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]]> Bekanntlich bildeten die Burschenschafter den Stamm der nationalen Partei
in Deutschland seit der Zeit der Befreiungskriege; sie haben ihr Losungswort:
„Deutsche Einheit durch Wiederherstellung von Kaiser und Reich" der Meuge ge¬
nannt, und diese hat es angenommen, als in ihr das Bedürfniß uach einem deut¬
scheu Staate erwacht war. Jene Burschenschafter waren daher während der letzten
Bewegung in Deutschland die Führer der nationalen Partei, derjenigen Partei,
die allein einige Spuren ihrer Wirksamkeit zurückgelassen hat. Allein wir sind dein
Ziele im Grunde noch so wenig näher gerückt, daß wir geradezu wieder von vorn
anfangen müssen.
Wir haben weder Recht noch Ursache, uns auf die Vergangenheit zu berufen,
wenn wir den nationalen deutschen Staat schassen wollen. Denn das deutsche Reich
ist kein Staat gewesen, oder vielmehr, es hat niemals ein deutsches Reich, sondern
stets nur ein römisches Reich deutscher Nation bestanden. Das Reich
war nichts Anderes, als ein Pact der Kaiser mit den mächtigsten deutschen Für¬
sten, welchen diese in demselben Maße zu ihren Gunsten deuteten, als ihre Macht
wuchs; sie haben die Gelegenheit benutzt, ihn als gebrochen zu erklären, nachdem
sie ihn bereits unzählige Mal gebrochen, oder vielmehr nachdem sie zu allen Zei¬
ten nur so viel von ihm gehalten, als sie gemußt. Diese Bedeutung hat „der
Untergang des Reiches," und schlimm stände es mit unseren Hoffnungen, wenn
sie nicht die richtige wäre. Denn hätte ein solcher Staat, wie wir ihn wollen,
in Deutschland bereits bestände» — und sei es immer auch uur in den Grundzügen
— so bedürfte es, wenn unsere Hoffnungen sich erfüllen sollten, einer Ausnahme
von der Regel: daß untergegangene Staaten nicht wieder auferstehen, von jener
Regel, von welchen der bisherige Gang der Weltgeschichte noch keine Ausnahme
kennt. —
Man durchmustere die Abschnitte der deutschen Geschichte, man frage nach
dem Staate, nach dem Körper, durch den die Idee der Nation sich darge¬
stellt. Ost genug ist bereits gesagt morde», daß nicht in Basel, sondern in
Münster und Osnabrück das Reich untergegangen sei; aber hat es denn während
des Zeitalters der Reformation bestanden, ist es nicht zweifelhaft, ob die Refor¬
mation die Gesammtheit unseres Volkes in der Weise ergriffen hätte, als es ge¬
schehen, wenn dessen Blicke bereits aus ein Gemeingut gerichtet gewesen wären,
das ihm Nahrung und Beschäftigung gegeben? Ist es nicht wahrscheinlich, daß
jene Revolution nicht nothwendig gewesen wäre, wenn wir ein Staatsleben ge¬
habt hätten, welches die Anmaßungen und den Despotismus der Kirche ent¬
weder gar nicht hätte aufkommen lassen, oder doch zu brechen vermocht hätte?
In der That, die Klagen Gregors von Haimburg über die Nichtigkeit der Reichs¬
gewalt, über den Hochmuth und die Tyrannei der Fürsten, von denen jeder sou¬
verän sei und in seinem Lande den Kaiser spiele, sind im Wesentlichen dieselben,
wie die unseres Georg Gervinus über die Nichtigkeit der Vundesgewalt und den
gegenwärtigen Zustand Deutschlands. Zweihundert Jahre vor jenem Märtyrer
(den nicht der Tod, sondern das Leben zu einem solchen machte), hören wir die¬
selbe Sprache aus dem Munde Friedrichs it., jenes thatkräftigen Hohenstaufen,
der nicht Deutschland, sondern Neapel zum Schauplätze seines Wirkens gemacht
hat; und man gehe zurück bis auf Otto I. und Heinrich I., man wird weder
einen Staat finden, noch einen Kaiser als Repräsentanten der Idee der Nation:
der Kaiser ist nicht mehr und nicht weniger als der erste, der vornehmste Herr
im Reiche, dessen zerstreute Kräfte ihm allerdings nicht selten zu sammeln gelingt,
aber stets nur für Momente und nur während der ersten drei Jahrhunderte des
Reiches — des römischen Reiches deutscher Nation, dessen Geschichte nur einen
Theil, für einzelne Zeiträume eiuen verschwindend kleinen Theil der Geschichte
dieser Nation bildet.
Es ist aber ungerecht und unvernünftig, uns die Fähigkeit, einen Staat zu
schaffen, absprechen zu wollen, weil er bis jetzt nicht geschaffen ist. Unsere Vor¬
fahren hatten während des ganzen Mittelalters nicht das Bedürfniß des Staates
(hatten sie doch nicht einmal ein Wort für den Begriff Vaterland), wie andere
Völker während ihrer Kindheit ebenfalls nicht; Lage und Bodengestaltung und
der Despotismus, welcher die Vorarbeiten der Natur instinktmäßig benutzte, das
war es, was anderswo auf den Staat geführt hat. In Spanien, Frankreich,
England, Nußland ist der Staat entweder Centralisation oder eine Frucht der¬
selben; Bodengestaltung und Lage dieser Länder haben solche Centralisation mög¬
lich gemacht, haben selbst zu ihr hingedrängt. Um ein großes Centralgebiet lagern
hier peripherisch kleinere und kleine Gebiete, welche sich freiwillig oder unfreiwillig
dem Einflüsse jenes untergeben haben, weil ihr ganzes Sein eine Unterordnung
forderte, oder sie konnten durch die verdichtete Macht des Centralgebietes allmälig
unterworfen werden. Ein solches natürliches Centrum fehlt aber in Deutschland.
Gebirgsketten und Ströme durchziehen es nach allen Richtungen, schaffen Gebiete,
von denen jedes fast keinen eigenen Charakter trägt, abe-r keines derselben ist ein
centrales. — Und vergleichen wir weiter das in dem Herzen Europas gelegene
Deutschland mit anderen Ländern dieses Erdtheils, so finden wir hier nach allen
Seiten hin natürliche Grenzen, dort kaum nach einer Seite hin: denn die Wand,
welche einen Theil der Südgrenze bildet, galt den Deutschen zu keiner Zeit als
solche, sie haben dieselbe unzähligemal durchbrochen, um nach den jenseitigen Ita¬
lien — wohin der Strom der Weltgeschichte durch ihre Alarich, ihre Ottonen,
ihre Hohenstaufen sie führte — ihre Waffen zu tragen, um Cultur von dort
in ihr eigenes Land zu verpflanzen; und die Ardennen und Vogesen dienten ja
bekanntlich Gallien als die Grenzscheide gegen Deutschland, aber nicht Deutschland
gegen Gallien.
Nicht jenem Körper, aus dem das Leben längst gewichen ist, wollen wir
unser Leben einhauchen; lassen wir jenes der Geschichte angehörende Reich, um
dessen Oberherrschaft einst Päpste und Kaiser gestritten, bis Päpste, Kaiser und
Reich fast zu gleicher Zeit ihre Bedeutung verloren. Wir bedürfen zur Gründung
des deutschen Staates keinerlei Berechtigung in der Vergangenheit; wenn wir
diesen Staat wollen, so liegt in diesem Wollen unsere vollkommen genügende Be¬
rechtigung. Wir müssen ihn aber wollen, nicht blos um des materiellen Vortheils
willen, den uns dieser Staat brächte, sondern deswegen, weil wir ohne^ihn unter¬
gingen, weil wir ohne ihn nicht das ewige Leben auf Erden hätten, für das wir
allein ein Verständniß besitzen. Die Deutschen hatten eine Geschichte, ohne ein
Staat zu sein, zu der Zeit, als es noch keine Staaten in Europa gab; das Reich
zerfiel, als diese entstanden, und weil diese entstanden. Jetzt, zwischen Frank¬
reich und Nußland eingekeilt, können wir nicht aus die Dauer als Föderativstaat
bestehen, sondern wir müssen Einen Körper bilden, einen Fels, an dein der Aus¬
länder sich den Kopf zerschellt, wenn er gegen ihn anprallt. Nur der Einheits¬
staat kann uns retten und die Centralisation, und Deutschland kann nnr als Ein¬
heitsstaat bestehen und wirken für die Menschheit.
Indem wir aber den Einheitsstaat erstreben, wollen wir nicht etwa dem
Geiste unserer Nation Gewalt anthun, sondern wir wollen die Fesseln brechen,
welche man diesem Geiste angelegt, ehe er noch erwacht war. Auch die Völker
haben ihre Kindheit, wo sie zu dem Rechten geführt nud erzogen werden müssen,
weil ihnen dieses nicht Bedürfniß ist; unser Volk hat in seiner Kindheit das Be¬
dürfniß des Staates nicht gehabt, und daher konnte es in jene kleinen Kreise
gebannt werden. Dieses ist ein unnatürlicher Zustand, der uns bereits unsäg¬
liches Unheil gebracht, der uns mit Untergang bedroht; und weil wir dieses er¬
kannt haben, müssen wir gänzlich aus ihm herauszukommen suchen. Wir dürfen
uns nicht durch die französische Centralisation schrecken lassen; wir dürfen es nicht
glauben, weder unsern theoretischen Gelehrten, noch unsern praktischen Hofphiloso¬
phen und Hofhistoriographen, daß es unsere Bestimmung sei, in kleinen Kreisen
zu leben. Erst ein Menschenalter ist verflossen, seit die Leibeigenschaft bei uns
aufgehört hat, die eine urgermanische Einrichtung gewesen: wurden wir unserer
Geschichte untreu, als wir sie abschafften?
Die Aufklärung ist in Europa von „Oben" ausgegangen, wir müssen das
nun einmal anerkennen, so sehr sich auch unser demokratisches Gewissen dagegen
sträuben mag, und das Licht, welches von dort ausströmte, war es, was dem
Volke geleuchtet hat, um weiter fortzuschreiten, als der „aufgeklärte Despotismus"
zu vertragen vermochte. Nicht anders verhielt es sich mit der Gründung der
Staaten. Was aber den Königen in Frankreich und Spanien gelungen, das
glückte nicht den deutschen Kaisern; denn gestrebt haben diese nicht rund?r nach
der Gründung des deutschen Staates, vor Friedrich von Hohenstaufen und nach
ihm, mehr oder weniger, je nach ihrer Kraft und nach ihrer Begabung, bis nach
Entstehung der östreichischen Monarchie, die östreichische Politik gerade aus Deutsch¬
lands Trennung Nutzen zu ziehen verstand. Daß die Absichten der deutschen Kaiser
mißglückter, darauf haben wir gar nicht Ursache stolz zu sein. Denn nicht der
Geist der Nation hat jene, allerdings absolutistischen, Bestrebungen vereitelt, son¬
dern der Despotismus der Fürsten, und das, was sie germanische Libcrtät nannten,
war genau Dasselbe, was wir heutzutage den Souvcränitätsschwindel nennen und
verwünschen; es haben diese kleinen Despoten unendlich mehr an unserem Volke
gesündigt, als ein einziger je vermocht hätte. Wir würden uns hente des deutschen
Staates freuen, wenn die Kaiser gesiegt hätten, so wie unsere Nachkommen sicher¬
lich nicht danach fragen würden, ob der deutsche Staat, falls er geschaffen würde,
eine unmittelbare Schöpfung der Volksvertreter oder des mächtigsten der deutschen
Fürsten sei, d. h. ob ein paar hundert Volksmänner oder ein Fürst das letzte
Wort gesprochen.
Schwer wiegende Gründe zur Centralisation sind aber an uns ergangen durch
die neueste Gestaltung der Dinge im Südosten.
Der Jubel der Unwissenheit über den bevorstehenden Umsturz Oestreichs ist
zu schauten geworden, so entsetzlich sich anch dessen Schwäche offenbart hat; trotz
dieser Schwäche wird es höchst wahrscheinlich eine ziemliche Zeit noch dauern.
Denn ganz abgesehen davon, daß Staaten, welche seit einer Reihe von Jahrhun¬
derten bestehen, eine Kraft des Widerstandes — oder, wenn man will, der Träg¬
heit, der Zähigkeit — besitzen, welche bei Stürmen mehr Dienste thut, als die
Weisheit der weisesten Staatslenker — man denke an die Türkei —; ganz abge¬
sehen davon, ist'Oestreich, so wie es dermalen ist, ein Natürliches, ein von
den Umständen und der Lage der Dinge Gebotenes, Gegebenes. Im Südosten,
zwischen dem Böhmerwald und den Südkarpathen, sitzt eine Anzahl von Völkern,
von den jedes für sich allein nicht fähig war, der von Osten und von Süden
herandringenden Fluch Widerstand zu thun, nicht fähig war, selbst nach dem
Aufhören der Stürme, einen selbstständigen Staat zu bilden; jene Völker sind
hierzu nicht nnr zu klein, sondern sie sind in Folge jener, durch Jahrhunderte
währenden Stürme durcheinander gemischt worden, sie sind ineinander geflossen, in¬
einander gewachsen. Um die Czechen in Böhmen wohnen in einem breiten Ringe
die Deutschen, welche den Deutschen in den Stammlanden die Hand reichen; die
Slaven Nordungarns sind von denen Südungarns geschieden durch den mächtigen
magyarischen Keil; die Sachsen und Walachen sitzen inselartig zwischen feindlichen
Stämmen. Diese Slaven, Deutschen und Walachen schwingen die schwarzgelbe Fahne
und rufen „Oestreich und Habsburg," in vielleicht nicht allzulanger Zeit werden anch
die Magyaren in diesen Ruf einstimmen, ihre gegenwärtige Freundschaft mit Ru߬
land kann nicht lange währen; denn alle diese Völker und Völkerschaften, ja selbst
jene Völkertrümmer und jener Völkerschntt, das Alles will seine Nationalität er¬
halten, es will leben. Allerdings, wir von unserem Standpunkt aus, wir sagen
mit dem alten Fritz: n'on vois pas la iiöLvssitvaber sie, diese Völker¬
schaften, sind von dieser Nothwendigkeit überzeugt, denn Alles, was da lebet,
anerkennt als das höchste Gesetz das Bedürfniß zu leben. Sie können aber nnr
leben in dem östreichischen Staate, der sie schützen muß, und in dem doch nicht
Ein Element kräftig genug ist, um die andern aufzufangen oder zu vernichten.
Ans diese Weise ist der östreichische Staat entstanden, er ist entstanden, weil
er für jene Völker, weil er für Europa ein Bedürfniß war, nicht durch Hei¬
rathen östreichischer Prinzen. Die Mythe von der Felix Austria findet ihre Deu¬
tung, wenn wir diesen Ausdruck durch jenes Wort übersetzen; dus Kompliment
über die Erbweisheit der Habsburger, welches selbst in dem Munde von Schmeich¬
lern ein Räthsel ist, findet in jenem Worte seine Erklärung. Jenes Bedürf¬
niß hat tausend Erfolge herbeigeführt, es hat tausend Gefahren überwinden helfen,
hat Oestreich Stürmen und Orkanen trotzen lassen, welche andere Staate» über
den Haufen gestürzt hätten; hat es selbst aus den Gefahren so zu sagen verjüngt
hervorgehen lassen, weil eben durch sie den Völkern jener Gegenden das Bedürf¬
niß eines starken, einigen Oestreich klarer vor die Seele trat.
Daß jenes Bedürfniß heute noch vorhanden ist, das weiß Jeder, der sich
nicht aus Kosmopolitismus oder — was auf eins herauskommt — aus deutschem
Patriotismus für die Magyaren, Walachen, Slovaken, Kroaten, die Augen ver¬
schließt; Jellachich hat recht, wenn er sagt: „Existirte kein Oestreich, wir müßten
es schaffen." Es ist möglich, daß die Habsburger einmal gestürzt werden, daß
dieses Oestreich einmal eine ganz andere Gestalt annimmt, und noch viel an¬
dere Combinationen siud möglich aus den Elementen, die hier gegeben sind;
das aber wissen wir, ist unmöglich, daß Oestreich in seine Atome sich auflöse;
welcher Staat auch dort im Lause der Zeiten entstehen mag, er wird erstlich ein
großer Staat sein müssen, er wird zweitens in Bezug auf Deutschland ziemlich
dieselbe Politik verfolgen, die Oestreich uus jetzt verfertigt hat, er wird drittens,
falls dieses Deutschland nicht concentrirt sein sollte zu Einem Staate, mindestens
dieselben Erfolge haben, welche Oestreich gehabt hat.
Unter allen Umständen ist es also falsch, auf Oestreichs Zerfall zu spekuliren.
Unterlassen wir das den Zeitungsschreibern und glauben wir, daß Oestreichs da¬
malige Zustände, so mißlich sie auch in Bezug auf Oestreich sein mögen, unendlich
bedrohlich uns gegenüber sind, daß es aus unserer Zerklüftung immer noch be¬
deutend größere Vortheile zu ziehen vermag, als Rußland, Frankreich und Eng¬
land zusammengenommen.
Wenn aber jemals Gott einem Volke, das mit Untergang bedroht war, den
Weg hat zeigen wollen, auf welchem es die Gefahr abwenden könne, so hat er
ihn uns gezeigt. Er hat zu derselben Zeit, als die Kraft ans dem Süden un¬
seres Vaterlandes entwich, im Norden den Keim zu einem Staate gelegt, der
seitdem wunderbar aufgeblüht ist; als Deutschland den Völkern zum Gespötte
wurde, hat es den Namen Preußen angenommen, hat eine Kraft entwickelt, welche
Europa mit Staunen und Bewunderung erfüllte. Hier ist Deutschland, mit seinen
Tugenden und mit seinen Fehlern; wer es leugnet, der behauptet zugleich, daß
Deutschland bereits untergegangen sei.
Weg, daher mit allen Hirngespinsten von Wiederherstellung des Reiches, mit
seiner mittelalterlichen Herrlichkeit; schließen wir uns an Preußen an, bauen wir
fort an dem Fundamente, das bereits gelegt ist, das in Stürmen sich bereits als
fest bewährt hat. Nur so gründen wir den deutschen Staat.
Das Wort: Finanzpatent jagt eine Gänsehaut über den Rücken aller Oest-
reicher. Verlust, Unglück, Schmach und Schande knüpft sich für den Oestreicher
daran, da er an die Staatsbankerotte unter Kaiser Franz erinnert wird.
Wieder ist ein Finanzpatent erschiene», dem aber mit Sehnsucht entgegengese¬
hen wurde, da es die anderthalbjährigen Bedrängnisse der geldlichen Verhältnisse
beseitigen soll. Nach Monate langen Versprechungen und Vertröstungen des Finanz-
ministers, veröffentlichte die Wiener Zeitung vorige Woche die vom Kaiser unter
obigem Datum genehmigten „Maßregeln zur Herstellung der Ordnung im Geld¬
wesen , und im Staatshaushalte." Mit Heißhunger siel das durch die Unord¬
nung im Geldwesen und im Staatshaushalte abgemagerte Publikum über das
6 Spalten lange Aktenstück, das kaum für die Leser außerhalb der schwarzgelben
Grenzen genießbar ist; selbst hier entnimmt man nach mehrmaligem Durchlesen nur
so viel, daß trotz allem Aufwands die Herstellung der Ordnung im Geldwesen
noch Jahre lang eine Unmöglichkeit ist. Die erste Einwirkung war, daß die
Banknoten um 120 si. pr. Stück im Course fielen, und das Silberagio stieg.
Das Steigen und Fallen an der Börse kann jedoch nicht als Maßstab bei der
Kritik ministerieller Verordnungen dienen, wenn auch beim Geldwesen, das die
Börse unmittelbar berührt, darauf Bedacht genommen werden muß^
Im Bortrage an den Kaiser erwähnt der Minister, daß das Wiederaufleben
des Vertrauens auf deu Stand der Wechselcourse und Staatscffectc» günstig ein¬
wirkte. Das Vertrauen also ist der mächtigste Hebel, und mit besonderer Satis-
faction vernimmt man eine solche Erkenntniß aus der Feder eines Mannes jener
Regierung, die bisher kein Vertrauen zu gewinnen wußte; das Vertrauen aber
ist der Factor, welcher deu Staat in Ruhe, Ordnung und Freiheit erhält, und
dessen Gegensatz ist die Quelle der Unruhe, der Unordnung und des Zwanges.
Um das Geldwesen zu regeln, mußte daher vorerst Vertrauen erweckt werden,
und dessen Erhaltung allein kann zum Ziele führen. Das neueste Finanzpatent
ist jedoch nicht geeignet, das Maß des Vertrcinens voll zu schütte».
Die Wiederherstellung des Werthes der Landeswährung ist das erste Erfor-
derniß, das auch der Minister anerkennt. Die Banknote gilt nicht das, was die
Ziffer darauf bezeichnet, es fehlt also dem Verkehr im Großen wie im Kleinsten
die feste Basis, und alle Geschäfte, bis auf den Bedarf einer Nähnadel herab,
erhielten hiedurch den Character einer Börsenschwindelei. Der Minister, welcher
werkthätig eingreifen sollte, um den Markt des Lebensbedarfes vom Einfluß des
Geldmarktes unabhängiger zu machen, blieb rathlos in seinem Bureau, und seine
Taktik war ein zuschauendes Gehenlassen und Abwarten. Den Stantsbedarf be¬
friedigte er durch die willfährige Nationalbank, welche Noten auf endlosem Papier
fabrizirte.
Unmöglich kann man dem Vortrage des Ministers beistimmen, daß die Ein¬
künfte des Staates in der Gestalt der vermehrten umlaufenden Crcditspapiere vorn¬
herein in Anspruch genommen und vermehrt werden mußten. Der ehemalige
Reichstag hat dieses „muß" bestritten. Die Vermehrung der Einkünfte mußte in
jener Gestalt eingeleitet werden, daß das Gesammtreich in gleichmäßiger Weise
dazu beisteure, uicht aber in der Mißgestalt von Papiernoten, für welche die Bank
keinen bedeckenden Baarsond auszuweisen' hatte. Der Gulden, deu die Bank dem
Staate lieh, war eine falsche Münze, denn es war kein Gulden. Der Finanz-
minister Freiherr v. Kraus ergreift aber wiederholt das Wort zu Gunsten der
Rationalbank, und stellt unter allen Borkehrungen „oben an," eine durchgreifende
Verbesserung der Lage der Bank und die Regelung der Beziehungen des Staates
ZU derselben. Nicht jedoch die Lage der Bank ist zu verbessern, vielmehr die Lage
des von der Bank abhängigen Volkes, das diesem mißbrauchten Institute robo¬
ten und zehnten muß; die Bank hat bei ihrer jetzigen Lage Millionen gewonnen
und die Bankaktien behielten in den trübsten Zeiten des vorigen Jak)res so wie
jetzt weit mehr als den doppelten Cours ihres Nominalwerthes. Die Gefahren
und Verluste, welche Oestreich seit dem März 1848 bedrohten, haben der Na-
tionalbank reiche Zinsen getragen.
Die Beziehungen des Staates zur Bank sind einfach damit geregelt, wenn
letztere unabhängig und selbstständig die Interessen der Bauknoteninhaber,
nicht der Bankactieninhaber allein vertritt; wenn sie nur mit ihrem effectiven
Vermögen gebahren darf, statt aus dem Schweiße des Taglöhners Prozente zu
gewinnen; wenn sie, so wie jeder private Gewerbsmann vor das Strafgericht
gezogen wird, sobald ihre Spekulationen den reellen Boden verlassen, ob nun ein
Banquier oder der Staat ihre Mittel in Anspruch nimmt. Bedurfte es erst der
Anordnung des Kaisers, daß der Staat nicht mehr die Bank zur Vermehrung
der Banknoten in Anspruch nehmen darf? Welcher Privatmann darf, nachdem er
sich insolvent erklärte, neue Wechsel ausstellen? Die privilegirte Bank kann ihre
Noten nicht einwechseln, und gibt Millionen neue aus, uuter den Augen und mit
Billigung des Ministeriums. Hiedurch wurde das Vertrauen der Geldwelt tieser
untergraben, als durch deu Wahu einer Zerstückelung Oestreichs. In den be¬
drängten Monaten der Erwerblvstgkeit verschloß die Nationalbank ihren Silber-
brnnueu, und während die Massen bürsteten, leitete der Minister einen Canal in
die Bank, aus dein die Barren und Stangen für seine Zwecke hinausströmten. Die
Direction der Bank, statt die Interessen der Nation nud deö allgemeinen Wohles
zu vertreten, machte das Institut zum Werkzeug des Ministers, und diese selbe
Direction soll noch ferner über das Wohl und Wehe der Millionen abzustimmen
haben. Das erweckt kein Vertrauen!
Der Minister bekennt in seinem Vortrage, daß alle Provinzen Klagen gegen
die Nationalbank richteten, besonders die Handel- nud Gewerbtreibenden; aber der
Minister fertigt diese Beschwerden mit der Vertröstung ab, „sie verdienen eine
Untersuchung, Erwägung und Erörterung." Mit vorzüglicher Gönnerschaft fügt
aber Baron Kraus hinzu, daß eine Verstärkung des Fondes nöthig sei, wenn die
Bank alleu Anforderungen genügen soll. Der Mangel an Fond wurde erst dann
bemerkbar, als die Bank ihre anfängliche Bestimmung verließ, und statt die Ge¬
schäfte einer Nationalbank die Dienste einer Staatsbank übernahm. Millionen
über Millionen würden der Nationalbank zuströmen, wenn sie ihren Zweck unver-
rückt im Auge behält: der Industrie, dem Gewerbe, dem Verkehr ihre Reichthü¬
mer und Privilegien zu widmen; es bedarf keiner Einwirkung des Staates, son¬
dern blos einer Beaufsichtigung desselben. Das neuerwachende Geschäftsleben nach
so langem Stillstande sucht nach Mitteln und Kräften; aber es findet sie nicht bei
der Bank, die sich an die Ruder des Staates schmieden ließ, und so leidet der
Strumpfwirker, wenn ein politisches Diner mißglückt.
Der Kaiser soll eine Commission aus Vertrauensmännern einberufen, um Ent¬
würfe zur Besserung des Geldwesens zu berathen mit vorzulegen; allein diese
Commission bindet man wieder an die Bankdirection, gegen deren eigennütziges und
serviles Verfahren die Berathungen sich richten müßten. Im Bureau des Finanz¬
ministers beriethen schon solche Vertrauensmänner, aber fruchtlos, und die zu
bildende Commission ist auch nichts als ein neuer Strohmann.
In der zweiten Abtheilung des Finanzpatentes werden fünf Maßregeln angege¬
ben zur Bedeckung der Staatserfordernisse. Die beiden ersten dienen zur Abtra¬
gung eines Theiles der Staatsschuld an die Bank und zur Vermehrung ihres
Baarfondes; die Kriegsentschädigung von Sardinien, 25 Millionen Fi., und die
Gelder des neu zu machenden Urlebens, 60 Millionen Fi., fließen der Bank zu.
Die dritte Maßregel ist: „Die Vervollständigung und ergiebigere Benützung
des Staatseinkommens von den directen und indirecten Abgaben." Aus dem
Dunkeln in's Lichte übertragen, heißt diese Stelle so viel als: neue Steuern,
und noch deutlicher bezeichnet dies der ministerielle Vortrag: „nur mit Widerstre¬
ben schreite ich zu dem Antrage, Aenderungen in der bisherigen Besteuerung ohne
Mitwirkung des Reichstags vorzunehmen!" Welche zarte Rücksicht des energischen
Ministeriums! Man erhebt die Steuern ohne Genehmigung eines Reichstags, und
wenn man sie ändert oder neue auflegt, so geben die Umstände eine Jndemnitäts-
bill. Der Minister aber, welcher vor wenigen Wochen offiziell erklärte, daß Un¬
garns Einbeziehung in den östreichischen Steuerkreis das Einkommen um 60 Mil¬
lionen jährlich erhöhen werde, erklärt heute, daß das Einkommen des Gesammt-
staates im Verwaltungsjahr 1850, trotz der neuen Steuern, nur um 40 bis
50 Millionen sich vermehren werde.
Der Minister erklärt ferner, daß die Einnahme nicht mit den Ausgaben in's
Gleichgewicht gesetzt werden kann, und das Defizit noch lange eine stehende Ru¬
brik im Staatsbudget bleiben wird. Der Minister meint jedoch, daß das Volk bisher
mit einer neuen Abgabenlast verschont und seine Kraft unversehrt erhalten worden
sei. Keine Abgabe wäre von größerer Last gewesen, als die Entwerthung der
Banknoten; keine Steuer hätte die Kraft des Volkes im gleichen Maße geschwächt.
Der Bettler, welcher einen Groschen geschenkt erhielt, verlor durch deu Cours
der Banknoten einen Kreuzer davon, eine Steuer, die zu den erschreckendsten
Scenen geführt hätte, wäre nicht der Segen des Himmels auf die Fruchtfelder
gefallen. Sogar der menschenfressende Krieg wurde hiedurch zur Wohlthat. Nie¬
mand hatte einen Nutzen davon außer der Nationalbank und dem silberreichen
Auslande. Im Budget für 1849 sprach sich der Minister bereits dahin aus: „als
Bedingung, deren Erfüllung zur Begründung der Ordnung im Staatshaushalte
nothwendig ist, muß die Feststellung des Geldumlaufes auf einer gesicherten und
Schwankungen nicht unterliegenden Grundlage bezeichnet werden." — Seit Z Jahren
wurde keine Grundlage für den Geldumlauf gebaut. Papiere mit Zwangcours
wurden ausgeschüttet, Kreuzerscheine gemacht und Silbersechser gemünzt, welche
jüngst die sächsische Regierung wegen ihres Mindergehaltes verbot. Die Anleihe,
welche zu Ende vorigen Jahres abgeschlossen werden konnte, und wenn auch kein
Silber in's Land, doch Papiere aus der Circulation gebracht hätte, wurde in
Erwartung besserer Anbote abgelehnt, und die Waaren stiegen um 25 bis 50
Prozent. Die Verantwortung, welche der Minister übernimmt, indem er ohne
Mitwirkung des Reichstags Steuern einführt, ist weit geringer als jene, daß so
spät zur ordentlichen Bedeckung der Staatsersordernisse geschritten wird, nachdem
der Fieberzustand der Landeswährung das Mark des Volks aufzehrte. Weder
der Münster noch die Nationalbank machten einen Versuch, das Uebel zu heben,
wenn man nicht die polizeiliche Verfolgung von Silbermäklern als solchen ansehen
will; letztere wird aber gegenwärtig zu Etwas verhelfen. „Die Hinausgabe der bisher
zurückbehaltener Reserveactien hätte (!) nach Maßgabe des Umfanges, in dem die
Verstärkung des Fondes es erheischt, zu erfolgen." Dieser cvnditionelle Satz läßt
vermuthen, daß es weder dem Minister noch der Bankdirection Ernst ist mit der
„Hinausgabe." Mit diesen Actien hat es folgende Bewandniß. Bei Gründung der
Bank sollte durch Hinausgabe von 100,000 Actien der nöthige Fond herbeige¬
schafft werden; es genügte aber die Ausgabe der Hälfte der Actien und die an¬
dere Hälfte blick. in Reserve. Die Actieuinhaber der circa 50,000 Stück genossen
nun die Zinsen der 100,000 Stück. Als die Bank voriges Jahr insolvent wurde,
drang man darauf, daß die Reserveactien verkauft werdeu, wodurch der Baarfond
gesteigert würde. Abgesehen davon, daß der Cours dieser Actien bedeutend fallen
müßte, wenn eine solche Summe auf den Papiermarkt kömmt, sträuben sich die
jetzigen Actieuinhaber, ihren Gewinn daran Halbiren zu müssen; und die Verschwiste-
rung der Finanzverwaltung mit der Bankdirection unterstützte die Maneuvres da¬
gegen. Die Hinausgabe der Reserveactien darf aber auch nicht als Panacee für
die Solvenz der Bank angesehen werden. Die Bankdirection, welche dem Staate
Geld zu verschaffen wußte, wird auch sich selbst Geld zu verschaffen wissen, ehe sie
ihr Privilegium erlöschen läßt, und gewiß auf leichtere und billigere Weise als
durch Verkauf ihrer Reserveactien. Das sei die Sorge der Bank. Wenn aber
schon die Hinausgabe vom Ministerium für angemessen erachtet wird, warum wird
sie verschoben? erheischt es uicht jetzt bereits der Mangel an Fond? ist die Ma߬
gabe des Umfangs erst zu enträthseln? Die Bank wechselt nicht einen Gulden
ihres Papiers gegen Silber; aber man begünstigt ihre Actionäre dennoch damit,
die Reserveactien nicht zu Geld machen zu müssen.
Die sardinische Entschädigung, die vom Reichstag bewilligten 100 Millionen
und die neuen Steuern reichen nebst der Gewinnung Ungarns nicht aus, die
Ausgaben zu decken. Der Militäraufwand frißt das Gold und Silber und Pa¬
pier, und eine namhafte Reduction der Armee ist bei den fortwährend grollenden
Elementen unmöglich. Die Zustände sind so ungeregelt, daß nicht einmal der
Staatsvoranschlag für 1850 entworfen werden kann, welches Verwaltnngsjcchr mit
1. November beginnt, noch weniger ist dessen Bedarf gedeckt.
Der Minister greift also neuerdings zu dem bequemen Mittel — vierte Maßregel
zur Ordnung des Geldwesens — Papier als Geld auszugeben; er legt eine Fabrik
von: Reichsschatzscheinen an. Unter diesem Titel wird eine schwebende Schuld
gegründet, die gegen den Umlauf der verschiedenen Anweisungen manche Vortheile
gewährt; sie ist, durch die Eisenbahnen, welche der Staat baute, wenigstens eini¬
germaßen fundirt. Diese NeichSschatzscheine sollen zinstragend sein, und die Bank¬
noten aus dem Verkehr verdrängen. Kein cultivirter Staat wagte es bisher,
ein solches Geldpapier zu creiren, die Finanzwissenschaft wird mit einem neuen Ex¬
periment bereichert. Vielleicht gelingt es sogar, denn der fette östreichische Boden
überwuchert selbst solches Unkraut. Ein solches zinstragende Geld ist der Ruin
des Privatcredits und aller auf geringer Procentuation berechneten Unternehmun-
gen. Niemand wird auf ein Haus Geld leihen, wenn das Geld selbst ihm eben
so viel Interessen trägt; noch weniger wird Jemand sein Capital in einer Speku¬
lation wagen, das ihm bei Müßiggang Zinsen abwirft und dennoch sicher bleibt.
Schon haben sich Stimmen gegen dieses Zinsgeld aus dem Kreise der Industriellen
und der Grundbesitzer erhoben, denen die Kapitalien gekündigt wurden, wofür die
Besitzer sich die leichtbeweglichen, schnellumsetzbaren, stets in der Hand bleibenden
NeichSschatzscheine anschaffen werden. Der Zinsfuß wird also hiedurch erhöht und
dem Wucher in die Hand gearbeitet.
Von anderer Seite droht diesen Reichsschatzscheinen, für deren Tilgung und
Zinsenzahlung durchaus kein genügender Fond ausgewiesen ist, die Agiotage. Die
Summe der Emission ist vom Minister nicht angegeben, eben so wenig die Ziffer
des Zinses; er kann die NeichSschatzscheine ins Unzählige vermehren und den Zins
nach Belieben herabsetzen oder ganz aufheben. Nirgend eine Gewähr gegen den
Mißbrauch. Der Minister überträgt die Controle über diese NeichSschatzscheine---
der Nationalbank! Man traut den Augen kaum. Ein Institut, welches das
allgemeine Mißtrauen des ganzen Reiches auf sich lud, wird als Wächter der
Finanzverwaltung aufgestellt; eine Direction, welche wie die Pagode wackelte zu
Allem, was der Minister verlangte, soll als Garantie für dieses Papiergeld be¬
trachtet werden!
Die Reichsschatzscheine werden, sobald der Zwangcvurs aufgehoben wird,
dem Börsencourse unterliegen, und die Schwankung der Geldverhältnisse irritirt
vielleicht ein Jahrzehend lang unsern ganzen Verkehr. Die Banknote, welche neben
diesem Geldpapier fortbesteht, wird entweder bessern oder schlechtem Credit haben,
als der Rcichsschatzschein, und die Verschiedenheit der Landeswährung dehnt sich
vom Silber auch auf die Papiere aus. Im Auslande aber wird sich dieses Pa¬
pier erst Credit erwerben müssen, und ehe das geschieht, zieht der Rest unserer
Metallmünzen für den Import über die Grenze.
Das Verbot der Münzausfuhr ist, als fünfte Maßregel, aufgehoben. I'roy
taret! kann man sagen, nachdem die durch das Verbot geschlagenen Wunden be¬
reits vernarben, nachdem der Silbercours von 25 auf 7 pCt. herabgefallen war.
Zu diesen eben besprochenen Maßregeln kam alsobald die Ausschreibung des
neuen Anleihens; es besteht aus einer 4^ procentigen Schuldverschreibung,
die zum Course von 85 ausgegeben wird. Durch freiwillige Subscription soll die
Summe von 60 Millionen effective (71 Mill. nominell) herbeigeschafft werden.
Bei den einbegleitenden Worten des Ministers ist die Stelle bemerkenswerth,
daß er von den Bewohnern Oestreichs Opfer in ausgedehnterem Maße weder
fordern, noch erwarten könne, und er setze seine Hoffnung in die Betheiligung
des Auslandes mit großen Beträgen. Oestreichs Bürger haben ihre Söhne und
Brüder in einen blutigen Kampf geschickt, der nicht ihre Sympathien hatte; um
so weniger würden sie ihre Kassen verschließen, um dem Staate, also sich selbst
eine bessere Zukunft zu bereiten. Der Reichstag, die Vertreter des Volkes, haben
Geld bewilligt für die Mehrausgaben, und das Volk würde gerne und bereit¬
willig steuern, was seine Vertreter unter Sanction des Kaisers beschlossen. — ES
liegt nichts Beruhigendes und Erhebendes darin für die Nation, daß der östrei¬
chische Minister das Ausland anruft, um den östreichischen Finanzen aus die Beine
zu helfen; der Minister macht den Kaiserstaat von den Comptoirstuben Amster¬
dams und Frankfurts abhängig, und in den dortigen Börsenhallen wird der CoUrs
der östreichischen Landeswährung bestimmt. Das Volk hat kein Vertrauen zum
Ministerium, und das Ministerium antwortet mit Mißtrauen in das Volk, ein
greller Zwiespalt, der durch alle Acte der Regierung läuft seit der Auslösung des
Reichstags. In Folge davon mußte man russische Waffen ausborgen, wie man
jeht holländische Ducaten sich ausleiht.
Das Anleihen unterscheidet sich durch nichts vom gewöhnlichen Gleise solcher
Finanzoperationen. Eine etwaige Rückzahlung des Capitals oder eine Sicherstel¬
lung der Währung, in welcher die Zinsen ausgefolgt werben, findet sich nirgend.
Trotzdem wird das Anleihen zu Staude kommen, da der Minister die Unter¬
stützung des russischen Hofes mit 20 Millionen zugesagt erhielt; wenigsteus wird
so berichtet. Private dürsten, ungeachtet der großen Vortheile, die auf Kosten
des Staates geboten werden, sich nicht zu sehr betheiligen. Der Staat Oestreich
steht fest, das Ministerium aber wackelt, wie es sich auch den Anschein gibt, sicher
auszutreten. Kehrt es zum Absolutismus zurück, zu einem gebildeten und feinen,
wie es der Minister Bach am zweckmäßigsten für Oestreich hält, so wird jedes
Cabinet so lange im Sattel bleiben, bis wieder einmal der gallische Hahn den
Adler erschreckt; will aber das Ministerium auch nur die Form eines konstitutio¬
nellen Staates betbehalten, so wird es vom ersten Reichstage mit spitzer Lanze
in den Sand geworfen. Alle Barrikaden, die das Ministerium um seine octroyirte
Charte auswirft, sind unhaltbar; die Nationalitäten durchbrechen diese Schanzen.
Den heftigsten Stoß werden hiedurch wieder die Creditpapiere erleiden, und kein
Reichstag wird das Verfahren des Ministers billigen können!
Oestreich war immer unglücklich durch seine Finanzpatente.
Der populärste Held Serbiens ist jetzt der alte Woiwode Thomas Wucic
Perisic (sprich: Wutschitsch Perisitsch), einer der interessantesten Charaktere, von
außen rauh und offen, und doch schlau und listig, aber in jedem Blutstropfen
Palmöl und warm für das Wohl seines Volks, das ihn liebt, wie keine seiner
übrigen politischen und kriegerischen Notabilitäten. Wucic hat sich aus niederem
Stand — er ist eines Bauers Sohn — zum Woiwoden und commandirenden
General von Serbien heraufgeschwungen, sein starker Arm hat die Dynastie der
Obrenovice verjagt und den Sohn des schwarzen Georg zum Herrn von Serbien
gemacht. Unter diesem sitzt der rauhe Mann als Chef des Militärwesens, manchmal
unbequem für den kleinen Hof und die Bürger von Belgrad, aber angebetet in
den Dörfern und der Landschaft.
In einer Seitenstraße der Varos-Kapi zu Belgrad liegt sein neues, freund¬
liches Wohnhaus, ein Geschoß hoch im modernen abendländischen Styl gebant,
mit einem geräumigen Balkon, den ein niederes Gitterwerk umschränkt. Ich hatte
mich ihm eine halbe Stunde vor meinem Besuch durch einen Lohnbedienten an¬
melden lassen. Zwei Diener in reicher serbischer Tracht, Pistolen und Messer im
Gürtel, empfingen mich im Hofthor, zwei andere an der breiten, mit schönen
Teppichen belegten Treppe. Diese führten mich in einen eleganten Salon von
ganz französischer Einrichtung, nur die niedern, rings an den Wänden stehenden
Sophas verriethen die Nähe des Orients. Der Bilderschmuck des tapezirten Ge¬
machs bestand in den Portraits des serbischen Fürsten Alexander, des Sultans
Abdul-Meschid, Kaiser Ferdinands von Oestreich und des rechtgläubigen Czars
aller Reussen. Man sah, der Herr des Hauses war ein Diplomat, der es mit
keinem dieser Potentaten verderben wollte.
Auf einem der seidenen Sophas saß mit gekreuzten Beinen Herr Thomas
Wucic, den langen Cibbuk im Munde; auf einem Lehnsessel vor ihm, gleichfalls
rauchend, ein junger schmächtiger Mann im schwarzen Attila, ganz nach fran¬
zösischer Mode gekleidet, einer der serbischen Staatssecretäre. Die Herren waren
im lebhaften Gespräch begriffen. — Ein Handzar in silberner, kunstreich ciselirter
Scheide lag auf einem Seitentisch, daneben eine Pistole, kostbar mit Perlmutter
und Silber ausgelegt, die zweite correspondirende stak in Herrn Wucic's Leibgurt.
Ich erfuhr später, daß er diese Waffe niemals ablegt.
Der Woiwvde grüßte mit dem Kopfe nickend und bot mir die Rechte zum
Händedruck. „Gut gekommen!" lautete der althergebrachte Gruß.
„Besser gefunden, am besten gefunden" — war die gebräuchliche Antwort.
„Du kommst aus Karlovic?"
Ich bejahte.
„El, wie steht es dort? — Machen die Magyaren — der Teufel soll ihnen
die Seele--unsern Leuten noch immer zu schassen? Wie geht es unserm
würdigen Vater, des Patriarchen Heiligkeit? Was macht mein lieber Sohn, der
Knicanin, der wackere Junge, den Gott erhalten möge? Ich weiß, er hält sich
brav uno klopft die Magyaren fleißig."
Wucic hörte meine berichtende Antwort mit gespannter Theilnahme, bald mit
einem freundlichen Lachen Und behaglichem Streicheln des grauen Schnurrbartes,
wenn von einer günstigen Affaire der Serben die Rede war, bald mit raschem
Zusammenziehen der großen buschigen Augenbrauen, wenn ich einen unangenehmen
Zwischenfall im serbischen Waffenglück berührte. Mitunter ließ der greise Herr
eine scharfsinnige Bemerkung über die strategische Situation der Serben fallen und
machte so jugendlich begeisterte patriotische Betrachtungen, daß ich in Erstannen
gerieth. Nach einer Weile ersuchte er mich, ihm auf deu Balkon zu folgen und
in der kühlenden Abendluft auf einem schwellenden Sopha Platz zu nehmen. Auf
seinen Wink brachte ein Diener einen reich verzierten Cibbnk von guten drei Ellen
Länge und hielt mir mit der einen Hand das monströse Rohr ans persischem Weich¬
selholz wie einen Wurfspieß vor den Mund, während er mit der andern die glü¬
hende Kohle auf den feingeringelten, goldgelben Levantcblättern zurecht richtete.
Ich mußte feierlich die Gastpfeife rauchen, köstlichen, orientalischen Tabak, von
dessen Arom ein Nordländer selten einen Begriff hat. Zwei andere Lakaien kre¬
denzten in kleinen Porzellainnäpfchen auf silbernen Unterseen duftigen Mokkakasse
und in einer schöngeschliffenen Krystallbüchse das sogenannte Sladno, den Scherbet
der Serben.
Ich bewunderte die imponirende Athletengestalt des Woiwoden! Ein riesiger
Körper, sehnig und muskulös mit hochgewölbten Brustkasten. Der Kopf wie eine
edele Antike, eine nicht zu hohe, etwas gewölbte Stirn von schwarzgrauem, dich¬
tem Haar umsäumt, die Nase gebogen, ein dunkles stechendes Augenpaar von bu¬
schigen Brauen und dichten Wimpern beschattet. Ueber dem feingeschnittenen
Munde, den ein schlauer Zug umspielt, häugt ein mächtiger grauer Schnurrbart.
Die Jahre sind fast spurlos an der hohen Gestalt und ihrem noch immer schö¬
nen Zügen vorübergegangen, man würde nach seinem Aussehen den Woiwoden auf
höchstens fünfzig Jahre schätzen, Mein er steht bereits an der Schwelle der siebzig.
Seine Kleidung war die nationale Tracht, einfach und prunklos. Das Unter¬
jäckchen vou roth und weiß gestreifter Seide, der kurzärmlige Spencer dar¬
über die weiten Pluderhosen und die knappen Kamaschen von feinem, dunkel¬
blauem Tuch, mit schwarzen Schnüren besetzt. Das Haupt bedeckte ein niedriger
Fez; die rothen Leberschuhe waren im Sitzen abgestreift und ließen gutmüthige
blauwollene Fnßsockeu hervorsehen. Ans dem rothen, goldgestickten Gurt ragte
die große Pistole.
Pferdegetrappel scholl von dem holprigen Pflaster der Varos-Kapi herüber.
Der Kops einer reizenden jungen Frau bog sich aus des Hauses letztem Fenster
neugierig nach der Straße. Ein griechisches Profil, alabasterner Teint und rosige
Wangen, die mir allerdings geschminkt schienen; über den brennenden schwarzen
Augen rollten sich zwei feine, pechschwarze Brauen, das lange glänzende Haar war
in Flechten um ein rothes TuclMppchen gewunden, vor dem eine schwere Gold-
troddcl auf den schwarzen Sammet des zobelverbrämtcu Jäckchens herabhing. Der
Körper schien so schön zu sein, als ihr Antlitz.
„Das ist mein Weib" bemerkte Wucic mit schlauem Augenzwinkern. Es ließ
sich nicht bestreiten, der Herr Woiwvde hatte gut gefreit, man erzählte sich in Bel¬
grad, daß er sich viel aus die schöne Frau einbildet. — Aber der Dame des Hau¬
ses Fremde vorzustellen, ist in den serbischen Familien nicht Sitte: ich mußte da¬
her aus das Vergnügen verzichten, die Omphale dieses serbischen Herkules in der
Nähe zu bewundern.
„Sieh dorthin" fuhr mein würdiger Gastfreund nach der Straße deutend fort—
„dort kommt unser Fürst, Herr Alexander Karageorgevic geritten!"
An der Spitze von sechs Reitern ritt auf einem türkischen Fliegenschimmel
Fürst Alexander, ein hoher, robuster Mann in den Dreißigern, von brünetter Ge¬
sichtsfarbe mit kurzverschnittenem Haar und einem langen braunen Schnurrbart.
Der blaue Rock mit schwarzen Brustschnürcu, graue Pantelvns mit breiter Gold¬
borte, ein rother Fez, eine Reitgerte und gelbe Glacehandschuh geben der ganzen
Figur das Aussehn eines gedienten Rittmeisters von den Cuirassiren. Sein Adjutant,
der ihm zunächst folgte, war in reicher überladener Uniform mit vollen goldenen
Epauletts und Fangschnüren, silberner Schärpe und einer breiten Borte an der
Feldmütze. — Wucic erhob sich grüßend und der Fürst nickte freundlich, die Hand
am Fez militärisch salutireud.
„Ein stattlicher Mann, unser Fürst" — erklärte Wucic, als die Reiter vorbei
waren — und herzensgut, manchmal zu gut und zu weich. Unsere Leute lieben
'hu vou Herzen und selbst die Türken, welche hier in Belgrad wohnen, haben Zu¬
bauen zu ihm, mehr als zu ihrem eigenen Kadi, der über sie gesetzt ist, oder zu
ihrem Pascha, der dort oben auf der Festung sanft, seit sich der alte Milos mit
den Türken verglichen hat; und diese sind doch ihres Glaubens. Ost kommen die
armen Türken zu unserm Fürsten, wenn ihnen vom Kadi oder Pascha ein Unrecht
geschieht, und flehen: „Ehrsamer Fürst! wir bitten dich, geh hin zu unserm Pascha
und mache, daß er uns nicht weh thut." — „Wie kann ich das ?" sagt dann unser
Fürst, „hab' ich doch keine Gewalt über den Pascha, welcher allein vom Vezir ab¬
hängt und vom Großherrn." — „El Herr," sprechen die Türken: „geh dennoch hin
und rede mit ihm, oder schreib' ihm einen Zettel: der Pascha wird sich'S sagen lassen
und uns nicht mehr drücken und dir wird es ein Sevap (gutes- Werk) sein, wenn
dn dich der Bedrängten annimmst, du bist ja ein großer Herr und gütiger Fürst
über deine Unterthanen." Und der Fürst verwendet sich dann, wenn er kann, sür
den Türken und der Pascha verzeiht um des Fürstenwillen dem Schelmen. „Unser
Fürst ist gut, ich hab' ihn lieb wie meinen Sohn."
Dieser rhetorische Lobspruch war mir auffallend, so charakteristisch er war.
Denn es war bekannt, daß Wucic mit dem Fürsten nicht im besten Einvernehmen
stand und daß der wunderliche alte Volksheld zur Seite nach Oestreich herüber,
wieder auf den Sohn des vertriebenen Fürsten Mlosch, dem Michael Obrenowic
sah. Der Anhang der regierenden Fürstenfamilie wenigstens, der schlaue Jacob
Steuadowic und sein Geschlecht fürchteten und beargwöhnten ihn. — Da er
aber so treuherzig versicherte, daß er den Fürsten wie seinen Sohn liebe, sortirte
ich weiter: „Du thast auch als Vater an ihm, Woiwode und er hat Sohnespflicht
gegen dich, denn du warst es, der ihn auf den Fürstenstuhl gesetzt."
„ES geschah," entgegnete Wucic, „um seines großen Vaters willen, des Kam
Georgje und weil das Volt die Obrenovice nicht leiden mochte im Lande. Darum
stände» wir auf, und Herr Alexander Kara Georjevic, der bisher Lieutenant im
Heere des Fürsten Michel Obrenovic gewesen, ward Fürst. Schade um Kara
Georgje, daß er enden mußte durch des Mörders Beil zu Topola! O ich weiß,
wer die Mörder gedungen, ich durchschaute den alten Bluthund und nahm Rache
an ihm. Schade um Kara Georgje! Er war ein Held, ein großer Mann , wie
keiner wieder kömmt in dieser verweichlichten Zeit."
Eine kurze Pause trat nach dieser „offenen" Erklärung ein, dann frug der
Woiwode: „Ich habe noch ein Schwert von ihm, willst du es sehen und sein
Bild? So komm." Ich folgte ihm in ein Seitenzimmer, das vou dem zierlichen
Salon sehr kriegerisch abstach. Bärenfelle bedeckten die Sopha's und an den
Wänden hing ein ganzes Arsenal herrlicher Waffen, interessant durch kunstreiche
Arbeit, durch kostbaren Zierrath, durch Alter, oder durch die frühern Träger.
Welche Ströme warmen Blutes mögen von diesen blanken Damaszenerklingen
herabgeronnen sein? Kara Georgje's Säbel wurde mir gezeigt, er war natürlich
ein Säbel wie andere Säbel, ohne einen Erklärer war er nicht herauszufinden,
wie dies in der Regel bei solchen historischen Reliquien geht. Zwischen den
Waffen hingen die Portraits serbischer Helden, darunter Kara Georgje, Wucic
selbst lebensgroß in Oel und in einige Lithographien und — MiloS Obrenovic.
Das letztere Bild hier zu finden, befremdete mich, ich konnte eine Bemerkung
darüber nicht zurückhalten.
„Ja Herr Woiwode, warum soll der Milos hier nicht hängen" — entgeg-
nete Wucic, „war er doch einst ein herrlicher Held und mächtiger Kämpfer für
die Freiheit unsers Landes, bis er sich verleiten und erkaufen ließ durch türkisches
Gold und eine Zeit der Noth und arger Bedrängniß über dies Land heraufbe¬
schwor. Milos drückte das Volk, ließ die Hauptleute und Kuchen, welche die
Unterwerfung unter die Türken nicht dulden wollten, gefangen nehmen und köpfen,
und schickte die blutigen Häupter nach Stambul zum Sultan, der sie ihm mit
Beuteln voll Piaster aufwog. Wenn Du zur Varos-Kapi hinaus nach der Festung
gehst, siehst Du Reste morscher Pallisaden, auf diesen sah ich vieler Edlen Köpfe
aufgesteckt. Damals war's, wo auch wir uneins wurden mit dem alten Milos,
weil er uns zumuthete, was sich kein Serbe zumuthen läßt."
Die Begebenheit, aus welche der Woiwode anspielte, kennt zu Belgrad jedes
Kind, sie legte den ersten Grund zu der großen Popularität Wncic's. Es war
in den Jahren, wo Fürst Milos Obrenovic am blutigsten hauste, Wucic war da¬
mals Kapitän und stand einst eben vor dem Hause des Fürsten, als mau blutige
Häupter von Volksmännern, neue Opfer der Tyrannei, in Säcken herbeitrug, um
sie nach Konstantinopel zu schaffen. Den Wucic übermannte gerechte Zorneswuth:
„Pfui schämt Euch!" rief er den Trägern entrüstet entgegen. „Schämt Euch,
Landsleute, daß Ihr Euch wegwerfe und brauchen laßt zu fluchwürdigen Henkers¬
dienst an den Besten Eures Volks. Wer ein echter Serbe ist und ein Herz im
Leibe hat, hält die Hand rein von Bruderblut." — Betroffen stellten die
Männer die blutgetränkten Säcke hin und wollten sich davon schleichen, als Fürst
Milos, der den Vorgang vom Fenster aus mit angesehen hatte, roth vor Wuth
die Treppe herabgerannt kam und den Hauptmann grimmig anschnaubte: „Hörst
Du, Wucic! Du selbst wirst jetzt die Säcke nehmen und auf den Wagen schafft»,
ich will es so." — „Die rechte Hand soll mir abdorren, eh' ich das thue!" ent-
gegnete dieser ruhig. — „Du thust was ich gebiete," zürnte Milos, „oder Dein
Haupt fällt zu jenen." Wucic antwortete ein entschiedenes „Nein!" — „Wachen
herbei! greift den Rebellen" herrschte der Fürst außer sich vor Zorn. Die Sol¬
daten gingen aufWnciclos, doch dieser zog rasch mit der Linken ein Pistol aus dem
Gürtel und hielt es dem Fürsten vor die Brust, in der Rechten schwang er den
Handzar mit den Worten: „Wer mir naht ist des Todes, auch Du mein Fürst,
wenn Du mich nicht ziehen läßt." Die Wachen traten zurück und Milos ging
bleich und knirschend in sein Haus, Wucic aber verließ noch am selben Tage Bel¬
grad. Man fügt hinzu, daß Fürst Milos Obreuovic von jener Stunde an keine
Hinrichtung mehr vornehmen ließ. —
Ein Reitknecht trat ein, mit der Meldung, die Pferde seien gesattelt. Der
Woiwode brach auf, seinen Abendritt zu thun, ich begleitete ihn auf seine Auffor¬
derung. Als wir zu Pferde stiegen, kam ein Pope des Weges, der den breiten
Hut ehrerbietig vor dem vielvermögenden Woiwoden abnahm.? Dieser aber zog
den Fuß aus dem Steigbügel, stieg ab, verbeugte sich mit gekreuzten Armen und
sprach: „Ehrwürdiger Vater, segne mich!" Der Pope sprach sein Segenssprüchlein,
verlegen und devot und der Woiwode schwang sich in den Sattel. Im Fortspren¬
gen bemerkte er mir lächelnd in's Ohr, daß es der nachreitende Diener nicht hören
konnte: „Siehst Du, was man des Volkes wegen thun muß, ich für meine Per¬
son brauche die Popen nicht!" — Das ist Herr Wucic Parisic, der serbische
Volksheld unserer Zeit. Die Tapferkeit seines Stammes und die diplomatische
Nuhe der Türken, rascher Muth und intriguante Schlauheit vereinigen sich bei
ihm unter der Hülle rauher Gradherzigkeit. Er liebt sei» Volk, er ist allmächtig
in Serbien, und bei den Erschütterungen, welche die nächste Zukunft dem Fürsten¬
stuhl Serbiens bringen mag, wird er seinen Willen wahrscheinlich durchsetzen. Ob der
nächste Fürst Serbiens noch einmal Michael Ovrenovic sein wird, oder ob gar
die Popularität und der junge Ehrgeiz des östreichischen Stratimirvvic bis zum
serbischen Purpur hinaufdringen wird, das freilich hängt jetzt nicht mehr von dem
Willen der serbischen Führer allein, sondern weit mehr von der Stellung ab,
welche Rußland und Oestreich in der nächsten Zeit unter einander und zum Für-
stenthum einnehmen werden.
Als Kara Georgje an der Spitze der serbischen Insurrektion zum ersten Male
als Feldherr gegen die Türken zog, brachte ihm ein alter Mann eine morsche
Fahne, auf deren durchlöchertem Fahnentuch von rother Seide ein weißer doppel-
kopfiger Adler, wie ihn die Nemanice geführt, umgeben von den Wappenschildern
aller Provinzen des ehemaligen serbischen Kaiserreichs gemalt war. Er gab vor,
es sei dies das Leibbanner des Serbenczars Duschan (aus dem Hause Nemanic)
des Starken und Unüberwindlichen, welches seit der letzten Schlacht auf dem
Felde Kossovo in einem Kloster der Schumadia sorgfältig und heimlich aufbewahrt
worden, damit es deu Türken nicht in die Hände fiele. Das Volk freute sich
dieses Wiederfuuds und glaubte in dieser alten Fahne eine Oriflamme seines
Wassenglücks erhalten zu haben. Herr Kara Georgje gab sie einem seiner treue-
sten und tapfersten Offiziere zu tragen, dem Peter Jolle, der mit ihm aus dem¬
selben Dorfe, Topola, stammte, Peter Jolle, zubenannt von Topola (Topolac)
bewahrte tren das anvertraute Palladium in der ganzen langen Reihe blutiger
Freiheitskämpfe. Als sich Kara Georgje genöthigt sah, aus der Heimath zu flie¬
hen, legte er beim Abschied von der serbischen Erde seinem Waffenbruder Jolle
warm ein's Herz, die alte Fahne der Nemanice so lange im Versteck zu bewahren,
bis einer seiner Nachkommen wiederkehre und Serbien wieder eigene Fürsten
haben werde. Peter Jolle trennte das Fahnentuch vom Schafte, den Schaft ver¬
steckte er unter dem Dach des Kirchthurms zu Zabare, das Fahnentuch aber barg
er in seidener Hülle am bloßen Leibe. So floh er auf östreichisches Gebiet, erst
in's Banat, dann nach Slavonien. Fürst Milos Obrcnovic bot Alles auf, diese
Fahne in seine Hände zu bekommen, weil das Volk an derselben hing und deren
Verlust als ein böses Vorzeichen beklagte. Jolle gab sie nicht her, er hatte sie
wie einen Schatz in metallner Kapsel an einem sichern Orte in Slavonien ver¬
graben. Fast siebenundzwanzig Jahre blieb die Fahne in der Erde. Erst als
Obreuovic gestürzt und Alexander, der zweitgeborne Sohn des Kara Georgje am
2. September 1842 vom versammelten Volk auf dem Wracar zu Belgrad zum
Fürsten vou Serbien erwählt worden war, kehrte der treue Peter Jolle wieder
heim, trat vor den neuen Fürsten und entdeckte sein Geheimniß. Am 26. Octo-
ber 1842, nachdem der Berat, kraft welchem Alexander KaraGeorgjevic als Fürst
von Serbien bestätigt wurde, öffentlich Verlautbart war, brachte ein Kourier die
Fahnenstange von Zabare nach Belgrad, Herr Jolle befestigte das Tuch mit eige¬
ner Hand und seine Schwiegertochter Emma schmückte das Banner mit schön ge-
sellten Bändern. Ein Bataillon serbischen Militärs holte die Fahne feierlich mit
klingendem Spiel aus dem Jolle'schen Hause zum Fürsten.
Noch lebte Peter Jolle in hohem aber rüstigem Greisenalter in seinem Ge¬
burtsort Tvpola. Als der beste Freund und Waffenbruder des schwarzen Georg
und einer der besten Parteigänger in dem serbischen Befreiungskriege ist er im
Besitz sehr wichtiger Daten und Papiere aus jener Zeit, ja er ist selbst die ge--
rauchte Chronik derselben. Möchte doch er, oder einer seiner Söhne seine inter¬
essanten Erlebnisse aufzeichnen, damit sie der geschichtlichen Forschung, welche in
Serbien noch so viel zu thun hat, nicht verloren gehen!
In der Stadtbibliothek zu Semlin bewahrt man die Fahne des bekannten
serbischen Helden Maden, dessen Fahnenträger auf östreichischen Boden auswan¬
dernd, sie in Belgrad's treuer Schwesterstadt niedergelegt hat. Diese Fahne ist
von der Größe einer gewöhnlichen Reiterstandarte, von weißem Seidenzeug, mit
einer rothen, gezackten Kante versehen, drauf ein Doppelwappen, mit Trophäen
dekorirt, unter einer blan ausgeschlagenen Herzogskrone rechts das serbische Wap-
Penkrenz im rothen Felde mit den vier Feuerstählen, links das Wappen von Tri-
ballia, ein Eberkopf, in dessen einem Auge ein Bolzen steckt, im blauen Felde.
Darüber die Devise: boZom ?a vim-u i vtvovlZtvo" (mit Gott für Glauben
und Vaterland).
Es ist gerade jetzt kein angenehmes Geschäft über badische Zustände zu be¬
richten, so grün und üppig das Land auch ist, so überreich die diesjährige Ernte
auch ausfiel. Die traurige« Nachwehen einer übel begonnenen und übel durch¬
geführten Revolution zu ermessen, muß man in alle Verhältnisse eindringen können.
Und dieses Elend war weder von der Gegenwart bedingt, noch ist es der mindeste
Vortheil für die Zukunft. Baden hat jetzt nicht einmal von dieser verunglückten
Revolution den Nutzen, daß seine naturwidrige, zwitterhafte Existenz als eigener
Staat aufhört, daß es der Theil eines großen mächtigen Reiches geworden wäre.
Man hoffte dies im Anfang, ein großer Theil der aufgeklärten Bewohner des
Landes, die recht wohl einsehen, daß ein aus verschiedenen Volksstämmen will¬
kürlich zusammengewürfelter Staat, der 120 Meilen Grenze gegen Frankreich und
die Schweiz bei 4 — 6 Meile« Breite hat, ein Unding ist, war sehr damit ein¬
verstanden, wenn das ganze Land eine preußische Provinz geworden. Auch der
Großherzog selbst, ein persönlich gutmüthiger, rechtlicher Mann, dessen Lieblings¬
neigungen Blumenzucht und einsame Spaziergänge in der Natur sind, hätte einer
Apanagirung keinen Widerstand geleistet. Er hatte einige hübsche Schlösser be¬
halten und so viel Apanage, um seinen unschuldige» Neigungen gemäß sehr gut
lebe» zu könne«, und wäre dann viel glücklicher gewesen wie jetzt, wo man ihn
Mit Negiernngssachen, von denen er nichts versteht, quält, und mit arglistigen
Intriguen aller Art zu umgarnen sucht; allein der Karlsruher Hofkamarilla, diesem
Fluch des Landes, die durch ihr langjähriges Lügen- und Heucheleisystem, womit
sie das wahrhaft constitutionelle Wirken der Regierung auf alle Weise zu verhin¬
dern suchte, so sehr deu Geist der Lüge und der geringen Achtung vor dem Gesetz
im badischen Volke genährt hat, die in Wahrheit als die Hauptbeförderin der
ganzen Revolution anzusehen ist, war damit nicht gedient. So wurde dem Pro-
jecte der Einverleibung Badens in Preußen, das gleich nach Besiegung des Auf-
standes auftauchte, auf alle Weise entgegengearbeitet, und der Großherzog bewo¬
gen, seineu Einzug in Karlsruhe wieder zu halten. Ein trauriger Tag für den
alten Man«. Der Einzug ward durch eine große preußische Militärparade ge¬
feiert, und i« dem mehrere Tage vorher ausgegebenen Festprogramm, was von
preußischen Generälen entworfen war, stand ausdrücklich die Stelle, „um II Uhr
wird S. K. H. der Großherzog S. K. H. dem Prinzen von Preußen seinen Dank
abstatten für deu Beistand der preußischen Truppen." Preußens Heer wollte doch
etwas dafür haben, daß es sein Blut verspritzte, um einen Thron wieder herzu¬
stellen, dem eine ränkesüchtige Hofkamarilla seit langen Jahren im eigenenen Volke
jeglichen Anhalt geraubt hatte; es war ihm diese Eitelkeit, sich als das Wichtigste
am Tage des Einzuges des Großherzogs voranzustellen,"nicht zu verargen. Karls¬
ruhe glich am Festtage fast Potsdam, so sehr hatte das Ganze das Gepräge einer
Preußischen Heerschau.
Alle diese Lehren der letzten Zeit sind in Baden nutzlos vorüber gegangen,
man wird nach wie vor versuchen die Revolution durch rohe Gewalt niederzudrücken,
statt den Giftstoff derselben wirklich aus den Volkskörperu zu entfernen. Daher
sind die Zustände trotz aller Bluturtheile der Standrechte, trotz der Füllung aller
Kerker des Landes — es sitzen jetzt über 6000 sogenannte politische Verbrecher im
Großherzogthum Baden, jetzt schon wieder so weit gediehen, daß ein neuer Auf¬
stand gewiß losbrechen würde, sobald die preußische Besatzung hier abgezogen wäre.
Die Partei, die jetzt mit Hilfe der Truppen im Siege ist, braucht diesen Sieg zu
Vhvnnngslos, sucht sich zu sehr auch an deu Besiegten zu rächen, als daß nicht
en bitterer innerer Groll zurückbleiben sollte. Man glaubt es gar nicht, welch
tief« innerer Riß durch das Volk geht. Auf der einen Seite bei den höheren
Beamten und einem großen Theil des Adels, kurz der sogenannten „Hvfkreise"
maßlose Haß gegen Alles, was nur im Mindesten direkt oder indirekt bei der letz¬
ten Rep'ludion betheiligt war, und ein Reaktionsgelustc, gegen das die Grundsätze
des jetzig?» östreichischen Ministeriums uoch freisinnig zu nennen sind. Diese Leute
träumen im vom Hängen und Köpfen, und ginge es oft nach ihrem Wunsche, so führen
die Preußenihre Batterien vor alle badischen Gefängnisse und kardätschten so lange un¬
ter die Gefallenen, wie noch eine lebende Seele unter denselben wäre. Statt reu-
müthig vor ti» Brust zu schlagen und offen zu bekennen, all dies Unheil ist ge¬
kommen, weil mir stets dem Mettemichschen System ergeben waren, weil wir selbst
keine Achtung vo>: Wahrheit und Gesetz hatten, und deshalb auch dein Volke keine
einflößen konnten, schreien sie jetzt Ach und Wehe über Alles, was nnr im Ent¬
ferntesten nach FrMnnigkeit schmeckt. Nur mehr Gensdarmen und Gefängnisse
müssen errichtet, die Prügelstrafe wieder eingeführt werden, der Kriegszustand, der
jedes andere Gesetz aufhebt, und alle Zustände ganz militärischer Herrschaft überläßt,
soll fortwährend hier herrschen, dies sind die Ansichten dieser Partei, wie man sie
täglich in der Karlsruher Zeitung lesen muß. Auf der andern Seite in den wei¬
teren Kreisen des Volkes, freches Verspotten jedes Gesetzes, wozu ihnen ja ein so
gutes Beispiel von den höheren Klassen gegeben wird, maßloser Leichtsinn, der
nur dem augenblicklichen Genuß fröhnt, unendliche Leichtgläubigkit in allen poli¬
tischen Dingen, die stets dem ärgsten Schreier als leichtes Opfer anheimfällt, und
ein tiefer, innerer Haß gegen die erste Partei der Hochstehenden. Dazu jetzt ein
so ekles Denunciantenwesen in allen Kreisen, von dem höchsten bis niedrigsten, wie
°s selbst in Wien zur Zeit der Herrschaft von Windischgrätz nicht ärger sein konnte.
Man glaubt gar nicht, welche zahllosen Fälle, wo sich Rachsucht, Neid oder irgeud
eine andere verbrecherische Leidenschaft durch Politische Denunciationen Luft zu
machen suchen, täglich hier vorkommen. Dazu Jammer in den Familien, denn an 800
junge Badenser sind im legten Aufstande geblieben, über 6000 sitzen in den ver¬
schiedenen Gefängnissen (in den Kasematten zu Rastatt allein 4600), an 8000 irren
als Flüchtlinge in der Schweiz und Frankreich umher oder haben schon Dienste in
der Fremdenlegion in Algier genommen. Daß bei solchen Zuständen jede Gesel¬
ligkeit aufgehört hat, ist natürlich. Herrscht doch Hader und Zwist in Folge der
verschiedenen politischen Ansichten in jeder Familie, wieviel mehr nicht in größeren
Kreisen. So blicken besonders alle Offiziere und Beamte, die gleich beim ersten
Sturm davon gelaufen siud, statt daß sie hätten versuchen sollen dnrch ihr Dablei¬
ben dem vielen Unwesen was in der Revolution getrieben ward, möglichst zu
steuern, mit Verachtung auf alle herab, welche muthig ausharrten um fortwährend,
selbst oft aller irgend persönlicher Gefahr der Anarchie so viel als möglich ent¬
gegenzuwirken. Mau glaubt gar nicht, mit welche» Rodomontaden viele dieser Helden
unter dem Schutz der preußischen Soldaten um sich werfen, und was für retten^
Thaten sie noch verrichten wollen. Auch der Wohlstand der meisten Familien, besn-
ders solcher, die vom Handel und Gewerbe lebe» müssen, hat ungemein gellten.
Jegliche merkantilische wie industrielle Thätigkeit stockte gänzlich, der Kredit var er¬
schüttert, der Fremdenbesuch, vou dem gerade hier so viele Tausende blickt wie
indirekt leben, um die Hälfte vermindert. Nun noch die vermehrten Abgaben, die
außerordentlichen Steuern, welche die provisorische Regierung verlangte, vie große
Last der Eüiquartirung von anfänglich 80,000 und jetzt noch 40,000 Mann Trup¬
pe», die täglich vom Lande unterhalten werden müssen. Hätte der .ffimmel uicht
zwei so sehr reiche Ernten nach einander gegeben, daß alle Lebensmttel wohlfeil
sind, Hunger und Elend würden überall herrschen. So haben zwar die Leute uoch
satt zu esse», aber das Vermögen gar vieler Familien geht zu Gründe und Ban-
kerotterkläruugeu wechseln unaufhörlich mit Steckbriefeu in deu täglichen vogeulau-
gen Beilagen der Karlsruher Zeitung. Und neue bedeutende Steuern stehen dazu
noch in Aussicht, denn die Staatskasse ist gänzlich erschöpft, und viele neue außer¬
ordentliche Ausgaben müssen noch gemacht werden. So ist das Kriegsmaterial
zerstört und verschleppt worden, Waffen, Uniformen, Munition, Pferde, Alles fehlt
und muß mit großen Summen neu angeschafft werdeu. Es bedarf der Staat z. B.
an 1800 Kavallerie- und Artilleriepferde, um sein vorgeschriebenes Contingent auf
dem Friedenssnß zu erhalten und besitzt gegenwärtig kaum 500 brauchbare Thiere.
Glauben an deu -gesicherten Fortbestand der hiesigen Dinge hat Niemand, und eine
freiwillige Anleihe von einer Million Gulden unter sehr günstigen Bedingungen,
fand so geringe Theilnahme, daß diese Summe noch lange uicht zur Hälfte einge¬
zahlt ist, obgleich der anfänglich einberaumte Termin schon lange vorüber. Diese
Zustände wirken so drückend, daß gewiß weit über die Hälfte der Menschen mit
Freuden auswandern würde, wenn es nur halbwegs möglich wäre, liegende Be¬
sitzungen zu einem irgendwie annehmbaren Preis zu verkaufen. Aber dies ist jetzt
hier ganz unmöglich, Niemand hat Lust sich anzukaufen, und gar die Häuser in
den Städten, welche die große Last der Einquartirung zu tragen haben und denen
dabei die Aussicht erwächst dies noch viele Jahre thun zu müssen, sind weit über
die Hälfte im Preise gefallen. Zu allem diesen Verderben noch der Kriegszustand
der im ganzen Lande herrscht, und Gesetz und Recht aufhebt, die schauerlichen
Bluturtheile in Freiburg, Rastatt und Mannheim, die jedes menschliche Gefühl em¬
pören müssen, der l'leinliche-Polizeidruck, der sich häufig von den einheimischen Be¬
hörden, viel weniger von den preußischen Militärkommandantschasten bemerbar
macht. Ueberhaupt benehmen sich die Preußen, einzelne bramasireude Lieutenants,
die ihre politische Nahrung aus der Kreuzzeitung holen, abgerechnet, verhältni߬
mäßig sehr gut, und die gemeinen Soldaten erwerben sich durch ihre Bescheiden¬
heit und tüchtige Haltung fast allgemein gerechtes Lob. Es ist in dieser Bezie¬
hung ein merklicher Unterschied zwischen den preußischen und den hier gewesenen
mecklenburgischen, hessischen, nassanischen, würtembergischen und gar baienschen Sol¬
daten, welche Letztere sich besonders durch rohes Betragen ausgezeichnet haben.
Fährt man so fort, wie man in den letzten 6 Wochen begonnen hat, so steht
ein neuer Aufstand in sicherer Gewißheit, sobald nicht eine übermäßig starke preu¬
ßische Besatzung im Lande weilt, und das Uebel wird nur für den Augenblick
gewaltsam unterdrückt, nicht aber gründlich geheilt. Das Nothwendigste, was
für Baden geschehen muß, ist, daß seine Existenz als eigener Staat aufhöre.
Das Großherzogthmu Baden ist durch nichts dazu berechtigt, eiuen eigenen Staat
zu bilden. Es hat keine historische Vergangenheit, denn es ward größtentheils
1815 erst gebildet; es wird nicht vou gleichem Stamme bewohnt, denn der
Pfälzer, der bis nach Karlsruhe wohnt, ist von den Alemannen im Schwarzwald
und im Seekreis sehr weit verschieden, es hat keine Anhänglichkeit an seinen Re¬
genten, denn noch vor :!5 Jahren gehörte es 5—ti verschiedenen Herren, es gehört
endlich das Volk nicht derselben kirchlichen Secte an, da Katholizismus und Pro¬
testantismus bunt durch einander gemischt sind. Dagegen hat es eine ganz un¬
natürliche Länge bei einer sehr geringen Breite und an 120 Meilen Grenze gegen
zwei auswärtige, Deutschland gerade nicht übermäßig freundlich gesinnten Staaten,
bei nur iz Millionen Einwohner. Ganz Deutschland ist dabei betheiligt, daß
seine wichtigen Grenzen gegen Frankreich und die Schweiz in sicherern Händen
sind. Das Großherzogthum würde eine stattliche preußische Provinz abgeben,
und einigen Hofadel und ein paar Luxusarbeiter in Karlsruhe abgerechnet,
wurde sich Alles viel besser befinden, mau würde wenigstens einer starken,
festen und gut administrirenden Regierung angehören und die arg zerrütteten
Finanzen würden sich bessern, ohne daß neue, außerordentliche Steuern nöthig
wären. Auch das Heerwesen Badens würde leicht den Grad der Achtung sich
erwerben, den das Preußische allgemein einnimmt, während jetzt die Reorgani¬
sation desselben ans die größten Schwierigkeiten stößt. Jetzt fehlt es an Unter-
ofsizieren, denn der größte Theil der Indischen Unteroffiziere hat bei dem letzten
Aufstand sich so arg betheiligt, daß ihre Wiederanstellung ganz unmöglich gewor¬
den. Von den Offizieren hat aber eine große Zahl sich durch ihren Uebermuth
und ihr rohes Betragen so sehr das Vertrauen ihrer Soldaten verscherzt, daß
mir dadurch der Militäraufstand möglich ward und man niemals mit Zuversicht
auf das badische Militär wird zählen können, wenn man sie wieder ihren frühern
Soldaten als Vorgesetzte gibt. Alle diese jetzt fast unüberwindlichen Schwierig¬
keiten, die fort und fort stets neue Verlegenheiten bereiten werden, würden, auf
der Stelle gründlich beseitigt, sobald Baden ein Theil von Preußen würde.
Das Nächste, was dann geschehen müßte, wäre eine ausgedehnte Amnestie,
damit die Tausenden von Gefangenen oder Flüchtlinge, die jetzt die Kerker füllen,
dem Schooß ihrer weinenden Familien wiedergegeben würden. Alle gefangenen
Polen, Ungarn, Italiener, Schweizer, dann Alle, welche es selbst wünschten,
ferner einige, die eine besonders schlechte Rolle beim letzten Aufstande gespielt
haben, schaffte man ans Staatskosten nach Amerika, alle übrigen begnadigte man
ohne Rückhalt. Eine solche Transportirung nach Amerika, wozu unsere deutschen
Kriegsschiffe sehr füglich zu verwenden wären, würde weit weniger Ausgaben er¬
fordern, als alle diese Unglücklichen jahrelang in den Kerkern zu ernähren. Der
Eindruck, den eine solche Amnestie im ganzen Lande machen würde, wäre, einige
rachsüchtige Höflingskreise abgerechnet, ein ungemein günstiger, und Tausende von
dankerfüllten Herzen würden diesen Akt segnen. Eine starke Regierung kann gro߬
müthig sein und ihren Feinden leicht verzeihen, eine schwache ist leicht grausam.
So lauge in Baden keine Amnestie ertheilt ist, so lange ist auf dauernde Be¬
festigung der hiesigen Zustände nicht zu zÄhlen, wie denn bisher alle Standrechte
und Erschießungen und Festuugsstrafeu uicht zu hindern vermocht haben, daß täglich
stärker wie je im Geheimen gewühlt wird und man kein Mittel scheut, die preu¬
ßischen Soldaten zu verführen, was freilich uicht gelingt.
Nächst dieser Amnestie sind feste, freisinnige, aber auch streng durchgeführte
Gesetze und tüchtige Beamte zur Handhabung derselben, ein dringendes Bedürfniß.
Baden hatte früher viel zu viel willkürliche Polizeiverordnungen und zu wenig
feste Gesetze. Da man von jeher nach dem vom Fürsten Metternich vorgeschriebe¬
nen Blittersdorfschen Lügensystem, die Kammern, deren Freisinnigkeit man fürch¬
tete und haßte, zu beseitigen suchte, alle wirklichen Gesetze aber deren Genehmigung
bedurften, so half man sich dadurch, daß man statt derselben eine Menge will¬
kürlicher Regierungsverordnungen gab, die dann provisorisch die festen Gesetze ver->
treten mußten, zu helfen gesucht. Dies von Oben herab ausgeführte Lug- und
Trugsystem, hat aber in dem Volke einen gänzlichen Mangel an Achtung vor den
Gesetzen erzeugt. Leider geschieht von Seiten des jetzigen Ministeriums Nichts
dafür, dieser Gesetzlosigkeit zu steuern. So sind z. B. die Grundrechte gesetzlich
eingeführt und gesetzlich uoch nicht wieder aufgehoben worden und dennoch sind
unter dem Schutze der Regierung die Spielhöllen mit aller Schamlosigkeit wieder
eröffnet und badische Gensdarmen zur Bewachung derselben aufgestellt. So auch
noch in vielen anderen Fällen.
Wir haben die Mittel genannt, wie unserer Ansicht nach allein ein dauerhafter
Zustand wieder herzustellen ist. Man wird sie nicht anwenden, davon sind wir
leider nnr zu sehr überzeugt. So lange starke preußische Besatzung im Lande ist,
wird zwar jede offene Empörung verhindert, aber im Geheimen glüht es unter
der Asche fort. Wir sind durch unsere eigenen Fehler besiegt, wir müssen jetzt
durch die Fehler unserer Gegner siegen; sagte uns kürzlich ein badischer Flüchtling
im Elsaß, und wir fürchten, er hat nur zu sehr recht. Was mau von dem zu¬
rückkehrenden französischen Adel 1815 sagen konnte, „er habe nichts vergessen und
nichts gelernt" gilt auch von dem badischen Hofadel und den Diplomaten. Ein
großer Theil der wohlhabenden Bevölkerung des Landes, der mit ahnenden
Blicken in die Zukunft sieht, denkt deren Boden zu verlassen und es wird eintz
Auswanderung der besitzenden Klasse erfolgen, wie sie in dieser Ausdehnung noch
niemals dagewesen ist.
Nach einem Jahre der größten Aufregung und Leiden siud die Deutschen
wieder so weit gekommen, daß sie andere Interessen mehr verfolgen, als die der
Politik. Und wenn man die Abspannung, welche gegenwärtig auf der ganzen
Nation liegt, beklagt und schilt, so muß man doch einräumen, daß sie natürlich,
ja unvermeidlich war. Ueberall hören wir laute Klagen, wie sehr die fliegende
Hitze des Sommers von 48 den Wohlstand der Einzelnen erschüttert, Industrie
und Handel zurückgebracht habe, aber wenig achtet man noch auf die harten
Schläge, welche die deutsche Kunst erhalten hat.
Es ist nicht schwer zu erkennen, daß die Katastrophe dieser Jahre der Kunst
eben so nöthig war, als den Staaten. Es brauchte einer starken Erschütterung,
um in das übermüthige und doch kraftlose Leben des schönen Scheins, in die
luxuriöse Weichlichkeit und die unsittliche Koketterie, an welcher die bildenden und
darstellenden Künste, die Musik und die Poesie litten, frische Kraft, höhern Ernst
Und das Streben nach künstlerischer Wahrheit zu werfen. Das konnte zunächst
"ur dadurch geschehn, daß die Seelen der Künstler selbst eine neue Welt großer
Empfindungen und mächtiger Stoffe in sich aufnahmen, und dadurch, daß die
Genießenden, welche das Publikum der Kunst bilden, aus dem Schlendrian und
ihrer alten nichtsnutzigen Behaglichkeit aufgescheucht, mit der Ahnung neuer und
größerer Interessen erfüllt und so für Kunstwerke im höhern Styl empfänglich
gemacht wurden. Wir wiederholen, eine große Erschütterung war nothwendig und
heilsam, anch für die Kunst, und trotz der unangenehmen Physiognomie, welche
gegenwärtig das deutsche Leben hat, können die segensreichen Wirkungen der Re¬
volution auf die Darstellung des Schönen schon jetzt nicht verkannt werden.
Freilich haben wir noch wenig Gelegenheit, sie an den Kunstwerken der letz¬
ten Jahre und an der Wärme des Publikums für dieselben wahrzunehmen. Noch
haben wir nichts Anderes gewonnen, als den negativen Vortheil, daß eine Anzahl
von Kunstrichtungen, welche keine innere Berechtigung mehr hatten, schnell als nichtig
und unbefriedigend erkannt worden ist, so jene weichherzige Sentimentalität, welche
das Charakteristische in der Kunst vernichtet, jenes tändelnde Spielen mit glän¬
zenden Farben und unbestimmten Schattengestalten. Ja noch mehr, es ist in den
edlern Geistern der Nation, in Schaffenden und Genießenden, die Sehnsucht
und das Bedürfniß entstanden nach kräftiger Größe und körnigem Inhalt, und
die Kritik hat die Pflicht übernommen, einen neuen höhern Maßstab an den In¬
halt des Geschaffenen anzulegen. Aber freilich haben wir diesen Vortheilen gegen¬
über vorläufig Vieles von dem eingebüßt, was sonst dem Talent der schaffenden
fördernd entgegenkam. Die Künstler selbst haben an Muth verloren, ja die irdische
Existenz eiues großen Theils von ihnen ist in Frage gestellt und der großen
Masse des Publikums fehlt immer noch viel von dem Interesse, welches der
Künstler braucht. — Jetzt spinnen wir uns ein in das fester geschlossene Leben
des Winters, und die Zeit rückt heran, wo der Schlaf der Natur die Menschen
dichter zu einander drängt; die großen Städte füllen sich, die Theater schmücken
sich auf's Neue , ihre Wintergäste zu empfangen, die Säle der Kunstausstellungen
sind geöffnet und der Handel mit Kunstwerken beginnt, jetzt ist es an der Zeit,
einen schnellen Blick ans die Aussichten zu werfen, welche d«s geschäftliche Treiben
der Kunst in unserem Vaterland für diesen Winter hat.
Die Poesie ist die ärmste unter ihren Schwestern geworden, und der Buch¬
handel, welcher ihre Werke dem Leser in die Hand zu drücken hat, ringt ver-
zweiflungsvoll die Hände. Wenig Neues ist geschaffen worden, und das Ge¬
schaffene ist ohne Bedeutung. Schon vor der Revolution hatte die Lyrik wenig
Sympathien im deutschen Volk, was gelesen wurde, waren die politischen Lyriker
von 1840. — Wo ist jetzt Herwegh? Er sitzt auf irgend einer Insel des Ocean's
und vertrinkt die Niederlage», welche er als Mensch erlitten hat, in heißem Wein.
Seine Gedichte sind durch sein eigenes Thun der Lesewelt fremd, ja peinlich ge¬
worden. — Wo ist der fahrende Landsknecht unsrer Lyrik, der singlustige Meister
Hoffmann? Er setzt sich, wie man hört, in Meklenburg zur Ruhe und verheirathet
sich an das flache Land. Der Student singt seine Lieder noch, aber ihr Reiz ist
für uns dahin. Freiligrath ist ein Nevvlutionsheld geworden, auch seine Dichtungen
haben verloren. Nach Oestreich und nach dem Rhein kauft mau noch fleißig Alfred
Meißuers Ziska, und der Pfaffe Mauritius von Hartmann wird von den Gro߬
deutschen eifrig gefordert, das letztere ein schlechtes Gedicht voll unberechtigter
Witzelei, ein Futter für den verdorbenen Magen von Solchen, welche den kleinen
Spott für Trost in einer schweren Zeit halten. In exclusiver Kreisen sucht man
jetzt die Gedichte des jung verstorbenen Grafen Moritz Strachwitz, der mit schlesi-
scher Gewandheit den Elfen- und Romanzensang der vorletzten Dichterpcrivde
glücklich und kriegerisch variirte. Hier und da läßt ein neues Talent seine Poe¬
sien drücke», das Publikum nimmt keine Notiz davon, kaum noch der Buchhandel. —
Auch der Roman und die Novelle sind sür diese Saison dürstig vertreten; was etwa
erschienen ist, geht nach drei Richtungen hin. Der historische Roman versucht noch
immer und ohne entschiedenes Glück einzelne Theile der Geschichte künstlerisch zu¬
zurichten. Die Republikaner in Neapel von Adolph Stahr sind ein
Beispiel von dieser Art, ein anderes der Roman: Preußen vor dein 1.8.
März. Außerdem erscheint hin und wieder eine sociale Novelle, welche allerlei
ungesunde Empfindungen und Zustände, wie sie in besonders feinfühlenden Kreisen
der Gesellschaft aufkeimen, zu malen strebt. Diese Richtung ist zumeist in den
Händen von schreibenden Frauen, und es wäre ungalant, hart über sie zu urtheilen.
Das Beste in Novellenform sind immer noch die epischen Schildereien aus dem
Volksleben. Wir haben in diesem Blatt neulich über einen Vertreter dieser Rich¬
tung Leopold Kompert ausführlicher gesprochen. — Im Ganzen ist wenig
geschaffen worden und das Wenige wiegt nicht allzuschwer. Unsere Leihbibliothe-
ken würden eingehn müssen, wenn sie sich nicht durch Uebersetzungen ans dem
Englischen und Französischen ergänzten.
Das Drama und seine Verbündete, die Kunst der scenischen Darstellung haben
dnrch das Eingehen vieler Bühnen und durch die innere Auflösung der meisten
noch bestehenden schon äußerlich an Raum verloren. Es ist ein kränkliches Leben
in den deutschen Theatern. Schon längst viel beklagt, ist es durch die Revolution
fast unerträglich geworden. Man rechnete in Deutschland sonst 40 bis 50 stehende
Bühnen, doch waren von diesen nur etwa 15 so gestellt, daß die Kunst vou ihnen
gelegentlich eine Förderung erwarten konnte. Ein Blick auf die Karte von Deutsch¬
land fordert zu interessanten Bemerkungen heraus. In ganz Oestreich war außer
dem Burgtheater in Wien und etwa dem Theater in Prag keine Bühne, welche
sich mit Glück an eine ernste Aufgabe der Kunst hätte wagen können, ob¬
gleich der Kaiserstaat außer diesen noch 10 bis 15 größere Theater zählt. Im
übrigen Süden sind nur München, Stuttgart und Mannheim der Erwähnung
werth, am ganzen Rhein, im übrigen Baiern, Schwaben und Baden ist das Thea¬
terleben im traurigsten Zustand. Nur im Norden Deutschlands, den altpreußischen
Provinzen und Sachsen mit Einschluß der Linie, welche über Braunschweig und
Hannover nach Hamburg führt, ist im Volk das Interesse für sein Schauspiel so
beschaffen, daß unter Umständen edlere Kunstformen Geltung finden könnten.
Auch hier hat das letzte Jahr viel verwüstet. Die Stadttheater waren fast alle
in Auflösung, und haben sich für diesen Winter mühsam als neue Gesellschaften
organisirt. Bei manchen Hoftheatern ist das Fortbestehn noch immer zweifelhaft,
eine sorgfältige Pflege des Schauspiels, ein gutes Ensemble für die Oper in die¬
sem Winter kaum bei einem zu erwarten, am ersten vielleicht noch in Dresden.
Der neuen Stücke, welche in dieser Saison die Theaterkasse füllen sollen, sind sehr
wenige, ihr Werth und ihre Wirkungen zweifelhaft. Gutzkow hat sich in den
Effecten seiner Liesli und des Goethestückes verrechnet, und selbst die unermüd¬
liche Birch hat in ihrem Schauspiel „im Wald" die blaue Sentimentalität des
ländlichen Kreises nach alter Gewohnheit stärker aufgetragen, als für die Wirkung
nützlich war. Was sonst von neuen Dramen bis jetzt bekannt geworden ist, zeigt
immer noch sehr wenig von der Gestaltungskraft, welche uns Noth thut, dagegen
häßliche Karrikaturen und platte Rohheit häufiger und frecher als sonst. Auch die
Posse in Wien ist ganz verkümmert, und wenn die Berliner Volkstheater mit einzelnen
Stücken großes Glück gemacht haben, so hat dies dem Publikum dieser Städte nicht
allemal zur Ehre gereicht. Es ist demnach sehr zweifelhaft, ob dieser Winter den
Bühnen eine fördernde Saison bringen, und ob das bessere, welches etwa herauf
kommt, erträgliche Darstellung finden wird. Sehr Vieles hängt gegenwärtig in
Deutschland von einer Reform der Theaterverhältnisse ab. Die preußische Negie¬
rung hat seit vorigem Jahre wiederholt kleine Anläufe gemacht, die stehenden
Theater als Kunstinstitute nach Eduard Devrient's Vorschlag zu fester Organisation
unter das Kultusministerium zu bringen. Bis jetzt aber ist nichts zur That ge¬
worden. Noch weniger im Königreich Sachsen, wo die Veränderung leicht und
dankbar wäre.
Die bildenden Künste haben ihre Leistungen im letzten Jahr bereits hier und
da in den Kunstausstellungen gezeigt. Auffallend war bis jetzt, daß so wenig
größere Kunstwerke zu den Ausstellungen kamen, man hatte das Gegentheil er¬
wartet, weil der Verkauf von Gemälden und Sculpturen an Privatleute im letz¬
ten Jahre fast Null war. Offenbar ist weniger gearbeitet worden als sonst, be¬
sonders die bewegliche und reizbare Natur der Maler ist durch die Revolutions¬
ereignisse vielfach gestört und verwirrt worden, wicht wenige von ihnen haben sich
bei den Volkserhebungen betheiligt, manche sind ausgewandert, fast allen fehlte
Kraft und Lust etwas größeres zu unternehmen, und was sie etwa schufen, ist in
der Noth für einen Spottpreis verschleudert worden und in Privatsammlungen
übergegangen. Auch die Kunstvereine, welche bei allen Mängeln ihrer Organisa¬
tion doch für den guten Mittelschlag der Künstler die beste Stütze und der Mit¬
telpunkt für die achtungswerthe Kunstliebhaberei von Privatpersonen sind, haben
an Actieninhabern und deshalb auch an Kapitalien zum Ankauf von Kunstwerken
verloren. Vor der Revolution betrug die Summe der jährlichen Ankaufgelder
sämmtlicher Kunstvereine Deutschlands nach ungefähren Anschlag auf 120,000 Thlr.,
jetzt mag sie leicht aus 70,000 Thlr. gefallen sein; rechnen wir die jährlichen Be¬
dürfnisse eines Malerlebens im Durchschnitt aus l000 Thlr., so wurden durch
die deutschen Knnsivereine vor der Revolution 120, gegenwärtig etwa 70 Künstler¬
existenzen begründet. Es versteht sich, daß ein solcher Anschlag nur theoretisch
richtig sein kann; in der Wirklichkeit vertheilt sich die genannte Summe nicht auf
120 sondern vielleicht ans 1000 Künstlerleben, und ein guter Theil davon geht nach
Frankreich, Belgien und den Niederlanden, weniger nach Italien. — Auf unseren Aus¬
stellungen sehen wir noch immer ein bedenkliches Ueberwiegen der Landschaft, zum
Theil vortreffliche Bilder; selten ein kaltes historisches Tableau, entweder heilige
Geschichte, oder Mittelalter in gemalten Rüstungen; selbst die Genrestücke haben
durch die grotesken Scenen des vorigen Jahres wenig gewonnen, die Bürgerwehr
muß auch hier herhalten; der Humor ist selten geworden.
So haben wir keinen Grund, beim Beginn des Winters auf die künstlerische
Thätigkeit des letzten Jahres stolz zu sein; es darf nus die verhältnißmäßig ge¬
ringe Ausbeute aber auch nicht entmuthigen. Vielleicht liegt grade in dem Um¬
stand, daß auch die Arbeiten nahmhafter und bewunderter Talente überall Spuren
von der Zerfahrenheit und von den Störungen zeigen, welche die Revolution unserem
Leben gebracht hat, eine Bürgschaft dafür, daß wir weiterkommen sollen. Die
Meisten der Schaffenden haben ein großes, schweres Jahr in schwerem und inner¬
lichem Kampf durchlebt. Das wird sich zuletzt auch für ihre Kunst verklären; aber
es braucht Zeit, ehe es reiner Wein wird, jetzt ist's noch ein junger unreifer
Most, er kann uns nicht immer munden.
Das muntere Völkchen hat also, trotz allen politischen Unmuths, seine
alte Mobilität, und seine mit einem gelinden Anstrich von Blasirtheit gefärbte
Sorglosigkeit wieder gewonnen! Es wird bei Kroll getanzt und Champagner
getrunken, wie ehedem, es werden Schulden gemacht, viel Schulden, die liebens¬
würdigen Spreenymphen lassen sich küssen, gleichviel ob von
Rande läßt wieder seine Witze spielen, wenn auch mit der historischen Kokarde
des vorigen Jahres am Hut, die Jungen nehmen vor dem Constabler Reißaus
und ironistren dann ihr eignes Davonlaufen, kurz, es hat sich im Wesentlichen
Nichts geändert. Das lernen wir aus jener Posse von Kalisch, die wenig Be¬
gebenheit, aber viel Maskerade enthält. Zuletzt kommt ein ganzer Maskenanzug
politischer Anspielungen.
Der Leipziger und der Meßfremde freute sich über die bunte Wirthschaft, ob¬
gleich die Schauspieler schlecht Berlinisch sprechen. Auch die politische Anspie¬
lung, die Witze auf den heiligen Dreikönigsbnnd und die schwarzweißen Glieder¬
männchen wurden mit glühendem Jnbel aufgenommen.
Woher kommt es, daß dergleichen Witze und der ihnen folgende Applaus
uns wie ein Stich durchs Herz gehn? Der Punch treibt es mit den politischen
Notabilitäten der stolzen Britannia viel ärger, und Niemand wird dadurch skan-
dalistrt. Parteiempfindung kann es auch uicht sein, denn die Satyre wird allen
Seiten gerecht, der Demokrat kann sich so wenig beschweren als der Treubündler.
Aber es ist freilich ein großer Unterschied zwischen den Späßen eines freien,
mächtigen Volks, und diesem ironischen Insichgehen einer Nation, die durch eignen
Unverstand zum zweiten Mal in den alten Zustand gefallen ist. Dies Lachen über
die eigene Erbärmlichkeit hat etwas Krampfhaftes, Unheimliches; es sieht nach
Blödsinn aus. Was ist das für eine Liebe, für ein Glaube gewesen in den trun¬
kenen Festtagen des vorigen Jahres, daß man jetzt schon im Stande ist, sich durch
Cynismus davon zu befreien! Das Elend nach der Schlacht bei Jena hat viel
närrische Erscheinungen eines excentrischen Patriotismus hervorgebracht, aber bei
alledem war doch viel sittliche Größe, selbst in den wüsten Träumereien der Ju¬
gend. Jetzt erfreut man sich über deu Hcldenransch des passiven Widerstandes,
man enthält sich der Wahlen und man lacht sich selber aus.
Deutsches Volk! Du hast zu früh Oden auf deine Größe gedichtet, zu früh
dich von dem Selbstgefühl souveräner Egoisten in den Wahn einfingen lassen, man
könne sich von seinen Fesseln befreien, wenn man ihrer spottet. Bußlieder sollt
ihr erdenken, ihr tapfern Poeten, Asche streuen auf euer Haupt, denn nur wer
seine Schmach tief empfindet, kann sich aus ihr erlösen.
Auf dem Bahnhof schnaubt die Riesenmaschine, Menschen und Koffer drängen
sich bunt durcheinander; es scheint unmöglich dies Chaos zu ordnen, einzupacken
und zur Ruhe zu bringen. Für den Abschicdsschmerz hat Niemand hier Zeit noch
Raum. Man kann sich nicht einmal nach den Zurückbleibenden umsehen, kein Tuch
winkt nach, kein Gruß wird nachgerufen. Die Idylle und der Roman, sonst treue
Reisebegleiter, sind durch die Dampfmaschine vertilgt. —
Ich bin ein ältlicher Herr, dem diese Unruhe entsetzlich ist. Muß ich reisen,
so erlebe ich jedesmal traurige Dinge an mir. Meine Seele fällt zusammen, und
wird faltig wie ein Schlauch, in dem die Hitze den Wein austrocknet, ich werde
immer kleiner, immer einfältiger, am Ende einer Tagereise bin ich nur noch Packet,
Kollo, ein rundliches, unerkennbares Ding ohne eigenes Leben, ohne Selbststän-
digkeit, ich glaube auch meinen Namen habe ich manchmal vergesse» und es ist
mir passirt, daß ich meinen eigenen Regenmantel mechanisch untersucht habe, um
zu entdecken, welche Gepäcknummer mir aufgeklebt ist, und als ich keine fand,
wurde ich traurig, weil ich so gar keine Individualität mehr hatte. Ich bin ein
stiller Mann auf Reisen, ja und ich muß sagen, daß ich eine Art von canibali-
schem Vergnügen darin finde, mich selbst zu beobachten, wie ich immer kleiner
werde, wie ich einschrumpfe und endlich in ein glotzäugiges Nichts versinke. Wer
mich in diesen Betrachtungen stört, ist mein Feind; daher fürchte ich auf der
Eisenbahn zwei Arten von Menschen sehr, die Geschäftsreisenden, welche unauf¬
hörlich sprechen und fragen, weil ihnen jeder Reisende als ein zukünftiger Ge¬
schäftsfreund erscheint, und eine gewisse Art von Damen mit spitzer Nase und
schmalen Lippen. Es ist fürchterlich, welche Lebenskraft in einer solchen Dame
steckt, zu Hause leiden sie an Nerven, auf der Eisenbahn aber, wo an andern
ehrlichen Leuten das ganze Nervensystem herumhängt, wie die Saiten einer Geige,
die ihren Steg verloren hat, grade da werden sie ungeheuer munter, neugierig
und gesprächig. Diese Passagiere fürchte ich, und suche sie zu vermeiden. Und
außer ihnen noch den König von Preußen. Nicht sowohl den Herren selber, als
die Unterhaltung von ihm. — Es gibt wenige Coupvs auf wenigen deutschen
Eisenbahnen, wo er nicht das immerwährende Zugpflaster sür jede Art von Unter¬
haltung abgeben muß. Nie hat es eine» Meuscheu gegeben, der so oft den See¬
lenfrieden stiller Passagiere gestört hat. Ueberall zuerst sein Name, dann Politi?,
dann Zank, Erbitterung, dann feindseliges Knurren, in die Ecke Drücken und
wüthende Blicke Schießen. — Es ist unerträglich unter dem Kreuzfeuer solcher giftigen
Blicke als ruhiger uubetheiligter Mensch zu sitze», es ist mir einmal passirt, daß
mein seidenes Taschentuch, welches aus meinem Knie lag, seine blane Farbe in
häßliches Grün verwandelte, so viel Giftstoff war in dem Coupv.
Diesmal fuhr ich durch den Sand des Münsterlandes. Als ich einstieg,
musterten meine Blicke furchtsam das Coup«-. Ein Geschäftsreisender war nicht
darin, aber zwei Damen, die eine hatte eine spitze Nase. Ich schauderte, mir aHute
Unheil. Gott beschütze mich heut vor Friedrich Wilhelm IV., betete ich im Stillen.
Ich setzte mich, ich fing bereits an behaglich einzuschrumpfen. Da fiel mein träu¬
merischer Blick auf die Dame mit der spitzen Nase. Zwei spitze Augen sahen mich
spitzig an nud bohrten sich in mich hinein, — ich war verloren, wie das Huhn
vor der Klapperschlange saß ich betäubt und unruhig. Allen andern Passagieren
ging es ebenso. Die spitzen Blicke flogen prüfend aus jede Gestalt und von Zeder-
manu wußte sie in kürzester Zeit mit Hilfe einiger scheinbar ganz unschuldiger Fragen
und Redensarten Alles Mögliche über sein Soll und Haben, seine Familie, seine
Verdauung und seine Vorfahren. Ihr weiblicher Scharfblick sür Kleinigkeiten war
bewundernswürdig und sie wußte sich viel damit, daß sie ein scharfes Ohr habe
für die Unterschiede der Dialecte. „Sie haben gewiß in Berlin gelebt, aber Sie
müssen aus hiesiger Gegend sein, sind Sie nicht Prediger?" frug die Dame einen
alten Herrn mit gutmüthigem wohlgenährtem Gesicht, der ihr grade gegenübersaß.
Betroffen bejahte er alle Fragen, er war geärgert, wie ich, und machtlos gegen
diesen Dämon, wie ich. — „Ich höre westphälische unverkennbare Anklänge durch
Ihre Berliner Redeweise," sagte sie ihrem Opfer recht ironisch, „und den Geist¬
lichen tragen Sie in jeder Miene." — Jetzt entspann sich ein kleiner Wortkampf,
der alte Herr fühlte sich sehr beleidigt, die Dame versuchte versöhnlich einzulenken,
endlich sagte er resignirt und verzweifelt: „nun da Sie alles wissen, will ich Ihnen
auch meinen Namen sagen: ich bin der Oberhofprediger Strauß aus Berlin und
allerdings in meiner Jugend oft hier gewesen." — Jetzt mußte man das Gesicht
der Dame sehn, schmeichelhaftes, verbindliches Staunen, Bewunderung, geadelt
durch Hochachtung, ihre kleine Nase zog die Spitze ein und wurde aus Achtung
rundlich, wie das Bäuchlein des Oberhofpredigers. „Ah der Verfasser der Glocken-
töne!" rief sie. Der alte Herr lächelte jetzt seinerseits wieder freundlich und sprach
mit glänzendem Antlitz und frommer Bescheidenheit: „davon weiß die jetzige Welt
nicht viel mehr, am häufigsten mache ich die demüthigende Erfahrung, daß man
bei meinem Namen an die berühmten Namensvetter, den Strauß der Mythe oder
gar an den Walzer-Strauß denkt." Es erfolgte verbindliches Lächeln, Näher¬
rücken, alle die Symptome, welche sich einzustellen Pflegen, wenn das Gespräch
aufregend werden soll. — Ich zitterte. „Sie sehen den König oft, Herr Ober¬
hofprediger?" seufzte die Dame und sah sich schüchtern um, als fürchte sie, die
Unterhaltung könne Anstoß geben. — Allerdings gab sie mir Anstoß, und ich glaube,
ich habe geächzt. Sie sah mich starr an, aber ihr geübtes Auge mußte sie wohl
keinen Radikalen des Jahrgangs 48 erkennen lassen, denn sie fuhr dreister und
immer wärmer fort: „Erzählen Sie mir doch von ihm, jede Kleinigkeit interessirt
mich, seit man ihn von allen Seiten so ungerecht geschmäht hat, liebe ich ihn fast
mit Leidenschaft. Voriges Jahr in der Blüthe seines königlichen Märtyrthnms,
als er in Köln nach so viel Leiden wieder seine anmuthige Liebenswürdigkeit ent¬
faltete, sah ich ihn zum ersten Mal. Wie war es möglich, diese weiche, fast weib¬
lich poetische Natur in so verzerrten Bildern dem Volke darzustellen, mit welchen
plumpen gemeinen Verdächtigungen hat man sie ins Schwarze zu malen versucht!
Trotz des nahenden Alters hat das Wesen des Königs noch unverkennbar den
Ausdruck von Geistesfrische und Gemüthsempfänglichkeit, den er, der Erstgeborene
der lieblichsten Frau, als mütterliches Erbtheil erhalten hat. Er artet vielleicht
zu sehr nach der Mutter, er hat zu wenig hohenzollernsches Blut, zu wenig Stahl
und Starrheit, das weibliche Element waltet bei ihm vor. Er ist unstreitig der
geistreichste, gutherzigste und tugendhafteste Mann." —
Mir trat der Schweiß auf die Stirn, ich wartete jeden Augenblick einen
Fluch aus irgend einer Ecke zu hören. Aber Alles blieb still, der Oberhofprediger
unterbrach die Enthusiastin, indem er stürmisch ihre Hand ergriff und küßte: „wie
wohl thut es meinem alten Herzen, einmal so gut über meinen König reden zu
hören. Sie', sind gewiß eine brave Soldatenfrau," sagte er. „O nein, ich bin
nur die Frau eines der armen beneideten sogenannten Bureaukraten, aber ich
spreche gewiß unparteiisch, mein Mann ist nie bevorzugt, sondern oft sogar unge¬
recht zurückgesetzt worden," erwiederte sie und versuchte schwenuüthig aufzusehn.
Jetzt wurden die Beiden gemüthlich, die Dame würdigte uns keines Blickes
mehr, sondern lauschte den Erzählungen des Oberhofpredigers, der anfing sich über
das häusliche Glück des Königspaars auszulasten. — Gut konnte das nicht enden.
Mir wurde sehr unbehaglich, sechs Menschen saßen in dem Coup«-, wenigstens einer
davon mußte ein Feind dieses Königs und seines Familienglückes sein, ich musterte
ängstlich die Gesichter. Neben mir eine westphälische Dame mit geistreichem Ange,
die in die Unterhaltung hinein lächelte und mich manchmal mit einem schalkhaften
Blick maß, welcher bedeutete: Sie sind ein lächerlicher kleiner Herr! aber trotzdem
that mir ihr Blick wohl, sie war mein Liebling im Coupe; von der war nichts
zu befürchten. Wohl aber von jenein jüngeren Menschen mit großem Bart. — Him¬
mel, er fing an sich in die Unterhaltung zu mischen. Die Königin von Preußen,
sagte er, hat nicht eher ihre Religion verlassen, bis ihre Zwillingsschwester Kinder
hatte und sie nun wissen konnte, daß ihr selbst keine bestimmt wären, die sie sonst
der Verdammniß preisgegeben haben würde. — Der Wappenring an der rechten Hand
und der westphälische Accent ließen aus dieser frommen Aeußerung einen Nittcr-
bürtigen aus dem Münsterlande erkennen. — Da war eine Bombe eingeschlagen, der
Hofprediger lächelte ironisch; die Dame sah verstört aus. Der Rittcrbürtige aber
nahm die schöne Gelegenheit wahr, welche ihm das Verstummen seiner Feinde be¬
reitete, und fuhr mit seinem Zorn gegen Preußen heraus, er wiederholte die Schmä¬
hungen gegen den König über den vielbesprochenen Befehl zum Rückzug der Trup¬
pen in der Märzuacht. Mit Thränen in den Augen und zornbcbender Stimme
se»g unsere Reisegefährtin an, dagegen zu kämpfen, der Hofprediger stand ihr treu¬
lich bei. Das Gefecht ging los, alle Scene», welche ich schaudernd geahnt hatte,
das laute Sprechen, die gerötheten Wangen und Nasen, Aufregung, Zorn, gegen¬
seitige Verachtung. Und was das ärgste war, ich selber mischte mich in die
Unterhaltung; die Westphalin mit den guten Augen sah mich an, ich sollte dem
Dberhofprediger zu Hilfe kommen. Ich wurde schwach, ich öffnete den Mund, ich
wurde patriotisch, loyal, Gott weiß was. — Ich verlor alle Haltung. Was ich
gesagt und gezankt habe, ich weiß es nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam fand
ich mich auf dem Bahnhöfe in Deich, mit bloßem Kopf, dem entsetzlichen Zugwind
Preis gegeben, der Oberhofprediger drückte freundschaftlich eine meiner Hände, die
spitzige Dame die Andere, mein Nachtsack lag betroffen zu meinen Füßen, im Hin¬
tergrund des Coupes kauerte grimmig mein Gegner, der Nitterbürtige, und die
Westphalin mit den freundlichen Augen winkte mir lachend mit einem Battisttuch
zum Wagenfenster heraus. — Es pfiff, sie fuhren weiter, ich stand allein. —
O Friedrich Wilhelm, und wenn Du in Zukunft regierst wie ein Gott, Du kannst
durch Nichts gut machen, was Du an Lunge, Stimmung und Behaglichkeit bei
den Reisenden des heiligen deutschen Reiches ruinirt hast!
Bonn ist bekanntlich eine kleine häßliche Stadt, nur in den Vorstädten baut man
Palläste, die Koblenzer Straße und die Häuser an der Poppelsdorfer Allee würden
einer Weltstadt Ehre machen, auch in der Nähe des Bahnhofes entstehen hübsche Wohn¬
gebäude. Sucht man Leben, so muß man am Rhein wohnen; als Fremder im Hotel
royal, welches einen herrlichen Garten hat, der bis an s User reicht. Wir norddeutsche
schwärmen den würdigen Rhein noch immer an, und obgleich ihn die Eisenbahn jetzt
nahe gerückt hat, bleibt er uns doch der alte Märchengott, der Vater der Lorlei und
des Weins, zugleich Franzoscnftesscr, Trinkgenossc und alter Romantikus. Sein Rau¬
schen klingt uns musikalischer als das Gemurmel andrer Ströme und sein Wasser be¬
geistert unvermeidlich unsere Poeten. Eine schöne warme Nacht breitete ihr Dämmer¬
licht über die Gegend, als ich neulich an seinem Ufer saß. Das Siebengebirge war
in einen Dustschlcicr gehüllt, der seine malerischen Linien doch erkennen ließ, Lichter
spiegelten sich im Rhein und die Glühwürmchen fuhren durch die stille Luft. Von fern
aber schallten Walzcrklänge und aus dein Gebüsch hoben sich mit unzähligen erleuchte¬
ten Fenstern die Gasthöfe am Rhein, die modernen Palläste unsrer Wanderzeit. Von
Zeit zu Zeit rauschte das Wasser gewaltig auf, wenn die Dampfschlcppschiffe vorüvcr-
brcmstcn, die wie schwimmendes Feuer mit ihren Glutofen durch die Dämmernacht
fuhren. Nach allen Seiten wurde Auge und Ohr beschäftigt. Und doch konnte ich
mich nicht freuen, ich dachte an einen Unglücklichen, deu ich kannte und geliebt hatte. — In
einem freundlichen neuen Häuschen unweit des Bahnhofs, wohnte noch vor wenig Mo¬
naten Gottfried Kinkel im Schoofie seiner Familie, jetzt steht das Haus leer. Als
ich ihn damals besuchte, saßen aus der Treppe, wie lebendige Orgelpfeifen, eine Neihn-
solge reizender Kinder, alle mit den schonen Augen des Vaters mich ansehend. Oben
gab seine Fran Unterricht in der Musik. Johanna Kinkel ist ein merkwürdiges Wesen;
bekanntlich ist sie eben so häßlich als ihr Mann schön und, was noch schlimmer ist,
wenigstens zehn Jahr älter als er. Man hat daraus ihre peinvolle Sorge, sie könnte seine
Liebe verlieren und das verzweifelte Mittel, ihm das Ncvvlutionsfieber einzuimpfen, her¬
leiten wollen. Aber Johanna's Lebenslauf bot ihr schon früher manche Veranlassung
zum Haß gegen die bestehenden Verhältnisse, in denen sie lebte; sie war die Tochter
eines Gymnasiallehrers Namens Mockcl und erhielt als solche eine gründliche, fast
männliche Bildung. Diese, vereinigt mit ihrem Mangel an weiblicher Anmuth, zogM
ihr schon in früher Jugend den Beinamen Hans oder „der Mockel" zu, Lieblosigkeit
und Spottsncht weckten gewiß früh die Anlage zu Bitterkeit, aber auch die Energie die¬
ses Charakters. Im zwanzigsten Jahre verheirathete sie sich, vielleicht ohne Neigung
mit einem Buchhändler in Köln. Stark ausgeprägte Originale passen aber nicht für
den deutschen Ehestand, Johanna war keine Hansfrau, sie spielte den ganzen Tag
meisterhaft Klavier und setzte keinen Fuß in die Küche. Da nahm der junge Ehemann
in einer Stunde des Zorns ihr Notenblatt und warf es aus dem Fenster. Kaltblütig
steht sie auf und geht hinab, er denkt, um es wiederzuholen, aber nein, sie geht zu
Fuß nach Bonn zu ihren Eltern und kein Bitten, keine Drohungen vermochten sie
ihrem Gatten zu verzeihen, die Ehe wurde getrennt. Johanna ging nach Berlin um
ihr musikalisches Talent zu vervollkommnen und fand in Bettina's Hause Obdach und
Freundschaft. Aber diese beiden Naturen stießen sich bald ab, Johanna kehrte nach
Bonn zurück und lernte dort Kinkel kennen. Er war verlobt mit einer Pfarrerstochter,
hatte stets einsehr empfängliches, also auch sehr wandelbares Herz. Er sagte sich von
der Braut los und huldigte Johanna's Talent und Geist; sie wirkte offenbar befruch¬
tend auf ihn, er dichtete ihr seine schönsten Lieder und gewann an poetischer Gestaltung.
ES entstand eine echte Liebe zwischen Beiden, die sich durch Jahre voll Hindernisse
durchkämpfen mußte. Johanna war katholisch und durfte sich deshalb nicht wieder ver-
heirathen, sie trat zur protestantischen Kirche über und wurde darin durch Bethmann-Holl>veg
unterstützt, dessen frommes Haus längere Zeit ein Asyl sür die Liebenden war; damals
waren sie auch fromm und Kinkel hielt die beliebtesten Predigten bei gedrängt voller
Kirche. Nach langem Harren lief endlich das Paar in den Hafen der Ehe ein und
bezog eine Dienstwohnung in dem Schlosse zu PovpclSdvrs, unstreitig ein wahrer Fccn-
sitz für poetische Naturen. Der botanische Garten hat vor den Fenstern seinen Blu¬
menflor ausgebreitet und blaue Berge bilden den schönsten Hintergrund sür die maleri¬
sche» Baumgruppen und BvsquetS. Dennoch war das Glück an ihrem Himmel nicht
mehr n-olkcnlvs; noch hingen die Kränze über allen Thüren, und die ersten Feindselig¬
keiten zwischen Kinkel und den Theologen waren schon ausgebrochen und bedrohten seine
dienstliche Stellung. Mit Bethmann-Hollwcg war das Paar längst überworfen. Die
heterodoxe Richtung Kinkels trat immer entschiedener hervor und veranlaßte endlich seine
bekannte Suspension. Seine Neigung zur Kunst, für die er eifrig arbeitete, durch
Vorlesungen in Köln und durch seine Kunstgeschichte, schien ein versöhnendes Element zwi¬
schen ihm und der jetzigen Welt werden zu sollen, als plötzlich das Jahr 1848 seiner
Phantastischen Seele eine andere Richtung gab. Sein Rednertalent, welches er für die
Kirche ausgebildet hatte, hat gewiß zuerst zur Befriedigung seiner Eitelkeit und dadurch
zur Begeisterung sür seinen neuen Beruf, den eines NevolutionsmanneS, beigetragen.
Damals sah ich ihn nach langer Zeit zuerst wieder; seine Frau unterbrach ihre Unter¬
richtsstunde, um mir mit den üblichen Schlagwörtern von Tyrannen, Volksglück und
Volksherrschaft auseinander zu setzen, welchen Wirkungskreis ihr Gottfried jetzt aus¬
fülle. Sie wies mich in einen nahgelegenen Kaffeegarten, wo er grade thätig sein
sollte. Wüstes Geschrei schallte mir dort entgegen und aus einer Gruppe zechender
Handivcrksburschcn erhob sich Kinkel, bei meinem Anblick doch etwas verlegen, in Hemds¬
ärmeln wie die Andern und mit verwilderten Barte, kaum zu erkennen. Er zog seinen
Rock wieder an, der sein Aussehen übrigens nicht civilisirter erscheinen ließ und ging mit
mir tiefer in den- Garten hinab. Seine Redeweise, seine Haltung war brüsk und
gemein, ich hielt ihn für trunken, aber ich merkte bald, daß er nur aufgeregt war.
Mitleid, Erstaunen und Widerwillen kämpften in mir über seine Verwandlung und ließen
mich kaum zu Worte kommen. Auch bei ihm erschien mir ein kleinlicher kindischer Ego¬
ismus, als die Triebfeder seines Handelns, — und ihn wenigstens hatte ich für einen
Schwärmer gehalten." — „Wenn mir die Natur noch ein Kind schenken sollte," sprach er
nach manchem wüsten Wort, „so werde ick) es gewiß nicht laufen lassen, und wehe dem
Thoren, der meinen Kindern von Gott etwas vorsprechen will." „Dn solltest dann
doch zuerst deinen eigenen Namen ändern, Gottfried; — Gottfeind wäre passender."
„Da Gutzkow das erfunden hat, darf ich es nicht nachmachen," sagte er zerstreut
und mit einem veränderten Ton, so sanft als lebte er noch in der friedlichen Zeit sei¬
ner literarischen Bestrebungen. — Armer Gottfried, wie ist mir das Alles so lebhaft
erinnerlich, als wäre es gestern gewesen und doch liegt ein Jahr dazwischen, das dich
so nah an's Schaffet gebracht hat! — Ein Freund hatte in Karlsruhe gesehen,
wie man ihn als Gefangenen eingebracht, in der Blouse, dem rothen Ledergurt und
der rothen Feder schwankend über dem bleichen Gesicht, Blutspuren in dem wirren Haar
und Bart. Der Pöbel hatte ihn mit Steinen geworfen, Soldaten ihn geschlagen,
ein preußischer Offizier aber hatte ihn beschützt.
Das Bild wollte mich nicht wieder verlassen, es begleitete mich wie ein Gespenst
in dem hellen Sonnenschein, der zu einer Fahrt in's Ahrthal lockte. Vor zwei Jahren
hat Kinkel über die poetischen Reize dieses schönen Weinthalcs ein gutes Buch als Weg¬
weiser herausgegeben, es lag neben mir im Wagen, mit tiefer Wehmuth blätterte ich
darin. Die dunklen Felswände der wildromantischen Gegend erhöhten noch meine me¬
lancholische Empfindung; es ist todtenstill in dem Thal. Zur Zeit der Weinlese soll frei¬
lich, wie überall am Rhein, das munterste Leben auch hier herrschen. — Nur ein paar
Nonnen kamen in ihrer malerischen Tracht einen Bergpfad herab, sie gehörten zu dem Klo¬
ster, welches auf einem Felsvorsprunge dem alten Städtchen Ahrweiler gegenüber liegt.
Es ist jetzt eine weibliche Erziehungsanstalt, früher war es ein berühmter Wallfahrtsort.
Von den hundert jungen Mädchen, die hier den Händen der Nonnen anvertraut sind,
wird gewiß manches eine ungewöhnliche Zukunft haben, denn eine so wunderbar
schöne Einsamkeit muß in die Seelen allerlei hincinbildcn. Im Naturmenschen wird
solche latente Poesie zum Gebet, zum Drang nach religiöser Beschaulichkeit, daher gibt
es in diesen Thälern noch Wallfahrten und Eremiten. Auf dem Gipfel des höchsten
kegelförmigen Berges, der mit Recht den stolzen Namen Landeskrone trägt, wohnt seit
vielen Jahren ein alter Bauersmann neben einer Kapelle als Einsiedler. Ein Gelübde
für einen Andern zu erfülle», ist er einst nach Rom gewallt und hat den Erlös dieses
Bittganges zu seiner Einsiedelei verwendet. Man hält ihn in der Umgegend in hohen Ehren;
wenn er ein langes Winterhalbjahr hoch oben im Schnee und Sturm allein verlebt hat,
muß ihn wohl Gottes Nähe getröstet haben, meinen die frommen Wallfahrer, die ihn gern
besuchen. Auch Kinkel empfand etwas von den religiösen Schauern des Mittelalters, als
er seine historischen Forschungen im Ahrthale anstellte, das Mittelalter ist noch in unseren
Tagen sichtbar. Durch ein Felsenthor, nach dem Vorbilde der Port« Petrca im Münster¬
thal, gelangt man nach Altcnahr, einem Raubritternest auf schwindelnder Hohe; es ist der
schönste Punkt des Ahrthals. Die Mauern der stolzen Ruine sehen aus als wären
sie aus dem Felsen gewachsen, auch waren sie felsenfest und widerstanden den Zciten-
und Kriegsstürmen; der letzte Besitzer, Kurfürst Clemens Joseph von Trier hat sie ge¬
waltsam sprengen lassen, weil sie allzu sichere Schlupfwinkel für das Raubgesindel jener
Tage darboten. Jetzt wächst der Weinstock friedlich auf den steilen Felswänden, und es
ist unbegreiflich wie die Menschen da hinauf klettern können ihn zu pflegen, es muß ein
saures Brot sein, welches der herrliche Ahrwein seinen Erzeugern abwirft. Aber wie
gesagt, sie arbeiten und beten mehr wie an andern Orten. Als ich in das Felsenthor
fahren wollte, quoll eine Prozession daraus hervor, wie ein buntes Band schlängelte
sie sich längs der Berge hin, um nach Remagen zu wallfahrten, wo in der Apollinaris-
kirche der Festtag ihres Schutzheiligen gefeiert wurde. Gegen Abend ließ auch ich mei¬
nen Wagen dorthin lenken und kam gerade zu rechter Zeit, um mich an dem zierlichen
Bau der Kirche mit ihren geschnitzten Thürmen und Spitzbogenfenstern auf dem Gold¬
grund des Abendhimmels erfreuen zu können. Vom Rhein aus gesehen, kommt sie zu
kurz, sie erinnert dann an ein Spielwerk von geschnitztem Elfenbein, freilich ist sie auch
da noch eine der liebenswürdigsten Dekorationen der Rhcinfahrt. — Die Apvllinaris-
kirchc ist ein wahres Schmuckkästchen der Kunst des Rheinlandes, der Dombaumeister
Zwirn er hat sie erbaut, die Meißelarbeit daran ist sehr brav. Ueber die Fresco-
malereien im Innern sagt Kinkel: „sie sind das eigenthümlichste und schönste Denkmal,
welches die religiöse Richtung der Düsseldorfer Malerschule, genährt von den edelsten
Einflüssen der kirchlichen Kunst Italiens, hervorgebracht hat." Für das Jahr neun
und vierzig war die Vollendung der Gemälde verheißen, aber die Kunst hat bei den
letzten politischen Stürmen überall darniedergelcgc»; die störenden Gerüste werden wohl
sobald nicht hinweggeräumt werden. Für den Augenblick sind sie freilich nützlich um
den Beschauer zu den Bildern emporzntragen, während unter ihm dichte Menschenmassen
wogen und Gebete murmeln. — Ein glücklicher Zufall führte die zwei bedeutendsten
der ausführenden Maler ebenfalls, trotz de^s Sonntags auf das Gerüst, sie machten einem
durchreisenden Kunstgenossen die Honneurs bei ihren Arbeiten. Deger, den sie den
Raphael Düsseldorf's nennen ohne Fornarina, sah mit seinen schönen bleichen Zügen
aus wie ein lebendig gewordenes Heiligenbild, und Itterbach hätte in seinem Sam-
metbarett und Malertalar als Modell zu einem heimkehrenden Kreuzritter dienen kön¬
nen. Von Andreas und Karl Müller sind die übrigen weniger bedeutenden Dar¬
stellungen. Die Dcckengewölbe sind in Azurblau angelegt mit Goldsternen bestreut, die
Säulenköpfc heben sich mit goldenen Laubvcrzierungen von den hochrothen Kapitclkränzen ab.
Der Mäcen, der dies sauber geschliffene Juwel der rheinischen Kunst zu Tage fördern
ließ, ist Gras Fürstenberg-Stammbeün, einer der reichsten vom rheinischen Adel, sein
religiöser Kunstenthusiasmus muß ihm alljählich bedeutende Summen kosten, doch sollen
anch die Wallfahrer freiwillig ihr Scherflein aus den Altar der schönen, weit und breit
gefeierten Kirche legen, wodurch nicht unerheblicher Zuschuß zu den Baukosten kommen mag.
Bei der Reise mit dem Dampfschiffe machte es sich uns recht bemerkbar, wie spar¬
sam die sonst so reiche Erndte der Fremden anch dieses Jahr am Rhein ausfallen wird.
Keine einzige der grüuverschlcierten Töchter Albions war ans dem Schiff und keine der
glänzenden Damen, die sonst den Luxus des Reifens repräsentirten. Dagegen schien
eine größere Zutraulichkeit unter der kleinen Gesellschaft zu herrschen. Uebcrcill bildeten
sich Gruppen mit lebhaftem Gespräch, an denen die Nächststehenden zwanglos Antheil
nahmen. Eine lebhafte Süddeutsche, Posthalterin aus Freiburg, führte das Wort,
und erzählte von ihren Abenteuern während des Aufstandes: sie sei eine „Arischtokrattin,"
drum habe man ihr zur Strafe den Sigel mit seinem ganzen Generalstab ins Quar¬
tier gelegt, davon sei sie vor Schreck krank geworden und habe sich geflüchtet, jetzt sei
sie ans dem Rückweg in die Hcünath. Es hatten mehrere aus Freiburg sich ihr an¬
geschlossen, ein junges Mädchen, welches Ki,s der Pension von Neuwied heimgeholt
ward und ein paar Jünglinge, die wegen des Sigel'schen Standrechts und der Con-
scription die Flucht ergriffen hatten. Der Eine wollte auch ein Nrischtvkratt sein, ver¬
sicherte aber, der Großherzog müsse doch wieder fortgejagt werden, er sei zu gutherzig.
Ein Seitenstück zu ihm war ein junger Berliner Bierbrauer, der auf die Demokraten
schalt und doch den Wahlen ans dem Wege reisen wollte. Melancholisch saß ein Fran¬
zose mit^. schönem ernsten Gesicht seitab, der bunten Gesellschaft den Rücken kehrend;
ich knüpfte ein Gespräch mit ihm an, er schien zu dem allerneuesten Frankreich zu ge¬
hören, er verwarf Alles: die Republik, Louis Philipp, Louis Napoleon, die Bourbonen.
Lamartine vertheidigte er gegen die letzten Beschuldigungen literarischer Gemeinheit,
aber er lobte und liebte ihn nicht, Guizot zollte er einige Anerkennung als klugem
Kopf und redlichem Mann. Frankreichs Berühmtheiten schonte er nicht, die Sand ver¬
warf er gänzlich. Die Franzosen von heute werden misanthropisch, sie sind nicht mehr
so liebenswürdig als sonst; worin sind sie wohl besser als sonst? — Ein deutsches
Original gesellte sich zu uns und fesselte das Interesse des Franzosen durch seine Be¬
hauptung, ein Neffe des Marschall Soult zu sein, dessen Frau allerdings'aus einer
deutschen Handelsstadt, aus Solingen, gebürtig ist. Bei der Flucht der Herzogin von
Orleans wollte dieser Herr ihr in Aachen, wo er sich gerade befunden, durch einen
Brief seines Oheims herbeigerufen, sehr, sehr nützlich gewesen sein;— ja, das war ein
ächter Deutscher.
Trotz der schönen Gegend und der fortwährenden Abwechselung unter den Passa¬
gieren ist die Langeweile und die Ungeduld auf den Dampfschiffen meistens unerträglich,
man ist stets abgespannt und zerstreut; fast scheint es, als wäre das körperliche und
geistige Sein wohlthätiger concentrirt, wenn man festgeschlossen in einem dahinrollendcn
Wagen sitzen muß. Ich sollte dieses allerdings auch noch zweifelhafte Vergnügen einen
langen Tag genießen; von Frankfurt bis Kissingen, meinem Reiseziel, gibt es noch die
vorsüudfluthlichsten Postwagen und Chausseen. Die Landstraße führt durch den Spessart,
auffallend ist die Einsamkeit und Melancholie desselben, nur die zwei Posten begegneten
sich, außerdem sah man höchstens ein paar Holzwagen, oder einige ärmliche Handnrerks-
burschcn. Die weibliche Reisegesellschaft hatte Ueberfälle von versprengten Frcischärlern
gefürchtet, mancher ängstliche Blick fiel in den stillen dunkeln Wald, als sich aber kein
Blatt regte, griffen die Hände zur Börse und theilten den Handwerksburschen reichliche
Allmosen aus. Auf dem Wege in die deutschen Bäder kommt man mit so mancher
sichern Todcsbcnte zusammen; es waren zwei Freundinnen im Wagen, zwei gute alte
Jungfern, wie diese Typen sich nnr in Deutschland so gemüthvoll und rührend aus¬
bilden, zwei vertrocknete Blumen, ineinander verschlungen, um sich jedes andere Her¬
zensband zu ersetzen. Auf die Stirn der Einen hatte der Tod schon sein lesbares
Zeichen geschrieben, die Andere hoffte aber noch, es durch ihre Liebe und Pflege aus¬
löschen zu können. — Bei Gmünd, einem alten Städtchen am Zusammenfluß der Saale
und des Mains, nimmt die Gegend schon den Charakter an, den das grüne Thal von
Kissingen bezeichnet, überall sieht man Ruinen auf den Bergesgipfeln, wohlerhaltene
graue Thürme zwischen dem reichen Laubholz. Die Ritter im Frankenlande müssen ein
zahlreiches und mächtiges Geschlecht gewesen sein; der Bauernkrieg hat die meisten dieser
Schlosser in Trümmer verwandelt. Die kleinen alten Städte, die sich an die bnrg-
gckrvnten Berge lehnen, wie Gmünd, Hammelburg u. s. w. sind weit hinter der
Städtckultur Norddeutschlands zurückgeblieben, baufällig und ärmlich stehen ihre Häuser
an den schlechtgepflastcrten Straßen, aber eine schöne Brunnenruiuc auf dem Markes
platz, oder ein gemeißeltes Thor in der alten Stadtmauer legen Zeugniß ab von der
Würde früherer Tage und lassen sie wie alte Mütterchen erscheinen, die ein interessantes
Leben zu erzählen hätten. Man wird ihnen gut, wenn man durch ihre engen Straßen
^ährt, wo der rasselnde Postwagen ein Ereigniß ist, wo aus allen Fenstern teilneh¬
mende, neugierige, gute und in ihrer Beschränktheit glückliche Gesichter hervorschauen.
Welch ein beschauliches, inniges Leben mag hinter diesem zerbröckelnder Gemäuer
noch herrschen! Man vergißt ans dieser Straße ganz, daß man so nah bei einem der
eleganten Weltbäder sein kann. Kissingen ist in den letzten Jahren wohl auch etwas
in Verfall gerathen, die meisten seiner stattlichen Spekulantenhäuscr stehen den größten
Theil der Saison leer und die Gastwirthe blicken verzweifelnd auf ihr Kapital, das in
prächtigen Möbeln, Teppichen, Tapeten nutzlos vermodert. Doch liegt hier wie fast
überall in dem Uebel auch wieder die Heilung; der verringerte Besuch bat eine so un¬
glaubliche Wohlfeilheit des Vadelebens hervorgebracht, daß schon dadurch wieder mehr
Gäste angelockt werden. Auch sind die Wirkungen der Quellen von Kissingen beson¬
ders wohlthätig für die Leiden politischer Aufregung und Aergernisse. Leber und Galle,
die bei den Reaktionären aus dem Jahre 48 und bei den Radikalen in diesem Jahr
49 so viel gelitten haben, sollen hier Heilung finden. Von letztern war bis jetzt nur eine
nahmhaste Persönlichkeit da. Kapp aus Heidelberg, er sah sehr bleich aus seiner
schwarzen Bartumhüllung und schien sich unter der überwiegend reaktionären Gesellschaft
nicht behaglich zu fühlen. Einer seiner College» von der Frankfurter Linken, der Fürst
Waldb ur g-Z eil war in den exklusivsten Zirkel der vornehmen reaktionären Welt
als dicker Alcibiades ausgenommen; auch die Rolle der Lais hatte die Badcchronik aus¬
getheilt. Es gab hier, wie in Athen, eine jüngere und eine ältere Lais. Für die
Erstere galt eine Fremde-von hohen gesellschaftlichen Prätensionen; sie blieb vereinzelt
wie ein Tropfen Oel im Wasser, als wäre ihr schönes Antlitz das Haupt der Meduse, so
verwandelten sich die freundlichsten Mienen ihr gegenüber augenblicklich zu Stein. Durch
Tradition setzte sich dieser passive Widerstand auch bei den Neuangekommenen sort. —
Wer übrigens geglaubt hat, das vorige Jahr habe unserm Gcsellschaftsgcbäude die
Grundlagen Verrückt, der konnte sich in Kissingen vom Gegentheil überzeugen, es be¬
stand noch unversehrt in allen seinen verschiedenen Etagen. Erste, zweite und dritte
Klasse schieden sich sorgfältig von einander. Merkwürdig ist dabei, daß die zweite Klasse
sich nach ihrer politischen Ansicht wieder in Theile spaltete, die erste aber zusammen¬
hielt, trotz der heterogensten Politik; so wandelte z. B. ein dänischer Graf Moltke
und ein holsteinischer Baron Bloom einträchtig neben einander, aber freilich, von
Politik durste nicht gesprochen werden. Die war überhaupt suspendirt, die Zeitungen
kamen spät und spärlich und der Badearzt hatte sie unter die diätetischen Excesse ge¬
rechnet. Nur den kleinen Kläffern, den baierschen Lokalblättern mußte man überall
begegnen, ihr maßloses Schimpfen auf die Preußen hatte offenbar aus Rücksicht für
den sonst immer so zahlreichen Contingent preußischer Badegäste für ihre fränkischen
Bäder etwas nachgelassen, auch standen an allen Buchläden, wie sür preußische Satis-
faction berechnet, zahlreiche Bilder des Prinzen von Preußen und aller Waffengattun¬
gen seiner Krieger. Der Haß der Baiern wird dadurch sicherlich nicht gemildert werden,
denn sein wesentlicher Grund ist gerade Neid. Die baierische Gutmüthigkeit verleugnet
sich hierin vollständig, kein Zweifel, daß man sie künstlich gereizt und verwundet hat,
sie glaubt sich verspottet von den hoffärtigen Preußen, und nebenbei wird von ihnen
täglich gesagt, daß sie Heiden seien. — Von namhaften Leuten war Kissingen nicht so
zahlreich besucht als sonst. Berthold An erd ach war flüchtig hier und ließ sich zum
Aerger der vornehmen Welt, die einen consequenten Demokraten in ihm sehen wollte,
der Königin von Würtemberg in der Allee vorstellen. Bulwer war da, erreichte
aber nicht die allgemeine Theilnahme, die er in Deutschland zu erwarten schien, man
'se vielleicht durch die l Enthüllungen, die seine Frau von diesem „Ehrenmanne" ge¬
macht hat, gegen ihn etwas abgekühlt. Von Allen bemerkt, aber Niemand beachtend
^ol^X ^ '
ging David Strauß mehrere Wochen in den Kissinger Alleen herum; er hat '
überaus edles und klares Gesicht von tiefen Denkerfalten durchzogen. Durch seine
beugte Haltung und stets niedergeschlagenen Augen sieht er eher wie ein Pietist,
wie ein Geniusanbetcr aus. Der Doctor Faust der deutschen Natur findet si:'.
diesem Doctor Strauß einmal wieder ganz zusammen auf seiner ewigen Seelcnw
rung durch die Geister unseres Jahrhunderts. Als echter deutscher Gelehrter ist Se..
den geselligen Umgangsformen abgeneigt, er zieht sich scheu zurück, wird aber zutraut
sobald er sieht, daß man nicht beabsichtigt in den Plänkeleien eines zufälligen Gespr
die That seines Geistes anzugreifen. Das Trauerspiel seines Lebens mag auch ^
beitragen, ihn abgeschlossener zu machen; er war bekanntlich mit der Perle ihrer Ki,
mit der schönen Sängerin Agncse von Schebest verheirathet. Wer dies holde re5
Weib jemals gesehen, wird die Poesie einer solchen Liebe zu ahnen vermögen. Vi
Jahre wohnte das Ehepaar in beneideten Glück zu Heilbronn, zwei Kinder belebt^
das freundliche Hans; die Freundschaft von Justinus Kerncr wand ihm poetische Kram'^
Plötzlich hieß es, religiöse Zwistigkeiten seien zwischen dem Ehepaar ausgebrochen, d',.
katholische Agncse fühle Skrupel unter dem Dache des Antichristen. Eine Ehescheidun^M
fand statt, aber mit Bestimmtheit weiß Niemand den Grund anzugeben. Wenn Strauß?
nachdenklich und schweigsam unter den Lindenalleen, die so manches steinerne Heiligenbild
umsäuselten, wandelte, meinte ich immer, er denkt an seine Vergangenheit, an die ferne
Gattin. In Worten klagte er nicht, er schien heiter und gleichmüthig. Nur al!.
Tage seiner Abreise sah ich ihn bewegt, mit freudiger Aufregung sagte er mir, d .,
er »ach Weimar gehe, Goethe's „Reliquien" andächtig zu feiern; für den Cultus d
Genius konnte er sich noch erwärmen.
Es fehlt in Kisstngen gänzlich an einem Vereinigungspunkt für die Badegäste,
geschmackvolle Kursaal steht immer leer und der Kurgarten ist feucht und aussichtslv
uur kleinere Bäder können eine allgemeine Geselligkeit haben. Kisstngen entschädigt n
dafür durch die Nähe seiner reizenden Umgebungen. Die hübschesten Punkte sind o»/.>
alle Mühe zu erreichen; man lernt durch diesen genanen Umgang die Gegend schn-
kennen und lieb gewinnen. Die malerische Ruine der Bodenlanbe besucht man u.^
liebsten im Abendroth, und träumt unter dem Dache der uralten Linde. Ein schattige
Nachmittagsweg führt durch Schlaugenpfade zum Tempel des Altenbergs oder zu de
Försterhause Klausthal, wo man in tiefster Waldeinsamkeit das sonnige Panorama von
Kissingen vor sich hat. Des Morgens bleibt man unten in den Alleen, oder wandele
durch die Wiesen, die sich ländlich und frisch unmittelbar neben den Promenaden deo
Brunnens ausdehnen. Die Berge hat man überall zur Seite, die Mvrgenmusik hallt
in ihnen wieder und ist eine anregende Gedankenbegleitung für den Einsamen, während
sie zugleich deu Takt für die Schritte der geputzten Brunncntrinker abgibt. Sogar die
Industrie der Kaffeehäuser hat in Kisstngen einen zierlichen und verfeinerten Charakter ,
angenommen. Ein Schwcizcrhäuschen, nach echtem Muster geschnitzt, lockt zu einer
blumigen Terrasse hinauf; daneben steht das noch beliebtere Tyrolerhaus, wo die eins
berühmte Sängerfamilie Daburger wirthschaftet, ihre Töchter sind zwei reizende Alpen
rosen ans Tyrol, eine rothe und eine weiße, mit den passenden Namen Rosa un'
Marie. — Die Schattenseite des Fremdenverkehrs, der an andern Badeörtcrn so steheu
wird in Müsflgang und Verderbtheit der Einwohner, ist in Kisstngen nicht bemcrkb
Landkinder Fleiß belebt alle Felder; die Erndtezeit des fruchtbaren Ländchens
manch idyllisches Genrebild ab. Die zweirädrigen Wagen sind viel im Gebrauch, ^
ungleich malerischer als unsere Gespanne nimmt sich das Zugvieh aus, die pract^
sandfarbigen Ochsen im blanken Mcssingjoch, diese Bilder der Geduld und Kraf
George Sand sie nennt, lieferten mir manche Studien in mein Reisealbum.
Gleich nach der polnischen Revolution wurden die Reisen ins westliche Aus¬
land durch verschiedene Verordnungen, welche die Erlangung der Pässe mühselig
und langweilig machten, erschwert. Die Regierung, ihrer Maxime treu, nach
welcher sie jede Maßregel uur klein, unauffällig in das Leben treten läßt und
allmälig schrittweise zu der ihr zugedachten Ausdehnung bringt, ließ es dabei
nicht bewenden. Durch neue Verordnungen wurden die Schwierigkeiten vergrößert.
Endlich wurde vor ewigen Jahren der Paßstempel in einen ungeheuer» Preis ge¬
setzt. Er mußte von da ab mit 30 Thalern bezahlt werden, und dieser Preis
steigert sich obenein nach Verhältniß der Stände und des Vermögens so, daß er
das fünffache erreichen kann. Dazu erhielten die Aemter die geheime Verordnung,
die Erlangung von Pässen durch jedes Mittel zu erschweren, zu welchem die in¬
dividuelle Lage des Petenten Gelegenheit gebe.
Als ich durch das Gubernium (Woiwodschaft) Sandomir im südlichen Theile
des Königreich Polens reiste, machte ich zufällig die Bekanntschaft eines jungen
Deutschen, dessen Eltern sich im Jahre 1826 im Königreich Polen angesiedelt hatten.
Er war in der Stadt Raton wohnhaft. Der zufällige Umstand, daß meine deutsche
Heimath dem Geburtsorte seines Vaters sehr nahe gelegen, gab ihm Veranlassung,
Mir Mittheilungen zu machen.
Wissend, daß die Erlangung eines Passes nach Deutschland ein gewissermaßen
künstliches Manöver und eine lange währende Mühe erfordere, begann L. schon
im Winter eines Jahres dieses Jahrzehntes seine Operation, indem er sich zu
einem Advokaten in Raton begab und ihn befrug, welche Wege er zunächst ein¬
zuschlagen habe. Er konnte auf die Redlichkeit des Rathgebers bauen, da der¬
selbe seinem (L.'s) Vater bereits mehrfällige Dienste geleistet hatte, dafür sehr gut
belohnt und danach sogar ein Hausfreund geworden war.
Einen Paß nach Deutschland zu bekommen, erklärte der Advokat, werde sehr
schwer halten, da die Regierung das westliche Ausland gänzlich abzuschließen
grundsätzlich bestrebt sei. Die Aemter werden freilich die Angelegenheit gern auf¬
greifen, um den Petenten auszubeuten. Wie weit aber auch der Prozeß vorschreite,
das Endergebniß werde vom ersten bis vorletzten Schritte gleichmäßig zweifelhaft
bleiben. Gleichwohl solle L. das Glück versuchen. Zunächst sei ihm jedoch zu
sagen, daß der Wunsch, Verwandte zu besuchen, keineswegs ein Grund sei, der
die Negierung zu Ausfertigung eines Passes nach dem westlichen Auslande ver¬
möge. Wenn er sich nicht durch seine ausländischen Verwandten schriftliche Be¬
weise einer zu hebenden Erbschaft verschaffen könne, so müsse er sich mit einem
Arzte, wo möglich dem Oberarzte eines russischen Regimentes in gutes Vernehmen
setzen und durch diesen ein Zeugniß zu erlangen suchen, nach welchem sein Ge¬
sundheitszustand den Gebrauch irgend eines deutschen Bades nothwendig mache.
Klüglicher Weise wendete sich L. zuerst an einen Civilarzt, der der Freund
eines russischen Regimentsarztes war. Er ließ ihn zu sich kommen und versicherte,
daß er sich an Lunge oder Leber sehr krank fühle. Der Arzt behandelte ihn eine
Zeit lang, bis er sich mit der mehrmaligen und bestens betonten Bemerkung her¬
auswagte: „er glaube, ihm werde nichts weiter zur Genesung verhelfen, als ein
Bad in Deutschland." Jetzt kannte der Arzt das ganze Verhältniß und über¬
reichte bei seiner Wiederkunft dem armen Patienten neben einer Liquidation auf
nicht weniger als zwanzig Dukaten ein Zeugniß, Kraft dessen L. um einen
acht Monate giltigen Reisepaß nach Carlsbad anhalten konnte. Der Patient
wollte in seiner Genesung ans das Zuverlässigste verfahren und bat seinen Arzt,
er solle ihm doch als wichtigen Zuschuß ein eben solches Zeugniß von seinem
Freunde dem russischen Militärärzte zu verschaffen suchen. Natürlich mußte auch
der Russe heuchlerischer Weise zu Hilfe des Kranken gerufen werden. Der erste
Arzt spielte seine Rolle so wirkungsvoll als das Gold, welches bei mehrmaliger
Gelegenheit in die Hand des russischen Mediziners fiel; genug, bald besaß L. neben
dem polnischen ein fast gleichlautendes russisches Zeugniß.
Nach der Erklärung des Advokaten hatte der Petent diese Zeugnisse von dem
Kreisgericht bestätigen zu lassen, wenn sie in den Aemtern, die er weiter zu be¬
treten hatte, als giltig angenommen werden sollten. Dies kostete wenig Mühe,
aber einen Silberrubel, ohne welchen schwerlich der Beamte zu bewegen gewesen
wäre, Feder und Stempel zu ergreifen und die Unterschriften der beiden ärztlichen
Zeugnisse zu beglaubigen. Zunächst hatte sich L. in das Munizipalgericht zu be¬
geben, um von diesem eine Art Bescheinigung darüber zu erhalten, daß er sich
als Bürger wohl verhalten, stets als ein politisch unschädliches Individuum be¬
wiesen habe und daher das Vertrauen der Censurbehörde verdiene. Die Locale
des Munizipalgerichts, welche sich im obern Stock eines an der Ecke des Markt¬
platzes stehenden Hauses befinden, fand L. bei seinem ersten Eintritts leer bis
auf einige Polizeiknechte, obschon es 10 Uhr Morgens und Expeditionszeit war.
Als er das Haus verlassen wollte, entdeckte er die Beamten in einer im Erdge¬
schoß befindlichen Schenkwirthschaft, wo sie beschäftigt waren, auf Rechnung eines
freigebigen oder wegen irgend welchem Geschäfte zur Freigebigkeit gezwungenen
Bürgers kleine Würste mit Butterscmmel zu dem in Polen sehr beliebten Haferbier
zu genießen.
Hier fand er unter den Schreibern auch den Adjuncten des Mnnizipalgerichts-
präsidenten, denselben Mann, an welchen er sich zu wenden hatte. Nachdem er
diesem sein Anliegen mitgetheilt, versetzte derselbe freundlich: „es soll besorgt wer¬
den, heute noch; allein wir haben den Tag noch vor uns; jetzt essen und trinken
wir; setzen Sie sich, Theuerster, genießen Sie mit und lassen Sie etwas Frisches
auf den Tisch bringen." Der Petent kannte das Beamtenthum seines Vaterlandes,
mußte, um sein Herz zu beruhigen, sich jetzt sür einen wirklichen Patienten halten
und die Blutegel anfangen lassen. Es genügte nicht den Adjuncten zu tractiren,
er mußte Alle an dem Schmauße Theil nehmen lassen, denn nirgends gilt das
Sprichwort: „Alle mit Einem und Einer mit Allen!" so voll, als bei den Mit¬
gliedern eines russischen Amtes.
Bei dem Tractement war es 12 Uhr geworden. Die untergeordneten Beam¬
ten waren im fortwährendem Wechsel bald die Treppe hinauf in das Gerichtslocal,
bald rückwärts die Treppe wieder herab in das Schenklocal getobt. Der Adjunct
dagegen hatte sich nicht von der Bank gerührt, und jetzt that er's um zu Tische
zu gehen. L. kehrte, neun Gulden ärmer, unverrichteter Sache heim und hoffte
am Nachmittag sein Geschäft abzumachen. Er kam gegen 5 Uhr in das Amt und
fand den Adjuncten in Acten beschäftigt. Sobald dieser ihn erblickte, warf er die
Acten zurück und ergriff mit dem Ausruf: „es thut mir leid, lieber Freund, noth-
gedrungen muß ich jetzt ausgehn; doch begleiten Sie mich, wir können ja in der
Tabagie an der Ecke ein wenig eintreten," den Tressenhut, faßte den Petenten
unter dem Arme und schob denselben in der Weise, als ob er von ihm geführt
werde, die Treppe hinab, aus dem Hanse und in die bezeichnete Tabagie. Der
Adjunct bestellte selbst Speisen und Getränke, und als es » Uhr Abends war
und sein Magen nichts mehr aufzunehmen vermochte, sagte er ganz trocken zu L.:
„bezahlen Sie!"
Des andern Tages hoffte L. von der Wahl der frühesten Morgenstunde das
Beste und erschien halb 7 Uhr im Amte. Als ihn der Adjunct erblickte, sagte
er: „Ihre Sache soll gleich vorgenommen werden," und begab sich mit seinem
Hute, einem Actenstoß und einem Tintenfaß in ein Nebenzimmer. Bis fast t0
Uhr wartete L. geduldig aus die Rückkehr des wackeren Mannes, dann aber sen-
dete er einen Polizeiknecht nach demselben mit der Bitte, seiner doch zu gedenken.
Allein der Bote kehrte in das erste Zimmer mit der ziemlich spöttischer Miene
mitgetheilten Nachricht zurück: „der Herr Adjunct habe längst das Hans verlassen."
Es ist kaum zu begreifen, daß L. nicht jetzt,schon die Lust verlor, sich um
einen Paß zu bemühen.
Am Nachmittag gab sich der Adjunct den Anschein, außerordentlich beschäftigt
zu sein und ließ L. nicht weniger als drei Stunden hinter sich stehen. Dann
erbot» er sich und wendete sich gegen L. mit der Versicherung und Frage: er habe
sich fast zu Schanden gearbeitet; ob er nicht Lust habe, mit hinab in die
Schenkwirthschaft zu kommen?
Ein Nein wäre eine gefährliche Antwort gewesen. L. ergab sich dem Schicksal
und sättigte den Beamten in der splendidesten Weise, unterließ es aber nicht,
dabei dringend um die Abfertigung seiner Angelegenheit zu bitten. Der Beamte
betheuerte seine Willfährigkeit mit einem Ernst, welche dem Petenten das beste
Vertrauen einflößte; allein als er am andern Morgen in das Amt kam, erklärte
der Adjunct mit der harmlosesten Trockenheit, es sei eben Frühstückszeit. L, war
abermals gezwungen, den russischen Staatsdiener in die im Erdgeschoß des Hauses
befindliche SchenÜvirthschaft zu begleiten.
Dieses Spiel dauerte nicht weniger als neun Tage lang, und als L. dann
immer noch nicht zum Ziele gelangt war und dem befreundeten Advokaten seine
Noth klagte, lachte dieser laut auf und meinte: er (L.) solle doch dem Manne
lieber einen Rubel Geld in die Hand drücken oder irgend ein Geschenk versprechen.
Uebrigens bedürfe es ja zu allererst einer aus eine» Stempelbogen geschriebenen
Petition, denn nach dem Gesetz dürfe von den Aemtern keine Angelegenheit, wel¬
cher Art und welches Gewichts sie auch sei, ohne eine aus einem Stempelbogen
abgefaßte Petition angenommen werden. Doch alles dieses werde ihm der Präfi-
dialadjuuct schon mittheilen, sobald er dazu seine Zeit ersehn oder Lust bekomme.
Am nächsten Tage versäumte L. nicht dem Adjuncten einen Silberrubel in die
Hand zu drücken, und wirklich geschah nnn etwas in der Sache. Der Adjunct
hieß nämlich L. sich einen Stempelbogen zu 20 polnische Groschen besorgen und
wies ihn an einen untergeordneten, wie es schien, eigends zur Verfassung von
Petitionen angestellten Beamten.
Es ging ihm bei dem Petitionsschreiber nicht um el» Haar anders als bei
dem Adjuncten. Fünf Tage lang füllte er diesen Menschen mit Speisen und Ge¬
tränke» ; fünf Tage lang wurde er von ihm immer wieder ans eine andere Stunde
bestellt, und als L. Beschwerde bei dem Adjuncten führte und erklärte, daß er
unter solchen Umständen in drei Jahren noch keinen Paß haben und gestorben
sein werde, ehe noch an eine Reise in das Bad zu denken sei, antwortete dieser
mit wohlwollendem Ernst: „Lassen Sie nur gut sein, Ihre Sache wird schon be¬
seitigt werden." Endlich wurde die Petitiousaugelegenheit wirklich beseitigt, und
zwar kraft eines Schnupftuchs. Der Pctitionsschreiber erklärte, daß er da an dem
Fenster eines AusschnittladenS rothe Schnupftücher mit der Abbildung Kratans
habe hängen sehen und ein solches für sei» Leben gern zu besitzen wünsche. L.
schwur ihm eins dieser Schnupftücher zu verehren, sobald die Petition geschrieben
sein werde. Es wurde ein förmlicher Accord geschlossen: um drei Uhr Nachmit¬
tags sollte die Petition fertig und das Schnupftuch zur Ueberreichung bereit sein.
Beide Contrahenten kamen ihrer Verpflichtung nach.
Nun also war L. im Besitze der Petition. Diese Petition war wunderlicher
Weise also von demselben Gericht ausgefertigt, an welche sie gerichtet war, denn
der Petitionsschreibcr war Munizipalgerichtsbeamter.
L. hatte sich uun mit seiner schriftlichen Bitte wieder an den Präsidialadjunc-
ten zu wenden und dieser versicherte, daß er ihm das Attest am Sonnabend, dem
dritten Tage, in's Haus senden werde. Allein L. wartete vergebens acht Tage,
und als er nun in das Amt ging, gab sich der Adjunct den Anschein, als ob er
die Sache ganz wider Willen vergesse» habe. Er versprach sein Versprechen am
nächsten Tage zu erfüllen; allein vergebens hoffte L. drei Tage lang einen Amts-
diener mit dem Attest in sein Hans treten zu sehen. Der Advocat gab ihm den
Rath, den Adjuncten eines Sonntags zu einem splendiden Mittagsmahl in seine
Privatwohnung einzuladen. Diesen Nath befolgte L. und der Adjunct nahm die
Einladung mit einer Unbefangenheit an, als ob er sich bereirö ungeheure Ver¬
dienste erworben habe. In L's Wohnung äußerte der Beamte sem Wohlgefallen
an einem aus der Fabrik von Minder in Warschau stammenden Sorgcnstuhle,
der zum Wiegen eingerichtet war, in einer Weise, daß L. fast gezwungen war,
ihm denselben zum Geschenk anzubieten. Er ließ Augenblicks den Stuhl in die
Wohnung des Adjuncten tragen, versäumte hierbei aber natürlich nicht, die Bitte
in Betreff seiner Paßangelegenheit auf das dringendste zu wiederholen.
Nun machte denn anch wirtlich der Adjunct Anstalt, seine Schuldigkeit zu
thun. Doch dauerte es immer uoch vier Tage, ehe L, in den Besitz des munizi-
palgerichtlichen Attestes gelaugte, auch versäumte der Adjunct in seinem wacker
collegialischen Gefühle selbst nach jenein bedeutenden Geschenke uicht, dem Peten-
ten uoch einige Unterbeamten zur Ausbeutung in die Klanen zu schieben. So
war denn glücklich das zweite Amt überwunden.
Nun hatte sich L. an das hohe Gubernialgericht mit der Bitte zu wenden,
ihm Grund seiner vorliegenden ärztliche» und polizeilichen Älteste von dem kaiser¬
lichen Paßamt in Warschau eiuen auf acht Monate für eine Reise uach Karlsbad
giltigen Paß zu erwirken.
Dasselbe befindet sich in einem prächtigen Gebäude, einem Bauwerke eines
der polnischen Könige aus dem sächsischen Hause, auf einer Anhöhe außerhalb der
Stadt. Auch hier bedürfte es einer schriftlichen Petition und zwar auf einem
Stempelbogen zu ein und einem halben Gulden. Es waren hier nicht weniger
als vier Abtheilungen des hohen Gerichts zu durchschreiten. Hier mußte die Pe¬
tition ausgefertigt werden, war die Genehmigung dem Chef vorzulegen, in einer
anderen Abtheilung mußten die Zeugnisse geprüft und die Petition registrirt' wer¬
den und endlich dann kam sie an die Abtheilung, welche die Angelegenheit des
Petenten vor die Paßbehörde in Warschau, die einzige des Königreichs, zu brin¬
gen hatte. In jeder dieser Abtheilungen hatte L. den mühseligsten Kampf mit
den russischen Staatsdienern zu bestehen. Zwar waren sie hier zu stolz, um sich
in den Kneipen füttern und tränken zu lassen, allein sie verstanden nicht weniger
dem Patenten klingende Münze abzunehmen. Dabei war ihr System ganz dasselbe.
So brauchte L. fünf Tage, um die Petition zu erhalten, und siebzehn Tage, um
die Einregistrirung durchzusetzen. In der letzten Gerichtsabtheilung ging es ihm
nicht besser als in den anderen. Zehn Tage lang freqnentirte L. dieselbe, doch
so oft er den Chef dieses Bureaus fragte, ob er schon die Gewogenheit gehabt,
die nöthige Vorstellung an die Paßbehörde nach Warschau abgehen zu lassen, ant¬
wortete dieser mit znrückscheuchendcr Kürze und Kälte: „es ist noch nicht Zeit dazu
geworden."
Der verzweifelnde Petent faßte endlich den Muth diesem vornehmen Staats¬
diener, von dessen Bestechung ihn bis jetzt seine noch viel zu gute Meinung abge¬
halten hatte, einen Dukaten in einem versiegelten Briefe zu überreichen. Dies
machte die Brutalität des amtlichen Herrn verschwinden, er wurde sogleich Freund
und zwar in solcher Ausdehnung, daß er L. in seine Privatwohnung einlud. L.
folgte der Einladung, der Beamte empfing ihn sehr freundlich, unterhielt sich
lange mit ihm über verschiedene Dinge und führte ihn dann vor eine kleine Samm¬
lung von Nauchtabatspfeifen. Bei dieser Gelegenheit nun brachte er die Haupt¬
sache zu Tage. „Ihr ursprüngliches Vaterland, Herr L.", sprach er, „ist das Land
der Tabakspfeifen. Wenn Sie eine Reise machen, welche Ihnen vielleicht einige
hundert Thaler kostet, so wird es Ihnen wahrscheinlich auf drei bis vier Thaler
nicht ankommen, die Sie für eine schöne deutsche Pfeife ausgeben und mit der Sie mir
eine zu wahrhaftem Danke verpflichtende Freude verursachen würden. Zum Ge¬
ringsten wünschte ich, daß Sie mir einen schön gemalten Kopf mitbrächten. Nohr
und Spitze würde ich ja wohl hier zu erhalten im Stande sein."
L. gab freudig das Verspreche» und hielt die Frage nicht für überflüssig, ob
denn Herr S. (der Beamte) meine, daß er (L.) wirklich zu einem Passe gelangen
werde? worauf jener versetzte: „Ha, warum nicht, wenn Sie sich gegen die Beam¬
ten richtig verhalten und die Aemter unablässig in eigner Person bestürmen, —
Mühe dürfen Sie nicht sparen."
Als L. an einem der nächsten Tage das Gubernialgericht besuchte, erhielt er
die Versicherung, ja sogar den Beweis in einem der amtlichen Bücher, daß die
Vorstellung bereits an das Paßamt in Warschau abgesendet sei. „Dem ungeachtet
könne der Petent," erklärte der Chef S. „unter einigen Monaten ans den Empfang
des Passes nicht rechnen. Denn wolle ihm auch das Paßamt, im Falle das
Bureau des Geueralpolizeimeisters in Warschau, an welches zugleich habe ein Bericht
abgesendet werden müssen, keine Einwendungen machen, wolle ihm in diesem Fall
mich das Paßcnnt rasch ausfertigen, so müsse er doch, da er auf länger als
ein halbes Jahr ausgefertigt werde, zuvor noch der Kanzlei des Fürst¬
statthalters Paskiewitsch eingereicht werden. In dieser aber bliebe jede Angelegen¬
heit ziemlich lange liegen und lasse sich auch nicht treiben.
L. wartete mit der in Nußland nöthigen und doch bei weitem nicht zuläng¬
licher Geduld sechs Wochen lang. Da er bis dahin keine Aufforderung von dem
Gubernialgericht erhalten hatte, begab er sich unaufgefordert in dasselbe. Es
wurde ihm der Bescheid zu Theil, von Warschau sei noch nichts in Betreff seiner
Angelegenheit eingegangen. Von da ab wiederholte L. anderthalb Monat lang
allwöchentlich zweimal seine Nachfrage, erhielt aber fort und fort jenen unbefriedi¬
gender Bescheid. Schon war die Mitte des Sommers herangerückt. Verzweifelnd
suchte er Rath bei dem befreundeten Advocaten.
„Habe ich es Ihnen denn nicht gesagt?" rief dieser lachend aus. Und wei¬
ter: „Sie werden auch in zehn Jahren noch keinen anderen Bescheid erhalten,
denn Ihr Paß ist wirklich noch nicht beim Gubernialgericht eingegangen, und wird
auch niemals eingehen. Schreiben Sie selbst an das Paßamt oder reisen Sie nach
Warschau."
Nun wendete sich L. schriftlich an das Paßamt in Warschau. Allein wie
dringend er auch seine Angelegenheit darstellte, und ob er auch schon seinem
Briefe noch ein besonderes ärztliches Attest mit neuestem Datum beifügte, so —
erhielt er doch nicht einmal eine Antwort ans seinen Brief. Jetzt entschloß er sich
nach Warschau zu reisen. Diesen Entschluß führte er im Juli ans. Willens
nichts zu sparen, um seine Angelegenheit durchzusetzen, drückte er sogleich einem Pa߬
amtsdiener einen Rubel in die Hand, damit dieser ihn nicht nach beliebter Ge¬
wohnheit erst zur Ausbeutung uuter die Hände von zehn unbetheiligten Beamten
führe, sondern gleich vor den, bei welchen seine Angelegenheit anhängig sei.
Dieser war ein noch sehr jugendlicher Mann. Mehrere Stunden ließ er L. ganz
unberücksichtigt hinter sich stehen, und so oft sein Ange auch auf den durch den
Diener Angemeldeten und vielleicht sogar Recommandirten fiel, so that er doch,
als ob derselbe ihn gar nichts angehe.
Der unglückliche L. war zu zartfühlend, um gleich bei der ersten Bekannt¬
schaft so zudringlich zu sein, als das Verhältniß es erforderte. Es wurde zwölf
Uhr. Der Beamte verließ das Haus, und L.'n blieb nur übrig, Gleiches zu
thun und wieder zu kommen. Dies geschah am Nachmittag. Der Beamte war
jetzt nicht weniger unnahbar, aber L. dreister. Nachdem Jener mit dem Schein
Zu drängender Beschäftigung den Vortrag L.'s abgewiesen, wagte dieser sich in
die Barriere und legte dem jungen Staatsdiener ein versiegeltes Papier vor die
N"se. Lange ließ dieser dasselbe unbeachtet. Dann steckte er es mit ganz stolzer
Miene, als ob er das Papier kenne und es ihn kraft des Amtes zukomme, zu
steh und verließ das Zimmer. In den Papier lag ein Louisd'or auf den wenigen
geschriebenen Worten: „Verehrter Herr, ich ersuche Sie dringend!"
Zurückgekehrt wendete sich der Beamte mit höchster Unbefangenheit und
stolzer Kürze: „was wünschen Sie?" an den Petenten. Nachdem dieser dringend
darum gebeten, ihm den vom Gubernialgericht in Raton beantragten Paß aufzu-
fertigen, erwiederte dieser: „ich werde Ihre Sache nachsehen; doch ist hente dazu
keine Zeit vorhanden." Aber anch am nächsten Tage fand sich keine Zeit und als
L. am dritten Tage erschien, schnaubte Jener mit allen Zeichen des Aergers und
Verdrusses: „Ihr Paß ist ja vor Wochen schon an das Gubernialgericht in Ra-
ton abgefertigt."
Natürlich war L. ganz verdutzt. Ein solcher Bescheid durfte ihn wohl in Er¬
staunen versetzen. Voller Freude» setzte er sich auf die durch den Banquier Stein-
keller neueingerichtete pfeilschnelle Post und fuhr nach Raton zurück. Des anderen
Tags angelangt, begab er sich ans das Gubernialgericht und machte seine Eröff¬
nung. Allein lächelnd gab mau ihm die Versicherung, daß an der Sache kein
Wort wahr sei.
Nachdem er, wankend in seinem Glauben, einen untergeordneten Beamten
dnrch nicht unbedeutende Geldspenden dazu vermocht, alle Actcnkasten und Fächer
zu durchsuchen, und die Ueberzeugung gewonnen, daß von seinem Passe hier nichts
vorhanden sei, entschloß er sich abermals nach Warschau zu reisen. Er wendete
sich mit Bitte und Beschwerde an den Chef eines Bureaus des Paßamtes, Na¬
mens Schulz. Dieser in dem Range eines Obersten stehende Staatsdiener wies
ihn aber an jenen Becunteu, mit welchem er bereits zu schaffen gehabt hatte. Mehre
Tage laug ließ sich der junge Mensch gar nicht beikommen, und endlich ertheilte
er dem Petenten mit einem Trotz, welcher nur der lautersten Wahrheit eigen sein
zu können scheint, den Bescheid: „ich begreife nicht, was Sie wollen; Ihr Paß
ist bereits an Dem und Dem uach Raton abgegangen und befindet sich im
Gubernialgericht."
Die bestimmte Angabe des Datums, der barbarische Ernst des Beamten
alles war geeignet, den Petenten nochmals zu täuschen. Er begab sich wirklich
zum zweiten Male nach dem Ili Meilen entfernten Raton zurück, erhielt aber
wie früher vou dem Gubernialgericht die zuverlässigste Versicherung, daß das Pa߬
amt für ihn noch keinen Paß ausgefertigt, wenigstens noch nicht eingesandt habe.
Die Versicherung jenes Advocaten, daß die beiden Aemter ihn „zehn Jahre
lang von Raton nach Warschau und von Warschau nach Raton schicken werde»,"
um der Nothwendigkeit, geradezu zu erklären, daß man einen Paß uicht ausstellen
möge, auszuweichen, bewog L. sich nach Warschau zu übersiedeln. Diesen Schritt
bezeichnete der Advocat mit dem Prädicat „nützlich." Er meinte nämlich, da die
Mitglieder der verschiedenen Aemter in Warschau näher mit einander bekannt seien,
so sei es vielleicht möglich dadurch zum Ziel zu gelangen, daß sich der Petent durch
die erworbene persönliche Freundschaft deö einen Beamten die Freundschaft des näch¬
sten erwerbe.
Unter den erzählten Operationen war fast ein Jahr verstrichen. Nun über¬
siedelte sich L. nach Warschau und war gezwungen, einen Theil jener Operationen
zu wiederhole». Es wäre ermüdend eine detaillirte Schilderung zu geben. Nur
das sei erwähnt, daß ihn der Adjunct des Polizeizirkelcommissariats dreizehn Tage
lang allabendlich mit dem Versprechen, ihm das Qualifikationsattest dahin zu brin¬
gen, in die an der Ecke der Heiligen Geist- und Neuen Weltstraße befindliche Schwei¬
zerbäckerei bestellte und da auf seine Rechnung zehrte. Im Chocoladctrinken, ver¬
sichert L., sei dieser Mensch unüberwindlich gewesen und sein Appetit habe ihm
ungeheures Geld gekostet. Ebenso eine Menge von knabenhaften uniformirten Schrei-
bern, die sich zur Verfassung des Scheines herbei gedrängt.
Endlich war es L. gelungen bis in das Paßbnrean des Warschauer Munici¬
palgerichts, welches hier dasselbe zu thun hatte wie das Gubernialgericht in Ra-
ton, vorzudringen. Hier bemächtigten sich nach einander vier Beamte seiner Ange»
legenden, und nachdem jeder ihn möglichst lange benutzt und in sämmtliche Restau¬
rationen und Kaffeehäuser Warschau's geschleppt, ja ihm sogar ein ansehnliches
!--ilnowo") abgenommen hatten, ergab es sich, daß keiner derselben mit seiner An¬
gelegenheit etwas zu schaffen hatte. Der letzte derselben, Namens Blum, war nun
wenigstens so redlich ihn an den rechten Mann zu bringen. Dieser war ein alter
grauköpfiger Russe, welcher zwar der polnischen und deutschen Sprache mächtig
war, aber aus National- oder russischem siegesstolz im Amte unter keiner Bedin¬
gung anders sprach als russisch. L. begrüßte ihn gleich mit geldgefüllter Hand,
und dies bewog den alten Mann, unverweilt die Petition und beliegenden Zeug¬
nisse durchzulesen. Dennoch erklärte er dem Petenten: „ja die Zeugnisse seien
wohl ganz gut, aber nicht ausreichend. Der Petent befinde sich nämlich noch in
den Jahren der Militärpflicht und so müsse er nothwendig eine Kaution nieder¬
legen und eine Bescheinigung darüber, welche die Schatzcommisston auszustellen
habe, jenen Papieren beifügen." L. erwiederte, daß er vom Militärdienst frei sei
und den Freigebnngsschein beibringen könne. Lächelnd entgegnete ihn hierauf der
Russe: er irre sich; sein Schein spreche ihn nicht definitiv vom Militärdienst los;
denn es heiße aus demselben „vorläufig frei." Das wisse er, weil die Scheine zu
Befreiung vom Heerdienst nie in einer andern Form ausgestellt werden. Nur das
gewisse Alter befreie definitiv. Da er dies aber noch nicht erreicht habe, so müsse
er nothwendig eine Kaution von 3000 Gulden stellen und die Bescheinigung der
Schatzcommisston beibringen.
L. deponirte wirklich verlangter Maßen 3000 Gulden in der polnischen Staats¬
bank, begab sich mit der Quittung in die Schatzcommission und erwirkte sich von
dieser mit einem nicht ganz unbedeutenden Zeit- und Geldopfer die nöthige Be¬
scheinigung. Jetzt war der Beamte im Municipalgericht bereit, den nöthigen An¬
trag, kraft dessen das Paßamt erst den Paß ertheilen konnte, auszufertigen. Nur
kostete dies dem Petenten acht Tage Geduld und ein kleines Geschenk (eine
Tischlampe). Als L. diese überreichte, erklärte der alte Russe unter wahrhaft ju¬
gendlichem Gelächter: „Ihre Angelegenheit befindet sich ja schon im Paßamt, be¬
geben Sie sich nur dahin."
Ich habe hier noch zu bemerken, daß diesmal L., um der Kanzlei des Fürsten
Paskiewitsch auszuweichen, die Ausfertigung eines Passes nur auf sechs Monate
hatte beantragen lassen.
In dem Paßamt versäumte es L. nicht einen Juden zu Hilfe zu nehmen,
der sich eine Stellung als Vermittler zwischen dem Publikum und der Behörde
gebildet hatte. Durch ihn gelang es L., mit dem Beamten der den Paß auszu¬
fertigen hatte, persönliche Freundschaft in einem Weinkeller ans der Krakauer Vor¬
stadt (eine der vornehmsten Straßen) anzuknüpfen, und diese bewirkte, daß der
Paß nach einigen Tagen fertig geschrieben war und nnr noch der Unterschriften
und des Stempels bedürfte. Jetzt wurde L. angewiesen, sich acht Tage lang zu
gedulden „da uach dem Gesetz noch eine Nachfrage gehalten werden müsse." Wo
diese Nachfrage zu halten sei, sagte man ihm nicht, doch erzählte man ihm an¬
derswo von einem sogenannten schwarzen Buche, welches sich im geheimen Bureau
des Generalpolizeimeisters befinde. Nach acht Tagen erhielt L. im Paßamt die Er¬
öffnung, daß die Sache gut stehe und er nächster Tage die Empfangnahme des
Passes in seiner Wohnung zu gewärtigen habe. Am zweiten Tage erschien denn
auch wirklich ein Amtsbote mit einem großen versiegelten Papier bei L. Nachdem
dieser sich für seine Bemühung einen polnischen Gulden ausgebeten und das Zim¬
mer verlassen, erbrach L. die Depesche, in welcher folgendes geschrieben stand: die
Behörde könne sich dem Glauben nicht hingeben, daß dem Petenten ein Paß zu
einer Badereise um jetzige Jahreszeit (October) dienen könne, daher fühle sie sich
veranlaßt seine Petition zurückzuweisen.
Dies also war das Resultat einer fast zwei Jahre langen Bemühung und
eines Gcldopfers von mehr als 900 polnischen Gulden. Wir überlassen den Leser
seinem eigenen Urtheil. Uns genügt es, mit dieser Erzählung das russische Amts¬
wesen charakterisirt und eine von den Maßregeln des Absperrungsgrundsatzes der
russischen Negierung geschildert zu haben.
Ich kann hier nicht unterlassen einer ähnlichen Begebenheit mit wenigen Wor¬
ten Erwähnung zu thun. In Kalisch lernte ich die Besitzerin eines Hotels, eben¬
falls eine Person von deutschem Geblüt kennen. Sie hatte, um wegen wirklicher
Krankheit ein deutsches Bad zu besuchen, im November des Jahres 1839 um einen
Paß ans vier Monate zu petitioniren begonnen. Nach unsäglicher Mühe erhielt
sie den Paß wirklich; aber wann? Am dritten December des anderen Jahres und
zwar mit dem Bemerken, daß die Giltigkeit des Passes erlösche, sobald die In-
haberin innerhalb der nächsten acht Tage die Grenze nicht überschritten habe. Na¬
türlich konnte die Dame die vier schlimmsten Wintermonate nicht zum Genuß eines
Bades gebrauchen, und somit war ihre Reise verhindert.
So eben komme ich von einem Ausflug durchs Oberland.--Ich war
in Linz, Ischl, Salzburg, Berchtesgaden, Gastein, Aussen u. s. w., — von Ischl
aus überall zu Fuße, habe ein Dutzend Seen befahren, mehrere Gletscher ange¬
gafft und mich überzeugt, daß die Civilisation hie und da bis in die Schneelinie
hinaufkriecht. Die Sennerin auf der K...alm schnupft mit einer, von Gott Amor
zerfressenen Nase Tabak. Die Luft ist dort überall reiner und deutscher, als in
Wien; je näher man den Bergen kommt, desto naiver und starkwadiger tritt das
Deutschthum mit seinen unbeholfenen Tugenden und liebenswürdigen Fehlern auf,
aber was unten in Wien nnr durch den Säbel, das ist da oben noch durch einen
gelinden Klaps mit dem Krummstab möglich. In manchen Gegenden muß auf
Befehl des Kardinals Fürsten Schwarzenberg die Erde still stehen, und als wollte
sich die Alpennatur als sympathetische Mitarbeiterin der Mutter Kirche zeigen,
bringt sie heerdenweise „Trotteln" (Cretins) hervor. Am Felsgcstade zauberhafter
Bergseen, in traulichen Thälern, durchädert vou paradiesisch klaren Bächlein, wider¬
hallend von lyrischen Wasserfällen, welche täglich zweimal ein Regenbogen krönt,
von noch malerischeren Schleiersällen, die von thurmhohen Klippen wie gespon¬
nenes Glas unablässig niederschweben, auf deu Halden, wo im hohen, augen-
labendcn Grün die gemeine Wiesenstora des Flachlandes in zarteren, veredelten
und duftigeren Gestalten wiederkehrt, — in solchen Asylen, wo selbst blastrte
Städter noch einmal in den Kinder- und Poeteutraum vom goldenen Zeitalter,
dem ewigen Frieden und Glück der Menschheit versinken, — da werdet Ihr
plötzlich durch die Erscheinung des „Rousseau'scheu Menschen" aufgeschreckt, denn
der Trottel, mit oder ohne Riesenkropf, scheint gemacht, um auf allen Vieren zu
gehe». Mit säuglingsartigcm Gelall und Gestotter bettelt er den Wanderer an
und dankt mit kindischem Gelächter, gleichviel ob er einen Groschen oder ein
bloßes Helf Gott! erhalten. Der Trottel kommt in ganzen Familien vor und
pflanzt seines Gleichen fort. So viel ich weiß, hat die Regierung noch keinen
versuch anstellen lassen, der Erhaltung und Ausbreitung dieser Race entgegen
M treten. Im Morgenland wird der Wahnsinn heilig geachtet, vielleicht herrscht
hier ein ähnlicher Wahn. Ein frommer Antiquar wollte mir nachweisen, daß
diesen Unglücklichen das Himmelreich gehört, daß sie die östreichischen Autochthonen
und Urvorbildcr des gutgesinnten Unterthanen find. Alles andere Volk sei eine
degenerirte Abart.
Während meiner Abwesenheit ist Oestreich auferstanden, mühsam, wie ein
schwerbeladenes, gestürztes Roß. Seine Recvnvalescentenmiene ist traurig genug.
Es ist hohe Zeit, daß der militärische Eerberus wieder an die Kette gelegt werde.
Aber in Ungarn blasen, nach gestillten Aufruhr, die Kriegsgerichte fortwährend
in die glimmende Asche. Da wird „zum Ersatz des durch die Rebellion verur¬
sachten Schadens" ein armer Teufel zum Strang, dort einer nicht nur zu Pulver
und Blei, sondern auch seine Familie zur „Vermögensconfiscatiou" verurtheilt,
während hohe Herren, kraft der Gleichheit vor dem Gesetz, sich mit jährlichen
100,000 Fi. loskaufen oder ein paar Jahre Festung bekommen. Der Minister
der Justiz ist entweder ohnmächtig oder unaufrichtig. Im erstem Fall müßte er
so viel Ehrgefühl haben, zurückzutreten, im letztern wird er den Feinden Oestreichs
Gelegenheit geben, zu sagen: Oestreich hat sich im Kampfe schwächer und nach dein
Kampf unmenschlicher gezeigt als Rußland.
Die Gnade, welche Rußland aus Schlauheit dem Nachbar predigt, übt es
nicht im eignen Hanse. Das wissen wir wohl. Aber Nußland gleicht in diesem
Fall dem Pfaffen, dessen Lehren man beherzigen soll, ohne auf seine Thaten
zu sehen. —
Jetzt, Ihr Herren Minister, kommt Ihr aus die Prüsuugsbank. Ihr habt
Euer Wort zu lösen und der Welt zu zeigen, daß ein starkes und freies Oestreich
keine hohle Phrase ist. Ihr zwinkert mit den Neigen und lächelt? Ich weiß, die
Integrität der Monarchie ist Euch Hauptsache, die Freiheit Nebensache. Den
Italienern z. B. mögt Ihr keine freien Institutionen gewähren, weil sie daraus
eine Waffe gegen die Monarchie machen könnten? Oder nicht eher, als bis
sie Beweise ihrer loyalsten Begeisterung für das Haus Habsburg geliefert haben?
(Siehe Lloyd.) Einer von den alten Zirkelschlüssen, aus denen man nicht zur
Emancipation der Juden, nicht zur Preßfreiheit, nicht zur Oeffentlichkeit, wohl
aber zur Revolution kam. Freie Institutionen sind keine Prämien sür gute Auf¬
führung, sondern eine Schuld, die mau auch dem persönlichen Feind bezahlen
muß; es sind keine Orden und Auszeichnungen, sondern wie das tägliche Brot,
das erste Bedürfniß eines kulturfähigen Volkes. Wohin würde die Verkennung
dieser Wahrheit in Polen, Ungarn und Böhmen führen! Mau müßte zuletzt den
rothen und weißen Ultras beistimmen und sagen: Der aufrichtige Oestreicher ist
konsequenter Weise Absolutist!
Von einem zukünftigen Reichstag wird noch nicht einmal geflüstert. Die
neuen Gerichtsbehörden werden auf das Ende des Jahres 18S0 versprochen. Nur
öffentliche Preßgerichte stehen vor der Thüre, aber — die Geschwornenlisten werden
unter der „Leitung" von Regierungsbeamten angefertigt. Und zur gemüthlichen
Erinnerung an die vormärzliche Zeit sind die „Grenzlwten" hier streng verpönt,—
als eine „Kloake des Radikalismus und Republikanismus." In Deutschland,
wo man Ihre grünen Blätter besser kennt, mag man daraus entnehmen, was die
hohen Herrn in Wien unter Preßfreiheit verstehen.
Lebt wohl, meine Wiener Freunde, lebt wohl. Ihr wundert Euch, daß ich
gehe, da doch der Belagerungszustand nächstens aufhören soll. Seid nicht allzu
sanguinisch. Zwar wird die Regierung mit dem Scheinconstitutionalismus, den
sie in petto hat, auch keine hundert Jahre lang tantalisireu. Das Volk durch¬
schaut den leeren Schein gar bald, es lernt daran kennen, was ihm gebricht und
greift allmälig nach dem Wesen. Aber eine harte und lange Schule habt auch
Ihr durchzumachen, Ihr werdet kämpfen, tapfer und manchmal unklug, und dann
werdet Ihr gransame, halb unverdiente Schläge bekommen. Ich will nicht zusehn,
wie der Haselstock des Gesetzes Euch zu ruhmvollen Märtyrern macht. Euer
Geschrei werde ich laut genug auch in der Ferne hören.
Es war in der Dämmerstunde eines Julimorgens, als wir Krakau, mit dem
Schritt über die Weichsel verließen. Die Straßen der Stadt und die ganze Ge¬
gend hinter uns war todtenstill. Der ganze Freistaat lag im süßesten Schlummer,
und Niemand träumte von seinem nahen Untergänge. Vor uns lag Galizien,
von Nebeln bedeckt, und als diese zerflossen, befanden wir uns schon ziemlich tief
in dem Lande.
In Galizien begegneten Polens Herrcsaufgebote unzählige Male den unge¬
heuren Kriegerschwärmen der Tataren, hier erlitten die Moskowiter ihre empfind¬
lichsten Niederlagen, hier entwirrte sich der Knäuel der kosakischen Nevvlutivns-
knege, hier feierte Sobieski seine glänzendsten Siege über die Tataren und Türken.
Die schwersten Kriegsgewitter kamen der polnischen Republik seit alten Zeiten von
Südost, daher Galizien dem Reiche als Vormauer, als Brustwehr dienen mußte,
wozu ihm seine Gebirge die beste Fähigkeit verliehen. Eine Folge davon aber
war, daß das Volk oft in eine wirre Bewegung gerieth, und sich dabei fremde
Elemente eindrängten und festen Sitz gewannen. Daher schreiben sich die vielen
kleinen Völkerschaften in Galizien: eine Erscheinung, die in dem übrigen altpolui-
schen Reiche nicht wahrgenommen wird. Dort kennt man niemand weiter als Po¬
len und Fremde. In Galizien dagegen treten einem eine Menge verschiedener
Volksnamen, als z. B. Pnsniaken (die ältesten Bewohner des Landes), Gorali,
Slomaki n. a. entgegen. Diese Stämme sind sämmtlich slawischen Ursprungs, doch
in Sitten und zum Theil selbst im religiösen Glauben von einander unterschieden.
Die polnische Republik sparte keine Mühe sie zu polonisiren. Mit einigen gelang
es ihr völlig, mit anderen zum Theil. Alle ohne Ausnahme aber brachte sie unter
diejenigen gesellschaftlichen Formen, welche im polnischen Reiche herrschend waren
und dies mag die wichtigste Ursache davon sein, daß sich jene Völkerschaften selbst
bis zu den Schichten der Gebildeteren hinaus für echt polnische halten und bis in
die neueste Zeit das lebendigste Interesse an dem Schicksal des polnischen Reichs
genommen haben; das aber verhinderte die östreichische Regierung zu Bekämpfung
des ihr gefährlichen polnischen Elements, die Stammverschiedenheit der Völkerschaf¬
ten zu einem Hilfsmittel zu machen, und bewog sie, sich für eine Operation zu
entscheiden, welche nicht auf das Nationalwescn, sondern auf den gesellschaftlichen
Zustand direct einzuwirken hatte. Eine andere wichtige Folge davon, daß die ge¬
fährlichsten Kriege der untergegangenen Republik in Galizien ausgefochten wurden,
war, daß sich hier der vornehmste und reichste Adel des kriegerischen Volks nie¬
derließ, oder wenigstens bedeutende Besitzungen erwarb. So findet man in Ga¬
lizien die alten fürstlichen und gräflichen Häuser der Jablonowski, Labomirski,
Starbck, Zaluski, Kraflnski, Potocki, Lawicki, Stadnicki, Ankiewicz, DembinSki,
Wrzelaczönski, Wodzinski u. a. Auch die ursprünglich aus Lithauen stammenden
Familien der Sapieha und Czartoryiski haben hier Grundbesitz erworben. Adel
und Bauernstand umfassen Galiziens Ureinwohnersehaft, die Hauptmasse der Be¬
völkerung und geben dem Lande seine politische Bedeutung. Die Juden sind frühe
Einwanderer, aber sie haben keinen Einfluß anf jene gehabt. Von den Deutschen
dagegen, welche eine Menge Kolonien und eine dicke Schicht im Bürgerstande ge¬
bildet haben, möchte Gleiches nicht behauptet werden können, wenn auch ihr Ein¬
fluß bei der ihnen eigenthümlichen Gewohnheit, sich zu isoliren und mit sich selbst
zu beschäftigen, kein großes Gewicht erlangen konnte.
Wir fuhren auf der Straße nach Bochnia dahin. Die polnischen Landleute
waren aus den Feldern beschäftigt, hier mit dem Pflug, dort mit der Sichel.
Allenthalben sahen wir sie in großer Menge beisammen und überzeugten uus da¬
durch, daß ihr Verhältniß zum Grundherrn noch dasselbe sei, wie in alter Zeit
oder wenigstens nicht sehr von dem unterschieden. „Ein Finger gebührt dem Bauer
für sich, neun für den Herrn," ist ein polnisches Sprichwort. Daß es noch in
Oestreich gilt, konnte uns in Verwunderung setzen, da man uns gesagt, die öst¬
reichische Regierung begünstige den Bauernstand ungemein. Es schien da eine
Erläuterung nöthig.
Wir fuhren ziemlich scharf. Auch in Galizien ist man gewöhnt, pfeilschnell
zu sein. Ob Ebene, steigender oder fallender Berg bleibt sich ganz gleich, die
polnische Leidenschaftlichkeit gibt sich auch im Fuhrwesen zu erkennen. So erreichten
wir am Nachmittag und wenigstens fünf Stunden früher als wenn wir deutsch
gefahren wären, unser Ziel, ein Dörfchen am Fuße der Karpathen, dessen Gebiet
vom Dunajec bespült wird. Der Besitzer des Ortes war der Vater meines Reise¬
gefährten, eines jungen polnischen Edelmannes, der vor wenigen Tagen erst die
Universität Krakau verlassen hatte, um nach Paris zu gehen, und mir schließlich
dadurch seine Freundschaft beweisen wollte, daß er mich mit seinen Ellern bekannt
machte. Sein Vater war ein Mann von colossaler Gestalt, noch in den Jahren der
vollen Kraft. Die Physiognomie desselben erinnerte mich an die Behauptung mei¬
nes verehrten Freundes öl, Ludwig Jahr in Freiburg, welche dem polnischen
Adel das polnische Blut streitig machte und ihn dazu verdammte, tatarischen Ur¬
sprungs zu sein. Aber physiognomische Folgerungen der Art halten selten Stich.
Ich habe echte Polen mit blauen, grauen, grünen, brannen und schwarzen Augen,
mit langen und runden Gesichtern, mit hohen und niedrigen, breiten und schmalen
Stirnen kennen gelernt, manchen, dessen Kopf auf dem Rumpfe eines Tataren
eine Vollkommenheit gemacht haben würde, und manchen der seines Gesichtes we¬
gen der beste Franzose oder Deutsche sein konnte. So hatte die Gattin meines
Herrn Wirths ein Köpfchen, von welchem wir meinen, daß es nur den Italiene¬
rinnen angehöre, und doch war ihr Geschlecht ein uraltgalizisches und dem ihres
Mannes ganz nahe verwandt.
Zum ersten Male in dem Hause eines galizischen Edelmanns, fielen mir Reich¬
thum, Eleganz und Reinlichkeit auf, womit alle Zimmer ausgestattet waren. Das
Haus selbst war ungleich besser, als die welche ich bisher von polnischen Edlen
auf dem Lande bewohnt gesehen. Es hatte ein Stockwerk, Hof, Fenster, ein
Schieferdach und war von gebrochenen Steinen gebaut. Jedes Zimmer hatte seine
hängende Ampel oder einen Kronleuchter, Sopha, Secretair, Gardinen, Büsten
und Bilder, alles Dinge, die die Edelleute des Königreichs nur in einem einzigen
Zimmer ihres Hauses, dem Staatszimmer, aufzuweisen haben. Reichthum und
Eleganz sind es, wodurch sich der galizische Adel von dem übrigen polnischen unter¬
scheidet. Es scheint nicht, daß der deutsche Einfluß diese Erscheinung bewirkt
habe. Schon vor Oestreichs Herrschaft waren die Häuser der galizischen Edel¬
leute als saubere Schlösser in Polen gepriesen, und wenn in neuerer Zeit durch
die häusliche Einrichtung der vielen Deutschen, welche in das Land kamen, ein
Wetteifer erregt wurde, so konnte dieser doch nur eine Steigerung des schon Vor¬
handenen bewirken. Die Ursache mag vielmehr sein, daß in Galizien sich die vor¬
nehmsten Adelsfamilien zusammendrängten und die Sitten einführten, welche sie
in Frankreich schätzen gelernt hatten. Im übrigen Polen dagegen haben sich die
vornehmsten Häuser des Adels so zerstreut, daß sie wenig Einfluß ausüben konn¬
ten und sich die große Masse des niedrigeren Adels dem Bauernstande assimilirte.
Man erzählte mir, es gebe in Galizien Edelsitze, deren sich Kaiser und Könige
nicht zu schämen brauchten. Als ich in der Folge Lauzat, ein Schloß der gräf¬
lich Potockischen Familie gesehen, hörte ich ans jene Behauptung zu bezweifeln.
Wirth und Wirthin hatten uns Gästen ein reiches Mahl bereitet und wir
waren eben dabei, als sich vor meinen Augen eine Scene gestaltete, die mir zwar
nicht neu war, welche ich aber doch in Galizien nicht erwartet hätte, wo die Re¬
gierung, nach meinem Glauben, aus dem Bauernstande ein anderes Geschlecht
gemacht hatte. Der Kammerdiener meldete ein Brautpaar an. „Wollen Sie ein
hübsches Mädchen sehen, so kommen Sie mit mir!" sagte der Wirth. In der
Hausflur fanden wir die Angemeldeten, einen munteren Burschen und eine blü¬
hende junge Dirne, beide fast noch Kinder. Der Bräutigam hielt mehrere Ka¬
pauen, deren Füße zusammengebunden waren, in der Hand, die Braut einen
Korb voll Eier. Sobald das Paar den Edelherrn vor sich erblickte, fiel es ihm
zu Füßen. Die Braut blieb, mit den Armen die Füße des Herrn umschlungen,
liegen, der Bräutigam dagegen richtete sich auf und überreichte die erwähnten
Dinge mit den Worten: „Gnädigster gebietender Herr, nimm dieses Geschenk von
uns an, Deinen demüthigen Unterthanen, an, und gestatte, daß wir uns heira-
then." Die Wirthschafte«!! trug die Gaben bei Seite und der Edelmann erwie¬
derte, zum Scherzen aufgelegt: „ich habe nichts dagegen und wünsche Euch viele
Kinder," worauf das Brautpaar dem gnädigen Herrn noch die Kniee küßte und
von dannen ging. Also noch ganz die Formen, welche die alte Zeit zurückrufen.
Damals war der Bauer das vollkommenste Eigenthum des Herrn. Er gebot über ihn
wie der Vater über das Kind, leider nur zu oft auch wie der Herr über den Hund.
Alles, was der Bauer besaß, gehörte dem Herrn, seine Hütte, sein Feld, sein Vieh,
sein Pflug, sein Kittel, seine Zeit, sein Leib, seine Seele. Ohne den Willen des
Edelmanns konnte der Bauer nichts thun, weder seinen Wohnsitz verändern, noch
heirathen, ja nicht einmal beichten und communiciren, denn der Geistliche, selbst
dem Adel angehörend und für dessen Rechte arbeitend, uneben die Beichte nicht an
ohne einen Erlaubnißschein des Edelmanns.
Die berühmte Konstitution vom 3. Mai 1791 hob die Leibeigenschaft des
Bauernstandes auf und versetzte denselben in die Classen der freien Staatsbürger.
Das Verhältniß war nicht ganz bedingungsfrei und es läßt sich am treffendsten
mit den Worten bezeichnen: Der Bauer wurde frei als Person. Allein der Bauer
erfuhr von seinem neuen Zustande nichts und betrachtete sich sorr und fort für eine
Waare seines Herrn. Im Königreich Polen ist dieser Zustand geblieben bis auf den
heutigen Tag, die russische Negierung hat es nicht sür Mühe lohnend oder gut gehal¬
ten, dem Bauer von seiner Freiheit zu unterrichten, der Edelmann hat geflissentlich
dafür gearbeitet, daß der Bauer seine Freiheit nicht kennen lerne, wo dies aber
nicht verhindert werden konnte, z. B. in der Nähe der deutschen Kolonien, nützte
dem Bauer doch die Kenntniß seiner Freiheit nichts, da seine Snbsisteuzmittel sort
und fort der Gnade und dem Besitzthum des Edelmanns entspringen mußten. So
entstand im Königreich ein Zustand abhängiger, scheinbarer Freiheit des Bauern¬
standes, der im Grunde der Leibeigenschaft so ähnlich ist, daß es nicht Wunder
nehmen kann, wenn die Sitten der Leibeigenschaft sich bis auf den heutigen Tag
erhalten haben.
Im Großherzogthum Posen hat sich das alte Verhältniß des Adels und
Bauernstandes in seinem Wesen geändert. Der preußischen Regierung hat die
Freierklärnug der Person des Bauers nicht genügt, sie versetzte die bäuerischen Ge¬
meinden in erbcigcnthümlichen freien Besitz ihrer Ländereien und Wirthschaften und
brachte zur Entschädigung für die Edelleute große Opfer.
Zu Opfern war die östreichische Negierung niemals sehr bereit, und wie sehr
sie auch das Gute wünschte, so mochte sie doch dafür nicht gerne etwas einsetzen,
am wenigsten in einem so unsicher besessenen Lande als Galizien ist. Sie nahm
daher eine halbe Maßregel, sprach den Bauerngcmeinden das bisher von ihnen
leihweiö innegehabte landwirtschaftliche Capital als erbliches Eigenthum zu, ließ
aber die Verpflichtung ans ihnen haften, dem Edelherrn als dem Urbesitzer dafür
gerecht zu werden, nämlich ihm durch Dienste und Abgaben das Capital zu ver¬
zinsen. Somit blieb die Verbindung zwischen Bauernschaft und Adel, es bildete
sich ein schwankendes Verhältniß, welches verschieden gedeutet werde» konnte.
Die Sclavenfitte, die mich jenes Brautpaar sehen gelassen, gab mir Veran¬
lassung, meinen Wirth über das Verhältniß des galizischen Bauers zum Edelmann
und umgekehrt zu befragen, und er sprach mit der den Polen eigenthümlichen lei¬
denschaftlichen Eloquenz ungefähr Folgendes.
Die östreichische Regierung ist die gefährlichste, welche wir nur uach Galizien
hätten bekommen können. Die russische würde den Bauer und Edelmann knechten,
aber Bauer und Edelmann wüßten doch, daß sie zu einander gehören; die preu¬
ßische würde Adel und Bauernstand auseinander gerissen haben, aber beide wür¬
den doch dann wissen, wie sie stehen; die östreichische dagegen hat beide Stände
weder getrennt noch vereinigt gelassen, und in ein Verhältniß gebracht, daß sie
nicht wissen, wie ihr Standtpuukt ist, eine Partei die andere mit mißtrauischem
Auge anblickt, und jede fähig ist, das Werkzeug politischer Intriguen zu werden,
die gräßliche Erfolge haben können. Die Negierung sagt zum Adel: der Bauer
gehört dein, und zum Bauer: du gehörst mein; zum Adel: deine Rechte sind ver¬
brieft und sie dürfen nicht geschmälert werden; zum Bauer: der Adel hat keine
Rechte über dich; zum Adel: du bist der eigentliche Besitzer des Landes und darum
schätze ich dich außerordeutlich hoch; und zum Bauer: ich wünsche, daß es in dem
Lande auch noch andere Grundbesitzer gebe als den Adel, und dich habe ich aus-
ersehen meinen Wunsch zu erfüllen. Auf beiden Seiten thut sie Unrecht; sie er¬
weckt wirre und widersprechende Ideen und führt uns Eingeborenen des Landes
dadurch über eine mit täuschenden Reisig bedeckte Grube, die uus einen Sturz be¬
reiten kann, der fürchterlich ist, bei welchem wir hoffentlich aber weder unser na¬
tionales Blut, auf welches die Negierung es abzusehen scheint, verlieren, noch uns
zu Tode stürzen werden.
Es zeigt sich in dieser Mittheilung, daß der galizische Adel das Verfahren
der Negierung wohl zu beurtheilen verstanden und Das vorausgesehen, was wir
mit Schaudern erlebt haben. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, daß er in
den Jahren 1830 und 18!! l die polnische Revolution uur durch Geldsendungen
unterstützte.
Wir genießen hier, fuhr mein Wirth fort, eine Behandlung, die die prote¬
stantischen Deutschen eine jesuitische nennen würden. Um uns desto sicherer die
Füße wegzuziehen, umarmt man uns freundschaftlichst bei den Schultern. Mau
huldigt, um uns zu täuschen, unserem Nationalwesen, und bringt dabei die Ge¬
sellschaft, von welcher es getragen werden muß, in Mißverständniß, Mißverhältniß
und gefährliche Verwirrung. Bei Gott, das ist keine gute Handlungsweise. Lie¬
ber mit offener Stirn eine Tyrannei wie im Königreich, lieber eine feste und ehr¬
liche, aber offene Anmaßung wie in Posen!
Die Regierung fürchtet natürlich von beiden Theilen der galizischen Urein-
wohnersehaft vorzüglich den adeligen, der dnrch Polens Schicksale am meisten ver¬
loren hat, und am meisten natürlichen Sinn für das polnische Nationalwcsen be¬
sitzt. Der Bauernstand ist das Heer des Adels, sowohl durch seinen Sitz ans dem
Grundeigenthum des Adels, als auch dnrch die gleiche nationale Abstammung mit
diesem verknüpft. Ich halte es für ein ganz natürliches Bestreben der Negierung,
dem Adel sein Heer, seine Macht, zu entziehen; aber warum täuschend? Warum
nicht offen, damit er doch wisse, ob er seine Macht noch habe oder nicht, und ob
er ferner politische Wünsche Pflegen dürfe oder verbannen müsse?
Ja das Schlimmste ist, daß die Regierung geflissentlich die Täuschung gefähr¬
lich macht, indem sie mit dem Anschein eigener Theilnahme das Interesse des Adels
an dem Nativnalwesen erhöhet. In keinem der unter fremde Zepter gefallenen pol¬
nischen Landestheile dürfte dem Beobachter das alte Polenthum so sorglich erhalten
zu sein scheinen als bei uns in Galizien. Aber es ist auch eben nnr Schein
und zwar ein gefährlicher Schein, Grund dessen mehrere gedankenlose Historiker die
östreichische Regierung eine huldreiche genannt haben. Die Huld ist nicht gntmei-
nend, welche hier auf unserer kleinen polnischen Scholle das ganze altpolnische
StaatShaus miniem-«! errichtet hat. Wir haben einen Thron; wir haben auch
noch alle die alten Würden, welche einst den Thron unserer frei gewählten repu¬
blikanischen Könige umstanden. Es gibt bei uus Szablane, Kastellaue, Panner-
Herren, Landcsmarschälle, und wäre das Heer nicht deutsch und der Widerspruch
zu arg, so würde der Gaukel noch durch Kongreßfeldherren und Kronuuterfeld-
herren vergrößert worden sein.
Es kann unter uns Edelleuten nicht an Männern fehlen, welche diese ganze
Geschichte mit Unwillen betrachten, doch sind gewiß deren viel mehrere, welche
sich von dem Blendwerk für unhaltbare Ideen begeistern lassen. Indem man den
höchsten Adelsgeschlechtern altpolnische Würden verleiht, kann man den Adel un¬
möglich für das Interesse eines deutschen Staates gewinnen wollen. Ich habe die
Mutter eines Menschen ermordet und will mir dadurch die Liebe-dieses Mannes
erwerben, daß ich ihm die Halskette oder das Bildniß seiner Mutter zum Geschenk
mache. Die Sache kann nicht ehrlich sein. Halskette oder Bild sind kein Gegen¬
stand der Liebesbewerbung. Sie sind ein Prüfstein, ein Köder, der die Gesinnung
herausfordert, die deu Mann in seiner Wahrheit erkennen läßt, oder gar Thaten
heraufbeschwört, welche dem Manne den Sturz bereiten. Aber das Lockfutter for¬
dert nicht blos Gesinnung und Thaten hervor, die vorhanden oder reif sind, son¬
dern es erweckt auch solche, wenn sie noch nicht vorhanden sind; und darum gerade
ist die Sache sehr schlimmer Art.
Es ist natürlich, daß der Adel mit dem steigenden oder bei dem erhaltenen
Interesse an dem polnischen Nativualwesen seinen Einfluß auf deu Bauernstand,
deu einzigen ihm natürlich verbundenen Theil der Bevölkerung, zu steigern oder
zu erhalten sich bemüht. Seiner Bemühung begegnet aber feindselig die in Kappe
und Maske gehüllte Bemühung der Regierung. Unter beiden Einflüssen könnte
der Bauernstand wahnsinnig oder wüthend werden, und es fragt sich, uach welcher
Seite hin sich sein Unwille wenden werde, wenn er Körper wird und Arm und
Faust bekommt.
Mein Wirth führte mich von der Tafel weg an das Fenster eines neben dem
Speisesaal befindlichen niedlichen Zimmers, in welchem ich zu meiner Verwunde¬
rung eine recht hübsche Bibliothek — in der That eine große Seltenheit bei deu
polnischen Landedelleutcn — bemerkte. Sehen Sie, sagte er, diese Feldfläche
jenseit der Teiche bis zum Walde und dort von der Barriere, in der sich die Pferde
befinden, bis zur Straße hinaus, welche sich nicht sehen läßt, ist das Feld meiner
Bauern in diesem Dorfe. Dieses Feld haben seit Jahrhunderten die Bauern be¬
sessen. Ans jeden von ihnen kommen ungefähr 18 Morgen, und es ist dies voll¬
kommen genügend zur Erhaltung einer Familie, welche nicht an Fasanbraten und
Pasteten gewöhnt ist. Auf dieser Seite erblicken Sie dreizehn hölzerne Gebäude in
gerader Linie. Bei jedem zwei andere hölzerne Gebäude und dabei eine kleine
Umzäunung. Das sind die Bauernhöfe, zu dem jedem achtzehn Morgen jenes Fel¬
des gehören. Fragen Sie die Bauern, wer diese Häuser erbaut hat, so wird
Ihnen jeder sagen, der Herr, oder dieser oder jener seiner Großväter. Und fra¬
gen Sie, woher ist das Holz dazu genommen? so werden sie Ihnen antworten:
aus dem herrschaftlichen Walde. Fragen Sie, von wem ihr Feld sei, so wird
Ihnen jeder sagen: van Herrn. Fragen Sie die Bauern ferner, ob ihre Familien
seit undeutlichen Zeiten im Besitze dieser Capitalien seien? so werden Ihnen diese
sagen: „nein, meine Familie hat des Herrn Vater erst aufgenommen — ferner:
nein, meine Familie hat des Herrn Urgroßvater aufgenommen - der Dritte:
nein, ich war vor zwei Jahren noch Knecht bei dem Herrn und fremd hier; da
ich mich aber gern verheirathen, er mich aber nicht des Brotes berauben wollte,
so hat er mir ein Häuschen und Ställe aufrichten lassen, dem eine Feldfläche bei¬
gefügt und mich somit zum Bauer gemacht. Darin finden Sie vollkommen das
Verhältniß des Bauers zum Edelmann. Der Bauer ist ursprünglich ein leibeige¬
nes Wesen gewesen wie ein Thier. Durch die persönliche Freiheit ist er ein Tage¬
löhner geworden; und da der Edelmann für seine persönlichen Bedürfnisse nicht
sorgen und seine DienstliMnngen nicht in baarem Gelde bezahlen wollte, so hat
er ihm Haus, Hof und Feld gegeben; aber Haus, Hof und Feld sind das voll¬
kommenste Eigenthum des Grundherrn.
Es mag nun gut sein, daß der Bauer das vom Herrn zur Benutzung erhal¬
tene Capital erblich und fest besitze. Die Landwirthschaft kann sich dadurch rascher
cultiviren, der Bauer selbst kann dadurch ein nützlicheres Wesen werden. Die jetzige
Regierung hat es gewollt, und der Bauer ist nun unabhängiger Nutznießer seiner
Wirthschaft; allein deshalb können seine Verpflichtungen gegen den Edelmann nicht
aufhören. Er hat ihm nichts für Hans und Feld bezahlt, also ist er der Schuldner
des Edelmanns und hat ihm das erhaltene Capital zu verzinsen und zwar durch
Dienste, denn der Hilfeleistung halber nahm der Edelmann den Bauer auf seine
Besitzung und gab ihm das Capital. Dies hat natürlich auch die Regierung nicht
bestreiten können, und so ist der Bauer noch zu denselben Diensten verpflichtet wie
ehedem, als er Grund und Boden ohne andere Rechte benutzte als die, welche ihn
die Gnade des Herrn verlieh.
Das Bewußtsein, im Besitze gesichert zu sein, läßt aber natürlich allmälig die
gerechte Ursache der Dienstpflicht aus der Erinnerung des Bauers verschwinden.
Dem Bauer werden daher die Pflichten immer lästiger und erscheinen ihm mehr
und mehr als eine willkürliche Bedrückung.
Der Edelmann aber ist desto mehr gezwungen, ihn an das wahre Verhält¬
niß nud seine Pflicht zu mahnen. Schon dieses Verhältniß hat sein Schlimmes.
Es wird aber noch schlimmer, indem der Bauer von Seiten der deutschen Regie-
rung in seiner Nachlässigkeit und falschen Meinung bestärkt wird. Es wäre kein
Wunder, wenn er schon jetzt den rechtlichen Grund seiner Dienstverpflichtung nicht
mehr kennte und die Dienste verweigerte. Der Bauer ist natürlich geneigter der
Regierung Glanben zu schenken, welche seinem Wunsche freundlich ist, als dem
Edelmann, der ihn an die Pflichtige Arbeit mahnt. Die Meinungen, „der Adel
verlange über das Recht," oder: „wenn es darauf ankäme, würde er nicht einmal
sein Recht durchsetzen können, denn die Negierung werde sich seiner nicht anneh¬
men ," setzen sich immer fester und gewinnen immer mehr Macht. Es kann bei
Gott zu einem Zusammenstoß der Bauern mit dem Adel kommen, dem Unerhörte-
sten auf dem Grund und Boden des alten Polenreichs. Die Sache würde so ge¬
fährlich nicht werden können, wenn Polen in den Aemtern süßen. Allein mehr
als ein Drittheil der Amtsstellen ist an Deutsche vergeben, und leider grade die¬
jenige», welche vorzugsweise vom Bauernstande frequentirt werden. Wir haben
über 2000 deutsche Beamte hier, und diese Leute thun alles mit Eifer, was sie
im Sinne der Negierung gewahren. Man konnte diese ihre Landsleute, wie brav
sie sonst anch sein mögen, die abscheulichsten Aufwühler des Landvolkes gegen den
Adel nennen. Augenblicklich merkt man es dem Bauer an, wenn er in einem
Arve gewesen ist. Mißtrauen, Groll und Tücke leuchten ihm ans den Augen
und ich unterlasse es stets, einen solchen in den nächst ersten Tagen zum Dienst
bestellen zu lassen. Unter solchen Umständen kommen natürlich oft die tollsten Be¬
schwerden der Baktern gegell Edelleute vor. Die Beamten sind da natürlich ver¬
nünftig — vielleicht auch listig — genug, solchen eine körperliche Rechtsfolge nicht
zu gewähren. Denn entweder würden sie dadurch ihrem heimlichen Verfahren
offenbare Belege beifügen, oder sie würden durch eine gerechte Entscheidung den
Bauer veranlassen, sich künftig ihrem Einflusse weniger und vorsichtiger Hinzuge-'
ben. Daher sind Prozesse der Bauern gegen Edelleute selten, Beschwerden aber,
welche mündlich und natürlich in der Weise der Aufreizung abgemacht werden,
desto häufiger. Den Bauern wird es, da sie mündlich stets Recht erhalten, eine
förmliche Freude mit den Aemtern zu verkehren, und sie überlaufen dieselben auf
eine tolle Weise.
Die Geschichte des bäurischen Besitzes ist allerdings noch nicht so alt, daß
der Bauer schon völlig über die Rechtlichkeit seiner Dienstverpflichtung getäuscht
sein könnte. Noch weiß er, daß der Edelmann sein Herr oder wenigstens sein
Gläubiger ist, und Sie sahen es ja selbst, wie der Bauerbursche mich um die
Einwilligung zu seiner Verheirathung bat. So zeigt der Bauer in der Aus¬
übung seiner uralten huldigenden Gebräuche immer noch, daß er den Edelmann
als Herrn anerkennt. Allein es ist eine schlechte, türkische Anerkennung. Er küßt
dem Herrn die Kniee, und im Herumdrehen sagt er zu sich: ich brauchte es
wohl auch nicht, wenn ich nicht wollte!
So sprach der Edelmann, unter dessen Dache ich zwei Tage wohnte. Er sah
voraus, was sich einige Jahre später ereignete. Interessanter wird seine prophe¬
tische Auseinandersetzung durch die Nachricht, welche ich im vorigen Herbst zu¬
fällig erhalten, daß auch er, jedoch uicht auf seinem Gute, sondern auf dem eines
Freundes, ein Opfer des Bauernaufstandes geworden sei. Sein Sohn befand
sich während dieser Zeit glücklicher Weise in Wien.
Die Folge dieser Verwirrungen dürfte doch anders sein, als die Regierung
sie vielleicht erwartet. Wohl war der Bauernaufstand gegen die Edelleute nur der
erste Theil der Folge. Mit der errungenen Freiheit muß dem Bauernstande wohl
Bildung und Interessen ein seinem Nationalwesen eigen werden, und er wird sich
sicherlich dem Adel, von dem er sich als Diener losgerissen, als Genosse an¬
schließen.
Vom März bis September 1848 war die Erhebung Oestreichs eine unblu¬
tige; die ersten Opfer auf dem Hos in Wien sind mehr dem ungeahnten Schau¬
spiel zuzuschreiben und die Revolution in Italien kann man so wenig der östrei¬
chischen Erhebung zuschreiben, so wenig dieses Land trotz glorreichen Siegen zu
Oestreich gehört. Erst im October 1848 begann die blutige Revolution mit einer
Schandthat der erhitzten führerlosen Masse, und hente lM.) schließen wir den letz¬
ten Monat dieses verhängnißvollen Jahres. Komorn ist der Schlußpunkt des
schauerlichen Dramas, welche Festung, während diese Zeilen gedruckt werden, den
kaiserlichen Truppen die Thore öffnet und die schwarzgelbe Fahne aus ihre Thürme
aufpflanzen läßt.
Ueberblicken wir was sich in den letzten vier Wochen im großen Kaiserstaate
ereignete.
Die Thätigkeit der Regierung muß anerkannt werden. Die Minister sitzen
lange nach Mitternacht noch in ihren Bureaux, und namentlich Bach gönnt sich
kaum vier Stunden Ruhe, um wieder an den Schreibtisch zu eilen. Die Geschäfte
drängen. Das große weite Reich ist in seinem Verwaltuugsbau erschüttert wor¬
den, und jeder Stein der gerückt, macht das Gerölle nachfallen. Das Cabinet
ist (und dazu hat die deutsche Presse nicht wenig beigetragen) zu der Ueberzeugung
gekommen, daß uicht Alles gut gethan ist, was es thut, und daß hinter den Ber¬
gen der Aktenstücke auch Menschen sind, die einen Staat zu organisiren verstehen.
Das östreichische Ministerium! bereut schon Manches, worauf es noch vor kurzem
stolz und herrisch pochte, ja es sieht sich sogar schon um, seine frühern Freunde
und Lobredner in guter Manier loszuwerden.
Die Thätigkeit des Ministeriums äußerte sich im verflossene» Monate in einem
Fiuanzpatente, in mehrern Erlassen über Nobvtentschädiguug und Grundentla¬
stung, in einer provisorischen Verfügung zur Bildung der Preßjnry, in einem
Entwurf für den Unterricht in den Gymnasien, in einem neuen Postregulativ nach
englischem System und mehrern minderwichtigen Edicten.
Die Preßjury ist ein verkümmertes Institut, da Schmerling die Wahl der
Geschworenen aus der Urliste in die Hände des betreffenden Kreishauptmanns
legt; der Beisitz abdcputirter Gemeinderäthe wird auf des Ermessen das Ministerial-
beamten keinen Einfluß üben. Hiergegen sind Geistliche, Beamte und Militärs
vom Amt der Geschworenen ausgeschlossen.
Diese Mischung von liberalen und abhängig machenden Vorschriften findet sich
in allen Verfügungen der Regierung. So gerecht die Opposition gegen letztere ist,
so bereitwillig muß man erstere anerkenne», und selbst die hohle Phrase dient zur
Basis des Weiterstrebens. Wichtiger aber als die Ordonnanzen ist die begründete
Muthmaßung, daß das Ministerium die baldige Versammlung des Reichstags be¬
zwecke. Der Sieg »ach Unten ist vollkommen. Nicht blos die Revolution ist ge¬
knebelt, anch die überstürzenden Bestrebungen der Provinzen und Nationen legen
sich Schranken an, um nicht demi Schicksale der Magyaren und des Magyaren¬
reiches zu verfallen. Die Ideologen nnter den Politikern haben sich zurückgezogen,
vielleicht günstigere Zeiten abwartend, die Practiker fügen sich. Kroatien hat nach
einigem Widerstreben die oktroyirte Charte publiciren lassen, und die altconserva-
tiven Ungarn schließen sich dem Einhcitöstaate an; nur Mailand hat noch keine
Deputation zu den Stufen des Thrones gesandt. Von Unten hat die Negierung
keinen Widerstand zu erwarten, und auf das Vertrauen und die Zuneigung des
Volkes glaubt sie verzichten zu könne». Von Oben aber drohen Gefahren, schlim¬
mer als die mit Bajonnetten zu bewältigenden. Das Werk der Minister steht nicht
so fest, daß uur ein Simson es zerstören könnte, nud selbst für diesen fände sich
eine Delila. Das östreichische Ministerium besteht aus Männer», welche das Zu¬
rückgehen in die frühere Zeit nicht für heilsam halten; selbst der Premier Schwar¬
zenberg gehört nicht zu den Anhängern Metternichs, und hat sich nicht gescheut,
dem todten Kaiser Franz manch' wahres Wort zu sagen. Man will Zugeständ¬
nisse machen an Volk und Zeit, obwohl man sie verklausulirt; man will aber auch
Garantie» baue» gegen Uebergriffe der Krone. Mächtige Parteien wollen beides
verhindern. Der Waffcusieg hat Uebermuth erzeugt. Eine Berufung des Reichs¬
tags würde diese Reaktion in Schranken halten. Die Macht der Volksvertretung
würde Hof und Camarilla fühlen lassen, daß man geben muß, was nicht vorzu¬
enthalten ist. Die oktroyirte Charte steht aber der Einberufung des Reichstags
entgegen, da das Oberhaus von den Landtagen der Provinzen gewählt werden
soll. Ein Journal, daß dem Minister Stadion durch Dick und Dünn folgte, bis
^ sich irrsinnig in Gräfenberg verlor, nennt diesen Paragraph den größten Feh¬
ler der Verfassung, da hiedurch ein ans den nationalen Parteigeistcrn der Provin¬
zen hervorgehendes Oberhaus auf zehn Jahre gebildet wird, das stets in Oppo-
sition zur Regierung bleibt. Dieser Paragraph soll umgestoßen, die directe
Aolkswahl oktroyirt, und alsobald der Reichstag zur Revision der Verfassung ein¬
berufen werden!
Das Ministerium hegt einen so kühnen Gedanken auch deshalb, um die Geld¬
verlegenheiten endlich bemeistern zu können, denen das Finanzpatent und das neue
Anleihen (wofür bis heute in der ganzen Monarchie nur 1»^ Millionen Fi. sub-
scribirt sind) keine dauernde Abhilfe gewährt. Die Wünsche und Verlangen aller
Stämme und Kronländer würde» sogleich abgeschüttelt und an den Reichstag ge¬
wiesen, und, was das Wichtigste, das Militär müßte den Degen in die Scheide
stecken. Das Standrecht hat die Flüche des Volkes auf sich geladen, und die
Soldatenherrschaft hat Oestreich in den Augen der ganzen Welt entwürdigt; die
Generäle müssen wieder in die Kaserne und die Rechtsgelehrten in die Nichterstnbe
zurückkehren. Die Conferenzen im Kriegsministertum uuter Vorsitz des jubelnd be-
willkommten Helden Radetzky haben! vorzüglich die militärische Eintheilung des
Reiches zum Zwecke, wobei die Erbauung von Castcllen und Festen in den
Hauptstädten ebenfalls beschlossen wird. Allein die Berathungen überschreiten die
militärische Grenze und machen Streifzüge in das politische Gebiet. Derselbe
Mann, der im Namen des italienischen Heeres gegen die constitnirende Reichs-
versammlung protestirte, (Heß, dem jetzt der Generalqnartiermeisterstab unterordnet
wurde, war der Verfasser jenes Aktenstückes), sitzt neben dem Sieger von Novara
bei diesen Conferenzen, und der Kaiser nimmt in der Person seines Generaladju-
tantcn Grafen Grünne Theil daran. Das Ministerium hat also eine zweite Macht
neben sich, oder gar über sich, die nur durch das Reichsparlameut paralisirt wer¬
den kaun.
lieber die Organisation Ungarns und dessen Assimilirung hat das Ministe¬
rium bereits Schluß gefaßt, wobei der Traum einer „Slovakei" zu zerfließe»
scheint. Den Slovaken Nvrdnngarns ist die Fähigkeit selbstständigen Bestehens
und Verwalters nur dnrch die Blindheit nationaler Parteimänner zuzugestehen,
und die Losreißung dieses Distriktes von Ungarn würde Hunderttausende Deutsche
und Magyaren der Unduldsamkeit und Rohheit einer Bevölkerung überliefern, die
für Recht und Freiheit noch wenig Sinu entwickelte. So hart dies klingt, so
wahr ist es. Slvvakische Deputationen erschienen bei den Regierenden, weil die
fanatisirenden Geistlichen sie dazu haranguirten, aber sie waren so naiv im trauliche»
Gespräch zu gestehen, daß sie Ungarn bleiben wollen, nur möchten sie anch Stuhl-
richter werden und Vicegespan, und slvvakisch soll gepredigt werden. —
Die Stellung des Kaiserstaates nach Außen hat im verflossenen Monat drei
bedeutsame Momente. Die Kamarilla des Papstes hat sich nicht der Unterstützung
des östreichischen Ministeriums zu erfreuen; dieses läßt dnrch seine Organe die
Unzufriedenheit mit der dem Kirchenstaate ertheilten Verfassung erklären, und ge¬
räth hiedurch in ein persönlich freundliches Benehme» mit dem Präsidenten der
französischen Republik. — Zu einem Conflicte kam es mit dem Sultan, da er
die Auslieferung Kossuth's und Consorten beharrlich verweigerte, und sogar nach
Brussa sich begab, um den vom östreichischen Gesandten Baron Stürmer geforder¬
ten Audienzen zu entgehen. In einer solchen bestätigte der Padischah den Ent¬
schluß seiner Minister mit den Worten: daß er das Gastrecht nicht verletzen könne;
ein Gefühl, wofür das östreichische Gouvernement freilich kein Verständniß hat,
dagegen hat es wieder Gelegenheit, drohende Noten zu schicken. — Gegen Preu¬
ßen haben sich diese Noten bereits in Bajonnette verwandelt, die man an der
böhmischen Grenze unter Commando des Erzherzog Albrecht ausstellt, der im März
1848 Feuer gegen das Volk commandirte. Die Politik des Fürsten Schwarzen¬
berg gegen Deutschland erinnert allzusehr an die komischen Darsteller in den Kuust-
bude»; sie schwingen die Arme, sie puhsten in die Hände, sie heben das eine
Bein, sie machen tausend Gesten--und bringen es doch nicht zu einer Aus¬
führung oder pnrzeln auf der andern Seite des Pferdes herab. Was man nicht
will, wurde oft wiederholt, und die im verflossenen Monate publicirten Aktenstücke
sind östreichisch-bairische Negationen gegen preußische volksverleugnende Oberhaupts-
octroyirung. Der ehemalige deutsche Reichs- und nunmehrige Justizminister
Schmerling hat dem Fürsten Schwarzenberg den Wahn genommen, daß die deutsche
Revolution ein Werk demokratischer Lumpen und kommunistischer Diebe sei, und
er denkt bereits an eine definitive Entscheidung. Ein Entwurf ist in der Arbeit,
der dem Dreikönigsentwnrs ein dreihäuptiges Deutschland entgegenstellt, und zur
Unterstützung dieser Idee wird das Armeecorps in Böhmen mobil gemacht. Einen
Krieg wagt Oestreich nicht, das die eigene Provinz nur mit Beistand der Kosaken
bewältigen konnte, und dessen gekränkie Nationen nicht beruhigt und beschwichtigt
find. Die Zusammenkunft der Fürsten in Toplitz, wobei wahrscheinlich die Ver¬
mählung des Kaisers mit einer sächsischen Prinzessin besprochen wurde, hat auf
den Tang der Politik keinen Einfluß geübt; vou der Reise nach Pillnitz aber wur¬
den die Minister erst in der Nacht unterrichtet, ohne daß Einer den Kaiser be¬
gleiten durfte. Vielleicht daß am Namenstag des Monarchen (4. October) die
Verlobung gefeiert, und zugleich die ersehnte Amnestie für politische Vergehen er¬
theilt wird. So spät auch diese käme, so würde sie doch hinlänglich das Volk
gewinnen, um entschieden Front gegen Preußen zu machen, dessen Regierung und
Kammern den ganzen vollen Haß der deutschen Oestreicher auf sich luden. Man
benutzt diese Stimmung gegen ein Land, welches sonst in Humanität und Intel¬
ligenz als Muster dargestellt wurde! —
Die sonstigen Ereignisse des verflossenen Monats sind kaum von Bedeutung.
Man hat wenige gehenkt und erschossen, Einige geprügelt, Frauen gepeischt und
sehr viele in den Kerker geschickt, darunter Bischöfe, Pastoren und Rabbiner. Un¬
garische Magnaten und Honveds wurden als Gemeine rekrutirt, und Juden müssen
gemeindeweise Strafen zahlen. — In Wien werden die Generäle fttirt, besonders
Radetzky. Bei dem Gastmahl, das der Gemeinderath (das Couvert 20 Fi. C.--M.)
Zu Ehren des Helden veranstaltete, erschien keiner der katholischen Würdenträger,
weil es an einem Fasttage stattfand. Der Wiener Witz aber sagte: „wo Haynau
'se, kann nicht Milde sein." (Der Erzbischof von Wien heißt Milde.)
Ein anderer Witz ist, daß die schlechten Silbersechser, welche der Finanz¬
minister prägen ließ, Krausemünze genannt wird.
Das Erbrechen der Briefe und die Aufhebung der Freihafen hat eine starke
Discussion hervorgebracht, ohne daß für die Zukunft auf diese Privilegien Verzicht
geleistet wird. Die Denunciation des Czechen Rieger, weil dieser in Paris den
Fürsten Czartorisky besuchte, werde von ministeriellen Blättern betrieben; allein
das bei dem polnischen Emissär Czaplicki gefundene Protokoll ist nicht einmal ge¬
eignet, darauf eine Hochverrathsklage zu gründen.
Zu den erfreulichen Erscheinungen gehört, daß der Gouverneur Melden we¬
niger sich mit Abfassung von Proclamationen beschäftigt, hingegen die Literaten
Wiens Muth fassen, Einiges in die Oeffentlichkeit zu senden. Das Jnteressanteste
ist Beck's Gedicht: An Franz Joseph, das Amnestie verlangt in klingenden Versen.
Die Bildcrausstelluug ist nicht des Erwähnens werth, und die Kuustinstitute,
vin^o Theater, stagniren in vormärzlichen Repertoir.
Auf einer langen Halbinsel, rings umwunden von dem mäandrischen Bande
der dunkelgrünen Aar, liegt die alte Stadt Bern, der Hochsitz des schweizerischen
Patrizierthums und Fremdenhasses, und so enge drängen ihre rothen Sandstein-
hänser sich zusammen, als wollten sie selbst dem Wind, der vom Ausland kommt,
den Einzug in ihre Mitte wehren. Aber vergeblich — folgen Sie mir und Sie
werden sehen, daß das deutsche Element plötzlich so prädominirend in Bern ge¬
worden ist, wie man das früher nie für möglich gehalten hätte. Unter den Pla¬
tanen auf der Enge erkennen Sie augenblicklich den lieben sächsischen Dialect einer
Gruppe, am Bärengrabeu unterhalten sich Berliner, in den Lauben — Säulen-
gängen längs den Hauptstraßen — stoßen Sie mit jedem Schritt auf einen echten
Sohn Germaniens, welcher in dem schmutzigen Demokratenhut und Sammtrock
gar nicht zu verkennen ist, und erst auf dem Cas« Milano wird es Ihnen vor¬
kommen, als befanden Sie sich in einer Conferenz von Abgeordneten sämmtlicher
deutschen Sprachstämme. Die Schweiz, und vorzugsweise die Städte Bern und
Zürich, wimmeln von Flüchtlingen aus Berlin, Sachsen, Frankfurt, der Pfalz
und Baden, wie ein Bienenkorb; aber sie sind nur selten fleißige Arbeits¬
bienen, der Mehrzahl nach faule Drohnen, welche sich auf Unkosten Anderer
reichlich zu nähren gedenken, und als solche steht sie auch der Schweizer mit
scheelem Auge an, verwünscht sie und ihr Vaterland. Wüthender aber ist Nie-
mand auf die deutschen Flüchtlinge, wie das alte Berner Patriziervollblut, welches
sich jetzt nirgends mehr hinwenden kann, ohne daß ihm ein Demagoge auf den
Fuß tritt. Glauben Sie mir, die enragirtestcn Monarchisten reichen in ihrem
Absolutismus noch bei Weitem nicht an diese geld- und ahnenstolzen Bürger eines
republikanischen Staates. Schon einmal ist das Weh eiuer deutschen Demagvgen-
einwanderung über sie ergangen, in dem Anfang der dreißiger Jahre. Sie sperrten
sich dagegen, so sehr sie konnten, aber damals warf der Sturm der Julitage auch
in den Alpencantonen die alten Verfassungsbvllwerke über den Haufen, und in
dem Wirbel und Kampf der Neuerungen hatten auch plötzlich die aus Deutschland
verbannten Fürstenhasser einen festen Posten innerhalb der Schweiz gefunden. Be¬
sonders ward die junge Berner Hochschule das Asyl Vieler derselben. Der Jurist
Wilhelm Snell aus Nassau, der Theologe Huudeshagen aus Gießen habilitirten
sich an ihr als Docenten, ebenso Professor Vogt, ein tüchtiger Arzt. Der letztere
und sein Hans bildeten bald genng den Mittelpunkt des gesammten Flüchtlingthums
in der Schweiz, nicht minder aber auch den Focus, in dem sich aller Haß der
Geldbären gegen Ausländer, besonders Deutsche, und noch gar Demagogen, con-
centrirte.
Treten Sie heute mit mir in das gastliche Haus. Ich weiß nicht mehr ge¬
nau, liegt es auf der Junker- oder der Herrcnstraße in Bern, einer jener düsteren
todten Gassen, welche mit der allein lebendigen Hauptstraße parallel laufen. An
der Klingel ist der Namen des Besitzers deutlich zu lese», man führt uus eine
Treppe hinauf, und bald stehen wir auf eiuer freie» Terrasse oder einem großen
Balkon an der Hinterseite des Hauses. Das ist eiuer der schönsten Plätze der
Welt. Tief unter uns senken sich in ziemlich steilem Absturz die bunten, stufen¬
weise sich erhebenden Gärtchen der Berner hinab, bis zum Ufer der Aar, die
sich hier in einem breiten Bogen über eine quer durchgehende Stromschnelle er¬
gießt. Rechts und links die lange Mauer der schmalen Häuser, unten Insel und
Aarzichle, jenseits des Flusses der Gurteuberg, umsäumt vom lachendsten Kranze
in Gärten versteckter Villen, und in der Ferne über die grünen Höhen hinweg
die diamantnen Riesenhäupter der Berner Alpen, vom Wettcrhorn an bis zum gi¬
gantische» Dach der Altels. Der Blick, der wie gebleiidet das großartige Pano¬
rama anstaunt, lenkt sich endlich auf die vielen Personen, welche den Balkon und
den daranstoßenden Salon beleben. Zuerst die Familie Vogt. Es sind die schön¬
sten Leute, welche man zusammen finden kann. Der Vater, eine hohe, eckig kräf¬
tige Gestalt, aufrecht, frei das Haupt, das die langen Haare, den alten Schmuck
der Burschenschaft, nicht geopfert hat, — mit klarem, verständigem Blick, Jüng-
lingsfener in der Seele, Kraft und Leben in allen Gliedern. Die Mutter, eine
Schwester der Follcue, könnte mau für das Aelteste ihrer Kinder halten, so gut
hat sie sich zu halten gewußt. Von ihren Brüdern ist ihr eine fliegende Schwär¬
merei geblieben, welche bei ihr gleich in Feuer und Flammen zum Kopf heraus-
sprüht, und niemals hat ein Volksredner sich noch in so glühenden Diatriben
gegen die Tyrannen und ihre Creaturen ergangen, wie diese hochbegabte Frau im
Kreise der Freunde. Und sie meint es ernstlich; bei ihr ist es keineswegs ein
Theatcrfener. wie bei vielen andern Frauen, welche in der Neuzeit von sich reden
machen wollten. Den ältesten Sohn schildere ich nicht — es ist Carl Vogt, der
ungezogene Liebling — nicht der Grazien, sondern der Demokraten. Mich wun¬
dert nur, daß er, der den Bernern tausendmal mit der Pritsche so empfindlich
auf den feisten Rücken geklopft hat, es wieder gewagt hat, seiue Heimath hier
aufzuschlagen. Wäre er doch lieber stets auf dem Aargletscher im Ilütel A,n>-
eliili-ullus sitzen geblieben, oder an den Ufern des Mittelmeeres in Unterhaltungen
mit den Fischen spazieren gegangen — ihm wäre besser und uns! Der zweite
Sohn, Emil Vogt, ist Professor der Cameralwissenschaften an der Universität
Bern, Mitdictator der Republik und gefürchteter Journalist. Er ist ein schlanker,
sehr schöner Mann, mit hoher Stirn, feurigen Augen, Adlernase, feine» Händen,
er ist einer der trefflichsten Pianisten, welche leben, und hat Drcyschvck besiegt,
weshalb man ihm das Svbriqnet Vierschock gegeben hat. Zwei große Fehler be¬
sitzt er: Er schnupft abscheulich und kümmert sich um keine Seele. Von seinen
Kämpfen mit den Berneru, die ihn sogar einmal des Landes verwiesen, ließe sich
manches Ergötzliche aufzählen. Adolph Vogt, ein blonder, deutscher Jüngling,
ist der von seinen Brüdern, welcher am meisten gelernt hat; er ist Mediziner und
Botaniker. Dann ist noch ein jüngerer Bruder da und, ich glaube uur eine
Schwester; die andere, eine der größten Schönheiten, welche gesehen werden konn¬
ten, ist in Trinidad verheirathet. Und nun betrachte» wir die Gäste. Dort,
neben dem Hausherrn, sitzt im Lehnsessel der alte Jtz stein und schüttelt bedenklich
sein silberweißes Haupt. Früher habe ich diesen Koryphäen der Demokraten nie¬
mals anders, als lächelnd gesehen, aber hente lächelt er nicht, eine düstere Falte
hat sich um seinen Mund gelegt, wie ein Schloß, und der Alte ist sehr hinfällig
geworden. Raveaux, der bleiche Schwärmer aus Köln, sieht mit verschränkten
Armen hinüber nach den glühenden Alpen. Gedenkt er wohl des frendeleeren
Tages, an welchem er vielleicht aus tiefster Einsamkeit des Missourithals hinüber
starren wird nach den nackten Zacken der Rocky Mountains? Dort werden ihm
keine Fackelzüge mehr gebracht, keine Kränze mehr geworfen werden und er wird
eine Leere in seinem Herzen empfinden, welche das Bewußtsein, Bürger des
großen Freistaates zu sein, nicht aufwiegen wird. Ein nur flüchtiger Gast ist
J a coby aus Königsberg, der Maun der vier Fragen, welcher vor dem König von
Preußen die Rolle des Cherub mit dem Flammenschwert zu spielen versucht hat.
Er kommt von Gens und versichert, er reise direct nach Berlin, um sich den Ge¬
richten, die eine Hochverrathsklage gegen ihn erhoben, zu stellen. Mit den Damen
unterhält sich sig el, der badische Exkriegsminister und Exfcldmarschall. Niemand
würde in dieser Persönlichkeit so hohe Würden gesucht haben, Sigel ist ein klei-
ner, schmächtiger, sehr junger Mann, dessen blasse Züge eine regelmäßige Schön¬
heit besitzen, eine interessante, flexible Gestalt. Wie er nur dazu gekommen sein
mag, plötzlich Oberbefehlshaber der badischen Armee zu sein? Vielleicht weil er
Secvndclieutnant gewesen? Er wird diese Frage schwerlich selber zu beantworten
vermögen. Mieroslawski, sein College, hat sich wieder aus der Schweiz entfernt
mit seinen 33,000 Gulden badischer Besoldung. Dieser excentrische Mann hat
den Nimbus, welchen sein Prozeß und seine Verurtheilung in Berlin um sein
Haupt gewoben, gänzlich vernichtet dadurch, daß er der Commis Voyageur der
Revolution geworden ist — und — schlimmer, sich das Geschäft gut bezahlen
ließ. Er hat viele An - und Nachbeter unter den flüchtigen Helden Wiens ge¬
funden. Eine interessaute Persönlichkeit, welche uns ans Vogt's Terrasse neben den
andern entgegentritt, ist der Maler Kaufmann aus Dresden. Es wird nicht
leicht einen Menschen geben, der mit einem größeren Aufwand von Worten und
Kenntnissen und falscher Logik die nuhalrbarsteu Paradoxen eigensinnig zu ver¬
theidigen vermag. Er bildet sich etwas darauf ein, Philosoph zu sein, der selbst
in seiner Kunst Alles », priori construirt wissen will, aber er ist im Ganzen doch
nnr ein unklarer, verworrener Kopf, um dessen Talent es freilich Schade ist. Der
große Berliner Privatdocent, Herr Nan wer k, ist ebenfalls da, sucht aber vergebens
sich an Den und Jenen anzuuestel», um ihm dann drei Zeigerstunden lang irgend
einen Mischmasch von Politik und Hegelei aufzubinden. Der Buchhändler Grobe
aus Mannheim, der berühmte Verleger von Arnold Ruge's sämmtlichen Werken
(wkj. sie sind jetzt unter dem Ladenpreis zu haben), vervollständigt die bunte Muster¬
karte der anwesenden Flüchtlinge.
Welche Leute hat dieses Haus nicht schon gesehen! Hier haben sich an der
echten Gastfreundschaft der Familie Vogt gefreut und erholt Alle, die nur jemals
mit dem deutschen Bundestag und seinen Freunden, mit den Fürsten und der
Camarilla in Conflict gerathen sind. Dort aus dem Balkon hat Herwegh manche
Stunde lang mir gegenüber gesessen, Cigarren geraucht und schweigend irgend
einem kühnen Reim nachgedacht, während seine Fran droben an Emil's Clavier
saß. Frvebel, welcher jetzt auf den Wogen der Atlantis schwimmt, hat hier mit
dein Berner Advokaten Stämpfli, dem Haupt der Radikalen, über das beste
System der socialistischen Staatsform gestritten; Ruge ist hier gewesen und Fried¬
rich Rohmer, der verrückte Apostel eines neuen Christenthums; vielleicht war auch
Freiligrcith da, ganz gewiß aber Hofmann v. Fallersleben mit dem Knotenstock
und den Wasserstiefeln, welche die hübschen Teppiche verdorben haben. Ochsen¬
bein und James Fazy, Druey und der Aarauer Keller haben hier mit dem alten
Zeloten Wilhelm Snell über die Vernichtung des Sonderbundes und die Vertrei¬
bung der Jesuiten berathen. Auch til minorum Zviitium von nicht unbekanntem
Namen verkehrten hier vielfach. Bogen aus Michelstadt, der Kerkergenosse Wei-
dig's, und der kleine, possirliche Wilhelm Schulz, Ruge's Todtfeind, beid? Mit-
glieder des Frankfurter Parlaments, Doeleke nndStandau, die Communistenchefs
der westlichen Schweiz, August Becker der Rothbart »ut mit ihm alle die Atten¬
täter des 3. April 1833 in Frankfurt, Fries aus Grünstadt, Rauscheiiplat, Glad-
bach, Hundeshagen, Georg Büchner, der Verfasser des Danton, und viele Andere,
deren Namen mir entfallen sind, waren in dem Vogt'schen Hanse wohl aufgenom¬
mene Gäste. Und in der That, es hat dasselbe sich den Dank und die Liebe aller
Deutschen in der Schweiz zu erwerben und zu erhalten gewußt. Wenn der un¬
glückliche Verbannte, verlasse» von der ganzen Welt, unter den kalten, egoistischen
Republikanern zuletzt in quälendem Heimweh keinen Rath und keinen Balsam mehr
wußte, dann ging er zu Vogt's und fand Beides. Im Kreise des liebenswür¬
digsten Familienlebens vergaß er, daß er fremd und verstoßen sei. Und nicht
blos Flüchtige haben in seinen Räumen frohe Stunden genossen, nein, das Vogt'-
sche Haus war wie ein Wallfahrtsort für den Strom deutscher Reisenden und nie
war dessen gastliche Pforte dem Zauberwort: ein Landsmann! — verschlossen.
An einem andern Orte Beruf haben wir Gelegenheit, die Sterne zweiten
und dritten Grades am trüben Himmel der deutschen Demokratie keimen zu lernen.
Ich geleite Sie nach dem Cafe Milano, einem Etablissement nicht weit vom Mün¬
ster, dessen Besitzer und Wirth ein schwäbischer Musikus ist. Hier sitzen und
stehen bei Bier und Kasse, Domino und Billard fast nur deutsche unfreiwillig
Ausgewanderte. Vor Allen mache ich Sie auf jene imposante Gestalt aufmerksam,
welche dort in Schlapphut, Sackpaletot und Reiterstiefeln, eine kurze Pfeife im
Mund, an der Wand lehnt. Das ist Germain Metternich, der Mainzer Held.
Seine langen braunen Haare flattern ihm wild um den Kopf. Trotz wohnt zwi¬
schen seinen Brauen, uuter welchen die grauen Angen stets so hervorblitzen, als
entdeckten sie in jedem Moment eine Gesahr, seine Nase ist scharf gebogen, sein
Mund unsichtbar unter dem großen Vollbart, seine Gestalt ist herkulisch, aber
verhältnißmäßig gebaut. Metternich hat ein abenteuerliches, wüstes, ja verrufenes
Leben hinter sich. Ich weiß nicht mehr genau, war er es oder sein Bruder, der
als Student den Wirth der HardtmMe bei Gießen erschlug; wohl aber ist er es
gewesen, der Heinzen's Schwager, Moras, aus den Handen der preußischen Gens-
darmen befreite, als dieser vom Dampfboot in den Rhein gesprungen war; er ist
es, der die blutige Schuld der Frankfurter Septembertage zum größten Theil auf
der Seele lasten hat. Germain Metternich hat dann in der Pfalz und in Baden
seine Rolle zu Ende gespielt; wie und in welchem Geist er das gethan, darüber
mangeln mir die näheren Nachrichten. Jetzt gedenkt er in wenigen Tagen nach
Amerika -abzusegeln; sein Arm ist für die Kläraxt geschaffen und vor den India¬
nern braucht er sich nicht zu fürchten. Er unterhält sich eben mit dem Studenten
Kieselhausen aus Chemnitz, einem lang aufgeschossenen, blonden Musensohn, der
sich ebenfalls in mancherlei Revolten versucht, es aber vorgezogen hat, von Dres¬
den aus bei Zeiten zu verschwinden, während sein Freund und Genosse Böttcher
mit seinem Blut seine Ueberzeugung besiegelte. Viele Sachsen stehen zunächst in
einer Gruppe beisammen; darunter Hansner, Reinhardt, und der Posener Schrift¬
setzer Born, welcher den Andern die Deutsche Allgemeine, nicht ohne kräftige Rand¬
glossen vorliest. Auch Eichfeld, Willich, Fickler, Werner, Thielemann, Löwen¬
fels, Doll, Reff, und eine Menge anderer Revolutionöhelden sind täglich im Cas«
Milano zu finden. Aber diese unschuldigen Kläffer intereisiren uns weniger, als
ein Paar, welches abgesondert an einem Marmortisch beim Kaffee sitzt. Das ist
der Oberst Blenker mit seiner Fran; er ein großer, stattlicher, bärtiger Mann,
mit strengen Zügen, sie nicht minder kräftig und männlich. Beide sind jetzt ein¬
fach bürgerlich gekleidet, aber die Zeit liegt gar nicht fern, wo der „Oberst" im
idealen Frcischaarcostüm, die schwarzrvthgolde Schärpe breit umgethan, neben seiner
Frau einherflog, die in Mannskleidern, den demokratischen FederlM auf den
Zöpfen, gleich ihm aus requirirtem, — gestohlenen wenn Sie wollen, Pferde saß.
Und gar wohl erinnere ich mich wiederum im Hotel de Pologne der guten Stadt
Leipzig den Herrn Weinreisenden Blenker aus Worms gesehen zu haben. Damals
war er weder Oberst noch Demokrat, sondern freute sich außerordentlich, wenn
die gesinnungslosen Aristokraten eine Viertelohm Liebfrauenmilch oder Oppenheimer
Goldberg bei ihm bestellten, und sein Costüm war das allbekannte, abenteuerlich
moderne aller Gesandten „von verschiedenen Häusern." Neben dem heldenmütigen
Ehepaar sitzt dessen Adjutant, Herr Faßbender, ans Dürkheim, ein langer Enaks-
sohn vom Hardtgebirg, der den vielen dummen Streichen seines Lebens endlich
die Krone aufgesetzt hat und jetzt gar trübselig an die kurze Lust des Adjutanten-
thums und das lauge Leid der Verbannung von den Fleischtöpfen der gesegneten
Pfalz nachdenkt. Hätten wir das im Voraus gewußt! das ist der Refrain aller
lauten und leisen Phantasten der deutschen Flüchtlinge. — tu voulu,
KeorAv Diuiclin!
Aber trotzdem daß in Bern, der Stadt, allein jetzt nahe an 600 Exilirte
wohnen, ist das noch bei Weitem nicht das Gros der flüchtigen Armeen. Auch
sind die gefürchtetsten Häuptlinge nicht unter Jenen. Lassen Sie uns einen Herbst--
ciusflug nach den ewig schönen und entzückenden Gestaden des Lemar unterneh¬
men. Wir durchwandern die reiche Waal, in Lausanne erblicken wir zum ersten¬
mal den glänzenden Spiegel des piemivr lap ein morale und darüber hinweg die
weißen Firsten des Montblanc. Am Ufer des Hafens von Ouchy wandelt ein
Mann einher mit verschränkten Armen; sein braunes Gesicht ist von wilden,
schwarzgrauen Ringellocken umflogen, er beißt fortwährend auf den Bart der Un¬
terlippe und seine runden Augen rollen wild in ihren Höhlen. Aus dem Kopf
trägt er den Calabreser, am Leib einen verschossenen Sammetrock und weite
Schifferhosen. Nadel ihm nicht, dem Manne des Unglücks, der Alles, was er
unternimmt, dem Verderben entgegenführt, der Alle, welche sich ihm jemals ange¬
schlossen, in den Abgrund gestürzt; nahet ihm nicht —- es ist Giuseppe Mazzini,
der römijche Tribun, der gerne noch einmal und glücklicher den Rienzi copiren ge¬
wollt hat. Deutsche genug in Lausanne, aber wenige von Distinction. Doch
nein, Einer ist heute angelangt, der Viele aufwiegt; sehen Sie, dort kommt er,
eine wunderhübsche Frau am Arm, er nähert sich dem Jtalier, sie schütteln sich
die Hände — kennen Sie nicht diesen runden Glatzkopf mit dem breiten, rauhen
und unedlen Gesicht? Es ist Struve, der Held des Oberlands, welchen Hecker's
Lorbeeren nicht schlafen gelassen hatten. Dieser sonderbare, kranke Mann hat sich
so thöricht und giftig in die Idee des blutigsten Jacobinismus verbissen, daß ihm
ihre Verwirklichung mit dem Knebel aus den Zähnen gerissen werden mußte.
Er ist zu Allem sähig, wen» Sie ihm im Hintergrund eine rothe phrygische
Mütze auf einer hohen Stange und am Fuß derselben einen zerschmetterten Thron
zeigen. Wie er, glüht Keiner für die Republik — natürlich ist nur er als Prä¬
sident derselben denkbar — und er würde sengen und brennen, rauben und mor¬
den ohne Scheu und Gnade, um dies sein Ziel nur auf eine Stunde lang zu
erreiche». Sein ungeheuerster Stolz würde sein, wenn die Leute ängstlich mit den
Fingern nach ihm zeigten und sagten: da geht der deutsche Robespierre! Aber er
irrt sich, Struve würde es auch unter den günstigsten Umständen nicht weiter,
als bis zum Marat bringen. Mit wahrer Leidenschaft treibt der Mann neben
dem Revvlutioniren eine sehr zweifelhafte Wissenschaft, die Phrenologie. Ich
möchte nur wissen, zu welchen Resultaten er bei Betasten seines eigenen Schädels
gelangt ist? Sicherlich wäre, wenn die Gewalt in seine Hände gekommen,
Niemand mehr seines Lebens sicher gewesen. — Jedem hätte der Dictator nur
den Schädel zu untersuche» gebraucht, um sogleich zu wisse», weß Geistes Kind, ob
Aristokrat oder Demokrat, er sei. Die mit aristokratischen Schädeln zur Guillo¬
tine, die Andern laßt laufen! Jetzt beschwert sich der edle Zollcasscustürmer über
das summarische Verfahren seines ehemaligen Freundes James Fazy, der ihn ohne
Weiteres von Landjägern aufgreife» und über die Grenzen des Cantons bringen
ließ. Aufsehen machte, auch uuter den wenigen Anhängern des Agitators, der
Ausruf des Genfers: Russischer Spion -- man weiß, daß Struves Bruder ein
russischer Diplomat ist. Der Verfolgte wünscht nach Amerika auszuwandern, aber
dazu fehlt ihm bis jetzt noch die Hauptsache, das Geld. Da ist Meister Goegg
doch besser daran, er zieht von Genf durch Frankreich und über den Ocean; seine
Mittel erlauben ihm das — man ist aber auch uicht umsonst Finanzminister des
Freistaates Baden und Autokrat der großherzoglichen Kassen gewesen. Wollen Sie
mich nach Gens begleiten, um den alten Knaben Heinzen zu sehen, der sich dort
mit Händen und Füßen gegen die Ausweisung wehrt? Bleiben wir, der Anblick
und die Bekanntschaft sind der Mühe nicht werth. Von allen Republikanern ist Karl
Heinzen der erbärmlichste. Er ist ein Tollhäusler, der in den wüstenTiraden seinem Haß
gegen Fürsten und Volk Luft macht, aber zugleich so feig ist, daß er wohl in der
Freiheit betteln, aber uicht für sie fechten will. In irgend einem versteckten Winkel
in Ufer des Genfer Sees Hansen wohl auch die drei Mainzer Zitz, Bamberger und
Schütz, aber wohlweislich halten sie ihren Aufenthaltsort so geheim als möglich. Sie
haben Recht — sie thäten noch besser daran, wenn sie sich die Haare abrasiren
oder färben ließen und andere Namen annähmen und wo möglich sich für Boto-
kuden aufgaben, anstatt für Deutsche. Deal von alleu Flüchen lastet auf dem
Menschen am schwersten und drückendsten der Fluch der Lächerlichkeit nud Feigheit.
Und jene Herren haben in der Pölitz und in Baden das Ihrige redlich gethan,
denselben auf sich zu lade«. Herr Bamberger hat seine langen Beine vortrefflich
zu benutzen verstanden, daß aber der große Zitz die Behendigkeit eiues Schnell¬
läufers entwickeln würde, daran hatte früher Niemand gedacht. O die entsetzliche
Erfindung der Schrappnells!
Mit einem gewagten Sprung führe ich Sie nach einer andern Hauptstadt
der Schweiz, nach Zürich, dem sogenannten Alpathcn. Hier, in der Stadt, welche
von allen verhältnißmäßig am meisten den Fremden von jeher zugänglich gewesen
ist, hält sich die bedeutendste Auzahl vou Flüchtlingen ans, wenn auch gerade nur
wenige ihrer Häupter darunter siud. Wir finden dieselben allenthalben zerstreut.
Ihr Hauptversammlungsort ist aber das Caso litteraire am Weinplatz, dessen Wirth,
Herr Groß, dermaleinst den bekannten Robert Steiger aus dem Kerker zu Luzern
befreit hat. Hier, längst dem Zusammenkunftsort aller Liberalen in Zürich, zeige ich
Ihnen zuerst die Sachsen. Sie gruppiren sich um das ehemalige provisorische Negie-
rungsnntglied Todt; der Mann ist sehr alt geworden, und sucht umsonst unbehag¬
liche Stimmen in seinem Innern zu betäube«. Neben ihm krümmt sich wie ein mi߬
ratenes Fragezeichen die armselige Gestalt des einstigen LandtagsabgeordnetenJ äckel
in Dresden, des glücklichen Besitzers des bekannten „blauen Rocks." Der Kapellmeister
Wagner dagegen, der geniale Tonsetzer des Tannhäusers, schwimmt noch kräftig
oben und will sich vom Geschick nicht beugen lassen. Bei ihm ist die Begeisterung
»ehe, ohne Haken und Häkchen gewesen — von wie Vielen außer ihm wird sich
das noch sagen lassen,?") Dort stehen in eifrigem Gespräch miteinander der Ezlicu-
tenant von Zychlinsky und die beiden Redacteure der Dresdner Zeitung, Wittig
und von Lindemann. Auch den Preußen Arrete, den verunglücklichen Heerführer,
steht man häufig im Cafe litteraire. Derselbe versucht allerlei Speculationen, um
dem trostlosen Zustand seiner Finanzen aufzuhelfen; jetzt beabsichtigt er, eine neue
Zeitung zu gründen, kann aber weder Verleger, noch Druck- und Papier-Borger
finden. Seine Frau, ein kleines, blondes Dämchen mit offenen aber wenig Sagen¬
den Zügen, hat die Amazonenjacke und die Hosen wieder abgelegt und statt der
Bajonnettbüchse die Stricknadel ergriffen. Es ist besser so. Unter allen Flüchtlin¬
gen hat sich in Zürich der Dresdner Advocat Marschall v. Biber se ein am schnell¬
sten in ein neues Leben geworfen; er hat sich als Privatdocent der Staatswis--
senschaften an der Universität habilitirt. Viele Andre, denen sonst gar oft zu
wohl war, klagen jetzt und nagen am Hungertuch und siud seelenfroh, wenn sie
irgendwo und irgendwelche Arbeit finden. Mit der Fluth der Einwanderung sind
natürlich auch viele höchst unsaubere und verwerfliche Elemente in die Schweiz
geschwemmt worden. Man begegnet nur zu häufig Leuten, welche aus dem poli¬
tischen Martyrthum ein Geschäft gemacht haben, Abenteurern, denen es gleich
gilt, wann und wo sie die Fahne der Unordnung und der Verwirrung aufpflan¬
zen, wenn es nur geschieht, Subjecten, die von der Gesellschaft ausgestoßen, nichts
Besseres thun zu können glaubten, als im Namen der Republik wohl zu leben
und zu brandschatzen. Unter solchen Gesellen ist der verrufenste der Wiener Bar¬
biergehilfe Chaizes, der, in Wien zuerst Gelegenheitsmacher, baun Freicorpshäupt¬
ling, in Dresden falscher Wechsel wegen arretirt, nun in Zürich plötzlich als pfäl¬
zischer Freiheitskämpfer auftaucht, ohne daß sich eine Seele erinnerte ihn jemals
in der Nähe eines Kampfplatzes erblickt zu habe». Eine zweifelhafte Figur ist auch
Türr, der Commandant der Mannheimer Volkswehr, der sich für einen kaiserlichen
Offizier ausgegeben, aber nichts weiter war, als ein entlaufener ungarischer Tam¬
bour. Unbegreiflich ist mir, wie sich die Mannheimer Bürgerschaft von diesem Men¬
schen, dessen überladener, theatralischer Aufputz schon zur Genüge den Kern verrieth,
so konnte tyrannisiren lasse», wie sie es that. Hier, in der Schweiz, spielen diese
kleinen Feldherrn jetzt eine gar erbärmliche Rolle, und wer noch ein Bischen Ehr¬
gefühl hat, hält sich von ihnen so fern, als möglich. So befinden sich Beck, der
eine Zeit lang nach Sigeth Abdankung General der Badenser gewesen, und der
Wiener Kuchenbecker, zuerst Messenhausers, dann in der Pfalz des Nodomont von
Fenneberg Adjutant, jetzt in einer keineswegs beneidenswerthen Lage und Jsolirung.
Nach Luzern hatte sich Brentano gewandt. Es ist in diesen Blättern
schon von anderer Hand der Charakter und die politische Bedeutung dieses
Mannes, der in der deutschen Revolution jedenfalls eine der hervorragendsten
Rollen gespielt hat, gegeben worden und ich kann mich darauf beschränken, von
ihm zu sagen: Brentano war ein Idealist, dessen Kopf stets mit dem Herzen, da-
von lief, wenn es ihm an Raum zu Thaten fehlte, der aber nichts destoweniger
in kritischen Momenten beide auf dem rechten Fleck getragen hat und niemals un¬
ehrlich war. Gegen seine einfache Rechtfertigung, die das Gepräge der vollen
Wahrheit allzu deutlich trägt, werden seine ergrimmten Feinde und Neider um¬
sonst ihre vergifteten Pfeile schleudern. Brentano ist im Begriff, mit seinen Freunden
Mercy, Thibaut, Eichseld und Ziegler nach Nordamerika auszuwandern, wo er sich
im Staat Ohio in der Nähe seines Freundes Hecker ankaufen will. Der Regie¬
rungsrath des Cantons Luzern will ihm einen längern Aufenthalt in letzterem nicht
mehr gestatten!
Nicht wenige deutsche Flüchtlinge beherbergen auch die Cantone Thurgau,
Aarau und Basellandschaft. Im ersteren haben sie sehr weit in's Innere verlegt
werden müssen, weil Oestreich im Vorarlberg! eine drohende Macht zusammenzog.
Ich wußte nur wenige hervorragende Persönlichkeiten unter den Verbannten in
jenen drei Landen aufzuzählen. In Lenzburg hat sich der Advocat Erbe, der Al-
tenburger Barrikadeuheld niedergelassen, dessen Tactik der Militärverführung ihm
seiner Zeit so oft übelbekommen ist. Ein sehr unbedeutender Mensch, nur den
Leipzigern als Wühler von Profession bekannt, ist der Buchdrucker Hoßfeld, der
jetzt als Factor in Baden bei Aarau redlich sein Brot verdient, während seine
Gläubiger in Leipzig die Revolutionen verwünschen, die so raschen und willkom¬
menen Anlaß zum plötzlichen Verschwinden geben. Durch das Baselland wandelt
mit langen Schritten der Seidenhannes. Sie kennen ihn nicht? Wohlan, ich will
seinen Namen und Titel vollständig enthüllen. Jene große, breitschultrige Gestalt,
mit dem glatten Haar und dem pockennarbigen Gesicht, dessen Züge vor Allem
Sinnlichkeit ausdrücken, ist der Herr Theodor Mögling, ni-nov-me königl. würtem-
bergischer Oekonomierath und Professor des Seitenbauch an der Akademie Hohen-
heim, Mitglied der zweiten Kammer der Stände — vui^o der Seidenhannes.
Er hat alles Mögliche gethan und getrieben, bis er's dahin gebracht, wo er nun
ist. Schon als ziemlich junger Mann hat er verschiedener Streiche wegen, erfahren,
wie es auf dem Asberg aussieht, dann schwang er sich plötzlich zum Lehrer des
Seidenbau's empor, schloß Kameradschaften mit den Kirchheimer Bauern, die ihn
zum Deputirten wählten, gipfelte sich gutmüthig und ohne viel dabei zu denken
auf die Höhe eines maßlosen Radikalismus hinauf und war eines schönen Ta¬
ges plötzlich Oberst im Heer Henkers geworden. Er brach mit der einen Colonne
desselben über den Schwarzwald nach Schwaben ein, aber seine Leute waren ab¬
trünnige Bestien, so daß er einmal aus einem Mittagsschlaf erwachend, sich end¬
lich ganz allein fand, und uun nichts eiliger zu thun wußte, als spornstreichs
in die Schweiz zurückzukaufen. Bei dem badischen Aufstand soll es dem Oberst
Mögling nicht besser gegangen sein. Armer Seidenhannes, das sind andere Zei¬
ten, als die, in welchen du so flott mit den Tübinger Studenten in Derendingcn
und Bebenhausen kneiptest! Wie ärmlich und hungrig siehst du aus — aber du
Hast's um einen Mann verdient, der, sei er, wie er wolle, gegen dich doch gütig
gewesen ist! Ein gleiches Asyl mit dem Seidenhannes theilt Tzschirner, der
Sachs. Kammerpräsident, der Unwissendste unter allen bösartigen Confuflonarien die
nur jemals existirt haben. Er hat das Maß seiner Blanc in Baden gerüttelt
und geschüttelt voll wevdeu lassen.
Sie fragen mich, wie ist die Stimmung unter den Flüchtlingen? Auf was
sinnen sie? Von was leben sie? Welche Zukunft harrt ihrer? Antwort ans diese
Fragen kann ich Ihnen in aller Kürze geben. Sie bereuen Alle, Alle, auch die
welche es nicht gestehen wollen; sie sagen: Es war noch nicht an der Zeit, das Volk ist
nicht reif für die Republik, wir haben uns übereilt. Glauben Sie aber ja nicht,
daß jetzt neue Verschwörungen angezettelt, neue Einfälle in Deutschland verab¬
redet werden. Nein, davor sind wir sicher. Physische und moralische Kraft ist
ihnen gänzlich gebrochen, und wenn ja einmal einer der Exaltirten oder eher noch
der abenteuernden Landsknechte unter ihnen einem solchen Gedanken Worte zu ge¬
ben wagt, so antwortet ihm ein bittres Hohngelächter oder ein wegwerfendes Ach¬
selzucken. Ach wie gerne möchten fast Alle wieder in's Vaterland zurückkehren
und würden in Ewigkeit zufrieden sein mit demselben, wie es ist! Mit welcher
Inbrunst würden sie die Botschaft einer allgemeinen Amnestie vernehmen! Denn
in der freien Schweiz geht es ihrer Mehrzahl, offen gesagt, herzlich schlecht.
Zwar hat die Bundesregierung jedem der deutschen Flüchtlinge ein Tagegeld
ausgesetzt, aber dieses ist, wie man zu sagen pflegt, zu viel zum Sterben, zu wenig
zum Leben. Daher sind viele rein auf den Wohlthätigkeitsfinn der vermögenderen
Genossen oder der Schweizer angewiesen, aber der Ersteren ist nur eine verschwin¬
dend kleine Zahl, und die Letzteren sind überhaupt nur selten, gegen deutsche
und zwar flüchtige Deutsche gewiß nicht sehr mildherzig. Wer daher nicht ver¬
hungern will, greift entweder zu Tagelöhnerarbcit, oder läßt sich für Neapel an¬
werben, oder läuft in die Heimath zurück, um dort über sich ergehen zu lassen,
was da will. Diejenigen, welche im Besitz von Mitteln sind und Pässe erhalten
können, wandern fast Alle über Frankreich nach Amerika aus. Gerne gingen alle
mit -— und vielleicht thäten die deutschen Regierungen wohl daran, wenn sie
diese Auswanderung durch Unterstützung begünstigten. Es ist übrigens vorauszu¬
sehen, daß die Schweiz eine so ausgedehnte Benutzung ihres Asylrechtes nicht
lange mehr gestatten wird, ebenso, daß bei der geringsten verdächtigen Bewegung
der deutsche« Verbannten die Mächte eine energische Haltung gegen die Eidge¬
nossenschaft annehmen werden. Aber es kommt hoffentlich nicht so weit — dafür
bürgen schon die unheilbaren Spaltungen, welche unter den dentschen Flüchtlingen
entstanden sind. Denn schon stehen sich zwei Parteien feindlich und Vorwürfe im
Mund einander gegenüber — Verführer und Verführte. Wenn nur die Letzteren
wenigstens ihrem Vaterlande wiedergegeben werden könnten, ich glaube, sie wären
geheilt von dem Fieber, das sie so unendlich elend gemacht hat.
Von allen Seiten strömen die Aktenstücke zusammen, welche dem deutschen
Volk Aufklärung geben von dem, was seine Fürsten gethan, um es zum Rang
der wirklichen Nationen zu e> heben. Das Volk wird keine Freude daran haben.
So viel kleinliche Leidenschaft, solch Aufwand von Intrigue, und so wenig sitt¬
licher Ernst in einer großen Sache! Freilich hat das Volk selber kein Recht, in
moralische Entrüstung zu gerathen, es gehört auch zur Familie.
Es lohnt nicht der Mühe, für den Augenblick auf dieses Gewebe von Ränken
näher einzugehn. Von den drei Regierungen, deren Schritte bis dahin zur Publi-
cität gelangt sind, gebührt der bairischen der Preis. Das östreichische Cabinet
hat sich mit ziemlicher Consequenz auf dem naiven Standpunkt seiner Sonder¬
interessen gehalten: es will nicht, daß eine allgemeine Verfassung zu Stande
kommt, die in seinen eignen Mechanismus hemmend eingreift, und es will auch
nicht, daß durch ein Scparatbündniß an seinen Grenzen ein Staat entsteht, der
ihm unbequemer sein muß, als eine Reihe abhängiger Kleinstaaten. Vom östreichi¬
schen Standpunkt aus ist nicht viel dagegen zu sagen, und es ist nur eine Schmach
für Deutschland, daß es diesen Einflüssen keine energische Haltung entgegensetzt.
Preußen hat gleichfalls aus sehr begreiflichen Gründen den Gedanken des engern
Bundesstaats festgehalten, und wenn man ihm etwas vorwerfen muß, so ist es
zu große Nachgiebigkeit gegen einzelne unbillige Forderungen der Dynasten, zu
große Schüchternheit, wo ein sehr bestimmtes Austreten noth that, und jene an's
Fabelhafte grenzende diplomatische Ungeschicklichkeit, deren es sich seit dem Anfang
seiner Geschichte erfreut. Oestreich muß man zugestehn, daß es niemals mit der
Demokratie und der Einheitspartei coquettirt hat, daß man überall wissen konnte,
wessen man sich von ihm zu versehen hatte; Preußen, daß es wenigstens mit
einer gewissen Ehrlichkeit für die Einheitsideen arbeitete, so weit es nämlich seine
romantisch-legitimistischen Sympathien zuließen. Baiern dagegen würde man noch
zu viel Ehre anthun, wenn man sein Betragen zweideutig nennen wollte; ein
solches Machwerk von Perfidie und zugleich von Planlosigkeit, als der Bericht
seiner Regierung über die deutsche Verfassungsfrage, ist in der Geschichte noch
nicht erhört.
Für uns ist es wichtiger, zu fragen, was nun eigentlich geschehen soll. Läßt
Man die Sprache der offiziellen Aktenstücke — von officiösen Zeitungsartikeln will
ich gar nicht reden — ohne Weiteres gelten, namentlich die von Baiern ausge¬
gangen sind, vergleicht man damit die Scene zwischen den in Frankfurt garuiso-
nirenden Trnppcutheilen, so müßte man jeden Augenblick den Ausbruch eines
deutschen Bürgerkriegs erwarten. So schrecklich das wäre, so muß ich offen ge¬
steh», daß eine solche letzte Eventualität doch nicht aus den Augen gelassen wer¬
den darf, da es ohnehin gar nicht so unerhört ist, daß in europäischen Kriegen
Preußen rechts und Baiern links stand, wenn man bei einem solchen Krieg nur
ein Ende absehen könnte. Wie die Parteien aber jetzt zu einander stehn, wäre
nichts anders als ein IielKim omnium cardui vaut-s zu erwarten, und an einen
solchen Krieg, der die Verwirrung nicht losen, sondern nur noch vergrößern könnte,
darf nicht gedacht werden. Preußen hat in diesem Augenblick gar keinen festen
Bundesgenossen; seine Situation ist, Dank sei es der Weisheit unserer Regierung!
tausendmal schlechter, als am 3. April, und wenn es zu den Zeiten des alten
Fritz unter eben so ungünstigen Aussichten dennoch der Kraft seines Schwertes
vertraute, so war das eben unter dem alten Fritz. Unter den obwaltenden Um¬
ständen wird man doch wieder zu einem Vertrage schreiten müssen.
Dieser Vertrag, der über die nächste Zukunft Deutschlands entscheidet, wird
nicht in einem europäischen, auch nicht in einem deutschen Kongreß geschlossen
werden. Er wird einfach zwischen Oestreich und Preußen zu Stande kommen.
Baiern wird man kaum fragen.
Er wird auch keine deutsche Verfassung zur Folge haben, sondern ein Provi¬
sorium, ans dem einfachen Grunde, weil eine gemeinsame Verfassung, die Oestreich
und Preußen umschließt, nicht denkbar ist. Von gemeinsamer Vertretung nach
Außen, gemeinsamer Lcgislatiou durch ein Parlament kann nicht die Rede sein,
so lange nicht einer dieser Staaten sich ausschließt. Weder Oestreich noch Preußen
kann Glied eines Bundesstaats werden, dessen Schwerpunkt außerhalb des eignen
Staates fällt.
Wenn nun preußische Staatsmänner es ausgesprochen haben, daß Preußen
eigentlich den Bundesstaat nicht um seinetwillen, sondern um Deutschlands Willen
erstrebe, daß es übrigens ans eignen Füßen stehn könne, so ist das nur zur Hälfte
richtig. Freilich kann es noch eher für sich bleiben, als Baiern, oder Sachsen,
oder Hessen-Darmstadt, oder Anhalt-Dessau. Aber es kann — und darin unter¬
scheidet sich seine Lage von der Oestreichs — es kann nicht zugeben, daß diejeni¬
gen kleinen Staaten, durch die sein eigenes Gebiet zerrissen wird, eine selbststän¬
dige Politik verfolgen. Es muß entweder untergehn, oder es muß jene Staaten
in sein politisches System zwingen, ein drittes gibt es nicht. Preußen kann also
nur unter der Bedingung mit Oestreich abschließen, daß diejenige Hegemonie, die
es in der Form eines Bundesstaats erstrebt, ihm der Sache nach zu Theil wird.
Ein Verhältniß, daß durch folgende Umrisse charakterisirt wird.
Die auswärtige Politik Deutschlands geht nach vier Richtungen hin. 1) Rußland,
2) Frankreich, 3) die Ost- und Nordsee, 4) Italien und die Donauländer. Was
die beiden ersten Punkte betrifft, so liegt es im Interesse Deutschlands, wie im
Interesse beider deutschen Großmächte, daß die Haltung eine gemeinsame sei. Zwar
ist Oestreich dem russischen Kaiser Dank schuldig für die Rettung aus der schwersten
Gefahr, aber diese Dankbarkeit würde für seine Existenz gefährlich sein, wenn es
allein in der societ.-^ leoniiul bliebe. Die Grenze Deutschlands gegen Frankreich
scheint für den Augenblick durch die Occupation des Großherzogthums Baden
Preußen allein übertragen zu sein, allein ich bezweifle, ob es in diesem Augen¬
blick, gelähmt durch die wunderlichste innere Verwirrung, dazu die Kraft hat.
Preußen kaun nur dann eine welthistorische Bedeutung gewinnen, wenn es
eine Seemacht wird; dazu bedarf es eiuer Concentration aller seiner Kräfte.
Aber Baden kann nicht sich allein überlassen bleiben, weil das eine Bresche
wäre für Frankreich, noch weniger kann es unter bairischen Schutz gestellt
werden, denn das wäre der Keim zu einem neuen Rheinbund. Eine gemeinsame
Besetzung durch Oestreich und Preußen hat sich schon in Mainz als unzweckmäßig
erwiesen. Es bliebe also nichts übrig, als Baden dem östreichischen Schutz zu
überlassen, woraus unmittelbar folgt, daß Baiern und Würtemberg in denselben
Kreis zu ziehen wären. Oestreich möchte dann zusehen, wie es diesen Staaten
die alten Rheinbundsgelüste austriebe; es ist ihm das leichter, weil es sich mit
ihnen schwäbisch unterhalten kann.
Daß die Angelegenheit Deutschlands in Italien, dem adriatischen Meer und
der Donau von Oestreich allein geführt werden müssen, versteht sich von selbst.
Dasselbe gilt von Preußen in den norddeutschen Verhältnissen. Preußen hat die
Aufgabe, in Dänemark und den Niederlanden dieselbe Rolle zu spielen, die
Oestreich in Italien behauptet; es hat endlich in Concurrenz mit England zu
treten. Zu diesem Zweck müssen die Kräfte Norddeutschlands ausschließlich zu
seiner Verfügung stehn — im Interesse der Hannoveraner, Sachsen, Hessen u. s. w.
eben so als im Preußischen.
Das sind die materiellen Grundlagen, nach denen sich die Form des Ver¬
trages zu bestimmen hat. Freilich ist der Eigensinn nichts weniger als rationell,
und wird dnrch Vernunftgründe nicht überwunden. Aber doch nur, wenn er einen
andern Weg vor sich sieht. Ist aber Oestreich und Preußen einig, so läßt sich
wenigstens ein Ende der Unterhandlung absehn.
Eine andere Frage ist es, wie sich die politischen Parteien innerhalb des Vol¬
kes zu einem solchen Vertrage verhalten werden. — Die sogenannte Groß deutsche
Partei besteht ans zwei ganz verschiedenen Elementen: den Anhängern Oestreichs
und dem Gesinde der Kleinstaaten. Die letztere Fraction ist mit ihrer Existenz an die
angebliche Souveränität dieser primitiven Staatsbildungen geknüpft, sie wird sich also
gegen jede Entwicklung sträuben, welche diese ihre Voraussetzung in Frage stellt.
Allein dieses Sträuben hat nicht viel zu sagen. Die östreichische Partei dagegen
ist durch eine Verständigung der beiden Großstaaten eben so zu befriedigen, als die
spezifisch Preußische.
Was die eigentlich konstitutionelle, kleiudeutsche, erbkaiserliche Partei betrifft,
so scheidet sie sich jetzt von den g child eden Demokraten nur noch durch die historische
Reminiscenz, und durch die Gradation in den Ansprüchen. Beide haben gemein¬
sam, daß sie Bürger eines nicht nur dem Namen sondern der That nach unab¬
hängigen Staats, und in diesem politisch gleichberechtigt und im Privatleben auto¬
nom sein wollen. Sie wollen die unmittelbare Selbstregierung des Volks in den
kleinen Kreisen, die mittelbare Betheiligung des Volks an der großen Politik
durch Repräsentanten.« Wie weit man die Grenze steckt, darüber bestehn Diffe¬
renzen, sie lassen sich aber ausgleichen, wenn man nicht die Leidenschaft, sondern
die Vernunft walten läßt. Vor allem aber müssen sie bedenken, daß eine consti-
tutionelle und demokratische Entwicklung sich nur in einem Falle den?en läßt: auf
einer wirklich vorhandenen staatlichen Basis. Darum haben sich die kleinen deut¬
schen Staaten seit 30 Jahren vergeblich abgemüht, über die Scheinverfassung hin-
auszugehn, denn nur ein souveräner Staat kann frei sein, darum wurden die
Verheißungen der preußischen Krone eine Illusion, denn auch Preußen ist in sei¬
nem gegenwärtigen Umfang ein Provisorium, ein dauerndes Kriegslager. Aus
diesem Zustand muß Preußen, müssen die kleinen Staaten heraus. Wenn bei der
Abgrenzung der verschiedenen Kreise des deutschen Staatslebens es den Anschein
hatte, als ob ich nur die Functionen der politischen Thätigkeit scheiden wolle,
so versteht sich von selbst, daß damit auch eine wirkliche Scheidung der Träger
dieser Functionen entweder unmittelbar verknüpft sei», aber daraus sich ergeben
muß. Das die nördlichen Küsten beherrschende Deutschland, und das im Süden
mächtige, muß eine Einheit bilden, aber nicht ineinander, sondern nebeneinander.
Die Anarchisten freilich können sich nur geltend machen in einem unfertigen Staate,
der wahre Demokrat aber muß sein erstes Streben darnach richten, den festen Bo¬
den zu gewinnen, auf dem er das Fundament seines politischen Gebäudes mit
Zuversicht errichten kann. Wer also für die Fortsetzung des alten Bundestags,
d. h. die Fortdauer der gesetzlich scmktionirten staatlichen Lüge des fixirten Wi¬
derspruchs, arbeitet, ist nicht Demokrat, sondern Anarchist.
Die öffentliche Meinung steht in Ihnen ein Organ des sächsischen Ministeri¬
ums, und legt demnach Ihren Ansichten eine Wichtigkeit bei, die sie als blos
literarische Versuche eines Privatmanns nicht haben würden. Sollte die öffentliche
Meinung wirklich ein Recht sein, so stände es schlimm um Sachsen.
Sie wenden Sich in einem Ihrer Aufsätze an die „conservative" Partei, und
wachen ihr den Vorwurf, sie gäbe durch ihre Uneinigkeit bei den Wahlen den
Demokraten neuen Spielraum. Ich berühre hier nur den Theil des Vorwurfs,
der sich auf die Centren erstreckt, denn Ihre Meinungsdifferenz mit den Absolute¬
sten, die uach Ihrer eigenen Erklärung deshalb vor der Wahl gemäßigter Männer
warnen, um die Negierung zu einer rettenden That zu nöthigen, diese mögen Sie
en fiimlllv ausmachen.
Wenn Sie unsere Partei aber deshalb tadeln, daß sie „ehrenwerthe" Männer
zurückweist, weil sie ..Großdeutsche" sind, so ist das ein seltsamer Vorwurf. Die
Kammer ist doch nicht eine Sinecur für „ehrenwerthe" Männer, sondern eine
Versammlung von Repräsentanten, die in den wesentlichen Fragen des Staatslebens
die Ansicht ihrer Committenten darstellen, und es wäre höchst zweckwidrig, wenn
wir unser Mandat an Männer übertragen sollten, die in diesen wesentlichen Fra¬
gen sich mit uns in diametralem Gegensatz befinden, mögen sie sonst so ehrenwerth
sein, wie sie wollen.
Denn täuschen Sie sich darüber nicht! Was Sie conservative Partei nennen,
existirt nicht mehr! In den Zeiten der allgemeinen Gefahr, als dnrch eine wüste
Demagogie nicht nur der Staat, sondern die Gesellschaft bedroht wurde, als die
Regierung zu schwach oder zu unentschlossen war, diesem Unwesen zu steuern, da¬
mals verband sich alles, was irgend noch ein positives Interesse an der Aufrecht¬
haltung der Ordnung hatte, Liberale, Absolutisten, Lichtfreunde, Jesuiten u. s. w.,
um nur für den Augenblick die Anarchie zu unterdrücken. Diese Verbindung ent-
gegengesetzter Elemente konnte ihrer Natur nach nur äußerlich sein, sie wurde durch
keine gemeinsame Idee getragen, sie wirkte nur negativ, ablehnend, sie konnte also
die Gefahr des Augenblicks nicht überdauern. Seitdem die Revolution in Dres¬
den durch die preußischen Truppen beseitigt ist, kann die Gemeinsamkeit des Nicht-
wollens eine Partei nicht mehr zusummcnhalten, sondern jeder Theil derselben wird
seinem positiven Grundgedanken nachgehn.
Es wird sich vielmehr so herausstellen, daß diesmal die Partei der Regie'
rung in vielen Punkten mit den Radikalen gemeinschaftliche Sache machen wird
gegen die Centren, wie es eigentlich schon nnter dem vorigen Ministerium der
Fall war, in Punkten, die nicht „das Detail des Neubaues", nicht die „glänzende
Ausstattung einzelner Räume" betreffen, wie Sie sich mehr poetisch als bestimmt
ausdrücken, sondern gradezu das Fundament des neuen Staatslebens.
Die Frage des deutschen Bundesstaats ist diejenige, von welcher Sachsens
Schicksal nicht nur in der Zukunft, sondern in der nächsten Gegenwart abhängt.
Ich erinnere Sie an Ihren eigenen, freilich etwas dunkeln Ausdruck: „Die
äußerste Linke . . . will die Regierung offenbar zu Gewaltmaßregeln drängen,
denn sie weiß recht gut, daß die Negierung auf dem Standpunkt der
vorjährigen Gesetzgebung nicht stehen bleiben kann, wenn sie ihrer
Pflicht genügen, wenn sie der Monarchie eine feste Basis geben will." Soll da¬
mit überhaupt etwas gesagt sein, so ist es doch Folgendes: Die vorjährige Ge¬
setzgebung muß in monarchischen Sinn revidirt werden; will die Kammer zu einer
solchen Revision der Regierung nicht die Hand bieten, so könnte die Regierung
sich veranlaßt sehen, auf eigene Hand zu revidiren.
Zu rettenden Thaten, geehrter Herr! gehört nicht nur der gute Wille, sondern
auch die Kraft. Ob das isolirte, souveräne Sachsen dieser Kraft sich in der
That erfreut, wäre jedenfalls eine Frage, für welche die Geschichte des vorigen
Jahres nicht das günstigste Resultat verheißt. Sie sehen also, daß auch für
Ihren Hauptgesichtspunkt, die innere Reform, die deutsche Frage maßgebend ist,
und daß Sie der wahrhaft konservativen Partei, d. h. derjenigen, welche dauer¬
hafte, feste Garantien für ein gesundes Staatsleben haben will, nicht zumuthen
können, sie solle eine Regierung unterstützen, welche diese Garantien nicht bietet.
Sollte Ihnen dieser Gedanke wirklich nicht eingefallen sein, wenn Sie sich im La¬
ger Ihrer neuen Alliirten umsehn? Sollten Sie wirklich den Grund nicht
durchschauen, der die radikale Partei zur Agitation gegen das preußische Bünd-
niß treibt?
Sie lassen sich durch Ihre augenblickliche Stimmung hinreißen, Sie werden
bitter gegen unsere Partei. „Wenn man die Räsonnements mancher öffentlichen
Blätter liest, die ans dem Gegensatz von Preußen und Oestreich nicht heraus-
kommen, da möchte einen ein unheimliches Gefühl begleichen und man beinahe
glauben, eine bekannte Partei, die sich fast vorzugsweise gern die deutsche, natio¬
nale nennt, habe, einen berühmt gewordenen Spruch travestirend, auf ihre
Fahnen geschrieben, Ein Preußen, ein Oestreich, aber kein einiges Deutschland!"
Was haben Sie für ein kurzes Gedächtniß! Jener Spruch, in's Verständ-
liche übersetzt, lautet folgendermaßen: ein unabhängiges Oestreich, ein unabhän¬
giger Bundesstaat mit Preußen als Vorort, und zwischen beiden nur eine völker¬
rechtliche Verbindung. Diesen Grundsatz hat nicht nur unsere Partei in Frank¬
furt und Gotha ganz offen und bestimmt als den leitenden Gedanken ihrer Poli¬
tik hingestellt, nicht nur die preußische Regierung hat ihn adoptirt, sondern Sie
selber, Herr F.! haben es gethan, oder Ihr Client, die sächsische Regierung, als
sie das Bündniß vom 26. Mai unterzeichnete! Freilich reicht Ihr Gedächtniß auch
in andern Dingen nicht aus. „Soviel uns bekannt, hat Oestreich Deutschland
gegenüber noch nichts verlangt, als wozu es dem klaren Inhalte bestehender Ver¬
träge nach unzweifelhaft berechtigt wäre." — Du sprichst ein großes Wort gelassen
aus!— Also ist es Ihnen nicht bekannt, daß Oestreich in demselben Augenblick ge¬
gen die Nechtsgiltigkeit des Dreikönigsbündnisses Protest einlegte, als die säch¬
sische Regierung es unterzeichnete? Und doch behaupten Sie noch heute, daß die
sächsische Regierung damals Recht gehabt hat. Wie stimmt das zusammen?
Wo Gedanken fehlen, da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein. Ich komme
auf den von Ihnen citirten Spruch zurück. Die öffentliche Meinung legte dem
Erzherzog Johann den Toast in den Mund: „kein Oestreich, kein Preußen, ein
einiges freies Deutschland!" Das ist ein sehr bestimmter politischer Grundsatz, den
die deutschen Republikaner mit Vergnügen adoptiren, den aber weder der Erz¬
herzog, noch Sie, verehrter Herr! in seinen Consequenzen anerkennen werden.
Laut offizieller Berichtigung hat der Trinkspruch vielmehr gelautet: „Ein Oestreich!
Ein Preußen! Ein einiges Deutschland!" Ein schöner Trinkspruch, bei dem man
sich aber gerade soviel denken kann, als bei Ihrem Vorwurf, daß wir „aus dem
Gegensatz von Oestreich und Preußen nicht Herauskommen!" Man kann nur da¬
durch aus dem Gegensatz herauskommen, daß man die Angen zudrückt, wie es
einem Ihrer Freunde begegnet, einem großdeutschen Diplomaten in der D. A. Z.,
der sich also vernehmen läßt: „Die Romantik des Schwerts muß sich den bür¬
gerlichen Bedürfnissen unterordnen; die edle Freiheit, nach der heute die Welt
verlangt, muß und soll als Blüthe des Ganzen wesentlich aus der Selbstbestim¬
mung und Selbstbeschränkung der Individuen und doch zum Theil fast in-
stinctartig hervorgehn." Wie glücklich ist doch ein Diplomat! In einem Augen¬
blick, wo überall das Schwert entschieden hat, was gelten soll, setzt er das
Schwert zur Romantik herab! Bajonnette existiren nur noch in der Einbildung! Um
die politischen und socialen Probleme zu lösen, bedarf es nur eine „zum Theil
fast instinctartige Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung der Individuen!" Der
großdentsche Diplomat sollte sich mit dem kosmopolitischen Republikaner Herrn
Arnold Ruge in Rapport setzen, der ebenfalls die brutale Romantik der Kanonen¬
kugeln abschaffen und sie dadurch ersetzen will, daß er die Kanonen mit Ideen
lade-. Arm in Arm, dürfen diese beiden Philosophen das Jahrhundert in die
schlanken fordern.
Doch zur Sache. Das sächsische Ministerium wäre nach Ihrer Erklärung ans
die Verfassung vom 26. Mai eingegangen, wenn Baiern und Würtemberg beige-
treten wären; den Ausschluß Oestreichs hätte es sich gefallen lassen. Unter den
gegenwärtigen Umständen aber will es nicht darauf eingehn. Inwiefern der Nicht-
beitritt jener beiden Staaten die Sachlage ändert, darüber geben Sie keine Aus¬
kunft, ebensowenig, welchen Weg Sie zur Regulirung der deutschen Verhältnisse
in diesem Augenblick einzuschlagen gedenken. Sind Sie blos gegen den Neichsvor-
stand oder auch gegen den Reichstag? Uno wenn Sie den letzteren wollen, soll
ihn Oestreich beschicken oder nicht? — Sie sprechen sich darüber nicht aus. Erlauben
Sie, daß ich Ihnen zu Hilfe komme.
Ein deutscher Reichstag ohne eine ihm gegenüberstehende ein¬
heitliche Regierung ist ein Unding. Soll er selber in Form eines Na¬
tionalkonvents die Regierung führen, so wird sein nächster Schritt der sein müssen,
die deutschen Staaten und namentlich die Fürsten abzuschaffen, die seine Souve¬
ränität in jedem Augenblick verkümmern. Darauf werden Sie Sich so wenig ein¬
lassen wollen, als unsere Partei. Soll eine gesetzgebende Versammlung einen Sinn
haben, so muß eine Executive neben ihr stehen, die, natürlich mit den im Gesetz
vorgesehenen Einschränkungen (Veto u. s. w.), ihre Beschlüsse in Ausführung bringt.
Darum hatte ein Parlament dem Bundestag gegenüber keinen Sinn, weil der
Bundestag keine ausübende, sondern nur eine controllirende Gewalt besaß. Darum
klammerte sich das revolutionäre Vorparlament an die „Leiche" des Bundestags
an, welche ohnmächtig gegen den Willen der Volksvertreter, allmächtig gegen die
durch die Revolution erschütterten Einzelregierungen sein sollte. Darum eilte die
Nationalversammlung, sich in der provisorischen Centralgewalt eine entsprechende
Executive zu schaffen. Eine Wiederkehr zu der Form des alten Staa¬
tenbundes, der die eigentliche Regierung den einzelnen Staaten überläßt,
schließt also den Gedanken einer Volksrepräsentation aus, weil
kein Ehrenmann sich zu Berathungen hergeben wird, die zu keinem Resultat führen.
Ferner. Die einheitliche Regierung läßt sich nnr in drei Formen denken.
Entweder eine neue Centralgewalt außerhalb der Reihe der regierenden Fürsten,
oder ein Directorium der Fürsten, das nach einfacher Majorität beschließt, oder
die Uebertragung der Hegemonie an den mächtigsten der regierenden Fürsten.
Daß die erste Form zu keinem Resultat führt, ist nach der Erfahrung des
vorigen Jahres außer allem Zweifel. Mächtigere Fürsten werden einem Minder¬
mächtigen immer nur soweit gehorchen, als sie eS für gut finden, und das Aus¬
land wird eine Macht, die sich im Innern nicht geltend macheu kann, am wenig¬
sten respectiren.
Ein Directorium mit Oestreich und Preußen würde nichts anderes sein, als
Rückkehr zum Bundestage. Keiner von beiden Staaten wurde seine Souveränität
einem derartigen Konglomerat unterordnen, er würde es nicht können, wenn er es
auch wollte. Von einem Reichstag wäre unter diesen Umständen keine Rede.
Ein Directorium ohne Oestreich, das nach Simmenmehrheit entschiede, kann
Preußen unter keinen Umständen annehmen. Das Stimmenverhältniß müßte we¬
nigstens so sein, daß die andern Staaten sich zu Preußen verhielten wie 2:1;
man will es aber vielmehr haben wie 5 : 1 oder gar wie 6 : I. Nun wiegt aber
Preußens Macht so schwer, als die aller übrigen deutschen Staaten (mit Ausschluß
Oestreichs) zusammengenommen, es wäre also gegen die Natur der Dinge und
gegen alle politische Logik, wenn Preußen sich einem solchen Verhältniß fügen sollte.
Der dritte Fall, die Uebertragung der Reichsgewalt an den mächtigsten Für¬
sten, ist auf legalem Wege nur unter der Voraussetzung möglich, daß jedem ein¬
zelnen Staat die freie Entscheidung über sein Beitreten oder nicht Beitreten über¬
lassen bleibt. Wenn also Sachsen seinen Beitritt von dem Beitritt aller übrigen
deutschen Staaten abhängig macht, so wird dadurch unter den gegenwärtigen Ver¬
hältnissen die ganze Idee des Bundesstaates zur Illusion. Denn ohne das Gefühl
innerer Nothwendigkeit wird sich natürlich kein Staat zu einem solchen Schritt her¬
beilassen, und für die dänische Regierung ist dieses Gefühl entschieden nicht vor¬
handen.
Glauben Sie nicht etwa, daß ich für den DreiÜönigs - Entwurf eine beson¬
dere Begeisterung hege. Die Grenzboten haben ihrer Zeit sich deutlich genng
ausgesprochen. Sie oder Ihre Regierung haben ja selber an der Abfassung Theil
genommen, und ich werde daher nicht nöthig haben, Ihnen erst die augenfälligen
Schwächen, Widersprüche und Unklarheiten darin nachzuweisen. Der schlechteste
Theil ist entschieden derjenige, welcher die neue Centralgewalt durch überflüssige
Mechanismen beschränkt. Aber ich bin der Ueberzeugung, daß auch die schlechteste
Verfassung in einem Staatskörper, der sonst mit Naturnotwendigkeit zusammen¬
hängt, sich selber corrigiren wird. Das Mangelhafte in dem Inhalt der Ver¬
fassung kann also kein Grund sein, sie zurückzuweisen, am wenigsten für diejenigen,
die sie selber entworfen haben.
Den Entscheidungsgrund, welcher die sächsische Negierung in dieser wichtigen
Frage allein bestimmen darf, haben Sie vollkommen richtig angegeben. „Wir sind
überzeugt davon, daß keiner unserer Minister ans östreichischen, keiner auf preu¬
ßischem, sondern alle, da sie sächsische Minister sind, zunächst auf sächsischem, und
sodann, da Sachsen zur Zeit weder ein Theil von Oestreich, noch ein Theil von
Preußen, sondern ein Theil von Dentschland ist, ans deutschem Standpunkte stehn."
Ich gehe sogar noch weiter als Sie, und erkläre den letzten Zusatz für überflüssig.
Denn der deutsche Standpunkt ist ein sehr schwankender, jeder einzelne denkt sich
nach seiner Neigung oder nach seinem Interesse etwas anderes dabei, und Deutsch¬
land liegt nicht außerhalb seiner einzelnen Staaten, es realistrt sich nur im ge-
funden Egoismus seiner Stämme.
Bleiben wir also lediglich bei dem sächsischen Standpunkt. Von diesem aus
behaupte ich zweierlei. 1) Für Sachsen ist die Anschlußfrage keine freie Wahl,
sondern eine gebieterische Nothwendigkeit; 2) es gehen ihm aus dem Anschluß nur
die wesentlichsten Vortheile und keine Nachtheile hervor.
Sie behaupten: „Der Berliner Verfassungsentwurf verlangt von Sachsen sehr
große Opfer, nicht blos von der Krone und der Negierung, sondern namentlich
auch von der Kammer, deren Rechte zu einem großen Theile auf das Parlament
übertragen werden sollen." Man sollte wirklich glauben, daß zu den Zeiten des
Bundestags die sächsische Regierung eine souveräne Großmacht in der Art Eng¬
lands und Frankreichs gewesen wäre, und daß die sächsischen Kammern den aller-
freiesten Horizont von der Welt gehabt hätten. Und doch ist der diplomatische
Verkehr Sachsens mit dem Auslande über Gebnrtstagsgratulationen u. tgi. nicht
herausgegangen, und doch warf man unermüdlich den Kammern, wenn sie irgend einen
Beschluß von Erheblichkeit fassen wollten, das Verbot des Bundestages, d. h.
Oestreichs und Preußens entgegen. ES ging so weit, daß der sächsische Minister
einen bedenklichen Bittsteller zuweilen an den preußischen Gesandten verwies. In
jedem Augenblick stand es in Oestreichs und Preußens Macht, den Leipziger Buch¬
handel zu unterdrücken, und es lag nur in dem guten Willen dieser Großmächte,
wenn sie ähnliche Maßregeln nicht auch auf weitere Industriezweige ausdehnen
wollten.
Freilich hat Sachsen einmal kraft souveräner Machtvollkommenheit dem Kaiser
Napoleon Vasallendienste geleistet. Aber damals war Sachsen mächtiger als jetzt,
ein ähnlicher Versuch würde verhängnißvolle Folgen haben.
Das war also die Souveränität des sächsischen Staats in den goldenen Zeiten
des Bundestags. Aber die Sache steht jetzt viel schlimmer. Damals war Preußen
ein absoluter Staat und drückte nur mit äußerlicher Gewalt auf das Nachbarland,
jetzt ist es ein constitutioneller, und wird auch moralisch die Kräfte Sachsens ab-
sorbiren. Jeder Gebildete wird sich weit mehr für die Verhandlungen der preu¬
ßischen Kammern interesstren, als für die seines eigenen Landes, weil er dort
einen weitern Horizont und große Gesichtspunkte findet, hier nur kleinstädtische
Interessen, das Herz des ganzen Volks wird in Berlin sein, und jeder strebsame
und ehrgeizige Kopf wird herüberwandern, wo er allein einen angemessenen Schau¬
platz findet. Schon zu den Zeiten des Central-Landtags hat sich die sächsische
Publicistik weit mehr mit Berlin beschäftigt, als mit Dresden. Zuletzt wird in
den sächsischen Kammern Niemand mehr sitzen wollen, als die kleinen Winkel¬
radikalen, die in derartigen Interessen ganz zu Hause sind, und dann mögen Sie
zusehn, wie Sie mit ihnen fertig werden. Zum zweite» Mal wird Preußen nach
seiner jetzigen Erfahrung nicht die Rolle des uneigennützigen Friedensstifters spielen.
Sachsen ist, als souveräner Staat betrachtet, ein viel haltloseres Ganze, als
selbst Hamburg oder Lübeck. Diese Staaten haben wenigstens die See, Sachsen
liegt ja aber ganz in mächtige Nachbarstaaten eingekeilt. Dagegen steht Sachsen in
einer Beziehung allen übrigen deutschen Staaten voraus: in dem Sinn sür Ord¬
nung und Gesetzlichkeit, dem auch die letzten radikalen Bewegungen nicht Abbruch
gethan haben.
Aus diesem Grunde konnte die polizeiliche Thätigkeit der Staatsgewalt viel
humaner und milder in Sachsen sich äußern, als in dem benachbarten Preußen,
das, Dank sei es den weisen Urhebern der Wiener Verträge! eben seiner un¬
vollkommenen Abrundung wegen, ein permanentes Kriegslager bilden mußte.
Sachsen ist berufen, eine herrliche Rolle zu spielen als Theil eines größern
Ganzen, daß es durch seine ehrenwerthen Kräfte ergänzt und mitbildct; als
Ganzes ist es eine höchst klägliche Figur, nicht nur seines kleinen Umfangs und
seiner Lage wegen, die ihm die größere Politik verschließt, sondern auch wegen
der Gleichartigkeit seiner Elemente, die so wenig wesentliche Differenzen darbietet,
daß eine einseitige Clique, Vaterlandsvereine, im Stande sein könnte, es auf
Jahre zu beherrschen.
Denken Sie sich die Herstellung des alten Bundes. Ist Oestreich und Preu¬
ßen einig, so wird Sachsen einfach gehorchen müssen, wie es früher gehorcht hat:
Liegen aber beide Staaten in Zwiespalt, so glauben Sie vielleicht, Sachsen werde
den Ausschlag geben? Weit gefehlt! Oestreich und Preußen werden heftige Mani¬
feste gegen einander erlassen, wie sie es jetzt thun, aber sie werden nicht so ein¬
fältig sein, sich ernsthaft zu befehden. Vielmehr wird Preußen die erste Gelegen¬
heit ergreifen, sein Müthchen an dem „kleinen Geist" zu kühlen, der sich „zwischen
die entbrannten Degenspitzen mächtigerer Gegner drängt", und Oestreich wird sich
dadurch revangiren, daß es bei der zweiten Gelegenheit dasselbe thut. HuiäPiiä
üeIir.Me i-e^of, plectuntur ^ciüvi! Das ist zu natürlich, um es zu vermeiden.
Zuletzt wird Alles, was politische Bildung und allgemeine Ideen hat, sich zu
Preußen hinneigen, und der Staat ist in seinem moralischen Fundament erschüttert.
Dafür wird in dem Verfassungsentwurf vom 26. Mai der sächsischen Regie¬
rung mit dem sächsischen Volk eine würdige Stellung angeboten. In den innern
Angelegenheiten bleibt Sachsen noch immer selbstständig, nur erhält es noch grö¬
ßere Garantien seines Bestehens durch das Gewicht des preußischen Schwertes.
In den auswärtigen, allgemein politischen Angelegenheiten erhält die Regierung, die
bis dahin gar keine Stimme hatte, in dem Fürstencollegium wie in dem Staaten¬
haus einen sehr bedeutende» gesetzlichen Einfluß. Gratulationsgesandte an aus¬
wärtige Höfe zu senden wird ihnen Niemand wehren. Die Tüchtigen im Volk
erhalten durch das Parlament einen angemessenen Spielraum ihrer Thätigkeit,
das gesammte Volk durch seine Repräsentanten den ihnen gebührenden Theil des
Einflusses.
Wo man hinblickt, überall nur Gewinn für Sachsen, verloren Nichts als
eitle Flitter!
Und nun wollen Sie noch warten, wie sich Baiern und Würtemberg besinnt!
Nach meiner Ueberzeugung wird der norddeutsche Bundesstaat besser gedeihen,
wenn beide Staaten mit Baden draußen bleiben und sich der östreichischen Hege¬
monie fügen; aber wenn Sie auch den Bundesstaat mit Baiern für besser halten,
so müssen Sie doch so viel einsehen, daß Sie das Zustandekommen desselben er¬
leichtern, wenn Sie zuerst ein festes, wenn auch dem Umfange nach beschränktes
Ganze gewinnen, dem sich jene Staaten dann anschließen können.
Im Jahr 1326 wurde durch die Waldemar'sche Constitution festgesetzt, daß
Schleswig nie mit Dänemark vereinigt werden sollte. Im Jahr 1375 starb die
Herzogsfamilie aus, welche seit 1236 in Schleswig regiert hatte, Schleswig fiel
an das Holsteinsche Grafenhaus und blieb mit Holstein seitdem bis auf den heu¬
tigen Tag unter gemeinschaftlichem Landesherrn vereinigt. Umsonst suchte in 25-
jährigem Krieg (1404 — 29) König Erich von Dänemark die Herzogthümer sich
zu unterwerfen. Nach dem Aussterben des alten Hauses wählten im Jahre 1460
die Schleswig-Holsteinschen Landstände, welche aus der höheren Geistlichkeit, dem
Adel und Abgeordneten der Städte bestanden, den König Christian I. von Däne¬
mark, Schweden und Norwegen zum Schleswig-Holsteinischen Landesherrn, unter
der ausdrücklichen Bedingung, daß er nicht als König von Dänemark, sondern
als frei gewählter Schleswig-Holsteinischer Landesherr die Regierung in Schles¬
wig und Holstein führen solle. Ueber die Bedingungen, unter welchen Christian I.
die Regierung erhielt, stellte er einen Freiheitsbrief aus, in welchem er bekennt:
daß ihn Prälaten, Ritterschaft, Städte und Einwohner von Schleswig und
Holstein aus freiem Willen und aus Gunst zu seiner Person zum Landes¬
herr« angenommen, und ihm gehuldigt haben, nicht als einem Könige zu
Dänemark, sondern als einem Landesherrn von Schleswig und Holstein.
Ferner sicherte Christian I. in diesem Freiheitsbriefe eidlich für sich und alle
") „Ueber die Ursachen und die Bedeutung des Krieges zwischen Deutschland und Däne¬
mark." Schleswig 1849, Brühn. In demselben Verlage sind noch folgende, die Schleswig-
Hvlsteinsche F-age betreffende Broschüren erschienen:
„Meine Erlebnisse in dänischer Gefangenschaft." Von or. I. A. Marcus.
„Die Gewissensfrage der schleswigschen Beamten." Vom Prediger Baumgarten.
„Der diesjährige Dänenkrieg und sein Ausgang — bis auf weiter." Von Ludolf
Wienbarg.
Wir entnehmen demselben folgende Charakteristik dänischer Capacitäten. „Carl Moltke,
der Verräther an seinem Schleswig-Holsteinischen Vaterlande, gebrandmarkt unter seinen eige¬
nen ritterschaftlichen Genossen. Dein hin-am»» tlisologus Claussen, Unschlitt von unserer
großen Schleiermacher'schen Kerze. Pastor Grundtvig, diese aus unserm Jean Paul, dem
Wandsbecker Boten, Schlözer, La Motte Fouqus, Harms und der nordischen Edda zusam¬
mengestöppelte Originalitätslüge. Orla Lehmann, der deutsche Abenteurer in skandinavischer
Politik. Staatsminister Oerstedt, diese logische Fabrikuhr mit der einen altdänischen Un¬
ordnung, die sie wieder ganz unbrauchbar macht für deinen Zeitbedarf u. s. w."
„Ueber die angebliche Vertreibung dänisch gesinnter Einwohner der Herzogthümer Schles-
wig-Holstein."
seine Nachkommen den Landen Schleswig und Holstein und allen Einwohnern
derselben folgende Gerechtsame zu: I) daß Schleswig und Holstein ewig ungetrennt
beisammen bleiben sollen (dat se ewig tosamen blivcn ungedeckt); 2) daß die
Einwohner nicht verpflichtet sein sollen, außerhalb Schleswig und Holstein Kriegs¬
dienste zu leisten; Z) daß keine Abgabe auferlegt werden solle ohne Zustimmung
der Landstände; 4) daß keine Münze eingeführt werden solle, welche nicht in
Hamburg und Lübeck gang und gebe sei; 5) daß nur Einwohner der Lande als
Beamte anzustellen; kein Einwohner außerhalb Landes vor Gericht gestellt, anch
von keinem Dänen oder Ausländer gerichtet werden solle; 6) daß der Landesherr
keinen Krieg anfangen solle ohne Zustimmung der Landstände; 7) daß jeder nach¬
folgende Landesherr diese Freiheiten bestätigen solle, und daß, wenn er es nicht
wolle, die Stände berechtigt sein sollten, einen anderen männlichen Nachkommen
Ehristian I. zu wählen.
Durch diese Erwählung Christian I. zum Schleswig-Holsteinischen Landes¬
herrn ist es herbeigeführt worden, daß Schleswig-Holstein jetzt einen gemein¬
schaftlichen Landesherrn mit Dänemark hat. Dieses ist keine nothwendige Folge
des Freiheitsbriefes von 14K0, vielmehr kommt es für die Nachfolge in Schles¬
wig und Holstein gar nicht darauf an, ob der Landesherr anch zugleich König
von Dänemark ist oder nicht. In der folgenden Zeit herrschten in Schleswig-'
Holstein mitunter zwei oder auch drei Landesherren neben einander, indem die
Landstände zwei oder drei Söhne eines verstorbenen Landesherr» als regierende
Herzöge anerkannten. So haben vom Jahre 158 l an bis zum Jahre 1773 in
Schleswig-Holstein immer zwei Landesherren als Herzöge gemeinschaftlich regiert.
Einer dieser beiden Landesherren war zugleich König von Dänemark und Nor¬
wegen; der andere nannte sich Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf. In den
wichtigsten Angelegenheiten regierten sie zusammen, erließen gemeinschaftlich Ge¬
setze; sonst hatten sie das Land unter sich getheilt, so daß jeder gewisse Districte
hatte, aus welchen er Einkünfte bezog, in welchen er Beamte einsetzte u. s. w. Die
Bezirke des einen Herzogs, welcher zugleich König von Dänemark war, werden
der königliche Antheil, der Antheil des andern Herzogs wird der Gottorf-
sch e oder fürstliche Antheil genannt. Die adeligen Güter und Klöster waren
eingetheilt, standen ganz unter der gemeinschaftlichen Regierung beider Landes¬
herren und wurden daher der gemeinschaftliche Antheil genannt. Die wich¬
tigsten Angelegenheiten wurden von beiden Landesherren mit den Landständen auf
den Landtagen berathen.
In dem Laufe der Zeiten entstanden zwischen den beiden regierenden Landes¬
herren oft MißHelligkeiten, welche mitunter sogar zu offenen Feindseligkeiten führten.
Bei einem Kriege, welchen der König Friedrich IV. mit Schweden führte, fand
der schwedische Feldherr Steenbock, welcher in Schleswig eingefallen war, seine
Zuflucht in der Festung Tönning in dem Gottorfschen Antheile. Deshalb nahm
König Friedrich IV. im Jahre 1714 ganz Schleswig in Besitz; verdrängte seinen
Mitregenten, den unmündigen Karl Friedrich aus dem Herzogthume Schleswig.
Die Könige von England und Frankreich erklärten, den König Friedrich IV- in
dem Besitze des herzoglichen Antheils von Schleswig schützen zu wollen. König
Friedrich IV. erließ eine Erklärung des Inhalts, daß er den bisherigen herzog¬
lichen Antheil von Schleswig mit seinem Antheil vereinigen und incvrponrcn
wolle, und forderte die Beamten des herzoglichen Antheils, so wie die Mitglieder
der Ritterschaft und die Gutsbesitzer in dem gemeinschaftlichen Antheile von Schles¬
wig ans, ihm als dem nunmehrigen alleinigen Landesherren von ganz Schleswig,
deu gewöhnlichen Eid der Treue und der Huldigung zu leisten. Der verlangte
Huldigungseid wurde geleistet, dahin, daß man dem Könige Friedrich IV., als
dem nunmehr alleinigen Landesherrn von Schleswig, treu sein wolle.
Dieses geschah im Jahre 172l.
Ans diesem Hergange im Jahre 1721 haben Einige jetzt folgern wollen, als
sei Schleswig in ein näheres Verhältniß zu Dänemark getreten. Dem ist aber
nicht also. Von den Höfen Englands und Frankreichs ist dem Könige Friedrich IV.
weiter nichts zugesagt, als daß er den ehemaligen herzoglichen Antheil
behalten solle; in seiner eigenen Erklärung liegt weiter nichts, als eine
Verbindung des herzoglichen Antheils mit dem königlichen, und
der Huldigungseid besagt lediglich, daß Friedrich IV. als alleiniger Landes¬
herr von ganz Schleswig anerkannt werde. Schleswig blieb nach wie vor
ein von Dänemark getrenntes, unabhängiges Land, und eben so wenig wurde in
der engen Verbindung mit Holstein irgend eine Veränderung vorgenommen.
Fünfzig Jahre später, im Jahre 1773, verzichtete der Enkel des Herzogs
Karl Friedrich, Paul, welcher Kaiser von Rußland war, uicht nur auf seine Rechte
an Schleswig, sondern trat auch seinen Antheil an der Regierung in Holstein an
seinen Mitregenten, den König und Herzog Christian VII., ab. Christian war
jetzt alleiniger regierender Herzog von Schleswig und Holstein.
Qbgleich uach der Verfassung von 1460 Schleswig-Holstein sein eigenes,
von Dänemark völlig getrenntes Staatswesen haben sollte, so hat das Land doch
durch die Verbindung, in welche es durch Gemeinschaftlichkeit des Regenten mit
Dänemark gerathen ist, viele Nachtheile erlitten. Von diesen Nachtheilen mögen
hier folgende hervorgehoben werden:
1) Bei Kriegen, welche der König von Dänemark im Interesse Dänemarks
führte, mußte Schleswig-Holstein regelmäßig deu Kriegsschauplatz abgeben, wäh¬
rend Dänemark vor den Feinden bewahrt blieb. Schleswig-Holstein diente dem
Königreiche Dänemark als Vormauer, wurde den Leiden des Krieges Preis gege-
ben, und wenn der Feind die Grenze Dänemarks erreichte, wurde gewöhnlich
Friede geschlossen. Dieses ist in dem Zeitraume von 200 Jahren sechsmal ge¬
schehen. In dem dreißigjährigen Kriege mußten die Herzogtümer während der
Jahre 1627—1629 die Leiden des Krieges tragen, indem Christian IV. sich nach
Jütland zurückzog. Bei dem darauf folgenden Kriege Christian IV. mit Schwe¬
den diente Schleswig-Holstein wiederum in den Jahren 1643—1645 als Kriegs¬
schauplatz. Als Friedrich III. im Jahre 1657 thörichterweise den Krieg gegen
Schweden erneuerte, um einige von Christian IV. an Schweden abgetretene jen¬
seits des Sundes belegene Gebiete wieder zu erobern, drangen die Schweden von
Neuem in die Herzogthümer ein, und Itzehoe wurde durch ein Bombardement
eingeäschert; als aber die Schweden im folgenden Jahre über das Eis gingen,
wurde Friede geschlossen. Doch noch in demselben Jahre 1658 wurde der Krieg
erneuert; deutsche und polnische Truppe» zöge» den Dänen zu Hilfe in die Her¬
zogthümer ein, und furchtbar wurde hier verwüstet, gebrandschatzt und gebrannt,
bis 166V der Friede geschlossen wurde. Im Jahre l709 erneuerte Friedrich IV.
den Krieg mit Schweden, und wiederum mußten die Herzogthümer alle Leiden
eines Krieges tragen, welcher sie gar nicht anging, und in welchem die Stadt
Altona von Steenbock niedergebrannt wurde. Endlich wurden in den Jahren
1813 und 1814 in dem Kriege, welcher lediglich im dänischen Interesse geführt
wurde, beide Herzogthümer von den Feinden besetzt; und als die Kosaken bis an
die Grenze Jütlands vorrückten, wurde Friede geschlossen.
2) Zu den gemeinsamen Staatslasten mußten die Herzogthümer weit mehr
beitragen als Dänemark; sie mußten für Dänemark Steuern zahlen. Im Jahre
1762 wurde in Dänemark und in Schleswig-Holstein die Kopfsteuer auferlegt.
In Dänemark wurde dieselbe bald wieder aufgehoben, in Schleswig-Holstein
blieb sie bestehen, bis im Jahre 1848 die provisorische Negierung sie aufhob. Im
Jahre 1802 wurde die Haus- und Landsteuer eingeführt, und so eingerichtet, daß
das Land in den Herzogthümern höher belastet wurde, als in Dänemark. Durch
die im Jahre 1813 eingeführte Reichsbankhaft wurden die Herzogthümer im Ver¬
hältnisse zu Dänemark aufs Stärkste in Nachtheil und Schaden gebracht. Sechs
P'-ocent des Steuerwcrths von Gebäuden und Ländereien mußten bekanntlich zur
Bankhast hergegeben werden, und zwar in Dänemark auf gleiche Weise, wie in
Schleswig-Holstein. Kaum war dieses geschehen, als den Landeigenthümern in
Dänemark H der Bankhast erlassen wurden, und mit diesen H wurde dann die
gemeinsame Staatskasse Dänemarks und Schleswig-Holsteins belastet, also daß
die Schleswig-Holsteiner einen großen Theil der Bankhast für die Dänen tragen
mußten. Als sich aber später zeigte, daß die Bank mit der Zeit eine Ausbeute
geben werde, wurden die Herzogthümer aus der Berbindung mit der Bank gesetzt.
Die Bank war zum größten Theile auf Kosten der Herzogthümer gegründet; ihre
Vortheile wurden aber den Dänen zugewandt. — Die Staatsschulden sind größ-
tentheils Dänemarks wegen erwachsen; zur Verzinsung und Deckung derselben
haben die Herzogthümer das Meiste beitragen müssen. Von 5 Millionen Reichs¬
bankthaler, welche in den Herzogthümern jährlich gesteuert wurden, verblieb nicht
die Hälfte in den Herzogthümern, die größere Hälfte ging über die Belte nach
Kopenhagen, und kam mehr den Dänen, als den Schleswig-Holsteinern zu Gute.
Zu den Belustigungen der Kopenhagener, für das dortige Schauspielhaus, für
dortige Musik, desgleichen auch für die Kopenhagener Armenkasse haben die
Schleswig-Holsteiner beisteuern müssen.
3) Nach dem Grundgesetze für die Herzogthümer von 1460 sollte keine Münze
von dem Landesherrn eingeführt werden, welche nicht auch in Hamburg und Lü¬
beck gang und gebe sei. Mit großer Weisheit hatten unsere Vorfahren, indem sie
diese Bedingung stellten, dadurch verhindern wollen, daß schlechtere dänische Münze
eingeführt werde. Daher hatten die Herzogthümer auch früher immer ihr eigenes
Geld, unser wohl bekanntes schweres Schleswig-Holsteinisch Courant.
Aber vor 50—60 Jahre» wurde von der Landesregierung dem dänischen Gelde
und den dänischen Zetteln der Umlauf in den Herzogthümern gestattet; und im
Jahre 1813 sollte statt unseres guten Courantgeldcs das Reichsbaukgeld, dänisches
Papier- und Kupfergeld eingeführt werden. Noch leben Viele, welchen es in fri¬
scher Erinnerung ist, welche Noth dadurch in Schleswig-Holstein herbeigeführt
wurde, welchen Verlust Tausende durch die dänischen Zettel erlitten.
4) In mancher Beziehung ist seit einer langen Reihe von Jahren Däne¬
mark vor den Herzogthümern bevorzugt worden. In Rendsburg war eine Offizicr-
schnle, in Kiel eine Forstlehranstalt; diese sind aufgehoben und nach Kopenhagen
verlegt worden. Auf dem Schlosse Gottorf waren viele dem Lande gehörige
Kunstgegenstände; dieselben sind nach Kopenhagen gebracht worden. Zahlreiche
Dänen wurden in den Herzogthümern angestellt, als Prediger in dem nördlichen
Schleswig, als Fvrstbeamte, Postbeamte, Zollbeamte, Kassenbcamte u. s. w. Alle
hohen Kollegien waren in Kopenhagen, und in denselben weit mehr Dänen als
Schleswig-Holsteincr angestellt. Es ist gewiß ein Hauptgrund, weshalb die Dä¬
nen so sehr an der Verbindung der Herzogthümer mit Dänemark festgehalten haben,
weil ihre Söhne, auch solche, welche nicht viel taugten, in Schleswig-Holstein
Anstellung und Lebebrot finden konnten. Die Handelsinteressen Schleswig-Hol¬
steins wurden den dänischen, insbesondere den Interessen der Stadt Kopenhagen
untergeordnet und nachgestellt; dänische Fabriken auf Kosten Schleswig-Holsteins
begünstigt. Noch in den letzten Jahren hat die Regierung die Anlegung einer
Eisenbahn- von Rendsburg nach Flensburg und weiter nach Jütland nicht gestatten
wollen, und daher ist das Herzogthum Schleswig von dem in unserer Zeit so
wichtigen Eisenbahnverkehr ausgeschlossen geblieben.
Diese und noch manche andere Nachtheile sind dem Lande Schleswig-Holstein
durch seine Verbindung mit Dänemark unter gemeinschaftlichem Landesherrn er¬
wachsen. Zum Theil liegt der Grund darin, daß der gemeinschaftliche Landesherr
in Kopenhagen seinen Sitz hatte, von dänischen Rathgebern umringt war, die
Wünsche und Beschwerden der Schleswig-Holsteiner entweder gar nicht, oder doch
nur verfälscht zu selner Kunde gelangen konnten. Der Hauptgrund lag aber in
dem Mangel einer guten Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung; denn die alte
Landesverfassung von 1460 war in Verfall und Vergessenheit gerathen, eine neue
nicht an ihre Stelle getreten. Daher war schon lange der Wunsch des Landes
laut geworden, daß eine neue Landesverfassung eingeführt, namentlich eine Tren-
nung der Schleswig-Holsteinischen Staatskasse von der dänischen in's Werk gesetzt
werden möge. Aber alle Bitten und Beschwerden, welche in dieser Beziehung von
den Landständen vorgetragen worden waren, ohne Erfolg blieben.
Nach allem Recht ist die Staatserbfolge in Schleswig und Holstein nach den
hier geltenden Gesetzen von der Erbfolge in dem Königreiche Dänemark verschie¬
den. König Christian VIII. erklärte auf den Wunsch der Dänen in dem offenen
Briefe vom 8. Juli 1846, daß das dänische Erbfolgerecht anch in Schleswig
gelten solle, und daß er sich bemühen werde, dieselbe Erbfolge anch in Holstein
zur Geltung zu . bringen. Darin lag der Versuch eines schweren Unrechts gegen
die Herzogthümer, denn ein Landesherr, wie mächtig und unbeschränkt er sei, kann
nicht einseitig und willkürlich die Erbfolge abändern.
Die dem Schleswig-Holsteinischen Volke nach dem Grundgesetze von 1460
zustehenden Rechte sind in vielfacher Hinsicht von den Landesherren verletzt wor¬
den; doch habe» alle Landesherren nach ihrem Regierungsantritte diese Rechte
bestätigt. Das Hauptrecht des Landes, das Recht auf feste und unzer-
trennliche Vereinigung beider Herzogtümer ist aber bis zum Jahre
1848 unangefochten geblieben, von allen Landesherren heilig gehalten worden.
Diese Vereinigung ist in allen Verhältnissen des Landes auf das Deutlichste aus¬
geprägt. Der Landesherr nennt sich König von Dänemark, Herzog von
Schleswig-Holstein. Die Gesetzgebung für Schleswig-Holstein ist von
der des Königreichs getrennt geblieben. An der Spitze der Verwaltung in
den Herzogtümern standen der Statthalter und die Schleswig-Holstei¬
nische Regierung. Schleswig und Holstein haben einen gemeinschaftlichen
höchsten Gerichtshof in Kiel. In Kiel ist eine Schleswig-Holsteinische Landes¬
universität, ein Schleswig-Holsteinisches Sanitätscollegium; hier hält
die Schleswig-Holsteinische Ritterschaft ihre Versammlungen. Schleswig-Hol¬
stein hat sein eigenes von Dänemark gänzlich getrenntes Zollwesen. Die bei¬
den Herzogthümer sind so fest an einander gewachsen, daß eine Trennung dersel¬
ben jedes Herzogthum tödtlich verletzen würde.
Mit dem offenen Brief war also eine schwere Rechtsverletzung eingetreten.
Dennoch kündigten die Schleswig-Holsteiner ihrem Landesherrn die Treue nicht
aus, haben sich uicht von ihm losgesagt; weil sie annahmen, daß Friedrich VII
nicht freiwillig , sondern nur von den Dänen gezwungen, sein Wort und seine
Verpflichtung gebrochen; daher wurde der Krieg nur gegen Dänemark gerichtet,
nicht gegen Friedrich VII., als Herzog von Schleswig und Holstein.
Die dänische Regierung hat in Widerspruch mit dem unzweifelhaften Rechte
der Herzogthümer, in Widerspruch mit der sogleich nach seiner Thronbesteigung
von Friedrich VII. ertheilten feierlichen Erklärung Schleswig von Holstein trennen,
in Dänemark einverleiben wollen; hat zu diesem Zwecke die Herzogthümer feind¬
lich angegriffen. Die deutscheu Fürsten haben nach ihrer Bundespflicht den Schles¬
wig-Holsteinern gegen diesen ungerechten Angriff Hilfe geleistet.
Ein gerechter Friede kann nur zu Stande kommen, wenn Schleswig und
Holstein vereinigt bleiben, die seit vierhundert Jahren bestehende
Verbindung Anerkennung findet.
Die Zahl der lyrischen und romantischen Dichter ist nächst jener der politischen
Schriftsteller, welche seit dem März 1848 wie Pilze nach einem Sommerregeu
aufgeschossen sind, die beträchtlichste unter den Czechen, doch ragen nur Einige
selbstständig und bedeutend hervor. Ihre beiden urkräftigsten und besten poetischen
Geister haben die Jungczechen im letzten Jahrzehend in der Blüthe der frischesten
Manneskraft verloren, den genialen und volksthümlichen Jaroslaw Langer*)
und Hynek Mucha, den begeisterten Sänger des Mai. Der letztere ward von
seinen Landsleuten zu spät erkannt, erst als ihm der Gram tief in's Herz ge¬
fressen hatte. Pedantische Kritiker und trockene Reimschmiede verfolgten und ver¬
ketzerten ihn lange wegen Nachahmerei Lord Byron's und dergleichen, bis das
Volk von den Bessern unter den jüngern Literaten geweckt, zur Erkenntniß kam
über Miicha's Werth und seinen Namen mit goldener Schrift in Slava's Tempel
grub. Wahr und treffend ist, was G. Koi-ir über M-laha schreibt: „Jene Herren
verstehen weder Byron noch M-rasa. Byron saß, wie weiland Manns auf Kar¬
thago's Trümmern, auf der Ruine seiner romantischen Verhältnisse und bevölkerte
sie mit den Phantomen seiner Nieseuphantasie; ein klagender Abadonna stand er
am Eingange der Hölle mit der peinlichen Erinnerung, daß er Paradiese und
Welten verloren und daß ihm von all der Seligkeit nichts übrig geblieben, als
ein warmes, blutendes Herz und der unversiegbare Born schmerzlichen Gesanges.
Mach« stand nicht am Eingange der Hölle, er stand am Eingange in die Welt,
er hatte mit dem Leben noch nicht gerungen, an der Kette unbesiegbarer Hemmun-
gen noch zu wenig gerüttelt, den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren
und den Giftpokal brennender Schmerzen nur im herausfordernden Scherz an die
Lippen gesetzt. Niedrige Verhältnisse drückten ihn, Verhältnisse, die sein starkes
Gemüth in der Folge gewiß abgeschüttelt hätte. Seine Poesien sind keine Kon¬
sequenzen bitterer Lebenserfahrung, sondern ein genialer Mummenschanz mit dem
Schicksal und dem Leben in Vorhinein. Byron war ein unter dem Druck der
Schlange klagender Laokoon, M-laha ein träumerischer Alcides, der den Scheide¬
weg des Lebens kühn betrat, um die Schlange da zu suchen! — Auch in Ja-
roslaw Kalina 1847) verlor die czechische Muse ein großes Talent, das
leider zerrissen und auf Abwegen war, nichts desto weniger bleibt der geistreiche
und dabei naive Sonderling Kalina doch als dichterische Persönlichkeit denkwürdig.
Der gefeiertste lebende Dichter der czechischen Zunge ist Johannes Kollar,
evangelischer Prediger der slovakischen Gemeinde zu Bnda-Pesth, geboren 1793
am 29. Juli zu Mosow in Ungarn, interessant in der Erscheinung durch einen
markanten Kopf, der viel Aehnlichkeit mit dem Napoleon's hat. Kollar bleibt epoche¬
machend durch seine Aufstellung der berühmten Theorie der slavischen Wechselseitig¬
keit (v^emnost), welche fördernd mächtig einzugreifen beginnt in das literarische
Leben der slavischen Stämme. Das Hauptwerk des Johannes Kollar ist der be¬
kannte Gedichtecyklus „isiav^ auel-it" (die Tochter des Ruhms), unter allen czechi¬
schen Dichtungen die verbreitetste und beliebteste; sie ist voll Schwung und glü¬
hender Begeisterung für den Panslavismus, dessen erster Verfechter Kollar noch
heute ist. Als Philologe ist Kollar höchst sinnreich und überaus gelehrt, aber
maßlos in Cvnjecturen, die scharfe Lupe der Kritik über der rosenfarbenen Brille
des Richters vergessend. Kollar sieht überall Slaven, nichts als Slaven und
slavische Reste, und schreibt jetzt ein großes Werk über slavische Reste und In-
scriptionen im alten Etrurien! —
Noch excentrischer als Kollar in dieser Hinsicht, ja bis zur Lächerlichkeit
excentrisch ist ein anderer czechischer Dichter, Karl Winaricky (auch unter dem
Namen Slansky). Herr Winaricky meint steif und fest, alle fünf Welttheile seien
ursprünglich slavisch, der Mehrzahl nach aber speziell czeGsch. Winaricky hat ein
ganzes Buch darüber geschrieben, daß der Erfinder der Typographie, Jan Kutno-
horsl'y ein Böhme aus Kuttenberg gewesen, und sein, Nachfolger Fühl ein Prager,
der eigentlich Stjasny geheißen — und Jean de Cazzo hat dies Buch ins Fran¬
zösische übersetzt! Nächstens wird Herr Winaricky in allem Ernst beweisen, kein
Deutscher, sondern ein Böhme, Herr Czerny, habe das Pulver erfunden und ein
Böhme, Holubac aus Jenikan Amerika entdeckt, ungeschickte Skribenten nur hätten
einen Genuesen Columbus daraus gemacht! Als Lyriker hat Winaricky einige«
Schöne geleistet, doch ist uns in seinen meisten Gedichten die herrliche Form lieber
als der Inhalt. Als Uebersetzer des Virgil und Petrarka und der lateinischen
Schriften des Bohuslav von Lobkovic leistete er Ausgezeichnetes. Beachtung ver-
dient Winaricky's poetische Broschüre: „Suen? -virat" (Rath der Thiere), eine
Satyre, die sich das Herausstellen moderner Schattenseiten zum Ziele gesetzt.
Die Behandlung ist schön, die Geißel trifft zuweilen richtig, in der Regel scharf,
aber sie schlägt meist nach einer Idee, welcher ein großer Theil der Menschheit
huldigt und verwundet Herzen, welche warm dafür schlagen. Im Drama hat sich
Winaricky ohne Glück versucht, seine historische Tragödie: „.w, 8Iop>" (Johann
der Blinde) machte einen bloßen kalten 8-mal> et'estime. Winaricky ist am 24. Ja¬
nuar 1824 zu Schlau geboren und gegenwärtig Dechant zu Kostelec. Auf dem
Reichstag war auch Winaricky erschienen und sprach da wie ein frommer katholi¬
scher Priester, demüthig, ergeben und unterwürfig, und gab durch sein seichtes,
ceremoniöses Wesen bei einer kräftigen, imposanten Gestalt viel zu lachen. Ihm
iffs jedoch Ernst um die gute Sache, nur die Schaale ist so versüßlicht.
Zu Neustadt lebt noch ein alter czechischer Dichter, einst beliebt und bekannt,
jetzt überlebt und nur als Antiquität geschätzt, der k. k. Jnfanterieoberst Milota
Zedirad Polak, der letzte aus dem alten czechischen Dichtcrbund der Nejedly,
Puchmayr's und Hnewkvwsky's. Sein großes Gedicht über die Erhabenheit der
Natur gibt ein schönes Zeugniß seines Dichterberufs, zwar veraltet in der Form,
aber höchst poetisch, gebauten- und bilderreich und schwungvoll.
Ein bedeutender Lyriker, besonders im elegischen Ton ist Boleslaw Ja»
blonsky (eigentlich Tupy), ein junger Priester im Orden der Prämonstratenser,
eines der schönern Talente unter den czechischen Dichtern, wenn auch bisweilen zu
weich und schwärmerisch, ja selbst nicht selten zerfahren. Wenn nur Skapulier
und Kutte seinen Geist nicht ersticken! —
Wer den Herrn Actuar der k. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften,
auch Archivar im Nationalmuseum, Karl Jaromir Erben sieht, wird in der
prosaischen Figur schwerlich einen so begabten Poeten erkennen, wie er ist.
Eine lange, hagere Gestalt, in den Dreißigen, ein kleiner Kopf mit bräunlichem,
leicht geringeltem Haar, und ein mageres, pockennarbiges Gesicht, aus dem zwei
gutmüthige, Geist verrathende Augen hervorglänzen; in der Konversation erscheint
er trotz einer Masse von Wissen trocken und schüchtern. Seine erste literarische-
Carriere machte Erben unter den Auspizien Palacky's, als dessen Mitarbeiter bet
historischen Forschungen. E. leistet auch mehres Tüchtige selbstständig auf diesem
Felde. Sein Hauptstudium ist die slavische Mythologie und die Sitten, Gewohn¬
heiten, Gebräuche und Poesien des slavischen Volks, für welche er eine große
schnell auffassende Empfänglichkeit hat. Erben's Sammlung czechischer Volkslieder
in 3 Bauden, ist die reichhaltigste und gediegendste, die es gibt; die Melodien
dazu redigirte er selbst unter Mitwirkung des Herrn Kolesowsky und Martinowsky.
Seine Dichterader ist nicht so reich und gebildet wie die Calokowsky's, aber anf
derselben Basis beruhend und noch frischer und volksthümlicher. Jetzt bereitet
Erben zur Herausgabe ein Buch über den Mythus der Moräna, dann die Sitten
und Gebräuche des czechischen Volks mit steter Hinweisung auf die übrigen Sla¬
venstämme und einen Cyklus poetischer Originalarbeiten in Form von Romanzen
und Balladen, davon der „Weihnachtsabend" und das „Brauthemd" zu dem
schönsten gehört, was die böhmische Dichtkunst aufzuweisen hat. Im vorigen
Jahre saß Erben anfangs mit im Nationalansschuß und ward von demselben als
Abgeordneter zu den Sitzungen des kroatischen Landtags nach Agram geschickt, von
da rückgekehrt übernahm Erben die Redaction des czechischen Regierungsblattes
„Prazskv noviny" und führte sie matt und mit sichtlicher Unlust bis zum
März l. I. Als Politiker gehört E. seiner Farbe nach unter die nationellen
Conservativen, doch zählt seine politische Befähigung und Bildung so viel wie
gar nichts.
Ein Wiederspiel zu Erben bietet die Gestalt Wenceslaw B. Nebesky's,
klein und lebhast bewegt, das Gesicht geröthet und sonnenfleckig mit wildverkräu-
seltem Haar aber ebenbürtig an poetischer Begabung. Nebesky ist jünger und
feuriger, aber weniger originell und weniger volksthümlich als Erben. Seine
Poesien voll Gemüthstiese und Lebendigkeit, welche hie und da durch ein wenig
Blastrtheit gestört wird, fußen auf gründlichem ästhetischen Studium fremdsprach¬
licher Dichter, es scheint mir, als wolle Nebesky, Freiligrath, Platen und Ju-
stinus Kerner mit einander vermitteln, was eben eine gewisse Unglcichförmigkeit
und Unruhe erzielt. Gründlichkeit und Wissen und tüchtige ästhetische Bildung
verrathen seine literarischen und kritischen Aufsätze in der Museumszcttschrift. Aus
dem östreichischen Reichstag spielte Nebesky den beharrlichen Schweiger. Er wußte
wohl warum? Beim Slavencougreß fungirte er als Schriftführer.
Unter den übrigen czechischen Lyrikern ist etwa noch Jaromir Pinel, Ober¬
amtmann zu Liblin, ein hübsches, aber assektirtes, und zu süßliches Talent, dann
Professor F. Mathias Klacel (geb. l808 zu Trebow) zu nennen, der jedoch
als Philosoph und Slavist eiuen bedeutenderen Rang unter den czechischen Gelehrten
einnimmt. Im Jahre 1846 ist Klacel wegen freisinnigen Borträgen über die Philo¬
sophie vom Metternich'schen Regiment von seiner Professur an der Brunner Uni¬
versität entsetzt worden. Für die czechischen Vorträge an der Hochschule zu Prag
dürfte Klacel eine der glänzendsten Acquisitionen sein. Endlich Drahotin Baron
von Villani, der zwei Bände lyrischer Gedichte herausgegeben hat, welche ihn
jedoch nicht so bekannt gemacht haben, als seine Charge als Kommandant der so
arg verschrienen czechischen Swornostlegion. Villani, der Sprößling eines seit Jahr¬
hunderten in Böhmen domizilirenden Adelsgeschlcchts war früher östreichischer Oft
fizier gewesen und ward nach Graf Albert Deym zum Kommandanten der Swornost
gewählt. In diesem Berufe war er unermüdlich in der Erfindung neuer geputzter
Nationaluniformcn, sonderbarer Pelzmützen und in der Abhaltung einer Masse von
Paraden, doch verstand er es nicht, Disciplin in dem Swornostcorps aufrecht
zu halten und that sehr wenig für die Uebung in Waffen, welche er über der
Menge eitler Aufzüge vernachlässigte. Sein Hauptgeschäft war, in einer glänzen¬
den, mit Silberstickerei überladenen Nationaltracht, welche dem schlanken jungen
Manne recht wohl anstand, in den Straßen Prags zu stolziren und zu commandire».
Bei den einzelnen Emeuten war er niemals betheiligt, that aber auch so gut wie
nichts zu deren Hintertreibung. Vielleicht war er trotz seiner Kommandantur nicht
selbstständig und unabhängig genug? — In der vorjährigen Junirevolte will man
Villani nur am ersten Tage an der Spitze einer Abtheilung Swornost gesehen ha¬
ben. An einem der folgenden Kampftage ward er von Grenadieren in Civilklei¬
dern in einem Versteck auf der Kleinseite gefunden und als Gefangener aus das
Prager Schloß gebracht, wo er mehrere Monate bis zu seiner Freisprechung in
Untersuchung saß. Eine mittelgroße, schlanke Figur, ein schmales, kleines Gesicht,
blaß, mit schwärmerischem Ausdruck, braunem Schnurr- und Knebelbart, starke, etwas
heisere Kommandostimme. Im gewöhnlichen Leben ist Villani's Persönlichkeit nicht
bedeutend, noch auffallend, er brauchte der Ueberladung im Kostüm, um eklatant
Auflesen zu machen. Kleider machen Leute! —
In der Czechenstadt berühren sich die Extreme. Wenn Sie Ihren Blick un¬
muthig von dem verknöcherten Trotz, von der starren alterthümlichen Phantasterei
geheimnißvoller Hussiteulogiker abwenden, so wird er schnell von den biegsamen
Kniegelenken, von dem langweiligen Servilismus der Siebenund sechzig er ge¬
fesselt. Die Ziffern scheinen Ihnen wohl alt, doch die Zahl ist nen und ihre Be¬
deutung historisch. — Prüfen wir sie, da es doch eine ebenso interessante als be¬
lehrende Aufgabe ist, die psychologischen Eigenthümlichkeiten gewisser Menschenkate¬
gorien zu nutersttchen, das Ernste und Lächerliche an ihnen herauszufinden, ihre
bisweilen historisch wichtigen Einflüsse auf den Lauf der Zeitbegebenheiten unter
das Objektivglas billiger Beurtheilung zu legen, und diese — selbst bis in die
Träumereien zurückzuführen, denen sich die Zeit der erwachenden Freiheit hingab.
Unsere Epoche ist an solchen Stoff überhaupt eine unerschöpfliche Fundgrube. Sie
ist gleichsam die Krisis der Psychologie in politischer Hinsicht, eine öffentliche Prü¬
fung der Seelen, welche sich in der Gesellschaft verbinden oder abstoßen, je nachdem
ihre Apperception im Staatsleben von denselben Triebfedern geleitet wird, oder
nicht. Es ist eine verhängnißvolle Zeit, wo Geist und Herz nicht selten in Op¬
position gegen einander treten und das menschliche Ich, dessen Faktore sie doch
gemeinschaftlich sein sollen, so sehr verwirren, daß jeder Unterschied zwischen
dem materiell Nothwendigen und phantastisch Schönen in ein Nichts verschwimmt,
oder, wenn man nur die goldene Mitte zwischen beiden verfehlt, eine Art Carri-
katur — sei es der mißbrauchten Freiheit oder reaktionären Obscurantismus >—
zum Vorschein kommt. Und eben eine solche Erscheinung unerquicklich und schwer¬
fällig zugleich ist der Siebenund sechzig er.
Seinen Ursprung verdankt der Name, wie bekannt, jener gutgesinnten Peti¬
tion, worin im Jahre der Swornost 67 Prager Bürger dem Fürsten Windischgrätz
um gnädige Verlängerung des verschwörungShemmenden Belagerungszustandes an¬
flehten. Der strategische Jung - und fürstliche Altgeselle in Einer Person stutzte
selbst über solche klägliche Bornirtheit und Wohldienerei von 67 bürgerlichen Krea¬
turen, mit denen wohl noch einige Tausend in dieser Stadt stillschweigend einver¬
standen waren, und seit dieser Zeit ist die genannte spezifische Zahl im Inlands
sprichwörtlich, im Auslande bekannt geworden; an den meisten Häusern Prags
prangt sie in Niesenzissern von spvttlustiger Kreide gezeichnet; ein jedes Kind weiß
Ihnen schmunzelnd etwas darüber zu erzählen und macht nicht selten seine Glossen
dabei; das hartköpfige Swornostsöhnchen schilt seinen deutschen Schulkameraden,
wenn dieser fleißig und gesittet zu sein, die Anlagen hat, einen Sicbenundsechziger;
der kleine gute Michel weint bitter über die unerhörte Beschimpfung und klagt es
ebenso trübselig zu Hause seinem zärtlichen Erzeuger, der sich jedoch vielleicht selbst
denselben Taufnamen in einem öffentlichen Blatte gefallen lassen muß. Das ist
dann nun ein gutgesinntes Miserere, eine wahre göttliche Prüfung, aus der der
Papa mit dem erhabenen Selbstbewußtsein hervorgeht: „Ich bin stolz darauf,
ein Siebenundsechziger zu sein."
Halten Sie aber den Siebenundsechziger keineswegs für ein ausschließlich höh¬
nisches Monopol; denn Sie finden seine sympathisirenden Genossen, „so weit die
deutsche Zunge klingt und die deutsche Flotte ihre Flaggen sendet;" er ist so ein
ruhefreundlichcr Gutgesinnter, wie er anch im Berliner Treubünde und in der
Stuttgarter Bürgerwehr, im Wiener Gemeinderäthe und in der Münchener Kneipe
zu Hause ist; der lokale Name ändert an der Gesinnung und Sache nichts, welche
gewiß so lange dauern wird als der Besitz. — Charakteristisch aufgefaßt ist der
Siebenundsechziger durch und durch materieller Mensch, bei dem eigentlich im Leben
nichts als sein Ich einen unbedingten Werth hat, nach welchem er daher auch
Alles auf der Welt geregelt und gerichtet wissen will. Dieses Ich ist bei ihm we¬
niger als Resultat höherer Geistesthätigkeit, denn die Summe sinnlicher Empfin¬
dungen zu betrachten, weniger mit dem Typus der Leidenschaft, als mit dem Mantel
pedantischer Laune behaftet. Von Selbstständigkeit, von. frei entwickeltem Cha¬
rakter sind bei ihm wenig Spuren zu finden; Haß und Freundschaft wechseln in
seinem Gemüthe wie Fieberwärme, je nachdem er sie braucht und ein oder der
andere Zustand seinen persönlichen Interessen mehr dienlich ist. Er ruft heute
Demjenigen ein donnerndes Slava zu, welchen er morgen mit Koth bewirft; wen
er heute anklagt und verfolgt, dem kann er am andern Tage devote Huldigungen
und ehrende Kränze spenden, falls dieser, wenn auch zu blos momentaner
Macht gelangt und ihm die Ruthe zeigt. Von wahrer Treue, von offener, couse-
quenter Gesinnung kann daher bei dieser Klasse ebensowenig die Rede sein, als
von persönlichem Muth, welcher in den Seelen der Siebenundsechziger eine unend¬
liche Lücke ist. Der Erste bei friedlichen, schillernden Paraden ist er anch der Erste
beim Verschwinden, sobald ein ernster Würfel fällt; ein bärtiger Bramarbas im
Frieden ist er ein indisches blntscheucs Geschöpf im Kriege, für welche» er zwar
Gelder sammelt und beisteuert, aber — damit Muthigere hinziehen, seine Haut und
seinen Herd zu beschützen. Davon hat unsere Zeit gar viele Exempel auszuweisen,
und jede Stadt, die einmal einen Cravall gesehen hat, wird davon zu sagen wissen.
Die Zahl 67 ist nun für Prag darob verhängnißvoll geworden. An der uralten
Kunstnhr des altstädter Rathhauses sah man vvrKnrzem diese heilige Zahl imKrebs-
zeichen des Sonnensystems glänzen; die Zahl der versammelten Stadtverordneten
soll, wenn sie beschlußfähig sein sollen, 67 betragen, und, o Verhängniß! die Ge¬
fängnisse des Hradschins umfassen gegenwärtig genau 67 gefangene Individuen.
Soweit ist es also mit uns gekommen, daß die ominöse Nnnnner selbst ins seind-
liche Gebiet sich hinübcrwagt, zugleich bittrer Sarkasmus und poetische Gerechtig¬
keit gegen Jene, die früher gegen dieselbe Zahl feindlich aufgetreten sind. Doch
halt? Wag' ich's doch selber! Sollte ich mich uicht vielmehr durch dieses Schicksal
abschrecken lassen, gegen die schläferige Zunft den Pfeil des Spottes abzuschie¬
ßen?! — Wohlan denn! Gehen wir, um den Fehler einigermaßen wieder gut
zu machen und die Gunst des Fatums uicht vollends zu verscherzen, auch zu den
Lichtseiten unserer Friedenshelden über. —
Sobald wir jedoch diese auf den Fingern abzählen wollen, werden wir mit
Einer Hand mehr als ausreichen, würden wir nicht die andere dieses niederzu¬
schreiben benöthigen. Die Cardinaltugend der Friedeusjünger ist passiver Wi¬
derstand, den dieselben jederzeit und überall an den Tag legen, wo ihr Herz
sich ja einmal zur Unzufriedenheit hinneigt. Dadurch sind sie aber die unschäd¬
lichsten Menschen der Erde, weil sie sich nie zur That hinreißen lassen und ihren
Groll eher in deutschbaierischem Gerstensaft ertränken, als ihn auf die eben domi-
nirende Außenwelt zu übertragen. Sie huldigen der gesetzlichen Freiheit, worun¬
ter sie jene verstehen, die leise auftritt und beim ersten Hinderniß davon schleicht.
In Prag war diese ihre Eigenschaft insofern heilsam und ersprießlich, als sie das
beste Mittel abgab, die Zeit schadlos und ruhig zu erwarten, wo die Herrschaft
der nationalen Phantasten und ihrer deutschfeindlichen Getreuen in die Gruft
steigen sollte. Die Sicbenundsechzigcr sind ihrer überwiegend größern Zahl nach
deutschen Stammes. Man denke sich daher den Besitz in solche» deutschen Hän¬
den, die herausfordernd der czechischen Nationalpartei den Fehdehandschuh hinge-
worfen hätten und aktiv geworden wären, welche verheerenden Flammen müßten
aus jenem Holzstöße emporgestiegen sein, wo ohnehin so viel empfänglicher Zunder
angehäuft war, daß selbst ein kleines Fünkchen die Seelen zum Brande brachte? —
Da war es des Michels Glück, daß er eben Michel war, und ruhig die Hand in
den Schooß legte, zu Allein nickend, was da geschah; mitschreiend, wo gescvrien
wurde, und der Dinge harrend, die da zu seiner Befreiung kommen sollten. Ich
erinnere z. B. an jene Sitzung des deutschen constitutionellen Vereins im Convikt-
saale) wo das Hausrecht und die Redefreiheit von den Czechen so gröblich ver¬
letzt wurde, daß es ohne Da^wischenknnft Strobach's sicherlich zu traurigen Thät¬
lichkeiten gekommen wäre, blos deshalb, weil man dort von einem Anschluß an
Deutschland zu sprechen wagte. Das war aber auch der kritische Tag, wo in Prag
deutsche Interessen in so öffentlicher Weise vertreten und zertreten wurden und
von demselben Momente konnte selbst der wahrhaft Liberale viele Vortheile erken¬
nen, welche ans dem Bestände der hier lebenden massenhaften Gutgesinnten
in Zukunft für den Deutsch-Böhmen erblühen dürften. So ist es ihrem passiven
Widerstand zu danken, daß das deutsche Element in Böhmen dennoch wieder aktiv
zu werden vermochte, und sich nicht vollends unter das czechische Joch zu beugen
gezwungen wurde.
In der Gegenwart, wo das demokratische Gebiet der Zeit durch die uner¬
bittliche militärische Nivellirung schwindsüchtig geworden, und einzelne Stoßseufzer
die ziemlich befestigte Ruhe nicht mehr zu stören vermögen, hat der Siebenund¬
sechziger freilich einigen Reiz verloren, wenn er ihn nicht dnrch die Würze der
Konversation neuerdings gewinnt. Ich erkenne Ihre Sehnsucht, mit einem solchen
politischen Hypochonder Bekanntschaft zu machen. Treten wir in dieses Gasthaus.
Es bietet Ihnen nebst guter Speise in.d Trank auch ein schönes Sümmchen solcher
interessanter Personen. Betrachten Sie diese Gruppe, die dort friedlich debattirt,
aber mit gerötheten Gesichtern — ob vom Bier oder vom Eifer, gleichviel, —
diese Gruppe gehört der heiligen Zahl an. Worüber sie wohl ihre Weisheit er¬
schöpfen mögen, die guten Vaterländer der gesetzlichen Ordnung! Ich höre den
Namen „Rieger." „Abkrageln," sagt der Eine, ein reicher Geldwechsler, schon
mit etwas lallender, also nicht ganz zurechnungsfähiger Zunge, „nur abkrageln.
Eher ist keine Ruh, bis alle Rebellen ihre Toilette am Galgen empfangen." —
„Dieser Rieger," sagt der Zweite, eine Advokat, „schade, ein so guter Kopf und
ein so böses Herz. Schade um ihn. Wenn er sich auf etwas Anderes, als auf
die Freiheit verlegt hätte, da wäre was aus ihm geworden, aber nun wird er
nie mehr zu einem Amte kommen." — „Wie fein," sagte der Dritte, ein stark-
beleibter Hausbesitzer, „wie fein. Geht nach Paris auf Reisen und conspirirt
gegen nus. Warte Schurke, man wird dir schon dein Fell zu gerben wissen,"-—
Das ein kleines Tischgespräch unserer Helden, die verdammen, ohne erst juridisch
oder selbst vernünftig das Verdammungsurtheil begründen zu können, die jeder
herumstreifenden Mähr — sei sie Hoffnung oder Schrecken, Lob oder Verdam¬
mung Glauben schenken, während selbst Pulsky, der wohl zu Oestreich in
einem solchen Verhältnisse steht,-daß er selbst keinen Vortheil darin finden kann,
jene Czarkorycky'sche Konferenz zu leugnen, dieselbe dennoch zu Gunsten Rieger's
in Abrede stellt, wiewohl die Kunde durch ö7 Blätter eilte. Aber das Denken
ist dort schwer, wo Vorurtheile den Weg dazu verrammelt haben und das ist bei
dem Siebenundsechziger der Fall.
Schließlich zwei Persönlichkeiten, welche die Fama an die Spitze der hiesigen
Gutgesinnten gestellt hat und welche ich Ihnen, unbeschadet ihres sonstigen per¬
sönlichen Charakters, in ihrer politischen öffentlichen Gestalt gebe.
Eine barocke Erscheinung nach Außen und nach Innen, gilt allgemein als
Zunftmeister der prager Gutgesinnten. Er kam vor mehrern Jahren aus dem
Auslande nach Böhmen, wo er Leiter der Haase'schen Lithogrcwhie wurde. Er
entzweite sich bald mit seinem Fabrikherrn und lithographirte von nun an selbst¬
ständig. Damals konnte man an der Thür seines Bureaus die seltsamen aber
erbaulichen Worte lesen: „Nicht Herr von Hennig, sondern Herr Hen¬
nig;" wobei zugleich von ihm eine Strafe — ich glaube 1 Fi. — für denjenigen
zu Gunsten der Armenkasse dictirt war, der gegen dieses Gebot verstoßen würde.
Er war vor den Märztagen ein fürchterlicher Pfaffenfeind, eine Art vormärzlicher
Wühler, der in jedem Geistlichen einen Jesuiten und in jedem Bureau einen
Geistlichen witterte. Nach dem Grundsatze: Tempora mutantur et lo8 mutantur
in Mi8! hat sich auch dieser Mann geändert, und es gibt jetzt keinen eifrigem
Verehrer der Aristokraten und des Fürsten Windischgrätz und keinen größern Feind
der Swornost und aller Demokraten, als Herrn Hennig. Jene Petition wurde
von ihm veranlaßt und in letzter Zeit befaßte er sich auch mit politischer Literatur,
wie er denn erst vor Kurzem ein gar leidenschaftliches Büchelchen herausgab, worin
er seine patriotischen Mitbürger zu einem Proteste, hört! zu einem Proteste gegen
die von der Londoner City an das dortige Parlament gestellten Ansinnen wegen
der Lostrennung Ungarns von Oestreich aufforderte und vorläufig allein Prote¬
ste. (!!) Er empfahl selbst diese Schrift in öffentlichen Straßen-Annoncen als
„Gift sür alle Gattungen von Wühlern und Demagogen, Gegengift für alle Ver¬
schrieenen und Jnfizirten, Brausepulver sür die Feigen und Unentschiedenen" kurz
als eine vollkommene Apotheke. Ich war natürlich auf den Anhalt dieser äskula¬
pischen Politik sehr gespannt und neugierig, und fand in der That darin gar
entsetzliche Enthüllungen über die englische Politik, über den---Lord Feuerbrand,
über die Wähler und endlich wirklich den leibhaftigen feierlichen Protest. Zittre
Britannien, Hennig protestirt, senke deine Flaggen, Königin der Meere, Hennig
protestirt, steige Vom Throne, Viktoria, Hennig protestirt und schmiedet nun in
seiner Werkstätte — wenn auch >>ost t'vstum — die lithographirten Ketten, um
den europäischen Neptun zu beugen! —
Das Aeußere Hennig's ist auffallend. Ein kleiner bejahrter Mann, in stets
feierlich schwarzer Kleidung, mit übertrieben raschem Gang und Benehmen; un-
stäten Augen, die er immer unter Glas hält, und heftigen Gesten. Dabei ist er
bisweilen witzig, ritterlich und human; er besucht z. B. seinen Feind Havljczk im
Gefängniß und bezeugt ihm sein Beileid über die unangenehme Behausung. Sonst
ist er freundlich gegen Jedermann — ja selbst zuvorkommend, wie auch in seinem
Privatcharakter untadelhaft.
Die Jugend und das Mannesalter des Genannten bilden einen seltsamen
Contrast. Fischer ist der Sohn eines gräflich Kinsky'selen Wirthschaftsrathes,
welcher unter den Ersten in den Dominien dieser Gegend das Rab'sche System
eingeführt hat und dadurch in großer Huld bei seinen Gönnern stand. Der junge
Sohn wurde aber in seinem Studieuleben bald von burschikos-liberalen Ideen
Heiingesucht und in dem Prager Studententumulte des Jahrs 1819 ward unser
Fischer als einer der Jugravirtesten verhaftet, was ihm und, nebenbei gesagt,
auch seinem Kollegen, dem nachmaligen Neichstagsdeputirten Adolph Pinkas, auf
zwei Jahre seine Freiheit kostete. Dem Einfluß und dem Gelde seines Vaters
gelang es dennoch, nach dieser Zeit der Sache die Wendung eines Mißverständ¬
nisses und irrtümlicher Personenverwechslnng zu geben, wodurch der Verhaftete
seine Freiheit wieder erlangte, und als Entschädigung für den unverdienten langen
Arrest mit Uebergehung älterer Juristen nach seiner Promotion zum Landesadvo¬
katen befördert wurde. Fischer ist jetzt Anwalt mehrerer Herrschastshäuser, und
dieses, wie sein privilegirter Stand haben ihn zum starren Konservatismus ge¬
bracht, der jeder Neuerung abhold ist. Zwar wurde er im vorigen Jahre als
Dekan der juridischen Fakultät Mitglied jener Faster-trojanischen Deputationen,
deren großartiges Consnmtionsvermögen alle Welt in Erstaunen gesetzt hat und
nirgends mehr ein Geheimniß ist; aber trotzdem kann man ihm eben so wenig den
Vorwurf des Liberalismus machen, als den Verdacht gewissenloser Verschwendung
znwälzen, welcher gegenwärtig an so vielen Andern haftet. Aber als Dekan
machte er sich bei der studirenden Jugend dadurch verhaßt, daß er gegen die Zu¬
lassung einer Studentcnrepräseutanz in den akademischen Senat eifrig opponirte
und in einer öffentlichen Aulaversammlung unvorsichtig sogar in die Worte aus-
brach: „Ich protestire gegen jede Neuerung." Ein mehr als tausendstimmiges
„Zopf!" von übermüthigen Kehlen ihm zugedvnnert war der Lohn für diesen
Protest, die Sitzung, an der sich der ganze akademische Senat betheiligt hatte?
wurde geschlossen, aber die Rache der schreilustiger Jngend war es nicht. Den
Abend darauf erhielt er eine grandiose Psendosereuade und an Hellem Tage einen
fönulichen Gänsemarsch als Angebinde. Daß solche unartige Demonstrationen
nicht geeignet waren, ihn der czechischen Jngend zu gewinnen, ist klar; und wir
finden »nil auch als Stadtverordneten seiner Loyalität treublcibend in jeder
gutgesinnten Petition und Adresse seinen Namen so gut wie den Hennig's und
als einen der entschiedensten Gegner des Natioualgardemstituts, welches in Prag
allerdings zum Puppenspiele herabgesunken ist! Fischer ist in den besten Jahren,
ziemlich beleibt, ein heroischer Schnurrbart verbindet sich durch eine Brücke mit
einem starken Backenbarte und gibt dem fetten Angesicht ein martialeö Profil.
Der Antheil, welchen die Juden an den Ereignissen Ungarns nahmen, war
kein geringer. Wer das Vorurtheil zu bezwingen vermag, wird gestehen, daß in
diesem orientalischen Volke ein sittlicher Fond liegt, der pures Gold aus den tie¬
fen Schachten zu Tage fördert, in die mau es vergrub. Ausgcschlosscu von allen
bürgerlichen Rechten, und von allen Nationalitäten in gleicher Weise verfolgt und
bedrückt, gab weder dieses, leicht zur Vergeltung aufstachelnde Verhältniß, noch
die Nationalität und die Religion der Juden den Ausschlag, welcher politischen
Partei sie sich zuwenden sollen; nicht als Juden, sondern als Bewohner des Lan¬
des schlössen sie sich der Bewegung an, und daher findet man sie eben so in den
Reihen der „Rebellen" wie der „Öestreichischgesmnten," und zwar nicht zaghaft bei
der Reserve, sondern im Vordertxeffcn, Leib und Leben, Gut und Blut für ihre
Ansicht einsetzend. Ju dem Heere der Magyaren kämpften tausende Juden, dar¬
unter ein General und so viele invalid geschossene Gemeine; im Heere des Kai¬
sers wurden Juden auf dem Schlachtfelds wegen ihrer Tapferkeit decorirt, und
eine Menge Offiziere dieses Glaubens avancirteu zu sonst nie erreichten Graden.
Daß sich bei andern Beschäftigungen die Juden in beiden Lagern betheiligten,
wollen wir blos der Gewinnsucht zuschreibe». Allein als die oktroyirte Verfassung
die volle Emanzipation der Juden aussprach, hätte man glauben sollen, daß sie
die Reihen der Magyaren verlassen würden, um so mehr, da Kossuth und das
Debrecziner Parlament noch immer die bürgerliche Gleichstellung der Jsraeliten
nicht zu beschließen wagte». Mau proclamirte die Republik, und hielt dennoch
den confessionellen Unterschied aufrecht; vielleicht eben deshalb, um uicht durch
einen zweiten antiuationellen Beschluß das Land gegen sich aufzuregen. Den¬
noch hielten die Juden fest an der Partei der magyarischen Patrioten, und nicht
allein die jungen verließen ihre Eltern und ihren Besitz, um in die Schlacht zu
ziehen, wo die nebenstehenden Männer die weichlichen Soldaten oft höhnten und
dadurch zu unnützen Thaten aufstachelten, anch die alten und bedächtigen Jsraeli-
ten erglühten in Liebe und Hingebung für das Land und seine heroischen Führer.
Die Rabbiner und Prediger der Juden werden jetzt bestraft für diese Sympathien
gleich den katholischen Domherrn und protestantischen Seelsorgern, und die berüch¬
tigte Contribution Haynau's, den Judengemeinden solidarisch auferlegt, ist eine
Fo'ge der den Juden insgesammt zugemutheten Anhänglichkeit an Kossuth und
seine Bestrebung. Wollte Haynau die Sympathie bestrafen, so hatte er Recht,
sie war bei der überwiegenden Mehrzahl der ungarischen Juden sür die Ungarn.
Wir wollen eine Geschichte aus Kossuths Kinderleben, aus authentischer Mitthei¬
lung, erzählen, die einen charakteristischen Beitrag zur Aufklärung jener Sympa¬
thie gibt, welche die alten und frommen Juden für diesen Agitator bis zur letzten
Stunde seines Wirkens bethätigten. Während Patriotismus das jüngere Geschlecht
leitete, die Männer berechneten, folgten die Greise kabbalistischen Deutungen. —
Kossutl/s Vater war Advokat, und wohnte in einem nördlichen Comitate Un¬
garns, wo die ans Polen herübcrgewanderten Juden angesiedelt sind. Man findet
die Seele der Chaßidim, und die langen Talare, Pelzkappen, Ringellocken und
andere Aeußerlichkeiten unterscheiden uicht blos die fremden von den einheimischen,
sondern auch die bigotten von den etwas minder orthodoxen Juden. Gegen den
weit und breit im Gerüche besonderer Frömmigkeit und Heiligkeit stehenden Rab¬
biner zu Aphely führte Kossuth's Vater einen ärgerlichen Prozeß. Der Grund
desselben ist unbekannt; er dauerte aber, wie gewöhnlich in Ungarn hartnäckig be¬
trieben, lange, und es starben im Laufe dieser Zeit zwei Söhne des Advokaten und
endlich er selbst. Die abergläubischen Juden sprengten nun ans, das sei der Fluch
des Rabbiners, und selbst die Katholiken und Calviner bekamen einige Scheu vor
der Macht des jüdischen Geistlichen, zu dem Kranke und Preßhafte aller Kon¬
fessionen strömten, um sich durch seine Wunderkraft heilen zu lassen. Der Rabbi
genoß großes Ansehen, er war ein kluger und erfahrener Mann, und benutzte den
Glauben seiner Stammgenossen und der uncultivirten Umgegend wie die Wnnder-
männcr anderer Religionen. Des Advokaten Frau fürchtete, daß auch ihr letzter
Knabe, Ludwig Kossuth, dem Fluche des Rabbi verfallen sei, und das Mutterherz
trieb sie hin zu dem bärtigen Manne, um Vergebung zu bitten für die Unbill,
welcher ihr Mann ihm angethan. Der Rabbiner, dessen Ansehen und Einfluß
durch einen solchen Vorfall gewinnen mußte, war leutselig und zuvorkommend,
und der greise Priester brachte es durch dieses Benehmen dahin, daß die Calvi-
nistin um seinen Segen bat sür ihren Sohn. Der kluge Rabbi zögerte zu will¬
fahren; er betrachtete den Knaben und unterhielt sich mit ihm. Geist und Leb-
hastigkeit zeichnete scholl damals das Kind aus, und mehr als dies mag vielleicht
der Umstand auf den Rabbi gewirkt haben, daß Ludwig nicht mit Hohn und Mi߬
achtung ans die fremdartige Umgebung blickte und noch nicht jene Schen zeigte,
die nahe an Abscheu grenzt. Wir wollen das Ausmalen dieser Seelenzustände
eines klugen Rabbi, einer beängstigten Mutter und eines geistvollen Knaben, einer
dichterischen Feder überlasse»; die Thatsache ist, daß der Rabbiner seine Hände
auf den Kopf des Kindes legte, und ihn segnete. Für ein so großes Ereigniß
wurde dies in jeuer Gegend betrachtet, daß die Kossuth'sche Familie den vom Rabbi
citirten Psalmensprnch sich notirte: Ps. V0, V. 6 nett!et!>, l'«jönck!t »os Ivlu«»»«^
mipnv Ktiscliot sein. Deutsch: Du verleihest deinen Frommen ein Panier, um
damit zu glänzen ob der Wahrheit willen.
Der Rabbiner wählte diesen Vers wegen des Wortes „Xosclwt." Man kennt
diese Wortklaubereien und peripathetischen Spitzfindigkeiten der Talmudisten. Kn¬
öchel heißt Wahrheit, aber die AusleguugSbeflissenen schoben den Sinn unter:
Dn verleihest deinen Auserlesenen ein Panier, um damit zu glänzen ob Kossuth'ö
Willen (sprich Koschut).
Diese philologische Unrichtigkeit that dem Segen und seiner Bedeutung bei
den Jsraeliten keinen Abbruch. Der Aphelyer Rabbi hatte dem Knaben noch dazu
eingeprägt, nicht feindlich zu sein gegen die armen Juden, und Ludwig Kossuth
zeichnete sich sogar in der Schule durch Toleranz ans. Diese kleinen Züge und
da er wirklich am Leben blieb, gaben den Worten des Rabbi noch mehr Gewicht.
Als Ludwig Kossuth seine größere politische Wirksamkeit begann, äußerte er
sich in liberalem Sinn über die Verhältnisse der Juden, und in der letzten Zeit
suchten die frommen und gläubigen die bereits verschollene Anecdote wieder her¬
vor, um an den Spruch eines ihrer Weisen die Hoffnung für die Zukunft zu
knüpfen. Der erwähnte Psalm wurde in den Synagogen gebetet, und fand die
spitzfindigsten Deutungen; schon das Finden des Wortes in der heiligen Schrift
wurde als ein Zeichen Gottes angesehen.
Kossuth aber, seiner Politik Alles opfernd, verschob die Anerkennung der Bür¬
gerrechte der Juden immer auf spätere Berathungen, um nicht Antipathien rege zu
mache», die seine Reihen entzweien konnten. Die Juden bluteten ans den nngar.
Schlachtfeldern, Kossuth benutzte sie zu vielen Diensten, und selbst einer seiner
Geheimsccretäre war ein Jude; aber die Emanzipation wurde erst in Szegedin,
als schon die Russen ans den Fersen waren, im Prinzip anerkannt.
Die östreichische Regierung erkannte die Nothwendigkeit das gährende Element
zu besänftigen. Stadion der in Polen Gelegenheit hatte, die Rührigkeit und Zä¬
higkeit der Juden kennen zu lernen, erkannte die fortdauernde Gefahr für Oest¬
reich, wenn diese an Geld und Geist reiche Menschenclasse wieder in's Ghetto
zurückgedrängt würde. In Wien wußte man, daß Pillersdorf's Sturz und die
Verwerfung seiner Verfassung großen Theils in der Nichtausführung des Prinzips
confessioneller Gleichstellung in allen bürgerlichen Rechten ihren Grund haben.
Die Sturmpctitiou des 15. Mai 1848 hat gleiche Ursache. Das Schwarzen-
berg'sche Cabinet entzog diese natürlichen Bundesgenossen der demokratischen Frak¬
tion in Oestreich; Kossuth aber geschah hiedurch kein Abbruch, da die ungarischen
Juden trotzdem aus Vaterlandsliebe bei ihm ausharrten. Der Segen des Rabbi
weihte ihn in den Augen der Orthodoxen ungeachtet der verzögerten Emanzipation.
Der „Wanderer" enthält folgenden Brief der Frau v. Maderspach, den die
Redaktion aus achtbarer Quelle zu haben versichert. Wir können nicht umhin,
denselben unverkürzt in unsere Spalten auszunehmen:
„Ruskby, 18. September. Ich werde Ihren theilnehmenden Herzen die
Schicksale meines Hauses erzählen mit kalter Ruhe, denn mein Herz ist zu Stein
geworden. In unserer nächsten Nähe übergab sich eine Armee der Ungarn, 10,(100
Mann mit 40 Kanonen. Zwei Tage später rückten die kaiserlichen Truppen, eine
Abtheilung Lichtenstein Chevanxlegers mit einem Rittmeister .... aus .... ge¬
bürtig in Ruskby ein. Ich mag wohl durch mein großes beneidenswerthes häus-
liches Glück mir Feinde in Nnskby gemacht haben, die sich vorgenommen es zu
zertrümmern, denn keiner andern Schuld bin ich mir bewußt. Zwei Familien,
gemeine ungebildete Faunen, . . . . und .... vereinigten sich mit oben besagtem
Rittmeister das Gräßliche zu beginnen. Genug, ich wurde ans den Armen meines
Gatten, aus dem Kreise meiner Kinder, aus den heiligen Mauern meines ge¬
ehrten Hauses gerissen, ohne Klage, ohne Verhör, ohne Richter in einem Quarree
Militärs, in meinem eigenen Orte, Angesichts der Bevölkerung, die gewohnt
war mich zu ehren, nicht weil ich ihre Herrin, sondern mein Wandel es verdient,
mit Ruthen gepeitscht. — Sehen Sie, ich schreibe dieses Wort nieder ohne zu
sterben! Aber mein Mann gab sich den Tod. Aller Waffen beraubt erschoß er
sich mit einem Polier. Ein Schrei des Entsetzens erfüllte die Lust. Ich wurde
weiter nach Karansebes geschleppt. Das Volk wollte die Urheber dieser Gräuel
tödten, nur der Schutz des Militärs rettete ihr Leben. Mein älterer Sohn wurde
mit der Görgey'schen Armee gefangen und als Gemeiner nach Italien gesandt,
und so ist das Maaß meines Elendes voll. Können Sie sich einen Begriff meiner
Gemüthsstimmung machen? Sie kannten meines Gatten nicht. Ich sage Ihnen,
es gibt und wird nie einen edleren, erhabneren ^anbetungswürdigeren Charakter
geben als er war. Die Werke seines Geistes sind bekannt, er ist der Erfinder
der eisernen Bogenbrücken, an ihm hat die Welt verloren. Mein Unglück ist
grenzenlos und ohne Beispiel sind die Qualen, die ich ausgestanden. Mein Lei¬
den wird ewig sein. Sie werden begreifen, daß ich an nichts zu denken vermag,
als an mein Unglück. N»r der Wunsch, meinen Sohn zu befreien, belebt mich
noch. Er ist nach Gratz transportirt, haben Sie Bekannte dort, o so gedenken
Sie meines armen 18jährigen Sohnes."
— Vergangenen Montag hat die Nationalversammlung wieder ihre Sitzungen
begonnen. Der Zudrang zu den Galerien ist ein sehr geringer gewesen, das Pu¬
blikum ist der Politik müde bis über die Ohren und die einstigen Magnete, welche
es in die Sitzungen zogen, sind daraus verschwunden und träumen im Exil von
bessern Zeiten. Nichts destoweniger hat die Assembler nationale ganz ihr altes
Gepräge beizubehalten gewußt und überall begegnen dem neugierigen Blick be¬
kannte Gesichter. Der Präsident Dupin trägt noch dieselben schweren und mit
dicken eisernen Nägeln beschlagenen Schuhe, welche längst in ganz Frankreich histo¬
risch geworden sind, der kleine Weltmann Thiers lächelt noch immer einem Jeden
freundlich wohlwollend durch die Brille zu, die große, mit Warzeugcbirgen besäete
Nase Tascherean's scheint an Umfang und Jntensivität der Farbe während der
Vacanzen gewonnen zu haben, und der starke Marquis Larochejaqneliu weiß noch
immer die theatralisch-majestätische Pose zur Geltung zu bringen, welche dem letz¬
ten Sprößling großer Ahnen wohl geziemt. Was wird uns diesmal die Ver¬
sammlung wohl bringen, Gutes oder Schlimmes? Wahrscheinlich einen Konsul
auf Lebenszeit, und in welche Kategorie diese Gabe gehört, das ist im Voraus
unmöglich zu entscheiden. So sehr aber auch jeder Pariser davon überzeugt ist,
daß diese Würde auf Louis Napoleons Schulter gelegt werden wird, ebenso sehr
ist er es auch davou, daß der Prinz sie nicht mißbrauchen, es nicht wagen wird, sich
zum Kaiser ausrufe» zu lassen. Dazu fehlt ihm der Anhang, und er hat bis
jetzt nichts gethan, sich denselben zu verschaffen.. Seine Stellung zur National¬
versammlung ist eine schiefe, sie würde unhaltbar sein, wenn die eifersüchtigen Rei¬
bungen der Parteien ihn nicht sortwährend über dem Niveau der Wogen erhielten.
Wie es mit den Sympathien der Assemblee für die republikanische Staatsform
aussteht, können Sie daraus entnehmen, daß von den siebenhundert fünfzig Depu¬
taten nicht weniger als fünfhi^ert neunzig ganz gute Royalisten sind. Diese
geben sich alle mögliche Mühe, die Form des Gouvernements zu ändern, und da
Napoleon Louis keineswegs große Lust zeigt, einem Andern Platz zu machen und
als ein sehr mächtiger Stein des Hindernisses im Wege liegt, so hoffen sie den-
selben nicht allein dnrch das Konsulat zu irgend einem gewagten Wciterschritte zu
verleiten, sondern auch dnrch jenes das Volk ans die Monarchie von Neuem vorzube¬
reiten. Aber der Präsident wird schwerlich in die Falle gehen, und die Nation, d. h.
der jetzt dominirende Kern derselben, die Arbeiter, sind so entschieden socialistisch-repu¬
blikanisch, daß ein jeder Versuch der Bourgeoisie, gegen welche unter ihnen eine
maßlose Erbitterung herrscht, das Haupt zu erhebeu und an der bestehenden Staats¬
form zu rütteln, zu den blutigsten Kämpfen führen würde. Es ist kaum glaublich,
mit welcher Geschicklichkeit, Kühnheit und Ausdauer die Führer der Socialisten die
unteren Schichten der Gesellschaft zu bearbeiten, gewinnen und zu organisiren ver¬
standen haben. Kein Zweifel, Einigkeit und innere Kraft machen die socialistische
Partei in Frankreich zu einem höchst gefährlichen und drohenden Körper. Ein Zu¬
sammenstoß mit demselben würde heutzutage wahrscheinlich noch weit furchtbarer
werden, wie in den Junitiigen, und selbst die mit den Hilfskräften der Regierung
genan bekannten Männer schütteln bedenklich den Kopf, wenn mau über Möglich¬
keit und Erfolg einer neuen Nevolie debattirt.
Die Parteien in der Nationalversammlung sind consolidirt und haben ihre
Phalangen geschlossen, Führer und Sprecher, Organe und Berathungslocale ge¬
wählt. Gegenwärtig sind die Legitimisten die zahlreichste und mächtigste Partei.
Die Anhänger des 0>me« <Jo (>>,!>,enden-it, Henry V., haben ihr Ziel mit einer
Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit verfolgt, welche ihnen Bewunderung zollen macht.
Dadurch ist es ihnen gelungen, sich vou einem kleinen Stamm, der in Louis
Philipps ersten Negieruugsjahreu zwar bemerkbar genug emporstrebte, aber vou
der Negierung mit Geringschätzung betrachtet wurde, zu einem riesig verzweigten
Baum auszubreiten, der allenthalben hin seine Aeste und Wurzelausläufer sendet.
Im ganzen M^i «Jo 1^ I^imo.-, in der Bretagne oder Vendve bildet die legitimi-
stische Partei die Mehrzahl der Bevölkerung. Ihre Chefs in der Nationalver¬
sammlung sind hauptsächlich Berrycr und Larvchejaqnelin. Den letzteren habe
ich Ihnen schon früher zu schildern versucht; er repräsentirt das noble und cheva-
lereöke Element in der legitimistischen Fraction, Berryer dagegen ist der gelehrte
Kämpfer, der elegante Polyhistor, der weise Schiedsrichter der bourbonistischen
Salons in der Chaussi-e d'Antiu und Nile Richelieu. Das vorzüglichste Organ
der Interessen Heinrichs des Fünften ist die Gazette de France. Ihr langjähriger
Redacteur, der vielbekannte und oftgenannte Ubbo de Genonde, ein Zögling der
Jesuiten, ist kürzlich an der Cholera gestorben und wurde dicht neben seinem un¬
versöhnlichen Feind Bugeaud auf Pere la Chaise begraben. Der Ubbo de Ge¬
nonde hatte nnr einen Wahlspruch: Gott ist groß und Chateaubriand ist sein
Prophet — die Bourbonen aber sind die geborenen Stellvertreter Gottes aus
Erden. Sein Nachfolger in der Redaction ist Herr de Lonrdaix, ein Mann, dessen
Fähigkeiten groß genug sind, welcher aber keineswegs die eiserne Consequenz des
Abb^s besitzen und daher blos eine Maschine in der Hand der Parteihäupter sein
soll. — Die zweite Fraction der Assemblue nationale bilden die Orleauisten
oder die Anhänger der Familie des Exkönigs Louis Philippe. Dieselben zerfallen
in zwei Spaltungen, von welchen die eine unbedingte Zurückberufung der Familie
Orleans mit der Wiedereinsetzung des alten Bürgerkönigs im Hintergründe, die
andre blos eine Regentschaft für den Grafen von Paris will. An der Spitze der
ersten steht der alte Molo. Dieser merkwürdige Mann, welchen alle Parteien
wenigstens für ehrlich halten, hat seine persönliche Freundschaft für Louis Philipp,
mit welchem er gar manches gute Geschäftchen gemacht haben soll, so innig mit
dem Wohle des Staats amalgamirt, daß er beide nicht mehr zu trennen vermag.
Er hat Verstand und Mittel, aber seine Sache ist nicht die Beste, und darum
wird er scheitern. Sein Organ sind die Dcbatö, welchen zugleich Rothschild seine
zärtliche Theilnahme und seinen noch werthvolleren Kredit zugewendet hat. Die
zweite Fraction besitzt den Cvnstitntionel, und ihr Chef ist Thiers. Wer kennt
ihn nicht aus seinen Schriften, aus seinen Reden, welche in alle» Zeitungen der
Welt abgedruckt wordeu sind, endlich ans den tausend und aber tausend Carrica-
turen, eine wie die andre, mit welchen Cham den kleinen Reactionär fortwährend
verfolgt? Thiers ist jedenfalls der geistreichste Franzose, d. h., er besitzt jenen
sprichenden, hüpfenden Esprit der wie Funken eines Feuerwerks blendet aber dann
auch nichts weiter in der Seele zurückläßt. Anerkennenswerth ist die Haltung des
kleinen Mannes in der Kammer; er versteht es immer zu imponiren und seinen
Gegnern eine Blöße abzugewinnen, so wenig diese im Stande sind, jemals seine
Achillesferse zu entdecken — denn er hat keine und alle Pfeile gleiten ab an die¬
sem glatten, ewig lächelnden Staatömännlein. Eine dritte Spaltung der Orlea¬
nistm wird durch das Journal La Patrie repräsentirt, welches sein Leben und
seine Erhaltung insbesondre dem Patriotismus des Banquiers Delamarre verdankt.
Jene spricht sich uicht bestimmt genug über ihr Wollen und Ziel aus; es scheint,
daß sie einer Verschmelzung der bourbonischen und orleanistischeu Interessen, etwa
durch das Medium der Adoption des Grafen von Paris durch Henry V. nicht
abgeneigt ist. Die Freunde der vertriebenen Königsfamilie leben vorzüglich in
Paris — alle b»n« bon-ALuis können den Alten mit seinem Regenschirm nun und
nimmermehr vergessen — ferner in der Normandie dn Cotv de Havre, im Depar¬
tement Calvados ze. Als dritte Partei der Nationalversammlung sind die echten,
oder gemäßigten Republikaner zu nennen. Ihrer sind verhältnißmäßig außeror¬
dentlich wenige; ihre Hauptvertreter sind in der Kammer Lamartine und Cavaig-
nac, — Butter und Brot, oder Trompete und Säbel wie der Volkswitz sie zu
nennen beliebt. In der That gleicht die bodenlose romantische Schwärmerei des
Dichters der Meditativnö, welche er in streng politischen Angelegenheiten noch mehr
am Orte hält, wie in Poesien, der in der Sonne rührender Wehmuth zerfließen¬
den Butter und keine Trompete hat noch so schmetternd und beharrlich ihren Ton
in die Welt geblasen, wie Lamartine sein Selbstlob. Dieser Mann ist sehr schnell
von dem Gipfel herabgerntscht auf welchen ihn die Begeisterung eines Moments
gehoben hatte. Dagegen steht Cavaignac noch in demselben Ansehen, wie je zu¬
vor. Der energische Feldherr ist ein energischer Federbett geworden, und sein
Journal, le Credit, beweist, daß er sich eben so gut in der Arena der Wortge¬
fechte zu tummeln versteht, wie im Sande der Wüste bei irgend einer Razzia.
Lamartine legt die salbungsvoll poetische Weisheit seiner politischen Meinung jetzt
im Siocle nieder. Ein anderer Mann dieser Partei, früher ihr Anführer, der
ehemalige Präsident der Constituante, Armand Marrast, ist bei den letzten Wah¬
len zur Legislative total durchgefallen. Er hat dies selbst verschuldet durch thö¬
richte» Hochmuth und ein Betragen, das ihm bei allen Parteien Feinde erwarb.
Jetzt muß der rollt in-u-Pli« N-n-i-list, wie er spottweise genannt wird, sich be¬
gnügen, im Hintertreffen zu stehen und im Dunkeln zu wühlen.
Die Socialisten bilden die vierte Partei und jedenfalls die am besten orga-
nisirte. Zu der Fahne der la Montagne schworen mindestens A aller Arbeiter in
ganz Frankreich, und, wie die letzten Wahlen es ans das Evidenteste bewiesen
haben, beläuft sich deren Anzahl allein in Paris anf mindestens i:!0,0tlo. Ihre
Führer sind in der Kammer Etienne Arago, Charras, Jules Favre, Lagrange,
Lammenais, Savoie ?c., aber diese besitzen nicht die Energie und das Talent der
Hanpthähne Ledru-Nollin, Proudhon, Considerant ze., welche jetzt leider theils
auf der Flucht, theils im Gefängniß find. Seitdem diese vom Schauplatz abge-
treten sind, hat die socialistische Partei, trotz ihrer guten Organisation, sehr viel
eingebüßt an Einigkeit und Taktik. Merkwürdig ist dabei aber immer und sehr
bezeichnend, daß sie trotz aller Uneinigkeit unter sich, dem Feinde gegenüber stets
wie ein Mann steht und stimmt. Barbvs lag im Krieg mit Blauqni, Proudhon
mit Considerant, dieser mit Cabet, Louis Blanc mit Allen zusammen und mit
der ganzen Welt; jeder hat seinen socialistisch theoretischen Standpunkt wüthend
vertheidigt und mit Worten um sich geworfen, welche anderswo ewige Trennung
nach sich ziehen würden — aber mein, die Pariser Socialisten bekämpfen in ihren
verschiedenen Spaltungen sich einander selbst sehr hartnäckig, noch hartnäckiger
aber ihren Feind, die Bourgeoisie, und uuter diese rangirt, wer nicht zu ihnen
gehört. Ledru-Nollin ist seiner Zeit als der Klügste der Dictator des französi¬
schen Socialismus gewesen blos deshalb, weil er sich über dessen einzelne Par-
teiungen gestellt und es verstanden hatte, alle zu gemeinsamem Zweck im Handeln
zu vereinigen. Welches Ansehn dieser gefeierte Volkstribun genoß, wie sehr ihn
das Volk, nicht allein von Paris, sondern von ganz Frankreich ehrte und liebte,
davon kann man sich im Ausland gar keinen Begriff machen. Talent war dem
Manne nicht abzusprechen, auf der Rednerbühne riß er die Zuhörer unwillkürlich
hin und behandelte die Rechte mit Keulenschlägen so schonungslos und übermüthig,
daß immer ein Zucken der Furcht dnrch ihre Glieder fuhr, sobald Ledrn-Rollin
die Tribune bestieg. Und dennoch ist er selber der Mann der bleichen Furcht ge¬
wesen am verhängnißvollen 13. Juni. Damals war er das zitternde Werkzeug
in der Hand 'Anderer, welche sich seiner zu bemächtigen verstanden hatten; von
ihnen begleitet, mit Argusaugen gehütet, wurde er gezwungen, sich an die Spitze
der Bewegung zu stellen. Als er seinen Umzug durch die Straßen hielt, ritt der
Sergeant Boichvt, die gespannte Pistole in der Hand unterm Mantel, immer dicht
hinter ihm — der Soldat hatte geschworen, ihn bei den geringsten äußern Zeichen
der Zaghaftigkeit, welche in ihm war, augenblicklich niederzuschießen! Nachdem
sich im Conservatoire des Arts et des Metiers der Convent gebildet hatte, war
Lcdru-Nollin der Erste, welcher eine passende Gelegenheit ergriff, Reißaus nahm
und in schmutziger Blouse verkleidet glücklich »ach England floh. Alle diese Ein¬
zelnheiten sind jedem Franzosen bekannt, Keiner wagt sie zu leugnen, und dennoch
ist Ledrn-Rollin noch immer der Abgott des Ouvriers. Unbegreifliche Blindheit
des politischen Fanatismus - auch er kennt eine Affenliebe. — Diejenigen De¬
partements, welche die meisten socialistischen Wähler auszuweisen vermögen, sind
das all K«8 libin (Elsaß), (In 1nu.n« (Lyon) und das ac I-l Loire (Paris selbst).
Aber in allen übrigen leben sie zerstreut, und ihr Stamm siud allenthalben die
Gesellen der Handwerke in großen und kleinen Städten, die Fabrikarbeiter und
Tagelöhner. Ihre hauptsächlichsten Organe — und es gibt deren mehr, als der
gesammten übrigen politischen Richtungen zusammengenommen, sind in Paris:
1^ voix <in peliplv (ehedem Jo ?eunt«z 6e ?ro»duo»)z I^>e l'pays, iiolormi-,
in-mocnttiv ^-reiÜPiv (!v jnuriüll ni>»kunst«;rion clz tÄtt«>cI<5r!me), und vor
Allen I^v NiUwn.'et, welcher früher unter Marrast's Redaction das Organ Ca-
vaignac's und der Seinigen war. Einen neuen Champion hat die socialistische
Presse jetzt gefunden in dem berüchtigten Emile de Girardin. Das ist ein Mann
von scharfem, durchdringendem Verstand und vielen Kenntnissen — mais ein- in-n-
o>'"8« loi, »„ ,,en <-.-mi,i!to. Er war in allen Lagern — nachdem er zuerst Le¬
gitimst, dann Philippist, vor der Wahl Napoleons Bonapartist gewesen, ist er
nunmehr förmlich zum Socialismus übergegangen. Längst ist er ein genauer
Freund Proudhon's gewesen. Es ist Schade um die Fähigkeiten Girardin's, welche
er von jeher auf das Unverzeihlichste vergeudet hat. Sein Journal, La Presse,
ist eines der größten, bedeutendsten und gelesensten in Paris und es ist mit dem¬
selben ein trefflicher Bundesgenosse ans die Seite des Berg's getreten. Daß die
Weiber der großen Mehrzahl nach ans der letzteren stehen, ist leicht begreiflich.
Sie haben es wohl schon gelesen, daß mehrere Frauen als Prätendenten zur Wahl
"l die Nationalversammlung aufgetreten siud, indem sie ihre mit Füßen getretenen
heiligen Menschenrechte, so gut wie die des Mannes, mit vieler Entschiedenheit
reclamirten. Sie sind durchgefallen, die Beklagensivcrthcn, aber trotzdem war ihr
Muth nicht gebeugt. Er sprudelte so über, daß bei dem großen socialistischen
Banquette in voriger Woche die Excandidatin Jeanne Derouin eine andere socia¬
listische Dame, Madame Rebollet, auf Pistolen forderte, als die letztere die Kühn¬
heit gehabt hatte, zu sagen, sie fände es unpassend, wenn Frauen in der Assem-
bl«-e nationale Sitz und Stimme bekämen. Das Duell fand wirklich am folgenden
Tage im Bois de Boulogne statt und die Kandidatin erhielt eine tüchtige Ver¬
wundung von ihrer braven Gegnerin. Nehmt ein Exempel d'ran! Sonst ging es
bei jenem Banquett, welches gewissermaßen der feierliche Einwcihungsact der neuen
Sitzungsperiode von Seiten der Socialisten war, sehr ruhig und anständig zu,
was einigen Zuschauern aufgefallen ist. Ueberhaupt nimmt sich la Montagne
außerordentlich zusammen. Lammenais, welcher jetzt, nachdem Nibeyrolles nach
England decampirt ist, die Reforme redigirt und eines der Parteihäupter ist, hatte
vor Eröffnung der Nationalversammlung alle Mitglieder des Bergs versammelt
und ließ dieselben den feierlichen Schwur leisten, sich während der kommenden
Debatten stets ruhig, ernst, still und würdig zu halte»! Sie schworen Alle, aber
das kleine Journal, welches andern Tages die ga»ze Scene hämisch beschrieb,
wird Recht behalten mit der Schlußphrase seines Artikels: „I^c? n-»duret I'ca-
pa'dei'it!" —
Eine fünfte, sehr kleine Partei sind die Bonapartisten, mit dem General Piat als
Chef. Nur ein Journal, I^e eux vecvmln-e, vertritt hier ihre Interessen und trotz
der Präsidentschaft des ersten napoleoniden und der Agitation seiner vielen Vettern
leben die Sympathieen für den petit Oum-in nur noch in den Herzen weniger
Graubärte und Stelzfüße, und die für seine Familie in noch viel wenigeren.
Vieles böse Blut haben in allen politischen Fractionen ohne Ausnahme die
römischen Angelegenheiten gemacht. Niemand ist in Paris, welcher die Politik,
die das Gouvernement in jenen befolgte, gebilligt hätte. Namentlich war und ist
noch die Erbitterung darüber in den unteren Volksclassen sehr groß, und es dür¬
fen sich nirgends Troupiers sehen lassen, ohne sogleich aus hundert Kehlen mit
dem Spottruf: Loldats <l» begrüßt zu werden. Am letzten Sonnabend
gab man im Theater der Porte Se. Martin zum ersten Mal ein neues Drama:
uomo, eine lose Aneinanderreihung vou Episoden ans der Belagerung und Ein¬
nahme Roms. Paris hat noch niemals einen Tumult gesehen, wie den bei jener
Aufführung. Es scheint, daß sich alle revolutionären Clubs ein Rendezvous im
Theater gegeben hatten; ein Alles übertäubender Beifallssturm begleitete den Mord
Rossi's; als die französischen Soldaten auftraten, erscholl ein Pfeifen, Trommel»,
Schnarren, Stampfen, das mit dem Wuthgeschrei: ^ das les 8oläats an^apo!
ein solch infernalisches Getöse bildete, daß ein guter Deutscher davon hätte wahn¬
sinnig werden können. Auf diesen Scandal hin ist das Stück gestern verboten
worden. Es darf dies schon um deswillen ein Glück genannt werden, weil sämmt¬
liche hier liegende Regimenter, wie mir aus sicherster Quelle mitgetheilt worden
ist, aus jeder Compagnie eine Anzahl entschlossener, tapferer Männer ausgewählt
hatten, welche ihre Ehre darauf verpfändeten, bei der zweiten Aufführung des
Stücks den leisesten, ihrer Uniform angethanen Schimpf, im Theater selbst zu
rächen. Welche furchtbaren und blutigen Scenen hätten da erfolgen können!
Ueberhaupt erstreckt sich die politische Farbenabsonderung auch sogar auf die Thea¬
ter. Gymnase und Vaudeville stehen auf Seiten der Bourgeoisie, und bringen ganz
wunderhübsche auli democ hoc'sche Possen, in welchen man fast vor Lachen sterben
MUß, so z. B. I-.it luiro iuix Illvos; I^g, ^i'vpvlötv v'e«t lo vol; Hin sociulistv on
?r«zvi»co öde. etc. Dafür siud sie auch, wie I^riirieiü», 1Vi8tori,i>no etc., du Kor
xvure oder vielmehr Theater der Aristo's. Im Odeou, den Funnambules, Porte
Se. Martin ze. feiert dagegen allabendlich die Blouse den Trimuph der Demo¬
kratie. Welchen großen Einfluß in Frankreich die Circenscö auf die öffentliche
Meinung haben, geht aus folgender Thatsache hervor: Während der Wahlen er¬
öffnete das Theater des -malen dirizuo wieder seine lang verschlossenen Räume
mit dem bekannten Schauspiel Murat. Nur in Folge der Aufführung dieses Dra¬
mas erhielt der Sohn des Königs von Neapel, Lncien Murat, ein wahrer Niese
von Gestalt, die ungeheure Stimmenzahl von den Pariser Wählern! Wäre in
Deutschland jemals so etwas möglich? Inzwischen ist die Freiheit hier in der
Republik zu einem Schattenspiel geworden, welches so kläglich ist, daß sich gar
Viele nach den Zeiten Louis Philipps zurücksehnen.- Alle Vereine und Clubs
siud unterdrückt, die Freiheit der Presse ist außerordentlich beschränkt, nur uoch
selten läßt man ein socialistisches Banket passiren und überall ist die Polizei, der
dritte Mann, welcher Einem auf der Straße begegnet, ein Diener der öffentlichen
Sicherheit. Selbst bis in die heitere Region der Pariser Freudensäle, in die Tanz-
locale, erstreckt sich der grelle Schlagschatten des zerrissenen, politischen Lebens.
Sollten Sie wohl denken, wie weit es in Paris schon gekommen ist? Kürzlich wollten
zwei junge, wohlgekleidete Deutsche einem Ball beiwohnen. Als sie an der Thüre
des Saales angelangt waren, wurden sie bedeutet, sogleich ihre weißen Glace¬
handschuhe auszuziehen und im Vestiaire abzugeben. I'o»r«ju»l sonn? fragten
sie. — (nie.l))'«;»«, e'est initisocirllisto, c'oft, Iir miüv ach ^ristos.---—
Vor einem Jahr war es schwer für einen Journalisten, sich mit etwas ande¬
rem zu beschäftigen, als der großen Frage des Tages, der deutschen Politik. Die
Verhältnisse haben sich geändert. Nicht als ob die heutigen „Versuche und Hin¬
dernisse" im Staatsleben in irgend einer Art von minderer Wichtigkeit wären, als
die lärmende Kaunegießerei, in welche damals wenigstens zum Theil die nationale
Erhebung aufging, aber damals war es dem Privatmann, wenn er sich in die
Parteien einließ, unendlich leichter, einen wirklichen Einfluß zu gewinnen. Wenn
man sah, von was für Leuten das große Wort geführt wurde, so mußte jeder,
der sich etwas mehr Verstand im Allgemeinen oder Besondern zutraute, die unab-
weisliche Versuchung fühlen, auch sein Wort darein zu reden. Die Journalistik
war damals in der That eine Macht, wie die Clubs.
Sie ist es nicht mehr, wenigstens lange nicht in dem Grade. Die Haupt¬
actionen der ^rinulv k>l>Iiti«i>iiz gehn hinter den Coulissen vor, an abgelegenen Or¬
ten, wohin der Lärm des Marktes sich niemals verirrt — das will erkannt sein.
Es ist nicht blos unsere Partei, die sich umsonst den Pelz zerreißt für den Bun¬
desstaat, es ist ebenso mit den Großdeutschen, ebenso mit den Demokraten, eben¬
so mit den verschiedenen absolutistische» Coterien. Wenn Herr v. Gerlach in ir¬
gend eine Philippika gegen den ruchlosen Geist des Jahrhunderts ausbricht, so
ist er darin gerade ebenso Dilettant, als wir in der deutschen Zeitung, oder der
Augsburger Allgemeinen, oder dem Reibeisen. Wir machen Chorus, aber wir
agiren nicht mehr. Wer sind eigentlich die Acteurs? Nicht einmal die Heere,
überhaupt keine Helden; es sind die alten Herren mit weißen Cravatten und
süßem, erfrornen Lächeln ans den dünnen Lippe», die seit dem Jahr 15 die Welt
beherrschen. Wer unter ihnen am wenigste» Angst hat, wird der Sieger bleiben.
Darum soll die Presse, nicht aufhören, sich mit dem Vaterlande zu beschäfti¬
ge». Die Zeit der Diplomaten wird nicht ewig dauern, so wenig- wie die Red-
nerbühne der Clubs. Es wird wieder ein Tag kommen, wo das Volk seine
Stimme abzugeben hat in den Fragen, die eS zunächst angehen; und es wäre
sehr schlimm für Deutschland, wenn dieser Tag eine» ebenso großen Mangel an
politischer Bildung finden sollte — der große Moment ein so kleines Geschlecht,
— als im vorige» Jahre. Es ist keine brillante Rolle, aber man muß Resigna¬
tion übe». Lernen w-r unsre Lection, um im zweiten Examen nicht wieder so
schlecht zu besteh», als im ersten.
Aber die Erschöpfung des politischen Treibens gibt einer andern Sphäre
Raum, die in dem letzten Jahre zu sehr vernachlässigt ist, der Kunst. Die Grenz-
boten werden mehr als früher die Gelegenheit ergreifen, sich der künstlerischen
Interessen anzunehmen. Für den Augenblick sollen uns die verschiedenen Leipziger
Kunstansstellungcn Stoss geben.
Wir wählen aus dem weiten Gebiet der plastischen Kunst einen beschränkten
Kreis, das historische Gemälde; eine Richtung, die noch im Werden ist, die aber
das eigentliche Centruni der modernen Malerei zu werden verheißt.
Die sogenannte classische Zeit der Malerei kennt das historische Gemälde
nicht. Abgesehen von der Landschaftsmalerei, die wir hier bei Seite lassen, und
von der wir nur erwähnen wollen, daß sie durch die moderne Naturforschung
gleichfalls in ein neues Stadium getreten ist, bezogen sich ihre Darstellungen, in
denen menschliche Figuren die Hauptsache waren, nie auf die Geschichte, sondern
theils auf die Kirche, und dann nahmen sie einen symbolischen Charakter an,
theils auf die specifisch körperliche Schönheit, die jede zeitliche Bestimmtheit aus¬
schließt, und dann schlössen sie sich am liebsten an die heidnische Mythologie an,
oder kvstümirtcn sich wenigstens annähernd mythologisch, wie die Thicriagden von
Nnvens und Snyders; oder sie stellen die unmittelbare Gegenwart dar, und ver¬
loren sich entweder in'ö Genre oder in's Portrait. Selbst bei scheinbar histori¬
schen Stoffen, Schlachten u. dergl., war die historische Genauigkeit Nebensache,
es kam vor allem ans die Entwickelung kräftiger körperlicher Formen an.
Das historische Gemälde, wie wir es verstehn. knüpft sich an zweierlei. ES
soll portraitiren und zugleich idealisiren, d. h. die geschichtlichen Ereignisse in
einen dramatischen Moment zusammenfassen. ^. ^ ^> >
Ich habe zunächst auf eins a»sacri'sam zu machen. Die moderne Min
ist durch die Philosophie zwar mit vielen neuen Problemen und Gesichtspunkten
bereichert, aber anch vielfach verwirrt worden. In den übrigen Künsten wie in
der P^ste thut es wenigstens ebenso Noth, gegen überspannte Ansprüche philv>opt>l!ä>er
Halbbildung Protest einzulegen, als gegen den Schlendrian eines hergebrachten
Empirismus. Die Kritik soll den Künstler nicht verwirren, indem sie von hohen
Wolken, dem Geyer gleich, euif die Erde Herabsicht, und alle PcripccNvn ver^kehrt, sie soll ihn im Gegentheil befreien von all den Einflüssen, die außerhalb
der Kunst liegen. . >
.^.cDagegen soll sie der blos romantischen Caprice gegenüber ohne Nachsicht sei».
Wenn ein'verschrobener Mäcen sich ein Bild bestellt, wie die Jpacliten Manna
sammeln, oder wie Danae den Zeus im goldenen Regen empfängt, oder ein
Christus mit fünf Broden und sieben Fischen fünftausend Mann speist, so mag der
Künstler Gelegenheit finden, an einem so lächerlichen Stoffe so viel Charakteristik
und Schönheitssinn zu verschwenden, als er besitzt; die Kritik wird ihr Vcrdam-
mungsutthcil nicht zurückhalten können. Noch weniger, wenn ans grillenhafter
Verehrung alterthümlicher, unvollkommener Kunstformen der Maler etwa in Einem
Rahmen der >^eit nach Unterschiedenes darstellen wollte; oder Aehnliches.
Was soll das Gemälde? Uns den Blick in die Wirklichkeit ersetzen. Das
historische Gemälde soll uns eine gerichtliche Scene darstellen, die uns — aber wohl¬
gemerkt! ästhetisch interessirt. Nicht das historische, geistige Interesse ist maßgebend,
sondern das sinnliche. Vor dieser Begriffsverwirrung muß man heut zik^ Tage am
Meisten warnen, wo man so weit gegangen ist, in einer Bethoocnschcn -Symphonie
etwa die Lösung eines ethischen Problems zu suche». Der Friedensschluß zu Cam-
bray z. B. ist ein wichtiger historischer Moment, aber ein Paar schreibende Franc»-
zinuncr im Nenaissancccostüm neben einander fitzen zu sehn, kann ein ästhetisches
^"tercsse nicht erregen. Dagegen ist die Ertheilung eines Ordens an van Dyk,
historisch betrachtet, so unwichtig als möglich, und doch hat de Biefve ein vor¬
treffliches historisches Gemälde daraus gemacht. Wir kommen später darauf zurück.
Die erste Forderung an ein historisches Gemälde ist Deutlichkeit. Wir
müssen wissen, um was es sich handelt. Wenn man z. B. de» Herzog von
^raunschweig auf dem Ball am Abend vor der Schlacht bei Waterloo dar-
stellt, wie er den fernen Kanonendonner hört, und von Todesahnung erfüllt wird,mag der Künstler alle Kraft seiner physiognomischen Studien aufbieten, wirwerden doch erst aus dem darunter gesetzten Motto von Byron den eigentlichen^uni des Ganzen erfahren. Der lyrische Moment hat keine plastische Berechtignna.
frühe, ^ historische» Gemälden eine Schwierigkeit ein, die bei den
Flut, mythologischen i» viel geringerem Grad vorhanden ist. Wenn wir eine
Fade c Mose's, eine Opferung Jsaak's u. dergl. vor uns sehn, so fällt uns die
lvgleich ein, wir find orientirt. ohne daß es dem Künstler weitere Mulle
»nicht. Im Nothfall half ein bloßes Attribut aus, das auf ästhetische Weise die
Zettel ersetzte, die sonst den Personen ans dem Munde hingen. Die Geschichte
hat dergleichen symbolisch ausgebreitete und allgemein bekannte Fabeln zu wenig
oder zu viel.
Dagegen hat das historische Gemälde in dieser Beziehung einen wesentlichen
Vorzug/das Portrait. Die Moses, Christus, Abraham u. s. w. von einander zu
unterscheiden, bleibt der jedesmaligen Phantasie des Künstlers und der Bestimmt¬
heit der Situation überlasse», Friedrich, Napoleon, Goethe kennt Jeder. Wo hier
die Grenze dessen, waS der Maler voraussetzen darf, zu stecken sei, wollen wir
hier nicht im Allgemeinen beantworten, sondern an den einzelnen Gemälden
entwickeln.
Nur Eins bleibe fest: über die historische Bezüglichkeit möge das Publikum
sein Gedächtniß oder die Chronik befragen, aber die allgemein menschliche Bezie¬
hung muß vollkommen klar, vollkommen plastisch ausgedrückt sein. In welcher
Himmelsgegend wir uns befinden, welche Personen wir auf der Leinwand vor uns
haben, das muß unsere Gelehrsamkeit uns sagen, aber was diese Personen mit
einander machen, müssen wir sehn. symbolische Crläntcrungen durch Attribute
u. dergl. sind verwerflich.
Die zweite Forderung ist Idealität. Den allgemeinen Satz könnte man
etwa so aussprechen: die Form der Behandlung muß denjenigen Grad von Würde
und Größe haben, welcher der Würde und Große des Gegenstandes entspricht.
Ein Bild z. B., in welchem Essen und Trinken das sinnliche Hauptmotiv bilden,
wie z. B. das Todtenmahl der Girondisten, oder irgend eine Hochzeit von Kana,
darf über das Genre nicht hinausgehn; wenn also eine tiefe symbolische Bedeu¬
tung hineingelegt werden soll, so wird diese über die Form hinaufdringen, die
Idee findet' einen nnr unvollkommenen sinnlichen Ausdruck, und das Motiv ist
verfehlt. In keiner Kunst tritt so deutlich hervor, als in der Plastik, daß
jener Idealismus, der auf's Symbol ausgeht, ein durchaus verwerflicher ist. In
der Poesie wird diese Wahrheit erst bei der scenischen Borstcllnng lebendig; wenn
man den Faust aufführt, so treten die symbolischen Züge in ihrer Unwahrheit
hervor, die im Lesen namentlich der Deutsche sich durch allerlei Ideen-Associa¬
tionen zu rechtfertigen versteht.'
Idealität undWahrheit im höhern Sinn ist identisch. Damit beantwortet
sich auch die Frage, ob der Maler das Recht hat, Wunder darzustellen. Wenn
diese Wunder sinnlich unwahr, oder wenn sie ästhetisch beleidigend sind, so hat
er nicht das Recht. Dahin gehören: Verwandlung des Wassers in Wem, Spei¬
sung der l>0l>0 Mann, Heilung von Aussätzigen n. s. w. Dagegen ist es nicht
nöthig, daß in der Anserivecknug eines Todten, oder einer ganzen Masse von Tod¬
ten eine sinnliche Unwahrheit oder eine ästhetische Rohheit enthalten ist. Daß
man noch immer zu Wundern greift, liegt nicht allein in dem Eigensinn unserer
Romantik, es hat auch einen technischen Grund. Um einen harmonischen Eindruck
hervorzubringen, bedarf das Bild Höhe und Tiefe; die abstracte Breite deö Bas¬
relief, wie sie Paul Beronese gibt, in neuerer Zeit Martersteig, beunruhigt und
zerstreut. So bieten sich Himmel und Hölle als zu natürliche Surrogate der
Erde, und es ist auch nichts dagegen einzuwenden, so lange sie sich nnr den irdi¬
schen Gesetzen fügen.t
Die Idealität des Bildes muß sinnlicher Natur sein. Es ist verfehl,
wozu die neuen Maler bei der vorherrschend subjectiven und spiritualistischen Rich¬
tung der Zeit mir zu geneigt sind — in den vorzugsweise geistigen Theil des
Körpers, die Physiognomie, den ganzen idealen Gehalt der dargestellten Stimmung
oder Leidenschaft zusammenzudrängen. Eine solche Destillation ist unnatürlich »no
unkünstlerisch, der potenzirte Ausdruck wird zur Fratze, oder er verliert sich so ins
träumerische, de>ß man allerlei empfinden, aber nichts bestimmtes sich vorstellen kann.
Diese Art wird nur durch Humor gerechtfertigt, wo sie aber von selbst ins Genre
übergeht.'
Die dritte Forderung ist geschichtlicher Charakter. Das historische
Gemälde soll nicht abstracte Heiden, abstracte Schlachten n. dergl. versinnlichen,
sondern die bestimmte That und den bestimmten Charakter. Es soll charak¬
teristisch sein, und sich darum nur mit solchen Gegenständen beschäftign, die einen
Charakter haben. Das geschichtliche Costüm und dergleichen Aeußerlichkeiten, Dinge,
in denen wir eher zu se'rnpulvs sind, reichen allein nicht aus, denn auch die Cha¬
rakteristik muß etwas Ideales haben, wie Shakespeare, freilich nicht wie die Alten, die
den zeitlichen Unterschied noch nicht zum Moment der Darstellung machen dursten.
Das Ideal erscheint in den drei Formen des Schonen, des Furchtbaren (Erhabe¬
nen, Tragischen) und des Komischen; die letzte Form schließt sich in nnserm Fall
von selbst ans, aber anch Bilder, wie die Martersteig'sehen, in denen das
Häßliche, welches nur als Uebergangsmoment seine Berechtigung hat, sich noch
uicht zum Erhabenen oder Tragischen verklärt, streifen bei allem sonstigen Verdienst
über die Grenze der plastischen Kunst hinaus. In dem Bilde soll allerdings ein
dramatisches Lebe» sei», es soll also den unaufgelösten Widerspruch — das ist das
Häßliche — als Moment enthalten, aber es soll darüber dominiren. Man stelle
sich das Gemälde als Schlußscene einer Tragödie vor, denn nur eine solche ist
darstellbar; so wie in dieser der Conflict, zwar'mit Härte, aber immer mit Größe,
gelöst sein muß, so wollen wir auch im Bilde einen Halt haben; das unvermit¬
telte Walten häßlicher Leidenschaften und häßlicher Menschen, wie in Martersteig's
Huß, kann uns diese Befriedigung uicht geben.
Nach diesen zerstreuten Bemerkungen, die sich freilich, wie alle Regeln, im
Ganzen nur in der Berneinnng bewegen können, gehen wir an das Einzelne.
Die Würdigung dieses Gemäldes wird erleichtert durch die Behandlung dessel¬
ben Gegenstandes von Clara Oenicke, welche sich an der entgegengesetzten Wand
befindet und unmittelbar zur Vergleichung einladet. Wenn der Künstler mit dieser
Parallele nur zufrieden sein kann,' so wirkt dagegen eine andere Reminiscenz höchst
schädlich. Der Maler hat offenbar den Napöl'con von Paul Dela röche im
Auge gehabt, die Manier ist dieselbe, das Resultat aber ein höchst verschiedenes.
Die Situation, die beiden Gemälde» zum Vorwurf dient, ist auf den ersten
Anschein sehr ähnlich, fast identisch. Napoleon ist mit seinen letzten Versuchen ge¬
scheitert, seine vornehmsten Anhänger haben ihn verlasse» und er seel/t allein, ein banqne-
rvutter spielender die letzte Karte verloren hat. Friedrich hat zwar nnr eine Schlacht
verloren, aber bei seinen geringen Kräften liegt die Gefahr des Unterganges nahe genug.
''
Und doch ist diese Aehnlichean eben nnr ein Schein. Der erste, wesentliche Unter¬
schied ist unsere Wissenschaft von dem weitern Verlauf der Dinge. Laroche konnte
seinem Helden jenen furchtbaren Ausdruck der Verzweiflung leihen, der uns erschüt¬
tert, aber auch erhebt, denn in diesen: titanischen Antlitz ist es mit ehernen Zügen
ungegraben, daß der Gewaltige fallen mußte, wie Lucifer, der seinen Stuhl neben
den Stuhl Gottes setzen wollte, und daß er wirklich gefallen ist. Schrader konnte
diesen Ausdruck uicht gebrauchen. Wie sollen wir es dulden, Friedrich in Ver¬
zweiflung zu sehen, da wir wissen, daß es noch keine Noth hat, da wir wissen,paß rhin sittliche Mächte zu Gebote stehn, die nicht unbedingt abhängig sind von
dem Ausgange einer Schlacht. Freilich ist Friedrich der waghalsige Eroberer, aber
er ist zugleich der legitime König, zugleich der weise Freund seines Volks; Napo¬
leon ist nur Abenteurer, nur Sohn seiner Thaten; lähmt einmal die Schwingen
seiner Kraft und er stürzt unaufhaltsam in den bodenlosen Abgrund.
Ein zweiter Unterschied. Napoleon hat sein Letztes gethan, Frankreich hat
ihm erklärt, daß es ihn nicht mehr will. Er hat nichts weiter zu thun, als sich
auf sein Zimmer zurückzuziehn und seinem Geschick zu fluchen.. Aber Friedrich ist
mit der Niederlage nicht zu Ende. Sein Heer ist geschlagen, ans der Flucht, aber
er muß es führen, er kann es nicht im Stich lassen. Wir sehen von weitem die
Flucht des Heeres, und es setzt uns in Erstannen, daß der König müßig dasitzt
und Grillen fängt, während Gefahr im Verzüge ist. Was macht er eigentlich da!
Das Bild gibt uns keine Antwort. Es folgt unmittelbar daraus, daß der Aus-
druck des Ganzen ein unbestimmter ist.
Außerdem hat diese Isolirung bei Friedrich keine sittliche Berechtigung. Auch
in der Niederlage wolle» wir Friedrich in der Umgebung seiner Generales seiner
Soldaten sehen, die dem Erben der Hohenzollern'treu bleiben auch im Unglück.
Die Anekdote, dieser Mythus der neuen Zeit, stellt Friedrich nie allein dar/son¬
dern stets im gemüthlich-sittlichen Rapport mit seinem Heer; sie hat Recht daran.
Napoleon ist dagegen am meisten er selbst, wenn er allein ist.
Ich will den Vergleich nicht weiter ausdehnen, weil ich noch einmal auf Paul
Delaroche zurückzukommen gedenke. Im Allgemeinen will ich über die Kunstform
nur Folgendes bemerken. /
Diese Art Monodram ist eben so die erste, wie die letzte Stufe der plastischen
Kunst; die erste, denn sie geht vom einfachen Portrait aus, gibt ihm einen belie¬
bige» historischen Hintergrund, und einen Ausdruck, der dem Moment entspricht;
eine» Ausdruck, der um so weniger von der ursprünglichen Bestimmung des Por¬
traits sich entfernen wird, je ausgeprägter der Charakter des Helden in der Ge¬
schichte oder der Tradition ausgebildet ist. So ist es der Fall mit Friedrich.
Andrerseits ist aber diese Kunstform, in einem Portrait das geschichtliche Re¬
sultat zu concentriren, der Ausfluß unserer Sentimentalität, die mehr für lyrisch
reflectirte Stimmungen, als für die epische Entfaltung der Begebenheiten Sinn hat.
Die Physiognomie soll der Spiegel der Seele, die Seele der Brennpunkt einer
ganzen Reihe vou Ereignissen sein. Man steht, das Motiv streift schon ans Naf-
finirte, denn selbst der Monolog, den wahrhaft dramatische Dichter nur in gestei¬
gerter Seclenspannnng zulassen, hat immer noch eine Art dialectischer Entwicke-
lung, die Gedanken entwickeln sich successiv auseinander; im Bilde dagegen soll
alles auf einmal ausgedrückt sein, und es liegt zu nahe, daß das Resultat die
Voraussetzung aushebt.
Wie Paul Delaroche diesen Moment wahrhaft dramatisch versinnlicht hat,
davon später. Schröder kann auf solches Lob keinen Anspruch mache». Sei» Friedrich
ist nichts als ein Portrait mit historischer Staffage. Als solches ist es uns aber
werth und theuer, wie das seelenvolle Gesicht des großen Königs, den es zum
Gegenstand hat. Die Züge sind glücklich und edel wiedergegeben, der Ausdruck
ist, wie das Portrait ihn erfordert, ruhig und nachdenklich. Das Kostüm — der
staubbedeckte grobe Kriegsmantel, die beschmutzten Reiterstiefeln u. f. w. — ist eines
kriegerischen Fürsten würdig und unendlich angemessener, als jener stolze Kaiser-
mantel, in welchen auf der Wand gegenüber Gerard seinen Napoleon einge¬
wickelt hat, wie einen Pagoden, em weibischer, zweckloser Putz, ans welchem das
energische Feldherrngcsicht in einem wunderlichen Contrast herausblickt.
Wer Rußlands Heerwesen kennen lernen will, muß vorzugsweise die südlichen
und westlichen Theile des gewaltigen Reiches bereisen. Hier hat Nußland seine
größten Militärmassen aufgehäuft. Kurland und Liefland sind außerordentlich
stark mit Regimentern belegt, jedoch noch viel stärker das Königreich Polen, Li¬
thauen, Podolien und Wolhynien. Auch die Districte an der türkischen Grenze
sind mit starken Soldatenmassen angefüllt, desgleichen die am schwarzen Meere.
Im Innern Rußlands dagegen werden die Heeresmassen so verdünnt gefunden,
daß man mehrere Tage lang reisen kann, ohne auf eine uniformirte Gestalt zu
stoßen. Hier sind nur die wichtigsten Hauptstädte, wie Moskau, Nisny-Nowo-
grod, Kasan, Orenburg, Tula, Smolensk ze. besetzt, während in jenen Theilen
des Reiches selbst die kleinsten Orte ihre Besatzung haben. Diese sehr natürliche
Anordnung hat viele Reisende, welche nicht weit über die südlichen und westlichen
Gebietstheile hinauskamen, getäuscht, und den Glauben an eine kaum ermeßliche
russische Heeresmacht verbreitet. Sie haben gemeint, das ganze Riesenreich sei so
von Truppen erfüllt, wie die Districte, welche sie durchreisen, doch ist die Heeres¬
masse, die sie in den südlichen und westlichen Districten fanden, beinahe die ganze,
welche das. russische Reich besitzt, wovon schon 18Zi der klarste Beweis zu Tage
kam. Denn als Nußland seine sämmtlichen Regimenter aus diesen Neichstheilen
versammelt und dadurch ein Heer von 1U>,000 Mann mit 400 Kanonen gebildet
hatte, war es erschöpft, und hätte — in demselben Jahre wenigstens — kein Ba¬
taillon mehr nach Polen schicken können.
Allein es ist nicht sowohl die Soldatenmenge, welche die Macht erzeugt, als
der moralische Zustand der Soldaten. Mit dem ersten Schritte, welchen ich über
die russische Grenze that, machte schon der dortige Soldatenstand einen sehr unan-
genehmen Eindruck durch sein Aeußeres auf mich und kaum konnte ich eine an¬
dere Meinung fassen, als die, daß er aus einer Masse zusammengetriebenen losen
Gesindels bestehe. Der Kosakencapitän, mit welchem ich meines Passes halber zu
sprechen die Ehre haben mußte, war ein zottiger Mensch. Seine blaue Hästel-
jacke und weiten Beinkleider waren so verschabte, verschmutzte, unsaubere Gegen-
stände, daß vielleicht mancher deutsche Bettler Anstand genommen haben würde, sie
an seinen Leib zu legen. Seine Waffcnstücke, besonders der gewaltige Säbel,
harmonirten mit dem uralischen Gesicht, indem jener so wenig der. Gebrauch des
Putzpulvers als dieses den Gebrauch der Seife verrieth. Das war ein Capitän;
an seinem Burschen waren die Beinkleider aus Flicken zusammengesetzt. —
Die Uniformirnng der Gemeinen besteht aus einem langen bis zu den Füßen
hinabreichenden schlafrvckartigcn braunen Kittel, einer roth umstreiflen grünen oder
blauen Mütze und groben weiten Leinwaudbeinkleidern. In diesen Kleidungsstücken
findet man den russischen Soldaten im Sommer wie im Winter, beim Exerciren
und beim Müssiggehen. Eine bessere Uniform, welche in grauen Beinkleidern und
eiuer Art Frack besteht, bekommt er nur bei hohen Festen und Paraden; doch
befinden sich diese besseren Montirungsstücke außer bei dem Gebrauche derselben
nie in seineu Händen. Das Tuch zu den Montirungsstücken der Gemeinen ist das
gröbste, welches man auf Erden finden kann. Das zu Mänteln, Mützen und
den Paradebeinkleidern wird nicht einmal aus reiner Wolle verfertigt, sondern aus
einem Halbgemisch von Wolle und Kuhhaaren, daher es denn dem groben Filze
gleicht. Bei der Kavallerie machen die scharf abstechenden Farben die schlechte
Qualität der Bekleidungsstücke weniger bemerkbar, dagegen muß man beim ersten
Blicke auf einen Jnfanteristen, der, die Leinwandbeinkleider in die plumpen kur¬
zen Stiefel hineingestopft, in seinem langen braunen schuittloseu Filzkittel wie ein
Züchtling vorüber humpelt, die Bemerkung machen, daß die Regierung den ge¬
meinen Soldaten kaum so hochachtet als das Pferd, welches sie vor die Kanonen
spannen läßt.
In manche» Beziehungen steht der gemeine Soldat selbst dem Thiere noch
nach, z. B. in der Pflege seines Körpers. Er reinigt sich ohne Zwang nie, und
da der Zwang bei so großen Massen doch nicht alltäglich in Ausübung gebracht
werden kann, so hat er fast stets ein Ansehen, als ob er ein Mann der heißen
Zone wäre. Die graubraune Gesichtsfarbe ist keinesweges eine natürliche. Des Gesund¬
heitszustandes halber hat sich die Regierung in's Mittel schlagen und Anstalten
errichten müssen, in welchen große Massen auf ein Mal gereinigt werden können.
Dies sind die russischen Dampfbadehäuser. Vorschriftsmäßig werden die Soldaten
alle acht, mindestens alle vierzehn Tage zur Reinigung in die Dampfbäder ge¬
trieben, außerdem jedes Mal vor großen Kirchenfesten, Festen des kaiserlichen
Hofes und großen Paraden. Es ist ein eigenthümliches Schauspiel, an den be¬
stimmten Tagen Rußlands Stütze und Stolz, compagnieweise und in Reihe und
Glied in das Dampfbad treiben zu sehen. Jeder der schmutzigen Burschen trägt
in der einen Hand ein weißes Hemd, in der andern einen Besen von Birkenrei¬
sig, mit welchem er im Bade den in der Compagnie hinter ihm stehenden Mann
reinigen muß, so wie dieser ihn als seinen Vordermann. In Warschau und an¬
deren Städten, die eine starke Besatzung haben, sind .mehrere Badehäuser eingerich-
tet und werden täglich benutzt, doch vergehen fast stets zwei Wochen, bis ein und
dieselbe Abtheilung wieder an die Reihe kommt. Gleicher Weise müssen sich die
russischen Soldaten alle vier Wochen regelmäßig einer großen Haarschnr unterwerfen,
welche ebenfalls massenweise ausgeführt wird. Die Haare werden dicht ans der
Haut weggeschnitten, wie in andern Ländern bei den Galeerensclaven. Ursache zu
solchem Verfahren mag wohl genügend vorhanden sein, denn selbst bei den sehr
kurzen Haaren der Soldaten ist es immer noch nicht ungefährlich mit ihnen in
allzu enge Berührung zu kommen. Der Sold, welcher den Soldaten gegeben wird,
ist freilich vielleicht der niedrigste, den es in Europa gibt. Er beträgt noch nicht
ein Mal drei Pfennige für den Tag. Bei solchem Verdienst würde der beste
Wille, sich Kamm und Seife zu halten, ein vergeblicher sein. Man zahlt über¬
dies den Sold, damit das Geldstück doch nicht allzu erbärmlich aussehe und die
Sache der Mühe werth sei, nur alle vier Monate ein Mal ans. Es bekommt
dann der Mann einen Silberrubel, und diese seltene Gabe wird ihm natürlich der
Grund zu einem Freudenfeste, bei welchem an Bedürfnisse des Leibes von solider
Art nicht gedacht werden kann.
Die Regierung scheint bei Anordnung solcher Zahlungsweise auf die bestia¬
lische Branntweinsucht der Soldaten Rücksicht genommen zu haben. Häufige
Soldzahluug würde die Folge haben, daß das Heer oft betrunken wäre. Die
Trnnkwnth hat der Negierung anch so unbesiegbar geschienen, daß sie für mehrere
Tage nach der viermonatlicher Svldzahlnng dem Heere eine Art gesetzkräftigcr Un-
zurechnungsfähigkeit zu Theil werde» läßt. Ma» sagte mir für 3 Tage. In die¬
sen Tagen wird der Soldat nicht zum strengen Dienst gefordert und nicht auf den
Exercierplatz geführt, sondern darf sich, ohne eine Strafe fürchten zu müssen, so
berauschen, daß ihn die Posaunen des Weltgerichtes nicht, vielweniger die Hörner
der Signalisten, erwecken würden. Man gewahrt es angenblicklich, wenn bei
einem Regimente die Soldzahlung stattgefunden hat. Was von den niedrigsten
Klassen dieses Regimentes zu erblicken ist, taumelt oder liegt und schläft; letzteres
geschieht nicht selten ans offenen Straßen und in Gräben. So fand ich einmal
auf dem schmutzigen Platze vor dem Spital der protestantischen Gemeinde in
Warschau elf Leute eines Infanterieregiments, die auf einem großen Schutt- und
Kehrichthaufen die scheußliche Feier ihres Soldempfangs ausschliefen. Eine
gleiche Ansicht wurde mir hinter Powoski an der Straße nach der Festung Mvd-
Iw zu Theil. Dort lagen dreiundzwanzig gemeine Leute von dem sogenannten
gelben Uhlanenregimente rings um ein leeres Fäßchen in dem eisernen Schlafe
der viehischsten Trunkenheit, und gleichartige, jedoch kleinere Gruppen fand ich an
demselben Wege uoch drei. Hat der Soldat seinen Rubel in den paar Tagen
durchgebracht, so ist er natürlich zu einer vier Monate langen Nüchternheit ge¬
zwungen.
Das Brot, welches allwöchentlich gegeben wird, möchte in Deutschland kein
Bauer seinem Hunde in den Napf schneiden. Es besteht aus Schrot von Roggen
und Gerste, bisweilen auch noch geringeren Getreidearten, welche die Magazin¬
verwalter regelmäßig, oftmals aber in allzugroßen Massen beimischen, ihrer Börse
wegen. Derartige „Ersparnisse" sind bei dem ganzen russischen Heere gebräuchlich.
Die Furcht der Mannschaft verhindert, sie zum Gegenstände einer Beschwerde zu ma¬
chen, auch würden dergleichen Beschwerden keinen Erfolg haben, da der Nutzen der
Ersparnisse gerade denjenigen Leuten zu Theil wird, welche die Beschwerden auf¬
zunehmen haben. Der Magazinverwalter theilt sie mit dem Obersten, bei dessen
Regimente sie gemacht werden, andere macht sich der Oberst allem zu Nutzen,
wieder andere aber theilt er mit dem Brigadegeneral, nud dieser macht mancherlei
Ersparnisse, welche ihm und dem Divisionsgeneral zu Theil werde».
Außer dem Brote, werden dem Soldaten Graupen, Grütze und Erbsen, auch
Kartoffel» gegeben. Ihm bleibt es überlassen, sich diese Sachen zu bereiten.
Welches Product der tölpische Mensch hervorbringt, kann man sich leicht denken.
Meist fehlen ihm die nöthigsten Hilfsmittel, als Geschirre, Holz und dergl. Ein
Glück ist's, daß der Magen der Russen halb rohe, ja selbst rohe Nahrungsstoffe
zu überwinden im Stande ist, sonst möchten die Sterbefälle in dem russischen Heere
entsetzlich häufig sein. Ohnehin sind sie keinesweges selten. Doch rühren sie oft nicht so¬
wohl von deu schlechte» Speisen als vom übermäßigen Genusse her, dem sich der
gemeine russische Soldat stets überläßt, wo er eine Gelegenheit dazu findet.
Bei dem Durchmärsche eines russischen Regiments wurde, — um ein Beispiel zu
geben — ein Soldat Namens Joa» bei einem Bauer in dem Dorfe Kannen in
Niederpoleu einquartirt, welcher an demselben Tage ein Schwein geschlachtet hatte.
Nach polnisch bäurischen Gebrauch war das ganze unzertheilte Gedärm des ge¬
schlachteten Thieres mit rohem gehacktem Fleisch gefüllt und diese 19 Fuß lange
Wurst unter der Decke der Stube aufgehängt worden, damit sie austrockne und
dann in den Schornstein zum Räuchern gebracht werde. Daß der russische Sol¬
dat trotz dem an der Wand hängenden Christnsbilde die Seelenkraft nicht besaß,
sich vor unerlaubter Antastung dieser Wurst zu bewahren, war wohl natürlich, daß
er aber diese 19 Fuß lange, aus rohem Fleisch bestehende Wurst während der
Nacht total aufaß, das möchte doch ein Nichtrnsse für mehr als natürlich halten.
Man kann sich die Wirkung der ungeheueren Masse rohen Fleisches in dem Ma¬
gen denken. Der Mensch mußte desselben Tages seinen Geist aufgebe» und be¬
schwor — aus Furcht vor der Knute — noch mit seinen letzte» Athemzügen „er
sei es nicht gewesen, der während der Nacht die Wurst aufgefressen habe." So
überluden drei russische Soldaten, welche bei Siedlce in den Gemüsegarten eiues
Herrn v. Potocki eingebrochen waren, ihre Magen so mit rohem Kohlrabi, daß
zwei davon nach wenigen Stunden starben und der dritte nur durch die Prügel
des energischen Feldwebels gerettet wurde, welche ihm eine ungewöhnlich starke
Leibesbewegung verschafften.
Derartige Ereignisse sind ungemein häufig, man könnte sagen, gewöhnlich.
Die meisten Soldaten verkaufen die ihnen zugetheilte» Nahrungsmittel für einige
Pfennige und ersetzen dann das Mittagsmahl dnrch Branntwein, den sie nicht erst
kochen müssen. Diese Lebensweise ist die Ursache einer entsetzlichen Schlaffheit und
Maßlosigkeit. Unter den russischen Soldaten pflegt man sich in Deutschland ungeheure
Niesen, Brüder des Herkules vorzustellen; und doch sähe man sie in ihrem Garnisvn-
leden, wie sie mit geistlosen Mienen, dürruud mürbe, schwach und müde schlottern, man
müßte Mitleiden für sie empfinden, noch mehr Mitleiden, wenn man beobachtete, welche
Wirkung die Pflege derselben auf ihre Moral hat. Neben dem Exerciren betreibt der
Soldat das Stehlen nicht blos mit großer Liebe, sondern auch mit einer Art von Befug-
niß, denn die Offiziere hindern ihn nicht daran. Ich glaube, daß der gemeine russische
Soldat darin den polnischen Jahrmarktsjnden um nichts nachsteht. Bei Volks¬
festen, welche die Bewohner der Häuser aus ihren Wohnungen gelockt haben,
Pflegt er stets derjenige zu sein, welcher sich in den Häusern befindet und daS
Schloß einer jeden Thür prüft. Obschon er ziemlich plump verfährt, so erfreut er
sich doch nicht selten einer guten Beute. Küchen und Brvtschräicke haben für ihn
besondere Anziehungskraft. In Kalisch machte ich mit meiner Wirthin einen
Spaziergang nach dem Platze, auf welchem bei Illumination die Feier des kaiser¬
lichen Kröuungsfestes stattfand. Auf dem Heimwege begegnete uns ein russischer
Infanterist, der, alle Mienen seines braune» Gesichts von Glückseligkeit strahlend,
einen zur Hälfte in einen Lappen gewickelten großen gekochten Schinken nnter dem
Arme trug. Meine Begleiterin meinte: „wem der gestohlen ist, der wird sich nicht
wenig ärgern." Nach Hanse gelangt, fand sie, daß sie selbst die Gestohlene war.
Gleicherweise sind die gemeinen russischen Soldaten bei Jahr- und Wochenmärkten
in energischer Thätigkeit. Allenthalben sieht man sie zwischen den Buden schlei¬
chen und in ihren Taschen sind Dinge zu gewahren, von denen man nicht be¬
greift, wie sie natürlicherweise in den Besitz eines Spitale» gelange» können.
Gegenstände, welche Bedürfnisse der Frauen sind, haben sür sie besonderen Neiz,
Z. B. Zwirn, Band, Haftet, Zeuge, Tuche u. dergl. In den Kasernen hinter
dem sogenannten „eisernen Thore" in Warschau befindet sich an dem Wege »ach der
Electoralstraße ein tafelförmig gedeckter Brunnen. Dieser hat durch die Länge
des Gebrauchs förmlich die Bestimmung gewoiinen, eine militärische Handelsbank
zu sein. Auf ihm legen die Soldaten der Kaserne offen und ohne Scheu an je¬
dem Markttage die Gegenstände zum Verkauf aus, welche sie aus dem benachbar¬
ten Marktplatze (Grzybow) gestohlen habe». Hier pflegen sich eine Menge Frauen
der armen Klasse einzufinden und Zwirn, Band, Nadel» in. zu kaufen. Der
russische Soldat läßt seine Handelsartikel, da sie ihn selbst nichts kosten, zu einem
Spottpreise, und dies gibt dem Absätze Sicherheit. Die Offiziere gehen vorüber,
Md machen die handelnden Soldaten nur ihre Honneurs, so fällt es diese» gar
kunst el», die armen hungrige» Burschen darnach zu fragen, woher sie die Hau-
delsartikel genommen haben. Ohnehin wissen sie dies sehr wohl. Schwerlich mag
man durch mehrere Straßen einer mit russischem Militär besetzten Stadt gehen
können, ohne an einer Ecke einen Soldaten zu finden, der gestohlenes Gut feil¬
bietet. Oftmals geräth aber auch der Finger des Soldaten auf viel werthvollere
Dinge, als die genannten, und oftmals rafft er Massen auf, welche sich nicht in
der Tasche fortbringen lassen. So wurde in einer Nacht auf der Krakauer Vor¬
stadt in Warschau gerade vor der Hauptwache eine Tuchniederlage fast völlig aus¬
geräumt. Das Quantum des Gestohlenen betrug über 18 Centner. Niemand
hat die Diebe kennen gelernt, aber daß sie Soldaten waren, das leuchtete nur zu
sehr ein, eben so wie, daß sie mit der Mannschaft der Hauptwache und respective
dein Herrn Offizier derselben in bestem EinVerständniß gewesen sein mußten. Nicht
genug, daß sie das Gestohlene offen seil bieten, sie Hausirer auch sogar damit
und suchen es einem gewaltsam, jedoch stets in sehr höflicher, demüthiger, mitleid-
erregcnder Weise aufzudringen. Ich habe einmal zwei Stunden lang mit einem
Compagnieschreiber von Untervffiziersrang, der mich zum Kauf einer wunderschönen
goldenen Nepetieruhr zu zwingen suchte, zu kämpfen gehabt. Er forderte zuerst
fünf Dukaten, und erklärte sich zuletzt bereit, die Uhr sogar für 1 Dukaten hin¬
zugeben.
So dumm der Soldat ist, so weiß er bei seinen D-ebereien doch sehr wohl
das Werthvolle zu unterscheiden. Ein junger Kaufmann aus Warschau bezog im
Auftrage einer Warschauer Metallwarenfabrik den Jahrmarkt einer Provinzialstadt
und nahm cvmmissionsweise vou einem Uhrsabrikanten in Warschau ein Kästchen
voll goldener und silberner Taschenuhren (im Werthe von 3000 pol. Gulden oder
500 Thalern) mit. Dieses Kästchen behielt er der Sicherheit wegen auf seinem
Zimmer im Gasthaus. Vor den offenen Fenstern dieses Zimmers befanden sich
zufällig mehrere Soldaten eines durchmarschirenden Jnfanteriebataillous. Der junge
Mann verließ, ohne die Fenster zu schließe», die Stube auf einige Minuten. Als
er zurückkehrte, fand er das Kästchen leer, und die Soldaten waren verschwunden.
Ehe er den Bürgermeister dazu bewegen konnte, den commandirenden Offizier um
eine Untersuchung anzugehen, war das Bataillon abmarschirt, und nun war gar
nichts mehr zu erlangen. Ueberhaupt kommt der von russischen Soldaten Bestoh-
lene durch eine Untersuchung sast niemals zu seinem Eigenthum. Fängt er die
Diebe bei der That, so entgehen sie dem furchtbarsten Spießrnthenschlagen nicht;
zu einer Untersuchung lassen sich die Offiziere aber nicht leicht bewegen, selbst
nicht, wenn sie die Diebe und ihre That auf's Genaueste kennen. In der That
haben die Offiziere meist nicht viel edlere Grundsätze als die gemeinen Soldaten,
wovon ich vielfältige Beispiele anführen könnte. Ju der Mcthstraße in Warschau
befindet sich ein Galanteriewaarenhandelsgeschäft, in welchem auch Epaulettes ver¬
kauft werden. In diesem Geschäft fand sich eines Tages ein russischer Premier¬
lieutenant ein und ließ sich eine Menge Epaulettes zur Auswahl vorlegen. Er
besah die Waare lange und begann um ein Paar zu handeln, während er heim¬
lich ein anderes Paar in seinen Mantel zu practiciren suchte. Allein der Kauf¬
mann kannte diese Art von Käufern und bewachte mit dem schärfsten Auge die
Hände des Kriegshelden. Er packte den Offizier rasch beim Arme und rettete
die Epaulettes, die sich schon unter den Falten des Mantels befanden. Anfangs
war der Dieb verdutzt, dann erhob er sich plötzlich wie ein empörter Löwe, spie
vor dem Kaufmann aus und verließ das Local mit dem Ausrufe: „Pfui, Du
Schweinigel!" (l'v jo but, twui. mut.)
Die friedliche Dieberei artet sogar in gewaltthätige, in Straßenräuberei aus.
Ohne Gefahr kann man des Nachts niemals die Straßen passiren, welche sich in
der Nähe russischer Kasernen befinden. Durch Soldaten ausgeübte, gewaltsame
Beraubungen auf offener Straße sind mir während meines doch nicht allzulanger
Aufenthaltes in Warschau nicht weniger als drei und dreißig, in Kalisch fünf, in
Rodvm sieben, in Kutno zwei, in Plock fünf bekannt geworden. Noch in dersel¬
ben Nacht, nach welcher ich für immer Warschau verließ, wurde einer meiner
Freunde, Namens Rode, in einem Gäßchen bei den schon erwähnten Kasernen
hinter dem „eisernen Thore" von drei Jnfanteristen überfallen und seines Man¬
tels, seiner Uhr und sogar seines Rockes beraubt. Durch Gegenwehr rettete er
das Uebrige, was er am Leibe trug. Es geht so weit, daß die Soldaten im
Dienst, ja sogar im Sicherheitsdienste Räubereien begehen. Kaum glaubhaft er¬
scheint die Behauptung, daß man sich, wegen der Gefahr beraubt zu werden,
den Patrouillen zu begegnen hüten müsse, welche des Nachts zur Sicherung der
Straßen ausgesendet werden. Doch ist es nur zu begründet. Ein Beispiel ist
das Schicksal eines jungen wohlhabenden Bürgers von Warschau, Namens Große,
dessen Bater als Zimmermeister ein außerordentlich ausgebreitetes Holzhandels-
geschcist besitzt. Der junge Mann unternahm in Angelegenheit dieses Geschäfts
eine Reise in das westliche Gubernium. Heimkehrend begegnete er aus der Straße
Zwischen dem Dorfe Grochow und der Borstadt Prag« einer Patrouille von der
sogenannten Tscherkessenabtheilung deren vorzüglichstes Dienstgeschäft es ist, die
Bedeckung des Fürsten Paskiewitsch zu bilden. Dieselbe fiel seinen Pferden in
die Zügel und richtete sogleich die Frage an den Reisenden: was er bei sich führe.
Auf die Antwort „nichts," forderte sie ohne alle Zeremonie sein Geld. Drei warfen
sich sogleich über ihn her, und da er sich zu wehren suchte, so wurde er auf das
fürchterlichste gemißhandelt. Während dies drei von den Soldaten der Patrouille
thaten, beschäftigten sich die übrigen damit, das Gepäck des Reisenden aus dem
Wagen auf ihre Pferde zu bringen, und als dies geschehen war, machten sie sich
plötzlich sämmtlich, den Weg quer durch die Felder nehmend, in fliegendem Galopp
davon. Der Vater des Beraubten setzte alle Mittel in Bewegung, um der Ge¬
rechtigkeit einen Triumph zu verschaffe». Er wendete sich an die Civilgerichte,
allein vergebens. Diese lehnten mit Hartnäckigkeit die Aufnahme der Beschwerde
ab, welche das Heer so sehr compromittirte. Er wendete sich an die Militär¬
behörde, aber auch diese wies ihn zurück, und es schien, als ob er gegen Räuber
ans derjenigen Heeresabtheilung, welche unter dem Schutze der besonderen Gunst
des Fürsten Paskiewitsch steht, gar nichts sollte ausrichten können. Allein der
wackere deutsche Zimmermeister besaß eine ausdauernde Energie. Er wendete sich
sogar — irre ich nicht, durch Vermittelung der Adjutantur — an den Fürsten
Paskiewitsch selbst und dieser konnte, da die Verbrecher so genau bezeichnet und sicher
aufgefunden werden konnten, die Klage nicht abweisen. Ob und wie die Unter¬
suchung vorgenommen worden, hat man nicht erfahren, aber Große wurde nach
einigen Wochen in die Canzlei citirt und ihm da sämmtliche geraubte Sachen mit
dein Bedeuten zurückgegeben: „hier seien die Gegenstände alle, die er als geraubt
angegeben habe. Es fehle nichts daran. Damit aber solle er sich begnügen und
durchaus uicht einfallen lassen zu sagen, daß Soldaten, noch weniger daß Tscher-
kessen den Raub begangen haben. Wer die That ausgeübt habe, brauche er nicht
zu wissen, ja man wisse es selbst nicht, denn die Thäter seien nicht entdeckt wor¬
den. In weiterem aber solle er seinem Sohne den Rath geben, ein anderes
Mal nicht bei Nacht zu reisen."
Das Betteln der Soldaten ist so gewöhnlich wie das Stehlen. Ans offener
Straße wird man von den bejammernswerthen Leuten angefleht, und sieht man
ihnen recht in das Noth und Elend bezeugende Gesicht, so kann man nicht zögern,
ihnen einige Pfennige in die Mütze zu werfen. Sie küssen Einem dann gewöhnlich
unzählige Male deu Arm oder die Hand. A» den Chausseen fleht man sie oft in
größerer Zahl den Eguipagcn auflauern und diese dann mit verkehrt emporgehaltener
Mützen im Trabe begleiten. Einmal sah ich zwei russische Soldaten am Spät¬
abend eines Gallafesttages beim Lustschloß Lazienki alle Lustwandelnden bettelnd
anfallen, während gleichzeitig in dem prachtvollen Parterresaale des Schlosses das
Offiziercorps bei der überladensten Tafel saß und ans dem kleinen See vor dem
Schlosse ein Feuerwerk abbrennen ließ, welches wohl mehrere tausend Thaler
kosten mochte.
Die Negierung kennt sehr genau den jammervollen Zustand der untersten
Klassen ihres Heeres. In Deutschland und andern civilisirten Ländern werden
Diebe und andere Uebelthäter aus den Heeren gestoßen und der Verwandtschaft
mit dem Banner des Thrones und Reichs beraubt. Ju Rußland dagegen werden
sie dazu verurtheilt. Ein Jahr Zuchthausarbeit gilt dann gleich einem Jahre
Dienst im Heere. Doch wird es in den betreffenden Fällen keineswegs so genan
genommen, daß man den Menschen, der ein Jahr Strafdienst erwirkt hat, nicht
sollte seine halbe Lebenszeit unter der kaiserlichen KriegSscchne stehen lassen. Für
die Sträflinge bestehen keineswegs besondere Abtheilungen im Heere, wie bei uns
die Straft ompagnien. Sie werden in jede beliebige Truppe eingestellt, in welche
sie körperlich passen, und fast macht dies glauben, die Regierung sei der Ansicht,
die ganze unifonnirte Gesellschaft unter der Kriegsfahne bestehe aus Verbrechern,
und es sei daher nicht nöthig und möglich, Rücksichten zu nehmen und Absonde¬
rungen zu machen. In den Zuchthäusern findet man in Nußland fast nur körper¬
lich unbrauchbare Leute. Die kräftige» Züchtlinge männlichen Geschlechts hat man
im Heere zu suchen. Daß sie dort nicht dazu beitragen den moralisch schlechten
Zustand zu verbessern, ist wohl denkbar. Doch daran scheint der Negierung nichts
zu liegen. Sie ehrt die Flechse und den Knochen des Soldaten, das Geistige
an ihm ist ihr völlig gleichgiltig.
Auch die Art der militärischen Strafen verleiht dem Heere das Ansehn einer
Strafanstalt. Die Härte derselben ist entsetzlich und ihre Anwendung so häufig,
daß mau des Glaubens wird, der russische Soldat sei nur dazu da, tyrannisirt
zu werden. Arrest kommt beim Gemeinen fast gar nicht vor, um so häufiger die
körperliche Züchtigung. Das geringste Versehen im Dienste zieht eine Prügelstrafe
«ach sich. Die falsche Abgabe eines Executionszettels sah ich mit zwanzig Knuten-
Hieben bestrafen. Das Verwechseln eines Montirungsstückes, das Ueberhören eines
Signals, das zu späte Eintreffen auf dem Sammelplatz werden unverzüglich durch
Knutenschläge geahndet. Insubordination, Untreue gegen kaiserliches Eigenthum
und Desertion werden als die schwersten Verbrechen betrachtet, und ein Soldat,
welcher von der kaiserlichen Flinte eine Schraube, oder von der kaiserlichen Pa¬
trontasche eine Schnalle von einigen Pfennigen Werthes verkauft, hat zu erwarten,
daß er zu einer Strafe von 3 bis 400 Knutenschlägen verdammt werde. Deser¬
teuren werden nie unter 1000 Knutenschlägen zu Theil, welche sie wohl niemals
mit dem Leben überstehen. Und sollte dies bei einem der Fall sein, so wird ihm
zuschußweise gewöhnlich noch das Schicksal zu Theil, in ein sibirisches Regiment
versetzt zu werden.
Von einem Strafreglement ist nichts vorhanden, noch weniger von einer
Rücksicht auf dasselbe. Einige Strafangaben befinden sich zerstreut in der Jn-
structionssammlung, doch dienen sie nicht zur Maßgabe. Daher ist auch von einem
Strafgericht uicht die Rede. Jede Strafe entspringt der Willkür des Vorgesetzten.
Jeder Vorgesetzte hat die Macht, dem Soldaten Prügel zuzudictiren oder eigen¬
händig zu ertheilen, selbst der niedrigste, der Unteroffizier, und jeder derselben
gibt nur zu gern Beweise von dieser Macht.
Der Kaiser hat einen Ukas erlassen, nach welchem Soldaten, denen Orden
^'theilt worden sind, keine Prügelstrafe zndictirt werden darf. Allein die Offiziere
rissen llMr Kunde die unumschränkte Herrschaft zu bewahren, ohne den kaiserlichen
^kas zu verletzen, indem sie nämlich dem Soldaten die Orden von der Brust
nehmen, sie bei Seite legen und ihm erst, nachdem er seine Prügel erhalten hat,
wieder geben. Die Prügelfähigkeit ist übrigens nicht auf die Klasse der gemeinen
Soldaten beschränkt, sie dehnt sich auch ans die der Gefreiten, Unteroffiziere und
Feldwebel, überhaupt auf alle Personen des Heeres aus, welche nicht von Adel
sind. Selbst der Adel wird in manchen Fällen nicht respectirt.
Auch die Strafen der Offiziere entspringen größten Theils der Willkür des
Vorgesetzten, doch sind in Betreff des Offiziercorps Verordnungen für eine Art
Strafgericht und Vorschriften eines gewissen Strafmaßes vorhanden. Allein sie
dienen nicht zur Richtschnur. Die Strafen sind hart und zum Theil nicht minder
entehrend. Die Hauptrolle spielt die Degradation, durch welche dem Offizier so¬
gar das Schicksal zu Theil werden kann, prügelfähig zu sein. Es kommt häufig
vor, daß Offiziere bis in die Klasse der gemeinen Soldaten zurückversetzt werden,
und ist ihnen keineswegs erlaubt, um der Schande einer solchen Strafe zu ent¬
gehen , den Abschied zu verlangen. In Rußland erleiden sogar Generale eine
solche Degradation, und man darf nicht glauben, daß Fälle dieser Art selten sind.
Ich habe einen Freiherrn v. B., gebürtig aus den russischen Ostseeprovinzen, kennen
gelernt, welcher drei Male, ein Mal vom Major, das zweite Mal vom Capitain
und das dritte Mal durch den Fürsten Paskiewicz abermals vom Capitain zum
gemeinen Soldaten degradirt worden war. Als er die dritte Entehrung erlitt,
sagte er: diese Degradation ärgert mich, denn mein Vergehen war kaum beach-
tenswerth; allein ich schreibe jetzt ein Bändchen Gedichte, werde diese drucken lassen
und dem Paskiewicz dediciren, so, daß ich dann hoffen kann, bald wieder Ma-
or zu sein."
So häufig nun bei dem russischen Heere die Strafen sind, so häufig sind die
Belohnungen. Diese erstrecken sich auch bis auf die untersten Klassen, allein für
diese bestehen sie nur in leerem Ordenstaud. Dem Obersten, der ohnehin schon
Reichthümer in Ueberfluß besitzt, werden confiscirte Güter geschenkt, welche jähr¬
lich Tausende eindringen; der verhungerte Soldat dagegen bekommt eine kupferne
Mütze oder Stahlschnalle, welche ihm Niemand gegen eine Semmel ablauschen
möchte.
Ju schneidendem Contraste mit dem jammervollen Zustande der gemeinen Sol¬
daten stehen die Hänser, in denen sie wohnen. Die Kasernen sind wahrhafte Paläste.
Sie werden mit Luft geheizt, es befinde» sich in ihnen Apotheken und vieles ähnliche.
Die Kasernen, welche außerhalb der Städte erbaut werdeu, gleichen allerdings
denen in deu Städten an guter Einrichtung nicht. Sie bestehen gewöhnlich aus
zwei geraden Reihen isolirt stehender kleiner Häuser und bilden eine Straße, in
welcher sich von Strecke zu Strecke ein Ziehbrunnen und ungeheurer Waffertrog
befinden, welcher letztere die Stelle der Waschwanne vertreten muß. Es ist kein
uninteressantes Erlebniß, an einem solchen Troge eine ganze Compagnie Soldaten
unter dem Befehle eines Lieutenants ihre Hemden waschen zu sehen. Dies ge-
schieht gewöhnlich an dem Tage, nach welchem sie in das Dampfbad getrieben werden
soll. Natürlich befinden sich die Soldaten viel wohler als in den Kasernen in den
Quartieren bei den Bürgern oder Bauern. Diese Pflegen sie denn auch für ihre
Paradiese zu halten. Will der Bürger oder Bauer nicht in .Küche und Brod-
schrank allangenblicklich bestohlen werden, so muß er den Soldaten mit an den
Tisch setzen und genießen lassen, so viel er bedarf. Allein nur selten wird dem
Soldaten das Glück zu Theil. Wo es irgend möglich ist, 'wird jede Berührung
des Soldaten mit dem Bürger verhindert; mau baut lieber ganze Kasernenstädte.
Die Kosten, welche solche Bauten verursachen, zu decken, wird die Börse des Bür¬
gers gezwungen. In den größeren Städten erklärt die Regierung jeden Haus¬
besitzer für verpflichtet, einen Raum seines Hauses unentgeltlich an das kaiserliche
Heer abzutreten. Nach Umfang und Eleganz sind die Häuser den vierzehn mili¬
tärischen Rangstufen entsprechend classificirt. Da nun die Negierung diese Woh¬
nungen nicht von Soldaten beziehen läßt, so fordert sie von dem Hausbesitzer
eine Steuer, welche dem Miethwerthe der Wohnung gleichkommt. Das Quartier
eines Generals ist in Warschau mit 6000 Gulden veranschlagt. Das ist die
Quartiersteuer. Im Sommer muß das Heer ins Lager ziehen. Die Kasernen
behalten dann nur eine Wachtmanuschaft, die große Masse ihrer Einwohnerschaft
bezieht die Zelte, welche, gewöhnlich in nächster Nähe der Stadt, auf Wiesen¬
flächen aufgeschlagen sind. Für die höheren Offiziere ist diese Anstalt eine Spie¬
lerei. Ihre Zelte sind Gebäude voller Prunk und Bequemlichkeitsgeräthen, haben
verschiedene Zimmer, Küchen, sogar Säle, und dienen gewiß nicht dazu, die Herrn
Bewohner mit den Kriegsbcschwerden vertraut zu machen. Gleiches ist natürlich
nicht vou deu luftigen Zelten der gemeinen Mannschaft zu sagen, in denen sich au¬
ßer einigen Haken zum Aufhängen der Geräthschafte nichts befindet als die Schlaf¬
ftreue. Jeder Soldat gräbt sich in der Nähe des Zeltes ein Loch in die Erde,
welches er als Küche benutzt. Diese Feuerlöcher gebe» Einem Auskunft über die
Zahl der Soldaten, welche sich im Zelte befinden. Für das Brennmaterial muß
der Soldat selbst sorgen, wenn er gekochte Speisen genießen will, daher er ge¬
zwungen ist, die nächsten Wälder zu plündern, was die Offiziere für eine im
Kriegsleben ganz ordnungsgemäße Sache halten und die Waldbesttzer nicht zu ver¬
wehren wagen. Die Plünderung pflegt sich nicht blos auf die Wälder, sondern
auch auf die Felder zu erstrecken. Hat der Soldat etwas, wobei er kocht, so will
er natürlich auch etwas haben, was des Kochens werth ist. Die Früchte derje¬
nigen Felder, in deren Nähe ein russisches Soldatenlager aufgeschlagen wird, sind
niemals das Eigenthum ihres rechtmäßigen Herrn. Daher Pflegen die Bürger
oder Bauern in der Nähe eines Lagerortes ihre Grundstücke gar nicht zu bestellen.
Im September wird das Lager aufgehoben.
Viele Offiziere können nur ein einziges Wort schreiben, nämlich ihren Ra-
nen, sonst keins. Bei dem Offiziercorps der Kosaken ist der traurige Ruhm, we-
der lesen noch schreiben, und nur hauen und stechen zu können, ein fast allge¬
meiner. Die Regierung hat, um diesem in manchen Fällen nur zu gefährlichen
Uebel abzuhelfen, im Innern Rußlands Militairschulen errichtet, in denen Lesen,
Schreiben, Rechnen und Zeichnen gelehrt wird. Allein Personen, welche diese Künste
selbst nur nothdürftig zu üben verstehen, sind immer noch so selten, daß man ih¬
nen gleich bei ihrem Eintritt in ein Regiment Unteroffiziersrang verleiht und sie
in einem Bureau anstellt.
Durch Unwissenheit zeichnen sich vorzüglich die Offiziere der Infanterie ans.
Allein ihr Dünkel pflegt so großartig zu sein als ihre Bornirtheit, daher sie diese
unter einem Schein von hoher Gelehrsamkeit zu verbergen suchen. So zum Bei¬
spiel erscheinen diese russischen Offiziere, welche kein Wort lesen können, sehr gern
in Bibliotheken, Buchläden und öffentlichen Lesezimmern. Sie verweilen da lange
und betrachten die Titel der Bücher mit einer Miene, als ob ihr Geist den in¬
nigsten Antheil hätte. Als ich einen von diesen Herren, welcher in einer Schwei¬
zerbäckerei neben mir sitzend wohl zwei Stunden lang unter seltsamen Micnen-
zuckungen in die Preußische Staatszeitung gefeiert hatte, fragte, was für Welt¬
kunde in dem Blatte zu finden sei, sah er mich anfangs ganz verdutzt an und antwor¬
tete dann: „viel Neuigkeit — wie es so in der Welt zugeht — in Ungarn hat
man gestohlen, in der Türkei sind schreckliche Mordthaten vorgekommen und Eng¬
land läßt marschiren." Nachdem er sich entfernt hatte, sah ich das Zeitungsblatt
an und fand, daß es gar keine Artikel ans Ungarn und der Türkei enthielt, und
in den zwei englischen Parlamentsreden, welche sich darin befanden, war kein Wort
vom Marschiren zu lesen. Ein Anderer von dieser Klasse trat eines Tags in die
Glücksberg'sche Buchhandlung in Warschau und ging, nachdem er versichert, daß
er ein großer Freund und Kenner der Literatur sei und sich eine Bibliothek an¬
legen wolle, mit aufmerksamer Miene die Rückentitel der Bücher betrachtend, eine
Stunde lang an den Ncpositorien ans und nieder. Endlich fiel sein Auge auf
einen ungeheuern, mit Stricken eingeschnürten, an der Erde liegenden Ballen. Er
glaubte, daß er Druckschriften, die Werke irgend eines Autors, enthalte. Allein
es war ein Ballen Löschpapier. Löschpapier heißt ans polnisch Bibala. Zu
seinem Unglück kannte der Offizier dieses Wort nicht und hielt es für den Namen
eines Schriftstellers. Als ihm also der Commis gesagt: „es ist Bibala,"
glaubte der russische Offizier sogleich einen Beweis seiner Liebe und Kenntniß
der Literatur geben zu müssen und rief mit scheinbar herzinniger Theilnahme aus:
„ah! ah!! ah!!! Bibala!" das ist ein köstlicher Schriftsteller, eigentlich mein
Lieblingsschriftsteller!" .
Die am wenigsten ungebildeten und unwissenden Offiziere im russischen Heere
sind die Kurländer. Sie sprechen gewöhnlich mehrere Sprachen und sind nicht
blos mit allen Fächern der Kriegswissenschaft vertraut, sondern besitzen sogar eine
gewisse akademische Gelehrsamkeit. Daher findet man sie vorzugsweise in der
kaiserlichen Adjutantur, bei den Garden und dem Geniecorps. Sie Pflegen aufs
Schnellste zu den höchsten militärischen Würden emporzusteigen. Ein 35jähriger
General, wenn er ein Kurländer ist, ist in Nußland keine Merkwürdigkeit. Leute
dieser Art sind Nesselrode, sah, Rüdiger, Dehn, Galliam, Rosen, Geißmar,
Pachter, Sacken, Richter.
Die Bewaffnung des russischen Heeres kann nicht getadelt werden. Die
Waffenstücke der Infanterie sind sehr gut gearbeitet, schwer und dauerhaft. Die
Hauptwaffe der Kavallerie ist die Pike. Kürassiere und Husaren gibt es wenige,
Uhlanen desto mehr. Sie machen fast drei Viertheile der Kavallerie deren Pferde
durchgängig vortrefflich sind, aus. Von den Kosaken, welche ein irreguläres Korps
bilden und sich selbst equipiren müssen, läßt sich gleiches nicht sagen. Ihre
Waffen sind so roh und schlecht, wie ihre katzenartigen Pferde. Sie sind die
Leute des Stehlens und der Flucht. Die Todten der Schlachtfelder zu plündern,
ist ihr Lieblingsgeschäft und mehr thun sie nicht gern. Ihr kriegerisches Gewicht
liegt eigentlich nur in der falschen Vorstellung, welche sich der Feind von ihnen
macht. In dem polnischen Jnsurrectionskriege ist nicht ein einziges Mal der Fall
vorgekommen, daß Kosaken einen Sieg errungen hätten, dagegen wurden oftmals
ganze Kvsakenregimenter von wenigen Sensenträgeru zersprengt und in die Flucht
getrieben. Als der polnische General Dwernicki hinter Pnlawy mit 3000 uncin-
exercirten Sensenleuten ohne Artillerie neun russische Kavallerieregimenter warf und
in die Flucht trieb, waren die drei Kosakenregimenter die ersten, welche den Platz
verließen. Vor Kanonen halten sie niemals Stand, da bewahren sie gewissenhaft
die Ehre ihres Sprichworts: „unsere Piken sind schrecklich, aber Kanonen lassen
sich nicht erstechen."
Die am besten ausgerüstete Truppengattung des russischen Heeres ist die Ar¬
tillerie, Die Geschütze sind vortrefflich gearbeitet und mit alleu Vortheilen ver¬
sehen, welche das westliche Ausland erfunden hat. Allein sie werden ungeschickt
bedient, da das Exercitium ein sehr uucultivirtes, schwerfälliges ist und der rus¬
sische Soldat kein natürliches Geschick besitzt, die Mängel desselben zu beseitigen.
Daher kam es, daß Dibicz bei Grochow mit 323 Kanonen nichts gegen die 63
Kanonen der Polen auszurichten vermochte. Die Regierung verwendet große
Summen vorzugsweise auf die Artillerie und hat die Zahl der Geschütze zu einer
ungeheuere» Höhe gebracht. Rußland kann mit Leichtigkeit 400 Geschütze auf
einen Kampfplatz außerhalb seiner Grenzen und sechs- bis siebenhundert auf eiuen
innerhalb seiner Grenzen führen. Die Dienstpflicht dehnt sich im Allgemeinen auf l5,in
Manchen Fällen sogar auf 25 Jahre aus. Selbst dem stärksten Geiste würde aller
Lebensmuth bei dem Bewußtsein, fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahre lang den
Druck einer russischen Kriegsfahne ertragen zu müssen, verloren gehen. Der rus¬
sische Rekrut steht nichts mehr vor sich als ein ewiges Elend, denn nachdem er
das Soloateneleud so lange ertragen, ist er zu nichts weiter tüchtig als zum Bet-
kein oder dasselbe Elend noch weiterhin zu ertragen. Er bleibt daher gewöhnlich
bis zu seinen? Tode Soldat und hascht endlich nach dem jämmerlichen Glücke, in
eine derjenigen militärischen Klassen versetzt zu werden, welche zur Bewachung der
Straße», der Städte oder ähnlichen ungefährlichen Zwecken eingerichtet sind. Je¬
des Jahrzehend bringt ihm dann ein gelbes Tressenband um deu rechten Rockärmel,
und das ist die einzige Unterbrechung, die in deu einförmigen hohlen Ton seiner
in einer Bilde an der Straßenecke hingcbrüteten letzten Lebenszeit fällt.
Das Mitgetheilte genügt wohl zu der Ueberzeugung, daß Europa vor Ru߬
lands Hceresniacht nicht zu zittern brauche. Rußland besitzt ein großes Heer, daS
Heer aber keine Seele. Es hat 320,000 Mann ans den Füßen und kann, trifft
es richtige Anordnungen, 200,000 Manu mit 4- bis 500 Kanonen über die
Grenze schicken, aber gegen eine civilisirte Macht hält eine Horde von Wilden auf
die Dauer nicht Stand.
Der 11. October wird immer el» Freudentag in der Geschichte Mecklenburgs
bleiben, denu an ihm erfolgte endlich die langersehnte Publikation unserer neuen
Verfassung. Von der schweren Bürde seiner alten Fcudalzustände, die jede gei¬
stige Entwickelung, jede materielle Verbesserung im Keime zu ersticken drohten, ist
das Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin (Strelitz, dies unverbesserliche Nest
der krassesten Aristokratie, die Deutschland besitzt, hat den alten Unrath vorläufig
uoch zurückbehalten müssen) jetzt endlich erlöst. Die jetzige Verfassung ist größ-
tentheils aus deu Vorlagen, die unser Ministerium dem außerordentlichen Land¬
tage vorgelegt hatte, hervorgegangen, läßt zwar die Forderungen der äußersten
Linken, und zum Glück des Landes, größtentheils ganz unberücksichtigt und ist
als Ausdruck des Centrums, und somit deö Kernes der mecklenburgischen Be¬
völkerung anzusehen. Die Verfassung enthielt wesentlich alle Bestimmungen der
Frankfurter Grundrechte, und hat sich sonst die norwegische und belgische zum Mu¬
ster genommen, den Rechten des Volkes, die bisher von unseren Feudalständen
so oft mit Füßen getreten wurden, trägt sie die Rechnung, die ihnen gebührt,
ohne dabei das nothwendige Ansehen der Krone so zu schwächen, daß diese als ein
bloßer Spielball in den Händen einer chrgeitzigen Opposition sich verhöhnen las¬
sen müßte. Unserer, äußersten Linken war zwar diese Verfassung anfänglich gar
nicht genehm, und sie wendete alle Mittel an, dieselbe zu verdächtigen. Als ihr
aber später der Boden unter den Füßen zu wanken begann, und die Reaction,
durch die Erfolge der östreichischen und preußischen Waffen übermüthiger ge¬
macht, ihr Haupt erhob, beeilte sich auch diese Linke den Kampf gegen diese neue Ver¬
fassung aufzugeben. Die Vorlagen der um ernannten Negiernngscommisstonäre
Grvrh, Stever und von Liebeherr, gewannen uun immer mehr Anhänger in der
Kammer, und fast alle ihre Anträge wurden mit der überwiegendsten Majorität an¬
genommen. Nur die äußerste Rechte, aus 7 — 8 Laudedellcuteu, Mitgliedern der
adeligen Ritterschaft der früheren sogenannten Landtage, bestehend, stimmte conse-
quent gegen alle Paragraphen und legte endlich ihr Mandat nieder. So kam denn unsere
neue Verfassung so einmüthig wie es wohl selten in Deutschland geschehen ist,
zwischen unserer Kammer und der Regierung zu Stande. Mit aufrichtigem Herzen
beschwor sie Eude August, wo die Verfassung beendigt und somit der außerordent¬
liche Landtag aufgelöst wurde, unser junger Großherzog, der in den letzten Jah¬
ren sich die ungetheilte Achtung erworben, und so schien aller Streit beendet.
Mecklenburg-Strelitz, das bisher mit Schwerin in einer landständischen Union ver¬
einigt war, und somit auch Abgeordnete zu diesem außerordentliche» Landtag nach
Schwerin gesandt hatte, obgleich später bei dem constitutionellen System eine ge¬
meinsame Kammer beider Länder, und zwei verschiedene, völlig von einander un¬
abhängige Regierungen derselben, ein Unding gewesen wäre, hatte schon früher
seine Abgeordneten abberufen. Der mächtige Adel in diesem 80,000 Einwohner
zählenden Ländchen, hatte wieder sein Haupt erhoben und der Regierung einge¬
redet, sie brauche nun, wo die Gefahr vorüber sei, ihre im vorigen Jahr gege¬
benen Versprechungen nicht zu halten. Man stützte sich auf die Hilfe preußischer
Bayonnette, die jeden Widerstand besiegen konnten; hatten im vorigen Herbste doch
schon einmal preußische Kürassiere in Strelitz einwirken müssen, um den Großhe»
zog, der vou dem Volke in seinem Schlosse zu Strelitz belagert, zu seiner Rettung
aus dem Fenster gesprungen war, zu schützen. Durch die einseitige Abberufung
seiner Abgeordnete» aus der gemeinsamen Kammer hatte die mcckleuburg-strclitzsche
Regierung übrigens ihrerseits die Union mit Schwerin aufgekündigt und war so
den Wünschen letzteren Landes zuvorgekommen. Sie hatte dadurch vou selbst das
Recht aufgegeben, gegen jede Veränderung in den staatlichen Verhältnissen von
Schwerin z» Protestire». Wenn sie jetzt sich den Anschein gibt, als könne sie
aus religiösen Gründen die Einführung des constitutionellen Systems in Meckleu-
bttrg-Schwerin nicht dulden, so verdient das keine weitere Berücksichtigung.
Aber ein zweiter Feind, von dem man es hätte kaum glauben sollen, daß er
noch wieder aufzutauchen wage, erhob jetzt plötzlich sein Haupt, und bemühte sich
unserem Großherzog und seinen wackere» Minister» v. Lützow, Stever, Meyer und
von Licbeherr bei der Publikation unserer neuen Verfassung Verdrießlichkeiten
über Verdrießlichkeiten zu bereiten. El» großer Theil des Landadels unserer frü¬
heren Ritterschaft gab sich plötzlich das Ansehen, gegen die Publikation unserer
neuen Verfassung protestiren zu müsse», und wollte zu Gunsten derselben aus seine frühern
landständischen Rechte nicht verzichten. Welch andere Gesichter machten diese Herren
im Frühling vorigen Jahres, wo sie nicht ohne Grund eine Züchtigung für ihr
früheres Schalten und Walten erwarteten. Damals als die Tagelöhner auf den
großen Rittergütern unruhig zu werden anfingen und einige Edelhofe schon de-
molirt hatten, wandten sie sich an dieselbe Regierung, auf die sie jetzt wieder so
hochmüthig herabblickten, und baten um Schutz. Und die Festigkeit unseres jungen
Großherzogs, von dem Jeder wußte, daß er aus Furcht nichts sich abtrotzen lasse,
er aber auch jedes freiwillig gegebene Versprechen unverbrüchlich halten werde,
rettete das Land vor unermeßlichen Unglück. Die früheren Landstände kamen
in ihrer Furcht in Güstrow zusammen und erklärten öffentlich, sie würden zu Gun¬
sten einer neuen Repräsentativ-Verfassung, die zwischen dem Großherzog und einem
außerordentlichen Landtag vereinbart würde, gern ihre früheren Vorrechte auf den
Altar des Vaterlandes niederlegen. Und jetzt, wo wir endlich eine Verfassung
erhalten haben, die im vorigen Frühjahr noch als conservativ gegolten hätte, wa¬
ge» es 153 adelige und 10 bürgerliche Gutsbesitzer der früheren Ritterschaft (die¬
selbe bestand im Ganzen aus ungefähr 220 adeligen und eben so viel bürgerlichen
Gutsbesitzern) in einer am 5. October zu Rostock gehaltenen Versammlung gegen
diese neue Verfassung zu protestiren. Eine eigene Deputation, aus drei Mitglie¬
dern bestehend, ward nach Schwerin entsendet, on bei dem Großherzoge persönlich
gegen die Publicirung der neuen Verfassung zu Protestiren, und demselben Vor¬
stellungen aller Art dagegen zu machen. Der Großherzog aber, von weisen Rath-
gebern berathen, ließ der Deputation sagen, er kenne keine Ritterschaft mehr, könne
also anch keine Deputation von solcher annehmen. Im Sommer aber habe er
schon öffentlich erklärt, Deputationen politischer Versammlungen nicht mehr per¬
sönlich empfangen, sondern die Wünsche solcher nur schriftlich entgegennehmen und
schriftlich beantworten zu wollen, er könne somit mit dieser auch keine Ausnahme
machen. So mußte denn diese Deputation unverrichteter Sache wieder abreisen,
nachdem sie vorher noch die Ungezogenheit gehabt hatte, einen Brief des Ministers
v. Lützow, in welchem ihr im Namen des Großherzogs schriftlich die Gründe der
Nichtempfangung auseinander gesetzt waren, unerbrochen zurückzusenden. Die Wuth
unseres Landadels und der kleinen eng mit ihm verbundenen hocharistokratischen
Hof- und Beamtenkreise, über diese Demüthigung, die ihm vermeintlich wiederfahren
sein sollte, ist eben so groß, wie die ungetheilte Freude des ganzen übrigen Vol¬
kes. Noch größer aber und nachhaltiger war diese Freude aus der einen, die Wuth auf
der andern Seite, als unser Ministerium am 11. October die neue Verfassung
öffentlich publiciren und derselben somit Gesetzeskraft geben ließ, die beste Ant¬
wort, die es auf jenen Rostocker Protest der Landjunker ertheilen konnte.
Schon wenige Stunden nach Bekanntmachung dieser no^u-r elmrtir vereinten
sich mehrere hundert der angesehensten Einwohner Schwerins (der zahlreiche Hof
und Beamtenadel hielt sich ganz passiv dabei), um dem Großherzog ihren Dank
durch eine Abendmusik darzubringen, und eine zahllose Menschenmasse stimmte aus
vollem Herze» in das laute Lebehoch auf diesen edlen Fürsten mit ein. Auch dem
Ministerpräsidenten v. Lützow, auf den sich jetzt der ganze Haß seiner Stantzes-
genossen gewälzt hatte, ward eine Nachtmusik gebracht. Unser Landadel will jetzt
übrigens auf gerichtlichem Wege gegen diese neue Verfassung Protestiren und un¬
sern Großherzog wegen der Publikation derselben beim Bundesschiedsgericht ver¬
klagen. Ein Organ fand diese Partei in dem zu Rostock erscheinenden „Norddeutschen
Correspondenten." Als Redacteur desselben ist der bekannte Herr v. Florencourt aus
Naumburg verschrieben, der früher als „Ultraradikaler" die „hamburgischen kritischen
Blätter" redigirte, daun als Konstitutioneller viel an den Biedermann'schen Zeit¬
schriften mitarbeitete, und endlich die berüchtigte, Tippelskirchische „Wochen¬
schrift für Stadt und Land," eine Zeitung, die unter der Maske eines scheinhei¬
ligen Pietismus, ein planmäßiges Verdummungssystem verfolgt und daher an den
Herren Eichhorn, Gerlach, Leo und Konsorten kräftige Beschützer fand, redigirte.
Diese Gönner recommandirten ihn denn auch uach Mecklenburg, um auch hier jede
auftauchende freieie geistige Entwickelung niederzukämpfen, ein Bestreben, was
außer bei unseren Landjunkern und deren Anhängsel, bisher sehr wenig Erfolg
gehabt hat. Hatte dieser „norddeutsche Korrespondent" doch die Frechheit, die
Spalten, in denen er unsere neue Verfassung verkündete, mit einem breiten Trauer¬
rand zu versehen.
Befolgt man von Seiten unseres Ministeriums den einmal betretenen Weg
mit Festigkeit und bleibt nach wie vor, wie man es jetzt so schön begonnen, auf¬
richtig constitutionell gesinnt, geht Mecklenburg-Schwerin einer schönen Zukunft
entgegen. Vor dem Elend der Ueberbevölkerung, und der daraus entsprin¬
genden Armuth so vieler Landstriche Deutschlands, ist es bis jetzt noch bewahrt,
denn der reiche Boden desselben vermag mit Leichtigkeit noch die doppelte Zahl
von Bewohnern zu ernähren. Zwar herrscht jetzt in manchen weniger fruchtbaren
Theilen des Landes oft ein Mangel an Arbeit, und die Zahl der besitzlosen Fa¬
milien Mecklenburgs ist verhältnißmäßig groß. Allein der Uebelstand, durch den dies
hervorgerufen ward, die Anhäufung großer Landgüter zu Majoraten und Fideicom-
missen ist in Folge der neuen Gesetzgebung gehoben. Landstriche, die ihrer
Größe wegen, von einem Besitzer kaum gut bewirthschaftet werden konnten, wer¬
den künstig drei bis vier Familien und dadurch wieder eine Menge Arbeiter sehr
reichlich ernähren. Auch in städtischen Gewerben und in der Anlage industrieller
Unternehmungen, die Mecklenburg bisher noch gänzlich fehlten, wird durch den
bald bevorstehenden Anschluß an den Zollverein ein wohlthätiger Umschwung ge¬
schehen. Ebenso wird die Trennung der Verwaltung von der Justiz, die Aufhe¬
bung der Patrimonialgerichte, die Einführung der Oeffentlichkeit und Mündlich¬
keit im Gerichtsverfahren und der Geschwornengerichte, die Achtung vor dem Gc-
setze wesentlich im Volke erhöhen. Ueberhaupt dürste kein Zweig des öffentlichen
und staatlichen Lebens gefunden werden, der nicht von unserer neuen Verfassung
und den durch sie mit hervorgerufenen neuen Einrichtungen, auf das Wohlthä¬
tigste berührt würde. Und diese schwere Krisis der Wiedergeburt ist für Mecklen¬
burg verhältnißmäßig leicht und ohne große Opfer vor sich gegangen. Dafür
jetzt der Undank unserer hohen Aristokratie, die kein Mittel unversucht läßt,
das Herz unseres jungen Herzogs zu betrüben. So haben auch die meisten un¬
serer hocharistokratischen Gutsbesitzer den Entschluß gefaßt, den Hof fortan gänzlich zu
vermeiden, um so dem Großherzog in ihrer Meinung die ganze Schwere ihres
Zornes fühlen zu lassen. Haben sich doch einzelne dieser Herren nicht gescheut,
in größeren Kreisen zu erklären, „man könne jetzt nicht mehr anständig bei Hof
kommen, denn man treffe so viel bürgerliche Menschen dort, mit denen man nicht
zusammen sein wolle." Auch über die im nächsten Monat stattfindende Vermäh¬
lung des Großherzogs mit einer Prinzessin Reuß aus einer mediatisirten Seiten¬
linie, macht sich unsere Hocharistokratie lustig, da ihr diese Parthie nicht vornehm
genug ^scheint. Um ja nach ihrer Art eine recht glänzende Rache zu nehmen,
haben sich unsere adeligen Gutsbesitzer auch verschworen, bei diesen Vermählungs¬
feierlichkeiten nicht zu erscheinen, indem sie sich einbilden, daß diese ohne ihre
Mitwirkung gar nicht glänzend sein und der Großherzog dadurch verletzt sein
würde. Dafür wird der Einzug der Großherzogin in Schwerin, der wahrschein¬
lich am 6. November erfolgt, von den Bürgern der Stadt auf das glän¬
zendste gefeiert werden, um derselben zu zeigen, wie sehr man ihren Gemahl ver¬
ehrt. Dieser Bund ist übrigens aus reiner Neigung der Herzen entstanden und
zeigt auf's Neue den edlen Charakter des Großherzogs. Schon als Knabe, wo
er seine Erziehung theilweise im Blochmann'schen Institute in Dresden erhielt,
lernte er die damals sich auch in dieser Stadt aufhaltende Prinzessin Auguste v.
Reuß kennen und hat diese Erinnerung seiner Jugend bis jetzt, wo er ihr seine
Hand reicht, in treuer Liebe bewahrt. Die Hofhaltung des neuen fürstlichen Paa¬
res soll deu Wünschen desselben gemäß, so einfach als möglich werden und man
will alles steife Ceremoniell verbannen. Große Hoffeste, wo Alles nur in Galla-
uniform erscheinen kann, sollen künftig ganz wegfallen, dagegen will der Gro߬
herzog alljährlich einige größere Gesellschaften geben, bei denen Gebildete aller
Stände eingeladen werden. So wird auch unser ganzes Hofleben, das früher
ziemlich cxclusi? war, einen anderen Charakter erhalten und dies mit der Zeit
vortheilhaft wieder auf Umänderung unseres geselligen Lebens, das jetzt noch an
dem Fehler des furchtbarsten Kastengeistes leidet, zurückwirken.
Jedes neue Stück setzt die Kritik in nicht geringe Verlegenheit. Die Pro¬
duktivität unserer dramatischen Dichter ist so gering, daß man eigentlich für jeden
Versuch schon aus dem Grunde dankbar sein sollte, daß er überhaupt gemacht ist.
Unser Theater wird sich nicht heben, so lauge nicht jeder Poet von einigem Talent
es für seine Pflicht hält, jährlich ein bis zwei neue Tragödien, Komödien, Dra¬
men oder wie er es sonst nennen mag, auf die Bühne zu bringen. Ich sage
das nicht im Scherz. Das französische Theater befindet sich wohl dabei, und bei
aller Fruchtbarkeit der Theaterdichter sind ihre Leistungen, wenn man die mittlere
Proportionale zieht, immer noch viel besser als unsere deutschen. Sie sind in
der Regel liederlich gearbeitet, wie auch zum Theil die französischen Gemälde,
aber es ist stets Leben und Erfindung darin.
Eigentlich sollte also die Kritik, auch was sie zu tadeln hat, immer mit einem
lebhaften Händeklatschen begleiten, um nur ja nicht abzuschrecken, wo sie ermun¬
tern will. Aber es geht nicht, wir kommen aus unserer Haut nicht heraus. Der
Deutsche ist zu gewissenhaft für stofflose Komplimente.
Das vorliegende Stück soll von einem ganz jungen Manne herrühren. Wenn
sich daher irgend ein ursprüngliches Streben darin kund gäbe, so roh und unge-
lenk es auch sein möchte, wir würden es anerkennen. Nach der günstigen Auf¬
nahme, die ihm selbst in dem blastrten Berlin zu Theil geworden ist, sollte man
das auch vermuthen. Aber es ist nicht so. Wir haben es mit einer ausgeprägten, zu einer
gewissen Vollendung ausgebildeten Manier zu thun. Deborah hat vou der alten, Schil-
ler-Körner'sehen Schule das banale Pathos, von der jungen Literatur die verwischte
Zeichnung. Und um das Maß voll zu machen, noch die politische Tendenz. Es
wird beständig gepredigt, die Personen wissen nie, was sie eigentlich wollen, und
das Ganze dreht sich um die Juden-Emancipation. Zuweilen steigert sich der
Enthusiasmus so ins Unaussprechliche, daß er sich lyrisch in ein Düsseldorfer
lebendes Bild mit bengalischer Flamme und melodramatischen Akkorden verliert.
Das Wesentliche der dramatischen Motive läßt sich übersichtlich genug zu¬
sammenfassen.
Eine Jüdin, Deborah, flieht mit ihren Angehörigen ans Ungarn, wo sie
durch den christlichen Fanatismus verfolgt war, nach Steyermark. Auch hier wird
sie übel genug aufgenommen, beinahe gesteinigt, doch knüpft sie ein Liebesverhältniß
mit einem jungen Bauern, Namens Joseph, an. Sie beschließen, mit einander
nach Amerika zu entfliehen, und zu diesem Zweck die beiderseitigen Anverwandten
im Stich zu lassen.
Joseph erklärt sich gegen seine Familie, und sein Herz geräth durch die Er¬
schütterung, die seine Absicht hervorbringt, in unauflöslichen Conflict mit sich
selbst. Er weiß nicht mehr recht, ob «r auch die Isidin wirklich liebt, oder nicht
vielmehr eine Cousine, ein frommes, braves und in religiöser Beziehung sehr
aufgeklärtes Mädchen. Er möchte bleiben, aber er hat der Jüdin sein Wort
gegeben. „Das Wort war ein Bruch gegen den christlichen Eid, gilt also
nichts. Außerdem hat es die größten Nachtheile für das Familienleben,
wenn die Eltern verschiedener Confession sind, und die Kinder nicht wissen, zu
welcher sie sich eigentlich halten sollen." Was also thun? Joseph läßt sich bere¬
den, seiner Geliebten — eine Summe Geldes anbieten zu lassen, um sie zur
schleunigen Abreise zu bewegen, halb in der Hoffnung, sie werde es ausschlagen,
halb in der Hoffnung, sie werde es annehmen, und er alsdann seiner lästigen
Verbindlichkeiten gegen eine so niedrig denkende Person ledig sein. Deborah denkt
natürlich viel zu edel, um auf dergleichen Anträge eingehn zu können, aber
durch eine eigenthümliche Verkettung der Umstände kommt es so, daß Joseph es
sich wenigstens weiß machen kann, sie sei daraus eingegangen. Nun ist er gedeckt,
er weist sie mit der nöthigen Verachtung von sich nud wird seine Cousine heirathen.
Die Heirath geht vor sich, aber Deborah benutzt die Gelegenheit, ihm zu
fluchen. Er fällt in Ohnmacht.
Nach fünf Jahren kehrt die Jüdin zurück, als Bettlerin. Sie hoffte, ihr
Fluch werde in Erfüllung gegangen sein und Joseph mit seiner Familie im größten
Elend leben. Im Gegentheil. Sie leben ganz glücklich, und haben nur hin und
wieder eine gewisse Neue darüber, daß sie mit der armen Deborah so übel um¬
gegangen sind. Sie haben daher ihr Kind Deborah getauft, nud suchen überall
Juden ans, um ihnen Wein, Wurst und Käse zu spenden. Das Judenthum ist
ein Grund spezieller Berücksichtigung geworden. Bis zu welchem Grade in diesen
fünf Jahren die religiöse Aufklärung gestiegen ist, davon noch später ein Zug.
Alle diese Umstände veranlassen Deborah, ihren Haß aufzugeben, und mit Hinter¬
lassung ihres Segens mit einer jüdischen Kolonie nach Amerika auszuwandern. ^-
Was wird eigentlich durch dieses Stück bewiesen? daß mau ein guter Fami¬
lienvater, guter Wirthschafter und überhaupt guter Mensch sein kann, wenn man
sich anch in einem tragischen Conflict nicht zu benehmen versteht? I'init no Kinn
pour- uno omvlettv! Das Drama soll uus doch einen sittlich-ästhetischen Eindruck
hinterlassen, aber diese laxe Moral, so anwendbar sie sür das Leben ist und für
den Roman, gehört uicht in die Poesie. Die Frage ist immer die, wie hat Jo¬
seph den einzigen Conflict seines Lebens gelöst? Und ich muß antworten, wie ein
Lump! Man muß das bestimmt aussprechen, da wir so lange in unserm Leben
im Großen und Ganzen unfähig sein werden, sittliche Conflicte zu lösen, so
lange wir auf unserer Bühne die Lumpe als Helden oder als liebenswürdige
Menschen verehren.
Aber man mißverstehe mich nicht. Der tragische Conflict ist da. Eine Lei¬
denschaft hat Joseph in ein Verhältniß gebracht, dessen weitere Verwickelung ihn
zu einer Verletzung seiner natürlichsten Pflichten und Neigungen bringen muß.
Eine Lösung muß erfolgen. Joseph wird entweder von seiner Leidenschaft so er¬
füllt sein, daß er Vater, Heimath und alles übrige aufgibt, oder er wird sich ge¬
waltsam zusammenraffen, seine Uebereilung einsehn, und nun der Geliebten sagen:
trage es wie du kannst, die Sache ist einmal so. In beiden Fällen wird ein
großer Schmerz die Folge ^sein, aber ein starker Mensch kann eben ans einem
ernsten Conflict nicht hervorgehn, ohne Schmerzen zu bereiten und zu empfangen.
Aber in der Schwebe zu bleiben, und in dieser Verlegenheit der Geliebten Geld an¬
bieten zu lassen, um dadurch sein Wort abzukaufen, mit dem Glauben, sie werde
es nicht annehmen, steh dann rasch zu der Ansicht zu sorciren, sie habe es ange¬
nommen, sie sei eine gemeine Creatur, und in seiner Schuld noch den Tugend¬
haften zu spielen, — das ist feige, das ist niedrig, und Joseph mag nachher ein
so vortrefflicher Wirthschafte! und Familienvater sein, als er will, er bleibt doch
ein Lump. Freilich bleibt Deborah zuletzt nichts weiter übrig, als ihn unange¬
fochten zu lassen, denn so eine Figur aus Teig, so eine Molluske bricht ja
nicht unter den Schlägen des Schicksals; wenn er bestraft werden sollte, so könnte
das nur äußerlich geschehn. Aber darum soll man thu eben uicht in eine Tragödie
bringen wollen.
Und Deborah ist auch nichts weniger als eine Heldin, so energisch sie auch
ihr Gefühl ausströmt. So lauge sie sich lyrisch bewegen ?ann, in Empfindungen,
ist sie vortrefflich gehalten, wie der griechische Chor in ähnlichen Fällen,
aber im letzten Act, wo sie ihr Wesen eigentlich erst entfalten soll, fällt sie in
sich selbst zusammen. Sie hatte geglaubt, ihr Fluch würde in Erfüllung gehn,
was hätte sie in diesen, Fall gethan? Sich an dem Elend ihres Ungetreuen ge¬
weidet? Das wäre gemein gewesen. Ihm doch verzeihen? Das hätte ihm dann
Nicht viel geholfen. Der Fluch ist nicht in Erfüllung gegangen, ihr Gott hat sie
im Stich gelassen. Was soll sie nun thu»? Sich persönlich rächen? dem Jo¬
seph das Hans anzünden? sein Weib vergiften? sein Kind entführe»? — Das
wäre immer keine Lösung des Conflicts. Oder vor Wuth und Gram sich tödten?
Da ist ssx immer die Besiegte. Es ist also das beste, daß sie verzeihend abgeht.
Aber dann war die ganze Flnchgeschichte — wenigstens für das Drama — über-
flüssig. Eine so weit ausgesponnene Rache kann überhaupt nur in unserer blasir-
ten rafstnirten Zeit zum Gegenstand einer Tragödie gemacht werden. Die wahre
Leidenschaft handelt im Moment. — Zudem ist das Motiv ihrer Versöhnung
sehr schwach. Joseph hat sein Kind Deborah taufen lassen, er erquickt vagabun-
dirende Juden mit Speise und Trank, er reist bis nach Wien, um für sein Dorf
einen jüdischen Schulmeister zu gewinnen. Ein energisches Weib, mit großen
Leidenschaften, müßte das Motiv dieser feigen Rene durchschauen, und ihn um so
mehr verachten. Sie hätte ihm sagen können: „lebe so weiter fort, du Knabe der
Thränen! du bist es nicht werth, daß Jehovah deinetwegen seine Blitze in Bewe¬
gung setzt!" Aber gerührt werden, weinen, das Kind küssen, und wieder küssen,
das Haus segnen — sehr liebenswürdig ist es von dieser Jüdin, aber eine tra¬
gische Heldin ist sie nicht.
Und so ist es mit den übrigen Personen. Mit Ausnahme einiger Choristen und
eines alten Juden, der sonst überflüssig ist und nur als Träger alttestamentlicher
Reminiscenzen auf die Bühne gebracht wird, erscheint Alles, den Pfarrer und den
erzürnten Vater mit eingeschlossen, so weich, so zärtlich, so aufgeklärt, so tugend¬
haft, daß der sogenannte religiöse Conflict alle Berechtigung verliert. Es ist
lediglich ein Conflict der Convenienz. Nur Ein Bösewicht ist im Stück, und
auch dieser — das ist charakteristisch — wird bekehrt. Es ist doch nöthig, daß
der Fanatismus der Bauern gegen die Juden sich in einem bestimmten Träger
verkörpert. Ein strenggläubiger Katholik wäre dazu am besten geeignet. Aber
das ist zu einfach! Es ist ein getaufter Jude, welcher die Juden darum verfolgt,
weil er fürchtet, von ihnen entlarvt zu werde». So geschieht es auch wirklich;
ein alter, blinder Jude, den er eben austreibt, erkennt ihn an der Stimme und
an dem Gesicht, das er befühlt, als einen getauften Juden; in Folge dessen ver¬
liert er seine Schulmeisterstelle. Das soll östreichisches Gesetz sein; ob es wahr
ist, weiß ich nicht. Darauf geht er in sich und bessert sich hinter den Coulissen,
er nimmt mehrere umgetaufte Verwandte zu sich und erlangt darauf seine Stelle
wieder. Joseph reist nämlich nach Wien zu dem jungen, edlen Kaiser, dessen
Thür jedem Bittsteller offen steht, und dessen Bildung weit über den Fanatismus
der öffentlichen Meinung hinausreicht, und erhält von ihm die Erlaubniß, einen
getauften Juden als Schulmeister in seinem Dorfe zu haben! — Diese Person
ist charakteristisch für die Gutmüthigkeit des Dichters, aber auch für seine geringe
Empfänglichkeit für tragische Probleme.
Diese Gutmüthigkeit hat ihn auch zu der Wahl des Stoffes verleitet. Hu¬
manität, Toleranz, Emancipation! Ich dächte, wir hätten der Judenwirthschaft
nachgerade genug auf unserm Theater. Als Lessing seinen Juden auf die Bühne
brachte, war es ein Verdienst, denn die große Masse des Volks war in ihrer
christlichen Intoleranz noch naiv; das heutige, romantisch reflectirte Christenthum
geht mit seineu Scheidungsversuchen so bescheiden zu Werke, daß es ein Kampf
gegen Windmühlen wäre, wenn man eine schwere Lanze gegen diese hohle Rüstung
einlegen wollte. Kommt es auch hie und da noch vor, daß Gassenjungen einer
orientalischen Erscheinung ihr Hepp Hepp nachrufen, so ist das kein tragischer
Conflict, kein Gebildeter macht zwischen Juden und Christen einen andern Unter¬
schied, als der in ihrer menschlichen Erscheinung liegt. Daß man die Gemeinheit
eines Schacherjudcn in anderem als komischem Lichte ansehen soll, weil er den
tragischen Stempel der Ahasverus-Figur in der sentimentalen Einbildung unserer
jungen Poeten an sich trägt, das ist denn doch selbst von der christlichen Liebe zu viel
verlangt. Für diese Sentimentalität wird schon der Ausdruck Schacherjude Anstoß
geben; ich hätte sagen sollen: ein der mosaischen Konfession angehönger Handels¬
mann, und auch das kaum! Was nur die Ebenbürtigkeit der socialen Verhält¬
nisse betrifft, so ist das nur Gegenstand für's Lustspiel. Wenn ein herunterge¬
kommener Baron durch die Heirath mit einer reichen Jüdin seinen Ahnensaal re-
stauriren will, aber vorher von ihr verlangt, sie solle sich taufen lassen, und ihre
Vetter Jsaschar und Naphtali, so lange sie ihr Geschäft fortsetzen, sollen sich dem
Rayon des Schlosses in einem Umfang von drei Meilen nicht nähern — nun,
die Gesetzgebung bat die Civilehe erlaubt, die Verkehrtheit der Sitte, wenn eine
darin ist, gehört in die Komödie. Wenn ein reicher Banquier seine Tochter einem
Assessor nicht, sondern nur einem Geheimenrath geben will, so ist das für den
verliebten Assessor zwar unbequem, aber ein Proletarierdrama daraus zu macheu,
ist eben so lächerlich, als zur Bekehrung jenes Barons die Geister der alten Jn-
quisitionsgerichte herauf zu beschwören. Geh zur Ruhe, alter Ahasver! zu stoff¬
loser Rührung fehlt es uns an Zeit.
Aber selbst zur wirkliche» Darstellung des Judenthums ist unsere Poesie zu
gutmüthig. Wer würde es heute wagen, einen Shylock zu malen! Wenn man
die Juden unserer Poesie betrachtet, so wird es absolut unbegreiflich, wie jene
Verachtung des Stammes in der öffentlichen Meinung so allgemein werden konnte.
Lauter Heroen, lauter leidende Engel! Das blöde Vieh müßte sich bei ihrem
Anblick bekehren! Die Juden unsers Dichters sind lyrische Reminiscenzen aus
den Psalmen und Propheten — wie der christliche Pfarrer aus dem neuen Testa¬
ment, der Chef der jüdischen Auswanderungscoterie eine Reminiscenz der Berliner
Reformgemeinde. Aber diese bloße Lyrik hat keine Kraft, in das dramatische
Räderwerk energisch einzugreifen. Daher läßt sich unser Drama in eine Reihe
Tableaux mit obligaten Psalmen zerlegen, l) Christlicher Sonntag mit Musik,
2) die verfolgte Jüdin, zürnend um sich blickend, das Kreuz, das sie schirmen
will, zurückweisend, 3) Waldscene mit Mondschein: die geflüchtete jüdische Familie
um den blinden Patriarchen, 4) Donner und Blitz, die Jüdin als verstoßene
Geliebte, 5) Kirchhof, mit Orgelbegleitung, der Fluch der Jüdin, 6) großes
Lebensbild mit bengalischer Flamme und leisen Harfenklängen, die trauernden Ju¬
den am Meeresstrand — man wird überrascht, als nach langem Schweigen die
Personen anfangen zu sprechen, 7) idyllische Schlußscene, gemüthliches Stillleben.
Gerade aus diesem Grunde ist für eine Schauspielerin von edlem Aeußern,
kräftiger Stimme und geschickter Deklamation die Deborah eine der dankbarsten
Rollen, die ich kenne. Sie gibt zu malerischen Attitüden, zu frappanten Gruppen
Veranlassung. Aber die dramatische Kunst wird nicht gefördert.
Ein Wiener Localstück ohne den Wiener Dialekt — es soll uns unmöglich
sein, ein richtiges Urtheil darüber zu gewinnen. Der Brei ist derselbe, aber der
Pfeffer fehlt, die Würze der linguistischen Gemüthlichkeit.
Ein junger Herr von guten Anlagen verwildert in der strengen Zucht eines
Professors, der theils durch sein eignes abstractes Wesen, theils dnrch den Ser¬
vilismus und die knechtische Furcht seiner nächsten Umgebungen charcikterisirt wird.
Er entläuft ihm zuletzt und tritt unter die Vormundschaft eines braven Mannes,
Vorstehers eines Bergwerks, der ihm Liebe zur Arbeit einflößt und ihn dem Laster
des Müssiggangs entfremdet. Er heirathet seine Tochter, tritt mit ihm in Com¬
pagniegeschäft, und zuletzt wird auch der abstracte Professor bekehrt. Außerdem
treten einige Personen auf, die zeitgemäße Couplets singen, und das Bergwerk
gibt zu angemessenen Dekorationen „unter der Erde" Veranlassung. Was der
abstracte Professor und seine servile Umgebung sagen, ist Unsinn, gemein und
niederträchtig, was der brave Bergmann und seine „Familie" — alle Bergleute
gehören dazu — sprechen, ist Tugend und Weisheit. Es ist eine faustdicke Moral
und nicht mißzuverstehen.
Hat das Vaudeville seine Berechtigung? — Ich denke nur in dem Falle, wo
eS, wie das französische, heiter und witzig ist. Und selbst da kaum. Wenn man
Tag und Nacht nur die Drehorgel hört, verliert man zuletzt die Fähigkeit, eine
gute Musik zu empfinden. Das Publikum verwildert, und der poetische Geist er¬
stirbt in Trivialität. Wir stecken ohnehin tief genug im Schlamm.
In einer andern Art, als das vorige Gemälde, welches wir kritisirt haben,
geht anch dieses ans dem Portrait hervor, aus dem Bestreben nämlich, eine An¬
zahl der Zeit nach zusammenhängender Portraits zu gruppiren. Es ist darin dem
Goethebild v. Pecht ähnlich, welches wir im vorigen Jahre in Leipzig hatten.
Der Vergleichung halber wollen wir einen Blick auf das letzte werfen, ohne auf
den Werih der Ausführung näher einzugehn.
Goethe's Iphigenia ist im Hoftheater zu Weimar aufgeführt, und die Schau¬
spieler, an ihrer Spitze Corona Schröder, überreichen im Garten bei Fackelbeleuchtung
dem Dichter den Ehrenkranz. Um den Dichter, der uns in der Blüthe seiner manu-
lichen Jahre vorgeführt wird, gruppiren sich die Notabilitäten, die er in seinen
Kreis bannt, Wieland und Andere, namentlich Frauen, darunter die Frau Rath
und Betline, als Sinnbilder von zwei verschiedenen Generationen, die jede von
ihrem Standpunkt aus den Dichter verehrten. Gegenüber eine Gruppe selbst¬
ständiger Geister, die mit Ehrfurcht, aber auch mit Selbstgefühl aus den gekrön¬
ten Dichter blicken, Schiller, Fichte, Herder u. s. w. Im Vordergrund ein paar
allgemeine Figuren, die Jugend der Zukunft: das Mädchen den Blick auf Goethe,
der Knabe auf Schiller gerichtet. Die Neider, Hofmarschälle u. f. w. verschwin¬
den in Büschen des Hintergrunds.
Der Inhalt des Bildes ist leicht übersichtlich. Einige Personen in antikem
Costüm uuter einer Reihe modern gekleideter müssen doch wohl Schauspieler sein,
und wenn sie Jemand einen Kranz überreichen, so ist es muthmaßlich der Dichter
des Stücks, das sie eben aufgeführt haben. Die andern Personen sind, je nach
ihren Verhältnissen, mit einem verschiedenen Grade des Interesses dabei betheiligt,
und geben der Ehrenbezeigung Relief. Außerdem sind in Deutschland, und auch
wohl jetzt ziemlich im ganzen civilisirten Europa die Portraits von Goethe und
Schiller ebenso bekannt, als die von Luther und von Friedrich, und an diese
Kenntniß knüpft sich nun sogleich eine Reihe von Vorstellungen an; wir sind zu
Hause, und wenn wir auch noch vorläufig die einzelnen Personen nicht zu unter¬
scheiden wissen, so ist es doch von Interesse, sie zu errathen oder zu erfragen.
Wohl nirgend und zu keiner Zeit findet sich ein solcher Kreis zusammen, in wel¬
chem jeder Einzelne uns eine so individuelle Theilnahme abzugewinnen weiß.
Anders ist es mit den Girondisten. Für uns ist dieser Name ein Gat¬
tungsbegriff, in den der Einzelne aufgeht. Von den Gefangenen des 2. Juni
werden uns höchstens zwei menschlich näher getreten sein, Vergniaud als der
Redner, Brissot als der Intriguant der Partei. Für die übrigen Portraits
kann also unsere Theilnahme nicht weiter gehen, als ihre unmittelbare Erscheinung
sie erheischt.
Diese Portraits hat der Künstler in folgenden historischen Vorwurf combinirt.
Die 22 Gefangenen sind zum Tode verurtheilt und sollen am folgenden
Tage guillotinirt werden, Einer von ihnen hat sich erschossen. Ein guter Freund
findet Mittel, ihnen für die letzte Nacht ein festliches Mahl zu bereiten. Vergniaud
hält während desselben eine Rede über die Unsterblichkeit der Seele. Dies der
Moment.
Den Mittelpunkt bildet also eine Anzahl trinkender Personen. Die vielen
leeren Weinflaschen zeigen die bisherige Thätigkeit, einige halten noch das Glas
an den Mund oder wenigstens in der Hand. Der Tisch ist mit Blumen ge¬
schmückt.
Eine Mahlzeit, ich habe es schou in dem vorigen Artikel gesagt, ist wohl für ein
Genrebild, aber nicht für ein historisches Gemälde ein geeigneter Vorwurf. DaS
Historische wird in unserm Fall nicht in der Sache selbst, sondern im Contrast
gegeben. U<i>-iun-i bitume. Die Wirkung durch den Contrast ist sentimental,
witzig, epigrammatisch, kurz, sie gehört der Romantik an, nicht der Plastik. Spie¬
lende Kinder auf einer Brandstätte n. dergl. ästhetisch zu würdigen, war unserer
modernen Empfindsamkeit vorbehalten. Abgesehen davon, ist die Frage, wie der
Künstler den Contrast versinnlicht hat.
Er hat es theils durch den Ausdruck der Gesichter, theils durch die Umge¬
bungen zu erreichen versucht.
Das erste ist ein höchst mißliches Unternehmen. Ein Trinkgelage soll heiter
sein, melancholische Trinker sind eine unzweckmäßige Combination. Nur barba¬
rische Völker sausen um die Leiche ihres verstorbenen Freundes. Es ist natürlich,
die Erscheinung mit der zunächst sich darstellenden Ursache in Verbindung zu brin¬
gen, also hier den leidenden Ausdruck der Physiognomien mit dem getrunknen
Wem. Ich frage einen Jeden, der ähnliche Scenen aus eigner Anschauung kennt,
ans sein Gewissen, ob seine erste Vermuthung nicht darauf geht, die Gesellschaft
sei in dem Stadium der Trunkenheit angekommen, wo sie elegisch wird. In dem
Stadium, wo man sich umarmt, wo man tiefsinnig anf's Glas stiert, oder den
Kopf in höchst zweideutiger Absicht nach Vorn herüberbeugt. Der Ausdruck der
Hauptperson trägt wesentlich dazu bei, diese Auffassung zu bekräftigen. Bleich,
mit verwilderten Blicken, ungeordneter Cravatte, Rock und Weste weit aufgerissen,
hält er eine Rede. Die umstehenden Kellner sehn mit Befremden auf die wunder¬
liche Gruppe.
Was den Contrast der Umgebung betrifft, so hätte er allerdings stärker sein
können. Sähen wir die Gesellschaft mit Fesseln belastet, in einem feuchten Ge¬
wölbe, im Hintergrund die Henker mit gezücktem Schwert und wüstem Lärm her¬
einstürzend, so würden wir zwar über die Zweckmäßigkeit, in solchem Augenblick
ein Trinkgelage zu halten, verschiedner Meinung sein, aber wir würden wenig¬
stens wissen, warum es sich handelt. Die allzu zarte Färbung des Contrastes
läßt uns im Dunkeln. Links auf einem Tisch liegt ein Todtenkopf, ein Krucifix
und mehrere Bücher. Daraus ersehen wir noch nichts, denn wir wissen, daß es
bei den ägyptischen Mahlzeiten Sitte war, ein Gerippe neben den Blumen auf¬
zustellen. Rechts liegt ein großes Tuch, einer der Gäste hebt, scheu zur Seite
blickend, einen Zipfel auf, und wir entdecken ein Stück vom Kopf eines Leich¬
nams. Wie kommt er dahin? und warum erregt eine so seltsame Erscheinung
in der Gesellschaft nicht größere Aufmerksamkeit? — Nur aus dem Katalog er¬
sehen wir, daß es die Leiche jenes Girondisten ist, der sich selbst erschossen hat
und trotzdem auf dem Karren mit zur Richtstätte geschleppt werden soll. — Ein
aufgedunsener Philister, den wir aus einigen Schlüsseln als den Schließer des
Gefängnisses erkennen sollen, geht an den Gefangenen vorüber — eine Copie der
entsprechenden Figur in Kaulbach's Narrenhaus. An deu Thüren lassen sich einige
rothe Jakobinermützen sehen, die eine sich hereindrängende Fran zurückhalten —
vermuthlich die Verwandte eines der Gefangenen — aber alles das ist im dunkeln
Hintergrunde. Die Jacobiner, nnter denen sich ein in einen rothen Mantel ge¬
hüllter Mann, vielleicht der Henker, auszeichnet, halten sich, mit Ausnahme einiger
unbedeutenden komischen Personen, sehr anständig; sie sehen finster, aber ohne
gemeine Schadenfreude, auf ihre Gefangenen herab. Daß die letzteren es sind,
ist durch kein bestimmtes Zeichen zu erkennen.
Diese Undeutlichkeit in. Beziehung auf deu eigentlichen Zweck des Bildes,
nach meiner frühern Auseinandersetzung der schlimmste Fehler der Kunst, wird
noch gesteigert durch die unmittelbare Beschäftigung der dargestellten Figuren.
Vergniaud hält eine Rede, die Andern hören zu; was er ihnen sagt, können wir
nicht sehen, wir können also auch über den Einfluß seiner Worte auf die Empfin¬
dungen der Uebrigen uicht ins Klare kommen. Er echauffirt sich, und sie bleiben
kalt, der eine läßt den Kopf hängen, der andere fährt in der Lectüre seiner Zei¬
tung fort, noch andere unterhalten sich mit einander; im besten Fall zeigt mau
eine höfliche, aber durch wechselnde Betrachtungen immer zerstreute Aufmerksamkeit.
Eine Rede zu malen, ist nur in Einem Fall erlaubt: wenn sich ihre Wir¬
kung in unmittelbarer sinnlicher Anschaulichkeit ausprägt. Ein Demagog, Husstt
u. tgi., der zu den Waffen ruft, umgeben von einem tobenden, exaltirten Getüm¬
mel, von Waffeugeklirr und Säbelschwingen; oder ein Bußprediger, um den sich
eine heulende Menge, Asche auf dem Haupt, im Staube windet, das ist ver¬
ständlich. Aber ein doctrinärer Vortrag, sei er auch noch so sehr auf das Ge¬
müth berechnet, läßt sich nicht versinnlichen. Eine Rede über die Unsterblichkeit
der Seele! Was sollen die Zuhörer dazu sür Gesichter machen? Der Sccptiker,
der Christ, der sentimentale Schwächling, der trotzige Freie, sie werden Jeder
einen so eigenthümlichen Ausdruck zeigen, daß auch der geübteste Physivguom, wenn
er die Worte nicht hört, das Gemeinsame uicht herausfinden wird.
Dazu kommt noch ein zweiter Umstand. Das Geschäft des Zuhörers ist, so
kluge Sachen auch gesprochen werden mögen, immer ein passives, etwas einfälti¬
ges. Im Dialog geht es; die Antwort, mit der ich meinen Gegner vernichten
will, drängt sich, schon ehe ich zu Worte komme, in meinen Blick, meine Stirn,
meine Nüstern. Aber wenn eine ganze Gesellschaft einem Vortrag folgen soll, so
wird sie unvermeidlich in jene gelinde melancholiche Abgespanntheit verfallen, die
dem Gesicht einen unerträglich langweiligen Ausdruck gibt. Am einfältigsten
sieht der Mensch aus, wenn er sich male« läßt; zunächst, wenn er eine Predigt
anhört. Nun noch beides zusammen! Denn es soll ja jedes Portrait ein eigen¬
thümliches Leben, also auch eine eigenthümliche Beschäftigung ausdrücken; der
Künstler sucht also jeder seiner Figuren eine besondere geistige Thätigkeit zu ver¬
leihen, und paralystrt dadurch die Wirkung der Hauptfigur, des Redners.
Es ist das ein Uebelstand, der bei gruppirten Porträts immer eintreten wird,
der bei dem Pacht'schen Gemälde sich in einem noch viel höhern Grade gel¬
tend macht: die sämmtlichen Personen drängen sich der Aufmerksamkeit auf, sie
Präsentiren sich: ich bin der und der, betrachte mich genau und unterscheide mich
von den Uebrigen. Der Maler verfällt dabei zu leicht in eine gewisse Coquet-
terie, die man sich am besten aus dem widerlichen Eindruck versinnlichen kann,
den eine daguerrotypirte Gruppe verschiedener Personen macht.
Unter den Einzelnen sind manche interessante Gesichter, Brissot vor Allem;
Vergniaud vielleicht am wenigsten. Aber auch manche, die durch Rohheit und
Stumpfsinn den Eindruck geradezu stören. Ju historischer Beziehung wäre diese
Genauigkeit ein Gewinn, aber um sie künstlerisch zu berechtigen, fehlt unserer
Kenntniß von den einzelnen Personen das individuelleJntcresse. Ob Ducos, Fon-
frede, Boileau, Faucher so oder so ausgesehen haben, daran liegt uns im Gan¬
zen wenig.
Wie es dem historischen Maler ziemt, sind ältere Porträts, namentlich die
von David, fleißig benutzt. Kenner versichern mir, es sei mir zu sclavischer Nach¬
ahmung auch in Bezug auf die Haltung der Einzelnen geschehen. Aus eigener
Anschauung kann ich darüber nicht urtheilen.
Als ein erfreuliches Symptom, daß es unter den strebsamen Gemüthern in Oestreich
denn doch noch einige gibt, die mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge zufrieden
sind, theilen wir aus dem Gedicht von Karl Beck „An Franz Joseph" (2. Aust.,
Wien, Jasper, Hügel u. Mainz), in welchem der Kaiser um Amnestie für die besiegten
Unzarn gebeten wird, folgendes Fragment mit.
Jüngst schrankenlos und doch ein Knecht,
Ein Freier nun in Maaß und Schranken,
So schaut der Mann mit festem Blick,
Ins Angesicht dem Weltgedanken.Die Jngend sucht kein Ritterspiel,
. Nach Riesen späht sie nicht auf Reisen:
Sie zündet stumm das Lämpchen an.
Und sucht den Weg ins Thal der Weisen,Zum Sturme rief das Crucifix,
Zum Streite ging des Thurmes Hammer:
Zum Segen klingt nun das Geläut,
Und sühnend schmückt das Kreuz die Kammer.
Verjüngten Leibs erhebt die Stadt
Sich allgemach der Feuertaufe,
Die Straße lebt, am Fenster steht
Kein wüster Schütz, das Blei im Lause.Die Blume sieht, das Kind heraus —
Vom Markt und von der Kirchcnschwclle,
Vom Bürgersteig entflieht der Tod,
Verwiesen in des Kranken Zelle.Was lebt, das freut des Lebens sich;
Was aber jung der Kampf begraben —
Die Sage wird im Volk dafür
Ein tönendes Gewissen haben.
Ein Fremder, der jetzt die Hauptstadt besucht und die Straßen belebt, die
Gassen gedrängt von Menschen findet, würde leicht getäuscht werden, wenn er
dies als einen Beweis ansehen wollte, daß für die Gemüther schon wieder be¬
ruhigt, und die Geschäftsordnung wieder ins frühere Gleis zurückgekehrt sei. Un¬
sere Straßen sind von Neugierigen gefüllt, welche in ihrer Schaulust zur Besich¬
tigung des Reactions-Heerdes nach Ungarn geführt worden sind, andrerseits sind
es Kaufleute, welche deu durch die frühere Absperrung ihnen zugefügten Schaden
auf dem bedeutendsten Producteumarkt der Monarchie sich einbringen möchten, es
siud also Fremde, die gegenwärtig unsere Straßen füllen; denn die Pesther und
die Bewohner der umliegenden Gegend sind von dem schrecklichen Unglücke, das
sie getroffen, so gebeugt und ihr Muth so gebrochen, daß sie sich vor sich selbst
verbergen würden. Verurtheilen und Hinrichten, Erschießen und Hängen sind
unsere Tagesneuigkeiten. Am 6. October wurde der ehemalige Premierminister
Graf Ludwig Batlhyani z»in Strange verurtheilt, der Graf um der Schmach zu
entgehen, wußte sich im Gefängnisse einen Dolch zu verschaffen, mit dem er sich
einen Hals- und Bruststich versetzte, die aber zu seinem Unglücke nicht tödtlich aus¬
fielen; das Kriegsgericht an der Vollziehung des gefällten Todcsurtheilcs für die
bestimmte Morgenstunde verhindert, ließ noch am selben Tage Abends den Gra¬
sen erschießen. Und so fiel am verhängnißvollen Tage, an dem Graf Latour in
Wien dnrch VvlkSjustiz gerichtet wurde, das Haupt eines der angesehensten, ein-
stllßreichstcn und hochgestelltesten ungarischen Magnaten. Batthyani hat sich weder
^ der Unabhängigkeitscrklärung uoch an dem Debrecziner Parlamente beteiligt,
ja er wurde sogar in den letzten Wochen seiner Ministerpräsidentschaft von den
Liberalen als reactionär verschrieen. Er war Anführer der Deputation, welche der
ungarische Reichstag dem Fürsten Windischgrätz bei seinem Vorrücken gegen Pesth
entgegen sandte, und welche seine fürstliche Durchlaucht als Parlamentäre gefangen
nehmen ließ. Er trat anch den ungarischen Ultras stets mit Entschiedenheit ent¬
gegen, und suchte die während seiner Präsidentschaft eingetretenen Conflicte mit
dem Wiener Kabinette ans friedlichem Wege auszugleichen. Er ertrug seine Ver-
mtheilung mit Fassung und betrat auch den Richtplatz mit männlicher Standhaftigkeit.
An demselben Tage wurden in der Festung Arad 13 Generale, und zwar
9 durch deu Strang und 4 dnrch Pulver und Blei hingerichtet, unter denen Dam¬
janich, Kiß, Pöltenberg, Nagy sartor sowohl durch persönlichen Muth als auch
durch Tact in dem letzten Winterfeldzuge sich unsterblichen Ruhm erworben haben.
Tags darauf wurden Csanyi und Baron Jcsseuak hingerichtet, von denen der erstere als
Minister der Communication unerschütterlichen Muth und den regsamsten Eifer für
den Befreiungskampf mit einer bewnndrnngöivürdigen Selbstverleugnung an den
Tag legte, und auch nur seiner Selbstverleugnung ist sein Ende zuzuschreiben.
Er besaß die unerbittliche Strenge und die durch nichts getrübte Vaterlandsliebe
eines Cato. Noch am NichtPlatze wollte er einige tröstende Worte an einige be¬
trübte Zuschauer aus dein Volke richten, da wurde auf Befehl deö Commandanten
sogleich die Trommel gerührt, welche ihm das Sprechen vereitelte.
Nun denken Sie sich d.-s Gefühl der geknechteten Pesther, die solche schau¬
derhafte Blntscenen ruhig mit ansehen müsse», und fragen Sie dann, ob denn dies
die Art und Weise ist, ein Land zu pacistciren? Gleichzeitig wurde in der Kirche
eine Friedensftier aufhöherem Befehl abgehalten, wo der Geistliche in eiuer Sonntags¬
predigt das Volk aufruft, dem Himmel zu danken, für die Segnungen des Frie¬
dens, und in künstlichen Redensarten beweist, daß wir nicht genug uns freuen
können, dem Terrorismus entgangen zu sein und dem milden, gnadenreichen öst¬
reichischen Königsscepter zu huldige». So lernt das Volk seine Geistlichen als
Schauspieler und die Kanzel als Hofbühne ansehen, es werden die heiligsten Ge¬
fühle von ihm verachtet, und nur mit Widerwillen kehrt es nun den Rücken dem
Hause der Andacht und der Erbauung.
Und all diese täglichen Verurtheilungen und Blutgerichte sollen uns einen
dauernden Frieden sichern?
Durch das neu eingeführte und nach dem Wiener Hauptmustcr hier weit ver-
verzweigtc Pvlizeisystem und im geheim besoldete Spione, ist die in Ungarn exo¬
tische Giftpflanze der Denunciation anch ans magyarischen Boden verpflanzt wor¬
den, und schießt auf den versumpften Städten gleich Pilzen hervor. Mit der
Capitulation Komorns ist den Liberalen der letzte Hoffnungsstrahl geschwunden,
und die Auswanderung nach Amerika ist die letzte Aussicht, mit der man sich tröstet.
Würden diese Zeilen blos von Oestreichern gelesen, so könnten viele Buch¬
staben der Aufschrift erspart werden, denn diese verstehen die volle Bedeutung des
„k. k." Als Geßler seinen Hut auf die Stange steckte, wagte es doch ein Schwei¬
zer, die Reverenz zu verweigern, aber noch ist der Oestreicher nicht geboren, der
dem Ka ka seinen Respekt vorenthalten möchte. Den Demokraten und Umstürzlern
ist freilich nichts heilig, aber die sind Ausländer, Fremde, wie es die östreichische
Regierung vielfältig behauptete; selbst die revolutionären Oestreicher wagten es
niemals, ein Pünktchen vom k. k. wegzustreichen.
Als Kaiser Franz durch die Erfolge des cvrsischen Generals gezwungen wurde,
die deutsche Krone abzulegen, erhob er Oestreich ans eigener Machtvollkommenheit
zu einem Kaiserstaate; es war und blieb ein leerer Name, der einen Ersatz geben
sollte für die verlorene Herrlichkeit. Man impfte aber diesen Namen auf jedes
Zweigchen des neuen Staatslebens, und mit polizeilicher Sorgfalt wurde es in
Kirche, Amt, Schule und Privatverkehr vorgebracht und wiederholt. Wohin das
Auge des Oestreichers blickte, sah ihm k. k. entgegen; der k. k. Staatsminister
und k. k. Tabakverschleißer, k. k. Schulrath und k. k. Hosschwanzrührer
Man muß das Beamtenleben der vormärzlichen Zeit mitgemacht haben, um
die ganze Glorie zu erfassen, welche dieses k. k. einem Angestellten verlieh. Der
Praktikant, der 10 und 20 Jahre ohne Gehalt dienen mußte, um endlich ein
Adjutum von 300 Fi. oder eine ähnliche Bedienstung durch Protectionen zu er¬
langen, sah doch mit Stolz und Hochmuth auf alle Beamten der Herrschaften herab,
denen das k. k. vor dem Titel fehlte. Die Patrimonialgerichtsbarkeit gab fette
Pfründen für manchen Jnstizamtmann oder Herrschaftsverwalter, und die beim re¬
gierenden Fürsten Lichtenstein Angestellten thaten sich nicht wenig auf ihre Uniform
zu Gute; aber vor einem k. k. Concipisten oder Secretär traten sie voll Scheu und
Ehrfurcht zurück. Selbst die Angesehensten strebten mit Eifer darnach, dieses k. k.
zu erlangen, das heißt in kaiserlichen Dienst zu komme», womit natürlich die ewige
Versorgung, Aussicht auf Beförderung, Pension und dergl. verbunden blieb. Ein
k. k. Beamter, selbst vom untergeordnetsten Rang, war stets ein unumschränkter
Herr in seiner Sphäre — nach Unten, und da das Volk stets unter den Beamten
blieb, so war dieses k. k. das Eldorado und die Sehnsucht aller Anstellung¬
suchenden.
Außer den Beamten haschte jeder Privatmann nach dieser Bezeichnung, wenn
er uicht auf die Adelsverleihuug Anspruch macheu durste. Jeder Fabrikant be¬
mühte sich, das k. k. für seine Firma zu erwerben; jede industrielle Association
erwarb diesen Beisatz und die Schuhwichsverbesserer suchten ein k. k. Privilegium
zu erhaschen.
Das ka ka wurde zum Dogma in der nichtpolitischen Glaubenslehre Oestreichs,
ein Sacrament des alleinseligmachenden Polizeistaates! Was Wunder, daß das
k. k. auch auf die Revolution übertragen wird und unter diesem eisernen Schilde
die Willkür und Gesetzlosigkeit ihre Pfeile losschlendern?! Wir sind im Monat
October, und seit Jahr und Tag ist Oestreich der k. k. Anarchie verfallen.
Die Krone und der Staat mußten mit dem Schwerte ihre Erhaltung und
Fortdauer erkämpfen; die Thorheit und das Verbrechen rüttelten an Beiden, und
als das Mähnenschütteln des königlichen Löwen nicht die demokratischen Mäuse
verjagte, erschlug er mit seinem Schweife die belästigenden Thierchen. Oestreich
hat seine Kraft und Macht in bitterem Kampfe bewährt; Knaben hatten dem Niesen
ein Bein gestellt und er strauchelte, weil ein entnervendes System das Mark aus
seinen Knochen gesogen hatte, aber bald richtete er sich wieder auf, und eine neue
funkelnde Rüstung umpanzert seine Glieder. Der Staat Oestreich hat eine poli¬
tische und moralische Berechtigung, gegen welche die nationalen Bestrebnisse, so
entgegengesetzt ans diesem Territorium, als untergeordnet erscheinen. Die Hei-
rathscontracte und Erbschaftspunkte haben nicht diesen Staat gebildet und erhal¬
ten, sondern er ging aus dem Prozeß innerer Elemente hervor, und noch ist der
Schmelztiegel nicht bereitet, um eines oder das andere derselben ausscheiden zu
können.
Allein so wie wir die Berechtigung des Kaiserstaates anerkennen, vindiciren
wir für die Länder und sür die Völker das Recht der culturgemäßen Umformung
und Fortbildung. Nach 40jähriger Negierung erfuhr der herzlose Kaiser Franz
(das Herz des verstorbenen Fürsten wird nirgends aufbewahrt), in der Gruft der
Kapuziner, daß sein treuer Helfershelfer flüchtig das Land verlassen mußte; und
Ferdinand der Gütige entschloß sich rasch, den Aufbau seines Vaters umzustürzen.
Die Zusagen des Letztern haben Oestreich neu gestählt, und das Hinreichen der
kaiserlichen Hand, um die Völker zu den Stufen des Thrones emporzuheben, ver¬
hinderte Bündnisse mit den Gewalthabern des Tages.
Der Jüngling Franz Joseph setzte sich mitten im Getümmel des Bürgerkrieges
die Krone auf; die Völker harrten, daß der Kaiser und König mit dem Schwerte
den Bürgern und mit dem Scepter den Feldherren gebieten werde, einzuhalten,
um den Versuch zu machen, die Fehde in Frieden zu schlichten. Die Kronräthe,
nicht eins der Volksvertretung hervorgegangen, ließen den Kaiser Partei nehmen
gegen das Volk, und Generale wurden dem jungen Monarchen als die Stützen
des Thrones vorgeführt, ehe noch der wenige Stunden von der einstweiligen Re¬
sidenz entfernt berathende Reichstag die Abdication des gütigsten Kaisers erfuhr.
Das Cabinet Schwarzenberg übernahm die Geschäfte, und hiermit begann die
k. k. Anarchie.
Wir übernehmen nicht die Leidensgeschichte Oestreichs vom October 1848
bis October 1849 zu erzählen, sie füllt ein dickes Buch, das mit rothen Lettern
gedruckt ist. Mehr als drei Viertheile des Reiches wurden formell unter Mili¬
tärgewalt gestellt, und das letzte Viertheil seufzte ohne diese Form unter gleicher
Willkür. Das Deuunciren, Jnguiriren, Einsperren, auf die Festung führen, Er¬
schießen und Aufhängen ist die Tageschronik, während nicht eine einzige In¬
stitution im ganzen Laufe des Jahres in Wirklichkeit ausgeführt wurde, die das
Eintreten in einen Rechtsstaat bestätigen könnte. In allen Zweigen der Admini¬
stration herrscht die vollkommenste k. k. Anarchie, und an der obersten Spitze der
Regierung wird ein Ringerkampf geführt, zwischen der Anarchie des Militärcodex
und der Anarchie der oktroyirten Verfassung.
Der Staat und die Völker haben Zeit und Geduld; die Konstitution braucht
nicht über Nacht eine paragraphirte Wahrheit zu werden; die Reformen erfordern
Talente und Muße; die neuen Einrichtungen müssen der complicirten Monarchie
angepaßt werden. Die ruhigen Männer ziehen alle diese Umstände in Erwägung.
Allem wie man im October 1848 binnen 14 Tagen 10,000 Mann versammeln
konnte, um die Anarchie in Wien zu bezwingen, so muß es der siegenden und
gekräftigten Regierung in noch kürzerer Frist und mit geringem Mitteln gelingen,
die k. k. Anarchie zu bezwingen. Das Volk von Wien hat während der Anarchie
kein Blut vergossen, aber während der k. k. Anarchie flössen schon Ströme Blutes.
Nicht die Straflosigkeit der Verbrecher wird bevorwortet, sondern die Errichtung
eines ordentlichen Tribunals; nicht die peinliche Theresianische Halsgerichtsordnung
und die Proclamationen von Windischgrätz und Haynau sollen dein Urtheil zu
Grunde liegen in einem constitutionellen Staate, sondern das Civilgesetz in sei¬
ner civilen Auslegung.
Die Minister steuern dieser k. k. Anarchie nicht; sie können nicht, oder sie
wollen nicht. Im ersteren Falle würden Charakter und Ehre fordern, ihrer
Stelle zu entsagen; daher muß man glauben, sie billigen diese Proceduren. Wird
^ dem Justizminister gelingen, die Verantwortung für den im Banat vorgekom¬
menen k. k. Exceß zu führen? Eine Frau Maderspach soll Bem tractirt haben,
und bei einem Volksfest stopfte sie eine Figur aus, welche, als letzter Habsburger,
begraben wurde. Nach ungarischen Landesgesetzen ist die Frau, so wie die Theil-
nehmer dieses des Königs Majestät verunglimpfenSen Actes dem Tode verfallen,
und Niemand dürfte klagen, wenn der Verbrecherin der Kops vor die Füße gelegt
wird, so lange das Gesetz der Todesstrafe besteht. Ein Rittmeister, der später
mit kaiserlichen Truppen in die Ortschaft einzog, ließ die Frau aus öffentlichem
Platze peitschen, und als er zur Rede gestellt wurde, sagteer: daß seine Mann¬
schaft nicht zu halten gewesen sei. Der Sohn der gepeitschten Fran wurde unter
die Soldaten gesteckt, ihr Mann entleibte sich mit einem Pöllerschuß.
Die That des Offiziers ist nur eine Folge der k. k. Anarchie, die Tausende
größere und kleinere Willkürlichkeiten erzeugt; der 6. October 1849 überragt je¬
doch alle, er setzt der k. k. Anarchie die Krone auf.
In Pesth wurde an diesem Tage der ungarische Premierminister Graf Lud¬
wig Batthyany zum Strange verurtheilt, erschossen; in Acad am selben Tage
1,3 Führer der Magyaren theils gehängt, theils erschossen.
Wenn der Donner aus schwarzem Gewölke grollt, und der Blitzschlag zer¬
stört ein Haus, so wird dennoch die hehre Natur bewundert; wenn aber das Ge¬
witter bereits abgezogen ist, und aus dem sich klärenden Horizonte ein Blitz den
Wanderer niederschlägt, umflort sich der Gedanke und das Gefühl. Seit dem
Februar 1848 hat Nichts in solcher Weise erschüttert, aufgeregt, erbittert und
mit Zorn erfüllt, als diese Missethat militärischer Anarchie.
Ludwig Batthyany, einer der ersten Magnaten Ungarns, hatte mehr Talent
als Wissen, mehr guten Willen als Erfahrung im Regiernngswesen. Ein vollen¬
deter Aristokrat riß ihn der Patriotismus auf die Seite der liberalen Vvlksführer,
da er auch die Schlechtigkeit der vormärzlichen Regieriingsmänner zu erkennen und
zu mißachten Gelegenheit fand. Als Chef der Oppositionspartei bei der Magna¬
tentafel brachte ihn gleiche Tendenz, wovon aber eine Entfernung des Hauses
Habsburg oder eine Losreißung von Oestreich weit entfernt war, in Verbindung
mit Kossuth, der das Haupt der Opposition bei der Deputirtenkammer war. Die
Wiener Revolution gab den Ungarn ein selbstständiges Ministerium, dessen Prä¬
sident Batthyany wurde. Hand in Hand mit dem Palatin, seinem Freunde, dem
Erzherzog Stephan, besorgte er das Portefeuille, bis der Strom der Ereignisse
ihm den Mangel an staatsmännischer Bildung fühlbar machte. Er trat ab. Der
Einfall des Jellachich auf ungarischen Boden bewog Batthyany, als gemeiner Hu-
sar gegen ihn zu ziehen. Als einfacher Deputirter nahm er dann an den Be¬
rathungen in Pesth Theil, bis Windischgrätz erschien. Batthyany, dies ist ein
Hauptpunkt, blieb in Pesth, er ging frei herum, als die kaiserlichen Truppen
einzogen, und erst einige Zeit später wurde er zur Haft gebracht. Batthyany
war also nicht in Debreczin, und blieb allen weitern Vorkommnissen, seit dem Jän¬
ner, fremd. Vor das Kriegsgericht gezogen, verweigerte er Anfangs jede Ant¬
wort, da er nach den Landesgesetzen gerichtet werden wollte; als Magnat durch
die Scptemviraltafel, als Minister durch die Reichstafel. Als man hierauf mit
Erschießen drohte, gestand er die Macht zu, aber nicht das Recht. Um sich zu
rechtfertigen, ließ er endlich den Prozeß beginnen, der, bei der Verwicklung aller
Verhältnisse in Einbeziehung der höchsten Persönlichkeiten wie des Kaisers und
seines königlichen Stellvertreters, sich zu seinen Gunsten lenkte. Seine Freilassung
wurde in nächste Aussicht gestellt. Allein dem Fürsten Windischgrätz folgte der
Baron Haynan, die Personen des Militärgerichts wurden gewechselt, und Graf
Ludwig Batthyciuy wurde, als des Hochverrats schuldig, zum Strange und
zum Verlust des Vermögens verurtheilt.
Auch dieses Urtheil mögen vielleicht Einige für recht erklären, obwohl das
Tragische ans Komische streift, daß Offiziere und Unteroffiziere und ein paar ge¬
meine Soldaten beurtheilen, ob ein Minister die königlichen Concessionen über¬
schritten und die pragmatische Sanction verletzt habe. In den Nebenumständen
erkennt mau die k. k. Anarchie.
Der Prozeß wurde 9 Monate lang geführt. Der Entschluß, die Führer der
ungarischen Erhebung mit dem Tode zu bestrafen, war längst gefaßt, und deshalb
fand die Fürbitte des Fürsten von Warschau um Gnade keine Rücksicht. Die
Aufhebung des Belagerungszustandes, für welchen seit Monaten nicht der leiseste
Grund vorhanden ist, wurde aus gleicher Ursache verschoben, um jeder Bewe¬
gung gleich mit Pulver und Blei zu begegnen. Die Acten des Batthyauy'-
schen Prozesses waren längst geschlossen. Aber ans zwei Motiven wurde die Exe-
cution verzögert. Komorn hatte noch nicht kapitulirt, und die Besatzung hätte
gewiß die Begnadigung des Grafen Batthyany verlangt; und dann--wollte
man den ö. October festlich feiern.
Die Opfer in Pesth und in Arad genossen sogar, auf ausdrückliche Geneh¬
migung, in den letzten Wochen größere Freiheiten; man nährte die Hoffnung einer
allgemeinen Amnestie, um sie zu beruhigen, die Besatzung von Komorn und Pc-
terwardein geschmeidiger zu macheu, und die auf türkisches Gebiet Geflüchteten
zur Rückkehr zu bewegen. Batthyany spielte stundenlang Schach im neugebaute
zu Pesth mit Bekannten, denen der Zutritt zum Gefangenen leicht gestattet wurde.
Die Generäle und Grafen in Arad schrieben hoffuungssichere Briefe an ihre Ver¬
wandten und obwohl der Namenstag des Kaisers, 4. October, ohne die erwartete
Amnestie verstrich, ergab sich Alles der freudigen Zuversicht, daß kein Blut mehr
unter dem Beile des Scharfrichters fließen werde. Kossuth und andere Haupt¬
leute waren entkommen, selbst die „energischen" Noten ließen bezweifeln, daß der
Sultan die Auslieferung anordnen werde; andere Führer, wie Klapka mußten
begnadigt werden und sogar Reisegeld erhalten, da sonst die Festung nicht über¬
gebe« worden wäre. Das Urtheil konnte also nicht gegen Alle angewandt wer¬
den; sollte darum der Einzelne büßen?! Man erwartete Versöhnung, Begütigung,
Aufrichtung!
Haynau hatte aber bereits die Hinrichtung Aller für den 6. festgesetzt, und
als er an diesem Tage in Preßburg bei Tische saß, verkündete er der Gesellschaft,
daß jetzt Batthyany und N. gehängt seien!!
So gemessen war der Befehl Haynan's, unter allen Umständen ohne Auf¬
schub bei strengster Verantwortung, die Hinrichtung zu vollziehen, daß selbst der
Entlcibungsversuch Batthyany's nur eine l.0stündige Verzögerung veranlaßte, und
mit blutendem Hälse wurde er am 6. Abends nicht gehängt, sondern erschossen,
„ans Rücksichten des Publikums und der Menschlichkeit," wie die Publikation
lautet.
Die Todtenfeier für Latour wurde in Wien nicht gestattet, um keine aufre¬
gende Demonstrationen zu veranlassen; mit guter Hoffnung vernahm man diese
Aeußerung, und auch der Kaiser soll gewünscht haben, das Vergangene vergesse»
zu lassen. Hayuau aber feierte den 6. October mit diesen Executivue>?.
Das ist kaiserliche Anarchie!
Es wird mir schwer fallen, über die massenhaften Hinrichtungen in Arad und
Pesth ein ruhiges Wort zu Papier zu bringe». Mildern Sie an meinen Aus¬
drücken, wenn Sie es vermögen. Wir glaubten schon unsere Nerven bis zur Fühl-
losigkeit abgestumpft, daun und wann fühlten wir etwas wie Milch der frommen
Denkungsart, wie gesundes fieberfreies Blut in unsern Adern rinnen, — aber
nein, es scheint in den Sternen geschrieben, daß es in Oestreich kei»e Versöhnung,
keinen Frieden der Gemüther mehr geben soll!
Der 0. October 1848 hat in der ganze» Mo»arabic Entsetzen verbreitet, der
ti. October 1849 wird nicht minder schwarz im östreichischen Kalender angestri¬
chen bleiben. Konnte man die Jahresfeier des unglückseligen Tages nicht passen¬
der begehen als durch eine That der erbarmungslosesten Härte? Neu» Galge»
u»d vier blutige Sandhaufen in Arad, zwei Blutstätteu und seitdem zur Abwechs¬
lung wieder drei Galgen in Pesth! Der Eindruck, welchen hier diese Justiz i»
allen Schichten der Gesellschaft, vom Schiffzieher bis zum Hausbesitzer, bei allen
Parteien, von dem Leser der „Geißel" bis zu dem der „Ostdeutschen Post," ja selbst
unter gebildeteren Offiziere» hervorbrachte, ist unbeschreiblich. Nur der Belage-
rungszustand erstickt oder dämpft den Schrei der allgemeinen Euer»seu»g, bevor
er ans Ohr unserer Machthaber dringen kann, und zwingt die (geheime) öffentliche
Meinung, blos durch ohnmächtige Stoßseufzer und gelinde Zweifel an dem Se¬
gen solcher Blutwirthschaft zu verrathen, daß es in Oestreich überhaupt noch eine
Meinung gibt.
Achtzehn Hinrichtungen im Laufe von drei Tagen! Unter de» Opfern sind
dreizehn höhere Offiziere, der F. M. L. Kiß, Graf Vechey, Graf Leiningen, Ge-
neral, Damjanich. General Unlieb, v. Dcssefh n. s. w.; Männer, die, ohne an den
politischen Fäden der ungarischen Erhebung angesponnen zu haben, mit dem Gros
des ungarischen Militärs, in welchem sie zufällig dienten, der zeitweiligen unga¬
rischen Regierung gehorchend, einen Krieg kämpften, der aus einer allgemeinen,
durch das'östreichische Cabinet eben sowohl wie durch die magyarische Partei ver¬
schuldeten Begriffsverwirrung entsprungen war; Männer, deren Namen zum Theil
in der ungarischen Kriegsgeschichte mit Auszeichnung genannt wurden, und denen
die kaiserlichen Generale wie ebenbürtigen Feinden mit Achtung zu begegnen ge¬
wohnt waren. Ferner sind unter den Hingerichteten zwei Civilbeamte der unga¬
rischen Regierung, ein Geistlicher, der GncrillashäuptlingFckkete und endlich der,
seiner Zeit vom Kaiser Ferdinand bestätigte Ministerpräsident, Graf Louis Bat-
thyaui. Keiner von ihnen war irgend einer Schuld an der Ermordung Latour's
angeklagt, doch wurden fünfzehn derselben zur Feier des Tages, am v. Octo-
ber gehängt und erschossen. Eine Sühne im echten Geiste christlich kroatischer
Weltanschauung!
Es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß die Unglücklichen völlig schuldlos waren,
so wenig wie ich entscheiden mag, ob der Geistliche, welcher Kossuth's Proklama¬
tionen von der Kanzel zu verkündigen hatte, der freiwillige Anführer wilder Roß-
Hirten und der von nationalem Patriotismus verblendete Münster wirklich an ei¬
nen und deuselben Galgen gehörten. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß der Buch¬
stabe des Gesetzes Allen den gleichen Strick zuerkannt. Aber dieses Gesetz, und
seine Ausleger und Vollstrecker sind im Laufe des Jahres 184!» von der öffent¬
lichen Meinung ganz Europas gebrandmarkt worden. Unsere Kriegsgerichte siud
heimlich, den Angeklagten steht kein Vertheidiger zur Seite, die UrtelSsprüche
sind lakonisch oder konfus, die Motivirung pflegt so vage zu sein, daß sie in ein
Gesammturtheil über ganze Regimenter oder Stadtbcvvlkerungcu passen würde,
die Angabe mildernden oder erschwerender Umstände pflegt zu fehlen oder höchst
unbefriedigend auszufallen.
Das Strafgesetzbuch endlich (die hochnothpeinliche thercsianische Gerichtsord¬
nung), aus hundertjährigem Schlummer durch deu Terrorismus der Reaction
auferweckt, steht in so barbarischem Widerspruch mit deutschen und östreichischen
Grundrechten, daß es, aus alttürkisch, deu „Hochverräther" noch in seiner Wittwe
und in seinen Waisen straft. Wie zu Tököli'S und Nakvczv/s Zeiten, wird die
Confiscation „seines gesammten beweglichen und unbeweglichen, wo
immer befindlichen Vermögens" verhängt. Unsere Militärjnstiz ist von
allen Stand- und Gesichtspunkten der verschiedensten politischen Parteien verur¬
theilt worden; selbst die pechschwarz-schivefelgclben Organe des patriarchalischen Ab-
solutismus konnten sich nicht enthalten, über die Principlosigkeit und Jncvnse-
".uenz der Kriegsgerichte den Kopf zu schütteln, denn im Laufe dieses Jahres haben
einige hundert Beispiele gezeigt, daß in Oestreich das Schicksal des Individuums
von: Zufall abhängt. Für ein und dasselbe Vergehen kannst du erschossen, erhängt,
mit Ruthen gepeitscht, mit Geld gestraft, ans die Festung geschickt, asscutirt oder
avancirt werden, je nachdem das Ende deiner Untersuchung in die Erschießungs-
wvche oder in das Mondviertel der Gnade fällt. Dein 'Leben, deine Freiheit
und Existenz sind eine Münze von wandelbaren Werth, die man wegwirft oder
spart, je nachdem man gerade gestimmt ist, das Mittel der Abschreckung oder
Großmuth zu versuchen.'ES ist'Ausnahmözustand, sagen die Gutgesinnten loue
>>rix, welche wie Robespierre mit der Rücksicht sür das «illud >>»t»ki«! jeden, noch
so grellen Anachronismus beschönigen. Aber ein Ausnahmszustand, der ein volles
Jahr laug, bis über die Zeit der'dringenden Gefahr hinaus, wüthet, macht die
konstitutionelle Regel selbst zur Ausnahme.
Wir haben keinen Minister der Justiz. Schmerling ist Minister auf dem
Papier, >» ^^-dibus all(I»z!i»!», und schreibt seine „allerilnterthänigsten und trcuge-
hvrsamsten Vorträge" wahrscheinlich sür die Enkel der mittlerweile kriegsrechtlich
Gerichteten. Unsere Tcndcnzprvzcssc führt eine Kaste, eine Partei, die Armee;
eine Kaste, die dem seligen Reichstag noch heilte die Verweigerung eines Dank-
votnms nicht verzeihen kann. Mehr' als tausend Unglückliche schmachten in Kuf-
stein, Mnnkacz und Theresicnstadt, in mehr als tausend Familien hat die Mili-
tärjnstiz physisches und moralisches Elend, Hunger, Schlaflosigkeit und Verzweif¬
lung getragen; der herrschende Stand hat sich, wo er konnte, seine Extra-Satis¬
faction dnrch Gewaltthaten*) genommen, und noch ist er nicht versöhnt. Ist ein
Schwert in solchen Händen ein Schwert der Gerechtigkeit oder der Rache?
In den Angen der (geheimen) öffentlichen Meinung ist die Militärjustiz über¬
haupt keine Justiz. Ueber deu besiegte». Feind kann der Sieger nicht zu Gericht
sitzen; hier ist er sein Ankläger, Richter und Nachrichter in einer Person. Hay-
nau, als unverantwortlicher'Stellvertreter des Kaisers, bestätigt die Todesurtheile
über einen Kiß, einen Damjanich und Änlich, denen er im Pulverdampf gegen-
überstand, deren überlegene Taktik und Strategik er vielleicht oft mit Zähneknir-
schen anerkennen mußte', — und die Feder entsinkt seinen Händen nicht! Ich bin
überzeugt, der ritterliche Schlick hatte nicht die Kraft gehabt, zu unterschreiben.
Selbst angenommen, den Unglücklichen wäre anch vor einem öffentlichen Schwur¬
gericht der Stab gebrochen worden, durften sie nicht begnadigt werden? Das un¬
garische Kriegsspiel ward nicht allein durch östreichische Waffengewalt entschieden,
die Ergebung Görgep's und die Kapitulation Komvrnö gaben dem Ausgang den
Charakter einer halb friedliche» Ausgleichung. Wie ein Mirakel wurde die'plötzliche
Wiederauferstehung Oestreichs angestaunt. Oestreich ward vom Schicksal amne-
stirt, und in der erstell Freude darüber bringt es dem Himmel seine Dankopfer
ans dem Rabenstein.
Es gibt keine Staatsmänner in Schönbrunn. Der mittelmäßigste Diplomat
hätte ans der Noth eine Tugend gemacht und neben jenen Insurgenten, die man
amnestiren mußte, ein halb Dutzend Andere freiwillig begnadigt. Man war ge¬
neigt, Klapka's Befreiung deu milden Rathschlägen Radetzky's und dem Herzen
des Kaisers abzurechnen und hoffte auf eine ähnliche Behandlung der übrigen Ge¬
fangenen. Haynan's Faust hat diese Illusion zerstört und die Gnade Oestreichs
zu einer gemeine» Waare herabgewürdigt. Görgey verdankt sein Leben dem Ver¬
rath an seinen Waffengefährten' oder dem Einspruch Rußlands; die Komorner
erkauften ihre Rettung mit ihren Proviantmagazinen und Waffenarscnalen. Oese-
reich war großmüthig, wo es nicht anders konnte, und holte sich blutige Entschä¬
digung an Denen, welche „unprvtegirt" in seine Hände sielen.
Der 6. October 1849 raunt uns noch einen traurigeren Gedanken in die
Seele. Unsere Machthaber müssen aus einen politischen Winterschlaf von 20 Jah¬
ren, nicht uur in Oestreich, sondern in Europa, rechnen. Sie hätten sonst, wenn
nicht aus Menschlichkeit, so doch aus Furcht, das Scharfrichterschwert in der Scheide
behalten; denn das wird ein Maulwurf sehen, daß über die ungarischen Gräber
hohes, sehr hohes Gras gewachsen sein muß, ehe die Saat aufrichtigen Vertrauens
in den Gemüthern aufgehen, ehe an einen andern, als autivstreichischen Patrio¬
tismus in Ungarn und in Italien gedacht werden kann. — Es gibt freilich
Staatsmänner mit Manlwurfsaugen. Wehe uns, Ihr Herren in Schönbrunn,
wenn euch euer Blick nicht trügen sollte. Wehe', euch und uns, wenn ihr aus
K
Schwarzweiße Fahnen aus den Häusern, schwarzweiße Cocarden am Hut!
Die Fenster erleuchtet, die Herzen und Lippen voller Loyalität im Theater enthu¬
siastische Huldigungen der Lehnspflicht! — O du tricolvres Barrikaden-Berlin!
wer sollte dich wieder erkennen!
^ Der 15. October in Berlin, der K. October drüben an der Theiß. Ein
Jubelfest, ein Fest der Sühne. Auch das alte Oestreich hat sich wiedergefunden!
Mir schaudert die Haut. Ist denn die aristokratische Gesinnung so tief in unser
Blut eingedrungen, daß erst eine Reihe von Fürsten hinten müssen, ehe wir daS
Entsetzliche unserer jetzigen Zustände mit dem angemessenen Schauder zu empfinden
verstehen?
Die Ersten des ungarischen Reichs erhängt! Gestorben den Tod eines Hun¬
des! Selbst in den ersten Tagen frischer Wuth, als Wien in die Hände der
Kroaten fiel, bat der verrufene Windischgrätz seinen Schlachtopfern wenigstens die
«»ständige Form des Svldatentvdes gegönnt.
Also nicht mit seinen Völkern will Oestreich gedeihen und wachsen, sondern
gegen seine Völker. Es will die großen Kräfte seines gewaltigen Reichs nicht für
sich verwenden, es will sie zertreten. Sei es so! sein Wahnsinn kommt uns zu
Gute, denn früher oder später wird der Tag kommen, wo der feigen Diplomatie
nicht mehr der Beruf zu Theil werden wird, über Deutschlands Geschick zu
entscheiden.
Diese Empfindung ist es, die in Preußen alle Kreise des politischen Lebens
durchdringt. Die bewaffnete preußische Nation, d. h. die preußische Armee, denn
beides ist identisch, wird das letzte Wort zu sprechen haben. Halten Sie diesen
Grundgedanken fest, so wird Ihnen bei unsern Kammerdebatten und bei den Ma¬
nifestationen unseres Volkes nichts mehr unverständlich sein. Darum hat man die
-«»rgerwehr, darum die Vereidigung des Militärs auf die Verfassung fallen lassen,
darum jubelt mau dem Prinzen von Preußen entgegen, darum ergeht man sichvon Neuem in Aeußerungen einer vorsündflnthlichen Loyalität.
. Die Tricolore ist zu Grabe getragen. Sie war die Farbe unserer Stndenten-
s^' die Farbe unserer studentischen Revolution. Auch unsere Freunde und Bun¬
desgenossen werden in der concreten Farbe unseres Staats, in der preußischen
Fahne, eine festere Stiche finden — oder eine härtere Zuchtruthe, als in jener
ideal-phantastischen Standarte der dentschen Einheit.
Ich bin wahrhaftig kein Freund unserer Regierung. Sie mißbraucht den
starken Gliederban unseres Staats zu ungeschickten,'tölpelhaften Bewegungen, sie
hat keinen Glauben an sich selbst, und findet daher auch bei Andern keinen Glau¬
ben. Aber stellen Sie die Schritte der übrigen königlichen Regierungen in Ver¬
gleich, und unser Manteuffel-Brandenburg wird Ihnen als ein Ideal von Weisheit
und Tugend erscheinen.
Wenn ich den Empfindungen, die mich gegen diese Regierungen beseelen,
Worte verleihen wollte, so würde die in Ihrem Blatte vorherrschende Sprache
mir nicht mehr genügen. Ich lege mir daher Schweigen auf. Nur auf Eius
mache ich Sie aufmerksam, daß die offizielle sächsische Zeitung es bereits wagt,
auf die Eventualität einer vom Ausland zu erflehenden Hilfe gegen Preußens
Uebermacht hinzuweisen, alles zu Gunsten der deutschen Einheit.
Die Zeit ist jetzt der Art, daß wir mit Fug und Recht sagen können: Wer
nicht mit uns ist, ist wider uus. Das Organ der Gothaischen Partei, die Deut¬
sche Zeitung, hat das ganz richtig eingesehn; sie ist so schwarzweiß geworden, wie
nur irgend eines unserer preußischen' Blätter. In kurzem wird in sämmtlichen
Raubstaaten schwarzweiß die Farbe der Loyalität sein.
Sollen wir uns darüber freuen? sollen wir klagen? -— Genug, es ist so.
Durch die Demokratie haben wir zur Einheit, d. b. zum wirklichen'Staatsleben,
nicht gelangen können, vielleicht kommen wir auf dem umgekehrten Wege einmal
zur Demokratie. Für jetzt ist aber nicht die demokratische Partei, sondern die
royalistische die Partei der dentschen Einheit und Freiheit.
Denn die innere Freiheit ist undenkbar, wenn sie, nicht äußerlich garantirt
ist. Ihre Zeschau, Stüve, Pfordten, Römer aber arbeiten gemeinsam mit den
Schwarzenberg, gemeinsam mit den preußischen Pietisten dahin, uns zu Vasallen
Rußlands zu' machen. Rußland ist übermüthig genug über seine letzten Siege,
sich im Orient den einzigen Feind heraufzubeschwören, der an Macht ihm gewach¬
sen ist, den einzigen Bundesgenossen, den das aufstrebende Preußen in der Reihe
der Großstaaten zu finden hoffen darf. Vielleicht ist die incdrige Nachsucht gegen
die verbannten Magyaren noch einmal Ursache, diese Verbindung zur Wahrheit
zu machen, aus welcher allein Deutschlands Freiheit sich entwickeln kann.
Ich habe mich vom Art'egiuu der Revolution gegen den Eintritt Deutsch-
Oestreichs in den neu zu gründenden deutschen Bundesstaat ausgesprochen, und
also für die Integrität der östreichischen Monarchie. — Warum? — Weil noch
Deutschland nicht kräftig genug war, sich die fremden Bestandtheile zu assimiliren,
sie zu verdauen, und weil d'urch'das Ausreißen des Pflocks, den man den östreichischen
Kaiserstaat nennt, aus dem Knoten der östreichischen Völker, die wüsten Massen
sich lösen und uns durch ihr Gewicht in unserer Arbeit stören, das neu sich ent¬
wickelnde Leben erdrücken müßten. — Aber wenn es uns gelingt, jene Kraft zu
gewinnen, dann werden wir noch einmal an die Thür des Nachbarhauses klopfen
und uns nach unsern Brüdern und Vettern erkundigen.
Für jetzt ist also unsere Aufgabe Concentration unserer Kräfte. Gegen diese
tritt alles sonstige Streben als'unbedeutend zurück. Selbst das Streben, dem
derben Bauerbnr'schen den Verstand einzuflößen, durch deu er allein seine Glied¬
maßen verwerthen kann. Kommt der junge Athlet erst zur Erkenntniß seiner
wirklichen Stärke, dann wird er die Lehre von dem, was er zu begehren hat,
eifriger einfangen, als jetzt, wo der Wunsch noch vom Zugreifen getrennt ist.
Wo sind die Flaggen hin, wo die Ehrenpforten und Lieder, mit denen man
voriges Jahr die Wahl des Erzherzog Johann zum provisorischen Reichsverweser
begrüßte? Es gilt jetzt eine neue provisorische Centralgewalt zu begrüßen, aber
das Volk bleibt still, selbst die Gelegenheitspoeten sehen keine Möglichkeit sich zu
begeistern. Ohne Sang und Klang, ohne jedes gemüthliche Entgegenkommen der
Völker entsteht eine neue Behörde, welche die gemeinsamen Angelegenheiten Deutsch¬
lands und Oestreichs verwalten soll. Es ist keine Poesie bei dieser neusten Schö¬
pfung; hoffen wir, daß sie eben deshalb nützlicher und zweckmäßiger sein möge,
als die bisherige Reichsverwaltung.
Am 13. October sind zu Wien die Ratificationsurkunden eines Vertrages
zwischen Preußen und Oestreich ausgewechselt worden, welcher in 7 Paragraphen
Folgendes enthält: Oestreich und Preußen übernehmen die Ausübung der Central¬
gewalt für den deutschen Bund, es ist ein Interim bis zum 1. Mai 1850. Sie
thun es, um deu deutschen Bund als einen völkerrechtlichen Verein der deutschen
Fürsten zu erhalten; die deutsche Verfassnngs angelegen heit bleibt un-
terdeß der freien Vereinbarung der einzelnen Staaten überlassen.
An die Stelle der provisorischen Centralgewalt tritt eine Bundescommission, aus
vier Mitgliedern, zwei von Preußen, zwei von Oestreichern ernannt, sie sitzt zu Frank¬
furt, die übrigen Regierungen können sich durch Bevollmächtigte bei ihr vertreten lassen.
Im Fall von Differenzen zwischen Oestreich und Preußen, wird ein Schiedsgericht
aus drei Bundesregierungen gewählt, von denen Preußen eine wählt und Oestreich
eine, die Gewählten aber die dritte. Sobald diesem Vertrage die einzelnen Re¬
gierungen zugestimmt haben, wird der Reichsverweser seiner Würde entsagen.
Das ist der kurze Inhalt des wichtigsten Vertrages, welcher dem deutschen
Volke in diesem Jahre gekommen ist. Es ist nicht daraus zu sehn, wie die Ver¬
hältnisse, welche in die Kompetenz des alten Bundes und in den Geschäftskreis
des Reichsverwesers fielen, geordnet werden sollen; weder über die deutsche Ma¬
rine, noch über die Bundesfestnngen, noch über ein andres Object der politischen
Differenz ist ein Beschluß gefaßt worden. Der Vertrag soll nun den Weg be-
stimmen, auf welchem eine Verständigung zwischen dem Norden und Süden Deutsch¬
lands zu erreichen ist; — vielleicht wird sie auch nicht zu erreichen sein.
Und doch ist die unscheinbare Bundescommissiou trotz ihrer beschränkten Voll¬
macht und dem diplomatischen Kram, welcher sich herumhängen wird, in Wahr¬
heit ein großer Fortschritt in der Entwickelung unserer deutschen Angelegenheit.
Der Prozeß der deutschen Kristallisation ist wenigstens jetzt so weit fortgeschritten,
laß sich das nicht Zusammengehörende, scheidet. Die Würde und Thätigkeit des
Elzherzog Reichsverwesers stammte noch aus der verhängnisvollen Zeit unserer
gemüthlichen Gefühlspolitik, wo die deutsche Nation über ihre eigene Ausdeh¬
nung und Kraft in gefährlichem Irrthum war, und deshalb war seine Würde und
Thätigkeit nichts als ein Schein, der in seiner Nichtigkeit zuletzt auch vom Volk
eikannt wurde. In der neuen Bundescommission haben sich Oestreich und Preu¬
ßen bereits als Gegensätze geschieden, beide stießen sich feindlich ab, so lange sie
in eine unnatürliche Einheit zusammengezwuugeu werde» sollten. Jetzt, wo der
Gegensatz zwischen ihnen, die Divergenz ihrer Interessen als bestehend zu Grunde
gelegt wird, muß sich über allen Winkelzügen ihrer beiderseitigen egoistischen Po¬
litik, das wirklich Gemeinsame ihrer Interessen abklären und zur Geltung bringen.
Es ist jetzt wenigstens die Möglichkeit gegeben, daß Preußen und Oestreich gute
Nachbarn werden, während sie bis jetzt zänkische Miethsgenossen in demselben
baufälligen Hause waren.
Der Vertrag stellt Preußen dem Kaiserstaat gegenüber, er ignorirt Baiern
und die übrigen Königreiche so sehr, als dies einem diplomatischen Vertrage nur
möglich ist. Baiern mag auch darin eine Zurechtweisung finden. Aber »och mehr.
Der Vertrag bereitet die Anerkennung des deutscheu Bundesstaates durch Oest¬
reich vor, und Preußen tritt faktisch in dem Vertrage auf als Vertreter der kleineren
deutschen Staaten. Es wäre gegen das diplomatische Gewissen Oestreichs gewesen,
dies Verhältniß klar auszusprechen, ja demüthigend für sein Selbstgefühl, dies aus¬
drücklich zuzugeben. Außerdem ist der Bundesstaat noch nicht fertig und die Re¬
gierung Oestreichs behält sich immer noch vor, das ihrige dazu beizutragen, daß
er nicht fertig werde. Aber der 8. 3. des Vertrages lautet: „Während des In¬
terims bleibt die deutsche Verfassungsangelegenhcit der freien Vereinbarung der
einzelnen Staaten überlassen" und serner der ez. 4.: „Wenn am 1. Mai 1850 die
deutsche Verfassungsangelegenheit noch nicht zum Abschluß gediehen sein sollte, so
werden die deutschen Regierungen sich über Fortbestand des Interims vereinbaren."
Aus diesen Sätzen folgt klar, daß Preußen und die übrigen deutschen Staaten,
Oestreich gegenüber freie Hand für Bildung einer Verfassung mit Volksvertretung
gewonnen haben, und daß die Intriguen der östreichischen Hofpartei sich jetzt dar¬
auf werden beschränken müssen, an den einzelnen Königshöfen gegen den Bundes¬
staat im Stillen zu arbeiten. — Auch deshalb ist der Vertrag ein Fortschritt in der
Entwickelung unsres Staatslebens und wir wollen Preußen, welches offenbar die
Paragraphen 3. und 4. hereingebracht hat, dafür dankbar sein.
Freilich ist von den übrigen Punkten des Vertrages nicht viel Rühmens zu
machen. Es ist nämlich nicht abzusehn, wie diese Bundescommission von vier
Mitgliedern bei ernsten Conflicten der Bundesstaats- und östreichischen Interessen
zu irgend einer Entscheidung kommen soll. Das Schiedsgericht, aus drei Re¬
genten kleiner Staaten gebildet, wird sich in wichtigen Streitfällen als unbrauchbar
erweisen. Wenn Oestreich z. B. Baiern wählt, und Preußen Baden oder Nassau,
also Verbündete seiner eigenen Politik, so werden die beiden Schiedsrichter in
ihrer Ansicht über den fraglichen Punkt grade so weit von einander entfernt sein,
als die beiden Großmächte, und deshalb werden sie sich über den dritten Schieds-
mann, von welchem die Entscheidung doch allein abhängt, nur schwerlich vereini¬
gen können. Und wenn vollends der Bundesstaat mit Preußens Führerschaft als
kompakte Masse auftritt, wird Oestreich gestatten können, daß der Regent eines
Bundestheiles noch als Richter in solchen Angelegenheiten auftritt, wo der
Bundesstaat selbst die eine Partie ist und Oestreich die.andere? — Der Passus
über das Schiedsgericht rührt offenbar von Oestreich her, welches an das Zu¬
standekommen des Bundesstaats in seinem Interesse nicht glauben will.
Die öffentliche Meinung in Deutschland hat sich darüber beklagt, daß der
Vertrag so diplomatisch vornehm und heuchlerisch gegen die Vergangenheit sei.
Es sei nur von dem alten Bunde die Rede, der erneuert werden solle, selbst der
Erzherzog Reichsverweser habe in seiner Zustimmung zu dem Vertrage, welche
übrigens schon vom 6. October datirt ist, und von der östreichischen Regierung
am Tage der Ratification sehr zuvorkommend schon bei der Hand gehalten wurde,
der Nationalversammlung zu Frankfurt nicht mit einem Worte gedacht, sondern
seine Rechte und Pflichten so dargestellt, als seien sie ihm nur von der deutschen
Bundesversammlung übertragen worden. — Man muß aber von einem Vertrage
mit dem Cabinet Schwarzenberg nicht zu viel verlangen. Diesem ist die Natio-
nalversammlang in Frankfurt noch in der Erinnerung eben so unheimlich, als die
jetzigen Einheitswünsche der deutschen Völker. Es versteht sie nicht, es kann sie
nicht lieben und nicht achten.
Beide Regierungen, die von Preußen und Oestreich, sind bei diesem Ver¬
trage zunächst Kämpfer, welche sich ein gesetzliches Feld für den Streit ihrer ent¬
gegengesetzten Interessen geschaffen haben. Die östreichische Negierung hat das
dringende Interesse, die deutschen Staaten nicht zu einer einheitlichen Existenz mit
Volksvertretung kommen zu lassen. Es fürchtet dadurch nicht nur einen äußeren
starken Gegner emporschießen zu sehen, sondern noch mehr das böse Beispiel, wel¬
ches das freiere Leben der Völker in einem deutschen Bundesstaat auf die See¬
len seiner eigenen Staatsbürger ausübe» könnte. So lange das Streben der ein¬
zelnen Theile Oestreichs ist, sich aus Haß gegen den Staat der Habsburger von
dem Ganzen loszulösen, kann Oestreich keine Nachbaren im Westen dulden, welche
stark genug sind, magnetisch anzuziehen. Und die Verbündeten von Oestreich sind
die kleinen Königshöfe Deutschlands, mit ihren Hausinterrssen und dem beschränk¬
ten Egoismus, welchen die Herrschaft über ein kleines abgeschlossenes Ganze zu
geben pflegt, und bereits haben sich die Antipathien der Könige von Hannover,
Sachsen, Baiern u. s. w. sehr förderlich für Oestreichs Wünsche gezeigt. Der
Fehler aber, welchen das Cabinet Schwarzenberg in seiner Berechnung der deut¬
schen Schwäche macht, ist der, daß es den verständigen Vortheil der deutschen
Völker und ihre ideale Sehnsucht nach Vereinigung in volksthümlichen Formen
zu gering anschlägt.
Auf diesen Rechnungsfehler der kaiserlichen Negierung baut Preußen seinen
Plan. MA ihm sind jetzt die Wünsche und Hoffnungen der deutschen Patrioten,
auch die unsern.
Es hilft nicht zu klagen, daß die Fäden, aus denen ein deutscher Bundes-
staat gewebt werden soll, jetzt allein durch die Hände der deutschen Regierungen
laufen; es ist die Strafe der Völker dafür, daß sie im vorigen Jahre die ganze
Angelegenheit ohne die Regierungen abmachen wollten. Anstatt der Nationalver¬
sammlung in der Paulskirche sitzt jetzt ein Verwaltungsrath im Königlichen Hause
zu Berlin, an die Stelle feierlicher Reden sind protokollarische Erklärungen ge¬
treten, die Weitschweifigkeit der Verhandlungen ist dadurch nicht geringer gewor¬
den und an dramatischem Interesse haben sie unendlich verloren, aber für unsere
Zukunft sind sie nicht weniger wichtig als die Debatten der Paulskirche und der
Druck ihrer Protokolle hat, abgesehen von dem wichtigen Inhalt, auch noch den
Vortheil, daß er den Leser mit den Hüllen bekannt macht, in welche sich ehrlicher
Wille und schwache Winkelzüge einkleiden, wenn sie fähig und diplomatisch auftreten.
Wir versuchen unseren Lesern einen schnellen Ueberblick über die bedeutenden
Verhandlungen des Verwaltungsraths seit dem Anfang dieses Monats zu geben.
Als der Verwaltungsrath in Folge des Dreikönigsbündnisses vom 26. Mai,
aus Bevollmächtigten der einzelnen Staaten gebildet wurde, um die vorbereiten¬
den Maßregeln für Constituirung des Bundesstaates zu treffen, da traute man
dieser Beamteucommisston sehr wenig zu. ES lag in seiner Zusammensetzung, der
Form seiner Thätigkeit, ja auch in der Ernennung Bodelschwingh zum Präsiden¬
ten für einen großen Theil der Deutschen nichts, was Zutrauen eingeflößt hätte.
Seit der Zeit aber hat sich die öffentliche Meinung diesem Institut allmälig be¬
freundet. Daß der Rath seine Protokolle bekannt machte, daß bei der Mehrzahl
der Commission ernster Wille, ja ein warmer Eifer für die Organisation des Ein¬
heitsstaates sichtbar wurde, hat ihm auch in den Augen des Publikums Bedeu¬
tung und Ausehn verschafft. Schon freut man sich herzlich darüber, daß die kleinen
Staaten mit gutem Beispiel voran gehn, daß Bodelschwing hin und wieder bie¬
dere Derbheit uicht verläugnet, und wieder ärgert und schämt man sich über die
schwächlichen und kleinen Querzüge des Sachsen von Zeschau und des Hannove¬
raners von Wangenheim.
In der Sitzung vom 5. October stand Präsident Vollprecht, der Nassauer,
auf und forderte einen Termin zur Vornahme der Wahlen für den nächsten Reichs¬
tag, dieser Termin solle der 15. Januar 1850 sein. — Alle Bevollmächtigten
stimmen freudig bei, nur der von Mecklenburg-Strelitz, Herr von Oertzen, wi¬
derspricht leise, entschieden dagegen die von Hannover und Sachsen; im Namen
beider erklärt Sachsen die Einberufung eines Reichstags für unzeitig, noch sind
nicht alle deutsche Staate» dem Bündnisse beigetreten, namentlich haben wir über
die Stellung Baierns noch keine definitive Erklärung, ein Bundesstaat ohne die
süddeutsche» Königreiche wäre eine ganz andere Verbindung als die, welche der
Dreikönigsentwurf meint, und endlich wird Oestreich die Sache nicht leiden. Han¬
nover bestätigt diese Einwürfe noch dreister und erklärt gradezu, daß das Bündniß
vom 26. Mai von selbst ungiltig würde, wenn nicht alle Staaten, auch Baiern
und Würtemberg beitreten. Preußen und Nassau widerlegen diese Einwürfe Punkt
für Punkt: Bei Abschluß des Dreikönigsbündnisses war die Voraussetzung ganz
und gar nicht, daß alle deutsche Staaten ihre Theilnahme zugesagt haben müßten,
bevor das Bündniß dnrch einen Reichstag und Constituirung der Bundesgewalt
ins Leben treten könnte. Namentlich Sachsen und Hannover seien als Theilnehmer
am ursprünglichen Vereine, der zunächst nur die drei Königreiche umfaßte, zu
diesem Einwurf höchst unberechtigt, und Preußen werde nicht dulden, daß die Rea-
lisirung des Bundesstaates von der Genehmigung Oestreichs abhängig gemacht werde.
Diese Sitzung schließt, indem alle Theile auf ihrer Ansicht beharren.
In der nächsten Sitzung, am «1., trägt Baden (Freih. v. Meisenburg) auf
sofortige Bildung einer Commission an, welche die Verbindung des engeren Bun¬
desstaates mit den übrigen deutschen Bundesgenossen fortzusetzen und deren Anschlich
herbeizuführen habe. Sein Antrag wird einstimmig angenommen, die Zahl der
Mitglieder dieser Commission auf drei festgesetzt. — Darauf geht die Debatte über
den Antrag von Nassau fort, die Opposition von Hannover wird trotziger und
spricht in längerer Deduction die Erklärung aus, daß die Bestimmungen der
alten Bundesacte uoch zu Recht bestehen; die Einberufung eines Reichs¬
tages auf Grund des Dreikönigsentwurfs, der ja auch nur eine Propositivn sei,
sei deshalb ungesetzlich und gegen die Bestimmungen der Wiener Schlußacte. Sachsen
Wagt doch nicht, dieser Art der Beweisführung geradezu beizustimmen, erklärt aber
seine Absicht, auch fernerhin zu widersprechen.
Diese Sitzung schließt wieder, indem alle Theile bei ihrer Ansicht beharren.
In der Sitzung am 17. Oetbr. legt Preußen seine Verhandlungen mit Baiern
vor, aus denen ersichtlich ist, daß Baiern gegen den Vorstand Preußens im Bun¬
desstaat zu Gunsten eines Fürsteneolleginms, gegen die Ausschließung Oestreichs,
gegen den Wegfall der BinnengrenzMe, gegen das allgemeine deutsche Staatsbürger¬
recht, gegen Aufhebung der Familienfideicommisse und gegen mehrere andere liberale
Bestimmungen des Dreikönigsentwurfs Einwendungen gemacht hat. Darauf sagt Preu¬
ßen zu Sachsen: Ihr seht, an uns hat es nicht gelegen, daß Baiern sich isolirt, worauf
Sachsen dankbar ist und die Achseln zuckt. — Gegen die Deductionen Hannovers
aber in der vorigen Sitzung gibt der Vorsitzende eine lange, aber kräftige preu¬
ßische Antwort, worin er auseinandersetzt, daß der deutsche Bund factisch
und rechtlich nicht mehr bestehe; daß aber Preußen sich auf diese scharfe
Auffassung der Rechtsverhältnisse uicht einmal stützen, sondern den Zustand Deutsch¬
lands von der möglichst conservativen Seite auffassen wolle; es will an dem Bande,
welches die deutschen Staaten umschloß, so weit festhalten, als dies jetzt noch
möglich ist. Dies ist aber nicht in anderem Sinne möglich, als in dem dnrch das
DreikönigSbündniß klar ausgesprochenen. Und wenn ferner Hannover und Sach¬
sen sich auf einen schüchternen Vorbehalt beziehen, den sie nach Abschluß des Drei¬
königsbündnisses gemacht haben, indem sie eine Umgestaltung der Verfassung
für den Fall verlangen, daß der Süden Deutschlands uicht zutrete, so sei es doch
für einen ehrlichen Mann unmöglich, diesen Vorbehalt so zu verstehen, daß das
ganze Bündniß uugiltig werde, eine dadurch nothwendig gewordene Revision wird
ohnedies stattfinden, ferner aber sei der Zeitpunkt, in welchem die süddeutschen
Regierungen beitreten sollten, gar nicht bestimmt, noch weniger sei bestimmt, daß
der Reichstag erst nach ihrem Beitritt stattfinden soll, und endlich habe der ganze
Vorbehalt, den sie nach Unterschreibung des Verfassungsvertrages eingebracht
hätten, den Bestimmungen des acceptirten Verfassungsentwurfes gegenüber, beim
Mängeln der Zustimmung der übrigen Regierungen gar keine Geltung, daher
beharrt Preußen uicht nur bei seinem Votum für Einberufung des Reichstags,
sondern es wird unverzüglich deshalb bestimmte Anträge stellen, über Modificatio-
nen der Verfassung, übe?' Veröffentlichung des Wahltermins für den nächsten
Reichstag, über den Ort, wo der Reichstag zusammentritt, und endlich über die
Verbindung zwischen dem Verwaltungsrath und Reichstag. Der energischen Er¬
klärung von Preußen stimmen die übrigen Staaten mit Wärme bei, namentlich
Baden, welches die Rechtsbedenken Hannovers vielleicht am schlagendsten wider¬
legt. Mecklenburg-Strelitz, Hannover und Sachsen bestehen auf ihrer Opposition,
aber nicht nur ihre Gründe, auch ihre Haltung erscheinen schwach und man kann
selbst aus den ruhigen Zeilen des Protocolls lesen, daß die Sitzung reich an
dramatischem Leben und an Gemüthsbewegungen gewesen ist. — Zuletzt schloß
die Sitzung, indem alle Theile bei ihrer Ansicht beharrten.
Interessant ist die verschiedene Haltung der sächsischen und hannöveriichen
Negierung. Indem Hannover in dem Verwaltungsrath mit einem gewissen Trotz
auftrat und den Anschein biederer Bornirtheit annahm, war Sachsen geschmeidi¬
ger, zartfühlender, eben so selbstsüchtig in seinem Wollen, aber mit Form und
Schein, es hatte nur Zweifel und Bedenken, während Hannover mit seinem Ge¬
wissen hervorpolterte
Die nächste Folge dieser Sitzung war, daß Sachsen und Hannover eine
schriftliche Verwahrung an den Vorsitzenden gelangen lassen und die Erklärung,
daß sie von dem Bündniß vom 28. Mai zwar nicht zurücktreten, aber an den
Sitzungen des Verwaltungsrathes keinen Theil mehr nehmen würden. Minister
von Zeschau ist bereits nach Dresden zurückgereist.
Wohl, die kleinen Königreiche haben Muth bekommen; die Stürme der Demo¬
kratie sind ihnen nicht mehr furchtbar, sie spüren an ihren Throusesseln kein Wan¬
ken mehr und begreisen deshalb anch nicht mehr, weshalb sie auf alle die holden Rechte
der Selbständigkeit verzichte» sollen. König Ludwig hat einen so großen Thron¬
saal gebant, es wäre schade, wenn sein Sohn keine fremden Gesandten darin
empfangen sollte. Der König von Hannover vertheilt gern militärische Orden an
die Würdigen, wohnte er im Bundesstaat, seine Orden würden wenig beachtet
werden. Das ist uicht Spott, sondern bittre Wahrheit. Das ganze Empfinden
der Regenten und ihrer Umgebung sträubt sich gegen den Prozeß einer staatlichen
Concentration, als mehr oder weniger abhängige Theile. Man soll nicht sagen,
daß sie kein Herz für ihr Land hätten, sie sind nnr zu sehr gewohnt, ihren lan¬
desväterlichen Herzen keine größere Ausdehnung zu gestatten, als von einem
Grenzpfahl ihres Gebiets bis zum andern. Unter solchen Umständen wurde es
der kläglichen Politik des von der Pfordten und seinen Kollegen leicht, ohne jeden
Operationsplan und positives Wollen, eine kleine Verschwörung der Königreiche
gegen den Bundesstaat hervorzubringen; sie ist sehr widerlich in ihren Aeußerun¬
gen, verderblich aber wird sie nicht, wenn Preußen fest bleibt.
ES ließ sich voraussehen, daß die größte „That" des Jahres 48, das Par¬
lament der Paulskirche unter seinen Mitgliedern uicht wenige Geschichtschreiber
finden würde, zumal jetzt, wo in unbefriedigender Gegenwart der größte Theil
unserer parlamentarischen Parteiführer und Redner Muße genug haben, gegen¬
über den diplomatischen Querzügen der Kabinette sich an das großartige, bewegte
Leben der Frankfurter Periode zu erinnern. Der fleißige Laube hat begonnen,
ein anderer Leipziger folgt. Das Buch von Biedermann ist ein erfreuliches und
interessantes Gegenstück zu Laube's Geschichte des Parlaments. Es hat nicht nur
das Verdienst uns zu zeigen, wie der gebildete Historiker, ein angesehenes und
vielbeschäftigtes Mitglied des Parlaments, jene Verhältnisse und Personen betrach¬
tet, auf die er selbst nicht unbedeutenden Einfluß geübt hat, sondern es ergänzt
auch sehr glücklich und vollständig die Schilderung, welche wir Laube verdanken.
Biedermann führt den Leser hinter die Coulissen des großen Hauses; er hat sich
die Aufgabe gestellt, die Entstehung, Thätigkeit und Politik der einzelnen Partei-
genvssenschaften, in welche die Versammlung zerfiel, darzustellen; den Einfluß, wel¬
chen die einzelnen Klubbs aus die wichtigsten Fragen ausgeübt, zu bestimmen, und
die große Schlußkatastrophe des Parlaments in ihrem innern Verlauf aus den
Veränderungen der Parteien zu erklären.
Dieser Charakteristik der Parteien und ihrer Thätigkeit folgen Portraits ihrer
Mitglieder, keine irgend erwähnnngswerthe Person der Nationalversammlung bleibt
unbeschrieben und jede erscheint im Zusammenhang mit ihren Parteigenossen.
Das milde, verständige Urtheil des Verfassers weiß zu schonen, ohne zu verschwei¬
gen, und mit Vergnügen wird der Leser unserer Partei aus der einfachen Charak¬
teristik erkennen, wie dieselbe fast überall die allgemeine Ansicht der Versammlung
über die Einzelnen hinter sich hat. Natürlich nur die Ansicht unserer Partei
welche mau jetzt die Gothaer zu nennen pflegt; doch versteht Biedermann auch sei¬
nen Gegnern gerecht zu werden, und gegen die Wahrheit der Portraits von Ra-
veaux, Ludwig Simon u. s. w. würde auch die Linke nicht viel einwenden können.
Es folgt ans dem Zwecke seiner Darstellung und vielleicht aus seiner Eigenthüm¬
lichkeit, daß er die Einzelnen weniger in ihrer dramatischen Erscheinung auf der
Rednerbühne schildert, als nach ihrem Einfluß auf ihre Partei und ihrer Nütz¬
lichkeit für die gute Sache; bei solcher pragmatischen Darstellung kommt das In¬
dividuum in der Regel nicht schlecht weg. Mit der höchsten Liebe und Verehrung
hängt der Verfasser an Heinrich von Gngern, er ist mehr gefeiert als beurtheilt;
aber auch das wird dem Leser wohl thu». — Denn es erfreut in diesem schlaffen,
mäkelnden und mißtrauischen Jahre, wei.n man irgendwo einer recht warmen und
innigen Liebe zu einzelnen Menschen begegnet; wir Deutsche haben so sehr das
Bedürfniß zu lieben und zu verehren, und wir sind jetzt vielleicht grade deshalb
so verstimmt und traurig, weil wir so wenig Veranlassung dazu haben.
Wir empfehlen dies Buch, eine Skizze des Parteilebens in der National¬
versammlung, unseren Lesern angelegentlich; es soll dem deutschen Volk nicht nur
eine wehmüthige Freude sein, seine Helden und -ihr Thun geschildert zu sehen;
diese Beschreibung kann ihm auch für die Zukunft nützlich werden; denn es lehrt
Vorzüge und Schwächen seiner Wahlkandidaten kennen, welche man aus den steno¬
graphischen Berichten nicht immer herausliest.
Das Auftauchen des politischen Fanatismus in Deutschland und die
reiche Gelegenheit denselben in der Nähe zu beobachten, welche sich jedem Den¬
kenden in dem verflossenen Jahre (1848—49) dargeboten hat, gibt dieser Erschei¬
nung des geistigen Volkslebens ein Interesse, wie es neuauftauchenden Weltseuchen,
der Cholera, der Influenza, seiner Zeit gewidmet wurde. Wer hätte dem deut¬
schen Volke, dessen politische Unempfindlichkeit sprichwörtlich geworden war, zuge¬
traut, daß dasselbe von einer solchen fanatischen Gluth ergriffen werden könne?
Und doch war dies keine Abnormität. Wer das Volksleben im Spiegel der Ge¬
schichte studirt, weiß, daß ein Element des Fanatismus im Grundcharakter des
deutschen Volkes schlummert. Die Kreuzzüge, die Reformation und der unselige
30jährige Krieg! Damals opferten die deutschen Fürsten und Völker, mit einer
dem heutigen Bildungszustand unbegreiflichen Wuth und Hartnäckigkeit für ihren
religiösen Glauben, das Beste, was ein Volk besitzen kann: Bildung und
Wohlstand, Freiheit, Ehre und Vaterland! Jene Erfahrung muß uns ernähren,
die Symptome des auftauchenden politischen Fanatismus in unserem Volke, nicht
gering zu achten. Es kann immer noch wiederkommen, daß, wie vor Zeiten, die
verblendete Menge Freiheit, Ehre und Vaterland opfert, sei es zu Gunsten der
„Volksherrlichkeit" oder „einer starken Regierung," sei es an die Franzosen oder
an die Russen.
Vielleicht erregt es Verwunderung, daß ich als Arzt dieses Thema zu be¬
sprechen wage. Politik ist allerdings nicht mein Fach. Allem die Räthsel des
Fanatismus zu lösen, ist eine Aufgabe der Lebenswissenschast, der Physiologie,
welche die Grundlage der wissenschaftlichen Heilkunde bildet. Und der Verlauf
soll beweisen, daß wir es mit einer ganz eigentlich ärztlichen Aufgabe, mit einem
Abschnitt aus der Gesundheits- und Krankheitslehre des menschlichen
Geistes zu thun haben. „Der Fanatismus ist eine Krankheit, und so¬
wohl seine wissenschaftliche Zergliederung, als seine praktische Behandlung unter¬
liegt den Regeln der ärztlichen Wissenschaft und Kunst."
Das „Wesen des Fanatismus." Fanatismus ist eine heftig ge¬
steigerte und einseitige Gemüths- und Willensrichtung ans Ver¬
wirklichung von Glaubenssätzen.
Zum Wesen des Fanatismus gehört also zunächst das Vorhandensein einer
intensiv gläubigen Geistesrichtung. Nur in Glaubensfragen gibt es
Fanatiker, daher vorzugsweise in der Religion und in der Politik. Das Wesen
des Glaubens aber ist immer, daß er die Lücken des Wissens ausfüllt, er
fängt da an, wo das Wissen aushört, er ist die Kehrseite, der Neumond, einer
klaren sichern Erkenntniß. Weil unser Geist die Nothwendigkeit des ganzen vollen
Wissens als Bedürfniß in sich fühlt und doch nur einen kleinen Theil desselben
besitzen kann: so füllt er jedesmal die Lücke mit emsiger Sorgfalt, durch eine
Gemüthsanstrengung aus. Denn dieser tief in der Natur unserer Seelenthätigkeit
begründete Drang uach Vollständigkeit unseres Gedankeninhaltes beherrscht jeden
Sterblichen. Nur der Forscher der neueren Zeit, welcher an der Hand der exak¬
ten Naturwissenschaft aufgewachsen ist, ist vielleicht im Stande, diesen Trieb ganz
zu beherrschen und Alles, was er nicht bestimmt weiß, als unentschieden da¬
hinzustellen, das heißt, garnichtSzuglauben. Freilich straucheln auch von diesen
Privilegium gar Manche bei solchem Versuche. Je unwissender aber und je
ungebildeter der Mensch ist, desto größer wird in ihm das Gebiet der gläubigen
Geistesstimmung, desto bunter und widersinniger deren Inhalt. Dies lehrt die
Erfahrung alltäglich und allenthalben.
Wissen und Glauben suchen, wie alle Vorstellungen, endlich ihren Weg zum
Handeln, indem sie in Willensentschlüsse übergehen. Aber hier zeigt sich
ein bedeutender Unterschied zwischen beiden.
Das Wissen nimmt seiner Natur nach den Verstand in Anspruch. Das
dadurch bedingte Wollen ist daher ein verständiges, d. l)., ein auf Erkenntniß der
Sache begründeter Antrieb zum Handeln. Daher wird das echte Wissen sogar da,
wo es einen sehr mächtigen Antrieb zum Handeln gibt, doch auch hierbei stets
die Natur der Sache und die in ihr liegenden Hindernisse oder Bedingungen eines
erfolgreichen Handelns mit in Anschlag bringen. Die Handlungsweise eines Wohl¬
unterrichteten , eines wissenschaftlich Bekehrten, wird in der Regel frei von Ein¬
seitigkeit oder Leidenschaft, verhältnißmäßig umsichtig, besonnen und rücksichtsvoll
sein. — (Ich leugne nicht, daß es auch einseitige Fanatiker in manchen Wissen¬
schaftszweigen geben kann; z. B. für die Vorzüge des lateinischen Grammatikal-
unterrichtes auf den Gelehrtenschulen habe ich viel fanatische Ausbrüche erlebt.
Aber gerade diese Fälle bestätigen unsere Sätze; denn es gibt eine unechte und
bornirte Gelehrsamkeit, welche eben so große Lücken, wie der Mangel an Bildung,
im menschlichen Geiste hinterläßt.)
Der Glaube hingegen wurzelt im Gemüth. Wenn er zum Handeln über¬
gehen soll, so muß er das Gemüth bewegen. Der Ununterrichtete, Wissenslose
muß das, was seinen Ueberzeugungen an Klarheit und Sicherheit der Begrün¬
dung abgeht, durch erhöhten Schwung des Gemüthes ersetzen, wenn es ihn zum
wirklichen Wollen und Handeln sichren soll. Sobald er daher seine Ueberzeugun¬
gen überhaupt lieb gewonnen hat, sobald er sie wirklich in's Leben überzuführen
wünscht, und besonders, sobald er seine Ueberzeugungen durch entgegengesetzte
bedroht und sich bei deren Durchführung behindert findet: ersetzt er Das, was ihm
an Gründen und Thatsachen abgeht, durch eine um so stärkere Aufregung des
Gemüthes: er wird heftig. Und da dies (beim Mangel thatsächlicher Erkennt¬
nißgründe) aus die Dauer nur durch Concentration aller Seelenthätigkeit auf einen
einzelnen Punkt hin möglich ist, so wird er in seinem Sinnen und Trachten ein¬
seitig und heftig zugleich. Dies ist die fanatische Geistesrichtung.
Sobald aber bei dem Fanatiker das Streben zur Verwirklichung seiner Glau¬
bensüberzeugung wirklich zur That übergeht, tritt noch ein Umstand hinzu,
der die krankhafte Ausartung dieser Seelenstimmung vollendet.
Glaubenssätze nämlich, besonders religiöse und politische, sind ihrer Na¬
tur nach allgemeine, ohne einen bestimmten Einzelinhalt: oft ganz unrichtig
und in der Lust schwebend, oft ein Gemisch von Wahren und Falschen, oft eine
dunkle Vorausahnung eines Richtigeren als das bisher Giltige, eine dichterische,
durch Begeisterung vermittelte Inspiration.
Wahres Wissen hingegen hat seiner Natur nach immer einen speziellen
Inhalt. Denn es gibt kein anderes echtes und Stichhaltiges Wissen als dasjenige,
welches sich von unten ans ans Erfahrung aufbaut. Die Wissenschaft sammelt
die einzelnen Wahrnehmungen zu Erfahrungsregelu, erkennt in ihnen die Gesetze
des Besonderen und gewinnt aus letzteren Schritt für Schritt die allgemeineren
Wahrheiten und die leitenden oberste» Sätze. - Daher ist jede cette Erkennt¬
niß, wenn sie auch noch so sehr in allgemeinen Sätzen ausgedrückt wird, dock
stets ein Inbegriff von einzelnen Wirklickkeiten und daher auel befähigt, im Ein¬
zelnen verwirklicht zu werden. So ist z. B. das Gesetz der Schwere, der Gravi¬
tation, wie es Newton auf das gestimmte Weltall anzuwenden gelehrt hat, gewiß
ein unendlich allgemeines (allgemeiner als viele religiöse und politische Glaubens-
sätze, welche kaum auf einen Theil der Erdoberfläche passen). Aber gleickwohl
ist es dasselbe Gesetz, welches jüngst einen Astronomen befähigte, durch Berech¬
nung einer gestörten Trabantenbahn einen neuen Planeten zu entdecken, ehe er thu
gesehen hatte: dasselbe Gesetz ist in unsern Dampfwagen, unsern Perte'uhren, in
zahllosen menschlichen Einrichtungen verwirklicht und fernerhin zu verwirklichen. —
Daraus folgt schon, daß echtes Wissen auch zur Ausführung seiner Aufgabe von
selbst auf erkennbare, spezielle und sachentsprechende Mittel geführt wird; denn in
Ermangelung solcher ist es zum Handeln unbefugt und unbefähigt.
Dem Gläubigen aber fehlen diese unmittelbaren Verbindungsglieder zwischen
seinen Ueberzeugungen und seinen Handlungen mehr oder weniger, je nachdem eben
wehr oder weniger Wissensbruchstücke seinemGlauben beigemischt sind. Sehr hochschwe¬
bende allgemeine Glaubenssätze sind sogar in der Regel dnrch dieThat gar nicht zu ver¬
wirklichen, z. B. der Satz, „eS ist nur ein Gott und Mahomed ist sein Prophet. „Oder
ste sind nur zu verwirklichen unter Voraussetzung von Möglichkeiten, welche in der
Wirklichkeit nicht vorhanden sind oder gar nicht zur Sache selbst gehören: z. B.
die Sätze, daß eine soziale Republik oder eine unbeschränkte Monarchie alle Uebel
des Volkslebens heilen. — Daher sehen wir, daß der Glaubensvolle, sobald er
zur Verwirklichung seiner Ueberzeugung zu schreiten vermeint, gewöhnlich vielmehr
darauf ausgeht, Andere, bisher Gleichgiltige zu einer Beistimmungserklärung zu
vermögen, oder die entgegengesetzt Denkenden zu Stillschweigen und Unterwürfig¬
keit zu nöthigen. Schon dies findet nun, der Natur der Sache nach, nothwendig
Widerstand, da bei jedem einzelnen Menschen die Lücken des Wissens, und also
die Sphären des Glaubens andere sind. Beides aber, das Gefühl der Unerreich-
barkeit und das Gefühl des vorhandenen Widerstandes, steigert bei der einseitig ge¬
wordenen Glaubensthätigkeit die Erregung des Gemüthes, welches sich die Durch-
setzbarkeit seiner Wünsche in demselben Matze lebhafter vorspiegelt. So tritt zur
Einseitigkeit die Erbitterung, die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Wollens, und
der Fanatismus nimmt seine entschieden krankhafte Färbung an.
Wir haben uns hier über den Begriff „Krankheit" zu verständigen.
Schon Hegel nannte die Krankheit eine sich einseitig losreißende (gleichsam auf
Kosten des Organismus emancipirende) Function. Diese Begriffsbestimmung hat,
obschon für materiellere Krankheiten mangelhaft, für die hier in Rede stehenden
psychischen Abnormitäten allerdings viel Richtiges. Krankheiten nennt man alle
jene Abnormitäten des Organismus, welche dem gesunden Leben gegenüber eine
größere Selbstständigkeit in ihrer schädlichen Wirkung ausüben, welche den physi¬
ologischen, zur Erhaltung des Individuums und der Gattung dienenden Einrich¬
tungen und Vorgängen wesentlich widerstreben. So liegen allerdings zwischen
Gesund- und Kranksein viele Mittelstufen, welche man z. B. als Unpäßlichkeiten,
Mißgestaltungen, als Krankheiten der Gesunden bezeichnet hat. Namentlich haben
die Aerzte sich daran gewöhnt, nur solche Zustände, welche ein ärztliches Ein¬
schreiten erfordern, als Krankheiten anzusehen. Doch hat die neuere Zeit hierin
Manches geändert. Man hat aus dem Wege der Wissenschaft (insbesondere auf
dem der pathologischen Anatomie) Krankheitszustände entdeckt, welche bisher nicht
als solche anerkannt waren. Und andererseits hat man auch unter den abnormen
Seelenzuständen manche als Krankheiten würdigen gelernt, welche noch lange nicht
zur Unterbringung im Irrenhause berechtigen: z. B. die Sinnestäuschungen, die
Trunksucht, die Zoruwüthigkeit, den Somnambulismus. — Und an diese, dem
Einschreiten des Privatarztes in der Regel auch uicht anheimfallenden Abnor¬
mitäten des Seelenlebens schließt sich allerdings der ausgebildete Fanatismus an;
seine milderen Formen aber an die Krankheitsvorboten und Krankheitskeime:
also nicht minder an die Gegenstände der psychischen Pathologie.
Ein Blick aufdie Erscheinungen, die „Symptome des Fanatismus"
wird uns belehren, ob derselbe in der That jene Kennzeichen an sich trägt, welche
von der ärztlichen Wissenschaft, insbesondere von der gerichtsärztlichen Psychologie,
als Charaktere eines geistigkranken, sogenannten unfreien Seelenzustan¬
des ausgestellt werden. Es sind folgende:
Der Fanatiker ist unfähig, etwas seinen Lieblingsideen Entgegengesetztes zu
begreifen und recht zu würdigen, selbst wenn es unbestreitbare Thatsachen wären.
Er ist unduldsam und unbillig gegen jeden Andersdenkenden. Eine ausschließende
Einseitigkeit beherrscht sein Denken, Reden und Handeln. Alles concentrirt sich
für ihn auf einen einzigen Punkt. Wird dieser berührt, so zeigt er sich einerseits
reizbar und aufbrausend gegen Entgegnungen, andererseits unerschöpflich in De¬
monstrationen und Scheingründen. Er zeigt entschiedenen Widerwillen gegen Be¬
lehrung überhaupt, weil er fürchtet, daß sie auch die Stützen seines eigenen Wah¬
nes erschüttern könnte. Er verachtet jedes andre, auf seine Lieblingsüberzengnn-
gen nicht Bezug habende Wissen und Lernen. (Omar verbrannte die große Biblio¬
thek zu Alexandria, weil der Koran Alles, was der Mensch brauche, enthalte.)
Er mißtraut jeder anderen Bestrebung, welche nicht auf denselben Zweck gerichtet
ist. — Es kümmert ihn nicht, ob seine Bestrebungen ihm selbst oder denen,
welche ihm sonst lieb waren, Schaden zufügen, oder ob sie den allgemeinen Sit¬
tengesetzen zuwider laufen. Oft hält er sich sogar zu Freveln berechtigt, welche
der Menschlichkeit Hohn sprechen. — Sein Charakter ist, im Vergleich zu sonst,
wie umgewandelt: aus Milde ist Rauheit, aus Wohlwollen Erbitterung geworden.
sein Benehmen gegen die, welche ihm bisher lieb und werth waren, ist verän¬
dert, abstoßend, feindlich. — Seine Handlungen stehen mit dem Zwecke, den er
eigentlich vorhat, in größerem oder geringerem Widerspruch. (Wie kann da«
Christenthum oder die loyale Gesinnung durch Mord und Brand fortgepflanzt
werden!) — Seine Thaten sind gewaltsam oder streifen ein Gewaltthätigkeit.
Seine Geberden, seine Bewegungen zeigen Anfälle (Paroxysmen) von Heftigkeit
und Wuth, abwechselnd mit Zwischenräumen von dumpfem Brüten und Jnstch-
versunkenseiu. — Seine Blicke sind verstört oder fixirt, in der Aufregung auf¬
blitzend und stechend oder verzückt. Sein Aeußeres ist vernachlässigt oder phan¬
tastisch .aufgeputzt.
Diese Charakterzüge siud es, welche in größerer oder geringerer Vollständig¬
keit, den gerichtlichen oder Jrrenarzt bei der Erkenntniß der Geisteskrankheiten zu
leiten pflegen. Sie finden sich auch bei dem Fanatiker mehr oder weniger deut¬
lich ausgeprägt. Und deshalb betrachten wir den Fanatismus als eine
Krankt) eit.
Von eigentlichen Geisteskrankheiten steht dem Fanatismus ganz nahe
die fixe Idee und die dnrch solche hervorgerufene Monomanie (die krankhafte
Willensrichtung anf Verwirklichung einer fixen Idee oder eines blinden Triebes.)
Beide schließen, in der Sphäre des krankhaften Wollens, den freien Vernunft¬
gebrauch mehr oder weniger aus; beide beherrschen den Gedanken in einer einzel¬
ne» Richtung und schließen in dieser Beziehung das Vermögen einer besseren Er¬
kenntniß und einer Belehrung durch entgegenstehende Thatsachen aus. Fana¬
tismus und Monomanie (besonders die chimärische, der Aberwitz) stehen sich da-
her sehr nahe. — Der Unterschied beider ist, daß die fixe Idee das Ergebniß
einer körperlichen Erkrankung (oft einer wirklichen Hirnkrankheit, oft der Sinnes¬
täuschungen) ist, daß der Irrthum hier von einer untergeordneten einzelnen Vor¬
stellung ausgeht und sich wider Willen des Erkrankenden festsetzt. Beim Fanatiker
aber beginnt die krankhafte Einseitigkeit von dem in Glaubenssätze sich vertiefen¬
den Gemüth und die Hartnäckigkeit oder Heftigkeit entsteht anfangs aus dem
Vorsatze des Fanatikers. Daher hält man ihn auch gemeinhin für zurechnungs¬
fähig und verantwortlich. Dies ist aber falsch. Es ist hier wie beim Rausch;
mit der gänzlichen Betrunkenheit und mit der ausgebildeten Trunksucht hört die
freie Selbstbestimmung auf. So wird auch der Fanatiker durch den Rausch seiner
Ideen bald tobsüchtig, bald tiefsinnig, bald gcistesstumpf, und mit der Gewohn¬
heit des Rausches unwiderstehlich zu neuer Trunkenheit fortgerissen: in beiden
Fällen überschreitet er die Grenze der geistigen Gesundheit.
Die „Ursachen des Fanatismus" sind schon ans Dem, was wir über
dessen Wesen bemerkt haben, abzuleiten. Daß es eine gewisse Anlage zu diesem
Geisteszustande gibt, lehrt die Erfahrung. Kinder sind gar nicht, Greise kaum,
Frauen weniger als Männer dazu geneigt. Doch bietet das weibliche Geschlecht,
besonders in den reiferen Lebensjahren, durch seine vorwiegende Abhängigkett vom
Gemüthsleben und durch seine Neigung zur Gläubigkeit dem Fanatismus Ele¬
mente zur Entwickelung dar, besonders wenn Mangel an Bildung hinzutritt. (Als
Beispiel diene: die Frau, welche den Scheiterhaufen von Huß ansteckte, und die
Poissarden der ersten französischen Revolution.) Vorwiegend sind jedoch Männer
in reiferen Jahren zum Fanatismus (wie zu deu Geisteskrankheiten) disponirt. —
Die Psychologen und Aerzte unterscheiden bekanntlich die Geistesrichtungen in vier
Temperamente nach dem Grade der Thatkraft und der Erregbarkeit. Von
diesen sind es natürlich die thatkräftigen und ausdauernden, welche zum Fanatis¬
mus disponiren: sowohl das cholerische Temperament, welches Erregbarkeit und
Heftigkeit mit Willenskraft vereint, als das melancholische, welches bei träger
Erregbarkeit desto ausdauerndere Energie beweist. Hingegen sind die beiden ener¬
gielosen Temperamente auch vom Fanatismus wenig gefährdet, der leicht erreg¬
bare Sanguiniker treibt es vielleicht bis zur Schwärmerei, aber bald wird ihm
etwas Neues einfallen und die fanatische Stimmung wird sich verlieren. Ein
fanatischer Pflegmatiker aber ist gar nicht denkbar. Denn was man in neuester Zeit
mehr witzig als ernsthaft „Fanatiker der Ruhe" gescholten hat, sind Leute,
denen es an Energie nicht fehlt, deren Gemüthsstimmung aber von einem ma߬
losen Haß gegen die Unruhe beherrscht wird. — Unbestreitbar hat die Natio¬
nalität einen großen Einfluß auf die Anlage zum Fanatismus oder deren Feh¬
len. Einen fanatischen Lappländer, Esquimo oder Feuerländer kann man sich
nicht denken, weil dies energielose Völker sind. Hingegen bei dem Spanier, dem
Araber gilt die Anlage zum Fanatismus als nationale Eigenthümlichkeit. Unde-
streitbar ist des Deutschen Nationalcharakter, im Ganzen betrachtet, der
melancholische. Eine gewisse Unempfindlichkeit, ein geringes Maß augen¬
blicklicher Erregbarkeit hat das deutsche Volk oft lange Jahre und Jahrhunderte
hindurch unter Unbilden und Mißgeschick hinbrüten und anscheinend schlummern
lassen. Aber überall, wo der Deutsche in der weiten Welt lebt, in allen germa¬
nischen Kolonien und in allen Perioden der deutschen Geschichte zeigt sich wieder
eine zähe Ausdauer dieses Volkes, und Unermüdlichkeit bei Bewältigung von
Hindernissen. Man kann uns kein energieloses Volk nennen. Diese nachhaltige
Hartnäckigkeit bei dem einmal Ergriffenen hat das deutsche Volk auch da bewährt,
wo es sich in Glaubensfragen betheiligte, zu welchen es ohnedies wegen seiner
Gemüthlichkeit und seiner spekulativen Neigung zum Ueberstnnlichen eine besondere
Anlage besitzt. Daher ist der Fanatismus von jeher für unsere Nation eine be¬
sonders gefährliche Krankheit. — Ob wirklich der Bau des Gehirns, die
phrenologische Anlage bei der Neigung zum Fanatismus im Spiele ist, muß
späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Ein guter Beobachter, der franzö¬
sische Arzt Brayer hat in seinem Buche („Neue »rupes » ecmsttuitinoplo") den
Versuch gemacht, die fanatische Gemüthsart der Türken rein aus phrenologischen
Gründen (sogar aus der Einwirkung des Turbans auf die Schädelform) zu erklä¬
ren, was wir dahingestellt sein lassen.
Unter den schädlichen Einflüssen, welche den Fanatismus vorbereiten
und wecken, steht Unwissenheit oben an, besonders wenn sie mit einer durch
Volkssitte oder Erziehung genährten Gläubigkeit zusammentrifft. Der Unwissenheit
nahe steht in dieser Hinsicht eine einseitige Bildung, welche eine Mehrzahl
von Bildungselementen ausschließt, besonders wenn dabei die thatsächlichen und
das Beobachtungsvermögen schärfenden Wissenszweige, die Naturwissenschaften,
ausgeschlossen werden. Daher disponirt die einseitig religiöse und die einseitig
humanistische Erziehung sehr zum Fanatismus.
Ferner aber die Jsolirung der Individuen wie der Völker. Mönchs- und
Nonnenklöster, Einsiedeleien, die Stamm- und Kastenunterschiede, die Sprach¬
verschiedenheiten der Völker, haben die furchtbarsten Beispiele des Fanatismus ge¬
boren. Der in seiner Wüste einsam brütende Araber mußte für den mcchomeda-
nischen Fanatismus besonders empfänglich werden.
Eine dritte Quelle sind Gemüths Verletzungen. Getäuschte Eitelkeit,
betrogne Hoffnungen, verletzter Ehrgeiz, die Sorge um bedrohten Besitz, um den
Lebensunterhalt, eine gedrückte bürgerliche und finanzielle Lage, haben schon oft,
auch in den neuesten Zeiten, Veranlassung zu Ausbrüchen des Fanatismus
gegeben.
Deshalb ist es auch möglich, diesen Seelenzustand künstlich hervorzu¬
bringen, in einzelnen Personen, wie in den Massen. Dazu hat man theils
Jsolirung benutzt, z. B. die Jesuitenklöster, theils einseitige Bildung und Beleh-
rung, indem man den Individuen oder Massen immer nur ein einziges Schibo-
leth einprägte und überschätzen lehrte. Auch hat man sich der verschiedenen Ge-
müthsverletzungen, der Erinnerung an Unbill und Kränkung, an Elend und Be¬
drückaugen bedient; oder man hat deu Ehrgeiz, die Vaterlandsliebe, das Rechts¬
gefühl aufgestachelt. Es gibt sogar auf beiden extremen Seiten Solche, welche der
Ansicht sind, daß ohne Erregung von Fanatismus große politische oder religiöse
Benegnngen nicht mit Erfolg durchzusetzen seien. Dafür kann man einzelne Bei¬
spiele anführen, dagegen aber den Zweifel aufwerfen, ob die Früchte eines solchen
Erfolges nicht immer giftig waren? Auch gilt dieser Satz nicht für alle Fälle.
Die Befreiung Nordamerikas und die Siege der modernen Humanität sind ohne
Fanatismus erfochten worden.
Die natürlichen Folgen und Ausgänge des Fanatismus sind wie
bei anderen Krankheiten, entweder Genesung oder Nachkrankheit oder (wenigstens
geistiger) Tod. Alle drei kommen sowohl an einzelnen Individuen, als in den
Volksmassen vor. Die Heilung erfolgt, wenn der Anfall sich ausgetobt hat,
durch Erschöpfung und durch bessere Erkenntniß. So hat sich das deutsche Volk
von dem religiösen Wahnsinn des Mittelalters allmälig durch Abspannung, wie
durch Wissenschaft und Aufklärung erholt. Wenn dereinst die naturwissenschaft¬
liche Bildung, diese Gegnerin alles Unklaren und Unfreien, allgemein herrschen
wird: werden anch die Fanatiker seltner werden. Schon die Beschäftigung mit
Thatsachen, das Reisen, der Handel, der gesteigerte Umgang der Menschen unter¬
einander, zerstören die Wurzeln davon. — Aus ähnlichen Gründen heilt zuweilen
eine ernste materielle Sorge, welche den Menschen auf naheliegendes und That¬
sächliches hinleitet: so für das Individuum dringende häusliche Angelegenheiten,
für Völker Kriegs- und Belagerungszustände. Nach dem dreißigjährigen Kriege
ward das deutsche Volk stumpf und unempfindlich, geistig träge und kraftlos.
Dies gehört freilich schon zu den krankhaften Nachwehen. Der Fanatismus kann,
wenn er ausgetobt hat, in stumpfe Gleichgiltigkeit und sogar in Blödsinn über¬
gehen , in den moralischen Tod; oder er kann als förmliche fixe Idee und Mono¬
manie in einem engen Vorstellungskreis beharrend, zur unheilbaren Seelenstörung
werden. Auch für diese üblen Ausgänge zeigen sich Analogien im Völkerleben,
z. B. die Nachwehen der Hussitenkriege in Böhmen und der heutige Verfall der
Türkei, deun das Leben der Nationen wird durch Krankheiten gestört, ja ver¬
nichtet, ganz wie bei einzelnen Menschen.
Die „Behandlung des Fanatismus" ist entweder rein empirisch, d.h.
quacksalberisch, oder rationell. Die letztere gründet sich auf das erkannte Wesen
der Krankheit und richtet sich also theils gegen die Gläubigkeit, theils gegen die
Einseitigkeit, theils gegen die Heftigkeit und Hartnäckigkeit des Fanatikers. Vor
allem aber muß sie die Ursachen beseitigen, welche das Uebel hervorriefen und
unterhalten.
Im Anfall selbst sind zwei Behandlungsweisen möglich: eine thätig ein¬
schreitende und eine geduldig abwartende.
Beim einschreitenden Verfahren sucht man die fanatische Geistesregung
gewaltsam zu unterdrücken. Es ist nicht zu leugnen, daß dies möglich ist, und
wo es gelingt, etwa so wirkt, wie ein Sturzbad bei tobsüchtiger Aufregung.
Durch Niederwerfen des exaltirten Geistes, durch das in ihm erzeugte Gefühl
der äußern Abhängigkeit dämpft man die Leidenschaft, bricht man den Muth und
macht, daß der Verstand sich auf wirkliche Dinge richtet. In politischen und
religiösen Krisen geschieht dies durch Pulver und Blei, Einsperrung und Kriegsnoth.
Es leuchtet ein, für welche einzelnen Fälle des Fanatismus dies Verfahren paßt,
nämlich für die sanguinischen Fanatiker und für die ungebildeten Mitläufer. Bei
dem ächten energischen Fanatismus nutzt das Rcpressivverfahren nichts; es macht
ihn nur hartnäckiger. Dieses Verfahren ist aber die Lieblingsmethode der politischen
und religiösen Quacksalber; ja, oft zeigt uns die Geschichte, wie ein Fanatiker
über den Anderen zu Gerichte sitzt, und diese Fälle sind es, wo die Geschichte
von deu gräßlichsten, der Menschheit zu ewiger Schande gereichenden Greuelthaten
erzählt; wo die Kur zu geistiger Tödtung, zu jahrhundertelanger Stumpfsinnigkeit
geführt hat. — Wollen wir an dem Fortschritte des Menschengeschlechts zur ächten
Humanität und Sittlichkeit nicht verzweifeln, so müssen wir hoffen, daß eine
Zeit kommen wird, wo man den Fanatiker als einen Geisteskran¬
ken behandelt, wo man über ihn die Stimme des Arztes befragt und seine
Strafe nicht nach dem Maße seiner Unthaten als Rache dictirt, sondern nach dem
Heilungsbedürfnisse seines Seelenzustandes, nach ärztliche« Anzeigen abmißt.
Die zweite BeHandlungsweise ist die zuwartende, ex spectative. Sie
hat überall den Vorzug, wo sie ohne Gefahr ins Werk gesetzt werden kann,
inhaltlose Allgemeinheiten nutzen sich sehr schnell ab: so anch die Stichworte der
Dogmatiker, die Phrasen der Politiker. Ueberschwenglichkeit zieht Abspannung
nach sich, oder beschränkt sich selbst durch Lächerlichwerden. Auch erscheinen viele
Glaubensgegenstände bei dem ersten Versuche, sie ins Leben überzuführen, sofort
als unpraktisch, ja albern und unausstehlich, z. B. Güter- und Weibergemein-
schaft, theokratisches Gemeinwesen. — Oft nutzt sich auch der Fanatismus durch
Erlöschen seiner ursächlichen Veranlassungen ab: den gekränkten Ehrgeiz tröstet
eine erlangte Stelle, der Geldnoth wird durch besseren Verdienst abgeholfen und
durch Steigen der Börsencourse beruhigt sich der Fanatiker der Ruhe. — Diese
Beispiele kann auch die Behandlung nachahmen; übrigens behüte sie den Fana¬
tiker und seine Umgebung vor Schaden und leite die gleich zu erwähnenden Ma߬
regeln ein.
Außer dem Anfalle, theils nachbehandelnd, theils vorbauend,
'° sich schon Vorboten des Fanatismus zeigen, ist die Hauptaufgabe, die Quot¬
en des Fanatismus zu verstopfen. Diese sind die Leidenschaftlichkeit, dieOrtho-
doxie in religiösen und politischen Dingen, die Einseitigkeit des Wissens und Wol-
lens, vor allem aber die Unwissenheit. Wahre, vielseitige Belehrung ist un¬
bedingt das Hauptmittel gegen diese Krankheit, besonders wo sie epidemisch herrscht.
Wer dem Fanatismus der Volker vorbauen oder seine Nachwehen heilen will, der
tavf nicht Unwissenheit oder Orthodoxie aussäen. Hier gibt es nur ein Mittel:
»it.mneine Verbreitung wahrer Bildung, eines vielseitigen und thatsachenreichen
Wissens im Volke!
Für diesen Zweck, soweit er dnrch Bildung der Jugend zu erreichen ist,-
hat die neuere Zeit unstreitig viel, aber noch uicht Alles geleistet. Unsere Schul-
einrichtungen haben sich verbessert und die Unterrichtsgegenstände (fast zu sehr)
vervielfältigt. Aber noch immer hat unser Unterrichtswesen eine einseitige spiri-
tualistische Richtung beibehalten. Es muß den Naturwissenschaften, es muß der
Körperbildung, der Sinnesübung bei der Erziehung unserer Jugend eine weit
größere Geltung eingeräumt werden.
Eine Hauptausgabe unserer Zeit aber ist, in dieser Hinsicht für die erwach¬
sene Bevölkerung unseres Vaterlandes zu sorgen, welche so eben und so plötz¬
lich erst zur politischen Mündigkeit gelangt ist. Denn sie leidet noch an den Fol¬
gen der früheren Beschränkungen ihrer politischen und religiösen Bildung und ist
mehr als vielleicht jede künftige Generation dazu disponirt, in Fanatismus zu
verfallen oder dazu bearbeitet zu werden. Plötzlich ist ihnen die neue Freiheit
gekommen. Oft habe ich mich im letzten Jahre gefragt, oft andere fragen hören:
„War denn das Volk l848 wirklich reif für die Freiheit?" Und
ich habe stets antworten müssen: „ja! und abermals ja!" Wir haben das Volk
reifer befunden, als wir vorher geglaubt hätten: reifer als Viele unter den sich
vom Volke abschließenden Klassen; denn unter diesen fanden sich Tausende, welche
bei den ersten Unannehmlichkeiten und Uebertreibungen der neuen Freiheit schon bereit
waren, sich und die Ehre und Freiheit des Volkes zu verkaufe», um nur ihre
Vorrechte und ihre Einnahmen zu sichern. — Aber diese Reife ist erst die Be¬
fähigung zur selbstständigen freien Fortbildung. So wenig man ei¬
nen jungen, so eben von der Universität kommenden Doctor schon als erfahrenen
ärztlichen Praktiker anerkennen kann: so wenig kann man annehmen, daß ein Volk,
das erst frei wird, die Freiheit schon völlig und richtig zu gebrauchen verstehen werde.
Vielmehr beginnt nun erst die wichtigste Schule für dasselbe.
Zu diesem Behufe leisten in neuerer Zeit allerdings die vervielfältigten Rei¬
segelegenheiten, besonders die Eisenbahnen und Dampfschiffe sehr viel; sie gestat¬
ten auch dem Aermsten, sich in der Welt umzusehen, seinen Gesichtskreis zu er¬
weitern, sein Wissen dnrch thatsächliche Selbstbeobachtungen zu vermehren. Sie
zerstören namentlich jene abschließende Isolirung der Stämme wie der Einzelnen,
welche eine Hauptquelle der Einseitigkeiten, der Vorurtheile und der Neigung zum
Fanatismus ist.
Verbesserung der häuslichen und bürgerlichen Lage, Beförderung der mate¬
riellen Interessen, Verwirklichung der zugesagten Reformen in der Rechtspflege
und Verwaltung, im Abgaben- und Gemeindewesen u. s. w., müssen dazu beitra¬
gen, manche Quellen des Fanatismus zu verstopfen, die gereizten oder mißtraui¬
schen Gemüther zu besänftigen, die gekränkten Geister zu versöhnen, den Ehrgeiz
Einzelner auf fruchtbringendere Bahnen zu leiten, und diejenige Art allgemeiner
Bildung zu befördern, welche nur bei behaglicherer Existenz und beruhigterem
Gemüthe möglich ist.
Um jedoch noch unmittelbarer auf eine vielseitige und geistbefreiende Bildung
im Volke hinzuwirken, ist besonders die zweckmäßige Benutzung des V er eins le¬
ben s erprobt. In den Bildungsvereinen, wie wir in Dresden ziemlich viele
haben*), wird theils durch parlamentarische VerHandlungsweise und durch Debat¬
ten, an denen jedes Mitglied Theil nehmen kann, die Gabe des Selbstredens,
Selbstdenkens und der Selbstbeherrschung geübt, theils durch Meinungsaustausch
wahre Vielseitigkeit und Bestimmtheit der Urtheile und Ueberzeugungen geschaffen,
theils durch öffentliche Vorträge und Vorlesungen der Kreis der Wissenschaften
allgemeiner zugänglich gemacht, theils werden in ihnen durch schulmäßigen Unter-
terricht (Sonntags- und Feierabendsschulen) die Lücken der Volksbildung nachge¬
bessert, und die Eindrücke des Jugendnnterrichtes wieder aufgefrischt, theils durch
Volksbibliotheken eine gesunde geistige Nahrung an die Stelle manches verderb¬
lichen Giftes der Tagesliteratur und der Leihbibliotheken gesetzt.
Alle diese Bestrebungen haben bei dem einsichtigen Theil der Bevölkerung,
der gebildeteren wie der unteren Klassen, bisher eine lebhafte Anerkennung und
edelmüthige Unterstützung gefunden. Es ist zu wünschen, daß Jeder, welcher un-
ser Volk seiner Freiheit würdig und ihres gesunden Gebrauches mächtig wünscht,
solche Unternehmen, die Hauptmittel gegen jede Art von Fanatismus, ehre und
unterstütze.
Denn nur Bildung verdient Freiheit und Macht, nur Bildung
verschafft sie, uur Bildung kaun sie dauernd erhalten!
Nachschrift. Obcnsteheudes ist der unveränderte Inhalt eines öffentlichen
Vortrags, welchen der Unterzeichnete am 22. März 1849 aus Veranlassung des
Erziehungsvereins zu Dresden, zum Besten einer daselbst zu begründenden Volks-
vibliolhek hielt. Die späteren Ereignisse des Jahres 1849, und die traurigen
Maiereignisse zu Dresden insbesondere, haben inzwischen nicht nur die Gesammt-
lage des deutschen Vaterlandes, sondern auch die des Verfassers selbst, wesentlich
verändert. Ich schreibe dies in politischer Untersuchungshaft. Dabei gereichte es
mir zu besonderer Genugthuung, daß ich keine der geäußerten Ansichten zu än¬
dern, keine der hier ausgesprochenen Ueberzeugungen zurückzunehmen finde. Ich
habe vielmehr gerade in jenen Maitagen genng Gelegenheit zu Beobachtungen über
die Natur und die Erscheinungen der fanatischen Geistesstimmung gefunden, welche
den hier ausgesprochenen Sätzen zur Stütze gereichen. Vielleicht erhöht dies das
geringe Verdienst dieser Arbeit, mag anch das öffentliche Urtheil über dieselbe
hente ganz anders ausfallen, als es dazumal lautete.
Bei uns ist jetzt ein Leben in Handel und Verkehr, wie wir seit vielen Jah¬
ren, seit der Bauerninsurrection in Galizien, nicht gehabt haben. Fässer, Kisten
und Ballen werden aus und eingeladen, die Lokomotive stöhnt, der Frachtfuhrmann
flucht, die Commis und Agenten flattern vielbeschäftigt und aufgeregt, wie Sper¬
linge, um den Grenzpfahl. Man kauft wieder in Oestreich; der erste Schimmer
des zurückkehrenden Vertrauens genügt, um eine colossale Waarenspedition in die
Handelsplätze des Kaiserstaats hervorzurufen. Freilich drängt den Kaufmann die
bittere Noth; der Krieg, der gefräßige, hat Alles verzehrt, was von Erzeug¬
nissen fremder Länder und von einheimischen Produkten ans den Lagern war;
Ungarn, das Vieles hergab, ist todt, jetzt ist der Wein dort viermal theurer
als in Wien, die Soldaten haben ihn ausgetrunken und die Fässer zerschlagen;
sein Getreide haben die Pferde zerstampft und seine Viehheerden sind in die Feld¬
kessel der Heere gesprungen, nur die Häute der Thiere waren in demselben Ver¬
hältniß billig, als die Thiere selbst theuer wurden. Aber auch Colonialwaaren,
Fabrikate und Manufacturarbeiten waren in Oestreich selten geworden und wurden
in Massen begehrt. Und der Markt von Trieft, der große Hafen Oestreichs für
die überseeischen Produkte, war durch die Kriegshändel im adriatischen Meer und
durch das Misere der Zeit muthlos und in seinen Vorräthen lückenhaft geworden.
So kam es, daß der östreichische Kaufmann nach Norden sah, und daß Breslau
auf einmal mit Aufträgen und Bestellungen von Galizien, Troppau, Olmütz u. s^ro.
überschüttet wurde. Und deshalb knarren jetzt an unserer Grenze, die seit Jahren
fast verlassen war, auf einmal die Näder zahlloser Frachtwagen, und wie durch
einen Zauberschlag ist in dem Froste des Herbstes ein frisches grünes Handels¬
leben aufgeschossen. In den Comptoiren Breslaus drängen sich die Agenten und
Briefträger und vor den Wa.irenhandlungcn haben sich friedliche Barrikaden von
ungeduldigen Kisten aufgethürmt. Es sieht aus, als wäre eine gute Zeit gekommen
für die Arbeiten des Friedens, und mancher geschäftige Christ und Jude preist die
emsige Gegenwart und segnet sie als die goldene Zeit, welche er seit einem Jahre
und länger erbetet hat; aber der erfahrene Kaufmann schüttelt doch den Kopf über
das ungestüme Treiben, das zu schnell kam, um lange auszuhalten, und sich so
sehr überstürzt, daß es nich't solid sein kann. Der Kaufmann in Breslau muß
sich sagen, daß ihm nur die Zeitverhältnisse einen momentanen Vorzug vor Trieft
gegeben haben, und daß der Vortheil, welchen ihm auch der gute Verkauf seiner
Waare nach Oestreich bringen kann, noch zweifelhaft ist. Denn zu eifrig wird
in solcher Zeit Vertrauen in Anspruch genommen und geschenkt: was mit der einen
Hand gewonnen wird, geht durch die andere verloren, und selten ist der Segen
bei einem Geschäft mit Ausgehungerten. — Aber der deutsche Kaufmann hat noch
einen sehr bestimmten Grund, seinen Verkehr mit dem östreichischen Handelsfreund
für ein gewagtes Geschäft zu halten. Dieser Grund liegt noch immer in den
Geldverhältnissen des Kaiserstaates, noch immer schwebt das Gespenst des Staats-
bankerotts über den Papierzetteln, mit welchen der Oestreicher seine Schulden
bezahlt, und die Finanzoperationen der kaiserlichen Regierung sind durchaus nicht
geeignet, die Hoffnung auf eine glückliche Lösung der Geldwirren aufkommen
zu lassen.
Eine überraschende Nachricht, welche unsere östreichischen Agenten in diesen Ta¬
gen uns zukommen ließen, erfüllt hier die Vorsichtigen mit einer neuen Sorge.
Ans den größern Handelsstädten, aus Brünn, Troppau, Lemberg, Krakau wurde
zu gleicher Zeit berichtet, daß die Banknoten dort selten werden und auf eine ge-
heimnißvolle Weise ans dem Verkehr verschwinden, während an ihrer Stelle die
dreiprozentigen Staatsnoten im Verkehr hervorquiyen. Es sei fast unmöglich,
klagen unsre Agenten, noch Banknoten aufzutreiben und als Zahlung über die
Grenze zu schicken. Da nun bei uns in preußisch Schlesien gar kein Vertrauen
zu dem kaiserlichen Papiergeld vorhanden ist und dasselbe im größern kauf¬
männischen Verkehr nur schwierig anzubringen ist, im kleinen natürlich gar nicht,
so wäre diese Veränderung der Zahlungsvaluta schon an sich sehr lästig, sie wird
aber gefährlich durch die Ursache, aus welcher man sie herleitet. Es erscheint
ohne Zweifel, daß die östreichische Regierung im Stillen ein finanzielles Manöver
durchführt. Sie hält die Banknoten in ihren Kasten zurück, tauscht dieselben ge¬
gen dreiprozentige Kassenscheine um und zieht die Banknoten an sich, um dieselben
der Bank zurückzuzahlen und so einen Theil ihrer Schuld gegen die Bank abzu¬
tragen. Die Operation ist sehr einfach und sicher, redlich aber gegen das Volk
und harmlos kann sie nicht genannt werden. Warum hat sich der Staat in der.
Zeit seiner größten Geldnoth von der Bank Noten verfertigen lassen, die er ihr mit
fünf Prozent verzinste, während er schon längst sich selbst unverzinsliches oder zu
Dreiprozent verzinsliches Papiergeld hätte machen können? Weil er wußte, daß
die Banknoten sich immer noch ein gewisses Vertrauen in der kaufmännischen Welt
erhalten würden, was sein eigenes Papiergeld durchaus nicht gehabt hätte. Denn
so schädlich und verderblich anch die Herrschaft der Banknoten im Vvlksverkchr
ist, immer bürgen für dies Papier noch die reichsten und klügsten Geschäftsleute
Oestreichs, die Actionäre der Bank. Sie bürgen dafür mit ihrem Kredit, ihrer
Ehre und ihrem ganzen Vermögen. Als Oestreich in diesem Frühjahr in Ungarn
schwach wurde, fielen die Banknoten zwar in Deutschland bis auf 80 Prozent,
als mau aber noch 80 Gulden Silber für 100 Gulden in Banknoten zahlte, that
man dies nicht, weil man noch 80 Prozent Vertrauen auf Oestreichs Zukunft hatte,
sondern weil mau noch 80 gegen 100 parirte, daß die kaufmännische Schlauheit
der Bankactionäre im Stande sein werde, das äußerste Verderben von diesem In¬
stitut abzuhalten. Dies relative Vertrauen, welches die Bank genießt, hat die
Regierung benutzt, als sie Geld brauchte, jetzt schiebt sie dem Volke heimlich ein
schlechteres Papier unter, ihr eigenes, welches in den Handelsplätzen des Auslan¬
des gar kein Vertrauen genießt, weil es gar keine Garantie darbietet. Dies ist
ein Unrecht gegen das Volk und eine unglückliche Maßregel für den Staat selbst.
Denn die dreivrozentigen Kassenscheine sind ein monströses Papiergeld, wel¬
ches weder irgend einen Fond zur Deckung, noch in seiner Ausdehnung irgend
eine andre Schranke hat, als die souveräne Willkür und die ungeheuren Be¬
dürfnisse der Negierung. Kopflos und ohne Uebersicht hat die Negierung dasselbe
schon jetzt in großen Massen fabrizirt und wird dasselbe in noch größerer Masse
in Zukunft anfertigen müssen, da die Ausgaben Oestreichs uoch lange nicht durch
die Einnahmen gedeckt werde» können, und der östreichische Staat jetzt
gar kein anderes Mittel hat, sich Geld zu verschaffen. Daß ihm An¬
leihen nichts helfen, hat die letzte bewiesen; sie ist bis jetzt in den Augen eines
soliden Geldmauns wenig mehr, als ein schlechtes Scheingeschäft. Davon spä¬
ter. — Die Kassenscheine der östreichischen Regierung aber sind trotz ihrer drei Pro¬
zent Zinsen gerade um soviel schlechter, denn die Banknoten, als das Vertrauen
zur geschäftlichen Klugheit der Regierung geringer ist, denn das zur Klugheit der
Baut. Und diese Gleichung ergibt einen großen Unterschied zwischen beiden imaginären
Werthen. Ja es läßt sich voraussehen, daß der Staatsbankrott für Oestreich un¬
vermeidlich wird, vielleicht schon im nächsten Frühjahr ausbricht, wenn die Regie¬
rung diese Maßregel, die Banknoten in der Stille gegen Staatsnvten auszutau¬
schen, in Großem zur Anwendung bringt. Wenn der östreichische Kaufmann und
Fabrikant seine Waaren und Rohstoffe nicht mit Silber (davon kann vorläufig gar
nicht die Rede sei») und nicht mehr mit Banknoten, sondern mit östreichischen Kas¬
senscheinen bezahlen muß, verliert er seinen Kredit im Auslande, all-
mälig, aber unvermeidlich; und an der immer drohender werdenden Eutwerihung
dieser Scheine im Inlands verliert er auch sein Vermögen. ,
Und deshalb hat das plötzliche Verschwinden der Banknoten den deutschen
Waarenhäudler so betroffen gemacht. Allerdings ist möglich, daß man sich über
die Ursachen dieses Verschwindens täuscht, und daß die neue Anleihe ein freiwil¬
liges Strömen der Banknoten in die Seiteukanäle des ministeriellen Geschäfts
verursacht hat; aber schon die schnelle Furcht der Handelswelt ist ein Beweis, wie
gefährlich die Geldverhältnisse der Monarchie sind und auf wie schwachen Füßen
das Vertrauen zum Staate steht, welches doch die Grundlage alles Verkehrs
bilden muß.
In der That thut der östreichische Kaufmann gut, die Augen zu schließen,
sich in die Geldverhältnisse des Staates so leicht als möglich zu schicken und auf
nichts Anderes zu achten, als aufhellt eigenes Geschäft. Denn wenn er in die
Zukunft denkt und an die Abhängigkeit, in welcher er als Einzelner vou den Ver¬
mögensverhältnissen seiner Nation steht, so muß ihm sehr schwül zu Muthe wer¬
den. Keine menschliche Einsicht kann absehn, wie sich die Geldverhältnisse im Volk
bessern sollen, und der Geschäststreibende ist wie ein verschlagener Seemann auf
wildem Meer, rings von Klippen umgeben. Es war schon weit gekommen, als
man die Banknoten mit ihrer mangelhaften Sicherheit, als die beste Valuta
schätzen und suchen lernte; schon der gänzliche Mangel an Silber- und Kupfergeld
hat so viel Demoralisation, so große Verluste und einen so gewagten und un¬
solider Geschäftsbetrieb hervorgerufen, daß das allein schon für ein ungeheures
Unglück zu halten wäre. Aber außerdem sind die Taschen der Käufer und Ver¬
käufer mit unzähligen bunten Papierfetzen gefüllt, darunter Kreuzernoten von
Wnrstfabrikautcu, Bierwirtheu, Seifensiedern, Restaurateuren ?c. Fast jeder Fa¬
brikant und kleine Gewürzhändler hat seine Noten emittirt, die Verluste und
Gaunereien bei der einstigen Einlösung derselben lassen sich noch gar nicht über^
sehn. Ist doch der Staat bei der Fabrikation seines Papiergeldes mit gutem
Beispiel vorausgegangen, er hat seine Noten eben so ins Blaue hinein gemacht, wie
die meisten kleinen Händler. Eine vollständige Zersetzung und Auflösung des
geschäftlichen Verkehrs hat bereits in den untern Schichten des Volkes begonnen.
Die Regierung hat kein Mittel, dieser Fäulniß zu steuern. In den obern Re¬
gionen hat sie versucht, durch eine neue Anleihe die Existenz des Staates zu retten.
Wir an der Grenze können uus noch nicht überzeugen, daß die neue Anleihe von
71 Millionen Gulden viel Silber in die Negierungskassen führen wird. Bis jetzt
sind es fast nur östreichische Bankiers, w-elche sich bei der Anleihe betheiligt ha¬
ben; d. h. sie haben übernommen, gegen Cvmmisstonsgcbührcu das Anlehn auf
dem Geldmarkt unterzubringen. Das wird voraussichtlich nicht gelingen; denn
selbst der gedrückte Cours von 84 pCt. in Wien ist immer noch ein künstlicher.
Auf auswärtigen Börsen hat diese Anleihe fast gar keinen Cours, sie hat nur die
Wirkung gehabt, die üprozentigen Metalliques um einige Prozente herunter zu
drücken. Und doch sehen die Bedingungen dieser Anleihe bereits einem Selbst¬
mord des Staates sehr ähnlich. — Jetzt hört man, freilich ans unsicherer Quelle,
daß die Regierung den Entschluß gefaßt hat, die Kossuthnoten für ganz ungiltig
zu erklären. Es war vorauszusehn, daß sie zuletzt zu diesem Resultat kommen
würde. Die Annullirung dieser ungarischen Jnsurrectionsscheine vernichtet aller¬
dings das ganze kleine Verkehrsleben von Ungarn, und gibt Tausende von Fami¬
lien der Verzweiflung, ja dem Hungertode preis; aber die Regierung wird da¬
durch von einer neue» Schuldenlast befreit, deren Größe sich noch nicht übersehn
läßt. Wahrscheinlich hätten 20 Millionen Gulden hingereicht, die Noten unter
billigen Bedingungen einzulösen, wenn man die großen Summen von Kossuthnoten,
welche bereits verbrannt oder untergegangen sind, abrechnet. Für die Regierung
aber war es bequemer, mit den confiscirten Gütern der ungarischen Magnaten
die eigenen Schulden zu bezahle«, als dieselben zu Gunsten Ungarns zu verwen¬
den. Sie hat nur nöthig, noch etwa zwanzig reiche Grundbesitzer, wie Graf
Batthyanv war, zu hängen und ihre Güter zu confisziren, und sie wird die
Kosten d«s ungarischen Krieges mit Zinsen heransschlagen. Allerdings hat auch
dieser Weg, von welchem das Ministerium wenigstens durch keine skrupulöse Ge¬
wissenhaftigkeit zurückgehalten wird, sein schlüßliches Bedenken. Die Regierung
hat den Krieg mit Papiergeld geführt, sie wird Erdschollen dafür zurück erhalten,
die eben so todt sind, eben so wenig Cours und Umsatz haben werden, als die
Casseuzettel des Ministeriums Schwarzenberg.
Traurig und verhängnißvoll sind die Geldverhältnisse Oestreichs. Die meisten
unserer Geschäftsfreunde im Kaiserstaat vermeiden es, Reflexionen darüber anzu¬
stellen, und vertrauen gern auf das Glück ihres Staates. Wir aber Schlesier an
der Grenze, freuen uns aus solchen Gründen nicht von ganzem Herzen darüber,
daß die Conjuncturen wieder eine rege Geschäftsverbindung zwischen uns und
dem engverbrüderten Nachbarstamm zulassen.
Der Kaiserstaat hat sich aus der Scylla, aus den ungarischen Säbeln gerettet,
er schwankt jetzt in der Charybdis, dem Strudel der Börsencourse. Jetzt ist der
Kaufmann Herr über Leben und Tod eines großen Reiches geworden und von
den Federstrichen, welche in einer finstern, verstaubten Comptoirstube zu Frankfurt,
Amsterdam oder London überlegt werden, hängt jetzt das Schicksal der Habsburger
und ihrer Regierung ab. Die neue Gefahr Oestreichs ist größer als die alte.
Wie aber auch der Staat der Habsburger sich aus dieser finanziellen Brandung
rette, Finanzminister v. Kraus ist nicht «der Odysseus, welcher dem Fahrzeug her¬
aushilft. —
Halbwegs zwischen Wien und Linz beginnen die Donauufer sich zu ansehn¬
lichen, laubwaldrauschenden Hügeln zu erheben. Wir verzichteten auf den Schutz
des Verdeckzeltes und ließen uns in der Nähe des Steuerrades auf Feldstühlen
nieder, um die Aussicht auf die schöne Thallandschaft vollständig zu genießen.
An Muße dazu fehlte es nicht, da wir stromaufwärts dampften. Meine Reisege-
fährten waren mir fremd; der erste, der sich mir freundlich näherte, war ein Wiener
Bürger und Hofparsümeriehändler, Namens Rvspini, welcher trotz seines wat^
scheu Namens das reinste Lerchenfelder Deutsch sprach. Er bot mir eine Cigarre
an, „weil die Natur gar nicht schmecke, wenn man sie nur so mit leerem Maul
anschaue," stopfte sich selbst die behaglichere Meerschaumpfeife und spannte gegen die
Sonne einen großen grünen Regenschirm aus. Wir sprachen vou Naturschönheiten
im Allgemeinen und ich erzählte von meinen Spazierreisen. „Na," sagte er, „ich
denk', der berühmte freie deutsche Rhein ist nicht um ein Tröpferl schöner wie
unsere Donau." — „Sie haben den Rhein wohl öfters befahren?" fragte ich.—
«Kein einzig« Mal," und er zeigte, vertraulich lächelnd, die großen perlweißen
Zähne; „bin in meinem Leben nicht draußen gewesen. Ich hab immer gehört,
ein Oestreicher braucht kein' Schritt aus'in Land zu thun, um was Besondres
schaun, und das muß wahr sein. Was kann's denn dort mehr geben wie hier?
A Wasser und a Berg, a Berg und a Wasser! S'Gold wachst dort ah uit auf
die Banner und mit'n Wein muß sich der Bauer plagen wie bei uns. Wie sin-
den's denn diese Partie?" — „Reizend!" — „Nun also! Ich kann Sie versichern,
denn mir Haben's Viele gesagt, die draußen waren, und ich glaub's: vom Rhein
machen die Leut nur so viel Wesens, weil er ein Ausländer ist, aber unsere
Donau ist grad so schön." — „Und Sau ') ist grad so schön wie Donan." Mit
diesen Worten mischte sich ein Mann ans dem dritten Feldstuhl in's Gespräch; ein
beleibter Gesell mit braunem, fettglänzenden Gesicht und rothem Fes auf dein
Kopf. „Och!" fuhr er begeistert fort und mit den Lippen schmatzend: „Dos ist
Land! Wein umsonst, Kukurutzso hoch wie ich, und die Schwein'! Da sein
so fette Morast, wo sie drin liegen und füttern sich. Hoden's ein' Speck im
Leib, so dick, daß manchmol ist ganzes Monat ein Rattennest uuter die Haut,
und Schwein spürt nix." — „Gar nix?" fragte der Wiener. — „Ja, wundert
sich schon ein bissl und dann wälzt sich, aber ist ganz fidel. Und Drau ist grad so
wie San, und beide z'sammen sein noch viel schöner wie Donau." — „Ja, ja,
ni' glaub schon," sagte Rospini aufstehend und steckte den Pfeifenkopf sorgsam in
<'.> Lederbeutel. Mir fing der Croat an interessant zu werdeu, allein der Wiener
^ miet unter das Verdeckzelt. „Kommen Sie" flüsterte er; „mir scheint, s'ist
i:o.v mehr solche Nation da hinten. Vergleicht der unsere Donau mit der Sau!
Ich bin ein guter Oestreicher und am End send's auch kaiserliche Unterthanen,
aber verzeih mir Gott die Sünd, ich kauu die Naatzen, Krabaten, Schklavaken,
und wie das Gesinde! sonst noch getauft ist, nicht ausstehn. Früher meint man,
es wären da unten neben denen Magyaren blos noch ein paar hundert Schwein¬
schneider und Topfbinder, die bei nus in die Vorstadt' betteln kommen, aber seit
vorigem Jahr hat sich das Zeug in die Millionen vermehrt, wie die Juden, und
arg'zogen wie die englischen Retter, und darauf Haben's nun ein' unsinnigen Na¬
tionalstolz. Geben's Acht, die heißen Alle durch die Bank — pitsch und — patsch
und sind doch hunderterlei Sorte, daß sich der Teufel auskenne. Und ein Je¬
des will was Aparts für sich haben. S'thät Noth, daß der Kaiser ein jedem
von die kleinen Lumpenvölker eine aparte Wienerstadt baute, akkurat so groß und
schön wie unsere, mit'n Prater, mit'n Theater und mien Stephansthurm hinter
ein jeden nationalen Misthaufen. Sonst Haben's nit genug Gleichberechtigung!"
Rospini hatte nicht ganz Unrecht, obwohl gerade der dicke Banaler mit sei¬
ner eigenthümlichen Ansicht vom Malerisch-Romantischen den Zorn des Wieners
nicht verdiente. Oestreich ist bekanntlich von einigen zahmen und mehreren wil¬
den und halbwilden Völkerschaften bewohnt. Die Führer der letzteren faßten nun
aufangs das neue Schiboleth Oestreichs, die Gleichberechtigung, höchst schnurrig
auf. Nicht gleiches Recht, zu säen und zu ernten, sondern ganz gleiche Früchte,
und zwar ohne gesäet zu haben, erwarteten sie. Den Kaiser dachten sie sich als
einen großen Kommunisten, der ihnen versprochen, die Ungleichheiten, welche Gott
bei der Erschaffung Oestreichs gemacht, mit unfehlbarer Gerechtigkeit zu verbes¬
sern; die Negierung als eine Apotheke, wo unter die armen Völker Wohlstands¬
essenzen, Schönheitselixire, Bildungssalben und sonstige wunderthätige Hausmittel
zu gleichen Dosen ausgetheilt werden müßten. Der Gorale oder Knmane schmiert
sich das kaiserliche Geschenk über die Haut, und im Nu steht er auf derselben
Stufe mit dem civilisirtesten der östreichischen Volksstämme. Falls jedoch das Mit¬
tel nicht augenblicklich wirkte, müßten sämmtliche Völker so tief heruntersteigen,
daß sie den Goraleu oder Kumanen nicht'um einen Gedanken überragten. Das
letztere Ziel konnte, bei folgerichtiger Ausführung dieses Communismus, glücklich
erreicht werden, denn die possierlichen Wilden hatten sich mit großem Triumph ei¬
nes andern Losungswortes bemächtigt, welches da heißt: die Majorität entschei¬
det. Da nun die überwiegende Mehrzahl der östreichischen Staatsbürger barfuß
läuft und einen schrecklichen Widerwillen gegen Seife und deutsche Bildung be-
sitzt, die Minorität aber ans den verhaßten deutschen Schulmeistern besteht, so er¬
hob sich unter der hoffnungsvollen Völkerjugend das Geschrei: die Stiefel aus-
ziehn, die Bücher ins Feuer werfen, — sie verletzen die Gleichberechtigung, —
die Strümpfe ausziehen, nix Deutsch lernen, Ferien geben, Vivat die Gleichbe¬
rechtigung und die Majorität! — Beim Tschernvbog, ich übertreibe nickt oder mir
ein klein wenig. Wurde doch in einem ultranatioualen xschen Blättchen große
Beschwerde erhoben, daß die Deutschöstreicher Nichts ans dem Xschen übersetzten,
während die gesammte xsche Literatur aus Übertragungen aus dem Deutschen be¬
stehe. Wo da die Gleichberechtigung stecke, und wie die Regierung solchen Unfug
ruhig dulden könne? Ein ypsilonscher Patriot verlangte, daß die Deutschen in
Oestreich so lange nichts von Schiller und Göthe lesen sollten, bis auch die Up-
silonianer zwei solche Kerle haben würden. Gleichberechtigung! Aus einer neu
meublirten Hochschule in Oestreich hat man die geniale Einrichtung getroffen, daß
alle vorzutragenden Wissenschaften erst ins Weißrothgrüue übersetzt werden sollen, denn'
sie auf deutsch, welches in jener Gegend recht gut verstanden wird, zu studiren,
wäre gegen die Gleichberechtigung. Nun ist die weißrothgrüne Sprache ein Aschen¬
brödel unter den Zungen Europas; sie singt allerliebste Volkslieder, aber um ei¬
nen wissenschaftlichen Gedanken auszudrücken, einen philosophischen Satz nachzn-
lallen, ist sie viel zu arm und unschuldig. Man verschreibt daher einen Haufen
Sprachküustler und Schriftgelehrter aus allen östreichischen Weltgegenden, aus den
Karpathen, vom Pruth und dem Dniester, damit sie die gehörige Anzahl neuer
Worte erfinden, welche nöthig ist, um die Gesammtweisheit der Erde auszuspre-
chen. Dieser Schöpfungsprozeß dürfte einige zwanzig Jahre dauern, aber das
schadet Nichts, denn die Sprache ist dort zu Laude uicht Mittel der Bildung,
sondern umgekehrt. Vor der Hand also werden blos die übersetznngsfähigsten Bruch¬
stücke aus den alten Klassikern und die faßlichsten Kapitel aus Philosophie und
Geschichte aufgetischt werden. Fragmentarische Philosophie ist in der That ein
kaiser-königlicher Gedanke. Das geschieht aber dem Tacitus und Sophokles, dem
Kant und Cartesius schon recht. Warum waren sie nicht prophetisch genug, um
das einige und freie Oestreich zu ahnen und ihre Werke darnach einzurichten?
Bewundernswerth bleibt jedenfalls die edle Enthaltsamkeit, ja die Selbstaufopfe¬
rung der patriotischen Jugend, welche sich in den Willen der Regierung ohne
Murren fügt und gerne in qualvollen Wissensdurst verschmachtet, damit nur ein
künftiges Geschlecht im Stande sei, aus ungetrübter weißrothgrüner Quelle den
Geist zu laben.
Jenem communistischen Aberglauben fiel einer seiner eifrigsten Apostel selbst
als Opfer. Wer kennt nicht das tragische Ende des Grafen Stadion? Die Quelle
seines Unglücks ist in Wien öffentliches Geheimniß, aber, so viel ich weiß, ist
noch kein Wort darüber ins Ausland» gedrungen. Um die polnische Nemesis ans
dem Wege zu räumen, wagte Stadion einen kühnen Griff. Er faßte ein Stück
galizischer Erde, unter deren Bewohnern sich Viele griechisch bekreuzen anstatt
katholisch, knetete daraus einige hundert Tausend Staatsbürger, blies ihnen
das Zauberwort: Gleichberechtigung, in die Nüstern, und siehe da, im Schat¬
ten des babylonische» Thurmes lagerte plötzlich eine neue, unerhörte Nation: die
Nuthenen, und ballte die Faust und stotterte inartikulirte Flüche gegen die re¬
bellisch gesinnten Polen. Die gefürchtet« Nemesis lebt aber immer noch und wandte
sich zuerst gegen den Volkscrfinder. Stadion hatte seinem Geschöpf eine respek¬
table menschliche Sprache verheißen, und bis zur Anfertigung derselben dachte er
es in die deutsche Schule zu schicken. Das war eine deutsche List, eine plumpe
List, und sie schlug fehl. Dem Grasen ging es wie dem Zauberlehrling, nur daß
ihm kein Meister im Augenblick der Noth zu Hilfe kam. Die Rutheucn ließen
nicht ab von ihm, sie verfolgten ihn, wo er ging und stand; ob er im Staatsrath
saß oder sein Lager suchte, im Wachen und Träumen erschienen sie, angeführt von
weißbärtigen Popen, würfen sich ihm zu Füßen, hingen sich an seinen Rocksaum
und schrieen: Du hast aus uus ein Volk gemacht, nun gib uns Ohren- und
Nasenringe, wie andere Völker haben, gib uns eine glorreiche Vergangenheit, gib uns
Ahnen, Fürstengrüfte, Genies und Doctoren und eine geflügelte Sprache, damit wir
gleichberechtigt austreten und uicht so bettelhaft cinherschleichen zwischen den Kin¬
dern des weißen Czars und den stolzen Polacken. — Der Graf ging und riß ein
schmutziges Blatt aus der Geschichte Oestreichs mit der Ueberschrift 1846, reichte
es ihnen und sagte: Da habt Ihr! Szela sei euer Ahnherr, und der Vernichtungs¬
krieg gegen euere Edelleute, ihre Weiber und Kinder sei euere Historie; sie wiegt
die glorreichen Thaten vieler Fürsten anf. — I» den dämonischen Kreaturen war
jedoch ein unbändiger Ehrgeiz erwacht; sie begnügten sich nicht mit ihrer Historie,
sondern kamen wieder und verlangten nationale Werke der Kunst und Gelehrsam¬
keit, womit sie sich brüsten könnten; auch eine Handvoll Witz begehrten sie, damit
sie heiter sein könnten und liebenswürdig, wie ihre feindlichen Brüder, die Po¬
len, und sich ihr elendes Dasein verschönern in den kothigen Dörfern und lang¬
weiligen Winternächten Galiziens. — Der Graf geriet!) in Verzweiflung, er bat
und beschwor, aber keine Ausflucht nützte, denn sie drohten im Weigerungsfalle
mit dem Popen aller Popen in Se. Petersburg. Und der Arme ging und
arbeitete im Schweiße seines Angesichts und wollte dem Volke seiner Schöpfung
eine Blumenlese aus den künftigen Klassikern Nutheniens oktroyiren. Die März-
vcrfaffnng war Kinderspiel gegen dieses Zauberwcrk; daß er jedoch kein Zauberer,
das wurde Stadion zu spät inne. Angst und Sorge über sein tollkühnes Be¬
ginnen erzeugten einen bösen schwarzgelben Wurm, für den die Naturforscher noch
keinen Namen gefunden haben, und dieser Wurm zerstörte allmälig das Gehirn
des Grafen; keines der schlechtesten, keines der unedelsten in Oestreich. —
Kindisch wie der Irrwahn war, trug er dem Hause Habsburg doch reiche Früchte,
denn unter dem Zeichen der Gleichberechtigung, welche Tausenden die Verwirkli-
chung ihrer Luftschlösser bedeutete, erhoben sich die Südslaven, und packten den
stolzen Magyar von hinten bei den lockigen Haaren, während er von vorn den
Kanonen und Bayonetteu des Kaisers trotzte. Nach dem Tedeum über die be¬
siegte Revolution wird man den dienstreichen Aberglauben schon zu bannen oder
mit patriarchalischer Schlauheit zu benutzen wissen. Es kommt ja nur auf die Aus¬
legung a». Wo die Gleichberechtigung Schläge einbringt, wird sie gewissenhaft be¬
obachtet. Ich spreche von Schlägen im buchstäblichen Sinn des Wortes. Die
Deutschöstrcicher wären reif oder doch zahm genug, um die Abschaffung der To¬
desstrafe zu vertragen, allein die Geschichte hat sie mit Völkern zusammengekoppelt,
so kindlich, so waldursprünglich, daß sie die väterliche Liebkosung mit Stock und
Peitsche nicht wohl entbehren können. Als die Kroaten unter dem ritterlichen
Baums im October 1848 durch Ungarn zogen, wurden im Lager von Jellachich
jeden Tag durchschnittlich „tausend Prügeln ausgetheilt," um die Helden von Ba-
naticn an einige Mäßigkeit im Rauben und Stehlen zu gewöhnen"). Mit welchem
Erfolge weiß ich nicht, aber die Nothwendigkeit des Harems scheint vorhanden.
Soll man nun die Enkel von Held Marko Obrenovitsch, die Söhne der Römer
und Dacier allein prügeln und die Deutschen nicht? Das würde die Gleichbe¬
rechtigung verletzen. Also hat der Wiener Freiwillige bei Custozza, der deutsche
Sieger von Novara und der Erstürmer Wiens die Ehre des Haslingers sich zurück¬
erobert, die ihm der Leichtsinn revolutionärer Studenten rauben wollte. Wieder
pfeift der Haselstock durch die Lüfte und glorreich, wie in der guten alten Zeit,
sausen die Spießruthen auf den Rücken der „über alles Lob erhabenen Armee"
hernieder. Der Kroäk und der Serbe, der Walach und Ruthenc, sie lausen mit
Wollust ihre Spießruthen, sofern sie nur wissen, daß auch für die Kinder der
verhaßten deutschen Schulmeister ein gleichberechtigtes Birkenwäldchen gewachsen ist.
Jetzt packt euch, ihr garstigen Geschichten ans Wien! Wozu geh ich auf Reisen,
als um euch aus dem Sinn zu schütteln! Rospiui hat sich auf eine Bank hingestreckt
und lächelt noch im Schlaf den Himmel selbstgefällig an. „Schaumich an, goldene
Sonne, ich bin ein Wiener!" Ich versteh ihn jetzt. Voriges Jahr war er radi¬
kal mit den Studenten, mit den Ministein und dem Kaiser, und wenn er sich in
der schmucken Nationalgarten-Uniform im Spiegel besah oder gar im Takt des
Strauß'schen Marsches über den Graben und Kohlmarkt marschirte, so jubelte sein
Herz und sagte: „Es gibt nur ein Wien und von hier muß die Freiheit und
Einheit ausgehen, denn wo wird schöner marschirt, musizirt und revvlutionirt?
Deutschland bewundert, der Osten fürchtet uns. Wien wird die Hauptstadt der
Welt!" — Heuer hat er die Uniform ausgezogen und den Radikalismus auch,
nur ein bischen Slavenhaß klebt ihm noch von damals an. Statt für die seu-
deuten schwärmt er für Vater Radetzky und den jungen Kaiser, den die Minister
„unsern kleinen" nennen. „Unser Kleiner macht sich; es vergeht kein Jahr, so
wird er in Frankfurt a. M. gekrönt." Manchmal wirft er im Kaffehause einen
Blick ans die Karte von Ungarn und zählt die Stecknadeln mit kaiserlichen Fähn¬
lein, welche die Stellungen der Slnuee bezeichnen, dann denkt er an die entschwun¬
denen Silberzwanziger, und stutzt eine Weile, — doch bah! „Es gibt nur ein
Wien und von hier muß der Friede und die Ruhe ausgehen, denn wo wird stär¬
ker regiert, assentirt und kommandirt? Deutschland fürchtet, Rußland bedient uns.
Wien wird die Hauptstadt vou Mitteleuropa — wenigstens."
Ich will die Zeit, da er schläft, benützen, um ungestört ein Wörtlein mit der
Donan zu reden; es könnte vielleicht sein Nationalgefühl beleidigen, wenn er es
anhörte.
Auf dem Schnabel des Boots liegen in Reih und Glied, barfuß und die
blankattunenen Schnupftücher über den Gesichtern, schlafende Schiffleute. Sie ha¬
ben ihre kleinen Obst- und Salzfahrzeuge in Wien zerschlagen, als Holz verkauft
und fahren mit Dampf aufwärts, um neue zu zimmern. Hart am rechten Ufer
schleppen sich plumpe, niedere Frachtschiffe fort, von schwerhufigen Rossen mühsam
gezogen. Der Leinpfad bleibt nicht auf demselben Ufer, ein oder zwei Mal zwi¬
schen Wien und Linz müssen Fracht, Schiffer und Pferde auf das andere Ufer
übersetzt werden, um weiter zu kommen. Vor dem Donaukanal bei Nußdorf, ein
gutes Stück vor Wien, müssen bei kleinem Wasserstand die schweren Schiffe aus¬
laden, bei hohem Stand im Frühjahr macht der Kanal die Ueberschwemmung ge¬
fährlicher. So wenig entspricht er seinem Zweck. Siehst du, stolze Donau, in
welch schlimme, verwahrloste Wirthschaft du mit so jäher Ungeduld dich hereingestürzt
hast. Seit Kaiser Joseph, der die Strudel- und Wirbelklippen zu sprengen an¬
fing, ist kaum das Nothdürftigste geschehen, um deine gewaltige Mähne zu kämmen,
deinen starken Rücken geschmeidiger, den Menschen freundlich und dienstwillig zu
machen. Das Alles soll erst werden. Kein Segel sah ich blinken den lieben lan¬
gen Tag hindurch. Wolken und wilde Gänse flattern hie und da über einem
glücklich zerstörten Raubnest, wie Dürrenstein und Greifenstein, — es muß wenig
Rittcroolk hier gehaust haben, denn die Burgen sind dünn gesäet, — oder über
dunklen, waldgekrönten Felskammer, welche stellenweise das Thal von der Welt
absperren wollen, und dies sind die schönsten Punkte. Die Landschaft athmet und
seufzt dumpfe Einsamkeit, still brütende Ruhe, wie das Gemüth einer oberöstrei¬
chischen Frau, die fleißig zur Beichte geht. Auch die Flecken und Dörfer, an
denen wir halten, starren schüchtern, fast lautlos den Dampfer an, als wär's
eine wildfremde Erscheinung. Ist denn kein Volk hier, das bei der Arbeit singen
kann? Und wo sind die traulichen Kapellen und Abteien, wo die steinernen Blu¬
mengärten gothischer Baukunst? Hat das Mittelalter hier kein sinniges Angebinde
hinterlassen, um sich mit der lichteren Nachwelt zu versöhnen? An einigen Klöstern
schwammen wir vorüber, großen, stattlichen Bauten, wie Klosterneuburg und Moll,
aber sie sehen breiten Prälaten ähnlich, die weltliche Tracht angelegt haben, um
in moderne Gesellschaft zu gehen; jedes wie zwanzig rheinische Niesenhotels, an-
eincmdergeschoben; ohne Schmuck zur Weide andächtiger Augen, ohne andern Reiz
als für die Phantasie des hungrigen Wanderers, den die zahllose» Scheiben und
die dicken Schornsteine auf den Umfang der Küche und die Tiefe des Kellers
schließen lassen.
Vielleicht, wenn sie einst in Trümmern liegen, machen sie eine romantischere
Miene und trage» wesentlich zur Erheiterung der Landschaft bei; Burgen und
Klöster sind nur als Ruinen schön. Nein, stolze Donau, deine Macht und Größe
in Ehren, aber mit dem grünen Rhein dich zu vergleichen, ist eine Blasphemie.
Dir fehlt der Duft der Sage, die Sonne der Gegenwart, die Musik des Lebens;
dir fehlt der Geist über den Wassern.
Der Rhein wird auf seine ältern Tage ein Holländer, ein Philister, und das
ist nicht schön von ihm; aber du, mein Gott, du wirst ein Türke, ja sogar ein
halber Russe, und das ist nicht nur nicht schön, sondern eine wahre Todsünde.
Mag sein, daß die Wildniß dich besser kleidet. Da unten, bei den Walachen und
Raizen, wo man Sichel und Sense zum Kopfabschneiden braucht, wo Niemand
in deinen Fluthen badet, als Sonne, Mond und Sterne, Niemand sich wäscht,
als wer zufällig ertrinkt oder ertränkt wird, auf der endlosen Haide, da liebst du
es wohl, dich einsam und zügellos durch die Nacht zu wälzen, trunken von deiner
eigenen grauenvollen Schönheit. Deshalb rauschst du so ungestüm und eilst in so
jähen Sprüngen, daß du, Sand und Schlamm aufwühlend, deine Farbe trübst
und deinen Saum beschmutzest. Geh, du bist ein uncivilistrtes Wasser und in
deiner dunkeln Tiefe mögen bauchige Karpfen wohnen und Vielfräße von Hechten,
aber an zaubrische Nixen und melodische Wasserfeen wird hier kein Menschenkind
glauben, so wenig wie ich vor der Hand an das großdeutsche Märchen glaube von
deiner Bedeutung für den orientalischen Handel.
Ich thue dir Unrecht, stolze Dona». Dein Rauschen bedeutet Trauer, dein
Wirbeln und Hasten bedeutet den Schmerz einer armen Dirne, die frühzeitig fort
muß, um in barbarischer Verbannung aufzuwachsen. Dein Wasser ist trübe wie
die Zukunft der Völker da hinten. Kein Diplomat und kein Weiser vermag ihr
auf den Grund zu schaue«. Ich aber segne mit dankbaren Blicken das Dampf¬
bad, welches mit jedem Umschwung mich reineren Lüften entgegenführt.
Von den volksthümlichen Helden der Magyaren hat wenigstens einer, Klapka,
sich in den Hafen der Sicherheit gerettet. Mit einem Zwangspaß „auf Lebens¬
zeit" aus Komorn ins Ausland verwiesen, flog er auf der Eisenbahn nach Ham¬
burg, um von dort nach England überzusiedeln. Wo er rastete, begrüßten ihn
die Freudenrufe der Liberalen, und mit Stolz und Freude nahm der Gerettete ihre
Grüße entgegen. Wohl ist er glücklicher, als sein Freund Görgey; ihm blieb die
Seele rein von jener verhängnißvollen That, welche wir, die Zeitgenossen, verdam¬
men oder preisen, über welche es aber uur zwei Richter gibt, die Zukunft und
das eigene Gewissen des Ungarn. Furchtbar müssen dem Magyarenhäuptling Gör¬
gey die Tage in seiner Verbannung zu Klagenfurt werden, wo er aus den öst¬
reichischen Zeitungen liest, wie seiue Gefährten dem Strang oder der Kugel ver¬
fallen, weil er es für nützlich hielt, Ungarn von Kossuth zu scheiden. Hat er ge¬
handelt nach bestem Gewissen, uneigennützig, in reiner Absicht, so wirds ein tie¬
fer, bitterer Schmerz für ihn werden, daß Alles so ganz anders gekommen ist,
als er träumte; war aber etwas niedriges in seiner Seele an dem Tage, wo er
sich den Russen ergab, so werden aus den Leichenhügeln zu Pesth und Arad die
Erinnyen seiner That aufsteigen und den Rest seines Lebens erfüllen. — Unterdeß
macht er Besuche bei östreichischen Gutsbesitzern und man rieth ihm freundschaftlich, sich in
der Gegend von Klagenfurt anzukaufen. Dagegen sitzt sein Gegner Kossuth bleich
und zerschmettert ans einem ärmlichen Polster zu Widdin, die Augen flehend nach
England gerichtet, müde seines Lebens, an der Zukunft seines Vaterlandes ver¬
zweifelnd, argwöhnisch auf die Politik seiner mürrischen Gastfreunde lauschend;
und eben dort liegt Bein, mit durchlöcherter Haut und zerfetztem Fleisch, sein Leib
eine große Wunde, aber seine Seele trotzig und ungebeugt wie immer.
Von Dembinski erzählen sie, daß er jetzt tagelang schweigend neben ihnen
sitzt und Tokayer trinkt. Guyon, den Dritten, hat der englische Gesandte frei
gemacht von der Gastfreundschaft der Türken. — Glücklicher, als alle diese ist
Klapka, er hat seinen Ruhm und Ruf in die Freiheit gerettet und vor ihm liegt
ein neues Leben offen da. — Er soll die Absicht geäußert haben, die Memoiren
dieses Krieges zu schreiben. Ein gutes Unternehmen! Nie hat es einen Feldzug
gegeben, der so reich an geheimnißvollem Detail, an wunderbaren Thaten und
unbegreiflichen Fehlern war, als dieser. Aber nicht nur als geschichtliche Bege¬
benheit ist er interessant, auch sür die Kriegskunst ist die Kriegführung in dem¬
selben ein Ereigniß. Es war ein Kämpfen mit Kanonen und Husaren, die In¬
fanterie der Ungarn war zu grün und zu schwach, um sicher zu sein, da brachten
tels Termin und die Gewohnheit diesem Reitervolk eine sehr einfache, aber den
Oestreickern imponirende Art der Schlachtansührung. Sie warfen die alte Napo-
leonische Theorie, 3 Kanonen auf 1000 Mann, über den Haufen, vermehrten die
Zahl ihrer Feldgeschütze in's Unerhörte und gewannen eine Anzahl Schlachten da¬
durch, daß: sie mit ihrer Infanterie den ersten Angriff machten, dicht hinter ihr
die berittenen Batterien aufführten, bei ernsthaftem Widerstand des Feindes die
Honvedbatallwne sich öffnen ließe», durch ein furchtbares Geschützfeuer aus der
Nähe den Feind decontenancirten und in die Betroffenen mit ihrer Reiterei un¬
widerstehlich einHieben. Als sie die ersten blutigen Treffen gegen die Russen hat¬
ten, da fluchte der ungarische Husar, daß die feindlichen Jnfanterieregimenter nicht
aus Menschen bestanden, sondern aus Mehlsäcken oder Holzpfählen, was nicht er¬
schossen und überritten wurde, blieb ruhig und glotzäugig stehn; es mußte jeder
Einzelne getödtet werden, die Lebenden wichen durchaus uicht von der Stelle. Das
machte die Arbeit der Schlacht für die Husaren lästig und mühsam, zuletzt wur¬
den ihre Arme müde an der Menschenmauer. — Die Russe» hatten übrigens
auch ihrerseits die Geschützanzahl unverhältnismäßig vermehrt; wenn man den
freilich nicht authentischen Aufzählungen der verschiedenen Trnppenkräste in den
ministeriellen Journalen trauen darf, so rückten die Russen mit ungefähr 150,000
Mann und 1,200 Geschützen in Ungarn ein; woraus das unerhörte Verhältniß
von 8 Geschützen auf 2000 Mann folgen würde. — Ueber Alles dies und Vieles
Andere soll uns eine Geschichte dieses Feldzugs von einem Militär geschrieben,
Aufschluß geben; und die Magyaren müssen den Anfang machen, die langsameren
Oestreicher und Russen werden dann schon nachkommen, weil es Allerlei zu wi¬
derlegen und zu vertheidigen geben wird.
Unterdeß schreibt sich das arme geschlagene Volk der Magyaren daheim in
den Ebenen, über welche jetzt der kalte Herbstwind bläst, die Memoiren des Krie¬
ges auf seine eigene Weise. Alles Große, Menschliche, Rührende und Erschüt¬
ternde der seltsamen Zeit verwandelt sich ihm schon jetzt in Lieder, Sagen und
abenteuerliche Geschichten: keine Gegend Ungarns hat so viel davon in epischer
Behandlung verarbeitet, als das feste Komorn, wo der Honved und der Husar
während des Kampfes in behaglicher Ruhe nebeneinandersaßen und den Chorus
der griechischen Tragödie zu deu Thaten dort draußen bildeten.
Die Vertheidiger lebten während der Belagerung in Saus und Braus. Wenn
die kaiserlichen Bomben ans dem klafterhohen Rasen über den Wällen der Vor¬
werke ins Gras bissen und mit ohnmächtiger Wuth sich in das weiche Erdreich
vergruben, jubelten die Magyaren in den sichern Kasematten beim Glase Schom-
lauer oder Nesmyler und brachten Toaste aus auf den italienischen Ingenieur,
der Komorn gebant. Da sieht man, wie Italien und Ungarn von Haus aus
verschwistert sind; beide hassen dieselben Kerkermeister und arbeiteten, vorahnend,
einander in die Hände. Und dann scholl es: Eljen Italia! So oft der Bom¬
benkessel vom rechten Donauufer herüberkrachte, pflegte ein verwundeter Husaren¬
wachtmeister lustig mit den Sporen zu klirren und zu schmunzeln: Wieder sechzig
Gulden beim Teufel. Der Franz Joseph ist ein Verschwender. Was wird der
6le? Papierfabrikant Kraus dazu sagen?! (Auf sechzig Gulden schätzte man näm¬
lich die Kosten eines jeden Bombenschusses.) Und wenn zuweilen das Bombar-
dnnent eine Weile pausirte, hörten die Kaiserlichen rauschende Musik aus der
Festung herüberklingen. Das war der Rakoczy - Marsch, die herzaufregcnde, sinn¬
verrückende, triumphtrnnkene Schlachtmelodie, die vor mehr als hundert Jahren
schon die kaiserlichen Truppen ins Bockshorn gejagt hatte. Nichts aber war er¬
götzlicher als die Sieger von Hatvan, Waitzen und Gödöllö in der Weinschenke
über ihre Feldherrn sprechen zu hören. Im Monat Juli befanden sich zufällig
Husaren und Honveds vom Bem'schen und vom Görgeyschen Corps in der
Festung. Beide vergötterten ihre Generale und schrieben ihnen Eigenschaften zu,
wie Homer seinem Achilles kaum anzudichten wagte. „Magyar Isten!" (Beim
Gott der Magyaren!) rief ein alter Husarenkorporal, indem er den rothen Wein
aus dem langen grauen Schnurrbart wischte, seinem Nachbar zu; „glaubst, Bru¬
der, daß Görgey hat Respekt vor kaiserliche Kanonenkugel? Er winkt mit Säbel,
und sie macht Reverenz und fallt ans Erden." — „Und Bern!" entgegnet der
Andere, ein junger Honvedoffizier, „meinst etwon, kaiserliche Kugel kann alten
Bem beleidigen? Hob ich selbst geseg'n, wie Flintenkugel kommt auf Bem sein'
Brust zuflogen. Wart' nur. Kugel geht durch, und alter Bem schaut sich über
Achsel und dreht linken Schnurrbart mit zwei Finger. Wo gehst hin, Kujon?
fragt er. Ah so, sagt er, gehst hoch! Daß du mir kein' Husarn anrührst! Und
droht ihr noch mit rechte Hand. Dann: Vorwärts, Marsch! — Eljen Bem,
Eljen Görgey!"
Ueber kurz oder lang sprießt aus den ungarischen Gräbern eine Literatur auf,
die das Haus Habsburg in Verzweiflung bringen wird; kein Preßgesetz, kein Aus¬
nahmszustand wird den Volksmund versiegeln können. Die Lieder und Balladen
der Pnßte werden bei dem enthusiastischen Publikum der Wiener Vorstädte ein
unauslöschliches Echo finden. Wir hören im Geiste schon die Harfenistinnen in
den Praterschenken Batthyany's Martyrthum, Haynau's Schande und Bem's wun¬
derbare Schlachten singen.
Bem's Flucht aus Wien und glückliche Ankunft in Ungarn erzählte man sich
in Komorn auf die verschiedenste Weise. Nach Einigen hat er sich, K I» Enzio
von Raupach, in einem Sarge über die Linien (Barrivren) der belagerten Wiener
Stadt tragen lassen, übernachtete auf dem Währinger Kirchhof und ging als Weib
verkleidet zu Fuße bis Preßburg. Andere erzählen, daß er in der dunkeln Nacht
des 31. October, nach dem Einzug der kaiserlichen Truppen, einen „Seelentränker" —
einen Donaunachen, der nur eine einzige Person saßt — bestieg, der Länge nach
sich darin auf den Rücken legte, um vom Ufer aus nicht gesehen zu werden, und
der Gnade der Wogen übergab, die ihn glücklich ins Ungarland hinabschwemmten.
Beide Darstellungsweisen waren jedoch dem echten Magyar nicht wunderbar genug,
und wenn wir dem Fekete Pul glauben wollen, der bei den Kossuthhnsaren als
Feldkaplan diente, so hat der Magyar Isten bei seiner Rettung die Hand im
Spiele gehabt. Der Magyarengott nämlich saß über den Wolken bei einer Flasche
Tokaier und rauchte eine Pfeife Gartenlättiuger, als die Seele eines von den
Kroaten ermordeten Mädchens aus Gumpendorf händeringend vor ihm erschien,
um Rache flehte und das Schicksal Wiens verkündigte. Anfangs fluchte der Magyar
Isten über sich und seine Welt und wollte die unerfreuliche Mähre nicht glauben,
bis er durch einen Blick aus die Erde sich vom Siege des Windischgrätz, — bassan
sein Name! — überzeugte, indem er auf dem Knauf des Stephansthurmes die
schwarzgelbe Fahne gewahrte; groß wie ein Schnupftüchel, welches sechs Monat
gedient hat, und auch nicht sauberer, bassan! Was that der Magyarengott? Sein
erster Gedanke war, den Bem zu retten. Er sandte vier Erzengel aus, natürlich
in Husarenuniform und mit langschweifigen Flügelpferden. Diese fanden Bem auf
dem Belvedere in Wien, als er eben, in einem der Kellergemächer versteckt, un¬
garische Schlachtpläne mit dem Stock auf den staubigen Boden zeichnete. Er
schien sie zu erwarten, denn er sagte: Gut, ihr kommt uoch zur rechten Zeit!
und ließ sich von ihnen sogleich nach der Debrecziner Haide tragen, wo später
das Parlament zusammenkam, und von dort nach allen Steppen, Bergen und
Strömen, die er bald darauf mit dem Blute der Russen und Oestreicher färbte.
Erst nachdem er den Schauplatz seiner Thaten im Voraus besichtigt, fuhr er wie
ein gewöhnlicher magyarischer Mensch in einem, mit acht Pferdchen bespannten
Banerwägelein nach Preßburg und klopfte an Kossuth's Thüre. Eljen sein Name
in alle Ewigkeit!
Unter vielem Hohlen, Gespreizten, Schlechten ein Helles Bild am czechischen Li-
teratenhimmel! Franz Ladislaw Celakowskv, ein geistvoller Gelehrter und begabter
Dichter! Celakowsky hat aus dem frischen, unerschöpflichen Quell der Volkspoesie, der
böhmischen nicht allein, auch der übrigen slavischen geschöpft und durch sein kräftiges
und gebildetes Dichtertalent für alle Zeiten einen der ersten Plätze auf dem czechischen
Parnaß sich gesichert. Die Reimereien eines Wocel, eines Kamenicky, eines Fnrch und
wie die geblähten Ephemeren sonst noch alle heißen mögen, werden mit dieser Genera¬
tion verschollen sein, aber Celakowsky's Poesien, seine begeisterten Nachdichtungen sia-
vischer Volksgenies werden noch nach Jahrhunderten leben im Munde deS slavischen
Volks, aus dessen Liederschätzen sie hervorgegangen.
Cclakowsky's dichterische Werke, seine tin7.v stolistit (hundertblättrige Rose), seine
Kmisene l>Ä8no (gesammelte Gedichte), seine l)l>Ja8 >,isii)' ruski^et,") (Nachklänge rus¬
sischer Dichtungen) u. s. w. sind epochemachend in der czechischcn Literatur. Celakowsky
war in seinem Genre nicht der erste, aber der glücklichste und wußte sich bald Geltung
zu verschaffen. Eine reiche Phantasie, üppige Bilderfülle, urkräftiges slavisches Feuer
bilden den Grundton in Cclakowsky's Werken, doch weiß er die östliche Glut, die
sinnliche Farbcnüberladung, wie sie den echt slavischen Sängern vor Allen eigen ist,
mit occidentalischer Ruhe und dem sichern Takt des Aesthetikers zu beherrschen, ohne
daß dadurch der nationale Typus und die charakteristische, ich möchte sagen abenteuer¬
liche Färbung leidet. Die N.ttico cvsk-r hat 1837 eine Gesammtausgabe seiner Ori¬
ginaldichtungen herausgegeben: „I?. I--. OIilIcc»w8ke>w, «pisn IiitZiiiolc^cK Knili^
cvstv^" (Sechs Bücher Gedichte von F. L. Celakowsky). Im Jahr 1827 erschien
eine Auswahl von Volksliedern aller Slavenstämme, veranstaltet von Celakowsky, und
bald darauf seine czcchische Übersetzung lithauischer Volksgesänge. Celakowsky hat sich
auch als Uebersetzer hervorgethan, wir erwähnen nur seine Uebersetzung des Fräuleins
vom See von Walter Scott (?.nulii >k?orni), welche so gelungen ist, daß man sie
keine Uebersetzung, sondern eine Nachdichtung zu nennen versucht wäre. In den letz¬
tern Jahren beschäftigte sich Celakowsky fast ausschließlich mit gelehrten Arbeiten im
Gebiete der slavischen Philologie und Alterthumskunde, auf deren baldige Veröffent¬
lichung die Gelehrtenwelt mit Recht überaus gespannt ist.
Celakowsky ist den 7. März 1794 zu Strakonic geboren. An den philosophischen
Lehranstalten zu Budweis und Linz und an der Hochschule zu Prag gebildet, betrat
er frühzeitig die pädagogische Laufbahn, welche er 1834 verließ, um die k>ritt8lco
iioviue (Prager Zeitung) und die Osli.i, V«»ur (böhmische Biene) zu redigiren, welche
Journale unter seiner Leitung einen Ausschwung erhielten, der die meisten übrigen
slavischen Blätter weit überflügelte. Sein gründliches Wissen, tiefe ästhetische Bildung,
Witz und Sarkasmus kamen ihm hier sehr zu statten.
Im Jahre 1835 bestieg C. die Lehrkanzel der czechischcn Sprache an der Prager
Universität, und seine Vorträge begannen Aufsehen zu machen, als plötzlich seine Ab¬
setzung von der Professur und sogleiche Enthebung von der Redaction jener beiden
Blätter erfolgte. Seine freie, scharfe Sprache hatte ihn längst bei den östreichischen
Behörden mißliebig gemacht, doch schonte man sein, als einer hochgeachteten Kapazität,
bis endlich eine Requisition der russischen Regierung, gegen welche er einigemal im In¬
teresse des geknechteten, mißhandelten Polen die spitze Feder erhoben, seinen Sturz
veranlaßte. Seiner Journale beraubt — Familienvater — reichte seine schriftstellerische
Thätigkeit, welche damals in Böhmen überhaupt viel weniger eintrug als heute,
nicht hin, ihm ein sorgenfreies Leben zu verschaffen. Celakowsky mußte mitunter zu
dem mühevollen Geschäft eines CorrectorS greifen, an und für sich schon Blei für den
Adlersch.ouug des poetischen Geistes, um so schwerer und drückender, als er für das
allezeit getreue Domkapitel aus dem Prager Schlosse arbeitete und die czcchische Monat¬
schrift für den katholischen Klerus, eine der Hauptrubriken seines correctorlichen Budgets
war! C. fand in der Fremde, was ihm die Heimath versagte — anständiges ehren¬
volles Auskommen und einen würdigern Wirkungskreis, indem ihm die preußische Re-
gierung die neuerrichtete, gut dotirte Lehrkanzel der slavischen Literatur an der Bres-
lauer Hochschule verlieh.
Dort lebte er einsam kränkelnd in fremdem Boden, die slavischen Studien hatten
an der Universität Breslau wenig Gelegenheit zu gedeihen. Durch eine Laune der
Polen und der Regierung war der Lehrstuhl für slavische Sprachen dort geschaffen wor¬
den, es fehlte jedes Bedürfniß dazu; dem Lehrer fehlten die Zuhörer und anregende
Freunde. Als Mensch lernten ihn auch die Breslauer schätzen. Er aber fühlte sich
dort nicht heimisch, es zog ihn nach seinem Vaterland zurück.
In Prag besitzt er den Ruf des geistvollen und liebenswürdigsten Gesellschafters
und ist in den literarischen Kreisen, deren Cliquen er nur zu oft besuchte, geehrt und
geliebt. In der neuesten Zeit ist er an die Prager Universität zurückberufen worden. Er
soll sie slavisiren helfen. Ob ihm das gelingen wird?
„Verzweifle keiner je, dem der Hoffnung letzte Sterne schwanden!" so lautete einst
des Burschenliedes Trost.
War das ein Jammer im Jahre 1848 über die anarchischen Zustände Prags!
Alles gehe demnächst zu Grunde, das Volk werde uns sieden, braten, verschlingen, so
hieß es, und Ueberschwengliche verließen die Stadt, bestellten Wohnung in Newyork, um
recht weit zu sein von den menschenftesscnden Czechen, von den schmierigen Swvrnost.
Noch am Se. Wenzclstagc 1848 schmeckte dem Pfahlbürger die gebratene Kirch¬
weihgans nicht recht; hieß es doch allgemein, an Se. Wenzel werde allgemeines Morden
losgehen, und, kaum sollte man das sür möglich halten, Civil- und Militärbehörden
haben damals an das Ministerium berichtet von diesem bevorstehenden Mordunternchmen!
Se. Wenzl kam heran, der Belagerungszustand war dem Namen nach längst auf¬
gehoben, doch kaum ein czechisches Mäuschen unternahm es zu piper, alle« war still,
ftiedsam und verträglich, dennoch aber war zu Se. Wenzl 1849 Prag in vollem Be¬
lagerungszustande, als beherbergte es der Menschenfresser, der rothen Republikaner viele,
während Prag noch immer am Katzenjammer leidet, seit dem Junius 1848 , und alles
in'« liebe gemüthliche Alte zurück sich wendet, als wäre Louis Philipp noch immer Kö¬
nig von Frankreich. —
Verschwunden sind die bunten Trachten und Farben, welche das üppige Studen-
tenthum schmückten, verstummt sind die Lieder, die czechischcn und deutschen, kein Bür-
gcrsäbel klirrt mehr auf dem Straßenpflaster, alles ist todt, öde und still, die östrei¬
chische Freiheit ist beigesetzt in der Gruft des Belagerungszustandes; ob sie den Leichen¬
wächtern einst dennoch wieder entweichet wie Christus? Wir hoffen es, denn sie ist gött¬
licher Natur wie Christus.
An dem speciellen Grabe der Freiheit Prags stehen zwei Männer Wache, die
wohl nicht gefährlich wären dem freien Fluge der unsterblichen Todten, wären sie nicht
beordert von höherer Macht. Es sind dies Männer, welche im Jahr 1848 ganz be¬
sonders freisinnig und populär gewesen, sie schwammen mit dem Strome hinab; heute,
wo die Strömung bedeutend »ach rückwärts seance, schwimmen die guten Männer wieder
zurück wie leichtes Holz, wie ein Kahn ohne Fährmann und Steuer. Prags Bürger¬
meister, und Prags Nationalgardecommandant sind heute gleichsam die beiden Hände
des Belagerungszustandes und helfen das gutmüthige, zu Zeiten sehr läppische Prag
am Gängelbande führen, damit es ja nicht stolpere, weil es Nacht ist und alle Frei¬
heitslichter ausgeblasen worden.
In diesen beiden Männern und ihrer heutigen Wirksamkeit ist das Prinzip der
Nationalitätsgleichberechtignng recht erbaulich verkörpert. Der Bürgermeister ist Czeche,
der Nationalgardecommandant ist Deutscher von Geburt. Beide sind weder das eine
noch das andere von Gesinnung.
Nichts währet ewig in dieser Welt von Sterblichen, und so wird denn auch der
Belagerungszustand seine Endschaft erreichen, ist nur erst die Garnison verdoppelt oder
verdreifacht und auf diese Weise die Sorge beschwichtigt, es könnte das Czechenvolk
einen Angriff aus das wohlbefestigte Prager Schloß unternehmen. Geht der Belage¬
rungszustand zu Ende, so endet wohl mit ihm auch die Glorie der treuen Gehilfen,
darum legen wir die Nekrologe für diese beiden Celebritäten in den Archiven der Grenz¬
boten im voraus nieder und zünden die Kerzen an um die präsumtiven Leichname
zweier Berühmtheiten, welche wohl einstens, gibt es wieder eine unbelagerte Freiheit,
in den Katakomben der Mißachtung ruhig liegen bleiben werden.
Herr Waclaw Wanka, derzeit Bürgermeister der Stadt Prag, nebstbei Doctor der
Rechte und Landesadvocat, um das Jahr 1803 i» Prag auf dem Roßmarkte im Häuft
zum Primas geboren, Sohn eines sehr wohlhabenden Brcmhcrrn, hat seine Studien
in Prag absolvirt, seine Doctoratsprüsungen mit Glück, oder doch glücklich überstan¬
den, ist sodann Doctor, und da er nicht starb, sondern andre überlebte, sogar Landes¬
advocat geworden, — vor Anno 1848 war manches möglich — daß er Advocat ge¬
worden, wurde bekannt, daß er es wirklich sei, davon verlautete wenig.
Herr Waclaw Wanka vegetirte bis zum März l848 behaglich fort, verehelichte
sich und zeugte Kinder, nährte sich von dem väterlich ererbten Vermögen redlich und
reichlich, da kam die Bewegung herau, und sein Name wurde dnrch seinen Bruder po¬
pulär, welcher, ein tüchtiger ehrlicher Bürger, das Braugewerbe seines Vaters in gro¬
ßem Maßstabe fortsetzend, in den Tagen der Bewegung dem Volke viel Gutes erwies.
Dr. Anton Strobach, der seit so laugen Jahren wieder crstgcwählter Bürgermeister
Prags, hatte sehr zur Unzeit, mehr sich selber als die Sache bedenkend, abgedankt,
kaum sechs Wochen nach seiner Wahl; sein Nachfolger war in unbedachter Hast ge¬
wählt worden, weil Strobach auffallend genng einen Terroristen empfohlen, mußte je¬
doch kurz darauf abdanken. Eine neue Wahl war nothwendig, das Bürgercollegium
zum Wahlakte versammelt, doch niemand geeigneter, zur Annahme des Amts geneigter,
fand sich, da trat Herr Waclaw Wanka in den Saal als stattlicher Nativnalgarde-
hauptmann, irgend einer der Versammlung rief, vielleicht ironisch, was Ecce Homo-
dieses da sei unser Bürgermeister! und er ward es in der That, denn froh waren die
Wähler endlich, aus der Wahlverlegenheit zu gerathen.
In jenen Tagen, wo alles radikal war oder schien, war es auch Herr Waclaw
Wanka, unterstützte v. Aloys Borrvsch den Stadtverordneten, welcher den schwache»
Bürgermeister unterstützend, in seinem Namen handelte und sprach. Verwickele und dornig
wurden die Verhältnisse und Herr Wanka blieb radikal, es war das ein Muth der Furcht,
er wagte nicht anders zu scheinen als seine Umgebung es war oder schien.
Die blutigen Junitage kamen heran. Herr Waclaw Wanka schien mächtig mit dew
seiner selbst unbewußt in Aufstand gesetzten Volke zu sympathisiren, denn er war in
der Altstadt inmitten des Volkes, Fürst Windischgrätz mit den Kanonen aber war auf
der kleinen Seite und dem Hradschin; manche Böswillige behaupten sogar und flüstern
heute sich zu, Herr Wanka habe damals einzelne autorisire, der bedrängten Stadt
von außen her Hilfe zu schaffen, und einer von diesen sei der Mission zum Opfer
gefallen, doch ist das offenbar eine rachesüchtige Verläumdung, gegen welche wir
Herrn Wanka entschieden in Schutz nehmen müssen. Ein neuer etwas hyvcrradikaler
Stadtrath wurde gewählt im August 1848, und wählte Herrn Wanka, den ver¬
meintlich radikalen Volksfreund, neuerdings zum Vorstände der Stadt, wies ihm auch
ansehnlichen Gehalt an, welchen der reiche Mann nicht verschmähete, sofort aber, nach¬
dem er öfters zu Olmütz gewesen und sich in der neu aufgegangenen Sonne des Mini¬
steriums Schwarzenberg gewärmt, in Radikalität und Volkssreundlichkcit bedeutend nach¬
zulassen begann.
Der Ministerialsonne gegenüber entfiel den ikarischcn Flügeln seiner Radikalität
eine Schwungfeder um die andere.
Der Reichstag wurde heimgescndet auf dem Schub, der Terrorismus begann, der
Stadtrath, angefeindet von den Behörden, verleumdet bis zum ekelhaften Uebermaß
von den Organen der Reaktion, und allen, die ihn früher gefürchtet, blieb dennoch ra¬
dikal, bisweilen, ja oft in unklugen Uebermaß. Er hält für nur vorübergehend, was
fortan währen soll und währen wird in Oestreich, er war kurzsichtig und unklug, doch
wenigstens consequent.
Nicht so Herr Waclaw Wanka! Bürgermeister war er geworden, der Gehalt war
angewiesen, nun handelte es sich darum, beides zu stabiliren, wenn nicht von unten
durch das Vertrauen, so doch von oben durch Befehl und Gewalt.
Herr Wanka beantragte bei dem, über die Heimsenduug des Reichstages, über
die in ihrem Wesen noch gar nicht geprüfte oktroyirte Verfassung ergrimmten Stadt¬
rathe, eine Loyalitätsadresse, eine Danksagung an den Kaiser, er beantragte eine Hul¬
digungsadresse an Radetzky — im April ist Wälschland so schön, besonders wenn man
es gratis bereiset —^ er beantragte eine splendide extraordinäre Beleuchtung des Rath¬
hauses zum Geburtstag des Kaisers — und fiel wie natürlich durch mit seinen taktlos
gestellten, und überdies ganz ungeschickt motivirten Anträgen, die er gestellt, ohne zu
bedenken, daß Wien alle jene Demonstrationen im Belagerungszustande gemacht, in
welchem bekanntlich nur eine Partei reden, verläumden und sich überheben darf, wäh¬
rend die andere asphixirt am Boden liegt. Wahrlich, ein belagerter Jubel hat keinen
Werth für einen erleuchteten Monarchen.
Auch ist Herrn Waclaw Wanka wohl zuzutrauen, daß er zumal in Rücksicht der
ihm eigenen lamentablen Begründungsweise den Fiasco seiner Anträge vorausgesehen
uno mit derselben blos beabsichtiget habe, sich selber hohen Ortes in guten Geruch zu
bringen, sein Kollegium aber gehörig zu diskreditiren.
"
„Ich bin nicht wie jene, ist der Spruch des Pharisäers. Anträge und Beschlüsse
des Stadtrathes dagegen, welche in liberaler Richtung gefaßt waren, ließ Herr Wanka
unerledigt; bei einigen könnte man sich selbst dem Verdachte förmlicher ESkamotage hin¬
geben, wollte man boshaft sein. So ist die über Herrn Wanka's eigenen Antrag aus¬
gefertigte Petition um Einberufung des Landtags verschollen und nie an ihre Adresse
gelangt.
Im Procrastiniren und Verschleppen, im eigentlichen Nichtsthun ist übrigens Herr
Wanka Meister, man könnte glauben, er habe bei der alten Bureaukratie sorgfältig
Praxis genommen.
Im Mai 1849 wurde in den Kneipen viel' von den Magyaren und den demokra¬
tischen Deutschen gesprochen, und viel Bier dabei vertilgt, des Herrn Bürgermeisters
und seiner Loyalitätsanträge wurde dabei unrühmlichst erwähnt, mancher biererhitzte
Wunsch wurt>e gelegentlich ausgesprochen, dem Herrn Waclaw Wanka möge unliebsamer
Lohn zu Theil werden; geschäftige Organe der unheiligen Hermandad brachten dem
Herrn Bürgermeister die mit Uebertreibung durchwobene Mähr, ihm, dem schuldbewu߬
ten, von Titel und Orden träumenden, wurde bänglich, er beeilte sich bei seiner täg¬
lichen polizeilichen Visite dem Landcsches, dem commandirenden General die Schauer¬
kunde zu bringen, um Schutz für seine schätzbare Person zu bitten, die Nationalgarde
als unzuverlässig, die Einwohnerschaft als höchst gefährlich zu verdächtigen, und so
der in Oestreich heimischen Verschwörungsriecherei in die Hände zu arbeiten.
Wie im Jahre 1848, so auch im Jahre 1849 wurde das Bestehen einer tief¬
verzweigten grimmigen Verschwörung durch öffentlichen Anschlag proclamirt, welche sich
wohl nur auf wahnsinnige Studententräume reduzirt, der Belagerungszustand wurde
.eiligst über Prag, und somit eigentlich über ganz Böhmen verfassungswidrig verhängt,
an siebzig obscure Persönlichkeiten, meist kneipende, und zwar diesmal deutsche
Studenten wurden eingezogen, sechs Monate schon harret das Publikum dem Unter-
suchunzsresultate vergebens entgegen.
Seit dem beseligenden Belagerungszustande hat Herr Waclaw Wanka die radikale
Maske potiers abgeworfen, und fraternisirt mit der sogenannten Partei der „sieben-
undsechzig," denen er jüngst eine öffentliche Lobrede gehalten.
Herr Waclaw Wanka hat unter einer förmlichen Anklage seines Bürgercollegiums
sein Amt in die Hände der Regierung niedergelegt, um von dieser beauftragt zu
werden, es zu behalten, um deu radikalen Stadtrath gehörig zu controlliren, hat auch
demselben in langer, wohlmemorirter, weinerlicher Rede unb Strafpredigt alle gegen
Thron und Altar verübten Verbrechen vorgehalten, und demselben in süßem Selbst¬
bewußtsein bedeutet, er sei nunmehr von der Regierung ernannter Bürgermeister,
während er früher nur ein gewählter gewesen.
Um die Einwohnerschaft vor aller Welt zu verdächtigen und zu entehren, prote-
stirte Herr Wanka kürzlich gegen die praktische Durchführung der Judenemancipation,
indem er, ungeachtet des Belagerungszustandes, Aufstand, Mord und Todtschlag be¬
fürchte. Herr Wanka ahnet vielleicht die bevorstehende Aushebung des Ausnahmezustan¬
des, und wünschte wohl später ein Judenkrawallchen herbei, um einen neuerlichen M-
. lagerungszustand für weitere sechs Monate möglich zu machen. Man möchte sich die
' Judenfrage als Reservepseil gegen das Herz der Freiheit im Köcher aufbehalten. Ueber^
läufer werden verachtet in beiden Lagern, und so hat es Herr Wanka jetzt mit allen
Parteien verdorben.
In der That, wenn es gilt die Freiheit zu hängen, gleich finden sich der Henker
viele in den Reihen des Volkes.
Wir hoffen, Herr Waclaw Wanka wird nächstens einer Auszeichnung oder Staats¬
erhöhung glücklich genesen, um bald daraus in Obscurität der Mißachtung aller hinter¬
legt zu werden. »
So ist die Trennung geschehen, Sachsen und Hannover haben sich gelöst
von dem Wege, ans welchem die Gestaltung des neuen Bundesstaates erstrebt wird.
Es ist dies vorläufig kein Unglück, eher ein Glück für die Zukunft unsres Vater¬
landes. Denn es kommt jetzt zunächst darauf an, einmüthig und ohne Hindernisse,
welche Cabinetsintriguen dazwischen werfen können, irgend Etwas zu Stande
zu bringen, was die Grundlage für eine Vereinigung der deutschen Stämme bil¬
den kann. Ja, wir Deutsche sind bescheiden geworden seit diesem Frühjahr; wir ha¬
ben erkannt, daß wir noch keine Nation find, und diese Erkenntniß, so bitter sie
uns anch gemacht wurde, kann wenigstens bewirken, daß wir vorsichtiger werden,
besonnener und deshalb energischer. Die politische Nichtigkeit der kleinen König¬
reiche ward bis jetzt weder von den Fürsten noch von den Völkern lebhaft genug
empfunden, sie wird ihnen von der Stunde an fühlbar werden, wo sich rings um
sie herum ein größeres Leben und ein kräftiges Selbstgefühl regt. Die Opposi¬
tion von Hannover und Sachsen hat ihren letzten Grund in der Verstimmung ih¬
rer souveraine, beide waren bereit, einen Theil ihrer Hoheitsprivilegien dem
Bundesstaat zu opfern, wenn ihre Vettern im Süden, der Baier und Würten-
berger dasselbe Opfer brächten. Unerträglich aber erschien es ihnen sich beschränkt
M sehen, während jene in allen den kleinen Genüssen einer isolirten souverainen
Existenz schwelgen. Jetzt haben sich alle vier Könige aus dem Knoten des Bun¬
desstaates herausgeworfen, es ist nicht nöthig, daß deshalb die Partie aushört.
Der höchste Trumpf ist darin geblieben, das Bedürfniß der Deutschen sich fest mit
«»ander zu vereinigen, und wenn Preußen versteht diese Größe zu gebrauchen,
s° mag es noch jetzt gegen das Cabinet des Fürsten Schwarzenberg, der ohne sein
Verdienst die vier Könige in der Hand hält, das Spiel gewinnen. Der Abschied
Sachsens und Hannovers aus dem Verwaltungsrath war kühl und diplomatisch
genug. In der Sitzung am 19. October machte uoch in Gegenwart der Herrn
Zeschau und Wangenheim, der preußische Bevollmächtigte specielle Vorschläge
sür Zusammenberufung des nächsten Reichstages. Zuerst einige Modificationen
^'in Verfassungsentwurf. Der Ausdruck „Reich" soll durch „Bundesstaat" und
„Verein" ersetzt werden, durch Zusätze wird die Fortdauer des Rechtsverhältnisses
des neuen Bundesstaates zu den nicht theilnehmenden deutschen Staaten deutlich
ausgesprochen und näher bestimmt, so wie die nachfolgende Aufnahme zutretender
Stacttcn erleichtert. Ferner: der 15. Januar 185V ist als allgemeiner Wahltag
für das Vvltshaus der nächsten Reichsversammlung anzunehmen und die Behör¬
den deshalb anzuweisen; drittens, Erfurt werde der Sitz des nächsten Reichstags
und endlich: die Verhandlungen der verbündeten Regierungen mit dem Reichstag
sollen durch drei Commissarien geführt werden, die preußische Regierung wolle
einen ernennen, der Verwaltungsratd die beiden Uebrigen. Alles dies seien nichts
als Vorschläge Preußens, nur auf dem letzten Punkt will Preußen feststehen.
Mit dem t5. Januar als Wahltermin erklärten sich die kleineren Staaten
sämmtlich einverstanden, Hannover schwieg, nur Sachsen bedauerte nicht beistim¬
men zu können, Mecklenburg-Strehlitz dagegen, welches früher auch vou einigem
Widerspruchsgeist beseelt gewesen war, trat den Beschlüssen der Uebrigen wohl¬
wollend und einlenkend bei. Auf diese Sitzung folgten die bekannten Abschieds¬
briefe der königlichen Gesandten und ihre Abreise von Berlin.
In der nächsten Sitzung am 23. October ist ans dem Protokoll ein gewis¬
ses gemüthliches Wohlbehagen und eine ungemeine Einigkeit der Uebriggebliebe-
nen zu erkennen. Ans eine Abschiedsnote der beiden Treulosen wird eine Gegen¬
erklärung gegeben, welche eben so lang als nachdrücklich ist. Außerdem wird auf
den Scheidebrief der schmollenden Gesandten an Bodelschwingh noch eine Antwort
beschlossen, welche höflich andeutet, es werde in den nächsten Sitzungen auch noch
Anderes verhandelt werden müssen, als was auf Zusammenberufung des Reichs¬
tags Bezug habe, und Dinge, die den Verreisten wohl interessant sein könnten,
übrigens verbleibe der Unterzeichnete mit Hochachtung.
Darauf wird einstimmig mit eifriger Herzlichkeit ein sehr verständiger Bericht
der Wahlcommisfivn, welche aus drei Mitgliedern des Verwaltungsraths gebildet
war und deren Referent Nassau (Präsident Vvllpracht) ist, angenommen. Durch
diese Beschlüsse wird das octroyirte Wahlgesetz, dessen Unzweckmäßigkeit man offen¬
bar sehr lebhaft empfand, so praktisch und brauchbar als möglich gemacht: es solle
uicht als Gesetz publicirt werden, da der neue Reichstag erst seine Zustimmung
dazu geben müsse, wohl aber müsse man es vorläufig den Localverhältnissen der
einzelnen Staaten anpassen, und sich dabei mehr an die Grundprinzipien, als an
das Detail halten. Die Grundprincipien des Wahlgesetzes seien: Beibehaltung
des allgemeinen Wahlrechts, dann aber ein Stimmenverhältniß, wobei Intelligenz
und Besitz nicht zu kurz kommen, und endlich offene Abstimmung; dagegen sei auf
Eintheilung der Wähler in drei Klassen nicht zu bestehn. Nachdem man in sol¬
chem Sinne die leitenden Grundsätze für Einrichtung der Wahlordnungen klug und
ziemlich freisinnig festgesetzt, wurde bereits für Oldenburg und Kurhessen das
Wohlreglement festgestellt. — Man trennte sich spät, und wie es scheint, mit
gutem Muth.
Die Verhandlungen über das Wahlgesetz sind wichtig, denn dieser Entwurf,
nach welchem doch gewählt werden soll, ist von Anfang an eine Klippe sür die
oktroyirte Verfassung gewesen. Der freie Blick des Verwaltungsrathes, seine ge¬
schickten Deutungen und die zwingende Noth der Verhältnisse werden uns auch
darüber weghelfen. Es nutzt jetzt nichts, an dem Einzelnen zu mäkeln und zu
tadeln, wir dürfen hoffen, daß auch bei diesem Wahlgesetz unsere treuen Männer
und verständigen Patrioten in den Reichstag kommen werden. Und grade jetzt,
wo man so leicht veranlaßt ist, an unserer Zukunft zu zweifeln, soll man sich er¬
innern, daß das deutsche Volk jetzt bereits reicher an bedeutenden parlamentari¬
schen Kräften ist, als seine Nachbarn im Westen, ja vielleicht reicher als Eng¬
land. Es thut nicht Noth, die Namen zu nennen, auf welche wir stolz sind.
Daran aber soll man denken, wenn die jetzigen englischen Parlamentsmitglieder,
Oberhaus wie Unterhaus, auf einmal in die bodenlose Situation kämen, in wel¬
cher das Parlament von Frankfurt während des ganzen Jahres seiner Existenz
schwebte: sie würden nicht besser, nicht praktischer, vielleicht nicht einmal mit so
viel Würde und reinem Patriotismus gehandelt haben, als die Majorität dieses
Hauses. Durch das Zurückziehen von Sachsen, und mehr noch von Hannover,
verliert der nächste Reichstag allerdings eine Anzahl von Namen, deren guten
Klang er ungern vermissen wird; aber es ist ein günstiger und bedeutsamer Um¬
stand, daß der größte Theil der parlamentarischen Helden, ans deren Worte das
deutsche Volk mit Freude und Stolz hört, den kleineren Staaten des neuen Bun¬
des angehört. Der Reichstag muß ein Ereigniß sür Deutschland sein, weil
die besten Talente des Volkes sich auf ihm zusammenfinden werden und seine
Aufgabe keine ungeheuerliche mehr ist. Und wir könnten frisch weg mit Zuversicht
auf seine Thätigkeit und seine Wirkungen bauen, wenn nicht noch Eines wäre,
das wie eine Wolke über unserer Zukunft schwebt; die persönlichen Stimmungen
und Gefühle, welche in Preußen regieren.
Noch ist ein Gegensatz zwischen dem preußischen Ministerium und dem Herrn
desselben und zwischen jener Partei der deutschen Patrioten fühlbar, welche höchst
wahrscheinlich auf dem neuen Reichstag die Majorität haben wird. Ein Bnndcs-
winisterinm Brandenburg wäre eine Unmöglichkeit. Wenn die preußische Regie¬
rung, welche von der deutschen Partei gefordert hat, daß sie ihr Manches von
ihren Ueberzeugungen zum Opfer bringe, sich nicht auch ihrerseits entschließt,
Einiges von ihren Launen zu opfern und ihre Gemüthswallungen klüger zu be¬
herrschen, so kauu noch trotz des Reichstages, der vielersehnte Bundesstaat in
Trümmer fallen. Zum zweiten Mal wird dann das Vereinigungswerk der
deutschen Stämme scheitern, und wieder werden Persönlichkeiten Preußens die
Schuld tragen; sie und Preußen werden zuletzt dafür bezahlen. — Dreimal
wird während der Negierung desselben Königs der Krone Preußens die Gelegen¬
heit geboten, Deutschland zu erobern. Zuerst im Jahr 1840, zum zweiten im Früh¬
jahr 1849, das dritte Mal mag im Frühjahr 1850 sein. Mau braucht nicht
abergläubisch zu sein, um zu empfinden, daß dieser dritte Ruf des Schicksals der
letzte sein wird.
Wir aber wollen uuter allen Umständen fest und muthig der Zukunft in's
Auge sehen und mit ganzer Seele nehme» wir »och das schönste Recht der Erd¬
geborenen in Anspruch: wir hoffen.
Als im vorigen Jahr alle Glieder des preußische» Staates krachten, und die
Krisis dort im A»fa»ge bösartiger und gefährlicher erschien, als in den andern
Staaten Deutschlands, waren die Freunde des „intelligenten" Staats sehr be¬
stürzt über das Unerklärliche dieser Erscheinung, seine Gegner versuchten das Un¬
haltbare dieses künstlichen Staatsbaues zu besinnen. Und Wunder! eben so schnell
und energisch, als der Schlag gewesen war, kam el» Gegenschlag, die Reaction
in Preußen wurde vollständiger, als irgend wo anders und die conservative Partei
kam zu einem Selbstgefühl, welches sie so sicher, so innerlich, selbst in Oestreich
gegenwärtig nicht hat. Wer Preußen kennt, das Volk und Land, kann sich nach¬
träglich wohl erklären, wie Alles so kommen mußte. Es ist nicht unnütz, grade
jetzt auch das schou Bekannte zu wiederholen, den» mau kann für unsere nächste
Zukunft Allerlei daraus lerne».
Jene höchst bedeutsame Eigenthümlichkeit Preußens: seine großen Fortschritte
ans dem Kampf starker Gegensätze zu erreichen, und grade aus solchen Kämpfen
neues Leben zu gewinnen, welche viele andre Staaten zersetzen mußten, wird dann
verständlich, wenn man sich erinnert, daß einmal die protestantische Aufklärung
und die philosophische Bildung, welche die Geister in Preußen beherrscht, den
politischen Liberalismus der Einzelnen in allen Graden und Extremen massenhaft
entwickelt hat, während anderseits Gemüth und Interessen die große Mehrzahl
des Volkes conservativ stimmen. Die Interessen des preußischen Volkes sind des¬
halb überwiegend conservativ, weil der Landbau noch fast überall den Hauptan-
theil an dem productiven Vermögen der Nation hat. Handel und Industrie stehn
noch in seineu Diensten. Es ist bereits früher in diesen Heften dargestellt wor¬
den, wie die politische Richtung eines Volkes bestimmt werde durch die Beschaf¬
fenheit des Grundbesitzes und durch sein Verhältniß zum Handel und zur Industrie.
In Preußen ist nicht nnr im allgemeinen der conservative Stand der Landbauer der
herrschende, sondern in den Provinzen Preußen, Pommern, Posen, Brandenburg,
Schlesien, ja auch in Sachsen und Westphalen ist es noch dazu der große Grund¬
besitz, welcher durch Capital und Einfluß die übrigen producirenden Thätigkeiten
beherrscht. Während er conservativ stimmt, erhält noch ein anderer Umstand das
Gemüth des Volkes loyal. Das Haus der Hohenzollern hat durch Glück und
Kraft die auseinanderliegenden Landestheile zusammengefaßt. An den Persön-
lichkeiten dieses Hauses hängen die historischen Erinnerungen und das Selbstge¬
fühl der einzelnen Provinzen. Der große Kurfürst, Friedrich II., Friedrich Wil¬
helm III. sind in der That die Helden der preußischen Volksstämme. Was war
die Provinz Preußen, bevor sie dem Königreiche ihren Namen gab? Was war
Schlesien, bevor die gewaltsame Besitzergreifung des zweiten Friedrichs ihm das
Bewußtsein einer staatlichen Existenz einschlug? Und selbst die neuen Theile des
Staates, welche nicht den alten Kriegsruhm der Hohenzollern für den ihrigen
halten, haben die Empfindung, durch die Person eines Fürsten an ein großes
Ganze gefesselt zu sein und freuen sich ihren schwächeren Nachbarn gegenüber we¬
nigstens über die größere Kraft, von welcher sie ein Theil sind. Solche loyale
Erinnerungen aber können in einer Staatskrisis, wie die letzte war, ans lange viel¬
leicht für immer verschüttet werden, wenn Preußen nicht Eines besäße, die Or¬
ganisation seines Heerwesens, die populärste aller seiner Institutionen. Der Kriegs¬
dienst, die Landwehr, machen den Preußen loyal. Das letzte Jahr hat dies
schlagend bewiesen. Wo die Landwehr zusammengezogen wurde, selbst in solchen
Gegenden, welche durch demokratische Agenten ganz unterwühlt schienen, bedürfte
es nur eines Marsches von zwei bis drei Tagen, um Subordination einzuführen
und die lebhaften Gefühle eines militärischen Patriotismus zu entflammen. Das
war in Sachsen und in der Rheinprovinz eben so gut der Fall als in Pommern
und Schlesien. Wie mau auch die Formen, in welche» sich dies militärische Preu-
ßenthum äußerte, beurtheilen will, den Grund dieser Gefühle soll man nicht ta¬
deln. Für den einfachen Sohn des Volkes ist in Preußen sein Soldateuthum
das Höchste und Edelste was er kennt, in ihm wurzelt sein Idealismus, sein
Verständniß des Staates, als eines großen Ganzen, dem er als ein kleiner, aber
schmucker Theil angehört. Wir Kulturmenschen können uus nicht leicht in die
Empfindungen und Vorstellungen versetzen, welche dem Banersvhn oder dem jun¬
gen Handwerker komme», wenn er Soldat wird. Aus dem kleinen Raum, in dem
er den Dreschflegel oder die Axt führte, tritt er ans einmal in eine Gemeinschaft
mit Tausenden, in eine festgeregelte und wieder gemüthliche Beziehung zu den
höchsten Gewalten des Staates.
Zu den stolzesten Momenten seines Lebens gehört der, wo er mit seinem Ar¬
meecorps in Parade, oder manövrirend vor seinem General oder dem Könige sich
^igt. In solchen Stunden geht ihm aber nicht »Ur el» Verständniß ans des Znsam?
menhangs und der Abhängigkeit, in welcher er als Einzelner zum Ganzen des
Staates steht, sondern auch seine Phantasie erhält durch den kriegerischen Glanz,
der ihn umgibt und die imponirende Thätigkeit, an welcher er Theil nimmt, tiefe
Eindrücke. Und wenn er nach zwei Jahren Kriegsdienst zu seiner friedlichen Arbeit
zurückkehrt, so verklärt sich ihm i» der Erinnerung sein Soldatenleben mit einem
erstaunlichen Glänze, und jedesmal, so oft er die Trommel oder Fanfare Hort, wird
die Vergangenheit in ihm lebendig, seine Haltung wird straff, sein Schritt ener¬
gisch und sein Ange glänzt stolz und freudig. Daß diese Schilderung nicht über¬
trieben ist, kann in Preußen Jeder wissen. Und sie bleibt über die Jahre der
Jngend hinaus. Die Veteranencorps, welche sich ans alten Männern überall in Preu¬
ßen im letzten Jahre zum Schutz des Königs gegen die „Demokratie" freiwillig
gebildet haben, sind ein rührender Beweis von der Kraft dieser Gefühle, obgleich
sie in ihrer Erscheinung oft sehr ungeschickt, ja einfältig waren.
Daß aber in Preußen eine militärische Organisation existiren kann, welche
das ganze männliche Geschlecht zu Soldaten macht, und die Masse des Volkes in
gefährlichen Staatskrisen so energisch in's Loyale und Conservative umzustimmen
vermag, wird nur dadurch möglich, daß eine große Summe von tüchtiger Bil¬
dung im Volke vorhanden ist, daß ein freier Blick, eine Richtung des einzelnen
Menschen auf das Große und Allgemeine und Achtung vor dem Gesetz in die See¬
len der Bürger hineingebildet sind. Es gehörte schon ein hoher Sinn dazu, das
Institut der Landwehr zu gründen, und nur in einem Staat, welcher „Civilisa¬
tion" mit Anspannung aller Kräfte erstrebt, ist es möglich, daß ein solches Insti¬
tut daure und gedeihe. Der höchste Liberalismus im Unterricht, die freiste Be¬
wegung des Menschen im Reiche des Gedankens war nöthig, um dies conserva¬
tive Institut sowohl zu schassen, als zu erhalten. Und wie die freie Wissenschaft Nord-
deutschlands den conservativen Landbau Preußens zu einem so starken Pfeiler des
Staates gemacht hat, so hat auch das Selbstgefühl freier Geister deu Preußen
die Möglichkeit gegeben, in dieser Art eine loyale Wehr des Landes zu werden.
So erscheint der Liberalismus Preußens und seine conservative Kraft als zwei
verbundene Gegensätze, welche einander gegenseitig hervorrufen, als zwei Pole des¬
selben Magnets, von denen der eine die Kraft des andern um so mehr steigert,
je höher die eigene wird; und weil dies so ist, deshalb vermag Preußen einen
stärkern Kampf der umstürzenden Theorie und der stabilen Praxis auszuhalten,
als die ängstliche Sorge Vieler in der Gegenwart annimmt.
Aber es folgt für Preußen daraus anch die große Verpflichtung, in seinem
Staatsleben einen freien Raum zu gewähren für die gegenseitige Spannung der
beiden Pole, in denen es schwebt. Noch fürchtet die Regierung und ein großer
Theil des Volkes, erschreckt durch den wüsten Unsinn, welcher die Fortschritte des
letzten Jahres begleitete, das Wohl des Staates zu gefährden, wenn sie im Staats¬
leben nicht das conservirende Element zu überwiegender gesetzlicher Geltung bringen.
Dauert diese ängstliche Sorge fort, so muß sie den Staat schwächen und nicht
stärken. Grade weil der preußische Staat so gute Garantien für seine Dauerbar-
keit hat, hat de>' Bürger dieses Staates auch das Recht zu verlangen, daß ihm
voller Antheil werde an den constitutionellen Rechten, welche ein edles Volk der
Regierung gegenüber für sich fordern darf. Und in diesem Sinne gilt der Satz,
der Preuße wird um so loyaler sein, je freier seine Staatsverfassung ist.
Die staatliche Union Preußens mit den kleinern protestantischen Staaten, von
denen Sachsen, Hannover und Würtemberg vorläufig auszuscheiden sind, muß trotz
aller Aehnlichkeit der Bildung in all den einzelnen Staaten, doch für den neuen
Bundesstaat eine andere Richtung geben, als Preußen für sich allein hat. Der
Bundesstaat wird in seinen Kammern und seiner Gesetzgebung etwas liberaler sein
müssen als Preußen, der richtige Schwerpunkt unseres politischen Lebens wird
durch diese Verbindung etwas mehr nach links gelegt. Zwar bringen Mecklen¬
burg und Oldenburg zum neuen Staat noch sehr conservative Elemente, denu der
große Grundbesitz hat dort noch ein fast bedenkliches Uebergewicht, dagegen tritt
von Thüringen bis zu der Südspitze von Baden ein Terrain zum Bundesstaat, in
welchem eine fehlerhafte Hypvthekenordnung und eine schlechte agrarische Gesetz¬
gebung übergroße Parzellirung des Bodens, ein zahlreiches^ ländliches Proletariat
und daraus im Volk eine Neigung zu Neuerungen und schnellen Veränderungen
entwickelt haben. In den freien Handelsstädten aber andererseits eine Masse von
praktischer Intelligenz, welche im Bundesstaat das Verhältniß des Großhandels
zum Landbau zum Vortheil des erster» andern wird. Alle kleineren Staaten aber
haben die militärische Loyalität der Preußen gar nicht, die politische Intelligenz
des Volkes hat sich fast überall in dauernder, oft erbitterter Opposition gegen die
einheimische Regierung entwickelt, und die größte Anzahl der Männer, welche dort
die politische Bildung repräsentiren, sind nicht, wie dies in Preußen gewöhnlich
ist, durch militärische oder Beamtcnchargen mit der Negierung verdürbe», sondern
stehen frei in selbstgeschaffenen Kreise praktischer Thätigkeit unter ihren Mitbür¬
gern. Dazu rechne mau, daß in den südlicheren Staaten auch die Seele der
Völker beweglicher, reizbarer und sanguinischer wird.
So läßt sich schon jetzt ein Unterschied in der politischen Bildung und den
Interessen der verschiedenen Bundesstaaten trotz aller Aehnlichkeit nicht verkennen.
Beide Theile werden nachgeben müssen, auch Preußen, und die Aufgabe des Für¬
sten, welcher dem neuen Bund vorstehen soll, ist jetzt vorzugsweise die, genau
den Punkt zu erkennen, bis zu welchem er den Liberalismus der neuen Bundes¬
regierung gegenüber einem verständigen preußischen Regiment vorwärtsschieben muß,
um eine wirkliche Verbindung der gemüthlichen Neigungen und materielle» In¬
teressen zwischen den einzelnen Theilen des neuen Bundes hervorzubringen.
Vielleicht ist dies für einen preußischen Fürsten schwerer, als wir annehmen.
Nothwendig aber ist eine Nuancirung der preußischen Politik, wenn der neue
Bundesstaat Kraft und Bedeutung gewinnen soll. Wenn die extremen Parteien,
welche unsere Revolution heraufgewüblt hat, in ihrer Nichtigkeit allgemein alter?
kennt sein werden, dann werden die kleinern Staaten der neuen Union mit ihren
„gemäßigten" Deputirten den größten Theil der linken Seite in unsern Reichs¬
tagen bilden, die preußischen und mecklenburgischen Deputirten die Rechte. Es
ist klar, daß bet solcher Zusammensetzung ein Ministerium der Centren anders¬
wohin zu stehen kommt, als bei der gegenwärtigen Kammer in Preußen. Schon
der nächste Reichstag wird dies aufweise», und es ist dringend zu wünschen, daß
die Logik dieser Thatsachen allgemein erkannt werde.
Man soll, was hier gesagt ist, nicht ein Träumen in unsichere Zukunft schel¬
ten, grade jetzt kommt es darauf an, sich klar zu machen, in welchen Formen
unsere Vereinigung vor sich gehen muß, wenn sie überhaupt segensreich werden
soll. Alle aber haben wir jetzt vorwärts zu sehn ohne Wanken und Zweifel, und
klar zu erkennen, was wir fordern müssen und erwarten dürfen.
Wenn es das größte Vergnügen ans Erden ist, mit einem Menschen zu plau¬
dern, von dem man ganz verstanden wird, so kommt gleich dahinter das andre
Vergnügen, sich mit Einem zu unterhalten, von dem man unter keinen Um¬
ständen verstanden werden kann. In diesem gemüthlichen Verhältniß stehn wir
beide zu einander, ich und Ihr, mein alter Kauz Michael Mros, Wasserpollak.
Deun deutsch geschriebene Briefe lest Ihr grundsätzlich nicht, und selbst wenn Euch
der Krämer, bei dem Ihr Euren auffallenden Knastertabak kauft, einen polnischen
Brief vorliest, so fallen seine Worte in Euer Ohr, wie Haferkörner in kalten
Märzbvden, sie müssen lange Tage in der arbeitenden Tiefe Eures Hirns liegen,
ehe sie in Euch aufgehen und lebendig werden. Ihr habt gar keine Ahnung da¬
von, wie sehr ich Euren treuherzigen, dicken Kopf liebe. Als Ihr im vorigen
Sommer 48 in der berüchtigten Berliner Nationalversammlung saßet und harmlos
Eure Butterstolle auf der Sitzuugsbauk verzehrtet, während draußen die Basser-
mcmnschen Gestalten wütheten, da hat sich das stille Band zwischen uns gewoben;
und als Ihr im November in Eure Heimatl) kamt, in der Tasche 200 Thaler
ersparte Diäten und auf dem Leibe einen alten städtischen Rock, den Euch ein
Mitglied der Linken für Euer radikales Stimmengebcn geschenkt hatte, und als
Ihr wegen des städtischen Rocks und wegen der 200 Thaler, die ihr als Steuer
erhoben hattet, während Ihr dem König die Steuern verweigertet, von Euren
würdigen Wählern sehr ausgehauen wurdet, da, Michael Mros, kam mir die Rüh¬
rung zur Bewunderung. Seltsamer, schwer verständlicher Mann! da ich Euch in
vorigem Jahr deu Abschiedsbrief schrieb, dachte ich nicht, daß mir noch einmal die
Veranlassung werden würde, mit Euch in Verbindung zu treten.
Lieber Mros! Denkt an jene Sitzung der souverainen Nationalversammlung
Von 48, wo ein Deputirter der Linken in heftiger Aufregung aus die Tribüne
sprang und den Ministertisch durch die drohenden Worte zerknirschte: hinter uus
steht eine ungeheure Majorität. Bei diesen Worten wies er zur Seite auf Euch.
Ihr aber saßet verklärt da, strampeltet vergnügt mit Händen und Füßen und
schriet in Eurem Teufelspolnisch: ^c-s —Majorität — mi Il^v»! Aber Ihr wart in
großem Irrthum. Vier Wochen darauf wies sich die ungeheure Majorität als
sehr klägliche Minorität aus, die Souverainetät der Constituante sank wie die be¬
wußte Souverainetät Eurer Ochsen, die Ihr einem pfändenden Gcrichtöamt gegen¬
über behauptet hattet, in Trümmer; die Constituante wurde aufgelöst, Eure Ochsen
eingesteckt. Und denkt Euch, Mros, jetzt, nach einem Jahre, steht wieder auf der
Tribüne ein Andrer, diesmal einer von den Ministern der rettenden That, und
donnert ebenso einer, jetzt sehr soliden Linken entgegen: hinter uns steht die unge¬
heure Majorität! Aus dem Ministerium «juoitjue ist ein Ministerium ^iticv^no
geworden; jetzt fühlt sich wieder ein Mann, daß er im Gleise der Majorität geht,
und diesmal ist's kein Schreier, sondern Einer, der sonst für besonnen und ver¬
ständig gilt. Mros, mein Liebling, ich fürchte sehr, seine Majorität wird sich in
Kurzem wiederum als eine Täuschung ausweisen. Es nutzt dem guten Herrn
nichts, daß seine Portiersfrau, die deutsche Reform, unsere ehrliche Gevatterin,
einige Tage darauf verlegen und beleidigt von falscher Deutung sprach, die feind¬
liche Böswilligkeit seinen Worten gegeben hatte; der Herr hatte sich wirklich von
der Hitze hinreiße» lassen und hatte mit weniger ministeriellen Takt, als vielmehr
mit sittlicher Befriedigung seine Freude verrathen, daß er die Masse des Volks
hinter sich habe. Es war nicht ganz am rechten Orte, aber es stand ihm nicht
schlecht und er braucht sich darüber uicht zu schämen; es ist für einen preußischen
Münster recht hübsch, wenn er sich auf das Volk verlasse» kauu, und wir wollen
ihm das gönnen, und wenn er zehnmal ein Tory wäre.
Aber, alter Mros, die Sache hat ihren Haken. Es würde mir leid thun,
wenn das, was ich Dir darüber zu sagen habe, gerade sür eine Kränkung jener
ehrlichen Männer gehalten würde, welche die Nothwendigkeit und die Antipathien
ihres gnädigen Monarchen zwangen, ein Ministerium der rettenden That zu wer¬
de», es soll »ur eine Kränkung sein sür den hirnlosen, kläglichen Trost unter der
großen Masse guter Leute, welche jetzt ministerielle Posaunen blasen. Wenn Ihr
'die Verdienste des preußischen Ministeriums untersucht, mein Bursch, so werdet
Ihr allerdings zuerst finden, daß unter seinem Regiment Ihr und Eure Kolle¬
gen von Eure» Wählern, welche plötzlich loyal wurden, etwas gelyncht worden
seid. Das Verdienst des Ministeriums hierbei war, daß es die Nationalversamm¬
lung auflöste und die Landwehr einberief. Beide Maaßregeln ergriff es in der
Stimmung von Männern, welche Alles auf eine Karte setzen. Ihr Spiel gelang,
nicht weil sie besonders klug gespielt hatten, sondern weil der größte Theil des
Volkes vor Begier darnach brannte, sich dem Ersten besten in die Arme zu werfen,
der nur irgend Etwas unternehme, das wie eine That aussah, und weil in einem
Winkel der sämmtlichen preußischen Herze» ein großer Vorrat!) von Loyalität und
Treue steckte, an dessen Vorhandensein die Minister sowohl, als selbst die Persönlichkeit
ihres Souveräns ziemlich unschuldig waren, er ist ältern Ursprungs. Genug, es
gelang; der Wrangel marschirte nach Berlin, Andere mit treuen Herzen und gro¬
ßen Schnurrbärten anders wohin, die Soldaten führten Bürger- und Bauermäd¬
chen zum Tanz, Vater und Mutter wurden loyal un-d wir Preußen erinnerten
uns, daß «die Pickelhaube und das Hurrah zu unseren Familieugenüssen gehörten.
Darauf litt das Ministerium, daß die Steuerverweigerer verfolgt würden, das
war schwächlich und ungeschickt. Es octroyirte eine neue Verfassung?, welche sehr
liberal war, um die Liberalen zu beruhigen. Das war schlan , ob ganz ehrlich, wollen
wir hier nicht untersuchen. Darauf erließ das Ministerin»! eine Menge von organisiren-
den Gesetzen und Gesetzentwürfen, so gut und so schlecht als sie von den routinirten
preußischen Beamte» gemacht werden, ohne gerade viel nach seiner neuen constitutio-
nellen Berechtigung zu fragen, die es sich übrigens in ausgedehntem Maße selbst durch
die Verfassung zu ertheilen, so gütig gewesen war. Die Kammer» treten zusammen,
der König schlägt eine Kaiserkrone aus, die ihm zu demokratisch erscheint,
die Münster opfern ihre persönliche Ueberzeugung — wenigstens ein Theil von
ihnen — und bleiben achselzuckend im Amt; die 2. Kammer wird aufgelöst, weil
sie ihrerseits abweichende Ueberzeugungen äußert, die Minister oktroyiren einen
neuen Wahlmodus, der schlecht und abgeschmackt ist, aber ihne» allerdings die
Garantie für eine sanftmüthige zweite Kammer giebt; diese Kanuner tritt wieder zu¬
sammen, das Ministerin»! verläßt bei der Berathung über die Verfassung sein eigenes
L)cervi, welches nur in der Noth und um dramatisch zu wirken, so gegeben war, und unter¬
stützt die wichtigsten Beschränkungen mit großer Naivetät. — Das mag Alles recht
gut sein, nur sehe ich darin weder Größe, noch Consequenz, »och Kraft. Mros, es ist
ein Ministerium von Hansbeamten, der Wille des Souverains hat sie berufe»,
er lenkt sie auch, wohin er will; wohl ist etwas von preußischer Beamten-und Solda-
tcutreue in diesem Ministerium, ungewöhnliche mämüiche Kraft und besondere sitt¬
liche Würde könnt selbst Ihr mit Eure» Luchsäuglei» nicht in ihm entdecken, Mros,
mein Mignon. Mit mien Akt der höchste» Willkür trat es ins Leben, Willkür war
sei» Dreiköuigsbünduiß, schlechte Willkür sein oktroyirtes Wahlgesetz, und jede die¬
ser großen Handlungen war ein direkter oder indirekter Bruch eingegangener Ver-
pflichtungen oder gesetzlicher Erlasse. Aber das Alles war nothwendig, Mros!
wir wollen auch das zugeben, obgleich wir anderer Meinung sind. Jetzt aber merkt
auf: ein braves Volk von Männern liebt es unter keinen Umständen, solche Her¬
renwillkür an sich geübt zu sehn; auch nicht, wenn sie ihm nützlich und vortheil--
hast ist. Es wird den Mann, welcher sie üben muß, vielleicht achten, aber es
wird ihn nicht lieben und weder seine Phantasie noch seine Wünsche an ihn hän¬
gen. Populär darf ein solcher Held, er heiße Brandenburg oder Melden, nicht
werden, ihm setzt die Nachwelt keine Bildsäulen. Das Ministerium handelte viel¬
leicht hochherzig, als es seinen Kopf und sein Gewissen dem königlichen Willen
überlieferte, wir sind ihm dankbar für das Nützliche, das es uns gethan, aber wir,
Mros und ich, habe» zu viel Stolz, um vor Männern zu kriechen, die unser Va¬
terland nur dadurch retten konnten, daß sie das Volk demüthigem.
Aber nicht mit dem Ministerium wolle» wir zanken, mein Bruder Mros, es ist
zu groß für uns, und sein Fatum schwebt bereits über ihm. So lange die Furcht
vor Auflösung des Staates, Unsicherheit des Eigenthums und euren demagogischen
Hengablen in den Seelen der Besitzenden nachziltert, ist die Fluth des öffentli¬
chen Vertrauens nach dem Soldatenministerium hiu; wie die Austern im Sturm,
so habe» die friedlichen Arbeitsmenschen sich in ihr Haus, ihr Geschäft zurückge¬
zogen und überlassen dem Ministerium sie vor dem Unwetter, so gut es gehen
will, zu schützen; ist jene Furcht aber ganz verschwunden, so wird das Nachdenken
kommen, eine verständige Kritik der ministeriellen Maßregeln, und dann mögen
die Herren zusehe», wie sie bestehe».
Aber ein freundliches Wort wollen wir noch plaudern mit den aktiven Freun¬
den des Ministeriums. Es gibt in Preußen Zeitungsschreiber, welche so viel
Bürgertugend besitzen, daß sie die parlamentarischen Gegner des Ministeriums mit
einem gewissen vornehmen Achselzucken abfertigen, als etwas Veraltetes, Verkom¬
menes, ungefähr so, wie Ihr im vorigen Jahr Euren Pfarrer, als er euch rieth,
weniger Brauntwein in euch aufzunehmen. Ihr fandet den Nath damals recht un¬
geschickt und erklärtet Euren Pfarrer für einen veralteten Mann mit oppositio¬
nellen schrillten. Grade so machen es diese unartigen Nestlinge mit der Mino¬
rität der Kammern, welche mit vielem Patriotismus und wahrhaftig mit nicht
geringer Mäßigung das liberale Element der Nation repräsentirt. Sie schlagen
auf die neuen Lederhosen, welche ihnen das Ministerium geschenkt hat, damit sie
für dasselbe Courier reiten, rühmen die hochherzige patriotische Tapferkeit ihrer
Herren und frage» höhnend, wo war die sogenannte liberale Partei, als es galt
das Vaterland zu retten, diese Gothaer, die widerwillig auf die Entschlossenheit
anderer Leute sehen und selbst ihr Haupt verhüllten, als der Sturm losbrach?
Mros, wo war damals wohl die Opposition? sie ist nicht mit Wrangel i» Berlin
eimnarschirt, sie hat auch nicht geholfen, der Nationalversammlung zu Frankfurt
die Kaiserkrone zurückzuschicken, sie hat weder das Dreikönigsbündniß geschlossen,
noch über das neue Wahlgesetz gejubelt. Wo war sie doch damals, als das Mi¬
nisterium seine rettenden Thaten übte? Möglich, daß sie zum Theil in Frankfurt
war und für das Prinzipat Preußens gearbeitet hat, möglich auch, daß sie in
Berlin zu laut und patriotisch sprach und deshalb nach Haus geschickt wurde; es
gilt jetzt sür „demokratisch," ein Gedächtniß für die Vergangenheit zu haben, und
Mros und ich wollen uicht an das erinnern, was sie damals that. Eins aber
wollen wir sagen, daß es wenige Patrioten von ehrlichem Gemüth und gradem
deutschem Sinn gab, die es nicht einen Kampf und eine schmerzhafte Ueberwin¬
dung gekostet hat, damals dem Ministerium nicht zu widerstehen, als es gegen
königliche Versprechungen und die leidenschaftlichen Wünsche der deutschen Nation,
mit mehr Gehorsam als Weisheit und Schonung das Gespinnst vom Webstuhl der
Nation zerriß, um ein neues durchlöchertes ministerielles Gewebe über das Vaterland zu
breiten. Wer die traurigen Thaten, zu welchen eine finstere Nothwendigkeit zwingt,
als glänzendes Heidenthum preist, verräth eine Sclavennatur, und mein Freund
Mros läßt allen solchen Gesellen sagen, sie wären wie die Spitze des Gemeinde-
Hirten, die zwischen seinen Beinen stehn und bellen. Man kann sie durchaus uicht
bewundern.
Und so lebt wohl, mein ehrenwerther Freund Michael Mros: Und hört,
wenn Ihr nach Breslau kommt und bei Korns Haus vorbeigeht, so geht doch
zur schlesischen Zeitung hinauf und sagt Ihr einiges Zweckmäßige: So geht es
mit ihr nicht weiter, sie sei ein gutes Blatt gewesen, damals, als es galt den
Breslauer Demokraten entgegen zu trete»; jetzt aber sei sie traurig heruntergekom-
men. Wenn ein Breslauer Blatt vom nltracvnscrvativen Standpunkt aus auf die
krakelige „Bourgeoisie" eines Beckerath und unserer Partei, ihrer eigenen Par¬
tei Schimpfe, so sei das zum mindesten unverschämt.
Es gibt viele Hasen und auch viele Aristokraten in Schlesien, und beide
Branchen von Staatsbürgern gehörten zu ihren Abonnenten; aber eine Zeitung
habe die Aufgabe: eine hochgeachtete Freundin ihrer Leser zu werden, nicht eine
Dienstmagd für alle ihre unklaren Stimmungen und Capricen. — Geht Mros,
sagt das der Schlesischen, es ist schade um sie.
Und Ihr selbst, Michael Mros, lebt wohl, an mich denken könnt Ihr nicht,
um so besser; ich bin überzeugt, unser Verhältniß wird um so zarter und idealer
bleiben. Lebt wohl, ich liebe Euch.
So dunkel war es. eines Nachmittags in der Schenkstube „zum schineckenden
Wurm," daß ich von zwei Gästen, die mir gegenübersaßen, Nichts deutlich gewahren
konnte als eine Nase. Sie schimmerte mir traulich entgegen wie ein fernes Licht
dem Wanderer bei Nacht oder wie ein Streifen Abendroth zwischen Herbstwolken
in einem engen Felsenthal. Endlich zündete der Kellner eine kleine Gasflamme
an und siehe da, die lustige rosige Nase gehörte einem hochwürdigen Herrn, den
ich schon zweimal auf demselben Sitz gefunden, auch einst in der Kirche zum
Se. Martin predigen gehört hatte. Seinem Aussehen nach war er aus der zahl¬
reichen Klasse jener Geistlichen, die zu Metternich's Zeiten im Gefühl ihrer
sichern Stellung gerne lebten und leben ließen, die Jagdflinte flinker handhabten
als das Brevier und in edler Duldsamkeit an der Tafel des Gutsherrn die gott¬
losesten Witze über Kaiser, Bischof und Pfarrersköchin lachend mit anhörten. Was
sage ich? Sie gaben selbst Proben ihrer höchst freigeistigen Aufklärung, sprachen,
unter Brüdern, von dem „famosen ol. Strauß" und hatten die ausgelassensten
Wiener Bonmots ans erster Quelle. Erst die Revolution weckte sie ans der süßen
Gewohnheit des Nichtsthuns und Gehenlassens; die ältern nnter ihnen blieben
neutral und tolerant, mehrere junge Priester schwuren sogar zur Fahne der Frei¬
heit und machten slavische oder magyarische Nationaltänze mit; der große Haufe
der geistlichen Philister jedoch ward, dem Posauueuruf der in Wien uachteudcn
Prälatenvcrsammluug gehorchend, National- und Mobilgarde der streitende» Kirche.
Das geistliche Linienmilitär, zu Fuß und zu Pferde, Grobsckützeu und Kosacken
Muß der Jesuiten- und Lignoriauervrdcu liefern. Die Nationalgarde — und zu
ihr gehörte mein Stammgast im schmeckenden Wurm — dient in dem heiligen
Kriege wider den Geist der Zeit als Kanonenfutter. Sie ficht sehr plump
und regellos, macht mehr Lärm als Beute, und poltert fleißig auf der Kanzel
und im Beichtstuhl mit deu hohen Himmelscourierstiefeln herum, ohne der Schlange
grad immer auf deu Kopf oder den Schwanz zu treten.
Diesmal schien der Mann Gottes im besten Humor, er hatte eine arme
Schreiberseele gefangen, die neben ihm saß, und bestellte zur Feier des Tages be¬
reits den dritten Humpen Ministerbier. — „Also, das ist brav, Sie kommen zu
Uns," sagte er; „und werden es »ich! bereuen." Es handelte sich nämlich um
^e Aufnahme des Schneiders in einen Club, welcher sich katholischer Berein nennt.
»Man hat uns oben zu verstehen gegeben, daß wir uns anch während des Be¬
lagerungszustandes aufthun dürfen, da wir doch der guten Sache nur nützen kön-
nen. Wir meinten darauf, daß wir keine Ausnahme für uns wünschen, sonst
heißt's gleich, wir wollen die Freiheit mit Haut und Haaren verschlingen. Sie
kennen ja das Pack. Aber, haben die Herren gemeint, es wäre besser, nicht
so lang zu warten, denn die Revolutionärs sind im Stillen auch nit faul; die
verkappten Radikalen — jetzt spielen's die Loyalen und kommen fortwährend
mit der Konstitution, als wär' die nur so ein Haderlumpen, gut genug, daß sie
sich damit die Sau- und Blutflecken vom zweiten Charfteitag 1848 *) von die
Judensingcr wischen und wcgamnestiren — also, die sollen wir nur bellen lassen.
— Jemiue, die Radikalen! entgegnete der Schneider, gravitätisch den Kopf schüt¬
telnd, und reichte dem Pfarrer eine Prise; mich Haben's anch einmal in's Odeon
verführt, mich und meine Frau. S'waren halt Flausenmacher, für die ich ge-
arbeit' hab. Meine Thres' hat die ganze Nacht nicht schlafen können, mich immer
arg'stoßen wie nicht g'scheidt. Aber, Ferdtl , sagt sie, dein' Gott wirst dir
doch nicht nehmen lassen? — Ja, darauf sehen's die Radikalen in der ganzen
Welt ab. Auf den Sack schlägt man und — sie schimpften auf die Minister und
haben den Kaiser gemeint; sie raisonnirten über die hohe und niedere Geistlichkeit
und haben eigentlich gegen unser» Herrgott selber Krieg angefangen ! — Ich kann
mir nicht helfen, rief der Schneider, über den die Gnade immer dicker herein¬
brach; nein, die Constitution kommt mir manchmal auch ein differt wie so'ne Ra¬
dikale vor. — Ist nicht so gefährlich, beschwichtigte der hochwürdige Herr; die
Constitution U noch jung und muß erst gezogen werden. Freilich, s'ist Manches
drin, womit keine Ruh und kein Auskommen wär' auf die Länge. Zum Beispiel die
Schulen. So ein neumodischer Schullehrer haut mit seinem Lineal in einer Stund
alle zarten Christbäumchen um, die der Seelsorger das ganze Jahr in die Herzen
feiner Pfarrkinder gepflanzt hat. Das darf nicht sein, der Schullehrer muß unter
der strengsten Aussicht des Geistlichen stehen. Ohne Religion ist einmal Nichts
und dabei bleib ich — auf den Tisch schlagend, daß die Gläser klirrten. Er sah
mit einem fragenden Blick zu mir herüber. Ich glotzte ihn schweigend an.
Vorigen Sommer, fuhr er fort, seiue Stimme mit Absicht lauter erhebend, ore
der Pillersdorf die Religion abgeschafft hatt', da sah man gleich die saubere Hei-
deuzucht. Hab ich doch die Wirthschaft aus den Barrikaden selber angeschaut!
Er beschrieb nun das frivole Treiben in den berühmten Wiener Maimondnächten,
als Kaiser Ferdinand floh, aber mit einem gewissen Behagen und in so drastischer
Kennersprache, daß meine Feder roth würde, wenn sie es nachschreiben sollte.
Und meinen's, daß sie sich vor mir oder meinem Kleid genirt hätten? Ha, ha!
Gelände haben sie und die Hüte und Schürzen und Tücher mir zugeschwenkt, als
hätten sie den Pater Fühler vor sich. — Er dentelee sich hier selbst, wahrfchein-
lich um das revolutionäre Gelächter der Emancipirten abschreckend darzustellen.
Schon recht! rief er wieder mit pathetischen Zorn: nur philosophisch: So kommt's,
wenn lauter Supergelehrte und Feinredner regieren!! Und er ward dunkelroth im
Gesicht, vielleicht von dem stechenden Blick, den ich ihm zuwarf. — Lieber Mann
Gottes, waren es denn Sänglinge, die in jenen Mainächten den züchtigen Wiener
Mond so betrübten? Drei Monat alte Sänglinge, geboren am 13. März, Nach¬
mittags Punkt fünf Uhr? Ich glaubte immer, die Garden und Legionäre seien
hübsch große Kinder aus der guten alten Zeit gewesen, aufgewachsen unter Euerer
Zuchtruthe? An der übertriebenen Gelehrsamkeit im alten Oestreich kann's aber
auch nicht gelegen haben? — Diese Fragen enthielt mein Blick, allein der Hoch¬
würdige verstand ihn nicht zu entziffern. Er verbreitete sich gegen seinen Neben¬
mann über die ausgedehnte Verzweigung des katholischen Vereins und über die
segensreichen Folgen seiner Wirksamkeit für den Himmel und die Erde. Wir er¬
strecken uns, sagte er, an den Fingern zählend, erstens durch die ganze Mmiarchie, zwei¬
tens durch Vaterland, Schwaben, Baden und Rheinland, drittens durch Belgien
und die Schweiz , endlich, und das ist die Hauptsache, bis Äef „ud hoch in's
Französische hinein! — Und triumphirend, wie der heilige Görg vom hohen Roß
herab auf den Lindwurm, sah er bei den letzten W. auf den kleinen Schneidermeister ^
herunter. — Na, sagte dieser gähnend; so wird's mit den Franzosen auch bald
aus sein? — Das versteht sich. Wer kann ruhig schlafen in Europa, so lang
die Pariser Revolution dauert? Man kommt ja zu Nichts, vor lauter Zeitung¬
lesen, die Kirchen stehen leer, die Messe wird rein vor'in Bettelvolk gelesen und
tritt man in den Beichtstuhl und guckt durch's Gitterloch, so melden sich lauter
alte Weiber. S'ist erbärmlich. Die größten Potentaten wie die kleinsten müssen
in Einem fort den Courszettel auswendig lernen und schicken jeden Augenblick
zum Rothschild und zum Sina, zum Sina und zum Rothschild, wie der König
Pharao zu deu Zeichendeutern oder wie Saul nach der Hexe von Endor; sie kön¬
nen ja nicht wissen, was heut oder morgen dem ersten besten Republikaner für
eine Jnterpellation einfällt. Gewiß, mein braver Herr Obermaier, dem Krater
der Revolution wird man mit Gottes Hilfe schon den Rachen stopfen.
Geschlossen wird er einst, sagte ich; aber Euere Hände sind zu diesem Werke
am wenigsten berufen oder auserwählt. Was ist seit sechzig Jahren nicht geopfert
worden, um den geheimnißvollen Curtiusschlund zu befriedigen, und er gähnt
noch immer, schwarz und unheimlich wie einst. Ganze Menschengeschlechter, sieg¬
reiche Heere, zertrümmerte Städte und hundert Thronsessel wurden hineingestürzt,
umsonst. Dreimal ward eine hohe zackige Krone um seinen Rand geschmiedet,
sie schmolz. Jetzt sitzt der Louis Napoleon des Friedens als loser Stöpsel
drauf und nähmt Ihr einen Stöpsel von Gottes Gnaden mit einem Purpur¬
mantel und rauschgoldigem Königsstecken in der Hand, — er frommt nur kurze
Zeit. Und frommt er auch länger: der ausgebrannten Vulkan dort ist nicht der
furchtbarste mehr. Ein anderer Krater hat sich in Rom geöffnet und ans ihm werden die
nachterhellenden Schreckensflammeu einst über die ganze katholische Welt auflodern.
Versuche es und setzt Euren stattlichsten Prälaten über die Oeffnung, ob er den Ausbruch
ein Viertel Jahrhundert lang abhalte! Wohl gäbe es ein Mittel: die Gesammtdumm-
heit des heiligen römischen Alröstreich frisch hineingeworfen, — diese Nieseulast
reichte wohl hin, den unerbittlichen Abgrund auf gütlichem Wege auszufüllen.
Doch wer kann von Euch solch theures Opfer verlangen? —
Diese radikale Aufwallung hatte mein vis-it-vis in mir hervorgerufen. Wäh¬
rend meiner laugen Anrede war der fromme Schneider selig eingeschlafen und ac-
compagnirte mit elegischen Nasenlauten meine terroristischen Worte. Doch, die
Wahrheit zu gestehen, ich hielt die Rede blos in Gedanken; ich war so stumm
wie die Stockuhr in der Ecke, deren Pendel stillstand, und wie der Geistliche,
der, mit auf den Tisch geftemmteu Ellenbogen dasaß und mich starr ansah.
Er mochte in meinem Mienenspiel gelesen haben, was mir die Seele bewegte,
und hub an einzulenken: Sie halten mich wohl für einen Finsterling, aber, mein
Herr, Sie irren sich. Die Freiheit ist eine edle Gottesgabe, die Ausklärung ziert
den Menschen und ich habe in meinem kleinen Wirkungskreise die Unduldsamkeit
stets bekämpft; wenn man nur immer zwischen der wahren und der falschen Tole¬
ranz zu unterscheiden wüßte! — Phe! erwiederte ich, aufstehend, nahm den Hut
und rannte ihm in's Ohr: Hochwürdiger Herr, Sie sind des Teufels.
Er fuhr aus. — Stille, rief ich. Sie reden sich um Ihr Seelenheil. Wissen
Sie, was ein gewisser Prediger vorigen Sonntag in der Martinskirche von, der
Kanzel herabdonnerte: Das aber sageich Euch, wer da mit einem Juden, einem
Ketzer oder Radikale» freundliche Worte wechselt, der wird am hellen Mittag
lebendigen Leibes zur Hölle fahren. Sie haben mit mir gesprochen, und wohl
Ihnen, wäre ich nichts Schlimmeres als ein Ketzer--- (Forts.folgt.)
Haynau zum Dictator in Oestreich ausgerufen! — Diese tele¬
graphische Depesche ist nicht von meiner Erfindung, sie steht, ziemlich unverblümt,
in den meisten östreichischen Journalen. Haynau habe gedroht, die Monarchie im
Stich zu lassen, wenn ihm die Vollmacht über Leben und Tod in Ungarn geschmä¬
lert würde. Diese Drohung habe jede Rücksicht der Menschlichkeit und Klugheit
überwogen und das Geschrei der Völker, die Stimme Europas übertönt. Der
Kaiser, der Hof, die Minister beugten sich unter den Willen des eisernen Lands-
knechts und halbem ihn noch einmal zum unverantwortlichen Herrn und Richter
auf unbestimmte Zeit. Zur Besiegelung des erneuten Contractes mit dem Er¬
barmungslosen wurden denn auch am 20. October in Pesth wieder drei unga¬
rische Stabsoffiziere, Havanconr, Girvn und Fürst Woronjecki, hingerichtet und
Zwar durch den Strang. Der letztere Umstand dient der allgemeinen Sage zur
Bestätigung. „Der Galgen." heißt es, — „ja das ist Haynau, das ist sein Arm,
seine Hand und Unterschrift!"
Wie viel Wahrheit, wie viel Dichtung dieser Auffassung zu Grunde liege,
erräth mau leicht. Das Heer ist Dictator in Oestreich und Haynan ist in die¬
sem Augenblick das Heer. Er ist die sichtbare Verkörperung des herrschenden Sy¬
stems. Der Volksglaube macht ihn daher zum leiblichen Gottseibeiuns, zum al¬
leinige» Urheber aller Schrecke» in Oestreich. Obgleich die alte Naivität allmälig
zu schwinden anfängt, könnte es doch geschehen, daß Haynan nach vollbrachtem
Tagewerk ein gar nutzbarer Sündenbock würde; denn unsere Zeitungen suchen aus
Gründen der Loyalität die kindliche Anschauung früherer Zeiten festzuhalten und
mit schlechter Schminke neu aufzufrischen.
Es ist unglaublich, was in unsern großen Blättern fabnlirt wird. Wahr
sind blos die Ernennuugs-, Bcfördernngs- oder Hinnchtnngsanzcigcn. ES fehlt
nicht an geschäftigen Zu- und Zwischenträgern, Offizieren und Beamten, die aus
Wohldiencrei der Journalistik geheimnißvolle Mittheilungen zum Geschenk machen;
je uach der Farbe des Blattes bringe» sie Deuuuciativuc», Verschwärzungcn An¬
geklagter juud Verfolgter oder liberale Hofauekdvten und kaiserliche Genie- und
Kraftsprüche. Was nur irgend wie ein diplomatisches Kulissengcheimniß aussieht,
macht die Zeitungsschreiber glücklich; und sehr häufig gehen selbst die unabhängi¬
geren Blätter, halb unbewußt, in die Falle.
Am grellsten zeigte sich diese Taktik in den theils frauenhaften, theils senti¬
mentalen Nandzeichnungen der hiesigen Journale zum jüngsten Auszug des unga¬
rischen Trauerspiels. Die fabelhaften Widersprüche und Albernheiten darin ver¬
dienen eine kurze Beleuchtung. Scheiden wir aber erst die Schreibcrwclt in zwei
Lager, und beginnen wir mit den gut- und bestgestnutcn Organen: Oestreichischer
^»rrespondent, Courier, Geißel, Hans Jörgel u. s. w. Dies sind die Schafte
zur Rechten Schwarzeubergs sitzen, gemüthliche» Blutdurst predigen und aus
östreichischen Patriotismus kroatisches Deutsch kauderwälscheu. Lauge vor Bat-
rhyani's Tod flüsterte der östreichische Korrespondent von 17 Zeugen, die des Grafen
Mitschuld am Morde Latour's beschworen hätten. Im kriegsrechtlichen Urtheil
über Batthyani stand Nichts davon. Ferner, als die Nachricht vom 6. October
"^gemeine Bestürzung erregte, säuselte ein halboffizielles Blättchen: Haynau hat
^r der Execution die Proceßakten ans Appellationsgericht geschickt und dieses be¬
stätigte Batthyani's Verurtheilung. — Das Appellationsgericht hielt den Athem
an und schwieg. Von den Proceßakten war nach zwei Tagen keine Rede mehr.
Vielmehr sprachen die schwarzgelben von einem Standpunkt der höhern Politik,
von Rücksichten des Staatswohls (!). „Die politische Wirkung der Execution,"
flötete die Pesther Zeitung, „wird jedenfalls eine erschütternde, beugende sein; auch
wird sich dadurch die Meinung feststellen, daß die Regierung mit allen magya¬
rischen Sonderparteien gebrochen hat; eine Wendung, die wir durchaus nur als
eine vortheilhafte ansehen können." Eine Hinrichtung als Programm! Warum
nicht? Endlich schmunzelte eine andere schwarzgelbe Zeitung: Nun, die letzten Hin¬
richtungen werden hoffentlich dazu dienen, die Herren Houvcdofsiziere, die noch
immer in ihrer Uniform herumstolziren, bescheidener zu machen. — Da haben wir
den pädagogischen Standpunkt. Man schlägt einem Schulbuben den Kopf ab, da¬
mit die andern ihn nicht zu hoch tragen. Das Wiener Volk aber verhöhnte die
rothmvnarchischen Schreiber und sagte: „Larifari! Den Batthyani hat ja Nie¬
mand anderer hinrichten lassen wie der Kraus Pascha, wegen der 7 Millionen.
Der Finanzminister Hai's gethan und der wird schon wissen, was er thun soll.
Wenn er ihn nur gleich in Sechser!, die eigentlich 4 Kreuzer werth sind, unge¬
münzt hätt!" Kurz, nach wenigen Tagen verschluckten die Kauderwälscher ihre
eigenen Geschichten von den 17 Zeugen, von den eingesandten Proceßakten und
stimmten in den Chorus ein, der aus dem andern Lager ertönte, zu welchem wir
sogleich übergehen werden.
Wir kommen also jetzt zu deu anrüchigen Böcken, welche zur Linken Schwar-
zenberg's sitzen. Dies sind die „Schand- und Brandblätter," die „Kloaken des
Republikanismus, ja sogar des Radikalismus," Organe, „deren ein jeder Artikel
eine politische Zote ist/") die nnter „hochdeutscher Phrasenblnme die Schlangen
des Umsturzes verbergen," kurz Journale, die so wüthend und blutdürstig sind,
„jetzt schon," um Amnestie zu bitte», Gnade zu verlangen, Versöhnung zu win¬
seln: Wanderer, Presse, Ostdeutsche Post n. s. w. Bereits im September ließ
die Gutmüthigkeit dieser Blätter einen kaiserlichen Courier mit dem weißen, Gnade
winkenden Schnupftuch nach Ungarn gallopiren. Richtig machten gleich darauf ei¬
nige Hinrichtungen, auf Abschlag, den Courier zur Mythe. Darauf ließen sie den
kaiserlichen Adjutanten, Grasen Grünne, mit einem Befehl zur Einstellung der
Executionen in der Tasche, abreisen. Diesmal war die Nachricht halbosfiziell, au¬
thentisch. Der 6. October brachte eine blutige Widerlegung. Schmerz, Schrecken
und Erbitterung bemächtigte sich der Gemüther. Die Schand- und Brandblätter,
gedrängt von der Aufregung des Publikums, falteten die Hände, flehten nochmals
um Gnade, baten um Klugheit und um Rücksicht aus die öffentliche Meinung,
auf die Stimmung des Volkes, die sie nur schüchtern ahnen lassen durften; die
„Presse" wagte sogar, in Sachen Batthyani's auf den Rechtspuukt anzuspielen.
Die Stellung der armen Schandblätter war bemitleidenswert!) und ihr Benehmen
so ehrenhaft als der Belagerungszustand es erlaubte. Nachdem sie den Anforde¬
rungen der Humanität genügt, erwachte ihre Sorge um die Monarchie und mit
einer Loyalität, die bessern Dank verdiente, als ihr werden wird, beeilten sich die
sentimentalen Wühler, die Tradition von der väterlichen Milde der Habsburger
zu retten, den jungen Kaiser in der Vorstellung des Volkes von Hayuau zu tren¬
nen; es entstände» mit einem Zauberschlag die kühnsten und hoffiumgörcichsten
Voraussetzungen, Vermuthungen und Gerüchte; Versicherungen aus bester Quelle
und von wohlunterrichteten Personen, die ein halboffizielles Ansehen hatten, wur¬
den ausgestreut: — Graf Grünne hatte seine Botschaft falsch ausgerichtet und ist
von der Person des Kaisers entfernt worden! — Wird ein Auftrag der Art der
mündlichen Mittheilung anvertraut? Ist er nicht wichtig genug, um ein Blatt Pa¬
pier darauf zu verwenden? — Die Minister sind anßer sich — CabinetSkrisiS —
Der Kaiser hat geweint, er hatte Nichts geahnt — lebhafte Scene zwischen Va¬
ter Radetzky und Haynan — Haynan hat Urlaub genommen, ist in Gnaden ent¬
lassen. — Ein dritter, diesmal wahrhaftiger und wirklicher Gnadeucvurier ist nach
Ungarn geflogen! und richtig, am 20. October erheben sich in Pesth drei neue
Galgen und werfen ihre nächtigen Schatten bis in das Herz des Wiener Volkes.
Grünne avancirt zum Gesandten in England — die Minister schreiben ruhig ihre
„allerunterthänigster Vorträge" weiter — Bach lächelt und Schmerling bringt ei¬
nen Toast aus die Einheit Deutschlands ans — Vater Nadchky schüttelt Haynan
die Hand — Haynan kehrt auf seinen Posten zurück, - der Kaiser geht zur Pa¬
rade. Und das Volk? — wird kalt, höhnisch und verlernt zu glauben. Hängt
zu! sagt es; meine Nerven sind abgestumpft. negiere, wer da wolle: Haynan,
der Kaiser, Sophie oder Schmerling: es ist Eins, Alles Eins!
So entsteht die im Anfang dieses Briefes erwähnte Sage. Haynau terrori-
sirt die Dynastie. Er führt das Schwert sammt dem Zepter, und die Schuld
des am 6. und 20. vergossenen Blutes trägt einzig und allein der Dichter Karl
Beck, der sein halb bittendes, halb warnendes Amnestielied
(„Den Aerzten wie den Königen
Sind viel der Leichen eine Schande")
falsch adressirt hat. Er hätte es nicht „An Franz Joseph," sondern „An Baron
Haynan" überschreiben solle».
Aber ist die Sage von Haynau's Allmacht nicht eben so lächerlich wie ver¬
zweifelt? Er ist nichts als ein treuer Diener seines Herrn. Die ihm die Voll¬
macht gaben, kannte» den „Feldherrn Einhalt" von Brescia her, wußten deu
Gebrauch, den er von ihr machen würde, und habe» seine Thaten zu verantworte».
Seine angebliche Drohung wäre sie nicht eine Albernheit gewesen? Haynan ist nicht
unentbehrlich, sein militärisches Talent ist kein unerhörtes, und was sein Profoßen-
talent betrifft, — es wird den Großdeutschen zur Freude gereichen, wenn ich-
ihnen versichere: die östreichische Armee zählt noch viele Hayuaus. Ja, Herr Buß
und Herr Baily werden mir ohne Zweifel um den Hals fallen, wenn sie hören,
was die Offiziere aus uuserer italienischen Armee behaupten: Haynau ist gegen
d'Aspre ein Lamm!
Ich habe vorhin gezeigt, daß die sogenannte Opposttiouspresse hier gut
östreichisch, rasend großdeutsch und vor Allem eben so dynastisch ist, wie die
„Wiener Zeitung." Trotzdem hat ihre Haltung in der Haynau'schen Sache die
höhern Regionen in Aufruhr versetzt. Empört und verblüfft hat die Annahme, daß
die Hinrichtuugspolitik einer Beschönigung bedürfe. Die Zahl der vorgenommenen
und noch vorzunehmenden Executionen steht ja in ziemlich richtigem Verhältniß
zur Bevölkerung des besiegten Landes; mehr könne billiger Weise nicht verlangt
werden. Man will das System des Schreckens mit eiserner Konsequenz durch¬
führen. Es geht die Rede von Einführung einer Militärccnsnr n ki» Krakau,
Lemberg und Venedig. Unterdrücke wurden der „Grazer Courier" und der hie¬
sige „Telegraph," verboten sind ein Dutzend ausländischer Zeitungen, die früher
zu den gelesensten gehörten. Die Negierung glaubt mit der beschränktesten Preß'
freiheit nicht bestehen zu können; an eine Aushebung des Belagerungszustandes ist
gar nicht zu denken. Eher wird er stillschweigend permanent erklärt werden, wie
die neue Organisation Ungarns nach Militärdistnkicn zeigt; nicht blos in Ungarn,
auch in Galizien, Italien, Dalmatien, Kroatien und Böhmen herrscht die Ten¬
denz vor, auf lange Zeit die Militär- und Civilgnvalt in einer (Soldaten)-Hand
vereinigt zu halten. Das soll die Regierung stark machen; der aufgeklärte Des¬
potismus, meint man in Schönbrunn, thue in Oestreich Noth zur Erziehung der
Volker. Möglich; wer aber macht erst unsere Generale aufgeklärt, wer erzieht
unsere Haynan's, d'Aspres und HammerstcinS zu Menschen des neunzehnten
Jahrhunderts!?
Das freie, einige und starke Oestreich ist eine Parodie auf das freie, einige
und mächtige Deutschland. Die Stärke ist vorhanden, aber sie ist krampfhaft.
Die Einheit hat gewaltige Nisse, die nicht dnrch Ketten und Galgcnstränge, son¬
dern durch deu schöpferischen Verstand künftiger Staatsmänner geheilt werden
können Von der Freiheit wollen wir nicht reden. —
Nachschrift. Sie haben gehört, daß der bekannte Ultramontane Hinter
ausgewiesen worden ist? Die Veranlassung soll keine politische sein. Indessen
mnnkelten die Freunde des Ministeriums von reactionären Umtrieben, denen man
auf die Spur gekommen. Hurter stehe an der Spitze eines Komplottes, welches
den Zweck habe, Metternich zurückzuführen! Schwarzenberg habe alle Fäden der
Verschwörung entdeckt und sogleich energische Maßregeln getroffen. — Freilich,
sagen die Wiener, denn unter den jetzigen Umständen wäre der Metternich zu
liberal. —
Zweite Nachschrift. — Am 24. October bestiegen zu Pesth wieder drei
magyarische Notabilitäten den Galgen: Baron Siegmund Pere-uyi, ehemaliger
Vicepräfldent der Maguatentafel, Emerich Szacvay, Kcuneralfiscus; Emanuel
Czeruyus, Ministerialrath im ungarischen Finanzwesen. Die Vermögensconfisca-
tion steht natürlich dem Galgen zur Seite. Keiner von den Dreien hatte eine
Waffe getragen; die lakonischer Sentenzen des Kriegsgerichts erwähnen blos, daß
sie eine Rolle im Debrecziucr Nebcllenparlament gespielt und den kaiserlichen, theils
gar nicht, theils von einem einzigen, dazu nichtunganschcu Minister contrasignirten
Proklamationen vom October 1848 zuwider gehandelt haben. Gleichwie bei Bat-
thyani'S Hinrichtung urtheilen also ein paar Kvrpvräle und Lieutenants in einer
Rechtsfrage, deren Lösung den Verstand manches Jnristencvllcgiums auf die Probe
stellen würde. Das formelle Recht Ungarns ist von zwei Drittheilen Europas
anerkannt, ist selbst von Jenen eingeräumt worden, die den Sieg Oestreichs
wünschten, — wir erinnern nur an die Times — und jetzt dient es nicht einmal
als Milderungsgrund und schützt die Besiegten nicht vor dem Armensündertode
gemeiner Diebe und Räuber. Unser Cadin^t verachtet aber die öffentliche Mei¬
nung Europas, zumal Deutschlands, und dieser Verachtung gleicht an Tiefe wohl
nur der Haß, den es gegen sich bei allen Volksstämmen der Monarchie, sogar bei
den Kroaten anzufachen gewußt hat. Die Hingerichteten gehörten zu deu glän¬
zendsten Kapacitäten, die das constitutionelle Leben Ungarns entwickelt hatte; der
„Lloyd," sicherlich kein Wnhlcrblatt, rühmt Perenyi's und Czernyus' Geist, Kennt¬
nisse und oratorische Gaben. Es scheint beschlossen, die Blüthe der magyarischen
Intelligenz abzumähen und die Schwungkraft der Nation anf lange Zeit zu knicken;
ein NivellirnugSprozcß, wie er in Böhmen vor zweihundert Jahren versucht
wurde, soll die Centralisation möglich machen. Was in Frankreich unter Ludwig
^1. begonnen und unter Robespierre vollendet wurde, will das Cabinet Schwar-
zenberg in einem Jahre nachahmend ausführen! Möglich, daß ich mich täusche,
indem ich der Blutwirthschaft irgend einen „zeitgemäßen" (!) Zweck unterschiede
und daß es sich uur darum handelt, der Menschheit einigen Respekt vor der Ma¬
jestät von Gottes Gnaden beizubringen!
Eine Folge dieses Terrorismus hat sich bereits herausgestellt: Die Intelligenz
des Landes, die altconscrvative Partei, entzieht sich dem Dienst der Regierung,
Man hat die 800jährige Verfassung Ungarns, die seit l8!!0 viele vernünftige
Verbesserungen erfuhr, abgeschafft, ohne eine neue zu okttoyircu; mau hat dafür
„Statut" — der Name erinnert an die Moldau und Walachei — versprochen,
Den Militärhcrrschern sind, zur Vorbereitung normaler Zustände, Civilcommissäre
beigegeben, die dem Ministerium verantwortlich, aber auch zugleich den unverant¬
wortlichen Säbelherrschcru unterthan sind; eine liebliche Mischung vou constitutio-
nellen Schein und despotischer Wirklichkeit. Die amtliche Korrespondenz zwischen
den Distrikten soll aus Deutsch geführt werden. Diese Kränkung des Nationalge¬
fühls ist ein treffliches Mittel, um sowohl in Magyarien wie in der in's Wasser
gefallenen Slowakei das Deutschthum beliebt zu machen, doch wird der Cvmmis-
brotstyl unserer Weidens und Böhms gewiß für die Verbreitung deutscher Sprache
und Bildung Wunder wirken. Dieser Fülle von Wohlthaten entspricht nun auch
der passive Widerstand des magyarischen Volkes. Zwölf Distriktsobercommissäre
haben an einem Tage ihre Stellen niedergelegt, andere werden folgen. Je mehr
die Regierung gezwungen sein wird, fremde Bureaukraten in Ungarn anzustellen,
die weder Land und Leute, Sitten und Zustände kennen, noch überhaupt mit dem
Volk umzugehen wissen, desto heftiger wird der Widerstand, desto tiefer der Na¬
tionalhaß, die Verwirrung und die Schwierigkeit jeder Entwickelung werden, l'-uit
mieux, sagen Capitän und Lieutenant; desto länger dauert unser Regiment und
unsere Svldzulage.
Die Steuer haben um Einberufung ihres Landtags petitionirt, damit die
Charte eine Wahrheit werden könne, aber zur Vorbereitung für einen künftigen
Reichstag sind vereinzelte Landtage ungenügend und werden deshalb unterbleiben.
Die Zukunft der Märzverfassung macht ein hypokratisches Gesicht, das Ministerium
tröstet sich und die Masse der Beständen mit der Sorgfalt, die es den materiellen
Interessen widmet, mit den kalifornischen Bergen unserer finanziellen Zukunft.
Aber eine Armee von fast 700,000 Mann ans dem Kriegsfuße kann auf die
Dauer selbst Kalifornien aufessen. Die jüngste Anleihe von 71 Millionen Gulden,
sagt man, erhält nächstens eine Nachfolgerin. Die Kurse sinken, das Agio auf
Metall steigt.
Die Censur ist glücklich auferstanden, vorläufig für Bücher. Das Militär-
commando hat alleu Buchhändler» die strengste Weisung zukommen lassen, kein
Manuscript ohne das Imprimatur Welden's zu drucken. — Dagegen führt man hier zur
Erbauung eines gemüthlichen Wiener Publikums, Mailänder Spektakelstücke auf
und verurtheilt Bürgerliche, wegen kleiner Vergehen, zu Stockstreichen. Ob die
Delinquenten auch nach militärischer Sitte beim Aufstehen vou der Prügelbank „für
die gnädige Straf danken müssen," habe ich nicht erfahren können.
Graf Ludwig Batthyany dachte eben so freisinnig in Glaubenssachen als in
der Politik. Man konnte ihn nicht zu den Kirchengänger» zählen, obwohl er in
vollem Ornate des Magnaten bei allen kirchlichen Festen erschien, sobald sie eine
politische Nebenbedeutung hatten. Die Erziehung bei den Schotten in Wien hatte
ihm keinen sonderlichen Begriff von klösterlicher Bildung beigebracht, und sein
Aufenthalt in Italien beförderte nicht die Achtung vor den Ceremonien. Die Reise
in den Orient hatte nicht minder auf den empfänglichen Geist eingewirkt, so daß
Batthyany alle Religionsgesellschaften gleich respectirte. Er war frei von Borurtheilen
und duldsam, obwohl er sich manchen Scherz erlaubte und die Geistlichen mit
scharfen Ausfälle» geißelte.
Der Aberglaube klopfte aber mit leisem Finger auch an diesen vorragenden
Geist, und Batihyauy unternahm z. B. nichts an einem Freitage. Im Jahre
1844 befand sich Batthyany mit seiner Familie auf dem Dampfschiffe, das von
Wien nach Pesth fuhr. Der türkische Gesandte am kaiserlichen Hofe befand sich
ebenfalls mit seiner Begleitung am Bord, und darunter ein Derwisch, dem
man viele Aufmerksamkeit und Achtung bewies. Der Derwisch war ein Araber
und stand im Rufe ver Heiligkeit; man sagte damals, er wolle das Grab eines
Heiligen bei Ofen besuchen. Er war nicht alt und bewies mit lebhaften Geberden
seine Theilnahme an Allem, was vorging. Graf Batthyany näherte sich mit einem
im Oriente erlernten Gruße dem Fremden, und dieser schien bereits den ungari¬
schen Cavalier zu kennen, denn er fühlte sich geschmeichelt durch das Bestrebe»,
eine Unterhaltung anzuknüpfen. Batthyany stellte ihm seine Kinder vor, Mädchen
in zartem Alter, und auch die Gattin. Nach längerer Unterhaltung wollte sich
der Denrisch wahrscheinlich erkenntlich erweisen, und erbot sich, den Damen aus
der Hand wahrzusagen. Die Gräfin schlug es aus, wahrscheinlich unangenehm
an einen Vorfall im väterliche» Hause erinnert. Gras Zichy ist kein freigebiger
Mann und seine Frau war es ebenfalls nicht; letztere verweigerte einer bettelnden
Zigeunerin ein Almosen, und diese sprach eine Verwünschung aus. Die Gräfin Zichy,
die Mutter der nachmaligen Gräfin Batthyany, starb bald nach jener Szene im
Kindbett.
Batthyany gab aber lachend die Hand hin, die der Derwisch lange betrach¬
tete, ohne irgend etwas zu spreche». Der Derwisch ließ die Hand des Grafen
los, und es schien, als wollte er das Stillschweigen weiter behaupten; aber dies
reizte um so mehr, und Batthyany drang mit seinem bekannten Ungestüm in den
braunen Araber. Der Derwisch erhob endlich die rechte Hand, mit der Fläche
zum Gesichte Bathyauy'S gewandt, die fünf Finger auseinanderhaltend.
Der Graf verstand die Pantomime nicht sogleich, oder wollte sie nicht
verstehen.
Der Derwisch neigte die Hand gegen Batthyany, und brachte sie dann in
die frühere Position, wobei ein trüber Ernst ans den dunkeln Augen blitzte.
Batthyany wurde blaß und verlegen, wie Jemand, der die Verlegenheit zu
verbergen sich bemüht; erst nach einigen Secunden gelang es ihm, die frühere
Fassung zu erringen, und mit zum Lachen verzogenem Munde sagte er zu einem
nebenstehenden Freunde: In fünf Jahren? Das wäre zu früh. Ich brauche noch
ein Vierteljahrhundert, um meinen Lebenszweck zu erreichen, und ohne einen Sohn
zu hinterlassen, möchte ich die Welt nicht verlassen. (Er hatte damals noch keinen
männlichen Erben.) Meinem Vetter (Graf Carl Batthyany) möchte ich nicht die
schönen Güter übergeben, er liebt sein Vaterland nicht.
„Lappalien," sagte der Mitreisende; „wie kann mau so ernst werden, weil
ein dummer Derwisch Wahrsagerei treibt, wahrscheinlich um ein paar Goldstücke
zu erbeuten. Wir wollen ihm für den Schabernack gleich Revange geben."
Mit diesen Worten ergriff der Mitreisende die Hand des Derwisch, die dieser
gleichgiltig und ohne Zögern ihm überließ; überlegend und nachsinnend schaute er
daraus, und hob endlich den Zeigefinger in die Höhe, andeutend: der Derwisch
werde nur uoch ein Jahr leben. Der Derwisch nahm ein Oelfläschchcu ans den
weiten Falten seines Gewandes, benetzte die Finger damit, sah hierauf gegen den
Himmel und wandte sich Mekkaseits, leise die Lippen bewegend. Weder Angst
noch Sehen war in den Mienen des Orientalen zu erkennen; es schien blos, er
wolle jeden Augenblick bereit sein, das Paradies zu betreten.
Batthyany sagte zum Freunde: „Ihr Witz fruchtet nichts. Sie ängstigen
nicht deu Weisen des Morgenlandes, sondern vermehren nur die Angst des Tho¬
ren aus dem Abendland. Wir möge.n Philosophiren wie wir wollen, wir bringen
dennoch nicht den Respect vor Ammenmärchen aus den Gliedern. Ich schäme mich
nicht zu gestehen, daß die Prophezeihung des Arabers einen Eindruck auf mich
machte; weder Geldgier noch Prunksucht hat deu Derwisch zu seiner Wahrsagung
veranlaßt, und außer Nang und Namen weiß er nichts von meine» Verhältnissen.
Hat er in den Linien meiner Hand mein Geschick gelesen, so wird es sich erfüllen.
Ich glaube auch, daß die Chiromanthie noch zu einer Wissenschaft gedeihen wird,
und es bleibt nicht das Letzte, was wir dem Orient zu verdanken haben werden."
Der Sommer des Jahres 1849 war noch nicht zu Ende, also das fünfte Jahr
seit jeuer Scene, für deren volle Wahrheit wir bürgen, noch nicht verflossen, so
lag Graf Ludwig Batthyany todt im neugebaute zu Pesth.
Immer Neues bringt die Zeit; seit der Dampf in die Reihe der Faktoren
unserer Zustände getreten, hat auch die Produktivität der Zeit sich gesteigert, sie
will sich nicht beschämen lassen von dem Emporkömmling „nscrcr Tage, dem Dampf.
Die Zustände wechseln nud fliegen vor uns vorüber wie Guckkastenbilder,
die Gegenwart macht so tief einschneidende Impressionen, daß wir über diesen
uns keiner mehr der nächsten Vergangenheit klar erinnern.
Frei, vielleicht überfrei, waren wir im Jahre 1.848, täuscht unsere traum¬
hafte Erinnerung uns nicht; belagert, über alle Maßen, sind wir heute, und so
weit gebracht, daß wir vom Jahre 1848 sprechen, wie unsere Väter von der gu¬
ten alten Zeit.
Wahrlich auf die Erfindung des idealen Belagerungszustandes hat die Neu¬
zeit eben nicht stolz zu sein, eine Zeit, welche sich der Jesuiten entledigt hat,
und doch mahnt die Erfindung jener Belagerungsmethode ohne Badister und
Mauerbrecher stark an Jesuitismus, so daß es den Anschein gewinnt, als hätten
die frommen Väter ihre Dreimasterhüte in den Ministerhotels deponirt, und der
denselben inwohnende Jesuitenspiritus fnngire als Mitkousnlcnt bei den Be¬
rathungen.
Der moderne Belagerungszustand scheint sich bei uns eben so festgesetzt zu
haben, wie die leidige Cholera, wie diese macht er sich zumeist in großen Städten
breit, wie diese gehet er den großen Heereszügen nach, wie gegen diese, ist auch
noch kein Mittel gegen jene politische Pest erfunden, es wäre denn die Friedcns-
zeitnng — dieses Mittel, welches vor Kurzem in Wien geboren worden uuter Mit¬
wirkung der redeseligen Hebamme D. Wildner von Maithstein.
Die Cholera ist eine Geißel Gottes, der Belagerungszustand eine Geißel
von Gottes Gnaden, die Cholera wird, wie viele behaupten, durch eine Masse
kleiner Thierchen erzeugt, der Belagerungszustand hat ähnliches mit der Cholera
gemein, nur sind die Dimensionen größer, eines Voigtläuderschen Mikroskopes be¬
darf es nicht, um die Infusorien zu entdecken, welche uns die Luft der freien
Berechtigung verpesten.
Der Belagerungszustand ist ein Ausnahmsznstand, wie man uus ver¬
sichert, er ist also sporadischer Natur, in Oestreich aber, in dem octroyirtconstitutio-
Nellen, ist er zur förmlichen Regel geworden, die von ihm noch nicht ergriffenen
Freiheitsoasen des Reiches bilden blos kleine freiheitssieche des Contagiums stets
gewärtige Ausnahmen.
Die richtige Erkenntniß, der politische Rechtsflim liegt bei gar vielen Leuten
noch so fest in den Windeln, daß gar häufig die Phrase ausgesprochen wird, eS
sei ja der Belagerungszustand nichtsehr drückend. Hierin eben bewei¬
set es sich, daß die Gesammtöstreicher nichts sind als Sklaven, denen im Jahre
1848 andere die Ketten brachen, die tobten und sich gebärdeten wie Tiger, die
man jetzt wieder eingefangen hat, und die sich wieder fügen in den angebornen
Knechtssinn.
Selbst große Journale — groß nach dem Zollmaß — wie zum Beispiel die
Wiener Presse des Herrn Zang, hat sich in dieser erbaulichen Weise über
den Belagerungszustand ausgesprochen, ohne Zweifel aus Gründen, die allen¬
falls einem Hans Jörgel, doch nie einem politischen Journale verziehen werden
können.
Es ist eine solche Ansicht auf gleicher Nechtshöhe mit dem Falle, wenn man
Jemand, der bei ganz gesunden Sinnen und in vollem Gebrauche seines Verstan¬
des ist, von Amtswegen, gleichsam provisorisch für rasend hält, und tobsüchtig er¬
klärt, ihn aber nicht ins Tollhaus sperrt, sondern auf beliebiges Einfangen, in
Gottes freier Luft spazieren läßt.
Eine solche Wahnsinnigkcitserkläruug wäre «ach dem Rechtsbegriffe des Herrn
Zang etwa auch nicht sehr drückend, sie wäre aber ein Mißbrauch der Amtsge¬
walt, sie wäre eine Infamie, sie würde der Bestrafung kaum entgehen. Die Län¬
der Oestreichs sind durch das Chloroform des Belagerungszustandes in unliebsa¬
men Schlaf versetzet, in welchem sie gräuliche Träume träumen, und das Mini¬
sterium sondirt, schneidet und wühlt in ihren Leibern, nach chirurgischen Gelü¬
sten, kommen sie einst wieder zu sich, werden sie sich unter einander, ja sie wer¬
den sich selber nicht mehr erkennen, dem einen wird ein Fuß oder beide, den mei¬
sten werden die Arme fehlen, sie alle aber werden ihre Kopfe vermissen, welche
man ihnen während des Elfenschlafes wcggesäbelt hat, der gemeinsame Vielkopf
sitzet in Wien und heißet Ministerrath, er ist verantwortlich, doch uur der Ge¬
schichte, und das läßt sich ertragen bei Jetztzeit.
Städte sind belagert worden, seit es Städte gab, und werden belagert wer¬
den in Zukunft, dem pariser Friedenscongresse und der Wiener Friedcuszeitung zum
Trotz, unsern Tagen aber war es vorbehalten, die Belagerung ganzer Provinzen,
Kronländer und Königreiche selbst ohne Krieg zu erfinden und durchzuführen,
ohne Ausfällen und Flatterminen zu begegnen.
Daß es dort, wo es thatsächlichen Kampf der Parteien gegeben, nöthig sei,
nach dem Kampfe den Ansnahmszustand eintreten zu lassen, damit die leidenschaft¬
liche Erhitzung verdampfe, das ist leider richtig, in diesem Falle gleicht der Be¬
lagerungszustand der Zwangsjacke und dem Sturzbade, die man beide einem Toll-
gewordenen applizirt, um ihn zur Besinnung zu bringen. Ist er aber zur Be¬
sinnung gebracht, und setzt man Zwangsjacke und Sturzbad schonungslos fort, s»
wird der Kranke stillwüthend und blöde, man macht ihn unfähig effectiver Mensch
zu sein für alle Zukunft.
Wir zweifeln sehr, ob das Ministerium des Unterrichtes und Kultus zu Wien
einen Professor pria-n-ius, der solchen Gebrauch vom Stnrzbade machte, im Amte
ließe; das Ministerium aber bleibt fest im Amte, obwohl es die Wiener, welche
in jenem October wirklich effectiv toll geworden waren, ein Sonnenjahr hindurch
mit dem Sturzbade des Ausnnhmsznstandes tractirt und dieselben wirklich auf den
geraden Weg zu politischem Blödsinn führet.
Daß ausgedehnte wirkliche Freiheitsgewährungen in einzelnen Orten
und Fällen mißbraucht werden können, und es in solchen Fällen unerläßlich werde,
solche Freiheiten momentan zu suspendiren, bis die Besinnung zurückgekehrt,
und der Freiheit weiser Gebrauch in richtige Geleise sich wendet, wer möchte das
bezweifeln; doch sind die durch den 4. März den Gesammtöstreicheru gewährten
Freiheiten, jene Grundrechte in runo, welche man als Klavierauszug der von dem
Reichstage in vollem Orchester desiderirteu Grundrechte separat publicirt hat, so
karger Natur, so enger Dimension, daß dieselben besonders im Hinblicke auf die
nachgefolgter provisorischen und iuterpretirenden Gesetze eigentlich als politische
Unrechte, als Utensilien permanenten Belagerungszustandes betrachtet werden
müssen, daher um so weniger begriffen werden kann, wie man selbst diese Schat¬
tenrechte fürchtet, und sich nicht gedräuet diesen gegenüber zu regieren.
Der Presse ist am 4. März nur versprochen worden, es werde die Censur
ihr nicht mehr zur Last fallen, dagegen ist sie allen übrigen von volksfeindlichen
Regierungen mit den schönsten Erfolgen praktizirte Plackereien bloßgestellt geblieben, und
überdies durch ein Preßoesetz der strengsten Sorte, durch ein Jnrigesctz, das jenem
nichts nachgibt, geknebelt und ans Kreuz geschlagen. Das AssociativnSgcsctz macht
ein vermeintliches Associationsrecht geradezu zum traurigsten Spaß, denn der un¬
ausweichliche Regierungscommissariuö ist permanenter diktatorischer Herr über Le¬
ben und Tod der Vereine, vielleicht auch ihrer Mitglieder; ein solches Associa¬
tionsrecht bestand auch vor dem März in dem sogenannten Polizeistaat, in wel¬
chen wir uns vielleicht allmälig zurücksehnen werden. Das Recht der persönlichen
Freiheit ist nach den vagen Worten seiner indefinirenden Definition das alte
Unrecht des Jahres 1847, und es stehet uus in dieser Beziehung noch ein beson¬
deres Gesetz bevor, in welchem wir Ketten und Kerkerschlüssel schon im Geiste klir¬
ren hören. —
Und dennoch, bei all den Maulkörbcn, Zwangsjacken, Rattenfallen und Wolfs¬
gruben, mit welchen man die gesammtöstreichischen Grundrechte umstellte, fürchtet
man sich dennoch die Oestreicher diesen engen Rock wirklich anziehen zu lasse»,
man fürchtet sich wahrscheinlich, es würden gleich im Beginn alle Räthe platzen.
Wir begreifen wirklich komm, wo denn eigentlich unsere Fürchterlichkeit wohl
stecken mag, wir fangen an stolz zu werden und uns vor uns selber zu fürchten,
und doch sind die armen Oestreicher und speziell die Wiener seit einem Jahre so
geistig mager geworden, daß ein Platzen jener Näthe wirklich nicht zu fürchten ist,
anch hat man überdies an 600,000 allzeit fertige Schneider zur Hand, die mit
den langen Nadeln, die sie auf den Flinten tragen, jede geplatzte Rath flugs zu
flicken, ja uns das Gewand an die Haut selber zu nähen verstehen.
In Italien hat es heißen Kampf gegeben, es mag sein, die Leidenschaften
brauchen vielleicht noch einige Zeit sich zu kühlen, wenn nicht etwa der Ausnahms¬
zustand selber wieder zum Zündstoff wird. —
Die Wiener waren toll geworden, waren dem ungarischen Kriegsschauplatze
nahe, es mag sein, daß der Belagerungszustand bis zum Falle Komorns räthlich
schien. Komorn aber siel, und Wien, das längst gefallene, ist dennoch belagert.
Ungarn brennt noch unter der Asche, und General Haynau muß dort noch
immer löschen mit Blut, das ist nothwendig, wie die Gutgesinnten gutgesinnt be¬
haupten, wir verstehen das nicht, die Gutgesinnten sind in Henkersachen kompetent.
Wie aber ist es mit Galizien, diesem unglückseligen Lande, diesem Krebsschaden
der Monarchie, einem Lande, das man von allem Anbeginne vernachläßigte, seit
man es ungern und gezwungen erworben.
Die fromme Marie Theresia sträubte sich gegen diese traurige Erwerbung, sie
widerstrebte ihrem Herzen, sie war zu ihrem Kummer gezwungen, dem Morde
Polens zuzusehn und sich in die Spotten zu theilen mit den Mördern. Wir ent¬
schuldigen die Vernachlässigung Galiziens eben in jenem Widerstreben gegen seine
Erwerbung. Galizien war der Negierung eine stete Mahnung an jenen politischen
Mord, man mied das Land, wie man die Mords!alte meidet.
Und dieses gemordete Polen, es liegt wie ein Vampyr über Enropa, saugt
ihm das Herzblut aus und rächt sich, rächt sich unversöhnlich ohne Unterlaß,
schleicht als bleicher Emissär düster brennenden Anges von Land zu Land; immer¬
fort blutet sein Herz und immerfort säet er Blut, Mord, Anarchie und Verwüstung,
dieser Racheengel der polirischen Erbsünde.
Im Jahre 1846 haben sie ihn eingesenkt in die Gruft der Jagellonen zu
Krakau, haben ihm einen Pfahl durch die Brust getrieben , und dachten, nun sei
endlich der Vampyr zur Ruhe gebracht — und wieder hat er sich aufgerafft aus
seiner Gruft, und hat die traurige Blutsaat von Neuem begonnen, von Frankreich
aus bis an die Grenzen seines nordischen Erbfeindes.
Ganz Galizien ist heute noch belagert, das polnische und ruthenische zumal,
und auf diese Weise glaubt man zu beschwichtigen, zu versöhnen? Wir fürchten,
eben dort wird uus der Vampyr neues Unheil bereiten; ach, wer ihn begrübe!
damit er Ruhe finde und wir.
Böhmen endlich, oder doch Prag, hat seinen Rausch gehabt im Juni 1848,
Magyaren und Sarmaten haben der alten ruhigen Praga, ohne daß sie es merkte,
verauscheude Gifte in den Freudenbecher geträufelt, Soldaten haben in gieriger
Hast, in langgenährtem entfesselten Grimme, mit Blei und Eisen dreingeschlagen,
schnell verflogen war der aufgedrungene Rausch. War vielleicht bei wenig
Einzelnen das <1«-Iiri»in ti-eme»« zurückgeblieben, so ging doch die alte Praga
ihren alten unerquicklich langweiligen Gang, plauderte Deutsch, plauderte Czechisch,
war wieder gemüthlich spießbürgerlich bornirt wie ehedem, legte das Gesammt-
gemand vom 4. März zwar ungern, doch gehorsam an, obwohl ihr das alte weißrothe
Gewand mit blos schwarzgelber Einfassung lieber gewesen wäre. Trotz alledem
aber ist die alte Praga dennoch seit beinahe sechs Monaten in die Eisenbande
des Mars geschlagen und in der That belagert, vor aller Welt in üblen Ruf ge¬
bracht, jeder Gamin, der etwa albern gewesen, bekömmt die Eisenruthe zu kosten,
dies alles geschieht und darf geschehen zur Bequemlichkeit der Herren Regierer,
obwohl der 4. März verhieß, nnr im Falle innerer UnrNhen, oder im Falle
des Krieges sei die Suspension der politischen Rechte gestattet, und es werde
diese dnrch ein besonderes Gesetz geregelt! Dieses Gesetz jedoch vermeidet man
zu geben, und suspendirt inzwischen nach Belieben , also gesetzlos.
Vor diesem leidigen Ansnahmsznstande war Prag ganz ruhig im Innern,
seit demselben hat es allerdings sehr viele innere Unruhe darüber, wie man ihm
den Affront des Belagerungszustandes hat anthun können, nachdem doch der Krieg
nicht wohl zur Begründung oder zum Vorwande zu dienen vermag, denn
Schlesien und Mähren, dem Kriegstheater zunächst gelegen, sind unbelagert
geblieben.
Das Ministerium hat uus das enge Flügelklcid der Freiheit vom 4. März
von weitem gezeigt, statt desselben aber das Eisensand des Martialgesetzes um
unsere Glieder geschlagen.
Wahrscheinlich soll uns die Theatersvnne der Freiheit des 4. März ans diesem
Wege noch als das Höchste irdischer Herrlichkeit erscheinen, falls die Herren Thea-
termeistcr sie einst dennoch sollten in Scene gehen lassen.
Doch eines gedeihet dennoch in der alten Praga — die unverwüstliche An¬
hänglichkeit an die Dynastie, sie gedeihet trotz Eisenhemd und Bajonetten.
Kaiser Franz Joseph wird in Prag erwartet, in dem ungerecht und nugesetz-
Uch vom Ministerium belagerten Prag schlagen Oel und Kerzen im Preise auf,
die Stadt wird in Freudcnflammen stehen zum Empfange ihres Kaisers.
Man spart den gerechten Groll und Grimm, echt constitutionell für die
verantwortlichen Minister aus, und läßt das den constitutionellen Kaiser nicht
entgelten.
Die ganze Einwohnerschaft ist zu einem Collectio-Lampion geworden und
lodert in loyalen Flammen auf.
Und eine solche Stadt, eine Einwohnerschaft von solcher Fähigkeit hält man
dennoch belagert! Vielleicht nnr deshalb, weil diese Einwohnerschaft außerdem ihre
Hanser selber in Flammen setzen würde zu Freudenfeuern.
Man hat offenbar der Loyalität und Anhänglichkeit einen moderirenden Däm¬
pfer aufsetzen wollen aus Finanzrücksichtcu, denn brennen die Häuser, so schwinden
di
Ungarische Offiziere in den Mauern der reichen Handelsstadt Hamburg, eine
seltene Erscheinung! Ueber dreihundert Offiziere, größtentheils von der früheren
Besatzung vou Komorn, weilen jetzt hier, um sich nach England und Amerika
einzuschiffen. Ein herbes Loos wird diesen Unglücklichen zu Theil, nach heißem
Kampf für das Vaterland auf immer das bittere Brot der Verbannung zu essen.
Wenn man die edlen Gestalten mit der kräftigen Haltung, dem festen kriegeri¬
schen Gang, den gebrannten, oft mit Narben geschmückten Gesichtern, in denen die
dunklen Augen so feurig blitzen, einzeln oder in Haufen im Gewühl der nord¬
deutschen Stadt einherziehen sieht, kann man sich des tiefsten Schmerzes nicht er-
wehren. Aber stolz und ungebeugten Muthes sind diese Husaren- und Honved-
offiziere uoch jetzt, kein Wort der Klage über ihr eigenes trauriges Loos hört
man ctus ihrem Munde. Spricht man aber mit ihnen über die unglückliche Lage
des Vaterlandes, dann füllen sich oft die glänzenden Augen mit Thränen, und die
Stimme, welche durch herzhafte» Commandvruf gehärtet ist, wird ihnen schwach und
zitternd. „Wir haben gekämpft, so lange wir konnten, aber der Kampf gegen
zwei Kaiserreiche war ans die Länge zu ungleich." Daß sie aber ohne die Hilfe
Rußlands gesiegt hätten und jetzt kein östreichischer Soldat mehr auf ungarischen
Boden stände, davon waren alle höheren Offiziere fest überzeugt. „Die Sache
stand im Frühling so günstig für Ungarn, daß man schon darau gedacht hatte,
die Armee zu verringern, da man sie gegen Oestreich gar nicht mehr so stark ge¬
braucht hätte", erzählte uns noch ein alter Major, der im Generalsstabe und in
der Nähe von Kossuth gewesen war.
Alle diese Offiziere aber lassen der Tüchtigkeit und dem Muth der östreichi¬
schen Armee selbst die gerechteste Anerkennung widerfahren, die Soldaten und
Offiziere derselben seien gut und brav, nnr unter den höheren Stabsoffizieren
zeige sich oft sehr große Ungeschicklichkeit. Den Grasen Schlick halten sie Alle unter
den höheren östreichischen Generälen bei weitem sür den tüchtigsten und ausge¬
zeichnetsten, sonst nennen sie den Fürsten Franz Lichtenstein, den Barus Jellachich
und den General Beuedek mit vielem Lobe. Selbst den General Melden hört man
noch rühmen, durch den Rückzug von Pesth im Frühling d. I. habe er die
Ueberreste der östreichischen Armee allein gerettet. Ueber Haynau's und mehr noch
über des Fürsten Windischgrätz gänzliche Ungeschicklichkeit eine Armee zu führen,
ist unter Allen nur eine Stimme. Die Unfähigkeit des Letzteren sei lächer¬
lich gewesen. General Haynau aber sei ein tüchtiger Haudegen, der sich gut
dazu eigne, ein paar Kavallerieregimenter in's Feuer zu führen, für den Oberbe¬
fehl eines großen Armeecorps aber sei er gänzlich unbrauchbar, zumal er jeden
Mittag nach der Tafel völlig betrunken sei. In diesem Zustand soll er auch seine
wilden, blutdürstigen Befehle erlassen, und wenn seine Umgebung ihn nicht nach
Kräften zu besänftigen wüßte, den Befehl zum Niederbrennen ganzer Ortschaften
und zum Niederschießen der Gefangenen geben. Beide Feldherrn hätten furchtbar
in Ungarn gehaust und der wilden Zerstörungswuth der rohen kroatischen und
ruthenischen Bataillone nicht den mindesten Einhalt gethan. Es seien in diesem
Kriege Scenen vorgekommen, wie man sie zu Ehren der Menschheit in unserm
Jahrhundert nicht mehr für möglich gehalten hätte. Sie geben aber zu, daß das
ungarische Heer selbst anch nicht aller Schuld baar sei, auch bei ihnen gab es
leider sehr viele rohe Menschen, und die Wuth derselben sei oft durch das Beneh¬
men der ihnen gegenüberstehenden Truppen so gereizt worden, daß es fast un¬
möglich gewesen wäre, sie vor Excessen zu bewahren. — „Kann man da wohl
ruhig Blut behalten, wenn man in ein Dorf kommt und sieht die meisten Häuser
desselben niedergebrannt, viele Leichen von Männern, Knaben, Greisen umher¬
liegen und oft dabei noch auf das schmählichste verstümmelt, hört das Gewim¬
mer der entehrten Frauen und Mädchen, die schonungslos den thierischen Begier¬
den der Soldaten preisgegeben waren" rief ein junger Edelmann aus hoher Mag¬
natenfamilie, der Rittmeister in einem Husarenregiment gewesen war und mit nach
Amerika auswandern wollte.
Lange nicht so hoch wie die östreichische Armee stellten unsere Freunde die
russische, die ihnen gegenübergestanden hatte. Es seien viele schwache, schlecht ge¬
nährte und schlecht bewaffnete Soldaten im russischen Heere, besonders die der
Infanterie, die ersichtlich ungern kämpften und von ihren Offizieren oft förmlich
in das Fnier hineingcprügclt werden mußten. Auch sei der Berlust der Russen
ungeheuer gewesen, besonders durch schlimme Krankheiten der Soldaten in Folge
der schlechten Behandlung und Verpflegung. Aber auch die Oestreicher haben
sehr viel Leute verloren und manche Bataillone zuletzt kaum noch die Stärke von
Compagnien gehabt. Der Ersatz hätte aber gewöhnlich aus kriegsgefangenen
Ungarn oder Italienern bestanden, die jede Gelegenheit benutzt hätten, um wie¬
der zu desertircn. In noch höherem Grade soll dies jetzt der Fall sein, da allem
an 70,000 gefangene Ungarn gewaltsam in die Reihen der östreichischen Regi¬
menter gestellt wurden. „Glauben Sie mir," fuhr Major C. fort, „jede Macht,
die mit Oestreich einen Krieg führt, braucht uur eigene Fremdenregimenter zu er¬
richten, und die Herstellung der ungarischen, polnischen und italienischen Natio¬
nalität zu versprechen und die halbe Armee geht augenblicklich über." — Alle-
ohne Ausnahme hatten eine äußerst geringe Meinung von der Macht Oestreichs.
„Wer soll auch wohl für Oestreich kümpfcu," sagte» sie immer, „die polnischen,
ungarischen und italienischen Regimenter thuen es gewiß nicht, denn Soldaten
und Offiziere fragen den Teufel nach Oestreich selbst, die Kroate» sehen schon el»,
daß sie an der Nase herumgeführt wurden, und werden das nächste Mal egoisti¬
scher sein." Von den 13 ungarischen Infanterie- und 12 Husareuregimentern,
die vor der Erhebung zur östreichischen Armee gehörten, schlössen sich 8 Infanterie-
Regimenter fast ganz den Ungarn an und rissen die schwarz-gelben Feldzeichen
ab; und nur die übrigen, die so weit von Ungarn standen, daß sie die Grenzen
desselben nicht erreichen konnten, mußten gezwungenermaßen von dem Kampfe zu¬
rückbleiben. Ebenso aber sei es auch mit den italienischen Regimentern, die im
vorigen Frühjahr großentheils zu den Italienern übergegangen wären. „Es war
unsre Thorheit", fuhr der Major fort, „daß wir den Kampf nicht schon im Som¬
mer, wo Italien in vollem Aufstand war, anfingen, dann hätten wir wahrschein¬
lich gesiegt und es gäbe jetzt kein Kaiserthum Oestreich mehr. Nun, wir haben
diesen Fehler arg büßen müssen, unsere Nachfolger werden die Lehre daraus ziehen
und wenn jetzt der Kampf wieder beginnt, wird es von allen Seiten zugleich los¬
brechen." Als den Zeitpunkt aber, wo Ungarn von Neuem aufstehen und Ita¬
lien sich zugleich erheben würde, gaben Alle den Tod des Kaisers von Nußland
an, denn dieser würde bestimmt das Signal zum Aufstand aller polnischen Pro¬
vinzen des russische» Reiches gebe», und Galizien, Ungarn und Jralien sich die¬
sem Kampfe anschließen. „Daun können unsere Buben kämpfeu, sie werden das
Schicksal ihrer Väter rächen," sprach der Alte und sah finster vor sich nieder.
Ueber Görgeys Kapitulation ward sehr verschieden geurtheilt und dieselbe von
Manchem heftig.getadelt. An offenbaren Verrath von Seiten Görgey's glaubte
aber Keiner, sie nahmen ihn Alle sehr energisch gegen dergleichen schmähliche An¬
schuldigungen i» Schutz. „Er habe den Kops zuletzt verloren und sei durch die
ihn von allen Seiten umgebende» große» feindlichen Heeresmassen zu dem Glau¬
ben verleitet, es sei nun doch einmal Alles verloren; eine gute Kapitulation war
ihm noch das Beste. Sonst hätte er sich doch noch durchschlage» und den Krieg
wohl noch einige Wochen Hinhalten können," meinten sie. „Uebrigens sei die Sache
Ungarns seit dem Einmärsche der Russen für die Gegenwart doch verloren ge¬
wesen, und so sei es auch am Besten, daß der Kampf jetzt geendet sei." —
Einzelne Offiziere waren mit in Hamburg, die beim Görgey'schen Corps gestan¬
den und sich später heimlich nach Komorn durchgeschlichen hatten. Daß Komorn
noch mehrere Monate selbst gegen eine Belagerungsarmee von 60—80,000 Mann
zu halten gewesen wäre und an eine Erstürmung desselben für die erste Zeit
noch gar nicht zu denken war, bekräftigten alle einstimmig. Doch sei die Ver¬
theidigung dieser Festung ganz nutzlos geworden, nachdem Ungarn vollständig von
ihren Feinden besetzt und es keine ungarische Armee mehr gegeben habe: das Land
hätte noch länger unter dem Kriegszustand leiden müsse« und viele Opfer wären
ohne irgend einen erreichbaren Zweck gefallen, Ung-a-rü müsse aber jetzt zu Kräften
kommew,. damit es den neuen Kampf, der ihm noch bevorstehe, wieder beginnen
könne." —
Mit vieler Anerkennung sprachen diese ungarischen Offiziere auch von den
militärischen Talenten von Bein und DembinSki und einigen anderen polnischen
Offizieren, auch die polnische Legion habe sich stets mit der größten Tapferkeit ge¬
schlagen. Die deutsche Legion, anfänglich an 2000 Mann stark und aus
sehr vielen Deutschen und namentlich Wiener Studenten und Polytechniker! be¬
stehend, habe im ungarischen Heere mit dem größten Tod-smuthe gefochten und
sei bis auf Wenige auf den Schlachtfeldern geblieben. — Die einzelnen Gefechte
müssen oft »»gemein blutig gewesen sein, denn mit der größte» Erbitterung ist
oft Stundenlang Mann gegen Mein» »ut de» blanke» Waffe» gekämpft worden.
Eine unbeschreibliche Erbitterung hat unter diese» Flüchtlinge» die Kunde von
dem Hänge» »ut Erschießen der 13 höheren ungarischen Offiziere in Arad und
der Füsillade des Grafen Batthvauy und seiner edlen Gefährten in Pesth her¬
vorgebracht. Viele erhielten die Trauerbotschaft erst in Hamburg. Bärtige
Männer, höhere Stabsoffiziere, haben bei dieser Kunde vor Schmerz und Wuth
wie Kinder laut geweint, und mit gefalteten Händen die Rache des Himmels ans
die moralische» Thäter dieser Bluturtheile herabbeschwvren. „Jetzt erst ist Ungar»
für immer von Oestreich gerissen," riefe» mehrere dieser Offiziere aus, „jetzt ist
auch die, leider bisher noch mächtige Partei, die vo» einer Tremmng mit Oest¬
reich nichts wissen wollte, zum neuen Kampf auf Leben und Tod bereit. I» je¬
dem Knabe», de» eine Ungarin noch gebiert, wird ein Rächer dieser Thaten er¬
wachsen, jede Magyarenbrust wird kein anderes Gefühl mehr keime» , als Rache,
blutige Rache. Verflucht sei mein Vater, daß er in dem heißen Kampf gegen
Napoleon jemals de» Säbel für das Haus Oestreich gezogen, verflucht mein Ur¬
großvater, daß er auf dem Landtage in Preßburg das „mvrinnnir pro rexe lo-
8er» Nil«..:; ^i.givsi-t" mit gerufen, und diese Worte zur That auch gemacht, ver¬
bunst meine Kinder und Kindeskinder. wenn sie jemals einen anderen Gedanken
haben, als für Ungarns Freiheit und Unabhängigkeit zu leben und zu sterben,"
^ef außer sich mit geballten Fäusten ein Ungar ans einer alten vornehmen Mag-
"cttenfamilie, der mit Battbycmy nahe verwandt war.
Das Betragen dieser armen Flüchtlinge in Hamburg ist musterhaft und trägt
"°es dazu bei, die allgemeine Theilnahme, die sie schon bei ihrer Ankunft
empfing, zu erhöhen, de»u von jeglicher Ostentativ» frei benehmen sie sich be¬
scheiden und ruhig und suchen mehr die öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden,
^ auf sich leiten. Die Mehrzahl der Offiziere, die jetzt schon hier sind,
scheint nicht ganz von Geld entblöst zu sei», obgleich Alle höchst einfach lebe»
und jede nur irgendwie unnöthige Ausgabe ängstlich zu vermeiden suchen. Einzelne
sind aber ziemlich mittellos und müssen von ihren wohlhabenderen Gefährten un¬
terstützt werden. Eine größere Zahl unbemittelter Flüchtlinge, denen die Reise
auf der Eisenbahn zu theuer gewesen, wird noch zu Fuß nachkommen, und man
fürchtet, daß vielen von diesen die Mittel fehlen werden, um die Kosten der
Ueberfahrt nach Amerika bezahlen zu können. Ein Konnt« aus den geachtetsten
Männern aller Stände und politischen Ansichten, den verehrten Dr. Rießer an
der Spitze, hat sich daher schon gebildet und öffentlich eine Aufforderung zur
Einsendung von Geldbeiträgen für diese armen ungarischen Flüchtlinge erlassen.
Besonders gegen den General Klapka, als Führer der Schaar, richten sich
die Aufmerksamkeiten. Bei seinem Erscheinen im Theater erhob sich zum Zeichen
der Begrüßung fast das ganze Publikum und brachte ihm dreimal ein donnern¬
des Lebehoch, in welches das Orchester mit vollem Tusche einfallen mußte; und
der Jubelruf dauerte so lange, daß das Stück erst nach längerer Pause seinen
Anfang nehmen konnte. Oft machen preußische Soldaten der hiesigen Besatzung
und Schleswig-holsteinsche Soldaten aus Altona den ungarischen Offizieren sehr
ehrerbietig die militärischen Begrüßungen, sobald sie dieselben als solche erkennen.
Ich ging mit einigen der Verbannten nnter den Bäume» der Esplanade, da rief
ein preußischer Unteroffizier zu seinem Trupp: „Macht Honneurs, zum Donner¬
wetter, das sind die braven Ungarn, es ist eine Ehre, solche Offiziere z» salu-
tiren!" — Wie ganz anders wurde in diesem Sommer der östreichische Minister
v. Schmerling hier empfangen! Die Börse, welche er besuchen wollte, zischte ihn
heraus, das Hotel, in dem er wohnte, erhielt Katzenmnsikcn und mußte dnrch
Wache vor Rohheiten geschützt werden, so daß zuletzt der Wirth den unwillkom-
menen Gast bat, sein Hans zu meiden.
Der General Klapka selbst ist ein Mann von mittlerer Größe, kräftigem
Wuchs, mit einem ernsten Gesicht von finsterem Ausdruck, ungefähr 35 bis 36
Jahr alt. Er sieht wohl danach aus, als wenn er sein Handwerk verstehe und
seinen Befehlen den gehörigen Nachdruck zu geben wisse. Auch sonst sieht man
uuter den Offizieren viele schöne Gestalten mit ausdrucksvollen Zügen. Unter den
jüngern Männern, die zum Theil den ersten ungarische» Familien angehören, si»d
mehrere vou wirklich auffallender männlicher Schönheit und dabei von einem so
ritterlichen Anstand, wie man ihn nicht häufig findet.
Die Mehrzahl aller dieser Ungar» will sich vo» hier, sobald sich passende
Gelegenheit findet, direct nach Nordamerika einschiffen, und dort wo möglich e"le
eigene ungarische Kolonie gründen. Klapka und noch einige bedeutende Führer
wollen zuerst uach England, um dort die Ereignisse der nächsten Zeit abzuwarten
und dann später sich ebenfalls nach Nordamerika zu begeben.
„Wird uns auch bald das Meer von unserem Vaterlande trennen, unsere
Herzen werden immer bei demselben weilen, und sollte es zu neuem Kampfe un¬
serer Hilfe bedürfen, dann kehren wir freudig zurück," so versichern sie.
Arme Männer, wir glauben, daß ihr die Heimath nicht vergessen werdet!
Das heiße Blut der Magyaren wird schlecht passen zu der calculireudcn Bedäch¬
tigkeit in Unkle Sam'S Land. Ihr seid die bravste» Soldaten der Welt; werdet
ihr anch fleißige Holzhauer sein? —
Im Jahr 1836 diente Ihr Correspondent selbst in einem ungarischen Hu¬
sarenregiment, nnter den Verbannten fand ich Freunde und Kameraden aus jener
Zeit. Diese noch einmal wiederzusehn war ich nach Hamburg gereist. — Sie
mögen daraus abnehmen, daß die Gefühle der Rührung und Theilnahme, welche
die Flüchtigen dem gutherzigen Bürger von Hamburg einflößen, bei mir noch un¬
gleich stärker und schmerzlicher sind. Was ich Ihnen hier flüchtig mittheile, ist
vielleicht unbedeutend, es sind aber wenigstens die treu nacherzählte» Worte von
Mättnern, an denen ich ein persönliches Interesse nehme.
Aus Berlin. Achtzehuhundcrt nennnndvicrzig! — So zeigt uns der Kalender. Mit
nicht minderer Zuverlässigkeit thut er dar, daß uns nur dreihundert fünfundsechzig Tage
von der heutigen Wiederkehr des vorjährigen Tages trennen! Wer das in Berlin be¬
greifen will, muß nothwendig jedesmal zum Kalender greifen. Noch haben wir die
wahrhaft colossalen Redensarten vor Angen, die aus den schwabacher Lettern der im¬
mensen Plakate quollen, womit Straßenecken, öffentliche Gebäude, Laternenpsähle und
Bäume überdeckt waren; noch tönt das wüthende Geschrei der „Zelten-Vereine" in
unsern betäubten Ohren; »och thun uns die Nippen weh, die wir aus dem Gedränge
des Lindenklubs kaum unbeschädigt retteten; noch wirbelt uns der Verstand von der
ausgebeuteten Logik der unzähligen Volksversammlungen; noch sehen wir im Club der
emancipirten Frauen den Volkssührcr Held mit seinem theatergeschichtlich gewordenen
Bart auf der Tribune, der Cigarren rauchenden Frau Vorstand Mars el recke gegen¬
über; noch hören wir von derselben Tribune herab das beredte und etwas geniale Fräu¬
lein Lenz die „gefallenen Mädchen" zu ihrem Bunde dringend einladen, weil „diese
ihr die liebsten ron Allen seien;" noch hören wir die Relation ihrer Unterredung mit
dem Grafen Schlippcnbach — nud gehen wir jetzt an dem, nun so stillen, friedlichen
Hause vorüber, so werden wir unwillkürlich versucht, hinein zu treten, um einen Augen¬
blick Zeuge des Skandals zu sein, denn unbegreiflich ist es uns, wie das Alles so
plötzlich ganz und gar verschwinden konnte, nachdem wir Alles doch selbst mit eigenen
Augen gesehen. —
Ja, verschwunden ist das Jahr 1848, und mit ihm alle seine Consequenzen ^
bis aus die Erinnerung.
Der Berliner ist vor Allem Mvdemensch; der Mode huldigt er, sei es im Schnitt
des Fracks oder der Verfassung; so lauge die Mode hält, hält auch er unverbrüchlich
an ihr fest. Jetzt ist die Passivität an der Tagesmode, und er bleibt ihr treu im
„Widerstand" wie in der Förderung. Aber sein jetziges Verhalten geht nicht hervor
aus einem wirklichen Umschwung der Meinung, einer festen Ueberzeugung; es ist nicht
Furcht, bloße Herabstimmung oder Besonnenheit, — es ist der bravste und vollstän¬
digste Jndifferentismus.
Wir reden hier von der eigentlichen, wirklichen Volksmacht Berlins: dem Bürger-
thum. Die Anhänger des alten Systems sind rührig, und die Demokratie war nie
thätiger, nie vortrefflicher vrganistrt als grade jetzt. Ganz Berlin ist von ihr in
Sectionen getheilt; ein Centralcomw- leitet das Ganze; die Scctiouscomit^s haben ihre
Vertrauensmänner, diese ihre Agenten, denen in jedem Bezirke eine Anzahl von Stra¬
ßen mit den Wohnungen der Parteiglicder bezeichnet ist, dergestalt, daß das Central-
comitll sich in der Lage befindet, in Zeit von zwei Stunden 60,000 Mann aus den
angewiesenen Sammelplätzen zu vereinen. Dazu kommt, daß die Clubs seit Aufhebung
des Belagerungszustandes sich thätiger zeigen als je; selten vergeht ein Tag, der we¬
niger als ein Dutzend ihrer Versammlungen erblickt; diese sind zwar der polizeilichen
Aufsicht unterworfen, doch beschränkt das nur wenig ihre Redefreiheit. Jetzt aber haben
sie eine neue Tactik beobachtet, die Aufmerksamkeit der Behörden zu ermüden. Da
Zweck und Zeit des Beginns der Polizei angezeigt werden müssen, so dehnen sie ihre
Vortrage durch Unterbrechung von Gesang, Trinkgelagen, oft auch von Tanz so weit
hinaus, bis die Beamten, in der Meinung, die Vorträge seien beendet, sich entfernen,
wo solche dann von Neuem und um so heftiger beginnen. Natürlich konnte solche
Täuschung bei dem herrschenden Dcnnnziativnswesen nicht lange dauern, und so ver¬
suchten sie ihr Ermüdungssystem durch verspätetes Beginnen ihrer Sitzung wirksam
zu machen, was vor Kurzem zur Folge hatte, daß der dienstthuende Beamte eine solche,
welche eine halbe Stunde uach der bestimmten Zeit noch nicht begonnen hatte, sür
diesen Abend als unstatthaft erklärte. Der Lärm war groß, aber der Beschluß blieb
in Kraft.
Dieser Fraktion gegenüber entfaltet die reactionäre Partei mit mindern: Geräusch
eine uicht geringere Thatkraft. Ihre Hauptorgane wirken im „Treubund," in der
„Neuen preußischen Zeitung" und in der ersten Kammer. Es fehlt ihnen weder an
Macht noch an Talent; nur selten sogar an der nöthigen Besonnenheit. Eng eingekeilt
zwischen diesen beiden extremen Parteien, steht nnn, mit wirklich bewundernswerthem
Muthe und mit, bis jetzt, uuerschütterier Kraft, das Ministerium, dem die Nicsenauf-
gabe ward, aus diesem Kampf sich leidenschaftlich befehdender Parteien die zarte con-
stitutionelle Frucht zu retten, ohne sie, weder vom Eiscshanche der Reaction berühren
zu lassen, noch vom Wurmstich der Ultrademvkratie. Seine Stütze ist die große Ma¬
jorität der Kammern, eine kräftige Stütze, aber auch fast seine einzige. Von öffentlichen
Organen begünstigen es nur wenige, und von diesen wenigen nicht alle principiell, nicht
alle mit ganz unzweideutiger Natur.
Und die öffentliche Meinung, die sich im Volke deutlich und vernehmlich aussprechen
sollte, deren mündliches Organ die Bourgeoisie in ihrem täglichen geselligen- und Ge¬
schäftsverkehr zu bilden und festzustellen berufen ist, — die öffentliche Meinung? —
ist gänzlich verstummt. Die Bourgeoisie, nud mit ihr, das ^roh des Volkes, küm¬
mert sich auch uicht im entferntesten mehr um Politik. Will man gegen die beredte¬
sten Schwätzer des vorigen Jahres der Tagesereignisse auch nur flüchtig erwähnen,
so verzerrt ne^mit und Gähnen ihre Züge, und achselzuckend erfolgt die Antwort:
Nur nichts von Politik! Dieser Klasse gegenüber könnte das alte i'v-;im» unbesorgt
seinen Thron wieder errichten; nicht einen einzigen Fußstoß hätte es von ihm zu be¬
fürchten. Der Demokratie ist sie abgeneigter, aber auch nicht aus Prinzip, sondern
lediglich aus Besorgnis? vor Tumult, aus banger Furcht vor abermaliger Stockung
des Handels, aus zärtlicher Sorgfalt ^our >.!r lmutUjuv! Bedenken wir, welche Aufregung
vor einem Jahre der Stcinschc Antrag in der großen Masse der Bevölkerung er¬
zeugte, wie ihr lärmendes Votum bis in das innerste Heiligthum der Nationalversamm¬
lung drang, wie, nach errungenen Siege der bedrängte Held des Tages seine, in einen
Triumphwagen changirte, Droschke bestieg, und, statt des Gaules, von der Volkssouve-
rainität gezogen, unter den Acclamationen der, bis zur höchsten Exaltation gesteigerten
Menge aus dem Straßenpflaster aus und nieder klapperte — und vergleichen mir damit
die jetzige Haltung der Bevölkerung bei der Abstimmung über die Eidesleistung des
Heeres aus die Verfassung, wie sich da keine Freude, kein Verdruß, kein Enthusiasmus
und keine Entrüstung zeigte, wie man nirgends auch nur ein leises hingeworfenes
Wörtchen der Beistimmung oder Abneigung vernahm, — so wissen wir »us in Art,
Zeit und Charakter der Einwohner nicht zu finden, und können diese stemm ne Regungs¬
losigkeit mit nichts als dem Ausdrucke des Ultraindifserentismus bezeichnen.
Einen Beleg für die Richtigkeit dieses Ausspruches lieferten die Verhandlungen
über das Bürgerwchrgesetz. Welche Aufregung bei der vorjährigen Snspcndirung der
Bürgerwehr; welche Theilnahmlosigkeit bei der diesjährigen Entscheidung der Frage.
Von allen Seiten liefen Adressen um gänzliche Aufhebung dieser vorjährigen „ersten
Garantie der Volksfreiheit" ein. Der Bürger sieht jetzt in diesem Rechte nichts mehr
als eine lästige Pflicht, er bemißt die Würde dieses Berufs nach der, auf dem Posten
ruinirten Uniform, die Freiheit seiner Mitbürger nach den, beim Patrouillircn zerrisse¬
nen Stiefeln, die Erhaltung seiner bürgerlichen Rechte nach den Unkosten der Wacht-
st»be und der Versäumniß seines Gewerks; der Besorgnis; für seine gvaden Glieder gar
uicht zu gedenken, und nach genauer Abwägung aller pres- und cmitrii,« gelangt er
zu dem christlichen Schluß: ein jeder sorge für sich und Gott für uns Alle. Der Ein¬
fluß des schönen Geschlechts mochte hiebei anch von einiger Bedeutuug sei», denn in
den Ideen der Weiber identificirten sich, nach Revision der Börse des Mannes, wenn
^' Morgens vom Dienst heimkehrte, die Begriffe vou Wachtstube und Tabagie so voll¬
kommen, daß beide ihnen bald denselben Gräuel einflößten, und so herzhaft auch der
berliner Bürgcrgardist der Revolte und der Kneipe gegenüber sein mag, — vis u vis
der Frau, kehrt er gern ans Bescheidenheit und Schonung die furchtsame Seite nach
"Ußen. Genug, die Bnrgerwehr gehört zu denjenigen „glorreichen Errungenschaften,"
die getrost zusammenstürzen können, ohne kindische Besorgnis;, daß die berliner Bonr-
Scoisie sie stütze.
Aber so abgestumpft ist der Berliner, daß ihn nicht einmal mehr eine Frage in-
t"'Mr, die bei ihm zur eigentlichen Lebensfrage wird, denn sie betrifft den Magen,
^'e Mahl- und Schlachtsteuer soll aufgehoben, und dafür, neben der bestehenden
blassen- eine Einkommensteuer von dem reinen Ertrage von l<>00 THU. an, welche
^ vCt. zu belasten wäre, eingeführt werden. Gewiß eine höchst zweckmäßige
^"'er, insofern das Prinzip ihr zu Grunde liegt, die erste» Lebensbedürfnisse des
^pits ihm z» erleichtern; nnr steht zu fürchten, d.iß die Thcuniua durch den Ans-
Wag, den d^ Arbeiter zu seiner Entschädigung machen muß, im großen Maßstab?
sich erhöhen, und wenn nicht eine sehr strenge Controlle eintritt, Fleisch und Brot des¬
halb nicht billiger werden dürften.
, Während so die Bourgeoisie, — der innere, schweigsame Ausdruck des Con-
stitutionalismus, es mit dem Ministerium hält, ohne es in irgend einer Art zu unter¬
stützen, die Reaction verabscheut, ohne sich ihr mit einem Laute zu opponiren, die Ul¬
trademokratie fürchtet, und aus Furcht kein Zucken der Augenbrauen gegen sie wagt,
kämpft das Ministerium gegen beide extreme Parteien, gewinnt die Erstere mit jedem
Tage mehr Terrain, und stürzt sich die Letztere, zur Verzweiflung getrieben, in die
absurdesten Extravaganzen. So tritt Herr l)-. Meyen, Redacteur der demokratischen
Zeitung, als Verfechter eines frechen Diebstahls auf, der angeblich im Interesse einer
Politischen Partei verübt worden ist, und entblödet sich nicht, solche Attentate auf das
Eigenthum mit dem neuerfundenen Worte „Tendenz diebsta si" zu beschönigen; so
wird uns so eben die Kunde, daß dieser Tage in Potsdam in einer demokratischen Reu-
nion, wo Gesang, Tanz, Unterhaltung, Erfrischungen, Declamation und Reden mit
einander abwechselten, ans dem schön geschmückten Damenkreis ein junges Mädchen
trat und ein Gedicht vortrug, voll der heftigsten Invective auf die Regierung. Hiedurch
angefeuert betrat später noch ein junger Mann die Tribune, und brach im Verlauf sei¬
ner begeisterten Rede in so heftige Schmähungen gegen hochgestellte Personen ans, daß
Saal, Gebäude und die anstoßenden Straßen vom Jnbel der exaltirten Zuhörer wider¬
hallten. Aber die Freude währte nicht lange; einige Constabler traten herein, bemäch¬
tigten sich des kühnen Rednersund räumten den Saal, was mit solcher Eile geschah,
daß die ans die Straße flüchtenden Damen erst dort Zeit fanden, ihre derangirten Toi¬
letten wieder zu ordnen und Mäntel und Ucbcrschnhe anzuziehen.
In solchem Zustande befinden wir uns, und ist es nicht ein wahrhaft kläglicher
zu nennen, indem die Advocaten der beiden feindlichen Parteien an dem Objecte des
NcchtshandelS, der Freiheit und Gerechtsame des Volkes, so lang hin- und herzerren,
und reißen, bis endlich, welcher Theil auch siege — von dem Gegenstand des Processes
Hotels und eine Herberge in Köln. Mit Mühe rettete ich mich ans
dem Troß der Kölnischen Kutscher und Gasthossdicncr, die wie eine wilde Meute vor
dem Perron stehen und die Fremden anfallen. Diese Jagd der Konkurrenz ist wirklich
kein- der unbedeutendsten Neiseqnalcn; die Gasthöfe sind jetzt wahre Nanbhöhlen, in
die man durch List oder Gewalt gelockt wird um geplündert zu werden, um die un-
geheuren Kosten decken zu helfen, die den Unternehmern, bei der so merkbar geschwun¬
denen Frcmdcnsteqnenz. aus großen Hotels erwachsen.
Während der frühern Völkerwanderung reisender Engländer, Russen u. s. w.
reichte Raum und Bedienung kaum aus, jetzt kommen zwei, drei Kellner aus eine»
Reisenden und alle Etagen stehen leer. Oft findet man jetzt am Rhein auf Dampf¬
schiffen und Bahnhöfen elegante junge Herrn , die sich gewandt in die Unterhaltung
mischen und ganz beiläufig irgend einen G asthvf rühmen, am andern Morgen erkennt
man sie in der Kcllnerjacke wieder und merkt an der Rechnung, daß man geschickt ein¬
gefangen war. Aber die Reisenden werden durch diesen Kampf' mit den Wirthen auch
klug, sie sparen so viele Nachtquartiere wie möglich, was bei den schnellen Reisen und
Nachtfahrten sehr leicht ist. Auch ich betrog einen Wirth, dadurch, daß ich z» Köln
Nicht zur Nacht rastete. Aber ich hatte doch grade noch Zeit, zwei Bekannte zu be-
grüßen, die Rheinbrücke und Levin Schücking. Auf der Rheinbrücke, dem Sammelplatz
von Kölns schöner Welt, suchte ich nach Bekannten. Es ist ein ziemlich unbegreifliches
Vergnügen sich hier aus- und abzudrängen, zwischen Karren, wilden Pferden, Solda¬
ten, Schiffsknechten und Waarenballen, man hat kaum Zeit, in dem Gewühl ein be¬
kanntes Gesicht zu erkennen, erst wenn man mehrmal aneinander vorbeigeschwommen ist,
gelingt dies. Dcmnncrachtet zieht es die Kölner immer wieder hin und die Fremden
ebenfalls, weil sie dort die renommirtcu Persönlichkeiten der Stadt am ersten kennen
lernen. Das Brückengeld muß ein hübsches Sümmchen abwerfen, wahrend der drei
Sommermonate. Ans dem Rückweg zum Bonner Bahnhof, als ich durch die Baum¬
reihen des stillen Ncumarkts schritt, fiel mir ein, daß hier ein Jugendfreund Hause,
Levin Schücking, der in's Rheinländische übersetzte Westphale. Seine Wohnung liegt
mitten in dem geräuschvollen engen Köln, in einem stillen, weiten Garten, die Apostel¬
kirche schaut hinein mit ihren schönen Thurmgestaltcn, ihre Glockcnmusik und ihre Or¬
geltöne machen das grüne schattige Plätzchen zu einer echten Dichterwohnung. Schücking,
den ich als rothwangigen Mnsenjünger, als fröhlichen Minnesänger gekannt hatte, ist
schmal und blaß geworden, die Windesbraut der Zeiten, in deren Wirbeln die Kölner
Zeitung, seine Principalin lavirt, hat ihn sichtlich auch angegriffen und athemlos ge¬
macht. Doch scheinen die Laren seines häuslichen Heerdes glückliche zu sein, zwei
holde Kinder und ein schönes Weib zeugen dafür. Ju einer Laube schimmerten die
Sterne durch die Herbstblätter und eine Astrallampe vom Gesellschaftstisch, es waren
Gäste da. Pfarrius, der Sänger des Nahethals mit seiner singenden und lachenden
Frau saß neben Philipp Engelhard Nathusius, Bettina'S poetischem Pflegesohn, und
seiner Gattin, der Verfasserin verschiedener Romane; Alexis Schwanbeck, der Fcuillcto-
»ist und noch mehrere auswendige und inwendige Dichter vollendeten den Kreis. Frau
Schücking, term Antornamc Louise von G. ist, las an jenem Abend Gedichte über
Ungarn vor, von denen das Feuilleton der Kölner Zeitung Proben brachte. Der schrille
Pfiff der Eisenbahn fuhr als SchrcckenSton in das fröhliche Gekrächz von uns guten
Käuzen, Nathusius eilte wieder in die sächsische Heimath, ich nach Bonn. Das
Schücking sche Haus ist die Poetenhcrberge am Rhein, wie das von Justinus Kerncr
M Schwaben, alle Zugvögel kennen das gastliche Dach.
Ein ungarisch er Husarenlieutnant. — Das Constitntionclle Blatt für
Böhmen, die beste Zeitung für Nachrichten in Oestreich, theilt in Ur. 257. folgendes
Bruchstück aus dem Brief eines Jünglings von guter Familie mit, der ans Enthu¬
siasmus für die ungarische Sache im vorigen Herbst bei einem Husarenregiment ein¬
getreten war. Jedenfalls ist der Schreiber ein Deutscher, denn sein Eintritt geschah
gegen den Willen seiner Familie. — Er schrieb einem Freunde in Preßburg:
„Als Korporal bei Wilhelm Husaren mußte ich den ganzen Winter in der großen
Kälte den anstrengendsten Dienst versehen, Zurücksetzungen und Entbehrungen aller Art
"tragen; der gute Muth und die unbeschreibliche Hingebung und Anhänglichkeit meiner
Kameraden, der gemeinen Husaren zu mir, waren in dieser Lage mein einziger Trost.
Ein Kind unter diesen 8—!) Jahre gedienten Leuten, wurde ich auch als Kind von
ihnen behandelt; ohne ersucht worden zusein, verrichteten sie oftmals sür den „Ki^act-iir,"
^le sie mich nannten, den Dienst — dennoch konnte ich die ungeheuren Strapatzcn auf
die Länge nicht ertragen und verzweiflungsvoll blickte ich in die Zukunft. Um Offizier
werden zu können, mußte man sich in der Schlacht ausgezeichnet haben. Ich, ein
schwaches Bürschchen unter diesen heldenmüthigen, tollkühnen, starken und gewandte»
Soldaten — und auszeichnen! Unmöglicheres konnte von nur nicht gefordert werden,
es klang wie Satyre in meinen Ohren. >— Den Hals und Kops-mit Shawl und Tü¬
chern zur Vorsorge gegen die Hiebe der Kürassire' verbunden«, die Kapuze meiner zotti¬
ge» Kuba über den Kopf gezogen, sprengte ich eines Tages ans Befehl meiner Ab¬
theilung im Carriere den Dragonern entgegen, fest entschlossen, entweder einen Beweis
meiner Tapferkeit zu liefern oder wenn es Gottes Wille ist, zu fallen. I^rum Isioi»!
bevor ich mit meinem schwachen, der Fechtkunst unkundigen Arm einen Hieb sichren
konnte, hatten meine Kameraden schon wacker drcingehauen, ihre Pferde sprangen, als
wären sie dazu abgerichtet gewesen, rechts und links, vor- und rückwärts, je nachdem
es nothwendig war, während ich die stutzigen Capricen meines Gauls nicht bändige»
konnte und aus einer Verlegenheit in die andere kam; die Dragoner wurden zum Re-
tiriren gezwungen und ich hatte mich wieder — nicht ausgezeichnet. In Wuth und
Verzweiflung spornte ich mein Pferd, jagte den Fliehenden nach und in einigen Minuten
war ich ein desarmirter und blessirter Gefangener. Kaum hatte ich jedoch Zeit, über
meinen dummen Streich nachzudenken und mich in meine neue Lage zu schicken, als
wie vom Wind getragen meine Kameraden daher brausten und, zu. meiner Rettung,
das Gemetzel erneuerten. Bei zwanzig tapfere Husaren (Gott segne sie) fielen, ich
wurde gerettet, von den Uebrigen unter unaussprechlichem Jubel zur Truppe zurückge¬
bracht, und — so wurde ich Lieutenant. Freund! das ist kein vereinzelter Fall,
um den Zngscommandante» zu retten, ist so mancher Zug unserer Husaren auf dem
Schlachtfelde geblieben."
Die Flüchtlinge in Widdin. — Es ist auffallend, wie unsicher und wider¬
sprechend die Nachrichten find, welche die Zeitungen über die flüchtigen Ungarn in der
Türkei bringen. Am Ende ist doch sowohl über Constantinopel, als über Buckarcst,
ja sogar durch Belgrad eine Postverbindung mit den Flüchtigen durchzusetzen, aber bis
jetzt hat man Grund, allen Notizen, namentlich denen der Wiener Blatter, zu mi߬
trauen. Bald soll Kossuth in Widdin von fanatischen Türken gequält sein, dann wie¬
der in Constantinopel in der Nähe des Hafens wohnen, mit einer Ehrenwache, in einem
stattlichen Hause. Und Bem liegt heut todtkrank zu Widdin, morgen wohnt er wieder
einmal" in Scntari in einem prachtvollen Landhause, ist Türke geworden, heißt Amnrath
Pascha, wird Chef der türkischen Artillerie und hat sogar eine wunderschöne Tscherkessin
Namens Fatime zum Geschenk erhalten. Der alte Bem mit einer Tscherkessin auf dem
Polster sitzend! Es ist aber nicht nnr Neugierde und menschliches Interesse an den
Führern der flüchtigen Schaar, welche uns diese Ungewißheit und die widersprechenden
Nachrichten lästig macht. Nicht wenige Familien anch ans Deutschland haben Söhne
und Verwandte in dem Strudel dieses unseligen Krieges aus den Augen verloren und
ihre letzte Hoffnung hängt, an dem türkischen Asyl, in welchem sie dieselben lebend mehr
wünschen als hoffen. Jede zuverlässige Nachricht aus Privatbricscn über die Anzahl
der Flüchtlinge, ihre Lage, vielleicht sogar über einzelne Namen, würde Viele zu Dank
Verpflichten. Falls eine solche sichere Nachricht in dem Briefe eines Flüchtigen, etwa
über England oder Galizien oder Böhmen in die Hände eines unsrer Leser gekommen
sein sollte, würde die Redaktion, nicht nur im eigenen Interesse, für die Mittheilung
derselben sehr dankbar sein. Sie bittet ihrer Discretion zu vertrauen.
Bei dem Studium der Kunstgeschichte liegt für mich der größte Reiz nicht in
der letzten Vollendung, sondern in der Energie, mit welcher die Kunst den irratio¬
neller Inhalt, den ihr das Leben bietet, zu ihren Zwecken verarbeitet, in den ethi¬
schen Problemen, die sie zu überwinde» strebt. Die sittlichen Ideale, den ei¬
gentlichen Gehalt einer großen Zeit zu erforschen, ist das Studium der Poesie,
vornehmlich der dramatischen, wenn nicht der sicherste, doch der anmuthigste Weg.
Das sittliche Problem versinnlicht die Poesie entweder in einer That, - wo
es als werdend erscheint, oder in einem Zustand — wo eS in dem fertigen Re¬
sultat gebunden ist. Im Ganzen und Großen genommen, ist dies der wesent¬
liche Unterschied zwischen Tragödie und Komödie.
Ich meine das so. Die Tragödie stellt die Leidenschaft zugleich als das Recht,
als die Schuld und als das Schicksal des Helden dar. Nur wo diese drei schein¬
bar widersprechenden Bestimmungen sich identificiren, ist von einer dramatischen
Kunst im höheren Styl die Rede. Es ist daher ebenso verfehlt, den tragischen
Helden an dem Gewebe äußerlicher Zufälligkeiten untergehen zu lassen — an dem,
was man „Verhältnisse," Sitte, Convenienz u. f. w, nennt, als an der inneren
Zufälligkeit, der Bestimmtheit dnrch Vorurtheile, Wünsche, Meinungen u. f. w.,
die lediglich in der Zeit liegen. Der tragische Eindruck ist nur in dem Falle rein,
wenn wir ebenso die innere Nothwendigkeit der Leidenschaft, als die innere Noth¬
wendigkeit des Schicksals fühle» und erkennen, wenn wir die Hand des Gottes
verehren müssen, indem sein Schlag uns erschüttert; und wenn die Leiden¬
schaft, indem wir sie verdammen, sich dennoch in uns selbst reproducirt. Eine sel¬
lschaft, die aus der Willkür, ein Schicksal, das ans dem Zufall entspringt, kann
uns nur so lange tragisch erschüttern, als wir selbst über den sittlichen Horizont,
der den Poeten befangen hielt, nicht hinaus sehen. Als der Vergänglichkeit me-
s°gen, empfinden wir nur diejenige tragische Kunst, die das ewig Menschliche darstellt.
Ein Beispiel. Die Tragödie des Faust erschüttert uns nur so lange, als wir seine
Leidenschaft für berechtigt halten. Sobald wir seine Wünsche — Alles zu wissen, Alles
genieße«, trotz der Endlichkeit der Person — in ihrer Widersinnigkeit begreifen,
geht der tragische Eindruck seines Schicksals verloren. Das Widersinnige — und
alle blos den Irrthümern einer bestimmten Zeit entsprungene Leidenschaft fällt in
diese Kategorie — kann nur in einer Form poetisch idcalistrt werden — in der
Komödie. Die Komödie ist eine Poesie des Scheins, die Lösung blos eingebildeter
Conflikte.
Man wundere sich daher nicht, wenn ich in den folgenden Skizzen die Cha¬
raktermasken, die eigentlich dem Lustspiel angehören sollen, zum Theil aus tragischen
Poeten entlehne. Es soll das zugleich eine Kritik jener Poeten und ihres sittli-
lichen Standpunktes sein.
Diejenigen Charaktere, welche wir als Resultate einer
Zeit, die mit ihren sittlichen Problemen nicht ins Reine gekom¬
men, die also noch in ihrer Form unfertig geblieben ist, be¬
greifen, gehören — als Hauptgegenstand — nnr ins Lustspiel,
ebenso wie die Schicksale, die nnr aus der Verwickelung conven-
tioneller Einseitigkeiten hervorgehen. Ob die eine Kunstform das
Recht hat, nebenbei mit dem Material der andern zu operiren, lasse ich hier
dahingestellt sein, nur Eins will ich bemerken: der tragische Ausgang ist für
eine Tragödie unerläßlich, aus dem einfachen Grunde, weil sonst der Konflikt sich
als ein blos scheinbarer, also dem höheren Bewußtsein gegenüber als ein komi¬
scher erweist, und weil es das Publikum mit Recht dem Dichter als eine Beleidi¬
gung auslegt, wenn er mit seinen Empfindungen spielt, sein sittliches Gefühl vexirt.
Die Komödie hat es also einerseits mit Charakteren zu thun, die nicht der
Ausdruck des allgemein Menschlichen sind, sondern die in sich selbst widerspre¬
chenden Resultate einer unfertigen Sittlichkeit. Dahin gehören auch die Leidenschaf¬
ten, die sich aus den Schein beziehen. Ehrgeiz, wo wirklich Kraft da ist, Liebe,
Zorn über Verletzungen der persönlichen Integrität n. s. w. sind Leidenschaften, die
zum Wesen des echten Menschen gehören, also tragisch, ebenso wie die Kollisionen
dieser verschiedenartigen Motive; mit Leidenschaften dagegen, die sich nnr auf eine
Einbildung beziehen, z. B. Geiz, oder die in das Gebiet der Pathologie fallen,
wie Spielsucht und Trunksucht, die Würde des Tragischen zu beflecken, war nnr
in unserm wunderbaren Säculum möglich.
Andererseits kaun das Schicksal, über das wir lachen sollen, nur ein Spiel
des Zufalls sein, oder, wenn die Personen activ auftreten, Intrigue, d. h. Ver¬
wickelungen des endlichen Verstandes. In diesen beiden Elementen — den Figu¬
ren oder den Situationen — liegt das Komische, und je roher die Form des Lust¬
spiels ist, desto einseitiger wird das eine oder das andere hervorgekehrt werden. Sl-
tucitivus- oder Jutriguenspiele mit ganz farblosen, hölzernen Figuren, wie in den
italienischen oder spanischen Masken, oder Zerrbilder eines komischen Charakters
nach der Weise la Brnyi;res, wie in einem großen Theil des englischen Lustspiels,
gehen zuletzt in bloße Posse aus, und verlassen das Gebiet der Kunst.
Man vergesse nicht, daß der Gegensatz zwischen Tragödie und Komödie nicht
abstract gefaßt werden darf. Freilich sind die Personen der Tragödie freie Indi¬
viduen, die Personen der Komödie Typen; der Boden der Tragödie ist die all¬
gemein menschliche Sittlichkeit, der Boden der Komödie die endliche Convenienz.
Aber das freie Individuum ist uicht ohne Bestimmtheit, die lustige Person nicht
ohne Individualität und uicht ohne ideale Basis zu denken. Gerade in dem Her-
einragen des Idealen, des rein Menschlichen in die Zufälligkeit des komischen Kon¬
trastes, in dem es uicht aufgehoben, sondern nur gebrochen erscheint, liegt der
größte Reiz des Lustspiels, und diese Seite ist es, die wir an ihm aufzu¬
fassen gedenken. Denn der Spaß, hinter den sich nicht ein relativ ernstes
Problem versteckt, gehört nicht in die Geschichte der menschlichen Cultur. Nur
hat der Lustspieldichter, der für das Bedürfniß des Tages arbeitet, in der Regel
nicht das Bewußtsein dieses Verhältnisses, weil er selber in dem Kreise steht, den
er darstellt. Ueber den einfachen Gegensatz der ungebildeten Subjectivität und
der gedankenlosen Convenienz hinauszugehen, ist das Zeichen des großen Dich¬
ters — eines Aristophanes und Shakespeare.
Ein rascher Blick auf die Geschichte des Lustspiels wird diesen .Gedanken
verdeutlichen.
Nach Aristophanes, der bis jetzt noch in der Poesie ohne Gleichen ist, ge¬
wann das Lustspiel von Athen sogleich diejenige Form, die es bis auf den heuti¬
gen Tag behalten hat. Abgesehen von den Sitnationspossen, Menächmen n. tgi.,
war der wesentliche Gegenstand immer eine Heirath, die trotz mancher Schwierig¬
keiten zu Stande kommt. Es ist beiläufig ein großer Fortschritt des neunzehnten
Jahrhunderts, wenn auch nicht eben rühmlich für seine Moralität, daß was u a es
der Hochzeit vorgeht, uicht mehr hinter den Coulissen bleibt. — Die Intriguen
der Heirath bedingten sofort eine Reihe nothwendiger Masken, die zwar mit der
Lokalfarbe wechselten, die sich aber in ihrem wesentlichen Zuschnitt immer gleich
blieben. Der verliebte Alte oder der geizige Vater, der gefoppt werden muß; der
Liebhaber; der verschmitzte Sklave, der, obgleich sein Leben zur Verfügung des
Herrn steht, dennoch mit ihm ein dreistes Spiel zu treiben wagt, weil er im
Gefühl seiner überlegenen List der Ketten spottet; endlich die vermeintliche Fremde,
die nach Athenischem Gesetz keinen Bürger heirathen darf, von der aber zum Schluß
durch Vermittelung irgend eines «tous ox linota,-,, sich ergibt, daß sie ans einer
Bürgerfamilie herstammt: das ist ungefähr der ganze Apparat des menandrischcn
Theaters, den wir in den römischen Nachahmungen des Terenz wiederfinden. Es
ist immer nur ein Wechsel der Combination, die wesentlichen Ingredienzen des
Lustspiels bleibe» die nämlichen, wenn auch, wie bei Plautus, hin und wieder
eine unmittelbar angeschaute CharaktcrmaSke von localer Färbung eingeschwärzt wird.
In den Masken der italienischen Pantomime erkennen wir leicht die alten
Lustspielfignren wieder, nnr sind sie nach allen Seiten hin komisch-phantastisch
idealisirt, und die Situation zieht sich in den engsten Kreis des Burlesken, in den
handgreiflichen Schwank zusammen. Der gefoppte Pedant, der Dvttore, stellt in
der Regel den Vormund der Kolombine vor; der glückliche Liebhaber, Arlechin,
ist zugleich der verschmitzte, behende Sklav; die tölpelhafte Seite des letzteren
kommt im Pierrot zur Erscheinung u. s. w. Es ist das leichte, lockere Leben, wie
es in Italien immer zu Hause war, so lauge es der Ernst des römischen Staats¬
wesens uicht niederdrückte. Die phantastischen Figuren, Türken, Chinesen, die
Götter der Mythologie, Pluto, Cerberus, oder komische Professionen, der Arzt
u. s. ,w., dienten nur als Staffage. In dem italienischen Ballet, wie es Moliore
zu Paris vorfand, hat man diese ganze Reihe lustiger Figuren in buntester Fülle
beisammen. Beaumarchais' Barbier von Sevilla ist das alte Fastnachtspiel: der
Dottore, Rosine als Kolombine, Basil der Pierrot, aber der Arlechin hat im
Figaro eine sehr bestimmte, concret-historische Gestalt angenommen und sich zu
einer Charaktermaske in unserm Sinn erweitert.
Ist in den italienischen Masken die ethische Ausbeute sehr dürftig, da der
Spaß sich lediglich auf die allergröbsten Verwickelungen beschränkt, und da bei
dem Mangel einer festen politischen Grundlage im modernen Italien, ohne die
sich ein sittliches Wesen nicht denken läßt, alle Gestalten sich in stoffloser Ironie
verflüchtigen, so ist die Lust an diesen Gliederpuppen doch immer berechtigt, weil
die Figuren naiv gehalten sind. In der spanische» ("nmeili.i, alö <:mal )' vspild.'l
dagegen finden wir dieselben Typen, aber auf Stelzen. Die Charaktermasken des
Calderon'schen Lustspiels sind Mosaikarbeiten der Reflexion. Die Kavaliere sind
zusammengeflickte Phrasen ans dem Katechismus romantischer Ehre, die Graciosos
die abstrakten Harlekine ohne irgend eine ursprüngliche Laune. Die verschrobene
Convenienz jener spanischen Hidalgos wäre der vortrefflichste Gegenstand für ein
Lustspiel, aber die Dichter sind vollständig befangen in dem Netz dieser eingebil¬
deten sittlichen Bestimmungen, ihre Aufgabe ist lediglich ein Rechenexempel des
combinirenden Verstandes. Wenn man von der Geschicklichkeit dieser Combination
absieht, so muß man Lope und Calderon um so tiefer stellen, da ihnen Cervantes
vorausgegangen war, und jene beiden Figuren im Don Quixote und im Sancho
mit dem köstlichste» Humor idealisirt hatte, die nachher wieder in der alten, fest-
gemordnen Sittlichkeit erstarrten.
Im englischen Theater ist es gerade umgekehrt. Der Faden der Handlung
ist stets so lose als möglich, die Verwickelung ungeschickt, die Anlage des Ganzen
auch bei den besten Dichtern von einer wahrhaft primitiven Rohheit. Aber vom
ersten Anfang an bis auf unse,e Tage, von Shakespeare bis auf Dickens und Thacke-
ray — denn auf die Form, ob Roman oder Theaterstück, kommt es in England
nicht viel an — welche Fülle concreter, lebendiger, mit sicherer Hand gemeißelter
Gestatte»! Die „lustigen Weiber von Windsor" sind gewiß ein schlechtes Stück,
aber wer Sinn sür Poesie hat, wird doch ein größeres Interesse daran nehmen,
als an der künstlichen spanischen Komödie, denn man hat es nicht mit Automaten
zu thun. So chargirt die Figuren, so faustdick der Humor, es ist doch überall
Ursprünglichkeit und Natur, und mit einer gelinden Parodie des Dichters kann
man von ihnen sagen:
Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte,
Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.
So incommensnrabel auf den ersten Anblick jeder einzelne dieser Charaktere
in der unbedingten Freiheit seiner Sonderlingsnatur, so fehlt es doch bei dein
genaueren Studium an Typen, an Charaktermasken keineswegs. Selbst im Sha¬
kespeare taucht uuter verschiedenen Formen hin und wieder eine bekannte Gestalt
»»f. Aber eben die neue Form ist jedesmal eine Eroberung für das Reich der
Poesie. Es sind Resultate conventioneller Verwickelungen, aber dnrch Humor befreit
und zu einer wirklichen Individualität verkörpert. Das ist die höchste Aufgabe
des Lustspiels. Fallstaff z. B. ist ein Typus — der Cynismus des gemeinen
Menschenverstandes gegen die idealen Anforderungen des sittlichen Wesens, die er
von ihrer endlichen Seite ganz richtig übersieht; er ist Ideal, denn er vermittelt
seine empirische Lebensweisheit durch freien Humor; er ist in seinem Detail zeit¬
lich und local bestimmt, und er ist wirkliche Person.
In den Charaktermasken des neuesten Lustspiels unterscheide ich drei Gruppe».
Zuerst die Typen der fixirten, conventionellen Sentimentalität, des sogenann¬
ten bürgerlichen Dramas, von Diderot erfunden, von den Deutschen mit einer
Schauder erregenden Ausdauer und Virtuosität fortgeführt. Jffland ist der Höhe¬
punkt dieser Richtung, und die Schauspielergcsellschast im Wilhelm Meister das
ungefähre Abbild. Der polternde Alte, der Pedant (böse Geheimerath), der ver¬
lerne Sohn u. f. w. Die Regeln des Gemüths sind fertig, wie die Regeln der
^hre bei Calderon, aber sie sind weich, nicht spröde, wie ihre Voraussetzungen.
Wahrhaft poetische, d. h. freie Gestalten haben aus ihnen nicht hervorgehn können,
sie sind als Charaktermasken nur im Ganze» lehrreich.
Die zweite Gruppe sind die satyrischen Figuren, gegen einzelne, blos zeit¬
liche Verirrungen gerichtet, in der Art, wie der bourgvoi« ^utiliwmmv von
Mvlivre, die meisten Lustspiele von Holberg. Auch Kotzebue ist reich daran (die
Organe des Gehirns, die Sucht zu glänzen u. s. w.). Solche Satyren verlieren
ehren Werth mit dem Aufhören ihres Gegenstandes, wenn sich nicht in dem In¬
halt desselben ein allgemeiner sittlicher Conflict ausspricht, wie es bei dem Tartüffe
^' Fall ist, ans den wir noch zurückkommen. — Die schlechteste Art dieser Satyre
und die Lustspiele unserer romantischen Schule, trotz alles phantastischen Aufputzes,
^ni sie lediglich aus literarischer Animosität hervorgehn, und weil ihre komischen
Personen nnr als Träger mißliebiger Ansichten Existenz haben.
Die dritte Form und die höchste des modernen Lustspiels sucht einen zeitlich
bedingten, aber nicht zufälligen, sondern geschichtlich berechtigten sittlichen Contrast
zu überwinden. Es liegt ans der Hand, daß eine derartige Aufgabe leicht Ten¬
denz bleibt, aber auch als solche ist sie, z. B. bei unserer jungdeutschen Schule,
anzuerkennen. Auch Moliizre's Misanthrop, Lessing's Freigeist und Tellheim sind
über den Versuch nicht hinausgekommen; eben so wenig Beaumarchais, der aber
in seiner Trilogie über den modernen Ehestand für den Lustspieldichter ein nicht
zu umgehendes Vorbild aufgestellt hat. Das neueste französische Theater (ich er¬
innere an Scribe's I^no ninno) hat es, Dank der Frivolität seiner Dichter! erreicht,
für die Darstellung sozialer Probleme eine Art classischer Form zu finden, die wir
Dentschen um so besser kritisch zu würdigen verstehen, je fremdartiger, ja in ge¬
wisser Beziehung unheimlicher uns die Lösung jener Conflicte vorkommen muß.
Es versteht sich von selbst, daß die letzte Gattung den Hauptgegenstand meiner
Kritik bilden wird.
Um noch einmal auf deu Inhalt meiner Aufgabe zurückzukommen: sie besteht
darin, die Resultate sittlicher Probleme, wie sie sich in den Charaktermasken der
modernen Poesie plastisch gestaltet haben, kritisch zu analystren, sie in ihrer ge¬
schichtlichen Basis zu verfolgen, und so aus dem Spiel deu Ernst des dahinter
verborgenen ethischen Conflicts zu entwickeln. — Das Nähere kann sich erst in
der einzelnen Ausführung ergeben.
Erste Scene. Ein noch junger Cavalier, in reichster spanischer Tracht, sitzt
an einer wohlbesetzten Tafel. Schwarzes Haar, blasses Gesicht, wie es die Wei¬
ber lieben, und jenen Vampyrblick, dem kein Weib widerstehen kann, weil man
tief hinabschant, ohne einen Boden zu finden. Die Züge etwas schlaff und ab¬
gespannt, aber voll Geist, um den seinen Mund schwebt beständig ein spöttisches
Lächeln. Ein behender Bediente mit spitzbübischer Physiognomie ist um ihn be¬
schäftigt, ein Trupp Musikanten spielt eine Manuel aus Figaro, tausend Kerzen
verbreiten ein wunderbares Licht, fremdartige Blumen winden sich um die gothi¬
schen Fenster, ein paar anmuthige Phrhuen — das darf nicht fehlen — bringe»
in das sonst beleidigende Stilleben des lucullischen Mahles die Beweglichkeit, die
ihm allein seinen cynischen Charakter nehmen kann. Der Cavalier spielt mit dem
Degen, der sich in manchem Duell mit Blut gefärbt, und überblickt behaglich ein
Register, in welchem die Portraits aller seiner „Opfer" gesammelt sind, der blon¬
den, braunen u. s. w., die er verführt und dann im Stich gelassen. Das Regi¬
ster nimmt die ganze Wand ein, der Portraits sind I—4000. Ein Hause Bauer»,
denen er ihre Liebsten abspenstig gemacht, hat ihn erschlagen wollen, er ist ent¬
kommen, hat im Uebermuth noch die Statue, die als Denkmal eines von UM
Getödteten ausgerichtet war, zu Tisch eingeladen, und will nun ruhig esse«. ^
wird gestört. Zuerst eine verlassene Geliebte, die seine Kniee umfaßt und ih»
beschwört, er solle seinen ruchlosen Wandel aufgeben. Er bietet ihr ein Glas
Champagner an. Dann jener steinerne Gast, den er eingeladen, und der ihn im
Namen des Himmels in ernsten Posaunentönen bedroht, wenn er sich nicht bessern
will. Schauderhaft, aber ich bleibe doch liederlich! Endlich der Gottseibeiuns,
der im Feuerregen herniederstürzt und den frevelhaften Spötter in die Hölle
nimmt. —
Zweite Scene. Die nämlichen, Don Juan und Sganarelle, im Begriff, ans
den Blocksberg zu klettern. Es ist die Walpurgisnacht, im wüsten Getümmel
braust ein bachantischer Hexenhanfe an ihnen vorüber, sich in dem teuflischen Sab¬
bat zu berauschen. Der Teufel hält Cour, von Norden, Süden, Osten und
Westen strömen die Züge seiner Gläubigen wie Geyer dnxch die Luft, ihn anzu¬
beten. Wie kommen jene beiden in eine so schlechte Gesellschaft? Don Juan will
sich zerstreuen und nebenbei dem Blutbann ans dem Wege gehn, er hat eben ein neues
„Opfer" im Stich gelassen, ein liebes Kind, mit dem er so lange über Gott, Liebe,
die Blumen und Sterne philosophirt, bis dieses platonische Treiben das gewöhn¬
liche Ende nahm. Gretchens Bruder, der ihre Ehre rächen wollte, ist von Don
Juan getödtet, ihre Mutter ist vor Gram gestorben, ihr Kind hat sie in's Wasser
geworfen und erwartet nnn im Kerker, vom Wahnsinn ergriffen, den Spruch des
Gerichts. Don Juan sieht noch eben so jung ans, wie in der vorigen Scene,
er hat noch das nämliche Gesicht mit dem Vampyrblick, aber seine Jngend ist
diesmal eine Hexerei, er hat schon früher lange gelebt, Theologie, Medizin, Ju¬
risprudenz, die alten und, neuen Sprachen studirt, und sich überzeugt, daß er
damit doch nichts wisse, und daß man überhaupt nichts wissen könne. Warum?
Weil die ganze Wirklichkeit nirgend anders zu suchen ist, als in der Einbildung.
Er hat also seine anatomischen Präparate, seine Retorten und vergilbten Perga¬
mente, seine Käfersammlungen und phrenologischen Schädel, kurz den ganzen
Apparat seines Wissens, die Trümmer der realen Welt, die seine Phantasie zer¬
schlagen, der einen Hälfte seines Wesens, dem gelehrten Wagner, zurückgelassen,
die audere Hälfte setzt sich auf den Zaubermantel der absoluten Phantasie und
bagabondn't durch alle Welten herum, Ein Bild im Herzen, das ein Zauber-
spiegel ihm gezeigt: die schöne Helena von Griechenland, das Weib an sich, zu¬
gleich blond und braun, mit fromm blauen und schelmisch schwarzen Angen, mit
sinniger Blässe und strahlender Gesundheit, voller Geist und naiv wie ein Kind,
das Weib, mit einem Wort, das zugleich Jungfrau und Mutter ist. Dieses
Weib will er ganz genießen, wie er die Wahrheit ganz sehen will: die Knospe
soll in demselben Moment als entwickelte Blume, der Keim alö tausendjähriger
Baum erscheinen; die Schale soll durchsichtig und doch farbig und fest sein; je¬
des einzelne Ding soll sich den lügenhaften Einflüssen der Sonne, des Lichtes
und der Wärme, so wie der Abhängigkeit von Erde und Wasser entziehen, und
doch leben. Natürlich wird er nie befriedigt werden, und als er daher dem Teufel
seine Seele verschrieb, hat er die Bedingung gesetzt, er wolle ihm erst dann an¬
gehören, wenn er einen Augenblick fände, in welchem er Alles ans einmal sei,
Alles auf einmal thue, Alles auf einmal genieße. Der Angenblick wird nicht kom¬
men, denn die Blonde ist nicht braun, die Blasse uicht roth, die Jungfrau hat
nicht das Interessante der Mutter, die Mutter nicht das Frische der Jungfrau. Im
Genuß empfindet er nicht die Ruhe des Schlafs, im Schlaf genießt er nicht das Selbst¬
bewußtsein. So wird er die Last der Unzufriedenheit, dieses stolze Bewußtsein
der Fähigkeit, ein Verlangen zu hegen, dem der Augenblick nie gerecht wird, so
lange büßen können, bis die Stunde kömmt, wo tausend Seelen in einem mathe¬
matischen Punkt Faudango tanzen. Bis dahin wird er sich mit seinem Gefährten
unterhalten, der beiläufig noch älter ist, als er, älter als Methusalem, so alt als
der liebe Gott, in dessen Schatten er ruhte, als die Welt geschaffen wurde; der
närrische Geist des Widerspruchs, der immer fragt, warum ist 2 mal 2 blos 4,
und nicht zugleich auch 5, oder wozu wird man geboren, wenn man doch sterben
muß u. s. w. und der eine kindische Freude daran hat, wenn der liebe Gott ihm
nichts zu sagen weiß, als dieses: Ein Narr kaun mehr fragen, als tausend Weise
antworten. Der einzige Unterschied zwischen deu beide» Freunden und Verbün¬
deten ist der, daß der eine sein Ideal — eben jene Frage des Narren — als
sein Recht, und daher sein Schicksal, keine Antwort zu erhalten, als seine tragische
Bestümnuug betrachtet.
Die Scene hat keinen Schluß, denn die Variationen jener Frage sind unend-
lich. Die beiden Reisenden sind bloße Zugvögel.
Dritte Scene. Wir sind in einem Kirchhof. Sganarelle oder Mephistopheles
schaufelt in einem offenen Grabe, spielt mit den Schädeln, die er aufwirft, und
singt dazu ein lustiges Schelmeulied.
Faust steht vor ihm, betrachtet die Gebeine und philosophirt darüber, ob wohl
Alexander's Schädel auch so riechen mag. Hier ist endlich ein Feld, auf dem
seine Melancholie sich weiden kann. Am Weibe hat er keine Lust mehr, den»
seine Phantasie, die nicht den Augenblick, d. h. nicht die Realität, sondern das
zeitlose Sein zu umspannen strebt, malt ihm die kommenden Runzeln unter der
frischen Wange, malt ihm die Todtenwürmer, die einst an ihr zehren werden.
Das Wissen hat seinen Gegenstand verloren, denn es gibt nichts Ewiges; was
man wirklich nennt, ist ja nur ein Wechsel von Erscheinungen. Man fordert ihn
auf, zu Handel»; das Gewissen stellt sich ihm als mahnendes Gespenst gegenüber,
auch die eigene Unruhe treibt ihn. Aber wozu handeln? Recht und Unrecht er¬
zeugt erst der Gedanke, und den Gedanken stört eine unruhige Fliege in seinem
Weg. Wozu handeln? Es nimmt ja alles zuletzt ein gleiches Ende, und anch
nur das Nächste mit Sicherheit zu berechnen, reicht keine Weisheit aus. Er hat
keine Freude am Leben, weil ihm der Glaube an seine Realität fehlt. Nur
Eines steht ihm fest, er muß daran glauben, weil er es fürchtet — der Tod.
Der Tod ist das einzig Gewisse, und dieses Einzige verschließt sich dem Ver¬
ständniß. Das Nichtsein, die wahre Realität ist lmbegreiflich.
Und nun die Welt, die nach Freuden jagt, die in uuvcrdrvssner Arbeit, mit
Noth und Sorge sich Werke schafft, die doch vergehen müssen! welche liebt, wo sie
doch nur Truumgcstalten, Einbildungen sich gegenüber findet! Diese Narrenwelt
wirbelt in einem wüsten Kreise um seine Sinne, er sieht wunderbare Gestalten,
einen Sarg, in dem seine Geliebte liegt, die seinetwegen wahnsinnig geworden ist
und sich ertränkt hat, Brüder, die ihren Schmerz um ihre» Tod in wüsten Bil¬
dern auszumalen suchen; er wird mit angesteckt, er überbietet die Bilder, seine
Phantasie wird rege; man treibt ihn zu handeln, er schwärmt sich in Pläne hinein,
die aber nur so lauge aushalten, als die persönliche Gefahr ihn stachelt; zuletzt
lufft ihn im Spiel ein vergifteter Degenstoß, er greift noch rasch nach dem
Schwert, und tödtet seine Mörder. Die ganze Familie kommt in das Hans des
alten Maulwurfs, des ironischen Mephistopheles, der seine Schclmenliedcheu dazu
sengen wird, wie er es über Avril's Schädel trillerte. —
Wir haben hier in den Bildern großer Dichter jenes Gespenst versinnlicht,
das in unserer Poesie immer von Neuem auftaucht, so oft wir uns auch vorstellen,
es los zu sein, wie ein böses Traumbild, das wir nicht abschütteln können, wie
wir uns auch anstrengen, zu erwachen. Wir werden es erst dann überwunden
haben, wenn wir im Stande sind, darüber zu spotten. Ein Cervantes, der Don
Juan, Faust und Hamlet zu einem Don Quixote idcalistrt, und die neue Zeit
ist frei von diesem Spiel der Romantik. Wir kommen dazu — doch ich will nicht
vorgreifen.
Zunächst haben wir zu fragen: wo ist die Quelle dieser Blasirtheit? d. h.
dieses Gefühls von dem unendlichen Contrast zwischen dem, was der Geist wollen
kann, und dem, was die Wirklichkeit ihm bietet.
Warum kennt das Alterthum diese Erscheinung nicht? — Weil es fromm
Wu, weil es das Individuum herabdrückte, weil es die Kraft mit dem Maß, der
Grenze der Kraft identificirte^ weil ihm die gesammte Natur in ihrer Nothwendig¬
st höher stand, als das einzelne Herz in seinen wechselnden Stimmungen, weil
es nur Bestimmtes wollte, suchte, fragte, und daher um einen endlichen Schmerz
empfinden konnte, nicht den wüsten Traum des sogenannten Weltschmerzes, weil
es die Götter, d. h. die Weltmacht ehrte, auch wo es sie nicht verstand.
Als aber die Lehre aufgestellt wurde, daß der Mensch, d. h. der Einzelne,
der Mittelpunkt sei, um den die Welt, vorsehend und versuchend, sich drehe, als
jeder Lump sich zum speciellen Zweck Gottes hinaufschraubte, und die Natur zum
Gegenstand seiner egoistischen Neigungen herabsetzte, da wurde es möglich, daß»
die Unendlichkeit der sogenannten geistigen Ansprüche im Kontrast mit der Be¬
stimmtheit und also Endlichkeit der Welt zu jenem kranken Glauben führte, die
Welt mit ihrem Gesetz sei ein Jammerthal, eine Lüge, sie sei geradezu der Feind
des Menschen, das Reich des Teufels.
Ich darf nicht erst daran erinnern, daß das Christenthum es war, welches
jene Lehre zum Glauben der Welt erhob.
So lange nun die Menschen beim Glauben blieben, verlegten sie die Erfül¬
lung ihrer maßlosen und widersprechenden Wünsche ins Jenseits, und quälte» sich
damit ab, den Widerspruch derselben, die Natur, im eignen Fleisch zu verfolgen.
Sie fanden die Befriedigung ihres Selbstgefühls in einer grenzenlosen Demüthi-
gung, sie traten ihre irdischen Freuden, ihren irdischen Verstand, ihre irdische
Neigung in den Koth, nur um ihrer eigentlichen Bestimmung durch den Contrast
ein glänzendes Relief zu geben. Wie ein Wurm wand sich der Mensch im Staube
vor seinem Gott, und rechtete doch mit ihm in seinen Werken, quälte ihn mit
den leidenschaftlichen Forderungen seiner Sehnsucht. Ich erinnere beiläufig daran,
daß der Uebergang von raffinirter Sinnlichkeit zur raffinirten Pönitenz, daß die
Gestalt der Magdalena ausschließlich dem Christenthum angehört. Deu Griechen
war sie unbekannt. Aber die Sünderin und die Büßende fallen in ihrem wesent¬
lichen Inhalt zusammen; erst war der maßlose Genuß unmittelbar, dann sollte er
für die Ewigkeit erkauft werden durch maßloses Leiden.
Als der Fortschritt der Wissenschaft dem Jenseits einen Raum nach dem an¬
dern streitig machte, als der Himmel sich ganz in dunkle Ferne verlor, blieb die
Maßlosigkeit der Ansprüche und der Einbildungen, und folglich die Verachtung der
Wirklichkeit, die ihnen nicht gerecht wurde. Daß mau sich wünschte, alle Weiber
der Welt hätten nur Einen Mund, um-in Einem Kuß unendliche Seligkeit zu
erschöpfen, das kam allenfalls auch schon zu deu Zeiten des Nero vor, der im
Uebermaß der Macht zuletzt uicht mehr wußte, was er sich für einen Wunsch er¬
sinnen sollte, um einmal zu wechseln; aber daß man diesen Wunsch als einen
Rechtsanspruch der Natur ins Gesicht schleuderte, und indignirt darüber war, daß
sie ihn nicht acceptirte, das blieb dem romantischen Zeitalter vorbehalten. Eben
so war es mit dem sogenannten Wissensdrang, der darauf herauskam, daß man
sich mit seinem ganzen Ich in ein kugelrundes Auge verwandeln, und die gesammte
Welt in einer Kugelfläche sich gegenüberstellen wollte, um sie mit Einem Blick z»
überschauen, die Ewigkeit in einem Moment. Nicht anders war es ferner mit
der Coquetterie der Tugend, die sich darüber abquälte, ob nicht die Reinheit
des Opfers befleckt würde durch die Neigung, mit der mau es brachte; die den¬
selben Maßstab an das Urtheil über Andere legte, und, da es sehr leicht ist, bei
der Analyse anch der besten Handlungen persönliche Motive zu entdecken, weil
man nicht handeln kann, ohne persönlich betheiligt zu sein, sich endlich mit dem
Resultat befriedigte, die Welt sei aus Egoismus zusammengesetzt, und man sei
nur dadurch darüber erhaben, daß man es wisse.
Indem sich der Einzelne für den Mittelpunkt der Welt ansieht, ist ihm ideal,
was er in sich zu finden vermeint — als Wunsch, als Frage, als Stimmung —
Vor der Realität als solcher hat er keine Ehrfurcht; er haßt die Natur, weil sie
sich seinen Launen nicht preisgibt, und eben drum auch die Gesellschaft. Aber ge¬
rade in dieser Isolirtheit ist er selber das Gegentheil des Ideals: er ist böse, er
ist unfrei und — er ist albern. Eine bittere Wahrheit, die wir dieser anspruchs¬
vollen Charaktermaske nicht verschweigen können. Eine Analyse der Bestandtheile,
aus denen sie zusammengeflickt ist, wird es ergeben.
Der abstracte Gegensatz zwischen Geist und Natur, zwischen Idee und Wirk¬
lichkeit, der im Mittelalter noch den Reiz der Naivität an sich trug, wie das
ganze Leben, reflectirte zuerst im Zeitalter der Reformation, dann in der poeti¬
schen Sturm- und Drangpenvde des 18. Jahrhunderts. Das Jahrhundert der
Reformation erfand jene drei Masken, die Stnrmperiode dichtete sie aus, die
Romantik rundete sie zu einer Doctrin ab, und stellte sie ans ihren aus chinesischem
Spielzeug aufgestapelten Altar, wie die Jsraeliten das goldene Kalb. Unserer
Zeit ward die Aufgabe, ihn zu überwinden.
Wir überwinden den Gegensatz, indem wir ihn zerlegen.
Von den Masken, in welche sich die Blasirtheit versteckt, ist Don Juan die
handgreiflichste: der raffinirte Egoismus und die Nichtachtung sittlicher Schranken.
Mit dem Wort Egoismus verbindet unsere Romantik zwei ganz verschiedene Be¬
griffe, aus deren Vermischung die sinnlosesten Vorstellungen hervorgehn. In dem
Sinn, daß der Mensch bei allen Bestrebungen, wie ideal sie auch aussehn, sich
selbst zum Zweck hat, ist jeder Mensch Egoist, und kann es nicht anders sein,
wenn er nicht überhaupt aufhören wollte zu sein. Auch wenn man stirbt für eine
große Sache, ist es nnr, weil man sich darin betheiligt und befriedigt. Nur der
gebildete Cynismus bringt die Gesellschaft hervor und erhält sie; nur aus ihm
c»tspringen Wissenschaft und Kunst. Eine andere Sache ist es aber mit dem
künstlichen Egoismus, d. h. dem Cultus, deu man mit seiner schlechten Persön¬
lichkeit treibt, dem unruhigen Sinnen und Trachten, sich in jedem Augenblick in
werthloser Lust zu befriedigen. Je werthloser die Beschäftigung ist, in der man
sich zu genügen Pflegt, d. h. je weniger allgemein menschlichen Inhalt sie bietet,
desto raffinirter wird der Egoismus, d. h. die Sonderung der persönlichen
Interessen von den allgemeinen der Gesellschaft. Der liederliche ist der schlechteste
Egoist, weil seine Beschäftigung den geringsten objectiven Werth hat. In der.
Regel ist stark hervortretender Egoismus, wenn er sich mit einer gewissen Prä¬
tension geltend zu machen weiß, ein sicheres Zeichen von der Fäulniß der Gesell¬
schaft, die eben darin besteht, daß der Einzelne sich nicht mehr innerhalb der
Gesellschaft realisiren mag. Die Zeiten eines Nero, einer Messaline, eines Helio-
gabal sind darum so reich an praktischen Don Juans, weil aller praktische Ver¬
stand aufgehört hatte. Wer das Mittel in Händen hatte, kam in der Unruhe
seiner Gelüste auf die wahnsinnigsten Einfälle, er ließ sich ein Gericht Pfanen-
zungen kochen, oder er ließ Tausend Sklaven von wilden Bestien zerreißen, um
seine abgestumpften Sinne zu kitzeln, oder er zündete, um ein recht kolossales
Schauspiel zu haben, die Stadt der Cäsaren an. Wer die Mittel nicht hatte,
ersetzte den wirklichen Genuß durch phantastischen, er wurde z. B. Christ, wozu
übrigens auch der Mächtigste zuletzt kommen mußte, weil ihm endlich zur Lust die
physische Befähigung abging. Schon jene Hinrichtungen sind eigentlich ein blos
phantastischer, eingebildeter Genuß. —
Wenn man die moderne französische Poesie verfolgt, so glaubt man, sich in
schlechten Reminiscenzen aus dem römischen Kaiserreich zu bewegen. Zuerst ist die
Unsittlichkeit noch naiv — ich erinnere an die Chronik des Oeil de boeuf, die
Memoiren des Ritter Lauznn, die Geschichte der Ninon de l'Enclos, die Romane
des jüngern Crcbillon und Andere — diese eben so lustigen als kläglichen Bilder
von den Roues aus den Zeiten der Regentschaft. DaS Eigenthümliche und Hä߬
liche ist nnr, daß man bei den wüsten Orgien der Leidenschaft, daß man selbst
im Rausch eiskalt und nüchtern bleibt, daß man selbst im SinncStanmel weltlich
reflectirt. Dann kommt aber ein zweites Moment hinzu, hervorgegangen ans dem
Gcdankenvorrath, den die neue Zeit nicht überwinden kann, so sehr sie sich in
Materialismus versenkt; das Bestreben, auch das Geistige zu corrumpiren. Ein
sehr lehrreiches Buch sind in dieser Beziehung die l/i-ki«»,,« cum^orvusos. Der
Non«, welcher die Hauptrolle spielt, will die tugendhafte Frau eines Andern ver¬
führen, in die er beiläufig wirklich verliebt ist. Der natürliche Weg wäre, ihr
die tugendhaften Bedeuten auszureden, oder sie wenigstens durch Sinnlichkeit zu
übertäuben. Aber das genügt unserm Don Juan nicht. Im Gegeutheil schärft
er ihre Gewissensbisse, und trotzdem muß sie sein werden; er weidet sich an ihren
geistigen Qualen, wie Nero am Schmerzgehenl der Opfer, die er schinden oder
laugsam verbrennen ließ. Zuletzt, als ihm nichts mehr zu wünschen übrig bleibt,
schreibt er ihr einen lakonischer Brief: „Liebes Kind, ich habe mir nur einen
Spaß mit dir gemacht, geh' in Gottes Namen zu deinem lieben Mann zurück."
Und wozu das alles? Um einer ganz verderbten Frau, der Theilnehmerin seiner
frühern Laster, gegenüber, mit einer noch größern Verderbtheit renommiren zu
können. Diese Frau übersteht und betrügt ihn, die Andere stirbt, er steht als
Narr seiner eignen Eitelkeit da, die ihn von der Meinung der Schlechten ab¬
hängig gemacht hat. Das ist überhaupt charakteristisch für diese Wollüstlinge, daß
sie trotz aller Opposition gegen Gesetz und Sitte Sklaven der Meinung sind,
Sklaven der verkehrten Convenienz ihres Kreises, vor dem lächerlich zu erscheine»
sie ängstlicher besorgt sind, als der ehrsame Spießbürger, die polizeilichen Verord¬
nungen zu übertreten. Es liegt zu nahe, daß eben so, wie sie in Beziehung ans
ihre schlechte Gesinnung renommiren, sie in Beziehung auf ihre Erfolge aufschnei¬
den, und es wundert mich nur, daß noch Niemand den Muth gehabt hat, eine»
gelinden Zweifel zu hegen, ob auch das berühmte Register Leporello's exact ist.
Auffallen muß es wenigstens, daß Don Juan vor den Augen des Publikums kein
einziger seiner Verführungöversnchc gelingt. Er wird wohl etwas aufgeschnitten
haben, die Eitelkeit hat eine wunderbare Phantasie.
In jener Abhängigkeit von der Meinung liegt trotz des kläglichen Eindrucks,
deu sie im Ganzen macht, immer noch der einzige moralische Fonds, der die Lie¬
derlichkeit des französischen Nouv von der des römischen Schweigers unterscheidet.
Der Nous bleibt immer Kavalier, und bindet sich an gewisse conventionelle Be¬
stimmungen; es gibt einen l?»int it'jlmmour, den er nicht aus den Augen setzen darf.
Ein Schurke darf er sein, eine MeMme nicht. Dies ist der eine Punkt, von dem
aus die Macht des Guten sich bethätigen darf.
Verschlimmert wird die Sache dagegen dnrch einen andern Umstand. Da die
Leidenschaft nicht mehr natürlich entsteht, sondern als Object des Genusses gesucht
wird, so ist die kalte Bosheit bei der Verfolgung derselben schon begreiflich.
Balzac, dessen Romane (s./>>i«tuir«z de?« ti ol?.v, k>!-r<z (Zu-Jot n. s. w.) vielleicht das
beste Bild jener blutgierigen Wollust, jener gemein berechnenden Selbstsucht geben,
läßt einen seiner Nouvs, dem sich eine Herzogin nicht sofort ergibt, diesen Wider¬
stand gegen seine Wünsche förmlich als Verbrechen verurtheile», und die renitente
Herzogin mit der Strafe der Brandmarkung züchtigen! Das heißt doch den
Cultus der abstracten Persönlichkeit mit Konsequenz ausführe». — Aber das
lst noch »icht das Schlimmste. Indem man von frühster Jugend auf, wo möglich
schon vor der Pubertät, in dem Dunstkreis jener Liederlichkeit aufwächst, und von
ihren Traditionen sich Ȋhrt, anticipirt mau die Empfindungen, die mau noch uicht
haben kann, und stellt sie sodann der späteren Erfahrung als das reine Ideal
gegenüber, man belügt nicht blos die Welt, sondern sich selber. Wenn man sich
später einmal stark betrinkt, so tauchen die Reminiscenzen dieser vermeintliche»
ideale wieder ans, man wird exaltirt oder gar sentimental! Man läßt die Thränen
spielen, in demselben Augenblick, wo man Genüsse» huldigt, vou denen kein Thier
eine Vorstellung haben würde!
' Das ist der Punkt, an den unsere romantische Schule anknüpft. Sie hat
^le verhältnismäßig noch immer naive Liederlichkeit der „Regentschaft" zu einer
Doctrin ausgebildet, sie hat, wie sie überhaupt alle Begriffe zu verwirren, alle Poin-
teil umzukehren verstand, sich zu einer Apotheose des Lasters, zu einer Heiligung
nicht nur der Schlechtigkeit, sondern mich der Schwäche he> gegeben. Bei Schrif¬
ten, wie Schlegels Lucinde, und Gutzkow's Wally — die Lelia der G. Sand spare
ich für eine andere Gelegenheit auf — weiß man nicht recht, ob mau über das
Stammeln des Blödsinns lachen, oder über den Abgrund der Unsittlichkeit, ans
dem die schlimmste Fäulniß athmet, sich entsetzen soll.
Wenn C. T. A. Hoffmann seine Auffassung des Don Juan pathetisch-senti¬
mental umkleidet, so darf uns diese Schminke nicht täuschen. Der Idealismus,
mit dem dieser Don Juan sich brüstet, ist ebenso krankhaft, als die Coquetterie,
mit der sich Genz eine „in schmutziger Hölle unschuldig gebliebene Seele" nennt,
als der Wahnsinn des sogenannten Socialismus, der im Wesentlichen darauf aus¬
läuft, daß die Welt jede beliebige Lais der Gasse für so keusch halten soll, als die
römische Lucretia, ihr Altäre errichten wie der Madonna, weil sie eine Jncarna-
tion ist von den Leiden des Weibes.
Diese doctrinäre Blasirtheit kennen die Engländer nicht, trotz aller Ueber-
sättigung, die von großem Reichthum nicht zu trennen ist. Ihr Spleen ist etwas
ganz anderes; wenn ein Deutscher ihn darstellen will, wie es Gutzkow in sei"
nein „1,3. November" versucht hat, so wird jedesmal eine Monstrosität daraus.
Der Spleen ist freilich eine Krankheit, aber eine humoristische; er ist die Verir-
rung des an sich berechtigten Strebens, in allen Dingen autonom zu sein. Der
Engländer erkennt das Gesetz an, selbst indem er es bricht, und es fällt ihm nicht
ein, seine Laune, die er mit aller Zähigkeit der sächsischen Natur verfolgt, idea¬
listisch zu überfirnissen. —
Wir haben Don Juan verfolgt, wie er in dem Fortschritt der romantischen
Begriffsverwirrung sich in Faust verwandelt, wir schlagen jetzt den umgekehrten
Weg ein. Die Irrfahrten des überspannten Idealismus haben denselben
Ausgang wie die des überspannten Materialismus.
„Kreuzige deu Schwärmer im dreißigsten Jahre, sonst wird der Betrogene
zum Schelm." Selten hat Goethe ein treffenderes Wort gesprochen. Der Ue-
berfüllung mit Phantasien folgt ein noch größerer Ekel, als der materielle, denn
sie stumpft schneller ab, und je schneller die Illusionen sich ans einander folgen,
welche die Enttäuschung nothwendig mit sich führen, weil sie ihrer Natur nach ge-
gcnstandlos sind, desto mehr höhlt sich die Kraft aus, zu glauben und zu lieben.
Wer die Welt verachtet, weil sie seinen Idealen nicht entspricht, wird sehr bald
diesen Idealen gegenüber das nämliche Gefühl haben, weil ihnen keine Welt ent¬
spricht, und wird zuletzt nur noch vor Etwas Hochachtung empfinden, vor der ei¬
genen Ironie, die sich über Welt und Ideal gleichmäßig hinwegsetzt. Faust endigt
im Mephistopheles, wie ja auch dieser Schalk vor grauen Jahren ein überspann¬
ter Idealist war, als er uoch Lucifer hieß. Zuletzt hat er nnr noch Ein ideales
Gefühl, den süßen Schauer vor sich selbst, vor seiner Kraft, zugleich das unent-
liebe Gefühl des Ideals und das Bewußtsein seiner Nichtigkeit in sich zu tragen.
So ist die Frivolität, die mit einer gewissen Bosheit ausgeübt wird, nichts als
ein Ausfluß ungesunder, und daher betrogener Sentimentalität, und Schriftsteller,
wie Heine, bei denen das eine fortwährend mit dem andern wechselt, sind ein
ebenso natürliches als widerliches Zeugniß für die Wahrheit, daß unbedingte
Bejahung (Schwärmerei) nothwendig die unbedingte Berneinung mit sich führt,
wie das Licht den Schatten. Die kritische Kälte, welche der schöpferischen Gluth
eine Form zu geben bestimmt war, macht sich daun nachträglich in einem unfrucht¬
baren Sprühregen geltend: vis ciwsilii ex^vrs mole init su». Schwärmerei und
Sentimentalität sind immer ein Zeichen vou mangelnder Gestaltungskraft, daher die
vielen verkannten Genies, die Jonnes incomnns und die incommensnrMen Fau-
stineu, Lelias, Heloisen, Wally's, die nie die Kraft haben, etwas bestimmtes zu
wollen, etwas bestimmtes zu denken, selbst etwas bestimmtes zu fühlen, und die
sich daher in den breiten Strom unbestimmter Phantasien verliere». Die Jnten-
sivität ihrer Empfindung ist nur scheinbar, weil sie eigentlich immer nur Komödie
spielt; ihre vermeintliche Kraft liegt nur in dem Mangel an Widerstand, in dem
wissentlichen oder naiven Jgnoriren aller Schranken. Ihre Ideale entspringen nicht
aus der Kraft der Liebe, sondern aus dem Gefühl der Schwäche, und aus dem
Haß des Vollkommenen; sie glauben nur darum an Gott — d. h. an die Auflö¬
sung aller Widersprüche — um ihn in der Welt nicht zu finden und nach Her¬
zenslust blaSphemiren zu können. Diese Komödianten haben eine wahre Wuth,
Briefe zu schreiben, und darin sich und Andere zu quälen, und die Romane, die
von ihnen und über sie geschrieben werden, haben in der Regel die Form einer
Korrespondenz oder noch besser eines Tagebuchs; denn eS handelt sich hier nicht
um Erlebnisse, sondern um Phantasten und Meinungen. Als abschreckendes Bei¬
spiel führe ich die Neue Heloise von I. I. Rousseau an, wo mit dem Schreck¬
gespenst der Tugend, dem kalten Pflichtgebot, so lange sentimental getändelt
wird, bis in der Wirklichkeit der Cynismus selbst über die herkömmliche Grenze
hinausgeht. Formte Religiosität — was wir Pietismus nennen — findet sich am
meisten in einer sehr materialistischen Zeit, das Raffinement des Genusses gibt der
raffinirten Geistigkeit den Reiz des Contrastes, und wer es am ausgesuchtesten
treiben will, wird mit religiösen und sinnlichen Phantasien abwechseln, wie Lelia,
Faustine, wie Faust vor Allem. Eigentlich liegt in diesem Phantasieleben viel
Faulheit; Faulheit fürs Denken wie für den Entschluß.
So würde ich auch im Werther den charakteristischen Zug uicht in seiner
vermeintlichen Leidenschaft suchen, die mir gar uicht so iuteustv vorkommt, als in
seiner Trägheit. Er nimmt sich das Leben, weil er damit nichts anzufangen weiß.
Er hat ein gutes Herz, welches natürlich empfindet, und daher von allem Un¬
wahren verletzt wird. Da er aber nicht die Kraft besitzt, sich eine seinen Empfin¬
dungen entsprechende Wirklichkeit zu bereiten, indem er das eine an dem andern
bildet, so heftet sich sein Gemüth coutemplativ an jeden Gegenstand, in dem er
diese Natur als harmonische Erscheinung empfindet, die er in sich selbst nur als
unruhige, nervöse Sehnsucht trägt. Daher seine vermeintliche Leidenschaft für
Lotten, der Drang eines Unbeschäftigten und vielfach Bewegten, sich zu concentriren;
eine Passion, in der er sich ähnlich benimmt, wie der alte Ritter-Toggenburg,
der sich eine Hütte baut, um seinen Schatz täglich eine halbe Stunde dnrch's Fen¬
ster betrachten zu können, und in dieser interessanten Beschäftigung seine Tage sanft
und selig beschließt, nur daß Werther ungeduldiger ist, und zur Pistole greift,
vielleicht mit der ganz geheimen Nebenempfindnng, sie könne ihm doch von schö¬
nen Händen mit sanfter Gewalt entwunden werden.
Lessing hat bekanntlich gewünscht, Goethe möchte noch eine» recht cynischen
Nachtrag geliefert haben, um nicht deu Schein zu errege«, als halte er selber
dieses Bild voll psychologischer und poetischer Wahrheit sür ein Ideal. Er ist
darin mißverstanden worden, wie es ihm überhaupt häufig ergangen ist, weil er
trotz aller Schärfe seines Denkens zu sehr in der transcendentalen Philosophie seiner
Zeit befangen war, um in concreter Lebendigkeit anzuschauen, was nur die Ab-
straction getrennt hatte.") Erst in sentimentalen Thränen zu schwelgen, und dann
in eben so stofflosem Cynismus sich selbst zu ironisiren, das ist keine Befrei¬
ung ovo der Krankheit des Empfindclns, es ist eine neue Verschrobenheit. Die
Kälte der Ironie muß mit der Gluth der Empfindung zusammengehn, um sie zu
gestalten, mau muß die endlichen Seiten des idealen Strebens nicht nur erkennen,
man muß sie ertragen lernen, um sich frei ihm hingeben zu dürfen; man muß
glauben köancn im Wissen; man muß eine große That in ihre kleinen Motive
aufzulösen verstehn, ohne darüber ihre Totalität aus deu Augen zu verlieren.
Die Güte des Herzens ist eine Illusion, wenn nicht Kälte des Verstandes und
Härte des Charakters dazu kommt. Sie ist bloße Reizbarkeit, die für jeden
Widerstand ihre Spannkraft verliert, wie Werther der Convenienz der vornehmen
Gesellschaft gegenüber, die er weder zu reformiren, noch sich darüber zu erheben
die Kraft hat. Werther mußte seine Stellung von ihrer endlichen, also komischen
Seite anschauen, dann wäre er — freilich nicht mehr er selbst gewesen. Das Ge¬
dicht verliert durch diese Kritik Nichts von seiner Berechtigung; der Werther des
Romans konnte nichts besseres thun, als sich todtschießen.
Diese Freiheit von der unbedingten Gewalt der Empfindung wird durch den
Kampf mit dem Leben errungen, und insofern hat die Blasirtheit, als natürliche Re¬
action gegen den inhaltlosen Idealismus, als Uebergangsperiode ihre Berechtigung.
Der richtige Weg von der falschem zur wahren Idealität ist der bewußte Egoismus;
es kommt nur darauf an, daß dieser Frost nicht in einer Zeit eintritt, wo die
Keime des Guten darunter leide»; es kommt darauf an, daß die Ironie sich klar
wird, nicht die Idee an sich, sondern die Illusion überwunden zusahen. Um diesen
Punkt deutlich zu macheu, komme ich auf die Blasirtheit Faust's zurück.
Faust versichert uns, er habe sämmtliche Wissenschaften studirt, und sei zu
dem Resultat gekommen, mau könne nichts wissen, was wesentlich zur Förderung
der Menschheit beitrage. Diese Art Skepsis ist in der Regel (man denke an Mon¬
taigne und Pascal) das Resultat eines dilettantisch, universell unruhigen Studiums,
dem es mehr auf die Masse der Gegenstände, als auf ihre Exactheit ankommt.
Mir geht es mit Faust wie mit Don Ina», ich glaube an seine große Gelehr¬
samkeit uicht. Wer die mathematisch-physikalischen Wissenschaften studirt, dnrch eigene
Forschung gefördert, und in ihrer Anwendung anf's Leben verfolgt hat, der ist
uicht recht bei Sinnen, wenn er behauptet, er wisse Nichts. Es fällt ihm auch
gar uicht el». Wie aber Faust studirt hat, darüber gibt uns seine Thätigkeit als
Arzt ein Zeugniß ; er hat die gegebenen Vorstellungen gelernt, darüber naturphi-
losophisch phantasirt, und sich allerlei einfallen lassen, bis es ihm zuletzt lang¬
weilig wurde. Die Verzweiflung am Wissen ist das Zeichen eines halbgebildeter
Antodidacten, der über Alles gebildet zu sprechen weiß, der aber nirgend voll¬
ständig zu Hause ist. Faust als Gelehrter ist halb Wagner, d. h. unselbstständig
receptiv, Sammler ohne Productivität, halb Phantast. So bleibt ihm als Re¬
sultat uur der Witz, wie ihn Mephistopheles ausübt. Diese Art Wissenschaft,
wie beide sie ironisiren, war anch wohl der Mühe werth, darüber sich dem Teu¬
fel zu verschreiben! Faust ist ein Ausdruck der Wissenschaft im 16. Jahrhundert.
Was Jahrtausende an Kenntnissen aufgespeichert, strömt in roher, barbarischer
Fülle zusammen, tausend Antworte», ehe man fragt, und wenn man zur Frage
kommt, ist mau durch das beständige Nccipiren so abgestumpft, daß man zu träge
ist, eine Antwort zu suchen.
Die moralische und wissenschaftliche Skepsis muß sich in ihrer Lächerlichkeit
erkennen, wie sie vorher die Illusion des Glaubens widerlegt hat, wenn die
wahre Freiheit errungen werden soll. Den Teufel muß man mit dem Teufel
überwinde», haist bleibt zuletzt nur die faule Verwesung übrig, wie in Hebbels
Bertram, der mit einer gewissen Wollust sich selbst als Leichnam anschaut —
diese aristokratisch dumme Blasirtheit, welche die Franzosen sehr treffend mit dem
Name» ihres Leichenhanses, I.l V<>>^»<! bezeichne». Aber „die Erde soll kein
Tummelplatz für Larve» sei»," noch weniger die Poesie. Lebendige Leichen gehören
w's Hospital oder i»'s Tollhaus.
Die Poesie hat vielmehr die Aufgabe, auch in dieser Krankheit den gesunden
Fonds zu verwerthen. Eine Aufgabe, wie sie sich mein Freund Gustav Frey¬
tag in seinem Waldemar gestellt hat: die Bekehrung eines Blastrten. Der
gesunde Fonds ist die Freiheit, mit der ein Weltmann die Illusionen des gewöhn¬
lichen Lebens spielend lost, die Fähigkeit, die Gravität der Amtsmiene schnell bei
Seite zu werfen, wo sie nicht hingehört; und die rücksichtslose, kalte Energie,
mit der er seine Zwecke verfolgt. Seine falsche Stellung liegt theils in der Ein¬
bildung, er könne, weil er sich nicht mehr in Illusionen bewege, nichts mehr be¬
wundern, es gebe daher nichts mehr, was seinem Dasein einen Werth verleihen
könne; theils in der Verwickelung der Verhältnisse, in die ihn seine Maximen
verstrickt haben. Die Einbildung überwindet die Scham: Freytag hat diese un¬
vermeidliche Cur ganz richtig in ihren verschiedenen Momenten spielen lassen;
Waldemar findet etwas, was ihm Achtung abnöthigt, eine reine und zugleich
siarke Natur; er empfindet in Folge dessen vor seinem bisherigen Treiben nicht
blos Verachtung, die hat er immer gehabt, sondern auch Ekel, deun er erkennt,
daß es seiner wahren Natur widerspricht; er kommt sich selbst lächerlich vor, weil
er vou einem einfachen Landmädchen durchschaut wird, und diese nothwendige De¬
müthigung seines Hochmuths wird sehr zweckmäßig durch eine körperliche Züchti¬
gung verschärft. Was soll er nun thun? büße»? bereuen? — das paßt nicht
für eine kräftige Natur. So bleibt ihm als Aufgabe die Lösung jener Verwicke¬
lung, in der er seine Kraft, die bisher dem Bösen gedient, zum Guten verwendet.
Man soll dem Dichter uicht eine andere Aufgabe unterschieben wollen, als
er selber für gut gefunden hat. Freytag läßt seinen Helden zu jener Lösung nur
die Einleitung treffen, die eigentliche Spannung concentrirt sich in den beiden
Frauen. Die Absicht ist unverkennbar; das gute Mädchen, das Waldemar zur
künftigen Lebensgefährtin bestimmt war, sollte auch groß erscheinen, und so den
sonstigen Abstand vergessen macheu. Wenn ich ein Dichter wäre, so würde ich
auf einen andern Ausweg gekommen sein.
Einmal würde ich mit der Scham zugleich die Befreiung haben eintreten
lassen, um meinen Helden poetisch zu rchabilitiren, und namentlich ungeschickte
Schauspieler zu warnen, ihn nicht sentimental aufzufassen. Die Empfindung
Waldemars: „Ich bin mit meiner Blasirtheit doch ein ungeheurer Narr gewesen!"
hat freilich auf der einen Seite etwas Demüthigendes, aber zugleich kann sie ihn
erheben, indem er über seine Vergangenheit zu lachen vermag. Ein tüchtiges
Gelächter, und die Gespenster fliehen vor meinem befreiten Blick, und es bleibt
mir nur noch die Lösung der factischen Wirren.
Zu dieser Lösung setze ich meine ganze Kälte und Frivolität in Bewegung,
denn es wäre unpoetisch, wenn ich zu audern Mitteln greifen sollte, als zu denen
meine Natur und meine Geschichte mich berechtigt. Ein wildes Weib droht nur
und meiner Liebe; ich habe freilich eine Schuld gegen sie, aber dieses ist nicht
die Person, die sie einzufordern berechtigt ist. Ich gehe ihr also dreist entgegen,
und wenn sie mit Dolchen, Gift, russischen Leibeigenen und dergleichen Apparaten,
mit Flüchen und mit Thränen, auf mich eindringt, so will ich, wenn ich Walde¬
mar bin, ihr mit so viel' Frivolität, Kälte und Hohn zusehen, dem Thierbändiger
ähnlich, der es mit einer Tigerkatze zu thun hat, daß ihr der Dolch ans den
Händen fallen, daß sie zuletzt in vollständiger Geistesverwirrung sich davon¬
machen, und Gott danken soll, den Klanen dieses Satans entgangen zu sein.
Dann habe ich meine Pflicht gethan, und zugleich, was die Tendenz dieses Auf¬
satzes war, nieine Charaktermaske zu eiuer humoristischen idealisirt.
Während Hannover sich in mürrischem Schweigen auf seinem Stuhl, getrennt
von den Andern, niedergesetzt hat, dauern die Erklärungen zwischen Sachsen und
dem Verwaltungsrath fort; die sächsische Negierung mochte Gewissen und Schein
wahren, es ist ihr bei den nahen Beziehungen zu Preußen peinlich, die diploma¬
tischen Vorwürfe auf sich sitzen zu lassen, welche die verbündeten Staaten gegen
sie in die Welt werfen.
In einer längern Erklärung bemüht sich der sächsische Staatsminister v. Beust
die Berechtigung Sachsens, von der thätigen Mitwirkung am Bundesstaat zurück¬
zugehen, dadurch zu begründen, daß er den „Vorbehalt," welchen Sachsen und
Hannover vor Unterzeichnung des Dreikvnigsbüudnisscs machten, als einen zu
Recht bestehenden Theil des Vertrages selbst darstellt. Diese Deduction ist nicht
glücklich. Der Verwaltungsrath hat in seiner Sitzung vom 30. October darauf
geantwortet, zuerst Preußen ihn widerlegend; dann aber die kleineren verbündeten
Staaten gemeinschaftlich dadurch, daß sie sagen: Die drei Königreiche haben uns
das Drcikvnigsbündniß ohne Vorbehalt vorgelegt und uns zur unbedingten An¬
nahme aufgefordert; wir sind ohne Vorbehalt beigetreten, für uns besteht der Ver¬
trag als Recht und Pflicht unverändert fort; aber auch für die einzelnen Theile
der andern contrahirenden Partei, also auch für Sachsen, Denn hat nicht gerade
Sachsen in der Sitzung des Verwaltungsraths vom 27. Juli uns gegenüber recht
eifrig erklärt, daß der Beitritt zu diesem Vertrage jede der contrahirenden und
der betretenden Regierungen zum unverbrüchlichen Festhalten an den Inhalt
des einmal verbündeten Bcrsassungsentwnrfs verpflichtet habe und halte und
zwar so lauge, als nicht durch gemeinsame Uebereinstimmung aller dieser Regie-
rungen eine Abänderung des Entwurfs nachträglich genehmigt und zugegeben sei?
Zum Festhalten ist Sachsen so gut verpflichtet als wir selbst, ohne Vorbehalte hat
Sachsen mit uus contrahirt und wir stehen fest auf dem Vertrage, wollen dabei
beharren und fordern von Sachsen ein Gleiches, als Pflicht.
Es steht schlecht um den NcchtSpnnkt Sachsens. Ans den jetzigen Deutun¬
gen und zum Theil spitzpfindigen Erklärungen der früheren Verhandlungen ist klar
zu sehen, daß Sachsen damals im Innern bedrängt in die Führerschaft Preu¬
ßens seufzend willigte, und seine dynastischen Bedenken vor der Gewalt der Ver¬
hältnisse schüchtern bei Seite legte; während es sich jetzt ans dieselben Bedenken
stützen möchte, um den lästigen Kontrakt aufzuheben. — Was es jetzt thut, ist
verderblich für die Regentenfamilic, wie für das Land.
Das Königshaus Sachsens hat gegenwärtig keinen festen Grund in den See¬
len des Volkes. Es ist hier unnütz zu untersuchen, welche Umstände den
Thron isolirt haben, sicher ist, daß trotz aller Loyalität Einzelner und trotz der
großen Verehrung, welche sich der Privatcharakter des Monarchen in manchen Krei¬
sen verschafft hat, dem Thronsessel in Sachsen eine dauerhafte Unterlage vollstän¬
dig fehlt. Weder das Militär, noch alte große Erinnerungen im Volk, noch ir¬
gend ein geographischer Abschluß halten den Staat zusammen. Gute Einrichtun¬
gen, ein liberaler Sinn des Regenten bildeten einen gewissen ehrenwerthen Pa¬
triotismus während der vergangenen Friedensjahre aus. Der Sachse war stolz
daraus, daß es bei ihm etwas freisinniger zugehe als in Preußen, daß die Humani¬
tät der Polizei größer, die Censur weniger drückend sei, als im Nachbarstaat. Er
war Patriot, weil er Manches voraus hatte, was unter seinen Fürsten besser ge¬
worden war, als anderswo in Deutschland, und weil er täglich Gelegenheit sand,
sich über Preußen zu ärgern. Wohl mußte er seine Stimmung sehr in die Höhe
geschraubt haben, ehe er mit Trotz singen konnte: ich bin ein Sachse n. s. w.,
oder irgend ein ähnliches patriotisches und loyales Lied, aber er sang es doch noch
zuweilen; und wenn der großartige Anstrich bei politischen Evolutionen, Manöver,
Parade u. s. w. fehlte, so hatte er dafür ein gemüthliches Behagen an seinem
constitutionellen Fürsten und seiner Communalgarde. Das Jahr 48, Einzelnes
was vorausging und Vieles, was nachfolgte, hat den specifisch sächsischen Patrio¬
tismus in bedenklicher Weise vernichtet; er ist in den Seelen vieler guten Leute
noch vorhanden, hat aber weder active Kraft, noch irgend einen Hintergrund, auf
den sich Hoffnungen bauen ließen.
Das sächsische Volk aber ist in einer sehr traurige» Lage, und die Besten
sind grade am schlimmsten daran. Es hat nichts, gar nichts, woran sein Idea¬
lismus, alle seine Träume, seine Hoffnungen, sein Enthusiasmus sich hängen
können. Das ist sür jeden deutschen Stamm ein sehr großes Unglück, für die
pathetische, weiche und sentimentale Natur des sächsischen Volkes das größte. Wie,
rührend heftete sich die Hülflosigkeit »ut Schwäche der großen Menge an Robert
Blum, er ward ihnen erschossen; wie lebhaft erfaßte der Sachse den Gedanken einer
solchen Vereinigung mit Preußen, wie sie die Paulskirche proclamirte, wo Sachsen
seinen Namen opferte, aber Preußen auch; auch diese Hoffnung ward vereitelt; ans
seine parlamentarischen Kämpfe kann er seit dem letzten Winter nicht mehr stolz
sein; seine Volkshelden hat er verloren, in sich selbst fühlt er keine Kraft weder
Etwas zu werden, noch Etwas durchzusetzen. So ist ein Zustand von Trostlosig-
teil und ein Gefühl der Schwäche eingetreten, welches ein feinfühlender Stamm
a»f die Länge nicht erträgt. Noch ist nicht abzusehn, wie und in welcher Rich¬
tung sich der Schmerz über diese innerliche Abzehrung zunächst Lust machen
wird; die erste Stimmung ist jetzt ein zänkisches Grollen des kranken Volkes gegen
olle Parteien ; jedenfalls aber ist dieser Zustand für die Krone sehr bedenklich. —
^eit 8 Tagen sollen die Kammern zusammentreten, noch immer fehlt die beschlu߬
fähige Anzahl der Mitglieder, weil das Volk zum Theil abgespannt, zum Theil
erbittert ist. Auch mit diesen Kammern wird die Regierung ans die Länge nicht
auskommen, in ihrer isolirten Lage mit keinen mehr; vielleicht selbst dann nicht,
wenn sie deu Muth hätte, ein neues Wahlgesetz oder noch weiter zu octroyiren.
Es gibt für das Volk und für die Regierung, welche eine gute Proviuzial-
regieruug sein kann, aber keine souveräne Größe, nur ein Mittel, aus diesem
schlaffen, kläglichen Zustand herauszukommen. Dem Volke muß die Möglichkeit
geboten sein, sich für Etwas zu erwärmen, größere Interessen in sich aufzunehmen,
und mit anderen deutschen Stämmen, welche entgegengesetzte Eigenthümlichkeiten
haben, in eine Verbindung zu trete», welche die Sachsen befestigt und erhebt,
"hre sie zu verderben. Jedes andere EinhcitSwcrk wäre dem Sachsen angenehmer,
als das vou Preußen angebahnte; aber wie es jetzt steht in Europa, und wie
Sachsen liegt, mit zwei Drittheilen seiner Grenzen und mit neun Zchnthcilen sei¬
ner Interessen am Bundesstaat, bleibt ihm keine Wahl mehr. Ja, der endliche
Beitritt Sachsens zur „norddeutschen Union" ist so wenig zweifelhaft, und wird
U> kurzem so dringend nothwendig werden, daß hier zunächst nnr die Verzögerung
U» Interesse Sachsens sowohl als des neue» Bundesstaates beklagt werden darf.
Wenn die gegenwärtigen sächsischen Kammern wirklich beschlußfähig werden
!">d sich so parlamentarisch zeig,en, daß die Regierung einige Wochen hindurch
wie ihnen auskommt, mag eS wohl geschehen, daß sie in ihrer Majorität gegen
das DrciköuigSbündniß sprechen, weil es den Sachsen aus naheliegenden Gründen
»och ungemüthlich und widerwärtig ist; aber eben so sicher ist, daß das sächsische
Volk im nächsten Jahr den Anschluß an den Bundesstaat fordern und durchsetzen
^'ird; die Regierung Sachsens aber wird bis dahin Gelegenheit haben, zu fühlen,
daß der Weg der isolirten Souveränität, auf dem sie jetzt geht, ein Martyrium
^, für welches ihr Niemand dankt.
(Schluß,)
Ein heftiger Gewitterregen trieb uns in die Kajüte des Dampfl'volch hinab.
Zufällig war es Essenszeit und der lange Tisch gedeckt. Wen sah ich am obern
Ende der Tafel thronen? Meinen Geistlichen, den Stammgast, aus dem schme¬
ckenden Wurm in Wien. Er aß mit Andacht, hielt die Augen sittsam auf den
Teller geheftet und verlor keine Silbe. Links von ihm saß ein Madvnnengesicht-
chen in Hut und Schleier; er erwies ihr nicht die gewöhnlichste Aufmerksamkeit.
Ein hübsches Ding! rief mein Nachbar leise; das Essen mündet noch einmal
so gut, wenn so'n Blumentöpfchen neben der Suppenschüssel sitzt, was meinen
Sie? — Ich erzählte im Verlauf des Gesprächs meine Begegnung mit dem geist¬
lichen Herrn. — Gehört wohl zur Propaganda, meinte er lachend. Nun, im
Oberland hat's gute Forellen und einfältige Seelen genug; die frommen Herrn
machen dort bessere Geschäfte als in der gottlosen Kaiserstadt. — Mein Nachbar
war ein sehr magerer, blasser junger Mann ans Wien, oberhalb Linz zu Hause,
wohin er jetzt seine Mutter, eine Bauersfrau, auf einige Tage besuchen ging-
Trotz der goldenen tthrkette und des stahlgrünen Svnntagsfracks mit Metallknopfe»,
und trotz der großen steifen Halskragen sah er keinem Dandy gleich, zeigte aber
gesegneten Appetit »ut ein dankbares, fast kindliches Entzücken über jede Kleinig¬
keit, die ihm nen war. Er bewunderte die bescheidene Einrichtung des Schiffes;
wie ich s'erste Mal nach Wien hinunter ging, gab es noch keinen Dampf auf
der Donan, sagte er. Drei Glas Gnmpoldskirchner versetzten ihn in den sie¬
benten oder sechsten Himmel. Als wir endlich wieder die Treppe hinanfeilten,
flüsterte er mir zu: Ich hab' einen ganz besondern Zahn auf die Schwarzröck',—
wenn mir nur der schmeckende Wurm in die Quer käme!
Der Regen war vorbei, über und hinter uns lachte blitzblauer Himmel, vor
uns hoch über die Höhen stieg eine dunkelgraue Wolkenwand, auf welche die
Sonne zwei übereinandergcwölbte breite Zwillingsrcgenbogen gemalt hatte. E>"
Zwillingöregenbogen gilt für ein böses Wcttcrzcichen; dies hinderte uns nicht, ihn
schön zu finden, und Alles drängte sich auf's Verdeck, um das reizende Schauspiel
zu bewundern. Auch der Geistliche kam und hinter ihm in achtungsvoller Entfer¬
nung das Madounengcsicht, mit einem goldgeränderten Buch unter dem Arm;
setzte sich auf die Bvrdbauk und vertiefte sich in die Lectüre. Er dagegen gM
einige Male laugsam auf und nieder, blieb dann stehen, entblößte sein Haupt und
regte stumm die Lippen, als spräche er ein Gebet für sich in der Stille. DaS
um ein Ferkel wär, -und einige Krcmtbeete dazu, damit ich weiß, was die Zeit
ist, ob man draußen säet oder heuet. Man wird zu geschwind alt in der gro¬
ßen Stadt. Die Stund und der Tag sind unsinnig lang, aber die Jahre gehen
rum, man weiß nicht wie; plötzlich guckt man in den Spiegel und schau, da sind
Einem die Haare ausgegangen und man erwacht wie ans einem langweiligen
Traum. — Hin! meinte der Geistliche; in Wien sehlt es aber nicht an den herr¬
lichsten Umgebungen. — Für die Herren, die Zeit und Geld übrig haben. An¬
dere haben im Sommer uur Kalkstaub, Hitze und Wind, im Winter Wind, Koth
und Regen gratis, auf dem Glacis. Ja, fuhr er mit bitterem Lachen fort; wen»
Einer wenigstens Hausmeister, Fiaker oder Marqueur wäre, denn das sind schon
Herrschaften! Aber bei unserem Stand! — Und der ist? sagte der Andere mit
neugieriger Theilnahme? — Schullehrer! — Der Geistliche fuhr erstaunt zu¬
rück. Mein Gott, Schullehrer! ist ja ein gebildeter Stand, Sie haben da einen
schönen, einen edlen Beruf!- Na, edel muß es wohl sein, den Märtyrer zu ma¬
chen, obschon ich an die freiwilligen Märtyrer überhaupt uicht glaube. Ein schö¬
ner, ein edler Beruf! Gerade so sagte der Consistorialrath W. zu mir, wie ich
zum erste» Mal die zehn Bänke mit den zweihundert kleinen rebellischen Unterthanen
vor mir sah. Das sind acht Jahr her. Gern hätt ich seitdem tausendmal den
Schulzcpter in den Winkel geworfen, denn er trägt nicht das trockene Brot. Ohne
acht Privatstunden täglich extra zu geben, die Stunde für zehn Kreuzer, wie will
man das theure Wiener Pflaster bezahlen? Und s'ist ein Glück, wenn man sie
bekommt. Früh um fünf ans die Landstraße laufen und mit einem harthörige»
Buben zwei Stund Livlin kratzen, dann in die Klasse, dann auf die Mieder, am
andern Stadtende, sich mit der Flöte die Lunge heraufblasen, dann in die Klasse,
dann in die Rossan, und einen alten, ehrgeizige» Buchhalter, der nicht richtig Deutsch
buchstabirt, Französisch lehren und so fort in die sinkende Nacht bis zur Sperr-
groschenstnnde, — dabei soll man an seiner weitern Ausbildung arbeiten! —Aber
ich dächte, die Regierung hat den Lehrerstand immer wohl bedacht. — O ja, es
ist zweimal ein Ministerialerlaß deshalb heruntergekommen. Wann war's noch?
Anno 34 und anno 45, wenn ich uicht irre. — Nun sehen Sie! sagte der Geiste
liebe, sich aufrichtend. — Warte» Sie! Ein Ministerialerlaß ans Consistorium;
es solle dafür sorgen, daß die Herren Oberlehrer von dem ausgesetzten Mammon
eine kleine Zulage für die Nachmittagsstunden an die Schullehrer abgeben. Nun,
die Paar Oberlehrer, die den ganzen Tag auf ihrem Sopha die Aufsicht führen,
siud mit dem Consistorium verwandt, wie der Weihwcdel mit dem Taufbecken und
wie der Sakristan mit der Almosenbüchse. Der Erlaß ist auf dem Papier geblie¬
he,,.— Ihr Loos wird jetzt verbessert werden, versicherte der Geistliche kvpfnickend
und wollte gehen. — Ja, jetzt, das wollen wir hoffen, rief der Andere, seine
Stimme lauter erhebend; wissen Sie, wer Schuld daran ist? Die Barrikaden.
Das sind Schulbänke für die hohen Herrschafte» gewesen, ha, ha, freilich harte
Bänke, aber die unsern sind auch nicht mit Saffian gepolstert. — Verzeihen Sie,
ich muß nach meinem Gepäck sehen, sagte der Geistliche. — Dem hab' ich's ein¬
mal ans Deutsch gesagt, rief der arme Schullehrer, auf den rasch Forteilenden
deutend, n»d rieb sich, ganz erstaunt, ganz entzückt über seine eigene Kühnheit,
die Hände. Dann strich er sein Haar aus der erhitzten Stirn und sagte: Ich
seh nicht ein; hier ist kein Belagerungszustand, warum soll ich ein Blatt vor den
Mund nehmen?! —
Kling, kling! rief die Glocke. Das Boot drehte sich leicht wie eine Tänze¬
rin in der Mitte des Stromes herum und schob dem rechten User zu, wo ein
Dörfchen und das Schindeldach eines niedern Kirchthurms hinter einem Wein¬
berge vvrgnckteu. Der Geistliche drängte sich durch die Menge, ich war begierig,
er allein aufsteigen werde. Wie ich in die Kaji'ete hinabkam, lag der Schul-
lehrer auf einem Knie zu Füßen der Madonna, die mit zitternder Stimme ihn
beschwor, sich nicht um ihretwillen zu bemühen. — Nanny, wo bleibst Dn? rief
der Geistliche herab. Sie nahm einen Haufen Blättchen aus der Hand des jun¬
gen Maunes und eilte hinauf. — El, sagte ich mit aufgehobenem Zeigefinger-,
Sie mache» aus Bosheit gegen den Hochwürdigen seiner Gefährtin den Hof? —
-vZch? entgegnete er. Eher verhungern als einer katholischen Pfarrerin die Hand
Müssen. Die eingelegten Heiligen- und Marienbildchcn waren ihr ans dem Ge¬
betbuch gefallen und ich raffte sie ihr zusammen. — Geben Sie nnr Acht, daß
Sie sich in das lebendige Mariengcsicht nicht verlieben. — Mariengesicht? lachte
Wie ein hübsches Stubenmädel sieht sie ans und hat einen Anflug von
Schnurrbärtchen auf der Lippe. Kommen Sie. — In diesem Augenblick flog die
Dame uns noch einmal entgegen. Bitte tausendmal um Entschuldigung, flehte
^e; ich habe Shawl und Mantel unter. — Der Schullehrer sprang mit einem
Sich nach den vermißten Gegenständen. Im Borübcrgchen überzeugte ich mich
dem richtigen Blick meines Reisegefährte»; ihre sprechenden nußbranueu Augen
ließen mich aber doch für sein Herz fürchten. Endlich kam er, Shawl und Man¬
gel überreichend, der Geistliche winkte ihr ungeduldig fort und sagte: Sie sind
^i)r freundlich gegen meine Nichte, — das letzte Wort betonend.
Auf dem Verdeck hatte die Gesellschaft Spalier gebildet und das arme Mäd-
mußte zwischen den wißgierigen Blicken alter und junger Herren Spießruthen
müsen. Ich glaubte durch den grünen Schleier hindurch eine tiefe Nöthe auf
Hrem Gesicht zu bemerken. Der Hochwürdige ging rasch voraus und reichte ihr
'^ehe einmal die Hand, als sie über das schmale, schwanke Landungsbrett trippelte.
^7 Sie ist seine Nichte, sagte ich lant, zur Antwort auf das lachende Gesicht
ospini's. — Und wann auch uicht, entgegnete der Parfümeriehändler; so'n
^'wer Geistlicher ist ja auch ein Mensch. — Fragt sich noch, brummte der Schul-
lchrer; wie ich ihm vorhin die Wahrheit sagte, hat er nicht gewußt, ist er ein
Mandl oder ein Weibl?") —
O du schlechte Welt, dachte ich. Und wenn sie doch seine Nichte wäre!
Kann ein Mädchen nicht nußbraune Augen und einen geistlichen Herrn zum Onkel
haben und doch ein liebes harmloses Geschöpf sein? Müßt Ihr sie suhlen lassen,
daß sie unklug handelt, mit ihrem Oheim zu reisen? —
Doch, da wir sie später genauer kennen lernen, lasse ich diese Fragen jetzt
unbeantwortet und lade meine sämmtliche Reisegesellschaft in Linz aus.
Eljen Kathi! — Langweilig, wie der östreichische Fortschritt, ist die Fahrt
ans der Pferdeeisenbahn von Linz nach Gmunden, aber die Hälfte des Weges ver¬
kürzten mir die zwei Wörtchen: Eljen Kathi! Wie der schönste Alpeujodel klangen
sie mir fortwährend in der Seele nach und, wenn ich die Angen, schloß oder nur
senkte, sah ich deutlich das braune Antlitz des gefangenen Husaren vor mir, wie
es zärtlich ans dem Halse des treuen Rosses ruhte, Kathi's schmeichelnde Hand
aus seiner Schulter und die hütcschwenkeudeu Schnitterbnrschen, auf deren breite
Sensen die rothe Abendsonne manchmal einen vorüberfliegenden Schein warf.---
Ein paar Stunden von Linz, auf der Rückkehr von einem Ausfluge nach
Stadt Steyer begriffen, rastete ich Abends im Wirthshausgartcn am Ausgang
eines Dörfchens. Vor der niedern Wirthshausthür saßen einige Bauerburschen,
deren Sensen an der Wand lehnten, schnitten schweigend ihren Käse, steckten dann
und wann die Köpfe zusammen und blickten unverwandt nach dem Gartengitter,
ohne sich um die zwei hohen, weißröckigen Kürassiere zu kümmern, die doch so
stattlich und stolzen Schrittes an ihnen vorüberklirrten und sich tief bücken mußten,
als sie in's Haus traten. Draußen nämlich, am Gitter des kleinen Gartens
stand, bewacht von einigen Feldjägern mit geladenen Stutzen, ein ungarisches
Rößlein. Es war splitternackt, ohne Sattel und Zügel, als käm es gerade von
der Pußte, aber es wieherte und es scharrte nicht und stampfte nicht mit den Hufen,
wie wilde Pferde thun, sondern melancholisch ließ es den Kopf hängen und blickte
flehend und suchend mit deu großen Feueraugen durch die Gitterstangen. An der
Seite des Rosses lehnte ein Husar, ohne Waffen, die bunte Uniform zerrissen
und staubbedeckt, die linke Hand in ein blutbeflecktes Leinentuch gewickelt. Selten
sah ich ein schöneres Kriegergcsicht. Es zählte höchstens dreißig Sommer, war
aber tief gebräunt, was den schwermüthigen Ausdruck seiner regelmäßigen Züge
erhöhte. Er hatte nachdenkend, wie sein Roß, das Haupt gesenkt, die dichten
gradlinigen Brauen verdeckten ganz die Augenlider und ein Lächeln, stolz und
schmerzlich, spielte um die schmalen zusammengepreßten Lippen. Aber wenn er
erst, wie sein Roß, die großen dunklen Augen aufschlug, that es Einem doppelt
weh, das Geplauder der Schnitterburschen anzuhören. — Er wird nicht viel
Vater Unser mehr beten, der arme Junge. — Zwei Tage haben sie ihn verfolgen
müssen und dann hat er sich noch sakrisch gewehrt. — Ha, wenn's dem geglückt
wär', über die ungrische Grenze zu kommen! — Konnte er auch jede Minute in's
Gras beißen. — Ja, sagte der älteste der Burschen; dort konnte er, hier muß
er. Und s'ist was Anders, auf freiem Feld, hoch zu Roß, uuter Trompetenschall
und Kanvnengelänt, tausend Bruderherzen um sich, für seine Nation zu fallen,
oder allein, im Morgennebel an einer Kirchhofmauer, oder im Stadtgraben zu
Wien sich die Augen verbinden lassen und mit den Jägern blinde Kuh spielen! —
Ein schwerer Seufzer entfuhr den Andern, das Rößlein draußen zuckte hautschau-
derud auf, erschreckend vor dem Gedanken seinen Herrn zu überleben, der
Wind seufzte in den Pappeln und selbst der hölzerne Storch, das Wirthsschild
über der Thüre, schien trauernd den langen gekrümmten Hals mit dem frommen
Kopfe und langen Schnabel tiefer zu senken als gewöhnlich. Nur der Gefangene
stand wie eine Bildsäule.
Während der Hausknecht deu beiden Kürassicrpferden Heu und Wasser reichte,
hatte die Wirthstochter, die schlanke Kathi, einen Blick dnrch's Fenster geworfen
und sich des Husaren erbarmt. Die verwundete linke Hand war ihrem raschen
Auge nicht entgangen und sie brachte ihm deshalb kleingeschnittenes Brot auf
einem Teller; auch einige saftige Kaiserbirnen, um die schmachtenden Lippen zu
erfrischen. Die Birnen steckte er in die Tasche, das Brot theilte er brüderlich
mit seinem Rößlein, welches die Schnittchen ihm ans der Hand aß. Der Husar
dankte mit einem Blick, den Kathi gewiß noch nicht vergessen hat, und lehnte sich
an den Hals des treuen Thieres, unter der Mähne sein Gesicht verbergend.
Jetzt klirrten die Kürassiere wieder ans der Schenke heraus, zum Aufbruch
mahnend. Aber Kathi besann sich, daß dem Gefangenen ein Trunk Noth that;
eilends kam sie zum zweiten Male, ein großes geschliffenes Glas voll rothen
Weines in der einen Hand, die andere schüchtern auf die Schulter des Husaren
legend. Er richtete sich ans, ließ sein Roß von der Gottesgabe schlürfen, trank
in zwei Zügen aus, dann hob er das Glas in die Höhe und legte die verbun¬
dene Hand aufs Herz, einen stummen Toast ausbringend. Selbst die Jäger und
Kürassiere sahen nicht ohne Theilnahme zu, warteten geduldig, bis der Gefangene
getrunken hatte und enthielten sich, den Ernst des Moments achtend, die schöne
Wirthstochter um den Leib zu nehmen oder nur am Kinn zu fassen. Die Schuit-
terburscheu jedoch überkam es gewaltig; sie mußten ihren Gefühlen auf irgeud
eine Weise Luft mache», und so schwenkten sie die Hüte und riefen Eljen, Eljen,
Eljen! — die Soldaten, den Namen des Erbfeindes Kossuth erwartend, legten
die Hand an's Seitengewehr — Eljen Kathi! Der Husar verstand Alles, was
an geheimer Sympathie, ein zarter gastlicher Aufmerksamkeit im Gebrauch des
eine» magyarischen Wortes lag, und klatschte freudig seinem Roß auf den Rücken
und das Rößlein, mehr berauscht vom wohlbekannten Klang des Eljen als von
dem Schluck rothen Ungarwcins, hob den Kopf auf, schüttelte die Mähne und
wieherte dreimal in schmetternd widerhallenden Tönen, — dann setzte sich der
Zug in Bewegung.
Langsam kehrte Kathi in's Haus zurück, ohne die jungen Burschen anzusehen,
deren Toast ihr gegolten hatte, und band sich die Schleifen des schwarzseidenen
oberöstreichischen Kopftuches zurecht, obwohl sie richtig geknüpft waren und nach
Gebühr über die linke Schulter niedcrflattertcn, aber denke ich an die Thränen,
die in ihren großen schwimmenden blauen Augen hingen und an den tiefen kindlichen
Schmerzenszug, der ihren schwellenden Mund halb geöffnet hatte und die vollen
Lippe» beben machte, so rufe ich immer noch Eljen Kathi! Nein, nicht blos Eljen,
sondern Eviva, Zivio, Hoch! In allen zehn Sprachen, die der zweiköpfige kaiser¬
liche Adler spricht, vor Allem aber auf Deutsch, möge Kathi leben und alle
Mädchen, die ihr gleichen. Es gibt ihrer, gottlob, viele in Ober-und Unteröstreich!
Die Erinnerung an diese Scene beschäftigte mich bis Wels, wo eine schwarz¬
gelbe Bauerfrau sich zu mir ius Coupv setzte und meinen Gedanken eine andere
Richtung gab. Ihr Kopf war buchstäblich schwarzgelb, sie trug nämlich, wie
Kathi, das oberöstreichische Turbantnch und aus ihrem Gesichte sprach die Gelb¬
sucht. — Gelobt sei Jesus Christus! war ihr Gruß beim Einsteigen. — Bald
sollte ich mich überzeugen, daß auch ihr Herz die Farbe ihres Kopfes hatte, denn
das Gespräch führte uus auf die Eisenbahn und die „ueiche" (neue) Freiheit.
Die Pferdeeisenbahu ist ein Zwitterding, welches die Gleichmäßigkeit des Schrit¬
tes nud das eintönige Gerassel des Dampfwagens mit der Schnelligkeit eines
besonnenen Postwagens vereinigt. Sie scheint nur zur Bequemlichkeit von Zug-
thiercn erfunden, welche auf der Schiene die schwersten Lasten mit Leichtigkeit
schleppen. Auch sehen alle Pferde, die auf dieser Bahn zwischen Budweis
und Gmunden angestellt sind, fett und glatt wie die Domherrn ans. Ich ließ
eine Bemerkung der Art fallen. — Für uns Oberöstreicher, antwortete die
Fran, ist die Bahn geschwind genug. Wir haben Nichts zu versäumen, wir
können uus Zeit lassen. Mit dem Dampf t'ntschirt ohnedies nnr alle Frvmmhcit
und Gottesfurcht aus dem Land. Und darauf begann sie über die „ueiche Frei¬
heit" zu jammern und über die „ueiche Religion" (den Deutschkatholicismus), »ut
schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich sie versicherte, daß der Kaiser
Jeden, der da wolle, ungestraft zur neuen Religion übergehen lasse! — Keine
Religion ist mehr, Niemand hält auf seine» Stand, und die Welt steht noch!
rief sie verwundert, mit gefalteten Händen, und blickte zu den Wolken über dem
Lambacher Klosterwalde aus, ob sie nicht etwas Pech und Schwefel vorräthig
hätten. —
Als wir in den Wald kamen und die frischgrünen Fichtenbäume mir ermu-
thigend zurauschteu, faßte ich mir ein Herz und dachte: Versuch's doch auch ein¬
mal Propaganda zu machen. Und ich hielt der armen Frau eine sanfte, aber
energische Bergpredigt, worin ich folgendes Thema in möglichst volkstümlichen
Redensarten ausführte: „Heutzutage ist mehr Religion in der Welt als in al¬
ten Zeiten; damals verehrte man den Teufel eben so wie Gott. Wenn jetzt we¬
niger Leute an Gott denken, so ist dasür fast Allen der Teufel ansgetriebon. — Die
Menschheit ist moralischer geworden, denn Eins ist sicher, und nicht gering anzu-
schlagen, daß sich die hohen Herrschaften, Könige, Adelige und Priester schon ein
klein wenig gebessert haben. Wollen Sie Beweise, liebe Fran, so lesen Sie alte
Chroniken. Diese sind nicht von Unsereinem, sondern meist von Geistlichen und Mön>
chen geschrieben. Da steht's drin, und wenn Ihr Pfarrer oder ein Anderer das
Gegentheil behauptet, so laß ich ihm sagen, daß er ein Lügner ist!" —
Hurtig, wie ein Gemszicklein, sprang die betagte Frau auf der nächsten Sta¬
tion aus dem Waggon. Aufathmend floh sie meine Gesellschaft. „Kann sein, daß
Sie kei Dieb und kei Räuber sind, junger Herr," schrie sie mir von unter ans zu,
„aber Religion Haben's keine. Nix für ungut. „B'hüt Jhre Gott," aber Sie
glauben ja an kein' Gott nicht!"
Warum siud tausend und aber tausend Seelen in Oberöstreich noch so eng und
klein, so dunkel verhängt gegen den Strahl des allerdürstigsten Wissenstrostes,
so arm, so ängstlich und krank von trauriger Schwarz- und Gelbsucht? Wenn ich
nach Salzburg komme, will ich deu Cardinal Fürsten Schwarzenberg fragen.
Wieder ist ein kaiserlicher Utah erschienen, welcher eine Rekrutirung von je
4 Mann ans 10V0 Seelen befiehlt. Durch die genaue Schilderung einer solchen
Rekrutirung werden Ihre Leser am besten in Stand gesetzt, sich über die Physische
und moralische Tüchtigkeit unserer colossalen Heeresmassen ein Urtheil zu bilden;
vorher aber bitte ich Sie einen Blick ans die Grundsätze zu werfen, nach denen
der nicht Adlige in Rußland dem Militärdienst verfällt, oder entgeht. Sie sind
charakteristisch für die Regierung sowohl, als das Volk.
Alle uuadligeu Personen des Staates, welche das zwanzigste Lebensjahr
erreicht haben, sind zum gemeinen Soldatenstande verpflichtet. Ausgenommen
werden die „einzigen Söhne," „ein" Sohn in jeder Familie, und Personen,
welche bereits einen Ehestand begründet haben und wenigstens ein lebendiges Kind
besitzen.
Der erste Ausnahmsfall beruht auf dem Umstände, daß in Polen und Ru߬
land eine männliche Person einer ländlichen Wirthschaft nicht vorstehen kann.
Zwei sind nothwendig, da die eine fast fortwährend im unentgeltliche» Dienste
des Grundherrn beschäftigt ist. Hat der Bauer keinen Sohn, so muß er einen
Knecht halten; besitzt er einen Sohn, so vertritt er die Stelle des Knechtes, und
derselbe wird von Seiten der Regierung für ein so unentbehrliches Mitglied der
bäurischen Familie gehalten, daß er nicht zum Militärdienst gezogen werden
darf. — Sind in einer Familie mehrere Söhne vorhanden, so hat der Vater das
Recht, denjenigen zu wählen, welcher frei sein und bei ihm bleiben soll. Diese
Wahl wird wunderlicher Weise bei den Bauern die „Wahl des älterlichen
Vormundes" genannt, und unter dem Titel „väterlicher Vormund" er¬
hält der Bursche seiue Freilassung. Die Bauern in Rußland werden nämlich sehr
schnell unbrauchbar zur Arbeit; zu große Kraftanspannnng in der Jugend und
übermäßiger Branntweingenuß mögen Schuld sein. Ju dem fünften Jahrzehend
seines Lebens ist der Bauer gewöhnlich kraftlos und mir noch zu kleinen Verrich¬
tungen in Hütte und Stall tüchtig. Sobald er die Hauptarbeit nicht mehr be¬
sorgen kann, betrachtet er sich nicht mehr als das Oberhaupt der Familie und
Wirthschaft und gibt einem seiner Söhne diese Würde. Diesen nennt er seinen
Vormund (l)ni<!kann). Diese Pietät, mit welcher der Sohn den ihm in solchem
Verhältniß untergeordneten Vater zu behandeln pflegt, ist oft sehr rührend und
liebenswürdig.
Ferner befreit das Gesetz die Ehegatten, welche Kinder haben. Natürlich
wünscht jeder Bauerbursche, um vom Militärdienst frei zu bleiben, Gatte und Va¬
ter zu sein. Daher werden Ehebündnisse sehr frühzeitig geschlossen. Oft schon
mit achtzehn Jahren. In den nächsten zwei Jahren hofft er denn Vater zu wer¬
den, und das ist das Höchste, um was sein angsterfülltes Herz seinen lieben Gott an¬
sieht. Noch lieber aber stellt sich der Bauer gleich bei der Heirath vor allen Tücken
des Zufalls sicher. Daher siud Wittwen, welche einige Kinder besitzen, ganz vor¬
züglich beliebt, sie können fest versichert sein, ,in der Jahreszeit der Conscription,
und noch gewisser vor der zu erwartenden Rekrutirung mit Leidenschaft auf's Neue
an den Altar geführt zu werden. Oft sieht man achtzehnjährige Knaben sich Frauen
als Gattinnen heimfahren, welche Söhne haben, die ebenfalls nach Wittwen her-
umsuchen. In einem Dorfe bei der Fabrikstadt Nowe-Miasto kam durch solche
Heirath ein ganz seltsames Verhältniß zu Stande. Zwei zwanzigjährige Bauern
nämlich verabredeten sich gegenseitig ihre Mütter zu freien, welche beide kinder¬
reiche Mütter warm. Der eine, welcher Maczek hieß, heirathete die Mutter des
Jakob et, und Jakobek die Mutter des Maczek. So wurde Maczek Jakobeks
Vater und Jakobek der Vater Maczeks. Das Unsittliche eines solchen Verhält¬
nisses ward empfunden. Aber der Wunsch, Vater zu werden, treibt noch weiter.
Der Militärpflichtige, welcher keine Wittwe senden kann, sucht mit gleicher Be¬
gierde nach einem Mädchen, welches bereits Mutter ist oder wenigstens die sichere
Hoffnung hat, diese Würde nächstens zu erreichen. Wer diese Wahrscheinlichkeit
herbeigeführt, ist eine Frage, die ihm keinen Kummer verursacht. Man sollte ver¬
muthen, daß unter solchen Umständen die Unschuld keines ländlichen Mädchens län¬
ger als bis zu den Jahren der Jungfräulichkeit bewahrt bleibe. Und doch ist dies
nicht der Fall; trotz aller Rohheit herrscht bei den jugendlichen Personen, in den
niederen Klassen der Landbewohner ein lebhaftes sittliches Gefühl, es kommt zum
Beispiel fast nie vor — und mir ist bei meinem langen Aufenthalte im Norden
kein einziger Fall dieser Art bekannt geworden — daß ein Mädchen durch einen
Bauerburschen ihren Kranz verlöre. Dagegen bleiben die jungen Mädchen, welche
allzweijährlich für den Dienst im edelherrlichen „Palaste," wie Rekruten, aufge-
hoben werden, fast nie im Rechte aus den Myrtenkranz.
Diese im „Palaste" dienenden Mädchen bilden wegen der Gewißheit oder
Gewöhnlichkeit ihres Falles nnter den übrigen Landmädchen förmlich eine beson¬
dere Klasse, und diese ist, wie erwähnt, bei den jungen Mannspersonen des
Bauernstandes wegen ihrer Militärvbliegenheit sehr geschätzt. Fast nie verläßt
ein solches Mädchen den Palast, ohne jenseit der Schwelle von einem Freier em¬
pfangen »ud sogleich zum Altar geführt zu werden. Oft freilich ist dieser vom
Herrn dazu befehligt.
Die Jmmoralität der Edelleute zeigt sich bei solchen Verhältnissen oft in em¬
pörender Rohheit. Der Graf K. W. z. B., dessen sehr ausgedehnte Besitzungen
in den Pilicacbenen liegen, machte ein 15jähriges Mädchen zu seiner Stnbendie-
uerin, welche die leibliche Tochter seines Vaters und von diesem als Tochter so
gut wie anerkannt war, denn der selige Herr hatte dieses Kind nicht wie seine
übrigen unehelichen Kinder der bäuerischen Mutter überlassen, sondern anfangs
im Fiudelhause zu Warschau, später in seinem eigenen Hause erziehen lassen. Sein
Sohn, der Graf K. W. wußte das, allein er erkannte sie nicht als Schwester,
sondern nur als Leibeigene an. Das Mädchen aber, obschon es sich willenlos den
Befehlen des Grafen fügte, war nicht unempfindlich gegen die Unnatur ihres Ver¬
hältnisses. Sie war bisweilen von Tiefsinn befallen und schlich stundenlang wei¬
nend umher. Ein Aehnliches läßt sich von dem Grafen K. W, dem Bruder des
Erwähnten erzählen. Im Jahre 1837 wurde eine außereheliche Tochter von ihm
mit anderen Banermädcheu im Palaste zu dienen gezwungen und der Schlingel
von Vater fand keinen Grund, sie anders zu behandeln, als er die übrigen be¬
handelte. Ja, sie wurde sein Liebling. — Dergleichen ist aber weder in Polen
noch in Nußland eine Seltenheit, ja in manchen Gegenden und Familien ist es
das Gewöhnliche.
Wir kehren zur Couscriptio» zurück. Nachdem die Bauern mit dem täuschen¬
den Trostworte des Oberstlieutenants nach Hause gewiesen und die Liste der Con-
seribirten für den Herrn Chef duplirt, auch die nothgedrnngene Gastfreundschaft
des Grafen bei einem langen Mahle tüchtig in Anspruch genommen worden ist,
begibt sich die Commission nach der Oberortschaftsstadt zurück.
Fast sechs Monate später, im October, tritt die Recrutirung ein.
Es herrscht zur Zeit der Recrutirung eine tiefe, allgemeine Herzensempö¬
rung, welche i» Mienen, Geberden, Gruppen sichtbar wird. Man steht lauernd
an den Straßenecken, um die gefangenen Militärpflichtiger vvrübcrtreiben zu se¬
hen, man sammelt sich in den Kaffeehäusern der Straßen, 'welche zu dein Com-
missariate und der Citadelle führen, und erzählt sich die Gewaltthaten, welche von
den russischen Patrouillen hier oder dort ausgeübt worden siud, man eilt, den oder
jenen Militärpflichtiger noch zu warnen, und man sucht Gelegenheit, Entweich»»-
gen zu veranstalten und zu »»terstützen. Allenthalben thut sich eine stille Verzweif-
lung kund, die alle Kräfte gegen die Ausübung des Gesetzes auspaunt und de»
zahlreiche» Spionen Veranlassung zur größten Thätigkeit gibt.
Der Adelige ist, wie der Bürger und Bauer zum Militärdienst verpflichtet, doch
ist seine Behandlung eine andere, auch ist er uicht zu dem traurigen Loose eines
gemeinen Soldaten verdammt. Gleich bei seinem Eintritte hat er die Offizier¬
würde, daher ist seine Scheu vor dem Militärdienst der des gemeinen Mannes
nicht gleich, im Gegentheil er tritt nicht selten gern in das Heer ein. Nur in
Polen scheut der Edelmann den Dienst im russischen Heere noch mehr als ein
Bauer und auf jede Weise sucht er ihm zu entgehen. Die Chefs der Conscrip-
tivuScommissiou wissen diese Schwäche trefflich auszubeuten und lassen sich die
Freilassung der jungen Edelleute oft mit Hunderte» von Ducaten bezahlen. Ihre
Empfänglichkeit für Bestechung ist aber so zuverlässig, daß vom polnischen Adel
beinahe nichts auf dem Wege der gcwöh»liebe» Conscription zum russischen Heere
gelangt, daher die verwunderte Aeußerung des Kaisers Nikolaus, als er eine einge¬
sendete Uebersicht der polnischen Rekrutirung gelesen hatte: „ich begreife uicht,
in Polen muß es gar keinen Adel mehr gebe»!"
Auch ist es den Polen nicht mehr vergönnt, ihre Militärpflicht im König¬
reiche zu erfüllen; in Grusien, Kankasie» und den innern Gnbernien, welche von
der Wolga durchströmt werde», haben sie ihre» Waffendienst z» leisten. Zwar
hat die Ncgienmg in einer Art von Menschenfreundlichkeit eine Gelegenheit be¬
reitet, ihre Dienstpflicht in Polen zu erfüllen, aber diese ist so entwürdigender
Art, daß es ihnen nicht leicht ist, sie zu benutze». Ma» hat nämlich i» War-
schau und andern großen Städten militärische Compagnien für den Municipal¬
dienst, die Schornstein- und Straßenreinignng, das Feuerlöschen, sogar sür die
Laternenbedienung errichtet. In diese werden nur Polen aufgenommen und
den freiwillig Eintretenden ist sogar das Glück vergönnt, statt der gewöhnlichen
Zeit von 14 Jahren nur 8 Jahre lang dienen zu müssen. Die Polen sehen in
diesem verachteten militärischen Corps, sür welches sie das Privilegium haben
sollen, einen fürchterlichen Hohn der russischen Regierung. Doch ist der Fall vor¬
gekommen, daß Edelleute in solche Compagnien getreten sind; aber es schien, daß
sie es gethan hatten, um die Erbitterung ihrer Landsleute zu vergrößern. So z. B.
machte es sich ein junger Mann, dessen Familie durch die Ränke der russischen
Adelödepntatiou ihren alten Adel eingebüßt hatte, und der in Folge dessen als Ge¬
meiner dienen mußte, zur Pflicht, so oft er in den Straßen Warschau's den
Kehricht auf seine kaiserlichen Karren Schauseite, jedem vorübergehenden Polen seinen
im ganzen Königreich wohlbekannten Namen zu nennen. Die Sache blieb nicht
verschwiegen und die Behörde, die Empörung der Gemüther doch ein wenig
scheuend, versetzte den jungen Mann, er verschwand in das Innere.
Das Junere von Nußland! Für deu Rekruten der westlichen Landestheile ist
es eine tödtliche Wüste, wo jedes Leben, jede Hoffnung aufhört. Tausende sah
er hinschleppen, nnr Wenige als Bettler, Taugenichtse, Krüppel zurückkehren. Er
weiß, daß sein Loos dasselbe sein wird. Er weint, dann betrinkt er sich, zuletzt
wird er stumpfsinnig. —
Wir fanden in Ur. 30. dieser Blätter einen Aufsatz der Redaction, welcher die
östreichischen Zustände mit kritischer Schärft, leider richtig, beurtheilt, und nachweiset,
die östreichische Regierung, worunter nach constitutionellen Prinzipien nur das Mini¬
sterium verstanden werden kann, sei eine Regierung der Minorität. — Wir müssen
das zugeben; dennoch aber können wir nicht unterlassen, darauf aufmerksam zu machen,
daß der Constitutionalismus in Oestreich sich in höherer Region besonders noch lange nicht
Bahn gebrochen hat, daß die Verantwortlichkeit nicht auf dem Ministerium allein ruht,
daß dies manchem verderblichen Einflüsse ausgesetzt ist, dessen Träger und Leitkette viel¬
leicht blos ein Mitglied des Ministeriums sein mag.
Kennen wir den Jntervcntionsvcrtrag mit Rußland und seine Stipulationen?
Vermögen wir zu errathen, ob russische Intervention nicht auch die Ministcrentschlüsse
bestimme? Vielfältig, oft mit Recht, ist Stadion getadelt worden; er war kein parla¬
mentarisch constitutioneller Münster, aber er war, wir rufen es ihm nach in seine
Gruft des Irrsinns, er war ein ehrlicher Bureaukrat, er ahnte, was man Oestreichs
Ehre schuldig sei. Wäre Stadion'S Ansicht bei rechter Zeit durchgedrungen, so
war die Möglichkeit geboten, jener entsetzlichen Kalamität der russischen Intervention
zuvorzukommen. Als endlich der Wechsel im Militärkommando selbst dem Chcfpräsiden-
tcn unerläßlich schien, da freilich war es zu spät, Oestreich durch eigene Kräfte auf¬
recht zu halten; die Armee war entmuthigt, erbittert, die Völker waren durch die
ReichstagSauflösuug schwierig, eine Appellation an diese Völker vielleicht bedenklich.
In diesem Krankhcitöstadium der Diskrasic, griff man zum äußersten Mittel jener
Intervention, welche die Beendigung der ungarischen Erhebung zwar mit Gewißheit
verbürgend, die fernere Selbständigkeit und Selbstentschlicßung Oestreichs bedenklich in
Zweifel setzte.
Stadion ist wahnsinnig geworden durch diese traurige Heilmethode, und wir achten
den in Nacht des Irrsinns versunkenen Manu, wir kennen, seit wir ihn verloren, sei°
man Werth.
Indem wir uns vorbehalten, die einzelnen Persönlichkeiten des heutigen Ministeri¬
ums zu charakterisiren, und dadurch zu beweisen, daß die Majorität desselben vielleicht
besseres zu wollen, und durchzuführen vermochte, wäre die Gesammtheit nicht selber
mehr oder weniger uuter dem allgewaltigen Einflüsse Martis, — müssen wir vor allem
den Minister Alexander Bach als den Mann hervorheben, an welchem wir, allen ge¬
rechten Klagen über das Gcscimmtministcrium und seine Thaten zum Trotze, unsere
Zukunftshossnuugen knüpfen, welchem wir noch immer vertrauen, welchem,wir unsere
Achtung auch heute nicht versagen, mag man bei oberflächlicher Ansicht der Dinge im¬
merhin Vorwurf aus Vorwurf gegen ihn häufen.
Wir kennen ihn aus einer Zeit, wo er in bürgerlicher Sphäre sich bewegte, nicht
träumend, daß ihn die Welle der Zeit zu solcher Hohe tragen werde. Bach ist zu
tief ergrimmt gewesen, aus innigster Ueberzeugung gegen die vormärzlichen Zustände
der östreichischen Impotenz, um mit den Genossen jenes corrupten Systems ein Bünd¬
nis? schließen zu können, im Nückschrittssinne; er ist genial und schöpferisch und von deu
Ideen moderner Staatsansicht imprägnirt, unfähig, anders als im Sinne des Fort¬
schrittes zu handeln und zu denken; er war gleich im Beginne der Bewegung kalt be¬
rechnend, und besonnen, mancher ältere reifere Mann hat sich vom Sturme fortreißen
lassen; er verlor sein Steuer nie aus dem festen Auge; Bach war im Volke während
des Beginnes der Bewegung und hat da seine Studien gemacht, hat erkannt, was
wirklich des Volkes, was des fremden Eindringlings, des unpraktischen Schwärmers
Antheil war an der Bewegung.
Es gibt Stadien der Revolution, welche dem echten staatsmännischen Charakter
die Pflicht auflegen, sich dem Sturme zu beugen, mit dem Strome zu schwimmen, um
das Steuer nicht andern ungeschickten Händen zu überlassen, um das Fahrzeug in dia¬
gonaler Richtung dennoch ein's sichere Land zu geleiten. Mögen überspannte Moralisten
immerhin über Unlciuterkcit schreien, und die politische Moral über alles stellen, Moral
ohne Klugheit wird im Staatsleben nie wirken und schaffen.
Wir kennen Moralisten jenes unpraktischen Schlages aus eigener Anschauung, sie
machten Politik in aristokratischen Theesalons und als es zum Handeln kam, als eben
sie entscheidend, mildernd, vermittelnd auftreten sollten,-liefen sie davon, machten EhoruS
mit den Kanonen, und verbargen sich hinter die Schloßgitter des Hradschins. Wir
meinen die böhmische Aristokratie. Aus dem SicherhcitSausschusse in den Reichstag
und unmittelbar darauf in das Ministerium der Justiz gehoben, hat Bach Energie,
Muth, parlamentarischen Takt und ein organisirend schöpferisches Talent entwickelt, wel¬
chem, wir gestehen es unverholen, obgleich mit Beschämung, ein zweites in Oestreich
noch nicht an die Seite getreten ist; rasches Erkennen der Kapacitäten, um sie sich
beizugesellen, zeichnet Bach ebenfalls aus, uur wünschten wir ihm anch die Gabe, den
servilen Verräther der guten Sache in seiner Umgebung rasch zu erkennen.
Als die faulen Zustände Deutschlands, Italiens und Oestreichs zusammensanken,
sanken sie leider in ganz unproduktives Gerölle, in öden Schutt, in Deutschland, wie
in Oestreich wuchs gar schnell böses Unkraut, Distel und Nessel üppig darüber und gab
dem Ganzen den Anschein der vollkommenen Ruine. Oestreich hat nur ein Talent ge¬
zeugt, das sich zu halten verstand auf den Trümmern mit Geschick, das den Plan zum
großen Neubau der Ruine dennoch nicht aus dem Auge Verlor, das, um den schönen
Plan zu retten, momentan auf die zweifelhafte Glorie der Popularität zu verzichten
den Muth hatte, und dieses Talent ist Bach. Wir begrüßen in Bach das allein Übrig¬
gebliebene der ephemeren Errungenschaften der letzten Sturm- und Drangperiode. Wie
Paris, das im Februar 1848 der socialistischen Idee der Ouvriers preisgegebene, sich
durch Albert Ouvricr in der provisorischen Regierung gesichert glaubte, so ist Bach,
als Repräsentant des Bürgerthums, als Kind der Revolution unser einziger Hoffnungs¬
anker in dem zweifelhaften Untergrunde des Ministeriums. Wir halten fest an ihm,
weil wir ihn kennen, wir geben nicht alle Hoffnung auf, so lange Bach nicht aus dem
Ministerium scheidet; scheidet Bach aus, dann erst wird es vollkommen Nacht in Oest¬
reich, wenn er auch jetzt uur mit der Sicherheitslampe Dcwy's in den finstern Schach¬
ten heutigen Treibens nach der dünnen Silberader constitutionellen Prinzipes gräbt.
Daß Bach ausgeschieden und nach dem 6. October wieder in das Ministerium trat,
daß er insbesondere sich bei der Auflösung des Reichstags bei der Octroyirung der Ver¬
fassung beteiligte, wurde ihm zum schweren Vorwürfe gemacht.
Ein richtiges Urtheil zu fällen über die Wirren, über die Trost- und Rathlosigkeit
der Olmützer Zustände im October 1848, dazu sind wenige wirklich competent; damals
hing die Aufrechthaltung des Constitutionalismus an einem Haare, nur die Haltung
der Rcichötagsrcchten, dem magyarisch gewordenen Reichstag entgegen, rettete damals
das Schiff der Freiheit; denn bereits beschlossen in einem zum Glück zurückgenommenen
Manifeste vom 16. October ausgesprochen, war die Vernichtung des Reichstags, von
später zusammenzurufenden Ständen der Provinzen war in jenem Manifeste blos er¬
wähnt. Abgeordnete der Ncichstagsrechten hintertrieben damals dieses von der Hof¬
partei angezettelte Projekt, retteten den Constitutionalismus und die Fortexistenz des
Reichstags; freilich war die Rettung eine prekäre, man hatte damals nur die Wahl,
an der Klippe Windischgrätz zu zerschellen und in Trümmer zu fallen, oder aus die
Sandbank Kremsicr auszulaufen, immerhin aber war dadurch noch nicht alles verloren.
Die Ncichstagsrechte lehnte in jenen Tagen jede Ministercandidatnr entschieden ab,
sprach sich jedoch lebhast für Bach aus, den sie kalt und wohlerwägend zu würdigen
verstand, während die hinter den März zurückstrebende Partei zu Olmütz sich Bach's,
eines Kindes der Revolution gerne entledigt hätte, und in ihrer Rathlosigkeit Indivi¬
duen hohen Namens zu Ministerstcllen designirte, welche, zum Glück ihrer Jncapacität
bewußt, die Vocation nicht annahmen.
Bach nahm an um zu retten, was zu retten war, Bach überzeugte sich aber in
seiner Stellung, daß die Rückschrittspartci, die durch das Entlastungsgesch vom 7.
September 1848 ergrimmte Adclspartei mächtig an Terrain gewonnen habe. Wien
hatte sich dnrch seine wahnsinnige, ausschließend in magyarischem Interesse unternom¬
mene Revolution selber gemordet, das Bollwerk der Freiheit war eingesunken, die
Kriegsfnrie, das Soldatcnthum war los; Bach erkannte die Gefahr, und wußte, daß
nur Trümmer noch zu retten seien, Trümmer jener im Mai und Juni verheißenen Frei¬
heiten, und er blieb im Ministerium, um diese Trümmer zu retten. Der Reichstag
auf seiner Sandbank sah weit aus kein Land, und bildete sich seine eigene ideale Welt,
in welcher er in isolirter Konsequenz, den Untergang im Auge, wenigstens seine Ehre
retten wollte; er warf seinen Ruf an die Posterität in die Flaschen der stenographische»
Protokolle, welche wohl einst an einzelnen Küsten aufgefangen werden mögen, »in Kunde
zu geben von seiner isolirten Wirksamkeit.
Bach hatte die Wahl: entweder hatte er sich bei der Octroyirung nicht zu be-
theiligen und abzutreten, um auf diese Weise in der Volksgunst momentan zu gewin¬
nen und als Mann der Freiheit ausgerufen zu werde»; doch wahrlich in jenen Tagen,
wie auch heute, werden solche Rufe von dem Waffcngetvse rasch übertönt; oder aber
entschied sich Bach zu bleiben, für einen Verräther, einen »cbcrlänser zu gelten, und
dennoch seinen Planen treu zu bleiben.
Daß sich Bach mit großer Aufopferung zu letzterem entschied, halten wir für eine
Heldenthat passiver Aufopferung und Resignation, und danken ihm dies aus
vollem Herzen. Wäre er ausgeschieden, gar bald war dann irgend ein aristokratischer
Name gefunden, um statt Bach's zu figuriren als Minister, Handwerker für sich arbeiten
zu lassen, am Ministertische aber seine Ansicht stets nach Ordre zu formen.
Wir erkennen das Opfer, das Bach gebracht hat und fortgesetzt bringt; denn der
karge Ministergehalt, karg im Vergleich dessen, was Bach früher als Advokat sich er¬
worben, dieser ist es wahrlich nicht, der ihn irgend locken konnte, seine Popularität
zu opfern; diesen Mann leiten höhere Ideen.
Das? übrigens Bach bleiben kann, bleiben darf im Ministerium, obwohl ihn die
Aristokratie eben als Emporkömmling des Bürgerthums, als den Schöpfer des billigen
Ablösungsgesejzes, den beharrlichen Zcrtrümmerer des Patrimonialeinflusses in den Orkus
wünschte, freut uns um so herzlicher, da es uns den Beweis gibt, daß auch der jugend¬
liche Kaiser an den genialen Conceptionen seines jugendlichen Ministers Gefallen finde,
und Art hält sich zu Art.
Das traurige Bcamtschaftsmaterial, welches dem genialen Minister bisher zu Gebote
steht, seufzet tief aus, und wünscht nichts sehnlicher als seine Beseitigung; denn es
hofft dann wieder in den lethargischen Schlendrian von ehedem sinken zu dürfen, es
dahit nach seinen hierarchischen Beamtenbegriffen den ehemaligen Advokaten in Alexander
Bach, denn dem Advokaten war das Beamtenthum von jeher gram, es meint, Herr
Schmerling wäre doch wenigstens früher Beamter gewesen, und sei daher doch praktisch,
Bach aber sei blos genial, und darum fordere er Unpraktisches, Unmögliches.
Gerade darin, daß Bach alles Alte verwirft, erkennen wir, daß er die östreichi¬
schen Zustände vom Anbeginn richtig auffaßte; denn kein Stein durste und darf auf
dem andern bleiben, von dem alten Systeme, sonst setzt sich in kleinen Winkeln gleich
wieder der alte Schimmel und Moder an und verpestet das neue Haus.
saßen der Bach's mehrere im Ministerrathe, gar vieles wäre anders, wäre besser,
und der Ministerrath selber wäre nicht gleich uns in einer Art Belagerungszustände
und wäre nicht genöthigt, sein Wirksamkeitstcrrain allmälig von Fuß zu Fuß sich zu
erobern, und die alles überflutheudc Militärgewalt, in welche die grollende Aristokratie
sich hüllt und verbirgt, allmälig zu beschwichtigen, und vielleicht in constitutionelle
Bahnen zu leiten.
Wir weisen, um Bach richtig zu bezeichnen, ans sein Programm bei definitiver
Uebernahme des Ministeriums des Innern, in diesem athmet echt und rein der consti-
tutionell liberale Geist, dies ist Bach'S spezielles Glaubensbekenntnis,; daß dasselbe noch
nicht in Saft und Leben getreten, ist theils Schuld der elenden Organe, welche bis
nun dem Minister zu Gebote stehen, wie nicht minder auch Schuld der Gesammt¬
heit des Ministeriums und des nicht constitutionellen Elements des Staatslebens, das
nur allmälig vertilgt werden kann.
Wäre Minister Bach in der Lage, die Kronländer zu besuchen, sich aus eigener
Anschauung über die Zustände zu informiren, wie anders gestaltete sich vielleicht so
Manches, so vieles, so wie sich möglicherweise im Januar 184!» manches zu Kremsicr
versöhnlicher und im Interesse Oestreichs ersprießlicher gestaltet haben würde, wäre es
in der Nacht vom auf den 4. Januar einer selbstsüchtigen, stets iutriguireudeu
Persönlichkeit Mährens nicht gelungen, die Minister Stadion und Bach zu jener Er¬
klärung vom 4. Januar zu drängen, welche Männer von Ehre nicht in Geduld und
Schweigsamkeit hinnehmen konnten, welche aber in ihrer übereilten Schroffheit die Kluft
Zwischen Ministerium und Reichstag aufriß und jene verderblichen Folgen brachte, welche
wir alle mit Einschloß der Regierung noch heute schwer empfinden.
Die VolkSrcpräscutation ist verstummt, die Presse steht vor geladenen Kanonen,
und darf nicht wahr sein, nur anstclluugssüchtige Beamte, hoch wie niedrig, und
machtgierige Soldaten liefern die Berichte, aus welchen der Minister alles, nur nicht
das Wahre, Nichtige zu entnehmen vermag.
Wir leben in einer traurigen sterilen Periode; viel Resignation und Bürgertugend
gehört dazu, in solchen Tagen die Verhältnisse kalt und unparteiisch zu beurtheilen.
Wir hassen das Ministerium Schwarzenberg in seiner Totalität aus vollem Her¬
zen, aber wir achten den Eiuzelminister Bach. Einen ehrlichen Mann wird
die Revolution, diese blutig schreckliche doch geboren haben zur
Sicherung ihrer Existenz? —
Bemerkung der Redaktion. Wir drucken dies Urtheil eines hochgeachteten
Patrioten bereitwillig ab, nicht ohne ein gewisses Erstaunen. Daß es sich in Allem
als wahr ausweisen möge, wünschen wir von ganzem Herzen, daß es nicht ohne Grund
grade jetzt kommt, davon werden unsere Leser überzeugt sein. Es geht Etwas vor in
der obern Luft; mir die Götter wissen, ob dieser Aufsatz ein Sturmvogel, eins von
Mutter Karey's Küchlein ist, welches böses Unwetter für Oestreich anzeigt, oder eine
weiße Möve, die helleren Himmel und den langersehnten Sonnenschein prophezeiht.
Im Auftrage eines zahlreichen Kreises achtungswerther, theils preußischer, theils östrei¬
chischer Staatsbürger richte ich die nachfolgenden Zeilen an die preußische Gesandtschaft
in Wien und die preußische Regierung in Berlin, um ihre kräftigste Verwendung für
einen unbescholtenen jungen Mann ans Breslau anzurufen, den ein sogenanntes kriegs-
rcchtlichcs Urtheil der Preßburger Militärbehörde gegen Recht, Billigkeit und gesunden
Menschenverstand verdammt hat, seine schönsten Jugendjahre im östreichischen Kerker zu
verliere». Die Wiener Militärbehörde hat seit dem 1. Januar !84N bis jetzt 1<U!>
Urtclssprüche gefällt, darunter viele hundert grausame und willkürliche, doch hat kaum einer
so allgemeine und tiefe Entrüstung hervorgerufen, wie die Preßburger Verurtheilung
Theodor Brand's, weil diese noch mehr als die Freiheit des Wortes und der Presse,
nämlich die Freiheit der Privatcorresvoudcnz in Frage stellt. Ich werde die harte
Strafe und das angebliche Verbrechen des jungen Mannes gegen einander abwägen,
muß jedoch um Entschuldigung bitten, wenn ich dabei nicht immer den Ernst und die
Würde behaupten kann, welche einem ordentlichen Gerichte gegenüber am Platze ist.
Wenn die Themis von Sinnen kommt, so wird die Schneide ihres Schwertes doppeltem
Schrecken einflößen, größere Achtung vor ihren Aussprüchen aber wird sie daraus si»
nicht verlangen können. ,e
„Theodor Brand, 2 t Jahre alt, Schriftsetzer, aus Breslau," erhielt für einig
Privatbricfe an seinen Vater vom Preßburger Militär-Gericht ein Honorar von
fü uf Jahren Schanzarbeit in leichten Eise n. Brand pflegte von Preßburg
aus seinem Vater in Preußisch - Schlesien neben seinen Privaterlebnissen auch
interessantesten Ereignisse des ungarischen Krieges mitzutheilen; der Alte trug
diese Briefe der Breslauer Zeitung zu, welche sie mit üblicher Rcdactionssreiheit be¬
nutzte, theils in? Auszuge, theils unter die Nachrichten aus andern östreichischen Städten
eingeschaltet, abdruckte. Die Erbrechung eines seiner Briefe aus der östreichischen Post
hatte Brand's Verhaftung und Verurtheilung zur Folge. Ausdrücklich ist dieser Um¬
stand im kriegsrechtlichen Urtheil angegeben, worin es heißt, daß Brand aus Grund
eines aus der Post „detcntirten" und vom Inquisiten „agnoöcirten" Schreibens als
„heimlicher Korrespondent der Breslauer Zeitung" wegen Verbreitung „falscher Nach¬
richten" und „beleidigender Schmähungen gegen die russische Armee" verurtheilt wurde.
Gehen wir die einzelnen Anklagepunkte durch.
Was versteht man in der östreichischen Armee unter einem „heimlichen Korrespon¬
denten?" Wenn es ein Verbrechen ist, ohne Namensunterschrift in Zeitungen zu schrei¬
ben, so reicht die vielfach ersehnte Verwandlung der ganzen Monarchie in einen einzigen
Spielberg nicht hin, um alle Schuldigen zu bestrafen. Was denkt man sich in der
östreichischen Armee unter einem öffentlichen, also loyalen und unparteiischen Korrespon¬
denten? Wo gibt es einen solchen? Man hält uns Herrn 8. in der Augsburger Allg.
Zeitung als Beispiel und Muster entgegen. Aber Herr 8. war auch ein heimlicher
Korrespondent, das Publikum kannte ihn nicht; nnr im kaiserlichen Lager, dessen Gast¬
freundschaft er genoß, wußten alle Offiziere seinen Namen, lasen seine Briefe, sprachen
ihn täglich und konnten ihn zur Rede stellen, wenn er dnrch bombastische Schönmale¬
reien ihrer Bescheidenheit zu nahe trat. Wer ihm über die Achsel sah, konnte seine
Briefe vor dem Druck lesen, denn er konterfeite sich in der A. Allg. Zeit, selbst, wie
er auf einer Trommel, bewacht von zwei pittoresken Nothmäntlcrn, seine Aufzeichnun¬
gen machte.
Verbreitung falscher Nachrichten und Schmähungen der russischen Armee. Was
die letzteren betrifft, so lassen sich alle östreichischen Blätter, die ministeriellen
voran, dasselbe Verbrechen täglich zu Schulden kommen. Daß die Russen an vielen
Orten gestohlen, geplündert, gebrannt, daß sie die jungen Saaten abgemäht haben,
um ihre» Pferden Futter und Streu zu gebe», solche und noch viel tollere Barba¬
reien hat ihnen der Lloyd nachgerühmt. Schlimmeres erzählte die Breslauer Zeitung
nicht. Doch ist weder der öffentliche Redacteur des Lloyd, Herr Löwenthal, noch der
heimliche, Herr WarrenS, assentirt oder in leichte Eisen gesteckt worden; nicht einmal
Stockprügel haben sie bekommen.
Falsche Nachrichten wurden nicht blos von Brand, sondern eben so fleißig von
Weiden, von der gesammten Wiener Garnison und der ganzen offiziellen Wiener Jour¬
nalistik Verbreitet. Anderseits hieß Manches eine falsche Nachricht, was drei Tage später
offiziell bestätigt wurde. Es sollte daher wohl heißen „wegen unzeitgemäßer Verbrei¬
tung wahrer Nachrichten." Brand's Verurtheilung fällt in die Zeit der Einnahme
AradS durch die Magyaren. Diese Kunde war lange in Pesth, Preßburg und Wien,
aus guter Quelle verbreitet, wurde jedoch so lange als böswillige Erfindung behandelt,
bis die Wiener Zeitung für gut fand, die Thatsache einzuräumen; und es ist möglich,
daß Theodor Brand verurtheilt wurde, blos weil er die „falsche Nachricht von Arad's
Fall" früher glaubte, als die Wiener Zeitung.
Doch angenommen, der Angeklagte hätte wissentlich, — davon spricht selbst das Ur¬
theil nicht, — falsche Nachrichten verbreitet, so ist nach östreichischen Gesetzen, diese
Handlung nur dann verbrecherisch, wenn ihr die Absicht zu Grnnde lag, östreichische
Unterthanen zur Empörung aufzureizen. Werden die Breslauer etwa schon als znküns-
tige Oestreicher angesehen, weil der Lloyd einigemal drohte, Preußisch-Schlesien zurück¬
zuerobern? —
Theodor Brand's Verbrechen besteht demnach, genau erwogen, in einer kleinen
Unvorsichtigkeit. Er hätte weniger Vertrauen auf die Ehrenhaftigkeit der östreichischen
Post besitzen und bedenken sollen, daß das Briefgeheimniß in der oktrvyirten März-
versassnng ansdrücklich gewährleistet ist, folglich in der Regel nicht geachtet wird. Statt
dessen war er arglos genug, seiue Briefe mit unverstellter Hand zu schreiben, zu unter¬
zeichnen und, als sie ihm erbrochen vorgehalten wurden, dieselben freimüthig zu „agnos-
ciren." Schanzarbeit dem unerfahrenen Jungen! Es geschieht ihm Recht! Solch ein
ehrlicher Michel gehört nicht nach Oestreich!
Die offiziellen Oestreicher, welche dies lesen, pochen aus den Kriegszustand. Gut.
Begreiflich wäre die Erbrcchuug eines Briefes gewesen, der von Wien nach Debreczin
oder v^n Debreczin nach Wien, aus einem feindlichen Lager in's andere gegangen
wäre. Doch wenn man selbst Preßburg, in dessen fernster Umgebung kein Schuß fiel,
zum Kriegsschauplatz rechnen will, so war Preußischschlesicn kein sündliches, — ja,
selbst die höchst gefährliche Gesinnung der zahmen Breslauer Zeitung in Anschlag ge¬
bracht — wenigstens ein neutrales Land zu nennen. — Aber, sagt mau uus, ein
Brief nach Breslau könnte von dort in der Tasche eines Schmugglers über Krakau
nach Debreczin schleichen. — Dann wäre die Erbrechnng aller Briefe von Prag, Jn-
spruck oder Linz nach München weit nothwendiger, denn eine hochverrätherische Epistel
konnte leichter über München, London und Konstantinopel nach Debreczin gelangen
als über Krakau, wo eine Grcuzaussicht ist. '
Geben wir endlich das Briefgeheimnis) preis. Oestreich erbrach aus Nothwehr
Brand's Brief an seinen Vater. Wohl! Dann hatten die kaiserlichen Generale das
Recht, wenn sie werthvolle Mittheilungen darin senden, sie zu ihren Zwecken zu be-
nützen; wenn der Schreiber etwa seine» alten Vater aufforderte, ein oberschlesisches
Freischaarencorps dem Kossuth zu Hilfe zu führen, konnten sie ihn vor Gericht stellen.
Aber Brand schrieb eben uur, was sich in Preßburg die Mägde am Brunnen, die
Kinder in der Wiege, die Arrestanten im StockhanS erzählten, was seine Richter so
gut wußten wie er. Auf ein solches Aktenstück eine Anklage und Verurtheilung zu be¬
gründen, dazu gehört das Herz, die Stirn und das Gehirn eines östreichischen Mili¬
tärgerichts !
Mehrere Monate schon trägt der arme Brand seine Eisen. Möglich, daß der preußi¬
schen Regierung Nichts darüber zu Ohren kam. Deshalb erzählte ich sein Schicksal ausführ¬
lich und fordere die preußische Gesandtschaft auf, nach Pflicht und Gebühr ihren Lands¬
mann zu schützen, ihm Genugthuung für die erlittene Mißhandlung, im ungünstigsten
Falle wenigstens die Freiheit zu verschaffe». Habt keine Bange vor dem ungeheueren
Schnurrbart des grimmen Feldzeugmcisters, sondern redet deutsch mit ihm, damit es nicht
heiße, daß Hayuau's Stock bis nach Breslau und Berlin hinaufreicht.
Es ist noch nicht lange her, als die after Herren von guter Gesinnung in
jedem Liberalen den Samen Jsaschar'ö witterten nud die ganze Doctrin der übel¬
gesinnten Opposition aus dem Talmud herleiteten. Ein Stichwort mag noch so
kräftig sein, zuletzt verbraucht sich's doch, so ging es mit dem Juden. Seitdem
hat die Loyalität sich eine neue Phrase angeeignet, und es ist charakteristisch für
sie, daß sie selber uicht im Stande war, ein tüchtiges Wort auszudenken, daß
sie zu den Rothhäuten in die Schule gehen mußte. Und nicht einmal bei den
Eingebornen fand sie Nath, sie flüchtete zu den sonst so übel berufenen Franzosen
nud lernte die Gespenstergeschichten von Louis Blanc und Michelet auswendig, um
sich selber vor dem neuerfundenen Gottseibeiuns mit sieben Hörnern und sieben
Klauen, der Bourgeoisie, das angemessene erbauliche Entsetzen einzuflößen.
Seitdem ist in der Geschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts
ein neues Licht aufgesteckt. Es siud nicht, wie der Jesuit Barrnel erwiesen zu haben
glaubte, die Freimaurer, welche die Aufklärung, die Revolution und all den
Greuel, der weiter daraus entsprang, veranlaßt haben, es find auch nicht die
Juden, es ist eine viel gefährlichere, viel verderbtere und viel dunklere Verschwö¬
rung, in der sich die unheiligen Fäoen der modernen Gottlosigkeit verzweigen —
die schauderhafte Verschwörung der Bourgeosie.
Ja, es gibt in unserm civilisirten Europa eine Seele, die gleich dem Vampyr
von dem Blut der nothleidenden Menschheit ihr schattenhaftes Traumleben fristet,
die mit dem ruchlosen Raffinement der Hölle den Menschen, das Ebenbild Gottes,
in den Staub getreten, die endlich auch den Bund, den Gott mit ihm geschlossen,
zerrissen hat; eine Art Molochspriester, die täglich ihre und die fremde Erstgeburt
dem nämlichen Sticrofen schlachten, dessen sich die Daumerscheu Christen bedienen;
ein geheimer Bund der Finsterniß, der die Heiligenbilder Liebe, Glaube, Ehre,
Treue, Religion, Tugend, Sittlichkeit, Demuth u. s. w. mit dem blassen Neid
eines von Gott verworfenen Geschlechts zerfleischt und entweiht; ein Cultus des
Gottes Mammon, ausgeübt von entmenschten Krämerseelen ohne Herz im Leibe
und ohne Blut in den Adern. Diese unheimliche Secte, die man nirgend sieht
und die doch überall umherschleicht, ist die Bourgeoisie.
Den Bußpredigern, die gegen dieses Scheusal der neuen Zeit zu Felde ziehn,
ich weiß nicht, ob mit größerer Erbitterung in den Vorsälen der hohen Herrschaften
oder in den Bierstuben des Kommunismus, wird es um so bequemer, die schau¬
derhaften Eigenschaften des Chamäleons in Callotscher Manier auszumalen, da sie
es überall im Dunkeln lassen, auf wen sich die Schilderung eigentlich bezieht.
Die Grenzboten, deren Hauptaufgabe es ist, die roman lischen Illusionen
unsers Zeitalters aufzulösen, die banalen Phrasen, die um so größere
Macht ausüben, je weniger Verstand im Volle ist, auf ihren eigentlichen Sinn
zinückzuführeu und dadurch unschädlich zu machen, werden anch diesmal die Vogel-
scheuche ihrer bunten Federn und Schellen entkleiden, und bitten im Voraus um
Entschuldigung, wenn sie es mit der gewöhnten UnHöflichkeit thun. Ihrer vor¬
züglichsten Liebe und Hochachtung aber versichern sie die edlen Seelen, die, selber
aus den Kreisen der Bourgeoisie, sich unterthänig vor dem Herrn Baron v. X.
verbeugen und vertraulich dem souveränen Schusterjungen K). "uf die Schultern
klopfen, nach beiden Seiten hin mit der Versicherung, daß Edelmut!) und Seelen-
größe nur bei den Baronen und Schusterjungen wohne, nud daß alles übrige unter
die Guillotine müsse, wenn die Morgenröthe der neuen Zeit in Wahrheit aufgehen soll.
Also zuerst: wer ist eigentlich diese Bourgeoisie, der mau so viel schlimme
Dinge nachredet?
Nehmen wir einen Edelmann, einen Tory, der 36 Ahnen wohlgezählt auf
seinem Stammbaum im Koffer verschließt, der das Recht hat, Gardelientnant und
Kammerjunker zu werden, der courfähig ist und die schickliche Summe Schulden
besitzt. Obgleich ein Abonnent der Kreuzzeitung, ist er doch nicht feindselig ge¬
stimmt gegen Jeden, in dem das blaue Blut der Rotüre fließt. Der Manu in
Livree, der ihm die Stiefeln putzt, und den er gelegentlich ohrfeigen kann, der
Mann im Schurzfell, der ihm sein Pferd beschlägt, selbst die betrnnknen Gesellen,
die am blauen Montag ans der Straße heulen — er wird zwar eine nähere Allianz
mit ihnen nicht suchen, aber er wird ihnen gnädig zunicken, wenn sie den Hut
vor ihm abziehn, denn er hat Christenthum, es gehört zu den Vorrechten seines
Standes, sich um Thron und Altar zu schaaren und bei passender Gelegenheit
sich von der Kanzel herab die christliche Liebe empfehlen zu lassen. Die christliche
Liebe! Er denkt für sich: „Das ist zwar Canaille, mehr Schwein als Mensch,
aber das weiß doch, wen es vor sich hat! das fühlt doch den Abstand zwischen
einer thierischen Natur und einer noblen!" Wenn aber der gemeine Plebejer in
der nivellireuden, destructiven Tracht des Pariser Fracks neben ihm steht, kaum
in der Chaussure und der Cravatte zu unterscheiden, wenn er auf der nämlichen
Schulbank sitzt und die Unverschämtheit hat, eine geometrische Aufgabe gewandter
zu lösen, als der hochgeborne Erbe jener ritterlichen Zeit, die sich mit dem
Euklid noch nichts zu thun machte, und die sich doch eines Königs erfreute und
einer Ritterschaft; wenn er am Aktentisch dem Herrn Baron den Rang abläuft und
wohl gar sein Vorgesetzter wird; wenn er endlich — schrecklicher Gedanke! — der¬
selben Grisette die Cour macht, als der Kavalier von 36 Ahnen — dann wird
die Verachtung, die man gegen das unedle Blut nothwendig empfindet, zum Haß
gegen die Impertinenz, mit der es aus seinem Kreise heraustritt, Der Pöbel
wird Bourgeois. Bourgeois ist in den Angen des Edelmanns die Canaille,
welche es vergessen hat, daß sie Canaille ist.
Wir wollen einen zweiten Ehrenmann betrachten, wieder einen Vertheidiger
von Thron und Altar, einen Heiligen mit jungfräulich gescheitelten Haaren und
dem himmelwärts schauenden Jvhanncsblick. Für den Heiligen ist jeder Erden¬
mensch ein „Madensack," wie sich Luther ausdrückt, d. h. Canaille; „sein Ver¬
stand ist voller Finsternisse, und wo er am hellsten zu sein glaubt, Gott am fein-
desten." Aber er macht doch einen Unterschied. Der blinde Haufe, welcher heute
irgend einem Demagogen folgt, die Heiligenbilder zerschlägt, die Kirchen anzündet,
die Geistlichen strangulirt, er ist zwar in seiner Erscheinung kein Muster, er ist
so sehr Bestie, als man es nnr sein kann, aber eben darum ist er ein süßer
Bissen sür den Herrn. Wer in Elend lebt, wer noch nicht im Staude ist, die
Freiheit eines an der Wissenschaft geschulten Verstandes den heiligen Offenbarungen
entgegenzusetzen, welche ein Wohlgeruch sind frommen Herzen, aber ein Gestank
der hochmüthigen Weltweisheit; wer das Bedürfniß hat., sich in der Masse zu
verlieren, und seine Leidenschaft, die einzige Weise, in der er producirt, aus den
Predigten eines höheren Geistes zu fangen — er ist das Rüstzeug der göttlichen
Barmherzigkeit! Nicht umsonst haben der Ubbo Genoude und seine Freunde, die
Jesuiten, sür das allgemeine Stimmrecht geeifert. Die Masse will sich imponiren
lassen, und wird dem Pater so gut gehorchen, wenn er nur die Lunge hat, als
dem (?omni8 vo^n^oui- der Freiheit. -- Auch der Adel steht mit der Kirche gut;
er ist zwar hochmüthig im Leben, aber devot im Beichtstuhl; er wird „den Glau¬
ben seiner Väter" vertheidigen, auch wenn sein Verstand und sein Gemüth sich
ihm entzogen hat, er wird ihn vertheidigen aus nome. «I'I,o»»vur, ans Erinnerung
an die Kreuzzüge, und aus Schicklichteitsrückstchten gegen den Hos. — Anders
ist es mit dem Bourgeois. Ein Mann, der sicher ist in seinem irdischen Streben,
unverdrossen und einsichtsvoll in seiner Arbeit, klar über die Mittel zu seinem
Glück — wie soll er zu dem Gefühl der Zerknirschung und der Selbstverachtung
kommen, ohne die eine intensive Frömmigkeit nicht gedeiht? Wahrlich ich sage euch,
eher wird ein Kameel durch ein Nadelöhr gehen, als ein Bourgeois in's Himmel¬
reich! Wie soll der eingebildete Gelehrte sich vor dem Heiligen in den Stand
beugen, dem er jeden Augenblick nicht nnr Verschrobenheit in seinen Ansichten,
sondern auch Lückenhaftigkeit in seiner Bildung, Rohheit in seinem Ausdruck nach¬
weisen kann? der Gelehrte, der die Gespensterfurcht dnrch das Studium der Natur
überwunden, den Aberglauben durch Geschichte und Philosophie nicht nnr wider¬
legt, sondern auch analytisch begriffen hat? der dem Propheten überall nachweisen
kann, du verstehst dich selber nicht, und noch weniger deinen Herrn und Meister,
selbst als Theolog bist dn keinen Schuß Pulver werth! — Also in einem Staat,
in dem die Gottseligen das große Wort führen, wird die Bourgeoisie — der In¬
begriff der Arbesit nach einem bewußten irdischen Zweck und des gesetzlichen Wissens,
die keine Schen hat vor dem Unbekannten und keine Ehrfurcht vor der Tradition
— als der wahre Quell der Revolution bezeichnet werden, und man wird sie
brandmarken als die Canaille, welche vergessen hat, daß sie Ca-
naille ist.
Endlich ein dritter Ehrenmann, diesmal ein Wühler, ein biedrer Sohn des
Volks mit zottiger Hochbrust und hohlen Phrasen, die er aus einem beliebigen
Katechismus memorirt hat, oder ein zarter lyrischer Mondscheinpoet, der die Entwicke¬
lung der Menschheit dadurch fördert, daß er die Eichen mit grünen Fragezeichen
der Freiheit vergleicht, daß er in der Freiheit eine Sonne sieht, in dem Barrikaden¬
kampf einen Frühling wittert, in der Katzenmusik eine Lerche hört, wo seine Ju-
lia noch von Nachtigallen schwärmt, daß er endlich eine Reihe brennender Hänser
zu einer Morgenröthe combinirt. Sein Haß gegen das Königthum und den Adel
ist bedingt, denn er kennt eine Grenze, und er schließt Anerkennung ein. Eine
Grenze, denn er kann mit leichter Mühe sagen: hebt den Adel ans, wie in
Dessau, verbietet bei Todesstrafe sich Herr „von" zu nennen, oder noch besser,
guillotinirt sämmtliche Edelleute, so ist die Frage gelöst. Freilich würde das Beil
viel zu thun haben, aber zuletzt ist es doch möglich, daß die gesammte Race ver¬
nichtet ist, wie die Kiuder von Bethlehem zu den Zeiten des Herodes. Aber die
Bourgeoisie! Setzt die Guillotine aus ein Jahrhundert in Bewegung, köpfe Alles,
was nur im entferntesten im Verdacht der Bourgeoisie steht, und wenn ihr fertig
seid, wird die Bourgeoisie eben so stark sein, als da ihr ansinge! — Denn der
Adel ist eine wirkliche Classe, eure Bourgeoisie nur eine Abstraction. Abstractionen
aber löst man dnrch's Köpfen nicht auf.
Der Adel wird gehaßt, aber mit gegenseitiger Anerkennung. Er ist von
anderer, böser Race, aber er ist von Race, er hat das Recht, ein Feind des
„Volks" zu sein; er ist, was er ist, indem er ist. Der Adel hetzt seine „ver-
thierten Söldlinge" ans das „Volt", das ist eine Anerkennung, er wirft die
Freiheitsmänner in's Gefängniß, oder schlachtet sie — das ist ein Kompliment.
Aber was ist dieser Bourgeois? Ist er von andern: Blut, als wir, daß er im Wagen
fährt, währeud wir zu Fuße gehn? Daß er Lateinisch und Französisch versteht,
während wir uns mit Mühe in unserer Muttersprache ausdrücken? Daß er den
Lauf der Sterne mißt, während wir im Einmaleins stecken geblieben sind? Die
Menschen sollen gleich sein, der Adel widerstrebt freilich dieser Gleichheit, aber
das ist nicht seine Schuld; er ist als Feind der Gleichheit geboren, und sein Tod
führt das unfreiwillige Verbrechen an der Majestät der souveränen Lumperei.
Von dieser Bourgeoisie aber ist es mehr als Frevel, es ist Verrath! Wenn
ein als Lump Geborner im Schweiß seines Angesichts ein Vermögen erwirbt,
das ihn von seinen Bruder unterscheidet, so ist das ein prämcditirter Meuchel¬
mord der Freiheit! — Und wie gehn diese Bourgeois mit uns um, uns, den
Propheten des neuen Evangeliums? Der Adel nennt uns Teufel, die am Zer¬
stören ihre Lust haben; vir bion! Teufel ist etwas Nobles, wir lassen uns den
Teufel gefallen. Teufel hat etwas Dämonisches. Aber diese Bürger haben die
Impertinenz, uus für Schafsköpfe zu erkläre», die wohl Barrikaden zu bauen
verstehn, aber keine Staaten, und das greift unsre Ehre an! Schafskopf ist nicht
nobel. Sie spotten unser mit ihrem satten Lächeln! mögen sie an unserm Fluch
ersticken!
Und hier begegnen-sich brüderlich die drei Ehrenmänner in einem zweiten
Stichwort: Professor, Doctrinär. Der Landjunker, der Heilige mit dem Johan¬
nesgesicht, der Wühler im Mondschein. Gelernt haben sie alle drei nichts, ihre
Vorfahren haben auch nichts gewußt, und doch hat sich der Staat in chrfamer
Frömmigkeit erhalten. Jetzt kommen diese Leute ans der Schule, und wollen
uns etwas vordemonstriren, diese Professoren! Wir sollen Gründe angeben! Und
wenn Gründe so wohlfeil wären als Brombeeren, mit Gewalt geben wir keinen
an! Reicht der Grund uicht ans, wenn wir ihnen sagen: (der Junker) ihr habt
kein Blut, keine Ahnen! (der Heilige) ihr habt keinen Glauben! (der Mondschein-
ritter) ihr habt keine Ideen! Mit einem Wort, ihr seid die Canaille, welche
vergessen hat, daß sie Canaille ist! —
Wir wissen jetzt, wer mit dem Collectivbegriff Bourgeoisie gemeint ist. Je¬
denfalls sehr verschiedene Elemente, welche aber unsere Romantik durch zwei sehr
bequeme Hausmittelchen in einen Topf zu werfen versteht.
Einmal versteht sie es, jeden Collectivbegriss zu persvnnisiciren. Sie spricht
von der Reaction, der Revolution, dem Absolutismus, dem Liberalismus, dem
Geist, der Kritik, dem Volk nud der Bourgeoisie ans eine Weise, als wenn es
sich um Personen handelte, die man prügeln und nöthigenfalls aufhängen könnte.
So gibt sie der Abstraction die formale Einheit.
Dann sucht sie, um diese Abstraction lebendig zu machen, ein bestimmtes,
einzelnes Bild, welches sie mit derselben identificirt. Für Bourgeoisie hat sie zwei
Typen, aus deu Croquis des Pariser Charivari entlehnt: den Proprietaire mit
blauem Frack, gelben Hosen, impertinent festen Stiefeln, dickem Bauch, rother
Nase und strammer Haltung, der seiue armen Miethsleute auspfäudeu und auf
die Straße werfen, läßt, sodann den kleinen Epicier, der in seinem Comtoir ver¬
kümmert ist, mit ganz dünnen Beinchen, blassen faltigen Wangen, gebückter Hal¬
tung, eine ungeheuer große und dicke Fran an seiner Seite, der er den Shawl
und die Kinder tragen muß, obgleich er sich selber kaum auf den Beinen hält.
Das ist ein bestimmtes, der Phantasie geläufiges Bild, das mau jener Abstrac¬
tion unterschiebt, und wenn man also von der tyrannischen Bourgeoisie, der Bonr-
geoisverfassung und dergl. spricht, so denkt man sogleich, diese armen Teufelchen,
die eigentlich in jedem Augenblick die Welt für ihre Existenz um Verzeihung zu
bitten scheinen, wären die modernen Nerone, die das Mark des Volks aussaugen,
und so schrumpfen die Bourgeois, die Professoren, die Doctrinärs, die Centren,
die Kleindeutschen, die Gagern, die Auerswald, die Dahlmann, die Guizot, die
Thiers, die Peel n. s. w. in den kleinen Epicicr des Charivari zusammen. —
Besinnt euch einen Augenblick, ihr modernen Percy's, die ihr unzufrieden
seid, wenn ihr nicht jeden Morgen ein Dutzend Bourgeois gefrühstückt habt. Ihr
lästert die modernen Verfassungen, die nnr dem Bourgeois zu Gute kommen; ihr
ruft Zeter über Sieh es, den Propheten unserer Sache, der es vor einem halben
Jahrhundert verkündete, der tioi« peat müsse Alles sein. Wohl, wir nehmen
diesen Satz ans. Das souveräne Volk, der Staat sind Wir, und alle Revolu¬
tionen und Contrerevolntionen kommen uns zu Gute. Das ist leicht zu beweisen.
Kann der Adel sich zum Ganzen machen wollen? Nein, denn das hieße, den Adel
aufheben. Er kann sich nicht einmal bedeutend erweitern, ohne sein Wesen zu
schwächen. Kann das Proletariat die übrigen Stände absorbiren? Dann müßte
es verhungern. Jede Erweiterung des Proletariats ist eine Vergrößerung seines
Elends. Ein Staat ans Proletariern ist ebenso unmöglich, als ein Staat aus
Edelleute». Dagegen ist der freie Bürger um so besser daran, je mehr freie
Bürger ihm zur Seite stehen. Die Bourgeoisie muß das Volk absorbiren.
Das Wesen des Bourgeoisstaates ist die freie Selbstbestimmung des Einzelnen,
bedingt, begrenzt und geleitet durch das Gesetz. Das Wesen der Aristokratie ist
die Herrschaft der Convenienz in der herrschenden Klasse, der Gewalt im ganzen
Staat. Das Wesen der Massenregicrung ist die Herrschaft der Leidenschaft, der
Stimmung, des Tumults, das souveränen Unverstandes.
Mit der Demokratie haben wir es vorläufig nicht zu thun, sie ist für deu
Augenblick beseitigt. Wohl aber mit dem neumodischen Feudalstaat, der in den
„geistreichen" Philippiken der deutschen Reform seine heraldischen Ungeheuer aus
die rothe Fahne des Sozialismus geklebt hat. Mit vollem Recht hat dieser Cham¬
pion der altprenßisch-christlichen Legitimität das Wesen des Bourgeoisstaats darin
gefunden, daß es die willkürlichen Unterschiede der Convenienz — die Stände
aufhebt, und durch die constitutionelle Form die Negierung in die Hände der
Bourgeois spielt, d. h. derer, die im Stande sind, ein bestimmtes Interesse mit
Energie zu verfolgen, welches mit dem allgemeinen Interesse Hand in Hand
geht. Diesem Bourgeoisstaat stellt er sein mittelalterliches Ideal entgegen: ein
legitimer König, mit dem starken Schwert in der Hand, ein Reichsrath von Prin¬
zen, Fürsten, Grafen und Herren, die den Ministern auf die Finger sehn, damit
sie nicht etwa eine unbedachte Neuerung einführen, und eine Kammer, aus Hand¬
werkern und Bauern zusammengesetzt, der eine hohe Regierung jeden Augenblick
zurufen kann: „Ihr Esel! mengt euch nicht in Dinge, von denen ihr nichts ver-
steht!" Die Bourgeoisie, d. l). alle gebildeten Leute von nicht ebenbürtiger Her¬
kunft, werden aus dem Staatswesen ausgeschlossen. Sämmtliche Unterthanen
werden in Zünfte eingetheilt, die überall die Jnsignien ihres Handwerks an sich
zu tragen verpflichtet sind. Der Meister soll das Recht haben, seinen Altgesellen
zeitlebens als antiqnirtes Möbel in seinem Haushalt zu haben, damit er nicht
durch eine fruchtlose Selbstständigkeit in Noth geräth; er hat das Recht, seine
Lehrburschen zu fuchteln, dafür muß er den Fußtritt des gnädigen Herrn, dem
er die Stiefel aumißt, in tiefster Untertänigkeit hinnehmen. Es soll keine Bürger
mehr geben und namentlich keine Menschen, sondern nur Grafen, Edelleute, Sol¬
daten, Schuster, Bediente, Bauern u. s. w., und sämmtliche Schneider des heiligen
christlich-germanischen Staats werdeu in Pflicht genommen, nur standesmäßige
Kleider anzufertigen.
Denn das ist die Hauptsache. Wie soll heutzutage ein hübsches Kind den
Cavalier vou der Canaille unterscheiden, seit die Federhute und Sporen ans das
Militär eingeschränkt sind? Steht es dem Herrn v. Manteuffel auf die Stirn
geschrieben, daß er von K4 Ahnen herstammt? daß sie schon zu den Zeiten der
Kreuzzüge gelebt haben! Freilich! Freilich! Herr v. Manteuffel! Wie kann man
auch bei einer ordinären Beschäftigung die angestammte Noblesse des Bluts be¬
wahren! Herr v. Manteuffel ist ein tüchtiger Bureauchef, ein fleißiger Arbeiter; er
arbeitet Paragraphen aus, er stellt Rechnungen zusammen! Güter Gott, wie gemein!
wie Iwin-g-eins! Und so ist es mit den übrigen hochgebornen Herrn nicht anders.
Wenn ihre Güter noch so groß sind, sie können sich neben ihren bürgerlichen Ri¬
valen nur behaupten, wenn sie auch bürgerlich werdeu, wenn sie sich um die
Wirthschaft kümmern, ihre Branntweinbrennereien inspiciren, sich über den Stand
der Börse, über den Preis des Getreides und tausend andere Dinge unterrichten,
die das echte Bollblnt den Juden überläßt! Sperrt auch, wie ihr wollt, ihr
gnädigen Herren! die Bourgeoisie hat euch schon! Die Zeit ist bürgerlich gewor¬
den, und ihr müßt das Einmal Eins lernen, Prüfungen besteh», calculiren und
registriren wie das gemeine Volk.
Als in England die vornehmen Herren von der rothen und der weißen Rose
steh ein Jahrhundert lang unausgesetzt bekämpft, sich gegenseitig erschlagen und
erhängt hatten, was blieb übrig? Die Bourgeoisie, die heute den ersten Staat
der Welt regiert. Die Revolutionen erschüttern nur die Gipfel der Berge, die
fruchtbare Ebene trifft nicht der Sturm. Baut eure Barrikaden auf, ihr Jacobi-
ner! führt Kartätschen dagegen auf, ihr Herren vom Schwert! Wir werden uns
nicht einmischen. Ihr könnt uns stören in unserer Arbeit, ihr könnt die Früchte
unsers Fleißes vernichten, aber nicht ausrotten könnt ihr den Fleiß, der neue
Früchte hervorbringt! Ob die Rothen oder die Weißen siegen, uns müssen sie rufen,
ehren Sieg zu einer bestimmten Staatsform zu gestalten. Ihre Thorheiten fallen
ZU unserm Frommen aus, ihre ungeduldige Leidenschaft zehrt sich in sich selber
auf, wir bleiben bestehn und banen das Feld von neuem, das von wahnsinnig
vergossenem Menschenblut gedüngt ist. Nicht die Revolutionen bilden den Fort¬
schritt der Menschheit, sondern was außerhalb ihrer liegt — die Wissenschaft, die
das Gesetz der Natur durchforscht und die Kunst im weitern Sinn, die über die
Natur gebietet und sie zwingt, dem menschlichen Willen zu dienen. Beides ist so
I»mi>'<>'0l>>8 als möglich.
Wir wollen das „Volk" — Zeuge sind die Gesellenvereine, die wir gegrün--
det — zu freien Menschen bilden, die in sich die Menschheit achten; ihr setzt es
zum Pöbel herab, der in massenhafter Leidenschaftlichkeit dem Pfaffen aber dem
Jacobiner nachläuft. Wir wollen ein Vaterland, das seinen Söhnen eine Hei¬
math ist, uicht ein Gefängniß; ihr wollt eine Domaine, von der ihr den Glanz
eurer Krone bestreitet, oder einen geistlich-ökvnvmistischen Schafstall. Wir wollen
Freiheit jedes Einzelnen und Heranbildung jedes Einzelnen zu dem allgemeinen
Bild der Menschheit; ihr wollt Herrschaft Einer Macht, und darum Sonderung
aller Einzelnen in künstliche Unterschiede. Ihr aber seid nnprvductiv und müßt,
um auszudrücken, um nur zu fühlen, was ihr eigentlich wollt, in unsere Schule
gehn. Vergebens verschwendet ihr euer Vermögen in künstlichen Blitzen, euern
Witz in prophetischen Dithyramben; der Bürger sieht lächelnd einer Komödie zu,
die ihr zu seiner Belustigung aufführt, er überlebt euch und ist euer Erbe. Ein
zweiter Prometheus, ruft er euern Göttern zu:
Es gibt Staaten, wo das Heerwesen ein Beweis der politischen Reife und
Würde des Volks ist, und ein Mittel zur Steigerung dieser schonen Prädicate;
in anderen Staaten dagegen beweist die Beschaffenheit des Militärs die politische
Würdelosigkeit des Volkes, ja es bezweckt und vermehrt dieselbe.
Vor einigen Jahren befand ich mich um die Osternzeit in einem Dorfe auf
dem linken Weichselnfer im Königreich Polen. Der Herr dieses Dorfes und noch
mehrerer, welche in der Nähe lagen, ließ sich Graf nennen, wozu er jedoch kein
unbestreitbares Recht hatte, er war Polizcicommtssarins eines kleinen Districtes,
welcher dreizehn Dörfer und Dörfchen mit etwa 2000 Seelen enthielt. Diese Wo^t.,-
^minstvvn, wörtlich Gcmeindcfnhrerschaft, gab ihm eine nicht unwichtige amtliche
Stellung, obwohl er durchaus keine geschäftliche Bildung hatte. Am Nachmittag
eines Sonnabends kam ein Unteroffizier der Gensdarmerie ans der ungefähr drei
Meilen entfernten Kreisstadt zum Grasen und überreichte ihm ein doppelt conver-
tirtes und zwei Mal mit drei amtlichen Siegeln verschlossenes Schreiben. Schon
die Erscheinung des Gensdarmen hatte dem Grafen, einem echten Polen, Verdruß
verursacht. Der Anblick der Depesche, deren Inhalt er gleich an ihrem Aeußern
erkannte, that dies noch mehr. Er schüttelte sich, schnob, stürmte im Zimmer
auf und nieder, kratzte sich in den Haaren und zog dabei eine Miene, als ob er
ein Donnerwetter von ungewöhnlicher Stärke über ganz Rußland wünsche: „Wollte
wich der liebe Himmel doch nur stets vor dieser Geschichte behüten," rief er, in¬
dem er das Schreiben durch die geöffnete Thür in das anstoßende kleine Zim¬
mer warf.
Ich frug den widerwilligen Beamten, was die Depesche bedeute. „Ueber¬
morgen Conscription — aber ich ersuche Sie, keine Sylbe laut werden zu lassen "
— „lind warum dies Geheimniß bei einer Sache, die doch nach einem Tage
offenkundig werden muß?" — „Weil sie Vorschrift ist und ich verantwortlich bin,"
war sein Bescheid.
„Die Behörde weiß," fuhr er vorsichtig fort, „daß das Volk sich auf eine
gräuliche Weise vor dem russischen Militärdienst fürchtet, und sich ihm ans jede
Mögliche Weise zu entziehen sucht. Selbst die Conscription, welcher man dadurch
ein ungefährliches Ansehen zu geben glaubt, daß man ans sie die Recrutirung
uicht unmittelbar folgen läßt, ist ein so gefürchtetes Ding, daß zuverlässig ein
großer Theil der stelluugspflichtigen Mannschaft flüchten würde, wenn sie vorher
über den Eintritt derselben in Kenntniß gesetzt wäre. Deshalb erhalte ich als
VVoz't-Kam)? erst am zweiten Tage vor der Conscription, die Edelleute meines
Bezirks aber erst am Tage vor derselben wieder durch mich die betreffende Auf¬
forderung. Entzieht sich ein Bauer meines Kreises der Conscription durch die
Flucht, nachdem ich den Befehl von der Obwodschaft erhalten, und bevor ich ihn
weiter an die andern Grundherren befördert hatte, so wird meine Indiscretion
als Grund seiner Flucht angesehn und ich habe durch Stellung eiues militärfteicn
Mannes aus meiner eigenen Bauernschaft Ersatz zu leisten. Flüchten CvnscriptionS-
Pflichtige, nachdem ich den Befehl an die Grundherren bereits befördert habe, so
sind diese verantwortlich und haben militärfreie Leute zum Ersatz herzugeben. Die
Bauern besitzen übrigens eine so gute Witterung, daß die Nähe der Conscription
für sie oft kein vollkommenes Geheimniß ist, »och ehe ich etwas davon weiß. So
entwichen zwei meiner Bauerbursche im Jahre 1839 zwei Tage früher als ich von
der Obwodschaft die Aufforderung zur Vorbereitung der Conscription erhalten
hatte. Ans Besorgniß von andern Grundherren nicht ausgenommen nud zurück-
geliefert, oder gar in fremden Gerichtsdistriktcn als Ersatzmänner zur Conscription
gezogen zu werden, schlössen sich beide einem Zigeuuertrupp an und trieben sich
den ganzen Sommer und Herbst in den Wäldern und den Gebirgen des Krakauer
Guberniums umher. Im December, nachdem die Nccnttirnng beendigt war,
kamen beide Burschen zurück, baten mich, ich möchte sie doch wieder auf meine
Grnndherrschaft aufnehmen und ihnen wegen der späteren Conscriptioncn erlauben
falsche Namen zu führen; wolle ich dies nicht, so solle ich ihnen auf angenommene
Namen Zeugnisse ausstellen, damit sie bei einem andern Grundherrn Aufnahme
fänden und ohne Gefahr weilen könnten. Da ich für die beiden Bursche» keine
Ersatzmänner hatte hergeben müssen, indem ihre Flucht zu rechter Zeit angezeigt
war, so wäre es meine Pflicht gewesen, sie der Behörde zu überweisen. Indessen
wollte ich sie von dem Dienst im russische» Heere befreit sehe». Ich gab ihnen
also Ucberfledelungsschcine, die ich, um persönlich unbetheiligt zu sein, durch meinen
Neffen hatte ausfertigen lassen. Solch Ausreißen kommt sehr oft, und wird der
Tag der Conscription nicht sehr geheim gehalten, sogar massenweise vor."
Die Erzählung meines Wirthes war nebenbei bemerkt — ganz wahr, wie
mir später eine Menge von Beispielen bewiesen hat. So flüchteten bei meiner
Anwesenheit in Pvdlachien aus einmal fünf Bauernburschen eines Dorfes vor der
Conscription. Der Edelmann, Namens Weklica, mußte Ersatz leisten und büßte
dadurch fast alle jugendlichen und kräftigen Arbeiter seiner kleinen Besitzung ein. Auf
dem Gut eines gewissen M. sprangen drei Burschen, sobald ihnen der Befehl
vor die Conscription zu gehen ertheilt worden war, in den nahen Teich und
hielten sich da im Schilfe bis zum Abend versteckt. Zu dieser Zeit ließen sie durch
eine ihrer Schwestern den Edelmann zu sich rusen. Als dieser aus dem User er¬
schien, fragten sie, ob die Conscriptionscommisston schon abgefahren sei. Aus die
bejahende Antwort, versicherten sie unter den jämmerlichsten Geberden, daß ihnen
die Haut schon ganz zusammengezogen sei und sie es kaum mehr im Wasser aus¬
halten könnten, und frugen dann: ob sie ohne Gefahr aus dem Teiche steigen
und ferner bei dem gnädigen Herrn bleiben dürsten. Der Edelmann, ein sehr
gutmüthiger Mensch, gab den Burschen den Rath, während der Nacht zu flüchten.
Ueberall. nicht nur in Polen, sondern auch in Rußland, kommen solche
Fluchtversuche in Masse vor. Ein Beweis der entsetzlichen Scheu des Volks vor
dem Heerwesen.
Am Nachmittag des andern Tages fertigte der Graf die nöthige Ordre an
die übrigen Grundherren seines Amtsbezirks ab, und am Abend gab er seinen
Aufsehern den Befehl, den nächsten Tag schon um vier Uhr auf dem Platze zu
sein. Sie erschienen im Morgengrau vor dem Fenster des gräflichen Schlafzim¬
mers und wurden von hier ans durch den Oeconvm, ihren Inspector, nach dem
Dorfe in die Hütten geführt, in welchen sich Militärpflichtige befanden. Diesen
blieb nichts übrig als der Aufsehertruppe zu folgen. Escortirt erschien das Häuf¬
chen junger Leute gegen 6 Uhr vor dem „Palaste" des Grafen, welcher sich, bei¬
läufig erwähnt, nur durch eine größere Anzahl von Naumabtheilungeu von den
hölzernen Hütten der Bauern unterschied. Die militärpflichtige Mannschaft der andern
Grundherren traf um dieselbe Zeit ein. Auch sie befanden sich unter einer Art
von Escorte, welche sich sogleich entfernte, als sie ihre Meldung beim Grafen
gemacht hatte.
Im Laufe des Vormittags traf die Commission aus der Obwodschaftsstadt ein.
Sie bestand ans dem KreiScvmmissär, zwei Aerzten vom Heere, etlichen Militär¬
schreibern von Unteroffiziersrang, mehreren Gensdarmen, einem Gensdarmenoberst--
lieuteuant und einer unbekannten Person, welche in der nächsten Beziehung zum
Obwodschaftscommissär zu stehen schien. Bei der Conscription that diese Person
nichts sichtbares, ich frug deu Grafen, was dieselbe zu bedeuten habe. Der
Graf antwortete mit einem gewissen Lächeln: „es ist ein Spion; am Schnitt des
Gesichtes und an der Sprachaccentuatiou merken Sie doch, daß der Mensch ein
Jude ist." „Aber was soll ein Spion hier, wo die Behörde selbst amresend und
thätig ist?" Er zuckte mit der Achsel und schien keine Antwort zu haben. Doch
versetzte er nach einigen Augenblicken: „Es ist bei den russischen Behörden in Po¬
len Sitte, stets derartige Agenten bei sich zu haben."
Als der Oberstlieutenant vom Wagen stieg, gestalteten sich einige seltsame
Scenen. Drei Militärpflichtige warfen sich ihm zu Füßen, umschlossen seine
Kniee mit deu Armen und flehten unter jämmerlichem Geheul, er solle sie doch
nicht zu Soldaten machen. Die mangelnde körperliche Berechtigung zu einer sol¬
chen Bitte schienen sie dnrch die Stärke ihrer Jammerstimmen ersetzen zu wollen,
daher ihr Bittgeschrei endlich wahrhaft entsetzlich wurde. Die übrigen tölpischen
Burschen, welche anfangs schüchtern in einer gewissen Ferne geblieben waren,
nahten sich, sobald es ihnen schien, daß die Jammerscene den drei A cteuren keine
Gefahr bereite. Bald befand sich der Oberstlieutenant wie in einen Knäuel einge¬
sponnen und mußte fürchten, von den flehenden jungen Bauern, von denen je¬
der seine Kniee umarmen oder seine Hand küssen wollte, erdrückt zu werden. Das
Bitterwiderliche solcher Scenen läßt sich kaum beschreiben. Die barbarische Weise
des Druckes von Oben auf die unteren Schichten des Volkes, so wie der hündische
Sklavenstnu des Volkes, welcher sich unter diesem Drucke erzeugt hat, prägte sich
hier sehr häßlich ans. Der Oberstlieutenant wußte sich endlich nur dadurch zu
befreien, daß er mit der Säbelscheide zwischen die entblößten Häupter der wehe-
und bitte schreienden Militärpflichtiger schlug. Allein so empfindlich dieses Mittel
war, so schien es doch nicht auszureichen. Die Bauern duldeten die Schläge,
als ob sie ihnen gar keinen Schmerz verursachten und hielten den Oberstlieutenant
knieend umringt, bis aus dessen Befehl sich endlich seine Gensdarmen in's Mittel
schlugen und den thränenfeuchten Knäuel anSeinandcrrissen.
In dem Speisesaale des sogenannten Palastes, einem großen, wüsten, nur
mit weißem Kalk übertünchten nud alles Schmuckes entbehrenden Zimmer, welches
mancher deutsche Pferdestall an Eleganz und Wohnlichkeit übertraf, schlug die
Commission alsbald ihre Werkstätte auf. Die Schreiber versahen sich mit Papier
und Feder und schrieben die Liste der zur Stellung Verpflichteten zwei Mal ab.
Das war ihre ganze Thätigkeit, so daß ich argwöhnte, ihre Gegenwart habe nur
den Zweck, sie die reiche Küche des polnischen Edelmanns mitgcnicßcn zu lassen.
Die geheimen Verhandlungen, welche einige Grundherren, die zugleich mit
ihren Bauern eingetroffen waren, mit dem Oberstlieutenant angesponnen hatten,
hielten den Anfang des Geschäftes noch mehrere Stunden ans. Der russische Offi¬
zier und die Edelleute hatten sich in ein Seitenzünmer begeben und schlössen da
förmliche Verträge über die Befreiung derjenigen militärpflichtigen Personen,
welche die Edelleute gern behalten wollten. Die Erfüllung deö Wunsches der
Bittsteller hing ganz vou dem Geldopfer ab, welches sie darzubringen Lust hatte».
Man bezahlte dem russischen Offizier den freundliche» Dienst ^u» Mann mit einem
Dukaten, auch mit einem Louisd'or; ja, der Graf drückte ihm sogar für das Ver¬
sprechen, anch diesmal seine» Neffen zu verschonen, 1,0 Dukaten in die Hand.
Ein gleiches Opfer hatte der Graf für dieselbe Pcrsv» bereits bei zwei frühere»
Co»scriptione» gebracht. Dieser Bestechungsact, welcher bei jeder russischen Con-
scription das Vorspiel bildet, wurde mit förmlichem Amtstakt ausgeführt. Die
Edelleute leiteten mit wenigen Worten ihre Bitte ein, gaben die Name»
der Militärpflichtiger, für, welche sie sich verwendete», an, überreichten ziem¬
lich ungenirt die Belohnung und der Oberstlieutenant machte auf seiner Liste bei
den bezeichneten Namen seiue Bemerkung. ES kam sogar vor, daß der Oberst¬
lieutenant einem Bittsteller, Namens W. *) -mit der Miene eines geschäftöbcgierigen
und nicht völlig zufriedengestellten Handelsmannes erklärte: „dies Geld scheine ihm
seiner Gefälligkeit nicht ganz zu entsprechen," so daß jener noch etwas zulegen
mußte. Dieses Vorspiel, welches bisweilen den Anstrich einer freundschaftlichen
Unterhaltung annahm und auf ganz fremde Dinge, auf Jagd, Pferdezucht, Wind¬
hunde hinüberflog, erschöpfte fast meine Geduld. Ich schene mich nämlich nicht,
zu bekennen, daß ich die wenig imponirende Rolle eines Horchers spielte. — Durch
die Aerzte schien es mir, müsse leichter zu erreichen sei», was jene Grundherren
durch den Commissionschef, den Oberstlieutenant, zu erreichen suchten. Aber das
Reglement gestattet nicht, daß die Aerzte den Namen der einzelnen Rekruten er¬
fahren, welche so eben vor sie und nnter das Maß treten. Daher ist die Be¬
freiung eines Militärpflichtiger durch sie uur daun möglich, wenn ihnen der
Bursch zuvor persönlich vor's Auge gebracht werden kauu, so, daß sie ihn wieder¬
erkennen, wenn er ihrem Gutachten anheimfällt. Trotz der Umständlichkeit dieser
Prozedur werden viele Befreiungen durch die Aerzte ausgeführt, und das Mi߬
trauen der Behörde gegen sie zeigt sich gerechtfertigt. Allein die Behörde ge¬
winnt durch diese Sorgfalt gar nichts, da der Commissionschef stets nicht minder
bestechlich ist. Es ist einmal im russischen Staatswesen von oben bis unten Alles
bestechlich und daher mag die Negierung sich drehen und wenden wie sie will/
sie geräth nur aus dem Regen in die Traufe.
Die Bestechungen, welche bei der Couscriptionscvmmisstvn stattfinden, haben
übrigens einen Einfluß, der im Heere sehr sichtbar ist. Die Grundherren, welche
noch immer gewöhnt sind, die Bewohner ihrer Dörfer für einen Theil ihres Ver¬
mögens anzusehen, bemühen sich natürlich niemals für die Freigebung der unan-
sehnlichen, sondern der schönen kräftigen Leute. Da nun an der Zahl der Re-
kruten nichts fehlen darf, so sind die Commissionen grade wie Sir John Wlstasf,
gezwungen, die freigelassenen Niesen zu ersetze». Daher kommt es, daß man im
russischen Heere so viele Leute findet, die mau kaum für fähig hält, einen Milch¬
topf, geschweige ein Gewehr zu tragen. Sogar Krüppel fehlen nicht; einäu¬
gige, schiefgewachsene und krnmmfüßige Soldaten habe ich ziemlich viele bemerkt.
Derartige Leute werden stets der Infanterie zugewiesen, bei welcher die körper¬
lichen Mängel durch die laugen kuhhärenen Kittel verborgen werden.
Endlich, nachdem der Oberstlieutenant in den Saal zurückgekehrt war und
sich an der Seite des Cvmmissärs niedergelassen hatte, begann die Commission
ihr Geschäft, welches so seltsam geheimnißvoller Art war, daß ich dadurch lebhaft
a« den Geschäftsgang in den finstern Sälen der Inquisition erinnert wurde. Der
Conimissär schrieb den Namen desjenigen Militärpflichtiger, welcher zunächst zu
^'scheinen hatte, auf einen Zettel und überreichte diesen verkehrt, so daß kein Drit¬
te den Namen absehen konnte, dem Oberstlieutenant. Dieser las den Namen,
s^h ans sein-e Liste, um zu wissen, ob er in Folge der Bestechung diesen Namen
um lW. beigefügt habe, und übergab ihn zusammengefaltet einem Gensd'ariiienun-
teroffizier, welcher sich mit demselben auf den Platz hinter dem Palaste begab, wo
sich die Bauerburschen von einigen gemeinen Gensb'armen bewacht befanden. Nach¬
dem er den bezeichneten Burschen gefunden, ließ er ihn in der Hausflur entklei¬
den und führte ihn so, nackt vom Kopf bis zu den Zehen, vor die Commission
in den Saal. Hier nahmen die beiden Aerzte den Nackten vor, stellten ihn un¬
ters Maß, betasteten seinen Körper, und schoben ihn dann, ohne ihm über ihre
Ansicht das Geringste mitgetheilt zu habe», zur Thür hinaus. Sodann beriethen
beide Aerzte lautlos durch einige Blicke und Mienen, schrieben das Ergebniß ih¬
rer Berathung mit wenigen Worten ans ein Zettelchen, und Übergabe» dies dem
Oberstlieutenant. War der Militärpflichtige einer von de» durch Bestechung frci-
gekanften, so machte der Oberstlieutenant, wenn derselbe von den Aerzten als tüch¬
tig bezeichnet war, mit Bleistift eine Veränderung auf dem Zettel, worauf dieser
in die Hände des Commissärs überging. Es ist zu vermuthen, daß die Urtheils¬
kraft des CommissivnSchefs eine höchste Instanz zu bilden befugt war, und somit
konnte die Veränderung des ärztlichen Urtheils vielleicht nicht eine Gesetzwidrig¬
keit genannt werden. Nach den auf dein Zettel befindlichen Worten und Zeichen
füllte nun der Comnüssar die Rubriken der Cvnscriptionöliste aus und verbarg den
Zettel in seiner Tasche.
Die Aerzte erfuhren also bei diesem Verfahren nicht, wer der Conscribirte
war, dieser aber sowenig wie eine andere Person außer dem Chef und dem Com-
missär erfuhr, ob er tüchtig befunden worden oder nicht. Die Liste des Com¬
missärs, der ohnehin einen ganz abgesonderten Platz inne hatte, konnte auch kei¬
nen Verrath ausüben, da sie, jedesmal, so bald sie ausgefüllt war, schnellstens
umgewendet oder mit einem großen Löschblatte bedeckt wurde.
Der Zweck solcher Heimlichkeit ist sehr begreiflich. Noch vielmehr als die
Conscription scheuen die Militärpflichtiger die Rekrutirung, welche bisweilen einige
Monate, bisweilen sogar erst einige Vierteljahre nach der Conscription eintritt.
Wüßten die Conseribirten, daß sie tüchtig befanden, so würde man sie wahrschein¬
lich alle in der Fremde suchen müssen — keiner bliebe in seiner Heimath.
Woher kommt diese Todesangst vor dem Kriegsdienst? Die Mühseligkeiten
des Svldcitenlebeus können nicht allein der Grund sein, denn der gemeine polnische
und russische Mann genießt in seiner Hütte keineswegs ein müheloseres und
behaglicheres Leben, als der Soldat. Seine Arbeit ist härter als die des Sol¬
daten, die Unterwürfigkeit, in welcher er sich befindet, ist nicht viel weniger herbe
als die militärische. Körperlicher Mißhandlungen hat er ans dem Felde des Edel-
herrn eben so viele zu ertragen als unter der kaiserlichen Fahne. Zur Nacht
liegt er auch nur wie der Soldat aus einem Strohlager, und auf seinem Heerde
riecht es so wenig nach Braten, wie in dem Feuerloch des Lagers. Hier und
dort ist er ein armer Sklave, und doch ist ein großer Unterschied. Der Edel¬
mann, wie sehr er sich auch als sein Tyrann zeigen mag, kann doch eine gewisse
Väterlichkeit nicht verleugnen. Er schützt seinen Bauer und ist für dessen Wohl¬
ergehen besorgt, denn er betrachtet ihn als ein Eigenthum, einen Theil seines Ver¬
mögens, an dessen Erhaltung ihm gelegen sei» muß. Ja, er liebt ihn sogar, er
fühlt eine gewisse zärtliche Zuneigung zu ihm, denn er ist mit seinem Bauer auf¬
gewachsen, er hat seine Kinderzeit mit ihm vertummelt, theilt jetzt die Arbeit und
die Früchte des Bodeus mit ihm, und sein Bater, Groß- und Urgroßvater, djx
Reihe seiner Vorfahren hat eben so mit den Vätern desselben Bauers gelebt. Ein
solches Verhältniß muß nothwendig Herzgefühle erwecken. Ganz anders ist es
unter den kaiserlichen Fahnen. , Hier sieht sich der Unglückliche nicht einmal eine
Spur von Menschenwürde zugestanden. Er ist ein Gegenstand, der für nichts
geachtet wird, an dessen Leben so viel als nichts liegt, er ist ein geborgtes Ding,
das man gleichgiltig dem Tode opfert, oder gleichgiltig wieder zurückgibt, wenn
seine Kräfte erschöpft sind. Er wird schlechter und verächtlicher behandelt als ein
Thier, denn das Pferd oder der Trainvchse, welche die Kibitken des Offiziercorps
oder den Fouragekarren ziehen, müssen mit Geld erkauft werden, den Soldaten hat
man umsonst.
Die Conscriptionscommisstou hatte ihr Geschäft spät begonnen und endete
es zeitig, da der Oberstlieutenant Hunger verspürte. Die Militärpflichtiger winden
in eine Scheuer geschafft, wo sie übernachteten. Für ihre Morgenbedürfuisse hat¬
ten sie selbst gesorgt, denn jeder trug ein großes Brot, in Lappen eingewickelt
auf dem Rücken und einen kvpfgrvßen polnischen Käse in der Tasche des langen
weißen wollene» Kittels, so wie ein Dütchen mit Salz hinter der Klappe der gro¬
ßen czakoförmigcn Mütze von Schafpelz.
Am anderen Tage ziemlich früh begann die Commission auf's Neue und en¬
dete ihr Geschäft am Mittwoch gegen Mittag. Das geheime Verfahren der Com¬
mission blieb nicht blos tückisch, sondern wurde dnrch den Diensteifer des Com-
missionschcfs sogar betrügerisch. Denn dieser begab sich, so oft eine Pause ein¬
trat, vor den Palast und erklärte da den Bauern, daß von denen, welche bis jetzt
die Prüfung überstände» habe», keiner, so viel er wisse, tüchtig befunden sei. Die¬
ser Betrug fand natürlich statt, um die Leute von der Flucht vor der Rekruti-
rung abzuhalten. Diese schelmische Methode wäre der Erwähnung nicht werth,
wenn ich nicht glaubte, daß sie ebenfalls geheime Vorschrift ist. Wenigstens bei
einer früheren Conscription im Gubernium Plock sah ich dasselbe Verfahren. Des
dortigen Commissionschefs, eines Obersten Manier war nur noch ein wenig spitz¬
bübischer. Er begrüßte nämlich jeden Bauer, welcher tüchtig befunden war, mit
den Worten: „danke Gott, Junge, dn längst nicht zum Soldatenstande." Dage¬
gen zuckte er vor jedem, der untüchtig befunden war, mit der Achsel und meinte:
»Es ist schön, allein es hilft nichts, du wirst dienen müssen." Dadurch wurden
gerade die zur Flucht bewogen, welche zu fliehen keine Ursache hatten, und jene
sicher gemacht, welche mau zum Heere nehmen wollte. Daß sein Kniff den Edel-
leuten viel Schaden anrichtete, weil er sie um alle jungen Arbeiter brachte, küm¬
merte den russischen Obersten nicht.
Es kamen während der Conscription eine Menge Scenen vor, so rührend
und komisch und wieder so widerlich als möglich. So kannte sich ein Bursch un¬
ter dem Maße zusammen und war selbst dnrch Schläge nicht zu bewege», sich mes¬
sen zu lasse». Wie es mir schien, wurde er gerade dem Hecrdieust verschrieben
und seine Körperhöhe nach dem Augenmaß aufgezeichnet. Ein anderer wollte aus
Schamgefühl »icht nackend in deu Saal treten und bat: „der erlauchte Herr Of¬
fizier solle doch mit dein Maße in die Hausflur herauskommen." Er war uur
dnrch Gewalt herumzubringen. Bei einem Spazierritt «ach dem Mittagsmahle
wurde der Oberstlieutenant von einem gräßlich schreienden Weibe angefallen, ihren
Sohn nicht zum Soldaten zu machen. Da der Oberstlieutenant rasch davonja¬
gen wollte, ergriff die Frau den Steigbügel und ließ sich wohl zwei hundert
Schritte von dein Pferde fortziehen, bis sie zurücksank. — Neben einem nackten
Conseribirten drängte sich ein junges Weib mit zwei kleinen Kindern in den Saal.
Sie siel dem Oberstlieutenant zu Füßen und erklärte, indem sie ans den nackten
Burschen zeigte: der Bauer da sei ihr Mann und der Bater vou deu beiden.Kin¬
dern; man solle ihn um Gotteswillen nicht ausheben; auch wisse sie sehr wohl,
daß der Kaiser keine Familienväter im Heere haben wolle. Ein rohes Geläch¬
ter der ganzen Commission antwortete ihr. Den ganzen moralischen Zustand des
Volles innerhalb der russischen Grenzen empfand man ans dieser Scene heraus.
Nachdem die Bauern mit den täuschenden Trostworten deö Oberstlieutenants
nach Hanse gewiesen und die Liste der Conseribirten für den Herrn Chef dnplirt,
auch die »othgedrnugeue Gastfreundschaft des Grafen bei einem langen Mahle
tüchtig in Anspruch genommen worden war, begab sich die Commission nach der
Obwodschaftöstadt zurück.
Erst sechs Monate später, im October, trat die Recrutirung, und zwar so
geheimnißvoll und überraschend ein, wie früher die Conscription. Am Donnerstag
erhielt der Graf als VVi>)'t,-(Zu'in^ eine Liste der Conseribirten seines Bezirks mit
dem Befehle^ dieselben schon am Sonnabend bei dem Militärkommando der Stadt
I. einbringen zu lassen. Einen gleichen Befehl mit dem nöthigen Auszuge der
Liste förderte nun der Graf weiter an die Edelleute seines Amtsbezirks, und von
da ab lastete wieder alle Verantwortlichkeit für die richtige Einbringung der Ne-
crnteiil auf den Edelleuten. Die erwähnte Fluchtfertigkeit der Bauern nöthigte
die Edelleute abermals zu einem heimlichen, gewaltsamen Verfahren. Der Graf
ließ diejenigen seiner Bauern, welche aufgehoben waren, für den nächsten Tag
zum Strvhbindcn in eine Scheuer bestellen. Die harmlosen vier Burschen folgten
der herrschaftlichen Ordre und befanden sich in eifrigster Thätigkeit, als hinter
ihnen plötzlich das Thor des Gebäudes geschlossen wurde. Sie mochten die Be-
deutung dieses Ereignisses sogleich errathen, denn sie stießen einen Schrei des
Schreckens aus und begannen zu wimmern und zu heulen. Nachdem der Oeconom
die übrigen Aufseher und etliche alte Bauern herbeigerufen, wurde die Scheuer
wieder geöffnet. Man warf sich stürmisch über die unglücklichen Burschen, von
denen sich zwei im Stroh verkrochen hatten, knebelte ihnen die Hände und Füße
und brachte sie ins Wirthshaus, wo sie in eine Art Küche, welche eigentlich nichts
weiter war, als ein riesenmäßiger Nauchschlvt, der alle Nauchkcmäle des Hauses
aufnahm, eingeschlossen wurden.
In früheren Jahren, erzählte der Graf, habe er des Nachts die Conseri-
birten in den Betten überfallen und vor zwei Jahren sie einzeln auf dem Felde
bei der Arbeit aufgreifen lassen. So müsse er jedes Jahr eine neue Manier, sich
ihrer zu bemächtigen, ersinnen, damit sie die Recrutirung nicht etwa eher merkten,
als sie gefangen wären.
Das Schicksal der vier Burschen war rasch im Dorfe bekannt geworden. Vor
dem Wirthshause erschienen unter entsetzlichem Gewimmer und Geheul die Väter,
Mütter und Geschwister der Gefangenen. Als sich der Graf blicken ließ, stürzte
ihm Alles zu Füßen und verdoppelte das Geschrei. Es schien dies nichts anders,
als ein verstärkter Ausbruch des Schmerzes zu sein, denn die Leute wußte» sehr
gut, daß der Graf die Conseribirten nicht retten konnte; sie richteten daher auch
keine Bitte an ihn, sondern lagen nur in ihrem Schmerze vor ihm und schrieen
lind wimmerten zu seinen Füßen. Der Graf dagegen suchte sie damit zu trösten,
daß er versprach, den Gefangenen mehrere Maß Branntwein geben zu lassen.
Dieses Versprechen hielt er, und die Gefangenen mögen wohl für die nächste
Nacht über ihr Geschick beruhigt worden sein.
Am andern Tage sehr früh wurden die aufgehobenen Militärpflichtiger der
übrigen Grundherren eingebracht. Sie befanden sich sämmtlich uuter Bewachung,
ja ein Grundherr war in seiner ängstlichen Besorgnis; sogar so weit gegangen,
je zwei aneinander binden zu lassen. Die Recruten erschienen wie gefangenes
Wild, keine Spur von dem Ansehn freier Menschen war an ihnen geblieben, man
mußte sie für Verbrecher halten, und doch waren sie vielleicht die ehrlichsten brav¬
sten Menschen. Nachdem der Graf die Namen der eingebrachten Ansgehobenen
aufgezeichnet, ließ er die seinigen aus ihrem Verwahrungsorte befreien und dazu
gesellen. Die Wächter umgaben das unglückliche Häuflein, welches in kleine Trupps
getheilt wurde, und der Zug setzte sich uach dem Städtchen I. in Bewegung.
Die Anverwandten der Ausgehobenen, Eltern und Geschwister begleiteten den
Haufen. Das Geheul dieser Leute, das sich bisweilen zu fürchterlichen wahn¬
witzigen Verwünschungen steigerte, läßt sich kaum beschreiben. Bei einer gleichen
Scene an einem andern Orte Polens und in früherer Zeit hatte ich eine Mutter
den scheußlichen Seufzer ausstoßen hören: „hätte ich ihn doch in der Wiege er-
würgt!" Denselben Wunsch hörte ich auch hier wieder, er schien keine ungewöhn¬
liche Redensart des mütterlichen Schmerzes.
Die Mannschaft, welche zur Bewachung der Ausgehvbencn mitgeschickt wor¬
den, bestand aus Wirthschastsaufschcru und alten Bauern. Es läßt sich denken,
daß ihnen dieser Dienst sehr unangenehm war, und wohl Keiner befand sich unter
ihnen, der nicht gern den Militärpflichtiger hätte entspringen lassen. Allein die
schwerste Verantwortlichkeit lag auf ihnen. Von dem Augenblicke an, wo der Zug
abgefertigt war, hatten sie nämlich mit ihrer Person für die richtige Ablieferung
einzustehn. Die Verantwortlichkeit ruhte uicht mehr auf den Edelleuten, sondern
ans den Escortirendcn, wer sie auch sein mochte», und zwar solchermaßen, daß,
wäre ein Militärpflichtiger entsprungen, der jüngste und brauchbarste von den
Wächtern, denen er übergeben war, für ihn hätte in das Heer eintreten müssen.
Dennoch kommen bisweilen Entweichnngen vor, wegen einer, von welcher ich er¬
fuhr, mußte ein fünf und vierzig Jahr alter Bauer der Escorte noch Soldat
werden.
Ich fuhr mit dem .Grafen nach I., wo die Ausgehvbenen einem Trupp
Gcnöd'armen übergeben und durch diesen nach der Obwvdschaftsstadt escortirt
wurde». Hier war der Sammelplatz aller Ansgchobene» sämmtlicher Woyt-Ge¬
meinschaften der Obwodschaft. Erst am anderen Tage versammelte sich dort die Ne-
krntirnngscommissiv», bei welcher ich alle Personen wiedersah, welche ich bei der
Conscription kennen gelernt hatte. Der Graf hatte als Vorsteher eines Amtskrci-
ses einen Sitz bei der Commission. Die Militärpflichtiger, welche seit dem vori¬
gen Tage in einem anstoßenden mit Gcnsd'armen besetzten Hause gefangen gehal¬
ten worden waren, wurden nun nach dem Amrsdistricte truppweise vor die Com¬
mission geführt, da nochmals unter das Maß gestellt und in die Hecrlisten einge¬
zeichnet. Ehe dies aber geschah, waren noch Einsprüche gestattet. Es traten da¬
her Bauern, welche ihre aufgehobenen Söhne zu ihren Vormündern erwählt hat¬
ten, Frauen mit Kindern, deren Gatten und Väter unter den Ausgehvbenen sich
befanden, und andere Personen ans den Schauplatz; und charakteristische Scenen
seltsamer Art mögen bei diesem Acte vorgekommen sein, dem ich leider nicht bei¬
wohnen durfte.
Diejenigen jungen Leute, welche das traurige Bewußtsein behielten, russische
Rekruten zu sei», wurden unter Bedeckung in den leeren Pferdestall des anstoßen-
de» Kasernengebäudes gebracht und da von einigen Jnfanterieunterofsizieren ihrer
Haare so beraubt, daß sie vollkommen türkischen Galeerensklaven glichen. Auch
diese Maßregel fand statt, um ihr Entweichen zu verhindern und das Einfangen
der Geflüchteten zu erleichter». Ein Mensch, dessen Kopf völlig kahl geschoren
ist, wird in Nußland, wo von den niedrigen Klassen die Haare lang getragen wer¬
den, allerdings leicht erkannt.
Einige Tage darauf traten die Rekruten ihre Wanderung nach dem Orte ih-
rer Bestimmung, nach den fernen östlichen Theilen des russischen Reiches ein. Rei¬
tende Kosacken mit eingelegten Piken umgaben in großer Zahl den Hausen der
Rekruten.
Die Conscription in Städten ist von der auf dem Lande wenig unterschieden.
Auch da wird mit List und Gewalt operirt. So erfahren z. B. die Conseribir-
ten nicht, ob sie tauglich befunden worden und überzeugen sich davon zu ihrer
große» und schreckenvollen Ueberraschung erst in der Nacht, in welcher sie durch
Kosacken-Gensd'armen- oder Jufanteriepatronillen aus dem Bett geholt wer¬
den. Es kommt dabei zu Prügeleien, Verwundungen, sogar zu Todtschläger, denn
Schreck, Ueberraschung und die Verwirrung der Schlaftrunkenheit haben häufig
zur Folge, daß die jungen Leute Gegenwehr versuchen. Wer sich nicht fürchtet,
in einer Nekrutirungsnacht die Straßen Warschans oder einer anderen großen
Stadt zu durchschleichen, oder gar den Patrouillen nachzugche», wird Zuhörer,
wohl auch Zuschauer, vieler solcher Scenen. Sie hinterlassen ihm für lauge Zeit
einen innerlichen Schauder.
Die Schlacht bei Kapolna war geschlagen und verloren, die Schlachten von
Topjo - Bitska, Jsaszeg und Gödöllö waren geschlagen und gewonnen, die Oest-
reicher standen vor Pesth und ließen sich von Unlieb narren, während Damjanich
auf Befehl Görgey's den alten Götz bei Wachen angriff, um den Weg nach Ko-
morn zu forciren, die ungarische Tricolore war entfaltet, nud es mußte nun zur
Entscheidung kommen, wer siegen sollte, der Magyar oder der Oestreicher. —
Ich selbst zog zugleich mit der östreichischen Armee in Pesth ein, um eine
Mission zu erfülle«, die mir an's Herz gelegt worden war.
Es war nämlich der ungarischen Regierung von Paris nach Debreczin ge¬
meldet worden, daß ein vornehmer Engländer hinabkommen werde und daß der¬
selbe in Constantinopel die ersprießlichsten Dienste leisten könne. Eine Rücksprache
Mit Kossuth sei aber früher unerläßlich, der Lord sei bereits auf dem Wege nach
Wien und eine verläßliche Person möge mit seiner Weiterbeförderung nach Debreczin be¬
auftragt werden. — Beinahe zu gleicher Zeit kam von Wien die Meldung hinab,
besagter Engländer sei daselbst angekommen und habe sich mit einem Passe des
östreichischen Ministeriums nach Pesth begeben, um dort den Zeitpunkt und. die
Gelegenheit abzuwarten, weiter zu kommen. In Wiea halte er durch die Ver¬
wendung der englischen Gesandtschaft, welche von seinem eigentlichen Neisezwecke
keine Kenntniß hatte, vom Fürsten Schwarzenberg mit Leichtigkeit ein Visum nach
Pesth bekommen; es ging zu jener Zeit ohnedies alle Welt ohne viel Mühe zwi¬
schen Wien und Pesth hin und her, der Krieg war ja beinahe zu Ende, der
Fürst war ja in Ofen, seine siegreiche Armee sollte ja jeden Augenblick in Debreczin
einmarschiren, sie stand ja schon seit Wochen in Marschposttur, den linken Fuß
regelrecht aufgehoben, um die Theiß zu überschreiten! Warum sollte man also die
Passage hemmen und zumal einem englischen Lord, einem angesehenen Militär
außer Dienst die Reise nach Pesth nicht gestatten, wo er Zeuge sein konnte von
den Waffenthaten der östreichischen Armee, von der genialen Leitung des Feld¬
marschalls und von der glorreichen Beendigung der ungarischen Rebellion? — Er
brachte sich ein paar Empfehlungsbriefe an Windischgrätz und Jellachich, die ihr
Hauptquartier bereits nach Pesth zurückverlegt hatten und wohnte im „Tiger," einem
der elegantesten Hotels.
Ich aber unterzog mich gerne dem gefährlichen Austrage, den Engländer
mitten aus dem feindlichen Lager zu holen. Man hatte aus Vielen gerade mir
die Zumuthung gestellt, weil ich fertig englisch spreche, nebstdem genug ungarisch
verstehe, um mir in befreundeten Regionen Mithelfer zu verschaffen und weil ich
bei verschiedenen Gelegenheiten Muth und Kaltblütigkeit an den Tag gelegt hatte.
Mich dagegen reizte die Parthie, theils um mir von meiner sehr anstrengenden
Anstellung Erholung zu verschaffen, theils des Gefährlichen wegen, denn das ver¬
hehlte ich mir keinen Augenblick, daß ich mit meinem Kopfe spielte und wie David
mitten durck/s feindliche Lager werde schleichen müssen, um meinen Engländer her¬
auszubekommen.
Nachdem ich mich mit den nöthigen (Zertifikaten für mich und meinen Reise¬
gefährten in «p<z versehen hatte, reiste ich unserer Armee nach, deren vereinzelte
Siegesbcrichte das Land nach alleu Richtungen durchflogen. Im Dorfe Koka ver¬
tauschte ich meine Majorönniform mit Banernklcidnng und machte mich sonst dnrch
Kohlenstaub und Rasirmesser so unkenntlich als möglich. Ich behielt nicht Eines
meiner Kleidungsstücke auf dem Leibe und ließ mir lieber durch das ungewohnte
grobe Bancrnhemd die Haut auswetzen, als daß ich das meinige behalten hätte,
wodurch zufälliger Verdacht und Verrath möglich geworden wäre. Ans den Kopf
stülpte ich einen alten Bauernhut mit breiter Krempe; an den Füßen riesige Stie¬
fel, die mich zu Boden zogen, die blaue Jacke und die weiten Gatjcn (Unterhosen)
vollendeten meine Maskerade. Am Teint meiner Hände war glücklicherweise nichts
zu ändern, die waren in der freien Luft längst braun und derb geworden und
konnten mit jeder Bauerupfote in die Schranken treten. Meine (Zertifikate für die
Rückreise und meine Empfehlungsschreiben an den Engländer trug ich sorgfältig
in der Jacke eingenäht.
Ein Bauer spannte vier Pferde vor seinen leichten Wagen und so fuhren wir
gegen Tartsa (syr. Tartscha) verabredeter Maßen als Vettern, die dort z»
Hause wären. Mein neuer Vetter hatte mir gesagt, daß in Tartsa noch vor zwei
Stunden östreichische Bagage gestanden hätte und wohl noch stehen würde zum
Besten dor Unsrigen, da der Feind nicht genug Pferde auftreiben könne, um sie
bei seinem eiligen Rückzüge fortzuschaffen. Darauf baute ich meinen Plan und
der Bauer, dem ich gesagt hatte, daß ich um Gottes und Christi willen nach Pesth
müsse, stimmte bei.
Kaum waren wir im Angesichte von Tartsa bei den ersten östreichischen Vor¬
posten angekommen, als wir auch schon von einer Menge von Offizieren und Soldaten
umringt wurden, die ohne um Paß oder Zweck unserer Reise zu fragen, uns und
unser Fuhrwerk in Beschlag nahmen, um ihre Sachen fortzuschaffen. Mein Vetter
sträubte sich zum Schein und erhielt zum Dank für seine gutgespielte Rolle ein
Paar Püffe und ein halb Dutzend Kolbenstöße. Es war wahrhaftig für die öst¬
reichischen Offiziere keine Zeit zum Höflichsein, die Ungarn waren so nahe, daß
die letzte» Posten in aller Eile eingezogen werden mußten, um aus Schußweite zu
kommen. Mein neuer Anverwandter und ich blieben als Fuhrleute unter dem
Troß, unsere vier Pferde waren vor einen Bagagewagen gespannt, auf dem noch
Soldaten aufsaßen, so viel als möglich, die Wagen gingen bis an die Achse» im
Sand, wir trabten nebenher und Hiebenin die Pferde und die Oestreicher fluchten
und schimpften, daß wir nicht schnell genug fuhren. Aber es war, ehrlich ge¬
standen, dnrch den hohen Sand nicht besser möglich.
Plötzlich ein Kanonenschuß, daun wieder einer und noch einer — einzelne
Schüsse — ganze Salven ans der Ferne — östreichische Dragoner mit verhängtem
Zügel an uns vorbei, durch Dick und Dünn über die Haide und über uns —
die Ungarn waren schon dicht dahinter und unsere Bedeckuag hatte größtentheils
Reißans genommen. Das Schießen da-merke indessen fort, unsere Pferde liefen
was sie konnten, denn die armen gefährdeten Soldaten ermunterten sie vom Wa¬
gen aus unzart mit dem Bajonnette und wir beide, die wir auf ihren Rücken
gesprungen waren, mit Zügel und Peitsche. Es war ein tolles Jagen durch den
Sand und über die Haide. Plötzlich ^ den Moment werde ich mein Lebelang
uicht vergessen —- krachts wieder hinter uns und die Kartätscheukngcln schlagen
schon rings um uns ein. Ich schaue mich um und sehe, wie ti' treuen Bauern
hinter uus mit ihren Pferden, mit der Bagage und allem was von östreichischen
Soldaten drauf ist, nach rechts nud links auf der Haide umbiegen, um ihre
Prise den Ungarn entgegenzuführen. Gar Mancher wurde dabei von den wüthen¬
den Oestreichern todtgestochen oder niedergeschossen, aber das machte sie nicht irre.
Viele' schnitten die Stränge von den Vvrderpfcrden und suchten so das Weite, die
Oestreicher ihrem Schicksale überlassend. Das Alles geschah mitten im Kartätschen-
uud Gewehrfeuer und ich dachte mit Schaudern daran, wie leicht ich durch eine
ehrliche FreuudeSkugcl vom Sattel weggefegt werden könne, denn die Kugeln
schlugen schon ganz nahe bei unserem Wagen ein.
Mein Vetter hätte wohl auch Lust gehabt, mit Gefahr seines Lebens umzu¬
kehren, das merkte ich an gewissen Zuckungen seines Gesichts und des Leitseils,
aber er sah auf mich und jagte die Pferde aus allen Kräften weiter. Ums Le¬
ben konnten wir so und so kommen, aber was hätte mein Engländer im „Tiger"
angefangen, wenn ich ein Haase gewesen wäre? Es war jedenfalls wichtiger Se.
Lordschaft nach Debreczin zu bringen als einen elenden Bagagewagen. Die Un-
srigen bekamen deren ganz genug, und mir war's darum zu thun, nach Pesth zu
kommen.
Zum Glück führte mein Vetter ein herrliches Viergespann, so daß wir ein
paar hundert Wagen bald im Rücken hatten. Das Schießen hörten wir aber
noch lange und es klang wie Musik in meinen Ohren, sobald ich nur vor unsern
verteufelten Leuten in Sicherheit war. Des Abends kamen wir nach Czinkotta
nud deS andern Tags zog ich als Mann des Fuhrwesens in Pesth ein Ach, es
war so schön die Retirade des Feindes anz'imachcn, die ängstlichen Gesichter der
Offizierlcin auf meinem Wagen zu beobachten, und die Sonne schien so früh-
liugsduftig, und am Nukosfelde war ein höllischer Wirrwarr von Kanonen, Pfer¬
den und Munitionskarren, und Pesth sah so freundlich aus, und die schönen
schwarzäugigen Mädchen kicherten so schadenfrendig und die Wellen der Donau
plätscherten so schelmisch, nud ich war selig neben meinem Herrn Vetter wie ein
Triumphator, und kein Mensch hat mich erkannt.
Der Vetter trank noch ein Glas Wein mit mir in einem Ofner Mieths¬
hause — gezahlt wollte der brave Maun nichts nehmen — wir drückten einander die
Hände und schieden. Wie und ob er den Rückweg gefunden hat, weiß ich nicht;
ich aber ging nach Pesth zu einem alten Freunde in's Haus, wechselte dort Klei¬
der und nnn gings an's Erzählen die ganze Nacht hindurch. Des Morgens ließ
ich über meinen Engländer Erkundigungen einziehen und wußte bald Alles, was
ich wissen wollte. In ganz Pesth war die Sage verbreitet, daß ein englischer
Lord zu Windischgrätz gekommen sei, um gegen die Ungarn zu kämpfen.
Mylord machte in seiner rothen Uniform viel Aufsehen und die Jungen liefen ihm
nach, so oft er einen Schritt aus dem Hütel machte. Ja er ritt oft mit Jellachich
vor die Stadt in's Lager und bis zu den äußersten Vorposten, aber sie müssen ihm
doch nicht recht getraut haben, so erzählte er mir später, da die Offiziere ihm nie
gestatten wollten, eine Nacht bei den Vorposten zu bleiben. Sonst wurde er mit
vieler Auszeichnung behandelt, speiste an der Tafel des Fürsten und war cordial
mit dem Baums, und trank mit Beiden Ungarwein und hörte gläubig zu, wen»
sie ihm von den großen Siegen erzählten, in Folge deren sie wahrscheinlich in
Pesth ausruhen wollten.
Je großer das Aussehe» war, mit welchem der Engländer in Pesth auszu¬
treten für gut fand, desto sorgfältiger suchte ich mich den Blicken des Publikums
zu entziehen. In Pesth wimmelte es von Spionen und, Denunzianten aller Art, und
ich zog es daher vor, meine unschätzbare Person blos im Abenddunkel einige Stun¬
den frische Luft schöpfen zu lassen. Den Tag über blieb ich in meiner Wohnung
und nur sehr vertraute, verläßliche Freunde dursten um meine Anwesenheit wis¬
sen. Kaum daß ich es wagte, hinter meinen Fenstergardinen hervorzugucken, wenn's
»nten ans der Straße lebhaft wurde, und da sah ich nun, was mein Herz freudig
durchzitterte: Unendliche Reihen von Wagen mit Bagage und Verwundeten, baun
Kanonen mit zerschossenen Lafetten, Lafetten ohne Rohr, Soldaten vhlsc Gewehr,
Dragoner ohne Pferd, Kuirassiere ohne Helm, mitunter ein paar gefangene Hou-
veds oder Husaren, aber die Kerle sahen so stolz darein und grüßten so freudig
rechts und links, daß man in den Gesangenen den Sieg der Bruder nicht ver¬
kennen konnte. Der ganze Troß wälzte sich über die beiden Brücken nach der Os-
ner Seite, und das ging Tag und Nacht fort mit kurzen Unterbrechungen.
Mittlerweile hatte ich mit meinem Freunde N^es gepflogen, wie ich ohne
Verdacht zu erregen an den Engländer kommen könne, denn es war hundert ge¬
gen eins zu wetten, daß er von östreichischen und ungarischen Spionen zu gleicher
Zeit bewacht werde. Wir entwarfen einen Feldzugsplan und begannen damit, ein
verläßliches Mädchen, welches mit Handschuhen, Parfüms und dergl. hausiren
ging, uach dem „Tiger" zu schicken, um dem Engländer ein paar Zeilen von mei¬
ner Hand und zugleich mein Kreditiv zu überreichen. Die Kleine entledigte sich
ihres Auftrags ohne viel Schwierigkeit, und brachte mir ein paar höfliche Zeilen
zur Antwort, worin ich eingeladen wurde, im Laufe des Nachmittags zu einer
Unterredung im „Tiger" zu erscheine». Aber ein solcher Besuch lag nicht in mei¬
nem Plane, eben so wenig wollte ich es wagen, den Fremden in meine Wohnung
zu citiren, und noch weniger rathsam war es, an einem öffentlichen Orte zusam¬
menzukommen. Meine Freunde waren mit mir darin ganz einverstanden und be¬
zeichneten als passendsten Ort zum Rendezvous ein geheimes Hans, das ziemlich
öffentlich war, oder wenn Sie wollen, ein öffentliches Hans, das für geheim
gelten konnte.
Die Dame des Hanfes war eine Ungarin und verläßlich, kannte mich und
Meine Freunde ans früheren Zeiten und war selig, der Sache des Vaterlandes
einen Dienst leisten zu können. Dorthin citirte ich den Fremden für den nächsten
Abend, dorthin konnte er füglich gehen, ohne den Verdacht der Späher rege zu
Machen. Dn lieber Himmel! Die Engländer sind ja nicht alle Quäker, und auch
ein Lord kann menschlich fühlen; warum sollte er nicht Mad.....einen Be¬
such abstatten dürfen? Die loyalsten östreichischen Kavaliere hatten es nicht ver¬
schmäht bei Mad.....einen traulichen Abend zuzubringen.---—
Dort trafen wir uns nun gegen !> Uhr und beriethen über die Mittel ans
Pesth hinauszukommen, wobei Mhlord die abenteuerlichsten Pläne vorschlug,
Über die ich mir lächeln konnte, so unausführbar waren sie in den damaligen Ver¬
hältnissen. Ihm war es nicht genügend, mit meiner Wenigkeit nach Debreczin zu
entkomme», er hätte für sein Leben gerne den Fürsten Windischgrätz oder doch minde¬
stens Jellachich mit entführt, um ihn Kossuth als Siegestrophäe zu Füßen zu legen.
Dergleichen proponirte er mit der ruhigsten Miene von der Welt. Mylord sah ans, als
hätte er nie im Leben gescherzt; eine ungewöhnlich lange, nicht allzuhagere Gestalt von
athletischen Gliederbau, martialisches Gesicht, blonde Haare, ein kleiner rother Backen¬
bart, trockene Manieren, militärisch steife Bewegungen, rother goldverbrämter Rock;
ditto Mühe, Degen mit vergoldetem Korb und prachtvoller Scheide an der Seite.
Seine extravaganten Vorschläge konnten mich nicht irre machen, eben so wenig inipo-
nirte mir seine Ruhe nud Kaltblütigkeit. Wenn er Engländer war, bin ich Deutscher.
Ich ersuchte ihn einfach, seine Rolle fortzuspieleu wie bisher, seine amüsanten vor¬
nehmen Bekanntschaften zu cultiviren und für das Weitere mich sorgen zu lassen;
wenn's an der Zeit wäre, werde er schou von mir zu hören bekommen.
So trennten wir uns. Er ging in sein Hotel und ich schlich mich eine
Stunde später in meine Wohnung zurück. —
Die nächsten Tage vergingen in rathloser Unthätigkeit. Pesth war durch die
ganze östreichische Armee — freilich unfreiwillig — so enge cernirt, daß ich nicht
daran denken durste, mit meiner englischen Contrebande-Waare durchzuschlüpfen.
Draußen am Ralph lagen die Oestreicher nud eine halbe Meile davon standen
die Vorposten der Unsrigen; täglich gab's Geplänkel, das zu nichts führte und in
stillen Morgenstunde» konnte ich einzelne Kanonenschüsse bis in meiner Stube un¬
terscheiden. In Pesth hieß es, die Ungar» erwarten nur Verstärkungen, um am
natos eine Entscheidungsschlacht zu schlagen, und Windischgräjz ziehe seine ganze
Macht zusammen, um sie anzunehmen. Ich schüttelte mein Haupt und lachte über
den Unsinn. Was sollten die Ungarn mit Pesth, das sie den Ofner Geschützen
Preis geben müßten, wenn sie die Schlacht am Rakos und Pesth selbst gewon¬
nen hätten! Was sollten sie in Pesth, das in wenig Stunden einem Trümmer-
Hansen gleich gesehen hätte? Mir ahnte es damals in meiner stillen Zurückgezo-
genheit, daß Görgcy deu Schlag gegen Wachen und die Kvmorner Straße
führen würde, führen müsse. Daß sich die östreichischen Generale durch die Plän¬
keleien unserer Husaren und durch die ausgedehnten Wachtfeuer des ungarischen
Lagers — von befreundeten Landleuten meilenweit unterhalten — so plump
hintergehen lasse» konnten, begreife ich heute »och uicht.
Aber eben weil ich uicht hoffen durfte, die Ungarn so bald in Pesth ein¬
ziehen zu sehen, mußte ich ans unser Weiterkommen bedacht sein. Ich beschloß
mich von Mylord zu trennen, und ihn in einer andern Stadt wieder zu treffe».
Er sollte sich seinen Paß nach Stnhlwcißenburg visiren lasse«, unter dem Vor-
wande, einen kleinen Ausflug zum dortigen Corps zu machen, und mir verschaffte
ein Lieferant für die östreichische Armee einen Paß eben dorthin als seinem Ge¬
hilfen beim Licferungsgeschäft (nebstbei gesagt, war mein neuer Patron ein guter
Christ; es gab sehr viele Leute, die Schweinefleisch aßen, und doch als Lieferanten
der Kaiserlichen der ungarischen Sache mit Leib und Seele ergeben waren). My-
lord und ich kamen beinahe zu gleicher Zeit in Weißenburg an; wir sichren an
einander vorüber, natürlich ohne uns zu begrüßen, er als Offizier ok Iier most
Al'itvwns Miiji-se)^ ich als Lieferant Sr. K. K. apostolischen Majestät.
Gleich am nächsten Morgen war große Bewegung in der Stadt, Trommel¬
lärm, Trompetenappel, Wagengerassel. — Die Oestreicher marschirten theilweise
ab und ich überzeugte mich zu meiner nicht geringen Frende, daß meine strate¬
gischen Combinationen ans soliderer Basis gebant seien als die des Fürsten Win-
dischgrätz. Meine Voraussetzung, daß Görgcy den Weg über Wachen einschlagen
werde, war vollkommen richtig und dann war es klar, daß der östreichische Feld¬
herr alle Truppen aus den südlichen Comitaten gegen die Donau detaschiren
werde, um Komorn zu decken. Das Alles geschah nun, wie bekannt, viel zu
spät; der alte Götz hatte bei Wachen indessen sein Leben und die schönste aller
Positionen eingebüßt, seine halbzersprengte Brigade mußte sich ans die von Ja-
blonowsky zurückziehen; jetzt erst sah Windischgrätz die Nothwendigkeit eines Rück¬
zuges gegen Gran ein oder vielmehr der nenangekommene Melden übersah mit
Schrecken, wie sich sein Vorgänger hatte dupiren lassen; die Truppen von natos
zogen allnialig ab und auch die Umgegend von Stuhlweißenburg wurde schnell ge¬
räumt. Toller Jubel in der ganzen Stadt und die Frende des Gelingens in mei¬
nem Herzen. Jetzt trennte mich nur mehr die Donau von befreundeten Lagern
und der Weg uach Debreczin stand uns offen. Um Mylord hatten sich seine
Freunde bei ihrem Abzuge nicht weiter bekümmert; ich traf ihn mitten ans dem
Marktplatz mit einem ganzen Schwarm neugieriger Gaffer hinterdrein, worüber
er sich nicht genug ärgern konnte. Warum ging er auch immer in seiner brillan¬
ten Uniform? In Stuhlweißeubnrg hatte vielleicht noch kein sterbliches Auge einen
britischen Offizier gesehen und ich konnte es den Kindern am allerwenigsten ver¬
arge», daß sie Mylord wie ein Wunderthier anglotzten.
Um 7 Uhr Abends waren wir in Almas, wo ich über die Donau gehen
wollte. —
Von einer Brücke begreiflicher Weise keine Rede, aber anch kein Kahn weit
und breit zu sehen, denn alle Transportmittel waren vom Feinde zerstört oder
bei Seite geschafft worden. Vor mir die Donan, drüben die Unsrigen, deren
Wachtfeuer sich im Zwielichte allmälig entzündeten, neben mir Mylord, der
wahrscheinlich geträumt hatte, eine Uacht und ein gutes Souper zu finden, da¬
gegen genug zu thun hatte, um sich der lästigen Mückenschwärme zu erwehren,
die ihre luftigen Abendtäuze aufführte», ich selbst schon ungeduldig bis zum
äußersten — es war eine fatale Position. Endlich ließen steh Bauern scheu, die
noch ein paar Weißfische zu erwischen hofften. Vielleicht — meinten sie — daß
wich der Jcmvs (Johann) hinüberbringen könne, der habe einen Kahn. So
machte ich mich denn in Gottes Namen auf den Weg, Herrn Janos aufzusuchen;
es war der Müller ein Viertel Stündchen abwärts. Er wollte aber nicht fahren.
„Lieber Herr" — sagte er — „nicht um alles Geld in der Welt.---
Bist du kein Ungar?
„Gott sei Dank, ich bin ein Ungar und hab' manchen Landsmann hin¬
übergeführt, wie's noch gefährlich war und „die Deutschen" da waren, aber jetzt
darf ich nicht."
Wer hat dies verboten?
„Die Unsrigen drüben Haben's verboten. Bei Nacht darf ich keine Menschen¬
seele über's Wasser bringen, sonst schießen sie. Es ist strenger Befehl." —
Nach langem Weigern und nachdem ich ihm an's Herz gelegt, daß ich einen
vornehmen Herrn zu Kossuth führen müsse, entschloß sich der Müller endlich,
den Kahn loszubinden, den er zwischen Weidenbäumen sorgfältig verborgen hatte.
Es war indessen vollkommen dunkel geworden und wir stießen ab. Mitten im
breiten Strom aber packten den Fährmann Gewissensbisse über die verletzte Ordre,
oder es überkam ihn Furcht vor den Oestreichern. Er wollte umkehren, ja er
wollte lieber aus einer kleinen Insel gegenüber von Almas übernachten als weiter¬
fahren. Ich mußte alle meine Ueberrednngskunst aufbieten, um ihn zu überzeugen,
daß ich ihn im Lager drüben in Schutz nehmen werde „und was die Oestreicher
betrifft, süßer Janos" — sagte ich ihm — „so wirst du künftig nach Wien reisen
müssen, wenn du einen sehn willst. So weit kommt keiner mehr zurück." „Gott
geb's!" sagte er und ruderte weiter.
Bald wurden wir von einer Schildwache am jenseitigen Ufer angerufen und
zugleich rief sie deu nahen Feldposten ins Gewehr. Janos antwortete, daß er es
sei, der einen vornehmen Herrn bringe, ich versicherte gleichfalls, daß wir Lands¬
leute seien, und so kamen wir wohlbehalten ans Land. Mylord schlief in einem
Ofstzicrszclte und des andern Tags gings fort nach Debreczin im gestreckten
Galopp. — Da riß er denn seine kleinen grauen Aeuglein auf, wie wir durch
Sand und Sumpf im furchtbarsten Carrii-re dahinjagten, da hatte er doch etwas
Neues zu schauen, den Wagen, die Pferde, das Riemzeug und die lange Peitsche.
Ich war froh, daß ihn doch etwas interessire und Se. Griesgrämigkeit ein wenig
Zerstreuung fand. Wir waren Beide aber ehrlich durchgeschüttelt, als wir in
Debreczin ankamen.
Es war vier Uhr Morgens und wir stiege» im ersten Hütel der Stadt, beim
„Ochsen" ab. Früher hieß es zum „Palatin." Die Metamorphose des Haus-
schildes sollte wahrscheinlich einen revolutionären Witz des Eigenthümers vor¬
stellen. — Es dauerte eine geraume Zeit, bis uns der Hausknecht die Thorflügel
öffnete, und uns gestattete, in den schmutzigen Thorweg einzutreten. Wir ver¬
langten eine Stube, aber er versicherte uus, daß vom Keller bis zum Boden nicht
ein Winkel unbesetzt sei. Mylord, dem ich diese trostreiche Auskunft ins Englische
übersetzte, schnitt ein grimmiges Gesicht, und sing an, rings um den großen Dünger¬
haufen, der den größten Theil des Hofraumes einnahm, seine Mvrgenpromenade
zu machen. Mir wär's lieber gewesen, wenn er laut geflucht hätte.
Ich weckte den Kellner, ich weckte den Wirth und die Wirthin, erhielt aber
überall denselben Bescheid. Bis Mittag, hieß es, werde eine Stube frei werden,
bis dorthin möchten wir uns gedulden. Mein Reisegefährte ließ sich überreden,
einstweilen in der Gaststube zu verweilen, dort dachte ich nur uoch ein Stündchen
abzuwarten, um auf dem Platzcommandv um Quartier nachzusuchen. Es war ja
kaum Tag und die ganze Stadt lag im tiefsten Schlafe.
Aber so sehr ich selbst während meiner Reisen in der letzten Zeit an unga¬
rische. Gasthäuser und Schenkstnben gewohnt war, erschrack ich dennoch für mich
und meinen eleganten Gefährten, als ich den Fuß über die Schwelle setzte. Zuerst
erschrack meine Nase, dann mein Auge, dann mein Ohr, endlich mein ganzes
fühlendes Ich. Der Boden, die Tische, die Bänke, alles war von unförmlich
in einander verschlungenen Menschenlcibcrn bedeckt, das schlief neben einander und
schnarchte fürchterlich und stank entsetzlich, kaum daß ich deu Muth hatte, nach
Mylord umzuschauen und ihm ein paar ermuthigende Worte zu sagen. Wir stiegen
über Füße und Hände und Köpfe hinweg, und der eine oder andere Schläfer hob
dann sein schlaftrunken Haupt empor, schüttelte die Mähnen und legte sich wieder
zurecht. Ich schlich für ein halbes Stündchen hinaus zum Düngerhaufen, theils
um dem fatalen Dunstkreise der Stube, mehr aber noch um dem vorwurfsvollen
Blicke Mylords zu entgehen. Als ich zurückkam, faud ich ein großes Lever, der
Engländer saß am offenen Fenster und schnappte nach frischer Luft, ich versprach
ihm baldige Erlösung.
Er wünschte ein Lavoir um sich zu waschen. Der Kellner brachte ein riesiges
rundes Thongefäß mit zwei Henkeln, außen grün, innen roth verglast, wie man
sie zum Waschen des Gemüses benutzt; aber rein geputzt, darin kristallhelles Wasser.
Ich in meiner Seligkeit, daß man ihm nicht einen Stalleimer gebracht, oder ihn
nicht geradezu zum Brunnen gewiesen hatte, schob ihm freundlich das Gefäß hin;
bei ihm jedoch war der Becher der Entsagung und der Geduld übervoll. Das
grüne Thongefäß brachte ihn außer sich. „!>?<;vel,-! iiovcr! «ovgr!" das rief er
wohl hundert Mal nach einander. Lieber im ganzen Leben nicht waschen, als aus
diesem i»o«t «xecriMv lud, dergleichen sei für Hunde, aber nicht für Menschen,
das sei eine Barbarei, wie er sie in Ungarn nicht sür möglich gehalten, er sei
viel gereist und habe manche elende Schenke gesehen, aber eine ähnliche Zumuthung
sei ihm noch nirgend gestellt worden. Aus diesem Gefäß sein Gesicht waschen,
uover, uevor, n«ZVvr! —
Ich war eben im Zuge, ihn mit der Reinlichkeit des uneleganten c»o>>'8 zu
versöhnen, da kömmt unglücklicherweise ein Bauer zum Tisch, taucht eine Flasche
in das Geschirr, nimmt einen Schluck in den Mund, spukt ihn auf seine beiden
hohlen Hände und wäscht sich damit das Gesicht. Jetzt war alles verloren;
Mylord stand da wie vom Donner gerührt, seine Angen stierten ans den unglück¬
seligen Bauernburschen. Dann fielen sie wieder auf mich und dann wieder auf den
Bauer, der sich mit einem schmutzigen Lappen abtrocknete. Der Blick war ver¬
nichtend, mir war wohler, als ich den östreichischen Bagagewagen lenkte und die
Kugeln neben den Pferden niederschlugen, denn die lächerlichen Prätensionen des
Engländers und seiue albernen Bemerkungen hatten meine Geduld erschöpft. Ich
stürzte aus der Stube, um aufs Platzcommando zu gehn und mir Ruhe zu ver¬
schaffen, er aber packte seine Toilettengcgenstände zusammen, die er in Erwartung
des Lavoirs auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Daß sich die Bauern herumdrängten
und die vielen unbekannten Sächelchen anglotzten, das war ihm anch nicht recht,
dergleichen Ungezogenheiten hätte er auch auf seinen Reisen noch nicht erlebt.
Mylord hatte wahrscheinlich die kleine Tour nach Italien gemacht nud hie und da
einen comfortablen Lehnstuhl entbehrt.
Um 7 Uhr hatte ich eine Stube für ihn, wo das weiße Waschgefäß aus
Porzellan nicht fehlte. Um N Uhr führte ich ihn zu Kossuth, wo er sogleich ge¬
meldet und vorgelassen wurde. Er blieb zwei volle Stunden beim Gouverneur
und sprach mir mit viel Lobeserhebungen von ihm. Des andern Morgens reiste
er nach Constantinopel. Mylord hat daselbst wahrscheinlich nach Kräften für Un¬
garn gewirkt. Pulsky in London und Telcky in Paris haben gewiß auch das
ihrige gethan. Das Resultat ihrer Bestiebungen ist lntannt.
Die freundlichen Leser haben ans dieser Episode wenigstens einen magyaren-
sreundlichen Lord und ein Debrecziner Hütel kennen gelernt.
Die königliche Gewalt wußte nach und nach in ganz Europa die Schranken
umzustürzen, welche einst die Feudalaristokratie um sie gezogen. Mit den
Schranken der Gewalt sielen auch die Schranken der Prvvinzialselbstständigkeit
und wenn diese hie und da noch stehen blieben, so geschah es nur ans Ermüdung
der Gewalt, die nicht mehr vorwärts getrieben wurde, weil sie der erloschene
Widerstand der Stände nicht mehr reizte.,
Auch die Habsburger folgten diesem allgemeinen Zuge, jedoch nur mit halbem
Erfolge. Es gelang ihnen zwar in der westlichen Hälfte der Monarchie ihren
Willen zur absoluten Geltung zu bringen und in Böhmen wie in Tyrol, in
Mähren wie in Steyermark ein und denselben Negierungsmechanismus einzu-
führen, allein in der östlichen Hälfte, in Ungarn, erhielt sich trotz der blutigsten
und grausamsten Kämpfe der Adel als Staatsmacht nud damit die vollkommene
selbstständige Gesetzgebung und Negierung dieses großen Königreiches.
Was der magyarische Adel durch Jahrhunderte gegen alle Angriffe ansteche
erhalten, die Existenz seines Reichstages, die Integrität und Selbstständigkeit des
ungarischen Königreiches, sie werden jetzt vernichtet, die uralten volksthümlichen
Einrichtungen nicht etwa zeitgemäß verbessert, sondern ausgerottet und einer ver<
spätsten Centralisation im Interesse der Dynastie aufgeopfert. Natürlich, daß der
ungarische Adel, verletzt in seinem Nationalgefühl, verletzt in seinen stolzen Er¬
innerungen und in seinem staatlichen Einfluß das Beginnen der östreichische Re¬
gierung verabscheut, daß selbst derjenige Theil der hohen Aristokratie, der sich seit
Maria Theresia's Zeiten um den Hof geschaart hatte und durch Wechselhcirathm
mit dem Wiener Hofadel halb nud halb cntuativualistrt war, in die entschiedenste
Opposition tritt. Diese Magnaten konnten der Negierung während des Nevoln-
tionskampfeö allerdings nur geringe Dienste erweisen, weil ihr Patriotismus dem
Volke verdächtig war, allein sie vermögen der Regierung in der Opposition sehr
viel zu schaden, weil sie bei einem jeden Widerstande gegen dieselbe auf die Un¬
terstützung des ganzen Volkes zählen können.
Eben so entschiedene Feinde findet das centralisirende dynastische Regierungs-
system in dem polnischen und italienischen Adel. Die Aristokratie dieser Nationen
ist eben so wie die magyarische zu patriotisch gesinnt, als daß sie sich einer Regierung
zuneigen könnte, welche zwar mit nationaler Gleichberechtigung um sich wirft, in
der That aber deu Staat nur von dem Standpunkt dynastischen Besitzes betrach¬
tet, die Dynastie zum einzigen Kristallisationspunkt der Monarchie erheben will
und die politische Bedeutung der Nationen überall negirt.
Im grellsten Gegensatz zur Aristokratie der genannten Nationen steht der Adel
der deutschen Provinzen. Dieser hat sich weder um ein nationales, »och ein
Politisches Princip, weder um alte Rechte noch um ein neues Panier geschaart, er
ist rein Hofadel geworden. Die Aristokratie der böhmischen Krone, einst im Be¬
sitze derselben Macht wie die ungarischen Stände, hat ihre Bedeutung seit Fer¬
dinand II. uicht blos verloren, sondern auch vergessen. Gleich den Fremdlingen
und Emporkömmlingen, welche nach der Schlacht am weißen Berge mit den Gü¬
tern der Hingerichteten und verbannten Großen und später mit den ungeheueren
Besitzungen des ermordeten Waldstcin beschenkt und bereichert wurden, drängte» sich
die Lvbkvwitze, die Kinsky, die Cernyn, die Kolowrat ze. um den Thron der Habs¬
burger, als ob sie auf ihre und des Vaterlandes Niederlage stolz wäre». Man
tauschte die ehemalige politische Macht gegen materielle Vortheile ein, man gab
^ auf die Freiheiten der Provinzen zu beschützen nud drängte sich dagegen in die
Aemter der Gesammtmvnarchie »der in — die Hofchargen. Sehr reiche und einst
"Ach sehr bedeutende Geschlechter rissen sich um die Würde eines Oberhofkämincrers,
Küchen-, Jäger- und Stallmeisters. Solche Würden zu erlangen, eine unge¬
messene Pracht zu entfalten, den nachgebornen Söhnen einträgliche Stellen zu
verschaffen, das war ihr einzig Bestreben bis zum Jahre 1848 herab.
Natürlich, daß diese Aristokratie, die weder deutsch noch slavisch gesinnt ist,
bei keinem Volksstamme Anhang hat; vielmehr mußte sie, da sie so lange alle
hohen Aemter besetzt hielt, als die Trägerin aller Mißbräuche, als die vornehmste
Dienerin des Absolutismus den tiefsten Haß ans sich laden. Diese Aristokratie,
welche im Sturme der Maibcwcguug den Hof theils ans Feigheit, theils in der
vergeblichen Absicht verließ, um in den Provinzen eine Gegenbewegung hervor¬
zurufen, sie hat sich nnn wieder um ihn versammelt und sie wird ihn ihrer Ver¬
gangenheit gemäß auf der Bahn der Reaktion und Centralisation eifrigst unterstützen.
Allein sie konnte, da sie im Volke ohne Anhang ist (außer ihren Inspirationen
bei Hofe) kein großes Gewicht in die Wagschale legen, wenn sie sich nicht einer
Macht außerhalb des Volkes zu bemeistern gewußt hätte. Diese Macht ist das
Heer. Der gesammte junge Adel der deutschen Provinzen, den die Bewegung des
Jahres 48 in seinen Genüssen, in seinen Anmaßungen und Frechheiten störte, warf
sich plötzlich wie auf Verabredung in die Armee, und es gelang ihm, derselben
einen Theil des Hasses gegen die Revolution und ihre Errungenschaften einzuflößen.
Denn der östreichische Offizier, so tüchtig er im Kampfe ist, so sehr er und überall
mit seinem Beispiel, mit seiner Hingebung voranleuchtet und Bewundrung verdient,
ist außerhalb desselben in seinen Ansichten und Meinungen noch immer ein An¬
hänger alter Vorurtheile, staunt in seinen Generälen noch immer die Fürsten und
Grafen an und setzt sich mit den Aristokraten, die ihm so oft Stellen und Aus¬
zeichnungen weghaschen, nicht in Opposition, sondern bewirbt sich um ihre Gunst
und äfft sie in ihren Manieren und leider auch in ihren politischen Gesinnungen nach.
So mußte es der Aristokratie leicht werden, den Offizierstand mit ihrem Hasse
gegen die Revolution zu erfüllen und damit die ganze Armee in ihre Richtung
hineinzuziehn. Mit dieser Macht, die ihrer Natur nach ceutralistisch ist, wird man
jede provinzielle Selbstständigkeit erdrücke», jede Nationalität, die eine politische
Geltung anstrebt, niederwerfen und Jenen den Mund schließen, welche noch nach der
Verfassung vom 4. März schreien, die den Fürsten und Grafen nicht als solche»,
sondern nur als großen Gutsbesitzern, als Bauern, einen Sitz im Oberhaus gewährt,
wofür sie sich noch um der Wahl willen populär machen sollen! Doch je gewalt¬
samer, je durchgreifender dieses aristokratisch-militärische Regiment das National¬
bewußtsein und die Freiheitsliebe der Völker verletzt, um so schneller wird die
zweite Revolution in Oestreich hereinbrechen, welche nicht blos die Privilegien,
Auf der Lüneburger Haide waren am 19. August I84V gerade so viele, so
hohe und reizende Gebirge zu sehen, wie im Thale von Ischl. Am 18. nämlich,
Sonnabends, zum Geburtstage des Kaisers Franz Joseph, sollte ich dort eintreffen,
ahnte jedoch nicht, daß mir ein Courier vorausgeeilt war, der eine für Himmel und
Erde gleich wichtige Botschaft in der Tasche trug. In Folge davon verließ der junge
Monarch augenblicklich sein Nesidenzdvrs und reiste nach Wien ab, —eine Stunde vor
Ischl begegnete ich seinen vier Schimmeln, — der Himmel aber, um mit den Radikalen
zu reden, „weinte vor Wuth über Görgey's Ergebung" von demselben Sonnabend
an bis zum darauf folgenden Freitag. Der Jschle „Schnüvelregen," von welchem Sie
im Auslande wahrscheinlich keinen Begriff haben, verdiente wohl ein eigenes Ka¬
pitel. In den ersten Tagen seiner Herrschaft machte er mir eine wahre Freude;
stundenlang stand ich am Fenster und konnte nicht umhin, diesen unerbittlichen,
mit fortwährend steigender Wuth niederrauschenden sündfluthlichen Urrege», der
über ganz Ischl Belagerungszustand und Hausarrest verhängte und in einer Ent¬
fernung von zwanzig Schritten schon Alles außer sich selbst unsichtbar machte,
aufrichtig zu bewundern und mit Spannung zu beobachten. Nach achtundvierzig-
stündiger rud- Und athemloser Arbeit schien er einen Augenblick ermatten zu wol¬
le», doch es war Täuschung, er trat nur in eine neue Phase. Während er näm¬
lich den östlichen und nördlichen Himmel vollständig einnahm, wurde es im Westen
stille. Dann stiegen dort unablässig gewaltige Nebel, die Geister des gefallenen
Regens, von der Erde bis zur Sonnengcgeud auf, mit riesigen Wassereimern i»
den ossiauischen Händen, welche sie auf der andern Seite, triumphirend nieder-
gössen. So ging's in Einem fort wie ein Rad in der Wasserkunst. Der Fremde
erschrickt anfangs über das seltene Schauspiel und fragt sich ängstlich, wann die
Leute endlich anfangen werden, die Arche Noä zu bauen. Aber Ischl bleibt ru¬
hig, die sandigen Straßen des sauberen Hofdorfes bleiben blank; die Luft ist da¬
bei reiner als im Flachlande an schönen Maitagen und das glanzvolle Grün der
Bäume, Büsche und Rasen vor Haus und Stadt scheint mit unersättlicher Wollust
das überreichliche Naß einzusaugen und läßt die Genüsse ahnen, die dem gedul¬
digen Wandrer nach Ueberstehnng des Ausnahmszustandes bevorstehen. So be¬
freundet er sich allmälig mit dem Schnürelregen, läuft zu Bekannten und Freun¬
den, wo er jedesmal frisch gebadet ankommt, und läßt sich die Ehronique scanda-
leuse des Ortes erzählen, deren Blätter bei der Anwesenheit des Hofes stets
von tausend und einem Märchen bis über den Rand bedeckt sind. Und so that
auch ich.
Indeß, die Märchen, so lustig manche darunter klingen, behalte ich meist für
mich und gebe hier nur die trockene Wahrheit, so wie ich sie aus dem Munde des
verehrten Don Jsidor Amabile geschöpft, eines freisinnigen und wanderlustigen
östreichischen Cavaliers, den seit Jahren alle Seen und Berge des Salzkammer-
gnts und alle Bettler von Hallstadt kennen. Er schilderte mir, wahrend eines
Spaziergangs unter den Kolonnaden des Curhauscs, das idyllische Sommerleben
des Hofes in Ischl und die rührenden Festlichkeiten, die am Geburtstage des
Kaisers stattgefunden, welche jedoch beinahe dnrch ein Attentat von Seiten der
radikalen Partei gestört worden wären. Freitag am 17. war große Jagd in der
Umgegend, bei der es dem Kaiser gelang, sechs Gemsen, die ihm zugetrieben wur¬
den, zu erlegen; allgemein galt es als ein günstiges Vorzeichen. So, sagte man,
werden die „tollkühnen Springer auf den Klippen der Schwindelfreiheit" den
„vereinten Kräften" des Kaisers und der gutgesinnten Zntreiber erliegen. Am
Abend war nicht nur Ischl fceubaft beleuchtet, sondern ans den Bergen ringsum
brannten furchtbar große Freudenfeuer, und leicht hätte, wie Anno 1834 bei
Anßce, als Erzherzog Karl hinkam, ein Waldbrand entstehen können, wenn
die Thränen des Himmels nicht diese Flammen zügelloser Begeisterung zur rech¬
ten Zeit gelöscht hätten. Als endlich auf der Esplanade vor der bekränzten
Wohnung der Erzherzogin Sophie, die Musikchöre das Gott erhalte! spielten
nud der Kaiser sich einen Augenblick auf dem Altan zeigte, wurde, obgleich
Seine Majestät kein Wort sprach, die Rührung so groß, daß Frau von Nubel-
stein und Baronin von Gnldenstern a tempo und so laut, daß Graf Grüuue, der
Adjutant des Kaisers, es hören mußte, ausriefen: Kutscher, ich muß nach Hause
fahren, um mich auszuweinen. Unter den Transparenten war am treuherzigsten,
schon dnrch seine sprachliche Naivität, das am Hause des bekannten Neitküustlers
und Schwiegersohns von Metternich, des Grafen sartor. Ueber dem Portal sei¬
ner Villa steht eine steinerne Mutter Gottes in einer Nische. Darüber nun
hatte der Graf eigenhändig in flammenden orangegelben Buchstaben die Ausru¬
fung gesetzt: Beschütze Ihm! — Sie erwähnten etwas von einem Attentat, unter-
brach ich meinen Cicerone. — Gewiß, Don Jsidor hatte selbst die Hand im Spiele-
Etwa zehn junge Leute, Studenten und andere Reisende, hatten einige Tage vor
dem Geburtsfest sich bei mir zum Punsch versammelt und gaben mir, nach der
ersten Bowle, das Wort, mein Vorhaben muthig ausführen zu helfen. Wir ver¬
schworen uns, am Freitag Abend in einer Reihe uns vor dem Portal des erz¬
herzoglichen Hauses offen hinzustellen und im Augenblick, wo der junge Kaiser
sich zeigen würde, mit aller Kraft, die uus zu Gebote stand, — Amnestie! Z»
schreien. Amnestie, das Volk bittet um Amnestie! — Nun, und was wurde da¬
raus? fragte ich. — Das Unternehmen, erwiederte er lächelnd, hatte das Seht
sal der meisten Verschwörungen.
Als es zum Schreien kam, stand ich allein, und zum Ueberfluß faßten MV
sämmtliche drei Badearzte von Ischl an Armen und Rockschößen — einer von uns
hatte also geplaudert — um mich fortzuschleppen. Sie hielten mich für unsinnig
genug, auf eigene Faust eine Demonstration machen zu wollen, was mir nicht
einfiel; und sie glaubten Ischl gerettet zu haben, als ich im Gasthof zur Post
saß und ruhig mein Abendbrot verzehrte. — Glauben Sie, der Kaiser hätte den
Amnestierus zornig aufgenommen? — Gnädig keinesfalls, er hätte ihn doch
in Verlegenheit gesetzt. Man findet nicht immer ans dem Stegreif eine glücklich
ausweichende Antwort. — Sie kennen ja Franz Joseph persönlich, was halten Sie
von ihm? — Vom Kaiser? Nun, es ist ein ziemlich artiger junger Mann von
19 Jahren; wollen Sie einen fertigen Charakter in diesem Alter? Kronprinzen
und angehende Monarchen sind immer Gegenstand entgegengesetzter Sagen und
Prophezeihungen, in denen sich nur die bösen oder guten Träume des Volkes
spiegeln. Die Schule, welche er durchgemacht hat, ist eine bedenkliche. Die lang¬
jährigen Bemühungen seiner Mutter, ihn auf deu Thron zu bringen, können ihm
nicht geheim geblieben sein, und daß sie nur durch das Scheitern einer im ersten
Keim von der Erzherzogin begünstigten Revolution mit Erfolg gekrönt wurden,
daß die Bombardements so vieler Hauptstädte und die Hinrichtnngsfusilladen seine
Erhebung einläuten mußten, wird ihm stets vorschweben. Prüfungen, die ein Mo¬
narch in Gemeinschaft mit seinem Volke gegen den äußern Feind übersteht, wären
sie noch so demüthigend gewesen, stärken das gegenseitige Vertraue»; andere Nach¬
wirkung hinterlassen die schwer erfochtenen Siege über den innern Feind. Das
versteht sich von selbst. Franz Joseph sah den stolzen Hofadel Altöstreichs schmählich
in den Staub getreten, er sah einen Prinzen, der in Ungarn der Volkspartei die
Hand gedrückt, in ruhmlose Verbannung ziehn; er hat seinen Vorgänger, Fer¬
dinand, den Guten, wie man unter elegisch und oben spottend sagt, ihn, der mit
eigenen Ohren nicht auf das Volk schießen hören konnte, zweimal ans der Burg
fliehe» gesehen und er selbst zog endlich mehr noch mit Hilfe russischer Dekrete
als russischer Bayonnctte als Triumphator über zwei Drittel seiner Unterthanen in
Schönbrunn ein. Aus solchen Ereignissen zieht man bei Hofe eigenthümliche, bittere
Lehren, die sich in ein achtzehnjähriges Herz mit Flammenschrift eingraben. Auch
Franz I. kam als Jüngling auf den Thron, 1792, und hat den Schrecken über
den damaligen Feuerlärm, der doch nur von außen kam, sein Lebtage nicht aus
den Glieder» gebracht. Deshalb fürchte ich, das Volkswort nennt den jungen
Kaiser nicht ohne prophetischen Instinkt: mehr Franz als Joseph. Seine einseitig
soldatische Richtung ergiebt sich selbst aus den Ben- oder Maltrovatos seiner An¬
beter, die ihm täglich Seinsollende Gcniesprüche in den Mund legen: meist schlechte
Ueberarbeitungen alter Kaiseranckdoten. Ich wünsche den Erfindern mehr Geschick
"ut Geschmack.
Feiner als diese Art von Höflingen ist das Volk in seinen Bentrovatos. Sie
wissen, der Kaiser soll in einem zarten Verhältniß zur wunderschönen Frau eines
italienischen Prinzen stehen, der östreichischer General ist und dessen Familie nur
durch unsere Hilfe auf ihrem kleinen Thron erhalten wird. Die Stadt B., wo
der Prinz kommandirender General ist, genießt daher oft die Ehre des kaiserlichen
Besuchs, die Nationalgarde von B. ist fortwährend aus den Paradebeinen, und
die Hornisten derselben haben vom ewigen Ständchenblasen aufgesprungene Lip¬
pen. Eines Tages marschirt die Bürgcrwchr an der Wohnung des Generals
vorbei und spielt den Grenadiermarsch. Sogleich springt der Kaiser in der leb¬
haftesten Aufregung von seinem Sitz an der Seite der jungen Prinzessin, läßt
ihre weiche Hand fahren und schickt nach drei Oberoffizieren der Nationalgarde,
denen er nachdrücklich, mit Hinweisung auf das Militärreglement, beweiset und
bedeutet, daß sie kein Recht auf den Grenadiermarsch hätten, indem die Garde
nicht ans Grenadieren, sondern aus gewöhnlichen Musketieren bestehe. Seine Ma¬
jestät nahm die Sache sehr ernst, und indem er mit einer Eifersucht, die eines
interessanteren Gegenstands würdig gewesen wäre, für das Vorrecht der Grenadiere
sich erhob, glühten seine jugendlichen Wangen in so schönem Zorn und der Ton
seiner Stimme war dabei so weich und gekränkt, daß die Deputation ihm weder
gram sein konnte, noch zu widersprechen wagte. Die Nationalgarde jedoch, die
vom Militärreglement unabhängig und allen Grenadieren Europas gleich berechtigt
zu sein glaubt, beschloß einstimmig Opposition zu machen. Als der Kaiser das
nächste Mal nach B. kam, marschirte sie absichtlich wieder am selben Hause vorbei
und spielte den Grenadiermarsch, aber ganz leise, mit gedämpften Trommeln und
Trompeten. — Und was würde dieser kindische Zug beweisen, wenn er wahr wäre?
Das würde den Kaiser nicht hindern, mit der Zeit ein Harun-al-Raschid zu werden,
ein aufgeklärter Sultan, wie ihn die Masse des östreichischen Volkes zu wünschen
scheint. — Ein anderes Geschichtchen, sagte Don Jsidor Amabile, welches seiner
Zeit in vielen Volkskreisen mit begeisterter Zuversicht erzählt wurde, gibt dem
knabenhaften Trotz, der sich zuweilen im Gesicht Franz Joseph's ausspricht, eine
höhere und zwar liberale Richtung. Als die ungarischen Kriegswürsel zweifelhaft
standen, und die russische Intervention noch nicht beschlossen war, rief Franz Jo¬
seph in romantischer Aufwallung: „Ich brauche keine Armee, ich gehe allein nach
Ungarn und rede mit Kossuth. Wir werden uus ausgleichen. Ich kenne Kossuth
und BattlMni persönlich und bin erst voriges Jahr (1847) zu Presburg in Einem
Wagen mit ihnen ausgefahren. Diese Leute sind nicht so schlecht, als man mir
sie täglich machen will." Als die Mutter des Kaisers dieses hörte, erschrack sie
sehr und also redete sie: „Mein Sohn, du bist ein constitutioneller Kaiser und
mußt daher thun, was deine Minister sagen." — „Frau Mutter," entgegnete er;
„ich weiß auch, was Constitution ist. Diese Minister habe ich mir nicht gewählt.
Ein constitutioneller Kaiser ernennt seine Minister selbst und jagt sie fort, wen»
sie ihm nicht mehr gefallen. Das werde ich thun. Ich brauche Niemanden z»
gehorchen, auch meiner Mutter nicht." Doch klatsch, kaum waren die letzten Worte
seinen Lippen entflohen, so erinnerte die Hand der Mutter des Kaisers Antlitz
daran, daß gewisse Patriarchaliche Strafen in Oestreich nicht ganz abgeschafft sind. ,
Der junge Kaiser fuhr auf, wie vom Blitz gerührt, griff mit beiden Händen nach
der Krone aus seinem Haupt und wollte sie der Mutter vor die Füße werfen, wie
Jemand sagt: Bei solcher Behandlung mag ein Anderer Kaiser sein!, besann sich
jedoch im Nu eines Bessern und klingelte nach dem Obersthofmeister, Fürsten Karl
Liechtenstein, dem er in würdevollstem Tone deu Befehl gab, Ihrer kaiserlichen
Hoheit den Arm zu reichen. Das östreichische Volk hatte, durch's Fenster guckend,
die Szene mit angesehen und klatschte Bravo!
Und die Moral dieser Fabel? — Daß ein großer Theil des Publikums, zu¬
gleich radikal und dynastisch, noch vor Kurzem goldene Hoffnungen auf die Eman¬
cipation des Kaisers vom Gängelbande seiner Mutter baute. Erzherzogin Sophie
ist eine Frau vou großem Unternehmungsgeist und herrischen Anlagen, sie über¬
ragt, wie Saul, alles Volk bei Hof, im Cabinet und auf der Gasse um einen
Kopf. Sie warf Metternich über Bord und entwand den Studenten das Steuer¬
ruder. Selbst ihre Niederlagen wußte sie siegreich zu benutzen. Mit der Abdan¬
kung Ferdinand's war ihre Rolle glücklich ausgespielt und von ihrem jetzigen Ein¬
fluß hat man übertriebene Vorstellungen. Ihr mütterlicher Ehrgeiz ist gestillt und
sie hat sich, erschöpft von der Riesenarbeit, zurückgezogen, um in Ruh und Frie¬
den den Undank der Welt zu genießen, denn im Volke gilt sie immer noch als
die Wettermacherin und selbst die künftigen Orkane und Schiffbrüche, die Oestreich
bevorstehen, wird man ihren diplomatischen Künsten zuschreiben. Wenn sie heute
stirbt, wird das abergläubische Volk ihren Tod sür ein vom Hof und der Polizei
ausgesprengtes Gerücht halten, wie es aus andern Gründen einst Kaiser Jo¬
seph's Tod nicht glaubte, und wird sagen: Sie lebt, sie hat sich nur in ein Klo¬
ster eingeschlossen und strickt dort Liguvrianeruetze und fabrizirt Nacht.
Sie haben die hohe Frau gewiß in früheren Jahren an schonen Wintermittagen
aus der Wiener Bastei wandeln gesehn, in flatterndem Purpurgewand, stolz ans
ihre Geburt und Schönheit, aller Blicke und Grüße herausfordernd und mit hal¬
bem Kopfnicken dankend. Jetzt werden Sie zuweilen ans der Esplanade einer langen
Frauengestalt begegnen, mit schwankendem Gang, aber den Kopf im Nacken, das
Antlitz scheint aus verschossenen Purpur oder aus hektisch rothem Herbstlaub ge¬
bildet. Neben oder häufiger hinter ihr spaziert, mit seitwärts gesenktem Haupt,
ein sanfter Herr, den jeder Maler zu einem Modell sür den heiligen Nepomuck
nehmen könnte, daraus folgt ein Lakai mit einem Gebetbuch in der Hand. Das
ist die Erzherzogin Sophie, die ihren Gemahl Franz Karl zur Kirche führt. Ich
werde Sie auf die Gruppe aufmerksam machen, denn Sie würden die hohe Frau
von der Wiener Bastei nicht wieder erkennen. Binnen zehn Monaten ist sie um
zweimal so viel Jahre gealtert. Und seltsam, trotz der Wohlthaten, welche sie
Ischl erweist, ist sie hier kaum mehr geliebt als in der Wiener Vorstadt Gumpen-
dorff; man beachtet sie kaum und zollt ihr nur bei offiziellen Ausnahmsgelegen¬
heiten mehr als den nothwendigen und vorgeschriebenen Respect. Sie kennt diese
Stimmung, aber die Schwester des bairischen Ludwig hat sich von den Habsbur¬
ger« von jeher dadurch unterschieden, daß sie die Kunst, sich in 24 Stunden po¬
pulär zu machen, niemals auswendig lernen wollte und geradezu verachtete. In
großen Dingen klug und geduldig, in kleinen jäh und taktlos, pflegt sie oft die
öffentliche Meinung oder die Eitelkeit des Publikums, wie man's eben nennen will,
empfindlich vor den Kopf zu stoßen. War sie doch im Stande, der ehrsamen Jschler
Nationalgarde, als sie ihr ein Ständchen brachte und sie dadurch im Depeschelescn
störte, durch den Grafen Wnrmbrand sagen zu lassen, „die Bande mit ihrem
dummen Gedudel solle sich zum Teufel scheren." Und mußte nicht beim Stadthalle,
der jährlich dem Hos zu Ehren stattfindet, das Publikum in drei Abtheilungen
gesondert werden; hoher Adel, niederer Adel, Bürgervolk; gleichsam Rechte, Cen¬
trum und Linke! Und hat die Erzherzogin nickt mit auffallender Absichtlichkeit
der Linken fortwährend den Rücken gekehrt, d.is Centrum blos ein einziges Mal
gegrüßt und ausschließlich mit der Rechten gesprochen! — Solche Verstöße gegen
das Abc der dynastischen Negicrungspolitik kamen vor 48 nicht vor. Ja, diese
Wittelsbacherin ist ein fremder Blutstropfen im Hause Habsburg; er rollt in den
Adern Franz Joseph's fort und wird seine Macht uoch entwickeln. Er erklärt
manche sonderbare Wendung und Färbung der letzten Ereignisse, und wer weiß,
welchen Einfluß dieses neue Element auf die künftige Geschichte Oestreichs üben wird.
Und wie denken die Jschler über die Welthändel? — Wen meinen Sie unter
den Jschlern? Die Sommerresidcnzler? Die falschen Steyrer? Oder die Autoch-
thonen? Die erste Klasse ist natürlich schwarzgelb bis unter die Nägel, einige
Prachtexemplare der zweiten Gattung werde ich Ihnen morgen zeigen, die Einge-
bornen aber sind gute Jschler Patrioten. Sie sind radikal und konservativ, auf¬
geklärt und mönchisch, kaiserlich und magyarisch zugleich und ohne inconsequent zu
sein. Ihre Gesinnung ist der Kosmopolitismus aller Badeortbewohncr. Sie freuen
sich mit dem Schlcchtgefluuten, der vor dem Späher-Aug und Ohr der Spitzel
in die Berge entflohen ist, wo Niemand erhörest, was er aus dem Schlaf spricht,
eben so warm und freundlich, wie mit dem Gutgesinnten, der nach Ischl zieht,
weil in Wien noch immer zu viel confiscirte Gesichter mit Augengläsern und
Schnurbärtcn herumlaufen; sie dünken den Einen wie den Andern mit gleicher
Liebe in ihre stärkende Salzsohle. Zu Jenem sagen sie: Nicht wahr? Bei uns
ist's schön, da gibt'S keinen Stadtgraben; zu Diesem: Hier ist's hübsch ruhig,
gnädiger Herr, bei uns gibt's keine Barrikaden. Wie der menschenfreundlichste
Arzt gerne die Spitäler voll sieht und den Tag verwünschen müßte, an dem ein
heilendes Kraut für alle Krankheiten entdeckt und allgemein bekannt würde, eben
so begreisen die Jschler vollkommen die Nothwendigkeit der Revolution von 1848
und der Reaction von 184»; beide habe» ihnen Kostgänger in SckMren zuge¬
schickt. Eigentlich sollte, da draußen in der Welt, fortwährend Kopfabschlagens
gespielt werden, abwechselnd von Jakobinern und Junkern. Auch Pestilenz und
Typhus wäre» willkommene Herrschaften-Zutreiber. „S'ist richtig mit dem Gör¬
ger)," sagte mein Wirth heute Morgen resignirt; „und's kaun schon sein, daß
jetzt eine Ruh wird in Ungern und Wien. Aber," fuhr er mit unverholener
Befriedigung fort, „dafür ist jetzt die Cholera in Wien schreckbar gefährlich aus¬
gebrochen!" — Gott verläßt die'Seinen nicht. Und doch laß ich auf die Jschlcr
Nichts kommen; es ist ein Völkchen von unglaublicher Gutmüthigkeit und Einfalt.
Sie sollen im nächsten Kapitel Ihre Wunder sehen!
Von den Abhandlungen, welche das diesjährige Taschenbuch bringt, beziehen sich
die beiden größeren wenigstens indirect auf die gegenwärtige Politik. Die erste der¬
selben ist die „Geschichte der Bildung des deutschen Bundes aus dem Wiener Kongresse"
von A. F. H. Schau manu. Sie hat einen apologetischen Anstrich, und sucht die
Deutschen zu warnen, in übereilten Idealismus nach einer engern politischen Einheit
zu streben, der sich die Interessen ebenso widersetzen als der Eigensinn. Die Parallele
zwischen den beiden so weit auseinanderliegenden Versuchen, das deutsche Reich zu reor¬
ganisieren, ist immer interessant, wenn wir auch den Ansichten des Verfassers nicht überall
beipflichten können. — Den Preis in diesem Jahrgang verdient die „Geschichte der
deutschen Seemacht" von F. W. Barthold. Sie führt das ominöse Motte: t.no
»b tlo times os c»!ä! I^lo dvells ok <Il^s ol »tlikr >vitrs! und schärft dem deutschen
Volk die unumstößliche Maxime ein: „Wer keinen Theil hat an der Seeherrschaft, hat
keinen Theil am Welthandel; wer keinen Theil hat am Welthandel, hat keinen Theil
«n den Reichthümern der Welt." Die Darstellung beginnt mit dem Römischen Zeit¬
alter und schließt mit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Sie ist ein wissenschaftlicher
Erwerb. — Eine literarhistorische Monographie von G. E. Guhraucr: „Elisabeth
Pfalzgräfin bei Rhein, Aebtissin von Herford" (die bekannte geistreiche Freundin des
Decartes). Erste Abtheilung (1 Ki8 —67), gibt einen interessanten Beitrag zur Kul¬
turgeschichte des 17. Jahrhunderts. — Die Schilderung des wunderlichen Nationalisten
H- F. Bahrdt (1741—71) von R. Prutz würde befriedigender sein, wenn sich der
verdienstvolle Verfasser einer größern Concision befleißigt hätte. Das Publikum hat
^"e gewisse Geschwätzigkeit gern, aber es gibt eine Grenze sür die Concessionen, die
»um ihm zu machen hat. — Die Kunstgeschichte findet ihren Vertreter in G. F. W a a gen:
"Ueber Leben, Wirken und Werke der Maler Adrea Mantegna (geb. 1731) und Luca
^ignvrelli." Eben so geistvoll als gründlich.
Der erste Band enthält Schilderungen und Reflexionen auf Reisen durch das west-
'6)e Deutschland, in dem Plauderton, wie ihn die deutschen Touristen vor der Revo-
ludion an sich hatten; auch ist der Band vor dem Frühjahr 48 geschrieben. Der Leser
wird nicht viel darin finden, was ihn jetzt noch interessiren könnte, wenn er nicht den Ver¬
fasser selbst kennt und liebt. Der zweite Theil steht in dem Gegensatz zu jenem apho¬
ristischen Schwätzen über allerliebste Kleinigkeiten, daß er den Antheil des Verfassers
an der Bewegung des großen Jahres ehrlich und ausführlich darstellt. Nur er hat
für uns ein stoffliches Interesse. Er beginnt mit Hamburg, dem Exil Schusclka's, sührt
uns in den Märztagen über Berlin und Breslau nach Wien, aus dem Chaos des
dortigen Enthusiasmus in den Fünfzigerausschuß, und das Parlament, von da nach
Wien zurück in den Reichstag, durch die Octobertage bis an die tödtliche Klippe der
östreichischen Freiheit, nach Krcmsier, mit der Auflösung des Reichstages schließt er.
Viel Bedeutendes und Lehrreiches werden unsre Leser in dem zweiten Bande finden,
Schuselka ist zwar auch hier Tourist, er schildert sich i» den Begebenheiten und zwingt
uns seine Empfindungen und Anschauungen nachträglich durchzumachen. Wenn eine
gewisse Eitelkeit darin liegt, so ist sie doch sehr harmlos, das Produkt einer weichen
beweglichen Natur, welche durch nicht gewöhnliche Schicksale frühzeitig die Aufmerksam¬
keit anderer Menschen auf sich gezogen und sich daran gewöhnt hat, beachtet zu werden.
Schuselka ist in seiner Erzählung immer wahr über sich selbst, zu wahr und offenherzig
vielleicht sür den Druck, denn er gestattet dem Leser fortwährend ihn zu übersehn, ja
hier und da die Achseln zu zucken. Wie er in Hamburg die Nachricht von der Revo¬
lution in Wien bekömmt und sich freut, daß ihn die Hamburger gratulirend besuchen,
wie er von den dramatischen Scenen des März schon auf seiner Reise berauscht wird,
in Breslau so gern Sympathien sür sein geliebtes Oestreich erkennen möchte, in Wien
mit den Studenten schwärmt, in Frankfurt theatralisch einziehn will, in den Parla¬
menten sich über die Wirkung seiner Reden freut, noch in Krcmsier im letzten Augen¬
blick die männliche Haltung nicht verliert, alles das ist offenherzig und wieder so gut¬
müthig geschildert, daß man ihm, dem Menschen, auch als Fremden gut werden müßte,
aber zu gleicher Zeit berechtigt wird zu zweifeln, ob eine solche Persönlichkeit, so em¬
pfänglich sür alle Eindrücke und Stimmungen, mit so unklaren Wollen, so geringem
politischen Wissen, so voll von ausspringendem Gefühl, überhaupt berechtigt sei, in
der Politik eine Rolle zu spielen. In dieser Beziehung hat Herr Vater Melden sehr
thöricht gehandelt das Buch auf eine, wenn auch nur kurze Zeit zu verbieten, eS ist für
das politische Renommee Schusclka's nicht unbedingt vortheilhaft. Selbst die größte Zeit
seines parlamentarischen Handelns, seine Thätigkeit in den Octobcrtagcn nahm sich
besser ans, noch in den Berichten seiner politischen Gegner, als in seiner eigenen Dar¬
stellung. Seine Darstellung der Octobertage ist übrigens die genauste und beste Schil¬
derung, welche wir bis jetzt davon haben. Seine Kritik der Rcichstagsvcrhaudluugen aber,
welche vorausgingen und in Krcmsier folgten, macht eine anderweitige Behandlung nicht
unnütz. Und wir fragen uns verwundert, wie kommt es doch, daß ein Mann mit
offenen Augen, der eine schwere Zeit als Vielbethciligter mitgemacht hat, nicht weiser
geworden ist, nicht klarer und einsichtsvoller? Es ist an der Zeit, streng zu sein gegen
die guten Volksmänner Oestreichs, nud Schusclka's Herz gehört zu den wärmsten und
besten, denn durch den Dillettantismus und die Unklarheit der Meisten von ihnen, ist
die Kraft der revolutionären Ereignisse so schnell klein geworden, auch sie haben in
naher Zukunft an Oestreich eine Schuld zu bezahlen für das, was ihr unverständiger
Eifer und ihr Maugel an Einsicht überstürzt und verdorben hat. Wer das Buch aus
der Hand legt, hat eine Einsicht bekommen in das furchtbarste Jahr des Kaiscrstaats,
er hat nicht nur die Begebenheiten kennen gelernt, welche der Verfasser schildert, s"»-
dern er hat hinter den Zeilen auch gelesen, was der Verfasser selbst nicht immer ein¬
sieht, warum Vieles nicht anders kommen konnte. Und so sei dies Buch unsern Lesern
empfohlen; sie werden daraus lesen, daß die edelste Anlage, der reinste Wille und die
wärmste Gemüthlichkeit bei Einzelnen, wie bei Nationen nicht ausreicht, >sie für den
Staat und den Staat durch sie zu bilden.
Die Grenzboten sind seit einem Jahr bemüht die Aufmerksamkeit der Deutschen auf die
südslavischen Stämme und ihre Bedeutung für Oestreich und Deutschland zu lenken,
sie ergreifen mit Freuden die Gelegenheit ein gutes Buch zu empfehlen, aus welchem
eine Menge von Details-Kenntnissen und Anschauungen zu gewinnen sind. Von dem
serbischen oder illyrischen Stamm ist nächst deu Bosniern die Nationalität der Dalma¬
tiner und der böhmischen Grcnzstriche Montenegro und Herzegowina am wenigsten be¬
kannt; und doch liegt in den schwarzen Bergen des Vladika und in den tiefen Weide¬
thälern der christlichen Herzegowina die bewegende Kraft, durch welche der Serbe und
Kroäk mit dem Ragusauer, der Bewohner der waldigen Schumadia und der weißen
save mit dem Küstcnschiffcr des adriatischen Meeres dereinst in einen Staat verbunden
werden mag. Schon jetzt sind die Fäden geknüpft, welche die Rothmäntel des Baums
mit den Kampfgenossen Knicanins und mit den Raja in Bosnien verbinden, schon jetzt
haben eben dort russische Agenten, Erinnerungen an den serbischen Freiheitskrieg und
der griechische Glaube nach anderer Richtung hin an Nußland, die Seile eines unsicht¬
baren Netzes befestigt, und wir sehen eine bis jetzt schlafende Völkcrmasse uach zwei
verschiedenen Gegenden angezogen. Wird ein Zug der stärkere, so muß sich dort ein
Verhängnis! sür Oestreich sowohl als für Rußland bereiten. Bedenklich, ja mit Be-
sorgniß muß die regierende Kraft Oestreichs den Moment herankommen sehn, wo sie
ihre Herrschaft im Süden ausdehnen muß, um dort wenigstens ein abgeschlossener Staat
zu werden. Lüstern und vorsichtig wartet Rußland auf den Tag, wo sein Interesse
gebieten wird, über die Berge von Bosnien und Montenegro herüber in das adriatische
Meer zu greisen. Das letzte Jahr hat die Serben nur scheinbar dem Czar näher ge¬
bracht. Seine Orden und sein Gold sind auf die Führer der Südslaven gefallen, aber
in die Seelen der wilden Krieger fiel in diesem Kampf anch ein, freilich sehr verküm¬
mertes Ideal von bürgerlicher Freiheit, welches sie von Nußland entfernt. Die revo¬
lutionäre Gährung ist bei den Südslaven nnr unterdrückt, nicht beendigt. Niemand
kann wissen, wem zu Liebe oder Haß die Launen und Leidenschaften dieser Volker
nächstens aufglühen werden, sicher ist nur, daß das Auflodern derselben Rußland an¬
treiben muß, sie um jeden Preis zu unterdrücken. Und ferner ist sicher, daß jede
Besitzoeränderuug an dem morschen Gebäude des türkischen Reiches für Europa das
Signal zu einem entscheidenden Kampfe wird, wahrscheinlich aber, daß die jetzige Ge¬
neration diesen Kampf noch erleben wird. Wen deshalb das romantische Dunkel nicht
lockt, welches über den fast unbekannten südslavischen Ländern liegt, den möge die po¬
litische Wichtigkeit, welche sie für uns selbst haben, veranlassen, sich mit ihnen zu be¬
schäftigen. Wir können für diesen Zweck kein besseres Buch empfehlen, als das vor¬
liegende. Es ist demüthigend für uns Deutsche, die wir Grenznachbaren jener Unbe¬
kannten sind, daß es ein Engländer sein muß, welcher uns bei ihnen einführt. Ist
doch englische Auffassung der Geschichte und fremden Volkslebens so häufig besser und
verständiger als die unsere. Auch hier finden wir einen Mann, der ein gutes Auge für
das Charakteristische hat, genau und scharf beobachtet und alles Einzelne unter allge¬
meine Gesichtspunkte zu bringen weiß, wie es dem Sohn einer starken Nation, welche
sich der Herrschaft über die Erde rühmt, geziemt. Das Werk enthält nach einer kur¬
zen Einleitung über Ursprung und Entwicklung des slavischen Stammes, zuerst die
Beschreibung der Reise längs der dalmatischen Küste, dann Ausflüge in das Innere
bis nach Montenegro, und wieder in das Nareutathal der Herzegowina. Was ein
geübter Tourist, welcher gute Kenntnisse mitbringt, beobachten kann, erzählt der Ver¬
fasser in klarer und ruhiger Darstellung. Die Landschaft, die Meuscheu, ihre Persön¬
lichkeit, ihre Bildung, ihr Gemüth, ihre politischen Verhältnisse, Sagen, Gebrauche,
die Spuren der Vergangenheit, alles wird scharf und gut gezeichnet. Auch die Hilfs¬
quellen des Landes, den Culturzustand, Produktion und Konsumtion hat der praktische
Engländer iirs Auge gefaßt. Eine Fülle von Material und eine große Menge von
kleinen pikanten Schilderungen, Erzählungen nud Sagen unterbrechen die graben Linien
der Reiseroute. Mit besonderer Vorliebe ist Peter Petrowich Ncgosch, der Vladika von
Montenegro, geschildert, unsere Leser mögen sich dabei an ein Portrait von ihm er¬
innern, welches die Grenzboten in Ur. 28. deö vorigen Jahrganges brachten, in wel¬
chem er so gut nicht wegkommt. Am meisten aber danken wir dem Reisenden sür sei¬
neu Ausflug in die Herzegowina, das Meiste von dem, was er oft in kleinen Be-
merkungen über diesen wunderlichen Erdflcck mittheilt, ist ganz neu; es ist ein Terrain,
welches er für unser Wissen erobert hat. — Den Schluß des Werkes bildet eine Ge¬
schichte Dalmatiens von Ankunft der Slaven bis zum Frieden von 18l4, in welches
Bruchstücke vou venezianischen Tagebüchern und Aktenstücken ans dem sechzehnten Jahr¬
hundert (nach den „«loluunoitti. Klunci" von Kcilitrv) eingewebt find und daraus
eine Geschichte des berüchtigten Seeräuber-Volkes, der Uskvkcn, welche nach Minncci
und Paolo bearbeitet ist. Der gebildete Uebersetzer hat Recht gethan, diesen Theil des
Werkes zusammenzuziehn, da die Absicht des Verfassers ohnehin nicht gewesen war, mit
gelehrter Kritik den unsicheren Quellen und mangelhaften Hilfsmitteln, welche wir für
eine Geschichte Dalmatiens besitzen, zu Leibe zu gehn. — Auch der verstorbene H. Stieg¬
litz hat ein Buch über Dalmatien geschrieben, er hat die merkwürdige Geschicklichkeit
besessen, in einem ganzen Band sast nichts Verständiges über ein Land zu sagen, wo
bei jedem Schritt etwas Interessantes und Nützliches zu finden ist, hier ist das Gegen¬
theil. Es siud wenig Seiten in dem Buch, ans denen man nicht irgend etwas In¬
teressantes und Lehrreiches herausholt. Jeder Deutsche mit erträglichen Kenntnissen
würde Einzelnes gründlicher und genauer beobachtet habe», aber wir haben doch sehr
wenig Reisende, welche ein ähnliches Buch zu schreiben im Stande sind. Wir waren
bis jetzt ans Reisen zu leicht, entweder phrascnrciche Schöngeister oder Klatschweiber
oder Pedanten, noch sind gute Angen und bewußte Kraft sehr selten bei unseren Tou¬
risten; sie sind freilich auch nicht gar zu häusig bei denen, welche zu Hause bleiben.
In Warschau hatte sich das Gerücht verbreitet, der Kaiser werde mit seiner
Gemahlin und dem Großfürsten Constantin in Kurzem die Stadt besuchen und
vielleicht einige Wochen verweilen. Man traute anfangs dem Gerücht wenig und
glaubte, es sei dem Gehirn eines Spions entsprungen, der durch dasselbe einen
Fang zu machen gedenke. Gleichwohl war es Tagesgespräch, die Ladendiener
unterhielten sich darüber in deu Comptoirs, die Bürger controlirtcu im „Warschauer
Kurier" deu Artikel „Petersburg," in öffentlichen Lokalen wurde halblaut gefragt:
„Ist es wahr, daß Jemand von Petersburg kommen soll?" und die Spione riefen
mit lauter Stimme in den Kaffeestnben: „Meine Herren, wissen Sie schon, daß der
Kaiser kommt?" Es ist ein Glück, daß diese Agenten dreister als andere Leute
über Kaiser und Regierung sprechen und sich dadurch erkennbar machen. — Im
Allgemeinen schenkte man dem Geschwätz wenig Glauben und es begann wieder
zu verklingen. —
Plötzlich aber hörte mau die Spione in den öffentlichen Häusern verkünden:
„Meine Herren, was man gesagt, ist eine Lüge gewesen: der Kaiser wird nicht
kommen." Nun wußte man gewiß, daß der Kaiser kommen werde, denn die
Manier der Behörde, das Publikum so zu täusche» und irre zu führen, war alt
und bekannt. Warschau wurde anf's Neue verdrießlich, um so verdrießlicher, als
Man in des Fürsten Paskiewilsch gcmißbilligter allzu milder Verwaltung einen Grund
für die Reise des Kaisers zu finden glaubte. Bald kamen Bestätigungen. Zunächst
befahlen die Zirkelcvmmissäre den Hausbesitzern der Hauptstraßen, „ihre Häuser
in gutes Ansehn zu versetzen." Dieser Befehl wurde mit der russischen Beamten
eigenen Brutalität ertheilt. Birnen fünf Tagen sollten alle Häuser der „neuen
Welt," der „Krakauer Borstadt," der „Mazureu" und anderer Straßen, welche
den Weg vom königlichen Schlosse nach dem Lustschloß Lazienki bilden, theils
bestens gesäubert, theils neu angestrichen sein. Widerspenstigkeit war nicht zu
^warten, aber auch die Saumseligkeit bedrohet« mau mit Gefängnißstrafe. Ob die
Hausbesitzer sich Maurer und Zimmerleute durch Zauberei so plötzlich herbeischaff¬
en, oder selbst Pinsel und Winkelmaß ergriffen und Gerüste bauten, ob sie die
Geldmittel dazu besaßen oder nicht, der Befehl mußte erfüllt werden, keine Aus¬
rede galt. Gleichwohl reichte bei der Ausbesserung oder Erneuung manches Ge¬
bäudes die zugestandene Frist nicht zu und die Commissüre freueten sich, einige
Gulden Ordnungsstrafe in die Tasche stecken zu können. Natürlich knirschte man
mit den Zähnen über die Anmaßung der Behörde, allein darnach frug diese nicht,
und hätte in der That sich mit nichts als Fragen zu beschäftigen, wenn sie auf
alles Zähneknirschen achten wollte, das sie veranlaßt.
Die Geschäftigkeit in den Haupt- und ihren Nebenstraßen war sehr groß.
Die Straßenreinigungscompagnie war in feuriger Thätigkeit, und lud in den
Nebenstraßen die seit Monaten liegen gebliebenen Kehrichthaufen auf — welche
in einigen Theilen Warschaus, z. B. dem Rzypow. dem Poczcow, sich seit vielen
Jahren zu solchen Mistmassen aufgesammelt haben, daß an eine Wegräumung gar
nicht gedacht werden kann'), — während sie die Hauptstraßen von Schutt rei¬
nigte und die Mittelwege, welche chaussirt sind, mit Wasser deuchte, welches in
großen mit einem Sieb versehenen Wasserkannen herbeigefahren wurde.
Die Leute dieser schmutzigen Compagnie, welche als Uniform graue lange
Kittel und eine graue Mütze mit rothem Streif tragen und daher einige Aehnlich-
keit mit den Bewohnern der deutschen Zuchthäuser haben, sind nur Polen und
zwar größtenteils Sohne anständiger Familien, welche durch die russischen Adels¬
deputationen 1832, !!!! und 34 ihres Adels verlustig gegangen und dadurch dem
Schicksal versallen find, als Gemeine ihre Militärpflicht erfüllen zu müssen.
Der geschäftige Wirwar in den Straßen wurde um vieles durch eine —
wie man mir sagte vom Fürsten Paskiewitsch angeordnete — allgemeine Jagd auf
die Bettler vergrößert. Warschau ist von Bettlern so voll, wie vielleicht keine
andere Stadt. Die große Menge von Eigenthumscvnfiscationen, die Verdrängung
unzähliger Individuen von öffentlichen Posten bei dem Eintritt« der russischen
Tyrannei uach 1831, die Einziehung vieler Pensionen nach der Revolution und
andere Ereignisse haben das gewaltige Heer von Bettlern erzeugt. An den Frei¬
tagen ist eine Schätzung desselben leicht möglich, denn an diesen befindet es sich
in einer fast geordneten Bewegung. Haufen nach Häuser, Compagnie nach Com¬
pagnie macht denselben Kreislauf von Kaufladen zu Kaufladen wandernd. An
anderen Tagen findet man die sauberen Gesellen in den Eingängen der Restaura¬
tionen und der Kirchen aufgestellt. Ich hatte eiues Sonntags mir die Beschäfti¬
gung gemacht, vor einigen Kirchen die Bettler und Bettlerinnen zu zählen. Vor
der Marienkirche zählte ich öl, vor der Franziskanerkirche 63, vor der oberen
Heiligenkreuzkirche 147 und in dem langen Eingange der unterirdischen Heiligen¬
kreuzkirche, in welcher die Leichen eines Buchdruckers und eines andern Bürgers
zur Schau aufgestellt waren, 3». Die Zahl der Kirche» beträgt aber 40, und
man kann so leicht berechnen, daß Warschau in Betreff des niedrigsten Proleta¬
riats mit jeder europäischen Stadt wetteifern kann. Die Bettler geben den
Straßen freilich kein reizendes Ansehn, allein sie gehören doch zur Wahrheit
Warschaus. — Deshalb wurde aus die unglücklichen Bettelleute von den
Kosaken in allen Straßen eine förmliche Jagd gemacht. Hier und dort flüch¬
teten sie in die Hausdnrchgänge und wurden gewaltsam heraufgeschleppt, selbst
das Asylrecht der Kirchenthüren wurde unbeachtet gelassen, und in den Vorstädten
wurden sie ans ihren düstern Höhlen herausgeholt und in Haufen von zwei bis
dreihundert Personen, umringt von reitenden Kosaken, ans der Stadt trans-
Portirt. —
Ueber Tag und Stunde der Ankunft des Kaisers wußte im ganzen Lande
außer den höchsten Beamten Niemand etwas, und frug mau einen von diesen:
wann wird die Majestät kommen? so erhielt man regelmäßig die Antwort: „gar
nicht, gar nicht! es ist ein albernes Gerücht, welches ausgesprengt worden ist."
Doch straften sich die Beamten durch ihre eigenen Maßregeln Lügen. Denn Jeder¬
mann wußte, daß die Verordnung an die Thorcontrvleurs, keinen Menschen ohne
einen Paß in Warschau einzulassen, eine zuverlässige Ankündigung des Kaisers
war. Die Reisen des Kaisers in seinem Reiche haben eine Methode, welche sie
dem Publikum nie eher recht bekannt werden läßt, bevor sie vollbracht sind, und
die Methode hat einen Zweck, über welchen man nicht lange nachzusinnen braucht.
Am Donnerstag bemerkte man plötzlich, daß die russischen Soldaten ans ihren
langen knhhärenen Kitteln herausgeschält und in farbige Uniformen eingeknöpft
worden waren. Zugleich sah mau an allen Ecken der Hauptstraßen, an welchen
sich kein Budniksposten befand, einzelne Soldaten als Wächter aufgestellt. Die
Zahl der Kosaken und Gensdarmcnpatronillcn war mindestens verdreifacht, denn
auf Tritt und Schritt begegnete man ihnen. Allgemein wurde behauptet, ent¬
weder sei die Majestät schon eingetroffen, oder werde heute eintreffen. Endlich,
am andern Tage verkündete ein mächtig langer Freudcnartikel des „Warschauer
Kurier," verkündeten Anschlagzettel und Ausrufer, welche mit helltönenden Klin¬
geln dnrch alle Straßen eilten: „Der Kaiser ist da!" Der „Kurier" und die
"Russische Zeitung" jauchzten und versicherten, daß die ganze Einwohnerschaft in
Entzücken und Seligkeit schwimme. Ich habe nichts davon wahrnehmen können,
"is daß die Bürger mit ziemlich mürrischen Gesichtern hinter den Fenstergardinen
vvrgnckten, die Restaurationen viel leerer als sonst wäre», und viele arme Teufel,
die durch die Revolution um Posten oder Pensionen gekommen waren, mit Peti¬
tionen durch' die Straßen eilten, was bei einer jeden Anwesenheit des Kaisers
der Fall ist und einen, Boshaften als Beweis dienen kann, daß auf die Petitionen
wenig Rücksicht genommen wird.
Der Kaiser befand sich mit seinem Sohne im Lustschloß Lazicnki. Warum
nicht in dem königlichen Schlosse in Warschau? „Kein Czar darf in einem Hause
übernachten, in welchem ein Mord begangen wurde, der Senat gestattet es nicht!"
so lautet die Antwort der Warschauer. Sicher ist, daß der Kaiser seit der Revo¬
lution' nie mehr das Belvedere, das Lustschloß seines Bruders Eonstantin, be¬
wohnt hat. Man weiß, daß dort bei dem Ausbruch der Revolution durch die
Studenten und Fähnriche der Viccpräsident Lubowicki niedergestoßen und der Ge¬
neral Legendre ermordet wurde; und erzählt noch mehr über die Schrecken des Orts
als man weiß.
Das Lustschloß Lazicnki befindet sich eine halbe Stunde im Süden von War¬
schau auf dem flachen linken Wcichselnfer. Sein Erbauer war der letzte polnische
König Stanislaw August. Das Schloßgebäude in italienischem Styl steigt wie
das Werk eines Zauberers aus einem See empor, der sich vor ihm und hinter ihm
eiförmig ausstreckt und durch zwei überbrückte Kanäle verbunden ist. Auf dieser
kleinen Insel steht das Schloß, ein Springbrunnen, Orangerie und viele kolossale
Statuen ohne Kunstwerth. Ein außerordentlich großer Park von riesenhaften Ul¬
men, Eichen und Buchen, den unzählige Wege durchschneiden und in dessen dun¬
kelem Gebüsch sich viele Hauptwachen verbergen, umgibt die Insel. Dieses Schloß,
seit der Revolution das Absteigequartier des Kaisers, ist in der That das einzige
bewohnbare Besitzthum der Krone, welches nie durch Blut befleckt worden ist.
Die Amtsstunde des glücklichen Tages schlug; da stürzten aus allen Zirkel-
commissariaten Heere vou Polizeidienern von Haus zu Hans mit dem Befehle: am
heutigen, dem zweiten und dritten Abend vou der Dämmerung an bis mindestens
nach 11 Uhr Nachts sind die Gebäude wegen der Anwesenheit Sr. Majestät
bei strenger Strafe zu illuminiren. Und die Hausbesitzer und Miethbc-
wohner wußten nur zu gut, daß mit der Androhung nicht gescherzt werde, daß
Widerspenstigkeit und Saumseligkeit mit dreißig Gulden Strafe und im Wieder¬
holungsfalle mit Gefängniß gerügt wurde.
In den ersten Jahren nach der Revolution hatten diese erzwungenen Huldi¬
gungen noch mit großer Widerspenstigkeit zu kämpfen. Viele Polen, ja auch
mehrere deutsche Bürger waren zur Erleuchtung ihrer Fenster nicht zu bewegen.
Sie wurden vor Gericht geladen, verweigerten die Erlegung des Strafgeldes,
dieses vervielfältigte sich durch die fortgesetzte Widerspenstigkeit bei einigen bis zu
hohen Summen und endlich nahm sie die Behörde in Haft, pfändete aus und ging
sogar so weit, das Grundstück eines gewissen TrygowSki zu verkaufen. Jetzt wer¬
den die Illuminationen schon sehr glänzend und der Warschauer Kurier kann
dem Ausland weiter verkünden: „„die Liebe und Verehrung des kaiserlichen Hau¬
ses sprach sich in der glänzendsten und allgemeinsten Erleuchtung der Stadt aus
das Unzweifelhafteste aus."" In Wahrheit aber spricht sich stets darin nur die
Schamlosigkeit eines Despotismus ans, von dem wir in Deutschland keinen Be¬
griff haben.
Der Tag verging unter Tumult. Das Militär erfüllte die Straßen und
die Jlluminationsvorbereitungen an den öffentlichen Gebäuden verursachten ein Ge¬
hämmer und Getöse, als ob alle Handwerker der Stadt ihre Werkstätten auf die
Straße gerückt hätten. Mit der Dämmerung aber begannen die Fenster, Zimmer
und Hofgitter sich zu erleuchten. Eine so vollständige Illumination möchte nie¬
mals in Deutschland vorgekommen sein. Es war ohne Ausucchme jedes der
Straße zugewendete Fenster erhellt, denn die Polizeipersonen führten die strengste
Controle. Sie gingen von Haus zu Haus und wo sie etwa noch ein dunkeles
Fenster gewahrten, waren sie beeilt mit harten Worten den Wuth oder Miethbe¬
wohner auf seine Pflicht aufmerksam zu machen.
Die niedrigsten Klassen der Einwohnerschaft ermangelten nicht die Straßen zu
beleben, von einem öffentlichen Staatsgebäude zum anderen zu ziehen und zum
hundertsten Male mit gleichem Blödsinn die riesenhaften Huldignngsanstaltcn an¬
zustaunen und zu bejauchzen. Die ganze Rotunde des Staatsbankgebändes war
durch eine Halle von vier 56 Fuß hohen Lichtsäulen verdeckt, zwischen denen ein
ungeheures M. (Milolai) unter einer entsprechend großen Lichtkrone brannte;
sechs buntfarbig brennende Streifen zogen zur Rechten und zur Linken über die
ungeheuerm Seitengebäude hin. Diese Decoration des Baukgebändes hatte nicht
weniger als 16,000 Lampen und an 100 Talgkessel erfordert. Gleich reich waren
die Schatzcvmmission und andere Staatsgebäude decorirt. Städtische Amtsge¬
bäude hatten es natürlich auch uicht fehlen lassen, doch standen sie jenen Gebäu¬
den um etwas nach, deren Kassen das Glück genossen, vom Kaiser die seinigen
genannt zu werden. Es war eine Huldigung, welche der Kaiser sich selbst brachte,
sie glich der bunten Schleife, welche sich ein Mädchen vor dem Spiegel in das
Haar knüpft.
Die Kosten, welche solche Illuminationen verursachen, belaufen sich auf unge-
heure Summen. Professor Wiede in P. hat sich ein Mal die Mühe gemacht, sie
so genau als möglich zu berechnen, und gefunden, daß die Illumination sämmt¬
licher Staatsgebäude des Königreichs im Lause jedes Jahres durchschnittlich der
Staatskasse 1^ Million Gulden Kosten verursacht. Die Opfer, welche das Volk
des Königreichs an diesen bei Strafe anbefohlenen 15 bis 18 leuchtenden Huldi¬
gungen des Jahres directerweise zu bringen hat, mögen nicht geringer sein. Ein
einziges Fenster nur fünfzehn Mal des Jahres vorschriftmäßig mit zwei Lichtern,
jedes nnr zu 6 Pfennigen, erleuchtet, verursacht schon eine Ausgabe vou ungefähr
^ Thaler. Nun zähle mau die Fenster der Städte. Man hat oft gesagt, in Ru߬
land herrsche zwar Ungerechtigkeit und Gewalt, aber kein Steuerdruck. Allem diese
unfreiwilligen Huldigungen sind für die Städtebewohner eine Steuer, die wohl
jede deutsche Steuer an Schwere übertrifft.
Durch die Straßen der Stadt wallend, fiel einem ein einziges Hans wegen
der allzu geringen Theilnahme an der allgemeinen Huldigung auf. Es war das
Hütel des preußischen Generalconsnls Niedcrstädtcr in der krakauer Vorstadt.
Auf dem eisernen Hvfstacket brannten in vier schlechten Blumentöpfen vier kleine
Talgflämmchcn; sie sielen mehr aus als die schönste Erleuchtung. Das Haus des
östreichischen Consuls dagegen war durch alle Fenster erleuchtet, ein Ausdruck der
nachgebenden östreichischen Gemüthlichkeit, wie das des Herrn ^von Niederstädter
ein Ausdruck des kalten preußischen Sarkasmus.
Uebrigens waren die Straßen der Stadt nicht von Menschen überfüllt, denn
die meisten waren gleich bei Eintritt der Dämmerung nach Lazienki gezogen, wo
der Kaiser war und Freischan in Amphitheater stattfand. An diese gnädige Ver¬
kündigung des Freitheaters war aber eine Bedingung geknüpft: „Niemandem wird
der Zutritt zum Amphitheater gewährt, der sich nicht eine Karte vom Municipal¬
gericht ausgewirkt hat."
Der Ungestüm der Masse bei der Bewerbung um Freikarten war so groß,
daß das Geländer an der untern Treppe des Municipalgcrtchts wcgbrach. In
Folge dessen fanden sogleich dreizehn Verhaftungen und verschiedene unmittelbare
Mißhandlungen vou Seiten der Polizeipersvnen statt. Eine kleine Episode des
Huldigungsjubels, von der ich Augenzeuge war.
Wer die bessere nichtrussische Gesellschaft Warschaus keimen zu lernen Lust
hatte, dem bot an jenem Abende das „Theater für Verschiedenheit" Gelegenheit;
denn Alles, was einen Beweis davon geben wollte, daß es derartige Hnldigungs-
feste zu würdigen wisse, befand sich in diesem, nicht aber beim Lustschlosse Lazieuki.
Und hier fiel der preußische Generalconsul wieder auf. Während alles Hohe und
Höchste von der russischen Bevölkerung, der ganze Beamtenstand und die Herren
der diplomatischen Corporation nach Lazienki strömten, um dem Kaiser zu huldigen,
saß Herr v. Niederstädter recht gemüthlich in genanntem kleinen Stadttheater, und
erfreute sich an der Ueberzeugung, heute mehr als an andern Abenden von dem
Publikum gesehen zu werden.
In Lazienki war den ganzen Tag große Audienz gewesen. Die öffentliche
Festlichkeit aber hatte ebenfalls mit der Dämmerung begonnen. Die Illumination/
welche ich hier gesehen, übersteigt an Großartigkeit alles Aehnliche, was mir;e
vorgekommen ist. Die unzähligen Parkwege waren alle mit hohen doppelt"
Geländern besetzt, welche mit tausenden von brennenden Lampen behängt waren.
Alle Strecken weit waren in diesen Wegen hohe brennende Pforten und riesen¬
hafte Figuren, Kreuze, Sonnen, Sterne, Kränze :c. aufgestellt. Auf den bren¬
nenden Namenszug des Kaisers und des Großfürsten stieß mau unzählige M^e,
Pas Schloß selbst war aus seinen Zinnen durch flammende Pechkessel erleuchtet,
das ganze Seeufer mit einer Menge von buntfarbigen Lampenlinien besetzt, die
Brücken waren von Licht übergössen, und enizclue riesenhafte Bäume so mit Lam-
Ven behängt, daß sich die Zweige unter der Last dieser seltsamen Huldigung
beugten. Sogar die Reiterstatue des Königs Sobiesli war gänzlich unter einem
ungeheuer» Jllnmiuationsgerüste vergraben, und jeden mußte die bittre Barbarei be¬
leidigen, mit welcher die glänzendste polnische Erinnerung durch jämmerliches Flitter¬
wesen entweihet wurde. In Berlin steht Napoleons Statue im königlichen Mu¬
seum auf einem Ehrenplatz; in Nußland versteckt man das Bild Sobieski's. Frei¬
lich ist Napoleon todt und Sobiesli lebt noch.
Bor dem Schloßgebäude befanden sich drei Militärmusikchöre, welche abwech¬
selnd ihre Stücke vortrugen. Unmittelbar vor der Glasthür des Speisesaals in
welchem die vornehmsten Würdenträger tafelte», führte ein fünf Personen
starkes Sängerchor seine Künste ans. Die Sänger waren gemeine russische Solda¬
ten und ihre Kehlen schienen den Branntwein des Lagers nicht gemieden zu haben.
Sie sangen ihre Nationalwersen nur durch die Fistel und in der möglichsten Höhe,
so daß ihre Vorträge für einen Nichtrussen ziemlich widerlich wurden. Dazu kam
eine originelle Geberdcnbegleitung und das Nachspiel, welches aus einer Me»ge
vou Verbeugungen, Wendungen und allerhand grotesken und possenhaften Körper^
Verrenkungen bestand. Man wurde durch diese Sänger an die Festgebräuche der
Huronen erinnert. Bei den vornehmen Russen aber sind diele Nationalsänger außer¬
ordentlich beliebt und bei ihren großen Festen darf der Tafel ein solches Corps
nicht fehlen. Der Kaiser Alexander schätzte den abscheulichen Gesang dieser Na¬
tionalsänger so hoch, daß er dem verstorbene» Könige von Preußen ein Geschenk
Mit einer Gesellschaft derselben machte. In Berlin aber konnte man ihrem Gesang
«ut Possenspiel keinen Geschmack abgewinnen und hielt es in späterer Zeit für
verständig, ihnen statt der Kapelle einen Kartoffelacker zur Bewirtschaftung anzu¬
weisen. —
Das Publikum war in so großer Masse vorhanden, daß man vor dem
Schlosse und auf anderen Hauptplätzen erdrückt zu werden fürchten mußte.
Wenn man die russischen Beamten und Kaufleute,'die polnischen Spötter und die
deutschen Neugierigen abrechnete, hätte man es „die üble Gesellschaft von Warschau"
nennen könne». Und die viele» neuerbauten Hauptwachen! Sie waren eine böse
Zugabe zu dem lärmend fröhlichen Volksfest. Der Unaufmerksame sah sie nicht,
denn man hatte sie versteckt und überdies ging in ihrer Nähe die Illumination zu
Ende, so daß sie Selbstschüssen glichen, die man in den düsteren Winkeln der
Garten unter Blättern anbringt. Am heutigen Abend hatten sie eine doppelte
Besatzung, und außerdem war die Mannschaft der nahen Cavalleriekaserne consig-
nirt und zum Aufsitzen bereit, so daß der glückliche Ablauf des Huldiguugssestes
hier war es recht eigentlich ein Selbsthuldigungssest — durch circa 3000
Mann verbürgt wurde.
Gegen acht Uhr wälzte sich der größte Theil des Publikums nach dein Am¬
phitheater. Dies steht auf dem nördlichen Seeufer ungefähr zweihundert Schritte
von dem Schlosse entfernt. Die Plätze der Zuschauer befinden sich auf etwa sechs
Terrassen, welche zu der Höhe voll 4V Fuß aufstiegen und von einer Anzahl un¬
geheuerer sehr künstlicher Kreuzgewölbe getragen werden. Der ganze Ban bildet
einen Halbkreis, ist nicht überdeckt und entbehrt, einige sehr schlechte Sandstcin-
statuen abgerechnet, jedes Schmuckes; imponirt aber doch durch seine majestätische
Größe. Der tiefste innere Raum desselben, dessen Bänke ans farbigem Marmor
gemeißelt sind, dient ausschließlich dem Kaiser und dem Fürsten PaSkiewitsch. Dicht
vor ihm fällt das Ufer schön gemauert in den See hinab. In diesem liegt eine
kleine Insel und auf dieser erst die Bühne, deren Deckgewölbe von den lebendi¬
gen Blättern hoher herrlicher Ulmen gebildet wird.
Man gab eine der Schauvpern mit großem Ballet, welche in neurer Zeit
eigens für dieses Theater fabrizirt worden sind: „Die Rettung der Verwünschten."
Zuerst erschien eine einzelne Person, der erste Liebhaber und Held. Er steht sich
ans ein menschenleeres Eiland geschleudert, beklagt vor Gott sein jämmerliches
Schicksal und gelobt, sich nie an dem Reize holder Frauen zu erfreuen, wenn er nur
aus dieser traurigen Einsamkeit erlöst werde. Siehe, da naht ein Schiff, bis in
die Spitzen der Maste hinauf mit unzähligen bunten Lampen illuminirt. Es trägt
eine zahlreiche Bevölkerung, welche zum Theil in phantastischer Gruppirung und
Stellung hoch oben im Tauwerk hängt. Es läuft in die Bucht, den schmalen
Seearm zwischen der Insel-Bühne und dem eigentlichen Amphitheater ein, und
das Schiffsvolk springt freudenvoll ans das Eiland. Nun beginnt die eigentliche dra¬
matische Handlung. Jener unglückliche Robinson, der jetzt aus seiner schrecklichen
Einsamkeit erlöst wurde, ist in seinem Gelübde nicht taktfest; kaum hat er ein
reizendes Mädchen von der neuen Gesellschaft erblickt, als er sich zum Sterben in
sie verliebt, ihr mit Fußfall huldigt und sie bewegt, sich ihm zu versprechen. In
dem Augenblicke, wo dies geschieht, erbleicht die Braut und stirbt mit rosenfarbenen
Wangen. Ihre Freunde und Freundinnen, welche sie für ihren Glücks- und Leit¬
stern gehalten haben, gerathen darüber in maßlosen Jammer, ziehen ihr illnmi-
nirtcs Schiff wieder heran und fliehen das unheilvolle Eiland. So befindet sich
denn jener unglückliche Robinson wieder in seiner schrecklichen Einsamkeit. EM
einziges menschliches Wesen, seine Braut, ist bei ihm, aber sie ist todt. Da be¬
schwört er wieder den Gott, den Himmel und stehe, es steuert dasselbe illnniinirte
Schiff wieder aus dem Meere daher, aber jetzt schweben auf ihm schwarze Gestalten,
die für ein Leichenbegängnis) passen. Sie besteigen das Eiland, umringen die
Leiche, die auf einer Moosbank liegt, und da ein Weiser, den sie bei sich h^
ben, an den rosigen Wangen der Leiche gewahrt, daß sie keine wirkliche
Leiche, sondern nur wahrscheinlich aus Liebe in eine Erstarrung versunken ist,
so entfallen allen Umstehenden plötzlich die Trauermäntel und man erblickt das
Personal des Ballets in festlichem zum Theil sehr wenig schamhaftem Kostüm.
Das Ballet beginnt. Durch die zauberhafte Wirkung desselben erwacht die Leiche
und nun bewegt sich der Tanz um das glückliche Liebespaar, bis endlich Amor
alle seine Pfeile an demselben verschossen und Hymen sein Oel auf dasselbe aus¬
gegossen hat. —
Der Kaiser selbst wohnte dieser dramatischen Vorstellung nicht bei. Und so
viele gleiche Feste wegen seiner Anwesenheit seit der Revolution stattgefunden
haben, nie hat er an einem persönlich Theil genommen. Seine vorsichtige Zurück¬
haltung hätte doch die ungeheure Wachtmannschaft, welche in den Kreuzgewölben
unter dem Amphitheater aufgestellt war, unnöthig gemacht. Sie bestand aus
etwa zweihundert Jnfanteristen, die nicht blos die Bajonnette aufgesteckt hatten,
sondern auch mit einer ganz ansehnlichen Parthie scharfer Patronen versehen
waren. —
Unmittelbar nach der dramatischen Vorstellung wurde ein Feuerwerk eröffnet,
so großartig, wie mau es uur in Petersburg und Warschau findet. Zwei über's
Krenz steigende Garben vou je 500 Raketen machten den Anfang. Ein und
eine halbe Stunde lang vertrieben sich gegenseitig die Erscheinungen von Erdwür¬
fen, Hölleuschwärmern, Raketengarbcu, Fenerrüdern, Leuchtfeuerkräuzcn und feurigen
Figuren, die bald als Schwimmvögel aus dem See daherkamen, bald als Drachen
oder Gespenster durch die Luft zogen. Ich hörte die Unkosten dieses Feuerwerks
auf 13 bis 15,000 Thaler schätzen. Bedenkt man, daß bei jedem in den Sommer
fallenden Hoffeste in Lazienki ein solches Feuerwerk abgebrannt wird, so findet man,
daß die Verherrlichungen des Kaisers nicht ganz billig sind. Es brannten nahe
an drei Millionen Lampen. An Oel dazu hatte ein bekanntes Geschäft B—,
205 Tonnen liefern müssen und davou wird nichts übrig geblieben sein. Die
Kosten des ganzen Festes aber schlug mau auf 1,700,000 Gulden an.
Diese Kosten trägt die polnische Staatscasse, nicht aber die kaiserliche Cha-
touille. Die Huldiguugsfestlichkeiten beim Lustschloß Lazienki wurden durch die
Quartiersteucr gedeckt. Als der Kaiser Nicolaus zum ersten Male nach der Re¬
volution in Warschau erschien, sagte er zu der Deputation von Bürgern, welche
ihm uach alter Sitte auf zwei silbernen Tellern Salz und Brot überreichte und
um eine milde Behandlung des Königreichs bat: „erzieht Eure Söhne besser, so
werden sie einer mildern Behandlung wnthcr sein als Ihr. Ihr sollt mir ans
Eltern eigenen Mitteln eine Citadelle banen, die Euch in Ruhe erhalten soll."
Durch diese Worte wurde die drückende Quartiersteuer geschaffen, über welche je¬
der Grundbesitzer Ach und Wehe schrie. Vermittelst der Ouarticrstcncr hat
Man bis zum Jahre 1836 die Citadelle von Warschau und die Festung Dauplin
N'baut, Brzesclitewski befestigt und Zamosc und Modliu verstärkt. Das aber ist
^ug.se geschehen und die Ouartiersteuer besteht noch. Seit sie ihren ersten Zweck
verloren, hat man ihr die Huldigungssestc zum Zweck gegeben und für die Sum¬
men, welche sie eindringt, können die kaiserlichen Feste allerdings großartig ge¬
feiert werden, zur Noth noch großartiger, als der Fall. Die verschiedenen Aemter
nehmen die Gelder für die Illumination ihrer Gebäude übrigens nicht von
der Ouartiersteuer, sondern ans ihren Cassen. Die ganze Last der Kosten
drückt daher auf das Volk, und wie schwer sie ihm zu tragen ist, davon erhält
man eiuen Begriff, wenn mau die übrigen seit der Revolution auferlegten Steuern
in Betracht zieht. Um wie viel sie mehr betragen als die Abgaben vor der Re¬
volution, ergibt sich daraus, daß das Königreich damals alle seine Einnahmen
nur für sich verwendete und als Entschädigung für die kostspieligen Milirärspielc-
rcieu des Großfürsten Konstantin noch 4 Millionen Gulden von Nußland bezog,
dagegen es jetzt bei der Erhaltung seiner »och einmal so großen Militärmacht und
bei Bestreitung aller seiner Ausgaben noch 4 Millionen Gulden jährlich an Nußland
abliefern muß.
Die russische Regierung zwingt nicht nur durch Gesetz und schwere Strafen
die Städte, dein Kaiser irgend ein Mal dnrch Illumination und Feuerwerk eine
Freude zu machen, sondern diese Erleuchtungen finden alle Jahre regelmäßig und
abgeschmackt häufig statt und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er anwesend ist oder
nicht. Daher illuminirt an den russischen Gallatagen nicht blos eine Stadt des
Reichs, die Residenz oder diejenige, in welcher sich gerade der Kaiser befindet,
sondern eine jede, in welcher eine kaiserliche Behörde sitzt, also gewissermaßen das
ganze Reich.
Daß diese Festfeiern keine Liebesbeweise des Volkes sind, bezeugte der Kaiser
selbst durch sein Verhalten. Er ließ sich nirgend blicken. Während des Feuer¬
werks waren Aller Blicke auf die offenen Glasthüren des großen Saales im ersten
Stockwerk des Schlosses gerichtet. Mau wußte, in diesem Locale befand sich der
Kaiser. Allein nicht einmal fein Schatten wurde sichtbar, an der Festtafel im
Parterresaale saß eine Masse von Generälen und anderer Großen, auch der
Fürst Paskiewitsch, allein der Kaiser nicht.
Mit dem Schluß des Feuerwerks trat der letzte Act des Festes ein und er
harmonirte vortrefflich mit den übrigen Acten. Alle Polizcicoutrvleurs und
lizeidieuer, welche sich im Publikum befanden und jetzt vor dem Schloßgebäude
und an den Brücken Stellung genommen hatten, brachen plötzlich in das GeschO
aus: „uun uach Hanse, allons nach Hause." Das Publikum eilte Lazienki zu
verlassen. Das Gedräng in den schmalen Gängen und auf den Brücken war ent¬
setzlich, und stopfte die Fluth der Menschen; desto mehr aber drängten die Polizeiper-
sonen, welche zuletzt Soldaten von der Infanterie zur Hilfe gezogen hatten. 2^'
Betragen war skandalös. In Deutschland würde man diese Leute mit Ohr¬
feigen bessere Sitte gelehrt haben, hier erhielten viele Personen Kolbenstöße und
Ohrfeigen von Seiten der Polizei.
In Zeit von einer halben Stunde hatte das flüchtende Publikum den Schloß-
Platz, den Park und alle übrigen Orte geräumt. Im Schloßgebäude saßen
die hohen Offiziere und Beamten zusammen, sonst herrschte in ganz Lazienki wie¬
der die tiefste Stille. Nur die Fußtritte der Polizisten und Wachtposten und das
Geräusch der Patrouillen war zu hören. Vierzehn Patrouillen wurden in den
Park geschickt, eine fünfzehnte hatte einen fortwährenden Kreislauf um die eine
Seehälfte, das Schloß und Amphitheater zu macheu, eine sechzehnte ebenso über
die Sobieskibrücke »in die andere Seehälfte; alle Eingänge zum Park blieben
mit Wachtposten besetzt. Daraus ging der Kaiser nach elf libr ein wenig mit
einem anwesenden preußischen General vor dem Schloße auf und ab.
Bei Tage schien der Monarch sich sicherer zu fühlen, als er mit dem Fürsten
Pastiewitsch in offener Kalesche dnrch einige Straßen der Stadt fühl^und sich da¬
bei nur von den fünf Tscherkessen begleiten ließ, welche gewöhnlich die Bedeckung
des Fürsten Pastiewitsch bilden. Allein es waren die umständlichsten Vorsichtsma߬
regeln getroffen. An den Straßenecken standen einzelne Soldaten als Wachen, in
den Hausdurchgäugeu und Hausfluren kleine Trupps von Soldaten, die vier ho¬
hen Wachtthürme der Stadt, welche eigentlich der Feuersbrünste halber erbaut
find, hatten Doppelposten erhalten, alles Fuhrwerk wurde schon mehrere Stunden
vor der Durchfahrt des Kaisers ans den bestimmten Straßen gewiesen, und mehr
als zwei Personen durften nicht mit einander gehe». Als der Kaiser in der engen
Heiligenkreuzstraße der Grase» Nzewuska einen Besuch mache» und doch nicht
Mit einer auffallenden Bedeckung fahren wollte, hielt man sogar eine Gesellschaft
von 2 Personen für gefährlich. Hin- und Rückfahrt des Monarchen fanden au¬
ßerdem so statt, daß sie eiuer Flucht glichen. Nie sah ich Jemanden schneller
fahren. Natürlich erzählte die russische Zeitung darauf, daß Se. Majestät ohne
Bedeckung fahre nud sich in der Mitte der Warschauer so sicher fühle als in der
Mitte seiner treuesten Diener.
Das ist ein Festgesicht der russischen Tyrannei. Auch Diejenigen, welche in
Deutschland über fürstlichen Druck klagen und so gerne von Sklaverei und Schmach
Predigen, werden es neu nud seltsam finden.
Als im April 1848 für den deutschen Reichstag gewählt werden sollte, rief
der Baierkönig Max seineu Baiern zu: „Vergesset auch nicht, daß wir Baiern sind.
Ueber tausend Jahre zählt unsere Geschichte. Baiern wollen wir sein und blei¬
ben." Am 7. November 1849 hat der bairische Minister Herr v. d. Pfordten,
nachdem er acht Monate hindurch für das Zustandekommen des deutschen Bundes¬
staates in bairischer Weise gewirkt, in der Kammer der Abgeordnete» gezeigt, wie
die Idee eines solchen Bundesstaates ein Hirngespinnst sei, wie das Ziel der baier-
schen Politik ganz allein die Ausbildung der vollen monarchischen Souveränität
Baierns sein dürfe. Das sagte er am Schlüsse seiner Rede über die deutsche
Frage. Die Kammer aber gab ihm das verlangte Vertrauensvotum, billigte sein
bisheriges Verfahren in der deutschen Sache. Die Baiern haben demnach der
Ermahnung ihres Königs insofern Folge geleistet, als sie geblieben sind, was sie
gewesen, seitdem es eine deutsche Geschichte gibt, nämlich Baiern.
Was wir aber nicht vergessen dürfen, das ist derjenige Theil der baierschen
Dinge, welcher auf der Grenzscheide liegt zwischen Geschichte und Gegenwart.
In der Politik ist bekanntlich Nichts gefährlicher als Selbsttäuschung oder, wie
solche bei uns Deutschen am allergewöhnlichsten sich darzustellen pflegt, als das
Hoffen ins Blaue hinein.
Verfolgen wir die baierschen Dinge während des eben gedachten Zeitraumes
und die Schritte der baierschen Regierung in der deutschen Sache, um das Facit
zu ziehen, so lautet dieses nicht anders als so: Nicht die Größe und die
Macht Deutschlands, sondern die Vergrößerung Baierns, nicht
die Einheit Deutschlands, sondern die Vereinigung Deutschlands
unter die baiersche Hegemonie, das ist es, was Baiern erstrebt.
Man erinnert sich noch, daß im März 1848 die deutsche Einheit plötzlich
umschlug in die Kundgebung des bittersten Hasses der süddeutschen Kleinstaaten
gegen Preußen: inmitten des allgemeinen Handelns im Westen und im Osten
empfanden dieselben lebhafter als je ihre Unbedentsamkeit, ihre Unfähigkeit, für
sich allein Etwas in der Welt zu thun; und-da sie es nicht über sich gewinnen
konnten, an dem bereits vorhandenen festen Fundamente fortbauen zu helfe», übte»
sie gegen dasselbe ihre Kraft, d. h. ihren Neid. So blieben diese Kleinstaaten
was sie waren, d. h. Staatenschntt oder Staatenembryos. Nirgends aber war
der Preußenhaß, also das Widerstreben — das wissentliche oder unwissentliche —
gegen den deutschen Staat, nirgends war der Preußenhaß grimmiger als in Baiern,
das doch Preußen so unendlich viel und noch weit mehr sogar als Frankreich Z»
danken hat; nirgends ferner wurde dieser Haß von den Einen so zur Schau ge¬
tragen, von den Andern mit so feiner Berechnung genährt und unterhalten als
in Baiern, das sich komischer Weise als einen Nebenbuhler Preußens betrachtet,
wie es sich vor hundert Jahren als einen Nebenbuhler Oestreichs betrachtet hat.
Dieser Preußenhaß nahm nur für eine Zeit lang das Schiboleth Friedrich Wil-
Helm IV. an: Monate waren bereits verflossen, nachdem dieser sich unterfangen,
den Platz einzunehmen oder einnehmen zu wollen, der ihm von Gottes und Rechts¬
wegen (wenn auch allerdings weder nach dem gewöhnlich sogenannten historischen
Rechte, noch nach dem römischen des Herrn Professor v. d. Pfordten) zukäme;
nachdem man in München, nach vorhergegangener Bekanntmachung in
den Zeitungen — also mindestens mit hoher,obrigkeitlicher Bewilligung —
sein Bildniß öffentlich verbrannt hatte; man war längst zu der Ueberzeugung ge¬
kommen, daß der preußische König nur in einem Augenblicke des freudige» Rau¬
sches, in dem Zustande der Ueberschwenglichkeit, in den gerade die Besten dazumal
am tiefsten sich versenkt hatten, daß er nur in einem solchen Augenblicke sich an
die Spitze der Nation gestellt habe: und noch war der Preußenhaß, d. h. die
deutschfeindliche Gesinnung, in Baiern derselbe, der er in den Märztagen gewesen;
noch heutigen Tages sind Ultramontane und Absolutisten aus Einem Felde mit
den Atheisten in Staat und Kirche, wenn es die Darlegung jenes widerwärtigen
Hasses gilt.
Man erinnert sich aber auch, wie zu derselben Zeit, als man in Baiern
offiziell zuerst die Hände faltete, um zu beten: „Herr, ich danke dir, daß du uns
nicht gemacht hast wie diese, sondern zu Baiern, denen du noch neuerdings den
König Max geschenkt," man erinnert sich noch, wie zu derselben Zeit in den
baierschen Blättern die Rede war von einem Südost-, südwest- und norddeutschen
Staateucomplcx, deren natürliche Häupter Oestreich, Baiern und Preußen seien,
wie ja Baiern, trotz seines geringen Umfanges, an Macht Preußen die Wage
zu halten vermöge n. dergl in., man erinnert sich noch daran, und der Kundige
hat damals ohne Mühe das Metier derer erkannt, welche jenen Artikeln die Ent¬
stehung gegeben, so wie derer, welche Vaterstelle bei ihnen vertraten oder bei
ihnen Gevatter standen, obgleich die Namen etwas unleserlich geschrieben waren.
Ungleich wichtiger aber noch, weil ungleich mehr geeignet, Aufschluß zu geben
über Baierns Absichten, ist der baiersche Verfassungsentwurf, welcher
ganz kurz nach dem Erscheinen des Entwurfes der siebenzehn „von Baiern" —
es ist nicht gesagt: wem — „vorgelegt" wurde. Ein Vergleich dieses Entwurfes
»>it dem der siebenzehn einerseits und mit den neuerdings von Baiern an Preußen
gestellten Forderungen in Bezug auf den preußischen Entwurf andererseits ist sehr
belehrend; ich kann hier natürlich nur einige Andeutungen geben. Der Entwurf
der siebenzehn ist seinem Hauptinhalte nach bekannt, er. bildet das Wesentliche
'n dem Codex, welchen nachmals die „verfassunggebende" Nationalversammlung
lieferungsweise edirt hat. Der baiersche „Entwurf von Grundzügen" wollte einen
Reichstag, zusammengesetzt aus den Bevollmächtigten der Einzelstaaten, die an die
Jnstructionen ihrer Regierungen gebunden seien und deren Beschlußfassung und
Abstimmung durch Vereinbarung der Einzelregierungen geordnet werde; an der
Spitze des Reichstages, also als wirkliche Ceutralregiernug im Gegensatze zu der
scheinbaren des Reichstages, ein Directorium, „bestehend aus den Regierungen
der drei größeren Staaten Deutschlands." Dagegen wurden die Grundrechte fast
unverändert aus dem Entwurfe der siebenzehn herübergenommen, es wurde also
gewährt: Freizügigkeit, allgemeines deutsches Staatsbürgerrecht, Aufhebung aller
Binnengrcnzzölle u. s. w. Heute stemmt sich Baiern gegen den Wegfall der Binnen-
greuzzöllc, gegen Freizügigkeit, gegen Aushebung der Familienfideicommisse und
gegen eine Reihe anderer freisinniger Artikel des preußischen Entwurfes mit nicht
minderer Macht als gegen die preußische Vorstandschaft im Bundesstaate.
Ein Hauptgrund aber, den Baiern geltend macht gegen die Gründung des
deutschen Bundesstaates, zu welchem Preußen jetzt die Hand bietet, ist der Aus¬
schluß Oestreichs. Daß mit Oestreich ein deutscher Bundesstaat nicht gegründet
werden kaun, das wissen wir, und lächerlich würde sich der machen, der hente
noch Beweise hiefür bringen wollte. Dazu war vor einem Jahre allenfalls noch
Zeit, heute nicht mehr. Es ist hente nicht mehr erlaubt, von der „Schwierigkeit
der Lösung der östreichischen Frage" zu reden, weil das gar keine Frage mehr
sein kann; es ist nicht mehr erlaubt, von den Schwierigkeiten einer Reise nach
dem Monde zu reden, seitdem das Gravitationögesetz erkannt ist. Mit Oestreich
den dentschen Staat gründen wollen, heißt eben nichts Anderes, als der Grün-
dung des deutschen Staates sich widersetzen, die Absicht aussprechen, ihn durch
einen Hokuspokns hinweg zu escamvtircu oder ihn zu ersetze» durch das alte
Reich, durch den alten Bund. — Allein die Staatsmänner, d. h. die gelernten
Politiker in Baiern, Würtemberg, Hannover, Sachsen, wissen sie dies denn nicht
so gut wie wir? Gewiß wissen sie es, und eben weil sie es wissen, rufen sie
Oestreich, Oestreich! In Bezug ans Baiern, mit dem wir es vor der Hand allein
zu thun haben, können wir diesen Vernnnftschluß durch eine Thatsache erläutern.
Im December des vorigen Jahres ließ der bairische Hof durch den Prinzen Karl
in Potsdam anbieten, Oestreich ans dem deutsche» Bunde wegzulassen, wogegen
Preußen das Projekt der Dreiheit, an deren Spitze die Großmächte Preußen und
i/l5um loro-reif) Baiern stehen sollten, genehmigen möge. Als aber Preußen hier¬
auf sich nicht einlassen wollte, wurde der Freiherr v. Closen nach Olmütz gesandt,
un> für die Dreiheit mit Oestreich zu wirken. Seitdem erklärt Baiern Einheit
durch „Ganzheit," seitdem ist ein Verräther, wer von einem „Aufschlüsse Oest¬
reichs von Deutschland" redet. Denen, die sich ans die Sprache der Diplomatie
ein wenig versteh», hat übrigens Herr v. d. Pfordten bereits vor einem halben
Jahre gesagt, was Baiern eigentlich will. In der Sitzung der Abgeordneten vom
4. Juni ließ sich also vernehmen: „Warum gerade Baiern mit so großer Kon¬
sequenz darauf beharrt, daß Oestreich der Eintritt in Deutschland offen gehalten
werde? Als dritter Staat Deutschlands ist Baiern berufen, zwi¬
schen den Interessen der beiden großen Staatskörper zu vermit¬
teln." Ja wohl, ja wohl, Herr v. d. Pfordten! Er war damals noch nicht
ganz festgesottcuer Diplomat, er hatte noch etwas von der Natürlichkeit, die er
sich in Leipzig als livctvi- mi^iiilio»« zugelegt.
DaS also ist uns klar, Baiern will uicht, daß ein deutscher Bundesstaat
zu Stande komme.- Seit dem Beginn der deutschen Bewegung hat die baiersche
Regierung fast unausgesetzt die deutsche Einheit im Munde geführt, während sie
fortwährend Ränke gegen dieselbe schmiedete. Als wir noch in's Blaue hinein
nach „Einheit" riefen, ohne uns selbst zu verstehen, da sagte Baiern: „Ja, wir
wollen die deutsche Einheit, aber vergessen wir nicht, Baiern zu sein, Baiern wol¬
len wir sein und bleiben;" als wir aber ans dem angenehmen Rausche erwacht
waren nud die phantastische Einheit übersetzten durch „nationalen deutschen Staat,"
da fing Baiern an „Einheit" zu rufen, Einheit, Ganzheit, kein Deutschland ohne
Oestreich, kein Kleindeutschland" u. s. f. Wie schlau!
Nachdem die baiersche Regierung nicht mehr im Stande war, sich ihren Platz
in der deutschen Frage „offen" zu erhalte», hat sie sich ihr geradezu feindlich
entgegengestellt. Aber was ist es denn endlich, das Baiern will? wenn der Bun-
desstaat dennoch zu Stande kommt — und mehr als jemals sind wir gegenwär¬
tig berechtigt, solcher Hoffnung Raum zu geben —was will Baiern dann? Baiern
will selbstständig, d. h. röllig souverän sein und die Hegemonie mindestens über
Südwestdelttschlaud haben. (5s wäre ein Kampf gegen Windmühlen, das Wider¬
sinnige solchen Strebens oder solcher Plane widerlegen zu wollen: Diejenigen, welche
daran glaube», würden ebensowenig durch bloße Ncruunftgründe überführt wer¬
den, als Leute, welche die mathematischen Grundsätze uicht -anerkennen, von der
Wahrheit derselbe» überzeugt werden würden. Der gemeine Mann in Baiern
glaubt nun einmal an jenen Widersinn, und Herr v. d. Pfordten, der getreue
Diener seines Herrn, welcher Herr ganz kurz nach seinem Regierungsantritte die
Devise: „Ich lasse mich nicht mediatisiren" sich gewählt hat, Herr v. d. Pfordten
thut wohlweislich, als ob er daran glaubte. Herr v. d. Pfordten sagt ganz naiv
in einer dem Verwaltungsräthe eingereichten Note: „Baiern bedarf des
Schutzes nicht." Warum uicht gar! Herr v. d. Pfordten ist zwar nur ein
gelernter Professor der Pandekten und braucht als solcher uicht viel Geschichte
Zu verstehen: aber verdienen denn die Edicte des nenrömischen Cäsaren nicht, de¬
nen der altrömischen, den Novellen, an die Seite gesetzt, als Anhang ihnen beige¬
fügt zu werden? Und weiß dieser Baier nicht, was diese Edicte sür Baiern zu
bedeuten hatten?weiß er nicht, daß sie ein Ausfluß des französischen „Schutzes"
waren? Und — man verzeihe diese kleine Abweichung von dem zu Anfang aus-
gesprochenen Vorsatze — erinnert man sich denn nicht mehr in Baiern, was man
dem Schutze Friedrichs des Großen zu danken hat? Es scheint nicht über¬
flüssig zu sei», Baiern darau zu erinnern, daß dieser Gründer des preußischen
Staates den baierschen gerettet hat; ihm hat Baiern zu danken, daß es nicht
Böhmen oder Ungarn geworden. Wie? Baiern bedarf des Schutzes nicht?
Allerdings ist ein volles Jahrhundert verflossen, seitdem jener traurige Maun den
Kammerdienern Ludwigs XV. förmlich den Hof machte, damit sie für ihn ein gu¬
tes Wort sprechen möchten bei ihrem Herrn, dessen Schutzes und dessen Gön¬
nerschaft er bedürfte — man weiß warum; allein was ist denn im Laufe dieses
Jahrhunderts Ungeheures in Baiern geschehen, welche tiefe eingreifende Reforma¬
tion oder Revolution hat denn dort in dieser Zeit stattgefunden, um dem Staate
ein anderes Fundament zu geben, um ihn umzugestalten? „Baiern bedarf des
Schutzes nicht," hat Wrede ans dem Wiener Kongresse gesagt, als Baiern so¬
eben erst aus dem französischen „Schutze" entlassen war, weil des Niesen
Wucht gebrochen war durch deutsche Kraft; „Baiern bedarf des Schutzes
nicht, sagt Herr v. d. Pfordten, wenige Monate, nachdem der pfälzische Aufstand,
dessen Baiern nicht Herr zu werden sich getrauete, unterdrückt worden war durch preu¬
ßische Waffen, welche es angerufen. — Selbst das schei'it Baiern vergessen zu ha¬
ben, daß es dem französischen Schutze mindestens ein Drittel seines Gebietes
zu danken habe. Doch vielleicht hat man dieses am wenigsten vergessen, vielleicht
erinnert man sich nur bei passender Gelegenheit daran.
Nirgends als in diesem gegenwärtigen Falle gilt in so hohem Grade das
Wort: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns." Von einem völlig selbst-
ständigen, für sich bestehenden Baiern kann nnn einmal nicht die Rede sein; tVin
Mensch, der irgend etwas von Geschichte versteht, der nur einen ungefähren
Begriff hat von den Verhältnissen des gegenwärtigen europäischen Staatensystems,
keiner selbst, der nur einmal aus seinem engen Kreise herausgetreten ist auf den
Markt, wird ein selbstständiges Baiern auf die Dauer für möglich halten ^
sei denn, er wäre ein geborner Baier. Glaubt doch selbst die baiersche Regierung
nicht fest daran und hat niemals fest daran geglaubt, wie Frankreich und Oest¬
reich bezeugen können. — Noch weniger aber als ein selbstständiges Baiern läßt
sich natürlich ein selbstständiges Würtemberg, Hannover, Sachsen denken.
dem nächsten Kriege, den wir zu bestehen haben werden, können diese Staa¬
ten nicht neutral bleiben. Dann aber kann man nicht mehr fragen, ob deutsch,
ob französisch, oder russisch oder türkisch, dann kann man nur noch sein Interesse
befragen. Im Kriege hört die Brüderschaft auf, da denkt Jeder an sich s^^'
Was in unserem Falle stattfinden wird, das wissen wir nicht, aber eben weil
es nicht wissen, gebietet die Pflicht der Selbsterhaltung, an deu schlimmsten Fall
zu denken, sich möglichst auf ihn vorzubereiten, oder doch wenigstens aus ihn
saßt zu sein. Das Gemüth , das wir Deutschen nun einmal auch in die PollU
mit hinüber nehmen, sagt allerdings „Nein," aber was ist denn in dem letzten
Menschenalter bei uns geschehen, das uns zwänge, in diesem Kampfe des Ge¬
müthes und des Verstandes jenem Recht zu geben? Wie? ..... Ich bin der
Meinung, daß die deutschen Staaten, die heute noch gegen die Gründung des
Bundesstaates Verwahrung einlegen, an solche Möglichkeiten bereits gedacht haben,
über den dann zu fassenden Entschluß mit sich bereits im Reinen sind.
Was nnn Baiern im Besondern betrifft, so haben wir auch hier nicht nöthig,
uns mit dem zu begnügen, was ans der Geschichte und ans der Vernunft
sich ergibt, es liegt auch hier eine sehr dentlich sprechende Thatsache vor uns.
Im December des vorigen Jahres hat Baiern dem englischen Ka>
direkte erklärt, daß es sich niemals einem erblichen Oberhaupte
unterordnen werde, und hat sogleich Verwahrung eingelegt, im
Falle die Nationalversammlung ein solches einsetzen sollte. Mehr
konnte Baiern damals nicht thun. Sagt, wie viel Schritte sind von jener Ver¬
wahrung bis zu einer unmittelbaren Aufforderung der Einmischung in unsere
deutschen Angelegenheiten?
Ich bin weit entfernt, Baiern an seine Pflichten gegen Deutschland und ge¬
gen sich selbst mahnen zu wollen; ich hatte umgekehrt die Absicht, zu zeigen, daß
wir auf Baiern nicht warten dürfen, weil wir vergebens warten würden. Ich
gestehe offen, daß ich es für ein Glück halte, daß Baiern „abgesagt" hat, weil
sonst höchst wahrscheinlich Preußen zu Zugeständnissen sich hätte verleiten las¬
sen, deren ein einziges hinreichen würde, das Wesen des Bundesstaates zu
zerstören.
Keine Concessionen mehr, kein Handeln mehr um die Abtre¬
tung „wohlerworbener Rechte!" kein Feilschen und Dingen mehr
um „zu leistende Bundespflichten!"
Einen andern Weg müssen wir gehen, um zur deutschen Einheit zu gelangen,
d. h. zu dem deutschen Staate, an welchem der Genius unserer Nation sich der
Welt darstelle, einen andern Weg müssen wir gehen, als derjenige war, welchen
die Nationalversammlung gegangen ist. Nicht darnach haben wir zunächst zu trach¬
ten, deu Bundesstaat möglichst groß, möglichst weit, sondern vielmehr darnach
ihn möglichst dicht zu machen, den festen Kern zu schaffen, um den sich das
große Deutschland krystallisire.
Acht und zwanzig Staaten haben sich mit Preußen verbündet; noch ist die
Verbindung nnr eine mechanische.
So lange Preußen noch vorhanden ist, so lange dürfen wir Deutsche noch
hoffen; und so lange Preußen seine deutsche Politik uicht aufgibt, so lange
dürfen wir mit Zuversicht die Erfüllung unserer Hoffnungen erwarten. Und sei
es auch, daß wir dieselben nur langsam sich erfüllen sehen, daß es unsern Kin¬
dern erst vergönnt sein sollte, den Bau zu vollenden, dem wir uns geweiht haben:
unier Leben
Lange Zeit galt die Times für eine europäische Großmacht. Die Ehrfurcht
des Philisters vor ihrem Niesenformat wurde auf ihren Inhalt übertragen; ihr
Unheil war eine Autorität, von der an leine höhere Instanz appellirt werden
konnte. Seit wenigen Jahren ist dieses'Ansehen des Londoner Blattes bedeutend
un Abnehme». Bor Allem wagt man es, die Times einer plumpen und sünd¬
haften Inconsequenz anzuklagen. Dieser Bvrwurs jedoch beruht auf einem Miß-
verständniß. Wenn die Times bald die Weisheit eines Washington, bald die
Festigkett euies Nikolaus in den Himmel hebt; wenn sie vor Tisch den engherzigen
Polizeigeist der Franzosen anspfeift, und nach Tisch den blutigen Bourbon von
Neapel in Schulz nimmt; wenn sie den ritterlichen Bertheidiger des schwachen
Dänemark gegen die brutale Uebermacht der Deutschen spielt und dem insolventen
Griechenland am Zahltage mit Faustschlägen, Bomben und Auspfändung droht:
so sind dies kleine und nnr scheinbare Widersprüche. Die Times leistet in diesem
Kapitel Größeres, ohne sich selbst untreu z» werden. Sie überzahlt die Rinder,
heilet, Hammel, Kartvffelbushel und Gcflügelkörbe, die das letzte Dampfschiff ans
Irland brachte, und gurgelt dabei einen'Fluch über das irische Bettlergewürm,
das man nicht ^los würde, ehe man die grüne Insel auf eine Stunde unter
Wasser setzte, (sie klopft auf einer Spalte der Göttin Hammonia herablassend
auf die Schulter und versichert, daß die „hamburgische Flagge in allen Meeren
mit Hochachtung gegrüßt werde," und auf der nächsten Spalte' gießt sie den deut-
schen Landratten mit ihre» Flottengelüsten eine kalte Lauge von Spott und Hohn
über den Nacken. Sie wendet ihr Angesicht gegen Sonnenuntergang und beschwört
den Binder Jonathan mit gefalteten Händen und mit den schmelzendsten Tönen
christlicher Liebe, sich ja nicht vom Erobernngstenfel in Mexico und vom schnöden
Mammon in Californie» fortreißen zu lassen; und darauf kehrt sie ihr Gesicht
gegen Svimeuanfgang, schlägt die Augen zum Himmel auf, schraubt die Mundwinkel
herunter und ruft mit frommer Duldermiene: Herr, dein Wille geschehe! Die
Prüfung ist hart, aber wir fügen uns. Wir sind gezwungen, ein kleines Kaiser¬
reich aus dem Leib Asiens zu schneide» und die ganze Portion Punjab auf unsern
geller z» legen. Möge es uns wohl bekommen.' Amen!
Ma» braucht uicht, wie Mauche es»u, an den launenhaften Gott der Themse,
den blassen, uebelerzeugtc» Splee» zu denken oder an das prometheische Leberleiden,
mit welchem Alberne» und andere respectable Schildkrötenfreunde behaftet sind,
um sich das liebenswürdige Aprilwetter auf dem Gesichte der Times zu erklären.
Die Times ist nicht und kann nicht inconsequent sei». Ihre ganze Seele geht l»
einem einzigen Gedanken ans. Gleichviel, was sie sagt oder verschweigt: wenn sie
letzt mit ihrem ovo.. co., espondviit im Banat die Wasserwege nach der Küste stu-
dirt, wenn ste Rübenzucker gegen Colonialzncker abwägt, wenn sie über die schweren
Sünden und hohen Tarife des Continents seufzt,'wenn sie den Reichsverweser
hätschelt und die Dahlmanns säuselt, so will sie im Grunde damit nie etwas
Anderes sagen als: Rule Britannia! Ein schönes Lied, ein stolzes Lied- Alle
englischen Organe singen es lauter oder leiser mit, keines mit so tiefem, breitem
und zornigem Baß wie die Times.
Es ist ein herrliches Ding um den Nationalegoismus der Briten. Er ist
eine Tugend, von der man nur wünschen kann, daß sie sich lernen ließe; er lebt
in den Herzen von Chartisten und Jungengländcrn eben so stark wie in dem des
eisernen Herzogs oder des Bischofs von Ezeter; er wird dauern und herrschen, so
lange das Mark der englischen Eiche gesund bleibt. Der Patriotismus der Times
jedoch hat krankhafte Augenblicke, wo er nicht blos gegen die Grundsätze des Chri¬
stenthums, der Humanität und des Londoner Autithierquälervereins, sondern gegen
die einfachsten Regeln der Klugheit mit allen Vieren ausschlägt. In solchen Mo¬
menten strägt die Times dicke hornige Scheuklappen an den Schläfen; ihr Fal-
kenauge kann und will Nichts sehen außer irgend einem nahen oder fernen Ziel-
Punkt, der gerade vor ihr liegt; ihre tundicken Nerven bekommen eine sast hyste-
rische Reizbarkeit; der Rauch' einer süddeutschen Fabrikesse sticht ihr in die Nase;
sie Hort das Rauschen jedes Weberschiffleins in Schlesien, und das Pochen einer
Dampfmaschine im fernen Osten, die zufällig nicht aus der Werkstatt von Casi>,
Brass und Company ist, läßt sie nicht ruhig'schlafen. Wie oft der klügste Tyrann,
M blinder Herrschsucht, nicht einsieht, daß sein Interesse mit dem seiner Menschen-
heerde sich sehr wohl versöhnen und vereinigen ließe, so guckt sie argwöhnisch
über den Zaum in Nachbars Garten, und in seine Küche und Wirthschaft, und
schmäht jede kühne Neuerung, die uicht den unmittelbaren Zweck hat, die Wohl¬
fahrt der menschliche» Gesellschaft auf dem alleinseligmachenden Wege des Handels
mit England zu befördern, Mordsucht, Schwindel oder Rebellion gegen die Legi¬
timität des britischen Dreizacks.
Doch malen wir kein Zerrbild. Wie der Engländer überhaupt, so macht die
Times bei der heimischen Feuerseite ein menschlicheres Gesicht als auf ihren Rei¬
sen in's Ausland. Sie ist das Organ der City und heißt mit ihrem wahren Namen
Mrs. John Bull. John Bull selbst ist seit 1830 nicht mehr der dicke, bis oben
zugeknöpfte Brummbär, mit aufgedunsenen oder karfnukelrothem Gesicht, der sich
regelmäßig nach Tische betraut und dem Papst, Frankreich und Amerika Pereals
brachte. Zu seiner Metamorphose trugen nicht wenig MrS. John Bull's Gar¬
dinenpredigten bei. Diese stattliche, rührige Hausfrau mit der männlich klugen
Stirn, der oratorischen römischen Nase und dem etwas großen, sarkastischen Mund,
die deu gauzeu Tag vor alleu Thüren kehrt und deren schallende Summe in allen
Winkeln Altenglands widerhallt, eifert für wahren bürgerlichen Liberalismus, für
Fleiß, Ordnung und Fortschritt; für Sauberkeit in den Straßen, für Menschlich-
keit im „Worlhvuse," sür Rothschild und die Judenemancipation. Sie hätt nach
jeder Seite hin vernünftig Maß. Sie kämpfte gegen die Tyrannei des Grund-
Besitzes, aber seit die aristokratischen Partcinamcn leerer Schall geworden und der
erlauchte Whigadel, angeführt vom weisen Emporkömmling Peel, der Kaufberru-
pvlitik die Schleppe trägt, stellt sie auch den kleinen Cobden mit dem Besen im
Arm in den Schandwinkel, so oft er sich mit seinen radikalen Friedensfreunden
in utopistischen Schwefeläther besoffen hat. Sie hält auf ein höfliches Einver¬
nehmen mit Jacques Bvnhvmme, obwohl sie immer genau weiß, wie es in seinen
Büchern aussieht, und sucht die geschästssreuudliche' Baumwvllcnbrücke, die von
Liverpool über den Ocean zu Bruder Jonathan sührt, so feuerfest zu machen als
Möglich. Kommt John Bull nach Hanse, so sieht er seine Rechnungen an. Er
überfliegt den „Money Market" und die „City Jntelligcnce," basta. Er kümmert
sich nur um's Inland, wozu freilich auch Canton, Paris, Sidney u. f. w. gebö¬
ten. Das klebt ihm aus alter Zeit an. Die Binnenländler sind ihm gleichgil-
"gar als uns die Kaffern, höchstens liest er ihre Chronik als Feuilleton.
Daher gingen innere Artikel im Geist Macauler/s und Feuilletons aus Met-
ternich's Küche wohl zusammen. Und fängt er auch allmälig an, für's t'ol-eiAn
äojutrtmönt ein Auge zu haben und besucht magyarensreundliche Meetings,
so denkt er doch bei sich: Mrs. John Bull hat Recht. Sie hätte gewiß gern alt
Lord Palmerston Sizilien portngaiisirt, aber sie weiß, es geht nicht, und Fiume
ist auch luimluiA'! Eine unsolide Spekulation, nichts da! Hol der Teufel dieSym-
pathisers! Es lebe der Despotismus und die gute alte Zeit — im Ausland!
Das gibt uns Vorsprung!¬
So denkt nämlich die Times nach Außen. Ein wachsamer Seecerberus um
kreuzt sie fortwährend pfeilschnell das Hauptquartier, Großbritannien, und umsegelt
die Welt, alle Häfen im Geist blvckireud und mit grünem Schcelang' jedes fremde
Segel durchbohrend, welches Kanonen führt. Vom Anfang der europäischen Be¬
wegung an sah sie überall unerfahrene Kinder gegen gewiegte Fechtmeister auftre¬
ten, und sie stellte sich weislich auf die Seite des voraussichtliche» Siegers. Darum
schmähn wir sie nicht. Aber sie konnte in den Wunden der Geschlagenen herum¬
wühlen! Die „deutsche Einheit und Macht," ein Alp auf ihrem Herzen, machte sie
schwarzgelber als der östreichische Korrespondent und schwarzweißer als die Kreuzzeitung.
Und die schlaue Wiener Zeitung übersetzte regelmäßig die Bannbulle« der Times
gegen die Paulskirche, als kennte sie die deutschfreundliche Gesinnung von Mrs-
John Bull nicht. Letzthin drohte der östreichische Reichsverweser'sich mit der
„Gefion" in die Luft zu sprengen; ein paar Tage später bringen die Wiener
Blätter und die Times eine sast gleichlautende Philippika, welche die ganze Schleswig-
Holsteinische Sache zu einer fürstlich Augusten burg'sehen Privatintrigue zu machen
sucht! —'
Die Times pries Oestreich, als Barrikade gegen Rußland, wie sie sagt/,
noch mehr aber, als den schweren Felsenblock, der unverrückbar und uuübersteiglicl)
auf dem Kreuzweg der nach Einheit pilgernden Völker zu liegen schien. Russische
Fahnen wehte» von der Barrikade; sie'zuckte nicht, sie ging mit Oestreich durch
Dick und Dünn, durch Blut und Koch. Nur einmal, als'man 'ihr aus Wie»
einige kleine schmutzige Sechökreuzei scheine zur Recension zuschickte, wurde sie wan¬
kend und stöhnte: Sollten wir falsch speculirt haben? Wär' es möglich, daß
Nikolaus uicht ganz „schöne Seele," sondern auch ein wenig Politiker ist wie Wir?-
Ueber das Dreiköuigsbüudniß zischte sie zum letzten Mal am 5. November
und machte ein Gesicht dazu wie Guy FawkeS: Dem Bundestag von 1815 lst
gottlob wieder auf die Beine geholfen. Wird man's aber glauben,' daß Preußen,
nachdem es seinen Pöbel gebändigt hat, sich von den Liberalen verleiten läßt, noch
immer die visionären l'leiudeutschcn Plane zu verfolgen, wodurch es die Frucht
sechsmonatlicher Arbeit, Ruh und Ordnung, wieder verlieren muß? Denn em
Reichstag in Erfurt wird durch den Zulauf aus den kleinern Staaten nothwendig
demokratisch. (Für die Schwarzweißen!) Um dnrch Preußen einig zu werden, mu߬
ten die Deutschen ihre Vertreter in die Berliner Kammer schicken und rundweg
abdanken, wie Hohenzollern-Hechingen. Fürchte Nichts, Mr. John Bull,
muß das Kind nnr beim rechten Namen nennen, wenn man Michel erschrecke»
will!, (Für die Grvßdcntschen!) — So spricht ein Erzfeind Deutschlands, unsere
Demokraten und Reactionäre werden das Thema weiter ausführen! —
Die Redactionsbemerkung zum Aufsätze in Ur. 46. veranlaßt uns, dem dort
gefällten Urtheile über Minister Bach unser Urtheil, nicht entgegenzustellen, son¬
dern hinzuzufügen; „es geht Etwas vor/' wird richtig bemerkt und das Urtheil
aus Prag hat'eine Absicht. , ^non¬
Wir werden dem Urtheile des Hrn. A. M. nicht in alle Motive folge, s
dern blos einige Cardinalpnnkte hervorheben.
Hr. A. M. knüpft an den Minister Bach alle Znkunftshvffnungen, vertraut
ihm noch immer, und versagt ihm noch heute nicht seine Achtung. Wenige
Zeilen nach diesem Vertrauensvotum heißt es: „mögen überspannte Moralisten
über Unlauterkett schreien, Moral ohne Klugheit wird im Staarslcben nie wircken
und schaffen."¬
Hiermit könnte man füglich das gesammte Urtheil über Bach abschließen. Nie
mand spricht dem befähigten Manne Talent, Eifer und Geschick ab; der Advocat
wurde nicht nur Minister, sondern der Volksmann wandelte sich in einen Günst¬
ling des Hofes um, und verträgt sich sogar mit den Herren Offizieren, die den
schwarzbefrackten Manu gewöhnlich ans der Spornseite stehen lassen. Daß Mün¬
ster Bach trotzdem diese Position nicht aufgibt, ist auch Klugheit, und Klugheit
entschuldigt im politischen Staatsleben, wie Hr. A. M. meint, auch Unlauterkeit.
Nach diesem Zugeständnisse über die moralische Seite Bachs kann es uur die
größte Letrübuiß erwecken, ihn dennoch als den Glanzstern des Ministeriums
Preisen zu hören; wenn er ausscheidet, „wird es vollkommen Nacht in Oestreich."
Hier drängt sich wohl die Frage auf, wie ein solcher Zustand möglich wurde, nach¬
dem der staatsklnge, talentvolle, geniale, schöpferische Bach seit 18 Monaten im
Ministerium sitzt?'
Wir wollen nicht zurückblicken in die Wesseuberg-Dvbblhofsche Periode, wir
wollen eiuen dichten Schleier ziehen über die damaligen Thaten und !Keder,
Kameradschaften und Versprechungen des jungen Justizministers. Es wäre em
gar zu Leichtes nach Art der Pariser P. durch Citationen die Widersprüche zw„et'en
Gestern und Heute nachzuweisen. Wir beschränken uns auf Bach's Wirksamkeit
im Ministerium Schwarzenberg.'"
Hr. A. M. macht Bach gleichsam zum Schützling der „Neichstagsrcchten,
ein Wort, das nicht genug bezeichnend ist für die östreichische constitnircnde Ver¬
sammlung; die NeichSlagsrechte war keine politische Partei, sondern eine nationale
und bestand fast nur aus Czechen. Diese Neichstagsrcchte soll, wie Hr. A. M.
angibt, im October 1848 das Schiff der Freiheit gerettet haben, indem ihre Ab¬
geordneten das von der Hvfpartei in Olmütz augezettelte Projekt (Manifest vom
1«. October 1848) hintertrieben, den Reichstag zu vernichten.
Wir hier waren dem Olmützer Hofe näher als die Neichstagsrcchte, welche
w Vermummungen durch Wälder nach Prag floh, und mit Bestimmtheit können
wir behaupten, daß die Abgeordneten der Neichstagsrcchten an der Zurücknahme
des Manifestes vom 16. October den allergeringsten Antheil hatten; und mit eben
solcher Bestimmtheit erklären wir, daß die Reichstagsrechte sich wohl für den
Wiedereintritt Bach's in's Ministerium aussprach, nachdem dieser in bekannter
Manier mit einigen Vormännern der Czechen in Prag conferirt hatte, aber die
Anbietung des Justizpvrtcfeuillcs von ganz andern Absichten begleitet war. Wir
können überdies der Reichstagsrechten, für welche Hr. A, M.'so besonders sich
interessirt, den Ruhm lassen, 'daß sie die Einsicht hatte, keinen Candidaten für's
Ministerium zu besitzen, während sie zu der Einsicht, daß sie die Dnpirte sei und
durch ihre separaten Bestrebungen den Reichstag und die Constituirung durch das
Volk vernichtet habe, erst später gelangte. Die ReichStagörechte trägt große Schuld,
daß der Reichstag aus der Residenz weg- und in ein slavisches Dorf berufen
wurde; Slava! j'ubilirtc darob die NeichStagsrcchte, und tanzte um die Bildsäulen
von Eyrill, Methud und Johannes von Nepvninck. Hr. A. M. schweigt über die
Bemühung der NeichStagsrechten, die Verlegung des Reichstags nach Prag durch-
zusetzen und deu Hradschin zur Residenz des Kaisers zu machen, welche wahr¬
scheinlich die rothmützige Swvrnvst beschützt hätte. Aus dem Verbrechen eines
wahnwitzigen Pöbels wollten die Czechen Nutze» ziehen für die slavische Oberherr¬
lichkeit.
„Bach nahm an, um zu retten, was zu retten war." Als Bach annahm,
war gar nichts verloren. Mau wußte damals recht gut, daß die Wiener -Revolu¬
tion, wenn man schon einen solchen Namen gebrauchen will, in wenigen Wochen
besiegt ist, aber man wußte auch, daß das Militär und der Adel glücklich sind,
einen Vorwand gefunden zu haben, mit Wien das ganze Reich zu Boden zu
werfen. Bach bot hiezu die Hand. Bach übernahm das Portefeuille, obwohl er
die an Windischgrätz ausgestellte Vollmacht als Alter Ego kannte, die jedes Mi¬
nisterium unter deu General stellte. Vach, der Justizminister, ließ das Stand¬
recht installiren, nur ihm verdankt man die Legalisirung jener Kriegsgenchtsnr-
theile nach der Theresianischen peinlichen Halöge'richtsvrd'mung. Die Justification
Blums, Mcssenhauscrö und Anderer blieb ohne Einsprache Bachs, und die Welt
wurde mit jenen Urthcilssprüchen bereichert, welche seitdem von Zeitung zu Zei¬
tung wandern. Man hätte vom Rechtsgelehrten wenigstens das erwarten dür¬
fen, daß er das Gesetzbuch vertheidigen'werde, daß er die Schuldigen nach be¬
stehenden Recht abnrtheilc» lasse; der ohnmächtige Minister wußte aber, daß jede
Einsprache den Verlust des Portefeuilles zur Folge gehabt hätte. Er schwieg
daher auch dann, als Beamte, welche 25 Jahre laug dem Staate mackellos diem
ten, ohne Klage und ohne Urtheil entsetzt und weggeworfen wurden; er schwieg,
als man die jungen Leute aus deu Betten holte, um sie unter das Militär z»
stecken n. s. w. 'DaS gehört zu seinen „Heldenthaten passiver Aufopferung", wie
Hr. A. M. es nennt; '„Bach entschied sich zu bleiben, für einen Verräther, einen
Ueberläufer zu gelten, und dennoch seinen Plänen treu zu bleiben."
Minister Bach ist dieser Aeußerung gewiß fremd. Man muthet ihm hier, im
Style der Rechtfertigung und Billigung,' einen doppelten Verrath, ein zweima¬
liges lieberlaufen und endlich eine Arroganz ohne Maß zu.
Bach mögen höhere Ideen leiten, allein sie sind bis heute noch nicht zu Tage
gekommen; wir haben blos erfahren, daß er sich dem Stockregimente fügte uno
der bis knapp zum Polizeistaate führenden Reaction Form und Ausdruck im
stizfache lieh. Bach hat ein Vereinsgesetz erlassen, wonach im belagerten uno
nicht belagerten Theile des Reiche« nicht ein Verein besteht und bestehen kann,
Bach hat ein Preßgesetz erlassen, wonach der Willkür der Nichterstab eingeyam
tige wird ^c. :c.
Wir wollen Anderes erwähnen. Bach hat jene Erklärung des Ministeriums,
welche die Volkssouveränität als eine Hochverrätherische Theorie bezeichnet, mttunr
fertig, welche selbst H. A. M. nicht in Geduld und Schweigsamkeit hinnehmen
konnte. Bach ließ gegen jenen Paragraph der Grundrechte, welcher die Todesstrafe ab¬
schafft, plaidiren; das mag dem Staatsmann und Juristen hingehen, aber er ließ
auch gegen die Abschaffung der Prügelstrafe sprechen, und das Weiberpeitschm
M Mailand und Nuskbh ist eine vom Minister Bach gebilligte Strafart.
Bach unterschrieb die octrohirte Charte. Wenn Einer im Gcsammtministe-
Num war, der die Haltlosigkeit, das Revolutionäre, den Unsinn, pas Verderbniß
dieser Verfassung erkennen mußte, so war es Bach. Er unterschrieb aber, weil
der Premier und der blödsinnige Stadion die Vertreibung des Neichsrags beschlos¬
sen hatten. Seine Situation wohl erkennend, verzichtete Bach auf jede Selbststän-
digkeit außer in seinem Bureau; er gab in deu Conferenzen eine Meinung ab,
vertrat sie und knickte wie ein Rohr nieder, sobald der Vorsitzende auf seiner Mei¬
nung beharrte. Bach, der deutsche Bach, willigte in die Berufung der Russen.
Bacp weiß aber in der Herrengasse nicht, was ans dem Ballplatz vorgeht, dort
steht das Palais des Justizministeriums, hier die Staatskanzlei des Auswärtigen.
H. A. M. freut sich darüber, daß Bach im Ministerium bleiben kann, blei^
ben darf. Kinder freuen sich an Goldkäfern, und die l>el Nacht Wandelnden
c>n Lenchtwnrmern! Leider ist es wahr, daß Bach nichts ist, als ein noch gedul¬
deter Minister. Bach hat mit daran gearbeitet, daß Oestreichs Regierung blos
eine von den Generälen geduldete ist. Aber Bach's Stunde wird schlagen, denn
uicht blos die Revolution frißt ihre Kinder, sondern anch die Contrerevolution,
Und letztere ist noch weniger zu sättigen als die erstere; Bach kann und darf
uur so lauge Minister bleiben, als mau den Bürgersmann braucht, um einen
Schimmer der Neuzeit zu bewahren.
Der Wortführer der Reichstagsrechten scheint sein Urtheil über Bach nur des¬
halb jetzt gefällt zu haben, weil er Furcht bekömmt, auch dieser letzte Rest der
Revolution werde mit Kolbcnstößen herausgedrängt werden. Die Furcht ist ge¬
recht, gerechter als das Urtheil.
Wir würden auch nicht die Leser mit „noch einem Urtheil" belästigen, wenn
nicht eben daran ein Blick auf die gegenwärtige Stellung des ostreich. Ministeriums
und eine Aufklärung über die neuen Freunde desselben zu knüpfen wäre.
Das Cabinet Schwarzenberg sieht sich vom Schachbrett verdrängt, das Mi-
Utär ist Herr und der Kaiser allein ist Herr des Militärs. Wie der Lehrling
steht das Ministerium, ohne deu Zauber wieder bannen zu könne». Abhängig
von Rußland und entfremdet von Deutschland, hat die Regierung keine Gewalt,
keine Kraft, kein Ansehn, kein Vertrauen; das Volk, welche Sprache es auch
lpncht, haßt und verachtet die Regierung, und uur das Schwert der Generäle
Und der Strick des Henkers hält die Ruhe aufrecht. Die Minister find nichts
Adjutanten; nothwendige Kanzleischreibcr und Federfuchser. Wenn Jemand
^weist, daß diese Herren uicht nothwendig sind, und Radetzky wie Haynau,
Welche sich dem Ministerium nicht unterordnen oder nur soweit es thuen beliebt,
seinen diesen Beweis sichren zu wollen, so werde» sie alsobald in Gnaden ent-
^sser. Die Verantwortlichkeit des Ministeriums ist zum Kinderspott geworden;
?^n kann deu Justizminister nicht zur Verantwortung ziehen, wenn 2 Korporäle
ungarischen Premierminister wegen Überschreitung der pragmatischen Sena-
tes Todes schuldig erklären.
Die Minister suchen durch Reformen in ihren Fächern der Konstitution el-
'en Grund zu legen, deren Ausführung von den Generälen verworfen ist. Bach
?' -L. arbeitet die glänzendsten Publicationen aus, denen die verwerflichsten Eta-
"°rate folgen.
Diesen Streit der Gewalten hat das Volk erkannt. Dem Hohn und der Erbitte¬
rung folgt die practische Anschauung, und so unterstützt es jetzt das Ministerium als
den'letzte» Nothanker gegen die überbrausende, von Kaiser und Hof protegirte Mi-
litärgnvalt. Dahin ist'es gekommen, daß das Ministerium Schwarzenberg für eine
Nothwendigkeit und die octrvyirte Charte für ein Glück betrachtet wird; jeues
könnte nnr' ein Dictator, diese der russische Absolutismus ersetzen.
Bach weiß, was auf dem Spiele steht. Gewissensbisse stacheln ihn zu fort¬
gesetzter Thätigkeit; er läßt sich alle Hintansetzungeu gefalle», er schweigt "Ub
wartet. Der äußere Se»rin hat auch mehrere Minister enger zu einander geführt;
sie banen Barrikaden gegen das Militär. — Die Soldateska hat sich nicht beliebt
gemacht. Der Oestrei'cher schämt sich seiner Brüder, die mau z» Mordbrennern
und wandelnden Guillotinen machte. Diesen gegenüber nimmt man Partei — für
das Ministerium, und uuter den Ministern — für den Bürger Bach. — Vielleicht
ist es ein Lob, deshalb sei erwähnt, daß Bach alle Orden und Adelsverlcihungen
ablehnte; er ist noch immer blos der Hr. jur. Alexander Bach, dem Titel nach.
An diesen Einen klammert sich die ganze Volkspartei.
In verzweifelnden Tone schließt Herr N. M. sein Urtheil: „Einen ehrliche»
Mann wird die Revolution doch geboren haben;" — und dieser Eine ehrliche
Mann ist Jener, dessen Lauterkeit von überspannten Moralisten verschrien wird.
Wir sind Der feste» Ueberzeugung, daß Bach in anderer Umgebung einer der tüch¬
tigsten Reformatoren des verrottete» Staates würde, eine Stütze der Krone und
der Stolz der Bürger, ein freisinniger Staatsmann; er würde sich glücklich preisen,
konnte er seine Ansicht und Ueberzeugung zur Geltung bringe». Hineingezogen
den Kreis besternter Hohlheit und geblähter Rechthaberei, ringsumgeben von Ari¬
stokraten und Soldaten, nachdem er das Volk verstieß und dieses ihn verließ, ver¬
zweifelt er bereits selbst an jeden, Erfolge, und seine Resignation, seine Aufopferung,
sein Ausharren und der Verlust der Popularität sind umsonst. — Die politischen
Utilitarier vergessen die Fußtritte, welche sie in Kremsier empfi»gen; die Nasenstüber,
mit dene» sie entlassen wurden. Nicht auf das croatische und uicht auf das cze-
chische Mitglied des Cabinets gründet diese slavische Partei ihre letzte Hoffnung,
sondern ans den deutschen Minister. Aus Feindschaft gegen Deutschland hat die
Neichötagsrechte der Militärgewalt die Unterstützung gegeben, und nun überfluthet
sie und schlendert Alle in die Tiefe.
Der letzte und Einzige, an den man sich Rettung suchend klammert, ist
Bach!!! —
Die schwere Wolke des Ansuahmszustandes, welche seit einem langen bangen
Jahre ni'er der guten Stadt Wien steht und sich früherhin in tödtenden Blitzen
entlud, während sie jetzt nur in Verurteilungen zu Schanzarbeit mit schweren
oder leichten Eisen wetterleuchtet, hat der Wiener Journalistik gar engen Spiel¬
raum gelassen, sofern es sich nicht um Lobhudelei, nicht um Schimpf der libera¬
len Idee, uicht um Forderung ultramontaner, aristokratischer Interessen, oder um
Weihrauchspenden für die hohe (Neutralität handelt, welch letztere, mag sie ihrer
hohen Verdienste sich noch so unbändig bewußt sein, dennoch mit Ekel erfüllt sein
!Unß, gegen den speichclleckendcn Wiener Gemeinderath und die gutgesinnten
Hausherren Wiens. Im Tadel der Negicruugsmaßregcln, besonders in Aussicht
ans das gerechte Verlangen nach den am 4. März verheißenen und noch immer
nicht gegebenen politischen Rechten müssen die armen Journale, welche gerne libe¬
raler oder gar oppositioneller Färbung gelten möchten, von Tag zu Tag gefähr¬
liche Eiertänze tanzen, um zwischen den Klippen und Fangeisen, welche die Presse
Anstellen, sich durchzuwinden. Die Redacteure sind sämmtlich mager geworden,
denn sie und ihre Blätter leben von heute auf morgen, jeder Augenblick kann
ihnen eine Ladung von der Kriegszucht bringen. Hat der Herr Gouverneur schlecht
geschlafen, war sein Koch ungeschickt und hat ihm die Suppe versalzen, wie ganz
anders saßt der gute Herr ein »der den andern Artikel auf in solcher Laune, als er
ehr im entgegengesetzten Falle aufgefaßt haben würde. Ohne Zweifel machen die Re¬
dakteure lehrreiche Studien für die Folgezeit, sie werden die Paragraph« des Preß-
Tesetzes zu umschiffen und zu unterkriechen verstehen, in einer Weise, die das
Preßgericht ganz unnöthig machen dürfte; denn was ist ein Preßgesetz mit stehenden
festen Paragraphen vergliche» mit einem Gouverneur, der vielleicht die Gicht oder
Hühneraugen besitzt, die im Novemberwetter hente mehr, morgen weniger schmer¬
zn und die Laune, den AuffassnngS- und Juterpretationshumor von Moment zu
Romme anders gestalten. — In dieser Calamirät haben sich die Journale meist
^uf das Concrete und Praktische geworfen und haben die letzten Monate hindurch die
Operationen des Finanzministeriums zum Gegenstande ihrer Angriffe gemacht; der
Llohd besonders hat in landsmannschaftlicher Sympathie seiner Geburtsstätte Trieft
^'gedenk, einem audern Mitgliede des Ministeriums ergebe«, den Finanzminister
^aus und seine Operationen dem herbsten Tadel unterzogen.
Finanzminister Kraus ging indessen seinen gemessenen ruhigen Weg, ließ sich
^dein, ließ sich angreifen, wurde aber durch dies alles in seinem impertnrbablcn
Phlegma nichl im mindesten berührt, schritt jeden Morgen, nach eingenommenem
Frühstücke zur Messe und dann in sein Bureau, um Geld zu schaffen von allen
Sorte», von alle» Farben mit Größe», »ur »icht von Gold und Silber. Frei¬
lich wird el» künftiger Reichstag die Miene arg verziehen, wenn ihm die Rech¬
nung vorgelegt wird und er die Spesen wird zahlen müssen, durch welche ihm der
enge Vogelbauer angeschafft worden; doch das hat der Ministerrath nebst verschie¬
denen andern Personen zu verantworten; der Finanzminister als angestellter Alchy¬
mist des Staates hat seine Aufgabe gelöst, er hat Geld gemacht, aus billigem
Material und das eben war die Kunst, die ihm ein zweiter nicht so leicht nach¬
zumachen verstände.
Freiherr Philipp Kraus nennt sich selbst das Beständige im Wandelbaren;
denn seit dem Abtreten Kübecks, gleich im Beginne der Bewegung, wurde er an
die Spitze der Finanzverwaltung berufen und hat das Ministerium Pillersdorf,
das Ministerium Wessenberg-Dobblhof rede» sich zusammenfallen, das steinerne
Ministerium Schwarzenberg neben sich aufrichten sehen, in unangefochtener Ge-
müthsruhe und äußerlicher Gemüthlichkeit; er blieb fortan der unausweichliche, der
unentbehrliche, ja sogar der vom Reichstage stets acclamirte Finanzminister, und
trieb sein Zaubergeschäst ununterbrochen fort, statt deö Schmelztiegcls aber mußte
ihm eine Handpapiermühle zu seinen Arbeiten dienen.
Ja er ist ein seltenes Talent, wer Oestreichs Fiuanzverhältnisse näher kennt,
muß den Mann bewundern in seiner schlichten Weise, hinter welcher er List,
Scharfsinn und Verschlagenheit i» wunderbarem Maße verbirgt. Kraus ist ein
sogenannter Galizianer, nämlich ans einer deutschen Beamtenfamilie Galiziens
stammend, hat seine Studien in Lemberg und Wien gemacht und früher als
Beamter in Galizien verwendet, später als Hofrath der allgemeine» Hofkammer
zu Wien angestellt, hat Kraus seine College» alle weit überflügelt, hat tief ein¬
greifende Reformen i» dem Gefälls- und dem Staatsmvnvpvlswese» entworfen
u»d durchgeführt; er ist der Schöpfer und Verfasser der damals neuen Monopols-
ordnung, des Strafgesetzes für Gefällsübertrctungen, und mögen diese Schöpfun¬
gen in der Detailanweuduug ihre Fehler haben, wie jedes Menschenwerk, so muß
dock die scharfsinnige Auffassung, die strenge Konsequenz, die bewunderungswür¬
dige Systematik dieser Einrichtungen den Mano als großes Talent erscheinen
lasse».
Nach de» blutigen Wirren Galiziens im Jahre >84ti wurde Kraus dem
Grafen Stadion als zweiter Präsident der galizischen Landesregierung beigegeben,
vielleicht hätte er als erster und einziger Präsident Ersprießliches leisten können,
vielleicht hätte sich in dem polnischen und polnisch fühlenden Theile der Bevölke¬
rung nicht jener bittere fanatische Haß gege» Oestreich ausgebildet, welchen diese
vou des Hasses nächstem Gegenstände Stadion, auf die Regierung selber übertrug
und im Reichstage zum Verderben der guten Sache gelt d machte.
Das Kartenhaus des ersten östreichischen verantwortlichen Ministeriums zu
Wien war gefallen, Kolowrat, Taafe, Kübel traten ab und Kraus wurde schleu¬
nig in die Finanzen berufen.
Leider war das Silberansfuhrverbot, diese einfältige in gedankenloser Verwirrt-
heit unternommene Maßregel bereits ausgeführt worden, ehe Kraus die Leitung
übernommen, und es gelang ihm nicht, die Aushebung dieser Maßregel im Mini¬
sterrathe durchzusetzen, eine Maßregel, welche der Vorsicht eines überschwemmten
Hausvaters glich, der seine Thür verrammelt, damit ihm das Wasser nicht ein¬
dringe in sein Stübchen; — und während er arbeitet, steht er bis an die Knöchel
im Wasser, das dnrch den Fußboden eindrang.
Die demoralisirten Herren der Nationalbank, welche dieses Institut seit Jah¬
ren als ihre Dvuiaine behandelten, und den Namen Nationalbank wirklich zur
Blasphemie herabwürdigten, waren gleich im Beginne der Krisis bedacht, ihr
Schäfchen in's Trockene zu bringen, das Baarsilber strömte aus den Kellern der
Bank in die Keller der Directoren, und nur Papier blieb in der Bank zurück;
die Herren Directoren gaben das schöne Beispiel, und die Bevölkerung von dem
pimiv rasch ergriffen, folgte nach; der Zwangskars wurde eingeführt und somit
war die Bank eigentlich ein Institut des Staates geworden. Kraus
war damals nicht mächtig genug, um die Bank diktatorisch zu behandeln, wie sie
es verdient hätte, auch war in diesem Falle die Entwerthung des Papiers in's
Bodenlose gerathen, die Bank war damals die einzige Stütze der Finanznoth,
und Kraus nahm zu ihr die einzig übrige Zuflucht; alles erlitt Verluste, aUcs
litt, nur die Herren Bankactivnäre bezogen reichliche Dividenden, und die Herren
Directoren wucherten nebstbei mit dem Silber, das sie in ihre Keller zu über¬
tragen verstanden.
Der Reichstag wurde eröffnet, und Kraus, der stillrnhige Manu entwickele
ein ganz eigenthümliches, für den parlamentarisch jungen aus gar unerfahrenen
Elementen zusammengesetzten Reichstag merkwürdig passendes Redetalent. Scklici!!,
ohne Pathos, voll Deferenz gegen den damals souveränen, von der Aula vergöt¬
terten Reichstag, vergaß Herr v. Kraus niemals sich des Ausdruckes: hohe
Kammer, hoher Reichstag, zu bedienen. Er entwickelte seine Finanzprvjette,
stellte Steuervermindernngen, Auflassung gewisser Gefälle in Aussicht,
während er die Kammer um dringend nothwendige Creditbewilliguugeu anging
und das Manöver gelang vollkommen. Dem in gewisser Beziehung in seiner
Majorität noch sehr unschuldigen Reichstage that das ungewohnte Gefühl ganz
besonders wohl, sich Rechenschaft gelegt zu sehen von der Gebahrung mit den
Staatseinkünften, die früher ein so undurchdringliches Geheimniß gewesen, in die¬
ser angenehmen Stimmung glaubte der Reichstag dem schlicht bürgerlich, und
gleichsam cordial scheinenden Finanzminister alles anf's Wort, und bewilligte blind¬
lings, was er verlangte.
Es kamen die schaurigen Octobertage; Finanzminister Kraus war so klug
und muthig, die Contrasignatur einer ihm vom Kaiser vor seiner Flucht aus
Schönbrunn zugesendeten Ordonanz zu versagen, und dem Reichstage die Motive
dieser Verweigerung anzuzeigen, und damit gewann Herr Kraus den erregten
Reichstag vollkommen. Er war der allein activ gebliebene Minister, vereinigte
alle Portefeuilles uro im-um in seiner Hand, versorgte den gegen Wiudischgräß de¬
kretierenden Reichstag mit Geldmitteln, und dispvnirte zugleich die nöthigen Fonds
für Windischgrätz' Operationen, ohne deshalb vom Reichstage angefochten zu wer¬
den, welcher geblendet genug war, wirklich zu glauben, Herr Kraus sympathisire
mit der Haltung des Reichstages, während Kraus sich blosstcllte, um die Bank,
die Kassen, die Staatsfonds nicht aus dem Auge zu verlieren. Herr Kraus sah
ganz ab vou Politik, von Lauterkeit oder Unlauterkeit manchen Manövers, er
war nur Wächter der Finanzen, und hat sein Wächteramt in wunderbar glück¬
licher, gewissermaßen pfiffig zu nennender Weise gehandhabt. Man muß inmit¬
ten all der unbeschreiblichen Wirren gelebt haben, um sich einen irgend klaren
Begriff davon bilden zu können. Während Minister Wessenberg die kaiserliche»
Donnerdekrete gegen Wien cvntrasignirte, nahm seinerseits Herr Kraus, obwohl
College Wessenberg's, keinen Austand, in Ezequirung der Reichstagsbeschlüsse in
verschiedenen Dekreten wieder aus Wien heraus gegen Windischgrätz zu donnern,
der Nordbahn den Truppentransport zu verbieten, den Gouverneuren der Pro¬
vinzen Befehle zu ertheilen, welche diese in nicht geringe Verlegenheit setzten; bei
dem allen aber blieb Herr v. Kraus auch beim Hoflager zu Olmütz eben so wie
bei der Neichstagspermanenz in hohen Gnade«, wurde nach Olmütz beschicken, wo¬
hin man ihn ungehindert reisen ließ, und bei seiner Rückkehr unangefochten wie¬
der aufnahm. Man wußte in der That nicht, ob man mehr die Kühnheit des
Finanzministers Kraus oder die ganz eigenthümliche Bonhommie des Reichstags
bewundern sollte.
Zu Kremsier nahm Herr v. Kraus die Bewilligung zu einem Anlehn von so
Millionen so zu sagen mit Sturm, und preßte die Reichstagscitrone vollends aus,
die ^man sodann ungescheut wegwerfen und zertreten zu können glaubte; He^rü
v. Kraus machen wir deshalb keinen Vorwurf, er war, ist und bleibt nur der
Finanzmann, und hält sich fern von aller Politik; seine Collegen machen die Po¬
litik, und er schafft das Geld dazu. Allerdings übernahm Kraus mit seinen Kol¬
legen die Solidarverantwortlichteit, doch zweifeln wir, ob ihm dieser hohle Be¬
griff bisher eine unruhige Minute gemacht hat. Der Finanzausschuß hatte es
für räthlich gehalten, vor der Stellung des Antrags ans die Bewilligung jener
achtzig Millionen dem Finanzminister die Frage schriftlich vorzulegen, ob Kett>er
Franz Joseph und das Ministerium alle vom Kaiser Ferdinand den Völkern ge¬
machten Zusagen aufrecht zu halten gedenken, und Finanzminister Kraus beeilte
sich, diese schriftlich gestellte Frage ohne Vorbehalt unbedingt deja-
heut, ebenfalls schriftlich zu beantworten, denn er brauchte 80
Millionen!
Er brauchte wohl der Millionen noch mehrere, aber vor der Hand wa¬
ren 80 Millionen ein ganz artig Sümmchen. Tiefe schriftliche Zusage liegt in
dem Neichstagsarchiv, welches jetzt unter. Negierungsverschluß sich befindet, jeden¬
falls ein interessantes Aktenstück als Beilage zu dem Auflösnngsakte.
Stets heiter und cordial, höflich, zuvorkommend gegen Jedermann, nach links,
wie uach rechts Händedrücke spendend, war Herr v. Kraus der Liebling aller
Parteien, allen war er genehm, obwohl sich berechnen ließe, daß jedes Wort,
das Kraus im Reichstage gesprochen, den Steuerpflichtigen an 100,000 Fi. C.-M.
kosten mochte.
Noch in den ersten Tagen des März war Herr v. Kraus gegen Mitglieder
des Constitntionsausschusses des Lobes voll über den gelungenen Constitntions-
eutwurf, und doch trägt die octroyirte Verfassung das Datum die¬
ser Tage.
Wie gesagt, Hsrr v. Kraus behandelte die Politik ganz und gar als Neben¬
sache, er war nur der Geldmann, hat auch seither Wunderbares geleistet und eine
Mannigfaltigkeit in seine Produkte zu bringen gewußt, welche wohl kein Staat
aufzuweisen hat; da gibt es italienische und ungarische Zwangsnoten, durch die
Gleichberechtigung aller Sprachen, die darauf gedruckt sind, besonders beliebt; da
gibt es deutscherbländische Zwangsnoten, dreiprocentige Kassascheine mit Zinsen-
disconto, andere wieder mit Zinsennachnahme; grüne, weiße, rothe und schwarze
Banknoten, theilbare und untheilbare laufen von Hand zu Hand.
Wir sind neugierig, wie sich die Theile und Theilchen wieder zusammenfinden,
wenn es, so Gott will, dennoch zu dem jüngsten Gerichte ihrer Einlösung kommen
sollte; der diversen Scheidemünzpapiere wollen wir gar nicht gedenken, welche die
Finanzverwaltung und die Communen emittirten, und darin von Privaten, von
Gastwirthcn, Kaffeesiedern ze. ze. weit überholt worden sind.
Aber zwei Kriege sind geführt worden, sogar siegreich, und doch nur mit
Papiernen Finanzmitteln, die Zukunft freilich ist dafür ins Leihamt gegangen, ab-r
wunderbarer Weise sind die Course im Inlande nicht im Verhältnisse der gro߬
artigen Kalamität gefallen.
Man muß das Selbstvertrauen des Oestreichers in der That bewundern, und
den Instinkt, der ihm innewohnt, denn wären wir über die Freiheitsanssichten
eben so beruhigt, wie wir es bezüglich der finanziellen Zukunft sind, wir wür¬
den Hosianna rufen; Oestreich ist wirklich einer unerschlossenen Goldgrube zu ver¬
gleiche», deren Reichthum sich erst entfalte» wird, darum ist es tief zu beklagen,
daß man, wie in dem finstern Jahr 1620 in Böhmen, zwei Jahrhunderte später
in Ungarn von der schmähliche» Gütercvnfiscatiou noch Gebrauch macht. Oestreich
braucht uicht zu rauben, um sich finanziell zu ordnen, und füglich hätte mau der
russischen Regierung die Auszeichnung einräumen sollen, die einzige constszirende
zu sein in Europa. Die alte ungarische Verfassung läßt zwar allerdings die Con¬
fiscation zu, man hat aber in Ungarn die neue Verfassung bereits zweimal
publizirt, zum Coufiszireu aber hält man sich noch an die alte!
Selbst Herr v. Kraus, der immer lächelnde und zufrieden-ruhige, dürste erröthen
bei Empfang der auf diesem unlautern Wege ihm zugeführten Finanzznschnsse.
Wir beurtheilen Herrn v. Kraus uicht als Staatsmann, das ist er uicht,
aber als Geldmann ist er eine unschätzbare Specialität; wir zweifeln, daß Oestreich
eine zweite aufzutreiben vermöchte, er hat die Wiener Geldfürsten und Bankkönige
nicht angetastet, so lange er sie nothwendig brauchte; als sie ihm die Anleihe
abdrücken wollten, scheute er kein Mittel, kein Kunststück, um den Abschluß bis
nach Beendigung des Krieges in Ungarn zu verschieben, und es gelang ihm in
so kritischer Zeit, die Anleihe, und überdies eine vier und einhulbprozentige zum
Course von 85 durch freiwillige Subscnptivnen zu decken, während in vormärz¬
licher ruhiger Zeit seine Vorgänger dies für ein Wagniß erklärt hätten, freilich
ans Gründen, welche sich begreifen lassen. Nicht lange wird es währen, und es
überrascht der Finanzminister die Bank mit dem Befehle, die Neserveactien zu
emittiren und hilft dadurch der Silbernvth voraussichtlich ab.
Wollte Minister Schwarzenberg dem Rufe nach ehrlicher Freiheit, nach HHu¬
manität, nach Rücksicht für die würdige Stellung der Krone eben so bereitwillig
entsprechen, als Herr v. Kraus dem Rufe nach Geld entsprochen hat, und vor¬
aussichtlich in Ewigkeit entsprechen wird, wie glücklich könnte sich Alles formen.
Die Anklageschrift gegen Waldeck, welche nun auch durch die ministeriellen
tungen veröffentlicht wird, gibt zu einigen eben so überraschenden als traurigen Bemer-
kungen Veranlassung.
Waldeck wird angeklagt, „von einem-hochverrätherischen Unternehmen Wiisenscha>
erhalten, es aber unterlassen zu haben, davon der Obrigkeit Anzeige zu machen-" ^
Sowohl die Existenz dieses hochverräterischen Unternehmens als die Mitwisst'^
schaft Waldeck's wird durch ein Papier erwiesen, welches sich bei dem Handlungsrelse>^
den Ohm vorgefunden hat — denn sowohl die gesetzliche Wirksamkeit WaM»
Jahres
ebenfalls gesetzlichen Agitationen zu Bildung einer demokratischen Partei, bei denen erin der Nationalversammlung, als seine, nach den Grundsätzen des vorigen - ^
beiläufig nicht nur immer in den Schranken des Gesetzes, sondern auch der Vorsicht
bewegt hat, als auch Stammbüchblättcr wie das folgende („Die Treue, nicht die des
Hundes, sondern die Mannestreue, die Kraft und die Geradheit, werden der äußersten
Linken über alle Hindernisse Bahn brechen zum Ziele. Mochte Ihnen, lieber Freund,
beschicken sein, thätig bei dem bevorstehenden Heldenkampfe des Volkes mitzuwirken.)"
— alle diese Umstände können doch nur insofern zur Schärsung des Verdachts beitra¬
gen, als sie Waldeck's demokratische Gesinnung bekunden, an der ohnehin Niemand
gezweifelt hat. Freilich hat es eine Zeit gegeben, die Zeit des seligen Hr». v. Kamptz,
in der ein ähnliches Stammbuchblatt, deren wir Söhne des neunzehnten Jahrhunderts
in unsern Fuchsjahrcn zu Dutzenden ausgefertigt habe», genügte, um einen armen Stu¬
denten in jahrelange Untersuchungshaft zu bringen. Aber jene Zeit bleibt auch ein ewi¬
ger Schandfleck für die preußische Justiz -— doch nein! die Justiz hatte damit nichts
zu thun. Für das preußische Abnahmeverfahren.
Abgesehen von jenen „erschwerenden Verdachtsgründcn" bleibt folgender Brief,
unterzeichnet d'Ester, die einzige Basis der Anklage.
„Liebster Ohm! Ein Mann schreibt an Dich, der an der Spitze einer
Partei steht (!!), der mit den Häuptern derselben Partei in Frankreich verbunden
ist. Ein Mann schreibt an Dich, der noch die Idee hat, einen Robespierre
zu spielen. Meinen Zweck kennst Du, alle Mittel sind heilig, einen solchen Zweck
zu verfolgen, wenn man ihn erlangen will. Wir erlangen ihn sicher, und dazu müssen
wir vor Allem den völligen Sturz des preußischen Hohenzollern - Hauses haben. Zu
dieser großen That ist aber auch der Mord ein heiliges Mittel, und deshalb wirst Du
beiliegende Statuten, die den neuen Bund leiten, gerechtfertigt finden." Nachdem so¬
dann gegen den Angeredeten ans den Fall der Verletzung der ihm anvertrauten Ge¬
heimnisse eine angeblich mit dem Blüte des Briefstellers (!!!) niedergeschriebene Dro¬
hung ausgestoßen worden, heißt es weiter:--„Wenn wir am Rhein die Republik
haben, da haben uns die Ungarn 10,000 Mann versprochen, deshalb sorg nur für
Waffen." — „Wenn einer durch den gerechten Zorn fallen muß, so ist es der Prinz
von Preußen neben dem König zuerst." — U. s. w.
Für Jeden, den die Parteileidcnschaft nicht bis zum halben Blödsinn geblendet
hat, ist es augenscheinlich, daß ein solches Gewebe von Unsinn von einem Manne, wie
d'Ester, der doch studirt hat, nicht herrühren kann. Wenn man einem untergeordneten
Agenten Verhaltungsbefehle zuschickt, so erzählt man ihm doch nicht erst, daß man an
der Spitze einer Partei stehe! Das >muß er ja ohnehin wissen! Man kramt ihm doch
nicht den ganzen Katechismus der Guillotine ans, am wenigsten in so abgeschmackten
Leinweber-Phrasen, als der vorliegende Brief! Man schreit ihm doch nicht beständig
w die Ohren, wie der Rabe in Barnaby Nndge: Ich bin ein Teufel! ein Teufel! ein
Kessel u. f. w.
Wohl aber ist das der Styl eiues strebsamen (üummis vo^-iAeul-, der jene sen¬
timental-blutdürstigen Zoten, die er zum ersten Mal pfeifen gehört, nun so schnell und
so vollständig als möglich an den Mann zu bringen sucht.
Man traut seinen Augen nicht, neun man im weitern Verfolg der Anklageacte
^'fährt, daß die Sachverständigen nach Vergleichung dieses Schriftstücks mit einem in
den Acten der zweiten Kammer befindlichen Adreßentwurf von d'Estcr's Hand angegeben
haben, daß es damit nicht übereinstimme und nicht von einer und derselben
Hand geschrieben sein kann!!!
Daß ferner das Individuum Ohm längere Zeit ein thätiger Korrespondent der
Kreuzzeitung gewesen ist, daß er sich in Mußestunden viel mit Erfindung von
Chiffern, Symbolen, geheimen Bünden (z. B. dem Todtenbund, dessen Zweck es
sei, volksfeindliche Subjecte, die der Gesellschaft eine Last sind, unschädlich
zu machen, und nebenbei die soziale Republik einzuführen), abgegeben hat; daß man
also von einer solchen Mischung von Schurkerei und verbranntem Gehirn wohl anneh¬
men kann, er habe jenen Brief, der zu seiner Anschauuugsmci.se vollkommen paßt, um
sich wichtig zu machen, selber geschrieben, oder sich durch einen andern Buben seines
Gelichters schreiben lassen!
lind daß dennoch jener Wisch, in welchem Waldeck als Theilnehmer am Komplott
erwähnt wird, von der Staatsanwaltschaft als Basis der Anklage gegen Waldeck fest¬
gehalten wird!!!
Freilich ist es noch nicht das Aergste. Unter den Vcrdachtsgrüudcn gegen Waldeck
wird angeführt, daß er in dem Falle, wo man hätte erwarten sollen, daß er aus sei¬
nem geschlichen Wege herausgetreten wäre, bei dem Anrücken der königlichen Truppen
auf Berlin:--daß er es nicht gethan!!!! daß er sich wohl gehütet, irgendwie
zum Widerstand aufzufordern!!! — Was für Entwürfe mußte dieser schreckliche Mensch
hegen, um so vorsichtig zu verfahren!!
Ich mag nicht weiter davon sprechen. — Freilich wird Waldeck freigesprochen wer¬
den; aber wer entschädigt ihn sür die lange Hast? und, was viel schlimmer ist: wer
löst das Rechtsgefühl des preußischen Volks von dem abscheulichen Verdacht, daß die
Staatsanwaltschaft nicht den vermeintlichen Verbrecher, sondern den politischen Gegner
verfolgt hat!!
Ich nehme hier Ihren Raum in Anspruch für eine kurze Darstellung der Feste,
die zur Vermählung eines deutschen Fürsten, dessen Gebiet nnr einen mittleren Um¬
fang erreicht, gefeiert wurden. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin hat seine
Hochzeit mit einem Feste gefeiert, das ihm sein Land gab. Der Adel war dabei sehr
spärlich vertreten. Unsere, mecklenburgischen Granden zürnen noch immer störrisch mit
dem Großherzog. Hat er doch das arge Verbrechen begangen, treu sein einmal
gegebenes Wort zu halten, und nicht aus Furcht, sondern ans reiner Ueberzeugung,
was er im März l84K versprach, noch im October l84S zu erfüllen. So waren von
den circa 3N0 adeligen Rittergutsbesitzern, die Mecklenburg-Schwerin besitzt, nnr 4 sage
vier außer denen, die zugleich angestellt sind, bei den Vermählungsfesten'erschienen, und
die rothen Gallauniformen, die fast Alles überstrahlten, sind von den schwarzen Fracks
der bürgerlichen Gutsbesitzer, die sich diesmal zuerst zahlreich eingestellt hatten, ga"Z
verdunkelt worden. Aber jedes, selbst das kleinste Städtchen Mecklenburgs, sandte eine
Deputation zur Bcglückwünschung, Ill—20 Meilen weit zogen Mitglieder der ver¬
schiedenen Schützcninnungcn nach Schwerin, um dort das Ehrcnspalier, durch welches
das neuerwählte fürstliche Paar seinen Einzug hielt, mit bilden zu helfen, ebenso weit
waren die derben Pächter herbeigeeilt, um dem Wagen ihres geliebten Großherzogs
vorreiten zu können."
Sie wollten nur ihrem Fürsten, den ja die Aristokratie spöttisch „den BolksMnd
nennt, zeigen, wie sehr ihm dieser schöne Beiname zukommt.
Die Vermählungsfcicrlichkeiten begannen am 2. November, an welchem Tage die
junge Großherzogin, die bis jetzt durch Anspruchslosigkeit und Weiblichkeit sehr gefallen
hat, — ein schönes seelenvolles Auge nimmt sogleich für sie ein — die mecklenbur¬
gische Grenze zuerst überschritt. Das Städtchen Grabow, welches sie gleich in der
ersten Stunde berühren mußte, war auf das Festlichste geschmückt und die Bürgerschaft
desselben wetteiferte ihre Freude zu zeigen. Man wußte, daß der Braut das Herz
des Großherzogs in treuer Liebe seit seiner Kindheit zugethan war.
Einige hundert Bauern ans den umliegenden Reutern hatten sich freiwillig einge¬
stellt, ihrer künftigen Fürstin als berittene Eskorte zu dienen. In Ludwigslust, wo
am 5j. November die Trauung stattfand, wechselten Fackelzüge aus verschiedenen
Städten, Illumination des Ortes, Beglückwünschnngcn durch Deputationen, unaufhör¬
lich mit einander ab. lieber ^Mi Gäste waren eines Tages an der Hostafel anwesend.
Noch größer aber war der Jubel beim feierlichen Einzug des fürstlichen Paares in der
Residenz Schwerin. An !w Städte hatten Deputationen gesandt, mehrere hundert
Bauern, Pächter, Förster, alle waren festlich geputzt, bildeten ans ihren gute» mecklen¬
burgische» Rossen die Ehreneskorte, der sich eine große Zahl angesehener Bürger ans
Schwerin selbst angeschlossen hatte; alle Handwerkerinnungen, alle Gesellen der Ge¬
werbe mit ihren Handwcrkszcichcn machten das Spalier, dazu die Schulkinder in meck¬
lenburgischer und reußischcr Landestracht. Die ganze Stadt war mit Blumen, Kränzen,
grünen Bäumen, wehenden Fahnen, Ehrenpforten geschmückt, selbst die Armuth hatte
ihre niedere Hütte so gut als möglich zu verzieren gesucht. Der großhcrzogliche Wa¬
gen ward überall mit betäubendem Jubelruf von dem wogenden Volk empfangen und man
hörte es diesem Ruf wohl an, daß er ans dem Herzen kam. Am Abend natürlich wieder
glänzende Illumination. Mehrere Tansparente wie: „Dem Geber der Verfassung",
„Dem Fürsten, der sein Wort gehalten", „Ein Wort ein Mann", „Dem Volksfreund",
sowie die Erleuchtung des neuen Staatsgrundgesetzcs selbst bewiesen, daß das Fest auch
eine politische Bedeutung hatte. Ein Schlossermcister, der neben dem Palais wohnt,
hatte die Worte illuminirt: „Meinem braven Nachbar." — Wir aber wünsche» Glück
dem Leben des guten Nachbars und eine gute Zukunft seinem Lande. —
Wir beginnen die Reihe mit der „Prager Zeitung." Ihr offizieller Teint,
^re lächelnde Intrigue und schwarzgelbe Höflichkeit wird Ihnen alsogleich hehre Lust
Ottern lassen und den gehörigen Respekt einflößen. Sie ist von hochadcligcr Geburt,
das würdige Töchterlein der edeln „Wiener Zeitung" und die zärtliche Enkelin des
starken Ministeriums. Aber in diesem Augenblicke wandelt sie betrübt und spähend als
Zerlassene Waise unter der Sonne umher, trauernd um ihren Redakteur, der sie einem
Katheder geopfert, und ihr unschuldiges Dasein fristend dnrch ein proviforisches Be¬
decken ministerieller Delizien, wie sie ans der neuen Corresvondenzenküche der ehrwürdi¬
gen Hofkanzlei in die Provinzen verschickt werden. Herr .ü. it. Di-. Leopold Hafner,
^dier von Artha ist der Sohn des ehemaligen Directors der juridischen Studien und
^ k. Hofrathes gi. N., welcher gegenwärtig in stiller Zurückgezogenheit in Prag lebt,
^eim Beginne der vorjährigen Revolution machte sich der junge Hafner im juridisch-
politischen Nedevcrcin zu Wien durch seinen Liberalismus und sein Talent bemerkbar,
rind wir können letzteres auch dem Redakteur zuerkennen. Er liest nun, von der Regie¬
rung dazu berufen, als außerordentlicher Professor mit einem bedeutenden Gehalte ho-
norirt, über „Staatsrecht." Da unsere juridischen Lehrstühle ohnehin keinen Ueberfluß
um Talenten aufzuweisen haben, so wird Hafner von seinen Kollegen mindestens nicht
verdunkelt werden. Ein Blatt, das mit großartigen Mitteln gegründet wurde und unter
seinen Federn noch jetzt hervorragende Kapacitäten zählt, ist das „Eonstitntionelle Blatt
aus Böhmen." Es war ein glückliches Unternehmen der Gebrüder Haase, in der in¬
teressantesten Zeit des Jahres >848, im Monate April, mit einem Journal hervorzu¬
treten, das aus die schnellste und ausführlichste Weise die allgemeine Neugierde der
politischen Welt zu befriedigen versprach. Durch die Belletristik der „Bohemia" mit
großen literarischen Kräften des In-und Auslandes in Verbindung gelang es den Heraus¬
gebern des Constitutionellen Blattes, dieselben Kräfte auch für die politische Sphäre
zu gewinnen, wobei die Zeno'g ebensowohl durch ihre wohlunterrichteten auswärtigen
Korrespondenten als durch die Schnelligkeit, womit sie wichtige Ereignisse dem Publi¬
kum mitzutheilen sich beeilte, bedeutend gedieh. Der Absatz des Blattes ward bald ein
reißender, und wiewohl es eigentlich keine selbstständige Partei vertrat, löste es dennoch
als historische Quelle seine Aufgabe vollkommen. Die Leitung der Redaktion führt
Franz Klntschak, ein Mann von viel Verstand und Nildung. Wie ich mit Bestimmt¬
heit höre, wird das Blatt nächstens auch regelmäßig leitende Artikel bringen. Drei
seiner vorzüglichsten Mitarbeiter sind: Anton Springer, Adolf Neustadt und
Siegfried Kapp er. Springer ist el» junger Gelehrter, der im verflosse¬
nen Jahre an der hiesigen Universität vor sehr zahlreichen Auditorien geistreiche Vor¬
träge über die Geschichte der Revolution des letzten Jahrhunderts hielt und sie auch
als ein ganzes Werk im Drucke herausgab. Er unternahm vor einigen Monaten eine
Reise durch Deutschland und die Niederlande nach Frankreich, wo er sich noch jetzt auf¬
hält, und bisweilen den Leser des Constitutionellen Blattes durch seine schönen Briefe
anzieht. — Adolf Neustadt zeichnet sich in seinen Aufsätzen durch treffende Gedan¬
ken und politischen Scharfblick ans. Letzterer hat ihm aber im vorigen Jahre viele
Feinde zugezogen, und weil er in seinen Briefen nicht alle Schritte der Phantasten
billigte, Italien und Ungarn für Oestreich vindizirte, nud überall zur Besonnenheit
rieth, ward er alö illiberal verschrieen, bis er diesen Leumund durch seine „politischen
Briefe" widerlegte. Leider war das Leben der „politischen Briefe" nur kurz, denn die
Parze des freien Wortes in Oestreich, das Schwarzenberg'sche Preßgcsctz, machte ihre
Existenz »»möglich.
Siegfried Kapp er leistet als Feuilletonist Vortreffliches; anziehend sind seine
Schilderungen südslavischen Lebens. — Außerdem hat dieses Blatt ein Cvrrcspondenznctz
dnrch Europa gezogen, wie gewiß kein zweites Blatt in Oestreich. >— Im Ganzen ist
seine Tendenz constitutionelle Entwickelung und Gleichberechtigung beider Nationalitäten.
Die „Bohemia" ist blos als Fcnilletonbeilage dieses Journals 'zu betrachten. Andere
hier erscheinende belletristische Schriften, wie das „Panorama", „Bild und Leben" und
die „Erinnerungen" sind periodischer Natur und von geringer Bedeutung.'
Ein Journal, auf welches die Deutschen in Böhmen einst große Hoffnungen setz
ten, ist die „Deutsche Zeitung aus Böhmen." Es gibt kaum ein größeres
Mißgeschick für ein politisches Blatt, als häufiger Ncdaktionswcchsel. Wie ein Knabe,
der mit Lehrern hcinfig wechselt, selbst wenn sie nach denselben Grundsätzen der Päda¬
gogik vorgehen, in seiner Bildung dennoch schwankend wird, so' existirte ein solche
Blatt blos in permanenten Provisorien, bis es allmälig seine Kraft und seinen Gehalt
verliert. Dieser Umstand beeinträchtigte leider auch den Werth und die Bedeutung der
„Deutschen Zeitung." Bernhard Gute, »r. Franz Klier, Dr. Ferdinand Stamm,
Julius Hirsch und vo. Franz Makowitza folgten in so kurzen Intervalle» als Redak¬
teurs auseinander, daß die Zeitung nicht zu Athem kommen konnte und immer matter
wurde. Sie war Anfangs ein Projekt des „Deutschen Vereins," der sie anch nach
Kräften unterstützte, bis unser Associationsgesctz den Verein in alle vier Winde jagte.
Das Blatt schien nun unter der Wucht der unerschwinglichen Preßcautivn erliegen zu
müssen, bis ein Mann, dem die deutschen Interessen am Herzen liegen, der vor
Kurzem aus dem kriegsrcchtlichen Arrest entlassene Buchhändler Carl Andre dieses Blatt
rettete und die Caution erlegte. Die „Deutsche Zeitung" ist entschieden liberal und
deutsch, aber durch den Belagerungszustand und den oben angeführten Uebelstand so
entnervt, daß ihr selbst die Tüchtigkeit ihres jetzigen Redakteurs kaum neues Leben ein¬
zuflößen im Stande sein wird.
Und doch würden die deutschen Interessen in Böhmen einer achtbaren Vertretung
bedürfen, um sie auch moralisch zu jener Geltung zu bringen, die ihnen gebührt! —
Jetzt kömmt das Blättlein unserer gutgesinnten Siebenundscchzigcr: „Die Wage";
eine Zeitung, womit die „Gesetzlichen" ausstehen und sich niederlegen, als Talisman
gegen politischen Hieb und Stoß. Die „Wage" ist trotz ihres bisweilen losen Züng¬
leins und dieser Siebennndscchzigcr-Gunst vou gar keiner Bedeutung, ihre Redakteurs,
Jaich und Lederer find Iwmiui.'« ignoti, Noch weniger bedeutend ist das Abendblatt
„Prag", das erst seit einigen Tagen erscheint und nichts Bemerkenswerthes darbietet. —
Die czechisch-gehemmten und czcchischgeschncbencn Blätter werde ich in der nächsten Num-
mer schildern.
Der Graf Magnus v. Moltke auf Grunhvlz, eines der hervorragendsten Mit¬
glieder des Corps der Prälaten und Ritterschaft zu Schleswig-Holstein, hat sich vor
einigen Wochen für eine Theilung des Hcrzogthmus Schleswig, als des einzige» Mit¬
tels einen dauernden Frieden zu gewinnen, ausgesprochen; nach ihm sind viele Stim¬
men in ähnlichem Sinne lant geworden, so daß man mit einigem Recht vermuthen
kann, die vom Cabinet Se. James ausgestellte FricdeuSbasis: ein selbstständiges Schles¬
wig u. s. w. werde in den Hintergrund treten. Die Störung der in Berlin gepflo-
genen Friedensunterhandlungen scheint eine Folge hiervon. — Die Herstellung eines
selbstständigen Schleswig ist eine Unmöglichkeit und hat sich bereits als solche erwiesen;
es ist jetzt Pflicht zu zeigen, daß eine Theilung Schleswig's die höchste Ungerechtigkeit
sein wurde.
Die deutschen Schleswiger sind an Holstein gefesselt durch die Bande des Rechts, aller
staatlichen Einrichtungen, die materiellen Interessen bis Handels n. s. w., die däni¬
schen Schleswiger sind dnrch Nichts von allem Diesen mit Dänemark verbunden, denn
was man allenfalls von der Sprache sagen mag, so ist diese ein schlechtes dänisches Pa-
tois, welches den Dänen von Kopenhagen durchaus nicht leicht verständlich ist. Die
dänische Propaganda hat freilich den ungebildeten Nvrdschleswiger seit Jahren Plan-
mäßig bearbeitet: sie hat ihm eingeredet, der Deutsche werde seine Söhne gegen Russen
und Türken in den Krieg schleppen, er werde ihm seine Sprache rauben, seine Kassen
plündern, ihn von Haus und Hof vertreiben n. s. w., und sein argwöhnisches Gemüth
ist ein fruchtbarer Boden für solche Saat gewesen. Hierzu kommt, das, die Mehrzahl
seiner Söhne im dänischen Heere dient. Seine materiellen Interessen aber weisen ihn
wahrlich nicht nach Norden und wir haben Bewohner der Landschaft Sundewitt, die
als besonders gut dänisch verschrieen wurden, kennen gelernt, welche bei der Hinweisung
auf eine mögliche Zolllinic an der Schlei oder Eider sich entschiede» der deutschen
Sache zuwandten. Nur ein Theil der Flensburger Kaufmannschaft muß dänisch
werden, wenn er seinen Handel mit Westindien behalten will.
Den intelligenten Theil der Bevölkerung eines Landes muß man fragen, wenn
man die wahre Gesinnung erforschen will; Alles, was in Schleswig gebildet ist (mit
Ausnahme etwa der gedachten Flensburger Kaufleute) gehört dem deutschen Element an; die
kleineren Landbesitzer im Norden Schleswigs, ferner Dienstboten und Arbeiter, von denen
jährlich eine große Anzahl aus Dänemark einwandert, sowie endlich Matrosen und die
Bevölkerung, die von der Schifffahrt abhängt, sind dänisch gesinnt, in einer Weise,
die wir noch näher bezeichnen werden. — In Folge des Berliner Waffenstillstandes vom
10. Juli hat man eine Demarkationslinie durch Schleswig gezogen, und es ist nicht
unwahrscheinlich, daß man bei demnächstiger Ausstellung der Friedcnsbasis einer Thei¬
lung Schleswigs, dann diese Linie als Grenze zwischen Deutschland und Dänemark
wird gelten lassen wollen. Wir nehmen deshalb Veranlassung uns die Gesinnungen
nördlich dieser Linie etwas näher zu betrachten. Der nördlichste Strich Schleswigs ist
das große Amt Hadersleben mit der Stadt gleichen Namens, die man mit Recht: „die
nördlichste deutsche Stadt" nennen kann. Nie hat man hier unterlassen, sich
durchweg im deutschen Sinne zu erklären und die deutsche» Truppen, welche gegen
Dänemark gekämpft haben, stellen ihr das beste Zeugniß deutscher Gesinnung aus. Das
Amt Hadersleben neigt sich zu Dänemark. Bei der unaussprechlichen Indolenz, die
hier herrschte, ist es nicht anders möglich, als daß die Propaganda hier ein empfängliches
Feld vorfand, zumal es besonders der ans dänischen Kandidaten hervorgegangenen
Geistlichkeit von der Regierung als Theil ihrer Amtswirksamkcit auferlegt wird, Pro¬
paganda zu machen. Und doch will der Bauer im Amte Hadersleben Schleswiger
bleiben, nicht gleichgestellt werden mit dem armen schmutzigen Bewohner der Halb¬
insel im Norden der Königsau, auf den er mit Mitleid, ja mit Verachtung herab¬
blickt. Südlich von Hadersleben liegen Amt und Stadt Apenrade, mit ihren Vcrkehrs-
interessen dem Süden zugeführt, und obgleich die deutsch-dänische Mischsprache re¬
dend, dennoch einer engeren Verbindung mit Dänemark ans allen Kräften widerstrebend.
Dies geht am besten aus der stets wiederholten Wahl eines eifrigen Vertheidigers der
Schleswig-Hvlstclnschen Sache (Bauer Steeuholdt) für die Landcsversammlung hervor.
Oestlich davon und nur durch eine schmale Meerenge vom Festland getrennt, liegt mit
dem Stammsitz der Augustcuburger Herzoge die Insel Alsen. ES ist der Propaganda
gelungen, hier die Parteien gegen einander aufzuregen, bei welcher die dänische, viel¬
leicht, weil sie eine starke Besatzung dänischer Soldaten im Rücken hatte, die Oberhand
gewann. Nichtsdestoweniger sehnt man auch hier allgemein den früheren Zustand der
Dinge herbei und die Loyalitätsadressen, die auf Befehl des königl. dänischen Civil-
gouverueurs Riegels nach Kopenhagen geschickt sind, bezeichnen ausdrücklich deu König
von Dänemark als „Herzog von Schleswig." Der bereits erwähnte Handel Flens-
burgs nach Dänemark und Jütland, Versendung der aus Westindien bezogenen Waaren,
wurde bedeutend vermindert werden bei einer vollständigen Trennung der Herzogtümer"
vom Königreiche. Dies macht es begreiflich, daß ein großer Theil der Kaufleute dä¬
nische Sympathien hegt, jedoch geht auch dieser Theil nur soweit, das; er „Schles¬
wiger" bleiben, keineswegs aber dänisch werden will. Die Mehrheit kann man als
Deutsch betrachten, sie beauftragte den Bürgermeister Callisen, als das Dänenheer im
Frühjahre 1848 in die Stadt zog, dem König-Herzog zu erklären, daß der größere
und bessere Theil FlenSburgs deutsch gesinnt sei. Noch ist, und zwar unter gänzlicher
Verkennung der Verhältnisse ein Theil des Anglerlandcs südlich des Flensburger Meer¬
busens hinter die Demarkationslinie gelegt worden. Wer die Nachkommen der alten
Angelsachsen kennt, der weiß anch, daß ihr altes Motto: „Wir halten fest der Väter
heilige Gab!" stets von ihnen bethätigt worden, daß sie erbitterte Feinde der Dänen
sind, daß sie einen Landsturm geschaffen und bei Holnis auf eigene Hand den Landes-
feind vertrieben haben, endlich, daß sie die deutsche Sprache reden. — Wenden wir uns
jetzt zu dem südlichen Theil Schleswigs. Wohlweislich hat man das Land der Friesen
an der Westküste mit seiner Hauptstadt Tondern nicht hinter die Demarkationslinie ge¬
bracht. Es wäre auch nicht viel Gutes daraus entstanden, hätte man den „freien
Friesen," die schon einmal einen Herzog, der sie brandschatzen wollte, erschlugen, aber¬
mals die Aussicht eröffnet, unter das Dänenjoch zurückzukehren. Die Hauptstadt Ton-
dern ist stets entschieden deutsch gewesen, in ihr gilt noch das alte Lübische Recht, die
Stadtthore ziert der friesische Wahlspruch: „Lieber todt als Sklav!" Beseler war ihr
Abgeordneter. Mit der ländlichen Bevölkerung verhält es sich ebenso. stimmten doch,
als man vor einigen Jahren anfragte, ob die Kirchen- und Schulsprache Deutsch oder
Dänisch sein sollte, von 10,0vel nur Z eingewanderte Dänen für die dänische Sprache.
Die Städte und Aemter Husum, Schleswig, Eckernförde n. s. w. sind endlich entschie¬
den. Deutsch und man Hort dort keine Sylbe mehr von dem Dänisch-Deutschen Patois.
Wie will man also theilen? Nach den Sympathien und Antipathien? Das
ist nicht möglich, denn nur ein kleiner Theil will Däne werden, die Mehrzahl will
Schleswig-Holstein« bleiben, die Minorität „Schleswigs" werden. Oder nach der
Sprache? Die Sprache, welche in den nördlichen Distrikten geredet wird, kann so
wenig Dänisch als Deutsch genannt werden, sie ist ein schlechter Bastard. Früher
spottete man in Kopenhagen über den Dialekt dieser „Dänischen Holsteiner", wie man
sie nannte, und jetzt ist Plötzlich ein vortreffliches Dänisch daraus geworden. Käme es
mir so weit, daß in jedem nvrdschleswigschen Dorfe gefragt würde, ob man vom süd¬
lichen Schleswig getrennt und in Dänemark einverleibt werden wolle — so würde man
es erleben, daß sich keine Ortschaft dafür entschließt.
Wie ist denn aber endlich der Friede zu erreichen? Die Antwort ist einfach:
„Man verlasse den Rechtsboden nicht!" Deutschlands mächtigster Monarch,
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen schrieb an den Herzog von Augustenburg, daß er
sich das politische Glaubensbekenntniß der Schleswig-Holstciner aneigne, welches lautet:
„Die Herzogthümer Schleswig-Holstein sind fest mit einander verbundene Staa¬
ten, sie find untheilbar und nur der ManncSstamm des dänischen Königshauses
kann in den Herzogthümern herrschen."
Diese Sätze haben alle dänischen Könige, die Herzoge in Schleswig-Holstein waren,
zu halten beschworen, als sie den Thron bestiegen, auch Dänemarks jetziger Monarch
hat dies gethan. Mehr als ihr altes Recht verlangen aber auch die Schleswig - Hol-
steincr nicht; garantire man ihnen diese ihre Rechte und man wird den Krieg sogleich
beendet sehen. Oder glaubt man dies nicht wagen zu können, weil es Dänemark bei
dem bevorstehenden Aussterben des Mannesstammcs der königlichen Linie an den Rand
des Verderbens führen würde, wohlan so lasse man seine Hände ganz ans dem Spiel;
Schleswig-Holstein ist jetzt mächtig genug, dem Dänen anch allein die Spitze zu bieten.
Letzterer wird, wenn er es nnr mit den „Jusurgenters" zu thun hat, schon der Ehre
halber losschlagen, und wir müßten die Bewohner der einzigen deutschen Halbinsel
schlecht kennen, wenn sie nicht ein zweites Marathon - Bornhöved in ihre Annalen
zeichneten.
Geht doch eine alte Prophezeihung durch's Land, nach der auf der weiten Ebene
zwischen Flensburg und Apeurade der Erbfeind des Landes in einer dreitägigen Schlacht
für immer besiegt werden soll, von den Nachkommen der nordalbingischcn Sachsen.
Shakespeare von Gervinus. Z.Band. Leipzig, Engelmann. - - Der dritte
Band dieses Werks, dessen beide ersten Bände wir ausführlicher in No. dieses
Blattes besprochen haben, enthält die dritte Periode der dramatischen Dichtung Shakes¬
peare's, die Lustspiele „Wie es euch gefällt," „Viel Lärmen um Nichts," „Was ihr
wollt," „Maaß für Maaß," „Cymbelinc;" die Tragödien „Othello," „Hamlet,"
„Macbeth," „Lear." Die Mehrzahl der Leser wird dem Kritiker auf bekannteren
Terrain mit größerem Interesse folgen, wir mochten doch der Abhandlung über die hi¬
storischen Stücke den Vorzug geben, in der sich Gervinus auf seinem eignen Boden
befindet. Dennoch ist anch dieser Band eine höchst anerkennenswerthe Leistung, nament¬
lich wegen der Strenge, mit der die Kritik überall, wo unsere frühere Schule die
phantastische Freiheit eines souveränen Geistes oder die mystische Tiefe einer dem Pöbel
unnahbaren dichterischen Kraft fürchtend zu verehren gewöhnt war, die künstlerische,
also menschlich verständige Absteht nachzuweisen versucht hat, von den Hexcnscenen an
bis zu den Possen im Ardenner-Walde. Freilich ist es zuweilen anch nnr bei dem
Versuch geblieben, und wenn z. B. in /^s )'»n it dnrch eine Erzählung, in der
ungefähr dasselbe vorkommt, was im Stück, die Kunst gerettet werden soll, so über¬
nehme ich, bei jedem beliebigen Stück von Immermann oder Tieck dasselbe zu leisten.
Freilich wird sich Sinn und Verstand bei Shakespeare nie verläugnen, und je über¬
müthiger er wird, um so glänzender werden die Sprühfunken seines Witzes fallen. Es
kommt aber nicht darauf an, wie viel vortreffliche Dinge in einem dramatischen Kunst¬
werk vorkommen, sondern wie vortrefflich es ist. Darum muß ich auch die allgemeine
Meinung, wie sie sich z. V. über den Werth des Cymbeline und über die Auslegung
verschiedener einzelner Stellen und Churaktere gebildet hat, gegen Gervinus in Schutz
nehmen. Was Gervinus über Cymbeliue im Einzelnen anführt, ist wahr, und den¬
noch ist der Cymbeline ein mittelmäßiges Stück, trotz des nachgewiesenen Parallelismus,
dem unser Kritiker wie in der Geschichte, so auch in diese» künstlerischen Explicationen
mit etwas zu großem Eifer nachgeht. Erfreulich ist die Wärme, mit der Othello,
Mcbeth und Lear besprochen sind, und es ist ein hoher Ruhm sür den Dichter, daß
bei der ungeheuern Fülle von Auslegungen, die jene Meisterwerke gefunden haben, der
neuesten Kritik noch immer möglich gewesen ist, ans einige Züge von nicht geringer
Wichtigkeit hinzudeuten.
Em a n u e l S chat l, ein h istorisch er Roma n, schön zu lesen sür Jeder¬
mann u, s. w, von FanstinuS Lux. Hannover, Carl Rümpler. Mit ein¬
gedruckten Holzschnitten. — Enthält deu Lebenslauf eines Taugenichts in Knittelversen,
wie er aufwächst zwischen Herrn Vater und Frnu Mutter, die gewöhnliche» Stndenten-
abentencr besteht, in Berlin mit einer Tänzerin zusammenlebt, Jesuit wird, in den
Revvlntu'usszcncn des letzten Jahres sich als Wühler betheiligt, von Baden aus Nc-
giernngSgcldcr in Sicherheit bringt und sich damit in Alabama als Sclavcubcsitzer an¬
kauft, wo er Schlußlied weiße FreiheitSapostcl durchprügeln läßt. — Ist die Arbeit eines
Dilettanten, mit mehr Behagen als Witz geschrieben, wird sich durch zeitgemäßen In¬
halt und durch die gute» Holzschnitte zahlreiche Freunde und Leser verschaffen. Unser
Vergnügen beim Lesen störte die Rohheit der Knittelverse. Selbst in der Jobsiade,
dem langweiligen Vorbild solcher burlesken Biographien, ist die Sprache und der Ryth-
mus viel anmuthiger malträtirt, als im vorliegenden Heldengedicht. Bei einem kurzen
Scherz läßt man die rauhe Form wohl gelten, selbst^ das Brechen der Wörter im Reim
>ab das Herüberzichn der letzten Silben in die nächste Nerszcile mag beim Sprechen
noch komisch wirken können; allein wenn solch billiger Spaß durch ein ganzes Buch
geht, wird er Einem zuletzt verdrießlich. '— Die äußere Ausstattung ist gut, und da
der Inhalt, wie gesagt, angenehm politisch wirkt, wird die stolpernde Darstellung von
einem lcselustigcu Publikum freundlich verziehen werden, zumal es in dem großen Deutsch¬
land jetzt 50 Jahr nach Goethe und Schiller nur sehr, sehr wenig Menschen gibt,
welche wisse», was ein wohlklingender Vers ist. Wenigstens unter den lyrischen Dich¬
tern der Gegenwart herrscht, mit wenig Ausnahmen, in den Versen die größte Bar¬
barei. Wir sind zu genial nud geistreich geworden, um noch iii solch pedantischen
Zeug, wie Rythmus und Metrum sind, etwas zu lernen.
H um o ristisch-satyrischer Volkskalcndcr des Kladeradatsch für
18 50, herausgegeben Von D. Kalisch. Berlin A. Hoffmann und Comp. — Ein
Kalender voll von Berliner Witzen und obligaten Holzschnitten. Viel schlechte Witze
und mehrere recht gute stehn brüderlich untereinander, sie sind in der bekannten Manier
gemacht, wegen welcher Berlin, unser gutes deutsches Babel, berühmt und berüchtigt
ist. Viel Frivolität, einige Blasirtheit, Silbcnstecherei und bei aller Unart immer noch
etwas Gutmüthigkeit. Der Kladeradatsch und Doctor Kalisch, der furchtbare Beherr¬
scher der Berliner Volkstheater, sind die Taufpathen dieses ungezogenen Schlingels von
Kalender, ihr Wesen spiegelt er ab im Guten und Schlimmen. — Wer hätte nicht
einmal über die Witze von Kalisch gelacht, wenn sie mit anspruchslosen Leichtsinn aus
den Coulissen schlüpfen, bei einem Kalender aber hat die Sache ihr Bedenken, zwischen
Nord- und Sonnenzeiehen gefallen sie uns nicht recht. — Ueberhaupt verdient unser
Kalenderwesen und die rastnirte Bnchhändlcrspeculation, welche dies Bedürfniß des
Volkes so vielfach benutzt hat, ein ernstes Urtheil. An die Stelle der kleinen ehrbaren
Kalender mit zwei rührenden Räubergeschichten, drei alten Anekdoten und sechs alten
Wirthschaftsrecepten, denen die Jahrmärkte der Gegend und ein unvollständiges Ver¬
schluß der regierenden Potentaten als geschäftlicher Anhang beigedruckt waren, sind
^tzt große Broschüren getreten, zum Theil mit schlechten Stahlstichen und sentimentalen
Novellen, welche sich für Volksthümliche Erzählungen ausgeben, zum Theil mit politi¬
scher Saalbadcrei ausgefüllt, welche populäre Politik vorstellen soll. Das Alles paßt
schlecht für eine ehrsame bürgerliche Haushaltung. Der Kalender ist für den deutschen
Bürger und Landbewohner ein wahrhafter Hausfreund, ein ernsthaftes, kleines Kerl-
chen mit einer geheimnißvollen Miene, welcher zu allen Zeiten des Jahres und für
jede Seelenstimmung seine unfehlbare» Orakelsprüche über Datum. Mondwechsel, Jahr¬
märkte, Geburtstage, Erndtefeste und wirthschaftliche Thätigkeit aussprechen soll. Bei
ihm will das Volk sich Rath erholen, in ihm trägt der Einzelne seine Familienfeste,
merkwürdige Begebenheiten, bezahlte und unbezahlte Rechnungen ein. Ein solcher
Hausfreund soll weder ein frivoler Spaßmacher, noch eine schwatzhafte Thcedame sein.
Wohl war es gut und zweckmäßig, daß man versuchte, in die Kalender des Volkes
bessere Erzäliluugeu und »Wiese Neuigkeiten hcreiuzudruckcu, leider aber ist eS selten
mit Takt, Kritik und ehrlicher Gesinnung geschah», dagegen ist der Markt überschwemmt
durch die große Anzahl von Fabrikarbeiter, welche moderne Kleider und eine sehr ge¬
meine Seele haben und doch durch den billigen Preis und ihr stattliches Aussehn das
Volk anlocken, und sich ihm marktschreierisch in'S Hans drängen. Alles dies Zeug scha¬
det, weil es nichts nützt, zuweilen schadet es sogar, weil es gradezu entsittlicht.
Wer durch den leichtfertigen Kalender des Kladderadatsch eine» Zwiriifadcn zieht und
ihn neben seinem Rech»ungsbuch aufhängt, der mag im Wirthshaus ein lustiger Ge¬
sell und ans der Straße ein vortrefflicher Bummler sein, es wird aber keine»! ernst¬
haften Herrn, der sür seine Beine ein paar neue Stiefeln oder für seine Tochter einen
Gatte» sucht, zu verdenken sein, wenn er sich kopfschüttelnd von dem Verehrer eines
solchen Hausguomen wegwendet. — Kalisch hat durch die Natur ein so schönes Pfund
Von guter Laune und fröhlichem Scherz bekommen, er gilt bei seinen Bekannten auch
als Mensch sür einen ehrlichen und treuherzigen Gesellen, wußte er uiid seinen guten
Gabe» nicht besser zu wuchern, als in solcher Speculation aus die Lachlust verschrobe¬
ner Spießbürger? Wer über Alles und in Alles seine Witze macht, der verliert zuletzt
jedes Recht witzig zu sein. Und selbst der g»te Scherz, der auf der Bühne schnell
verklingend tausend frohe Gesichter macht, wird ledern und schaal, wenn er sich durch
!!65 Tage immer wieder anspruchsvoll aufdrängt.
Syuchrouistische Tabellen zur vergleichenden Uebersicht der
Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Von Karl Eitner.
Breslau, Korn. — Die Tabelle, welche von den ältesten Zeiten beginnt, und mit
dem Jahr I!>><>(» schließt, ist mit Fleiß und Sorgfalt aus den vorhandenen Quellen
zusammengetragen und als sehr brauchbares Handbuch zu empfehlen.
Auch der Teufel hat seinen Humor; und auch die Herrschaft Rußlands in den
westslavischen Ländern hat Seiten, welche mit einer gewissen Laune betrachtet
sein wollen.
Der polnische Waidmann unterscheidet sich jetzt wesentlich von dem aller übri¬
gen Länder; außer den Jagdgeschichten hat er bei der Tafel unter guten Freunden
auch noch „Gewehrgeschichten" zu erzähle», in denen er nicht als Jäger, sondern
als Gejagter erscheint; denn eine polnische Jagd besteht sehr häufig ans drei
Parteien, dem Wild, dem Polen und dem Russen; dem Polen, welcher den
Wolf jagt, und dem Russen, welcher die Jagdflinte des Polen jagt.
Bekanntlich besteht im Königreich Polen ein sehr strenges Gewehrverbvt. Es
beschränkt sich aber nicht aus die gewöhnlichen Kriegswaffen, sogar für ökonomische,
Handwerker- und hauswirthschaftliche Geräthe stellt es Form und Gewicht fest.
So sind zunächst Diejenigen mit Todesstrafe oder ewiger Verbannung bedroht, in
deren Besitze „eine Kanone, auch uur Kanonenrohr, ein Bvmbeiikessel, eine Hau¬
bitze oder ein Mörser" gefunden wird. Die Inhaber von Lafetten und ähnlichen
Gestellen, welche im Gründe doch gar nicht als Waffen betrachtet werden können,
werden mit einer nicht viel geringeren Strafe belegt. Eben so sehr verpönt sind
natürlich Feuergewehre, besouders Flinten und Büchsen. Wer nach Publikation
des Gesetzes seine Gewehre nicht bis zu dem festgesetzten Termine ausgeliefert
hatte, sollte Verbannnngsstrafe von zehn Jahren bis zu Lebenszeit erhalten. Der¬
selbe Fluch trifft auch die Seitengewehre, besonders die sehr gekrümmten Säbel,
die Waffe des altpolnischen Adels. Allein die Verordnung geht weiter, sie be¬
droht auch Mist- und Heugabeln, eiserne Ofenkrücken, Ofengabeln, Bratspieße,
Messer und Gott weiß was für Dinge, von denen theils gefordert wird, daß sie
nicht aus Eisen, Stahl oder anderm harten Metall, sondern aus Holz n. s. w.
gefertigt seien, theils, daß sie eine bestimmte Länge nicht überschritten; das Maxi-
wum für Messer ist 16 Zoll.
Dieses große Waffeuverbot ist mehrere Male durch Kosaken und Gensdarmen,
welche wie Bänkelsänger umherzogen — die Masse des Volks versteht nämlich
weder zu lesen noch zu schreiben, und schriftliche Verordnungen können daher nie
bei uns erlassen werden — in Flecken und Dörfern erneuert und in frisches An¬
denken gebracht worden, während des Aufstandes in Krakau und Galizien und
wieder im vorigen Jahre. Doch lautete die Verordnung niemals in einem Gu-
bernium wie in dem andern, woraus hervorzugehen scheint, daß sich die Laune
der Herren Gubcrnatorcn an derselben geltend gemacht hat.
Im sandomirer Gubernium z. B. zählte man die Sporen unter die Waffen,
welche zu fürchten sind. Ein junger Edelmann mußte es sich in Kleine gefallen
lassen, auf die Hauptwache geführt, seiner Sporen beraubt und einige Tage aus
Befehl des Gubcruators eingesperrt zu werde». Die Erklärung, welche man ihm
machte, bestand in den wenigen Worten: „N. möge wissen, daß alle Arten
von kriegerischen Geräthen verboten sind." Ich selbst hatte zwei Mal das Schicksal
meiner Sporen wegen in Händel zu gerathen. Einmal nahm mir ein zufällig in
dem Hotel anwesender Kosak ein Paar ueusilbcrue Sporen beim Auspacken meiner
Effekten mit dem Bemerken: „das find verbotene Waffen" weg und entfernte sich
damit wie ein Flüchtling oder Dieb. Ein anderes Mal wurde ich, als ich durch
die kleine hübsche Stadt Warka ritt, vou drei Gensdarmen angefallen. Sie for¬
derten mir ebenfalls kraft des Gcwehrvcrbvts meine Sporen ab. Doch meine
Erklärung, daß ich ein Deutscher und nicht daran gewöhnt sei, das Pferd mit
einer Knute zu dirigiren, schwächte ihren Amtscifer und ich behielt meinen Nitter-
schmuck. —
Auch in Nußland bestehen Verordnungen gegen den Besitz von Waffen, allein
sie sind außer in einigen größeren Städten Kleinrußlands in neuerer Zeit uicht
publizirt worden. Wohl die wenigsten Nüssen wissen, daß sie keine Waffen be¬
sitzen sollen; sie besitze» ohnedies keine, denn sie haben kein Interesse an dergleichen
Dingen. Ganz anders dagegen ist es in Polen. Wohl keine andere russische
Maßregel hat den Polen so tief in der Seele verletzt und gedemüthigt. Als
Herr von Morawski nach dem Erlaß des furchtbaren Waffenverboteö von seiner
Schwester gedrängt wurde, die krummen Säbel seiner Ahnen, die unter ihren
Bildnissen hingen, zu verstecken, verfiel er in Ticfsi»», und i» dem Augenblicke,
als er endlich der drohenden Gefahr und den Bitten der Schwester nachgab und
die Säbel von der Wand nahm, um sie in einer Nische des Kellers einzumauern,
übermannte ihn so das Gefühl der nationalen Erniedrigung, daß er eine Pistole
von der Wand riß und sich eine Kugel durch das Haupt schoß.
Allerdings ist's Jedermann gestattet, sich beim Fürststatthalter die Erlaubniß
für den Gebrauch gewisser bei seinem Geschäft nöthiger Waffen auszuwirken,
allein nur Wenige mögen sich zu einer Petition entschließen, die, in ihrer Form
sehr demüthigend, oft ohne Erfolg und mit vielen Umständen verbunden ist. Sie
muß z. B. von eiuer Menge von Zeugnissen begleitet sei». Will ein polnischer
Edelmann, ein Grundbesitzer, sich die Erlaubniß auswirken eine Jagdflinte zu
halten, so muß er erstens ein Zeugniß des Distriktscommissars (der gewöhnlich
ebenfalls ein Edelmann ist) dafür beibringen, daß sein Grundeigenthum groß
genug und die Jagd wegen der Raubthiere nothwendig ist, dieses Zeugniß muß
von dem Kommissar der Obwvdschast durch Unterschrift und Stempel bestätigt
sein; ferner ein Zeugniß des Criminal- und Preisgerichts, in welchem der Manu
als ein moralisch und politisch unbeflecktes Individuum dargestellt wird, dieses
Zeugniß soll von dem Gubernialgericht bestätigt sein; und drittens eine Beschei¬
nigung des Kriegsgubernators der Provinz, daß er (der Gubernator) ihm die Er-
laubniß ertheilt habe, beim Fürststatthalter um die Jagdflinte suppliciren zu dür¬
fen. Ist dieser fast unübersteigliche Damm vor der Kanzlei des Fürsten Paskie-
witsch überstiege», so hängt es noch durchaus von der Stimmung des Fürsten ab,
ob man seinen Zweck erreicht. Die Stimmung des Fürsten ist aber bei derglei¬
chen Anliegen gewöhnlich sehr schlecht. Nur die gelernten Jäger vom Gewerb er¬
halten die Erlaubniß fast immer, doch muß ihr Lehrbrief der Supplik beiliegeu;
andere Personen aber suppliciren fast immer vergeblich, ihr Bescheid ist gewöhnlich,
daß „noch keine Karte vacant sei." Daraus scheint hervorzugehen, daß nur eine
bestimmte Zahl von Jagdflinten geduldet werden soll, deshalb sind die Erlaub-
nißkarteu auch numerirt. Man hat diese Zahl zu erforschen gesucht und 300
gefunden. Und wären in der That nicht mehr als 300 Schießgewehre in den
Händen der Polen, so hätten die Russen neue Aufstände nicht sehr zu fürchten.
Allein es sind doch unendlich viel mehr vorhanden. Trotzdem daß die Büchsenschäf-
ter und Gewehrfabrikanten eidlich verpflichtet, nniformirt und in die Classe der
kaiserlichen Beamten aufgenommen sind, trotzdem daß sie auf jede Nummer der
Erlaubnißkarten nur ein Gewehr verabfolgen dürfen, werden selbst auf viele Er-
laubnißkarten mehr als ein Gewehr angeschafft, ich selbst weiß als Augenzeuge,
daß auf eine Nummer fünf Doppelflinte» in den Besitz des Karteninhabers (der
ein gelernter Jäger war) übergingen und durch ihn dritten Personell zu Theil
wurden.
Der unerlaubte Besitz von Gewehren bereitet eine ungeheure Gefahr, denn
er wird zu den politischen Verbrechen gerechnet, und diese werden mit Vermögens-
confiskation und Verbannung nach Sibirien bestraft. Allein ehe sich ein polni¬
scher Edelmann der Gefahr aussetzt, vergebens supplicirt und sich demüthig vor
dem Russen gebeugt zu haben, wagt er lieber das Gefährliche. Ohnehin kaun
er mit Zuversicht auf die Bestechlichkeit der russischen Beamten rechnen; freilich
mit eben so großer Zuversicht, daß sein Gcwehrgcbranch, und läge sein Jagdre¬
vier unter Gebirgen und Urwäldern begraben, bald genng entdeckt wird. Kosa¬
ken, Genöd'armenpatronillen, so wie Spione in allen Trachten, bald als zie¬
hende Zigeuner, bald als Handelsjuden, Bettler und reisende Edelleute, durch¬
spüren das Land bis in die dunkelsten Winkel und gehen dem Knall und Pulver-
geruch mit Begierde und Geschick nach. Ost trifft man dergleichen Leute in Si¬
tuationen, welche von einiger Erfindungskraft und vieler Naivität zeugen.
So traf ich ein Mal drei Kosaken auf einem hohen Eichbaum am Nande des
Waldes. Der Gutsbesitzer nämlich, auf dessen Besitzung ich gerade lebte, hielt
Teichfischen, ein Fest, das nach polnischer Sitte stets sehr fröhlich und originell
gefeiert wird. Er hatte dazu eine Menge befreundeter Edelleute aus der Umge¬
gend eingeladen und nach dem Fischzug eine große Fuchshetze angekündigt. Dies
mochte dem Gubernator zu Ohren gekommen und ihm die Hoffnung auf unerlaubte
Jagdgewehre erweckt haben. Der Fischzug war noch nicht vollendet, als ich mich
auf mein Pferd warf, und begleitet von einem Sohn meines Gastfreundes,
in den Wald ritt, der die kreisförmige Feldmark des Dorfes umgibt. Plötzlich
vernahm ich ein Pserdegcwieher, wir machten Halt. Mein Begleiter hielt die
Pferde, ich schlich dem Orte zu und fand in dichtem Gebüsch drei angebundene
Kosakengaule versteckt. Und siehe, zur Seiten saßen, wie riesenhafte Eichhörnchen,
drei Kosaken hoch in dem Wipfel eines EichbaumS, von dem sie die Feldflächc
überblicken. Ich sprang zurück, wir ritten zur Gesellschaft und erzählten lachend
unsere Endeckung. Sie war uicht unnütz, denn zwei Gäste hatten Doppelflinten
zur Fuchsjagd mitgebracht, beide nicht berechtigt Gewehre zu führen, der eine hatte
sogar einst an dem Revolutionskämpfe Antheil gehabt und drei Jahre in Sibirien
gesessen. Die Gewehre wurden zurückgelassen, der Festgeber nahm sie sogar in
seine geheimste Verwahrung und die Fuchshetze wurde mit dem einzigen Jagdge-
räth, welches den polnischen Gutsbesitzern geblieben ist, mit Windhunden, ausge¬
führt. Nach der Jagd führten wir die Gesellschaft zu dem Baum, wo die Lauscher
geduldig saßen. Die ganze vom Wein übermüthig gewordene Gesellschaft sprengte
im Gallop an die Eiche, begrüßte die drei spionirenden Russen mit einem
spöttischen Gntenmvrgen und begab sich vergnügt in den Pallast zurück. Charak¬
teristisch für die Russen aber war, daß der Kosakenunteroffizier sogleich vom Baume
stieg und den Grundherrn bat, ihm und seinen Genossen einen Schnaps zu ver¬
abreichen. Er begleitete uns auf dem Rückweg, um ihn in Empfang zu nehmen.
Bisweilen bekommt solchen Spürern ihre Mühe schlechter als hier, wenigstens
ist mir erzählt worden, daß unsern Tykoczyn zwei russische Militärs von einem
Polen, den sie seines Gewehres halber in seinem Walde überfallen und festneh¬
men wollten, niedergeschossen wurden. Die Nähe der preußische» Grenze und die
damaligen Differenzen zwischen Rußland und Preußen wegen des Kartells sollen
den Thäter vor der Bestrafung, die fürchterlich gewesen wäre, bewahrt haben.
Unter diesen Umständen ist die Bestechlichkeit der Beamten in der That für
Viele ein Glückj, denn oft drängt die Noth den Landwirth, das Gewehrverbot
zu übertreten. Die Raubthiere haben sich in Polen, Lithauen, Podolien und
Wolynien seit der Einführung des strengen Gesetzes ans eine so drohende Weise
vermehrt, daß die Landwirthschaften den empfindlichsten Schaden leiden. In
harten Wintern dringen Haufen von Wölfen sogar am hellen Tage in die Ort¬
schaften ein. Daß die Haushunde an den Ketten erwürgt und aufgezehrt, daß
am Morgen halbe Schafheerden in den luftigen, schlechtgebauten hölzernen Ställen
erwürgt gefunden, daß in einem Ueberfall mehrere Stücke Rindvieh, Schweine
oder Pferde auf der Weide zerrissen werden, ist gar keine Seltenheit
mehr. Die Negierung aber ließe lieber sämmtliche Grundbesitzer von den Wöl¬
fen auffressen als ihnen Schießgewehre in die Hand kommen. Auch der Versuch,
die Gewehre durch Windhunde entbehrlich zu machen, hat zwar die Zucht dieser
Hunde sehr gefördert, ist aber Raubthieren gegenüber ohne Erfolg gewesen. Und
deshalb sind viele Grundbesitzer, besonders in dem gebirgigen Gubernium Krakau
so wie in den sumpfigen Gubernieu Plock und Podlachien, auch die aus der süd¬
lichen Hälfte deS GroßfürstenthnmS Lithauen, welche zuweilen viele Quadratmeilen
Feld und Waldung besitzen, geradezu gezwungen, das Gewehrverbot zu übertre¬
ten. Gleichwohl wird bei deu Straferkenntnissen auf die Unfreiwilligkeit des Ver¬
brechens keine Rücksicht genommen, da die russische Krone Güter gern confiscire.
Aus diesen Gründen wird die Bestechlichkeit der Beamten so benutzt, daß es selten
zu einem Straferkenntniß kommt; mir wenigstens sind nur vier Fälle bekannt ge¬
worden. In jedem dieser Fälle wurde ohne langen Prozeß auf Vermogensconfiö-
cation, in zweien zugleich auf Verbannung nach Sibirien erkannt.
Oft aber ist die Bestechung selbst eine sehr harte Strafe. Ein Grundherr
unfern Kleine war, ohne eine Erlaubnißkarte zu haben, im Besitze von nicht weni¬
ger als nenn Jagdgewehren, und mochte vielleicht in seinen dichten Wäldern schon
Manche Jagd gehalten haben, als ihm in einem der letzten Jahre schien, sein
Verbrechen sei an den Kriegsguberuator, deu russischen Proviuzialkönig verrathen.
Er hielt es für rathsam., die Gewehre aus seinem kleinen Palaste zu entfernen
und auf eiuer entlegenen Wiese in einen Heuschober einbansen zu lassen. Allein
der Verräther, ein neu angenommener Kammerdiener, der muthmaßlich ein russischer
Spion war, befand sich in seinem Hause. Der Gubernator wußte sehr genau,
wo sich die verbotenen Waffen befanden. Eines Tags erschien er mit einem Ge¬
folge von vier Militnrfnhrwerken und forderte, daß ihm der Grundherr eben jenen
Heuschober käuflich ablasse. Vergebens suchte ihm dieser eine andere Heumasse
angenehm zu machen, vergebens pochte er endlich auf sein Eigenthumsrecht und
erklärte unwillig dem Gubernator überhaupt kein Heu verkaufen zu wollen. Die¬
ser legte eine Geldsumme auf den Tisch, führte unverweilt seine Geschirre an jenen
Schober, ließ ihn aufreißen und fand natürlich die Gewehre. Der Grund¬
herr konnte sich vor Vermögensconfiscation und Verbannung nur durch Beste¬
chung des Gubernators schützen. Dieser aber, der zum Heil des ganzen Guber-
niums wieder nach Ostrußland zurückversetzt worden ist, war ein erbitterter Feind
der Edelleute, daher war die Sache nicht mit einer Kleinigkeit abzumachen. Zwar
ließ er den Prozeß nicht aus seinem Gerichtsbcreiche kommen, jedoch geflissentlich so
bösartig werden, daß der Delinquent genöthigt war, nichts Geringeres als ein
Dorf zu opfern, um sich zu retten.
Glücklicher Weise sind nicht alle Wächter des Gesetzverbvtes so habgierig.
Oft zeigen diese Herren in russisch gutmüthiger Weise sogar selbst den Weg zur
„Ausgleichung/' >
In dem Gubernium Podlachie» z. B. wurde in einem der letzten Sommer
ein Edelmann in seinem Gehölz mit einer Stutzbüchse von Gensdarmen überrascht,
welche wahrscheinlich auf der Lauer gelegen hatten. Sie forderten den Erlaubniß-
schein, ein solcher aber war nicht vorhanden. Da nahmen sie Herrn vou S. die
Büchse weg und banden dem Verbrecher ohne Umstände die Hände auf dem
Rücken zusammen. Nur durch Versprechungen erlangte er von den beiden Schel¬
men die Erlaubniß, sich seiner Kutsche zum Transport zu der Guberuialstadt be¬
dienen zu dürfen. Nachdem der Delinquent in ein Gefängniß gebracht worden,
fand eine Duchsuchung seines Hauses statt und diese ließ noch eine Doppelflinte
auffinden. Die Untersuchung schien ihren regelmäßigen Gang zu nehmen und ge¬
fährlich zu werden. Daher war S. nicht wenig überrascht, als ihn der menschen¬
freundliche Gubernator nach etwa vier Wochen aus dem Gefängniß vor sich führen
ließ und ihn ungefähr mit diesen Worten anredete: „Sie haben mich in die Ver¬
legenheit gesetzt, Sie «ach Sibirien jagen zu müssen. Allein ich will ihnen sagen,
daß der Prozeß noch in meinen Händen ist. Nun schaffen Sie Rath, wenn Sie
können. Sie haben den dummen Streich begangen, es ist nnn an Ihnen, klug
genug in der bösen Sache zu sein."
S. erklärte nach einiger Ueberzeugung, daß, wenn er nur für zwei bis drei
Tage einige Freiheit erhalte, er, so Gott wolle, ein Rettungsmittel finden werde.
Unter der Bewachung eines Gensdarmeuunteroffiziers wurde er aus dem Gefängniß
entlassen. Er ließ nun eine Pistole von Blech mit tauben Schloß verfertigen,
füllte die Pistole mit Ducaten und überreichte sie dein Gubernator mit der schrift¬
lichen Erklärung: er bringe freiwillig zu den beiden confiscirten Gewehren noch
ein drittes bei, doch ersuche er, sich zu überzeuge», daß dieses so wie jene nur
Kinderspielzeug seien. Darauf wurde ein Protocoll aufgenommen und mit diesem
schlug der Gubernator sogleich den Prozeß nieder. Die beiden confiscirten Ge¬
wehre wurden Spielzeug und als sichtbarster und unbestreitbarer Beleg blieb die
Blechpistvle bei den Acten. Die Büchse und Doppelflinte dagegen verschwan¬
den. Dem Protocoll nach sollen sie an den Besitzer zurückgegeben worden sem,
allein S. hat sie nie wiedergesehn.
Die Jagdwafft gibt am häufigsten zu Denunciationen und Prozessen Veran¬
lassung, denn es dürften sich im Königreich Polen kaum 50 Gutsbesitzer finden,
welchen der Besitz von Schießgewehren erlaubt ist, und man kann annehmen, daß
von dem ganzen großen Jagdreviere des Königreichs noch nicht hundert Quadrat¬
meilen mit erlaubten Feuergewehren beherrscht werden. Den Russen aber macht
es ein ganz bcsvnderres Vergnügen, grade diese zu jagen. Ihre Revisionen sind
unzählig und die Methode, in der sie vorgenommen werden, so rücksichtslos, daß
ein Mensch, welcher nicht geraume Zeit innerhalb der russischen Grenzen gelebt
hat, darüber in Empörung geräth. In dem Hause eines mir befreundeten Grund¬
besitzers fand eine solche Revision statt. Ich selbst war einigermaßen an der Ueber-
tretung des Gewehrverbots Schuld, weil meine Anwesenheit den Gutsbesitzer zur
Veranstaltung von kleinen Jagden verführt hatte. Die Gewehre, welche wir brauch¬
ten, waren geliehen; woher, habe ich nie erfahren. Wir hatten sie erst zwei Mal
benutzt, in einem Walde, von welchem wir glauben durften, daß niemals ein
fremder Fuß ihn betreten. Aber ein Gensdarmerieoffizier erschien mit mehreren
Gemeinen ganz unerwartet an einem Winternachmittag. Mein Wirth glaubte
nicht, daß dieser Besuch den beiden Schießgewehren gelte, allein es war rathsam,
sie in Sicherheit zu bringen und dies gelang mir sehr leicht, da in der grimmigen
Kälte die Missionäre so erfroren waren, daß sie wohl anderthalb Stunden lang
den Zweck ihrer Mission nicht merken lassen konnten.
Endlich, als der Offizier sich aufgethauet fühlte, forderte er meinen Freund
in ein Zimmer, welches wie er ausdrücklich bemerkte, nur eine Thür habe. „Er
wolle ihn unbemerkt sprechen." Ein solches Zimmer befand sich neben dem Saale,
beide Herren begaben sich in dasselbe. Hier stellte der Offizier ohne Einleitung
die Forderung an den Gutsherrn, er solle ihm die Feuergewehre ausliefern. Die¬
ser leugnete, der Offizier aber wendete sich sogleich, verließ mit einem Sprunge
das Zimmer und schloß es hinter sich, so daß der Gutsherr in seinem eigenen
Hause ein Gefangener war. Sogleich begann der Offizier sammt seinen Gemeinen
die Haussuchung und es wunderte mich, daß er noch so rücksichtsvoll war, den
Wirthschaftöverwaltcr und die Tochter des Gutsherrn als Zeugen beizuziehen«
Betten, Schränke, Koffer und Kasten wurden durchwühlt, selbst Damenbehältnisse,
in welchen sich unmöglich ein Gewehr verberge» konnte, mußten sich den plumpen
Soldateuhänbeu öffnen. Ich sah mit Verwunderung, wie der brave Offizier im
Keller sehr ungenirt eine Flasche Wem zur Hälfte leerte und mit dem Reste her¬
ablassend seinen drei Mitarbeitern ein Geschenk machte.
Nachdem er das ganze Haus durchsucht, ließ der Offizier den Dorfschulzen
kommen um ihn auszufragen; der alte Bauer zitterte, allein noch mehr zitterte er
vor dem Zorne seines Herrn und beschwor bei Hölle und Seligkeit nichts von
Feuergewehren zu wissen. Da öffnete derselbe Offizier jeues Zimmer wieder und
begrüßte den Gefangenen freundlich mit den Worten: „desto besser, daß sich
nichts gefunden hat." „So? gut!" erwiederte stolz mein Freund und blieb ge¬
mächlich, seine Pfeife rauchend, auf dem Divan sitzen. Der russische Offizier ge-
neth dadurch in eine komische Verlegenheit, er war ganz verblüfft. Keine Mahl-
Zeit wurde ihm angeboten, wohl noch anderthalb Stunden, hielt er sich im Hause
^f, krächzte, scharrte, spazierte auf und nieder, sang, trommelte an den übereisten
Fensterscheiben und trieb ungeduldig allerhand Possen; allein der Hausherr blieb
in seinem Zimmer und der Koch oder Kammerdiener in der Küche.
Auch auf Säbel und Pistolen müsse» Erlaubnißscheine vom Fürsten gelöst
werden; diese zu gewinnen ist noch viel schwerer. Ein gewisser G. in Warschau,
der auf der Reise unfern Grochow von einer Tscherkcssenpatrouille überfallen, ge¬
plündert und fast todtgeschlagen worden war, erhielt selbst nach dieser Affaire
nicht einmal die Erlaubniß, bei seinen Reisen ein Paar Pistolen bei sich
führen zu .dürfen. Er ließ sich daher einen Spazierstock von Eisen machen,
dem eine scharfe Spitze eingeschraubt werden konnte. Wie sein Unfall stadtkundig
war, so wurde es auch seine echt bürgerliche Nothwehr, und bald waren eiserne
Spazierstöcke bei den jungen Warschauern ein Modeartikel. Allein kaum war diese
Mode zur Kenntniß der Behörde gelangt, so wurden die eisernen Spazierstöcke
in das Gewehrverbot — unter dem einigermaßen Achtung gebietenden Namen
„Kriegsleuten" — aufgenommen und die Polizei war beeifert, auf offener Straße
dos Gewicht der Stöcke und Krücken zu prüfen, an denen die jugendlichen Bürger
dahinwcmdelten.
Selbst fremden Reisenden ist es im Westen des russischen Reichs nicht ge¬
stattet, Waffen, welcher Art sie auch sein mögen, bei sich zu führen. Das Grenz¬
amt nimmt ihnen ohne Umstände die Waffen weg; es fragt, an welchem Grenzorte
der Reisende das Land wieder verlassen wolle, und versichert, daß er daselbst seine
Waffen finden und wieder erhalten werde. Der Reisende darf es nie versäumen,
sich über die Ablieferung der Waffen eine Quittung ausstellen zu lassen.
Die Nothwendigkeit sich anfNeiscn zu vertheidigen hat auf mancherlei Erfindungen
geführt. So hat man in jenen Theilen Rußlands, in denen das ausgedehnte Waffen¬
verbot so streng gehandhabt wird, an den Kutschen geschärfte, schwertartige Bügel,
welche sich leicht hervorziehen und frei gebrauchen, eben so in den Leitern der
leichten kleinen Reisewagen, der Brytschki und Kibitki, geschärfte eiserne Sprossen,
welche sich im Drang der Noth als Waffe gebrauchen lassen. Bis jetzt scheint
die russische Behörde davon nichts erfahren zu haben.
Wie ausgedehnt und furchtbar in seinen Strafen das russische Waffen¬
verbot und wie streng die Ausübung desselben von Seiten der Aemter auch ist,
so würde sich doch die Regierung täuschen, wenn sie meinte, dadurch das Volk
völlig entwaffnet zu haben. Gewiß ist, daß im Königreich Polen noch große
Wasservorräthe verborgen liegen.
Es ist höchst eigenthümlich, daß die beiden Centrallandschaften Deutschlands,
Thüringen und Franken, es niemals zu einer relativ kräftigen und selbstständigen
Staatsbildung bringen konnten. Rings umher sind im Verlaufe der Geschichte
Staaten, wie Sachsen, Hessen, Baiern und Würtemberg in die Höhe gewachsen,
Thüringen dagegen ist bis auf den heutigen Tag, soweit nicht der schwarze Aller
seine Fittige darüber gebreitet hat, in neun mikroskopische Groß- und Kleiuherzvg-
und Fürstentümer zerschnitten, und in Franken, wo zu den Zeiten des Reichs
drei gefürstete Bischöfe, einige Markgrafen, zwei Dutzend Reichsstädte, eine ent¬
sprechende Anzahl von Fürsten und Grafen, sammt einem unzähligen Gewimmel
freier des heiligen römischen Reiches Ritter dvmieilirtcn, ist seit dem Rhein¬
bund und dem Wiener Kongreß vollständige wbula rilsa gemacht. Mir Ausnahme
eines kleinen Gebietes, welches seit uralter Zeit politisch mit Thüringen verbinldcn
war — das jetzige Großherzogthum Koburg — ist das weite und schöne, von
zwei Millionen bewohnte Frankenland eine Pertinenz, eine Provinz des bairischen
„Reichs." —
Es scheint mir, als ließe sich die Nachwirkung jener innern Unfähigkeit zu festerer
Staatsbildung, woraus sich der Untergang der einstmals vorhandenen Staaten er¬
klärt, auch heute noch an dem politischen Leben oder richtiger dem politischen Tod
des Landes verspüren. Im eigentlichen Baiern, in den Grenzen des ehemaligen
Churfürstenthums der Wittelsbacher, politische Bildung zu suchen, fällt mir den
Münchner historisch-politischen Blättern ein, nud diese finden dort anch ihre
Bildung ohne die Laterne des Diogenes. Jeder andere Christenmensch, der sich
einigermaßen einen Begriff von der Entwicklungsgeschichte des altbairischen Staates
gebildet hat, verzichtet natürlich darauf, etwa so, wie er auch in Rußland darauf
verzichten würde. Dagegen dominirt in Altbaiern ein zähes particularistischcs
Bewußtsein, das sich bald an die Dynastie, bald an das specifisch bairische Pfaffen-
thnm, bald auch an die Selbstständigkeit und Großmächtigkeit des Staates oder
an alle drei zugleich anklammert. Sobald eine politische Frage bis zu der Masse
des Volkes dringt, wird sie sogleich unter diese Gesichtspunkte gebracht, und wenn
ihre Losung denn auch von dem Gegentheil von politischer Erkenntniß und Reife
zeugt, so zeugt sie doch von einem ausgeprägten politischen Charakter und einer
Lewisseu Energie, die sich nicht überall in Deutschland findet. In so fern, denke
kann man mit Recht von einem politischen Leben im eigentlichen Vaiern spre¬
chen, das freilich nach Gesetzen seine Functionen ausübt, mit denen das Volk
von seinem weißblauen Herrgott einstmals besonders begnadigt wurde, daher wir
andern deun auch mitunter vor Erstaunen die Hände über den Kopf zusammen¬
schlagen. — In bairisch Franken gilt allerdings keiner der altbairischen Heiligen,
die ich eben erwähnt habe. Die Dynastie? König Max, der Großvater des ge¬
genwärtigen Regenten, steht in Stadt und Land am Main so gut, wie an der
Jsar, als ein lieber menschenfreundlicher Herr mit heiterem Gesichte und hellen
lustigen Augen noch im besten Andenken, sein Sohn in um so schlechterem, wäh¬
rend die Altbaiern doch immer eine gewisse Pietät nicht für seine Person als solche,
sondern als Nachfolger der alten Kurfürsten bewahrt haben. Was vor der Re¬
gierung des guten Max liegt, das war in Franken die Zeit der prachtliebenden
Markgrafen, oder der milden und freigebigen Bischöfe, der würdevollen Bürger¬
meister mit ihren goldenen kaiserlichen Gnadenketten und der bald gestrengen bald
burschikosen Neichsritter. Da ist also von dynastischen Erinnerungen keine Rede,
hier gibt es kein angestammtes Fürstenhaus, an dessen Namen und ererbte Cha¬
rakterzüge sich das Volk im Laufe der Jahrhunderte gewöhnt hat. — Ein selbst¬
ständiges fränkisches Pfaffeuthum als politische Macht ist ebenfalls nicht vorhanden.
Ein Land wie Franken, dessen Bewohner zu einer Hälfte dem Katholizismus tre»
geblieben sind, deren andere Hälfte an der Reformation und den verschiedenartig¬
sten Gestaltungen des Protestantismus Theil genommen hat, kann kein com-
pactes klerikalisch-politisches Bewußtsein, weder unter der Geistlichkeit, noch
unter dem Volke erzeuge». Endlich fällt auch noch das Gefühl einer einst¬
maligen oder gegenwärtigen politischen Selbständigkeit und Abgeschlossenheit hin¬
weg, weil eben Franken früher in unzählige Territorien gespalten war und gegen¬
wärtig eine bloße Provinz eines ihm in vielen Beziehungen total fremden Staa¬
tes ist. —
Diese Hebel des bairischen politischen Lebens fallen also für die Gegenden
am Main und der Ncgnitz weg, es fragt sich nnr, ob sie nicht durch andere er¬
setzt werden. Die Antwort wird am besten durch einen kurzen Ueberblick der Be¬
wegungen in dieser Landschaft seit den Märztagen 1848 bis zu diesem Augen¬
blick gegeben.'
Wer vor den Märztagen die Stimmung in Franken gegen die Münch"^
Negierung beobachtete, konnte sich leicht überzeugen, daß sie eigentlich gar keine
Partei im ganzen Laude für sich hatte. Das sogenannte liberale Ministerium
Maurer sammt seiner spanischen Schutzgörti» wurde in Nürnberg, Bamberg und
Würzburg bei den Altliberalen der dreißiger Jahre so gut wie in den pietistischen
Kreisen der Universität Erlangen oder den Ultramontanen in Aschaffenburg, Eich-
städt und Würzburg nie ohne Hohn erwähnt. Die mittleren Stände fanden sich
noch eben so unbehaglich wie unter Abel und Wallerstein, und der Landbevölkerung
war keine der schweren Cvmmuuallasteu abgenommen worden, die man seit dem
Regierungsantritt des Königs Ludwig systematisch von der Staatscasse weg
sie gewälzt hatte. Außerdem führte noch jede Stadt, jede Gemeinde irgend eine
spezielle Klage wegen einer besonderen Bedrückung oder einer besonderen Vernach¬
lässigung, die sie von München erleiden mußte. Mit einem Worte, das Münchner
oder bairische Regiment war dort so gründlich verhaßt, wie man es kaum in der
Rheinpfalz antraf, die doch von jeher wegen ihrer antibairischen Gesinnung höch¬
sten Orts und mit Recht so übel berufen war. Wirklich bezogen sich anch die
Beschwerden, die man jenseits des Rheins vernahm, mehr auf allgemein politische
Verhältnisse, die damals eben überall in Deutschland nicht viel besser als in
Baiern beschaffen waren; man hörte heftige Klagen über ScheinconstitntionaliSmnS,
Tyrannei der Censur und Polizei, schlechte Verwaltung der Staatseinnahmen,
Attentate gegen die Unabhängigkeit der Justiz, weniger aber eine spezielle Bedrückung
und Aussaugung der Provinz. In Franken hatte man sich in jene Uebel, die in
der Luft der Zeit lagen, ergeben. Was man dort dem Münchner Regiment
vorwarf, waren Dinge, die in die speziellsten Verhältnisse des Landes cingriffen,
welche namentlich den materiellen Wohlstand auf's Aeußerste gefährdeten, und die
wirklich ohne Schaden für das ultramontan-absolutistische Prinzip des Staates
hätten abgestellt werden können.
Trotzdem blieb das Land während der stürmischsten Tage des Frühjahrs 1848
verhältnißmäßig ruhig. Einige Krawatte der Bauern gegen ihre Gutsherrschaften
und ihre Amtleute oder gegen die herrischen Landrichter, von denen sie bis dahin
wie russische Leibeigene behandelt worden waren, wurden so wie die Versuche,
förmliche Judenverfolgungen zu organisiren, ohne besondere Mühe unterdrückt.
Schon zur Zeit des Vorparlaments war dies alles abgethan. Die Wahlen zum
Parlament brachten zwar wieder einige Aufregung, doch uur in den Gegenden,
die schon vorher jene Emeuten gehabt hatten.
Dort wählte man unter großem Halloh einige schwadronircude Advokaten, mehr
um die Regierung zu ärgern, als weil man etwa radikal oder gar republikanisch
gesinnt gewesen wäre. In dem größten Theil der Provinz sieben die Wahlen
nach den damaligen Wünschen der Negierung ans. Diese gingen in Baiern so
gut wie anderwärts bedeutend weiter links, als sie jetzt gehen würden, falls wie¬
der zu einem Reichstag gewählt werden sollte. Der gute, aber höchst confuse öl-.
Eisenmann, selbst ein geborner Franke, erlebte damals die Ehre einer zehnfachen
Wahl. Fast jede der größeren Städte der Provinz setzte ihn zu oberst auf ihre
Kandidatenliste und nur in Bamberg unterlag er dem radikalen Advokaten Titus.
Damals hatte das Land natürlich auch seine schwarzrothgoidne Zeit. Sie erreichte
ihren Höhepunkt, als der Reichsverweser es Ende des Juli durchzog, und die
Münchner Negierung war klug genug, um diesen unschädlichen Enthusiasmus ruhig
austoben zu lassen. Eine für sie gefährliche Form nahm er damals nicht an. Im
Gegentheil war es merkwürdig zu sehen, wie man alle früheren Unbilden, die
Lebensfragen der Provinz, eine Zeit lang ganz vergessen zu haben schien und
durchaus in abstracten und allgemeinen Phantasien sich erging. Die neu entstan¬
denen politischen Parteien, Konservative und Radikale, oder Constitntionclle und
Demokraten schwärmten für die Einheit Deutschlands auf gleiche Weise, und
unterschieden sich nur darin von einander, daß die einen ihre Angen fortwährend
mit Befriedigung und Hoffnung zugleich nach Frankfurt und München richteten,
während die anderen weder von dem einen noch von dem andern etwas wissen
wollten.
Wer vor der Revolution Franken gelaunt hatte, mußte sich wundern, daß
weder theoretische noch praktische, eigentlich antibairische Bestrebungen zum Vor¬
schein kamen. Und doch war seit der Revolution von München aus, außer schönen
Versprechungen, nichts für die Provinz geschehen.
Als sich während des Winters die Einigungssrage ihrer concreten Losung
nahte, zeigte es sich auch in Franken gar bald, was jene Einheitsschwärmcrei zu
besagen hatte.
Es waren hauptsächlich fränkische Deputirte von der Linken, die am 9. Fe¬
bruar d. I. in der zweiten bairischen Kammer erklärte», daß sie kein preußisches
Kaiserthum, kein Aufgehen in Preußen wollten, daß sie mit Oestreich das ganze
vereinigte Deutschland verlangten .'c., kurz die ganze bekannte Saalbaderei der so¬
genannten Großdeutschen. Dieselben fränkischen Deputirten forderten denn freilich
in demselben Athem, in welchem sie dem Parlament Vorschriften gemacht, even¬
tuell den Gehorsam gekündigt hatten, von der bairischen Negierung die unbedingte
Anerkennung und schleunige Publikation der Grundrechte.
Wie die Deputirten von der Linken dachten anch die von der Rechten, mit
dem einzigen Unterschiede, daß sie nicht blos kein preußisches Kaiserthum, sondern
auch die Grundrechte uicht wollten, weil der Negierung beides gleich verhaßt war.
In Franken selbst theilte man im ersten Punkte die Ansicht der Deputirten, nur
war die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung nach und nach wieder auf die
Seite der Opposition getreten. Der schwarzrotgoldene Nebel war wenigstens so
weit verflogen, daß man das Fortbestehu der ganzen alten heillosen Wirthschaft
deutlich durchsah, daher klammerte man sich an die Grundrechte, weil mau mit
ihnen dem Münchner Ministerium! Verlegenheiten bereiten konnte. In diesem
Sinne entstanden eine stattliche Anzahl von Adressen, welche aus fast allen Städten
— selbst das reaktionäre Aschaffenburg schloß sich uicht aus — uach München be¬
fördert wurden. Die loyalen Gcgcnadressen geriethen meist so dürftig, daß sie
von ihren Unternehmern fast ohne Ausnahme wieder zurückgezogen wurden. Nur
darin war man in Franken und München einverstanden: um keinen Preis ein
preußisches Kaiserthum, und während sich anderwärts Constitutiouelle und Demo-
kraten an diesem Schiboleth trennten, konnte man hier in beiden Lagern die Ab¬
neigung dagegen gleich stark antreffen. Eine ehrenvolle Ausnahme bildete eine
numerisch sehr kleine Frccktiou, die in deu constitutionellen Vereinen zu Nürnberg
und Erlangen wenigstens in achtunggebietender Minorität sich befand. Ihre Seele
war der treffliche Nationalökonom Stahl, eines der rührigsten Mitglieder der
Erbkaiserlichen in der Paulskirche. Die Majorität der Professoren und Studenten
in Erlangen, der Magistrat und die Blüthe der Nürnberger Gelehrsamkeit und
Bildung gehörten ihr zu. Auswärts täuschte man sich, wie ich selbst oft bemerkte,
gewöhnlich über die Stärke dieser Partei. Allerdings hatte sie die Elite der ge¬
bildeten Welt in Franken unter ihrem Banner und gebot damals über mehrere
Organe der Presse, aber alles in allem gerechnet zählte sie kaum einige hun¬
dert Köpfe.
So standen die Dinge in Franken, als die Kaiserwahl in Frankfurt und der
unglückselige 3. April in Berlin bekannt wurden. Beide Ereignisse folgten sich
so schnell auf einander, daß man sie als einen geschichtlichen Moment ansehen muß,
wenigstens war es hier in Franken so, wie sich jeder aus den Zeitungen jener Tage
überzeugen kann. Noch ehe man sich von dem Erstaunen über die Kühnheit deö
Parlaments erholt, ehe man noch einen Gesichtspunkt je nach der bisherigen poli¬
tischen Farbe gewinnen konnte, kam schon die Nachricht von dem schnöden Em¬
pfang der Deputation in Berlin.
Ganz folgerichtig begaun nun eine gewaltige Agitation für die Reichsverfas-
sung. Der preußische Kaiser, das Preußenthum überhaupt, war glücklich daraus be¬
seitigt, die inzwischen immer verhaßter gewordene Münchner Regiccung aber, wie jeder¬
mann wußte, ein Gegner der ganzen Verfassung mit und ohne den Kaiser; folg¬
lich bekämpfte man sie nun vou dieser Seite her mit einer Lebhaftigkeit, die bei
ängstlichen Seelen die Besorgnis; erweckte, daß der Mai IL4I» das nachholen
würde, was der März und April 1848 nicht gebracht hatten, d.h. eine förmliche
Revolutionirung des Landes. Volksversammlung folgte auf Volksversammlung
und wie natürlich wäre» die Reden und Beschlüsse jeder nächsten um einige Pro¬
zente radicaler und drohender als die der vorigen. Namentlich sah das alte
Nürnberg das tollste Treiben innerhalb und außerhalb seiner Mauern, das in der
berühmten Versammlung auf dem Judenbühl vom 13. Mai cnlminirte. Dort
hatten sich funfzigtausend Menschen aus allen Theilen deö Landes zusammenge¬
funden. Den Charakter erhielt diese monströse Masse durch das Nürnberger Pro¬
letariat, das innerhalb einiger Wochen von zwei oder drei vacirenden Literaten
tüchtig bearbeitet worden war. Die Ehre widerfuhr ihm zum ersten Male, kein
VZnnder, wenn es sich auf dem Judcnbühl dankbar dafür bewies. Ein v>r. Meyr,
wenn ich nicht irre derselbe, der am ». Februar in der Münchner zweiten Kam¬
mer durch eine feierliche Erklärung zu Protocoll dem Parlament den Gehorsam
""fgcknndigt hatte, ließ jetzt auf die Reichsverfassung „mit Gut und Blut" schwöre»,
">>d die versammelten Tausende sprachen ihm den Schwur nach. Darauf wird
eine Adresse verlesen, als die „letzte Mahnung des Volkes der Franken an den
König der Baiern." Sie war entsprechend der Abstammung deö Genannten, mit
echt Zairischer Grobheit gewürzt, und drohte schließlich mit einem Abfall des
ganzen fränkischen Landes, nud der Constituirung eines sclbststündigen Königreichs
oder Republik der Franken. Ueber letzteren Punkt waltete noch einige Meinungs¬
verschiedenheit, so einverstanden anch Alle mit der Trennung von Baiern waren.
Es schien, als wenn jetzt mit einem Schlag das lange Sündenregister der Münchner
Negierung, das von 1803 bis 1849 fortlief, in Aller Gedächtniß lebte, während
es zur Zeit der Märzbeweguug ganz in Vergessenheit geruht hatte.
Höchst charakteristisch für diese fränkischen Maitage mit ihren TrennnugSphan-
tasien ist es, daß Vogt, der von dem Donnersberg abgeschickt war, um das Ter¬
rain zu sondiren, ans jener Nürnberger Versammlung entschieden zur Mäßigung
riech, nicht etwa in Folge der gewöhnlichen Taktik der Straßendemagogie, sondern
weil er doch noch unbefangenes Urtheil genug übrig hatte, um zu sehen, daß wie
Land und Leute in Franken beschaffen sind, ein gewaltsamer Schritt zu einem
lächerlichen Resultate führen mußte. Es fehlte durchaus an aller Organisation
für einen Pulses, um die Leute, wenn der erste Rausch verflogen war, auch dann
noch zusammenzuhalten. Unter den krawallireuden Rednern war auch kein einziger,
der von früher her mit der Pntschpraxis vertraut war, oder auch nnr eine Spur
von dem Nevvlutivnstalente besaß, das im Nothfall die Routine ersetzen kann.
Darum mußte Vogt in wohlverstandenen Interesse seiner Partei zur Ruhe und
Mäßigung mahnen. —
So ging der 1!!. Mai zu Grabe, ohne ein fränkisches Reich geschaffen zu
haben. —
Die bairische Negierung befand sich übrigens damals so sehr im Gedränge,
daß sie die ganze Agitation passiv mit ansah. Höchstens consignirte man die
Truppen in den Kasernen und verstärkte die Gensdarmerie. Die Vorgänge in
der Rheinpfalz und Dresden, noch mehr aber die Hivbsposten aus Ungarn hatten
die Münchner Staatslenker vollständig niedergeschmettert. König und Minister,
die sonst so laut auf die Selbstständigkeit und Größe Baierns gepocht, nahmen
die Adressen, worin eine ganze Provinz unumwunden ihren Abfall erklärte, demü¬
thig hin. Das Vertrauen zu der bis dahin felsenfest geglaubten Stütze des
Throns, dem bairischen Heere, war verloren. Ein volles Fünftheil desselben,
die Truppen in der Rheinpfalz, befanden sich unter den Fahnen der Insurgenten;
die Regimenter in Schwaben erklärten laut ihre Sympathie mit den pfälzischen
Brüdern und daß sie nicht auf sie schießen würden. Franken war schwach besetzt
und die Hälfte der dortigen Truppen harrte nur auf ein Signal zum Abfall.
Die andere Hälfte war wenigstens nicht gesonnen, sich für ihren angestammten
König vom Volke massacriren zu lassen. So hätte man sich dann in München in
den Abfall Frankens mit derselben Resignation und demselben Gottvertrauen auf
die damals unschätzbaren preußischen Pickelhauben gefunden, wie man sich
die pfälzische Jnsurrection fügte.
Aber die Spitze der ganzen Bewegung, wenn sie je eine gehabt hatte, war
dnrch den nüchternen Ausgang des Tags auf dem Judcnbnhl abgebrochen. Vor
wie nach setzte es zwar uoch allsonntäglich Volksversammlungen fast in jedem Städt¬
chen des Landes und jede redigirte eine Adresse nach dem Zuschnitt der erwähnten.
Indessen wurden der Zuhörer immer weniger, trotzdem daß man in München
nicht einmal scheinbar den Wünschen der Franken entgegenkam. Selbst als der
Unfug int übrigen südlichen Deutschland noch immer höher stieg, als mich Baden
losbrach und man täglich von der Flucht oder Enthauptung des Königs von
Würtemberg sprach, nahm die Bewegung in Franken ganz von innen heraus,
ohne Zuthun der Negierung fortwährend ab.
Nachdem die Preußen die fideler Nheinpfälzer Schöppli'shelden auseinander¬
gesprengt und in Baden festen Fuß gefaßt hatten, ermannte sich endlich anch die
bairische Regierung. Es wurden in aller Eile Truppen nach Franken geschickt und
mit den vorhandenen zu einer westfränkischen Operativnsarmee formut. Ein Theil
derselben löste die Preußen in der Rheinpfalz ab, der andere verbreitete sich über
die Gegenden von Franken, die man als den Hauptsitz der Malcontenten mit Recht
und mit Unrecht ansah, Würzburg, Bamberg, die Grenzstrichc gegen Thüringen,
Nürnberg und seine Umgebung. Unter dem Schutz dieser Bayonuctte traute sich
auch die Polizei wieder hervor und es erfolgten nun erst jene massenhaften Ver¬
haftungen von Landtagsabgeordneten, Zeitnngsrcdaktcuren, Turnern, Malern,
Fabrikarbeitern, die seiner Zeit viel von sich reden machten. — Auf den meisten
Volksversammlungen hatten immer dieselben Redner gesprochen, im Ganzen viel¬
leicht zwei oder drei Dutzend, die anderen verhielten sich bis auf die obligaten
Bravo's still. Jetzt wurden nicht blos jene wohlbekannten Acteure des Drama's,
sondern auch vou dem Publikum alle diejenigen herausgegriffen, welche sich die
Gensdarmen oder nicht offizielle wohlgesinnte Beobachter notirt hatten. Mit dem¬
selben Rechte hätte man fast die ganze männliche Bevölkerung des Landes arreti-
ren können, denn es gab wohl kaum einen Mensch-in in ganz Franken, der nicht
wenigstens bei einer Volksversammlung zugegen gewesen und nur wenige, die uicht
eine und die andere jener Petitionen unterschrieben gehabt hätten. Die einfache
Erwägung dieses Umstandes, den die Regierung im ersten Eifer nach dem Ab¬
lauf ihres unfreiwilligen Jnstititinms wohl übersehen hatte, war denn anch die
Veranlassung zu der vor kurzem ertheilten Amnestie. Sie trifft fast lauter solche
Juhaftirte, die sich dem Gericht gegenüber ans viele tausend frei herumgehende
Mitschuldige berufen konnten.
Wie rasch das Absteige» der Bewegung erfolgte, ergibt sich ans dem geringen
Eindruck, den jene Verhaftungen hervorbrachten. Jetzt, kaum fünf Monate, nachdem
Franken seine Nevolntum machen wollte, sind wenigstens jene Selbststäudigkcits-
träume vollkommen ausgeschlafen und auch außerdem eine politische Abspannung
eingetreten, die in ähnlicher Weise wohl überall vorhanden ist, aber hier doch
stärker und auffallender als an ander» Orten, auffallender deshalb, weil hier ja
nicht einmal eine große Explosion erfolgte, als deren natürlichen Rückschlag man
die gegenwärtige Lethargie ansehen könnte. Diese geht soweit, daß man sich um
das Schicksal der Gefangenen oder Flüchtigen (denn auch diese Provinz hat ihr
Contingent zu dem Flüchtlingshcere in der Schweiz geliefert), außerhalb der
Kreise der nächsten Angehörigen fast gar nicht kümmert. So ist der radicale Klopf¬
fechter Titus, für den im Anfang des Sommers noch halb Franken, vor allem
aber seine Vaterstadt Bamberg schwärmte, dort fast ganz verschollen. Ich konnte
selbst in Bamberg nur mit Mühe seinen nmihmaßlichen gegenwärtigen Aufenthalt
in der Schweiz erfahre». Wenn es so mit den Koryphäen steht, kann man sich
denke», daß der Plebs und die Proletarier der Agitation ganz aus dem Gedächt¬
nisse deö Volks aller Classen entschwunden sind. Ueberhaupt gemahnt es einen,
wenn man von jenen Maitagen reden hört, so, als versetzten sich die Sprechen¬
den in ihrer Erinnerung unwillkürlich in ein vergangenes Jahrhundert. Es klingt
kaum wie etwas selbst Erlebtes, was man da hört, von den tausend und aber
tausend tricoloren Fahnen, den Vivats sür die Republik Franken, von öffentlich
insultirten bairischen Wappen und Farben.
Im gegenwärtigen Augenblick möchte ich Niemand rathen auch nur mit einem
schwarzrvthgoldueu Uhrband oder mit einer anderen bescheidenen Dekoration, ge¬
schweige denn mit irgend einer revolutionär geformten und Cocarde-geschmückten
Kopfbedeckung sich dort sehen zu lasse». Entgeht er der bairischen Polizei und
Gensd'armerie, so risqnirt er die ärgsten Insulten bei der Soldateska und ent¬
geht er auch dieser durch seinen Glücksstern, so fällt er doch ohne Zweifel ir¬
gendwo in die Hände von Spießbürgern, die für die Ruhe fanatisirt sind und
jene Tracht als das Symbol des Gegentheils davon, zwar nicht mit Feuer und
Schwert, wohl aber mit Sottisen und Prügeln verfolge».
Als el»zige Neste des untergegangenen Blüthenalters der Demokratie sieht
man in einigen Mittelstädte» des LaildeS, z. B. Schweinfurt, Kitzingen, Kulm¬
bach hie und da eine bärtige oder uubärtige Gestalt ganz i» Sackleinwand costü-
mirt; ein grauer Hut mit einem mir noch unverständlichen Embleme geschmückt,
das mit seinen lebhaften Farben die sonstige Grausen des ganzen Wesens nicht
übel hebt, verräth unzweifelhaft daS Mitglied eines der zahlreichen Turnvereine,
die wie überall so auch hier uebe» dem Barren und Reck der Demokratie mit In¬
brunst und Andacht zugethan sind. Anderwärts z. B. am Rhein, wo sie bis zur
badischen Revolution am meisten flvrirten, müssen sie jetzt wieder in gewöhnlich
menschlicher Kleidung einhergehen; in Norddeutschland ist die Turuerci von 1848'
nicht heimisch geworden, so ist es also nur Franken, das in diesem Augenblick
noch echte Exemplare dieser nicht ganz uninteressanter culturhistorische» Erschei¬
nung darbietet. Sie sind hier freilich weder so zahlreich noch so bärbeißig, w?e
weiland die Hanauer n»d Mannheimer Turnschaar. Nach, de» authentische» An-
gaben des fränkischen Turners, eines Blattes, das außerhalb der Provinz kaum
dem Namen nach gekannt ist, zählte der ganze fränkische Turnbund im Beginn deS
Herbstes 1849 etwa 1500 Mitglieder, von denen die Mehrzahl auf die angeführ¬
ten Mittel- und die kleineren Städte kommt, welche in einiger Entfernung von den
Garnisonen liegen. Wie aus demselben Blatte hervorgeht, befleißigen sie sich, was
nur als höchst zweckmäßig anerkannt werden muß, uach außen hin einer möglichst
indifferenten politischen Haltung. Davon legt es selbst das beste Zeugniß ab.
Aus persönlichem Verkehr mit den einzelnen ergibt sich natürlich ein ganz ande¬
res Resultat; sie halten sich alle für die rechten auserwählten Pfleger und Bewah¬
rer der Demokratie, sind jedoch der Ansicht, daß für den Augenblick Ruhe die
erste Turnerpflicht sei. Daß sie sich auch während der Mairage nicht besonders her-
vvrdrängten, wo die Versuchung doch nahe genug lag, geht ans der geringen An¬
zahl verhafteter Turner und aus dem ungestörten Fortbestehen der Vereine hervor.
März-Demokratische- und Arbeitervereine sind alle ohne Ausnahme aufge¬
hoben, ihre Schriftführer und Vorsteher in Untersuchung; die Turnvereine besitzen
ihre eigene Zeitung, halten ungefähr alle vier Wochen bald hier bald dort einen
allgemeinen Tnrntag und die Regierung läßt sie ganz ungestört gewähren. — Der
loyale und reaktionäre Philister, sowie der königl. bairische Krieger ist in diesem
Punkte difficiler als Herr von der Pfordten. In den größeren Städten kann sich
eine grane Turnhose und Tnrnjacke nicht ohne Gefahr von Insulten zeigen, na¬
mentlich stehen fast alle Schlägereien, die zwischen Militär und Civil in diesen Ge¬
genden vorkommen, mit der Turuerei in äußerem Kausalnexus. Der innere
liegt in der Zuchtlosigkeit der Soldate», die in Baiern und besonders in Franken
eine Höhe erreicht hat, wie sie im übrigen Deutschland in diesem Augenblick un¬
bekannt ist. Wo sie sonst noch vorkam, z. B. in Baden, war sie der unmittelbare
Vorläufer des Aufstandes und die Folge radicaler Hetzereien. Hier verhält eS sich
umgekehrt. Im bairischen Heer waren von jeher und auch in den Zeiten der
loyalsten Unterthanentrene einzelne Ausbrüche von brutalem Ungehorsam vorge¬
kommen, die nur ein natürliches Gegengewicht gegen die brutale Strenge bildeten,
welche von oben gegen deu gemeinen Mann geübt wurde. Nach der Märzrevo-
lution hörte jene barbarische Behandlung mit einem Schlage auf, und an ihre
Stelle trat eine alles Maß überschreitende nachsichtige zuckersüße Höflichkeit, deren
Tendenz die Soldaten leicht durchschauten. Wäre der bairische Boden überhaupt
Zur Ausnahme des politischen Radikalismus geeignet gewesen, so hätte damals die
von oben geduldete Auflösung aller Disciplin das ganze bairische Heer eben da¬
hin bringen müssen, wohin das badische und selbst ein Theil des bairischen im
Mai dieses Jahres kam. Die Regimenter in der Rheinpfalz unterlagen nur des¬
halb der Verführung, weil sie sich mitten in einer ganz dcmokratisirten und de¬
mokratisch organisirten Bevölkerung befanden. Der Haupttheil der Armee diesseits
des Rheins schwankte zwar auch einen Augenblick, so z. B. auf dem Lager bei
Donauwörth und in Nürnberg während der Versammlung auf dem Judenbühl, kehrte
aber sehr bald und sehr gründlich von allen radicalen Gedanken, jedoch nicht zur
Zucht und Ordnung zurück. Im Gegentheil sind die Excesse der guten Wittelsbachischen
Soldaten seitdem noch toller, noch häufiger geworden. In einigen Gegenden von
Franken, z. B. unterhalb Würzburg war das Uebel so arg und die Klagen der Of¬
fiziere und Einwohner so stark, daß man die Truppen fortwährend auf dem Marsch
von einer Garnison in die andere hielt und sie kaum einen oder zwei Tage an
demselben Orte ließ. Das half einige Zeit, bis die Soldaten die Absicht merk¬
ten und ihre Excesse nun anch während des Marsches begingen. Daher hat man
in München auf andere Mittel denken müssen. Das Hauptsächlichste besteht in ei¬
nem Erlaß des Kriegsministeriums, wonach alle Offiziere, vom Obersten bis herab
zum Junker, bei jeder Gelegenheit, die der Dienst bietet, z. B. bei der Wachpa¬
rade, Appell ?c. in ein-noro und nicht blos die eigentlich Dienstlichbeschästigten von
den Soldaten erscheinen sollen, „damit," wie es dort heißt, „sich diese an ihre
Vorgesetzten gewöhnen und anschließen lernen und auf solche Weise ein eigenes auf
persönliche Achtung gegründetes Band den Soldaten mit dem Offiziere zusammen¬
halte." Nach gewöhnlichem Menschenbegriff ist freilich schwer einzusehen, inwiefern
der tägliche Anblick por so und so viel Offizieren, die in Mantel und Kasquet auf
einem Haufen zusammenstehen und über dies und jenes schwatzen, förderlich auf
die Herstellung der zerrütteten Disciplin wirken soll. Indessen scheint man in
München doch große Hoffnung ans diese „Wiederherstellung der Zucht von innen
heraus" zu setzen, was daraus hervorgeht, daß man die sonst in ähnlichen Fällen
gewöhnlichen Mittel verschmäht. Die böse Welt sagt, wenn man sich dort nicht
so sehr vor dem Leibregimente nud den Kuirassieren in der Stadt fürchtete, die
schon einigemale förmlich den Gehorsam aufsagten, so würde man wohl wieder zu
der angestammten bairischen Erbweisheit, d. h. tüchtige Schläge und harten Arrest
zurückkehren. — Genug, die Auflösung der Disciplin bei den fränkischen Truppen
ist eine Thatsache, die Jedem, nicht blos dem Einheimischen sehr störend entgegen-
tritt, denn es thut wirklich Noth, den Vertheidigern des Thrones so weit man
nur kann aus dem Wege zu gehen. Man kann so leicht durch irgeud ein Ver¬
sehen ihren Zorn reizen oder auch ohne alle Verschuldung, blos weil man das erste
zufällig sich darbietende Object ist, auf welches eine angetrunkene und rauflustige
Horde blauweißer Krieger stößt, sehr übel mitgenommen werden. Solche Fälle
werden dann möglichst vertuscht; an eine energische Bestrafung der Soldaten denkt
Niemand, ja es wird sogar übel vermerkt, wenn sich die Localblätter zu viel und
zu gründlich damit beschäftigen. Und doch haben diese, bei der Strenge, mit der
die provisorischen Preßgesetze gehandhabt werden und bei der allgemeinen Abgunst
des Publikums gegen die größeren politischen Tagesfragen wohl keinen besseren
und verhältnißmäßig unschuldigeren Stoff, als solche tragikomische Aeußeruugen
des Royalismus der bairischen Armee.
„Du Kehnig von Sardinien,
Du bist an harter Moann!
D?r gnade Kaiser Ferdinand,
Was hat er Dir gcthoan?"
So schrie, von ihrem blinden Vater auf der Violine begleitet, die bleichsüch¬
tige Harfenistin bei Stadler in Hallstadt, während ich und mein Freund, Don
Jsidor Amabile, auf dem hölzernen Wirthshansaltan saßen, der über den See
hinaushängt, und den letzten Sonnenblick erhaschten, welcher ost schon um 4 Uhr
Nachmittags von dieser tiefen Schlucht Abschied nimmt. Die Schatten von Hall¬
stadt tauchten bis in die Mitte des schwarzgrünen Seespiegcls, dessen Breite ein
ungeübtes Auge nur an der winzigen Gestalt einiger mehrstöckigen Gebände am
entgegengesetzten Ufer erkennt; auf den Zinnen der steilen Felswand gegenüber
lag noch das Abendgold, und rosenroth glühten die einsamen Föhren auf einzel¬
nen Felssöllern, die nächsten nicht größer von Ansehen als mäßige Christbäum¬
chen, die fernsten nicht höher als junge Grashalme. Bald kam auch über sie der
Schatten und machte sie unsichtbar. Das Zwielicht gleicht hier einer sternlosen
Nacht und wir athmeten auf, als endlich die Mondsichel auf dem Hintergrund des
Sees zitterte. Mitten durch die Gestirne fuhren dann, zuweilen ein Dutzend Welt¬
körper auf einen Augenblick in Grund bohrend, heimkehrende Salinenarbeiter in
weißen Nachen; einige, mit Laternen an Bord gliche«, nach zwanzig Ruderschläger,
kleinen Leuchtkäfern, und zogen jedes zwei lauge auseinanderstrahlende Wasserfur¬
chen, silbernen Fühlfäden ähnlich, durch die Fluth.
Wenn ein Schwärmer, der eine neue Religion sucht, in's Alpenland stiege,
so könnte er auf den Gedanken kommen, das Wasser, wie der Parse das Feuer,
anzubeten. Gelehrte Theologen streiten darüber, ob Mosis Eden auf Ceylon lag
oder auf Haiti; gewiß ist jedenfalls, daß die ersten Menschen ans der Alm er¬
schaffen wurden. Eva war in der schönen jungfräulichen Zeit der ersten Liebe
eine jodelnde Sennerin; erst als sie mit Adam in den sorgenvollen Ehestand trat,
mußten beide in'ö Flachland niedersteigen, wo bald darauf Kain, der trotzige Bauer,
zu ackern anfing und Urvater der Civilisation "wurde. Ein Paradieses-Abglanz
ruht aber noch auf allen Hoch- und Alpenländer. Blume, Wald, Gestein und
Thier der Niederung sind nur eine gröbere, dust- und würzelosere Nachbildung
der Alpenschöpfung. Im Hochland findet sich alle Natur noch in ihrer ursprüng¬
lichen, idealeren Art. Die Schönheit des Paradieses offenbart sich aber vorzugs¬
weise in dem klaren, klangvollen Luftreich, in den Wassern und ihrem Spiel mit
dem Sonnenlicht. Wer das erste der Elemente an der Quelle kennen lernen will,
muß dahinpilgern, wo es nach dem Verlaufen der Sündfluth in den tiefen Be¬
chern der hohen Urgebirge ruhen blieb. Von den Bächen und Bächlein sprach
ich ein anderes Mal; jetzt nur von den Seen des SalzkammergutS. Sie sind
nicht so groß wie die der Schweiz, der größte zählt in der Länge nicht über fünf
Stunden: aber in wie mannichfachen und reizenden Gestalten drängt sich die Fel¬
sennatur, schmückend, bergend und verbergend, um die großen kristallenen Quellen. Bei
geringerer Tiefe ist die Fluth so durchsichtig, daß man die Fußtapfen der See¬
nixen auf dem silberweißen Sandgrund zählen kann; dann kommen Tiefen von
achthundert bis zwölfhundert Fuß, da bringt das Gewässer in seinen Spielen mit
dem Tageslicht hunderterlei ungeahnte Schattirnngen von Blau, Grün, Gold und
Gelb hervor; Nuancen, für die es keinen Namen, kaum immer Vergleiche gibt,
und die deS Pinsels eben so spotten würden wie der armen Schreibfeder. Ich
kann nur den Eindruck schildern, den die wunderbare Erscheinung auf mich machte.
Der Leser mag lächeln, aber ich schäme mich des Geständnisses nicht: in den ersten
Tagen, als ich Traum- Mond- und Attersce im leichten Nachen befuhr, hätte ich
es nicht über mich vermocht, die Asche meiner Cigarre oder den Schmutz meiner
Tabakspfeife in den See zu schütten. Ich hätte es für eine Profanation gehalten.
Du Kehuig von Sardinien!
schrillte die Harfenistin wieder, als wir in die Halle zurückkehrten. Kläglicher
noch als der Inhalt war die Gasscuhanermelvdie dieses patriotischen Liedes; frei¬
lich stammte es aus den Tagen von Oestreich's tiefster Bedrängniß, aus dem
Sommer 1848, und spiegelte getreulich die politische Gemüthlichkeit des gläubigen
Volkes ab. Es beginnt damit zu erzählen, wie „Mehdernich" (Metternich) „hat
angestift' die Nehfvluzion," feiert den Sieg der Bürger über den rebellischen
Staatskanzler und ruft in wiederholten Refrains „Fisat die Garde von der Na-
zional." Jetzt lösen sich alle Mißtöne in Seligkeit ans, bis der „harte Mann"
kommt, Karl Albert, der Rücksichtslose, welcher im Stande ist, sogar den guten
armen Kaiser Ferdinand durch einen höchst ungelegener Krieg zu kränken. Aber
das Lied verzagt nicht, und da man in jener Zeit durch den Neichsveriveser das
heilige römische Reich wieder aufgebaut und die deutsche Kaiserkrone auf dem
Haupte Ferdinand's fest zu sehen glaubte, so schließt es mit folgender teutonisch
gesinnten Prophezeihung:
Sechs Monate nach Entstehung dieser Vierzeilinge hätte ich Niemanden rathen
mögen, sie auf dem Stephansplatz zu singen, denn Stephansplatz, Graben
und Kohlmarkt sammt der Kaiserburg wurden eben so aufrichtig und uneigennützig
slavisch wie sie früher deutsch gewesen waren. Jetzt ist Sardinien erlegen, Ungarn
erlegen, das altmodische Deutschthum aber lebt nur noch im Munde einer bleich¬
süchtigen Gebirgsharsenistin, die zu träge war, ein neueres und zeitgemäßeres
Liedlein auswendig zu lernen.
Harfe und Violine hatten sich glücklich entfernt, auch das Abendessen war
vorüber. Die trefflichen Forellen und Saiblinge, der zarte Gemsbraten und der
würzige Nußberger erzeugten eine so glückliche Stimmung, daß die Gesellschaft
enger zusammenrückte und die Gläser noch einmal füllte. Das Fremdenbuch ging
von Hand zu Hand und man lachte über die bunten Thorheiten, die von jungen
Malern, barocken Engländern und sentimentalen Blaustrümpfen hineingeschrieben
und gezeichnet waren, so wie über die Politik des Herrn Stadler, der jedes
Blatt, auf dem das Fac Sinne irgend einer hohen Herrschaft stand, mit großen,
grell colorirten Blumenguirlanden schmücken ließ und die boshaften Randbemerkungen,
welche in der Demokratenzeit auf diesen Gcdenkblättern emporgewnchert waren,
sorgfältig mit weißen Papierstreifen überklebt hatte. Es versteht sich, daß der
schlaue Wirth die Censur nicht blos zum Besten des Vaterlandes übte, sondern
auch gegen knauserige Beschwerden über seine Rechenkreide anwandte. Dafür ver¬
säumte er Nichts, um seiue Gäste bei guter Laune zu erhalten und gab, wo ihm
der Witz ausging, seine eigene majestätisch beleibte Person ihrem Humor preis;
ein Linzer Student setzte sich an's Klavier und spielte mit Feuer die letzte» Meister¬
werke von Strauß und Herr Stadler tauzte dazu, erst allein, dann mit der sechs¬
jährigen Anna, seinem flachshaarigen Töchterlein, schnaubend im Kreis herum.
Nur eine kleine Gruppe hielt sich unserm harmlosen Treiben fern. Zwei
steirische Jäger — nach ihrer Kleidung zu schließen — faßen an einem Seiten-
tischchen und spielten eifrig Karte, ein dritter suchte im Schatten des großen,
bankumgürteten Kachelofens der Fränzel aus Gmunden, einem thaufrischen schnippi¬
schen Stubenmädchen, den Hof zu mache». Der Mann hatte ein wunderliches
Aussehen und es fiel auf den ersten Blick auf, wie wenig die steirische Jägertracht
ZU dem blassen, schwächlichen Gesicht, welches ein schwarzer Backenbart noch greller
hervorhob, zu den halb erloschenen Augen und dem funkelnden Diamant auf sei¬
nein rechten Zeigefinger paßte. Das Glück lächelte seiner Bewerbung nicht, Frän¬
zel schlug mehrere Stürme leicht ab und als er gar beide Arme um sie schlingen
wollte, entschlüpfte sie ihm flink wie eine Fischotter und sprang flüchtend mitten
U' unsern Kreis. — Na, Annerl, getanzt hast Du genung, jetzt sing amal, rief sie
der Kleinen zu. Die Kleine sah sich furchtsam um; erst als Fränzel neben ihr
'nederkniete, überwand sie, mit dem Kopftuchschleifen des Stubenmädchens spic-
end, ihre Schüchternheit und jodelte mit dem feinen jungen Lerchenstimmchen einen
wehmüthigen Oberöstreicher. Unser Beifall erhitzte und ermuthigte die kleine San-
^wi, sie trillerte immer lauter und kräftiger bis an zehnmal das reizende
ledchen ab und wurde dafür von sämmtlichen Gästen der Reihe nach gehätschelt.
Auch der steirische Don Juan, der nachdenkend an der Ofenecke gelehnt hatte,
setzte sich jetzt in unsere Nähe und lockte das Kind zu sich. — So geh Anna,
schnaubte der Wirth, geh doch zu dem Herrn, und er führte sie hin. Der Jäger
hob sie auf'Z Knie zu sich und fragte: Weißt noch, wer Dir das beiuerne Niugerl
gegeben hat? Weißt noch wie ich heiß'? — Anna sah sich, mit dem Nosenfingcr
im Mund, »ach Fräuzel um. — Na sag doch, schnaufte der Wirth; wie heißt
der schone Herr? - - Hanswurst, antwortete das ont'inde turribl», zum Jäger auf¬
blickend; und Fränzel sagt, Du sollest Dir auch el»' falschen Kropf wachsen
lassen, ja!
Platzendes Gelächter erscholl, Fränzel war wie der Wind zur Thüre hinaus,
und der Steirer setzte die Kleine so heftig ans den Boden, daß sie laut zu wei¬
nen anfing; der Wirth schnaufte entschuldigend Herr Baron hin und Herr Baron
her und schwur, Fräuzel verderbe sei» Ki»d und müsse morgen aus dem Hause.
Auf der Treppe trafen wir Fräuzel, die sich noch immer die Seiten hielt,
vor Lachen standen ihr die Thränen in den blauen Augen. Nein, sagte sie; man
glaubt's nicht, was die feinen Herrn für Affereien treiben. Der Baron ist'n
Steirer wie ich eine Wienerin. Voriges Jahr kamen auch so ein drei, vier Stück
Herrschaften mit ihren Damen nach Gmunden in's Goldene Schiff. Meine Schwe¬
stern und meine Brüder mußten zum Spaß mit ihnen die Kleider tauschen, und
dann spazierten sie im kurzen Nöckerl durch's Stadtl 'rum, aber du lieber Gott, —
sagte Fränzel mit großem Ernst und in mitleidsvollem Ton, — sie haben ja gar
keine Waderl nit gehabt! —
Hier sahen Sie nun, sagte Don Isidor Amabile, als wir unser Schlafgemach
erreicht hatten, ein Exemplar jener Gattung, die das Volk mit dem Spottnamen:
bezeichnet. Diese Bastardrace ist nicht ohne historisch-politische Bedeutung, und
ich möchte ihre Entstehung dem (un)seligen Kaiser Franz zuschreiben, der bekanntlich
die öffentliche Komödianterei mit Meisterschaft betrieb. Von Geburt und Sinnesart
ein Wälscher, im unliebsamen Sinne des Wortes, machte er sein Leben lang den
„falschen Wiener." Es steckt im Volk der Wiener, der Oestreicher und Steherer
ein unverwüstlicher Schatz harmloser Offenheit, Lebenslust und Gutmüthigkeit; der
Mann aus dem Volke ist liebenswürdig. Nun denken Sie sich einen von Natur
mißtrauische», verschlagenen, kalt- und engherzigen Fürsten, ohne Geistesgröße,
aber mit eine»! spitzigen Ange für die Schwäche» der gewöhnlichen Menschenmasse,
der so weit gebildet ist, daß er auf französisch und italienisch sich mit diplomati¬
scher Vorsicht und Feinheit auszudrücken versteht, der auf deutsch aber seine be¬
rechnetsten Gedanken in die treuherzige Wiener Mundart maskirt; der im Geberden-
nud Mienenspiel, im Drehe» und Wende» die Schlichtheit des Volkes so lange
planmäßig nachäfft, bis ihm die Larve zur Gesichtshaut geworden ist, - wie wi¬
derlich! Das Beispiel des Kaisers war tonangebend. Aller Schaum sogenannter
Bildung in der Kaiserstadt wollte zum Volk gehören, Wienerisch wurde die diplo¬
matische Sprache der Bureaukratie und Armee; selbst die entnationalifirtcn Zu¬
zügler, die zu Tausenden jährlich nach Wien strömten, um dort im Glanz der
Hofsonne ihr Glück zu machen, radebrechteu und tarrilirtcu mit slavischer oder
halbslavischer Zunge die arglose Mundart. Der bestechliche, bis zum Blutsaugen
wucherische Beamte, der papageienhafte Gcldbarvn, der ehrlose Schmarotzer und der
herzlose Schlemmer, der hohe und niedere Spitzt, — sie Alle wußten zu Haus
und in der Fremde einen Firniß von Wiener Bonhommie sich aufzukl-ben, und nur
die Schönthuerei und Selbstgefälligkeit, mit der sie auf Herz oder Bauch schla¬
gend, mit ihrer Gemüthlichkeit prahlten, verrieth, daß sie gelernt war. In der
Literatur wurde diese Schauspielerei am ekelhaftesten vou Castelli und Haus Jor¬
ge!*) betrieben, die seit zwanzig Jahren gewohnt sind, in den Vorzimmern und
an den Tafeln der hohen und allerhöchsten Herrschaften, mit bauchredncrischer Ge-
wandheit, die Stimme des Volks draußen auf dem Lande nachzuäffen und zu
verfälschen.
Aus dieser Fäulniß der alten Wiener Zeit stammen auch die falschen Steyrer.
Sie meinen dem löblichen Beispiel des Erzherzogs Johann nachzueifern, allein dieser
Prinz hat durch sein inniges Zusammenleben mit dem steyrischen Volk ein gewisses
Recht auf den groben Lodenrock erworben. Die falschen Steyrer hingegen sind
meist blasirte Gecken und Wüstlinge, reiche Juweliers - und Bankierssöhue aus der
Residenz, welche im Winter die falschen Wiener spielen. Im Sommer schlagen
sie ihr Hauptquartier in Anßce und Umgegend auf, stecken sich in grau-grüne
Wämser, enganliegende Kniehosen, farbige Strümpfe, Schuhe mit Schnallen, stül¬
pen den breitkrämpigen Spitzhut auf, umschwärmen den Hof und schwatzen das
reinste schwarzgelb. Der Mummenschanz sott ihre abgelebten Reize auffrischen,
und wenn sie durch die Straßen von Ischl steigen, werfen die männlichen Co-
qucttcu nach allen Fenstern und hinter alle Gardinen fragende Blicke, um sich zu
überzeugen, daß sie bemerkt werden. Im Jschler Kaffeehause werde» Sie zwei
falsche Steyrer finden, vierzigjährige Narren, welche in ihrer Maskerade so ge¬
wissenhaft sind, daß sie uuter dem Spitzhut, uach altsteyrischer Sitte, die schwarze
Schlafmütze, aus der Brusttasche die kleine stcyrische Fuhrmannspfeife und aus der
schmalen Seitentasche der Knichvse ein silberbeschlagenes Besteck Messer und Gabel
vorgucken lassen, natürlich ohne Pfeife oder Messer jemals zu brauche»; dafür
riechen sie nach Bisam und Moschus, glätten fleißig mit dem Kaninchen ihre
Bärte, begucken sich im Handspiegelchen und haben, wie Fränzel bemerkt, „gar
keine Waderl nit." Es fehlt wirklich nur, daß M sich falsche Kröpfe wachsen
ließen, um in ihrer Erscheinung vollkommen zu sein. Wenn der Hof nächstens
die Bäder von Mehadia oder Nvhitsch oder sonst einen Sommeraufenthalt an den
Grenzen Kroatiens in Mode dringt, so werden dieselben Stutzer, welche jetzt die
derbe Biederkeit steyrischer Bergsöhne affcctiren wollen, sich als falsche Sercsaner
verkleiden, rothe Mäntel umhängen und breite Schlächtermesscr in ihren Gürtel
stecken. Warum nicht? Die Seresaner mit den langen Geierhälsen, gierigen
Blicken und Naubvogelgcsichtern sind auch Natursöhne und manche sentimentale
Anbeterin von Jellachich hat für ihre kindliche Einfalt zu schwärmen vermocht. Am
Ende aber sind die falschen Steyrer eine harmlose Karrikatur. Hatten wir nicht
Prinzen, die erst den falschen Czechen und dann den falschen Magyaren spielen
mußten? Das Spiel nahm een blutiges Ende, die Masken sind in den Flammen
der Revolution verbrannt, man wird keine neuen mehr zuschneiden, sondern Böh¬
men, Ungarn und bald auch Oestreich mit derselben ernsten Aufrichtigkeit begeg¬
nen, wie Polen und Italien, denen man von jeher das strenge Antlitz unverlarvt
gezeigt hat. Andere Zeiten, andere Waffen und — Don Jsidor murmelte noch
etwas, allein der Wasserfall, welcher in der Nähe des Hauses mitten in das Berg-
städtchen herabstürzt, übertönte mit zornigem Tosen seine melancholisch gewordene
Stimme. — Gute Nacht! — —
schaurig sind die Straßen von Hallstadt, wenn ich diese tiefgefurchten, kiesligen,
aus- und absteigenden Rinnsale Straßen nennen soll. Manchmal führen hundert-
stnfige Steintreppen an der Dachseite des einen Häuschens zum Eingang des
höherlkgcnden und so fort. Hallstadt wäre ein treffliches Trappistenkloster; un¬
nahbar für Roß und Wagen, von einer Seite nur für den Habicht, die Gemse
oder den Bergsteiger, von allen andern nnr für Wellen und Nachen zugänglich,
schmiegt und gräbt es sich ängstlich in die Brust der hohen felsigen Bergmancr,
die in einem Halbkreis die größere Hälfte des Sees überschattet. Schmutz und
Armuth blicken aus Fenstern und Thüre». Bergstädte schmücken sich selten mit
den Schätzen, welche ihre Bewohner aus der Tiefe graben; aber die Armuth von
Hallein und Ebensee ist eine lachende Idylle gegen die Noth in Hallstadt. Nach
einvicrtelstündigem Klettern durch die Straßen des Ortes war unser kleines Geld
zu Ende, und scheu wie entflohene Verbrecher eilten wir dnrch die zahlreichen
dunklen Schwibbogen, verfolgt vom Geschrei und den ausgestreckten Händen wegc-
lagernder Bettler, zwerghafter Weiber und Cretins mit aufgedunsenen, mönchisch
wackelnden Köpfen, die aus jedem Schlupfwinkel hervorstürzten.
Wäre Hallstadt von Trappisten bewohnt, so könnte die enge Schlucht, die
hinter dem Orte tiefer in den Schooß des Berges führt, den passendsten Kloster¬
garten bilden. Das saftig grüne, aber düstere, föhrenranschende Thal, kaum vier¬
zig Fuß breit und von viertausend Fuß hohen Felswänden eingeschlossen , ist eine
Sackgasse und schließt mit dem Waldbachstrnbb, der mitten <ins der schließenden
Felsmauer herausspringt. Lenauische Melancholie überkommt den Wandrer in
dieser Einsamkeit, ans der ihn dann und wann nur das Geläut einer grasenden
Kuh aufschreckt oder das Lallen des „Trottels" (Cretins), der ihm bettelnd die
Zaunthüre öffnet und mit dem verschleierten Blick einer verwunschenen Kreatur
ihn anstarrt.
Sie sehen, bemerkte Don Jsidor, daß Ihre Ansicht von der edleren Natur
der Alpenparadiese, wenigstens in Bezug auf den Mensche», falsch ist. nirgendswo
in Flachlande vegetiren diese traurigen Zerrbilder unserer Race so massenhaft; der
Blödsinn ist dort selten angeboren und erblich wie hier. Das Volk, welches in
seinen Forschungen gewöhnlich andere Wege geht als Aerzte und Philosophen, be¬
hauptet, die Trotteln seien Abkömmlinge eines verstockten altheidnischen Drniden-
geschlechts, welches vor zwei tausend Jahren hier seinen Götzen Menschen opferte.
Zur Strafe dafür müssen die Urenkel jener Priester noch hentzutage dem schonen
altchristlichen Menschenschlag im Gebirge als Folie dienen. Ich wünschte nur, die
modernen Druiden, welche zwar nicht Mcnschenleiber opfern, aber Seele und Ver¬
stand des Volles gern verkrüppeln, würden zur Vergeltung selbst ein wenig mit
Cretinismus geschlagen. Uebrigens ist der Kropf nicht immer das Emblem des
Cretinismus, so wie es Trotteln gibt, die einen kleinen, oft ganz unmerklichen
Halsauswnchs tragen. Eine geheimnißvolle Beziehung mag wohl zwischen dein
geistigen und dem körperlichen Kropfthum walten, allein es gibt Gegenden, u o
keine Spur einer Wahlverwandtschaft zwischen beiden zu entdecken ist. Kennen Sie
in Obersteiermark und die seltsame Geschichte, die sich vor mehr als zehn Jahren
dort zutrug? — Wer jemals, ans dem Tannenwald bei Zackl niedersteigend,
die blauen schöugezinnten, mit ewigem Schnee bedeckten Berge sah, die den süd¬
lichen Eingang des Kropfthales hüten, die zwanzig Bächlein, die in Schlcierfällen
von der Felskrone über der Alm niederschwebend, es in hundertfachen Windungen
durchädern, bald spannbreit, kaum fußtief und kristallweiß über einer Mosaik von
farbigen Kieseln rinnend, bald mit lasurblauen oder smaragdgrünen Wogen das
Mühlrad peitschend, — der wird, wenn er aus dem Geräusch der Welt sich in's
Hochland zurückziehen will, schwerlich ein reizenderes Asyl wünschen als dieses ab¬
gelegene Thal mit seinen fünf saubern Dörfern an der Berglehne. Die Kräuter
auf den Matten sind würziger, die Ziegen flinker und die Schafe mit feinerem
Vließ bekleidet als anderswo, die Bewohner des Thales jedoch sind mit Kröpfen
gesegnet; ohne Ausnahme. Alles vom Greis bis zum Säugling, vom Schulzen
und Schullehrer bis zum jüngsten Gaishirten herunter, trügt dieselbe Zierde, und
der Gaisbuer setzt darum den grünen, alpenblumengeschmücklcu Spitzhut nicht
minder lustig anf's Ohr. Es ist hübsch, die Leute beim SouutagStanz oder bei
einer Procession versammelt zu sehen; der Kropf gibt jedem einen verschiedenen
Ausdruck, Einen macht er besonders ehrbar und würdevoll, den Andern besonders
schelmisch oder sanft. Das Völkchen hat sehr geringen Verkehr mit der übrigen
Welt, es denkt nicht daran und glaubt kaum, daß Millionen Menschen sich ohne
Kropf behelfen. Vor zehn Jahren nun kamen zwei Freunde, ein Arzt und ein
Maler, in das kleine Paradies, jener um zu botanisiren, dieser um landschaftliche
Studien zu machen. Beide beschlossen einige Zeit zu bleibe» und fanden gastliche
Aufnahme bei dem reichen Hans Sterzing in Ganderfeldten, dessen Tochter Marie
für die größte Schönheit des Thales galt. Anfangs wurden die Fremden wie
Meerwunder angesehen und belächelt, nach wenigen Tagen hatte sich das Publi¬
kum an ihren Anblick gewohnt, und der Schullehrer verbot der hoffnungsvollen
Jugend aufs Strengste, ihnen mit Geschrei und Gelächter nachzulaufen, indem
er sagte: Es ist sündhaft, einem Menschen körperliche Mängel vorzuwerfe», und
am Ende kann Einer auch ohne Kropf ein braver Christ sein und in deu Himmel
kommen. Dasselbe sagten der Schulze und der Müller in der Schenke, und seit¬
dem wurden der Arzt und der Maler allerseits mit stiller Theilnahme behandelt.
Der Arzt aber vergalt diese Freundlichkeit schlecht.
Marie Sterzing hatte eine feine Gestalt, ein sanftes Ange mit langen seidenen
Wimpern und sie trug ihr Kröpfchen so zierlich wie eine Taube, wenn sie den Kopf
zu ihrem Tauber emporhebt und den weißschwellenden Hals vorbeugt. Der Arzt
nahm ein doppeltes Interesse an dem Mädchen, er gewann bald ihr und ihrer
Mutter Vertrauen und bewies, daß Marie nnr deshalb so schön sei, weil sie den
kleinsten Kropf im Thal habe. Dieser Grund besiegte die Furcht der Alten und sie
willigte nach langem Sträuben darein, Marie behandeln zu lassen, natürlich in tiefster
Heimlichkeit. Der Arzt glaubte in seiner Kur Fortschritte zu machen und rieb sich
vor Freude die Hände. -- Du bist ein Weltverbesserer und wirst Unheil stiften,
sagte der Maler warnend. Aber der Arzt hörte nicht auf deu guten Rath und
braute und filtrirte so lange, bis das Unglück hereinbrach. Des Müllers Jokei
und deö Schulzen Seppel, gegen welche Marie seit Kurzem stolz und kühl ge¬
worden war, belauschten sie bei der Heumahd. Sie sahen, daß sie ein geheim^
nißvvlles Fläschchen im Busen verborgen trug und, als sie sich unbemerkt glaubte,
mit einem grünen Zauberwasscr sich eilig und eifrig den Hals wusch und darauf
dreimal bekreuzte. Nach eiuer Stunde ging ein dumpfes Gemurmel durchs ganze
Dorf. Die Väter der eifersüchtigen Bursche» saßen bis in die späte Nacht beim
Pfarrer, und am andern Morgen, Sonntags, predigte er über die Neuerer und
Ketzer, die den Menschen mit Gewalt anders machen wollten, als der liebe Gott
ihn geschaffen. Er blieb nicht bei leeren Anspielungen, sondern deutete auf das
räudige Schaf, welches, vom Hochmuthstenfel verblendet, sich seiner Geschwister
und Eltern und Voreltern und der ganzen Herde schäme, in der es aufgewachsen.
Marie wurde ohnmächtig aus der Kirche getragen, Sterzing rannte nach Haus
und schmiß alle Apparate und botanischen Sammlungen des Doctors zum Fenster
hinaus. Seine Frau wollte ihn halten und meinte: Laß die Leut schwatzen und
den Pfarrer heulen, wenn der Doctor sie heiralh'. — Was? brüllte er und schlug
auf den Tisch; meine Tochter den „Langhals!?" Meine Tochter soll ihren Kropf
behalten, so wahr ich Sterzing heiß und ehrlich getauft bin, und einen Mann
heirathen, der einen rechtschaffenen Kropf hat wie ich und mein Vater und Gro߬
vater gehabt hat!
Den Doctor hatten indeß, als er von einem Spaziergang heimkehrte, die
Bauerburschen überfallen und halb todt gedroschen vor Sterzing's Schwelle liegen
lassen. Er mußte eine Woche lang das Bett hüten und der Maler tröstete ihn,
indem er bemerkte, es sei besser Arm und Beine zu brechen als das Herz. Letzteres
werde wohl gesund bleiben, wenn er sehe, daß der Hals seiner Patientin sich gar
nicht verändert, vielmehr dicker geworden sei. Er als Zeichner müsse das besser
erkennen als das Aug' eines Verliebten. Uebrigens habe Marie sich Knall und
Fall mit dem kropfeteu Jokei verloben lassen und sei nicht in's Wasser gesp>un-
gen. — Um die guten Leute im Thal zu versöhnen, hatte der schlaue Künstler
vor der Abreise rasch ein Bild in die Kirche gemalt. Als Marie zur Trauung
ging, erkannte sie über dem Altar ihr eigenes Ebenbild und vergoß eine Thräne.
Jeder Reisende aber kann seitdem in der Pfarrkirche von Ganderfeldten die
heilige Jungfrau mit einem Kropf abgemalt sehen, und das gläubige Volk betet
vor keinem Bilde lieber als vor diesem.
Mit Heiterkeit erinnern wir uns des allgemeinen Verwunderns, das in den
Tagen jenes verhängnißvollen Novembers die neue Ministerliste hervorrief, in wel¬
cher der Edle Herr von Thienfeld als Minister des Ackerbaues, ja sogar auch des
Montanwesens figurirte. Herr von Thienfeld war im Wiener Reichstage im Cen¬
trum des Centrums gesessen, hatte einigemale in schlichter Weise, in östreicdisch-
steyerschem Dialekte vom Platze aus gesprochen, niemals albern oder ungeschickt,
wie so viele seiner Kollegen im Centrum, aber auch niemals scharfsinnig oder präg¬
nant, wiewohl die Mundart eben mancher plausibler Aeußerung die hausbackne
banale Färbung gäv; und uun war dieser Edle Herr von Thienfeld plötzlich Mi¬
nister geworden!! viel Ermunterung der Mittelmäßigkeit lag in dieser Ernennung.
Das Bergwesen hatte vergleichsweise gewonnen, denn Thienfeldö Vorgänger, Herr
von Schwarzer, verstand vom Bergwesen höchstens so viel, um wohl ausgeprägte
Silberzwanziger den prekären Banknoten unbedingt vorzugehen.
Ueberhaupt haben wir Herrn von Schwarzer im Ministerium, in Rücksicht
seiner Antecedentien, per tot cliscriminir rerum, niemals als besonders erfreuliche
Errungenschaft begrüßt. Schwarzer's Ernennung war ein bloßes Platzzngeständniß,
wie überhaupt das Ministerium Wesscnberg-Dobblhoff bei aller Ehrenhaftigkeit
seiner Mehrheit, nnr ein Wiener Platzministerium war, gelähmt nach innen und
anßen, mit der Aula nothgedrungen fraternisirend. Durch Schwarzer's Ernennung
dachte man ein damals gefährliches Journal zum Schweigen zu bringen, und er¬
munterte dadurch eben andre Giftpilze der Presse. General Melden hat später¬
hin dasselbe Blatt sehr heroisch unterdrückt, und den Exminister Schwarzer oben¬
drein eingesperrt; beide Extreme sind gleich verwerflich.
Die Ernennung des Edlen Herrn von Thienfeld hatte bei aller Obscnrität
des Ernannten doch die Lichtseite, daß man in jenen Tagen darauf Bedacht neh¬
men wollte, das Ministerium wenigstens theilweise aus dem Reichstage zu rekru-
tireu, während man sich jetzt sogar ohne alleu Reichstag behilft und möglicher
Weise noch lange Jahre hindurch zu behelfen gedenkt. In jenem November war
man noch andern Sinnes und bedacht, einen Deputirten ins Ministerium aufzu-
nehmen; im Berg- und Hüttenwesen aber, wie überhaupt an Spezialitäten litt der
Reichstag bedeutend Mangel. Wir wollen damit nicht etwa sagen, daß wir
Herrn v. Thienfeld als besonders erwünschte Spezialität irgend anerkennen, ver¬
gleichsweise war er das dennoch. Herr v. Thienfeld besitzt ein Landgut in der
Steyermark — folglich versteht er den Ackerbau, Herr v. Thienfeld besitzt einige
Hammerwerke in der Steyermark — folglich versteht er den Bergbau, so wurde
damals zu Olmütz combinirt. Für den Ackerbau hatte Galizien besonders eine
Masse von Portefeuilleskaudidatcn geliefert, diese aber sprachen meist nichts als
polnisch, und den Polen durste mau t'ein besonderes Zugeständnis; machen.
Der November 1848 war eine vergleichsweise gute Zeit, in jenen Tagen
wollte man noch mit dem Reichstage gehen, damals war die Eroberung Ungarns
noch in ferner Aussicht, ein gütliches llebereiukommeu uoch möglich, die nordische
Intervention ein unentwickelter Embryo.
Auf Empfehlung eines Steyermärkischen Abgeordneten, Grasen Gleispach, wurde
der Edle Herr v. Thienfeld so zu sagen auf gut Glück zum Minister ernannt, und
ist bis heute Minister geblieben. Dank seiner Passivität!
Herr v. Thienfeld ist ein ehrlicher Mann, dafür kann man bürgen, aber es
gibt zweierlei Ehrlichkeit, die des Privatmannes, und die des Staats¬
mannes, welcher, wenn mit dem Portefeuille betraut, als Diener der cou-
stitutionellen Staatsgesammtheit zwischen dynastische» und Volksinter¬
essen die richtige ausgleichende Mitte zu halten hat, und über dem Spezialporte-
fenille seine Solidarstellnug zum Ganzen nie vergessen darf. Diese Auffassung
jedoch scheint Herrn v. Thicnfeld nicht klar genug vorzuschweben, er macht mehr
den Eindruck eines vormärzlichen Staats- und Confereuzministers; als constitu-
tionellen Minister können wir uns den Mann nicht denken. Während das Mini¬
sterium den Reichstag zu Kremsicr seit dem 8. Januar beinahe ganz ignorirte,
war Herr v. Thierheit Wochen hindurch der einzige Jnsasse der Ministerbank,
welche in ihrer übrigen Verlassenheit als tägliche Mahnung an sein bevorstehendes
irdisches Ende, als permanentes mi-mondo »wi-i dienen mochte. Er saß den Ja¬
nuar hindurch pro kormil da, ohne sich an den Verhandlungen zu bethätigen,
vielleicht nur deshalb, um durch steife Erwiderung der ihm von Vorübergehenden
gemachten Begrüßungen, dem Reichstage die Ungnade des Ministeriums verkör¬
pert in Erinnerung zu bringen. Im Februar blieb auch Herr v. Thicnfeld aus,
der Reichstag debattirte fortan en t'iunillo, noch immer nicht merkend, daß das
Wrack, auf dem er trieb, Planke um Plante verlor, um plötzlich von der gähnen¬
den See verschlungen zu werden. Herrn o. Thienfeld grollt darum Niemand.
Wir sind überzeugt, dieser Maun wird mit jedem politischen Winde segeln, rück¬
wärts wie vorwärts. Aendert sich hente das System, was wir nicht erwarten,
ja nicht in denkbare Aussicht stellen, so wird Herr v. Thienfeld im Minisierrathe
mit der Majorität des geänderten Systems eben so bereitwillig stimmen, wie er
hente mit dem waltenden Systeme stimmt. Unter jedem Systeme muß geankert,
unter jedem, besonders aber unter dem heutigen, muß Bergbau getrieben werden,
darum blebe Herr v. Thienfeld Minister so lange er mag, wir gönnen ihm die
Freude, lustige Unterstaatssekretäre mögen das übrige thu». Immerhin aber
hätten wir?s für ein Glück gehalten, hätte mau statt Herrn v. Thienfcld's eine
Noch ist eS nicht überall so weit gekommen, daß in dem Dunkel der Kabi¬
nette die Fabel gesponnen werden zu dem Gewebe, auf welches die Geschichte
der Völker sich schreibt; nicht allenthalben ist die Volkspolitik verdrängt durch
die Politik der Kabinette. Aber auf den wenigen Oasen, wo das Volk selbst
seine Politik naht, übt es sie nicht als einen Nest der Märzerrungenschaften, es
ist dorthin wahrsheinlich nicht einmal die Kunde gedrungen von unsrer glorreichen
Revolution, sondern dort ist die Volkspolitik naturwüchsig, waldursprüuglich, sie
ist nicht ein Kunstprodukt, sondern ein Naturprodukt. Solche Punkte sind der
Kaukasus und Algerien; an der Grenzscheide zwischen Asien und Europa, und
dort, wo Europa einen mächtigen Keil in den Leib Afrikas hineingetrieben hat,
entscheidet »och immer das Schwert über die Geschicke der Völker, und wahr¬
scheinlich werden sich diese Völker noch lange derselben Weise bediene», um ihre
Geschichte zu schreiben. Die gu,»«is n»Iili«juv bei uns und bei unseren Nachbaren
hält ihre Ferien; benutzen wir dieselben zu einer Wanderung in das Land der
Getulen.
Karl von Bourbon hatte die Expedition gegen Algier unternommen, um sei¬
nen wankenden Thron zu befestigen; umsonst; wenige Tage, nachdem man in
Paris erfahren, daß jene Expedition einen Erfolg gehabt, der die kühnsten Er¬
wartungen erreichte oder wohl noch übertraf, wurde der alte Thron der Bouriwuen
zum zweiten oder zum dritten Male unigestürzt, Karl mit Schmach bedeckt davon¬
gejagt, seine Politik geächtet wie er selbst. Algier jedoch wurde auch von seinem
Nachfolger festgehalten, die Kraft Frankreichs wurde von ihm aufgcwau)t, um
jene Eroberung zu behaupten gegen die unausgesetzten Anfeindungen der wilden,
racheerfülltcn und fanatisirten Eingebornen und gegen die Dccimirungen eiles mör¬
derischen Klimas. Mau wollte ertrotzen die Colonisirung eines Landes, das
wahrscheinlich der europäischen Kultur unfähig ist; Haufen Goldes wenden ver¬
schwendet, Tausende der besten Söhne Frankreichs wurden hingeopfert, damit diese
Colonisirung erreicht werde: denn man mußte sie erreichen, wie um glaubte,
wollte man die glorreiche Eroberung nicht aufgeben, und man dürfte sie nicht
aufgeben.
Ludwig Philipp wurde gestürzt, seine Politik wurde verdammt, als eine
„schmachvolle, perfide, egoistische." An die Stelle der franzvsischel Monarchie
trat, wie Lamartine behauptete, die Republik. „Die Zeit der Firstenpolitik,"
verkündigte weiter der Dichter, der aus seinem Himmel ans den Male des Lebens
sich verirrt hatte, „die Zeit der Fürstenpolitik ist vorüber, und Ke Völker, die
kein dynastisches Interesse kennen, folgen einer andern Politik" u s. w. Das
blieb Phrase , Frankreich hat seine Politik nicht geändert, nirgends am wenigsten
in Bezug ans Algerien. Und Frankreich wird fortfahren Algeriel zu behaupten,
es wird im Nothfalle seinen letzten Grenadier und seinen letzten Thäler anwenden,
um festzuhalten, was es besitzt oder zu besitzen wähnt — denn jedr Besitz, dessen
Behauptung größere Mittel erfordert, als der Nutzen beträgt, der aus ihm fließt,
ist ein nur eingebildeter Besitz. Und Fraukreich hat Oestreich geschuäht, das Italien
nicht herausgab; es hat Preußen gescholten, das sich Posens nichl eilend zu Gun¬
sten der Polen entledigen wollte.
Seit der Eroberung Algiers hatte der Krieg mit den Einglöornen kaum auf¬
gehört, wenn er gleich uur an einzelnen Punkte» geführt würd. Durch die Ge-
fangennehmnng des großen Emir Abtei Kader war im Grunde nur eine Unter¬
brechung des Kampfes eingetreten, ein Waffenstillstand, veranlaßt durch die
augenblickliche gänzliche Erschöpfung der tapfern Söhne der Wüste. Etwa andert¬
halb Jahre hatte dieser Waffenstillstand gewährt, als die Araber sich start genug
fühlten, um den heiligen Krieg wieder zu beginnen. Sie haben ihn begonnen
mit einer Energie, die das Glück bereits mit manchem Erfolge gekrönt hat. Im
September dieses Jahres fand der Wiederausbruch des Kampfes statt. Zunächst
im Süden.
Sechzig bis siebenzig Lieues von der Küste liegt auf einer Oase das Dorf
Zaatcha; dasselbe scheint der Mittelpunkt einer allgemeinen Erhebung derArabcr-
stämme Algeriens werden zu sollen. Am 7. October rückte der General Hcr-
billon mit einem Corps von 7000 Mann gegen die Oase, und es begann nun eine
nach allen Regeln der Kunst geleitete Belagerung des an sich unbedeutenden Dor¬
fes, das jedoch vermöge seiner Bauart, der Beschaffenheit des Bodens, der Natur
des Landes und des Klimas, seiner Abgesondertheit von bedeutenderen französischen
Niederlassungen und den daraus erwachsenden Schwierigkeiten für die Belagerer
eine ganz außerordentliche Widerstandsfähigkeit besitzt. „Denken Sie sich", sagt
ein Berichterstatter aus Constantine in der Allgemeinen Zeitung, „denken Sie sich
einen Wald von sehr hohen Palmen, unter diesen Oel- und andere Bäume von
mittlerer Größe, uoch tiefer Gesträuch und Pflanzen aller Art, das Ganze zu¬
sammen bildet ein undurchdringliches Dickicht, Bewässerungsgräben ziehen sich hin¬
durch, in der Mitte sind die Wohnungen, umgeben von einer Ringmauer. Alles
von gestampfter Erde, so daß wohl die Kugel durchgeht, es aber nicht zerstört."
Vermittels der ebengedachten Kanäle setzten die Araber häusig die Velageruugs-
werke nnter Wasser, so daß die Franzosen nur sehr langsame Fortschritte machten.
Indeß war am 20. die Bvesche so weit vorgerückt, daß ein Sturm unternommen
werden konnte. Er geschah mit Tagesanbruch; allein die Belagerten leisteten einen
so tapferen Widerstand, daß die Franzosen nach einem zweistündigen Kampfe und
nach einem Verluste vou 170 Todten und Verwundeten — worunter 0 Offiziere
— sich zurückziehen mußten. Der Platz wurde nun enger eingeschlossen, neue
Batterien errichtet, das Geschütz und die Munitionsvorräthe wurden vermehrt
und das Belagerungsheer auf 11,000 Mann gebracht, ohne daß der Erfolg bis¬
her ein günstiger gewesen wäre.
Nicht besser erging es denselben Anfangs November, bei der Belagerung von
Lichana, einem Flecken, der etwa eine Stunde südlich von Zaatcha liegt und von
wo ihm beständig Verstärkung und Munition zugeführt wird; Peter Bona¬
parte war es hier, der an der Spitze eiues Bataillons der Fremdenlegion den
Angriff leitete. Er wurde mit einem sehr bedeutenden Verluste zurückgeworfen,
nachdem er vergebens versucht hatte, das vor Lichana liegende Palmengehölze zu
durchbrechen. Er zog sich darauf zurück nach Konstantine, von da nach Philippe-
ville u. s. f. bis nach Paris, in welchem Orte er, seiner Ansicht nach, „wegen der
der Republik drohenden Gefahr," weit unentbehrlicher sei als bei Zaatcha, „wo
jede auge-ncsseue Anordnung fehle." Ohne Zweifel wollte er seinen Oheim nach¬
ahmen, die französische Negierung jedoch meinte, daß dieser Versuch mißglückt sei,
und ließ ihn, durch Dekret seines Vetters Ludwig Napoleon, des Präsidenten
der Republik, von dem ihm anvertrauten militärischen Posten entheben.
Am 7. Novembe-r betrug, offiziellen französischen Angaben zufolge, der
Verlust der Franzosen an Todten und Verwundete» 50 Offiziere, 800 Soldaten;
nicht wenig empfindlich sind ferner die Verluste, welche die Franzosen durch
Desertionen erleiden. Und um das Mißgeschick ans den Gipfel zu bringen, wüthet
jetzt in Algerien die Cholera ans eine furchtbare Weise; in Oran z. B. hatte bis
zum 5. November das Militär 700 und die Bürger (blos Franzosen) 3700 Todte
durch diese schreckliche Krankheit verloren.
Peter Buonaparte, der Narr, zeigt aber nur in einem Zerrbild die gegen¬
wärtige Stimmung der höhern Offiziere in Frankreich. Die Revolution, die kläg¬
liche Schwäche des Staats hat die srauzöstscheu Generäle zu politischen Intriguan-
ten gemacht; in Paris wollen sie Alle jetzt die Früchte für den Kriegsruhm ernd-
ten, deu sie sich unter Louis Philipp, dessen Regiment den Franzosen für so ruhmlos
galt, mit ehrlicher Tapferkeit erwarben. Algier ist für Alle jetzt ein Ort der
Verbannung; als politische Abenteurer und Verschwörer sitzen sie in den Salons
und Parteiclubs der Hauptstadt, ihr Egoismus flattert jetzt nackt, widerlich um
die Tribüne und den Thronsessel der sterbenden Republik herum. Was soll
ihnen jetzt Algier! — Und so wird es geschehen, daß Frankreich Schmach und
Schande erfährt in seiner afrikanischen Besitzung, die Verwaltung ist bereits elend,
und elend ist die Kriegsführung geworden. Auch das ist Symptom einer Fäulniß,
welche am Mark des schönen Frankreichs zehrt. Und von jener unbekannten Oase
an der Grenze Algeriens aus mag leicht ein Fieberschauer über Frankreich kommen,
welcher das schwache Regiment und die unkriegerischen napoleoniden vom Lande
abschüttelt und neue Krisen hervorruft, deren Verlauf wir fürchten, aber nicht
erkennen.
Rüstig wird an dem deutschen Bundeshaus fortgezimmert. Wenn man sich
bescheidet, daß jetzt einmal uicht die Zeit kühner Thaten ist, weil weder Völker noch
Regierungen ausdauernde Energie zu verwenden fähig sind, so mag man immer¬
hin mit dem zufrieden sein, was in der letzten Zeit geschehen ist, die Trümmer
des alten Deutschland in ein neues Werk zusammenzufügen.
Langsam, wie zögernd liefen die Beitrittserklärungen der einzelnen deutschen
Staaten zu dem Interim ein. Die Oestreicher Freih. v. Kübeck und v. Schönhals,
die Preußen v. Nadowitz und Böttcher find die Commissarien bei den bevorstehen¬
den Conferenzen zwischen der preußischen Union und dem Kaiserstaat. — Die
Presse, zumal in Süddeutschland, steht das Interim mit Mißtrauen, ja mit Abnei¬
gung herausziehn. Das ist Unrecht und Kurzsichtigkeit. Die Verwirrung und
Rathlosigkeit in den bisherigen allgemein deutschen Angelegenheiten ist so uner¬
träglich geworden, daß eine jede Verständigung darüber zwischen den Parteien
höchst willkommen sein muß. Während ein possenhaftes Reichsministerium den
Befehl gibt, die Gefion vor Preußen zu schützen, und die Execution im Bentink'-
schen Prozeß an Oldenburg dekretirt, liegen die Befestigungsarbeiten an den alten
Bnndesfestnngen darnieder, schaukelt die deutsche Flotte ohne anerkannte Flagge
und legale Eigenthümer zerstreut in deutscheu und fremden Häfen, sind die realen
Forderungen der einzelnen Staaten an einander in den ärgsten Widerspruch gekom¬
men. Hier thut vor Allem eine Entscheidung Noth. Nur wenn Preußen und
Oestreich sich verständigen, kann diese herbeigeführt werden. Was sonst noch Gu¬
tes aus dem Interim kommen kann, läßt sich jetzt nur muthmaßen; daß es aber
zum Nutzen für Deutschland gereichen wird, darauf mag man sich ruhig verlassen,
freilich aus einem schlechten Grund, denn cousnser und kläglicher als es jetzt ist,
kann es kaum werden. —
In den Sitzungen des Verwaltungsraths sind in der letzten Zeit die Wahl-
verordnnngcn zum Reichstag für die einzelnen Staaten geprüft worden, Erfurt ist
als Sitz des nächsten Reichstages und der 30. Januar als Termin der Wahl defi¬
nitiv festgestellt. Wir sehn jetzt Land und wollen uns darüber freuen. Noch höher
fast als die Sicherheit, welche die Volksvertretung der neuen Union gewonnen
hat, schlagen wir die Sprache an, in welcher Preußen in der Sitzung des Ver-
waltungsraths vom 17. November den ermüdenden Notenwechsel mit Hannover
und Sachsen abschließt. Nicht ohne beißende Ironie, ja mit einem gewissen Hu¬
mor ist diese Abfertigung geschrieben. Preußen verkennt die Gefahren, welche auf
dem eingeschlagenen Wege liegen, durchaus nicht, ist aber entschlossen, dieselben
unter allen Umständen zu bestehen. Hannover hatte sich Preußen gegenüber wie
ein alter respektabler Reactionär mit ziemlichem Bäuchlein, kurzem Gesichtskreise
und mürrischem Gemüth ausgesprochen, und hatte ihm wie mit heiserer Stimme
zugeflüstert: hüte Du Dich selber, Preußen, alter Geschäftsfreund, die kleinen
Staaten stecken voller Demokraten, Du wirst Dich selbst ruiniren, wenn Du mit
ihnen gemeinsames Spiel machst. Darauf antwortet Preußen: Dank für den gute»
Rath, Preußen schlägt die Gefahr nicht so hoch an als Hamiover und würde nie
in der Gefahr einen Grund finden, sein den Bundesgenossen und der Nation ge¬
gebenes Wort zu brechen. Glücklicherweise aber steht es nicht so schlimm. Pre»-
ßer hat seine Gefahren gegen den Vortheil für Deutschland abgewogen und dann
mit freudigem Entschluß gewählt, was es für Recht hielt, durch Euer Thun ist
es nicht überrascht worden; übrigens sind auch die Demokraten keine Freunde der
Union und grade Ihr seid im Bunde mit den Demokraten bemüht, die Union zu
verderben. Diese Antwort ist so deutsch und entschieden, daß wir schon durch sie
die Union für gesichert halten. Wenn Preußen ernsthaft will und fest für die
Union steht, so ist sie und die Zukunft Deutschlands gerettet. Nur eine be¬
wußte Kraft, uur ein männlicher Wille in dem schwachen Treiben dieser Jahre!
Die Lage aller deutschen Staaten, welche gegen die Union aufgestaucht ha¬
ben, ist in der That eine trostlose, das einzige Hannover ausgenommen, dessen
Finanzen noch geordnet und dessen Politik durch das Uebergewicht des großen
aristokratischen Grundbesitzes uoch mit einigem Recht den ultracouservativen An¬
strich hat. Aber weder Sachsen noch Baiern, noch Würtemberg noch der Kaiser-
stnat, sind im Staude sich auf die Länge einem Bundesstaat, welcher neben Oestreich
aufblühe, zu widersetzen. Sachsen würde in Kurzem durch seine Interessen und die
eigene Schwäche in den Bundesstaat gedrängt werden, und wenn nicht eher,
sicher um das Jahr 54, wo die Verträge des Zollvereins zu Ende gehen; der
Staat Würtemberg ist in innerer Auflösung begriffe», welche Römers Popula¬
rität aufhalten konnte, die aber unter dem jetzigen Ministerium offen zu Tage
liegt. Kleinliche Zänkereien, eine grollende Unzufriedenheit mit jeder Regierung
und die Finanznoth müssen den schwäbischen Stamm zu einer Hilflosigkeit brin¬
gen, welche alle Vorurtheile der Regierung und des Volkes gebieterisch beenden
wird; Baiern hat Uvah die Wahl zwischen dem Anschluß an Oestreich oder der
Union, es wird sich im letzten Augenblick uicht verbergen können, daß der An¬
schluß an einen einigen und doch kranken Staatskörper, wie Oestreich, mit sehr
scharf ausgeprägten egoistischen Interessen, eine viel schlimmere Vernichtung des
bairischen Lebens ist, als der Eintritt in eine Föderation, einen vielgegliederten
Organismus, von welchem Baiern ein respectabler und einflußreicher Theil wer¬
ben kann. Wählt aber Baiern doch den Anschluß an Oestreich, so tritt eine
Zcrsetznlig des protestantischen und katholischen Theils ein und die Demokratie
des fränkischen und schwäbischen Antheils und der Pfalz wird ihre traurige
Aufgabe erfüllen, den Staat zu vernichten, ja vielleicht auch Oestreich „anzustecken."
Der Kaiserstaat selbst aber, welcher uoch vor kurzem in der öffentlichen Meinung
für ein sinkendes Wrack galt, und jetzt auf einmal, durch wenige ministerielle
Verfügungen sür cousolidirt und hoffnungsreich gilt, schwebt in der That noch
immer c»n Rande des Abgrundes. Man muß so kopflos sein, wie ein Theil der
östreichischen Patrioten, oder so sehr Gefühlsmensch, wie die meisten Großdeutschen,
um das zu verkennen. Wenn der Finanzminister Kraus die Steuer für Kolonial-
nnd Rübenzucker denen des Zollvereins gleichmacht, wenn der Handelsminister
Brück das seltsame und in seinem Detail unausführbare Ideal einer Zollverbin-
dung zwischen Oestreich und Deutschland ausarbeitet, wenn der Justizminister Bach
eine Masse von organisirenden Bestimmungen in die Provinzen des Kaiserstaates
schlendert, welche entweder von den regierenden Generälen -rei actii, gelegt, oder
durch die Widersetzlichkeit einzelner Korporationen beseitigt werden, so ist dadurch
für Oestreich noch gar nichts gewonnen. Die neue Anleihe von beiläufig 70 Mil¬
lionen hat wegen sehr geringer Betheiligung deS Auslandes auch sehr geringen
Erfolg gehabt, alle andern Versuche, in die leeren Kassen Geld zu führen, scheitern
ebenfalls. Die Einkommensteuer z. B. ist eine so demokratische Maßregel, daß
kein Torymiuisterium im Stande ist sie durchzusetzen, auch würde ihr Resultat ein
sehr ungenügendes sein, und die ganze verzweifelte Lage des Kaiserstaats läßt sich
in die. Worte zusammenfassen, daß die Erhaltung seiner Existenz mehr Geld kostet,
als die Regierung aus der productiven Kraft des Staates herausziehen kann. Und
diese Lage ist keine vorübergehende, im Gegentheil, eS ist gar keine Veränderung der¬
selben abzusehn, und sie ist so offenkundig, daß alle Finanzknnste dagegen nichts
mehr helfen. Dazu kommt, daß die Zerrüttung in der Verwaltung eine trostlose
geworden ist, die Generäle ernennen Ministerialsccretäre und die Adjutanten des
Kaisers erlassen administrative Verordnungen; ein unseliges Ministerium hat wenig
andere Aufgaben als Geld zu schaffen und den trügerischen Schein eines schlechten
constitutionellen Lebens zu rette». Unter solchen Umständen ist weder eine staatliche,
noch eine nationale, noch überhaupt irgend eine Politik dem Ausland gegenüber mög¬
lich. Wenn die östreichische Regierung gegen die deutschen Eiuignngsvcrsuche dem-
ungeachtet bis jetzt mit Erfolg operir't hat, so ist dieser Erfolg einerseits aus der
Schwäche der kleinen deutschen Regierungen und Stämme zu erkläre», andererseits
aber aus der günstigeren Stellung, welche Oestreich im Vergleich zur deutschen
Union einnimmt. Oestreich, jetzt factisch ein absoluter Staat, hat Dcutscklaud
gegenüber nur abzuwehren und zu hindern, nicht nen zu schassen, dazu genügen
diplomatische Kunstgriffe und Gewandtheit der Regierung, auch wo sie ohne festen
Willen und Kraft ist. Diese Einwirkungen verlieren ihre Macht, sobald ihnen
gegenüber etwas wirklich geschaffen wird, was dem Bedürfniß der Nation genügt
und die Fähigkeit zeigt zu leben.
Wir haben jetzt keine andere Zukunft, keine Hoffnung für Deutschland, als die
Union, den nächsten Reichstag und eine Verfassung, daran fest zu halte» soll jetzt
unsere Pflicht sein und unser'Stolz.
Großes Diner ans Gold wurde heute servirt auf dem Prager Schloß, denn gestern
kam Kaiser Franz Joseph in die alte Königsstadt, die ihn seit sechs Wochen erwartete.
Endlich brennen all die Lampions an den Thürmen, Kirchen und Pallästen, sie
trennen still und sinnig vor sich hin, nur der eilte W.rsscrthnrin der Altstadt ragt
schwarz und unbedacht in die dunkle Nacht hinauf und überläßt es seinen beleuch¬
teten Brüdern mit Lichtern und Lampen zu prangen, er selber hat im Jahre 1848
ausgedient, als ihn der Hcldemuarschall durch seine Kanoniere in Brand stecken ließ,
damit die Leuchte weit in's Land die Kunde bringe, daß das alte Prag wieder einmal
besiegt worden.
Jener traurige Brand war das erste Feuerzeichen der beginnenden Reaction, sie
gelang damals noch nicht vollständig, denn die Schüsse trafen noch nicht mitten in's
Herz der Freiheit, der October sollte vollenden, was der Juni begonnen. Das Pra¬
ger Schloß blieb seit jenen Tagen des Juni der Heerd reaktionärer Umtriebe, dort
lauschten Schakal und Leu, um sich im geeigneten Momente aus das Volk zu stürzen,
dort wurden bei militärischen Banketten die Soldatcngemnther erhitzt und erregt, und
heute ist großes Diner dort oben, mit Gold wird servirt, der alte Kaiser Ferdinand,
der uns so freundlich emanzipirte speist mit, und die Kanonen stehen auf den neuen
gegen die Stadt gebauten Werken und grinsen herab aus die belagerte und festlich be¬
leuchtete Stadt. Trauriger Contrast! — Das Prager Schloß ist bei der Bevölkerung
in traditionell üblem Geruch seit 1620, jetzt haben sie es vollends zur Citadelle ge¬
macht, zum Zwiuguri von Böhmen. Der Landtagssaal, den mau schon im vorigen
Jahre festlich geschmückt, zum Empfange der schon gewählten Deputirten, steht noch
immer öde und verwaist, aber die neuen Blockhäuser, die festgemauerten Baracken sind
voll Soldaten, die man von Süd und Ost hierher berief, damit sie die friedliche Stadt
im Zaume halten und ihr die Cholerapest von Neuem bringen, welche seit dem Einzug
der bewaffneten Gäste arg zu Hansen beginnt.
Alles war gethan von oben herab, um den Empfang des Kaisers so schlich als
möglich zu machen, die Generalität, die Geistlichkeit, die Bcamtschaft, die Nationalgarde
war nach dem Bahnhofe consignirt, den Kaiser dort zu erwarten, man war sogar un¬
geschickt genug, den neunzehnjährigen Kaiser von zwölf Jungfrauen gleichen Alters
bewillkommen zu lassen und daher zu mancher unzeitigen Glosse Veranlassung zu geben.
Man hat alles gethan was man konnte, nur nicht das Rechte, das Wahre, um den
Volksenthusiaömus anzufachen, darum machte sich der Mangel eben dieses belebenden
Factors überall fühlbar, und charakteristisch ist es, daß der den Wagen umgebende
Schwarm von Junge» und Alten nur Vivat kreischte, während der dem eigentlichen
Volke eigenthümliche Slavaruf nirgends hörbar ward. Es gibt Dinge, die sich durch
nichts, am wenigsten aber durch einen ungerechten Belagerungszustand erzwingen lassen,
zu diesen Dingen zählt insbesondere der einmüthige enthusiastische Bolkszuruf.
Es trifft eigenthümlich zusammen, daß Prag nun zum zweiten Male bei dem fest¬
lichen Empfange seines Kaisers von der Cholera heimgesucht ist.
Im Jahre 1VV als Kaiser Ferdinand zur Krönung einzog, wüthete das Uebel
grimmig und auch diesmal nahm es während der Festvorbereitungen neuerlichen Auf¬
schwung, doch trotz Cholera, trotz Elend und Noth, trotz der erhöhten Steuern wäre
es ein Leichtes gewesen, die Bevölkerung zum Jubel zu elektrisiren, hätte man so klug
sein wollen den Belagerungszustand aufzuheben, die verbriefte Freiheit zur Wahrheit
zu machen, die noch immer im Kreisen befindliche Landesordnung zu publiciren, wie
doch durch offizielle Blätter für das laufende Jahr 1K49 fest zugesagt worden; von
all dem aber geschah nichts, dafür aber ist heute großes Diner aus Gold servirt, und
die Volksphantasie muß sich das ausmalen, wie trefflich die höchsten Herrschaften, die
Minister, der hohe Adel und die Generalität sich das Diner munden lassen.
Man war gestern sehr gespannt auf die Bcwillkommnngsrede, welche der geist¬
reiche Bürgermeister Prags im Bahnhofe halten würde, die Rede war früher der Mini-
fterialcensur vorgelegt worden, woher sie aber nicht wieder zurückkam, so daß der Bür¬
germeister seine Freudigkeit blos mimisch plastisch ausdrücken durste. Die Gründe, welche das
Ministerium bestimmt haben mochten, jener Rede das Imprimatur zu verweigern, sind
nicht bekannt, übermäßiger Radikalismus hat der Rede das Damnatur schwerlich zugezogen-
Eine schöne Jungfrau sprach den ebenfalls censurirten Willkommen:
„Ein Jünglingkaiser herrschet über uns und bringt uns den langersehnten Frieden,
darum hat Prags Jugend sich in das Gewand der Unschuld gekleidet, den kaiserlichen
Jüngling zu empfangen, die Blumen, die uns zieren, bedeuten unsern Wunsch, Du
mögest stets auf Blumen wandeln."
Ein erhabener Passus der Rede war übrigens der Censur erlegen, er soll gelau¬
tet haben: Ein Jüngling bist Du an Jahren, doch ein Greis an Erfahrung!! — Es
gibt doch in der That Momente, wo auch die Censur was Gutes an sich hat. Bür¬
germinister Alexander Bach begleitet den Kaiser und soll heute die Beamtschast durch
seine geistreiche Weise in Erstaunen gesetzt haben, zuweilen ist ein Bürger doch gut
zu brauchen, wenn dem hohen Adel der Geist ausgeht. Die Bürgerschaft Prags ent¬
brennt seit heute in frischem Ingrimm gegen ihren Herrn Bürgermeister, welcher den
gesammten Stadtrath auf dem Rathhause gelassen »ut sich angemaßt haben soll, mit
der übrigen Beamtschaft dem Kaiser die Aufwartung zu machen, sonach die Repräsen¬
tation der Stadt in seiner schätzbaren Person allein zu concentriren. Der Mann ent¬
wickelt herrliche Anlagen, wir bewundern seine Vielseitigkeit, die ihn gleich den paten-
tirter Winterröcken auszeichnet, welche so künstlich genäht sind, daß man sie heute
auf der grünen, morgen anf der schwarzen Seite tragen kann. Wir gratuliren der Ge¬
Prag ist, wie bekannt, noch in diesem Augenblicke mit jenem Eisemnieder geschnürt,
das man Belagerungszustand nennt. Indessen hat unser Militärgouvcrneur, in Wahr¬
heit gesagt, ein viel leidlicheres und unsern Ausnahmezustand mildernderes Naturell, als
andere seiner „begnadigenden" Herren College» in Arad oder Pesth. Graf Khevcu-
hüller, k. k. Feldzeugmeister, Kämmerer, Thercsieuritter des Malteserordens :e. ?e.,
ist ein gutmüthiger, alter Herr, der die gewöhnliche Carriere unserer hohen adeligen
Militärs vom „braven" Kadetten bis zum „tapfern" General durchgemacht hat, wenig
mit Philosophen, viel mit Pfaffen umging und die schwache Seite haben soll, sich gerne
„Hochwürden" nennen zu hören. Also Se. „Hochwürden" benimmt sich als bevoll¬
mächtigter und regierender General so artig und human gegen uns belagerten Plebs,
daß wir ihm dafür unsere plebejische Anerkennung nicht vorenthalten können. So z. B.
kann ich in Prag diesen Aussatz noch einmal zu Gesichte bekommen, falls er in den
„Grenzboten" abgedruckt wird; in Wien hingegen könnte ich es nicht hoffen. Zwar
kommen anch bei dein hiesigen Kriegsgerichte Verurteilungen zu Stockhaus und Festung
und Eisen vor, doch diese haben eine leichtere, mehr sporadische Natur, von Blei,
Pulver und Stockprügclu haben wir doch noch nichts erfahren. Es läßt sich trotzdem
leicht errathen, daß unsere Zeitungen sich erst schüchtern und züchtig bei den Schildcr-
hänSchen Raths erholen, bevor sie ein oppositionelles Ach! auszustoßen wagen, und wo
es ja einmal entschlüpft, wird dem sündigen Redakteur den Tag darauf vom wohlwol¬
lenden General eine höfliche Lection gegeben und mit dem Theresianus und allen er¬
baulichen Kriegsartikeln der alten Zeit gedroht. Auf diese Weise wird man gut östrei¬
chisch und die öffentliche Stimme loyal. Nach dieser kurzen Episode gehen wir zu un¬
sern czechischen Journalen über. — Ihre Seufzer sind die leisen Klänge eines,
tiefen innern Grolles, der die weitern Erörterungen seiner Unzufriedenheit auf bessere
Zeiten verschiebt. Opposition muß gemacht werden, daß ist einmal Bedürfniß; und die
Nationalität muß gefeiert werden, das ist Pflicht, und beides ist im Belagerungszustände
eine sehr beschwerliche Ausgabe, und nicht selten mit Gefahr verbunden. Es gehört
daher eine besondere Gewandtheit dazu, sich in die Verhältnisse gehörig einzusinken.
Daher haben die czechisch g e sin n ten Zeitungen Heuer schon so manchen Strauß mit¬
gemacht und manche von ihnen eine kürzere oder längere Suspension oder die Verhaf¬
tung ihres „Verantwortlicher" erleben müssen. Das Hauptorgan der czechischen Natio-
nalpartei sind die „Narodni-nowiny. Wahrung und Beförderung des slavischen
Elements in Böhmen und Föderalismus im slavischen Sinne des Wortes waren das
ursprüngliche Programm dieses Blattes, welches aber nnn seinen Ton bedeutend herab¬
gestimmt hat. Sein Redakteur ist der bekannte Deutschen- und Magyarensrcsser Carl
Havliczek mit sibirischem Antlitze und rundem Slavcnhutc, mit dem vaterländischen
Schnürrock und den markirten Zügen, über dessen Lippen kein deutsches Wort sich wagt,
und dessen Devise: „Lieber die russische Knute, als die deutsche Freiheit." Sollst sie
haben, mein Sohn! sollst sie haben, die Kunde des weißen Czars, des gottorp'sehen
Beherrschers deiner liebenswürdigen Namensbruder mit den langen Mänteln und der
zurückgebliebenen Cultur, und sollst auch nicht haben die deutsche Freiheit, die michcl-
bcglückcnde, die du nicht willst und wir nicht haben. — Doch trotzdem ist Havliczek,
man kann es nicht leugnen, ein Talent mit konsequenter politischer Gesinnung; und
ohne diesen enormen, unverbesserlichen nationalen Fanatismus würden wir ihn zu den
respektabelsten Kapazitäten unsers Landes zählen können. Havliczek ist zwar entschieden
liberal, aber mir so weit dieser Liberalismus mit seiner Rationalitätsspielerei nicht in
Kollision geräth. Im entgegengesetzte» Falle wird er reaktionär und weiß selbst
Lächerlichkeiten nicht zu vermeiden. Ersteres haben wir während seiner eben so unbe¬
deutenden als unmanierlichen Wirksamkeit im constituirenden Reichstage — als Mitglied
der Rechten — an ihm gesehen, vom Lächerlichen kaun er oft jetzt noch sich nicht tren¬
nen. Die kleinlichsten, geringfügigsten Dinge versieht er mit der rührendsten kindische¬
sten Vorliebe. Wenn auf einer Gasscntafel der deutsche Name über dem czechischen
oder rechts davon stände, oder jener größer als dieser erschiene, klagt er gewiß über
Verletzung der nationalen Gleichberechtigung, und fordert er im Namen des Gesetzes
kategorisch eine neue Tafelordnung. Ein Hoch! neutralisirt er regelmäßig durch ein
Ä>rviU ein Halt! durch ein Nwj!, vom Gubernium wollte er gerne, daß es einen
halben Tag deutsch und wenigstens einen halben böhmisch sei. Wie er sich diese
Gleichheit eintheilen wollte, lassen wir dahin gestellt, aber seine Gleichberechtigung geht
andrerseits anch so weit, daß er vor nicht langer Zeit der deutschen Bevölkerung einige
kleine Klosterkirchen zum Gottesdienste anwies,, die selbstständigen Kirchen hingegen ihr
sörmlich streitig machen und verbieten wollte. — Havliczek hatte Heuer das Mißgeschick,
eingesperrt, und sein Blatt, verboten zu werden. Er begab sich einmal nach Wien, um
die Erlaubniß zum Wiedererscheinen der N. N. vom Ministerium zu erwirken, die man
ihm aber erst nach Ausstellung eines Reverses, nicht gegen die Regierung zu schreiben,
geben wollte. Da er den Belagerungszustand als bindendsten Revers in dieser Bezie¬
hung nachwies, wurde die Suspension des Blattes wieder aufgehoben. —
In deutscher Sprache erscheinend, aber an Gesinnung nicht weniger czechisch
als die N. N. sind die „Slavischen Ccntralblättcr," redigirt von Ur-. Jordan.
Corrnmpirter Styl, große Leidenschaftlichkeit und Partcisucht, unermüdliche Polemifi-
nmgsluft gegen Alles, was andere als slavische Gedanken hegt, dabei ein schwer zu
verhüllendes Bestreben, die slavisircnden Foderationsidcen mit dem Mantel der stark-
östreichischen Loyalität zu bedecken, sind die Eigenschaften dieses einst von der czcchischen
Partei mit großem Aufwand gegründeten und unterstützten, später aber zur Unbedeu¬
tendheit herabgesunkenen Organs. Mit seiner Bedeutung hält sein Erscheinen gleichen
Schritt. In neuster Zeit haben sich die Ecntralblätter dnrch ihre» offenen Brief an
Schusclka'S „Deutsch oder Russisch" einigermaßen bemerkbar gemacht. Sie finden in
diesem Erzeugniß der „Ecntralblätter" die Eigenschaften des Blattes ausgeprägt, einen
gehässigen Ton und eine Kritik, die mehr zu höhnen und zu zanke», als — zu be¬
weisen versteht. „Nicht Deutsch! Nicht Russisch! Nur Ocstreichisch!" ruft Jordan in
schwarzgelben Tone Herrn Schusclka entgegen, daß man meinen sollte, es wäre ihm
wirklich Ernst damit. Eitel Phrase; — Jordan hätte „Nur slavisch" gerufen,
wenn ihm nicht die Kanonen einen andern Titel auferlegt hätten. Viele und heftige
Ausfälle gegen Schuselka, gegen Frankfurt und Deutschland, gegen einen Anschluß an
dasselbe, gegen die Linke im Reichstage, aber wieder warme Lobeserhebungen für Jel-
lachich, für die ezcchischc Loyalität, für das slavische, einige, große, starke Oestreich
und für die Ehrlichkeit und Weisheit der ezechischcn Politik.
Ich verzweifle völlig an der Verbesserlichkeit dieser nationalen Zänker. Sie mögen
noch so viele praktische Widerlegungen ihrer Theorien erhalten, sie bleiben die Alten.
Auf den Bahnhöfen Norddeutschlands sah man unter den flüchtige» Ungarn hier
und da eine Frau in Amazoncntracht, welcher man anzusehen glaubte, daß sie mit ge¬
fochten und für Ungarn geblutet hatte. Weit häufiger als im Kriege von >813 waren
unter den enthusiastische» Magyaren weibliche Helden, wir stellen anheim, ob man dies
für einen Vorzug oder eine Schwäche des Kampfes halten mag. Das kvnstit. Blatt
aus Böhmen theilt die kriegerische Laufbahn einer dieser Heldinnen unter dem Titel
„der Jäger Karl" in Ur. 280 mit, welche wir folgen lassen:
Wenn bei dem Durchmärsche eines kaiserlichen CurassierrcgimcnteS zwischen
den Bagagewagen und der Arrivregarde eine Marketenderin mit gelbem Strohhut
und schwarzen Bändern zu Pferd einherritt, so waren Aller Augen auf sie ge¬
richtet und sie Gegenstand vielfacher Bcmerkunge»; bei den Insurgenten gab's außer
der Unzahl Marketenderinnen, Krankcnwärterinne», Concubinen :c. anch mehrere Frauen¬
zimmer, welche in Reih und Glied als Krieger dienten, und zwar bei der Infanterie,
Kavallerie und Artillerie. Eine solche war die Wiener Barrikadenhcldin Caroline,
welche nach der Besiegung der Wiener Octvbcrrcvolutiou uach Ungarn flüchtete und im
November 1848 zu Pesth in ungarische Dienste tretend, in das zu Preßburg errichtete
Tyroler Scharsschützcnbataillon uuter Kommando des im Jänner zu Pesth durch Pul¬
ver und Blei Hingerichteten Majors Soll eingereiht wurde. Echo» bei der Abbren-
rmng der Neudörfer Brücke an der ungarisch-östreichischen Grenze oberhalb Preßburgs
am 26. November 1848 zeichnete sich der „Jäger Karl" — wie sie sowohl im Dienste
als anch im gesellschaflichcn Zusammenleben immer genannt wurde, durch den kühnen
Entschluß aus, in der Morgendämmerung mit einem Pechkranz in Händen neben der
am diesseitigen Brückenköpfe stehenden Schildwache vvrbcizuschlcichcn, und in der Mitte
der Brücke angelangt, dieselbe in Flammen z» setzen, worauf die gänzliche Abbrennung
derselbe» mit Erfolg vorgenommen werden konnte. Zum Untcrjciger avcmcirt'lieferte
Jäger Karl in der für die Ungarn so schrcckensreichcn Wiutschachter Affaire unter Gör-
gcy im Feder abermals rühmliche Tapfcrkeitsbewcise, und Görgey selbst ernannte den
Untcrjäger Karl zum Oberjäger. Am Tage der denkwürdigen Kapoliicier Schlacht rückte
mit dem Jägerbataillon auch der Oberjäger Karl in die Plänklerkette vor, und bald
darauf wu.de das ganze Jägerbataillon zum Sturme gegen einen durch die k. k. Trup¬
pen mit großer Energie Vertheidigten Maierhos commandirt. Ermüdet durch die Stra¬
pazen des schon bestandenen heißen Morgens konnte der Oberjäger Karl seinen Kame¬
raden im raschen Sturmschritt nicht mehr folgen, und blieb einige Tausend Schritt zu¬
rück, als im selben Augenblick tais. Kürassiere von der einen Seite herangesprengt
kamen. Der ermattete Jäger verlor auch diesmal seine schon öfters erprobte Geistes¬
gegenwart nicht, und bestand siegreich die verhängnisvolle Gefahr. Seine weisigrün-
rvthcu Zedern auf dem Jägcrhute flatterten hoch in die Luft, sein glänzendes Hau-
bayouuet schimmerte in den Sonnenstrahlen, und seine doppelläufige Büchse fehlte nicht
das Ziel; so kam es, daß nach hartnäckigem Kampfe zwei Reiter todt am Schlacht¬
felds blieben, der dritte aber in Folge herbeigeeilten Snccurscs für deu Jäger sich zu¬
rückzog. Die wundervolle Rettung des Obcrjägers Karl verbreitete sich mit Blitzes¬
schnelle in der Jnsnrgcntenarmee, und zwei Tage später stand sein Raine in den Aus-
zcichnungslistcn des Gar. o» vixit, worauf derselbe zum Lieutenant ernannt, längere
Zeit im Hauptquartier zur Herstellung seiner Gesundheit, und zum Zeitvertreib für die
Oberosfizicrc verblieb, endlich aus Liebe zu einem hübschen 23jährigen Husarenritt-
meister P—y sich als Lieutenant zu dessen Escadron eintragen ließ, und dort bis zum
Schluße des Krieges verbleibend, mit eben benanntem Rittmeister in bester Freundschaft
und Harmonie alle Beschwerlichkeiten des Krieges ertrug. Wohin diese heroische, in
dem Jusurgcutenlager jedoch nichts weniger als seltene Amazone nach der Waffenstreckung
Görgch's bei Vit-igos gerieth, ob sie vor ein Kriegsgericht gestellt oder als Gemeiner
asseutirt wurde? darüber schweigt die Chronik. — Wie es bei dergleichen Heldinnen so
oft der Fall ist, daß hinsichtlich ihrer Herkunft oft widersprechende und dubiöse Gerüchte
im Umlauf sind, so sei noch erwähnt, daß sich die Barrikadenheldin Karoline, später
der Jäger Karl für eine geborne Agramerin ausgab.
Wiedergeburt, oder die Lösung der Unsterblichkeitssrage auf em¬
pirischem Wege von M. Droßbach, Olmütz, Eduard Hölzel. — Eine kurze,
aber erstaunlich tiefsinnige Brochüre: Mit der gewöhnlichen Unsterblichkeit ist es nichts,
aber da jeder lebende Organismus nur eine Combination von „Atomen" ist, so müs¬
sen, wenn alle mögliche» Combinationen der „Atome" erschöpft sind, sich endlich nach
Jahrtausenden dieselben Atome wieder freundlich zusammenfinden, welche jetzt unsern
Organismus bilden; dann leben wir wieder aus, haben natürlich Erinnerung, rauchen
wahrscheinlich wieder dieselbe Sorte Cigarren (denn warum sollte Wittwen Ca-
bannas in der Havanna!) nicht auch wieder ausgelebt sei») und so geht es in vorigem
Kreislauf fort i» in'toi'imm. — Wir beeilen uns das Buch anzuzeigen, weil die als
ehrenwerth bekannte Verlagshandlung uns benachrichtigt hat, daß die Summe von 40
Dukaten bei ihr deponirt sei als Prämie für die beste Abhandlung, welche die Lehrsätze
der Brochüre weiter ausführt und durch fernere Beweise stützt. — Die Sache ist ernst
gemeint, wir haben das Detai-l dieser aufgeschriebene» Concurrenz unter die grünen Annoncen
der nächsten Nummern verweisen müssen, und empfehlen sie und die Brochüre Allen, welche
vor schwierigen Unternehmungen, denen ein schöner Lohn folgt, nicht zurückbcben.
I^Sir is tout and foul is iair.
In dem geistigen Kampfe, welcher gegenwärtig das französische Volk bewegt,
gehört Victor Hugo nicht mehr zu den Führern; seine Zeit ist vorüber. Man ehrt
in ihm noch den „großen Dichter," ungefähr wie die Klassiker aus den Zeiten
Ludwigs XIV., aber man nimmt kein lebendiges Interesse mehr an ihm. Aber
gerade weil er fertig ist, können wir in Deutschland an ihn einen Entwicklungs¬
prozeß anknüpfen, der sich mit tausend Faser» in die gegenwärtige Bewegung ver¬
schlingt. Kein Schriftsteller gibt ein so totales Bild der französischen Romantik,
weil keiner so doctrinär, so gewissenhaft in seiner Einseitigkeit war.
Bei dem schnurgeraden Wege, auf welchem sich seit Gründung der Akademie
die französische Literatur bewegte, kann man als Romantiker geradezu diejenigen
bezeichnen, welche mit Absicht und Reflexion von diesem Wege abwichen. Natürlich
hängt auch diese Abweichung mit dem Gesetz der nationalen Entwicklung zusammen,
und es ist meine Aufgabe mehr, diesen Zusammenhang nachzuweisen, als gegen
den Irrthum der Abweichung zu protestiren.
Die Romantik verließ in ihrer Vlüthenzeit, der Periode der Restauration,
nach zwei verschiedenen Richtungen hin die gerade Linie des französischen Geistes.
Die eine Richtung habe ich bei der Charakteristik Chateaubriand's *") angedeutet,
und werde sie bei Lamartine näher ausführen. Um von der zweiten, deren Träger
Victor Hugo ist, sogleich den Kern anzugeben, beginne ich mit einem einzelnen
seiner Werke, in welchem als Keim die Grundvorstellung enthalten ist, wodurch
der Dichter dem alten Frankreich gegenübertrat.
Vor grauen Jahren lebte ans der Insel Island ein wüstes Geschöpf, halb
Teufel, halb Mensch, Jngulph der Ausrotter genannt. Sein Lebenszweck war
Ausübung vou Scheußlichkeiten. Er hinterließ dieses Geschäft seinem einzigen
Sohne, den er von einer Hexe Thvarka hatte, und in ähnlichen Vermählungen
pflanzte sich das Geschlecht der Jngnlphe mehrere Jahrhunderte hindurch fort,
bis es zuletzt in unserm Han endigte. Den Namen bekam er von der eigenthüm¬
lichen Art seines Gebrülls, welches er gleich einem wilden Thiere auszustoßen
pflegte. Er wurde als Kind von mitleidigen Mönchen in einer Wildniß aufge-
funden und in ihrem Kloster erzogen. Zum Dank zündete er das Kloster an,
setzte sich auf einen Baumstamm, und schwamm auf demselben von Is¬
land nach Norwegen, wo er den angestammten Beruf mit großer Emsigkeit
ausübte. Er verschüttete die Minen von Farott, und begrub uuter dem Schutt
einige Hundert Arbeiter, brach den Felsen der über dem Thal von Golyn hing,
zur Zeit der Kirmeß ab, und vernichtete dadurch das Dorf mit seinen sämmtlichen
Einwohnern und Gästen, sprengte eine Brücke, die über einen Abgrund führte,
im Augenblick, als sie gerade sehr besucht war, feste die Kathedrale zu Dront-
heim währeud des Gottesdienstes in Brand, löschte die Lichter am Leuchtthurm
während einer stürmischen Nacht u. s. w. Schade, daß damals (im Jahr l700)
die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, sie hätten ihm die angemessenste Ge¬
legenheit zur Ausübung seines Muthwillens geboten.
Trotz seiner Unmenschlichkeit hatte Hau ein Vaterherz. Als sein einziger
Sohn ertrank, war er sehr betrübt, „daß er nicht mehr den Trost haben sollte,
zu denken, daß ein Erbe der Seele Jngnlpl/s dereinst aus seinem Schädel das
Blut der Menschen und das Wasser des Meeres trinken sollte." Das waren
nämlich die beiden einzigen Flüssigkeiten, mit denen die Race ihren Durst löschte.
Er beschloß nun, seinen Sohn zu rächen. Es hatte ihn zwar keiner ermordet,
er war vielmehr durch Zufall umgekommen, aber er hatte eine Liebschaft mit
einem Mädchen gehabt, welches ihm nach der Erzählung der Leute einen Arkebu-
fier vom Regiment Mnnkholm vorgezogen haben sollte. Welcher es war, konnte
Han nicht ausmitteln; um also sicher zu gehn, beschloß er, das ganze Regiment
zu verzehren. Die Ausführung dieses Vorhabens ist der Inhalt des Romans, mit
welchem Victor Hugo debütirte.
Unser Held erfreute sich sonderbarer Angewohnheiten. Er beschnitt nie seine
„Klauen," um besser die Menschen zerreißen zu können; wenn er Incognito auf-
trat, was nicht selten geschah, so trug er große Handschuhe vou Seehundsfett.
Daß er sich nimmer wusch, versteht sich von selbst. Als Kleidung warf er ein
blutiges Fell über die Schultern, das er irgend einer noch zuckenden Bestie ab¬
gerissen. Sein einziger Freund war ein Eisbär, den er gezähmt hatte, und auf
dem er in dringenden Fällen einen senkrechten Felsen hinabritt. Zuweilen sprach
er „mit einer Stimme, wie sie ein Löwe haben würde, wenn er spräche," zuweilen
stürzte er sich auf seine Beute „mit dem Geheul einer Hyäne, die einen Cadaver
spürt." Seine Augen leuchten in der Dunkelheit wie glühende Raketen. Zuweilen
wirst er auf die Menschen schiefe Blicke, „in denen die Wildheit des Tigers nur
durch die Bosheit des Affen gemildert wird." Wenn er ärgerlich ist, drückt ein
dumpfes Grunzen, zuweilen von heiserem Schreien unterbrochen, seine Wuth aus.
Er ist übrigeus ein kleiner Mann und hat eine ironische Ader; er liebt es, die
Leute aufzuziehn, ehe er sie frißt. Kommt er in seiue Höhle, so sieht man „eine
Bestie mit menschlichem Antlitz, die auf einer Masse vou Leichnamen sitzt, Blut
säuft, und einem Bären hin und wieder das noch zuckende Bein eines Lientnants
vom Regiment Munkholm als Futter zuwirft, dabei er ein gräßliches Lachen
ausstößt und vor Wonne heult. Einmal biß er sich mit dem großen Wolf von
Smiasen herum; seine Zähne drangen viel tiefer in das Fleisch, als die des
Thieres,, und zuletzt tödtete er es, indem er ihm die Schnanze zusammenpreßte.
Auf den ersten Liebhaber des Stücks stürzte er einmal in einem gewaltigen Satz:
„seiue Klauen bohrten sich in die Schultern des jungen Mannes ein, seiue knoti-'
geu Kniee preßten seine Hüften, während das blutige Maul Zähne zeigte, die
einen Tigerkopf hätten knacken können." Um das verhaßte Regiment aufzureiben,
lockt er es in eine Schlucht, wo es von Rebellen angegriffen wird, und beißt
ohne Unterschied des Standes und der Person nach links und rechts hin um sich.
Die Neste des Regiments vertilgt er, indem er die Kaserne anzündet, wobei er
selber mit umkommt. Dort hat er Gelegenheit, sich mit einem andern Menschen-
feind zu unterhalten, dem Grafen Schumacher, der von seinen Mitmenschen
eine schlechte Behandlung erlitten hat. Hau spricht gern vou sich, er nennt sich
öfters mit großer Selbstgefälligkeit einen Dämon, einen Teufel, und so erklärt er
deun auch seinem Collegen im Menschenhaß sehr befriedigt: „Meine Natur ist,
die Menschen zu hassen; mein Beruf, ihnen zu schaden. Ich muß auch einen
Gott haben, um ihn lästern zu können." Sehr erfreut über diese Grundsätze ruft
der Graf: „Nimm meine Hand!" — „Wozu? soll ich sie fressen?" —Der bestürzte
Menschenfeind murmelt etwas vou dem Bösen, welches ihm die Menschen zugefügt.
— „Mir haben sie nur Gutes gethan. All mein Vergnügen bin ich ihnen schuldig.
Welche Lust, wenn ihr zuckendes Fleisch nnter meinem Zahne t'uirrscht, wenn ihr
dampfendes Blut meine trockne Kehle erwärmt, wenn ihr Todesschrei sich mit dem
Knacken ihrer Glieder mischt, die ich an dein Felsen zerschmettre."
Man kann sich denken, wie ein so unmoralisches Verfahren dem Dichter Ge¬
legenheit gibt, seine bessere sittliche Ueberzeugung kund zu geben. Es wird viel
moralisirt in diesem Roman, was um so nöthiger ist, da außer Hau sich noch eine
Menge von Bösewichtern darin herumtreiben, namentlich ein kleiner Satan, Mu s-
dämon genannt, die Hexen, Scharfrichter, Leichenweiber u. s. w. gar nicht zu
rechnen. Die Scene spielt theils in Spladgest, der norwegischen Morgue, wo man
die Leichen der Ermordeten aussetzt, und wo der Wärter, der zugleich Antiquar
ist, die lustige Person machen muß, obgleich ihm das nichts hilft, denn er wird
zuletzt doch gefressen; theils in der Mordhöhle des Ungeheuers, theils in einer
andern Höhle, wo der Henker seine Werkstätte aufgeschlagen hat, theils im Ge¬
fängniß, theils im Nebel, wo man nicht die Hand vor Augen sieht. Die sämmt¬
lichen Personen benehmen sich rauher, als mau es sonst gewohnt ist, selbst
der erste Liebhaber ruft einmal: „Halten Sie das Maul!" mit einer Stimme,
vor der die Fenster erzittern. Der Eindruck wird, was bei einem französischen
Publikum noch mehr zu beachten ist, durch die unerhörten Namen verschärft, von
denen folgende: Spiagudry, Oglypiglap, Nychol Orugix, Pelnyrh, Tnllylilbet,
Cumbysulsum, uoch uicht die ärgsten sind. — Zum Schluß werden die Laster¬
haften theils wahnsinnig, theils hingerichtet; die Tugend geht gut aus. —
Wenn dieses Werk isolirt dastände, so würde uicht viel darüber zu sagen sein.
Victor Hugo war 21 Jahr alt, als er es schrieb (1823), nud in diesem Alter
hat man, um dem Publikum durch Neuheit zu imponiren, schon größeren Unsinn
zu Markte gebracht. Aber als erstes Glied einer festgeschlossenen Reibe, als erster
Ausfluß einer sehr dreisten und consequenten Doctrin verdient es Beachtung. Han von
Island ist der Typus, der sich nicht nur in Victor Hugo'S späteren Dichtungen, son¬
dern auch in vielen Schöpfungen geistesverwandter Dichter seiner Zeit reprodnzirt,
und der früher, namentlich in der englischen Poesie zwar schon vorhanden gewesen
war — ich erinnere an den Caliban, Thersites, Apcmantus, die Hexen und
Clowns in Shakespeare, an die ähnlichen Figuren in W. Scott — aber nur als
phantastisches Beiwerk, als Arabeske, die sich wie die Drachenbilder in den go¬
thischen Kirchen, des Contrastes wegen um die schön gedachte» Hauptgruppen
schlang. Victor Hugo war es vorbehalten, die Monstrosität als solche
zum eigentlichen Gegenstand der Poesie zu erheben.
Im Bug Jargal, einer schlechten Negergeschichte, auf die wir uicht weiter
zurückkommen wollen (geschrieben 1818, umgearbeitet und herausgegeben 1825),
in Han in dem Zwerge Habibrah wiedergeboren. Zwerg, Neger, mißgeformt, bos¬
haft wie ein Affe, als Hanswurst angestellt, Mörder, Priester einer menschenfres¬
serischen Religion, nud Zauberer — genug der Ingredienzien zu einem Zauber¬
kessel im Geschmack der Macbethschcn Hexen. Umgeben von den Grenelscencn, die
der blutige Negeranfstaud auf Domingo nothwendig mit sich führen mußte, und
die durch die Erfindsamkeit eines barbarischen, von Natur blutdürstigen und durch
lange Knechtschaft uoch mehr verwilderten Stammes in Martern und Todesqua¬
len der ebenso verwilderten Phantasie des Dichters hinreichende Gelegenheit ga¬
ben, das Fleisch unter den FolterwerkzengM mit allem Raffinement eines Vir¬
tuosen zucken zu lassen — denn die Seele hat keinen Antheil mehr daran, — in
der fieberhaften Hitze eines tropischen Clima's, die schon der bloßen Vegetation
phantastische Formen verleiht, mußte dieses Ungeheuer eine wahre Studie für den Dich¬
ter des Häßlichen werden, und nur die unreife Bildung desselben hat ihn verhindert, den
unvergleichlichen Stoff so auszubeuten, wie es später namentlich Eugen Sue und
Frvdvric Svuliv gethan haben. In den letzten Tagen eines zum Tod Be¬
urtheilten (1829) ist zwar der Vorwand gebraucht, ans einen bestimmten po¬
litischen Zweck, die Abschaffung der Todesstrafe, hinzuarbeiten, ungefähr wie Eugen
Sue jedesmal am Schluß eines Kapitels, in dem seine wollüstige Phantasie sich
an irgend welchen unnatürlichen Greueln geweidet hat, gleichsam zur Entschuldi¬
gung hinzusetzt, er thue es nur, um vor ähnlichen Schändlichkeiten zu warnen,
aber der Umstand, daß die Todesstrafe für den Beteiligten etwas Unangenehmes
hat, ist ohnehin bekannt genng, und würde an sich die Abschaffung derselben nicht
motiviren, und so bleibt als eigentlicher Gegenstand jenes wunderlichen Buchs,
in welchem vou einer geistigen, sittlichen, allgemein menschlichen Empfindung keine
Spur sich findet, nur die Freude eines anatomischen Virtuosen, das Fleisch unter
den Qualen der Phantasie zu grotesken Zuckungen und Verrentnnge» zu galva-
nisiren. — Das blos physische Leiden als Gegenstand der Poesie entspricht der
physischen Difformität, in so fern sie zu tragischen Verwickelungen benutzt wird. —
Im Cromwell (1827) ist der shakespearesche Clown in vier Narren gespalten,
die durch ihre Massenhaftigkeit den Grundgedanken des Dichters, der über den
Leidenschaften der Menschen schwebend, das sogenannte Große in seine endlichen
und darum verächtlichen Elemente zersetzt, der Handlung in jedem Augenblick auf¬
drängen. In Notre Dame (18!N) erreicht das physische Ungeheuer in der Per¬
son das Quasimodo seine höchste Vollendung. Zwerg, bucklig, ein Koboldgestcht,
einäugig, taub, in groteske Stellungen verliebt, nur im Geräusch der Glocken le¬
bend, dem einzigen Ton, den er vernimmt; dabei eine Riesenstärke ohne Verstand,
die also jeden Augenblick mit zweckwidriger Energie in den Lauf der Begeben¬
heiten einzugreifen bereit ist; und als Umgebung eine große Auswahl von Schur¬
ken und Verrückten, die in der verrufenen (üvur Wu^Jos, wo alle Spitzbuben
von Paris eine umgekehrte Weltordnung, eine umgekehrte Gerechtigkeit ausüben
(beiläufig eine Reminiscenz oder Travestie des humoristisch gehaltenen Rigel von
W. Scott), eigentlich noch den naivsten, und daher am wenigsten beleidigenden
Ausdruck finden. Triboulet (18!!2) ist wieder ein bucklicher Zwerg, Hofnarr
des Königs, dem er Späße vormachen muß, auch wenn ihm das Herz blutet, und
den er ans Bosheit wegen seiner unwürdigen Stellung zu allen möglichen Schänd¬
lichkeiten verleitet. Er ist in so fern ein Fortschritt gegen die früheren Unge¬
heuer, ein Fortschritt im romantischen Sinn, daß ihm neben seiner Difformität ein
menschliches Empfinden beigelegt ist, ein Empfinden, das seinem sonstigen Wesen
nicht organisch verbunden, sondern mechanisch angeleimt wird, und das uun durch
den Contrast wirken soll. Die grotesken Verzerrungen dieses mißgestalteten Ge¬
sichts sollen uns nicht belustigen, sondern uns rühren; wir sollen weinen über
Pierrots schiefes Maul und die Kreide auf seiner fratzenhaften Maske. Weiter
hinauf wird an Stelle der physischen die moralische Häßlichkeit substituirt, und
wir sollen in der Buhlen» die reine Liebe (Mar ion de L or me 182!), Angelo
l8!Zi>), in dein Scheusal aller Zeiten, Lucrezia Borgia (1883) die mütterliche
Zärtlichkeit ehren; oder wir sollen den Wahnsinn der Leidenschaft als solchen an¬
erkennen (Marie Tudor 1833). Im Ruy Blas (!8:;u) ist es die äußere Stellung,
die den Contrast hergibt; ein Lakai verliebt sich in eine Königin, und das Schick¬
sal besteht in den verschiedenen Combinationen dieses lächerlichen Verhältnisses.
Zuletzt in den Burgrav eS (l842) sind es lauter hundertjährige Greise, die sich
leidenschaftlich bewegen, und in tragische Verwickelungen gerathen sollen.
Die Fäden, welche diese Reihe mißgestalter Figuren aneinanderketten, sind
zu handgreiflich, als daß man nicht eine tiefere Absicht dahinter suchen sollte.
Zum Ueberfluß hat Victor Hugo fast jede seiner Schöpfungen mit einer Vorrede
versehen, in der er seine dichterischen Einfälle zu einer Doctrin abrundet. Am
ausführlichsten spricht sich die Vorrede zu Cromwell (1827) über diesen Geist
der Antithese aus. Den sittlichen Grundbegriff lasse ich hier bei Seite, weil ich
bei Besprechung der Dramen darauf zurückkommen muß, und halte mich hier nur
an den ästhetischen. Victor Hugo sucht den Kern der modernen, bestimmter
christlichen Kunst im Grotesken. Im Alterthum habe sich dasselbe nur schüch¬
tern an's Tageslicht gewagt, es habe stets gesucht, sich zu verstecken, weil es sich
nie auf seinem Terrain fühlte. Erst das Mittelalter habe an Stelle der etwas
banalen Hydra die eigenthümlichen, localen und im Detail ausgeführten Dra¬
chen, Zwerge, Niesen, Elfen, Gnomen, Kobolde, Feen, Hexen, Gespenster u.
s. w. gesetzt. Das Schone der Alten sei typisch, und darum etwas monoton
und langweilig gewesen. Das Christenthum habe die Poesie zur Wahrheit zurück¬
geführt, es habe den Menschen darauf aufmerksam gemacht, daß sein menschli¬
cher Begriff von Schönheit nicht ausreichen könne; daß es eine Vermessenheit
wäre von der eingeschränkten und bedingten Vernunft des Künstlers, ihren Ma߬
stab an die unendliche und unbedingte Vernunft des Schöpfers zu legen, Gott
gleichsam rectificiren zu wollen, daß die poetische Harmonie nichts weiter sei
als Unvollständigkeit; daß, was wir häßlich nennen, nur das Detail eines großen
Ganzen sei, dessen Zusammenhang uns entgehe, und das seine Ergänzung fände,
nicht in der menschlichen Vernunft, sondern in dem ttuiversnm — also wie wir
uns bestimmter ausdrücken würden, in der vernunftlosen Materie.
So roh, halbwahr und abstrakt diese Auffassung ist, wenn wir sie vom ge¬
schichtlichen oder philosophischen Standpunkt betrachten, so bezeichnend ist sie für
unsern Dichter. Was er Alterthum nennt, ist nicht das Griechische, von dem er
nichts versteht, weil er eS nie studirt hat und ans das also auch keine seiner Be¬
zeichnungen paßt, sondern die altfranzösische Klassicität. In dieser war freilich das
Schöne, das Gute, das Edle typisch, conventionell, aus fertigen Regeln ent-
nommer, und daher mit der freien Entwickelung des Geistes nicht verträglich;
der Geist mußte sich endlich empören und that eA, als die Revolution den Boden
des Glaubens, des sittlichen Lebens, der ganzen Ideenwelt aufgelockert hatte.
Aber der in den Abstraktionen des Katholicismus aufgewachsene Geist empörte sich
nicht in der Form eines subjectiven, energischen Glaubens, einer neuen, überströ¬
menden Liebe, wie es in dem protestantischen Deutschland am Ende des vorigen
Jahrhunderts geschehn war; er flehte nicht das innere, intensive Leben seinen ab¬
gelegten, verhärteten Formen entgegen, sondern die Reflexion und den Witz.
Entweder widerlegte er die Bestimmtheit des conventionellen Ideals durch eine
unbestimmte, gegenstandlose, süßlich träumerische Empfindungsweise, durch einen
überschwenglichen Spiritualismus ohne Jntensivität, durch einen Himmel ohne
Formen, wie Chateaubriand, Lamartine und ihre Schule; oder er erdrückte sie
in dem Wust des Details, der rohen, empirisch aufgenommenen Materie. Victor
Hugo's Gottesdienst ist ein chaotischer Pantheismus, indem die Masse entscheidet,
in dem der Mensch sich dem Stein, der Landschaft, der Architektur als Ara¬
beske anschmiegen muß, in dem sogar die geistige Regung, Liebe n. s. w. nur
in der animalischen Natur sich äußert, in der freilich die andere Seite, die ganz
aus Aether gewebte zarte Seele, der die Elasticität der antiken Venus und selbst
die Madonna Rafael's uoch viel zu körperlich erscheint, als einzelne Erscheinung mit
vorkommt, aber mit dem Schnppculcibe angeheftet an das Chaos der seelenlosen
Gestalten. Ein echter Katholik, läßt er den von der Natur geschiedenen Aetherstoff
neben der Ungestalt der entgöttertcn Erde bestehn, er combinirt beide mit einan¬
der auf die zweckwidrige Weise des bekannten Prinzen von Pelagonia, aber er
weiß weder die Natur zu vergeistigen, uoch dem Geist Natur zu geben. Es ist
nicht die Reaction der energischen Empfindung gegen das Gemachte der Sitte,
wie bei Goethe und seinen Zeitgenossen, sondern die Reaction der willkürlich com-
binirenden Phantasie gegen die Regel und das Gesetz.
Fassen wir, um dies deutlicher zu machen, die Figur des Jsländers uoch ein¬
mal genauer in's Auge.
Wenn wir im Leben einem menschlich aussehenden Wesen begegneten, welches,
ehe wir es uns versahen, uns im Nacken säße und uns anbisse, so würden wir
freilich in einen argen Schreck gerathen. Beim Lesen aber, wo nur außerhalb
der Schußlinie sind, können wir über diese zweckwidrigen Unternehmungen, das
Trinken von Seewasser und Menschenblut, das fortwährende Heulen, das Reiten
auf einem Eisbären u. f. w. höchstens lachen. Aber wir müssen den Humor erst
hineinlegen, denn in Victor Hugo selbst ist keine Spur davon, es ist ihm baarer
Ernst mit seinen Ungeheuern. In seinem Ouilp (Ur. Ilumnlu-Ly's clock) hat
Dickens, der in der Zeichnung häßlicher Figuren mit unserm Dichter wetteifert,
deu Hau von Island zu seinem Recht gebracht, indem er ihn humoristisch ideali-
sirte. Quilp ist auch ein boshafter, körperlich starker und gewandter Zwerg, der
die Krebse mit den Schaalen ißt, siedend heißen Rum ans einer glühenden Kasse¬
rolle trinkt, sich nie wäscht, mit Kettenhunden sich zwar nicht herumbeißt, wie
Han, aber doch ein phantastisches Vergnügen daran findet, sie durch Geheul und
Grimassen zu ärgern, aber man verzeiht ihm diese Tollheiten, weil er belustigt.
Es ist erlaubt, zu lügen, wenn man das Talent eines Münchhausen mit Vor¬
schein Humor verbindet. Unser Isländer aber hat einen tragischen Zweck, und
muß diesen verfehlen, da wir in seinem Wesen keine Seite finden, durch die er
unserm Gefühl verständlich wird. Wenn z. B. E. T. A. Hoffmann einen derar¬
tigen Menschenfresser hätte schildern wollen, so würde er zuerst leise die Saite
angeschlagen haben, die verborgen in jeder Menschenseele schlummert, die Nei¬
gung zum Wahnsinn, er würde sie immer stärker und unheimlicher rühren, während
im Uebrigen die Melodie fortgeht, bis plötzlich in den vollen Akkord die grelle,
schneidende, gräßliche Dissonanz einschlägt, die uns entsetzt, aber uns nicht abso¬
lut verkehrt vorkommt. Han dagegen macht den Eindruck, als wenn wir eine
bekannte Melodie mit obligaten Quinten begleiten.
Auch jene pathologische Geschicklichkeit ist verwerflich, denn die Nachtseite der
menschlichen Natur soll anch in der Kunst bleiben, wo sie hingehört, aber sie ver¬
fehlt ihre — schlechte — Wirkung nicht. Die Nachtstücke, die Teufelselixiere,
jene Geschichte in den Pickwickiern, wo Jemand das allmälige Herannahen des
Wahnsinns schildert, der wie ein düstrer Nachtvogel seinen Geist mit den schwar¬
zen Schwingen immer näher überschattet — man wird sie nicht ohne einen gehei¬
men Schänder, ja nicht ohne einen gewissen krankhaften Reiz verfolgen können,
so sehr man sie verwirft, denn es ist nur das ungesunde Anschwellen eines Keimes,
den jeder Mensch in sich selber findet. Die neue Romantik aber, welche jene un¬
heimlichen Gestalten lediglich aus dem Witz schöpft, versäumt diese subjective Ver¬
mittelung, und stellt sie nackt, womöglich in pragmatischer Gründlichkeit, als Zerrbilder
uns gegenüber. Seit dem Han sind eine unerhörte Menge ähnlicher Monstrositä¬
ten über die Bühne gegangen. Ich rechne W. Scott's schwarzen Zwerg ebenfalls
dahin, eine Mißgeburt, die wunderlich mit dem sonst so verständigen Wesen des
Dichters contrastirt. Aber die Katzenberger'sche Neigung zu Ungeheuern war epi¬
demisch geworden. Ein englischer Romancier, Harrison Ainsworth, hat fast nur
mit Gespenstern, Teufeln, Räubern, Mördern und dergl. zu thun, ja in einem
seiner Romane Windsor-castle, erfährt man von dem Haupthelden, dem Jäger
Herre, selbst am Schlüsse nicht, ob er ein Gespenst, ein Teufel, ein verwuuscheuer
Prinz, ein Räuber, ein Geächteter oder was sonst ist; vielleicht eine Hexenbrühe
aus allen diesen Ingredienzien, den» als gutes Gespenst verschwindet er, geht durch
die Wände, glüht u. s. w., aber baun wird er auch verwundet, schreit, klagt
und setzt den wißbegierigen Leser fortwährend durch unmotivirte Einfälle in Ver¬
legenheit. Daß die meisten Figuren in Eugen Sue, Souliv, Jules Janin und
der ganzen Schule verkappte Ungeheuer sind, ist schon bemerkt worden. Dickens
fängt in der Regel damit ein, absolut häßliche, verrenkte Charaktere zu entwerfen,
wie sämmtliche Mitspieler in den Pickwickiern, aber einmal idealisirt er sie sofort
durch eine unvergleichliche Kraft des Humors, und dann ist er zu gutmüthig, um
die Häßlichkeit auf die Läuge festzuhalten. So gewinnt Pickwick, der im Anfang
als ein reiner Narr, eine rein satyrische Abstraction entworfen ist, zuletzt soviel
Fleisch, Leben und Gemüthlichkeit, daß man ihn am Ende als eine Art Tugend-
Helden betrachten kann.
Es beginnen seit jener Zeit die Criminalgeschichten, in denen nicht mehr, wie
früher, der Verbrecher als schwarzer Schatten benutzt ist, sondern sich in den
Mittelpunkt des Gemäldes drängt. Bulwer macht in seinem Paul Clifford (1830)
einen Dieb und Straßenräuber, in seinem Eugen Aram (1831) eine» Raubmörder
zum Helden; die Ehebrecher und Duellmördcr der französischen Novelle gar nicht
anzuführen. Der Roman schlägt seinen Lieblingssitz im Lazareth, in der Folter¬
kammer, im Bordell und im Tollhaus auf, und macht die Dissonanz nicht zum
Mittel einer künstlich erweiterten Harmonie, sondern zum Selbstzweck. Gutzkow
schreibt einen Roman, (1833) der die Empfindung eines Dalai Lama secirt, wo
die Kritik freilich aufhört, weil man keinen Maßstab mehr finden kann; derselbe
macht eine unbedeutende Person die als solche scharf accentnirt wird, zum Gegen¬
stand der psychologischen Entwickelung (Seraphine). Gleichzeitig beutet Heine und
seine Schule die sogenannte Poesie des Contrastes ans, d. h. er combinirt die
sieche Seutimentalirät, die tragisch sein soll, mit dem leeren Cynismus, der be¬
stimmt ist, ihr ein komisches Relief zu geben, beides gleich werthlos und daher
auch nichtig in seinem Contrast. Man liebt es, Zwerge oder Ungeheuer als ver¬
liebt darzustellen, und durch diesen Gegensatz nicht belustigen, sondern rühre» zu
wollen. Man liebt es, einem Nero, Heliogabal, Mcssaline, nachzuempfinden,
Opiumtriuker, Spieler, hysterische Weiber, die aus Mangel geschlechtlicher Be¬
friedigung auf allerlei Tollheiten gerathen, (Judith), Knaben, die beim Anbrechen
der Pubertät in wüste Träume verfallen (Golo). Zuletzt stürzt man sich mit dem
Wahnsinn eines Vampyrs in frische Gräber, um sich an dem Leichengeruch zu
weiden.
Victor Hugo hat den Ruhm, mit eiuer gewissen Konsequenz dies Princip
znerst ausgeführt zu haben. Er hat es nicht zu den ärgsten Extremen getrieben,
weil seine Mißgeburten nicht aus einer wirklichen Wahnsinnsader, sondern aus einer
falsche» Doctrin entsprangen.
Um diese Doctrin uoch mit Einem Wort zu kritisiren: die Romantik hat
Recht gegen den Canon der pedantischen Klassicität, der die erlaubten Dissonanzen
auf ein willkürliches Maß beschränkt, der die Gegenstände der Kunst als abgeschlossen
betrachtet, und die Eigenthümlichkeit dem Maß des Hergebrachten beugt.
Aber sie hat Unrecht, die Dissonanz (die Caprice, das Häßliche, die bloße
Eigenthümlichkeit als solche) zum Zweck der Kunst zu machen. Die Aufgabe der
Kunst ist die Harmonie, und nnr derjenige Dichter hat das Recht, die Dissonanz
zu benutzen, der die Kraft besitzt, sie künstlerisch zu lösen. Wenn z. B. Sha¬
kespeare, indem er die Eifersucht Othello's schildert, einzelne Wendungen gebraucht,
die sonst Gelächter erregen würden und die dennoch in dem gewaltigen
Strom der Leidenschaft nur dazu dienen, das Entsetzen noch zu steigern, so ist
das kein Grund, daß schwache Dichter, aus deren Seele ein so unwiderstehlicher
Quell nicht hervorgeht, sich ähnliche Freiheit erlauben, denn sie bleiben im Lächer¬
lichen stecken.
Das zweite Unrecht der Romantik besteht in ihrem Materialismus. Freilich
gibt es in der bloßen Natur — die Natur als ein Ganzes betrachtet — nichts
Häßliches. Die Krankheit des Krebs, der Kretinismus, die Pest u. s. w. werden
in jedem Fall ans nothwendigen Ursachen herstammen und daher ihre Berechtigung
haben. Aber auf dem Standpunkt der Natur gibt es auch nichts Schönes; die
Schönheit wie die Häßlichkeit ist nur für den menschlichen Geist. Jene Krank¬
heiten finden ihre Ergänzung nicht in der Kunst, sondern in der Pathologie, das
bloße Fleisch, die Materie, die lediglich dem Galvanismus »ud dem chemischen
Einfluß gehorcht, überhaupt was nicht aus dem Geist entspringt, hat in
der Kunst kein Bürgerrecht.
Ich habe Victor Hugo bis jetzt lediglich als Träger eines Princips aufgefaßt;
ich gehe jetzt auf seine persönliche Stellung über.
Victor Hugo wurde geboren am 2V. Februar 1802. Sein Vater, Sigis-
mund Hugo (geb. 1774, 1' 1828), 180!Z zum Oberst ernannt, war einer der
ersten, die während der Republik freiwillig in deu Kriegsdienst traten(17i)1). Seine
Mutter, die Tochter eines Schiffsrhedcrs von Nantes, eine Vendu-erim von Ab-
stammung und Gesinnung, war in einem Alter von 1!> Jahren mit den royalisti-
schen Insurgenten im Lande umhergezogen. Victor, gleichsam im Bivouak geboren,
folgte den Riesenschritten Napoleons wie ein echtes Soldatenkind von einem Punkte
Europa's zum andern. In einem Alter von 5 Jahren war er von BesamM
nach Elba, von Elba nach Paris, von Paris nach Rom gekommen, endlich in
Neapel geblieben (1807), wo sein Varer als Gouverneur der Provinz Avellino,
die royalistischen Banden des Fra Diavolo in den Gebirgen von Calabrien ver-
folgte, und hatte seine Augen ergötzt „an dem Anblick jener dnstschwangeren Ufer,
auf denen ein ewiger Frühling weilt."
Im Jahr 180'», als sein Vater General und Graf wurde, kehrte Victor mit
seiner Mutter und zwei Brüdern, Abel (später Verfasser einer Geschichte Napo¬
leons) und Engen, nach Paris zurück. Wie bei ihm Alles mit einer gewissen
Frühreife zum Vorschein kam, so erfreute er sich schon in seinem siebenten Jahre
einer ersten Liebe, und was mehr sagen will, einer Liebe, die später zur Hochzeit
führte. Von den Spielen mit seiner kleinen Braut schlich er dann in ein verstecktes
Gartenhäuschen, und empfing von einem Geächteten aus eiuer Tacitus-Ueber¬
setzung den erstem Unterricht im Lesen. Mme. Hugo hatte nämlich dem in den
Moreau'schen Prozeß verwickelten und vou der Polizei verfolgten General La-
horie ein Asyl gegeben, und hielt ihn zwei Jahre lang in jenem Pavillon ver¬
borgen. Der General suchte sür die Langeweile seiner unfreiwilligen Abgeschieden¬
heit eine Zerstreuung, indem er sich mit der Erziehung des Knaben beschäftigte,
und den Grund zu jenem Royalismus legte, der noch verstärkt wurde, als die
Zufluchtsstätte endlich entdeckt und der General in der Ebne von Grenelle mit dem
Verschwörer Mallet erschossen wurde. '
Einige Monate nach diesem Vorfall (1811) berief General Hugo, der indeß
unter Joseph Majordomus des Palastes zu Madrid geworden war, seine Gattin
und Kinder wieder zu sich. Victor wurde im Adligen-Seminar zu Madrid unter¬
gebracht, und empfing hier die ersten Eindrücke jener vorzugsweise der spanischen
Poesie angehörigen Richtung, in welcher die Phantasie über Verstand und über
Gemüth hinausgeht. Gegen Ende 1812 kehrte Victor nach Paris zurück, wo er
wieder mit seiner Mutter ihre frühere Wohnung in dem Kloster der Fenillantincs
bezog. Dort fand ihn die erste Restauration, die er mit der royalistischen Begei¬
sterung seiner Mutter begrüßte.
Alte Zwistigkeiten zwischen dem General und seiner Gemahlin, die nun leb¬
hafter ausbrachen, führten endlich zu einer gerichtlichen Trennung. In deu hun¬
dert Tagen machte der General von seinem Rechte Gebrauch, und entzog den
jungen Victor und seinen Bruder Eugen — Abel war schou Sccvndelieutnaut —
der Mutter, um beide in das Colii-ge Louis le Grand zu bringen. Das Studium
der Mathematik, dem er sich nun wider Willen hingeben mußte, verschärfte seinen
Haß gegen das Kaiserreich, das ans der mathematisch-physikalischen Bildung deö
Zeitalters der Aufklärung basirte.
Schon damals begann seine poetische Laufbahn. Bereits in seinem vierzehnte»
Jahr hatte er ein nach allen Regeln der Aristotelischen Poetik geschriebenes Trauer¬
spiel verfaßt; es hieß Jrtamenes, spielte in Aegypten, und sollte symbolisch die
Rückkehr der Bourbons feiern. Es ist nie zur Oeffentlichkeit gekommen. Im
folgenden Jahr (1817) bewarb sich der junge Dichter, noch vou der Schulbank
aus, um den Preis, den die Akademie sür ein Gedicht über die Vortheile des
Studiums ausgesetzt hatte. Nur durch ein Mißverständniß entging ihm dieser
Preis. Zwei Jahre später (1819), nachdem er seine Studien beendet und mit
vieler Mühe von seinem Vater die Erlaubniß errungen hatte, seinem schriftstelle¬
rischen Beruf folgen zu dürfen, sandte er der Akademie der ^eux lin-inix in Tou¬
louse zwei Oden ein: „Die Jungfrauen von Lerdun" und „Die Wiederaufrichtung
der Bildsäule Heinrichs IV.;" beide wurden gekrönt. Em drittes, im folgenden
Jahr eingesandtes Gedicht: „Die Aussetzung Mose's im Nil" brachte ihm einen
neuen Preis und den Titel eines Nititrv-'es-jonx-Korimx ein. Alle drei Oden
waren vom reinsten Wasser des Royalismus. Mit der Herausgabe seiner gesam-
melten Gedichte (1821) öffnete sich ihm in der Welt eine glänzende Stellung.
Die royalistische Partei nahm ihn mit offnen Armen ans, Chateaubriand gab ihm
in einem Artikel des „Conscrvatenr" den Ehrennamen „das erhabene Kind," er
selbst begründete mit seinem Brnoer und einigen Freunden den „Conservateur
literaire," an dem er mit großem Fleiß arbeitete, und erhielt (1822) vom Hof
eine Pension.
Ich habe es hier zunächst mit der Gesinnung des Dichters zu thun, und da
muß ich gestehen, daß ich darin finde, was der Teufel „starke» Tobak" nannte,
als ihm Jopö eine Flintenkugel in die Nase schoß. „Die Geschichte," sagt Victor
Hugo in der Vorrede zu seinen Balladen (1822), „ist nur dann poetisch, wenn
man sie von der Höhe der monarchischen Idee und des religiösen Glaubens be¬
trachtet. — Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, welche den Geist der
Analyse in seinem reinsten Ausdruck darstellt, ist nicht minder feindlich gegen die
Poesie als gegen die Religion, weil beides nnr eine große Synthese ist. — Un¬
sere Revolution von Koth nud Blut hat uur Ein Denkmal hinterlassen, das blei¬
ben wird, ein Denkmal von Tinte und Papier, den Moniteur, die Geschichte ihrer
Greuelthaten. — Die neue Literatur ist zwar das Resultat der Revolution, aber
nicht ihr Ausdruck. Die Literatur und die Gesellschaft, welche aus der Revolu¬
tion hervorging, widerwärtig und ohnmächtig wie sie selber, sind todt und werde»
uicht wieder aufleben. Jetzt kennen wir mir eine von der Religion geweihte Frei¬
heit, eine vom Glauben geadelte Phantasie" (>824). — Der Herr, heißt es in
einem Gedicht über den Fall der Vendve, will zuweilen deu Triumph des Lasters;
er will in seiner Gerechtigkeit die Thräne der Unschuld; in seinem wunderbaren
Pfaden liefert er zuweilen Satan deu höllische» Freuden, Maria den heiligen
Schmerzen. Ju Prosa setzt er hinzu: Frankreich war in der Revolution größer
als Europa, denn es leistete ihm Widerstand; die Vendee aus demselben Grunde
größer als Frankreich. — Den Jungfrauen von Verdun, welche „frei vo» den
Fesseln des Jacobinismus" den Einzug der fremden Monarchen, „der Rächer des
beleidigten Königthums," mit Festlichkeiten feierten und deshalb guillotinirt wur¬
den, wird die Märtyrerkrone ans die Schläfe gedrückt. „Warum sind uicht die
Mauern über diese» Bösewichtern zusammengestürzt und haben sie in die Hölle
geschleudert!" - „Von einer ruchlosen Welt, ruft er dem Schatten Ludwigs XVIl.
zu, hat Dein Gott Dich abgerufein Flieh die wahnsinnige Erde, wo man die
Kreuze aus der Erde reißt, wo der Königsmord die Kirchhöfe schändet, wo, nach
Greueln gierig der Mord bis in die Gräber steigt, um dort nach Königen zu
suchen!" (1822). Den höchsten Grad erreicht der Servilismus bei dem Tode des
Herzogs von Berry. Nun wird gleich darauf der Herzog vou Bordeaux geboren.
„O Wonne! o Triumph! o Mysterium! geboren ist das glorreiche Kind, der En¬
gel, welchen ein zum Himmel aufsteigender Märtyrer der Erde verhieß! Der Gott,
der auch einmal Kind war, hat die Hoffnung der Heldenmutter erhört. Nun fal¬
len die Nebel der Zukunft. Heil deiner ersten Morgenröthe, o junge Lilie, du
zarte Blume, die einem Grabe entspringt! Nun fürchten wir nicht mehr das Wet¬
ter, das am Horizont grollt, denn die Schuld, die ans »nscru Häuptern lastet,
ist gesühnt durch den Unschuldigen." — Der Knabe wird getauft. — „Ein König
ist er unter den Menschenkindern, aber indem er eintritt in den heiligen Ort,
wird er, was wir sind: ein Mensch zu Gottes Füßen. Dieses Kind ist unsere
Freude, als unsern Heiland hat es Gott gesendet! Maria, die ewig Selige, die
ewig Betende, Maria mit den bescheidenen Strahlen, führt zu dieser Feierlichkeit
selber ihre himmlischen Jungfrauen in ihre» alten Tempel mit zwei Thürmen
u. s. w."-—In einem Gedicht von der Findung Mosis wird derselbe Gegenstand
zu einer irreligiösen Galanterie benutzt. Das Propheteukiud im Nil in einem Korb
von einer Jungfrau gefunden; der Heiland als Kind von einer Jungfrau in einer
Krippe gepflegt; der bourbonische Wunderkuabe von einer Hermue geboren, die we¬
nigstens Jungfrau ist — und Moses, Christus und der Herzog von Bordeaux
sind identisch. Eine Irreligiosität, die beiläufig auf eine sehr impertinente Art
in Notre-Dame wieder vorkommt, wo Victor Hugo einen Priester von einer Zi-'
geunerin, in die er verliebt ist, sagen läßt: „Eine so schöne Creatur, daß Gott
sie der Jungfrau vorgezogen und sie zu seiner Mutter gemacht haben würde, wenn
sie in der Zeit seiner Menschwerdung gelebt hätte!" — Das romantisch reflectirte
Christenthum ist freilich noch tollerer Einfälle fähig. — Das macht es aber nicht
milder gegen die Ausklärung, um deren willen in einer audern Ode das achtzehnte
Jahrhundert verflucht wird: „O Herr! fleht es, dein Arm ist erhoben, Herr, der
Verfehmte bittet um Gnade! — Nein, schweig still, verworfenes Jahrhundert!
fort mit dir! meine Hand öffnet dir den Abgrund der Hölle!" — Der Tod Na¬
poleons gibt dem Dichter nur zu Insulten Veranlassung. „Königliches Blut hat
seinen angemaßten Purpur gefärbt! im geheimen Bewußtsein seiner Schuld ließ
er sich vom Papst salben, denn er wollte sein blutiges Diadem aus den Händen
wiederempsangen, von denen Vergebung kommt!! Er lebte in der Nacht der Fre¬
vel, unkundig des Gottes, der ihn gesendet! Er starb, und die Welt athmet freu¬
diger ans." — Der Feldzug von 1823, zur Wiederherstellung des Absolutismus
in Spanien, flößt dem Dichter neue Begeisterung ein. „O wie schön ist das
Königthum, die ehrwürdige, silberhaarige Tochter grauer Jahrhunderte! Den Adler
unterwirst sie deu Schwänen, den Geier den Tauben. Auf dem Altar weiht sie
das Schwert, mit dem sie sich umgürtet. Die Strahlen der heiligen Aureole ver¬
klären die Blumen ihrer königlichen Stirnbinde. Wenn ihr starker Arm eine rebel¬
lische Horde niederwirft, erhebt sie über das Scepter das Kreuz. Ein eherner
Coloß streckt sie mit ihren jahrhuudertalteu Armen in die Wolken der Völker
einen glänzenden Leuchtthurm, und die Zukunft mit der Vergangenheit verbindend,
seht sie die Füße, an denen umsonst die Woge sich bricht, auf beide Ufer der Zeit.
— Alle Völker, welche Gott begnadigt, fliehen, wenn die Hydra der Anarchie
ihren Dreizack gegen sie richtet, an den Altar des Königthums, und erheben das
Krenz als gemeinsame Standarte. — Die stolzen Spanier liegen jetzt mit der
Stiru im Staube, und umfassen flehend die heiligen Kniee des Bourbon, welcher
den Blitzstrahl in seinen Händen schwingt!" — Zuweilen donnert er eine Bu߬
predigt gegen die Franzosen, die noch immer deu Dienst des Herrn vernachlässi¬
gen. — Das Begräbniß Ludwigs XVlll. wird zu einer neuen Philippika gegen
die Jacobiner benutzt. „Der Dämon des Königsmordcs, der, gierig nach dem
Blut der Bourbons, mit Mord ihre Wohlthaten (!) bezahlte, der die Stadt dnrch
Verbrechen entvölkert und sie mit Freveln anfüllte, möge er wissen, daß der Kö¬
nig nicht stirbt!" — Karl X. wird gekrönt; Victor Hugo wetteifert mit Lamar¬
tine, ihn zu preisen. „Der Fürst ist ans dem Throne, er ist groß und heilig;
über die wogende Menge erhebt er sich wie ein Leuchtthurm über die Fluthen des
empörten Meeres. — O Gott, erhalte uns diesen König, den das Volk anbetet!
vernichte seine Feinde! leis seiner königlichen Stirn zwei Strahlen deines Haup¬
tes, setze zwei Engel an seine Seite!" — Endlich im Jahr 1827, als Oestreich
mit Frankreich in Conflict kommt, regt sich der Franzose. „Was denkt sich dieser
Ausländer, uus zu trotzen? War nicht noch gestern Europa unser Sclave? O wir
wissen noch das Schwert zu führen! Man hat uns verstümmelt, aber unsere Lö-
wenklauen sind wieder gewachsen. Zwar haben wir nicht mehr den Adler, der in
seinem Schnabel Blitze trug, die übermüthige Stirnen treffen sollten, aber wir
haben noch die Oriflamme und die Lilie, wir haben noch den Gallischen Hahn,
der die Welt aufweckt und die Morgenröthe einer neuen Sonne von Austerlitz
ankündigt." Wenn die. Nationaleitelkeit in's Spiel kommt, ist der Parteihaß
vergessen.
Dieser überspannte Royalismus, den wir bei Lamartine noch einmal verfolgen
werden, hielt nicht Stand. An sich ist nichts dagegen zu sagen, denn jene Phra¬
sen, die das Königthum verklären sollen, zeigen dnrch ihre Hohlheit hinlänglich,
daß der junge Dichter sich zum Champion einer politischen Partei hergab, ehe er
auch nur im Geringsten über ihren Inhalt nachgedacht hatte. Freilich macht es
keinen guten Eindruck, daß er erst uach der Julirevolution zur liberalen Partei
überging, oder vielmehr übersprang, daß er, als die Gebeine Napoleons aus
Se. Helena nach Paris abgeholt werden sollten, eiligst auf den Helden Frankreichs
eine begeisterte Lobrede dichtete, und daß er die Julirevolution mit einer ebenso
ausschweifenden Begeisterung besang, als früher das .Königthum. „Unter den
schönsten Name», ruft er den Julikämpfern zu, ist der eurige der allerschönste;
«eben euch erscheint aller sonstige Ruhm als unbedeutend!" Uebrigens ist die
neue Begeisterung gerade eben so leer als die alte, und der Uebergang von der
einen Ueberzeugung zur andern höchst kavaliermäßig motivirt. „Im Allgemeinen
sind unsere Väter Bonapartisten, unsere Mütter Royalisten." Von beiden erbt
man, beides kaun aber nicht neben einander bestehn. „Meine alte royalistisch-
katholische Ueberzeugung ist seit 10 Jahren durch das Alter und die Erfahrung
Stück für Stück zerbröckelt. Wohl bleibt noch etwas davon in meiner Seele,
aber das ist nur eine religiöse und poetische Ruine. Ich wende mich noch zu¬
weilen um, sie mit Ehrfurcht zu betrachten, aber ich gehe uicht mehr hin
um zu bewi." „Die Achtung, welche mir die Vendve einflößt, ist nur noch
eine Sache der Einbildungskraft und der Tugend. Ich bin nicht mehr
dem Herzen, sondern nur noch von Seele Chouau." Damit ist uicht viel
gesagt, nicht mehr als wenn er später die Republik für die beste Staats¬
form erklärt, und in dem nächsten allgemeine» Krieg die Königreiche den
Nationen gegenüber sieht. Ein solches Schwanken von einem Extrem in's andre
muß zuletzt eine Verstimmung gegen alles politische Wesen hervorrufen, und so
meint Victor Hugo einmal mit einer Art verdrießlicher Ironie: „Alles verbraucht
sich schnell; am Ende wird auch das Volk uoch unpopulär," und gibt als letztes
Resultat seines Nachdenkens die Ueberzeugung, die politischen Fragen müßten den
socialen Platz machen. Da man mit den letzteren jeden beliebigen Begriff ver¬
binden kann, so ist damit nicht viel mehr gesagt, als daß man der Politik satt
ist. Herr Victor Hugo hat sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen, wie Lamar¬
tine und früher Robespierre, das ist das einzige, was wir von seinen neuen po¬
litischen Ueberzeugungen wissen.
Warum war die junge Romantik, die im Anfang unsers Jahrhunderts in
Deutschland, in Großbritannien und in Frankreich auftauchte, christlich-royalistisch?
Aus demselben Grunde, ans dem die heutige Romantik die Kreuze aus der Erde
reißt, und den schwarzen Brander der Revolution besteigt. Der modern christliche
Flitterstaat war ein Protest gegen die Encyklopädie, die Perrücken und die
exacten Wissenschaften. Die Phantasie fühlte sich befangen in diesem Gewebe des
Rationalismus, der seelenlos schien, weil er überall bedingt war; und das Ge¬
müth war beängstigt in der Verwirrung der Ideen, die sich einander verleugneten,
und die Kette, die sie mit dem substantiellen Bewußtsein des Volks verband,
vollständig abgebrochen hatten. Seit das System der Aufklärung in der Revolu¬
tion sich selber auf eine höchst handgreifliche Weise widerlegt hatte, mußte jeder
sich mühsam selber den Punkt suchen, von welchem sein Glauben und sein Streben
ausgehn sollte. Es war eine wunderliche Maskerade, wie auf dem Theater, in
welchem seit Talma der Wechsel des nationalen Costüms die Einheit der conventio-
nellen Tracht ersetzt hatte. Die Baya'dere» fanden ihren Altar, geheiligt durch die Er¬
innerung an die Göttin der Freiheit; und die Asceten ihre Zelle, die ein Asyl
geworden war gegen die Ströme der Revolution. Der wohlbeleibte Bourgeois aus
der Voltair'sehen Schule, der mit den Theophilanthropen des Directoriums seine
Religion aus den Grundsatz beschränkte, nichts Böses zu thun; der blasse Priester,
der mit dem Crucifix in der Hand den wilden Horden der Chouans im Kampf
vorangegangen war, der alte Schnurrbart, der an den Pyramiden gefochten, und
auf den Eisfeldern von Moskau zum Krüppel geschossen war, und der nur einen
Gott anbetete, den Gott des Kriegs, und sein Zeichen, den Adler der großen
Nation; der geächtete Jakobiner ans den Zeiten des Konvents, der mit seiner
Drehorgel von Dorf zu Dorf wanderte, und die Marseillaise spielte; Raritäten¬
krämer, die mit mittelalterlichen Heiligenbildern handelten und die heraldischen Farben
vergessener Wappen erklärten — das alles drängte sich aneinander, und der eine
fand für ven andern kein Verständniß. Was konnte dem phantasiereichen Jüng¬
ling näher liegen, als die Rückkehr zu dem, was im Sturm der Zeiten am feste¬
sten gestanden hatte, und was am rücksichtslosesten den rationellen Formen der
verhaßten, mathematisch-ökouomistischen Gesellschaft widersprach, zum Glanz der
katholischen Kirche und zur Heiligkeit des gottgesalbten Königthums? Wenn die
englischen Romantiker, wenn Edmund Burke und W. Scott den Abstractionen der
Revolntionsphilosvphie den concreten Inhalt ihres in Stände gegliederten Staats¬
lebens entgegensetzten, so war das nur ein Ausdruck des britischen Nationalge-
fühls gegen die französische Phrase; wenn in Deutschland die Schlegel, die Adam
Müller, die Haller u. s. w. auf den Katholicismus und das absolute Königthum
als auf eine sehr tiefsinnige, mystische Institution hinwiesen, zu der man flüchten
müßte vor der Flachheit der Aufklärung, so war das ein Fastnachtspiel mehr in dem
bunten Pantheon der deutscheu Romantik, die sich für die indischen Brahminen,
den transcendentalen Idealismus und den Götzendienst der Natur gerade ebenso
in Begeisterung setzte, als für die heilige Dreieinigkeit und den legitimen Kurfür¬
sten von Hessen-Kassel, denn für die protestantische Bildung war die Kirche und
der gesalbte König bei aller Anregung der Phantasie nichts weiter als ein Spiel
des Witzes. Aber in Frankreich, wo die Jesuiten ihre Seminare wieder aufrich¬
teten und der Adel in die alten Paläste einzog, war der poetische Royalismus
der Ausdruck einer siegreichen und übermüthigen Partei, einer Partei, die sich ge¬
gen den Geist des französischen Volks empörte. Es war die Poesie des alten
Feudaladels, der realistischer sein wollte als der König, d. h. der das König¬
thum nur darum stärken wollte, um es zu seinen Zwecken auszubeuten; des Adels,
der in den exclustven Cir?ein des Faubourg Se. Germain noch herrschte, und durch
die Vornehmheit seiner Memoiren die Balzac, die Dumas, die Hugo lüstern macht,
nachdem die Basis seiner Kraft, die Unabhängigkeit verloren gegangen war. Nicht
das Königthum NichelieuS, Ludwigs XIV. war es, für welches Victor Hugo
schwärmte, wie hätte er sich mit der Perrücke n»d den beschnittenen Alleen von
Versailles aussöhnen können! — sondern das Königthum der Fronde, der Larochc-
Jacqnelin, des spanische» Trappisten, das Königthum, welches sein Hoflager in
der Mitte alter Ritterburgen hielt, umgeben von funkelnden Helmen und gehar¬
nischten Rossen. Sehr deutlich kaun man in seinen Dramen die Ruy Gomez
und die andern Gestalten des feudalen Königthums erkennen, an denen sein
Herz hing.
Der romantische Nvvalismns mußte zuletzt mit dem realen Königthum in
Conflict kommen, denn er war Opposition gegen die Regel, die Schule, also
auch gegen die Etikette. Als die Thcaterccnsnr Marion de Lorme und Hernani
beschnitt, brach die Romantik mit dem Königthum, und da sie, ihrer Caldervnschcu
Weltanschauung »ach, die nur Edelleute und Volk kannte, keine Bürger, mit der
herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, in ein näheres Verhältniß nicht treten
konnte, so liebäugelte sie mit dem Socialismus, freilich nnr mit der Leichtfertig¬
keit einer Schönen, die aus Caprice sich einmal auch mit der Espece der Kutscher
zu thun macht.
Die verletzte Eitelkeit des Dichters macht übrigens erklärlich, was bei einem
bloßen Wechsel politischer Ueberzeugung befremden würde, die cynische Rücksichts¬
losigkeit, mit der sich Victor Hugo nach dem Sturz der Bourbonen über seine
alten Gönner aussprach.
Wir verlassen das politische Gebiet und wenden uns zu den litercmschcn
Reformen der neuen Schule.
Die Reform, welche Victor Hugo in der poetischen Sprache und Darstellungs-
weise unternahm, war nicht etwas unbedingt Neues. Es war die Erneuerung der
Ronsard'schen Schule, mit der mau uuter den Prosaikern der Renaissance Mon¬
taigne und Rabelais füglich zusammenstellen kann, und es war nur eine Pflicht
der Pietät, wenn einer der geistvollsten Kritiker der neuen Richtung, Se. Beroe,
in seiner Literaturgeschichte den Versuch machte, diese« durch Malherbe und Boi-
leau so heftig angefochtenen Dichter in der öffentlichen Meinung wieder herzustellen.
Jene drei Schriftsteller, die Chorführer einer werdenden Zeit, in welcher
durch die Wiederherstellung der Philologie und das im Kampf der Revolution
neu angeregte theologische Interesse eine Fülle neuer Vorstellungen aus eine noch
ganz unsichere und prineiplose Bildung einströmte, haben für den Reichthum der
Sprache und Vorstellung Alles, für den Geschmack Nichts gethan. Das bekannte
Motto des Sceptikers Montaigne: (tue «-»is-jo? kann mau eben so auf die Form
wie auf den Inhalt beziehn; wie er sich in den Wogen der von den verschieden¬
sten Seiten her einströmenden philosophischen Ideen scherzend badete, sich von
ihnen schaukeln ließ in muthwillig phantastischem Spiel, ohne den Muth, ihrem
Zuge irgend eine Mstgcwollte Richtung abzugewinnen, so trieben sie mit dein
Ausdruck der Ideen ein willkürliches Spiel, welches mehr unterhaltend als för¬
dernd war. Uns Deutsche, die wir in unserer Sprache an eine Willkür gewohnt
sind, die ihres Gleichen nicht kennt, beleidigt die Disciplin des modernen fran¬
zösischen Ausdrucks, und nur wenden uns gern zu jenen altem Schriftstellern zu¬
rück, in denen wir unsern eignen Reichthum und unsere Anarchie wiederfinden:
griechische, lateinische Constructionen, das Patois aller möglichen Landschaften,
veraltete Wendungen, Ausdrücke des Metiers nud transcendentale Anflüge in
reizender Vereinigung durcheinander. Wir fühlen uns so Jean Paul als möglich.
Es kommt noch das persönliche Interesse dazu, daß wir uns in der Schule bei
Racine und Lafontaine anf eine unbillige Weise gelangweilt haben.
Und doch kann nur eine einseitige Bildung verkennen, daß die echt französi¬
sche Literatur, wie sie von Malherbe vorbereitet, vou Descartes mit einer wun¬
derbaren Energie befestigt, durch die französische Akademie mit ängstlicher Gewis¬
senhaftigkeit im Detail ausgearbeitet, durch deu Dichterverein, der sich um Boileau
gruppirte — Racine, Mvliore, Lafontaine — zu einer klassischen Form geadelt,
endlich dnrch die Encyklopädisten zum Gemeingut der Nation gemacht worden
ist — daß diese Literatur, der echte Ausdruck des französischen Charakters, ein
wesentliches Moment für die Entwicklung des menschlichen Geistes gewesen ist.
Die strenge Disciplin des französischen Denkens, der unbedingte Eultus der Form,
hat Europa vor der vollständigen Anarchie bewahrt, aus der die großen germa¬
nischen Dichter und Denker es nicht würden befreit haben.
Diese große Disciplin des 17. Jahrhunderts, eifriger bemüht, in jedem
Einzelnen die allgemeine Vernunft auszubilden, als die individuelle Laune und
Stimmung zu ermuthigen , zwang durch ihr stetes Mißtrauen gegen die Freiheit
den Dichter und Denker eine Auswahl zu treffen in seinen Ideen und Anschauun¬
gen; sie beugte deu Uebermuth des Genies unter die Regel und gewöhnte es
an Zweckthätigkeit — was unsere Fauste und ihre sentimentalen Verehrer freilich
nicht ertragen hätten; sie unterwarf die Bilder der Herrschaft des Gedankens, die
Lust des Empfindens, des Zweifels dem Gesetz, die Phantasie der Ordnung; sie
schuf jene Sprache, die im Geist der erbeten Wissenschaften gedacht ist, die zu
ihrem Ziel auf dem geraden, dem kürzesten Wege forteilt, in der die Worte sich
von vornherein in logischer Reihe ordnen; sie machte die Worte zu Münzen von
bestimmtem Gehalt — was bei uns, wo zum Studium jedes einzelnen Philosophen
ein eignes Lexicon erforderlich ist, wohl angebracht wäre; — sie hielt fest an der
Tradition, in sittlichen Dingen wie in der Logik, und bewahrte das Volk trotz
alles Egoismus vor jener siechen Unsittlichkeit, von der unser Vaterland eine
solche Fülle widerwärtiger, ich möchte sagen schauerlicher Erscheinungen bietet; —
sie zwang jeden hervorragenden Geist, den geschichtlich entwickelten de»n sens, d. h.
die öffentliche Meinung zu ehren, und machte dadurch der Nation möglich, trotz
ihres Leichtsinns, ihrer Frivolität und ihres liebenswürdigen Wankelmuthes, einen
wirklichen Willen zu haben, was wir Deutsche von uns nicht rühmen können,
Dank sei es unseren Krähwinkel-Autonomien, welche freche Sophisten uns in un¬
serm gegenwärtigen Elend als die Quelle unserer Größe zu preisen wagen;
sie hat es möglich gemacht, daß die französische Sprache eine Art Weltsprache
wurde, weil sie im Stande ist, sich deutlich und bestimmt auszudrücken.
Als Boileau den Geist der Methode — und damit, wir dürfen es nicht
läugnen, anch den sittlichen Ernst — in die Poesie einführte, fanden die vorneh¬
men Herren, die sich früher mit derartigen geistreich galanten Spielen abgegeben
hatten, die Regel sehr boni^c-ol«, sie wandten sich lieber zu dem estiln nullo der
Spanier und Italiener zurück, der Gongora und Marini, die von überspannter
Bildersprache mit großer Naivität zur Gemeinheit überspringen. Dieselbe Quelle
suchten die neuen Romantiker aus. Calderon und Guarini wurden wieder ihre Vor¬
bilder, und Bilder, die Boileau früher als Muster der Geschmacklosigkeit gebrand-
markt, z. B. sie ist eine Lilie, ans rothem Altar geopfert, wurden die gewöhnliche Sprache
der neuen Poesie in anmuthigem Wechsel mit Versen, wie dieser:
Von», mailsme, es »nil', von» ne 6hin!lo2 done zia»?
Die Logik und die Redekunst, die auf einen bestimmten Zweck arbeitet, ist
diesen auserwählten Geistern zu gemein; sie wollen eine Sprache, in der alle,
auch die widersprechendsten Vorzüge aller anderen Sprachen vereinigt sind; sie
gehn uuter im Uebermaß der Bilder und suchen die Originalität in einer Mischung
von Pathos und Liederlichkeit, von Geist und Aberwitz.
Verfolgen wir die Reformen der Sprache im Einzelnen. Wir müssen dabei
von vornherein zugestehn, daß sie in Frankreich nöthiger waren als in Deutschland,
aber nicht so natürlich. In Deutschland war die Romantik im weiteren Sinne
die Reaction des natürlichen Volksgeistes gegen die fremde Bildung. In Frank¬
reich war die Convenienz ein Ausfluß des wirklichen Geistes, wie überhaupt der
Franzose mehr Sinn hat für die Disciplin als für die Freiheit. Der romantische
Stoff — der Geist des Ritterthums — war den Franzosen geläufiger als uns,
unsere Nitterbücher kommen immer auf die Saufereien der Universitätsjahre zurück,
während jenseits des Rheins die alte Galanterie und die chevaleresken Formen nie
aufgehört haben. Die romantische Form dagegen — die Freiheit der Lanne
und der Paradoxie — haben die Franzosen erst uns ablernen müssen. Darum
sind sie in der Tollheit auch nie so weit gegangen als wir; sie verlieren nie voll¬
ständig den gefunden Menschenverstand. Auch wenn sie die Etikette und die Regel
bekämpfen, liegt sie doch in ihrem Blut. Sie würden nie mit unsern Schlegel'S
„das kühlende Feuer duftender Blumen" besingen, wie mit unsern Jungdeutschen
sich auf „fahrende Grazie" einlassen, nie mit unserm Goethe von der „felsumsteil-
teu Bucht" des Meeres reden. Ihre Kühnheit besteht in zwei Neuerungen.
Einmal suchen sie die von der Convenienz gemünzten abstract sentimentale»
Ausdrücke der Schule Delille's, in der die französische Lyrik sich versteinert hatte,
durch sinnliche, pittoreske zu ersetzen; sie malen im Detail nud gehn gern auf
das concrete Bild zurück, wenn es auch nicht im Lexicon der salonfähigen Worte
steht. Bezeichnend ist es, wie Se. Beuve (Poesie« de Fosepll »ciel-me I82V)
seine Muse beschreibt: sie ist nicht die glänzende Odaliske, nicht die ve>,»eilt<;
(ein Lieblingsausdruck der Schule) I^eil, sondern ein Mädchen im einsamen Holz,
das den ganzen Tag alte Leinwand wäscht. Sie beschränken die poetischen Gegen¬
stände nicht auf einen Canon, bei ihnen hat Alles Bürgerrecht in der Poesie,
auch der Camillenthee, das Pech und die alte Leinwand.
Sodann lieben sie es, um die Sinnlichkeit durch Mystik zu adeln, hin und
wieder feine, unbestimmte, bedeutsame Ausdrücke einzuschieben, die, was sie sagen
wollen, mehr ahnen lassen, als daß sie es aussprechen, z.B. «los exe-thes et, oi-
sie«. Durch die grvbsiunliche Hülle soll die intime Farbe, durch das Irdische
die übersinnliche Welt, durch die Kunst die Träumerei durchscheine«. Parfü-
mirte Hände unter einer groben Blouse, Bisam neben dem Cigarrendampf. So
lehrt uus einer von der Schule. In dieser Mystik send die Franzosen ungelenk;
sie sind an Disciplin so gewöhnt, daß sie von der Neuheit ihrer eignen Einfälle
Äbcrrascht werden, und mit großem Geschrei als Paradoxie verkünden, was uns
ziemlich trivial vorkommt.
Endlich bezog sich die Neuerung auf das Versmaß, das durch Boileau
und Racine der antithetischen Bildung der französischen Sprache und des franzö¬
sischen Witzes angemessen in einen strengen, für die poetische Gestaltung sehr ver-
hängnißvollen Parallelismus gezwungen war. Auch in dieser Neuerung ging sie
auf Ronsard zurück. Die ersten Schritte in dieser Reform gingen von Andre
Chenier aus, den überhaupt in der Form die Schule als ihren Meister verehrt.
Der romantische Alexandriner unterschied sich von dem classischen einmal durch die
Freiheit der Cäsnr. Als Beispiel, wie weit höchstens ein Klassiker gehn durfte,
gibt Se. Beroe folgenden Bers Racine's an:
pÄi'lLl'al, msilanil!, !epee I» IlliLlt^
v'un «viel.it «!«it IU»! kiU'ckvr I» v>;inn.
Der Romantiker dagegen würde ohne Umstände sagen:
— »pee i-i udei'to
O'u» «olckat. «al» U. s. W.
Der Romantiker erlaubt es nicht nur, sondern er liebt es, den Vers
durch kleine Abschnitte — dem Satzbau wie dem Gedanken nach — zu zerhacken.
Victor Hugo's dramatischer Vers ist reich an Beispielen, und Freiligrath, dessen
Lyrik überhaupt ganz ans Victor Hugo basirt, hat diesem romantisirten Alexan¬
driner das Bürgerrecht in Deutschland verschafft. Die zweite Freiheit besteht
darin, die Periode über die rhythmische. Antithese auszudehnen, wie in den römi¬
schen Strophen. Die langweilige Cadenz des Alexandriners wird freilich damit
aufgehoben, aber auch der Sinn des ganzen Verses.
So sollte der dramatische Vers Alles ertragen, lateinische und griechische Ci¬
tate, Gesetzesstellen, königliche Flüche, wie das Venere 8t. 6ri8 Heinrich's IV.,
sprichwörtliche Redensarten u. s. w. Victor Hugo bat diese Freiheit redlich be¬
nutzt, aber was in dem fünffüßigen Jambus ganz in der Ordnung ist, sticht son¬
derbar ab gegen die gleichmäßigen Cadenzen des Alexandriners. Darum ist die
Sprache sämmtlicher Dramen aus der romantischen Schule, die in Prosa geschrie¬
ben sind, ungleich natürlicher und selbst edler und poetischer, als die versisicirte.
Schon aus dieser einzelnen Andeutung geht hervor, daß die Lyrik — die
übrigens mit der unsrigen das gemein hat, daß sie sich gegenseitig unausgesetzt
ansinge und in Cmnplimcnten überbietet — mit ihrer Stimmung ganz anf's
Aeußerliche gerichtet war. Indem wir Victor Hugo's Entwickelung im Einzelnen
verfolgen, finden wir die Bestätigung.
In den realistischen Oden ist, was die Poesie betrifft, nichts Selbstständiges.
Nur in dem 5. Buch der Oden finden wir, was wir in den Malern Gedichten
vergebens suchen, eine wirkliche Empfindung, die nach einem Ausdruck strebt,
wenn sie auch uoch uicht geschickt genug ist, deu angemessenen zu finden. Für uns
ist freilich in der Sprache der Liebeslieder etwas Zopf, nud Gedanken, wie der
in der Ode an Chateaubriand: Nullieur -i 1'lunae alö I-i t^i -t! «mi, lliuis co
monllv iii^usto vt Viün, !,l>i to ,in 8VI1 im«! «olitiüio »II rilyvn no I'esnrit divin!
sind uns dnrch die Freiligrath'schen Reproductionen verhaßt geworden. Schon
hier beginnen diese rein äußerlichen Schilderungen, die nur durch den subjectiven
Contrast einen Eindruck machen sollen. Das beste Beispiel ist der Gesang des
Circus. In den Strophen werden die Leiden der unglücklichen Gefangenen ge¬
schildert, die den wilden Thieren vorgeworfen werden sollen, und dann als Pointe,
der Refrain eingeschoben: niiuco imnwitvl ^ufte, Os-rr, suis fuluo nur
«:vux lini vont momii-! (iViaritui'i to snlutiuit). Eine solche blos epigrammatische
Pointe widerspricht dem eigentlichen Sinne des Liedes, dnrch ein in rhythmischer
Reinheit ausgedichtetes Bild eine bestimmte Empfindung und Stimmung hervor¬
zurufen. In was für eine Stimmung soll es uns versetzen, wenn wir nebeneinan¬
der lesen: „Bald, wenn die wilden Thiere heulen, wird man die Schlachtopfer
Mit Lanzenstößen ihnen entgegentreiben. Ein Purpnrbaldachin breitet sich über
des Kaisers Thron, damit ein milderes Licht während des heißen Festes den go'et?
lieben Augen des gnädigen Herrschers wohlthun möge." Diese antithetische Form
ist freilich eben so französisch als unpoetisch. Ganz ähnlich ist es mit dem Feste
Nero's, dem Turniergesang, der Tochter Otaheite's u. s. w. In den Balladen
sind die Gegenstände besungen, an die wir anch in Deutschland gewöhnt sind,
Feen, Sylphen u. s. w. Aber mitten im Spiel seiner Phantasie fällt dem fran¬
zösischen Dichter plötzlich eine Wendung seines Freundes Robler ein, die er bei
der Gelegenheit kritistrt. Von der sangbaren Lyrik, wie wir sie seit Goethe ge¬
wohnt sind, ist keine Spur; nie ein einfaches Bild, eine Melodie; überall
Reflexion, aber auch diese uicht durch den Gedanken beherrscht, sondern an
den Wechsel der Bilder gebunden. Der luftige Stoff stimmt nicht zu dem tölpel¬
haften Pathos der Sprache. Man vergleiche z. B. Goethe's Todtentanz mit der
R,<iiniv an siidbitt, deren feierlicher Anfang:
Vo^e?. äevant Iss uns ü°v es noir mnnasl^'v
I^a luve se vuilsr, coinmv n»ur un mvslsr«,
6s immun i>s«s«, se i'e n-> o <t?t n l, I'skkrni,
I>o>i2v lui» 8v dal-tuos an tiatt!»in ein IisKVoi N. s. W.
die folgenden Spukgestalten, die nur in der leichten Holzschnittzeichunug den
Eindruck machen können, der ihnen allein zukommt, den Eindruck des Grotesken,
geradezu ins Alberne hinüberzieht.
Die Orientalen, welche 182!» erschienen, wurden von der Schule als das
Meisterstück der lyrischen Poesie gefeiert. Wenigstens charcckterisiren sie die Rich¬
tung am genauesten. Schon in der Einleitung verkündet der Dichter, daß in der
Poesie nicht nur jeder Gegenstand Bürgerrecht hat, sondern auch jede Art der
Empfindung und Vorstellung. Der Poet soll frei sein, möge er an Gott oder
an die Götter, an Pluto oder an Satan glauben, oder auch an Nichts. Das
Gedicht soll einer mittelalterlichen Stadt gleichen, in welcher alle Trachten sich
durch einander drängten, alle Straßen sich labyrinthisch durchkreuzten. — Victor
Hugo vergißt nur, daß die Einheit und Klarheit der Empfindung, welche das
Gedicht hervorrufe» soll, bei dem Dichter die Einheit der sittlich-religiösen Grund-
anschauung voraussetzt. Wir haben hier in dieser orientalischen Omln-o cliinolso
eine Reihe bunter und blendender Bilder, aber die Empfindung hört völlig auf.
Wenn der Sultan seiner Favorite zuruft: „Habe ich deun deinetwegen, schöne
Jüdin, nicht mein Serail hinlänglich entvölkert? laß doch die Uebrigen leben!
muß denn ans jeden Schlag deines Fächers ein Schlag mit dem Beil folgen?"
und wenn er ihr Mitleid für die verschiedenen Racen rege zu machen sucht, na¬
mentlich für die Negerin, <j»i commv uno jvuixz ti^osse, Kondit rü^issitiite
ä'itmour, so bleiben wir in Zweifel, ob das den Zweck hat, uns zum Lachen
zu bringen, oder welchen andern. Und nicht besser geht es ihm, wenn er sich
in die Seele Ali Paschas versetzt, in dem er sonderbarer Weise einen zweiten
Napoleon verehrt, oder wenn er die Zerstörung von Sodom und Gomorrha oder
die Schlacht bei Navarin in vielfarbigem Feuerwerk vor unserer Phantasie spielen
läßt, einen türkischen Marsch anstimme, die Geister der Alhambra heraufbeschwört,
das Vorüberziehn der Djius in der Wüste Sahara mit erkünstelter Angst und
in wechselnden Versmaßen belauscht, oder auch einmal dem fliegenden Roß Ma-
zeppa's dnrch die kvsakische Steppe folgt und ihn mit dem an das Irdische ange-
fesselten Genius vergleicht, um doch auch einmal sentimental zu werden.
Dieser Mißbrauch der lyrischen Poesie, der mir z. B. bei Freiligrath noch
fataler vorkommt, weil er hier nur Copie ist, hängt mit der Grundrichtung Victor
Hugo's zusammen, die ich bei Gelegenheit des Han d'Islande entwickelt habe. Die
wahre Lyrik darf mir solche Töne anschlagen, die in jedem Herzen widerklinge»,
nur Empfindungen ausdrucken, die allgemein menschlicher Natur, und daher all¬
gemein verständlich sind. Die ältere französische Literatur hatte das Kriterium des
allgemein Menschlichen in den conventionellen Vorstellungen gesucht, sie hatte sich
daher in's Phrasenhafte verloren. Die romantische Reaction setzte dieser Conve-
nienz das Recht des individuellen, eigenthümlichen Empfindens entgegen, und da
sie nicht, wie unsere Sturm- und Drangpoesie, aus der Unruhe des Gemüths,
sondern lediglich aus der Reflexion entsprang, da sie also etwas Eigenes der her¬
gebrachten Empfindungsweise nicht entgegenzusetzen hatte, so war sie genöthigt,
nach Raritäten zu suchen, sie fragte sich, wie mag ein Dalai-Lama, ein Fakir,
ein Mufti oder meinetwegen ein Gespenst oder ein Kameel in dem oder jenein an¬
gegebenen Falle empfinden, und dies Rechenexempel des bloßen Verstandes oder
der Gelehrsamkeit dichtete sie nun zu einem Gemälde aus. Sie konnte ihren
Werth, da irrationelle Empfindungen weder Tiefe noch Stärke zulassen, nur in
dem Reichthum und der Gewandtheit der Formen suchen.
Und dieser ist in der That in den „Orientalen" in einun Grade vorhanden,
wie ihn sonst die französische Poesie nicht kennt. Die wunderbarsten Verschlingun-
gen der Strophen, die seltsamsten Reime, und doch überall Correctheit und Grazie.
Der Dichter ist der Sprache vollkommen mächtig, er kann sagen, was er will,
nur — er hat nichts Eignes zu sage». Seine Bilder, seiue Rhythmen und Reime
dienen nicht einem poetischen Zweck, sie sind selbst Zweck; 'die Wucht des Tonfalls
verschlingt die Gedanken wie die Empfindung, wir erstaunen über diese .Kunst des
Spiels, aber weder unser Nachdenken noch unser Gemüth wird betheiligt. Wir
bewundern die Sicherheit dieser chromatischen Tonleitern, aber wir hören keine
Melodie. Die Draperie, der Seidenstoff, die Landschaft, die Farbe im Allgemei¬
nen, zeugen von einer Meisterhand, aber wir sehen keine Augen, ans denen eine
Seele strahlt.
In den Herbstblättern (lLUN) sucht der Dichter zur menschlichen Natur
zurückzukehren; es ist zu spät, sie ist in dem Stoff und der Farbe verloren ge¬
gangen. Der Gedanke kann die Sprache nicht mehr überwältigen. Gewöhnt an
die glänzenden Schilderungen des Meeres, der Prairien, der Wüsten, der Säbel
von Damaskus und der seidenen Gewänder, findet er, als er die Mysterien der
menschlichen Natur zu erforschen unternimmt, keinen Inhalt mehr in seiner Seele.
Er kennt sie nicht, die Materie hat seine ganze Kraft in Anspruch genommen.
Der Name soll den Gegensatz zwischen der Ruhe in diesen Bildern und der
fieberhaften Unruhe der Geister ausdrücken. „In den Revolutionen wird alles
verwandelt, nur uicht das menschliche Herz." Der Glaube streitet mit dem Glau¬
ben, das Gewissen gräbt angeblich in sich selbst nach einem Boden, neue Religionen stam¬
meln ihre Formel, alte sehnen sich nach der Wiedergeburt — in diesem blenden¬
den Wechsel der Perspectiven steht fest die „tansendstinnnige Seele des Dichters,
welche der Gott, den er anbetet, wie ein helltönendes Echo in das Centrum des
Weltalls gestellt hat, ein Cristall, in dem jeder Strahl sich bricht, eine Saite, in
der jeder Hauch uachzittert." Aber die Empfindungen verlaufen entweder in das
körperliche Natnrgebiet, oder sie verrauschen in sentimentalen Phrasen. Dem
Gedanken fehlt die Würde, weil ihm die Tiefe fehlt. Man stelle ein beliebiges
unter den sogenannten didactischen Gedichten von Schiller neben diese gestaltlosen
Einfälle, um sie ganz in ihrer Leerheit zu empfinden. Wenn er z. B. einem wei¬
nenden Mädchen sagt: „Ja weine! denn das Feld wird grüner vom Regen, und
der Himmel läßt frischer in der schonen Sonne sein Azur strahlen, gewaschen von
Thränen," so merkt mau Absicht, und man wird verstimmt. Wie gemacht er¬
scheint es, wenn er empfiehlt, Almosen zu geben, damit man in der letzten Stunde
das Gebet eines Bettlers für sich habe, der im Himmel immer sehr mächtig ist.
Und so unbestimmt und farblos gehalten ist auch der Hauptgegenstand dieser Epi¬
stel, die Sittlichkeit des Familienlebens.
In den Gesängen der Dämmerung (1835) spricht sich eine Entmuti¬
gung aus, von der sich in den früheren Gedichten keine Spur findet. Wir sind
in der Dämmerung und wissen nicht, was wir wollen, das ist der Grundton der
ganzen Sammlung. Die sentimentale Stimmung, in der diese leere Betrachtung
gehalten ist, kann weder über die Trivialität des Gedankens noch über die Kälte
der Empfindung mehr täuschen. Wer spricht z. B. von einem geliebten Kinde in
Ausdrücken wie diese: „Es ist in meinem knieen Herbst eine Blume der Schönheit,
welche die Güte durchduftet, die geheimnißvolle Vermählung einer doppelten Na-
tur, die Blume ist von der Erde, der Duft von den Himmeln!" Ueberall be¬
wundert man die Sicherheit des Verses, den Reichthum von Variationen einer
und der nämlichen Idee, die eine vollkommene Kenntniß des Wörterbuchs verräth.
Aber es ist so viel Coquetterie und Laune in seinen Bildern, daß mau nie er¬
griffen wird, man empfindet nie den Ausdruck eines wirklichen Schmerzes, von
dem er befreien will; nie den freien Erguß des Gemüths, man erkennt in dem
Gegenstand nur den Vorwand, eine Reihe von Rhythmen aneinanderzufügen.
Die Innern Stimmen (1837) sind eine fortgesetzte Selbstanbctnng, eine
fortgesetzte Polemik gegen den Unverstand des Zeitalters, das den Dichter nicht so
gefeiert hat, wie er es verdient. Er vergleicht diese Lieder mit den verborgenen
Thautropfe», die „Orientalen" mit der aufgeblühten Rose. In diesen Redensar¬
ten geht es weiter. Der Gedanke ist vollständig im Schwulst erstickt, und der
Mangel einer innern Nothwendigkeit, den wir schon in seinen frühern Gedichten
überall wahrgenommen haben, trägt hier geradezu deu Charakter der Caprice, ja
der Lüge. Wenn er z. B. von dem Jahrhundert sagt: „Ein edler Jnstinct leitet
es; die Idee geht überall in Mission. Stein für Stein führen die Denker diese
beiden Säulen, welche die wankende Gesellschaft stützen, wieder ans—so erwar¬
tet man jedenfalls zwei andere Säulen zu sehn, als: „der Respect vor den Grei¬
sen und die Liebe zu den Kindern!" Und wenn er dann hinzusetzt: „Aber unter
diesen Fortschritten, o Jesus, betrübt mich eines: daß der Widerhall deiner
Stimme sich mehr und me'hr verliert," so kann man sich eines ernsten Widerwil¬
lens nicht erwehren, der dadurch keineswegs vermindert wird, daß er sich tröstet:
„Mag aber auch die Welt diesen gestorbenen Gott mit seinen Wunden im Staub her-
umschleisen, so wird doch aus seinen Wunden nichts fließen, als unversiegliche
Vergebung."
Das war selbst den Franzosen zu stark. Die „Inneren Stimmen" war der
erste lyrische Versuch Victor Hugo's, der scheiterte. Alle frühern waren mit
einer Theilnahme ausgenommen, wie sie außer B«-ranger nur noch Lamartine's
Mvditations (l820) und allenfalls Delavigue's Messcniennes (1824) gefunden haben.
Die „Schatten und Strahlen" (1840) blieben ganz unbeachtet, die Zeit des
Dichters war vorüber.
(Fortsetzung in einem der nächsten Hefte.)
Es gibt in der wahren Politik keine Geheimnisse, deren Ausplaudern schäd¬
lich werden könnte. Die Sätze, die Man so nennen mag, weil sie den Schlüssel
einer Situation enthalten, nützen von allen Parteien nur der, in deren System
sie organisch passen; von den andern Parteien gilt, was geschrieben steht: sie haben
Ohren, aber hören nicht, Augen, aber sehen nicht. Und so sei es vergönnt, auch
in den östreichischen Zuständen die Spuren von dem aufzusuchen, was die Auf¬
schrift verspricht. Die Grenzboten haben in so manchem ihrer Blätter treu den
Schlamm- und Eiswust abgeschildert, mit dem die reaktionäre Lawine Oestreich be¬
deckt hat. Es ist ein Trost, schon jetzt aus die festen Stellen hinzuweisen, die
daS Thauwetter einst znerst bloslegen wird. Man mißverstehe das nicht, nicht,
als ob wir diese Tröstungen da suchten, wo sie die bezahlte Lüge in den ofsiziel-
l,er, die gutmüthige Selbsttäuschung in den nicht offiziellen Blättern suchen, in
dem Klapperwerk ccmstitutionell klingender Einrichtungen, mit denen das Mini¬
sterium tagtäglich sich und andere betäubt. Das sind Formen, Die Form aber
kann als Gesetz uur dann die Umgränzung der Willkür sein, wenn eine größere
Macht hinter ihr steht als hinter dieser. Für die Willkür, die regiert, sind alle
jene Gesetze Theaterfesseln, die sie zerreißt, so oft es paßt. So schlimm es in
Oestreich steht, das Gute seines russisch-florentinischen Regiments liegt nicht in
seiner constitutionellen Lüge, sondern in dem, was wahr an ihm ist, in seiner
Barschheit, Schonungslosigkeit, Gewaltsamkeit. Das hatten wir nöthig. Gestehen
wir'ö! als die Freiheit zu uns kam, vermochte sie uicht zu bleiben, so ungeber-
dig waren wir gegeneinander und gegen sie. Jetzt liegt so Manches hinter uns,
was uns mit ihr Jahrelang verwirrt hätte. Um nun von dem nächsten, dem
verworrensten zu reden, von den Nationalitäten, wem summt nicht noch der Kopf
von all dem Lärmen und Streiten! Welche Forderungen, welche Unmöglich¬
keiten standen sich gegenüber. Das einige Deutschland, die Solidarität der Sla¬
ven, das alte Magyarenreich mit seinen Annexen. Und wenn's nur der Streit
gewesen wäre, wenn die zersetzende Kraft dieses Princip's nicht immer neue Theile
gelöst hätte, von deu Ländergruppen in die Landestheile, Bezirke, hinein, bis in
die einzelnen Ortschaften. Ein paar Federstriche des Ministeriums und die Na¬
tionalitäten haben ihre festen Ränder. Es brauchte keine Kunst dazu, aber der
Mensch sügt sich oft schnell in das Nothwendige, mit dem er in freier Discussion
lange nicht fertig geworden wäre. Und so müssen die Meisten einsehen, daß für
eine nationelle Breccie wie Oestreich keine andere Eintheilung möglich ist, als die
nach der vorwaltenden Substanz. Wenn die Völker einst zu eignem Handeln kom¬
men, brauchen sie sich die jetzigen Terretorialgrenzen nur als Basis zu garantiren.
Und daß sich einzelnes schnell verbessern läßt, das ist keine Tröstung. Nicht an¬
ders steht es mit der Herrschaft der deutschen Sprache, mit der Germani-
sirung Oestreichs. Oestreich, mit Ausschluß Italiens, ist bestimmt, ein deutsch-
redendcr, wenn auch nicht deutscher Staat zu werden; aber es ging damit, wie
mit allen Dingen, die Fleisch und Blut angehn; der Widerstand reizt und die
Gewährung schwächt. Die Deutschen pochten etwas zu viel auf die Nothwendigkeit
der ersten, die Unabweislichkeit der zweiten. Die andern Stämme übertrieben
sich in's Gegentheil. Die Ungarn unterschieden sich darin von den Slaven nnr
durch ihre Macht. So wurden die Nationalitäten nur zu Nägeln gebraucht, um
die Reifen des Absolutismus anzutreiben. Seit die Einheit Oestreichs neben
Deutschland oktroyirt ist, sind seine Deutschen so wie die andern von den Gren¬
zen weg auf den gemeinschaftlichen Mittelpunkt gewiesen. Und so wie diese gemein¬
same Ueberzeugung das Mißtrauen der audern Stämme beschwichtigen wird, so
wird sie hoffentlich die Deutschen den rechten Weg lehren. Dieser ist kein an¬
derer als den Forderungen der andern Stämme nach Gleichberechtigung der Syra-
chen, bis in die kindischste Einzelheit entgegenzukommen. Sie werden nichts da¬
bei verlieren, im Gegentheil! Damit wird der schlimme Umstand am besten aufge¬
wogen, daß die Sprache der Regierung und des Militärs deutsch ist. Wer sich
zu beklagen hat, wirv hören, und wenn die einzelnen Stämme Oestreichs von den
übrigen gehört sein wollen, müssen sie deutsch reden. Ihre Einzelliteraturen we»
den daran nichts ändern. Es ist ein Glück, daß Rußland nicht eine Literatur
hat wie die deutsche. Sie würde sonst alle slawischen absorbiren. So, mögen es
uns die Slawophilen verzeihen, ist keine Propaganda nöthig, um Oestreich zu
germanifiren. Das ist eine zweite Tröstung! — Aber weiter! Wer nur einiger¬
maßen die Geschichte der englischen Konstitution kennt, weiß, welche verwickelte
Rechnung von mächtigen Factoren, von blutigen Exponenten nöthig war, um die¬
ses Fazit herzustellen. Wie schwer ist jenes Problem: das Gleichgewicht der Ge¬
walten! Und die schwierigste der Schwierigkeiten ist wieder, die Last des Heeres
vom Züngelchen der Waage fern zu halten. Die englische Konstitution war das
Modell aller übrigen, und doch ist es nnr in ihr gelungen. In Frankreich ist das
Heer jeder Revolution wenigstens nachgetreten, in den übrigen Ländern hält es
noch heute alle Constitution in der Schwebe. Woran liegt das? darin, daß es
in England die innerste Natur der Gesammtheit geworden, den Siegen des Hee^
res im Ausland zuzujauchzen, daheim aber ihm nicht ein Titelchen von Thätigkeit
zu überlassen. Und wie viel hat es dazu gebraucht, die Irländer Karls des Erste«,
das Reuterparlament Cromwells, die Lämmer Claverhouse und Kirkes. In Oest¬
reich ist's mit einmal so weit gekommen. Man hat es so gründlich seinen Millio¬
nen beigebracht, im Offizier nur den avancirteu Gefreiten, im Marschallsstab nur
den vergoldeten Corporalsstock zu sehen, die leidenschaftliche Verachtung für alles, was
Humanität, Billigkeit, Gesetz heißt, die Mameluckenlust und Paschagrausamkeit des
großen militärischen Haufens ist dem Bürger so nachbohrend eingeprägt, die sol¬
datische Verwaltung und Rechtspflege ist so ein Zerr- und Schreckbild geworden,
daß wenn die Völker je zu freiem Athem kommen, ihr erster Ruf sein wird: weg
damit! Das ist eine Lection, die die östreichische Bourgeoisie brauchte. Ein tüch¬
tiger Staat bedarf ein tüchtiges Heer; aber wer Freiheit will, muß stark genug
sein, sie zu erhalten und zu ertragen, zugleich. Es war empörend zu sehen,
was für schwache Nerven, was für vornehme Exklusivität gerade die Gebildeten
in Oestreich in die neue Zeit mitgebracht. Sie wollten Gleichheit, und doch
zürnte jeder bessere Rock der Ellbogenfreiheit, die sich der schlechtere nehmen wollte.
Sie wollten Freiheit, und verlangten gegen jeden Mißbrauch derselben das, was
sie aufhebt, die Präventive der Behörde, statt selbst einzustehen, mit eigner Per¬
son zu zahlen. Sie jubelten, als das Militär that, was sie hätten thun sollen. Jetzt
haben sie gelernt. Sie sind die Solidarität des Civiles durch Erfahrung inne
geworden, das neue Geschlecht wird ein anderes werden, und sich hüten den Des-
potismus zum Reuter zu nehmen, um die Unordnung zu überholen. Ist das
nicht wieder eine Tröstung?
Indessen freilich ist uns der politische Brotkorb hochgehängt und die Jour¬
nalistik muß hinterm Papagcnoschloß ihr Urtheil „mukezen" wie's der Oestreicher
nennt. So viel Stoff zur Opposition und so wenig Raum! So viel Scharf¬
sinn, Erfindung, Schmiegsamkeit in Anspruch genommen, um mit halben Worten
die anerkanntesten Sätze des Rechtes zu vertheidigen! Das ist traurig und —
gut! Keine Journalistik der Welt macht eiye solche Schule von Gewandtheit und
Austand durch wie die östreichische. Das ist der sicherste Weg, das literarische
Proletariat auf die Dauer fern zu halten, und die Journalistik Wiens bis zum
November 48, die Sndelpresse, wie sie unter der Schürze der Reaction noch ve-
getirt, zeigt, wie nothwendig das ist. Wenn die publizistische Presse Oestreichs
frei wird, wird sie eine Schule durchgebildeter Stylisten haben. Darin liegt noch
eine viel reichere und tiefergehende Bedeutung. Wie selbst in der Ehe eine ge¬
wisse Keuschheit und Zurückhaltung nöthig ist, um dieses vertrauteste Verhältniß
von der groben Körpergemeinschaft daneben wegzuhalten, so bedürfen gerade die
Streitfragen um die höchsten Menscheninteressen immer wieder der Verklärung,
durch allen Geist, Adel und Zauber der Sprache. Gerade die umfassendsten tief¬
schneidendsten Sätze über Recht und Glück sind so einfach, daß sie platt werden auf
geistlosen Zungen. Und glücklich, wenn das alles ist, wenn sie nicht durch ihre
furchtbare Unmittelbarkeit dem Bestehenden genähert, es zerschmettern, statt es
umzubilden. Sind die Völker erst so weit gekommen, daß sie die höchsten Prin¬
cipien in koncrete Verwaltungsformen umgesetzt haben, ist es anders. Auch das
ist eine Tröstung.
Recht schön! aber wann kommt das alles? Wo ist der Apollo, der ihn töd-
tet, den ans tausend Kanonen zischenden, hundert politische Frohnvesten umschlin¬
genden Drachen der Reaction? — Die Völker können es nicht, die deutschen sind
lahm, die Ungarn und Italiener haben noch nichts mit Oestreich zu thun. Die
Slaven haben selbst den Wagen umgeworfen, in dem sie fahren sollten. Nur ein
Retter kann's - und er wird's, er hat schon begonnen — die Bureaukratie! Ja
lache, wer wolle, die Bureaukratie! Sie allein, so wie sie in Oestreich ist, hat die
Geschicklichkeit, die Ausdauer, die kolossalen Verhältnisse dazu. Sie hat sie gegen
einen Despoten wie Franz II. bewährt! Sein eiserner Wille brach an ihren
Schwierigkeiten. Und schon hat der Militärdespotismus sie herausgefordert,
sie fühlt sich bei Seite geschoben, sie will ihre Rechte zurück. Ein Schreckenssy¬
stem ist verloren das erstemal, daß es von einer angegriffenen Position zurück muß.
Dafür wird die Bureaukratie sorgen. Sie wird alles zu thun scheinen und nichts
thun, zu allem beistimmen und doch jeden Streich zum flachen machen, sie wird
den ungeschlachten hastigen Militärdespotismus mit so viel Schwierigkeiten, Fehl¬
griffen, Blamagen umwickeln, bis das müde Ungethüm sich verzweifelnd in seine
Kasernen zurück wälzt. Dann beginnt das neue Reich, der Bureaukratie. Wer
uns von dieser rettet? das weiß keiner. Nein! ein so gewaltiges Verhängniß
wie das, das eine solche Contrerevolution hinwegnehmen soll, das muß wie el»
verkleideter Odysseus mitten unter den Freiern den Bogen spannen, ehe ihn
noch jemand erkannt. Und wer weiß, hinter welcher Pforte es bereits pocht.
Das sind unsere östreichischen Tröstungen.
Es wäre ein verdienstliches Unternehmen, die großen und kleinen Ungeheuer
der hiesigen Zeituugswelt, zur Belustigung sowohl wie zur Belehrung des deut¬
schen Publikums, lebensgroß in Oel zu malen; für die ernsthaften journalisti¬
schen Leiden des bald ablaufenden Jahres 1849 dürfte Unsereinem auch eine kleine
humoristische Rache nicht zu mißgönnen sein. Zeichnung und Colorit brauchten
dabei sich keiner Ueberladung oder Verzerrung schuldig zu macheu. Die Karrika-
tur ist hier um so weniger nöthig, als in einem bloßen getreuen Konterfei der
Gegenstände des Erstaunlichen und Grotesken mehr liegt, als die boshafteste
Phantasie erfinden kann.
Auch lehrreich wäre eine Gallerie solcher Bilder. Es bedürfte nicht einmal
groß angelegter und vollständig ausgeführter Gemälde; ein verständiger Zeichner
durchblättere nur den letzten Jahrgang der Wiener Zeitung und habe ein Aug
auf die offiziellen Localaktenstücke darin, auf die Erlasse, Urtheile, Drohungen
und Verwarnuugen. Er wird kostbare Perlen finden; Sprüche der Weisheit aus
Mund und Feder unserer militärischen Regenten, welche einen Grandville oder
Gavarni glücklich machen würden; Redensarten, die, gesammelt und mit veran¬
schaulichenden Illustrationen versehen, die Zustände und Schicksale Oestreichs besser
erklären könnten, als all die dicken und dünnen Bücher darüber, welche bis jetzt
erschienen sind und noch erscheinen mögen.
Ich werde im Laufe meiner Betrachtungen Gelegenheit finden, wohlmeinenden
Zeichnern zu diesem Behuf einige Winke zu geben. Fangen wir gleich mit der
bekannten Wiener Zeitung an, deren löschpapiercne, aber verhängnißvolle Blätter
grau sind wie das Alterthum und geduldig wie alle Heiligen des Kalenders.
Im Sommer 1848 hatte die Wiener Zeitung eine Periode der Lebendigkeit und
Lebenslust; sie that jung und liberal, trug ein kurzes Röckchen, sprach deutsch und
ließ sich von zwei modernen Redacteuren (l)r. Heyßler und Dr. Eitelberger) uuter
den Arm nehmen. Sie hat diese einzige Verirrung ihres Lebens bald abgebüßt.
wurde nach dem October wieder ganz die ehrbare Alte von ehedem und geht seit
jener Zeit mit halbgeschlossenen Augen, murmelnden Lippen, in grauer Uniform,
Gebetbuch unter dem Arm und die Patrontasche an der Seite, auf ihrem lang¬
weiligen Posten auf und nieder. Durch die Wiener Zeitung übrigens lernten wir
die erste journalistische Merkwürdigkeit Oestreichs kennen, nämlich den Feldmar-
schallieutenant
Wir wollen diesem Schriftsteller erst in's leibliche Angesicht sehen. Kommen
Sie auf den Graben oder Kohlmarkt, vor das erste beste Schaufenster einer Kunst¬
handlung. Auf diesen aristokratischen Plätzen sieht man seit einem Jahr nichts
ausgehängt als die Portraits der östreichischen Ober- und Untergötter, lauter
Militäruniformen zu Fuß und zu Pferde; die Minister find mit Ausnahme Schwar-
zenberg's, der Soldat ist, in diesen heiligen Fensterscheiben nicht zugelassen. Wir
sind daher sicher, den Melden da zu treffen. Richtig, da haben Sie ihn, wie er
leibt und lebt. Dieses ist der berühmte „Vater Melden," Alter, etwa 60 Jahre,
Geburtsort Tyrol, Stirne hoch, Augen groß und zornig, Nase, mit einem mäßi¬
gen Buckel in der Mitte versehen, Gesichtsfarbe hypochondrisch, Mund groß und
breit. Besondere Kennzeichen: der Unterkiefer ist ungewöhnlich stark entwickelt,
weshalb Melden in der Armee den Beinamen „der grobe" erhielt und weder mit
über noch mit unter ihm stehenden Generalen Harmoniren konnte. Dieser gewal¬
tige Unterkiefer gibt dem Geficht, im Profil gesehen, den Ausdruck einer erstaun¬
lichen Selbstzuversicht und einer fast abstoßenden Biederkeit; es scheint nämlich zu
sagen: Wäre es auf mich angekommen, so würde man im Stadtgraben zu Pfeil
und Bogen begnadigen und nicht zu Pulver.
Hüten wir uns, vou diesem Aeußern auf den ganzen Mann zu schließen.
Melden gilt für einen der ersten Feldherrn Oestreichs und soll erst im vorjährigen
Feldzug die Italiener nach allen Regeln der Kunst massacrirt haben. Ich kann
zwar diesen Ruf Weidens mit dem Geist seiner Schriften nicht recht zusammenrei¬
men, denn ich glaube, es gibt noch etwas Wesentlicheres als Lesen, Schreiben
und Rechnen, und dies darf auch dem Heerführer nicht abgehen. Blücher und der
alte Fritz traten die deutsche Sprache ebenfalls ohne Gnad und Pardon mit Fü¬
ßen, aber selbst der pommersche Säbelheld war in seinem Commisbrotstyl nicht
der Logik so spinnefeind. Dem sei wie ihm wolle, wir haben es hier nicht mit
dem Kriegsmanne, sondern mit dem Schriftsteller Melden zu thun. Er selbst will
sich als solchen betrachtet wissen. Ans dem Titelblatt eines Werkes über die Flora
des Monte Rosa steht sein Name, und eine seiner ersten Aeußerungen, die er in
Wien gegen einige Zeitungsschreiber that, lautete: Der Belagerungszustand kann
der Preßfreiheit nicht im mindesten schaden. Wer nichts Unrechtes schreibt, braucht
das Kriegsgericht uicht zu fürchten. Ich weiß auch, was Wissenschaft ist, und
liebe die Botanik. Ich gehe gern in's Theater, denn Schiller war einer unserer
ersten Geister. General, bah! Als General bin ich Nichts, als Schriftsteller aber
werde ich fortleben! —
Zu diesem Glück möchte ich dem Manne gern verhelfen. So groß seine lite¬
rarischen Verdienste sind, so kann ich doch nicht unerwähnt lassen, daß er einen Vor¬
gänger und Bahnbrecher an Windischgrätz besaß. Dieser Fürst, welcher gleich den
meisten östreichischen Kavalieren geläufig französisch spricht, gab seine Gesinnug ge¬
gen Deutschland gleich im October zu erkennen. Als er mit seinen Heerschaaren
von Prag ausbrach, erließ er ein Manifest, welches eine furchtbare Reaction ge¬
gen die traditionelle Grammatik und Syntax, und die Oktroyirnng einer ganz
unerhörten^ neuen östreichischen Sprache bereits dunkel vorahnen ließ. Der Fürst,
hieß es, werde die Wiener „Unordnungen" abstellen, welche es den Volksver¬
tretern unmöglich machen, „die Gesetze auszuarbeiten und (zugleich) das Eigen¬
thum zu schützen." Wenn man diese Worte mit pantomimischer Begleitung liest,
erräth man die eigentliche Meinung des Verfassers. Der Feldherr ging von der
Vorstellung aus, daß im östreichischen Reichstage Diebe und Räuber mit Säbeln
und Flinten den Mitgliedern auflauern, so daß diese sich gern die Taschen halten
möchten, während sie doch gezwungen sind, mit beiden Händen an der Constitu-
tion zu schneidern. Die Eroberung der Residenz wurde durch den Telegraphen
nach Olmütz mit den Worten gemeldet: „Wien ist belegt!" Bekannt ist das De-
kret des Fürsten, welches jedem Soldaten vom Feldwebel abwärts für das „zu
Stande bringen eines Hochverräthers" die Prämie von 25 Fi. C.-M. verhieß.
Also dem Hochverräther den Galgen und seinem Vater 25 Fi. C.-M. Es wurde
anfangs so verstanden und erregte, namentlich unter den galizischen Regimenter»,
denen die Phrase wörtlich übersetzt wurde, eine barbarische Freude. Die Natur¬
söhne aus der Bukowina und Ruthenier hielten jeden Wiener Säugling für einen ge¬
borenen Hochverräter.
Leider mußte Windischgrätz seine literarische Thätigkeit bald aufgeben. Noch
einige Mal ertönte seine Stimme aus Ungarn zu uns herüber, dann hüllte er
sich stolz in die Schießpulverwolken seines Ruhmes und zog sich wie Cincinnatus
auf seine Güter zurück. Die Wiener Zeitung jedoch blühte und gedieh, die neu¬
erfundene Sprache machte durch Weiden's Eiser große Fortschritte und wurde in
mehreren gutgesinnten Blättchen, von denen ich ein Paar später zeichnen werde,
mit dem glücklichen Erfolge angebaut.
Melden trat Mitte November seinen hiesigen Gonverneursposte» in der Rolle
des polternden Alten, des Ifflandischen Hausvaters an und galt allgemein für
einen echt „deutsch" gesinnten, groben, aber um so ehrlichem und, so weit seine
Stellung es erlaubte, liberale» Biedermann. Wodurch er später in einen andern
Ruf kam, gehört nicht in dieses Kapitel, welches lediglich Melden als Schrift¬
steller schildern soll. Sein Fleiß war bewundernswerth. Abgesehen von den un-
garischen Bulletins, die Julius Cäsar vielleicht klarer, aber schwerlich pittoresker
hätte redigiren können, wo die magyarischen Heere zu „Räuberbanden mit soge¬
nannten Kanonen" einschrumpften, wo die Rebellen vorwärts flohen und die Kai¬
serlichen rückwärts avancirten, beschäftigte ihn die Verfassung seiner täglichen
Maueranschläge; endlich schrieb er kurze, aber kraftvolle leitende Artikel für die
Wiener Zeitung.
Voll von lyrischem Schwung war Welden's Opus I.: sein Antrittsplacat.
Thronreden sind gewöhnlich nüchtern, diese dagegen entfaltete Zorn, Rührung und
Andacht; in reizender Abwechslung brachte sie bald Hvlty'sche, bald Körner'sche
Reminiscenzen. „Diese Erde, die Gott so schon geschaffen," rief er, warum
trägt sie nicht lauter Gutgesinnte, sondern auch „Auswürflinge einer Völkerschaft?"
Aber, verzagt nicht, die Ihr frommen Herzens seid, es ick't ein Gouverneur zu
strafen und zu rächen, und er wird im Nothfall „die Ordnung im Donner der
Geschütze verkünden."
Welden's erste leitende Artikel in der Wiener Zeitung machten so allgemeines
Aufsehn beim Publikum, welches doch an einen ziemlichen Grad moderner Romantik
gewöhnt ist, daß die Redaction sich einige Aenderungen erlauben wollte. Aber
Welden's Freisinnigkeit empörte sich gegen die Censur der Redaction, er bestand
auf den Abdruck seiner Artikel in ihrer uuverkümmerten urwüchsigen Gestalt und
sandte sie zulctzr aus Vorsicht durch zwei Mann Infanterie mit klirrenden Flinten¬
kolben Abends zehn Uhr unmittelbar an den Setzer, der für das Erscheinen des
Werkes in der nächsten Morgennnmmer verantwortlich gemacht wurde. Ein Haupt¬
verdienst dieser Produktionen bestand in ihrem kühnen Periodenbau. Bald sah man mit
dem Erstaunen, welches jede geniale Neuerung hervorbringt, vier bis fünf Perio¬
den so labyrinthisch sich verschlingen, daß der Nachsatz der ersten über die vollen¬
dete zweite Periode hinwegvoltigirte, bald bäumte sich ein Vordersatz verzweifelt
wie ein schweres verwundetes Kürassierpferd auf zwei Hinterhufen gen Himmel
auf, um nie wieder seine Vorderhnfe auf den Boden zu setzen. Wo blieb der
Nachsatz? Weiß der Himmel! Die rebellischen Husaren haben ihn aufgefangen,
der Sturm der Zeit hat ihn weggeweht, Melden schweigt darüber mit stolzer
Grandezza und geht lapidarischen Schritts auf ein neues Ziel los. Ein unge¬
fähres Beispiel: Wenn die Guten sich zusammenrotten und die Ansicht haben,
damit den Verführern einer Völkerschaft in den Vorstädten etwelche Giftzähne
sammt dazu gehörigen Bläschen entzogen werden, welche sie zu nichts Guten,
sondern umgekehrt zu gebrauchen sich erfrechen, — also geschehe es! — Welche
souveräne Verachtung öffentlicher Vorurtheile liegt in jenem Gedankenstrich, der
den erwarteten Nachsatz begräbt!
Entlarvt die Verräther und vernichtet selbe! heißt es in einer andern Wort¬
kanonade. Selber statt „er" ist ein Lieblingswort vieler hiesigen Schriftsteller
ältern Schlages und sie gebrauchen es gewöhnlich in pathetischen, festlichen oder
elegischen Momenten, „vernichten" aber ist ein besonderer Lieblingsausdruck Wel-
den's. ES ist gewiß, daß das Wort bei ihm eine mehr harmlose Bedeutung
hat, — die Commentatoren konnten sich über diesen Punkt nicht einigen, — ich
stütze jedoch meine Ueberzeugung davon auf den Gebrauch des Wortes in mehre¬
ren Ausrufer, worin es heißt: „ich werde die Verführer mit größter Strenge
vernichten," was bei der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes ahnen ließe, daß
zwischen den Zeilen gelesen werden muß, „die Verführten aber werde ich mit
größter Milde vernichten;" ferner berufe ich mich für meine Ansicht auf den Ge¬
brauch, den Melden davon in seiner berühmten Apostrophe an die Komorner ge¬
macht hat, mit denen er es augenscheinlich nicht böse gemeint hat; denn trotz seiner
Versicherung, daß Gott selbst ihm helfen werde, und daß er, bliebe ihm auch nur
ein einziger Mann Infanterie übrig, mit diesem einen Mann Komorn vernichten
werde, ließ er die Beste ruhig liegen und reiste den nächsten Tag gemüthlich nach
Wien zurück.
Zum Schluß muß ich ans einen sehr bedeutenden leitenden Artikel der
Wiener Zeitung aufmerksam machen, den sie dem begnadigten Fröbel nachschlcn-
derte, als er sich der ihm bezeigten Milde so unwürdig bewies. Bekanntlich, das
heißt nach der Darstellung der wahrheitsliebenden Galgenblättlein Wiens war
Fröbel, als seine Begnudignng ihm gemeldet worden, weinend und mit gefalteten
Händen vor dem Profoßen und mehrern Offizieren ans seine Kniee gesunken, hatte
seine politischen Ketzereien feierlich abgeschworen und gelobt, sich zu bessern und
nie mehr mit den Feinden der guten Sache sich einzulassen! Dieses Gelübde brach
er in Frankfurt. Die Rache der Wiener Zeitung aber sollte ihn treffen. Ein von
Prophetischem Feuer lodernder Artikel erschien eines Abends; ich kann ihn nur
mit den Weissagungen des Jesaias, etwa mit der „Last über Tyrus," vergleichen.
Die „Last über Fröbel" sang von seinen weinenden Gelübden, aber „kaum war
seine letzte Thräne trocken," ging er hin nach der Babelskirche in Frank¬
furt, setzte sich links und sprach gegen seine gerechten und nnr zu barmherzigen
Richter! Warte nnr, „Gott, der den Undank wiegt, wird Dich ereilen, o
Fröbel."
Ich habe Grund zu vermuthen, daß Melden nur aus Bescheidenheit unter¬
lassen hat, unter dieses byron'sche Gedicht in Prosa seinen vollen Namen oder
doch die Unterschrift „Vom k. k. Civil- und Militärgouvernemcnt" zu setzen.
Merkwürdig sollen die amtlichen Sendschreiben Melden's an die Redactionen hie¬
siger Blätter sein, die Bannbullen sowohl als die Orden. Mir kam keines da¬
von zu Gesichte, auch würde ich sie in diesem Falle kaum besprechen, da sie nicht
der Öffentlichkeit angehören.
Sehen Sie sich noch einmal die starken biedern Züge des Mannes an. Das
ist Vater Melden, der Botaniker', Journalist und Gouverneur; der Mann, wel-
eher uns vorschreibt, was für Bücher und Zeitschriften wir im Interesse uuserer
politischen Bildung lesen oder nicht lesen sollen, der uns Stockprügel gibt oder
Nnthenstreiche, der uns einsperrt, freiläßt, begnadigt, verurtheilt, und—belustigt.
Wir kommen jejzt zu deu Fischweibern der Reaction, mit deren Beschreibung
ich mich uicht befassen würde, wenn sie nicht glücklicher Weise »eben ihrer wider^
lichen, anch eine starke komische Seite hätten. Diese ehrenwerthen Basen und
Gevattern sind: Fremdcnblatt, Geißel, Courier, Zuschauer, Hans Jörgel. Man
hat diese Blätter Milchschwestern der Berliner „Kreuzzeitung" genannt; das ist
eine Berlenmdnng der letzter». Die Kreuzzeitung weiß einen gewissen äußerlichen
Anstand zu bewahren, ist für gebildete Reactionäre geschrieben und kaun in ihrer
Art witzig sein. Die Wiener Galgenblättlcin sind localer als das Berlinerische,
ein specifisch Wienerisches Unkraut; die Möglichkeit ihrer Existenz ist kein Kom¬
pliment für die gepriesene Kaiserstadt, wo die gemüthlichen Augen demokratischer
sowohl wie conservativer Enthusiasten gar keinen Pöbel bemerkt haben wolle»;
denn es ist kaum anzunehmen, daß das Lesepublikum dieser Art Publizistik aus
lauter Beamten, Offizieren, Börsenmäklern und Geheimpolizisten bestehe; manche
dieser Journale aber hatten in ihrer Blüthezeit 2 bis !M»0 Abonnenten in Wien
und blos ein Paar Hundert in den Provinzen.
Zur allgemeine» Charakteristik dieser Journale muß ich den merkwürdigen
Unistand erwähnen, daß unser Gouverneur Melden sich im vorigen Winter ver¬
anlaßt sah, mehrere derselben in einem öffentlichen Erlaß wegen ihres gemeinen
Servilismus und ihrer plump reaktionären Tendenzen zu verwarnen und mit
Suspension zu bedrohen!!! Er hob dabei hervor, daß die blutdürstigen Schim¬
pfereien des Couriers und der Geißel geeignet wären, die Gemüther bis zu einem
so hohen Grade zu erbittern, daß ernsthafte Ruhestörungen daraus hervorgehn
müßten. — Voran steht
Heine, der Redacteur des Fremdcublattes, nicht „der u»gczoge»e Liebling
der Grazien," sondern ein unsauberer Liebling der Geheimpolizei. Er soll ein
Stiefbruder deö Dichters Heinrich Heine sein und hat als Journalist den Pseu¬
donym: Gustav Norden, angenommen. Früher Lieutnant in k. k. östreichischen
Diensten, wurde er vor Jahren „veranlaßt," i» deu N»hasta»d zu trete». J>u
November 1848 erschien er plötzlich in der Uniform eines Kürassierlieutcnauts
auf der Post. Hatte er wieder zum Schwert gegriffen, wollte er die Magyar'U
bekämpfen? Behüte, er stolzirte i» der Uniform nnr zu Zeiten, bei feierlichen
Gelegenheiten oder wenn ihn die Lust dazu anwandelte. Nicht die Magyaren zu
bekämpfen, hatte er den Pallasch umgegürtet und sich mit klirrenden Sporen ge¬
rüstet, sondern um auf die auswärtigen Zeitungen gleich bei ihrer Ankunft im
Postgebände zu vigiliren, die verbotenen gefangen zu nehmen und die verbieteuS-
wcrthen anzumerken. Die Uniform aber, — so erklärte man sich damals den
seltsamen Auftritt, — sollte andeuten, daß Heine, in seiner Eigenschaft als gewe¬
sener Offizier, von der Militärbehörde mit jenem ehrenvollen Amt betraut war! —
Mit dem Neujahr, wenn mir recht ist, erschien sein Fremdcnblatt, welches
auf zwei Seiten täglich die laufende Welt- und Wiener Lokalgeschichte in kurzen
anmuthigen Notizen beleuchtet. Seine Bekanntschaft mit einer Schaar von edlen
Polizei-Geheimräthen machte ihn zum allwissenden du.Mo dmtoux der Kaiserstadt.
Auch seine diplomatisch-politischen Offenbarungen schien er ans ähnlicher Quelle zu
schöpfen, denn sie glänzten durch eine fabelhafte Naivität in historischer und geo¬
graphischer Beziehung; treffender Witz und rührende Gesinnung vollendeten den
Reiz dieser Nacht- und Frazzcnstücke. Durch seine Fragmente über den ungarischen
Krieg zog sich als grauer Faden ein einziges süßes Bild, welches in unermüd¬
lichen Wortspielen wiederkehrte: der Strick. Bald erfuhr er aus Debreczin, daß
Kossuth's Halsbinde sich in krampfhafter Vorahnung zusammenziehe, bald fiel
Klapka oder Görgey in Ohnmacht, wenn er eine Gardmenschnnr sah. Wie vor-
urtheilsfrei zeigte sich dagegen Heine in kirchlichen Dingen! Bei Pio Nouv's
Flucht aus Rom klagte er den heiligen Vater, ohne Ansehn seiner Person und
Stellung, als europäischen Nraufwieglcr, als Anstifter der Revolution in Frank¬
reich und Oestreich an und schloß mit der Moral: Wer Andern eine Grube gräbt,
fällt selbst hinein.
Wichtigkeit hatte im vorigen Winter das Fremdcnblatt als Chronik der poli¬
tischen und socialen Mistl-res de Vienne. Es brachte Enthüllungen über die Ver¬
brechen, die Schlupfwinkel, die Ab- und Ansichten und die geheimsten Träume
der Octoberslüchtlinge, so gut wie es als Nachtkönig alle socialen Missethaten,
die zwischen Prater und Lerchenfeld vorgefallen waren, auf seinen Karren lud und
dem Publikum zum Frühstück auftischte. Sünden gegen die Gesetze des Belage¬
rungszustandes wurden mit der Hoffnung auf baldige Bestrafung veröffentlicht;
Gauner, Diebe und Schwindler wurden als harmlosere Feinde der Gesellschaft mit
schalkhafter Laune gegeißelt; die Berichte über Unglücksfälle ans Unvorsichtigkeit
schloß in der Regel ein Il-^c ülbula ii,«not. Was das geniale Experimentiren mit
der deutschen Sprache betrifft, so kann Melden bei Heine in die Schule gehn.
Dem Styl des Fremdenblattcs lag bis vor Kurzem eine patriotische Empfindung
zu Grunde; die verzweifelte Rathlosigkeit des vou alleu Seiten bedrängten Oestreich
stotterte und lallte und hinkte aus den schwerfällige» und gebrochenen Sätzen, den
Wortverwechsluugeu aus Geistesabwesenheit und der invaliden Grammatik des
Frcmdenblattes.
Ich würde mich nicht so ausführlich über diese Annalen des Wiener Belage-
rnngSzustaudes verbreiten, wärm mir nicht zwei für Wien leider bezeichnende Erschei-
nungen ausgefallen. Das Fremdenblatt erregte nur in wenigen Kreisen Gelächter
oder Entrüstung; an öffentlichen Orten fiel kein Wort dagegen, obwohl es ü hereilt
gehalten wurde und Niemand — wie bei ähnlichen Blättern anderwärts zu geschehen
pflegt — so viel Scham zeigte, sich damit in einen einsamen Winkel deö Gast-
vder Kaffeehauses zu sejzen, wenn er es lesen wollte. Zweitens hat Herr Heine
sich einige Mal gröblich compromittirt, wie wir noch sehen werden, ohne dadurch
die Protection, die er genießt, zu verscherze».
Mit Vorliebe schildert Heine die Begeisterung des Wiener Volkes für das
Militär, welches Wien erstürmt hat. Die Kroaten wurden bei ihrer Einquartierung
in der Vorstadt Landstraße in allen Häusern wie die leiblichen Kinder empfange«,
„und alle Parteien kochten ihnen Knötel!" Goldmark veröffentlichte eine Erklä¬
rung in Leipziger Zeitungen und sagte, daß er sein Vaterland „mit blutendem
Herzen" verlasse. Ha, ruft das Fremdenblatt, welches aus Goldmark gern einen
Mörder machen möchte, „nicht mit blutendem Herzen, sondern mit blutenden
Händen" ist er davon gelaufen.
Dasselbe pathetische Hochdeutsch entwickelt dieser patriarchalische Ritter der
Ruh und Ordnung auf seinen Gängen dnrch Stadt und Vorstädte, wo er bald
„ein noch kleines Mädchen vou einem in der Geschwindigkeit betrunkenen, unvor¬
sichtigen Fiaker überführt" findet, bald zu seiner Befriedigung sich überzeugt, daß
der Skandal des Holzhauer Natzi, Alteugasse, Ur. so und so „nicht durch
ein unmoralisches Nothzuchtattentat producirt worden ist," oder daß „der
durch das Einquetschen eines umgcsnnkenen Fuhrmannspserdes mit seinem rücksei¬
tigen Körpertheil in ein offen gelassenes Caualloch entsprungene Menschenauflauf"
in der Bogner Gasse keine politische Bedeutung hatte, wie die Radikalen glaub¬
ten, die sich bereits mit schadenfroher Neugierde um das „unglückliche Pferd" her-
inustellten! — Vor einigen Monaten sprach das Fremdenblatt mit solcher Be¬
stimmtheit über Fischhoff's Aussagen, Schuld und unzweifelhafte Verurteilung,
daß anzunehmen war,, der Untersuchungsrichter habe das Amtsgeheimnis) verletzt
und geplaudert. Er citirte H. Heine, um ihn zur Verantwortung zu ziehen; —
einige Zeitungen meldeten diese Thatsache. Da ergrimmte der Patriot und er¬
klärte: l) Er sei weder citirt worden noch dürfe ihn Jemand citiren; 2) Die
Herren im Criminalnmt draußen würde» wohl thun, in ihren Citationen künftig
höflicher zu sei»! —
Blutdürstig gegen den gefangenen Fischhoff, zart und gemüthvoll gegen ein
Fuhrmcmuspferd, halb Cretin, halb Jesuit, das ist der „schwarzgelbe, wie er
sei» soll!"
Ich bin ein Freund von gefallenen Größen und dabei noch so nachsichtig,
daß ich der Ursache des Falles kaum nachspüre, wenn nur die Größe eine wirk¬
liche gewesen. Mit so echt christlicher Gesinnung, die mir gewiß schou die Gunst
meiner Leser einträgt, betrat ich Krakau, wo einst die polnischen Wahlkönige
auf dem stolzen Schlosse rksidirt, und jetzt, jetzt .... östreichische Pvlizeikom-
missäre und russische Polizcimeister ihr stilles Wesen treiben. Krakau hat außer
der gefallenen Größe, außer daß es noch immer zu trauern scheint um die ver¬
schollene Pracht- und Glanzperiode, wenig oder nichts Merkwürdiges. Seine
langen, breiten, aber fast immer leeren Straßen, wo an manchen Stellen des
holprigen Pflasters vorwitzige Grashalme unbescheiden hervorgucken, seine grvß-
und weitschichtig, aber höchst monoton gebauten Hänser, die durch ihre klösterliche
Stille und die an den Fenstergesimscn heimischen Spinnen den Mangel an Men¬
schen allzusehr verrathen, machen den Eindruck eines verschwenderisch ausgestatte¬
ten, mit großen Schößen und breiten Aermeln versehenen weiten Gewandes, einem
winzigen Zwerge umgeworfen, so daß das von der Natur so ökonomisch behan¬
delte Männchen sich in dem großen Kleide ganz verliert.
Doch es gibt in Krakau eine Gegend, wo das Kleid nicht nur anpaßt,
sondern sogar der enorm große, aber wie ich fürchte etwas krankhafte Theil des
Leibes die Hülle durchstoßen hat und sich in leider etwas schmutziger Form
breit macht. Es ist dies der Ghetto, der nicht mit Unrecht in schlechtem Gerüche
stehende Kazimir, wo der königliche Namensvetter des Judenviertels einst mit
einem schönen Judenmädchen, der reizenden Esther, gekost haben soll. Jetzt wer¬
den da nicht Herzen, sondern Wiener Manufacturen, nicht gebrochene Eide, sondern
abgetragene Kleider, uicht goldene Liebeslieder, sondern östreichisches Papiergeld
zu Markte gebracht. Beinahe aber hätte uus das vergangene Jahr mit seinen
zerstörenden Gelüsten auch diese» kostbaren Rest des Mittelalters hinweggeschwemmt.
Schon hatte die Judenwanderung und die Ansiedlung in den weiten, leeren Ge¬
filden des Stradom, der zunächst liegenden christlichen Straße, begonnem Die
Kinder Israels legten sogar dieser Besitznahme nicht weniger schlagende Rechte zu
Grunde, als bei der Okkupation Kanaans. Sie stützten sich, wie dort auf das
Wort eines Gottes, hier auf das Wort eines Königs und Kaisers,. das ihnen
nicht in einem brennenden Busche oder aus ni'nein unersteiglichen Berge, sondern
in einem allverständlichen, keiner apokryphen Deutung verdächtigen Gesetze gewor-
den, dem ersten Paragraphen der östreichischen Magna charta vom 4. März.
Hier, waren es aber die conservativen Philister, welche den Sieg davon trugen,
die Juden wurden nicht mit Eselskinubacken, Gott behüte uns vor solcher Ironie,
sondern nur durch einen obrigkeitlichen Erlaß zu den Schmutzkloakeu deö Kazi-
mir zurückgewiesen. Das Bestehende ist gerettet, und alle verschnupfte» Anti¬
quare siud hiemit eingeladen, auf dem intakten, vor schädlichen Neuerungen be¬
wahrten Boden ihre Forschungen fortzusetzen.
Krakau, glaube ich, ist noch nicht in Forsters Reisehandbuch durch Deutsch¬
land aufgenommen. Es war vielleicht, als die letzte Auflage erschien, non!; nicht
östreichisch und von einem Großdeutschland mit Masuren und Slovaken, Kroaten
und Pandureu war damals gewiß noch nicht die Rede. Ich könnte mir also ein
Verdienst um das Touristenvölkchen erwerben, wenn ich hier den Merkwürdigkei¬
ten Krakaus mit deutscher Gründlichkeit ein paar Seiten widmete, die Höhe des
Krakus- und KoszciuSkohügels anzugeben mich bemühte, dem alten
Schloß und dem Grabe Thaddens KoSzciuskos meine besondere Aufmerksamkeit
schenkte. Aber es gibt gewisse Dinge, vor denen ich einen gewaltigen Respect
habe. Darunter stehen Kanonenläufe, russische Umformen nud östreichische Poli¬
zeisoldaten oben an, denn die Ersten und Zweiten können, die Letzter» wollen
keine Vernunft annehmen. Ich entsagte daher mit leichtem Herzen dem weltlichen
Ruhme, um nur nicht mit all diesen überall aufgepflanzten unvernünftigen Dingen
in allzunahe Berührung zu kommen. Doch von einem Hauptbestandtheile Krakans
und Polens überhaupt muß ich sprechen, von dem polnischen Adel. Nur geht
es mir damit, wie dem reisenden, englischen Touristen, der in unserm Jahre des
Heils oder Unheils auf seiner Reise durch Italien Rom nicht berühren wollte,
damit man ihm nicht vorwerfe, «.I'-lveu' vtv a R»in« «im« von- le n-ep«'. Ich
habe mich in Krakau auf allen Straßen nach dem polnischen Adel umgesehen, aber
fast nur seine leeren Paläste gefunden. Der hochmüthige polnische Adel, der
Todfeind der Austriaken und Moskowiter, lebt auf seinen Gütern oder im Aus¬
lande, besonders in Dresden, für welche Stadt er eine besondere Vorliebe hat;
wahrscheinlich noch ein Ueberrest aus den Zeiten der sächsisch-polnischen Auguste,
welche die Magnaten an ihre glänzenden Hoflager zogen.
Wie kömmt's, daß die polnischen Edelleute jetzt so wenig in der Stadt woh¬
nen, frug ich einen jungen polnischen Grafen. Ich dächte, sie würden jetzt ihre
Salons öffnen und alle Klassen der Gesellschaft an sich ziehen, um sich einen An¬
hang zu schaffen, damit die Regierungspartei ihnen nicht über den Kopf
wachse. — „Sie kennen unsern Adel nicht. Der bringt eher alles aus der Welt
als seine Exklusivität zinn Opfer. Er haßt die Oestreicher und Russen nicht
allein, weil sie Polen unterjochten, sondern weil sie ihm die Superiorität M
Lande raubten." — Der polnische Adel hat sich in der Letztzeit doch zu demokra¬
tischen Gesinnungen bekannt. Wie lassen sich nun die mit einer so exklusiven
Richtung in Verbindung dringen? — „Ich sollte wohl nicht aus der Schule
schwatzen", sagte der Aristokrat mit einem schlauen Lächeln, „aber ich bin ein Mal
im Zuge aufrichtig zu sein. Lassen Sie sich nicht einfallen, Doctor, beim
polnischen Adel im Ernste einen Abfall von seinen Brüdern im gesammten Europa,
das heißt, von der europäischen Aristokratie vorauszusetzen. Wenn je ein Adel
aus der Art schlagen und ohne jedweden Hinterhalt sich mit dem Volke verbinden
sollte, wird's wohl am allerwenigsten der polnische, am ehesten der russische sein."
Der russische Adel, der unbarmherzige Gebieter seiner Leibeigenen sollte sich
zu liberale» Grundsätzen bekennen und mit dem Vol?e gemeinschaftliche Sache
machen? So wäre also wohl zuletzt eine Revolution in Rußland zu erwarten.
„Das sagte ich nicht. Außer Palastrevolutionen hat Nußland noch für lauge
keine zu befürchten. Die Geschichte hat uns gelehrt, daß es uicht hinreicht einen
gleichmäßigen Druck aus ein ganzes Land auszuüben, um eine Empörung zu be¬
wirken. Zu einer Revolution gehören eigene Elemente, die im Gegentheile in weniger
despotischen Staate« eher zur Entwicklung gelangen. Ein allznstarker Druck ver¬
nichtet die Schnellkraft, es kann bei einer Despotie wie die russische von keinem
Widerstände kaum mehr die Rede sein. Ich sagte blos, daß der russische Adel,
ebeu weil er vom Knutenregimeute nicht viel weniger zu leiden hat als das Volk,
eher Sympathien für dasselbe besitzen kann, um so mehr als der Adel in Ru߬
land keine abgeschlossene Kaste bildet und sich aus dem Volke rekrutirt."
Sie glauben also, daß die polnischen Großen nnr Komödie gespielt haben
und gelegentlich wieder spielen werden, um unter dem Deckmantel der Demokratie
ihre egoistischen Pläne zur Ausführung zu bringen? Sie meinen also, daß der
polnische Adel uur deswegen die vielen Insurrektionen angefacht, damit die närri¬
schen Demokraten ihnen den Weg zur Herrschaft bahnen?
Mein Graf erschrack vor den brüsten Consequenzen seiner Aussage und suchte
wieder einzulenken. „Ich will nicht behaupte», daß der politische Adel sich seine
Absichten so scharf formulirt habe. Der Patriotismus beseelt den Adel nicht weni¬
ger als die Klassen der Gesellschaft, und die Befreiung von der Fremdherrschaft ist
wohl vor Allem ihr gemeinschaftliches Ziel."
Ich brach das Gespräch ab, was mir um so leichter ward, als der Wagen,
in dem es stattfand, vor den Wielicker Salinen hielt, wohin der gefällige
Mann mich und einige Damen meiner Bekanntschaft zu begleiten sich erboten
hatte. Wir wendeten uns an einen Beamten, und alsogleich wurde ein Berg¬
mann beauftragt, uns in die Wunder der Erdtiefe zu geleiten. Zuerst führte man
uns in ein Zimmer, wo wir alle weiße Leinwandkittel erhielten, die wir zum
Schutze gegen die Feuchtigkeit über unsere Kleider anzogen.
Sehen Sie, meine Herrn, bemerkte eine schalkhafte Blondine, mit einer et¬
was länglichen Nase, die, wie sie selbst sagte, ihr dazu diene, die menschlichen
Charaktere zu sondiren und ihre Beobachtungsgabe bedeutend unterstütze, hier
fallen alle Standesunterschiede weg, hier ist man noch unparteiischer als im Grabe.
Selbst uach dem Tode wird man in prächtige Gewänder gehüllt und auf deu mit
Sammet überzogenen Sarg dürfen das Wappen und die Orden nicht fehlen.
Hier bekömmt jeder einen schlichten Kittel und ein Grubenlicht, das in der schauer¬
lichen Tiefe die Größe der Natur und die menschliche Kleinheit beleuchtet.
Ich bedauere, Ihnen auch diesen Zufluchtsort der Gleichheit zu rauben, er¬
widerte der Gras lächelnd. Sehen Sie diesen Schrank, aus dessen Glasthüren
Ihnen reiche Seidenstoffe zuwinken. Sie erzählen Ihnen dnrch meinen Mund,
daß sie gekrönten Häuptern und fürstlichen Personen beim Besuche der Salinen
als Mäntel gedient und zum Andenken hier aufbewahrt werden. Betrachten Sie
anch dieses dicke Buch. Es enthält die Namen aller Besucher des Bergwerkes
und es fehlt, wie Sie bemerken wollen, nicht an einer besondern Rubrik für
Stand, Rang oder Charakter.
Eine ganz aus Steinsalz gehauene Kapelle mit einem Christusbilde, der Mut¬
ter Gottes mit dem Jesuskinde, heiligen und knieenden Betern, alles aus Salz,
empfing uns zuerst, um uns die Weihe zu ertheilen, bevor wir die andern Wun¬
der in Augenschein nahmen. Sie brachte, von bengalischen Feuer beleuchtet, die
Katakomben der ersten Christen in Erinnerung.
Von da an hatte sich die Feuchtigkeit verloren, die Wände waren trocken, die
Stufen in Salz gehauen, die Decke eine mächtige Salzwölbung, deren Kristalle wie
Sterne funkelten. Wir stiegen vonSchacht zu Schacht und fanden eine Stadt mit Stra¬
ßen und Gassen, die, um auch hier der Erdeusitte treu zu bleiben, nach Kaisern und
Fürsten benannt siud. Es fehlt auch nicht an geräumigen Plätzen mit aus Steinsalz ge¬
hauenen Monumenten, ebenfalls wie auf der Oberwelt zum Andenken an einen
fürstlichen Besuch oder ein stattgefundcnes Ereigniß, das freilich hier keine blu¬
tigen Erinnerungen mit sich führt. Auch der Tand der Welt ist durch Tauzsäle
mit Gallerien vertreten, und wer weiß, ob nicht in der Mitternachtstnnde die
Geister der Salinen hier ihre half p-u-of geben oder gar demokratische Versamm¬
lungen halten, während in einem andern Schachte die Bergleute unbekümmert ob
der wüthenden Gnvmenrcdcn und deö beschlossenen passiven Widerstandes ihr Hab
und Gut, riesige Stcinsalzquaderu, ruhig in die Höhe fördern. Sogar die Prä-
tension eine Seemacht vorzustellen, fanden wir in dieser Tiefe des Kaiscrstaats.
Ein Salzsee und ein süßes Wasser ertheilen dem unterirdische» Reiche die volle
Berechtigung auf die Gründung einer Flotte bedacht zu seju, die gegenwärtig
allerdings erst in einer jungfräulichen Fähre besteht, die der des alten Charon nur
allzuähnlich ist. Doch das düstere Gewölbe, dessen Dunkelheit die wenigen Gru-
benlichter uoch mehr hervorhoben, das schwarze Wasser, aus dem die sich dar-
auf bewegenden Schattengestalten wie ein Teufelsspuk aufnehmen, und endlich
die plötzliche Beleuchtung mit bengalischen Feuer ein den erhöheten Endpunkten
des weilen Raumes boten einen Anblick, der auf das Gemüth vielleicht einen
ähnlich betrübenden Eindruck hervorbringt, wie ihn die blutigste Seeschlacht
erzeugt. ,
Ich wollte mir diesen Eindruck nicht schwächen, nahm von meinen Freunden
Abschied und fuhr sogleich zur Eisenbahn, wohin ich meine Effecten hatte bringen
lassen, um meine Reise fortzusetzen. Das Glück wollte mir wohl, es hatte mir
einen komischen Kontrast aufbewahrt in der Person des zur Abnahme der Passir--
scheine und Pässe angestellten Polizeibeamten. Diese stangenhobe, kerzengerade,
zauudürre Figur mit ausgestülptem Krage», aus dem ein graues Köpfchen mit ei¬
nem freundlichen Gesichte hervorguckte nud die eine kleine Laterne in der Hand
hielt, sah aus wie Diogenes im macedonischen Militärrock. Ich verfolgte ih» mit
meinen Blicken von Wagen zu Wagen, wie er geschützt von den auf beiden Seiten
des Zuges aufgestellten Soldaten wie Diogenes von einem Häuser Stoiker, die
Passirscheine in Empfang nahm, bis er endlich zum Coupv kam, in dem außer mir
sich uoch eine Dame und ihr Schooßhündchen befanden. Ich schob ihm einen Pas¬
sirschein absichtlich dicht vor die Nase, um zu sehen, ob er sich zu ärgern fähig sei.
Ein sanftes Lächeln und ein stiller Norwurf seiner kleinen Aeuglein waren meine
einzige Strafe. Nun kam die wohlbeleibte Dame an die Reihe, sie war eine eng¬
lische Sängerin, die in Krakau Koncerte gegeben und im Bahnhofe beim Einstei¬
gen in den Wagen von einem Bekannten unter meine schützenden Fittige gestellt
worden war. Bei der Annäherung dieses lui^o out in-in, wie sie ihn nannte, versteckte
sie ihr Hündchen zwischen den massenhaften Falten des Kleides und der Mantille,
ich weiß nicht, ob weil sie für selbes keinen Passirschciu besorgt oder kein Hundebillet
gelös't hatte. Der Diogenes des Paßbureaus roch Unheil, denn er streckte den
lange», knöcherigen Arm dergestalt in den Wage», daß die keusche Tochter Albions
eine polizeiliche Visitation ihrer i>edelen>!>t,8 befürchten mußte. In ihrer Angst hob
sie das schwarze Hündchen in die Höhe, es griff bellend nach der Nase des Paß^
diogenes nud dieser zog sich erschreckt, aber immer mild lächelnd zurück.
Ihr Hündchen ist wohl nicht in England geboren? fragte ich. — Sie sind
also Huudckenuer? erhielt ich als fragende Antwort. — Ich meinte, das Thier¬
chen habe den englischen Boden nicht zuerst angebellt, weil es so wenig Re¬
spect vor den gesetzlichen Behörden gezeigt hat. — ^-s, sehen Sie, Doctor, das
kömmt von dem längern sojoninii^ in dem abscheulichen Keimung, wo einen die
Herren vou^ der Polizei fortwährend für ein ii«ni)l«zr für -i virAnittwü halten, und
immer nach Paß fragen. Meine ^-uncl.t weiß schon, wenn ich bin er««« und bellt
dann jedesmal. — Riff gehen gewiß nach Wie», um in dieser Musikftadt par
vxeollelico Koncerte zu geben und das kimststnnige Wiener Publikum mit Ihrem
Gesänge zu bezaubcr». — Sie sind ein Schmeichler, Doctor; »0, ich reise nicht
nach Wien, nur »ach Reiße bei Bring, wo man mich erwartet. Die Wiener
haben Geschmack an Musik verloren, der Kanonendonner und die Flintenschüsse
haben betäubt ihre Ohre«, die Wiener sind jetzt schlechte Musikanten. -- Also
doch gute Bürger, dachte ich bei mir, sagte aber laut: Sie haben also Wien in
der Letztzcit besucht und keine vollen Häuser gehabt? — Ko, Kir, ich habe
Briefe von meinen iriLiul» in Wien erhalten, sie schreiben, die große "Kaiser-
stadt sehe aus wie ein großes Haus mit Soldaten, ^ bim-adel > und die
gemüthlichen Wiener wären ganz ans Art geschlagen und sprechen jetzt nur von
Ungarn und Politik, und schimpfen auf die Russen sehr disharmonisch. —
Da müssen aber Ihre Landsleute keine Ader von der Mustk haben, Miß, denn
die beschäftigen sich schon seit gar lange mit der Politik. — Hin, das ist aber
ello in-edler of ki.et. Wir haben für Alles eine bestimmte Zeit, wir können Alles
thun, uns für Alles interessiren, ohne aufzuhören wir selbst zu sein. June, is,
tuo Lu^Iisnmim ist ein reifer, besonnener Mann, der Wiener bleibt illo-^s ein
unmündiges Kind.
Ich wurde mäuschenstille und betrachtete mit Achtung das freundliche,
volle Gesicht meiner Gesellschafterin, die mich so verständig anlächelte und dabei
eine so schöne Reihe weißer, gesunder Zähne zeigte, wobei mir, ich weiß nicht
warum, grade jetzt einfiel, irgendwo gelesen zu haben, daß gesunde, feste Zähne
als Beweis für das Borherrschen des Verstandes über das Gemüth gelten. Ich
wollte jedes weitere Gespräch vermeiden, ich bin kein Freund von allzu klugen
Frauen, und drückte mich in einen Winkel, um mit geschlossenen Augen an das
geliebte Wien zu denken.
Und ich wandelte im Geist in den Prater, auf die Basteien, um die hohe
Kirche Se. Stephan. Aber ein böser Traumgeist kam über mich, wie sich meine
Augen schlössen; den Prater fand ich voll von Nothmäntlern, auf den Basteien
nichts als Kroate», um die Kirche Se. Stephan ginge» Kuica»i»'s Freischärler
i» gelbe» Paiitvffel», die Hand am Malaga». Nothmäittler, Kroaten und Ser¬
ben zeigten lachend ihre große», blanken, gesunden Zähne und fragten: Was
meinst Du, kluger Wandrer; seit wir hier siud, was waltet vor i» Wien: Ver¬
stand oder Gemüth? —
Waldeck frei gesprochen unter dem begeisterten Zuruf der Berliner, der Fäl-
scher Ohm in das Gefängniß zurückgeführt unter dem Bann einer neuen Klage,
welche gegen ihn und seine Complicen vom Staatsanwalt erhoben werden soll,
das war die Neuigkeit welche vou dem aufgeregten Berlin durch alle Gegenden
Dentschlands flog.
Vieles ist über den Waldeck'scheu Prozeß geschrieben und noch mehr gespro¬
chen worden und uach dem leidenschaftlichen Haß und der Liebe, welche sich dem
Angeklagten gegenüber kund gegeben hat, bildet sich allmälig ein ruhiges Urtheil,
wahrscheinlich auch in Berlin. Wer die stenographischen Berichte des Prozesses
gelesen hat, wird aus der Menge vou pikanten Scenen und aus dem Aerger über
die Schlechtigkeit Einzelner, welche in ihm blosgestellt wird, auch einige ernste
Lehren erhalten haben. An diese wollen wir uns halten.
Die öffentliche Verhandlung vor den Geschwornen verwandelt einen solchen
Prozeß in ein großes, dramatisches Ganze, welches durch die Voruntersuchung zu¬
bereitet und von dem Präsidenten des Gerichts nach der Reihenfolge seiner Mo¬
mente künstlich und methodisch für die Geschwornen arrangirt wird. Vieles, was
man für und gegen die Geschwornengerichte sagt, hat durch diesen Prozeß Bestä-
tigung erhalten. Die Wirkung, welche durch die leidenschaftliche Theilnahme des
Publikums auf Zeugen und Angeklagte, ja vielleicht selbst auf die Geschwornen und
die Richter ausgeübt wird, die Schwierigkeit dieser Art von Untersuchung den Anstrich
der Gründlichkeit zu geben, die Abhängigkeit der Geschwornen von der Persönlichkeit
des leitenden Richters, das Alles war deutlich herauszuenipfiudcn. Und doch gab
es keinen bessern Beweis für den segensreichen Einfluß dieser öffentlichen Gerichte
auf die politische Bildung der Staatsbürger, als diesen Proceß, durch ihn erst
haben die Geschwornengerichte in Preußen das Bürgerrecht gewonnen. Durch die
Macht der Oeffentlichkeit haben die schlechten Auswüchse des preußischen Beamten-
thums und die ultraconservative Partei einen Schlag erhalten, von dem sie sich
schwerlich wieder erhole» werden. Das Volk hat Verehrung vor seinen Richtern
und seinem Recht aus dem Sitzungssaal nach Hans getragen und den frivolen,
maßlosen Treiben des Berliner Völkchens war die große Verhandlung, welche im
Interesse der öffentlichen Sittlichkeit geführt wurde, eine wahrhafte Kur, deren
Vortheil sich in der nächsten Zukunft auch für den Staat zeigen muß. Ein freier
intelligenter Richterstand, ein Volk, welches vor dem Gesetz Achtung und Sehen
hat, das sind zwei Pfeiler des Staates, deren Kräftigung wir zunächst ersehnen
müssen und jetzt hoffen dürfen.
Ueber Ohm, den kläglichen Schelm und seinen Verführer, Gödsche, ist we¬
nig mehr zu sagen; wir dürfen nicht wünschen, daß der letztere die Mitschuld an
der Fälschung der d'Estcr'schen Briefe trage, wir sind überzeugt, daß wenn er
derselben überwiesen wird, die Geschwornen ihn nicht mit sentimentalen Mitleid
behandeln werden. Wohl aber fordert die Stimmung des Berliner Publikums
zu einer Bemerkung heraus. Wie tugendhaft ist auf einmal die Demokratie von
1848 und wie streng tugendhaft ist anch das Berliner Publikum geworden. Alle
Behauptungen, daß eine demokratische Verschwörung gegen den Staat stattgefun¬
den habe, sind auf einmal aus der Luft gegriffen, Ohm hat sie erfunden, die
neue Preußische hat sie dem Hinkeldey, und Hinkeldey hat sie den Ministern
hinterbracht. Ohm und die Preußische sind Schuld an dem Belagerungszustände,
an dem Nenommv der Demokratie u. s. w. Das ist zu viel Tugend und Un¬
schuld gegenüber den Aufständen im westlichen Deutschland, der Beraubung des
Zeughauses, dem Abend vor dem Schauspielhause und dem wüsten Treiben auf
den Straßen Berlins, - vor Allem gegenüber der notorischen Unwürdigkeit der
meisten Demvt'ratenhänpiliuge. Wir glauben weder, daß die Organisation der
Demokratie so vollkommen gewesen sei, als vou ihren Gegnern dargestellt wird,
noch daß die Verschwörungspraxis der Berliner Demokratensnhrer jene Virtuosität
und Energie erreicht habe, welche wir an den Süddeutschen bewundern, aber daß
in Briefen und Reden eine Menge von wüsten, verbrecherischen Plänen und An¬
schlägen verfertigt wurden, daß eine sehr große und sehr.abgeschmackte Korrespon¬
denz voll von „Hochverrätherischen" Dingen zwischen Berlin und andern hoffnungs¬
vollen Städten hin und herlief, soll man doch willig zugeben; vielleicht auch zu¬
geben, daß sich grade die Pläne der Berliner Helden durch ungeheuern Leichtsinn,
durch ungeschickte Selbstüberschätzung und jede Art von Abenteuerlichkeit auszeich¬
neten. — Deal dies liegt eben so sehr im Wesen des Bcrlinerthnms, als der
Umstand, daß dieselben Pläne zur Zeit der Ausführung schneller und vollständiger
in ihrer Nichtigkeit erkannt wurden, als irgend wo anders. All dies elende und
jammervolle Treiben, durch welches wir Alle so sehr gelitten haben, soll man ans
dem Jahre 48 nicht wegstreichen, es war die Schattenseite einer kritischen Zeit,
der wir trotz alledem das Prädikat einer großen nicht verweigern dürfen. —
Sehr beschämend aber für uns Deutsche ist der Umstand, daß wir uus noch jetzt
vor den Gespenstern dieser Vergangenheit wie erschreckte Kinder fürchten. Die
gegenwärtige preußische Regierung hat gerade das nicht gethan, was in der That
ein Zeichen von Größe und Kraft gewesen wäre, sie hat für die Verirrungen des
vorigen Jahres noch kein königliches Gnadenwort, keine Amnestie gefunden. Man
kann darüber uneinig sein, wie weit eine solche Amnestie auszudehnen gewesen
wäre, eine Gewissenspflicht deö Ministeriums aber war, wenigstens alle die poli¬
tischen Sünden niederzuschlagen, welcher bis zur Auflösung der zweiten Kammer be¬
gangen worden sind und nicht zu gemeinen Criminalverbrechen, Raub und Plün¬
derung geführt haben. War doch im vorigen Jahr Alles im Taumel. Jener
königliche Ritt durch die Berliner Straßen, bei welchem Stieber die dreifarbige
Fahne vortrug, hat ja die demokratischen Straßendemonstrationen selbst eingeleitet
und in den höchsten Regionen des preußischen Staates haben die verschiedenartig¬
sten Theorien und Pläne über Preußens und Deutschlands Wiedergeburt nicht
weniger Schrecken, Verwirrung und ungeschickte Maßregeln verursacht, als in den
Köpfen der Berliner Parlamentshelden und Proletariers wenn die Könige phan-
tasiren, rasen die Völker, und die Majestät von Preußen ist an der radikalen
Preußischen Konfusion von 48 mehr Schuld, als die Schelme der neuen preußischen
Zeitung an dem Belagerungszustand Berlins. — Wenn nun jetzt, wo wir wieder
zu Besinnung und Nüchternheit gekommen sind, wo das Gesetz seine Schärfe wieder
gewonnen hal, die Vergehungen und Uebertreibungen des vorigen Jahres auf die
Bank der Angeklagten gesetzt und nach altem preußischem Recht verurtheilt werden,
so ist eine sehr peinliche Empfindung nicht zu verwinden. Der Staatsanwalt muß
anklagen und der Richter muß verurtheilen, aber wir zürnen der Regierung, daß
sie nicht die Weisheit hatte, solchen Spruch unmöglich zu macheu.
Ziegler aus Brandenburg ist erst in diesen Tagen verurtheilt worden, weil
er mit den Steuerverweigerern ging, und über manchem andern braven Mann
schwebt noch dieselbe Gefahr, den Waldeck zwar haben sie freigesprochen, aber aus
all diesen Processen, gleichviel, ob der Staatsanwalt oder der Vertheidiger siegt,
wächst für die gegenwärtige Negierung nichts Gutes. Sie fachen den alten Haß
wieder an, schüren den Argwohn, borniren die verschiedenen Parteien und
erhalten die politischen Gegensätze von 1848, welche wir in der That bereits
lange überwachsen haben. Die Demokratie von 1848 als Masse ist im Absterben,
nicht weil die Wrangel und Brandenburg gegen dieselbe ausgezogen sind, sondern
weil sie durchaus nicht in den gemüthlichen und pecuniären Interessen der Nation
wurzelt; es kommt jetzt nur darauf an, die vielen ehrlichen und talentvollen
Männer, welche sich mit ihr verbunden hatten, für unsere Zukunft zu gewinnen,
ihnen den Uebergang in das neue Parteileben, welches auf den realen Interessen
der Völker uno Einzelnen aufzuleben anfängt, zu erleichtern, nicht unmöglich zu
machen. Das hat die preußische Negierung bis jetzt nicht verstanden, und wenn
die Regierungsorgane zuweilen heftig darüber klagten, daß die Parteien sich zum
Schaden des Vaterlandes bornüten, z. B. vor Auflösung der 2. Kammer, so
wälzen wir die Schuld der Regierung ans: sie selbst hat das Absterben der al¬
ten Demokratie verzögert dadurch, daß sie die Einzelnen durch Gesetze verfolgen
und bestrafen ließ, welche den gehässigen Anschein hatten, eine Parteiwaffe, das
Werkzeug der Rache zu sein. Es ist endlich Zeit, durch ein königliches Wort
alle diese Differenzen und Gegensätze zu beenden, und dies Wort kann in keiner
andern Form erscheinen, als in der einer Amnestie, — Wenigstens Hr. v. Manteuffel,
der Vorstand des Ministeriums, muß einsehen, daß die Krone der Wirkung des
Waldeck'schen Prozesses, welche sehr demokratischer Natur war, einen höhern Ef¬
fect gegenüberzustellen hat, welcher^die Gemüther der Berliner in's Loyale her¬
überzieht und dieser gute Effect heißt: eine Amnestie für polirische Ver¬
gehungen. Sie wäre eben so klug, als weise: den Berlinern zum Trost aber
sei gesagt, daß sie keinenfalls den Burschen Ohm seiner Strafe entziehn wird.
Die Unthätigkeit der ungarischen Armee nach dem Rückzüge, oder eigentlich nach
der debandirtcn Rctraite der Oestreicher von Ofen nach Preßburg erregte damals bei
den kriegskundigen Honveds arges Bedenken. Die Straße nach der kaiserlichen Residenz
war offen und die dortige Bevölkerung — so hoffte man — harrte darauf, mit Hilfe
der siegenden Magyaren sich von den Helden der Belagerung zu befreien. Statt diesen
Weg mit den begeisterten Schaaren einzuschlagen, zog Görgcy die Kerntruppen von
Komorn herab in's Land, um die unnütze Osner Festung zu bcrcnnen. Der Kriegs¬
rath Weidens hat seine Talcntlvstzkcit damit erwiesen, daß er eine tapfere Besatzung
dem gewissen Untergange weihte, denn Hentzi konnte unmöglich diesen Ort halten; die
Beschießung Pesth's war ein nie zu billigender Act, denn je größer die angerichtete Ver¬
wüstung sich zeigte, desto eifriger mußten die ungarischen Führer bedacht sein, das mit
seinen Geschützen drohende Festungswerk in Besitz zu nehmen. Hentzi focht und starb
als tapferer Soldat, allein sein ganzes Verfahren zeigt den beschränkten Kanonier.
Görgey schickte ein Bataillon nach dem andern gegen die Bresche, und wußte wohl,
daß nach dem Opfer von ein paar tausend Mann die Besatzung sich ergeben mußte;
ruhig und des Erfolges sicher schritt er, die Kampagnekappe aus dem kurzgeschorenen
Haare, auf und ab nächst dem Schwabcnberge, bis das Eindringen in die Straßen
Ofens gemeldet wurde.
Die Verzögerung in den Operationen der ungarischen Armee durch dieses Mauern-
stürmcn scheint damals Görgcy erwünscht gewesen-zu sein. Die Scene bei Viliigos
war längst vorbedacht, und eine Vorrückung gegen Oestreich, in das Herz des Gegners,
lag nicht im Plane Görgey's. Er genoß den Ruhm eines Fcstungcrobcrers, ermög¬
lichte den Einzug des Parlaments in die Hauptstadt des Landes, erhielt die höchste»
Auszeichnungen der Interims-Regierung, und mit der Popularität verband sich das An-
sehn im Heere, so daß Gorgey die Zügel des Reiches in seinen Händen hatte. Allein
die Macht und Beliebtheit des angebeteten Kossuth war dennoch größer, und klug zog
sich Görgcy in die Wälle Komorns zurück, als alleiniger Gebieter über 50,000
Bayonnette und !!00 Geschütze.
Görgey's Gesinnung blieb aber nicht verdeckt. Die Offiziere murrten über das
gefahrbringende Stillstehen, wodurch die östreichische Armee Zeit gewann, ihre Trümmer
bei Preßburg unter dem Schutze des Schloßcastclls zu sammeln. Die Zwistigkeiten
zwischen den erfahrene!? polnischen Generälen und den übermüthigen magyarischen wur¬
den geschürt und besonders von Görgey unterhalten, der hiedurch das Vorrücken gegen
die schlesisch-polnische Grenze vereitelte. Aber abgeschnitten von jeder authentischen Mit¬
theilung mußte das Heer seinem Führer vertrauen, dessen Protest gegen den 14. April
allgemein gebilligt wurde. Die Throncntsctzung wurde in der ganzen Armee als eine
Farce gemißbilligt, und verursachte, daß das Mißtrauen gegen Görgey ans Scheu ge¬
gen die unheilvollen Beschlüsse in Debreczin verschwunden war. In nichtsentschei¬
denden Scharmützeln an der Waag vertändelte er die Zeit, und ließ die russischen Ar¬
meekorps den in Waggons heranziehen. Alle Anfragen und Rücksprachen wurden barsch
abgewiesen; der General hüllte sich in diplomatisches Dunkel.
Als man ihn fragte, was er für einen Plan habe, antwortete er: wenn mein
Kopf meine Pläne genau wüßte, so ließe ich ihn abhauen aus Furcht, er könnte im
Schlafe Etwas verrathen.
Die Sommermonate kamen und mit dem Korn auf den Feldern wuchs der Streit
und Zwiespalt zwischen dem Gouverneur und Kommandanten des 3. Armeecorps an
der obern Donau. Ende Juni wußte man in Pesth bei der Regierung nicht, wo
Görgey stehe, und die Adjutanten fuhren und ritten bald am rechten bald am linken
Donauufer, um das Heer zu suchen. Die Regierung flüchtete nach Zegedin, weil die
Hauptstadt ganz ohne Bedeckung war, und Görgey alle Ordonnanzen unbeantwortet
ließ. Man wußte in Pesth nicht einmal, ob Komorn noch im Besitz der Ungarn sei,
und nur gerüchtweise hörte man, daß bei Ach eine Schlacht vorgefallen wäre.
Görgey besitzt so viel Talent, daß er damals schon seinen unverbesserlichen Fehler
einsehen mußte; er war müssig stehengeblieben, und ließ seine Armee und die Festung
umzingeln. Ging er anch mit dem Gedanken um, die Waffen zu strecken, so war er
doch zu magyarisch stolz, sich dazu zwingen zu lassen. Er versuchte am rechten Ufer
durchzubrechen, und an den Plattensee zu gelangen. Alle Kräfte wurden aufgeboten,
und sein Fcldherrnbiick hätte mit den muthigen Truppen das Ziel erreicht, wenn nicht
Paniutine dem Drcinhauer Hayuau geholfen hätte.
Görgey wurde noch trübsinniger und verschlossener, besonders da ihm das Geflü¬
ster der Offiziere: Görgey fällt ab, Görgey ist ein Verräther, nicht unbekannt bleiben
konnte; im ganzen Lager raunte man sich es in die Ohren, und sogar im Quartier
der Stabskanzlci, welches sich in einem ausgebrannten Hause zu OSzöny befand, wurde
schon davou gesprochen. Desto unfreundlicher, mürrischer und trotziger wurde Görgcys
Benehmen, und diesem, nicht einem Kampfe oder dem Schlachtcngewühl, verdankt
Görgey seine Kopfwunde, weicht seit jener Zeit eine so große Popularität gewann.
Mit verbundenen Kopfe rückte er später nach Waizen und machte den glorreichen Rück¬
zug bis Temeswar, mit verbundenem Ko^fe überreichte er an Rüdiger seinen Degen
bei Vilagos, mit verbundenem Kopfe speiste er an der Tafel des russischen Generals,
mit verbundenem Kopfe wurde er durch Galizien und auf der Eisenbahn durch Wien
nach Klagenfurt transportirt, und erst als der Kopf Batthyanyi's fiel, fiel die Binde
von Görgeys verwundeten Kopfe!
Hören wir die Veranlassung dieser Wunde.
In den Szönyer Schanzen lagerte das ermüdete Heer; es hatte glänzend gefoch¬
ten in den letzten Junitagen, aber noch heißere Schlachten standen in Aussicht
und Jeder wußte, daß seine Tage gezählt seien.
Eine Compagnie Infanterie, früher zu Dom Miguels Regiment gehörig, stand in
Reih und Glied, Görgeys Anordnung erwartend; es gab keine bravern Soldaten in
der ganzen ungarischen Armee, als diese trefflich exercirte, todesmuthige Truppe,
welche vom Hauptmann Kraus befehligt wurde.
Ein Major aus Görgeys Stab sprengt heran, aber statt die Ordre des Comman¬
danten an den Hauptmattn auszurichten, ruft er den Soldaten zu: Nit ultvlc ir tulc-
ii^osoli! was steht Ihr da, Ihr Lumpenpack. (Notzkerle)
Hauptmann Kraus trat sogleich hervor und verwies dem Major die Schmähung
und Beschimpfung. Hier stehen brave Soldaten, sagte er, und zwar von Dom Miguel
Infanterie, und die hätten gar nicht Roth, solche Schmach zu dulden.
Vielleicht daß diese Berufung auf die früheren Verhältnisse den magyarischen Ma¬
jor reizte, die Discusston wurde heftig zwischen beiden Offizieren und fluchend ritt
Letzterer davon.
Schon nach wenigen Minuten kam Görgey heran und frug in deutscher Sprache:
Wo ist der Hund?
Der begleitende Major wies mit der Hand aus Kraus.
Görgey ritt zornentbrannt aus ihn los und hieb mit dem Degen nach dem Haupt¬
mann, daß er besinnungslos mit einer tiefen Kopfwunde zusammensank. — Der Gene¬
ral und seine Suite entfernten sich im Galopp.
Hauptmann Kraus war nicht blos ein von seiner Mannschaft geliebter Offizier,
sondern ein von Allen, die ihn kannten, geachteter Mann, man war daher auf eine
eclatante Satisfaction gefaßt, die auch nicht ausgeblieben wäre, wenn die Ereignisse
Zeit gelassen hätten. Aber das gekränkte Ehrgefühl der Soldaten suchte nach Gele¬
genheit, sich zu rächen, und sonderbarerweise übernahm ein Husur das Amt der Ver¬
geltung. In solchen Momenten zeigte sich in der Armee der Ungarn, wo die Disciplin
streng aufrecht gehalten wurde, was selbst der so schmähende Gegner gestehen muß, der
Mangel jener Ersurcht und Sehen, welche die geordneten Autoritäten genießen. Trotz
der Anhänglichkeit und Liebe zu Görgey äußerten sich die ehemaligen kaiserlichen Sol¬
daten in ihrer Erbitterung wegwerfend über den improvisirten Marschall. Nur durch
diese Anschauung ist das folgende erklärbar.
Wie in jeder Schlacht trug Görgey bei OSzöny eine scharlachrothe Jacke. Sei
es, daß er bemerkte, die Kugeln der Oestreicher fielen häusiger ans den Platz, wo er
sich jedesmal befand, er entfernte sich aus dem Gefechte und kehrte erst später, in den
Reitermantel gehüllt, zurück.
Roh auffahrend tadelte er einen Husaren und holte nach löblicher Gewohnheit mit
dem Degen gegen ihn aus; der Husar sprang einen Schritt zurück, schwang den Säbel
und hieb nach dem Kopfe des Gegners.
Daher die Kopfwunde Görgeys.
Als gleich darauf Gericht gehalten wurde über den Husaren, wurde er mit einem
gelinden Verweis bestraft, denn er gab vor, den General nicht gekannt zu haben. Der
gemeine Reitermantel und die gewöhnliche Campagriekappe habe ihn glauben lassen, es
sei ein Kamerad, der zu viel getrunken hatte.
Was klagen die Leute, daß unsere Gegenwart frostig, nüchtern und prosaisch
sei? Noch gibt es seltsame, wundersame Dichtungen, man muß sie nur nicht im
Volke suche», sondern in den Kabinetten, nicht in Versen, sondern in den unge¬
reimten Ergüssen diplomatischer Weisheit. Wenn jetzt Einer unter uns träte und
ernsthaft behauptete, die Jahre 48 und 49 seien gar nicht dagewesen, es habe
kein Parlament in Frankfurt gegeben, keinen Reichstag in Kremsier, keine Ver¬
fassungen vom 4. März und keine vom 26. Mai, keine Ströme von Menschenblut,
keinen Haß der Völker, keine Trennung der Staaten, das Mes sei gar nicht,
oder doch jedenfalls ein Nichts gewesen, den würden wir als einen zweiten Kaspar
Hauser betrachten und mitleidig einstecken, damit seine unschuldige Seele nicht
untergehe in unserer gemeinen Wirklichkeit. Wohl, ein solch kleiner Caspar Hauser
ist das Kabinet Schwarzenberg, welches jetzt mit treuherziger Naivetät gegen
Preußen und den Bundesstaat, gegen die Jahre 48 und 49 Front macht.
In einem offiziellen Schreiben an den k. k. Gesandten in Berlin, dessen Inhalt
für Preußen und uns, das Publikum, bestimmt ist, schlägt es zuerst erstaunt die weißen
aristokratischen Händchen zusammen und ruft befremdet: „Was hat dieser Mann,
der Bodelschwingh, im Verwaltungsrath am 17. October gesagt? Der gute alte
Bund, die alte Verfassung seien todt, sie leben nur noch in Rechten und Pflich¬
ten der einzelnen Staaten? Wie so? Wir glauben das nicht, wir bestreiten das.
Und wenn ihr uns nicht zuschwört, daß auch ihr annehme, er lebe noch, so wird
das kaiserliche Oestreich einen Protest einlegen gegen euren neuen Bundesstaat; der
Protest liegt schon parat." — Ganz wie ein in die Welt geschneiter, unschuldiger
Caspar Hauser. Wir sehen Sie vor uns, liebe Durchlaucht Schwarzenberg, ein
Schäferhütchen mit flatternden Bändern auf dem Kopf, das leichte Röckchen auf¬
geschürzt, direkt aus Arkadien kommend, oder irgendwoher, wo man keine Welt¬
geschichte kennt, kein Blutvergießen, nichts als tiefen Frieden und kindlichen
Schlummer. — Was Preußen darauf geantwortet, nachher, zuerst einige Worte
über die Politik des conservativen Fürsten. Er hat so wenig gethan, was gute
Laune in Oestreich hervorrufen kann, daß er wenigstens dankbar sein muß, wenn
sie ihm irgendwo entgegenkommt.
Wir kennen ihn, diesen Fürsten. Seit der Zeit, wo ihn glatte Glacehandschuh
glücklich machten, über seine ruhmvolle Thätigkeit als Gesandter, bis zu seinem
Zusammenwirken mit dem armen Stadion, über die Auflösung des Reichstags und
das russische Bündniß bis zu seinem letzten Protest gegen die Union. Immer
derselbe schwache, rathlose, intriguante Sclave des Zufalls und der Verhältnisse,
zu engherzig für eine große Politik, zu kurzsichtig für eine schlaue, störrisch und
hartnäckig nur in seinen Vorurtheilen, versteht er, wie die übrigen unglücklichen
Sohne der alte» Diplvmatenschnle Oestreichs nur aus einer Verlegenheit in die
andere zu gerathen, und dnrch ein rücksichtsloses Ergreifen des ersten besten Net-
tungsmittels die alten Gefahren mit neuen zu vertauschen. Nur schlau in Kleinig¬
keiten, ist er plump in großen Dingen; wo das Cvuspiriren im Salon, das Ein¬
wirken durch Unterröcke und Connexionen aufhören muß, wird er rathlos. So
ist er in der That nur das Aushängeschild des Ministeriums, und so lauge Sta-
tions geschwächte Nerven die ungeheure Spannung aushielten, war noch ein
ehrlicher Wille, wen» auch ein beschränkter, in der leitenden Macht des Kaiserstaats
zu erkennen. Jetzt aber, wo die Schmerling, die Bach eine größere Schlauheit,
aber keine größere Kraft mit den fürstlichen Talenten verbunden haben, ist das
Auftreten des Kabinets so geworden, daß der Oestreichs von Selbstgefühl einen
tiefen Schmerz, der Deutsche seinen Widerwillen und ein noch schlimmeres Gefühl
zurückzuhalten keine Ursache hat.
Vieles Unrechte und Ungeschickte hat das Ministerium begangen; daß die
Zukunft Oestreichs trotz den Siegen und Füsilladeu durch die Generale, trotz den
Constitutionen, den Jnstizrcfvrmc», den großen Anstrengungen Geld zu schaffen,
eine so trostlose, unheilschwangere wurde, das ist zum großen Theil Schuld dieses
Ministeriums, eine Schuld der perfide», kurzsichtige» Politik, welche Gesetze gibt,
um sie zu brechen, in der Noth streichelt, um im Siege zu kratzen, oft freilich
eine Schuld, welche sie nicht als besonnene zurechnungsfähige Männer begangen
haben, sondern als Schwächlinge, welche durch die Macht der Verhältnisse von
einem Unrecht zum andern fortgerissen wurden. Nichts aber, was das Ministe¬
rium bis jetzt gethan hat, war so ungeschickt und plump, als die letzte Zärtlich¬
keit, welche dasselbe für den alten Bund an den Tag gelegt hat.
Wenn es gegen seine Kinder dort draußen, gegen die Rothmäntel, Slovaken,
Urtheilen von einer Ansicht zur entgegengesetzten überspringt, ihnen irgend eine
Hoffnung macht, oder ein Verspreche» gibt, mit der stillen Absicht, das Wort
nicht in die That umzusetzen, so mag es zusehen, wie lange die gläubige Unwissen-
heit ihm vertraut; wenn es aber einem Volk gegenüber, welches mit Bewußtsein
handelt, dasselbe Manövre versucht, so verdient es dafür alles Andere eher, als
ein Lob seiner Klugheit. Mit welcher Stirn wagt das Kabinet Schwarzenberg
der Union gegenüber auf den alten Bund zu pochen, während Oestreich sich selbst,
zuerst, sehr auffällig und unfreundlich schon im Sommer 48 von dem deutschen
Bund losgesagt hat, während sich dasselbe Kabinet durch sein eigenes Programm
und seine von ihm selbst vclrvyirte Berfassnng von der alten Bundesverfassung
losgesagt hat? In der ungeschickten Note vom l2> November behauptet das Mi¬
nisterium!, der alte Bund habe auch im Jahre 48 mit allen Rechten und Pflichten
der Bundesmitglieder fortbestanden und die provisorische Centralgewalt sei nur
die veränderte Form deö gemeinsamen Buudcsvrgaus gewesen. Nun denn, wie
hat Oestreich seine BundcSpflichteu gegen das Reichsministerium erfüllt? Hat es
je seinen Anordnungen Gehorsam, auch nur Beachtung geschenkt? Hat es damals
seine Beiträge, wo sie von der Centralgewalt gefordert wurden, zur „Bundeskasse"
bezahlt? Hat es seine Beiträge zur Flotte gezahlt, welche das „veränderte Organ
des gemeinsamen Bundes" von ihm erbat? Ja noch mehr, hat es selbst in den
Fällen, wo der alte Bund wirklich etwas zu bedeuten hatte, bei den Veränderun-
gen in seiner Militärorganisation, dem Organ verfassungsmäßige Anzeige gemacht?
Hat es sich bei seinen Kriegen in Ungarn und Italien irgend um den „Bund"
gekümmert, wäre es auch uur durch eine höfliche Notifikation gewesen? Ja noch
mehr, das „veränderte Organ des gemeinsamen Bundes" führte damals eiuen
Krieg mit Dänemark, wo Tausende von Buudessöhuen für eine Bnndcssache starben,
welchen Theil hat wohl Oestreich an dem Kriege genommen? Es hat den König
von Dänemark, den damaligen Kriegsfeind des fortbestehenden Bundes gerade
damals seiner Freundschaft und Zuneigung versichert, es hat sich gerade damals
einen dänischen Seeoffizier zur Restauration seiner zerfallenen Flotte ausgebeten.
— Wahrlich, diese Rücksichtslosigkeit verdiente schon damals, wo Oestreich sich
eigenmächtig und hochmüthig von den deutschen Angelegenheiten isolirt hatte und
so angesehen sein wollte, eine ernste Rüge; wie kann man das jetzt nennen? Es
gibt anch für Regierungen Etwas von dem, was man im Privatleben Ehre nennt,
und nicht nur der Einzelne kann seine Ehre verlieren. — Aber weiter: Oestreich
hatte sich faktisch losgelöst von den Pflichten eines Bnndesgliedes, da kam der
treuherzige Minister, welcher jetzt für den alten Bund schwärmt, und erklärte dies
auch ausdrücklich. In dem Antritts-Programm des Ministeriums Schwarzenberg
ist deutlich und mit Emphase Folgendes ausgesprochen: Erst wenn das ver¬
jüngte' Oestreich und das verjüngte Deutschland zu neuen und
feste» Formen gelangt sind, wird es möglich sein, ihre beidersei¬
tigen Beziehungen staatlich zu bestimmen. Das ist deutlich genug, ja
und auch männlich und ehrlich gesprochen. Freilich verspricht das Ministerium
gleich dahinter, bis zur Ordnung der schwebenden Verhältnisse seine Bundespflicht
zu erfüllen, was es seit einem halben Jahr nicht mehr gethan hatte und
auch später nicht zu thun willens war. — Und gleich darauf folgt der Satz:
In allen äußern Beziehungen des Reiches werden wir die Inter¬
essen und Würde Oestreichs zu wahren wissen und keinerlei beir¬
renden Einfluß vou Außen aus die unabhängige Gestaltung
unserer innern Verhältnisse zulassen.
Das ist sehr deutlich gesprochen, und heißt speciell ausgedruckt: wir werden
uns weder bei unserer Mililäreintheilung, noch bei irgend einem Zweige unserer
Gesetzgebung, noch bei der innern Organisation des Kaiserstaats um das „verän¬
derte Organ" kümmern. — Jetzt möge Se. Durchlaucht wählen, entweder hat sie
in diesem Programm mit kühner Ueberlegung die Völker Oestreichs und die Welt
betrogen, oder sie lügt und täuscht jetzt. Mein Lord zuckt die Achseln, es kommt
ihm gar nicht darauf an, seine feierliche Verheißung für eine unüberlegte Aeuße¬
rung zu erklären, die Verhältnisse sind seitdem andere geworden. Sind sie das?
Im Gegentheil, er hat nicht nur in diesem Sinne gesprochen, sein Kabinet hat
bis zu diesem Tage anch darnach gehandelt, noch mehr, es läßt sich beweisen,
daß es gerade nur in dem Punkte Consequenz gezeigt hat, Oestreich gründlich
und vollständig von den alten Bnndesverbindnngen loszulösen. Fürst Schwarzen¬
berg hat die Verfassung vom 4. März octroyirt. Durch diese Verfassung und die
militärischen und administrativen Verordnungen, welche ihr folgten, ist jede, jede
Verbindung mit dem übrigen Deutschland, wie sie die alte Bundesverfassung er¬
hielt, nicht nur aufgehoben, sondern geradezu unmöglich geworden. Der Gegen¬
satz zwischen östreichischen Bundeslanden und auswärtigen Staaten ist gänzlich
aufgehoben, aufgehoben die östreichische Militäreintheilung des Bundescontingents,
aufgehoben und selbstständig umgewandelt sogar anch die wenigen Gesetze, welche
der Bund gegeben hatte, über die Presse, das literarische Eigenthum und das sehr
wenige, was vou den alten Rechten und Pflichten etwa noch als nützlich erhalten
wurde, ist von dem östreichischen Kabinet consequent und richtig nur als Rest eines
staatlichen Vertrags mit guten Nachbarn aufgefaßt worden. Es gibt nicht Vieles,
was dies Ministerium nicht wagt, aber das wagt es doch noch nicht, seinen eige¬
nen Staatsbürgern, unsern Nachbarn, den Czechen, gegenüber davon zu sprechen,
daß Böhmen ein deutsches Bundesland geblieben ist, und die czechischen Recruten
Soldaten des Bundcscontingents. Allerdings ist auch die Verfassung vom 4. März
eine gleißende Lüge geworden, und Oestreich factisch kein absoluter, sondern ein
despotischer Staat, wo nicht das kaiserliche Gesetz herrscht, sondern die'Willkür
der Generale und einzelnen Beamten. So steht es in Oestreich, daß das Mini¬
sterium selbst nicht mehr die höchste regierende Behörde ist, sondern die militäri¬
schen Adjutanturen. Aber gegen Deutschland wenigstens hat Fürst Schwarzenberg
noch eine Stimme und er benutzt sie, ein langes Schweigen brechend, dazu, beim
ersten Wort durch eine Unwahrheit sich selbst, seiue Worte und sein Thun Lüge«
zu strafen. Gegen ein solches Ministerium, so baar aller Konsequenz, so arm an
Ehrlichkeit und männlichem Willen ziemt sich eine derbe und deutsche Sprache; wir
bedauern, daß die preußische Regierung dieselbe so spät gefunden hat.
Die preußische Antwort auf diese erste östreichische Note interpvetirt die bekannte
Darstellung der BuudcsverlMnisse von Bodelschwingh, weist schüchtern daraus hin,
daß Oestreich ja selbst factisch sich vom alten Bund zurückgezogen habe, und ge¬
winnt erst am Ende den Ton männlicher Ironie, indem sie die Bitte ausspricht,
Oestreich möge doch seinerseits Vorschläge für Reorganisation des Bundes machen.
Preußen weiß recht wohl, daß Oestreich das nicht kann, selbst wenn das Cabinet
Schwarzenberg den Muth und Witz dazu hätte; das Wenige, was der Kaiser¬
staat von sich dem Bunde jetzt noch geben kann und darf, würde einen Schrei
der Entrüstung nicht nur bei den deutschen Völkern, sondern auch bei einzelnen
Cabinetten erregen, wenn es in einer Verfassung klar und bestimmt formulirt
würde. Aber die preußische Negierung ist nicht ganz ohne Schuld an der östrei¬
chischen Note. In ihren Verhandlungen um das Interim hat sie offenbar die
Interpretation der Bundesverhältnisse, wie sie Oestreich am angenehmsten war,
zu nachsichtig gelten lassen, sie hat wenigstens vermieden, die Unigltigkeit der
alten Bundesverfassung kräftig zu behaupten. So hoffte sie Zeit und Luft für
die junge Union zu gewinnen. Das rächt sich jetzt. Doch durch das männliche
Auftreten der 2ten Kammer in der deutschen Frage (67te Sitzung) ist dieser
Mangel an Energie wenigstens für die öffentliche Meinung wieder gut
gemacht.
Auf die Antwort Preußens erschien eine zweite Note Oestreichs direct an
das Berliner Cabinet, ungefähr desselben Inhalts, wie die frühere, doch war am
Schluß die Verstärkung zugefügt: falls der projectirte Bundesstaat irgend eine
Unordnung in Deutschland hervorrufen sollte, werde Oestreich mit Truppen inter-
veniren, worauf die preußische Regierung antwortete: sie sei stark genug, im Ter¬
rain des Bundesstaats Ruhestörungen zu verhindern, und habe das bereits be¬
wiesen, als die östreichische Negierung keine Zeit dazu hatte. So ist der Notcn-
krieg eingeleitet, wir sind unbesorgt über seinen Ausgang, wir kennen Sr. Durch¬
laucht Politik: Anmaßung gegen die Schwäche und Mangel an Selbstgefühl
gegen die Stärke.
Jetzt endlich reisen die Mitglieder der Jnterimscommisstou nach Frankfurt.
Dort wird klar werden, was lange kein Geheimniß war, daß es für Oestreich
wie für Preußen unmöglich ist, den alten Bund zu reorganisiren, daß es nur
wenige Paragraphen der Bundesacte gibt, welche für das jetzige Oestreich noch
Passen, selbst wenn es möglich wäre, die Strömung des deutschen Lebens in das
alte enge'Bett zurückzuführen. Die Jnterimsbehörde wird im besten Fall nichts an¬
deres sein, als eine Commission um die Verhältnisse Oestreichs zu den deutscheu
Staateil auseinanderzusetzen, die nothwendige Trennung zu reguliren, und viel¬
leicht neue internationale Verträge anzubahnen. Im schlimmeren Fall wird sie
keine Versöhnung der divergirenden Interessen herbeiführen und dann wird ent¬
weder die Gewalt entscheiden, welche wir trotz den 600,000 Soldaten, welche nach
den offiziellen östreichischen Blättern vorhanden sind oder den 250,000 Bayvnetten
welche das Cabinet Schwarzenberg im besten Fall, mit größter Anstrengung wirk¬
lich disponibel macheu kann, gar nicht fürchten; oder es wird ein Zustand schlech¬
ter Unentschiedenheit verlängert werden, welcher für deu neuen Bundesstaat
nicht unbedingt schädlich sein mag. Der schlimmste Fall, daß die preußischen In¬
teressen in die Hände eines elenden Ministeriums kommeu könnten, welches Deutsch¬
land an ein Cabinet Schwarzenberg verräth, ist sehr »»wahrscheinlich. Träte aber
dieser Fall ein, so würde es einen Fürsten geben, der mit dem Fluch der deutscheu
Völker und seines eigenen Hauses in ein rühmloses Grab Säule.
So aber steht es in Preußen nicht. Was mau auch dem diplomatischen
Ungeschick Preußens nachsagen möge, es steht in Preußen über allen Differenzen
zwischen den Stimmungen der Krone und des Volkes doch Manches fest: ein männ¬
liches, ehrliches Verhältniß zwischen Fürsten und Volk; bet dem Fürsten Achtung
vor dem Bedürfniß und ausgesprochenen Willen des Volkes, und bei den Völkern
das warme Gefühl, daß ihr Souverain ihnen angehört, und daß ihre Ehre und
ihres Königs Ehre eins sind. —
Ein belebtes Ansehen hat jetzt die Festung Rendsburg, die beim Beginn
des Frciheitskampfes eine so bedeutende Rolle spielte. Ein großer Theil des
Schleswig-holsteinschen Heeres, das sich nach den Waffenstillstandsbcdingunge» ganz
aus Schleswig zurückziehen mußte, garnisonirt hier. Stattliche Truppen, die sich
mit den besten, die Deutschland besitzt, kühn vergleichen können; ein frischer kräf¬
tiger Geist, sehr strenge Disciplin, ohne jedes Kamaschenthum. Es ist eine Freude,
dies kleine, wackere Heer zu sehen, welches seine Tüchtigkeit schon in heißem Kampf
gezeigt hat. Besonders das Offiziercorps desselben enthält viel treffliche Elemente,
erfahrene, gebildete Männer, wie man sie nicht in alleu unseren deutschen Contin-
genten allzuhäufig findet. Von militärischem Dünkel, übermüthigem Kastengeist
keine Spur; daher auch überall das beste Einvernehmen mit allen übrigen Stän¬
den stattfindet. Die Bekleidung derselben gleicht fast ganz der preußische», sie ist
zweckmäßig und dem Auge wohlgefällig. Auch sonst sind die preußischen Militär-
einrichtungen, die sich so gut bewährt haben, nachgebildet und man kann die
Weswig-Hvlsteinsche Armee als eine Tochter der preußischen betrachten. All das
Gute der Mutter hat sie angenommen, einzelne Schroffheiten aber glücklich ver¬
mieden. Großes Verdienst haben bei der Organisation derselben der wackere Ge¬
neral v. Bonin und seine thätigen Gehilfen, der Oberst v. Se. Paul und der
Hauptmann v. Delius, die beide in diesem Sommer den Heldentod fanden. Die
Stärke des Heeres ist jetzt auf dem Kriegsfuß vou 34,000 Maun mit 96 Geschützen,
ein Beweis, welche Anstrengung das kleine Land gemacht hat. In allen Abthei¬
lungen der Schleswig-holsteinschen Armee lebt der eifrigste Wunsch nach neuem
Kampf und man hofft, daß derselbe noch im Lauf dieses Winters wieder beginnen
werde. Ohne fremde durch eigene Hilfe will man den Krieg ausfechten. Verhindert
Deutschland uur, daß Dänemark von fremden Staaten unterstützt wird, so wollen
wir allein schon mit demselben fertig werden. Soldaten steht solche Rede unter
allen Umständen gut. Vor der Hilfe anderer deutscher Kontingente hat man jetzt
überall gehörigen Widerwillen. Nicht als wenn man die Soldaten als tapfere
Waffenbrüder verschmähte, aber die vielen diplomatischen Rücksichten, das Zander¬
system, die heimliche» Intriguen aller Art, die mit denselben wieder einziehen wür¬
den, haßt man und will man um jeden Preis vermeiden. Zweimal hat man Trup¬
pen aus alleu möglichen Theilen Deutschlands gehabt und nichts mit denselben aus¬
richten dürfen, das dritte Mal will mau versuchen, ob es nicht mit eigenen Kräften
besser glückt. Wenn auch die Dänen am Meisten fürchten, allein mit der Schles¬
wig-holsteinschen Armee kämpfen zu müssen, welche man bis aus 40,000 Mann
bringen will, so ist das ganz natürlich, denn in diesem Falle wird es ein furcht¬
barer Kampf, die letzte Schlappe bei Friedericia ist wieder auszuwetzen. In dem
trefflich eingerichteten Arsenal zu Rendsburg herrscht eine große Thätigkeit. Kürz¬
lich noch sind zwei Batterie» aus demselben hervorgegangen, die es mit jeder Bat¬
terie in ganz Deutschland aufnehmen können.
Von den Offizieren der Schleswig - holsteinschen Armee stehen noch viele
und zwar namentlich höhere in preußischen Diensten; ein großer Theil der¬
selben ist in den Schleswig-holsteinschen Dienst übergegangen. Jetzt freilich ha¬
ben sie noch eine ebenso angenehme und ehrenvolle als pekuniär einträgliche Stel¬
lung, ob dieselbe aber für die Zukunft ebenso sicher ist, wie die in Preußen aus¬
gegebene, steht zu bezweifeln. Sonst sind noch einige frühere sächsische, hannöversche
und mecklenburgische Offiziere in der Schleswig-holsteinschen Armee. Der größte
Theil besteht aus Schleswig-Holsteiueru, zum Theil älteren Offizieren, die schon
im Heere dienten, als Schleswig-Holstein noch unter dänischer Botmäßigkeit stand.
Bei der starken Vermehrung des Heeres haben sie alle ein sehr gutes Avancement
gehabt, und manche haben ihre Liebe zum Vaterland in deu diesjährigen Käm¬
pfen mit Wunden nud Tod besiegelt, so der Oberst und Brigadier Sachan,
der von der Pike an gedient hatte, und der Oberst und Brigadier, Graf Ban-
d i ssi n, welcher schwer verwundet ward. Unter den jünger» Offizieren sind mehrere
ehemalige Heidelberger, Bonneuscr, Kieler Studenten, die als Freiwillige in das
Heer getreten, und in den verschiedenen Gefechten sich ihren Offiziersgrad erwar¬
ben, und andere Deutsche, die zuerst mit dem Freicorps in das Laud kamen, spä¬
ter in das reguläre Heer traten, und sich durch ihr Betragen deu Osfiziersgrad
erwarben.
Gleich hinter Rendsburg ist die fchleswigfche Grenze und welcher Unterschied
beginnt jetzt hier. In Holstein eine allgemein geachtete Statthalterschaft, deren
Befehle den freudigsten Gehorsam finden, in Schleswig die verhaßte Landesver-
waltung, der die Wenigsten gehorchen, wenn sie nicht durch militärische Executio-
nen gezwungen werden. Schon in der Stadt Schleswig selbst, diesem hübschen
freundlichen Orte mit dem seltenen Reichthum an schönen Mädchen, merkt man
den jähen Wechsel. Zuerst fällt die Verschiedenheit in der Garnison aus. Die
Stadt hat jetzt eine starke Besatzung von preußischen Truppen und keine ange-
nehme Pflicht haben diese hier zu erfüllen. Sie sind die Vollstrecker der Maßre¬
geln der sogenannten Landesverwaltung, die Werkzeuge.des dänischen Regiments
gegen deutsches Wesen. Wohl suhlen das die wackeren preußischen Soldaten.
„Im vorigen Frühling da konnten wir die dänischen Rothröcke nach Herzenslust
ans Schleswig heraufbauen nud das thaten wir, jetzt müssen wir hier die däni¬
schen Gensdarmen spielen und die Leute nach dem Willen der verd...... Landes¬
verwaltung in Flensburg plagen, das ist ein harter Befehl" klagte uns mißmuthig
ein Trupp braver Füsiliere vom 12 Regiment, echte Söhne der Altmark. „Wenn
es nach uns ginge, wir halfen morgen wieder den Schleswig-Holsteinern und
klopften auf die alten Dänen los, wo wir sie sähen, aber was hilft dies alles,
die Herren von der Feder in Berlin haben unserm Fritz was eingeredet." —
Wie ungern die preußischen Soldaten ohne Ausnahme diesen Polizeidienst, zu dem
die Landesvcrsammlung sie gebraucht, versehen, zeigen sie übrigens möglichst deut¬
lich, singen bei jeder Gelegenheit, möglichst kräftig und begeistert: „Schleswig-Hol¬
stein mecnlmschlungensogar wenn es gilt dänischgesinnte Beamte zu eskortiren
und diese vor dem Ausbruch des Volksuuwillens zu schützen, was eine Hauptbe¬
schäftigung der Soldaten ist. Auch die preußischen Oberoffiziere, namentlich der
General v. Hahn, ein echt deutscher Mann, fühlen die zweideutige Stellung, die
sie hier einnehmen müssen, schmerzlich und suchen dieselbe so viel an ihnen
liegt, zu verbessern. Wie die Landesverwaltung überhaupt darnach strebt, alle
Stellen, zumal die bei der Polizei mit dänischgeflnnten Personen zu besetzen, so
wollte sie auch nach Schleswig einen gewissen Baron Eggers als Polizeiminister
senden. Dieser aber war vor einigen Jahren wegen Unterschlagung öffentlicher
Gelder in Schleswig selbst schimpflich aus dem Dienst entlassen und war weite¬
rer Strafe nur durch den Ausbruch der Unruhen, vor welchen er nach Kopen¬
hagen flüchtete, befreit worden. Einen solchen Menschen wieder für eine solche
einflußreiche Stelle zu bestimmen, war doch zu stark, und General Hahn, der zum
Schutz desselben aufgefordert war, denn ohne Eskorte hätte Eggers sich keine
Stunde in Schleswig aufhalten können, sandte noch in der Nacht eine Stafette
nach Flensburg und protestirte kräftig gegen die Ankunft desselben: „Offenbare Be¬
trüger zu schützen sei für preußische Waffen doch zu schmachvoll," ließ er sagen. In
Folge dieser Weigerung mußte die Anstellung unterbleiben. Sonst freilich müssen
die preußischen Truppen für die Landesverwaltung Befehle ausführen, die für
ihr militärisches Gefühl sehr schmerzlich sein können. Dahin gehören besonders die
Executionen gegen alle Ortschaften, welche die Befehle der Flensburger Herren
nicht ausführen wollen. Da nnn im ganzen südlichen Schleswig fast jedes Amt,
jede Stadtbehörde nnr gezwungen gehorcht, so ist dieser Dienst weder besonders
angenehm noch ehrenvoll für die Preußen. Natürlich trägt sich das Gehässige solcher
Aufträge unwillkürlich auf die unfreiwilligen Ausführer derselben über und gibt
der Stellung der preußische» Truppen hier etwas Peinliches, Gezwungenes. Mit
welchem freudigen Enthusiasmus wurden im vorigen Frühling die ersten preußi¬
schen Bataillone hier empfangen. Jetzt freilich kann man nicht leugnen, daß die
große Mehrzahl der Bevölkerung den Abmarsch derselben sehr gerne sehen würde.
Uebrigens ist man im Allgemeinen auch hier gerecht genug, dem bewiesenen Muth,
der tresslichen Disciplin ni^d der großen Gesittung des preußischen Heeres selbst,
die verdiente Anerkennung zsu zollen. Die Kosten der Executionen betreffend, so
werden diese größtentheils gemeinschaftlich vom ganzen Lande durch freiwillige
Beiträge aufgebracht, die Stadt Husum z. B. die eine starke preußische Execu-
tionsmannschaft zu ernähren hat, erhielt in den letzten Tagen meiner Anwesenheit
einen freiwilligen Beitrag von 1000 Thalern aus Holstein zu brüderlicher Hilfe.—
Auch unser Eilwagen von Schleswig nach Flensburg ward von einer Eskorte
preußischer Soldaten, die niitfuhren, gedeckt. Es galt die dänische Königskrone
und den königlichen Namenszug ans dem Postwagen zu beschützen, denn das
Volk im schleswigschen ist wüthend darüber, daß man diese verhaßten Zeichen
ihm schon jetzt, während des Waffenstillstandes, vor Augen führen will, und hat
dieselben wiederholt abgerissen oder übermalt. So müssen die armen preußischen
Soldaten jetzt ein Abzeichen beschützen, gegen das sie vor wenigen Monden noch
zu Felde zogen.
In Flensburg liegt schwedische Besatzung. Ernste, stille Leute, die zwar
etwas viel Branntwein trinken, sich aber anständig aufführen und keinen Grund
zur Klage geben. Sie gehören dem „ungetheilten Heere" an, haben fast alle
Frau und Kind zu Hause und ein kleines Besitzthum, von dem sie leben, und
gingen gern möglichst bald nach Schweden zurück. Für die dänische Sache äußern
sie nur sehr geringe Sympathien. Aber sonst sieht es schlecht hier in Flensburg
aus für den deutschgesiunten Theil der hiesigen Bevölkerung. Mit geringen Aus¬
nahmen ist der eigentliche Mittelstand deutsch, während mehrere reiche Kaufleute,
die vorzüglich nach Dänemark handeln, dann die Hafenbevölkernng, viele Hand¬
arbeiter u. s. w. oft sogar fanatische Dänen sind. Viele eingewanderte Dänen
uudJüten befinden'sich übrigens unter dieser letzten Klasse. Man hat den dänischen
Pöbel, der sich durch Haufen entlassener Kopenhagener Matrosen verstärkte, gegen
die deutschen Einwohner, die sich durch Patriotismus hervorgethan hatten, auf¬
gehetzt und diese waren täglich allerlei Roheiten ausgesetzt. Deutschgeflnnte Bürger
wurden auf offener Straße von dänischen Matrosen geprügelt, den Frauen, die
durch ihre Pflege in deutschen Spitälern bekannt waren, wurden die Hüte abge¬
rissen, oder ihnen ins Gesicht gespuckt, große Steine wurden des Abends an die
Läden und Thüren der Häuser deutscher Bürger geworfen, kurz aller mögliche
Unfug verübt. Sogar gegen die armen Kranken in den Hospitälern richtet sich
dieser Zorn. Auch die Gräber der auf Flensburgs Kirchhof begrabenen deutschen
Soldaten, die an ihren Wunden in den hiesigen Hospitälern verschieden, sind vor
allerlei schändlichem Unfug nicht sicher, und die Blumen und andere freundliche
Verzierungen, womit ein Kreis deutschgcsinnter Frauen die Ruhestätten unserer
Krieger geschmückt hat, sind von rohen Händen zerstört. Gegen alle solche Dinge
gewährt der Polizeimeister Schrader, ein fanalisirter Däne, den die Landesver¬
waltung eingesetzt hat, nicht den mindesten Schutz, er scheint dieselben noch zu
begünstigen. Wehe dem Unerfahrenen, der es wagen sollte, mit einer deutschen
Kokarde in Flensburgs Gassen zu erscheinen, auf der Stelle würde er arretirt.
lind wenn er als beurlaubter Schleswig - holsteinscher Soldat die Eltern oder
Verwandten besuchen wollte, so wird er per Schub gleich einem gemeinen Verbre¬
cher aus der Stadt transportirt. Hat man sich doch neulich sogar an einem armen
Krüppel vergriffen, einem Baier, dem im Schleswig - holsteinschen Heer das eine
Bein bis zur Hüfte abgeschossen war, und der sich hier sein kümmerliches Brot
dnrch Musikunterricht verdiente, uur weil man entdeckte, daß er noch eine alte,
verblaßte deutsche Kokarde an seiner früher» Militärmütze zu tragen wagte. —
Beurlaubte dänische Soldaten und Offiziere schwärmen dagegen zahlreich in Flens-
burg wie in ganz Nordschleswig umher, und dänische Kokarden kann man in Menge
erblicken, ja dänische Offiziere haben sogar an mehrern Stellen der Küste schon
Vermessungen unternommen.
Die Landesverwaltung in Flensburg ist die ungeschickteste und unpopulärste
Regentschaft, welche je existirt hat. Bei der eigenthümlichen Zusammensetzung
derselben darf man sich hierüber nicht wundern. Das englische Mitglied, Oberst
Hodges, ist ein stolzer, schroffer Engländer, der kein Wort Deutsch versteht, die
Schleswig-holsteinischen Zustände nicht im Mindesten kennt und sich um ganz Schles¬
wig so wenig bekümmert, wie eine Robbe um Seiltänzer. Der preußische Com-
missionär, Graf Eulenburg, soll früher ein tüchtiger Landrath gewesen sein und
einen offenen, redlichen Charakter haben, Verdienste, die ihm hier durchaus nicht
abgesprochen werden solle»; zu der sehr schwierigen Stellung, die er jetzt bekleidet,
paßt er aber nicht, was er selbst fühlen mag, wenigstens soll er schon wiederholt '
um seine Abberufung gebeten haben. Er hat weder die nöthige rücksichtslose
Energie, noch die zähe diplomatische Gewandtheit, welche hier nöthig wären, kennt
auch die Schleswig-holsteinischen Verhältnisse, die ihm früher ganz fremd waren,
noch sehr wenig. Dazu soll ihn auch die preußische Partei der Kreuzzeitung, die
darauf ausgeht, Preußen um allen Credit im übrigen Deutschland zu bringen,
von vornherein gegen die Schleswig-holsteinische Erhebung einzunehmen gesucht ha¬
ben. So mußte er freilich wohl ein Werkzeug des dänischen Commissärs, Herrn
v. Tillisch, werden, und seinen Namen zu Verfügungen hergeben, die einem Deut¬
schen keine Freude machen. Herr v. Tillisch, ein schlauer, energischer und nicht
sehr bedenklicher dänischer Palmöl, genau mit allen Verhältnissen des Herzogthums
Schleswig, in dem er lange als Beamter fungirt hat, bekannt, und von einer
Menge dienstwilliger Kreaturen und Helfer umgeben, beherrscht daher die Landes¬
verwaltung und Schleswig gänzlich. Daß man sich jetzt schon bestrebt, das
Deutschthum auszurotten und das Land zu däuistren, ist natürlich. Besonders
ans Beamte, Prediger, Schullehrer, die sich durch deutschen Patriotismus hervor¬
thaten, hat man es jetzt abgesehen und täglich fast erfolgen willkürliche Amtsent-
setzungen derselbe». Uebrigens werden diese entlassenen Beamten von ihren Col¬
lege», besonders auch aus Holstein, so viel als möglich unterstützt, wie sich denn
überhaupt der Gemeingeist und ein treues Zusammenhalten jetzt recht erfreulich
zeigt. Das Unglück eint die Me»schen oft weit besser als das Glück. ,
Einen jämmerlichen Eindruck machen die Düppler Schanzen in ihrer jetzigen
Beschaffenheit. Als ich zuletzt an dieser Stelle stand, hatten die tapfern Sachsen
und Baiern die Schanzen so eben in heißem Sturme genommen, und stolz flat¬
terte das deutsche Banner auf denselben. Um uns winden noch Verwundete fort¬
getragen, die Todten lagen noch umher, die Mühle am Fuße der Schanzen brannte,
und das ganze blutige Elend des Krieges umgab uns, aber es war doch ein fro¬
her Augenblick; wir hatten gesiegt im ehrlichen Kampfe, den Dänen das letzte
Bollwerk, das sie noch auf Deutschlands Erde besaßen, entrissen. Und jetzt sind
die Schanzen, die uns so viel Blut gekostet, an deren Befestigung so wacker von
allen möglichen deutschen Truppentheilen gearbeitet wurde, von den Dänen gänz¬
lich zerstört, die deutsche Tricolore ist verbraunt, beschmutzt, zerrissen, aber aus
der nahen Insel Alsen sieht man stolz die dänischen Farben in das Meer und die
schneebedeckte Landschaft ragen. Verkleidete dänische Soldaten, die von Alsen
herübergeschickt wurden, haben die Schanzen gegen Kriegsrecht und gegen die
Bedingungen des Waffenstillstandes zerstört, welche Satisfaction hat Dänemark
dafür gegeben? Was hat die preußische Regierung gethan, den Sinn und Wort¬
laut des Vertrages gegen diese Willkür zu schützen, jenes Vertrages, der nicht so
übermäßig ruhmvoll ist, daß er irgend eine Indulgenz gegen Ucbergnfse der Ge¬
genpartei gestattete? Wenn aber die preußische Regierung es für christlicher hält,
zu vergeben, als sich zu rächen, so würde sie viel besser thun, dies fromme
Gemüth gegenüber deu Verirnmgen und Uebergriffen der Oppositionspartei nnter
ihren eigenen Bürgern zu zeigen, als gegen einen Feind, den sie im Felde be¬
kämpft hat. Doch wir lassen, uns ja gutmüthig alles Derartige gefallen, und
wenn man uns einen Schlag auf die Backe gibt, so halten wir demüthig die an¬
dere auch noch hin. Wer kann es dem kleinen Dänemark wohl verdenken, wenn
es uns mit frechem Uebermuth behandelt? Möge bald dem tapfern Schleswig-hol¬
steinischen Heere die heißverlangte Gelegenheit werden, diese und noch viele andere
, Es ist bekannt, daß die Aufsuchung einer Straße, die aus dem arktischen in
den stillen Ocean führe, die Seefahrer schon ganz kurz nach der Entdeckung Ame¬
rikas zu beschäftigen begann; aus der Zusammenstellung des von Columbus mit
dem von Vasco da Gama entdeckten Gebietes schloß man nämlich ans das Dasein
eines großen, zwischen beiden liegenden Landes, zu dem man, sowie nach Ostin¬
dien selbst, von Amerika aus schneller und leichter gelangen müsse als von Europa
aus. Bereits im Jahre 150V hatte Portugal die beide» Brüder Gaspar und
Michael Col real zu diesem Behufe ausgesandt; doch geschahe» die ersten be¬
deutenden Schritte zur Aufsuchung einer nordwestlichen Durchfahrt von John
Davis (1585- 87) und von William Baffin (i6l5—16). Im Ganzen
sind bis jetzt über stebenzig solche Reisen unternommen worden, fast sämmtlich von
Engländern, ohne daß mau das Problem gelöst, ohne daß man der Lösung auch nur
nahe gekommen wäre; vielmehr hat man die Ueberzeugung erlangt, daß dasselbe
entweder unlösbar sei, oder daß auch aus der glücklichsten Lösung weder für die
Schifffahrt noch für den Handel ein wesentlicher Nutzen fließen würde. Von der
Mündung des Mackenzie nämlich bis zur BarrowSspitze ist die See selbst im August
und September mit Eis bedeckt und nicht einmal für größere Boote fahrbar;
dazu kommt noch, daß man nicht einmal von denjenigen jener Gegenden, die man
den einen Sommer eisfrei gesunden, wissen kann, ob sie es auch in einem an¬
deren sein werden.
Wenn aber auch jenes Problem nicht gelöst worden ist und wat-rscheinlich
niemals gelöst werden wird, so haben doch schon die Versuche der Lösung die
Natur--, die Erd- und die Himmelskunde sehr gefördert. Eine der wichtigsten
Bereicherungen hat die Physik im Jahre 1831 erfahren durch die von John Roß
(eigentlich von James Roß) gemachte Entdeckung des magnetischen Nordpols,
eine Entdeckung, deren Nutzen nicht blos für die Physik, sondern auch für die
Schifffahrt ganz unberechenbar ist. Solche wissenschaftliche Zwecke und die dnrch
Erreichung derselben sich ergebenden praktischen Vortheile sind denn auch in unse¬
ren Tagen die wesentlichen Ursachen zu den Nordpolexpeditionen.
Im Juli 1845 hatte die englische Regierung den Capitän John Franklin
ans eine solche Expedition ausgesandt. Seit dieser Zeit aber waren mehr als
zwei Jahre verflossen, ohne daß von ihm, von seiner Mannschaft oder von seinen
Schiffen (er befehligte die beiden Dampfschiffe „Terror" und „Erebus") etwas
verlautet hätte; da beschloß die englische Regierung, eine Expedition zur Aufsu¬
chung des Vermißten auszusenden. An die Spitze derselben wurde der Capitän
Ja in es Clark Roß gestellt, der bereits an den beiden Nordpolexpeditionen sei¬
nes Oheims John Roß (1818- 1819, 1829-1833) als Comniander einen thä¬
tigen Antheil genommen, auch dem ein großer Theil der gemachten geographischen und
naturwissenschaftlichen Entdeckungen (er war es auch, der den Ort des magn.
Nordpols bestimmt hat,) zu verdanke» ist; auch hatte derselbe bereits selbstständig
eine Expedition nach den Südpolargegenden in den Jahren 1839—43 geleitet.
(Die Ergebnisse dieser letzteren hat er niederlegt in dem 1847 erschienenen Werke:
^ vnz'ilAo ol Discoverv :ma liosokicl, in tuo NouUiern -ma ^utiirctic likAwns,
«jul-iuA ello Vom-« 1839--1843. 2 Vols. Das Athenäum (Jahrgang 1847, 26.
Juni) enthält daraus einen Auszug).
Seine gegenwärtige Unternehmung begann er Anfangs Mai 1848, mit den
beiden Dampfschiffen „Enterprise" und „Jnvcstigator." Am 20. Juli desselben
Jahres hatte er zum letzten Male von Upernadit (an der Nordwestküste von Grön¬
land) Kunde von sich gegeben. Von Franklin hatte er Nichts erfahren. Dagegen
gelangte Anfangs October 1848 aus einer englischen Jactvrei ein vom l. März
datirtes Schreiben an die Londoner Admiralität, in welchem mitgetheilt wurde,
es hätten die Eskimos von zwei Schiffen gesprochen, die sie östlich von Mackenzie
gesehen, „voll weißer Männer;" diese Eskimos hätten auch Messer, Zwirn und
dergl. gezeigt, das sie von den „weißen Männern" erhalten hätten. ES war einige
Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß die Eskimos von Franklin's Schiffen gesprochen;
die Theilnahme aber, die man überall dem Schicksale des Vermißten zollte, machte
ans dieser Möglichkeit eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit, obschon der
Mann, welcher u» die Admiralitätüber die Aussage der Eskimos berichtet hatte, hinzu-
gefügt, daß derartigen Aussagen überhaupt kein unbedingter Glaube beizumessen sei.
Es verstrich mehr als ein Jahr, ohne daß man weder von Franklin noch
von Roß irgend etwas erfuhr; als unverhofft am November dieses Jahres
Sir James mit seinen beiden Schiffen wohlbehalten in England anlangte. Den
eigentlichen Zweck seines Unternehmens hatte er nicht erreicht; trotz der sorgfäl¬
tigsten Nachforschungen hatte er keine Spur von John Franklin oder dessen Schif¬
fen zu entdecken vermocht. Wie es aber natürlich war, dachte man wenig hieran,
sondern das Hauptinteresse richtete sich auf ihn und auf das von ihm auf dieser
letzten Reise Erlebte. Er kehrte zurück ans dem Lande des Todes, von dort,
wo selbst die Natur starr daliegt, wie eine schöne Leiche. Man hat, um sich
jene Gegenden vorzustellen, nicht an unsere Winterlandschaften zu denken, oder
man muß aus diesen Alles entfernen, was ihnen Reiz oder Anmuth verleiht; Nichts ist
vorhanden von unsern Bäumen, die mit ihren verglasten Aesten und Zweigen noch
ein Leben ahnen lassen, eine Nymphe, welche schlummert und in Kurzem erwachen
wird; Nichts von Menschen, fast nichts von Thieren, nichts von der Thätigkeit
eines lebendigen Organismus. Dagegen rings herum, bis an die Grenzen des
Horizontes, Berge von starrem Eis, überdeckt mit Figuren und Schnörkeln, die
man nicht entziffern kann, geformt dnrch die wilde Laune feindlicher Dämonen
und dann wieder ein endloses Gefilde, bedeckt mit blendend weißem Schnee, blen¬
dend im wörtlichen Sinne deZ Wortes, denn der fortwährende Anblick verursacht
Augcuweh und Blindheit. Wer dort Hütten banen will, muß sie bauen aus
Quadern von Schnee, das Hausgeräthe ist von Eis oder von Schuee, waS ihr
athmet, ist mit einem seinen Schneestaub untermischt, der euch denselben brennen¬
den Durst verursacht wie der Sand der Sahara; und wenn ihr diesen Durst
löschen wollt, so müßt ihr den Schnee erst kochen, denn er ist kieselhart. Und
das müßt ihr selbst während der drei Monate des Sommers. Des Sommers!
das sind die Monate Juli, August, September, welche zum größten Theile un¬
serem Januar oder Februar gleichen; die wenigen Tage, welche davon cmsgenom-
men find, und wo sich das Thermometer allerhöchstens bis zu 16 ° R. erhebt,
sind euch wieder verbittert durch zahlreiche Schwärme von Musquitos, welche
kommen, wer weiß woher? „Stand des Thermometers — 45 ° F." (-— 34 ° R,),
— „mit Ausnahme einer grauen Seemöwe sahen wir heute kein ladendes Wesen"
— so heißt es in den Tagebüchern, welche dort die Schiffer führen. Das ist das
glückliche Land, wo es keine Regierung gibt, weil Nichts zu regieren da ist; wo
die absoluteste Gleichheit herrscht, weil das wenige dort Geborene, was sich Mensch
nennt, auf derselbe» Stufe der Elendigkeit sich befindet, es ist das Land der Güterge¬
meinschaft, der Demokratie in ihren äußersten Konsequenzen der Eskimos. Was
alle Nichtcskimos fühlen, wenn sie genöthigt sind, dort für eine längere Zeit sich
auszuhalten, ist eine tödtliche Langeweile, hervorgerufen durch die Wechsellvsigkeit
der Dinge und der Ereignisse.
In jenen Gegenden der Starrheit und des ewigen Todes brachten Sir Ja¬
mes Roß und seine Mannschaft mehr als ein Jahr hin. Er war bei seiner Ab¬
reise von England mit Allem versehen, ,was zur Ueberwindung der Mühseligkeiten
einer Ueberwinterung in der kalten Zone förderlich ist, und mit Lebensmitteln für
1000 Tage — was man allerdings nicht für überflüssig finden wird, wenn man
bedenkt, daß die Reisenden darauf gefaßt sein mußten, zwei, drei Jahre lang vom
Eise nicht loskommen zu können, und daß in diesem gegenwärtigen Falle ja auch
für die Mannschaften der beiden vermißten Schiffe zu sorgen war.
Ende Juli hatte Capitän Roß Uperuadik verlassen. Er fuhr nun die Nord-
küste des Festlandes von Amerika entlang gegen Westen, passtrte die Barrows-
straße und gelangte in die westlichen Gewässer, die gänzlich eisfrei waren; dagegen
fand er die südlich von der Barrowsstraße liegende Prince-Regents-Einfahrt
vom Eise verstopft. Am 11. September erreichte er Cap Leopold, das zum Ver-
einigungspunkte der beiden Schiffe bestimmt war; er hatte den Plan, nach statt¬
gehabter Vereinigung mit dem „Enterprise" die Fahrt nach Westen fortzusetzen,
allein das Eis vermehrte sich nnn in dem Grade, daß man diesen Plan aufgeben
mußte. Mau schickte sich an, in dieser Gegend zu überwintern; am 14. war be¬
reits der Hafen völlig eingefroren. Die beiden Schiffe, die in einer Entfernung
von 200 Mrds (600 Fuß) von einander entfernt lagen, wurden nnn, wie in diesem
Falle üblich ist, vom Vordercastell bis zum Besanmaste überdacht; ein 7 Fuß hoher
Schneedamm wurde von dem einen zu dem andern geführt; für jedes wurde eine
magnetische Warte gebaut: die Mauer von Schnee, die Fenster von Eis, Wasser
diente als Mörtel und ersetzte zugleich das Eisen, welches bei dem Bau der mag¬
netischen Warten uicht in Anwendung kommen darf. So vorbereitet erwartete
man die lange Nacht; am 9. November verschwand die Sonne, um erst nach einer
dreimonatlichen Abwesenheit zurückzukehren.
Während dieser Zeit nun, wo der „Enterprise" und der „Jnvestigator" gänz¬
lich entfernt waren von der lebenden Welt und abgesondert von der Menschheit,
wandelte sich der kleine despotische Staat, das Schiff, in eine große Familie um;
Die Matrosen verlernte» das Saufen und das Fluchen. In den Zwischendecken
wurden Schulen eingerichtet, wo einige Offiziere die Mannschaft im Lesen, Schreiben
und Rechnen unterrichteten; die Begabteren und Weitervorgeschrittencn erhielten
Stunden in der Geometrie und in der Schifffahrtskunde. Sonntag wurde Gottes¬
dienst gehalten; bei heiterem Wetter kam man zu gemeinschaftlichen Spielen zu¬
sammen. Weihnachten und Neujahr wurden durch doppelte Nationen gefeiert;
der erste Festtag »och überdies durch das orthodoxe Roastbeef (die Engländer der
anglikanischen Kirche beobachten den religiösen Gebrauch, am ersten Wcihnachstage
Roastbeef und, wo möglich, auch noch Puterbratcu und Plumpudding zu essen).
Die Woche über wurde ein Theil der Mannschaft mit dem Anfertigen von Schlitten
für die im Frühjahr zu veranstaltenden Landreisen beschäftigt, während Andere
.Kies herbeiholten, den sie über das Eis streuten, damir dasselbe durch die Son¬
nenstrahlen erwärmt werde, das Eis mürbe machen und so das Zersägen desselben
erleichtere. Man hatte nämlich vor, einen Kanal durch das Eis zu ziehen, was
bei dessen Dicke —die (doch wohl nur an einzelnen Punkten ?) 5 Fuß betrug — ein
sehr schwieriges Unternehmen war. Doch erlangte derselbe eine Breite von 50 Fuß
und eine Länge von 1!!,000 Fuß.
Von den Znsaunneukünfteu mit den Eskimos erwähnt der Bericht Nichts.
Vierfüßige Thiere sah man, mit Ausnahme der weißen Füchse und einiger Bären,
nicht; eine Anzahl Füchse fing man in Fallen, schenkte ihnen jedoch die Freiheit,
.nachdem man sie mit einem kupfernen Halsbande versehen, das den Namen des
Schisses und die Angabe der Orte enthielt, an welche Vorräthe niedergelegt wor¬
den waren. Man hoffte, es werde ein solcher „l'von-^vim^-I'ostm-in" — wie
die Matrosen diese Briefträger nannten — von Franklin's Mannschaft, falls die¬
selbe sich noch am Leben befinden sollte, eingefangen werden und die Kunde ge¬
ben von Dem, was für ihre Rettung gethan sei. Es wurden nämlich an meh-
vcrn Stellen Vorräthe niedergelegt, an einigen Punkten förmliche Magazine zu
Kohlen und Lebensmitteln gebant und angefüllt; in Port Leopold sogar ein höl¬
zernes Haus mit Vorräthen für ein Jahr, auch wurde hier eine Dampfmaschine
zurückgelassen und eine Schaluppe, welche hinreichend groß war, um Franklin's
gesammte Mannschaft nach dem nächsten bewohnten Hasen zu bringen.
Als die Jahreszeit etwas gelinder geworden war, wurden einzelne Abthei¬
lungen zur Untersuchung der Umgegend ausgesandt; eine Hanptcxpedition unter-
nahm Capitän Roß selbst, begleitet von einem Lieutnant und zwölf Matrosen.
Die Gesellschaft zog 240 Miles die Küste entlang, zuerst 100 gegen Westen, so¬
dann noch 140 gegen Süden. Kein menschliches Wesen wurde angetroffen, eine
verfallene Eskimvhütte war die einzige Spur eines solchen. Man war aber nun
zur Umkehr genöthigt, da die mitgenommenen Vorräthe auf die Neige gingen
und ein Theil der Mannschaft dnrch Frost und Augenentzündung so entkräftet war,
daß er in Schlitten gefahren werden mußte. Am 23. Juni erreichte die Gesell¬
schaft wieder die Schiffe, nachdem sie vierzig Tage abwesend gewesen war.
Inzwischen hatten die Arbeiten zur Freimachung der Schiffe begonnen; die
außerordentliche Dicke des Eises jedoch ließ dieselben nicht eher als am 28. August
beendigt sein. Man steuerte nun nach der Nordküste der Barrowsstraße, auf
Melville - Eiland zu. Allein am 1. September sah man sich auf's Neue von
Treibeis eingeschlossen, und die kurz darauf sich um ein Bedeutendes vermindernde
Temperatur (das Thermometer fiel unter 0" F., man hatte also —5"N.> verwan¬
delte dasselbe in eine einzige feste Masse. Das Meer, soweit es das Ange von
den Spitzen der Masten überschaute, war von ihr bedeckt. Die eben nur, nach
langer Gefangenschaft und Mühe, errungene Freiheit schien wieder verloren, man
schickt: sich an, einen zweiten Winter in dieser traurigen Gegend zuzubringen;
als durch eine neue Gefahr Befreiung gebracht ward. Es erhob sich plötzlich ein
heftiger Westwind, faßte die ganze feste Masse, trieb sie die Südküste der Baf-
finsbai entlang, gewaltigen Eisbergen zu. Plötzlich brach das Eisfeld uuter don¬
nerähnlichem Gekrache. Hilflos trieben die Schiffe umher, jede Sekunde konnte
die letzte der Schiffe sein, die letzte der Gefahr, der nächste Augenblick — wer
konnte ihn berechnen — konnte Vernichtung, konnte Rettung bringen. Die furcht¬
baren Schläge des Schreckens ließen die Furcht nicht aufkommen. Die nächste
Sekunde bringt wieder Hoffnung, man sieht den Augenblick des Entrinnens, es
ist der einzige, der letzte, man will ihn benutzen — allein hier, inmitten des
empörten Elementes kann der Mensch Nichts unternehmen, er muß zusehen, wie
die feindlichen und die freundlichen Eisschollen um ihn den furchtbaren Kampf
kämpfen. Endlich hatten die Schutzgeister der Schiffe den Sieg errungen, drei
und zwanzig Tage hindurch hatte die Schlacht gedauert. Am 24. September er¬
reichte der „Juvestigator," am 25. der „Enterprise" offenes Wasser; mit nicht zu
beschreibendem Jubel begrüßten einander die wunderbar erretteten, die dem dro¬
henden Untergange entronnenen Schiffe.
Die Zeit zu einem ferneren Vordringen gegen Westen war für dieses Jahr
längst vorüber, der Winter war zurückgekehrt. Also segelten sie der Heimath zu,
Wie in der westlichen Hälfte Oestreichs die Dynastie, so war bisher in der
östlichen Hälfte die magyarische Nation die Macht, welche die Staatsbildung be¬
herrschte; wie in den westlichen Provinzen sich verschiedene Völker um das Für¬
stenhaus, so hatten sich in Ungarn Slovaken, Wallachen, Urtheilen, Deutsche,
Serben und Kroaten um die Magyaren gruppirt, und wie die Dynastie im We¬
sten keiner Nation eine politische Bedeutung gönnte, eben so hemmten und ver¬
kümmerten die Magyaren im Osten den Aufschwung aller andern Völker. Die
Individuen fühlten sich in Ungarn frei, aber nicht die Völker.
Als nun die Magyaren im Jahre 48 es durchsetzten, daß für die zwei Län¬
dergruppen in Oestreich, welche auf zwei ganz verschiedenen Reichstagen vertreten
waren, anch zwei von einander unabhängige Ministerien ernannt wurden, als sie
gestützt auf ihr altes Recht und auf neue Zugeständnisse ihr Königreich von dem
andern Staatsgebiete Oestreichs vollkommen selbstständig machten, da entsandte die
Dynastie eine nationale Revolution der nicht magyarischen Völker Ungarns, indem
sie an das Streben dieser Völker, zur gleichen staatlichen Bedeutung mit den Ma¬
gyaren zu gelangen, appellirte. Zu spät machten die Magyaren den Kroaten An¬
erbietungen zur Verständigung der Völker unter einander; die Leidenschaft, der
Haß und Egoismus hatten sich bereits der Bewegung bemächtigt, und sie ließ sich
nicht mehr hemmen.
Die Magyaren sind den vielen Feinden erlegen, Ungarn ist nicht mehr „ihr
Königreich", aber auch nicht das aller ungarischen Nationen zusammen, es ist —
vollständigster Besitz der Dynastie. Nicht um die Slaven zu gleicher politischer
Bedeutung mit den Magyaren emporzuheben, hat die Dynastie den Kampf mit
diesen aufgenommen, sondern um die Magyaren zu gleicher Bedeutungslosigkeit
mit den Slaven herabzudrücken, hat sie den Bürgerkrieg in Ungarn entzündet.
Die Dynastie ist nunmehr das, was sie Jahrhunderte hindurch vergebens ange^
strebt, der einzige Krystallisationspnnkt des Staates, und mit allen Kräften und
Fäden wird sie die Theile der Monarchie an sich ziehen, ihren Besitz gleichmäßig
zu verwalten, gleichmäßig zu genießen suchen. Ihr Erfolg ist scheinbar vollstän¬
dig; allein wie sich die Verbindung des Barus von Kroatien mit der Dynastie
nun an ihm selber und seinem Volke zu rächen beginnt, so wird anch der Wort-
bruch der Dynastie nicht unvergolten bleiben; sie wird es nie mehr aus dem Ge¬
dächtniß der Völker verwischen können, daß sie von einer Gleichberechtigung der
Völker sprach, die sie nun in eine gleiche Knechtung übersetzt. Der Eifer
aller Völker wird sich jetzt, nachdem die Magyaren von ihrer stolzen Höhe
herabgestürzt sind, gegen das dynastische Streben kehren, und es wird nun nicht
mehr die Vielheit von Gegensätzen die Kraft des Kampfes und die Klarheit des
Verfasser einiger vorsündfluthlichen Localpossen, berühmt als Gründer der
„Theaterzeitung", eines Blattes für geistlose Frivolität und gemüthliche Ge¬
meinheit, welches über dreißig Jahre das Orakel des Wiener Stutzerthums und
der Oberpriester jener capuanischen Religion war, die Strauß über Beethoven,
Schikaneder über Lessing stellte »ut eine „noble" Frisur für nothwendiger und
rühmlicher hielt als ein bischen Ehrlichkeit oder Bildung. Die Theaterzeitung
genoß vielfache Protection, denn sie verfolgte loyale politische Tendenzen; ihre
Unterhaltung war den Wienern, was Fanny Elßler's Umarmungen dem Herzog
von Reichsstadt waren; sie bewahrte die Jngend, durch syrupsüßes Gegengift, vor
den schädlichen Einwirkungen der „ausländischen" Literatur und bekämpfte, mit
nur zu glorreichem Erfolge, die ernstere Richtung, welche die Partei Grillparzer-
Banernfeld-Feuchtersleben mit Hilfe der Witthauer'schen Wiener Zeitschrift zu
wecken versuchte. Der Inhalt der Theaterzeitung bestand erstens in gräulichen
Geburtö - und Namenstagsgedichten, deren Zahl bei der Ausdehnung und Frucht¬
barkeit der allerhöchsten Familie und bei der Masse von einflußreichen Hofpersona-
gen Legion war; zweitens in unverzeihlicher Novellen, modistischen, theatralischen,
historischen und etnvgraphischen Anekdoten, meist vom patriotischen Standpunkt
der Theatcrzeituug geschrieben. Oestreich wurde gepriesen, weil es keine Neger¬
sklaven in seinen Kolonien habe, wie Frankreich; weil es keine Wittwen verbrenne,
wie die Hindus; weil es seine Verbrecher nicht Spieße wie die Türkei! JhrHaupt-
thcma bildeten Ball, Ballet und Theater. Auch über Taschenspieler- und Kunst¬
reiterleistungen brachte sie lunge pathetische Abhandlungen. Bäuerle konnte sich
mit Recht rühmen, daß in Kaffeehäusern regelmäßig um 8 Uhr Morgens der hun¬
dertfache Schrei erscholl: Die Theatcrzeituug will ich, die Theatcrzeituug, und
nachher die Allgemeine! Denn der Wiener Dandy mußte beim Frühstück die ge¬
sperrt gedruckten Stellen in deu Theaterzeitungreferaten geschwind memoriren, da¬
mit er in Gesellschaft, wenn er als „ergebenster Knecht" seinen Handkuß ange¬
bracht, nicht wie ein Klotz dastehe, sondern ein geistreiches Urtheil besitze über die
Vorstellung von gestern Abend. Von dem komischen Bombast dieser Kritiken hat
mau weder im Orient noch im Occident eine Vorstellung. Unter der Regierung
von Kaiser Franz und Sedlenitzky dursten die Hofschauspieler weder ansgcpfiffen
noch in den Blättern getadelt werden. Man half sich daher durch Mäßigung
oder Steigerung des Lobes. Einem Künstler „richtige Auffassung", „gutes Spiel"
nachsagen, hieß ihn zum Selbstmord treiben; er raufte sich das Haar ans, klagte
beim Obercensor Sedlinitzky ans Jnjnrien und ließ den hämischen Recensenten
beim nächsten Neumond zwischen Burg- und Kärnthnerthvr durchprügeln; denn
wirkliche Anerkennung mußte durch den blümerantesten, pyramidalsten Unsinn aus¬
gedrückt werden. Die armen Windspiele Bäuerle's, seine Recensenten, litten
furchtbar während der Virtuvsensaison, das waren ihre Hundstage; nach dem
ersten Concert irgend eines Klavierhaners, der sich anständig benommen hatte,
waren alle Superlative der deutschen Sprache erschöpft, nun aber kam Chopin,
Thalberg, endlich gar Lißt, und die Recensenten erhielten Befehl, immer entzück¬
ter und verzückter zu werden, bis ihr Styl den Veitstanz oder das Delirium
tremens bekam. Bäncrle selbst ist ein praktischer Mann und seine Industrie über¬
traf die der k. k. Beamten durch Solidität; er stellte fixe Preise. Jede Lobprei¬
sung eines männlichen Virtuosen oder Gastspielers kostete, ohne Unterschied von
Stand, Alter und Talent, funfzig Gulden C.-M.
Es ist schrecklich, daß Bänerle diese gute alte Zeit überleben mußte. Mit
dem Ausbruch der Revolution taufte er die Theaterzeitung „Courier" und warf
sich rasch auf Politik und Patriotismus. Im Sommer 48 versicherte er, stets
für den Fortschritt gewirkt zu haben. Nach den Octobertagen übernahm er die
Ausgabe, „Rechtsgefühl und wahrhaft constitutionelle Begriffe" dem verführten
Volke beizubringen; zu diesem Zweck wollte er die gesammte Reichstagslinke wegen
ihrer parlamentarischen Wirksamkeit vor's Kriegsgericht gestellt und täglich ein
anderes Journal unterdrückt wissen, murrte gegen die übertriebene „Milde" des
Fürsten Windischgrätz, stellte Haynan und den König von Neapel als Muster von
konstitutionellen Richtern ans, und erklärte, nachdem der Stadtgraben längst seine
Opfer empfangen hatte und die Thürme von Kussstein und Munkacz gefüllt waren,
Jeden für einen „Verräther," der „jetzt schon von Versöhnung zu sprechen wage."
In seiner auswärtigen Politik richtet sich der Courier nach der Jahreszeit, liegt
indeß fortwährend allen fünf Welttheilen in den Haaren, da mit Ansnahme von
Oestreich und Rußland die Politik „überall voll Eigcninch, Raubsucht und Per-
fidie" ist. Bald bekämpft er mit einer Hand Carlo Alberto, mit der andern den
König von Preußen, bald auf dieselbe Weise zugleich Lord Palmerston und den
Sultan. Lord Palmerston ist vom Courier, in Uebereinstimmung mit Metternich
und Prokesch v. Osten, bereits mehrmals zu einem 60 Fuß hohen Galgen ver¬
urtheilt worden. Einmal cipostrophirte ihn der Courier als „Beherrscher der
drei(?) Inselreiche," forderte ihn auf, sich in den Hals hinein zu schämen, stellte
ihn daraus an den Pranger, schnitt ihm Nase und Ohren ab, gab ihm 25 Stock-
prügel, begnadigte ihn zu Pulver und Blei, und schlug, nachdem alle diese De-
monstrationeu vergeblich schienen, am Schluß des Artikels den Weg der Güte ein,
indem er den berühmten Staatsmann mit den herzlichsten und rührendsten Worten
bat, in sich zu gehen, die Stimme der Humanität zu hören und östreichisch zu
werden. —
Der Styl des Courier ist in der Regel minder excentrisch als der des „Fremden-
blattes," doch wenn er in Affect geräth, was hänfig der Fall ist, trägt er noch
wundervollere Blüthen. Kraftsentenzen wie: „Dieser Hieb gab ihm den letzten
Stoß" sind dem Courier Kleinigkeit, nud nicht selten, wenn er vor irgend einem
Fuhrwesenskorporal wie vor einer Tänzerin huldigend aus die Kniee fällt, stürzt
er sich in jene kindliche Extase, mit der die Bewohner der Vorstadt Landstraße
in ihrer Adresse an Jellachich dafür dankten, daß „Se. Excellenz mit den Sr.
Excellenz allzeit getreuen Kroaten ihre loyale Gemeinde so geschwind belegt haben."
Einem der Mitarbeiter des Courier, Mathias Koch (gewöhnlich Galima-
thias genannt), kann ich ein verhältnismäßig ehrenvolles Zeugniß nicht versagen.
M. Koch, ein Archäolog und Polyhistor, verräth durch seine Physiognomie wie
durch seinen Styl, daß die Gallenblase bei ihm größer als Herz und Magen sein
muß. Aus seinen Kapncinaden sprach nicht Feilheit der Gesinnung, sondern ehr¬
licher Fanatismus, aufrichtiger Wahnsinn. Nachdem er ein ganzes Jahr lang für
Militärherrschaft und Reaction gewüthet, glaubt er ihr jetzt ein Ziel setzen zu
können, und behauptet, was bisher geschehen, sei nothwendig gewesen, mehr je¬
doch wäre Ueberfluß. Jetzt müsse die Regierung Wort halten und den Reichstag
berufen. Er hat diese Ansicht in einer Broschüre ausgesprochen.
Bäuerle's Courier ist das Lieblingsblatt der schwarzgelben Offiziere. Man
kann sich denken, daß ihre Zahl nicht klein ist; die Majorität derselbe» besteht,
merkwürdiger Weise, aus Milchbärten. Noch merkwürdiger dürste sein, daß selbst
Ministerialbeamte es zuweilen nicht verschmähen, in den Spalten des Bäuerle'scheu
Courier sür die gute Sache zu -wirken. Man erkennt diese vornehmen Gäste an
dem krausen Kanzleiflyl und der ausnehmenden Grobheit ihrer Feder.
des Herrn Böhringer, im Sommer 48 gegründet, besaß den Muth, zur Zeit
der Aulaherrschafr Reaction zu predigen; so gar gefährlich war dies Auftreten
uicht, denn Volk und Studenten glühten damals im heitersten Champagncrrausch
und waren in ihrer Siegesstchcrheit zu großmüthig, um sich für den Spott der
Geißel zu rächen. Angrisse auf Privatpersonen kamen nnr am 18. Mai in der
ersten Verzweiflung über die Flucht des Kaisers vor, und da galten sie Herrn
Tuvora und Genossen, welche angeblich die Republik ausgerufen hatten. Außer¬
dem stellte das Volk, auf Giskra's Betreibe,:, zwei aus Metternich's Zeit be¬
rüchtigte „Spitzt," an den Pranger. Darauf beschränkte sich der Terrorismus
gegen Individuen. Im October mochte Böhnnger mehr gefährdet sein; einige
Mitglieder des Stndentenkomitvs schützten ihn jedoch vor Unglimpf und brachten
ihn nach Baden, wo er mit Jellachich'S Kroaten Brüderschaft trank und die Ein¬
nahme Wiens ruhig erwartete. So mächtig war nun Böhnnger's Stolz auf den
im Sommer bewiesenen Heroismus, daß er, unzufrieden mit der ihm gewordenen
Genugthuung, gleich dem Propheten Jonas zu klagen und zu murren anfing,
weil Niniveh nicht Knall und Fall unterging, wie er geweissagt und gebetet hatte.
Er predigte, vom November an, Studenten-Demokraten- und Jndenausrottnng
mit so kreischender Stimme, daß er sich die (im vorigen Heft) erwähnte Zurecht¬
weisung Welden's zuzog und die Geißel unter einem andern Namen erscheinen
ließ; dieser lautete „Das freie Oestreich"!!! — Seit dem Frühjahr verwan¬
delte sich dies freie Oestreich wieder in die alte schmutzige „Geißel." — Böhrin¬
ger's Blatt unterscheidet sich von den andern seines Gleichen durch schärfere Kon¬
sequenz und inposantere Kühnheit. Die Geißel fiel einmal mit dem Ton, nicht
dem Witz Abraham a Se. Clara's „über das Hintertheil" des ministeriellen Lloyd
her. Das Feuilleton des Lloyd erschien nämlich eine Zeit lang ans der Rückseite
des Blattes, und da es gewöhnlichen Unterhaltungsstoff, statt christlicher Bußpredigten
brachte, so fühlte Böhnnger sich gezwungen, es wegen Irreligiosität zu züchtigen.
Die Geißel stellte mit einer Schamlosigkeit, die unter Metternich unerhört gewesen
wäre, den Satz auf, daß „die Klage über das Deuunziantenwesen lediglich von
Schurken ausgehe," indem kein „ehrlicher Mann" einen Spitzt zu fürchten brauche.
Die Märzsvnne und die Regentage der Reaction haben nur den kolossalen Schlamm
aufgeweicht, der unter dem alten Despotismus bis zu einer gewissen anständigen
Gcrnchlvsigkeit gefroren war. Jetzt gibt es naive Leute in Wien, die, in ihrem
Mißbehagen, mit dem Finger gen Himmel deuten und ausrufen: Die Sonne,
die verwünschte Märzsonne stinkt, nicht wir! —-
In ihrer Tageschronik wetteifert die Geißel mit dem Fremdenblatt. Sie
verkündet z. B. triumphirend, wie es in der Herrngassc ein verruchtes Cafe und
darin einen gottlosen Marqueur gegeben, der nicht nur die Grenzboten hielt, son¬
dern die Gäste auf „die renommirtesten Schandartikel" darin aufmerksam machte.
Allein die Nemesis ereilte den Frevler in Gestalt der Sicherheitswache, die ihn
vor das Kriegsgericht geschleppt hat! Ich konnte nicht erfahren, was aus dem
armen Marqueur geworden ist; man stellte ihm damals die Einreihung unter das
Fuhrwesen in nahe Aussicht. Wohlgemerkt aber, die Grenzboten hatte zur Zeit
jenes Vorfalls das Verbot noch nicht getroffen; erst eine Woche später wurden
sie verpönt.
Nicht' wahr, Sie glauben, daß die Geißel uur vom Wiener Pöbel mit An¬
dacht gelesen werde? Sie mögen Recht haben, es fragt sich nur, in welchen Re¬
gionen der Wiener Pöbel zu suchen sei. Auf einem Beamtenbürean, das ich nicht
näher bezeichnen will, ist die Geißel das einzige geistige Frühstück, welches von
Hand zu Hand geht, ehe eine Feder eingetunkt wird, und der würdige Bürcanchef
pflegt nach dem saftigen Schmause zu rufen: „ist mir ganz ans der Seele ge¬
schrieben!" Ein Tag leuchtete der Geißel, wo sie in vielen tausend Exemplaren
circnlirte; die Nummer wurde mit 20 Kr.' C.-M. bezahlt. Bohringer hatte un¬
willkürlich für die Magyaren Propaganda gemacht, indem er Kossuth's „Aufruf
zum Kreuzzuge," mit Anmerkungen begleitet, abdruckte. Die Anmerkungen waren
es nicht, was man so theuer bezahlte. Damals rief der erwähnte Büreanchef:
„Schreiben können die Spitzbuben; ja, dös können mir halt nit! Wenn ich nit
ganz fest wär', - ich würd mir so'ne Lectüre g'wiß nit erlauben!" Derselbe
gelehrte Thebaner nannte Fischhoffs humanen Untersuchungsrichter eiuen „schwarz-
gelbe» Esel," weil er es nicht dahin bringen konnte, „das Fischhöfferl" des Hoch-
verraths zu überführen. So weit war es durch Standrecht und Geheimpolizei
gekommen, daß „schwarzgelb" (die östreichischen Staatsfarben) allmälig jede poli¬
tische Bedeutung verlor und zu einem gewöhnlichen Schimpfwort, so viel sagend
wie gemein oder schäbig, herabsank; die konservativsten Oestreicher fühlten sich be¬
leidigt, wenn man sie schwarzgelb nannte. Sie werden sich erinnern, daß der
Constitutivnseutmurf des Kremsicrer Reichstages die in Verruf gekommenen Farben
durch eine Trikolore ersetzte, in der weder Schwarz noch Gelb figurirte. Und es
wird sicherlich einige Zeit währen, und Oestreich wird noch manche Prüfung be¬
stehe», ehe die düstern Farben wieder volksthümlich werden und „schwarzgelb"
seine ursprüngliche Bedeutung zurückgewinnt.
schreibt besseres Deutsch als seine Parteigenossen, weil er nicht hochdeutsch, son¬
dern Wienerisch redet wie Nestroy und der Kaiser Franz. Lange Jahre hin¬
durch belustigte Hans Jörgel's Wochenschrift durch komisches „Geplausch," un¬
termischt mit zeitgemäßen Ausfällen auf die Habgier der Bäcker und die Prellerei
der Fiaker oder mit gemüthlichen Herzensergießungen über das allgelicbtc Kaiser¬
haus; Tausende von gläubigen Lesern meinten die Einfalt vom Lande zu hören,
wie sie über die Thorheiten der Städter lacht und mit arglosem Freimuth Jeder¬
mann die Wahrheit ins Geficht sagt. Hans Jörgel aber heißt eigentlich Rech-
nuugsbeamter Weis, und die Einfalt vom Lande ist Nichts als ein echt Wiene¬
risches Kunststück. Der Kaiser steht am offenen Fenster in der Burg und unten
im Hof stehen Seppel und Haust mit ihren Brüdern, um Sr. Majestät gute»
Morge» zu wünschen und sich zugleich über Beamtenwillkür, Cvnscriptions-, Accise-
nnd andern Druck zu beklagen. Es wird aber Nichts aus den: Beschweren, son¬
dern mit Wohlgefallen hört der Kaiser die zutraulichen Grüße der ländlichen
Gesandtschaft und die Versicherung, wie sie ihren Landesvater täglich kindlicher
anbeten und sich so wohl befinden, daß sie gern noch zehnmal so viel Beamte
ernähren möchten. Seppl und Haust glotzen in die Höhe und stehen wie die
Holzscheiter, denn die treuherzige Stimme kam nicht aus ihren vor Staunen auf¬
gerissenen Mäulern, sie kam von einem Mann in Glacehandschuhen und lackirten
Stiefeln, dew, scheinbar stumm, in der Fensternische hinter dem Kaiser lehnt. —
Diese Kunst moralischer Bauchrednerei versteht Haus Jörgel meisterhaft; eine
Portion von derbem Humor, der ihm zu Gebote steht, macht die Täuschung bei¬
nahe vollkommen. Als die neue Zeit kam, wußte sich Hans Jörgel geschickt
zu häuten und wurde der mundartliche Anwalt des allerbcsonnensteu Fortschritts;
uach dem October machten seine raffinirten Auschwärznngen und der napolctanische
Blutdurst seiner Tiraden durch die gemüthliche Volkssprache, in die er sie zu
kleiden fortfuhr, eiuen doppelt widerlichen Eindruck.
An einem Zuge werden Sie den ganzen Jörgel und seinen Liberalismus ken¬
nen lernen. Er hat Monate laug von der Leiche Latour'S gelebt. Die Frage
Gottes an Kain parodirend, rief er allwöchentlich: „Reichstag, wo is Latour?"
Wie stark der in dieser Frage liegende Vergleich hinkt, focht ihn nicht an. Rache
und Gerechtigkeit sind ihm so gleichbedeutend, daß er mit dem Ausruf: „Latour!"
die grellsten Thaten der Willkür, Grausamkeit und Dummheit heilig sprach.
Seufzte ein liberales Blatt über das viele Hängen und Todtschießen, über die
boshafte Asscutiruug verheiratheter, kränklicher, nnpflichtiger Leute, über das
Auspeitschen vou Frauen, oder sonst eine Verletzung vor- wie nachmärzlichcr
Gesetze, so rief Hans Jörgel: „He! Aber Latour haben'ö aufhängen dürfen, nit
wahr? Dos Lumpcuvolk greint, weil a paar Mailänder Hundsvöttcr aufm Platz
ihre verdienten Pinhas (Stockstreiche) kriegt haben, aber an Latour Haben's vergessen!"
Hans Jörgel ist übrigens noch grade so freimüthig wie vor dem März; gegen
Unten entschieden und rücksichtslos, reicht sein Freimuth gegen Oben nicht über
den Gemeinderath, eine bürgerliche, qnasimvdcrue Behörde, hinaus. Er ist streng
und hält mit Recht nicht viel von dem Talgenthusiasmus der Wiener Jllumina-
tioueu, so wie er die jetzige Loyalität des Gemeinderaths von Wien, ebenfalls
mit Recht, pure Feigheit nennt. T»> verlangst aber zu viel, Jörgel, Du forderst
Hundenatur, verbunden mit menschlicher Begeisterung. Wie reimt sich das zu¬
sammen? Sei froh, daß Dein Brustkasten nicht von Glas ist; könnte man Dir
in's Allerheiligste schaue», vielleicht fände sich, daß auch Dein Servilismus uicht
vom Herzen, sondern aus einer tiefer liegenden Region stammt.
Jörgel'ö Hauptpublikum bilden die Pfarrer in Wien und auf dem Lande,
denen er bei ihren Predigten als Souffleur dient. Allein sie verfangen nicht mehr.
Seppl und Haust sind längst hinter die Kunststückchen des Wiener Beamten ge¬
kommen. Das Volk in den Vorstädten und auf dem Lande ist so überwiegend libe¬
ral, daß Niemand weniger die Volksstimmung ausdrückt als der angebliche Mann
aus dem Volk, Hans Jörgel.
Herausgeber des „Zuschauer", machte sich durch die Verwegenheit bemerklich,
mit welcher er gegen das k. k. Kriegsgericht auftrat. Bewundern Sie den Mann
nicht zu früh. Drei Verbrecher, mehr oder minder betheiligt an den empörenden
Scenen auf dem Latourplatz, waren auf dem Glacis glücklich gehenkt; darauf
wurden einige andere angebliche Mörder Latour's aus Maugel an genügenden
Beweisen blos zu 20 Jahren schwerem Kerker verurtheilt. Das wurmte deu Zu¬
schauer; er schrie: „Aufhängen! im Namen der Gleichberechtigung, aufhängen!"
und beschuldigte das Gericht der Inconsequenz. Es kostete saure Mühe und die
Militärbehörde mußte ihre schwerfälligen Federn in der Wiener Zeitung tüchtig in
Bewegung setzen, bis es gelang, den gerechtigkeitsliebenden Patrioten zum Schwei¬
gen zu bringen. Vor dem März wurde sei« charadenreiches Blatt vorzugsweise
von Gymnasiasten und zwölfjährigen Blaustrümpfen gelesen. Ebers^erg ist Kin-
derschriftsteller von Profession und verdiente, wegen seiner überaus guten Gesin¬
nung, Nnterrichtsmüüster zu werden.
Der Moniteur der Armee, ein ernster gehaltenes Blatt, ist ein kompetenter
und interessanter Berichterstatter über alle Angelegenheiten des Heerwesens. Zu¬
gleich spiegelt er getreulich die prätorianischen Regungen ab, die im Schooß der
Armee auftauchen. Die Armee fühlt sich, dem Bürger sowohl wie ihrem Herrn
gegenüber, und fordert eifersüchtig Gleichberechtigung im Avancement und Verbesse¬
rung ihrer pecuniären Verhältnisse. In diesem einen Punkte ist sie konstitutionell;
in andern Dingen ignorirt sie die Verfassung. Selbst an der moralischen Stellung
der Armee scheint ihr weniger gelegen als an Sold und Auszeichnungen; die
Beibehaltung des Spießrutenlaufens und der Bauch, wirkliche oder angebliche
Verbrecher zur Strafe unter's Militär, wie in ein ambulantes Zuchthaus, zu
stecken, haben bis jetzt das Ehrgefühl des östreichischen „Soldatensrennd" nicht
im Mindesten verletzt. Das Ehrgefühl würde ich ihm erlassen, zeigte er nur
einige Achtung vor dem von Kaiser Franz Joseph erlassenen Assentirungsgesetz.
Als am 13. März einige Studenten verhaftet wurden, weil sie zum Andenken
ihrer in der Herrngasse am 13. März 1848 gefallenen Kameraden in aller Stille
einen Trauerflor um deu Hut banden und sich zu einer Seelenmesse in der Ste-
Phanskirche versammelten, tröstete der Soldatenfreund das theilnehmende Publikum
kurz und bündig: Die Märzhelden „werden ihre Trauer in den Reihen unserer
tapfern Armee zu vergessen Gelegenheit finden."
In einem der nächsten Hefte werde ich die Schilderung der größern Tage¬
blätter: Ostdeutsche Post, Presse, Lloyd, Wanderer n. s. w., unternehmen. Die
„Presse" ist vor einigen Tagen suspendirt worden. So zeigt sich
denn wieder als leerer Wind, was die Ministeriellen von der bevorstehenden Her¬
stellung eines Rechtszuständig für die Publizistik und von der Verweisung' von
Preßvergehen vor das Geschwornengericht aussprengten. Warum fing man damit
nicht bei der „Presse" an? Soll neben deu Preßgerichten das Suspcnsionsrecht
Welden's vielleicht fortbestehen, damit auch mikroskopisch kleine Vergehen bestraft
werden können? — Die „Presse", welche an dem ministeriellen Novemberprogramm
mit größerer Treue festhielt als das Ministerin»,, bestand auf der Nothwendigkeit,
die Verfassung zu verwirklichen und Deutschlands Recht auf den Bundesstaat an¬
zuerkennen. Das ist ihr Verbrechen!! Ministerielle Organe »s lovv .-unI tü^K
<1<!Arov dagegen eifern gegen den versprochenen Reichstag mit Gründen, welche eine
Suspension der Verfassung ans 30Jahre in Aussicht zu stellen im Stande
sind. Zur Entscheidung wollen sie Oestreich an die Spitze Deutschlands stellen.
Dieses wird hoffentlich in Dankbarkeit ersterben! —
Wir haben, wie Sie wissen, vor Kurzem großen Besuch gehabt, unsere
Nachbarn, die Russen sind hier gewesen, beinahe 200,000 Mann mit einer Unzahl
von Wagen und Pferden. Das war ein Spektakel, wir wußten kaum, wo uns
der Kopf stehe. Nun siud sie fort, und Sie werden es nicht Klatschsucht nennen,
wenn wir uns jetzt einige Bemerkungen über sie erlauben. Ist es doch in jeder
guten Gesellschaft nicht anders, kaum ist ein Gast zur Thüre hinaus, so verwan¬
delt sich das Haus in ein Comitv zur Untersuchung seiner Fehler und Verzüge,
wobei gewöhnlich mit solcher Umsicht und Gründlichkeit verfahren wird, daß oft
kein gutes Haar bleibt an dem armen Abwesenden. Dieser guten alten Sitte
wollen wir auch jetzt nicht untren werden, aber wir versprechen Ihnen Maß
zu halten.
Es ist nun schon lange her, daß wir neben einander wohnen, wir und die
Russen (seit der Theilung Polens), und wir haben uns die ganze Zeit über ziem¬
lich gut vertragen, machen auch hin und wieder Geschäfte mit einander, sie kaufen
Sensen von uns und geben uns dasür Talg und Hänte, wenn wir welche brau¬
chen; und doch kennen wir uns gegenseitig nicht recht. Das ist aber mehr ihre
als unsere Schuld. Reisende, die in Rußland waren, pflegen die patriarchalische
Gastfreundschaft zu rühme», die man dort in den Familien noch häufig findet.
Aber ein Ausflug uach dem nächsten Grenzorte erfordert oft mehr Vorbereitungen
als anderswo eine transatlantische Reise, und manchmal muß erst in Se. Peters¬
burg darüber entschieden werden, ob in dem weiten Reiche von 6V Millionen
Menschen' irgend einem harmlosen Fremden für einige Zeit der Aufeuthalt zu ge-'
statten sei. Aber auch die Russen kommen selten hierher. Sie haben wohl eine
gewisse Sehnsucht uach unsern prächtigen Hauptstädten und freundlichen Kurorten,
aber der Czar steht dies Herumschweifen in der Fremde nicht gerne. So sitzen
sie denn stille im „heiligen Rußland," gerben Juchten und dienen dem Herrn,
und nur wenn wir „gottlose Heiden" da draußen es gar zu bunt und toll treiben,
komme» sie herein, schaffen Ruhe und Ordnung, wie sie sagen, und kehren dann
wieder heim. Und so brannten wir Alle, was wir auch sonst von der russische» Inter¬
vention halten mochten, doch vor Neugier, auch einmal so ein buntes Stück Welt¬
geschichte und so eine moderne uniformirte Völkerwanderung an uns vorübergehen zu
sehen. Und so blieb am 12. Mai diesesJahres kein Mensch in Lemberg zu Hause,
sondern Alles was nur konnte, ging hinaus zur Lyczokower Linie, um die Russen
ankommen zu sehen. Die ganze Generalität und ein zahlreiches Gefolge von
Offizieren aller Waffe» war ih»e» entgegengeritten, anch ein Musikkorps hatte
man mitgenommen, um die Gäste zu empfangen und gleichsam die Honneurs der
Stadt oder Provinz zu machen. Sie ließen uns ziemlich lange warten, endlich
aber kamen sie.
Es war ein schönes Uhlanenregiment, hübsche Leute auf trefflichen Pferden,
aber sonst nichts Eigenthümliches. Das einzige Neue und Auffallende für uns
war ihr Singen. Denn die russischen Regimenter haben nicht blos wie die unsern
eine Instrumental-Musik, sondern noch außerdem ein ziemlich zahlreiches geschultes
Säugerkorps, und dieses gab uns ihre National-Melodien zum besten. Das
Publikum sah und hörte aufmerksam zu, machte laut seine lobenden Bemerkungen
oder flüsterte leise seinen Tadel, je nach den verschiedenen politischen Sympathien
oder Antipathien. Dies wiederholte sich so ziemlich bei allen folgenden Durchzü¬
gen, und wenn die Neugier und Schaulust sich auch nach und nach verminderte,
so konnten durchmarschireude Russe» doch immer wie ein gutes Kasseustück auf
zahlreichen Zuspruch rechnen. Nach und nach fand sich auch Gelegenheit zu näherer
Bekanntschaft, besonders als manche Abtheilungen hier Rasttag hatten, und die
Soldaten bei den Bürgern einquartiert wurden. Die Sprache war kein großes
Hinderniß. Ein großer Theil der Mannschaft und fast alle Offiziere verstanden
Polnisch, theils waren es wirklich Polen, theils hatten sie in polnischen Garnisonen
das dem russischen so verwandte Idiom erlernt. Auch fanden sich Kur- und Lief-
länder, die Deutsch und Juden, die beinahe Deutsch sprachen. So konnte man
manches erfahren, doch war es nicht gerathen, sich in gar zu große Vertraulichkeit
einzulassen; denn man sah höheren Ortes eine solche t-atvirte coM-Ac nicht gerne,
und Mancher zog sich dadurch unangenehme polizeiliche Inquisitionen zu, weil
man in solchem Gedankenanötansche Versuche zur Verführung der fremden Truppen
erkennen wollte.
Wenn wir als Laie» uns ein Urtheil über die russischen Tnippcu erlaube»
dürsten, so würden wir der Cavallerie weitaus vor dem Fußvvlke de» Vorzug
gebe«. Es ist in der That eine tüchtige Truppe, diese russische Cavallerie, starke
kräftige Leute und trefflich beritten. Der Reichthum des Landes an schönen Pfer¬
den bietet eine große Auswahl, und es wird streng darauf gesehen, daß alle Pferde
eines Regiments geuau von einer und derselben Farbe sind, das eine hat Rappen
das andere Füchse, ein drittes Schimmel u. s. w. Das gehört mit zur Uniform,
man erkennt das Regiment daran etwa wie bei uns an den Aufschlägen. Nur bei
den Kosaken ist es nicht der Fall. Sie nehmen sich jedoch in ihren einfachen
schmucklosen Blousen weit besser aus als die audern in ihren glänzenden Unifor¬
men. Denn es ist ein schöner schlanker Menschenschlag, dieses Sleppenvvlk, und
treffliche Reiter. Auch sehen sie besser genährt, lebhafter und munterer ans als
die andern, haben auch nicht jenes stumpfe, niedergedrückte Wesen, das sonst den
russischen Soldaten eigen ist. Gedrillt sind nach dem Urtheile Sachverständiger
Menschen und Pferde sehr gut und unsere Militärs haben sich über die Leistun¬
gen beider sehr anerkennend ausgesprochen, besonders die Dragoner sollen zu
Pferd wie zu Fuß mit bewunderusiverther Präcision exerzirt haben. Dagegen
sind unsere Husaren viel tüchtiger. Es ist mehr Leben und mehr kriegerischer Geist
in ihnen als in den Russen, die für reguläre leichte Cavallerie viel zu wenig
Feuer, zu viel Maschinenhaftes haben. Ihre Husaren sahen entschieden unecht
aus, und die Schnüre ans ihren Dolmans gemähnten uns an englische Etiketten
auf heimischen Fabrikaten. Dies mochte auch der „treugcbliebene" ungarische Hu¬
sar gefühlt haben, der beim Anblick eines solchen vorbeiziehenden Regiments
ziemlich laut bemerkte, daß seine Landsleute da sehr schöne Pferde gratis
bekommen. .....^ ,
Eine sehr interessante Erscheinung waren ein Paar Hundert irreguläre Reiter,
die mau uns als Tscherkessen bezeichnete; Mohamedaner in der kleidsamen Tracht
des Morgenlandes ans kleinen, aber sehr feurige» Pferdchen, die sie trefflich wie
Kunstreiter zu tummeln wußten, und es waren allerdings Viele darunter, die
durch Schönheit der Gesichtszüge, Ebenmaß der Gestalt, einen gewissen Adel und
natürlichen Anstand den Anspruch auf kaukasische Herkunft rechtfertigten ; aber auch
viele Gesichter vou abschreckender Häßlichkeit, die eher unserer Vorstellung von
Tartaren oder Kalmücken entsprachen. Das Volk wollte in diesen Leuten durchaus
Juden .erkennen, wozu freilich die stattlichen Bärte das ihrige beitragen mochten.
In den Quartieren machten sie viel größere Ansprüche als wir an den andern
Russen gewöhnt waren. Sie wollten alle gleich und als Gentlemen behandelt
sein, Wd nahmen es besonders sehr übel, wenn man ihren Offizieren mehr Auf-
merksaiukeit erwies, und sie in Kost und Wohnung irgendwie vor den Gemeinen
bevorzugte.
Die russische Infanterie sieht schlechter aus als die Cavallerie, und scheint
auch gegen diese zurückgesetzt zu werden. Schon die Uniform ist viel ärmlicher,
Frack'S und Beinkleider von Tuch nur zur Parade, sonst sieht man schlechte, schmutzige
Leinwandhosen und selbst mitten im Sommer lange, weite, graue Mäntel, die
plump und schlotterig an ihnen herunterhängen, gar nicht martialisch aussehen,
und in denen sie den Sträflingen in unserm Criminalgefängniß ähnlich Süden.
Auch ist es anffallend, daß sie durchgehends eine gebückte unsoldatische Hal¬
tung haben. Bei uns ist ein gewesener Soldat selbst nach langen Jahren noch
immer an der straffen Haltung und dem gleichmäßigen takthaltenden Schritte auf
den ersten Blick als „gedienter Mann" zu erkennen, während bei den Russen Ve¬
teranen wie Rekruten Haltung und Gang der Bauern behalten.
Zwischen russischen und östreichischen Soldaten ist der große Unterschied,
daß unsere Soldaten bei dem bestehenden Stellvertretungssysteme auch meist den
ärmern oder sogenannten arbeitenden Volksklassen angehörig, — fast in der Ka¬
serne ein besseres Leben finden, als dasjenige, das sie zu Hause als Bauernknechte
oder Tagelöhner gewöhnt waren, sie werden von ihren Vorgesetzten wenigstens
nicht schlechter behandelt als von ihren frühern Brotherren. Sie sind daher fast
immer mit ihrem Stande zufrieden, lustig und gut aufgelegt. Namentlich in den
slavischen Provinzen, wo das Leben des gemeinen Soldaten, verglichen mit dem
des Arbeiters fast als ein luxuriöses und üppiges erscheint; sie nehmen auch gegen
ihre frühern Standesgenossen einen Ton vornehmer Ueberlegenheit an, und wissen
in der Schenke und aus dem Tanzboden stets den Vorrang vor den „Civilisten"
zu behaupten. — Anders ist es in Rußland. Was bei uns erst eine November-
Errungenschaft (?) ist, daß die Armee nebenher auch als Strafanstalt benutzt wird,
das ist dort eine alte Institution, und es wird alljährlich eine Masse schlechten
Gestndels zur Strafe unter das Militär gesteckt. Dieser Bestandtheil der Armee
hat nun einen großen Einfluß auf die Behandlung iber Soldaten. Diese ist roh
und hart, oft sogar grausam. Was man von den Schrecknissen der Knute erzählt,
ist, so weit es das Heer betrifft, nicht übertrieben. Zu diesen systemisirten Prü¬
geln kommen dann noch diejenigen, die sie von ihren Vorgesetzten je nach deren
Launen gelegentlich als Accedenzien erhalten. Denn die russischen Offiziere sind
darin splendide und genereuse Herren, und gegen ihre Untergebenen sogar auf
öffentlicher Straße mit der Reitpeitsche oder der flachen Klinge stets zu rettender
That bereit. Es ist ihnen dies so zur Gewohnheit geworden, daß sie hin und
wieder nicht umhin konnten , auch unsere östreichischen Soldaten in solcher Weise
zu regaliren. Aber auch schlechter genährt werden die russischen Soldaten. Statt
des gesunden nahrhaften Brotes, das man bei uns hat, bekommen jene steinhar-
ten Zwieback, den man erst anfeuchten muß, um ihn genießbar zu machen, und
selbst diesen nicht in genügender Quantität. Was sie sonst noch an Geld und Natural-
Rationen eigentlich erhalten sollen, weiß ich nicht genan; aber das in der dortigen
Militärverwaltung musterhaft organisirte Unterschleifsystem hat es Stabs- und
Oberoffizieren möglich gemacht an diesem Theile des Kriegsbudgets Reduktionen
und Ersparnisse vorzunehmen, von denen sich.Hume und Cobden in England kaum
etwas träumen lassen. Daher kommt es, daß die russischen Offiziere, auch wenn
sie kein eigenes Vermögen haben, doch gewöhnlich viel mehr Aufwand machen als
die unserigen, und hier in allen Läden und Handlungen sehr gern gesehene Gäste
waren, währeud die Mannschaft vom Feldwebel abwärts bei den mäßigsten Be¬
dürfnissen sich dennoch stets in finanziellen Verlegenheiten befindet. Die armen
Teufel können in der That mit ihren Paar Kopeken eben so wenig ausreichen als
Louis Napoleon mit seiner halben Million Franken. Man steht es ihnen an,
daß sie Noth leiden und mit ihrem Stande nicht zufrieden sind. Auch werden
sie dadurch veranlaßt, wo es »ur irgend angeht, kleine Expropriationen vorzuneh¬
men, und nach jedem Durchmärsche verschwand eine hübsche Quantität von silber¬
nen Löffeln, seidenen Tüchern, lebendigen Hühnern und dergl., die alle im Tor¬
nister und in den weiten Räumen des erwähnten grauen Mantels bequeme Unter-
kunft fanden und wehmüthig den Feldzug nach Ungarn mitmachten. Dagegen
Pflegen ankommende Russen auch wieder viele Dinge zum Verkaufe aufzubieten,
die sonst Soldaten, gewöhnlich nicht feil haben; wie z. B. Leder, ganze Stücke
Leinwand, Theekannen, Weiberkleider u. a. in., von denen schlechte Menschen arg¬
wöhnten, daß sie am nächstvorhergehenden Rastorte entführt worden waren.
Doch fürchten Sie nicht, daß diese „spezifisch glanbenskräftigcn" Slaven, von
denen gewisse fromme Herren bei Ihnen die Regeneration Europa's und nament¬
lich des dnrch Ueberbildung und Unglauben entnervten und entarteten Deutsch¬
lands erhoffen, bereits vom Gifte der sozialistischen und kommunistischen Ideen in»
ficirt sind und dadurch unfähig werden, ihre große Rolle durchzuführen.
Damit ist es nichts. Die Russen sind keine Sozialisten, sie sind unverdorbene,
spezifisch glaubenskräftige Naturdiebe, sie stehlen ohne alle Theorie aus innern:
Drange und in der Einfalt ihres Herzens etwa wie die Südseeinsulaner, nur daß
sie in der Manipulation selbst eine größere Virtuosität entwickeln, worüber man
sich sehr viel zu erzählen weiß.
Dies war der einzige Punkt, in dem wir uns über unsere Gäste ernst¬
haft zu beklagen hatten; sonst war man mit ihnen so ziemlich zufrieden. In den
Quartieren betrugen sie sich sehr bescheiden, machten keine Exzesse, aßen und tran¬
ken, was man ihnen vorsetzte, ohne je an der Qualität Ausstellungen zu machen,
nur im Betreff der Menge waren sie schwer zu befriedigen, wobei sie gewöhnlich
zu erinnern pflegten, daß sie ja für uns in den Krieg ziehen, und daher wohl
noch ein Gläschen Branntwein oder was es sonst war, verdienten. Dieses Argu»
neue verfehlte in der Regel seine Wirkung nicht. Nicht etwa, als ob bei uns
so viel Enthusiasmus für den ungarischen Krieg vorhanden gewesen wäre, im
Gegentheile er war sehr unpopulär. Abgesehen davon, daß ein nicht unbeträcht¬
licher Theil des Volkes wirklich mit den Ungarn sympathisirte, war auch die große
Mehrzahl, die sich wenig um Politik kümmert, desselben nachgerade müde gewor¬
den. Er hatte genug Meuschen gekostet, und man wünschte sehnlichst ihn been¬
digt zu sehen, am liebsten dnrch einen Vergleich und billige Conzessionen. Da
nun aber der Kaiser nicht nachgeben wollte und die „Teufelskerle", die Ungarn,
sich nicht schlage» ließen, fürchtete man eine ne»c Rekrutirung, und doch stand ein
sehr großer Theil der jungen Mannschaft bereits unter den Waffen und schon
fing es hier und da an dem Ackerbau an Händen zu fehlen. Deshalb fühlte man
sich denn sehr erleichtert durch die russische Hilfe. Was kümmerte den galizischen
Kleinbürger und Bauer, daß wir eine Großmacht seien nud unsere Würde zu be¬
haupten hätten vor den Augen Europa's, und was wußten sie von unserm Be»
ruft im Osten und den Dingen an der untern Dona»? Die fremde Intervention
war für sie ganz einfach eine Frage der militärischen Stellvertretung im Großen.
Und da fand man, daß sich die Russen allerdings weit besser dazu eigneten in
Ungarn als Futter für Pulver zu dienen als unsere eignen Söhne und Brüder,
aber einen Schnaps verdienten sie immerhin dafür.
Man sah es übrigens auch den Russen an, daß sie gern zu Hause geblieben
wären und andere Leute in Ruhe gelassen hätten, aber der Wille einer finstern
Macht bewegte sie. Es liegt etwas fast Tragisches in dem Kontraste, daß diese
armen unglücklichen duldenden Menschen, die wir doch nur bemitleiden könne«,
uns eben dadurch so furchtbar geworden. Denn furchtbar sind diese Massen, ob¬
wohl von Natur uicht kriegerisch, durch ihre Zahl, ihren blinden Gehorsam und
ihre Todesverachtung, die bei ihnen eigentliche Tapferkeit ersetzt. Der russische Soldat
schlägt sich nicht um des Vaterlandes, nicht um des Ruhmes, ja nicht einmal um
des Kaisers willen; sondern weil es befohlen wird, und mau gehorchen muß,
wenn man uicht Schläge bekommen will und deu Tod fürchtet er nicht, weil ihm
das Leben so sauer gemacht wird, daß er nicht viel daran zu verlieren hat.
Unsere östreichischen Soldaten wurden vou ihnen mit einer gewissen Mischung
von Neid und Verachtung betrachtet. Sie schienen sich von der Vorstellung uicht
losmachen zu können, daß diese hübschen Soldaten in ihren netten enganliegenden
Uniformen, die Cigarren rauchen und Geld in der Tasche haben und die sie halb
spöttisch „Herren" nannten, eben nur zur Parade da seien; daß mau aber, wo
es wirklich ernst gelte, sich ohne sie, die Russen, nicht helfen könne. Auch zwischen
den beiderseitigen Offizieren konnte trotz einiger Verbrüderungsbanquette das Ver¬
hältniß sich uicht recht kameradschaftlich gestalten. Sie mieden sich eher als sie
sich suchten, theils wegen der verschiedenen Ideen über militärische Etiquette, die
in der russischen Armee viel strenger zu sein scheint und jede Annäherung zwischen
Offizieren verschiedenen Grades fast unmöglich macht; theils weil sich die Unsrigen
durch den Protektorton, den jene manchmal annahmen und durch öftere und nach¬
drückliche Wiederholung des „wir sind euch zu Hilfe gekommen" verletzt fühlten.
Besonders trat dies später bei dem Rückmärsche der Russen hervor. Denn die
durch die versteckte Tagesbefehl- und Proclamationen - Polemik der beiden Feld¬
herren hervorgerufene Empfindlichkeit wurde durch den in der Presse durchgeführ¬
ten ärgerlichen Nechnuugsprozeß über die relativen Antheile beider Armeen an dem
wenigen bei der ungarischen Affaire erworbenen Kriegsruhm fortwährend wach ge¬
halten und durch alle Zwischengrade bis auf die Lieutenants herab fortgepflanzt.
Die größere Taktlosigkeit scheint hierbei auf unserer Seite gewesen zu sein.
Denn man hat doch einmal die Russen zu Hilfe gerufen und zwar noch ehe es
die Regierung gethan, die Armee selbst, nämlich Pnchner in Hermannstadt; und
so ist es denn gelinde gesagt, sehr unhöflich, ihnen dann statt des Dankes zu
^ager: Wir haben euch gar nicht gebraucht, ihr habt uns nichts genützt und wir
haben das Beste an der Sache selbst gethan.
. Glauben Sie aber nicht, daß >zur uns hier über diesen Mangel an Sympa¬
thien zwischen unserer und der russischen Armee etwa grämen. Ja, wenn wir
wüßten, daß diese mesontente/coräisls anch in den höchsten Regionen vorhan¬
den, unser beschränkter NntertharMerstand würde es für das größte Glück des
Kaiserstaats halten. . ^ , .....
' Vor einem Jahr war die gesammte fränkische Presse mit'zwei oder drei Ausnah¬
men von demokratischen Ideen und autibairischen Gelüsten inficirti Jetzt sind alle jene
Träume aus den-Spalten der Zeitungen wie aus den Köpfen entschwunden und die
Vertretung der Demokratie geschieht nur uoch auf die allervorsichtigstc Weise.
., Das gelesenste Blatt der Provinz, das über ganz Baiern stark verbreitet ist, ist
der Nürnberger Korrespondent, in langweiligem Folio Format, auf sehr schlech¬
tem Papier mit sehr altmodischen Lettern gedruckt. Er hat vor der Revolution außer
der des Löschpapiers keine in Baiern verbotene Farbe gehabt; nach der Revolution ge-
berdete er sich zuerst aus eine anständige Weise schwarzrothgold; im Lauf der Zeit kam
jedoch die alte weißblaue Grundfarbe wieder mehr und mehr zum Vorschein. Die Mai¬
tage hatten auch ihn etwas derangirt, jetzt ist er indessen wieder ganz nach dem Pford-
tenschen Geschmack justirt. In langathmigen Leitartikeln ficht er nach anßen für M
ganzes Deutschland sammt Oestreich, verstößt manche Lanze gegen die schwarzweiße
deutsche Zeitung, die ihm ein besonderer Dorn im Ange ist, anch gegen das Ministe¬
rium Brandenburg und gegen die pietistisch-absolntistische Fraction Stahl-Gerlach. Man
sieht „ohne Wahl zuckt der Strahl." Zum Glück sind es nur kalte Schläge. Wichtig
ist das Blatt in vieler Hinsicht trotz seiner Langweiligkeit, einmal wegen seiner Stellung
zum bairischen Ministerium, dann wegen der ausführlichen, gewöhnlich sehr richtigen
Nachrichten aus München's höheren und höchsten Regionen. Auch hat es gewissenhafte
und fleißige Korrespondenten fast in allen Theilen Süddeutschlands und bringt wegen
seines großen Umfangs, 1 — 2 Bogen täglich, eine Masse Detail. Daher ist es
recht eigentlich das Blatt des höheren Mittel- und Gcwcrbcstandes, der weniger beschäf¬
tigten städtischen und der ganzen ländlichen Bureaukratie. Für die unteren Stände ist
es zu steif, doctrinär und zu theuer.
Neben ihm gibt es in Würzburg, Baireuth und Bamberg etc. nach den
Städten benannte Zeitungen, welche mir im engeren Kreise sich zu derselben Farbe in
der inneren und äußeren bairischen Politik bekennen. Sie leben meist vom Korrespon¬
dent und der neuen Münchner Zeitung, dem eigentlichen Organ des Ministeriums. Die
Würzburgerin schillert bedeutend in's Ultramontane. Eine Zeitlang schien es, als sor-
tirte sie die Demokratie, vielleicht, um auch in Franken eine Liga wie die am Nieder-
rhein im vorigen Jahre zu Stande zu bringen. Indessen dafür waren durchaus keine
Elemente vorhanden, und so ist sie denn wieder absolutistisch, bureaukratisch, in Baiern
nennt man es Abelisch, geworden. Das gegenwärtige Ministerium wird als eine noth¬
wendige Durchgangsperiode zu jenem vollkommenen Zustand einstweilen geduldet, gele¬
gentlich protegirt! gerade so wie es die Kreuzzeitung hielt. — Die Bamberger Zeitung,
das einzige politische Organ einer Stadt von .'!0,0V0 Einwohnern ist nichts weiter als
die conservative oder ministerielle Metamorphose des fränkischen Merkurs. Dies war das
Organ der fränkischen Demokratie und an sinnlosem Wüthen gegen alles und jedes, was
nur noch eine Spur von Sinn in sich hatte, konnte er sich dreist neben seine badischen
und rheinischen Kollegen stellen. Jetzt wird der Redacteur steckbrieflich verfolgt, und
die Polizei hat einen neuen bestellt. Daraus erklärt sich die Haltung des Blattes
hinlänglich.
Die anderen ministeriellen Blätter erwähne ich nicht. Ihre Quellen sind stets
die beiden erwähnten, dazu kommt noch als dritte der Localklatsch. Nur eins noch.
Höchst komisch waren die Geberden dieser loyalen fränkischen Presse, als neulich der
Text des Interims bekannt wurde. Vorher strömten sie wie ihr Münchner Vorbild
über von Zärtlichkeiten gegen den Kaiserstaat. Jede Zeile war durch irgend einen Hieb
gegen die „Pickclhaubenpolitik" gewürzt. Die Verzückung erreichte ihren Gipfel, als die
Münchner Zeitung am 3. October groß gedruckt an der Spitze ihres Blattes die Notiz
brachte „endlich ist es den fortgesetzten Bemühungen Baierns gelungen, eine definitive
Lösung der zwischen Oestreich und Preußen vbschwebcuden Unterhandlungen über die
Neugestaltung des Bundes zu erzielen, gemäß welcher Baiern fortan die Stellung ein¬
nehmen wird, die ihm seine Geschichte und seine Kräfte zuweisen." Der Satz erschien
mit noch fettern Lettern den nächsten Morgen in allen Blättern. Nähere Details über
das Wie und Wo waren dort nicht gegeben, folglich wußten auch sie nichts weiter dar¬
über. Kurz daraus veröffentlichte die Kölner Zeitung den Text des Vertrags, der nach
bairischen Begriffen Baiern mediatisirt. Man sah und horchte nach München, aber das
Orakel blieb stumm und bald kam auch die offizielle Bestätigung von Wien und Berlin.
Nun ergriffen der Korrespondent und Konsorten den klügsten Ausweg; sie druckten ihn
stillschweigend ab und schrieben Leitartikel über die München-Salzburger Eisenbahn und
die Frequenz auf dem Ludwigscanal.
Die demokratische Presse der Provinz hat im Augenblick keinen nennenswerthen
Vertreter, seitdem der Merkur eingegangen ist. In den kleineren Mainstädten erscheinen
einige Stadtblätter, die meisten nur ein- oder zweimal in der Woche. Ihre Vcrbrei-
tung beschränkt sich auf die Bannmeilen und auch hier scheinen sie wenig zahlungsfähige
Abonnenten zu besitzen, denn jeder Monat bringt die Todeskunde des einen oder des
andern. Auch kömmt es vor, daß sie sich auf eine verständige Weise mit der conser-
vativen Bourgeoisie vereinigen, indem sie sich zu Beilagen der wöchentlichen Anzeige-
blätter umwandeln. Eines der gelesensten mag in diesem Augenblick der „Staatsbürger"
sein, der in Nürnberg erscheint und dort unter den kleinen Gewerbsleuten viele Ver¬
breitung hat. Er ist gemäßigt d. h. furchtsam radikal, schwärmt gelegentlich noch für
die Linke in Frankfurt und in der zweiten bairischen Kammer vom vorigen Jahr und
beschäftigt sich viel mit Hymnen auf die nicht eingeführten Grundrechte. Nach außen
ist er großdcutsch und Prenßcnfrcsser, so gut wie seine von Pfordten subvcntionirtcn
Nebenbuhler. — In der ganzen Provinz existirt ein einziges Organ, das die Sache
des engeren Bundesstaats und der preußischen Hegemonie versieht. In Anbetracht des
kleinen Häufleins seiner Parteigenossen, die ebenso sehr von den reactionären Bureaukraten
und den ruhetollen Philistern wie von den Demokraten angefeindet werden, darf man noch
damit zufrieden sein, daß sie doch wenigstens ein Organ besitzen. Esist die mittelsrän-
kische Zeitung, welche täglich in Nürnberg erscheint. Außerhalb der Provinz ist sie
kaum dem Namen nach gekannt, in ihr hauptsächlich in Nürnberg, Erlangen und Ans-
bach gelesen. Sie gibt fortwährend Leitartikel, die häusig Wort für Wort aus der
deutschen Zeitung entnommen, häufiger eine Paraphrase einzelner dort angegebener
Sätze sind. lIt clesint vires heißt es auch bei der mittelfränkischen Zeitung, und in
der That ist es ersprießlicher für den Redacteur und das Publikum, wenn sie einen
guten Leitartikel anderswoher abdrückt, als wenn sie selbst schlechte fabricirt. Lobens¬
wert!) ist das Blatt wegen seiner unerschrockenen Angriffe gegen die Pfordten'sche und
grofidentschc Machinationen. Der Herr Minister mag sich wenden und drehen, wie er
>pill, überall folgt ihm sein unermüdlicher Gegner und bringt ihm mit seiner zwar
etwas ungalant, aber mit Ernst und Ueberlegung geführten Waffe manchen tüchtigen
Hieb bei. Hätte unsere Partei nur viele solche Bundesgenossen in Baiern und Süd-
deutschland, so konnten die Nebel des Großdeutschthums und Preußenhasscs, die dort
so manchen ehrlichen Kopf umschleiern, sich nach und nach lichten. So aber ist die
mittelfränkische Zeitung eine weiße Schwalbe und alle andern bleiben nach wie vor
grau und schwarz.
Die Einsender der beiden folgenden Repliken werden mit uns einverstanden sein,
daß wir nur ihre factischen Bemerkungen den Lesern der Grenzboten gönnen; was
sie uns sonst über unser Blatt und die betreffenden Korrespondenzen erzählen, mit denen
sie nicht einverstanden sind, bleibt ein zum Theil süßes, zum Theil finsteres Geheimniß
zwischen uns und ihnen.
Zu Jütland und die Juden. Erwiderung aus Schleswig. — Ihr Blatt
enthält in Ur. 37 einen Artikel: „Jütland und die Juden," gegen welchen ich mich
im Interesse der Wahrheit auflehnen muß. - Ich kenne Jütland schon längere Zeit
und habe es jährlich bis beinahe zur nördlichsten Spitze bereist, aber ich habe Vieles
nicht so gefunden, wie Ihr Korrespondent es erzählt. — Er erzählt von schrecklichem
Elend in Jütland; ich kann dagegen versichern, daß davon wenig zu finden, daß im
Gegentheil Jütland — die innern Haidestriche ausgenommen — fruchtbar und wohl¬
habend ist. Der Bauer lebt selten in den Abhängigkeitsverhältnissen zum Gntsbe sitzer
wie sie in vielen Gegenden Deutschlands der Fall, sondern ist frei und hat gewöhnlich
über mehr fruchtbaren Boden zu gebieten, als er urbar zu machen und zu bebauen im
Stande ist; so ist'S denn natürlich, daß man keine Bettler in Jütland findet, wohl
aber großen Mangel an Arbeitskräften hat. ES herrscht im Allgemeinen in Jütland
nicht die Reinlichkeit, wie in den Herzogtümern, auch steht es an Wohlstand gegen
diese gesegneten Länder noch immer zurück; — aber die Schilderung, wie sie Ihr
Korrespondent von den Juden macht, paßt doch nur auf einen sehr kleinen Theil der
im Innern des Landes liegenden Haidestriche und anch hier nur dann, wenn man seine
Ausdrücke mildert; —- ein gewöhnliches polnisches Dorf möchte ein weit schlimmeres
Bild von Unreinlichkeit gewähren, als das schlechteste jüdische Haidedors. Uebrigens ist
das Haideland nicht so schlecht, sondern kulturfähig, es mangeln nur die Hände dazu.
Großes Unrecht thut der Verfasser den Juden, wenn er sie als vollständige Barbaren
darstellt. — Es möchten nicht viele Städte in Jütland sein, die nicht ihre meist täg¬
lich erscheinende Zeitung hätten, man muß sich hierüber wundern, wenn man die ge¬
ringe Einwohnerzahl dieser Orie bedenkt. Auch finden die zahlreichen Buchhandlungen
reichlichen Absatz für andere literarische Producte; statistische Uebersichten haben erwie¬
sen, daß kein Land in Enropa aus so wenige Einwohner verhältnißmäßig so viele Buch¬
handlungen hat, als Dänemark; — auch darüber muß man sich bei dem Lesepublikum
wundern, daß doch in Dänemark Bücher so häufig zweite und dritte Auflagen erleben:
besonders wenn man erwägt, daß wenigstens die Hälfte des Lectürebedarfs von den
deutschen Literaten geliefert wird. — Ich habe gesunden, daß jeder auch nur einiger¬
maßen gebildete Jude sertig deutsch spricht, auch werden überall im Lande deutsche Zei¬
tungen gelesen. — Daß das regere Leben eines handeltreibenden oder industriellen
Distrikts nicht in Jütland zu finden ist, dadurch lasse man sich nicht täuschen; man
that Unrecht, dieses Treiben selber für Bildung zu halten; es bringt eine gewisse Ge¬
schliffenheit zu Wege, die dem Juden durchaus fehlt; die man aber auch schwerlich bei
irgend einem andern ruhige», ackerbautreibenden Volke antreffen wird. In einem Lande,
welches so reich an Korn und Vieh ist, können die Lebensmittel nicht so schlecht sein,
wie in Ihrem Blatte erzählt wird; auch die Kleidung des jütischen Bauers ist, obgleich
grob, doch ganz gutes und zweckmäßiges Wollenzeug. Holzschuhe sind noch kein Be¬
weis der Barbarei; auch der rheinische Bauer würde seine hölzernen Schuhe im Win¬
ter nicht gern gegen lederne vertauschen. Recht hat der Versasser, wenn er die Ost-
küste Jütlands romantisch nennt; wenn er aber anch Räubers zu den malerisch gele¬
genen Städten rechnet, so kann ich ihm nicht beistimmen. Unrichtig ist die Behauptung,
daß die Westküste Jütlands aus Marschboden bestände, ein Blick auf die Landkarte macht
deutlich, daß hier sich unmöglich Marschboden ablagern konnte. Eben so bedenklich ist die
Befürchtung, daß der ganze Strich nördlich vom Licinfjord unausbleiblich ein Raub der
Welle» werden müsse. Endlich wird Jütland gar nicht so wenig bewohnt, wie Ihr Corre-
spondent erzählt; man wird selten in eine Stadt Jütlands kommen, ohne einige deutsche
Reisende zu treffen, und es möchten gewiß keine Städte und wenige Dörfer sein, wo
nicht mehrere Deutsche, seien es Kaufleute, Handwerker oder Landbebauer, ihr Domizil
aufgeschlagen hätten. Jütland ist kein Land des Schreckens, sondern ein Land zum
Auswandern für Deutsche, wo der Fleißige mit Leichtigkeit sei» Fortkommen findet. —
Ueberhaupt möchte der dänische Staat — die Herzogthümer inbegriffen — dasjenige
Land Europas sein, wo man, wenn auch keinen großartigen Reichthum, doch den ge¬
diegensten Wohlstand findet el» Land, von welchem man sagen kann daß es kein
Die Deutsche Zeitung aus Böhmen. Eine Vertheidigung. — Ihre Zeit¬
schrift bringt in Ur. 48, S. ?55 einen die deutschen Zeitungen Prags besprechenden
Aussatz, der die Deutsche Zeitung aus Böhmen so charakterisirt, daß einige
Bemerkungen darüber nicht unnütz sein werde!?. Die in Prag erscheinende und schon
darum vielfach angefeindete Deutsche Zeitung aus Böhmen hat trotz des Belage¬
rungszustandes mehr männlichen Freimuth an den Tag gelegt, als die liberale Zeitungs-
pressc Wiens; obschon dort die, Behörden dem Kundgeben der öffentlichen Meinung
begreiflicherweise jene Haupt - und residcnzstädtischc Rücksichtnahme*) angedeihen lassen,
deren die Provinzen — jetzt wie früher — sich nicht rühmen dürfen. Wohl hat die
Deutsche Zeitung gleich allen ihren freisinnigen Zeitgenössinnen in Oestreich einen schwe¬
ren Daseinskampf zu bestehen, theils wegen der jetzt vorherrschenden politischen Er¬
schlaffung und absichtlich herbeigeführten Begriffsverwirrung (wobei die Verbrechen der
durch Belagerungszustände aller Art monopvlisirtcn reactionären Schandpresse um nichts
leichter in die Wagschale der ewigen Gerechtigkeit fallen, als die Sünden der demago¬
gischen WühlerpresseVvlksverdcrbung dort wie da!—) theils deßhalb, weil die Par¬
teien noch nicht über den blinden Haß sich zu erheben vermochten, weil sie zwischen
sieghaften, am Gegner frevelnden Uebermuthe oder rachsüchtigem Ingrimme kein höheres
Drittes, nicht die selbstsuchtlose Liebe für das Gesammtwohl, nicht den Geist der Ver¬
söhnung kennen. Die bisherige kurze Lebensgeschichte der Deutschen Zeitung aus Böh¬
men ist zugleich ein interessanter, leider jetzt nicht veröffentlichbarcr Beitrag zur Zeit¬
geschichte und ein Stück politischen Märtyrerthmues sür die wenigen Edlen, deren zum
Theile maßlosen Opfern die Deutsche Zeitung ihre Begründung wie ihren Fortbestand
zu einer dafür möglichst ungünstigen Zeit verdankt. Zugleich hat die Deutsche Zeitung
beharrlich jede Art von Heuchelei, also auch jenen Katzenpfötchenstyl verschmäht, dessen
sich jetzt so viele ihrer Kolleginnen befleißen, jenen Styl, der seine Feder in ein Ge¬
mische von vielem Honig und etwas Galle taucht, der mit wohlfeilen Muthe sich brüstet,
in der That aber nur von der blassen Furcht eingegeben ist und der Wahrheit mehr
Schaden als Nutzen bringt. Möglich daher, daß die Deutsche Zeitung unter dieser
Ueberbürdung zuletzt erliegt, dann aber geschähe dies wahrlich ans dem geraden Gegen¬
theile von „Entnervung." Nach jener Darstellung müßte jeder vom wirklichen Sach-
verhalte Ununterrichtcte glaube», daß bei der Deutschen Zeitung binnen Jahresfrist ein
fünfmaliger Redactionswcchsel mit steigender llntüchtigkeit der Redacteure statt gesunden
habe, nun ist aber Prag männiglich bekannt, daß der edle Bernhard Gurt beim
Beginne der Deutschen Zeitung körperlich und im Gemüthe bereits zu schwer erkrankt
war, um derselben seine geistigen Kräfte, seine kernhaft deutsche Gesinnung widmen zu
können, vielmehr bot sich dem Zartgefühle einer Pietät gegen Bernhard Gutt sür einige
seiner Verehrer in dem Bestehen der Deutschen Zeitung mir die willkommene Gelegen¬
heit zur Bethätigung heiliger Frenndschaftspflichten dar, welche der Verewigte in anderer
Weise niemals würde geduldet haben! — Herrn i>. F. Stamm, — einem der oben
erwähnten Edlen - erlaubten seine Berufsverhältnisse nicht, von Kommotau nach Prag
zu übersiedeln, daher er auch mir als Mitarbeiter, nicht aber an der Redaction der
Deutschen Zeitung sich betheiligen konnte. Als wahrheitgctreues Ergebniß stellt sich also
heraus, daß das erste Halbjahr der Deutschen Zeitung von den Herren 0,-. Klier und
Julius Hirsch, das zweite Halbjahr von Letzterem allein und das dritte Halbjahr bis
jetzt von den Herren Dr. Malo wiczka und Julius Hirsch redigirt wurde, daß also
blos Einmal der erste Redacteur, und zwar, weil er Prag verließ, der zweite aber
gar nicht gewechselt hat.
Herrn K. Andre betreffend, so gebührt ihm das in jenem Aufsatze erwähnte
Verdienst um die Deutsche Zeitung aus Böhmen in ganz anderer und gewichtigerer
Weise, als in der bloßen Cautions-Erlegung, an der sich mehrere Ehrenmänner be-
theiligten.
Drei Missionen, Politische Skizzen ans Paris. Von Dr. Oels-
ner-Monmerquv. Bremen, F. Schlodtmann. — Der Verfasser wurde im vorigen
Jahre dreimal nach Paris geschickt, vom 17. Mai bis zum 26. Juni, vom 17. bis
zum 28. August, endlich vom 9. December 1848 bis zum 12. April 1849. Die
wichtigste seiner Missionen war die zweite, welche den Zweck hatte, die Ein¬
führung des Rcichsgesandten, Hrn. v. Raumer, bei dem damaligen Dictator Frank¬
reichs, General Cavaignac, zu betreiben. In den Briesen, die Hr. v. Raumer über
seine Sendung veröffentlicht hat, war der Thätigkeit des Hrn. Oelsner nicht eben auf
das Freundlichste gedacht worden, und die vorliegende Schrift hat zum Theil den Zweck,
diese Auffassung zu widerlegen. Es wird Hrn. v. Raumer vorgeworfen, daß er sich
zu sehr dem preußischen Gesandten angeschlossen habe, und daß dieser nur zu geneigt
gewesen sei, die offizielle Anerkennung der provisorischen Centralgewalt eher zu hinter¬
treiben, als zu unterstützen. Wenn man aber die Thätigkeit dieser Rcichsgesandten un¬
parteiisch beurtheilen will, so darf man den wunderlichen Conflict nicht vergessen, in
den sie durch ihre Stellung meistens mit ihrer eignen politischen Ueberzeugung kamen.
Nach der Ansicht der damals herrschenden militärischen Partei war die Centralgewalt, als
die Schöpfung und gewissermaßen der Ausdruck der Nationalversammlung, eine über den
bisherigen deutschen Staaten und außerhalb derselben stehende Macht, deren Abgeord¬
nete nichts Angelegentlicheres zu thun haben sollten, als den auswärtigen Regierungen be¬
greiflich zu mache», daß die östreichischen, preußischen, bairischen u. f. w. Gesandten
ohne alle politische Wichtigkeit wären, daß alle öffentlichen Geschäfte von der Central¬
gewalt rcssortirten. und daß, um es bestimmter auszudrücken, jene bisher souveräne»
Staaten durch das neue Reich mediatisirt seien. Diese Ansicht wurde weder von den
deutschen Regierungen, noch von derjenigen Seite des Hauses getheilt, welcher die mei¬
sten Reichsgesandten angehörten. Männer von der politischen Färbung der Herren
Raveaux und Heckscher konnten sich im unitarischen Sinn aussprechen, mußten dann
aber freilich gewärtigen, daß die Gesandten von Oestreich und Preußen Seitens ihrer
Staaten eine entgegengesetzte Ansicht geltend zu machen suchten. Welche Ansicht dann
schwerer in's Gewicht fallen würde, konnte man leicht berechnen. Wenn mau aber
Hrn. v. Andrian nach London, Hrn. von Raumer nach Paris schickte, so war es wohl
gewagt, von ihnen vorauszusehen, sie würden, der eine Oestreich, der andere Preußen
ein förmliches Dementi geben. — In Beziehung auf die französischen Angelegenheiten
gibt der Verfasser seine Bemerkungen in der anspruchslosen Form eines Tagebuchs.
Viel Neues erfahren wir daraus nicht, was überhaupt bei der Publicität aller wichti¬
ge,, Fragen von solchen Memoiren schwerlich zu erwarten sein dürste; allein es ist lehr¬
reich und anziehend, von einem verständigen Mann, der in der großen Welt Zutritt
hatte, die richtige Auffassung bestätigt und durch einzelne Details näher begründet zu
sehn. — Von Interesse ist auch die Darstellung der geschäftlichen Verwaltung im
Bureau des Auswärtigen und der Marine.
2) David Copperfield. Neuer Roman von Charles Dickens. ^- Das
Buch ist zwar erst zur Hälfte vollendet, aber man kann es schon so weit übersehen, um
zu behaupten, daß es in den Vorzügen und Fehlern der Boz'schen Manier keinem sei¬
ner frühern Werke nachsteht. Dickens ist ein echter Dichter. Einmal hat er Auge für
die kleinen, intimen Züge des Gemüths, und für den Contrast der Stimmungen, wie
ich es nur noch bei zwei Dichtern finde, Jean Paul und Jeremias Thackcray. Vor
dem ersten hat er aber den ungeheuern Vorzug, daß er zu erzählen versteht. Jean
Paul hat die besten Intentionen, wenn sie aber auf uns wirken sollen, so müssen wir
sie erst aus seinem wüsten, zum Theil unverständlichen Jargon in die Sprache gebilde¬
ter Menschen übersetzen. Dickens Sprache ist zwar keineswegs elegant, nicht einmal
correct, aber plastisch und voller Wirkung; er hat sie so weit in seiner Gewalt, um
stets den Eindruck zu machen, den er beabsichtigt. Freilich kommt ihm dabei wesentlich
zu Statten, daß er unter Briten lebt, daß dort in den niedrigsten Kreisen ein Fonds
von freier Originalität zu finden ist, den wir bei unserm verkümmerten, gedrückten
Volk vergebens suchen würden. Wenn man ihm daher Sentimentalität vorwirft, so
ist das doch ganz anders zu versteh», als bei Jean Paul; freilich sucht er häufig mit
»»künstlerischem Behagen ans die Thränendrüsen zu wirken, aber die Empfindungen,
die er auf diese Weise verwerthet, sind an sich nicht unnatürlich und anch nicht un¬
schön; seine Thränen strömen aus dem Herzen, nicht wie bei Jean Paul aus dem
Kopf. Ueber die Verschrobenheiten der Jean Paul'schen Lieblingshelden sich in Rüh¬
rung zu versetzen, ist nur ein Deutscher im Staude. Jener Vorwurf trifft Dickens
nicht mehr als alle Humoristen und Genremaler, wenn sie sich nicht ganz in Aeußer-
lichkeiten bewegen, wie Smollet und Marryat, wo man durch die ewigen Schnurren
am Ende doch auch gelangweilt wird. Das Wesen des Humors ist die Vorliebe für's
Detail. Das Detail aber verstattet, wenn ma» sich von der Erschöpfung des Lachens
einen Augenblick erholen will, keine andere Erholung des Gemüths, als Rührung, —
denn die Furcht und das ich möchte sagen der rein Physische Schrecken, welchen der Genre-
maler durch seine Virtuosität in der Behandlung der Nerven sehr wohl zu erregen ver¬
steht, und worin Dickens vor Allen Meister ist, kann ich nicht nnter die Erhebungen
rechnen, es ist wieder etwas Negatives wie das Lächerliche auch. Ein gcmüthloser
Humorist, wie Arnim, oder ein Humorist mit krankem Gemüth, wie Haman und
Hippel, ist eine sehr unangenehme und namentlich sehr unästhetische Erscheinung. —
Das zweite Verdienst unsers Dichters ist lyrischer Natur; er versteht die jedesmalige
Stimmung auf eine Weise in das Bild z» verwebe», wie es nur der Pantheismus
eines Humoristen möglich macht, der das Gras wachsen hört und den einzelne» Wasser¬
tropfen belauscht, wie er sich allmälig von der Felswand ablöst, ehe er im Unbestimm¬
ten sich verliert. Man wird verstehen, was ich meine, wen» man sich an den Anfang
des — übrigens schlechten — Büchleins: ello cricket ot tlro tioi>re>>, erinnert, das
Gespräch zwischen dem Heimchen und dem kochenden Theekessel. — Dickens Fehler lie¬
gen in seinen Vorzügen. Er gibt eigentlich nur brillante Detail-Anschauungen, und
die Art, wie er diese zu ganzen Figuren, zu ganzen Ereignissen zusammensetzt, ist
sehr willkürlich. Ferner führt die Virtuosität auch bei ihm, wie in allen Fällen, zur
Manier er liebt grelle Farben, weil er sich stets im Contrast bewegt, wie unsre
Geigenspieler seltsame Sprünge; und er kommt leicht zu Wiederholungen. Wo sollen
auch die pikanten Einfälle alle herkommen, wenn man allmonatlich ein dickes Heft voll¬
zuschreiben genöthigt ist. — Ein anderer Fehler ist mehr zufällig; die Dichter unserer
Tage können sich einmal nicht der directen Satyre enthalten; wo aber der Satynker
anfängt, hört der Poet auf — die Verehrer Juvenal's mögen es mir vergeben! Seine
Yorkshire Schulen und dergl. sind über alle Beschreibung ekelhaft. — Schulgcschichten
und ähnliche Kindersccnen nehmen auch diesmal den größten Theil der Hefte in An¬
spruch, die uns vorliegen. Es muß in den englischen Schulen, wenn wir Manyat
und Boz Glauben schenken, eine abscheuliche Wirthschaft sein! In dem träumerisch ab¬
geschlossenen Stillleben der kleinen unbeweglichen Welt des Lehrerstandes kaun nur
durch sehr intensive Gutmüthigkeit eine Art menschlichen Daseins erhalten werden;
der herzlose Egoismus, der in dem öffentlichen, geschäftigen Treiben des stolzen Bri-
tenvolkcs sehr an seinem Platz ist, macht aus den ersten Spielen des jungen Herzens
eine Fratze. — Ich komme vielleicht noch einmal auf diesen Punkt zurück.
l'tioC-txtaiiZ. Roman. I(i n K ^ rtI> u r. Episches Gedicht von SirEdward
Vulwcr Lytton, Bart. — Bulwer ist in allen Dingen der Gegensatz von Dickens;
dieser der Demokrat, der in allen Schenken und Kirmessen zu Hause ist, der mit eben
solchem Behagen sein ein, zwei, drei auch mehr Glas Grog trinkt, als er mit hüb¬
schen Kindern sich auf der Wiese herumzcrrt, der keinen Penny zahlt für alle Philo¬
sophie und Gelehrsamkeit der Welt, und dem es nicht einfällt, Staatsgcspräche von
seinen Lippen schallen zu lasse»; Sir Edward — denn er ist jetzt ein Standesgcnosse
Sir Walter's — hat in sämmtlichen Sprachen der alten und der neuen Welt dilettirt,
hat von sämmtlichen Dichtern Citate im Kopf und Intentionen im Gedächtniß, hat
von sämmtlichen Philosophen wenigstens einzelne Seiten gelesen und darüber nachge¬
dacht, ist in allen fashionablen Salons in untadliger Cravatte herumgcwandclt, hat
sämmtliche Fragen der höhern Politik zum Gegenstand seines Studiums gemacht —
aber das Geschick hat ihm zweierlei versagt: ein Auge, der Natur ins Gesicht zu
blicken, und eine Zunge, was er empfindet, zu sagen. Es ist nicht Stolz, sein men-
schenschcnes, steifleinenes, gezwungenes Wesen; ach der gute Baronet möchte für sein
Leben gern mit guten Gesellen in der Kneipe Grog trinken und dazu randaliren wie
ein deutscher Student, gern mit Kindern Purzelbäume schlagen, gern am abendlichen
Kaminfeuer mit lieben Leuten den „schwarzen Peter" mit Einem Strich spielen, aber
— es geht nicht! Er ist zu ungeschickt. Ich stelle ihn mir vor in Auerbach's Keller,
wo dem Völkchen jeder Tag ein Fest wird. Er betrachtet aufmerksam diese Poesie des
Unsinns und räuspert sich. — Hört! hört! Er wird sprechen! aircx! — „M. Tullius
Cicero macht über gesellige Zusammenkünfte in einer seiner Schriften, in welcher vor¬
schnelle Ausleger seine Feder nicht wiedererkennen wollten, die aber unzweifelhaft echt
ist, folgende geistvolle Bemerkung." Ja und mit der Kneipe ist es aus! Ich glaube,
wenn er ein Kind einen Purzelbaum schlagen lassen wollte, würde er damit anfangen,
ihm Diesterwcg's Ansichten über die moderne Gymnastik auseinanderzusetzen; das Kind
würde in Entsetzen gerathen und dem gelehrten Herrn entlaufen.
Der Gegensatz gegen Dickens zeigt sich am besten in der Zeichnung der komischen
Figuren. Bei Dickens sprudeln die lustigen Einfälle in nnversieglichcr Fülle, und er
verbindet sie zu einer komischen Figur, ohne sich viel darum zu kümmern, ob sie zu
einander passen oder nicht. Bulwer entwirft sich für jeden Charakter ein Schema des
Komischen, an dem er mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit festhält. So oft er aber seine
Person auftreten läßt, weiß er nichts weiter zu geben, als jenes Schema, das sich be¬
stimmt wiederholt; sie haben kein Leben, denn er empfindet sie nicht, er abstrahirt
sie nur.
Bulwer's erste Werke machten Sensation. Im Pelham schloß einmal ein salon¬
fähiger Gentleman die Zirkel der seinen Welt dem profanen Publikum ans; man wußte
es ihm Dank, und nahm es mit dem Weiteren nicht so genau. Bei Eugen Aram—
in technischer Beziehung das Beste, was er geschrieben — schüttelte man schon den Kopf
und rief ihm zu: Paule, du rasche! die große Weisheit macht dich rasen. Nach der
Zeit hat Bulwer alles mögliche versucht, historische und sociale Romane, Elfengeschich¬
ten, Theaterstücke, er hat nicht das erreicht, was er wollte. In jeder Vorrede erklärt
er, dies Werk sei sein letztes, und immer ergriff er von Neuem die Feder. Er hat
auch die politische Carriere angetreten, aber er stand allen Parteien zu hoch, sie wu߬
ten nicht, was sie aus ihm machen sollten. Er war der Ilommo inenmniis in dieses
Wortes verwegenster Bedeutung.
In den <Äxtori8, die eine einfache Familiengeschichte darstellen sollen, zeigt sich
die Armuth des Dichters am schlagendsten. Die historische, antiquarische, criminali-
stische Gelehrsamkeit kann den Mangel an psychischem Inhalt in einem einfachen Idyll
nicht verdecken. Vergebens ruft er die Natur, sie bleibt ihm stumm, er kann die
Sprache des Herzens nicht reden. Wo er einen Anlauf macht, tritt sofort die Re¬
flexion — und in der Regel eine bei aller Prätension sehr triviale — störend dazwi¬
schen. Offenbar hat er Dickens vor Augen gehabt; er spielt Scherzandv, aber er hat
keine Melodien. Altkluge Kinder, Pedanten, die doch sehr tiefsinnig, gemüthlich und
edelmüthig sein sollen, und deren Pedanterie den gemüthlichen, deren Tiefsinn den ko¬
mischen Eindruck der Pedanterie aufhebt, und außerdem die bekannten Byronschen Ge¬
stalten, das mit einigen politisch-socialen Reminiscenzen ist seine Welt.
So hat er sich nun auss Epos geworfen. Die Vorrede zum King Arthur macht
einen peinlichen Eindruck, man bemitleidet den Mann und mochte ihn lieben. Er ver¬
sichert, sein Werk mit allem Fleiß, aller Gewissenhaftigkeit geschrieben zusahen, die ihm
möglich ist, er habe alles gegeben, was in seinen Kräften stand, aber das Publikum
sei uun einmal eingenommen gegen ihn. Er findet in Pope, daß zum Epos dreierlei
gehört, die Wahrscheinlichkeit, die Allegorie und das Wunderbare. Um diese beiden
Eigenschaften zu verbinden, hat er sich in den verschiedenen Mythologien umgesehen,
es hat ihm keine genügt, er hat sich also ans Feen, Genien und Zauberern eine
eigene Mythologie gebildet und sie in das fabelhafte Zeitalter des Königs Artus ver¬
legt. So ist nun ein romantisches Heldengedicht entstanden, welches in der Tauchnitz'-
schen Ausgabe 000 Seiten ausfüllt. Es ist sehr moralisch, sehr erfinderisch, sehr
elegant, sehr mit gelehrten und philosophischen Betrachtungen verwebt, aber es enthält
so wenig Poesie, als sämmtliche Werke Bulwer's überhaupt, und es ist langweiliger
als irgend eines derselben.
(Fortsetzung zu Bictor Hugo.)
Die neue Schule, die seit 1825 eine Reihe angesehener Poeten und Kritiker
in den Kampf gegen Boileau führte — ich nenne hier nur Emile Deschamps,
Uebersetzer des Dante, Se. Beuve, Alfred de Musset, Edgar Quinet u. f. w.,
mußte ihre besten Lorbeern auf dem Schlachtfeld suchen, wo das kampfrichtende
Volk unmittelbar in Bewegung gesetzt wird, auf der Bühne. Das Theater war
seit Voltaire's Zeiten in fortdauerndem Verfall; einzelne Talente, wie Beaumar¬
chais, hatten keine nachhaltige Wirkung. Die Kaiserzeit war reich an Versuchen:
A. W. Schlegel hatte in dem Kolumbus von Nepomucene Lemercier die Morgen¬
röthe einer neuen Zeit begrüßt, weil die sogenannten Aristotelischen drei Einheiten
darin mit Bewußtsein vernachlässigt waren, aber die bloße Opposition gegen her¬
gebrachte Meinungen reicht nicht aus, wenn sie nicht von einem schöpferischen
Talente unterstützt wird. ES war eben beim Versuch geblieben.
Dagegen hatte die Kunst der Darstellung durch Talma eine neue Richtung
genommen. Er hatte die stereotypen Formen des Anstandes und der bühnenfähi¬
gen Leidenschaft mit künstlerischer Freiheit erweitert, der Declamation Charakter
und Individualität gegeben, das auf alle Zeiten übertragene Nococokostüm durch
das historische ersetzt. Sieht das Publikum ungewohnte Trachten, so gewöhnt es
sich auch an Vorstellungen, die von den üblichen Begriffen abweichen. Nicht mehr
die Akademie, der Gerichtshof über das Schickliche, sondern die Gelehrsamkeit
übernahm die Kritik. Gleichzeitig verbreitete Walter Scott durch den historischen
Roman den Sinn für das geschichtliche und geographische Detail durch ganz Eu¬
ropa, und der Cultus Shakespeares, der von Deutschland aus sich allmäliq auf
die Nachbarn übertrug, arbeitete der socialen Revolution, welche die Verrücken
abschaffte, in die Hände, indem durch Beides die Empfänglichkeit für das Cha¬
rakteristische geweckt ward. Ein nicht unwesentlicher Umstand, der die neue Kunst
vorbereitete, war die große Ausdehnung der Oper und ihr Heraustreten aus dem
lyrischen Charakter, den sie in den Zeiten Metastasio's bewahrt. Ein Publikum,
das an die phantastischen Sprünge und die willkürlichen Combinationen der Libret¬
to's gewöhnt ist, wird durch keine Unnatürlichkeit mehr in Erstaunen gesetzt.
Seit Talma's Tod war die Bühne verwaist, und nnr eine neue Kunst konnte
sie wieder beleben. Die Neuerung — ein freierer Gang in der Handlung und
die Ersetzung des Conventionellen durch das Charakteristische — mußte sich mehr
auf die tragische Kunst beziehn als auf das Lustspiel. Denn die Komödie hat
immer eine satyrische Ader, und muß diese Beziehung auf bestimmte sittliche Ver¬
hältnisse durch Darstellung derselbe» begründen, sie ist also ihrer Natur nach auf
das Charakteristische angewiesen, und wenn wir den drin^o»!« ^ontilliommo von
Molivre, den Figaro von Beaumarchais und im« alium<- von Scribe mit einander
vergleichen, so finden wir eine naturgemäße Entwickelung der Kunst, so schnell
sich auch der Horizont erweitert. Außerdem beschneidet das Lustspiel, so wenig
es eine steifleinene Logik begünstigt, schon durch seinen Gegenstand die Willkür
des Dichters; denn mit den Verhältnissen der Gegenwart ist das Publikum ver¬
traut, und würde nicht zugeben, daß man einen Robert den Teufel, eine Bern¬
steinhexe oder einen standhaften Prinzen in den modernen Salon oder in die
Chaumiore einführte.
In das Trauerspiel dagegen trat durch die neue Ansicht von der Kunst eine
vollständig entgegengesetzte Richtung ein. Zwar hatten auch die älteren französi¬
schen Dichter nicht immer streng an ihrem Aristoteles festgehalten. Schon von
dem großen Corneille kann die Kritik nur vier im Geist der Kunst gehaltene Tra¬
gödien anführen (Cid, Polyeucte, Ciuua und Horace); die übrigen stehen unter
dem Einfluß des spanischen Theaters, und gehen mehr darauf aus, die Handlung
durch widerstreitende Intriguen und unmotivirte Zufälligkeiten zu verwickeln, als
sie durch Einen großen Zug zu zwingen. Aber im Ganzen war dieses doch der
Sinn des französischen Theaters: einen von vornherein deutlich entwickelten Con¬
flict zu seiner Lösung zu führen, durch keine andern Mittel, als die in der
Exposition angegebenen, und in diesem einfachen Gange die Aufmerksamkeit in
Einer bestimmten Spannung zu fesseln. Die andern Regeln, obgleich sie in pe¬
dantische Formalien ausarteten, gehen alle auf diesen Einen Zweck; z. B. das
Festhalten desselben Tones, das Vermeiden aller Episoden, welche die Aufmerk¬
samkeit zerstreuen, aller Figuren, auf die mau nicht von vornherein bei der Ex¬
position aufmerksam gemacht ist; die leichte Zeichnung der Nebenfiguren, die blos
als Ergänzung des Dialogs angewandt werden, die sorgfältige Motivirung — wo¬
mit die sogenannte Einheit der Zeit zusammenhängt; die Gleichgilttgkcit gegen die
Localität und das Costüm — Einheit des Orts. U. s. w.
Dieser salonfähigen Tragödie wurde von der neuen Schule das historische
Drama — die Tragikomödie entgegengesetzt. Cromwell (l827) war nur die
Einleitung; das Stück kam nicht auf die Bühne. Mit dem Jahr 1829 dagegen
betritt die neue Kunst die Bretter; Hugo's Marion de Lorme, Herncini, Dumas'
Heinrich und Christine waren eben so viel große Schlachten, in denen die
Romantik ihre Gegner überwältigte. Folgendes sind, abgesehen von dem literatur¬
historischen Gefasel, welches keine Erwähnung verdient, die Grundsätze, welche die
Vorrede zum Cromwell als Maßstab der neuen Poesie angibt.
Der Zweck des modernen (christlichen) Drama's ist nicht, wie bei den Alten,
das Ideal, sondern die Wahrheit, die Realität. Die Realität entspringt aus der
Vereinigung des Erhabenen nud des Grotesken. Real ist z. B., wenn der Richter
sagt: in moi-t! et irllons ti»ol-. Freilich soll der Poet eine Auswahl treffen;
aber nicht nach dem Maßstab des Schönen, sondern des Charakteristischen. Cha¬
rakteristisch ist, was die Farbe der Localität und der Cultur einer bestimmten
Zeit bis ins Detail ausgearbeitet an sich trägt. In diesem Sinne muß das
Costüm, die Scene, die Redensarten, die Vorstellungsweise charakteristisch wieder¬
gegeben werden. Das wird einen Wechsel der Decorationen und einen Reichthum
an Figuren erfordern, der ans dem Drama freilich nicht ein einfach sittliches
Rechenexempel werden läßt, der aber die Einheit des höhern (symbolischen) Ge¬
dankens nicht zu stören braucht. Sie wird einen beständigen Wechsel der Stim¬
mungen und Erregungen mit sich bringen, der zwar die Geschmacks-Philister
beleidigt, der aber der „Wirklichkeit" entspricht. Denn auch in der „Wirklichkeit"
folgt Lachen auf Weinen, Regen auf Sonnenschein und eine Erwartung löst die
andere ab.
Diese Grundsätze erhalten ihren wahren Inhalt erst durch die Ausführung.
Man möge bei dem historischen Drama der französischen Romantik.nicht an Goethe
oder Schiller, selbst nicht an Shakespeare denken; ja nicht an W. Scott, eher an
Bulwer. Jene Dichter haben ernste Studien gemacht über die Zeit, welche sie dar¬
stellen wollen, und haben sich in den Geist derselben zu versetzen gesucht; aber sie
verschonen uns mit den gelehrten Citaten, die sie bei der Gelegenheit in ihre
Collectaneen eingetragen haben, sie verschonen uns mit den Anekdoten, die nicht
zur Sache gehören, und weit entfernt, die Originalität ans die Spitze zu treiben,
suchen sie bei jeder historischen Größe die allgemein menschliche Seite herauszukeh-
ren. Man hat es Schiller häufig vorgeworfen, daß er seine Helden aus uMnst-
lerischer Menschenliebe humanisirt habe; in der Ausführung gebe ich das zu, im
Princip hatte er Recht. Wir würden seinem Wallenstein eine höhere menschliche
Berechtigung zuerkannt haben, wenn er ihn härter gehalten hätte; daß der Dichter
uns aber mit dem lächerlichen Jargon in der Sprache und Vorstellungsweise des
l7. Jahrhunderts verschont, wissen wir ihm Dank. Nur diejenige historische Eigen¬
thümlichkeit hat Bürgerrecht in der Kunst — und, erlaube ich mir hinzuzusetzen —
in der Wissenschaft, die mit der Entwickelung des allgemeinen Geistes der Mensch¬
heit in einer wesentlichen Verbindung steht, die bloße Rarität bleibt seitab liegen.
Man vergleiche Dumas' Caligula mit Shakespeare's Antonius, Hugo's Cromwell
mit W. Scott's Woodstock — offenbar dem Werk, aus welchem die Conception
des ersteren herzuleiten ist, um sich über den Unterschied klar zu werden: ein
Unterschied, den man bei den eigentlichen Geschichtschreibern eben so wahrneh¬
men kann.
Sonst bestand die historische Gründlichkeit darin, daß man bei jedem großen
Ereigniß sich gewissenhaft fragte, in welchem Verhältniß stand es zu den Zustän¬
den, ans denen es hervorging? was für Ideen hatten diejenigen, die dazu mit¬
wirkten, und wie verhielten sich diese Ideen zu dem, was in der That erreicht
wurde? Heutzutage scheint man die Gründlichkeit anders zu begreifen. Man
untersucht, was für Hosen die Leute anhatten, wie sie ihren Bart trugen, was
für Licblingsflüche sie gebrauchten, wo sie ihre Abende zubrachten, wenn sie nicht
mit Staatsgeschäften zu thun hatten; ferner, wie der Saal dekorirt war, in wel¬
chem dies oder jenes geschah, in welchem Styl man das Haus, in dem er stand,
gebaut hatte, wer der Baumeister war, welche Theile desselben man hatte restau-
riren müssen n. s> w> Früher hatte man bei der historischen Darstellung einen
bestimmten Gegenstand, und traf die Auswahl der Personen und Begebenheiten,
die mau darin verflocht, nach dem Grad der Wichtigkeit, der ihnen in Bezug auf
diesen Gegenstand zukam; jetzt will man Alles auf einmal schildern, Krieg, Lite¬
ratur, Mode, gesellschaftliche Vergnügungen, Privatleben, Staatsgeschichte, Anek¬
doten — alles das bunt durcheinander, ohne die Ordnung eines leitenden Ge¬
dankens.
Es ist nicht zu leugnen, daß Walter Scott einen großen Einfluß ans diese
historische Malerei gehabt hat. Aber man nimmt bei ihm das Costüm hin, weil
es wirkliche Menschen kleidet; man läßt sich die Anekdote gefallen, weil sie einem
wirklichen Ereigniß dient. Wenn aber Bulwer z. B. in seinem Devereux ein
Zeitalter dadurch zu schildern glaubt, daß er sämmtliche Collectaneen, die er aus
Büchern der verschiedenartigsten Gattung in Betreff dieser Zeit excerpirt hat, in
bunter Reihe an den losen Faden der Begebenheit anheftet; wenn er alle mög¬
lichen Personen, die damals lebten, mit der entsprechenden Anekdote aufführt, so
verlieren wir über der irrationeller Mannigfaltigkeit des Materials den Sinn der
Zeit vollständig aus den Augen. In noch gründlicheren Romanen, wie z.B. die
der Miß Anne Bray wird man zu der Vermuthung geleitet, sie seien ausschließlich
für Schneider, Sattler und Dekorationsmaler bestimmt. Ungefähr denselben Cha¬
rakter haben die historischen Werke Capefigue's, des Romautikus unter den Ge¬
schichtschreibern.
Victor Hugo's Cromwell zeigt, wohin die geistlose Detailmalerei führen
kann. Wenn Walter Scott das Charakterbild einer Zeit in epischer Breite aus¬
führt, und eine Person nach der andern auf die Bühne bringt, um allen Seiten
gerecht zu werden, so ist doch immer in der Zusammenstellung derselben eine weise
Oekonomie sichtbar, und in der Analyse eine poetische Logik, die in den einzelnen
Momenten eines Charakters die Totalität nie ans den Augen verliert. Unser
Cromwell enthält die verschiedenen Momente, die Victor Hugo aus Woodstock
lernen konnte, in großer Ausführlichkeit, aber ohne den ordnenden Verstand des
Dichters. Cromwells Bibelgelehrsamkeit wird nicht blos angedeutet, sondern in
unendlich langen lächerlichen Reden, die nicht einmal, sondern zehnmal wieder¬
kommen, bis zum Uebermaß der Langeweile ausgeführt; seine diplomatische Fähig¬
keit erschöpft sich in zwanzig Anekdoten, ebenso seine ursprüngliche Gutmüthigkeit,
sein Ehrgeiz, sein Familienleben, seine ästhetische» Ansichten, sein theologischer
Fanatismus und seine Verschmitztheit; für diese widersprechenden Eigenschaften aber
den Leitton zu finden, hat der Dichter nicht für nöthig gehalten. Mit der Em¬
pfindung wechselt der Held die Sprache, und vergißt seine poetische Vergangen¬
heit in jedem Augenblick. Neben ihm drängen sich vor allen Parteien eine über¬
strömende Menge Statisten auf die Bühne, von denen jeder reden will, keiner
den andern zu Worte kommen läßt. Der echte Royalist (Ormond) — jene
stereotype Charaktermaske des Feudaladels, auf die ich schon hingedeutet habe, —
und der echte Puritaner (Karr), der noch längere, noch lächerlichere Reden hält,
als Cromwell, noch unsinniger mit der Bibel umspringt, und noch weniger mensch¬
liche Berechtigung hat; ein liederlicher Kavalier (Rochester), der seine abgeschmack¬
ten Ansichten über lyrische Poesie auf das Breiteste vorträgt, und sich in eine
Menge ebenso alberner als zweckloser Liebesabenteuer einläßt; ein zweites Exem¬
plar derselben Sorte, Cromwell's Sohn; ein feiler Spion, der ganz überflüssig
ist; ein habsüchtiger Jude, der zugleich den abergläubischen Astrologen vorstellt,
und der wirklich die Geheimnisse der Sternenwelt erforscht zu haben scheint; der
Dichter Milton, der von dem schlechten Geschmack des Protectors an das Urtheil
der Nachwelt appellirt; eine Menge Hofleute und Diplomaten, von denen der eine
gerade so aussieht als der andere, Cromwells Familie, und zum Ueberfluß statt
Eines Clown's vier Hofnarren in Livree, die zu ihren Späßen immer die unge¬
legenste Zeit wählen. Rechne man dazu noch ein Chaos von Mißverständnissen,
die einer Menächmenkvmödie oder einem spanischen Jntriguenstück Ehre gemacht
haben würden, und Unwahrscheinlichkeiten, die eine wahrhaft orientalische Phan¬
tasie verrathen; ferner den Mangel an Haltung, der sich selbst in dem Ton auf
eine Weise verräth, daß man gar nicht begreift, wie alle diese Personen in einer
und derselben Zeit leben konnten, und die dramatische Ungeschicklichkeit, welche die
nämliche Spannung ein paarmal wiederkehren läßt, so wird man das Urtheil ge¬
recht finden, das dieses Stück in historischer wie in künstlerischer Hinsicht als eine
Monstrosität verwirft. Denn von dem großen Charakter der Zeit ist keine Spur
geblieben; man bewegt sich unter Narren, Schurken und „guten Kerlen."
Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich in Hugo's sämmtlichen Tra¬
gödien. Die geschichtlichen Personen, die er aufführt, sind Portraits in schlechtem
Sinne; er hat aus den Chroniken gelernt, wie sie sich räuspern und wie sie
spucken, aber der bloßen Kuriosität fällt es in^'dem, hinter der bunten Tracht den
Geist zu suchen. Er geht von einer Anekdote oder einem sonderbaren Zug aus,
den die Chronik von ihrem Helden berichtet, und diesen macht er zum Thema
seiner Variationen. Sein Ludwig XM. (Marion de Lorine) ist eine Variation
auf das Thema: der König haßt seinen Minister und hat nicht den Muth, es
auszusprechen; sein Ludwig XI. (Notre Dame) ist der abstracte Geiz, mit Grau¬
samkeit gepaart — und was für ein vortreffliches Vorbild hatte er hier im Quer«
tin Durward! — sein Franz l. (to roi s'um>i8e) ist der Ronv ans den Zeiten
der Regentschaft; sein Karl V. (Hernani) genau derselbe, wenn er sich auch zum
Schluß ohne alles Motiv in einen andern verwandelt. Von den spätern will ich
gar nicht reden. So wenig von geschichtlicher Treue die Rede ist, so wenig von
menschlicher Natur; jene historischen Helden sind Fratzen, über die wir uns ver¬
wundern, die uns aber kein Interesse abgewinnen können, weil sie nicht von unserm
Fleisch und Blut sind. Die Nebencharaktere find unmöglich in der Zeit, in der
sie auftreten; sie sind nur deutbar in den Zeiten romantischer Begriffsverwirrung.
Wenn Alexandre Dumas in seinen historischen Stücken ebenso frivol mit der Ge¬
schichte umgeht, so ertragen wir das eher, denn er hält wenigstens Farbe; in
welche Zeit er auch seiue Anekdoten verlegt, er bleibt eigentlich immer in seinen
gewohnten Kreise», bei den pariser Journalisten, die in den Tag hineinleben,
hübsche Maitressen halten, viel trinken und viel spielen, und eben so gut mit dem
Degen umzugehn wissen, als mit der Feder. Wenn seine Kavaliere sich über Litera¬
tur, Oper, Grisetten und Paukereien unterhalten, so weiß man immer, wer eigent¬
lich der Sprechende ist, und wenn uns unnütze Details angeführt werden, so
macht uns diese naive Freude eines Dilettanten, der in seinen Bilderbüchern eine
neue Maske findet, zu viel Spaß, als daß wir uns ernstlich über die Ungeschick¬
lichkeit des dramatischen Dichters ärgern sollten. Die Helden unsers Poeten da¬
gegen treten mit einer Prätension auf, die uns beleidigt, weil sie hohl ist. Ich
glaube, die Art und Weise, wie Victor Hugo die Geschichte auffaßt, am besten
an einem Monolog nachweisen zu können, de» er Karl V. in einem Keller zu
Frankfurt am Main halten läßt, in dem Augenblick, als er eben zum Kaiser
gewählt wird, als zu gleicher Zeit eine Rotte spanischer Verschwörer, die ihm
nach Frankfurt gefolgt sind, ihm auflauert, um seinem Leben ein Ende zu macheu.
Dieser Monolog, den die Schule lange Zeit für ein Meisterstück ausgegeben hat,
und der beiläufig auch ein sehr gutes Bild von der Geba»kenassociation des Dich¬
ters und von seinem Vers gibt, lautet folgendermaßen:
^>i! e'chi, un Il,^» sucelai:!« ^ ri>,oil' I.'i, ni-n»«!,',
Huc I'Lnropv, »insi k-üls, vt vomuie U *) I'» laigsvv!
!In ^«lifiee, »pee ckeux Komm« 8 su gomnivt,
I^eux eliesg elug in>x<i>ick» taut roi ne 8e gvunivl.
?le8«j>le tous I«!« elln«, «luelies, lief« Iinlitüire«,
Il»v:ni»u^i ,»!u'(^u»»es i to»« sunt de-rvilitüii e«;
Ani« to nennt« » ^»rfois son p»ne vu soo (!«'s!ir.
'I'.litt in»rvliv, «t !v I>ii8ni«l ovrrixe I« i>»»ar«1.
i>« in vie»t l'>!^>u!it>re, >it toi^mirs I'orilre eelüte.
l^I>-0t,un8 ä e «im» <I'vo, e>lui>n«nix «l' >!e » ri»t e,
'l)«NI>>Je «enkll 8>>VI>-, «Irrt in teirk «eineni,
I^e 8»ut I«I ^Il'en ^üllule, et llieu V«! » t IN! «> II' i I V e II i .
<i.ki'in>e illee, !UI >>>!8um «leg it!MN8 , IIN jour «'eloge,
I^ne! z>>'!laut, VlI, eeui't, ge un:Je i« tont» einige^
f>ut Iwmnie, 8ni«it leg e»VUI'8, einenge An gilwn;?öl»int lei In teilte nix pica« vu lui met INI Il.iiIIun:
lVl«is qil'ello «iter« IIN nuitin ü I» niveo, AU eonol»v«,
Kt lou» !«8 I»is soucksin verront I'into« vselavv
5ni' tour« ip>,!« alö r»i« «i»s »of i>i«ä« oourlierant
!'!in^ii^ le z>I»I^e I!N INIÜN, Nil in little »II fri>ut! —
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I^cur k«it ur> j>^»mal keslio «leg xeunlvs et «leg rois. (!)
s^e mun«Je, -in - >l>!88l>ii8 «l'eux, g',!eilet«une el ge gioune.
I!ü sunt et «leimt. I^'um äelie et I'innre cour« ^).
I/un egt I» vel-ni^, I'antr« est In kurve. IIs ant
l^cui rsisvn en eux »nimeh» et sind p»rov >i>l'it« sollt.
Bei >it!s Deutsche» würde auch der unreifeste Anfänger nicht wagen, solche
Schnitzer zu begehen, ein solches Gewebe von schülerhaften Einfällen als historische
Weisheit zu verkündigen; noch weniger würde er die historische Treue so hintan¬
setzen, dein Kaiser Karl V. eine monologische Erörterung über die Dialektik der
Ideen in den Mund zu legen.
Victor Hugo sieht seine Figuren nicht in ihrer Totalität, sondern nur in der bestimm¬
ten, theatralischen Situation; öl gehen nur aus dieser Situation hervor. Die Theater¬
coups, an welche der Franzose seit seines großen Corneille berühmtem Wort: «in'it mon-
,'in! gewöhnt ist, und die sich wesentlich ans eine Thätigkeit des Witzes reduciren,
arbeitet er mit großer Andacht ans, und wenigstens in einzelnen Fällen, wie z. B.
in der Lucrezia Borgia, mit großer Geschicklichkeit; daher ist das letztere Stück
mit geringen Modificationen in eine Oper verwandelt worden, und sast jede der
Tragödien Victor Hugo's ließe eine derartige Behandlung zu. Die Monologe
sind Arien, die Dialoge Duette oder Recitative, und was die Handlung betrifft,
so spielt der Maschinist die Hauptrolle.
Nur ist auch die Situation noch nicht das letzte Motiv dieser historischen
Genremalerei. Um auf dieses zu kommen, wähle ich unter den poetischen Werken
das beste und das schlechteste — Notre-Dame und die Burgraves.
Ich nenne den Roman Notre-Dame de Paris — neben den Orientalen —
das beste Werk, weil sich in ihm die Eigenthümlichkeit und die Intention des
Dichters am reinsten und einheitlichsten ausspricht, weil sich die Form mit dem
Stoff so vermählt hat, daß wir einen vollkommenen Gesammteindruck empfangen.
Der Gegenstand der Dichtung ist nämlich nicht Ludwig XI., nicht der Lieutenant
und die Zigeunerin, nicht der Archidiakonus und der Glöckner, sondern das Paris
des 15. Jahrhunderts, wie es sich ans den Resten der alten Bauwerke und histo¬
rischen Ueberlieferungen wiederherstellen, durch eine in jene Zeit vertiefte Phan¬
tasie wieder beleben läßt.
Victor Hugo hat in einzelnen Abhandlungen, in Liedern und in Excursen,
die durch seine sämmtlichen Schriften verstreut sind, gegen die Ruchlosigkeit der
modernen Baumeister geeifert, die ohne Pietät für die alte Kunst die Denkmäler
der mittelalterlichen Architectur entweder zerstören, um das Material zu neuen
Bauwerken zu benutzen oder sie durch Neuerungen zu entstellen. In der Bau¬
kunst hat er wirkliche Studie« gemacht, er ist darin zu Hanse und seine Schil¬
derung gewinnt Farbe und Leben.
Die Art und Weise der Conception ist nun folgende: Er durchstöbert die
alte Kirche nach allen Richtungen hin, die Kreuzgänge, die Galerie«, die Thürme,
die Altäre. Er läßt das verschiedenartigste Licht durch die gemalten Scheiben
strahlen, von der Morgensonne an bis zum blassen Mondschein. Er fragt sich,
welche Trachten, welche Figuren sich am besten dazu eignen würden, unter jeder
dieser Beleuchtungen dem landschaftlichen Gemälde Leben und Bewegung zu ge¬
be»; welche Gruppen, welche Scenen der Stimmung am besten entsprechen; in
welchen Charakteren sich der Geist des alten Gebäudes symbolisch am besten aus¬
spricht. So entstehen die Gestalten des Archidiakonus und des Glöckners/") ähn-
lich den Schnitzwerken an den Portalen, den Bildhauerarbeiten am Chor, den
Drachen, Nosen und Schmetterlingen an den Schwibbogen. Wie der Epheu an
den umgestürzten Säulen, haben sie ihr Leben nur in ihrer Beziehung auf den
Stein; von ihm abgelöst, würden sie in Staub zerfallen. Es scheint auf den
ersten Anblick eine Vergeistigung der Materie, fleht man aber näher zu, so ist
es eine Versteinerung des Menschlichen. Durch den Bann, der ihn an den Stein
fesselt, hat der Geist sein eigentliches Wesen verloren.
Weiter. Von der Höhe des Thurmes aus betrachtet sich der Dichter die
Aussicht. Er stellt sich die Straßen in Bewegung vor, und combinirt diese Be¬
wegung mit den Figuren, welche die Kirche selbst ihm eingegeben hat, sowie mit
den Trachten und Sitten der Zeit, die er schildern will. Daraus wird nun der
Volksauslaus bei einem erwarteten Schauspiel, ein Narreufest, ein Sturm auf die
Kirche u. s. w. Nicht der historische Pragmatismus, nicht die philosophische Idee,
sondern die Rücksicht auf den pittoresken Effect bestimmt deu Lauf der Begeben¬
heiten. — Von der Kirche aus geht der Gang aus den Grvveplatz, dieser macht
eine Hinrichtung nöthig, die einzelnen Gebäude, welche den Platz umgeben, werden
antiquarisch durchsucht; die Universität: also Scenen ans dem damaligen Studen-
tenleben, und die Figur eines normal-Studenten, der als weitere, hellfarbige
Arabeske vou den Nachtsceneu des alten Paris ein Relief erhielt; das Palais
de justice -— wozu wurde es damals benutzt? Zu Festspielen! Also es wird ein
Mysterium aufgeführt, um die Localitäten in das rechte Licht zu stellen, und den
Zuschauern zu malerischen Gruppen Veranlassung zu geben. In den letzteren wer¬
den sämmtliche Trachten, also auch sämmtliche Stände des damalige» Zeitalters
verwerthet. Das Mysterium führt zu der Figur des Dichters; trennt ihn von der
Scene, so ist es ein armseliges Machwerk, aber in diesem Fastnachts-Quodlibet nimmt
sich der Hanswurst gut genug aus. — Nun bleibt noch die eigentliche Hefe des
Volks und der politische Höhepunkt übrig, und so haben wir einerseits die Cour
des Miracles in ihrer phantastischen Nachtbeleuchtung, mit den Ameisenhaufen von
Bettlern, Zigeunern, Dieben und Mördern, die sich wie ein Jacques-Callotsches
Höllenstück in wundervollen Wendungen entfaltet; andererseits die düstern Hallen
der Bastille mit ihren unterirdischen Gefängnisse», ihren eiserne» Käsigen, den
Baumeister und gleichsam die Jncarnation derselben, König Ludwig XI. So ist
das alte Paris restaurirt. —
Wo eine wirkliche Kenntniß vorhanden ist, wird die Schilderung, wenn auch
nicht künstlerisch vollendet, doch immer von lebhaftem Interesse sein. Victor Hugo ist
zwar mit der eigentlichen Geschichte der Renaissance nicht sehr vertraut, aber in
den Antiquitäten ist er zu Hause. Betrachten wir die historischen Personen in
Notre-Dame als Basreliefs auf den architectonischen Denkmälern der Vorzeit, so
haben sie ihre Berechtigung. Anders wird die Sache, wenn der Dichter eine Ver¬
gangenheit symbolisch wieder aufrichten will, von der er nichts versteht. So ist
es ihm in dem Burggrafen (1812) gegangen.
Die Veranlassung zu diesem närrischen Gedicht war eine Rheinfahrt (1841),
in welcher unser Dichter die alten Ruinen weniger durchforschte als durchträumte.
Er brach sich durch das Dickicht der Schlingpflanzen Bahn zu den zertrümmerten
Mauern, setzte sich daun einsam auf einen Vorsprung, ließ sich von den Vögeln
ansingen, betrachtete den Aufgang der Sonne, und suchte eine alte, vom Moos
bedeckte Inschrift zu entziffern, oder nahm das Maß eines Schwibbogens, wäh¬
rend ihm der Wind Blätter und Blüthen auf den Kopf wehte. Abends im Mond¬
schein, wenn die Dämmerung den Bergen jene phantastischen Formen und dem
Fluß jenes unheimliche Stahlgrau verlieh, in welchem sich Gespenster und Ko¬
bolde so gern umhertreiben, kletterte er, in seinen Mantel gehüllt, über deu Schie¬
fer uach irgend einem Raubschloß. Kein Geishirt hätte es gewagt, ihn an diesen
Schreckensort zu begleite». Er sog die sanfte Melancholie des Abends in sich ein,
und blickte nach den Sternen am Himmel und den Lichtern an dem Fuß des Berges,
bis die Mitteruachtstnude von allen Kirchthürmen schlug, und er, unter Fleder¬
mäusen die einzige fühlende Brust, mit widerhallendem Schritt bis in die Keller
hinabstieg. In solcher Stimmung kam ihm die Eingebung, den Geist dieser alten
Burgen in einer Trilogie zu fixiren. Der Rhein kam ihm vor, wie Thessalien
zu den Zeiten des Aeschylus, wo die Titanen gegen den Götterkönig sich em¬
pörten. Er fand in den „Burgraves" ein ebenso riesiges, ebenso ruchloses Ge¬
schlecht von Halbgöttern, als jene Brüder des Prometheus es waren. Als Zeus
wurde dann der alte Barbarossa aus dem Kyffhäuser heraufbeschworen. Die Sage
aber naiv zu nehmen, dazu hat der Franzose nicht den Muth; es muß alles prag¬
matisch erörtert werde», auch der Kyffhäuser. Zum Ueberfluß wird noch Geschichte
vorgetragen, bei welcher Gelegenheit wir unter andern unerhörten Dingen er¬
fahren, daß Berlin soeben von den Vandalen (im Jahre 1200!), Danzig von den
Heiden erobert ist.
Auch diesmal ist die Hauptrolle des Stücks dem Stein gegeben. Der Wech¬
sel der Scene dient dazu, uns die verschiedenen Theile des Schlosses anzuführen.
Jeder ist von dem entsprechenden Spiritus fumili-uis bewohnt. In der Mitte ein
dicker Thurm. In ihm waltet BurggrafHiob, 120 Jahre alt, mit langem weißem
Bart, stets in der Rüstung und im Helm, riesengroß wie die Titanen, der lange
Reden über den Geist der alten Chevalerie hält — die CharaktermaSke des feu-
baten Barons, auf die wir noch einmal zurückkommen — und wenn sein 80jäh-
riger Sohn es einmal wagt, ihn zu unterbrechen, ihm strenge zuruft: l'-üsez-
vous, jennv Komme! Unten in dem Keller haust das Bild der Rache, ein in Fesseln
geschlagenes l »«jähriges Weib mit dem caraibischen Namen Guanmaraha; ihr
Lebenszweck ist, einen Geliebten zu rächen, den Burggraf Hiob von 80 Jahren
ans den Fenster geworfen hat, und wofür der Frevler von seinem eignen Sohn
geschlachtet werde» soll. Zu diesem Zweck wendet sie verschiedene Vergiftungen,
Opium, Hexereien, und dergl. an, bis sich endlich ergibt, daß jener Geliebte von
dem Fall nicht umgekommen, daß er vielmehr kein anderer ist, als Kaiser Bar¬
barossa, Hiob's Bruder, der seinem Vater geschworen, sich vor 80 Jahren nicht zu
rächen, der nach 80 Jahre» aus dem Kyffhäuser aufsteigt, und den Hiob mit sei.
nein ganze» Geschlecht in Fesseln schlagen läßt, aber als er ihn bußfertig findet,
und voller Loyalität für den Kaiser und das Reich, ihm vergibt und in seinen
Berg zurückkehrt, um den die Raben nisten. Nehmen wir noch als weitere Deko¬
ration im Ahnensaal das junge frivole Geschlecht, das über die alten Graubärte
spottet, wie die Zeitgenossen Do» Quixote's über den Ritter von der traurigen
Gestalt; im Burgverließ die gefangenen Bürger, Studenten, Handwerker u. f. w.,
so haben wir die gesammte Trilogie, die hier als abschreckendes Beispiel dienen
mag, wohin es führt, wenn Kunst oder Wissenschaft die Geschichte in'S histo¬
rische Costüm begräbt.
Ich kam nach der Stadt Berdiczew in Kleinrußland, als die weit berühmten
Contracte stattfinden sollten. Mit den Worte» „die Contracte" bezeichnet man in
Rußland den Jahrmarkt oder die Messe. Die bedeutendsten Geschäfte, welche der
russische Handel im Innern des Landes macht, beruhen ans Tausch, doch auch
dann werden die großen Geschäfte contractweise abgeschlossen, wenn von Seiten
des Waarenempfängers die Zahlung unverweilt geleistet wird.
Die ganze hübsche Stadt war in arger Aufregung. Die Juden rannten hin
und her, die ungethcerten Riesenräder der Kibitken knarrten unter ihrer Waaren¬
last, die Straßen waren angefüllt mit bäurischen Marklhelferu, welche, seltsamer
Weise auf je zwei laugen Stangen ihre Kisten und Ballen keuchend hin und her
schleiften und Jeden, der ihnen entgegen kam, mit den stehenden Worten begrü߬
ten: „Aus dem Wege Herrchen! Unser Herr Gott hat steh's auch Schweiß kosten
lassen; er sei gepriesen!" Die Kazappen, welche hier fast allein Markthelferge-
Schäfte verrichteten, sind eine der merkwürdigsten Volksklassen Großrußlands. In
ihrer Tracht: weißen groben Pluderhosen, einem kurzen weißen Kittel, unbedeckter
Brust und hoher zuckerhutfvrmiger, nur oben ein wenig eingedrückter weißer Filz¬
mütze erscheinen sie bei Tage wie Pierrots, bei Nacht wie Gespenster. Uebrigens
besitzen diese Leute alle Tugenden, welche ein Markthelfer besitzen muß. Sie sind
unverdrossen, treu und ehrlich. Letzteres Prädicat erleidet jedoch eine gewisse
Beschränkung bei Eßwncireu. Sobald sie an etwas Genießbares kommen können,
werden sie schwach.
In dem wilden Gewirr fielen die russischen Soldaten auf. Bald schlichen
sie in den Winkeln umher und spähten, wo Jemandem etwas zu mausen sei,
bald gingen sie von Bude zu Bude und boten sich gegen Lohn und Kost sür
die Zeit der Contracte als Gehilfen oder Geschäftshüter an. Das war mir neu; ja
und vielen dieser schlaffen unifvrmirtcn Leute wurde von den Händlern Vertrauen
geschenkt. „Sie arbeiten billig," sagte man mir, „und bestehlen nie den, welchem
sie dienen. Freilich die benachbarten Handelsgeschäfte sind durch diese Ladenhüter
in Gefahr versetzt, und darum hat der Kaufmann, welcher einen solchen Diener
annimmt, stets Streit und Kampf mit seinen Nachbarn." Des Nachts sieht man
vor deu geschlossenen Geschäftslokalen eine Menge Soldaten als Wächter sitzen;
den» vereidete Marktwächter existiren nicht. Obgleich aber die Zahl solcher Wächter
ziemlich groß ist, so kommen doch nirgends so viele Diebstähle vor als auf den
russischen Messen. Es fällt häufig vor, daß Läden ganz ausgeräumt, ganze Waa¬
renlager entwendet werden. Die Städte leisten keine Bürgschaft und gewähren
durchaus keine Entschädigung; desto mehr werden durch diese Unsicherheit der Waa¬
renlager die großen Handelshäuser abgehalten, die Meßplätze auf eigne Rechnung
beziehen zu lassen. Sie verkaufen an kleinere Hänser, diese thun vielleicht das¬
selbe und so findet oft die Waare erst in der vierten oder fünften Hand einen
Kaufmann, der es riskirt, sie auf dem Meßplatze auszustellen. Diese Wanderung
der Fabrikate durch verschiedene Hände treibt ihre Preise natürlich sehr in die Höhe.
An einem Sonntage begannen die Contracte. Zuerst fiel die bunte Mischung
der Nationen im Kausmannsstaude ans. Die Russen sind die kleinste Zahl, Grie¬
chen, Italiener, Franzosen und vorzüglich Deutsche die Mehrzahl, Letztere machen
durch ganz Rußland einen sehr bedeutenden Theil der Kaufmannschaft aus und
haben sich bis weit hinter die asiatische Grenze, bis zu den Obtschaigebirgen, ziem¬
lich gleichmäßig vertheilt. Die anderen Nationalitäten im Handelsstande beschrän¬
ken sich auf gewisse Gebietstheile. Griechische und italienische Handelshäuser'find
vorzugsweise in Südrußland, an der Ostseeküste schwedische, norwegische, franzö¬
sische. Die Fabrikanten sind zumeist Engländer, gleich starken Antheil haben die
Deutschen, auf der dritten Stufe stehen die Franzosen, auf der vierten die Nie¬
derländer; die Russen selbst haben den kleinsten Antheil. — Ein unnatürliches
Verhältniß, wodurch die natürliche Entwickelung der Volkskraft sehr gestört wird!
Auf dem Stadtplätze in Berdiczew freute mich der Gildcnstolz der ehrenwer-
the» Haudelsherreu. Wir fanden nämlich auf mehreren Firmen die Bemerkung
„Kaufmann erster Gilde/' „Kaufmann zweiter Gilde." Die Kaufmannschaft ist
in Nußland nämlich in drei Gilden eingetheilt, nach der Ausdehnung ihres Ge¬
schäfts und der Stenerqnote, welche sie an die Krone zu zahlen hat. Die erste
Gilde verleiht eine Art Adel, und groß ist der Stolz, welchen ein solcher Gilden-
adel, die offizielle Vermehrung der persönlichen Würde dem wackeren Ladenmeister
in den Kopf setzt. Denn im ganzen Lande hat nichts Ansetzn, was nicht so
glücklich ist, sich als Edelmann legitimiren zu können. Dafür holen sich häufig
Generäle und Staatsräthe ihre Gemahlinnen hinter dem Ladentisch der Herren
von der ersten Gilde. Berdiczew liefert eilt sehr berühmtes Beispiel, den Kauf¬
mann Schafnagel, spätern Baron von Schafnagcl, russischen Kaufmann erster
Gilde, Schwiegervater des General von Rosen, über den er einst sehr stolz und
glücklich war.")
Auf dem Markt stießen wir zunächst aus einige italienische Geschäfte, deren
Hauptartikel Südfrüchte und Farbestoffe waren. Sie gehörten nach Odessa. Doch
sind es nur kleinere Hänser, welche die Mühe, ihre Waaren durch die weiten öden
Steppen in die Städte des Inneren zu transportiren, nicht schenen. Mau könnte
gerade diese Geschäfte die uusolideu nennen, denn in ihrer Gewinuberechnuug ist
der Zvllunterschleis ein regelmäßiger Posten. Nirgend so bequem als in Ru߬
land ist die Defraudation zu bewerkstelligen, wenn die Waaren von ihrem Eigen¬
thümer oder dessen Stellvertreter begleitet werden. Bei Versendungen ist das
Verhältniß natürlich ein anderes.
Wir treten ans den Platz, wo die Großrussen ihre geräucherten Fische
und die Kleinrussen ihr gedrechseltes Holz und Schweinefleisch feil halten. Die
Buden, hübsch grün angestrichen und alle von gleicher Gestalt, sind zusammen¬
hängend in einem großen Viereck aufgestellt; auf jedem russischen Meßplatze sind
die russischen Kaufleute vereinigt und von den Uebngen gesondert. Die langbär¬
tigen braunen Kaufleute mit den langen priesterlichen Talaren und hohen schwar¬
zen Filzkappcn stehen in ihren kleinen Buden wie Berggeister in einer Felsgrotte,
glücklicherweise heben die umherliegenden Speckseiten und Guitarren die Illusion
wieder aus. Wunderlich ist die Zusammenstellung der Handelsartikel in den Bu¬
den der kleinrussischen Kaufleute. Mau findet dort auf einem und demselben
Tische Schaukelpferde, Spinnräder und Schinkenwürste; Guitarren und Speck¬
seiten, Stickrahmen und Seife, Talg, Zithern und Schachbretter. Und in einem
kleinrusstschen Handelslocale hat man alle gesehen. Der Kleinrusse beschränkt sein
Geschäft aber stets auf Hvlzdrechslerwaaren, Darmsaiteninstrumente, Talg und
gesalzene Fleischwaaren vom Schweine. Und diese Artikel findet man stets in
einem Geschäft vereinigt.
Eben so beschränken sich alle großrussischen Handelsgeschäfte ans Pelzwaaren,
Caviar und geräucherte Fische. Auch diese Artikel findet man in einem wie dem
anderen großrussischen Handelsgeschäft stets brüderlich neben einander. Der Handel
mit anderen Waaren, die edleren Fabrikate natürlich ausgenommen, befindet sich
in den Händen der Juden.
Kaum begreift man, wie die groß- und kleinrusstschen Kaufleute als Kauf¬
leute bestehen können, da sie nur in seltener Ausnahme etwas vom Lesen und
Schreiben verstehe». Manchmal muß das Gericht aushelfen, wenn ein Wechsel
auszustellen oder ein Kontrakt zu machen ist. Das erste kommt aber sehr selten
vor, denn der echt russische Kaufmann ist größtentheils selbst Producent oder seine
producirenden Geschäftsfreunde sind Leute gleichen Kalibers, Bauern, Pächter,
Fischer, Kleinbürger, welche eben so wenig zu schreiben und zu lesen verstehen als
er. Den Mangel an Rechenkunst und Kenntniß der Ziffern ersetzen sie durch
Rechenmaschinen. Diese bestehen in einer Menge von Kngeln verschiedener Größe
und Farbe, welche, klassenweise, und zwar nach dem Decimalsystem an Drähte ge-
reihet, und über ein mit mehrern Merkmalen versehenes Brett ausgespannt sind.
Die Länge der Drähte bietet soviel Raum, daß die Kugeln auf die rechte und
linke Seite geschoben und.durch sie Additions - und Subtractivnsrechnungen aus¬
geführt werdeu können. Diese seltsamen Rechenappnrate fehlen in keinem Ge-
schäftslocale eines Bartrnfsen und bezeugen, wie unnöthig Schulbildung ist, um
in der Welt zu gedeihen. Und doch sind mir, dem Fremdling, diese einfachen,
halbwilden Krämer lieber, als jene seinen Buden mit ausgesuchten Luxusartikeln,
welche den Edelmann so unwiderstehlich anlocken. Dem? meine wunderlichen
Caviar- und Pelzrussen repräsentiren die gesunden, ans das Boll gestellten Theile
der Geschäfte, während die Blüthe des profitabel,: Fabrikatenhandels aus der
Fäulniß aufschießt, welche die privilegirten Classen des Czarenreichs ergriffen hat.
Obgleich nämlich der Waarenverbrauch in Rußland, wie schon aus den hohen
Preisen der Fabrikate hervorgeht, durchaus nicht in eutsprcchcndeiu Verhältniß zur
Production steht, obgleich der Bedarf ungleich größer ist als die Mittel zur Be¬
friedigung reichen, so sind doch drei Viertel der Volksmenge keine Abnehmer für
irgend eine Fabrikwaare. Der russische Bauer betritt nie die Schwelle eines Han¬
delshauses, es wäre denn um Reszytilowkaer Pelzjacken, einen Staat, dessen we¬
nigstens jeder Bräutigam bedarf, zu kaufen. Die Bedürfnisse des Bauers in
Rußland sind ungemein gering. Seine Kleidung ist gewöhnlich vom Rohstoff an
sein eigenes Manusaet. Die Frauen schneiden, rösten, brechen, hecheln und spin¬
nen den Flachs oder Hanf, weben nicht selteu selbst die Leinwand und näher,
unbekümmert um die Art des Sitzes ihre Röcke, Hemden in.; die Männer passen
selbst den Pelz ihrem Körper an, welchen sie dem Schafe vom Leibe gezogen
haben.
Eben so wenig Einfluß haben die Bürger der kleinen Städte auf den Handel.
Sie sind in ihrer Lebensweise vollkommene Bauern. Der Waarenverkanf wird
daher fast nur durch den Adel, Beamtenstand und die Bürgerschaft der Meßplätze
und anderer großen Städte, in welchen sich ein stehender Handel befindet, be¬
wirkt. Aber das Bedürfniß dieses Theils der Bevölkerung ist auch sehr groß.
Jedem einzelnen Individuum dieser Classen wohnt die Meinung inne, daß die
russische Nation zu den gebildeten und hochangesehenen Völkern gerechnet werde und
mau fühlt die dringende Verpflichtung, als gebildeter feiner Mensch zu erscheinen.
Sitte und Wissenschaft sind aber sehr unbequem, daher begnügt man sich mit einer
äußerlich stattlichen Einrichtung. Und deshalb sind die „gebildeten" Russen aus
der patriarchalischen Einfachheit früherer Zeit in eine abgeschmackte Prunksucht
verfallen. Der russische Edelmann geht nicht mehr vor das Haus an deu Bach,
oder den Teich um sich zu waschen, er braucht dafür einen Badeapparat in einem
besonders dazu eingerichteten Seitenzimmer; er weiß wie verächtlich es ist, bei
der Flamme eines mit Talg übergossenen Spahns zu sitzen, er kauft eine Pariser
Broncelampe auf seinen Tisch; er ist hinaus über die alten Sessel aus geflochtenen
Weidenruthen und die Tische von Fichtenholz, deren Füße mit eisernen Nägeln
am Tischblatte befestigt oder pfahlartig in die Dielen eingeschlagen sind, er muß
Odessaer oder Petersburger Meubel haben. Er kommt auf „den Contracten" in
eine Niederlage von Kronleuchtern, er fragt: „Was sind dies für Dinge, wozu
werden sie gebraucht?" — „Kronleuchter, gnädiger Herr, in Deutschland, Frank¬
reich und andern Gegenden des Auslandes liebt man es, die Säle damit zu er¬
leuchten." — „El was? sie stammen also ans Frankreich?" — „Allerdings!" —
„O so sagen Sie, kann man nicht auch Zimmer damit erleuchten?" - „Warum
nicht, sie brennen allenthalben." — l) <alvi-<>^a, o sehr schön! also, hin, ich habe
ein, zwei, drei, vier, ich habe in meinem Palaste zehn Zimmer, packen Sie mir
schleunigst' zehn solche Kronleuchter ein." — „Sehr wohl — aber jedes Stück
kostet neunhundert Rubel." — „So! ganz gut. Hier ist das Geld in Pamaschken"
(ein Papiergeld.) — „Ah, noch eine Frage, lieber Freund: Der Weg zum Zimmer
meiner Tochter führt durch die Küche — kaun man nicht auch in die Küche einen
solchen Kronleuchter hängen?" — „Wohl nicht gut, gnädiger Herr; wenigstens
in Deutschland und Frankreich kommt so etwas nicht vor." — „Es kommt in
Deutschland und Frankreich nicht vor — o das ist Schade. Und sagen Sie weiter:
könnten Sie mir nicht einen Mann auf meine Herrschaft schicken, der die zehn
Kronleuchter aufzuhängen versteht?" — „Das würde etwa nach Verlauf der Con-
tracte möglich sein — wie weit aber ist es zu Ihren Gütern?" — „Fünf und
dreißig Meilen, ich werde den Mann mit meinem eignen Geschirr abholen las-
sen." — „Gnädiger Herr, er wird etwa zehn Tage Zeit brauchen und für
jeden Tag nenn Rubel berechnen." — „El ganz wohl, ganz wohl! nein ich werde
ihn vier Wochen bei mir behalten, damit er so lange allabendlich das Brennen
der Kronleuchter beobachte."
Der Edelmann preis't sich glücklich, einen so leuchtenden Bestandtheil der deut¬
schen und französischen Bildung erworben zu haben. Nach einer Etuude bringt
er seinen Schivager und mehrere gute Freunde in das Handelsgeschäft, jeder dieser
kauft für jedes seiner Zimmer einen Kronleuchter.
Man halte diese Schilderung nicht für übertrieben. Die üppige, noch so ju-
gendliche Nationaleitelkeit und die thörichte Nachahmungssucht üben über die russischen
Edelleute eine wahrhafte Zaubermacht aus, und diese verbunden mit dem wirklich
stupiden Stolze beim Ankauf, bewirken den reißenden Absatz und den ungeheuern
Gewinn, deu der Kaufmann ans vielen Artikeln, besonders Luxusgegenständen,
zieht. SeU'se auf deu Materialhandcl übt das leidenschaftliche Bestreben, sich als
ein gebildeter Mensch in fremdländischen Gewohnheiten heimisch zu zeigen, Einfluß
aus, und nie haben sich die Materialhändler, die in Kleinrnßland Juden sind,
so wohl befunden als jetzt; zu zuweilen so sehr, daß man den Gaumen der Ge¬
nießenden bemitleiden muß^).
Jenes Beispiel erklärt das oft bewunderte Glück, welches Deutschen in, Ru߬
land durch Fabrikimtcrnehmnugeu zu colossalem Reichthum verhalf. Denn die
Preise für Manufacturwaaren übersteigen alle Begriffe eines nicht in Rußland le¬
benden Menschen. Ein Paar Gummischuhe, welche in Deutschland mit einem
Thaler gekauft werden, werden in Rußland mit vier bis fünf Thalern, eine frän¬
kische Lampe, welche in Deutschland einen Thaler kostet, wird in Rußland mit
neun Thalern bezahlt, für einen Sturzbadapparat, wie ich ihn in Deutschland
für elf Thaler kaufte, sah ich auf den Contracten in Berdiczew neunzig Thaler
zahlen. Eine Uhr nach deutschem Maßstabe zehn Thaler an Werth kauft man
im Jnnern Rußlands nicht unter 40—50 Thaler, ein Branntweinapparat nach Ver¬
hältniß des Gewichtes im Werthe von etwa 1200 Thalern, wird in Nußland für
8—9000 Thaler verkauft, eine Dreschmaschine, mit Heckselschneide, die ein deut¬
scher Oekonom mit 3^400 Thalern schon zu hoch bezahlen würde, sah 'ich unfern
Romanow in Lithauen mit 4700 Thaler, bezahlen.
Diese Nieseuprcise haben natürlich in der geringen Zahl der Fabriken, in der
Vernichtung der Concurrenz durch die Grenzsperre und in dem vervielfachten Com¬
missionswesen ihren Grund, sie stehen in einem gefährlichen Mißverhältniß zu dem
niedrigen Preis der Naturproducte und Rohstoffe des Landes. Um das Unge¬
sunde des Verhältnisses zwischen Production und Konsumtion, dem Handel mit
Rohprvducteu und dem mit Fabrikaten zu verstehen, folgen Sie mir noch in die
Prvductengeschäfte.
Nußland läßt beiläufig für 300 Millionen Rubel Rohstoffe und landwirth-
schaftliche Producte in das Ausland gehen. Diese Artikel sind vorzugsweise Pelz¬
werk aus Großrußland und Sibirien, Talg, Schmeer, Borste» und Häute aus
Südrußland, besonders den Steppenländern, Caviar von der Südküste, und
Getraide, besonders Weizen, aus Westrußland, Podolien, Wolhynien und der
Ukräue. Im Getreidehandel werden die größten Geschäfte aus deu Contracte»
in Berdiczew und Kiew gemacht, wo die Edelleute aus fast ganz Westrußland zu¬
sammenkommen und die Aufkäufer finden, welche Odessaer Agenten heißen, und
großentheilZ Juden sind. Es ist interessant, diese Geschäfte zu beobachten. Der
Stolz verwehrt es stets den vornehmen Herren, sich ans kleinliche Mäkelei einzu¬
lassen. Genehmigt der Aufkäufer die Forderung nicht, so wird er mit kurzem
Wort über die Schwelle gewiesen. Versucht er die Forderung des Edelmanns in
jüdischer Weise zu beschränken, so ist er in Gefahr aus dem Zimmer geworfen zu
werden. Allein so weit treibt er es nicht, denn er weiß sicher genug die Schwä¬
chen des Verkäufers zu nützen. Nachdem er über die Forderung des Edelmanns
sehr ernsthaft die Achsel gezuckt und diesen irre gemacht hat, entfernt er sich be¬
dauernd. Nach wenigen Stunden sendet er einen Helfershelfer zu dem Edelmann,
und dieser findet die Forderung erniedrigt. Allein auch dieser geht nicht auf das
Geschäft ein und entfernt sich seufzend über den unmöglichen Preis. Endlich, nach¬
dem ein dritter und vierter Secundant durch seinen Schmerz den Gutsbesitzer
weich gemacht hat, erscheint der Aufkäufer selbst wieder und schließt das Geschäft
ab. — Durch List und Kniffe werden in Rußland fast alle Prodnctengeschäfte mit
den Producenten gemacht. Ihr Stolz wird auf das Sorglichste geschont, desto
sicherer und härter aber ihr Mangel an Einsicht gestraft. Sie werden stets be¬
trogen, die Ausläufer aber machen einen Gewinn, mit dem sie eine Legion von
Helfershelfern besolden könnten. Der nach dem Auslande gerichtete Getreidehan¬
del in Bcrdiczew und Kiew bringt ein Capital von 40—50 Million Rudel Assig¬
naten in Umlauf, er hat auch den kleinrussischen Messen den Namen Eontracle
verschafft, da er sich auf Contracte stützen muß, weil die Edelleute ihre Waare
nicht auf den Meßplatz bringe», sondern nach Probe verkaufen; oft verkaufen sie
das Getreide noch ans dem Halme. Dann find sie der niedrigen Mühe überhoben,
die Bauern zur Ernte in das Feld führen zu müssen; der Aufkäufer pflegt natür¬
lich gerade bei diesen brüderlichen Geschäften den Gewinn zu machen. Nicht selten
werden die Ernten auf zwei, drei, ja sechs und mehr Jahre voraus verkauft.
Das Geld dafür wird sehr häufig von deu selbstgefällige», unwissenden und ver¬
dorbenen Edelleuten mit rohem Luxus und raffinirter Sinnlichkeit in wenig Wochen
verthan.
Fast alle aus dem Süden herausgekommenen Kaufleute klagten bitterlich über
die Mühseligkeit der Waareutrausporte. Fast de» ganzen Winter hindurch find
Waarensendungen so gut wie unmöglich, besonders aus dem Süden nach Norden,
auch im Sommer bleiben sie sehr schwierig. Die Kaufleute wetterten gegen die
Regierung und meinten, sie baue allenthalben Chausseen, wo der Kaiser und seine
Gemahlin zu fahren belieben, nur nach den Wegen der Handelswelt, welche doch
mehr zu fahren habe als Kaiser und Kaiserin, frage sie nicht. Aber hierin thun
sie offenbar der Regierung Unrecht, denn eine Verbindung der bedeutendsten rus¬
sischen Städte durch Chausseen ist ein Riesenwerk, zu dessen Vollendung noch sehr
viele Jahrzehnde gehören, da das bei der schwachen Bevölkerung sich uicht ver¬
zinsen und deshalb nie zur Vollendung gelangen wird. Die Regierung hat zwar
in allen Theilen des Reichs die Straßen durch Gräben bezeichnen lassen, allein
nur durch diese Gräben sind ZV—40 Schritt breite Landstriche als Straßen zu
erkennen. Sie zeigen den natürlichen Erdboden, wie die Flächen daneben, und
werden durch die Regengüsse im Herbst und Frühjahr, so wie durch die Schnee¬
wehen und das Festsrieren der tiefeingesahreuen Geleise völlig unbrauchbar. Der
Waarentransport geschieht mittels kleiner, ans riesenhaften Rädern sich bewegen¬
der Fahrzeuge, deren Körper die Gestalt eines Troges hat, und an denen ge¬
wöhnlich nicht eine Spur von Eisen zu finden ist. Ein solches Fuhrzeug, das
den Namen Kibitke sührt, kann nicht mehr an Last aufnehmen, als höchstens zehn
Centner. Es find daher viele solche Fuhrwerke erforderlich, um nur ein geringes
Waarenquantum zu versenden. So sieht man sie denn anch caravanenweise daher-
zieheu, oft sechzig bis siebzig hintereinander. Die große Menge des Zngviehes
und der Knechte macht natürlich den Transport theuer. Der Umstand aber, daß
man aus Mangel an Gasthäusern statt der Pferde Ochsen gebrauchen muß,
die allerdings überall am Wege ihr Futter finden, bewirkt außerdem, daß die
Transporte sehr langsam von statten gehen. — Außer diesem Hinderniß des commer-
ziellen Verkehrs gibt es aber noch zwei andere, bei denen die Regierung Abhilfe
wohl gewähren könnte. Rußland ist so reich an schiffbaren Flüssen, daß von allen
Küsten, besonders aber von der wichtigen Südküste aus bis fast zu allen Theilen
des Innern der Transport zu Wasser bewerkstelligt werden könnte. Es würde
nur weniger Kanäle, allerdings aber einer umfassenden Regulirung der Flußbetten
und der Einführung anderer Fahrzeuge bedürfen als die gegenwärtig gebräuchlichen
sind. Diese sind eine Art Fähren oder Archen, beinahe so breit als lang, aus
dünnen Brettern leicht und liederlich zusammengefügt, nur zur einzigen Fahrt
stromabwärts brauchbar, sie werden am Endpunkt der Reise als Brennholz ver¬
kauft. Allein diese Regulirung würde keineswegs ungeheure Kraft und Geldmittel
erfordern. Der Bug, der Dniestr und der Dniepr sind breit und tief und nur an
einzelnen Stellen ist es nöthig ihnen die für die Schifffahrt erforderlichen Eigen¬
schaften künstlich zu verschaffen. Dr. Nordmann, ein in russischem Staatsdienst
befindlicher Physiker hat berechnet, daß in diesen drei Flüssen durchschnittlich für
die Meile Flußbett nur 22 Fuß der Regulirung bedürften. Im Dniepr z. B.
würde auf der ganzen Länge vom schwarzen Meere bis Solotonoscha nichts weiter
nöthig sein, als einige Klippen, welche das Flußbett sperren, zu beseitigen. Diese
Klippen, welche mehrere Wasserfälle verursachen, zu sprengen, dürfte zwar bedeu¬
tende Anstrengungen erfordern, doch kann von Unmöglichkeit nicht die Rede sein,
um so weniger, da ein neues die Klippen umgehendes Bett leicht herzustellen ist.
Im oberen Dniepr und zwischen Kiew und Mohilew sind es nur einige Seichten,
welche die Schifffahrt verhindern. Seichten sind auch in den anderen Strömen
die vorzüglichsten Hindernisse. Sie machen in heißen Sommern sogar die Fahr¬
ten der russischen beschriebenen Fahrzeuge unmöglich, weshalb die Transporte
zu Wasser gegenwärtig nur im Frühjahr und Herbst stattfinden.
Aus der Beschaffenheit des Transportwesens läßt sich auf den Zustand des
gesammten Handels schließen. Hundertfach greifen Uncultur des Landes und des
Volkes und Mangel an gesunder nationaler Entwickelung verderblich in das Ge¬
deihen desselben ein. Und doch ist nicht zu leugnen, daß der russische Handel in
diesem Jahrhunderte einen ungeheuern Aufschwung gewonnen hat. Mit Geschick
und List arbeiten sich die Deutschen, Griechen, Italiener durch die unzähligen Mi߬
verhältnisse hindurch, die für den Russen unübersteigliche Dämme sein würden. Zu
diesen Mißverhältnissen gehört selbst die Zollgesetzgebung. Sie schlägt bekanntlich den
Handel in schwere Fesseln, um dem Fabrikwesen Vortheile zu verschaffen. Gleich¬
wohl kann Rußland ohne die Fabrikate des ausländischen Fleißes nicht bestehen.
Wenn aber die Regierung bei ihrer Absperrungsmaßregel gehofft hat, gerade durch
das Drängen des Bedürfnisses dem Fabrikwesen ein rasches Aufblühen zu verschaffen,
so hat sie sich in einem großen Irrthum befunden, denn bei der geringen Zahl
speculätionsfähiger Personen, bei dem Mangel an Intelligenz und Arbeitskraft ist
das Aufblühen neuer Fabriken nicht möglich, es bereicherten sich nnr die Herren
der schon bestehenden wenigen Fabriken, indem sie, bei dem Drang der Be¬
dürfnisse die Preise auf eine unsinnige Höhe schraubten; der Handel gewann na¬
türlich nicht dabei. Und wie streng auch die Grenzzollmaßregeln sind, so wissen
doch die meisten Fabrikanten ihnen Hohn zu sprechen, und dadurch steigern sie
ihren Gewinn oft noch mehr, indem sie selbst Fabrikate, welche im Auslande zu
einem sehr niedrigen Preise zu haben siud, in Nußland aber so billig nicht herge¬
stellt werden können, dnrch irgend einen Kunstgriff mit Hilfe der Beamten ein¬
führen. So z. B. ließ sich eine Fabrik in Kiew alljährlich eine große Masse von
Schnupftabaksdosen ans Altenburg zusenden. Diesen Dosen fehlte nichts weiter
als der Lacküberzng. Trotzdem passirten sie die Grenze nicht als Fabrikate, son¬
dern als rohe Stoffe. Diese Dosen wurden in Altenburg, das Stück zu sieben
Neugroschen verkauft, der russische Fabrikant gab ihnen nun den Lack und ver¬
kaufte sie als ein echt russisches Fabrikat, das Stück zu einem Ducaten in Gold.
" Durch diese kurzen Bemerkungen, welche sich einem Fremden bei jeder großen
Messe im Innern von Nußland aufdrängen, sollen einzelne Wahrheiten bewiesen
werden, welche ich Ihren Lesern hier kurz zusammenstelle.
Der russische Handel ist der Handel eines menschenarmen, despotischen Staa¬
tes, in welchem der Grundbesitz in großen Massen zusammengeballt liegt, und die
Werthe für die Erzeugnisse des Landes fast ausschließlich in die Hände einer pri-
vilegirten genießenden Klasse, der adligen Grundbesitzer, fließen.
Diese privilegirte genießende Klasse wird dadurch verweichlicht und entsittlicht,
ans ihren Schwächen und ihrem Luxus beruht vorzugsweise der Handel mit Fa¬
brikaten.
Dieser Handel mit Fabrikaten ist fast ausschließlich in den Händen von Aus¬
ländern, und die ungeheuern Kapitalien, welche demselben zufließen, werden des¬
halb zum Theil dem produktiven Vermögen des Reiches entzogen und hindern die
Entwickelung der landwirthschaftlichen Produktion. Dieser gefährliche Uebelstand
wird noch dadurch in sehr bedrohlicher Weise vermehrt, daß ein unsinniges Zoll¬
system die natürliche Concurrenz beschränkt, die Preise für Luxusartikel ins Un-
geheure hiuaufschraubt und durch die verhältnißmäßige Schwierigkeit, dieselben zu
erlangen, die Gier der Genießenden steigert und ein verständiges Urtheil über den
Werth der Waaren unmöglich macht. Der gegenwärtige Handel Rußlands trägt
wesentlich dazu bei, die Producenten durch die Consumtion zu verderben und dem
Landbau Kapitalien zu entziehen.
Diesem Uebelstand ist nur durch Oeffnung der Zollbarrieren und eine radikale
Umwerfnng des Princips, nach welchem die Fabrikindustrie auf Kosten des Le.nd-
bcins begünstigt wird, zu steuern.
Man vergleiche den Handelsverkehr der westlichen Staaten in der nordame¬
rikanischen Union mit dem Handel von Rußland, das Leben eines großen Farmers
mit dem eines russischen Gutsbesitzers.
Die Suspendirnng der „Presse" wird jedenfalls einen bedeutenden Ueber-
gangspunkt in der Geschichte der Wiener Journalistik bezeichnen. Die übrigen
oppositionellen Momente sind keineswegs der Art, um diesen Abgang zu ersetzen,
und der Gewaltstreich, welcher dieses Blatt getroffen, und in einem Augenblicke
getroffen, wo allgemein vermuthet wurde, daß die Presse ihren ordentlichen Rich¬
tern überantwortet werden dürste, und mit der Eiufvrderung der Kautionen be¬
reits der erste Schritt dazu gemacht war, muß um so mehr deu Entschluß beur¬
kunden, auch den letzte» Nest constitutioneller Freiheit zu entfernen, als dieser
Act der Willkür keineswegs durch die Militärbehörde, sondern durch das ver¬
antwortliche constitutionelle Ministerium veranlaßt wurde.
Zugleich aber mit diesem Schritte hat sich in der östreichischen Journalistik
eine ganz eigenthümliche Fraction gebildet, deren Charakterisirung den Inhalt der
folgenden Zeilen bilden soll. Am 15. November 1849 erschien unter der Redac¬
tion Di-. Landsteiners die „östreichische Reichözeitnng" und zu derselben Zeit be¬
gann die sogenannte „östreichische Korrespondenz", die mit diesem Blatte in der
engsten Verbindung steht, unter Tuvora's Leitung ihrer Thätigkeit eine größere
Ausbreitung und Bedeutung zu geben.
i)r. Landsteiner hatte sich früher mit einer Anzahl gleichgesinnter Freunde
an der „Presse" betheiligt. Seiner politischen Gesinnung nach ist er Freund der
Bequemlichkeit und deshalb Gegner jeder Opposition, die irgend eine Unbequem¬
lichkeit mit sich führen könnte. Der behagliche Genuß des Lebens und das be¬
hagliche Ausspinnen einer bestimmten Anzahl politischer Phrasen zu gravitätischen
Leitartikeln ist sein Lebensberuf. Er hat einmal in seinem Leben gehört, daß zu
einem Diplomaten vor Allem nothwendig sei, über die wichtigsten Dinge der Welt
mit derselben Gleichgiltigkeit zu spreche» wie über ein gutes Diner oder vielmehr
mit noch größerer Gleichgiltigkeit, er hat sich dieselbe nun im höchsten Grade an¬
zueignen gesucht, und hält sich somit für einen Diplomaten. Er lebte lang in
Paris, und da ihm Nichts in Paris so sehr imponirt hat als das Journal des
D«it'M, so glaubt er, es gebe in der ganzen Welt kein Heil außerhalb der Weis¬
et der Di-half und die ganze Kunst der Politik bestehe darin, über alle mög¬
lichen Zustände und Verhältnisse mit denselben glatten Phrasen hinüberzuschlüpfen,
wie es dieses Journal thut.
Er ist stets über die Absichten der Regierung vollkommen beruhigt, er be¬
greift nicht, wie eine gewisse Partei Mißtrauen gegen dieselbe hegen könne, er
hat immer Geduld, er will nie die Regierung gedrängt wissen, er begreift nicht,
wozu man Oppvsitionsblätter braucht, er sieht nicht ein, zu welchem Zwecke
Fragen, welche der Regierung Verlegenheiten bereiten können, angeregt werden
sollen, — und wenn vielleicht in einem unbewachten Augenblicke irgend ein Zweifel
auftaucht, so geht er sogleich oder wenn dies nicht angeht, am nächsten Morgen
zu den Münstern, läßt sich von Bach die Hand schütteln, von Schwarzenberg auf
die Achseln klopfen und ist dann über die Intentionen der Negierung, über ihre
wahrhaft constitutionelle Gesinnung sogleich wieder beruhigt. Er ist kein Reac-
tionär, denn um die Reaction zu fördern, ist ein kräftiges entschiedenes Wollen
nothwendig, — wenn aber die Reaction an einem schönen Morgen in einer Reihe
von Ordonnanzen die Zurücknahme der Verfassung und der Grundrechte ausspre¬
chen würde, so erschiene am Tage darauf in „der östreichischen Neichszeitung" ein
Artikel, worin die Nothwendigkeit dieses Schrittes von einem höheren politischen
Standpunkte aus nachgewiesen und versichert würde, „daß gar kein Anlaß vorhan¬
den'sei, über die Folgen dieses von einer gebieterischen Nothwendigkeit geforder¬
ten Schrittes von Besorgnissen irgend welcher Art sich erfüllen zu lassen."
Eine solche Persönlichkeit mußte nothwendiger Weise der Regierung als Re¬
dacteur eines gouvernementalen Blattes vorzüglich geeignet scheinen. Die ehrliche
Haudegeupolitik des „Lloyd", welcher bisher als Anwalt des Ministeriums gegol-
ten hatte, der für, dasselbe kämpfte und rang, sich begeisterte und in natürliche
oder künstliche Gemüthsanfwallungcn versetzte, der für das Ministerium die Logik
verleugnete und die constitutionellen Prinzipien und Geschichtsdatcn verdrehte, der
in heroischer Selbstaufopferung sich sogar sür das Ministerium lächerlich machte,
war demselben viel zu offen und frei und mußte bei einem solchen Handgemenge
viel zu oft Blöße» geben, die die oppositionelle Partei in ihrer Weise benützte. Da
war so eine biegsame elastische Schreibweise, bei der die Worte wie eine Gallerte
zerflossen, wenn man sie anfassen wollte, die ungeheuer viel sagte, ohne dabei das
Mindeste gesagt zu haben, die Alles in Bausch und Bogen vertheidigte, sogar die
Maßregeln des Militärregimeutö, wozu sich der Lloyd nie verstanden hatte, ohne
bei dieser Vertheidigung irgend etwas Positives hinzustellen, woran sich die Geg¬
ner halten konnten, viel erwünschter und zuträglicher, besonders da eine Anzahl
von Geldmännern, die mit dem Ministerium in immerwährender Verbindung stan¬
den, die Mittel dazu herzugeben bereit war.
Das Blatt erschien. Alles hatte man berechnet, nur das Eine nicht, daß
es entschieden Fiasco machen würde. Nach wenigen Tagen wurde es kaum mehr
gelesen, die Leute fanden ein ganzes Blatt unfaßbarer und unverständlicher diplomati¬
scher Noten höchst langweilig, und selbst die entschiedenen Anhänger des Ministc-
nnms waren zu jedem geforderten Opfer bereit, nur nicht zu dem, sich täglich
eine Stunde zu langweilen.
Um dieselbe Zeit hatte „die Presse" den oppositionellen Ton, in den sie all-
mälig nach der Entfernung Landsteiners und seiner Freunde, die bisher in jeder
Weise denselben zu dämpfen und niederzuhalten sich bestrebt hatten, übergegangen
war, in entschiedener Weise und mit besonderem Glücke in ihren Spalten z„r
Geltung gebracht, und es stand zu erwarten, daß dle bereits auf 15,00« gestie¬
gene Anzahl ihrer Abonnenten sich noch bedeutend steigern würde/Die Regierung
unterdrückte das Blatt; und es ist zu vermuthen, daß außer den politischen Mo¬
tive», um die es sich hier nicht handelt, die Nebenabsicht, der liebgewonnenen
„Neichszeitnng" zu einer größern Anzahl von Abonnenten zu verhelfen, wesentlich
zu diesem Entschlüsse beigetragen hat, was durch allerlei Kunstgriffe und Praktiken,
die die Redaction der „Reichszeitung" zu diesem Zwecke sich zu erlauben für nöthig
fand, einen bedeutenden Grad von Wahrscheinlichkeit erhält.
Wir haben somit kaum nöthig uoch anzuführen, daß ein Artikel des !serm
Di-. Landstcincr die Art, wie die „Presse" unterdrückt wurde, gutzuheißen und
die Tendenz dieses Blattes zu verdächtigen und zu denunciren nicht unterließ, öl.
Landsteiner hatte nämlich die merkwürdige Entdeckung gemacht, daß alle Blätter,
die nicht dieselbe Gesinnung haben wie er selbst, „radical" seien und den Umsturz
predigen, — somit auch unterdrückt werden müssen. Das Jnteressanteste an diesem
Artikel ist übrigens sein Schluß, wo das Ministerium, mit Robert Peel verglichen
wird, und wir zugleich die Versicherung erhalten, daß das Beispiel dieses Man¬
nes wie so viele andere beweisen, daß diejenigen Verbesserungen, die die Whig's
nicht hätten durchführen können, von den Tones i»'s Leben gerufen worden
wären, »l-. Landsteiner ein Tory! Er vergißt leider nnr, daß Robert Peel es
eben gewesen, der die Parteien Whigs und Tones gänzlich aufhören machte, daß
in früheren Zeiten die Tones sich nnr dann zu Reformen verstanden haben, wenn
sie sie nicht länger vorenthalten konnten, und daß in einem Lande, wo Jeder, der
sich zur entgegengesetzten Partei bekennt, d. h. nicht zu der angeblichen Whig-Tvry-
Partei des Herrn Ul-. Landstcincr und des Fürsten Schwarzenberg, radical ge¬
nannt und jedes Blatt, das kein Standard sein will, suspendirt wird, von Whigs
und Tones gar nicht die Rede sein könne. Das sind nur süße Schmeichelworte,
womit die zartfühlende und gesiunungsvolle Presse die suspendirten trösten will.
Ob übrigens das Verbot der „Presse" der östreichische» „Neichszeitnng" die
früheren Anhänger des ersteren Blattes zuführen werde, muß der Zukunft zur
Entscheidung anheimgestellt bleiben. Wir wollen gerne zugeben, daß, so lange
dies nicht der Fall ist, die erstere Maßregel jedenfalls nur eine halbe bleibt.
Wir sehen übrigens nächstens einer ministeriellen Ordonnanz entgegen, die das
Abonnement der „Reichszeitung" zur Bürgerpflicht machen wird, und man be¬
schäftigt sich in ministeriellen Kreisen viel mit dem Gedanken, auf welche Weise
man außer dem Abonnement auch das Lesen des Blattes zur Pflicht machen und
einer Controle unterwerfen könne.
Hand in Hand mit der „östreichischen Reichszcitung" geht die „östreichische
Korrespondenz," eine lithographirte Sammlung von Notizen und kurzen Artikeln,
die an alle Blätter des Kaiserstaates täglich gesendet, und von einer großen Zahl
derselben wörtlich abgedruckt werden, da sie auf diese Weise umsonst Material er¬
halten und überdies Honorar für anderweitige Artikel ersparen. Es gibt nicht leicht
eine so innige Allianz zwischen heterogenen Elementen, wie diese. In der „östrei¬
chischen Korrespondenz" ist Alles derb und entschieden, nichts Gallertartiges, son¬
dern lauter Keulenschläge; keine diplomatischen Wendungen und nichtssagende Phra¬
sen, sondern lauter starke esscctmachende Dinge, wie sie anderweitig zu dem Arbeits¬
zeug der Neactiouspartei gehören. Da wird kein Gerücht, das der liberalen Partei
nachtheilig sein könnte, erzählt, ohne es zum Factum zu erheben, da wird aus
halben Andeutungen, leisen Vermuthungen sogleich ein kunstvolles Ganze aufge¬
baut, und an Gödsche's und Ohm's fehlt's wahrhaftig auch hier nicht. Der Re¬
dacteur ist Tnvora. Mit der Charakteristik dieses Mannes werden wir schnell fer¬
tig sein. Vor dem März war er liberaler Correspondent, am 18. Mai wurde er
mit Hafner von den Volkshaufen auf's Aeußerste bedroht, weil er die Republik
proclamiren wollte, und das damalige Kentralcomit«; mußte ihn gefangen setzen,
um ihn der Volkswuth zu entreißen. Später wurde er mit Mahler Redacteur des ra-
dicalen „Freimüthigen." In den letzten Octobertagen erschien plötzlich aus dem
Lager des Fürsten Windischgrätz ein Sündenbckenntniß Tnvora's und die
Versicherung, daß er mit seiner Vergangenheit gänzlich gebrochen habe. Wir haben
viele Renegaten in unserem Leben kennen gelernt, aber nie Einen, der mit einem
so leichten Achselzucken Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft in einem
Augenblicke an die Meistbietenden verkaufen würde wie Tnvora. Aber nicht blos
jede oppositionelle Regung wird in diesen Korrespondenzen, die in so vielen Pro-
vinzialblättern zugleich auftauchen, denuncirt, sondern Tnvora hält auch jetzt viel
auf gute Sitten, und ein in der „Presse" erschienener Roman von Hieronymus
Lorm wird in den rohesten Ausdrücken als überaus sittenlos bezeichnet, weil er
in der „Presse" abgedruckt war. nächster Tage wird das Ministerium auch einen
Roman erscheinen lassen, worin es uns belehren wird, was der Fürst Schwarzen¬
berg unter Moral versteht und wie ein moralischer Roman geschrieben sein soll,
ebenso wie es uns offiziell belehren läßt, wie man leitende Artikel schreiben muß
und wie man Korrespondenzen anzufertigen hat. — Begreiflicher Weife ist die
„östreichische Reichszeitung" durchaus nicht gefährlich, da sie Niemand liest und
or. Landsteiner wohl für den Psychologen, nicht aber den Politiker ein Gegen-
stand von Merkwürdigkeit ist. Die „östreichische Correspondenz" dagegen wäre
wegen ihrer Verbreitung in der ganzen Monarchie und des Einflusses, den sie so
auf die politisch Ungebildeten gewinnen könnte, sehr zu furchten, wenn das Mini¬
sterium in den Reihen seiner Freunde irgend einen Mann zu diesem Zwecke oder
irgend einen weniger verrufenen und verachteten Renegaten hätte finden können.
Mitten im Walde, durch den wir hinausliegen, um auf den Schafberg zu
kommen, war ein trauliches Plätzchen, duftend von Thymian und umstimmt von
botanisirenden Bienen. Wir rasteten einen Augenblick, uns wie unserem Führer
zu Liebe, der hier einem Kameraden aus alter Zeit begegnete. Zwei Holzfäller
sägten den Stamm einer riesigen Tanne durch und unterbrachen ihre Arbeit, als
wir herankamen. I, grüß Gott, Gustl, rief der Eine unserem Führer zu, indem
er sich den Schweiß von der Stirn wischte; ich hab Dich lang nit g'sehen. Wie
laug ist's? — Ostern sind's fünfzehn Jahr, daß ich Rekrut wurde. Seit Licht¬
meß bin ich wieder heim. Wie geht's Ent (euch)? — Es geht noch, erwiederte
der Holzfäller und zuckte die Achsel. — Aber grau seid Ihr worden! sagte der
Führer und reichte ihm seine Branntweinflasche. Mich freute die sichtliche Be¬
friedigung, die in dem breiten knochigen Antlitz unsers Führers glänzte, als der
erschöpfte Holzfäller sein spärliches graues Haar aus dem Gesichte schob u?!d den
ganzen Rest der Flasche austrank. — Vergelt's Gott! — Na, thuts Ent nit
weh! sagte der Führer und weiter ging es. Mehr Worte wurden bei diesen«
Wiedersehen nach fünfzehnjähriger Trennung nicht gewechselt, aber die gegenseitige
Theilnahme verrieth der herzliche Klang ihrer Stimmen.
Der Führer gab uus auch die Geschichte seines alten Kameraden in wenigen
Worten. Vor zwanzig Jahren war der Holzfäller ein hoffnungsvoller Bursche;
er hatte ein kleines Haus und zwei Kühe geerbt, die schmucke Johanna in Schärsliu
war so gut wie seine Braut. Eine Feuersbrunst, entstanden durch eine Ladung Butter¬
krapfen, die er zu Johanna's Namenstag bei sich backen ließ, nahm ihm binnen
einer Stunde die Kühe sammt dem Häuschen, die Krapfen sammt der Heirath.
Er ward und blieb seit jener Zeit Tagelöhner. Diese Alpengegenden, die den
fremden Wanderer entzücken, belohnen den ländlichen Fleiß des Eingeborenen laug-
'
Sinn und stiefmütterlich; der kleinste Besitz, einmal verloren, ist schwer zurückzu¬
gewinnen. Johanna ist jetzt Wittwe des Psauenwirths in Mondsee; vor ihrer
Hausschwelle pflegt der ehemalige Bräutigam, für sechs Kreuzer und einige Mit-
tagsknödcl, den halben Vormittag Holz zu hacken. —
Von Ungarn und Italien, wo er als Soldat viele Jahre gelegen hatte,
machte unser Führer viel Rühmens. Er konnte nicht genug von der tempelartigen
Pracht der großen italienischen Städte erzählen und von den artigen Manieren
der Leute dort, die auch sanft und gut wären, wenn man sie recht zu behandeln
wisse. Der Ungar, sagte er, ist „mittheiliger" (freigebiger) und zutraulicher, wie
die Leut' hier zu Land. Nur ist er „zu viel stolz" und hält „aus seine Ehr'
mehr wie auf sein' Vortheil und das ist dumm." Der Ungar sollt' gut Freund
mit uns sein und die Unsrigen sollten „ein' friedlichen Weg finden zu 'nem Aus¬
gleich." — Nun, sagte ich; der Rufs' und der Haynau haben ja Ruh gemacht in
Ungarn. — A Ruh Ichor, erwiederte er; aber was nutzt mir die gezwungene
Lieb? Glauben's mir, so lang der Unger nit von Herzen Freund mit uns ist,
steht der Kaiser auf einem Bein, und das heiß ich nit feststehen.
Im ganzen Oberland sand ich dieselbe Ansicht und Gesinnung vorherrschend,
die sich in den Worten des gewesenen Soldaten aussprach; nicht von den Radi¬
kalen zu reden, welche offen den Triumph Kossuth's wünschten. Die Gutkaiser¬
lichen beobachteten hier, in Bezug aus Ungarn, einen anständigern und ritter¬
lichem Ton als die schwarzgelben Magyarensrcsser in Wien. Ungarns Selbst-
ständigkeit hätte der üppigen Residenz und dem ganzen Erzherzogthum den Brot¬
korb höher gehängt. Diese Einsicht hatte man aus dem Lande eben so gut wie
in der Kaiserstadt; die Besitzenden ersehnten deshalb die Wiederherstellung des
alten Verhältnisses der Monarchie zu der fetten Fruchtkammer an der Theiß und
DonaH, aber die Rücksicht aus ihren materiellen Vortheil machte sie nicht gemein
und wüthig. Man hörte hier kein Schimpfen und Fluchen auf die „Rebellen und
Räuber." Der Krieg wurde als eine traurige, durch das Interesse des Volkes
gebotene Nothwendigkeit angesehen, nicht als eine Execution und Rache für die
beleidigte Majestät von Gottes Gnaden. Von den Magyaren sprach man wie
von einem ebenbürtigen, ehrlichen auswärtigen Feinde, und bei der Nachricht,
daß man kriegsgefangene Offiziere und Feldherrn wie arme Sünder an den Gal¬
gen hing,, wird manche gutkaiserliche und fromme Seele im Oberland sich schau¬
dernd bekreuzt haben.
Da sind wir endlich, nach dreistündigem Steigen, aus der weiten Alm des
Schasberges. Zuerst begrüßen uns die niedlichsten Bastarde von der Welt, die
Gems-Zicklein, welche hier weiden; sie scheinen von der Menschheit eine entsetzlich
gute Meinung oder, trotz des würzigen Kräuterreichthums auf der Alpe, großen
Hunger zu haben; jeden Wanderer umHüpfen sie in den posstrlichsten Sprüngen,
lecken ihm Brosamen aus der Hand und suchen ihm die kleinen Köpse mit den
Knebelbärten und den gewundenen Hörnchen, die ihnen gewiß nur als Wappen¬
zier, nicht als Vertheidtgungswasse dienen, in Rock- oder Hosentasche zu zwän¬
gen, halb zur Liebkosung, halb um eine Brotkrume zu erbetteln. Ihre Augen
leuchten Heller und selbst ihr Möckern klingt sanfter wie das der thalgebornen
Gaise; der seine Knochenbau und die Grazie der kleinen Gestalten verräth ihre
morgana.lische Abstammung von irgend einem adligen Gemsbock des Hochgebirges.
Und wo bleibt die sauste Hirtin dieser zarten Thiere? Auf eiuen langen Pfiff
des Führers kommt sie aus einer der entfernteren Sennhütten mit großen Schritten
herangewandelt; strumpflos, in Holzpantoffeln, einen breitkrämpigen schwarzen
Strohhut aus, einen eisenbeschlagenen Stock in der Hand; die Korallen des Ro¬
senkranzes, den sie an den Gürtel gesteckt hat, könnte man für Flintenkugeln
halten und das messingene Kreuz, das se.e auf der Brust trägt, dürstet Ihr ge¬
trost auf dem Grabhügel Eures Großvaters aufpflanzen; es bliebe nicht unbe-
bemerkt. Erschreckt nicht vor der Höhe und Breite dieser viereckigen Sennerin;
es ist wahr, sie hat Matrosenarme und ihre Haut erinnert an den rothen Neckar¬
sandstein der rheinischen Dome, wenn vier Jahrhunderte ihn ehrwürdig überrußt
haben, allein das stark ausgemeißelte Antlitz sagt Euch treuherzig: Ihr werdet
in meiner Hütte den Schlaf des Gerechten schlafen und im Nothfalle trage ich
ein Dutzend solcher Herrchen in meiner Schürze den Berg heraus.
Grü-eß Gott, Kinder! ruft sie mit Lawinenstimme und langt ein kleines
Tönnchen ans der Tasche: eine ungeheure Tabaksdose, die sie galant herumreicht.
Ich will enk gleich an gnaden Schmoarrn machen, denn Ihr müßt ausg'hungert
sein. Der tiefe Kehllaut in ihrem gedehnten „J-ach" und „glei-ces" versetzt euch
nach Tyrol, nicht wahr? Aber die Natur schert sich wenig um Landkarten und
Grenzpfähle; den tyrolischen Kehllaut und andere verwandtschaftliche Zeichen hört
man auch im ganzen Gasteiner Thal, im Pintschgau, in vielen salzburgischen und
obersteirischen Bergen. Wie die Kegel Und Kogel, so sind die Volksstämme von
einem Stock. Die in Tyrol üblichen Begrüßungen sind hier schon ebenfalls all¬
gemein. Dem Arbeiter in Wald und Feld ruft man: „Thuts enk nit weh!" Der
Beruf des Jägers, Masters und Holzfällers im Gebirge ist oft halsbrecherisch
genug. Den Fußwanderer, gleichviel ob er keucht oder behaglich schlendert, grüßt
man mit der wohlwollenden Mahnung: „Lassens ihnen Zeit!" oder kurz: „Zeit
lassen!"
Wir wollen uns jedoch keine Zeit lassen, sondern die Gunst des Augenblicks
benutzen. Bleiben wir auf einem Vorsprung der Alm stehen, so lang es die Däm¬
merung erlaubt. Eben ist d>e Sonne im Untergehen und zwischen die spitzen
Berge bei Salzburg fällt ein dichter Regen von purpurnem Sonnenstaub; mau
nennt's Alpenglühen. Weiterhin aus der schattigen bainschen Hochebene blitzt ein
goldfarbiger, nachenförmiger Streifen: der Chiemsee. Rechts in der Tiefe liegen
ein paar waldmnrauschte Thäler, wie schöne Zauberinnen, aus dem Rücken hinge-
streckt, die feucht blauen Augen, — so klein sind die Seen von hier ans — zum
Himmel aufgeschlagen. Doch ist das nur ein Vorgeschmack des Anblicks, der uns
morgen, wenn Wind und Wolken wollen, für das einstüudige Klettern auf die
Felskuppe des Schafberges belohnen wird. Da oben überblickt man achtzehn Seen
auf einmal, und über dreißig Gletscher, wie fromme Altäre, trotzige Burgen, phan¬
tastische, in Eis verwandelte Himmelsstürmer gestaltet, sieht man im Sonnenauf¬
gang erglühen. Und der brausende Morgenwind raunt Euch dazu das Gebet der
Luftgeister in die Ohre». Da kann Einer andächtig werden, wenn er sich nicht
schämt.
Die beste Vorbereitung auf diesen Naturgottesdienst wäre, in der Sennhütte
bei einigen Booten Punsch eine fromme Nachtwache zu halten. Von süßem Schlaf und
angenehmen Träumen kann ohnedies nicht die Rede sein. Die Sennhütte hat kei¬
nen Rauchfang, sie läßt den Rauch, so gut er kann oder will, durch Thür- und
Wandritzen sich einen Ausgang suchen. Ihr kriecht auf einer Leiter über, die Thür
des Rinderstalls auf den Dachboden und deckt euch mit nebelfeuchten, rauchdun¬
stigem Heu zu und werdet dann und wann aus dem Halbschlummer durch melan¬
cholisches Geläut aufgeschreckt; Ihr zählt anfangs Eins, Zwei, Drei bis Drei¬
zehn und dann erst merkt Ihr, daß nicht die Thurmuhren der Dörfer tief unter
Euch geschlagen haben, sondern die Kuhglocken im Stalle.
Während wir noch aus dem Vorsprung der Alm standen, erhob sich ein so dichter
und wässernder Nebel, daß wir froh waren, uns bis zur Sennhütte durchzutappen. Auf
dem gewaltigen Heerde prasselte ein lustiges Feuer und darüber saß ein „Reindl"
(eine Pfanne) von zwei Schuh Durchmesser, worin unser „Schnarren" bereitet
wurde. Die Sennerin hatte zehn Maß Milch, einen halben Sack Mehl und ein
El dazu genommen; unser Gesammtappetit war uicht im Staude, den fünften Theil
der leckeren Speise zu vertilgen, glücklicher Weise intervenirten Führer und Sen¬
nerin mit siegreichem Erfolge. Nach der Mahlzeit langten wir einige Flaschen
Wein aus dem Korb des Führers und setzten uus rings um den Heerd, die Nacht¬
wache zu begehen. Wir waren unser Sieben: ich, mein Freund Don Jsidor Amabile,
ein Wiener Hofmeister mit drei Zöglingen, die ihrem Erzieher in der Kenntniß
aller noblen Passionen überlegen waren und ihm fortwährend im Bon Ton Un¬
terricht gaben, und ein l)>. der Philologie Mu et ans Oestreich. Dieser Mecklen¬
burger war praktischer wie wir Alle und setzte sich ohne Weiteres auf den Heerd
selbst, unmittelbar ans Feuer; die Nähe der Flamme schützte am sichersten vor
dem quälenden Rauch. Während er Kamascheu und Schuhe auszog und an der
Gluth trocknete, erzählte er uns mit höchst bedächtiger und langsamer Stimme
sein langweiliges Schicksal. Zum füuftenmal in diesem Sommer bestieg er heute
den Schafberg und noch wußte er uicht, ob er zum letztenmal in dieser Hütte
übernachten werde. Seine Braut in Rostock, obgleich ebenfalls eine Mecklenbur¬
gerin, war sentimental. Sie kannte das Salzkammergut und hatte ihrem Zutuns-
eigen das Wort abgenommen, daß er nicht heimkehren wolle, ohne ans dem Schaf-
berge einen klaren, reinen Sonnenaufgang gesehen zu haben. Fünfmal stieg er
hinaus und wachte mit betrübtem Sinn die Nacht durch und stets stellte sich beim
Morgengrauen „grobes Wetter" ein. Aber Muck hielt sein Wort mit deutscher
Treue; auch deu Gamskahvvgel bei Gastein und den Untersberg bei Salzburg
hatte er, im Austrage seiner Braut, während eines gelinden Sprühregens erstie¬
gen, und vielleicht sitzt er noch jetzt im December auf der Alm bei der riesigen
Sennerin aus dem Heerde; denn der Schafberg ist ein launischer Gott und ent¬
hüllt seinen Scheitel lieber im Winterfrost als im Sommer.
Uebrigens schilderte Muck seine selbstauferlegten Leiden mit einem allerliebsten
trockenen Humor, und ließen ihn die Naturschönheiten, welche er für seine Braut
gewissenhaft in's Tagebuch eintrug, kälter als uus der Schmarrn, so machte er
dafür über Land und Leute manche treffende Bemerkung. So verbreitete er sich
über die
die im Oberlande viel häufiger sind als Meilenzeiger und Wegweiser. Wo irgend
Jemand in's Wasser fiel, in den Abgrund stürzte, von einer Lawine erstickt oder
beim Holzfällen von einem ungeschickten Baumstamm erschlagen wurde, ragt eine
Tafel zu seinem Gedächtniß mit möglichst lakonischer Beschreibung des Unglücks¬
falls , mit einer Aufforderung zum Gebet und einer Malerei, die gleich Dante's
göttlicher Komödie Himmel, HM und Fegefeuer zugleich umfaßt. — In der Um¬
gegend von Ischl, hub Muck zu erzählen an, gefielen mir die Erinnerungstafeln
weniger; die Schulmeister haben dort zu viel Einfluß darauf und verderben durch
ihr schlechtes Hochdeutsch die edle Naivetät in der Orthographie und Illustration
dieser Monumente. Hart am Eingang des Städtchens erzählt eine Inschrift, daß
die Jungfrau Barbara „durch Uebersteigung des Zaunes" ihren Geist aufgab; das
soll heißen, sie sei in den Abgrund gestürzt, der einige Schritte hinter dem be¬
wußten Zaune gähnt. Je weiter ich mich von Ischl entfernte, desto inniger ging
mir die Poesie des Volks- und Pfaffenstyls aus. Zwei Bemerkungen, meine Herren,
muß ich zum Verständniß dieser Denkmale vorausschicken. Sie sind erstens aristo¬
kratisch. Nicht jedem Knecht oder Tagelöhner, der den Hals bricht, widmet man
eine Tafel, sondern nur wohlhabenden, respectabeln Leuten. Drei Ochsen, glaub
ich, muß Einer wenigstens besitzen, um ans ein illustrirtes Andenken rechnen zu
können. Dies beweist die nie oder selten fehlende Bezeichnung: „der geachte"
N N., oder „der hierortige angesehene Bauersohn." Zweitens hat der fromme
Brauch durchaus keinen gemeinen Militärischen Zweck. Ich sah am Rande eines
steilen Felsweges, von wo ein „geachter Fuhrmann" in der Dunkelheit mit Roß
und Wagen in den See stürzte, eine kleine Gedenktafel an einem dünnen Pfahl
hängen; der Mangel eines schützenden Geländers hatte das Unglück veranlaßt.
Das Geländer fehlt noch jetzt und die Tafel hängt gerade auf der Stelle, wo
selbst ein schwindelfreier Mann nicht ohne Gefahr stehen kann, um die Inschrift
darauf zu lesen. Das Unglück besteht ferner nicht darin, daß Peter Schwan-
daner oder Paul Grunzinger den Hals gebrochen hat, sondern daß er ihn brach,
ohne vorher gebeichtet und Absolution erhalten zu haben,
In Ausnahmsfällen ist der Maler tolerant genug, anzunehmen, daß die
Verunglückten im Zustand der Gnade gestorben sind; Ihr seht z. B. ein Floß auf
der Almfluth scheitern, die Floßführer fallen eben in's Wasser, in ihren besten
Sonntagskleidern und mit lustig ziegelrothen Backen. Warum sollte» sie auch er¬
schrecken? Vermuthlich haben sie erst den Tag vorher gebeichtet und Jedem wächst
ein rothes Kreuz ans dem Kopfe, als Einlaßkarte in den indigoblanen Himmel,
wo man Gott Vater, Sohn und heiligen Geist den Ertrinkender Willkommen!
zulächeln steht. Auf den meisten Bildern jedoch stammen die Schrecken des Fege-
feuers, und darüber steht zu lesen: „Dieses bildnnß Allhier gemacht, Von Wägen
den unglicksfahl mit Den Jakob Gschreiter banersvhn. Weilt er Mußte enden Sein
lebven i. I. iumo 34 Deß Herrn, Einen haben fallend, Vülle Scheit holtz Haben
Ihm Erstossen. lieber Läser, thue Mein Gedenken, Mirr ein vattcr Unser, Ave
maria schmalen." — Das klingt ja so originell wie ein Wiener standrechtliches
Urtheil!, sagte ich. — Warum sollt es nicht? fuhr Muck fort. Die Unglücksfälle
im Gebirge haben etwas Standrechtliches, oder vielmehr das politische Standrecht
hat etwas von der Blindheit der Elemente. Im Oestreichischen sind die Gedenk¬
tafeln immer noch moderner als im Altbairischen, wo ich oft ihre Mehr als mittel¬
alterliche Einfalt und Rohheit anstaunen mußte. Wenn Sie den graben Weg
von Salzburg nach dem Köuigssee wandern, so finden Sie auf dem schönen
Waldpfade, etwa eine halbe Stunde vor Berchtesgaden, linker Hand> einen Eich¬
baum mit einer Gedenktafel, an der Sie nicht vorbeigehn dürfen, ohne sie genau
zu betrachten. Unter dem halbvcrwischten Haupttext winden sich zwei nackte, mit
Ketten an einen Pfahl gebundene Sünder in den schilfartig aufsprühenden Flam¬
men des Fegefeuers; die schmerzverzerrteu Gesichter deuten an, daß sie längst
gar und gut geschmort sein müssen. Unter dem Fegefeuer prangt der fromme
Spruch: „Du wirst von dattuen nicht herauskommen, Bis du nicht bezahlet auch
den letzten Heller." Man sollte denken, die christlichen Mahnworte seien einem
Pfäfflein in den Mund gelegt. Behüte! Ueber dem Fegefeuer sitzt, in grauen
Wolken, die Mutter Gottes in höchsteigener Person und zeigt mit dem Finger
triumphirend aus die Flammen herunter, welche ihr recht wohl zu thun scheinen,
denn ihr ausgedunsenes blasses Gesicht lächelt mit dem behaglichen Phlegma einer
Holländerin, die ein Kohlenbecken unter ihre Beine gestellt hat, — oder wie die
Wirthin im „Neuhaus" in Berchtesgaden, als sie Mir die Rechnung auf den
Tisch legte! O glückliches Baierland, Gott gebe nus Dein leichtes Bier und
behüte uns vor Deiner schwerblütigen Frömmigkeit! —
Wir beginnen klarer zu sehen in Oestreich, ist auch das, was wir zu sehen
bekommen, peinlich — immerhin, man weiß doch, woran man ist, man regelt An¬
sicht und Plan, man weiß, woran sich zu halten. Wir beginnen — staune
o Deutschland — ja wir beginnen sogar das verhaßte Ministerium Schwarzenberg
etwas milder zu beurtheilen.
Daß wir so weit gekommen sind, beweist allerdings den entsetzlich tiefen Stand
unsers konstitutionellen Barometers, doch haben wir wenigstens den Barometer
selber bisher behalte», dessen Merkursäule sich wieder heben kaun, stehe sie auch
heute auf viel Regen, auf Erdbeben und Sturm weisend. Es gibt in Oestreich,
wie anderwärts, eine Partei, welche das ganze Wetterglas gar zu gern in
Trümmer schlüge.
Wir wissen jetzt, daß in unserm Olymp zwei Mächte im Kampf liegen, aus
den Gewitterwolken dieses Kampfes schießen, je nach den Chancen der Kämpfer,
erwärmende Lichtstrahlen, oder schreckende Blitze zu uns nieder.
Es gibt ein verantwortliches Ministerium und eine unverantwortlich stupide
Hofpartei in jenem Olymp, und diese stellt dem Constitutionalismus, wo sie nur
immer kaun, ein Bein, um ihn zu Fall zu bringen; sie stützt sich auf die Militär¬
diktatur, welche die Löseschlüssel nicht ans der Hand geben will, das Volk ver¬
leumdet und verdächtigt, und das Ministerium ist in der eigenthümlichen Lage,
seine schmachvoll untergeordnete Stellung zu verbergen, jeden Fußbreit constitu-
tionellen Terrains mühselig zu erringen. Man mag das für unwahrscheinlich hal¬
ten, dennoch ist es so!
Ein kleiner Schritt vorwärts ist endlich gethan, eine, wenn auch vorerst nicht
bedeutende Reduktion der Armee ist dekretirt und in Durchführung begriffen, zu¬
gleich siud die hohen Bezüge der aktiven Armee etwas moderirt. Wir haben den
Kulminationspunkt glücklich hinter uns. Die Minister Schwarzenberg, Bach,
v. Kraus hatten den Kaiser ans die Unerläßlichkeit der Armeereduktion dringend
aufmerksam gemacht, stellten in Aussicht, daß außerdem in längstens zwei Jahren
der complette Staatsbankerott und mit ihm die Auflösung, das Erlöschen der
Firma Oestreich unvermeidlich bevorstehe. Da existirt aber bei Hofe ein Schma¬
rotzer, Graf Grünne, als Generaladjutant des Kaisers fnngirend, in das Porte¬
feuille des Kriegsministers im Schmuggelwege sich einmischend; und dieses Indi¬
viduum, welches die Wiener treffend als Camarillus bezeichnen, trachtete, von
der Hospartei instruirt, den Kaiser gegen den Antrag der Minister einzunehmen,
so daß die Minister sich genöthigt sahen, eventuell ihre Entlassung anzubieten.
Nur so gelang es, die Hofpartei aus dem Felde zu schlagen, welche in ihrer Hof-
damcnalbernhcit wohl ungeschickt zu intriguiren, niemals aber ein Ministerium zu
gebären vermag, höchstens einen todtgeborneu Abortus.
Auf diesen Vorfall reduziren sich die umlaufenden Gerüchte von einem bevor¬
stehenden Ministerwechsel, welcher uns nur das Vorzimmerministerium Grünne
hätte bringen können, komischer, unmöglicher als ein Ministerium Clairmont Tonni-r
bourbonschen Andenkens. — Von den Umtrieben des malkontenten Adels, von
den Uebergriffen und Anmaßungen der Generalität in Oestreich macht sich Europa
lange nicht den klaren richtigen Begriff. Die Herren Generäle halten sich, sich
allein, nicht die Mannschaft, die gekämpst hat, nicht die Russen, welche man zum
Gastspiele einlud, sür die angeblichen Retter der Monarchie, und möchten jetzt die
gerettete — ? — Monarchie nach S'oldatenrecht als Beute für sich behalten und
aussaugen. Sie gleichen schlecht dressirten Jagdhunde», die das Wild aufjagen,
erHaschen, apportiren, aber es blutgierig selber auffressen. — Solchen Leuten und
einem jungen Kaiser gegenüber, welcher, weil jung, an dem Soldatengeglitzer
Gefallen finden muß, hat allerdings das constitutionelle Princip und ein Ministe¬
rium!, sei es noch so verdünnt constitutionell, einen harten Stand ; es wird von
der Generalität selber verdächtigt und für schlecht kaiserlich erklärt, so bald es das
constitutionelle Princip, wenn auch nur p.-n- Iwimmirs und pro den-in-l erhalten,
wenn es nicht darein willigen will, dieses Princip mit Stumpf und Stiel auszu¬
rotten, während die Herren Generale, die ein Jahr hindurch nun ausgerottet, ge¬
sengt »ut gehängt, Ortschaften der Erde gleich gemacht, Christ und Jud torturirt
und gebrandschatzt haben, unbedingt für das Ausrollen stimmen, dabei aber ver¬
gessen , daß sie auf diesem Wege ihre eigene Brotkammer sich selbst untergraben.
Mit diesen Tendenzen geht in Oestreich die Vorzimmer- und die Cotillons-
partei Hand in Hand, und heut macht eben diese dem Ministerium weit mehr zu
schassen als das Demokratenthnm, denn dieses ist vorläufig todt oder doch belagert.
Das Vorzimmerpersonal ist in aller Welt eigennützig und schlecht, die Abkunft
macht da keinen Unterschied, das liegt in der Livree, Bedienter bleibt Bedienter,
sei er noch so hoch geboren. Graf Grünne besonders stammt aus einer Bedienten¬
familie, deren wir mehrere zählen, welche die Dienstkämmerer, die Kammervorstände,
die Ajos der Kinderstuben seit Jahren zu Hofe liefern.
Grünne's Vater stand bei weiland Erzherzog Karl in ähnlicher Function, er
selber hat als Jüngling mit der Wiener Fiackerschast intime Kameradschaft gehalten,
gar häufig sahen wir ihn am Stephansplatze- mit den Fiackerburschen in freund¬
schaftlichster Conversation, selbst später, zu Amt und Würden gelangt, kultivirte
Gras Grünne den Umgang mit diesen Jugendgespielen.
Graf Grünne trat früher in Dienst bei Erzherzog Stephan und hatte in
Prag Haushalt, Stall und Küche in Ordnung zu halten, die böse Welt erzählt
sich damals eine garstige Geschichte von einem wegen ttntcrschleif angeklagten, ans
Grünne's nothgedrungcue Verwendung aber entlasteten Koch. Wir glaube», um
mit Heinrich Heine zu reden, Graf Grünnc gäbe viel darum, wenn die Geschichte
erlogen wäre. In seiner Vorzimmcrbedieustuug avancirte Graf Grünne von
Grad zu Grad zum Obersten der Husaren, »ut trug Uniform statt Livrve, folgte
dem Erzherzog in gleicher Eigenschaft nach Ungarn, war dort Zeuge aller Gro߬
thaten seines Herrn, welche diesen in volle Ungnade bei Hofe, ja in die Verban-
uikng brachten. Gras Grünne aber trat über in den Dienst des jungen Kaisers,
woraus sich schließen läßt, daß man ihn wirklich als blanke Bedientenuatur be¬
trachte, denn außerdem hätte er dem Erzherzog nothwendig in die Verbannung
nachgesendet werden müssen. Ob es irgend klug gewesen, diesen Mann dem jungen
Kaiser beizugeben, bezweifle ich stark, freilich sagt man, Graf Grünne reiße bis¬
weilen einen guten Fiakcrwitz, wir dächten aber, gewisse dem Stephansplatze Wiens
entstammende Witze paßten kaum für den jungen in der Entwickelung begriffenen
Kaiser, so wenig als die ganze, Stalluaiur in kaiserliche Gemächer. In alter Zeit
erregte es hier in Wien bedeniendc Verwunderung, wie weiland Kaiser Franz,
der ernste ascetische Mann, jenen Freiherrn Kntschera, jenen Fürsten Traut-
mannsdors zu seiner nächsten Umgebung wählen konnte, Männer, die man als
die fleißigsten und geübtesten Kenner und Sammler der Nachtfalter am Stephans¬
platze und Graben kannte, heut umgeben Graf Grünne und Fürst Karl Liechten¬
stein in gleicher Eigenschaft den Kaiser Franz Joseph. Kaiser Franz aber zählte
damals fünfzig Jahre! Kaiser Franz Joseph jedoch ist ein neunzehnjähriger
Jüngling!!
Als vor etwa zehn Jahren in Prag und Wien sich die falsche Nachricht von Her-
loßsohn's Tode verbreitete, scholl ein dumpfes Trauergeläut durch die gesammte östrei¬
chische Literatur, viele Journale erschienen mit schwarzem Rand und L. A. Fränkl dich¬
tete Elegien. Herloßsohn gehörte damals noch zu volksthümlichsten Novellisten, die man
in Oestreich kannte, die träumerisch gemüthliche Romantik seiner hussitischen, altmagyari-
schcn und polnischen Freiheitshelden war dem dortigen Liberalismus ans der Seele ge¬
schrieben. Die Poeten- und Litcratenwelt aber, blickte sie anch längst über ihn weg
und zu den Obergöttern, Börne, Heine u. f. w. auf, hing doch mit treuer Pietät an
dem freisinnigen Redacteur des „Kometen", an dem Veteranen unter den ausgewander¬
ten Schriftstellern Oestreichs. Kaum ein literarischer Oestreicher war je im „Ausland"
gewesen, der nicht die dunklen Treppen und das staubige, bilderbchangene Zimmer in
der Hcchnstraße zu Leipzig kannte,,wo Herlostsohu seit ewigen Zeiten nisten blieb. An
wen sollte der junge Lyriker oder Journalist bei seinem ersten Schritt in die Welt, d. h.
uach Deutschland, sich wenden, wenn nicht an Hcrloßsohn, den immer freundlichen,
opferbereiten, durch keinen Undank abzuschreckenden Rather, Helfer und Beschützer seiner
Landsleute! Groß waren daher die Seufzer und allgemein die Klage »in ihn in
Oestreich.
Dieses Mal ist die Todesbotschaft echt. Der kleine Mann, ohne Galle, der über
eigenen Unstern so herzlich zu lachen verstand und bei jedem Elend, das ihm geklagt
wurde, mit wehmüthigem Lächeln das Haupt auf die linke Schulter neigte und einen
trostreichen Tropfen im hellblauen Auge trug, ist wirklich am 1V. December d. I. hin-
übergegangen, wo es keine insolventen Buchhändler gibt und keine quälenden Printer'«
<1l;vit5. Im Stillen wird Mancher ihm ein betrübtes Fahrwohl nachrufen, aber die
Bewegung wird nicht bedeutend sein. Die Oestreicher sind an ein Trauern in großem
Maßstabe zu sehr gewöhnt worden, um dem Verlust eines einstigen Lieblings mehr als
gewöhnliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Carl Herloßsohn verließ bereits in den zwanziger Jahren sein czcchisches Vater-
Hans in Prag, seinen kleinen Praktikantenpostcn und die schwarzgelbe Monarchie über¬
haupt; er fand ein Asyl in Leipzig, wo er zur Zeit des sogenannten ersten Vvlkcr-
srühliugs (18^0) den „Kometen" gründete, dessen burschikos-revolutionärer Flammen-
schweif das gcsammtdcntsche Philisterthum in Schrecken versetzte. Herlvßsvhn selbst
stand unter den Sängern der Julisonne voran, er feierte Polen und verwünschte Niko¬
laus, Don Carlos, Metternich und Don Miguel mich Gebühr. In „Hahn und Henne"
und in „Mephistopheles" nahm er einen energischen Anlauf zur Sathre und zur politi¬
schen Lyrik in Prosa.
Als nach dem Frankfurter Attentat der kurze Völkerfrühling sich in eine lange
'Hundstagcsaison verwandelte, sing wie viele Andere anch Herloßsohn zu erschlaffen an.
Seine von Natur friedliche Seele konnte Streit und Kampf nicht lang ertragen und
sprang aus dem Pathos leicht über zum Sentimentalen oder Bnrlcsken. Seine Ro¬
mane, in flüchtiger Hast und offenbar aus äußern Bedürfnissen geschrieben, verrathen
doch immer stellenweise ursprünglichen poetischen Fonds. Unter dem Wust kleiner Genrebilder
und Capriccios, die er wöchentlich anf's Papier warf, findet sich manche Perle, wie
„die Geschichte zweier Deutschen, die auf einer wüsten Insel Schiffbruch litten." Er ver¬
tiefte sich immer mehr in's kleinbürgerliche Leben, dessen pedantische Seiten er drollig per-
sifflirtc und dessen Gemüthlichkeit er mit selbstmörderischer Rührung feierte. Auf das
große Nationallcidcn und Streben blinzelte er nebcnbcimit schlauenSpvtterblickcn undwarf
seinen leichten Witz den Wcltschmerzlern wie den Tentschthümlcrn, den Diplomaten wie
den Demagogen in's Gesicht; in's Herz traf er seine Gegner niemals. Bezeichnend ist
für Herloßsohn. daß er eine Zeit lang für das Leipziger Tageblatt Theaterkritiken schrieb,
wobei seine fabelhafte Gutmüthigkeit ihn in die peinlichsten Verlegenheiten brachte; er
hatte nicht das Herz, den gelindesten Tadel ans der Feder zu bringen, entwertete da¬
durch sein Lob und machte es Niemandem recht. Dagegen wird man diesmal seine
WcihnachtSbildcr vermissen, die den Augen der hiesigen Frauenwelt tausend und aber
tausend Thräncnbäche zu entlocken pflegten.— Herloßsohn lebte wie die poetische Grille,
nicht wie die industrielle Ameise; er war mit seinen Silberstücken eben so freigebig wie
mit seinen gemüthlichen Versen. Der Reactivnswintcr, der aus die Revolution von
1848 folgte, fand seinen Kometen ausgebrannt, seine Kraft erschöpft. Dieser harten,
trockenen Zeit war sein weiches Naturell nicht mehr gewachsen und er hieß die Krank¬
heit willkommen, mit deren Hilft er von einem Leben Abschied nahm, das ihm nur
noch die Dornen der Kränkung und die Eisblumen eines sehr trüben Alters zu bieten
hatte. Friede seiner Asche! —
Ein Präger Politiker und Diplom.it sah sich aus freien Stücken veranlaßt, den
„Grenzvoten" ein Pancgyrikon für den Minister jm-. Bach einzusenden. Die Re¬
daktion druckte es, konnte sich jedoch eines bedeutsamen Kopfschüttclns nicht enthalten,
und wir glaubten in gutem Rechte zu sein, Ansicht gegen Ansicht, Urtheil gegen Urtheil
niederzuschreiben. Wir thaten es, und dieses Thun ärgert den Prager Politiker.
Seit wenigen Wochen erscheint in der Moldaustadt unter dem Titel: „Union" ein
deutsches Blatt für czcchische Interessen und slavische Parteien. Die slavischen Ecutral-
blätter von Dr. Jordan sind dem Wechsel der Zeit verfallen, und andere Organe woll¬
ten sich nicht so leicht gründen lassen; endlich gelang es den Mitteln und Personen der
Neichstagsrechtcn die Concession zur Herausgabe dieser Union unter den Fittigen eines
geistlichen Herrn, !)>'. Santana, katholischer Priester, zu erlangen. Ohne Rückhalt
begrüßen wir das Organ als einen Kämpfer im Gebiete des Geistes; wir wünschen
ihm Kraft, Muth, Ausdauer, Talente und freies Gebahren, damit es seine Ueberzeu¬
gungen, seine Ansichten, seine Wünsche und Pläne offen darlegen könne. Wir verfechten
die freie Presse, nicht die gebundene, und wir ehren und begrüßen jede würdige Feder,
welcher Zunge, welchem Lande, welchem Stamme und welcher Nationalität sie immer
angeholt. Aber frei muß die Presse athmen können — — der Minister Bach hat
jedoch so eben die Unterdrückung des Journals; die „Presse," welche vom Militärgou-
vcrncur excauirt wurde, gebilligt, denn sie hatte die Unverschämtheit, etwas liberal zu
schreiben, ein wenig Oppositiönchen z» machen und das Ministerium an Erfüllung seiner
gegebenen Versprechen und gegengezeichneten kaiserlichen Zusagen zu mahnen. Der
Präger Anbeter Bach's wird vielleicht nicht allzulange gleiche freisinnige Maßregeln
bei der von ihm unterstützten Presse in Erfahrung bringen!
In einem Blatte dieser „Union" tritt ein Partisan für den Verehrer Bach's in
den „Grenzboten" in die Schranken. Wir siud gar nicht darüber erstaunt, Saul unter
den Propheten zu finden; dort ist sein Platz, wenn auch nicht von Anfang an! —
Da die Union kaum im Kreise der Leser dieser Blätter verbreitet ist, so kommen wir
des Nähern darauf zurück; nicht allein des Prager Politikers wegen, sondern meist zur
weitem Aufklärung, was ein Anbeter Bachs über diesen Minister spricht und urtheilt.
„Wir kennen in Brünn Persönlichkeiten, die sich bereitwillig verdingen, je nach
dem Preis." — Dies schreibt der Prager Bachvcrchrer in der Union. Ans diese Per¬
sönlichkeit, die uns auch nicht im Entferntesten trifft, antworten wir nicht; es ist ein
Pfeil, der nicht den Gegenüberstehenden verwundet. Allein der Präger Politiker sei
darüber belehrt, daß wir uns je nach dem Preis bereitwillig verdingen; z. B. um
den Preis, das Ministerin»! Schwarzenberg mitsammt Bach zu stürzen, da wir in ihm
die Entkräftung Der Monarchie und die Entwürdigung des Monarchen sehen; — oder
um den Preis, die beschworenen und verbrieften Rechte vor Eidbruch zu bewahren; —
oder um den Preis, die Souveränität des Volkes neben die Souveränität des Thrones
zu stellen, wie in schönen Sommertagen der Minister Bach sagte; — oder um den
Preis, die Gleichberechtigung aller Nationen in Oestreich thatsächlich ins Leben zu setzen,
statt unter diesem Aushängeschild die Nichtberechtigung Aller zu legalisiren! — Wir
könnten noch manchen Preis angeben, sür welchen wir uns sogar der Neichstagsrechten,
in deren Mitte sich der Verehrer Bach's befindet, verdingen.
Der Prager Politiker schreibt hierauf: „ Die Ncichstagsrcchte hat ihre persönlichen
Interessen den großen Fragen zu opfern verstanden." — Dunkel zwar, doch nicht wun¬
derbar. Daß die Ncichstagsrcchte im October aus Wien entfloh, kann nicht als Opfer
persönlicher Interessen verstanden werden; daß sie den Inflisieationcn im Stadtgraben
nicht Einhalt that, war auch kein Opfer persönlicher Interessen. Was sonst darunter
genannt ist, dünkt uns um so unerklärbarer, da die NcichStagSrechte weder Aemter
noch Würden zum Opfer zu bringen hatte, und mancher derselben sie erst zu erlangen
sich bemühte. Wir nennen nnr Einen, eine Koryphäe der NcichstagSrcchten: Jelen.
Dieser, durch die niedrigste Partciagitation zum Deputaten erwählte Mann wurde
durch die Protection der NcichstagSrechtcn Ordner des Hauses; in Kremsier, wo man
ihm den gemeinsten Schmutz sogar ans den Tribünen vorwarf, befleißigte er sich des
Spionirens, und als Lohn seiner Pvlizeithatcn wurde er NeichStagsarchivar. — Wir
wollen diesem gegenüber in Anerkennung des Neichstagspräfidentcn Strobach erwähnen,
der, obwohl er von Buch zum AppcllationSrath ernannt wurde, dennoch seiner Ueberzeu¬
gung gemäß gegen ihn und gegen das Ministerium stimmte, und dafür jetzt unbeachtet vielleicht
in einem Winkel Böhmens kcmzcllircn wird. — Die NeichStagsrcchte hat die großen
Fragen nicht verstanden, und alle Opfer, die sie etwa brachte, waren in ihrem kleinen
speziell czcchischcn Interesse!
Der Prager Diplomat schreibt ferner:'„die Angriffe gegen Bach glauben wir zu¬
rückweisen zu sollen." — Das Sollen bestreiten wir nicht, aber das Können. „Wir
halten uns an Sache und Recht," ruft Bachs Anbeter, „wir halten uns an Bachs
Programm. Dieses Programm ist ein Phänomen für Oestreich und die Zeit wird
kommen, wo es leuchten wird und erwärmen zugleich."
Der Präger Diplomat wird ein Schwärmer. Ein Ministcrprogramm wird in unse¬
ren enttäuschten Tagen für kein Phänomen mehr gehalten, es leuchtet und erwärmt
nicht, denn es ist eine Sternschnuppe. Wenn der Anbeter keinen bessern Halt hat
als Bach's Programm, so muß er sich erst leicht- und blindgläubige Seelen suchen,
die mit ihm Chorus machen vor Bach's Statue.
„Wir schöpfen aus bester Quelle die beruhigende Ueberzeugung, daß die Sage vom
Austritt Bach's aus dem Ministerium ein leeres Geschwätz sei." — Wir schöpfen nicht
aus bester Quelle, wie der Präger Politiker*); allein wir sind etwas näher dem Re¬
gierungssitze, und schöpfen aus guter Quelle. Die telegraphische Depesche der Koluschen
Zeitung, daß ein bedeutender Mcinnngszwicspalt zwischen Schwarzenberg und Bach
ausgebrochen sei und Letzterer vielleicht ausscheide, ist richtig; alle Journale der ab¬
laufenden Woche bestätigen dieses Gerücht. Allein wir ergänzen es damit, daß dieser
Meinungszwicspalt nicht von heute, sondern seit Lange datirt, und nnr die bare Un¬
möglichkeit einer Cabinetsanflosnng bei jetzigen Verhältnissen ein Vertuschen und Be¬
schwichtigen der Differenz veranlaßte. Viril»»» unitis muß das Ministerium die selbst-
gegebenc Verfassung brechen und verletzen; das ist das Band, das auch Bach im Ca-
btnethältü —
„Die Hand dieses Ministers aus dem Volke, den wir allem Schein zum
Trotze dennoch für consequent liberal halten, wird in Kurzem freier und fester wer¬
den." — Das ist ein schlechtes Plädoyer des Prager Diplomaten für seinen Angebe¬
teten. Zuerst gesteht er, daß der Schein gegen Bach ist, und dann zieht er eine Tratte
an die Zukunft, und sucht erst eine Gelegenheit, um Thaten für seine Ansicht zu er¬
langen! Auch wir halten Bach für consequent liberal, aber leider blos in seinem Zim¬
mer, unter seinen Juliner, und Nachts, wenn er allein ist; er hat aber die Konse¬
quenz seines Liberalismus in den Programmen aufgebraucht, und in seinem Bureau,
in den Ministerconscrcnzcn, in seinen bisherigen Thaten, ist der Schein gegen ihn.
Wir wollen die Ersten sein, wenn zukünftige Thaten Bach als consequent liberal zei¬
gen, das Vergangene zu vergessen und zu verschmerzen und unsere Hoffnung
ans ihn zu stützen; - - jedoch müssen diese Thaten erst abgewartet werden, und es ist
etwas voreilig vom Prager Diplomaten, imticipiuiclo das Urtheil zu fällen. Er gibt
an, sich an Sache und Recht zu hallen, und umtanzt den Altar der Sachlosigkcit und
Rechtlosigkeit!
Der Präger Diplomat verfällt wieder in einen ganz unangemessenen Ton, indem
er unsere wohlbegründete Angabe, daß Bach blos ein geduldeter Minister sei, eine
„Infamie aus Brünn" nennt; die Thatsachen, welche das schlagend widerlegen sollen,"
bleibt der Anbeter schuldig. — Solche Ausbrüche mahnen zu sehr an gewisse Schlag¬
worte der Neichstagsrechtcu im sichern Schooße der Hanna.
„Wir sind consequent und kennen die Verhältnisse." — Leicht gesagt, jedoch
schwer erwiesen. Die Rcichstagsrechte hob das Ministerium! Schwarzenberg auf den
slavischen Schild; ist sie consequent? — Daß die Rcichstagsrechte und besonders die
Czechen die Verhältnisse nicht kannten, liegt allzu offen am Tage.
Doch wir eilen zum Schlüsse. Der Präger Politiker schreibt:
„Minister Bach hat sich im Jahre l848 Ansprüche auf unsere Anerkennung er¬
worben, er wird dieselbe im Jahre l850 rechtfertigen; ihm machen wir die Wuth der
Ereignisse nicht zum speciellen Vorwurf, welche heute zwischen uns und der Sonne
constitutioneller Freiheit stehen. Die schwarze Wolke wird schwinden und Minister Bach
wird unser Vertrauen nicht zu Schanden werden lassen. Wenn dennoch--dann,
aber nur dann verzweifeln wir an Vnrgertugcnd in Oestreich."
Wuth der Ereignisse, Sonne der Freiheit, schwarze Wolke, Vertrauen, Bcrzwcif-
l„„g _ diese lyrischen Floskeln passen wenig für einen Politiker und Diplomaten.
Wir wollen mir ans die kleine Taschenspiclerci aufmerksam machen, daß der An¬
beter Bachs das Jahr 184!) unter dem Becher verschwinden ließ. Wohl hat sich 1848
Bach Ansprüche aus Anerkennung erworben und zwar vom März- bis Octobermvnat;
aber wir sind keine Sterngucker, um zu entdecken, was hinter der schwarzen Wolke für
Kometen schweben. Das Jahr 1849 hat Oestreich blutige Spitzruthenstreiche aus den
zerfleischten Rücken gelegt, und unter dem Ministerium Schwarzenberg, aus dem
man Bach nicht Herausziehen kann, ist der Kaiser und sein Volk zu Boden gesunken.
Freiheit und Recht lassen sich wieder gewinnen, aber die geschändete Sitte und die be¬
leidigte Humanität bleiben im erzenen Buche der Geschichte eingegraben, nicht zur
Ehre und nicht zum Lobe des jetzigen Cabinets!
Der Präger Politiker halte sich überzeugt, daß anch wir die Verhältnisse kennen,
daß anch wir uns an Sache und Recht halten, daß anch wir consequent sind; aber eben
deshalb sind wir entfernt davon, an Bürgertugend in Oestreich zu verzweifeln, wenn
auch das Vertrauen in Minister Bach zu Schanden wird. — IV v nimis! — Bach hat
sich, seiner besser» Ueberzeugung entgegen, durch Ehrgeiz und einen Zug zu terrorisi-
rcnder Gewalt hineinreißen lassen, und er gehört daher untrennbar zur Regierung seit
November 18-18. Das Urtheil des Präger Politikers über das Gesammtministcrium
trifft also auch Bach, und darin stimmen wir und ganz Oestreich mit ihm überein.
i^ü« «e>>t i>,;et>v8 en^ititux von Eugen Sue. Als der Constitutionel
in seinem Feuilleton den ewigen Juden eröffnete, kündigte er dem Publikum an, daß
er die literarische Thätigkeit des Herrn Tue auf längere Zeit für sich gewonnen habe,
und daß er, gegen die Sitte, in der Lage sei, von dem nächstfolgenden Roman den Ti¬
tel anzugeben: die sieben Todsünden. Dieses Vorhaben wurde zwar aufgehalten durch
„Martin das Findelkind," welches einen noch längeren Raum in Anspruch nahm, als
die beiden Tendcnzrvmane, dann durch den Proceß zwischen der Redaction und dem be¬
rühmten Feuilletonisten. Jetzt ist es soweit ausgeführt, daß wenigstens 5 Todsünden
vor nus liegen: Stolz, Neid, Zorn, Wollust und Faulheit. Die Gefräßigkeit folgt
nach. Die Tendenz dieser kleinen Novellen, die sonst in keinem Zusammenhange stehen,
ist die socialistische: nämlich nachzuweisen, wie daS Christenthum mit Unrecht in jenen
Kräften des menschlichen Gemüths, die freilich oft genug zu schlimmen Resultaten füh¬
ren, das absolut Böse gesucht habe; wie es nur nöthig sei, sie an den rechten Ort
zu stellen, um sie zum Besten der menschlichen Gesellschaft zu verwerthen. Bekanntlich
ist dieses auch das leitende Princip in Fourrier's System. Er findet z. B., daß die
Ungezogenheit, die Neigung der Gassenjungen, sich zusammenzurollen und im Dreck zu
wälzen, nur der leitenden Hand bedürfe, um sich in ein Moment der Cultur zu ver¬
wandeln. Der Gesellschaft liegt nämlich daran, daß die Straßen, die Gassen, die
Cloake u. s. w. von Zeit zu Zeit vom Schmutz gereinigt werden; da nun die meisten
Menschen für dieses Geschäft nicht die nöthige Begeisterung mitbringen dürften, und
da ohne Liebe zur Sache keine Thätigkeit gedeiht, so müsse der Staat sehr froh dar¬
über sein, der Lust dieser jungen Bürgen durch sein Bedürfniß entgegen zu kommen.
Man müsse, was sonst in der Meinung als schimpflich golden, zu einer Ehrensache ma¬
chen; die Buben in reguläre Horden abtheilen, an die Spitze einer jeden einen Chan
stellen — wahrscheinlich den schmutzigsten, — und diesem das Prädicat „Großmüthigster,"
den Ehrenplatz am Altar des Vaterlandes, und den Vortritt bei allen öffentlichen Pro-
cessionen zuerkennen. Der gute Socialist vergißt nur dabei, daß das Wesen der Ungezo¬
genheit nicht in dem Material liegt, an welchem man seinen Muthwillen ausübt, son¬
dern in der Freude am Zweckwidrigen, daß wenn man dieser Beschäftigung einen Zweck
gibt, die Freude daran augenblicklich aufhört. Es ist das derselbe Fall mit dem Ver¬
such, in das Spiel der Kinder ein Moment des öffentlichen Nutzens, wie Fourncr
es will, oder ein Moment der Erziehung zu bringen, wie es in unsern Tagen die
sogenannten Kindergärten versuchen. Mit dem Aufheben der Zwecklosigkeit, der freien
Willkür wird auch die Lust am Spiel verkümmert.
Die Methode unsers Dichters ist sehr einfach. In der Novelle z. B., die vom
Zorn handelt, findet sich ein Gcrichtsasscssor in der unangenehmen Lage, durch die Ber-
serkerwuth, die ihn von Zeit zu Zeit anwandelt, sich sehr erhebliche Verstöße gegen
die Gravität seiner amtlichen Stellung zu' Schulden kommen zu lassen. Er ohrfeigt,
wer ihn verleumdet, läßt sich auf Duelle ein, haut einen, der ihn bestechen will, auf
öffentlichem Markt ohne Barmherzigkeit durch, wirft seinen Präsidenten zum Fenster
heraus, erschreckt seine schwangere Frau durch einen plötzlichen Ausbruch seiner Hitze
so, daß sie stirbt u. s. w> Er gibt darum sein Amt aus, und wird Corsar, wo er
die Kraft seines Zornes zum Nutzen seines Vaterlandes sehr wohl anwenden kann,
lind zum Ueberfluß ergibt sich, daß er trotz seines wilden Wesens an l'um? ein braver
Mann ist. Dagegen läßt sich nichts einwenden. Schlimmer ist eS aber, wenn „die
Wollust" als ein Hebel der guten Sache benutzt wird. Eine Fran, deren Schönheit und
Eoquetteric so unwiderstehlich ist, daß ihr Alles zu Füßen liegt, benutzt diese Gabe,
um den Guten zu belohnen und den Bösen zu bestraft». Ein alter östreichischer, streng
militärisch erzogener Erzherzog, wird durch diese Zauberin in einer Viertelstunde so
umgewandelt, daß er für die italienischen Insurgenten Amnestie ertheilt, die Einwilli¬
gung zu der Heirath seines Sohnes mit einer Bürgerlichen gibt u. s. w.; ein grau¬
samer Wucherer zittert unter den Strahlen ihrer Blicke so fieberhaft, daß er so viel
Quittungen ausstellt, als sie nur fordert, und daß ihn doch der Schlag rührt. Abge¬
sehen davon, daß es höchst unkünstlerisch ist, eine Magie anzuwenden, die sich nicht
weiter schildern, entwickeln, begreiflich machen läßt, sondern von der man sich begnü¬
gen muß, zu sagen, sie ist da, so kommt jene Maxime, das Böse zu benutzen, doch
wohl auf den jesuitischen Grundsatz heraus: der Zweck heiligt die Mittel. Wie sehr
diese in nackter Rohheit, in abstracter Einseitigkeit und darum sehr populär ausge¬
malten Grundsätze den sittlichen Geist des Volkes corrumpiren, ergibt sich leicht, wenn
man sich die Klaffen des Publikums ansieht, denen Eugen Sue ein Evangelium ist,
«in so mehr, da er unermüdlich seine Bilder und Vorstellungen wiederholt, denn das
nämliche Experiment hat in seinen Mysterien von Paris der Großherzog Rudolf gegen
den Wucherer Ferrand angewendet, jener Halbgott, der, um nach seinem subjectiven
Ermessen die Gerechtigkeit in der Welt wieder herzustellen, das Laster und das Ver¬
brechen in Bewegung setzt.
Mehr der Euriosität wegen erwähne ich noch die Emancipation der Faulheit. Ein
junger Mann und eine junge Dame haben es als das höchste Lebensglück erkannt, sich
in einer Hangematte zu wiege», sich vou kühlen Lüften umspielen zu lassen, nicht zu
leide», Nichts zu thun und Nichts zu denken. Da aber dieser paradiesische Zustand
ein gewisses Kapital erfordert, so halten sie vier Jahre lang in der angestrengteste»
Arbeit und Entbehrung aus, bis sie sich die nöthige Summe erspart haben. Also anch
die Faulheit kann als Motiv der Thätigkeit benutzt werden. Der Einfall ist insofern
charakteristisch, als er der gewöhnlichen Betriebsamkeit französischer Epiciers entspricht,
die eine Reihe von Jahren entbehren und arbeiten, um in einem gewissen Alter sich zur
Ruhe setzen und die Süßigkeit des Nichtsthuns genießen zu können.
Bei jedem neue» Roman zeigt Eugen Sue immer mehr, daß ihm eigentlich alles
poetische Talent abgeht. Im Anfang imponirte theils die Farbe in seinen Schilderun¬
gen, theils das Ungewöhnliche seiner Combinationen. Aber sein Farbenkasten ist jetzt
verbraucht, und die Unmöglichkeit hat er so sehr überboten, daß neue Erfindungen kei¬
nen Reiz mehr haben; unsre Geschmacksnerven sind dnrch den ewigen Pfeffer abge¬
stumpft. Er müßte uns, um mich seines eigne» Bildes zu bedienen. Nadelspitzen als
Getränk vorsetzen, wenn es unsern Gaumen noch kitzeln sollte. In dem gewöhnlichen
Branntwein, den er uns vorsetzt, schmecken wir zu sehr die grobe, erdige Materie
heraus.
Indem die Grenzboten zum Schluß des Jahres ihren Freunden für das schöne
Wohlwollen danken, mit dem dieselben als Schreibende und Lesende für das Gedeihen
des Blattes thätig waren, benützen sie die letzten Zeilen dieses Jahrgangs zu einigen
geschäftlichen Bemerkungen.
Die grünen Blätter leiden gegenwärtig an der Unbequemlichkeit, in einzelnen Ge¬
genden Oestreichs verboten zu sein. Wir wissen selbst nicht genau, über welche Orte
sich dan Verbot erstreckt; anch nicht, von wem es ausgegangen ist. Ob von unserem
journalistischen Kollegen und Rival, dem Feldzeugmeister von Weiden »ut seinen mili¬
tärischen Freunden, oder von unseren Gönnern im Ministerium selbst? Wir gestehen,
dasz wir die Generalität in leisem Verdacht haben, vor Allen den alten Schelm Mel¬
den, er hat in uns einen störrigen Recensenten seines deutschen Styls beseitigen wollen.
Jedenfalls ist dies Verbot eine ungeschickte und lästige Maßregel. Es wäre unnütz,
einem Militärgouvcrnenr in Oestreich gegenüber von so veralteten Dingen, wie Preß-
sccihcit, Gesetz und Liberalität gegen die Presse zu sprechen, es bleibt uns nichts übrig,
als seiner Gewalt die unsere gegenüber zu stellen. Er hat den Säbel, wir die gute
Laune; er müht sich, uns umzubringen, wir lachen ihn aus; er ruft uns aus als ra-
dicale Ungeheuer, wir beurtheilen ihn mit dem humoristischen Wohlwollen, welches dem
freien Mann gegenüber bornirtcr Willkür und pedantischer Unwissenheit geziemt. Un¬
sern Lesern in Oestreich aber geben wir die Versicherung, daß das Verbot, so lästiges
für unsere Abonnenten sein mag, uns nicht verhindern wird die volle Wahrheit ohne
Groll, aber auch ohne Zaghaftigkeit anzusprechen und wir hoffen, daß sie mit uns
den Wunsch theilen, eS möge recht, bald für den Kaiserstaat die Zeit kommen, wo die
Grenzboten nicht mehr genöthigt find, zu schelten und zu verurtheilen.
Unsere Mitarbeiter bitten wir, ihre wöchentlichen Sendungen so einzurichten, daß
sie bis spätestens Dienstag in unseren Händen sind. Diejenigen Abonnenten, welche
aus irgend einem Grnnde über unregelmäßige Zusendung der Wochenhcfte oder gänz¬
liches Aufhören der Sendungen zu klagen haben, ersuchen wir, sich direct an uns wen¬
den zu wollen, wir werden uns bemühen, solche Uebelstände zu beseitigen.
MM" Mit dem ersten Januar beginnt der SX.
Jahrgang der Grenzboten. . Da wir dieselben nur auf festes
Verlangen abgeben, so ersuchen wir die Bestellungen vor den»
Anfang des Jahres einzusenden, damit die Stärke der Auf¬
lage danach bestimmt werden Lamm.
Man pränumerirt bei allen Buchhandlungen und Post¬
ämtern. Der jährliche Pränumerationspreis ist "IM THlr. oder
M Fi. G.-M.Dis Vsrwgshemdlmtg.