten nur dann möglich sei, in Rußland auf die bestehenden Schäden
hinzuweisen, wenn er ohne jeden Anhang, ohne Familie und ohne Besitz sei,
von dem auch andre Menschen abhängen, weil die administrative Willkür ihn
sonst materiell und gesellschaftlich vernichten würde; deshalb sei die politische
Fortschrittsbewegung, die in jedem gesunden Volke vorhanden sein müsse, in
die Hände der Terroristen geraten usw. Der Aufsatz Trubetzkojs wurde seiner¬
zeit von der Zensur angehalten, aber auf Befehl des neuen Ministers nach
drei Tagen freigegeben. Nachdem diese beiden „Versuchsballons" so günstigen
Wind festgestellt hatten, begann die russische Presse frei aufzuatmen. Seit
dieser Zeit nehmen Prawo und Nußkija Wjedomosti (Moskau) die bedeutendste
Stelle in der Presse ein, jene als Zentralorgan der breiten demokratischen
Gesellschaft, diese als Blatt der moskowitischen Intelligenz und der Sjemstwo.
Der neue Minister des Innern ließ es jedoch nicht bei Worten bewenden.
Auf seinen Befehl durften Tausende von Verbannten in die Heimat zurück¬
kehren, und drei ausgesprochen demokratisch-konstitutionelle Blätter, Nascha
Shisnj, Naschi Dill und Syr Otetschestwa konnten ins Leben treten.*) Diese
Maßregeln haben die fortschrittliche Bewegung so sehr gestärkt, daß sich ihre
Anhänger nunmehr offen zu dieser und jener Parteirichtung bekennen konnten.
Das ist wohl das einzige Verdienst des politisch unpraktischen Mannes, aber
es ist so gewaltig, daß auch die Gefahr, in die er Rußland durch seine
Schwäche geführt hat, seinen Ruhm in der russischen Geschichte nicht zu
schmälern vermag.
Die erste politische Gruppe, die an die Öffentlichkeit trat, war, wie schon
bemerkt worden ist, die schon skizzierte Sjemstwoorganisation in ihren Sitzungen
Vom 6. bis 9. November 1904 (a. Se.). Aus zweiunddreißig von vierunddreißig
Gouvernements kamen hundertundvier Männer ohne jedes Mandat in Peters¬
burg zusammen, um ihr politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Es geschah
das in der Form von elf Thesen, die ähnlich wie seinerzeit los clroits as
1'Iioromk in Frankreich der russischen Gesellschaft fernerhin zur Richtschnur
dienen sollten.
Sämtliche Mitglieder der Versammlung einigten sich dahin, daß Rußland
nur dann gesund werden könne, wenn als Grundprinzipien des Staatslebens
die demokratischen Lehrsätze der großen Revolution anerkannt würden: gleiches
Recht für alle, Glaubensfreiheit, Freiheit des gesprochnen und des geschriebnen
Worts, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dementsprechend sollten die
Wahlen für die notwendig gewordne Volksvertretung nach einem Wahlgesetz
vorgenommen werden, das garantiert: gleiche, direkte und geheime Wahlen.
Die Meinungen der Mitglieder der Versammlung gingen erst prinzipiell
auseinander bei der Frage, ob Nußland eine konstitutionelle Regierungsform
haben müsse oder seine autokratische behalten könne. Es kam das zum Aus¬
druck in der verschiednen Abfassung der These 10, die bei den Konstitutionalisten
so lautet:
„Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten gesetzgebenden, mit der Aufstellung des Staatsbudgets und mit der
Kontrolle der Administration zu betrauenden Körperschaft unbedingt not¬
wendig."
Diese These wurde von einundsiebzig Stimmen votiere. Gegen sie trat
D. N. Schipow und I. I. Stachowisch mit fünfundzwanzig Anhängern auf,
die folgende These polierten:
„Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten Körperschaft (Instituts) an der Beratung der Gesetze unbedingt not¬
wendig."
Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gruppen liegt in der Forderung
einer gesetzgebenden Körperschaft bei der Mehrheit und einer solchen mit be¬
ratender Stimme bei der Minderheit. Zu einem offnen Bruch kam es jedoch
nicht. Denn beide Gruppen wollten bis zu dem Augenblick gemeinsam arbeiten,
wo die Bureaukratie — „die Schranke zwischen Zar und Volk" — beseitigt
sein würde. Aber schon in den ersten Tagen des Mürz 1905, d. h. nach der
Schaffung der Kommission Bulijgin, erfolgte der Bruch, den jeder aufrichtige
Freund des russischen Volks auf das tiefste beklagen muß. Die Gründe dafür
sind mannigfaltig; sie sind zugleich die Geschichte der Entwicklung der konsti-
tutioncllen und des Entstehens der antikonstitutionellen Parteien vom No¬
vember 1904 bis auf den heutigen Tag und gewähren uns einen tiefen Ein¬
blick in die Machenschaften der Bureaukratie, die alles daransetzte, die Kraft
der Konstitutionellen zu zersplittern.
Die Thesen der Sjemstwomehrheit waren gemeinsam mit dem von der¬
selben Gruppe ausgearbeiteten demokratischen Wahlgeschentwurf vom November
ab das Hauptthema in allen privaten Zusammenkünften der Rechtsanwälte,
Ärzte, Professoren, Lehrer, Schriftsteller usw., in den Sjemstwoversammlungen
und den Sitzungen der Stadtverordneten. Die Intelligenz fügte noch einige
Erweiterungen ein, die den Sonderwünschen der arbeitenden Klassen Rechnung
trugen. So ist von verschiednen Gruppen die von Dr. Herzenstein befürwortete
Agrarreform/) die auf Verringerung des Großgrundbesitzes zugunsten des
bäuerlichen Besitzes hinstrebt, angenommen. Die Sozialdemokraten sorgten
für Annahme der Forderung, Aufstände organisieren zu dürfen, und die
Frauenrechtler führten das Prinzip der Gleichstellung der Frau mit dem
Mann ein. Es sei hier gleich hervorgehoben, daß die Sjemstwogruppe gegen
die Gleichstellung der Frau ist. In allen Städten des weiten Reichs fanden
aus tausend vorgeschobnen Gründen Bankette statt, bei denen man das Essen
und das Trinken vergaß und die verschiednen Auslegungen der Thesen hörte.
Alle an die Negierung gerichteten Adressen atmeten den Geist jener Thesen.
Die Prozesse von Houel und Kischinjoff, bei denen sich die Staatsanwalt¬
schaft auf die Instruktion des Justizministers Murawjoff hin manches selt¬
same Stück erlaubte, boten Anlaß zu einer energischen Propaganda gegen die
herrschenden Zustände im Rechtswesen, und die Feiern des vierzigsten Jahres¬
tages der Gerichtsreform erlaubten den interessierten Kreisen den augenfälligen
Beweis zu liefern, was die Bureaukratie aus dem liberalen Gerichtsstatut
von 1864 gemacht hatte. Eine ganz besondre Rührigkeit entwickelte die demo¬
kratische Gruppe der „Oswoboshdjence." Es ist das eine revolutionäre Gruppe,
wenngleich sie sich selbst eine propagandistische nennt; sie suchte mit Hilfe der
Massen, wie sie es nannte, „mit friedlichen Mitteln moralisch auf die Re¬
gierung zu wirken." Das Resultat ihrer Wirksamkeit ist die Revolution.
Sie veranstaltete Trauerfeierlichkeiten in Kirchen und auf Kirchhöfen, an
deren Anschluß politische, meist belehrende, häufig aufreizende Reden gehalten
und die demokratischen Glaubenssätze in Tausenden von Exemplaren verteilt
wurden, sie organisierte die Straßenputsche der Studenten in Petersburg und
in Moskau und suchte daran möglichst viel der Politik fernstehendes Publikum
zu beteiligen; sie hat auch die Arbeiter unter Gapon zu dem „friedlichen,"
von so entsetzlichen Folgen begleiteten Bittgang am 9./22. Januar 1905 ver¬
anlaßt. In der mir bisher zugänglich gewordnen umfangreichen Handschriften-
literatur über jene Vorkommnisse wird es ängstlich vermieden, den Gedanken
einer Verbindung Gapons mit der Intelligenz auszusprechen. Man bemüht
sich vielmehr, die Bewegung der Arbeiter als eine ganz selbständige Erscheinung
hinzustellen, um die indifferenten Arbeiter nicht gegen die Intelligenz aufzu¬
bringen. Der Nachweis für meine Behauptung ist aber schon heute zu er¬
bringen. (Soeben geht mir eine vom Bureau der Petersburger Nechtsanwülte
verfaßte, von der Polizei konfiszierte Schrift zu, die eine genaue Schilderung
der Borgänge selbst, nicht ihrer Vorgeschichte gibt.) Bei den Banketten waren
es immer die „Oswoboshdjence," die die Forderung stellten, die Türen sollten
für das Publikum geöffnet bleiben, und so kam es, daß viele Veranstaltungen
dieser Art unter dem Einfluß halbwüchsiger Burschen, Gymnasiasten, Stu¬
denten und Backfische standen, die dafür sorgten, daß der nüchterne Beobachter
glauben mußte, in ein Tollhaus geraten zu sein.
Entgegen der Meinung der radikalen Vertreter der Demokratie bin ich
der Ansicht, daß die „Oswoboshdjence" die Hauptschuld dafür trifft, daß
Swiatopolk-Mirski heute nicht mehr im Amt ist. Das Treiben dieser Leute
hatte ein so gefährliches Aussehen, die Austritte, die sich bei den „Banketten"
abspielten, waren so wüst, daß die Polizei, die die in späterer Stunde ge-
haltnen Reden nicht mehr hörte, sehr wohl zu dem Glauben kommen konnte,
es bereite sich innerhalb der Intelligenz der Bürgerkrieg vor. Die gemäßigter»
Männer des Fortschritts, die wohl gegen das Treiben bei den Sitzungen selbst
protestierten, wagten es zudem nicht, auch in der fortschrittlichen Presse scharfe
Kritik zu üben, weil sie sich fürchteten, der großen Sache zu schaden, wenn
sie eine Uneinigkeit in der Taktik gewahr werden ließen. Ich will und kann
die Regierung nicht in Schutz nehmen, daß sie sich durch den Lärm, hinter
dem anfänglich keine ernste Gefahr drohte, verblüffen ließ und zu unange¬
brachter Repressivmaßregeln griff; aber mit mir wird sie jeder nüchtern
Urteilende verstehn. Ihr Verhalten wurde erst zum Verbrechen, als sie es
versäumte, die Führer der Arbeiter am 2./15. Januar zu verhaften. Sie
kannte sie alle! Schluß folgt)
W!cum uns die Biologen zu beweisen suchen, daß nur ihre Wissen¬
schaft die Regeln für eine vernünftige Politik und Sozialwissen¬
schaft zu liefern vermöge, so schütteln wir zweifelnd den Kopf;
aber den Quell des Menschenlebens vernünftig zu behandeln,
! dazu dürfte die Wissenschaft vom organischen Leben Wohl einiges
beitragen können. Geistliche, Behörden und ethisch gerichtete Patrioten werden
sich freuen, zu vernehmen, daß die neueren Biologen in Beziehung auf das
Geschlechtsleben nicht etwa, wie wegen ihrer vorherrschenden Beschäftigung mit
der Tierwelt mancher befürchtet haben mag, zum Evangelium der freien Liebe
gelangen, sondern zur Forderung der strengsten Monogamie. Der Nervenarzt
Forel, der auch durch seinen energischen Kampf gegen den Alkoholismus be¬
kannt ist, schreibt in seinem jüngst (bei Ernst Reinhardt in München) er¬
schienenen Werke: Die sexuelle Frage: „Der Fundamentalsatz lautet: Beim
Menschen, wie bei jedem Lebewesen, ist der immanente Zweck jeder sexuellen
Funktion, somit auch der sexuellen Liebe, die Fortpflanzung der Art. Infolge¬
dessen muß die Menschheit für ihr Glück wünschen, daß ihre Fortpflanzung in
einer Art geschehe, die ihre guten leiblichen und geistigen Anlagen fortschreitend
erhöht. Somit muß sich jeder Lösungsversuch der sexuellen Frage auf die
Zukunft und auf das Glück unsrer Nachkommen richten." Das große Werk
Forels wird ja allgemeine Verbreitung finden, wir wollen deshalb nicht bei
ihm verweilen und nur bemerken, daß er die Prostitution unbedingt verwirft.
Dasselbe tut ein andrer Biologe, der seine Aufmerksamkeit einem besondern
Übelstande, den Hindernissen der Verehelichung, zugewandt hat, und dessen
schon vor einigen Jahren erschienene Schriften über diesen Gegenstand wir
erst jetzt, vom Verfasser selbst aufmerksam gemacht, kennen gelernt haben.
Die ersten beiden Schriften des Dorpater Professors Dr. A. Räuber
(1899 bei Georg Thieme in Leipzig erschienen) knüpfen an Dichtungen an. „Die
Don Juansage im Lichte biologischer Forschung" behandelt den Irrtum der
Don Juans und mancher erotischer Dichter — unzählige moderne Romane
haben diesen Irrtum zur Voraussetzung —, das Leben biete dem Manne
einen mit schönen Weibern angefüllten Topf an, in den er nur hineinzugreifen
brauche, um zu seiner Lust eine beliebige auszuwählen, heute die, morgen eine
andre. Den Zauber der Sinnlichkeit zu malen, sei allerdings eine der Auf¬
gaben der Dichtkunst. Besonders in pergamentner Zeitaltern solle sie das
Recht der Sinnlichkeit verkünden, um den Lebensquell nicht eintrocknen zu
lassen. Aber der Dichter überschreite leicht das Maß und wirke in einer der
Vertrocknung entgegengesetzten Richtung schädlich. Das Maß aber bestimme
die Biologie, die da zeige, daß es für jeden Mann nur ein Weib gebe.
(Eigentlich tut das doch die Statistik; sie hat es lange vor der Entstehung
der neuen Wissenschaft oder des neuen Namens für ältere Wissenschaften getan.)
Wer mehr als ein Weib gebrauche, der schädige nicht allein die Gemißbrauchten,
nicht allein deren uneheliche Nachkommenschaft, sondern auch die Anwärter,
die Männer, denen diese Weiber bestimmt waren, und die sie nun entweder
gar nicht oder verdorben bekommen. Und sinken die Verführten in die Pro¬
stitution hinab, so schädigen sie nicht allein die Jünglinge, die mit ihnen ver¬
kehren, sondern auch die Jungfrauen, denen diese Jünglinge bestimmt waren.
Aus allen diesen Schädigungen erwächst dem Don Juan eine vielfache Ersatz¬
pflicht. „Die Medea des Euripides im Lichte biologischer Forschung"
hält dieses Drama, worin der Ehebruch des Jason furchtbar bestraft wird,
den modernen Dichtern als Muster vor. Sie haben bei der Behandlung von
Liebes- und Eheverhültnissen dem Manne seine Pflicht einzuschärfen; und es
werden nun einige alte und neuere Dichtungen darauf hin untersucht, wie
weit sie dieser Pflicht nachkommen. Auch jeder Ehebruch schädigt nicht allein
die unmittelbar beteiligten, sondern zugleich die Anwärter.
Daß aber die Natur jedem Manne nur ein Weib, jedem Weibe nur einen
Mann bestimmt, zeigt sie durch das Gleichgewicht der Geschlechter an. Dieses
wird freilich durch mancherlei Einflüsse vielfach gestört, und der Erörterung
der Störungen sind nun zwei andre, 1900 und 1901 in demselben Verlag
erschienene Schriften gewidmet. Der Titel der ersten lautet: „Der Über¬
schuß an Knabengeburten und seine biologische Bedeutung." Wie sich die
Sache im allgemeinen verhält, wissen ja wohl die Leser. In den meisten
europäischen Ländern werden auf 100 Mädchen etwa 106 Knaben geboren.
Es sterben aber mehr Knaben und Männer als Mädchen und Frauen, darum
tritt mit der Zeit Gleichgewicht ein, und auf den höheren Altersstufen über¬
wiegt die Zahl der weiblichen Staatsangehörigen. Räuber führt zunächst die
Vermutungen einer Reihe von Gelehrten an über die Art und Weise, wie die
Natur die beiden Erscheinungen: die Konstanz des Verhältnisses der Geschlechter
und das Überwiegen der Knabengeburten, bewirken möge. Abgesehen davon,
daß Zeugung und Vererbung wie überhaupt das organische Leben Geheimnisse
sind und bleiben werden, hätte die Konstanz des Verhältnisses nichts wunder¬
bares, wenn in jeder Ehe gleichviel Knaben und Mädchen geboren würden.
Aber bekanntlich liefert das eine Ehepaar nur Rekruten, ein andres nur
Mädchen, und andre Paare haben Knaben und Mädchen in verschiednen Zahlen¬
verhältnissen. Da nun die Natur das Geschlecht ganz unabhängig vom Willen
der Eltern und der hohen Obrigkeit bestimmt — diese würde ja, wenn sie zu
entscheiden hätte, entweder jeder Ehe halbpart vorschreiben oder jeder Knaben
produzierenden Ehe eine andre gegenüberstellen, die diesen Buben die Gattinnen
zu liefern Hütte —, so ist es doch wunderbar, daß sich in der scheinbar ganz
regellosen Willkür das Zahlenverhältnis unverändert erhält. Und daß trotz
überwiegenden Knabengeburten gerade im physiologischen Heiratsalter, zwischen
dem fünfzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahre das Gleichgewicht eintritt,
das ist ein Wink der Natur, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Zur Erklärung des Knabenüberschusses stellt Räuber folgende Hypothese
auf. In der Frühzeit des Menschengeschlechts waren solche Familien und
Horden, die einen größern Münnerbestand hatten, im Vorteile gegenüber solchen,
bei denen mehr Mädchen geboren wurden. Bei jedem feindlichen Zusammen¬
stoß mußten jene siegen. Die an Knaben und Männern reichsten Horden über¬
lebten demnach als die besser angepaßten die andern im Kampfe ums Dasein,
und ihre Anlage zur stärkern Knabenproduktion haben sie nun auf die heute
lebenden Völker vererbt. Ja vielleicht haben die ersten Menschen diese Eigen¬
schaft selbst schon vom Proanthropos und dessen Vorfahren geerbt, denn
schon diesen muß ein Überschuß an Männchen im Kampfe ums Dasein nützlich
gewesen sein. Die größere Zahl von Männchen war ja nicht allein notwendig
für den Sieg in wirklichen Kämpfen, sondern auch zur Deckung der Verluste,
weil der Kampf, der Schutz der Familie und die Gefahren der Nahrungsuche
viele Männchen, später bei den Menschen Männer, hinraffen. Die stärkere
Geführdung des männlichen Geschlechts bleibt nun durch alle Lebensalter be-
stehn (ausgenommen die Zeit, wo das Leben der Frauen durch ihren Mutter¬
beruf gefährdet wird), indem sich zunächst der Knabe durch größere Lebhaftig-
keit und Waghalsigkeit leicht Verletzungen und Krankheiten zuzieht, dann der
Jüngling und der Mann in vielerlei Berufen und im Kriege einen vorzeitigen
gewaltsamen Tod oder lebenkürzende Verletzungen erleiden. Es ist demnach
klar, daß wenn wenigstens im Heiratsalter Gleichgewicht bestehn soll, mehr
Knaben als Mädchen geboren werden müssen.
Räuber findet jedoch, daß das Mißverhältnis zwischen der Männer- und
der Frauenzahl nicht so groß zu sein brauchte, wie es tatsächlich ist. (Im
Deutschen Reiche kamen um 1890 auf 1000 männliche Personen 1040 weib¬
liche; da in den ersten Lebensjahren die Knaben überwiegen, so ist natürlich
auf den höhern Altersstufen das Mißverhältnis noch bedeutend stärker.) Wie
die Kindersterblichkeit überhaupt, so ist auch die übermäßige Sterblichkeit der
Knaben eine Wirkung ungesunder sozialer Verhältnisse, und auch die mörderische
Art vieler Männerberufe ist keineswegs eine Einrichtung der Natur. Bio¬
logisch gerechtfertigt würde es nach Räuber erscheinen, wenn nur zehn Prozent
der Knaben in den ersten fünf Lebensjahren den Anpassungsschwierigkeiten
zum Opfer fielen; den übrigen neunzig sei es von der Natur bestimmt, die
physiologische Altersgrenze des Menschenlebens, also mindestens das fünfund¬
siebzigste Jahr zu erreichen, und die Staaten Hütten die Pflicht, durch Ver¬
besserung der Lebensbedingungen dafür zu sorgen, daß die Absicht der Natur
erreicht werde.
Da im Heiratsalter das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern so
ziemlich hergestellt ist, so müßte eigentlich der Weiberüberschuß der ältern
Jahrgänge ausschließlich oder fast ausschließlich aus Witwen bestehn. Daß
so viel ledige Weiber darunter sind, dafür kann die Natur gar nichts; das ist
allein Schuld der Menschen. Worin diese Schuld besteht, braucht als allge¬
mein bekannt nicht umständlich dargelegt zu werden. Räuber schlüge zu ihrer
Bekämpfung eine Reihe von Gesetzen vor. Die allgemeine Heiratspflicht muß
vom Staat ausdrücklich anerkannt werden. Direkten Zwang soll er zwar nicht
ausüben, aber, wie schon der von Räuber oft belobte Eduard von Hartmann
empfohlen hat, durch eine Junggesellensteucr einen Druck. Aus ihrem Ertrage
werden die von den Hagestolzen sitzen gelassenen Jungfern unterstützt. Ehe¬
brecher und Verführer müssen an die geschädigten Anwärter eine Buße zahlen.
Die Ehe muß für unauflösbar erklärt, und der Grundsatz anerkannt werden,
daß der Verführer, der seinen Zweck erreicht, damit eine Ehe geschlossen hat.
Syphilis- und Alkoholkommissionen haben diese beiden Seuchen zu bekämpfen,
Kirche und Schule die Jugend über die aus dem Geschlechtsleben erwachsenden
Verpflichtungen zu belehren. Hindernisse der Verehelichung, die aus den
sozialen Zuständen, aus Vorurteilen und aus Staatseinrichtungen entspringen,
sind möglichst zu beseitigen. Alle Beamten sollten nach fünfundzwanzig¬
jährigen Dienst, spätestens im sechzigsten Lebensjahr in den Ruhestand treten,
damit der Nachwuchs beizeiten in ihre Stellen einrücken und vor dem dreißigsten
Lebensjahre heiraten kann. Wird das Geschlechtsleben in dieser Weise re¬
formiert, dann wird das Gleichgewicht der Geschlechter auch noch dadurch ge¬
fördert werden, daß, da alle Mädchen heiraten, in der Zeit vom zwanzigsten
bis zum vierzigsten Lebensjahre mehr Frauen den Gefahren der Mutterschaft
ausgesetzt werden als jetzt, demnach auch mehr von ihnen sterben. Es wird
sich dann wahrscheinlich sogar ein kleiner Männerüberschuß ergeben, und dieser
wird sehr förderlich für die Moral sein, denn er wird eine höhere Schätzung
des Weibes bewirken.
Bekanntlich ist es der Seltenheitswert gewesen, der in der Zeit der starken
Einwanderung den Frauen Nordamerikas ihre gebietende Stellung verschafft
hat. Weil die Mehrzahl europäischer Auswandrer aus Männern besteht, so
überwiegt deren Zahl natürlich in den überseeischen Kolonien, besonders in
Nordamerika. Zwar sollen auch die alten Länder Asiens einen Männerüber¬
schuß haben, doch scheint es uns bei der Unzuverlässigreit asiatischer Statistik
überflüssig, auf Räubers Erklärungsversuche des angeblichen Phänomens ein-
zugehn. Von Wichtigkeit ist es dagegen, daß die überseeische Auswanderung
in Europa den Weiberüberschuß erhöht. Wie dieser Schwierigkeit abzuhelfen
sei, untersucht Räuber in einer vierten Schrift: „Weibliche Auswanderung und
ihr Verhältnis zu einer biologisch begründeten Bevölkerungspolitik." In einem
„literarischen Streifzuge" teilt er die Ansichten von dreißig Autoritäten über
Auswandcrungs- und Besiedlungspolitik mit und kommt zu dem Ergebnis, daß
auch das bisher gar nicht oder viel zu wenig beachtete Verhältnis der Ge¬
schlechter von der Auswanderungspolitik geregelt werden müsse. Die über¬
zähligen Frauen müssen bewogen werden, den Männern nachzuwandern, aber
eben nur die überzähligen. „Und zwar sind unter den Überzähligen zwei
Gruppen genau voneinander zu unterscheiden. Die eine ist entstanden durch
die Absterbeunordnung jdurch den vorzeitigen Tod so vieler Männer^; für sie
ist nirgends mehr ein Mann vorhanden, weder im Mutterlande noch in den
Kolonien. Die zweite Gruppe besteht aus Jungfrauen, die durch Mehraus¬
wanderung von Männern um die Verehelichung gekommen sind. Für jede
von ihnen lebt ein Mann, nicht zwar daheim, aber in den Kolonien. Diese
sind es, die zur Auswanderung bestimmt werden müssen." Freilich könne diese
Organisation der weiblichen Auswanderung allein nicht helfen; Bekämpfung
der Eheflucht der Männer durch gesetzliche Maßregeln bleibe die Hauptsache.
Und zur Ergänzung der schon vorgeschlagnen fügt er noch eine bei: als Beamte
im Staat und in der Gemeinde dürfen nur Verheiratete angestellt werden.
Räuber geht in dieser vierten Schrift von der Amazonensage aus. Er
weist die heute ziemlich allgemeine Ansicht zurück, sie sei aus der Tatsache ent¬
standen, daß im Tempel zu Komana in Kappadozien sechstausend bewaffnete
Hierodulen den Dienst der Göttermutter versahen. Die Sage sei als erster
Versuch eines Staatsromans anzusehen, den ein örtlicher Überschuß von Weibern
veranlaßt haben möge, die den Mut hatten, sich zu organisieren und in einem
andern Lande ein besseres Dasein zu suchen. Herodot zeige im 114. bis
116. Kapitel des vierten Buches die richtige Lösung an: bei den Sauromaten
fanden sie Ehemänner. Das sei ein Fingerzeig zur Lösung der heutigen
Frauenfrage. „Hat nicht auch bei uns unter einem Druck, der zum Teil
durch weibliche Übervölkerung veranlaßt ist, ein streitbares Frauenvolk mitten
im Staate sich emanzipiert und organisiert?" Eine Ähnlichkeit der modernen
streitbaren Frauen mit den sagenhaften Amazonen hebt Räuber nicht gebührend
hervor: daß nämlich auch viele von jenen das Eheband hassen und das Evan¬
gelium von der freien Liebe predigen, sich also zu Mitschuldigen der Männer
machen, die er als die allein schuldigen hinstellt.
Räubers Gesinnung und seine Ziele sind unbedingt zu loben. Wird aber
die Verwendung biologischer Erwägungen zu bewirken imstande sein, was die
vereinten Anstrengungen der Geistlichen, der Moralisten, der Pädagogen, der
Philanthropen bisher vergebens erstrebt haben? Ohne Zweifel sind biologische
Tatsachen wie die angegebnen geeignet, die sittlichen Beweggründe zu verstärken,
wo solche vorhanden sind, aber ohne diese vermögen sie nichts. Daß Mi߬
handlungen den Leib schädigen und das Leben bedrohen, weiß auch der un¬
wissendste Mensch, der von Biologie keine Ahnung hat, aus Erfahrung. Wenn
also viele Ehemänner der untern Klasse, bei der Mißhandlungen der Frauen
und der Kinder vorzukommen pflegen, sich solcher enthalten, so geschieht es
nicht darum, daß ihnen die biologische Tatsache der Gesundheitsschädigung und
Lebensbedrohung bekannter wäre als ihren rohern und bösem Kameraden,
sondern weil sie entweder gutmütiger sind als diese, oder weil ihnen — ge¬
wöhnlich mit Benutzung religiöser Motive — ein stärkeres Pflichtgefühl an¬
erzogen worden ist. Räuber spricht den schönen Gedanken aus, daß die
monogame Ehe für den Menschen biologisch dasselbe ist, wie der Nestbau für
den Vogel, nämlich die Veranstaltung zum Schutz und zur Aufzucht der
Jungen. Aber das weiß auch der Don Juan, und er weiß ferner, daß zwar
das Geschlecht die Einrichtung zur Fortpflanzung der Gattung Mensch ist, daß
er selbst aber entweder überhaupt keine Kinder zeugt oder seine Kinder und
deren Mütter dem Elend preisgibt. Wenn er überhaupt nachdachte, so würde
er denken und sagen: Was kümmern mich die Natur und ihre Absichten? Sie
hat gar keine Absichten; nur ein bewußtes Wesen kann Absichten haben; was
sie tut, das tut sie blind, weil sie muß. Sie schafft den kleinen Vogel und
seine Schutzvorrichtungen, und sie schafft den Raubvogel, der den sorgsam ge¬
schützten und aufgezognen kleinen Vogel frißt, und sie führt Katastrophen her¬
bei, die Vögel, Vierfüßler und Menschen vernichten. Sie wird alles Organische
auf dieser Erde, das sie hervorgebracht hat, wieder vernichten, wie sie schon
vor dem allgemeinen Ende jedes einzelne Wesen durch den Tod vernichtet.
Bis zu meinem Tode will ich mein Leben genießen, und die Natur wird mir
das nicht verwehren. Was die Natur straft, sofern man die Wirkungen einer
blinden Kraft Strafe nennen darf, das sind Übermaß und gewisse Unvorsichtig¬
keiten. Beides vermeide ich. Unschuldige Mädchen verführen und seine un¬
ehelichen Kinder umkommen lassen, das straft sie nicht.
Etwas andres ist es, wenn die Zuhörer des Biologen an Gott glauben
und die ermittelten biologischen Gesetze als den Ausdruck seines Willens be¬
trachten. Dann tut das in Rede stehende seine Wirkung. Darüber, ob die
Monogamie Gottes Wille sei, sind auch rechtschaffnen Denkern oft ernste
Zweifel aufgestiegen. Daß der Mann im Gegensatz zum Weibe polygam an¬
gelegt sei, meint Eduard von Hartmann einmal, stehe außer Zweifel, denn der
Mann könne bequem hundert Kinder im Jahre zeugen, die Frau aber, auch
wenn sie hundert Männer hätte, nur eins auftragen. Diesem Einwand gegen-
über hat nun das Gleichgewicht der Geschlechter überzeugende Kraft. Wenn
es Gottes Wille wäre, daß sich die polygame Anlage des Mannes entfaltete,
so würde er auch die Bedingung für die Entfaltung geschaffen haben, durch
eine ähnliche Einrichtung wie beim Haushuhn, wo auf ein Hähnchen zwölf
Hennen cmszukriechen pflegend) Von diesem Standpunkt aus hat schon vor
165 Jahren Süßmilch den Gegenstand behandelt in seinem Werke: „Göttliche
Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes aus der Geburt,
dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen," und in neuerer Zeit
Alexander von Oettingen in seiner großartigen Moralstatistik, die er zur
Grundlage einer Sozialethik macht. Wir werden sehen, schreibt er u. a., „daß
bei den heterogensten Nationalitäten — bei Weißen und Schwarzen — sich
jenes Gleichgewicht ebenso im großen und ganzen bewährt als bei den ver¬
schiedensten Mischungsverhältnissen. Und immer »zirkuliert ein neues Blut«,
das doch wieder das alte ist und die Blutsverwandtschaft des ganzen Geschlechts
dokumentiert. Oder, um lieber mit dem Wort des Apostels allen alten und
neuen Athenern und ihrem atomisierenden Barbarismus gegenüber die ge¬
wichtige Wahrheit zu bezeichnen, in der der gottgesetzte Keimpunkt aller
Humanität verborgen liegt: »Gott hat gemacht, daß von einem Blut aller
Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen und hat Ziel gesetzt,
wie lange und wie weit sie wohnen sollen« (Apostelgeschichte 17, 26)." Oel-
lingers zahlreiche Tabellen ergeben (oder ergaben beim Erscheinen des Werks
1868): „Durchschnittlich können, wenn wir das heiratsühige Alter vom 20.
bis zum 50. Jahre rechnen, 100 Männer in Europa unter 103 bis 104 Frauen
wählen, sodaß 3 bis 4 Prozent von den Frauen, abgesehen von allen übrigen
Umständen, unverheiratet bleiben und sich dem Diakonissenamt oder einem
andern edeln jungfräulichen Berufe widmen müssen." Als ganz besonders
deutlichen Beweis für die Absicht Gottes und für die Einheit des Menschen¬
geschlechts, das nicht als ein Konglomerat von Individuen, sondern als ein
großer Organismus anzusehen sei, behandelt er die Kompensationstendenz, das
erfolgreiche Streben, Störungen des Gleichgewichts auszugleichen. Es tritt
besonders nach großen Kriegen hervor und ist am auffälligsten während der
napoleonischen Kriege und nach deren Beendigung in Frankreich sichtbar ge¬
worden. Von 1809 ab wurden in Frankreich auf 100 Mädchen 107 Knaben
geboren; erst von 1816 ab begann der Prozentsatz der Knaben langsam zu
sinken, bis auf 105,35 im Jahre 1830; nach der Julirevolution stieg er wieder
auf 106,53 Prozent. „Diese merkwürdige Erscheinung des Geschlechtsgleich¬
gewichts sowie der Kompensationstendenz bei Störungen wird erklärt und
tiefer verstanden, wenn wir in die volle Realität des gliedlichen Zusammen¬
hangs der Menschengruppen eindringen, während die atomistische Anschauung
jene Erscheinung wie ein bloßes Mirakel unerklärt, weil unmotiviert läßt."
Oettingen sieht in dieser deutlich hervortretenden organischen Einheit des
Menschengeschlechts den Beweis für die Richtigkeit der Anthropologie Luthers,
der durch seine tiefe Erfassung der Erbsünde Verständnis für die Einheit des
Menschengeschlechts offenbart habe, und er macht diese Einheit zur Grundlage
einer Sozialethik, die er sich berechtigt glaubt lutherisch zu nennen im Gegen¬
satz zu der individualistischen katholischen. Er ist aber weit entfernt davon,
die persönliche Verantwortung des Individuums aufheben zu wollen. Von
allen seinen Rezensenten, schreibt er im Vorwort zum zweiten Teile des Werkes,
habe seine Meinung am genauesten G. F. Knapp getroffen mit den Worten:
„Der Mensch ist nach Oellingers Auffassung ein freies verantwortliches Wesen,
das aber nicht als unabhängige Monade im Weltraum schwebt, sondern das
durch tausenderlei faktische und rechtliche Beziehungen in den Korallenstock der
menschlichen Gemeinschaft eingefügt ist."
Aber das Sexualverhültnis ist nicht das einzige in diesem sehr verwickelten
Korallenstock, und an manchen andern Verhältnissen, namentlich an den wirt¬
schaftlichen, wird die Sexualmoral, auch die von der biologischen Einsicht
unterstützte, immer eine Schranke finden. Sogar ein so frommer National¬
ökonom wie Röscher sieht sich doch genötigt, daran zu erinnern, daß Keusch¬
heit nicht die einzige Tugend sei. Ein vollkommen normales Geschlechtsleben
hat eine sehr starke und rasche Volksvermehrung zur unvermeidlichen Folge,
die bei einem gewissen Grade der Volksdichtigkeit notwendigerweise einen
proletarischen Charakter annimmt. Räuber meint, die wirtschaftlichen Nach¬
teile müsse man eben mit in Kauf nehmen. Aber diese wirtschaftlichen Nach¬
teile vernichten alle Moral, auch die sexuelle, sodaß diese sich bei unaufhörlich
fortgesetzter Durchführung selbst aufhebt. Räuber gesteht denn auch ein, daß
richtige Verteilung der Menschen über die Erde, Kolonisation, solange die
Erdoberslüche reicht, das einzige unbedingt wirksame Mittel gegen jede Art
von geschlechtlicher Unordnung und Verwilderung ist. Bei jeder bäuerlichen
Kolonisation von Neuland stellt sich die vollkommenste Ordnung von selbst
her, wie am schlagendsten Nordamerika beweist. Aus einem von Räuber an¬
geführten statistischen Werke geht hervor, daß dort die Zunahme der Bevölkerung
am stärksten war am Anfange des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem Be¬
ginn des starken Einwandrerstroms. Heute wollen die Jankeefrauen, die nicht
mehr Bäuerinnen sind, sondern Stadtdamen, keine Kinder mehr haben. So
zerstörend wirkt die Überkultur in einem Lande, von dem noch nicht der zehnte
Teil vollständig besiedelt ist! Die Ursachen des normalen Geschlechtslebens
der Bauern, und zwar der Bauern auf Neuland, sind bekannt. Die Bauern¬
wirtschaft ist nicht denkbar ohne Frau; der Bauer muß heiraten, sobald er
das Gut übernimmt oder gründet. Auf Neuland vergrößert jedes Kind als
zuwachsende Arbeitskraft das Vermögen, und die Versorgung der Kinder be¬
reitet weder Schwierigkeiten noch Kummer. Daß in allen drei Beziehungen
bei den verschiednen Kategorien einer überzähligen Stadtbevölkerung das Gegen¬
teil der Fall ist, und was im Geschlechtsleben die Folge davon sein muß,
braucht nicht ausgeführt zu werden. Dazu kommt noch folgendes. Der Bauer
und die bäuerliche Jungfrau kommen verhältnismäßig selten in die Lage, aus
sentimentalen Gründen einer sonst wünschenswerten Partie widerstreben zu
müssen. Denn sie bringen ihr Leben in harter körperlicher Arbeit und in
steter Bewegung, meist im Freien zu, die ihnen zu geistiger Beschäftigung
sowie zum Phantasieren und Grübeln nicht viel Zeit läßt und auch wenig
Neigung schafft, weil sie sie vor Hypertrophie des Gehirns bewahrt. Bei den
akademisch Gebildeten und bei den zahlreichen Klassen städtischer Müßiggänger,
sogar auch schon bei Lohnarbeitern, die ziemlich viel Zeitungen und Romane
lesen, wuchert eine ungesunde Phantasietütigkeit und bewirkt eine starke
Differenzierung und Verfeinerung, vielfach auch Überspannung, Überreizung
und Perversion der geschlechtlichen Liebe, damit aber tausend Hindernisse der
Verehelichung. Es ist das eine der vielen Ursachen, derentwegen uns das
Sinken des Prozentsatzes der bäuerlichen Bevölkerung in den Ländern alter
Kultur als ein Unglück erscheint. Andrerseits aber müssen wir doch fragen:
Soll die Differenzierung und die Verfeinerung aller Gefühle, von denen die
geschlechtliche Liebe unmöglich ausgenommen werden kann, überhaupt nicht ein¬
treten? Soll es gar keine Romane und Tragödien geben, weder im Leben
noch in der Literatur? Es ist das nur eine Unterabteilung der alten Frage,
ob man die Kulturentwicklung verwünschen müsse um der Kulturleiden, Kultur¬
torheiten und Kultnrlasten willen. Bei den Indianern der Urwälder des
Amazonenstroms gibt es wahrscheinlich so wenig Eheirrungen und Hagestolze,
als es schlechte und gute Romane, Sozialdemokraten, Bankbrüche, Jnseraten-
schwindel und Dynamitexplosionen gibt. Die Alleinherrschaft der Biologie
oder vielmehr der Natur hört eben an dem Punkte auf, wo das eigentliche
Menschenleben, das Leben des Kulturmenschen, seinen Anfang nimmt. Hinter
den erwachten geistigen Interessen treten die Naturzwecke zurück. Das Männchen
der niedrigsten Tierarten hat weiter keinen Zweck, als zur Fortpflanzung
seiner Gattung beizutragen und dadurch den Futtervorrat für höhere Tiere zu
vermehren, und stirbt, sobald es seine Aufgabe verrichtet hat. Männer wie
Paulus, Kant, Alexander von Humboldt haben ganz andre Aufgaben, als ihr
Geschlecht fortzupflanzen, und schon jeder gewöhnliche Mensch hat neben seiner
Aufgabe für die Erhaltung der Gattung in seinem persönlichen Leben seinen
Wert für sich, und sogar seine Geschlechtlichkeit hat keineswegs bloß den Zweck
der Erhaltung und Vermehrung der Gattung, sondern dient auch der Erhöhung
und Bereicherung des persönlichen Lebens. Wenn demnach auch das biologische
Sexualideal einigermaßen mit dem christlichen zusammenfällt (nicht völlig;
denn der Apostel Paulus würde für sich so wenig die Heiratspflicht anerkannt
haben wie irgendein katholischer Heiliger), so darf doch die Biologie in Sachen
der menschlichen Gesellschaftsordnung nicht das entscheidende Wort sprechen.
Auch die Unordnungen und Ausschreitungen des Geschlechtstriebs müssen gleich
andern Kulturübeln mit in Kauf genommen werden. Sie zu bekämpfen, ist
Pflicht, wie denn überhaupt die Bekämpfung der Kulturübel die Hülste des
Kulturlebens ausmacht, das ein chronischer Sündenfall und zugleich eine
dauernde Erlösung von der Sünde genannt werden kann. Und wenn uns
dabei die Biologie zu Hilfe kommt, so nehmen wir das natürlich dankbar an.
Aber wirksam, wie gesagt, kann diese Hilfe nur werden in Verbindung mit
der theistischer Auffassung der Naturgesetze unter der Berücksichtigung der wirt¬
schaftlichen Verhältnisse.
Was die einzelnen Vorschläge Räubers betrifft, so dürften sich die Jung¬
gesellensteuer, der Zwang zur Erfüllung der Ersatzpflichten, die aus außerehe¬
lichem Verkehr erwachsen, und eine die Frauenfrage berücksichtigende Regelung
der Auswanderung durchführbar erweisen, wenn die Gesetzgeber dahin gebracht
werden könnten, diese Maßregeln ernstlich zu wollen. Der Ausschluß aller
Unverheirateten aus dem Staats- und Kommunaldienst wäre nur dann möglich
und einigermaßen gerecht, wenn die sozialen Ehehindernisse beseitigt würden.
Das Haupthindernis ist die späte Versorgung der mittlern und der höhern
Beamtenschaft, dessen Beseitigung aber durch frühzeitige Pensionierung aller
Beamten wird bei uns an dem Veto des Finanzministers scheitern. Für die
Erhöhung der Gehalte der untern Offizierchargen, deren Notwendigkeit Räuber
ausdrücklich hervorhebt, würden sich die Mittel schon finden; doch hier walten
andre Rücksichten ob, die den Regierungen verbieten, schon dem Unterleutnant
von Staats wegen die Mittel zur Gründung eines Hausstandes zu bewilligen.
Ein moderner Staat ist eben eine so verwickelte Gesellschaft, daß sich die Ehe¬
angelegenheiten nicht so glatt erledigen lassen wie bei den Schwalben und den
Turteltauben. '
me alte Erfahrung ists, daß jahraus jahrein viele zur Erholung
und zum Vergnügen in die Ferne ziehen, die, wenn sie von
den Vorzügen der heimatlichen oder der der Heimat benachbarten
Berge Kenntnis hätten, gewiß diese aufsuchen würden. Sicher
finden der Harz, der Thüringer Wald, das Riesengebirge, die
Sächsische Schweiz von Jahr zu Jahr neue Verehrer, so manches andre Ge¬
birge aber, das getrost mit jenen jeden Vergleich aushalten kann, ist dagegen
entweder gar nicht oder höchstens nur einer kleinen Gemeinde bekannt. Zu
diesen Gebieten, die es vollauf verdienen, mehr bereist zu werden, die einen
Besuch reichlich lohnen, gehört das böhmische Mittelgebirge mit den an¬
grenzenden Teilen des sächsischen Erzgebirges, das herrliche Stück Erde, das
sich nach Süden und Südwesten an die Sächsische Schweiz anschließt, das
von Leitmeritz bis Bodenbach-Tetschen von der Elbe durchströmt wird, und
das die industriereiche, freilich durch den Qualm der Kohlenschächte so sehr
beeinträchtigte Teplitzer Ebne von dem östlichen Teile des Erzgebirges trennt —
diese Ebne, die sich doch auch wieder, mag man auf den Höhen des Erz¬
gebirges oder auf denen des Mittelgebirges stehn, so überaus malerisch zeigt,
eingebettet zwischen den vulkanischen Charakter verratenden Basalt- und Pho-
nolithkegeln des Mittelgebirges, unter denen wie ein König der Milleschauer
majestätisch emporragt, und der sich lang hinziehenden, schroff aus der Ebne
aufsteigenden und durch die Masse wirkenden Mauer des Erzgebirges. Kein
geringerer als A. von Humboldt hat die Aussicht von dem Mückenberg (Mücken-
türmchen), dem bekanntesten Punkte des östlichen Erzgebirges, als eine der
schönsten bezeichnet.
Nur verhältnismäßig wenigen, sogar in dem benachbarten Königreich
Sachsen, wird die Fahrt auf der Elbe von Bodenbach bis Leitmeritz, mitten
durch das Mittelgebirge, bekannt sein! Und doch ist sie allein schon überaus
lohnend.
Wer in Bodenbach das Schiff besteigt zu einer Fahrt elbaufwärts — diese
Richtung ist entschieden vorzuziehn — dürfte zunächst enttäuscht sein: offnes
Land hat man zur Rechten und zur Linken. Zu sehen gibts aber trotzdem
genug; man braucht nur rückwärts zu schauen: da hat sich der Hohe Schnee¬
berg mit seinem gewaltigen, langen Rücken hingelagert, da taucht nach rechts
hin der prächtig geformte Rosenberg auf, und in der Mitte zwischen beiden
erscheinen die Berge um Bodenbach und auf einem in die Elbe vorspringenden
Felsen das einer mächtigen Kaserne gleichende Schloß von Tetschen. Doch
schon haben wir uns bei Neschwitz der Stelle genähert, an der das Elbtal
enger wird, wo uns links das Vierzehngebirge, rechts das Siebengebirge
grüßen. Welche Szenerie! Und so, wie sie hier beginnt, bleibt sie die nächsten
vier Stunden, gleich reizvoll und gleich abwechslungsreich. Bild reiht sich an
Bild, kaum genossen, entschwindet es wieder unsern Blicken und macht einen:
neuen, womöglich noch schönern Platz. Da erhebt sich zur Linken der zer¬
klüftete, sagenumwobne Sperlingstein, von dessen Burg sich der letzte Ritter,
ein grausamer Heide, mit seinem Schlachtroß in die Tiefe stürzte, um nicht
lebend in die Hände seiner siegreichen christlichen Feinde zu geraten; da wird
ein Dorf, dort wieder eins sichtbar, lauschig versteckt sich das Kirchlein hinter
den Bäumen. Jetzt gleicht der Fluß einem großen, sich lang hinziehenden
See, der vor und hinter uns und zu beiden Seiten von hohen, teilweise schroff
aufsteigenden, schön bewaldeten Bergen gebildet ist. Jetzt sehen wir Waltirsche
mit seinem kunstgeschichtlich bedeutenden Kirchlein; auf einem Felsen ist es
erbaut, der weit in die Elbe hineinreichend dem Schiffe den Weg versperren
zu wollen scheint, im Bunde mit der kolossalen steilen Klingsteinwand des
Ziegenberges, der sich gegenüber aus dem Strome wie ein neues Hindernis
erhebt. Und über dem allen thront im Hintergrunde die Hohe Wostrey, an
deren schönen Formen wir uns später noch mehr erfreuen werden. Dann
kommt Aussig — schön bleibt auch hier die Landschaft, so sehr sie auch durch
lange Reihen von Frachtkähnen, die aus unendlich vielen Loris Kohlen auf¬
nehmen, durch rauchende und qualmende Krame und Lokomotiven beeinträchtigt
wird. Ein interessanter Anblick! Wir bekommen einen Begriff von dem gro߬
artigen Umschlagsverkehr, der an diesem Zentralsitz des nordwestböhmischen
Kohlenhandels und an dem bedeutendsten österreichischen Stapelplatz für Zucker
herrscht und von Jahr zu Jahr immer noch mehr wächst. In langsamer Fahrt
sucht sich unser Schiff seinen Weg durch das Gewirr der großen und der
kleinen Kähne, der hin und her huschender Schraubendampfer, der mit ihrer
Kette rasselnden Kettenschlepper und der andern noch viel größern Schlepp¬
dampfer, die mit ihren gewaltigen Schaufelrädern das Wasser vom untersten
Grunde aufwühlen und über die starken Wogen die kleinern Fahrzeuge auf
und ab gleiten lassen. Kaum haben wir Aussig hinter uns, da steigt auch
schon der ruinengekrönte Schreckenstein vor uns auf, der uns durch Körners
Lieder und mehr noch durch die Kunst Ludwig Richters vertraut geworden
ist, dann erscheint über ihm wieder die Hohe Wostrey, bald auf demselben
Ufer das freundliche Dörfchen Birnay, darauf Sebusein mit der herrliche
Aussicht gewährenden Mache dahinter, schräg gegenüber Salesl, das Nizza
Nordböhmens, darüber der Müllerstein und noch weiter oben die Dubitzer
Kapelle mit unbeschreiblich schönem Blick auf die von der Wostrey, der Mache
und den andern Höhen eingeschlossene Elbe, die sich wie ein See zu unsern
Füßen ausdehnt, begrenzt von Ufern, die mit ihren schmucken Dörfern und
mit teilweise recht ausgedehnten Obstplantagen einen überaus lieblichen Ein¬
druck machen.
Nicht mehr lange währt unsre Fahrt: wir kommen noch an der land¬
einwärts liegenden Ruine Kamaik, einem Felsennest in des Wortes eigentlichster
Bedeutung, und an den Weinbergen von Czernosek vorüber, deren Kreszenzen
man beim Kellermeister in einer behaglichen Gartenlaube kosten kann; und
dann öffnet sich das Tal, und wir haben bei Lobositz das Mittelgebirge hinter
uns. Aber die Herrlichkeiten, an denen wir in bequemer Fahrt vorübereilten,
zeigen sich uns erst recht durch Wanderungen, sei es, daß wir von Aussig den
Schreckenstein, die Wostreh und die Mache, die wunderbar liegende Sommer¬
frische Henriettensruhe in Kundratitz besuchen oder auf dem andern Ufer den
Lobosch und den Milleschauer, den Glanzpunkt des ganzen Mittelgebirges, er¬
klimmen oder uns an dem Teplitzer und dem Brüxer Schloßberg, und wie diese
schön geformten Basalthügel alle heißen, erfreuen.
Aber nicht nur der Freund der Natur, sondern auch der, der sich für
Geschichte, Kunst und Literatur, für die Naturwissenschaften, für Handel und
Industrie interessiert, kommt bei seinen Streifzügen im Mittelgebirge vollständig
auf seine Rechnung. Ich will nicht, wenn wir zunächst einmal geschichtliche Er¬
eignisse ins Auge fassen, von den vielen Ruinen früherer Schlösser und Burgen
sprechen: von Schreckenstein, Kamaik, Hasenburg, Kostial, Kostenblatt, Teplitz,
Brüx, Haselstein und vielen andern, obwohl sie alle uns viel, sehr viel zu
erzählen hätten — ich meine Schauplätze von wichtigerer, zum Teil welt¬
historischer Bedeutung.
Wenn wir zum Beispiel in Lobositz das Schiff verlassen, sind wir in der
Stadt und in deren nächster Umgebung auf geschichtlich denkwürdigen Boden.
Vor uns, mehr nach rechts hin, erhebt sich steil der Lobosch, zur Linken dacht
sich sanft der Wciwczin in der Richtung nach dem Lobosch ab. Die Ein-
senkung zwischen beiden Bergen, der südliche und der südöstliche Abhang des
Lobosch und die Ebne, die sich nach Osten bis Lobositz hinzieht, waren der
Schauplatz der ersten Schlacht im siebenjährigen Kriege am 1. Oktober 1756.
Um die Vereinigung der Sachsen mit Brown zu verhindern, war Friedrich
über das Erz- und das Mittelgebirge herbeigeeilt und noch zu rechter Zeit
bei Lobositz auf den Feind gestoßen. Wir brauchen uns gar nicht weit von
der Stadt zu entfernen, gleich wenn wir vom Bahnhof der Staatseisenbahn
auf der Straße nach Schirschowitz bis zur Kapelle am Modlbach gehn, sind
Wir mitten auf dem Schlachtfelde, an der Stelle, wo von den östlichen Aus¬
läufern des Wawczin her, aus der Gegend des Dorfes Wchinitz die preußische
Kavallerie ihre beiden Attacken auf die Österreicher ausführte; westlich von der
Kapelle, wo heute eine Straße und die Eisenbahn nach Libochowitz das Ge¬
lände durchschneidet, war es auch, wo die Preußen bei der zweiten Attacke,
zu der sie ohne Befehl des Königs in kühner Begeisterung vorgestürmt waren,
in den Sumpf gerieten, den dort der Modlbach damals bildete, und hinter
dem das Gros des österreichischen Heeres in unbedingter Sicherheit stand.
Wir gehn wieder nach der Stadt zurück und die breite Hauptstraße entlang
bis zur Kirche. Wenn wir uns dann nach links wenden, nach Welhotta und
Kleinczernosek hin, etwa um in das Wopparner Tal einzubiegen, begleiten wir
im Geiste österreichische Truppen, die unter Führung des kühnen Lasch dahin¬
stürmen. Sie wollen den Kroaten und den andern Abteilungen des Brownschcn
Heeres Hilfe bringen, die in den Weinbergen am Südabhange des Lobosch
— sie sind auch heute noch bebaut — den ungestüm angreifenden Preußen
unter Beverns Kommando schon seit Anbruch des Tages so tapfer stand ge¬
halten haben. Mehr und mehr nach Osten, nach der Elbe zu gedrängt, sind
sie in Gefahr, ganz ihre vorteilhafte Stellung zu verlieren — Lascy soll sie
stützen, Verstürken. Die Lage wird für die Preußen sehr bedenklich. Im
Kampfe gegen die Übermacht der Österreicher, noch dazu nun ohne Munition,
die infolge des seit dem frühen Morgen ununterbrochen dauernden Kampfes
ausgegangen ist, scheint sich der Herzog von Bevern nicht länger halten zu
können; und da ja die preußische Kavallerie infolge der verunglückten Attacken
als Schlachtenreiterei überhaupt nicht mehr in Frage kommt, andrerseits die
siegreiche feindliche Kavallerie und die Infanterie Anstalten machen, aus
Sullowitz, südwestlich von Lobositz und jener Kapelle am Modlbach, in den
preußischen rechten Flügel vorzubrechen, sodaß weitere Verstärkungen an Bevern
unmöglich abgegeben werden können, da endlich auch die preußische Artillerie
Munitionsmangel meldet — ist ein unglücklicher Ausgang für Friedrich so
gut wie sicher. Um Befehle für den Rückzug zu geben, verläßt er seinen
Standpunkt auf dem Homolkaberge, einem Ausläufer des Wawczin beim Dorfe
Wchinitz — da tritt plötzlich und völlig unerwartet die Wendung zum bessern
ein: sie kommt von den Truppen, die auf dem linken Flügel in den Wein¬
bergen fechten. Ohne Munition haben sie das Äußerste gewagt: mit dem
Bajonett sind sie den Österreichern auf den Hals gegangen und treiben sie
nun, vom Zentrum unterstützt, bis an die ersten Häuser von Lobositz; hier
kommt es an und seitwärts von der Straße nach Welhotta zu einem letzten
heißen Ringen. Das Schicksal der Österreicher ist besiegelt; „nach erbittertem
Häuserkampfe, wobei der nördliche Teil des Ortes in Flammen aufgeht, werden
die in den Straßen zusammengedrängten Abteilungen gegen drei Uhr Nach¬
mittags zur Stadt hinausgejagt." Das siegreiche preußische Heer bezieht ein
Lager in weitem Bogen vom Nordende von Lobositz über Wchinitz bis auf
die Höhe der Homolka. während Brown zunächst hinter den Sümpfen des
Modlbaches stehn bleibt, dann aber am Morgen des 2. Oktobers sich hinter
die Eger zurückzieht.
Einen schönen Überblick über das Schlachtfeld hat man übrigens auch,
wenn man von der Kapelle am Modlbach an diesem entlang nach Sullowitz
und von da nach der Homolka, wo Friedrich die Schlacht leitete, hinaufsteigt;
von Wchinitz aus geht man dann hinüber nach den so hart umstrittnen Wein¬
bergen und kommt über Welhotta, wo der mit Recht gerühmte Kunadsche
Weinschank zur willkommnen Rast einlädt, nach Lobositz zurück.
Dieselbe Straße, auf der in den Septembertagen des Jahres 1756 die
preußischen Truppen über das Erzgebirge in Böhmen einrückten, sollte sieben¬
undfünfzig Jahre später noch einmal von der größten Bedeutung werden: die
Straße von Pirna über Peterswald und Nollendorf nach Kulm. Sie ist in
dem Teile um Nollendorf von den vielen Wegen, auf denen man von Dresden
in das Mittelgebirge gelangen kann, entschieden am lohnendsten, am aussichts¬
reichsten. Die Strecke Pirna-Nollendorf freilich bietet nichts. Wir ziehn eine
Wanderung oder eine Bahnfahrt durch das schöne Müglitztal vor, an Schloß
Weesenstein, dem oben auf der Höhe liegenden und durch den „Finkenfang"
bekannt gewordnen Maxen und an der berühmten Uhrmacherstadt Glashütte
vorbei bis nach Lauenstein, dessen äußerlich ganz unscheinbare Kirche ein
Kunstwerk allerersten Ranges birgt; es ist ein Altar mit wunderschönen
figurenreichen Sandsteinrelief, den Gurlitt (Mitteilungen des Sächsischen
Altertumsvereins, Heft 28) als ein um 1542 entstandnes Werk des Juan
Maria de Pcidova, eines Schülers des Jacopo Sansovino, bezeichnet, desselben
Künstlers, der vorher am Belvedere in Prag und nachher am Schlosse zu
Dresden beschäftigt war.
Von Lauenstein wandern wir weiter nach Liebenau, uns anfangs an
dem lieblichen Anblick erfreuend, den das freundliche Städtchen unsern Augen
darbietet. Auf Liebenau folgt das langgestreckte böhmische Dorf Schön¬
wald — ermüdend ist die dreiviertelstündige Wanderung, aber wie werden
wir entschädigt, wenn wir beim Austritt aus dem Walde, in den wir kurz
nach Schönwald gekommen sind, auf der Höhe vor Nollendorf schon eine
Ahnung von der überwältigenden Pracht des Mittelgebirges bekommen, wenn
sich nach kurzer Zeit das ganze Gebirge selbst in seiner wunderbar malerischen
Schönheit vor unsern Augen aufrollt.
So verlockend es jedoch auch ist, diese Herrlichkeit zu schildern, heute
interessieren uns mehr die geschichtlichen Ereignisse, die sich am 29. und am
30. August 1813 nach der Niederlage der Verbündeten bei Dresden dort oben
bei Nollendorf und unten in der Ebne bei Kulm abgespielt haben. Schon
wenn wir am südlichen Ende Schönwald verlassen, sehen wir drüben süd¬
westlich von uns ein Dorf auf der Höhe liegen, es ist Streckenwald; durch
diesen Ort zog nach einem Kriegsrat in dem für uns unsichtbaren Fürsteu¬
walde der wackre Kleist in den Frühstunden des 30. August den bei Kulm
hart bedrängten Russen zu Hilfe, in seinem kühnen Entschluß durch eiuen
Befehl Friedrich Wilhelms des Dritten bestärkt, der auf der Flucht aus der
Dresdner Schlacht schou in Teplitz angekommen war und in der richtigen
Erkenntnis der Lage alles tat, um zu retten, was noch zu retten war. Auf
der Streckenwalder Straße verfolgen wir von unserm Standpunkt aus die
dahineilenden Preußen, lassen sie kurz vor Nollendorf in unsre Straße ein¬
biegen und begleiten sie dann weiter bis zu der Stelle, an der wir einen
freien Blick in die Ebne haben, und sehen mit ihnen da unten Priester,
Arbesau, Kulm mit dem Horkaberge und der Dreifaltigkeitskapelle liegen, wo
nun schon den zweiten Tag (30. August) die Schlacht wütet. Ungeheuer viel
steht auf dem Spiele: die Russen, die unter dem Grafen Ostermann, dem
jungen und begeisterungsvollen Prinzen Eugen von Württemberg und
Jermolow auf der Straße Pirna-Berggießhübel-Nollendorf unter unausge¬
setzten Kämpfen am 29. August vor Vandamme die Kulmer Ebne erreicht
haben, müssen ihre Stellung auf alle Fälle gegen die Franzosen behaupten,
dem Vordringen Vandammes nach Westen muß, mag kommen, was will, ein
Riegel vorgeschoben werden; denn nur dann können die einzelnen Heeres-
abteilungen der Verbündeten, die auf ihrer Flucht noch in den Engpässen des
Erzgebirges eingekeilt stecken, ungefährdet das Teplitzer Tal erreichen, nur so
kann der Mißerfolg von Dresden einigermaßen wieder gut gemacht werden.
Schön wegen des Waldes, aber nicht so aussichtsreich ist die Wanderung
von Lauenstein aus, das Müglitztal weiter aufwärts, nach Ebersdorf und
dann hinab nach Kulm entweder über die Kulmer Waldkapelle oder durch das
Priestner Tal. Wir wühlen diesen Weg; er führt uns mitten auf den Kampf¬
platz des 29. und des 30. Augusts. Hier liegt Straten, hier Priester, hier
die Eggcnmühle — oder vielmehr die Mühlhäusel, ein paar Hütten, die noch
an die heute nicht mehr vorhandne Mühle erinnern. Hier bei Priester und
bei Straten war es, wo in immer heftigem Vorstoßen die Franzosen den
Feind zu werfen suchten, dort bei der Eggenmühle, wo Franzosen und Russen
immer höher in das Gebirge hinaufrückten, diese, um die Verbindung mit der
in den Bergen steckenden Hauptarmee festzuhalten, jene, um sie zu durch¬
brechen, wo aber doch die Russen mit schier unglaublicher Zähigkeit den Sieg
des 30. Augusts vorbereiteten, nachdem sie einmal infolge der bestimmten
Aufforderung des in Teplitz und dann bei Priester selbst weilenden Königs
von Preußen ihre Absicht, sich vor der Übermacht des Feindes hinter die
Eger zurückzuziehn, aufgegeben hatten. Und schon waren ja die Österreicher
unter Colloredo, die sich am 29. August bei Eichwald aus dem Seegrunde
herausgewunden hatten und nun nach den ursprünglichen Anordnungen
Schwarzenbergs nach Dux marschieren wollten, auf die nachdrückliche Vor¬
stellung des Kaisers von Nußland nach Teplitz und Kulm dirigiert worden.
Über Karbitz gingen sie am 30. August vor und reichten schließlich den über
Vorder-Tellnitz von Nollendorf herabkommenden Preußen bei Arbesau die
Hand. Gegen drei Uhr Nachmittags war der Sieg entschieden; über neun¬
tausend Mann gerieten in Gefangenschaft, auch Vandamme. der am 30. August
die Schlacht von der Horka aus geleitet hatte, einem dicht bei Kulm liegenden
Hügel, der den Besuch außerordentlich lohnt, weil er den besten Überblick über
das ganze Schlachtfeld bietet.
Drei Denkmäler verherrlichen die Heldentaten der Verbündeten, und zwar
steht das preußische und das österreichische nahe bei Arbesau, da, wo es den
Preußen und den Österreichern gelang, den letzten entscheidenden Schlag zu
führen, das russische bei Priester, wo die Russen, in der Hauptsache Garden,
in heißem Kampfe den Ansturm der Feinde am 29. August allein aushielten.
Außerdem hat man im Jahre 1835 etwa dreihundert Schritt vom Russen¬
denkmal entfernt in einem Fichtenhaine unter einem von gewaltigen Blöcken
gebildeten und durch ein Steinkreuz gezierten Grabhügel die nachträglich ge-
fundnen Knochenreste aller derer bestattet, die in den nahen Wäldern ihr Leben
verloren hatten; dies sagt uns eine Inschrift mit dem Schlußworte: „Sie
ruhen in Frieden." Wie übrigens der österreichische Invalide, unter dessen
Obhut das russische Denkmal steht, bemerkte, haben die Verbündeten von 1813
die Absicht, im Jahre 1913 ein gemeinsames Denkmal eben an der Stelle
jenes Massengrabes zu errichten.
Von den drei Denkmälern läßt uns das österreichische, ein Obelisk mit
dem Doppeladler auf der Spitze und dem böhmischen Löwen am Fuße, ziemlich
kalt; es ist dem Generalfeldmarschall Colloredo von der österreichischen Armee
errichtet. Ganz anders wirkt das preußische — eine gotische Spitzsüule —;
„die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vaterland. Sie ruhen in
Frieden," sagt die schlichte, zu Herzen gehende Inschrift. Das russische Denk¬
mal endlich ist künstlerisch am bedeutendsten; kein Wunder — denn man hat
beim Altertum eine Anleihe gemacht. Auf einem viereckigen Unterbau, an
dessen Seiten je ein recht trübselig dreinschauender Löwe öQ rvlisk zu sehen
ist, erhebt sich ein abgestumpfter Obelisk, dessen vier lateinische Inschriften uns
über die Bedeutung des Ortes aufklären und uus mitteilen, daß Kaiser Franz
der Erste am 30. August 1313 ein Denkmal zum Ruhme russischer Tapferkeit
zu setzen versprochen, daß aber erst Ferdinand der Erste 1835 am Jahres¬
tage der Schlacht in Gegenwart König Friedrich Wilhelms des Dritten und
Kaiser Nikolaus des Ersten den Grundstein gelegt habe. Was nun aber dieses
Denkmal zu einem so hervorragenden macht, ist die geflügelte Nike, die sich
auf dem Obelisken erhebt. Sie tritt mit dem linken Fuß auf einen Helm
und stützt einen Schild, den sie mit der linken Hand am obern Rande festhält,
auf den linken Oberschenkel, der infolge der Stellung des Fußes hervorragt.
Mit der rechten Hand hat sie soeben das Datum des Schlachttages in die
innere Fläche des Schildes geschrieben.
Diese Nike ist nichts andres als eine Kopie der Viktoria von Brescia,
einer Erzstatue, die im Juli 1826 an der Westseite des von Vespasian in
Brescia erbauten Tempels gefunden wurde und nun das Nuseo xatrio, das
in jenem Tempel eingerichtet ist, ziert. Der Schild fehlt dem Original; es
ist aber nicht zweifelhaft, daß die Ergänzung nur so sein kann, wie sie seiner¬
zeit in Brescia gemacht worden ist, und wie sie danach ein von dem Gemeinde¬
rat in Brescia dem Dresdner Albertinum geschenkter Gipsabguß und endlich
auch die Erzstatue auf dem russischen Denkmal zeigt. So viel steht also fest,
daß der, der mit der Anfertigung des Entwurfs für das russische Denkmal
beauftragt war, in bewußter Weise im Jahre 1835 den Fund, den man neun
Jahre vorher gemacht und auch sofort in der angegebnen Art ergänzt hatte,
benutzt hat, eine Tatsache, an der selbstverständlich der Umstand nichts ändert,
daß bei der Kopie einige unbedeutende Gewandfalten nicht ganz genau mit
den entsprechenden an dem Brescicmer Original übereinstimmen. Ob das große
Publikum damals, als das Denkmal enthüllt wurde, allgemein von der Identität
der beiden Riten Kenntnis hatte, ist uns nicht bekannt; jetzt wenigstens scheint
niemand etwas davon zu wissen, wie wir aus der Unterhaltung mit einem
sonst wohlunterrichteten Aussiger Herrn entnehmen konnten.
Ehe wir Kulm und sein Schlachtfeld verlassen, tun wir noch einen Blick
in die Dreifaltigkeitskapelle, die weithin sichtbar den Horkaberg krönt. Sie
war im Jahre 1691 nach dem Erlöschen einer Pest von dem damaligen Be¬
sitzer der Domäne Kulm, dem Grafen Kolowmt, gestiftet worden und war mit
Fresken geschmückt, die im Laufe der Zeit schadhaft wurden. So ließ denn
der vorige und der jetzige Besitzer, Grafen von Westphalen-Fürstenberg, die
alten Bilder entfernen und an deren Stelle unter Beibehaltung der ursprüng¬
lichen Idee, und wo es ging, auch der Komposition neue Gemälde — g, tsiri-
xsrg. — von dem Prager Maler Gottfried Raubalik herstellen. Sie sind,
wenn auch in ihren Beziehungen untereinander nicht ganz klar, doch entschieden
sehenswert.
Nicht allzu weit von den Kulmer Siegesdenkmälern werden wir, wenn
wir von Aussig über Türmitz durch das schöne Bielatal den Milleschauer be¬
suchen — es ist dieselbe Straße, die die Avantgarde und ein Teil des Haupt¬
heeres Friedrichs des Großen im Jahre 1756 beim Vormarsch auf Lobositz
benutzte —, in entfernte, längst vergangne Zeiten zurückversetzt, in die Zeit,
da Libussa, die schöne, hochbegabte Tochter des Krot, über Böhmen herrschte.
In der Nähe des Dorfes Staditz dicht an der Straße stoßen wir auf
das Premysldenkmal: es ist da errichtet, wo die Abgesandten der jungen
Königin, von deren Leibroß, einem Schimmel, geführt, den Herrn von Staditz
Premysl als Gemahl ihrer Gebieterin, als den König von Böhmen begrüßten.
Bis hierhin hatte sie von Prag aus Libussas Roß über Berg und Tal, über
Moldau und Elbe geleitet, hier hatten sie den Mann gefunden, der, als sie
sich ihm nahten, sein Mahl hielt an einem eisernen Tisch unter freiem Himmel
im Schatten eines einsamen Baumes; dieser schlichte Ackersmann mußte der
Richtige sein, alle Erkennungszeichen für den künftigen Gemahl, die Libussa
ihren Freunden angegeben hatte, waren ja vorhanden. Die Erinnerung an
diese hübsche Sage, die uns zum Beispiel durch Musäus geläufig ist, soll das
1841 errichtete Denkmal wach erhalten. Ein großer rechteckiger Granitblock
ist mit zwei Bronzereliefs geschmückt, die die Auffindung Premysls durch
Libussas Roß und Gesandtschaft und den Einzug des neuen Böhmenkönigs
auf den Wyschehrad darstellen, während man oben auf dem granitnen Unter¬
bau Premysls „eisernen Tisch," einen Pflug, erblickt.
Nicht uninteressant ist es, auch die in der Ebne zwischen Erz- und
Mittelgebirge liegenden Städte zu besuchen. Es sind alle — Aussig, Teplitz,
Dux, Brüx — echt deutsche Städte, gegen deren Bevölkerung zwar die tschechische
Hochflut mächtig anstürmt, aber hoffentlich in aller Zukunft mit ebensowenig
Erfolg wie bisher. Wie hoch die Deutschen dieses Gaues ihr Volkstum
halten, ergab sich für uns aus einem kleinen Erlebnis, das wir im Früh¬
jahr 1904 hatten. Am Pfingstsonnabend fuhren wir von der tschechischen
Stadt Lamm ab mit dem Prager Universitätssüngerverein Liedertafel, der von
der Brüxer Bürgerschaft eingeladen war, nach Brüx. Am Bahnhof in Laun
blieb das lustige Studentenvölkchen natürlich unbeachtet — wie änderte sich
aber die Situation, als wir an der Haltestelle des ersten deutschen Dorfes
ankamen. Da waren hier wie an den folgenden Stationen die Mitglieder
der deutschen Gesangvereine mit Zylinder und im schwarzen Rock, sogar zum
Teil von weißgekleideten Ehrenjungfrauen begleitet, aufgestellt und begrüßten
die einfahrenden deutschen Studenten mit einem harmonischen Hoch; und der
Obmann benutzte die zwei Minuten, wahrend deren der Zug hielt, schlichte,
aber um so tiefer wirkende Worte an die zu richten, die das Deutschtum an
ganz besonders exponierter Stelle vertreten helfen und dereinst berufen sein
sollen, geistige Führer im Kampfe der Nationalitäten zu sein. Ein begeistertes
Hoch klang dem wieder davoneilenden Zuge nach. Und dann, als wir in
Brüx einfuhren, da kannte der Jubel keine Grenzen. Das war nicht bloß die
Freude der Wirte, die die Gäste willkommen hießen — hier kam eben noch
das Gefühl edler Begeisterung hinzu von Männern, die der gemeinsame
Kampf für ihr Volkstum und für den durch die Arbeit ihrer Ahnen geheiligten
Boden eng zusammenschließt. Manch kräftig schönes Wort wurde bei der
Begrüßung in dieser Beziehung gesprochen.
Von den oben genannten Städten bietet Aussig innerhalb seiner Mauern
vielleicht am wenigsten. Es hat eine schöne gotische Kirche, von der der Chor
mit seinen auffallend rein gotischen Formen und der Turm aus ziemlich früher
Zeit, das Schiff aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts stammt. Im
Innern ist der Hochaltar und die aus einem einzigen Sandsteinblock gemeißelte
Kanzel beachtenswert. Als ein vom Lokalpatriotismus ganz besonders hoch
gehaltnes Kleinod wird eine Madonna, „die Aussiger Madonna," gezeigt, die
jedoch nichts weiter als die Kopie eines Bildes von Carlo Dolce ist, die von
dem Aussiger Ismael Mengs, dem Vater des bekannten Rafael Mengs, an¬
gefertigt worden ist. ,^ - , .>^ (Schluß folgt)
chlag acht Uhr trat Helene in das Eßzimmer, wo sie die ganze
Familie mit Ausnahme von Großmutter versammelt fand.
Frau Lönberg schenkte selbst den Tee ein, den Stine umher¬
reichte.l-WM
Haben Sie gut geschlafen, Fräulein Rvrby? fragte der Apotheker.
Selbstverständlich! Nach einer Reise schläft man immer gut!
agte Frau Lönberg.
Ja, ich habe wundervoll geschlafen und gar nichts geträumt, antwortete Helene.
Das freut mich, bemerkte Frau Lönberg kurz.
Anna sah ihre Lehrerin, die sie mit allem liebevoll versorgte, beobachtend an.
Du bist wirklich groß genug, daß du dich allein bedienen könntest, bemerkte
die Mutter, Desideria hat es in deinem Alter schon längst getan!
Pah! sagte diese verächtlich.
Preber saß fast die ganze Zeit mit seiner großen Tasse am Munde da und
beobachtete über den Rand hinweg die Lehrerin mit großen Augen.
Nach einer Pause rief Helene: Ich habe heute schon eine kleine Radfahrt
gemacht.
Das habe ich gehört, sagte Frau Lönberg spitz, und sie fügte, als sie sah, daß
der Apotheker Helene anstarrte, schnell hinzu: Fräulein Rörby wird es dir sicher
nicht übel nehmen, Lönberg, wenn du uns verläßt! Die Apotheke erfordert gewiß
deine Anwesenheit.
Der Apotheker erhob sich, verneigte sich verlegen, murmelte: Mahlzeit! und
verschwand strauchelnd durch die Tür, durch die man einen flüchtigen Schimmer
von dem roten Haarbüschel und den spähenden Augen des Lehrlings gewahrte.
Nach einer Weile begann die erste Unterrichtsstunde unter der Leitung der
neuen Gouvernante.
Helene merkte bald, daß es keine kleine Aufgabe sein würde, diese Kinder zu
unterrichten, die drei Entwicklungsstufen vertraten.
Sie entdeckte auch, als sie die Kinder jetzt ein wenig examinierte, daß die
Mutter nicht gerade das beste Verständnis für die Fähigkeiten ihrer Kinder hatte.
Desideria war oberflächlich und nicht weiter begabt; sie hatte eine schnelle Auffassung,
wenn sie wollte, aber das war nur selten der Fall. Und was sie gelernt hatte,
vergaß sie im nächsten Augenblick wieder.
Anna war eine viel tiefere und reicher angelegte Natur, aber etwas lang¬
samer in ihrer Auffassung und Aneignung. Preber war ein kluger, klarer Kopf,
aber die Bücher waren seine schwache Seite.
Um sich gleich einen Begriff zu machen vou der Entwicklung der Kinder und ihrer
Fähigkeit, sich auszudrücken, ließ sie sie einen Aufsatz in ihrer Muttersprache schreiben.
Desideria mußte einen Brief an eine fingierte Freundin abfassen, Anna sollte
ein wenig vom Frühling erzählen, und Preber erhielt zum erstenmal in seinem
Leben Erlaubnis, einen freien Aufsatz über den Walpurgisabend zu schreiben.
Die ausgegebnen Themata und Helenens ganze natürliche Art und Weise
amüsierten die Kinder.
Fräulein Ipser pflegte Desideria Aufsätze aufzugeben, wie: Europas Volks¬
arten und ihre verschleimen Physiognomien, oder: Was ist der Unterschied zwischen
Freundschaft und Liebe? Ja sogar die kleine Anna hatte als Aufgabe das Thema
erhalten: Wie foll ein König sein, und mit welchen Mitteln soll er über sein Land
herrschen?
Fräulein Ipser war eine Dame mit Blick für das Hochgebirge der Pädagogik,
aber sie vergaß, daß man erst lernen muß, im Tale zu gehn, ehe man auf die
Berge klettern kann.
Das Pädagogische im strengen Sinne war gerade nicht Helenens Stärke, aber
durch ihre natürliche Vorgangsweise gelangte sie viel weiter als ihre Vorgängerin.
Gegen ein Uhr stieg Frau Lönberg ganz leise die Treppe hinauf und trat
plötzlich in das Schulzimmer ein. Desideria und Anna schrieben jetzt die Kladden
in ihre Hefte ab, und Preber war auf der zweiten Schiefertafel angelangt.
Helene stand auf und trat Frau Lönberg mit dem Buch in der Hand entgegen.
Lassen Sie sich nicht stören, sagte diese, ich wollte nur einmal sehen, was für
Aufgaben Sie gegeben haben, ja, darüber könnt ihr wohl schreiben!
Das werden wir wohl können! höhnte Desideria.
Nein, was für eine Menge du geschrieben hast, liebe Anna, das hast du doch
sonst nie getan!
Anna sah mit roten Wangen und strahlenden Augen auf, indem sie das Ge-
schriebne schnell mit der Hand verdeckte.
Und Preber — du schreibst ja ganz flott drauf los!
Ja, dies ist wirklich famos! sagte Preber mit dunkelrotem Kopf.
Du willst wohl sagen, daß die dir gestellte Aufgabe dich interessiert. — Ja,
entschuldigen Sie, Fräulein Rörby, ich mische mich sonst nie in die Angelegenheiten
meiner Kinder. Es ist sehr lobenswert, daß Sie so großes Gewicht auf die
Muttersprache legen; aber die läuft uns ja uicht weg. Ich hoffe, Sie werden
darüber nicht vergessen, daß sich die Kinder im Französischen perfektionieren. Ich
weiß noch sehr wohl, wie mich das soutenierte, damals, als ich demi Grafen war!
Mit dieser sortie verschwand Frau Lönberg.
Nach dem Frühstück verwandte sie mehrere Stunden auf ihre Mittagstoilette.
Und wenn sie beendet war, setzte sie sich im Rauchzimmer an das Fenster und
„empfing." Sie beobachtete dann im Spion alles, was in der Apotheke aus und
ein ging, was gerade keinen fördernden Einfluß auf ihre Handarbeit zu haben
schien. Und dann war Visitenzeit bis zu Tische. Man konnte ja nie wissen, ob
nicht ein gräflicher Wagen vorgefahren kam.
Das Mittagessen hatte sie bestimmt, aber sie folgte hier demselben Prinzip
wie die Dumas und die andern berühmten Schriftsteller; sie gab nur die genialen
Ideen, die Ausführungen überließ sie den routinierten Händen der Mamsell
Terkelsen.
Präzise viereinhalb Uhr begab sich Stine auf die Diele, die zwischen der
Apotheke und der Wohnung lag, und schlug mit einer großen hölzernen Kelle drei
kräftige Schläge ans einen kupfernen Kessel.
Im übrigen war diese Diele wie eine Art Halle ausgestattet; da war ein
großer altmodischer Kachelofen aufgestellt, der aber kein Rohr hatte, da hingen ein
paar vergilbte alte Kupferstiche, auf denen man Paris und die drei Nymphen sah
— den Apfel hatte der Zahn der Zeit verzehrt —, sowie Odysseus bei der Nymphe
Kalypso, deren Reize jedoch nicht mehr so frisch waren wie zu jenen Zeiten, als
sie den homerischen Helden sieben Jahre zu fesseln vermochte.
Die Schläge des Gongs — zu dem Frau Lönberg den kupfernen Kessel er¬
höht hatte — waren ertönt. Der Apotheker hängte seine Mütze im Kondor auf,
Didrik blies ein wenig Hexenmehl von seiner Nasenspitze und war vergeblich be¬
müht, den Regenbogenschimmer mit Spiritus von seinen Händen zu entfernen; der
Provisor vertauschte seinen Mixturenrock mit einer Samtjacke, besprengte sich mit
Eau de Verveine und brachte seine Künstlerlocken in Unordnung; dem Stirnge-
kräusel wurde in der Regel mit einer Brennschere nachgeholfen.
Helene hatte sich ungezogen, sie erschien in einem ausgeschnittner blauen Kleide
und sah ganz brillant aus.
Die Familie war versammelt.
Der Apotheker war sichtlich angeregt durch Helenens Anblick, er fühlte, wie
die Augen seiner Frau auf ihm ruhten, und bemühte sich ein gleichgiltiges Gesicht
aufzusetzen.
Großmutter lächelte Helene zu und sagte: Sie sind heute fleißig gewesen!
Es geht an, erwiderte sie bescheiden.
Mordsmäßig! rief Preber, wir haben uns abgerackert, daß —
Still, Preber! unterbrach ihn die Mutter, man schreit nicht bei Tische.
Man hatte eben Platz genommen, zwei Stühle standen noch leer. Da kam
der Provisor herein.
Helene warf einen flüchtigen Blick auf sei» mächtiges Künstlerhaar und seineu
langflatternden Schlips.
Der Apotheker stellte stotternd vor: Das ist in - in - mein Pr - Pro - Provisor,
Herr Phar — ma - ma - mazeut —
Kruse, ergänzte dieser.
Und unsre neue G — G — Gouvernante, Fräulein —
Rörby, ergänzte Frau Lönberg, etwas ärgerlich über alle diese Anstalten.
Der Provisor verneigte sich, gab sich aber den Anschein, als sähe er das
Fräulein gar nicht, eine im voraus wohlberechnete Taktik, die Frau Lönberg in
hohem Maße beruhigte. Sie kannte sein verliebtes Wesen von verschiednen Szenen
in und außer der Apotheke. Einen Augenblick später klopfte es laut an die Tür,
und der Lehrling trat ein, nach besten Kräften aufgeputzt. Sein feuerrotes Haar
war mit Wasser tief in die Stirn gekämmt und glänzte von Provenceröl, ein hell¬
gelber Schlips auf dem blaugrünen Hemd vollendete diese Farbensymphonie.
Der Apotheker bewegte schon krampfhaft den Mund, als seine Frau, den Füll¬
löffel in der Hand, ihm das Wort abschnitt und kurz und scharf sagte: Unser Lehr¬
ling. Didrik Brask.
Dieser verneigte sich so tief, daß seine Nase beinahe die Stuhllehne berührte,
was ein leises Kichern bei den Kindern hervorrief.
Ist die Tür verschlossen und das Schild angebracht? fragte der Apotheker.
Jawohl, Herr Apotheker, antwortete der Lehrling.
Um nämlich den Provisor und den Lehrling mit bei Tische haben zu können,
hatte mau die Einrichtung getroffen, daß die Straßentür zur Apotheke, falls keine
besondre Arbeit vorlag, während der Mittagszeit abgeschlossen, und ein Schild mit
der Aufschrift: „Bei Tische, stark klingeln!" am Fenster angebracht wurde. Ein
elektrischer Apparat schellte dann sofort im Eßzimmer.
Wenn die Speisen gereicht wurden, flüsterte der Provisor Didrik immer halb¬
laut französische Namen zu, die in schreienden Gegensatz zu der Nakkeruper Ein¬
fachheit standen. Als Stine wie gewöhnlich Wasser einschenkte, murmelte der Pro¬
visor: Portwein oder Sherry? Da brachen der Lehrling, dann die Kinder und
nach einem vergeblichen Versuch, zu widerstehn, auch Helene in ein schallendes Ge¬
lächter aus.
Da Frau Lönberg die Wiederholung solcher Szenen nicht wünschte, sagte sie
ganz ruhig: Sie scheinen sich heute nicht wohl zu befinden, Brask; der Nachtisch
wird Ihnen auf Ihr Zimmer gebracht werden, und bis auf weiteres, bis Sie ganz
wiederhergestellt sind, werden Sie Ihr Essen draußen erhalten.
Der Lehrling erhob sich, kreideweiß, verneigte sich so tief wie vorhin und
öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Gesegnete Mahlzeit! sagte Frau Lönberg kurz.
Und dann verschwand er schleunigst.
Als er gegangen war, sagte Frau Lönberg in einem leichten Konversationston:
Es ist heute so ungewöhnlich schönes Wetter, was meinst du, Muth, wollen wir
heute Abend einmal zu Propstens hinübergehn?
Ja, es ist doch so natürlich, sagte der Apotheker, daß unser Seelsorger —
Der Erste ist, dem wir Fräulein Rörby vorstellen, ergänzte seine Frau.
Die Note Grütze wurde herumgereicht.
Dann folgten die Fingerkummen mit Pfefferminzwasser.
Als der Provisor gegangen war, sagte Frau Lönberg: Die Rechnung zwischen
diesem Herrn und mir summt sich mehr und mehr an, ich will doch bald einmal
mit ihm abrechnen.
Wegen des schönen Maitnges sollte im Boudoir uach dem Garten hinaus,
wo die Türen offen standen, Kaffee getrunken werden; eine warme, fruchtbare Luft
strömte herein, draußen blühten die Tulpen in flammenden Farben, und die
Aurikeln begannen schon ihren Samt in wechselnden Schattierungen zu entfalten.
Großmutter stand in der offnen Tür und sog die weiche Luft ein. als Helene
den Kaffee herumreichte. Sie sah dabei so strahlend aus, daß der Apotheker un¬
willkürlich rief: Da haben wir die Hebe mit dem Kaffee!
Hebe! wiederholte Frau Lönberg wütend, wen meinst du damit?
Nun, He- He - Hebe, das war doch die, die den Götter» ihren Trunk brachte!
Den Göttern! Wann bist du denn ein Gott geworden, Mads?
Das ist der Herr Apotheker vielleicht bei dem Anblick dieses Göttertrunkes
geworden, sagte Helene scherzend.
Gegen ihren Willen mußte Frau Lönberg lächeln, denn sie hatte den Kaffee
selbst bereitet.
Nach einer Weile sagte sie: Sie können ruhig hübsche Toilette machen, Fräu¬
lein Nörby, aber ich rate Ihnen doch, ein etwas dezenteres Kleid anzuziehn.
Aber ich bitte Sie, Frau Lönberg! rief Helene.
Ja die Leute sind sehr kritisch hier in der Gegend, und Hansen-Bergs sind
eine sehr ernsthafte Familie mit stark rigoristischen Anschauungen.
Hier erhob sich Großmutter, stellte die Kaffeetasse mit Nachdruck auf den Tisch
und schob ihren Arm unter den Helenens.
Ziehn Sie sich an, wie Sie wollen, mein Kind, Sie werden doch niemals ab¬
schreckend sein.
Dann ging sie mit Helene zur Tür hinaus, indem sie hart mit dem Stock
auf den Fußboden aufstieß.
Der Apotheker wollte den Damen folgen, aber ein unheilverkündendes: Mads!
hielt ihn zurück.
Was hast du, liebe Jelde!
Ja, du bist der Rechte! Trotz meinen Warnungen fängst du gleich den ersten
Tag an, die schlechten Instinkte der Gouvernante zu ermuntern; bedenke doch, du
bist noch immerhin ein — wenn auch nicht junger — so doch jüngerer Mann in
deinen besten Jahren.
Unsinn! sagte der Apotheker und verzog sein ganzes sommersprossiges Gesicht
zu einem breiten Lächeln.
Ja, mein Freund, du solltest einem jungen Mädchen, das unsrer Obhut an¬
vertraut ist, keine Flausen in den Kopf setzen.
Hahaha! erschallte es plötzlich von der Tür her.
Wer wagt es, zu lauschen? fragte Frau Lönberg.
Ich lauschte nicht, antwortete Desideria spitz, ich lachte nur über deine Relativ¬
sätze; du kannst dich freuen, daß du nicht bei Fräulein Ipser zur Schule gehst,
dann hättest du mal was erleben sollen!
Was willst du denn?
Mamsell Terkelseu läßt fragen, ob ihr uns zum Tee mit eurer Gegenwart
beehrt?
Nein; sage ihr, sie soll die Wurstreste für den Provisor und den Lehrling
mit Zwiebeln feinhacken und sie auch auf ihr Butterbrot tun.
Mama, der Satz war wieder nicht ganz grammatisch!
Und du bist ungezogen! — Und dann sage ihr, sie soll auch den Tee von
heute Morgen noch einmal ausgießen, wenn der noch nicht weggeworfen ist.
Dieser Zusatz ist deiner würdig, Mama!
Helene stutzte, als sie mit Herzklopfen den Pfarrhof betrat — den ersten
dänischen Pfarrhof, den sie sehen sollte. Wo war der Kettenhund, der klaffende
Kettenhund? Wo war der Dunghaufen mit den Enten und den Gänsen, wo waren
die Hühner und die Kücken?
Der kleine Hofplatz war peinlich sauber; nicht ein Grashalm guckte zwischen
den Steinen hervor. Keine Katze schlich über den Hof. Das erst kürzlich um¬
gebaute Wohnhaus erinnerte am ehesten an eine Strandvilla. Eine prangende
Treibhausflora war hinter den großen Spiegelscheiben sichtbar, und eine elegante
Zementtreppe mit blitzendem Messinggeländer führte zum Haupteingang hinauf.
Frau Lönberg beobachtete Helenens erstaunten Gesichtsausdruck und sagte:
Ja, dies ist keine gewöhnliche Landpfarre!
Nein, die Ahnung dämmerte in Helene ans.
Man hörte keinen Laut, man sah keinen Menschen? kein Storchennest auf
dem Dache, keine Taubenschar im Sonnenschein. Sogar die Spatzen schienen ge¬
flohen zu sein; aber was sollten sie auch hier, wo es kein Körnchen zu picken gab?
Jetzt stand man vor der Haustür, an der eine elegante Messingplatte mit
dem Namen Hansen-Berg in Riesenbuchstaben angebracht war.
Frau Lönberg drückte leicht auf die elektrische Klingel.
Die Tür sprang auf, und ein galonierter Diener erschien. Er führte die
Herrschaften in das Entree, wo man ablegte. Mit einer gewissen Spannung sahen
der Apotheker und seine Frau, wie der Diener Helenen beim Ablegen behilflich
war. Sie trug eine silberne Nadel in dem reichen dunkeln Haar und hatte ein
blaues Kleid mit einer klaren Tüllbluse an.
Der Diener meldete die Angekommnen und öffnete dann die Tür zum Salon.
Hinein rauschte Frau Lönberg, gefolgt von Helene und dem trippelnden
Apotheker.
In dem ungewöhnlich eleganten Wohnzimmer saßen der Propst und seine
Frau, nach dem späten Mittagessen vegetierend.
Der Propst war ein schöner aber ziemlich wohlgenährter Mann; er richtete
sofort seine Augen mit sichtbarem Wohlbehagen auf Helene.
Jetzt trat Frau Lönberg vor und sagte mit einschmeichelnder Stimme: Unser
lieber Propst und seine Frau sollen die Ersten sein, in deren Haus wir unsre neue
Gouvernante, Fräulein Nörby, einführen.
Willkommen hier bei uns auf dem Lande, sagte der Propst mit einer Stimme,
die seinen jütischen Ursprung verriet, herzlich willkommen! Ich hoffe, Sie werden
sich hier Wohl fühlen, in einem so kultivierten Haus, wie das Lönbergsche, und
unter einer so liebenswürdigen Hausfrau, wie Frau Lönberg, ist das wohl selbst¬
verständlich.
Bei diesem laugen Willkommsgruß, der unnötig in die Länge gezogen wurde,
hielt er Helenens weiche Rechte zwischen seinen beiden Händen.
Die kleine hagere Pröpstin trat jetzt vor: sie war alles andre als schön —
eine große Warze auf der Wange beherrschte die strengen Züge. Aber sie hatte
Haltung und Air, und ein gewisser aristokratischer Accent machte sich in der
Stimme geltend, als sie sagte: Auch ich heiße Sie hier willkommen. Darf ich
Ihnen unsern Sohn Jacnues, den Gymnasiasten, vorstellen, er hat Ferien, da es
Morgen Bettag ist.
Ein bleicher junger Bursche trat einen Schritt vor, verneigte sich verlegen
und zog sich schleunigst hinter einen hochlehnigen Stuhl zurück, von wo aus er
verstohlne Blicke zu Helene hinübersandte.
In diesenr Augenblicke trat ein junges Mädchen ins Zimmer. Man würde
sofort gesagt haben, sie gleiche einem verkleideten Bauernmüdchen, und das war sie
auch in der Tat.
Es war nämlich die schon erwähnte Nielsine, eine Tochter vom Pächter Sörensen
aus Virreby, der sie zu dem Propst ins Haus gegeben hatte, damit sie, wie der
Vater sich ausdrückte, wirklich gebildet in ihrem Auftreten werden solle.
Die Pröpstin stellte sie vor.
Nielsine ging augenblicklich auf die Angekommnen zu und reichte ihnen
die Hand.
Helenen gefiel das junge Mädchen, in dem sie eine Leidensgefährtin sah,
gleich sehr.
Es trat eine Pause ein, in der Nielsine plötzlich anfing zu lachen, von Helene
leise begleitet.
Die fröhliche Jugend! sagte die Pröpstin entschuldigend.
Ach ja, allerdings! räumte die Apothekerin nachsichtig aber doch mit einem
Tone des Vorwurfs ein, indem sie Helene fixierte.
Kann ich dem Kopenhagenschen Franken nicht einmal den Garten zeigen? fragte
Nielsine mit stark jüdischen Accent.
Ist da etwas besondres zu sehen? fragte die Pröpstin, ich war in den letzten
Tagen gar nicht darin.
Ja, da ist viel zu sehen!
Dann zeigen Sie Fräulein Rörby nur die Sehenswürdigkeiten des Gartens.
Die beiden jungen Mädchen verschwanden lachend aus dem Zimmer, der Sohn
schlich langsam hinterdrein.
Man hatte jetzt Platz genommen, als der Propst fragte: Nun, wie geht es
denn jetzt mit dem Provisor?
Ach ja, er scheint sich ein wenig mehr Zwang anzutun, sagte Frau Lönberg.
Ja, ein wenig mehr Zw - Zw - Zwang! murmelte der Apotheker.
Es freut mich sehr, das zu hören, bemerkte die Pröpstin.
Ja, es ist betrüblich! deklamierte der Propst, daß eine so große musikalische
Begabung in einer so gebrechlichen Hülle verborgen sein muß — eine Cremoneser
in einem wurmstichigen Kasten! Er kann ja wirklich spielen, daß es einem durch
die Seele geht, ja, durch Mark und Bein! Aber es wird ihm schwer, seine
schlechten Instinkte zu zügeln — sehr betrüblich! Ich hoffe, es wird nicht Öl ins
Feuer sein, wenn er jetzt eine Schönheitsoffenbarung in nächster Nähe hat, die Wohl
imstande wäre, stärkere Gemüter in Brand zu setzen.
Was in aller Welt meinst du eigentlich, Jörgen? fragte die Pröpstin mit
schlecht verhehlter Empörung.
Ja, ich verstehe den Herrn Propst auch nicht ganz, sagte die Apothekerin in
höhnischem Tone.
Der Herr Propst meint natürlich — natürlich — erlaubte sich der Apotheker
zu erklären, blieb aber stecken, als er den Augen seiner Frau begegnete.
Wen, lieber Lönberg? fragte sie mit sanfter Wut.
Der arme Apotheker wurde der Beantwortung dieser heilet» Frage glücklicher¬
weise überhoben, da der Diener die Fräulein Naerum, Ipser und Ludvigsen meldete.
Die fast verschwindende Summe weiblicher Schönheit, die jetzt das Zimmer
in Gestalt der drei Damen umschloß, wirkte in hohem Maße beruhigend auf die
beiden Ehefrauen, die sich erhoben.
Die Herren zogen sich in das Studierzimmer zurück, wo sie sich die guten
Havannazigarren des Propstes schmecken ließen.
Helene lustwandelte währenddessen init Nielsine im Garten; ohne von ihnen
bemerkt zu werden, folgte ihnen der junge Lateinschüler, der sich unwiderstehlich
von Helene angezogen fühlte.
Jetzt will ich Ihnen was sagen, Fräulein Rörby, sagte Nielsine, als sie allein
waren, Vater hat mich bloß hierher ins Haus geschickt, weil er will, daß ich fein
werden soll, und das werde ich doch nie!
Sie sind allerliebst! sagte Helene, schlang die Arme um ihren Hals und küßte sie.
Der spähende Jacques machte einen langen Hals, als er diese zärtliche An¬
näherung der beiden jungen Mädchen sah.
Wollen wir uns nicht Du nennen, wenn es keiner hört, und nennen Sie mich
Nielsine, dann nenne ich Sie — ja, wie?
Helene!
Ja, das kann man Ihnen ansehen, daß Sie so heißen müssen!
Nun, Nielsine, dir geht es wohl ebenso wie mir: du bist bei Menschen, die
fein sein wollen!
Ja; ist es nicht grasig, daß sich Menschen so anstellen können? Und init
flüsternder Stimme und blitzenden Augen fügte sie hinzu: Ich bin ein Bauern¬
mädchen, und das Will ich auch bleiben! Ich will es Vater wohl sagen, wenn ich —
Hier hielt sie inne und wurde dunkelrot.
Nielsine, du brauchst doch keine Geheimnisse vor mir zu haben!
Helene, du sollst die erste sein, die etwas zu wissen kriegt, wenn erst was zu
erzählen ist, aber vorläufig —
Da hörten sie aus einer Lindenlaube, der sie sich näherten, laute Stimmen.
Sie erkannten sofort Fräulein Jpsens scharfes Organ, das immer klang, als
diktiere sie eine Aufgabe: Und ich sage Ihnen, Berta, Sie sprechen wie der Taube
von Tönen: Richard Wagner ist eine musikalische Mißgeburt; es ist ja auch ganz
bezeichnend, daß sein größter Bewunderer der verrückte König von Bayern war!
Nein, entgegnete Fräulein Naerum, darin irren Sie völlig, Adelaide. Sie
können Wagner nicht nach einer Aufführung hierzulande beurteilen. Sie müssen
ihn in Deutschland hören und sehen. Und ich sage Ihnen, er ist der einzige
Dichterkomponist, der existiert. Text und Töne sind bei ihm ein Ganzes — zwei
Flüsse, die sich zu demselben Delta vereinigen. Bei andern Komponisten ist das
Libretto ein trüber Quell, der die klaren Wellen der Musik verunreinigt.
Hier unterbrach Fräulein Ipser sie: Ach, da sehe ich ja meine neue Kollegin
wieder! Guten Tag, Fräulein Rörby! Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Fräulein
Berta Naerum und meine Schülerin, Fräulein Astrid Ludvigsen, vorstelle.
Fräulein Ipser, die für Unterhaltungen unter vier Augen schwärmte, ergriff
schnell Helenens Arm und führte sie in einen Seitengang, wo sie sie einem Kreuz¬
verhör unterzog, dessen Ergebnis darin bestand, daß sie später erklärte, sie fürchte,
Fräulein Rörby mangle jegliches Pädagogische Skelett, eine Äußerung, die schnell
die Runde durch die Gegend machte.
Nielsine war hineingelaufen, um den Teetisch zu besorgen.
Astrid und der Gymnasiast wanderten im Garten umher.
Nein, wie entzückend sie ist! sagte Astrid.
Nicht übel! räumte der angehende Musensohn ein, fügte aber mit Kennermiene
hinzu: Wir haben aber auch hübsche Mädchen in der Stadt!
Fräulein Naerum war währenddessen auf eine Bank in der Laube nieder¬
gesunken und rief halblaut: Nein, ist sie so schön — ist sie so wunderbar — denn
das findet er natürlich — er und alle Herren!
Sie verbarg einen Augenblick ihr Antlitz und war nahe daran, in Tränen
auszubrechen; dann sprang sie auf und flüsterte mit zitternder Stimme: Nein nein
nein — das soll nicht, das soll nicht geschehen!
Dann raffte sie sich auf und ging den Nußgang hinab mit Schritten wie
die Rächerin in einem Trauerspiel.
Es war jetzt um Sonnenuntergang, und die ganze Gesellschaft hatte sich all¬
mählich in den Gartenwegen versammelt.
Der Propst führte die Versammlung auf einen kleinen Hügel am Ende des
Gartens, wo man in ein Lusthaus mit bunten Fensterscheiben trat. Und nun be¬
stand das Vergnügen darin, daß man die verschiednen Farben betrachtete, die die
Umgebung durch die Scheiben annahm. Nach einer Weile erschien der Diener in
der Tür. Die Pröpstin fragte, ob der Tee serviert sei. Als sich der Diener be¬
jahend verneigte, kehrte man in das Zimmer zurück, wo der Tee getrunken wurde,
ganz wie bei Apothekers, auf kleinen Tischen serviert, mit dünnen Butterbroten und
kleinen Zwiebäcken.
Helene bemerkte nicht, daß aller Augen auf sie gerichtet waren; sie war in
ihre Gedanken versunken, die sich um diesen sonderbaren Pfarrhof drehten, als sie
plötzlich von ihrem Tee aufsah und Fräulein Naerums Augen begegnete, die einen
so bösen, fast gehässigen Ausdruck hatten, daß Helene ganz erschrocken den Blick
niederschlug; dasselbe tat Fräulein Naerum, die fühlte, daß sie sich vergalvppiert
hatte, weshalb sie mit ihrem freundlichsten Lächeln sagte: Sie müssen uns recht
bald besuchen, Fräulein Rörby!
Helene dankte zurückhaltend. Der Übergang war ihr wirklich zu kraß.
Ans einmal rief Fräulein Ipser: Wie denken Sie über Schulhygiene, Fräulein
Rörby?
Die Frage kam Helene so unerwartet, daß sie dunkelrot wurde.
Das ist eine sehr ernste Sache, die ich Sie genau zu überlegen -bitte, fuhr
Fräulein Ipser fort; ich rate Ihnen, jede Stunde fünf Minuten gymnastische
Übungen machen zu lassen und Sommer und Winter ein Fenster offen zu haben;
dies letzte ist unbedingt nötig in einem so beschränkten Lokal, wie es Ihnen sicher
nur zur Verfügung steht.
Helene hatte schnell ihre Fassung wiedergewonnen und entgegnete mit lächelndem
Gesicht: Das Lokal, worin ich die Kinder des Apothekers unterrichte, ist durchaus
nicht so klein, wie Sie zu glauben scheinen; im übrigen werde ich immer dankbar
für Ihre guten Ratschläge sein; in diesem Falle freilich habe ich gottlob keine Ver¬
wendung dafür, da ich selbstverständlich immer bei offnem Fenster unterrichte.
Es trat eine längere Pause ein, in der alle Helene verwundert ansahen, bis
endlich Nielsine losplatzte und schleunigst das Zimmer verließ.
Sogar Frau Lönberg mußte zugeben, daß sich Helene brillant aus der Ver¬
legenheit gezogen hatte.
Fräulein Ipser und Fräulein Naerum warfen sich aber Blicke zu, und was
Wagner nicht vermocht hatte, das brachte Helene fertig: die beiden schlössen in
diesem Augenblick stillschweigend ein Trutz- und Schutzbündnis gegen die schöne,
siegesgewisse Gouvernante.
Fräulein Ipser brach zuerst das Schweigen, indem sie den Propst fragte:
Aber stören wir Sie jetzt auch nicht? Sie müssen doch morgen predigen!
Ganz und gar nicht! Meine Predigt ist aufgeschrieben und memoriert.
Sie haben doch morgen den Hauptgottesdienst? fragte die Apothekerin.
Den Hauptgottesdienst! murmelte der Apotheker.
Der Propst nickte.
Ich lege großen Wert auf eine lange Predigt, bemerkte Fräulein Ipser, sie
zwingt uns, die Gedanken zu sammeln.
Die Hauptsache ist doch, daß zum Herzen gesprochen wird, erklärte Helene.
Zum Herzen! rief Fräulein Ipser, sittlich entrüstet. Nein, das ist ein un¬
zuverlässiger Barometer, der Verstand soll unser Seelenleben regulieren!
Die Pröpstin ließ ein Wort fallen, daß es sie interessieren würde zu hören,
wie weit Fräulein Ludvigsen es mit ihren musikalischen Studien gebracht habe.
Fräulein Ipser erklärte jedoch auf das bestimmteste, daß ihre Schülerin vor¬
läufig nur Fingergymnastik mache.
Jetzt fragte Fräulein Naerum den Propst, ob Doktor Holmsted kürzlich hier
gewesen sei, indem sie zugleich Helene beobachtete, und es entging ihr nicht, daß
Fräulein Rörby mit einem gewissen Interesse zu lauschen schien. Sollte sie ihn
schon getroffen haben?
Die Fräulein Ipser, Naerum und Astrid standen schon in Hut und Mantel
da, als Fräulein Ipser Helene plötzlich fragte: Haben Sie sich einen Pfarrhof so
vorgestellt?
Nein! entfuhr es Helene.
Gute Nacht und vielen Dank für den angenehmen Abend! sagte Fräulein Ipser
und ging triumphierend zur Tür hinaus, gefolgt von Fräulein Naerum und Astrid.
Obwohl die Pröpstin den Propst eindringlich bat, seinen Hals nicht der Abend¬
luft auszusetzen, wollte er absolut Helene begleiten, da er meinte, der Apotheker
habe genug an seiner Frau; Lönberg erklärte aber, daß wenn sich Fräulein Rörby
mit seiner Linken —
Die Apothekerin kniff ihn in den erwähnten Arm. Und ehe man sichs ver¬
sah, ergriff Nielsine Helenens Arni und sagte: Nun will ich Fräulein Rörby
hinüberbringen!
Als man sich der Apotheke näherte, sah man, wie gewöhnlich um diese Zeit
des Abends, nur beim Provisor Licht, wie man auch die Töne seines Klaviers
vernahm.
Nein, wie er spielt! sagte Nielsine. Gute Nacht, Herr Apptheker. gute Nacht,
Frau App — Frau Lönberg. gute Nacht, Fräulein Rörby — Helene, flüsterte sie
ihr ins Ohr und lief lachend zu dem Pfarrhof zurück.
Als man auf den dunkeln Boden hinaufgelangt war, sagte Frau Lönberg, die
im Dunkeln plötzlich ihren alten Mut wiedergewann: Gute Nacht, Fräulein
Rörby! — Und einen guten Rat will ich Ihnen noch geben: Besinnen Sie sich
erst, ehe Sie handeln und reden!
Damit verschwanden sie und ihr Gatte.
Und Helene ging auf ihr Zimmer.
Als sie gegangen waren, richtete sich eine Gestalt aus einem Winkel auf lind
verschwand in Großmutters Zimmer, nachdem sie mit dem Stock nach der Richtung
gedroht hatte, in der Frau Lönbergs Schlafzimmer lag.
Helene setzte sich in Hut und Mantel an das offne Fenster und sah hinaus:
die hellen Nächte waren nahe, der Himmel war klar und wolkenlos, nur einzelne
Sterne schimmerten matt, und der Mond stand im ersten Viertel. . . .
Wie sollte sie das Leben bei dieser kalten, steifen Frau aushalten? Und es
hatte ja kaum begonnen!
Dann schloß sie das Fenster und ging schnell zu Bett. Sie dachte an die
Mutter und die Schwester. Nun schliefen sie wohl. Und Katrine saß bei ihrer
kleinen Küchenlampe und stopfte Strümpfe und las das Feuilleton in der Abendpost.
Es war der Abend vor Bettag. Jetzt fiel ihr das erst ein. Da waren sie
immer mit den Eltern im Frederiksberger Garten gewesen, hatten die Schwäne
gefüttert und die Glocken der traulichen kleinen Kirche läuten hören. ... Ob die
Toten herniedersehen konnten? Sie dachte an den Vater. Er hatte die Mutter
am letzten Tage so sonderbar angesehen. ... Ja, um ihretwillen wollte sie leiden!
Dann schlief sie mit nassen Wangen ein.
(Fortsetzung folgt)
Unter den Betrachtungen, die die Presse aller Länder an
den Friedensschluß von Portsmouth knüpft, sind am bemerkenswertesten die einiger
Pariser Journale, die nichts eiligeres zu tun haben, als nach Petersburg mit einer
tiefen Verbeugung und ausgestreckter offner Hand zu versichern, „daß Rußland nun
wieder für Frankreich frei geworden sei." Das Telegramm des Kaisers Nikolaus an
den Präsidenten Loubet zur Beantwortung der französischen Beglückwünschung sieht
nicht danach aus, als ob man auf russischer Seite das „Freigewordensein für Frank¬
reich" zu den dringendsten russischen Friedensaufgaben zähle. Frankreich steht zu Eng¬
land, dem Verbündeten Japans, viel naher als zu Rußland, und je freundlicher sich die
Beziehungen Rußlands zu deu beiden andern Kaisermächten, seinen Nachbarn, ge¬
staltet haben, desto inhaltloser ist der Zweibund geworden, der für Rußland längst
kein Objekt mehr hat. Der Zweibnnd konnte eine Bedeutung nur haben als Zu¬
sammenfassung gemeinsanier Interessen gegenüber Deutschland und gegenüber Eng¬
land. Mit Frankreich gemeinsame Interessen gegenüber Deutschland hat Rußland
heute nicht mehr, und die antienglische Interessengemeinschaft ist von Frankreich
selbst aufgegeben worden, das es vorgezogen hat, sowohl für seine europäischen wie
für seine asiatischen Interessen unter den großen Mantel Englands zu schlüpfen.
Den Jdeengang der französischen Politik haben der Temps und andre Blätter jüngst
recht deutlich durch die Einladung an Japan, „das mit einem langen Löffel zu
speisen gewohnt sei," zu erkennen gegeben, indem sie es aufforderten, sein Augen-
merk zunächst „auf andre Brocken" als auf den ostnsiatischen Besitz Frankreichs zu
richten. Der Hoffnung, daß dieser durch England gedeckt sein werde, wurde dabei
offen Ausdruck gegeben.
„Andre Brocken" sind in Ostasien neben dem deutschen Kiautschou und den
Resten der russischen Machtstellung, der gegenüber sich die Japaner einstweilen
wohl die Zähne ausgebissen haben, nur noch die amerikanischen Philippinen. Was
Kiautschou anlangt, so ist an dieser Stelle schon einmal auseinandergesetzt worden,
weshalb Japan gar kein Interesse daran haben kann, sich dnrch eine Bedrohung
oder Wegnahme dieses deutschen Besitzes in dauernde tiefe Gegnerschaft zu Deutsch¬
land zu begeben. Der Hafen von Tsingtau, auch wenn er hoffentlich bald gegen
einen Handstreich genügend befestigt sein wird, ist für niemand eine Bedrohung;
wir wollen dort nicht einen beherrschenden Kriegshafen, kein Port Arthur, sondern
ein Hcmdelsemporium errichten, während Japan allerdings sofort einen starken
Kriegshafen daraus machen würde und machen müßte. Einstweilen neigen wir
zu der Annahme, daß auch den Japanern dort ein die Provinz Schenkung aus¬
schließendes deutsches Hcmdelsemporium viel wertvoller ist, als es ein japanischer
Kriegshafen sein könnte. Entwicklungen in alle Zukunft hinaus lassen sich nicht
voraussehen, aber wenn es Leute gibt, die dem „langen Löffel Japans" den
Brocken Kiautschou empfehlen, so mögen sie sich vorsehen, daß nicht sie selbst
die Zeche bezahlen. Alle diese Fragen laufen schließlich in einem einzigen Punkte
zusammen: bereit sein ist alles! Darum wollen wir still, aber unaufhaltsam und
unverdrossen Schiffe bauen und abermals Schiffe bauen, unsre Küsten in einen
unantastbaren Verteidigungszustand setzen und die Armee auf der Höhe ihrer
Aufgaben halten. Wir können das leisten, wir wollen und — wir müssen
es leisten.
In diesem Sinne ist auch die nunmehr gesicherte Verlegung eines Teils der
Vulkanwerft an die untere Elbe als der Ausgangspunkt einer neuen großen mari¬
timen Entwicklung zu begrüße», deren Fortsetzung die Herstellung des Vinnenkanals
von der Elbe zur Nordsee sein wird und sein muß. Hier liegen Aufgaben vor,
die der schaffenden Kraft Deutschlands ein großes und fruchtbares Feld der Be-
tätigung geben. Mit der verbessernden Umgestaltung unsrer Front vermehren wir
den Wert des Besitzes, der durch sie gedeckt wird. Für unsre Enkel liegt somit
kein Grund zu der Befürchtung vor, daß sie sich auf der Welt langweilen könnten,
weil von den Vätern schon alles getan sei. Im Gegenteil! Ihrer harrt noch ein
großes und aussichtsvvlles Stück Arbeit, sie werden nicht dem Rasten und somit
auch nicht dem Rösten verfallen. Nur der weite Blick für eine große Zukunft
muß immer allgemeiner und verbreiteter Besitz der Deutschen werden als er es
heute leider noch ist.
Dem Friedensschluß vorausgegangen ist das neue englisch-japanische Bündnis,
über dessen wirklichen Inhalt bis jetzt keine absolut zuverlässigen Angaben ver¬
öffentlicht sind. Ohne weiteres ist es doch nicht recht glaublich, daß Japan für
die Verteidigung Indiens und der englischen Interessen in Afghanistan und Persien
die Landarmee bereitstellt, denn die Interessen und die Absichten Japans können nicht
dauernd auf die Stabilisierung einer europäischen Hegemonie in Ostasien gerichtet
sein, von der es selbst mehr oder minder abhängig wäre. Existiert dennoch eine
solche Abmachung, deren Äquivalent für Japan Wohl in der englischen Unterstützung
seiner Festsetzung in China liegen dürfte, so hat Japan dabei jedenfalls volle Ge¬
legenheit, die Schwächen der englischen Stellung in Asien kennen zu lernen.
Immerhin hat sich England in Europa durch Frankreich, in Asien durch
Japan gedeckt und ist damit einstweilen abermals über das Problem der Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht in Großbritannien hinweggekommen. Wie steht es nnn
aber mit der englischen Stellung in Amerika, das heißt: mit Kanada? Denn
neben den durch das englisch-japanische Bündnis und den Friedensschluß zu Ports-
mouth herbeigeführten Veränderungen der Weltlage ist die Rede zu verzeichnen, die
Präsident Roosevelt am 11. August in Chantcmqua gehalten hat. Leicht sind darin
recht deutliche Schatten kommender Ereignisse zu erkennen. Die Rede behandelte
in ihrem ersten Teile das Lieblingsthema des Präsidenten: die Mouroelehre, die
tatsächlich durch Roosevelt eine neue weltumspannende Bedeutung erhalten hat. Un¬
vergessen bleibt wohl auch deu Japanern sein Ausspruch, daß die Monroedoktrin
bis an die asiatische Küste des Pacific reiche. Das englisch-japanische Bündnis ist
nach der amerikanischen Front hin vielleicht noch von größerer Bedeutung als nach der
russischen. Man könnte voraussetzen, daß da das Bündnis fast drei Wochen älter ist
als der russisch-japanische Friedensschluß, dieses nicht ohne Einfluß auf jenen ge¬
wesen ist. Merkwürdigerweise hat Japan aus dem Bündnis keine Rückenstärkung
für die Fortsetzung des Krieges entnommen. Im Gegenteil, der Abschluß ist von
England wohl erst erfolgt, nachdem man in London die Gewißheit hatte, daß Japan
zum Frieden kommen wolle, und England somit kein Risiko laufe, in die jetzige Ver¬
wicklung hineingezogen zu werden.
Bekanntlich ist es nicht Englands Einfluß gewesen, der Japan zu einer so weit¬
gehenden Nachgiebigkeit bestimmt hat, sondern die Lage auf dem Kriegsschauplatze.
Man darf mit Gewißheit annehmen, daß die Berichte des japanischen Hauptquartiers
ausschlaggebend gewesen sind. Ein nochmaliger Sieg über das wesentlich verstärkte
und in seiner Leistungsfähigkeit sichtbar gehobne russische Heer war auch um den
Preis sehr großer Opfer nicht wahrscheinlich, er würde an der Kriegslage außerdem
nicht viel geändert haben, da die Verluste die Ausnutzung des Sieges voraussichtlich
verhindert haben würden. Rußlands Position am Konferenztisch hätte mithin keine
Verschlechterung erfahren. Wohl aber war mit der Möglichkeit eines Mißerfolgs,
der Notwendigkeit eines Rückzugs zu rechnen, wodurch Japans Stellung beim
Friedensschlüsse wesentlich verschlechtert worden wäre. Die weise Mäßigung der
japanischen Politik hatte mithin sehr bestimmte Ursachen, aber es ist jedenfalls an¬
zuerkennen, daß sie es vorzog, lieber ihre weitgesteckten Forderungen fallen zu lassen,
als das wirklich Erreichbare durch ein Beharren auf dem Wünschenswerten zu ge¬
fährden. Japan, das sich bei der Kriegführung Deutschland zum Muster genommen
hatte, glaubte auch den Frieden nach deutschem Vorbilde schließen zu können. Aber
dazu fehlten alle Vorbedingungen. Die russische Armee war uicht zerschmettert, sie
stand nach zwei Niederlagen dem japanischen Heere stärker und bedrohlicher als zuvor
gegenüber. Die japanische Armee hatte den russischen Boden nicht betreten, er wäre
auch nach einem abermaligen Siege für sie unerreichbar geblieben. Die großen Erfolge
zur See waren neben der Einnahme von Port Arthur allein die Grundlage für
Japans Forderungen. Japan konnte sich weder Preußens Stellung vor Wien und
in Süddeutschland im Jahre 1866 noch die Deutschlands Vor Paris und an der
Loire im Januar 1871 zum Vorbilde dienen lassen. Es hat seine letzte Entschließung
»ur seiner eignen Einsicht und der Erkenntnis entnommen, daß seine militärische
Kraft an einer schwer zu überschreitenden Grenze angelangt sei. Englands Rat
ist dabei weder erbeten noch befolgt worden, im Gegenteil, man ist in London
durch die schnelle Nachgiebigkeit Japans ebenso überrascht worden, wie sie auch für
den Präsidenten Roosevelt eine Überraschung war.
Was nun dessen Rede vom 11. August anlangt, so erinnerte er von neuem
daran, daß das Hauptziel der Ausdehnung der Monroedoktrin darin zu suchen sei,
von der westlichen Hemisphäre große Militärmächte fernzuhalten, um auf diese Weise
die Vereinigten Staaten selbst zu schützen, den Schutz der andern amerikanischen Re¬
publiken bezwecke sie erst in zweiter Linie. Allerdings sei die Monroelehre kein
Bestandteil des internationalen Rechts, aber die stetig wachsende Macht der Vereinigten
Staaten habe ihr mehr und mehr Achtung verschafft. Drei Dinge aber, so erklärte
Roosevelt weiter, müßten die Vereinigten Staaten in, Auge haben, wenn sie weiterhin
an diesen Grundsätzen festhalten wollten: sie müßten klar machen, daß sie keine terri¬
toriale Vergrößerung auf Kosten der andern südlich von der Union liegenden
Republiken erstreben — Kanada ist also ausdrücklich ausgenommen, ebenso die
andern Besitzungen europäischer Mächte in Amerika —, sie dürften ferner nicht
erlauben, daß die andern amerikanischen Republiken hinter der Monroelehre Schutz
für ihre Missetaten fänden, und endlich müßten die Vereinigten Staaten, da sie
andern Ländern die Einmischung in amerikanische Verhältnisse nicht erlaubten, den
amerikanischen Schwesterrepubliken helfen, die nicht allein zu geordneten Verhält¬
nissen gelangen könnten. Bei der nähern Ausführung dieser Punkte bemerkte
Präsident Roosevelt, daß die amerikanische Regierung zwar der Ansicht sei, daß
Kontraktsfordernngen von Amerikanern gegen einen andern Staat nicht durch
Waffengewalt eingetrieben werden dürften. Dies sei aber nicht die Auffassung
aller Mächte, und die Vereinigten Staaten seien sicherlich nicht gewillt, einen Krieg
zu beginnen, weil eine fremde Macht eine solche gerechte Forderung gewaltsam
eintreiben wolle. Seines Erachtens aber sollten sich in allen solchen Fällen die
Vereinigten Staaten ins Mittel legen und versuchen, ein Arrangement zustande
zu bringen, das die Zahlung einer solchen gerechten (!) Forderung, soweit als
möglich, herbeiführe. Er wünsche nicht, daß irgendeine fremde Macht dauernd oder
zeitweilig die Zollhäuser einer amerikanischen Republik besetze, um sich bezahlt zu
machen, er wünsche vielmehr, daß dies, wenn nötig, immer nur durch die Ver¬
einigten Staaten geschehe.
In diesem Punkte geht Präsident Roosevelt jetzt entschieden weiter, als er
bisher in seinen Deutungen der Monroelehre gegangen ist; ohne Zweifel entspricht
er aber hierin der Stimmung des amerikanischen Volks, das ihm hierin in seiner
großen Mehrzahl beipflichten wird. In den Augen der Amerikaner hat Roosevelt
das auch sonst wohl unbestrittne Verdienst, die Monroelehre tief in die Über¬
zeugungen seiner Landsleute eingepflanzt und sie stetig weiter entwickelt zu haben.
Die Besprechung des dritten der vom Präsidenten als für die Monroelehre wichtig
bezeichneten Punkte führt nun ganz von selbst zur Santo-Domingofrage, da sich
dieser Staat, sei es nun freiwillig, sei es auf Grund eines zarten Winkes aus
Washington, mit der Bitte dorthin gewandt hat, die amerikanische Regierung möge
Ordnung in seine chaotischen Finanzverhältnisse bringen. Eine fremde Macht
(England), fügte Roosevelt hinzu, sei im Begriff gewesen, sich in die Verhältnisse
von Santo Domingo einzumischen, und sei nur durch die Versicherung der Ver¬
einigten Staaten, daß sie der Republik helfen würden, davon abgehalten worden.
Diese Hilfe hat nun eigentümliche Formen angenommen. Nach dem noch vom
Senat zu genehmigenden vorläufige» Vertrag erhalt die Regierung von Santo
Domingo nur 45 Prozent der Zolleinnahmen, 55 Prozent werden für die Gläubiger
in einer amerikanischen Bank niedergelegt. Dennoch erhält die Regierung von
Santo Domingo dabei mehr als sie früher aus den gesamten Zolleinnahmen be¬
zogen hat.
Der Präsident betonte, daß er alle Forderungen der amerikanischen und der
andern fremden Gläubiger einer genauen Prüfung unterziehn werde, damit
keine ungerechtfertigten Forderungen befriedigt würden. Er hat zu diesem Zweck
den Professor Hollander aus Baltimore zur Prüfung der Finanzlage von Santo
Domingo nach der Insel und dann nach Europa geschickt, und dieser soll kürzlich
in einem Interview erklärt haben, daß die bisher auf 32 Millionen Dollars an-
genommnen Schulden mit 10 Millionen abgezahlt werden könnten. Mehr be¬
trügen bei genauer Prüfung die gerechten fremden Forderungen nicht. An diesen
ist englisches Kapital nicht unbedeutend beteiligt, und ein Teil dieser Forderungen
ist schon durch Schiedsspruch festgestellt. Es ist bezeichnend und würde einen nicht
unbedenklichen Präzedenzfall bilden, wenn sich die Vereinigten Staaten auch die
Prüfung solcher Forderungen vorbehielten, über die schon durch Schiedsspruch ent¬
schieden ist. Jedenfalls ist das ganze Vorgehn in diesem Falle typisch, die Vereinigten
Staaten haben sich damit als eine oberste Instanz für alle Beziehungen der Einzel-
republiken der westlichen Hemisphäre zu Europa etabliert, und es erscheint nur noch
als eine Frage der Zeit und der Opportunist, wann die Union den Augenblick
gekommen erachtet, zu erklären, daß auch Kanada in die Einflußsphäre des Sternen¬
banners falle. Vielleicht wird man bis dahin noch erfahren, ob das englisch¬
japanische Bündnis nicht noch geheime Abmachungen wegen Amerikas enthält.
Einige Blätter regen sich darüber auf, daß Prinz Heinrich nach Flensburg
gereist ist, um dort den Besuch des englischen Admirals Wilson zu empfangen und
zu erwidern, und sehen darin eine Änderung der Haltung des Kaisers gegen¬
über dem Flottenbesuch. Tatsächlich ist Prinz Heinrich doch Chef der Ostseestation,
und Flensburg liegt, viel mehr als Swinemünde und Danzig, gleichsam vor den
Toren von Kiel in seinem Befehlsbereich. Es ist wohl eigentlich selbstverständlich,
daß der Chef der Ostseestation, wenn eine so starke fremde Flotte in einem nnter
ihn gestellten Hafen in der Nähe seines Dienstsitzes erscheint, die Meldung des
Admirals empfängt und seinen Besuch erwidert. Zudem ist Prinz Heinrich ebenso
wie der Kaiser Ehrenadmiral der britischen Flotte. Das Unterlassen einer Be¬
gegnung mit der Kanalflotte innerhalb seines Befehlsbereichs würde mithin eine
di
Unter Posaunen¬
stößen der Reklame hat ein Beamter des Kaiserlichen Statistischen Amtes, Regierungsrat
Rudolf Martin, ein Werk im Buchhandel erscheinen lassen, das seinem Titel „Die
Zukunft Rußlands und Japans" den Aufsehen erregenden Untertitel: „Soll
Deutschland die Zeche bezahlen?" und „Die deutschen Milliarden in Gefahr!" hin¬
zufügt, und dessen Inhalt dahin ausmündet, daß der Verfasser „aus nationalen und
sozialen Gründen öffentlich Einspruch erhebt gegen die Zulassung neuer russischer
Anleihen an deutschen Börsen." Wir wollen nicht erörtern, ob es geschmackvoll war,
daß Herr Martin seinem Buche eine reklmnehafte äußere Ausstattung verliehen, und
daß er zugelassen hat, daß sein Verleger in der Ankündigung des Werkes verkündet,
„es dürfte in der ganzen Welt das größte Aufsehen erregen, daß ein Mitglied des
Kaiserlichen Statistischen Amtes mit seinem Namen und nnter voller Verwendung
seines Amtstitels öffentlich gegen jede weitere russische Anleihe an deutschen Börsen
Einspruch erhoben hat." Aber wenn schon der Verfasser es für gut befunden hat,
sich mit besondern, Nachdruck als Beamter des Kaiserlichen Statistischen Amtes in
die Öffentlichkeit einzuführen, also mit dem wohlbegründeten wissenschaftlichen Ruf
dieser Behörde für sein Werk Propaganda zu machen sucht, dann wird er sich auch
nicht wundern dürfen, daß man das pomphafte Buch recht genau darauf prüft, ob
es den wissenschaftlichen Anforderungen, die man an ein Mitglied einer solchen
Behörde stellen muß, gerecht wird. Das Ergebnis einer solchen Prüfung ist freilich
ein andres, als der Verleger in dem Ankündigungsschreiben mitteilt: an „strenger
Wissenschaftlichkeit des Buches" können wir wenig finden! Schon das ungewöhnlich
starke Maß von Druckerschwärze, das zu der Hervorhebung der Schlagworte, namentlich
in dem letzten Abschnitt: „Deutschland am Scheidewege" aufgetragen ist, die ganze
äußere Ausstattung, die wuchtige Art des buchhändlerischen Vertriebs erinnern eher
an einen Sensationsroman als an eine wissenschaftliche Arbeit. Die Art der Beweis¬
führung entspricht keineswegs der bei wissenschaftlichen Büchern üblichen Art und
Gründlichkeit. Für viele Behauptungen bleibt der Verfasser den Beweis einfach
schuldig. Viele anekdotenhafte Einschaltungen und entbehrliche Exkurse, billige nach¬
trägliche Ratschläge, wie man vor hundert und mehr Jahren hätte handeln müssen,
eine sonderbare Auffassung des Charakters der französischen Revolution: „Die fran¬
zösische Revolution wird in der Weltgeschichte künftig bezeichnet werden als die kurze
Revolution oder die Revolution der kleinen Gegensätze," zeigen den wenig wissen¬
schaftlichen Charakter des Werkes. Von entscheidender Bedeutung für die Frage,
ob es sich um ein Werk von wissenschaftlichem Werte handelt, ist die Tatsache, daß
die Art der Beweisführung wissenschaftlichen Grundsätzen in keiner Weise entspricht.
Wer, wie der Verfasser, das Zeug in sich fühlt, die künftige Entwicklung eines großen
Staatswesens uicht etwa für wenig Jahre sondern auf hundert und hundertundfunfzig
Jahre vorherzusagen in Behauptungen, die dnrch ihre naive Kühnheit mindestens
überraschen, ein solcher Schriftsteller muß den Grund, auf dem er seine Schlüsse
aufbaut, besonders fest und sicher gestalten. Er darf vor allem den Boden der
beweisbaren Tatsachen nicht verlassen. In Wahrheit ist das tatsächliche Material,
auf das sich der Verfasser stützt, äußerst dürftig. Daß es zum großen Teil, oft
seitenlang ununterbrochen, zitierten Schriftstellern entstammt, soll dabei nicht bean¬
standet werden. Aber daß es durchaus nicht ausreicht, die weitgehenden phantastischen
Schlüsse des Verfassers zu stützen, kann nicht scharf genug hervorgehoben werden.
Die meisten und wichtigsten Schlußfolgerungen gründen sich überhaupt nicht auf
Tatsachen, sondern beruhen auf Schätzungen, unbewiesenen Behauptungen, Prophe¬
zeiungen, die dann einfach als Tatsachen behandelt werden.
Durch die ganze Schrift läßt sich verfolgen, wie dem Verfasser das, was er
zunächst als Ergebnis seiner subjektiven Auffassung meist ohne ausreichende Anhalte¬
punkte und mit vielfachen Widersprüchen vorgebracht hat, bald als objektive Tat¬
sache erscheint, und wie er im weitern Verlaufe der Arbeit ohne Bedenken die so
gewonnenen Tatsachen als wirklich vorhanden annimmt. In diesem Durcheinander
von Behauptungen und Tatsachen, von Wirklichkeit und Phantasie liegt eine Ver¬
nachlässigung der elementarsten Grundsätze wissenschaftlicher Arbeiten. Nachstehend
einige Zitate aus dem Buche, die genügen werden für die Behauptung, daß es
des wissenschaftlichen Charakters entbehrt. Deutschland hat nach Seite 224 „alle
Ursache, mit der Modernisierung Japans zufrieden zu sein." Diese Behauptung
wird mit der Voraussage begründet: „Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Aus¬
fuhr nach Japan sich in zwanzig Jahren mindestens verdoppelt, wenn nicht ver¬
dreifacht haben." Worauf sich die Erwartung dieses zahlenmäßigen Verhältnisses
stützt, ist nicht dargetan. Gerade von einem Beamten des Statistischen Amtes hätte
mau in einer wissenschaftlichen Arbeit die Angabe der Stützpunkte für diese Auf¬
fassung erwarten dürfen. Auf Seite 128 stellt der Verfasser die durch Sperrdruck
besonders kenntlich gemachte Behauptung auf, „der nächste Krieg mit Deutschland
würde den Franzosen 30 Milliarden Franken kosten und dann die französische
Staatsschuld auf 60 Milliarden erhöhen." Warum ein solcher Krieg den Franzosen
gerade 30 Milliarden kosten würde, ist nicht erläutert. Damit, daß, wie der
Verfasser angibt, der vorige Krieg den Franzosen 10 Milliarden Franken gekostet
hat, ist nicht erwiesen, daß sich die Kosten beim nächsten Kriege verdreifachen müssen.
Die Multiplikation mit drei erfreut sich bei dem Verfasser auch sonst einer gewissen
Beliebtheit. So hätte Rußland die Landung einer japanischen Armee in Korea
verhindern können, wenn es anstatt sieben Linienschiffe die dreifache Zahl gehabt
hätte (Seite 12). „Trotz einer dreifachen Seeüberlegenheit würde eine doppelte
oder dreifache Stärke der russischen Landarmee" nötig gewesen sein (Seite 12).
Auch für den künftigen neuen Krieg zwischen Rußland und Japan muß Rußland
„mehr als die dreifache Anzahl von Kriegern ins Feld stellen" (Seite 6). Für alle
diese zahlenmäßigen Angaben über Vorgänge, die in der Zukunft, wenn nicht nur
in der Phantasie des Verfassers, liegen, läßt die Schrift ausreichende Anhaltepunkte
und auch nur Andeutungen darüber, worauf sie sich stützen, vermissen. Daß der
Verfasser einen neuen russisch-japanischen Krieg erwartet, ist schon erwähnt worden.
Über den Zeitpunkt seines Eintretens werden abweichende Angaben gemacht. Nach
Seite 111 würden die Japaner schwerlich „vor einer Erholungszeit von etwa fünf
Jahren den ernstlichen Versuch machen, den Baikalsee zu umgehen." „Schon in
fünf bis zehn Jahren dürften sie soweit sein, um den Feldzug auf dem russischen
Ufer des Baikalsees fortzusetzen. Nach Seite 7 dagegen scheint der Krieg erst
„zwanzig bis dreißig Jahre nach seinem Friedensschluß eine neue verbesserte Auf¬
lage erleben" zu sollen, und nach Seite 30 „können für die russischen Machthaber
zwingende Gründe vorliegen, schon in zehn bis dreißig Jahren einen Revanchekrieg
einzuleiten." Dieser neue Krieg kann nach Ansicht des Verfassers für Rußland
nur mit einer Niederlage enden. Ebenso sicher wie diese Niederlage ist dem Ver-
fasser die Zurückdrängung der Russen aus dem größten Teile Sibiriens. Auf
Seite 26 scheint der Verfasser noch einige Zweifel über solche Behauptungen zu
hegen, denn an dieser Stelle ist die Prophezeiung noch in die vorsichtige Form
gekleidet: „Weitere Kämpfe in kommenden Jahrzehnten dürften die Russen immer
weiter nach Westen zurückdrängen." Auf Seite 241 weiß der Verfasser aber schou
ganz bestimmt auf einer durch Sperrdruck hervorgehobnen Stelle zu erklären: „In
fünfzig Jahren schon wird Rußland den größten Teil Sibiriens an die gelbe Rasse
verloren haben." So und ähnlich ist mit dem Fortschreiten der Arbeit die Phantasie
des Verfassers fortgeschritten; die Möglichkeit wird zur Wirklichkeit, das Futurum
zum Präsens.
Daß die japanischen Finanzen und die Wohlstandsverhältuisse von dem Verfasser
günstig beurteilt werden, entspricht seiner Grundauffassung. Ob aus dieser Auf¬
fassung aber der Schluß abgeleitet werden kann, daß „aller Voraussicht nach" auch
in Zukunft die japanischen Anleihen „regelmäßig höher stehn" werden als die
russischen (S. 227), daß der Nationalreichtum der 45 Millionen Japaner „in wenig
Jahrzehnten vielleicht das Nationalvermögen der 142 Millionen Russen erreichen"
wird, sowie daß den Japanern das Geld zur Zivilisierung Koreas und der Mand¬
schurei „haufenweise" zuströmen wird (S. 128), erscheint immerhin fraglich. Jeden¬
falls ist der Verfasser für diese Behauptungen den Beweis schuldig geblieben. Bei
ihm ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Daß die erste russische Volks¬
vertretung die „Trägerin arger politischer und sozialer Kämpfe" werden wird
(S. 198), daß ein russisches Parlament „stets, besonders aber in dem nächsten
halben Jahrhundert ein wahrer Born revolutionärer Gefahr" sein wird (S. 200),
und daß „die beginnende russische Revolution auch in dreißig bis vierzig Jahren
noch nicht völlig beendigt" sein wird, ist dem Verfasser unumstößliche Wahrheit.
Hierfür, ebenso wie für seine Behauptung, daß die revolutionäre Bewegung in
Rußland „an Dauer und Stärke die französische Revolution weit überragen" wird,
bleibt der Verfasser jeden Schein eines Beweises schuldig. Als Mitglied des
Kaiserlichen Statistischen Amtes, als das er berufen ist, das wissenschaftliche Ansehen
dieser Behörde mit zu wahren, scheint der Verfasser Beweise für seine Behauptungen
überhaupt nicht für nötig zu halten. Es genügt ihm, daß er die Behauptung
aufstellt, und die „urteilslose Masse" (S. 136) hats dem Herrn Regierungsrat zu
glauben!
Mit den düstern Prophezeiungen über Rußlands Zukunft steht freilich die
Darlegung auf Seite 184 nicht ganz im Einklang, wonach die „gewaltige Aus¬
dehnung der Ländermassen" ein starkes Gegengewicht gegenüber der Revolution
sein wird, wonach weiter sich bei der ländlichen Bevölkerung die „Gleichgiltigkeit
gegen die Revolution in noch stärkeren Maße in Rußland geltend machen" wird
als in Frankreich, und wonach der Zar „schon als Oberhaupt der Kirche" bei allen
„Wechselfällen der großen russischen Revolution bei Millionen Bauern Anerkennung
und Unterstützung finden" wird (S. 186).
Ein Hauptpunkt, auf den der Verfasser seine Prophezeiungen stützt, ist die
Lage und die Entwicklung der russischen Landwirtschaft. Die Lage der russischen Land¬
wirtschaft ist „hoffnungslos." Dem Verfasser ist es nach Seite 78 zweifellos, daß
mit der Mißernte von 1905 eine „wiedereröffnete Reihe der Mißernten" begonnen
hat. Er sieht voraus (Seite 48), daß die innern Getreidepreise in den nächsten
Jahren in Rußland sinken werden, es ist ihm sicher (Seite 56), daß die russische
Landwirtschaft „die doppelte — warum der Verfasser hier seine Lieblingszahl
»dreifach« nicht anwendet, ist nicht klar — Zeit wie die deutsche brauchen" wird
für den Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft, es erscheint ihm (Seite 57) „aus¬
geschlossen, daß die russische Landwirtschaft, die heute den vier- bis fünffachen Ertrag
der Aussaat bringt, vor hundert Jahren den zwölffachen Ertrag hervorbringen wird,
den die Fruchtbarkeit des russischen Bodens an sich ermöglicht." Der Verfasser
weiß ganz genau: „erst in fünfzig bis hundert Jahren wird der russische Bauer
wesentlich gebildeter, arbeitslustiger sein als heute. Erst in hundert bis hundert-
fünfzig Jahren wird er sein lebendes und totes Inventar auf eine Stufe gebracht
haben, die ihm eine intensive Wirtschaft annähernd wie die heutige deutsche erlaubt.
Das Kapital, das zur Erreichung einer solchen Intensität nötig ist, „schätzt" der
Verfasser (Seite 57) auf „hundert Milliarden Mark" und rechnet (Seite 59), also
nur zwei Seiten später, schon mit diesem also geschätzten Betrage als mit einer
Tatsache. Auf Grund solcher und ähnlicher unbewiesener Annahmen wird die
Hoffnungslosigkeit der russischen Landwirtschaft dargetan. Wiederholt vergleicht der
Verfasser die russischen agrarischen Zustände mit denen vor der französischen Revolution.
Ohne irgendwelchen Anhaltepunkt für seine Behauptungen darzubringen, wird auf
Seite 87 die Tatsache verkündet: „Der Russe handelt kaum halbmal so schnell wie der
Franzose." Bezüglich der agrarischen Zustände im heutigen Rußland findet der Ver¬
fasser eine erschreckende Ähnlichkeit mit denen Frankreichs vor der großen Revolution
(Seite 149). Sie erscheint ihm so groß, daß er ausspricht, die heutigen agrarischen
Zustände seien „nur eine Photographie der französischen am Vorabende der großen
Revolution." Die Behauptung des Verfassers, daß der Durchschnittsertrag pro Hektar
Land damals in Frankreich besser gewesen wäre als jetzt in Rußland, daß der russische
Bauer von heute frei, der damalige französische aber stark mit Fronten belastet ge¬
wesen sei, daß die Rückständigkeit der Landwirtschaft in Frankreich nicht annähernd so
groß gewesen sei als die der jetzigen russischen, daß die ländliche Bevölkerung des
revolutionären Frankreichs einem stärkern Steuerdruck unterlege» habe als die heutige
russische, daß den russischen Bauern die Erbitterung der französischen gegenüber den
Privilegierten fehle, daß die Notwendigkeit zum Übergang der Frnchtwechselwirtschaft
in Rußland viel größer sei als damals in Frankreich usw., alle diese und ähnliche
Behauptungen des Verfassers machen es dem Leser schwer, die von ihm behauptete
photographische Ähnlichkeit herauszufinden. Auch das schlechteste Bild eines Amateur¬
photographen muß größere Ähnlichkeiten aufweisen, wenn es einigermaßen befriedigen
soll. Nach Seite 179 weiß der Verfasser ganz genau, daß „im Jahre 1915 der
eherne Finger der Hungersnot einer ländlichen Bevölkerung von mehr als hundert-
dreißig Millionen Köpfen an die Tore des russischen Weltreichs klopfen" wird.
Also genau im Jahre 1915! Mit derselben Sicherheit wird Seite 101 verkündet:
„Rußland bleibt für die nächsten Jahrhunderte ein Agrarstaat." Trotzdem wird
wenig Zeilen vorher davon gesprochen, daß die russische Industrie „in den letzten
dreißig Jahren Erstaunliches erreicht" habe, und Seite 139 wird betont, daß „seit
dem Jahre 1881 die Industrialisierung erhebliche Fortschritte" gemacht habe.
Mit zahlreichen beweislosen Annahmen werden die russischen Finanzverhältnisse
behandelt. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit des Verfassers allgemeine
Voraussetzung, daß das russische Nationalvermögen nicht höher als etwa 120 Mil¬
liarden Mark zu schätzen sei (S. 126), und daß eine nennenswerte Steigerung der
Staatseinnahmen nicht zu erwarten sei (S. 113 f.) der Wirklichkeit entspricht; hier
interessiert nur die völlig unwissenschaftliche Art der Beweisführung. Die jetzige
russische Staatsschuld berechnet der Verfasser auf 16^ Milliarden Mark. Nach
dem Friedensschluß „dürfte" die Staatsschuld auf 20 Millionen Mark anschwellen
(S. 147). „Nach meiner Schätzung, führt der Verfasser Seite 68 aus, wird Ru߬
land innerhalb von fünf Jahren mindestens 9 Milliarden Mark (11 Milliarden Franken)
aufnehmen," in den nächsten zehn Jahren werde es 19 Milliarden Franken auf¬
nehmen müssen (S. 127). In fünf bis sechs Jahren nach dem Friedensschluß
„dürfte" also die gesamte Staatsschuld auf 25 Milliarden Mark wachsen. In
zehn Jahren „wird" Nußland 30 Milliarden Mark zu verzinsen haben (S. 147).
In zwanzig Jahren „müssen" allein für den Schuldendienst 25 Milliarden Mark
aufgenommen werden, und in etwa dreißig Jahren werde die Schuld auf etwa
50 Milliarden Mark anschwellen (S. 3). Dabei ist zu beachten, daß die Grund¬
lage dieser Angaben eine Schätzung ist (S. 68), und daß die auf die Schätzung
gegründeten Berechnungen von der gänzlichen Unmöglichkeit, die Zinsen im Lande
aufzubringen, ausgehn. Die Gründe für diese Unmöglichkeit sind die schon er¬
wähnten Phantasien über die Hoffnungslosigkeit der russischen Landwirtschaft, über
die Undeukbarkeit einer bedeutenden russischen Exportindustrie und über den Mangel
einer Steigerungsfähigkeit der russischen Staatsfinanzen. Die Ziusenlast der nach
zehn Jahren vorhandnen Schuld berechnet der Verfasser, der selbstverständlich auch
über deu künftigen Zinsfuß schon jetzt genauestens unterrichtet ist, auf 50 Prozent
der jetzigen russischen Nettoeinnahmen. Die etwas merkwürdige Beweisführung
ist folgende: Seite 81: „Die französische Staatsschuld stieg von 12 Milliarden
Franken vor Ausbruch des Krieges im Jahre 1870 auf 31^ Milliarden Franken
im Jahre 1887. Warum soll die Staatsschuld des weniger reichen Rußlands, die
14^/g Milliarden Mark vor Ausbruch des Krieges betrug, in zwanzig Jahren
nicht auf 40 Milliarden Mark mit einer Verzinsung von 2 Milliarden Mark an¬
schwellen?" Diese Beweisführung erscheint dem Verfasser so schlagend, daß er sie
gesperrt hat drucken lassen. Das Seitenstück dazu findet sich Seite 130. Hier
wird nach dem Hinweis auf die französische Staatsschuld von 1870 bis 1887
und auf den jetzigen Bestand der russischen Staatsschuld die Frage gestellt: „Ist
es so ganz unwahrscheinlich, daß sie sich in fünfunddreißig Jahren bis auf das
zweieinhalbfache, also 50 Milliarden Franken, erhöht haben wird?" Aus alleu
diesen Schätzungen und Mutmaßungen Werden bei dem Verfasser schließlich Tat¬
sachen. Seite 239 führt er aus: „Kommt der Friede bald, so werden die
russischen Staatsschulden fünf Jahre später, wie oben nachgewiesen worden ist,
25 Milliarden Mark ausmachen!" Auf Seite 81 wird erklärt: „Angesichts der
Tatsache, daß fünf Jahre nach Friedensschluß die Zinsen der russischen Staatsschuld
ca. 41 Prozent der Einnahme nach Abzug der Betriebsausgaben der Staats¬
regalien ausmachen, ist nicht anzunehmen usw." Zwei Zeilen weiter unten heißt
es: „Ganz ausgeschlossen erscheint, daß Rußland in zehn Jahren noch Darlehen
auftreiben kann, wenn seine Zinsschulden mindestens 50 Prozent seiner Nettoein¬
nahmen ausmachen." Auf Seite 60 wird schon ganz bestimmt erklärt: „So werden
die russischen Staatsschulden in den nächsten zwanzig Jahren sich verdoppeln."
Daß der Verfasser auch über die künftige Entwicklung des Zinsfußes schon
jetzt sichre Kenntnis hat, wurde schon erwähnt. Er erklärt denn nicht nur Seite 243
allgemein: „In den kommenden zehn Jahren wird der durchschnittliche Zinsfuß der
russischen Anleihen steigen!" sondern er erwartet auch Seite 3 „zum Teil" eine
Verzinsung von 4^ und 5 Prozent und behauptet weiter (S. 249): „Eine fünf-
prozentige Verzinsung unter Ausgabekurs von 80, also eine wirkliche Verzinsung
von mehr als 6 Prozent, dürfte sehr bald die übliche Form werden!" Hiernach
kann es nicht überraschen, wenn Seite 243 ganz Präzise erklärt wird: „Die Masse
der zu zahlenden Zinsen wird . . . auf 1,2 Milliarden Mark im Jahre 1910 an¬
schwellen."
Nicht nur über die Entwicklung der russischen Staatsschuld und ihrer Ver¬
zinsung, sondern auch über den Anteil des Auslandes an dieser Schuld weiß der
Verfasser schon jetzt genau Bescheid. Die Sache ist nach seiner Methode äußerst
einfach. Nach Seite 167 hat Rußland von 20^ Milliarden Franken Staats¬
schulden 13 Milliarden Franken im Ausland untergebracht. Da nach der Schätzung
des Verfassers innerhalb von fünf Jahren noch 11 Milliarden Franken aufzunehmen
sind, „so dürften davon mindestens 8 Milliarden Franken auf das Ausland ent¬
fallen." Die ausländische Staatsschuld Rußlands würde sich danach auf 21 Milliarden
Franken erhöhen (S. 68). Dementsprechend finden wir auf Seite 242, daß „in
fünf Jahren vielleicht 21 Milliarden Franken, in fünfzehn Jahren vielleicht
35 Milliarden Franken" im Ausland untergebracht sein werden, und „sobald die
russische Staatsschuld bei 25 Milliarden Franken angekommen ist, dürften drei Viertel
der Staatsschulden im Ausland untergebracht sein" (S. 135). Das hält der Ver¬
fasser offenbar für durchaus schlüssig, er benutzt es, um die Unabweisbarkeit des
russischen Staatsbankrotts zu beweisen.
Mit dem Zeitpunkt dieses Ereignisses beschäftigt sich der Verfasser mehrfach.
Auf Seite 132 begnügt er sich noch mit dem nach Form und Inhalt gleich merk¬
würdigen Satze: „Der Zeitpunkt des Eintritts des russischen Staatsbankrotts kann
früher oder später erfolgen." Schon in den ersten Reihen der nächsten Seite er¬
scheint es dem Verfasser „leichter an das Eintreten eines Wunders zu glauben als
daran, daß der russische Staatsbankrott noch zwanzig Jahre auf sich warten läßt."
Auf Seite 241 hat sich aber der Verfasser schon zu der Erkenntnis durchgerungen:
„Inmitten der fortschreitenden Revolution wird vielleicht schon in fünf, spätestens
in fünfzehn Jahren der russische Staatsbankrott erklärt werden." Der Satz ist
wegen der großen Bedeutung, die ihm der Verfasser augenscheinlich beilegt, gesperrt
gedruckt. spätestens in fünfzehn Jahren also! Über die segensreichen Wirkungen
dieses Ereignisses für Rußland findet sich auf Seite 245 und 246 eine phantasie¬
volle Schilderung.
Soweit das Tatsachenmaterial aus dem Buche, das mit Leichtigkeit vermehrt
werden könnte. Wie angesichts solchen Stoffes eine der ersten Berliner Verlags¬
buchhandlungen (Karl Heymanns Verlag) in ihrem Ankündigungsschreiben dem
Buche den Stempel der „strengen Wissenschaftlichkeit" aufdrücken kann, ist uns rein
unbegreiflich. Ebenso unbegreiflich ist es, wie in demselben Schreiben das Buch
als „russenfreundlich" bezeichnet werden kann. Wer meine Bekannten öffentlich
warnt, mir fernerhin Kredit zu geben, kann wahrlich nicht mein Freund genannt
werden! Wenn das Martinsche Druckwerk das Prädikat eines streng wissenschaft¬
lichen Buches verdient, wie es ihm der Verleger nachrühmt, dann ist es wahrlich
schlecht bestellt um die sonst mit Recht in der ganzen Welt anerkannte deutsche
Gründlichkeit und Wissenschaftlichkeit!
In Familienpapieren finde ich eine Mitteilung von Berthold
Niebuhrs Hand, die er für seine Schwägerin Dore Henseler aufgezeichnet hat. Sie
lautet wie folgt: „In Weimar besteht eine, vermuthlich stark mit Ausländern ge¬
mischte belletristische Societät, deren Koryphäe der berüchtigte Wilh. Döring ist.*)
Lebhaft interessiert darin ist auch Goethes Schwiegertochter, welche in ärgerlichen
Verhältnissen mit dortigen Engländern lebt. Man macht da Verse, und aus¬
ländische. Die Schwiegertochter ist den alten Dichter angegangen, er solle doch
auch beisteuern; da hat er folgendes geschrieben was schwerlich gedruckt wird und
so vortrefflich ist, daß ich es dir abschreibe":
Niebuhr hat diese in mündlicher Überlieferung umlaufenden Epigramme von
seinem Freunde und Verleger Friedrich Berthes erhalten. Er schreibt an ihn mit
Bezug darauf aus Bonn vom 17. Dezember 1830*): „Die Goethiana erfolgen
hierbei zurück, mit herzlichem Dank. Schönborns Brief ist ein erklärender Beleg
dafür, daß er (?) aus der Litteratur verschwinden mußte." Er fährt dann fort:
»Das beiliegende Paket für Goethe haben Sie die Freundschaft abzusenden, wenn
die irdische Unsterblichkeit des ewigen Jünglings nicht inzwischen durch einen neuen
Zufall widerlegt ist. Mir wäre es viel werth, wenn er lebte, auch nur noch
einzelnes zu lesen.""
Beziehen sich die Worte, „daß er aus der Litteratur verschwinden muß, nicht
auf Schönborn, sondern auf die obigen Epigramme Goethes, so ist dies nicht in
Erfüllung gegangen. Eduard Boas hat sie in seinen Nachträgen zu Goethes sämt¬
lichen Werken (Leipzig 1846, 1. Teil, S. 27) mit der Überschrift: „Babylonische
Sprachverwirrung" (Epigramme aus Weimar 1830) in andrer Anordnung, fast
wörtlich übereinstimmend mit Niebuhrs Text, abdrucken lassen. Er beginnt mit 1,
es folgt 3, 4, den Schluß bildet 2. Abgesehen von der Interpunktion Niebuhrs
sind die wichtigsten Abweichungen in 3, nämlich:
sodann in 4:
In den Begleitbemerkungen erzählt Boas, daß Ottilie von Goethe 1830
eine intime Zeitschrift begründet habe, für die jeder der Empfänger, ohne seinen
Namen zu nennen, zugleich Mitarbeiter sein mußte, wenn sie im Kreise der Ein¬
geweihten umging. Diese Zeitschrift wurde „Das Chaos" benannt. „Damals
herrschte in Weimar die widerwärtige Mode, in Gesellschaften drei bis vier fremde
Sprachen zu reden, und dies verdroß unseren Goethe; denn zürnte er auch zuweilen
auf die Muttersprache, so liebte er sie doch."
Wie unerfreulich die Trübungen waren, die in die Herbsttage des „ewigen
Jünglings" fielen, darüber gibt Theodor von Bernhardt (Unter Nikolaus I. und
Friedrich Wilhelm IV. Briefe und Tagebuchblätter aus den Jahren 1834 bis
1857. Leipzig 1893, S. 91) auch aus mündlichen Berichten Auskunft. Der
Archivar Kräuter, der ältere Bruder von Goethes ehemaligem Sekretär, „klatscht"
mit der üblichen interessierten Menschenfreundlichkeit von August Goethe, der sich
ganz „kaput" gelebt habe. „Der junge Mann hatte zu viel Phantasie, der konnte
nicht mit einer Frau leben!" Auch Ottilie, die Schwiegertocher, habe zu viel
Phantasie gehabt. „Courmacher konnte sie nicht entbehren, und mitunter konnte
man bemerken, daß irgend ein interessanter Fremder noch wohl mehr als bloßer
Courmacher war. Aber der Mann bemerkte das nicht, oder wollte es nicht be¬
merken; er ging seine Wege und sie ging die ihrigen."
Boas erwähnt Zweifel an der Echtheit dieser Epigramme. In die Weimarer
Ausgabe sind sie, so viel ich habe ermitteln können, bisher nicht aufgenommen
worden, vielleicht, weil sie den Herausgebern für apokryph galten. Allerdings steht
der Nachtragsband der Gedichte (la, 2) noch aus. Wie dem auch sei, Goethes
Art haben die Verse, und die Gewährsmänner Berthes und Niebuhr dürfen als
Da die Rückfahrkarten vor
einigen Jahren die Giltigkeitsdauer erhalten haben, die den Fahrscheinheften (bei
Zurücklegung von 600 bis 2000 Kilometern) zukam, so ist man geneigt anzunehmen,
daß beide gleiche Preise haben; zwar gewähren die Fahrscheinhefte kein Freigepäck,
sie bieten aber gleichsam als Ersatz die Annehmlichkeit, daß man die Fahrt beliebig
oft unterbrechen kann. Schlägt man die Gewährung von Freigepäck höher an,
als die Möglichkeit öfterer Fahrtunterbrechung, so könnte man meinen, daß die
Fahrscheinhefte billiger sein müßten als die Rückfahrkarten. Wie ist es nun in
der Wirklichkeit? In gewissen Fällen ist der Preis annähernd gleich, zum Beispiel
kostet Frankfurt-Basel-Frankfurt als Rückfahrkarte (zweiter Klasse) 34,70 Mark, als
Fahrscheinheft 34,20 Mark, in andern ganz gleich, zum Beispiel kostet Köln-
Frankfurt-Köln als Rückfahrkarte und als Fahrscheinheft 21 Mark. In andern
Fällen aber findet sich ein Unterschied in den Preisen, der dem Verstände gewöhn¬
licher Menschen unfaßbar ist. Wer zum Beispiel von Torgau nach Frankfurt a. M.
und zurück fahren will, stellt sich, wenn er unerfahren ist, ein Fahrscheinheft (dritter
Klasse) in folgender Weise zusammen:
also für beide Strecken 45,80 Mark.
Wenn er erfahrner ist, nimmt er seinen Weg über Thüringen mit folgendem
Fahrscheinhefte:
und zahlt in diesem Falle nur 43,20 Mark. Wenn er in die Geheimnisse der
Fahrpreise tiefer eingedrungen ist, kauft er sich eine Rückfahrkarte Torgau-Frank¬
furt-Torgau für 41 Mark, zahlt also 4,80 oder 2,20 Mark weniger, und als
Belohnung für seine Kenntnisse läßt ihn die Eisenbahnverwaltung alle Wege be¬
nutzen und befördert ihm noch 25 Kilogramm Gepäck frei. Allerdings darf er jetzt
die Fahrt nur je einmal unterbrechen. (Weshalb die Beförderung Torgau-Halle-
Torgau auf der Rückfahrkarte 7,10, in einem Fahrscheinhefte aber 7,60 Mark
kostet, ist ganz unerklärlich, da auf dieser Strecke wohl kaum jemand die Fahrt
öfter als einmal unterbricht.)
Vor einigen Jahren wollte ich (von Torgau aus) nach München und zurück
fahren, und zwar über Jena, und hier die Fahrt unterbrechen. Hier erwies sich
das Fahrscheinheft billiger als die Rückfahrkarte (58 gegen 60,80 Mary, da ich
aber gern einen Koffer frei nach Jena und zurück befördert haben wollte, gestaltete
ich meinen Fahrtausweis also:
nun Fahrscheinheft, und zwar:
also für beide Strecken 41,80 Mark, die ganze Fahrt Torgau-Jena-München kostete
mithin 56,40 Mark. Die Bahnverwaltung gewährte mir also eine Belohnung
von 1,60 Mark dafür, daß ich vor jeder Reise mir erst überlege, wie ich mit
Benutzung der von der Bahnverwaltung selbst gebotnen Vorteile am billigsten fahre,
und beförderte mir auch meinen Koffer frei, wie ich es gewünscht hatte. Wie viel
solcher Wunderbarlichkeiten mag es im Bereich der deutschen Eisenbahnen wohl
geben, oder sind es keine Wunderbarlichkeiten, und liegt ein tiefrer Sinn zugrunde?
W
>^s ging kürzlich durch die Zeitungen die Notiz, daß die britische
Regierung eine Verständigung mit der Presse wegen Veröffent¬
lichung von Nachrichten in Kriegszeiten herbeizuführen versuche
und unter Umständen neue gesetzliche Bestimmungen schaffen werde,
l um die Presse zu größerer Zurückhaltung zu zwingen.
Es wird hier von der britischen Negierung eine Frage von der aller¬
größten Bedeutung berührt, die auch für uns sehr lehrreich und zugleich sehr
nützlich ist.
Der Brite ist Kaufmann, praktischer, nüchterner Egoist auch in der Politik.
Er weiß, daß er als Kaufmann niemals seinen Konkurrenten gegenüber etwas
von einem Geschäfte verlauten lassen darf, das er noch nicht gemacht hat,
und das er erst macheu will. Er handelt als Kaufmann wie ein junges
Mädchen ihrem Bewerber gegenüber und leugnet gerade das ab, wonach am
heißesten sein Begehren steht. Wir finden dieses Verhalten überall in der
Welt im kaufmännischen Leben. Es ist Geschäftsklugheit, die auf einer außer¬
ordentlichen Reserve, auf einer großen Diskretion aufgebaut ist. Diese Dis¬
kretion beherrscht den Kaufmann und sein ganzes geschäftliches Leben. Sie
macht ihn still und zurückhaltend, und er weiß, daß er seine größten geschäft¬
lichen Erfolge gerade dann errungen hat, wenn er sich in diesen Geschäften
am vorsichtigsten und reserviertesten verhalten hat. Deshalb findet mau auch
im Vergleiche zu andern Ständen verhältnismäßig wenig Kaufleute in öffent¬
lichen Stellungen, weil der Kaufmann ungern öffentlich ausspricht, was er
fühlt und denkt. Am leichtesten geneigt, sich öffentlich auszusprechen, sind
die Berufskreise, deren ganze Existenz, deren jährliches Einkommen von kauf¬
männischer Diskretion und Reserve unabhängig ist. Sie sind deshalb wohl
auch am objektivster, weil ihr ganzes Denken und Handeln freier ist von
egoistischen Motive». Sie siud aber auch am gefährlichsten, weil sie im Be¬
wußtsein ihrer objektiven und auf Idealen aufgebauten Weltanschauung gar
kein Verständnis dafür haben, daß beim „Geschäft machen" Reden weniger als
Silber und Schweigen mehr als Gold wert ist.
Nun ist aber die Politik eigentlich nichts weiter als ein kaufmännisches
Geschäft, und es gibt wohl keine Nation, die ihre Politik so sehr nach kauf-
närrischen Grundsätzen eingerichtet hat als die britische Nation. Von diesem
Standpunkt aus ist auch wieder der neue Schritt der britischen Negierung zu
verstehn. Der Brite weiß, welche Macht die Presse ist, und als Kaufmann
fühlt er, welche gewaltige Gefahr in ihrer Indiskretion liegt.
Diese Indiskretion, dieser Mangel an Reserve und kaufmännischen Takt
hängt ja mit unserm ganzen modernen Parlamentsleben, das sich in der
breitesten Öffentlichkeit abspielt, innig zusammen. Ich verkenne den großen
moralischen Wert dieser Öffentlichkeit durchaus nicht, doch sie birgt immer die
Gefahr in sich, daß Dinge öffentlich ausgesprochen werden, die am besten ver¬
schwiegen worden wären.
Wenn ich als kaufmännischer Konkurrent eines andern noch nicht so stark
bin wie dieser, aber so stark zu werden trachte, wäre es doch eine Dummheit
ersten Ranges, dies mit meinen Geschäftsteilhabern und Geschäftsfreunden
öffentlich laut zu verhandeln, damit der Konkurrent auch genau jedes Wort
erfahre, was von meinen Freunden und mir beabsichtigt wird. Im kauf¬
männischen Leben gilt hierbei die absoluteste Diskretion als selbstverständlich
und als die wichtigste Bedingung jedweden Erfolgs. Und wenn ich im Kampf
ums Dasein einen tüchtigen Konkurrenten aus dem Felde schlage, so geschieht
es wohl ausnahmlos dadurch, daß ich mich in aller Stille, ohne daß er es
ahnt, so gut vorbereitet und so stark gemacht habe, daß ich ihm erfolgreich
die Spitze bieten kann. Man wird mir — bis zu einem gewissen Grade auch
mit Recht — entgegenhalten, daß man nach solchen Grundsätzen Politik heut¬
zutage nicht mehr treiben kann. Ich möchte dem aber doch widersprechen.
Die großen Erfolge von 1866 und 1870 sind doch vorwiegend dem Umstände
zu verdanken, daß die Österreicher und die Franzosen die wahre Stärke
Preußens gar nicht kannten und sich deshalb ihrer eignen Schwäche nicht
bewußt waren. Und warum wußte man nichts davon? Weil die große
Armcereorgcmisation in Preußen in aller Stille und Ruhe erfolgt war, und
weil man ihre Tragweite, ihre innere gewaltige Stärke gar nicht ahnte. Der
heutige Erfolg der Japaner beruht ebenfalls darauf, daß sie sich als bisher
schwache Konkurrenten des gewaltigen russischen Reichs in der größten Stille
und Ruhe, ohne daß die Welt und vor allem Rußland auch nur die leiseste
Ahnung erhalten hatte, vorbereitet und gerüstet haben zu dem großen Ent¬
scheidungskampf um die Hegemonie in Ostasien.
Ganz abgesehen davon, daß der Gedanke an sich schon töricht und albern
ist, daß wir unsre Seemacht gleich oder annähernd so umfangreich machen
könnten wie die Briten, ist es unklug und unpolitisch, es öffentlich immer
und immer wieder zu wiederholen, wie stark wir unsre Marine machen wollen,
und wie stark sie noch werden muß. Der mißgünstige Konkurrent sieht in
dieser Absicht, auch wenn sie sich in noch so mäßigen und berechtigten Grenzen
hielte, doch nichts weiter als die Sucht, es ihm gleich zu tun und ihn von
seiner bevorzugten Alleinherrscherstellung zu verdrängen. Ist es denn da nicht
klar, daß er beizeiten, wo sein Gegner noch nicht so stark ist, daran denkt,
entweder sich in dem gleichen oder in noch größerm Verhältnis zu verstärken
oder die Konkurrenz ganz aus dem Wege zu räumen? Wenn man die britische
Presse in allen ihren Parteischattierungen und die jetzt herrschende Stimmung
im britischen Volke aufmerksam studiert, wird der unparteiische und vorurteils¬
lose Beobachter feststellen, daß unsre deutschen Verhältnisse dort nur ganz ein¬
seitig, also nicht objektiv und einwandfrei beurteilt werden, indem man unsrer
Nation eine Stimmung als herrschende unterschiebt, die gar nicht vorhanden
ist, nämlich ein auf Weltmacht und Weltbeherrschung gerichtetes Streben, das
nichts geringeres als den Zusammenbruch der britischen Weltmacht zum Ziele
hat. Man beruft sich hierbei auf die gänzlich mißverstandne Tätigkeit der
Altdeutschen Partei und auf die Flottenagitation und vergißt ganz, daß diese
beiden nationalen Bewegungen nichts weiter als ein bescheidnes Gegengewicht
gegen die viel stärkere antinationale Bewegung der Sozialdemokratie ist. Man
schlachtet in England diese beiden nationalen Bewegungen im britischen Interesse
in einer Weise aus, als ob ganz Deutschland nur von ihnen erfüllt wäre; und
man berücksichtigt in keiner Weise, daß in der antinationalen Bewegung der
Sozialdemokratie die britische Politik dafür einen viel mächtigern Bundes¬
genossen hat. Es ist traurig und beschämend zugleich, daß wir eine große
Partei im eignen Vaterlande haben, die gerade dann der eignen Regierung
in den Arm fällt und die Geschäfte des Auslandes besorgt, wenn sich die
Negierung endlich einmal im Gefühle des Rechts und der Stärke eines großen
Erfolgs freuen kann. Es ist hundert gegen eins zu wetten, daß sich die
französische Sozialdemokratie in der Marokkoangelegenheit, wenn sie an Stelle
der deutschen gewesen wäre, in ihrem Nationalgefühl still und reserviert den
fremden Genossen gegenüber Verhalten hatte. Daß sich die französische Sozial¬
demokratie heute, wo Frankreich schwach ist, in dem Augenblick mit der deutschen
Sozialdemokratie verbündet, wo Deutschland Miene macht, von seinem Recht
und seiner Stärke Gebrauch zu machen, ist vom französischen Standpunkt aus
nur national gehandelt, weil diese Verbindung den deutschen Gegner nur
schwächen und die eigne Politik nur stärken kann. Es ist eben nur eine
deutsche Sozialdemokratie fähig, das eigne Vaterland gerade dann im Stiche
zu lassen, wenn es zur Entfaltung seiner ganzen Stärke der vollen Einigkeit
bedarf. Eine französische Sozialdemokratie hätte sich in einem ähnlichen Falle
ganz gewiß reserviert und schweigend Verhalten.
So sehen wir die betrübende Tatsache, daß gewisse nationale Bewegungen
in unserm Vaterlande den Briten den Vorwand geben, mit bewußter Absicht
und in ganz einseitiger Weise ihre Stimmung gegen den „gefährlichen" und
„nach Weltmacht strebenden" deutschen Nebenbuhler zur Leidenschaft zu ent¬
flammen, während andrerseits eine große antinationale Bewegung in Deutsch¬
land den Franzosen Gelegenheit gibt, an der einmütiger Stärke Deutschlands
zu zweifeln. Es gibt wohl kaum eine Nation in der Welt, wo die diver¬
gierenden Kräfte so laut, so energisch und so selbständig zum Ausdruck kommen,
wie bei der deutschen. Es hat dies gewiß seine großen Vorteile zur Heran¬
züchtung selbständiger Charaktere, es birgt aber auch den großen Nachteil in
sich, daß zuviel geredet, zuviel Prinzipienreiterei getrieben wird, und daß die
Meinungen zu sehr auseinanderlaufen. Mag man bei der innern Politik
darüber hinwegkommen, so zeigen sich ihre Nachteile im grellsten Licht auf
dem Gebiete der äußern Politik, wo das Ausland nur Nutzen daraus zieht.
Es steht außer Frage, daß in Deutschland zuviel geredet, daß auf der einen
Seite das Nationale zu sehr betont wird und auf der andern das Anti¬
nationale zu sehr zur Geltung kommt, und daß dadurch beide Richtungen — so
bedauernswert es ist — nur die Geschäfte des Auslandes besorgen.
Wer heute die antideutsche Stimmung in Großbritannien studiert, wird
zugeben müssen, daß es — vom deutschen Standpunkt aus — klüger gewesen
wäre, wenn die ganze Flottenbewegnng etwas stiller und ruhiger vor sich ge¬
gangen und nicht so sehr in der breiten Öffentlichkeit verhandelt worden wäre.
Eine starke Regierung muß selbst wissen, was sie zu tun hat, und man
muß das Vertrauen haben, daß sie den richtigen Weg zu dem richtigen Ziele
gehn wird. Die Erfolge müssen es einst lehren. Ich erkenne durchaus an,
daß es für eine Regierung nicht gleichgiltig, ja sogar sehr nützlich sein kann,
von der Stimmung des Volkes getragen zu werden, und daß es deshalb von
großer Bedeutung und von großem Wert sein kann, die Nation durch laute
öffentliche Agitation flottenfreuudlich zu macheu. Es fragt sich nur, ob dieser
ich möchte sagen innerpolitische Vorteil nicht einen viel größern äußern Nach¬
teil zeitigt, nämlich das Ausland, und zwar unsre mächtigen Konkurrenten,
auf unsre ernsten Bemühungen nach größerer Stärke allzusehr aufmerksam
zu machen. Unkaufmännisch ist es auf jeden Fall, öffentlich laut zu sagen,
was man erst erreichen will! Man wird ja darüber verschiedner Meinung
sein. Ich stehe entschieden auf dem Standpunkt, daß es klüger ist, möglichst
zu schweigen, dafür aber zu handeln. Es führt dies aber von selbst dazu,
gerade in diesem Falle das Handeln vertrauensvoll der Negierung zu über¬
lassen, die selbst wissen muß, wie sie die Flvttenfrage zu beantworten hat.
Wenn wir einen Monarchen Hütten, der für die Flotte wenig oder gar kein
Interesse hätte, wäre es noch etwas andres. Nun haben wir aber einen, der
das größte Interesse für sie hat, und unsre ganze Regierung ist durchdrungen
von dem Gedanken, daß es notwendig ist, zum Schutze unsrer großen über¬
seeischen Interessen unsrer Wehrkraft zur See die Stärke zu geben, die sie als
Mindestmaß haben muß. Ich erachte diese Forderung für so selbstverständlich,
daß es gar nicht notwendig sein sollte, dafür eine große öffentliche Agitation zu
entfalten und dadurch das Ausland aufzuregen. Wenn auch unsre Regierung
seit 1370, also seit mehr als dreißig Jahren den Beweis ihrer Friedensliebe
erbracht hat und den Anspruch erheben darf, daß man volles Vertrauen in
ihre friedliche Politik setzt, so darf man doch nicht vergessen, daß sich unaus¬
gesetzt die Zeiten und die Menschen ändern, und daß nichts wandelbarer ist
als die sogenannten Volksstimmungen. Das britische Volk selbst liefert den
schlagendsten Beweis dieser Veränderlichkeit; man braucht nur einmal festzu¬
stellen, wie oft in den letzten zehn Jahren unser Kaiser dort geliebt und ge¬
haßt worden ist. Es ist dies mit jeder Nation der Fall, und Bismarck selbst
hat über diese Volksstimmung in Deutschland gesagt: „Ich habe gelernt ohne
den Dank der Welt zu leben, ich habe ihn erworben und verloren, ich habe
ihn wieder gewonnen, ich habe ihn wieder verloren — ich mache mir gar
nichts daraus —, ich tue einfach meine Pflicht."
Die größte Gefahr ist aber die, wenn eine Nation ihre Stimmung zur
Leidenschaft entfachen und sich schließlich von dieser zu Handlungen fortreißen
läßt. Diese Gefahr besteht entschieden heute bei der britischen Nation uns
gegenüber, und es würde völlig unklug von uns sein, noch mehr Zündstoff
zu dieser zurzeit noch glimmenden Glut hinzuzuliefern. Wir müssen uns sorg¬
fältig hüten, im Auslande, und zwar ganz besonders bei unsern mächtigen
Konkurrenten, zu frühzeitig den Eindruck zu erwecken, als ob auch bei uns
eine solche Volksstimmung, erfüllt vom Flottengeist, von großer Überseepolitik
und einem Alldeutschland, die ganze Nation ergreifen und zur Leidenschaft
entfachen könnte.
Fürst Bülow hat vor einiger Zeit einmal gesagt, man müsse in seinem Ver¬
halten gegenüber der Sozialdemokratie und den Arbeitern ein gutes Gewissen
haben. Man kann daraus schließen — und seine ganze bisherige auswärtige
Politik beweist es —, daß er auch auf dem Gebiete der äußern Politik diesem
Grundsatze huldigt, nämlich daß man auch seinen Gegnern des Auslandes
gegenüber ein gutes Gewissen haben muß. Es gibt wohl keine Regierung,
deren Friedfertigkeit so verbürgt ist, und auf deren Friedfertigkeit man sich
so verlassen kann als die deutsche. Ein gutes Gewissen gibt aber auch dem
Schwachen eine große innere moralische Stärke einem Starken gegenüber,
indem er gewiß ist, alles getan zu haben, was in seinen Kräften steht, den
Frieden zu erhalten, und indem er das weitere einer höhern Weltfügung über¬
lassen muß.
Man wird entgegenhalten, daß man in Deutschland die Geldmittel zu
einer auch nur in den bescheidensten Grenzen vergrößerten Flotte bei der
herrschenden Flottenfeindschaft nur durch eine Agitation im größten Stil er¬
reichen könne, und daß der Brite, wenn er vernünftig wäre, eher ein Symptom
der Beruhigung als der Aufregung gerade darin erkennen müßte, daß es in
Deutschland überhaupt notwendig sei, eine so gewaltige Agitation ins Werk
zu setzen, um ein verhältnismäßig so bescheidnes Ziel zu erreichen. Gewiß
wäre das richtig, wenn man mit einem vernünftigen, gerechten und vorurteils¬
loser Gegner zu tun hätte. Es ist gewiß auch richtig, daß es in England
noch eine ganze Menge solcher vernünftiger Leute gibt, doch ist es andrerseits
ebenso gewiß, daß es dort heute schon bis in die maßgebendsten Kreise hinein
eine große Anzahl gibt, die von dem Deutschenhaß durchdrungen nicht mehr
ruhig und besonnen, sondern blind und voreingenommen die Beziehung zu
Deutschland betrachten und das glauben, was sie gern wollen, nämlich in
Deutschland den Gegner zu sehen, der den Untergang der Weltherrschaft
Großbritanniens herbeizuführen trachtet.
Hier hilft mir eins: daß man die öffentliche Agitation einschränkt und
die Beantwortung der Flottenfrage vertrauensvoll der Regierung überläßt.
Eine starke Regierung muß selbst wissen, wie sie die Geldmittel dazu findet,
und ich vertraue auch hier auf die Einsicht unsrer Volksvertretung, die in
solchen großen Fragen, bei denen es sich schließlich um die Existenz des
Vaterlandes handelt, die Negierung noch niemals im Stiche gelassen hat.
Und wenn es dennoch der Fall sein sollte, so müßte eine starke Regierung,
die ein gutes Gewissen hat, die Geldmittel auch zu finden wissen — gegen
den Willen der Volksvertretung.
Die Hauptsache ist, daß wir uns in der Öffentlichkeit mehr Zügel an¬
legen und uns mit Würde und Ruhe einer größern Zurückhaltung befleißigen.
Ich möchte deshalb aufrichtig wünschen, daß es auch bei uns — und zwar
nicht erst in Kriegszeiten, sondern schon jetzt, noch ehe es zu spät ist —
zwischen der Regierung und der Presse zu einer ähnlichen aber allgemeinern
Verständigung käme, wie sie in England zwischen Regierung und Presse für
einen besondern Fall geplant wird. Bei dieser Verständigung müssen in richtiger
Würdigung der außerordentlichen Schwierigkeit, die gerade bei uns die Leitung
der auswärtigen Politik dem Auslande gegenüber findet, die allgemeinen Grenz¬
linien festgelegt werden, innerhalb deren wichtige Fragen, die auf unsre
auswärtige Politik von entscheidenden Einfluß sein können, öffentlich be¬
s
n den Verhandlungen des dreinnddreißigsten deutschen Ärztetages
in Straßburg i. E. nahm die Frage der Errichtung von Akademien
für praktische Medizin einen breiten Raum ein. Bei Eröffnung der
Versammlung machte der Vorsitzende auf Grund von Äußerungen,
die in der Generalversammlung des Zentralkomitees für das ärzt¬
liche Fortbildungswesen in Preußen von ministerieller Seite über die Akademien
getan waren, beruhigende Mitteilungen. Auch waren die Ausführungen des
Referenten, Sanitätsrath Dr. Hansberg, in versöhnlichem Sinne gehalten.
Trotzdem nahm die Diskussion über diese Frage einen etwas stürmischen Ver¬
lauf und endigte mit der Annahme einer Resolution, die auf die Verurteilung
der Akademien hinauslief.
Mit dieser Abstimmung ist, wie die Gegner der Akademien inzwischen
selbst eingesehen haben dürften, die Frage keineswegs entschieden. Schon in
seiner Schlußrede gab der Vorsitzende des Ärztetages seiner Meinung dahin
Ausdruck, die Annahme der Resolution mit der geringen Majorität von
10374 gegen 8750 Stimmen beweise, daß die Anschauungen der Ärzteschaft
über diese so wichtige Frage noch nicht geklärt seien und einer weitern Reifung
bedürften. Diese Majorität dürfte keineswegs der Meinung des Gros der
Ärzteschaft entsprechen. Sie war zweifellos rein zufällig und wohl haupt¬
sächlich unter der Wirkung der agitatorischen Rede des Reichstagsabgeordneten
Dr. Mugdcm zustande gekommen. Der Sieg, den Herr Mugdan bei dieser
Gelegenheit davongetragen hat, dürfte sich bald als Pyrrhussieg erweisen und
die Autorität des Herrn Mngdan in den Kreisen seiner Fachgenossen nicht
erhöhen.
Die Gründe, die von den Gegnern der Akademien gegen diese im allge¬
meinen und die Kölner Akademie im besondern vorgebracht worden sind, halten
einer kritischen Prüfung nicht stand. Wahrhaft beschämend für den Ärztestand
war die von einigen Rednern aufgestellte Behauptung, die Ärzte brauchten
keine Fortbildung. Wäre diese Behauptung nicht schon theoretisch falsch, da
doch kein gewissenhafter Arzt zeit seines Lebens mit dem auskommen kann,
was er während seiner Studienzeit gelernt hat, auch wenn er noch so fleißig
gewesen ist — sie würde widerlegt durch die sich an allen Orten wiederholende
Erfahrung, daß rühmlicherweise gerade die Ärzte es sind, die, vielleicht am
meisten unter allen studierten Berufen, jede Gelegenheit mit Freude benutzen,
ihre Kenntnisse zu vermehren. Es liegt auch auf der Hand, daß eine Wissen¬
schaft, die fortgesetzt so in Fluß ist wie die Heilkunde, niemals ausgelernt
werden kann, und daß ein Arzt, der es versäumte, sich mit ihren neusten
Errungenschaften vertraut zu machen, bald ins Hintertreffen geraten würde.
Aus der Notwendigkeit der Fortbildung der Ärzte aber gar eine Unzulänglich¬
keit des medizinischen Unterrichts auf den Universitäten und damit eine Pflicht¬
versäumnis des Kultusministeriums konstruieren zu wollen, wie es Herr Mugdan
getan hat, ist vollends unverständlich und erinnert an die Meinung jenes
Bauern, der von seinem Pastor glaubte, dieser habe sämtliche Predigten, die er
während seines ganzen Lebens halte, auf der Universität auswendig gelernt. Die
Preußischen ebenso wie die andern deutschen Universitäten stehn durchaus auf der
Höhe und leisten namentlich auf dem medizinischen Gebiet anerkannt vorzügliches.
Sehr merkwürdig nahm es sich ferner aus, daß sich einige Gegner der
Akademien auf dem Ärztetage den Anschein gaben, als müßten sie den be¬
drängten Universitäten zu Hilfe kommen und sie gegen die böse Unterrichts¬
verwaltung in Schutz nehmen. Dies war um so merkwürdiger, als dieselben
Herren gegen einige Bonner Professoren die ärztliche Standesvertretung an¬
rufen wollten, weil diese als Leiter von Polikliniken in Köln außerhalb ihres
Wohnorts Sprechstunden abhielten. Die Herren können sich in dieser Hinsicht
beruhigen. Durch die Begründung der Akademien werden die Universitäten
keinen Schaden erleiden; denn die Ausbildung der Studierenden wird nach
wie vor den Universitäten verbleiben, und die Ärzte selbst werden auch künftig
trotz der Errichtung von Akademien ihre Fortbildung auf Universitäten suchen,
soweit ihnen diese ihre Zeit und ihr Material zur Verfügung stellen können.
Doch sollten auch die Gegner der Akademien wissen, daß es die Universitäten
in dieser Beziehung vielfach haben fehlen lassen müssen, weil sie ihre Zeit
und ihr Material fast nur für die Studierenden brauchen. Keineswegs alle
medizinischen Fakultäten halten Ärztekurse ab, und nicht alle Universitüts-
professoren haben Zeit und Neigung, sich auch nur an der Fortbildung der
Praktikanten, geschweige denn an der der praktischen Ärzte zu beteiligen.
Wenn uun die Akademien beides übernehmen wollen, so füllen sie eine
schmerzlich empfundne Lücke aus und entlasten die Universitäten, ohne mit
ihnen in irgendeiner Beziehung in Konkurrenz zu treten. Daß tüchtige
Akademieprofessoren nebenbei manchem Universitätsprofessor in der ärztlichen
Praxis unbequem werden können, soll nicht geleugnet werden. Dies tun
jedoch viele Krankenhausärzte schon jetzt, und zwar nicht nur an Orten, wo
eine Akademie besteht oder errichtet werden soll.
Als Hauptgrund gegen die Errichtung von Akademien trat bei einigen
Rednern Furcht vor Konkurrenz allzu deutlich zutage, wie sehr sie sich auch
bemühten, dies zu verschleiern. Meinte doch ein Redner, durch die Errichtung
der Akademie in Köln sei die dortige Ärzteschaft in zwei Kategorien, in eine
mit Lehrauftrag und eine mit Lernauftrag geteilt, und das Ansehen der
zweiten sei in den Augen der Bevölkerung schwer geschädigt worden. Einer
der Redner stellte die Forderung auf, es sollten keine Lehraufträge an einige
bevorzugte Ärzte erteilt werden, sondern es sollte bei der Auswahl der Lehrer
freie Konkurrenz herrschen. Als wenn diese nicht schon jetzt herrschte, und als
wenn Ärzte, die jetzt als Professoren und Dozenten der Akademie angestellt
worden sind, nicht eben die wären, die sich durch ihre Tüchtigkeit und ihr
Wissen hervorgetan haben.
Vorwürfe wie der, die Stadt Köln habe die Akademie nur ins Leben
gerufen, um den Fremdenzufluß dorthin anzulocken, verurteilen sich selbst.
Ebenso unzutreffend ist die Behauptung, der Staat betreibe die Errichtung
der Akademien, um Kosten, die er zu tragen hätte, auf die Schultern der
Städte abzuwälzen. Denn es handelt sich hier keineswegs um Kosten, zu
deren Tragung der Staat verpflichtet wäre. Ihm liegt nur die Ausbildung
der Ärzte ob, für ihre Fortbildung zu sorgen, ist allein Sache des Ärztestandcs
selbst. Wenn ihm der Staat, wie es der Fall ist, dabei zu Hilfe kommt und
jährlich neuntausend Mark durch den Staatshaushaltsctat für diesen Zweck
flüssig macht, so erwirbt er sich damit ein Anrecht auf Dank und nicht auf
Verunglimpfung. Derselbe Dank der Ärzteschaft gebührt den Städten, die
durch Begründung einer Akademie für praktische Medizin der Fortbildung des
ärztlichen Standes ohne jede Verpflichtung dazu sehr bedeutende Opfer bringen.
Wenn damit zugleich eine so erfreuliche Ausgestaltung der Krankenhäuser ver¬
bunden ist wie in Köln, so ist das eine weitere Sache, die den Dank nicht
nur der gesamten Einwohnerschaft, sondern auch der Ärzte verdient, denn sie
bedeutet einen gewaltigen Fortschritt in der öffentlichen Gesundheitspflege.
Geradezu komisch aber muß es wirken, wenn die Gegner der Akademien
für das ihrer Ansicht nach gefährdete Selbstverwaltungsrecht der Städte ein¬
treten zu müssen glauben. Denn auch an Orten, an denen eine Akademie
errichtet wird, behalten die städtischen Behörden durchaus das Recht, ihre
Krankenhausärzte nach freier Wahl anzustellen. Wenn sich auch der Minister
die Bestätigung der akademischen Dozenten vorbehalten mußte, so wird dadurch
dieses Recht der städtischen Behörden nicht beschränkt. Die ministerielle Be¬
stätigung bietet aber eine Gewähr dafür, daß wirklich nur Männer von wissen¬
schaftlichem Ruf und anerkannter Lehrbefähigung an die Akademien berufen
werden, was doch im eigensten Interesse der großen Städte liegen muß.
So fällt alles und jedes, was gegen die Akademien vorgebracht worden
ist, in sich zusammen, und es ist kaum zu verstehn, wie der Leitsatz des Referenten,
der nur empfahl, vor Errichtung weiterer Akademien die Erfahrungen in Köln
abzuwarten, nicht zur Annahme gelangte.
Freilich eins war nicht geschehen. Die ärztliche Standesvertretung war
nicht gehört worden, ob die Errichtung der Akademie in Köln vom ärztlichen
Standpunkt aus erwünscht sei. Die rechtliche Frage, ob die Stadt Köln
verpflichtet war, die ärztliche Standesvertretnng der Rheinprovinz bei einer
rein städtischen Angelegenheit zu hören, mag hier unerörtert bleiben. Tat¬
sächlich hat der Borsitzende der Ärztekammer der Rheinprovinz den Verhand¬
lungen über die Errichtung der Akademie in Köln von Anfang an beigewohnt,
und es war ihm durchaus unbenommen, diese Angelegenheit seinerseits vor
das Forum der Ärztekammer zu bringen. Also auch dieser Vorwurf, die
Ärzteschaft sei übergangen worden, fällt in sich zusammen. Demgegenüber
berührt es merkwürdig, von Herrn Mugdan eine Äußerung der Genugtuung
darüber zu hören, daß die Ärztekammer nicht gehört worden sei. Warum?
Weil sie dann vielleicht zugestimmt und damit einen Teil der Verantwortung
für diese nach Ansicht des Herrn Mugdan unheilvolle Einrichtung über¬
nommen hätte!
Lassen sich die bis jetzt erwähnten Vorwürfe gegen die Akademien wenn
auch nicht begreifen, so doch vielleicht entschuldigen, so ist dies mit einem
Vorwurfe, der besonders gegen die Akademie in Köln erhoben worden ist, in
keiner Weise der Fall. Von verschiednen Rednern wurde nämlich hervorge¬
hoben, die Errichtung der Kölner Akademie für praktische Medizin sei in
größter Heimlichkeit betrieben worden. Die stenographischen Verhandlungen
der Stadtverordnetenversammlungen zu Köln, die gedruckt veröffentlicht werden
und jedermann zugänglich sind, beweisen das Gegenteil. Nun, die Stadt¬
verordneten stimmten in der zweiunddreißigsten Sitzung vom 10. November 1903
der Errichtung einer Akademie für praktische Medizin zu und erklärten sich mit
dem Entwurf eines Vertrags über das Verhältnis zu den Bonner Universitäts¬
kliniken einverstanden. In der dreizehnten Sitzung vom 30. Juni 1904 er¬
klärten sie sich damit einverstanden, daß die Akademie Anfang Oktober 1904
eröffnet werde. In der vierzehnten Sitzung vom 14. Juli 1904 ernannten
sie vier angesehene Ärzte zu ordentlichen Mitgliedern der Akademie. In der
fünfzehnten Sitzung vom 28. Juli 1904 waren sie einverstanden, daß ein
Kinderarzt als Dozent an die Akademie berufen werde. In der neunzehnten
Sitzung vom 15. September 1904 berieten sie die Eröffnungsfeier bis in die
Einzelheiten und bewilligten einen Kredit für die Bibliothek und für Apparate
für die Akademie. Auch die Protokolle der weitern Sitzungen führen den un-
widerleglicher Beweis, daß alles, was sich ans die Akademie bezog, in der
breitesten Öffentlichkeit verhandelt worden, und daß von Heimlichkeit hierbei keine
Rede gewesen ist. Wie wenig heimlich sich alles abgespielt hat, lehrt auch ein
Blick in die Tagespresse. So brachte die Kölnische Volkszeitung schon am 19.
und am 28. Juli 1903 eingehende Mitteilungen über die Akademie; so enthielt
die Kölnische Zeitung vom 7. Februar 1904 einen ausführlichen Artikel über
die Ziele und die Ausgestaltung der Kölner Akademie für praktische Medizin.
Der Vorwurf der Heimlichkeit ist also gänzlich unberechtigt, und die Kölner
Ärzteschaft hatte schon im Juli 1903 Gelegenheit, sich über die Akademie zu
orientieren.
Alles in allem dürfen wir uns wohl der Hoffnung hingeben, daß sich
die Ärzteschaft allmählich auf ihren wahren Vorteil besinnen und zu der Er¬
kenntnis kommen wird, daß die schon eröffnete Akademie in Köln und die
demnächst zu errichtende Akademie in Düsseldorf wertvolle Hilfsmittel für die
Fortbildung des Ärztestandes und für die Fortentwicklung der medizinischen
Wissenschaft sein werden, und daß sie von den Städten errichtet sind, nicht
um die Ärzte in ihrem Erwerb und ihrem Ansehen zu schädigen, sondern um
ihre Leistungsfähigkeit und damit ihre wirtschaftliche Selbständigkeit und ihre
Wertschätzung in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Wir dürfen hoffen, daß die
Ärzte gegenüber dem gewaltigen Aufschwung, den die Errichtung der Akademien
für das Krankenhauswesen und die ärztliche Versorgung des hilfesuchenden
Publikums bedeutet, ihren Widerspruch fallen lassen und sich vielmehr freudig
in den Dienst dieser nicht weniger für sie als für die Allgemeinheit höchst
segensreichen Einrichtung stellen werden.
le sehr die Schiffahrt ein wesentlicher Bestandteil des holländischen
nationalen Lebens geworden ist, zeigt auch die Tatsache, daß wohl
die Hälfte aller Sprichwörter der Nation aus dem Beobachtungs¬
kreise dieses Gewerbes genommen ist. Auch noch andre, freilich
! weniger bedeutende, aber doch für die Charakteristik des Holländers
unentbehrliche Folgen hatte die Entwicklung zur schiffahrender Nation. Schiffer¬
gewohnheiten lassen sich bis ins kleinste in den Sitten der Nation nachweisen.
Auf den Gebrauch eines Überschwalls von reinigenden Wasser, das den Schiffern
zur Verfügung stand und auch auf dem Festlande nirgends fehlte, lassen sich
ohne Zweifel die Putz- und die Schrubbgewohnheiten des holländischen Volkes,
die sich manchmal bis zum lächerlichen Übermaße steigern, zurückführen. Dazu
die Sucht nach dem sich beinahe täglich wiederholenden Polieren aller im Be¬
reiche des Putzlappens liegenden glänzenden Holz- und Metallflächen, die auch
darauf zurückzuführen sein wird, daß auf dem Schiff in den kleinen Kajüten
diese Metallflächen beinahe den einzigen Zierat bilden, an dem sich ein an
Sauberkeit gewöhntes Auge erfreuen kann, während viel Zeit vorhanden ist,
sich diesem Kultus hinzugeben. Die Schifferfrauen übertrugen diese Leidenschaft
auf die Heimstätte des festen Landes, und so wurde auch da geputzt, geschrubbt,
poliert, und der steigende Wohlstand erlaubte es, dieser Sucht bis ins Un¬
gemessene zu frönen, wobei sie sich bis zu Dimensionen auswuchs, die so oft
die Lachlust des Auslandes erregten. Man muß also die holländische Reinlich¬
keit nicht von dem Standpunkt der Hygiene aus beurteilen — was ja für uns
heutzutage als letzte eigentliche Ursache für diese Bestrebungen gilt —, sondern
von dem Standpunkt einer freilich etwas niedrig stehenden Ästhetik. Daß dies
so ist, geht am besten daraus hervor, daß sich diese holländische Reinlichkeit
keineswegs vor allem auf den menschlichen Körper erstreckt, sondern immer auf
das Objekt und namentlich auf solche Dinge, die wohl unterhalten glänzend
aussehen können, auf Kupfer, auf Geschirr, auf die Marmorflächen des Haus¬
ganges. Ist kein Kupfergeschirr vorhanden, so „prunkt" die Küchenmagd lÄuts
as inisux mit einer leeren Sardinenbüchse, die sie blankgeputzt an die Wand
hängt, um doch wenigstens in diesem kleinen Maßstab ihrer Sehnsucht nach
blinkendem Metall frönen zu können. — Die holländische Wäsche läßt schon viel
zu wünschen übrig, da die Qualität des Wassers und die nur mäßig bleichende
Kraft des vielfach durch starke Bewölkung getrübten Sonnenlichts diesem Sport
weniger günstig ist; und der eigne Körper! Es gibt viele, sehr viele Leute aus
den geringern Ständen, deren Leib nur zweimal im Leben mit Wasser in Be¬
rührung kommt, und das zweitemal sind sie sogar schon tot. Viele Bauern
gehn in den Kleidern zu Bett, nur eben die oberste Hülle zur Seite werfend.
Schuhe brauchen sie nicht auszuziehn, da diese, aus Holz gefertigt, an der
Haustür zurückgelassen werden, während man sich im Zimmer auf Strümpfen
bewegt. Man kann sich denken, wie es bei solchen Gewohnheiten mit der
Hautpflege steht, und in der Tat zeigen sich die Folgen dieser Unterlassungs¬
sünden in einer weiten Verbreitung des kriechenden Ungeziefers, das mit einem
großen L geschrieben wird, noch bis in den mittlern Bürgerstand hinauf.
Dieser große Mangel an Reinlichkeit ganz dicht neben der größten Süuberungs-
sucht erklärt sich aus dem Schauder vor der Berührung mit Wasser in dem
windigen, naßkalten Klima. Hausbüder sind auch in den wohlhabenden Häusern
noch verhältnismäßig selten. Schwimmen wird wenig geübt, in manchen Teilen
des Landes sogar als seltsame Leidenschaft mit entschiednen Kopfschütteln be¬
trachtet und ist auch für Soldaten und Matrosen keineswegs obligatorisch.
Freilich mag dieser Zug, dem man jetzt entgegenznstreben sucht, auch mit dem
puritanischen Wesen zusammenhängen, dem ja die herrschende Religion des
kalvinistischen Protestantismus nicht fremd ist. Das Nackte gilt wegen der
von dieser Richtung gepflegten Anschauungen vielfach für häßlich, ist es ja oft
auch tatsächlich in den nördlichern Ländern, deren Klima einer gleichmäßigen
Körperentwicklung feindlich ist, und da man nicht baden kann, ohne sich zu
entkleiden, so läßt man lieber das eine und das andre. Ich weiß von einer
Dame, die selbst in dieser Beziehung aufgeklärt, aber den Vorurteilen der
Dienstboten Rechnung tragend, nur heimlich zu baden wagte, um nicht durch
ihre Mägde in den Ruf der Frivolität zu kommen. Sie benutzte dazu die
Stunde, wo sie die Mägde des Sonntags zur Kirche schickte.
Wenn wir somit den sogenannten Reinlichkeitssinn der Holländer vom
Standpunkt der Ästhetik erklären, so scheint damit zugleich gesagt zu sei», daß
ihr ästhetischer Sinn selbst auf einer tiefen Stufe stehe. Doch will ich dies in
keiner Weise und namentlich nicht so allgemein ausgesprochen haben. Aller¬
dings, wenn man in Nordholland die hellblau getünchten Chausseebüume und
die ebenso geschmacklosen Muschel- und Kiesgärtchen sieht, worin die Teppich¬
gärtnerei, die ja schon so wie so leicht an Geschmacklosigkeit grenzt, auch im
Winter mit den angedeuteten toten Materialien in allerdings sehr haltbarer,
aber desto sinnloserer Weise fortgesetzt wird, wenn man die Dissonanz der
Farben im Anstrich der bäuerlichen Wohnungen in seiner Wirkung auf die
Magennerven verspürt hat, dann ist man geneigt, den künstlerischen Geschmack
von Holland recht niedrig einzuschätzen. Demgegenüber steht dann aber der
Besitz von Kunstschätzen, die im eignen Lande fabriziert sind, namentlich auf
dem Gebiete der Porzellanfabrikation und der Möbelschnitzerei, und dann vor
allem die ausgezeichnete Malerschule des siebzehnten Jahrhunderts, während
diese Kunst auch noch in der Neuzeit ihren Ruhm sehr wohl behauptet. Der
Widerspruch, der sich hieraus zu ergeben scheint, ist vielleicht so zu erklären,
daß eine Zeit der Kunstblüte im wesentlichen zwei Dinge voraussetzt: die Kunst¬
begabung und den breiten Boden für die Kunstentwicklung, der gewöhnlich durch
die Wohlhabenheit gegeben ist. Das lag für Holland in den letzten Jahr¬
hunderten besonders günstig. Die Handelsschiffahrt, die Erwerbung von Kolonien
gaben dem von Haus aus bedürfnislosen Lande reichen und immer reichern
Verdienst, für den eine nüherliegende Verwendung nicht gleich gefunden war,
und der somit der Kunstentwicklung sehr zugute kam, wie in Florenz und
anderwärts der Prunk verschwenderischer Fürsten. Der alte vererbte Besitz gibt
Holland auch die Solidität der Gewohnheiten, den auf das bleibend Wertvolle
gerichteten Sinn, der dein Fremden sogleich das angenehme Gefühl der Sicher¬
heit gibt, und auf den sich auch der schwierig zu übersetzende, am besten noch
durch „solide" wiederzugebende Ausdruck äsM^ im Holländischen bezieht.
In Übereinstimmung damit ist das Essen einfach der Zahl der Gerichte
nach, aber meist aus vorzüglichen Materialien bereitet; das Mobiliar ist solide
und von unverwüstlicher Politur, der Anstrich des Holzwerks so schön wie
anderwärts verlockte Ware, und das Wohltuendste der Ausblick aus den großen
und hohen Wohnzimmern durch einfache aber große Spiegelscheiben in die schön
unterhaltnen oft parkartigen und immer staubfreier Gärten. Immer wird auf
das „Wie" ein viel größerer Wert gelegt als auf das „Was," und in alt¬
gewohnten aristokratischem Geschmack wird das Vielerlei und das Kunterbunt
eines vielleicht begabten aber noch unreifen und renommistischen Sinnes ver¬
achtet. Dieser Umstand lag also ungewöhnlich günstig. Dagegen kann der
andre nicht in jeder Beziehung günstig bezeichnet werden. Phantasie, ein so
wichtiger Bestandteil der eigentlichen Kunstleistung, ist ja überhaupt in der deutschen
und namentlich in der niederdeutschen Rasse nur spärlich vertreten. Dagegen
kommt die Geduld, die Gewissenhaftigkeit in der Ausführung, die für diese Rasse
charakteristisch sind, auch für die künstlerische Leistung sehr in Betracht. Daraus
ist es denn vermutlich zu erklären, daß sich die bildenden Künste in Holland,
obwohl sie zu großer Blüte gekommen sind, doch so auffallend einseitig ent¬
wickelt haben. Die Plastik fehlt so gut wie ganz. Die wenigen Statuen, die
man sieht, sind entweder scheußlich oder rühren von Ausländern (Franzosen und
Flamländern) her, wozu freilich kommt, daß es in dem Lande, wo gleichsam
ein puritanischer Fluch auf allem Nackten liegt, an Modellen fehlt, ohne die
keine Plastik gedeihen kann. Eben so schwach ist die Architektur. Die wenigen
guten Gebäude sind von Architekten aus den beiden südlichen ganz unhollän-
dischen Provinzen, und was uns an den stattlichen Patrizierhäusern in Amsterdam
ergötzt, ist mehr die große ausgetiftelte Wohnlichkeit namentlich der Innen-
räume, ihre solide aber niemals prahlerische Ausstattung als die Schönheit der
Linie. Dieselben Verzierungen, auch im Kunstgewerbe, wiederholen sich ins
Unendliche, während in Italien jeder Fries, jede Gitter- oder Geländeschmiederei,
auch von gewöhnlichen Handwerkern hervorgebracht, neue und immer neue Er¬
findung zeigt.
Auch die schöne Literatur Hollands ist eher arm als reich zu nennen,
wenn nicht der Menge des Erzeugten nach, da sehr viel gelesen wird, so doch
nach der Güte gemessen. Wie wenig ist verhältnismäßig in andre Sprachen
zu übersetzen würdig befunden worden. Der Name van Vorbei glänzt aller¬
dings zu einer Zeit, wo wir in Deutschland dem so gut als nichts entgegen¬
zusetzen hatten. Aber das war eben im siebzehnten Jahrhundert, wo dieses
von den Heeren des halben Europas zertreten und dadurch in die Barbarei
zurückgeworfen wurde. Dem Wiederaufleben der französischen Poesie am Ende
des siebzehnten, der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts hat dagegen Holland nichts ebenbürtiges zur Stelle zu stellen,
und seither wohl sehr geschickte humoristische Kleinmalerei Z, 1a Dickens und
Reuter, die sich aber selten auch nur zur künstlerisch aufgebauten Novelle auf¬
schwingt. Und dann die neueste Literatur? Nun, darüber ziemt es den Zeit¬
genossen nicht zu urteilen. Wenn ich aber doch mein Urteil andeuten soll, so
lautet es: Viele große Worte, viele Unternehmungen? aber was wird in hundert
Jahren davon übrig sein?
Die Musik wird endlich in Holland, trotz der sprichwörtlichen Abneigung
gegen diese Kunst bei Friesen und Niedersachsen, viel gepflegt. Gute Sanger¬
stimmen hat das Land in größerer Zahl erzeugt. Aber was wird zur Aus¬
führung gebracht? Deutsche Kompositionen. Man hat allerdings in patrio¬
tischer Begeisterung alte niederländische Weisen von großer Schönheit aus dem
siebzehnten Jahrhundert aufgespürt; aber ihre Komponisten sind meist Flam¬
länder.
Bleibt also die Malerei, und diese erscheint freilich reich genug, alles übrige
wieder gut zu macheu. Die niederländischen Bilder füllen ganze Galerien,
und noch jetzt, wo die eigentliche klassische Periode längst vorüber ist, ge¬
winnen die malerischen Erzeugnisse des kleinen Landes auf internationalen Kon¬
kurrenzen Preis um Preis, obgleich die staatliche Ermunterung dieser Kunst
wie der Künste überhaupt grundsätzlich und praktisch im Vergleich mit dem, was
in Deutschland in dieser Richtung geschieht, recht gering ist. Auch sind es nicht
die kunstbegcibtern Flamländer allein, die hier den Namen der Niederlande hoch
hielten und noch hoch halten. Es ist das eigentliche Holland, das wir in unsrer
bisherigen Darstellung als den Kern des Landes herauszuschälen und in seiner
^t zu skizzieren versucht haben, dem hier der Ruhm gebührt. Wie schon in
der klassischen Zeit der Holländer Rembrandt die Flamländer Rubens und
van Dyk, die zudem von Italien gelernt und dieser Schule einen Teil ihrer
Fertigkeit verdankten, überstrahlte, so können auch jetzt die Nordniederländcr den
Vergleich mit ihren belgischen Konkurrenten mit Glanz bestehn. Hier ist also
ein selbständiger, nicht bloß geachteter, sondern über alles Lob erhabner Herd
der Schilderkunst, der in dem eigentümlichen Genie des holländischen Volkes
ganz im wesentlichen begründet sein muß.
Nur wenn wir den Gegenstand weiter analysieren, zeigt sich auch hier eine
bedeutende Einschränkung. Die hochberühmte niederländische Schule zeichnet sich
aus im Porträt und in der Landschaftsmalerei. Das Stillleben könnten wir
als einer niedrigern Kunststufe entsprechend ganz zur Seite liegen lassen, wenn
es nicht so geeignet wäre, das, was wir hier sagen wollen, zu bestätigen; denn
auch hierin haben die Niederländer das Höchste geleistet. Das sogenannte
Genre ist noch gut vertreten, aber beinahe immer mit Gegenständen der niedrigsten
Art, Kneipenszenen, Bauern- und Fischerleben. Die höchste Kunstform, die der
Historie, die den Schein des Wichtigsten im Menschenleben täuschend erzeugt
und dem nachgebornen erlaubt, am Leben seiner Götter und Helden, unver¬
mittelt durch verwässernde Abstraktionen, teilzunehmen, fehlt so gut wie voll-
stündig.
Rembrandt mag hier als Beispiel dienen, weil er nicht allein bei den
Holländern selbst als der erste und einzige gilt, dem gegenüber Michelangelo,
Tizian und Correggio eigentlich nur Schulknaben genannt werden dürften, sondern
weil er auch im Auslande als einer der ersten erachtet und als Meister und
als Erzieher zur Kunst hingestellt wird. Rembrandt aber ist ein Meister
der Wirklichkeit. Niemand, der so scharf sieht wie er, niemand, der mit so
wenig, und je reifer er wird, mit um so breitern Pinselstrichen diese Wirklich¬
keit auf der Leinwand hervorzuzaubern vermag wie er. Rembrandt ist ein
Realist, der noch in seinen Nymphen und Göttinnen, wo er sich etwa auf deu
Boden der Historien begibt, noch die durch eine scheußliche Kleidertracht defor¬
mierten Körper der Dirnen und Kuhmägde, die ihm etwa zu Modell stehn
mochten, zu erkennen gibt. Rubens soll von Rembrandt gesagt haben: „Wenn
dieser holländische Windmüller nur ein klein bißchen Geschmack hätte, so würde
er uns alle in die Tasche stecken." 8ö mein ö vsro, ö thu' tropf-to, denn
hiermit ist das Verhältnis der holländischen Kunst treffend gezeichnet. Alle
Kunst beruht ja auf der Vereinigung zweier anscheinend streitiger Seiten. Sie
soll wahr sein, und sie soll schön sein. Die Wahrheit ist aber gewöhnlich nicht
schön, und daher kommen die Schwierigkeiten, die nur das Genie, aber auch
dieses nicht immer ganz überwindet. Die Realisten sündigen auf Kosten der
Schönheit, die Idealisten auf die der Wahrheit, und dies wird durch das in
verschiednen Zeiten mehr kritisch oder mehr träumerisch gestimmte Publikum ver¬
schieden bewertet, wobei ein psychologisch leicht zu begründender regelmäßiger
Kreislauf des Geschmacks deutlich zu beobachten ist.
Natürlich war Rembrandt auch Idealist, sonst würde er kein großer Künstler
gewesen sein. Aber er ist kein Idealist der Form, sondern einer der Beleuch¬
tung, und darin kann er ein Entdecker genannt werden; dadurch entgeht er
dem Kritizismus der schärfer sehenden (aber keineswegs tiefer fühlenden) neuen
Zeit, die Fehler auf Fehler in Raffael entdeckt und über die meisten andern
Klassiker die Nase rümpft. Durch Beleuchtungseffekte, die sich nur in einem
nebligen Lande mit stark temperierten Licht erreichen lassen, während die Lein-
Wand es verweigert, die ungeheuern Unterschiede der Helligkeit des italienischen
Himmels wiederzustrahlen, weiß der niederländische Maler seit Rembrandt den
an sich oft unschönen Formen der von ihm treulich nachgebildeten Gegenstände
einen idealen Zauber zu verleihen, der das Unschöne vergessen, ja in gewissem
Sinne schön macht.
Trotz allen seinen unsterblichen Leistungen ist ja aber Rembrandt keines¬
wegs bis zur höchsten malerischen Kunstform emporgestiegen. Sein berühmtestes
Gemälde ist das auf Bestellung gemalte Kollektivporträt einer Schützengesell¬
schaft. Ein andres entzückt mich persönlich noch mehr, das Kollektivportrüt der
Amsterdamer Tuchmachergilde. In diesen Gemälden sowie in der berühmten
Anatomie gibt er einen Hergang wieder, der uns heute ganz gleichgültig läßt,
ja zum Teil widerwärtig ist. Der Wert liegt ganz allein in dem „Wie."
Nun bin ich gern geneigt, dem Satze zuzustimmen, daß die größere Leistung
im niedern Genre der kleinern im höhern vorzuziehen sei, und ich habe mehr
Freude an diesen Ncmbmndtschen Schöpfungen als an den mittelmäßigen
Leistungen der deutschen Maler von Historienbildern, der Kaulbach und Piloty,
da eben für Deutschland charakteristisch ist, daß man sich vorzeitig an viel zu
Schwieriges heranwagt, das dann natürlich sehr mangelhaft gelingt. Aber man
muß dieses Prinzip nicht auf die Spitze treiben, sonst müßte ein vollendetes
Fruchtstück, nach dem die Vögel picken, wertvoller sein als eine Raffaelsche
Madonna, an der in bezug auf Zeichnung und Perspektive der nüchterne Rea¬
lismus noch allerlei zu erinnern findet.
Es kann hier nicht auf diese an sich so interessanten Dinge weiter ein¬
gegangen werden, sonst wäre auch die holländische Landschaft ein ausgezeichnetes
Beispiel, dieselbe Idee zu entwickeln, da sie an sich wenig reizvoll aber doch
wegen der Möglichkeit der Wiedergabe von schönen Beleuchtungseffekten und
wegen der durch den feinen Dunst in der Atmosphäre ungewöhnlich starken
Luftpcrspektive in so hohem Grade malerisch ist, während sich die Reize der
lichtgesüttigten schweizerischen und italienischen Landschaften auf der Leinwand
einfach nicht wiedergeben lassen. Aber das letzte Ergebnis ist in jedem Falle,
daß es Holland nicht durch außergewöhnliche Kunstbegabung,*) sondern mehr
durch treue Gewissenhaftigkeit der Wiedergabe, die durch klimatische Verhältnisse
unterstützt wurde, bei dem Wohlstande des Landes, der guten Leistungen auch
einen entsprechenden Markt sicherte, gelungen ist, eine so hohe Stufe auf
einem einzelnen Gebiete der bildenden Kunst zu erreichen und zu behaupten.
An und für sich ist die niederdeutsche Rasse entschieden weniger mit Phantasie
und also auch zur Kunst begabt als die oberdeutsche, wie denn die Poesie in
Schwaben, die Musik in Österreich, die bildende Kunst in Bayern ganz ohne
die äußerliche Stütze einer großen Wohlhabenheit von jeher und in den breitesten
Kreisen geblüht haben.
Der Sinn dieser Ausführungen ist mithin in keinem Falle, die Verdienst¬
lichkeit der holländischen Malerschule zu verkleinern. Im Gegenteil wird jeder,
der lange Zeit in den Niederlanden verweilt hat, durch die vielfache Gelegen-
heit, die zahlreichen und wohlaufgestelltcn Werke dieser Schule zu besichtigen,
ihre großen Eigenschaften nur um so mehr zu würdigen imstande sein. Ich
meine nur als Resultat meiner Betrachtungen hervorheben zu müssen, daß in
der holländischen Bevölkerung im allgemeinen die künstlerische Begabung, die
auf der Phantasie beruht, verhältnismäßig schwach vertreten ist. Dagegen muß
um so mehr die hohe Stufe der Intelligenz hervorgehoben werden, die dem
holländischen Volk eigentümlich ist, und namentlich muß die Menge von geistiger
Arbeit, die von dieser Nasse bewältigt wird, rühmend hervorgehoben werden.
Wer, wie der Schreiber dieses, jahrzehntelang in dem Lande und auch in Süd¬
deutschland unterrichtet hat, dem muß diese Tatsache besonders auffällig sein.
Sie läßt sich aber auch durch die glänzende Rolle beweisen, die Holland in der
Geschichte der Wissenschaften erfüllt, und die sich erst neuerdings wieder durch
das verhältnismäßig hohe Maß bestätigt hat, worin das Land an den alljährlich
zur Verteilung gelangenden Nobelpreisen Anteil hat. Wohl kein Land der Welt
hat auf so kleiner Scholle so viel für den Fortschritt der Wissenschaften geleistet.
Dies ist eben wieder eine hervorragende Eigenschaft der niederdeutschen
Rasse, zu der, wie wir gesehen haben, die Holländer gehören. Gute Intelligenz
und namentlich große Arbeitsfähigkeit auch noch im vorgerückten Lebensalter
ist für diese Rasse charakteristisch und spricht sich auch aus in Beispielen, wie
in der Leistung des siebzigjährigen Moltke an Geisteskraft bei der Führung
eines großen Krieges. Diese Eigenschaft zeigt sich im großen wie im kleinen,
in den Leistungen von Dauerrednern in politischen und andern Versammlungen,
in dem seltner« aber hartnäckigem Feiern von Kirmessen und andern Festen,
bei denen nicht bloß an die Nerven überhaupt, sondern besonders an die Kopf¬
nerven große Anforderungen gestellt werden. Sogar bei Bauern, zumal in der
hochintelligenten, dafür aber auch besonders banausischen Provinz Groningen,
findet man eingehende Beschäftigung mit philosophischen Problemen.
Zu der natürlichen Begabung in dieser Richtung kommt dann noch die
hohe Bildungsstufe der höhern Stunde, die wieder teilweise auf die alte unge¬
störte Kultur und auf die geographische Lage zwischen Deutschland, England
und Frankreich, teilweise auch auf das vorwiegend häusliche Leben in einem
wenig ins Freie hinaus lockenden Klima zurückgeführt werden kann. Die große
geistige Kraft wurde hierdurch darauf gelenkt, sich mit den höchsten Problemen
der Menschheit zu beschäftigen.
Das Überwiegen einer starken Intelligenz über die Phantasie zeigt sich
sogar in vielen Produktionen, die unter dem Zeichen der schönen Kunst auf¬
treten, zum Beispiel in der Dichtung. Der moderne Schriftsteller, der am
meisten Einfluß und nicht immer in der guten Richtung auf die Entwicklung
von Holland gehabt hat, und der sich mit theatralischer Pose als Multatuli
(der, der viel getragen hat)*) einführt, ist so ganz überwiegend Kritiker und so
selten von schöpferischer Phantasie getragen, daß seine Stärke in den Werken
gesucht werden muß, in denen es wesentlich auf eine Beobachtung des Be¬
stehenden hinauskommt. Ebenso ist die Stärke seines jetzt etwas in Mißkredit
gekommnen aber unerschöpflich liebenswürdigen glaubenswarmen Gegenfüßlers
Beets (Hildebrand) die feine gemütvolle und humoristische Beschreibung in der
Art von Dickens oder Fritz Reuter, nur daß es jener mit einer noch weniger
fruchtbaren Phantasie nicht einmal zu einer novellistischen Ausgestaltung seiner
im übrigen so vollendeten Lebensbilder bringt. Es steht damit gerade wie
mit der holländischen Malerei, wenn man von dem Niesen Rembrandt, der in
der Lichtgebung selber ein Phantast war, absieht. Überall bei den Genremalern,
von Jan Steen bis zu den modernen Landschaftern, die treue gewissenhafte
Wiedergabe des wirklich beobachteten nicht ohne Poesie, aber auch ohne große
Wagnisse, während sich die deutsche Kunst leicht Aufgaben zutraut, denen sie
technisch noch gar nicht gewachsen ist, aber auch beim Unvollendeten einen
großen Reichtum an Ideen verrät.
Das alles zeichnet die zähe Geduld, das Herrschen des Verstandes, wie
sie für die niederdeutschen Rassen, mit Ausnahme der Flamingen, überhaupt
charakteristisch ist. In vielen Dingen gleicht der Holländer dem Engländer,
der ihn ja auch mit seinen ähnlichen, nur noch potenzierter Charaktereigen¬
schaften in der Weltherrschaft zur See abgelöst hat. Er hat auch mit diesem
einen gewissen Mangel an naivem Zutrauen gemein, die den mitteilsamen Fran¬
zosen so auszeichnet. Nur hat jener, vermutlich wegen des historischen Faktums
der Normannenherrschaft, mehr aristokratische Neigungen, auch mehr ebenso wie
der norddeutsche eine zwar nicht immer ganz zweifellos wahrhaftige Prüderie,
während sich in dieser Beziehung der Holländer, vielleicht durch die starke
Beimischung von Kelten, Franken und Flamingen, einer weitgehenden Naivität
erfreut, die von seinem überseeischen Nachbarn häufig snooKinA gefunden wird.
Damit in Beziehung steht auch wohl die verächtliche Bezeichnung des holländischen
Wesens in England als Äodoöläutod. Im übrigen gleichen in Klarheit des
Geistes, Stärke des Willens und Abwesenheit aller das Gewissen überwuchernden
aber auch das Leben verschönernden Phantasie beide seefahrenden Nationen
einander sehr. In Übereinstimmung hiermit fehlt bei diesen beiden Nationen
leicht die künstlerische Ader auch im gewöhnlichen Leben, die Pointe in der
Konversation und in gesellschaftlichen kleinen Leistungen, die bei den Franzosen
und bei den meisten Süddeutschen in viel höherm Grade vorhanden ist. Hierauf
beruht zum großen Teil das viele Ungünstige, das seit Immermann in immer¬
währenden Wiederholungen über die Langweiligkeit des Holländers ausgesagt
wird, von der es aber zumal in den eigentlichen Großstädten, besonders
in bezug auf die Naschheit des Gedankenflugs, viele Ausnahmen gibt, und
das zudem in vielen Fällen durch Herzlichkeit und Gemütstiefe wieder gut¬
gemacht wird.
Auch die große Liebe zur Freiheit ist bei den beiden germanischen Völkern
drüben und hüben von der Nordsee gleich stark entwickelt, während bei den
Franzosen die Liebe zum Ruhm entschieden diese Neigung überwiegt, und
Deutschland im Osten stark mit slawischen, an Knechtschaft gewöhnten Völkern
vermischt ist und much noch übrigens in seiner politischen Entwicklung zu weit
zurück ist, als daß es sich in dieser Beziehung mit England auf eine Linie
stellen könnte.
Wir treffen deshalb auch in den holländischen Staatsinstitu.livrer auf
freiheitliche Formen. Die Staatsform ist zurzeit die konsequent konstitutionelle
Monarchie, worin der Krone nur das sehr beschränkte Recht der Ministerwahl
aus der gerade bestehenden Majorität gelassen ist, und die sich nicht viel mehr
als im Namen von der Republik unterscheidet. Diese Staatsform arbeitet mit
aller Schonung des Selbstbewußtseins eines politisch gereiften Volkes, aber
wegen der Vielheit der Instanzen und des Phlegmas des Volkscharakters
äußerst langsam, sodaß eine große Zahl von nützlichen Maßregeln auf sozialem
Gebiete, ich nenne mir Altersversorgung, Schulpflicht, Verstaatlichung der Eisen¬
bahnen und andrer der Privatfürsorge kaum zu überlassender Betriebe und Ein¬
richtungen nicht oder sehr spät zustande gekommen sind. Es gilt dies vor allem
im Vergleich mit dem Deutschen Reiche, wo, charakteristisch genug, viele der
besten Reformen von oben herunter und oft unter Widerspruch der Parteien,
die sich den Namen fortschrittlich beizulegen beliebten, eingeführt worden sind.
So fehlt es in Holland auch nicht an wahren Karikaturen des Freiheits¬
begriffs, wie man sich zum Beispiel nun nach mehr als zehn Jahren der inter¬
nationalen Zeitregelung, nach der für die Eisenbahnen die westeuropäische Zeit
adoptiert werden mußte, noch nicht zur Einführung einer gemeinschaftlichen
bürgerlichen Zeit für das ganze Land hat entschließen wollen, sodaß verschiedne
Gemeinden in dieser Beziehung um zwanzig Minuten und mehr voneinander
abweichen, wodurch natürlich die größten Unzuträglichkeiten hervorgerufen werden.
Der Gedanke, jemand zu seinem eignen Wohl zu zwingen, erscheint dem
Holländer so fremd, daß er diese Mißstände lieber ertrüge, als daß er sich dem
Zwange beugt, wobei er freilich vergißt, daß in diesem Falle der Einzelne auch
nicht frei ist, sondern sich dem Willen eines Gemeinderath beugt, der häufig
nur Kirchturminteressen im Auge hat, während vom Staate doch eine für den
allgemeinen Nutzen viel einsichtigere Entscheidung zu erhoffen wäre. Auch an
die stammverwandten Buren in Südafrika wäre hier zu erinnern, die im Kriege
gegen England, wo doch ihr Alles auf dem Spiele stand, heute willkürlich an¬
sonsten, morgen aber ihr Kommando verließen und nach Hause gingen, ganz
wie es seiner Majestät dem souveränen Eigenwillen behagte. Auch das Expro¬
priationsgesetz wies und weist noch für das praktische Leben sehr empfindliche
Lücken auf, die in Einzelheiten zu Lächerlichkeiten führen. So habe ich zum
Beispiel erlebt, daß sich bei einem zu legenden Bürgersteige ein einzelner
Hauseigentümer weigerte, den Streifen vor seinem Hause liegenden Landes zu
diesem Zwecke herzugeben. Nach den bestehenden Gesetzen konnte man ihn
nicht zwingen. Er wurde deshalb von der städtischen Verwaltung drangsaliert,
sein Stückchen Boden mit einem Bretterzaun zu umgeben. Das Gossenwasser
sammelte sich darauf zu einem kleinen Sumpfe, worauf er dann nach vollen
fünf Vierteljahren endlich nachgab. Aber so lange trug die Gemeinschaft
diesen Zustand ohne Murren, bloß um keinen direkten Zwang, der ihr nicht
rechtlich erschien, auszuüben.
Dagegen muß man wieder anerkennen, daß der große persönliche Freiheits¬
sinn für die Charakterbildung seine große oft ausschlaggebende Bedeutung hat.
Das Korrelativ der Freiheit ist bekanntlich die persönliche Verantwortlichkeit,
und der Begriff dieser Tugend ist freien Völkern mehr in Fleisch und Blut
übergegangen, und daraus erwächst die Persönlichkeit, die auch losgelöst von
Staat und Gesellschaft noch eine gute Figur macht. Natürlich spielt der große
Freiheitssinn auch in der Pädagogik seine Rolle. Die Freiheit, die man der
Jugend gewährt, streift oft dicht an Zuchtlosigkeit, wie zum Beispiel die
holländische Straßenjugend es sich als ihr gutes Recht usurpiert, nach einen:
Schneefalle jeden Erwachsnen mit Bällen zu bombardieren und junge Mädchen
in das kalte Element zu werfen und gründlich einzureihen, wobei die Polizei
schmunzelnd zusieht. Auch das Rauchen von Tabak bei kleinen Jungen gehört
hierher, und es sind Fälle verbürgt, wo schon Säuglinge abwechselnd einen
Zug aus der Brust der Mutter und aus der Pfeife des Vaters tun zu dessen
großer Befriedigung. Bei alledem muß man sich wundern, wie aus wenig ge¬
zognen Jungen kräftige Männer erwachsen, die freilich sehr ihre Eigentümlich¬
keiten haben, aber sich beinahe samt und sonders dadurch auszeichnen, daß sie
Intrigieren, Spionieren, Angeberei und Streberei gründlich verachten. Es
entsteht hier freilich die Frage, ob es nicht eine traurige Notwendigkeit sei, daß
man, um zur besten Ausgestaltung des Staatsorganismus zu gelangen, einige
die individuelle Persönlichkeit zierende Eigenschaften zum Opfer bringen müsse
oder dürfe, gleichwie man bei dem tüchtigen Schornsteinfeger ein berußtes Ge¬
sicht mit in den Kauf nimmt. Es ist aber hier kaum der Ort, diese prinzipielle
Frage zu entscheiden.
Jedenfalls fühlt sich der Holländer, auch aus dem Grunde, daß er sich
den Luxus einer voll ausgewachsnen Persönlichkeit leisten kann, ohne doch einst¬
weilen die staatliche Existenz seines Landes in Frage zu stellen. Aber auf der
andern Seite steht auch die geringe Wehrbarkeit des Landes trotz guten mili¬
tärischen Eigenschaften des Einzelnen, unter denen namentlich große Ruhe und
Kaltblütigkeit in der Gefahr zu erwähnen ist, mit diesen Dingen in Verband,
da Zucht doch das Rückgrat eines brauchbaren Heeres ist, und diese Zucht eben,
wie jedem, der in Holland einmal hat exerzieren und manövrieren sehen, be¬
kannt ist, auf einer sehr niedern Stufe steht. Man klagt in Deutschland über
Soldatenmißhandlungen als Auswüchse der bestehenden strengen Einrichtung,
und solche Fälle werden durch die holländische Presse mit Wonne kolportiert.
In Holland selber wäre eher von Offiziersmißhandlungen durch ihre Unter¬
gebnen zu berichten. Wenigstens müssen sich jene unmittelbar nach der Beur¬
laubung wohl gar Schimpfreden von diesen gefallen lassen, weil das Gesetz
ihnen von diesem Augenblick an alle Zuchtmittel versagt. Für die Wehrbarkeit
des Landes ist natürlich der letzte Fall weitaus schlimmer.
Wir nähern uns hiermit schon dem wichtigen Punkte der Besprechung der
vermutlichen Zukunft des Landes, müssen aber zuvor noch einige soziale Zu¬
stände zur Schau stellen, ohne die auch in jener Richtung kein vollständiges Ver¬
ständnis zu erreichen wäre. Schluß folgt)
le Zeit der großen Herbstübungen unsrer Truppen ist wieder
herangekommen, und militärische Betrachtungen aller Art finden
sich in den Tageszeitungen, oft von berufnen, leider aber auch
sehr oft von gänzlich unberufner Leuten geschrieben. Und die
Unberufnen verschulden manches falsche Urteil über den Wert
und den Zweck militärischer Einrichtungen im Publikum, das sich ja bei uns
glücklicherweise immer noch sehr lebhaft für das Heer und seine Tätigkeit
interessiert. Manche Anschauungen, die in den letzten Jahren geradezu zum
Axiom geworden sind, verdanken ihre Entstehung solchen unüberlegten Zeitungs¬
artikeln und sind trotz allen Aufklärungen und aller Mühe, die sich sachver¬
ständige Redner im Reichstage und anderswo geben, kaum zu beseitigen. Man
denke zum Beispiel nur an die abfällige Beurteilung, die die großen Kavalleric-
attacken jedes Jahr von neuem finden, und die jedes Jahr bei der Beratung
des Militäretats den Rednern der Linken willkommnen Anlaß zu Angriffen
auf die Heeresleitung bieten. Von ihrer Berechtigung werden wir später noch
sprechen. Dieser Aufsatz soll den Zweck haben, soweit es in Kürze möglich
ist, die Leser auf die Unterschiede zwischen Krieg und Manöver hinzuweisen
und den Blick des Laienpublikums für das zu schärfen, was man aus dem
Manöver sehen und lernen kann und was nicht/") Denn das Manöver ist kein
Krieg, es ist nur eine schulmäßige Übung, die allerdings unter Voraussetzungen
abgehalten wird, die den Verhältnissen des Krieges so nahe kommen sollen,
als es der Friede und der Zweck der Übung irgendwie zulassen. Der Friede
macht mehr Einschränkungen nötig und stellt an die Phantasie des Mitwirkenden
und des Zuschauers, der aus dem Manöver lernen will, größere Anforderungen,
als man auf den ersten Blick wohl glauben möchte.
Zunächst fällt im Manöver alles das weg, was Clausewitz die „mora¬
lischen Elemente" des Krieges nennt: alle die unübersehbaren Folgen der
Nervenanspannung, die in dem gemeinen Soldaten durch die fortwährende
Gefahr und in dem höhern Führer durch die schwere Verantwortung geweckt
wird. Aber nicht nur dieser Umstand bringt die Unterschiede zwischen Manöver
und Krieg zuwege. In nicht weniger hohem Maße nötigen die Kosten solcher
Übungen, die „Kriegsmäßigkeit" einzuschränken. Die Einschränkungen äußern
sich in der Art, wie die Truppen untergebracht werden in der kurzen Dauer
der Übungen, die dazu nötigt, alle Entwicklungen zeitlich bedeutend zusammen-
zuschieben, in dem Mangel an Munition und schließlich in der Art der Ge¬
ländebenutzung; denn bei unsrer Bodenkultur verursacht — wenige Gegenden
Deutschlands ausgenommen — jeder Schritt, den die Truppe außerhalb der
Straßen macht, Schaden und Kosten. Zuletzt zwingt die Rücksicht auf die
Schonung von Mann und Pferd den leitenden Offizier in jedem Manöver
dazu, dem kriegsmüßigen Verlauf manchen Hemmschuh anzulegen.
Nur der, dessen Einbildungskraft imstande ist, alle diese störenden Ein¬
flüsse zu beseitigen, kann ein Manöver richtig beurteilen und brauchbare Schlüsse
für die Wirklichkeit aus ihm ziehn. Am besten gelingt das natürlich dem, der
selbst den Krieg gesehen hat, und vor dessen geistigem Auge mühelos die Bilder
der Wirklichkeit entstehn. Die Mehrzahl unsrer Offiziere hat es nicht so leicht.
Für sie kann nur das gründliche Studium der Kriegsgeschichte diesen Mangel
ersetzen, und mit Recht wird darauf in der Kriegsakademie und im General-
stabe der größte Wert gelegt. Das Wort Napoleons des Ersten, daß die
Phantasie eine der wesentlichsten Geistesgaben des Feldherrn sei, bestätigt diese
Auffassung. Sie befähigt nicht nur dazu, sich aus wenigen einander wider¬
sprechenden Nachrichten ein Bild zu machen von dem, was der Feind tut,
soudern sie gibt allein jedem Führer die Möglichkeit, sich die Wirkung seiner
eignen Befehle im voraus vorzustellen und die so oft mißbrauchten und miß-
verstandnen „Friedenserfahrungen" — ein Begriff, der eine gewisse Selbst-
ironie enthält — richtig für den Krieg anzuwenden.
Verfolgen wir nun das Manöver im einzelnen. Die preußische Armee
war die erste, die ihren Friedensübungen kriegsmäßige Verhältnisse unterlegte
und damit die Entschlüsse zweier gegeneinander fechtenden Truppenführer in
den Vordergrund der Übung schob. Wilhelm der Erste hat wesentlich durch
diese Übungen seine Offiziere zu der in seinen Feldzügen so viel bewunderten
Selbständigkeit und Entschlußfreudigkeit erzogen, die dem preußischen Heere
einen unerreichbaren Vorsprung vor ihren Gegnern sicherte. Es ist so im
Laufe der Jahre in der Armee zu etwas selbstverständlichen geworden, daß
nicht nur bei jedem Manöver, jeder Felddicnstübung, sondern sogar bei jedem
Exerzierplatzgefecht dem Führer eine „Aufgabe," d. h. irgendeine Kriegslage
gegeben wird, innerhalb deren er sich mit seiner Truppe bewegen soll. Das
geht so weit, daß bei uns kein Hauptmann mit seiner Kompagnie ein Gefecht
übt, ohne sich selbst in eine solche Lage hineinzudenken und diese Lage seiner
Kompagnie zum bessern Verständnis mitzuteilen. Diese Art von Ausbildung
ist jetzt bei allen Militärmächten gebräuchlich, aber 1870 war sie zum Beispiel
bei den Franzosen noch etwas ganz unbekanntes. Der General du Barciil,
derselbe, der bei Vionville die erste französische Kavalleriedivision geführt hat,
erzählt in seinen sehr lesenswerten Erinnerungen von einer Truppenrevue, die
kurz vor Beginn des Kriegs stattgefunden habe. Dieser habe ein englischer
Offizier beigewohnt, der kurz vorher preußische Manöver als Zuschauer mit¬
gemacht hatte. Dieser habe bei allen Bewegungen der französischen Truppen
gefragt: 0ü est I'K/votbLsö? Welches ist die angenommne Kriegslage? sodaß
die französischen Offiziere schließlich im Spott unter sich die Worte des Eng¬
länders in seiner Aussprache nachgesprochen Hütten. Sie hatten kein Verständnis
für die Bedeutung dieser ^xotdöss, in der schon damals einsichtige Franzosen
ein Merkmal der preußischen Überlegenheit erkannten.
So leicht es nun ist, für ein einzelnes Gefecht oder eine kleine Übung
irgendeine passende Kriegslage zu finden, so schwer ist dies für ein Manöver.
Unsre Manöver beginnen mit Übungen der beiden Regimenter einer Jnfcmterie-
brigade gegeneinander; jedem wird etwas Artillerie und Kavallerie zugeteilt.
Im Kriege kommen so kleine Abzweigungen fast nie vor; noch seltner tritt es
ein, daß der Feind zufällig eine ebensolche Abzweigung vornimmt, und diese
beiden nun mit entgegengesetzten Aufträgen aufeinanderstoßen. Immerhin sind
aber solche Fülle denkbar und lassen sich darstellen. Schwierig wird die Sache
aber, sobald eine solche Idee zwei bis drei Tage lang durchgeführt werden
soll, und sich in ihrem Verlaufe jeden Tag ein Gefecht ergeben soll. In
Wirklichkeit macht sich bei solchen kleinen Abteilungen die Anziehung der
Masse sehr bald bemerkbar, besonders nach jedem Kampf, und sie streben so
rasch wie möglich unter den Schutz der größern Truppenverbände zurück; vor
allem aber ist eine Truppe, die heute gekämpft hat, in der Regel morgen
nicht imstande, einen neuen Kampf aufzunehmen, am wenigsten wenn sie
geschlagen war. Im Kriege ist eine Truppe kein Arduus, der nach dem Biwak
neugestärkt erwacht.
Aber es ist für die Truppe gerade lehrreich, eine Reihe von Tagen
hintereinander unter kriegsmäßigen Verhältnissen leben zu müssen, unmittelbar
aus dem Gefecht in eine kriegsmäßige Unterkunft übergehn und sich in dieser
kriegsmüßig gegen den Feind sichern zu müssen. Andrerseits verlangt die für
die Manöver verfügbare kurze Zeit, daß an jedem Manövertag ein Gefecht
stattfinde. Bloße Märsche, die allerdings im Kriege weitaus den größten Teil
der Tage ausfüllen, sind im Manöver zu wenig lehrreich und rechtfertigen
nicht die für Unterbringung und Verpflegung nötigen Kosten.
So muß denn die Unnatürlichkeit, die eine fortlaufende Reihe von Gefechts¬
tagen, besonders bei so kleinen Truppenverbünden, mit sich bringt, im Interesse
der Ausbildung der Truppe ertragen werden. Sie kommt der Truppe und
dem jeden Tag wechselnden Führer auch kaum zum Bewußtsein, da für beide
die augenblickliche Lage mehr Interesse hat, um so mehr aber dem unbeteiligten
Zuschauer, der am zweiten oder am dritten Tage des Brigade- oder des
Divisionsmanövers versucht, das, was er sieht, mit der ursprünglichen „General¬
idee," die er in der Zeitung gelesen oder sonstwie erfahren hat, in Zusammen¬
hang zu bringen. Den Militürhumoristen hat diese Generalidee, die meist schon
am zweiten Tage auf dem Kopfe zu stehn scheint, reichen Stoff zu launigen
Spott geboten. Von allen Unnatürlichkeiten des Manövers ist sie noch am
leichtesten zu tragen. Was hier von den Manövern zweier Regimenter gesagt
ist, gilt auch von den Divisionsinanövern, bei denen die beiden Brigaden einer
Division gegeneinander kämpfen. Erst wenn bei jeder Partei eine Division
oder, wie bei Kaisermanövern, ein oder mehrere Korps stehn, ist ein wirklich
kriegsmäßiges mehrtägiges Operieren denkbar, allerdings auch nur, wenn man
sich das im Manöver unvermeidliche täglich bis zur Entscheidung durchgeführte
Gefecht wegdenkt.
Mehr als diese Unnatürlich leiten der Anlage, die der Außenstehende oft
nicht wahrnimmt, machen sich für den Zuschauer die Mängel in dem Verlauf
eines einzelnen Manövertages bemerkbar. Schon bei der Versammlung jeder
Partei am Morgen des Mcmövertagcs treten sie auf. Die Parteien müssen
sich nahe gegenüberstehn, sonst kann es nicht zum Gefecht kommen; trotzdem
sind die Truppen mit Ausnahme einiger Vorposten weit auseinander und
unter voller Ausnutzung aller irgendwie benutzbaren Ortschaften untergebracht.
Dies ist notwendig, um die Truppe nicht fortwährend biwakieren zu lassen,
was außer großen Strapazen auch große Kosten verursacht — man denke an
den großen Bedarf von Holz und Stroh. Im Kriege fallen diese Rücksichten
weg. Man bringt in solcher Nähe des Feindes die Truppe so unter, daß sie
jederzeit verwendbar ist, d. h. in einigen Ortschaften, die geeignet liegen, wird
untergebracht, so viel hineingeht — und das ist viel mehr, als je im Frieden
hineingelegt wird —, der Rest biwakiert. Die weiten Versammlungsmärsche,
die man fast an jedem Manövermorgen sehen kann, gehören schon in das
Gebiet des Friedensmäßigcn.
Ähnlich verhält es sich mit der Aufklärung. Im Kriege ist der Führer
auf sehr ungewisse, wenige und widerspruchsvolle Nachrichten angewiesen, auf
die hin er die folgenschwersten Entschlüsse fassen muß. Wer davon eine Vor¬
stellung gewinnen will, der prüfe einmal, was zum Beispiel der kommandierende
General des dritten Armeekorps, Konstantin von Alvensleben, von den
Franzosen gewußt hat, als er sich am 16. August 1870 zum Angriff bei
Vionville entschloß, dem Angriff, der schließlich zu dem Siege von Se. Privat
und weiterhin zur Einschließung Bazaines geführt hat. Man erstaunt, wie
wenig das war. Napoleon sagt einmal, er habe die Fehler seiner Feinde,
die er bestraft habe, nie gekannt. Man liest häufig in geschichtlichen Dar¬
stellungen, wenn irgendeine kriegerische Operation behandelt wird, den Satz:
„Der General Soundso Hütte wissen müssen, daß der Feind usw." Prüft
man so etwas ein der Hand genauer kriegsgeschichtlicher Abhandlungen, so
kommt man oft genug dahinter, daß der Führer das eben nicht gewußt hat,
es gar nicht hat wissen können, sondern daß er es höchstens Hütte kombinieren
können. Die populäre Darstellung unsrer letzten Feldzüge liebt es oft, unsre
Gegner, besonders die französischen Führer von 1870, so etwa als gute
dumme Kerle hinzustellen, die auf jede Falle, die ihnen Moltke stellte, pünktlich
hineingefallen seien. Man vergißt dabei, daß es fast alle kriegserfahrne, tapfre,
energische Männer waren. Prüft man hier, so findet man, daß die Aufklärung
auf französischer Seite vollkommen versagte, und daß die Führer in einem voll-
kommnen Dunkel waren. Daß sie nicht für bessere Aufklärung sorgten, ist
allerdings ihre Schuld, aber ihre unbegreiflichsten Maßregeln kann man ohne
Zwang aus ihrem Mangel an Kenntnis der Lage erklären. Mehr oder weniger
tappt aber im Kriege jeder Führer im Dunkeln, und das gibt der wirklichen
Kriegführung, besonders unmittelbar vor großen Entscheidungen, etwas tastendes,
vorsichtiges, auch da, wo dieser Charakterzug unter dem überwältigenden Ein¬
druck eines großen Sieges später verschwindet. Napoleon hat fast vor allen
seinen großen Erfolgen, zum Beispiel vor dem Siege von Jena, sehr vorsichtig
operiert; die deutsche erste und die zweite Armee haben für die kurze Strecke
von Saarbrücken bis Metz die Zeit vom 7. bis zum 14. August gebraucht.
Noch vorsichtiger und bedächtiger scheinen, soweit man es bis jetzt beurteilen
kann, die Japaner in Ostasien operiert zu haben.
Hier tritt der Unterschied gegen das Manöver augenblicklich zutage. Die
Stärke des Gegners, die der Führer in Wirklichkeit, wie Clausewitz sagt, erst
nach dem Friedensschluß aus den Büchern des Feindes erfährt, kennt der
Manöverführer genau. Ferner stehn in der Aufgabe, die er bekommt, Mit¬
teilungen über den Feind, deren Richtigkeit er natürlich nicht bezweifeln kann.
Außerdem stehn ihm zahlreiche Kavalleriepatrouillen zu Gebote, die ihm das,
was er noch zu wissen wünscht, in den meisten Fällen prompt melden. Aber
auch wenn diese versagen, weiß er hundertmal mehr, als er im Kriege wissen
würde. Die Tätigkeit der Kavalleriepatrouillen gibt häufig den Außenstehenden
Gelegenheit zu abfälliger Beurteilung. Es läßt sich ja auch nicht bestreiten,
daß die Erkundungen manchmal unter auffälliger Verachtung des feindlichen
Jnfcmteriefeuers vorgenommen werden und demgemäß auch Ergebnisse liefern,
die keineswegs ein Bild von den wenigen ungenauen Meldungen geben, die
dieselbe Aufklärung im Kriege liefern würde. Man darf aber hierbei nicht
außer acht lassen, daß im Kriege nur dann eine Kavallerie überhaupt etwas
melden wird, wenn sie im Frieden dazu erzogen ist, unter allen Umständen
soweit vorzureiten, daß sie wirklich etwas sieht und meldet. Bringt man jedem
Kavalleristen im Frieden schon bei, daß er keinesfalls näher als tausend Meter
an einen feindlichen Jnfanteristen heranreitet, so kann man mit Sicherheit darauf
rechnen, daß er im Kriege zweitausend Meter weit wegbleibt, und die wenigen
Meldungen, auf die überhaupt im Felde zu rechnen ist, verlieren noch mehr
an Wert und Zahl. Daß es bei solchen Erkundungen nicht ohne Verluste ab¬
geht, das muß eben im Kriege ertragen werden. Die Ausbildung der Kavallerie
im Frieden ist jedenfalls auf dem rechten Wege, wenn von jeder Patrouille
unter allen Umständen eine Meldung vom Feinde gefordert wird. Schließlich
ist jede kriegsmäßige Aufklärung nur möglich, wenn die Patrouille weite Umwege
nicht scheut; denn wenn die feindlichen Vortruppen den Einblick von vorn ver¬
wehren, so muß man von der Seite oder von rückwärts heranzukommen suchen.
Solche Umwege kosten aber Zeit, und die ist im Manöver bei der Nähe, in
der die Parteien einander gegenüberstehn, und der Schnelligkeit, mit der sich
alles abspielt, meist nicht da, und so kommen ganz kriegsmäßig ausgeführte
Erkundungen mit ihren Meldungen fast immer zu spät. Außerdem kosten sie
den Pferden bedeutende Anstrengungen, eine Rücksicht, die im Kriege selbst¬
verständlich hinter höhern Anforderungen zurücktreten muß. Also auch in
der Aufklärung sehen wir unkriegsmäßige Erscheinungen, die mit Rücksicht aus
die Ausbildung der Truppe mit in Kauf genommen werden müssen.
Die genaue Kenntnis, die der Führer im Manöver vom Feinde hat — natür¬
lich kommen manchmal auch Überraschungen vor —, befreit ihn von der Vor¬
sicht, die man im Kriege fast immer findet. Deshalb geschehen alle Gefechts¬
entwicklungen im Frieden sehr rasch, häufig tragen sie sogar den Charakter
des Überhasteten. Kein Führer will sich vom Gegner in der Raschheit des
Entschlusses übertreffen lassen, und jeder sucht durch rasches Handeln alle
Vorteile auf seine Seite zu bringen. Kaum haben die Avantgarden mit¬
einander Fühlung genommen, so fährt schon die Artillerie im Trabe vor,
die Infanterie entwickelt sich, und in ein paar Stunden ist das Gefecht zu
Ende. Die Jnfcmterieangriffe sehen manchmal so aus, als ob die einzelnen
Kompagnien oder Bataillone um die Wette an den Feind heranlaufen wollten.
Auch dann, wenn der anzugreifende Gegner von vornherein in einer festen
Stellung steht, wenn also Schnelligkeit im Handeln dem Angreifer gar keine
Vorteile verspricht, auch dann spielt sich ein Manöverkampf meist in einem
Vormittage von Anfang bis zu Ende ab. Die Wirklichkeit bietet ein ganz
andres Bild. Napoleon charakterisiert seine Schlachteinleitungen durch das
bekannte Wort: D'adorÄ Z'övKÄMr et xnis voir. Die einleitenden Kämpfe der
Vortruppen gaben ihm allmählich ein Bild von dem, was der Feind wollte
und tat; und erst auf Grund dieser Wahrnehmungen setzte der Kaiser seine
Massen zum entscheidenden Schlag auf der schwachen Stelle des Feindes ein.
Dieser Grundsatz ist heute noch richtig, aber natürlich verlaufen die Dinge
anders. Das „Sehen" ist schwerer geworden. Die heutige weite Wirkung
der Schußwaffen gibt auch schwachen Vortruppen die Möglichkeit, sich den
Feind weit vom Halse zu halten, und was Friedrich der Große — man denke
an die Erkundung aus der Bodenluke vor der Schlacht bei Roßbach — und
Napoleon mit ihren eignen Augen sahen, das muß sich heutzutage der Führer
aus allen möglichen Meldungen, einzelnen Beobachtungen vorgeschobner Truppen¬
teile, aus Fesselballons und andern oft recht zweifelhaften Nachrichten kombi¬
nieren. Es liegt auf der Hand, daß dadurch die Einleitung des Kampfes
langsamer wird. Deutlich ist dies an dem Verlaufe des ostasiatischen Krieges
zu sehen. So lückenhaft die Nachrichten über diesen Krieg bis jetzt find, so
steht doch fest, daß die Japaner ihren Feinden sehr lange, oft tagelang un¬
mittelbar gegenüber gelegen haben, so nahe, daß sich ihre vordersten Linien
beschießen konnten, ehe es zum entscheidenden Angriff kam.
So wie sich die Einleitung des Kampfes verlangsamt, so verlangsamt sich
im Kriege auch seine Durchführung. Wie man in jedem Manövergefecht sehen
kann, wird in einem modernen Gefecht die Entscheidung meist dadurch erstrebt, daß
der Angreifer die Flanke des Gegners zu gewinnen sucht und durch Entwicklung
überlegner Kräfte gegen diese den Gegner auf einem Flügel niederzukämpfen
sucht, um dann seine Frontlinie von der Seite aufzurollen. Die eigentliche
Front des Gegners wird, wenn sie gut gewählt ist, meist für so stark gehalten,
daß ein Angriff auf sie, wenn überhaupt, nur unter großen Opfern und mit
großem Zeitverlust Erfolg verspricht. Ob diese Ansicht richtig ist, kann nur
der Krieg selbst entscheiden. Es scheint, als ob der Krieg in Ostasien unsre
Anschauungen in diesem Punkte auch etwas ändern werde.
Im Manöver spielt sich jedenfalls ein solcher Angriff sehr rasch ab.
Sobald sich die Avantgarde des Angreifers frontal entwickelt hat und den Ver¬
teidiger dadurch gezwungen hat, Farbe zu bekennen, d. h. seine Stellung zu
besetzen, wird der Befehl zur Umfassung gegeben. Die Frontausdehnung beim
Feinde ist meist sehr rasch erkannt; die Infanterie geht, sobald sie sich ent-
Wickelt hat, ununterbrochen vor, und je nach der Wirkung, die ihrem Feuer
und dem ihrer Artillerie zuerkannt wird, wird durch den leitenden Offizier der
Angriff für erfolgreich oder für mißlungen erklärt, und der Geschlagne geht
zurück. Im Kriege dauert das stunden- oder tagelang. Abgesehen davon,
daß im Kriege die feindliche Frontausdehnung und die Lage des zu um¬
fassenden feindlichen Flügels oft sehr spät erkannt wird — am 18. August 1870
wußte man erst am Abend, daß sich der rechte französische Flügel, auf dem
schließlich die Entscheidung siel, bis Roncourt ausdehnte —, ist mit dem bloßen
Umfassen dieses Flügels der Erfolg noch lange nicht erkämpft. Der Ver¬
teidiger, der seinen schwachen Punkt ja am besten kennt, wird entweder durch
Zurücknehmen seines Flügels die Umfassung überhaupt zu vereiteln suchen,
oder er stellt seine zurückgehaltnem Reserven so auf, daß er eine neue Front
uach der Seite bilden kann. So wird aus der Umfassung wieder ein frontaler
Angriff, und erst wenn dieser mit so überlegnen Kräften geführt wird und so
vorwärts schreitet, daß der Verteidiger fürchten muß, von seiner Nückzugslinie
abgedrängt oder vernichtet zu werden, wird er sich für besiegt halten, und
wenn dies die Lage erlaubt, zurückgehn, solange er noch hoffen kann, dadurch
glimpflicher davonzukommen. Man sieht also, daß das Gefühl, umfaßt zu
werden, immer mehr bei den Führern wachgerufen wird als bei der Truppe,
besonders in großen Verhältnissen. Diese kämpft — Fülle von Überraschungen
ausgenommen — immer frontal. Ein solcher Frontalkampf ist aber ein müh¬
sames wechselvolles Ringen um die Überlegenheit im Infanterie- und Artillerie¬
feuer. Der Jnfanteriekampf sieht im Ernste anders aus als im Manöver.
In stundenlangen Feuerkampf liegen sich die Linien gegenüber. Gelingt es
hier und da einzelnen Teilen, näher an den Feind heranzukommen, so erfolgen
andrerseits auch wieder Rückschläge, bis es vielleicht der Artillerie der einen
Partei gelingt, die feindliche Artillerie soweit niederzukämpfen, daß sie in den
Kampf der Infanterie eingreifen kann. Diese muß inzwischen ihre sich lichtender
Linien durch Reserven immer wieder auf die Höhe der Feuerkraft bringen.
Dem wird der Sieg gehören, der die letzte Reserve in der Hand hat, und der
den Willen und die Nervenkraft hat, diesen langen Jnfanteriekampf bis zum
letzten Ende durchzuführen.
Stellt man sich so den Jnfanteriekampf vor, so wird man begreifen, daß
große Kavalleriemassen hier sehr wohl noch ein gewichtiges Wort mitreden
können. Sieht man eine solche Knvallerieattacke im Manöver, so kommt sie
freilich immer in das Schnellfeuer fo und so vieler in Reserve stehender
Jnfanteriebataillone, und es gehört keine Weisheit dazu, zu sagen, daß eine
solche Attacke aussichtslos sei. Im Kriege sieht es aber anders aus. Wenn
die Reserven, die hinter der Feuerlinie der Infanterie standen, größtenteils
verbraucht sind, wenn die Spannung des Kampfes ihren Höhepunkt erreicht
hat, und die Frage, ob das ganze Ringen vergeblich oder erfolgreich gewesen
sein soll, die Nerven des Offiziers und des Mannes auf das höchste spannt,
dann stelle man sich die Wirkung der vierundzwanzig heranbrausenden
Schwadronen einer Kavalleriedivision vor. Die Wirkung der Attacke der
Brigade Bredow am 16. August 1870 auf die Franzosen war so groß, daß
sie, die den Sieg über das dritte Armeekorps schon beinahe in der Hand
hatten, von allen weitern Angriffen abstanden. Die französischen Attacken (bei
Morsbronn am 6. August und bei Floing am 1. September 1870) mißlangen
aber, weil sie gegen intakte deutsche Infanterie gerichtet waren und geritten
wurde», als der Sieg der Deutschen schon sicher war. Die Kavallerie muß
aber im Frieden lernen, geeignete Lagen zum Angriffe zu erkennen und
auszunutzen, wenn sie es im Kriege können soll. Dabei verschlägt es nichts,
wenn das Bild im Manöver unnatürlich wird. Man muß eben an die Führer
die Anforderung stellen, daß sie das Bild der Lage so sehen, wie es sich in
Wirklichkeit dem Auge bieten würde. Es ist nicht möglich, einen Jnfanterie-
kampf auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprechend darzustellen. So be¬
gnügt man sich denn damit, ihn anzusetzen und glatt durchlaufen zu lassen,
sei es mit oder ohne Erfolg, dann die Truppe zur Ruhe übergehn zu lassen
und am nächsten Tage den Führer wieder vor eine neue Lage und neue Ent¬
schlüsse zu stellen. Attacken von Kavallerie gegen Kavallerie werden im Kriege
oft vorkommen. Denn die vorgeschobnen Kavalleriedivisionen können ihre
Aufklärungsaufgaben nur durchführen, wenn die feindliche Kavallerie aus dem
Wege geräumt ist, die bestrebt ist, die Bewegungen ihrer Armee dem Auge
des Feindes zu verbergen.
Es könnte nun jemand auf den Gedanken kommen, als solle der Wert
der Manöver hier bestritten werden. Nichts weniger als das. Die Manöver
find das beste und kriegsmäßigste Ansbildungsmittel, das es gibt. Die Truppe
wird durch sie an kriegsmäßige Anstrengungen gewöhnt, sie lernt sich in Kriegs-
vcrhältnisse hineindenken, und mit Recht betrachtet der Maun die Manöverzeit
als den Höhepunkt des militärischen Lebens. Sie offenbart ihm gewissermaßen,
wozu seine ganze Ausbildung gedient hat. Auch für den Offizier sind sie
unersetzlich. Taktische Aufgaben auf der Karte, Kriegspiele, Übungsritte und
Generalstabsreisen haben sicher für die Ausbildung der Offiziere manche Vor¬
teile, denn hier kann der Leitende ein vollkommen kriegsmüßiges Bild vor
dem geistigen Auge der Mitspielenden entstehn lassen; ein wirkliches Manöver
aber können sie trotz seinen vielen Unnatürlichkeiten nicht ersetzen, denn ihnen
fehlt eins, mit dem der Führer jeden Grades immer rechnen muß. Es ist das,
was Clausewitz „die Friktion" nennt. Der Krieg wird von Menschen geführt,
die allerlei menschlichem unterworfen sind. Ordonnanzoffiziere und Meldereiter
können stürzen, sich verreiten, Befehle können falsch bestellt werden oder ver¬
loren gehn, schlechtes Wetter oder schlechte Wege bewirken, daß die Truppen
zu spät oder an falsche Punkte kommen. Schließlich läßt jedes Wort, jeder
Befehl des Vorgesetzten verschiedne Auffassungen zu, je tüchtiger und energischer
der Untergebne ist, um so eher wird er bei der Ausführung eines Auftrags
seinen eignen Weg gehn. So muß sich ein Führer mit jedem Augenblick mit
neuen Verhältnissen abfinden, er muß es lernen, dem Untergebnen in der Er¬
füllung seiner Befehle jede mögliche Selbständigkeit zu lassen; denn der Unter¬
gebne, der an Ort und Stelle handelt, findet die Lage oft ganz anders, als
der weit entfernte Vorgesetzte sie bei seinem Befehl vorausgesetzt hat, und muß
nun selbständig handeln, wenn er dem Sinne des Befehls gerecht werden will.
Andrerseits muß der Führer aber auch lernen, ungesäumt da einzugreifen, wo
ein offenbares Mißverständnis seine Absichten zu gefährden droht. Diese
Friktionen überwinden lernt nur der, der mitten darin steht. Dafür ist das
Manöver unersetzlich.
ivntaigne hat noch altmodisches Französisch geschrieben. Das
heutige findet man zuerst bei Corneille, Moliere, Pascal,
Larochefoucauld und Lafontaine. Mit diesen pflegt die Aus¬
wahl von Musterstücken in unsern Schullesebüchern zu beginnen.
I Und da von den Werken der genannten drei Prosaiker Pascals
Pwvinzialbriefe zuerst erschienen sind, so haben sie ohne Zweifel in der Ent¬
wicklung der französischen Sprache Epoche gemacht; doch ist es wohl etwas
zu stark ausgedrückt, wenn Bruno von Herber-Rohow in seiner deutschen
Ausgabe von Pascals Gedanken (Leipzig, Eugen Diederichs, 1905) meint,
Pascal nehme in Frankreichs Literaturgeschichte dieselbe Stellung ein wie
Luther in der deutschen. An Popularität werden ja seine Jesuitenbriefe den
Reform- und Streitschriften Luthers gleichgekommen sein (die nach seinem Tode
herausgegebnen ?su8öW konnten ihrer Natur nach keine große Verbreitung
finden), aber was will die eine satirische Streitschrift bedeuten gegen die
deutsche Bibel und die ganze Bibliothek, die Luther außerdem noch geschaffen
hat! Immerhin bleibt uns Pascal auch literarisch interessant, in höherm
Grade freilich als Ncligionsphilvsoph und Jesuitengegner. Es sind Fragen
der Christenheit, der Menschheit, die der geniale Mathematiker zu beantworten
sucht, nicht Fragen eines vergänglichen Zeitinteresses, wie Rudolf Eucken her¬
vorhebt, der eine „Einführung in Pascal" zu der deutschen Ausgabe der Ge¬
danken beigesteuert hat. Die Art und Weise allerdings, wie Pascal diese
Fragen behandelt, ist unsrer heutigen Zeit fremd. Im sechzehnten und im
siebzehnten Jahrhundert war der Glaube an Teufel und Hölle mächtig, was
sich aus dem Umstand erklärt, daß überall Scheiterhaufen lohten, und daß
die greuliche sogenannte Justiz und die barbarische Kriegsart dem Volke überall
Höllenszenen vorführten. Wer darum Ursache zu Gewissensangst zu haben
glaubte, bei dem steigerte sie sich leicht zum Wahnsinn, oder sie umhüllte
wenigstens sein ganzes Gemüt mit Düsterkeit. Und in den feinern Seelen mußte
der Anblick der Menschen, die diese Höllenszenen aufführten, Abscheu vor der
Menschheit erregen. Im Jahre 1778, wo schon die Humanität zum Durchbruch
gekommen war, schrieb der Herzog von Larochefoucauld, den 1789 ein Steinwurf
getötet hat, an Adam Smith einen Brief, worin er seines Großvaters pessi¬
mistische Beurteilung der Menschennatur entschuldigt: der Verfasser der Maximen
habe die Menschen vorzugsweise bei Hofe und im Bürgerkriege beobachtet, also
auf zwei Schauplätzen, in denen sie ihre schlechtesten Eigenschaften zu entfalten
pflegen. Pascal hatte kein andres Beobachtungsmaterial, und dazu kam samt
seelischen Erschütterungen, die von außen verursacht wurden, die betrübende
Erfahrung, die er in einem kurzen Abschnitt seines Lebens machte, daß er nicht
besser sei als die andern. Dreiundzwanzig Jahre alt, brach er ein Bein, die
beiden Ärzte aber, die ihn behandelten, gehörten der Jansenistengemeinde von
Port Royal an. Während sie sein Bein behandelten, arbeiteten sie zugleich
an der Bekehrung seiner Seele, und der junge Gelehrte, der zwar nicht un¬
gläubig gewesen war, dessen Religion sich aber auf die konventionelle Be¬
folgung der Kirchengebote beschränkt hatte, warf sich nun auf die Theologie
und bewies seinen Eifer zunächst dadurch, daß er einen alten Kapuzinermönch,
der mystische Bücher schrieb, wegen Ketzerei beim Erzbischof denunzierte. Aber
diese erste Bekehrung hielt der Versuchung nicht stand. Pascal, der bis dahin
von Kindheit auf nur den Wissenschaften gelebt hatte, geriet in den Strudel
der Pariser Gesellschaft und nahm an deren Exzessen teil. Das hielt weder
sein zarter, durch geistige Überanstrengung geschwächter Leib aus, noch seine
ebenso zarte Seele. Der erste strafte ihn mit Krankheitsleiden, die erst sein
früher Tod endete, die zweite durch den moralischen Katzenjammer, der eine
Stimmung erzeugte, die der Luthers im Kloster sehr ähnlich war und ihn
der lutherischen Auffassung der Rechtfertigung nahe brachte. Aber da er an
der katholischen Orthodoxie festhielt, so entstand ein sonderbares Gemisch re¬
formierter und scholastischer Ansichten. Vollendet wurde seine Bekehrung durch
die Resignation auf eine hoffnungslose Liebe. Als Liebhaber hat er Be¬
trachtungen über die Liebe niedergeschrieben, die in die vorliegenden beiden
Bändchen aufgenommen worden sind. Hütte er das voraussehen können, so
würde er sich nach seiner endgiltigen Bekehrung, die auch wohl als zweite
Bekehrung dargestellt wird, sehr darüber betrübt haben, denn es kommt unter
andern von seinem spätern Standpunkt aus anstößigen Sätzen auch einer vor,
den er geradezu verdammcnswert gefunden haben würde: „Der Mensch ist für
den Genuß geboren." Bei seinem tiefen, düstern Ernst würde er durch theo¬
logisches Studium Gegner der Jesuitenmoral geworden sein, auch wenn er
nicht in die Genossenschaft von Port Royal eingetreten wäre, die aus der Be¬
kämpfung des Jesuitismus ihre Lebensaufgabe gemacht hatte. Was die be¬
rühmten liöttrss se-riefs xs.r Ilvuis ac Nontalts g. rin xrnvinoial as se-s amis
anlangt, so behauptet Naumann (Pilatus), daß die darin enthaltnen Zitate
aus Jesuitenschriften tendenziös zugestutzt und ungenau seien. Pascal selbst
habe nicht gefälscht, wohl aber seine Freunde, die das Material für seine
Schrift zusammengesucht Hütten. Seine eigne, der jesuitischen entgegengesetzte
Philosophie und Moral gedachte er in einem großen apologetischen Werke zu
entwickeln. Er hat aber, unter schweren körperlichen Leiden, nur Bruchstücke
zustande gebracht, die 1670, acht Jahre nach seinem Tode, unter dem Titel:
?su8S<Z8 als ?As<zg.1 sur 1a rslission se sur ni'autrss 8nMs herausgegeben
worden sind.
In der Gestalt, die das Werk von seinen Redaktoren empfangen hat,
beginnt es mit einer erkenntnistheoretischen Abhandlung, in der gezeigt wird,
daß und warum die Mathematik die einzige Wissenschaft sei, die ihr Ziel er¬
reiche, das heißt: zu vollkommen sichern Ergebnissen gelange. In allen übrigen
Wissensgebieten hindert, nach seiner Ansicht, zweierlei die Erreichung dieses
Zieles. Einmal die Neigung und die Gewohnheit der Menschen, in Sachen
der Erkenntnis nicht, wie sichs gebührt, das Erkenntnisvermögen, sondern den
Willen entscheiden zu lassen. Wir halten für wahr, was uns gefällt. Das
ist nach Pascal der richtige Weg zur Erkenntnis der göttlichen Dinge. Im
Gebiete des Übernatürlichen gilt nicht der Satz: lAvoti iMIg. ouxiäo, sondern
der umgekehrte: Man muß Gott lieben, um ihn erkennen zu können. Das
setzt offenbar eine magische Anziehung voraus; denn wie sollte man ohne eine
solche einen Gegenstand lieben, von dem man nichts weiß? Pascal versichert
denn auch, daß wir auf natürliche Weise von Gott nichts wissen können, und
da der Glaube an übernatürliche, ohne Vermittlung natürlicher Werkzeuge
zustande gebrachte Wirkungen ganz allgemein Mystik genannt wird, so ist
Pascal den Mystikern beizuzählen, was Euckeu nicht zugeben will. Das
andre, was in allen stofflichen Wissenschaften die Erlangung sicherer Ergeb¬
nisse hindert, ist die von Gott getroffne Einrichtung unsers Erkenntnisver¬
mögens, das uns weder in völliger Unwissenheit verharren noch zu einer
sichern und vollständigen Erkenntnis des Weltalls gelangen läßt. „Nichts
steht für uns fest. Das ist unser natürlicher Zustand, der unsern Wünschen
stets zuwiderläuft. Wir brennen vor Verlangen, einen festen Standpunkt zu
erreichen und einen festen Grund zu finden, um darauf eiuen Turm zu bauen,
der sich in die Unendlichkeit erhebt." Doch alle unsre angefangnen Bauten
brechen bald zusammen und versinken ins Bodenlose.
Wir glauben als Grund dieser Einrichtung der Menschennatur erkannt
zu haben, daß Kraftbetätigung den Inhalt des irdischen Menschenlebens aus¬
macht, und daß darum der Mensch, wenn es ihm an Gelegenheit zur Kraft¬
betätigung niemals fehlen soll, niemals zu einem Ruheziele gelangen darf,
weder im Gebiete der Forschung noch mit seiner auf persönliches und soziales
Glück gerichteten Tätigkeit. Pascal aber gibt der UnVollkommenheit aller irdischen
Erkenntnis eine Wendung auf die paulinisch-augustinische Prädestinationslehre,
die in seiner Zeit von zwei einander feindlichen Lagern, dem jansenischen und
dem kalvinischen, erneuert worden war. Die katholische Kirche lehrt mit der
Bibel, daß Gott aus seinen Werken erkannt werden könne, und daß ihn
die Heiden tatsächlich erkannt haben. Die Offenbarung erleichtere nur, be¬
kräftige und befestige diese natürliche Gotteserkenntnis und enthülle außerdem
die dem natürlichen Verstand unzugänglichen Geheimnisse der Trinität und
der Erlösung durch den mcnschgewordnen Gottessohn. Pascal behauptet
dagegen, es gebe gar keine natürliche Gotteserkenntnis. Die Erkenntnis
Gottes sei ein Werk der Gnade. Die Natur spreche nicht von Gott oder doch
nur zu denen, die ihn schon durch die Gnade erkannt haben. Daß böse
Neigungen und Gelüste die Gotteserkenntnis hindern, lehrt auch die Bibel
und nach ihr die Kirche. Pascal aber führt den Unglauben und die Nicht-
kenntnis Gottes ganz allgemein auf bösen Willen und lasterhafte Gesinnung
und diese wiederum auf die Prädestination zurück. Eben deswegen hat Gott
es im übernatürlichen Gebiet ebenso eingerichtet wie im natürlichen. Auch die
Heilige Schrift ist unklar; der Mensch vermag aus ihr einiges, aber nicht alles
zu erkennen. Gott enthüllt sich teils, teils verbirgt er sich, damit der Mensch
Gelegenheit habe, seinen guten Willen durch den Glauben, seinen bösen durch
den Unglauben zu beendigen. Er enthüllt sich aber nur denen, die gutes
Willens sind, den übrigen verbirgt er sich, und er spendet den guten Willen
nur denen, die er erwählt hat. Den Auserwählten gereichen alle Dinge zum
besten, auch die Unklarheiten der Bibel; den Verworfnen gereicht alles zur
Verdammnis, auch die Offenbarung, die sie schmähen, weil sie sie nicht
verstehn.
Dem Begnadigten, der an die Offenbarung glaubt, entwirren sich die
Rätsel des Lebens. Das größte Rätsel für den Menschen ist er selbst. Sein
Ich ist hassenswert. Es macht sich ungerechterweise zum Mittelpunkte der
Welt, und es macht sich den andern lästig; jedes Ich ist der Feind aller
übrigen. Alles Natürliche ist verdammenswert, darum ist der Haß gegen uns
selbst die wahre, ja die einzige Tugend. Wie ist es nun aber möglich, daß
diesem verderbten Wesen die Vorstellung eines bessern Zustandes vorschwebt,
daß es sich in seiner Schlechtigkeit elend fühlt und daraus errettet zu werden
verlangt? Die Offenbarung löst dieses Rätsel durch die Lehre vom Sünden¬
fall. Wäre der Mensch immer verderbt gewesen, so hätte er keine Ahnung
weder von der Wahrheit noch vom Glück. Weil er ursprünglich gut und voll¬
kommen gewesen ist, hat er die Erinnerung an seinen Urzustand bewahrt und
ist von der Sehnsucht nach seiner Wiederherstellung erfüllt. Die Philosophen,
die von der Offenbarung nichts wissen und die beiden einander widersprechenden
Tatsachen nicht zu vereinigen verstehn, entscheiden sich für die eine von beiden.
Die Epikureer lassen sich die Ohnmacht und die Schlechtigkeit der Menschennatur
gern gefallen und sind damit aller lustigen Verpflichtungen ledig. Die Stoiker
fassen die ursprüngliche Hoheit der Menschennatur ins Auge, übersehen ihre
jetzige Schwäche und fehlen durch Überhebung.
Ganz aus Luthers Geiste ist folgende Betrachtung geflossen. „Die meta¬
physischen Beweise des Daseins Gottes liegen dem gewöhnlichen Gedanken¬
gange der Menschen so fern und sind so verwickelt, daß sie wenig Eindruck
machen. Wenn diese Beweisführung auch bei manchen erfolgreich wäre, so
würde sie doch keine nachhaltige Wirkung erzielen. Außerdem können solche
Beweisführungen nur zu einer theoretischen Erkenntnis Gottes führen; und
Gott so erkennen, heißt ihn gar nicht erkennen. Die Christen beten nicht zu
einem Gott, der bloß Schöpfer der mathematischen Wahrheiten und der Natur¬
gesetze wäre; so denkt sich der heidnische Philosoph seinen Gott. Ihre Gott¬
heit ist auch nicht bloß ein Herrscher, der über das Leben und das Glück der
Menschen Wacht, um seine Verehrer zu belohnen; so denken sich ihn die Juden.
Der Gott der Christen hingegen ist ein Gott der Liebe und des Trostes;
dieser Gott erfüllt die Seele und das Herz seiner Anhänger; er läßt sie in
ihrem Innern ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit fühlen; er tritt
mit ihrer Seele in innigste Verbindung, erfüllt sie mit Demut, Vertrauen,
Freude und Liebe und macht sie unfähig, ein andres Ziel als nur ihn zu er¬
blicken." Also Pascals Glaube ist nicht ein Fürwahrhalten von Sätzen, die
mit dem Verstände aufgefaßt werden, sondern wie der Glaube Luthers ein
persönliches Verhältnis zu Gott, das innerlich erfahren wird und beglückt.
Aber wie sehr unterscheidet er sich von Luther in allem übrigen! An der
Autorität der römischen Kirche hält er fest, nur daß er, weil der Papst gegen
Jansenius entschieden hat, nicht mehr ihn, sondern die Gesamtkirche für un¬
fehlbar halten will. Der möglicherweise im Reinigungsort büßenden Seele
des verstorbnen Vaters glaubt er mit Gebet und Almosen zu Hilfe kommen
zu müssen. Die Transsubstantiation verteidigt er eifrig. Vor allem aber:
in den Wundern sieht er den Beweis für die Wahrheit des katholischen
Glaubens; Ketzer können keine Wunder wirken; den Gebeinen der Heiligen
traut er Wunderkraft zu, und mit einem Wunder verteidigt er sich und die
Sache des Jansenius gegen die Jesuiten. Die Kirche der Nonnen von Port
Royal de Paris besaß als größtes Heiligtum einen angeblichen Dom aus der
Dornenkrone Jesu (diese Nonnen waren dahin aus ihrem ursprünglichen, sechs
Meilen von Paris liegenden Kloster versetzt worden, und in dieses, Port
Royal des Champs, zogen Se. Cyran, Antoine Arnauld und die übrigen
frommen Männer ein, die dort mit Bußübungen und heiliger Wissenschaft be¬
schäftigt, als Bekämpfer der Jesuiten und — der Kalvinisten berühmt geworden
sind). Vor diesem zur Verehrung ausgestellten Dorn wurde eine Nichte
Pascals von einem Augenübel befreit, und in diesem Wunder, das nicht das
einzige blieb, sah Pascal die Entscheidung Gottes für Port Royal gegen die
Jesuiten. Es geht die Sage, schreibt er, „die Jungfrauen von Port Royal
wandelten den Weg des Verderbens, ihre Beichtväter führten sie nach Genf
und lehrten sie, daß Jesus Christus weder im Abendmahl gegenwärtig sei
noch zur Rechten des Vaters sitze. Die Jungfrauen wandten sich mit den
Worten des Psalmisten an Gott: »Siehe, ob ich auf bösem Wege bin.« Was
ereignete sich daraufhin? Gott machte diesen Ort, den man für eine Stätte
des Teufels ausgibt, zu seinem Tempel. Man droht den Bewohnerinnen mit
allen Schrecken und Strafen des Himmels, Gott aber überhäuft sie mit Be¬
weisen seines Wohlgefallens. Man müßte den Verstand verloren haben, wenn
man aus diesen Beweisen schließen wollte, daß sie auf Abwegen seien. Die
Jesuiten entblödeten sich nicht, diese Schlußfolgerung zu ziehn; denn für sie
ist jeder, der gegen sie auftritt, ein Ketzer. Dies hat ihnen noch zur voll-
stündigen Vernichtung der Grundlagen der christlichen Religion gefehlt. Denn
die drei Kennzeichen der wahren Religion sind die Beständigkeit in der Lehre,
der gerechte Lebenswandel und die Wunder. Die erste haben sie durch ihre
neue Lehre vom Probabilismus vernichtet, den zweiten durch ihre verderbte
Moral; jetzt wollen sie die Wunder vernichten, indem sie entweder ihre Echt¬
heit oder ihre wahre Bedeutung leugnen."
Pascals unsterbliche Provinzialbriefe, bemerkt der Übersetzer der „Gedanken"
sehr richtig, haben den Untergang der Jcmsenisten nicht aufhalten können, da¬
gegen sind die Jesuiten trotz allen vernichtenden Streichen, die sie damals und
später getroffen haben, heute mächtiger als je. Die Ursache dieses verschiednen
Erfolgs sei, daß die individualistische Religion, die ganz persönliche, aus dem
Bedürfnis des Herzens einer bedeutenden Persönlichkeit hervorgegangne nie¬
mals Volksreligion (Herber - Nohow schreibt soziale Religion) werden könne.
Auch die Religion der Reformatoren würde eine solche nicht haben werden
können, wenn es nicht gelungen wäre, sie dem Bedürfnis der Masse einiger¬
maßen anzupassen (Herber schreibt ein wenig unklar: das sei dadurch gelungen,
daß sich die anfangs rein subjektiv gedachte Rechtfertigung durch den Glauben
bald auch als im sozialen Sinne verwertbar erwies). „An der Nichtigkeit des
Grundgedankens der Jesuiten konnte weder seine frevelhafte und maßlose An¬
wendung durch unwissende Handlanger noch die ungeschickte Verteidigung seiner
Verfechter etwas ändern."
Mit andern Worten: unter hunderttausend Menschen gibts kaum einen,
der durch innere Erfahrungen, wie sie Luther und Pascal gemacht haben, zu
seiner eignen, ganz individuellen — Kant würde sagen autonomen — Religion
gelangte. Soll die Masse Religion haben, so muß ihr eine fertige in Gestalt
eines Lehrgebäudes und eines damit verbundnen Kultus dargeboten und an¬
erzogen werden. Diese Religion wird bei den meisten sehr äußerlich bleiben,
bei vielen in Aberglauben oder in Fanatismus ausarten, und die Beweggründe
des Glaubens werden im allgemeinen weder edel noch erhaben sein. Das ist
der Zustand der Christenheit seit Konstantin. Pascal fand diesen Zustand
höchst beklagenswert. Er bemerkt ganz richtig, daß er unvermeidlich wurde,
sobald nicht mehr bloß Erwachsne aus Überzeugung und mit Opfern in die
Kirche eintraten, sondern durch die Kindertaufe der ganze Nachwuchs ohne
eigne Wahl zu Christen gemacht wurde. Die Kirche dürfe, fügt er begütigend
hinzu, für dieses Unheil nicht verantwortlich gemacht werden, denn sie sei bei
der Änderung der ursprünglichen Einrichtung von den besten Absichten geleitet
worden. Orthodoxe Katholiken — und die Jesuiten sind die allerorthodoxesten_
sehen darin gar kein Unheil, weil sie glauben, daß die Kindertaufe zusammen
mit der spätern Absolution Milliarden Seelen vor der ewigen Verdammnis
bewahre. Andre, zu denen wir selbst gehören, halten die Erziehung des jungen
Geschlechts im Christentum deswegen für einen löblichen Brauch, weil er,
wenn er auch aus den Getauften nicht lauter vollkommne Christen macht, doch
ihnen eine Menge schätzenswerter seelenguter vermittelt.
Im heutigen Streit um den Jesuitismus nimmt selbstverständlich alles,
was nicht katholisch ist, für Pascal gegen die Jesuiten Partei, samt denen,
die sich moderne Menschen nennen. Auf den Wissenden wirkt das einiger¬
maßen komisch. Der Kirchenhistoriker Hase sagt, den gesunden Menschenver¬
stand hätten die Jesuiten für sich gehabt. Wenn man einem beliebigen Welt¬
manne die Moral der Jesuiten — natürlich nicht in satirischer Verzerrung —
und die Pascals vorlegte, ohne die Personen zu nennen, so würde er sich
ohne Schwanken für die Jesuitenmoral entscheiden und die des Philosophen
von Port Royal ablehnen. Auch die Philosophie der Jesuiten würde er, das
daran haftende Dogmatische abgerechnet, der ihres Gegners vorziehn. Die
Philosophie verspotten, meint Pascal, das sei die wahre Philosophie. Die
Lehre des Kopernikus hält er für etwas verhältnismäßig gleichgiltiges, die
von der Unsterblichkeit der Seele für das allerwichtigste. Alle Religionen
und Sitten der Welt, schreibt er, „haben sich der natürlichen Vernunft als
Führerin bedient. Die Christen allein sind verpflichtet, die Lehren und Vor-
schriften ihrer Religion von außen, von Christus entgegenzunehmen. Diese
Verpflichtung ist den guten Jesuiten lästig geworden. Sie möchten gleich den
Heiden die Freiheit haben, ihren eignen Eingebungen folgen zu dürfen. Ver¬
gebens erheben wir unsre Stimme und rufen ihnen zu, wie vormals die Pro¬
pheten den Juden: Kehret zurück in den Schoß der Kirche und wandelt nach
ihren Gesetzen! Sie antworten uns wie die Juden: Wir folgen diesen Ge¬
setzen nicht; wir wollen gleich den Heiden auf die Stimme unsers Herzens
hören." Alle Vergnügungen erklärt er für gefährlich. (Unschuldigen Natur¬
genuß, harmlose gemütliche Unterhaltung unter verständigen Freunden mag ja
die Pariser Gesellschaft nicht gekannt oder nicht zu den Vergnügungen ge¬
rechnet haben.) Das Theater aber sei das allergefährlichste; besonders aus
folgendem Grunde. „Es stellt die Leidenschaften so lebenswahr dar, daß es
sie in unsern Herzen entfacht und entfesselt. Und namentlich die Liebesleiden¬
schaft wird dann am allergefährlichsten, wenn sie recht keusch und sittsam dar¬
gestellt wird. Je harmloser sie sich den unschuldigen Seelen darbietet, desto
leichter kann sie von ihnen Besitz ergreifen." Er eignet sich ein Wort des
Augustinus an, jede Seele hege in sich eine Schlange, eine Eva und einen
Adam. Die Schlange, das seien unsre Sinne; Eva sei die fleischliche Be¬
gierde, und Adam die Vernunft.
Vor einigen Jahren hat der Jesuit Kreiten in den Stimmen aus Maria
Laach Pascals ?M8of8 kritisiert. Er wirft ihnen natürlich übertriebnen
Rigorismus vor. Pascal erkläre es schon für unerlaubte Zärtlichkeit, wenn
eine Mutter ihr Kind liebkost, und würde es für eines Christen unwürdig
gehalten haben, Spaß zu versteh» oder gar Spaß zu machen. Er behaupte,
es gebe eigentlich gar keine Liebe zum Menschen, denn man liebe nicht dessen
Substanz, sondern nur seine Eigenschaften, zum Beispiel seine Schönheit und
seinen Verstand. Ich liebe aber, bemerkt der Jesuit dagegen, „den schönen
und gescheiten Menschen wirklich, und daran ändert die Tatsache nichts, daß
ich den nicht mehr schönen, nicht mehr gescheiten Menschen vielleicht nicht mehr
liebe." Und Pascals Apologie des Christentums sei verfehlt. Er halte es
schon für jesuitischen Rationalismus und für einen Verstoß gegen das Erb¬
sünddogma, wenn man dem natürlichen, von der Glaubensgnade noch nicht
erleuchteten Menschen die Fähigkeit klarer Erkenntnis zuspreche. Pascal ver¬
suche zu zeigen, daß der Mensch ohne die Gnade rein gar nichts vermöge;
daß es keine natürliche Gerechtigkeit, keine natürliche Sittlichkeit gebe, und daß
man namentlich auch auf die reine Naturbasis keine feste bürgerliche Ordnung
gründen könne, weil alle bloß natürlichen Ordnungen nur auf äußerer
Nötigung beruhten, darum der innern Berechtigung und der Unantastbarkeit
entbehrten, sodaß niemand sich ein Gewissen daraus zu machen brauche, sie
umzustoßen, wenn sie ihm nicht passen. So beweise Pascal zuviel und
darum gar nichts für die Offenbarung und die Gnade. In der Tat hat
Pascal für die natürliche Gerechtigkeit nur Hohn und Spott. „Raub, Blut¬
schande, Kinder- und Vatermord sind schon als Heldentaten gefeiert worden.
Kann es etwas lächerlicheres geben, als daß ein Mensch, mit dem ich keinen
Streit habe, das Recht haben soll, mich zu töten, weil er jenseits des Wassers
wohnt, und well sein Monarch mit dem meinen Krieg führt? . . . Drei Grade
Polhöhe stoßen die ganze Rechtsgelehrsamkeit um, ein Längengrad entscheidet
über die Wahrheit. Gerechtigkeit ist für jeden Ort das, was dort gilt. Alle
unsre Gesetze werden ohne Prüfung bloß darum für gerecht gehalten, weil sie
gelten." Das Recht wird durch Macht begründet. Hat sich die Macht An¬
erkennung verschafft, hat sich ein Stand, in Frankreich der Adel, in der
Schweiz die Bürgerschaft, die Herrschaft erkämpft, so wird diese Herrschaft für
ein Recht gehalten. Erworben wird die Herrschaft durch Gewalt, ihre Fort¬
dauer beruht auf der — Einbildung der Beherrschten. Einen damit zusammen¬
hängenden Gedanken hat Adam Smith von Pascal übernommen: das Volk
werde von einem gesunden Instinkt geleitet, indem es die Menschen mehr nach
äußern Merkmalen: vornehmer Geburt und sichtbaren Abzeichen der Würde,
als nach ihrem innern Wert abschätze; denn dieser sei schwer erkennbar, und
so beruhe denn die ganze Staatsordnung auf der Torheit der Menschen, vor
Hermelin und Talaren, Baretten und Kronen, einer Eskorte von Hellebardieren,
Trommlern und Pfeifern tiefe Ehrfurcht zu hegen. Nur daß damit Pascal
die Kläglichkeit der sündhaften Menschennatur verspotten will, während der
optimistische Schotte in diesem wie in allen andern Volksinstinkten eine be¬
wunderungswürdige Einrichtung der gütigen und weisen Vorsehung zum Wohle
des Menschengeschlechts erkennt. Unter den Einfällen, mit denen Pascal die
Macht der Einbildung (hier in der Form des Liebeswahns) über die Menschen
verspottet, ist der hübscheste: „Wenn die Nase der Kleopatra ein wenig kürzer
gewesen wäre, so hätte die ganze Erde ein andres Aussehen."
Vielfach ist der Pessimismus Pascals weiter nichts als die asketische
Weltansicht der sogenannten Heiligen, wie sie in allen ältern Erbauungs¬
büchern ausgesprochen wird, sodaß die Jesuiten kein Recht haben, Pascal einen
Vorwurf daraus zu machen. Die Mönche der ältern Zeit haben die von
Jesus gebotne Sorge für die eigne Seele so verstanden, daß man durch Nach¬
denken über seinen Seelenzustand, durch Gebet und Kasteiungen die Seele
sozusagen unmittelbar bearbeiten müsse. Erst nachdem Luther gepredigt hatte,
ein Weib sorge am besten für seine Seele, wenn es Mann und Kinder gut
pflegt und das Hauswesen umsichtig und fleißig besorgt, hat sich auch in der
asketischen Literatur und im Ordenswesen der alten Kirche eine gesündere
Auffassung Bahn gebrochen, und die Jesuiten haben nicht am wenigsten davon
profitiert. Ganz im Sinne der altkirchlichen Asketik ist es, wenn Pascal das
Bedürfnis nach Anstrengung, Aufregung und Zerstreuung auf das Elend
unsrer sündhaften Seele zurückführt, die so häßlich sei, daß wir es nicht aus¬
hielten, sie anhaltend zu betrachten und mit ihr allein zu sein. Sehr richtig
führt er aus, wie auch ein König nicht zu leben vermöge ohne Zerstreuungen,
wie es nicht der Hase sei, der den Jäger beglückt, sondern die Jagd nach ihm,
wie es weniger der Sieg sei, den wir begehren, als der Kampf. Aber ganz
falsch ist es, wenn er sagt: „Wäre unser Zustand wirklich glücklich, so brauchten
wir unsre Gedanken nicht durch Zerstreuung von ihm abzulenken." Ohne
Tätigkeit ist gar kein Seelenzustand vorhanden, oder nur die peinigende Em¬
pfindung der Öde und Leere. Alles, was unsre Seele hat, ist Wirkung von
äußern Eindrücken und von unsrer Reaktion auf diese. Und das ist keine
Folge des Sündenfalls, sondern das Seelenleben, wie es Gott geschaffen hat;
ein andres vermögen wir uns gar nicht vorzustellen. Nicht daß die Herren
am französischen Hofe ohne Aufregung und Zerstreuung nicht leben konnten,
verdient Tadel, sondern nur, daß sie keine nützlichere Beschäftigung übten als
Jagd, Tanz, Ballspiel, Liebschaften, Klatsch und Ränke, doch war auch dieses
noch besser, als ununterbrochne Beschäftigung mit dem eignen Ich gewesen
sein würde, denn diese kann, nachdem die Erinnerungen an frühere Tätigkeiten
aufgebraucht sind, nichts andres sein als stupides Anstarren eines Nichts.
Nicht allein Pascal und die Männer von Port Royal sind den Jesuiten
unterlegen, sondern auch die altkatholischen Erneuerer ihres Kampfes. Man
würde aber irren, wenn man diesen Kampf für unfruchtbar und eitel hielte.
Luther, der seinen eigentümlichen, für keinen zweiten gangbaren Weg zu Gott
gefunden hatte und trotzdem auch den Massen ihren Weg zu bereiten ver¬
mochte durch ein dem Bedürfnis seiner Volksgenossen angemessenes neues
Kirchenwesen, ist einzig in seiner Art. Die kleinern unter den innerlichen
Geistern, die innerhalb der katholischen Kirche von Zeit zu Zeit reformieren,
bringen es zu keiner neuen Kirchengründung, aber ohne sie würde das zwar
für die Masse notwendige, doch eben darum rohe und äußerliche Christentum
den christlichen Geist ganz ersticken, unter eifriger Beihilfe der Priesterschaft,
die nur durch Nachgiebigkeit gegen die Wünsche und Neigungen der Masse
ihre Herrschaft behaupten kann. Wenn solche innerliche Geister bei ihrer
Neformtätigkeit in Übertreibungen verfallen und sich in Widersprüche verwickeln,
s
inzwischen war die Zeit des Apoldaer Schützenfestes wieder heran¬
gekommen, und als ich eines Tags in der Nähe des Schützeiiplatzes
zu tun hatte, wo gerade die Plätze versteigert wurden, traf ich meinen
ehemaligen Prinzipal Peter Böhme sowie den frühern Tierbändiger
! Webelhorst, der jetzt Geschäftsführer bei Kitzmanns war. Ich er-
I kündigte mich, ob Kitzmann auch nach Avolda komme, hörte aber, daß
dies nicht der Fall sei, da der Platz zu teuer wäre, dagegen würden sie auf alle
Fälle nach Weimar kommen. Ich beschloß deshalb, mit meiner Frau nach Weimar
hinüberzufahren, um meine ehemalige Herrschaft zu besuchen, wurde mit offnen
Armen empfangen und auf das beste bewirtet. Man sagte mir, daß ich zu jeder
Stunde wieder eintreten könnte, und wollte mich bereden, dies sofort zu tun. Am
nächsten Sonntag fuhr ich noch einmal hin, und auch da ließen sie nicht ab, mich
zum Wiedereintritt aufzufordern. Da die Jahreszeit schon weit vorgerückt war,
lehnte ich ab, deutete jedoch an, daß ich mich ihnen im nächsten Frühjahr wieder
anschließen werde.
Beim Schützenfest in Apolda machte ich in der freien Mittagszeit ein kleines
Geschäft mit dem Verkaufe von Wollwaren, die mir die fahrenden Leute, mit denen
ich ja gut bekannt war, gern abnahmen. So kaufte mir die Besitzerin des Zirkus
Börno für jede der sechs Damen, die bei ihr Parade machten, je eine Kopfhülle
ab. Als ich zu Neujahr 1890 von Kitzmann noch einmal eine schriftliche Ein¬
ladung erhielt, kündigte ich für Ostern und reiste in Gesellschaft eines Lithographen
namens Richard Schmidt aus Leipzig, dem ich bei Kitzmann ein Engagement ver¬
schaffen wollte, nach Harburg. Der Provisor der Stadtapotheke, die demselben
Besitzer gehörte wie die Löwenapotheke, war in der Anfertigung von schnapsen
sehr bewandert und gab mir zum Abschied eine Literflasche seines selbstgebrauten
Pomeranzenschnnpses. Um diesen kostbaren Besitz gegen unberufne Liebhaber zu
schützen, versah ich die Flasche auf beiden Seiten mit Giftetiketten. In der letzten
Nacht wurde Abschied gefeiert, und früh gegen vier wurde die Reise angetreten.
Am Abend gegen zehn langten wir endlich in Harburg an und wurden am
Bahnhof abgeholt. Es hatte sich doch manches verändert, von den alten Leuten
war gar keiner mehr da, und auch mein Freund Brunner war in seine Heimat
gereist. Da Webelhorst seine Stelle als Geschäftsführer aufgegeben hatte und wieder
bei der Böhmeschcn Menagerie war, wo er die Witwe des von den Löwen zer¬
rissenen Tierbändigers Schlüpfer geheiratet hatte, war Karl Lindig wieder bei uns
als Geschäftsführer eingetreten. Seine Frau, ebenfalls eine der Böhmeschen Töchter,
besorgte für uns die Wirtschaft und saß, wenn das Geschäft gut ging, an der Kasse.
Von unsrer Herrschaft reiste jetzt niemand mit, deshalb waren zur Kontrolle
Zahlbogen eingeführt worden, ans denen sich der Gang des Geschäfts ersehen ließ.
Diese Bogen mußten zusammen mit den Rechnungen für Spesen von jedem Platz aus
nach Harburg eingeschickt werden. Als wir in Stade waren, kam Mutter Kitzmann
sür einen Tag herüber und sah dabei zu, wie Frau Lindig uns das Frühstück zurecht¬
machte. Da sie hierbei allzu sparsam vorging, ließ Mutter Kitzmann ein paar Pfund
Gehacktes holen und zeigte ihr, wie die Leute zu frühstücken gewöhnt seien.
Von Stube ging es nach Lüneburg zum Markt. Dort stand in unsrer Nähe
eine Athletendame, die mit jedem Herrn aus dem Publikum zu ringen bereit war.
Natürlich waren diese Herren „auf die Viole gestempelt," d. h. gekauft und waren
deshalb verpflichtet, sich besiegen zu lassen.
Unser nächster Platz war Gardelegen, ein altertümliches malerisches Städtchen.
Dort erschienen zwei Zeitungen, deren Besitzer sich bei uns um Annoncen bemühten.
Der eine davon sollte auch ein Inserat bekommen, wenn er sich bereit erklärte, auch
die Streifen für unsre Plakate zu drucken. Da er das nicht wollte, wurde die
Annonce in die andre Zeitung eingerückt, was der Besitzer der ersten so übel nahm,
daß er einen Artikel über unser Karussell brachte, worin er dieses schlecht machte.
Wir antworteten mit einem Gegenartikel in der andern Zeitung, und diese literarische
Fehde erregte in dem kleinen Neste so großes Aufsehen, daß sich das Publikum
aus lauter Neugier zu unserm Karussell drängte, und wir dadurch ein Vorzüge
liebes Geschäft machten. Über Stendnl reisten wir nach Stargard in Pommern.
Hier kamen wir zum Pfiugstschießen an. Auf dem Festplatze traf ich meinen frühern
Prinzipal, den ehemaligen Schaukelbesitzer Martin Heinemann, wieder, bei dem ich
im Jahre 1880 in Zwickau tätig gewesen war, und der jetzt ein Panorama und
eine Schießbude hatte. Eines Mittags, als ich im Wagen lag und schlief, träumte
mir, ich wäre nach Apolda gekommen, hätte dort ausgeladen und wäre bei strömendem
Regen nach Hause gegangen. Dabei hätte ich bemerkt, daß die Blumen an den
Fenstern meiner Wohnung verschwunden waren, und hätte, als ich dann das Haus
betrat, das Nest leer gefunden. Ich legte diesem Traume keine Bedeutung bei,
aber er ist mir aus Gründen, deren ich später gedenken werde, bis heute in der
Erinnerung geblieben.
Über Treptow, Demmin und Stralsund reisten wir zum Bnndesschießen nach
Pankow. Dort war der Boden so sandig, daß die Wagen bis an die Achsen ver-
sanken. Wir hatten vor jeden: Wagen vier Paar Pferde, mußten aber ununterbrochen
mit Winden und Bohlen nachhelfen, was ein schweres Stück Arbeit war. Wir
hatten damit von zehn Uhr am Morgen bis drei Uhr am Nachmittag zu tun. Bei
dem Berliner Bundesschießen trafen wir viele Bekannte aus Süddeutschland, über¬
haupt war das Fest sehr gut besucht, und wir machten namentlich Sonntags ein
vorzügliches Geschäft. An die Maschine wurden bei dem starken Betriebe große
Anforderungen gestellt, und ich hatte, als wir an einem Sonntag sechzehn Touren
in der Stunde machten, den Maschinisten ermahnt, gehörig zu schmieren. Das
mußte er aber doch wohl versäumt haben, denn plötzlich gegen elf Uhr stand die
Maschine still. Ich ließ den Dampf absperren und unterzog die Maschine einer
genauen Untersuchung. Dabei stellte sich heraus, daß die Scheibe an einem der
Exzenter, die auf jeder Seite der Maschine von der Kurbel aus nach dem Schieber¬
kasten gehn, festgebrannt war. Da es eine Zwillingsmaschine war, mußte sich
folglich die eine Exzenterstange aus ihrer Form verbiegen, was das Stillstehn
zur Folge hatte. Ich löste mit Hilfe des Schraubenschlüssels die Scheibe, kühlte
sie in Wasser, reinigte sie und schmiedete dann auf einem eisernen Träger die
Eisenstange so lange, bis sie in Form der andern einigermaßen genau entsprach,
Wobei ich mit einem Bindfaden von Zeit zu Zeit Maß nahm. So wurde der
Schaden, während das Publikum das Karussell wartend umdrängte, in kurzer Zeit
wieder so weit geheilt, daß wir bis zum Schlüsse fahren konnten, wobei allerdings
ein verdächtiges Pfeifen der Stopfbüchsen am Schieberkasten verriet, daß meine
Reparatur doch uicht so ganz vollkommen war. Am andern Tage wurde dann ein
Maschinenbauer zu Rate gezogen, der die Maschine wieder in Stand setzte. Am
letzten Sonntag ging das Geschäft am besten; wir ließen uns von jedem, der fuhr,
gleichviel, ob es ein Erwachsner oder ein Kind war, zehn Pfennige bezahlen und
machten eine Einnahme von dreizehnhundertsiebzig Mark.
Am andern Morgen reisten wir dann nach Burg bei Magdeburg. Von dort
fuhr unser Geschäftsführer nach Apolda zur Platzversteigerung und besuchte bei
dieser Gelegenheit auch meine Frau, der ich eine Kanarienvogelzucht eingerichtet
hatte. Ich erstaunte deshalb nicht wenig, als mir Lindig mitteilte, meine Frau
habe alle Vögel verkauft. Auf der Reise nach Weimar blieb ich mit Lindig und
seiner Frau in Apolda und lud sie ein, in meiner Wohnung zu übernachten. Meine
Frau empfing mich nicht gerade mit offnen Armen, und es wäre zu ernstem Streite
gekommen, wenn sich nicht Lindig ins Mittel gelegt hätte. Am andern Morgen
reisten wir nach Weimar, ich kehrte aber, da unsre Wagen noch nicht angekommen
waren, für den Rest des Tages nach Apolda zurück und war am nächsten Morgen
wieder in Weimar. Dort geriet ich während des Ausladens mit dem Geschäfts¬
führer in Meinungsverschiedenheiten und trat aus. Ich suchte auf dem Festplntz
Arbeit und fand auch schließlich Anstellung als Rekommandenr bei dem Hippodrom
der Frau Christiansen, wo ich an Wochentagen vier Mark, an Sonntagen sechs
Mark erhielt.
Nach Beendigung des Weimarischen Schützenfestes reiste der Hippodrom nach
Freiberg, wohin ich ihm zu folgen keine Lust verspürte. Ich blieb deshalb in
Apolda, wo jetzt das Schützenfest begann, und sah mich nach Arbeit um. Zufällig
kam ich dazu, wie das Schiffskarussell von Uhlemann und Reiche! aus Zschopcm
an der Rampe ausgeladen wurde. Ich meldete mich sofort bei den? Besitzer und
fragte ihn, ob ich als Maschinist bei ihm Arbeit finden könne. Er antwortete,
daß er gerade einen Maschinisten brauche, und fragte mich, wieviel Lohn ich be¬
anspruche. Ich forderte sechzig Mark für den Monat, was ihm zu viel war; wir
einigten uns schließlich auf fünfzig Mark und freie Station. Ich half denn auch
sogleich beim Aufbauen und war, als wir am Sonntag Nachmittag das Geschäft
eröffneten, nicht wenig verwundert, als der Manometer des Kessels fünf Atmosphären
zeigte, die aber zum Betriebe des Kessels nicht ausreichten. Mein Prinzipal teilte
mir mit, daß ich den Dampf auf sechs Atmosphären erhöhen müsse, bevor wir fahren
könnten. Am Abend, bevor die Lichtmaschine in Betrieb gesetzt wurde, gab es ein
schweres Stück Arbeit. Ich mußte den Kessel so mit Wasser füllen, daß das
Wasserstandsglas den Wasserstand nicht mehr markierte, und so stark feuern, daß
sich kein Brennmaterial mehr in das Feuerloch schaffen ließ. So erreichte ich die
siebeneinhalb Atmosphären, was für die Anlage eigentlich zu viel war, da der Kessel
nur auf sieben Atmosphären eingerichtet war. Ich mußte deshalb unausgesetzt acht
geben, um Unheil zu verhüten. Da ich vorn der vollen Hitze der Feuerung, hinten
den sengenden Strahlen der Augustsonne ausgesetzt war, glaubte ich verschmachten
zu müssen und begrüßte es mit Freuden, als mir verschiedne Bekannte, die Mit¬
leid mit mir hatten, Bier brachten, dem ich denn auch fleißig zusprach. Am andern
Morgen fand ich unter der Orgel nicht weniger als zweiundzwanzig leere Gläser.
Außerdem hatte ich einen großen Krug schwarzen Kaffee getrunken.
In Würzen, wohin wir von Apolda zum Markte zogen, machten uns mehrere
Karusfells und elektrische Schaukeln starke Konkurrenz. Aus Neid schickten uns die
Besitzer dieser Geschäfte den Kesselrevisor auf den Hals, der gerade bei uns ein¬
traf, als ich beim Abschlacken war und somit viel zu tun hatte. Zum Überfluß
funktionierten die beiden Injektoren, die aus einem Wasferkcmcil gespeist wurden,
nicht, und ich hatte Mühe, das nötige Wasser für den Kessel zu beschaffen. Die
Injektoren hatten die Eigentümlichkeit, nur kaltes Wasser zu ziehn; das Wasser in
dem Bassin war aber Abends warm wegen des starken Zuflusses aus einer Brauerei.
Der Kesselrevisor ließ seinen Manometer an den Kessel schrauben, und ich bemerkte,
als ich gerade anderweit beschäftigt war, wie er den Hahn meines Manometers
abstellte, sodaß dieser nur sechs Atmosphären zeigte, während das Manometer des
Revisors auf sieben stieg. Er sagte mir: Ihr Manometer stimmt nicht, worauf
ich erwiderte, das könne auch nicht anders sein, da er ja den Hahn abgestellt habe.
Kurz entschlossen nahm ich den Schraubenschlüssel, schraubte seinen Manometer wieder
ab, gab ihm ihn in die Hand und machte ihm verständlich, wo der Weg ins Freie
ging. Mein Prinzipal, der dem Vorgange zugeschaut hatte, war auf das höchste
bestürzt und machte mir Vorwürfe. Ich erklärte aber, ich würde die Verantwortung
schon übernehmen. Der Revisor ließ sich aber nicht wieder bei uns sehen, und die
Angelegenheit hatte auch keine weitern Folgen.
Von Würzen reisten wir nach Schmölln in Sachsen-Altenburg. Dort ver¬
kehrte ich des Abends in der Gesellschaft eines Knopffabrikanten in einer Wirtschaft,
deren Besitzer zugleich eine Bäckerei betrieb. Ich bekam wieder Lust zu meinem
Metier und arbeitete eine Nacht als Bäcker. Ich bemerkte mit Freuden, daß ich
nicht allzuviel verlernt hatte, nur das Semmeldrehn machte mir anfangs einige
Mühe, aber nach einigen Minuten war ich mit dieser Tätigkeit wieder so vertraut,
als wenn ich in all den Jahren nichts andres getan hätte. Der Knopffabrikant
lud mich ein, seine Fabrik zu besuchen, und zeigte mir die Einrichtungen und die
Betriebsanlagen.
Über Gablenz bei Chemnitz reisten wir zum Markte nach Klingenthal, einem
kleinen Orte mit lebhafter Musikinstrumentenindustrie, der dicht an der böhmischen
Grenze liegt. Wir standen im Hofe eines Gasthauses, machten aber ein sehr
schlechtes Geschäft, da das Wetter ungünstig, außerdem Konkurrenz am Platze war,
die uns den Fahrpreis verdarb. Wir mußten die Tour zuerst für fünf Pfennige
fahren lassen und später zwei und gar drei Touren mit fünf Pfennigen berechnen.
Dabei verdienten wir natürlich nicht das Brennmaterial. Wir wußten aber den
größten Teil unsrer freien Stunden nützlich auszufüllen, indem wir uns als Pascher
etablierten. Unser Prinzipal beabsichtigte im Winter zu heiraten und gedachte seine
Hochzeit in der großartigsten Weise zu feiern. Dazu brauchte er aber einen Vorrat
an Wein, Tabak und Weizenmehl, das nirgends so gut wie in Böhmen zu haben
ist. Wir gingen an jedem Vormittag zu fünf Personen drei oder viermal über
die Grenze und brachten jedesmal jeder vier Pfund Mehl mit zurück, das in diesem
Quantuni zollfrei ist. Abends nach Schluß des Geschäfts gingen wir wieder nach.
Böhmen, kehrten dort in einem Gasthaus ein und kauften eine Anzahl Flaschen
Tokaier und andre Weine, große Mengen Tabak und Zigarren, brachten diese
Vorräte in unsern Kleidern unter und kehrten nach Hause zurück, wobei wir
jedesmal, wenn wir das Zollhaus passierten, laut sangen und Pfiffen, was zur
Folge hatte, daß sich kein Zollbeamter sehen ließ.
Über Ane reisten wir nach Schneeberg, wo wir des entsetzlichen November¬
wetters wegen ein schlechtes Geschäft machten und die Tournee beendeten. Das
Karussell wurde verladen und nach Zschopau geschickt, und die Angestellten wurden
entlassen mit dem Bemerken, daß sie zum Frühjahr wieder antreten könnten. Zum
Glück erhielt ich eine Einladung von dem Knopffabrikanten in Schmölln, der mich
als Maschinist zu einem Wochenlohn von achtzehn Mark engagierte. Ich reiste hin
und trat meine Stelle an. An Sonntagen fuhr ich zuweilen zu meiner Frau nach
Apolda. Nachdem ich mit diesen Besuchen etwa fünf Wochen ausgesetzt, dabei aber
nicht versäumt hatte, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken, kam ich eines Mittags
mit meinem Prinzipal in Meinungsverschiedenheiten und trat aus. Ich reiste nach
Apolda und wollte in meine Wohnung gehn. Als ich mich dem Hause näherte,
bemerkte ich, daß die Blumenstöcke an den Fenstern fehlten, genau so, wie ich es
in Stargard geträumt hatte, und sah zu meinem Erstaunen, daß an meiner Tür
ein andres Namensschild angebracht war. Ich fragte den Hauswirt, was geschehen
sei, und hörte, meine Frau wäre vor acht Tagen mit einem Andern durchgegangen
und habe alle Möbel, Hausgeräte usw. teils mitgenommen, teils verkauft. Mit
dem Erlös habe sie in Gesellschaft ihres Verehrers eine Rheinreise gemacht. Die
Überraschung kam mir um so ungelegner, als ich nur noch acht Pfennige bares
Geld hatte, eine sehr zerrissene Kluft trug und starken Hunger verspürte. Meine
Frau hatte die Wohnung so rein ausgeräumt, daß auch keiner meiner guten Anzüge
mehr vorhanden war. Zum Glück hatte sie aber die zarte Rücksicht gehabt, in
einen Sack mit schmutziger Wäsche, den ich nebst vier meiner alten Hüte im Keller
fand, meine Papiere zu stecken, worunter sämtliche Zeugnisse waren. Der Haus¬
wirt, ein Strumpfwirker, suchte mich zu trösten und meiner Stimmung durch eine
leibliche Stärkung wieder aufzuhelfen. Er ließ mir Speise und Trank vorsetzen
und erklärte, daß ich so lange bei ihm wohnen und essen könne, bis ich wieder
Arbeit gefunden hätte. Er lieh mir auch sogleich eine Mark, für die ich Schreib¬
papier und Briefmarken kaufte, worauf ich einen Brief an den Karussellfabrikauten
Stuhr in Hamburg schrieb und ihm meine Dienste als Maschinist anbot. Nach
zwei Tagen erhielt ich eine zusagende Antwort und das Reisegeld nach Hamburg.
Bei meiner Abreise erfuhr ich zufällig, daß meine Frau wieder in Erfurt sei.
Am nächsten Tage kam ich gegen halb elf Uhr am Abend in Hamburg an
und begab mich nach dem Schaubudenplatz zu Se. Pauli. Bei der Stuhrschen
Berg- und Talbahn, die hinter dem Zirkus Nerz stand, traf ich einen Angestellten,
den ich schon kannte, und bei dem ich mich mit den Worten: Du, Emil, Segg mol,
wo is de Otte? nach dem Prinzipal erkundigte. Er antwortete, indem er mit dem
Finger in die Ferne wies: Der steiht da unten. Ich stellte mich dein Prinzipal
Vor, und dieser drückte mir, ohne mich erst von oben bis unten zu betrachten, seine
Freude darüber aus, daß ich da sei, worauf er mich einlud, in seinem Hanse zu
übernachten. Ich wurde in eine große Stube geführt, wo eine große Anzahl An¬
gestellter zum Nachtquartier Platz hatten, und wo die Betten, ähnlich wie in den
Wohnwagen, übereinander angebracht waren. Frau Stuhr brachte mir Bier und
einige Butterbrode mit Lormzä hohl, die ich mir munden ließ. Nach Schluß des
Geschäfts fanden sich die Angestellten der Berg- und Talbahn ein, und ich feierte
mit dem mir bekannten Maschinisten das Wiedersehen in einer benachbarten
Wirtschaft.
Unser Prinzipal war ein Mann von großem Unternehmungsgeist, der nicht
nur etwa achtzehn reisende Geschäfte, wie Karussells, Nadbahnen und dergleichen,
die alle von Geschäftsführern geleitet wurden, sondern in Hamburg auch ein fest-
stehendes Museum von zoologischen und historischen Objekten und ein größeres
Etagenkarussell besaß. Er hatte eine eigne Fabrik, wo alle diese Geschäfte gebaut,
umgebaut und bei Bedarf repariert wurden. Er verstand aber nicht zu rechnen,
sodaß es nach und nach mit ihm zurückging. Ein schwerer Schlag für ihn war
auch der Tod seiner Frau, die im Jahre 1892 bei der großen Choleraepidemie
starb. Von da an verfolgte ihn das Schicksal ununterbrochen, und als er eines Tages
ein Walfischskelett kaufte und zur Schau stellte, das sich bei näherer Untersuchung
als eine aus Papiermache' angefertigte Nachbildung erwies, wurde er wegen dieser
Täuschung des Publikums gerichtlich belangt und schwer bestraft. Das war der
Anfang vom Ende, und so sank er immer tiefer, bis er sich endlich im Jahre 1904
aus Mißmut über eine schwere Krankheit, die ihn befallen hatte, in Straßburg
mit dem Revolver das Leben nahm."
Von Wandsbeck reisten wir damals mit unsrer „Berg- und Talbahn nach
Harburg zum Schützenfest auf dem Schwarzen Berge.
Hier traf ich wieder mit der Familie Kitzmann zusammen, die ganz erstaunt
war, mich in Harburg zu finden, und ich erleichterte mein Herz, indem ich der
ehemaligen Prinzipalin mein Mißgeschick erzählte. Wir hatten außerordentlich viel
zu tun und mußten die Nacht durch bis früh sieben Uhr arbeiten. Wenn es
Morgens zu dämmern begann, spielten wir mit Vorliebe auf unsrer Orgel das
damals sehr beliebte Lied: „Des Morgens, wenn die Hähne krähn, eh noch der
Wachtel Ruf erschallt."
Von Harburg ging es nach Hannover zum Schützenfest.
Auch hier hatten wir die Nächte durch zu arbeiten, und es war um so merk¬
würdiger, daß sich verschiedne „Kunden" im Karussell unter dem „Berge," der
mit einer Tür versehen war, eingenistet hatten, wo sie auf den Kokssäcken trotz
dem fürchterlichen Lärm der ununterbrochen rollenden Wagen den Schlaf des Ge¬
rechten schliefen, bis wir sie mit einem Eimer Wasser verscheuchten; einen andern
traf ich dabei, wie er, mit dem Oberkörper über eine der Stützen des äußern
Rundganges gelehnt, ebenfalls fest schlief.
Auf dem Schützenfest in Wolfenbüttel hatten wir ein andres sehr heiteres
Erlebnis. An einem Mittwoch Nachmittag, als wir gerade das Karussell in Be¬
trieb setzen wollten, brach ein gewaltiger Orkan los, der uns nötigte, das Dach
mit Ketten festzulegen und unser Geschäft in jeder Weise zu sichern, uns selbst aber
in unsre Wohnwagen zurückzuziehn. Dabei beobachteten wir, wie die auf dem
Platze beschäftigten Leute, sobald sie nur konnten, die Flucht ergriffen, und wie
der Kutscher eines Bierwagens die Pferde ausspannte, mit ihnen das Weite suchte
und den Wagen mit den Bierfässern in unsrer Nähe stehn ließ. Wir warteten
darauf, daß sich der Sturm legen sollte, aber das Unwetter hielt längere Zeit an,
und so waren wir, als wir unser Abendbrot erhielten, noch im Packwagen. Dort
wurde uns natürlich die Zeit lang, und einer von uns erinnerte uns daran,
daß wir zwar kein Geld hätten und den Rest des Abends deswegen in keiner
Schenke verbringen könnten, daß uns aber ein gütiges Geschick den Wagen mit
den Bierfässern zugeführt habe. Die Stimme des Versuchers fand Gehör, einer
von uns erkletterte den Bierwngen und warf ein Faß, das etwa fünfzig Liter ent¬
halten mochte, herab. Wir trugen es in unsern Wagen, schlugen, da uns ein
Schraubhahn fehlte, den Pfropfen hinein und steckten den Gummischlauch, den wir
bei der Dampfmaschine gebrauchten, in das Loch. An Gläsern fehlte es uns nicht,
aber unser rheinischer Kollege machte sich die Sache noch bequemer, indem er sich
nnter das Faß legte, den Schlauch in den Mund nahm und dazu meinte: Hier
möchte ich zeitlebens ein Säugling sein. Als das Faß leer war. warfen wir es
ohne viele Umstände aus dem Wagen.
In Erfurt, wohin wir zum Mitteldeutschen Bundesschießen gereist waren,
bekam ich Differenzen mit dem Geschäftsführer, kündigte und trat an einem Sonntag
Morgen aus.
Ich gedachte den Rest des Tages noch auszunutzen und sah mich in der
Reihe der Spielbuden nach Arbeit um. Einer der Spielbudenbesitzer, der mich
beobachtet hatte, sagte mir, wenn ich Arbeit suche, so möchte ich nebenan zu der
Pfefferkuchenbude gehn, wo man jemand suche. Ich ging hin und wurde sogleich
angenommen, erhielt eine weiße Schürze und eine weiße Konditormütze und hatte
nnn die Aufgabe, auf einer wackligen Kiste stehend Lose zu verkaufen — vier
Stück zehn Pfennige — und die Rekommandation zu machen, wobei ich mich des
Verses: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, wer nicht liebt, der kriegt kein Kind!"
bediente. Während ich so dastand und mich heiser schrie, hörte ich ununterbrochen
den Ruf eines benachbarten Spielstandbesitzcrs, bei dem um Aale gewürfelt wurde,
und der den Appetit des Publikums mit den Worten: Die Leichenfresser sind hier!
anzuregen suchte. Ich brachte meine Lose, obgleich ich in diesem Geschäft keine
Übung hatte, gut unter und erhielt als Entschädigung fünf Mark und ein Abend¬
essen mit Bier.
Die Hinterwand der Spielbude bestand aus einer hohen, mit Pfefferkuchen
bepackten Stellage, in deren Mitte ein großes Rad angebracht war, das einen
Kranz von Nägeln hatte, in die eine Feder eingriff. Wurde das Rad in Be¬
wegung gesetzt, so drehte es sich eine Weile, bis die Feder zwischen zwei Nägeln
stecken blieb und das Rad zum Stehn brachte. Zwischen den Nägeln waren
Nummern eingeschrieben, die mit den Losnummern korrespondierten. Vor der
Pfefferkuchenstellage war ein schmales Podium, und vor diesem standen einige
Kisten, auf die sich die Losverkciufcr stellten. Auf etwa dreißig Lose entfielen vier
Gewinne, deren größter aus vier großen Pfefferkuchenscheiben bestand.
Als ich am andern Morgen wieder über die Vogelwiese ging, kam ich beim
Karussell von Albert Kitzmann vorüber, und dieser rief mir zu, ich solle nur ruhig
mit angreifen, da es genug Arbeit gäbe. Es war dies die einfachste und kürzeste
Art des Engagements, die ich je kennen gelernt hatte, sie war um so bemerkens¬
werter, als Kitzmann am Tage vorher Stuhr gegenüber auf mich als den Urheber
seines Unglücks gescholten hatte. Ich half also beim Abbrechen, worauf wir ver¬
luden und nach Crimmitschau fuhren, wo wir privat standen. Meine Tätigkeit
beschränkte sich zunächst auf das Schmieren der Wagen und das Herbeischaffen von
Wasser und Feuerung, und der Zufall wollte, daß der Schmied, den ich seinerzeit
bei dem Geschäft der Mutter Kitzmann angelernt hatte, nun mein Vorgesetzter
wurde, obgleich ich größere Erfahrungen in diesem Fache hatte.
Über Nürnberg, Cannstatt, Mannheim und Landau kamen wir nach Freiburg
im Breisgau, wo ich wegen eines Streites mit dem Maschinisten sofort aufhörte.
Ich glaubte, wie gewöhnlich, leicht Arbeit finden zu können, und sprach deshalb
unter anderm bei der Menagerie Kreide vor, deren Tierbändiger Buttweiler mir
bekannt war, ging auch zu dem Theater Antonio Wallenda, zu der Leiserschen
Berg- und Talbahn und zu einer Reihe andrer Geschäfte, ohne jedoch Anstellung
zu finden. Am zweiten Tage fragte mich ein Schaustellergehilfe, ob ich Arbeit
haben wolle. Als ich das bestätigte, zeigte er mir eine Depesche aus Rothau im
Elsaß, durch die er beauftragt wurde, entweder selbst zu kommen oder einen andern
hinzuschicken. Er ließ sich zu seiner Sicherheit meine Papiere aushändige» und
bezahlte mir dafür das Reisegeld. Ich reiste noch an demselben Tage, einem
Sonnabend, an meinen Bestimmungsort und traf dort am zweiten Nachmittag ein.
Mein neuer Prinzipal hieß Lowinger und zeigte eine Illusion „Magneta,
die in der Luft schwebende Dame." Die Vorrichtung dieser Illusion war folgende:
In der ganz mit schwarzen Tüchern aufgehängten Bude war ein Zuschauerraum
abgeteilt, worin auch während des Tages eine Lampe brannte. Im Bühnenraum
stand ein Gestell, auf dem eine sehr sorgfältig gereinigte, zwei Finger dicke Glas¬
platte so angebracht war, daß sie sich mit Hilfe von Handgriffen nach rechts und
nach links drehen ließ. Über dieser Glasplatte war ein sehr großer Spiegel in
schräger Lage befestigt, der eine auf der Glasplatte liegende Person sowie den
unter der Glasplatte auf dem Boden ausgebreiteten Hintergrund so widerspiegelte,
daß man im Zuschauerraum den Eindruck hatte, als ob die horizontal liegende
Figur in aufrechter Stellung schwebe. Der Hintergrund stellte das bewegte Meer
vor, an dessen Horizont die Sonne aufging. Der Spiegel war auf beiden Seiten
von einer Felsendekoration, die aus bemalter Leinwand bestand, flankiert. Wenn
die Vorstellung begann, schob der Prinzipal ein phantastisch gekleidetes junges
Mädchen von hinten auf die Glasplatte und erweckte dadurch den Anschein, als ob
die Dame aus dem Meer aufsteige. Um sie in die richtige Lage zu bringen, schob
er unter ihre Füße eine große vergoldete Kugel, die mit einer Handhabe versehen
war. Dann wurde die Glasplatte langsam in Bewegung gesetzt, während das
darauf liegende Mädchen graziöse Körperbewegungen ausführte, die den Anschein
erweckten, als wenn sie sich frei in der Luft bewege, bald aufwärts schwebe, bald
abwärts tauche. Diese Illusion war damals noch ziemlich neu, sie ist meines
Wissens zuerst in Castcms Pcmoptikum gezeigt worden. Als zweites Schaustück
hatte Lowiuger die „lebende Sibylle," die von demselben Mädchen, das die
Magneta machte, ausgeführt wurde. Zu diesem Zwecke stand auf einer dünnen
Säule ein Kasten in Form einer Lyra, in den sich das Mädchen so kauern mußte,
daß nur der Oberkörper sichtbar wurde, während das übrige durch eine Spiegel¬
vorrichtung verborgen wurde.
Gleich nach meiner Ankunft mußte ich im Marktflecken Zettel austragen und
nahm denn an dem gemeinsamen Abendbrot teil. Die Leute lebten offenbar in
sehr dürftigen Verhältnissen, und das Essen ließ viel zu wünschen übrig. Meine
Tätigkeit bestand hauptsächlich im Rekommcmdieren, im Orgeldrehn und im Lampen-
putzer. Da mein Prinzipal mir keinerlei Anleitung gegeben hatte, so machte ich
mir die Sache so bequem wie möglich, stellte eine brennende Lampe ans die Glas¬
platte unter dem Spiegel und putzte die andern. Das ging am ersten Tage ohne
jeden Unfall ab. Wir waren mit unsrer Vorstellung wie immer zeitig zu Ende,
und so hatte ich dann Muße, ein benachbartes Theater zu besuchen, das einem
Deutschen namens Weinheimer gehörte, der dort einige Franzosen als Geschäfts¬
teilhaber in seine Firma aufgenommen hatte.
Die Mitglieder dieser Schmiere waren Schauspieler allerletzten Ranges, und
ihre Leistungen waren unglaublich schlecht. Das Hanptzugstück dieser Schaubühne
war das Oberammergcmer Passionsspiel, das als Pantomime dargestellt wurde,
wobei der Direktor die Erklärungen gab. Es fehlte der Bühne an den einfachsten
Requisiten, und ich entsinne mich noch, daß der Christus, der in einem weißen
Trikot am Kreuze hing, eine aus alten Stricken zusammengeflochtne Dornenkrone
trug. Longinus, der ihm die Seitenwunde beibringen mußte, bediente sich hierzu
einer langen Bohnenstange, deren Spitze in rote Farbe getaucht war und die Wunde
auf dem weißen Trikot sehr anschaulich markierte. Die beiden am Kreuzesstamme
knienden Marien hatten ihre besondern Kennzeichen. Die Mutter des Heilands
zeichnete sich dnrch eine rote Nase ans, während Maria Magdalena pockennarbig war.
In der darauffolgenden Nacht trat Kälte ein, und als ich am andern Morgen
in meiner gewohnten Weise mit dem Lampenputzer begann, knackte plötzlich der
Spiegel. Ich wurde aufmerksam, untersuchte den Spiegel genau und fand, daß
am Räude ein kleines Stückchen ausgebrochen war. Ich stellte die Lampe beiseite
und überlegte, ob sich der Schaden wohl verdecken ließe. Da krachte es plötzlich
noch einmal, und zwar so stark, daß mir Hören und Sehen verging, und ich be¬
merkte dann, daß von der beschädigten Stelle aus zwei große Sprünge nach beiden
Seiten gingen. Jetzt wurde mir die Sache unheimlich, denn mir ahnte, daß ein
Spiegel in dieser Größe — er war 2 Meter lang und Z,80 Meter breit — ein
Wertobjekt sein müsse. Ich rief den Prinzipal und machte ihm in schonendster
Weise von dem Unfall Mitteilung. Er folgte mir in die Bude, sah sich den Schaden
an und fragte mich, nachdem er meinen Bericht angehört hatte, ob ich denn nicht
gewußt habe, daß es ein Spiegel sei, worauf ich erwiderte, er hätte versäumt, mich
darauf aufmerksam zu machen, daß ich keine Lampe darunter stellen dürfe. Nun
stimmte er ein großes Gejammer an, wobei sich seine Frau beteiligte, und begab
sich dann zu den Kollegen auf dem Platze, denen er sein Unglück vorklagte. Auch
ein Oberförster, der in der Nachbarschaft wohnte, erhielt von dem Unglück Kenntnis,
kam in die Bude, sah sich den Apparat an und schenkte dem Besitzer aus Mitleid
einen schönen Nebelbilderapparat, der uns in der Folge gute Dienste geleistet hat.
Ein reisender Photograph veranstaltete unter deu Kollegen eine Kollekte, deren
Ergebnis uns erlaubte, an den Lieferanten des ganzen Apparats nach Koblenz zu
telegraphieren und einen neuen Spiegel zu bestellen. Ein solcher kam denn auch
bald an, erwies sich aber als fleckig und war deshalb nicht zu gebrauchen. Wir
ließen ihn sofort zurückgehn und bestellten einen bessern in Nürnberg. Da wir,
nachdem wir einen Tag die Bude geschlossen gehalten hatten, nicht zu viel Zeit
und Geld einbüßen wollten, befestigten wir über dem zerbrochnen Spiegel eine
Latte und gaben wieder Vorstellungen. Daß nun hinter der schwebenden Dame
am Himmel eine Latte sichtbar wurde, war nicht zu umgehn, schien aber vom
Publikum kaum bemerkt zu werden."
Von Rothau fuhren wir per Achse nach Mntzig, wo „Kilbe (Kirmes) war.
Wir hatten die Erlaubnis zum Aufbauen erhalten und auch den Platz angewiesen
bekommen und waren mit unsern Vorbereitungen fertig, als der Geistliche des
Orts vorüberkam und den Plakatkasten sah, den wir kurz vorher aus dem Wagen
geholt hatten. Er betrachtete die Bilder, die daran befestigt waren, und nahm an
der ganz harmlosen Darstellung der in der Luft schwebenden Dame so großen
Anstoß, daß er schleunigst zum Bürgermeister ging und diesen veranlaßte, uns die
Erlaubnis nachträglich wieder zu entziehn. Natürlich herrschte bei uns deshalb
großer Jammer, und die Frau des Prinzipals, die fünf Jahre in einem Pfarr¬
hause gedient hatte, begab sich mit ihrem Dienstbuch zu dem strengen Pfarrer, um
ihn zu bitten, daß er von seinem Einspruch abgehn möchte, was aber alles keinen
Erfolg hatte. Wir brachen also wieder ab, packten ein, luden das Holzwerk auf
einen Leiterwagen, der dann ebenso wie der Wohnwagen mit Ochsen bespannt
wurde. Beim Abbruch konnte sich der gekränkte Lowinger nicht versagen, in
Gegenwart der vorübergehenden Kirchgänger laut auf den Pfarrer zu schimpfen,
was merkwürdigerweise keine bösen Folgen für ihn hatte. Welcher Autorität sich
der Geistliche übrigens erfreute, mag daraus hervorgehn, daß in Mutzig das ganze
Jahr über nur einmal, und zwar zur Kilbe, und auch dann nur bis elf Uhr
Abends getanzt werden durfte. ^,^.ng folgt)
in nächsten Morgen wurde oben bei Großmutter stark auf deu Fu߬
boden geklopft.
Stine eilte hinauf.
Großmutter, die noch im Bett lag, sagte: Wollen Sie meine
Tochter bitten, so schnell wie möglich zu mir zu kommen!
Frau Mathem sind doch nicht krank?
Gehn Sie! sagte Großmutter und erhob den Stock.
Stine eilte hinaus, Vergaß, wie gewöhnlich in bewegten Augenblicken, arm-
klopfen, stürzte direkt ins Schlafzimmer und überraschte ihre Herrin im tiefsten
negliges
Brennt es?
Ne-e — aber —
Nun, was gibts denn?
Ich sollt Frau Lönberg von Frau Lönbergs Mutter grüßen, und ob Frau
Lönberg nich stmmepeh mal kommen wolle.
Ist meine Mutter denn krank?
Ja, sie sieht so nach allerlei aus!
Schnell eilte Frau Lönberg über den Boden, gerade als Großmutter zum
drittenmal mit dem Stock aufstieß.
Bist du krank, Mutter? fragte die Apothekerin, indem sie eintrat.
Großmutter antwortete nicht, sondern lag zu Frau Lönbergs großem Schrecken
ganz still da und sah vor sich hin, als ahne sie die Nähe der Tochter nicht.
Endlich, nach einer Ewigkeit, die aber doch nur ein paar Sekunden gedauert
hatte, sagte Großmutter ganz leise, als wenn sie phantasiere: Treten Sie nur
näher, Herr Rechtsanwalt Krarup!
Bei diesen Worten wurde Frau Lönberg leichenblaß und zitterte am ganzen
Körper.
Rechtsanwalt Krarup war nämlich Großmutters Rechtsbeistand und Testaments¬
vollstrecker.
Großmutter fuhr fort, nachdem sie einen Augenblick gleichsam ihre Gedanken
gesammelt hatte: Diesesmal ist es ernst, Herr Rechtsanwal't. Lassen Sie uns das
Testament jetzt in Ordnung bringen. Alles, was ich hinterlasse, vermache ich zu
wohltätigen Zwecken.
Aber Mutter — soll ich zu Medizinalrat Naerum schicken?
Wie — du bist es? sagte Großmutter mit gut gespielter Überraschung. Ich
habe dir ja doch ein für allemal gesagt, daß ich den Brummbär nicht in meinen
vier Wänden sehen will. Doktor Holmsted ist mein Arzt! Aber von dem, woran
ich leide, kann mich kein Doktor kurieren, sondern nur eine Apothekerin, und das
bist dn! Ich leide an Kummer und Betrübnis über eine Tochter, die es sich in
den Kopf gesetzt hat, ihrer ganzen Umgebung das Leben zu verbittern. Und sie
soll mich nicht beerben. Jetzt ist die Sache abgemacht! Ihr bekommt gar nichts —
bis ans Preber und Anna; die beiden Kinder sind das Einzige, woraus ich mir
etwas mache.
Jetzt fing Frau Lönberg an zu weinen: Aber Mutter, willst du uns denn
unglücklich machen?
Deine falschen Krokodiltränen kannst du dir sparen! Jetzt will ich der Sache
ein Ende machen! Und zwar sofort! Anderst du nicht augenblicklich dein Be¬
nehmen, so fahre ich selbst in die Stadt, und wenn ich auch die Treppen zu Rechts¬
anwalt Krarup hinaufkriechen müßte.
Mein Benehmen — Mutter!
Ja, dein Benehmen gegen Fräulein Rörby. Du wirst zum Skandal für die
ganze Gegend werden, wenn sie gleich wieder abreist!
Will sie abreisen? fragte die Apothekerin entsetzt.
Ja natürlich! Meinst du, daß sie es aushalten kann, ans Schritt und Tritt
geplagt, gepeinigt und verfolgt zu werden?
Wer verfolgt sie?
Du! rief die Großmutter und richtete den Stock so plötzlich auf sie, daß sie
erschrocken in einen Stuhl niedersank.
Hat sie mich bei dir verklatscht?
Hier richtete sich Großmutter im Bett auf und sagte: Findest du, daß sie
nach Klatsch aussieht? Ich verstehe mich ein klein wenig auf Menschen, und sobald
ich sie sah, wurde es mir klar, daß sie ein ausgezeichnetes Wesen ist, ein wahres
Prachtexemplar der elendigen Nasse, die sich das menschliche Geschlecht nennt. Be¬
denke, sie steht allein in der Welt da; laß sie nur einige Widerwärtigkeiten er¬
fahren, das ist gut! Die wilden Schosse müssen gekappt werden. Aber sie ver¬
folgen und unterdrücken, das ist, als wenn man mit der Axt in einen jungen
Baum hineinsank. Das erträgt sie nicht — und das leide ich nicht, so lauge ich
hier im Hause bin. Wenn es auf diese Weise weiter geht, reise ich ab und nehme
sie mit — vorher aber mache ich einen kleinen Besuch bei Rechtsanwalt Krarup ...
frage mich nicht aus! Ich weiß alles, was du zu ihr gesagt hast, seit ihrer An¬
kunft bis gestern Abend, als du ihr eine deiner gräflichen Standreden hieltest. —
Geh, und gnade dir Gott, wenn mein El heute hartgesotten wird!
Die Apothekerin ging zitternd und tief erschüttert in ihr Zimmer und voll¬
endete ihre Toilette; sie hatte Großmutter noch nie so erregt gesehen.
Als sie gegangen war, brach Großmutter in ein leises Lachen aus und sagte
sehr zufrieden mit sich: Ich denke, die Dosis hat geholfen!
Frau Lönberg kam an diesem Morgen zu spät an den Teetisch, sagte Helene
ungewöhnlich freundlich Guten Morgen nud war überhaupt so liebenswürdig, daß
der Apotheker, in dem Glauben, er könne tun, was er wolle, absolut darauf be¬
stand, daß Helene etwas von der Haut, die sich auf der Sahne gebildet hatte, in
ihren Tee haben sollte.
So etwas kennen die Kopenhagner nicht, sagte er scherzend; als ich in der
Waisenhansapotheke konditionierte, ging die dunkle Sage, daß die Milchhändler
PostPapier in der Milch mit aufkochen ließen, damit —
Fabeln! entgegnete Frau Lönberg, fügte jedoch schnell hinzu: Wenn Sie Lust
zu der Haut haben, so nehmen Sie doch, bitte, so viel Sie mögen.
Sie hatte wirklich Angst bekommen und war, wenigstens während der ersten
Zeit, sehr vorsichtig in ihrem Benehmen dem jungen Mädchen gegenüber.
Es fehlte auch noch, daß Fräulein Jpseu und Kompagnie den Triumph haben
sollte, daß die Erzieherin gleich nach ihrer Ankunft wieder abreiste. War sie erst
eine Zeit lang bei ihnen gewesen, so war es ja etwas andres!
Es wurde geschellt, das Mädchen trat ein, und Frau Lönberg sagte feierlich:
Bringen Sie dem Herrn Apotheker sein El!
Einen Augenblick später wurde Herrn Lönberg ein weichgekochtes El präsen¬
tiert, entschuldigend sagte er: Sie müssen nämlich w - w — wissen —
Daß wir des Kirchgangs wegen heute das Frühstück streichen und früher
Mittag essen, und aus diesem Grunde erhält Lönberg ein weichgekochtes El; wünschen
Sie nicht auch eins?
Nein, vielen Dank, sagte Helene.
Da ertönte Großmutters Stimme; sie war unbemerkt eingetreten: Nach so
etwas fragt man nicht erst! — Wenn ihr Hansen-Bjerg eine geschlagne Stunde
hören sollt, so müßt ihr wirklich den Körper stärken, damit der Geist nicht die
Überhand gewinnt!
Preber kam mit einem ausgeschlagnen Bnchenzweig ins Zimmer gestürzt und
rief: Hier, Großmutter!
Hab Dank, mein lieber Junge! sagte sie und nahm den Zweig; ist der Wald
schon grün?
Nein, noch nicht ganz, und der Hegereiter, der weiß es immer, denn der paßt
auf, und der sagt, übermorgen wäre er ganz grün, besonders wenn es eine Nacht
regnete!
Großmutter schwang den Zweig und sagte: Das ist ein Zauberzweig, der
macht mich wieder jung!
Sie winkte Helene zu und verließ das Zimmer.
Die Kirchenglocken fingen an zu läuten, und nach einer Weile gingen der
Apotheker, seine Frau, die Kinder und Helene den Kirchenhügel hinan, nach dem
Kirchhof.
Von allen Seiten kamen jetzt die Bauern gefahren, brachten Pferd und Wagen
in den Höfen unier und wanderten im Sonntagstaat zur Kirche, wo sie sich draußen
vor der Tür in Gruppen zusammenfanden, die Männer mit den aus den Taschen
heraussteckenden Pfeifen, die Frauen das Gesangbuch und das Taschentuch in
der Hand.
Und dann kam der Propst in einem feinen Talar, mit Sammetkragen und
funkelnagelneuem Zylinder, unter dem Arm die heiligen Bücher, an denen der
Goldschnitt und das goldne Kreuz hell aufblitzten.
Er grüßte freundlich nach allen Seiten, sprach aber mit niemand, bis er der
Familie des Apothekers ansichtig wurde. Er reichte allen die Hand, zuletzt Helene,
indem er sagte: Es freut mich, daß Sie die Kirche besuchen!
Mit dem Propst an der Spitze ging die Gemeinde in die Kirche, wo der
Küster im Chor stand und sich verbeugte. Er war ein ganz einfacher Bauer und
der völlige Gegensatz zu dem Pröpste.
Helene sah sich voller Interesse in der hübschen Dorfkirche um, die über drei¬
hundert Jahre alt war und die gräflichen Erbbegräbnisse sowie verschiedne Porträts
von verstorbnen Mitgliedern der gräflichen Familie enthielt.
Die Apothekerin, die ihr mit den Augen folgte, flüsterte ihr zu: Dort hängt
der bekannte Graf Otto mit seinen drei schönen Frauen.
Seinen drei Frauen? sagte Helene fragend.
Ja, antwortete Frau Lönberg, eine nach der andern.
Von einem großen Epitaphium eingerahmt sah man den Grafen im Panzer,
auf einen Kommandostab gestützt, und zu seiner Seite die drei Gräfinnen. In
steifen, abstehenden seidnen Kleidern mit Pochen und Garnierungen sahen die eng¬
geschnürten, dekolletierten Schönheiten auf die Gemeinde in Friesröcken und eigen¬
gemachten Kleidern herab. Rings umher standen Sarkophage, an denen pausbäckige
Cherubim in mächtige Posaunen bliesen.
Die Männer saßen auf der einen Seite des Ganges, die Frauen auf der
andern.
Helene mußte einen Vergleich ziehn zwischen der andachtsvollen Stille in dieser
Dorfktrche und der Unruhe in den Gotteshäusern der Hauptstadt.
Plötzlich wandten sich alle dem Hauptgange zu, durch den der Graf, die
Gräfin, der junge Graf, die Komtesse und die Bonne leicht grüßend zu dem
gräflichen Stuhle schritten, der durch einen grünen Vorhang den Blicken ent¬
zogen war.
Gleich darauf sah man die Pröpstin und Nielsine in die Kirche kommen.
In diesem Augenblick tauchte Pächter Sörensen in einem Stuhle auf und setzte
sich erst wieder, nachdem er den Triumphzug der Tochter bis zu Ende verfolgt
und sie in dem Stuhle des Propstes hatte verschwinden sehen.
Dann trat der Küster in die Chortür und sprach in breitem jüdischen Dialekt
das Eingangsgebet, worauf er die Gesänge in so treuherzigem Ton anstimmte, daß
man fast das falsche Einsetzen vergaß.
Nun bestieg Hansen-Bjerg die Kanzel. Es war deutlich zu hören, daß er
bemüht war, den jütischen Accent zu bekämpfen, und es gelang ihm auch wirklich
zum Teil. Er hielt einen formgewandten Vortrag. Aber es war Helene nicht
möglich, die Gedanken zusammenzuhalten, denn dem Vortrage fehlte alle Wärme
und alles Persönliche. Es war Jesaias und wieder Jesaias: „Sagt doch Jesaias
im heutigen Texte," „hält uns nicht Jesaias vor" — was aber Propst Hansen-
Bjerg selber dachte, das erfuhr man nicht. Sie mußte daran denken, daß es diesen
hungrigen Seelen Steine statt Brot bieten heiße; die Predigt glich den Früchten
in der Höhle des Aladdin, die glänzend aussahen, aber keinen Menschen erquicken
konnten.
Es wirkte auch zerstreuend auf sie, daß sie dieselben Personen sah, die sie
am Walpurgisabend gesehen hatte. Als sie das Haupt wandte — nein, sie irrte
sich nicht —, sah sie auch den Herrn, der abseits von den andern bei dem
Walpurgisfeuer gestanden hatte. Aber sie wandte sich rasch ab und hielt von nun
an die Augen auf den Propst gerichtet. Deswegen vergaß sie aber nicht, was sie
gesehen hatte. Ihr Herz pochte, und sie versank in Träumerei, aus der sie erst
erwachte, als sich die ganze Gemeinde erhob, um den Segen zu empfangen.
Nach dem Gottesdienst sah sie sich um, aber vergebens. Der Unbekannte war
verschwunden.
Vor der Kirche trat der Hochschulvorsteher an den Apotheker heran und sagte:
Mille und ich erwarten Sie wie gewöhnlich alle heute Abend. Wir hoffen, Sie
auch zu sehen, Fräulein Rörby. Die ganze Gegend kommt bei uns zusammen, um
meinen und des Frühlings Geburtstag zu feiern. Und bringen Sie auch Ihre
Noten mit, denn bei uns ist alles Sang und Klang.
Währenddessen hatten sich die Ktrchenbesucher in zwei Reihen aufgestellt und
grüßten — als handle es sich um königliche Persönlichkeiten — die gräfliche
Familie, die sich in Begleitung des Propstes und seiner Gattin in den Pfarrhof
begab, wo sie regelmäßig nach dem Gottesdienst mit Schokolade und — Lönbergs
Madeira bewirtet wurde.
Am Ausgange des Kirchhofs begegneten Apothekers Fräulein Ipser, die zu
Helene sagte: Ein brillanter Vortrag, formvollendete Perioden!
Hin, ja!
Nun, was sagt denn das Herz?
Nichts! antwortete Helene.
So stand über der Eingangstür zu dem großen Festsaal der Hochschule ge¬
schrieben, wo sich die Gäste im Laufe des Abends versammelt hatten. Die Ein-
geladnen nahmen die eine Hälfte des Tisches ein; die andre Hälfte war von den
Schülern besetzt.
Als die Gläser vollgeschenkt waren, erhob sich Koltrup, schlug an sein Glas
und sagte mit kräftiger Stimme: Willkommen! Sie wissen, daß die einzigen Reden,
die hier gehalten werden, meine Begrüßungsrede ist und außerdem noch eine.
Ich spreche zunächst, um die Gäste an die Sitten und Gebräuche dieses Hauses
zu erinnern. Wie Sie wissen, ist der Zweck der Hochschule ein rein menschlicher.
Das Höchste im Leben und im Dasein, das ich hier nicht zu nennen brauche, ist
die gebundne Wärme, der Unterstrom all unsern Tuns. Wir legen es darauf an,
Menschen auszubilden, gute und gesunde Menschen, weder Trauerweiden, die Licht
und Luft fern halten, noch Hofhähne, die über das ganze Land krähen. Jede
Anlage, geistig wie körperlich, suchen wir auszubilden. Aber wir jagen nicht danach,
als die Auserkornen des Himmels zu erscheinen, so wenig wie wir uns mit dem
Nimbus der Volkstümlichkeit umgeben. Von der Natur und dem Menschenleben
singen und reden wir. Wie Sie sehen, hängen hier keine Bilder an den Wänden.
Aber in die großen Fensterrahmen werden in den wechselnden Zeiten des Jahres
die Bilder eingefaßt, die uns daran erinnern sollen, daß wir ein Vaterland haben
— ein himmlisches und ein irdisches —, das unsre Hand und unsern Geist ver¬
langt. Willkommen!
Die Stimmung wurde allmählich lebhaft, die Unterhaltung schwirrte laut
durcheinander.
Da schlug Koltrup abermals an sein Glas und erhob sich: Ich habe vorhin
gesagt, daß hier außer meiner Rede nur noch eine einzige gehalten werde. Und
Sie wissen alle, was ich meine, alle bis auf eine — bis auf unsern einzigen neuen
Gast, die Erzieherin bei Apotheker Lönberg, Fräulein Helene Nörby, die hier an
meiner Seite sitzt, und die meine Frau und ich herzlich willkommen heißen in der
Hochschule. Ja, Fräulein Rörby, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß die unum¬
stößliche Sitte des Hauses erheischt, daß wer zum erstenmal an diesem Tage Gast
hier ist, ein paar Worte sagen muß, die ja ganz gut als ein Wohl auf mich betrachtet
werden können, da heute mein Geburtstag ist. Also: wenn es Ihnen gefällig ist,
Fräulein Rörby, haben Sie das Wort, um in gebundner oder ungebundner Rede,
in Gesang oder Sprache die Sitte des Hauses zu wahren.
Und was wird die Folge sein, wenn es nicht geschieht? fragte Fräulein Ipser.
Dann muß ich mein Wohl selbst ausbringen, und das tue ich nur sehr ungern.
Er setzte sich unter schallendem Gelächter wieder hin.
Helene fühlte sich plötzlich als Zielscheibe aller Blicke. Sie dachte einen Augen¬
blick nach; dann erhob sie sich schnell und schlug an ihr Glas.
Es trat eine tiefe, erwartungsvolle Stille ein.
Frau Lönberg war so mit Elektrizität geladen, daß eine Entladung gefährlich
werden konnte.
Helene war dunkelrot aber gefaßt. Die Abendsonne schien auf die schöne
Erscheinung, die über die Versammlung hinweg durch die Fenster und auf die
Gegend hinaussah. Im Anfang zitterte ihre Stimme ein wenig, bald aber ge¬
wann sie völlig die Herrschaft über sie. Und laut und deutlich sprach sie:
Sie stieß mit Koltrup und seiner Frau an.
Jubelnde Hurrarufe folgten. Dann entstand eine kleine Pause, in der man
den Küster in breitem jüdischen Dialekt sagen hörte: Die konnt ihren Lex gut!
Da klatschte auf einmal die ganze Gesellschaft in die Hände. Als Helene
merkte, daß ihr das galt, wäre sie am liebsten unter den Tisch gekrochen.
Koltrup aber verkürzte die Pein, indem er der Gesellschaft gesegnete Mahlzeit
wünschte.
Jetzt ging man in die andern Zimmer.
Die Apothekerin sah Helene ganz verwundert an. Sie, die in der steifen
Apotheke wie eine Bildsäule gewesen war, hatte jetzt Leben und Sprache be¬
kommen.
Ach, dachte Helene, wenn ich doch nur in diesem Hause sein könnte!
Sie strahlte vor Leben, Jugend und Schönheit, mischte sich in die Unter¬
haltung, lachte und jubelte, und als Koltrup ihre Noten auf das Klavier gestellt
hatte, setzte sie sich hin und spielte und sang mit Wonne: Die linden Lüfte sind
erwacht. . .
Man drängte sich um sie und dankte ihr, während Frau Lönberg steif und
kalt im Sofa saß und in einem Album mit alten Herrensitzen blätterte.
In einer Ecke des Zimmers sagte Fräulein Ipser halblaut zu Fräulein
Naerum: Absolut keine Schule — nur vergeudete Kräfte!
Ja, Sie haben Recht, entgegnete Koltrup, der ihre Worte aufgefangen hatte,
es ist wie der Frühling, der seinen reichen Überfluß über alle Wege und Wasser
gießt, es ist wie der überströmende Born, wie der volle Eimer, der bis an den
Rand gefüllt ist, sodaß er überschauend. Gott sei Dank für die Vergeudung!
Er trat an Helene heran und drückte ihr warm die Hand.
Fräulein Ipser bohrte ihre Nase in Fräulein Naerums Haar und flüsterte
ihr ins Ohr wie ein Telephon: Musikidiot!
Jetzt wurde man aufgefordert, in den Festsaal zu kommen, wo große Kuchen
und laubumwundne Booten mit einem kühlen Maitrank, selbstgekeltertem Apfelwein
mit Waldmeister standen.
Die Schüler sangen allerlei Lieder, während der Trank über die Zunge glitt,
und sich die Rauchwolken unter der Decke lagerten.
Durch die offnen Fenster strömte die Frühlingsluft herein, und draußen leuchtete
der Himmel hell und klar.
Da rief Helene: Wollen wir nicht in den Garten gehn?
Ja! lautete die jubelnde Antwort.
Die Booten waren auch schon fast geleert.
Alt und Jung folgte der Aufforderung.
Nur die Apothekerin blieb in einer Unterhaltung mit Fräulein Ipser sitzen,
die ihrer musikalischen Verachtung Helenens Ausdruck verlieh. Unter anderen sagte
sie von ihr: Das Stimmmaterial ist gut genug, aber sie hat nicht mehr Begriff
vom Singen als der Plätscherbach, der durch das Dorf läuft!
Schade, daß Fräulein Ipser nicht einen Notenständer über den Bach stellen
und ihn Tonleiter singen lehren konnte!
Draußen im Garten wanderte man durch Gänge, die trotz dem späten Abend
nicht sehr dunkel waren, da Büsche und Bäume eben erst anfingen, auszuschlagen.
Man merkte, daß die hellen Nächte nahe waren; der Himmel wölbte sich rein und
wolkenlos, die Luft war frisch und scharf. Hoch oben in einer Silberpappel sang
eine Drossel. Der Übergang aus dem Zimmer in die kühle Abendluft wirkte mehr
und mehr anregend.
Jetzt tanzen wir den Frühling ein! sagte Helene.
Und Hand in Hand tanzten die jungen Leute um den Rasen, während Helene
vorsang, und die andern einstimmten.
Dann ließ Helene die Hand des einen Nachbarn los und rief: Jetzt müssen
alle mit!
Und alle die andern, auch die Alten, von dem Hochschulvorsteher und seiner
Gattin bis zu dem Küster und seiner Frau wurden von dem Wirbel mit fortge¬
rissen und schlössen sich der Kette an, die Helene mit sicherer Hand durch die Garten¬
gänge führte.
Die Apothekerin und Fräulein Ipser waren aufgestanden, um zu sehen, wo
die andern blieben, und traten jetzt in den Garten hinaus.
Plötzlich stürmte Helene mit der ganzen Schar, noch immer singend, aus einem
Seitengang heraus; man umringte Frau Lönberg und Fräulein Ipser, die ge¬
zwungen wurden, sich der Reihe anzuschließen.
Und nun führte Helene die ganze Gesellschaft im Garten herum und durch
die Zimmer, wo schließlich alle auf Stühle und Sofas atemlos niedersanken.
Daraus müssen wir noch ein Gläschen trinken, was meinen Sie, Apotheker?
fragte Koltrup.
Nein, danke! sagte die Apothekerin wutbebeud, jetzt müssen wir nach Hause,
der Mond ist schon aufgegangen.
Nun ja, wenn es denu durchaus sein muß! — Aber ich hoffe, Sie besuchen
uns bald einmal wieder, Frnuleiu Nörby.
Das heißt, wenn Sie sich amüsiert haben, fügte Frau Koltrup lachend hinzu.
Ganz brillant! sagte Helene mit einem Ausdruck, der nicht mißzuverstehn war.
Der Einspänner fuhr vor, und zugleich wurden die übrigen Fuhrwerke, die
mehrere Stunden wie tot auf dem Hofe gestanden hatten, angespannt und lebendig.
Die Pferde stampften, die Peitschen knallten, und die Kutscher riefen; Lachen und
lautes Reden füllten die Diele und den Hofplatz.
Und hoch oben am Himmel lächelte der Mond.
Während man sich auf der Diele drängte und drückte, um zu Hut und Mantel
zu gelangen, hörte Helene, wie Fräulein Naerum zu Frau Koltrup sagte: Propstens
waren ja heute Abend nicht hiert
Nein, das können Sie doch wohl begreifen, entgegnete sie, glauben Sie, daß
es etwas für eine so hochadliche Hochwürden ist, sich unter so vielen Bürgerlichen
gemein zu machen?
Er interessiert mich sehr unter vier Augen, mischte sich Fräulein Ipser ein,
eine stringente Logik und ein durchgeführtes Raisonnement zeichnen seine Konver¬
sation aus; aber wo in aller Welt ist denn Ihr Kollege, Doktor Holmsted, Herr
Medizinalrat?
Ach, erwiderte der Gefragte spöttisch, er ist wohl damit beschäftigt, den alten
Weibern im Hospital eine Kaltwasserkur angedeihen zu lassen; das ist ja seine
Spezialität!
Im übrigen, sagte Fräulein Ipser mit gedämpfter Stimme, glaube ich, daß
er sich reichlich so sehr für die jungen interessiert — jedenfalls für gewisse davon.
Fräulein Naerum, die stark errötend den Kopf im Mantel barg, sagte: Er
hatte mir eigentlich versprochen, heute Abend zu kommen.
Sie meine ich ganz und gar nicht, Berta, hauchte Fräulein Ipser, es gibt
ja auch noch andre junge Damen.
Wen meinten Sie denn? fragte Frau Naerum, mit spitzer Nase zwei Um¬
schlagetücher und einen Regenmantel durchbohrend.
Fräulein Ipser hustete, indem sie mit dem Kopf eine Bewegung in der Richtung
nach Helene hin machte, die gerade von der ganzen Hochschuljugend umringt dastand.
Als in diesem Augenblick Koltrup erschien, fragte die Medizinalrätin: Warum
ist Doktor Holmsted eigentlich heute Abend nicht hier?
Ja, können Sie mir das nicht sagen? entgegnete Koltrup. Große Gesell¬
schaften und viele Menschen sind ja nicht gerade sein Geschmack; aber hier, wo
jeder Einzelne sich bewegen kann, wie es ihm beliebt, pflegt er sich doch sonst wohl
zu fühlen. Es sollte mich übrigens gar nicht wundern, wenn er auf seinem Rad
ankäme, nachdem die andern gegangen sind.
Währenddes hatten Apothekers den Wagen bestiegen.
Koltrup, der Frau Lönbergs strenges Gesicht und die verlegne Miene des
Apothekers sah, konnte sich kaum halten vor Lachen; als sich aber Helene neben
den Kutscher setzte, rief er: Wollen wir Fräulein Rörby nicht ein jüdisches Hurra
ausbringen? Die Kopenhagnerin hat uns ja heute Abend alle lebendig gemacht,
sie lebe hoch!
Die Hochschuleleven stimmten ein; und drei lange und drei kurze Hurrarufe
schallten taktfest über den Hof.
Dann rollte der Wagen davon, in die frische, kühle Lenznacht hinein.
Auf der Veranda der Hochschule saßen noch spät am Abend Koltrups und
Doktor Holmsted.
Die Hängelampe war angezündet.
Frau Koltrup ruhte aus nach den Anstrengungen des Tages, die Herren
rauchten und nippten an dem Maitrank.
So hab ich also doch recht gehabt, daß Sie xost kostum kommen würden, rief
Koltrup.
Das ist mir das Liebste! bemerkte Holmsted.
Aber nun haben Sie unsre neue Schönheit gar nicht zu sehen bekommen, sagte
Frau Koltrup.
Holmsted schien die Bemerkung nicht gehört zu haben. Indem er ein kleines
Päckchen aus der Brusttasche zog, sagte er: Da haben Sie mein Geburtstagsgeschenk,
Koltrup.
Dieser öffnete das Päckchen und entnahm ihm ein kleines Buch in Miniatur¬
format. Vielen Dank, lieber Doktor Holmsted!
Warten Sie mit dem Dank doch, bis Sie es gelesen haben; mich selbst hat
es sehr angemutet. Es ist endlich einmal ein Buch, von einem Mann mit weib¬
lichem Feingefühl geschrieben. Eine Frau, von einem Mann geschildert, wie es nur
ein Mann vermag.
Wann haben Sie denn angefangen, sich für Frauen zu interessieren? fragte
Frau Koltrup lächelnd.
Ach, damit habe ich angefangen, als ich zum erstenmal das sanfte Antlitz
meiner Mutter sah.
Frau Koltrop wollte seine Hand ergreifen und sagte: Sie haben im Grunde
doch ein warmes Gemüt.
Er schob ihre Hand beiseite und sagte: So, habe ich das?
Er hielt das Glas gegen das Licht, sodaß der Most wie Gold funkelte.
Dann nippte er an dem Glase und setzte es wieder hin, indem er sagte:
Literatur wie Wein sollen mit Maßen genossen werden; im übrigen aber ist dies
ein angenehmer Maitrank!
Ja, sagte Koltrup, ein andrer Maitrank, den wir hier heute Abend bekommen
haben, war ebenso herrlich, und der berauschte uns alle. Das war der, den uns
Fräulein Nörby eingeschenkt hat.
Haben Sie sie noch gar nicht gesehen? fiel ihm Frau Koltrup plötzlich in
die Rede.
Wo sollte ich sie Wohl gesehen haben?
Waren Sie denn nicht beim Walpurgisfeuer?
Hier fuhr Holmsted in die Höhe, sah nach der Uhr und sagte: Ich muß
morgen früh heraus! Lassen Sie sich doch bald einmal bei mir sehen.
Er leerte sein Glas, drückte den Freunden die Hand und sauste auf seinem
Rade heimwärts durch die stille Nacht.
Helene war schnell zu Bett gegangen; sie war müde und schläfrig nach dem
bewegten Abend.
Da träumte sie, daß sie wieder am Walpurgisfeuer stünde.
Plötzlich hielt sie eine Violine in der Hand und spielte; und nun tanzten
alle Männer und Frauen der ganzen Gegend einen grotesken Hexentanz um das
Feuer herum.
Am allerwildesten tanzten die Apothekerin und Propst Hansen-Bjerg.
Da ließ sie die Violine fallen, das Feuer sank zusammen.
Und nun fiel der letzte Schein des Feuers auf die mystische Gestalt von
neulich.
Er sah ernst aus und schwieg, und dann verschwand er auf einmal.
Jetzt wandten sich alle nach ihr um, sie entfloh und — erwachte.
Es war Heller, lichter Tag.
Wie lächerlich man träumen kann! dachte sie, während sie sich ankleidete.
(Fortsetzung folgt)
Kaum hat die englische Flotte die deutsche Ostseeküste mit
allen Kundgebungen des Dankes für gastfreundschaftliche Aufnahme verlassen, so kommt
die Londoner I'ortnixntl^ Revier, um diese Ostseefahrt mit einen, wenig freundlichen
Artikel zu kommentieren. Die neue Organisation und neue Verteilung der britischen
Flotte wird darin als „ein unblutiger Sieg über die deutsche Flotte" bezeichnet,
den die englische Admiralität durch ihre Maßnahmen erfochten habe. Sei die Ostsee¬
fahrt auch nicht zu dem Zweck unternommen worden, die britische Suprematie zur
See „zu paradieren," so habe sie diese Tatsache doch sowohl Deutschland als den
andern Ostseestaaten zu Gemüte geführt. Die günstige Lage im Mittelmeer und das
Einvernehmen mit Frankreich erlaube England, in der Nordsee eine Flotte zu konzen¬
trieren, die sowohl an Zahl der Schiffe als an Kriegstüchtigkeit der gesamten deutschen
Flotte weit überlegen sei. Die Hoffnung Deutschlands, eine England ebenbürtige Flotte
in den europäischen Gewässern unterhalten zu können, sei zu Wasser geworden.
Diese Überlegenheit ist von der britischen Admiralität bekanntlich durch Heran¬
ziehung von Linienschiffen und Panzerkreuzern aus dem Mittelmeer sowie von
fünf Linienschiffen von der ostasiatischen Station erreicht worden. Nicht minder
wichtig aber ist die weitere Anordnung der steten Kriegsbereitschaft der Reserve-
fchiffe, die permanent halbe Besatzung haben; es sind dies zwölf Linienschiffe, vier
Panzerkreuzer, einundzwanzig geschützte Kreuzer und sechsundachtzig Torpedoboote.
Aktiv find: die Kanalflotte mit dreizehn Linienschiffen und sechs Panzerkreuzern, die
Atlantikflotte mit neun Linienschiffen und sechs Panzerkreuzern, die Mittelmeerflotte
mit neun Linienschiffen und vier Panzerkreuzern. An Linienschiffen dreiundvierzig
und an Panzerkreuzern zwanzig; ohne die Mittelmeerflotte, die doch im gegebnen
Falle einmal dringende Abhaltung haben könnte, vierunddreißig und sechzehn.
Dabei kommt allerdings noch in Betracht, daß die Reserveschiffe durchweg modern und
wirkliche Schlachtschiffe sind; alles veraltete Material ist ausgeschieden worden.
Die Angaben der 1?c>i'tlliAUtl? Rsvis^ sind völlig richtig bis auf die eine: daß
Deutschland die Absicht gehegt habe, „in den europäischen Gewässern eine England
ebenbürtige Flotte zu unterhalten."
Eine solche Absicht hat Deutschland, ganz abgesehen von der Finanzfrage, schon
aus dem Grunde nicht haben können, weil es außer mit der englischen auch mit der
französischen Flotte zu rechnen hat, die im Kriegsfall unbedingt an Englands Seite
sein würde. Auch hat Deutschland nur zwei Kriegshafen verfügbar, die an sich
nicht ausreichen, eine der englischen ebenbürtige Flotte aufzunehmen. Wenngleich
die englische Heimatflotte und die früher so bezeichnete Kanalflotte bis zum vorigen
Jahre nur sechzehn Linienschiffe und vier Panzerkreuzer stark waren, so gab es auch
vor der „Entente" keinen deutschen Seeoffizier, der nicht überzeugt gewesen wäre, daß
wir in einem Kriegsfalle die gesamte englische und auch die französische Flotte uns
gegenüber gehabt haben würden. Unsre achtunddreißig Linienschiffe, wenn sie erst
einmal vorhanden sein werden, haben nicht die Bestimmung, England anzugreifen
und mit ihm um die Suprematie zur See zu ringen, sondern die, es jedem Feinde
so schwer wie möglich zu machen, die Elbe- und Wesermündungen zu blockieren
oder etwa die deutsche Flotte in Kiel oder Wilhelmshaven einzuschließen.
Aber wie bekannt sollen nach den bisherigen Dispositionen diese achtunddreißig
Schiffe erst im Jahre 1916, also erst in zehn Jahren vorhanden sein, und bis dahin
wird die englische Flotte wenigstens noch um zehn Linienschiffe und eine Anzahl
Panzerkreuzer zugenommen haben. Hierzu kommt, daß auch unsre neusten Linien¬
schiffe in Deplacement und Bewaffnung hinter den englischen stark zurückstehn; eine
Vergrößerung soll, weil mit wesentlich größern Kosten verknüpft, erst jetzt beim
Reichstage beantragt werden; dasselbe gilt von den wenigen Panzerkreuzern, die
wir haben. Das Gesetz von 1900 sieht deren nur vierzehn vor, von denen sechs
sogenannte geschützte Kreuzer siud, außerdem ist der erste Panzerkreuzer, den wir
gebaut haben, „Fürst Bismarck," wohl für den überseeischen Kreuzerdienst, nicht
aber, wie die neuen englischen Panzerkreuzer, für die Mitwirkung in der See-
Schlacht bestimmt. Wir haben also nur mit sieben Panzerkreuzern zu rechnen, von
denen die bisher fertigen fünf ebenfalls in ihren Dimensionen zurückstehn.
Für die Heimatflotte müssen demnach wenigstens noch sechs tüchtige Panzerkreuzer
gebaut werden und dieselbe Zahl für den überseeischen Dienst. Auch darf dieser
Bau nicht etwa auf zehn oder zwölf Jahre hinaus verteilt werden, sondern muß
in längstens fünf bis sechs Jahren erledigt und beendet sein. Vergrößerung
des Deplacements, der Artillertewirkung und der Geschwindigkeit der
Linienschiffe, Vermehrung der Flotte um große, gefechtsfähig starke
und schnellgehende Panzerkreuzer, Vermehrung der Torpedoboote und
wesentliche Ausdehnung des Minendienstes — das sind für uns die
nächsten Lehren des ostasiatischen Kriegs und des englischen Flotten¬
besuchs zugleich. Eine Vermehrung der Zahl der Linienschiffe ist dabei nicht
nötig, wohl aber eine Beschleunigung des Ersatzes der dreizehn Schiffe der Sachsen-
und der Ägirklasse, die in unsern Listen als Linienschiffe figurieren, es aber leider
nicht sind. Die acht Schiffe der Ägirklasse werden noch eine Zeit lang in der Reserve
Dienst zu leisten vermögen, von den fünf Schiffen der Sachsenklasse, alten Ausfall¬
korvetten (nebst der Oldenburg), ist auch das nicht einmal anzunehmen.
Soviel von der militärischen Seite. Was die politische anlangt, so ist es
sehr lehrreich, daß die Ankunft der englischen Flotte vor Kopenhagen dort nicht etwa
Erinnerungen an 1807 wachruft, sondern daß Stimmen laut werden, die aus
Furcht vor Deutschland, dessen Flotte man vor wenig Wochen sehr sympathisch be¬
grüßt und gefeiert hatte, den engen Anschluß an England fordern. Inoiäit in
8eMs,in, qui vult vitars vbar^haim! Die dänischen Publizisten Georg Brandes
und Peschke Koedt schlugen im Londoner StanäarÄ ganz ernsthaft vor, Dänemark
unter den Schutz Englands zu stellen, was mit der Auslieferung der Ostseeeingänge
an England allerdings gleichbedeutend wäre. Damit würde die Ostsee tatsächlich
zum mars olausum. Es ist ungemein charakteristisch, daß dieselbe englische Presse,
die aus dem Häuschen geriet, als sie der deutschen Politik die Idee des wÄis
clausum unterschob, die Vorschläge der dänischen Publizisten mit großem Beifall
begrüßt. Wenigstens tut dies der LtÄnäarcl. Peschke Koedt schreibt, es könne
eine schlimmere Abhängigkeit für eine kleine Nation geben als die enge Ver¬
einigung mit England. Die „schlimmere Abhängigkeit" ist ihm ein Zusammengehn
mit Deutschland. Peschke Koedt, ein Großkaufmann, ist enragierter Freihändler und
hat den Gedanken wie im Lwnäarcl so auch im Kopenhagner Blatt Politiker aus¬
geführt. Er lebt in der Besorgnis, Dänemark könne in eine Zollgemeinschaft mit
Deutschland und damit auch in Deutschlands politische Interessensphäre geraten.
Deutschland ist ihm aber wegen des „preußischen Korporalstocks" und wegen der
Ausweisungen in Nordschleswig unsympathisch, er fühlt sich deshalb zu England
hingezogen. Der Gedanke des „englischen Protektorats" ist nun keineswegs neu.
Es ist keine zwei Monate her, da betonten Londoner Blätter die Notwendigkeit
für England, Bündnisse mit den Staaten zweiten Ranges, mit Portugal, Spanien,
Holland, Dänemark und Schweden zu Pflegen, das heißt also: deren Häfen und
Seestreitkräfte in den Dienst Englands zu stellen, damit sie nicht einen Gegner
Großbritanniens, Frankreich, Deutschland oder Rußland, verstärken könnten. Man
sieht, wie die Fäden herüber und hinüber gesponnen werden, und Englands stetig
zunehmender Handel unterstützt die politische Arbeit, Englands Interessenkreis zu
erweitern. Wie sich die dänischen Publizisten, und es sind deren mehrere, die Zukunft
Dänemarks als „freie Kolonie Englands" denken, bleibt dabei eine Doktorfrage.
Es sind aber nicht die Engländer allein, die in Kopenhagen werben. Der
Berliner Korrespondent der Petersburger Nowoje Wremja, Herr Melnikow, bereist
gegenwärtig Dänemark und Skandinavien, denen er Rußland als führende Macht
empfiehlt. Nach seiner Ansicht ist Dänemark nach der Vernichtung der russischen
Ostseeflotte in der Klemme zwischen Deutschland und England. Für Deutschland
sei es das Wichtigste, sich gegen England im Baltischen Meere zu sichern, hierin
seien die deutschen Interessen mit den russischen allerdings identisch. Aber Deutsch¬
land beabsichtige eine Sperrung der Ostsee durch eine unter seiner Ägide herbei-
zuführende skandinavische Föderation zu erreichen und habe sich deshalb für die
Einsetzung eines schwedischen Prinzen als König von Norwegen bemüht, um so eine
Aussöhnung zwischen Schweden und Norwegen herbeizuführen. Von einer „Be¬
mühung" Deutschlands in diesem Sinne ist selbstverständlich gar keine Rede, wohl
aber hätte Deutschland eine solche Lösung der skandinavischen Differenz, nachdem die
Auflösung der Union zur Tatsache geworden ist, als die dem bisherigen Verhältnis
am nächsten kommende angesehen und willkommen geheißen. Ob diese Kombination,
die bekanntlich von den Norwegern ausgegangen ist, überhaupt noch möglich ist, ist
schwer zu entscheiden, bisher ist sie nicht an den Norwegern, die eine solche Lösung
des Konflikts wünschten, sondern an der Abneigung des Königs Oskar gescheitert, der
sich durch das Verhalten der Norweger schwer verletzt fühlt. Herr Melnikow sieht
schließlich das Bündnis der skandinavischen Reiche unter Rußlands Führung als eine
Notwendigkeit zum Schutze ihrer Unabhängigkeit und als eine Notwendigkeit für
Rußland zur Sicherung der Freiheit des Meeres an. Diese „Identität der Interessen"
ist ihm viel wichtiger als die vorher von ihm für Deutschland wie für Nußland in
demselben Maße als bestehend anerkannte Notwendigkeit, sich in der Ostsee gegen
England zu sichern. Es kann nicht wundernehmen, daß dem russischen Werben
in Kopenhagen ein englisches und dem englischen ein russisches gegenübertritt.
Deutschland hat sich im Gegenteil zu dem, was Engländer und Russen voraus¬
setzen und ihm unterstellen, Dänemark gegenüber mit politischen Zumutungen sehr
zurückgehalten. Die deutsche Regierung und die deutsche Presse fast aller Schat¬
tierungen haben Dänemark gegenüber eine aufrichtig sympathische, wohlwollende Ge¬
sinnung bekundet, in unsern Zeitungen ist dabei auch der Wunsch ausgesprochen
worden, daß Dänemark seinen festen Ankergrund im Anschluß nach Süden finden
möge. Aber es ist keinerlei Versuch gemacht worden, in dieser Richtung auf Hof
und Regierung in Kopenhagen einzuwirken. Als Dänemark im Juli 1870 noch
schwankte, ob es nicht den Lockungen der französischen Diplomatie Folge leisten sollte,
erging von Petersburg her die sehr ernste und bestimmte Warnung nach Kopenhagen,
Jütland nicht einer dritten Invasion auszusetzen, sondern vielmehr die Zukunft
Dänemarks im engen Anschluß an Deutschland, namentlich an das deutsche Zoll¬
system zu suchen. Dieses Zollsystem hat sich seitdem freilich sehr geändert, und
die Änderung ist in Dänemark wie in Holland mit wenig Sympathie aufgenommen
worden. Aber das kann für große politische Zukunftsfragen nicht ausschlaggebend sein.
Auch hat nicht Deutschland allein sich dieser Änderung unterzogen, Frankreich
zum Beispiel in noch viel höherm Maße, und es ist bekannt, welche Bemühungen
in England in derselben Richtung vorhanden sind. Rußland hatte zu seiner Warnung
freilich noch einen andern Grund. Die Idee einer skandinavischen Union unter franzö¬
sischem Einfluß gehörte zu den politischen Spielereien Napoleons des Dritten. Gelang
es, Dänemark an Frankreich zu fesseln, so war bei den starken französischen Sympathien
des damaligen schwedischen Hofes im Falle eines Sieges der französischen Waffen
die Union fertig, und Rußland sah sich damit einem starken Druck in der Ostsee
ausgesetzt. Die Kopenhagner Politik war damals weise genug, Dänemark nicht an
das Schicksal Frankreichs zu ketten. Die mangelhafte Verfassung der französischen
Flotte, die ihre Kriegsrüstuug tatsächlich erst in Kopenhagen in der notdürftigsten Weise
beendete, hat Dänemarks Entschließung sehr erleichtet, der 4. und der 6. August
taten dann das übrige. Noch weniger gleichgiltig könnte für Rußland eine skandi¬
navische Föderation unter englischem Protektorat sein. Die nahen Beziehungen des
Kopenhagner Hofes zu dein englischen und die norwegische Thronkandidatur eines
dänischen Prinzen, der zugleich Schwiegersohn des Königs Eduard ist, fallen für
politische Kombinationen dieser Art sehr in das Gewicht, und es ist begreiflich,
daß Rußland lieber einen schwedischen Prinzen als den dänischen Prinzen Karl
auf dem Thron von Norwegen sieht, während Deutschland an der norwegischen
Thronfrage nur indirekt interessiert ist. Für uns kommt nur in Betracht, wie weit
es der unermüdlichen Geschäftigkeit der englischen Diplomatie, Deutschland einzu¬
kreisen und in Schach zu halten, gelingen wird, in Kopenhagen festen Fuß zu
fassen. Die Aufnahme, die ein gegen Deutschland gerichtetes Untertauchen Däne-
marks unter die englische Suprematie in Dänemark selbst finden würde, dürfte wie
die Rede, die der dänische Kommandeur Bluhme, ein Mitglied des Folkethings,
bei der Begrüßung der englischen Flotte in Esbjerg gehalten hat, zur Genüge
zeigt, mindestens sehr geteilt sein. Kommandeur Bluhme sagte, es sei für Däne¬
mark das beste, sich streng neutral zu halten und sich nicht in die Meinungs¬
verschiedenheiten der Großmächte zu mischen. Wie gegen England, so habe auch
gegen Deutschland die Zeit die Empfindungen Dänemarks gelindert, „und wir
wünschen nun offne und unzweideutige Freundschaft mit dem großen und hoch¬
kultivierten deutschen Volke." Das war die Begrüßung, die der englischen Flotte
an der Schwelle der Ostsee zuteil wurde; es ist nicht anzunehmen, daß entgegen¬
gesetzte Anschauungen jetzt in Kopenhagen das Übergewicht behalten. Auch in Kopen¬
hagen ist es nicht ohne Eindruck geblieben, daß die deutsche Schlachtflotte von Kiel
überraschend vor Swinemünde erschien und den britischen Gast an den deutschen
Küsten als Hausherr begrüßte.
Was zum Schluß die IsortuiMI)' Rsviev? anlangt, so ist sie dafür bekannt, daß sie
ihre Spalten mit Vorliebe antideutschen Korrespondenzen und Betrachtungen aller Art
öffnet. Zu ihren Mitarbeitern gehört u. a. auch der Dolmetscher der französischen Bot¬
schaft in Petersburg, Giaccone, der neben seiner amtlichen Funktion zugleich die ^Ahmes
Havas, die deutschfeindliche Inclöpsnäs-nes LslAv und die nicht minder deutschfeind¬
liche van^ Rail, das Londoner Sensationsblatt, bedient. Für einen Angestellten
der französischen Botschaft in Petersburg ist das des Guten etwas viel. Giaccone
lebt seit siebenundzwanzig Jahren in Petersburg, ist infolge dieses langen Aufent¬
halts mit der Petersburger Presse, und zwar mit allen Blättern, sehr liiert, es
ist notorisch, daß er im Auftrag unfreundlich über die Begegnung Kaiser Wilhelms
mit Kaiser Nikolaus geschrieben hat. Die Behauptung des ^emxs, Kaiser Wilhelm
habe bei diesem Anlaß gegen den Frieden geraten, rührte von Giaccone her, der,
weil die öffentliche Meinung Rußlands den Frieden wollte, mit dieser Behauptung
dort Verstimmung gegen Deutschland zu säen gedachte. Durch das Telegramm des
Präsidenten Rovsevelt ist diese vom bis zur Inäöpsuäaueo und zur van? Rail
reichende Minierarbeit, die auch in Petersburg selbst fleißig am Werke ist, freilich
sehr nachdrücklich desavouiert worden. Im übrigen wissen die unterrichteten russischen
K
vie Verbreitung ach 0l!ol über ille
gan?e Lrlie 8teri omne Kei8pisi ela.
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AMor einiger Zeit habe ich in den Grenzboten die Legende vom
Bankerott des Strafvollzugs einer Prüfung unterzogen und dar¬
gelegt, daß es nicht richtig ist, die Misere des zunehmenden Ver¬
brechertums ganz allein oder auch nur vorzugsweise auf Mängel
des Strafvollzugs zurückzuführen. Zugleich wünschte ich, einer
neuerdings mehrfach literarisch verfochtnen Meinung, die angeblichen Mißerfolge
des Strafvollzugs seien von seiner Durchtränkung mit erzieherischen Motiven
verursacht, entgegenzutreten und wollte sie als einen seltsamen und großen
Irrtum bezeichnen, dessen Konsequenz zu überwundnen und schon lange als ver¬
derblich erkannten Zuständen zurückdrängen müßte. Ich darf das damalige
Thema heute noch einmal aufnehmen, da das Erscheinen des vierten Bandes
der gesammelten Schriften v. Johann Heinrich Wieherns*), worin uns dessen
Gedankenarbeit auf dem Felde der Gefäugnisrcform zugänglich gemacht wird,
ganz von selbst zu einem weitern Verfolgen des Themas hindrängt.
Es ist begreiflich, daß sich die noch immer lebhaft geführte Diskussion der
Gcfüngnisfrage hauptsächlich in der Bahn einer kritischen Musterung der bestehenden
Zustände bewegt, daß positive Vorschläge aber nur spärlich dargeboten werden.
Eine wesentlich kritische Betrachtungsweise führt aber leicht zur Unterschätzung und
zum Übersehen des tatsächlich vorhandnen Guten und Wertvollen. Das Auge
verliert sich unter Einzelheiten, die verallgemeinert werden, obwohl sie vielleicht
reine Zufälligkeiten sind, ihre Beseitigung erscheint einfach, ihr Vorkommen un¬
begreiflich, weil man ihre tiefern Ursachen und Zusammenhänge ohne eigentliche
Fachkenntnis nicht zu übersehen vermag. Die Berechtigung einer offnen und
unter Umständen einer herben Kritik kann nicht bestritten werden. Die Voll¬
streckung der Freiheitsstrafe ist eine so ernste und folgenschwere Sache, Fehler
darin können so verhängnisvolle, der Allgemeinheit fühlbar werdende Wirkungen
haben, daß der gute Rat der Verständigen jederzeit willkommen geheißen werden
muß. Glaubt man aber, der Strafvollzug hätte einen langen Dornröschenschlaf
gehalten, woraus er nun von schmetternden Fanfaren geweckt werde, und denkt
man, die Strafvollzugsbehörden seien der süßen Macht der Gewohnheit in einem
Grade verfallen, daß sie mit Gewalt und Geschrei zu Reformen gedrängt werden
müßten, so muß dem doch widersprochen werden.
sagt Gellert mit Weisheit, und sein Sprüchlein gilt wie anderwärts so auch
von dem Strafvollzngswesen. Unverstand, Beschränktheit, Überhebung und der
alte leidige Schlendrian haben darin natürlich ebenfalls ihre Rolle gespielt, wie
sie sich eben überall einfinden, hemmend und zugleich gegen ihren Willen fördernd,
als ein Teil von jener Kraft, die stets das Schlechte will und am Ende doch
das Gute schaffen muß. Aber Fleiß, Tüchtigkeit, feine Klugheit und redliche
Treue haben ebensowenig gefehlt. Die Geschichte des Gefängniswesens enthüllt
uns das Bild mühevollen Ringens nach dem Ziele hin, die Strafe streng, aber
doch menschlich und verständig zu vollziehn und ihren schädlichen Wirkungen,
soweit es in der Macht von Menschen liegt, entgegenzuarbeiten. Diesem Ziele
konnte man nur näher kommen, soweit ehrliche Selbstkritik vorhanden war, und
sie ist vorhanden gewesen. Und die Größten und Besten unter denen, die ihre
Kraft und ihr Nachdenken dem Problem der Strafe zuwandten, haben die Kritik
mit Schürfe und mit einem schwerlich zu überbietendem Radikalismus ausgeübt.
Nicht Flickwerk wollten sie treiben, sondern ganze Arbeit tun, in einer grund¬
sätzlichen Erneuerung, nicht in dem Abtun einzelner augenfälliger Mängel sahen
sie das Ziel, und sie haben dieses Ziel großenteils unter dem Widerspruch
der öffentlichen Meinung, oder genauer gesagt, im Gegensatz zu allerlei Gefühlen
des Zorns wie des sentimentalen Mitleids verfolgen müssen. Jede Position
war erst zu erkämpfen, jeder Zoll Boden mußte erst erstritten werden.
Der vierte Band der Wichernschen Schriften eröffnet uns einen Einblick in
solche Kämpfe. Manches, was dieser Band bringt, ist freilich schon allem Streit
enthoben und hat mir noch historisches Interesse, das allermeiste aber klingt,
als sei es jetzt eben und als Antwort auf Fragen, die uns gerade bewegen,
niedergeschrieben worden. Man steht dazu beim Lesen immerfort unter dein
Eindruck einer großen Persönlichkeit, eines feinen und freien Geistes, eines
warmen und reichen Herzens und verfolgt mit Bewunderung den Weg, den sich
dieser Mann aus der Welt der Liebestätigkeit in die frostige und fremde Welt
der Strafgewalt und da hindurch von neuem in den Sonnenschein der Liebe
gebahnt hat.
Als Wiehern anfing, seine Aufmerksamkeit und Kraft mehr und mehr dem
preußischen Gefängniswesen zuzuwenden, war dieses schon von den modernen
Ideen erreicht worden: König Friedrich Wilhelm der Vierte, der den Fragen
der Gefängnisverbesferung nicht nur die innerste Teilnahme sondern auch ein
bewundernswertes Verständnis entgegenbrachte, hatte für das Einzelhaftsystem
entschieden und den Bau von Zellengefängnissen angeordnet. So wurde denn
vor allem das Zuchthaus in Moabit nach den Plänen des Mnstergefüngnisses
in Pentonville erbaut, das der König bei einem Besuch in England ein¬
gehend besichtigt hatte, und die neue Strafanstalt ragte nun mit ihren Türmen
und Zinnen wie mit der noch nie gesehenen Gruppierung ihrer Gebäude so
fremdartig in ihre Hingebung hinein, wie das in ihr verkörperte Prinzip in die
herrschende Anschauung von Schuld und Strafe. Die mancherlei tiefsinnigen
Spekulationen über den Grund und den Zweck der Strafe, ob darin eine rech¬
nerische Gleichung zwischen Straftat und Strafübel gesucht werden solle, oder
ob die durch Unrecht gestörte Gerechtigkeit wiederhergestellt werde, ob Abschreckung,
Vergeltung, Besserung oder etwas andres der Strafzweck sei, dieses ganze Gewebe
der grauen Theorie hatte der König vorläufig auf sich beruhen lassen und sich
einfach auf den Standpunkt gestellt, es müsse auf jeden Fall dafür gesorgt werden,
daß die Freiheitsstrafe in einer ernsten, würdigen und den wohlmeinenden Ab¬
sichten der Obrigkeit entsprechenden Weise vollzogen werde. Der König hatte
sich davon überzeugt, daß dies bisher nicht geschähe, daß vielmehr unter dem
herrschenden System der gemeinsamen Haft mit ihrem verderblichen Gefangnen-
verkehr ungezählte Scharen von Landeskindern in der Strafe und durch die
Strafe aufs schwerste in ihrem sittlichen Leben geschädigt würden. Die Ver¬
antwortung für dieses seinen Untertanen ungetane Unrecht lag drückend auf
feiner Seele und trieb ihn an, die Reform des Gefängniswesens mit Einsetzung
seiner königlichen Autorität in Gang zu bringen. Immer wieder griff er per¬
sönlich in die endlosen Verhandlungen über die Vorzüge und die Nachteile der
verschiednen Haftarten ein und drängte die Beratungen vorwärts. Der Widerstand
war jedoch zu groß und allseitig, und mehr noch als die offne Gegnerschaft waren
den Plänen des Königs die verborgnen Widersacher hinderlich, die es zwar für
inopportun hielten, wirkliche Opposition zu machen, es aber nicht verschmähten,
scheinbar Ja zu sagen und dann durch tausend heimliche Schachzüge das Spiel
hinzuschleppen und die Pläne zu verderben.
Es ist zu bewundern, daß sich der König durch allen passiven Widerstand,
der ihn heftig genug erregte, doch nicht matt setzen ließ, sondern daß er sein
Ziel sicher und fest im Auge behielt. Er sah jedoch ein, daß er eines Mannes
bedürfe, auf dessen Treue Verlaß sei, der von der Notwendigkeit der geplanten
Reformen überzeugt wäre und dazu tatkräftig und geistig bedeutend, sie durch¬
zuführen. Diesen Mann fand er in Wiehern, der ihm schon lange wert war,
und dessen er sich seit Jahren bedient hatte, die Zustände der Gefängnisse und
des Gefcmgnenlebens zu erforschen. Die Berufung des Hamburgischen Theologen
in die Leitung des Gefängniswesens der Verwaltung des Innern ist einer der
seltnen Fälle, wo ein bedeutender Mann ohne weiteres auf einen seiner Be¬
deutung entsprechenden amtlichen Platz gestellt worden ist. Und sie war eine
hohe Ehre und Anerkennung, die Wiehern mit der Erduldung bittrer An¬
feindungen bezahlen mußte. Wiehern spricht sich in einen: Briefe über die
schwierige Lage aus, in die er geraten war: „Es gilt eine tiefe Unwahrheit
schlechtester Bureaukratie um den Preis aufzudecken, für die Zukunft den unglück¬
lichen Gefangnen Wege des Heils anzubahnen und einem Fürsten, der wie wenige
in seinem Volk ein Herz voll Erbarmen und Gerechtigkeit für die Elendesten
hat, einen Dienst zu tun. Ich befinde mich auf einem Schlachtfeld, umgeben
von widerwilligen Menschen, vor denen kein Schritt zurückgewichen werden darf,
um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die ganzen Tage bringe ich jetzt im
Gefängnis, meist in einzelnen Zellen, mit schweren Verbrechern zu, um ihre
äußere und innere Lage zu ermitteln, ohne daß sie merken dürfen, wozu es ge¬
schieht." Diese Briefstelle spiegelt das Gefühl wider, von dem er ergriffen
wurde, als er die Anstalt Moabit besuchte, die dazu bestimmt war, eine Muster¬
vorlage des Einzelhaftsystems zu liefern und der höhern Verwaltung Gelegenheit
zu geben, die Wirkung des Systems mit eignen Augen beobachten zu können.
Wohl fand er das kostbare Manerwerk und alle Einrichtungen zur Ausführung
der Einzelhaft vor, aber es war davon kein Gebrauch gemacht worden. Von
817 Gefangnen waren 321 in gemeinsamer Haft gehalten, 399 arbeiteten bei
Tage in offner Zelle, oft zu zwei oder drei Manu gemeinschaftlich in einem
Raume, und nur 61 Strengisolierte arbeiteten und schliefen in verschlossener Zelle.
Und um die Schädlichkeit der Einzelhaft zu beweisen, hatte man sich überdies
allerlei schwierige, ja schon geistig gestörte und für die Einzelhaft völlig unge¬
eignete Gefangne zuschicken lassen. Aus dieser Art von Einzelhaft sollten dann,
wie Wiehern klagt, die Beweise erbracht werden, um Gründe, die zugunsten des
wirklichen pennsylvanischen Strafsystems geltend gemacht wurden, zu entkräften.
Er war natürlich voller Entrüstung über die tiefe Unwahrheit, durch die man
die Gefängnisreform aufhalten zu können wühnte. Wer seine Schriften liest,
der wird gleichwohl anerkennen müssen, daß er immerfort bemüht gewesen ist,
seine Gegner durch Nuhe und Sachlichkeit zu entwaffnen und zu gewinnen.
Wiehern sah sich zunächst vor die Aufgabe gestellt, darüber aufzuklären,
daß die Erregung gegen das Einzelhaftsystem von irrtümlichen Voraussetzungen
ausgehe und sich gegen eine andre Art der Einzelhaft richte, als sie in Preußen
eingeführt werden solle. Das Wort Einzelhaft erweckte, wo es ausgesprochen
wurde, die Vorstellung eines dem Gefangnen in stiller Zelle angetanen Seelen¬
martyriums und einer mißbräuchlichen Anwendung der Religion. In langer
geduldiger Aufklärungsarbeit durch Schrift und Wort, durch Vorträge und
Parlamentsreden spricht sich Wiehern deshalb über die wirklichen Absichten der
Staatsregierung aus. Es sei keineswegs darauf abgesehen, an dem Gefangnen
das Mittel der Einsamkeit zu versuchen und seelische Experimente an ihm zu
machen. Solche Experimente seien durchaus verwerflich und außerdem auch ver¬
kehrt, da sich die sittliche Natur des Menschen nun einmal nicht mechanisch be¬
handeln lasse. Vollständige Einsamkeit wäre eine Grausamkeit und dem Tode
gleich zu achten, wenn sie nicht etwa auf Selbstentsagung beruhe. Nicht den
Gefangnen einsam zu machen, sei der leitende Gedanke, das Ziel sei vielmehr,
ihn aus dem Sumpfe der verbrecherischen Gemeinschaft herauszuheben und in
einen ihm zuträglichern Verkehr hiueiuzuversetzen. Das tiefe Verderben des Lebens
in der gemeinsamen Haft wieder und wieder und mit immer neuen Farben zu
schildern wird Wiehern nicht müde, wir stoßen in seinen Schriften fort und fort
auf Stellen, die die Verwerflichkeit des unter dem Schutz und der Garantie der
strafenden Obrigkeit gepflognen Verkehrs von Dieben, Räubern, Mördern und
Verbrechern aller Art erweisen sollen. Diesen Verkehr aufzuheben, das ist, so
stellt Wiehern fest, die nächste Veranlassung gewesen, das Einzelhaftsystem in
Preußen einzuführen. Die Erklärung dafür, daß man die Einzelhaft jemals
zu irrtümlichen Experimenten an der Seele des Gefangnen benutzt hatte, findet
er nun in der Einmischung anderweitiger Theorien über den Zweck der Strafe
in die Einzelhaftfrage, zum Beispiel der Besserungstheorie, und spricht sich
gegen diese Einmischung mit Schärfe aus: das preußische Strafgesetz schließt
anderweitige Strafrechtstheorien, zum Beispiel die Besserungstheorie aus. Die
richterlich verhängte Strafe gilt nur als strafender Akt der Gerechtigkeit, und
der Strafvollzug hat nur die Aufgabe, die vom Richter zuerkannte gerechte
Strafe gerecht auszuführen.
Es muß ein solches Bekenntnis zur Gerechtigkeitstheorie gerade bei Wiehern
auffallen, da seine ganze Seele ja von dem Wunsch erfüllt war, den Gefangnen
Besserung und Heilung zu bringen. Und mit noch größerer Verwunderung muß
uns ein Vorgang auf dem internationalen Wohltätigkeitskongreß in Frank¬
furt a. M. erfüllen. Dort sollte dem Einzelhaftsystem das Zeugnis gegeben
werden, daß es in jeder Beziehung den Zwecken der Strafe entspräche. Zu den
Worten „in jeder Beziehung" schlug nun der Professor von Bethmann-Hvllweg
das Amendement vor, einzuschalten: den Forderungen der Humanität und Ge¬
rechtigkeit. Aber Wiehern wandte sich mit der ganzen Autorität seiner amtlichen
Stellung gegen diesen Zusatz. Vollständige Gerechtigkeit sei Liebe, und es komme
zunächst auf Vergeltung des getaner Unrechts an.
Hier bekennt sich Wiehern also unzweideutig zur Vergeltuugstheorie. Mau
darf aber schwerlich annehmen, daß er ihr wirklich innerlich zugetan war. Er
wollte es vermutlich verhindern, daß an diesem ihm sehr gleichgiltigen Punkte
der alte Theorieustreit entbrenne, und die dürre Formel genügte ihm vollständig,
da sie in seinem Kopfe sogleich eine sinnige Deutung und ethischen Gehalt
empfing. Niemals wäre es ihm möglich gewesen, an eine andre Vergeltung
zu denken, als an eine solche, wie sie ein sittliches Wesen zu üben vermag. Der
der Verwaltung vorschwebende Gedanke, so erklärt er im Abgeordnetenhause,
ist der, daß der Richter nach dem Gesetz den Gefangnen zwar verurteilt, aber zu¬
nächst zu nichts anderen verurteilt hat, als daß ihm die Freiheit genommen werde,
außer der Freiheit aber nichts andres, sodaß also alles, was der Gefangne für
sich außer der Freiheit als Mensch besitzt, ihm soll erhalten und in ihm und
an ihm soll gefördert werden.
Eine notwendige Folgerung aus dieser Definition der gerechten Strafe
mußte nun das Eingeständnis sein, daß eine Strafe, die dem Gefangnen mehr
nimmt, als es das Urteil gewollt hat, die ihn nicht fördert, sondern ihn sogar
schädigt, indem sie ihn unter dem Zwange der Haft in die verderbenschwangre
Atmosphäre der verbrecherischen Gemeinschaft versetzt, daß eine solche seelen¬
mörderische Strafe unmöglich für die gerechte Ausführung des gerechten Richter-'
spruchs gehalten werden dürfe. Die Auflösung der verbrecherischen Gemeinschaft
in den Gefängnissen mit dein Korrelat der Aufstellung einer bessern und mög¬
lichst der besten Gemeinschaftssphüre ergab sich hiernach als eine Forderung der
Gerechtigkeit selber, die in der Strafe ihren Willen ausspricht. Eine befriedigende
Lösung der hiermit gestellten Aufgabe aber konnte nach Wieherns Überzeugung
nur das Eiuzelhaftsystem bringen.
Es wurde Wiehern entgegengehalten, daß in der Einzelhaft eine neue, im
Gesetz nicht vorgesehene Strafe auf dem Verwaltungswege eingeführt werden
solle. Diesem Einwurf begegnete er, indem er nachwies, daß in der Einzelhaft
nur bewirkt werden solle, was man schon immer, auch unter der alten Hastart,
dort aber auf naturwidrige Weise und mit übeln Erfolge zu erreichen versucht hatte.
Denn das dort geltende Schweigegebot sollte doch ebenfalls dem Zwecke dienen,
die Gefangnen voneinander zu trennen. Daß es notwendig sei, den Verkehr
der Gefangnen aufzuheben, war demnach im Prinzip anerkannt. Man be¬
mühte sich auch wirklich, es zu bewirken, aber ohne Sinn und Verstand und
mit dem Ergebnis innerer Unwahrheit: Betrug war alles, Lug und Schein.
Nicht einmal bei Tage und in den Arbcitssälen war es möglich, das Schweige¬
gebot durchzuführen, in der Nacht aber, wo die Gefangnen in gemeinsamen, nur
von außen her hin und wieder beaufsichtigten Schlafsälen verwahrt wurden, war
es vollends außer Giltigkeit gesetzt, sodaß also, wenn wirklich tagsüber der Verkehr
der Gefangnen untereinander verhindert worden wäre, in der Nacht der ganzen
Mühe Lohn preisgegeben wurde. Nur die Einzelhaft führt die Trennung wirklich
durch. Sie vollbringt damit aber nur, was man schon immer gern erreicht
hätte, zu erreichen aber außerstande gewesen war. Die Einzelhaft ist aber auch
durchans nicht grausamer als die gemeinsame Haft. Die größere Milde und
Menschlichkeit rühmt man dieser vielmehr sehr mit Unrecht nach. Die ge¬
meinschaftliche Einsperrung der Verurteilten ohne irgendwelche Rücksicht auf
die höhern sittlichem Verpflichtungen gegen die Gefangnen als Personen und
vollends als christliche Brüder ist ein grausames Unrecht, das das Mark der
sittlichen Natur verletzt und den Menschen im Menschen zu vernichten droht.
Dazu schließt das Schweigegebot, das diesem Unrecht begegnen soll, noch eine
neue Grausamkeit in sich ein: Menschen dicht nebeneinander zu setzen und ihnen
dann die Sprache verbieten, das ist unmenschlich. Ganz gewiß legt anch die
Einzelhaft dem Gefangnen eine harte Entbehrung auf, aber ohne Künstelei. Die
Gefangenschaft in der Einzelzelle versetzt den Sträfling in die Lage, als wäre
er der einzige Gefangne. Seine Zelle ist seine ganze Welt, und mit allen Per¬
sonen, die berechtigt und verpflichtet sind, in diese Welt einzudringen, darf er
frei und ungehindert verkehren. Also nichts Neues und Unerhörtes will und
bringt die Einzelhaft, weder eine Milderung noch eine Verschärfung der Strafe,
sondern sie ist uur die konsequente Durchführung der in der ganzen bisherigen
Verwaltung angestrebten aber unausführbar gebliebner Disziplin.
Gegen die Wichernsche Anschauung, die wir hier wiederzugeben versucht
haben, wird bekanntlich der Einwand erhoben, auch die Einzelhaft vermöge den
Verkehr der Gefangnen nicht gänzlich zu verhindern, er sei anch da noch möglich
und in Wirklichkeit gäng und gäbe. In der Tat bringt es der Gefangne auch
in der Einzelhaft noch fertig, mit seinen Schicksalsgenossen in den Nachbarzellen
Beziehungen anzuknüpfen und eine Art von Verkehr anzubahnen. Eine her¬
metische Abschließung ist eben unmöglich. Sie wird aber auch nicht erstrebt.
Das Ziel kann immer nur das sein, eine natürliche Trennung herbeizuführen,
die den Gefangnen ganz sicher davor schützt, daß er gegen seinen Willen in
einen verbotnen und schädlichen Verkehr hineingezogen wird, und die ihm, sollte
er die wohltätige Absicht dieser Einrichtung nicht begreifen können oder wollen
und dennoch nach verbotnem Verkehr streben, hierbei die schwersten Hindernisse
bereitet. Auch wird neuerdings die grausame Härte der Einzelhaft wieder be¬
weglich geschildert, und es soll nicht geleugnet werden, daß sie große Entbehrungen
in sich schließt. Aber Entbehrungen liegen nun einmal im Wesen der Strafe.
Und allen Einwänden zum Trotz kann auf Grund einer langen Erfahrung an
vielen Tausenden von Gefangnen, die seit Wieherns Tagen durch die Einzelhaft
gegangen sind, getrost behauptet werden, daß die richtig und sachgemäß durch¬
geführte Einzelhaft zwar- die ernsteste aber auch die menschlichste Form der
Freiheitsstrafe ist und bleibt.
Aber sachgemäß muß sie freilich ausgeführt werden, und hierzu den Weg
gewiesen und in Moabit zugleich das Vorbild ihrer korrekten Ausführung ge¬
schaffen zu haben, dies ist ein weiteres unvergeßliches Verdienst Wieherns. Sein
Gedankengang war hierbei etwa dieser: Der Rechtsspruch beraubt deu Gefangnen
der Verfügung über einen bestimmten Teil seines Lebens und nimmt ihm das
Recht, während dieser Zeit sein Dasein nach eignem Belieben einzurichten. Dieses
Recht empfängt die Strafvollzugsbehörde. Sie hat also die Berechtigung und
zugleich die Verpflichtung, das ihr ausgelieferte Stück Leben nach ihrem Willen
zu ordnen, was nur bedeuten kann, daß sie es dein sittlichen Prinzip entsprechend,
das sie vertreten soll, gestalten muß. Durch die Einzelhaft ist in das Leben
des Gefangnen eine Leere gekommen, die es auszufüllen gilt. Diese Leere zu
lassen geht nicht an, sie würde den Gefangnen leiblich und seelisch verderben.
Wer diese Leere geschaffen hat, ist auch verpflichtet, sie mit einem neuen Inhalt
zu erfüllen. Es besteht also die Pflicht, für ausreichende Beschäftigung, gesunde
Verwahrung und genügende Ernährung der Gefangnen zu sorgen und gleicher¬
weise sein geistiges und sittliches Leben zu hüten und zu pflegen, damit er außer
der Freiheit nichts weiter verliere und in den Stand gesetzt werde, nach wieder¬
erlangter Freiheit in sittlicher und in ökonomischer Hinsicht neue Lebenskraft
zu entfalten.
Diese Verpflichtung hat nnn freilich ihre Grenzen, sie wird aber nicht, wie
auch jetzt immer wieder vom Standpunkte der unbelehrbarer und unbelehrbarer
Abschreckungstheorie aus verkündigt wird, durch den Grundsatz eingeschränkt,
daß das Leben des Gefangnen ja nicht besser gestaltet werden dürfe, als es
die Verhältnisse waren, aus denen er gekommen ist. Ohne Zweifel hat die
Gefangenschaft für viele an abschreckender Wirkung verloren, da sie ihnen, ab¬
gesehen von dem immer schwer empfundnen Mangel der persönlichen Freiheit,
menschenwürdigere und erträglichere Verhältnisse darbietet, als sie ihnen ihr
früheres Leben gewährte. Man wird dies zugeben müssen, aber erwidern, daß
es unmöglich unsre Aufgabe sein kann, beklagenswerte und durchaus verderbliche
Zustände aus Gründen der Abschreckung im Gefängnis zu kopieren und folge¬
richtig sie uoch zu überbieten. In dieser Beziehung kann unsre Aufgabe nur
darin bestehn, daran zu arbeiten, daß die trostlosen und unmenschlichen Lebens¬
bedingungen allenthalben beseitigt werden. Eine Begrenzung dieser Art kann
also nicht anerkannt werden, dagegen soll die Lebenshaltung des Gefangnen
allerdings das Maß des notwendigen nicht überschreiten.
Das Leben des freien Menschen wird umspannt und erfüllt von seiner
Berufsarbeit. Es besteht für uns alle die Pflicht zur Arbeit, für den größten
Teil der Menschheit außerdem der Zwang zur Arbeit, ja die Nötigung, ein
bestimmtes Arbeitsmaß zu leisten. Wer darunter zurückbleibt, verliert sein Brot
und muß hungern. Sogar die Wahl der Arbeit steht nur wenigen frei, die
meisten müssen einen Beruf wählen, der sich gerade bietet, und ihre Befriedigung
darin suchen, auf dem Platze, worauf sie das Leben um einmal gestellt hat,
fleißige und tüchtige Menschen zu sein. Was allgemeine Menschenpflicht ist,
wird auch Pflicht des Gefangnen sein.
In der Arbeit vergißt der Mensch aber mich sein schweres Herz, seine
persönliche Not und erringt sich immer neue Spannkraft für den Lebenskampf.
In ihr gewinnt er die innere Befriedigung, nicht umsonst gelebt zu haben, wie
bescheiden auch seine Stellung gewesen sein möge. Diese Trost- und Segens-
qucllen der Arbeit soll auch der Gefangne suchen und finden können. So muß
also die Arbeit, wie sie den hauptsächlichen Inhalt jedes tüchtigen Lebens aus¬
macht, auch im Leben des Gefangnen einen hervorragenden Platz empfangen,
und ihr wird vorzugsweise die Aufgabe zufallen, die Leere seines Daseins aus¬
zufüllen. Zur Arbeit käme dann der Schulunterricht für jüngere Gefangne,
die Selbstbeschäftigung vornehmlich durch die Lektüre und endlich der Ver¬
kehr der Beamten und Arbeitsmeister. Dieses alles war natürlich auch unter
dem System der gemeinsamen Haft vorhanden, aber es gewann in der Einzel¬
haft eine weit größere Wichtigkeit. Vor allem mußte der Verkehr der Beamten
im Einzelhaftsystem, da er hier nach Wieherns Worten gleichsam eine neue
sittliche Atmosphäre hervorbringen sollte, eine ganz neue Bedeutung bekommen
und auch einen andern Charakter empfangen. Nach dem alten Reglement
waren die verschiednen Tätigkeiten der Beamten wohl rubriziert, der Direktor
thronte über dem Ganzen der Verwaltung, der Arbeitsinspektor überwachte den
Arbeitsbetrieb der Anstalt, der Rendant besorgte das Geldgeschäft, der Ökonomie¬
inspektor die Wirtschaft und der Sekretär die Schreibereien. Der Arzt pflegte
den Leib, der Geistliche und der Lehrer Seele und Geist. Jetzt sollten sich alle
Beamten, vom ersten bis zum letzten, neben ihren übrigen besondern Aufgaben
an der Pflege des geistigen und des sittliche» Lebens der Gefangnen beteiligen,
und sie sollten sich in einem Sinn und Geist betätigen.
Daß für diese neue Aufgabe, die Wiehern in voller Würdigung alles
dessen, was er verlangte, ein zu bringendes Opfer nannte, die Fähigkeiten des
bisherigen Personals nicht ausreichten, hatte Wiehern von vornherein eingesehen,
es stellte sich aber um so mehr heraus, je weiter er in seine Arbeit eindrang.
Der offne und der heimliche Widerstand, womit man die Absichten des Königs
zu durchkreuzen versucht hatte, beruhte ja doch nicht allein auf bösem Willen,
sondern er war nur die gewöhnliche Methode, wie sich die Unfähigkeit zu wehren
pflegt. Wiehern sah ein, daß er zunächst in Moabit, dann auch in den andern
Anstalten seiner Verwaltung durchaus einer neuen Beamtenschaft bedürfe, die
die ihr zugemutete Aufgabe mit Verständnis und Freudigkeit anzugreifen ver¬
möge. Der König selber hatte den Finger auf diesen wunden Punkt gelegt
und verlangt, daß vor allem erst einmal die Reorganisation der Beamtenschaft
in die Hand genommen würde. So stellte Wiehern also die Forderung, daß
die Beamtenschaft zum mindesten in ihrem Kern ein technisch geschultes, im
preußischen Strafanstaltsdienst erfahrnes, von der Bedeutung der Einzelhaft
überzeugtes, von evangelischem Geist getragnes, innerlich einheitliches Personal sein
müsse. Die wenigen Oberbeamten für die Anstalt in Moabit zu finden, in der das
geplante System zunächst einmal versucht und ein Vorbild für alle andern
Anstalten geschaffen werden sollte, das bereitete Wiehern nun wohl keine sonder¬
lichen Schwierigkeiten. Anders stand es mit der Beschaffung des zahlreichen Unter¬
beamtenpersonals. In dieser Verlegenheit gedachte Wiehern daran, daß er ja in
der Bruderschaft des Rauben Hauses hätte, was er bedürfe, ein für seine Zwecke
in hervorragender Weise gebildetes, williges, opferbereites Heer von Helfern,
das ihm außerdem aufs innigste verbunden und ergeben war. Auch hier hatte
der König zuerst den Weg gewiesen, er hatte ein Aufseherpersonal nach dem
Muster der Brüder verlangt und willigte nun in einer Kabinettsorder vom
Jahre 1856 freudig ein, daß die Bruderschaft des Rauben Hauses in die Ge-
fcmgnenpflege an der Strafanstalt zu Moabit berufen würde.
(Schluß folgt)
!U derselben Weise wie die Tätigkeit der Oswoboshdjence die
Regierung ungünstig beeinflußte, wirkte sie ungünstig auf die
Gesamtheit der Sjemstwo. Die Vertreter der Sjemstwo sind
vorwiegend eine besitzende Klasse, die aus rein praktischen Er-
I wägungen alles daransetzen mußte und auch alles tat, die
Beseitigung der Bureaukratie, den Fortschritt, die Vorbereitung einer Ver¬
fassung ohne Revolution zu erreichen. Diese Leute sitzen als Großgrundbesitzer
weit ab vom Schutze des Staats inmitten der seit Jahren unruhigen Bauern,
die nur auf einen „Befehl vom Väterchen Zar" warten, sich der Gutsländereien
zu bemächtigen. Sie wissen genau, daß bei einem Ausbruch der Revolution
zunächst die Anhänger der Autokratie und die Freunde des Gouverneurs
Kosaken bekommen, nicht aber die Feinde der Bureaukratie. Sie wissen ferner,
daß ein Bauernaufstand alle ihre Bemühungen um den Fortschritt vernichten
muß. Denn auch eine ihnen gewogne Negierung wäre außerstande, ihr Leben
und das Tausender Gebildeter zu schützen. In dem Verhalten der Oswo¬
boshdjence lag aber die Gefahr der unbeabsichtigten Entfesselung der Revo¬
lution, weil die bewußt auf ihren Ausbruch hinarbeitenden Leute fortwährend
auf die Tätigkeit der Oswoboshdjence hinwiesen, während die Reaktionäre mit
Hilfe der Geistlichen und der Polizeibeamten unter den Bauern das Gerücht
verbreiteten, der Zar sei durch die von den Juden gekauften Gutsbesitzer be¬
droht. Solange sich aber die Regierung nicht klipp und klar für oder gegen
den Fortschritt ausgesprochen hatte, waren die Besitzer schonungslos den
Bauern ausgeliefert.'KMb^
Wie richtig diese Auffassung ist, geht aus den Ereignissen hervor, die
nach den blutigen Tagen von Petersburg folgten.
Die revolutionären Gruppen des Bundes und der lettischen, der chemischen
und der polnischen Sozialdemokraten erklärten den Augenblick zum bewaffneten
Aufstand gekommen, und vom Baltischen Meer bis tief nach Kleinrußland
hinein brauste die Furie der Revolution über das Land. Das eigentliche
Nußland blieb zwar im allgemeinen ruhig, aber doch brachen hier und da — in
Charkow, Tula, Kursk, Tschernigow — Bcmernunruhen aus, die deu Besitzern
einen Vorgeschmack von dem gaben, was ein Bauernaufstand für Nußland
bedeute. Infolge dieser Verhältnisse vollzog sich innerhalb der Sjemstwo mehr
und mehr eine Trennung, und eine ganze Anzahl von bisher Indifferenten
suchte sich zur Abwehr der Konstitutionalisten zu verbinden. Davon stand
allerdings wenig in der Presse zu lesen, denn eine konservative Presse gab es
nicht, und die mit den Verhältnissen zufriedner Leute waren nicht gewöhnt,
gemeinsam für gemeinsame Interessen aufzutreten, sondern sie suchten ihr per¬
sönliches Interesse im geheimen bei der Bureaukratie zu wahren. Die Zeitung
Grashdanin des Fürsten Mjestscherski diente einer kleinen Hofclique, Moskowskija
Wjedomosti Gringmuts war als das Blatt Pobjedonostzews und Plehwes
und Nowoje Wremja A. Ssuworins als Blatt der hohen Bureaukratie zu stark
kompromittiert. Slowo, Russkij Listok und Denj traten erst später an die
Öffentlichkeit. So kam es denn, daß sich erst Anfang Mürz ein öffentlicher
Verteidiger der Autokratie fand, nämlich der Edelmann Sybin, der einen Aufruf
gegen die Demokraten im Grashdanin") veröffentlichte. Doch diese Gruppe
interessiert hier noch nicht. Hier handelt es sich darum, zu zeigen, welchen
Schaden die Oswoboshdjence bei der gemäßigten Fortschrittspartei, bei deu
Anhängern Schipows anrichtete.
Es laßt sich denken, daß Schipow und seine Anhänger bei dem Verlauf,
den die Bewegung seit dem Januar genommen hatte, den Konstitutionalisten
immer mehr entfremdet wurden. Man hatte sich zur Beseitigung der Bureau¬
kratie verbündet, man wollte mit friedlichen Mitteln eine gründliche Reform
erkämpfen, und nun seit dem Januar stand plötzlich die revolutionäre Partei
an der Spitze der Bewegung. Die Ermordung des Großfürsten Sergej Alexan-
drowitsch erschütterte am 4. (17.) Februar 1905 die Moskaner Gesellschaft.
Schipow verhandelte öfter in Se. Petersburg mit dem Zaren und seinen
nächsten Bertrauten. Endlich am 18. Februar (4. März) erschienen drei Er¬
lasse, Zeichen der skrupellosesten Intriguen und einer entsetzlichen Zerfahren¬
heit am Hofe. Jeder Politiker klammerte sich an den Erlaß, der ihm gerade
willkommen war: die Reaktionäre an das Manifest, die radikalen Demokraten
an den Ukas an den Senat, der das Petitionsrecht verlieh, und die Gemäßigten
an das Reskript an den Minister des Innern Bulygin. Schipow hielt sich
an das Reskript und ignorierte das voraufgegangne Manifest. Er sah nur
den Befehl des Zaren, der dem Minister auftrug, die Einberufung der Volks¬
vertretung vorzubereiten. Dadurch glaubte er sich formell berechtigt, von
seinen konstitutionellen bisherigen Kampfgenossen abzuschwenken. Leider hat
er es getan, ohne abzuwarten, was die Kommission Bulygin für den Fort¬
schritt leisten würde, und ohne auch nur die geringste Garantie für die Be¬
seitigung der Bureaukratie in der Hand zu haben. Hier in Petersburg sind
ihm allerhand Versprechungen gemacht worden. Anfänglich sollte er mit der
Leitung der Kommission betraut werden, unter der Bedingung, daß er sich
von der Sjemstwo trenne. Dann sollte er durch die Ernennung zum Land¬
wirtschaftsminister und schließlich durch die Leitung der später Goremykin
übertragnen Agrarkommission unschädlich gemacht werden. Schipow vertraute
anfänglich den Versprechungen, daß seine Ideen in die Praxis übertragen
werden sollten, trennte sich gemeinsam mit seinem zuverlässigen Freunde
Stachowitsch von der Sjemstwo, und die Bureaukratie wirtschaftete auf eigne
Faust weiter. Den Hergang erzähle ich nach Verschiedenseitiger Prüfung,
dennoch glaube ich, daß die Geschichte noch manches berichtigen wird. Schipows
Projekt soll mit einigen Änderungen die Billigung des Zaren gefunden haben.
Dann sind aber mir unbekannte Einflüsse stark geworden, die ein ganz neues
Projekt erwirkten. Ein schwaches Zeichen dafür, daß meine Darstellung in
den wesentlichsten Punkten richtig ist, scheint mir die Zurückweisung des Pro¬
jekts Bulygin durch den Zaren zu sein. Daneben ist die Auffassung hier weit
verbreitet, der Zar wolle überhaupt keine Reform in dem von der Gesellschaft
geforderten Sinne, sondern trage nur Sorge, die Gesellschaft hinzuhalten, um
die Bureaukratie und die Polizei so organisieren zu können, daß sie imstande
sei, die Autokratie zu schützen.
Was aber die Sjemstwoorgcmisativn anlangt, so hat die Regierung ihr
Ziel erreicht, indem sie die Uneinigkeit unter den Mitgliedern offenkundig machte.
Doch ihre Siegesfreude war von kurzer Dauer. Dank dem taktvollen Ver¬
halten der Grafen Heyden und Genossen, die dem Abtrünnigen alle Wege zur
Rückkehr ebneten, hat sich die anfängliche verhängnisvolle Spaltung zugunsten
der Konstitutionalisten wieder ausgeglichen, und nicht die radikale Gruppe
zerfiel, sondern die Gruppe Schipows. Damit ist der letzte Rettungsanker,
die letzte Möglichkeit zum friedlichen Ausgleich verschwunden. Schipow, der
tüchtigste und fähigste Leiter der Sjemstwoorganisation, ist am 20. Juli a. Se.
in die Mandschurei abgereist. Im Interesse Rußlands wäre es zu wünschen,
er möchte recht bald wieder auf der politischen Bühne erscheinen. Nicht die
Demokratie erlitt durch das Verschulden der Oswoboshdjenee und der Re¬
gierung den Verlust, sondern ganz Rußland.
Mit den „Oswoboshdjenee" habe ich die Gruppe der Demokraten ge¬
schildert, die sich aus den radikalsten Bestandteilen der Intelligenz und der
Sjemstwo zusammensetzt. Da sie mehr als taktische als als politische Einheit
zu betrachten ist, nehme ich sie bei der nun folgenden Besprechung der Intelligenz
ohne weiteres mit.
Die demokratische Intelligenz ist heute vereinigt in dem „Verband der
Verbände" (LoM s<M8vo), der zusammengesetzt ist aus den Verbänden:
1. der Rechtsanwälte, 2. der Hochschullehrer, 3. der Ärzte (Pirogowinstitut),
4. der Mittelschullehrer, 5. der Journalisten und der Schriftsteller, 6. der
Ingenieure, 7. der Eisenbahnbeamten, 8. der städtischen Angestellten, 9. der
Privatbeamten, 10. der polnischen, 11. der kleinrussischen, 12. der jüdischen,
13. der lettischen und der chemischen Demokraten, 14. der Frauenrechtler,
15. der Agronomen, 16. der Förster, 17. der Volksschullehrer.
Die Zahl der überzeugten Anhänger der demokratischen Partei läßt sich
etwa folgendermaßen angeben: Sjemstwomänner 1700, Stadtverordnete 800,
verschiedne Berufe: Russen 14000 bis 15000, Polen 12000, Kleinrussen 800,
Letten 400, Juden an 80000, zusammen etwa 110000 bis 120000 überzeugte
demokratische Wähler, von denen 28000 bis 30000 als zahlende Mitglieder
dem LoMs soMo^ beigetreten sind.
Außer den schon genannten Blättern stehn der Demokratie noch etwa
hundertundfünfundzwanzig Zeitungen und Zeitschriften aller möglicher Natio¬
nalitäten im russischen Reiche zur Verfügung.
Wie schon aus den mitgeteilten Zahlen erkennbar ist, spielt in dieser
Gruppe die „jüdische Intelligenz" die Hauptrolle. Das ist verstündlich, wenn
wir in Betracht ziehn, wieviel Juden, nur um der jüdischen Sache zu dienen,
zur Orthodoxie übergetreten sind, und wie die Juden durch die Gesetze syste¬
matisch gezwungen wurden, sich freien Berufen zuzuwenden. Wegen ihres
tüchtigen Organisationstalents und ihrer Unerschrockenheit sind die Juden von
der russischen gebildeten Gesellschaft gern angenommne Führer, und sie sind
hier ebenso wie unter den Sozialdemokraten die treibende Kraft.
Als hervorragende Mitglieder dieser linken Seite der demokratischen Partei
seien genannt: die Professoren: P. M. Miljukow, Brand (Exzellenz) Gredeskul-
Charkow, Bulgakow-Kijew, Jwanow-Moskau; die Schriftsteller: Tschernischow-
Petersburg, Korolenko, Hausmann, I. W. und W. M. Gessen; die Rechtsanwälte:
Winawer-Petersburg, Ratner-Kijew. Teslenko - Moskau, P. D. Ssokolow-
Petersburg; die Ärzte: Dr. Dorfs-Moskau, Kusmin - Karawajew - Peters¬
burg usw. Es läßt sich aus dieser Gruppe mit Leichtigkeit ein halbes
hundert tüchtiger Politiker und Organisatoren nennen, bei denen die schwachen
Seiten des russischen Volkscharakters schon vollständig zurückgetreten sind. Die
„Intelligenz" hat auf ihrer letzten Sitzung vom 1. bis 3. Juli d. I. in Terjoki
die Frage erörtert, ob sie sich nun schon der Sjemstwogruppe zu gemeinsamer
Arbeit anschließen könne oder nicht. Die Frage ist offen geblieben, weil sich
eine ganze Anzahl von Delegierten, besonders aus dem Innern des Landes,
wie Volksschullehrer, Ingenieure und Handlungsgehilfen, für einen Anschluß
an die Arbeiterparteien aussprach. Ich selbst habe den Eindruck davon ge¬
tragen, als bereite sich in der Gruppe eine Zersetzung vor, die auf eine
Stärkung der Sozialisten hinausläuft. Ein abschließendes Urteil kann heute
noch nicht gefällt werden.
Sämtliche absolutistische Gruppen sind verbunden durch zwei gemeinsame
Wünsche: Aufrechterhaltung der absoluten Autokratie und Bewahrung des
Bauernstandes vor fremden, besonders westeuropäischen Einflüssen. Sie kenn¬
zeichnen sich dadurch als Anhänger Aksakows und Ssamarins, als Slawophile
oder als Anhänger Katkows, d. h. Panrussen. Es sind, was die innere
Politik anlangt, infolge äußern Drucks entstcindne Abwehrorganisationen, ohne
die Kraft der Offensive. Der liberale, slawophil gesinnte Teil von ihnen
sieht das Heil mit Recht in einer mit der Loslösung von der Bureaukratie
verbundnen tiefgreifenden Reform der orthodoxen Kirche; der konservativere,
panrussische Teil dagegen in einer noch größern Stärkung der Bureaukratie;
beide Teile sehen in dem Duldungserlaß vom 17. (30.) April 1905 eine schwere
Gefahr für das orthodoxe Russentum.
Stellen wir uns auf den Standpunkt des orthodoxen Moskowiters, dann
müssen wir wünschen, die slawophile Gruppe wäre die stärkste im Lande, auch
die stärkste gegenüber der Demokratie. Denn eine gesunde Entwicklung der
nationalen Kirche müßte auch eine solche des Rnssenvolks zur Folge haben.
Leider ist aber die genannte Gruppe tatsächlich die schwächste unter allen Par¬
teien, weil sie keine Männer der Tat zu den ihren zählt. Die wenigen
„Männer," die sich den Forderungen der Moskowiter gegenüber sympathisch
verhielten, waren D. N. Schipow und I. I. Stachowitsch. Mit ihrem er¬
weiterten Reformprogramm haben sie sich aber von der Gruppe entfernt und
so diese ohne Führer gelassen. Das Programm Schipows scheint einstweilen
den andern Slawophilen unannehmbar, weil es die Aufhebung aller besondern
Bauerngesetze und des bäuerlichen Gemeindebesitzes voraussieht, wodurch nach
ihrer Meinung der Adel an Bedeutung und das Russentum an Kraft ver¬
lieren würde. Die Gruppe ist bekannt unter dem Namen der „Sechsund¬
zwanzig Adelsmarschälle" mit Fürst Pjotr Nikolajewitsch Trubetzkoj, Gou-
vernementsadelsmarschall von Moskau, an der Spitze.
Gegen diese Gruppe stehn: erstens die „Männer des 18. Februar,"
zweitens der „Vaterländische Verband" und drittens der „Verband russischer
Männer." Vertreter dieser drei Verbände sind Senator Naryschkin, Graf
Bobrinski-Petersburg, Fürst Alexander Schtscherbatow, Philip Schipow,
Alexander und Theodor Ssamarin, ferner der Herausgeber der Wochenschrift
Rußkoje Djelo Sergej Scharapow und die am weitesten links stehenden Pro¬
fessoren Migulin und Oserow. Alle diese Männer gehören mindestens zweien
von den genannten Verbänden an, und ich habe noch im April und im Mai d. I.
beobachtet, daß einzelne von ihnen mehrere Resolutionen unterschrieben haben,
die sich direkt widersprachen. Fürst Schtscherbatow ist vielleicht der einzige
in der Gesellschaft, der ganz genau weiß, was er will, und der auch tat¬
kräftig und mit einer gewissen Rührigkeit für seine Ideen eintritt. Aber er
findet bei seinen Standes- und Berufsgenossen nur passive Unterstützung.
Diese Kreise sind durchaus nicht gewöhnt, gemeinsam für gemeinsame Inter¬
essen zu arbeiten. Als Hofleute und Freunde der Großfürsten genügte es
bisher, dem Minister des Innern oder dein Finanzminister seine Wünsche
vorzutragen und ein empfehlendes Billett von der Kaiserin-Mutter oder von
einem Großfürsten vorzuweisen, wenn alle Forderungen in Erfüllung gehn
sollten. Im politischen Leben aber heißt es, seine Meinungen verfechten,
Forderungen zu erkämpfen oder Kompromisse zu schließen, eine werbende
Tätigkeit zu entfalten, und das alles kann diese Gruppe des russischen Adels
nicht. Darum ist sie auch nicht einmal befähigt, sich zur Abwehr, geschweige
denn zum Angriff zu organisieren. Aus diesem Grunde sind die Blicke dieser
Leute ausschließlich auf den Zaren gerichtet. Am Hofe in Petersburg haben
sie ihre Vertreter, die in geeigneter Weise auf den Zaren einwirken müssen.
Gegenwärtig ist es ein Fürst Pntjatin, den: seine Feinde die Rolle eines Hof¬
narren andichten, der eine bedeutende Stellung in der angedeuteten Richtung
ausfüllt. Selbst zu arbeiten, selbst auch in der Öffentlichkeit zu kämpfen ist
diese Gesellschaft unfähig.
Die Zahl der Mitglieder der genannten Verbände dürfte vierhundert
Personen nicht überschreiten. In der Presse stehn ihnen zur Verfügung:
das opportunistische Slowo — neben Rußkija Wjedomosti wohl das am vor¬
nehmsten redigierte Blatt Rußlands, ferner Nowoje Wremja in Se. Petersburg,
Denj, Rußkij Listok und Nußkoje Djelo in Moskau, Kijewljanin in Kijew
und noch ein halbes Dutzend kleinerer Blätter mit einem Gesamtabsatz von
etwa 110000 bis 120000 Exemplaren, von denen gegen 60000 auf Nowoje
Wremja, gegenwärtig das einflußreichste Blatt, entfallen.
Am weitesten rechts und dem Zaren am nächsten steht die „Partei der
Monarchisten," deren Programm W. Gringmnt und Fürst Mjestscherski*) ent¬
worfen haben. Zu der Partei gehören die Paladine ans der Zeit Plehwes,
N. M. Pawlvw, Senator Stürmer, der antisemitische Rechtsanwalt Schmakow —
im ganzen schwerlich mehr als zwanzig bis dreißig Männer. Diese Partei hat
auf ihr Programm geschrieben: „Festigung der Autokratie." So einflußreich
diese Gruppe bei Hofe und in der Bureaukratie ist, so machtlos steht sie der
russischen Gesellschaft gegenüber. Man erkennt das schon aus dem Umstände,
daß sie, gleich den Sozialrevolutionären, den Pöbel zur Verteidigung ihrer
Rechte aufruft, und die blutige Gegenrevolution auf dem platten Lande
organisiert. Der Versuch, einen Gegensatz in Polen hervorzurufen, wie es
Katkow 1863 durch seine flammenden Aufsätze in der Moskowskija Wjedomosti
fertig gebracht hat, mißlang, und so suchen diese Kreise ihr Heil in ekelhaften
Versetzungen gegen die Juden. An Blättern stehn dieser Gruppe Moskowskija
Wjedomosti, Grashdanin, swjet und vier kleinere mit einem Absatz zusammen
von höchstens 15000 bis 16000 Exemplaren zur Verfügung.
Eine Charakteristik der Parteien durch die Schilderung einzelner Persönlich¬
keiten ist überflüssig. Es sind lauter durch die Literatur schon längst bekannt
gewordne Typen. Die Mehrzahl von ihnen sind typisch russische Charaktere,
entweder patriarchalische Gutsbesitzer oder intrigante Hofleute oder geschickte
Bureaukraten. Ihre Macht liegt nicht in ihnen selbst oder in ihrer Tüchtig¬
keit, sondern in ihren nahen und guten Beziehungen zur Bureaukratie. Von
den Bauern haben sie wohl einzig deshalb nichts zu fürchten, weil ihnen die
Kosaken des Zaren zur Verfügung stehn. Wegen ihrer Unduldsamkeit gegen
alles „Fremdvölkische" und gegen die Entwicklung der Städte sind sie im
Zusammenhang mit der mangelhaften Entwicklung nationalen Bewußtseins
beim russische!? Volk eine große Gefahr für den Bestand des russischen Reichs.
Ihre abstoßende Wirkung ist größer als die zentripetale Kraft des russischen
Volks. Ihre augenblickliche Politik geht dahin, das russische Volk gegen die
Deutschen, Polen, Juden und Armenier zu verhetzen, und wo solches, wie in
Litauen und Polen, nicht möglich ist, die christliche Bevölkerung gegen die
jüdische mobil zu machen. Sie glauben durch die Vernichtung oder die Aus¬
treibung der Juden Rußland von allen gegenwärtigen und künftigen Gefahren
zu retten. Es ist das die Gruppe der russischen Gesellschaft, die bei jeder
Reform nur verlieren kann.
In den voraufgegangnen Ausführungen ist versucht worden, dem Leser
ein Bild der Gruppen der russischen Gesellschaft zu geben, aus denen sich im
künftigen Parlament die politischen Parteien bilden werden. Sollte das
Projekt Bulygin tatsächlich in seiner heutigen Form ins Leben treten, dann
würden in die Staatsduma nur Vertreter des Adels, der Bauern und der
besitzenden Klassen aus den Städten kommen. Die Intelligenz, die nicht
imstande ist, in Petersburg 1800 Rubel Wohnungsmiete zu zahlen, und die
gesamte städtische Arbeiter- und Handwerkcrbevölkerung ist dagegen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Von den geschilderten Gruppen sind
demgemäß ausgeschlossen: die Sozialrevolutionäre, die Sozialdemokraten, die
Oswoboshdjenee und die Mehrzahl des Lvjns soMmv, wogegen der demo¬
kratische Sjemstwoverband und die absolutistischen Gruppen, ferner die sich
neu formierenden Vereinigungen aus kaufmännischen und aus industriellen
Kreisen Sitz und Stimme in der Duma haben können — notabene, wenn die
Duma überhaupt zustande kommt.
Die Frage ist nun: Wie werden sich die vom politischen Leben zurück-
gehaltnem Kreise zur Duma stellen? Aus den mir vorliegenden Protokollen
der letzten Sitzungen der sozialdemokratischen Organisation geht hervor, daß
die organisierten Arbeiter entschlossen sind, mit allen erlaubten und unerlaubten
Mitteln die Wahlen zu sprengen. Sie wenden sich an die Vertreter der demo¬
kratischen Intelligenz, der Sjemstwo und der Städte mit einem Aufruf, worin
sie fordern, der Sjemstwokongreß vom 6./19. Juli 1905 solle sich als konsti¬
tuierender proklamieren; die Arbeiter würden mit ihrem Leben für die Sicher¬
heit eintreten. Der LoM sojüscnv hat folgende Beschlüsse gefaßt: Die Mit¬
glieder sollen das Projekt, gleichgiltig, ob es bestätigt wird oder nicht, mit
allen Mitteln diskreditieren und im Volke Stimmung dagegen machen. Sollte
die Wahlkampagne für die Staatsduma dennoch auf der Basis des Projekts
Bulygins beginnen, dann sei es Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedes des
Zentralverbandes, ein Zustandekommen der Wahlen zu verhindern. Sollte es
dennoch der Zufall mit sich bringen, daß hier und dort Mitglieder des Ver¬
bandes in die Duma gewählt werden, dann sollen sie in die Duma gehn, dort
erklären, daß sie sich mit Rücksicht auf den voraufgenommnen Wahlmodus
uicht „Vertreter des Volks" nennen können, und die Duma verlassen. Außerhalb
der Duma würde der Kampf alsdann wie heute fortgesetzt werden müssen.
Die Stellung der Sjemstwoorganisation ist noch nicht bestimmt, doch kann
man annehmen, daß sie gemeinsam mit den Vertretern der Städte die Taktik
des Lojüs sojüsov zur ihrigen machen werden.
- Die weitere Frage ist nun, wo die Macht ist, bei den Anhängern der
Autokratie oder bei denen des Fortschritts. Meine persönliche Ansicht, die
mir von allen Seiten bestritten wird, geht dahin, daß die Anhänger der
Autokratie solange die Macht haben, so lange Trepow am Nuder, und die
Mehrzahl der Regimenter noch dem Zaren ergeben ist. Solange diese beiden
Machtmittel noch mitzählen, hat die an verschieden Ecken des Reichs empor¬
lodernde Revolution keinen Einfluß auf die Gesetzgebung. Andrerseits halte
ich Trepow und die Armee nicht für fähig, das Land so weit zu beruhigen,
daß ein gesichertes Leben und Arbeiten im Lande wieder Platz greifen konnte.
Jeder Versuch der Machthaber, mit Palliativmitteln, als die alle Maßregeln
seit dem 12./25. Dezember 1904 aufzufassen sind, die Revolution auszurotten,
wird sie vergrößern und die Macht der Regierung untergraben. Ein solches
Palliativmittel ist auch das Projekt Bulygin, wäre heute sogar eine Reform,
wie sie D. N. Schipow vorgeschlagen hat. Solange sich die Volksvertreter
nicht als konstituierende Versammlung etablieren und die bekannten demo¬
kratischen Grundsätze zur Richtschnur ihrer Tätigkeit machen, so lange werden
die Sozialisten und die Oswoboshdjenee ihre unheilvolle terroristische oder
revolutionäre Tätigkeit fortsetzen; sie werden mit allen Mitteln die Beruhigung
im Lande zu verhindern suchen, und die wirtschaftliche Lage der Bauern im
Schwarzerdegebiet, die bevorstehende Mißernte in Südostrußland, die Wirtschafts¬
krisis im Wolgabecken und in Polen werden ihre Bemühungen unterstützen.
Gegen diese Macht hilft kein Trepow und keine Armee. Solche krank¬
haften Zustände können sich nicht, wie die Sozialisten behaupten, nur noch
sechs bis acht Monate hinziehn, sondern zwei, ja drei Jahre. Dann aber
sind die wirtschaftlichen, die finanziellen und die moralischen Kräfte des Landes
erschöpft, und der Zusammenbruch ist unvermeidlich. Ob alsdann aber Ru߬
land noch stark genug sein wird, als politisches Ganze aus der Revolution
hervorzugehn, möchte ich bezweifeln.
So gibt es denn gegenwärtig nur ein einziges Mittel, Rußland, den
Zaren und fein Haus vor dem Äußersten zu retten. Es ist die Berufung
der Sjemstwogruppe zur politischen Arbeit, es ist die Erhebung des demo¬
kratischen Prinzips zum Staatsprinzip in Rußland. Die Sjemstwomünner
sind die besten, solidesten Kräfte des demokratisierten und demoralisierten
Landes, sie genießen das Vertrauen der weitesten Kreise, die heute in den
Reihen der Kämpfer um den Fortschritt stehn. Gibt es überhaupt ein Mittel,
Rußland noch zu retten, dann liegt es bei der Sjemstwo!
egels berüchtigter Stil soll den Leser in diesem Artikel nicht Plagen,
und das, was dieser Stil zu verschleiern bestimmt war, ist gar
nicht schwer zu verstehn. Daß Hegel ungenießbar ist, gibt auch
Arthur Drews zu. Ebendeswegen hat er Hegels Religions-
philosophie in gekürzter und für die Bequemlichkeit des Lesers
zurechtgemachter Form mit einer langen Einleitung und vielen Erläuterungen
(bei Eugen Diederichs in Jena und Leipzig. 1905) herausgegeben und meint
mit Recht, daß sie auch so noch keine leichte Lektüre sein werde. Was ihn dazu
bestimmt hat, war die Erwägung, daß wir Hegels Geist brauchen, wenn wir
aus der heutigen religiösen Krisis herauskommen wollen. Dieser Ansicht bin
ich ebenfalls, stimme aber auch darin Drews bei, daß man sich nur eben von
Hegels Geist beseelen lassen, nicht etwa seine Religionsphilosophie einfach an¬
nehmen soll, deren esoterischen Kern ich freilich in einem ganz andern Sinne
als Drews ablehne.
Das vernünftige Christentum hat Hegel für zweierlei zu danken. Er hat
auf das stärkste betont und ausführlich bewiesen, daß die Religion eine Sache
des Geistes ist, und daß eine geistlose Religion, ein Sammelsurium abergläu¬
bischer Gebräuche oder von Dogmen, die sich auf körperliche Gegenstände beziehn,
gar nicht den Namen Religion verdient. „Das Ungeistige ist seiner Natur nach
kein Inhalt des Glaubens," Doch lag für ihn wenig Veranlassung vor, sich
gegen diese Entartung der Religion zu wenden, in einer Zeit, wo die „Auf¬
klärung" alle Religion als Pfaffentrug und Aberglauben verschrie. Gleich
Schleiermacher und den Romantikern, wenn auch auf einem ganz andern Wege
und im schroffen Gegensatz zu ihnen, war er bemüht, der Religion wieder Achtung
und Sympathie zu verschaffen. „Alle Völker wissen, daß das religiöse Bewußt¬
sein das ist, worin sie Wahrheit besitzen, und sie haben die Religion immer
als ihre Würde und als den Sonntag ihres Lebens angesehen. ... Die Auf¬
klärung, diese Eitelkeit des Verstandes, ist die heftigste Gegnerin der Philosophie.
Sie nimmt es übel, wenn diese die Vernunft in der christlichen Religion aus¬
zeigt, wenn sie zeigt, daß das Zeugnis des Geistes, der Wahrheit, in der Religion
niedergelegt ist." Und dieses Zeugnis weiß er auch noch aus dem rohesten
Götzendienst auszugraben. Er zeigt, wie sich auch die rohesten religiösen Vor¬
stellungen noch in die Vernunftordnung einreihen lassen. „Wir müssen bei den
Religionen der Völker einsehen, daß nicht alles an ihnen sinnlos und unver¬
nünftig ist; das wichtigere ist vielmehr, das Wahre darin zu erkennen, und wie
sie mit der Vernunft zusammenhängen; und das ist schwerer, als etwas für
sinnlos zu erklären." Mit Recht findet Drews in dieser Auffassung Hegels
Größe und seine eigentliche Bedeutung für die Religionsgeschichte; erst durch
ihn habe man die Religionen verstehn und philosophisch behandeln lernen.
„Hegel wies zum erstenmal eine Entwicklung der Religionen nach und lehrte
sie als notwendige und vernünftige, wenn auch einseitige Entfaltungen und
Stufen der religiösen Idee begreifen, die einem bestimmten Ziele zustreben."
Daß Hegel sich einbildete, diese verschiednen Stufen mit seiner Dialektik apriorisch
konstruieren zu können, sei freilich ein Fehler, und seine Einzelausführungen er¬
schienen vom heutigen Standpunkte der Völkerkunde aus vielfach nur noch als
Kuriositäten. Doch, muß man hinzufügen, kommt auch viel Schönes darin vor,
wenngleich das Schöne manchmal mehr geistreich als wahr sei» mag. Zum
Beispiel, wenn der ägyptische Tierdienst als die Religion des Rätsels beschrieben
und dann gesagt wird, der Grieche habe das Rätsel gelöst, die Sphinx vernichtet,
indem er das Wesen der Welt, das die Ägypter vergebens suchten, enthüllte:
es sei der Mensch mit seinem vernünftigen Geiste und seiner schönen Gestalt.
Der heutige Nationalökonom wird darüber lächeln, wenn Hegel die Sklaverei
aus der niedrigen Schätzung der menschlichen Persönlichkeit erklärt, deren Wert
erst nach der religionsphilosophischen Ergründung des Menschenwescns erkannt
werden könne, aber dieser Zusammenhang besteht tatsächlich, wenn ihn auch die
wirtschaftlichen Verhältnisse meist verdecken.
Die indische Religion hat Hegel viel richtiger gewürdigt, als das heute viel¬
fach geschieht, und man muß sich eigentlich darüber wundern, daß nach ihm die
Schwärmerei für das Brahmanentum und den Buddhismus noch aufkommen
konnte. Was über den Wert einer Religion entscheidet, das sind doch nicht ein
paar tiefsinnige Aussprüche ihrer Theologen, sondern die Zustände des Volkes,
das dieser Religion huldigt. Der indische Monismus, die Identifikation von
Gott und Menschengeist, entsprach ja Hegels eigner Ansicht; aber er findet es
mit Recht tadelnswert, daß die Verbindung mit Gott nicht in bewußter Tätig¬
keit gesucht wird, sondern im dumpfen Brüten, in der Rückkehr zu dem Zustande,
worin sich die Gottheit vor ihrer Differenzierung befunden habe. Statt zur
Freiheit und Fülle gelange so der Mensch zur Ausleerung. „Die Freiheit des
Menschen besteht darin, nicht im Leeren, sondern im Wollen, Wissen, Handeln
bei sich zu sein. Dem Inder dagegen ist die vollkommne Versenkung und Ver-
dumpfung des Bewußtseins das höchste." So machen die Weisesten des Volkes
sich selbst zu Dummköpfen, die Ausgestaltung der Volksreligion aber wird nach
Ertötung des Denkens der wild wuchernden Phantasie überlassen, sodaß ein
wüster Aberglaube mit einem ganz äußerlichen Werkdienst und schrecklichen Orgien
daraus wird. Und auch der so geistig und innerlich anfangende Buddhismus,
die Religion „der Stille des Jnsichseins," läuft in den tollsten Aberglauben aus.
Eine gelegentliche kurze und gute Charakteristik der indischen Religion findet
man noch in dem Abschnitt über das Wunder. Von Wundern könne erst nach
Anerkennung der gesetzlichen Naturordnung die Rede sein, die sie als Aus¬
nahmen bestätigen. „In frühern Religionen gibt es keine Wunder; in der in¬
dischen ist alles schon von Haus aus verrückt."
Allen heidnischen Religionen, den sogenannten Naturreligionen, stellt er die
christliche gegenüber als die vollkommne, die absolute, die Religion des Geistes.
„Unter Naturreligion hat man in neuerer Zeit verstanden, was der Mensch durch
sich, durch das natürliche Licht seiner Vernunft von Gott herausbringen und
erkennen kann. Man hat sie so der geoffenbarten entgegengesetzt und behauptet,
nur das könne für den Menschen wahr sein, was er in seiner Vernunft habe.
Natürliche Vernunft ist aber ein schiefer Ausdruck; denn unter Natürlichem ver¬
steht man das Sinnlichnatürliche. Das Wesen der Vernunft, des Geistes aber
besteht gerade in der Erhebung über das Sinnliche, über die Natur. Meint
man mit dem Natürlichen die Vernunft, so besteht zwischen diesen, Natürlichen
und der geoffenbarten Religion kein Gegensatz. Gott, der Geist, kann sich nur
dem Geiste, der menschlichen Vernunft offenbaren." Hegel zeigt nun, daß die
dem platten Verstände widersinnig erscheinenden christlichen Dogmen durchaus
vernünftig sind. Das Dogma der Trinitüt beschreibt die Entfaltung Gottes in
sich selbst und in der Welt; das vom Sündenfall drückt die Wahrheit aus, daß
das Natürliche, sofern es nicht vom Geiste überwunden wird, für diesen das
Böse ist. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist geradezu der Kern der
Religion, die die Einigung des Menschengeistes mit dem göttlichen zum Gegen¬
stande hat; und die Erlösung erfolgt durch das Kreuz, weil die Sinnlichkeit
aus Kreuz geschlagen werden muß. Sehr schön wird gezeigt, wie der Tod Christi
die Entehrung zur höchsten Ehre machte, dadurch alle Bande des menschlichen
Zusammenlebens löste und dem Staat seine sittliche Grundlage entzog, indem
er das Schandholz zum Panier des Reiches Gottes erhob; wie aber diese Um¬
kehrung alles Bestehenden, diese radikale Revolution notwendig war, weil der
damalige Staat, der römische Despotismus, die Menschenwürde entehrte, indem
er nicht bloß das Leben, sondern auch die Tugend--und die Ehre jedes einzelnen
Bürgers der Willkür des Kaisers preisgab. Das christliche Gebet will Hegel
nicht als eine Art Zauberei verurteilt wissen; im Kultus vollzieht sich die
Einigung mit Gott. Diese seine Wertschätzung der Religion stellt Hegel als
eine höhere Philosophie der bloß moralisierenden Kants und Fichtes gegenüber.
„Da soll das Gute immer erst hervorgebracht werden, und ausdrücklich wird
versichert, daß es beim Sollen bleibe, als ob das Gute nicht schon da wäre.
Da ist sodann außer mir eine Welt, die, von Gott verlassen, darauf wartet,
daß ich ihren Zweck, das Gute, erst in sie hineinbringe. In der Religion da¬
gegen ist das Gute, die Versöhnung, vollbracht. In ihr wird vorausgesetzt die
göttliche Einheit der geistigen und der natürlichen Welt (zu dieser gehört das
Selbstbewußtsein des einzelnen Menschen), und für mich handelt es sich nur
darum, daß ich mich meiner Subjektivität entäußere und mir an diesem Werke,
das sich ewig vollbringt, meinen Anteil nehme. Das Gute ist demnach kein
Gesolltes, sondern göttliche Macht, ewige Wahrheit."
Die Darstellung und die Rechtfertigung der christlichen Dogmen bei Hegel
ist, abgesehen von der oft unklaren Sprache, wunderschön — nur schade, daß erh-
ellt bißchen anders meint, als es die christliche Kirche aller Bekenntnisse immer
gemeint hat. Aus der zuletzt angeführten Stelle schaut der Pferdefuß, wie
das ein strammer Orthodoxer nennen würde, schon einigermaßen heraus. Die
Meinung, die Hegel mit seinem in endlosen Variationen wiederholten dialektischen
Spiel von Thesis, Antithesis und Synthesis oder Position, Negation und Auf¬
hebung der Negation oder Selbstbewegung des Begriffs mehr verhüllt als dar-
gelegt, ist kurz gesagt folgende. Es gibt kein Jenseits. Die Welt, die wir
wahrnehmen, ist die Gesamtheit von allem, was da ist. Die Substanz dieser
Welt ist geistiger Art; man kann sie den absoluten Geist oder die Idee nennen.
In der Natur wird sich die Idee gegenständlich, im menschlichen Bewußtsein
kommt sie wieder zu sich. Das Bewußtsein schließt auch die Erkenntnis unsrer
Einheit mit dem Gesamtgeiste ein, und das Gefühl dieser Einheit ist die Reli¬
gion. Aus der bewußten Erkenntnis empfängt das religiöse Gefühl seinen
Inhalt. Als Gegenstand der Religion nennen wir den absoluten Geist, der, wie
gesagt, nichts von unserm bewußten Geist verschiednes ist, Gott. Gott ist also
nicht, am allerwenigsten ist er vor der Welt gewesen — ohne Welt gibt es
keinen Gott —, sondern er wird in einem ewigen Prozeß; sein würde er erst
am Ende des Prozesses, wenn dieser ein Ende hätte. Ob er eins hat, das
bleibt gleich vielem andern bei Hegel im Dunkeln. Denn er schwankt beständig,
drückt sich so unklar aus und widerspricht sich so oft, daß man nie genau weiß,
woran man bei ihm ist. Manchmal scheint es, als ob mit dem trinitarischen
Prozeß bloß der Weltprozeß gemeint sei, manchmal wieder, als ob ein vom
Weltprozeß verschiedner innergöttlicher Prozeß, ein göttliches Selbstbewußtsein
vor der Weltschöpfung angenommen würde; manchmal ist die Welt der Sohn
Gottes, und manchmal ist dieser etwas andres; manchmal ist der einzelne be¬
wußte Menschengeist Gott, und manchmal wird eine solche Vorstellung verworfen.
Manchmal ist die Menschheit der Gottmensch, und manchmal scheint doch Jesus
von Nazareth in einem besondern Sinne Gottmensch zu sein. Manchmal wird
alles Historische verworfen und erklärt, in der Religion handle es sich nicht um
Vergangnes oder Zukünftiges, sondern nur um ein Gegenwärtiges, das immer
geschieht; nicht um historische Begebenheiten, sondern um Begriffe und ewige
Wahrheiten; manchmal jedoch wird auf die neutestamentliche Geschichte das größte
Gewicht gelegt. „In dieser Geschichte ist dem Menschen zum Bewußtsein ge¬
kommen, und das ist die Wahrheit, zu der sie gelangt sind: daß die Idee Gottes
für sie Gewißheit hat, daß das Menschliche unmittelbarer präsenter Gott ist,
und zwar so, daß in dieser Geschichte, wie sie der Geist auffaßt, selbst die Dar¬
stellung des Prozesses ist, was der Mensch, der Geist ist: an sich Gott und
tot — diese Vermittlung, wodurch das Menschliche abgestreift wird, andrerseits
das Ansichseiende zu sich zurückkommt und so erst Geist ist." Mit diesem Be¬
wußtsein beginne die Christengemeinde. Ist nun die Geschichte Jesu, gleich der
vom Sündenfall, bloß eine Allegorie des religiösen Prozesses, der in jeder
Christenseele vor sich geht, oder ist sie wirklich geschehn, und ist an ihr die erste
Christengemeinde inne geworden, daß der Mensch durch Überwindung der Sinn¬
lichkeit Geist und Gott wird? Oder hat sich dieses Innewerden zuerst in der
Seele Jesu ereignet, und wird dann durch den von ihm empfangner Anstoß
oder durch sein Beispiel, oder durch seine Lehre, auch in den Seelen der Christen
Ereignis? Man hat Hegel absichtliche Heuchelei vorgeworfen, und ein wenig
Diplomatie ist ohne Frage mit im Spiele gewesen, denn es war doch nicht bloß
sein politischer Konservatismus, sondern auch seine scheinbare Christlichkeit, was
eine erzreaktionäre Bureaukratie bewog, ihm die Herrschaft über die philosophischen
Katheder Preußens einzuräumen. Doch wird er seine Diplomatie vor sich selbst
dadurch gerechtfertigt haben, daß er tatsächlich zwischen der kirchlichen und seiner
Philosophischen Auffassung schwankte. Die Gebrechlichkeit und die Beschränktheit
des Menschen ist doch eine zu überwältigende Tatsache, als daß nicht auch dem
weltberühmten und mächtigen Philosophieprofessor Zweifel an seiner eignen
Gottheit aufgestiegen sein sollten, und sein starker historischer Sinn wird sich da¬
gegen gesträubt haben, die gewaltige Persönlichkeit Christi zu einem Symbol
oder Mythus herabzusetzen. Aber seine eigentliche Meinung war allerdings die
Neumystik, die sich vom Atheismus nur durch den Namen unterscheidet, und
deren unmittelbarer Vater er durch die Hegelsche Linke, insbesondre durch David
Strauß und Feuerbach geworden ist, sodaß ihm die Feinde des Christentums
nicht weniger zu Dank verpflichtet sind als die Christen.
Drews hat oft Veranlassung, Hegels Zweideutigkeit zu rügen, und schreibt
u. a., Hegel sei als ursprünglicher Theologe die theologische Denkweise nie ganz
los geworden, und habe den von ihm getadelten Fehler des Rationalismus in
viel schlimmeren Maße wiederholt, indem er die ganze Geschichte der Religion
und Gottes selber in einen Denkprozeß des einzelnen Menschen umdeutete. „Er
wähnte, sein einstiges Ideal einer Vernunftreligion, die zugleich eine Volks¬
religion sein sollte, im Christentum verwirklicht zu sehen, und beachtete nicht,
daß er hierzu das Christentum umzudeuten und in eine äußerliche Überein¬
stimmung mit den Prinzipien seiner eignen Philosophie zu bringen genötigt war,
wie es weder mit den historischen Tatsachen und dem faktischen Begriffe des
Christentums noch auch mit dem Wesen der Religion überhaupt vereinbar war.
Inwieweit hierbei Selbsttäuschung im Spiele war, inwieweit Hegel absichtlich
bemüht war, den Gegensatz zwischen der christlichen und seiner eignen Welt¬
anschauung auszugleichen und christlicher zu scheinen, als er wirklich war, ist mit
Sicherheit nicht auszumachen." Im übrigen würde meine Kritik Hegels, wenn
ich eine zu schreiben hätte, so ziemlich das Gegenteil von der des Hartmann¬
jüngers Drews werden. In der Anerkennung des Verdienstes Hegels um die
vernünftige Auffassung der Religion und die Begründung einer Entwicklungs¬
geschichte der Religionen stimme ich mit Drews überein sowie in der Ablehnung
der Identifikation des göttlichen Selbstbewußtseins mit dem Selbstbewußtsein
des einzelnen Menschen, genauer gesagt, des einzelnen Philosophen, noch genauer,
des einen Hegel. Der MiMvus obMivus, sagt Drews, sei ihm aller Augen¬
blicke in einen sseuitivus sudjsotivus umgeschlagen. Sprach er von der Idee
Gottes oder dem Begriff Gottes, so wurde ihm im Hcmdumdrehu aus dem Be¬
griff, den wir von Gott haben, der Begriff, den Gott, der Gott in uns, selber
von sich hat. Doch sehe ich nicht ein, wie man das von Hartmanns Stand-
Punkt aus tadeln kann, da es doch tatsächlich Hartmanns Gott, „das Unbe¬
wußte" ist, was in jedem Menschen denkt, in jeder Kreatur empfindet und sich
regt. Aber freilich, bewußtes Denken ist eben das, was Hartmann und Drews
aus Leibeskräften von ihrem Gott abzuwehren bemüht sind, der durchaus un¬
bewußt bleiben und jene von seinen Erscheinungsformen, die man Menschen¬
geister nennt, nur sozusagen unbewußterweise als eine Art schmerzenden Aus¬
satzes (auch Schmerz und Unbehagen kann freilich nur ein bewußtes Wesen
empfinden) erleiden soll. Was Hegels Pantheismus für den oberflächlichen
Blick verschleiere, schreibt Drews, das sei der Umstand, daß Hegel den absoluten
Geist als absolutes Bewußtsein bestimme und dadurch den Anschein hervorrufe,
„als wäre der Geist auch schon vor und abgesehen von seiner Entfaltung zur
Erscheinungswelt als ein bewußtes Wesen aufzufassen." Das ist eben für uns
Christen kein bloßer Schein, sondern unser fester Glaube. Freilich ist das Be¬
wußtsein die Erscheinungsform des Geistes, aber ohne diese Form gibt es über¬
haupt keinen Geist, ja überhaupt kein Sein. Ein Wesen, das weder sich selbst
wahrnimmt — wahrnehmen aber ist doch eine bewußte Tätigkeit — noch von
einem andern Wesen wahrgenommen wird, ist ein Nichts, ist gar nicht vorhanden.
Das unbewußte Absolute, das nach der indischen Religion und nach Hartmann
vor der Welt bestanden haben soll, ist ein reines Nichts, und aus nichts wird
nichts, also auch keine Welt. Wird der selbstbewußte über- und vorweltliche
Gott geleugnet, so heißt das mit andern Worten: außer der Welt existiert nichts,
womit zugleich gesagt ist, daß die Welt von Ewigkeit ist und sich selbst erhalt.
Wenn bei dieser Voraussetzung Hartmann und Drews Religion für möglich
halten, unter welchem Wort alle Welt das Verhältnis des Menschen zu der
von ihm geglaubten Gottheit versteht, und wenn sie gar den Fortschritt zu einer
Religion vorzubereiten sich einbilden, die vollkommner sein soll als das Christen¬
tum, so erliegen sie einer Selbsttäuschung, die noch schlimmer ist als die des
Philosophen der absoluten Idee.
Und wie Eduard von Hartmann am lebhaftesten dagegen protestiert, daß
man die Religion auf den geschichtlichen Jesus gründe, so wendet sich auch
Drews mit besondrer Schürfe gegen den Historismus der Hegelschen Religions¬
philosophie. Zwar habe Hegel das Richtige nicht allein erkannt, sondern auch
ausgesprochen in dem „berühmten" Satze: „Was der Geist tut, ist keine Historie;
es ist ihm nur um das zu tun, was an und für sich ist, nicht um Vergangnes,,
sondern um schlechthin Gegenwärtiges." Aber eben darum sei der vorhergehende
Satz falsch: „Der wahrhaft christliche Glaubensinhalt ist durch die Philosophie
zu rechtfertigen, nicht durch die Geschichte." Denn das Christentum sei ohne
seine Geschichte nicht denkbar. Beide Sätze zusammen bedeuten demnach die
Verurteilung des Christentums. Die wahre Religion allerdings müsse durch
die Philosophie, nicht durch die Geschichte gerechtfertigt werden; weil sich aber
das Christentum nur durch die Geschichte — natürlich nur in den Augen seiner
Gläubigen — rechtfertigen lasse, so sei damit bewiesen, daß es nicht die wahre
Religion sein könne. Allerdings hat Hegel nach Drews den von diesem gerügten
angeblichen Irrtum nicht selbst begangen, sondern ihm nur durch seine immer
in zwei Farben schillernde Ausdrucksweise Vorschub geleistet. Hegel unterscheide
innerhalb der Vorstellungsformen des religiösen Glaubens das Sinnbild (Sohn
Gottes, Zorn, Neue, Rache Gottes), den allegorischen Mythus (Baum der Er¬
kenntnis, die Göttergeschichten Homers) und die wirkliche göttliche Geschichte.
Die geschichtliche Person Jesu rechne er den unvollkommnen und überwindungs¬
bedürftigen Vorstellungsformen des Glaubens zu und beweise dadurch, wie weit
er davon entfernt sei, „eine einzelne gottmenschliche Erscheinung von zeitlicher
Bedingtheit konstruieren zu wollen und damit etwa dem Historizismus der heu¬
tigen vulgären Theologie in die Hände zu arbeiten." In Beziehung auf die
schillernde Ausdrucksweise, die den Schein erweckt, als habe Hegel wirklich an
die Menschwerdung Gottes in dem einen geschichtlichen Jesus geglaubt, eignet
sich Drews die scharfen Worte Hayms an: „Nicht sowohl die immanente Dia¬
lektik der Idee der Versöhnung, als vielmehr deren Akkommodation an das un-
Philosophische Bewußtsein wird zum Grunde der Existenz eines historischen und
Persönlichen Gottmenschen. Man hat die Wahl, ob man in diesem Beweise für
die Gottmenschheit Jesu nur den Ausdruck eines Schwankens zwischen Hegels
ehemaliger und einer neuen, orthodoxen Überzeugung erblicken, oder ob man in
der Verwirrung eines spekulativen mit einem ganz äußerlichen und trivialen
Beweise zugleich eine wissenschaftliche Frivolität finden will. Ich lobe nicht die
von Kant empfvhlne moralische Interpretation der kirchlichen und der biblischen
Vorstellungen, ich halte mit Hegel dafür, daß sie ein bloßes Spiel sei. Ein
schlimmeres Spiel treibt die Hegelsche Religionsphilosophie." Heute, fügt Drews
hinzu, hat die Theologie alles Metaphysische fallen lassen und begnügt sich mit
jenem „ganz äußerlichen und trivialen Beweise" Hegels. „Unfähig, die über-
kommne Verehrung Christi anders zu begründen, beruft sie sich auf das bloße
Psychologische Faktum, daß der gewöhnliche Mensch nun einmal nicht imstande
sei, die Idee der Gottmenschheit ohne deren Veranschaulichung in einer konkreten
historischen Persönlichkeit sich anzueignen. So zieht sie die ganze Religion auf
das Niveau des ungebildeten Bewußtseins herab und darf sich dann freilich
auch nicht wundern, daß, wer die illusorische und fiktive Beschaffenheit ihres
Jesuskultus durchschaut hat, konsequenterweise auch aufhören muß, sich Christ
zu nennen." Dieser Jesuskultus ist dem Meister wie dem Schüler in gleich
hohem Grade zuwider, denn Jesus ist nach jenes Meinung eine ganz unbe¬
deutende Persönlichkeit, die nicht einmal das sogenciunte Christentum begründet
hat, uns Heutige aber in religiöser Beziehung rein gar nichts mehr angeht
(was würde Luther dazu sagen?). Und darin haben ja Hartmann und Drews
Recht, daß sich auf den guten und weisen Rabbi des Rationalismus, mit dem
wohlmeinende Leute heute wieder einmal das Christentum zu erneuern gedenken,
dieses sich nicht gründen läßt; das steht und fällt mit dem Gottmenschen. Ihr
Christentum ist ein Deismus oder jüdischer Theismus, aus dem man, ohne ihn
zu schädigen, die Person des Rabbi ausstreichen kann; ob man diese so hoch
schützt wie Chamberlain oder so gering wie Hartmann, darauf kommt nichts an.
Bei dem heute beliebten Christentum Christi, sagt Drews ganz richtig, bleibt
vom Christentum im Grunde gar nichts übrig.
Dem wirklichen Christentum wird von den beiden genannten heutigen Re-
ligionsphilosophen die Würde der höchsten, der absoluten Religion, der Religion
des Geistes, deren Schein ihm Hegel nur mit seinen Umdeutungen habe an¬
heften können, leidenschaftlich bestritten, und außerdem wird der Beweis zu führen
gesucht, daß der Anspruch, die höchste und letzte Religion sein zu wollen, im
Widerspruch stehe mit der Idee der Entwicklung, die einen weitern Fortschritt
der Religion über das Christentum hinaus fordere. (Als den eigentlichen
Schöpfer dieser das neunzehnte Jahrhundert beherrschenden Idee hat Kino
Fischer im Gegensatz zu den Darwinianern Hegel charakterisiert.) Die gläubigen
Christen seien denn auch grundsätzliche Gegner der Entwicklnngsidee. Die Be-
antwortung der Frage, ob und wie weit das wahr sei, würde einen besondern
Aufsatz verlangen. Es soll darum bloß noch eine Hegel und Drews gemeinsame
Ansicht erwähnt werden, die ein ganz aktuelles Interesse hat, und die man
kürzer abfertigen kann. Die Religion, lehrt Hegel, ist die Grundlage des Staats.
Nur sie vermag an die Stelle des subjektiven Beliebens die unbedingt bindende
Verpflichtung zu setzen. Die Staatsgesetze sind der Ausdruck des von den
Philosophen erkannten göttlichen Willens. Eine Religion, die andre als diese
Gesetze aufstellt, darf nicht geduldet werden. Darum ist mit der katholischen
Religion, die den Staatsgesetzen ihre eignen Gesetze entgegenstellt, keine ver¬
nünftige Verfassung möglich. Im Staate verwirklicht sich das Göttliche. Die
wahre Versöhnung und Erlösung vollzieht sich in der Sittlichkeit und in dem
Rechte des politischen und Verfassungslebens. Das auszusprechen, meint
Drews, sei heute noch notwendiger als in Hegels Zeit, weil den Regierungen
diese Einsicht Hegels ganz abhanden gekommen sei. Der Dualismus von
Staat nud Kirche (an dem Kant und Fichte noch festgehalten haben) sei zu
beseitigen.*)
Hegels Staatsidee hat unbewußterweise die Staaten des klassischen Alter¬
tums beseelt. Sokrates zuerst hat den vom Staate geübten Gewissenszwang
durchbrochen und das Jndividualgewissen befreit, indem er zwar dem Staate
nicht aktiven Widerstand leistete, aber sich von ihm nicht vorschreiben ließ, was
er als seine persönliche Pflicht anzusehen habe. Diese Befreiung des persön¬
lichen Gewissens hat Christus für die gesamte Menschheit vollbracht, und als
statt des Staates die Kirche selbst, die die Gemeinschaft der Befreiten sein soll,
eine Zwingburg der Gewissen geworden war, hat Luther in dieser Beziehung
das ursprüngliche Christentum wiederhergestellt. Wenn die katholische Kirche
sonst nichts verschuldet hätte, als daß sie von Zeit zu Zeit den Spruch ver¬
kündigt: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, so Hütte sie gar
keine Schuld. Denn dieser Spruch ist nichts spezifisch katholisches, sondern er
ist ein Apostelwort und enthält ein Lebenselement des Christentums. Es gehört
eben zu seinen weltgeschichtlichen Leistungen, daß es die große internationale
Gemeinschaft derer gestiftet hat, die grundsätzlich ihr eignes Gewissen bewahren,
von denen jeder sein eignes Gewissen haben und dieses im Fall eines Konflikts
mit der Obrigkeit behaupten soll. Die Sünde der römischen Kirche besteht be¬
kanntlich darin, daß sie ihre Stellung als Hort des christlichen Jndividual-
gcwissens im hierarchischen Interesse mißbraucht; daß sie sich zur unfehlbaren
Jnterpretin des Sittengesetzes aufwirft, daß sie ihre eignen willkürlichen Satzungen
zu Pflichten stempelt und über die sittlichen Pflichten stellt, und daß sie ihre
Gläubigen zum Ungehorsam gegen die Obrigkeit anhält in Fällen, wo es sich
nicht um sittliche Pflichten, sondern um die Verteidigung kirchlicher Macht- und
Besitzansprüche handelt. Trotzdem ist auch mit katholischen Untertanen oder
Staatsbürgern ein leidlich vernünftiger Staat möglich, weil in der Politik nicht
Theorien, sondern Machtverhältnisse den Ausschlag geben. Die römische Kurie
möchte immerhin, was sie ja heute klugerweise nicht mehr tut, die Oberherrschaft
über alle Staaten beanspruchen — da sie heute schon froh sein muß, wenn ihr
das Königreich Italien, in dem sie residiert, wenigstens die Exterritorialität be¬
willigt, so bringt sie nicht einmal dieses Königreich, geschweige denn das Deutsche
Reich in Gefahr.
Das zu bemerken genügt auch gegenüber dem Werke des altkatholischen
Professors Dr. Leopold Karl Goetz: Der Ultramontanismus als Welt¬
anschauung auf Grund des Syllabus quellenmäßig dargestellt (Bonn, Carl
Georgi, 1905). Es ist ein sehr fleißiges und gründliches Buch, und darin nach¬
zulesen, wie sich die katholischen Gelehrten abquälen, mit oft recht hegelisch an¬
mutender Dialektik die Harmlosigkeit des Syllabus nachzuweisen, ist ganz inter¬
essant, aber für die praktische Politik haben des Verfassers Schlußfolgerungen
nichts zu bedeuten. Es handelt sich jedoch bei der Hegelschen Ansicht vom
Staate nicht bloß um die bekannte aktuelle Frage nach der Gefährlichkeit oder
Ungefährlichkeit des Ultramontanismus, sondern um einen Gegensatz der Prinzipiell,
der mit dem Christentum in die Welt eingetreten ist und nur mit diesem ver¬
schwinden könnte. Der Versuch, auch die Herrschaft über die Gewissen an sich
zu reißen und sein Gesetz als das allumfassende Gesetz Gottes darzustellen, ist
ja vom Staate oft genug gemacht worden; nicht bloß in dem verflossenen
Kirchenstaate und im Spanien der Inquisition, sondern auch im Genf Calvins,
im kalvinistischen Holland, das seinen edelsten Patrioten, Oldenbarnevelt, dem
religiösen Zelotentum opferte, in der schottischen Presbyterianerkirche, die sich
ganz und gar mit dem Staate deckte, und deren Tyrannei Buckle beschreibt, und
im England der Tudors und der Stncirts. Unter Elisabeth fügte das Parla¬
ment dem Statut über das königliche Kirchcnsnpremat die Klausel bei: kein
Akt oder Beschluß des Parlaments in religiösen Dingen dürfe als irrig be¬
trachtet werden; es erklärte also sich und den Monarchen fiir unfehlbar. Als
Jakob der Erste bei seiner Thronbesteigung den Umfang seiner Rechte erfuhr,
die ihm von seiner Vorgängerin hinterlassen worden waren, rief er entzückt:
Vo I mine tuo ^juctSös? vo I male tho bishops? riicm, Hoa's wauns! I mal
vitae lito8 in«, I-lo ana Zospöl! Döllinger, dem ich diese Anekdote entnehme,
führt einen Beweis dafür an, daß man in Spanien selbst unter Philipp dem
Zweiten nicht so weit gegangen ist. Als ein Prediger zu Madrid behauptet
hatte, daß die Könige die unumschränkte Gewalt über die Personen und das
Eigentum ihrer Untertanen hätten, zwang ihn die Inquisition zum Widerruf;
er mußte auf derselbe« Kanzel erklären, die Könige hätten über ihre Untertanen
keine andre Gewalt, als die ihnen göttliches und menschliches Recht einräume,
keineswegs aber die Gewalt, zu tun, was ihnen beliebt. Wir haben endlich den
Staat als Beherrscher der Genüssen gesehen im Frankreich Robespierres und
in — Rußland. Keines dieser Vorbilder vermag uns zu locken. Nun wird ja
freilich Drews einwenden, in allen diesen Fällen sei der Staat kein idealer Ver-
nunftstaat gewesen; er ist überzeugt, „daß eine Versöhnung des Staates mit der
Religion und eine immanente Durchdringung des Weltlichen mit religiösem Geiste
nur auf monistischer Grundlage möglich" sei. Ich dagegen bin überzeugt, daß
ein von monistischen Professoren beratner König oder Präsident nicht weniger
despotisch und unvernünftig regieren würde als Robespierre (den übrigens Hegel
bei dieser Gelegenheit — in sehr unklarer Weise — erwähnt), und den Unter¬
tanen kann es gleich sein, ob sie im Namen des Monismus oder irgendeiner
andern schönklingenden Theorie geköpft werden. Es genügt, daran zu erinnern,
daß Hegel die Karlsbader Beschlüsse gebilligt hat. Gewiß muß man wünschen
und darauf hinarbeiten, daß alle Glieder des Staates möglichst von der Ver¬
nunft durchdrungen werden, und daß die Staatsgesetze soviel wie möglich mit
der Vernunft übereinstimmen. Aber weil vollkommne Vernünftigkeit der Staats-
einrichtungen, wie die Erfahrung lehrt, nicht erreicht werden kann, und weil
eine wenigstens teilweise unvernünftige Zwangsgewalt desto größeres Unheil an¬
richtet, je tiefer sie ins Innere, in das Heiligtum der Gewissen und Über¬
zeugungen eingreift, darum muß dieses Heiligtum vor der Staatsgewalt ge¬
schützt und den Einzelnen überlassen bleiben, deren Mehrheit sich zur Bildung
gemeinsamer sittlicher und religiöser Überzeugungen immer in Kirchengemeinden
zrisammenschließen wird. Mit dem Staate wollen wir schon zufrieden sein,
wenn er unsre weltlichen Angelegenheiten recht vernünftig ordnet. Übrigens
berühren sich auch hier die Extreme, denn auch die päpstliche Universalmonarchie
hat ja den Anspruch erhoben, das Weltliche mit dem Göttlichen vollkommen
durchdringen und die menschliche Gesellschaft absolut vernünftig organisieren
zu können.
Am Schlüsse von Hegels Religionsphilosophie erfahren wir, daß wir uns
über dergleichen praktische Fragen umsonst aufgeregt haben. Daß das wahrhaft
Vernünftige nur dem wissenschaftlich Gebildeten zugänglich sei, hat er schon
früher behauptet. Die letzten Worte seiner Religionsphilosophie aber lauten:
„Der Zweck dieser Darlegungen war, die Vernunft mit der Religion zu ver¬
söhnen. Aber diese Versöhnung ist nur eine partielle ohne äußere Allgemein¬
heit. Die Philosophie ist in dieser Beziehung ein abgesondertes Heiligtum, und
ihre Diener bilden einen isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammen¬
gehn darf und das Besitztum der Wahrheit zu hüten hat. Wie sich die zeitliche,
empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist
ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegen¬
heit der Philosophie." Der Vernunftstaat hat also seinen Ort und seine Wirk¬
lichkeit bloß in den Köpfen einiger Philosophen; da wird denn seine Güte und
Brauchbarkeit so wenig auf die Probe gestellt werden wie die in den Köpfen
einiger jesuitischer Theologe« spukende päpstliche Universalmonarchie. Drews
ist mit diesem Rückzug Hegels ins Gebiet der reinen Idee schlecht zufrieden;
er will gleich seinem Meister Hartmann eine Volksreligion, die zugleich Religion
der wissenschaftlich Gebildeten sein könne, und hofft, daß uns die Entwicklung
eine solche bringen werde. Diese verwegen optimistische Hoffnung zweier
Pessimisten ist ein wunderliches Schauspiel. Auch ich halte eine Fortent¬
wicklung der Religion für wünschenswert, notwendig und möglich, aber nur
auf der bewährten Grundlage des Christentums.
>el Gelegenheit der durch die hundertste Wiederkehr des Schillerschen
Todestages veranlaßten Besprechungen ist unter andern: auch die
! Frage erörtert worden, ob das deutsche Volk in seinen weitern
Kreisen mit Schiller bekannt und vertraut sei, und ob es also
!den großen Dichter auch in diesem Sinne den „seinen" nennen
dürfe. Statistische Erhebungen, durch die nachgewiesen worden ist, daß ein
großer Teil einer Nekrutenquote nur sehr dunkle, ja grundfalsche Begriffe von
Schillers Persönlichkeit und Werken gehabt hatte, haben mir, was diese
Gewissensfrage anlangt, wenig Eindruck gemacht, weil mir aus Erfahrung
bekannt ist, wie eng begrenzt manchenorts das Gebiet der geistigen Interessen
ist, für das der zwanzigjährigen männlichen Jugend eines Aushebungsbezirks
inmitten der Sorgen und der Vergnügungen des Alltagslebens Zeit und
Muße verbleibe». Ich bin vielmehr nach wie vor überzeugt, daß Schiller
nicht bloß für die weitesten Bolkskrcise der eigentliche deutsche Dichterfürst ist,
sondern auch, so unwahrscheinlich das einigen von uns vorkommen wird, der
Geschichtslehrer, dessen historisch-dramatische Figuren für viele von ihnen neben
Friedrich dem Großen, Napoleon und den Helden der Freiheitskriege den
einzigen Schatz geschichtlichen Wissens ausmachen, der ihnen zu Gebote steht.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß der Geschichtsunterricht in den Volks¬
schulen vernachlässigt werde, nur daß er es oft nicht dazu bringt, in den mit
so vielem andern beschäftigten und nicht immer mit sehr lebhafter Phantasie
begabten Köpfen Vorstellungen rege zu machen, die über die Exmnentage
hinaus andauern, während sich das den jungen Leuten auf der Bühne ent¬
gegentretende Bild in Verbindung mit den schon ohnehin im Volksmnnde
heimischen „geflügelten" Worten des Dichters nachhaltig einprägt.
Fiesco, Philipp der Zweite von Spanien, der den meisten freilich auch
durch Goethes Egmont näher gebrachte Herzog Alba, Tell, Wallenstein, die
Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, Elisabeth von England und Lord
Burleigh sind unter diesen historisch-dramatischen Figuren die bekanntesten,
und zwar beherrscht die Schillersche Darstellung, auch wo sie aus dramatische«
Gründen von der geschichtlichen Tatsache abweicht, den Vorstellungskreis der
Menge so unbedingt, daß zum Beispiel in Friedland den Besuchern des
Gräflich Clam-Gallasschen Schlosses von dem Kastellan ein Bild der Prinzessin
Thekla von Friedland gezeigt wird, obgleich diese junge Dame bekanntlich
nie wo anders als in der Phantasie des Dichters und auf den Brettern, die
die Welt bedeuten, gelebt hat. Die Nachfrage nach ihrem Bild und die
Teilnahme an dem sie angeblich darstellenden Porträt sind so groß, daß sich
der Kastellan nur ungern und unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit der
Tatsache heraustraut, daß das wegen seines seelenvollen und schwärmerischen
Ausdrucks bewunderte Bild eine junge Dame der Clam-Gallasschen Familie
vorstellt, die erst volle fünfzig Jahre nach Wallensteins Tode das Licht der
Welt erblickt hat.
Der Versuch, an den oben genannten neun historisch-dramatischen Figuren
die erstaunliche Begabung Schillers nachzuweisen, die ihn befähigte, geschicht¬
liche Persönlichkeiten in dramatisch wirksame zu verwandeln, ohne daß dabei,
abgesehen von nebensächlichen Veränderungen und Zutaten, der Kern ihres
Wesens verloren ging, soll nun doch noch gemacht werden. Er war, obwohl er
ursprünglich als Beitrag zu den Festschriften für den 9. Mai d. I. in Aussicht
genommen gewesen war, mit Recht beiseite geschoben worden, um den festlich
gehaltnen, einer allgemeinern Würdigung des Dichters und des Philosophen
geltenden Aufsätzen den ihnen gebührenden freien Spielraum voll überlassen
zu können; nun, wo die Erinnerungstage vorüber sind, wird vielleicht dem
einen oder dem andern Leser der Wunsch gekommen sein, sich das im Theater
gesehene und genossene im Sinne einer mehr geschichtlichen Betrachtung
nochmals zu vergegenwärtigen, und ein Blick in das nun wieder aufgestellte
Figurenkabinett wird ihm deshalb unter Umständen nicht unwillkommen sein.
Es soll dabei von einer Besprechung der in Frage kommenden Dramen ab¬
gesehen und nur auf die Figuren selbst, auf die Verwendung des geschichtlichen
Stoffs, auf die Meisterschaft, mit der sie gehandhabt worden, und auf die
künstlerischen Erwägungen, von denen Schiller bei der Wahl des Materials
ausgegangen ist, Gewicht gelegt werden.
Man pflegt die von Schiller entworfnen geschichtlichen Figuren als
klassische zu bezeichnen: das ist ein relatives Lob, das auch denen von Corneille
und Racine gespendet wird, und eines, das der Vorliebe so vieler Menschen
für Etiketten entspricht. Ich möchte sagen, es sind bei großer Lebenswahrheit
und möglichster historischer Treue wirklich bezaubernde, ideale Figuren, denen
zwar das Dämonische der Shakespearischen abgeht, die sich aber dafür durch
einen Seelenadel, durch eine gewinnende Wärme des Gefühls, durch eine
Folgerichtigkeit der Hciudlungsweise auszeichnen, die ihnen besonders eigen
sind. Man kann das sagen, ohne Goethes größten dramatischen Gebilden, dein
Götz, dem Faust, dem Egmont, dem Tasso, der Iphigenie zu nahe zu treten:
keiner der beiden Dioskuren, die soviel voneinander hielten, soll hier gegen
den andern verkleinert werden; wie sie im Leben in schönster Eintracht und
Freundschaft dem gemeinsamen Ziele zugegangen sind, wie sie in Weimar in
Erz gegossen Hand in Hand nebeneinander stehn, so sollen sie auch neben¬
einander in unsrer Erinnerung und in unsern Herzen fortleben. Das Uner¬
reichte der Goethischen Gestalten bewegt sich auf einem wesentlich andern Ge¬
biete als das der Schillerschen: daß sie beide unser sind, ist unser größter
Stolz. Wie verkehrt wäre es, wenn wir das Genie des einen gegen das des
andern ausspielen wollten; im Gegenteil, nichts lehrt uns die Größe ihrer
Begabung und ihrer Ziele besser verstehn, als was sie darüber zueinander und
voneinander gesagt haben.
Wo Schiller davon spricht, daß er mit dem Wallenstein in Goethes
Gebiet gerate, und in bescheidenster Weise zugibt, daß er neben ihm verlieren
werde, sagt er ein paar Zeilen weiter sehr richtig: „Man wird uns, wie ich
in meinen mutvollsten Augenblicken mir verspreche, verschieden spezifizieren,
aber unsre Arten einander nicht unterordnen, sondern unter einem höhern
idealischen Gattungsbegriff einander koordinieren." Und so könnte man den
Urteilen beider eine überaus treffende Charakterisierung nicht bloß ihrer beider¬
seitigen Vorzüge und Mängel, sondern weit allgemeiner der noch heute geltenden
idealsten Kunstpostulate entnehmen.
Es soll hier nur an Schillers Urteil über Goethes Egmont, das Muster
einer wohlwollenden, sachlichen, alle Vorzüge mit Bewunderung hervorhebenden,
das Prinzip mit klaren Worten Hinschreibenden Kritik, erinnert werden. Wo
Schiller die Bedenken hervorhebt, die ihm in einigen Punkten gegen die
Goethische Heldenfigur des Egmont beigegangen sind, sagt er von Klärchcn,
dessen meisterhafter Zeichnung das Drama drei Viertel seiner Popularität
verdankt, unter anderm auch folgendes: „Hätte die Einmischung dieser Liebes¬
angelegenheit dem Interesse wirklich Schaden getan, so wäre dieses doppelt
zu beklagen, da der Dichter noch obendrein der historischen Wahrheit Gewalt
antun mußte, um sie hervorzubringen. In der Geschichte nämlich war Egmont
verheiratet und hinterließ neun (andre sagen elf) Kinder, als er starb. Diesen
Umstand konnte der Dichter wissen und nicht wissen, wie es sein Interesse
mit sich brachte; aber er hätte ihn nicht vernachlässigen sollen, sobald er
Handlungen, welche natürliche Folgen davon waren, in sein Trauerspiel auf¬
nahm." Und etwas weiter unten gibt uus Schiller in gedrängtester Kürze
die Grenzen an, innerhalb deren der Dichter die historische Treue der drama¬
tischen Wirkung zum Opfer bringen darf, nachdem er auseinandergesetzt hat,
wie sich der geschichtliche Egmont durch die Rücksicht auf seine Einkünfte, die
von der Willkür Philipps des Zweiten abhängig, ihm aber zum standes¬
gemäßen Unterhalt seiner selbst und der Seinigen unentbehrlich waren, trotz
der ihm von Oranien klar gemachten Gefahr zum Verbleiben in den nieder¬
ländischen Provinzen gezwungen sah. „Und alles dieses, sagt er, kann er
noch außerdem erst nur auf Kosten der historischen Treue möglich machen,
die der dramatische Dichter allerdings hintansetzen kann, um das Interesse
seines Gegenstandes zu erheben, aber nicht um es zu schwächen." Wir werden
auf diesen Punkt zurückkommen müssen und uns überzeugen, daß Schiller dieser
Theorie jederzeit eingedenk war.
Die Beobachtung der Fälle, in denen Schiller nach obigem Grundsatze
von der geschichtlichen Tatsache abweichen zu müssen glaubte, ist aber auch
deshalb lehrreich, weil wir dabei an Beispielen erläutert sehen, was ein
Meister wie Schiller als der Bühnenwirkung günstig oder schädlich ansah.
Ein jugendliches weibliches Gemüt könnte vielleicht bei ober¬
flächlicher Betrachtung den Fiesco für einen südländischen Egmont ansehen,
dem an Stelle der blonden Locken schwarze gewachsen sind, und glauben, da
ihm imponierende männliche Erscheinung, Freigebigkeit, Prachtliebe, ein¬
nehmendes Wesen und eine nach gewissen Richtungen hin groß angelegte Natur
die Volksgunst der Genueser ebenso gewonnen habe, wie dieselben Vorzüge
den Abkömmling der geldrischen Herzöge so hoch in der Gunst des nieder¬
ländischen Volkes stellten, müsse er sich als Idol für seine schwärmerische Be¬
geisterung ebenso eignen wie Klürchens reizender Verehrer.
Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß die junge Dame ihren
Irrtum, wenn ihn nicht Schillers Wink in der Personenbeschreibung „höfisch¬
geschmeidig und ebenso tückisch" zerstört hatte, schon in der vierten Szene des
ersten Akts gewahr werden wird, wo der Graf von Lavagna der Gräfin
Jmpcriali, einer „stolzen Kokette mit einem bösen mokanten Gesichtsaus¬
drucke," nicht bloß den Hof macht, was man der durchtriebnen Absicht und der
Verstellungskunst eines ehrgeizigen Verschwörers zugute rechnen würde, sondern
auch, als wenn er keine reizende, zu ihm wie die Blume zur Sonne auf¬
schauende Leonore zur Gemahlin hätte, für die Reize der Schwester Gianettinos,
die den Saal verlassen hat, um deren Betörung durch vorgespiegelte Ver¬
zückung es sich also nicht handeln kann, in verliebten Flammen auflodert.
Fiesco (mit Feuer): Julia liebt mich! Julia! Ich beneide keinen Gott.
^Frohlockend im Saal.) Diese Nacht sei eine Festnacht der Götter, die Freude
soll ihr Meisterstück machen. Holla! hotta! (Menge Bediente.) Der Boden
meiner Zimmer kecke cyprischen Nektar, Musik lärme die Mitternacht aus
ihrem bleiernen Schlummer auf, tausend brennende Lampen spotten die Morgen¬
sonne hinweg. Allgemein sei die Lust, der bacchantische Tanz stampfe das
Totenreich in polternde Trümmer! Und nnn gar bei seinem Abgang, damit
man ja nicht glauben könne, es habe sich nicht um einen echten Gefühlsaus-
brnch gehandelt, das rauschende Allegro, unter dessen Klängen der aufgezogne
Mittelvorhang den Saal zeigt, wo „das Totenreich in polternde Trümmer
gestampft wird."
Ganz der Schiller der Semele, der Rünber und von Kabale und Liebe.
Allerdings ist für mich in solchen Szenen das Überschwengliche zu dick auf¬
getragen. Daß es mich nicht verletzt, sondern mir mehr den Eindruck macht, der
mir die Nerven kitzelt, wenn Studenten Schilder umhängen und den Wächter
der Nacht anulken, hat zwei Gründe. Einmal, daß mir vor vielen, vielen Jahren
das „Stampfen des Totenreichs in polternde Trümmer" so natürlich vorge¬
kommen ist, mir so aufrichtig gut gefallen hat. und zweitens, daß ich, auf¬
blickend, mit dem geistigen Ange dem wunderbaren Läuterungsprozeß des
Schillerschen Genies folge, das schon im Wallenstein und im Tell alle diese
Schlacken abgeworfen hat und uun gar erst in dem als Torso hinterlassenen
Demetrius ahnen läßt, welche reiche Ernte der unerbittliche Tod unterbrochen,
welche fast beispiellose Verklärung des Urteils, des Geschmacks und der Er¬
findungskraft der herabgesunkne Schleier unserm Blicke verhüllt hat.
Es ist nicht ganz leicht, sich davon, wie sich Schiller den Charakter
Fiescos gedacht hat, einen recht klaren, in seinen einzelnen Bestandteilen
harmonischen Begriff zu macheu. Was er selbst darüber sagt, ist ja an sich
einleuchtend genug, nur schade, daß es zum Charakter des Helden und zu den
scheinbaren Widersprüchen, unter denen er sich äußert, den ersehnten Schlüssel
nicht gewährt. „Ich habe, sagt er in seiner Vorrede, in meinen Räubern das
Opfer einer ausschweifenden Empfindung zum Vorwurf genommen. Hier (im
Fiesco) versuche ich das Gegenteil, ein Opfer der Kunst und der Kabale. . . .
Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfindung weckt, so müßte, deucht
mich, der politische Held in eben dem Grade kein Subjekt für die Bühne sein,
in welchem er den Menschen hintansetzen muß, um der politische Held zu sein.
Es stand daher nicht bei mir, meiner Fabel jene lebendige Glut einzuhauchen,
welche durch das lautere Produkt der Begeisterung herrscht; aber die kalte,
unfruchtbare Staatsaktion aus dein menschlichen Herzen herauszuspiuuen — den
Mann durch deu Staatsklugen Kopf zu verwickeln — und von der erfinderischen
Intrigue Situationen für die Menschheit zu entlehnen, das stand bei mir."
Ganz recht. Wir stellen uns Fiesco als einen mächtigen, vermögenden
Patrizier vor, der es nicht ertragen kann, eine Familie, der er die seine gleich¬
stellt, über sich zu sehen. Der Neffe des Dogen bringt ihn durch seine
grenzenlose Gemeinheit und durch sein bäurisch-stolzes Betragen noch besonders
auf. Er hat, ohne sich irgend jemand anzuvertrauen, mit den ihm zu Gebote
stehenden fürstlichen Mitteln einen blutigen Staatsstreich vorbereitet, durch
deu er, wie sich im letzten Augenblicke zeigt, den mörderischen Anschlägen
Gicmettinos nur um Haaresbreite zuvorgekommen ist. Seinen Freunden, dem
Volke, den Doras gegenüber haben ihm als Maske leichtlebige Genußsucht
und ein Getändel mit der Nichte des Dogen gedient, durch das er diesem
um so sicherer jeden Argwohn gegen seine Person zu nehmen sucht. Das
Gaukelspiel mit dem Mohren, dem er vor ganz Genua das Leben schenkt, ist
vortreffliches Theater: es imponiert den Genuesern und erinnert uns, die mit
dem Beweggrunde vertrauten Zuschauer, daß wir es nicht mit einem wahrhaft
großmütiger, sondern, was dem politischen Helden wohl ansteht, mit einem
klugen Manne zu tun haben. Im letzten Augenblick, kurz ehe das geplante
Unternehmen gelingt, bemächtigt sich der Herrschsnchtsteufel des Helden, und
mit einem Wust vou schönen Phrasen beschließt derselbe Mann, der um Schlüsse
des zweiten Akts nichts als des freien Genuas glücklichster Bürger sein wollte,
im übernächsten Auftritt den Scharlach der zu ermordenden Dorias mit blutigen
Händen an sich zu reißen und auf seine Schultern zu legen. Verrina, ein
besserer Republikaner als er, hat ihn durchschaut und bringt schweren Herzens
das Leben des Freundes der Freiheit zum Opfer.
Soweit ganz gut. Aber warum — das ist die schwer zu beantwortende
Frage — sind wir von Anfang an bis zu Ende auf der Seite Fieseos, dessen
Handlungsweise und Gesinnungen wir in der Hauptsache verurteilen? Warum
möchten wir ihn warnen, ehe er den schmalen nach der Galeere hinüberführcnden
Steg betritt? Warum würden wir, wenn es an uns läge, lieber noch den
braven alten Verrina ins Meer gestoßen sehen als den kaum aus dem El
geschlüpften Tyrannen, und warum trifft uns das zynische „Ertränkt" des
alten steinharten Republikaners wie ein Dolchstoß ins Herz?
Schon hier in der Verschwörung Fiescos hat das schwer zu erklärende
statt, was sich später bei Wallenstein wiederholen wird, und was auch bei
einigen Shakespearischen Tragödien überrascht, daß unser Interesse für den
Helden von unserm Urteil über seine größere oder geringere ethische Vortreff¬
lichkeit oder UnWürdigkeit ganz unabhängig ist. Fiesco wirkt, namentlich wenn
er von einem Schauspieler dargestellt wird, der uns den vornehm dominierenden
Patrizier verkörpert, und der das Feine, Berechnete mit dem Impulsiven,
Demagogischen in richtigen Dosen zu mischen versteht, auf den natürlichen
Menschen — und für diesen, nicht für den Kritiker oder den überfeinerten
Gourmand wird gespielt — geradezu faszinierend. Wir können uns tausend¬
mal wiederholen, daß Ehrgeiz und Herrschbegierde verwerfliche Auswüchse be¬
deutender Naturen sind, wir können uns vorhalten, daß man nicht recht ein¬
sieht, warum es unmöglich gewesen sein sollte, einen Mann wie den Dogen,
dem Schiller Spuren von Feuer beilegt, von dem er Gewicht und befehlende
Kürze als Hauptzüge angibt, und den wir uns, soweit seine Handlungsweise
und seine Rede einen Schluß auf seinen Charakter zu machen erlauben, als
gerechten, einsichtigen, Staatsklugen, um das Glück Genuas und seiner Bürger
aufrichtig besorgten Fürsten vorstellen dürfen, von der Staatsgefährlichkeit
eines Neffen zu überzeugen, der in der Tat nach allen Richtungen hin für
den Henker reif war; wir können zugeben, daß es unser Gefühl verletzt, wenn
ein Mann eine Frau, für die er Liebe geheuchelt und — empfunden hat, und
die aus Leidenschaft für ihn zur Giftmischerin geworden ist, in seinem eignen
Hause, nachdem er sie dem Spotte seiner Gattin und der Gesellschaft preis¬
gegeben hat, dem Arme eines Bedienten überantwortet, wir können es un¬
wahrscheinlich finden, daß derselbe Mann, der seine ehrgeizigen Pläne vor
Freunden wie Verrina, Calcagno und Sacco, ja vor der eignen Gattin zu
verbergen gewußt hat, den ersten besten Mohren, den ein wahres Wunder
bisher vor dem Galgen behütet hat, zum Mitwisser seiner geheimsten Unter¬
nehmungen macht: das ändert alles nichts an der Tatsache, daß wir die Dinge
so sehen, wie sie uns Schiller zeigt, und wie er will, daß wir sie sehen sollen.
Fiesco bleibt bis zum Schluß der Held, dem wir ohne viel Überlegung, leicht¬
sinnigerweise, möchte man sagen, unsre Teilnahme schenken, und der für uns
trotz allem, was wir an ihm auszusetzen haben, und was uns, wohlgemerkt,
Schiller vorbedachterweise selbst mitgeteilt hat, der Mittelpunkt unsers drama¬
tischen Interesses bleibt. Die Ausübung solcher Zauberkünste ist nur dem
Genie möglich, und alle Ausstellungen, die wir machen, und die wahrschein¬
lich gegründet sind, zersplittern wie Spreu an der diamantnen Rüstung des
mit dem himmlischen Feuer zu uns herabgestiegnen gottbegnadigten Dichters.
Von derselben Hand, die einen Fiesco zeichnete, haben wir — der Kontrast
könnte nicht größer sein — einen
Schiller hat das Bild des
tyrannischen, bigotten Königs, des reichsten und zugleich ärmsten Mannes der
Christenheit, des erfahrnen Politikers und spärlich begabten Menschen dreimal
gemalt, in seinem Abfall der Niederlande: „Freude und Wohlwollen fehlten
in diesem Gemüte" usw., im Don Carlos und in den Briefen über dieses
Trauerspiel, in deren neunten die ans König Philipp bezügliche Stelle mit
den Worten anhebt: „Wir sehen den Despoten auf seinem traurigen Throne."
Das gerechteste, billigste, handlichste Urteil möchte wohl das erstgenannte der
drei sein, aber da wir es hier mit Schillers dramatischen Gestalten zu tun
haben, so lohnt es sich, einen Augenblick bei der Betrachtung der meisterlichen
Kunst zu verweilen, mit der Schiller den geschichtlichen Philipp im dramatischen
Gedicht für seine Zwecke verwendet, und die es ihm bei aller Freiheit der Be¬
handlung möglich gemacht hat, die Erscheinung des zu damaliger Zeit mächtigsten
und gefiirchtetsten Monarchen in ihren Hauptzügen wahr, lebendig und er¬
greifend aus der Fabel hervorzuheben.
Es ist sogar vielleicht nicht zu viel gesagt, wenn man annimmt, daß von
den Deutschen, die von Philipp dem Zweiten ein annähernd lebendiges Bild
im Geiste tragen, drei Viertel diese Errungenschaft Schiller und ganz besonders
dessen Don Carlos verdanken.
Daß es Schiller in Don Carlos bei der Charakterschilderung und dem
Auftreten König Philipps namentlich um eine Folie für seine drei Edelsteine,
den Carlos, den Posa und die Königin zu tun war, sagt er selbst: „Da mein
eigentlicher Vorwurf war, den künftigen Schöpfer des Menschenglücks (Don
Carlos) aus dem Stücke gleichsam hervorgehn zu lassen, so war es sehr an
seinem Orte, den Schöpfer des Elends neben ihm aufzuführen und durch ein
vollständiges schauderhaftes Gemälde des Despotismus sein reizendes Gegen¬
teil desto mehr zu erheben." Und etwas weiter unten: „Je mehr uns dieses
schreckhafte Gemälde (König Philipps Gemütszustand und Handlungsweise)
zurückstößt, desto stärker werden wir von dem Bilde sanfter Humanität an¬
gezogen, die sich in Carlos, in seines Freundes und in der Königin Gestalt
vor unsern Augen verklärt."
Es ist oftmals, bekanntlich auch schon zu Schillers Zeiten gerügt worden,
daß die Szene des Marquis Posa mit den, König und das daraus hergeleitete
Verhältnis beider nicht bloß unwahrscheinlich, sondern unmöglich sei, da auch
der verwegenste Neuerer und begeistertste Schwärmer nicht auf deu Gedanken
habe kommen können, sich für seine ketzerischen Menschheitsbeglückungsträume
als Mitwisser und Helfershelfer einen Monarchen auszusuchen, der, geistig
völlig unnahbar, so offenbar in den Händen ehrgeiziger Hofleute und fana¬
tischer Geistlicher war. Dieser Einwand dürste, trotz dein, was Schiller im
sechsten Briefe über diesen Punkt sagt, berechtigt sein. Ein Mann wie Posa
konnte an Philipps Hofe mit dem König in der Tat in keine solche Be¬
rührung kommen, aber um so mehr ist die dramatische Kunst zu bewundern,
die uns den Charakter des Königs durch eine solche Szene in menschlicherm
Lichte und doch als homogenes Ganze zu zeigen versteht und mit wunder¬
barer Berechnung alle Fäden der Handlung so zu leiten und zu knüpfen weiß,
daß uns für den kurzen Augenblick der szenischen Darstellung das Unmögliche
möglich, die Fabel als Tatsache erscheint. Das Drama, das kann der neuern
Tendenz gegenüber nicht oft und nicht eindringlich genug wiederholt werden,
soll kein Spiegel des Alltagslebens sein, soll sich nicht auf Vorführung einer
kalten, nüchternen Realität beschränken. Wenn es das täte, wenn es nicht in
höhere Regionen griffe, um ihnen die Vorwürfe zu entnehmen, mit denen es
uns aus dem platten Einerlei des Alltagslebens herauszureißen vermag, würde
es seiner idealen Bedeutung, seinem höhern Beruf untreu werden und für das
Theater zu dem hinabsinken, was die Photographie für die bildende Kunst ist,
eine Kunstfertigkeit, bei der es neben der Vermeidung von allem Störenden
nur auf möglichste Korrektheit und Genauigkeit ankommt. Wie die Wahl des
reizendsten Gegenstandes die photographische Aufnahme nicht zum Kunstwerke,
sondern nur zum Beweise des guten Geschmacks und der vollendeten Technik
des Operierenden machen kann, so kann auch auf der Bühne eine Handlung,
die uus nicht einen geistigen oder ethischen Gewinn, gewissermaßen einen
Gruß aus der Feenwelt bringt, nicht als dramatisches Meisterwerk angesehen
werden.
Wie wunderbar ist im Don Carlos, abgesehen von den zugegebnen Un-
wahrscheinlichkeiten, zu denen noch in erster Reihe die Intrigue des Königs
mit der Prinzessin Eboli gehört, von der ersten Szene bis zur letzten alles
darauf berechnet, uns die ergreifenden Gegensätze fühlbar zu machen und zu
erklären, aus denen sich die Persönlichkeit des Königs und seine Handlungs¬
weise zusammensetzen. Nirgends tritt uns bei ihm die maßlose, unmotivierte
Grausamkeit des an Cäsarenwahnsinn leidenden Despoten entgegen. Alles,
jede einzelne Szene ist darauf berechnet, das, was sich vor uns abspielt, zu
noch eingehenderer und genauerer Schilderung des leider für den Mann selbst
wie für seine Umgebung so verhängnisvollen Charakters zu verwenden.
Eifersucht, Argwohn, Priesterfnrcht und Priesterhaß, echtes königliches
Würdegefühl und blinder despotischer Eifer, vornehme Grandezza und kleinliche
Sucht zu verwunden und zu erniedrigen, gelassenes billiges Urteil und impul¬
sives Eingreifen, verzweifelte Sehnsucht auf einsamer Höhe und kurze ver¬
trauliche Annäherung an die dessen am wenigsten würdigen Mitglieder seiner
Umgebung, divinatorisches Verständnis für ideale geistige Große und völlige
Blindheit für wahres Gefühl, steinerne Ruhe und plötzliche Ausbrüche mensch¬
licher Leidenschaft lösen einander in raschem Wechsel ab, aber der Mann,
dessen Seele uns dabei von dem Dichter offen gelegt wird, ist immer derselbe
nur mit seinem Ich und seiner monarchischen Würde beschäftigte, nichts als
die Verdammnis und die Inquisition fürchtende, der Kirche, dem Staat, dem
Vorurteil den eignen Sohn opfernde Despot, den der Argwohn blind, die
kleinliche Absicht ungerecht, die Eifersucht tobsüchtig, die Leidenschaft grausam,
der Fanatismus zum Ungeheuer macht.
Und bis in die kleinsten Züge hinein führt den Dichter sein psychologischer
Blick. Jedesmal, wenn der König den Anwesenden abgewiesen, zurückgesetzt,
gekränkt hat, spielt er dem neu Hinzugekommnen gegenüber die Bevorzugung
des eben Abgetretnen als giftigen Trumpf aus. Ob ihn, als der andre noch
vor ihm stand, die Behauptung seiner Unfehlbarkeit zu bekennen hinderte, daß er
überzeugt worden sei, ob nur die hämische Absicht ihn leitete, den einen durch
Bevorzugung des andern zu kränken, ob es ein Teil seines Systems war, die
Wage seiner Gunst immer im Gleichgewicht zu erhalten, damit sich keiner
seines Übergewichts überheben sollte: er entfremdet sich ohne Unterschied jedes
Herz. Der Zuschauer, der ihn zu verstehn glaubt und ihn trotz seiner Härte
nur beklagt, nicht verachtet, gönnt ihm doch des Großinquisitors schonungs-
lose Strnfrede, und der Mann, der in seiner Verblendung den einzigen, auf
den er sich Hütte verlassen können, meuchlings erschießen laßt und den eignen
Sohn dem eisernen Arme der Inquisition überantwortet, geht — das ist der
rechte Schluß — selbstbewußt ab, ohne der in Ohnmacht gefallnen Gattin,
die er zu lieben glaubt, auch nur einen Blick zu schenken. Die rechte Hand
des zunächst beklagenswerten Despoten ist
So deutlich uns aus einigen Szenen und Personen-
schildcrnngen der junge, von innern: Feuer und Freiheitsdrang verzehrte, noch
nicht fertige Schiller entgegentritt, sein Philipp und sein Alba sind Früchte
einer gereiften Welterfahrung, einer Welterfahrung, die er geschichtlichen
Studien und höchstwahrscheinlich vor allem gelesnen Memoiren und Denk¬
würdigkeiten aller Art verdankte. Es ist um diese auf wissenschaftliche Be¬
deutung oft keinen Anspruch machenden Geschichtsanellen eine eigne Sache: wenn
man sie zu Dutzenden in verschiednen Sprachen verschlungen hat, findet man,
daß einem von den Jahreszahlen und Namen, mit denen sie sich beschäftigen,
ja sogar von den Ereignissen, über die sie berichten, wenig genug im Ge¬
dächtnis haften geblieben ist; aber den Charakter der Zeit und des Volks,
denen sie entstammen, haben sie einen, das wird man nach einiger Zeit ge¬
wahr, auf wunderbare Weise verstehn gelehrt. Das Verständnis hierfür hat
sich wie eine Palma unvermerkt und allmählich angesetzt, und wenn man
dann Urteilen von Leuten begegnet, die diese eigentümliche Art der Belehrung
nicht genossen haben, so spürt man das sofort; es ist, als wolle einem jemand
Tiroler Geschichten erzählen, der nicht in Tirol gewesen ist. Niemand — um
ein Beispiel anzuführen — kann die eigentümlichen Schwierigkeiten verstehn,
die Kaiser Karl der Fünfte mit den deutschen Reichsständen und diese mit
ihm hatten, der neben den sehr oft falsch orientierten deutschen Quellen nicht
auch die italienischen, französischen, niederländischen, lateinischen und spanischen
Memoiren seiner Räte und Hofleute, womöglich in den Ursprachen, wenn er
aber dazu keine Zeit hatte, in leidlichen Übersetzungen gelesen hat. Solchen
Detailstudien hat Schiller offenbar in überaus gründlicher Weise obgelegen,
und da er den für einen gedeihlichen Erfolg solcher Bücherwanderungen nötigen
geschichtlichen Sinn in hohem Maße hatte, so konnte der sich auch bei weniger
Befähigten zeigende Erfolg eines geschärften politischen und psychologischen
Blicks bei einem Genie von so seltner Begabung erst recht nicht ausbleiben.
Der Abstand, der zwischen den frei geschaffnen Gestalten des Infanten
und des Maltesers einerseits und denen des Königs und Aldas andrerseits
fühlbar ist, wird durch das reife Verständnis, das Schiller wahrscheinlich aus
unzähligen zeitgenössischen Quellen zu schöpfen gewußt hat, vollkommen erklärt.
Den Spanier, wie er sich uns im Herzog Alba zeigt, kann der genialste
Dramatiker nicht aus Eignen herstellen; er muß für ihn durch langes, fort¬
gesetztes Lesen spanischer Memoiren und Bühnenstücke zur gegebnen Größe
geworden sein, und bei dem Schillerschen Alba ist das ohne Zweifel der Fall.
Daß das Jntrignenspiel mit Domingo noch etwas an Fiesco und an
Kabale und Liebe erinnert, stelle ich nicht in Abrede, aber abgesehen von
diesem Übelstande, mit dem man sich abzufinden geneigt ist, wenn man in Er-
wügung zieht, daß der Knoten durch die Machenschaften eines so unter¬
nehmenden Hoffräuleins wie der Eboli geschürzt wird, verrät die Art, wie
der Herzog gezeichnet ist, die Meisterhand und gibt uns schon einen Vor¬
geschmack des spätern Friedlünders. Alba gehört nicht zu denen, die in der
Geschichte schlecht weggekommen sind. Was er war, war er in so ausge-
sprochner Weise, klug, besonnen, tapfer, heimtückisch, fanatisch, grausam, er
handelte unter den beiden Regenten, deren brauchbarster Feldherr er war, so
ganz im Sinne des AnVerlangens, das Posa dem König Schuld gibt:
Sie wollen
Nur meinen Arm und meinen Mut im Felde,
Nur meinen Kopf im Rat. Nicht meine Taten,
Der Beifall, den sie finden an dem Thron,
Soll meiner Taten Endzweck sein,
daß ihn weder seine Zeitgenossen noch die Epigonen mißverstehn konnten.
Die Zeiten, in denen der spanische Einfluß auf die Franzosen und die
Italiener überaus mächtig war, und die etwas spätern, in denen dasselbe in den
Niederlanden und sonst in den Besitzungen der österreichischen Habsburger der
Fall war, liegen so weit hinter uns, daß wir eine recht lebhafte Vorstellung
eigentlich nur von dem einen spanischen Typus haben, den ich als den feierlich
ernsten der spanischen Hofleute, Beamten und Soldaten bezeichnen möchte.
Daß es daneben einen bäuerlich behaglichen, übermütig lustigen gab, der uns
namentlich aus den Schäferspielen und den Autos fast noch lebhafter entgegentritt
als aus der italienischen eommsäig. alsit' arts, vergessen wir dabei ganz, und
man darf Wohl bedauern, daß Schiller es nicht für angebracht gehalten hat,
in seinem Don Carlos mit diesem Gegensatz zu wirken. Da das Trauerspiel
infolge der nötigen und mit hoher Meisterschaft gegebnen Charakterisierung
so vieler in die Handlung eingreifender Personen schon ohnehin für einen
Abend zu lang ist, so war für Szenen, wie sie Goethe mit so viel Glück
in seinem Egmont angebracht hat, leider kein Raum. Leider, denn es würde
dem Zuschauer außerordentlich wohlgetan haben, wenn er sich dem Zwang
einer unerträglichen Etikette, wäre es auch nur für noch so kurze Zeit
gewesen, Hütte entheben können, und die Persönlichkeit des Herzogs Alba,
mit der wir es hier zu tun haben, würde viel wirksamer hervorgetreten
sein, wenn man sie nicht immer an den jeder freien Regung und Bewegung
beraubten großen Herren des Madrider Hofes zu messen brauchte, sondern sie
auch einigen urwüchsigen spanischen Volksgestalten gegenüberstellen könnte.
Hätte es in Madrid nichts als Aldas, Domingos, Lermas und Ferias ge¬
geben, so würde man sich wohl oder übel bescheiden müssen; aber da es ein
urfideles Volk gab, aus dem weder der Despot, noch fanatische Mönche, noch
sonstwer eine Herde von Duckmäusern Hütte machen können, so wäre es eine
Wohltat, wenn Schiller Mittel und Wege gefunden Hütte, den Zuschauer ab
und zu zum Volk oder dieses zum Zuschauer schlüpfen zu lassen. So ein
mit lauter feierlichen Leuten und lauter feierlichen Gesprächen verbrachter
Abend macht einen selbst so feierlich, daß man bei der Heimkehr seinen Tee
stehend trinkt und schließlich nicht weiß, ob man sich zu Bett legen und nicht
lieber, wie Philipps Pagen, die Nacht kniend verbringen soll. Daß Schiller,
als er den Don Carlos schrieb, das Bedürfnis, vom Kannrückchen, wenn auch
nur für kurze Augenblicke, herunterzusteigen, den Bogen abzuspannen, to
undsncl, wie die Engländer ebenso kurz als treffend sagen, überhaupt nicht
hatte, ist das Wunderbare. Auch wo ein fideler Mönch — es gab solche,
und obendrein sehr witzige und ausgelassen lustige — hätte angebracht werden
können, im vierzehnten Auftritt des zweiten Aktes, machen wir die Bekannt
schaft eines Priors, der nicht bloß herzensgut und gottergeben, sondern anch, um
das Unglück voll zu machen, für alles, was in der Welt vorgeht, ohne Teil¬
nahme ist. Die Geschichte von dem für eine Vorstellung des Don Carlos als
Statist kommandierten Musketier, der von allen Personen des Stückes nur den
Posa beneidet hatte, weil er durch den wohlgezielten Schuß von dem „ewigen
auswendig Hersagen" befreit worden wäre, gehört zwar eigentlich nicht hierher,
da sie mit dem Herzog nichts zu tun hat, aber ganz ohne ist sie nicht, und
daß sich die Königin Elisabeth von Valois an Schillers Madrider Hofe, wie
man zu sagen pflegt, unvernünftig langweilte, beweist ihre gewiß durchaus
aufrichtige und die Situation trefflich bezeichnende Äußerung:
Ich kann
Den Wunsch nicht finden, der nur fehlgeschlagen.
Unter solchen wandelnden Schatten ist ein Alba nur der normale Kulmi¬
nationspunkt der Verödung, und das Normale der Erscheinung beeinträchtigt
die tragische Wucht des Charakters.
eit höheres Interesse als das industriereiche und Handel treibende
Aussig erweckt in uns die altberühmte Badestadt Teplitz. Der
aussichtsreiche Schloßberg mit seinen hübschen Anlagen, der Kur-
und ganz besonders der Schloßgarten erfreuen Herz und Sinn.
Nicht allgemein bekannt dürfte es sein, daß in Teplitz der
»Spaziergänger nach Syrakus" sein reichbewegtes Leben beschlossen und hier
seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Eine Büste Seumes in den Anlagen
gegenüber dem Theater erinnert uns an diese merkwürdige Persönlichkeit. Ein
andrer berühmter Mann ist in dem mit Teplitz verbundnen Schönau ver¬
herrlicht: der Nordpolfahrer Payer, ein geborner Schönauer. Ihm zu Ehren
hat man einem Teil der Anlagen, die sich an den Senmepark anschließen,
seinen Namen gegeben.
In Teplitz, in Dux und in Brüx sind wir mitten im nordböhmischen
Kohlengebiet, das sich von der Elbe bei Aussig bis Komotau und vom Erz¬
gebirge bis zum Mittelgebirge hin ausdehnt. Schacht an Schacht, zahlreiche
Bodensenkungen, sogenannte Pingen, öde Flüchen mit dürftigem, von der
Sonne verbranntem Gras, hohe Schutthalden, rauchende Schornsteine, ab-
und zufahrende Fuhrwerke, lange Reihen von Eisenbahnloris, die der Füllung
harren oder beladen von keuchenden Lokomotiven fortgezogen werden, auf den
Straßen Kohlenstaub, den der leiseste Luftzug zu schwarzen Wolken aufwirbeln
oder ein mir einigermaßen ergiebiger Regen in schier undurchdringlichen
Schlamm verwandeln kann, und auf den Straßen zur Schicht eilende Berg¬
leute oder müde, mit geschwärzten Gesichtern und Händen von der Arbeit
kommende Gestalten — das sind etwa die Eindrücke, die der Wandrer dort
erhält. Ein gewaltiges Stück Arbeit ist es aber auch, das hier geleistet wird.
Von den fünf Revieren, in die das ganze Kohlengebiet eingeteilt wird, be¬
schäftigten das Elbogner und das Falkenauer gegen 7000, das Teplitzer, das
Brüxer und das Komotauer «der zusammen gegen 30000 Arbeiter. Jahraus
jahrein fördern ihre fleißigen Hände über 18 Millionen Tonnen Kohlen
zutage, die ungefähr einen Geldwert von 80 Millionen Kronen repräsentieren.
Gegen fünfzig Gewerkschaften und Schächte werden in der „Statistik des
böhmischen Brannkohlenverkehrs" aufgeführt, und unter ihnen steht die Brüxer
Kohlenbergbaugesellschaft, die Gewerkschaft Brücher Kohlenwerke und die Nordböh¬
mische Kohlenwerksgesellschaft mit Produktionsmengen ungefähr von 3800000,
2 Millionen und 1700000 Tonnen obenan; in größerm Abstände folgen dann
das k. k. Montanärar ungefähr mit 740000 Tonnen und die übrigen Werke
mit immer geringern Produktionsmengen, die bei den letzten beiden, der
Falkenau-Grassether Braunkohlengewerkschaft und der Neubeschert Glück-Zeche,
ungefähr 65000 und 57000 Tonnen betragen. Von diesen Kohlenmassen
wird der größere Teil im Inlande, der kleinere im Auslande, besonders in
Deutschland verbraucht, das die Kohlen zu einem Viertel auf den Wasser¬
straßen, und zwar vor allem natürlich ans der Elbe, aber auch auf der Saale,
Havel, Spree, ja sogar auf der Oder, zu drei Vierteln mit der Eisenbahn
erhält. Wie außerordentlich weit der Versand mit der Bahn geht, darüber
gibt die Statistik genauen Aufschluß; da sind außer den Stationen der
böhmischen und der königlich sächsischen Bahnen Stationen der k. k. Staatsbahn¬
direktion Innsbruck und Vliland, der bayrischen, württembergischen und badischen
Staatsbahnen, der preußischen Eisenbahndirektionsbezirke Kassel, Erfurt, Halle,
Hannover, Magdeburg, Berlin, Stettin, Bromberg, Danzig, Posen, Breslau
und der mecklenburgischen Friedrich-Franz-Bahn genannt, ja auch Stationen
der östlichen Schweizer Bundesbahnen und einzelne Stationen von italienischen
Bahnen sind vertreten — fürwahr ein mächtiges Gebiet, das durch die nord¬
böhmischen Bergarbeiter mit den schwarzen Schätzen der Erde versorgt wird!
Daß die Industrie in dieser Kohlengegend — von Aussig bis nach
Komotau — sehr stark vertreten ist, darf uns nicht wundernehmen; es gibt
Zuckerfabriken, Eisengießereien, Glashütten, Majolika-, Terrakotta- und
Porzellanfabriken und noch manche andre industrielle Unternehmungen.
Von ihnen hat uns in Dux immer die große Aktienzuckerfabrik besonders
interessiert; auf deren Grund und Boden soll einst die Wiege Walthers
von der Vogelweide gestanden haben — ja aber auch nur „soll"; denn das
schöne Gebäude, das Dr. Hallwichs Hypothese in den Mitteilungen des Vereins
für Geschichte der Deutschen in Böhmen (1893) darstellt, ist verdientermaßen,
wenn auch zum Schmerz der böhmischen Patrioten, eingerissen worden. „Be¬
hagt doch der Nachweis eines bürgerlichen Geschlechts Vogelweyder oder
von der Vogelweide zu Dux in den Jahren 1389 bis 1404 und eines Walther
von der Vogelweydc (1396 und 1398) für die Frage genan so viel oder so
wenig als der urkundliche Walther der Vogelwaid von Velthaim in Oberbayern
vom Jahre 1394 oder der gleichfalls urkundliche Walther von der Vogelwaid
in der Steiermark vom Jahre 1368." (Vgl. Schönbach im Anzeiger für
deutsches Altertum, XXI, 228 ff.; Burdach, Allgemeine deutsche Biographie
unter Walther von der Vogelweide.) Die amüsante Meistersäugertradition aber
aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts"), Walther sei ein Landherr in
Böhmen gewesen, hilft erst recht nicht weiter, und die Bemühung Hallwichs,
sie als Hauptstütze für seine Ansicht auszunutzen, verdient die Ablehnung, die
ihr Schönbach a. a. O. hat zuteil werden lassen. Aber auch mit der Tiroler
Heimatshypothese steht es keinen Deut besser. Daran muß um so mehr hiu
und wieder einmal erinnert werden, als Natters prächtiges Waltherdenkmal,
das durch den Eifer und die Betriebsamkeit der Tiroler auf dem Johannes¬
platz in Bozen aufgerichtet worden ist, bei den vielen Tausenden, die jedes
Jahr dort vorüberziehn, die falsche Meinung aufkommen lassen könnte, Walthers
Heimat sei wirklich der Vogelweider Hof im Layener Ried gewesen.
In ganz andre Zeiten finden wir uns versetzt, wenn wir in Dux unsre
Schritte nach dem Schlosse lenken. Es gehört dem Grafen Waldstein und
birgt viele Erinnerungen an den großen Ahnen des gräflichen Hauses. Das
Kunst- und Naturalienkabiuett, das im Schlosse besonders sehenswert ist, hat
Franz Adam von Waldstein angelegt, der nach weit ausgedehnten Reisen und
eifriger Tätigkeit in den Kämpfen der Freiheitskriege 1814 die Güter in
Böhmen übernahm. Er war es auch, der in Paris den italienischen Abenteurer
und Schriftsteller Casanova kennen lernte und ihn, da er eingehende kabbalistische
und alchemistische Kenntnisse zu haben schien, mit nach Dux nahm. Hier hat
Casanova noch zehn Jahre als Bibliothekar des Grafen gelebt, mit wissenschaft¬
lichen Arbeiten und der Abfassung seiner Memoiren beschäftigt. Sein hand¬
schriftlicher Nachlaß liegt noch im Duxer Archiv.
Von Dux führt uns die Bahn in kurzer Zeit nach Brttx. Es liegt am
südwestlichen Ende des Mittelgebirges, da, wo es in die Ebne vou Saaz und
Komotau übergeht, in der flachen Talmulde der Biela, umgeben von malerischen
Phonolithkegeln, den letzten der langen Reihe ehemaliger Vulkane, die sich
von der Elbe in ostwestlicher Richtung hinziehn, und unter denen der Mille¬
schauer, Kletschen, Lobosch besonders hervorragen.
Brüx wird im Anfange des elften Jahrhunderts zuerst urkundlich erwähnt.
Es war ein vielbesuchter Marktflecken, und namentlich ans dem benachbarten
meißnischen Lande zogen die Kaufleute herbei, um ihre Geschäfte zu machen.
Nicht zum wenigsten dadurch mag das Deutschtum eine so feste Stütze be¬
kommen haben. Ja die Beziehung zu Meißen wurde noch fester, als Brüx,
das 1273 von Ottokar dem Ersten zur königlichen Stadt erhoben worden war
und das Meilenrecht erhalten hatte, zeitweilig an die Meißner Markgrafen
verpfändet wurde. Gerade dies brachte auch der Stadt in den Hussitenkriegen
am heißesten Tage, den sie erlebt hat, Rettung. Im Jahre 1421 waren dem
Ansturm der tschechischen Scharen Komotau, Dux, Bilin, Teplitz zum Opfer
gefallen, und nun mußte Brüx an die Reihe kommen. Die Belagerung be¬
gann, zwölf Tage schon hatte sie gewährt, die Not war aufs höchste gestiegen.
Da kam am 5. Angust die Erlösung, und zwar, wie der fromme Glaube an¬
nimmt, durch die Jungfrau Maria, deren Fest „Schneefeier" man an jenem
Tage mit besondrer Inbrunst begangen hatte: Friedrich der Streitbare, dem
die Stadt 1420 von Kaiser Sigismund als Pfand zugesichert worden war,
sandte Entsatz unter Otto von Pflug, die Stadt war gerettet. Bis zum
heutigen Tag aber wird noch der 5. August vou der ganzen Bevölkerung
festlich begangen. — Nicht gering waren auch die Leiden der Stadt im Dreißig¬
jährigen Kriege; zu wiederholten malen wurde sie von den Schweden belagert,
eingenommen, gebrandschatzt, angezündet.
Von den Kriegen der nächsten zwei Jahrhunderte ist Brüx ganz oder
doch so gut wie ganz unberührt geblieben. Wenn es auch im Innern manche
Erschütterung durchzumachen hatte, so hat es sich doch schließlich zu dem
blühenden Gemeinwesen emporgearbeitet, an dem der Fremde, der Brüx auch
nur einen flüchtigen Besuch abstattet, seine herzliche Freude hat; eine kern¬
deutsche Stadt ist es — möge es immer so bleiben!
Im Mittelpunkt des Interesses steht in Brüx entschieden die Stadtkirche.
Sie ist, nachdem der große Brand vom Jahre 1515 auch das alte Gotteshaus
stark beschädigt hatte, seit 1517 ganz neu gebaut worden. Der Baumeister
war aber nicht, wie man noch heutzutage vielfach steif und fest behaupten hört,
Benedikt Ried, der unter dem Namen Benesch von Laun von den Tschechen
als der ihrige in Anspruch genommen wird und sich als Hofbaumeister Wladis-
laws des Zweiten und als Vorstand der Prager Domhütte einen Namen
gemacht hat, nicht also ist die Brüxer Kirche die Glanzschöpfung tschechisch
nationaler Gotik, als die sie in Nordböhmen, besonders in tschechischen
Gegenden noch gilt — nein, Professor Neuwirth hat mit Hilfe von Rechnungs-
büchern aus dem Brüxer Archiv unwiderleglich nachgewiesen, daß die Kirche
in allen ihren Teilen durchaus das Werk deutscher Künstler ist, daß namentlich
Jnkob von Schweinfurth, der seit 1514/15 in Annaberg im sächsischen Erz¬
gebirge an der Se. Annenkirche tätig war, den Plan, und zwar unter sehr
starker Anlehnung an den Grundriß der Jngolstüdter Liebfrauenkirche, gemacht
und eine Zeit lang auch die Oberleitung beim Bau in der Hand gehabt hat,
daß die Brüxer Kirche in Anordnung und Einzcldurchbildung nahezu ganz
auf dem Boden des Kirchenbaues im sächsischen Erzgebirge steht. Schon an
und für sich war es bei den vielen Beziehungen, die die böhmischen Städte
am Südabhange des Erzgebirges und Brüx ganz besonders mit den tonan¬
gebenden Orten des sächsischen Nachbargebiets hatten, ganz natürlich, daß die
Brüxer bei der Umschau nach einem geeigneten Baumeister gerade auf jenen
weithin hochgeachteten Architekten kamen.
Die spezielle Leitung des Baues hatte, da Jakob von Schweinfurth in
Annaberg unabkömmlich war, zunächst unter dessen Oberaufsicht, daun seit
Mitte 1519 selbständig Meister Georg von Maulbronn, derselbe, der an dem
Steinmetztage teilnahm, der unter Benedikt Riebs Vorsitz im Juli 1518 zu
Annaberg abgehalten wurde. Wann auf Georg vou Maulbronn der Stein-
metzmeister Peter (vielleicht Peter von Schweinfurth, der schon 1518 als
Parlier in Annaberg unter Jakob von Schweinfurth arbeitete) gefolgt ist, und
ob dieser den Ban, der um 1540 fertig wurde, bis zu Ende geführt hat, ist
nicht bekannt.
Die Kirche ist eine spätgotische Hallenkirche. Sie bietet, da die Strebe¬
pfeiler nach innen gezogen sind, im Äußern gar nichts anziehendes, sie macht
einen eintönigen, nüchternen, plumpen Eindruck: hoch, scheunenartig ist das Dach,
kahl und schmucklos sind die Wände, nur unterbrochen durch die Fenster, deren
Maßwerk die Fischblase und geradliniges Stabwerk zeigt. Ganz anders und
im Gegensatz zu dem Äußern geradezu verblüffend wirkt das Innere, namentlich
wenn man seinen Platz unter der Orgelempore oder besser auf dieser selbst
nimmt. In drei Schiffe wird der mächtige Raum durch zweimal acht schlanke
Pfeiler geteilt; ja die Wirkung wird dadurch erhöht, daß durch die nach innen
gezognen Strebepfeiler die drei Schiffe noch um zwei vermehrt zu sein scheinen.
Von Pfeilern im Sinne der Gotik zu sprechen, ist eigentlich nicht zutreffend —
mächtige, achteckige, auf reichgegliederten Basen ruhende Süuleu sind es,
deren acht Seiten, wie in Annaberg, schwach kanneliert sind. Keine Spur also
mehr von alten und neuen Diensten — ein ganz neuer Geist spricht hier zu
uns, der Geist der Renaissance, den wir auch sonst in der Brüxer Kirche
finden, und der nicht nur in deu Kirchen des Erzgebirges, zum Beispiel in
Annaberg und Schneeberg, sondern auch in deu Werken des Benedikt Ried
mehr oder weniger in die Gotik eindringt. Keck, ohne jede Vermittlung, uicht
einmal durch kleine Konsolen wie in Annaberg gestützt, schießen oben aus den
kapitüllosen Säulen die Steinrippen der weiten Wölbung empor und breiten
sich nach allen Seiten hin bis dicht an die hochragenden Fenster scheinbar
ganz ohne feste Ordnung aus. Und wie kühn sind diese noch gut gotisch pro¬
filierten Nippen behandelt! Wie so oft in der späten Gotik dienen sie auch
hier nur dem Schmuck, sind mit dem Gewölbe, dessen Kreuze allenthalben
durchschimmernd ihre eignen Wege gehn, nicht im mindesten organisch ver¬
bunden, legen sich bei den mannigfachen Verschlingungen übereinander, unter¬
einander, ja lösen sich hin und wieder von der Decke ab, kühner als in Anna¬
berg, lebhaft an die phantastisch fessellosen Rippenbildungen erinnernd, wie
sie den Gewölben der Marienkirche zu Pirna eigentümlich sind.
Die Beziehungen zu den beiden in denselben Jahren gebauten Kirchen
in Annaberg und Schneeberg treten weiter hervor in der Art, wie zwischen
die Strebepfeiler Emporen eingespannt sind, zu denen der Zugang, abgesehen
von der Turmseile, durch eine in der Längsachse im Osten liegende Spindel¬
treppe vermittelt wird; hier wie dort werden ferner die Räume, die unter den
Emporenteilen entstanden sind, so ziemlich alle zu Kapellen benutzt, die sich
in flachen Bogen nach den Seitenschiffen öffnen und ihr Licht durch niedrige,
dreiteilige Fenster erhalten. An den Emporen ist aber eine Fortentwicklung,
gegen die der Annaberger Kirche zu konstatieren. Die Verbindung der einzelnen
zwischen den Strebepfeilern liegenden Emporenteile wird nicht wie dort, wie
auch in Freiberg und Zwickau durch einen ballon- oder kanzelartigen Ausbau,
den man in der Achse der Strebepfeiler angebracht hat, ermöglicht, sondern
unter Wahrung der geraden ununterbrochen fortlaufenden Linie durch Türen,
die in die Strebepfeiler eingelassen sind, eine Anordnung, die die Brüxer
Baumeister ohne Zweifel von der Schneeberger Kirche, die Hans von Torgau
1515 bis 1526 baute, übernahmen.
Statt der durchbrochnen Balustraden ist wie in Annaberg die Brüstung
der Empore mit Reliefdarstellungen, zwanzig im ganzen, geschmückt, die dem
Alten und dem Neuen Testament entnommen sind und ohne jede Ordnung
aufeinanderfolgen. Eine lebendige Auffassung und großes Figurengepränge
durchzieht das Ganze, die Ausführung aber ist sehr verschieden; einzelne Gruppen
dürfen schön genannt werden, andre mit ihren kleinen, unbeholfnen, groß-
köpfigen Leutchen, die statt lÄvk en xroül stehn müßten, sind kaum mittel¬
mäßig. Figurenreiche Kompositionen sind weit glücklicher erfunden und modelliert
als die, die nur einzelne Figuren enthalten. Der Hintergrund ist meist wie
in Annaberg nur angedeutet, das Relief variiert zwischen flach und hoch, ja
auf besonders figurenreichen Platten lösen sich einzelne Gestalten ganz vom
Hintergrunde oder den sie umgebenden noch am Hintergrunde haftenden Per¬
sonen oder Gegenständen los.
Ohne Zweifel haben wir den oder besser die Künstler — denn daß viele
Hände bei der Arbeit geholfen haben, ist klar -— in engste Verbindung mit
den Künstlern zu setzen, die an den Annaberger Reliefs tütig waren; ob aber
Lübke (Geschichte der Renaissance in Deutschland II, 146) mit seiner Vermutung
das Richtige trifft: der Brüxer Meister sei „ein Schüler des Theophil Ehren¬
fried, der die Kirche zu Annaberg ausstattete," gewesen, ist doch mehr als
fraglich. Vor allem war Theophil Ehrenfried bei der Ausschmückung der
Annaberger Empore nicht die Hauptperson. Denn alles, was wir von ihm
wissen, geht auf späte Chroniken zurück, von denen die eine nichts weiter
berichtet, als daß zeitlich nacheinander Jakob Hellwig, Franciscus Magde-
burgus und Theophilus Ehrenfried an der Empore gearbeitet Hütten, und daß
des dritten Meisters Bildnis dort angebracht worden sei, während die andre
behauptet, nicht Ehrenfried sondern Hellwig sei auf dem Bildnisse dargestellt.
In Urkunden aber kommt der erste und der dritte überhaupt nicht vor. Natürlich
können beide trotzdem in Annaberg mitgewirkt haben, aber vielleicht nur als Ge¬
hilfen des Franz von Magdeburg, der als verbürgte Persönlichkeit hervorragend
im Annaberger Hüttenstreit auftritt, ja ihn zum Teil hervorgerufen hat. Er,
der kein zünftiger Hüttenmeister war, hatte bei seinen Arbeiten an der Empore
Steinmetzgesellen beschäftigt, ein Verfahren, worin die Magdeburger Hütte
eine Herabsetzung ihres Standes sah, und derenwegen sie Meister Jakob von
Schweinfurth als den Leiter der Annaberger Hütte zur Rede setzte. (Vgl.
Gurlitt a. a. O. steche, Beschreibende Darstellung der ältern Bau- und Kunst¬
denkmäler des Königreichs Sachsen, 4. Heft, S. 19 f. Bode begeht in der
Geschichte der deutschen Plastik S. 203 denselben Fehler wie Lübke.) Da wir
also Franz von Magdeburg als „den" Annaberger Bildhauer kennen gelernt
haben, so würde sich daraus ergeben, daß die Brüxer Reliefs, wenn man sie
durchaus auf den Schüler eines Annaberger Meisters zurückführen will, von
einem Schüler jenes Mannes herrühren. Meines Erachtens sollte man sich
aber begnügen, darauf hinzuweisen, daß die Brüxer Kirche wie in so vielen
Dingen so auch in den Reliefs lebhafte Beziehungen zu der Annaberger
Kirche zeigt.
Auch die Zeit, die Lübke für die Entstehung des Emporenschmucks an¬
nimmt, dürfte nicht richtig sein. Er meint, die Platten seien nicht vor 1580
angefertigt worden, weil 1578 die 1540 vollendete Kirche vollständig aus¬
gebrannt sei. Ich meine doch, daß wenn man von der Vollendung der Kirche
spricht, auch die Reliefs fertig gewesen sein müssen, die ja für die Jnnenwirkung
von der allergrößten Wichtigkeit waren. Und wenn man einwenden wollte,
daß sie durch den Brand beschädigt worden seien, sodaß die alten Platten
durch neue Hütten ersetzt werden müssen, so könnte auch das nicht als wahr¬
scheinlich zugegeben werden; denn die aus gebrannter Erde oder aus Stein
gefertigten Reliefs waren, wenn nicht durch die ganze Profilierung der Brüstung,
so doch schon durch das Material genügend geschützt.
Die einzelnen Darstellungen sind von ungleicher Länge, immer aber von¬
einander geschieden durch Ornamentplatten mit deutlichen Nenaissanccmotiven;
nicht nur kehren immer und immer ineinander verschlungne glatte, nasenlose
Kreise wieder, sondern was weit wichtiger ist, regelmäßig bilden rechts und
links kleine Säulen den Abschluß, deren Kapitäle stark an korinthische Formen
erinnern, und deren Schäfte unten von Akcmthusblättern, die aus der Basis
herauszuwachsen scheinen, umgeben sind.
Der Chor bietet nichts besondres; er ist fünfseitig, aber nicht aus dem
Zehn-, wie man zunächst denken sollte, sondern aus dem Zwölfeck entwickelt
und macht deshalb von außen bei unserm Zusehen einen merkwürdig unregel¬
mäßigen Eindruck. Die Empore setzt sich auch im Chor fort; von den hier
entstehenden untern Räumen wird jedoch nur einer so wie an den Längsseiten
verwandt; ein zweiter, über die Außenfront hinausgerückt, ist die Sakristei
mit wundervoller Sternwölbung; der mittelste birgt die oben erwähnte Spindel¬
treppe, und in den beiden noch übrigen Räumen stehn Beichtstühle. Dadurch
daß die zwei Ostpfeiler näher aneinander gerückt sind, wird der Chorschluß
im Mittelschiff polygonal, ganz so wie wir es in manchen andern Kirchen
der Spätgotik, zum Beispiel in der Münchner Frauenkirche und in der Jngol-
städter Liebfrauenkirche finden.
Die Brüxer Kirche hat sonst noch manches Sehenswerte, so im Chöre das
Sakramentshäuschen mit einem ganz wunderbaren Gemisch von gotischen und
Renaissancemotiven, ein bronzenes Taufbecken aus guter Renaissancezeit und
eine Anzahl Bilder, uuter denen das eine oder das andre wertvoll sein dürfte.
Wir brechen unsern Ausflug uach Nordböhmen hier ab. Über das Erz¬
gebirge eilen wir wieder der Heimat zu, freilich uicht ohne stark in Versuchung
zu geraten, dort noch Komotau mit seiner Katharinenkirche, einer wahren Perle
früher gotischer Baukunst, oder das Schloß Eisenberg mit seinen Schützen
— interessant auch, weil Kunz von Kciufnngens Burg einst an der Stelle des
jetzigen Schlosses lag —, oder hier dem freundlichen Klostergrab, dessen Name
uns durch die Geschichte vom Dreißigjährigen Kriege geläufig ist, oder auch
dem kunstgeschichtlich so fesselnden Zisterzienserstift Ossegg oder dem Bergstädtchen
Graupen mit den bedeutenden Holzstatuen in der kleinen Kirche, mit seiner
Rosenburg und Wilhelmshöhe, wo Friedrich Wilhelm der Dritte so gern weilte,
einen Besuch abzustatten. Mit der elektrischen Bahn kommen wir bald von
Teplitz nach Eichwald, und von hier führt uns die Seegrundstraße, der schönste
Übergang nach Sachsen unter den vielen schönen, in etwa zwei Stunden nach
Zinnwald und von da entweder nach Geising oder über Altenberg nach Kips-
dorf, von wo wir mit der Bahn — dort durch das Tal der Müglitz, hier
durch das der Roten Weißeritz — in nicht zu langer Zeit wieder in Sachsens
H
s war Sonntag Morgen.
Helene erwachte von einem leisen Klopfen an der Tür und hörte
Großmutters Stimme: Stehn Sie schnell auf, wir wollen in den
Wald!
Eilig sprang sie aus dem Bett, schnell war sie angekleidet.
Es hatte eben angefangen zu dämmern.
Sie sah nach der Uhr. Es war halb vier.
Auf dem Boden stand Großmutter, sie legte den Finger ans die Lippe und
zeigte nach der Schlafstube.
Leise die Treppe hinab!
Draußen hielt Ricks mit dem Einspänner in dem grauenden Morgen. Er
kannte diese Fahrten und wußte, daß es ein gutes Trinkgeld gab.
Großmutter und Helene nahmen Platz auf dem Wagen und fuhren über die
Hügel, nahe an die Stelle, wo das Walpurgisfeuer geflammt hatte.
Helene sah Großmutter ganz erstaunt an, sie war wie verjüngt.
Wir erreichen es noch, wir erreichen es noch! — Fahren Sie aber schnell zu,
Ricks — wir müssen da sein, ehe die Sonne aufgeht.
Sie geht nicht vor einer Stunde auf! sagte Ricks, und er trieb das Pferd
gemächlich an.
Jetzt fuhr man in den Wald hinein. Ricks hielt mit dem Wagen.
Großmutter und Helene stiegen aus, gingen Arm in Arm weiter, bis sie an
eine Lichtung kamen, ans der eine Bank stand; hier setzten sie sich und sahen auf
das Meer h'mans.
Da war es auf einmal, als erwache die Natur.
Vogelstimmen zwitscherten hier und da, es raschelte in der Nahe und in der
Ferne — war es der Fuchs oder der Marder, der von dannen schlich?
Ein zitternder Hauch ging durch den Wald, und das Meer erglänzte in starken
Farben wie funkelnder Wein und rinnendes Blut, bis die Sonne ganz aufgegangen
war. Da lag das Meer erst blönlich da, von einer leichten Morgenbrise gekräuselt,
dann spiegelblank wie fließendes Grün die leuchtenden Wälder widerspiegelnd,
die sich ganz bis an die Bucht hinab erstreckten. Denn die Buchen hatten jetzt
ausgeschlagen.
Das Wunder war geschehen. Das, wonach man sich den ganzen Winter sehnt,
das, was der Maler in schimmernden Farben, der Dichter in glühenden Worten
und der Tonkünstler in klingenden Rhythmen preist — das war jetzt wieder Wirk¬
lichkeit geworden.
Und inmitten dieser neugeschaffnem, lenzgrünen Welt, frisch wie der erste
Frühling, den der Mensch erblickt hat, saßen hier, das rollende Meer zu ihren
Füßen, während die Sonne die taufrischen Wälder überstrahlte, zwei Frauengestalten,
schön und ursprünglich, als habe ein Gotteswort ihnen Leben verliehen.
Da umarmte Großmutter Helene und sagte mit einer so volltönenden Stimme,
als komme sie aus dem Busen der Natur: An einem solchen Lenzmorgen, als die
Buchen eben ausgeschlagen hatten, fand ich draußen in dem grünen Walde das Glück
meines Lebens; es grünte und welkte in einer Nacht. Nein nein, das darf ich
nicht sagen. In meiner Seele knospet und blüht es noch heute, Jahr für Jahr.
Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Aber aus einer solchen Nacht stammt mein
Glück und mein Unglück. Wunderbar ist es, daß jene Nacht mir heute näher
scheint als sonst; das muß Ihre jugendfrische Erscheinung tun, die mich an meine
eigne Jugend erinnert.
Dann erhob sie sich und ging an Helenens Arm auf und nieder, wunderlich
bewegt; ihre Augen leuchteten, sie preßte Helene an sich.
Noch ein langer Blick auf das Meer hinaus, ein tiefer Seufzer, und sie rief:
Jetzt nach Hause! Jetzt habe ich meine Fahrt in den Wald gehabt, sie war kurz
wie alles andre hier auf Erden.
Wir kommen wohl noch nach Hause, ehe die andern unsern Einzug sehen.
Das ist wie eine Märchenfahrt!
Sie stiegen in den Wagen und fuhren schnell von dannen. Die Lerchen sangen
laut unter dem Himmelsgewölbe.
Und wirklich, in der Apotheke war noch alles still. Und als sie nach einer
Weile in Großmutters Zimmer saßen, erschien Steile mit Kaffee und frischem Gebäck.
Wie das duftete, und wie das schmeckte!
Da läutete die Kirchenglocke die Sonne ein.
So, jetzt ist der Küster aufgewacht! sagte Großmutter, und sie lachte.
Ein Sommertag.
Der Staub lag auf der Landstraße, die sein Thron war, und sandte seine
dienenden Geister, die Staubwolken, über alles aus.
Staub lag sogar auf dem kleinen See, dessen Wasserfläche aussah wie die
Quecksilberseite eines Spiegels.
Zu beiden Seiten des Weges beugten sich Kletten und Brennesseln, Schierling
und das dürre Gras unter der Last des Staubes. Bäume und Büsche am Waldes¬
rande waren so verstaubt, daß die grüne Farbe fast verschwand.
An einem Abhang abseits von der Landstraße, unter einer grünenden Eiche,
lag ein Rad, und ein wenig weiter hinauf ein junges Mädchen in geschmackvoller
Sportkleidung. Die rote Mütze saß leicht auf dem braunen, vollen Haar.
Das junge Gesicht war wie ein erster Entwurf, dem noch der Charakter fehlte,
den nur der große Künstler Leben zu geben vermag. Das Unbestimmte, das
Werdende hatte sich in diese Gestalt gekleidet. Nur die Augen verrieten einen
Anlauf zu einer Persönlichkeit.
So sah Helene Rörby an jenem Junitage aus, als sie dem Glück — oder
dem Unglück? — begegnete. Welches von beiden es war, wird die Zeit lehren.
Sie starrte vor sich hin und summte halblaut ein Lied.
Plötzlich hielt sie inne und sah auf die Landstraße hinüber.
Hier erhob sich eine große Staubwolke. Sie wurde größer und größer, kam
näher und näher.
Endlich sah man einen Ratter, der den Hügel hinabjagte und nicht anhalten
konnte.
Atemlos richtete sich Helene auf.
Plötzlich lag das Rad im Graben, und der Ratter daneben.
Er erhob sich schnell; Helene war den Abhang hinabgeeilt und stand nun
Angesicht in Angesicht mit der mystischen Erscheinung am Walpurgisabend.
Auch er erkannte sie sofort. Einen Augenblick standen sie schweigend da und
sahen sich an.
Dann brach sie in Lachen aus, in ein frisches, schallendes Gelächter, das auch
ihn zu einem leisen Lachen mit fortriß.
Mein Name ist Holmsted, meine Stellung vootor inoäiein-w, mein Wohnort
zurzeit die hiesige Gegend, sagte er.
Sie antwortete: Ich heiße Helene Nörby und bin Lehrerin beim Apotheker.
Nun wußte jeder, der Doktor Holmsted kannte, daß ihm nichts Schreck¬
licheres widerfahren konnte, als mit einem jungen Mädchen allein gelassen zu sein.
Er war viel zu verlegen, eine leichte Konversation führen zu können, und er
fürchtete vor allem dieses wirbelnde Lachen, in das junge Mädchen alles und alle
hineinziehn.
Hier stand er nun ganz allein einem jungen, ungewöhnlich hübschen Mädchen
gegenüber, das lachte, sodaß es im Walde sang. Und doch fühlte er sich weniger
verlegen als sonst.
War es, weil er in ihrem Lachen einen Klang hörte, wie nie zuvor? Oder
woher kam es?
Falls Sie zu Schaden gekommen sein sollten, ist es ja gut, daß der Doktor in
der Nähe ist! sagte Helene.
Dieser Berg hat mir schon mehr als einen Streich gespielt, und ich habe
immer gefürchtet, daß mir hier noch einmal etwas Passieren würde.
Hier lächelte sie so verschmitzt, daß er sich sehr zusammennehmen mußte und
ganz verwirrt hinzufügte: Mit dem Rade sieht es wahrscheinlich schlimmer aus.
Es stellte sich aber doch heraus, daß es ganz wohlbehalten war. Dann trat
eine längere Pause ein.
Sie hatte ihr Rad genommen, und sie gingen nun, jedes das seine führend,
den Hügel hinab.
Plötzlich sagte er: In Ihrem Hause wohnt eine ganz vorzügliche Frau!
Die Apothekeriu? fragte sie schelmisch lächelnd.
Nein! sagte er sehr bestimmt.
Und sie lachten beide.
Ich meine Großmutter!
Ja, die ist brillant!
Abermalige Pause.
Magrer Boden hier! sagte er.
Ja, nicht viele Blumen, sagte sie lachend.
Wieder eine lange Pause.
Er sah nach der Uhr und sagte errötend: Darf ich Sie bitten, Großmutter
zu grüßen? Adieu, gnädiges Fräulein!
Ehe sie etwas erwidern konnte, war er auf seinem Rade und eilte davon,
als sei er einer Gefahr entronnen.
Als er in den Wald gekommen war, rief er halblaut: Zum Kuckuck auch!
Zum Kuckuck auch!
Während eines Besuchs, den ihm Koltrup am Abend abstattete, war er so
lebhaft und zerstreut zugleich, daß der Hochschuldirektor mehrmals sagte: Ich kenne
Sie gar nicht wieder, Doktor Holmsted. Und zum größten Entsetzen der Haus¬
hälterin, der alten Madam Grönbeck, ging er singend zu Bett. —
Helene war stehn geblieben, ganz erstaunt sah sie dem Doktor nach.
Dann setzte sie sich aufs Rad und fuhr der Apotheke zu.
Als sie das Rad untergestellt hatte, stürmte sie singend die Treppe hinauf.
Sie eilte zur Großmutter hinein und küßte sie warm.
Großmutter sah sie erstaunt an. Sie war ja plötzlich gewachsen!
Ich soll von Doktor Holmsted grüßen!
Von meinem Arzt — von dem Prachtmenschen! Nun, wie finden Sie den?
Zum Glück öffnete in diesem Augenblick die Apothekerin die Tür und blieb
verlegen stehn.
Was hast du, liebe Jelde? fragte Großmutter.
Ich war so erschrocken, es stürmte jemand singend die Treppe hinauf, wer
kann das gewesen sein?
Ich! donnerte Großmutter, indem sie sich in voller Höhe ausrichtete; wer
sollte es sonst gewesen sein!
Frau Lönberg ging schnell die Treppe wieder hinunter.
Helene küßte Großmutter und lief in ihr Zimmer.
Kopenhagen, den 11. Juni^ ^ '
Wir freuen uns immer schrecklich, von dir zu hören; aber sei doch ein wenig
sparsam mit den Briefmarken. Wenn du uns nur einmal im Monat einen richtigen
Brief schreibst — du kannst ja für zehn Öre eine Unmenge Gramm schicken —.
dann kannst du uns ganz gut einmal die Woche eine Postkarte schicken. Dann
wissen wir, daß dn gesund bist, und daß es dir gut geht. Wir müssen eben
schrecklich sparen, und du auch. Mutter und Katrine, die ja nicht viel ausgehn,
können ja anziehn, was sie wollen, wenn es bloß heil und sauber ist; aber ich. die
ich in die Schule gehe und zu meinen Freundinnen komme, muß doch aussehen wie
ein Mensch. Zuhause sitze ich immer in was ganz altem. Ich führe die Wirtschafts¬
rechnung — ich habe ja Buchführung in der Schule gelernt —. Katrine kann gar
nichts. Erstens mengt sie immer große und kleine Buchstaben durcheinander: ergötzlich,
mitten in einem Wort steht ein großer Buchstabe wie eine lange Lehrerin in einer
von den untersten Mädchenklassen. Aber ganz arg ist es mit den Zahlen bestellt.
Wenn sie zusammenzählen soll, zählt sie die Einer und die Zehner zusammen.
Nein, jeden Abend schließe ich die Rechnung ab. und neulich habe ich eine Stunde
dabei gesessen, weil mir elf Ore fehlten. Aber endlich fand ich sie; sie waren für
Einöremarken'ausgegeben. — Mutter geht es sonst ganz gut; wenn sie bloß von
Vater reden kann, ist sie glücklich. Und Katrine redet früh und spät von ihm;
wenn sie nur einen Flecken auf dem Tischtuch sieht, sagt sie: „Das ist einer von
denen zu fünf Öre, wie der Herr zu sagen pflegte." Wir haben in der Klasse
einen Lesezirkel, in dem wir sehr billig alles neue bekommen können, wenn es alt
geworden ist. nachdem es erst bei den Lehrern und Lehrerinnen die Runde gemacht
hat. Und dann lese ich Mutter und Katrine vor. Mutter schläft manchmal ein,
wenn ich ihr vorlese, aber das tut Katrine nie. Sie kann zugleich stopfen und
zuhören. Aber nun habe ich Mutter dazu gekriegt, daß sie selbst liest, und dann
bitte ich sie, mir zu erzählen, was sie gelesen hat, und tue so, als wenn ich es
selbst nicht kennte. Und das, sagt Fräulein Mikkelsen, hält den Geist frisch; denn
ältre Leute können so leicht abstumpfen und vor der Zeit alt werden.
Wir sehnen uns sehr nach dir, aber wir finden doch, daß es am besten ist,
wenn du in den Sommerferien in Jütland bleibst.
Ich habe viel über deine Stellung als Lehrerin nachgedacht. Aber sage mir
doch einmal aufrichtig, Helene: hast du dir einen bestimmten Plan für den Unterricht
gemacht? ... So und so viel sollen die Kinder in einem Schuljahr lernen. . .
denn das ist ganz notwendig! Und sei ja nicht schwankend in bezug auf die Recht¬
schreibung. Weg mit allen überflüssigen Buchstaben!
Ich mache mir nichts daraus, so viel von der Umgegend zu hören; erzähle
mir etwas mehr von den Kindern. Anna habe ich schon ganz lieb; grüße sie
vielmals von nur. Du sagst auch nicht viel von deiner Prinzipalin, sorge doch
ja dafür, daß du dich gut mit ihr stellst.
Mutter bittet dich, Großmutter zu grüßen. Geh recht sparsam mit deinen
Kleidern um!
Es ist ja recht schön, daß Tante Frederikke da oben in Vcirmlcmd dich nie
vergißt. Sie hat dir wohl ein Rad und schöne Kleider geschenkt, aber es ist
doch gut, wenn man sich auf sich selbst verlassen kann. Und darum sagen wir
auch: wenn es dir möglich ist, so lege ja ein wenig von deinem Gehalt zurück.
Man kann nie wissen, wozu es gut ist.
Im Herbst soll ich ja nun konfirmiert werden. Ich liege oft des Nachts
wach und denke daran, was ich mit meinen kurzen Kleidern machen soll, denn man
bekommt fast nichts dafür, wenn man sie verkauft. Ich werde Wohl nicht imstande
sein, mir etwas neues zur Konfirmation zu kaufen, obwohl man rasend billig kaufen
kann. Gestern sah ich in einem Fenster in der Westbrückenstraße ein rosa Kattun¬
kleid — zu einem Spottpreis.
Ich las nämlich in einem Buch von einem jungen Mädchen, das sich bloß
verheiratete, um ihren alten Vater zu versorgen. Es kann wohl sein, daß ich ge¬
zwungen sein werde, mich früh zu verheiraten, wenn ich dadurch in die Lage versetzt
werde, Mutter und Katrine ins Haus zu nehmen. Die Liebe, die dazu gehört,
die kommt wohl, wenn es sonst ein braver Mann ist. Sprich aber um Gottes
willen mit niemand davon; jetzt muß ich ja auch erst konfirmiert werden. So, da
Pfeife die Fabrikpfeife! Adieu! ^ " " "
8. Jetzt haben wir Kaffee getrunken. Es war heute Kaffcemittag: Wasser¬
grütze als Vorgericht, und Kaffee und Weißbrot als Nachspeise. — Übe deine Schüler
ja tüchtig im mündlichen Wiedererzählen; das bildet sehr, sagt Fräulein Mikkelsen.
Helene saß noch mit Bettys Brief in der Hand da und lächelte über deren
frühe Ehe.
Sie war ganz in Träumereien versunken und merkte nicht, daß mehrmals an
die Tür geklopft wurde, die sich endlich unstät.
Lachend trat Nielsine ein.
Helene fuhr verwirrt in die Höhe.
Ich komme mit einer Einladung von meinen Eltern an dich. Ja eigentlich
von Vater. Er muß ja überall mit dabei sein. Und heute Abend soll ja in der
Stadt von ein paar Schauspielern aus der Hauptstadt Theater gespielt werden.
Billetts haben wir schon. Frau Lönberg hat ihre Erlaubnis gegeben. Und Vaters
Wagen fährt uns um fünf auf die Station. Du mußt dich recht fein machen;
aber darum brauche ich dich wohl eigentlich nicht zu bitte», denn dus bist du ja
immer. Du kommst also. Na, denn auf Wiedersehen!
Und sie eilte zum Zimmer hinaus, ehe Helene etwas sagen konnte.
Wer wohl außer ihr dort sein mochte? Ob Wohl —? Nun, das konnte ihr
ja einerlei sein.
Gegen fünf Uhr präsentierte sie sich Großmutter. Na, sagte diese, jetzt wollen
Sie nun den armen Provinzlöwen ans Leben?
Pah! sagte Desideria, die in der Tür erschien, von so einem Happen sterben
die doch nicht gleich!
Punkt fünf Uhr hielt Sörensens Equipage, ein flotter Jagdwagen mit zwei
Rappen, vor der Tür. Der Kutscher hatte eine funkelnagelneue Livree an.
Herr Sörensen verneigte sich tief vor Helene und sagte: Man hat ja prinzipiell
den Wunsch, mit der Kunst Schritt zu halten, und sie soll ja nicht ohne Talent
sein, diese Primadonna.
Wie kannst du bloß all die fremden Wörter behalten? sagte Frau Sörensen
kichernd.
Na, entgegnete Sörensen, man hat seinen Sohn doch nicht ganz für umsonst
auf der Lateinschule.
Nielsine schmetterte ein frisches Gelächter über die Gesellschaft.
Vou der Station fuhr man zweiter Klasse zur Stadt, wo der Sohn des Hauses
mit einem geschlossenen Wagen wartete, der die Gesellschaft zum Theater fuhr.
Dieses war von außen sehr stilvoll und von innen so flott und reich ausgestattet,
wie nur irgendein Theater der Hauptstadt.
Das Haus war ausverkauft. Die Vorstellung wurde nämlich von einer sehr
bekannten und beliebten Primadonna aus der Hauptstadt gegeben, die sich mit
einigen Kräften zweiten Ranges umgeben hatte, um den Provinzbewohnern einen
Begriff von der Bedeutung Sternes zu geben.
Sörensen hatte die vorderste Logenreihe auf dem Balkon links genommen;
die gräfliche Familie saß im ersten Parkett, und der junge Stammherr konnte die
Augen kaum von Helene losreißen. Der silberne Pfeil glänzte in dem dunkeln Haar,
und ein ausgeschnittnes weißes Kleid mit roten Schleifen kleidete sie entzückend.
Ihr gerade gegenüber saßen Naerums und Ludvigsens mit Fräulein Ipser.
Und auf der Galerie sah man die Gymnasialjugend gleich einem Ungeheuer, dessen
zahlreiche Köpfe über das Geländer herüberhingen."
Die Regimentsmusik spielte die Ouvertüre zum „Elfenhügel.
Auf einmal erblickte Helene im Hintergründe des Parketts Holmsteds Gestalt.
Er hatte sie offenbar noch nicht gesehen.
Jetzt entdeckte er sie plötzlich. Helene öffnete schnell ihren Fächer und setzte
ihn in heftige Bewegung.
Ja, es ist eine grasige Hitze hier, sagte Frau Sörensen.
Da erstarben die letzten Töne der Ouvertüre. Der Vorhang ging auf.
Die Primadonna trat auf, funkelnd von unechten Steinen, Goldflimmer,
Bändern und Seide, eine verblühte, aufgeschminkte Schönheit, die alle Segel aufgesetzt
hatte und sich fast bis an den Boden verneigte, begrüßt von brausendem Beifall
und mehreren Blumensträußen.
Mit schmachtender, affektierter Stimme bat sie das Publikum in einem kleinen
Prolog um Nachsicht — sie betrachtete es als alte Freunde; und sie endigte mit
den Worten:
Der Beifall wollte kein Ende nehmen, sie mußte wieder und wieder vortreten.
Als der Vorhang von neuem aufging, stellte die Bühne ein Boudoir vor,
worin die Primadonna und ihr Gatte, aliwechselnd gegen einen großen Kamin ge¬
lehnt, ein pikantes französisches Proverbe aufführten.
Er spielte fortwährend mit den weiblichen Zuschauerinnen, und sie mit den
männlichen Besuchern des Theaters. Ein Zusammenspiel, das zur Folge hatte, das;
das Stück einen großen Erfolg hatte.
Die nächste Nummer war eine Komposition von Beethoven, die ein bekannter
Klavierpauker aus der Hauptstadt spielte. Er trat in tadellosem Dreß ein, legte
seinen Chapeau elaque auf den hereingcrollteu Flügel, setzte sich, schlug ein paar
Akkorde an, machte eine kleine Pause, als sei er erstaunt, daß es wirklich ein Klavier
sei, griff dann mit aller Macht in die Tasten und hämmerte aus Leibeskräften
drauf los; bald warf er sich rechts, bald links. Dann spielte er mit den Händen
über kreuz, zwischendurch einmal mit der einen Hand allein, leise anschlagend, während
er von Zeit zu Zeit die Hände so hoch hob, daß man fürchtete, er würde die
Tasten nicht wieder treffen, dann ein Piano — ein Pianissimo — und zum Schluß
schlug er fast mit dem Kopf auf die Tasten — ein fürchterliches Getrommel!
Finale! Er sprang auf, verneigte sich, den Chapeau claqne ans Herz gepreßt. —
Ohrenbetäubender Beifall.
Kurze Pause vor offnem Vorhang.
Nach einer Weile wurde die Primadonna von dem Pianisten hereingeführt,
der sich an den Flügel setzte.
Sie hatte jetzt ein sehr kokettes Nvlokokostüm um: kurze Röcke, blaue seidne
Strümpfe, weiße Atlasschuhe mit blauen Schleifen, das Haar hoch frisiert, einen
Schäferhut mit Rosenkranz darauf und eiuen Hirtenstab in der Hand.
Und nun zwitscherte sie einige allerliebste Lieder a, ig. hol^vro, wie auf dem
Programm stand.
Namentlich das folgende fand starken Beifall:
z ^
Sie mußte das Lied äa, e^po singen, besonders der Refrain, bei dein sie
Guck guck mit den Herren spielte, fand großen Anklang.
Frau Sörensen und Nielsine, die nicht daran gewöhnt waren, Komödie zu
sehen, lachten ununterbrochen und sehr laut, namentlich während des französischen
Proverbes; bei dem Hirtenlied wurde es aber so arg, daß sie die Aufmerksamkeit
des Parketts auf sich zogen.
Pächter Sörensen kniff seine Frau in den Arm und flüsterte ihr zu: Bist du
verrückt, Bentine!
Jetzt wurde es aber vollends arg; der Sohn wurde angesteckt und lachte mit.
Schließlich zischte das Publikum zu dem Balkon hinauf und gebot Ruhe.
Während eines langen Zwischenaktes promenierte man im Foyer, wo man
alle Honoratioren der Stadt und der Umgegend sah.
Die Schüler der Lateinschule umstanden den jungen Sörensen im Kreise und
warfen bewundernde Blicke zu Helene hinüber, die von der gräflichen Familie an¬
geredet wurde, und mit der sich namentlich der Stammherr eifrig unterhielt, sehr
beneidet von seinen Kameraden.
Im letzten Augenblick tauchte Herr Sörensen mit Familie auf. Der Graf
verneigte sich vor Frau Sörensen und Nielsine und reichte dem Pächter die Finger¬
spitzen, während dieser murmelte: Ich habe die Ehre —
Da klingelte es.
Jetzt wurden Nielsine und die Mutter getrennt. Helene setzte sich zwischen
sie. Und der Vater nahm zwischen Mutter und Sohn Platz.
So verlief der Abend ohne weitere Störung.
Zum Schluß wurden mit recht guter Wirkung „Die Dänen in Paris" auf¬
geführt. Die Primadonna spielte die Juliette, und als sie mit besonders viel Aus¬
druck die Strophe sang:
traten Helene Tränen in die Augen.
Sie mußte an einen Sommertag denken, wo sie mit den Eltern und der
Schwester den Sund hinaufgefahren war, und sie erinnerte sich namentlich der
Freude des Vaters, die ihren Ausdruck darin gefunden hatte, daß er dieses Lied
vor sich hinsummte.
Sie sah zu Holmsted hinunter, der sein Opernglas offenbar auf ihre Loge
gerichtet hatte, ihm aber schnell eine andre Richtung gab.
Als der Vorhang siel, wurde die Primadonna mehrmals hervorgerufen, und
unter stürmischem Beifallsjubel nahm sie einen Lorveerkranz in Empfang.
Während Helene mit Sörensen die Treppe hinabging, begegneten sie im Ge¬
dränge Holmsted, der ihnen gerade in die Arme lief. Er konnte weder vorwärts
noch rückwärts. Da sagte denn Sörensen: Darf man die Herrschaften nicht mit¬
einander bekannt machen? Dies ist nämlich die Gouvernante bei Apothekers,
Fräulein Nörby, und das ist unser Doktor, Herr Holmsted.
Sie reichten sich lächelnd die Hand.
Es freut mich sehr, die Bekanntschaft des Herrn Doktors zu machen! sagte
Helene.
In diesem Augenblick standen, wie aus der Erde geschossen, Ncierums, Lnd-
vigsens und Fräulein Ipser vor ihnen.
Holmsted ließ Helenens Hand sinken, begrüßte die andern flüchtig und ver¬
schwand in der Menge.
Fräulein Ipser sah vou Helene, die dunkelrot geworden war, zu Fräulein
Naerum hinüber, die ganz blaß war.
Nach der Rückkehr saß Helene in Großmutters Zimmer; sie mußte von der Vor¬
stellung erzählen und von den Bekannten aus der Umgegend, die da gewesen waren.
Großmutter sah sie an und sagte schelmisch: Sie vergessen doch niemand?
Doch — der Provisor war auch da!
Na, den können Sie ruhig für sich behalten!
Da lief Helene lachend zur Tür hinaus.
(Fortsetzung folgt)
Die Gefechtsstellung, die ein Zentrumsorgan, die Kölnische
Volkszeitung, seit einiger Zeit gegenüber der Regierung eingenommen hat, ist in
der liberalen Presse hie und da als ein Anzeichen des bevorstehenden Links-
abmarsches des Zentrums behandelt worden, und man hat daran die Aufforderung
an die Negierung geknüpft, aus diesem Liuksabmarsch die Konsequenzen zu ziehn.
Es ist schwerlich zutreffend, in dem Verhalten der Kölnischen Volkszeitung, wie
überhaupt in dem Verhalten der Zentrumspresse, den Ausdruck für die fortan zu
gewärtigende parlamentarische Zentrumspolitik zu sehen. Die genannte Zettung hat
schon durch ihr Verhalten in der Polenfrage bewiesen, daß sie sich nicht in Reih
und Glied der Zentrumsstellnng, sondern mors liKinz zu bewegen liebt. Nun könnte
man annehmen, daß es sich dabei um ein Spiel mit verteilten Rollen handle, aber
sowohl neuerliche militärische Kritiken des Blattes, für die es sich besonders einen
alten Offizier zugelegt hat, als die Kritik der Kolonialverwaltung, der gegenüber
es sich in besondrer Schärfe gefällt, sind inhaltlich so unbedeutend und unhaltbar,
daß man darin unmöglich den Ausdruck des Verhaltens einer parlamentarischen
Partei finden kann, die die Absicht hätte, ihre bisher errungne und festgehaltne
Stellung zu behaupten. Im Gegenteil, es läßt sich annehmen, daß diese so wenig
begründeten Angriffe der Leitung einer Partei, die ans sich und ihre politische
Position hält, nur recht unbequem sein können und jedenfalls für die Voraus¬
sehung, daß es sich um einen neuen Linksabmarsch handle, keinen hinreichenden
Anhalt gewähren. Wir sagen ausdrücklich um einen neuen Linksabmarsch, denn
tatsächlich hat sich die Zentrumsfraktion von einer Legislaturperiode zur andern
durch die Abstoßung aller konservativ gerichteten Elemente und durch das stete An¬
wachsen des linken Flügels ohnehin mehr und mehr demokratisiert, teils dnrch ihren
bayrischen Zuwachs, teils durch die Rücksicht auf die Massen, um bei diesen durch
einen Zentrumsradikalismus der Sozialdemokratie gegenüber das Feld zu behaupte».
Allzulange wird diese Taktik nicht durchführbar sein. Das Zentrum wird sich ent¬
weder entschließen müssen, der Sozialdemokrntie gegenüber Farbe zu bekennen und
ihr die Aussicht, daß man sich an gewissen Punkten schließlich doch wieder zusammen¬
finden werde, gründlich nehmen, oder es wird nnr die Vorarbeit für die Sozial-
demokratte leisten und dann von dieser bei den Wahlen um so sichrer überrannt
werden. Ein drittes gibt es nicht mehr.
Unterliegt es schon jetzt Wohl kaum einem Zweifel, daß die Angriffe auf die
Koloninlverwaltung auf unzureichender, lückenhafter oder überhaupt völlig unrichtiger
Information beruhn, wenn nicht gnr ein persönliches Gepräge haben, so ist die
militärische Auseinandersetzung in der Kreuzzeitung mit dem rheinischen Zentrums¬
blatt um so bemerkenswerter. Es handelt sich um einen allerdings schon einige
Zeit zurückliegenden Artikel der Kölnischen Volkszeitung vom 3. September, der
das Thema von der Nervosität in der Armee zum Gegenstande hatte und
dabei u. a. die Frage auswarf: Ist tatsächlich schon wieder ein neues „japanisches"
Reglement unterwegs? Es war daran die weitere Frage geknüpft: Ist dies ziel¬
bewußtes Fortschreiten, oder ist es — nervöses Haschen nach einer Panazee im
Gefühl der eignen Unsicherheit? Auf das: Wer gibt Antwort? erwidert die Kreuz¬
zeitung: „Nein, es ist kein neues »japanisches« Reglement unterwegs. Dem deutschen
Heere ein japanisches Reglement zu geben, hätte keinen Sinn und keinen Zweck,
denn die japanische Armee wird im wesentlichen nach den deutschen Vorschriften
ausgebildet und hat ihnen zum guten Teil ihre glänzenden Siege zu verdanken."
Das ist allerdings eine allbekannte Tatsache, die in wiederholten Kundgebungen
japanischer Führer während des Krieges und jüngst erst in der Verleihung eines
hohen japanischen Ordens an den preußischen Generalmajor Meckel, den Organisator
und Jnstruktor des japanischen Heeres, ihren Ausdruck gefunden hat. Übrigens
ist es nicht nur die japanische Armee, die sich das deutsche Vorbild zum Muster
genommen hat, sondern es ist das auch bei den meisten europäischen Heeren der
Fall, und zwar gerade der Tatsache gegenüber, daß die Japaner nach deutscheu
Reglements gefochten und gesiegt haben, noch in erhöhtem Maße. Aber das deutsche
Heer ist bekanntlich noch gar nicht in der Lage gewesen, seine vorbildlich gewordnen
Reglements im Ernstfalle selbst zu erproben. Die Chinaexveditiou und die afri¬
kanischen Kolonialkämpfe können hierfür nicht in betracht kommen, obwohl das Ver¬
halten unsrer Truppen in China auf dem Marsch, im Gefecht, im Lager und in
der Garnison, der Vorpostendienst usw. Gegenstand des sorgfältigsten Studiums
der japanischen Offiziere gewesen ist, die mit ihnen in China gestanden haben.
Die Japaner dagegen haben in ihrem jetzigen Kriege, der länger als ein Jahr
gewährt hat, die Erfahrungen der Erprobung im Ernstfalle machen können, die
uns »och fehlt. Da ist es doch für die deutsche Armee von höchstem Interesse,
jene an der Hand der Praxis in einem großen und schweren Kriege gewonnenen
Erfahrungen zu studieren und zu prüfen, der sich so ziemlich auf alle Formen der
Kriegführung in Offensive und Defensive, Belagerungen, großen Schlachten und
kleinern Treffen, Seetransporten, Gebirgsmärschen schwierigster Art usw. ausgedehnt
hat. Unsre Reglements sind vor fast zwanzig Jahren, noch unter der Regierung
Kaiser Wilhelms des Ersten, bearbeitet worden, und besonders die Felddienstordnuug
hat seitdem nur die unabweislichen, auf Kriegserfahrungen oder auf den Fortschritten
der Technik beruhenden Abänderungen erfahren, obwohl eine Umarbeitung längst
in mancher Hinsicht nicht nur wünschenswert, sondern notwendig geworden wäre.
Die deutschen Offiziere, die die Felddienstordnung in das Japanische übertrugen
und dort eingeführt haben, haben manche kleine Schwächen an ihr gekannt und ini
Wortlaut der japanischen Vorschrift zu vermeiden gewußt. Die Kreuzzeitung hebt
in dieser Beziehung hervor: „Wer die deutsche und die japanische Felddienstordnuug
dergleiche, findet, daß die letztere kürzer ist und mehrfach an die Stelle genauer
Ausführungsregeln das Ermessen des Führers setzt." Auch unser Jufanterieexerzier-
reglement, das seine Entstehung ebenfalls der Anregung und Kriegserfahrung
Wilhelms des Ersten verdankt, hat nur an wenig Stellen eine unvermeidliche
Änderung erfahren, weil man es für wertvoller hielt, die Tradition zu wahren,
und in der Erkenntnis, daß grundlegende Ausbildungsvorschriften allzu häufige
Nbändcruugcn nicht vertragen. „In den letzten siebzehn Jahren, die nach dem
Artikel der Kölnischen Volkszeitung unter der Devise soroxm- kliqM novi gestanden
haben solle», ist weniger an den Reglements gemodelt worden als tu der ebenfalls
siebzehnjährigen Periode zwischen der Entstehung des alten Exerzierreglements von
1847 und dem Kriegsjahre 1864." Die Kreuzzeitung bespricht sodann auch dieselbe
Frage für die Kavallerie und die Artillerie und schließt: „In keiner europäischen
Armee ist so wenig experimentiert worden wie in der deutschen, in keiner andern
ist auf diesen Gebieten der Fortschritt so stetig, so bedachtsam und so gesund ge¬
wesen." In einem Punkte freilich gibt diese militärische Erwiderung dem Zentrums¬
blatt recht: in der Sorge um die wachsende Nervosität der Armee, die mit
Fug und Recht als eine der schlimmsten Folgen des öffentlichen Gerichts¬
verfahrens, durch den Mißbrauch der publizistischen und der parlamentarischen
Kritik, bezeichnet wird. Es wird sich vielleicht ein andrer Anlaß bieten, auf diesen
Punkt in den Grenzboten näher einzugehn. Für heute mag hier nur der Satz
hervorgehoben werden, daß in Zukunft weniger die Gehaltsfrage als die Sicherung
der moralischen Position und der Überzeugungstreue für die Wahl des Offizier¬
berufs maßgebend sein werden. In diesem Punkte stimmt die kriegsministerielle
Erwiderung mit dem Gewährsmann der Kölnischen Volkszeitung und wohl mit
jedem deutenden Freunde des Heeres überein. So wie bisher kann es nicht
weiter gehn.
Der Besuch der englischen Kanalflotte in der Ostsee, oder wenn man es beim
richtigen Namen nennen will: die Übungsfahrt — hat in der 1?rs,ne,<z Nilitg,iro
ein seltsames Echo geweckt in Gestalt einer militärischen Studie, die sich wie eine
praktische Anwendung der Delcasseschen französisch-englischen Bündnispläne liest.
Das interessanteste daran ist der Vorschlag an den englischen Verbündeten, an der
Westküste von Schleswig-Holstein ein Heer zu landen, damit auf Kiel zu marschieren,
das von der Landseite nicht befestigt sei, und die dort von der englischen Flotte
blockierten deutschen Schiffe wegzunehmen. Dann freilich gibt dieser Zeitungsstratege
dem Verbündeten den Rat, ja zuzusehen, daß das ausgeschiffte Heer schleunigst
wieder auf seine Transportschiffe komme und nicht etwa der heranrückenden deutschen
Übermacht in die Hände falle. Da von der Landung an der Westküste bis zur
Wegnahme von Kiel doch immerhin einige, von Unterbrechungen des Vormarsches
nicht ganz freie Zeit vergangen sein dürfte, so ist es für den deutschen Leser be¬
ruhigend, daß der Verfasser die Leistungen der französischen Armeen, die doch auch
irgendwo in Tätigkeit sein müssen, so gering anschlägt, daß Deutschland getrost eine
Übermacht bei Hamburg versammeln und von dort gegen die Engländer vorgehn
lassen kann, deren Hilfsmacht er selbst auf 100000 bis 200000 Mann bemißt.
Die „Erdrückung des herrlichen Deutschland" soll sich auf diese Weise wie die
„eines gewöhnlichen madagassischen Stammes" vollzieh». Der Erfinder dieses
Kriegsplcms verfügt jedenfalls über eine recht lebhafte Phantasie, hoffentlich nimmt
sich keine deutsche militärische Feder die Mühe, das um Illusionen so reiche Feld¬
herrngemüt über die Tatsachen aufzuklären. Das bleibt besser den Ereignissen selbst
vorbehalten.
Wir wollen dabei die Frage, ob die europäischen Mächte in den nächsten
Jahren keine dringendere Aufgaben haben werden, als sich untereinander zu be¬
kriegen, nur kurz streifen. Der Friede von Portsmouth und das englisch-japanische
Bündnis haben den Schwerpunkt der Politik wohl auf lange Zeit hinaus nach
Ostasien verlegt, auch ist nicht mehr anzunehmen, daß die Vereinigten Staaten von
Nordamerika irgendeinem Ereignisse, das ihre Interessen berührt, fremd bleiben
werden. Bei einem Kriege, der die deutschen Häfen sperren, Deutschlands Handel
und Schiffahrt schwer zu treffen bestimmt sein würde, sähe Amerika von dritter
Hand die vielfachen Berührungen zerschnitten, die es mit Deutschland und den
deutschen Häfen hat. Es mag dahingestellt bleiben, ob „die Großmacht der west¬
lichen Hemisphäre" das ohne weiteres zulassen würde. Hält England allein um
seiner kommerziellen Interessen willen einen Angriffskrieg für gerechtfertigt, so wird
es sich nicht wundern dürfen, wenn andre Mächte denselben Standpunkt einnehmen.
Der Verlust Kanadas ist für Großbritannien ohnehin nnr eine Frage der Zeit,
die Vereinigten Staaten werden es sich einverleiben, sobald sie den Zeitpunkt für
gekommen erachten. Darüber hat sich Präsident Roosevelt wiederholt mit hinläng-
licher Deutlichkeit ausgesprochen, und ein Krieg Englands gegen Dentschlnnd würde das
Herannahen dieses Zeitpunkts wahrscheinlich wesentlich beschleunigen. Zieht man
hierzu noch die deutsch-britischen Handelsinteressen in Betracht, so kommt man
— völlig abgesehen von der auch für die englische Übermacht zur See keineswegs
unbestrittnen Frage des militärischen Erfolges — zu dem Ergebnis, daß ein
Angriffskrieg gegen Deutschland sogar für ein in der Nord- und der Ostsee sieg¬
reiches Britannien eine recht kostspielige Sache werden könnte, die zweimal zu über¬
legen England allen Anlaß hat. In Asien hat sich England gegen russische Diver¬
sionen durch den Vertrag mit Japan gedeckt. Aber dieser Vertrag ist hente schon
eine zweischneidige Waffe. Er hat für Japan die Achillesferse der britischen Politik
und Weltmachtstellung urkundlich festgelegt, und die Japaner sind klug genug, schon
heute zu wissen, daß sie in diesem Vertrage der stärkere Teil sind.
Die Siege Japans über eine europäische Militärmacht, die Englaud weit
überlegen ist, haben auf die gesamte gelbe Nasse einen tiefen Eindruck gemacht, lind
die Inder beginnen das Haupt zu erheben, da sie die Überzeugung gewonnen
haben, daß die europäische Herrschaft für die Asiaten keineswegs unverwundbar ist.
England hat durch den Bündnisvertrag die Suprematie Japans in Ostasien tatsächlich
anerkannt und Indien nnter den japanischen Schutz gestellt, um zu verhüten, daß
Japan die Anziehungskraft seiner Siege noch intensiver auf die Gemüter der Inder
wirken lasse, oder deutlicher gesagt: um einem von Japan herbeigeführten und
unterstützten indischen Aufstände vorzubeugen. Japan ist auf dieses Verhältnis ein¬
gegangen, weil es zum Antritt seiner Führerrolle in Asien zunächst noch weiterer
Kräftigung nach der militärischen wie nach der finanziellen Seite hin bedarf, und
weil der jetzt beendete Krieg auch den Sieger erschöpft hat. Es ist das eine
Übergangszeit von wahrscheinlich nicht sehr langer Dauer, die wesentlich davon ab¬
hängen wird, wie Japan sich mit Nußland, Frankreich und Amerika, vor allem:
in und mit China einrichtet. Aber mit der Vollziehung dieses Bündnisvertrages
hat England über seine Suprematie in Asien quittiert und hat sie an Japan ab¬
getreten, auch wenn es den Schein der bisherigen Vorherrschaft mit Hilfe Japans
noch zehn oder zwanzig Jahre aufrecht erhalten sollte. Die japanische Diplomatie
müßte große Fehler machen, das japanische Volk sich weit weniger leistungs-
und entwicklungsfähig erweisen, als nach dem bisherigen Laufe der Dinge anzu¬
nehmen ist, wenn der Gang dieser Entwicklung ein andrer als der hier skizzierte
werden sollte. Ein Volk, das in einem Menschenalter einen so wunderbaren
Aufschwung genommen, mich wenn darin manches nicht wurzelecht sein mag, ist
zu großen Erwartungen für seine Zukunft berechtigt. Die Japaner haben von
ieber europäischen Nation angenommen, was sie glaubten brauchen und sich geistig
aneignen zu können; sie haben den Krieg mit Hilfe englischer Rückendeckung geführt
und haben sich diese Rückendeckung auch für die friedliche Entwicklung des nächsten
Jahrzehnts gesichert. Aber sie werden das Jahrzehnt von 1905 bis 1915 noch
auf nutzbarere Weise umwenden, als sie es mit dem Jahrzehnt 1895 bis 1905
getan haben, und die europäischen Nationen werden sich hundert Jahre nach dem
Wiener Kongreß vor ganz andre Fragen gestellt sehen, als heute noch die europäische
Diplomatie und Presse beschäftigen. Heute kann es noch eine ernsthafte Erörterung
zwischen Deutschland und Frankreich sein, ob die Konferenz wegen Marokkos in
Tanger oder auf spanischem Boden abgehalten werden soll, und Frankreich sieht es
als question as äiZuitö an, sich den schon halb verschlungnen marokkanischen Bissen
wenigstens nicht auf marokkanischen Boden wieder entwinden zu lassen. Zehn
^ahre später werden die großen europäischen Nationen vielleicht über Existenzfragen
Zu beraten haben, hinter die alle innern europäischen Streitigkeiten weit zurück¬
treten. Neue große seemächtige Nationen sind dann an den Ufern des Atlantischen und
des Stillen Ozeans herangewachsen, die meerbeherrschende Stellung Englands und
keiner Flotte wird damit mehr und mehr eingeengt. England kann sich dann nur
noch im Anschluß an Amerika oder an Japan behaupten. Es hat jetzt das Bündnis
mit 3apnn in der Sfteinuug aogefcljloffen, fid) baburd) bee japanifdje 2(rince als
£)ils§truppe angeeignet und dünn in (Suropn bee 9true frei Männer 51t haben,
totffi^ItdE) aber ist ©ngtanb felßft bannt öotttifct), K>irtfcf>aftticf) und mitttärtfdj £uf§*
truppe SapanS geworben, ©leidjbiel 06 mit Sfmerifa ober mit Supan im SSuitbe,
®in Urteile ber beutfdjen treffe über ben ^ßrcifibenten SXioofeDett
sind nodj oft fo falfdj, baß man fiel; erstaunt fragen eine§, 06 beim bee Herren
Sournoüften Wirrlid) ulei)t§ bessere§ ju tun fjaben, al§ bie SBegietjungen ber Union
5um S)eutfcl)en 5fecit)e, bie feit bieten ^ff)«11 nic§t fo rjerälid) geWefen sind Wie jejjt*
5U gefätjrben. <So bringt bie Sötnifctje IBoIfgjeitung in ü)rer 9er. 719 einen StrtiM
itjre§ Scewtjorter ßorrefponbenten, loorin dieser ganj dreist behauptet: „SSou ber
angeblichen SDeutfdjenfreunbfdiaft be§ 5prfifibentcn Ütoofetoett nisse er nid)t§, unb in
ber SKarotfofrage tjabe bie gorge amerifanifdje treffe einstimmig gegen ©eutfddanb
gartet ergriffen." ®§ ist bot) meljr at§ main, wenn fo mit ben £atfad)en um«
gesprungen wirb. £jut eg ber ^err beim ganj bergeffen, Welchen ©inbruef e§ l)ter
in üftewtjorf genad)t t)ot, al§ ber ^ßräfibent feine begeisterte !Rebe bei ber Gent«
Ijüöung ber griebridjftatue in SßofI)ington fjielt, unb baß damal§ bie gelbften
Singobtä'leer bem Sßräfibenteu beiftimmten, ber gefagt I;atte: ,,^d; übernehme bie
©laeue al§ ein ©innbitb ber Sßanbe ber grennb}d)äst unb ber Zuneigung, bie, wie
tetj fest Ijoffe, im ßaufe ber S^ore ba§ beittfctje unb ba§ amerifanifdje SSolE immer
enger berfnüpfen werben, gwifdjen ben beiden 9'cattonen befteljt 33Jut§üerwanbt=
sehnst. ...(£§ ist mein iunigeg ©edel, baß in 3ldunft diese beiden großen SSöÜer
ber ©rfüHung ihrer befonbem ©efdjide jufdjreiten mögen, aneinander geknüpft burt)
bie SSanbe ^erjtidjfter greunbfdjaft unb innigsten $3otjtwoEten§."
3ßa§ aber bie Stellung ber amerifanifeben Sßreffe in ber SRaroKoaffare an«
betrifft, fo fjaben fid) fast alte 93Iätter Bier einer strengen 3ieferbe befleißigt, unb
gegen bie beutfcfje Sßolitif Ijat fid) nur ber New York Herald gewandt. SStele
Stimmen sind aber für Seutfddanb taut geworben. Quin SSeifpiet äußerte fid) £>err
Sohn Sßerbtcari, ber bon 9intfuXi im SJiai 1904 gefangen gehalten worden war,
in ber lyultnummer ber Quarterly Review: And we take it, that, however incon-
venient either to M. Delcasse or to other French statesmen, or even to simple
residents in the Sultan's dominions, like the writer, such an incident as the
Emperor William's dramatic Intervention may have proved, yet it should be
realised that the sovereign who controls the German legions was fully justified
in aslring where he and his merchants were to come in undor this new process
of diplomatic legerdemain favored by M. Delcasse and by Lord Landsdowne, a
process which would seem to closely to resemble some of the most hackneyed
drinks of the professional conjurer, Performances which even childern of olementary
experience and understanding (!) might refert were they asked to aeeept them as
worthy of any serions attention; they are assured only of the fact that the mono-
poly-of-träte-concessions trink is evidently up the sleeve of one at least of the
genial Powers who so gcnerously agree to dispose of the property to which neither
possesses any legitimate right (!).
Sapienti sat.
WMM / Vesterreich-Ungarn hat seinen Ruf als Reich der Unwahrscheinlich-
keitcn wieder bewährt. Das Ministerium Fejervary, das seit
Monaten mit Wissen und Willen der Krone den Plan vorbereitet
hatte, die Macht der magyarischen Oligarchie durch eine Wahlreform
niederzuwerfen, fiel plötzlich, zwei Tage bevor es im ungarischen
Reichstage sein Programm entwickeln konnte. Aber noch mehr,
es fiel, ohne daß irgendein andrer Plan, wie die magyarische Opposition zu
brechen wäre, oder wie man sich mit ihr verstündigen könnte, vorhanden war.
Die Krone schien die Flagge schon zu streichen: die Führer der oppositionellen
Parteien des ungarischen Reichstags wurden in die Wiener Hofburg zum Kaiser
beschieden, und in der ungarischen Hauptstadt rechnete man schon damit, daß
in dieser Audienz ein Kompromiß angebahnt werde, der, wenn auch nicht der
Form nach, so doch in der Sache, die magyarisch-oppositionellen Forderungen
erfüllen werde; da trat wieder das Unerwartete ein: die Herren, die ans Buda¬
pest nach Wien gekommen waren, vernahmen aus dem Munde des Kaisers
nichts andres, als daß er fest entschlossen sei, auf seinem Standpunkt zu be¬
harren. Dieser rasche Szeneriewechsel deutet auf ganz außergewöhnliche Ver-
Hältnisse hin, die nur für die verständlich sind, die die Entwicklung der
ungarischen Krise genau verfolgt haben.
Der Punkt des Streites ist bekanntlich die Einführung der magyarischen
Kommandosprache bei den ungarländischen Regimentern und die Übertragung
der Majestätsrechte über den ungarischen Teil der Armee auf den ungarischen
Reichstag. Der Kaiser hat bisher allen darauf gerichteten Pressionen wider¬
standen, und wie aus seiner letzten Kundgebung hervorgeht, denkt er nicht
daran, nachzugeben. Aber dieser feste Wille trägt allein noch nicht die Bürg¬
schaft des Erfolgs in sich. Auch König Oskar von Schweden war fest ent¬
schlossen, in dem Streite mit Norwegen von dem, was er als im Interesse
seines Gesamtreichs notwendig erkannt hatte, uicht abzugehn. Als konsti¬
tutioneller Herrscher glaubte er sich jedoch auf den passiven Widerstand be¬
schränken zu müssen, bis eines schönen Tages das norwegische Storthing über
diesen Widerstand zur Tagesordnung hinwegging. Das war ein Ereignis,
dessen allgemeine Bedeutung noch immer unterschätzt wird.
Entthronungen sind auch früher vorgekommen, aber die Tatsache, daß sich
diesesmal ein so tiefer revolutionärer Eingriff ohne den üblichen Apparat eines
lärmenden Aufstandes vollzog, die Tatsache, daß man einen König seines Amtes
entsetzte, wie man sonst einen Gutsverwalter entläßt, und daß die europäische
Öffentlichkeit ohne aufzubrausen davou Akt nahm, diese Tatsachen bezeugen,
daß verbriefte Rechte allein nicht mehr den Bestand der Monarchien verbürgen,
sondern daß die persönliche Energie des Herrschers diese Rechte beständig ver-
leidigen, daß sie nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel wollen muß.
Gerade in diesem Punkte weist aber die ungarische Krise die bedenklichste
Analogie mit der norwegischen auf. Die Politik des Wiener Hofes in der
ungarischen Frage wird durch zwei Dinge bezeichnet: erstens durch die jahr¬
zehntelang fortgesetzten Fehlgriffe in der Wahl der Mittel, und sodann durch
die Scheu, die endlich als zweckmäßig erkannten Mittel anzuwenden. Es wäre
falsch, den Kaiser dafür verantwortlich zu machen. Es ist psychologisch ganz
begreiflich, daß ein Regent in so hohem Alter Bedenken trügt, zu außer¬
gewöhnlichen Maßnahmen zu greifen, und daß er auch in der verwickeltsten
Lage, sogar einer unerbittlichen Opposition gegenüber noch immer auf eine
friedliche Verständigung hofft. Die Schuld liegt wo anders, und man darf
die Augen nicht mehr davor verschließen, daß die Berater des Kaisers, die
politischen ebenso wie die militärischen, in der letzten Zeit vollständig versagt
haben und der Krone nicht eine Stütze gewesen sind, sondern im Gegenteil
sie auf der schiefen Bahn einer schwächlichen Kompromißpolitik mit sich ge¬
rissen haben. Wenn einmal die Akten über den Sturz des Ministeriums
Körber bekannt werden sollten, wird man vielleicht Aufklärung darüber er¬
halten, daß weit bis in das Jahr 1903 hinein die erfolgreichen Versuche einer
gewissen Hvfcliaue zurückreichen, den Kaiser in der auf ein festes Ziel ge¬
richteten Behandlung der ungarischen Frage schwankend zu macheu und die
eigne Ruhe und behagliche Existenz durch die Preisgebung des wichtigsten
Majestätsrechts an die magyarische Oligarchie zu erkaufen.
Das ungarische Problem war an sich ungemein einfach. In Ungarn
herrschte die Minorität einer Minorität. Eine kunstvolle Wahlform schloß die
Nichtmagyaren, also die Mehrheit der Bevölkerung an dem Genuß politischer
Rechte zum großen Teil aus, der Nest wurde durch brutale administrative
Künste und durch Wahlkvrruption großen Stils mundtot gemacht. So ent¬
stand die Fiktion des magyarischen Nationalstaats und der „ungarischen
Nation," als deren Vertreter sich die hochadlichen Familien und die Gentry
des Landes, diese verarmt, jeder wirklichen Arbeit entwöhnt und darum in
allen Organen korrumpiert, in die Herrschaft teilten. Die magyarische Nation
— das wird in der Regel übersehen — ist in ihrer politischen Entwicklung
über den Begriff der mittelalterlichen Adelsrepublik nicht hinausgekommen.
Unfähig, aus Ungarn einen modernen Staat zu machen, verurteilte sie das
Land zu einer parasitären Existenz, d. h. durch die Erweiterung ihrer poli¬
tischen Macht über die Krone und über die^ Monarchie verschaffte sie sich die
Möglichkeit der wirtschaftlichen Ausbeutung Österreichs und dadurch die Mittel,
Ungarn mit den äußerlichen Attributen eines modernen selbständigen Staats¬
wesens zu bekleiden. Daß das nnr äußere Formen waren, beweist die zu¬
nehmende Verelendung und Auswanderung des Landvolks. Das waren aller¬
dings bedenkliche Zeichen, die auch den Äudapester Machthabern nicht ver¬
borgen bleiben konnten, die sie aber insofern verkannten, als sie die Ursachen
dieser Erscheinungen in den letzten Schranken sahen, die die Majestütsrechte
und die Verträge mit Österreich der unumschrünkteu Herrschaft des Magyaren-
tums über Krone und Reich zogen. Das ist die Entstehung der ungarischen
Krise, und sowohl dynastische Rücksichten als anch europäische, die den Bestand
eines innerlich verfaulten und unfähigen Regiments wie das des magyarischen
Adels an der Donau nicht dulden, drängten dazu, die Herrschaft dieser Oligarchie
zu brechen. Als Mittel hierzu wurde der Krone von dem Kabinett Fejervary
die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts vorge¬
schlagen; den Nichtmagyaren sollten die Pforten des ungarischen Reichstags
geöffnet werden, statt der „Nation" sollten die Nationen die politische Ver¬
tretung stellen, und dadurch sollte das Magyarentum auf die Stellung des
xrimus wehr x.M8 zurückgedrängt werden, in der es schon durch die Rücksicht
auf die nationale Selbsterhaltung auf ein dauerndes Einvernehmen mit der
Krone angewiesen gewesen wäre.
Ein Plan, der gewiß der gründlichsten Erwägung bedürftig war. Die Ein¬
führung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in einem Lande, das durch eine jahr¬
zehntelange Mißwirtschaft für agrarrevolutionäre Ideen sehr empfänglich gemacht
worden war, hatte gewiß sein bedenkliches, aber einerseits hätte diese Reform
sehr wohl mit konservativen Garantien umgeben werden können (Bindung des
aktiven Wahlrechts an das zurückgelegte dreißigste Lebensjahr, fünfjährigeSeß-
haftigkeit und Wahlpflicht), andrerseits aber bot diese Reform das einzige Mittel,
der friedlichen Revolution des Parlaments auf friedlichem Wege Herr zu werden,
nachdem man bei Hofe Mittel der Gewalt schon längst abgelehnt hatte.
Jedenfalls hatte das Ministerium Fejervary durch seine Vorschlüge eine
Situation geschaffen, die den Ratgebern der Krone die Pflicht auferlegte, nach
bestem Wissen und Gewissen und ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Bedürf¬
nisse dem Kaiser zu raten. Wie klein, wie kleinlich haben sich aber diese
Männer in der Tat erwiesen. Zuerst bestimmte man den Kaiser, sich gegen
die Oktroyierung eines neuen Wahlgesetzes in Ungarn auszusprechen. Als ob
jemals dieselben Leute und Parteien ein Wahlgesetz zugestehn würden, durch
das eben ihre Herrschaft gebrochen werden soll! Aber nicht genug damit:
bald tauchte auch das Bedenken auf, daß die Einführung des allgemeinen
Wahlrechts in Ungarn dieselbe Reform auch in Osterreich unvermeidlich machen
würde. Mai: hatte freilich vergessen, daß Osterreich und Ungarn niemals das¬
selbe Wahlrecht gehabt hatten, und daß in Ungarn gar keine Bedenken laut
geworden waren, als in Osterreich das allgemeine Wahlrecht in der Form
einer vierten allgemeinen Kurie eingeführt worden war; aber alle Schrecken
der Revolution, mußten an die Wand gemalt werden, die Intervention des
Ministers des Äußern Grafen Goluchowski und des österreichischen Minister-
Präsidenten Freiherrn von Ganthas gegen den Plan des Kabinetts Fejervary
zu begründen, eine Intervention, die jedoch ausschließlich persönlichen Beweg¬
gründen entsprungen war.
Freiherr von Ganthas intervenierte, um den alten Parteien in Österreich
als Retter zu erscheinen und sie dadurch zu bewegen, alles, was immer mit
Ungarn abgemacht werden möchte, mit einem parlamentarischen Votum zu
decken und dadurch dem Ministerium Ganthas über den toten Punkt des un¬
garischen Ausgleichs hinwegzuhelfen. Graf Gvlnchowski kalkulierte ähnlich.
In Ungarn hatte man ihm längst seinen Sturz in der nächsten Delegations¬
tagung prophezeit, aber Graf Goluchowski hängt an seinem Amte, er, der der
Anwalt des Reichs, der Gemeinsamkeit von Amts wegen sein sollte, hat ja
alle die Gemeinsamkeit störenden Zugestündnisse an die Magyaren in den letzten
Jahren gebilligt, weil er in der großen Reichsfrage entweder keine eigne
Meinung hatte oder an sie nicht sein Amt setzen wollte. Graf Goluchowski
ist aber auch mit den Andrassys gut befreundet, und als nun die magyarische
Oligarchie durch das Gespenst des allgemeinen Wahlrechts plötzlich in Schrecken
gesetzt wurde, da glaubte Goluchowski den Augenblick gekommen, sich die Gunst
der Magyaren dadurch wieder zu erwerben und seine Stellung dadurch zu
sichern, daß er den Plan Fejervarys mit zu Falle brachte.
Nur Ruhe, Ruhe, keine Kämpfe, keine Störung im behaglichen gedanken¬
losen Hindämmern! So lange wir leben, hält der Staat noch aus, axrss
U0U8 is clvwAö. Das ist das politische Prinzip der Berater des Kaisers, der
militärischen wie der zivilem, und wenn der Kaiser vor den Magyaren in
der Armeefrage kapitulierte, so würde der Kriegsminister von Pittreich in
den Delegationen mit wahrer Befriedigung feststellen, daß nun endlich die
Quadratur des Zirkels gefunden und der unselige Streit zu einem für alle
ehrenvollen und das Ansehen und die Würde der Monarchie auf Menschen¬
alter hinaus festigenden Ende gekommen sei.
In einer solchen Umgebung, in der Mitte solcher Berater fand der greise
Kaiser keine Stütze, keinen Halt, und so ist die Situation zu erklären, in der
Dynastie und Reich sind. Was nun? Vergeblich mühte man sich ab, unter
den Vielen Möglichkeiten das Wahrscheinliche herauszufinden, denn nach dem
Vorangegangnen barg jede Lösung Konsequenzen in sich, die ganz unabsehbar
waren. — Nachdem die Krone es abgelehnt hatte, den Weg, den das Kabinett
Fejervary vorschlug, zu gehn, und zwar unter Umständen abgelehnt hatte, die
die Autorität der Krone ungeheuer schädigten, war eine Beilegung des Konflikts
in der Weise denkbar, daß entweder die Krone in der Armeefrage nachgab,
oder daß ein faules Kompromiß zustande kam, indem die magyarische Adels¬
und Advokatenclique ihre Armeeforderung zeitweise zurückstellte und ein Kabinett
bildete. In diesem Falle Hütte aber nur vou einer Vertagung gesprochen werden
können, denn sobald die magyarische Opposition im Besitze der Macht gewesen
wäre und sich an ihren Gebrauch gewöhnt gehabt hätte, würde sie nicht gesäumt
haben, unter den für sie weit günstigern Umstünden der Krone ein Ultimatum zu
stellen. Womöglich aber noch bedenklicher war eine andre Möglichkeit, von der
gesprochen wurde. Danach Hütte es unter dem gegenwärtigen Kaiser in der
Armeefrage beim alten bleiben sollen, wogegen sein Nachfolger verpflichtet worden
wäre, bei seiner Thronbesteigung die Oberhoheit des ungarischen Reichstags
über die ungarländischen Regimenter anzuerkennen. Damit wäre selbstver¬
ständlich dem ungarischen Reichstage das Recht der Entthronung des künftigen
Monarchen zugestanden worden, falls dieser sich dann geweigert Hütte, diese
Bedingung zu erfüllen.
Das vom Kaiser am 23. September den Führern der ungarischen Oppo¬
sition übergebne Programm, das in der entschiedensten Form die Aufrecht¬
erhaltung der Einheit,, des Reichs in bezug auf Armee und Diplomatie ver¬
kündet und auch jede Änderung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden
Reichshälften (gemeinsames Zollgebiet) von der Zustimmung des österreichischen
Reichsrath abhängig macht — diese mit dem Sturze Fejervarys nur schwer
in Einklang zu bringende kaiserliche Willenskundgebung scheint wiederum alle
diese Möglichkeiten auszuschließen. Es liegt ein Akt der Krone vor, an
dessen Ernst nicht gezweifelt werden kann; die Krone erklärt die magyarischen
Forderungen rundweg als unerfüllbar, ja noch mehr, sie legt diese Willens¬
meinung schriftlich vor aller Welt nieder, gewissermaßen als historisches Doku¬
ment, bestimmt, sie jeder Verantwortung für alles zu entheben, was kommen
würde, wenn die magyarische Opposition nicht mit einem Ja, sondern mit
einem Nein antwortete. Es ist, als ob zwischen dem Tage, an dem der Kaiser
die Demission des Kabinetts Fejervary annahm und den Vorschlag ablehnte,
die Macht der magyarischen Oligarchie durch eine Wahlreform zu brechen, und
dem 23. September Jahre lägen. Und doch sind es nur wenig Tage. Auf
welchem Wege Kaiser Franz Joseph vom Sturze des Ministeriums Fejervary
zu dem Entwurf und der Verkündigung seines Programms vom 23. September
gelangte, ist und wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Vielleicht hat
hierbei auch die Wandlung mitgewirkt, die sich in der öffentlichen Meinung
Österreichs in der letzten Zeit vollzogen hat. Die Umstände, unter denen das
Ministerium Fejervary seine Entlassung genommen hatte, und die damit eröffnete
Aussicht auf den Sieg der magyarischen Opposition hatten unter den Deutschen
Österreichs eine geradezu desperate Stimmung verursacht. Den Polen und den
Tschechen paßte die Schwächung der Autorität der Krone in den ungarischen
Händeln allerdings. Abgesehen von den gouvernementalen und den von alters
her mit der magyarischen Oligarchie und den mit ihr Verbündeten exotischen
Interessenten befreundeten Wiener Blättern nahm die gesamte deutsche Presse
Österreichs aufs entschiedenste gegen die neuste Wendung der Dinge Stellung,
und eine sich immer stärker äußernde Neigung des Ministerpräsidenten Freiherrn
von Ganthas, die Slawen zu begünstige», um mit ihrer Unterstützung die parla¬
mentarische Absolution für all das zu erhalten, was das Triumvirat Apponyi-
Kossuth-Andrassy über Österreich verhängen würde, nährte mächtig die oppo¬
sitionelle Strömung unter den Deutschen. Noch ließ sich die Situation, die
der Reichsrat am 26. d. M., an dem Tage, wo er sich wieder versammelt, vor-
finden würde, nicht voraussehen, aber man durfte nicht vergessen, daß spätestens
in sieben Monaten allgemeine Reichsratswahlen vorgenommen werden müssen,
ein Umstand, der die parlamentarischen Parteien von den Wühlern abhängiger
macht, und daß sich andrerseits die öffentliche Meinung schon in sehr radikaler
Weise zu klären begann. Die gegenwärtige dualistische Verfassung — so war
der Gedankengang — ist. wie die Erfahrung zeigt, unhaltbar, ebensowenig
könnte aber auch die Personalunion befriedigen, da die Ereignisse der letzten
zwei Jahre beweisen, daß jeder vertragsmäßige Zustand zwischen Osterreich und
Ungarn unter einem gemeinsamen Herrscher zum Nachteile Österreichs aus¬
gelegt und verfälscht würde. solle also der Bestand der Monarchie aufrecht¬
erhalten werden, so müßte durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
Ungarn die Macht der magyarischen Oligarchie gebrochen und dadurch die
Möglichkeit geschaffen werden, Ungarn zu Österreich in eine engere organische
Verbindung zu bringen, die in einer zentralen, von allen Volksstämmen be¬
schickten Reichsvertretnng ihren Ausdruck fände. Auf einem christlichsozialen
Parteitage hatte der Bürgermeister von Wien, Dr. Lueger, diese Leitsätze ver¬
kündet; sie waren nicht nur beachtenswert darin, was sie sagten, sondern auch
darin, was ungesagt blieb, weil sich gerade darin die pessimistische Anschauung
wegen der Möglichkeit des Fortbestehns der Monarchie ausdrückte.
Es ist möglich, daß diese und ähnliche Kundgebungen veranlaßten, daß
man bei Hofe erkannte, daß bei Fortsetzung der bisherigen schwankenden Politik
gegenüber Ungarn die Frage des vollständigen Zerfalls der Monarchie auch
in den loyalsten Schichten der Bevölkerung immer mehr Gegenstand praktisch¬
politischer Erwägungen werde. Sei dem jedoch, wie ihm wolle; auf jeden Fall
ist die Entwicklung der Krise an einem bedeutsamen Wendepunkt angelangt,
denn man kann doch unmöglich annehmen, daß der Kaiser mit solcher Ent¬
schiedenheit vor den Augen der ganzen Welt von den ungarischen Oppositions¬
führern ein jedes weitere Feilschen ausschließendes Ja oder Nein verlange,
ohne schon Entschließungen für den Fall einer ablehnenden Antwort gefaßt
zu haben. Daß der passive Widerstand, d. h. die Ausübung des verfassungs¬
mäßigen Vetorechts hierzu nicht ausreicht, haben die Ereignisse in Schweden
und Norwegen gezeigt, und wenn die Krone nicht die Fejervaryschen Vor¬
schlüge wieder aufnehmen will, bleibt ihr nichts andres übrig als ein abso¬
lutes Regiment, das jedoch mit seinen militärischen Steuerexekutionen und
zwangsweisen Rekrutenaushebungen doch nur von kurzer Dauer sein und zu
geordneten Verhältnissen nur wiederum durch eine Verfassungsänderung hinüber¬
führen könnte, die die Herrschaft der magyarischen Oligarchie ein für allemal
bräche und das Magyarentum zu einem Einvernehmen mit der Dynastie und
den Deutschen Österreichs zwünge. mit denen es doch das Interesse der Ver¬
teidigung gegen das Slawentum gemeinsam hat.
it der Berufung der Bruderschaft des Rauben Hauses in die Ge-
fcmgnenpflege an der Strafanstalt zu Moabit war wenigstens in
einer Anstalt der Monarchie ein Beamtenkörper geschaffen, der fühig
und von Herzen bereit war, die Pläne des Königs verwirklichen
---zu helfen. Nun aber erhob sich auch die alte Feindschaft gegen
das Einzelhaftsystem mit verjüngter Kraft und frischem Eifer, und eine Flut von
Verdächtigungen ergoß sich über Wieherns Haupt. Während man sich dochSM>
WM
MW
den Dienst der Bruderschaft des Rauben Hauses auf so vielen Gebieten der
sozialen Liebesarbeit gern gefallen ließ, befürchtete man von ihnen in der Ge-
fangnenpflege einen unerlaubten Gewissenszwang und die Züchtung einer heuch¬
lerischen Frömmigkeit. Man hätte es dem freien und abgeklärten Geiste Wieherns
wohl zutrauen dürfen, daß er für solche Dinge nicht zu haben wäre und auch
Einfluß genug Hütte, sein Werk lauter und gesund zu erhalten. Aber es war
eine leidenschaftliche Zeit, und die politische wie die religiöse Erhitzung, die nach
der andern Seite hin auch zu dem wunderlichen Vorwurf führte, Wiehern hätte
Christum verleugnet, erlaubten es nicht, ein unbefangnes Urteil zu gewinnen.
Jede Irrung und jede vereinzelte Taktlosigkeit wurde zu einem Beweis für die
Gefährlichkeit der Brüder gemacht, während es doch seltsam gewesen wäre, wenn
sich in dem Wirken der Brüder die Mängel der menschlichen Natur nirgendwo
offenbart hätten. Es hat keinen Zweck, den Spuren des Kampfes gegen die
Bruderschaft des Rauben Hauses weiter nachzugeben und die verjährten Anklage¬
schriften jetzt noch nachzuprüfen. Genug, daß es endlich gelang, die Bruder¬
schaft aus dem Gefüngnisdienst zu beseitigen, und daß das Abgeordnetenhaus
gegen den Widerspruch des Ministers, Grafen zu Eulenburg, und trotz dem
warmen Eintreten manches vornrteillosen Mannes den Beschluß faßte, den
Kontrakt mit dem Kuratorium des Rauben Hauses nicht wieder zu erneuern.
Wir werden heute sagen dürfen, daß dieser Beschluß eine unverdiente
Kränkung Wieherns war und ebenso eine unverdiente Kränkung der Bruder¬
schaft, die ihre Arbeit mit Hingebung, und wie jetzt wohl allgemein zugestanden
wird, mit Verständnis und im großen und ganzen mit besonderm Geschick ge¬
leistet hatte. Dennoch haben wir keine Veranlassung, diese Entscheidung als
ein Unglück zu beklagen. Der Brüder vom Rauben Hause warteten schon andre
Pflichten, in denen sie sich weiter bewähren konnten, und ohnehin hätte Wiehern
die Aufgabe, das gesamte preußische Aufsehcrpersonal auszubilden, gar nicht
leisten können, es hätte sich immer nur um geringe Bruchteile handeln können.
Aber es läßt sich nun auch wohl nicht leugnen, daß die Abneigung gegen die
Verwendung einer geschlossenen Bruderschaft in der Strafrechtspflege immerhin
auf Gründen ruht, die sich nicht ohne weiteres abweisen lassen. Es soll gar
nicht einmal davon gesprochen werden, daß die Verwendung einer solchen eng
verbundnen und zwiefach geleiteten Bruderschaft für die Verwaltung mancherlei
Schwierigkeiten zur Folge haben mußte, die nur so lange nicht zu wirklichen
Konflikten führten, als Wiehern die Fäden in der Hand hatte. Gewichtiger
erscheint mir die Befürchtung, daß eine ausgesprochen religiöse Körperschaft
leicht der Gefahr unterliegen könne, das Prinzip religiöser Erneuerung, worauf
sie ruht, in den Vordergrund ihres Interesses zu stellen, zum Nachteil eben
dieses Prinzips, und daß die Gefangnen leicht in ihren Aufsehern uniformierte
Missionare sehen und meinen könnten, die Religion sei ein Teil des Straf¬
vollzugs, der Strafvollzug ein Stück Religion. Eine Verquickung von religiöser
Seelenpflege mit der Vollziehung von Strafen hat immer etwas mißliches und
bedenkliches. Gewiß wird sich auch der in rein weltlichem Berufe stehende
Strafvollzugsbeamte zuzeiten gedrungen fühlen, ein ernstes religiöses Gespräch
zu führen. Er wird den Gefangnen zuzeiten in einer Stimmung finden, wo
er ihm nur dann etwas sein kann, wenn der tiefste Klang der Menschenseele
auch in ihm klingt, wenn er ein religiöser Mensch ist. Doch wird er mit dem
religiösen Wort vorsichtig umgehn müssen, es mit der zarten Scheu eines Mannes
anwenden, der solche Dinge nicht berufsmäßig, sondern nur etwa im engen
Familienkreise oder unter nahestehenden Menschen bespricht. Und sein Wort
wird dann um so tiefer wirken, je deutlicher der Gefangne fühlt: jetzt redet
nicht der Beamte zum Gefangnen, sondern der Mensch zum Menschen, der
Christ zum Christen. Das Kapitel der Pflege religiösen Lebens ist eins der
schwierigsten Kapitel, wie des Buches vom Menschenleben überhaupt, so be¬
sonders auch des Buchs vom gefangnen Menschen. Auch die kirchliche Gefangnen-
Pflege wird erst dann ihren vollen Segen entfalten, wenn sie von dem Gefangnen
als eine Lebensäußerung der außerhalb des Strafvollzugs stehenden Kirche und
Gemeinde aufgefaßt wird.
Es steht nun allerdings fest, daß Wiehern ganz und gar nicht daran
dachte, seine Aufseher zu Missionaren zu machen, er wünschte nur, daß sie Per¬
sonen von festem religiösem Halt seien, im übrigen aber sollten sie, sowie sie
soldatische oder vielmehr obrigkeitliche Kleidung trugen, auch eine soldatische und
obrigkeitliche Haltung haben. Der Strafanstaltsdienst ist ein obrigkeitlicher
Dienst, so sagt er, und er kann nicht im Frack und auch wohl nicht in der
Kutte geschehen, sondern muß als Strafanstaltsdienst in militärischer Haltung
ausgeführt werden.
Ist Wieherns Schöpfung an dieser Stelle zusammengebrochen, so ist sein
Wirken dennoch auch hier nicht vergeblich gewesen. Er hat in den Strafvollzug
einen neuen Geist getragen und eine neue Anschauung von der schweren und
ernsten Aufgabe, die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe stellt. Und er hat auf
dem allerdings kleinen, aber weithin sichtbaren Versuchsfelde der Strafanstalt
in Moabit in vorbildlicher Weise gezeigt, was geleistet werden muß, und was
geleistet werden kann.
Die starken Anregungen, die Wiehern dem Gefängniswesen gegeben hat,
sind zunächst in der Verwaltung, der er selbst angehörte, der des Ministeriums
des Innern, wirksam geworden. Das Einzelhaftsystem nach den Richtlinien,
die König Friedrich Wilhelm der Vierte gezogen hatte, so weit als möglich
durchzuführen, haben sich seine Nachfolger in der Gefängnisleitung vielfach unter
den Hemmnissen ungünstiger politischer und finanzieller Verhältnisse zum festen
Ziele gemacht, und die Weiterführung des Gefäugniswesens und sein Anpassen
an die Aufgaben der neuen Zeiten ist im wesentlichen ein Ausführen des gro߬
artigen königlichen Programms gewesen, das die Gefängnisreform in Preußen
in Gang gebracht hat.") Die Ausbreitung der Wichernschen Gedanken über
das gesamte preußische Gefängniswesen hin hinderte dagegen der bekannte
Dualismus in der Leitung der preußischen Gefängnisverwaltung, den Wiehern
als einen der größten Mängel der bisherigen Gefängniseinrichtung bezeichnet.
Er hat sich über diese neuerdings wieder eifrig erörterte Angelegenheit ebenfalls
in einem ausführlichen Gutachten geäußert, und es wird von Interesse sein, die
Ansicht dieses klugen und erfahrnen Mannes zu hören. Er sagt: „Der erste
wesentlichste Schritt, der in dieser Beziehung zu tun sein wird, wäre die Be¬
seitigung des durch die Ressorts von zwei Ministerien, denen des Innern und
der Justiz, etablierten Dualismus und die Unterstellung der gesamten Gefängnis-
Verwaltung unter eines dieser beiden Ministerien. Wie die Sachen in Preußen
liegen, kann es kaum einem Zweifel unterworfen sein, daß das Ministerium des
Innern, dem die zur Fortführung der Aufgaben unerlässigen Verwaltungs¬
organe zur Verfügung stehn, und das bereits seit Jahrzehnten auf diesem Wege
vorgegangen ist, mit dieser Übernahme betraut werde, allerdings mit Wahrung
aller der von der Justiz in Beziehung auf die Untersuchungsgcfangnen speziell
geltend zu machenden Interessen."
Der maßgebende Gedanke bei dieser Entscheidung war, wie sich das bei
Wiehern von selbst versteht, natürlich nicht der Wunsch, den Machtbereich seines
Ressorts zu erweitern, er betrachtete die Frage vielmehr rein mit Rücksicht auf
die zu leistende Arbeit. Und nach allem, was er gesehen, gehört und erlebt
hatte, konnte es ihm allerdings nicht zweifelhaft sein, daß die Fortführung des
Werkes in dem Sinne und mit den Zielen, wie sie vor seiner Seele standen, am
meisten unter der Verwaltung des Innern, zu deren Ressort ohnehin das große
Gebiet der Präventive gehört, gesichert sein würde. Endlich ging jedoch sein
Rat dahin, auch in dem Ministerium des Innern eine gesonderte Abteilung
für das Gefüngniswcsen zu errichten. In dieser dezentralisierten Verwaltung
sollten dann die Oberpräsidenten mit selbständigen Verwaltungsbefugnissen aus¬
gestattet werden und teilweise an die Stelle der Ministerialinstanz treten, ihnen
aber sollten wieder für jede Provinz ein dezernierender Rat und fachmännisch
geschulte Gefängnisdirektoren von hoher sozialer und wissenschaftlicher Bildung
zur Seite stehn.
Ganz besonders tritt in dem vierten Bande der Wichcrnschen Schriften die
vierte große Aufgabe hervor, die Wiehern unter dem Druck seiner Gefängnis-
erfcchrungen zu leisten übernommen hatte, die Aufgabe, die Kirche lebendig zu
machen, in ihr die Erkenntnis schmerzlicher Versäumnisse zu wecken und sie zur
Übernahme lang vernachlässigter Pflichten zu drängen. Als er seine große
Rede auf dem Kirchentage zu Bremen hielt, war er gerade von seiner ersten
Gefängnisreise durch das Rheinland und Westfalen zurückgekehrt, und die tiefen
Eindrücke, die er empfangen hatte, die dunkeln Bilder, die an seinem Auge
vorübergegangen waren, strömten nun in diese Rede und machten sie zu einem
gewaltigen Appell an das Gewissen der menschlichen Gesellschaft und vor allem
der Kirche, die den Auftrag erhalten hat, die Sünder zur Buße zu rufen und
ihnen die Tore zu Gott wieder auszuschließen. Eine wundersame Frische liegt
auch jetzt noch über dieser Rede. Niemals wird Wiehern weichlich und rühr-
sam, nirgends läßt er sich verleiten, das, was er gesehen und was ihn tief er¬
schüttert hatte, mit den Augen des bloßen Gefühls anzusehen. Wer diese Rede
wie auch das andre, was Wiehern geschrieben hat, durchliest, der hat jederzeit
das Bewußtsein, von einer klaren, nüchternen, ihres Ziels gewissen Persönlich¬
keit geführt zu werden.
Ausgehend von dem Worte Christi: Ich bin gefangen gewesen, und ihr
seid zu mir gekommen, umschreibt er in dieser Rede den ganzen Horizont dessen,
was Pflicht der Kirche und der Gemeinde an den Gefangnen ist. Das Ge¬
denken der Gebundnen im Gemeindegottesdienst, das Aufsuchen der Gefangnen,
der Trost der Familien, die Fürsorge für die Entlassener und ihre Wieder¬
aufnahme in die Gemeinde, die Gründung von Schutzvereinen und Zufluchts¬
stätten, ja auch die Übernahme der Polizeiaufsicht und ihre Ausführung in
anderm als polizeilichem Geiste, dies alles wird ausgeführt und in wuchtigen
Worten ans Herz der Kirche gelegt. Man muß diese Rede lesen, so wird man
ihren mächtigen Eindruck ahnen. Sie ist auch insofern des Lesens würdig, als
sie mit ihrer Forderung auch heute noch zu Recht besteht. Wohl ist die Teil¬
nahme der Kirche und der Gemeinde an der Gefangnen- und Entlassenenpflege
seit Wieherns Auftreten bedeutend gewachsen; wie weit sind wir aber noch
immer davon entfernt, daß die Pflicht der Kirche an den Gefangnen, so wie
es Wiehern forderte, allenthalben wirklich als eine heilige Pflicht erkannt und
diese Erkenntnis praktisch betätigt werde? Wieherns merkwürdige Begrenzung
des Strafzwecks auf die Aufgabe der Gerechtigkeit und Vergeltung wird ver¬
ständlich, wenn man sich seine ständige Voraussetzung vorhält, einmal, daß
der Strafvollzug nach sittlichen Grundsätzen aufgebaut sei, und weiter, daß
der aus der Strafe zurückkehrende Mensch, der die Gewalt der strafenden Ge¬
rechtigkeit erfahren hat, nun auch die Kraft der Liebe an sich erführe, einer
rettenden Liebe, die, wie sie ihn schon während seiner Gefangenschaft besucht,
ermahnt und getröstet hat, ihn nun auch wieder bei sich aufnimmt und ihm
zur Wiederherstellung seiner bürgerlichen und kirchlichen Existenz ihre Hilfe leiht.
Ein drittes Gebiet, aus dem sich Wiehern unvergängliche Verdienste er¬
worben hat, das der Pflege der verwahrlosten und gefährdeten Jugend, tritt
in diesem Bande seiner Schriften allerdings weniger zutage, es darf aber in
dieser Würdigung Wieherns nicht übergangen werden. Das Problem der jugend¬
lichen Verbrecher, das uns jetzt so schweres Kopfzerbrechen verursacht, war zu
seiner Zeit noch nicht so brennend, wie es jetzt geworden ist. Doch hat er
sich über die unglückliche Lage der jugendlichen Gefangnen, die er bei seinen
Gefängnisreisen in der Mitte einer ergrauten Verbrechergesellschaft vorfand, mit
großer Sorge geäußert. Daß die strafrechtliche Behandlung der „Jugendlichen"
eine wesentlich erzieherische Aufgabe stelle, konnte für ihn nicht weiter zweifelhaft
sein, wenn ihn auch seine Auffassung von der Strafe als eines Aktes der Ge¬
rechtigkeit wohl abgehalten haben wird, wie es heute geschieht, die Forderung auf¬
zustellen, daß die Strafe dieser Jugendlichen durch staatliche Erziehung zu ersetzen
sei. Doch fängt zu seinen Zeiten und sicher nicht ohne seine Einwirkung eine neue
Entwicklung der Gesetzgebung an, deren vorläufiger Endpunkt das neue Für¬
sorgeerziehungsgesetz ist. Und hier war es König Friedrich Wilhelm der Vierte
wieder, der der neuen Zeit die Bahn frei machte, indem er in der Kabinetts¬
order vom 2. Dezember 1846 bestimmte, daß wo geeignete Erziehungsanstalten
für verwahrloste Jugendliche bestünden, einzelne jugendliche Verbrecher mit jedes¬
maliger Genehmigung des Justizministers unterzubringen seien und demnächst,
je nachdem der Versuch ohne Erfolg geblieben oder Besserung erreicht worden
Wäre, entweder die Vollstreckung der Strafe zu verfügen oder wegen Begna¬
digung allerhöchsten Orts zu berichten sei. Diese Order ist, wie Dr. Krohne
in der Einleitung seines bekannten Buchs von den Erziehungsanstalten*) hervor¬
hebt, der erste Schritt zum Ersatz der Freiheitsstrafe durch staatlich überwachte
Erziehung. Das neue Fürsorgeerziehungsgesetz ist seinerzeit als eine Großtat
der sozialen Gesetzgebung bezeichnet worden. Der Segen dieses Gesetzes wird
auch sicher und um so mehr offenbar werden, je besser wir es versteh», es
anzuwenden. Dieses ganze Gesetz mit seinen gewaltigen Voraussetzungen schwebte
aber in der Luft, müßten die Anstalten, deren es zu seiner Ausführung bedarf,
jetzt erst aus der Erde gestampft werden. Hier aber wird die gesegnete Arbeit
Wieherns sichtbar, ohne die das Fürsorgeerziehungsgesetz wohl überhaupt nicht
Hütte kommen können, und wir ernten nun von dem, was er einst gesäet hat,
wohnen in Häusern, die er gebaut oder zu deren Gründung er angeregt hat,
und arbeiten mit Kräften, die aus seiner Schule hervorgegangen sind. Ich
kann es mir nicht versagen, die schönen Worte warmer Bewunderung anzu¬
führen, die Dr. Krohue Wiehern, seinem Vorgänger im Amte, in dem erwähnten
Buche widmet: „Wiehern, Rauhes Haus und Jugendfürsorge sind für alle
Zeiten untrennbar miteinander verknüpft. Lebensströme sind von hier aus¬
gegangen, die die Teilnahme an der Arbeit für die gefährdete Jugend in allen
Kreisen, unter Regierenden und Regierten, unter Hoch und Niedrig, ohne
Unterschied der Konfession und Religion gefördert haben, wie er, der treue
evangelische Christ, keinen Anstand genommen hat, mit Katholiken und Juden,
mit kirchenfreundlichen und kirchenfeindlichen Elementen auf diesem Arbeitsfelde
zusammenzuarbeiten."
Es tut wohl, in allem, was Wiehern sagt, auch dem ernstesten und be¬
denkenschwersten, immer den Ton fröhlicher Zuversicht und unverzagten Muts
durchklingen zu hören, und es ist dies besonders in unsern Tagen erquicklich,
wo die Gefangnenfrage jetzt anscheinend fast nur noch eine bedrückte und ver¬
zagte Stimmung zu erzeugen vermag. So hat soeben Heinrich Neuß in den
Preußischen Jahrbüchern die Frage zu beantworten versucht, ob die staatlichen
Freiheitsstrafen erziehn können, und auch er gelangt, wie die meisten, die über
das Gefüngniswesen schreiben, zu negativen Ergebnissen. Es ist ihm der Straf¬
vollzug nichts andres mehr als eine Technik, die zerstörenden und vernichtenden
Wirkungen des Strafrechts auszuführen, und von alledem, was man jemals
in der Strafe zu erreichen meinte, bleibt ihm nur noch der Trost, daß sie die
abschreckt, die nie mit der staatlichen Gewalt in Berührung kommen. „Wenn
einem etwas gestohlen ist, so denkt er nicht zunächst daran, den Dieb zu er¬
ziehen, sondern er eilt zur Polizei, um den Dieb zu fassen. In der Empfindung
des Bestohlnen ist nur der Gedanke vorherrschend: Ich will meine Sachen
wieder haben, wenn es möglich ist; für den Schreck aber, den ich durch den
Verlust erlitten habe, soll mir der Staat Genugtuung leisten mit der Bestrafung
des Diebs. So ist alle Bestrafung schließlich immer nur eine Neubelebung
des Gedankens der Rache. Es lebt eben in jedem das Bewußtsein, daß der
Staat, wenn er bestraft, zerstört und vernichtet, und jeder, der auf Bestrafung
irgendeines Mitmenschen dringt, ist von dem Gedanken beseelt, daß Strafe eine
absolute Notwendigkeit ist, und daß das alte tMouis doch noch lange nicht
das schlechteste Recht gewesen ist."
Es mag sein, daß jemand im Augenblicke, wo ihm ein Unrecht angetan
worden ist, von solchen Gedanken beherrscht wird. Immerhin gibt es zahlreiche
Fülle, wo sich jemand gezwungen sieht, auf die Bestrafung eines Mitmenschen
zu drängen, ohne dabei auch nur im geringsten unter dem Rachegefühl zu stehn
oder nach dem jus tAliouis zu dürsten. Und zugegeben, daß das Verlangen,
Vergeltung zu üben, der erste und nächste Gedanke eines in seinen Rechten ge¬
kränkten Menschen sei, so ist es sicher nicht der letzte und höchste Gedanke, und
keinesfalls können wir wünschen, daß ihn sich der Staat zu eigen mache. Das
Ms wliouis ist in menschlicher Hand wirklich ein sehr schlechtes Recht, es lockt
in das dickste Unrecht hinein. Schopenhauer sagt: Vergeltung des Bösen ohne
weitere Absicht ist weder moralisch noch sonst durch einen vernünftigen Grund
zu rechtfertigen, und das ^jus wliouis, als selbständiges letztes Prinzip des
Strafrechts auf sich gestellt, ist siunleer. Schopenhauer hielt sich bekanntlich
an den Abschreckuugsgedanken, wie dieser denn die letzte Zuflucht aller derer
zu sein pflegt, die den Vergeltnngsgedanken verwerfen, aber auch den Erziehungs¬
gedanken aus irgendwelchen Gründen ablehnen zu müssen glauben. Wie dünn
das Bäumchen ist, an das sich die Hand, der alles entschwindet, zuletzt noch
klammert, das ist in den Grenzboten des öftern, so zum Beispiel von Jentsch,
gezeigt worden.
Wiehern würde, wie ich glaube, die Fragestellung: Können die staatlichen
Freiheitsstrafen erziehen? abgelehnt haben. So lebendig gerade in ihm der
Erziehungsgedanke gewirkt hat, die Aufgabe des Strafvollzugs beschränkte er
dennoch auf die einfache Vorschrift, den Richterspruch gerecht auszuführen. Die
Strafanstalt war ihm keine Erziehungsanstalt, sondern eine Strafanstalt, aller¬
dings aber forderte er, daß die lebensvollen Beziehungen des Volks und der
Kirche zu ihren gefangnen Gliedern nicht zerstört, und daß die vom Richter¬
spruch nicht betroffnen Güter des Gefangnen, auch seine ethischen Interessen,
respektiert würden. Wenn Reuß in seinem Aufsatze sagt, es sei eine Sache der
Natürlichkeit, daß man den Strafvollzug immer vernünftiger, sachlicher, zweck¬
mäßiger ausgestalte, so ist das auch unsre Meinung. Die Bedeutung dieses
Satzes bleibt aber freilich solange ungewiß, als wir nicht sicher wissen, welchem
Zwecke gemäß der Strafvollzug ausgestaltet werden soll. Vom Standpunkte
der Vergeltungslehre wird man vieles für unzweckmäßig halten, was uns am
Herzen liegt, und wir wiederum werden manches für zwecklos, ja zweckwidrig
ansehen, was dem ^us wliouis auf den Leib angemessen ist. Vernünftig aber
nennen wir den Strafvollzug, wenn er sich mit dem, was er erstrebt, an den
Menschen als vernunftbegabtes und vernünftigen Vorstellungen zugängliches
Wesen wendet, mit andern Worten, wenn er erziehend gerichtet ist. So sehr
man in der Theorie dagegen ankämpfen mag, in der Wirklichkeit tritt kein
rechter und ganzer Mensch vor einen gefangnen Mitmenschen, ohne das Ver¬
langen zu haben, ihm ein gutes, verständiges, ermahnendes oder ermutigendes
Wort zu sagen und ihn also erziehend zu beeinflussen. So wird, was uns
allen im Blute steckt, auch dem Staate, dem die Sorge um die allgemeine
Wohlfahrt anvertraut ist, wohl einstehn, und wenn er, wie es in dem Aufsatz
heißt, da ein sittliches Recht hat zu erziehn, wo er seine Glieder fördern, heben,
veredeln, wirtschaftlich wertvoller und sozial unabhängiger machen kann, wo
hätte er eine stärkere Veranlassung, dieses Recht auszuüben, als der Mehrzahl
der Gefangnen gegenüber? Ganz seltsam aber mutet der Gedanke an, daß
man, wäre die Strafe in der Hand des Staates ein erziehendes Mittel, ja die
Probe darauf machen könne, indem man jeden Staatsbürger einmal ins Ge¬
fängnis schicke. Auch wer den Wert der in der Strafzeit einem Gefangnen
zugewandten erziehenden Einflüsse sehr überschätzen sollte, wird immerhin die
Strafe als einen schweren und gefährlichen Eingriff in ein Menschenleben an¬
sehen und ihn jedem gern erspart sehen. Bei aller Bewunderung der Chirurgie
werden wir doch keinem wünschen, die Probe der Kunst am eignen Leibe zu
machen. Sollte er aber einmal in einen Zustand kommen, daß er davon Ge¬
brauch machen muß, so ist ihm zu wünschen, daß er in die vorsichtige Hand
eines Arztes kommen möchte, der sich mit der Technik des Verwnndens auch
die des Heilens angeeignet hat. Und wenn einer das Unglück haben sollte,
an seiner Freiheit gestraft zu werden, so ist er in jedem Fall am besten auf¬
gehoben, wenn er in eine Anstalt kommt, in der man sich, so gut man es ver¬
steht, darum bemüht, die Strafe erziehend zu vollziehn.
Daß es nicht auf eine pädagogische Quälerei abgesehen ist, erhellt ans
dem früher gesagten genugsam. Und der Erfolg davon, sagt Wiehern, steht
nicht in unsern Händen, sondern in der Hand dessen, der die Gerechtigkeit allein
segnen kann. Man muß an diese eigentlich selbstverständlichen Worte erinnern,
weil der angebliche Mißerfolg der Ausgangspunkt aller Erörterungen über den
Strafvollzug ist. Dieser Mißerfolg aber wird durch die Tabellen der Kriminal¬
statistik bewiesen, und vor den Zahlen sinken wir alle in die Knie. Auch in
einem soeben erschienenen Buche des ehemaligen Strafanstaltsgeistlichen Kmuß
kommt dieses Verzagen vor den Zahlen zum Ausdruck. Krauß unterwirft sich
ihnen freilich nicht gänzlich, ihm ist die Arbeit der Strafanstaltsbeamten doch
nicht ganz wirkungslos, aber sie steht ihm in keinem günstigen Verhältnis zu
den dargebrachten Opfern an Kraft, Zeit und Geld. Er richtet deshalb seinen
Blick auf die Verbrechensprophylaxe, in der er mit Recht die wichtigste Waffe
gegen das verbrecherische Wesen erkannt hat. Wenn aber in einem großen,
klugen, auf reicher Erfahrung ruhenden Buche, das den Kampf gegen die Ver-
brechensursacheu behandelt, das im Strafvollzug geleistete und zu leistende
vollkommen unter den Tisch fällt, so muß es den Anschein gewinnen, als ob
anch Krauß für wertlos hielte, woran Wiehern und viele vor und nach ihm
den besten Teil ihrer Lebenskraft gesetzt haben. Das Bild, das uns die
Statistik vor die Augen malt, ist gewiß nicht erfreulich, aber vermöchten uns
die Zahlen die Fruchtlosigkeit aller unsrer Anstrengungen zu erweisen, so würden
sie uns gleicherweise auch die Fruchtlosigkeit und das Überflüssige der mannig¬
faltigen Anstrengungen von Schule und Kirche, aus deren Händen die Gefangnen
kommen, erweisen können. Nun kann uns die Statistik wohl sagen, was aus
einem Menschen geworden ist, der in ihren Tabellen erscheint und wieder er¬
scheint, sie kann uns aber nicht sagen, was aus ihm geworden wäre, wenn er
nach einem begangnen Verbrechen keine Strafe erlitten Hütte. Sie kann uns
die Rückfälligen vorzählen, aber über die innern Ursachen ihres erneuten mora¬
lischen Zusammenbruchs kann sie uns nicht aufklären, und ihre Wandlungen
kann sie uns nicht aufdecken. Auch der Gefangne selbst, wenn er von sich be¬
richtet, ist keineswegs imstande, über sich und seine Eindrücke das letzte Wort
zu sprechen. So werden wir, da auf diesem Gebiet alles problematisch ist und
bleibt, am besten tun, wenn wir daran festhalten, daß nichts, was pflichtmäßig
und aus gutem Herzen getan ist, umsonst geschehen ist. Wir wissen jedoch
nicht nur von scheinbaren oder offenbaren Mißerfolgen zu berichten, oder von
ungewissen Ergebnissen und von Spuren, die sich im Nebel verlieren, sondern
wir kennen Menschen, die in der ernsten Strafzeit wieder gesunden, die gerade
damals gelernt haben, neuen Zielen nachzugehn, und die dabei auch geblieben
sind. Die friedsame Frucht der Gerechtigkeit, von der das Neue Testament
redet, reift auch heute noch im Dunkel der Leiden, und nicht alle Gefangne
empfinden es als eine wunderbare Zumutung, wenn gute Worte und Ein¬
wirkungen sie zur Umkehr bewegen sollen. Zweifellos ist es vernünftiger und
lohnender, das Verbrechen zu verhüten, als es zu strafen, der Krankheit vor¬
zubeugen, als sie zu behandeln, und nach dieser Seite hin haben wir im letzten
Jahrhundert vieles gelernt und können noch viel mehr lernen. Früher führte
man den Kampf gegen die Tuberkulose hauptsächlich durch die Behandlung
des erkrankten Menschen selbst, während man jetzt vor allem durch das Mittel
der Volkshygiene der Ausbreitung dieser verheerenden Krankheit entgegenzu¬
wirken strebt. Darum wird mau aber das, was an dem Kranken selbst ge¬
schieht, und wäre es ein hoffnungslos Kranker, nicht für überflüssig und fruchtlos
erklären. Und wenn die unheimliche Krankheit aller Anstrengungen spottete,
so dürfte uns das doch nicht mutlos machen, sondern müßte uns um so mehr
anspornen, jedes Mittel, dem Unheil zu steuern, tunlich anzuwenden, neue
Mittel zu versuchen und die alten nicht zu vernachlässigen. Nicht anders ergeht
es uns mit dem Verbrechen, dessen Ausbreitung man ja gern dem Umsichgreifen
einer Seuche vergleicht. Lernen wir alle Mittel gegen dies Übel suchen und
sachgemäß anwenden. Dazu gehört aber auch das Mittel der Strafe, das wir
nun einmal, solange es ein Gesetz und Gesetzesübertretungen gibt, nicht ent¬
behren werden können. Lernen wir es immer besser, die Freiheitsstrafe, wo
sie angewandt werden muß, sachgemäß zu vollziehn, mit allem Ernst, aber auch
mit der gläubigen Liebe, mit der Wiehern einst der Gefcmgnenwelt gegenüber¬
getreten ist.
Das Strafwesen hat seit Wieherns Tagen mannigfache Veränderungen
erlebt. Vieles, was bei ihm in weiter Ferne lag, ist über seine Erwartung
hinaus erreicht worden, ohne daß damit die Entwicklung zum Ziele gekommen
wäre. Denn die großen sozialen und politischen Umwälzungen, die Umgestaltung
der Erwerbs- und Lebensverhältnisse, die bestündige Zunahme der Bevölkerung
führen wie zu immer neuen Reibungsflächen auch immerfort zu neuen Aufgaben.
Dazu hat das Studium der Psychologie des Verbrechers und der Ursachen des
Verbrechens manche Punkte in der Behandlung der Gefangnen hervorgehoben,
die vor Wieherns Augen noch im Dunkel lagen oder minder bedeutend er¬
schienen. Aber in allen hauptsächlichen Fragen hat er klar gesehen und klare
Wege gezeigt. Ist sein Name sogar vielen, die im Gefängniswesen stehn, fast
verklungen, so steht seine hohe Bedeutung doch außer aller Frage, und der
neuerschienene Band seiner Schriften möge dazu dienen, sie wieder in ein Helles
Licht zu rücken. Wir bauen allenthalben mit Steinen, an denen der Meißel¬
schlag seiner Meisterhand zu finden ist, und wohin wir schauen, sehen wir die
Frucht seiner Arbeit, leben wir Leben von seinem Leben und spüren Geist von
seinem Geist. Es sind in der Tat von ihm Lebensströme ausgegangen, und
über der ganzen Arbeit zur Stillung und Heilung des sittlichen und des sozialen
Elends hören wir den Glockenton ans seiner tiefen Seele.
ir haben schon des großen Kolonialbesitzes Erwähnung getan, der
seit dem Herabsinken Hollands von einer Seemacht ersten Ranges
wohl geschmälert, aber immerhin noch so bedeutend ist, daß das
Land in dieser Beziehung, seine geringfügige Stammbevölkerung
in Rücksicht genommen, in der Welt an zweiter Stelle steht. Java
allein, nur eine, freilich die am stärksten bevölkerte der Großen Sundainseln, hat
eine Bevölkerung, die fünfmal so groß ist als die des Mutterlandes, und ist die
Trägerin von ergiebigen Kulturen, unter denen Zucker, Tabak, Kaffee, Chinin,
Tee gegenwärtig voranstehn. Ein Teil dieser Kulturen war zu der Zeit der
Ostindischen Kompagnie und noch lange nachher Staatsunternehmung, wozu
die Eingebornen unentgeltlich Frondienste zu verrichten hatten. Auf diese
Weise gelangten bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts große Einkünfte in
die Staatskasse des kleinen Mutterlandes. Aber auch seit durch die konsequente
Anwendung liberaler Regierungsgrundsütze die großen Härten dieser Art ge¬
mildert waren, blieb Java und wurde später Sumatra mit seinen vorzüglichen
Tabakfeldern und Petroleumquellen eine reich fließende Quelle privatwirtschaft¬
licher, manchmal äußerst lukrativer Unternehmungen. Weiter mußten die
Kolonien natürlich verwaltet werden, und dazu wcireu militärische und zivile
Beamte nötig, denen bei den Gefahren, die ein tropisches Klima für die weiße
und nicht zum wenigsten für die germanische Rasse birgt, hohe Gehalte und früh¬
zeitige Pensionen bewilligt werden mußten. Dies alles war eine Quelle des
Reichtums für die gebildeten Stände, während die niedrigen Stände wenig
daran teilnahmen, da sich des heißen Klimas wegen keine der Kolonien zum
Auswanderungsland eignete. Die weißen Bewohner von Java und von Sumatra
kehren nach zwanzig, dreißig Jahren in das Mutterland zurück, ja sie lassen
meist die Kinder dort erziehn, da sich diese Kolonien, einige hochliegende Land¬
schaften abgerechnet, die wieder dem geistigen Leben zu wenig bieten, nicht zum
dauernden Aufenthalt von Europäern eignen.
Diese Verhältnisse, die nun schon ins dritte Jahrhundert dauern, haben
auf die sozialen Zustände Hollands großen Einfluß gehabt, und das Land
hat dadurch gleichsam einen tropischen Beigeschmack erhalten, den jeder fühlt,
der von Deutschland oder von Belgien aus in dieses eintritt, und der auch in den
einseitigen Darstellungen des Heinischen Schnabelowopsli oder des Jmmer-
mannschen Mttnchhansen als vorherrschendes Gewürz empfunden wird. Es ist
nicht der Reichtum des Landes allein, der freilich zu Aufang des vorigen
Jahrhunderts, auf die Bevölkerungscinheit gerechnet, den von England noch
übertraf, sondern die Verteilung in der Weise, daß der Arbeiter daran ver¬
hältnismäßig sehr wenig teilnehmen konnte. Dazu einfache puritanische Lebens¬
gewohnheiten, sodaß sich der Wohlstand mehr in der stattlichen Einrichtung
der Häuser, in schönem Tafelgerät, prächtigen Gurten zeigte, und dann in einer
oft wahrhaft großartigen Wohltätigkeit.
In den gebildeten Ständen gab es und gibt es auch heute noch eigentlich
keine Armen. Es gibt kein Gelehrten- und kaum ein Kunstproletariat. Der
Verarmte verwendet sein Letztes darauf, daß er die Söhne für irgendein lukra¬
tives indisches Amt studieren läßt. Der in der Schule zurückbleibende aber
mit Wagemut und Unternehmungslust erfüllte geht in die überseeischen Kulturen;
vielleicht erliegt er den tropischen Krankheiten, wo nicht, so kehrt er nach
zwanzig Jahren wieder als Selfmademan in doiÜ8. In diesen Stünden fühlt
sich jeder als Mitbesitzer des Nationalvermögens, und das trügt wieder bei zur
Festigung der Persönlichkeit.
Aber der koloniale Besitz hat auch seine Nachteile. Außer der geringen
Quote der Losverbesserung, die davon für die untern Stände abzufallen Pflegt,
ein Punkt, auf den ich noch eingehn werde, ist hier zunächst der Lockerung der
guten Sitte zu gedenken, die eine Folge der Berührung junger unverheirateter
Kolonial- und Plautagenbeamter mit malaiischen Frauen ist, die zu der weißen
Nasse wie zu Halbgöttern emporheben. Überhaupt sind die zurückgekehrten alten
Jndier, die jahrzehntelang nur ein dein Verdienst und zwischendrein einem
banausischen Genuß gewidmetes Leben geführt haben, aus denen durch die
Wirkung eines erschlaffenden Klimas die große Lebensenergie, die sie Wohl
ehedem auszeichnete, langsam gewichen ist, der Ausstrahlungspuukt eines wenig
anregenden, oft beinahe lethargischen Daseins, und hierauf zumal beziehn sich
die Schilderungen witziger Ausländer von der typischen Langeweile Hollands,
die in farbigen Tulpenbeeteu, einem Geflügelhof und einem äußerst eintönigen
und wenig geschmackvollen Luxus sein Genügen finde.
Vor allem aber erhält die Gesellschaft durch diese kolonialen Beziehungen
entschieden einen kapitalistischen Beigeschmack, wie denn sogar die passive Wahl¬
berechtigung zur ersten Kammer geradezu auf die Höchftbesteuerten beschränkt
ist. Plutolratisch noch mehr als demokratisch kann man also noch immer die
bestehende Regierungsform nennen. Daß unter diesen Umstünden, bei schlechten
Arbeitslöhnen die Sozialdemokratie noch keine größern Fortschritte gemacht hat,
als bis jetzt zu verzeichnen sind, ist allein dem Umstände zuzuschreiben, daß
zen Lande wegen des Mangels an Grundstoffen eine eigentlich große Industrie
fehlt. Das konnte aber nicht verhindern, daß endlich auch in Holland zwar
später als in den benachbarten Industrieländern aber mit großer Energie und
der zwingenden logischen Eloquenz, die dem Niederländer eigentümlich ist, die
Sozialdemokratie Fuß faßte, auch in der zweiten Kammer, dieser hauptsächlich
den Staat regierenden Körperschaft. Bei der (mit den liberalen Auffassungen
harmonierenden) geringen Polizeigewalt gelang es sogar der Partei, bei der
studierenden Jugend einen Einfluß zu gewinnen, der vielleicht nur in Rußland
in der Verbreitung des Nihilismus eine Parallele hat, und jedenfalls ist der
Sozialismus heute eine politische Macht, mit der die holländische Zukunft
rechnen muß.
Der Handarbeiter ist in Holland ebenso wie in dem benachbarten Belgien
entschieden schlecht bezahlt, so schlecht, daß heute ein Auswanderungsstrom in
umgekehrter Richtung wie noch vor zwei Jahrzehnten zu konstatieren ist nach
dem früher seiner Armut wegen verachteten Westfalen und den angrenzenden
preußischen Provinzen. Früher ging der deutsche Arbeiter nach dem holländischen
Friesland, angezogen durch die damals sogenannten hohen Erntelöhne, und
erhielt bei dieser Gelegenheit von den Arbeitgebern, die sich etwas auf ihre
Reinlichkeit zugute taten, den Namen von '„Mohs," d-. h.'' ans gut deutsch
„Stinker." Heute hat sich, da sich jeder Hochmut rächt, die Sache umgedreht,
und der Holländer, etwas lahm und ungewandt für höher qualifizierte Arbeit,
geht als Ziegelbrenner oder Bergarbeiter in die deutschen Jndustriebezirke des
Niederrheins und erschwert dadurch eine lukrative Landwirtschaft, die schon
ohnehin durch das Fehlen aller Zölle auf ihre Produkte große Schädigungen
erlitten hat. Der landwirtschaftliche Unternehmer aber kann nnter diesen Um¬
ständen keine höhern Löhne bezahlen, und so leidet das ganze Gewerbe, das
ehemals in Holland in so hoher Blüte stand, daß kostbares Geschmeide und echte
Spitzen zu den ersten Lebensbedürfnissen der Frauen und Töchter der Bauern
gerechnet wurden. Natürlich gibt diese Wendung Anlaß zu großer Unzufrieden¬
heit, und man öffnet neuen Theorien der Güterverteilung, die Besserung ver¬
heißen, beide Ohren.
Die, großartige Wohltätigkeit der gutsituierter Holländer, deren ich er¬
wähnt habe, vermag die Kluft zwischen Reich und Arm natürlich nicht zu über¬
brücken. Hierzu ist wohl keinerlei Wohltätigkeit imstande, weil auch bei der
besten Organisation das Almosen meist doch zuerst den unverschämtest heischenden
erreicht, und die so vor dem Untergang geschützten Existenzen meist nicht die
sind, die für wirtschaftlich produktiv gelten können und nur bei der Verteilung
des Arbeitsprodukts schlecht weggekommen waren. Diese große Kluft wird aber
uoch vertieft durch das schlechte oder wenigstens unwirtliche Klima, infolge¬
dessen der Arme beinahe das ganze Jahr zwischen seinen trostlosen vier Wänden
eingesperrt bleibt, wo ihm jede Berührung mit Bessersituierten, alles an¬
regende Straßenleben und jeder kleine Nebenverdienst unmöglich gemacht ist,
während in einem südlichen Lande die Armut bei geringern Leibesbedürfnisfen
und einer milden Natur, die dem dürftigen wenigstens Kastanien oder Beeren
aus dem Walde spendet, lange nicht so drückend ist. Daß die Unzufriedenheit
der Enterbten nicht noch größer ist, daran ist nur die große Geduld des nieder¬
deutschen Charakters Ursache und die geringe intellektuelle Entwicklung der
untern Stände, die selber wieder eine Folge der großen Unterschiede in den
Glücksumständen ist.
Trotz der guten intellektuellen Begabung ist deshalb die Unwissenheit und
die Roheit in den untern Ständen größer als im benachbarten Deutschland
und viel größer als in Süddeutschland und in der Schweiz, wo ein besseres
Klima die Menschen mehr im Freien duldet, wo Hoch und Niedrig vielfach mit¬
einander in Berührung kommen. Dies wirkt nivellierend auf Bildung und
Umgangs formen, sodaß dort auf der einen Seite die feinere Höflichkeit der
bessern Gesellschaft leicht vermißt wird, dagegen Dienstboten und andre geringe
Leute auf einer viel höhern Stufe stehn.
Die geschilderten Umstände machen, daß in Holland die höhern Klassen,
soweit ihnen das Herz nicht geöffnet ist für das Wohl der tieferstehenden, meist
recht zufrieden sind mit den heimischen Zuständen. Auch der nicht begüterte
Gebildete hat durch den Besitz der Kolonien eine viel größere Aussicht auf
gute Karriere, sei es in diesen Kolonien selber, sei es im Mutterlande, das durch
den Abzug von so vielen dort situierten ein Debouche für das Angebot von
Arbeitskräften findet, und partizipiert so an dem Besitz, daß er sich dadurch
als ein Miteigentümer, als geborner Kapitalist fühlt und von vornherein an
das Leben größere Ansprüche stellt. Deshalb auch hier wieder ganz andre
Verhältnisse als in Deutschland. Keinem noch so wohlhabenden Vater fällt
es in Holland ein, seinen Sohn zu einer Karriere zu veranlassen, wo dieser,
wie dies zum Beispiel im Forstfache in Preußen der Fall ist, erst Ende der
Dreißig eine feste Stellung findet, die ihn erhält. Darum bekommt auch die sich
verheiratende Tochter in Holland häufig keine oder doch nur eine Aussteuer an
Leinengut und dergleichen mit. da es der junge Mann der bessern Stände
leichter zu einer schon in der Jugend einträglichen Position bringt und Möbel
und Hausrat eher selber beschaffen kann. Dagegen versteht es aber auch der
junge Holländer wieder viel schlechter, sich eine Weile krumm zu legen, um
den Eintritt in eine später gute Aussichten gewährende Laufbahn endlich zu
erreichen.
Diese Dinge stehn natürlich in nahem Zusammenhang mit der Frage nach
der politischen Zukunft Hollands.
Der Zug der Zeit begünstigt die Bildung von Großstaaten, und deshalb
richtet man sein Auge unter anderm anch auf Holland und prophezeit seinen An¬
schluß an oder die Annexion durch Deutschland, und gerade aus diesem Grnnde
ist der Vergleich mit deutschen Zuständen so besonders interessant und von mir
überall in den Vordergrund gerückt worden. Propheten in dieser Richtung
finden sich nicht allein unter den chauvinistischen Elementen des mit der Rolle
des vermutlichen Eroberers betrauten Staates. Man lauert auch in Frankreich
und England mit dem Instinkte der Eifersucht auf verdächtige Symptome der
Politischen Annäherung beider Länder, was doch beweist, daß man die Ver-
einigung für möglich hält. Und auch in Holland selber finden sich viele
Stimmen, die eine solche, ich sage nicht, hoffen oder wünschen, aber doch mit
der Zeit für wahrscheinlich halten und anfangen, sich mit dem Gedanken daran
zu versöhnen. So viel ist in jedem Falle gewiß, kein andrer Großstaat als
Deutschland kommt für diese etwaige Annexion in Betracht. England, das
Inselreich, kann kein Gebiet auf dem europäischen Kontinent erwerben, ohne
mit seiner ganzen Vergangenheit in Widerspruch zu geraten, Frankreich mit
seiner geringen Volksvermehrung ist nicht expansiv genug, auch haben die
romanischen Nationen überhaupt in dieser Richtung vorläufig abgewirtschaftet.
Dagegen ist Deutschland für dieses offenbar ein gefährlicher Nachbar, Deutschland
mit seiner starken Zunahme, das schon lange die angrenzenden Länder mit
seiner Überbevölkerung überströmte, und endlich politisch stark geworden, auch
seine Expansion als Staat gegenüber Dänemark und Frankreich durchgesetzt
hat, Deutschland, das wie die andern großen germanischen Nationen unersättlich
in seinem Erwerbssinn, aber zu spät zur Erkenntnis seiner politischen Kraft
erwacht ist und die überseeische Welt verteilt gefunden hat und nun nicht bloß von
der Eifersucht der Lüsternheit nach den überreichlicher Kolonien Hollands geziehen
wird. Dazu kommt die geringe Skrupellosigkeit, die Preußen im Jahre 186S
scheinbar gezeigthat bei der Annexion der deutschen Nachbarstaaten; diese wird
als ein böses Omen angesehen, daß dieses Land von Blut' und Eisen, das das
starke Rückgrat des geeinigten Deutschlands geworden ist, auch zu gelegner
Stunde wenig Federlesens mit dem reichsten Brocken machen würde, der sich
seinem schwer zu stillender Hunger jemals darbieten könnte. Daher die Unruhe
in dem kleinen und im Gegensatz zur Schweiz wenig wehrhaften Lande nach
dem glücklichen Feldzug im Jahre 1870, beide man den umgekehrten Ausgang
mit schadenfroher Zuversicht vorausgesagt hatte; daher die projektierte Kriegs¬
erklärung des damaligen Königs gegen Deutschland, die freilich die umgekehrte
Folge, als die beabsichtigte, gehabt haben würde, und die deshalb von dem
maßgebenden Staatsmann Thorbecke, der Deutschland besser kannte, noch zur
guten Stunde unterdrückt wurde. Und in den Kreisen der wenig urteils¬
fähigen Menge wurde diese Unruhe gelegentlich vermehrt durch das Auftreten¬
schwadronierender Handlungsreisender aus Berlin, die den Kaffeehausgästen
in Amsterdam, so oft sie es hören wollten, erzählten, daß nun nächstens
die Reihe an Holland kommen würde. Die Menge bildet sich ja leicht ein
Urteil aus der eignen beschränkten Erfahrung, und mancher Holländer aus dem
niedern Bürgerstande hat in seinem Leben keine andern Deutschen gesehen als
diese zwar nützliche aber doch in politischer Hinsicht wenig maßgebende Be¬
völkerungsklasse.
Schon aus dem gesagten, worin viel mehr von Befürchtungen als von
Hoffnungen die Rede war, geht hervor, daß im allgemeinen in Holland keine
so besonders große Hinneigung zu Deutschland zu verspüren ist. Auch dies ist
natürlich ein Umstand, mit dem bei der Beurteilung der aufgeworfnen Frage
gerechnet werden muß. In der Tat ist Deutschland nicht gerade in Holland
beliebt trotz der nahen Stammesverwandtschaft und trotz hoher Anerkennung
der deutschen Kunst, namentlich der Musik, der klassischen Literatur und der.
deutschen Wissenschaft.
Es gibt verschiedne Gründe für diese Abneigung. Einesteils fürchtet mau
den strengen Polizeistaat, der der verhätschelten individuellen Freiheit ein jähes
Ende zu bereiten droht, und der in tendenziös gefärbten Zeitungsartikeln dem
viel lesenden Publikum als ein wahres Barbarentum dargestellt wird. Dann
ist es der überall eindringende sehr viel biegsamere, weltgewandte deutsche
Handel, der dem bequemern Holländer das Brot vor dem Munde wegzunehmen
droht. Endlich ist ja auch nicht zu leugnen, daß manche Eigenschaften der
Deutschen, wie ja keine Nation ohne Fehler ist, mit gutem Rechte von den
westlichen Nationen getadelt werden. Man darf eben nie vergessen, daß die
Kultur doch eigentlich aus dem Westen kommt, und daß sich Deutschland weit
nach Osten erstreckt, dort ohne Zweifel eine Kulturmission zu vollzieh» hatte
und vollzogen hat, aber bei alledem gerade aus dem Osten slawische Elemente
in sich aufnahm, die nach dem großen Kulturrückschlag infolge des Dreißig¬
jährigen Krieges das Tempo weiterer Zivilisation etwas verlangsamten. So
klebt dem Deutschen trotz seiner vorzüglichen intellektuellen Schulung noch allerlei
an, was nicht bloß den Franzosen und den Engländer, was auch den derbern
Holländer geniert. Es sind dies Manieren beim Essen und Trinken, wie zum
Beispiel das namentlich im östlichen Deutschland noch so verbreitete „mit dem
Messer essen," das in Süddeutschland so verbreitete Essen auf der Straße, auf
dem Bureau, das Essen überall, das übermäßige Trinken ohne entsprechende zu¬
vorkommende Gastlichkeit. Aber auch tiefergehende Gebräuche und Gewohnheiten,
wie zum Beispiel das renommistische Aufstellen von hundertfältiger Denkmälern
aus der eignen noch etwas kurzen Ruhmesgeschichte, die prnukhaftc und nicht
immer geschmackvolle Verzierung von Baulichkeiten nach kaum erlangtem Wohl¬
stand, und dann last not Issst die Stellung der Frau in der Familie, die
nach dem einstimmigen Urteil der Westeuropäer in Deutschland eine dem Manne
Zu sehr untergeordnete ist, während doch gerade deren höhere Stellung auch von
deutscher Seite als ein Kriterium wahrer Bildung erachtet wird.
Einsichtige wissen nun zwar, daß diese Unterordnung, die die Frau in
Bürgerkreisen leicht zur Köchin und Aufwürterin des Mannes erniedrigt, durchaus
nicht im germanischen Geiste liegt. Man erinnere sich, um dem beizupflichten,
nnr, was Tacitus seinerzeit über diesen Gegenstand der staunenden Römerwelt
verkündigte. Man kann in bezug auf diesen Gegenstand wohl Treitschke bei¬
pflichten, der geradezu rühmend hervorhebt, daß es die arbeitsame deutsche
Frau gewesen ist, die es während der allgemeinen Verarmung durch ihre An¬
spruchslosigkeit, durch ihr „Dienen" im besten Sinne des Worts zwei Jahr¬
hunderte lang dem Manne ermöglicht hat, trotz dieser Armut die Fahne deutscher
Wissenschaft und Gesittung hochzuhalten. Gleichviel, diese Stellung gilt im
Westen als ein Beweis geringer Reife und hat andre Erscheinungen wie das
unselige Kneipenleben im Gefolge, die ebenfalls nicht dazu beitragen, die
deutsche Lebensweise dem Ausländer anziehend zu machen.
Dazu das „Bedientcnhafte," um eine gehässige und von dem Schreiber
dieses keineswegs gebilligte Ausdrucksweise aus der ausländischen Presse zu
gebrauchen, die er aber doch nicht unterdrücken darf, da es heilsam ist, sein
eignes Bild auch in krumm geschliffnen Spiegeln zu sehen, das Bücken nach
oben, das Treten nach unten; viel ist Gott sei Dank Übertreibung dabei, und
ferne liegt es den auch in Deutschland starken Stämmen der Niedersachsen und
der Friesen im Nordwesten ebenso wie den trotzigen Alemannen und Bayern
im Süden, aber ganz kann es als eine Eigenschaft vieler Deutschen nicht ab¬
geleugnet werden und ist anch historisch erklärlich aus der slawischen Bei¬
mischung im Osten und den traurigen Verhältnissen des achtzehnten Jahr- .
Hunderts. Wie viele Jahrhunderte werden noch darüber hingehn, bis das
Ausland vergessen kann, daß deutsche Landeskinder es sich gefallen lassen mußten,
sich von ihren eignen Fürsten verkaufen und über See verschicken zu lassen zu
der Führung des ungerechtesten aller Kriege! Kurz Holland fühlt sich mit
ganz Westeuropa noch in vielen Dingen als das Land der ältern und tiefern
Kultur, eine Stimmung, die noch dadurch häufig bis zur gehässigen Ablehnung
gesteigert wird, daß es selber dem Temperament seiner Einwohner zufolge und
durch seine Geschichte eine entschiedne Neigung zur Selbstzufriedenheit und
Selbstüberhebung hat, wodurch das Ausländische schon als solches abgelehnt
wird, es sei denn, daß es sich wie das Französische durch entgegenkommende
Anerkennung des Heimischen einzuschmeicheln verstehe. Auch ist der größere
Widerstand aus dem einfachen praktischen Grunde zu erklären, daß man weiß,
daß Deutschland seine Beute nie wieder fahren lassen würde, während zum
Beispiel eine französische Annexion schon durch die Erfahrung als eine bald
wieder vorübergehende Episode erscheinen könnte.
Wenn hiermit versucht ist, die Gründe einigermaßen darzulegen, die eine
gewisse und in manchen Kreisen*) recht starke Ablehnung des Deutschtums in
Holland begreiflich machen, so ist doch deutlich, daß hiermit die Frage noch
keineswegs erledigt ist. Abneigung bedeutet nur eine Schwierigkeit auf dem
Wege zur politischen Vereinigung. Die Rheinländer waren zu Anfang des
vorigen Jahrhunderts auch keine begeisterten Preußen und können nun endlich
nach der Erfahrung dreier Menschenalter doch versichern, um die Ausdrucks¬
weise eines der „gewonnenen Herzen" zu gebrauchen, daß die preußische Jacke
zwar enge sei aber doch gut warm sitze. Und den passionierten Verfechter des
Preußeutums, Heinrich von Treitschke, habe ich selber humoristisch die Worte
aussprechen hören, noch niemand sei ohne Heulen und Zähneklappern preußisch
geworden.
Die eigentliche Frage ist vielmehr: Wird Holland seine Selbständigkeit
bewahren können, und wird es sich schließlich nicht gleichsam von selber an
den starken Nachbar anlehnen und bis zu einem gewissen Grade mit ihm ver-
schmelzen? Um auf diese Frage zu antworten, wird man nicht so sehr Zu¬
neigung und Abneigung zu Rate ziehn müssen, sondern vor allem und auch
viel mehr wie den militärischen, die ohnedem für Holland ungünstig genug liegen,
den wirtschaftlichen Verhältnissen ins Auge sehen, da vornehmlich diese es sind,
die heute die Welt regieren. Holland hält das Delta des größten deutschen
Stromes besetzt und lebt außer von den Kolonien und seinen eignen Produkten
wesentlich von dem Zwischenhandel des Stromgebiets des Rheins mit über¬
seeischen Ländern. Aber auch seine eigne Produktion, die überwiegend land¬
wirtschaftlich ist, sucht ein Absatzgebiet nach dem plötzlich so kvnsumtionsfühig ge-
wordnen Deutschen Reiche, und dasselbe gilt für einen Teil seiner kolonialen Pro¬
dukte, namentlich für Kaffee und Tabak. Ganz besonders hinderlich sind nun die
Zollschranken, die Deutschland aufgerichtet hat und ini eignen Interesse, wie
um besten aus der nie ruhenden Polemik Hollands gegen diese Schranken
deutlich wird, aufrichten mußte. Das kleine Land, das noch immer, aber jetzt
ganz isoliert die alten freihändlerischen Prinzipien hochhält und bis zu einem
gewissen Grade auch hochhalten mußte, da Staaten von geringen Dimensionen
viel stärker die Nachteile von Zöllen empfinden, ist in einem wirtschaftlichen
Notstände, der nur deshalb noch immer erträglich ist, weil es von altem Reich¬
tum zehrt, weil es kapitalkräftig ist und seine geschmälerte Produktion durch den
großen Zinsgenuß ergänzt, wobei das Ausland ihm vielfach tributpflichtig ist.*)
Sicherlich könnte es solchergestalt die Sache noch eine Weile mit ansehen,
obgleich wohl Kenner der Verhältnisse in vertrauten Kreisen zu versteh» geben,
es könne Holland wirtschaftlich gar nichts besseres passieren als seine Annexion
an Deutschland.
Nun aber kommt die Tatsache hinzu, daß Holland als Kapitalistenland
in breiten Schichten der Bevölkerung in neuerer Zeit sehr der Börsenspekulation
verfallen ist, die, wie überall, wo sie sich breit macht, als scheinbar leichtern
Gewinn den reellen Handel und die Produktion im Lande selber zu verdrängen
strebt. Dabei ist viel von dem soliden alten Erwerbssinn verloren gegangen;
die Entwicklung einer großen selbständigen Industrie, die es von Deutschland
unabhängiger machen könnte, will nicht zustande kommen. Die Regierung
hat zwar gesucht, dem entgegenzutreten und durch Errichtung von technischen
Schulen den Gewerbefleiß zu ermutigen; aber es ist die Frage, ob es, da
es natürlich mit der Langsamkeit geschah, die einem parlamentarischen Lande
mit phlegmatischer Bevölkerung eigentümlich ist, nicht zu spät ist, das Land in
die bisher so vernachlässigte Richtung technischer Unternehmungen zu treiben,
obgleich die natürlichen Bedingungen dafür nicht schlecht sind. Dazu kommt,
daß eben diese parlamentarische Regierungsform als notwendige Folge ein Zurück¬
bleiben in zeitgemäßen Reformen mit sich bringt, und daß dies gerade in
Holland Deutschland gegenüber sehr augenfällig ist. Um nur einige Beispiele
zu nennen, so wurde die Schulpflicht erst mit dem Eintritt des zwanzigsten
Jahrhunderts, um dieselbe Zeit auch erst die allgemeine Wehrpflicht und diese
noch dazu in einer militärisch sehr wenig befriedigenden Form eingeführt. Die
eine rationelle Landwirtschaft so störenden Naturalzehnten sind wohl im Laufe
der Jahrhunderte in andre Hände übergegangen als die, wofür sie ursprünglich
auferlegt und für die sie allein einen Sinn hatten, aber sie bestehn größtenteils
noch heutzutage. Unfallversicherung von Staats wegen ist eben erst eingeführt.
An Alterspensionen durch den Staat wird sehr zögernd gedacht. Expropriations¬
gesetze bei der übertriebnen Heilighaltung des individuellen Eigentums erscheinen
sehr verspätet und unvollkommen. An Güterzusammenlegung oder auch nur
Gewannregulierung ist unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Auf dem
Gebiete der Forstgesetzgebung ist endlich, dank der Initiative einzelner ein¬
sichtiger Männer, die bei Deutschland in die Schule gegangen sind, einiges er¬
reicht, es fehlt aber an jeder kräftigen Spitze im Staatsleben. Jeder Beamte
erfreut sich seiner „Libertät" und wird, wenn nicht von Natur energisch und
wohlwollend, ein kleiner Pascha und so ein Hemmnis der allgemeinen Organi¬
sation, und wenn er nicht gerade silberne Löffel stiehlt, bleibt er auch bei aller
Obstruktion gegen den Willen seiner Borgesetzten unbehelligt in seinem Amte,
bis es ihm gefällig ist, mit Pension oder Tod abzugehn. Von einer Ma߬
regelung ist niemals die Rede; vielmehr wird jeder Versuch hierzu durch die
zügellose Presse an den Pranger gestellt. Die einfachsten Entschlüsse dauern
unendlich lange Zeit, da in dem Räderwerk der Staatsmaschine immer einzelne
Teile verrostet sind, die niemand die Macht hat zu beseitigen. Alle Dinge
werden auf die lange Bahn geschoben und gern kommissarisch gemacht, da auch
der Minister, der heute kommt und morgen geht, keine Macht hat, das subalterne
Schreiberwesen in seinem eignen Ressort zur Raison zu bringen. In dieser
letzten Beziehung würde natürlich die Annexion an das so viel besser organisierte
Deutschland ein großer Fortschritt sein, wird aber natürlich gerade in den be¬
teiligten Kreisen aufs äußerste gefürchtet.
Wer darf uun prophezeien unter so komplizierten und durch das vermut¬
liche Aussterben der geliebten Oranjedynastie noch mehr sich verwickelnden Um¬
ständen? Doch will ich meine Meinung nicht zurückhalten, daß vieles für eine
Zolleinigung, noch mehr aber gegen eine völlige politische Verschmelzung spricht.
In dem jetzigen Deutschland sind schon so viele zentrifugale Elemente, die nur
die Einheit der Sprache und die Überzeugung, daß man eben dem Allgemeinen
schmerzliche Opfer bringen müsse, notdürftig zusammenhält, daß man nicht hoffen
darf, ein selbständiges Volkstum mit stolzer Geschichte, eigner Sprache und
teilweise überlegner Kultur vollständig zu assimilieren. Und was nicht assimiliert
werden kann, bleibt eben als ein Fremdes im Staatsorganismus, dessen Kraft
nur schwächend, und wird je eher je besser wieder abgestoßen; und am allerbesten
bleibt es außerhalb der Gemeinschaft. Auch von militärischer Seite ist die etwaige
Annexion von Holland an Deutschland neuerdings als durchaus nicht im Interesse
Deutschlands beurteilt worden/')
Wenn somit die Chancen für ein Aufgehn von Holland in Deutschland
wenig günstig stehn, so wird andrerseits um so mehr die Frage erörtert oder
geradezu diese Lösung angestrebt, ob nicht Belgien wieder mit Holland zu einer
größern Gemeinschaft zu verbinden sei. Durch allerlei Sprachbestrebungen, die
von der nahen Verwandtschaft des flämischen Dialekts mit der holländischen
Sprache ausgehn, und wobei die Belgier in einladender Terminologie als Süd¬
niederländer bezeichnet werden, wird geradezu Propaganda in dieser Richtung
gemacht. Ich glaube aber nach meiner bescheidnen Kenntnis der Angelegenheit
entschieden bestreiten zu müssen, daß auf diesem Wege die Zukunft zu suchen
sei. Denn erstens ist der Komplex der vereinigten Niederlande nicht groß und
bei der geringen Wehrbarkeit der beiden Länder nicht kräftig genug, dem Zuge
der Zeit in der Richtung der Großstaaten und einem kräftigen feindlichen Vor¬
stöße Widerstand bieten zu können. Dann ist die Volksart durch Abstammung
und Geschichte zu verschieden, als daß es die Vereinigung ertragen könnte.
Das Experiment ist überdies schon im vorigen Jahrhundert gemacht worden
und trotz dem Schutz der Großmächte gescheitert. Wie kann man hoffen, daß
das ungleiche Gebilde die bevorstehenden noch größern Schwierigkeiten aushalten
könnte! Auf der einen Seite das stark individualisierte, intelligente, bis zur
Grübelei gewissenhafte protestantische Holland mit der unauslöschlichen Er->
innerung an seinen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien, auf der andern Seite
das noch in breiten Schichten seiner Bevölkerung naiv abergläubische, lebens¬
frohe, künstlerisch begabte, aber im übrigen recht gedankenlose Belgien, dessen
Charakter durch seine Unterwerfung unter jenes fanatisch katholische Weltreich
auf Jahrhunderte hinaus gebeugt ist, ein Land überdies ohne eigne Geschichte
ohne eine mit dem Volke verwachsne Dynastie, wirtschaftlich hoch aber einseitig
kapitalistisch entwickelt, in jeder Beziehung reif für die soziale Revolution. Wie
wäre das wieder zusammenzuleimen?
Wohl hat gegenwärtig in Holland der katholische Klerikalismus mit dem
positiven Protestantismus einen merkwürdigen Vertrag abgeschlossen zur Be¬
kämpfung des Liberalismus und der radikalen Parteien, einen Vertrag, der
sogar den hochbegabten, streng kalvinistischen Parteiführer Kuyper für längere
Zeit an das Regiment gebracht hat. Aber diese noch in keinem andern Lande
zustande gekommne durch und durch unhistorische Koalition würde alsbald zer¬
fallen in einem Lande von katholischer Mehrheit, wo vielmehr der Klerikalismus
und der Radikalismus einander in der Schwebe halten, und der positive Pro¬
testantismus, so wichtig für das holländische Volksbewußtsein, leer ausgehn würde.
Sind doch schon jetzt die beiden südlichen Provinzen Hollands, die den belgischen
Charakter zeigen, Limburg und Nordbrabant, dem Lande ein Block am Bein.
Könnte es diese Landschaften loswerden, es würde innerlich gekräftigt aus dieser
Operation hervorgehn. Wie kann man also einen so ungeheuern Zuwachs von
diesen Elementen als einen erträglichen Zustand betrachten und die politische
Einigung empfehlen?
Hollands Los wird wohl erst bei der Entscheidung über die Zukunft seiner
Kolonien, ob es diese gegen Englands Weltherrschaft, gegen das rasch in die
Höhe und die panasiatische Herrschaft anstrebende Japan wird verteidigen
können, geworfen werden. Einstweilen kann ein Zollanschluß an Deutschland,
aber wohl keine politische Vereinigung mit diesem Lande oder mit irgendeinem
andern Staate in Frage kommen. Im Grunde haben wir Deutschen auch keine
Ursache, hierüber zu trauern. Das jetzige Deutschland darf, obschon es ja nicht
einmal das Großdeutschland ist, das sich die politischen Idealisten aus der
Mitte des vorigen Jahrhunderts erträumten, als mächtig genug gelten, einer
Welt von Feinden zu trotzen — warum in doktrinärer Weise alle Kleinstaaterei
im Inland und an den Grenzen ausrotten, da diese doch auch ihre entschiednen
Vorteile hat?
^M?i cum heute in Frankreich von Psychologie die Rede ist, so meint
man die von Ribot und seiner Schule; Ribot hat die alte Schul¬
psychologie durch die physiologische Psychologie der Engländer und
der Deutschen verdrängt, schreibt Dr. Krauß im Vorwort zu
seinem Werke: Theodule Ribots Psychologie (Jena, Hermann
Costenoble, 1905). Indem wir versuchen, den Standpunkt und die Methode
des französischen Forschers durch Mitteilung einiger seiner Ansichten wenigstens
andeutungsweise zu charakterisieren, halten wir uns an ein Werk von ihm
selbst: Psychologie der Gefühle von Th. Ribot, übersetzt von Chr. Ufer
(Altenburg, Oskar Bombe, 1903). Obwohl wir an philosophischen Büchern
von deutschen Verfassern wahrhaftig keinen Mangel haben, ist doch die Über¬
setzung dieses französischen Werkes nicht als eine überflüssige Arbeit zu be¬
zeichnen. Denn die Gefühle waren bisher das am wenigsten durchforschte Ge¬
biet — die sie behandelnden Schriften machen nach Ribot von der neuern
psychologischen Literatur uoch nicht den zwanzigsten Teil aus —, und das
Werk enthält eine vollständige Übersicht über die Ergebnisse der französischen,
englischen, deutschen und skandinavischen Forscher.
Fühlen, denken, begehren, die drei Lebensformen der seelischen Dreieinigkeit
(Ribot sagt, Dreieinigkeit, im theologischen Sinne, weil keine ohne die beiden
andern vorkommt, und doch jede etwas von den andern verschiednes ist), kann
man nicht definieren. Jeder kennt sie aus eigner Erfahrung und weiß, wenn
der Name ausgesprochen wird, was damit gemeint ist. Will man durch¬
aus eine Definition von Gefühl versuchen, so kann man allenfalls sagen:
es ist das Innewerden eines körperlichen oder seelischen Zustandes. Ribot
würde das „oder" vielleicht nicht ganz korrekt finden, denn er hält jedes
Gefühl für das Innewerden eines leiblichen Zustandes. „Wenn man aus der
täglichen Erfahrung aufs Geratewohl Zustünde herausgreift, die unter den
schwankenden Bezeichnungen Gefühle, Gemütsbewegungen und Leidenschaften
bekannt sind, wie Freude und Traurigkeit, Zahnschmerz und die angenehme
Empfindung des Wohlgeruchs, Liebe oder Zorn, Furcht oder Ehrgeiz, ästhetischer
Genuß, religiöse Rührung, so bemerkt man zunächst bei oberflächlicher Musterung,
daß alle diese Zustande zwei Seiten haben, nämlich eine objektive oder äußere
und eine subjektive oder innere. Wir bemerken zunächst motorische Äußerungen
wie Gliederbewegungen, Gebärden, eine bestimmte Haltung des Körpers, Ver-
änderung der Stimme, Erröten oder Erblassen, Veränderung der Absonderungen
und Ausscheidungen, und wir bemerken zugleich eigentümliche angenehme, un¬
angenehme oder gemischte Zustände unsers Bewußtseins." Sind diese beiden
Gruppen von Zuständen unabhängig voneinander, oder ist die eine die Grund¬
lage der andern? Ribot antwortet: das zweite ist der Fall. Die körperlichen
Veränderungen sind das Wesentliche, die Grundlage des Gefühls: die Bedürfnisse,
Neigungen und Strebungen, die sich in Bewegungen des Organismus kund¬
geben, und die wahrgenommnen Seelenzustände sind nur die Wirkungen davon.
Jedes Gefühl wurzelt im leiblichen Organismus. Seine Entwicklung im Gesell¬
schaftsleben verflicht die körperlichen Zustände mit einer stetig wachsenden Menge
von Vorstellungen, differenziert, verfeinert und intellektualisiert so das Gefühl,
so hoch hinauf, bis dieses vor den Ideen beinahe verschwindet und damit seine
Kraft verliert. Das Gefühlsleben beginnt mit der Sensibilität des Proto-
Plasmaklümpchens, das das Licht sucht oder flieht, und erhebt und verfeinert
sich im Menschen bis zum höchsten wissenschaftlichen, ästhetischen, sittlichen,
religiösen Enthusiasmus. „Man darf jedoch getrost behaupten, daß diese höhern
Formen der großen Mehrzahl der Menschen unerreichbar sind. Von einer
Million gelangt vielleicht kaum einer dazu. . .. Diese zarten und verfeinerten
Formen, die von den Intellekt»allsten für die höhern gehalten werden, bedeuten
in Wirklichkeit nur eine Verarmung im Entwicklungsgange des Gefühls. Sie
sind, wie gesagt, selten, und von einigen Ausnahmen abgesehen ohne Wirkung,
denn der Regel nach verliert jedes Gefühl an Kraft in dem Maße, wie es sich
intellektualisiert, und der blinde Glaube an die »Macht der Ideen« ist in der
Praxis eine unerschöpfliche Quelle von Täuschungen und Irrtümern. Eine
Idee, die nichts als Idee, Erkenntnis ist, bringt nichts hervor und kann nichts
hervorbringen, sie wirkt erst dann, wenn sie gefühlt wird, wenn ein Gefühls¬
zustand sie begleitet, wenn sie Tendenzen, motorische Elemente wachruft." Wenn
sie das tut, ist sie doch nicht unwirksam! Ans andern Stellen geht hervor,
daß ihn hier nur der ungenaue Ausdruck in Widerspruch mit sich selbst ver¬
wickelt, und daß er das im Auge hat, was oft in Volksversammlungen geschieht,
wo die Idee nur scheinbar das Wirksame ist. In zusammengedrängten Menschen¬
massen teilen sich die physischen Zustände eines Redners, seine Hitze, seine
Gesichtsverzerrungen, seine Gliederbewegungen dnrch Sympathie den Zuhörenden
mit; diese Körperzustände sind es, die die Gefühle des Mitleids oder der Wut,
der Begeisterung oder der Entrüstung erzeugen, und es macht gewöhnlich keinen
Unterschied in der Lebhaftigkeit des Gefühls, ob die Idee, die der Redner auf
diese Weise verbreitet, vernünftig oder verrückt, edel oder gemein ist, die Stärke
der Erregung ist dieselbe. Ribot schließt seine Bemerkung mit den Worten:
„Man könnte Kants Kritik der praktischen Vernunft studiert, alle ihre Geheim¬
nisse ergründet und sie reichlich mit lichtvollen Anmerkungen und Erläuterungen
versehen haben, ohne daß man daraus für seine eigne Moral den geringsten
Vorteil gezogen hätte. Die praktische Moral hat andre Quellen. Eine der
bedauerlichsten Folgen des intellektualistischen Einflusses in der Psychologie der
Gefühle besteht darin, daß er zur Verkennung einer Wahrheit verleitet hat, die
so klar am Tage liegt."
Der erste, allgemeine Teil des Werkes behandelt den Schmerz und die
Lust, die entweder jedes allein oder miteinander gemischt die meisten andern
Gefühle begleiten, die zusammengesetzten Gefühlszustünde, die man Gemüts¬
bewegungen, Affekte, Leidenschaften nennt, das Gefühlsgedüchtnis, womit nicht
die bloße Erinnerung an gehabte Gefühle gemeint ist, sondern das Wiederauf¬
leben des Gefühls selbst bei der Erinnerung daran, die Wechselwirkung der Ge¬
fühle mit der Jdeenassoziation und die Tätigkeit der Abstraktion bei Gemüts¬
bewegungen, die bewirkt, daß wir aus Eindrücken bestimmter Art, die wir an
einem Ort, zum Beispiel in einem Kloster, in der Oper, auf der Reise durch
ein Land empfangen, ein allgemeines Kloster- oder Operngefühl, ein Gefühl
vom Geiste des Landes davontragen. Der körperliche Schmerz wird bekannt¬
lich ganz allgemein für den Wächter gehalten, der es uns anzukündigen habe,
wenn unsrer Gesundheit, unserm Leben eine Gefahr droht. Aber ist dieser
Wächter zuverlässig? Die Erkrankung eines Zahnes, die für unser Leben gar
nichts zu bedeuten hat, macht uns durch Schmerzen halb rasend, „das Gehirn
kann fast ohne Schmerz mit dem Messer abgetragen werden." Bei Leberkrebs
und andern gefährlichen Erkrankungen innerer Organe bleibt der Wächter stumm
oder meldet das Übel erst, wenn es zu spät ist. Zudem verleitet er zu Irr¬
tümern durch falsche Lokalisation. „Ein Jucken in der Nase rührt von Würmern
in den Eingeweiden her, ein Kopfschmerz von verdorbnen Magen, ein Schmerz
in der rechten Schulter von einer Erkrankung der Leber." Ribot teilt mit.
wie ein deutscher Forscher, Schneider, diese scheinbare Zweckwidrigkeit biologisch
zu erklären versucht. Empfindlichkeit der innern Organe würde dem Tiere nichts
genützt haben. Denn wird der Schmerz durch ihre Bloßlegung verursacht, die
immer den Tod zur Folge hat, so kann das Tier ebensowenig etwas zu seiner
Rettung tun, als wenn eine innere Veränderung die Ursache ist. Abwehr¬
maßregeln kann das Tier nur gegen die Verletzung seiner äußern Teile treffen,
darum hat sich die Fähigkeit der Schmerzempfindung hauptsächlich in diesen
ausgebildet. Indem das Tier sein Äußeres schützt, schützt es damit zugleich
die von diesem bedeckten innern Organe. Bei der Erörterung der physio¬
logischen Grundlage des Gefühlslebens rechtfertigt Ribot die populäre Be¬
zeichnung Herz für Gemüt. Freilich hat alles Bewußte, also auch Empfindung
und Gefühl, seinen Sitz im Gehirn. Aber dieses, das animalische Zentrum,
steht in der innigsten ununterbrochnem Wechselwirkung mit dem Herzmuskel, dem
Zentrum des vegetativen Lebens. Wie bei Stockung des Blutzuflusses das
Bewußtsein schwindet, so erleidet hinwiederum das Herz von jeder Erschütterung
des Bewußtseins einen Rückschlag, und die bildlichen Bezeichnungen dieser Rück¬
schläge im Volksmunde sind im allgemeinen zutreffend. Das klopfende Herz
ist gar kein Bild, und das brechende, das schwere, das warme Herz sind
physiologisch richtige Ausdrücke für die Zustünde, die man meint. Wenn Ribot
ein Deutscher wäre, würde er auch die sprichwörtliche Redensart: Gift und
Galle speien, für wissenschaftlich korrekt erklärt haben, im folgenden Abschnitt,
der von den chemischen Veränderungen bei Gemütsbewegungen handelt. Nicht
allein haben viele Gemütsbewegungen chemische Ursachen — so ist die Lustig¬
keit der Berauschten die Wirkung einer Vergiftung durch Alkohol —, sondern
das chemische Laboratorium unsers Leibes kocht selbst Gifte bei der Erregung
durch Zorn, Furcht und Ärger, auch bei Ermüdung. Im Schweiß, im Speichel,
im Urin, in der Milch werden solche Gifte ausgeschieden.
Der zweite Teil behandelt die einzelnen Gefühle nach Gruppen geordnet,
ihre biologische Entstehung, ihre Entwicklung und Verfeinerung durch das Gesell-
schaftsleben und ihre krankhaften Ausartungen. Das gesamte Gefühlsleben
entwickelt sich aus den Urinstinkten des animalischen Organismus. Diese sind:
der Trieb der Ernährung, der vor allem das Hungergefühl und als Schutz
vor Schädigung den Ekel hervorruft, der Selbsterhaltungstrieb in der Form
der Verteidigung durch Flucht (Furcht), derselbe Trieb in der Form des An¬
griffs (Zorn, Zerstörungslust), die Zuneigung, der Spieltrieb (Trieb, den Kraft¬
überschuß zu verwenden, aus dein die Sportlust, Abenteuersucht, Glückspielsucht
und die ganze Ästhetik hervorgehn), der Wissenstrieb, dessen erste Äußerung die
Neugier ist, und der Geschlechtstrieb, der keineswegs mit der Zuneigung oder
dem Wohlwollen zusammenfüllt, sondern unabhängig davon ist und sich oft im
Gegensatz dazu geltend macht. Ähnliches gilt von der Sympathie, die, wie
Ribot hervorhebt, an und für sich rein physiologischer Natur ist und aus dem
Egoismus nicht hinausführt. Der Egoist empfindet die Schmerzen des Ver¬
unglückten sympathisch mit, aber statt zu helfen, entflieht er, um diese unange¬
nehme Empfindung rasch los zu werden. In welchem Grade das einfache Ge¬
fühl im gesellschaftlichen Zusammenhange und durch den Einfluß von Vorstellungen
umgebildet werden kann, dafür liefert der Geiz ein recht auffälliges Beispiel,
der in gerader Linie vom Hunger abstammt, seinen Ahnen aber so gründlich
verleugnet, daß er den mit ihm behafteten zwingen kann, auf Geldsücken Hungers
zu sterben. In dem verwickelten Prozeß der menschlichen Nahrungssuche gesellt
sich dem Verlangen nach Speise und der Lust am Essen das Verlangen nach
den Mitteln der Nahruugbeschaffung und die Freude an diesen Mitteln zu,
und Verlangen und Lust besten sich zuguderletzt an das entfernteste Mittel, das
Geld, in einem solchen Grade, daß der Zweck des Geldes darüber vergessen
wird, und der Naturtrieb in sein Gegenteil verkehrt erscheint. Das Wohlwollen
entsteht nach Ribot aus einer von Lust begleiteten Tätigkeit. Auch das Zer¬
stören macht Freude, aber diese Freude setzt eiuen krankhaften Gemütszustand
voraus; die gesunde Natur knüpft Lustgefühle an jede erhaltende Tätigkeit.
Wir freuen uns, wenn eine Pflanze gedeiht, die wir fleißig begießen, und
fühlen uns durch diese Freude angetrieben, ihr weiter wohlzutun. Der Wohl-
tüter liebt darum seinen Schützling immer mehr, als dieser ihn. Weil demnach
das Wohlwollen ein angebornes Gefühl sei, während die Gerechtigkeit erst
unter dem Einfluß der Überlegung erworben werde, finde man Wohlwollen
viel häufiger unter den Menschen als Gerechtigkeit. Das letzte mag richtig
sein, aber der sonst scharfsinnige Mann übersieht, daß Gerechtigkeit und Gerechtig¬
keitsgefühl zwei verschiedne Dinge sind. Das Gerechtigkeitsgefühl scheint so
gut angeboren zu sein wie das Wohlwollen, denn schon das dreijährige Kind
empfindet es, wenn ihm Unrecht geschieht, und im sechsjährigen äußert sich die
Empörung über Ungerechtigkeiten sehr lebhaft, sogar wenn es nicht selbst ihr
Opfer ist. Aber Sympathien, Antipathien, Selbstliebe in den verschiedensten
Formen: Eitelkeit, Stolz, Sucht nach dem eignen Vorteil sind zusammen stärker
als das Gerechtigkeitsgefühl, sodaß sich dieses gegen so viel Feinde schwer
behaupten und nicht leicht zur Tat werden kann, während Bekundung des
Wohlwollens durch Worte oder Liebkosungen, die nichts kosten, eine leichte
Sache ist.
Was aber von der Unwirksamkeit intellektualisierter Gefühle gesagt worden
ist, das gilt in besonders auffälliger Weise von den religiösen. Sie äußern
sich am stärksten, wenn sie noch, mit dem rohen Selbsterhaltungstriebe ver¬
knüpft, hauptsächlich in der Gestalt von Furcht und selbstsüchtiger Hoffnung
auftreten und weniger mit moralischen Empfindungen als mit Grausamkeit und
Wollust verquickt sind. Ist das alles überwunden, hören zuletzt auch die feiner»
und edlern Formen des Kultus auf, so ist die Religion nicht mehr Religion
sondern nur noch kalte Philosophie. Aber das religiöse Gefühl gibt auch in
den Zeiten solcher intellektueller Verfeinerung sein Recht nicht völlig auf, „es
rächt sich durch den Mystizismus." In dem Abschnitt über die ästhetischen
Gefühle zeigt Ribot, in welche Verlegenheit Weismann und seine Schule dadurch
geraten, daß sie die Vererbung erworbner Eigenschaften leugnen. Alle mensch¬
lichen Kunstfertigkeiten werden, im Unterschied von den instinktmäßiger Ver¬
richtungen kunstreicher Tiere, von den Individuen erworben, erworben wird
auch die Freude am Anblick oder am Anhören des künstlerisch Geschaffnen. Wie
soll sich die ästhetische Anlage durch Entwicklung verfeinern und erhöhen, wenn
weder die erworbne Kunstfertigkeit noch die erworlme Empfänglichkeit, die
ästhetische Genußfähigkeit, vererbt wird? Außerdem versperre sich Weismann
die Einsicht in die biologische Bedeutung des Ästhetischen dadurch, daß er glaube,
künstlerische Fertigkeiten könnten zwar auf höhern Zivilisationsstufen im Kampfe
ums Dasein nützlich werden und darum sich durch Auslese des Tauglichsten
erhalten und vervollkommnen, nicht aber bei den Naturvölkern und im vorge¬
schichtlichen Urzustande. Verzierungen am Leibe, an der Wohnung, an Geräten
und Gefäßen sind zunächst Zeichen und als Verständigungsmittel soziologisch
wertvoll. Dann setzt ihre Anfertigung drei Eigenschaften voraus, die einem
Naturvolke von großem Nutzen sein müssen: scharfe Beobachtungsgabe, gutes
Gedächtnis für das Geschaute und Handfertigkeit. Noch deutlicher sei der Nutzen
der rhythmischen Künste. Die Entstehung des musikalischen Gehörs habe Weis¬
mann daraus erklärt, daß ein feines Gehör nützlich sei, weil es sowohl die
Feinde wie die Beutetiere in bedeutender Entfernung wahrzunehmen befähige.
Allein feines Gehör und musikalisches Gehör seien ganz verschiedne Dinge-
Der Nutzen für den Urmenschen liege vielmehr im Rhythmus. Das Singen
und Tanzen gewöhne die Wilden an taktmäßiges Zusammenwirken, sei ihr
Zuchtmittel, ihre Kriegsschule und, würde er hinzugesetzt haben, wenn er Karl
Büchers „Arbeit und Rhythmus" gelesen hätte, auch ihre Arbeitschule. Ribot
verfügt über eine ungemein reiche Literaturkenntnis. Aber es ereignet sich nicht
selten, daß der viel dürftiger ausgerüstete Laie zufällig ein wichtiges Werk
kennen lernt, das dem Fachmann ebenso zufällig entgangen ist. Auch würde
Ribot erfreut sein, in dem Buche „Altersklassen und Maurerbunde" von Heinrich
Schurtz die Bestätigung seiner Ansicht zu finden, daß die Familie keineswegs
so ausschließlich die Urzelle des Gcsellschaftsorgcmismus ist, wie gewöhnlich
angenommen wird. In der philosophischen Literatur Englands geht er ziemlich
weit zurück. Wäre er noch einen Schritt weiter zurückgegangen, so würde er
manches, was er spätern Engländern entnommen hat oder wenigstens in An-
lehnung an sie schildert, zum Beispiel die Beschreibung der einfachsten Regungen
der Sympathie, schon bei Adam Smith gefunden haben.
Sehr interessant ist Niliots Pathologie der ästhetischen Gefühle. Eine
gewisse Einseitigkeit, die immer eine Störung des Gleichgewichts bedeutet und
darum krankhaft oder wenigstens die Gesundheit gefährdend genannt werden
muß, bringt jede intensive Berufstätigkeit mit sich. Eine Zeit so weitgehender
Arbeitteilung wie die heutige muß sogar zahlreiche Monstra hervorbringen (Ufer
übersetzt unpassend „Ungeheuer"; ein Beweis dafür, daß Fremdwörter in vielen
Fällen nicht zu entbehren sind). Der Künstlerberuf ist nun eben auch ein Beruf
und bringt also schon darum die Gefahren der Einseitigkeit mit sich. Und da
die künstlerische Tätigkeit einen hohen Grad von Erregbarkeit fordert und den
Tätigen in einem Zustande dauernder Erregung festhält, so ist sie doppelt ge¬
fährlich. Die Exzentrizitäten und die zahlreichen Erkrankungen namentlich von
Dichtern und Musikern haben bekanntlich die falsche Ansicht erzeugt, daß
ästhetische Begabung schon an sich eine Krankheit und Genie gleich Wahnsinn
sei. Als besondre pathologische Äußerungen der ästhetischen Gemütsbewegung
sind nach Ribot anzuführen: „1. der hartnäckige Hang zum Pessimismus, die
beharrliche und ausschließliche Neigung zur Kunst des Traurigen, die in ge¬
wissen Zeitaltern und besonders in dem mistigen vorherrscht. Ihr Umsichgreifen
wird durch Nachahmung und Mode nicht hinreichend erklärt; es hängt mit
tiefern Ursachen zusammen, mit allgemeiner Herabstimmung und Entkrüftung.
Die pessimistische Kunst ist der Ausdruck des von der Entkrüftung erzeugten
Unbehagens sowohl bei den Schaffenden wie bei den Genießenden. Nicht eine
Krankheit der Kunst darf man diesen Pessimismus nennen, der eine Krankheit
der Personen und des Zeitalters ist. 2. der Hang zum Größenwahn in der
Form des Stolzes und noch öfter der hochgradigen Eitelkeit. Das genuL
irrit-M1«z ?a,wiu kennt man von alters her, aber in manchen Zeiten wütet der
Größenwahn auf dem ästhetischen Gebiet wie eine Epidemie." Und da er den
Dichter dazu treibt, sich Geltung zu verschaffen, so entstehn daraus die bekaunten
literarischen Umtriebe und Katzbalgereien. Über diese findet man bei Adam
Smith eine feine Bemerkung. Er und andre Beobachter hätten die Erfahrung
gemacht, daß viele Dichter häßliche Charakterzüge zeigten, während die großen
Gelehrten, namentlich Mathematiker und Physiker, meist liebenswürdige, schlichte,
heitre Männer ohne Falsch seien. Der Unterschied rühre daher, daß die Schätzung
von Dichterwerken auf Geschmacksurteilen beruht, diese aber subjektiv und unsicher
sind, weil sie nicht nach festen Regeln gefällt werden können. Die Dichter und
die Novellisten wüßten deshalb niemals genau, was sie geleistet hätten; es ent¬
wickle sich bei ihnen eine krankhafte Sucht, durch Anerkennung beim Publikum
die Zweifel an ihren eignen Leistungen beseitigt zu sehen; sie wollten diese An¬
erkennung erzwingen, und darum verbündeten sie sich zu Cliquen und schmiedeten
Ränke gegeneinander. Mathematiker und Physiker dagegen vermöchten genau
abzuschätzen, wieviel sie zur Bereicherung ihrer Wissenschaft beigetragen Hütten,
und nach Anerkennung beim Publikum könnten sie schon deswegen nicht streben,
weil dieses von ihrer Wissenschaft nichts verstehe. In Beziehung auf Laster
und Verbrechen schlägt nach Ribot das Dichtergenie zwei einander entgegen¬
gesetzte Richtungen ein, zu denen ein und dasselbe Gesetz den Anstoß gibt,
nämlich: daß jede intensive Vorstellung einer Handlung zur Verwirklichung
drängt, weil sie selbst schon der Anfang einer Handlung, die Wirkung motorischer
Kräfte, ein Bewegnngsantrieb ist. Wer sich aus den» Turme der Vorstellung
hingibt, er stürze hinunter, der stürzt leicht wirklich hinunter. Nun hat der
Künstler von Natur lebhafte Vorstellungen; in der Phantasie verrichtet er nicht
allein Heldentaten, sondern er begeht auch Verbrechen und feiert Orgien. Darin
liegt eine starke Versuchung für ihn, wirklich ein Verbrecher zu werden. Andrer¬
seits kann sich bei ihm die durch Phantasien aufgeregte Leidenschaft in einem
Kunstwerk entladen, und so seine schöpferische Anlage zum Schutz vor Ver¬
brechen und Torheiten werden, wie bei Goethe, der, eine durch und durch ge-
unde Natur, krankhafte leidenschaftliche Erregungen durch die Objektivierung in
Gedichten aus seinem Innern ausstieß.
Ribot beschränkt sich streng ans die Untersuchung des Tatsächlichen und
läßt sich in Metaphysisches nicht ein. Diesem, der Beantwortung der Frage
nach dem Wesen der Seele, ist das ausgezeichnete Werk von Ludwig Busse
gewidmet: Geist und Körper, Seele und Leib (Leipzig, Dürrsche Buch¬
handlung, 1903), das wir schon im 20. Heft kurz angezeigt haben, an das wir
aber seiner Wichtigkeit wegen versprochnermaßen noch einmal erinnern wollen.
Man kann nach ihm die verschiednen Ansichten über den Gegenstand auf drei
zurückführen: die materialistische, die Parallelistische und die dualistische. Die
materialistische ist unbedingt und in jedem Sinne monistisch. Mit der Annahme
der andern beiden wird nur ein empirischer Dualismus festgestellt (das Körper¬
liche und das Geistige zwei voneinander durchaus verschiedne Gebiete der Er¬
scheinung), die Frage nach dem metaphysischen: ob Körper und Geist auch ver¬
schiedne Wesenheiten seien, offen gelassen. Der Unterschied der dritten Ansicht
von der zweiten besteht darin, daß nach dieser die körperlichen und die geistigen
Erscheinungen jede für sich nach ihren eignen Gesetzen ablaufen, ohne einander
zu beeinflussen, nur durch prüstcibilierte Harmonie so aneinander gebunden, daß
jedem körperlichen Vorgang ein geistiger entspricht. Nach der dritten Ansicht
dagegen wirken Körper und Geist aufeinander ein: körperliche Veränderungen
haben geistige, geistige haben körperliche zur Folge, Leib und Seele stehn in
Wechselwirkung miteinander. Busse widerlegt die ersten beiden Ansichten in
allen ihren Schattierungen und weist die Notwendigkeit nach, die dritte anzu¬
nehmen. Wenn, wie einige Materialisten sagen, das Geistige nur ein Neben¬
produkt gewisser physikalisch-chemischer Prozesse ist, dann, bemerkt Busse u. a.
richtig, ist ja auch unser Denken etwas ganz wertloses, und ist es gleichgiltig,
ob wir die Wahrheit treffen oder irren. Die Wissenschaft hätte dann nnr noch
insofern Wert, als sie dazu angewandt werden kann, uns durch die Technik
unser kurzes Erdenleben zu erleichtern. Im Widerspruch zu ihren Theorien
aber werten die materialistischen Gelehrten das Geistige sehr hoch. „An
Idealismus der Gesinnung beschämen viele von ihnen manchen, der theoretisch
den Idealismus vertritt." Wäre wirklich das Materielle das einzige wahrhaft
Seiende, dann wäre der ganze Weltspektakel mit allen seinen Sonnensystemen
ein Lärmen um nichts; denn die Gasbälle und die Erdklumpen, die wir Sonnen
und Planeten nennen, sie mögen so groß und so zahlreich sein, wie sie wollen,
sind an sich nicht mehr wert als jedes kleine Erdklümpchen, das gleich ihnen
nur insofern einen Wert erhalten kann, als es Mittel zur Erhaltung von
Menschen, von Bewußtsein und Geist wird; das einzige Wertvolle in der Welt
ist der lebendige Geist. Bekanntlich wird seit Lotze die Unvergleichbarkeit der
geistigen und der körperlichen Vorgänge als der Hauptbeweis dafür angesehen,
daß der Geist weder Körper noch Produkt eines physikalischen oder chemischen
Prozesses, eine „Ausscheidung" sein könne. Busse bemerkt, es genüge für diesen
Beweis nicht, daß man nur oberflächlich die Unähnlichkeit der Erscheinungen
beider Gebiete hervorhebe. Mechanische Bewegung, Wärme und Elektrizität
sehen einander auch nicht ähnlich, und der Übergang der einen in die andre
bleibt uns unbegreiflich, dennoch steht es fest, daß sie nur verschiedne Formen
derselben Energie sind. Man muß sich klar machen, daß alle körperlichen Bor¬
gänge räumlicher Natur sind, räumlich: Räume erfüllend, über Flächen sich
ausbreitend, in Linienform fortschreitend, gedacht, vorgestellt werden können und
müssen, und daß dieses auch vou den Molekularbewegungen gilt, die wir als
Wärme und als Elektrizität empfinden. Dagegen ist es ganz unmöglich, Ge¬
danken und Gefühle als etwas Räumliches sich vorzustellen, etwa als an einer
Fläche haftend oder sich über eine solche verbreitend.
Der von Leibniz begründete, in ganz andrer Form und in ganz anderm
Sinne heute u. a. von Wundt und Paulsen vertretne Parallelismus führt nach
Busse zu Folgerungen, deren Unannchmbnrkeit er an einigen krassen Beispielen
zeigt. Ein Professor examiniert einen Kandidaten. In seinem Geiste läuft
eine Vorstellungsreihe in Form eines Zwiegesprächs ab, im Geiste des Kandi¬
daten geschieht dasselbe. Aber durch die beiderseitigen Mundbewegungen wird
keine der beiden Vorstellungsreihen beeinflußt. Die Mundbewegungen des einen
werden durch den augenblicklichen Gehirnzustand bewirkt, der gewisse motorische
Nerven in Schwingungen versetzt und hierdurch Muskelkontraktionen bewirkt.
Die Kehlkopf- und die Mundbewegungen erzeugen Schallwellen, diese lassen
das Trommelfell des andern Mannes erzittern, dessen Schwingungen pflanzen
sich ins Gehirn fort, und dieses setzt auf dem oben beschriebnen Wege wieder
die dazu gehörigen Mundpartien in Bewegung. Auf diesen Kreislauf körper¬
licher Vorgänge haben die Gedanken der beiden Männer ebensowenig Einfluß
als jener auf diese. Nach demselben Schema stelle man sich die Tätigkeit
Napoleons vor, wie er die Schlacht bei Austerlitz leitet, oder des Dramen
schreibenden Shakespeare, oder, mit einem englischen Psychologen zu sprechen,
tlwsiz too urmcli-sa xouncls, mors or less jg-uno 1517 jedenfalls noch Isss) c»5
>og.rmisll ÄlbuuioiÄ irae,t>ör ogllscl I^et-zr, wie er oder vielmehr es die Thesen
anschlägt, und man kann nicht anders als die Sache lächerlich finden. Eine
besondre Schwierigkeit erwächst dem Parallelismus noch daraus, daß es un¬
möglich ist, für jeden körperlichen Vorgang einen entsprechenden geistigen nach-
zuweisen oder auch nur anzunehmen, während allerdings jeder geistige ohne
Zweifel von einer Gehirnschwingung begleitet gedacht werden muß. Auch
könnte bei seiner Annahme von logischen Gesetzen, von Wahrheit und Irrtum
keine Rede sein. Denn der Ablauf der Vorstellungsreihen im Geiste wäre an
den Ablauf von Reihen physikalischer Vorgänge gebunden, die nicht anders
ablaufen können, als sie wirklich ablaufen: nach den unveränderlichen Gesetzen
der Naturkausalität. Ein Gedanke, den wir irrig oder einen Fehlschluß nennen,
wäre ebenso notwendig wie die aus dem augenblicklichen Gesamtzustande des
Organismus hervorgehende Gehirnschwingung, zu der er gehört.
Der Verfasser schließt aus alledem (was er mit seinen mehrere hundert
Seiten umfassenden Ausführungen natürlich weit vollkommner klar zu machen
vermag als wir mit unsern kurzen Andeutungen), daß die Seele ein vom
Körperlichen verschiednes, ganz anders eingerichtetes Wesen sein müsse, das in
einer uns unbegreiflichen Weise auf den Leib einwirkt und von diesem Ein¬
wirkungen erleidet. Gott setzt eine Welt von Dingmonaden, die, an sich un¬
körperlich, in ihrer Verbindung die körperlichen Erscheinungen hervorbringen und
keinen andern Zweck haben, als die Unterlage und die Werkstatt zu bilden für
die zu einer Entwicklung berufnen Seelenmonaden. Die Dingmonaden haben
keine Entwicklung; nur ihre wechselnden Kombinationen haben eine solche. Die
Seele entwickelt sich fort, ist dagegen kein Entwicklungsprodukt; weder entsteht
sie durch Entwicklung aus dem Leibe, noch entsteht so eine höhere Seele aus
der niedern, etwa eine Menschenseele aus einer Affenseele. Sondern dem leib¬
lichen Organismus wird die je nach seiner Entwicklungsstufe für ihn passende
Seele zugesellt.
In der kurzen Anzeige wurde schon erwähnt, daß Busse auch den aus
dem Gesetze der Erhaltung der Energie abgeleiteten EinWurf gegen die Wechsel¬
wirkung widerlegt: Einwirkung der Seele auf den Leib würde ja eine Ver¬
mehrung der Energie bedeuten. Das Energiegesetz hat einen zweifachen Sinn-
Als Gesetz der Äquivalenz besagt es, daß bei der Umwandlung einer Energie¬
form in die andre die Energiemenge nicht geändert wird, daß für jede in der
einen Form verbrauchte Energiemenge als Wirkung eine gleich große Energie¬
menge in der andern Form auftritt. Eine Dcnknotwendigkeit ist dieses Gesetz
nicht, aber Robert Mayer hat es für den Fall der Verwandlung von mechanischer
Arbeit in Wärme und umgekehrt durch das Experiment bewiesen, und die Er¬
fahrung hat noch keine Abweichung von dem Gesetz kennen gelehrt (die in den
letzten Jahren entdeckte Radioaktivität, die dem Gesetz zu widersprechen scheint,
ist allerdings vorläufig noch nicht aufgeklärt). Und dieses wird von der Ein¬
wirkung der Seele nicht durchbrochen. Wenn eine Vorstellung dnrch die Nerven
Muskeln in Bewegung setzt, so kann das immer in der Weise geschehen, daß
die im chemischen Prozeß der Nervenmasse verbrauchte Energie und die mechanische
Muskelleistung einander gleich sind. Der andre Sinn, der mit dem Energie¬
gesetz verbunden zu werden pflegt, ist der, daß die Gesamtmenge der im Weltall
vorhandnen Energie unveränderlich sei. So gefaßt nennt man es das Gesetz
der Konstanz. Dieses Gesetz wird allerdings durchbrochen, wenn jede neue
Seele dem Universum neue Kraft zuführt. Aber dieses Gesetz ist ebensowenig
eine Denknotwendigkeit wie das der Äquivalenz, und es ist außerdem anch nicht
gleich jenem durch die Erfahrung bewiesen. Ja es kann gar nicht bewiesen
werden. Das abgeschlossene Universum ist eine Idee, kein Erfahrungsbegriff.
Seine Stoff- und Kraftmenge kann schon darum nicht gemessen werden, weil
wir seine Grenzen nicht kennen, nicht wissen, ob es überhaupt Grenzen hat.
So wenig wir wissen, ob und in welchem Maße auf unser Sonnensystem ein
benachbartes Sonnensystem einwirkt, so wenig oder vielmehr noch viel weniger
können wir wissen, ob nicht außerhalb der durch unsre Teleskopen wahrnehm¬
baren Welt andre Welten vorhanden sind, von denen die unsre Einwirkungen
zu erwarten hat.
jnser nächstes Reiseziel war Molsheim, wo wir den neuen Spiegel
ans Nürnberg erhielten, der nebst der Fracht zweihundert Mark
kostete. Auf der Weiterreise nach Bruchsal fuhr ich, um meinem
Prinzipal Kosten zu ersparen, „schwarz" und blieb anderthalb Tage
im Wohnwagen, wo ich nur, nachdem mein Mundvorrat aufgezehrt
!war, auf einer Spiritusmaschine Spiegeleier machte, ein Gericht,
dessen Bestandteile ich im Küchenschranke gefunden hatte. In Bruchsal war Markt,
und wir machten, da keine andre Schaubude dort war, ein gutes Geschäft.
Am ersten Sonntag gab mir Lowinger großmütig fünfzig Pfennige „Mansch"
(Trinkgeld), dagegen machte er keine Anstalt, mir meinen Lohn auszuzahlen, und
hatte offenbar die Absicht, mich den zerbrochnen Spiegel abarbeiten zu lassen. Am
Abend ging ich in eine Wirtschaft und sah dort an der Wand eine Zeitung hängen,
worauf das Klischee einer Löwendarstellung abgedruckt war; es war die vorläufige
Anzeige, daß die Menagerie Continental (die frühere Böhmcsche) nach Offenburg
kommen würde. Ich setzte mich sofort hin und schrieb nach Lahr, wo sich die
Menagerie augenblicklich aufhielt, und bot ihr meine Dienste an. Die ganze Woche
erhielt ich keine Antwort; als ich aber an dem darauffolgenden Sonntag Abend
mit dem Abbrechen der innern Einrichtung unsrer Vnde beschäftigt war, bemerkte
Lowinger ganz beiläufig, es sei ein Brief für mich angekommen. Er hatte offen¬
bar schon eine Ahnung davon, was dieser Brief bedeute, und hatte mir ihn deshalb
den ganzen Tag vorenthalten. Er sagte dann noch, ich solle am nächsten Morgen,
sobald ich aufgestanden sei, die Fassadenteile der Vnde herunternehmen. Ich las
den Brief, der mir mein Engagement ankündigte, trank noch ein Glas Bier und
legte mich zur Ruhe. Am andern Morgen übereilte ich mich nun nicht mit der
aufgetragnen Arbeit, sondern erklärte meinem Prinzipal, der mir deshalb Vorwürfe
machte, ich täte nun überhaupt nichts mehr, und er möchte mir, sobald es ihm
passe, meine Papiere geben. Ich sah nun zu, wie Lowinger allein weiter arbeitete und
das Holz auflud, wobei er ununterbrochen ans mich schimpfte. Als sich recht viel Publikum
um uns gesammelt hatte, bemerkte er, er habe much nichts weiter zu essen als Brot und
Käse, und damit könne man auch zufrieden sein. Ich solle einmal die Leute dort
fragen, ob sie nicht auch mit Brot und Käse zufrieden wären. Ich folgte seiner
Aufforderung und fragte die versammelte Menge: Seid ihr zufrieden mit einem
Stück Brot und Käse? Das Publikum antwortete einstimmig: Nein nein, und
unter dem allgemeinen Gelächter verstummte das Geschimpf meines Prinzipals.
Er rückte mir aber meine Papiere nicht eher heraus, als bis das Geschäft auf
der Bahn verladen war. Dort gab er sie mir ans der Rampe und ein Zeugnis
dazu, das ich sofort durchlas und vor seinen Augen zerriß.
Ich versetzte nun meinen Überzieher, um Reisegeld zu bekommen, fuhr nach
Osienburg, übernachtete im Gasthaus und ging am andern Morgen auf die Suche
nach der Menagerie. Auf dem für sie bestimmten Platze war sie noch nicht,
weshalb ich mich nach der Bahn begab, wo ich den Rekommandeur des Geschäfts,
einen alten Franzosen, Peter Veit, traf, der ebenfalls auf den Zug mit der
Menagerie wartete. Bald darauf langte auch ein Zug an, aber die Menagerie
brachte er nicht mit, und wir vernahmen von einem Bremser, daß sie Per Achse
komme, er habe sie unterwegs auf der Landstraße gesehen. Wir gingen nun
wieder auf den Platz und warteten dort, bis wir die grünen Wagen einzeln auf¬
tauchen sahen. Die Besitzer des Geschäfts waren jetzt Seehausen, der die Witwe
Böhme, und Webelhorst, der ihre Tochter, die Witwe des Tierbändigers Schlüpfer,
geheiratet hatte. Sie verfügten über elf Angestellte, wozu ein neuer Tierbändiger,
der Schweizer Johann Zuber, gehörte. Von Tieren waren folgende vorhanden:
ein Elefant, die vier großen Löwen, die erst Schlüpfer und später in Italien den
Tierbändiger Stein zerrissen hatten, und mit denen nun nicht mehr gearbeitet
wurde, ein jüngeres Löwenpaar und eine zwei- bis dreijährige Tigerin, die zur
Arbeit gebraucht wurde, ein Eisbär, ein brauner Bär, ein Kragenbär, zwei Wölfe,
zwei Hyänen, mit denen ebenfalls gearbeitet wurde (eine „Daniendressur"), ein
Lama, zwei Pakas, ein Gemsbock, ein Pelikan, ein Wagen voll Affen, eine Anzahl
exotischer Vögel und drei Riesenschlangen. Webelhorst begrüßte mich auf das
freundlichste und wies mir drei Wagen an, deren erster die vier Niesenlöwen, der
zweite die Dressurgruppe von Löwen und Tigerin und der dritte einen Bären,
ein paar Wölfe und die Pakas enthielt. Nach einem kurzen Aufenthalt in Offen¬
burg brachen wir ab und fuhren auf der Achse nach Straßburg, wo wir vor dem
Metzgertor in einer großen Bretterbude den Winter über privat standen. Die
Bilde war quadratisch gebaut, und dahinter war ein Stall für die Schlachtpferde,
worin auch geschlachtet wurde. Der Wohnwagen wurde an der Seite der Bude
so eingebaut, daß er außerhalb stand, daß man aber vom Wohnwagen aus die
Bude direkt betreten konnte. Wir hatten dort nur einen Platz zu fünfzig Pfennigen.
Die Einnahmen waren anfangs gut, ließen später aber viel zu wünschen übrig,
und deswegen war der Lohn gering.
Kurz nach Weihnachten kam es im Dressurkäfig zu einer Eifersnchtsszene, die
für uns schlimme Folgen hatte. Der männliche Löwe interessierte sich mehr für
die Tigerin als für die ihm zngewiesne Lebensgefährtin, weshalb diese auf ihre
Rivalin nicht gut zu sprechen war und sie eines Tages in das Sprunggelenk eines
Hinterbeines biß. Die Tigerin begann zu lahmen und wurde außerdem noch
innerlich krank, da sie das Pferdefleisch nicht vertragen konnte. Sie mußte statt
dessen täglich einige Pfund gehacktes Kalbfleisch und Milch bekommen. Die Dressur-
nummer wurde für dreizehn Wochen ausgesetzt, und in dieser Zeit wurde nur
mit dem Elefanten und mit der Gruppe von Wölfen und Hyänen gearbeitet. Da
der Besuch deshalb immer schlechter wurde, beschäftigte» wir uns damit, die
Budenteile zu reparieren oder neu herzustellen und alles frisch anzustreichen. Eines
Tages hatten wir einen schweren, stark lähmenden Schimmel gekauft, der am
andern Morgen geschlachtet werden sollte. Als wir aufstanden, fanden wir die
Stalltür aufgebrochen und das Pferd hinter der Bude liege». Das Pferd war
offenbar von Dieben entführt, aber seiner Gebrechlichkeit wegen nicht weit fort¬
geschleppt worden. Wir gaben uns die größte Mühe, dem Schimmel wieder auf
die Beine zu helfen, mußten ihn aber schließlich liegen lassen und an Ort und
Stelle schlachten. Einige Tage darauf reiste ich mit Webelhorst nach Offenburg,
wo wir ein andres Schlachtpferd kauften, das ich vom Abend acht Uhr bis früh
zweieinhalb Uhr auf der Landstraße nach Straßburg führte.
Der alte Nekominandenr war ein Original. Er machte sich als vorzüglicher
Gesellschafter beliebt und hatte schauspielerische Talente, durch die er uns zu er¬
heitern Pflegte. Er wohnte in einer Stube, die aber, so lange er sie gemietet
hatte, kein Mensch betreten durfte. Wenn ich ihm Holz und Kohlen brachte, so
nahm er sie draußen auf dem Flur in Empfang, wie er sich denn auch sein Bett
selbst zu machen und seine Wäsche selbst zu waschen pflegte. Seine Kragen zeichneten
sich durch tadellose Sauberkeit aus; ging man der Sache aber auf den Grund, so
merkte man, daß er sie nicht wusch, sondern mit einer Gipslösnng bepinselte. Trotz
seinem Alter verschmähte er die kleinen Künste der Toilette nicht und verbrauchte
namentlich Parfüm in großen Quantitäten.
Als währeud unsers Straßburger Aufenthalts eine Vakanz bei uns eintrat,
empfahl ich Webelhorst meinen Freund Richard Schmidt und wurde aufgefordert,
bei ihm anzufragen, ob er eintreten wolle. Einige Tage darauf traf er denn auch
bei uus ein. Außer uns war in Straßburg noch eine andre, kleinere Menagerie,
in der Naturseltenheiten, kleine Raubtiere, ein Gürteltier usw. ausgestellt waren.
Der Besitzer hieß Zobel und verkehrte viel mit uns in einer Wirtschaft. Er war
ein großer Feinschmecker und immer dabei, wenn es etwas Gutes zu essen gab.
Das veranlaßte uns, ihm den Vorschlag zu machen, wir wollten einmal alle
zusammen Aal in Gelee essen, womit er sehr einverstanden war. Der Wirt des
Gasthauses meinte, Aal in Gelee esse man am besten zum Frühstück, und so ver¬
abredeten wir, uns am nächsten Morgen um neun Uhr alle in der Gaststube ein-
zufinden. Als wir hinkamen, war unser Stammtisch schon gedeckt, auf jedem Platz
stand ein Teller mit Messer und Gabel sowie das nötige Brot. Als Zobel erschien,
brachte der Wirt eine große verdeckte Terrine, die er mitten auf den Tisch stellte.
Da wir unsre Unterhaltung fortsetzten und der Terrine anscheinend keine Beachtung
schenkten, nahm Zobel den Deckel ab und erstaunte nicht wenig, als er statt des
Gerichts eine zusammengewickelte Weste darin fand. Er fragte den Wirt, was das
zu bedeuten habe; dieser erklärte trocken, die Herren hätten Aal in Allst (französisch:
Weste) bestellt, und er möchte die Weste nur einmal auseinanderwickeln. Wirklich
fand er darin einen winzigen geräucherten Aal vou der Dicke eines Bleistifts, den
er mit sauersüßer Miene verzehrte.
Unser Elefant hatte als Gesellschafter einen weißen Pudel, .an dem er mit
rührender Freundschaft hing. Die beiden Tiere schliefen zusammen und waren
unzertrennlich. Eines Tages aber, während der Nachmittagsvorstellung, als der
Elefant gerade eine Dressurnnmmer arbeitete, zerriß der Hund den Strick, an dem
er befestigt war, und verschwand durch die offenstehende Tür. Als sein großer
Freund dies sah, ließ er den Griff der Orgel los, sodaß der letzte Ton langsam
erstarb, begann zu trompeten, was immer ein Zeichen großer Aufregung ist, und
weigerte sich, weiter zu arbeiten. Sämtliche Angestellte mußten sich deshalb auf die
Suche uach dem Hunde machen, und als man ihn endlich brachte, faßte der Elefant
vollkommen beruhigt wieder den Griff der Orgel und spielte sein Stück zu Ende.
Inzwischen war die Tigerin wieder genesen, und die Dressuruummer wurde
wieder aufgenommen. Zuber hatte schou zweimal geprobt, und die Tigerin war
auch nach Wunsch gesprungen. Webelhorst war aber mit der Durchführung dieser
Nummer nicht zufrieden, sondern sagte dem Tierbändiger, die Nummer ginge ihm
nicht flott genug, und sie müsse mit mehr Verve durchgeführt werden. Um ihm
eine Anleitung zu geben, wie er es machen solle, stieg Webelhorst selbst in den
Dressurkäfig, wo er die Tiere vornahm und arbeiten ließ. Die Tigerin war auf
Webelhorst nie besonders gut zu sprechen gewesen, hauptsächlich weil er die Ge¬
wohnheit hatte, deu Käfig in weißen Hemdärmeln zu betreten. Sie sprang auch
diesesmal auf ein oben im Käfig angebrachtes Brett, blieb dort ruhig liegen und
sah mir zu, wie sich Webelhorst mit den Löwen beschäftigte. Als er damit fertig
war, wurde eine Barriere in den Käfig geschoben, über die die Tigerin springen
sollte. Sie weigerte sich, das Brett zu verlassen, Webelhorst versetzte ihr einige
Peitschenhiebe, worauf sie stark fauchte, aber nicht herunterkam. Webelhorst packte
sie darauf beim Schwänze und zog sie herab. Im Nu stand das Tier aufrecht
vor ihm, biß ihm die Nase durch, riß ihm ein Stück Fleisch über der linken Augen¬
braue aus der Stirn, zerfleischte ihm die rechte Wange und das rechte Ohr und
riß ihm eine Schmarre quer über das Genick. Er hatte noch die Kraft, das Tier
von sich zu stoßen und den Käfig zu verlassen. Seine Frau, die Zeugin des
Vorgangs gewesen war, schrie laut auf, und die Angestellten, die fast alle kein
Blut sehen konnten, suchten das Weite. Ich half Webelhorst aus dem Küfig und
führte ihn an das Elefantenpodium, wo ich ihm mit Verbandwatte und reinem
Wasser, das mir seine Frau brachte, die Wunden auswusch. Der Tierbändiger
Zuber rannte zum Arzt, der bald darauf in einer Droschke ankam und Webelhorst
flicken wollte. Dieser meinte aber, es sei nicht nötig, die Wunden würden auch
so heilen. Bald darauf erschien ein Schutzmann in der Bude, der sich von den
Angestellten den Vorgang genau beschreiben ließ und alles sehr umständlich in sein
Notizbuch schrieb. Mein Freund Schmidt fragte nachher ziemlich trocken, ob der
Schutzmann denn auch die Tigerin „mitgenommen" habe, und wieviel Monate
Knechen sie wohl bekommen würde. Am Nachmittag schickte Frau Seehausen, die
an der Wassersucht krank daniederlag, zu dem Universitntsprofessor, der sie be¬
handelte, damit er Webelhorst untersuche. Dieser erklärte denn, der Verwundete
müsse sich gleich in die Klinik begeben, wo er genäht werden würde. Dazu fehlte
dem Manne, der mit wilden Tieren umzugehn gewohnt war, anfänglich der Mut,
und erst der Hinweis des Professors, daß das Nähen nicht schmerzhaft sei, und
daß er sich selbst in seiner Studienzeit dieser Prozedur öfters unterzogen habe, er¬
mutigten ihn, den guten Rat zu befolgen. Er fuhr also in die Klinik, wo er mit
zweiunddreißig Nadeln genäht wurde. Der ganze Kopf wurde so mit Bandagen
umwickelt, daß nur eine kleine Öffnung vor dem Munde und eine solche vor dem
linken Ohr die Verbindung mit der Außenwelt vermittelten.
Für den geistig regen und lebenslustigen Mann war es eine schwere Aufgabe,
vier Wochen in diesem hilflosen Zustande verbringen zu müssen, und mir siel es
zu, ihn jeden Morgen bei seiner Fahrt nach der Klinik zu begleiten und ihm
Abends nach Schluß des Geschäfts aus der Zeitung und aus Büchern vorzulesen.
So mußte ich die Nacht bis zwölf oder ein Uhr an seinem Bett sitzen und für
seine Unterhaltung sorgen. Das schlimmste war dabei für mich, daß die Trink¬
gelder von Frau Webelhorst ausgezahlt wurden und deshalb weit knapper ausfielen
als sonst. Mein einziger Trost war eine große Büchse mit Priemtabak, an dem
ich mich schadlos hielt.
Wir hatten anfangs die Löwin von dem Löwen und der Tigerin getrennt,
da sie aber in ihrem Zwinger ganz unbändig wurde und sich vor lauter Sehn¬
sucht nach ihrem Eheherrn den Kopf am Gitter verletzte, brachten wir sie wieder
hinüber und nahmen statt ihrer die Tigerin heraus. Diese wurde in der Zukunft
nicht wieder zur Dressur benutzt. Unser Winterquartier näherte sich seinem Ende,
und wir hatten schon die Permission für Kehl erhalten, wohin wir in der Woche
vor der Karwoche des Jahres 1892 auf der Achse reisten. Als wir noch beim Auf¬
bauen waren, wurde Webelhorst durch einen Schutzmann zu der Behörde geladen
und erfuhr dort, daß wir in der Karwoche die Menagerie nicht öffnen dürften.
Es blieb uns also nichts andres übrig, als unser Geschäft auf die drei Tage
vom Donnerstag bis zum Sonnabend vor dem Palmsonntag zu beschränken und
am Palmsonntag die Bude geschlossen zu halten. Merkwürdigerweise hatte die Polizei
nichts dagegen, daß unsre Musiker in einer benachbarten Wirtschaft konzertierten,
wobei ich mit einem Teller einsammeln ging. Als Webelhorst am Montag darauf
von seinem Besuch in Straßburg zurückkehrte, war er von seiner Bandage erlöst
und lud uns zur Feier seiner Genesung zu einem Glase Bier ein.
Wir brachen an demselben Tage noch ab und verluden am Dienstag Vor¬
mittag auf der Bahn nach Waldkirch im Schwarzwald. Ich erhielt den Auftrag,
vier Schlachtpferde dorthin zu bringen, spannte unsern Ponyhengst vor einen kleinen
Wagen und band die vier Pferde hinten an. Da der Ponyhengst scharf zog, die
vier Schlachtpferde aber nicht recht von der Stelle konnten, rissen sie mir mitten
auf der Landstraße meinen Wagen auseinander, und ich war genötigt, ihn im
nächsten Dorfe mit Hilfe von Stricken und Nägeln, die mir ein Tischler gab, einst¬
weilen notdürftig zu reparieren. Am Abend kehrte ich in einem Dorfgasthof ein,
übernachtete mit meinen fünf Pferden im Stall und fuhr in der Frühe des nächsten
Morgens weiter, bis ich um drei Uhr am Nachmittag in Waldkirch anlangte. Dort
standen die Menageriewagen schon auf der Straße vor der Wiese und wurden mit
Hilfe von Bohlen und Hebebäumen ans den Platz geschafft. Ich fragte nach dem
Prinzipal und hörte, daß dieser krank sei und im Wohnwagen liege. Als ich ihn
besuchte, war er sehr hinfällig und klagte, daß ihm alle Glieder weh täten. Er
hatte den Gelenkrheumatismus, und ich glaube mit Bestimmtheit behaupten zu
dürfen, daß seine Erkrankung auf eine Blutvergiftung durch den Tigerbiß zurück¬
zuführen war.
Nun mußte ich wieder den Krankenpfleger spielen, und zwar nur des Nachts,
wo ich aber mit dem Patienten soviel zu tun hatte, daß ich selbst kaum zu einer
Viertelstunde Schlaf kam. Im Wohnwagen war dicht bei der Tür das Bett des
Dienstmädchens, dann kam der Kinderwagen, und hinter diesem lag mein Stroh¬
sack. Hatte ich Webelhorst zurechtgelegt und mich auf mein Lager gestreckt, so rief
er, ich möchte ihm doch zu trinken geben. Ich erhob mich, erfüllte seinen Wunsch
und legte mich wieder hin. Kaum lag ich, so bat er mich, ihm den Schweiß zu
trocknen; war das geschehen, so vergingen wenig Minuten, und er rief wieder, ich
möchte ihm das Kopfkissen zurechtrücken. In dieser Weise ging es die ganze Nacht
weiter, was für mich um so weniger eine Erholung war, als ich den Tag über
gehörig arbeiten mußte. Die Lohnverhältnisse wurden immer schlechter, und als
wir am Sonnabend vor Ostern ein schönes gesundes Pferd schlachteten, ließ sich
Fran Webelhorst ein Stück davon geben, das sie uns am ersten Feiertag als Fest¬
braten vorsetzte. Ich bin keineswegs ein Verächter von gutem Pferdefleisch, aber
es ging mir doch über die Hutschnur, daß wir an einem solchen Feiertage keinen
andern Braten erhielten.
Nachdem wir abgebrochen hatten, brachten wir die Wagen wieder mit der
Hand von der Wiese auf die Straße. Da der Elefantenwagen sehr schwer war,
erbat ich von unserm Prinzipal die Erlaubnis, den Elefanten samt dem Pudel,
seinem Gesellschafter, aus dem Wagen nehmen zu dürfen und ihn so lange auf
der Wiese stehn zu lassen, bis der Wagen ans der Straße stünde. Ich legte also
ein Heubündel zurecht, holte den Elefanten heraus und hielt bei ihm Wache,
während die Musikanten den Wagen wegschoben. Plötzlich kam eine Prozession
mit lautem Gesänge die Straße herunter, und der Elefant wurde darauf auf¬
merksam. Er stellte die Ohren auseinander, trompetete und machte Miene durch-
zugehn. Ich faßte ihn mit dem Haken hinter dem Ohr und drehte ihn so, daß
er die Prozession nicht mehr sehen konnte, worauf er sich denn auch beruhigte.
Zum Glück hatten die Leute den Elefauten rechtzeitig bemerkt und ihren Gesang
eingestellt.
Von Waldkirch fuhren wir ans der Achse nach Emmendingen. Hier bekam
das kleine Kind von Webelhorst die Masern, und der Wohnwagen wurde immer
mehr zu einem Lazarett. Zum Überfluß bekam ich noch Streit mit dem Dienst¬
mädchen, das mir das Brennholz wegnahm, das ich mir bei einem Stellmacher
geholt und sorgfältig zerkleinert hatte, weil ich damit das Wasser für die Wärm¬
flaschen der Schlangen wärmen wollte. Da Frau Webelhorst die Partei des
Dienstmädchens ergriff, erklärte ich, daß ich in vierzehn Tagen mit der Arbeit auf¬
hören werde. Wir fuhren weiter nach Freiburg im Breisgau zur Messe.
Nachdem ich bei der Menagerie ausgetreten war, hielt ich mich einen ganzen
Tag lang auf dem Meßplatz auf, um zu sehen, ob sich nicht Arbeit für mich fände.
Eine Negerin, die „schwarze Mary," die eine „Briefmaschine" hatte und mich schon
seit vielen Jahren kannte, fragte mich, ob ich bei ihr eintreten wolle, wozu ich
auch sofort bereit war. Die Briefmaschiue bestand aus einem Gestell, in dessen
Mitte ein langes zylinderförmiges, mit Wasser gefülltes Glas auf einem Sockel
stand. Rechts und links von diesem Glase war je eine kleine Säule angebracht,
die einen Kasten trugen, dessen Mitte gerade über dem Glase lag. Dieses selbst
enthielt eine kleine Tenfelsfigur aus Glas und war durch eine dünne Guttapercha¬
haut verschlossen. Zog man einen hinter einer der Säulen verborgnen Faden, so
drückte eine Hebelvorrichtung auf den Guttaperchaverschluß, und das Glasteufelchen
stieg im Wasser empor, bis es scheinbar im Kasten verschwand. In diesen Kasten
wurden Briefe gelegt, auf die zuvor mit Bleiessig irgendein verheißungsvolles
Motto geschrieben war, wie zum Beispiel: „Du hast dem Glück gefunden." „Du
bist dem Ziele deiner Wünsche nahe" oder „Lieb, so lang du lieben kannst" usw.
In dem Kasten kamen die Briefe mit einer Säure in Berührung, auf die der
Bleiessig reagierte, worauf dann die Aufschriften deutlich sichtbar wurden. Der
Inhalt der Briefe war ein „gedruckter Planet," d. h. eine Prophezeiung auf Grund
astrologischer Regeln, die sich vermutlich nur in dieser Form aus dem grauen
Mittelalter bis auf unsre Tage erhalten haben, und ferner eine Photographie — in
den Briefen, die für Damen bestimmt waren, natürlich eine Herrenphotographie,
in den Briefen für Herren ein Damenbildnis.
Ich half schon am Sonnabend Nachmittag beim Verkaufen der Briefe, die
wir mit zehn Pfennigen bezahlt bekamen, während sie uns selbst etwa drei Pfennige
kosteten. Am Sonntag Morgen mußte ich in der Kammer der schwarzen Mary
mit Bleiessig nach einer besondern Tabelle die Aufschriften schreiben, während meine
Prinzipalin die Photographien und die Planeten in die Kuverte steckte, und am
Nachmittag fehlen wir den Verkauf fort. Gegen acht Uhr Abends hatten wir
schon zwölfhundert Stück verkauft, und meine Prinzipalin ging zu einer Kollegin,
die ihr noch ein paar Hundert überließ. So machten wir an einem Nachmittag
einen Reingewinn von ungefähr fünfundneunzig Mark, was für ein solches Geschäft
keine schlechte Einnahme ist. Ich erhielt außer meinem Lohn von sechs Mark für
den Tag freies Abendbrot und Bier.
Während der Messe blieb ich bei der schwarzen Mary und fuhr dann in einer
größern Gesellschaft zum Schützenfest nach Straßburg. Wir hatten uns, da wir zu
dreißig Personen waren, ein Gesellschaftsbillett genommen und machten dadurch die
Reise weit billiger. Das Schützenfest wurde in der Nähe von Kehl gefeiert, aber
da sich für mich dort keine Arbeitsgelegenheit fand, ging ich nach Straßburg
hinein und besuchte meine alten Bekannten am Metzgertor. Der Photograph Leh-
mann sowie der Wirt aus dem Straßburger Tanzsalon sagten mir, daß ich mich
zwei Tage gedulden solle, da dann Wittgers Panoptikum käme, bei dem ich vielleicht
Arbeit finden könnte. Als das Panoptikum ankam, legte der Photograph ein
empfehlendes Wort für mich ein, und ich wurde dann auch von dem Besitzer,
Heinrich Wittger aus Kessenich bei Bonn, engagiert.
Seine Frau war viel älter als er selbst und überdies vollständig blind, was
sie aber nicht hinderte, während der Geschäftszeit an der Kasse zu sitzen und das
Entree selbst zu erheben. Von Angestellten war ein Rekommandeur vorhanden,
ferner ein Katalogverkäufer und ein vierschrötiges Dienstmädchen, dem die Ver¬
waltung des Extrakabinetts oblag. Meine Tätigkeit beschränkte sich in der Haupt¬
sache auf das Orgeldrehen; unser Lieblingsstück war der Fehrbelliner Reitermarsch>
Die Bude hatte eine Länge von dreißig und eine Tiefe von sieben Metern. Zum
Geschäfte gehörten ein Wohn- und zwei Packwagen. An der Kasse standen als
sogenannte „Kassenstücke" lebensgroße Wachsfiguren, darunter die Königin Luise
in einem Glaskasten, „der Lachmichel," der eine große Trommel schlug und den
Kopf bewegte, die „tanzende Alte" und der Asrikareisende Casati in seiner Ge¬
fangenschaft, an einen Baum gebunden und von zwei Negern mit Schild und
Speeren bewacht. Wenn der Fehrbelliner Neitermarsch gespielt wurde, begleitete
der Lachmichel die Musik mit Trommelschläger, während sich die tanzende Alte in
Bewegung setzte. Beide Figuren mußten hierbei von hinten dirigiert werden. Im
Innern der Bude sah man Kaiser Wilhelm den Zweiten nebst dem Kronprinzen,
die büßende Magdalena, dann die Büsten von Kaiser Friedrich, König Albert von
Sachsen, Bismarck, Moltke, Roon in Glaskasten, ferner den sterbenden Krieger
(mechanisch) mit einer barmherzige» Schwester, eine Gruppe „Scherz und Leid"
(zwei Kinder mit Brezeln und einem Hund), einen Schwarzwälder Bauern, der
seine Pfeife rauchte, eine Falschmüuzerbande bei ihrer Verhaftung, Schusters Blauen
Montag, eine Köchin mit ihrem Soldaten in der Küche, endlich ein Lachkabinett
mit Vexierspiegel und eine Sammlung ausgestopfter Tiere, worunter besonders die
Fuchsgruppe Beachtung verdiente, einen dreibeinigen Hund in Spiritus, ewige
andre Abnormitäten und Menschenschädel.
Das Extrakabinett, das gegen ein besondres Entree von zehn Pfennigen ge¬
zeigt wurde, enthielt zwei Panoramenbilder, eine Nachbildung der Guillotine und
die Richtwerkzeuge des Scharfrichters Krauts. In der Mitte des Extrakabinetts
war eine Art von Podium gebaut, das schwarz behängt war. Darauf stand der
Richtblock, der eine Aushöhlung für das Kinn des Delinquenten zeigte und mit
einer mit zwei Riemen versehenen Bank verbunden war. Daneben lag in einem
mit blauem Sammet ausgeschlagnen Etui das Richtbeil, in dessen Klinge die Namen
sämtlicher damit Hingerichteter Verbrecher eingraviert waren. Zu diesem Werkzeug
gehörte ein Buch mit einer Beschreibung jeder Hinrichtung vou Krauts eigner
Hand. Das Buch wurde in einem Glaskasten aufbewahrt, und die Blätter waren
mit einer Vorrichtung versehen, die es dem Beschauer möglich machte, die einzelnen
Seiten von außen umzuwenden. Auf dem Podium stand außerdem noch ein Rtcht-
block des Scharfrichters Reindel aus Magdeburg sowie ein alter Richtstuhl mit
zwei Schwertern. Die Wände waren mit eingerahmten Schriftstücken dekoriert, die
sich alle auf Hinrichtungen bezogen. Es waren Depeschen, abschlägig beschiedne
Gnadengesuche und verschiedne Briefe. Im Hintergründe standen lebensgroße
Wachsfiguren der berüchtigtsten Verbrecher unsrer Zeit, worunter auch der damals
vielgenannte Mädchenmörder Schenk aus Wien war. Den Übergang zu einer
kleinen Sammlung von Straf- und Folterwerkzeugen machte eine Gruppe von zwei
Weibern, die in eine sogenannte Zankgeige eingesperrt waren. Es war das ein
geigenförmig geschnittnes Brett und zwei Löchern für die Köpfe und vier Löchern
für die Arme.
Die Herrschaft schlief im Wohnwagen, das Dienstmädchen schlug sein Nacht¬
lager in der Transportkiste der büßenden Magdalena ans, die für gewöhnlich im
ersten Packwagen stand, während die drei männlichen Angestellten im zweiten Pack¬
wagen hausten.
Die Wachsfignrengruppen wurden fertig ans der Fabrik bezogen, wo man
auch einzelne Köpfe und Körperteile erhalten konnte, die dann zusammengesetzt und
bekleidet wurden. Bei dem Transport nach Straßbnrg hatten die Unterschenkel
und die Füße der büßenden Magdalena stark gelitten und mußten erneuert werden.
Da es um Zeit fehlte, solche aus der Fabrik zu beziehn, kamen wir auf den Ge¬
danken, von den Beinen unsers Kntalogverkänfcrs, der sehr zierlich gebant war,
Abgüsse zu machen und mit deren Hilfe die defekte Heilige zu restaurieren. Der
Angestellte mußte seine Unterschenkel mit Öl bestreichen, worauf der Photograph
Lehmnnu, der uns als Künstler bei dieser Manipulation behilflich war, einen Bind¬
faden um Schenkel und Füße legte und diese darauf mit eiuer dicken Schicht Gips
umkleidete. Als der Gips hart zu werden begann, wurde der Faden losgerissen
und die Gipsumhülluug auf diese Weise in zwei gleiche Hälften geteilt. Diese
Hälften setzten wir wieder aneinander und gössen sie mit Wachs aus. Als das
Wachs erhärtet war, wurde die Form gelöst, die Naht beseitigt und das so ent-
standne Werk mit Farbpulvcr koloriert. Auf diese einfache Weise kam die Heilige
zu neuen Beinen. Beim Abbrechen bemerkte ich, wie der Katalogverkäufer mit
dem Mädchenmörder die Stiefeln tauschte, und da meine Hosen der Schonung
bedürftig waren, folgte ich seinem Beispiel und endlich mir die Beinkleider des
Verbrechers.
Wir besuchten noch eine Anzahl Städte im Elsaß und in der Pfalz und
kamen endlich nach Kreuznach. Inzwischen war der Winter schon nahe gekommen,
und ich vermutete, daß das Geschäft bald eingestellt würde, wo ich dann wenig
zu tun gehabt hätte. Deshalb besprach ich mich mit meinem Prinzipal, der mich
zwar nicht fortgeschickt hätte, der mich aber auch nicht daran verhindern wollte,
mir andre Arbeit zu suchen. Ich las zufällig in einer Wirtschaft den „Kometen"
und fand darin ein Stellenangebot der Menagerie Nouma Hawa, die sich zurzeit
in Straßburg aufhielt und einen Tierwärter suchte. Ich meldete mich schriftlich
und erhielt sofort Anstellung bei einem Anfangswochenlohn von siebzehn Mark und
freiem Logis.
Ich reiste nach Straßburg, fragte dort einen Schutzmann nach dem Stein¬
tor und erkundigte mich unterwegs uoch einmal bei einem kleinen Mädchen, das
mich in der freundlichsten Weise zurechtwies und mir sagte, ich solle nur die Straße
entlang gehn, dann würde ich auf den Platz gelangen, wo die schöne Bude der
Menagerie Nouma Hawa stehe. Als ich dort anlangte, war die Bude noch ge¬
schlossen; ich klopfte an und stellte mich dem Direktor Bucher vor, der mich auf¬
forderte, in die Menagerie einzutreten, und mir sagte, daß er nachher auch kommen
würde. Inzwischen sah ich mich in der von Gasflammen spärlich erleuchteten
Menagerie um und machte die Bekanntschaft meiner Kollegen. Um sieben Uhr
wurde die Bude erleuchtet, die Kasse eröffnet, und die Musik begann zu spielen.
Die Besitzerin war eine Französin, die sich den Namen Nouma Hawa beigelegt
hatte. Es war eine imposante üppige Erscheinung, die immer in ausgesuchter, ge¬
schmackvoller Toilette erschien und als das Merkmal ihres Berufs Narben am Kinn
und an der rechten Hand trug. Der Direktor und Dompteur, der mit der Prinzi¬
palin im Wohnwagen hauste, war ein Schweizer. Außerdem waren ein Geschäfts¬
führer, ein Katalogverkäufer, vier Wärter, darunter der Bruder der Besitzerin,
Monsieur Louis, der kurzsichtig war und eine Brille trug, ein Zimmermann, acht
Musiker und ein Dienstmädchen vorhanden. Ich habe in meinem Leben viele
Schaugeschäfte und namentlich Menagerien gesehen, aber noch kein Unternehmen
dieser Art, das in jeder Hinsicht so vorzüglich organisiert und geleitet gewesen
wäre wie diese Menagerie. Überall herrschte die größte Sauberkeit, die Käfige
waren innen weiß gestrichen und wurden jeden Morgen ausgewaschen.
Der Tierbestand setzte sich aus auserlesnen Exemplaren zusammen. Vorhanden
waren ein Elefant, ein Gnu, ein Lama, ein Zebra, ein Känguruh, ein Kasuar, eine
ausgewachsne Tigerin („Saida"), sechs junge Löwen, darunter zwei zweijährige
und zwei einjährige, ein Eisbär, ein Berberlöwenpaar („Sultan" und „Cora"),
fünf weitere Löwen (drei weibliche und zwei männliche) und ein ganz junger Löwe,
der ini Wohnwagen gehalten wurde, und der Madame gewissermaßen als Scho߬
hund diente, ein Kragenbär, zwei Wölfe, eine gefleckte Hhäne, eine große Kollektion
Affen, Papageien und Riesenschlangen, die am Eingang an der Kasse auf einer mit
Blattpflanzen geschmückten Bühne gezeigt wurden. Der Eintritt auf den ersten
Platz, der mit eisernen Klappstühlen und einer Schicht Sägespäne als Ersatz für
den Fußteppich versehen war, kostete eine Mark fünfzig Pfennige, auf dem zweiten
Platz zahlte man achtzig Pfennige und auf dem dritten vierzig Pfennige; diese
beiden Plätze bestanden aus erhöhten Podieu. Wegen des hohen Eintrittsgeldes
fand sich in der Regel nur besseres Publikum ein.
Um siehe» Uhr wurde die Kasse geöffnet, und im Innern der Bude spielte
die Musik einige Stücke, bis um acht Uhr die Vorstellung begann. Eine Re-
kommandation wie bei andern Menagerien gab es hier nicht. Der gute Ruf, der
dem Geschäft voranging, machte eine Empfehlung dieser Art überflüssig. Mit dem
Schlage Acht erschien der Geschäftsführer in schwarzem Anzüge, machte die Expli¬
kation und leitete die Vorstellung ein. Darauf fand die Fütterung der Raubtiere
statt, ebenfalls im Gegensatz zu andern Menagerien, wo die Fütterung nach den
Dressurnummern vorgenommen wird. Nach der Fütterung war eine Pause von
zehn Minuten, und hierauf folgten die verschiednen Dressurnummern im Zentral¬
käfig. Der Geschäftsführer machte das Programm bekannt, wonach in der ersten
Abteilung Direktor Bucher mit seinem bisher für unzähmbar gehaltnen Eisbären
auftrat. Bucher betrat den Zentralkäsig von der einen Giebelwand aus, sodaß ihn
das Publikum erst bemerkte, wenn er im Käsig war. Der Eisbär mußte sich in
einer Ecke aufrecht stellen, der Dompteur trat an ihn heran, begrüßte ihn und ließ
ihn neben sich auf den Hinterpranken durch den ganzen Käfig promenieren, worauf
eine Barriere hineingeschoben wurde, über die das Tier einigemal springen mußte.
Damit war die Nummer beendet. In der zweiten Abteilung produzierte sich
Direktor Bucher mit seiner Löwin Cora, „die sich erst seit acht Monaten in Ge¬
fangenschaft befand." Das Tier hatte in den zwanzig Jahren, die es schon in der
Menagerie lebte, seine Scheu vor dem Dompteur noch nicht überwunden und mußte
durch List in den Zentralkäsig gelockt werden. Zu diesem Zweck wurde auf der
entgegengesetzten Seite die Tür zu einem andern Käfig geöffnet, was die Löwin
zu der Vermutung brachte, daß drüben ein Ausgang sei. Sie verließ ihren Zwinger
nur, wenn sie diese Tür geöffnet sah, und nun mußten die Angestellten in dem¬
selben Augenblick, wo sich das Tier anschickte, mit einem riesigen Sprung den
Zentralkäfig zu durchmessen, diese Tür schließen, und ehe sich die Löwin umdrehen
konnte, ihr auch den Rückzug abschneiden. Wenn diese List, was zuweilen geschah,
nicht half, so mußte man seine Zuflucht zu einem halben Eimer Wasser nehmen,
der dem Tier über den Kopf geschüttet wurde, worauf es seinen Käfig schleunigst
verließ. Überhaupt war auf jeder Seite des Zentralkäfigs ein Faß mit Wasser
nebst einem Eimer aufgestellt, weil ein kalter Guß das beste Mittel ist, ein wider¬
spenstiges Raubtier zur Vernunft zu bringen. Bevor Bucher den Käfig betrat,
klopfte er an die Tür zum Zeichen, daß die Musik einen flotten Galopp, der bei
dieser Nummer gespielt wurde, anstimmen sollte. Dann schlüpfte er mit großer
Schnelligkeit in den Käfig, wo die Löwin gleich bei seinem Erscheinen in großen
Sätzen nmherzusausen begann und zuweilen bei diesen Sprüngen die Decke be¬
rührte. Bücher ließ sie dann wiederholt über eine Barriere springen und gab
ihr, wenn sie in einer bestimmten Ecke des Käfigs angelangt war, einen Hieb mit
der Peitsche, worauf sie unbeweglich sitzen blieb. Der Dompteur beobachtete sie
mit scharfem Auge, warf ihr erst die Peitsche, dann die Gabel zu, verschränkte die
Arme und sah sie eine Weile fest an. Dann trat er plötzlich einige Schritte
zurück; in demselben Augenblick öffnete sich die Tür des Zentrnlkttfigs, und die
Löwin, die jetzt freie Bahn vor sich sah, benutzte die Gelegenheit, sich schleunigst
aus der ihr offenbar unangenehmen Gesellschaft zu entfernen.
In der dritten Abteilung produzierte sich Bucher „mit der Löwin Diana im
Feuerregen." Auch diese Löwin gebärdete sich ziemlich wild, ließ aber den Feuer¬
regen, der mit Hilfe einer oben am Gitter befestigten Rakete auf sie losgelassen
wurde, während sie ihre Sprünge über die Barriere machte, ruhig über sich er¬
geb». Wie ich später bemerkte, war das Tier blind. In der vierten Abteilung
arbeitete Direktor Bucher mit fünf Löwen, den beiden männlichen, „Prinz" und
„Piccolo," und den drei weiblichen, „Diana," „Flora" und „Verviette." Dies
war eine sogenannte zahme Dressurnummer. Der Dompteur begab sich zuerst in
den Käfig der Löwen, die er einzeln mit freundlichen Worten und Liebkosungen
begrüßte und mit Güte vor sich her in den Zcntralkäfig trieb. Dort nahm jedes
der Tiere seinen bestimmten Platz ein, von dem es durch den Dompteur zur Arbeit
gerufen wurde. Zuerst kam der Atlaslöwe Piccolo an die Reihe, der seinen in
der Mitte des Käfigs stehenden Gebieter mehrmals umkreiste, wobei er zu ihm
aufschaute und zum Zeichen seines Wohlbehagens den Schweif erhob. Dann wurde
die Löwin Flora gerufen, die sich zu Buchers Füßen niederlegte, worauf dieser an
ihrer Seite niederkniete, ihren Nachen öffnete, den Unterkiefer mit der rechten Hand
umklammerte und so das Tier zu sich in die Höhe zog, wobei er ihm mit der
Rechten die Schnurrhaare streichelte. Darauf begab sich Flora auf die linke Seite,
Bucher kniete nieder, und die beiden Löwinnen Flora und Verviette kamen von
links und rechts und küßten ihm die Wangen. Endlich ließ der Dompteur den
Löwen Prinz und die drei Löwinnen über eine niedrige Barriere und durch einen
mit buntem Papier beliebten Reifen springen. Hierbei machte die Löwin Flora
den „August," indem sie vor der Barriere stehn blieb, diese mit einem unglaublich
dummen Gesichtsausdruck musterte und bei dem Kommando, anstatt den Sprung
zu wagen, hinter dem Dompteur wegging. In der fünften Abteilung erschien
Madame Nouma Hawa mit dem Berberlöwen „Sultan," der bei einer Vorstellung
in Verviers den Tierbändiger Beruett zerrissen und seine Herrin selbst an Kinn
und Hand schwer verletzt hatte. Wahrend Bucher bei seiner Arbeit eine kurze
pelzbesetzte blaue Schnürenjacke, graue Trikothosen und hohe Lackstiefel trug, erschien
die Prinzipalin in einem phantastischen Kostüm. Sie trug einen fleischfarbnen
seidnen Trikot und darüber ein kurzes Obergewand, das nicht viel weiter als über
die Taille hinabreichte, vorn mit laugen Goldfransen und hinten mit einer statt¬
lichen Schleppe versehen war. Im Haar trug sie ein prächtiges Diadem von acht
Edelsteinen, ebenso an den Händen zahlreiche Brillantringe. Sie wirkte bei dieser
Nummer mehr durch ihre Erscheinung als durch ihre Leistungen. Zum Schluß
der Vorstellung gab es eine Schlangenapotheose, die von Madame Nouma Hawa
auf der am Eingang angebrachten Bühne bei Rotfeuer ausgeführt wurde. Madame
erschien mit drei oder vier Riesenschlangen umwunden, präsentierte sich dem
Publikum, entledigte sich dann der Schlangen und ließ sich einen jungen Löwen
reichen, der in der Menagerie geboren war und immer sechs Wochen alt blieb,
und den sie den Besuchern des ersten Platzes zum Streicheln darbot. Damit war
die Vorstellung beendet, und der Geschäftsführer „rekommnudierte ab," d. h. er
dankte für den Besuch der Vorstellung und machte darauf aufmerksam, daß die
Menagerie nur noch bis zum 16. Dezember zur Schau stünde, und daß am nächsten
Tage um vier und um acht Uhr weitere Vorstellungen stattfinden würden. Als
sich das Publikum verlaufen hatte, wurden die Tiere mit Milch getränkt, die Käsige
mit Stroh versehen und die untern Klappen der Menageriewagen geschlossen. Ich
begab mich, da mein Bett noch nicht hergerichtet war, mit dem Zimmermann in
ein Gasthaus, übernachtete dort und trat am nächsten Morgen, dem 2. Dezember,
meine Stelle an. Man überwies mir zwei Wagen, die die Löwen Sultan und
Cora, die sechs jungen Löwen, die Tigerin und den Eisbär enthielten. Da die
jungen Löwen zahm und zutraulich waren, machte ich mir das Vergnügen, wenn
ich den Käfig reinigte, zu den Tieren hineinzugehn.
An diesem Tage herrschte in der ganzen Menagerie eine freudige Aufregung,
denn man hatte Kenntnis davon erhalten, daß den Tag darauf der Statthalter
Fürst Hohenlohe, der nachmalige Reichskanzler, das Geschäft mit seinem Besuche
beehren wolle. Ein Dekorateur mußte die ganze Bude ausschmücken, über den
schon mit Sägemehl belegten Boden wurde eine weitere Schicht und darüber ein
Teppich ausgebreitet. Die Pfosten wurden mit weißroter Leinwand umzogen und
mit Fahnen, Wappen und Emblemen verziert. Vor dem Zentralkäfig errichtete
der Zimmermann ein Podium, auf dein fünf Plnschsessel ihren Platz fanden. Die
erste Vorstellung an diesem Festtage war die annoncierte Vierührvorstellung, die
diesesmal besonders rasch abgewickelt wurde, und wobei die Fütterung ausfiel. Die
fünf Plüschsessel, die schon für die ExtraVorstellung bereit standen, würden gänzlich
unbenutzt geblieben sein, wenn nicht ein Dienstmädchen ans der Nachbarschaft, das
ein Billett zum ersten Platze hatte, mit edler Dreistigkeit das Podium bestiegen
und sich auf einem der Sessel niedergelassen hätte.
Genau um fünf Uhr, kurz nachdem die Militärmusik, die zu dieser Vorstellung
engagiert war, auf dem Orchester Platz genommen hatte, fuhren zwei Wagen vor,
denen Fürst und Fürstin Hohenlohe und zwei Begleiter entstiegen. Sie wurden
am Eingange der Menagerie von dem Direktor und dem Geschäftsführer, die zu
diesem Zwecke Frack und Zylinder angelegt hatten, empfangen und in die Bude
geleitet. Der Geschäftsführer machte die Explikation, und darauf erhielten die Tiere
extragroße Fleischporttonen von ganz besonders guter Qualität. Die Dressurnummern
verliefen in der gewohnten Weise, und zum Schluß zeigte Madame dem hohen
Besuche den jungen Löwen. Die Herrschaften sprachen sich sehr anerkennend über
das Geschaute aus und wurden wiederum von dem Direktor bis zum Ausgange
geleitet.
Bald nach diesem Besuche stellte sich Schneewetter und Kälte ein, und wir
bezogen unser Winterquartier in einer großen Remise am Metzgertore.
(Fortsetzung folgt)
VSM! oktor der Medizin Wilhelm Holmsted war noch ein jüngerer Manu,
dessenungeachtet hatte er aber schon einen Namen als Arzt, und zwar
einen Namen, der über die Grenzen des Landes hinausreichte.
Er war ein tätiger Vorkämpfer in dem Feldzuge gegen die
Tuberkulose, und er hatte Aufsehen erregt durch sein Kaltwasser-,
iLnft- und Naturheilverfahren.
Als er sich vor einem Jahre als Arzt hier in der Gegend niedergelassen hatte,
hatte er sich bei Madame Grönbaek einquartiert und war an einem Abend spät auf
seinem Rad in seiner neuen Wohnung eingetroffen.
Von ihrem Bett aus glaubte die Madame allerlei Geräusch zu vernehmen,
meinte aber, daß er wohl seinen vor ihm angekommnen Koffer auspackte und die
Möbel ein wenig umstellte. Sie sollte aber eiues andern belehrt werden. Als sie
am nächsten Morgen auf den Gang hinauskam, wäre sie fast über alles das ge¬
fallen, was da stand. Da sah sie, daß das Sofa, die Polsterstühle, die Bilder,
die Gardinen und die Topfpflanzen aus des Doktors Zimmer den Gang versperrten.
Sie klopfte an und fragte erschrocken, ob das alles nicht gut genug sei, da der
Doktor es herausgeworfen habe.
Er antwortete ihr etwas verlegen aber sehr bestimmt: Entschuldigen Sie,
Madame Grönbaek, es sind gewiß alles vorzügliche Sachen, aber es ist mein
Prinzip, daß Licht und Luft die Hauptsache sein sollen, darum: weg mit den Gar¬
dinen! Da ich immer bei geöffnetem Fenster lebe, kann ich auch keine Pflanzen
auf den Fensterbrettern stehn haben. Portieren und Teppiche sammeln nur
Ansteckungsstoffe.
Nein, das tun sie weiß Gott uicht, die sind in einem Ausverkauf in der Stadt
gekauft. Und das, woran Grönbaek gestorben ist, war man, daß er keine Luft hatte.
Ja, da sehen Sie es selber! Und ich sitze nur auf hölzernen Stühlen; die
kommen mit meinem Gepäck, meinem Schreibtisch, Bücherbord und meinen medi¬
zinischen Instrumenten.
Später sah sie, daß er die obern Fenster im Schlafzimmer herausgenommen hatte.
Aber Herr Doktor wollen doch nicht bet offnen Fenstern liegen?
Ja, im Sommer wie im Winter.
Das sollt mein seliger Mann bloß gesehen haben! Ich weiß noch, das war immer
das letzte, wonach Grönbaek alle Abende sah, ob die Haken auch alle zu waren!
Holmsted machte einen Besuch bei Naerums, und sein stilles, bescheidnes Wesen
gefiel allen, nicht am wenigsten der Tochter. Gemeinsame musikalische Interessen
verknüpften sie, sie sangen und spielten häufig zusammen.
Aber es war ein völliges Mißverständnis, wenn sie glaubte, daß sein Herz
schneller poche bei dem gemeinsamen Singen der Liebeslieder, die Frau Ncierum
so gern in der Dämmerung von „den Jungen" singen hörte.
Fräulein Naerum hätte „Ich liebe dich!" in allen Zungen der Welt fingen
können, ohne daß es weiter als bis an sein Ohr gedrungen wäre.
Aber es lag etwas Jungfräuliches über ihm, was Frau und Fräulein Naerum
zuweilen auf ganz verkehrte Weise gedeutet hatten.
Koltrup sagte von ihm, sein Aussehen sei klassisch. Aber nicht alle verstehn
sich ja darauf, die Klassiker zu lesen.
Nachdem Holmsted Helene in der Kirche gesehen hatte, hatte er Naerums nur
ganz flüchtig besucht. Da saß er eines Abends vor seinem Hause und rauchte seine
Zigarette zu einem Glase kalten Tees. Nur ganz ausnahmsweise, wenn er Besuch
hatte oder selber aus war, genoß er stärkere Getränke. Er war ein eifriger Vor¬
kämpfer für die Mäßigkeitsbewegung und selbst sehr mäßig, ohne dabei einseitig
zu sein.
Da kam Naerum in seinem „antediluvianischer" Doktorwagen vorüber, wie
Holmsted das Gefährt des Medizinalrath nannte.
Er wurde zu einem Grog und einer guten Zigarre eingeladen, zwei Genüsse,
denen der alte Herr nicht widerstehn konnte.
Nach einem gemütlichen Plauderstündchen fuhr er nach Hause, und als er von
dem Besuche bei Holmsted erzählte, riefen die Damen wütend: Bei Holmsted bist
du gewesen?
Ja, bei Holmsted — ist denn das etwas so sonderbares? Er war liebens¬
würdig wie immer und bot mir Grog und eine Zigarre an — eine ganz extra¬
feine Havanna!
Wie naiv du bist, Naerum!
Ja, Vater ist unglaublich naiv!
Naiv — was soll das heißen?
Was das heißen soll? — Naerum! hast du denn nicht bemerkt, daß Doktor
Hvlnisted seit mehr als drei Wochen keinen Fuß in unsre Wohnung gesetzt hat; er
vernachlässigt uns gänzlich, seit diese sogenannte Schönheit hier in der Gegend auf¬
getaucht ist.
Die Tochter hielt das Taschentuch vor die Augen und eilte zum Zimmer hinaus.
Ich bin fest überzeugt, sie geht in ihr Zimmer und weint; ja er hat sich ihr
gegenüber auch so benommen, daß er sich nicht gut zurückziehn kann, wenn er ein
Mann von Ehre ist. Aber dessenungeachtet besuchst du ihn und läßt dich durch
seinen Grog und seine Zigarren beschwichtigen. Naerum, ich habe bisher nicht
gewußt, daß du herzlos bist!
Na, das wäre denn doch auch! So ein Halunke! Ja, das ist ganz richtig!
Und schließlich geht er wohl noch gar hin und nimmt mir alle meine Patienten
weg; der alte Per Nielsen sing heute auch schon an von kaltem Wasser und gelben
Wurzeln zu reden — das setzt ihnen Holmsted alles in den Kopf!
Währenddessen ahnte der Gegenstand dieser Wut nichts von alledem. War
es aber schlimm gewesen, nachdem er Helene gesehen hatte, so wurde es noch
schlimmer, als er mit ihr gesprochen hatte; nach dieser Begegnung hatte er sich
nicht überwinden können, zu Naerums zu gehn. Aber jetzt, wo er den Medizinal¬
rat wieder gesehen hatte, entschloß er sich doch, einen Besuch zu macheu.
Und schon am nächsten Nachmittag radelte er hin und überraschte den Medizinal¬
rat, der halb schlafend mit Pfeife, Kognak und Wasser in einer Laube saß. Vor
ihm lag die Medizinische Zeitung, die ihm seine Frau in die Hand zu stecken pflegte,
wenn er müde wurde; er war nämlich nie sicher vor Besuch, und auf die Patienten
machte das dann einen guten Eindruck.
Naerum fuhr erschrocken in die Höhe und sagte ärgerlich: Leben Sie wirk¬
lich noch?
Holmsted antwortete erstaunt: Warum sollte ich denn seit gestern Abend ge¬
storben sein?
Warum — warum — vielleicht weil Ihr böses Gewissen bei meinem An¬
blick erwacht war, das Ihnen hätte sagen müssen, daß Sie mich und meine Familie
schändlich vernachlässigt haben, namentlich aber meine —-
Guten Tag, Herr Doktor! Das ist ja nett von Ihnen! sagte mit ihrem
strahlendsten Lächeln die Medizinalrcitin, die sein Kommen bemerkt, Unrat gewittert
hatte und sogleich mit der Tochter herbeigeeilt war; wir haben uns schon sehr nach
Ihnen gesehnt!"
Bei dem Worte „wir sah sie zu der Tochter hinüber, die beinahe schön wurde
bei dem Anblick des jungen Arztes.
Ich habe eben Schelte vom Herrn Medizinalrat bekommen, sagte Holmsted.
Ach, sagte Frau Naerum, daran müssen Sie sich nicht kehren, er ist alt und
mürrisch.
Was bin ich? Du hast doch selbst gesagt —
Daß ich gern mit dir sprechen möchte, ja, mein Freund!
Sie zog ihn mit sich fort und sagte: Hab ich mirs doch gedacht, daß du dich
vergaloppiereu würdest!
Du hast doch selbst gesagt, ich sollte nicht liebenswürdig gegen ihn sein!
Ja, aber — es ist doch ein großer Unterschied zwischen liebenswürdig sein
und grob sein!
Da hast du Recht!
Du kannst nie die Mittelstraße einhalten; nun hast du am Ende alles ver¬
dorben!
Als Holmsted beim Abendbrot zwei Gläser hausgebrannten Likörs von schwarzen
Johannisbeeren trank, wurde Naerum allmählich milder gestimmt.
Nach Tische kamen die Noten zum Vorschein.
Fräulein Naerum hatte die Lieder aus den „Dänen in Paris" herausgesucht,
sie setzte sich ans Klavier und schickte sich an, Holmsted zu begleiten.
Auf dem Sofa saß der Medizinalrat mit seiner Meerschaumpfeife und seinem
Grog, und neben ihm seine Frau mit ihrer scharfen Brille und einem Strickzeug
zum Schein in der Hand.
Anfangs ging auch alles gut, als man aber an das Lied kam:
mußte Holmsted an den Ausdruck in Helenens Gesicht bei diesem Liede denken; er
wurde dunkelrot und stockte gleich bei der ersten Zeile.
Er nahm sich aber zusammen und sang das Lied zu Ende.
Fräulein Naerum sah ihn erstaunt an; die Medizinalrätin zwinkerte ein wenig
mit den Augen, beruhigte sich aber, als der Gesang fortgesetzt wurde; der alte Herr
dagegen ahnte kein Unheil in seiner Grogsttmmuug.
Trinken Sie nicht auch ein kleines Gläschen, Herr Doktor? erscholl es vom
Sofa her.
Nein, besten Dank, Frau Medizinalrat I
Aber eine Zigarre, Herr Doktor!
Danke, Herr Medizinalrat, ich rauche so wenig!
Ich habe Zigaretten, wie Sie wissen, sagte Fräulein Naerum.
Danke, gnädiges Fräulein, diesen Augenblick nicht!
Wie haben Sie sich denn neulich im Theater amüsiert? fragte die Medi-
zinalrätin.
Ach, von Amüsement konnte doch eigentlich keine Rede sein!
Warum zum Kuckuck sind Sie denn dann hingefahren? brummte der Medi¬
zinalrat.
Ja, wenn Sie mir das sagen wollten!
Das will ich Ihnen gern sagen! platzte Naerum heraus.
Seine Frau trat ihn auf den Fuß, er aber fuhr fort: Sie sind natürlich
hingefahren, um diese vielbesprochne Schönheit zu sehen!
Die alte verschminkte Person — nein, das war, weiß Gott, nicht die Ver¬
anlassung!
Ach die meine ich ja gar nicht — ich spreche natürlich von der Gouvernante!
Von Fräulein Ipser?
Nein, hol mich der Henker! Ich meine Fräulein Rörby, wenn Sie es doch
durchaus wissen wollen. Seine Frau zupfte ihn am Rock, er aber fuhr fort: Das
verlohnt sich auch noch, der nachzurennen!
Vater! sagte Fräulein Naerum flehentlich.
Ja, jetzt will ich, zum Teufel auch, meine Meinung sagen!
Verzeihen Sie, Herr Medizinalrat, sagte Holmsted plötzlich sehr kühl, aber es
ist, wie es scheint, an der Zeit, daß ich mich zurückziehe. — Adieu!
Er verneigte sich sehr tief vor dem Medizinalrat und der Frau des Hauses,
gab Fräulein Naerum sehr formell die Hand und ging ganz still seiner Wege.
Als man die Gitterpforte hinter ihm ins Schloß fallen hörte, eilte Berta
weinend zum Zimmer hinaus, die Mutter lief ihr nach, wandte sich aber in der
Tür noch einmal um und sagte: Du bist ein Ungetüm, Naerum!
Der Medizinalrat lachte töricht hinter ihnen drein, mischte sich einen kräftigen
Grog und sagte: Meine Meinung hat er wenigstens zu wissen bekommen; aber
aus den verdammten Frauenzimmern werde einer klug!
Ende Juni gaben Apothekers eine größere Garden-Party.
In Großmutters Allee war ein großer Tisch gedeckt. Und ausnahmsweise
wurde einmal nicht gespart.
Da war kalte Küche in Unmengen, Rotwein und Rheinwein floß in Strömen,
dieser von Ricks eingeschenkt, der als Diener fungierte und sich den Umständen
nach gut aus der Affäre zog, indem er mit zwei in Servietten gehüllten Flaschen
umherging und die grünen Gläser mit „Hochheimer" und „Niersteiner" füllte.
Die Tischordnung war bestimmt, und Frau Lönberg hatte etwas ganz nieder¬
trächtiges ersonnen.
Da sie Großmutters wegen gezwungen war, Doktor Holmsted einzuladen,
richtete sie es so ein, daß er Fräulein Naerum zu Tisch führte; damit ärgerte sie
ihn und Helene und schmeichelte sich bei Naerums ein. Zugleich aber hatte sie Helene
ihm gegenübergesetzt, was, wie sie hoffte, Holmsted zerstreuen würde, namentlich da
sie ihr den Gutsverwalter des Grafen, einen jüngern, stattlichen, unverheirateten
Mann, als Tischherrn gegeben hatte. Großmutter saß unten am Ende des Tisches
zwischen Anna und Preber. Desideria, deren Konfirmationsunterricht schon be¬
gonnen hatte, wurde die Ehre zuteil, von Propst Hansen-Bjerg geführt zu werden.
Der Provisor hatte als Dame Nielsine bekommen, die Höllenqualen ausstand.
Reden wurden nicht gehalten.
Frau Lönberg, die ihres Mannes Unfähigkeit, eine Tischrede zu halten, kannte,
hatte es so bestimmt.
Es war auch gar nicht mehr fein. Beim Grafen wurden nie Reden gehalten.
Als Holmsted sich gezwungen sah, Fräulein Naerum zu Tisch zu führen, wurde
es ihm schwer, die Haltung zu bewahren; er sah sich aber von dem Medizinalrat
und seiner Frau scharf beobachtet. Und Berta bot ihre ganze Kraft auf, ihn in
ihren Zauberkreis zu ziehn; sobald sie ihn aber um ihn geschlungen hatte, sprang
er schnell darüber weg und geradeswegs in Helenens strahlende Augen hinein.
Helene interessierte sich ganz und gar nicht für ihren Gutsverwalter, dessen
Unterhaltung ebenso regelmäßig schön war wie er selber.
Er beklagte Fräulein Rörby, die aus den Kreisen der Hauptstadt in kleine,
ländliche, jüdische Verhältnisse gekommen wäre; solange diese den Re!z der Neuheit
hätten, hätten sie vielleicht uoch ein gewisses Interesse für sie. Theater und Konzerte
müsse Fräulein Rörby aber sicher schmerzlich entbehren.
Er war zum Glück so von sich selbst in Anspruch genommen, daß er die Zer¬
streutheit seiner Tischdame gar nicht bemerkte.
Berta dagegen sah sehr Wohl Helenens leuchtende Blicke, die Holmsted ganz
unverhohlen suchten; dieser aber wurde immer wortkarger, er war sichtlich verlegen
und errötete mehr und mehr.
Berta wandte sich nun ununterbrochen an ihren Tischherrn und suchte durch
Ausrufe wie: Nein, Herr Doktor, Sie sind wirklich zu liebenswürdig, ach, vielen
Dank, Herr Doktor! bei den übrigen Gästen den Glauben zu erwecken, daß sie
Gegenstand der überwältigendsten Aufmerksamkeit an seiner Seite sei. Ihre Eltern
strahlten.
Helene begriff zum Teil die Situation, konnte aber aus Holmsted nicht recht
klug werden, der zu sehr Gesellschaftsmensch war, als daß er sich etwas vergeben
hätte. Gegen das Ende der Mahlzeit erhob er jedoch sein Glas und trank dem
Gutsverwalter zu, wobei er sehr warm zu Helene hinübersah, die, ebenso wie er,
das Glas leerte.
Das war um so ärger, als er seiner Tischdame noch nicht zugetrunken hatte.
Sie mußte Genugtuung haben. Als Holmsted ihr wieder einschenkte, hob sie
das Glas in die Höhe und sagte plötzlich: Nein, Herr Doktor, jetzt wollen Sie
mich wohl auch verleiten, zuviel zu trinken?
Ganz verwirrt griff er nach seinem Glas und trank ihr zu, setzte das Glas
aber wieder hiu, ohne es geleert zu haben und ohne sie wieder anzusehen, was
jedoch nur Helene beobachtete.
Nach Tische lief Berta gleich zu den Eltern hin, die ihr zuflüsterten: Nun,
jetzt will er es wohl wieder gut macheu!
Da sie ihnen die Wahrheit hier nicht sagen mochte, beruhigte sie sie und eilte
davon. Die Eltern sahen ihr nach und nickten sich zu, sie glaubten, daß ihre Auf¬
regung die Folge eines überströmenden Glücksgefühls sei.
Großmutter ging lange an Holmsteds Arm auf und nieder; und als ihnen
bei eiuer Biegung des Wegs Helene glühend warm entgegenkam, sah Großmutter
ein gut Teil mehr, als sie zu sehen schien.
Dann vereinigten sich die Gäste in den Zimmern, um den Provisor zu hören,
der am Klavier saß und phantasierte. Er hatte Schwung und Phantasie, das
mußte man ihm lassen, und seiue Technik war geradezu erstaunlich. Mau hätte
nicht glauben sollen, daß dies derselbe Mensch sei, der in den grüßlichsten Witzen
und flachsten Einfällen zu schwelgen pflegte.
Als er Helene das Zimmer betreten sah, wandte sich das Gebraus seiner
Melodie an sie. Und am Schlüsse legte er ihr alle seine Gedanken und Träume
wie einen glänzenden Kranz ans Tönen zu Füßen.
Jetzt wurde Helene aufgefordert, ein kürzlich erschienenes Lied: Jetzt ist es
Sommer! zu singen.
Sie kannte es Wohl, wagte aber nicht, sich selbst zu begleiten.
Würden Sie es nicht tun, Fräulein Naerum? fragte die Apothekerin.
Berta aber schüttelte verschämt lächelnd den Kopf. Sie habe das Lied nie
mit Augen gesehen, erklärte sie. Und doch hatte sie gerade in der letzten Zeit die
Eltern mehrmals am hellen lichten Tage damit in den Schlaf gesungen. Aber das
fehlte gerade noch, daß sie zu Helenens Triumph beitragen sollte!
Es war niemand da, der Helene hätte begleiten können oder den Mut dazu
gehabt hätte. Der Provisor war in die Apotheke gerufen worden.'
Da trat Holmsted sehr verlegen vor und sagte: Wenn Fräulein Rorby mit
mir fürlieb nehmen wollte, könnte ich ja den Versuch machen.
Das wollte Helene natürlich gern.
Holmsted versuchte leise die Begleitung ein paarmal.
Dann sang Helene.
Niemals hatte Helene schöner gesungen als zu Holmsteds Begleitung; Worte
und Töne verschmolzen zu einem wunderbaren Ganzen, das die Zuhörer unwider¬
stehlich fortriß.
Großmutter, die rin Preber und Anna auf dem Sofa saß, gab das Signal
zu einem Beifallsturm, der nicht enden wollte.
Der Provisor war indes zurückgekehrt und erbot sich, Fräulein Naerum zu
begleiten. Da raffte sie sich auf und sang ein sentimentales Liebeslied, aber mit
so bebender Wut, daß es beinahe komisch wirkte. Aber sie hatte zum ersten- und
vielleicht zum letztenmal in ihrem Leben mit einem Temperament gesungen, das
ihrer Stimme überraschend gut stand. Und nur um Großmutter und Helene zu
ärgern, klatschte Fräulein Ipser wie besessen. Der Medizinalrat und seine Frau,
die im Hintergründe standen, klatschten unbemerkt mit, und nun erhob sich ein
Beifallsturm, der hinter dem von Helene geernteten nicht zurückstand.
So endete denn der Abend harmonisch.
Während des Beifallklatschens aber war Großmutter ganz empört verschwunden.
Nun wurde gefragt, ob sich Fräulein Astrid Ludvigsen nicht hören lassen wolle.
Nein, antwortete Fräulein Ipser, meine Schülerin ist noch lange nicht fertig.
Sie nimmt augenblicklich Sonnenbäder zur Stärkung ihrer Armmuskeln und ihres
Brustkastens.
Erst als Naerums nach Hause gekommen waren, vertraute sich Berta der
Mutter an.
Aber man kam überein, dem Vater, soweit es ging, die ganze Sache fern
zu halten. Als sie zu ihm hinunterkamen, saß er schon bei seinem Selterwasser
und Kognak und sagte: Diese Gouvernante hatte ja übrigens einen großen Erfolg
mit ihrem Gesang!
Was sagst du denn zu Berta? fragte seine Frau.
Ja — eigentlich hat sie Wohl ebensoviel Erfolg gehabt.
Da rief Berta ganz außer sich: Ebensoviel, sagst du?
Na dann zehnmal mehr — zum Kuckuck auch!
Helene und die Kinder hatten Sommerferien.
Aber Helene war nicht in der Lage, nach Hause zu reisen.
So unternahm sie denn in dieser Zeit kleine Ausflüge in den Wald mit Anna
und Preber.
Anna nahm immer eine Handarbeit mit, und Helene hatte bei Preber das
Interesse für Pflanzen zu wecken gewußt. Er hatte schon ein kleines Herbarium,
und unter allen Kommoden und Schränken lagen gepreßte Blumen.
Einmal gegen Abend saßen sie unten im Pferdegartental, am Ufer eines
rieselnden Baches. Sie hatten ihr mitgenommnes Abendbrot verzehrt, und nun
war der Augenblick gekommen, wo Helene ein Märchen erzählen sollte.
Eins ihrer Lieblingsthemen, über das sie auch heute phantasierte, war das
arme Mädchen, das von Hause fort in die weite Welt hinausziehn muß. Da
findet der Prinz sie, und er entdeckt ein Mal an ihrem weißen Arm; sie ist p'ne
verzauberte Prinzessin, die für ihn bestimmt gewesen ist, und die ein böser Geist
ihm nicht hatte gönnen wollen. Wie er sie küßt, fallen die armseligen Lumpen
von ihr ab, und wie eine Königin mit einer goldnen Krone und in Hermelin ge¬
kleidet steht sie da. Und dann feiern sie Hochzeit.
Anna ruhte in ihrem Schoß und sah ihr ins Gesicht, während sie erzählte;
Helenens Hand war in Annas Haar vergraben. Und Preber saß auf einem großen
Stein mitten im Bach.
Fräulein, sagte Anna plötzlich, das Märchen ist ja nicht wirklich geschehen,
nicht wahr?
Nein, nicht auf die Weise, sagte Helene.
Bist du verrückt, Anna, rief Preber, solche Hexerei gibt es ja gar nicht.
Einen Augenblick später sagte Anna: Bei der Prinzessin denke ich immer an
Sie, Fräulein. Und ich könnte mir ganz gut denken, daß Sie eine goldne Krone
ausbekämen.
Helene schloß ihr den Mund mit einem Kuß.
Wer ist denn der Prinz? fragte Preber.
Das weiß ich, aber das sag ich nicht!
Da rief Preber: Doktor Holmsted!
Ach Unsinn! sagte Helene, die den Ausruf mißverstand. Aber plötzlich sprang
sie auf, denn ganz nahe bei ihnen stand Holmsted. Er kam heran und setzte sich
zu ihnen.
Sie saßen alle schweigend da, lauschten dem Bache und beobachteten den
wechselnden Glanz des Sonnenlichts zwischen den Bäumen.
Preber war währenddes den Abhang hinaufgelaufen und rief auf einmal,
schnell wieder herunterstürzend: Jetzt kommen Fräulein Ipser und Desideria!
Holmsted stand auf und radelte aus der Schlucht hinaus.
Einige Minuten später kamen Fräulein Ipser und Desideria, sahen sich spähend
um und fragten wie aus einem Munde: Sitzen Sie hier allein?
Das sehen Sie ja, antwortete Anna.
Ist hier niemand gewesen? fragte Desideria.
Doch, sagte Preber und sah Fräulein Ipser an. Hier war vorhin eine alte
Wasserratte, aber die lief schnell wieder weg!
Anna, rede die Wahrheit! ermahnte Fräulein Ipser.
Anna richtete sich auf und sagte stolz: Sie sind nicht meine Lehrerin!
Fräulein Ipser griff nach ihr, Helene aber trat dazwischen und sagte: Unter¬
stehn Sie sich —
Da wandte sich Fräulein Ipser ab und entfernte sich wutschäumend.
Als sie eine Strecke gegangen war, sagte sie: Hier ist ein Rad gefahren.
Nein, rief Preber ihr nach, es ist eine Schlange gewesen, die hier war, aber
die ist ganz unschädlich.
Da verschwand Fräulein Ipser mit Riesenschritten.
Helene ging mit den Kindern nach Hause, und Desideria kam verlegen hinterher.
Preber eilte in Großmutters Allee, wo die Alte auf und nieder wanderte. In
der Zeit der hellen Nächte hielt sie sich hier immer lange des Abends auf.
Preber stattete ihr Bericht ab und lief dann wieder weg.
Nach einer Weile rief Großmutter Desideria, die in einiger Entfernung auf¬
tauchte.
Sie kam zögernd heran, stellte sich verlegen und trotzig zugleich an einen der
Bäume und fing an, das Laub abzupflücken.
Großmutter, die sich gesetzt hatte, sagte: Reiß doch nicht alle Blätter entzwei,
wenn dirs nicht etwa deine Mutter befohlen hat!
Desideria fühlte den Stachel und wünschte sich weit weg.
Weshalb verfolgst du deine Lehrerin auf Schritt und Tritt?
Tu ich das?
Ja, das weißt du recht gut; ich habe selbst gesehen, wie du ihr nachgeschlichen
bist. Und heute hast du dich mit Fräulein Ipser zusammengetan.
Das war ganz zufällig!
Mag sein. Aber du sollst keinen Verkehr mit der Dame suchen. Du gehst
jetzt zum Konfirmandenunterricht. Vielleicht kann der dich lehren, eine bessere Christin
zu werden!
Desideria kniff den Mund zusammen und fing an, sich langsam zu entfernen.
Da sagte Großmutter warm und eindringlich: Desideria, komm her zu mir.
Widerstrebend kam sie heran. Großmutter zog sie an sich und küßte sie auf
die Stirn: Desideria, laß dein Herz nicht versteinern, lerne es, weich und biegsam
zu sein im Dienste des Guten.
Desideria machte sich frei und ging stramm von dannen, ohne sich umzusehen;
sie nahm sich fest vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein.
Huh, diese Gouvernante! Was sie auch alles ihretwegen leiden mußte! Aber
im Herbst wurde sie ja konfirmiert, dann war es zu Ende mit der Schule!
Helene und Großmutter saßen an diesem Abend beieinander im Garten und
sahen über den Wald hinaus, auf dem der Schimmer des Tages noch goldglänzend
ruhte; jede hing ihren Gedanken nach; Großmutter dachte an ihre Begegnung, und
Helene an die ihre.
Großmutter war wie ausgelebt seit Helenens Ankunft. Sie war frischer und
lebhafter und fühlte sich jünger als lange Zeit vorher. Es fiel ihr selbst auf. Sie
konnte lange Arm in Arm mit Helene in der Allee auf und nieder gehn. Und
wenn Helene in ein Buch vertieft dasaß und einmal die Augen aufschlug, begegnete
sie Großmutters mildem, forschenden Blicke.
Es war, als suche sie in Helenens Blick die Lösung irgendeines Rätsels.
Die einzige Veränderung, die sich in der Gegend zugetragen hatte, war, daß
Fräulein Ipser mit ihrer Schülerin Astrid Ludvigsen nach Kopenhagen gegangen
war, wo diese eine neue Gesangsmethode kennen lernen sollte.
Die Apothekerin hatte in dieser Zeit viel zu bedenken. Die ganze Apotheke
unterlag einer gründlichen Reinigung und Auffrischung. Die Handwerker hatten
schon längst mit ihrer Arbeit begonnen. Auch Helenens Zimmer bedürfte einer
Reparatur, und man war in Verlegenheit, wo man sie unterbringen sollte. Da
sie eingeladen war, Koltrups zu besuchen, beschloß sie, jetzt Ernst mit der Sache
zu machen.
Die Apothekerin hatte gegen diese Lösung der Frage nichts einzuwenden.
Auf der Hochschule wurde Helene mit Jubel empfangen. Sie sah jetzt erst
das Ganze so recht und lernte das tägliche Leben kennen. Da waren kleine Werk¬
stätten eingerichtet, in denen am Vormittag gearbeitet wurde. Alles, was man
auf der Hochschule gebrauchte, fertigten die Schüler selbst an. An den Nachmittagen
wurde gelesen, gesungen, oder es wurden Vorträge gehalten.
Und hier bethätigten sich nicht nur Koltrup, die Lehrer und die Lehrerinnen;
auch die Schüler und die Schülerinnen sprachen über selbstgewählte Gegenstände.
Eines Morgens sagte Koltrup zu Helene: Heute Nachmittag sollen Sie über¬
rascht werden!
Kannst du denn nicht schweigen? rief Frau Koltrup.
Aber ich habe doch gar nichts gesagt!
Am Nachmittag, bei schönem, stillem Sommerwetter, versammelte man sich im
^estsaal. Die großen Schiebefenster waren zur Seite geschoben, und man sah die
schönsten eingerahmten lebenden Bilder.
Dann trat Doktor Holmsted ein und bestieg das Katheder.
Helenens Herz pochte, als seine Augen den ihren begegneten, während er sich
vor der Versammlung verneigte. Koltrup behauptete später seiner Frau gegenüber,
er habe sich nur vor Helene verbeugt.
Das hätte ich an seiner Stelle auch getan, meinte diese.
Sobald er das Katheder bestiegen hatte, war er ein ganz andrer Mann. All
seine gewöhnliche Verlegenheit war wie weggeblasen. Er sprach frei und natürlich
über „geistige und körperliche Gesundheit," indem er die große Bedeutung der
Arbeit hervorhob.
Er blieb den Abend bei Koltrups. Als Helene später mit ihm durch den
Garten ging, dankte sie ihm warm für seinen Vortrag. Dann erzählte sie ihm,
daß sie am nächsten Sonntag Pastor Walter in der Grönager Kirche hören wolle.
Auf ihre Frage antwortete Holmsted: Er ist der vollkommenste Gegensatz zu
dem Propst hier. Er lebt still und einsam mit seiner Schwester. Er hat in seiner
Jugend einen großen Kummer gehabt. Das hat ihn zum Einsiedler gemacht, soweit
man diesen Namen für jemand gebrauchen kann, der wie er für alle Kranken und
Unglücklichen in seiner Gemeinde ein unermüdlicher Seelsorger ist. Aber er ist
nicht zu bewegen, in Gesellschaften zu gehn. Und er wird auch nie heiraten.
Er blieb einen Augenblick stehn, atmete tief auf und fügte in leiseren Ton
hinzu: Ich sympathisiere vollkommen mit ihm. Denn auch ich werde niemals
heiraten!
Helene ließ in diesem Augenblick einen Weidenzweig, den sie zur Seite ge¬
bogen hatte, los; er schnellte in die Höhe und traf Holmsteds Arm.
Das tat sicher weh, aber er vergaß es über dem Anblick von Helenens Gesicht,
das ein großes flammendes Fragezeichen war. Ein wenig unsicher fuhr er fort,
bemüht, Helenens Blick auszuweichen: Ich habe keine Enttäuschung erlitten — ich
habe noch nie — ein Mädchen getroffen, das — kurz, ich verheirate mich niemals.
Ich will von niemand das Opfer verlangen, sich an mich zu ketten.
Sind Sie denn so schwer zu befriedigen? fragte Helene schelmisch.
Ja, das bin ich! Ich verlange nicht, daß meine zukünftige Frau —
Die Sie gar nicht haben wollen —
Nein, ganz recht — daß eine eventuelle Gattin, drücken wir es so aus, mich
hegen und Pflegen, mir meine Leibgerichte kochen, meine Pfeife, die ich übrigens
nicht rauche, stopfen und mir eine Schlummerrolle für meinen Nachmittagsschlaf
unter den Kopf stecken muß.
Den Sie vielleicht auch gar nicht einmal schlafen?
Aber — ich verlange, daß sie ganz und gar in meinem Beruf aufgehn und
meine Lebensanschauungen teilen soll.
Helene sah mit einem wunderlichen Lächeln vor sich hin, und es entstand eine
lange Pause.
Plötzlich brach er das Schweigen und sagte mit erkünstelter Sicherheit, die
stark an einen erinnerte, der über den Durst getrunken hat und nüchtern erscheinen
will: Deshalb kann ich mit so großer Gleichgiltigkeit allen —
Er begegnete Helenens sprechenden Blick, schlug hastig die Augen nieder und
fügte verwirrt hinzu: So etwas verleiht mir — eine große Überlegenheit!
Er sagte dies so drollig, daß Helene in ein nicht enden wollendes Gelächter
ausbrach, worauf sie schnell weglief, noch immer lachend.
Holmsted hatte viele wissenschaftliche Fragen erforscht und allerlei pathologische
Rätsel gelöst, aber dies Frauenlachen konnte er nicht analysieren. Er wurde
dunkelrot, stand einen Augenblick unschlüssig da, ging dann, nahm sein Rad und
fuhr davon.
Helene sah ihn verschwinden, sie nahm sich aber zusammen und ging ins Haus.
Was haben Sie mit dem Doktor gemacht? fragte Koltrnp.
Mit dem Doktor? rief Helene mit gut gespielter Überraschung, ich glaubte, er
sei hereingegangen I
Nein, Wir halten ihn nicht versteckt, entgegnete Koltrup; aber er liebt so ein
plötzliches Verschwinden.
Ja, das sieht ihm ähnlich, bemerkte Frau Koltrup.
Am nächsten Abend saß Helene im Garten und sah nach Nakkerup hinüber.
Sie dachte an Großmutter, Anna und Preber,
Da erschollen Fußtritte hinter ihr. Es war Holmsted.
Er stotterte verlegen: Ich komme hier mit einem Brief für Sie!
Mit einem Brief? wiederholte Helene.
Er zog ein kleines rosenrotes Billett hervor und gab es ihr.
In demselben Augenblick fuhr der Medizinalrat am Garten vorüber. Er sah
es, und seine Augen blitzten.
Holmsted verneigte sich und eilte von dannen.
Sie saß da und sah ihm nach, bis er und sein Rad in den fernen Staub¬
wolken verschwunden waren. Dann fiel ihr der Brief ein. Sie hatte sofort Annas
Handschrift erkannt und öffnete ihn. Er lautete:
Nakkeruper Apotheke
Ich will Ihnen doch sagen, daß ich mich so schrecklich nach Ihnen sehne.
Und darum beeile ich mich, Ihnen diesen kleinen Brief zu schreiben, während Doktor
Holmsted bei Großmutter ist.
Wie sonderbar ist es hier jetzt, wo Sie weg sind!
Ich guckte heute Morgen in Ihr Zimmer hinein. Trittleitern und Farben¬
töpfe standen ringsumher. Es roch nach Kalk und Farbe.
Oben auf dem Tisch saßen zwei Arbeiter und aßen Frühstück mit der einen
Hand und tranken Bier mit der andern.
Huh, das war gräßlich!
Dann ging ich in den Garten hinunter. Und da, wo man die Hochschule
sehen kann, oben auf den Hügel, setzte ich mich hin.
Ich hatte ein Fernrohr von Größing geliehen. Und sah hinüber. Ob ich
nicht einen Schimmer von Ihnen oder Ihrer roten Mütze sehen könnte. Denn
Größing sagt, das Fernrohr ist sehr scharf. Aber ich sah Sie nicht. Da hab ich
geweint. — Aber auch einmal lief ich hinauf und holte mein Märchenbuch. Und
da las ich von Ihnen. Denn ich finde immer, es handelt alles von Ihnen. Und
Sie sollen sich nichts daraus machen, wenn jemand schlecht gegen Sie ist. Denn
es sind immer die Guten, gegen die die Leute schlecht sind. Und der Prinz kommt
immer und jagt den bösen Geist weg.
Jetzt ist Fräulein Ipser abgereist, und sie kommt den ganzen Winter nicht
wieder.
Doktor Holmsted soll meinen Brief mitnehmen, und deshalb schließe ich.
Denn den mag ich so schrecklich gern leiden. Ich wollte, er wäre mein Doktor!
Weil er Großmutter nie Medizin verordnet, sondern frische Luft und Obst.
Und dann will ich Sie nun zu allerletzt noch bitten, daß Sie bald nach Hause
kommen und meine gräßliche Schrift entschuldigen, denn ich habe Sie so schrecklich
lieb und muß mich so sehr beeilen.
Anna Lönberg
Helene küßte den Brief und senkte ihn in die Tasche.
Da kam der Medizinalrat in dem „Antediluvianischen" auf dem Rückwege
wieder vorüber.
Als er nach Hause kam, traf er niemand an und brüllte rasend: Karoline —
Berta!
Sie kamen die Treppe herabgestürzt, bereit, das Allerschlimmste zu vernehmen.
Und da erzählte er denn, daß es im ganzen Hause widerhallte, von dem Brief,
den Holmsted Helene gegeben,-, und von dem Kuß, den sie dem Brief gegeben hatte.
Mutter und Tochter waren sich aber jetzt darin einig, daß sie bis zum
Äußersten gehn wollten, um Holmsted wieder in ihre Kreise zu ziehn. Sie lachten
ihn beide aus.
Du kannst dir doch denken, sagte die Medizinalrätin, daß er ihr keinen Brief
von sich selbst gibt!
Nun — aber der Kuß?
Ach was! glaubst du, ich hätte jeden Lappen Papier geküßt, den du in unsrer
Verlobungszeit berührt hattest?
Das kann ich nicht wissen, aber -— sie drückte ihn sehr fest an die Lippen.
Sie kann ja eine Mücke am Kinn totgedrückt haben, meinte Berta. Die Mücken
sind sehr arg da oben auf dem Hügel.
Und dann bekam der Medizinalrat Selterwasser und Kognak. Und nach einer
Weile sagte er: Ja, mich haben sie da oben auf dem Wege auch ganz abscheulich
gestochen — ich glaube wirklich, ihr habt Recht — und er kann ihr doch schlie߬
lich einen Brief geben!
Sie widersprachen ihm nicht, da sie beide einsahen, daß es ihnen nur schaden
konnte, wenn noch mehr Gerüchte über Holmsted und die Gouvernante in Umlauf
kamen.
Und als der Medizinalrat nach einer Weile Holmsted traf, war er so liebens¬
würdig, daß es Holmsted ganz unheimlich war.
Am Sonntag Morgen fuhren Koltrups und Helene nach Grönager zur Kirche.
Nie hatte Helene in Nakkerup einen solchen Strom von Kirchgängern gesehen
Wie hier in Grönager. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein
junger Schullehrer mit einer schönen Stimme sang vor, und die ganze Gemeinde
sandte den Gesang zu den Wölbungen der Kirche empor.
Pastor Walter ging im Kirchengang auf und nieder und sang mit. Dann
bestieg er die Kanzel.
Langsam und eindringlich, als wollte er jedes Wort in die Seelen einprägen,
verlas er das Evangelium.
Lukas 19, Vers 41 und folgende. Und dann sprach er. Es war kein Vor¬
trag. Reine Redeblumen wurden langsam zu einem unendlichen Gewebe verflochten.
Es war ein Strom, der vom Herzen kam und zum Herzen ging. Keine ermüdende
Wiederholung von Bibelstellen, keine Salbung, kein Heben und Senken der Stimme.
Alles warm, klar, natürlich.
Er sprach hauptsächlich über die Worte: Wüßtest du doch, was zu deinem
Frieden dienet. Und er endete: Was ist denn Friede? Sind es gute Tage, gute
Verhältnisse, ein glückliches Heim und ein stilles, dahindämmerndes Leben? Nein,
Friede ist Entsagung! Frieden findest du, wenn du dich selbst und deine Leiden¬
schaften geopfert hast, wenn du dem großen Entsager nachgefolgt bist, sodaß du
schließlich mit ihm sagen kannst: Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!
Amen.
Helene hatte noch nie eine so warm empfundne Predigt gehört, hatte noch nie
einem solchen Gottesdienst beigewohnt. Und als nun der Pfarrer mit seinen tiefen,
liebevollen Augen über die Gemeinde sah und den Segen sprach, wie gewichtig
klangen da in seinem Munde die Worte: Der Herr erhebe sein Angesicht über dir
und gebe dir Frieden!
Nach dieser Predigt sang Helene die Kirchenlieder mit so lauter und jubelnder
Stimme, daß man es durch die ganze Kirche hörte.
Es war gut, daß Großmutter und Anna daheim auf sie warteten, sonst hätte
sie es sich nach diesen Tagen schwer vorstellen können, daß sie wieder in die Apo¬
theke zurück müsse. Da aber mußte sie an die Worte des Pfarrers denken, daß
Friede Entsagen sei.
Ja, und wenn ihrer auch Kampf und bittere Stunden harrten, würde sie
fröhlich sein, wenn sie nur im Dienste des Guten entsagte.
Koltrups Wagen fuhr sie an einem schönen Sommerabend nach Hause. Gro߬
mutter, Anna und Preber empfingen sie auf ihrem Zimmer, das reich mit Feld¬
blumen geschmückt war.
Als Großmutter und die Kinder kaum gegangen waren, traten die Apothekerin
und Desideria in Hut und Mantel ein.
Wir kommen eben von Propstens, sagte Frau Lönberg, und hören, daß Sie
zurückgekehrt sind. Ja, Sie sind natürlich wieder fetiert worden, wie überall. Aber
das Leben kann ja nicht eitel Vergnügen sein, und jetzt beginnen wir also wieder.
Nach Verabredung mit dem Propst können Sie ihm von nnn an bis zum Konfirmations¬
tage den Religionsunterricht überlassen. Dagegen wollte ich Sie bitten, ganz be¬
sonders auf Desiderias französische Aussprache acht zu geben. Die ist wohl nicht
ganz korrekt. In allen Verhältnissen des Lebens ist aber Korrektheit absolut not¬
wendig, wenn man mit seiner Umgebung in Frieden leben will — draußen und
daheim! — Darf ich Sie mit diesen Worten daheim willkommen heißen?
(Fortsetzung folgt)
Reichsspiegel. In der marokkanischen Angelegenheit ist das Verhalten der
französischen Unterhändler stark von der Rücksicht auf die Kammer beeinflußt worden,
sie haben den deutschen offen zu erkennen gegeben, daß sie auf ihre Kammer mehr
Rücksicht nehmen müßten als die deutsche Regierung auf ihren Reichstag. Die
Rücksicht auf die Kammer hat in Frankreich wiederholt eine bedenkliche Rolle gespielt.
Sie ist es vor allem gewesen, die im Juli 1870 zum Kriege geführt hat. Das Kabinett
Ollivier-Grammont wollte mit einem vollen Erfolge vor die Kammer treten und
stellte deshalb in Paris an den Botschafter und in Ems an den König, während
zugleich gerüstet wurde, Forderungen, die für Preußen demütigend und für den
König beleidigend waren. Daß man in Ems den Dingen rechtzeitig und ernst in
das Gesicht sah, ist den Lesern der Grenzboten aus der eingehenden Besprechung
des Werkes des preußischen Kriegsministeriums über die Mobilmachung von 1870
bekannt. Eine segensreiche Nachwirkung des Krieges ist es, daß sich Frankreich
auch heute nach fünfunddreißig Jahren nicht ohne einen zum Schlagen bereiten
Verbündeten Deutschland gewachsen fühlt. Dieser zum Schlage» bereite Verbündete
ist aber nicht vorhanden, zumal in einem Streite, wo Deutschland als Vertreter
eines internationalen Rechtszustandes das Recht unbestritten ans seiner Seite hat
und somit auch der moralisch stärkere ist. Nun sind die vier akuten Differenzpunkte
zwischen Deutschland und Frankreich hoffentlich geregelt; den Franzosen verbleibt
die Grenzpolizei an der algierischen Grenze, ebenso bleibt der Sultan im Besitz
seines ihm von deutschen Banken gewährten Zehnmillionendarlehens, mit der Ma߬
gabe, daß das Anlehen als ein Vorschußgeschäft betrachtet wird, das die deutschen
Banken übernommen haben, wobei sie aber einem französischen Konsortium die Be¬
teiligung zur Hälfte einräumen. Die später zu errichtende internationale marok¬
kanische Bank wird Darlehn übernehmen und den geleisteten Vorschuß an die
Darleiher zurückerstatten. Der Molenbau in Tanger verbleibt der deutschen Firma,
der er von der scherifischen Negierung übertragen worden war, und schließlich
hat Deutschland Tanger als Konferenzort, an dem es festgehalten hatte, um dadurch
die Souveränität des Sultans bestimmt zum Ausdruck zu bringen, wegen der
eingerissenen Unsicherheit in der nächsten Umgebung der Stadt doch aufgegeben
und hat die spanische Hafenstadt Algectras vorgeschlagen, die mit Tanger in regel¬
mäßiger, zweieinhalbstündiger Dampferverbindung steht, sodaß die marokkanischen
Bevollmächtigten täglich von Tanger nach Fes telegraphieren und von dort Weisungen
einholen können. Damit ist der französischen Eigenliebe, die bezüglich der Wahl
von Tanger besonders empfindlich war, eine Befriedigung zuteil geworden, nicht
minder der spanischen, die die Konferenz nach dem Vorgang der von 1880 am liebsten
in Madrid selbst gehabt hätte. Für den Verlauf der Konferenz selbst kann selbst¬
verständlich niemand gut sagen, da nicht vorherzusehen ist, was für Ansprüche die
einzelnen Staaten geltend machen werden, und was für Gruppierungen dadurch entsteh»
können. Aber von Bedeutung für den Verlauf wird es immerhin bleiben, wenn
Deutschland und Frankreich dort ohne unausgetragne Differenzen erscheinen, mit
der ehrlichen und loyalen Absicht einer Verständigung. Eine solche Absicht besteht
bis jetzt bei dem Kabinett Rouvier, das hoffentlich die Konferenz überdauern und
die gewonnenen Grundlagen eines nachbarlichen Einvernehmens mit Deutschland
weiter Pflegen wird.
Im Interesse der Verständigung war man auf deutscher Seite auf den Zeitungs¬
sturm, den der alte Delcasstsche Stab des französischen Ministeriums des Aus¬
wärtigen in der vorigen Woche plötzlich entfesselt hatte, und der Rouvier selbst
höchst unbequem war, in keiner Weise eingegangen, sondern hatte ihn ruhig aus¬
toben lassen. Von jener Seite her stammt auch wohl die in Berlin nicht be¬
glaubigte Nachricht, daß die Konferenz erst nach dem 1. Januar zusammentreten
soll. Es besteht für keinen Teil ein Interesse, sie auf die lange Bank zu schieben,
es wäre denn, was wenig wahrscheinlich ist, daß der Sultan den deutsch-französischen
Abmachungen nicht beiträte, sondern seinerseits Einwendungen erhöbe. Das ist aber
nicht anzunehmen. Auch die Verlegung der Konferenz nach Algeciras, was selbst¬
verständlich nach vorheriger Zustimmung Spaniens geschehen ist, wird bei den Marok¬
kanern keiner Schwierigkeit begegnen. So viel ist jedenfalls erreicht worden, daß
Marokko nicht wie Algier und Tunis französischer Kolonialbesitz wird, und damit ist
auch die Veränderung des Gleichgewichts beseitigt, die mit einer solchen Erstarkung
Frankreichs, am Mittelmeer und am Atlantischen Ozean zugleich, früher oder später
zweifellos verbunden gewesen wäre. Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend
loben, aber das deutsche Volk wird mit den Erfolgen der deutschen Diplomatie zu¬
frieden sein können, namentlich wenn es sich vergegenwärtigt, daß die marokkanische
Angelegenheit der geschickt benutzte Anlaß war, in einer für Deutschland ernst ge-
wordnen Situation mit fester Hand einzugreifen und damit eine Aufklärung im
Interesse des Friedens herbeizuführen. Der Besuch des Kaisers in Tanger hat
die Bedeutung eines politischen Wendepunkts, wenn auch die Folgen erst im Juni
eingetreten sind. Aber das Netz war damit zerrissen, das französisch-englische
Intriguen dem Deutschen Reiche zur Herbeiführung einer empfindlichen diplomatischen
Niederlage über den Kopf zu werfen gedachten.
Auch der russisch-japanische Krieg ist von deutscher Seite geschickt benutzt worden,
eine tiefgreifende Änderung in unserm Verhältnis zu Rußland herbeizuführen. Wie
Minister von Witte es in Paris hervorgehoben hat, sind wir Rußland Freunde in
der Not gewesen, Rußland war von Deutschland in keiner Weise behindert, seine
Kräfte nach Bedarf gegen Japan aufzubieten. Ungeachtet eines gewissen Übel-
wollens, das hie und da gegen uns bestehn mag, ist somit die internationale
Situation, die jetzt für Deutschland erreicht worden ist, sehr viel günstiger, als sie
jahrelang gewesen ist. Es ist dadurch eine erwünschte Frist gewonnen, in der wir
uns auf etwaige Notwendigkeiten der Zukunft vorbereiten können. Regierung und
Reichstag sollten in einmütigem Zusammenwirken jeden Tag und jede Stunde aus¬
nutzen, die wir für die Schließung aller in unsrer Rüstung noch vorhandnen Lücken
gewonnen haben, und eifersüchtig darüber wachen, daß die so gewonnene Frist nicht
nutzlos verloren gehe.
Der Besuch, den der japanische Gesandte dem Reichskanzler in Baden-Baden
abgestattet hat, beweist, daß auch Japan nach dem Kriege vertrauensvoll An¬
näherung an Deutschland sucht und, zunächst jedenfalls, weit davon entfernt ist,
seine in Ostasien errungne Position gegen unsre dortigen Interessen auszunutzen.
Die Lage der japanischen Regierung gegenüber der Verstimmung über den Inhalt
des Friedensvertrags ist wohl nicht so schlimm, wie es von weitem aussieht. Bei
der außerordentlichen Stellung, die der Mikado als Herrscher einnimmt, und an¬
gesichts der Tatsache, daß er in den Friedensschluß erst nach Anhörung des Rats
der alten Staatsmänner gewilligt hat, haben die Straßendemonstrationen doch nur
den Wert der Enttäuschung übertriebner und ungerechtfertigter Erwartungen der
Massen, und es ist mit Gewißheit anzunehmen, daß diese Verstimmung sehr bald
einer verständigen Beurteilung weichen wird.
Rußland war geschlagen, aber nicht besiegt, es ist ein Friedensschluß auf der
Basis des militärischen uti xogsiÄvtis. Den Krieg nur um der Kriegsentschädigung
willen fortzusetzen, konnten Japan seine besten Freunde nicht raten. Die dadurch herbei¬
geführte Verlängerung der Störung von Handel und Wandel, des Darniederliegens
aller wirtschaftlichen Tätigkeit, hätte für Japan viel mehr ausgemacht als die russische
Kriegsentschädigung, auf die es im Interesse der Wiederherstellung des Friedens
verzichtet. Einem so langen Kriege muß eine Entfesselung der lange gebundnen
wirtschaftlichen Kräfte folgen, und Japan ist jetzt vor die große Aufgabe gestellt,
den daraus entstehenden wirtschaftlichen Aufschwung in die richtigen Wege zu
leiten. Der Vertrag mit England wird den Frieden in Ostasien, sofern er
nicht durch Bewegungen in China gestört wird, auf eine Reihe von Jahren ver¬
bürgen, viel wichtiger als die Erzwingung einer russischen Kriegsentschädigung ist
deshalb für Japan eine kommerzielle Abmachung mit Amerika, dessen aufstrebende wirt¬
schaftliche Kraft sein Hauptkonkurrent in China sein wird. Diese Abmachung wird
ihm Amerika um so weniger weigern, als es noch nicht in der Lage ist, einen
Kampf mit Japan, zumal dem englisch-japanischen Bündnis gegenüber, aufzunehmen,
und Amerikas Flotte und Heer immerhin noch eine längere Reihe von Jahren
brauchen werden, die ihnen vom Präsidenten Roosevelt gesteckten Ziele zu erreichen.
Wie es scheint, gedenkt die japanische Regierung den Friedensvertrag, den Bündnis¬
vertrag und eine Abmachung mit Amerika ihrem Volke zugleich als die Errungen¬
schaft des Krieges vorzulegen und es auf diese einheitliche Grundlage einer neuen
großen Entwicklung hinzuweisen. Die Japaner müßten viel weniger klug sein, als
man ihnen zutrauen darf, wenn sie nicht schließlich doch mit Befriedigung diese
Schwelle einer größern Zukunft überschreiten sollten.
Inzwischen ist Herr von Witte mit den maßgebenden Persönlichkeiten der
deutschen Politik in Berlin in persönliche Berührung getreten und vom Kaiser in
Rominten empfangen worden. An beiden Stellen hat er viele aufrichtige An¬
erkennung für die in Portsmouth erreichten Erfolge geerntet. Der sympathische
Empfang, der ihm zuteil geworden ist, entspricht nicht nur den Beziehungen der
beiden Höfe, sondern auch der Wertschätzung seiner Persönlichkeit, von der Rußland
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres «4. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu be¬
ziehen. Preis für das Vierteljahr « Mark. Wir bitten, die Kestellung schleunig zu erneuern.
Unsre Krser mache» wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Orenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung,
besonders beim Huartalwechsel, vorkommen, so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können.
Krivzig. im September 1905 Die Verlagshandlung