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]]>Athene Porre und die?ontssNs1usus,s. S. 348.
— LKv wilÄ Kooss. S. 163.
"
eußcrlich hat sich die politische Lage Europas und der Welt im
Jahre 1903 wenig verändert. Manche Gegensätze zwischen den
Mächten haben sich gemildert, andre verschärft, aber zu einem großen
Kriegsbrande ist es nirgends gekommen, trotz oder mich wegen
der schweren Kriegsrnstung, die heute alle Welt trägt und tragen
muß. Mehr neben als gegeneinander stehn in Europa mich heute der Drei¬
bund und der Zweibund; aber dieses Bundesverhältnis hat Italien nicht ge¬
hindert, sein altes Verhältnis zu England fortzusetzen und sich Frankreich zu
nähern, es hat Deutschland nicht gehindert, die besten Beziehungen zu Nu߬
land zu pflegen, es hat Österreich nicht abgehalten, im engsten Einvernehmen
mit dem Zarenreiche in den Wirren der Balkanhalbinsel mehr gebieterisch als
vermittelnd einzuschreiten, um der Türkei in Europa das Leben zu fristen und
ihre völlige Auflösung in halbbarbarische Kleinstaaten abzuwenden. Denn die
Erfahrung, vor allem die noch ungesühnte Belgrader Blutuacht hat eben gezeigt,
daß diese befreiten Völker, sich selbst überlassen, nnr sehr langsam zu höherer
Gesittung emporsteigen, und hat Zweifel an ihrer wirklichen Lebensfähigkeit
erweckt; der Gedanke läßt sich kaum abweisen, daß sie über kurz oder lang wieder
in einer großstaatlichen Machtbildung werden aufgehn müssen. Wären die Völker
fähig, aus der Geschichte, d. h. aus den Beispielen andrer, zu lernen, würde»
sie nicht viel mehr von Leidenschaften und Instinkten als von vernünftigen
Erwägungen beherrscht, so würden sich auch die ewig hadernden Nationalitäten
der habsburgischen Monarchie sagen müssen, daß sie, wenn sie ihre einseitigen
nationalistischen Bestrebttttgen so weiter verfolgen wie bisher, eine alte ange¬
sehene 'Großmacht in eine Anzahl ohnmächtiger Mittel- und Kleinstaaten auflösen
müssen, die ihren Hader fortsetzen und in der großen Politik nicht mehr be¬
deuten würden, als heute Serbien und Bulgarien. Auch ein selbständiges
Ungarn, dessen herrschender magyarischer Stamm noch nicht einmal die Hälfte
der Gesamtbevölkerung des Königreichs ausmacht und von den andern Stämmen
zum Teil grimmig gehaßt wird, würde nichts sein als ein starker Mittelstaat
und sich, eingekeilt zwischen Deutschen, Slawen und Rumänen, schwerlich lange
behaupten können. Gewiß ist die politische Selbständigkeit erst die Vollendung
einer nationalen Entwicklung; aber da der Staat Macht ist, so sind heute nnr
noch große Völker fähig, selbständige Staaten zu bilden, die kleinen müssen
darauf verzichten nud sich unter möglichster Währung ihrer nationalen Art
größern Gebilden anschließen. Die Zeit, wo Völkchen von wenig Millionen
Großmächte waren, ist eben schon seit mehr als zwei Jahrhunderten vorüber;
seitdem werden die politischen Geschicke Europas von fünf oder sechs Gro߬
staaten bestimmt, und die Geschicke der Welt von den Weltmächten. Gegen
den gewaltigen Druck dieser Strömungen anzukämpfen, ist Verlorne Arbeit.
Wenn sich aber in Europa die Gegensätze unzweifelhaft gemildert haben,
so kommt das nicht zum wenigsten daher, daß sich hier seit dreißig Jahren
die Machtverhältnisse konsolidiert haben, und daß die aktivsten, stärksten Gro߬
mächte nicht mehr ausschließlich europäisch sind, sondern daß ihre Interessen
auch außerhalb Europas liegen und dort schärfer zusammenstoßen als in
Europa. Frankreich hat von einer ülteru Grundlage aus nicht nur beinahe
die ganze Westhülfte der Nordküste Afrikas unterworfen und in Biscrta ein
neues Karthago geschaffen, sondern auch den größten Teil des Innern von
Nordwestafrika bemeistert und mit der Erwerbung von Madagaskar nach
dem Indischen Ozean hinübergegriffen. Die britische Weltmacht ist über die
ganze Erde verteilt und strebt danach, ihre Teile wirtschaftlich und politisch
irgendwie fester zusammenzuschließen, obwohl der bedeutendste Träger dieses
Imperialismus, Chamberlain, augenblicklich der ältern, freihändlerischen Tra¬
dition hat weichen müssen. Rußlands Schwerpunkt liegt seit Alexander dem
Dritten durchaus in Asien; mit dem ihm eignen Nachdruck strebt es danach,
Persien zu umklammern und zur Schutzmacht Chinas zu werden; es hat ihm
die Mandschurei entwunden, es hat sich eine mächtige Stellung am Großen
Ozean geschaffen, es ringt mit Japan um Koren so hartnäckig, daß ein kriege¬
rischer Zusammenstoß hier nicht mehr außer dem Bereiche der Möglichkeit liegt,
es trifft in Ostasien, in Tibet, am Persischen Golf auf die englische Inter¬
essensphäre. Und von Osten her greift die nordamerikanische Union über den
Großen Ozean hinweg immer nachdrücklicher in die ostasiatischen Dinge ein;
sie hat ihre Position auf den Philippinen genommen, sie ist drauf und truü,
sich mit dem Pauamcckanal einen abgekürzten und von ihr völlig beherrschten
Schiffahrtsweg zwischen den beiden Weltmeeren zu schaffen, indem sie zugleich
Mittelamerika politisch und wirtschaftlich immer mehr umspannt; sie wird der¬
einst in den wirtschaftlichen Wettbewerb in Ostasien, dem sie um die Hülste
des Weges näher liegt als Europa, mit ganzer Kraft eingreifen und dabei
die unerschöpflichen Mittel eines ungeheuern Landes, die ganze Leistungs¬
fähigkeit einer intelligenten und energischen Rasse mit vollem Nachdruck
einsetzen. Vielleicht steigt da gar eine neue, eine pazifische Periode der Welt¬
geschichte herauf.
Schon dieser kurze Überblick wird darüber belehren, wie entscheidend
es für unsre eigne nationale Zukunft ist, daß Deutschland noch in zwölfter
Stunde in die Reihe der Kolonialmächte, also der Weltmächte eingetreten ist,
und daß an der Spitze der Nation ein Kaiser steht, der, nicht mehr befangen
in den Schranken kontinentaler Politik, weiten Blicks die ganze Welt über¬
schaut, der erste deutsche Kaiser, der ein Seemann ist. Wo wir vollends heute
stelln würden ohne 1800 und 1870, das ist gar nicht auszudeuten, »ut das
mögen sich alle die Nörgler einmal überlegen, die an unserm Reiche noch immer
allerlei auszusetzen haben und noch immer meinen, wir könnten uus mit sorg¬
fältigster Wahrung jeder berechtigten und unberechtigten Eigentümlichkeit in
aller Behaglichkeit so einrichten, als wenn wir auf einer Insel mitten im
Großen Ozean lebten und nicht mitten in Europa zwischen drei Großmächten
als unmittelbaren Grenznachbarn und einer vierten, die nur durch eine kurze
Meeresstrecke von uns getrennt ist und binnen vierundzwanzig Stunden eine
mächtige Kriegsflotte an unsre Küsten senden kann. So aber haben wir in
Afrika an vier Stellen, an der Küste des Atlantischen wie des Indischen Ozeans,
weite Landstriche besetzt, wir sind in der Südsee angesiedelt, wir haben noch
rechtzeitig Tsingtau und Samoa genommen und damit feste Stützpunkte für
die bevorstehenden Kämpfe in der pazifischen Welt, mir suchen unsern Einfluß
auch in der Türkei auszudehnen, die vor dem Zerfalle zu schützen eines unsrer
wichtigsten Interessen ist. Nicht darauf, was diese Schutzgebiete für uns heute
bedeuten, geschweige deun, was sie uns etwa bar einbringen oder kosten, kommt
es an, sondern darauf, was sie uns für die Zukunft bedeuten. Freilich, sie
genügen noch lange nicht unserm Bedürfnis; wir brauchen noch eine Anzahl
Kohlenstationen für unsre Flotte, Siedlungsgebiete für unsre mit unheimlicher
Schnelligkeit wachsende Bevölkerung, wenn nicht unter eigner, so doch unter
fremder Staatshoheit, und es kann gar nicht die Rede davon sein, daß wir
den Schicksalen Südamerikas, dessen heutige Staatenbildungen mit wenig Aus¬
nahmen nicht die Gewähr der Dauer in sich tragen, gleichgiltig zusehen dürften.
Aber für eine deutsche Kolonialpolitik in großem Stile ist der Reichstag
wesentlich nur ein Hemmschuh, und weder das deutsche Kapital, das sich
krümcrhaft von großen überseeischen Unternehmungen ans eignem Boden zurück¬
hält, noch der größte Teil unsrer Tagespresse, die sich bei jeder Gelegenheit
beeilt, zu versichern, daß wir weder im Mittelmeer „politische" Interessen
hätten, noch daß wir nur im entferntesten daran dächten, irgendwo zuzugreifen,
ist geeignet, unserm Ncichsschiff die Segel nach fernen Zielen zu füllen. Und
doch zeigt die Wichtigkeit, die für uns die Erneuerung der Handelsverträge
hat, daß unsre Grenzen uns viel zu eng geworden sind, da wir ohne fort¬
gesetzte steigende Ausfuhr vor allem unsrer Jndustrieprodukte gar nicht mehr
leben können und also von dem guten Willen unsrer Absatzlünder viel mehr
abhängen, als sich mit unsrer Würde und unserm Interesse vertrüge. Die
ganze Nation muß sich mehr und mehr mit dem Bewußtsein durchdringen, daß
die Expansionspolitik mit kriegerischen und friedlichen Mitteln ebenso in unserm
Lebensinteresse liegt, wie früher die Begründung der Einheit, was in England
und in Nordamerika längst die nationale Überzeugung ist. die die auswärtige
Politik des Staates trügt, daß wir ohne eine solche Politik verkümmern
müssen, daß sie auch den wichtigsten Beitrag zur Lösung der sozialen Frage
bringe« wird.
Der Kern der sozialen Frage aber liegt bei uns in Deutschland gar nicht
darin, ob wir imstande sind, den handarbeitenden Klassen der Bevölkerung,
die heute größtenteils in den fanatischen Agitatoren der sozialdemokratischen
Partei ihre Vertreter sehen, günstigere Lebensbedingungen zu verschaffe»,
sondern darin, ob es dadurch gelingen wird, diese drei Millionen Wähler,
die jetzt 31 Abgeordnete in den Reichstag entsandt haben, wo sie nur als
totes Gewicht oder als Störenfriede wirken, dein nationalen Gedanken, dem
Reiche, der Monarchie zurückzugewinnen, und stellt man die Frage so, dann
ist es klar, daß sie unter alleu Umständen gelöst werden muß, weil es die
Nation auf die Dauer nicht ertragen kann, daß ein so großer Teil des Volks
ihrer gegenwärtigen, historisch gewordnen Ordnung wenigstens theoretisch in
abgesagter Feindschaft gegenübersteht. Diese Stellung ist an sich um so merk¬
würdiger, als kein Stand von der Begründung des Deutschen Reichs, an die ja
die gewaltige Entwicklung der deutscheu Industrie unmittelbar anknüpft, größere
Vorteile gezogen hat als der Arbeiterstand, und keiner in höherm Maße als
er an der Sicherung und Erweiterung der Absatzmärkte, d. h. an der Welt¬
politik interessiert ist. Und doch bekämpfen die Sozialdemokraten, die „ewig
Blinden," aufs hartnäckigste jede Förderung dieser ihrer eignen Sache. Der
Grund dieser Erscheinung liegt wahrhaftig nicht in unsern sozialen Verhält¬
nissen, da doch kein Staat in sozialer Fürsorge dem Deutschen Reiche auch
nur nahe kommt, er liegt in der Verengerung unsrer materiellen Lebens-
bedingungen, seitdem der Boden unsers mit natürlichen Gaben nur mäßig aus¬
gestatteten Landes uns zu eng geworden ist, und alle Berufe mit alleiniger
Ausnahme des ursprünglichsten und mühsamsten, des landwirtschaftlichen, über¬
füllt sind; er liegt in der Schwäche unsers Nationalbewußtseins, der Folge
von Jahrhunderten der Kleinstaaterei und innerer Kämpfe, in der Empfäng¬
lichkeit unsers Volkscharakters auch für den abgeschmacktesten Doktrinarismus,
der früher schon auf kirchlichem Gebiete die ärgsten Verwüstungen angerichtet
hat, und in der Untergrabung des religiösen Bewußtseins durch eine zunächst
im liberalen Bürgertum weitverbreitete Weltanschauung, die, sobald sie in die
mehr oder weniger urteilsloseu Massen hinabsickerte, diesen notwendigerweise
den Gedanken erzeugen mußte, deu Himmel, an dessen Stelle man das reine
Nichts setzte, schon ans Erden herzustellen. Nur auf solchem Boden konnte
eine Lehre Millionen von gläubige» Anhänger» gewinnen, die die zehnfach
von der Erfahrung widerlegte Möglichkeit einer dauerhaften koimuunistisch-
sozialistischen Ordnung predigt, die von der Herrschaft des Proletariats, also
der ungebildeten Masse träumt, die zwar, allerdings nur durch den stärkstell
Terrorismus, die Massen in erstaunlicher Weise diszipliniert hat, so wie sich
selbständig denkende Menschen niemals disziplinieren lassen, aber auch durch
Lüge und Verleumdung alle ihre schlechten, rohen Instinkte planmüßig, he-
stüudig aufreizt, Haß, Neid, Unduldsamkeit, Herrschsucht und mit solchen Mittel»
eine ideale Ordnung aufrichten zu können meint, als wenn nicht alle dauernden
Schöpfungen auf Hingebung und Selbstbeherrschung, d. h. auf den edeln Seiten
der Menschennatur beruht hätten und beruhten. Seitdem der Dresdner Partei¬
tag jene Eigenschaften gerade unter den Führern der Partei vor den Augen
der staunenden Welt offen enthüllt hat, wird sich jeder vernünftige Mensch
sagen: eine Partei, die von solchen Leuten geführt wird, die mit solche» rohen
Mitteln arbeitet, ist ungefährlich, sie kann niemals etwas dauerndes schaffen;
auf den Wahltriumph der Sozialdemokratie ist unmittelbar ihr sittlicher Bciukerott
gefolgt.
Uuter dein Eindrucke dieser Tatsache stand der Reichskanzler bei seinen
drei großen Reden gegen die Sozialdemokratie, die sein Programm enthielten:
nachdrückliche Behauptung der öffentlichen Ordnung gegen jede Friedensstörung,
aber „keine nervöse Gesetzmacherei," also kein neues Ausnahmegesetz, für das
im Reichstage ohnehin keine Mehrheit zu finden wäre, Sammlung aller ans
dem Boden der heutigen Ordnung stehenden Parteien, besonnene Fortführung
der Sozialreform in den Grenzen der vernünftigen Möglichkeit, eine verbesserte
Rechtsstellung der Arbeiter eingeschlossen. Es ist ein langer, mühseliger, viel
Geduld und Vorsicht fordernder Weg, aber er ist der einzig gangbare Weg,
der zum sozialen Frieden und zu der innerlichen nationalen Einheit führt.
Im Verhältnis zu diesen beiden großen unter sich eng zusammenhängenden
Fragen, der Weltpolitik und der Überwindung der Sozialdemokratie, tritt alles
andre zurück. Es ist wirklich ziemlich gleichgiltig, wie lange die anachronistische
bayrische Postmarke noch fortbesteht, oder in welchen Formen und wann sich
der doch unvermeidliche engere Zusammenschluß der deutschen Eisenbahnen,
gegen den sich gar nicht das wirkliche Interesse, sondern nur auachrouistische
Souveränitütsbedenken sträuben, vollziehn wird; in allen wichtigen Fragen
halten „die verbündeten Regierungen" doch tren zusammen, und die Leitung
der auswärtigen Politik wie unsrer Wehrmacht liegt Gott sei Dank in einer
Hand, und in einer starken Hand. Das Wichtigste nächst jenen beiden An¬
gelegenheiten wäre es, wenn die konfessionellen Gegensätze bei uns mehr und
mehr zurückgedrängt würden aus der einflußreichen, ja beherrschenden Stellung,
die sie seit einigen Jahrzehnten, namentlich seit dem Kulturkampfe, leider in
unserm nationalen Leben einnehmen. Dazu gehört vor allem, daß die An¬
gehörigen beider Konfessionen die Berechtigung der andern ehrlich und rück¬
haltlos anerkennen. Sie sind eben beide historisch geworden, jede von ihnen
beruht auf einem eigentümlichen Kirchenbegriff, und jede hat ihre besondern
Vorzüge, die der andern fehlen, in jeder kommt eine bleibende Richtung mensch¬
licher Geistesentwicklung zum Ausdruck, in der einen der gebundne Seelen-
zustand, der vor allem das Bedürfnis nach einer starken Autorität empfindet,
in der andern der Individualismus, dem die Freiheit der Persönlichkeit und
der persönlichen Überzeugung das Höchste ist. Weil sich beide Strömungen
in einer und derselben Kirchengemeinschaft nicht mehr vertrugen, deshalb hat
die zweite neue. selbständige Kirchen gebildet. Die Alleinherrschaft der ersten
auf Erden würde jede geistige Freiheit zerstören, die Alleinherrschaft der zweiten
würde schließlich jede Kirchenbildnng unmöglich machen.
Diese Berechtigung beider Kirchen anzuerkennen fällt den Katholiken schwer,
weil sie die ältere' und die mächtigere Kirche bilden, den Protestanten, weil
sie sich unwillkürlich als die fortgeschrittnere Gemeinschaft fühlen, ungefähr
wie Republikaner leicht dazu neigen, in der Monarchie eine rückständige Staats¬
form zu sehen, ohne zu beachten, daß sich eines nicht für alle schickt. Eine
absolut vollkommene Kirche gibt es so wenig wie eine absolut vollkommene
Swatsform. Deshalb sind die plumpen Ausfälle gegen die andre Kirche, in
denen leider nicht nnr einzelne Schriftsteller, wie uns katholischer Seite der
immer bäurisch grobe Tiroler Denifle mit seinein unverantwortlich törichten
Buche über Luther, sondern auch ein guter Teil unsrer Presse, darunter solche
Blätter, die in der katholischen Kirche die Kirche schlechtweg bekämpfen und
jedes innerlichen kirchlichen Interesses bar sind, nicht müde werden, unbedingt
verwerflich und schädlich. Verwerflich ist ebenso das Bestreben, das kirchliche
Ideal des Ultramontanismus ohne jede Rücksicht auf nationale Interessen
durchzusetzen, wie das entgegengesetzte, von unsrer Reichsregierung eine kon¬
fessionell protestantische Politik zu verlangen und unsern katholischen Mit¬
bürgern natürliche Rechte zu verweigern.
Indem der deutsch-evangelische Kirchenausschuß, der sich im Juni vorigen
Jahres zu Eisenach konstituiert hat und am 10. November zum erstenmal in
Dresden zusammengetreten ist, die Protestanten lehrt, über die engen Grenzen
ihrer partikulare» Landeskirchen hinauszusehen und sich wirklich als ein Ganzes
zu fühlen, statt Verschiedenheiten des „Bekcnntnisstcmdes" hervorzukehren, um
die sich nur noch kleine Minderheiten bekümmern, indem er es sich zur Auf¬
gabe macht, gemeinsame Interessen zu fördern und unter Umstünden un¬
berechtigte Angriffe abzuwehren, wird er auch den Katholiken Respekt ein¬
flößen, mehr Respekt, als es einige Dutzend einzelner Konsistorien vermöchten
und vermochten. Das aber wird dem konfessionellen Frieden ebensosehr
dienen, wie auf der andern Seite eine oberste Kirchenleitung, die in den Händen
eines Papstes, wie Pius der Zehnte zu sein scheint, ruht, einer Kirchen¬
leitung, die ihre Aufgabe in der Förderung des sittlich-religiösen Lebens, wenn
auch in dem umfassenden Sinne der römischen Kirche sieht, nicht in der Aus¬
übung politischen Einflusses oder gar in der Wiederaufrichtung des Kirchen¬
staats. Die Natur der Dinge, drangt die Kurie dazu, eine Anlehnung an
Deutschland zu suchen, denn mit Italien lebt sie wenigstens in prinzipieller
Feindschaft, Spanien hat aufgehört, eine Macht zu sein, und in Frankreich
herrscht eine atheistische Regierung, die jedem Kirchentum feindselig ist, ohne
dem, was sie bekämpft, auch uur den Schatten einer höhern Idee entgegen-
zusetzen, das alte Österreich aber kracht in allen Fugen, und seine nichtdeutschen
Volksstümme verwandeln ihren katholischen Klerus in ein Werkzeug ihres
nationalen Fanatismus, der doch nirgends das letzte Wort behalten darf.
Die katholischen Deutschen aber streben jetzt ehrlich danach, die Liebe zum
Gesamtvaterlande mit der Anhänglichkeit an Rom zu vereinigen, das nun ein¬
mal nach seiner ganzen Tradition über den Nationen steht und stehen will.
Liberale Blätter pflegen sofort ein lautes Geschrei zu erheben, wenn
ernste protestantische Männer, die ihrer Kirche nicht nur äußerlich angehören,
daran denken, mit dem 1"^ Zentrum in wichtigen Fragen zusammenzugehn.
Aber ist der katholische Kirchenbegriff, den kein moderner Staat vollständig
annehmen kann, der deshalb auch nirgends ganz verwirklicht ist, in der Tat
derart, daß er ein solches Zusammengehn unter voller Wahrung des beider¬
seitigen kirchlichen Standpunkts verböte? Haben die wirklichen Angehörigen beider
Kirchen nicht doch sehr viele gemeinsame Interessen und nicht gemeinsame,
beiden gleich gefährliche Feinde? Ist die Sozialdemokratie, deren Sieg alle
Kultur niederschlagen, die Welt in ein großes Zuchthaus verwandeln und
einen brutalen Massendespotismus begründen würde, nicht ein weit schlimmerer
Gegner unsrer Gesittung, als der doch auf einer breiten und alten Kultur-
grundlage beruhende Ultramontanismus, dessen politische Konsequenzen abzu¬
wehren Sache jeder Staatsgewalt ist, und der doch die Protestanten niemals
unterwerfen, also die geistige Freiheit, die sie vertreten, niemals vernichten,
sondern sie nur innerhalb der römischen Kirche zu deren eignem Schaden ein¬
schränken könnte?
Neben der zunehmenden Verrohung namentlich der großstädtischen Massen,
die größtenteils auf Rechnung der sozialdemokratischen Verhetzung und ihrer
Planmäßigen Zerstörung der einfachsten Tugenden, der Sparsamkeit, der Be¬
scheidenheit, der Ehrfurcht kommt, steht doch auch die flache Genußsucht und
die sittliche Lauheit in weiten Schichten der Gebildeten, unter denen die un¬
selige Lehre Nietzsches von der Herrenmoral schon arge Vcrwjistungeu an¬
gerichtet hat. Das alles steht wieder im engsten Zusammenhange mit der zu¬
nehmenden Brutalisierung unsrer Gesamtkultur. Die ungeheure Entwicklung
unsrer Technik, die den Raum und die Naturkräfte immer mehr beherrschen
lernt, hat die Fähigkeiten und die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Produktion
und damit die Arbeitsgelegenheit wie die Arbeitsteilung ins Unendliche ge¬
steigert, dem einzelnen Arbeiter aber auch die Freude, ein Ganzes herzustellen,
den sittlichen Charakter der Arbeit, also ihren Adel, genommen oder verkümmert
und zugleich, begünstigt durch die lange Friedenszeit, in den Industrieländern
eine rapide Volksvermehrung befördert, die vielleicht am auffallendsten in
Deutschland hervortritt. Wenn die Volkszahl im Deutschen Reich im Jahre
1870 noch nicht 40 Millionen betrug, jetzt aber über 58 Millionen beträgt,
sich also in wenig mehr als drei Jahrzehnten beinahe um die Hälfte vermehrt
hat, so ergibt sich daraus ohne weiteres, trotz aller Steigerung der Produktion
und der Ausfuhr, die Verengerung des Nahrungsspielraums für den einzelnen,
also auch eine härtere, schroffere, rücksichtslosere, die Kräfte aufs äußerste an¬
spannende Form des Kampfes ums Dasein. Daher die nervöse Hast und
Unruhe des modernen Lebens namentlich in den Großstädten, die zunehmende
Vergrößerung des Abstandes zwischen diesem Leben und der Natur, die auch
räumlich den Durchschnittsgroßstüdtern trotz Straßenbahnen und Fahrrädern
immer ferner rückt, da innerhalb der Städte das erfrischende Grün immer
mehr wirklichen Bedürfnissen und der Bauspekulation weichen muß, daher das
Zurücktreten der geistigen Interessen hinter den materiellen, des Interesses an
der Vergangenheit hinter dem sich unmittelbar aufdrängenden an der Gegenwart.
Auch in gebildeten Kreisen finden wenig Männer mehr Zeit, ein gutes Buch
behaglich zu lesen, und leider fehlt vielen vor lauter wirklichen oder einge¬
bildeten Verpflichtungen, vor allem einer anspruchsvollen, leeren und schwer¬
fälligen Geselligkeit, sogar die Zeit, ihre Kinder selbst zu erziehen oder sich
um sie auch nur ernsthaft zu kümmern. Über der Sorge um die Erhaltung
des Lebens vergißt man den Zweck des Lebens, und mit der Freude am
eignen Leben verschwindet auch die Freude am eignen Volkstum, das gerade
bei uns in Deutschland so manche abstoßende Züge aufweist und von seineu
alten Eigenschaften mehr die schlechten, die Nörgelsucht und die doktrinäre
Rechthaberei, als die guten, oft gerühmten, Treue, Ehrlichkeit, Bescheidenheit
zu bewahren droht. Auch die Kunst der „Modernen" ist wenig geeignet, über
das Grau der Alltäglichkeit emporzuheben, dem, sie will das ja gar nicht
mehr, sie versinkt selbst in dieses Grau, und das läuft schließlich doch im
großen und ganze», trotz alles Selbstlobes, auf eine Barbarisicrung des
Geschmacks hinaus.
Haben die, denen es Ernst ist mit dem Adel unsers Volkstums und
unsrer Kultur, weil sie an einen höhern Zweck des Lebens glauben, heute
wirklich nichts Besseres zu tun, als den kirchlichen Zwiespalt uoch weiter auf¬
zureißen und die Gegenpartei zu verketzern? Es wäre doch wahrhaftig ihr
gemeinsames Interesse, der zunehmenden Brutalisieruug und Materialisierung
unsrer Kultur nach Kräften entgegenzuarbeiten. Wir müssen wieder zurück
zu dem Standpunkte der Aufklärungszeit, also unsrer klassischen Literatur, nnr
nicht ini Sinne der Gleichgültigkeit gegen die Konfessionen, sondern in dem
Sinne eines vertieften historischen Verständnisses ihrer Entstehung und ihrer
innern Berechtigung, und dazu sind eben wir Deutschen als das einzige pari¬
>icht als ob das zweierlei Art wäre. Das deutsche Offizierkorps
ist ein Teil, ja ein integrierender und erlesener Teil unsers
Volkes, ist von seinem Fleisch und Blut, es ist durch die Jahr¬
hunderte hindurch unser Kleinod, unser Stolz gewesen. Vom
I alten Derfflinger bis zu Moltke und Goeben, welche lange Reihe
der berühmtesten und populärsten Namen! Auch dem gewöhnlichen Manne, der
von den Größen der Wissenschaft, der Dichtung und der Kunst nichts wußte
und nichts weiß, ist jener Namen lange Kette geläufig: die Derfflinger, Zielen
und Seydlitz, Schill und Scharnhorst, Blücher und Gneisenau, Uort und
Bülow; viele viele andre vor ihnen, mit ihnen und nach ihnen. Der alte
Wrangel, der noch heute, ein Menschenalter nach seinein Tode, in unzähligen
Anekdoten im Volksmunde lebt als ein mutiger, entschlossener, charaktervoller
Führer; hinter ihm die ruhmvollen Generale Kaiser Wilhelms, deren Namen
durch Europa geklungen sind: außer Moltke und Blumenthal die Goeben,
Falckenstein, Frcmsecky und Steinmetz, der tapfere Kirchbach, der schweigsame
Held von Mars la Tour Konstantin Alvensleben, Voigts-Rheetz, Manstein,
Edwin Manteuffel, Roon, Bose, Gersdorff, Schachtmeyer und noch so mancher,
von den Süddeutschen Hartmann und von der Tann. Fast alle diese Männer
und viele hier ungenannte siud aus den bescheidensten Anfängen hervorgegangen,
in langer Friedenszeit sehr langsam aufwärts gestiegen. Von den im Felde
kommandierender Generalen des Siebziger Krieges reichten nur die Erinnerungen
von Steinmetz und dem Bayern Hartmann in die Zeit der Befreiungskriege
zurück. Als das deutsche Heer vor Paris stand, war der König der einzige,
der noch das Eiserne Kreuz von 1313 trug. Weder „der lange Friedens¬
dienst" noch „die kleinen Garnisonen" — viel große Garnisonen gab es im alten
Preußen überhaupt nicht, aber recht viel kleine, die mit einem Bataillon oder ein
l'is zwei Schwadronen belegt waren — hatten jene Münner unfähig für eine
glorreiche Truppenführung oder für einen strapazenvollen Feldzug gemacht.
Obgleich verhältnismäßig viel zahlreicher als in unsern Tagen aus dem
Kadettenkorps hervorgegangen, überwiegend in den knappsten Verhältnissen
lebend, in kleine und kleinste Garnisonen untergetaucht, hat das preußische
Offizierkorps in der langen Friedensperivde von 1815 bis 1848 eine große
Schar hoch charaktervoller Männer in seinen Reihen gezählt. Sie waren es,
die in den Stürmen des Jahres 1848 das Rückgrat des Heeres nicht nur,
sondern des Staats bildeten, leuchtende Vorbilder im schlichten Heldentum,
treue Diener der Religion der Pflicht. Nur mit solchen Offizieren war es
möglich, die Berliner Garnison am Morgen des 19. Mürz dem entehrenden
Rückzug ohne die Gefahr der tiefsten Erschütterung auszusetzen, den treuen
Truppen das schwerste Opfer der Pflicht zuzumuten.
An diese Münner dachte Bismarck, als er damals an Kleist-Retzow schrieb,
ein couragierter Leutnant und ein tüchtiger Tambour seien ausreichend, den
ganzen preußischen Staat wieder in Ordnung zu bringen; aus ihrem Munde
sprach Wrangel, als er sich im November 1848 zum Einmarsch in Berlin
anschickte, und bei der Abmeldung auf Sanssouci die Königin Elisabeth ihn
mit tränenreichen Bitten beschwor, kein Blut zu vergießen: „Halten Eure
Majestät mir den König nur stramm, das andre wollen wir schon machen."
Die jungen Offiziere jener Zeit sind dann die Generale und Stabsoffiziere
unsrer Einigungskämpfe gewesen, ebenso wie die jüngern Offiziere von 1806
die Führer in den Befreiungskriegen waren.
Der Siebziger Krieg war in seinen großen Schlachten wie in vielen kleinern
Kämpfen reich an Momenten, die den ganzen Mann forderten. Da hat es
unsern wackern Soldaten niemals an dem ruhmvollen Beispiel der Führer
— vom General bis zum Hauptmann und Leutnant — gefehlt, die in todes¬
mutiger Hingebung auf dem blutigen Ehrenpfade voranschritten. Schon nach dem
16. August mußte ein königlicher Befehl den Offizieren untersagen, sich nicht
nutzlos auszusetzen, den berittenen Offizieren der Infanterie auftragen, in der-
Feuerlinie abzusitzen. Dennoch haben sich gar manche wackere Männer ge¬
weigert, dieser Vorsichtsmaßregel zu gehorchen, und nur zu viele haben den
ritterlichen Ungehorsam durch eine feindliche Kugel gebüßt. Ju einem Kriege,
der heute ausbräche, würde die Leitung zum wesentlichen Teil in deu Händen
^- )",",Sen Offiziere von 1870 liegen, darum ist es, zumal bei der rastlosen
Grad > ^' ^ ^ Armee in diesen: Menschen alt er entfaltet hat. wirklich in hohem
wirre ^"""^h' daß Zweifel an ihrer Tüchtigkeit einen solchen Umfang zu ge-
diehen"^/""^ haben, daß Tendcnzromane und Tendenzbühnenstückc, die sich mit
!"^^fer, einen so großen Absatz und Zulauf haben erreichen können.
Gren'^Man Jahr einen häßlichen Übertrag in das
neue herübergenommen. Das Buch „Jena oder Sedan?" mit seiner wenn
auch wider den Willen des Verfassers stark zersetzenden ^ Tendenz hat oren^
bar den Leutnant Bilsc aus deu Gedanken, gebracht,, sein. vervierfliches Anich
zu.schreiben, das uus dann den unseligen Forbycher Prozeß beschert hat. ^
Die Bedeutung dieses Prozesses bestand darin, daß er nicht uur eiueir Ein-:
zelnen, sondern ein ganzes Offizierkorps an den Pranger stellte, obendrein:
in dem lothringischen Armeekorps, dessen Führung ein so rastloser, entschlossener.,,
und-^.wachsamer, Kommandier wie General von Haeseler erst kurz - zuvor ab¬
gegeben hatten Bei der Stellung,"die- in Deutschland, dem Mutterlande-der,'
allgemeinen Wehrpflicht, das- Offizierkorps einnimmt, hatte der Prozeß selbst-'
verständlich die allgemeine Anfmerksautkeit in hohem Grade gefesselt. Es war
Wasser auf die Mühlen aller subversiven Tendenzen. Was in dem Buche
„Jena oder Sedan" mißerfnudeu zu sein schien — hier war es greifbare
Wirklichkeit, koar das Unglaubliche Ereignis getvordcn. Der Vorgang wirkte/mit
der peinlichsten Überraschung, und dieser muß es zugute gehalten werde«, wenn, ,
die Frage vou allen Seiten auftauchte: Wie viele solcher „kleinen Garnisonen"
haben wir außerdem noch ii, Deutschland? lind lvie steht es in den „großen"?,?
In den breiten Schichten, die ohne Nachdenken die Sensation ans sich wirken,
lassen, tritt in solchen Fällen -die Neigung zum Generalisiereu ohne weiteres
hervor, eine Neigung, der durch unsre Witz- art Karikatureublätter in der.
bedauerlichsten Weise Vorschub geleistet wird. Einige von ihnen leben seit
Jahren von der Offizierskarikatur. Man konnte das anfangs belächeln, aber
die fast ailsschließliche Beschränkung, auf diesem einen Gegenstand bedeutet doch
die bewußte Tendenz der Verspottung und Diskreditierung des Ofsizierstandes. „ .
> Es kommt hier ein öffentliches Interesse in Frage, sowohl das der Dis¬
ziplin wie das des Offizierersatzes. Dieser ist heute ohnehin qualitativ wie
quantitativ nicht mehr ausreichend, eine von Jahr zu Jahr zunehmende Zahl
etatsmäßiger Leutnantsstelleu bleibt unbesetzt. Die Ansprüche an die dienstlichen
Leistungen des Offiziers sind im letzten Jahrzehnt enorm gewachsen, und ebenso
sind die an die Mannschaften unendlich höher, und der Offizier ist es, der für
die Erreichung dieser.Ziele- einzustehn hat. Dabei ist das Mannschaftsmaterial
in vieler Beziehung anders geworden. Der kräftigere, gesundere Menschenschlag,
den die Landbevölkerung stellt, geht in der Zahl mehr und mehr zurück, um
so zahlreicher wird dagegen das aus der städtischen und der Fabrikbevölkerung
hervorgegangne Nekrntenmaterial, das ja im Durchschnitt intelligenter sein mag,
aber ganz abgesehen von der sozialdemokratischen Verhetzung auch nervöser,
verwöhnter und verweichlichter ist. Dazu kommt, daß auch im Offizierersatz
allmählich das ländliche Element, der Sohn des Gutsbesitzers, mehr und mehr
abnimmt, der Städter tritt an seine Stelle. Noch fehlt es sa nicht an Offizieren,
deren Vorfahren bis in die Tage des Großen Kurfürsten zurück dem Heere
«»gehört habe», die Brandenburg, Preußen, Deutschland haben schaffen helfen;
in gar manchen Regimentern dient die dritte und die vierte Generation derselben
Familie. Aber was früher nicht selten die Regel war, wird mehr und mehr
zur Ausnahme. Dasselbe gilt von der Verknüpfung der Regimenter mit der
umwohnenden Bevölkerung. Ehedem hielt der Bauer darauf, daß die Söhne
in dieselbe Kompagnie oder Schwadron desselben Truppenteile kamen, in der der
Vater gestanden hatte. Die mehrfach wiederholte Vermehrung der Armee, die
Errichtung vieler neuer Regimenter, die dadurch entstandnen Verschiebungen und
Veränderungen der Garnisonen — alle diese Umstände haben innnches der vielen
Bande zerschnitten, die ehedem Volk und Heer zu einer unauflöslichen Gemein¬
schaft zusammenschlossen. Früher kannte mancher Offizier in den alten Provinzen
Preußens, der Sohn des Gutsbesitzers, seiue Rekruten von Jugend auf; wenn
er später das väterliche Gut übernahm, fand er sie als wohlsituierte Bauern
wieder, mau übte zusammen in der Landwehr, das beiderseitige Leben war nicht
selten von der Wiege bis zur Bahre voll gemeinsamer Berührungspunkte.
Das alles sind Erinnerungen ans der bis hinter 1866 zurückliegenden
Zeit. Seitdem ist wohl die Form die alte geblieben, aber der Inhalt ist
wesentlich anders geworden. Schon bei der Armcevermehrnug von 1880 sagte
Feldmarschall von Manteuffel zu dem Verfasser dieser Zeilen: „Wäre ich vorher
gefragt worden, ich hätte davon abgeraten; es macht uns die Suppe zu dünn
an Offizieren und Unteroffizieren." Und um wieviel dünner ist die Suppe seitdem
geworden! Wir sind freilich ein viertel Jahrhundert älter, Volkszahl, Na¬
tionalvermögen und Wohlstand der einzelnen Klassen sind enorm gewachsen,
immer neue soziale Schichten steigen von unten herauf und gliedern sich in
die wohlhabenderen und gebildeteren Stände ein, immer demokratischer wird
der Zug der Zeit. Darf man sich da wundern, wenn sich die alte-, Formen
des Heeres mit wesentlich veränderten? Inhalt füllen, und wenn der Offizier,
äußerlich von dem Offizier von 1864, 1866 oder 1870 meist wenig zu unter¬
scheiden, doch nicht selten innerlich ein andrer ist? Aufmerksamer Beobachtern
des Heeres war es nicht entgangen, wie schon der Eintritt der neuen Provinzen
in den preußischen Staatsverband nach 1866 die Mischung des Offizierkorps
ganz bedeutend veränderte. Er brachte ihm zweifellos viele Intelligenzen,
tüchtige und tapfere Männer zu, aber das angeborne preußische Fundament,
das preußische Staatsgefühl fehlte. Heute kann man eigentlich nur noch von
einem deutschen Offizierkorps reden, dem der König von Preußen fast ent¬
schwunden und uur der Kaiser geblieben ist; sogar in Sachsen und Bayern
tritt der Kaiser als der oberste Feldherr militärisch sehr viel stärker in den
Vordergrund als der Landesherr. Und das kann auch nicht anders sein. Wir
wachsen eben fester und fester zusammen. Eine rückläufige Entwicklung nehmen
in normalen Zeiten alle diese Dinge nicht. Haben wir doch in der Marine,
in den Kolonialtruppen, in Ostasien schon „kaiserliche" Offizierkorps, zugleich
die hohe Schule für ein dereinstiges größeres Deutschland. Zumal in Ostasien
wächst der deutsche Offizier hinein in solche größere Verhältnisse, wie sie mit
dem Ausblick über die Weltmeere verknüpft sind. Militärische, finanzielle, zeit¬
weilige politische Gründe mochten gegen die Aufrechthaltung der deutschen
Garnison von Schanghai sprechen — im Interesse unsrer Zukunft bleibt die
Räumung ebenso bedauerlich wie im Interesse unsers Offizierkorps, dem der
Dienst in Ostasien eine Art Kriegsakademie künftiger Zeiten ist, und das in
Schanghai, in dem Brennpunkt der Weltinteressen, viel zu lernen hatte.
An dein deutschen Offizierkorps partizipiereu heute alle gebildeten Stände
der Nation in einem Umfange, wie das seit den Befreiungskriegen nicht der Fall
gewesen ist. Bei dem Ricsenheer von heute, dessen Friedensstärke beinahe größer
ist als 1870 die Kriegsaufstcllung, ist das auch nicht anders möglich. Aber schon
macht sich die Gefahr der Konkurrenz andrer Berufe fühlbar, die begabten jungen
Männern gesichertere und namentlich viel einträglichere Laufbahnen in größerer
Fülle bieten. Von Kunst und Wissenschaft, der reichern Dotierung der wissen¬
schaftlichen Laufbahnen, wollen wir absehen, diese werden immer nur bevorzugte
Jünger an sich ziehn. Aber die Technik, die Industrie, der immer weiter aus¬
greifende Handel, die Schiffahrt — sie rufen alljährlich neue Hunderte und
Tausende in ihren Dienst, darunter manchen, der wohl einen tüchtigen Offizier
abgegeben und sich unter andern Verhältnissen dieser Laufbahn auch gewidmet
haben würde. Jedoch die gesteigerten Ansprüche an den Dienst, die durch viel
beklagte Mißstände fortgesetzt gesteigerten Ansprüche um die väterliche Zulage,
die größere Aussichtslosigkeit der Friedenszeit und zuletzt, aber nicht am
wenigsten, die zunehmende Verspottung des Offiziers in der Karikaturpresse
bestimmen manchen jungen Mann zur Wahl eines andern Berufs, veranlassen
namentlich auch manchen Vater, seinen Sohn in diesem Sinne zu beeinflussen.
Der Kriegsminister deutete in einer seiner letzten Reden an, daß die Militär¬
verwaltung in Anbetracht mancher Elemente im Offizierkorps in der Zulassung
wohl zu weit gegangen sei, und demselben Gedanken gab vor kurzem sogar
die Freisinnige Zeitung des Herrn Richter Ausdruck. Will man aber in
Zukunft sorgfältiger in der Auswahl verfahren, und liegt zugleich die Tat¬
sache vor, daß etatsmäßige Lentnautsstellen in wachsender Zahl unbesetzt
bleiben, also der Andrang nachläßt, so wird um so mehr dafür gesorgt werden
müssen, daß sich die Militärverwaltung den Ersatz, den sie brauchen kann,
auch wirklich sichert. Ob und wie die dienstlichen Ansprüche gemindert
werden können, entzieht sich der publizistischen Diskussion. Auf alle Fälle
aber müßte dafür gesorgt werde», daß die etatmäßigen Stellen auch wirklich
besetzt werden, d. h. daß zum Beispiel jede Kompagnie tatsächlich ihre drei
Leutnants hat. Alle Abkommandierungen von längerer Dauer — und ihre
Zahl ist Legion — dürfen diesen Sollstand nicht berühren, es müssen so¬
viel Stellen mehr vorhanden sein, als alljährlich Offiziere durch Abkomman¬
dierung dem Frontdienst entzogen werden. Hat ein Hauptmann nnr einen
Leutnant statt deren drei zur Verfügung, so wird dieser eine nicht nur un¬
verhältnismäßig belastet — ein Umstand, der ihm den Dienst schwerlich an¬
ziehender macht —, sondern der Dienst selbst wird natürlich darunter leiden
und in vieler Hinsicht in die Hände der Unteroffiziere übergehn. Bei den
Soldatenmißhandlungen spielt die mangelnde Beaufsichtigung durch die Offi¬
ziere infolge ihrer oft zu genügen Zahl sicherlich eine sehr große Rolle.
Auch der Hinblick ans die Erfordernisse eines künftigen Krieges müßte dazu
führen, daß die etatsmüßig feststehenden Offizierstellen auch wirklich sämtlich
besetzt sind. Nur dann kann allen Anforderungen des Dienstes sach- und
vorschriftsgemäß entsprochen werden, nur dann beeinträchtigen die Komman¬
dierungen zur Kriegsakademie, Zcntralturnanstalt, Schießschule, zum Lehr-
bntcnllon usw. nicht den Dienst und die Ausbildung der Truppe.
Zu der Herabsetzung übertriebner Dienstanforderungen Hütte sich die Er¬
mäßigung des anwachsenden persönlichen Kostenaufwands zu gesellen; es sind
sicherlich nicht die schlechtesten jungen Leute, die durch die jetzigen hohen Zulagen
von der Armee ferngehalten werden oder sie vorzeitig verlassen müssen, weil die
Familie die Mittel nicht aufbringen kann. Es wäre nicht mehr als billig,
wenn bei neuen Equipierungsvorschriftm die erste Anschaffung ganz oder doch
zur Hälfte durch Gewährung von Equipierungsgeldern erstattet würde, auch
sollten solche Vorschriften niemals sofort, sondern erst nach einem angemessenen
Zeitraum in Kraft treten. Ein verständiger Kommandeur wird sehr viel tun
können, seinen jungen Offizieren die Sache zu erleichtern, namentlich sollte er
keinerlei Druck, auch nicht durch eignes Beispiel, üben.
Und nun die Karikaturpresse! Es liegt uns fern, einem richterlichen Ein¬
schreiten das Wort zu reden, wir vertrauen einstweilen noch der Selbstzucht
der Nation, vor allem der gebildeten Stände, die ja doch den Offizierersatz
stellen und in ihren Angehörigen auch sich selbst durch eine fortgesetzte Ver¬
unglimpfung betroffen sehen. Selbstverständlich muß zwischen einem gelegent¬
lichen guten Bilderscherz und der dauernden tendenziösen Herabsetzung des
Standes unterschieden werden. Aber unbeachtet sollte diese Herabsetzung, so¬
weit sie nachgerade handwerksmäßig betrieben wird, nicht bleiben.*) Würden
dieselben Blätter fortgesetzt Karikaturen von Geistlichen oder von Richtern
bringen — wie viele Strafurteile würden schon ergangen sein! Es ist für
den Offizier eine eigne Zumutung, an den Zcitungsverküufern in großen
Städten vorüberzugehu. die ihm haufenweise - man denke an die Umgebung
des Potsdamer Tores in Berlin oder an die Kreuzung der Linden an der
Fnednchstraße — seine Karikatur zum Kauf anbieten! Die eigentümliche Er¬
scheinung im Straßenbild unsrer Großstädte, daß die Uniform immer mehr
daraus verschwindet, steht zum Teil damit im Zusammenhang. In Berlin, wo
früher in einzelnen Stadtteilen die Uniform fast dominierte, sieht man sie heute
kaum noch, es sei denn an Parade- oder Renntagen, bei Hoffesten oder der¬
gleichen Anlässen. Von einem Offizier in Uniform in den Straßen Berlins
darf man getrost voraussetzen, daß er entweder im Dienst ist oder einer der
militärischen Bildungsanstalten angehört. Ist der Dienst vorüber, so schlüpft
viles in Zivilkleider, auch auf Besuchs- und Urlaubsreisen wird nur Zivil ge¬
tragen, die Uniform kaum noch mitgenommen. Ehedem war das anders. Da
besaß der Offizier außer einem Jagdanzuge selten noch ein besseres Zivilkleidungs¬
stück, das Ausgehn in Zivil, wie es namentlich junge Leutnants trieben, kam einer
verbotnen Frucht gleich, auch war dieses „Zivil" meist recht dürftiger Natur.
Heutzutage hält weitaus der größte Teil der Offiziere neben den unabweis-
lichen Uniformstücken eine ausgiebige Zivilgarderobe, dazu Tennisanzug, Frack
und Smoking! Soll es doch Tatsache sein, daß diese letzten Bekleidungsstücke
in kleinem deutschen Residenzen direkt verlangt werden! Weg damit! Der
Offizier im Zivilauzuge steht nur mit einem Fuß im Heere. Der Zivilanzug
ist das Capua der Armee, er erschlafft, er macht nachlässig, er läßt dem Offizier
seine Uniform nicht mehr als Ehrenkleid, sondern als einen lustigen Zwang
erscheinen. Damit streift er die ritterliche Gesinnung ab, die eine der ersten
Grundlagen seines Standes sein soll. In dieser Hinsicht wäre wohl eine größere
Strenge am Platze. In die nämliche Kategorie gehört die Ausdehnung von
Modenarrhciten auf die Uniform, Rockkragen von unglaublicher Höhe, verkürzte
Paletots, bald größere, bald kleinere Mützen und dergleichen mehr. Was da
dem Bürger auffällt, der solchen Unfug staunend betrachtet, sollte doch auch
den Vorgesetzten nicht entgehn.
Es ist hie und da getadelt worden, daß der Forbacher Prozeß in voller
Öffentlichkeit abgehandelt worden ist; man hat in diesem Verfahren die Gefahr
einer Herabsetzung des Standes vor dem In- und dem Auslande, eine Gefährdung
der Disziplin gesehen. Hätte nicht das Bilsesche Buch vorgelegen, worin alle
diese Dinge fast mit Namensnennung öffentlich behandelt waren, sondern wäre
die Anklage gegen die einzelnen Offiziere auf Grund einer Anzeige oder auf
Grund dienstlichen Einschreitens erhoben worden, so konnte wenigstens zum
Teil die Ausschließung der Öffentlichkeit als zulässig oder geboten erachtet werden.
Da aber dem ganzen Verfahren das Bilsesche Buch zugrunde lag, hätte die
Ausschließung der Öffentlichkeit zu der Annahme geführt, daß es sich um die
Vertuschung »och wesentlich schlimmerer Dinge handle. Die volle Öffentlichkeit
des Prozesses war zu dein Beweise nötig, daß der Geist der Armee gesund genug
sei, da, wo sich faule Stellen zeigen, die Ausrottung des Übels an der Wurzel
zu ertragen, ohne daß das Ganze irgendwie in Mitleidenschaft gezogen wird.
Auch hat der Prozeß deutlich genug ergeben, daß „die kleine Garnison" mir
zufällig den Untergrund geboten hat. Dieselben Elemente würden in einer großen
Garnison nicht viel anders gelebt haben, die Spielerprozesse in Hannover
haben seinerzeit zur Genüge dargetan, was auch in einer großen Garnison
möglich ist, wenn der Kommandeur nicht mit Vateraugen über den ihm an¬
vertrauten Offizieren wacht. Auch für unsre deutschen Offiziere wollen wir
das Dichterwort gelten lassen:
Man hat ehedem unser Offizierkorps als volksfeindlich bezeichnet, als re¬
aktionär, junkerhaft und dergleichen. Das war schon damals eine arge Übertreibung,
als es sich in der Mehrzahl noch aus jenem altpreußischen Schwertadel rekrutierte,
der zu dem großen Ersatz bei weitem nicht mehr ausreicht. Heute mehr als je
ist die Armee die stolzeste und höchste Vertreterin des nationalen Gedankens und
Empfindens, an ihrer Spitze steht ein Offizierkorps, das in der Gesamtheit unsrer
gebildete,: Stände seinen Ursprung und seinen unversiegbarer Jungbrunnen hat.
Wenn schon im Konfliktsjahre 1866 der damalige demokratische Abgeordnete
Ziegler ausrufen konnte: „Das Herz des preußischen Volks ist dn, wo die
preußischen Fahnen wehen" — heute trifft noch in viel höherm Grade das Wort
zu: Das Herz Deutschlands schlüge in seinem Heer und in seiner Flotte.
Bekanntlich gehn unsre Offiziere teils aus deu Kndetteuhüuseru, teils aus
den auf Avancement/dienenden^ Fahnenjunkern hervor; ein kleiner Nest .aus
übertretenden Reserveoffizieren. Die Fahnenjunker unterliegen wie bei.der
Annahme der Prüfung des Kommandeurs, so bevor sie zum Offizier ein-.
gegeben werden, der Wahl durch das Offizierkorps. Die Kadetten dagegen
nicht, ihre Verteilung an die Regimenter erfolgt durch allerhöchsten Befehl.
Hierin liegt eine Ungleichheit, die leicht beseitigt werden könnte, wenn, ans
dein Kadettenhause nur Fähnriche zur Ariuee entlassen, und diese nach sechs-
monatiger Probezeit gleichfalls dem betreffenden Offizierkorps zur Wahl gestellt,
würden. Der aus dem Kndettenhause kommende junge Leutnant findet sich ohne¬
hin, im Regiment schwer zurecht und bedarf ziemlicher Zeit, bevor er sich wirkliche
als Offizier, nützlich erweisen kann. Eine solche Maßregel erscheint an sich
unbedeutend, wird aber vielfach als eine sehr zeitgenüiße Reform angesehen., ^
Dem Heere und dem Volke sei es als aufrichtiger Neujahrswimsch, dar-,
gebracht, daß beiden die unliebsamen Vorgange, die das vergangne Jahr , ge¬
zeitigt oder enthüllt hat,, zum Segen.gereichen.. Möge der Forbacher, Prozeß ein
Länternngsprozeß gewesen sein, aber unserm gesamten Volk auch eine Mahnung,
daß es in seinem Heere die nationalste seiner Institutionen und im Offizier-
korps deren. auserlesnen Träger hat. Unsre gelÄdeten Stände sollten eine
Literatur von sich abschütteln, die in ihren Absichten oder ihren Resultaten
nur der Herabsetzung dieser Institution dient. Bedingung jedes Erfolges ist
fü
ach dem llnglücklichen Kriege Preußens mit Frankreich in den
Jahren 180K und 1807 brach der Mut des mit Preußen Ver¬
bündeten Zaren von Nußland plötzlich zusammen; es blieb ihm
nichts übrig, als Frieden zu schließen. Da empfing er mitten in
diesen Besorgnissen die Einladung Napoleons zu einer persön¬
lichen Zusammenkunft; denn anch Napoleons Lage war so, daß er den Frieden
wünschen mußte. Und in wenig Tagen gelang es ihm, den Zaren für ein
Bündnis mit Frankreich zu gewinnen. Vergessen war die weihevolle Stunde
am Sarge Friedrichs des Großen, vergessen waren die Freundschaftsgelöbnisse
in Meinet. Nun mußte sich der König von Preußen, der ritterlich ausgehalten
hatte, bis fast der letzte Teil seines Landes verloren war, beugen; und auch
die Bitten der Königin Luise, die ihrem Lande den weiblichen Stolz opferte
und mit dem Peiniger persönlich verhandelte, glitten von ihm ab (so schrieb
er schadenfroh) wie das Wasser vom Wachstuch. Am 7. Juli 1807 wurde
zwischen Frankreich und Rußland der Friede unterzeichnet, wonach Rußland
dem Kampfe gegen England sowie der Festlandssperre beitrat, während Napoleon
seine Zustimmung zu der Eroberung der Donanfürstentinner und des schwedischen
Finnlands durch Alexander gab. Zugleich wurde ein geheimes Defensiv- und
Offensivbündnis abgeschlossen, worin Rußland und Frankreich gemeinsame Sache
machten mit Einsetzung aller Kräfte zu Wasser und zu Lande gegen jede
europäische Macht, in jedem Kriege, der ihnen aufgedrängt werden würde.
Zwei Tage darauf, am 9. Juli 1807, wurde zwischen Napoleon und Friedrich
Wilhelm der Friede zu Tilsit unterzeichnet, der grausamste aller französischen
Friedensschlüsse, unerhört nach Form und Inhalt. Nur aus Rücksicht auf den
Zaren wurde die fest beschlossene Vernichtung Preußens vorläufig nur zur Hälfte
ausgeführt. Preußen sank von seinen 5700 Quadratmeilen auf 2800, von
9»/4 Millionen Einwohnern auf 7^ Millionen. Die vier geretteten Provinzen,
Brandenburg, Pommern, Schlesien, Preußen, waren wie die Blätter eines
Kleeblatts nur durch einen schmalen Streifen verbunden. So ging das alte
Preußen, verlassen von seinem Bundesgenossen, zugrunde, es sank zu einem
kleinen Staate zurück, der abhängig war von den Launen des französischen
Kaisers und seiner Generale. An den Höfen des Rheinbundes herrschte lauter
Jubel, da der einzige Staat, der eine Geschichte, ein eignes Leben hatte, wieder
in das allgemeine Elend hinabgestoßen worden war; man brauchte nun keine
deutsche Macht mehr zu fürchten.
Frankreich und Rußland waren damals einig in ihren Gesinnungen, einig
in ihren Handlungen. Eine endgiltige Entscheidung über die Verhältnisse des
Orients und der ganzen Welt behielten sich beide Monarchen bei einer zweiten
Zusammenkunft vor. Aber auch sonst mußten uoch manche Schwierigkeiten
überwunden werden, und so schlug Napoleon dem Zaren eine Zusammenkunft
an einem Orte zwischen Paris und Petersburg vor. Alexander griff mit
leidenschaftlichem Eifer zu, indem er zu dem französischen Gesandten sagte: „Wir
könnten Weimar oder Erfurt wählen, doch würden wir in Erfurt ungestörter
und freier sein." Napoleon sagte zu, da er Alexander noch enger an sich
ketten wollte, weil sich das spanische Volk infolge der Entthronung seines
Königs durch Napoleon und dnrch die Übertragung der Krone auf seinen
Bruder Joseph gegen diesen erhob, und Napoleon sich genötigt sah, einen
großen Teil seiner Streitkräfte ans Deutschland nach Spanien zu werfen.
Waren die beiden mächtigsten Herrscher Europas jetzt einig, so konnte nach
seiner Meinung Rußland bis zur Niederwerfung des Aufstandes in Spanien
die Mächte Europas überwache» und Preußen sowie Österreich von jeder Er¬
hebung abhalten. Dazu kam, daß durch einen Thronwechsel in der Türkei
beunruhigende Zustände eintraten, und ein türkisches Heer gewillt war, über die
Donan zu rücken und die Russen in den Dvuaufürstentnmem anzugreifen.
Jetzt war für beide, Napoleon und Alexander, die Zusammenkunft in Erfurt
unentbehrlich geworden. Hier mußten die wichtigsten Fragen, die spanische, die
österreichische, die preußische und die türkische erledigt werden.
Der Zar teilte Napoleon mit, daß er am 27. September in Erfurt sein
werde. Ursprünglich war nur eine Zusammenkunft der Kaiser Napoleon und
Alexander geplant; da aber die Rheinbnndfürstcn die Erlaubnis erhielten, ihre
Ehrerbietung dem französischen Machthaber zu bezeigen, wurde ans dieser
Zusammenkunft die berühmte Fürstenversammlung, die vom 27. September bis
zum 14. Oktober 1808 dauerte, und die an Glanz und Pracht alles bisher Da¬
gewesene überstrahlte. Damals ist zum erstenmal ein Allianzvertrag zwischen
Frankreich und Rußland geschlossen worden, zum erstenmal waren beide Staaten
einig in ihren Gesinnungen, einig in ihren Handlungen. Und gerade deshalb
hat dieses französisch-russische Bündnis für die Gegenwart etwas Anziehendes,
wo zum zweitenmal zwischen Frankreich und Rußland ein Allianzvertrag ge¬
schlossen worden ist, und wiederum zwischen beiden Staaten das engste Ein¬
verständnis besteht. ' !
Die Kenntnis von dieser Fürstenversammlung ist noch recht ungenügend;
fast in keinem größern deutschen Geschichtswerke findet man darüber eine ge¬
nügende Aufklärung. Freilich darf uns das nicht wundern, da für uns
Deutsche der Erfurter Kongreß beschämende Erinnerungen erweckt. Erst seit
dem Jahre 1870 hat man angefangen, das Quelleumatcrial zu sichten und
diese Zeit eingehender zu behandeln. Die innere Geschichte der Jahre 1807
und 1808 hat Hasset in den Publikationen aus den Königlich Preußischen
Staatsarchiven zusammenhängend dargestellt (Leipzig, Hirzel, 1881, Taili),
vor allem aber hat Professor Lucas in Rheine in einer fleißigen und auf gründ¬
lichen Studien beruhenden Programmarbeit (1896 und 1897) die Geschichte der
Erfurter Fürstenversammlung bearbeitet, hat aber die Arbeit noch nicht voll¬
endet. Die Hnnptqucllen für die Erfurter Festtage liegen im Archiv der
Stadt Erfurt. Sie sind in der folgenden Abhandlung besonders benutzt worden,
und zwar 1. Erfurt in seinem höchsten Glänze während der Monate September
und Oktober 1808. Der Verfasser ist ein begeisterter Anhänger Napoleons.
2. Neue Chronik von Erfurt, von Konstantin Beyer. 3. Das geschriebne
Tagebuch über die merkwürdigsten Ereignisse des Kongresses zu Erfurt im
Jahre 1808, im ersten Bande der Miscellen von Konstantin Beyer. Beyer
ist ein guter Patriot und entschiedner Gegner des französischen Wesens. 4. Neue
allgemeine Weltbühne, ans das Jahr 1808. 13. und. 14. Stück: Kaiser Napoleon
der Große in Erfurt.
Als sich das Gerücht verbreitete, daß in Erfurt ein großer Kongreß ab¬
gehalten werden sollte, auf dem Napoleon, der russische und der österreichische
Kaiser, sowie alle Könige und Fürsten Deutschlands erscheinen würden, geriet
alles in fieberhafte Erregung. Man traf große Vorbereitungen zum Empfang
des Kaisers Napoleon. Mit angestrengter Tätigkeit wurden in dreizehn Tagen
drei große Ehrenpforten vor nud in der Stadt errichtet: die erste zwei und
eine halbe Stunde vor Erfurt bei „Gambstädt" an der Gothaischen Grenze
mit der Inschrift: Duero an (t'IÄtort; die zweite am Brnhlertore am
Eingang in die Stadt; die dritte am Anger am Ende des Packhofes, wo jetzt
die Bahnhofstraße mündet. An ihr arbeiteten die Zimmerleute die ganze Nacht
beim Scheine von Pechkränzen und Fackeln. Alle drei Ehrenpforten wurden
allerdings wieder abgebrochen, weil sich Napoleon alle kostspieligen Ver¬
anstaltungen mit Rücksicht auf die finanzielle Lage der Stadt verbat, vielleicht
auch, um Kaiser Alexander nicht zu verletzen; aber die Straße nach Paris
sollte eine on trwwMIi8 sein. So wurden denn die Straßen ausgebessert,
besonders das schlechte Pflaster auf dem Anger. Tüncher, Zimmerleute, Tischler
und vorzüglich Tapezierer hatten alle Hände voll zu tun, auch die Werkstätten
der Maler waren zur bevorstehenden Illumination in voller Bewegung.
Französische Dekorateure langten an, um die Stadt herauszuputzen, damit ihr
Ansehen dem Glänze der festlichen Tage entspräche. Napoleon wollte in Erfurt
mit großem Pomp auftreten, und er sprach mit seinen Vertrauten von nichts
anderm mehr. Zu seiner Umgebung sagte er bestündig: „Meine Herren, meine
Reise muß sehr schön werden! Ich will Deutschland durch Pracht und Glanz
in Erstaunen setzen." Mit einem außerordentlich glänzenden militärischen Ge¬
folge wollte er erscheinen, besonders in der Begleitung der Marschälle und
Generale, die in Deutschland bekannt waren, vor allem also der Marschälle
Soult, Davoust, Lannes, Nansouty, Oudinot, außerdem der Kammerherren,
die „einen vornehmen Namen" hatten, wie Großkammerherr Talleyrand,
Minister des Auswärtigen Champcigny, Ministerstaatssekretär Maret, Ober¬
stallmeister Caulaincourt, Herzog von Vicenza, Gesandter in Petersburg,
Generalintendant Daru, Palastmarschall Duroc. Eine Abteilung der kaiserlich
französischen Grenadiergarde zu Fuß sollte mit andern auserlesenen Truppen
zugleich als Schutz und als Ausschmückung dienen.
Am 11. September traf General Oudinot in Erfurt ein und kündigte
sich als Gouverneur der Stadt während Napoleons Anwesenheit an. Am 13.
kam der kaiserliche Palastprüfekt Baron de Canouville an; er fiel den Be¬
wohnern von Erfurt durch seinen roten, breit mit Silber gestickten Rock auf.
Er besah sich die hervorragendsten Häuser der Stadt als Wohnungen für die
hohen Gäste und nahm sie in Beschlag, indem er an die Türen mit Kreide
schreiben ließ: NmsoQ as I'Lmxsreur. — Die Eskorte des Kaisers Napoleon
sollte aus 400 Kürassierer bestehn. In Erfurt selbst wurde noch eine Ehren¬
garde von ungefähr dreißig jungen Kaufleuten geschaffen, in recht geschmack¬
loser Uniform, nämlich in dunkelblauen Röcken mit roten Aufschlägen, weißer
Weste, blauen Beinkleidern, dreieckigem Hut mit Federbusch und weiß-roter
Kokarde, goldnen Epauletten, schwarzer Koppel und langem Säbel. Die
Schabracke war hellblau, mit schmaler, weißer Bordüre. Täglich hielt sie ihre
Übungen unter Leitung eines erfahrnen Stallmeisters in der Gegend des
Krämpfertores nach dem Klänge der Trompeten. Diese Garde gefiel Napoleon
so gut, daß er befahl, sie sollte ihn beständig umgeben, und wenn er ausreite,
sollten ihn jedesmal vier Reiter begleiten. Deshalb bezog sie das obere Stock¬
werk des Wachthauses vor der für ihn ausgewählten Wohnung.
Nun stellten sich auch die Vasallen des großen Kaisers in Erfurt ein,
Sämtliche Rheinbundstaaten, von Bayern an bis zu Neuß hinunter, waren
entweder durch ihre Regenten persönlich oder durch ihre Thronerben vertreten.
Es waren 34 Fürsten anwesend, darunter die vier Könige von Bayern. Sachsen,
Württemberg, Westfalen, ferner die Großherzoge von Baden und von Hessen.
Dazu kamen Hunderte von Generalen, Ministern. Diplomaten. Kammerherren.
Besonders fiel König Jerome von Westfalen durch seinen Troß auf. Dieser
bestand aus vielen achtspännigen, prächtigen Staatskutschen und Packwagen
mit dem Silbergeschirr; von den Galawagen kostete der erste 8000 Taler, etwas
Prächtigeres als diesen Wagen hatte man überhaupt noch nicht gesehen.
Alles schimmerte von Gold und Silber, sogar die äußerste Spitze der Deichsel
und die Ruder waren mit Silber beschlagen, und die am Wagen hängenden
Laternen waren vom feinsten, geschliffnen Kristallglase. Auf allen Wagen
waren der Namenszug des Königs 5 (Jerome Napoleon) und das Wappen
angebracht. Weil Napoleon selbst keine Galawagen mitgebracht hatte, so be¬
diente er sich der seines Bruders; auch der Kaiser von Nußland und sein
Bruder Konstantin fuhren gewöhnlich in diesen Wagen aus.
Auch der frühere kurmainzische Statthalter von Erfurt, der „liebreiche,
freundliche, gütige" Fürstprimas und Kanzler des Rheinbundes, Karl von
Dalberg, fehlte nicht. Er schien sich innig zu freuen, wieder einmal in seinem
geliebten Erfurt zu leben, und die Erinnerung verfloßner, einst so glücklicher
Jahre, die er in Erfurt verbracht hatte, schien wieder lebhaft vor seine Seele
zu treten. Wo er in seinem Wagen vorüberfuhr, grüßte und dankte er den
Umstehenden wie sonst. Bei seiner Ankunft in Erfurt streuten ihm Kinder im
Brühl Blumen; überhaupt zeigte sich die Liebe und die Anhänglichkeit der Be¬
wohner Erfurts für diesen so geschätzten Fürsten, unter dem sie früher so glück¬
lich und froh gelebt hatten, bei jeder Gelegenheit. Ja „Tränen der Freude
und Rührung sind beim Anblick des geliebten Fürsten geweint worden." Nur
Österreich und Preußen erschienen in abgesonderter Stellung; für Preußen war
Prinz Wilhelm gekommen, um mit des Zaren Hilfe eine Milderung der
Friedensbedingungen zu erlangen. Österreich war durch General Vincent ver¬
treten. Seit den Zeiten, wo die großen deutschen Kaiser ihre Fürstentage ge¬
halten hatten, und die Herzöge, Markgrafen und Grafen als Lehnsleute vor
ihnen erschienen waren, war ein so glänzender und zahlreicher Fürstenkongreß
nicht mehr vereinigt gewesen; nur hatten die alten Zeiten den höchsten Grad
von Macht und Herrlichkeit Deutschlands verkündigt, während diese Zeit den
tiefsten Stand der Erniedrigung brachte. Damals waren den deutschen Stammes¬
fürsten zur Seite die Könige des Auslands oder ihre Vertreter erschienen, um
dem Herrn der christlichen Welt ihre Huldigungen darzubringen; jetzt zeigten
sich ihre Nachkommen nur im Gefolge zweier fremder Despoten, deren Herr¬
schaft nur durch die Teilung und Entwürdigung Deutschlands möglich war.
Unter den erlauchten Damen zeichnete sich besonders die Prinzessin Stephanie,
die Adoptivtochter des Kaisers Napoleon, aus. Ihre hervorragende Schön¬
heit, die unendliche Grazie, mit der sie erschien, und der Glanz des so prächtigen
und geschmackvollen Putzes fesselten aller Augen. Auch die Königin von West¬
falen zog während ihrer kurzen Anwesenheit aller Blicke auf sich, und ihre
Schönheit, voll Anmut und Majestät, erregte allgemeine Bewunderung.
Für den Kaiser von Rußland und sein nächstes Gefolge wurde das Haus
Ur. 919 beim Fabrikanten Triebe! neben dem Ursulinerkloster auf dem Anger
(1'tuwi 1e x1u3 joli as Is, vitis), jetzt der Preußische Hof, eingerichtet. Der
König von Sachsen erhielt in dem Hause Ur. 2626 bei Boutin auf dem Fisch¬
markte im „Haus zum breiten Herde" Wohnung. Der russische Großfürst
Konstantin, der Bruder des Kaisers Alexander, wohnte im jetzigen Divisions¬
gebäude am Anger; im Hause „zur hohen Lilie" am Friedrich-Wilhelmsplatze,
wo einst Gustav Adolf Quartier genommen hatte, wohnte Jerome, der König
von Westfalen. Jerome und Konstantin schlössen in Erfurt intime Freund¬
schaft und führten zusammen manche tollen Streiche ans. Nachts liefen sie
durch die Straßen der Stadt, klingelten und klopften an allen Türen und
freuten sich, wenn sie die ehrlichen Bürger Erfurts aus dem Schlafe geweckt
hatten. Der König von Bayern erhielt als Wohnung ein Haus in der Markt¬
straße, der König von Württemberg wohnte am Anger, Prinz Wilhelm
von Preußen, der Bruder des Königs Friedrich Wilhelms des Dritten, in
der Futterstraße, der Fürstprimas Dalberg am Falloche (das Haus ist bei der
Belagerung durch die Preußen 1813 durch eine Feuersbrunst mit 120 andern
Häusern verbrannt), der Herzog von Weimar im?Geleite zu Se. Viti, jetzt
Regierungsstraße, die Herzöge von Sachsen-Gotha und von Oldenburg auf
dem Anger, der Herzog von Mecklenburg-Schwerin im Neueuwerk. Außer
den genannten Fürsten waren anwesend die Fürsteis von Schwarzburg-Rudolstadt,
von Hessen-Homburg, von Reuß-Plauen-Greiz, von Reuß-Ebersdorf, von Reuß-
Lobenstein, von Dessau, von Waldeck.^ Es gab kein ansehnliches Haus in
Erfurt, das Nicht eine hohe oder höchste Persönlichkeit zu beherbergen hatte.
Für den Kaiser Napoleon wurde die Statthaltern/ die frühere Residenz
der kurmainzischen Statthalter, die dann von 1816 an das Regierungsgebäude
mit der Wohnung des Regierungspräsidenten wurde, als die geeignetste Wohnung
gewählt. Die Wohnräume wurden mit Möbeln, Kronleuchtern, Armleuchtern,
Porzellan von Sevres prachtvoll ausgestattet, und die für den Kaiser bestimmten
Zimmer wurden mit Gobelintapeten im Werte von 40000 Franken aus¬
geschlagen. Den Eingang zum Gouvernement — so hieß das Statthalterei¬
gebäude meist in der damaligen Zeit — bewachten neben der gewöhnlichen
Schildwache zu Fuß zwei Kürassiere zu Pferde mit blanken Degen. Dieselbe
doppelte Bewachung war vor dem Palast des Kaisers von Nußland.
Am 27. September Morgens tönte der Generalmarsch der französischen
Truppen durch die engen Straßen der Stadt. Es wär ein herrlicher Herbst
tag, hell beleuchtete die Sonne das Gemtal und die Festungswerke Erfurts,
und innerhalb der Stadt den majestätischen Dom und die angrenzende Severi-
kirche. Am Sibyllentürmchen in der Nähe des Brühler Tores stellten sich,
unter Anführung des Stadtkommandanten Bigi, der Magistrat mit den Depu-
tierten der Bürgerschaft, die Geistlichkeit und die Universität auf. Von der
Statthaltern bis zum Brühlertor durch die Neustadt, die „Holzheimgasse,"
über den Roßmarkt, den Brühl bis zur Burg und weiter den Hochweg hinan
bildeten Soldaten ein Spalier. Eine unermeßliche Menschenmenge füllte die
Straßen, und auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palaste standen Tausende
Kopf an Kopf. „Jeder wollte den Mann sehen, der Kronen und Throne ver¬
teilte und die Geschicke Europas, Freude und Hoffnung, Not und Elend in
seiner allmächtigen Hand hielt." Die Zahl der Fremden war so groß, daß
alle Gasthöfe und Privatwohnungen besetzt waren, sogar aus den Bädern von
Karlsbad und Teplitz strömten die Fremden zusammen. Dadurch wurden aber
auch eine Menge Taschendiebe und Veutelschneider angelockt, die ihr Augen¬
merk besonders ans Börsen, Uhren und Pretiosen richteten. Aber dem wach¬
samen Auge der Polizei entgingen sie nicht, sie wurden, wie berichtet wird,
gerade, wenn sie ihr Handwerk ausüben wollten, ergriffen und verhaftet.
Es war ungefähr zehn Uhr, dn kündigte ein Kanonenschuß von der
Gothaischen Grenze her die nahe Ankunft des französischen Kaisers an. Sofort
fingen die hinter der Cyriaksburg aufgepflanzten Batterien an zu feuern, und
auch von der Cyriaksburg und den Wällen des Petersberges her donnerten
die Geschütze. Alle Glocken erklangen, alle übertönt von der mächtigen Maria
Gloriosa, damals der größten und schönsten Glocke Deutschlands. Jetzt
kamen kaiserliche Kuriere den Berg herunter gesprengt. Ihnen folgten sechs
Postillone, dann Gendarmen und Grenadiere zu Fuß, darauf eine Schwadron
Husaren, endlich die Ehrengarde der Erfurter Kaufleute, die dem französischen
Kaiser bis Gambstädt entgegengeritten waren. Und nun kam der Wagen
Napoleons. Ein betäubendes Vivs l'lave-iczur rauschte die Doppelreihen der
Soldaten entlang. Die versammelte Menge zu beiden Seiten stimmte in ihren
Jubel ein. Dem kaiserlichen Wagen folgten noch mehrere Wagen mit dem
Gefolge des Kaisers, zum Schluß kamen noch zwei schöne Kavallerieregimenter
und eine Abteilung Grenadiere zu Fuß. Am Brühler Tore hielt der Wagen
Napoleons. Hier händigte der Stadtdirektor, Hofkriegsrat von Danzen, dem
Gewaltigen auf einer vergoldete,? Schüssel die Schlüssel der Stadt ein, dann
überreichte er eine gedruckte Anrede der Bürgerschaft um den Monarchen, voll
des Ausdrucks tiefster Verehrung und Treue und der innigsten Ergebenheit.
Der Kaiser nahm die Anrede sehr huldreich aus, bei einigen Stellen äußerte
er während des Lesens sein Wohlgefallen und bezeugte dann mit einer herab¬
lassenden Verbeugung seinen Dank. Jetzt erscholl neues Vivatrufm aus allen
Kehlen. Und nun rollten die Wagen in die Stadt. Die ganze Menschen¬
masse, die am Brühler Tore den Kaiser empfangen hatte, strömte dem Militär,
das den Zug deckte, bis zum Gouvernement nach. Am Fuße der Treppe
dieses Gebäudes empfing Napoleon der König von Sachsen. Friedrich August,
der den Abend zuvor in Erfurt eingetroffen war. Er wurde vom französischen
Kaiser äußerst herzlich begrüßt, wie er überhaupt während seines Aufenthalts
in Erfurt vor allen andern Fürsten ausgezeichnet wurde. Nachdem Napoleon
Talleyrand und einige andre französische Minister und Kammerherren in
Audienz empfangen hatte, zeigte er sich mehrmals minutenlang am Fenster.
Bald darauf ritt er mit seinem Gefolge, von der Ehrengarde, der Gendarmerie
und 25 Husaren begleitet, über den Anger nach der Wohnung des Königs
von Sachsen, um ihm seinen Gegenbesuch abzustatten. Dicht hinter dem Kaiser
ritt sein Leibmameluck Rustan. Die Augen dieses treuen Begleiters waren
beständig wach, bald auf seinen Herrn, bald auf die Umgebungen gerichtet.
Heute erschien er in weißem Turban, in pnrpurroter, mit goldnen Blumen
gestickter Jacke und in dunkelblauen, mit Gold gestickten Beinkleidern-
Der Verfasser der Schrift: „Erfurt in seinem höchsten Glänze," der Ge¬
legenheit hatte, den großen Monarchen bei seiner Fahrt durch die Stadt genau
zu sehen, schildert ihn folgendermaßen: „Selten spricht ein Gesicht mehr Majestät.
Würde, Erhabenheit, wahre Seelengröße und tiefdenkende Weisheit so rein
ans als das in allen seinen Zügen Ehrfurcht gebietende dieses größten Mon¬
archen seiner Zeit, vielleicht aller Zeiten. Dabei ist über alles eine solche
Ruhe, eine solche wahrhaft große Unbefangenheit verbreitet, die die Majestät
dör andern Züge noch weit mehr erhebt. Feierlicher Ernst und unbcschreib-
liebe Hoheit thront auf seiner Stirn. Seine Augen, mit etwas zusammen¬
gezognen Augenbrauen, blicken auf den Grund der Seelen. Es ist schwer,
auch für den Unbefangensten, den Blick dieses Mannes zu ertragen, und sein
erster Anblick erschüttert."
Gegen zwölf Uhr ritt der französische Kaiser unter dem Jubelrufe der
Truppen und unter den Begrüßungen der unzähligen Zuschauer in seine
Wohnung zurück. Um ein Uhr bestieg er einen mit acht Pferden bespannten
prächtigen Staatswagen und fuhr vor das Krämpfertor, wo die Truppe»
manövrierten. Napoleon stieg aus dem Wagen, ließ die Truppen einige
Schwenkungen machen, dann schwang er sich aufs Pferd und ritt rasch die
Anhöhe bei Linderbach hinauf, um den russischen Kaiser, der von Weimar
kam, einzuholen. In der Nähe von Münchenholzen, zwei Stunden von
Weimar, trafen die beiden Monarchen zusammen. Napoleon, von seinen Mar-
schällen und Generalen begleitet, sprengte im Galopp bis zu dem ersten Wagen
heran, der zum Gefolge des russischen Kaisers gehörte. Wie der Zar den fran¬
zösischen Kaiser von ferne sah, sprang er sofort aus dem Wagen und schritt
auf ihn zu. Napoleon war indes vom Pferde gestiegen und ging dem Zaren
entgegen. Nun umarmten sich die beiden mächtigsten Herrscher der Erde
herzlich und mit allen Zeichen höchster Freude des Wiedersehens und gingen
Hand in Hand ungefähr vierhundert Schritte zu Fuß allein und in lebhaf¬
testem Gespräch begriffen dahin. Nach einer Viertelstunde bestiegen beide
Herrscher die bereitstehenden Pferde. Napoleon ritt an diesem Tage einen
Rappen, der an Decke, Zaum und Sattel vollkommen dein glich, den Alexander
in Petersburg zu reiten pflegte, und Alexander schien dadurch aufs angenehmste
überrascht. Napoleon trug den großen Alexander-Newsky-Orden, Alexander
das Großkreuz der Ehrenlegion.
Die Straße nach Weimar wimmelte von Menschen. Das Vivatrufen
übertäubte den Kanonendonner und das Läuten der Glocken. Gleich einem
Wolkenbruche kam die Reiterei als Vortrab über die Brücke des Wallgrabens
gesprengt. „Das schnelle Traben, das betäubende Geräusch der vervielfältigten
Hufschlüge, das blitzgeschwinde Vorüberblinken der Säbel, das Wiehern der
Pferde" war dem Verfasser von „Erfurt in seinem höchsten Glänze" etwas
Entsetzliches. Als Husaren und Kürassiere vorüber waren, da — ein majestä¬
tischer Anblick — erschienen die beiden Kaiser nebeneinander, von vielen hohen
Personen umgeben. Dem Zuge folgte eine Menge Wagen mit fürstlichen
und andern hohen Personen, unter diesen war der König von Sachsen. Den
Zug deckten Abteilungen Kavallerie und Infanterie, endlich kamen noch Ka¬
nonen und Munitionswagen, die man zum Salutieren Alexanders gebraucht
hatte, mit ihren Artilleristen. Am Triebelschen Hause stiegen die beiden Kaiser
ab und begaben sich in die prächtig eingerichteten Zimmer. Dann speisten beide
zusammen in dem Gouvernement. Währenddessen wogten in den Straßen die
Massen der aufgeregten und neugierigen Erfurter und Fremden auf und ab.
„Jeder Ankömmling wollte den Bezwinger Europas und seine berühmten
Paladine sehen, jene Generale, die die Namen ihrer Siege führten und, aus
dem Volke hervorgegangen, ergebne Diener ihres Herrn waren, der sie zum
Lohne für die Besiegung der Könige Europas aus dem Staube empor¬
gehoben hatte."
Als es dunkelte, begann die Illumination der Stadt. In Inschriften
und Transparenten hatte man alle Kunst der Schmeichelei aufgeboten, den
Imperator und seine Größe zu verherrlichen. Die schönste und prächtigste
Illumination war an der Freimaurerloge am Roßmarkt (genannt „Karl zu
den drei Rädern"), die damals unter französischem Einfluß stand. Das ganze
Gebäude war an seiner Front mit unzähligen Lämpchen erleuchtet. Am
Fuße des Gebäudes erhob sich ein großer Halbzirkelbogen bis unter das Dach
und senkte sich wieder gegen den Mittelpunkt zur Erde, wo er sich in einem
neuen ähnlichen Halbzirkel erhob, der ebenfalls bis unter das Dach stieg und
sich am andern Ende des Gebäudes senkte. Auf dem Dach über dem um¬
gekehrten Winkel, den beide Bogen machten, war ein Giebel in Form eines
Triangels angebracht, mit Hunderten von Lämpchen erleuchtet. In der Füllung
thronte der Adler Frankreichs. Die Linien am Giebel und die beiden kolossalen
Halbzirkel waren mit mehreren tausend Lampen besetzt, sodaß der ganze weite
Hermannsplatz tageshell erleuchtet war. Oben auf dem Dache, zu beiden
Seiten der Giebel an den Ecken waren folgende zwei Inschriften, in wenigstens
zwei Ellen hohen Buchstaben, mit einer Menge Lampen erleuchtet: ^xotsou
l'IIniouö und ^oschbws, 1a Lifu-aimsg. Unter dem Dache war in einem
länglichen Viereck eine lateinische Inschrift; außerdem sah man die drei er¬
habnen Symbole der königlichen Kunst, Schönheit, Weisheit, Stärke in kolossalen
Transparentgemälden.
Nächst der Freimaurerloge war am geschmackvollsten das Haus des Landrath
von Resch auf dem Anger illuminiert. Über der Tür brannte der Namenszug
des Kaisers Napoleon unter einer Krone in einem italienischen Ovalschilde.
Mitten über der Straße schwebte in freier Luft ein kolossaler Kranz, der aus
einer Menge buntfarbiger Glaslämpchen bestand. Aus seiner Mitte strahlte
in Brillantfeuer das gekrönte N herab. Durch prächtige Illumination zeichnete
sich auch das Haus der beiden Handelsherren Hoffmann und Treitschke in der
Nähe der Allerheiligenkirche, sowie das der Frau Hofrätin Weisenborn auf
dem Fischmarkte, das Portal des Rathauses, die Marienapothekc, der Rats¬
keller, der Gasthof zum Kaiser aus. An einem Hause „an der Straße" stand
über dem Bilde eines Tempels: „Gübs jetzt noch einen Göttersohn, so wärs
gewiß Napoleon"; diesem gegenüber am Portale eines Kaufmannsgewölbes:
„Handel und Wandel macht blühend das Land, mehr noch Napoleons Herz
und Verstand." (Beyer in seiner Chronik S. 395 fügt hinzu: „Napoleons
Herz? O weh, o weh!") Ein blinder, pensionierter Postsekretür hatte die
Inschrift angebracht: „O hätt ich nur das große Glück, zu sehn den Held
Napoleon! So trug ich gerne mein Geschick der Blindheit und der Pension."
Doch klang auch mancher recht ernste Ton durch, wie in den Worten: „In
Hoffnung besserer Zeiten illuminieren wir mit Freuden," oder: „Möchte doch
Napoleon unsre Sehnsucht stillen! Dann lasset uns mit Jubelton Tal und
Berg erfüllen," oder in der aufrichtigen Umschrift, mit der ein ehrlicher Schuster
sein Haus geschmückt hatte: „Nährstand leidet, wenn Wehrstand streitet; Gott.
gib Fried' in allen Landen." Ein Obsthändler an der „alten Straße" hatte
ein kolossales „Ach" aus Lampen zusammengesetzt, wohl in Erinnerung an
den Druck, den Erfurt durch die Einquartierung in den letzten Jahren er¬
litten hatte.
Eine bestimmte Tagesordnung wurde von den beiden Kaisern gleich in den
ersten Tagen ihres Zusammenseins in Erfurt festgesetzt. Sie kamen überein,
die Morgenzeit ihren persönlichen Angelegenheiten zu widmen, der Nachmittag
sollte der politischen Arbeit, den Ausflügen und den Truppenbesichtigungcn
gehören, der Abend blieb den Gesellschaften, Unterhaltungen, besonders den
Bühnenvorstellungen, vorbehalten. Jedoch erlitt diese Tagesordnung häufig
Abweichungen. Sonntags wurde vor zwölf Uhr im Audienzzimmer des Gou¬
vernements vor Napoleon die Messe gelesen. Jeden Morgen zwischen neun
und zehn Uhr war großes Lever bei Kaiser Napoleon. Hier fanden sich alle
anwesenden Fürsten ein, nur die Könige ausgenommen, ihre Minister und die
Vornehmsten ihres Gefolges. Aber ius Kabinett Napoleons durften nur die
Fürsten und Großwürdenträger eintreten, während sich die Zurückbleibenden
mit den Offizieren und Höflingen begnügen mußten. Der Großherzoglich
Sächsische Kanzler von Müller, der dies als Augenzeuge berichtet (Erinnerungen
aus den Kriegszeiten von 1806 bis 1813, Brnunschweig, 1851), vergleicht
diesen bunten Menschenknäuel treffend mit einer großen Börse, wo jeder die
Neuigkeiten des Tages begierig zu erforschen und für sich einen Gewinn daraus
zu ziehen strebte. „Die Huldigungen, die man Napoleon darbrachte, gingen,
so sagt Fürst Talleyrand, ins Ungeheuerliche. Schmeichelei, die an Ver¬
götterung, und niedre Gesinnung, die an Ekel grenzte, schienen sich gegenseitig
überbieten zu wollen. Gerade die, die am meisten unter Napoleon gelitten
und deshalb innerlich von Haß und Erbitterung gegen ihn erfüllt sein mußten,
waren die eifrigsten, ihm zuzujubeln und sein Glück zu preisen, das die Vor¬
sehung, wie sie sagten, ihm in so reichern Maße gespendet hatte.. Die Fürsten,
die in steter Gefahr schwebten, durch ihren sogenannten Protektor gestürzt zu
werden, erniedrigten sich ans Angst zu der elendesten Schmeichelei und Augen-
dienerei; sie küßten die Hand, die sie heute oder morgen vernichten konnte.
Nicht ein Mann war damals in Erfurt, der es gewagt hätte, furchtlos und
frei die Hand auf die Mähne des Löwen zu legen."
Interessant ist die Adresse, die die Deputierten der Erfurter Universität
bei einer Audienz Napoleon überreichten, in der sie die frohe Ankunft des
großen Monarchen in den Mauern von Thüringens Hauptstadt feierten. Die
Adresse war auf Atlas gedruckt, in lateinischen Lapidarstile; darin heißt es:
„Verehre den großen und erhabnen Geist, groß in seinen Vorhaben und Taten;
glaube, daß kein großer Mann ohne göttliche Begeisterung jemals wurde.
Staunst du Italien an, das einen Cäsar hervorbrachte, stnuust du Deutschland
an, das einen Karl den Großen gebar, jetzt staune über Korsika, das Napoleon,
den Größten, den je die Welt gesehen hat, erzeugte, den Kaiser der Franzosen,
den König von Italien und Beschützer des rheinischen Bundes, den Friedens¬
stifter in Deutschland. Er ist der Größte in Krieg und Frieden. Diesen
fürchtet sogar das Glück, und seine Werke werden auf alle Zeitalter seinen
Ruhm überragen. Er gibt dein festen Lande ewigen Frieden, und gleich
Timoleon, dem Befreier von Syrnkus, strebt er den kühnen Völkern überm
Meere Gesetze vorzuschreiben und sie durch sein großes und glückliches Unter¬
nehmen glücklich zu machen. Erstaunliches Werk! Herkulische Arbeit! Aber
nur durch viele Arbeiten führt die Gottheit den Weg zu ihrem Reiche, und
den Müßigen bietet sie keine Vergötterung. Unter den Sterblichen der Vor¬
zeit ist keiner, mit dem er verglichen werden kann, und die Nachkommen werden
den höchsten Namen Napoleons nicht anders als mit der tiefsten Verehrung
und Bewunderung aussprechen. Allen Großen und Erhabnen gebührt mit
Recht Verehrung. Sein Name lebe zu allen Zeiten. Die Ewigkeit schütze
und mehre seinen Ruhm. Erfurt! Dir wurde das unschätzbare Glück, den
größten Kaiser und König in deinen Mauern zu begrüßen und zu verehren.
Würdig warst du ihm vor vielen andern, dessen huldreichste Gegenwart dich
erhebt. Diesen Tag (deu 27. September 1808), deinen glücklichsten, o! grabe
ihn in Marmor, der Ewigkeit trotzend. Und keine Vergessenheit möge sein
Andenken je vertilgen!" — Am 29. September überreichte eine Deputation der
Bürgerschaft und des platten Landes von Erfurt und Blankenhain bei einer
Audienz dem französischen Kaiser eine Bittschrift, worin sie bitter klagen über
die Leiden, unter denen sie seufzen: 1. Die Zinsen der von der vorigen
Regierung garantierten Staatsschulden werden seit achtzehn Monaten nicht aus¬
gezahlt. Die Gläubiger werden ans die härteste Art bedrückt, da sie von
Zinsen, die sie nicht erhalten, Steuern und Abgaben zahlen müssen. 2. Die
Pensionen sind seit acht Monaten rückständig, der letzte Monat dieses Jahres
ist mit schlechter preußischer Münze gezählt worden, wodurch die Pensionierten
die Hälfte verloren. 3. Alten Leuten, unter diesen viele Witwen, die unter
der preußischen Regierung eine kleine Entschädigung für den Verlust der Accise-
freiheit erhalten hatten, zahlt man nichts mehr. 4. Die Zuflüsse in die Stadt¬
kasse stocken ganz; da diese zur Erhaltung des Pflasters, der öffentlichen Ge¬
bäude und der Brücken verwandt wurden, so befindet sich alles dieses in
schlechtem Zustande. 5. Die ganze Last der Militärstraße ruht noch auf Erfurt,
die Durchmärsche der Truppen sind seit achtzehn Monaten so stark, daß die
Zahl der einquartierbaren Häuser von 3000 auf fast 700 gefalle» ist. Außer¬
dem wirkt die starke Vorspanne nachteilig auf deu Ackerbau, die einzige Quelle
der Nahrung der Bewohner. 6. Die Kosten des Militärhospitals mehren sich
täglich durch die Auzcchl der Kranken, durch die angestellten Beamten, durch
die vorgeschriebnen Arzneien. 7. Die Neservcmagazine, die im Umkreise von
sechzehn Quadratmeilen angelegt und von den Bewohnern der betreffenden
Länder unterhalten werden sollen, können unmöglich wieder gefüllt werden, da
es bei der nahen Ankunft Sr. Majestät so an Fourage fehlt, daß General
Oudinot gebeten werden mußte, die Magazine zu öffnen. 8. Erfurt hat aus
der Kreiskasse 6000 Taler geborgt, um ini Jahre 1807 die Chasseurs aus-
zurüsten. Jetzt soll die Summe zurückgezahlt werden. Bei der gänzlichen Er¬
schöpfung wird um Nachlaß gebeten, zumal da für die Vorspanne seit mehr als
fünf Monaten keine Vergütung bezahlt worden ist. 9. Die Einquartierung
der hier garnisonierenden Truppen drückt die armen Bewohner so sehr, daß
mehrere ihre Hänser verlassen haben, »in ihren Unterhalt in den Nachbar¬
staaten zu erbetteln. 10. Wenn, wie befürchtet wird, die Domänen abgerissen
werden, so wird der zukünftige Souverän des Landes keine Mittel haben, die
Staatsschulden zu bezahlen und für die ersten Bedürfnisse des Landes zu
sorgen. — Kein Teil der Bevölkerung ist, der nicht begründete Klagen hätte,
Kaufleute, Handwerker sind mit verdreifachten Abgaben belastet, die milden
Stiftungen haben ihre Privilegien verloren, bei der Universität ist ein Kapital
von 40000 Franken in Beschlag genommen worden. Die Erschöpfung aller
Untertanen steigt aufs höchste. Das kleine Ländchen ist ans Generationen ver¬
nichtet, da es nur 320000 Franken Einkünfte hat und doch in 22 Monaten
die unglaubliche Summe von 5^ Millionen Franken zahlen mußte. Ew. Majestät,
so heißt es zuletzt, sind reich an Mitteln, uns unsre schweren Lasten zu
erleichtern und uns bald einen guten Fürsten zu geben. Wir legen die unter¬
tänige Bitte deswegen am Fuße des Thrones nur in der Absicht nieder, um
von dem Abgrunde der Leiden, die uns von allen Seiten umgeben, gerettet
zu werden, um die Tränen der vielen unglücklichen Familien zu trocknen, die
sie bei ihrer gänzlichen Verarmung mit Ergebung in ihr Schicksal weinen.
(Schluß folgt)
is die Beauftragten der Deutschen Orientgesellschaft, 1)r. Ludwig
Borchardt an ihrer Spitze, Anfang des Jahres 1902 in der
Nähe des ägyptischen Memphis ein Königsgrab aufdecken wollten,
machten sie einen überaus wichtigen Fund: in den obern Erd¬
schichten, die man durchbrechen mußte, um zu dem eigentlichen
Ziel zu gelangen, offenbar einem Gräberfelde, das zu dem alten Dorfe Busiris,
jetzt Abusir, einem Vorort von Memphis, gehörte, fand sich ein Holzsarg mit
der Mumie eines Mannes von ansehnlicher Körpergröße; am Kopfende der
Leiche lagen eine zerbrochne Ledertasche mit den Überresten eines Schwammes,
ein verrostetes Eisenstück, wohl das Überbleibsel eines nicht mehr bestimmbaren
Werkzeugs, ein gedrechseltes Holzstück und ein Paar Sandalen, außerdem, was
wichtiger ist, eine 18,5 Zentimeter hohe Paphrusrolle, in deren Schriftzügen
man bald die Reste einer bis dahin nur dem Namen nach bekannten griechischen
Dichtung erkannte: es sind die Perser des Timotheos. Die ganze Rolle, die
nebst der Mumie selbst jetzt dem Berliner Museum gehört, hat aufgewickelt
eine Länge von 1,11 Meter und enthält sechs Kolumnen, von denen jedoch
die beiden ersten fast gänzlich zerstört sind, die dritte am untern Rande einige
Lücken zeigt, die letzten drei aber, das ist der innere Teil der Rolle, weitaus
zum größten Teile vortrefflich erhalten sind. Freilich ist das Gefundnc nur
ein Teil des ganzen Schriftstücks. Der erste Teil der Rolle fehlt; ob er ab¬
sichtlich zurückbehalten wurde, ob der Besitzer ihn nicht mehr hatte, ist un-
gewiß; jedenfalls darf man annehmen, daß der Tote ein Grieche war, ein
Kolonist oder ein ehemaliger Söldner, und daß ihm das Schriftstück als Reise¬
lektüre mit auf die Fahrt in den Hades gegeben wurde. Dagegen spricht
auch die Einbalsamierung der Leiche nicht, denn man hat Beweise, daß die
eingewanderten Griechen diese Art der Bestattung von den Ägyptern an¬
nahmen. Die Schrift des Papyrus, dessen Material von vorzüglicher Be¬
schaffenheit ist, hat einen altertümlichen Charakter und erinnert vielfach an die
Monumentalschrist der Steine; die Verse sind nicht nach späterer Weise ab¬
geteilt, sondern die Schrift verläuft, wie man es bei Gedichten dieser Art bis
zur Zeit der Alexandriner zu machen pflegte, ohne wesentliche Absätze und
Interpunktion in einem Zuge. Kenner setzen sie ins dritte Jahrhundert vor
Christus, manche ans Ende, einige sogar in die Zeit des Demosthenes und des
Alexander. Wenn das richtig ist, haben wir in dem aufgefundnen Papyrus
die älteste Handschrift, oder wenn man so will, das älteste Buch, das über¬
haupt auf die Nachwelt gelangt ist. Ein Faksimile des Papyrus hat neulich
U. v. Wilmnowitz veröffentlicht, außerdem in besondrer Ausgabe eine Umschrift
des Textes in die uns geläufigen Lettern, eine griechische im Stil der Schotten
abgefaßte Paraphrase und eine Abhandlung, worin alle den Text wie den
Dichter betreffenden Fragen erörtert sind.
Wer ist nun der Dichter Timotheos? Ein jüngerer Zeitgenosse des
Euripides, ein Sohn des Therscmdros aus Milet, der um das Jahr 450 ge¬
boren ist und im Alter von neunzig Jahren in Makedonien gestorben sein soll.
Das ist eigentlich alles, was wir von den äußern Umständen seines Lebens
wissen; alles andre bezieht sich auf die Tätigkeit, die er als Musiker und
Dichter entfaltet hat. Auch seine Grabschrift, wovon noch der erste Teil er¬
halten ist, nennt ihn einen Liebling der Musen, einen Meister im Zitherspiel.
Er hat die Saiten der Kithara, des von alters her in Griechenland einheimischen
Instruments, bis auf elf erhöht; das ist oft erwähnt worden, und doch war
es im Grunde keine besondre Neuerung. Denn schon vorher hatte der Ki-
tharöde Phrynis aus Mytilene die alte siebensaitige Leier, deren Einrichtung
dem Terpander (um 700 v. Chr.) zugeschrieben wird, durch drei weitere Saiten
verstärkt, sodaß Timotheos zu den damals vorhandnen nur noch eine hinzu¬
gefügt hat. So ist denn nicht Timotheos, wie man vielfach geglaubt hat, der
eigentliche Reformator der Musik, sondern Phrynis: der hat durch die Ver¬
mehrung der Saitenznhl die Instrumentierung bereichert und damit eine Kunst¬
richtung angebahnt, die im Gegensatz zu den einfachen, ruhig-ernsten Weisen
der Alten als üppig, zügellos, aufregend bezeichnet wird. Wenn trotzdem der
Name des Phrynis über dem des Timotheos fast ganz vergessen ist, so kommt
das offenbar daher, daß der jüngere Meister den ältern an virtuoser Technik,
überhaupt nu musikalischer Fähigkeit weit übertroffen hat. Übrigens ist es
leicht denkbar, daß die beiden Musiker Rivalen in ihrer Kunst waren. Sie
mögen sich öfter als einmal in musischen Wettkämpfen gemessen haben; be¬
zeugt ist das freilich nur von einem, und zwar durch den Mund des Timo¬
theos selbst, der sich des darin errungnen Sieges in folgenden noch erhaltnen
Versen gerühmt hat: „Selig warst du, Timotheos — so redet er sich selbst
an —, als der Herold ausrief: Gesiegt hat Timotheos aus Milet über den
Sohn des Kanon (das ist Phrynis), den Jonokampten." Das heißt etwa
(denn übersetzbar ist es nicht) den üppigen Sänger ionischer Weisen — eine
spöttische Verunglimpfung der neuen Kunstrichtung, die freilich im Munde des
Timotheos, der ja selbst ein Jonier und Anhänger der neuen Schule war,
befremdend genug klingt. Auf jeden Fall hat Timotheos seinen Vorgänger
überholt und die neue Kunst zum Siege geführt. In dem stolzen Bewußtsein
seiner Erfolge, wenn nicht schon am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn,
mag er die Verse gedichtet haben: „Nicht die alten Weisen singe ich, das
Neue, das ich bringe, ist besser, jetzt regiert Zeus, ehemals führte Kronos das
Zepter, weg mit den veralteten Weisen."
Natürlich ist der Sieg nicht ohne Kämpfe errungen worden. Den Phrynis
nennt Aristophanes in den Wolken einen Verderber der musischen Kunst, und
noch im dritte» Jahrhundert läßt ein komischer Dichter die Poesie klagen, daß
der milesische Notkopf (das ist natürlich Timotheos) sie auf Abwege geführt
und entehrt habe. Gleichwohl hat am Ende des vierten Jahrhunderts die
neue Schule ihre Bestrebungen im wesentlichen durchgesetzt.
Zäher freilich war der Widerstand der in jeder Beziehung konservativen Lake-
dämonier. Es gibt eine oft erzählte Anekdote des Inhalts, daß die Ephoren
in Sparta die überflüssigen Saiten auf der Leier des Timotheos abgeschnitten
hätten. Allerdings ist die Geschichte auch auf den Phrynis bezogen worden,
aber gleichviel, wem sie ursprünglich gegolten hat, ihr Sinn ist offenbar der,
daß die Spartaner von der neuen Musik nichts wissen wollten. Wie durfte
man es auch wagen, an der bewährten Kunst des Terpander zu rütteln, des
ehrwürdigen Meisters, der in Sparta wesentlich seinen Ruhm begründet hatte,
und dessen Bild immer noch mit einem Heiligenschein umgeben war! Und so
kommt es, daß Timotheos noch zu der Zeit, wo er die Perser schuf, mit dem
Widerstand der Lakedämouier zu rechnen hatte, ja daß er am Schluß dieser
Dichtung einen dringenden Appell an die spartanische Jugend richtet, worin er
seine neue Kunst zu rechtfertigen sucht. Er verwehre niemand, sich der alten
hergebrachten Weisen zu bedienen, weder dem Alter noch der Jugend, nur die
Musenverderber weise er zurück, die wie kreischende Herolde ihre Stimme
langsm gellend ertönen ließen. Wie Terpander einst das von Orpheus er-
fuudue Saitenspiel durch neue Weisen bereichert habe, so habe auch er mit
Hilfe der elfsaitigen Kithara einen reichen Schatz vielstimmiger Melodien er¬
schlossen. So sucht er die große Autorität des Terpander für sich auszu¬
nutzen, denn wenn es gewiß war. daß Terpander in der Musik durchgreifende
Neuerungen eingeführt hatte, so durfte auch Timotheos dieses Recht für sich
in Anspruch nehmen, zum wenigsten war es eine triftige Entschuldigung.
Diese Bekenntnisse sind von ihrem Autor samt dem übrigen Gedicht wie immer
kunstgerecht in Musik gesetzt und von ihm selbst in öffentlicher Versammlung,
mit Begleitung der Leier gesungen worden. Daraus folgt, daß sein Publikum,
wenn nicht ganz, so doch größtenteils aus Spartiaten bestand, sonst Hütte der
Appell an die Lakedämonier keinen Sinn gehabt. Uns kommt eine solche im
eigentlichen Sinne des Wortes nach Noten vollzogn? Auseinandersetzung mit
dem Gegner fast spaßhaft vor; aber die Griechen dieser Zeit müssen darin
nichts auffälliges gefunden haben; sie waren ja an ähnliches durch die Para-
baseu der Komödie gewöhnt, wo ebenfalls der Dichter, allerdings in der
Maske des Chorführers, manchmal gänzlich aus dem Rahmen des Stückes
heraustritt und dem Publikum seine Meinung sagt.
Eine andre Frage ist es, wo und wie wir uns die Spartaner als Zu¬
hörer des Timotheos zu denken haben. Hat dieser etwa die Perser in Lake-
dümou vorgetragen? Es mag sein, daß er dort mehr als einmal konzertiert
hat, daß er aber in Sparta mit einem Stück aufgetreten wäre, dessen Inhalt
in der Verherrlichung der Schlacht bei Salamis, also der glänzendsten Waffen¬
tat der Athener, besteht, ist völlig undenkbar. Das wäre eine Taktlosigkeit
ohnegleichen gewesen, die schwerlich die spartanischen Behörden zugelassen
hätten. So müssen sich denn also wohl die spartanischen Herren in der
Heimat des Dichters, in Jonien, eingefunden haben, wenn auch nicht gerade
in der bestimmten Absicht, den Vorkämpfer der neuen Kunstrichtung zu hören
und kennen zu lernen, sondern aus andern, triftigern Gründen. Um das
deutlich zu machen, ist es nötig, einen flüchtigen Blick ans die politische Lage
der damaligen Zeit zu werfen.
Nicht lange nach der Beendigung des Pcloponuesischen Krieges war in
der Politik Spartas eine entschiedn? Wendung eingetreten. Sparta, bis dahin
mit dem Großkönig verbündet und im Kampfe wider die ätherische Hegemonie
von diesem mit Schiffen und Geld unterstützt, sah sich zum Bruch des Bünd¬
nisses genötigt, als die Perser Miene machten, wie ehemals, die griechischen
Städte Kleinasiens ihrer Selbständigkeit völlig zu berauben. Wohl oder übel
mußte man sich der Bedrängten annehmen, wenn man nicht die eben erst er-
rungne Führerschaft in Griechenland wieder einbüßen wollte. Spartanische
Heere erschienen in Kleinasien, man weiß, wie der König Agesilavs durch eine
kühne Offensive die persischen Satrapen zurückdrängte und sich die ersten
Lorbeeren erwarb, die den Griechen um so köstlicher erschienen, als sie wieder
einmal im Kampfe gegen den alten Erbfeind errungen worden waren. Um
diese Zeit, im Jahre 397 oder 396, wird Timotheos seine Perser gedichtet
und vorgetragen haben, wohl nicht, wie Wilmnowitz annimmt, uns dem Vor¬
gebirge Mhkale am Pcmionion, dem alten Bundesfeste der ionischen Städte
— denn dieses Fest war dein Poseidon geweiht, während in Timotheos
Dichtung nur Apollon angerufen wird —, sondern vielleicht an einem Fest
dieses Gottes in Milet. Da mag er in dem langen, altmodischen Pracht-
gewande der Kitharöden, den Kranz auf dem Haupte, den lauschenden Fremd¬
lingen seine neue Kunst offenbart haben, und wenn er dazu ein Libretto
schuf, worin der vor fast hundert Jahren errungne Seesieg der Athener ver¬
herrlicht wurde, so sollte das jedenfalls eine Mahnung an die neuen Vor¬
kämpfer der griechischen Freiheit sein, es den Alten gleichzntun und den
Barbaren die Stirn zu bieten. Dazu stimmt der Vers des Gedichts: „Jetzt
herrscht der Kriegsgott, Gold der Perser fürchtet Hellas nicht," dazu auch
das kurze Gebet an den Apollon, dem Volke Ioniens den Frieden zu
schenken, dazu endlich der Zusatz, daß der Friede durch Ordnung und Gesetz-
lichkeit (evvo^t«) blühn möge. Denn die e^o^t« ist das Schlagwort, wodurch
man im Gegensatz zur athenischen Demokratie und Jsonomie t6s'alle6) z^e
oligarchische Staatsordnung der Spartaner zu keunzeichnen liebte, und wenn
der Dichter diese e^o^t,'« auch für seine Heimat herbeiwünscht, so ist das eine
Verbeugung vor dem dorischen Kriegervolke, dessen Söhne als Helfer in der
Not erschienen waren.
Welcher Art ist nun aber die Dichtung des Timotheos? Ist es ein Epos,
eine Elegie, ein Dithyrambos, oder was sonst? Das Gedicht gehört, um es
gleich zu sagen, zu der Klasse derer, auf die man von alters her den Namen
,^los angewandt hat; das ist eine Dichtungsart, von der die Alten allerlei
berichtet haben, von deren Wesen man sich jedoch bisher nach den wenigen
und dürftigen bis dahin bekannten Bruchstücken keine rechte Vorstellung hat
machen können. Erst in dem ägyptischen Papyrus von Abusir ist eine Probe
ans Licht gekommen, die ein klares Bild dieser den Griechen eigentümlichen
Dichtungsart gewährt.
Die Nomen sind, wenn wird er Dnrstellnng Wilmnowitzens folgen, wie fast
alle griechische Poesie, aus der homerischen Dichtung hervorgegangen, sie sind
die Fortsetzung der alten Kitharodik, wie sie in der Odyssee von Phemios und
Demvdokos geübt wird. Die erzählenden Lieder wurden gesungen, und der
Gesang dnrch Saitenspiel begleitet; der Sänger saß während seines Vortrags
gleich den übrigen Teilnehmern des Mahls. Dann kamen die Rhapsoden ans,
die Stücke der homerischen Dichtungen nicht sangen, sondern sagten, indem sie
die Zither mit dem Stäbe, den sie während des Vortrags in der Hand hielten,
vertauschten und sich aufrecht vor das Publikum hinstellten. Da man aber
auch auf deu musikalischen Vortrag der homerischen Dichtungen nicht ver¬
zichten wollte, bestanden Kitharodik und Rhapsodik nebeneinander fort; was
aber beide Neues hinzubrachten, waren die Proömien, d. h. die Vorspiele, die
dem eigentlichen Vortrage vorangingen und als Huldigung für den Gott, mi
dessen Fest die Aufführungen stattfanden, gedacht waren; sie wurden bald ge¬
sammelt und die der Rhapsoden ein den Namen des Homer, die der Kitha-
röden an den des Terpcmder geknüpft, der jedenfalls die homerische Kitha¬
rodik weiter geführt und ausgebildet hat. Die sogenannten homerischen Hymnen,
in denen verschiedne Gottheiten kurz angerufen oder in ausführlichern Vor¬
trag gefeiert werden, sind Beispiele solcher Präludien. Bald wurden die Vor¬
spiele mit größerer Freiheit vou den Kitharöden behandelt, zuletzt aber traten
gar nach einer Entwicklung, deren einzelne Stadien wir hier nicht verfolgen
können, an die Stelle der homerischen Texte und ihrer altüberlieferten Melo¬
dien frei erfundne Libretti mit entsprechendem Tonsatz.
So wurde der Kitharöde zum freischaffenden Künstler, ohne freilich sein
altes Amt, das des musikalischen Vortrags, aufzugeben; er war jetzt Dichter,
Komponist, ausübender Virtuose zugleich. Nun konnte er seine musikalische
und dichterische Fähigkeit frei entfalten, keine Schranke der Überlieferung stand
ihm mehr im Wege. Er konnte die Tonarten, den Rhythmus wechseln, er
konnte seine musikalischen Perioden so kunstvoll, wie es ihm beliebte, gestalten.
Damit traten anch die alten Versmaße, besonders der heroische Hexameter.
zurück, und so erwuchs eine neue Dichtung, für die man anderswo vergeblich
nach Analogien sucht. Am ersten könnte man noch den mittelalterlichen Leich
damit vergleichen, wiewohl namentlich die rhythmische Gliederung beider
Dichtungsarten verschieden ist. Episch blieb der Grundton der Dichtung, die
sich nach wie vor an irgend eine Begebenheit aus Mythos, Sage oder Ge¬
schichte anschliest, aber lyrische Elemente traten reichlich hinzu, und so wurde
der Nomos ein Gegenstück zum Dithyrambos, der nicht von Einem, sondern
von Chören vorgetragen wurde und im Gegensatze zu den in freien Rhythmen
dahinfließenden Nomen strophisch gegliedert war.
Dithyrambos und Nomos waren die beiden Gattungen, mit denen man
an den musischen Agonen hauptsächlich nnftrat; Timotheos hat sich in beiden
Dichtungsarten hervorgetan. Freilich, der alte Name Nomos paßte nun für
diese Metamorphose der alten Kityarodik eigentlich nicht mehr, denn v<5^<^
bedeutet das Herkommen, das Gesetz, die Gebundenheit, und der Name ist den
alten titharodischen Vorträgen eben deswegen beigelegt worden, weil sie an
bestimmte überlieferte Weisen gebunden waren. Nun war aber gerade das
Gegenteil eingetreten: volle Ungebundenheit des Rhythmus, der Tonart, des
Tempos, der Stimmung war, wie schon von den Alten bemerkt worden ist,
die Losung der neuen Kunst geworden, dennoch behielt man den alten Namen
bei, wie das auch in vielen andern Fällen geschieht, auch wenn sich der
Begriffsinhalt des Wortes längst verändert hat. So brauchen wir bekanntlich
auch jetzt noch das Wort Elegie für eine Dichtung, die sich keineswegs mit
der Gattung deckt, wofür das Wort ursprünglich geschaffen worden war, und
das Wort Komödie umfaßte eine Zeit lang nicht nur das ganze Gebiet der
dramatischen Kunst, sondern auch — man denke an die ckiving. vomsclig, Dantes —
verwandte Gattungen.
Daß der ausgebildete Nomos aus sieben Teilen bestand, ist eine alte
Überlieferung. Der Eingang des Ganzen war zweiteilig, auf den Anfang
folgte noch ein Nachanfang (^er«^^), und es ist wohl möglich, daß
der nicht im Papyrus, aber anderswo enthaltne Vers: „Die Freiheit will ich
besingen, den Schmuck des hellenischen Volkes," in unserm Gedicht deu Nach-
aufang anhob, nachdem in dem eigentlichen Anfange, dem stark zusammen¬
geschrumpften Rest des alten selbständigen Vorspiels, der Anruf an den Gott,
in diesem Falle Apollo», vorausgegangen war. Von den beiden folgenden
Teilen des Nomos fehlen jegliche Proben, wir kennen davon nur die Namen,
aber für die letzten drei Abschnitte ist durch den Papyrus ein Muster von
vollkommner Deutlichkeit gewonnen. Um mit dem Ende anzufangen, auch der
Schluß des Nomos war wie der Eingang zweiteilig, er spaltete sich in das
Siegel (t7<^«//s) und das Nachwort (e^/^o/oL). Die o'«/^«//-,- ist also das
vorletzte Glied des Nomos, so genannt, weil sich der Dichter darin zu erkennen
gibt und so wie durch ein Siegel oder einen Stempel seine Autorschaft gegen
jeden Zweifel sicher stellt. Das nämliche Bild haben auch andre Dichter an¬
gewandt, wie zum Beispiel Theognis einmal sagt, er wolle seinen Namen
wie ein Siegel auf seine Worte setzen. Und was das Nachwort, den Epilog,
anbetrifft, so braucht kaum bemerkt zu werdeu, daß es wie der Anfang wieder
den Namen des Gottes enthielt. Beide Teile haben wir schon, wie man sich leicht
erinnert, aus der aufgefundnen Dichtung kennen lernen: in den Persern ist der
Versuch des Dichters, seine Neuerungen zu rechtfertigen, das Siegel, der
Wunsch, Apollon möge dem Volke und der Stadt den Frieden schenken, das
Nachwort.
So bleibt denn nur noch der siebente Teil, der o^«/>«/>.oL, d. i. der Nabel,
übrig. Daß damit die Mitte des Gedichts, also das eigentliche Hauptstück,
gemeint ist, folgt ohne weiteres aus der Grundbedeutung des Wortes, und
man braucht nicht erst an ähnliche bildliche Verwendungen des Ausdrucks, um
den Nabel des Schildes, des Meeres, der Erde zu erinnern. Dieses Haupt¬
stück enthält aber, wie sich weiterhin von selbst versteht, das eigentliche Thema
des Nomos, das ist in den Persern des Timotheos natürlich die Darstellung
der Salaminischen Schlacht. Die Einleitung des Kampfes und der Beginn
fehlen uoch im Papyrus, die lesbaren Stellen versetzen uns mitten in den
Verlauf des Gefechts. Mit der Treue eines geschichtlichen Berichts führt uns
der Dichter die üblichen nautischen Manöver vor: die Schiffe fahren gegen¬
einander, mit den schweren Stoßbalken des Bugspriets reißt man die Nnder-
reihen der feindlichen Fahrzeuge weg, den Stoß des Gegners sucht man mit
dem stark bewehrten Vorderteil aufzufangen, indem man eilends zurückrudert,
Schiffe werden in den Grund gebohrt, andre geentert, mit Brandpfeilen und
andern Geschossen bewirft man den Gegner, das Meer rötet sich nicht etwa
von dem Widerschein des Feuers, sondern, seltsam genug, von den Funken
und den brennenden Holzstücken, die ins Wasser fallen. Jammergeschrei er¬
tönt überall.
Von diesem blutigen Hintergründe heben sich nun vier besondre Bilder
ab. Wir sehen einen Barbaren, einen vornehmen, reichbegüterten Mann — dn
der Dichter es sagt, müssen wir es schon glauben —, der ertrinkend mit dem
Meere ringt. Die weitere Schilderung von den Anstrengungen des Armen,
sich zu retten, entgeht uns, weil die Verse des Papyrus, die sie enthalten, so
verstümmelt sind, daß ihre Deutung unmöglich ist; aber dann hören wir, wie
er das Meerwasser schluckend und ausspeiend irre Schmähreden ausstößt wider
das Element, das ihn und seine Landsleute zu verderben droht. „Du freches
Ungetüm, so ruft er etwa, schon einmal hast du deinen widerspenstigen Nacken
unter das Joch unsrer Floßbrücke gebeugt, jetzt wird dich mein Herr peitschen
(eigentlich aufwirbeln) mit seinen Rudern und mit der Weite seines Blicks
dich bändigen (eigentlich einsperren)." Das ist echt orientalisch: unbedingte
Ergebenheit gegen den allmächtigen Herrn und grenzenlose Überhebung, ganz
im Sinne des Herrschers selbst, der den Hellespont geißeln ließ, weil er sich
seinem Willen nicht fügen wollte. Und dann folgt die Verwünschung: „Du
rasendes, treuloses Scheusal, das du vom Sturm erregt mich umarmst und in
die Tiefe ziehst."
Aber die Drohung wie die Verwünschung verhallt. Die Perser werden
zurückgedrängt, das Meer und die umliegenden Gestade bedecken sich mit Leichen.
Aber einige von den Barbaren haben sich lebend ans Ufer gerettet; da sitzen
sie nun, entblößt, von der Kälte erstarrt, und brechen in laute Klagen aus.
Nach dem Hellespont, nach den Fluren Mysiens, dem heimatlichen Tmolos und
der Hcmpstadt Sardes wünschen sie sich zurück, und zuletzt rufen sie die asiatische
Göttermutter an, an deren Knien, den von dem buntgestickter Gewände umwallten,
sie sich niederwerfen, deren weiße Arme sie umfassen möchten. „Rette mich, Göttin
mit den goldnen Haarflechten, darum sich ich dich an in der Not, sonst wird mich
das feindliche Schwert treffen, oder die wütenden Wogen werden mich ver¬
schlingen, oder die Schar der Raubvögel wird mich verzehren." Daß diese Dar¬
stellung einen Verstoß gegen die geschichtliche Überlieferung enthält, kümmert
den Dichter nicht: nicht Mysier oder lydische Anwohner des Tmolos haben
auf den persischen Schiffen gerümpft, sondern die Bewohner des Küstenlandes,
Jonier, Karier und namentlich mich Ägypter. Und so gehört auch der
Phrygier, der nun auftritt, streng genommen nicht in das Gemälde der
Schlacht bei Salamis. Aber der Dichter brauchte einen weitern Vertreter
dieser buntgemischten Völkermenge, die einst Hellas bedrohte, und so wählte er
einen Angehörigen eines von den Griechen verachteten Stammes; es ist ein
armseliger Ruderknecht, der von einem griechischen Hopliten schon um Schöpfe
gepackt wird und nun barbarische und verstümmelte griechische Worte durch¬
einander mengend fußfällig um Gnade bettelt. „Laß mich los, sagt er etwa,
Was willst du mir tun? Mein Herr hat mich ja hierher geschickt, niemals,
Väterchen, will ich wiederkommen, nie wieder Krieg führen, sondern ruhig
daheim bleiben im lieben Sardes, in Susa oder Ekbatana. Ach, rette mich,
Artemis, große Göttin von Ephesos, rette mich." Das alles in einem Kauder¬
welsch vorgetragen, das sich nicht wiedergeben läßt.
Und nun das letzte Bild: inmitten seiner flüchtigen Scharen, die ihre
Waffen wegwerfen, sich das Antlitz zerfleischen und jammernd die Kleider zer¬
reißen, gewahren wir deu Großkönig selbst. Als er die allgemeine Flucht
fleht, sinkt er in die Knie, zerrauft, wie seine fliehenden Völker, Haar und
Gesicht und erhebt folgende Klage: „Wehe über den Fall meines Hauses,
wehe über die hellenischen Schiffe, die die Jugend meines Landes vernichtet
haben. Nicht wird meine Flotte sie heimführen, sie selbst schwindet dahin,
ergriffen von der Lohe des feindlichen Feuers, gellende Klage wird sich er¬
heben im persischen Lande. Jammer über Jammer, daß ich nach Hellas zog.
Aber ans, ihr Getreuen, schirrt, ohne zu säumen, mein Viergespann an und
beladet den Wagen mit meinen Schätzen; verbrennt auch die Zelte, daß nicht
mein Gold den Feinden zur Beute wird." Die Hellenen aber — so endet
die Schilderung der Schlacht — stellten ein Siegeszeichen auf und sangen
den Päan, indem sie den Gesang durch einen muntern Reigen begleiteten.
Bei dieser Schilderung muß folgender Umstand sofort auffallen: es
fehlen — wenigstens in dem erhaltnen Bruchstücke der Dichtung — alle
Namen, die auf die Schlacht bei Salamis direkt hinweisen könnten. namenlos
ist die Stätte, wo gekümpft wird, sie müßte denn in dem Verlornen Teil der
Handschrift genannt sein, namenlos der König, namenlos der mit den Wogen
ringende Perser; da ist keine Artemisia, deren Tapferkeit Herodot rühmt, kein
Thennstokles, kein Aristides, nicht einmal der Name von Athen scheint in
der Dichtung genannt zu sein; nur daß eine enge Bucht als Schauplatz
des Kampfes genannt wird, deutet auf den schmalen Sund, der Salamis
von Attika trennt, und die Stelle, von wo der Großkönig drohenden Blicks
das Meer umspannt, ist natürlich der Ägaleos, das Vorgebirge, von wo
aus Xerxes wirklich den Verlauf des Gefechts beobachtet hat. So ist auch
die Zeichnung der Seeschlacht selbst aller individuellen Züge bar: die Kampf¬
weise ist die in allen Seegefechten gewöhnliche, ja es kommen Manöver vor,
die zur Zeit der Perserkriege uoch gar nicht bekannt waren — eine Freiheit,
deretwegen man den Dichter ebensowenig schelten wird wie wegen der sonstigen
übrigens geringfügigen Abweichungen von der geschichtlichen Wahrheit, wovon
wir eben erst eine Probe gegeben haben. Will man den wirklichen Verlauf
der Salaminischen Schlacht kennen lernen, so muß man nicht etwa den Herodot,
sondern den Äschylos zur Hand nehmen, der, selbst ein Teilnehmer des Kampfes,
in seinen Persern den Gang der Ereignisse mit ebensoviel Wahrheit als Kunst
geschildert hat. Für Timotheos aber ist die geschichtliche Treue nicht von Be¬
lang: er will durch den allgemein verständlichen Hinweis auf einen glorreichen
Sieg der Vorfahren das schlummernde Nationalgefühl wecken und das junge
Geschlecht zu gleichen Ruhmestaten anspornen, aber auf eine allzu genaue
Ausmalung der Einzelheiten, auf eine allzu warme und eindringliche Lob¬
preisung der Athener mußte er schon verzichten, um das empfindliche Stammes¬
gefühl der Spartaner, die ihm zuhörten, nicht zu verletzen. Man muß auch
bedenken, daß Timotheos vor allem Musiker und nicht Dichter war, das letzte
nur so weit es nötig war, ein Stimmungsvolles Libretto für seine Tousntze
zu entwerfen.
Dennoch versteht er, wie man leicht bemerken konnte, zu charakterisieren.
Daß der versinkende vornehme Perser mit dem Übermut zugleich die orien¬
talische Ehrfurcht vor dem Herrscher — beides durch den Irrsinn bis zum
Übermaß gesteigert — verkörpert, ist schon bemerkt worden, wobei es denn
freilich merkwürdig ist, daß der das Meerwasser abwechselnd schluckende und
ausspeiende Unglücksmann noch die Kraft hat, durch einen Monolog seinem
Zorn Ausdruck zu geben. Man weiß ja freilich, daß die Monologe aller
Dichtungen im Grunde gegen die Wirklichkeit verstoßen, sofern sie nichts andres
sind als der vom Dichter mehr oder minder stilisierte Ausdruck der Gedanken,
von denen der Sprecher momentan bewegt wird; aber immerhin muß doch die
Situation von der Art sein, daß sie ein lautes Selbstgespräch wenigstens er¬
möglicht, und das ist hier augenscheinlich nicht der Fall. Aber abgesehen von
dieser UnWahrscheinlichkeit macht der versinkende Perser ein deutliches Bild.
So ist auch die Verzweiflung der auf die Klippen geworfnen Barbaren nicht
übel dargestellt: die Sehnsucht nach der fernen Heimat, das Stoßgebet an die
alte Landesgöttin, die Angst vor dem grausigen Geschick, das sind Züge, die
sich aus der Situation ergeben und darum, wenn auch etwas konventionell
dargestellt, nicht unwirksam sind. Nicht minder treffend kommt die Verzweiflung
des Xerxes zum Ausdruck. Freilich ist das Bild des zusammenbrechenden
Herrschers nicht so grandios wie in den Persern des Äschylos. Daß er sich
zu Boden wirft und sein Antlitz zerfleischt, mag unwürdig erscheinen, würdelos
ist es auch, daß er in der allgemeinen Not noch daran denkt, seine Schätze
zu bergen, aber beides sind individuelle, für den Barbarenherrscher nicht un¬
passende Züge, der letzte namentlich für den König des Landes, wo Gold
Trumpf ist, bezeichnend. Endlich ganz im Gegensatze zu diesen ergreifenden
Bildern die naturalistische Schilderung des armen Teufels, der um sein Leben
bettelt, eine Szene, die in jede Komödie passen würde.
Die Sprache der griechischen Dichtung hohen Stils — und dahin ge¬
hören auch die Nomen — ist eine Kunstsprache ersten Ranges. Nicht nur
in den großartigen, verschlungnen Satzgebäuden, sondern auch in der Wahl
der Ausdrücke, der malerischen Beiwörter, der Bilder, besonders auch in der
Neuschöpfung stimmungsvoller und trotz ihrer Kürze vielsagender Komposita
sucht sie ihre Stärke und ist darin für alle Zeit vorbildlich geworden. Aber
jeder Formensprache — und das gilt nicht allein für die Poesie, sondern
auch für jede andre Kunst — droht eine doppelte Gefahr: in den Zeiten der
Ebbe erstarrt sie entweder in leerem Formelkram, wie sich das z. B. in der
nordischen Skaldenpveste mit handgreiflichster Deutlichkeit zeigt, oder sie artet aus
in unschöne Manier, die sich in Übertreibungen, Schiefheiten des Ausdrucks
und gesuchten Absonderlichkeiten aller Art kund gibt.
In die Zeit des Verfalls gehört auch Timotheos, er ist der Epigone
einer großen Literatur, und für die Entartung seines Stilgefühls bieten die
Perser zahlreiche Beispiele von erwünschter oder unerwünschter Deutlichkeit.
Der Dichter schwelgt förmlich in kühnen, das ist zu wenig, in verwegnen, ja
ungeheuerlichen Bildern. Indem er das Meer smaragdhaarig, (lM^öoxatrtts,
nennt, tritt dieses Element wie eine Person, meinetwegen wie ein Dämon mit
smaragdgrünschimmernden Haaren vor seine Einbildungskraft, ein andresmal
— wir haben die Stelle schon kennen gelernt — schwebt es ihm wie ein
wildes Tier, etwa wie ein unbändiger Stier vor, der von dem Herrscher ein¬
gefangen werden soll, ein Bild, das freilich im Verlauf der ganzen Phrase
nicht immer festgehalten wird; das Meerwasser heißt der schäumende, nn-
bacchische Regen, wodurch der Unterschied des abscheulichen Getränks vom
Weine markiert werden soll, und das Getränk rinnt in das nährende Gefäß,
was den Schlund oder die Speiseröhre bedeuten soll. Der Ertrinkende ver¬
beißt sich, was man geradezu erraten muß, mit den Zähnen in das Meer wie
ein Hund oder ein Raubtier in das Wild. Die Ruder heißen die tannenen
Hände oder auch die Füße des Schiffes, das letzte an sich nicht übel, denn
die Ruder eines Schiffes können füglich mit den Füßen eines lebenden
Wesens, etwa eines Insekts, verglichen werden, aber nun treten wieder zwei Bei¬
wörter aus einer weit abliegenden Begriffssphäre hinzu, und damit nicht genug,
die durch diesen Komplex geschaffnen „bergentstammten (o^e/vos), lcmghals-
fahrenden l/U«^«^^»^""^ Schiffsfüße" müssen gar den Ruderern aus den
Händen gleiten. Das ist allerdings stilisierte Rede, aber mag sie auch den Griechen
behagt haben, für uns ist sie schlechterdings ungenießbar. Der Gipfel des
Ungeschmacks aber wird erreicht, wenn mit geradezu ausschweifender Phantasie
die Ruderpflöcke als marmorweiße Kinder bezeichnet werden, die aus den
Kinnladen, im Text steht gar aus dem Munde, das ist der Schiffsbord, beim
Zusammenprall der Schiffe herausspringen.*) Und so geht es fort, ein
Schwall von Worten, bald stärker, bald schwächer findend, scheint sich über
den Leser zu ergießen. Übersetzen läßt sich dergleichen nicht, am allerwenigsten
die zusammengesetzten malenden Beiwörter, worin verschiedne, sich manchmal
gar widersprechende Vorstellungen gehäuft und gleichsam zusammengepreßt
werden. Am einfachsten ist noch die Stilisierung der Reden, aber auch hier
fehlt es an geschraubten Ausdrücken und wunderlichen Wortbildungen nicht.
Immer freilich muß man wieder an die Musik denken, von der das Libretto
in seiner überbildlichen Verschwommenheit ein treues Abbild zu sein scheint,
und leicht tritt einem der Name Richard Wagner auf die Lippen; aber von
allen Einzelheiten abgesehen, der Hauptunterschied ist, soweit wir urteilen
können, doch der, daß der Deutsche als Bahnbrecher an genialischer Schöpfungs¬
kraft hoch über dem griechischen Virtuosen steht.
Von dieser verkünstelten, bunten, aufregenden, ja fast betäubenden
Vortragsweise sticht nun aber eigentümlich die Satzbildung ab, die ebenso ein¬
fach wie der Ausdruck überladen ist. Die Darstellung verläuft durchweg in
kurzen, aneinander gereihten Sätzen, die kunstvollere Periode fehlt ganz. Das
ist eine entschiedne Abweichung vom Herkommen, aber auch wohl nichts andres
als bewußte Manier; der stimmungsvollen Wirkung, worauf es im Text vor¬
züglich abgesehen war, wurde durch die eigentümliche Behandlung des Aus¬
drucks vollauf Genüge getan.
Die Sprache, deren sich Timotheos bedient, ist nicht die ionische Mund¬
art seiner Heimat, sondern die attische mit einigen Eigenheiten, die sich auch
die attischen Dichter selbst erlaubt haben. Das ist überaus bezeichnend.
Wenig Jahrzehnte vorher hatte Herodot seine dorische Mundart, um allgemein
verständlich zu sein, mit der ionischen vertauscht, jetzt sehen wir, wie der
Jonier Timotheos die attische wählt, ja sich nicht scheut, seine darin abge¬
faßte Dichtung vor dorischen Zuhörern vorzutragen. Das ist ein deutlicher
Beweis, daß am Ende des Jahrhunderts dank der politischen und geistigen
Hegemonie Athens attische Dichtung und attische Sprache in der griechisch
redenden Welt maßgebend geworden waren. So gab Athen zurück, was es
einst von Jonien empfangen hatte.
So viel ist aus dem vorstehenden klar geworden: das neu aufgefundne
Gedicht ist, wenn man seinen absoluten Wert betrachtet, keineswegs ein
glänzender Zuwachs zu dem überlieferten Schatze der griechischen Dichtung,
es wäre nur nach seinem dichterischen Gehalt beimessen nach wie vor leicht zu
entbehren; für die Wissenschaft jedoch ist seine Auferstehung ein unschätzbarer
Gewinn : ein bis dahin so gut wie unbeschriebnes Blatt der Literaturgeschichte
hat sich mit deutlich lesbarer Schrift gefüllt.
on den drei Dingen, die Straßburgs Ruhm in alle Welt getragen
haben, dem Münster, den Gänseleberpasteten und dem Liede
ist mir das Münster bei weitem das liebste. Es ist noch viel mehr
als die beiden andern das echte Wahrzeichen Straßburgs; denn
während man die Straßburger Gänseleberpasteten auch in Kapstadt oder in Wladi¬
wostok ißt, und das Lied von der wunderschönen Stadt überall ertönt, „soweit
die deutsche Zunge klingt," kann das Münster doch nur um Ort und Stelle, in
Straßburg und Umgegend genossen werden. So flutet denn auch alljährlich ein
gewaltiger Fremdenstrom um das Münster und durch seine ehrwürdigen Hallen,
um dieses „achte Weltwunder" zu bestaunen, und viele Tausende steigen die
330 Stufen zur Plattform hinauf und schauen von ihr hinab auf das Meer alters¬
grauer Dächer ringsum, ans den Rheinstrom und die lachende Ebne, die er durch¬
zieht, drüben von des Schwarzwalds, hüben von des Wasgenwaldes duftblauen
Bergen begrenzt, und sehen hinauf an dem einsamen Turm, dessen gewaltige und
doch so zierliche Formen die Plattform noch um mehr als die halbe Hohe über¬
ragen, um die sich diese über dem Münsterplatz drunten erhebt.
Aber sozusagen in ein persönliches Verhältnis zu dem herrlichen Bauwerk tritt
doch nur der, dem es tagtäglich im Sommersonnenschein und im Winterschnee, im
Morgennebel und im Glänze des Abendroth seine Schönheit offenbart. Manchem
freilich mag solche intime Kenntnis gefährlich werden, und er mag deu Zauber des
herrlichen Bildes nicht wieder bannen könne», sodaß zehrende Sehnsucht sein Herz
erfüllt, wenn er in fernem Lande durch jeden Gottestempel an Straßburgs Wahr¬
zeichen gemahnt wird und vor dem dunkelgrauen doppeltürmigen Dome Kölns, vor
dem schimmernden Marmortraum in Mailand der schlanken rosigen Schönen am Ill
einen seufzenden Gruß sendet: „Und du bist doch noch schöner!"
Auch mir ists so gegangen, und als ich mich heute an den Schreibtisch gesetzt
hatte und mein holder Schatz mich fragte: „Wovon willst du denn hente den Grenz¬
botenlesern erzählen?" und ich antwortete: „Vom Münster!" da lächelte sie schalkhaft
und sagte: „Ach so, von deiner zweiten Liebe!" und ich lächelte wieder und schwieg;
denn sie hat ja Recht. Aber was ist mir das Münster auch schon gewesen! was
hat es mir schon alles gesagt! Als ich vor Jahren, ein einsamer Fremder, nach
Straßburg gekommen war, hatte ich ihm selbstverständlich sofort nach meiner An¬
kunft einen Besuch abgestattet, mit schuldiger Ehrfurcht, wie einem großen Herrn,
dem man einen Empfehlungsbrief abzugeben hat. Ich war natürlich entzückt und
begeistert, aber innerlich kamen wir uns noch nicht nahe. Von da an sah ich es
jeden Morgen, wenn ich zur Tagesarbeit ging, und bald wurde mir das eine so
ersehnte liebe Begegnung, daß ich meine Schritte beschleunigte, wenn ich mich dem
Umversitätsplcche näherte, von dem aus ich zuerst deu hohen schlanken Turm in
den lichten Morgennebel emporragen sehen konnte. Zart und fein wie ein Spitzen¬
gewebe, anmutig und schlank wie eine Schwarzwaldtanne, stolz und hehr in.seiner
Größe und doch so unendlich harmonisch in allen seinen Verhältnissen strebte dieses
wunderbare Gebilde von Pfeilern und Säulen und Säulchen, Spitzbogen, Zieraten
und Windungen hoch empor über die breite Masse des Unterbaus, über das ganze
hochragende Bauwerk, über alle die Steinhaufen, in denen das alltägliche Treiben,
das Ringen und Hasten um irdisches Gut begonnen hatte. Die goldnen Strahlen
der Morgensonne umschmeichelten den rötlichen Vogesenscmdstein, daß er rosig
schimmerte, wie erglühend unter bräutlichen Kuß, wahrend der feine lichtblaue
Duft des jungen Tages alle Linien weicher, alle Farben zarter und alle Schatten
lichter machte. Wie jauchzte da oft mein Herz, wenn ich frohen Mutes voll diesen
Gruß der Schönheit mit mir nehmen durfte zur ernsten Berufsarbeit! Und wenn
Kummer mich drückte, wenn bange Sorge mir die Stirn fürchte, ob es mir auch
gelingen werde, festen Fuß zu fassen in dieser fremden Stadt, wie hat es mich
dann getröstet, das alte Münster, deutscher Glaubensinnigkeit, deutscher Geistes¬
größe, deutschen Muts und deutschen Fleißes ehrwürdigstes Wahrzeichen! Und wenn
bisweilen, im Herbst und im Winter, dichte Nebel über der wasserreichen Stadt
lagen und den ganzen Häuserhaufen einhüllte» in weißliches Grau, dann ragte oft die
Spitze des Turmes aus dem wallenden Nebelmeer empor und wies den zagenden
Sinn dort hinauf, wohin kein Nebel reicht, und wo kein Erdendunst mehr die
Strahlen der Sonne verhüllt. Sollte ich nicht dankbar sein für soviel Schönheit
und solchen Trost? Ich war damals einsam und fremd, durstig nach Labung
und Zuspruch — die Menschen schwiegen, und siehe, da redeten mir die Steine
des Münsters!
Und wie mir mag es im Laufe der Jahrhunderte vielen Tausenden gegangen
sein. Was kann das alte Münster alles erzählen; welche Stürme der Geschichte
haben es umbraust und auch an ihm ihre Spuren zurückgelassen! Im zwölften
Jahrhundert begonnen, weisen seine ältesten Teile, das Querschiff und die Chor¬
nischen, romanischen Stil auf; den Übergangsstil zeigt die südliche Querschifffassade,
während in dem 1275 vollendeten querschiffigen Langhaus die reinste edelste Gotik
zum Durchbruch gelangt. Wir sind gewöhnt, den ganzen herrlichen Bau mit dem
Namen Erwins von Steinbach zu verbinden, während die Baugeschichte des Münsters
uns lehrt, daß wir ihm im wesentlichen nur die nach Westen gekehrte Front mit
den Hauptportalen und der riesigen vielbewunderten Fensterrose zu verdanken haben.
Die Verkleidung dieser Westfront durch ein im Abstände von zwei Fuß die ganze
Fassade wie Efeu umrankendes senkrecht angeordnetes überaus zierliches Maß- und
Stabwerk gibt dem Bilde des Münsters die entzückende Mischung von erhabner
Größe und zierlicher Leichtigkeit, die dem ganzen Bauwerk einen charakteristischen
Stempel aufdrückt und darum mit einem gewissen Recht Erwins Namen mit dem
Gesamteindruck der herrlichen Schöpfung verknüpft. Erwin plante zwei Türme;
aber als er am 17. Januar 1318 starb, war die Westfront, aus der die Türme
emporsteigen sollten, erst bis zum zweiten Stockwerk gediehen. Sein Nachfolger
fügte, vielleicht von dem Wunsche beseelt, den wundervollen Reiz der Maßwerk¬
verkleidung auf einer noch größern Fläche wirken zu lassen, noch ein drittes Stock¬
werk hinzu, und noch mehr als ein Jahrhundert verging, bis der Nvrdturm, unter
weiterer Abänderung von Erwins Plänen, vollendet dastand. Den Südturm über
die das dritte Stockwerk der Westfront in 66 Metern Höhe abschließende Plattform
hinauszuführen, ist nie versucht worden und würde den himmelanstrebenden Ein¬
druck des Ganzen eher abschwächen als erhöhen, wie ein Vergleich mit dem Kölner
Dom leicht ergibt. Zwei Hohe nebeneinander berauben sich gegenseitig der ein¬
drucksvoller Wirkung, die ein Höchster in seiner unerreichten Einsamkeit macht.
Als sich Straßburg der Reformation zuwandte, ging das Münster mit dem
guten Beispiel voran, denn hier predigte Matthias Zell schon seit 1520 im Sinne
Luthers; ihm schlösse» sich 1523 Capito, Hedio und Bncer und bald die ganze
niedere Geistlichkeit an. Länger als anderthalb Jahrhunderte blieb das Münster
protestantisch; als aber Straßburg im Jahre 1681 der Tücke des französischen
Sonnenkönigs zum Opfer fiel, war es wiederum die erste Kirche, die den Wechsel
der Geschicke empfinden mußte: während Artikel 3 der Kapitulation von 1681 die
freie Religionsübung in allen Kirchen und Schulen der Stadt und den Besitz aller
geistlichen Güter verbürgte, bedang er den Katholiken, deren es damals nach
den Angaben des AM- Grandtdier genau zwei Familien gab, das ausschließliche
Benutzungsrecht des Münsters aus (I<z oorxs alö I'^Aufs av I>sotrs Dame sorg. ronÄu (!)
Aux o-Moliguss). Hundert Jahre später ließ die französische Revolution ihren
bilderstürmerischen Unfug an der überreichen Fülle von Bildwerken ans. die den
ehrwürdigen Bau schmückte»! 235 Statuen wurden zerstört, meldet der amtliche
Bericht, und nur die Lebensgefahr, in die sich die Bilderstürmer bei Fortsetzung
ihres Werks hätten begeben müssen, rettete eine größere Anzahl von Kunstwerken
in unsre Zeiten herüber. Doch zunächst drohte uoch größeres Unheil. Als im
November 1793 der Gottesdienst in den Kirchen Strcißburgs abgeschafft wurde,
erwies man dem Münster die Ehre, es zum rsmxlo alö la Raison umzugestalten,
wo am 20. November 1793 das „Fest der Vernunft" gefeiert wurde. Im Dezember
desselben Jahres beantragte der vor kurzem eingewanderte französische Sprachlehrer
Teterel die Niederreißung des Turmes bis zur Plattform: „xg,r la, raison aus Iss
Lwasdonrg'sois rsAÄräLnt t>,v<ze üsrtö estts Mi'iuuiäo öiovvo xg,r la, snxvrstition."
Bald darauf erging ein Befehl der Departementsverwaltung, daß alle Kirchtürme
als Beleidigungen der republikanischen Gleichheit niedergelegt werden sollten, mit
Ausnahme der im Rheintnl stehenden, die zu militärischen Zwecken nützlich seien.
Das galt auch vom Münster, und so rettete die Möglichkeit, militärischen Zwecken
dienstbar gemacht zu werden, dieses dem Gott der Liebe und des Friedens ge¬
weihte Haus vor dem Untergang. Aber das ehrwürdige Bauwerk mochte doch
Wohl gar zu höhnisch auf die gleichmacherischen Vernunfthelden hinabschauen, und
so verlangte Teterel von neuem seinen Sturz. Der stolze Dom mißfiel dem
Gleichheitsfanatismus der Revolutiousmcinuer in solchem Grade, daß seine Nteder-
legung ernstlich erwogen wurde; zum Glück siegte endlich der Vorschlag, dem Turm¬
knauf eine riesige blecherne Jakobinermütze aufzustülpen, was auch geschah.
Und wieder kamen andre Tage. Als das französische Volk am 17. Mai 1794
die Gnade gehabt hatte, die Existenz des höchsten Wesens und die Unsterblichkeit
der Seele anzuerkennen, fand am 8. Juni das Fest des höchsten Wesens im Münster
statt. Aber erst längere Zeit nach dem Sturz Robespierres, gegen Ende des tollen
Jahres 1791 wurde es seiner Bestimmung wiedergegeben.
Noch einmal drohten dem Münster schwere Gefahren im Jahre 1870. Am
18. August begann die Beschießung von Straßburg, in deren Verlauf eine große
Anzahl von Kugeln und Granaten das Münster traf und vieles Steinwerk zer¬
splitterte. Die größte Gefahr hatte es am 25. August zu bestehen, als die Dächer
der Hochschiffe in Flammen aufgingen. Doch auch diese Gefahr wurde beschworen,
und das Münster, das inzwischen zum Lazarett eingerichtet worden war, erlebte,
zwar vielfach verletzt und mit Trümmern bedeckt, doch in seinen Grundfesten uner-
schüttert, den Zeitpunkt, wo es wieder deutsch wurde, und verkündete diesen neuen
Wandel der Dinge selbst in alle Lande: am 27. September 1870, Nachmittags um
5 Uhr, ließ der Kommandant von Straßburg, Geueral Adrias, die weiße Fahne
auf dem Münsterturm bisher, und neun Stunden später, in der Nacht zum 28. Sep¬
tember, wurde die Übergabe von Straßburg in einem Packwagen, der auf den
Eisenbahngeleisen bei dem Vorort Königshöfen stand, unterzeichnet. Lange hat es
gedauert, bis die durch das Bombardement angerichteten Beschädigungen wieder
beseitigt worden waren; das Gedächtnis an sie wird aber festgehalten durch eine
Reihe von photographischen Aufnahmen, die noch heute viel gekauft werdeu, namentlich
von Besuchern „von drüben."
Übrigens sind andauernd Ausbesserungsarbeiten am Münster nötig, und fast
zu keiner Zeit des Jahres fehlt an irgend einer Stelle des ehrwürdigen Bauwerks
das Baugerüst. Dem Fremden mag das bisweilen recht störend sein; dem ver-
trauten Freunde des Münsters gewährt es eine Art Befriedigung, zu sehen, daß
man bemüht ist, auch künftigen Geschlechtern den herrlichen Anblick zu erhalten,
den es gewährt. Bei besondern Anlässen, z. B. am Abend des Papstjubiläums,
oder wenn Straßburgs Gästen etwas ganz besondres dargeboten werden soll, wie
bei der diesjährigen Tagung der deutscheu Anwälte, wird die sogenannte Münstcr-
belenchtung veranstaltet, ein etwas kostspieliger Spaß, der aber in der Tat geeignet
ist, auch recht verwöhnten Sinnen noch einen überraschenden Genuß zu bereite«.
Während nämlich an allen Ecken und Kanten des Turmes und der Brüstungen
bis hinauf an die äußerste Spitze Lichter aufflammen und seine vornehm schlanken
Formen gegen den dunkeln Nachthimmel in strahlenden Linien abzeichnen, erglüht
der ganze Turm von der Plattform an von innen heraus in bunten bengalischen
Lichtern und zeigt den wundervoll leichten durchsichtigen Aufbau dieses gewaltigen
Wegweisers zum Himmel — in der Tat ein Anblick von fast märchenhafter Schönheit.
Und doch — lieber, weil viel vertrauter und natürlicher ist mir der Blick auf den
Turin an den gewöhnlichen Tagen, mag er des Morgens seine zierlichen Linien
mit lichtblauem Duft umhüllen, mag er an wolkenschweren Tagen in dunkelm Blau¬
grau fast drohend dreinschauen, mag er an klaren Herbsttagen das wundervolle
Spitzenwerk seiner Steinmetzarbeit zum Greifen nahe bis in die zartesten Feinheiten
enthüllen, mag er in flammendem Rot erglühen, wenn die scheidende Sonne ihn
noch einmal mit ihren Strahlen umflutet, mag er in schwüler Mitternacht im grellen
Zackenschein der Blitze aus dem Dunkel der Nacht auftauchen oder in duftiger Voll-
mondnacht silberne Fäden um seine Krone und Zierate winden und flüssiges Silber
an seinen schlanken Linien entlang rieseln lassen — er bleibt immer schön: meine
zweite Liebe.
Das Innere des Münsters überrascht den Eintretenden dnrch das Dämmer¬
licht, das seine hohen Räume durchflutet. Alle Fenster sind mit bunten Glas¬
malereien bedeckt, sodaß kein störender Sonnenstrahl hineindringen, kein zerstreuter
Blick hiiiansfliehen kaun. Dadurch erhöht sich der Eindruck weltentrückter Ab¬
geschiedenheit, die so seltsam und oft so wohltuend wirkt im Gegensatz zu dem
Hasten und Treiben da draußen im grellen Tageslicht. Gern tritt der Straßburger,
den Zufall oder Beruf am Münster vorbeiführt, für kurze Zeit ein in die heiligen
Hallen; der Katholik und wohl auch der gläubige Protestant zu stillem Gebet,
andre, um mitten im Lärm des Tages dem Geist eine kurze Ruhepause zu gönnen
und aus der nüchternen Alltäglichkeit auf einige Minuten zu den erhabnen Ein¬
drücken zu flüchten, die hier in der Sprache vieler Jahrhunderte von Vergänglichen
und von Ewigen zu uns reden. So findet man an jedem Tag und zu jeder
Stunde des Tages eine weit größere Anzahl Andächtiger im Münster, als in
andern Kirchen, natürlich aber auch ebensoviel oder noch mehr neugierig umher¬
wandelnde Fremde. Treibts einer von diesen gar zu arg, so wird er wohl von
einem der umfangreichen „Schweizer," die mit Dreimaster und gelber Schärpe
umherstolzieren und bei jedem zweiten Schritte mit dem langen goldknöpfigen Stäbe
auf die Steinfliesen des Fußbodens aufstoßen, zur Ruhe gewiesen.
Was dem Norddeutschen auffällt, ist der völlige Mangel an Sitzbänkeu; un¬
gehemmt kann man die mächtigen drei Schiffe des Riesenrcmmes in allen Richtungen
durchwandeln; außer den gewaltigen Pfeilern, die die Wölbungen der Decke tragen,
und dem Gitter, das die Treppenstufen zum Hochaltar abschließt, hemmt nichts den
wandernden Fuß. Nur eine Anzahl Betstuhle mit niedrigen Sitzen und hohen
Lehnen sind an den Wänden eines Seitenschiffes aufgestapelt und werden von den
Kircheufranen gegen eine Miete von zwei „Sons" (8 Pfennigen) an die Andächtigen,
die sich ihrer zu bedienen wünschen, vermietet. Diese tragen sie sich dann um irgend
einen ihnen genehmen Platz, den sie nach Belieben wechseln können, wenn der
zuerst gewählte ihnen nicht zusagt. Die Mädchen und die Frauen bedienen sich
der Stühle meist zum Knien; sie wissen offenbar genau, wie anmutige Linien die
Gestalt der frommen Betenden zeigt, wenn sie die Knie gegen den niedrigen Sitz
lehnt, die Arme auf die hohe Lehne stützt und das schöne oft mit der bekannten
Elsässer Schleife statt des modischen Hutes geschmückte Haupt demütig senkt oder
weltvergessen Stirn und Augen mit den schmalen Händen bedeckt. Bei den Predigten
werden diese Betstuhle natürlich auch zum Sitzen benutzt, und sie sind dazu trotz
des niedrigen Sitzes viel bequemer, als die steifen Holzbänke, schon deshalb, weil
man sie immer so ausstellen kann, daß man das Gesicht ohne Halsverrenkungen
der Kanzel zuzuwenden vermag.
Diese Kanzel des Münsters, von der einst Galler von Kaysersberg und andre
Meister deutscher Sprache und deutschen Geistes das Wort Gottes verkündeten, ist
die einzige in Straßburg, von der heute noch, wie zu den Zeiten vor 1870, all¬
sonntäglich französisch gepredigt wird. Die deutschen Morgenpredigten im Münster
sind nicht so gut und vor allem auch nicht von einer so gewählten, um nicht zu
sagen eleganten Gemeinde besucht, wie die französischen Gottesdienste gegen 11 Uhr,
in denen man von ausgezeichneten Kanzelrednern ein gewähltes und reines Fran¬
zösisch hört.
er Karrenhund Tirus steckte den Kopf in die heiße Luft und heulte.
Das kam daher, daß sein Herr den Milchkarren an das letzte Ende
der Klabunkerstraße geschoben hatte und Kartoffelschalen und Abfall
im Gemüsekeller kaufte. Die Leute betragen ihn gern, deshalb
dauerte es lange, bis er die Ware gründlich geprüft hatte und
zögernd seinen ledernen Geldbeutel zog. Tiras mußte hier immer
ewig lange warten, und deshalb winselte er. Er sehnte sich nach dem andern
Ende der Klabunkerstraße, wo das kleine Eckhaus dicht bei der Paulinenterrasse
stand, wo ein alter Treppenvorbau, auch Beischlag genannt, Schatten spendete, und
wo Madame Heinemann mit Wasser in einer Blechschale auf ihn wartete. Manch¬
mal reichte ihm auch die kleine Jetta den Trunk und gab ihm zum Nachtisch ein
Stück Brot.
Der Hund heulte laut und kläglich, fletschte die Zähne und bellte einen
schneeweißen Seidenpudel an, der mit trippelnden Schritten die Straße herunter¬
kam und nun ängstlich klaffte. Einen Plebejer wie den grauschcckigen Tiras fand
er unangenehm und überflüssig, und er zeigte seine Verachtung aus der Ferne.
Herr Schlüter aber hatte sein Geschäft beendet, hängte zwei gefüllte Eimer an
seine Karre und schob diese die Straße hinauf.
Die Klabunkerstraße lag mitten in Hamburg; dort, wo es noch spitze und
eng aneinander stehende Giebelhäuser gibt, wo hin und wieder das graue Wasser
eines Fleckes aufblitzt, und wo nur von fernher das Läuten der elektrischen Bahnen,
das dumpfe Dröhnen der Schiffe klingt. Ganz wie früher war die Klabunker¬
straße allerdings nicht mehr. Hier und dort war ein altes Haus abgerissen, ein
neues, häßliches aufgerichtet worden, und Herr Jsidor Mehlwurm, der auf einen Schlag
sechs alte Häuser gekauft hatte, hatte auf ihrem Platz ein einziges langes und
schmales Haus mit einem bedeckten Gang in der Mitte errichtet, und wo kleine
Gärten hinter den Häusern gewesen waren, noch ein zweites Miethans hingeschoben,
das er Paulinenterrasse nannte. Denn, hatte er gesagt, Gott der Gerechte! Ist
es keine Terrasse, was da steht mitten im Land, das ein Garten ist gewesen?
Damals war Madame Heinemann nicht schlecht böse. Wenn ich man bloß
einen von die Machthabers kennen tat! rief sie und schlug auf den Glaskasten
in ihrem Leiden, daß die Fingerhüte und die kleinen Badepuppen darin vor Schreck
in die Höhe fuhren. Kennt ich man einen von die Machthabers! Zahl ich darum
meine Steuerns, daß sie mich vor mein Hintertür ein Kasten setzen mit sechsund¬
dreißig Wohnungen ein? Wenn ich nu in mein Garten die Wäsche aufhäng, denn
sweineriereu mich all die Schornsteine das ein!
Hedwig, dn mußt nicht so aufgeregt sein, sagte Jungfer Rosalie Drümpel-
meier. Es schadet dir und kann auch mir Unheil bringen. Denn ich habe die
Nähkundschaft bei Frau Senator Herzlich, und wenn ihr Herr Gemahl auch ver¬
storben ist, so weißt du doch, daß Frau Senator noch immer etwas zu sagen hat.
Ihre Kundschaft könnte ich nicht entbehren. Sie aber liebt es nicht, wenn man
etwas auf den hohen Senat sagt.
Madame Heinemann schüttelte brummend den Kopf; aber sie schwieg, und
Rosalie Drümpelmeier ging aufgerichtet und mit vorsichtigen Schritten die Beischlag¬
treppe hinunter, um sich zu ihrer Nähkundschaft zu begeben, um in irgend einem
Hinterstübchen von neun bis sieben Uhr zu sitze», um Wäsche und Kleider zu
flicken und um bei einer ihrer Mahlzeiten mit einer freundlichen Herrschaft oder
mit dem Dienstmädchen über die Neuigkeiten des Lebens zu sprechen.
Madame Heinemann und Rosalie Drümpelmeier waren Schwestern, und sie
wohnten zusammen, seit Herr Heinemann nach langer Krankheit gestorben war. In
ihrer Jugend hatten sich die Schwestern nicht besonders vertragen, was wohl
daher kam, daß die eine fein geartet war, und die andre gröber. Nachdem aber
der lustige Herr Heinemann seine Fran mit einer großen Schuldenlast und einem
einzigen Sohn zurückgelassen hatte, seit der Zeit hatten sich die Schwestern inein¬
ander gefunden, und das Feine und das Grobe schliffen sich leise aneinander glatt.
Madame Heinemann hatte einen kleinen Laden mit holländischen Waren, und
Rosalie half ihr, so viel sie konnte.
Sie war es auch, die den sechsunddreißig Wohnungen in der Pcmlinen-
terrasse eine angenehme Seite abzugewinnen wußte. Hedwig, du mußt nicht
schelten, sagte sie. Hier werden Menschen wohnen, die Knöpfe und Band und
Nähgarn gebrauchen, und deine Kundschaft wird größer werden.
So war es wirklich gekommen, und jetzt, wo die Paulinenterrasse schon längst
ihren neuen Anstrich verloren hatte, verrußt und schmuddlig aussah, wo unendliche
Kinderscharen auf dem Hofe spielten, auf dem einst Bäume gestanden und Blumen
geblüht hatten, jetzt dachte weder die Klabunkerstraße noch Madame Heinemann
daran, daß es jemals anders hätte sein können, und der Milchmann, Herr Schlüter,
lenkte tagtäglich seinen Karren durch den Torweg nach der Paulinenterrasse und
verkaufte seine Ware an sechsunddreißig Familien und allen Anhang, der noch
drum und dran war.
Heute war es heiß und staubig. Die Sonne hatte länger als eine Woche
ununterbrochen geschienen, und in den hohen Häusern der Stadt brütete die dicke,
unbewegliche Luft. Eine Luft, die uach Kaffee roch, gebratnen Zwiebeln und alten
Fischen. Tiras, der jetzt im Schatten des Beischlags lag, schnupperte in der
Luft und winselte. Dann aber wedelte er plötzlich mit dem Schwanz. Denn
die kleine Jetta stand vor ihm, legte ihm das Händchen auf das rauhe Fell und
tröstete ihn.
Ja, mein Tiras; ich brachte Mulli längs. Und dann fiel ich, und meine
Schürze wurde schmutzig. Und da weinte ich, und deshalb bin ich später ge¬
kommen. ...
Auf den schmalen Bäckchen des kleinen etwa vierjährigen Mädchens hing noch
eine vergossene Träne. Ihre großen blauen Augen wußten aber nichts mehr von
Tränen und wurden voll Sonnenschein, als Madame Heinemann ihr eine Blech¬
schale in die Hand gab.
So, klein Deern, nu gib ihn man was, und wenn du fertig bist, komm ein
und hilf mich ein büschen in den Laden.
Ihre Stimme hatte einen warmen, behaglichen Klang. Die Kleine nickte
eifrig, sah aber nur auf die rote Zunge des Hundes, die sich gierig in das kühle
Wasser senkte.
Nu, klein Baronesse, magst mir noch leiden? fragte der Milchmann. Dabei
strich er vorsichtig über die goldig schimmernden Haare des Kindes.
Jetta war in den Anblick des Hundes versunken und bewegte nur den Kopf;
dann aber hob sie doch die Augen.
Onkel Schlüter. für zehn Pfennige Milch. Mulli holt sie bei Tante Heine-
mcmu ab. Und nächste Woche kriegst du dein Geld!
Sie sprach unbefangen, er aber wurde verlegen.
Nu ja, eilt ja nich. Ich hab dein Mutter noch kein einzigmal gemahnt.
Mit einem Milchkännchen ging er ins Hans, wo ihn Madame Heinemnnu
mit einem Pvrzellantöpfcheu erwartete.
Sie kriegt ja nu mehr Geld! sagte sie halblaut. Meine Schwester Rosalje
hat ihr ja die Stelle bei Herr Müller verschafft. Der will doch ümmer vorgelesen
haben, weil er was mit die Augen hat. Und sein Köchin, for die Rosalje flickt,
kann es nich ordentlich.
Bei den langweiligen Müller? fragte Herr Schlüter.
Bei eben den. Er hat in fünf Wochen drei Damens gehabt, die ihn was
vorlesen sollten. Abers da is nie was nach gekommen. Er hat sie ümmer aus
die Tür gesmissen. Nu meint Rosalje, Frau von Wolffeuradt könnt das mal
mit ihn versuchen. Weil die Herrschaftens. wo sie Stunde gab, weggereist sind.'
Die arme klein Frau! sagte Schlüter. Sei» Gesicht war immer voller
Sorgenfalten, nun zogen sich diese noch mehr zusammen, und er schüttelte bekümmert
den Kopf. Die arme klein Frau. Müller is ein grasigen Kerl!
Sie muß was verdienen, Herr Schlüter!
Nu ja, natürlich! Vorsichtig rieb er den Staub von seinem Rockschoß. Ver-
dienen müsse» wir, sonsten geht das nich.
Haben Sie mal was von Ihr Schwester gehört, Schlüter? fragte Frau
Heinemann jetzt.
Er sah die Straße entlang.
Wo soll ich nich? Die arm Deern schreibt oft genug. Bloß, daß da kein
Spaß bei ist. Ja, wenn ich mich das denke!
Er seufzte und sprach langsam weiter.
Zehntausend Mark hab ich mich aufgespart, und allens in gute Papierens,
und allens bei kleinen mien Milchhandel. Und da schreibt mich mein Schwager,
er hat son feines Geschäft in Sicht, mien klein netten Hof, wo ich mein Geld
man mit einstecken soll, weil ich denn zehn Prozent Zinsen kriege. Und weil ich
doch vous Geschäft nicht ab und nich hin kommen kann, glaub ich ihn nud geb
ihn das Geld. Und um is mein Schwager tot, der Hof is nix wert, und mein
Geld ist weg.
Madame Heinemann kannte Herrn Schlüters Geschichte. Aber sie hörte sie
immer gern wieder. Denn mich sie kämpfte mit den Schulden ihres Mannes, und
geteiltes Leid ist halbes Leid.
Ja, Schlüter, grasig is es. Abers nich wahr, Sie haben doch ein Hippertei,
und wenn der Hof verkauft wird, dann kriegen Sie Ihr Geld wieder.
Wer sollt den Hof kaufen? fragte er. Liegt mitten zwischen die Heide und
is nix wert. Ich laß mein Schwester da wohnen, und sie hat ein Kuh und ein
Paar Hühner — das kann ich sie nich nehmen. — Zehntausend Mark! Was
wollt ich ihn auch glauben!
Schlüter war übler Laune geworden. Die überkam ihn jedesmal, wenn er
an seine Ersparnisse dachte, die jetzt irgendwo im Heidesande steckten, und die doch
so sauer verdient worden waren.
Er weckte Tiras aus einem flüchtigen Schlummer und zog mit seinem Karren
weiter.
Madame Heinemann nahm Jetta bei der Hand.
Ich seh nach dein klein Schwester, und du kommst in mein Laden. Das hab
ich dein Mama versprochen. Und wenn einer was kaufen will, dann sag man:
Bitte gedulden Sie sich einen Momang; Madame Heinemann kommt gleich retour.
Wo ist Onkel Louis? fragte Jetta, die das Rüschen in den dumpfigen kleinen
Laden steckte und dann in die Sonne sah, die so warm in die Straße schien.
Madame Heinemann seufzte. Ja, wo is er, klein Deern? Irgendwo auf»
Boot, weil er Wasser malen will, oder ein paar Schiffers, oder ein paar Menschens.
Das bringt kein Geld und kostet bloß Farbe. Wersten er is ein guten Jung.
Mich soll er auch malen I rief die Kleine, aber Madame Heinemann versuchte
streng zu werden.
Nu denk man nich an Unsinn, klein Deern. Stell dir hinter den Ladentisch,
und wenn einer was kaufen will, dann sagst — —
Gedulden Sie sich einen Momang! fiel Jetta ihr ins Wort. Madame Heine¬
mann kommt gleich — sie zögerte.
Kommt gleich retour! setzte die gute Frau hinzu, und dann lachten sie beide.
Elisabeth von Wolffenradt las dem langweiligen Herrn Müller die Zeitung
vor. Er wohnte auch in der Klabunkerstraße, aber dort, wo die Häuser etwas
größer waren. Er war ein verdrießlicher Mann, ohne Freunde und ohne Anhang,
und seinen Beinamen hatte er nur erhalten, weil ehemals in demselben Hause mit
ihm ein andrer Herr Müller wohnte, der immer lustig und freundlich war, und
der deswegen der nette Herr Müller genannt wurde. Dieser gute und lustige
Namensvetter war seit einigen Jahren tot, und der langweilige Herr Müller hatte
keinen Beinamen mehr nötig. Er war ihm aber doch aus alter Gewohnheit ge¬
blieben.
Elisabeth fand die Bezeichnung nicht passend. Ihr erschien Herr Müller nicht
langweilig, aber sehr unliebenswürdig, und das ist noch unangenehmer.
Er war klein, hatte ein lederfarbnes, verkniffnes Gesicht, eine knarrige
Stimme, und Augen, die durch blaue Brillengläser verdeckt wurden. Er sagte
niemals etwas Gütiges, aber mit Vorliebe Unfreundlichkeiten. Wenn seine Vor¬
leserin die Stimme erhob, hieß es: Schreien Sie nicht so, taub bin ich noch nicht.
Ließ sie dann die Stimme sinken, knurrte er: Glauben Sie, daß ich das Gras
wachsen hören kann?
Wenn Elisabeth täglich diese Fragen ertragen und sich damit abmühen mußte,
dem alten Manne, der in seiner dunkeln Sofaecke saß, und dessen Gesicht sich nie
aufhellte, die Lokalnachrichten der großen Stadt vorzulesen, dann mußte sie an
Madame Heinemann denken, die schon manchmal gesagt hatte: Na, mein Beste,
mir soll wundern, wie lange Sie es bei den langweiligen Müller aushalten. Ich
for meine Person könnt es nich. Denn wenn die Mannsleute nich ein büschen
Gemüt haben, denn mag ich ihnen nich. Heincmann hatte Gemüt: darum denk ich
noch immer an ihm, wenn er mir auch in Schulden sitzen gelassen hat.
Mit ruhiger, möglichst gleichmütiger Stimme las die junge Frau vor; aber
ihre Gedanken wanderten; zuerst zu Madame Heinemann und dann in die Zeit,
wo sie noch nicht gewußt hatte, daß es eine Madame Heinemann und eine Kla¬
bunkerstraße gab; wo sie und Wolf Wolffenradt sich über alle Maßen liebten und
heirateten, wo ihre Mutter noch lebte, und sie nichts andres kannte, als eine ge¬
borgne, wenn auch bescheidne Häuslichkeit in einer kleinen Provinzialstadt. Wie
lange war es her, daß das Leben vor ihr gelegen hatte wie ein Garten voll
Blumen und Sonnenschein; dasselbe Leben, das jetzt ein fahles, hartes Gesicht
zeigte und so viel Kälte, daß es sie oft fror?
Baron Wolffenradt war ein sehr eleganter Offizier gewesen, hatte aber schon
vor seiner Hochzeit den Abschied genommen, weil er im Pferderennen, im Spiel
Unglück gehabt hatte, und weil er, wie er behauptete, keine Lust mehr hatte zu
dienen. Nun suchte er sein Glück bei Elisabeth und fand es auch. Die zwei
Menschen waren im ersten Jahre ihrer Ehe so selig gewesen, daß ihnen die Sorge
nicht nahe getreten war. Wenigstens Elisabeth hatte nichts davon gespürt. Das
junge Paar hatte bei der Mutter gelebt, und Elisabeth hatte in der Unerfahrenheit
ihrer neunzehn Jahre geglaubt, daß es immer so bleiben werde. Das war aber
nicht gegangen. Ihre Mutter lebte von der bescheidnen Pension einer Beamten¬
witwe, und Wolf mußte sich nach einer Beschäftigung umsehen. Der arme Wolf,
der aus altadlichem Hause stammte und nur so viel gearbeitet hatte, wie es sich für
die Kenntnisse eines Reiteroffiziers schickte.
Die Wolffenradts waren ein vornehmes, aber kein reiches Geschlecht. Was
Wolf an Vermögen gehabt hatte, war längst verbraucht; von seinem ältern Bruder,
der als Majoratsherr ans der Wolffenburg saß, hatte er schon mehr erhalten, als
er verlangen konnte. Seine Heirat mit einem bürgerlichen armen Mädchen nahm
man ihm natürlich übel, und man ließ es sich deutlich merken, daß er nun allein
fertig werden müßte. Wolf wollte auch allein fertig werden. Er war ein guter
Offizier, ein schneidiger Reiter gewesen; er glaubte auch mit Leichtigkeit einen
andern Beruf ergreifen zu können.
Aber es ging nicht. Was der Baron auch versuchte, alles schlug ihm fehl;
und wie Elisabeth getreulich mit ihm von einer Stadt in die andre zog, wurde
ihr Herz allmählich schwer, und ihre Sorgen wuchsen. Zwei kleine Mädchen waren
bald nacheinander geboren worden; und als Elisabeth zu allem Ungemach nun auch
noch ihre Mutter verlor, da empfand sie außer dem Schmerz noch eine angstvolle
Einsamkeit. Zwar liebte sie ihren Mann wie zuvor, und er liebte sie; aber die
grauen Wolken der Sorge verdunkelten den Sonnenschein im Hause.
Es war hier in Hamburg gewesen, daß sich Wolf für einige Zeit von seiner
Familie getrennt hatte. Seine Schwester, die Stiftsdame Asta von Wolffenradt.
hatte ihm vorgeschlagen, sich in der Nähe ihres Klosters auf den Postdienst vor¬
zubereiten. Ihr Brief war nach einer Reihe von Jahren das erste Lebenszeichen
gewesen, das Wolf von seiner Verwandtschaft erhalten hatte, und er freute sich
nicht wenig darüber. Er war in Worten zornig auf die Wolffenradts, weil sie
ihn vernachlässigt hatten; seine Frau aber wußte, daß er sich nach ihnen sehnte.
Im Traum sprach er von seinem Stammschloß, von seinem Bruder, von der alten
Familiengruft, in der seine Eltern ruhten.
Elisabeth redete ihrem Manne zu, dem Vorschlage der Schwester zu folgen,
und er ging mit Freuden. Dicht bei dem Dameukloster Wittekind lag die kleine
Stadt, wo er den Postdienst erlernen sollte, und wo er wieder versuchen wollte,
sich eine Existenz zu gründen.
In den letzten Monaten war es dem Ehepaar schlecht genug ergangen; aus
einer verhältnismäßig guten Wohnung waren sie in die Paulinenterrasse geflüchtet,
wo die Mieteu billig waren. Nirgends war Geld zu verdienen, und die Schulden
wuchsen aus der Erde. Kurz vor ihrer Verlobung hatte Elisabeth ihr Examen
gemacht; jetzt versuchte sie Stunden zu geben. Wolf schalt darüber; er hatte es
nicht gern, wenn Frauen schufteten, wie er es nannte. Da war es denn doppelt
gut, daß er wegging, denn Elisabeth mußte arbeiten. Nicht allein ihres Lebens¬
unterhalts wegen, sondern auch um ihre Gedanken zu betäuben.
Was sollte aus ihnen werden? Und um Weihnachten mußte die Wiege wieder
in Bereitschaft gestellt werden, aus der die kleine Irmgard kaum heransgekrabbelt
war. Elisabeth drängte ihren Mann zu gehn und womöglich mit den Geschwistern
seinen Frieden zu machen. Er tat es; und nun war er drei Monate weg und
schrieb sehr selten. Hier und dort eine Karte, einen Gruß, aber niemals aus¬
führlich — das war so seine Art; er hatte immer ungern Briefe geschrieben, aber
es war eine häßliche Angewohnheit.
Wenn Elisabeth in der Nacht nicht schlafen konnte, dann sah sie Wolf vor
sich und sein geliebtes sorgloses Gesicht. Er haßte Sorgen, Nachdenken und alles
Schwere im Leben. Deshalb mußte sie sich freuen, daß er wo anders war und
sich bemühte, eine hoffentlich nicht zu schwere Stellung zu erringen.
Während Elisabeth las, stieg die Sonne höher. Voll hatte sie auf der Kla-
bnnkerstraße und ihren spitzgiebligen Häusern, den Beischlägen und dem hellen
Steinpflaster gelegen; nun kam sie auf die Seite von Herrn Müllers Wohnung
und sah seitwärts in seine Fenster. Dabei streifte sie Elisabeths Wangen und ihr
aschblondes reiches Haar, flimmerte über ihre Stirn und glitt, wie liebkosend, an
ihrem schlanken Nacken herunter.
Die junge Frau war keine auffallende Schönheit, aber ihr schmales, feinge-
schnittnes Gesicht war von großer Lieblichkeit, und ihre grauen, dunkelbewimperten
Augen blickten tief und träumerisch.
Es war Herrn Wolf von Wolffenradt nicht zu verdenke» gewesen, daß er
eine große Liebe zu seiner Frau empfunden und nicht daran gedacht hatte, nach
ihrem Vermögen zu fragen.
Jetzt glitt ein Sonnenstrahl über die Zeitung, aus der Elisabeth noch immer
vorlas, und sie mußte vom Fenster abrücken. Während ihre Gedanken zu Wolf
gingen, zu ihren Kindern, auf die Frau Heinemann acht gab, zu ihren Sorgen,
die ihr niemand abnahm, las sie von den Ereignissen des Großstadtlebens, von
Totschlag und Diebstählen und dazu die Fortsetzung einer Verbrechergeschichte unter
dem Strich.
Draußen rief der Eisverkäufer, einige Kiuder jubelten, und vom Hafen her
klang der tiefe Ruf eines Riesendampfers. Zwischen zwei spitzen Giebelhäusern der
Klabnnkerstraße konnte man gelegentlich die Masten eines Schiffs sehen, und als
Elisabeth jetzt die Augen hob, sah sie eine Rauchwolke, die kerzengerade in die
stille Luft stieg. Sie kam von dem Dampfer, der in den Hafen einlief, und auf
den schon Hunderte von Menschen warteten, um ihn zu entladen und dann wieder
zu befrachten. Und das Riesenschiff war nur eins von den vielen, die stromauf,
stromab gingen, die Leben und Bewegung, Arbeit und Glück mit sich brachten.
Denn die Arbeit ist das Glück der Tausende, die dort unten an dem grauen
Wasser stehn und es erwarten.
Warum schweigen Sie? fragte Herr Müller aus seiner Sofaecke heraus.
Elisabeth schrak zusammen. Nun hatten die Gedanken ihre Lippen bezwungen, und
sie war still geworden. Sie flüsterte eine Entschuldigung und las eifrig weiter.
Von dem Mörder, der entflohen war, und den die Polizei nicht finden konnte.
Von den Schätzen, die er gestohlen und so gut versteckt hatte, daß sie noch heu¬
tigentags gesucht wurden.
Der Regulator über dem Sofa tat zwölf Schläge; vom Hafen blies und
endete es, und Elisabeth machte eine kleine Bewegung.
Lesen Sie weiter! befahl Herr Müller. Der Mörder muß entdeckt werden,
und er muß hängen.
Morgen kommt die Fortsetzung, erwiderte die junge Frau zögernd. Außer¬
dem —
Hat es zwölf geschlagen? Der alte Mann seufzte ungeduldig. Und sie
haben den Mörder nicht einmal. Aber so ist es immer in der Welt: die Ver¬
brecher gehn leer aus! Die Verbrecher! Er wiederholte das Wort und ließ die
Hand schwer auf den Tisch fallen. Heutzutage muß man Verbrecher sein. Dann
gehts einem gut!
> Elisabeth kannte sein Schelten. Sie saß regungslos da, horchte auf das Ticken
der Uhr und sehnte sich nach Jetta und Irmgard. Und dennoch wagte sie nicht
aufzustehn, ehe Herr Müller sie entließ. Er war immer so enttäuscht, wenn der
Verbrecher nicht gleich seine Strafe erhielt.
Auch heute schalt er noch eine Weile; dann schob er ihr brummend zwei Zwei¬
markstücke hin, und sie mußte eine Quittung unterschreiben, daß sie das Geld richtig
erhalten habe. Diese Förmlichkeit wiederholte sich jeden Tag, und Elisabeth nahm
keinen Anstoß mehr daran. Seitdem sie täglich vier Mark von Herrn Müller er-
hielt, hatte sie die rückständige Miete bezahlt, und Jetta und Jrmgcird konnten so
viel Milch trinken, wie sie wollten.
Morgen wird der Mörder gefangen! sagte sie tröstend zu Herrn Müller, als
sie sich von ihm verabschiedete.
Er schüttelte finster den Kopf.
Das glaube ich nicht; darauf muß ich noch länger warten. Aber es ist auch
einerlei, und es geht Sie nichts an.
Nach diesem freundlichen Wort ging Elisabeth von dannen, und sie lächelte
vor sich hin. Der arme Herr Müller. Nun saß er stundenlang in seinem Sofa
und dachte an den Mörder und war unzufrieden. Und dennoch wollte er immer
nur Erzählungen von schlechten Menschen hören.
Heiß schlug ihr die Sonnenglut entgegen, während sie aus Herrn Müllers
Haustür trat; aber sie beeilte sich nicht, in den Schatten der andern Seite zu
kommen. Ihre Gedanken waren wieder zu ihren eignen Angelegenheiten zurück¬
gekehrt.
Morgen kann ich Herrn Schlüter zehn Mark bezahlen, dachte sie. Dann
schulde ich ihm noch dreißig. Und dem Brotträger —
Sie wollen sich doch keinen Sonnenstich holen, Frau Wolffenradt? fragte eine
heitere Stimme hinter ihr. Sie gehörte Alois, dem Sohne Frau Heinemanns, den
seine Mutter und auch die Klabunkerstraße Louis nannten, obgleich sich der alte
Heinemann sehr viel auf den Namen Alois, der ja schön selten in Hamburg war,
eingebildet hatte. Aber den alten Heinemann deckte die kühle Erde, und wenn
Frau Hedwig ihren Sohn anch über alle Maßen liebte, so ärgerte sie sich doch
über ihn und beschuldigte gelegentlich seinen sonderbaren Namen, daß er ihn selbst
auch sonderbar gemacht hätte. Denn er war kein Stubenmaler geworden, wie sie
es sich immer gewünscht hatte, sondern einer, der Bilder für die Wand malen
wollte. Wer aber kaufte Bilder, die ihr Sohn Louis malte?
Elisabeth sah lächelnd in das Gesicht des jungen Mannes.
Die Hitze tut mir nicht viel, aber ich rechnete.
Rechnen! Alois lachte. Sind Sie schon so wie meine Mutter, die immer
schilt, daß ich kein Geld verdiene? Und ich male doch schon Tassen und Teller —
nur ihr zu Gefallen!
Bei diesen Worten seufzte er ein klein wenig; und da die beiden jungen
Leute nun doch in den Schatten der andern Straßenseite hinübergegangen waren,
setzte er sich ans die Bank vor der mütterlichen Haustür und nahm den Hut
vom Kopfe.
Der Maler war schlank gewachsen, hatte ein rundes, sorgloses Gesicht und
tiefliegende Augen von unbestimmter Farbe. Diese Augen waren das Beste an
ihm. Manchmal konnten sie sich fast schließen, und niemand achtete auf sie. Dann
aber öffneten sie sich weit und sahen mit einem besonders scharfen und beobach¬
tenden Ausdruck in die Ferne.
In diesem Augenblicke sah Alois aufmerksam in den sonnendurchglühten
Himmel und auf die dunkeln Giebel, die ihre verwitterten Häupter trotzig erhoben.
Dann wandte er sich Elisabeth zu.
Rechnen muß man nicht, wiederholte er. Es ist ein mühsames Geschäft und
verdirbt den Charakter.
Bei diesen Worten zog er ein Zwanzigmarkstück aus der Tasche und ließ es
in der Sonne blitzen.
Vierzig Mark für Ansichtspostkarten erhalten! berichtete er. Denken Sie sich,
Frau Elisabeth, der Geldbriefträger war bei mir. Gott sei Dank, daß Mutter ihn
nicht gesehen hat und Tante Rosalie auch nicht. Sonst hätte ich heute keine ruhige
Stunde und müßte zur Sparkasse gehn!
Was wollen Sie denn mit dem Gelde machen? fragte sie lächelnd.
Er verzog das Gesicht. Ach, Frau Elisabeth, Sie sind neugierig wie Mutter
und Tante Rosalie, Aber ich will es Ihnen doch erzählen. Zwanzig Mark habe
ich Fritz Feddersen geliehen; Sie wissen, einer aus unsrer Klasse, der auch gern
Kunstmaler werden wollte. Aber seine Mutter will es durchaus nicht zulassen, und er
nähert jetzt Haustüren und verübt ähnlichen Unfug. Er ist auf den Einfall ge¬
kommen, ich sollte einmal Ansichtspostkarten und dergleichen zu malen versuchen,
und hat mir auch die Adresse von einem netten Mann in Berlin gegeben. Von
dem kriegte ich also heute vierzig Mark geschickt. Für sechs Postkartenentwürfe!
Fritz Feddersen wird Ihnen die zwanzig Mark wohl nicht wiedergeben.
Das würde ich auch nicht tun. Frau Elisabeth; er hat doch die Idee gehabt.
Und die andern zwanzig Mark?
Elisabeth fragte es unwillkürlich, und Alois ließ das Goldstück in der Sonne
funkeln.
Ich wollte morgen auf die Heide fahren. Dort hinten an der Elbe, wo sich
die großen roten Hügel aus dem Wasser heben, und wo die Tannen so merkwürdig
graugrün sind.
Das kostet doch nicht zwanzig Mark, Herr Alois.
Seine Augen waren weit geöffnet gewesen, und er hatte wie atemlos ge¬
sprochen; nun schloß er sie und lachte gleichmütig.
Sie sind eine Gouvernante, Frau Wolffenradt, beinahe so schlimm wie Mutter
und Tante Rosalie.
Sie sollen noch ein guter Maler werden, Herr Heinemann, erwiderte sie ein¬
fach. Aber das wird man nicht, wenn man sein Geld auf die Straße wirft.
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging in den Heinemannschen
Garten.
Es war nur ein Grasplatz mit einem alten halb abgestorbnen Apfelbaum
darin, und rund herum erhoben sich alte Holzplanken und schmutzige Mauern;
aber Jetta saß unter dem Apfelbaum, hielt ihr Püppchen im Arm und schlief eben
so süß, als wenn sie auf dem Sammetrasen eines fürstlichen Besitzes gesessen hätte.
Neben ihr, auf einer Decke, hockte Irmgard. Sie schlief nicht, denn sie hatte den
ganzen Vormittag verschlafen. Sie lag auf beide Ärmchen gestützt und sah unver¬
wandt einem Sonnenkäferchen zu, das auf einen magern Grashalm klettern wollte
und immer wieder herunterfiel.
Der kleine Käfer hatte im Stadtgarten seine schöne rote Farbe verloren und
fast graue Flügeldecke» bekommen, aber Jrmgards Augen betrachteten ihn mit
Entzücken.
Als die Mutter näher zu ihr trat, hob sie warnend den Finger. Nich tödteten,
nich tödteten! flüsterte sie.
Sie war erst zweieinhalb Jahre alt und im Sprechen noch nicht ganz ent¬
wickelt, dafür aber redeten ihr ganzes ausdrucksvolles Gesichtchen, ihre plustrigen
Haare, ihre kleinen dicken Hände.
Elisabeth kniete neben sie und drückte sie mit einen« schmerzlichen Wonnegefühl
an sich. Wenn sie ihre Kinder zwei Stunden lang nicht gesehen hatte, war es
ihr, als wenn sie eine Ewigkeit von ihnen fern gewesen wäre.
Bist du süß gewesen, Gardie?
Ich immer süß! versicherte die Kleine, nahm eine Handvoll Sand und warf
sie Jetta ins Gesicht, sodaß diese aus ihrem Schlummer auffuhr. Ehe sichs Elisa¬
beth versah, schlug sie auf die jüngere Schwester los. Beide schrien laut, rissen
sich an den Haaren, versöhnten sich ebenso schnell und küßten sich. Dann hängten
sie sich beide an die Mutter.
Wir sind süß. Mutter, sehr süß, und ich hab im Laden bedient!
Ja, sie hat Tilent, versicherte Madame Heinemann, die, den Kochlöffel in der
Hand, in den Garten trat. Frau Wolffenradt, wenn Sie bei uns in die Nähe
wohnen bleiben, dann nehm ich Jetta in mein Geschäft.
Sie wandte sich um und sah Alois in der Hausflur stehn.
Hast Tellers zum Malen geholt, Louis?
Heute hatte Herr Hirsch nichts für mich zu tun. erwiderte er lächelnd. Be¬
malte Porzellane werden nicht immer verlangt.
Und da lachst noch über? Frau Heiuemcmu seufzte schwer. Jung, Jung,
was »vollst auch Kunstmaler werden? Da is kein Verdienst bei.
Ich verdiene schon noch etwas, versicherte er tröstend; aber seine Mutter
schüttelte den Kopf.
Das sagst du; aber da kommt doch nix nach. Geld hast du nie, und dein
Mutter kann auch nich mehr als arbeiten und hinter den Ladentisch stehn. Und
was Tietzes und all die großen Geschäftens sind, die nehmen einem die Kundschaft.
Nächste Woche soll ich zwölf Teller malen, erwiderte Alois. Er hatte kaum
auf seine Mutter gehört, sondern den Apfelbaum betrachtet und die Kinder darunter,
den hellen warmen Himmel und die Lichter auf der schmutzigen Holzplanke.
Sie sah ihn halb ernst halb getröstet an.
Nu komm man ein in die Küche und iß Mittagbrot. Frau Wolffeuradt, darf
ich Ihnen auch einladen?
Aber Elisabeth dankte freundlich, und bald klomm sie mit ihren Kindern die
steilen Treppen der Panlinenterrasse hinauf.
Madame Heinemann lud sie immer zu ihre» Mahlzeiten ein, aber Elisabeth
nahm die Einladungen selten um. Madame Heinemann brachte sich und ihren
Malerjungeu, wie sie Alois nannte, nur mühsam durch, und Elisabeth würde sich
geschämt haben, mit an dem mager gedeckten Tisch zu sitzen. Aber schon die
Freundschaft der guten Frau und ihrer Schwester war ihr von Wert. Natürlich
hatte Jetta die Bekanntschaft vermittelt. Kurz nach der Abreise des Vaters war
sie mit einer Badepnppe nach Hause gekommen, die Madame Heinemann ihr ge¬
schenkt hatte, und dann hatte Alois Heinemann sie eines Tags verirrt und
jammernd außerhalb der Klabunkerstraße gefunden und zu ihrer Mutter gebracht.
Jetzt war es, als kennte Elisabeth das kleine spitzgieblige Haus und seine Ein¬
wohner seit Jahren; ebenso, wie sie sich nicht denken konnte, ohne die Bekanntschaft
des alten Herrn Schlüter gelebt zu haben, der ihr schon seit Wochen die Milch
gestundet hatte und ihr sogar einmal verschämt drei Mark hatte leihen wollen,
weil er dem zornigen Vizewirt auf der Treppe begegnet war und wußte, daß dieser
Elisabeth um die fällige Miete gemahnt hatte.
Frau von Wolffenradt hatte sein Anerbieten mit Dank zurückgewiesen; lieber
hatte sie ein gutes schwarzseidues Kleid versetzt. Aber sie hatte die Güte des alten
Mannes nicht vergessen, und auch nicht, daß alle diese schlichten Leute mit ihrer
Hilfsbereitschaft erst hervorgetreten waren, als ihr Mann abgereist war, als ob sie
wußten, daß Elisabeth Freundschaft und Hilfe nötig hätte. Dabei waren sie takt¬
voll und fragten nicht nach Wolf, und ob er von sich hören ließe. Sie kannten
es, daß die Männer davongingen, um Arbeit zu suchen, und vielleicht lauge nichts
von sich hören ließen — bis das Glück kam, und sie Gutes zu melden hatten.
Aber das konnte lange dauern.
Elisabeth stand vor ihrem kleinen Petroleumkocher und bereitete eine Milch¬
suppe für sich und die Kinder. Ihre Gedanken aber wanderten zu Wolf, und
Plötzlich stieg eine Erinnerung in ihr auf: daß er ihr einmal von einem Gut er¬
zählt hatte, das ihm zufallen würde, wenn er feinem Bruder eine Summe aus¬
zahlen könnte. Eine bestimmte Summe. Elisabeth sah sich in ihrem ärmlichen,
heißen Zimmerchen um und mußte schmerzlich lächeln. Dann horchte sie auf die
Stimmen der kleinen Mädchen und ans das leise Brodeln der Suppe.
Sie nahm von ihrem Nähtisch Wolfs Bild und stellte es so, daß sie es sehen
konnte, während Jetta den Blick von ihrem Spielzeug hob und ihre Bewegung
verfolgte.
Papa ist hübsch, sagte sie stolz und stellte sich neben die Mutter.
Es war auch ein hübsches Bild, das von einem vornehmen Rahmen eingefaßt
wurde; dieser stattliche Mann mit dem vornehmen, schmal geschulteren Gesicht und
den siegesgewiß leuchtenden Augen. So hatte Wolf Wolffenradt vor fünf Jahren
ausgesehen, so sah er noch jetzt aus, wenn er freundlich war, und die Sorgen ihn
nicht quälten. In der letzten Zeit war er finster und mißvergnügt gewesen, und
Elisabeth freute sich, als er sich so schnell zum Weggehn entschlossen hatte. Aber
sie hatte gehofft, er würde öfter und ausführlicher schreiben.
Die Suppe brodelte stärker, und Elisabeth sah halb gedankenlos, daß Jetta
nach dein Bilde griff.
Setze Papas Bild auf seinen Platz, sagte sie.
Jetta wollte gehorchen, aber mit dem Bild in der Hand stolperte sie, und es
siel mit lautem Krach auf den Fußboden. Die Splitter flogen, und Elisabeth
schrie auf; auch die Kleine brach in bittere Tränen aus, und die kleine Wohnung
in der Paulinenterrasse wurde plötzlich der Schauplatz großen Kummers, während
nur die Milchsuppe fröhlich wurde, überkochte und das Zimmerchen mit Dampf
und Gestank erfüllte.
Als Herr Schlüter spät am Nachmittag an die Tür klopfte, um noch einmal
frische Milch für die Kinder zu bringen, öffnete ihm Elisabeth mit verweinten Augen.
Is ein von die klein Dingers krank? fragte er besorgt.
Das Glas vom Bilde meines Mannes ist zerbrochen, entgegnete die junge
Frau traurig.
Sein besorgtes Gesicht bellte sich auf. Glück und Glas geht leicht knput,
Frau Baronin, sagte er tröstend. Besonders das Glas, und da kann man neues
kaufen. Mit das Glück geht es nich so leicht; das kann man mit» Portmonnäh
nich wieder kriegen.
Sein Gesicht hatte einen ernsthaften Ausdruck angenommen. Elisabeth schämte
sich einen Augenblick, ihm ihren kleinen Unfall erzählt zu haben. Er hatte andres
zu tragen, sie wußte es wohl. Sein Lieblingssohn war ihm gestorben, eine Tochter
war kürzlich Witwe geworden und saß mit vier unversorgten Kinder» da, und Herr
Schlüter selbst hatte seine Ersparnisse verloren.
Sie ließ sich schweigend die Milch in ein Töpfchen schütten, und Jetta, die
schon wieder heiter geworden war, stellte sich zutraulich neben den alten Mann.
Ich habe Papas Bild kaput gemacht, aber ich kaufe ein neues, wenn ich groß
bin, Onkel Schlüter.
Das tu man, klein Deern!
Onkel Schlüter, was macht Tiras jetzt?
Er sitzt vor seiner Hütte und denkt an was.
Nachmittags braucht er nicht zu arbeiten?
Das weißt doch, klein Deern. Einmal muß er Ruh haben.
Elisabeth begleitete den alten Mann auf den dunkeln Korridor.
Hier sind wieder zehn Mark, Herr Schlüter, sagte sie etwas verlegen. nach¬
gerade kann, ich meine Schulden bezahlen.
Er schien die ausgestreckte Hand nicht zu sehen,
Mich deucht, Frau Baronin, die klein Jetta müßt noch ein paar Stiefelns
haben, sagte er zögernd. Er war der Einzige, der Elisabeth noch manchmal Frau
Baronin nannte und nicht vergessen hatte, daß früher eine Karte mit dem Namen
Wolf Freiherr von Wolffenradt um der Zimmertür geklebt hatte.
Jellns Stiefel sind noch ganz gut, Herr Schlüter. Elisabeths Stimme wurde
unsicher. Bitte, nehmen Sie.
Vorn Treppenhaus her fiel das Tageslicht in Schlüters bekümmertes altes
Gesicht. Nehmen Sie es nich for ungut, Frau Baronin, sagte er; ich mein ja
man bloß. Ich weiß ja doch auch, daß allens Geld kostet, und daß es nich leicht
is, durch der Welt zu kommen. Zögernd griff er nach dem Häufchen Silbergeld,
das Elisabeth ihm »och immer hinhielt.
Wenn ich man bloß mein zehntausend Mark noch hätt, Frau Baronin. Wahn
Geld, nich? Und das muß mich der alt Fuchsins, was mein Schwager war, ab¬
schnallen, daß ich es mit in den Hof steck. Nu is er tot, hat beinah bankrott ge¬
macht, und was mein Schwester is, die kann die Zinsens nich bezahlen. Und 'n
Sohn hat sie, der sie noch jeden Groschen wegnimmt. Waihu Welt, Frau Ba¬
ronin. Abersten ich hab ja noch mein Auskommen, und ich drang Ihnen nich.
Das weiß ich, Herr Schlüter! Geduldig hatte Elisabeth dem alten Manne
zugehört. Jeden Tag fast erzählte er seine Geschichte, aber sie wußte, daß es ihm
gut tat, sich auszusprechen. — Sie haben mich nicht gemahnt, aber ich möchte
meine Schulden bezahlen. Bei Herrn Müller verdiene ich ganz viel Geld.
Bei den langweiligen Herrn Müller. Schlüter steckte bedächtig das Geld ein.
Das is schwer verdient, Frau Baronin, bei son alten Kerl. Sagt nie und nimmer
ein freundlich Wort; ich kenn ihm. Früher hab ich ihn die Milch gebracht; mit
einmal hat er gesagt, sie wär nich gut. Was mich noch nie ein Mensch gesagt
hat. Nu sind wir, auseinander.
Weshalb nennen Sie ihn eigentlich alle den langweiligen Müller? fragte
Elisabeth.
Warum? Schlüter nahm seine verschlossene Milchkanne aus der einen Hand
in die andre. Ich weiß nich, Frau Baronin. Wir nennen ihn alle lange so. Wie
er aus Schirm wiederkam und ganz anders war als sonst. Früher war er ein
netten Kerl, fuhr auf See, und wenn er hier einkuckte, war er vernünftig. Abers
wie er aus Schina wiederkam, war er langweilig geworden, und sie nannten ihm
so. Abersten ich muß weiter, und auch vielen Dank, Fran Baronin. Und nu hab
ich Geld forn fnrchbar lange Zeit gekriegt.
Flink lief der alte Manu die Treppen hinunter, Elisabeth horchte auf seine
Verhallenden Schritte und das Klirren seiner Milchkarren. Nun ging er noch bis
acht Uhr Abends von Haus zu Haus und stieg eine Treppe nach der andern.
Morgen früh um fünf stand er schon mit seinem Tiras am Hafen und nahm die
Milch in Empfang, die von den Elbinseln kam. Und in seinem kleinen Milchkeller,
wo er mit seiner gichtischen Frau wohnte, blitzte und blinkte alles vor Sauberkeit.
Wenn er nicht Milch austrug, scheuerte er. Und dabei hatte er keine Aussicht,
dieses Leben aufgeben zu können; seine Ersparnisse waren verloren gegangen.
Die Sonne stand noch immer am Himmel, und im Hause brütete die Hitze.
Auf den Treppen saßen die spielende» Kinder, ans den Wohnungen kam Essens¬
und Petroleumgeruch. Vou Zeit zu Zeit erklang auch wohl die zankende Stimme
einer Frau und die grobe eines Mannes. Die Ehepaare hier in der Paulinen-
terrasse lebten nicht alle im Frieden. Manche stritten sich, sobald sie sich sahen,
und neulich war eine Frau ihrem Manne weggelaufen. Elisabeth wußte die Ge¬
schichte von Madame Hciuemann, die regen Anteil an allen Ereignissen der
Klnbnnkerstraße und der Paulinenterrasse nahm. Früher hatte Elisabeth nichts von
solchen Dingen geahnte
Sie trat in ihr eignes Zimmerchen zurück. Hier saßen ihre zwei kleinen
Mädchen friedfertig auf dem Fußboden, und Jetta redete laut und eifrig auf
Irmgard ein: Gefällt Ihnen diese Mütze nicht, Frcinlein? Sie steht Ihnen sonst
so gut. Vielleicht auch noch eine Schürze gefällig, Fräulein? Ich habe sie ganz
großartig. Heute nicht mehr, Fräulein? Adje, Fräulein, beehren Sie mich bald
wieder! —
Wir spielen Madame Heinemann und ein Dienstmädchen! sagte sie, sich zu
der eintretenden Mutter wendend. Mulli, Tante Heiuemann sagt, ich habe Tileur.
Darf ich nicht Ladenmädchen werden?
Elisabeth nahm ihr Kind in die Arme.
Nun wollen wir zu Bette gehn, mein Herzchen, und morgen weiter spielen.
Sie warf einen hilfesuchenden Blick auf die Photographie ihres Mannes, dessen
Augen, des schützenden Glases beraubt, einen noch sorglosen Ausdruck hatten.
Wann kam er, ihr zu helfen?
Draußen verschwand endlich die Sonne hinter den hohen Häusern; die staubige
Klabunkerstraße bekam einen rosigen Schein, und um ihre dunkeln Giebel legte sich
sanfte Dämmerung. (Fortsetzung folgt)
is die Grenzboten 1891 ihr fünfzigstes Jahr vollendet hatten, schrieb
ihr jetziger Herausgeber ein Erinnerungsheft, worin er ihren Lebens¬
gang historisch erzählte, und am Ende ihres sechzigsten Jahres gab
er wiederum in einem besonders ausgestatteten Heft von dem Ablauf
dieses weitern neuen Abschnitts Kunde. Den für uns alle so wichtigen
Gedenktag, wo er selbst seit fünfundzwanzig Jahren an unsrer Spitze
steht, hat er bloß in kurzen Worten am Schlüsse des verflossenen Jahrgangs seinen
Lesern angezeigt, so schlicht und so warm, wie mir er zu schreiben versteht. Seinen
Lesern und auch seinen Mitarbeitern, für diese selbst überraschend, ein stilles Jubi¬
läum, snnglos und klanglos, das wir alle nichts ahnend nun also leider verschlafen
haben. Er hat es ja so gewollt, denn er hat nicht Wohlgefallen am Opfer, aber
er muß es sich schon gefallen lassen, daß nun noch der erste beste aus dem Freundes¬
kreise den angeschlagnen Ton aufnimmt und die angefangne Melodie, an der noch
wesentliche Takte fehlen, zu Ende zu spielen versucht.
Die Grenzboten sind das einzige größere Blatt, das von ein und demselben
Manne redigiert, herausgegeben nud — mit allen finanziellen und moralischen
Voraussetzungen und Folgerungen — verlegt wird. Sie sind auch darin einzig,
daß ihr Mitarbeiterstamm nicht aus berufsmäßigen Journalisten besteht, sondern
aus Männern, die in irgend einer andern Lebensarbeit stehn und meist deren
größten Teil schon getan haben: älter» Männern, die ans dem bestimmten Ab¬
schnitt ihrer Kenntnisse und Erfahrungen heraus den Blick frisch und vertrauensvoll
in die Zukunft und auf das Leben gerichtet halten, an dessen Weiterentwicklung sie
mitwirken möchten. Sie haben ein starkes Gefühl für alles Große in der Ver¬
gangenheit, von der sie einen Teil mit Bewußtsein selbst miterlebt haben, darum sehen
sie den Seitensprüngen der Übermodernen gelassen zu. Die haben ja ihre eignen
Sprechsäle, und wenn darin die Grenzboten oftmals „Schulmeister" heißen, so ist
das für diese ein Ehrentitel. Aber was gut und gesund ist in der modernen Be¬
wegung, in Sitte. Literatur und Kunst, das haben sich die Grenzboten immer redlich
bemüht zu verstehn und anzuerkennen, und dann und darum wird ihnen auch der
Lohn, daß ihre Stimme etwas gilt, weil sie nicht leichten Kaufs zu haben ist.
Die grünen Blätter sind ferner niemals eine Revue gewesen, die über alle wichtigen
Tagesereignisse oder Erscheinungen der Literatur lückenlos berichten wollte, und
noch weniger eine Rezensionsanstalt. Die Bücherbesprechnngen sind in den letzten
Jahren sogar sehr eingeschränkt worden, weil der heutigen Massenproduktion mit
summarischen Übersichten zu folgen zwecklos wäre, dafür gibt es genug andre Organe,
und weil die Abschlachtuug schlechter Bücher weder unsern Lesern Belehrung oder
Unterhaltung, noch uns selbst Genugtuung gewähren könnte; nur wo sich das nichts¬
nutzige allzu anmaßend in den Vordergrund drängt oder wo es mit seinem Gestank
die Luft verpesten will, haben Richtbeil und Besen zum allgemeinen Besten ihre
Arbeit zu tun. Bücherbesprechuugen, die nutzen sollen, kosten mehr Zeit, als die
Berufsjournalisten zu haben Pflegen. Die Grenzboten nehmen sie sich, wenn ihnen
ein Buch der Mühe wert scheint, oder wenn zufällig einen von ihnen eines be¬
sonders interessiert. Diese Methode, bei der vieles, was es vielleicht ebensosehr
verdiente, nicht berücksichtigt wird, hat sich bewährt, denn manchmal schicken uns
bessere Schriftsteller nachträglich ganze Reihen ihrer Bücher zur Besprechung, die
dann erfolgt, wenn ihnen einer unsrer Mitarbeiter fruchtbare Seiten abzugewinnen
weiß. Dieses individuelle Verhältnis zu unsern Gegenständen soll, auch mit seinen
notwendigen Schwächen, ein Kennzeichen unsrer Arbeit sein. So ist es auch mit
den Geschehnissen unsers politischen und sozialen Lebens. Manches Ereignis geht
ins Land, und man wird nachher gefragt: Warum haben denn die Grenzboten
nichts dazu geäußert? Sie werden wohl gedacht haben, daß Schweigen manchmal
besser ist, konnte darauf geantwortet werden. Aber die weiter reichende Auskunft
ist: Weil die Grenzboten keine Mustersammlung von phonogrciphischeu Schalltrichtern
find, sondern eine geistige Gemeinschaft. Manchmal fragt ja unser Grunow an: Wer
will denn da oder dazu etwas sagen? und keiner findet sich bereit. Das ist eben
die Bedeutung des Persönlichen unter uns; es braucht ja nicht zu allem etwas
gesagt zu werden, und es spricht nur der, der glaubt, daß er auch etwas zu sagen
hat. Dann aber läßt sich anch nicht eine Parteirichtung vernehmen oder eine
Schulmeinung, sondern man hört die Person heraus. Besondre Gelegenheiten
führen aber auch beinahe imnier den Grenzboten außerordentliche Mitarbeiter zu,
die gerade zu der Frage das Wort zu nehmen berufen sind, bedeutende und oft auch
im Leben hochstehende Männer, deren Namen dann kein Leser ahnt. Ans die lange
Reihe dieser wertvollen Hospitanten dürfen die Grenzboten besonders stolz sein.
Viele Köpfe, viele Stimmen. Der eine schreibt behaglich und wortreich, man
fühlt förmlich, wie Wohl ihm das tut; der andre sachlich und hart, sodaß man auch
einmal einen Satz zweimal lesen muß; der eine sprudelnd, spielend und anmutig, der
andre gedankenreich und philosophisch, aber ohne den Jargon der Philosophen.
Alle schreiben gut, d. h. richtig, nicht streng nach der Wustmannschen Regel, aber
ohne die Dummheiten, die das Wustmannsche Buch unter Strafe stellt; darauf hält
dessen Verleger Grunow auch als Redakteur seinen Mitarbeitern gegenüber uuncichsicht-
lich; manche haben bei ihm erst „schreiben" gelernt. Jeder, der einmal in die Grenz¬
boten geschrieben hat, weiß, wie ausgezeichnet sorgfältig in der Offizin korrigiert wird;
des Herausgebers eignen Anteil daran ahnt er nicht, weil er dessen Federstriche
in dem abgesetzten Manuskript nicht mehr findet. Wer etwas Sprachgefühl hat, erkennt
die Änderungen meist als Verbesserungen an, oder er findet sich doch mit ihnen
ub, und mancher schon Ergraute lernt in diesem wortkargen, apodiktischen Lehr¬
gang wie in einer nachträglichen Schule noch täglich dankbar nach. Aber nicht
alle, denn die deutschen Gelehrten — das hat nicht bloß Wustmann gesagt —
schreiben nicht nur meist schlecht, sondern sie wollen es anch nicht einmal wissen.
Wie könnte es ein so hoher Herr ruhig hinnehmen, daß ihm ein Buchhändler sein
Skriptum verbessert? Er verlangt also die Wiederherstellung seines Wortlauts,
oder er besteht wenigstens für die Folge auf Respektierung seines „Originaldeutschs."
Schade! Der Aufsatz war klug und gut, von dem Verfasser ließe sich noch etwas
erwarten. Aber die völlige „Wustmannlosigkeit," und noch dazu für die Zukunft
Privilegiert und durch Patent gesichert — unmöglich; was würden dazu die andern
Grenzbotenmänner für Gesichter machen? — Ach, seufzt daun unser Grunow, der
übliche „Stilbrief" bleibt mir wieder einmal nicht erlassen. Und schnell, wie alles
bei ihm gehn muß, läuft seine Feder über zwei oder drei, auch vier Briefbogen
und bedeckt sie mit den lebendig sprechenden kleinen Schriftzügen, die dem Autor
eine auf seinen Fall angewandte, höchst individuell eingekleidete kleine Grammatik
des Richtigen übermitteln, freundlich, sogar mit Scherzblitzen durchsetzt und in der
Form verbindlich, aber ebenso bestimmt in den unerläßlichen Forderungen: hier liegt
Rhodus, jetzt muß gesprungen werden, oder —! Aus solchen Kraftproben haben
sich schon oft langdauernde, schöne Verhältnisse entwickelt. Oft aber wird der Stil¬
brief auch zum Scheidebrief, und jeder Jahrgang weist eine Anzahl von Passanten
auf, die nicht wiederkehren, und um manche von ihnen ist es schade, aber die
Grenzboten wollen sich ihren Ruf. daß in ihnen gutes und geschmackvolles Deutsch
geschrieben wird, bewahren.
Viel schwerer als diese formelle wird unserm Leiter die Seite seiner Re¬
daktion gemacht, deren Leitmotiv lauten könnte: Es sind vielerlei Gaben, aber
es ist ein Geist. Der Charakter des Persönlichen, der unsern Mitteilungen inne-
wohnen soll, beruht ja doch auf recht vielen Personen, und die Musik muß nicht
bloß Töne machen, sondern auch stimmen, ein Blatt soll gewissermaßen eine Person
sein. Der Stil des Gewebes mag uoch so verschieden sein, die Musterung und
Färbung mannigfaltig und bunt, einheitlich muß immer der Grund durchscheinen,
und diese Einheitlichkeit will nicht bloß in den großen und groben Zügen gewahrt sein,
auch einzelne Äußerungen können sie stören, die nur ein scharfes und zugleich geübtes
Auge sieht. Nicht selten kommt es hier zu einem Streiten sonst einiger Männer,
und wie dann unser Grunvw schlichtet und richtet mit seiner niemals fehlenden
Einsicht in die ungeschriebnen Gesetze, nach denen wir regiert werden, das darf
ich hier nicht mit Beispielen erzählen; er würde mirs doch nur wegstreichen. Das
Gegenbild der monarchischen Leitung ist aber die Selbständigkeit der Minister in
ihren Ressorts. Ungehindert sagt jeder, was er vertreten kann, und oftmals so
scharf, wie er denkt, daß es sein muß, wenn es auch Anstoß gibt, wenn es auch
„einige Abonnenten kostet." Das geht Sie nichts an, das ist Sache des Verlegers,
sagt uns daun wohl unser Redakteur. Die beide» Ämter stehn also nur in
Personalunion.
Sogar über die Annahme von eingeschickten Beiträgen werden die Minister
nicht selten von dem Monarchen befragt: „Hier sind Sie ja eigentlich Redaktion."
Und ebenso kommt es vor, daß ihnen Artikel zur Übermittlung übergeben werden
von Freunden oder Bekannten, die auf diesem Wege um so sichrer anzukommen
glauben. Bisweilen trifft der Kalkul zu. Ebenso oft aber auch nicht. Denn „für
was drein geht und nicht drein geht," behält sich unser Monarch immer die aller¬
höchste Entscheidung vor, ohne Ansehen der Person seiner Minister. Mancher, der
dies liest, wird sich dazu eiues Beispiels erinnern können. Und wir selbst, die wir
dann mit unsrer Fürsprache abgefallen sind, sagen uns ja auch am letzten Ende,
daß es gut ist, wenn allein die Sache den Ausschlag gibt. Daß übrigens das
öftere Zurückschicken von Manuskripten an dieselbe Person Verstimmungen schafft,
und daß diese, wenn es sich um Personen von einflußreicher Lebensstellung handelt,
sich bei gegebner Gelegenheit zu allen möglichen Gegenwirkungen verdichten können,
braucht nur angedeutet zu werden. Die Folgen trägt der Herausgeber ganz allein.
Er muß sozusagen ein heimlich anwachsendes Verlustkonto, dessen Höhe und Fällig¬
keitstermine er nicht vorher berechnen kann, jeden Augenblick durch Leistung zu decken
bereit sein. Dafür erweitert sich seine Kenntnis der Menschen, gewinnt sein Leben
an Reichtum. Und die schon erwähnten hervorragenden Hospitanten, die unbekannten
Männer der großen Gelegenheiten, kommen doch auch wesentlich um seinetwillen, weil
sie zu ihm Vertrauen haben. Die grünen Blätter gehören keiner Partei an, sie sind
nach oben, aber auch nach unten unabhängig: sie nehmen das Gute, woher es auch
kommt. Und es kommt ihnen oft unvorhergesehen. Dem bessern Publikum ist es
nicht unbekannt, daß man in ihnen etwas „zur Sprache bringen" kann, wenn es
der Mühe wert ist; es wird dann weit gehört und macht Eindruck, anders als
wenn Hinz und Kunz sich ans die Eselswiese begeben. Und darin erfüllen nun
doch die Grenzboten auch eine wichtige Aufgabe, daß sie das richtige Wort zur
rechten Zeit bringen können und wollen.
Sie sind endlich kein sächsisches Blatt, die Grenzboten, obwohl sie in einer
sächsischen Stadt erscheinen; das sieht jeder, der sie in die Hände nimmt. Aber
wenn sie auch das Tägliche der Lokalpresse überlassen, so gedenken sie doch bei
allen wichtigen Wendungen ihres engern Vaterlandes, und zwar so, daß dieses mit
ihnen zufrieden sein kann; wir erinnern an unsre Behandlung der sächsischen
Finanzangelegenheiten vor zwei Jahren und zuletzt bei dem Abschluß der Ehc-
irrungen ein den einzig schönen Aufsatz mit der Überschrift: Dein Wort soll uns
genügen. Wir meinen sogar, daß es eine Ehre sei für das Sachsenland, daß inner-
halb seiner Grenzen die Grenzboten seßhaft geworden sind, und in diesem Gefühl
dürfen wir auf den Ehrentag unsers geistigen Oberhauptes die Worte des Sym-
bolnms anwenden:
Unsre Hoffnung ist das Weitergrünen unsrer grünen Blätter.
Die jüngst vom Kaiser in Hannover gehaltne Ansprache, die daran er¬
innerte, daß die Preußen es waren, die bei Belle-Alliance die Engländer vor
der Vernichtung retteten, hat einen Teil der englischen Presse mächtig aufgeregt.
Dergleichen Wahrheiten verträgt der englische Nationalstolz nicht, und namentlich
unserm jetzigen Kaiser gegenüber ist man drüben zum Übelnehmen ganz besonders
geneigt, weil der britische Dünkel in ihm viel weniger den Repräsentanten einer
europäischen Großmacht als den Enkel der Königin Viktoria sieht, und der richtige
Engländer sich diesen gesamten erlauchten Familienkreis in seiner weitesten Aus¬
dehnung nicht anders als als britische Satrapie vorstellen kann. Wellingtons ge¬
schichtlich beglaubigtes Wort: „Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen,"
sollte ebenso wie der Empfang, der Blücher und Gneisenau nach dem Kriege in
England zuteil geworden ist, jeden müßigen Streit auch für die Engländer im
voraus abschneiden. Dem Ruhme des Herzogs von Wellington und der britischen
Waffen tut es keinen Abbruch, daß Blücher und sein Heer sie bei. Belle-Alliance
vor einer vernichtenden Niederlage bewahrt haben, so wenig, wie etwa dem Ruhme
Friedrichs des Großen die Tatsache, daß Zielen es war, der bei Torgau die Ent¬
scheidung brachte. Man darf jedoch dergleichen Empfindlichkeiten der heutigen Gene¬
ration in England nicht verübeln. Sie hat eben die Geschichte jener Zeit anders
gelernt als wir und vermag in den damaligen deutschen Truppen nur britische
HilfsVölker zu sehen. Daß die Unmöglichkeit, das französische Heer wieder .zu
sammeln, erst durch die Gneisenausche Verfolgung in der Nacht nach Belle-Alliance
herbeigeführt worden war, wird man aus keiner englischen Geschichtschreibung je
erfahren. Es sei hierbei der folgenden kleinen Episode gedacht. Als in den sieb¬
ziger und den achtziger Jahren die Wandgemälde in der Ruhmeshalle des Berliner
Zeughauses geschaffen wurden, hatte Georg Bleibtreu eine Skizze des ihm aufgetragnen
Wandbildes von Belle-Alliance vorgelegt. Der alte Kaiser befahl den gemein¬
samen Vortrag des Kriegsministers von Kameele, des Präsidenten Hitzig und des
Zenghauskommandauten Generals von Jsing an Ort und Stelle, auch Bleibtreu
war dazu entboten. Der Kaiser hatte an der Skizze auszusetzen, daß die Engländer
zu wenig berücksichtigt seien, „was namentlich meinem Sohne und der Kronprinzessin
nicht lieb sein wird." General Jsing nahm das Wort: „Majestät, ich war in
London. Da habe ich im Westininsterpalast ein Bild der Schlacht von Waterloo
gesehen. Auf diesem Bilde reitet im Stäbe des Herzogs von Wellington ein ge¬
wisser Fürst Blücher, sonst ist von den Preußen weiter keine Rede." „Das haben
Sie gesehen?" „Jawohl, Majestät." „Gut. dann soll es bei diesem Entwurf
verbleiben." Später ist dann doch, wohl ans Intervention des Kronprinzen, eine
englische Reiterschar hineingekommen, die mit den schlesischen Landwehrreitern gegen
die Höhe von Mont Se. Jean vorstürmt.
Jenes Londoner Waterloobild im Westminsterpalast ist in hohem Grade be¬
zeichnend für die englische Geschichtsauffassung, die sich gegen die Hannöversche An¬
sprache unsers Kaisers so hoch aufbäumt. Aber ist denn Wellingtons: „Ich wollte, es
wäre Nacht, oder die Preußen kämen" etwas andres als Admiral Seymours Ruf
in der gefahrvollen Rückzugsnacht bei Hsiku am Peiho, am 22. Juni 1900: Ksr-
nurns to tbs traut! England sollte stolz darauf sein, daß seine Kriegsgeschichte
Waffentaten und Waffenge fährten zu verzeichnen hat, auf die sich die britische
Führung im verhängnisvollsten Augenblick mit hoher Zuversicht verlassen konnte. Man
sollte meinen, daß sich solche Erinnerungen stärker als jede Animosität erweisen
müßten, die bei unserm Kaiser vorauszusetzen die englische Presse obendrein ganz
und gar keinen Grund hat. Es gewinnt fast den Anschein, als ob man in diesem
Augenblick in London nicht an die Zeit der Kämpfe auf Tod und Leben mit Frankreich
erinnert sein wolle. Wir könnens abwarten.
werden durch die
im Reichshaushalt (Postetat) vorgesehenen Zulagen an die in den Ostmarken statio¬
nierten Postbeamten auch den Reichstag beschäftigen. Es handelt sich um 545000
Mark, darunter 6000 Mark Erziehungsbeihilfen an höhere Beamte und ungefähr
8000 Mark Pensionszulagen. Damit ist das gesamte Gebiet der Polenpolitik der
Erörterung des Reichstags preisgegeben, nud der Standpunkt, daß die polnischen
Dinge als Jnternum Preußens vor deu Landtag gehören und den Reichstag nichts
eingehn, ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Vielleicht wäre es richtiger gewesen,
wenn Preußen auch diesen Teil der Ostmarkenzulagen übernommen und den Betrag
der PostVerwaltung zur Verfügung gestellt hätte. Es ist ja ohnehin der inter¬
essiertere Teil. Man wäre damit der Schwierigkeit aus dem Wege gegangen, die
Polenpolitik im Reichstage diskutieren zu müssen, obendrein beim Postetat, und
möglicherweise ein Votum herbeizuführen, das leicht unerwünscht und präjudiziell
ausfallen kann. Die Neigung, den Reichsetat um eine halbe Million zu entlasten,
wird im Reichstage nicht gering sein, ganz abgesehen von der prinzipiellen Seite
der Sache. Aber prinzipiell unzulässig erscheint es wiederum, wenn ein Teil des
Reichsapparats für normale Dienstleistungen einzelstaatlich subventioniert werden soll.
Posen und Westpreußen sind die Ostmarken nicht nnr Preußens, sondern auch des
Reichs, und das Reich würde ja zum Beispiel auch die Kosten einer aus politischen
Gründen nötigen Verstärkung der Garnisonen in diesen Landesteilen zu tragen
haben. Hier ist also nicht nur „dem Reiche zu geben, was des Reiches ist,"
sondern auch „das Reich hat zu geben, was des Reiches ist," d. h. hat die Kosten
zu tragen, die ihm obliegen gegenüber einer in ihrem eigensten Kern gegen die
Integrität des Reichsgebiets gerichteten Bewegung. Freilich ist dann auch die Kritik
und das Mitsprechen des Reichstags nicht zu umgehen. Preußen kann in die
Lage kommen, daß der Reichstag sich gegen eine Politik erklärt, die der preußische
Landtag schon gebilligt hat, und gegen Maßnahmen, die in Preußen schon Gesetz
sind; jedenfalls ist die preußische Regierung dem ausgesetzt, so lauge die Forderung
fortdauert, mit dem Reichstag alljährlich ihre Polenpolitik diskutiere» und dabei
möglicherweise den Landtag hinterher gegen den Reichstag ausspielen zu müssen.
Unerwünschte Verhältnisse, die aber nach Lage der Dinge nicht umgangen werden
können und jedenfalls zu ihrem Teile dahin drängen, unsrer Polenpolitik ein ein¬
heitliches, vom gesamten Reichs- und Staatsorganismus in allen seinen Teilen
gleichmäßig zur Geltung zu bringendes, zweckbewußtes Handeln aufzuprägen.
Weitaus der größte Teil der polnischen Preußen hat sicherlich gar kein Be¬
dürfnis, mit ihren deutschen Mitbürgern und mit den Behörden in Fehde zu leben.
Diese zwei Drittel, wenn nicht weit mehr, unsrer Polen werden verhältnismäßig
leicht regiert werden können, wenn man dem letzten Drittel, Viertel oder Zehntel
die Mittel und Wege abschneidet, jene große Mehrheit durch eine fanatische Agi-
tation zu terrorisieren und sie in den Dienst natioualpolnischer Bestrebungen zu
treiben, deren Wurzeln außerhalb unsrer Grenzen liegen. Die künstliche Züch¬
tung des Polentums und seines politischen Einflusses auf den Staat, die in Öster¬
reich seit Jahrzehnten systematisch betrieben worden ist und das Polentum zu einer
dem Deutschtum überlegnen Macht im Lande gemacht hat, konnte auf die Verhält¬
nisse in den polnischen Gebietsteilen Preußens mit der Zeit nicht ohne Einfluß
bleiben. Aber wenn Österreich den Polen damit einen verspäteten Dank für die
Rettung Wiens im Jahre 1683 abträgt, so besteht für Preußen ganz und gar
kein Grund, sich an diesem Geschäft zu beteiligen. Wir haben vielmehr allen An¬
laß, gegen den terrorisierenden Bruchteil so energisch wie möglich vorzngehu, die
verführte breite Masse aber dafür um so wohlwollender zu behandeln, ohne dabei
den preußischen Staatszwecken auch nur das Geringste zu vergeben. Unsre jetzige
Polenpvlitik richtet sich in ihrer ganzen Betätigung gegen alle Polen ohne Ausnahme.
Damit wird ihre Widerstandsneigung und Widerstandskraft hervorgerufen, der Arbeit
der Agitatoren Vorschub geleistet. Wir hämmern sie zusammen, anstatt sie auseinander
zu treiben, unter Nichtbeachtung der alten Regel der Staatskunsti viviäs et. impkra!
Den Einfluß des polnischen Fanatismus abschwächen und eindämmen, ihm die
Giftzähne ausbrechen, den deutschen Einfluß stärken, die Deutschen dort selbstbewußter
machen, das lokale Zusammenwirken unter Ausschließung nationaler Gegensätze
vervielfachen, das ist die Aufgabe. Der Mitwirkung zu solchen positiven Zielen wird
sich anch der Reichstag nicht versagen können, andernfalls täte er es zu seinem und
des Reiches Schaden. Zunächst werden starke Schichdämme gegen die polnische Hoch¬
flut aufgerichtet werden müssen. Einer der wichtigsten wäre der beschleunigte
Erlaß einer Verordnung, die den Erwerb von Grundbesitz in Stadt und
Land in Ost-und Westpreußen, Posen und Schlesien von der Ableistung
des Homagicileides abhängig macht. Das sollte schnell und ohne Verzug
ins Werk gesetzt werden, im Notfalle auf dem Vervrduungswege vorbehaltlich
der einzuholenden Genehmigung des Landtags. Die Engländer haben den
Homagialeid in Südafrika eingeführt, sie wußten wohl, weshalb sie es taten. Auch
für die Ostmarken müßte der Bruch dieses Eides unter strenge Strafen
gestellt werden. Es wäre das sicherlich eine der besten Schutzmaßnahmen, die
der Staat treffen könnte, ja er würde sie im Bedarfsfall auf alle Polen in
ganz Preußen ausdehnen müssen. Mag es gelegentlich noch so sehr geleugnet
werden, die Tendenz der polnischen Bewegung bei ihren eigentlichen Leitern ist
auf die Trennung von Preußen und auf die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches gerichtet, dessen westliche Grenze etwa die Oder sein würde. Die Sokol-
vereine bedeuten nichts andres. Gegen den Reichs- und Landesverrat richte man
den Homagialeid auf. Den treuen Bürger belastet und belästigt er nicht, den
unt
Die jüngsten Verordnungen über Änderungen an den
Offiziersmänteln haben der Presse in der Festtagszeit wieder eine willkommne Ge¬
legenheit gegeben, das alte Klagelied über die angeblich verrotteten und haltlosen
Zustände in unserm Heerwesen anzustimmen. Dieses Klagelied mit dem wehleidigem
Kehrreim: Was soll das werden, wie soll das enden! finden wir nicht nur in den
sozialdemokratischen und den liberalen Blättern, sondern auch die konservativen
Parteiführer zeigen ernste Kummerfalten, sind sehr besorgt um des Vaterlandes
Wohl und heben warnend den Zeigefinger. Ein Blatt versteigt sich sogar zu der
Behauptung, daß die Stellung des neuen Kriegsministers dem Reichstage gegen¬
über davon abhinge, welche Ansicht er über diese Mnntelvervrdnuug vortragen
würde. Welche Urteilslosigkeit und welches fade Spießbürgertum! Die Verordnung
verlangt, daß auch an dem Mantel der Dienstgrad des Offiziers erkennbar ses;
der Vorgesetzte soll wie der Untergebne an dem Abzeichen auf dem Mantel sehen,
ob er einen Leutnant, einen Hauptmann, einen Stabsoffizier, einen Militärarzt oder
einen Militärbeamten vor sich hat. Bis jetzt war das nicht möglich, wenn der
Offizier den Mantel trug; denn der Mantel verdeckte alle Abzeichen, uxd man
konnte nur an dem mehr oder weniger verwitterten Gesicht den Dienstgrad un¬
gefähr erraten. Daß diese Unsicherheit schon oft Veranlassung zu Mißverständnissen
und Weiterungen gegeben hat, weiß jeder, der Soldat gewesen ist. In andern Armeen
haben sich diese Mantelabzeichen vortrefflich bewahrt, und mau versteht nicht, wie die
Presse gegen eine gute und gesunde Neuerung Front machen kann. Aber genorgelt
muß werden, und da kommt denn eine Zeitung auf das geradezu kindische Bedenken,
daß die Achselstücke auf dem Mantel durch deu Regen leiden wurden, daß der Mantel
ja gerade deshalb getragen würde, die Achselstücke auf dem Waffenrock zu schützen,
und daß der arme Leutnant unmöglich noch vier oder fünf Mark für neue Abzeichen
ausgeben konnte! — Auch der gute und vernünftige Gedanke, daß der Mantel am
Rücken weit und bequem und mit eiuer Längsfalte versehen sein müsse, will den
Nörglern nicht einleuchten. Und dabei könnten sie sich jeden Tag auf der Straße
überzeugen, wie unmilitärisch und widerwärtig die neue Mode der knapp anliegenden
Mäntel und Paletots aussieht, wie unpraktisch diese sind, und wie der Gurt an den,
Rücken dieser engen Mäntel vollständig zwecklos geworden ist. Es ist ein wahrer
Segen, daß gegen diese Verhunzung der Uniform eingeschritten wird. Der Kriegs¬
minister aber wird sich durch dieses Preßgeschrei hoffentlich nicht ins Bockshorn jagen
lassen und im Reichstage den Militärnörglern, die keine rechte Freude am Heere mehr
aufkommen lassen wollen, eine geharnischte Abfertigung erteilen.
Es sind ganz eigentümliche psychologische Zeugnisse,
die Ludwig Geiger in seinem Buch über Bettine von Arnim und König
Friedrich Wilhelm IV. (Literarische Anstalt, Frankfurt a. M, 1902) den
Archiven entnommen hat und durch verbindenden Text erläutert der Beurteilung
vorlegt. Beide ein paar enthusiastische, begeisterungsfähige Naturen, die, wie der
König selbst es ausspricht, von dem Gemeinen und Alltäglichen nichts wissen wollen —
die aber doch einander innerlich fremd sind und bleiben. Das lehrt der interessante
Briefwechsel, der hier zum erstenmal veröffentlicht wird, aufs neue. Er umfaßt
ein reichliches Jahrzehnt und ist vorwiegend politisch gefärbt. Von den literarischen
Beziehungen fesseln am meisten die schwungvollen Briefdithyramben, die der Ver¬
öffentlichung des merkwürdigen Königsbuches vorausgehen. Denn sie zeigen den
innigsten Zusammenhang mit diesen Poetischen Improvisationen. Die leichte, luftige
Form des Briefes ist Bettinen eben für ihre überquellenden Gedanken das einzig
genehme Gefäß. So erklärt sich auch der auffallende Mangel künstlerischer Kom¬
position in ihren Werken. Sie redet, wies ihr der Geist oder vielmehr das Herz
gebeut, fortreißend und sprunghaft, bald plaudernd wie ein Kind, bald schwärmerisch
wie ein liebendes Weib, bald flammend wie eine — Prophetin! Ja, zukunfts¬
freudig ist sie wie selten eine. Als Befreierin fühlt sie sich berufen, und als ideale
Vertreterin des Volkes tritt sie an die Stufen des Thrones, das Wort erhebend
für politische, religiöse und soziale Probleme. Denn in dem König sieht sie des
Volkes strahlenden Genius, der es stärken und erleuchten soll zu kühner Tat. So
wird ihr das Königsbuch eine Art Selbstbefreiung, ein heiliges Vermächtnis. Die
neuen Briefe sind also der schönste Kommentar für das Verständnis dieses Werkes,
das Bettinens Verehrer Stahr wegen seiner visionären Sprache nicht unzutreffend
als „Lieder ohne Worte" charakterisierte. Und gerade weil der äußere Erfolg den
Erwartungen ebensowenig wie der innere entsprach, sei an einen begeisterten Lobes¬
hymnus Gutzkows erinnert, der von dem Buch wie berauscht war und uuter der
Devise „Diese Kritik gehört Bettinen" versicherte: „Im Kristallglase ihrer stilistischen
Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffnen Blumen ihrer gewohnten Dnr-
stellungsweise kredenzt die anmutige Zauberin uns diesmal . . . reine, frische Quell¬
flut, reines, kristallhelles Naß vom Börne der Natur, aus der Zisterne der gesunden
Vernunft. O welche Labung, dies herrliche, gedankenklare, gesinnungsfrische Buch!"
Ein bei aller Überschwenglichkeit bezeichnendes Zeugnis.
Mit den Zensurscherereieu, die ihr folgendes Buch „Clemens Brentanos
Frühliugskranz" erfuhr, das aus rein formellen Gründen — es war ein harm¬
loses Werk schwesterlicher Pietät — beanstandet wurde, bis es auf Befehl des
Königs freigegeben wurde, befassen sich eine Reihe weiterer Briefe. Am ein¬
gehendsten aber wird ihre politische Tätigkeit durch das mitgeteilte neue Material
beleuchtet. Es zeigt den eignen Widerspruch, wie Bettine, obgleich sie selbst wieder¬
holt versichert, daß sie keine Zeitung lese, und obgleich sie sich auch des politischen
Urteils und aller politischen Erbitterung bescheidet, doch unermüdlich politische Fäden
spinnt und sich auch durch Mißerfolge lange nicht beirren läßt, bis sie zuletzt weh¬
mütig resignierend zur Seite tritt. Positiven Einfluß hat sie mit ihren zahlreichen
Reformvorschlägen nicht gehabt, konnte ihn wohl anch nicht haben, weil sie einer
ausgesprochnen Gefühlspolitik huldigte und den realen Verhältnissen nicht den zu¬
kommenden Wert beilegte. So kommt es zu einer Enttäuschung nach der andern.
Der Anerkennung ihres redlichen Strebens, zu helfen und zu fördern und namentlich
eine freimütige Vermittlerin zwischen König und Volk zu sein, tut das aber keinen
Eintrag. Denn wenn sie sich selbst dazu verstand, ihm sogar eigne Vorschläge für
ein zeitgemäßes liberales Ministerium zu übermitteln, so wollte sie damit nur dem
Gesamtinteresse dienen. Sie gesteht ihm selbst (S. 116 f.) „Einfluß haben ist mir
nichts .... Nur wenn mein guter Dämon mich trieb, mich des Höhern und Bessern
anzunehmen, hab ich mich oft in Stellungen versetzt, die andre gewagt nennen, aber
nie, daß ich hätte eine Rolle spielen wollen."
Weil sie aber die Sache des Volkes führen will, sieht sie ihre geschwornen
Feinde in den reaktionären Ministern und macht aus ihrem Haß gegen diese den
König absperrende Phalanx nirgends ein Hehl, sodnß der König selbst seine Be¬
amten in Schutz nehmen muß. Daneben erfahren wir viel von den Plackereien
durch Polizei und Zensur, die ihr manche gereizte, oft bissige Bemerkungen entlocken.
Daß sie es selbst an Herausforderungen nicht fehlen ließ, zeigt die souveräne Art,
wie sie z. B. mit dem Berliner Magistrat umspringt.
Wie sie als Anwalt der politisch Versenden ihre Stimme erhebt, verteidigend,
entschuldigend, fürbittend, läßt sich an zahlreichen Beispielen verfolgen. Ihr gutes
Herz spricht immer vernehmlich, wenn es ihr auch an politischer Einsicht gar oft
fehlte. Der König selbst erkennt ausdrücklich den edeln Drang, Leiden zu mildern,
als echt weiblich an. Dennoch legt ihm sein königliches Pflichtgefühl gebieterisch
Schranken auf. „Begnadigen, wie Sie wollen, um nichts und wieder nichts ist
schön und warm im weiblichen Herzen; bei den Männern, die ein gegebnes Amt
zu verwalten haben, ist es pure Torheit" (S. 172). So muß sie sich bei ihren
Vermittlungen für den denunzierte» schlesischen Fabrikanten F. W. Schlosse!, den
polnischen Aufrührer Mieroslawski, den Dichter Gottfried Kinkel usw. manche Ab¬
weisung und Belehrung eines andern gefallen lassen. Und doch läßt sie den Mut
so leicht nicht sinken. Denn: „Beschützer der Unterdrückten, so wollte ich so
gern sein, und wo ich ging und stand, sann ich ans diesen Juwel, ihn an der
Stirn zu tragen." Das ist ihr eignes Bekenntnis.
L. Geiger hat sich durch dieses wertvolle Buch und die mit kundiger Hand
gegebnen Erläuterungen Dank und lebhafte Anerkennung verdient. Man muß
wünschen, daß er aus den gebrochnen Bausteinen selbst das biographische Gebäude
Ans einem Gespräch, das Sophus Bauditz
mit dem Schriftsteller C. C. Raufen über sein letztes Werk hatte, und das dieser in eiuer
dänischen Zeitschrift veröffentlicht hat, teilen wir folgende Äußerungen mit: Mein
jüngstes Buch wird vermutlich auch das letzte sein, das ich hinaussende. Nicht
weil ich im Prinzip uicht mehr schreiben wollte oder nichts mehr zu schreiben hätte,
sondern weil alle Bücher, die ich geschrieben habe — mit Ausnahme der ersten,
als ich noch ganz jung war —, alle Bücher, die ich in den letzten 23 Jahren, wo
ich verheiratet war, geschrieben habe, in der Weise entstanden sind, daß meine ver¬
storbne Fran und ich vom ersten Anfang an, kann ich sagen, alleinunter den Plan
entworfen und besprochen und Figuren und Einzelheiten eingehend erörtert haben.
Und wenn ich sie niederschrieb — meist geschah dies in den Sommerferien —, so
waren in der Regel alle Details im voraus geordnet, und ich kann sagen, daß ich
ihr jede Seite, die ich schrieb, vorlas, mit ihr darüber sprach und aus ihrer Kritik
beständig Anregung empfing. Sie war von der größten Liebe zur Poesie und
zur Kunst beseelt und hatte das feinste Verständnis für alles, was darauf Bezug
hatte. Niemand hat geahnt, daß sie mehrere kleine Sachen, in Prosa wie in Versen,
die auch gedruckt worden sind, allerdings ohne ihren Namen, geschrieben hat. Sie
modellierte auch ganz außerordentlich hübsch, ohne es je gelernt zu haben, sowohl
Büsten als Reliefs, und in allein, was sie anfaßte, kam ihre Liebe zum Schönen
und Reinen zum Ausdruck.
Und deshalb — ja, man soll die Zukunft nicht voraussage», aber ich kann
mir jetzt jedenfalls nicht denken, daß ich je wieder etwas größeres zu schreiben vermag.
Ich glaube, dieses Buch bleibt das letzte. Es erhielt auch auf eine so merkwürdige
Weise seinen Abschluß. Ein Paar Jahre hatte ich daran gearbeitet, dafür gesammelt
und darüber nachgedacht; ich hatte es schon zum drittenmal vollendet — ich arbeite
meistens jedes Buch dreimal durch —, und nun wollte ich mir gern noch einige un¬
bedeutende Kleinigkeiten in den Lokalverhältnissen von Helsingör und ganz besonders
von dem Karmeliterkloster ansehen. So zogen wir Ostern nach Helsingör hinauf. Dort
wurde meine Frau krank, von dort brachte ich sie krank nach Hause — glücklicherweise
erreichten wir noch unser Heim in Charlottenlund. Hier starb sie nach vierzehntägigem
Krankenlager. Wenn man weiß, wie wir zusammen gelebt und gearbeitet hatten, wird
man verstehn, daß ich wahrscheinlich nie mehr ein größeres Buch schreiben werde.
Was nun das Buch selbst anbetrifft, so wird jeder verstehn, daß ich nicht als
Historiker auftrete; es war durchaus nicht meine Absicht, die Behauptung aufzustellen,
Shakespeare sei wirklich in Helsingör gewesen, sondern ich habe eine dichterische Dar¬
stellung davon gegeben, wie Shakespeare in Helsingör hätte gewesen sein und Motive
von seinem dortigen Aufenthalt zum Hamlet hätte benutzen können.
Fragt man mich aber, ob ich persönlich glaube, daß Shakespeare in Helsingör
gewesen ist, so antworte ich, ja, das glaube ich unbedingt. Denn seine Bekannt¬
schaft mit den Örtlichkeiten in Helsingör nud den dänischen Verhältnissen, wie sie
sich im Hamlet zeigt, ist weit zwangloser auf die Weise zu erklären, daß Shake¬
speare dort gewesen ist, als auf irgend eine andre. Und warum in aller Welt
sollte er nicht dort gewesen sein? Im Jahre 1586 war dort, wie jetzt alle wissen,
eine Gesellschaft von englischen Komödianten, die oben auf Kronborg spielten. Unter
ihnen waren z. B. William Kemp, Thomas Pope und George Bryan, die später
nachweisbar Shakespeares Kameraden am Theater in London waren. Selbst¬
verständlich kann Shakespeare seine Kenntnisse von ihnen erhalten haben, aber
es scheint mir eine weit natürlichere Vorstellung, daß er selbst in Helsingör ge¬
wesen sei, um so mehr, als kein Mensch weiß, wo er im Jahre 1586 war. Man
weiß nur, daß er weder in seiner Vaterstadt uoch in London war. Über das
Schloß am Sund kann Shakespeare selbstverständlich aus den Erzählungen der
Kameraden hinreichende Aufklärungen erhalten haben, aber es gibt andre Dinge
im Hamlet, bei denen man sich schwer vorstellen kann, wie Shakespeare darauf ge¬
kommen sein sollte, wenn er sich nicht selbst eine Zeit lang in Dänemark aufge¬
halten hätte. Man denke zum Beispiel daran, daß Shakespeare, als er zwei
dänische Adliche nennen will, gerade auf die Namen Rosenkrands und Gyldenstjerne
verfallen ist, die zu der Zeit am meisten im Vordergründe standen. Man beachte
die Äußerungen über die Trinkgelage in Dänemark, über Horatio, der in Witten-
berg studiert, wo so viele Dänen aber so gut wie niemals Engländer studierten.
Man denke an solche Dinge wie die Terrasse am Meer unterhalb Kronborgs, an
die indirekte Erwähnung der Kasematten. Und vor allem vergesse man nicht, daß
der natürlichste Hintergrund für die Szene, wo Hamlet der Mutter gegenüber ans
das Bild seines Vaters weist, gerade der Rittersaal ans Kronborg ist, wo Hans
Kniepers berühmte Bilder von den 111 dänischen Königen, darunter Hamlet und
seinem Vater, hingen. Eine Stelle, die besonders dagegen zu sprechen scheint, daß
Shakespeare aus eigner Anschauung Kronborg gekannt habe, ist die, wo davon ge¬
sprochen wird, daß das Schloß auf einem Felsen geruht habe. Aber auch sie
findet ihre ganz natürliche Erklärung, wenn man nämlich daran denkt, daß der be¬
rühmte „Lappcnstein," der so groß wie ein Haus war, und den Friedrich der
Zweite mit ungeheurer Mühe von Gronnehaven dorthin hatte schaffen lassen, 1586
das Fundament für die südöstliche Bastion von Kronborg bildete. Wer in Kron¬
borg gewesen war, hatte nicht vermeiden können, den „Lappcnstein" als eine der
Merkwürdigkeiten des Schlosses und der Stadt zu sehen, und es war keine große
dichterische Übertreibung, zu sagen, das Schloß ruhe uns einem Felsen.
Man könnte noch eine Menge andrer Dinge ans Hamlet anführen, die mit
Bestimmtheit auf einen Aufenthalt Shakespeares in Helsingör deuten, und für mich
liegt absolut kein entscheidender Beweis darin, daß sich sein Name nicht in dem
Verzeichnis der englischen Komödianten, die 1586 dort spielten, findet. Denn wer
kann beweisen, dnß Shakespeare nicht aus irgend einem Grund im Ausland unter
einem andern Ruinen aufgetreten ist, oder daß er nicht — wie ich es ihn in
meiner Erzählung tun lasse — mit den Komödianten gekommen ist, aber nus
irgend einem Grunde nicht zum Auftreten gekommen ist?
Ich habe aber gar nicht einen historischen Roman schreiben wollen, sondern
habe ans Grund meines eignen bestimmten Glaubens eine frei erfundne Novelle
geschrieben, die natürlich für deu am meisten Interesse haben wird, der Hamlet
kennt und etwas von Shakespeare weiß, die aber auch von dem gelesen werden
kann, der Hamlet nie gelesen hat.
„Kupfervera. Gold" ist trocken
und leicht, daher außerordent¬
lich bekömmlich.
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^M^pi^^
prsisc^N ?iir nie gs»te ffssclie.
prsisbucli sosvrr possfrsi.
Kasper piiilagoamm ^
Schnelle unä sichere Vorbereitung für alle
Kinjänr-. Primaner-. ?äftmicd°, Mviwr.-
prütung. Kehle Krtolge. vor/vgl. Pension. IM. prosp,
or. Schzlumvurg.
Gustav Meese's
Z^Koner Honigkuchen
^ ^IWli^ sin-I vsoklsckm-ekelt-l, W» ^ nalirkaft uncl bekömmliek. —) I^gi. üoMek-i'Ant
N
^»L>b ein Großstaat überhaupt eine dualistische Gestaltung auf die
Dauer verträgt, ist mindestens zweifelhaft, geschichtliche Beispiele
liegen darüber nicht vor. Der dualistische Einfluß Österreichs
und Preußens im Deutschen Bunde hat mit dem Ausschluß des
leinen durch den andern geendet; aber ein dualistischer Staat war
der Deutsche Bund eigentlich nicht und kann darum uicht als Beispiel gelten,
höchstens insoweit, als auch er dargetan hat, daß die einigenden Glieder zur
Einigung, die andern zur Scheidung, beide also zur Aufhebung des Dualismus
drängen. Die gegenwärtige Krisis, in deren Nachwehen die Habsburgische
Monarchie noch jetzt liegt, war die schwerste, die der schon so oft und viel
geprüfte Kaiser Franz Joseph seit der verhängnisvollen Schaffung des öster¬
reichisch-ungarischen Dualismus zu überwinden gehabt hat. Und der Kaiser
stand dabei nahezu allein, gestützt höchstens auf altbewährte Staatseinrichtungen,
wie das Heer, auf alte Beamtentraditionen und die Imponderabilien, die die
Geschichte eines alten Staatswesens mit sich bringt. Bei seinen Völkern fand
er keine Unterstützung. Die Deutschösterreicher kennen ihre Geschichte nicht und
verstehn darum nicht ihre Stellung im Staate. Auch als es sich um die Ein¬
heit der Armee handelte, wußten sie keinen festen Standpunkt zu gewinnen
und fielen aus einer kleinmütigen Stimmung in die andre, sogar der denk¬
würdige Armeebefehl von Chlopy vermochte sie nicht aufzurütteln. Die un¬
garischen Parteien waren dagegen über das nächste Ziel ihrer Bestrebungen
einig. Das staatsrechtliche Band, das sie mit Österreich vereinigt, sollte so
weit gelockert werden, daß nnr noch die reine Personalunion übrig blieb, und
unverblümt deuteten sie auch an, daß die völlige Trennung von Osterreich,
ein selbständiges Ungarn, ihr Endziel ist. Jetzt handelte es sich für sie um
den ersten Schritt zur Erreichung einer eignen ungarischen Armee, und sie
hatten es damit eilig, denn sie sprachen es offen aus, noch so lange Kaiser
Franz Joseph lebe, müsse diese Forderung durchgesetzt werden. Sehr ritterlich!
Die Tschechen und die Allpolen freuten sich über die Ansprüche und die
Kampfesweise der Magyaren, und nur aus dem Lager der polnischen Schlachtn
wagte sich ein schwacher Protest gegen die Trennung der Armee an die Öffent-
lichkeit. Jetzt ist der Angriff der Ungarn abgeschlagen; was noch geschieht,
läuft bloß auf Nachgefechte hinaus, wenn sie auch noch Verluste bringen
mögen. Wer den Kaiser Franz Joseph kennt, konnte über diesen Ausgang
nicht in: Zweifel sein. Er hat 1879 die Deutschen fallen lassen, als sie ihm
die Armee verkürzen wollten, er hat die später so verhätschelten Tschechen vor
vier Jahren von sich gewiesen, als sie den Sprachenstreit in die Armee zu
tragen versuchten, er hat wohl den Magyaren in ganz unsagbarer Gutmütig¬
keit in allen Nebendingen, die andern bedeutsamer erscheinen mochten, nach¬
gegeben, als sie aber auf das Wesen, die Einheit des Heeres vorstießen, dn
trafen sie auf sein unerschütterliches Nein!
Warum eigentlich Koloman Szell im vergangnen Juni seine Entlassung
genommen hatte, ist bisher noch nicht aufgehellt worden. Wahrscheinlich ist
dieser Schritt auf Drängen der Krone selbst erfolgt, da er sich der Opposition
im Reichstage gegenüber als machtlos erwiesen hatte. Herr von Szell mag es
vielleicht beim Antritt seiner Regierung gut und ehrlich gemeint haben, aber
sein Rücktritt wurde doch wie eine Erlösung von dem seit vier Jahren immer
mehr zunehmenden innern Drucke und von der allgemeinen Zersetzung des
politischen Lebens empfunden. Dieses Gefühl war namentlich im südlichen
Ungarn lebendig, wo seit der Einführung des Dualismus noch keine Regierung
soviel Unheil angestiftet hatte wie das Ministerium Szell, unter dem Deutsche,
Rumänen und Serben die ganze Wucht des chauvinistischen Magyarentnms
ertragen mußten, während die Kroaten schließlich mehrfach zur Selbsthilfe
schritten. Die „reinen Wahlen" waren nur eine Komödie, und in allen Ver¬
waltungszweigen hatte sich eine wahre Paschawirtschaft entwickelt, auch die
Gerichte mußten sich in politischen und Preßprozesscn nach den Weisungen der
obersten Komitatsbehörde oder sogar aus Budapest richten. Das war alles
die Folge der Verschmelzung der Nationalpartei des Grafen Apponhi mit der
seitherigen liberalen Partei, die auch das Verhängnis Szells wurde. Statt
Führer und Herr einer großen Partei zu sein, wurde Koloman Szell vom
Grafen Apponhi geschoben und beherrscht. Er ließ es zu, daß der Graf in
Südungarn Hetzreisen unternahm und die dem Herrscherhause treu ergebne
deutsche Bevölkerung beschimpfte. Herr von Szell duldete es, daß infolgedessen
durchaus patriotische Mäuner, die nur für die Erhaltung ihrer Muttersprache
eintraten, verfolgt und in den Kerker geworfen wurden. Unter Szells Re¬
gierung wurde es üblich, das „Gott erhalte" öffentlich zu verspotten und als
„Henkerlied" zu bezeichnen, und in den Volksschulen wurde das Aussprechen
des Wortes „Kaiser" statt König mit Stockschlägen bedroht und auch bestraft.
Graf Apponyi und seine Richtung herrschten im Lande, und Szell lieh bloß
den Namen dazu. Es war die höchste Zeit, daß er verschwand, und er wäre
wohl auch schon längst entlassen worden, wenn nun: einen geeigneten Mann
als Stellvertreter gewußt hätte. Der Einzige, der für die Krone ernstlich in
Frage kommen konnte, war der Baums von Kroatien, Graf Khuen-Hedervary,
der zwar der liberalen ungarischen Partei angehörte, bei ihr aber unbeliebt
war und bei der damaligen Stimmung von ihr nicht als Ministerpräsident
geduldet worden Ware. Er sollte schon früher einmal, als das Ministerium
Wekerle in Konflikt mit der Krone geraten war und abtreten mußte, die Ge¬
schäfte übernehmen und Ordnung machen, aber die liberale Partei lehnte ihn
ab, und die Krone mußte noch einmal auf Wekerle zurückgreifen, weil sie sich
damals nicht entschließen konnte, den Verfassungskampf aufzunehmen.
Jetzt lagen die Dinge anders, die Einheit der Armee stand in Frage, da
war der Kaiser entschlossen, dem Konflikt nicht auszuweichen. Mit der Neu¬
bildung des Ministeriums wurde zunächst der jetzige Ministerpräsident, Graf
Stephan Tisza, beauftragt; er sollte die Wehrvorlage rechtzeitig erledigen,
ohne aber die schon von Koloman von Szell der Opposition gemachten natio¬
nalen Zugeständnisse zu vermehren. Die Opposition nahm seine Berufung mit
Entrüstung aus, denn er hatte schon wiederholt in der Wehrdebatte die Ob¬
struktion verurteilt und schärferes Vorgehen gegen sie empfohlen. Das war
erwartet worden und konnte Tisza ebensowenig entmutigen, wie es der Aus¬
tritt der Apponyigruppe aus der liberalen Partei getan hätte, damit mußte
man auch rechnen; die Obstruktion verlangte ja bloß laut und lärmend das,
was Apponyi und seine Leibgarde im Innern selbst wünschten und mehr oder
weniger heimlich unterstützten. Den eigentlich unüberwindlichen Widerstand
fand aber Tisza bei seinen eignen Parteigenossen, der ehemaligen liberalen
Partei. Wekerle lehnte ab, das Finanzministerium zu übernehmen, nachdem
er sich in einer Audienz beim Monarchen überzeugt hatte, daß dieser in der
Wehrfrage nicht nachgeben würde. Darauf war ja aber die stille Hoffnung
der liberalen Partei gerichtet; im Verlaufe der Zeit war die große Mehrheit
der Altliberalen in dem Wunsche einig geworden, daß die Krone nachgeben
werde und müsse. Auch die sogenannte Grafenpartei, die überhaupt keine wirk¬
same Vertretung der Kronrechte wünscht, weil sie gleich der englischen Hoch¬
aristokratie im Lande herrschen und das Königtum nur zum Schutz und Deck¬
mantel dieser Stellung beibehalten möchte, verhielt sich ablehnend; Graf Julius
Andrassh noch besonders verstimmt darüber, daß der Kaiser nach dem Rück¬
tritte Szells nicht auch seine Meinung eingeholt hatte. Die liberale Partei
war unter dem Regime Szell politisch gänzlich zerfahren, und es mußten neue
Ereignisse kommen, sie wieder zusammenzurütteln. Dem Grafen Tisza blieb
aber unter diesen Umstünden nichts übrig, als nach Wien zu fahren und dem
Kaiser den Auftrag zur Bildung des Ministeriums zurückzugeben.
Nun erst kam Graf Khuen-Hedervary, und gewissen Leuten in der liberalen
Partei ging ein Licht auf, wie sehr es diesesmal der Krone ernst war, weil
ihr gar nicht hätte verborgen bleiben können, daß die Mehrheit des ungarischen
Abgeordnetenhauses, wie schon so oft, mit der Opposition unter einer Decke
gespielt hatte. Nach oben hin hatte man zwar vorzuspiegeln gesucht, daß die
wenig liebenswürdige Persönlichkeit des Grafen Stephan Tisza — er ist
heute der von der ganzen Mehrheit unterstützte Ministerpräsident — allein
schuld sei, wenn er kein Ministerium zusammengebracht habe, zugleich gestanden
aber die liberalen ungarischen Blätter offen zu, daß das Ministerium Tisza
nur darum gescheitert sei, weil es die Wehrvorlage ohne neue nationale Zu¬
gestündnisse habe durchsetzen »vollen. Das wußte man längst, und darum kam
eben Khuen, denn seine Person bedeutete die schärfere Tonart. Man hatte in
liberalen Kreisen merkwürdigerweise nur noch auf die Berufung Wekerles ge¬
hofft, nachdem man einen flüchtigen Plan, ein Ministerium: Tiszci, Appvnyi,
Wekerle als zu sinnwidrig in der Presse rasch wieder hatte fallen lassen. Die
alte liberale Partei begriff nun die Sachlage schnell, machte gute Miene zum
bösen Spiel und beschloß am 20. Juni, daß sie für „die Bildung einer ent¬
schieden liberalen und an dem Artikel 12 des Gesetzes vom Jahre 1867 in
einer jede Zweideutigkeit ausschließenden Weise treu festhaltenden Regierung
eine verläßliche Grundlage und einen Stützpunkt bieten werde."
Dieser Beschluß kam der Stellungnahme der Krone so weit wie möglich
entgegen und schloß auch die Mitwirkung der andern Gruppen der großen
liberalen Partei nicht ans. Freilich, Graf Khucn war ihnen unangenehm,
jetzt hätten sie doch lieber den Grafen Tisza an seiner Stelle gesehen; aber
den günstigen Augenblick dafür hatten sie verpaßt. Die Opposition kündigte
selbstverständlich dem Grafen Khuen den erbittertsten Widerstand an und er¬
klärte, sie halte sich nicht mehr an die Ermäßigung ihrer Forderungen ge¬
bunden, die seinerzeit Franz Kossuth dem Ministerpräsidenten von Szell zu¬
gestanden habe. Am 21. Juni fand unter dem Vorsitz des Kaisers Franz
Joseph in der Wiener Hofburg ein zweistündiger Ministerrat statt, der „mili¬
tärischen Besprechungen" galt, und an dem außer den gemeinsamen Ministern
der Ministerpräsident von Körber, Graf Khuen, der österreichische Landes¬
verteidigungsminister Graf Welsersheimb und der Hvnvedminister Baron
Fejervary teilnahmen. Abends reisten Graf Khuen und Baron Fejervary nach
Budapest zu Verhandlungen ab. Es hieß, Graf Khuen beabsichtige, zunächst
die Arbeitsfähigkeit des ungarischen Abgeordnetenhauses wieder herzustellen,
aber ohne Verschärfung der Geschäftsordnung. Wie das gemeint war, wurde
bald bekannt. Er hatte zunächst Besprechungen mit den Parteiführern der
Linken und verhandelte dann mit der Unabhängigkeitspartei auf Grund eines
frühern Antrags des Abgeordneten Franz Kossuth, wonach die Wehrvvrlage
zurückgezogen, dafür aber das bisherige Kontingent und außerdem die Ein¬
ziehung von 5900 Mann für die Nenformation der Artillerie bewilligt werden
sollten. Die Blätter der Unabhängigkeitspartei äußerten sich sehr entgegen^
kommend, doch der radikale Flügel der Partei bestand auf der Zurückziehung
des Kossuthschen Antrags und wollte also den Grafen Khuen ebenso behandeln
wie früher Koloman von Szell. Schließlich ließ der neue Ministerpräsident
auch noch die Bewilligung der Mannschaften für die Artillerie fallen, und
damit schien die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses gesichert zu sein.
Auf diese Art der Lösung der Krisis war man nirgends vorbereitet, und
man bezeichnete sie allgemein als eine Kapitulation der Krone vor der Un-
abhüngigkeitspartei. Man hielt es wohl für wahrscheinlich, daß Graf Khuen
mit der Partei Abmachungen über die Erneuerung des Ausgleichs getroffen
habe, wodurch die wirtschaftliche Gemeinsamkeit der beiden Reichshälften auf
die nächsten zehn Jahre gesichert worden wäre, aber die Armeefrage erschien
dadurch vertagt, über sie wenigstens ein Waffenstillstand bis zum Herbst ab¬
geschlossen zu .sein. Denn für den Herbst stand ohne Zweifel in Aussicht, daß
die Wehrvorlage wieder eingebracht würde, und daß die Negierung bloß nach-
gegeben hatte, um die heikle Frage der nationalen Zugeständnisse zu umgehn,
ohne sich aber für die Zukunft zu binden. Dagegen hatte die Opposition er¬
klärt, daß sie sich für ihre nationalen Forderungen vollkommen freie Hand
vorbehalte, wenn die Wehrvorlage wieder eingebracht werden sollte. Es konnte
sich also erst dann entscheiden, wer eigentlich Sieger bleiben werde. Es unterlag
wohl keinem Zweifel, daß Graf Khuen auf Weisungen von Wien aus ge¬
handelt hatte, und offiziöse Andeutungen zeigten, daß diese Weisungen wegen
der Vorgänge in Serbien ergangen seien, die es selbstverständlich der Krone
und dem Leiter der auswärtigen Politik wünschenswert machten, daß die un¬
garische Krise unter allen Umstünden vorläufig gelöst werde. Im allgemeinen
war der Eindruck ungünstig, und die Meinung ging fast ausschließlich dahin,
daß die Erneuerung des Wehrgesetzes große nationale Zugeständnisse an die
Ungarn bringen werde. Freilich hatte es ganz den Anschein, als ob nicht nur
die Uuabhüngigkeitspartci, sondern überhaupt die Mehrheit des ungarischen
Reichstags einen Sieg über die Krone errungen habe.
Die ungarischen Blätter versäumten auch nicht, die Sache in diesem Sinne
darzustellen, und sie fanden bereitwillige Unterstützung in der liberalen deutsch-
österreichischen Presse und weiterhin in allen Zeitungen, die mehr oder weniger
offen in dem Kampfe der Magyaren gegen die Hoheitsrechte der Krone aus
demokratischen Rücksichten Partei nahmen. Dadurch wurde die ganze Ange¬
legenheit in eine falsche Beleuchtung gerückt, und namentlich in Österreich, wo
man allerdings den Ungarn gegenüber schon so trübe Erfahrungen gemacht
hatte, griff Mißstimmung gegen die Krone und Kleinmut um sich bis in die
Kreise des klerikal-konservativen „Vaterlands." Jedenfalls hoffte man nicht
mehr darauf, daß Graf Khuen nach Erledigung der notwendigsten Verwaltungs¬
fragen und der Einleitung der Beratungen über deu Zolltarif und die
Handelsverträge die nötige Energie und Rücksichtslosigkeit aufbieten werde,
die Erneuerung des Wehrgesetzes ohne Schädigung der Einheit der Armee
durchzusetzen. Eigentlich lag aber die Sache doch anders. Die Sache der
Wehrvorlage war schon von Krieghammers Zeiten her verkehrt angefangen
und verpfuscht worden. Es war überhaupt falsch, die Erhöhung des Rekrutcn-
kontingents auf ein Jahr zu verlangen, man Hütte diese Angelegenheit bis zur
Einbringung des ans längere Zeit berechneten Wehrgesetzes, womit man ohne¬
hin bis zum nächsten Jahre warten wollte, verschieben können.
Wenn man jetzt auf diesen Ausweg zurückkam, so schuf man freilich
wieder eine neue Verwirrung, indem dadurch die parlamentarische Lage in
Osterreich erschwert wurde, wo es dem Eifer Dr. von Körbers gelungen war,
die Rekrutenvorlage durchzubringen. Darum war auch der österreichische
Ministerpräsident zu den militärischen Beratungen in Wien zugezogen worden.
Die Zurückziehung der in Österreich schon genehmigten Nekrutenvorlage in
Ungarn konnte nicht ohne Rückwirkung auf die Stellung des Ministeriums
Körber wie auf die parlamentarischen Verhältnisse in Österreich bleiben. Das¬
selbe galt für die Stellung des Honvedministers Baron Fejervary, der ein
unbedingter Vertrauensmann der Krone ist, und dessen Einfluß es allein zu
danken war, daß alle ungarischen Anschläge gegen die Einheit der Armee ge-
scheitert waren. Aber gerade das war ein Grund mehr für die liberale Mehr¬
heit des Abgeordnetenhauses gewesen, die Bildung eines Ministeriums Tisza
zu verhindern, in das Fejervary wieder mit eingeschlossen werden sollte. Sie
hoffte damals noch auf bedeutende nationale Zugeständnisse, bei denen die
Persönlichkeit des seitherigen Honvedministers nur hinderlich gewesen wäre.
Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses unterschied sich in der Wehrfrage nur
in bezug auf die Taktik von der Opposition; diese sollte durch ihre Obstruktion
nationale Zugeständnisse ertrotzen, denen dann die Liberalen bereitwillig zu¬
gestimmt hätten, natürlich nicht, ohne durch ein leichtes Entgegenkommen gegen¬
über der Krone alles Verdienst ans sich zu ziehen. So hatte man es scholl
seit Jahrzehnten gemacht.
Es war doch ganz verwunderlich, wo während der Bemühungen Tiszas,
ein Kabinett zu bilden, die zahlreichen Mitglieder der Regierungspartei hin¬
gekommen waren, die sich, so lange Szell am Ruder gewesen war, mit seiner
Politik des passiven Widerstands gegen die Obstruktion so unzufrieden gezeigt
hatten. Noch mehr mußte man sich wundern, daß von all den Größen der
liberalen Regierungspartei keine einzige darüber Mitteilungen gemacht hatte,
daß sie in ihren Besprechungen mit dem Monarchen auf die unbedingteste
Ablehnung aller nationalen Forderungen gestoßen waren. Wochenlang schleppte
sich die Ungewißheit darüber iir der öffentlichen Meinung hin und wurde von
der dabei interessierten Presse sorgsam gehegt und gepflegt. Man täuschte
sich noch immer mit der Hoffnung auf ein Ministerium Wekerle, das aller¬
dings ein reiches Maß von nationalen Wünschen befriedigt hätte. Alles
das muß mit in Betracht gezogen werden, wenn man das allgemein ab¬
fällig beurteilte Auftreten des Grafen Khuen richtig beurteilen will. Die
Verwirrung und alle nachteiligen Folgen der früher begangnen Fehler traten
zutage, aber der einzige feste Punkt in dem wilden Schwanken und Wogen,
der feste Wille des Kaisers, in der Heeresfrage nicht nachzugeben, war ver¬
schwiegen geblieben.
Graf Khuen hatte nach allem Anschein sein Ziel erreicht und durch seine
Zurückziehung der Rekrutenvorlage die Obstruktion beseitigt. Der Abgeordnete
Barabas erklärte am 25. Juni in einer ausdrücklich ans Verlangen der
Opposition einberufnen Sitzung des ungarischen Abgeordnetenhauses, sie Hütten
die Sitzung beantragt, um dem König die Bitte auszusprechen, er möge die
Lösung der Krisis in Budapest und nicht in Wien vornehmen und dabei nur
die Ratschläge ungarischer Politiker hören. Die Kossnthpartei sei aber jetzt
durch die Zurückziehung der Militärvorlage befriedigt, in Zukunft würde sie
jedoch ohne nationale Zngestündnisse nichts mehr wie bisher bewilligen. Ab¬
gesehen von der echt magyarischen Überhebung, dem Monarchen Vorschriften
über die Wahl seiner Ratgeber machen zu wollen, klang die Erklärung ganz
friedlich, und Graf Khuen reiste nach Wien, um dem Kaiser Meldung zu
machen und sich definitiv mit der Bildung des Kabinetts betrauen zu lassen.
Hineingefallen war bei der unerwarteten Wendung am meisten die große
liberale Partei. Sie hatte diese Strafe redlich verdient, weil sie mit den
nationalen Forderungen der Kossuthianer offen kokettiert und sie unterstützt
hatte, und zwar tat das nicht etwa bloß die Apponyigruppe, sondern der
größte Teil der liberalen Partei hatte sich dessen mitschuldig gemacht. Jetzt
sah man sich dem Grafen Khuen-Hedervary gegenüber, der sich gar nicht
geniert hatte, ohne die Liberalen viel zu fragen, mit der Opposition ein Über¬
einkommen zu treffen, und dem nach seinem Auftreten in Kroatien wohl zuzu¬
trauen war, er werde auch mit einer Opposition in der bisherigen Regierungs¬
partei kurzen Prozeß machen.
Als Graf Khuen aus Wien zurückkehrte, wurde er von der liberalen
Partei ungemein kühl empfangen. Um so schmerzlicher empfand sie, daß auch
Baron Fejervary die Konsequenzen aus der Zurückziehung der Rekrutenvor¬
lage gezogen hatte und nicht in das neue Ministerium eingetreten war. Jetzt
auf einmal wußten sie, was sie an ihm verloren. Leider hatten sie ihn alle¬
mal im Stiche gelassen, noch das letztemal in der „Affäre Nessi," bei der
Fejervary für das „Gott erhalte" und die Einheit der Armee eingetreten war,
während sich bei der liberalen Partei, die es mit der „nationalen Opposition"
nicht verderben wollte, keine Hand für ihn rührte, und er weder beim Präsi¬
denten des Abgeordnetenhauses Apponyi Schutz noch bei seinen Kollegen im
Ministerium Szell Unterstützung fand. Er war ein echt Altliberaler, der
ebenso energisch für alle berechtigten ungarischen Wünsche wie für die Rechte
der Krone und die Gemeinsamkeit der Armee eingetreten war, und deshalb
war er auch ein unerbittlicher Gegner der Unabhängigkeitspartei wie des
Grasen Apponyi. In sehr gedrückter Stimmung beschlossen die drei Gruppen
der liberalen Partei Ende Juni, das Kabinett Khuen zu unterstützen. Die
äußere Einigung der Partei war wohl damit wiederhergestellt, aber die
innern Gegensätze blieben. In der Unabhängigkeitspartei war man durchaus
nicht allgemein mit dem Vorgehn Kossuths einverstanden, ebenso die kleine
Fraktion Szederkenyi, die die Obstruktion fortsetzen wollte; infolgedessen legte
Kossuth die Prüsidentenstelle der Unabhängigkeitspartei nieder.
Als Graf Khuen mit seinem Ministerium am 30. Juni im Abgeordneten-
Hans erschien, wurde er von der Rechten kühl, von der Linken mit Hohn und
Spott empfangen. Sein Programm lief nur darauf hinaus, daß er die Politik
Szells fortsetze» werde. Als er erklärte, er verzichte nur vorläufig auf die
Erhöhung des Rekrutenkontingents, ging der Lärm los; man rief ihm zu, er
habe sein Wort gebrochen, und die Unabhüngigkeitspartei zeigte ganz deutlich,
daß es ihr gar nicht einfalle, sich durch die Abmachungen Kossuths für ge¬
bunden zu erachten, und daß sie die süße Flegelei der Obstruktion weiter be¬
treiben werde. Der Abgeordnete Barabas erklärte offen, die Partei werde weiter
obstruieren, wenn Graf Khuen nicht für den Herbst nationale Zugeständnisse
verspreche, Kossuth und einige andre versicherten dagegen, sie würden ihr Wort
halten und lieber aus der Partei austreten. Am 6. Juli beschloß die Uuab-
hängigkeitspartei mit 26 gegen 20 Stimmen, sie werde bei ihrem Beschlusse,
die Obstruktion einzustellen, beharren, worauf Kossuth die Präsidentschaft der
Partei wieder übernahm, während Barabas die Vizepräsidentenstelle nieder¬
legte, ohne aus der Partei auszuscheiden.
Mittlerweile zog sich im Abgeordnetenhause die Debatte über das Pro-
grauen des Ministeriums hin, es kam wiederholt zu Lärmszenen, aber die
Sache rückte nicht vorwärts. Wenn die liberale Partei gewollt Hütte, konnte
die Debatte bald zu Ende kommen, aber sie konnte sich für den Grafen Khuen
nicht erwärmen und schien wenig dagegen zu haben, wenn ihm von der Oppo¬
sition ein Bein gestellt würde. In einem Teil der von den Unabhängigen
und den Anhängern des Grafen Apponyi aufgeregten Bevölkerung machte sich
Unzufriedenheit wegen der Einstellung der Obstruktion geltend, auch die Sozial¬
demokraten versuchten, durch Demonstrationen gegen Kossuth die Obstruktion
wieder zu beleben, aber alles das machte keinen besondern Eindruck. Mehr
Wirkung rief die Mitteilung des neuen Honvedministers Koloszvary hervor,
der im Wehrausschuß die zweijährige Dienstzeit für die neue Wehrvorlage be¬
stimmt ankündigte. Die Obstruktion schien aber doch einschlafen zu wollen,
und der Abgeordnete Barabas, der bloß auf diesem Gebiet eine Rolle zu
spielen vermag, bemühte sich eifrig, sie zu belebe». Sonntag den 12. Juli
suchte er in seinem Wahlkreis Großwardein durch einen Bericht vor seinen
Wühlern ein Vertrauensvotum zu erlangen; aber es kam zu keinem Vertrauens¬
votum, sondern zu einer Schlügerei, bei der Polizei und Militär eingreifen
mußten, siebzehn Personen verwundet und ein Dutzend verhaftet wurden. Im
Abgeordnetenhause hatte Barabas mit seinen Klagen darüber kein Glück, er
ruhte aber trotzdem nicht und beschloß am 14. Juli mit vierzig Parteigenossen,
die Obstruktion fortzusetzen, bis Graf Khuen bindende Versprechungen in bezug
auf die nationalen militärischen Forderungen abgeben würde. Da Kossuth
daraufhin abermals die Präsidentschaft der Partei niederlegte, geriet diese voll¬
ständig in die Hände von Barabas.
Man kann dieses Treiben versteh», wenn man die in Ungarn in den
weitesten Kreisen geteilte Ansicht kennt, daß man dem Kaiser Franz Joseph
noch etwas abringen müsse, weil man fürchtet, daß später eine starke Regierung
den magyarischen Wünschen einen mächtigen Damm entgegenstellen werde.
„Der König wird alt," sagte Barabas, und jedermann verstand, wie er es
meinte. Er wußte aber nicht, daß der Monarch nicht weiter nachgeben werde;
die liberale Partei wußte es, aber sie schwieg darüber. Sie ließ den Grafen
Khuen auch allein mit der Obstruktion kämpfen, und gewisse Wiener Blätter
suchte» das damit zu entschuldigen, daß er kein „parlamentarischer" Minister
sei, da er nicht aus der Regierungsmehrheit hervorgegangen wäre. Das war
doch aber bei seinem Vorgänger Szell auch der Fall gewesen, und übrigens
hätte man sich rechtzeitig dagegen verwahren müssen. Diese nachträgliche Zurück¬
haltung war einfach unredlich, man wollte eben Khnen nicht und hoffte, den
Monarchen nötigen zu können, daß er ihn fallen lasse.
Inzwischen war Graf Khuen in Temesvar, der zweiten Stadt des Landes,
mit 847 von 867 abgegebne» Stimmen wiedergewühlt worden, was immerhin
als Beweis dafür gelten kom»te, daß die Obstruktion in Ungarn durchaus nicht
allgemein gebilligt wurde. Die Wiener Blätter rieten ihm zwar eifrig, zurück¬
zutreten, aber er hatte dazu um so weniger Ursache, als er noch das Ver¬
trauen der Krone hatte. An: 22. Juli trat der Kammerpräsident Graf Apponyi
mit einer Rede auf den Plan, in der er zwar die Obstruktion verwarf, da der
mögliche Gewinn zu dem Einsatz in keinem Verhältnis stehe, auch die Oppo¬
sition früher ihr Wort gegeben habe, und es nicht gut sei, die Vertrauens¬
würdigkeit der Nation in den Angen des Königs zu erschüttern. Aber er er¬
klärte ganz offen: „Ich, wie auch jedes Mitglied der liberalen Partei, wünsche
und verlange die Durchführung des Ungartums, des Begriffs »ungarisches
Heer« im gemeinsamen Heer, und ich halte daher die Forderung, daß die ungci'
rische Sprache bei den ungarischen Truppen im Dienste und im Kommando
zur Geltung gelange, für ein Postulat, das früher oder später erfüllt werden
muß." Damit ist uun von autoritativer Seite bestätigt worden, was man
eigentlich schon längst wußte, daß nämlich Regierungspartei und Opposition in der
Heeresfrage grundsätzlich übereinstimmten. Wer noch daran gezweifelt hätte,
den konnte das allgemeine Eljen, das Apponyi von allen Seiten des Hauses
bei dieser Stelle seiner Rede zugerufen wurde, eines bessern überzeugen. Die
rücksichtslose Offenheit des Grafen Apponyi warf aber ein Helles Licht auf die
ganze Lage, zeigte der Krone offen, wie es in Ungarn eigentlich stand, ver¬
mehrte aber den Kleinmut in Österreich noch, und ein Wiener Blatt, das
allerdings den ungarischen Bestrebungen gern Vorschub leistet, sah in dem
Grafen Apponyi schon den Nachfolger des Grafen Khuen. Leute, die besser
unterrichtet waren, merkten aber in der Ferne schon das Gewitter, das plötzlich
als Armeebefehl von Chlopy niederging. Doch die „wirklich unterrichteten"
Blätter verkannten wenig Tage nach Apponyis Rede vollkommen die Wichtig¬
keit der Tatsache, daß Graf Khuen die Vcrmittlungsvorschläge, durch die
ein Nachlassen der Obstruktion bewirkt werden sollte, abgelehnt hatte, weil sie
in der Hauptsache dahin gingen, daß die Negierung eine bindende Erklärung
über die Einführung der magyarischen Kommandosprache zu einem bestimmten
Zeitpunkt abgeben sollte.
Inzwischen war der Rest des Monats mit fruchtloser Obstruktion ver¬
geudet worden, und darum stellte der Ministerpräsident am 29. Juli den An¬
trag, die Debatte über das Regieruugsprogramm abzubrechen und dafür die
Jndemnitätsdebatte fortzusetzen. Dem widersetzte sich die Opposition mit allen
Kräften, versuchte sogar den Minister zu hindern, seinen Antrag überhaupt
vorzubringen, und packte schließlich ewige Bestechungsgeschichten aus. Aber
diesesmal unterstützte die liberale Mehrheit den Ministerpräsidenten und setzte
es durch, nachdem die Opposition bis nach Mitternacht standgehalten hatte,
daß eine Untersuchung über die angeblichen Bestechungsversuche eingeleitet und
in der nächsten Sitzung die Jndemnitätsdebatte auf die Tagesordnung gesetzt
werden sollte. Dieses plötzliche Eintreten der liberalen Mehrheit für den
Ministerpräsidenten war auffällig, die Bcstechungsgeschichten warfen eben einen
neuen Stoss in die parlamentarischen Verhandlungen, der zu Lärmszenen und
zur Untergrabung der Stellung des Ministeriums Khuen reichlichen Anlaß
bot. Die ordentlichen Sitzungen des Hauses wurden bis 10. August aus¬
gesetzt, damit in die „Bestechungsaffäre" Licht gebracht werden könnte.
Sechs Wochen hatte bisher Graf Khuen-Hedervary an der Spitze der
ungarischen Regierung gestanden. Die Zusage der Obstruktionspartei, wofür
Baron Fejcrvary geopfert worden war, war ihm nicht gehalten worden. Dabei
war auch das österreichische Ministerium so sehr bloßgestellt worden, daß es
seinen Rücktritt erklärte und nur durch eine besondre Vertrauenskundgebung
des Monarchen im Amt erhalten werden konnte. Daß der Kaiser dabei die
bestimmte Zusage gegeben hatte, er werde in der Armeefrage nicht nachgeben,
blieb verschwiegen, damit die Stellung des ungarischen Ministerpräsidenten
nicht noch mehr erschwert werde. Aber die Hoffnung, aus dem Budgetprovi¬
sorium in Ungarn herauszukommen, blieb unerfüllt, da das Treiben der Un-
abhängigkeitspartei und die laue Haltung der liberalen Partei die Arbeiten
des Abgeordnetenhauses nicht vorwärts kommen ließ. Nun hatte man die
Bestechungsaffäre aufgeworfen, um dem Grafen Khuen den Rest zu geben.
Es handelte sich dabei in einem Lande, wo politische Bestechungen nicht un¬
gewöhnlich sind, um eine reine Lächerlichkeit, um einen Versuch, zu dem ein
„Redakteur" Singer und einige Stammesgenossen mit echt magyarischen Namen
den dem Ministerium treu ergebner, aber nichts weniger als politisch klugen
Statthalter in Fiume, Grafen Szapary, verlockt hatten. Wer eigentlich dahinter
gesteckt hatte, ist nicht herausgekommen, Graf Szapary nahm sofort seinen
Abschied. Der Untersuchungsausschuß stellte die sogenannten Redakteure als
mehr als zweideutige Geschäftsmacher bloß und gestand zu, daß den Grafen
Khuen nicht die geringste Schuld an dem Bestechungsversuch treffe. Aber
dieser hatte es satt, gegen so gewissenlos kämpfende Gegner weiter zu fechten,
und erklärte dem Abgeordnetenhause am 10. August, er habe mit dem Gesamt¬
ministerium das Abschiedsgesuch eingereicht, nachdem er vorher beim Monarchen
in Ischl gewesen war. Diese Kunde wurde von allen Parteien in Ungarn
mit großer Freude aufgenommen, man schmeichelte sich wieder mit der Hoff¬
nung, der Mißerfolg des Grafen Khuen werde den Kaiser doch mürbe machen,
und die beiden unmöglichsten Namen, Graf Apponyi und Wekerle, wurden
wieder mit der größten Zuversichtlichkeit als die wahrscheinlichen Minister¬
präsidentschaftskandidaten in allen Blättern angepriesen. Man legte sich
sogar die Nachricht, daß der Monarch seinen Sommeraufenthalt in Ischl
unterbrechen und zur Lösung der Krise selbst nach Pest kommen werde, in
diesem Sinne zurecht. Das Abgeordnetenhaus hatte sich auf unbestimmte
Zeit vertagt.'
Kaiser Franz Joseph kam zunächst aber nicht nach Budapest, sendern
blieb in Wien, wo er vom 13. August an mit den gemeinsamen und öster¬
reichischen Ministern beriet und den Grafen Khuen wiederholt empfing, der
sich weiter des vollkommensten Vertrauens des Monarchen erfreute, was in
Ungarn mit Befremden bemerkt wurde. Im Verlauf einer Woche berief der
Kaiser mehr als ein Dutzend ungarische Parteiführer und „Staatsmänner"
— das sind sie ja jenseits der Leitha alle — zu Besprechungen nach Wien;
sie erfuhren aber bloß, daß weitere militärische Zugeständnisse, als schon von
Szell und Khuen gemacht worden waren, nicht in Aussicht stünden, was zur
Folge hatte, daß der Geburtstag des Monarchen in Budapest nur ober¬
flächlich gefeiert wurde. Man machte auch den Versuch, den gefürchteten
Thronfolger zu verdächtigen, indem man die Berufung des Grafen Johann
Zichy, des Präsidenten der katholischen Volkspartei, zur Besprechung beim
Kaiser dahin auslegte, der Thronfolger sei bemüht, diesen zum Ministerpräsi¬
denten zu machen.
Am 19. August Abends traf endlich der Kaiser in Budapest ein und
wurde auf den Straßen von der Volksmenge mit den üblichen Eljenrufen be¬
grüßt. Es war immerhin eine Aufmerksamkeit für die Magyaren, daß der
Monarch am folgenden Tage, dem Se. Stephanstage, dem größten Feiertage
Ungarns, an der kirchlichen Feier teilnahm, aber die in den folgenden Tagen
zu ihm berufnen Parteiführer fanden ihn sehr ernst und vor allem nicht zu
militärischen Zugestündnissen geneigt. Das wirkte sehr enttäuschend, und für
die ungarische Presse wurde die Losung ausgegeben, die Krisis werde sich in
die Länge ziehen. In einigen Tagen begannen die Blätter noch mehr einzu¬
schwenken, der „Pester Lloyd" bemerkte schon: „Die Einführung der un¬
garischen Kommandosprache hat keine Aussicht auf Verwirklichung," und
..Magyar Hirlap" schrieb: „Der Druck, den man jetzt auf Se. Majestät aus¬
übe, sei ungesetzlich und verfassungswidrig. Wenn aber die liberale Partei in
weniger peremptorischen Ton ihre nationalen Forderungen formuliere, wäre
die Krone imstande. Entgegenkommen zu beweisen." Wie das eigentlich ge¬
meint war, deutete das offiziöse „Wiener Fremdenblatt" an, indem es riet,
die liberale Partei müsse selbst einen verfassungsmäßigen Weg zur Lösung der
Krise betreten und in der Militärfrage selbst ein Programm formulieren. Das
hieß doch mit andern Worten, man müsse nachgeben. Aber so sehr auch
mancher der liberalen „Staatsmänner" nach der höchsten Macht streben mochte,
noch hatte keiner den Mut, sich der chauvinistischen Strömung entgegenzustellen.
Als der Monarch am 29. Angust nach Wien zurückkehrte, um den König von
England zu empfangen, war die Krise noch ungelöst, und Khuen blieb Minister-
Präsident. Es mußten noch andre Ereignisse eintreten, die ungarischen Liberalen
aus ihrem chauvinistischen Taumel aufzurütteln.
(Schluß folgt)
ach dieser Abschweifung kehren wir zu der Beschäftigung der
beiden Kaiser in den späten Morgenstunden und am Nachmittag
zurück. Gegen elf Uhr fuhr oder ritt Napoleon meist zum
Besuch des Kaisers von Rußland und des Königs von Sachsen
aus. Nachmittags bis vier oder fünf Uhr waren auf dem Felde
vor dem Krmnpfertore Truppenbesichtigungen. Jeden Abend gegen fünf Uhr
nahmen die beiden Kaiser die Hauptmahlzeit im Statthaltereigebüude ein. Am
obern Ende eines länglich runden Tisches saßen Napoleon und Alexander
nebeneinander, zur rechten und zur linken Seite folgten die cingeladnen
Fürsten ihrem Range nach, das andre Ende des Tisches, das den beiden
Monarchen gegenüber war, war nicht besetzt. Dort stand der Prüfekt des
Palastes und leitete die Bedienung. Meistens waren außer den beiden Kaisern
die Könige und der Fürstprimas von Dalberg zugegen. Einmal fragte bei Tafel
Napoleon den Herzog August von Sachsen-Gotha, weil er wenig oder gar
nichts genoß: „Leben Sie vielleicht von der Luft?" „Nein, erwiderte der Herzog,
dessen Witz und Scharfsinn allgemein bewundert wurden, mit einer Verbeugung
gegen den Monarchen, sondern von den Strahlen der Sonne." Ein andermal
kam das Gespräch auf die Goldne Bulle, das Staatsgruudgesetz, das die bis
1806 geltenden Bestimmungen über die Wahl der deutschen Kaiser und die
Rechte der Kurfürsten enthielt. Der Fürstprimas ging auf einige Einzelheiten
ein und erwähnte unter anderm, daß die Goldne Bulle 1409 erlassen worden
sei. Napoleon wandte ein, daß dieses Datum ungenau sei, nicht 1409, sondern
1356 sei sie unter Kaiser Karl dem Vierten proklamiert worden. Und als der
Fürstprimas zugab, sich geirrt zu haben, und den Kaiser Napoleon fragte, woher
er diese Geschichtskenntnis habe, antwortete dieser, als einfacher Sekondeleut-
nant der Artillerie habe er drei Jahre in der Garnison Valence gestanden,
hier habe er zurückgezogen gelebt und bei einem sehr gefälligen Buchhändler
gewohnt, der ihm seine Bibliothek zur Verfügung gestellt habe, und so habe
er fleißig gelesen, außerdem habe ihn die Natur mit einem guten Gedächtnisse
für Zahlen begabt.
Nach Tisch, gegen sieben Uhr Abends, begaben sich die hohen Herrschaften
in das Schauspielhaus. Die berühmten Schauspieler des IbeMrs kranyiÜ8
aus Paris waren nach Erfurt beschieden, um vor einem „Parterre vou Königen"
die Meisterstücke von Voltaire, Corneille und Racine darzustellen. Das Erfurter
Schauspielhaus, der jetzige Kaisersaal in der Futterstraße, wurde so eingerichtet,
daß es keinen zu schneidenden Gegensatz zu den kleinen Pariser Theatern abgab.
Da das Theater nur einen Eingang hatte, wurde ein zweiter von der Straße
aus für Seine Majestät den Kaiser eingebrochen; dieser Eingang führte über
eine Treppe direkt in die Herrschastsloge. Außerdem wurden noch drei neue
Eingänge hergerichtet. Vor dem Theater brannten vier Pfahllaternen, eine
Krone mit vielen gegoßnen Talglampen erleuchtete die Vorhalle des Schau¬
spielhauses am Eingange, wo zu beiden Seiten bis zum Eingang ins Parterre
die Grenadiere Spalier bildeten. Die Decke des Theaters war frisch getüncht
und hatte in der Mitte eine runde Öffnung als Luftloch. Die Logen wurden
tapeziert, an Stelle der Bänke wurden geschmackvolle Stühle und Kanapees
hingesetzt. An jedem Pfeiler der Nobelloge war ein doppelter Wandleuchter
angebracht, und von der Decke herab schwebten fünf kristallne Lüsters. Das
Parterre wurde mit gepolsterten Banken besetzt. Die Galerie war für Privat¬
personen von Rang und die Vornehmen des Erfurter Publikums, die Logen
für die Monarchen und erlauchten Personen, das Parterre ebenfalls für
Personen von Bedeutung und Offiziere. Vom 29. September an trat in der
Verteilung der Plätze eine Veränderung ein. Napoleon hatte nämlich bemerkt,
daß Alexander, der am ersten Abend in der Nobelloge saß, wegen seiner Ge¬
hörschwäche nicht alles vernehmen könne, und hatte deshalb in gemeßner Ent-
fernung vom Parterre nahe am Orchester für die Majestäten ein eignes Parkett
Herrichten lassen. Hier saßen nun in der Regel Napoleon. Alexander, der
König von Sachsen,' sowie Großfürst Konstantin. Die andern hohen Fremden,
die Fürsten, Herzöge und Generale nahmen jetzt die Plätze im Parterre ein,
und die Nobellogen wurden den Offizieren und den Fremden überlassen.
Jeden Abend um sechs Uhr wurde das Theater ringsum mit Wachen der
Gardegrenadiere besetzt, und es wurde niemand in das Haus gelassen, der nicht
ein Billett hatte oder zum Personal der Monarchen gehörte. Niemand durfte im
Theater mit Stiefeln und Überrock, jeder mußte in Schuhen, Strümpfen und in
gutem Frack erscheinen. Gegen acht Uhr fuhren die Wagen der hohen Herrschaften,
es waren mehr als fünfzig, am Theater vor. Wenn die Wagen der beiden
Kaiser kamen, wurde dreimal, bei jedem König nur einmal die Trommel gerührt.
Da geschah es denn, daß einmal die Wache, durch das Äußere des Wagens
getäuscht, bei der Ankunft des Königs von Württemberg die dreifache Be¬
grüßung machte, aber der kommandierende Offizier gebot zornig Einhalt mit
mit den Worten: ?g,iss2-vou8, og n'sse an'un roi! Die Kostüme der Schau¬
spieler waren überaus prächtig, die Garderobe wahrhaft kaiserlich. Gold¬
stickereien, sowie die Menge Brillanten waren alle echt. Unter den fünfzehn
Schauspielern war Talma, der überdies in freundschaftlichem Verhältnis zu
Napoleon stand, der verdienteste, unter den Schauspielerinnen Fräulein Duchenois
eine der ersten tragischen Heldinnen ihrer Zeit. Sie leisteten alles, was man
Schönes und Großes von Künstlern von so vorzüglichen Talenten erwarten
konnte. „Beide ließen, so schreibt der »Verfasser von Erfurt in seinem höchsten
Glänze«, alle Vorstellung von Größe und Erhabenheit der Kunst weit hinter
sich. Die Feinheit des Spiels, die Wahrheit und das Feuer der Deklamation
ging über alle Beschreibung." Die wichtigsten der fünfzehn Trauerspiele, die
aufgeführt wurden, waren NÄromst, Osclips, ^Ars von Voltaire, Ixnis'oris,
?IMrs und ^näronmaus von Racine, Lang, und I^Sö Hör^oss von Corneille.
Oft erfuhren die Schauspieler erst am Mittag, welche Stücke sie am Abend
darstellen sollten. Beim Eintritt ins Theater, sagt ein Bericht, ebenso beim
Hinausgehn läßt Napoleon dem Kaiser von Rußland und dem König von
Sachsen den Vortritt, und er benimmt sich überhaupt gegen diese Monarchen
sehr galant und mit der äußersten Freundlichkeit. Während der Vorstellung
sitzt Napoleon meist ganz ruhig, seinen Hut zwischen den Knieen und die Hände
in den Hut gelegt. Er scheint aufmerksam zuzuhören und nimmt von Zeit zu
Zeit etwas zu sich, was man für Nüsse oder Mandeln hält." Wahrscheinlich
waren es kleine Pastillen aus einem Gemisch von Lakritzc und Anis, die
Napoleon immer bei sich führte. Masson sagt in seinem Werke: „Napoleon
der Erste zu Hanse." diese Pastillen Hütten den Zweck gehabt, den Mund zu
Parfümieren, und waren zugleich die einzige Näscherei, die sich Napoleon
erlaubte.
Bei der Aufführung des Oöäixö. so erzählt Beyer in seiner Chronik, schien
Napoleon seine Aufmerksamkeit mehr auf das Theaterpublikum als auf das
Stück zu richten, denn er sah sich, seine Füße nachlässig übereinander gelegt,
mit seinem goldnen Perspektive nach allen Seiten um. Bei einer Stelle in
der ^.näroiuaauö, die ihm besonders gefiel, wandte er sich zum Kaiser von
Rußland und sprach einige Worte mit ihm. Man hatte die Stücke sehr
sorgfältig ausgewählt, alle waren nach Napoleons Absicht darauf berechnet,
dem deutschen Publikum große Helden vorzuführen, die gewaltige Taten ver¬
richtet und sich durch Tapferkeit und hohe Geistesgaben über die gewöhnlichen
Menschen erhoben hatten und von den staunenden Zeitgenossen wie Wesen
höherer Art verehrt und gepriesen wurden. Dabei fanden sich Anspielungen
in Menge auf den Imperator selbst, besonders in der IxuiZ6mis klingt es
immer wieder und immer aufs neue von Unsterblichkeit, von ewigem Ruhm,
von Heldengröße und von dem gewaltigen Fatum, und der Kaiser hatte Talma
vorher genau instruiert, gewisse Worte recht deutlich und ergreifend zu dekla¬
mieren. Napoleons Lieblingsstück war Uf-Koinst von Voltaire, denn dort fand
sich das beste Spiegelbild für seine Macht. Da heißt es:
Man kann sich die Wirkung dieser Worte denken, die Blicke des ganzen
Theatersaales richteten sich auf Napoleon. Alle Welt hörte die Schauspieler,
aber alle Welt schaute auf ihn. Dann trat der Schauspieler Lafond (oder
Lafond) auf und sprach in die lautlose Versammlung hinein:
Man wagte kaum zu applaudieren, aber gleich darauf brach der Beifall
los im Dialog zwischen Omar und Sopir:
Und dieser Beifall erreichte seinen Höhepunkt und wurde zum Jubel, der
gar kein Ende nehmen wollte, als Talma in der Rolle des Omar dicht an
die Rampe trat und, mit einer deutlich zu bemerkenden Wendung nach Napoleon
hin, ansnef:
Solche Szenen wiederholten sich allabendlich im Theater. Einmal bei
der Aufführung des Oeäixs fand die bekannte Rührszene statt. Talma richtet
in der Rolle des Oeciixs an seinen Freund die Worte: I/ainiti6 et'un xraaä
noiQm<z est un d1«ukM 6s äisu. Da erhob sich der Zar, reichte Napoleon
mit Grazie die Hand und drückte sie. Für viele, kurzsichtige, Politiker war
dies der größte Moment der Erfurter Kaisertage.
In der Nacht nach dieser Aufführung hatte Napoleon einen eigentüm¬
lichen Zufall, den Constant, Napoleons Diener, in seinen Memoiren erzählt.
Alle Türen, die in Napoleons Schlafzimmer führten, waren sorgfältig ver¬
schlossen, ebenso die Fenster und die Fensterläden. Man konnte also nur durch
ein Zimmer, wo zwei Kammerdiener, unter diesen Constant, schliefen, gelangen.
Eine Schildwache stand am Fuße der Treppe. Plötzlich gegen zwei Uhr
Morgens wurde Constant durch ein eigentümliches Geräusch wach, er hörte
dumpfe, jammernde Laute, wie wenn jemand erwürgt wird. Da standen ihm
die Haare zu Berge, und der kalte Schweiß lief ihm über die Stirn, denn
er glaubte, es sei jemand im Nebenzimmer, um Napoleon zu ermorden. Schnell
sprang er auf, öffnete die Tür, warf einen Blick in Napoleons Schlafzimmer,
und als er keine fremde Person sah, näherte er sich dem Bette des Kaisers.
Da bemerkte er das Deckbett am Boden, den Kaiser quer im Bett ausgestreckt,
in konvulsivischen Zuckungen, bei offnem Munde stößt er unartikulierte Laute
aus, die Brust ist eingeschnürt, eine Hand ist geschlossen auf die Herzgrube
gedrückt. Als er nach mehrfachem Anrufen nicht wach wird, stößt ihn Constant
sanft an. Bei dieser Berührung wacht der Kaiser auf, stößt einen Schrei aus
und ruft: „Was gibts?" Dann richtet er sich auf und öffnet weit die Augen.
Und als Constant ihm mitteilt, daß er ihn von einem schrecklichen Alpdrücken
beängstigt gefunden und deshalb sich erlaubt habe, ihn zu wecken, antwortete
Napoleon: „Das habt ihr recht gemacht, welch schrecklicher Traum! Ein Bär
öffnete mir die Brust und zerfleischte mir das Herz." Darauf erhob sich der
Kaiser, ging im Zimmer auf und ab, während Constant das Bett zurechtmachte,
"ut nachdem er das von Schweiß ganz durchnäßte Hemd mit einem andern
vertauscht hatte, begab er sich wieder zur Ruhe. Lange hat die Erinnerung an
diesen Traum Napoleon noch verfolgt, er sprach oft davon und hat verschiedne
Folgerungen daraus zu ziehn gesucht. Constant sagte, er müsse gestehn, daß er
betroffen gewesen sei über das Zusammenfallen dieses entsetzlichen Alpdrückens mit
dem Kompliment Alexanders im Theater, da doch Napoleon solche Zufälle nie
gehabt hätte. Und doch erwähnt Talleyrand I. Seite 229 einen ähnlichen,
Besorgnis erregenden Unfall, der Napoleon in Straßburg im Jahre 1805 vor
der Schlacht bei Ulm traf. Nach Beendigung der Tafel, so erzählt er, ging
Napoleon zur Kaiserin Josephine hinüber und ließ mich im Salon allein.
Aber schon nach wenig Minuten kam er hastig zurück, ergriff meinen Arm
und zog mich in sein Kabinett. . . , Hier fiel er wie ohnmächtig nieder, in¬
dem er mir noch zurief, die Tür zu verschließen. Ich hob ihn auf, riß ihm
die Halsbinde ab, weil ich glaubte, er ersticke; er übergab sich nicht, sondern
stöhnte nur und hatte Schaum vor dem Munde. Herr von Remusat, der erste
Kammerherr des Kaisers, bespritzte ihn mit frischem Wasser, ich griff nach einem
Flacon Eau de Cologne und badete ihm Kopf und Gesicht damit. Wir trugen
ihn darauf in einen Armsessel. Er wurde nun von einem krampfhaften Zittern
befallen, das aber nach einer Viertelstunde aufhörte; dann kam er wieder zu
sich, sprach mit uns und kleidete sich wieder an, indem er uns die strengste
Verschwiegenheit anempfahl. Eine Stunde später war er schon ans dem Wege
nach Karlsruhe. Auch der englische Feldherr Wolseley berichtet über eine
geheimnisvolle Krankheit, die Napoleons Geisteskräfte in Mitleidenschaft ge¬
zogen habe. Aber die Deutsche Medizinalzeitung erklärt die geheimnisvolle
Krankheit aus der beständigen Aufregung und der unregelmäßigen Lebensweise
Napoleons. (Vergl. Lucas, 1897, S. 35.) Jedenfalls ließ Napoleons Gesund¬
heit schon lange zu wünschen übrig. So behauptet die Frau des Kammer-
Herrn von Remusat, daß das Aufstehn Morgens gewöhnlich eine klägliche und
peinliche Affüre gewesen sei, da Napoleon sehr oft Magcnkrümpfe mit Er¬
brechen gehabt habe. Der Leibarzt des Kaisers Corvisart hat nach sorgfältiger
Untersuchung Napoleons Krankheit auf eine zurückgetretne, schlecht behandelte
Hautkrankheit zurückführen zu müssen geglaubt und behauptet, das Leiden ge¬
hoben zu haben. Aber die erwähnten eigentümlichen Zufälle in Straßbnrg und
Erfurt lassen eher darauf schließen, daß der Kaiser an Epilepsie gelitten habe.
Jedoch ist auch diese Annahme nach zuverlässigen Berichten aus Se. Helena
irrtümlich. Nach or. Andrews ist vielmehr der Schluß auf „chronische Nieren¬
entzündung" gerechtfertigt. —
Nach dem Theater, gegen zehn Uhr nahmen Napoleon und Alexander das
Abendessen ein, und oft begleitete Napoleon dann noch den Zaren in sein
Palais, wo sich beide Kaiser bis nach Mitternacht, nicht selten bis zwei oder
drei Uhr, bei verschlossenen Türen unterhielten. Dann begab sich Napoleon
zurück nach dem Gouvernement, war aber oft Morgens schon um vier oder fünf
Uhr auf den Beinen. Man sah ihn um diese Zeit nicht selten auf dem Platze
vor seiner Wohnung allein, nur vou einem Adjutanten begleitet, auf- und ab-
gehn. Morgeus war Alexander fast täglich bei Napoleon und unterhielt sich
mit ihm sehr vertraulich im Schlafzimmer. Eines Tages betrachtete er auf¬
merksam das Necessaire des französischen Kaisers, ein prachtvoll gearbeitetes
Stück im Werte von 6000 Franken, es schien ihm sehr zu gefallen. Als sich
der Zar entfernt hatte, befahl Napoleon ein ähnliches Necessaire in Paris an¬
zufertigen, das er den: Zaren schenkte. Ein andermal, als Alexander die
Eleganz und Dauerhaftigkeit des Bettes Napoleons bewunderte, wurde am
folgenden Tage auf Befehl Napoleons ein ähnliches Bett in das Zimmer des
russischen Kaisers gebracht, der über diese Aufmerksamkeit sehr erfreut war.
Überhaupt widmete Napoleon keinem Fürsten solche Aufmerksamkeit wie dem
Kaiser Alexander. Er war der einzige Gegenstand eifrigster Sorge. Mit
Schmeicheleien und Artigkeiten sollte der eitle Mann betäubt werden, damit
er nicht fühle, daß er auch jetzt nur gerufen sei, um wohlfeil abgefunden zu
werden.
Der Geringschätzung gegenüber, die Napoleon gegen Deutschlands Fürsten
nicht verleugnete, fällt die Auszeichnung doppelt in die Augen, die er den
Heroen der deutschen Literatur, besonders Goethe und Wieland, bewies. Beiden
wurde das Großkreuz der Ehrenlegion verliehen. — Am 2. Oktober wurden
Wieland und Goethe vom Kaiser zur Audienz befohlen, Wieland hat die
Unterredung mit Napoleon sofort niedergeschrieben, sie stimmt mit der Schilde¬
rung Talleyrands völlig überein (Bd. I, S, 325 ff.), — „Monsieur Wielan.
sagte Napoleon, wir Franzosen sind große Verehrer Ihrer Schriften, denn Sie
haben ja deu Agathon und Oberon geschrieben. Wir nennen Sie bei uns
den deutschen Voltaire." „Sire, antwortete Wieland, dieser Vergleich ist für
mich sehr schmeichelhaft, aber jedenfalls sehr übertrieben; er ist wohl nur der
Beweis einer wohlwollenden Gesinnung." „Sagen Sie mir, Monsieur Wielan,
weshalb haben Sie Ihren Diogenes, Ihren Agathon und Ihren Peregrinus
in einer so doppelsinnigen Form geschrieben, die den Roman in die Geschichte
und die Geschichte in den Roman hineinspielen läßt? Ein so bedeutender Mann,
wie Sie, sollte doch jede Richtung allein und für sich behandeln. Eine derartige
Vermischung bringt leicht Verwirrung hervor. Deshalb sind wir in Frank¬
reich auch gar keine großen Freunde des Dramas. Was ich da sage, ist wohl
etwas gewagt, denn ich habe hier bedeutende Kenner vor mir, und diese
Äußerung richtet sich ebenso gut an Monsieur Goeth, wie an Sie." „Sire,
ich verstehe; Ew. Majestät wollen auf der Bühne nur Tragödien und Lust¬
spiele, und doch besitzt gerade die französische Bühne sehr wenig Trauerspiele,
in denen nicht Roman und Geschichte vermischt sind. Ich bin hier übrigens
auf einem Gebiet, wo mein Freund Goethe zu antworten hat, und ich bin
überzeugt, daß er sehr gut antworten wird. Was mich betrifft, so wollte ich
mich in den Lehren, durch die ich einigen Nutzen zu stiften hoffte, gern an die
Geschichte anlehnen. Ich wünschte, meine Beispiele ans der Geschichte deu
Menschen recht zugänglich zu macheu, und nahm deshalb zu dein Romantischen
meine Zuflucht. Die Gedanken der Menschen, Sire, sind oft viel besser als
ihre Handlungen, und gute Romane sind oft viel besser als die Menschen
überhaupt. Voltaires Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten und Fenelons
Telemach, dort die Geschichte, hier der Roman, enthalten beide in ihrer Art
die besten Lehren, sowohl für die Könige, als für die Völker. Auch mein
Diogenes ist ein reiner Mensch, wenngleich er nur in einer Tonne wohnt."
„Schon recht, Monsieur Wielan, aber vergessen Sie dabei nicht, daß die Leute,
die die Tugenden immer nur im Ideal schildern, leicht den Glauben erwecken
können, daß die Tugenden selbst nur Chimären seien. Gerade die Geschicht¬
schreiber haben nur zu oft die Geschichte verleumdet und entstellt." Hiermit
war die Audienz zu Ende, denn Geueral Nnusouth erschien und brachte die
aus Paris eiugetroffueu Depeschen und Briefe.
Goethe erzählt seine Unterredung mit Napoleon folgendermaßen: „Ich
wurde am 2. Oktober um elf Uhr Vormittags zu dem Kaiser bestellt. Ins
Kabinett des Kaisers gerufen, trete ich ein. Der Kaiser sitzt an einem großen,
runde» Tische frühstückend; zu seiner Rechten steht etwas entfernt vom Tische
Talleyrand, zu seiner Linken ziemlich nahe Daru, mit dem er sich über die
Kontribntionsangclegenheiten unterhielt. Der Kaiser winkt mir heranzukommen.
Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehn. Nachdem er mich auf¬
merksam angeblickt, sagte er: Vous ßtss b.unus. Ich verberge mich. Er
fragt: »Wie alt seid Ihr?« Sechzig Jahr. »Ihr habt Euch gut erhalten. —
Ihr habt Trauerspiele geschrieben.« Ich antwortete das Notwendigste. Hier
nahm Daru das Wort . . . und fügte hinzu, daß ich auch aus dem Französischen
übersetzt habe, und zwar Voltaires Mahomet. Der Kaiser versetzte: »Es ist
kein gutes Stück« und legte sehr umstündlich auseinander, wie unschicklich es
sei, daß der Weltüberwinder von sich selbst eine so ungünstige Schilderung
mache. Er wandte sodann das Gespräch auf den Werther, den er durch und
durch mochte studiert haben. Nach verschiednen, ganz richtigen Bemerkungen
bezeichnete er eine gewisse Stelle und sagte: »Warum habt Ihr das getan?
es ist nicht naturgemäß,« welches er weitläufig und vollkommen richtig aus¬
einandersetzte. Ich hörte ihm mit heiterm Gesichte zu und antwortete mit
einem vergnügten Lächeln: daß ich zwar nicht wisse, ob mir irgend jemand
denselben Vorwurf gemacht habe; aber ich finde ihn ganz richtig und gestehe,
daß an dieser Stelle etwas Unwahres nachzuweisen sei. Allein, setzte ich hinzu,
es wäre dem Dichter vielleicht zu verzeihen, wenn er sich eines nicht leicht zu
entdeckenden Kunstgriffs bediene, um gewisse Wirkungen hervorzubringen, die
er auf einem einfachen, natürlichen Wege nicht hätte erreichen können. Der
Kaiser schien damit zufrieden, kehrte zum Drama zurück und machte sehr be¬
deutende Bemerkungen, wie einer, der die tragische Bühne mit der größten
Aufmerksamkeit gleich einem Kriminalrichter betrachtet, und dabei das Ab¬
weichen des französischen Theaters von Natur und Wahrheit sehr tief empfunden
hatte. So kam er auch auf die Schicksalsstücke mit Mißbilligung. Sie Hütten
einer dunklern Zeit angehört: »Was, sagte er, will man jetzt mit dem Schicksal?
Die Politik ist das Schicksal.« Er wandte sich sodann wieder zu Daru und
sprach mit ihm über die großen Kvntributivnsangelegenheiten; ich trat etwas
zurück und kam gerade an den Erker zu stehn, in dem ich vor mehr als dreißig
Jahren zwischen manchen frohen auch manche trübe Stunden verlebt. . . . Der
Kaiser stand auf, ging auf mich los und schnitt mich durch eine Art Manöver
von den übrigen Gliedern der Reihe ab, in der ich stand. Indem er jenen
den Rücken zukehrte und mit gemäßigter Stimme zu mir sprach, fragte er:
ob ich verheiratet sei, Kinder habe? und was sonst persönliches zu interessieren
pflegt. Ebenso auch über meine Verhältnisse zu dem fürstlichen Hause, nach
Herzogin Amalia, dem Fürsten, der Fürstin und sonst; ich antwortete ihm
auf eine natürliche Weise. Er schien zufrieden und übersetzte sichs in seine
Sprache, nur auf eine etwas entschiednere Art, als ich mich hatte ausdrücke«
können. Dabei muß ich überhaupt bemerken, daß ich im ganzen Gespräch die
Mannigfaltigkeit seiner Bcifnllsünßerung zu bewundern hatte; denn selten
hörte er unbeweglich zu, entweder er nickte nachdenklich mit dem Kopfe oder
sagte oui oder o'sse biön oder dergleichen; auch darf ich nicht vergessen zu
bemerken, daß, wenn er ausgesprochen hatte, er gewöhnlich hinzufügte: Hu'on
alle Ur. 6«t? Und so nahm ich Gelegenheit, bei den» Kammerherrn dnrch
eine Gebärde anzufragen, ob ich mich beurlauben könne? die er bejahend er¬
widerte, und ich daun ohne weiteres meinen Abschied nahm."
Gegen schlichte Bürger war Napoleon überaus herablassend. Er entließ
niemand ohne irgend ein Zeichen seines Wohlwollens. Als er einmal an
der Spitze seines zahlreichen Gefolges nach der Wohnung Alexanders in
schnellem Tempo ritt, trat durch die dichten Reihen des Volkes ein gewöhn¬
licher Bürger hervor und streckte ihm eine Bittschrift entgegen. Sofort hielt
Napoleon sein Pferd an, neigte sich, nahm dem Bürger eigenhändig sein Bitt¬
schreiben ub und sprach sehr freundlich mit ihm. Einmal baten die Erfurter
Böttcher, die aller sieben Jahre nach altem Herkommen vor den Häusern der
Vornehmen der Stadt Tänze aufführten, durch den Stadtdirektor von Danzen
den französischen Kaiser, da seit dem letzten feierlichen Tanze wieder sechs
Jahre verflossen seien, ihre künstlichen Neiftnnze auf dem Platze vor dem
Gouvernement zeigen zu können. Als diese Bitte gewährt war, zeigten die
Böttcher am 13. Oktober früh elf Uhr in originellem Aufzuge (sie trugen scharlach¬
rote Beinkleider, weiße Strümpfe und weißes Hemd mit roten Schleifen) ihre
Künste. Sie schlangen ihre Reife in malerischen Gruppen ineinander und
trennten sie wieder, sprangen bald durch die Reife, schwenkten darin gefüllte
Gläser usw. Napoleon sah aufmerksam dem Tanze zu und gab durch freund¬
liche Mienen seinen Beifall zu erkennen. Nach dem Tanze wurde ein Böttcher¬
meister auf die zu einer Kuppel von Bogen zusammen verschlungnen Reife
empor gehoben und deklamierte ein Gedicht, das mit einem Hoch auf Napoleon
endete. Der Monarch ließ sich das Gedicht übersetzen und beschenkte den
Obermeister und die Zunft mit hundert Napoleondor. Hierauf ging der Zug
der Tänzer, in Begleitung einer Menge Zuschauer, zum russischen Kaiser,
dann zu den Königen von Sachsen und Bayern, sowie zum Herzog von Weimar,
von denen sie ebenfalls ansehnliche Geschenke erhielten.
Am 6. und 7. Oktober wurde der Schauplatz der Festlichkeiten von
Erfurt nach Weimar verlegt. Napoleon hatte den Wunsch geäußert, sich und
seine Gäste dort gefeiert zu sehen, und wollte zugleich dem Zaren das Schlacht¬
feld von Jena zeigen. So wurden denn in Weimar für diese Tage außer
einem Festmahle, einer Theateraufführung und einem Hofball große Jagden
vorbereitet. Die Jagd am ersten Tage war äußerst prächtig. Sie erstreckte
sich von dem Dorfe Stetten bei Weimar bis Ettersburg, einem herzoglichen
Jagdschlosse. Die Landleute der Umgegend hatten den ganzen vorhergehenden
Tag und die darauf folgende Nacht bis zum Beginn der Jagd eine ungeheure
Menge Wild, woran die weimarischen Forsten sehr reich waren, zusammen¬
getrieben. Ein großer Platz am Jagdschloß Ettersburg war mit Jagdtüchern
umhängt, und in der Mitte war ein großes Jagdzeit errichtet, worin sich die
höchsten und die hohen Herrschaften aufhielten. Gegen ein Uhr trafen Na¬
poleon und Alexander ein. Die Plätze waren mit Zuschauern, die aus Weimar,
Jena, Erfurt und der ganzen Umgebung herbeigeströmt waren, so zahlreich
besetzt, daß die Schaulust der später kommenden mit jeder Minute teurer be¬
zahlt werden mußte. Für manche Plätze wurde ein Spezicstalcr gegeben.
Nun wurde eine Menge Wild in die Bahn gelassen, und die Jagd begann.
Mehr als vierzig Hirsche und Rehe wurden erlegt. Gegen fünf Uhr endigte
das Schauspiel. Die höchsten und die hohen Herrschaften begaben sich jetzt
nach Weimar, wo sie gegen sechs Uhr eintrafen. Am Tore wurden sie
vom Magistrat und dem Schützcnkorps mit klingendem Spiel und fliegenden
Fahnen empfangen, worauf die Majestäten durch die Stadt nach dem Schlosse
fuhren. Am Abend our große Illumination der Häuser der Stube und des
Schlosses. Vor dem Schlosse war am Eingang des Parkes ein kolossaler
Obelisk auf einem großen Würfel errichtet, an dessen Ecken vier große Pech-
pfcmnen brannten. Der ganze Obelisk war mit mehreren tausend Lampen er¬
leuchtet und gewährte einen großartigen Anblick. An ihm selbst brannte der
Stern der Ehrenlegion, und aus seiner Spitze loderte aus einer großen Pech¬
pfanne eine ungeheure Opferflamme ins Dunkel der Nacht. Das Schloß war
prächtig illuminiert, ja alle kleinen Gesimse und architektonischen Verzierungen
an ihm waren mit unzähligen Lämpchen erleuchtet. Kurz alles, was im
„deutschen Athen" veranstaltet wurde, geschah mit Geschmack. Um acht Uhr
begaben sich die sämtlichen Herrschaften zur Galavorstellung im Hoftheater,
wo von den französischen Schauspielern der Tod des Julius Cäsar, Trauer¬
spiel von Voltaire, aufgeführt wurde. Auf dem nach der Aufführung folgenden
Hofball unterhielt sich Napoleon wieder sehr lebhaft mit Goethe und Wieland.
Am 7. Oktober fand eine zweite Jagd an der Stelle statt, wo Napoleon zwei
Jahre vorher in der Nacht vom 13. zum 14. Oktober biwakiert hatte. Gewiß
ist es nicht ohne Absicht gewesen, daß man die festgesetzte Hasenjagd gerade
mit dem Besuche des Schlachtfeldes von Jena verband, und daß der Sieger
von Jena gerade den Prinzen Wilhelm von Preußen einlud, sein Begleiter
zu sein. Und diese Roheit wandte eine Lebensgefahr von ihm ab. Im Webicht,
einem kleinen Hölzchen östlich von Weimar, erwarteten zwei Preußen auf
guten Pferden, in Mäntel gehüllt, unter denen sie Gewehre verborgen hatten,
Napoleon, um seinem Leben ein gewaltsames Ende zu bereiten. Als sie den
Bruder ihres Königs an seiner Seite sahen, versagte der Arm ihnen den
Dienst.") Kanzler von Müller erzählt den Vorgang etwas anders. Nach ihm
hatte sich eine Anzahl preußischer Offiziere, von glühendem Hasse gegen den
Unterdrücker ihres Vaterlandes erfüllt, verschworen, den Kaiser Napoleon bei
seinem Heraustreten aus dem Theater in Weimar nach der Aufführung zu er¬
schießen, aber durch das Ausbleiben eines der Mitverschwornen wurden sie
von der Ausführung, sei es, daß dieser Umstand die übrigen abschreckte, oder
daß sie Neue empfanden, abgehalten. Gewiß wäre es zu beklagen gewesen,
wenn der Imperator auf gewaltsame Weise ums Leben gekommen wäre. Aber
ein bedeutsames Zeichen der Zeit war es doch, daß sich im friedfertigen Deutsch¬
land Mordgedanken zu regen anfingen.
Zu der Jagd, die am 7. Oktober auf dem Schlachtfelde von Jena statt¬
finden sollte, wurde an der Stelle, die ich vorhin erwähnt habe, von einer
zahllosen Menge Arbeitern ein Prachtgebäude aufgeführt, das wie ein massiv
gebauter Tempel aussah, mit einer auf vier dorischen Säulen ruhenden Halle.
Über dein Eingang prangte die Inschrift:
?rs,sü0Qtss Vivos pure; xriso» IdurinMH illnxit,
ZZn, rwvuki attonitos iunMt a-nor poxutos!
Das Prnchtgebäude war für die beiden Kaiser bestimmt, für die andern
hohe» Herrschaften Ware» ringsum Zelte errichtet. Nach einem glänzende»
Dejeuner begann die Jagd. Wohl niemals hat ein Jagdbezirk so viele mächtige
Herrscher der Erde vereinigt. Nach der Jagd kehrte» die Herrschafte» über
Weimar »ach Erfurt zurück.
Sonntag, deu 9. Oktober, war um elf Uhr auf dem „Grade»" große
^irchenparade, hierauf begab sich der ganze Zug nach dem Dom, der sich mit
einer ungeheuer» Meiige Mensche» füllte; die Neugierige» stiege» auf Stühle
»ut Bänke, ja sogar auf der Kanzel hatten sich einige Damen in Hüten und
Häubchen aufgestellt. Bei Beginn der Messe, die von Vikar Schwarz gelesen
wurde, bliesen die Hoboisten ein prächtiges Adagio, dessen Wirkung in der
sehr akustisch gebauten Domkirche unvergleichlich war.
Neben diesen vielen Festlichkeiten liefen geräuschlos politische Verhand¬
lungen, in die nnr die beiden Kaiser und ihre Vertrauten eingeweiht waren.
Die Verhandlungen geschahen in dein großen Eckzimmer des Statthalterei¬
gebäudes nach dem Geleitshause hin, in dem jetzigen Sitznngssaale der König¬
lichen Regierung. Dort wurde alles so geheimnisvoll betrieben, das; es nicht
möglich war, den dichten Schleier zu durchdringe». Schon vor der Ankunft
der beiden Kaiser wurden sämtliche Fenster im Geleitshause, die dem Konferenz¬
zimmer gegenüber lagen, also nach der jetzigen Markgrafen gaffe zu, vermauert.
Als man später zu den Konferenzen ein Zimmer auf der entgegengesetzte»
Seite, dem Augustinerkloster gegenüber, wählte, mußten die Herren Patres
dieses Klosters den größten Teil ihrer Fenster von dieser Seite zumauern
lassen; dagegen wurden die ii» Geleitshause wieder geöffnet, bis auf eins, das
noch heute vermauert ist. Die Sekretäre der Minister Napoleons und Alexanders
arbeiteten jeden Tag bis tief in die Nacht hinein, sie kamen nie vor vier oder
fünf Uhr Morgens zu Bett. Die Verhandlungen betrafen die gesamte Welt¬
lage des letzten Jahres nach dem Frieden zu Tilsit, besonders den Lieblings-
Wunsch des Kaisers Alexander, womit man ihn in Tilsit gelockt hatte, die
Teilung des osmanischen Reichs. Aber Napoleon war entschlossen, den Kern
des türkischen Reichs mit Konstantinopel nicht den Russen preiszugeben. Die
Höflichkeiten und Galanterien, die in reichem Maße an Alexander verschwendet
wurden, schienen nur eben darauf berechnet zu sein, die Ablehnung weniger
empfindlich zu machen. Doch fühlte Napoleon recht gut, daß es irgend einer
Einräumung bedürfe, wenn er sich Alexanders dauernde Billigung für die
Veränderungen im Abendlande zusichern wollte. Die Abtretung der Moldau,
der Walachei und des eben von Schweden abgerissenen Finnlands schien dazu
der geeignetste Weg. Dieser Besitz vollendete Rußlands Herrschaft an der
Untern Donau, machte das wankende Türkenreich immer wehrloser und er¬
mutigte dadurch die russischen Hoffnungen, daß die abermals verschobne Tei¬
lung endlich doch vollzogen werden müsse. Und der Zar zeigte sich auch ge-
neigt, auf die Erfüllung seiner kühnsten Pläne zunächst zu verzichten, wollte
aber die förmliche Abtretung der Moldau und der Walachei sogleich in deu
Hände» habe».
Schließlich wurde am 13. Oktober „der geheime Traktat von Erfurt"
»uterschrieben und ausgewechselt; durch ihn ist die französisch-russische Diktatur
Über Europa, wie sie zu Tilsit schon entworfen worden war, genauer geregelt
worden. Es wurde von neuem das engste Einverständnis zwischen beiden
Teilen festgesetzt. Alle Unterhandlungen, alle Vorschlage sollten nur gemeinsam
erörtert werden. In Krieg und Frieden unzertrennlich verbunden, versprachen
sich beide Mächte, den Kampf mit ihrem gemeinsamen Feinde England mit
aller Kraft fortzusetzen, wenn das Londoner Kabinett auf die ihm unter¬
breiteten Friedensvorschläge (Anerkennung Finnlands, sowie der Moldau und
der Walachei als integrierender Bestandteile des russischen Kaiserreichs; An¬
erkennung der neuen von Frankreich begründeten Verhältnisse und Zustände
in Spanien) ablehnend antworten sollte. Beide Kaiser verpflichteten sich, mit
England keinen Frieden zu schließen und sich in keine Unterhandlungen ein¬
zulassen, außer mit beiderseitigen Einverständnis. Rußland sollte zunächst ver¬
suchen, durch friedliche Unterhandlung die Abtretung der Moldau und der
Walachei bei der türkischen Regierung durchzusetzen. Buche die Verhandlung
mit der Türkei ohne Resultat, und käme es zu kriegerischer Entscheidung, so
sollte Rußland den Kampf allein ausfechten, Frankreichs Teilnahme beschränkte
sich darauf, „seine guten Dienste bei der ottomanischen Pforte anzuwenden."
Nur für den Fall, daß Österreich oder irgend eine andre Macht der Türkei
Hilfe leisten würde, verpflichtete sich Frankreich, sofort mit Rußland gemeinsame
Sache zu machen. Ebenso verpflichtete sich Rußland, bei einer Kriegserklärung
Österreichs an Frankreich die Sache Frankreichs zu seiner eignen zu machen.
Im übrigen verpflichteten sich beide kontrahierenden Parteien, die Integrität
aller andern Besitzungen des ottomanischen Reichs in ihrer ganzen Ausdehnung
aufrecht zu erhalten. Was Preußen betraf, so blieb es — abgesehen von einer
Verminderung der Kontribution — bei den drückenden Friedensbedingungen.
Für Erfurt bestimmte Napoleon auf die ihm überreichte Bittschrift hin
die Summe von 50000 Franken zur Bestreitung der Einquartieruugskosteu
und 12000 Franken für die Armen der Stadt. Auch verfügte er durch ein
besondres Reskript, daß alle Rückstände der Pensionen für jetzt und in der
Zukunft bezahlt werden sollten. Dieses wurde allen Pensionären durch ein
eignes Schreiben des Generalintendanten Daru bekannt gemacht. In einem
andern Schreiben wurde dem Erfurter Magistrat später mitgeteilt, daß die
Erhaltung der „durchmarschierenden" und „liegen bleibenden" Truppen sowie
der Pferde nicht länger der Stadt zur Last fallen, sondern daß solche künftig
aus den dort anzulegenden Kriegsmagazinen verpflegt werden sollten. Außer¬
dem wurde die Stadt befreit von der Wiedererstattung dessen, was in den
Monaten Dezember 1807 und Januar 1808 aus den französischen Magazinen
erhoben worden war. — Der Universität Erfurt wurde die Summe von
4000 Franken für die nötigsten Bedürfnisse angewiesen.
In den letzten Tagen seines Aufenthalts in Erfurt verhandelte Napoleon
mit dem Fürsten Talleyrand über seine Ehescheidung von Josepyiue, die ihm
keine Kinder geschenkt hatte, und über die Gründung einer Dynastie durch die
Heirat mit einem der ersten regierenden Häuser, und Talleyrand erhielt den
schmierigen und delikaten Auftrag, Kaiser Alexander anzudeuten, daß Napoleon
eine Familienverbindung mit der russischen Dynastie wünsche. Alexander, der
eine Schwester hatte, die in dem passenden Alter stand, kam Talleyrand auf
halbem Wege entgegen, gestand von Herzen gern seine Einwilligung zu geben,
aber seine Mutter habe einen großen Einfluß auf ihre Tochter, und er könne
ihr nnr einen guten Rat geben, den sie vielleicht auch befolgen werde; Wetter
gehe aber seine Macht nicht. Napoleon war über die günstige Wendung dieser
Angelegenheit sehr erfreut, da er keinen Antrag mehr zu stellen brauchte.
Kurze Zeit darauf kam der Zar zu Napoleon, beide unterhielten sich mehrere
Stunden ungestört, und nach der Unterredung erstaunte der ganze Hof, wie
vertraulich die beiden .Kaiser miteinander sprachen, was man ja noch nie bei
ihnen wahrgenommen hatte. Ja, das Hofzeremonicll wurde in den letzten
Tagen ungezwungner und weniger streng beobachtet. Napoleon betrachtete sich
schon jetzt als den Gründer eines dauernden Weltreichs, und der Zar war
nicht wenig stolz bei dem Gedanken, für Rußland die Freundschaft und Stütze
dessen gewonnen zu haben, dem die halbe Welt huldigte.
Am Tage nach dem Abschlüsse des Vertrags ging der Kongreß aus¬
einander. Abschiedsbesuche wurden von allen Seiten gemacht. Der Kaiser
Napoleon teilte prächtige Geschenke ans, und die Könige belohnten und be¬
schenkten ebenfalls reichlich. Jeder Offizier der Garde, der bei einem König
die Wache hatte, erhielt von ihm eine goldne Dose, einen Ring oder sonst ein
Andenken. Auch die Eigentümer der Häuser, in denen die Könige und die
Fürsten wohnten, wurden reich beschenkt. Kaiser Alexander belohnte besonders
die Offiziere der Garde. Jeder von ihnen erhielt einen Ring von Brillanten
im Wert von 2000 bis 3000 Franken und mehr, der Oberst einen noch viel
Prächtigern mit einem ^ in Brillanten. Außerdem gab es auf der franzö-
sischen und der russischen Seite viele Gnadenbezeugungen und Ordens¬
verleihungen.
Am Morgen des letzten Tages wünschte Napoleon die Erfurter Welt
noch einmal um sich zu sehen. Noch einmal erschienen alle die Fürsten und
Herren, deren Armeen der Gewaltige vernichtet, deren Länderbesitz er ge¬
schmälert, und deren Hoheitsrechte er sich selbst angemaßt hatte. Sie waren
alle gekommen, ihn noch einmal zu sehen und von ihm noch einmal gesehen
zu werden, und jeder wollte der letzte sein, weil er sich einredete, daß der
Kaiser ihn vielleicht dann um so besser im Gedächtnis behalten werde. Und
doch waren diese Augendienerei und diese Selbsterniedrigung so gut wie nutzlos.
Er grüßte sie nur mit einer gnädigen Handbewegung.
Mittags ein Uhr reiste der Kaiser von Nußland unter dem Donner der
Kanonen und dem Geläute aller Glocken ab. Ihn begleitete Napoleon bis
in die Gegend, wo er ihm um 27. September entgegengekommen war. Und
feierlich wie der erste Empfang war die letzte Trennung. Sie ritten erst eine
Strecke miteinander, dann stiegen sie ab, wandelten einige Augenblicke neben
einander und sagten sich nochmals und in Kürze, was sie sich über die Nütz¬
lichkeit, Fruchtbarkeit und Größe ihrer Allianz, über ihre gegenseitige Zu¬
neigung und über ihren Wunsch und ihre Hoffnung, ihre Bande noch enger
zu knüpfen, schon so viele mal gesagt hatten, und umarmten sich in lebhafter
Bewegung. Nach einem Händedruck schieden sie gerührt voneinander. Alexander
reiste nach Weimar, Napoleon kehrte nach Erfurt zurück. Sie sollten sich nie¬
mals wiedersehen, und keiner ihrer damaligen Entwürfe, auch nicht einer,
sollte verwirklicht werden.
Nicht lange nach der Rückkehr erteilte Napoleon Abschiedsaudieuzen und
nahm selbst Abschied von den Bewohnern Erfurts unter den heißesten Segens¬
wünschen und dein Donner der Kanonen, sowie dem Geläut sämtlicher Glocken.
Wie beim Einzug ertönte aus allen Kehlen der versammelten Menschenmasse
Vivs l'öinxsröur! An derselben Stelle, wo der Magistrat und die Universität
bei der Ankunft den Kaiser empfangen hatten, am Sibyllentürmchen, verab¬
schiedeten sie sich von Kaiser Napoleon. Der Monarch neigte sich gegen den
Rektor der Universität, Muth, und den Stadtdirektor von Danzen. „Anmut
und Wohlwollen leuchtete aus allen seinen Zügen." Die Bürgergarde der
Erfurter Kaufleute begleitete ihn bis zur Gothaischen Grenze. Hier schwenkte
sie unter lautem Vivo 1'swxsrsur! ihre Säbel, und der Monarch grüßte sie
huldreichst aus seinein Wagen. Nun übernahmen die Husaren wieder die
Bedeckung. Bald verließen auch die übrigen hohen Herrschaften die Stadt
Erfurt.
Fünfnndsiebzig Jahre nach dein Erfurter Kongreß, im Jahre 1883, brauste
wiederum tausendfacher Jubel durch die dichte Masse der Bevölkerung Erfurts.
Wiederum donnerten die Kanonen und läuteten sämtliche Glocken der Stadt,
nicht aber um einen korsischen Parvenu zu begrüße», sondern um den preußischen
König und ersten deutschen Kaiser zu feiern, der in Begleitung des Kron¬
prinzen, des Prinzen Wilhelm, sowie der im letzten Kriege erprobten und
bewährten Schlachtenlenker und Sieger nach Erfurt kam. Und dasselbe geschah
1891, too Kaiser Wilhelm der Zweite in Begleitung der Könige von Sachsen,
von Württemberg und andrer hoher Herrscher in Erfurt einzog. Das waren
andre Tage als 1808, Tage der reinsten Festfreude und patriotischer Be¬
geisterung. Die Tage vom 13. bis zum 16. September 1891 stehn jedem, der
sie erlebt und mitgefeiert hat, in unauslöschlicher Erinnerung. Aber auch
welcher Umschwung seit 1808!
Wie ans den vom Hagel zerschlagnen Feldern Halme und Blüten wieder
aufsteigen, so blieb auch das von Napoleon zertretene deutsche Land nicht ohne
keimendes Leben. Durch die besten Männer zuckte ein antiker Heroismus - die
Verzweiflung verwandelte sich in kalte Entschlossenheit. In zwei Feldzügen
brach die Macht Napoleons zusammen. Aber das in den herz erheb enden Be¬
freiungskriegen vergossene Blut unsrer Bäter hatte sich nicht als ausreichendes
Heilmittel gegen die Hauptschaden Deutschlands erwiesen. Die alte Mißgunst
und Zwietracht der deutschen Fürsten und Völker untereinander erwachten wieder.
Es bedürfte noch andrer Mittel.
Seit 1870 beginnt der Deutsche von seiner Erbkrankheit zu genesen. Rück-
fälle werden schwerlich wieder diese Genesung gefährden, wenn wir unsre eigne
so ruhmvolle und doch wieder so jammervolle Geschichte als beste Lehre jeder<
zeit vor Augen behalten und nie vergessen, daß seit Jahrhunderten jedesmal
klägliche Zerrüttung, schmachvolle Ohnmacht und Unterwerfung unter einen
fremden Willen die Folgen solcher Rückfälle waren.
s war im Jahre des Heils 1563 am 7. März, daß in der be¬
rühmten Schuster- und Dichterwerkstatt zu Nürnberg eine ge¬
reimte Historia fabriziert wurde, die den Titel führt: „Dantes
der Poet von Florentz." An jenem Lenztage geschah es zum
erstenmal, daß ein deutscher Dichter dem Florentiner Kollegen in
die düstern Augen schaute.
Es ist reizvoll, sich den Besuch des großen Schattens bei dem Nürnberger
Meistersinger vorzustellen. Bei diesem Zusammentreffen mag es etwas anders
zugegangen sein als bei der Dichterbegeguung, die in der Komödie geschildert
wird. Dante, von Virgil geleitet, durchschreitet die Vorhölle. Da sieht er
vier hohe Gestalten in vornehmer Absonderung beieinander stehn. Virgil nennt
sie: Homer, Horaz. Ovid, Luken; es sind die Schatten, die mit ihm selber die
Fünfzahl der großen Dichter der Vorzeit darstellen. Grüßend wenden sich die
edeln Gestalten dem Florentiner zu. Virgil lächelt bei diesem Empfang. Und
uun gesellen sich die beiden Ankömmlinge zu ihren Genossen, und es wandeln
die sechs ersten Dichter der Welt dahin, fünf Schatten und ein Lebendiger,
und reden von Dingen, über die „hier zu schweigen schön ist, wie dort das
Reden schön gewesen war."
Zwar nicht mit so edelm Anstand, wohl aber mit biderben Handschlag
begrüßte der Nürnberger Poet die florentinische Feuerseele. Es wurde ihm
nicht im geringsten verlegen ums Herz. Er beschallte den Gast mit seinen
klugen, hellen Augen und behandelte ihn ohne viel Federlesens nicht anders
als alle die übrigen vornehmen Herren und Damen der Weltgeschichte: er
reimte eine Historia über „Dantes den Poeten von Florentz."
Der Inhalt der Historia ist eine von den vielen Dauteanekdoten, die in
Italien gang und gäbe waren. Als nach des Dichters Tod seinen Werken
in Italien allgemeine Anerkennung zuteil wurde, suchte man sich überall,
wohin der Unstete gekommen war, für die Gastfreundschaft, die man ihm
willig oder unwillig gewährt hatte, durch charakteristische Aussprüche, die er
getan haben sollte, bezahlt zu machen. So entstanden die Dantehistörchen,
die sich teils in den Lebensbeschreibungen und den Kommentaren, teils in den
Anekdotcnsammlnngen finden. Mehrere von diesen Geschichtchen stimmen zu
der Art des Dichters wenig. Um ihnen ein besseres Ansehen zu geben, krönte
man sie mit seinem Namen. Was die Italiener von Dante erzählten, das
erzählten die Deutschen vom König Salomo oder am Ende gar von jenem
mundfertigen Hirtenbüblein.
Andre Anekdoten zeichnen das Bild eines finstern, schweigsamen, stolzen
Mannes, der seine Überlegenheit fühlen läßt. Von dieser Art ist die Ge¬
schichte, die Hans Sachs für seine Landsleute nacherzählt. Ihr erster Er¬
zähler ist Petrarka. Sie lautet bei diesem folgendermaßen: Durch sein strenges
Wesen wurde Dante seinem Wirt und Gönner, dem Fürsten Can Grande von
Verona, bald verleidet, während ein andrer Florentiner, ein Possenreißer, der
Liebling des ganzen Hofes wurde. Als einmal der Spaßmacher durch seine
Tollheiten allgemeines Entzücken hervorgerufen hatte, lobte ihn der Fürst
höchlichst und wandte sich dann an den mürrisch dreinschauenden Dante mit
den Worten: Ich wundre mich, daß dieser Narr mir und uns allen zu ge¬
fallen weiß, während du, der du doch für einen Weise» giltst, dies nicht ver¬
stehst. Dante gab die beißende Antwort: Du würdest dich nicht Wundern,
wenn du wüßtest, daß Wohlgefallen auf Seelenverwandtschaft beruht.
Diese Erzühluug Petrarkas findet man mit manchen Abänderungen und
Erweiterungen in den Facetien des Poggio und in andern italienischen
Schnurrensammlungen. In einem dieser Bücher las Sebastian Braut unsre
Geschichte. Sie gefiel ihm, und er nahm sie auf in sein Fabelbuch, das 1497
erschienen ist. Hier hat Hans Sachs die Anekdote gefunden. Er sagt das
selbst im „Beschluß" des Gedichts:
Woher aber weiß denn Hans Sachs, was er im Eingang seiner Historia
über Dante sagt? Er kennt nicht nur dessen Lebensgang, er weiß auch etwas
von dem Hauptwerke, der Komödie:
Die Anekdote war dem Ruhme des Dichters voransgeflogen; das war
geschehn im Jahre 1497. Aber im Jahre 1563, da mußte der Dichter selbst
seinen Einzug in Deutschland gehalten haben. Wann war das geschehn?
Es war geschehn mitten in den Stürmen der Reformation. Ja, gerade
der Lärm des Streites hatte den streitbaren über die Alpen gerufen. Nach
dem Schmalkaldischen Kriege war in dem Vaterlande Huttens der Zorn gegen
Rom wieder aufgeflammt. In Norddeutschland war damals eine ähnliche
Stimmung wie zweihundertsechzig Jahre später vor den Freiheitskriegen. Was
Ernst Moriz Arndt mit seinen Flugschriften und Liedern für die Preußen ge-
Wesen ist, das war in den Tagen des Interims Matthias Flacius für die
Niedersachsen. Das Feuer dieser heißen Seele loderte damals in einer schönen,
großen Flamme. Die Jahre, in denen er aus seiner Druckerei zu Magdeburg
seine Brandschriften in das deutsche Volk hinaufschleuderte, waren die glück-
lichsten seines Lebens. Aber auch zu einer Schriftstellern großen Stils, die
sich auf weiter und tiefer Grundlage aufbaut, hat Matthias Flacius in jenen
aufgeregten Tagen die Lust und den Mut gefunden. Die Not der wilden
Zeit öffnete ihm die Augen für die Bedürfnisse der Partei, für die er sein
Leben und seine Seele eingesetzt hatte. Am 7. März 1553 schreibt er an den
Prediger Hartmann Beyer in Frankfurt am Main: ..Ich gehe mit einem
großen Plane um, mit einem Plane, der freilich weit über meine Kraft reicht,
der aber, wenn er ausgeführt würde, der Kirche außerordentlichen Nutzen
bringen könnte. Zuerst wünsche ich ein Verzeichnis aller der Männer zu
schreiben, die vor Martin Luther mit Wort und Schrift wider den Papst und
seine Irrtümer gekümpft haben. Ferner hege ich die Absicht, eine Kirchen¬
geschichte zu schreiben, in der nach der Zeitfolge dargelegt würde, wie die
wahre Kirche und ihre Religion von ihrer ursprünglichen Reinheit allmählich
auf Abwege geriet, wie sie zuweilen durch einige wahrhaft fromme Männer
Ivieder hergestellt wurde, wie so das Licht der Wahrheit bald Heller strahlte,
bald wieder verdunkelt wurde, bis endlich zu diesen unsern Zeiten, da die
Wahrheit fast völlig vernichtet schien, durch Gottes unermeßliche Wohltat die
wahre Religion in ihrer Reinheit wieder hergestellt worden ist."
Aus demselben Briefe um Beyer erfahren wir, daß Flacius seit geraumer
Zeit durch andre Hände Material für beide Werke sammeln ließ. Beyer war
von ihm gebeten worden, auf der Frankfurter Messe die Lyoner Kaufleute
nach Waldensischen Schriften auszufragen. Der Buchdrucker und Buchhändler
Oporinus in Basel bekommt einen ähnlichen Auftrag. Einen gewandten
Agenten gewann Flacius in dem Humanisten Markus Wagner aus Freinmr.
Dieser durchsuchte die Bibliotheken in Deutschland und Dänemark; er verfuhr
hierbei nach Regeln, die ihm Flacius aufgestellt hatte. Viele einflußreiche Ge¬
lehrte, aber auch reiche Patrizier und einige Reichsfürsten unterstützten das
Unternehmen. Pfalzgraf Ottheinrich brachte der Arbeit volles Verständnis ent¬
gegen und förderte sie muss wirksamste. Er öffnete nicht nur seine eignen
reichen Bücherschätze, er beauftragte auch seine Bücheragenten, Quellcnmaterial
für Flacius anzukaufen, und öffnete dem genannten Markus Wagner durch
seine Empfehlungen so manche Bibliothekstür, durch die der Agent sonst nicht
hätte eintreten können. Diese Nachforschung geschah in tiefer Verschwiegenheit.
Nur die Eingeweihten kannten den Zweck. Hier und dort hatten die Päpst¬
lichen Verdacht geschöpft. Es gelang aber, diesen Verdacht zu zerstreuen,
indem man die harmlose Miene des Bibliophilen vor der Welt aufsetzte. So
haben auch die Bibliotheken Karls des Fünften und die Bücherschütze in den
Abteien und in den deutschen Bischofssitzen ihr gutes Teil beitragen müssen.
Es war wie eine weitverzweigte wissenschaftliche Verschwörung. Matthias
Flacius war die Seele des Ganzen. Er hatte alle Fäden in der Hand und
lenkte sie nach allen Richtungen hin. So strömte eine Fülle von Material in
Magdeburg zusammen, das nun nach einem bestimmten Plane von Flacius
und seinen Mitarbeitern, von den „Magdeburger Centuriatoren" verarbeitet
wurde.
Bei der Sichtung des Materials wurde zunächst ausgeschieden und zusammen¬
gestellt, was für das beabsichtigte Verzeichnis der Wahrheitszeugen brauchbar
schien. Die Verarbeitung dieses Stoffes übernahm Flacius selbst. Das Buch er¬
schien im Jahre 1556 bei dein genannten Verleger Oporinus in Basel, drei Jahre
bevor der erste Folioband der Kirchengeschichte bei ihm herauskam. Der Titel
ist LÄtaloKUS töstiuiu vsritatiL, yui links llostraro. ÄLtstsm poulilioi romitno
se Mpisrui srroribus rkLlalirarunt xuSng.nMv.8all6 8fut,Snell,8 8Lripssrmit>. Es
liegt ein feiner Humor darin, daß als erster Zeuge wider das Papsttum der
Apostel Petrus angeführt wird. Als letzter in der Reihe tritt Ernsmus von
Rotterdam auf den Plan.
Unter diesen Zeugen der Wahrheit erscheint denn auch Dante Alighieri.
Er ist der dreihundertste und steht zwischen zwei Waldenser Märtyrern
wenig bekannten Namens und dem deutschen Mystiker Johann Tauler. Es
ist dies das erstemal, daß Dantes Name in dem literarischen Deutschland
genannt wird.
Daß der Verfasser den Dante kannte, ist nicht verwunderlich. Matthias
Flacius Illyriens war der Abstammung nach ein Slawe, seiner Muttersprache
nach ein Italiener. Er war im italienisch redenden Jstrien geboren. Sein
Vaterland war der Freistaat Venedig. In Venedig hat er seine Studien
gemacht. Dort hat er auch seinen Dante gelesen.
Von Dantes Schriften werden drei genannt, zwei italienische, der Convitv
und die Comedia, und der lateinische Traktat as luormiolna.
Zuerst erwähnt Flacius den Traktat as inonaiodiii. In ihm habe Dante
nachgewiesen, daß der Papst nicht über dein Kaiser stehe und kein Recht über
das Reich habe. Er verwerfe die Schenkung des Konstantinus, sie sei nicht
geschehen und hätte auch gar uicht geschehe», dürfen. Deshalb sei Dante auch
von gewissen Leuten als Häretiker verdammt worden.
Hierauf kommt Flacius auf die Comedia zu sprechen. „Dante hat auch
in italienischer Sprache nicht weniges geschrieben, worin er am Papste und
seiner Religion vieles auszusetzen hat. Er klagt, daß die Predigt des gött¬
lichen Wortes unterbleibe, und daß statt dessen elende Mönchsfabeln gepredigt
und Mönchspossen geglaubt würden. Die Schafe würden anstatt mit der
Weide des Evangeliums mit Wind gefüttert. An einer andern Stelle sagt
er, der Papst sei aus einem Hirten ein Wolf geworden, der die Kirche ver¬
heere; es lüge ihm nichts an dem Worte Gottes. Es sei ihm nur um die
Giltigkeit seiner Dekrete zu tun." Endlich wird aus dem Convito erwähnt,
daß Dante die Ehe dem Cölibat gleichstelle.
Nach dieser Übersicht werden vier ziemlich umfangreiche Stellen wörtlich
angeführt, eine aus dem dritten Buch der Monarchia und drei aus dem
Paraoiso, und zwar aus dem 9., dem 18. und dem 29. Gesang. Dem
italienischen Texte ist eine lateinische Übersetzung beigefügt. Zum Schlüsse
wird die Vermutung aufgestellt, daß nach Dantes eigentlicher Gesinnung, wie
aus verschiednen Andeutungen zu schließe» sei. in der babylonischen Hure und
in dem Antichristen niemand anders als der Papst abgebildet sei.
Die Stelle aus dem Convito hat Flacins vermutlich nach dem Gedächtnis
zitiert, und die Erinnerung an sie mag er ans seiner .Heimat mitgenommen
haben. Dagegen muß ihm ein Exemplar der Comedia und eine Handschrift
der Monarchia zur Hand gewesen sein.
Bei der Comedia ist das nicht verwunderlich. Sie war in Italien zum
mindesten schon sünfundzwanzigmal gedruckt worden, ehe Flacius seine Heunat
verließ. Da läßt sich wohl denken, daß unter den Büchern, die der junge
Welsche über die Alpen mitbrachte, anch die Comedia gewesen sei, und so
hatte er diese Florentiner Klinge nahe zur Hand, als er zum Kampf auszog.
Dagegen ist es höchst seltsam, daß Flacius in Magdeburg eine Stelle ans der
Monarchia mitteilen konnte. Dieser Traktat war damals noch nicht gedruckt,
und er war in seinem Vaterlande völlig vergessen. Flacius erst hat ihn aus
seiner Verschollenheit ans Licht gezogen.
Wie mag das zugegangen sein? Es ist möglich, daß unter den Manu¬
skripten, die dem Flacius von seinen Agenten herbeigeschafft wurden, zufälliger¬
weise auch eine Handschrift der Monarchia war, sodaß Flacins. als er das
Material sichtete, zu seiner Überraschung den wertvollen Fund entdeckte. Doch
ist das nicht wahrscheinlich, denn seine Agenten suchten nicht auf geratewohl,
sondern nach den Aufträgen, die ihnen Flacius erteilt hatte. Es ist wahr¬
scheinlicher, daß Flacins von dem Vorhandensein der Monarchia und von ihrer
Verwertbarkeit für seine Zwecke Kenntnis hatte und sich bemühte, in den
Besitz einer Handschrift zu gelangen. Wie aber konnte Flacius in Deutsch¬
land zu dieser Kenntnis kommen?
In derselben Zeit, wo Flacius das Material zu seinem oatg,loFU8 testium,
voi-itickiZ zusammensuchte, arbeitete die Inquisition in Venedig an einem Werke
entgegengesetzten Inhalts, an einem Verzeichnis der von der Kirche verdammten
Bücher. Das Ergebnis dieser Arbeit war der erste incikx libroruiv. xiobi-
vitorum. Bei ihren Vorstudien zu diesem Index fanden die Väter der In-
qmsiton in der Vita all Oauw des Giovanni Boccaccio die Bemerkung, daß
der Traktat inouitic-nig. wenig Jahre nach Dantes Tode von dem Kardinal¬
legaten Beltrando von Poggetto als ketzerisch verdammt worden sei. Auf
diese Bemerkung hin nahmen sie die Monarchia in den Index auf. Der
venetianische Index wurde im Jahre 1554 gedruckt.
Bald nach seinem Erscheinen wurde der Index auch von evangelischer
Seite mit Randglossen herausgegeben und so die neue Praktik des römischen
Feindes der protestantischen Welt bekannt gemacht. Der das besorgte, war
Petrus Paulus Vergcrius, der frühere päpstliche Legat und spätere Bischof
von Capo in Jstrien, jetzt einer der leidenschaftlichsten Gegner des Papsttums.
Nergerius war ein Landsmann des Flacius und sein Schicksalsgenosse. Auch
er hatte sein Vaterland Venetien verlassen, um in Deutschland für die Sache
der Reformation und gegen die römische Kirche zu kämpfen. Im Jahre 1553
war Vergerius in die Dienste des Herzogs Christoph von Württemberg ge¬
treten. Er erhielt den Titel eines herzoglichen Rates und diente seinem Herrn
als diplomatischer Agent, Zur Aufgabe wurde ihm gestellt die Ausbreitung
der evangelischen Lehre und die Bekämpfung des Papsttums. Zum Aufent¬
halt wurde ihm Tübingen angewiesen. Der Herzog unterstützte ihn reichlich
bei seinen literarischen Arbeiten. Auf herzogliche Kosten wurde denn auch
der glossierte venetianische Index herausgegeben.
Zu Dantes Monarchia fügt Vergerius die Glosse hinzu, daß ihm das
Borhandensein dieses Traktats völlig unbekannt gewesen sei. Erst durch den
Index sei er auf ihn aufmerksam gemacht worden. Er beabsichtige, diesen
Traktat demnächst in Druck zu geben.
Aus dieser Glosse ergibt sich, daß Vergerius, als er die Worte nieder¬
schrieb, im Besitze einer Handschrift der Monarchia gewesen ist. Ein Manu¬
skript der Monarchia war in der Heidelberger Bibliothek.") Daß es hier uicht
verborgen lag, sondern daß sein Vorhandensein bekannt oder wenigstens
registriert gewesen sei, läßt sich leicht denken bei dem verständnisvollen Inter¬
esse, das Ottheinrich den Büchcrschützcn der pfälzischen Hauptstadt entgegen¬
brachte. Ottheinrich und Herzog Christoph standen sich persönlich sehr nahe.
So konnte Vergerius, als er nach der Monarchia zu spüren begann, auf die
Heidelberger Handschrift aufmerksam gemacht worden sein und sich durch Ver¬
mittlung des Herzogs eine Abschrift haben anfertigen lassen.
Er hatte vor, sie herauszugeben. Da hörte er von dem großen Plane
des Matthias Flacius und wurde durch Briefe oder Agenten um Beihilfe er¬
sucht. Was ist natürlicher, als daß Vergerins die Abschrift uach Magdeburg
schickte, damit sie dort im Interesse der Polemik verwertet werde? Aber noch
eine andre Vermutung liegt sehr nahe, nämlich die, daß Vergerius auch den
Druck des Traktats, den er nach der angeführten Glosse zum venetianische»
Index ursprünglich selber hatte besorgen wollen, seinem Landsmanne Flacius
überlassen habe.
Im Jahre 1556 ist der <Ul>,t,g.1vAU8 wstium vöritatis zu Basel von dem
Verleger Johannes Oporinus gedruckt worden, und in derselben Offizin ist
drei Jahre später die Monarchia erschienen. Sollte die Herausgabe der beiden
Werke, von denen das erste einen Auszug aus dem zweiten bringt, durch ein
und dieselbe Druckerei im Verlaufe vou drei Jahren nicht im Zusammenhange
stehn? Was könnte es für einen natürlichern Zusammenhang geben als den,
daß Flacius zugleich mit dem Manuskript seines Katalogs die ihm zur Ve»
fügung gestellte Abschrift der Monarchia nach Basel zum Drucke geschickt habe?
Allerdings nennt das Titelblatt der Monarchia von 1559 als Herausgeber
den Andreas Alciatus, M-s vousulws. Aus der Mitte des sechzehnten Jahr¬
hunderts ist nur ein einziger Andreas Alciatus als Rechtsgelehrter bekannt,
der aber zu seiner Zeit berühmt genug war: er war Lehrer an der Hochschule
in Pavia, Kronrat des Königs Franz des Zweiten, zuweilen auch Sachwalter
Karls des Fünften und stand in enger Beziehung zur Kurie. Ist es von
vornherein unwahrscheinlich, daß dieser der katholischen Seite verpflichtete
Manu ein Buch herausgab, das die Ketzer als Waffe gegen den Papst benutzt
hatten, und das die Kirche als seelengefährlich verboten hatte, so ist die Un¬
möglichkeit dieser unwahrscheinlichen Sache dadurch erwiesen, daß Andreas
Alciatus. der 1550 starb, schon neun Jahre tot war, als die Monarchia un
Druck erschien. Es läßt sich vermuten, daß der wirkliche Herausgeber, ob es
nnn Matthias Flacius war oder Paulus Vergerius oder ein dritter, oder daß
der Drucker Johannes Oporinus auf seine eigne Faust den Namen des be¬
rühmten Rechtsgelehrten untergeschoben habe, um dem Buche auch in katholischen
Kreisen Eingang zu verschaffen und es den Juristen zu empfehlen. Wie dem
auch sei. der Zusammenhang zwischen der Herausgabe der Monarchia und dem
Katalog der Wahrheitszeugen steht außer allem Zweifel.
Es war eine folgereiche Tat. daß Matthias Flaeius den Dante als
Kämpfer wider Rom auf den Schauplatz führte. In Humanistenkreisen dachte
man gering von dem großen Florentiner, weil er ein Schüler der Scholastik
war, und weil er in der Volkssprache oder in barbarischem Latein geschrieben
hatte, man zählte ihn zu der Vergangenheit, die man verachtete. In Francesco
Filelfo hatte Dante einen Verteidiger gewonnen, und man stritt sich gerade
über den poetischen Wert der Comedia, als Dante von Flaeius zum Vor¬
läufer Luthers gestempelt und dadurch auf einen Platz gestellt wurde, wo ihm
des Zeitalters Liebe und Haß zuteil wurde.
Nicht allein den Gelehrten, auch dem deutschen Volke wurde Dante in
diesem Lichte gezeigt. In demselben Jahre, wo der Traktat erschien, wurde
auch in Basel bei Oporinus eine deutsche Übersetzung der Monarchia gedruckt.
Es ist möglich, daß Flacius auch diese Übersetzung veranlaßt hat. Ebenso¬
gut kann auch der Verleger selber, der seine Druckerei ganz in den Dienst der
protestantischen Polemik gestellt hatte, auf den Gedanken gekommen sein, durch
eine Übersetzung der Monarchia Stimmung gegen das Papsttum zu machen.
Der Übersetzer. Johann Herolde, schickt dem Traktate eine Einleitung
voraus, worin er die Deutschen mit dem großen Italiener bekannt macht. Er
erzählt darin Dantes Lebensumstünde nach Boccaccios rr-Me-sito in lauäs cU
v-weh. Aus dieser Heroldtscheu Einleitung hat Hans Sachs erfahren, was
er über Dantes Leben und über seine Dichtung zu sagen weiß. Er hat in
seiner Art die Einleitung des Herolde in Verse gebracht.
Die deutsche Übersetzung ist nicht wieder gedruckt worden. Dagegen er¬
schienen in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Kriege von dem lateinischen
Traktat noch vier weitere Drucke, 1566, 1609 und 1618 zu Basel, 1610 zu
Offenbach. So war Dantes Monarchia in Deutschland weithin bekannt zu
einer Zeit, wo man von seinem großen Gedichte noch nichts erfahren hatte,
als die Proben, die Flacius mitgeteilt hat. Diese Proben hatten die Nation
nicht gereizt, Dante den Dichter kennen zu lernen, dagegen war Dante der
Ghibelline dem protestantischen Deutschland ein willkommener Bundesgenosse
im Kampfe gegen den Papst.
Von der lutherischen Kirche war diese Art von Polemik ausgegangen;
freilich nicht aus dem Geiste eines deutschen Lutheraners, sondern aus dem
eines Jtalieners war sie entsprungen. Sie blieb dem deutschen Luthertum
fremd. Die Reformierten fühlten für diese Polemik die größere Sympathie.
Es entsprach mehr reformierter Sinnesweise, die Verwandtschaft mit den
großen Geistern der Vergangenheit wert zu halten. Zudem war es für die
Ausbreitung des reformierten Protestantismus in den romanischen Ländern
von förderlichster Bedeutung, wenn die Stimme des größten Romanen für ihn
oder wenigstens wider den Gegner laut wurde.
Sobald diese Polemik auf den reformierten Boden übergegangen war,
nahm sie einen größern Stil an. In der deutschen Kirche litt sie an einer
gewissen Beschränktheit. Man kümmerte sich nur um den einen Traktat,
dessen Eintreten für das Imperium nicht nur dem Protestanten, sondern auch
dem Deutschen wohltat. Sobald sich aber die Reformierten dieser Waffe
bemächtigten, war es der ganze Dante, den man für sich in Anspruch nahm.
Man machte ihn nicht nur zum Zeugen wider Nom, sondern man machte
ihn wieder zu dem, was er sein wollte, zum Herold Gottes für sein italienisches
Volk, und man war kühn genug, ihm den Ruf zur evangelischen Freiheit in
den Mund zu legen.
Im Jahre 1586 erschien ein jetzt äußerst selten gewordnes Buch: ^.vviso
plan-kivoliz ctato alla bsllg, Itg.!la. Es will in München gedruckt sei» und ver¬
schweigt deu Verfasser. Die Danteforscher nehmen an, daß der Hugenotte
FrcmsMs Perot, Seigneur de Mezieres, das Buch geschrieben habe. Als
Druckort wird Genf vermutet. Der Verfasser will Italien für die evan¬
gelische Lehre durch den Beweis gewinnen, daß die Entwicklung seiner Kultur
es dazu drüuge, sich vom Papste loszusagen. Die Männer, denen das
italienische Volk seinen geistigen Aufschwung zu verdanken habe, Dante, Petrcirka,
Boccaccio, seien Gegner des Papsttums gewesen, und wenn Italien in der
Richtung, die diese Männer ihm gewiesen hätten, weiter schreiten wolle, so
müsse es mit der römische» Kirche brechen.
Der eickalos'UL des Flacius hatte keine Entgegnung gefunden. Es ist
das begreiflich. Der vat-no^us war ja nichts andres als ein umgekehrter
inclsx libroi-um xroliiditornm. Man brauchte nur ans das Titelblatt zu
drucken: an»wi0AU8 tösliurn lÄkoruiu, so war das Buch für die katholische
Kirche brauchbar.
Der Angriff dagegen, der durch den ^.wi^o geschah, war ein mit
französischem Ungestüm ausgeführter Sturm gegen die Citadelle der römischen
Weltmacht. Der Abfall Italiens wäre der Untergang der Kirche gewesen.
Aber auch schou allein den Verlust der großen Heroen des italienischen Volkes
konnte die Kirche damals nicht mehr ertragen. Sie hatte sich schon längst
mit der italienischen Kultur, deren evangelische Ansätze durch die spanische
Reaktion ausgetilgt worden waren, vollständig ausgesöhnt. So ist es natür¬
lich, daß diese Schrift alsbald eine Entgegnung fand. Der sie widerlegte,
war kein geringrcr als Robert Bellnrmin, der größte Apologet und Polemiker
der römischen Kirche. Bellarmin war damals in Nom und war mit der Ab¬
fassung polemischer Schriften beschäftigt. Da kam ihm das kleine Büchlein
gerade recht. Einem Gegner gegenüber, der viele Blößen bot, konnte da der
gelehrte und scharfsinnige Jesuit seine Meisterschaft zeigen. Seine Wider¬
legung erschien unter dem Titel Loutrovorsi^ö. Er geht auf die einzelnen
Gründe des ^vviso ein, Dantes politische Stellung für den Kaiser und gegen
den Papst ergebe sich aus seiner ghibellinischen Gesinnung; diese sei zu tadeln,
aber ketzerisch sei sie nicht. Dante greife immer nur die Personen der Päpste
an, ihre Würde lasse er unangetastet; ebenso klage er über den Mißbrauch,
nie aber greife er die Lehren und Einrichtungen der Kirche selbst an, Bellar¬
min geht sodann die einzelnen Unterscheidungslehren durch und weist nach,
daß Dante in diesen allen korrekt gedacht habe. Was er über die Über¬
lieferung sage, sei nicht so schlimm gemeint, als es klinge; denn er habe nur den
kirchenpolitischen Dekretalen, nie den Glaubenslehren gegenüber von der Ob-
macht (xrg.svÄlsntiiy der Heiligen Schrift Gebrauch gemacht. Aus einer Reihe
von Stellen gehe hervor, daß Dante an dem unfehlbaren Lehramte der Kirche
nicht gezweifelt habe.
Es geht ein warmer Hauch durch Bellarmins Schrift. Der Jesuit kämpft
hier für einen, an dem sein Herz hängt.
Der liternrische Kampf war mit dieser Rede und Gegenrede nicht zu Ende;
vielmehr zieht er sich durch das ganze siebzehnte Jahrhundert hindurch. Auf
der einen Seite führen ihn französische Reformierte, auf der andern Seite die
Jesuiten.
Die erste Entgegnung von hugenottischer Seite trägt das Pseudonym
Junius. Der Titel des Buches ist: ^niinaclvörsions vontrs 1s8 ilwsioris als
Lklw-min. Junius gibt dem Bellarmin vieles zu. Er leitet deu Rückzug
ein und nimmt eine neue Stellung ein. Dante habe allerdings im Papste
den Antichristen erkannt, aber er habe ihn an einer Stelle gesehen, die er
respektierte: er habe den Menschen der Sünde in dem Tempel gefunden, den
er verehrte. Dante erkenne die Schenkung Konstantins allerdings an, aber
nur nach dem Urteile seiner Zeit, nicht nach seiner persönlichen Überzeugung.
Wir finden hier zum erstenmal den für das Verständnis und die Würdigung
Dantes so verhängnisvollen Gedanken ausgesprochen, daß Dante ans Rück¬
sicht auf die Zeitverhältnisse mit seiner eigentlichen Meinung hinter dem Berge
gehalten habe. Bis in die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein
lst diese verkehrte Anschauung noch oft vertreten worden, sowohl von solchen,
die in Dante den heimlichen Ketzer verabscheuten, als auch von solchen, die
in ihm den heimlichen Freigeist verehrten.
Bellarmins Oontrovörsias fanden noch eine andre Entgegnung. Du Plessis
Mornais schrieb dawider sein NMörs ä'IniqMv. Es werden hier noch ein¬
mal alle Stellen der Monarchia und der Comedia, die einen Tadel gegen den
Papst oder die Kirche enthalten, zusammengestellt, und daraus wird der alte
Schluß gezogen. Es erwidern Coeffeteau in Rvvonss an in^störs ä'Iuicinitü
und der Deutzer Jesuit Grescher in Lxaraöir mMsrii Ihnen ent-
gegnet dann Rivet in seinen liomÄrcius« sur 1^ Uvxonss g.u Masters Ä'IllicMtö.
So spinnt sich der Streit durch das ganze siebzehnte Jahrhundert und hört
erst im Beginn des achtzehnten allmählich auf, lebt aber dann etwa hundert
Jahre später wieder neu auf.
Auf der protestantischen Seite bietet dieser Streit wenig Interessantes.
Man hat das Gefühl, daß man für eine Verlorne Sache kämpfe und greift
darum auch hin und wieder zu Verlegcnheitsmitteln von zweifelhaftem Werte,
Wo Dante vom Papste redet als dem Hirten der christlichen Herde, wird von
dem vorhin genannten Junius wider allen klaren Sinn des Textes Christus
verstanden, und dergleichen mehr. Interessanter ist die Führung des Kampfes
auf katholischer Seite; das ist begreiflich, weil hier die fast persönliche Auf¬
gabe vorlag, mit einem unbequemen Freunde ins reine zu kommen. Die un¬
befangne geschichtliche Würdigung, die einem Bellarmin natürlich war, war
den kleinern Geistern unmöglich. Die schlimmen Stellen schufen Verlegenheit,
ja Ingrimm und Schmerz. Die einen ließen dies den Dichter entgelten; sie
gaben ihn in den angeregten Stellen preis und begnügten sich, das Über¬
wiegen seiner Ncchtglüubigleit ins Licht zu stellen; geflissentlich trugen sie alle
kirchlichen Stimmen, die solche Abirrungen Dantes tadelten oder verurteilten,
aus der Vergangenheit zusammen als Zeugnis dafür, daß die Kirche diese
Stellen immer verworfen habe. Andre, die den Dichter von jeder Schuld
freisprechen wollten, erklärten die Stellen für eingeschmuggelt; einer von ihnen,
der gelehrte Pater Hardouin, war gewissenhaft und kühn genng, zu behaupten,
daß die Cvmedici wie die Monarchia Werke eines Fälschers seien, und zwar
eines wiclefitischeu Ketzers aus dem fünfzehnten Jahrhundert.
Dieser Streit der Kirchen um Dantes Person ist dem Ansehen seiner
Dichtungen verhängnisvoll geworden. Der Grund, warum man sich mit ihm
beschäftigte, war nicht die Freude an dem, was er geschaffen hatte. Darum
blieb auch die Schönheit seiner Gedichte dem Verständnis verborgen. Die so
ungeheuer fleißige Beschäftigung mit dem Dichter wurde durch die konfessionelle
Befangenheit unfruchtbar. Keine der drei Nationen, die sich an dem Streite
beteiligten, hat die Anregungen empfangen, die der Dichter gerade jener Zeit
hätte geben können. Deshalb geriet Dante, als der polemische Eifer erkaltet
war, in Vergessenheit und Mißachtung. Es lag auf seinen leuchtenden Blättern
der Rost einer unerquicklichen Zeit, die überstanden zu haben man froh war.
Das tritt besonders deutlich zutage in dem Urteile, das Pierre Bayle in
seinem vie.living.irs bistoriauv se eririauo über Dante fällt. Er nennt ihn zwar un
cle-8 xröraiörs xoets« Ä'ItÄli«, hält aber die politische Tendenz seiner Werke
für eine Verirrung. „Dante wäre glücklicher gewesen, wenn er sich nicht aus
Ehrgeiz in Dinge gemischt hätte, die ihn nichts angingen." Der Franzose
wirst ihm vor, daß er über Hugo Capet, den Gründer der französischen
Dynastie, die lächerliche Lüge erfunden habe, er sei eines Metzgers Sohn ge¬
wesen. Es habe Dante an Standhnftigkeit im Unglück gefehlt, sein Haß und
seine Rachsucht seien maßlos gewesen. Über die Comedia weiß er nichts
andres zu sagen als: it ccmtieut oortaiiiös vliosss lui us Misaud xoiuti nix
Aktus clss x»xe8 se ani ssmblsnt ÄMiüsr, ans usus sse Is Äösss as
l'^irtiolirist!.
Was war die Ursache dieses unerfreulichen Urteils des geistreichen
Franzosen? Die Antwort ergibt ein Blick auf die Anmerkungen. In diesen
gibt Bayle einen von staunenswerter Belesenheit zeugenden Überblick über den
literarischen Streit und schließt diese Besprechung mit der Bemerkung, Dante
biete sowohl denen, die ihn zu einem guten Katholiken machen, als auch den
Gegnern Beweise genug.
Bei dem großen Einfluß, den Bayles Dictionncnre auf das geistige Leben
Europas gewonnen hat, war das, was er sagte und was er nicht sagte, gleich
bedeutungsvoll. So dankenswert es war, daß er den Streit der Kirchenparteien
bei der Gelehrtenwelt in Verruf brachte, so verhängnisvoll war es, daß er
über die Schönheit und den tiefen Sinn des Gedichts so gar nichts zu sagen
wußte. Er selbst kannte es nicht, wohl aber die zeitgenössische Literatur
darüber, und die nahm ihm die Lust, sich mit dem Gedichte selbst zu be¬
schäftigen. Die ganze Zeit der Aufklärung eignete sich Bayles Urteil über Dante
an, und der Größte unter denen, auf deren Entwicklung Bayles Dictionncnre
einen unmittelbaren Einfluß ausübte, G. E. Lessing, konnte sich durch das,
was er hier las, nicht gereizt fühlen, auch die Comedia in den Kreis seiner
ästhetischen Untersuchungen zu ziehn. So wurde durch die Polemik, zu der
Flacius den Anstoß gegeben hatte, das Bekanntwerden der Poesie Dantes
nicht nur hinausgeschoben, sondern anch erschwert, da jetzt ein bewußtes
Widerstreben der Gebildeten zu überwinden war. Erst als die Zeit der
Polemik weit dahinten lag, begann man die Gaben des großen Dichters un¬
befangen zu würdigen. —
Denken wir wieder an jenen 7. Mürz des Jahres 1563, wo Dante den
Nürnberger Sänger und Schuster heimsuchte. Kindlich spricht Hans Sachs
von dem großen Fremdling, etwa so wie die klugen Handwerker Roms über
Cäsar reden mochten, wenn er in der Sänfte an ihnen vorübergetragen wurde,
so, wie eben das Volk von einem großen Manne spricht. Aber hat er aus dem
wenigen, was er über Dante wußte, den Sonderling nicht besser verstanden,
als es die katholischen und die protestantischen Polemiker zuwege brachten?
Er hat doch einen Zipfel seines Gewandes erfaßt, während sich diese um seinen
Schatten stritten. Und wenn er die Comedia ein Buch nennt, „darin er bericht
himmlisch, irdisch, hellisch Ding ganz artlich, subtil, nit gering, das er betracht
und deklariert, mit scharfen Sinnen spekuliert" — ist dieses Urteil nicht viel
richtiger als das des feinsinnigen und gelehrten Bayle? Wer einen schlichten
Sinn hat für das, was groß und schön ist, der schaut in Dantes Seele, und
wer das einmal getan hat, ist des Dichters Freund geworden.
Und wie steht es mit der Streitfrage, die anderthalb Jahrhunderte der
Danteforschung all ihren Inhalt gegeben hat? Sie ist entschieden; sie war schon
entschieden, ehe Matthias Flacius sein Buch geschrieben hatte. Es wären
zwei unwidersprechliche Zeugnisse vorhanden, wenn nicht engherzige Rachsucht
das eine unterdrückt hätte. Michel Angelo trug sich mit dem Gedanken, dem
Dante auf eigne Kosten in Florenz ein Denkmal zu errichten; aber die Stadt
hatte ihrem größten Sohne die Schmach nicht vergeben, die er im Zorn über
sie ergossen hatte, und ließ es nicht zu. Was wäre das für ein Denkmal
geworden, das Michel Angelo seinem Geistesverwandten Dante gesetzt Hütte!
So freuen wir uns, daß wir das andre Zeugnis haben: die Gestalt
Dantes in Raffaels Dispntci. Dante steht links vom Altar, nicht weit von
dem dritten Innocenz, neben Savoncirola. Mit diesem macht er den Abschluß
der heiligen Lehrer der Kirche, der er zugehört hat mit ganzer Seele. Aber
er ist Savonarolas Nachbar. Der Blick seiner Augen ist stahlhart. Man
sieht es diesem Blicke an, daß er sich in den Finsternissen und im Lichtglanz
einer andern Welt gebadet hat. Jetzt ruht er auf dem verworrenen Treiben der
Menschen in dieser Welt: es ist der unerbittliche Blick des Richters; auf den
zusammengepreßten Lippen liegt Schmerz und Grimm, über das ganze Antlitz
ist furchtbarer Ernst und erschreckende Hoheit gebreitet, das ist die alius.
säkAnosa, die zornige Seele, die sich des Amtes bewußt ist, als Prophet
Gottes in dessen Kirche Hoch und Nieder die Wahrheit zu sagen.
Wer darf es wagen, diese Gestalt sein eigen zu nennen? Da steht sie,
am Ende der Reihe, groß genug, für sich ganz allein eine alte Zeit abzu¬
schließen, eine neue zu beginnen.
>le künstlerische Anschauung hat durch die Vervollkommnung und
die verhältnismäßige Verbillignng der technischen Herstellnngs-
weisen eine Erweiterung erfahren, wie sie noch vor zehn Jahren
keiner geahnt Hütte. Ohne Bilder geht schon lange kein Kimst-
I duch mehr, und das Publikum ist auch schon so verwöhnt, daß
es sich nur zu leicht die Freude an dem Gebotnen durch kritische Nörgeleien
verderben läßt, wobei dann nicht selten die Rolle des Sachverständigen der
Unverstand übernimmt. Alles Gute hat seine Kehrseite, und in unserm Falle
ist es zu bedauern, daß auch sehr viel geringe Massenware mit lauter Reklame
auf deu Markt geworfen wird, den Geschmack verdirbt und das Unterscheidungs-
vermögen trübt. Die bessere Kritik kann natürlich nur ausnahmsweise so tief
hinunterleuchten, sie hat positive Arbeit zu tun und möchte die Freude an dem
Bessern fördern.
An den Anfang dieser Bemerkungen stellen wir den von der Gesellschaft
für vervielfältigende Kunst in Wien herausgegebnen „Hausschatz älterer Kunst,"
zwanzig Hefte in Folio mit je fünf Radierungen, zu drei Mark das Heft,
das Ganze also für den billigen Preis von sechzig Mark zu erwerben, mit
einem dem letzten Hefte beigegebnen sehr guten erklärenden Text. Im Gegen¬
satz zu den photomechanischen ReProduktionsweisen hat die Wiener Gesellschaft
die künstlerische Handarbeit weiter gepflegt und den von ihr veröffentlichten
wissenschaftlichen Monographien hervorragender Kunstforscher (namentlich Bodes)
über weniger bekannte Sammlungen (Pest, Schwerin, Oldenburg, Liechtenstein
und Czernin in Wien, Wesselhöst in Hamburg) von berufnen Stechern radierte
Tafeln beigegeben, die nun mit breitem Rande auf Kupferdruckpapier besonders
herausgegeben ein prächtiges Bilderwerk darstellen und zum Teil auch einzeln
als Zimmerschmuck Freude bereiten können. Die edle Radiererkunst übersetzt das
Original anders als die photographische Kamera, sie gibt ihren Nachbildungen
besondre und persönliche Reize, wodurch sie ihren Platz neben dein Lichtbilde der
Natur immer behaupten wird, wenn sie wie in vielen dieser Blätter auf der
Höhe der Leistung steht. Einen so vollkommenen künstlerischen Eindruck wie z. B.
die Gewitterlandschaft des Oldenburger Museums von Rembrandt wird keine
Photographie wiedergeben tonnen. Bekanntlich ist eine Rcmbrandtsche Land¬
schaft etwas Seltnes. Auch sonst finden sich in den Sammlungen, denen diese
Publikation gewidmet ist, seltne und merkwürdige Sachen, z.B. der einge¬
schlafn« Wächter von Karel Fabritius in Schwerin oder die Bilderfolge aus
der Geschichte des Decius Mus von Rubens in der Galerie Liechtenstein oder
eine Landschaft von Rvghman in Oldenburg, sodaß auch Käufer von tiefer
gehendem Interesse auf ihre Rechnung kommen werden.
Ans die bei Eugen Diederichs in Leipzig erscheinenden „Monographien
zur deutschen Kulturgeschichte" (in Bänden zu vier Mark) haben wir schon
öfter hingewiesen. Sie haben einen fortlaufenden Text, neben dem reichliche
Abbildungen nach alten Originalen ziemlich selbständig hergehn. Diese bieten
viel Interessantes und werden ihren Wert als eine Art ortus xiotu« immer
behalten, wie schon jetzt die auf elf Bünde angewachsne Sammlung zeigt.
Die Texte sind verschieden, und künstlerisch ließe sich Wohl einiges gegen das
buchmüßige Gesamtbild einwenden, aber es ist ein großartiges Unternehmen,
dessen Hauptbedeutung in der anschaulichen Belehrung liegt. Bei der Stoff-
cinteilung nach Stünden oder Volksteilen (Soldat, Kaufmann. Arzt, Richter.
Kinderleben, Bauer, Gelehrter, Handwerker, Lehrer, fahrende Leute, Judentum)
schließt sich planmüßig allmählich der Kreis zu einem Ganzen zusammen.
Belehren wollen zunächst auch die schon öfter erwähnten Bücherserien
des Verlags von E. A. Seemann in Leipzig. Die unter dem Titel „Berühmte
Kunststätten" gehenden Städtebeschreilmngen, bis jetzt zwanzig, haben sich
schnell eingeführt, die früher erschienenen schon eine zweite Auflage erlebt, und
einige sind auch ins Englische übersetzt worden. Daneben geben sie auch
reichliche Anschauung, und wenn die bescheidne Autotypie auch nur relativ
künstlerisch wirken kann, so geben doch die sorgfältig hergestellten Abbildungen
vielfach gute und feine Eindrücke, und es ist dankbar anzuerkennen, was alles
uns für den Preis von drei oder vier Mark hier geboten wird. In künst¬
lerischer Hinsicht, sowohl in der Illustration wie in der Darstellung möchten
Kur die zwei Bünde von Henri Hymnus (Brügge und Ipern; Gent und
Tournai) obenan stellen, weil sie mit einer Vertrautheit und einer Heimat¬
liebe geschrieben sind, die den Leser erwärmen können und mit einer wirklichen
Sehnsucht nach diesen einzig schönen alten Städten erfüllen, wobei es ganz
nebensächlich ist. daß sie erst aus dem Französischen des Verfassers haben über¬
setzt werden müssen, was die klugen Rezensenten, die es besonders anstreichen
zu müssen meinten, wahrscheinlich nicht einmal gemerkt haben würden, wenn
man es ihnen nicht gesagt Hütte.
Zu einer vollständigen „Geschichte der modernen Kunst" legen vier ähn¬
lich ausgestattete Bände desselben Verlags den Grund: „Französische Malerei
1800 bis 1900" und „Französische Skulptur und Architektur des neunzehnten
Jahrhunderts" von Karl Eugen Schmidt und „Österreichische Kunst 1800 bis
1848 und 1849 bis 1900" von Ludwig Hevesi. alle gut und lebendig ge¬
schrieben. Das zweite Werk hat den auf der heimatlichen Vertrautheit eines
literarischen Veteranen von der höchsten Qualität mit seinein Stoffe beruhenden
Vorzug, daß es uns tief in die zeitgeschichtlichen Bedingungen dieser öster¬
reichischen Kunst hinabführt, wodurch auch künstlerisch längst überwundne Er¬
scheinungen uns heute noch Interesse abgewinnen, die alte Zeit auch in ihren
naiven Irrtümern und Schwächen uns noch einmal förmlich wieder lieb wird.
Für Hevesi, der zu ihren Freunden gehört, war es keine leichte Sache, der
ganz modernen Richtung gerecht zu werden. Von dem Standpunkte der
Kritik, auf dem er innerlich steht, wäre vielleicht ein andrer zu weitgehenden
Ablehnungen gekommen. Dann aber wäre Schweigen besser gewesen. Hevesi
hat sich immer wieder von neuem förmlich hincingefühlt in die Modernen,
die ihm dafür dankbar sein können. Er sucht das Gute, wo er nur kann,
leise geht der Tadel nebenher, und oft genug hat nach unserm Gefühl sein
milder Sinn den guten Willen für die Tat genommen, und der feine Schrift¬
steller zeigt dabei seine ganze Kunst.
Auschauungswerke zunächst sind dagegen die von demselben Verlage heraus¬
gegebnen Sammlungen von farbigen Reproduktionen ausgewühlter Gemälde.
Die zuerst begonnene (mit dem Titel „Alte Meister" oder „Die Malerei")
hat es bis jetzt auf siebzehn Lieferungen zu acht Blättern gebracht und wird
mit fünfundzwanzig Lieferungen und zweihundert Blättern abgeschlossen sein.
Jede Lieferung (im Einzelpreis von drei Mark) enthält zugleich einen kunst¬
geschichtlich erklärenden Text. Darauf ist eine Sammlung von Blättern.nach
modernen deutschen Malern gefolgt: „Hundert Meister der Gegenwart," auf
zwanzig Lieferungen zu fünf Bildern (für drei und im Abonnement für zwei
Mark) berechnet, von denen bis jetzt die Hälfte erschienen ist. Die Anordnung
ist hier zweckmüßig nach Gruppen gemacht: Berlin, München, Dresden, Wien,
Stuttgart, Karlsruhe, Düsseldorf, Worpswede usw., jeder Künstler ist mit einem
Bilde vertreten, und den Text haben jedesmal einzelne, mit den Bestrebungen
der Künstlergruppen vertraute, ortscmgesesfene Schriftsteller von Ruf geschrieben.
Hierzu kommt noch ein drittes groß angelegtes Werk, das unter dem Titel
„Meister der Farbe" die moderne Malerei von ganz Europa behandeln wird.
Soviel über das Äußerliche. Es war notwendig bei der Menge andrer Werke
mit ähnlich lautenden Titeln.
Von den technischen Schwierigkeiten dieses in gleichem Umfange von keinem
zweiten Verlage gepflegten autotypischen Dreifarbendrucks und namentlich von
seinen Kosten und dem daraus anwachsenden Risiko, von der langen Reihe
von Versuchen, die oft ein einziges Bild bis zu dem gelungner Reindruck
durchzumachen hat, haben die wenigsten, die nachher klug über die farbigen
Bilder reden, eine Vorstellung. Der Fortschritt ist für jeden, der das Ver¬
fahren von seinen Anfängen her verfolgt hat, sichtbar. Der Erfolg hängt
vielfach von der Beschaffenheit und auch dem Erhaltungszustand der Originale
ab, nicht alle eignen sich gleichgnt zur Wiedergabe, ferner von der Aufstellung
der Originale, da nicht jedes von der Wand genommen werden darf, endlich
von der Leistung des Photographen. Dem Naturprozeß muß die Hand zu
Hilfe kommen. Die Herstellung der Platten hat jetzt zum größten Teil die
Firma Römmler und Jonas in Dresden übernommen, den Druck, der wieder
seine eignen Schwierigkeiten hat, die Firma Förster und Borries in Zwickau.
Da es für die Druckprobett des farbigen Vorbildes bedarf, so ist, wenn auch
die Aufnahmen nach den Originalen gemacht werden, ohne eine Kopie von
Künstlerhand, also einen Aufwand von gegen fünfhundert Mark, fast niemals
auszukommen.
Bei den „Hundert Meistern der Gegenwart" war der Verleger in seiner
Auswahl freier/ er konnte für den Dreifarbendruck besonders geeignete Bilder
ttehmen, darunter auch kleinere und Skizzen mit Einzelfiguren oder wenig
Gegenständen, und da sich bei geringerer Reduktion des Maßstabs nicht nur
die Zeichnung, sondern anch die Farbe unmittelbarer und besser in die Re¬
produktion umsetzt, so haben diese Blatter zum Teil eine Originaltreue be¬
kommen, die die einzelnen Künstler überrascht und zu lauter Anerkennung ver¬
anlaßt hat. Solche Zeugnisse wiegen schwerer als die Wenn und Aber, mit
denen mancher überkluge Kritiker die schwer herzustellenden Blätter der „Alten
Meister" bedacht hat. Mit audern Worten: die hier erreichte Stufe der Voll¬
kommenheit verspricht auch dort weitere Vervollkommnung, wenn Wissenschaft
und Technik vereint der größern Schwierigkeiten allmählich Herr werden.
Wie über jetzt hier gearbeitet wird, kann das mit mustergiltigen Abbildungen
reich ausgestattete „Klimsch's Jahrbuch, eine Übersicht über die Fortschritte
auf graphischem Gebiete, Verlag vou Klimsch K Komp., Frankfurt a. M."
zeigen, dessen ersten Jahrgang wir seinerzeit ausführlich besprochen haben.
Der uns vorliegende zweite enthält wieder eine Reihe von Aufsätzen, die
hierher gehören: Praktisches ans dem Reiche der drei Grundfarben; Das
Kombinationsverfahren, Lichtdruck und Chromolithographie; Farbenfilter für
photographische Reproduktion; Über Gemäldereprvduktionen. Wir bedauern
diesesmal hier auf den Inhalt nicht eingehn zu können und empfehlen das in
seiner Art einzige Buch alleu gebildeten Kunstfreunden, insonderheit auch den
Herren Rezensenten von Fach, die sich schon nach dem bloßen Betrachten der
Bildertafeln merklich gefördert fühlen werden.
Wer nun die bis jetzt erschienenen Blätter der „Alten Meister" mit
«Niger Sorgfalt und ohne Voreingenommenheit prüft, wird im ganzen einen
Fortschritt und viele einzelne gelungne Bilder herausfinden. Die uns in
Dingen des künstlerischen Geschmacks überlegnen, vielleicht ebenso kritischen,
aber bekanntlich viel weniger krittelnden Franzosen haben das Unternehmen
mit Anerkennung aufgenommen und kaufen die bunten Blätter gern. Es ist
doch schon etwas Großes, daß die Reproduktion zum allermindesten einen Be¬
griff von der Farbe gebe« kann, von der die Kunstgeschichte bis dahin nur
in Worten reden konnte. Es gibt kostspieligere Rcprodnktionsarten, Kombina¬
tionen von Lichtdruck und Chromolithographie, die vollkommnere Ergebnisse
liefern, aber der Dreifarbendruck hat vor ihnen den Vorzug der billigern
Vervielfältigung durch die Buchdruckerpresse, er eignet sich darum für die
Massenverbreitung, wie ehemals in Schwarz und Weiß der Holzschmtt gegen¬
über dem Kupfer- und Stahlstich im Vorteil war. Wie wenig konnten doch,
als man vor fünfzig Jahren zuerst die kunstgeschichtlichen Bücher zu illustrieren
anfing, die noch dazu des Preises wegen nur spärlich eingelegten Holzschnitte
von den Eigenschaften eines Gemäldes wiedergeben! Nur die Umrisse und
die gröbsten Schatten, keinen Tonwerk, nicht einmal das Feinere des Gesichts¬
ausdrucks. Und doch war man zufrieden, hatte doch das Auge nun wenigstens
einen sichtbaren Anhalt, der die Worte unterstützte. Jetzt, dem Dreifarbendruck
gegenüber, gebürdet sich mancher Kritiker, als müßte er für eine Mark ein
Ölgemälde auf Papier verlangen, und als müßte das, was noch an diesem
Eindruck fehlt, dem Geschmack des Publikums Schaden bringen. Das sind
Verirrungen, die ihre Zeit haben. Besonders ablehnend verhalten sich hier,
wie es scheint, die Kuusterziehuugsmänner — eine schlechte Wortbildung,
für die wir uicht verantwortlich sind —denn der große Wert, den wir hier
anf den farbigen Netzdruck als Anschauungsmittel für die kunstgeschichtliche
Belehrung legen, kommt ja für sie nicht in Betracht, da sie von der Kunst¬
geschichte selbst eigentlich kaum noch etwas wissen wollen. Das Kunstwerk
soll durch den Abstand der Zeiten hindurch den Sprung unmittelbar in die
Seele des Beschauers machen, in die „Volksseele," die dazu durch die Predigt
des Kunsterziehers suggestiv präpariert und gestimmt werden muß, vor der
Verbildung durch den Kunstgeschichtschreiber dagegen sorgfältig zu bewahren
ist. Wir lesen ja in den Rezensionen tagtäglich Wendungen wie diese: Der
Verfasser verfolgt „nur" kunstgeschichtliche Zwecke, oder: Dies Buch ist eins
der noch nicht allzuvielen, die abseits von dem Historischen wirkliche Kunst¬
empfindung mitteilen usw. — Wir dächten, das hätte man doch vor mehr als
hundert Jahren überreichlich gerade hier in Dresden gehabt und genießen
können, als nach dein berühmten Stelldichein der Romantiker die „Gemälde"
von August Wilhelm und Karoline Schlegel veröffentlicht wurden, wenn sie
sich auch nicht gerade an die .Kreise richteten, die mau heilte als Volk zu be¬
zeichnen Pflegt. Und doch war man fünfzig Jahre später herzlich froh über
die Anfänge einer Kunstgeschichte, die die Romantiker noch nicht haben konnten.
Und heute nach abermals fünfzig Jahren wieder ein andres Bild, ein neues
Programm. Wenn es nur nicht so ausschließlich sein wollte!
In Wirklichkeit liegt doch die Sache so, daß von aller Kunst der Ver¬
gangenheit nur ein ganz kleiner Teil ohne die Voraussetzungen einer gewissen
historischen Bildung aufgenommen werden kann, nicht einmal die Dürerschen
Holzschnitte, auf die man heute mit Recht immer hinweist, und daß sogar
weitaus das Meiste in der heutigen Kunst dein ganz naiven, bildungslosen
Beschauer verschlossen bleibt. Es ist ja mich ein historischer Irrtum, daß die
Kunst irgend eines Zeitalters sich vorzugsweise um das der höhern Bildung
nnteilhaftige Volk gekümmert hätte. Und anders ist es auch in der Literatur
niemals gewesen. Das Volk kommt erst dann an die Reihe, wenn die Ge¬
bildeten gesättigt sind, und wenn diese, wie heute, das Bedürfnis haben, von
ihrem Reichtum nach unten hin weiter zu geben. Sie sind „des Gottes voll"
und brauchen Resonanz, und die finden sie uur unten, wo es noch leer ist;
oben könnte ihre Fülle vielleicht selbst leer erscheinen. Auch heute steht das
Volk vor den Kunstwerken zunächst stumm und dumm, bis die Kunsterzieher
kommen und ihnen sagen: Das sollst du sehen, und so mußt du fühlen — wie
es mit ein bißchen andern Worten die Kunsthistoriker den Gebildeten doch
ebenfalls zu sagen sich bemühen —, und wenn sie auch vielleicht nicht so ge¬
lehrt sind wie diese, eine Abart von Gelehrten sind sie darum doch, und ihren
Analphabeten werden sie sogar noch viel gelehrter vorkommen, als den andern
die Kunsthistoriker.
Unversehens haben uns die bunten Bilder auf ein neues Thema gebracht.
Wir müssens diesesmal unterbrechen. Uns liegt noch ein Band mit schwarz¬
weißen Autotypien aus dem Verlage vou Franz Hanfstaengl in München vor:
„Die Meisterwerke des Rijksmuseums zu Amsterdam." Es ist der vierte eine
Sammlung von „Malerklassikerausgaben," wovon früher schon die Münchner
alte Pinakothek, die Dresdner Galerie und die National Gallery zu London
erschienen sind. Die vorzügliche Ausführung versteht sich bei dem Weltruhm
dieses Hauses von selbst, die äußere Ausstattung der Bünde mit ihren doppel¬
seitig bedruckten Blättern ist anspruchslos. So nur war der erstaunlich niedrige
Preis von zwölf Mark für 208 Bilder zu erreichen. Hätten wir Lust am Tadeln,
so könnten wir eine kleine Zahl von unbedeutenden Bildern namhaft machen, die
Wir gern durch wichtigere ersetzt sähen. Aber das ist Nebensache. Wir freuen
uns, daß eine viel zu wenig bekannte Galerie um auf so bequeme Weise zu¬
gänglich gemacht worden ist, und sehen der Fortsetzung mit Erwartung ent¬
gegen. Denen aber, die für solche Klischeebücher nur ein gnädiges Achsel¬
zucken übrig haben, möchten wir noch zu bedenken geben, daß die kostbarere
Photvgravüre allerdings an und für sich eine vornehmere Erscheinung, keines¬
wegs aber die für Ölgemälde besonders geeignete Reproduktionsart ist, wie
man wohl dem kaufkräftigen Publikum in den Prospekten solcher Werke vorzu¬
reden pflegt. Denn die sammetartige Wirkung der Ätztechnik bringt vielfach
fremde und falsche Tonwerke in die Bilder; Rembrandt oder Correggio kann
mau so wiedergeben, Raffael und Holbein nicht. Den Vorzug einer größern
Treue haben die Photographien und der Kohledruck, und wo der niedrige
Preis mitsprechen soll, die billige Antotypie.
cum heute im deutschen Binnenlande von Kaufleuten die Rede ist,
so denkt man zunächst an die Herren, die „zum Schutze des Mittel¬
standes" Maßregeln gegen Konsumvereine, Warenhäuser und un-
lautern Wettbewerb fordern. Es sind das gewiß ehrenwerte und
unentbehrliche Mitglieder der Gesellschaft, aber imposant findet sie
niemand, und daß der Wirkungskreis eines jeden von ihnen weit über das Stadt¬
oder Straßenviertel Hinansreiche, das sie mit Waren versorgen, werden sie selbst
nicht behaupten wollen. In der Zeit der alten Gewerbeordnung würden sie gar
nicht Kaufleute (irikr«^t»r(;8), sondern Krämer lMstitoi'W) genannt worden sein.
Was man damals Kaufleute nannte, das beschränkt sich heute auf den engen
Kreis der „königlichen Kaufleute," der großen Exporteure und Importeure unsrer
Seestädte. Der Geldhandel samt dem Geschäft der Kreditoperationen, der Eisen¬
bahnbauten und der Gründung mehr oder weniger solider Rieseuunternehmungen
liegt in den Händen von Aktiengesellschaften, und neben ihnen müssen wohl auch
die Großfabrikanten, die ihre Erzeugnisse selbst im Inlande und ins Ausland
verkaufen, als Kaufleute großen Stiles (aber natürlich nicht als Großhändler)
betrachtet werden. Ob im Binnenlande noch etwas dem ähnliches vorhanden
oder auch nur möglich ist, was uns die Jubiläumsschrift eines Breslauer Bank¬
hauses schildert, darf bezweifelt werden. (Das Soll und Haben von Eich¬
born <K Komp. in 175 Jahren. Ein schlesischer Beitrag zur vaterländischen
Wirtschaftsgeschichte. Breslau, Wilh. Gottl. Korn, 1903. Die mit Register
371 Seiten Großquart umfassende, gediegen ausgestattete und mit Bildnissen,
u. a. faksimilierten Kurszetteln geschmückte Schrift ist vom jetzigen Inhaber der
Firma, Kurt Moriz - Eichborn, auf Grund von Urkunden des Firmenarchivs,
des Staats-, des Stadt-, des Reichsbankarchivs und andrer Archive verfaßt und
der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur zum hundertsten Stiftungs¬
feste gewidmet worden. Rudolf von Gottschall hat eine poetische Widmung
beigefügt.)
Der Verkehr hat eben im Laufe des vorigen Jahrhunderts seine Organi¬
sation von Grund aus geändert, vielfach anch seine Schauplätze und Wege. Als
der ans Landau in der Pfalz gebürtige Johann Ludwig Eichborn am 19. No¬
vember 1728 in Vreslau sein Speditions-, Kommissions- und Wechselgeschüft
errichtete, kam er gerade noch zurecht, die goldne Abendröte der Glanzzeit dieser
Stadt zu schauen und zu genießen. Breslau war bis dahin der Markt und
der Stapelplatz des West-östlichen und süd-nördlichen Verkehrs für das ganze
östliche Deutschland gewesen. Die Großkaufleute besorgten die Spedition der
Waren, die in Wagenkarawanen ankamen, übernahmen, soweit es sich nicht um
bloße Durchfuhr handelte, den kommissarischen Verkauf, zahlten in Wechseln oder
vorschußweise in bar, besorgten die Einziehung der Gelder aus dem Auslande
und vermittelten namentlich die Ausfuhr der heimischen Leinen- und Tuchvor¬
räte. Erfuhren sie, daß eine spanische Silberflotte aus Amerika abgegangen sei,
so belebte das die schlesische Leinwandweberei, denn Spanien gehörte zu deren
Hauptabnehmern. Wie Friedrich der Große in seinem politischen Testament ver¬
merkt hat, brachte die Leinenausfuhr den Schlesiern beinahe so viel wie Peru
dem Könige von Spanien. Leider hat gerade der große König, natürlich sehr
gegen seinen Willen, die Reichtumsquellen Breslaus und Schlesiens verstopft.
Die Einfügung Schlesiens in den preußischen Staat sperrte nur die österreichischen,
die Teilung Polens den größten Teil der polnischen Absatz- und Znfnhrgebiete,
und die merkantilistische Politik Friedrichs schlug dem Handel tiefe Wunden, für
die das Land durch die Förderung der Tuchfabrikation nicht völlig entschädigt
wurde. Immerhin behauptete auch in dieser Zeit des Rückgangs die Breslauer
Kaufmannschaft, die übrigens auf kaum ein Dutzend Firmen zusammengeschmolzen
war, ihre Stellung als Leiterin und belebende Kraft des gesamten Ausfuhr-
Handels, und die Firma Eichborn stand an ihrer Spitze, Das alte Breslauer
Patriziat hatte sich in grünt besitz enden Landadel verwandelt, und auch von den
neuen Bankiers und Fabrikanten folgte von Zeit zu Zeit ein wohlhabend ge-
wordner dem Zuge nach Glanz und Größe; die Moriz-Eichborn (ein Schwieger¬
sohn Moriz hat die im Mannsstamm ausgestorbne Familie fortgepflanzt) sind
dem Handel treu geblieben. Wir sagen absichtlich ein wohlhabend gewordner,
denn von Reichtum nach heutigem oder auch nach damaligem englischen Ma߬
stabe war keine Rede. Das Geschäftskapital der Firma Eichborn betrug 1793
nach dem Ausscheiden eines Kompagnons und bedeutenden, durch den Bankrott
eines Warschauer Hauses erlittnen Verlusten 78000 Taler und stieg bis 1804
auf 214500 Taler, Von dem aber, was mit solchen heut winzig erscheinenden
Summen für die Provinz ausgerichtet wurde, kann sich der keine Vorstellung
machen, der dieses Buch nicht gelesen hat.
Abgesehen von dem Niederschlage, den der Durchfuhrhandel in Breslau zurück¬
ließ (zwei Drittel der Bewohner dieser Stadt lebten davon), der aber freilich, wie
schon gesagt worden ist, gegen Ende des Jahrhunderts beinahe aufgehört hatte,
blieben die paar Breslauer Großhändler die Seele des Leinwand- und Tuchexports
(nebenbei wurde die Wcineinfuhr und die Ausfuhr von Röte und Krapp besorgt.
Wolle sowohl aus- wie eingeführt), und die Firma Eichhorn stand als das zwar
nicht reichste aber tätigste Haus an der Spitze, sowohl in Beziehung auf seine
Leistungen als auch durch den Geist seiner Häupter, die als anerkannte Führer
und Vertreter der Breslauer Kaufmannschaft den Verkehr mit den ausländischen
Firmen wie den mit den inländischen Behörden vermittelten. Die Gesinnung, in
der diese Tätigkeit geübt wurde, mag ein Schreiben der Firma vom Jahre 1813
an F. Jordan in Gothenburg charakterisieren: „Wir machen zwar selbst in unsern
Wechselkommissivnen auch etwas in Leinen, doch nur zur g-eine, um dann und
wann einige unsrer Korrespondenten im Gebirge bei stiller Zeit zu beschäftigen.
Der Hauptsitz der Leinen ist in unserm Gebirge und wir können Ihnen darin
die wesentlichsten Dienste leisten, da wir daselbst in den engsten Verbindungen
stehen und vermöge der Kommissionen, die wir von unsern Hamburger und
andern Freunden haben, fortwährend im Leinenfach interessiert sind. Wir be¬
sorgen Ihre Aufträge für eine Provision von 2 Prozent, und Sie genießen ba¬
ngen die wahrhaften Marktpreise. Sonst sind wir anch bereit, Ihnen die Adressen
unsrer Freunde mitzuteilen, wobei Sie aber nichts lukriereu, indem wir unsre
Provision durch Wahrnehmung der Vorteile für Sie zu bergen wissen. Sie
sehen, wir behandeln den Leinwandhandcl nicht gewinnsüchtig, sondern als vater¬
ländisches Manufattnrat, dem wir auf alle Weise beförderlich sein wollen."
In die Technik dieser vaterländischen Tätigkeit aber und nebenbei in die
Lage von Handel und Gewerbe in der schlimmsten Zeit unsers Vaterlandes
werden die Hauptstellen zweier Schreiben Johann Wolfgang Eichhorns an deu
Staatskanzler Hardenberg aus dem Jahre 1812 einen wenigstens oberflächlichen
Einblick gewähren. Der erste ist vom 1. April des genannten Jahres datiert:
Euer Hochfreiherrliche Exzellenz geruhen mittelst gnädigen Schreibens vom
28. v. M. den von seiner Königlichen Majestät Allerhöchst selbst und Ew. Hvch-
freiherrlichen Exzellenz der hiesigen Kaufmannschaft und dem Gebirgshandelsstande
gemachten Antrag: „die Summe von zwei Millionen Reichstalern vorschußweise
aufzubringen und durch schleunige Maßregeln baldmöglichst herbeizuschaffen," mir
zur besondern Pflicht zu machen. Durchdrungen von diesem Beweise Höchstdero
gnädigen Vertrauens und der besondern Auszeichnung, welcher ich dadurch ge¬
würdigt werde, wünsche ich nichts inniger, als den Allerhöchsten Königlichen Befehl
und Ew. Exzellenz für das Vaterland wohlgemeinte gnädige Absicht im ganzen
Umfange ausgeführt zu sehen; dieser Auftrag aber hat so unendlich viele Schwierig¬
keiten, daß ich mit dem besten Mute recht tief einzudringen, nicht hoffen darf. Dies
soll mich jedoch nicht abschrecken und meinen Eifer für die gute Sache nur um so
mehr anfeuern, ich habe anch schon gestern Nachmittag mit den bedeutendsten Mit¬
gliedern der hiesigen Kaufmannschaft über den Gegenstand umständlich konferiert
und vorerst das Resultat erlaugt, daß auf heute Nachmittag die Gesamtheit der
.Kaufmannschaft zu einer Beratung vorgeladen werde, um über die Möglichkeit, wie
nach den Kräften der hiesigen Handlung ein Teil des Dcirlchns aufzubringen sei,
zu delibericren.
Der Notstand der hiesigen Handlung ist wahrhaft so in die Angen springend,
daß ich mir nicht einmal ein entferntes Quantum der in Rede stehenden Summe
zu versprechen wage. Breslaus Handelsstand ist, solange seine Manufakturen, sowie
die Manufakturen und Fabriken in der ganzen Provinz für das Ausland beschäftigt
waren, nicht reich aber stets wohlhabend und solide gewesen. Der Kaufmann legte
seine ganzen Fonds in deren Erzeugnissen um, die er durch solide Konnexionen und
durch Kreditstellung ins Ausland beförderte: die wenigen hiesigen Bankiers unter¬
stützten mit ihrem Vermögen diesen Fabrikatenhandel durch stets währende Kredit-
Vorschüsse, und wenn diese nicht hinreichten, so spannte mau den Kredit bet der
Königlichen Bank an, und man legte zu dem Ende zum Teil Dokumente oder öfter
sogenannte Gefälligkeitswechsel ein.
Das habe nun alles aufgehört, seitdem der Krieg den Seeverkehr zuerst un¬
sicher, dann unmöglich gemacht, zuletzt die Kontinentalsperre den Handel völlig
ruiniert und die französische Invasion das Land ausgesogen habe. Auch die
am Handel nicht beteiligten wohlhabenden Familien seien in Not geraten, da
ihre Güter und Wertpapiere keinen Ertrag abwürfen, und das Bankgeschäft
beschränke sich darauf, solchen Leuten vorzuschießen, was sie für ihren Haus¬
halt brauchten. Auf fremde Plätze Wechsel auszustellen, sei nicht möglich, weil
man allen Verkehr mit diesen abgebrochen habe. (Namentlich die Firma Eich¬
born hatte in ihrer strengen Rechtlichkeit, da man nicht wisse, ob man ein-
gegcmgne Verpflichtungen werde lösen können, alle Anerbietungen zurück¬
gewiesen und ihr Geld, soweit es nicht in Vorräten festlag, in Pfandbriefen
angelegt, dem einzigen Papiere, das sie mit Recht für sicher hielt, wenn es
auch im Augenblick keine Zinsen brachte. Die Firma I. C. Godeffroy und
Sohn versicherte denn auch wiederholt, daß ihr Zutrauen in das Haus Eich¬
born keiner Konjunktur unterworfen sei.)
Johann Wolfgang konnte mit allen seinen Bemühungen nicht mehr als
178 500 Taler in Tratten auf auswärtige Häuser herausschlagen. Hardenberg
bestand darauf, es müsse wenigstens eine Million aufgebracht werden. Johann
Wolfgang erwidert n. a.:
Wir begreifen nicht, nach welchem Maßstab das Vermögen der hiesigen Kauf¬
leute berechnet ist, noch unbegreiflicher aber ist es uns, wie man, da doch unsre
und noch dazu fremde Fonds in unverkäuflichen oder nicht zu realisierenden aus¬
wärtigen Leinwand- und Tuchlagern versteckt sind, von uns Summen baren Geldes
verlangen kann, die in den besten und knlantesten Zeiten bei uns nicht aufzufinden
vermocht werden konnten. Wir können mit Wahrheit behaupten, daß, wenn hier
jeder Kaufmann Kopf für Kopf rein ausgeschält würde, jene Forderung bei weitem
nicht erreicht werden würde. Dem Kaufmann den letzten Groschen abnehmen, das
wäre so viel wie dem Pflüger den Pflug und dem Handwerker sein Werkzeug ab¬
fordern, und ihn mit dem Bettelstab auf die Wanderschaft schicken.
Die Summe wurde jedoch auf 275000 Taler erhöht, und nachträglich
wurden noch 182000 Taler aufgebracht.
Das war aber nicht etwa das erste oder gar das größte Opfer der Bres¬
lauer Kaufmannschaft in dieser schweren Zeit, sondern der letzte ihr ausgepreßte
Tropfen. Wir haben nur vorgegriffen der Stelle wegen, in der ihre Tätigkeit
für die wichtigste der schlesischen Industrien kurz beschrieben wird. Freilich
gaben die Kriege auch hie und da Gelegenheit zu Geschäften, die einigen Gewinn
abwerfen mochten. Die Übung und Erfahrung der Firma Eichborn in der
Spedition, ihre Kenntnis der Wege und Beförderungsmittel hatte zur Folge,
daß Privatleute und Staaten ihr die im höchsten Grade gefährdete und bei
wechselndem Kriegsschauplatz bald auf diesen, bald auf andern Wegen auszu¬
führende Beförderung von Gütern und Geldern anvertrauten. So hatte sie
wiederholt englische Subsidien nach Wien, dann 1812 die für die Verpflegung
der französischen Armee bestimmten Gelder von Leipzig nach Warschau zu schaffen,
für diese Armee auch Tuch zu liefern. Aber hauptsächlich war in der Zeit von
1807 bis 1818 ihre ganze Kraft durch die Beschaffung der Kontributionen in
Anspruch genommen, von deren Zahlung der Abzug der französischen Truppen
aus dem verkleinerten preußischen Gebiete abhing. Mit Recht bemerkt der Ver¬
fasser der Schrift, nachdem alle Helden der Befreiungskriege, die Staatsmänner,
die Feldherren, die Soldaten, die Stände zur Genüge gefeiert worden seien,
erfordre es die historische Gerechtigkeit, endlich einmal auch die Opfer und
Leistungen der Breslauer Kaufleute darzustellen, deren bisher noch kein Geschichts¬
schreiber gedacht habe. (Auch das neuste größere Werk, das jene Zeit behandelt:
Freiherr vom Stein von Max Lehmann, hat diese Schuld nicht beglichen.
S. 236 bis 237 des zweiten Bandes erscheint sogar der Patriotismus der
Breslauer Kaufleute in einer nicht eben vorteilhaften Beleuchtung. Wir können
nicht entscheiden, ob der Unterschied von der Verschiedenheit der benutzten Ur¬
kunden herrührt oder von der Verschiedenheit der Standpunkte der Autoren.)
Der Chef der Firma Eichborn hat sich dabei das dreifache Verdienst er¬
worben, daß er nicht allein diese Leistungen organisierte, sondern auch übertriebne
Zumutungen, deren Übernahme die Leistungsfähigkeit des Kaufmnnnsstandcs
vernichtet haben würde, standhaft zurückwies und die Ehre seiner Standesgenossen
wahrte oder vielmehr zum erstenmal der preußischen Regierung gegenüber zur
Geltung brachte. Den mitgeteilten Aktenstücken nach scheint man anfangs in
Preußischen Beamten- und Militärkreisen von den Kaufleuten ungefähr in dem
Tone gesprochen zu haben, worin hente Antisemiten von den Juden und Sozial¬
demokraten von den Kapitalisten zu sprechen pflegen: man solle den Kerls einfach
ihre Geldsücke ausleeren und so ähnlich. Nichts würde für uns erfreulicher
sein, heißt es in einem von Johann Wolfgang aufgesetzten Bericht der Breslauer
Kaufmannschaft, „als wenn wir dem Staate, ohne die Pflicht, die wir den
Unsrigen schuldig sind, zu verletzen, nützlich werden könnten, nichts soll uns
enger an ihn anschließen, als wenn wir, wessen wir uns freilich bis jetzt nicht
erfreuen durften, bei demselben als nützliche Staatsbürger gewürdigt würden,"
was, wie der geschraubte Nachsatz besagen soll, nach verschiednen Privatüußerungen
hoher Staatsbeamter bis jetzt, nicht der Fall gewesen sei. Während die fran-
z ösischen Behörden die Verdienste der Kaufleute um die Abwicklung der schwierigsten
Geschäfte anerkannten (was die Firma in den Stand setzte, den Fabrikanten
im Gebirge durch einen Sicherheitskordon Schutz vor Plünderung zu verschaffen),
haben sowohl Stein wie Altenstein mit Maßregelung gedroht, bis sich doch schließlich
die Minister in den der Lage angemessenen Ton hineinfanden. Denn ohne die
Breslauer Kaufleute war schlechterdings nichts zu machen. Diese sollten u. a.
von der dem Staate auferlegten Kontribution achtzehn Millionen Franken auf¬
bringen, während man z. B. Königsberg nnr zwölf und Berlin nnr fünfzehn
Millionen zumutete. Johann Wolfgang fragt, warum man nicht die durch
Privilegien großgepäppelten Berliner Juden stärker heranziehe, von denen mancher
allein vier bis fünf Millionen Taler kommandiere. Immer und immer wieder
erinnert er an die hungernde Gebirgsbevölkerung, für die man sorgen müsse,
und daran, daß weder Schlesien die einzige leistungsfähige Provinz noch die
Breslauer Kaufmannschaft der einzige zu Opfern fürs Vaterland verpflichtete
Stand sei, und daß die zerrütteten Finanzen nur denn geordnet werden konnten,
wenn Patriotismus und Gemeingeist im ganzen Volke geweckt und alle Stände
gleichmäßig zu den Leistungen herangezogen würden. Andre Stände hatte man
in dem Grade geschont, daß ihnen, namentlich den Gutsbesitzern, ein Moratorium
bewilligt wurde, dessen Kosten natürlich hauptsächlich der Kaufmanns stand zu
tragen hatte.
Nichtsdestoweniger leistete die Breslauer Kaufmannschaft, was ihr zuge¬
mutet wurde, aber unter den Bedingungen und in den Formen, die sie selbst
als unerläßlich erkannte. Einige Sicherung gewährten ihr die zuerst von Johann
Wolfgang vorgeschlagne Einziehung alles zu Lurusgerüteu und Schmuck ver¬
wandten Goldes und Silbers und später der Verkauf von Domänen und geist¬
lichen Gütern. Dabei sah man sich wiederholt genötigt, falsche Negierungs-
maßregeln abzuwehren. Eine solche hatte schon vor der großen Katastrophe
der Freiherr vom Stein ergriffen. Ans seine Anordnung mußte 1804 die
Preußische Bank zu diskontieren aufhören, weil südpreußische (posensche) Firmen
die Staatskasse durch Wechselreiterei geschädigt hatten. Indem man die Un¬
schuldigen mit den Schuldigen strafte, erzeugte man eine Geldknappheit, die eine
schreckliche Not der Weberbevolterung zur Folge hatte. Als dann 1813 der
Hof und der Generalstab in Vreslau residierten, ließen die Ehren, die der
Firma erwiesen wurden, nichts zu wünschen übrig; nur waren sie nicht ganz
kostenlos, deun Herren wie der brave Blücher waren eben doch — Kavaliere.
Nach erruugnem glorreichen Siege blieb die Firma an der Spitze aller
Bestrebungen zur Wiederherstellung von Handel und Gewerbe. Wenig Erfolg
hatten die Bemühungen, der englische,, Konkurrenz gegenüber der schlesischen
Leinwand noch einmal aufzuhelfen. In Mexiko scheiterte man an den dortigen
Unruhen, in der Levante an dem Fehlen einer preußischen Flagge (in Schlesien
zuerst ging damals die Erkenntnis auf, daß Preußen eine eigne Flotte brauche)
die Tucheinfuhr in China auf dem Landwege an den Hindernissen, die Rußland
bereitete. Vorübergehenden Glanz und Gewinn Verlieh Breslau der Wollmarkt,
von dem das Buch eine anschauliche Schilderung entwirft. Etwas ähnliches
kommt heute, wo die Bahn die Verfrachtung und der Bahnhof die Umladung
besorgt, nicht mehr vor, abgesehen davon, daß die schlesische Landwirtschaft, wie
bekannt, durch die Ausfuhr ihrer kostbaren Zuchtböcke nach Australien und
Amerika die Wollproduktion eingebüßt hat. In den vier Tagen des Frühjahrs¬
wollmarkts hatte die Firma Eichborn zur Zeit der höchsten Blüte dieses Ge¬
schäfts durchschnittlich zwei Millionen Taler auszuzahlen. „Sehr erschwerend
wirkte hierbei der Umstand, daß Papiergeld nur in beschränktem Maße kursierte
und größtenteils Silber zur Zahlung verwendet werden mußte, das in Fünf-
Hundert-Taler-Beutel verpackt, mittels großer zweispttnniger Kastenwagen von der
Bank geholt wurde." Auch den Verkauf der ersten oberschlesischen Montan¬
produkte nahm die Firma in die Hand, und sie beteiligte sich natürlich an den
ersten Eisenbahnbauten. Bis der Bahnverkehr in Gang kam, blieb sie als
Spediteurin tätig. Dem letzten Abschnitt sieht man es an, daß sich die Firma
mit ihren durch anderthalbhundertjährige Tradition festgewordnen soliden Grund¬
sätzen, bei aller Anerkennung der Bequemlichkeit und Großartigkeit des heutigen
Verkehrs, in die zur Herrschaft gelangten Handelsgewohnheiten nur schwer
zu schicken vermag. Von 1830 ab klagt sie über unreelle Konkurrenz.
Die erwähnte Ergänzung der Geschichte Preußens in dem Jahrzehnt, das
den Befreiungskriegen vorherging, ist das wichtigste in dem Buche; aber es ist
außerdem reich an interessanten und lehrreichen Beiträgen zur Volkswirtschaft,
Handelspolitik und Kulturgeschichte. Unter anderm findet man anziehende
Schilderungen des bescheidnen und soliden Lebens in den Kaufmannshäusern,
des schönen Verhältnisses der Lehrlinge zur Familie und der gemeinnützigen
Tätigkeit dieser Patrizier in der Koinmunalverwaltung und der Armenpflege.
Den Schluß mag eine Stelle von S. 334 machen, die aktuelle politische Be¬
deutung hat, weil sie dein Verkehrsministerium für gewisse Fülle eine energische
Opposition der schlesischen Abgeordneten in Aussicht stellt. „Am 6. November
1846 ging der bisherige Freistaat Krcckau an Österreich über und wurde trotz
aller Bemühungen der Stadt Breslau in den österreichischen Zollverband ein¬
bezogen. Die durch die Wiener Schlußakte des Jahres 1815 festgesetzte Handels¬
freiheit des Krakauer Territoriums hörte damit auf, und Schlesien verlor sein
letztes Hinterland. Der Breslauer Handel berechnete seine,? Schaden auf
Millionen und trägt noch heute an dem Verluste, den er damals erlitt. Schlesien
hat seitdem an den preußischen Staat eine große Forderung, die einzig durch
eine direkte Eisenbahnverbindung mit dem Osten abgetragen werden kann, und
die aus dem Verlangen nach Gerechtigkeit, wie aber auch aus bitterster Not¬
wendigkeit heraus immer wieder, wie erst gelegentlich der schlesischen Volks¬
bewegung des Jahres 1902, von Schlesien erhoben werden wird und muß, so
lange sich noch ein Hauch von Tatkraft und Entwicklungsdrang in seiner Be¬
völkerung regt." In dieser von der Schlesischen Zeitung organisierten Volks¬
bewegung wurde hauptsächlich eine direkte Bahn von Breslau nach Warschau
gefordert. _____
raußeu zwischen Wald und Feldern lag das adliche Damenkloster
Wittektnd. Eins der vornehmsten im Lande, mit einer alten Kloster¬
kirche, dem Nest eiues Cisterzienserinnenklosters, das zu Wohnungen
hergerichtet worden war, mit einem berühmten Kreuzgang und einem
herrlichen alten Garten. Wenn die Stiftsdamen in ihrem Kreuz¬
gang oder unter den Linden des Gartens lustwandelten, dann hatten
sie allen Grund, mit dem Schicksal zufrieden zu sein. Denn in der heutigen rauhe»
Welt ist es nicht allen unverheirateten Damen von Stande beschieden, in den
spätern Lebensjahren einen so friedevoller, schönen Unterschlupf zu finden, wie ihn
die Damen des Klosters zu Wittekind hatten, mit schöner Wohnung im Kloster,
einer ausreichenden Einnahme und einer im ganzen Lande angesehenen Stellung.
Die Damen im Kloster klagten auch nicht. Friedlich und still lebten sie dahin,
strickten Strümpfe für die Armen und bemühten sich, die Sorgen der Welt soviel
Wie möglich von sich abzuhalten. Nur die Äbtissin lebte nicht so bequem wie die
andern Damen. Sie hatte die Geschäfte des Klosters zu besorgen, das mehrere
Dörfer unter sich und mich eine große Landwirtschaft hatte. Allerdings standen ihr
ein Rendant und sein Sekretär zur Seite, und das hart ans Kloster stoßende
Klostergnt war verpachtet. Dennoch war die Äbtissin die beschäftigtste Dame des
Klosters und mußte arbeiten, während die andern Konventualiunen ihre Zeit ganz
zu ihrer eignen Verfügung hatten. Dafür war sie denn aber auch die vornehmste
Dame des Konvents, hatte einen hohen Rung bei Hofe und durfte in einem großen,
alten, mitten in einem abgetrennten Gcirtchen liegenden Hanse für sich allein wohnen.
Außerdem war sie ausschlaggebend für alle innern Angelegenheiten des Klosters,
und ohne ihre Zustimmung durfte eigentlich kein Blatt vom Baume fallen.
Eure Äbtissin hat verdammt viel Machtbefugnisse, bemerkte Wolf Wolffenradt,
der bei seiner Schwester Kaffee trank und dabei eine sehr gute Zigarre rauchte.
Die Geschwister saßen in Asta von Wolffenradts hübschem Wohnzimmer, dessen
Fenster weit offen standen, durch die man in den grünen Klostergarien hinaus sah
und in die weite mit Heidehügeln umsäumte Ferne.
Damen sollten nicht so viel zu befehlen haben, setzte er hinzu, während er sich
behaglich zurückkehrte. So etwas ist euch nicht gesund.
Asta lächelte flüchtig. An altem Herkommen soll man nicht rütteln, lieber
Wolf, sagte sie; die Äbtissinnen zu Wittekind haben immer gut regiert. Willst du
noch etwas Kaffee? Er reichte ihr die Tasse, und sie ging an ihren mit Holz¬
kohlen gefüllten Samowar, auf dem sich der Kaffee warm hielt.
Gedankenlos folgte der Bruder ihren Bewegungen. Astr Wolffenradt war
eben fünfzig Jahre alt geworden; aber sie machte einen jüngern Eindruck. Sie
war schlank und hoch gewachsen, hatte ein scharf geschnittnes Gesicht, etwas befehlend
blickende Augen und dunkles, leicht mit gran untermischtes Haar.
Wieviel Stücke Zucker nimmst du, Wolf? fragte sie.
Noch immer drei, mein Kind. Für einen Posteleven allerdings etwas viel;
aber ich werde natürlich einmal Oberpostmeister. Die Leute warten schon auf mich.
Wie lange mußt du eigentlich auf der Post arbeiten, um es zu etwas zu
bringen? fragte seine Schwester.
Langsam löffelte er seinen Kaffee.
Ein Jahr muß ich mindestens lernen, dann ein Examen machen, bei dem ich
zuerst durchfallen werde. Dann dauerts noch ein Jahr; und dann werde ich all¬
mählich angestellt werden.
Also eine lange Geschichte.
Sie sagte es nachdenklich. Wolf sah sie von der Seite an. Ich hoffe, fuhr
er fort, liebe Schwester, daß du mir mit deiner guten Klostereinnahme beistehn
wirst. Blut ist dicker als Wasser, mein Kind.
Wenn er verlegen war, sagte er immer „mein Kind" zu der um fünfzehn
Jahre ältern Schwester. Sie achtete nicht darauf. Nachdenklich sah sie ihn an.
Lieber Wolf, ich tue, was ich kann. Aber so viel, wie du brauchst, kann ich
dir doch nicht geben. Das habe ich niemals gekonnt.
Sie hatte Recht. Wolf hatte jederzeit über seine Verhältnisse gelebt, und sie
hatte ihm immer beigestanden, obgleich sie selbst, ehe sie Stiftsdame geworden war,
nur ein schmales Einkommen gehabt hatte. Die Wolffenradts waren nicht reich.
Auch der Majoratsherr, Bruder Felix, der auf der Wolffenburg wohnte, mußte sich
drehen und wenden, um allen Anforderungen gerecht zu werden.
Wolf setzte die Tasse nieder und sah aus dem Fenster. Hinter dem Tannen¬
wald, der auf der einen Seite den Ausblick begrenzte, ragte ein viereckiger Kirch¬
turm in die Luft. Er gehörte der kleinen Stadt, in der Wolf in die Geheimnisse
der PostWissenschaft eingeführt wurde. Es war ein langweiliges kleines Städtchen,
und der Postdirektor war ein eigner alter Herr. Wenn die Frau Äbtissin von
Wittekind sich nicht in höchsteigner Person für die Aufnahme des Herrn von Wolsfen-
radt verwandt hätte, der Postdirektor würde ihn nicht genommen haben. Aber
der Frau Äbtissin von Wittekind schlägt man nicht gern etwas ab, und es war
Asta von Wolsfenradt gewesen, die die Äbtissin zu diesem Schritt veranlaßt hatte.
Und es war Asta von Wolsfenradt, die ihren Bruder jetzt, so oft er kommen
wollte, bei sich aufnahm. Zum Essen, oder zum Kaffee, und wenn er Sonnabend
Nachmittags kam, pflegte er bis Montag Morgen zu bleiben.
Asta war immer eine gute Schwester gewesen, und der so viel jüngere Bruder
hatte es als Knabe nicht anders gekannt, als daß sie ihm immer den Willen tat,
ins ihn das Leben aus dem Elternhaus und in andre Umgebungen verschlagen
hatte. Er war in ein vornehmes Regiment gekommen, in andre Interessen und
Beziehungen, in Schulden und Verdrießlichkeiten, in eine Heirat, die seine Familie
empörte. Sein Bruder Felix und seine Schwester hatten allerdings nicht viel ge¬
sagt, als Wolf ihnen seine Vermählung mit Elisabeth Hammer, der Tochter einer
armen Beamtenwitwe, anzeigte, aber ihr Schweigen war beredt gewesen. Sie
sprachen ihm keinen Glückwunsch aus; sie schrieben nicht, als er ihnen die Geburt
seiner erste» Tochter mitteilte. Als Wolf sich dann mit der Bitte um Unterstützung
seinen Bruder wandte, schrieb ihm dieser eine höfliche Absage, die er damit begründete,
daß er seinem Bruder schon mehr Geld gegeben hätte, als er seiner Kinder wegen
verantworten könnte. Er log nicht; Wolf hatte den Geldbeutel des ältern Bruders
Jason sehr stark in Anspruch genommen.
In diesem Absagebrief schrieb Felix kein Wort von Wolfs Frau und fragte
weder uach ihr noch nach der kleinen Gabriele, die inzwischen ein Schwesterchen
erhalten hatte. Wolf ärgerte sich wütend und nahm sich vor. niemals wieder an
diesen Bruder zu schreiben. Nach anderthalb Jahren aber wandte er sich an Asta
mit der Vorfrage, ob auch sie ihn vergessen hätte, und erhielt umgehend die Ant¬
wort, nein, das hätte sie nicht getan, sie dächte viel an ihn und wünschte ihm
zu helfen. Sie sei jetzt Stiftsdame in Wittekind und hätte von einer andern
Konventualin gehört, daß ehemalige Offiziere ins Postfach eintreten könnten. Wie
würde es sein wenn Wolf in die dem Kloster benachbarte Stadt zöge? — Asta
schrieb so freundlich, daß Wolf sich freute. Er wohnte jetzt in Hamburg und
hatte die Erfahrung gemacht, daß alle Stellungen, um die er sich bemüht hatte,
besetzt gewesen waren. Die Paulinenterrasse, in die er mit Elisabeth und den
Kindern geflüchtet war, war voll von Proletariern, schreienden Kindern, keifenden
Weibern und unbeschreiblichen Gerüchen. Wolf aber war auf einem schönen alten
Schloß geboren und in vornehmer Umgebung groß geworden. Seine ganze Sehn¬
sucht ging dahin, wieder das Leben zu führen, zu dem ihn seine Geburt berechtigte,
und er beachtete es kaum, daß auch Asta nicht nach Elisabeth und den Kindern
fragte.
Dann kam das neue Leben, die neue Umgebung. Imi Postbnreciu zu sitzen
war langweilig, und die Wohnung bei einem kinderreichen Drechsler sehr klein¬
städtisch; aber das Kloster mit seiner Ruhe, seinen vornehmen Damen war nahe.
Nach sechs Wochentagen kam der Sonntag, den Wolf im Frieden des Klosters ver¬
lebte, wo er mit den Damen über deren und seine Familie sprach, wo er die
Empfindung hatte, daß er kein Proletarier mehr sei, sondern der Baron Wolffen-
radt, dem es eine Zeit lang nicht besonders gut gegangen war, der sich aber jetzt
dem Postsache zugewandt hatte und bald wieder eine anständige Stellung einnehmen
würde. Lieber Gott, in allen guten Familien kam einmal so etwas vor. Aller¬
dings Elisabeth — Wolf rückte in seinem Stuhl, und Asta, die einen Brief las,
sah auf.
Du hast wohl etwas geschlafen?
Doch nicht! Er richtete sich in die Hohe. Sag einmal, Asta, weshalb sprichst
du nie von meiner Frau?
In diesem Augenblick trat das Mädchen ein, um das Kaffeegeschirr wegzu¬
räumen, und Asta wurde der Antwort überhoben.
Wolf freute sich fast darüber, denn über das Gesicht seiner Schwester war
der eigensinnige Ausdruck gegangen, deu er an ihr kannte und fürchtete. Wenn
sie die Lippen so fest schloß, dann war nichts mit ihr anzufangen, und er wollte
sich doch nicht mit ihr erzürnen.
Deshalb brachte er, als er wieder mit seiner Schwester allein war, das Ge¬
spräch lieber auf andre Dinge.
Du hast dort eiuen sehr langen Brief erhalten. Von wem ist er?
Statt der Antwort erhob sich Asta, holte ein Bild von ihrem Schreibtisch und
gab es Wols in die Hand.
Adele Manska!
Eine hübsche Frau, sagte er, die Photographie betrachtend. Polnisches Blut,
nicht wahr?
Ihr Mann war Pole, sie selbst ist Ostpreußin.
Sie ist Witwe?
Sie ist geschieden, entgegnete Astr. Ihr Mann und sie paßten durchaus
uicht zusammen; er brachte nur ihr Geld durch. Adele ist nämlich sehr vermögend.
Nun lebt sie allein in Berlin; sie ist mich viel ans Reisen. Wir haben uns
voriges Jahr in Ems kennen lernen und uns trotz des Altersunterschieds — sie
ist höchstens fünfunddreißig — eng aneinander geschlossen. Hoffentlich wird sie
mich einmal besuchen.
Wolf betrachtete noch immer das Bild.
Sie hat wirklich hübsche Züge.
Das Beste ist ihr Herz. Mit ihrem Manne, dein Herrn von Mcmski, hat
sie unsägliche Geduld gehabt; endlich ging es nicht mehr. Es ist wirklich ein Glück,
daß es Scheidungsgesetze gibt; dadurch kann noch mancher Fehler gut gemacht
werden. Die arme Adele hätte ihr ganzes Leben verpfuscht, und nun wird sie sich
hoffentlich noch einmal glücklicher verheiraten.
Wulf stellte das Bild wieder auf seinen Platz. >.
.^
Ich hätte nicht gedacht, daß du Ehescheidungen das Wort sprachest, liebe
Schwester. ^ ^ <. ^ ? ^
uendtoreitennd
Sein Ton klang spöttisch; Asta antwortete ganz ruhig: Jgh si
oft durch nichts andres wieder gut zu machen. Übrigens, hast du gehört van
Felix ein Angebot für den Dovenhof erhalten hat? Er schrieb es mir lurzncy.
Wolf machte große Augen.
Der Dovenhof gehört doch mir?
Ja. wenn du hunderttausend Mark für ihn bezahlen kannst. Andernfalls tem
ihr zwei Brüder euch das Kaufgeld, von dem allerdings nach Tilgung der Schulden
nicht viel übrig bleiben wird.
Gräfin Betts Eberstein! meldete das Dienstmädchen, und eine stattliche Dame
mit ausdrucksvollen Gesicht und lebhaften Augen folgte ihr auf dem Fuße.
Guten Tag, Asta, ah. lieber Baron, sind Sie auch einmal hier? Ja, em
Damenkloster ist etwas Angenehmes, das nimmt alle Mühseligen und Beladnen
auf. Asta. deine Palme geht ein! Was hast du mit ihr angefangen?¬
Mit diesen Worten ging die Dame auf eine schlanke Palme zu. deren fächer
artig gewachsene Blätter Astas Schreibtisch beschatteten und ein Schmuck sur das
ganze Zimmer waren.
Sie geht ein! wiederholte sie. Und wenn nicht in diesem Jahre, so doch
im nächsten!
Hoffentlich nicht, entgegnete Asta; ihre Palme war ihr aus Herz gewachsen.
Gräfin Eberstein lachte gleichmütig. Mach doch kein so unglückliches Gesicht,
Asta, rief sie, einmal muß alles vergehn. auch die Palme.
Sie wandte sich in ihrer raschen Art zu Wolf.
Wie gehts Ihnen. Baron? Können Sie schon Briefe bestellen?
In dieser Kunst bin ich noch nicht unterwiesen worden, gnädige Gräfin, er¬
widerte Wolf höflich. Der Briefträgerdtenst wird erst später gelehrt.
Aber er war doch rot geworden und ärgerte sich über Gräfin Eberstein, die
gern andern Menschen etwas Unangenehmes sagte. Er verabschiedete sich ziemlich
eilig von seiner Schwester, die ihm noch nachrief, er möchte bald wiederkommen,
und machte vor Gräfin Eberstein eine steife Verbeugung.
Die Wohnungen der Damen waren alle im ersten Stockwerk des alten Kloster¬
gebäudes; Wolf hatte also eine Treppe htnunterzugehn und war dann bald in dem
Kreuzgang, der sich um den Jnnenhof des Klosters zog. An drei Seiten war
dieser von Mauern eingeschlossen; die vierte Seite des zierlichen Säulenganges
lag frei und gewährte einen Ausblick und Durchgang in den Klostergarten. In¬
mitten des Kreuzgangs lag ein Kirchhof mit alten Steinen und Rosenbüschen.
Weiße und rote Rosen blühten und dufteten hier, rankten ihre Zweige über ver¬
gessene Gräber und beschützten die Vögel, die in ihrem Gewirr nisteten oder tags¬
über darin herumhuschten, wenn sie ihre Nester unter dem efeuumsponnenen Kloster¬
dach hatten, während das Klosterdach selbst meist von einer Schar schneeweißer
Tauben bedeckt war.
In die Mauern des Kreuzgangs waren Bänke eingelassen. Hier setzte sich
Wolf nieder, schaute auf die Rosen des Kirchhofs und durch die offne Säulenreihe
in den grünen Klostergarten hinaus und dachte nach. Wolf Wolffenradt dachte
nicht gern lange nach. Er war meist schnell von Entschluß gewesen und hatte
getan, wozu er Lust hatte; dem spätern Nachdenken war er aus dem Wege ge¬
gangen. Heute aber kamen die Gedanken ungerufen. ^
Gräfin Eberstein kannte er gut von frühern Zeiten her. Sie war eine Jugend¬
freundin seiner Schwester und war ehemals eine verwöhnte Schönheit gewesen, die
sich mancherlei herausgenommen hatte. Die Schönheit war vergangen ihr etwas
unliebenswürdiges Wesen war geblieben. Gegen den schmucken Offizier Wolf
Wolffenradt war sie sehr freundlich gewesen, und er hatte sie wie eine Freundin
behandelt. Nun aber War alles anders geworden. Gerade sie, die einstmals so
gute Bekannte, behandelte ihn von oben herab und sagte ihm, was ihr in den
Sinn kam. Er wäre ihr gern aus dem Wege gegangen; aber gerade ihr mußte
er immer begegnen.
Von der Turmuhr der Klosterkirche tönte der Stundenschlag; Wolf achtete
nicht darauf. In der Stadt hatte er nichts zu tun, und er war nur gegangen,
weil ihn das Benehmen der Gräfin Eberstein geärgert hatte. Er wünschte ihr
Schlechtes. Asta war doch, Gott sei Dank, anders. Sie sprach allerdings von
Ehescheidung, und er hatte es gut genug verstanden, worauf sie zielte.
Ehescheidung! Wolf wandte den Kopf, weil es ihm vorkam, als sagte jemand
hinter ihm dieses Wort. Welcher Gedanke! So etwas gab es nicht. Er liebte
Elisabeth, und er wurde gerührt, wenn er an seine Kinder dachte. Wie es ihnen
wohl gehn mochte, den armen Lieben im heißen Hamburg und in der abscheulichen
Paulinenterrasse? Wolf seufzte, während er in das kühle Grün des Klostergartens
schaute. Es war so gut hier zu sitzen, auf diesem stillen Plätzchen, das schon
manchem Wandrer Ruhe gewährt hatte. Wie schon lebte es sich doch in Gottes
freier Natur, und wie fest hatte Wolf darauf gerechnet, sein eignes Besitztum zu
haben. Nur hunderttausend Mark bedürfte er dazu. Ju frühern Zeiten war ihm
diese Summe wie eine Kleinigkeit vorgekommen. Aber statt der hunderttausend
Mark hatte er sich Schulden aufgehalst und eine blutarme Frau, und der Doven-
hof, das Gut, das ihm bestimmt gewesen war, mußte in andre Hände übergehn.
Wolf erhob sich laugsam, drückte den Hut auf den Kopf und ging durch die
offne Säulenreihe in den Klostergarten und von dort am Torhaus vorüber in das
freie Feld. Denn der Klostergarten hatte noch eine Mauer, die ihn gegen unbe¬
fugte Blicke schützte, und in dem verwitterten Torhaus wohnte ein alter Mann, der
des Nachts die Türen abschloß. Heute saß er schläfrig im Torweg, sog an einer
kalten Pfeife und grüßte den vorübergehenden Herrn mit großer Ehrerbietung.
Wolf achtete nicht auf ihn. Mit großen Schritten ging er über die Laudstmße
dem Städtchen zu. Es war eine freundliche Gegend, besonders im Sommerkleide.
Leichtgewelltes Land, Wiesen und Kornfelder, zwischen denen ein dunkler Wald¬
strich auftauchte. Ju der Ferne hoben Heidehugel ihre rotschimmernden Köpfe und
leuchteten auf im Strahl der untergehenden Sonne.
Wolf Wolffenradt sah weder die Kornfelder noch die rote Pracht in der
Ferne. Er dachte an den alten Besitz seiner Familie, an den Dovenhof. Das Gut
lag ganz hinten in der Provinz, fern von allem Verkehr, und war nicht sehr wert¬
voll; aber es hatte den Wolffenradts seit undenklichen Zeiten gehört, und Wolf
hatte fest erwartet, einmal als Herr ans ihm zu sitzen.
Nur hunderttausend Mark mußte einer der Wolffenradts den andern Ge¬
schwistern auszahlen, dann gehörte er ihm. So lautete die Familienbestimmung,
die so einfach klang und doch nicht so leicht zu erfüllen schien. Denn seit mehreren
Generationen war das Gut verpachtet gewesen, und kein Wolffenradt hatte sich
zur Auszahlung des Geldes bereit gefunden. Sie hatten meist keins gehabt;
außerdem hätte man noch eine ebenso große Summe in das arg vernachlässigte
Gut stecken müssen, ehe es ertragfähig wurde. Wolf hatte sich in den Besitz ver¬
liebt, als er ihn als sechzehnjähriger Kadett kennen gelernt hatte.
Den Dovenhof will ich haben! hatte er zu seinem Bruder Felix gesagt, der
mit ihm dorthin gekommen war.
Sein Bruder hatte gutmütig gelacht. Es wäre nett, wenn du die alte Kutsche
übernehmen könntest, hatte er gesagt. Deine Frau müßte aber mindestens dreimal-
hunderttausend Mark haben.
Unter einer halben Million tue ich es nicht! versicherte der Kadett.
Seit der Zeit waren zwanzig Jahre vergangen, und der Dovenhof wartete
noch auf einen Käufer. Er war nicht wertvoller geworden, kostete mehr, als er
einbrachte, und der Majoratsherr Felix von Wolffenradt nannte ihn einen fressenden
Krebsschaden für seinen ohnehin nicht großen Geldbeutel. Keiner der Wolffenradts
durfte sich beklagen, wenn er ihn verkaufte, und konnte sich freuen, wenn er noch
einige Groschen aus der Verkaufssumme für sich erhielt.
Wolf blieb plötzlich stehn und sah sich um. Er war so schnell gegangen, daß
die roten Dächer des Städtchens schon vor ihm auftauchten, und daß der große
vierkantige Kirchturm wie aus der Erde gewachsen vor ihm stand. Er hatte oben in
seinem Dach kleine eckige Fensterscheiben, die wie Augen aussahen und ihn mit spöttischem
Blick zu betrachten schienen. Zwei Dohlen flogen über Wolf weg und krächzten behag¬
lich. Die Sonne gab ihrem schwarzen Gefieder einen bräunlich-goldnen Schein.
Überall war Geld; nur Wolf hatte keins. Er stand als armer Erdenwurm
auf der staubigen Landstraße und sah alles Begehrenswerte nur von ferne.
Ärgerlich schloß er die Augen. Da sah er plötzlich Frau von Manskas Bild vor
sich. Sie hatte ein ausdrucksvolles Gesicht und schöne Augen. Aber ihr Herz war
das Beste an ihr. Es wurde Wolf plötzlich heiß, er nahm den Hut vom Kopfe
und freute sich über den kühlen Abendwind, der ihn leise umfächelte. Oben über
eben schrien die Dohlen; aber er dachte nicht mehr an sie.
Asta Wolffenradt und Betty Eberstein waren Jugendfreundinnen. Vor fünf¬
undzwanzig Jahren und vielleicht noch vor längerer Zeit hatten sie sich alle Ge¬
heimnisse anvertraut und sich auch versprochen, sich immer lieb zu behalten.
Asta war dabei gewesen, als Betty die Nachricht erhalten hatte, daß der Mann,mit dem sie heimlich verlobt war, der Rittmeister von Hagenau, mit einer Schau¬
spielerin das Weite gesucht und ihr die Treue gebrochen habe, und Betty Eberstein
hatte gewußt, daß Asta eiuen Mann liebte, der sich niemals um sie bekümmert
hatte, und dessen Verlobung mit einem häßlichen und unbedeutenden Mädchen sie
mit äußerer Ruhe tragen mußte.
Aber das waren alte, sehr alte Geschichten. Jahre waren darüber hingegangen,
das Leben hatte die einstmaligen Jugendfreundinnen auseinander geführt, und als
sie sich wieder getroffen hatten, waren sie beide Konventualinnen des adlichen
Damenstifts Wittekind geworden, und von der einstigen warmen Freundschaft war
nichts übrig geblieben als eine kühle, halb befangne Erinnerung. Beide hatten sich
sehr verändert. Aus den lustigen jungen Mädchen waren ältere ernste Damen ge¬
worden. Gräfin Betty galt für rücksichtslos und von großer Tatkraft, wahrend
Asta zwar milder erschien, innerlich aber auch eckig und scharf geworden war.
Gräfin Betty setzte sich in den Lehnstuhl, den Wolf eben verlassen hatte, und
zog ihre Handschuhe durch die Finger.
^Dein Bruder sieht nicht schlecht ans. Asta. Hoffentlich zieht es sich nocy
alles mit ihm zurecht. Wenn die Männer nur nicht immer so dumm yeiraien
wollten'
Asta erwiderte nichts. Wolf hatte ihr früher manche schlaflose Nacht bereitet!
uun war sie gleichgiltiger geworden. Sie tat für ihn. was sie konnte, und wollte
versuchen, ihn von seiner Frau zu trennen. Aber mit Betty vermochte sie nicht
^'
rswaetMgeublick auf Antwort. Als leine erfolgte.
^°
Duwillstssagen. Nun. meinetwegen. Jeder hat sei» Kreuz und jeder
muß wM n w r d„mit fertig wird. Ich habe heute einen Anmeldebrief von
MZitt7^genI echalw.. die mich besuche» will; das .de-
Melitta Hagenau? Asta machte große Augen, und die Gräfin lehnte sich fester
"^
Dianderstdich über den Namen? Ja. Melitta ist die Tochter von Georg,
vou meinem ehemaligen Verlobten. Es ist wirklich eme Wunder lebe Gesuchte;
aber Georg und ich sind niemals ganz auseinander gekommen, trotz seiner Schreck-
lichen Heirat. Er mußte ja damals cibgehn und wurde Kontrolleur an der Grenze;
die Frau, die Schauspielerin, starb nach einigen Jahren. Da hat er sich mir wieder
zugewandt.
Asta war aufmerksam geworden, und die Erinnerung stieg in ihr auf an jene
Stunde, wo Betty ohnmächtig in ihr Zimmer getragen worden war nach dem
Empfang der Nachricht von der Untreue ihres Verlobten. Nun saß die einst ver¬
lassene Braut in behaglicher Gesundheit vor ihr.
Hat er dich um Verzeihung gebeten? fragte Asta.
Gräfin Betty lachte geringschätzig. Gewiß und natürlich. Wenn es nach ihm
gegangen wäre, hätte ich Frau Kontrolleur von Hagenau werden können. Er schrieb
rührende Briefe.
Du wolltest nicht?
Das scharf geschrieen« Gesicht der Gräfin nahm einen kalten Ausdruck an.
Mich wundert, daß du fragst, liebe Asta. Die durch den Tod der Komödiantin
erledigte Stelle in Georg Hagenaus Herzen einzunehmen, dazu kam ich mir denn
doch zu gut vor. Und dann, Frau Grenzkontrolleur!
Hagenau hätte ja etwas andres werden können.
Du meinst Postbote, wie dein Bruder?
Die Gräfin sprach scharf. Nein, Asta; was gewesen ist, kehrt nicht wieder,
das ist eine alte Geschichte. Ich war überhaupt froh, meine Freiheit behalten zu
haben. Der gute Hagenau schien meine veränderte Gesinnung nicht begreifen zu
können; Männer sind ja immer so arrogant. Er schrieb ganz betrübt, daß ich ihn nicht
wollte, und hat mich wiederholt gebeten, ich möchte seine Tochter nicht vergessen.
Lebt Herr von Hagenau noch?
Nein, er ist seit sechs Jahren tot, und Melitta, seine Tochter, belästigt mich
gelegentlich mit ihren Besuchen. Sie hat ihr Examen gemacht und ist Lehrerin
geworden, eigentlich ist sie also wohlversorgt. Sie weiß aber mit ihren Ferien
nichts anzufangen, und es gibt auch Zeiten, wo sie keine Stellung hat. Diese
Zeit ist einmal wieder eingetreten, und da ich mich seit zwei Jahren um ihren
Besuch herumgedrückt habe, so muß ich sie wohl jetzt wieder einmal aufnehmen.
Das junge Mädchen steht ganz allein in der Welt?
Ganz allein, nur ich war, wie du dich vielleicht entsinnst, etwas mit Georg
Hagenau verwandt, und infolgedessen auch natürlich mit seiner Tochter. Jeder¬
mann scheint sich heutzutage mit armen Verwandten herumschlagen zu müssen.
Sie seufzte, stand auf und trat ans Fenster. Da geht unsre Äbtissin. In der
letzten Zeit ist sie sehr krumm geworden.
Will sie wirtlich abgehn? fragte Asta, die sich gleichfalls erhoben hatte und
vorsichtig in den Klostergarten blickte. Dort wanderten Arm in Arm zwei alte,
gebückte Damen. Sie trugen beide schwarze Strohhüte, schwarze Umschlagtücher
und sahen sich ungemein ähnlich. Aber die eine war die Äbtissin des Klosters
Wittekind, Frau von Borkenhagen, und die andre die älteste Stiftsdame, Fräulein
von Werkenttn. Sie waren nicht miteinander verwandt, und die Äbtissin war
zehn Jahre jünger als Fräulein von Werkentin. Wenn sie dennoch den Ein¬
druck von zwei Schwestern machten, so kam es daher, daß das Alter seine gleich¬
machende Hand auf beide gelegt hatte, und daß sie seit Jahren zusammen im
Kloster lebten.
Die Äbtissin wird sehr bald abgehn! erwiderte die Gräfin auf Astas Frage.
Sie sah noch immer deu beiden Damen nach. Dann wandte sie sich plötzlich
ab und setzte sich wieder in den Lehnstuhl.
Wenn eine neue Äbtissin gewählt wird, gibst hoffentlich auch du mir deine
Stimme, liebe Asta! sagte sie mit angenommener Leichtigkeit.
Asta stellte sich neben die Palme, die dem Tode geweiht sein sollte, und strich
über die mattgrünen, glänzenden Blätter. Diese Bitte hatte sie schon längst erwartet.
Sie kannte Betty Ebersteins glühenden Wunsch, Äbtissin zu werden, und sie wußte,
daß die meisten Stiftsdnmen bereit waren, der Gräfin ihre Stimme zu geben.
Die Konventualinnen des Klosters Wittekind erkoren sich selbst ihre Äbtissin,
jede hatte eine Stimme und konnte wählen, wen sie wollte. Die Äbtissin erhielt
den Frauentitel, hatte eine doppelte Stistseinnahme. ein eignes Haus und war
überall die erste; die großen Ländereien des Klosters wurden von ihr regiert.
Weshalb antwortest du nicht? fragte Betty scharf. Asta sah noch immer auf
die Palmenblätter. Sie richtete sich in die Höhe.
Ich Wichte nicht, daß der Abgang der Äbtissin so nahe bevorstünde.
Doch, doch! Die Gräfin sprach ungeduldig. In spätestens einem ^re wird
sie abgehn. Du weißt es, daß ich schon seit geraumer Zeit ihre meisten Geschäfte
besorge und mich ganz in sie eingelebt habe. Auch höre ich. daß Sieglmde
von Treuenfels, ich weiß nicht, ob du sie kennst; ihr Vater war General, und sie
lebt meist in Meran, daß also diese Dame an verschiedne Klosterschwestern ge¬
schrieben hat, weil sie den Ehrgeiz hat, Äbtissin zu werden. Das ist ein lächer¬
licher Gedanke, denn sie kennt die hiesigen Verhältnisse doch nicht.
Ein lächerlicher Gedanke! Asta sprach den Satz zerstreut nach. Es got
manchmal lächerliche Gedanken.
Gräfin Eberstein lachte kurz auf.
Du hast Recht; viele Menschen haben lächerliche Gedanken, aber sie nützen
ihnen nichts. Also nicht wahr, du wirst mich wählen und nicht dieses Fräulein
von Treuenfels? Nun aber muß ich gehn. Weißt du nicht eine Stellung für
Melitta Hngenau? Du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du sie unterbrächtest!
. Gräfin Betty erhob sich und ging zur Tür, dann wandte sie sich plötzlichwieder zurück.
Ich wollte dich «och bitten, Asta — oder vielmehr, ich möchte dich ersuchen,diese Sache mit Georg Hagenau nicht weiter zu erzählen. Zwar weiß ich, daßdu es selbstverständlich nicht tun würdest — Asta hatte eine Bewegung gemacht —,
nein, selbstverständlich; ich möchte es auch nur erwähnen. Solche alten Geschichten
müssen tot sein und vergessen. Es war ja auch nur ein heimliches Verlöbnis,
von dem außer dir kein Mensch mehr eine Ahnung haben kann, aber mich schon
eine könnte mißverstanden werden. Und gerade Mißverständnisse müssen Damen
in unsrer Stellung vermeiden.
Die Gräfin sprach herrisch, wie es ihre Art war, nun ging sie, und Asta
wanderte mit schnellen Schritten im Zimmer hin und her.
Sie hatte es längst geahnt, daß Betty Eberstein Äbtissin werden wollte, aber
so gerade heraus hatte sie es noch nie gesagt. Und mit solcher Bestimmtheit, als
könnte es nicht anders sein, als müßte jede Dame tun, was sie wollte. Wahr¬
scheinlich würde sie ihren Willen durchsetzen. Nach einem Jahre würde sie im
Kloster regieren, und Astr müßte ihr gehorchen wie alle andern Damen. An 1'e
selbst, an Asta Wolffenradt schien kein Mensch zu denken. Niemand, obgleich es
der Traum ihrer Jugend gewesen war. einmal Äbtissin von Wittekind zu werben.
Zwei Freifräuleins Von Wolffenradt hatten im Lauf der Jahrhunderte d'ehe -Wuroe
bekleidet und hatten ihren Posten gut ausgefüllt. Aber an die jetzige Wolffenradt
dachte keine der andern Damen. Betty erhielt die Stellung. Betty. die sah?" " s
Mädchen immer die meisten Tänzer gehabt hatte, der bis auf ihre ung nckucye
Verlobung im Leben eigentlich alles geglückt war. die immer den ersten pa^einnehmen wollen und ihn auch immer bekommen hatte. Asta wurde o zorn g
daß sie die Hände ballte und mit dem Fuß aufstampfte Dann schole ^ M
vor sich selbst und strich über ihre ergrauenden Haare. Aber sie nahm M) vor.
Betty Eberstein ihre Stimme nicht zu geben.
(Fortsetzung folgt)
„Auf abschüssigem Wege" bewegt sich nach Herrn Eugen Richter die Zollpolitik
des Reichs; diese habe auch eine wesentliche Mitschuld am Ausfall der Reichstags¬
wahlen. Den jetzigen Reichskanzler will Herr Richter jedoch exkulpieren, der habe
nicht anders gekonnt. Der eigentlich Schuldige ist — Fürst Bismarck und die von
ihm im Jahre 1876 eingeleitete Wirtschaftspolitik, durch die er an die Stelle der
Selbsthilfe die Staatshilfe gesetzt habe. Von ihm sei der Glaube an die Allmacht
des Staats künstlich groß gezogen worden, er habe die Sonderinteressen aufgestachelt,
nach allen Richtungen Interessenvertretungen begünstigt. „Die besitzenden Klassen
wurden vom Fürsten Bismarck geradezu aufgereizt, Forderungen an den Staat zu
stellen, Liebesgaben in der Steuergesetzgebung zu verlangen, Schutzzölle selbst auf
die notwendigsten Lebensmittel zu heischen. Im Bunde der Landwirte wurde die
Agitation zur Erregung der Unzufriedenheit geradezu organisiert."
Wenn Herr Richter ab und zu den ersten Reichskanzler gepriesen und — freilich
erst um dem Toten — manch gutes Haar gefunden hat, so erachtet er es zur
Herstellung des Gleichgewichts oder der Übereinstimmung mit seiner frühern Hal¬
tung für notwendig, den Fürsten Bismarck vor der Mit- und Nachwelt gelegentlich
wieder schwarz anzustreichen. Er geht, wie wir im vorstehenden gesehen haben,
sogar so weit, dem Fürsten Bismarck den Bund der Landwirte auf das Konto zu
setzen, obwohl dieser nicht dem ersten, sondern dem zweiten Reichskanzler zu verdanken
ist, d. h. aus dem Jahre 1893. drei Jahre nach dem Rücktritt des Fürsten Bis¬
marck, datiert. Der Bund der Landwirte ist ausschließlich ein Produkt der
Caprivischen Handelspolitik, die sich ja der warmen Anerkennung und Unterstützung
des Abgeordneten Richter erfreute. Somit verdanken wir den Bund der Landwirte,
und was uns daran nicht gefällt, zum nicht geringen Teil — Herrn Richter, der
es ja auch heute noch liebt, sich auf Caprivische Aussprüche zu berufen. So zum
Beispiel erst jüngst wieder auf das Wort: „Je weniger Afrika, desto besser."
Nirgend hat dieses Diktum großem Beifall gefunden als in England, wo man
allerdings der Ansicht ist: „Je weniger Afrika Deutschland hat, desto besser — für
Großbritannien." Wollte Deutschland heute seine afrikanischen Besitzungen aufgeben,
England wäre mit Vergnügen bereit, sie ihm abzunehmen.
Den Umschwung in der Zoll- und Handelspolitik hat doch Fürst Bismarck
nicht allein machen können, er hat dazu des Reichstags bedurft, ebenso wie heute
Graf Bülow für Zolltarif und Handelsverträge der Reichstagsmehrheit bedarf.
In dieser Reichstagsmehrheit spielte in der Zeit von 1878 bis 1890 das Zentrum
uuter Windthorsts Führung schon eine recht große Rolle. Das Zentrum ist bet
verschiednen Anlässen: der Ablehnung des Tabakmonopols, der Ablehnung eines
dritten Direktors im Auswärtigen Amt, der Ablehnung des Septennats im
Januar 1888 („keinen Mann und keinen Groschenl") sehr gern mit Herrn Richter
gegangen, der zeitweise direkt als Führer des Zentrums augesehen werden konnte,
wie ja auch andrerseits vom seligen Windthorst in bezug auf die Wiederwahl des
Abgeordneten Richter in Hagen das historische Diktum vorliegt: „Wir dürfen die
Firma nicht erlöschen lassen." Also dieses Herrn Richter so befreundete Zentrum
hat alle Phasen der Bismarckischen Zoll- und Wirtschaftspolitik zustande bringen
helfen! Der leitende Staatsmann, und wäre er noch zehnmal bedeutender, als es
Fürst Bismarck zuweilen sogar nach Ansicht des Herrn Richter war, würde ohne
Mitwirkung des Bundesrath, d. h. der Gesamtheit der verbündeten Regierungen
einerseits, des Reichstags andrerseits, nichts haben zustande bringen können. Ist
die Sache also so verwerflich, so trägt der Reichstag, trägt die Herrn Richter so
befreundete und so wohlwollende Zentrumsfraktion einen wesentlichen Teil der
Schuld; dasselbe Zentrum, ohne das Graf Bülow die so tadelnswerte Zollpolitik
auch heute nicht fortsetzen könnte.
Was die sonstigen Behauptungen Richters über die Anstachlung der Be¬
gehrlichkeiten der Interessentenkreise durch den Fürsten Bismarck anlangt, so über¬
sieht er vollständig den Anteil, der Kaiser Wilhelm dem Ersten an i,euer
großen Wendung unsrer Wirtschaftspolitik persönlich zufällt. Dem Fürsten Bismarck
lag die Tatsache der immer mehr vorschreitender Auspoverung Deutschlands unter
der Herrschaft des Freihandels längst vor Augen. Die von Richter so sehr gerühmte
„Selbsthilfe" fehlte vollständig, aber in seinem Vertrauen zu den Ministern Delbrück
und Camphausen, namentlich zu Delbrück, sagte sich Fürst Bismarck von bereu
System nur langsam los. Das deutsche Getreide blieb unverkäuflich, während
russischer Roggen in Danzig, Königsberg und Stettin in gewaltigen Mengen zu
Mischungen benutzt wurde, die deu Preis tief herabdrückten; ungarisches Holz wurde
auf deutschen Bahnen zu Ausnahmetarisen durch die deutschen Wälder gefahren,
deren Holz unverkäuflich und unverwertbar blieb. Hier waren es nicht die „von
Bismarck aufgestachelter Begehrlichkeiten." sondern es waren die Staatsforstver¬
waltungen, die in ihren Berichten erklärten, so könne die Sache nicht weiter gehn.
Am Rhein und in Schlesien erlosch ein Hochofen nach dem andern; englisches Eisen
kam zu einem Zoll von 50 Pfennigen von Hull nach Königsberg, ebenso hoch belief
sich die Fracht, während die Eisenbahnfracht von Oberschlesien nach Ostpreußen 1.50
bis 2 Mark betrug, und dazu sollte noch der letzte Eisenzoll aufgehoben werden.
Das war der Tropfen, der das freihäudlerische Maß zum Überlaufen brachte. Der
persönliche Anteil Kaiser Wilhelms an dieser Wendung geht aus seinem Gasteiner
Briefe vom 22. Juli 1876 an Bismarck hervor, worin es nach einem Hinweis aufdie offenbare Kalamität in der Eisenindustrie und nach einer pointierter Wendung
gegen Delbrück und Camphausen heißt:
N
„un soll aber vom 1. Januar 1877 an der Eisenimport nach Deutschland
ganz zollfrei stattfinden, während Frankreich eine Prämie auf seine Eisen¬
ausfuhr nach Deutschland einführt! Das sind doch so schlagende Sätze, die nur
die Folge haben können, daß unsre Eisenindustrie auch in ihren letzten Resten
ruiniert werden muß! Ich verlange keineswegs ein Aufgebe« des gepriesenen Frei-
haudelssystems. aber vor Zusammentritt des Reichstags muß ich verlangen, die
Frage nochmals zu ventilieren, »ob das Gesetz wegen der zollfreien Einfuhr des
Eisens vom Auslande nach Deutschland nicht vorläufig aus ein Jahr verschoben
werden muß?« Wenn Sie mit mir übereinstimmen, sehe ich Ihren, Bericht ent¬
gegen, was Sie anordnen werden."
Nicht ohne Einfluß auf die Anschauung des hohen Herr» war eine drastische Zeich-
nung gewesen, die ihm und dem Kronprinzen bei der Anwesenheit in Schlesien durch
den dortigen Oberpräsidenten überreicht worden war. Die Zeichnung veranschaulichte,
wie die oberschlesische Eisenindustrie infolge des hermetischen Abschlusses der russischen
und der österreichischen Grenze verkümmere und auf dem Wege nach Königsberg durch
die Fracht erdrückt werde, während die englischen Dampfer vollbeladen heranschwimmen.
Diese Zeichnung hatte damals auf deu Kaiser einen tiefen Eindruck gemacht, es war
eine lehrreiche Auschauuugstafel „des gepriesenen Freihandelssystems-"
Am 20. Juli 1879 schrieb der Kaiser von der Mairan aus:
.......Vor allem aber muß ich Ihnen nun noch nachträglich Glück wünschen
SU dem Sieg, den Sie im Reichstag erfochten haben! Zu deu vielen Siegen im
Äußern tritt nun zu denen im Innern überhaupt noch dieser ""f dem Fmcmz-
Gebieth. Sie unternahmen es, in ein Wespen-Nest zu stechen, wobei ich Ihnen
aus Überzeugung beitrat, wenn auch mit Bangigkeit, ob der erste Wurf gelingen
würde. Ein ähnlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung ist wohl selten in
s° kurzer Zeit errungen wordeu. und man siehet Sie trafen den Nagel an den
Kopf, und wenn derselbe auch Etwas beim Einschlagen brokelte, so ist doch die
Majorität von 160 Stimmen ein Triumph, der Ihnen manche schwere Stunde
der Vorarbeit und des Kampfes versüßen wird. Das Vaterland wird Sie dafür
segnen — wenn anch nicht die Opposition!"
Es ist dankenswert, daß diese Briefe, namentlich der Gasteiner, in dem
Briefwechsel Bismarcks mit seinem alten Herrn zur Veröffentlichung gelangt sind.
Sie bereichern das historische Bild des fürsorglichen, pflichttreuen Monarchen um
einen äußerst wertvollen Zug seiner hohen Gewissenhaftigkeit. Abgesehen von der
Bedeutung der Sache selbst, bezeugen sie in hervorragender Weise den bedeutsamen
Anteil, den der Kaiser auch in seinem hohen Alter an deu Negieruugsgeschciften nahm.
Was bleibt da von den Anwürfen Richters gegen den toten Reichskanzler
übrig? Man muß sich wirklich wundern, daß das historische Urteil dieses in vielen
Stücken so klugen Mannes nicht gereifter und nicht geklärter geworden ist. Jedoch —
niemand kann über seinen Schatten springen, und es gibt gewisse Dinge, zu denen
n. a. außer Bismarck auch Heer, Flotte und Kolonien gehören, die den Schatten
des Herrn Richter bilden. Über diese kommt er nicht hinüber. Schade! Er hätte
bei seinen Gaben dem Reiche sehr viel nützlicher werden können.
Im „Handelsmuseum" macht
ein Deutschrusse darauf aufmerksam, daß die nordamerikanische Union, die schon
sprungweise in das russische Gebiet eingedrungen sei und mit dem Bau der trans¬
sibirischen Eisenbahnen von Osten heranrücke, der schwerste Konkurrent Rußlands
in Ostnsien werden würde. Diese Ansicht steht in bemerkenswerter Übereinstimmung
mit der Auffassung, die der jetzige russische Kaiser nach der ostasiatischen Reise, die
er als Thronfolger unternommen hatte, bei einem Besuch in Berlin bekundet hat.
Ihm zu Ehren fand größere Tafel im Königlichen Schlosse zu Berlin statt, zu
der auch die Minister geladen waren. Nach der Tafel vertiefte sich der Großfürst-
Thronfolger in ein längeres Gespräch mit dem damaligen Finanzminister von Miquel
über volkswirtschaftliche und Finanzfragen. Der Minister hat sich später mehrfach
mit Anerkennung über die Kenntnisse und das Wissen ausgesprochen, das der
künftige Beherrscher Rußlands auf diesem Gebiete bekundet habe. Der Großfürst
äußerte bei dieser Gelegenheit, die beiden großen künftigen Konkurrenten auf dem
Weltmarkt seien nicht, wie man allgemein anzunehmen pflege, Nußland und Eng¬
land, sondern Rußland und Amerika. Rußland und Amerika seien nicht Länder,
sondern Weltteile mit allen Klimaten und allen Produkten der verschiednen Zonen.
Zwischen ihnen werde demgemäß dereinst der Kampf um die wirtschaftliche Vor¬
herrschaft in Ostasien entbrennen.
Die Ereignisse scheinen dieser vor einem Jahrzehnt geäußerten Ansicht des
jetzigen Zaren durchaus und schnell Recht zu geben. Für uns Deutsche eröffnet
sich damit die Perspektive, daß in jenem großen Riesenwettkampf der Zukunft nicht
mehr Länder und Reiche, sondern nur noch Weltteile mitzusprechen haben werden,
d. h. Staatengebilde, die über die Produkte aller Zonen und Klimate verfügen. In
diesem Sinne ist auch die britische „Reichsidee" zu versteh», die die Gesamtproduktion
Großbritanniens und aller seiner Kolonien in allen Weltteilen einem großen Gednuken
unterordnen und dienstbar machen will. Frankreich hat dieselben Wege eingeschlagen
und nimmt, was ans der Welt noch irgend zu nehmen ist. Augenblicklich verschlingt
es Siam, das einstmals bereit war, seine Arme Deutschland zu öffnen, und Marokko
wird dereinst der Preis eines englisch-französischen Bündnisses sein. Dem „größern
Deutschland" ergeht es dabei wie dem Poeten bei der Verteilung der Erde. Die
Welt ist weggegeben, aber es steht uns frei, in dem Himmel der Wissenschaft und
Lord Curzon
der nun schon seit einer langen Reihe von Jahren Stellvertreter der englischen
Krone im Kaiserreich Indien ist, gilt in seinem Vaterlande als einer der gründ¬
lichsten Kenner aller Indien betreffenden politischen Angelegenheiten. Er hat sich
mit seiner ganzen Autorität gegen jene Clique englisch-russischer Politiker (Lord
Blennerhasset, Mr. Maxse, Tatischtscheff usw.) gewandt, die den Engländern rieten,
Persien freundschaftlich den Russen zu überlassen, weil sie dann an Stelle eines
für Indien bedrohlichen Nachbars einen zufriedner und angenehmen gewinnen
würden. Rußland wünsche in Wahrheit nichts als einen Zugang zu dem warmen
Südmeere. Diesen werde es sich als Freund oder als Feind Englands verschaffen;
er sei ihm eine Lebensfrage, und England habe weder ein Recht noch ein Interesse,
ihn ihm zu verweigern. Nur Deutschland (der schwarze Mann, der immer erscheint.
Wenn jemand, ganz besonders wenn England bange gemacht werden soll) sei der
eigentliche Intrigant gegen das Erscheinen Rußlands am Persischen Golf und wolle
dieses durch die Bagdadbahn verhindern. Die öffentliche Meinung Englands kann
viel vertragen, wenn man ihr Deutschland als Popanz Vorhalt; es fielen darum
nicht bloß die National Review, die Saturday ReView und einige ähnliche Organe,
sondern auch Tageszeitungen ersten Ranges auf den Gedanken hinein. Eine Ver¬
handlung im Unterhause zeigte dann, daß niemand folgen wollte, denn inzwischen
war es klar geworden, daß Lord Curzon den Plan aufs bitterste verurteilte.
Er ist vielmehr der Mann, der seinem Vaterlande mit allem erdenklichen
Nachdruck rät, wegen Persiens nicht die Flinte ins Korn zu werfen und nicht vor
den Russen die Segel zu streichen, sondern die gemachten Fehler offen einzugestehn
und alles aufzubieten, womöglich Englands alten Einfluß in Persien wiederherzu¬
stellen, auf alle Fälle aber zu retten, was noch zu retten sei. Und es sei nochsehr viel gegen die russischen Maßregeln zu schützen. Als der Vizekönig seine
Meinung zu erkennen gegeben hatte, folgte ihm sichtlich die öffentliche MeinungEnglands. J^es Mittel zur Behauptung der Stellung Englands wurde gut¬
geheißen, die anglo-russische Clique wurde still und suchte sich in Vergessenheit
zu bringen.
Die Reise des Vizekönigs mit dem Kriegsschiff Hardinge nach dem Persischen
Meerbusen ist eine ausgcsprochue Demonstration nicht nur für sein politisches
Programm, sondern auch für den englischen Anspruch, das Gewässer des Golfes
und sein ganzes arabisches Ufer zu beherrschen. Einen eigentlichen Hoheitsanspruch
hat England innerhalb des Golfes nur auf die Bahrein-Inseln, die in einer
Bucht auf arabischer Seite liegen, wo die Herrschaft des Sultans von Maskat
endigt, geltend gemacht; sie stehn im amtlichen Verzeichnis der Kolonialbesitzungen Eng¬
lands. Übrigens sind sie nur 600 Quadratkilometer groß. Ihre auf 68000 Menschen
"«gegebne Bevölkerung lebt ganz und gar von der Perlenfischerei, die hier sehr
ertragreich ist. Eine strategische Bedeutung können sie nur als Kohlenstation ge¬
winnen.
Der Anspruch Englands geht aber weiter und ist mit Erfolg durchgeführt
worden. Zunächst hat es sich darauf berufen, daß das Sultanat von Maskat
(Oman) seit Generntionen von ihm Subsidien beziehe, womit Englands Oberhoheit
aufgestellt und anerkannt sei. Das wäre also ein ähnliches Verhältnis wie zu
Afghanistan, dessen Emir gleichfalls hohe Jahrgelder erhält und keuie Vertreter
fremder Regierungen empfangen, ebensowenig einen Gesandten in Simla oder
London unterhalten darf, das jedoch nicht zu den englischen Besitzungen gezahlt
wird. Vor einigen Jahren hatte der Sultan von Maskat Frankreich eine Koy en-
ftation eingeräumt. England sandte sofort ein Kriegsschiff nach Maskat und vesayi
dem Sultan, die Erlaubnis in zwei Stunden zurückzuziehen. widrigenfalls ,eine
übrigens zur Verteidigung ganz ungeeignete Stadt bombardiert werde^ 6e
Sultan fügte sich, und anch Frankreich nahm die Demütigung - ^Faschoda - schwigend hin. Als Lord Curzon jetzt ^ der schmalen Fahr in .
die den Zuqana ;n Maskat bildet, Anker war. kam der Sultan wie ein ab¬
hängiger Kst'an Bord des Kriegsschiffes, das den Vertreter^ seines Snzeräns
gebracht hatte. Es herrschte eitel Freude und Einverständnis.
An Oman schließt sich nordwestwärts die arabische Küste El Haha oder El Hahr,
em sehr trocknes, heißes Flachland, dessen unterseeische Fortsetzung sich so weit ins
Meer hinaus erstreckt, daß kaum Landimgsgelegenheit gegeben ist. An seinem
Nordende liegt jedoch das wichtige Koweit oder Kueit, das als Endpunkt für die
Bagdadbahn in Aussicht genommen war, weil die Häfen des türkischen Wilajets
Basra (Südmesopotamien) zu flach sind. Die Türkei wollte bekanntlich alte Hoheits¬
rechte hier wieder geltend machen, wurde aber durch England, das keine Truppen-
ansschiffungen dulden wollte, daran gehindert. England beansprucht auch hier
Oberhoheit, und es ist niemand da, der dagegen wirksame Einsprache erhöbe.
Die Hauptstütze des englischen Anspruchs liegt in der Tatsache, daß es ein
Jahrhundert lang hier Seepolizei geübt, den Sklavenhandel wie den Seeraub
unterdrückt, den Frieden der kleinen Ufervölker aufrecht erhalten und für Seezeichen
und Leuchttürme gesorgt hat. Die Autorität der Pforte über Arabien ist aller¬
dings überall uur ganz nominell gewesen, auch am Roten Meere dringt sie nicht
ins Innere. Mekka und Medina sind tatsächlich Freistaaten unter Priesterherrschaft.
Auf der persischen Seite hat England gelegentlich Punkte besetzt, jedoch immer
nur ganz vorübergehend. Auch jetzt erhebt es hier sowenig Ansprüche wie in dem
anerkannt türkischen Wilcijet Basra, der Mündung des Schale el Arad. In den
Berichten über Lord Curzons Reise wird betont, daß persische Häfen zwar besucht
worden sind, jedoch nur um dem Vizekönig Gelegenheit zu geben, dem Souverän,
dessen Besitzungen für viele hundert Meilen an Britisch-Jndien grenzen, einen Akt
der Höflichkeit zu erweise».
In der Tat, an irgend welche Ansprüche auf irgend einen Teil Persiens
denkt England nicht; es will dort nur den Russen ein Paroli bieten. Deren Fort¬
schritte spürt England handgreiflich an dem Rückgang seiner Ausfuhr nach Persien,
die indische inbegriffen, während die russische in großem Aufschwung begriffen ist.
Rußland hat es fertig gebracht, in tiefem Frieden den Schah von sich abhängig
zu machen. Es hat ihn gedrängt, den alten schlechten Saumpfad über das Elburs-
gebirge, das sich zwischen die Landeshauptstadt Teheran und das Kaspische Meer
schiebt, durch eine moderne Kunststraße zu ersetzen. Seitdem kommen russische
Waren in großer Menge von Baku mit Dampfschiffen nach dem persischen Hafen
Enseli-Rescht, von wo sie auf der neuen Straße nach Teheran gelangen. Es wird
nicht lange dauern, so wird eine Eisenbahn diesen Verkehr übernehmen, und dann
wird auch in Enseli ein Wellenbrecher nebst Landungskai gebant werden. Dann
werden russische Waren noch wohlfeiler nach Teheran kommen können. Schon jetzt
hat sich in Petroleum, Zucker, groben Baumwollstoffen, Papier, Lichten, mancherlei
Metallwaren usw. ein lebhafter Handel entwickelt. Ebenso ist es im Nordosten des
Landes gegangen. Dort läuft Rußlands transkaspische Eisenbahn an der Nord¬
grenze des Landes entlang; und von Askabad ans geht eine auf Rußlands An¬
dringen hergestellte Kunststraße nach Mesched, der Hauptstadt Khorcisscms. Wo
früher englische und indische Waren die Alleinherrschaft hatten, da sind sie schon
jetzt durch russische in den zweiten Rang hinabgedrückt. Und die unausbleibliche
Eisenbahn wird diesen Umschwung vervollständigen.
Die bekannte finanzielle Hilfe, die Rußland dem Schah erwiesen hat, ist die
Veranlassung gewesen, daß England als Bankier in Persien ausgespielt hat. Diesem
Schachzug hat Rußland im letzten Jahre einen zweiten hinzugefügt, nämlich den
Abschluß eines Handelsvertrags mit Persien, kraft dessen gerade die Waren, die
Rußland liefert, sehr niedrigen Zöllen unterworfen werden. Diesen Schlag hat
England noch nicht auszugleichen vermocht.
Was England unternommen hat, ist zunächst die Eisenbahn von Quella nach
Nuschki an der Südgrenze Afghanistans entlang. Diese Bahn führt über eine
einsame Hochebne von großer Sonnenwärme und winterlichen Schneestürmen. Sie
hat aber°doch schon einen lebhaften Handel hervorgerufen und wird noch viel mehr
leisten, wenn sie bis nach Selstan, einem wohlbewässerten Tieflande an der afghanisch¬
persischen Grenze, weitergeführt ist, was entwender schon im Gange ist oder nahe
bevorsteht. Nußland möchte Seistan von Mesched her erreichen, doch scheint England
ihm hier sicher den Rang abzulaufen. Daher erklärt sich der Zorn der russischen
Presse, als der Bahnbau, der sich doch ganz auf englischem Territorium hält, be¬
gann. Von Erfolg konnte der Zeitungsprotest natürlich nicht sein.
England hat einen günstigen Zeitpunkt getroffen, diese Angelegenheit zu ver¬
folgen. Rußland ist im fernen Osten engagiert und kann nicht gut ein zweites
Eisen in Persien ins Feuer stecken. Es gibt sogar Leute, die der Ansicht sind,
England habe gar nicht die Absicht, die ostasiatische Verwicklung zu einer Entscheidung
zu benahm, sondern von dort aus Rußland Persien, Afghanistan und Indien
gegenüber in Schach zu halten.
Schon die ersten Tage
der neuen Reichstagssession haben gezeigt, daß wie vorauszusehen war, militärische
Angelegenheiten und Vorkommnisse reichen Stoff zu Debatten bieten werden. Den
bis jetzt schon gehaltnen Reden werden bei den einzelnen Positionen noch viele
andre folgen, da besonders die sozialdemokratische Partei die Gelegenheit nicht
vorübergehn lassen wird, auf diese Weise gegen die Armee und namentlich gegen
das Offizierkorps zu agitieren. Wegen dieser öfters wiederkehrenden Verhandlungen
und Redekümpfe sei es einem alten Soldaten, der dreißig Jahre der Armee an¬
gehört hat, erlaubt, an dieser Stelle über das im Vordergrunde stehende Thema
der „Soldatenmißhandlungen" seine Ansichten auszusprechen, die durch vieljährige
Erfahrungen begründet und berechtigt sein dürften.
Daß die planmäßigen Mißhandlungen, wie sie leider öfters zutage getreten
sind, in der allerschärfsten Weise verurteilt und mit den strengsten Strafen belegt
werden müssen, versteht sich von selbst, und alle Kommandostellen, alle Militär¬
gerichte handeln hiernach. In einer Hinsicht wird aber, unsrer Meinung nach,
vielfach zu weit gegangen: man bezeichnet oft als Mißhandlung, was durchaus
keine ist, und was weder vom Vorgesetzten noch vom Untergebnen als solche be¬
trachtet und empfunden wird — es sei denn, man habe schon vor dem Eintritt
zum Militärdienst die jungen Leute aufgestachelt, jedes kräftige oder scharfe
Wort als „Beleidigung," jede Berührung ihrer Person als „Mißhandlung" an¬
zusehen. Solche Klagen erklingen dann im Reichstag oder in den Spalten des
Vorwärts und machen im Lande Eindruck, aber sie entsprechen in keiner Weise
dem wirklichen Leben und dem praktischen Militärdienst. Herr Bebel oder einer
seiner verehrten Genossen sollten nur erst einmal eine Rekrutenabteilnng ausbilden,
und dann wollten wir sie fragen, wie oft sie die Geduld verloren haben, wie oft
ihnen ein Schimpfwort oder ein Fluch entfahren ist, wie oft sie einen dummen oder
faulen Rekruten angefaßt haben, um ihm den erteilten Befehl verständlich zu
macheu. Wir, die wir seit einer Reihe von Jahren verabschiedet sind, haben es gar
nicht für möglich gehalten, daß man heutzutage dem Vorgesetzten jedes Schimpfwort
und jede Hilfeleistung verbieten wolle; aber nach dem, was wir in der letzten Zeit
gehört und gelesen haben, scheint es wirklich so zu sein. Es hat sich ja in der letzten
kriegsgerichtlichen Verhandlung über den Unteroffizier Breitenbach der Leutnant
von Hellermann förmlich gegen den Vorwurf verteidigen müssen, daß er bei der
Ausbildung der Rekruten die Leute ab und zu angefaßt habe! Da hört eigent¬
lich alles ans! Wie soll zum Beispiel einem Rekruten das Reiten oder das Turnen
beigebracht werden, wenn es dem Lehrer verboten ist, den Mann dabei anzufassen?
Der junge Mann müßte dankbar sein, wenn ihm in dieser Weise geholfen wird;
auch im Zivilverhältnisse wird kein Reit- und kein Turnlehrer ohne solche Hilfen
auskommen können. Man wird uns hierauf vielleicht erwidern, daß es keinem
Soldaten einfallen werde, sich über solche Hilfen zu beschweren, im Falle Heller¬
mann scheint es aber doch geschehen zu sein. Ebenso scheint mit den sogenannten
Beleidigungen ein arger Unfug getrieben zu werden. Welchem jungen Mann in
irgend einem bürgerlichen Berufe wird es als eine Sühne erheischende Beleidigung
erscheinen, wenn ihn sein Dienstherr einmal bei einer Dummheit oder Nachlässig-
keit im überwallenden Ärger einen „Esel" nennt! Im Militärdienst aber, wo es
sich nicht um ein oder zwei zu erziehende junge Leute handelt, sondern um starke,
aus den verschiedensten Gesellschaften zusammengesetzte Rekrutenabteilungen, da soll
ein in der Hitze des Gefechts fallendes Kraftwort als Beleidigung gelten, die nicht
nur eine Beschwerde zuläßt, sondern sogar erheischt! Jede planmäßig fortgesetzte
Mißhandlung von Soldaten, wie sie, leider Gottes, mehrfach vorgekommen ist, soll
selbstverständlich mit der äußersten Strenge bestraft werden, und die direkten Vor¬
gesetzten, namentlich der Kompagnie- oder der Eskadronchef, sollen unbedingt dafür
zur Verantwortung gezogen werden. Kein Mittel soll unbenutzt bleiben, solche
Roheiten aus der Armee zu verbannen, und wenn der Kriegsminister sagt: „Ich
bin überzeugt, daß wir diese Mißhandlungen aus der Armee herausbekommen
werden und müssen," so kann man überzeugt sein, daß es an dem nötigen Ernste
hierzu nicht fehlen wird; aber man soll einen großen Unterschied machen zwischen Mi߬
handlung und einer in der Erregung einmal vorgekommnen „nicht vorschriftmäßigcn
Behandlung."
Desgleichen müssen wir uns gegen die auch von hoher militärischer Seite
verlangte Ausdehnung des Beschwerderechts zur Beschwerdepflicht wenden. Der
Soldat muß und soll das Recht der Beschwerde haben, wenn er fortgesetzten plan¬
mäßigen Mißhandlungen — zu denen wir auch wiederholte ungerechtfertigte Be¬
schimpfungen rechnen — ausgesetzt ist; er muß aber wissen, daß sich jede unbe¬
rechtigte Beschwerde gegen ihn selbst kehrt. Es darf unter keiner Bedingung
dahin kommen, daß dem Soldaten, überhaupt dem Untergebnen, die Kritik über
seinen Vorgesetzte» zusteht, und daß demnach dieser jenem mehr oder weniger auf
Gnade oder Ungnade überliefert ist, denn das wäre der Untergang jeder Dis¬
ziplin. Man denke sich einmal die Lage des Nekrntenunteroffiziers oder des die
Aufsicht führenden Offiziers, wenn sie jeden Abend vor der Frage stünden: Wird
sich wohl heute ein Rekrut über dich beschweren? Hast du nicht vielleicht, als du
dem N. N. das Gewehr richtig auf die Schulter legtest zu fest zugegriffen? usw.
Man muß mir berücksichtige», daß wen» auch die Beschwerde vielleicht ergebnislos
verläuft, es dennoch einen Makel auf den Unteroffizier wirft — wenigstens in
vieler Augen —, wenn es heißt, daß er wegen Svldatenmißhandlung in Unter¬
suchung gewesen sei.
Wir können nicht umhin, bei der Behandlung dieser Verhältnisse unsre feste
Überzeugung auszusprechen, daß all diese sittliche Empörung gegen „unVorschrift-
mäßige Behandlung der Soldaten" — wir sprechen nicht von den scheußliche»
planmäßigen Mißhandlungen —, der man in sozialdemokratischen und in freisinnig¬
demokratischen Blättern begegnet, und der auf der Tribüne des Reichstags Aus¬
druck gegeben wird, zum großen Teil ihren Grund in der Feindschaft gegen das
feste Gefüge der stehenden Armee, gegen die Disziplin, gegen das Subordinations-
verhültnis findet, und daß namentlich die sozialdemokratische Partei die Besprechung
dieser Ausschreitungen als ein vorzügliches Mittel zur Agitation und zur Unter¬
grabung der militärischen Disziplin betrachtet. Wäre das nicht der Fall, sonder»
wären es nur edle Motive, die hier maßgebend wären, so würden der Partei doch
»och andre Verhältnisse denselben oder noch stärkern Anlaß zur Kritik biete». Wir
verweisen uur auf die Schule. Warum wird von den Sozialdemokraten nicht
ebenso energisch gegen die körperliche Züchtigung und gegen Mißhandlungen in
der Schule Front gemacht? Das Schulkind, das vom sechsten bis zum vierzehnten
Lebensjahre den: Lehrer überlassen ist — weit verteidigungsloscr als der Soldat
dem Vorgesetzten gegenüber —, und das nicht nur körperlich sondern anch moralisch,
lebenslängliche» Schaden durch falsche, rohe Behandlung leidet oder leiden kann,
das bedürfte des Schutzes weit mehr als der junge, gesunde, kräftige Mann, dem
zudem die Möglichkeit der Beschwerdeführnug viel näher liegt als dem Kinde.
Wir wisse» sehr wohl, daß unser Lehrerstand so hoch steht und so gewissenhaft ist,
daß rohe oder gar grausame Behandlung der Kinder zu den größten Ausnahmen
gehört, aber Ausnahmen sind die Soldatenmißhandlungen auch. In beiden Fällen
kommen Roheiten eben vor, nur mit dem Unterschiede, daß es sich beim Kinde
auch um die Seele, nicht nur um den Körper handelt. Noch ganz kürzlich haben
wir aus Elberfeld gelesen, daß ein Realschuloberlehrer und Professor wegen fort¬
gesetzter Planmäßiger Mißhandlung eines Quintaners (!), der infolgedessen unter
Qualen gestorben ist, zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden
ist. Es wurde ausdrücklich bemerkt, daß es seine Gewohnheit gewesen sei, die
Kinder in dieser Weise zu mißhandeln. Ist das nicht geradezu haarsträubend?
Ist das nicht tausendmal schlimmer und verwerflicher als die schlechte Behandlung
eines Rekruten? Wir entsinnen uns aber nicht, in einem sozialdemokratischen oder
freisinnigen Blatte einen Ruf der Empörung gelesen zu haben, und wir glauben
nicht, daß Bebel im Reichstage den Kultusminister hierüber interpellieren und eine
Abä
Wir erhalten folgende
Zuschrift: Der fein gegliederten und eindringenden Darstellung im ersten Dezember¬
heft der Grenzboten ließe sich kaum uoch etwas beifügen. Sie ist so abgerundet
und so überzeugend, daß man auf ihren vollen Erfolg bauen möchte, um so mehr,
als in den leitenden Kreisen, wie es scheint, der Wille herrscht, durch alle Hinder¬
nisse durchzugreifen.
Persönlich darf ich wohl ein Wort zur Erklärung der Sachlage anmerken,
die mich augenblicklich an der freien Entfaltung meiner Arbeitskraft hindert. Nach
wie vor halte ich die Stellung des akademischen Lehrers, wie ich sie in Heidelberg
inne hatte, für die glücklichste Vorbedingung erfolgreicher Arbeit am Wörterbuche.
Mir aber war es nicht länger möglich, die Opfer zu bringen, die dazu nötig
waren, diese Stellung zu behaupten, und auch die langjährigen Bemühungen der
für das Wörterbuch zuständigen Kreise haben zu anderweitigem Ersatz nicht geführt.
Darum mußte ich die Möglichkeit, meine Kräfte — wenn auch in anderm Rahmen —
nutzbar zu verwerten, mit aufrichtigem Danke begrüßen.
^InxoisLN
?n§eratenimni»Ime üurcst Sie Kxpeclition Ser Srensboten, ceipxig
-» preis liir alle no»eigespsllne Nonpsreilleüeile I Mark, llmschlagseilen erhöhte preise »-
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in r allo MiUtitr- uns Svltnlvxaw!»» mit do»tom ?sllAoo»t. Stets
I»«gtv IZrtvl^- I^se« IZinpteKlniixvn. I'rosziett unä ^u»Kuickt
^ - Äruvlr alio ligjtuvA. ^
LanüwittscdaMiche Keamten Schule
— franktu^t s.O.» ?ngev 7. —
grünäl. ^lusbiläung ^um (lerwslter, ^echnungstührer,
NmtsseKret-ir etc. eintritt jenen Monat. Stellung
nach Ausbiläung u>ira Kostenfrei nachgewiesen. Leds¬
plan uncl Auskunft frei. W. Paul. Direktor.
ZWLm^ sMwrdeilMLwIt
,/U ' Xlrssvl. ----
iokö ^oitunA un<Z^oror.LvNMkr's?6M0ii u. Lrmdun^itust. k.Lliiiäs
Sa^inter sswst orditilSst. vio Solialv »tut,t unter s^tUod«'
^ni»loin. Si>->ni<!rA. i. lünüi. u. ^I,Zij;. vmMxvnä, ?rot.
u. I-!>et. Kiioliv am pro. NllssiM Li-üinxunxon. IZrstv
ti>ro»i-
.>>n. ?r»»i,öl<w se«Il^^ ü»r V-'i'wßunj;.
I!«r!s«<Il»ri' In>i »»n,I>n,x, firove^s «»i-ton 7»
SüeKfüKi-uns i?o^7^
^ o. ttKCki^el.. Löi-In-.
flauer ^ananenbabne
feinste Sänger in allen Preislagen
M. Vineffel. KottbU5. Kan.^üchterei.
AWge Ariefmarken. ^Preisliste sen-Je« grüti»
in» Msrve»
»reinen. ------
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Schnelle miet sicherte Vorbereitung sür alle
einMr.°. Primaner-. ?aftmicft°. Abitur.-
Prüfung, veste Krlolge. Oorüügl. Pension. Das. prosp.
Ar. Scdaumburg.Serur W. I)0te! »Her I^aisechoS^ «
nimmer von Z,S0 MK. ->». Nudlgsle >>. vornehmste tage Kerlln»»
^ ?I r ^» « « >»°"!>' u»a iiicinaiitsvesit-ier i«
^l. ^i. I^I«»», I^Laesfteim i>. «„. -----
empiiehU seine aus eignen Weinbergen gezogenen Acme!
^ prämiier, «Jtem u»-I I>I,i><>aelpI,l!,.
K-Sucher von um-ieskeim hin-l ?.ur öcsichligung -1er Xeiicreie»
KöNichsI cingelz-Jm.
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i^^^^»>me der größten sozialpolitischen Leistungen des Deutschtums ist
das Vereinswesen. Ob die einzelnen Bildungen Kumpanei oder
Zunft, Innung oder Bund, Genossenschaft oder freie Vereinigung
heißen, ist gleichgiltig; es ist immer dasselbe Ding, immer das
l frei gewollte Zusammenschließen gesellschaftlich Znsammengehöriger.
Zum Deutschtum gehört das Vereinswesen wie die Frucht zum Baume. Bei
keinem andern Volke findet es sich in ähnlicher Weise. Was an scheinbar
Ähnlichem hier oder da, in der Vorzeit, im Mittelalter oder in der Neuzeit vor-
kommt, deutsches Vereinswesen ist es nicht. In ihm gerade hat das Deutschtum
für die kommende Entwicklung des Weltlebens ein gewaltiges Werkzeug, seine
Weltstellung zu behaupte» und weiter auszubauen. Über sein Vereinswesen
muß es deshalb mit Argnscmge» wachen. Am wenigsten darf es dulden, daß
das Vereinswesen etwa gar zu seinem eignen Schaden mißbraucht werde.
In den letzten Jahrzehnten sind, nachdem kurz nach Friedrich Wilhelms des
Vierten Regierungsantritt der Marcinkowskivercin gegründet worden war, „pol¬
nische" Vereine in Unzahl entstanden. Der Begriff „polnischer Verein" ist ein
Widerspruch in sich selbst; denn das Gebilde, das er darstellt, ist dem Wesen
nach deutsch. Es hat allerdings während der Zeit der Jagellonen in Polen
Einrichtungen gegeben, die Verbindungen bestimmter Personenkreise zu bestimmten
Zwecken waren, die „Konföderationen." Sie mit den heutigen „polnischen"
Vereinen zu vergleichen, geht nicht an. Die erste Konföderation wurde vou
Manko Borkowiez im Jahre 1352 geschaffen; sie wurde zum Schutze der adlichen
Sonderrechte gegen Kasimirs Statuten von 1347 gegründet. Sie ist offenbar
nach deutschem Muster gebildet worden; denn sie steht zeitlich und inhaltlich
im Zusammenhang mit dem brandenburgischen Stündebuude von Alt-Berlin
aus dem Jahre 1345. Das Muster war nicht glücklich gewählt. Der Bund
war schon eine Entartung des deutschen Vereinswesens, gegen dessen schlimme
Erscheinungen Kaiser Karl der Vierte in der Goldner Bulle mit einem Erlaß
wider „die verabscheuungswürdigen und durch göttliches Gesetz verbotenen Ver¬
schwörungen und Bündnisse in den Städten und der Städte untereinander" vor-
zngehn für nötig hielt, und dessen Auswuchs in der Mark mit allen Kräften
niederzuschlagen gleich die ersten brandenburgischen Hohenzollern für ihre haupt¬
sächlichste Pflicht hielten. In Polen geschah das Entgegengesetzte. Das Muster
wurde hier nach seiner schlimmen Seite hin entwickelt.
Der polnische Hochadel benutzte zunächst im Jahre 1413 die schwache
Stellung des zum polnischen König erwählten litauischen Großfürsten Jagiello:
er ließ sich im sogenannten „Parlament" von Hrodlo das verfassungsrechtliche
Privileg erteilen, in Ludim oder in Parczow oder in andern geeigneten Orten,
so oft es nötig wäre, unter der Zustimmung des Königs Konvente abzuhalten.
Infolgedessen nahmen die Adelskonvente, die MM (Zusammenritte), immer mehr
an Einfluß zu; sie bemächtigten sich der Regierungsangelegenheiten dermaßen,
daß diese nach ihren Beschlüssen erledigt wurden. Die von Jagiello zur Sicherung
der Nachfolge seines Sohnes gebilligte Konstitution von Jedlno 1433 bestätigte
an erster Stelle das Konventsprivileg des Adels. Das bedeutete nach dem,
was auf der vorhergehenden 2M2al geschehen war, die Anerkennung der Adels¬
konföderation als der entscheidenden Macht im öffentlichen Leben Polens.
Bald genug bekam das Königtum das zu fühlen. Die Übermacht der
hochadlichen Konföderationen nahm ihm den Atem. Nach dem Sinn und
dem Wortlaut der Gesetze konnte es konstitutionell dagegen nicht ankämpfen.
Deshalb versuchte es, sich auf einem Umwege Luft zu schaffen. Es ließ von
dem niedern Adel, der Schlacht», Bevollmächtigte wählen, mit denen es als
„Landboten" für die von diesen vertretenen Landschaften in Einzellandtagen
beriet und beschloß, vivicls se imxörii.
Im Jahre 1468 berief Kasimir, der zweite Sohn und zweite Nachfolger
Jagiellos, die Boten aller einzelnen Landschaften zu einer gemeinsamen Ver¬
sammlung nach Petrikau zur ii-da xose-ista oder Landbotenstube. Der Erfolg,
den das Königtum von diesem Schachzuge erhoffte, nämlich eine Rückendeckung
gegen den Hochadel im Reichstage zu gewinnen, trat nicht ein. Die beiden
Adelsgruppen verständigten sich miteinander. Sie hatten viel mehr gemein¬
schaftliche Interessen miteinander als die eine oder die andre von ihnen mit
dem Könige. Sobald sie einander nahegebracht waren, vereinigten sie sich.
Wie sich das im einzelnen abgespielt hat, kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
Hier muß die Feststellung genügen, daß binnen kurzem die Schlachta die ent¬
scheidende Gewalt im Staate gewann. Das ist eine Entwicklung, die zu der sonstigen
Geschichte Europas im Osten oder im Westen im Gegensatze steht, denn überall
sonst hat die Fürstenmacht gesiegt. Begünstigt wurde in Polen diese Entwick¬
lung offenbar durch das freie Konvents- und Konföderationsrecht des Adels.
Nach ihm durfte außer den Magnaten und den Landboten jeder polnische
Adliche auf den Versammlungen in der Landbotenstube erscheinen. Von diesem
ihrem staatlichen Rechte machte die Schlacht« im weitesten Umfange Gebrauch.
Bei allen Versammlungen stellte sie sich zahlreich ein. Unter dem Einflüsse
dieses oft mit seinen Säbeln drohenden Chores mußten die Entscheidungen im
Reichstag und in der Landbotenstube getroffen werden. Ein Gegenstück dazu
bieten nur die Pariser wsurrevtiovs zur Zeit Dantons und Robespierres, mit
ihrem Einmarsch der Pikenmänner und Trikoteusen in den Konventsaal.
Was bei solchem Verfahren kommen muß, kam auch in Polen und bei
dein Wahnwitz der treibenden Kräfte in toller Überstürzung. Schon auf dein
Petrikauer Reichstag von 1496 wurde das Siegel auf die Entwicklung gedrückt.
Dort sah sich König Johann Albrecht, der Sohn und Nachfolger des oben
genannten Kasimir, gezwungen, außer vielen andern Adelsprivilegien den Land¬
tagen, d. h. dem niedern Adel, das Recht der Wahl ihrer Reichstagsboten ein¬
zuräumen, sowie für die Krone die Verpflichtung zu übernehmen, kriegerische
Unternehmungen erst dann zu beginnen, wenn sie dazu die Erlaubnis der Einzel¬
landtage erhalten hätte. Das war die bedingungslose Unterwerfung der Krone
unter das Belieben der Schlachta.
Als richtiger Hexensabbat erscheint diese erzpolnische Staatsleistung übrigens
erst, wenn man den Inhalt ihrer Verfassungsschale näher betrachtet. Hier einiges
davon: Der Adel entzog sich jeder Verpflichtung zu öffentlichen Lasten, entzog
sich sogar, während alle andre polnische Halmfrucht zollpflichtig war, der Zahlung
des Auslandszolls für sein Getreide. Er sicherte sich allein das Recht, Staatsämter
zu bekleiden. Von der nichtadlichen Bevölkerung wurde die Landbevölkerung
gänzlich schollenpslichtig gemacht. Es wurde Gesetz, daß von den Söhnen eines
Bauern nie mehr als einer zur Erlernung der Wissenschaft oder eines Hand¬
werks in die Stadt ziehn, ja daß seit 1511 überhaupt kein Bauernkind mehr in
die Schule gehn oder ein Handwerk lernen durste, weil das für pariim s-s^nun
se libsrtM soniinuni sontiÄrluiQ erklärt wurde. Kneten durfte von Städtern
kein Kredit gewährt werden. Alle Dörfer landauf landab hatten ungemessene
Fromm zu leisten. Dem Bürgerstande war der Eintritt in geistliche Würden
verboten, ausgenommen die an den akademischen Doktorgrad gebundnen. Städter
waren überall vom Erwerb ländlichen Grund und Bodens ausgeschlossen. Dieser
Besitz wurde zu einem eidlichen Privileg gemacht. Die praktische Anwendung
der ihm verfassungsmäßig zustehenden Machtbefugnisse durch den polnischen
Adel war nichts andres als die öffentlich-rechtlich geregelte Ausbeutung des
Staats durch eine eng begrenzte Anzahl seiner Angehörigen zu deren Privat¬
vorteil. Ausbeutung des Staats durch eine Kaste nun ist auch in andern Ländern
vorgekommen. Im Altertum findet sich jedoch kaum ein Analogon, im Mittelalter
und in der Neuzeit keins zu dieser polnischen Politik; denn sie gab einer im
Verhältnisse zu der großen Masse des Volks geradezu verschwindenden kleinen
Volksgruppe alle Borrechte, und noch dazu einer solchen, die gar nicht imstande
war, mit ihren Kräften den Staat zu halten. Es war geradezu politische Tollheit,
was in Polen geschah. Verursacht aber und begünstigt, und das ist der Kern-
Punkt dieser Erörterung, wurde diese ganze staatliche Entwicklung Polens durch
das Konföderationswesen.
Gegen den letzten Satz zetern die Polen heftig. Mit dieser Feststellung
wird ihren politischen Fähigkeiten ja auch das Todesurteil gesprochen. So sei
ihnen ein Denkspruch aus einem von ihnen mit Inbrunst angebeteten Liebhaber
ihrer Rasse ins Stammbuch geschrieben, der genau dasselbe sagt. In Rousseaus
Voll8iäÄÄti.olls sur 1s AouvsrnsrQsiir as ?o1ossns heißt es in dem vausss xartisn-
liörss as l/snarsKis überschriebnen Kapitel IX: 8an8 Iss sorcköäsi-atjons, 11 ^
a lon^epops aus 1a rsMl>Il<las as ?o1c>MS us soroit plus, ... Igg gon-
k6ä6rs,livres sont 1s bonolisr, 1'gsilv, 1s ssnowsirs as volle sonstiwtion. Hütte
Rousseau eine Ahnung davon geballt, welcher Wurzel die Konföderationen ent¬
stammten, hätte er in ihnen auch nur eine Spur davon gefunden, daß sie ur¬
sprünglich Vereinigungen zur Wahrung der ihm verhaßten iuterst.L xÄrtioulisrs
gewesen waren, so hätte sein Urteil über sie anders gelautet. Nun, das ist
sein Mißgeschick, und ein Deutscher hat keine Ursache, dem Irrtum des bis in
die Knochen deutschfeindlichen Genfers ein Mäntelchen umzuhängen. Im Gegen¬
teil, sein Ausspruch sei hier gerade an die Glocke gehängt. Er beweist, daß in
dem Kvnföderativnswesen, wenn der scharfsinnige Rousseau darin nur eine poli¬
tische Einrichtung sah und keinen andern Zug darin entdecken konnte, nichts
mehr von seiner ursprünglichen Art vorhanden war. Statt zu seelisch oder
sachlich begründeten Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Interessengruppen, statt
zu Vereinigungen deutscher Art war es zu einer rein staatlichen und rein politisch
ausgenutzten Einrichtung geworden.
Wahres Vereinsleben haben die Polen nie gehabt, sie konnten es auch
ihrer ganzen Natur nach nie entwickeln.
Wenn heute die polnischen Bestrebungen, besonders das Ringen um Ge¬
winn für das Polentum auf wirtschaftlichem und auf gesellschaftlichen Gebiet
in Vereinsbahnen deutscher Gestalt dahinfließen, und zwar mit immer größerer
Beteiligung des Bürger- und des Bauernstands und mit Zurückdrängung des
Adels, so ist das ein Vorgang, den sich der Deutsche sehr genau anschauen sollte.
Niemand unter uns kann heute noch verkennen, daß der polnische Schaden,
der am schlimmsten an Preußens Marke frißt, in den polnischen Vereinen
steckt. Dort breitet sich das Gift der Deutschfeindschaft aus, dort hat es schon
so gefährlich um sich gegriffen, daß es für uns die höchste Zeit ist, rücksichtslos
gegen das Unwesen vvrzugehn.
Der polnische Verein, der als der für das Deutschtum schädlichste bezeichnet
werden muß, ist der Marcinkowskiverein. Er ist 1841, im Anfange der Re¬
gierung Friedrich Wilhelms des Vierten, von Marcinkowski gegründet worden.
Sein Ziel ist, die polnische Jugend unter Benutzung der vom preußischen
Staate gcbotnen Gelegenheiten zum wirtschaftlichen Ringen mit dem Deutsch¬
tum zu erziehen und technisch tüchtig zu machen. Zu dem Zweck unterstützt
er unbemittelte aber genügend begabte junge Polen mit Geldmitteln, sodaß sie
studieren oder ein Handwerk erlernen können; dagegen müssen sie sich ver¬
pflichten, auf Lebenszeit dem Verein als Mitglieder anzugehören, für die
polnischen Interessen zu wirken, immer im Umkreise des ehemaligen Königreichs
Polen zu bleiben, sich einander wirtschaftlich zu fördern, dem Verein unablässig
neue Mitglieder zu werben und die ihnen gewordnen Unterstützungen dem Vereine
baldigst mit Zinsen zurückzuzahlen. Das früher bescheidne Vereinsvermögen ist
in dem halben Jahrhundert seines Vestehns stark gewachsen. Seine Wirksam¬
keit muß heute auch von den Deutschen als sehr bedeutend anerkannt werden.
Der Etat des Vereins von 1902 enthält folgende Angaben: An Kapitalien verfügte
der Verein über den eisernen Fonds von 750572 Mark, den eisernen Fonds unter
Vorbehalt der Zinsen von 89475 Mark, Legate von 56975 Mark, den
Jubiläumsfonds von 7500 Mark, den Sibilskifonds von 6000 Mark, den
Szanieckafonds von 2500 Mark, den Fonds der zurückgezahlten Stipendien von
2000 Mark und den Dispositionsfonds von 20232 Mark, zusammen fast
eine Million. Seine Einnahme betrug an ordentlichen Beiträgen 29315 Mark,
an außerordentlichen 8624 Mark, an zurückgezahlten Stipendien 7009 Mark,
an Zinsen 36672 Mark, an Gewinn aus Effekten 1046 Mark, an Überschuß
aus dem Dispositionsfonds von 1901 noch 16591 Mark, zusammen mehr als
100000 Mark. Ausgegeben hat er als Stipendien an Studenten 21845 Mark,
an Techniker 24045 Mark und an Gymnasiasten 21851 Mark, zusammen
etwa 68000 Mark. Er hatte 4722 zahlende Mitglieder und 449 Stipendiaten.
Das sind Zahlen, die eine beredte Sprache führen. Schon an sich sind
sie beachtenswert. Wird noch berücksichtigt, daß der Verein seit mehr als sechs
Jahrzehnten eifrig am Werke ist, daß durch seine Tätigkeit Tausende von unter¬
richteten und geschwornen Anhängern für die großpolnischen Ideen gewonnen
worden sind, die in w^orsm ?olouig.6 Flormm wühlen und wirken, so muß der
Verein als eine sehr bedenkliche Wucherung am deutschen Reichskörper erscheinen.
Möge sich das Deutschtum dem Marcinkowskivereine gegenüber nicht etwa auf
deu Standpunkt der Humanität stellen, nicht etwa denken, es dürfe diesen auf
Bildung gerichteten Bestrebungen nicht entgegentreten. Das wäre schlimme
Politische Kurzsichtigkeit. Allerdings hat der Marcinkowskiverein im Jahre 1846
Mieroslawskis Bitte um Unterstützung seiner revolutionären Umtriebe abgelehnt.
Das geschah nicht aus Liebe und Güte gegen das Preußentum. Der Verein
traute dem Ausgange des Aufruhrs nicht. Deshalb wollte er seine Zukunft
nicht bei ihm aufs Spiel setzen. Ein besserer Beweis für die Schlauheit seiner
Leitung ist nicht möglich. Mieroslawskis Unternehmen ist schnell von Preußen
niedergeschlagen worden. Der Verein hat ein Stück Arbeit geliefert, mit dem
Preußen heute noch nicht fertig zu werden weiß.
Er arbeitet angeblich nur für unpolitisch wirtschaftliche Zwecke; aber das
wirkliche Ziel ist die Züchtung eines politisch verbissenen Polentums. Dafür
wirken, ist das Leidwort des Vereins, wirken auf jede Weise. Deshalb befaßt
er sich auch mit der seinem allein zugestcmdnen Zweck völlig fernliegenden
Stellenvermittlung. Was das bedeuten will, dafür möge ein kurzer Aus¬
schnitt aus der Denkschrift sprechen, die vor kurzem aus oberschlesischen
Kreisen dem preußischen Ministerium übergeben worden ist. Es heißt dort
wörtlich: „Hand in Hand mit dem Boykott deutscher Ärzte, Rechtsanwülte,
Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten usw. durch die oberschlesische polnische Presse
geht die stete Einwanderung polnischer Elemente derselben Kategorien, denen
die eingebornen Führer des Großpolentnms die Wege ebnen. Es gibt jetzt in
Oberschlesien einunddreißig polnische Ärzte und Zahnärzte, siebzehn polnische
Apotheker und Drognisten (in Beuthen sind innerhalb eines halben Jahres zwei
deutsche Drognengeschüfte in polnische Hände übergegangen) und sechs polnische
Rechtsanwälte. Dazu kommt an jedem größern Ort des Jndustriebezirks die
große Schar polnischer Kaufleute, Handwerker, Kolporteure, Bauunternehmer
und Arbeiter, welche meist aus Posen und Westpreußen eingewandert sind. Es
darf hierbei auch nicht vergessen werden, daß deutsche Bergarbeiter ober-
schlesischer Geburt und polnischer, d. h. wasserpolnischer Zunge, die im rheinisch¬
westfälischen Grubenbezirk arbeiteten, dort von den Nationalpolen mit offnen
Armen empfangen, in den polnischen Vereinen »bekehrt« wurden und so als
straffe Nationalpolen in die oberschlesische Heimat zurückkehrten. Die Ärzte,
Rechtsanwälte und Apotheker sind wohl alle Stipendiaten des Marcinkowski-
vereins, der ihre Ausbildung bestreitet und ihnen Stellen vermittelt, schließen
sich gesellschaftlich völlig vom Deutschtum ab und stehn in engster Verbindung mit
den großpolnischen Zentren in Galizien. Sie wirken meist im geheimen, wobei
ihr agitatorisches Walten nur noch durch die Eleganz, mit der sie es nach außen
hin zu verstecken wissen, übertroffen wird. Soweit bekannt ist, wird ihnen von
der Zentralleitung der polnischen Propaganda ein gewisses reichliches Ein¬
kommen garantiert, Rechtsanwülten ein Bureau bezahlt usw. Ihre materiell
außerordentlich günstige Lage bekunden sie durch reiche Zuwendungen für den
Marcinkowskiverein. Die Apotheker und Droguisten, sowie Kaufleute aller Art
beschäftigen am liebsten auch nur Angestellte polnischer Nationalität und dulden
in ihren Geschäften nur die polnische Sprache. Die Verwaltungen der großen
Werke (Gruben oder Hütten) halten die nationalpolnische Bewegung ihrer
Arbeiterschaft noch gerade im Zaum. sattsam bekannt ist leider, wie der
Direktor eines gräflichen Kohlenbergwerks in der Nähe von Beuthen den
polnischen Tendenzen seiner Belegschaft Vorschub leistet, mit den Arbeitern,
auch wenn sie deutsch gesinnt sind, geflissentlich polnisch spricht und so selbst
polonisiert."
Einer der besten Kenner der Polenfrage, Herr von Massow, nennt in
seinem Buche „Die Polennot im deutschen Osten" bei der Besprechung der
Organisationen zu nationalpolnischer Propaganda Seite 240 ff. den Marcin¬
kowskiverein an erster Stelle. Die zweite hier in Betracht kommende Vereins¬
gruppe ist die der polnischen Wirtschaftsgenossenschaften. Sie stammt her vom
Pröpste Samarzewski zu Schroda in Posen. Er hat Darlehnskassenvereine
gegründet, die sich bald zu einem Verbände zusammengeschlossen haben. Nach
seinem Tode ist an die Spitze des Verbands Propst Wawrzyniak in Mogilno
getreten. Die Kassen sind entweder den von Raiffeisen oder den von Schulze-
Delitzsch gegründeten nachgebildet, also Einrichtungen nach echt deutscher Art.
Ihr Verbandszweck ist die Pflege nationalpolnischer Vermögensinteressen unter
strenger Bekämpfung aller deutschen wirtschaftlichen Bestrebungen. Der Status
des Verbands der polnischen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften für die
Provinzen Posen und Westpreußen vom Jahre 1901 war folgender. Der Ver¬
band hatte in Posen 101 Genossenschaften und in Westpreußen 33 mit
57266 Mitgliedern. Das Vermögen der Genossenschaften betrug 11525191 Mark;
an Depositen verfügten sie über 42248500 Mark. Das sind Zahlen, die eine
noch ganz andre Sprache als die Bilanz des Marcinkowskivereins reden.
Sollte sich wirklich jemand finden, dem vor ihnen die Augen nicht gründlich
aufgingen? Was die Vereine tatsächlich wollen, und was sie zu erreichen auf
dem Wege sind, das ist nicht etwa nur Pflege der wirtschaftlichen Interessen
ihrer Angehörigen, wie sie dem gutgläubigen Deutschen im Reiche vorerzählen.
Worauf sie in Wahrheit ausgehn, das ist sachlich leistungsfähige Kräfte aus¬
zubilden, deren erstes und heiligstes Ziel sein soll, für die Neubelebung des
Polentums zu arbeiten.
Die Erkenntnis davon scheint endlich auch bei den Deutschen dämmern zu
wollen. Das Landgericht zu Bochum hat vor kurzem, im Gegensatz zu ver-
schiednen Schöffensprüchen, den Bochumer polnischen Jndustrieverein für einen
politischen Verein erklärt, der unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Bestrebungen
politische Zwecke verfolge.
Während den Deutschen noch nicht der Gedanke gekommen ist, ob es nicht
wenigstens grundsätzlich erwägenswert sein könnte, das polnische Erwerbs genossen-
schaftswesen auf seine Gesetzmäßigkeit zu prüfen, sind die Polen schon weiter
gegangen. Sie haben sich eine neue Handhabe bereitet, ihr Vereinswesen zu
seinem wahren Zwecke noch nutzbarer zu machen. Der Wirkung ihrer sachlichen
Vereinsschöpfungen sicher, haben sie, um ihren Endzweck auch rein ideell den
polnischen Preußen immer tiefer ins Gemüt einzugraben, eine neue Gruppe von
Vereinen gegründet und diese zu einem großen Verbände zusammengefaßt. Es
sind die in letzter Zeit wie Pilze emporgeschossenen Sokolvereine. Die Sokol-
vereine sind nach den deutschen Turnvereinen gebildet, also auch wieder eine
Schöpfung nach kerndeutschem Muster. Vater Jahr würde sich im Grabe um¬
drehn, wenn er erführe, welchen deutschfeindlichen Strebungen sein Kind dienen
muß. Die Soloth bezwecken nach ihren geschriebn«! Satzungen die Pflege
körperlicher Tüchtigkeit und des Gemeinsinns. Wahrscheinlich haben sie noch
geheime Regeln. Denen soll hier nicht weiter nachgefragt werden, die bekannten
Satzungen genügen für den, der sehen will. In ihnen liegt der Haupttor auf
dem Wort „Gemeinsinn." Die Vereine wollen in Wahrheit das polnische
Nationalbewußtsein erwecken und stärken; sie wollen in der Masse der Polen
einen fest geschlossenen Körper geschworner, jeden Augenblick das Banner des
weißen Adlers hochhaltender Überpolen bilden. Das beweisen außer ihrer mit
Absicht gewählten, für das Turnen geradezu unbrauchbaren nationalpolnischen
Tracht insbesondre die Vorschriften, nach denen auf ihren gemeinsamen Festen
die Preise verteilt werden. Diese werden nicht gegeben nach den Leistungen
im Turnen, sondern „nach Maßgabe der Begriffe und Hoffnungen, die sich die
polnische Volksgesamtheit von ihren Sokolvereinen macht und mit ihnen ver¬
bindet." Das ist deutlich. Die Polen verhehlen ihr wahres Ziel auch nicht
einmal mehr. Auf einem oberschlesischen Sokolfeste rief ein Redner unverblümt
aus: „Dem polnischen Sokoltum werden jederzeit die Ideale Kosciuszkos
vorschweben, und wenn die Stunde der Auferstehung kommt, so werden sich
die Soloth beim Herzen Kosciuszkos sammeln."
Wer von den Deutschen trotzdem noch zweifelt, der mag sich vorhalten,
daß im Jahre 1903 auf einem allgemeinen Sokolfeste Polen aller drei „An¬
teile" in Lemberg zusammengekommen sind. Lemberg ist die Brutstätte des
fanatischsten Polentums. Dort hat vor wenig Jahren Admiralski famosen An¬
denkens auf dem allgemeinen Polenkongresse die schöne Tischrede in alle Winde
gerufen, in der er die Landesgrenzen Preußens, Rußlands und Österreichs als
„farbige Linien" auf dem Körper des polnischen Volkes bezeichnete, die aber
diesen Körper selbst nicht zu zerreißen vermöchten. Dementsprechend sind jetzt
dort die Soloth, auch die preußischen, als das zur Wiedervereinigung des alten
Polenreichs berufene polnische Heer bezeichnet worden.
Das polnische Vereinswesen ist in der Tat zu einem Feinde im Hanse
des Deutschtums geworden.
Vereinswesen und deutsches Wesen sind nur zwei Worte für einen und
denselben Begriff. Drehen die Polen aus dem undeutschen Vereinswesen dem
Deutschtum selber einen Strick, so ist das, schon rein äußerlich betrachtet, eine
Nidingstat; es ist aber auch, schon weil das hohe Kulturgut des Bereins-
wesens bei ihnen selber nie eine Stätte gehabt, sondern sogar nach Ausweis
der Geschichte nichts als elenden Verderb gefunden hat, ein schnöder Frevel
Wider die Ethik, wider die Grundbedingungen des Daseins und der Fortentwicklung
der gesamten Menschheit. Es ist mindestens selbstverständlich, daß das Deutsch¬
tum dem polnischen Unfuge mit seinem Vereinswesen kurzweg ein Ziel setzt.
Wie sich die Dinge entwickelt haben, steht Preußen heute vor der Not¬
wendigkeit, das gesamte polnische Vereinswesen aufzuheben. Das kann erreicht
werden, ohne daß man den Bestimmungen in den Artikeln 29 und 30 der Ver¬
fassung oder der Verordnung vom 11. März 1850 irgendwie zu nahe tritt.
Der Artikel 30 der Verfassung lautet: „Alle Preußen haben das Recht,
sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesell¬
schaften zu vereinigen. Das Gesetz regelt, insbesondre zur Aufrechterhaltung
der öffentlichen Sicherheit, die Ausübung des in diesem und dem vorstehenden
Artikel (29) gewährleisteten Rechts. Politische Vereine können Beschränkungen und
vorübergehenden Verboten im Wege der Gesetzgebung unterworfen werden."
Der Paragraph 8 der Verordnung sagt: „Für Vereine, welche bezwecken,
politische Gegenstünde in Versammlungen zu erörtern, gelten außer vorstehenden
Bestimmungen nachstehende Beschränkungen: -y sie dürfen keine Frauenspersonen,
Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen, b) sie dürfen nicht mit anderen
Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten, insbesondre
nicht durch Komitees, Ausschüsse, Zentralorgane oder ähnliche Einrichtungen oder
dnrch gegenseitigen Schriftwechsel. Werden diese Beschränkungen überschritten,
so ist die Ortspolizeibehörde berechtigt, vorbehaltlich des gegen die Beteiligten
gesetzlich einzuleitenden Strafverfahrens, den Verein bis zur ergehenden richter¬
lichen Entscheidung (Paragraph 16) zu schließen."
Der Paragraph 16 der Verordnung schreibt vor: „Wenn ein politischer
Verein die in Paragraph 8 zu s, und d gezognen Beschränkungen überschreitet,
so haben die Vorsteher, Ordner und Leiter, die diesen Bestimmungen entgegen
gehandelt haben, eine Geldbuße von fünf bis fünfzig Talern oder Gefängnis
von acht Tagen bis zu drei Monaten verwirkt. Der Richter kann außerdem
nach der Schwere der Umstände auf Schließung des Vereins erkennen. Auf
diese Schließung muß erkannt werden, wenn Vorsteher, Ordner oder Leiter sich
wiederholt strafbar gemacht haben. Wenn die Polizeibehörde einen politischen
Verein vorläufig geschlossen hat (Paragraph 8), so ist sie gehalten, binnen
achtundvierzig Stunden nach der Schließung davon und von den Gesetzwidrig¬
keiten, die zur Schließung Anlaß gegeben haben, der Staatsanwaltschaft An¬
zeige zu machen. Findet die Staatsanwaltschaft die angeblichen Gesetzwidrigkeiten
nicht geeignet, eine Anklage darauf zu gründen, so hat die Ortspolizeibehörde
auf die ihr durch die Staatsanwaltschaft binnen weitern acht Tagen zu er-
leitende Nachricht die Schließung des Vereins aufzuheben. Andernfalls muß
die Staatsanwaltschaft ebenfalls binnen acht Tagen entweder die Anklage er¬
heben oder binnen gleicher Frist die Voruntersuchung beantragen. Alsdann ist
vom Gerichte sofort Beschluß darüber zu fassen, ob die vorläufige Schließung
des Vereins bis zum Erkenntnisse in der Hauptsache fortdauern soll."
Viel Filigranarbeit im Nebenwerk des Gesetzes. Dafür erscheint der Kern
nicht sehr glücklich gefaßt. Aus ihm kann vielerlei heraus- und vielerlei kann
in ihn hineingesponnen werden. Kein Wunder! Den Gesetzgebern hat zwar
bestimmt vorgeschwebt, worauf sie hinauswollten, aber bei der damaligen Erregt¬
heit und Unsicherheit der Anschauungen über deu zu regelnden Stoff haben sie
doch nicht vermocht, ihre Willensmeinung im Gesetztext grundsätzlich und klar
auszusprechen. Das hat diese Bestimmungen zum Gegenstande sehr verschiedner
Austastungen gemacht. Schließlich ist die preußische Rechtsprechung zu einer
bestimmten Auslegung des Hauptbegrisfs in den angeführten Sätzen gekommen,
des Begriffs „politischer Verein." Diese Auslegung zeigt sich besonders scharf
und charakteristisch in zwei Erkenntnissen. Das Obertribunal sagt in einem bei
Goltdcnmner, Archiv für Gemeines deutsches und für Preußisches Strafrecht
Band 25 Seite 637 abgedruckten Urteile von 1877: „Ein Verein kann sehr
wohl neben seiner regelmüßigen Tätigkeit auch solche Zwecke verfolgen, welche
nur vereinzelt und bei besondern Veranlassungen und Gelegenheiten hervortreten
und zur Geltung gelangen, durch diese ihre Beschaffenheit als mehr untergeordnete
Nebenzwecke aber ihre Bedeutung für die Beurteilung des Vereinszwecks in
seiner Totalität nicht verlieren. Endlich muß aber auch alles, was der Verein
als solcher tut, als von ihm bezweckt angesehen werden, weil der Begriff des
Vereins gerade in dem Vereinszwecke seine Begrenzung findet. Ein Verein als
solcher kann nichts tun, ohne das Geschehene gleichzeitig, wenn auch nur vorüber¬
gehend, zu seinem Vereinszwecke zu erheben, wenn es auch früher nicht in dessen
Bereich gelegen haben mag." Das Kammergericht, das seit dem Eingehn des
Obertribunals für gewisse Rechtsgebiete an dessen Stelle als höchster Gerichtshof
Preußens getreten ist, sagt in einem bei Johow, Jahrbücher für Entscheidungen
des Kammergerichts Band 8 Seite 216 abgedruckten Urteil: „Unter politischen
Gegenständen im Sinne des Paragraphen 8 der Verordnung vom 11. März 1850
sind aber nicht nur diejenigen zu verstehn, welche den Staat in Bezug auf seine
Zwecke und in Bezug auf die zur Erreichung der letztern anzuwendenden Mittel
betreffen, also nicht bloß Gegenstände der Staatsweisheitslehre oder Politik im
engern Sinne, sondern es gehört alles dazu, was unter den Begriff der Staats¬
wissenschaft im weitern Sinne zu subsumieren ist, also auch Fragen der National¬
ökonomie und der Sozialpolitik." Das Oberverwaltungsgericht ist in seiner
Auffassung des Begriffs „politisch," wo möglich, noch weiter gegangen.
Abgesehen von rein geselligen Zusammenschlüssen, wie Kegelvereinen, Tanz-
krünzchen und dergleichen, wäre es wohl möglich, unter etwas scharfer Zuspitzung
der in diesen Urteilen niedergelegten Hauptsätze jeden Verein als politischen gemäß
Paragraph 8 und Paragraph 16 der Verordnung vom 11. März 1850 auf¬
zufassen. Unendlich vielfältig und vielgestaltig sind die Verhältnisse, in denen
heute die Einzelnen zueinander und zur Gesellschaft stehn. Mit jedermanns
Leben sind sie unlöslich, meist unmerklich verwoben. Wo er geht, da gehn sie
mit, wo er spricht, da sprechen sie mit. Das geschieht, wo zwei oder drei ver¬
sammelt sind, das geschieht, wo Vereinsglieder die Köpfe zusammenstecken. Ein
Unding ist es, daß in Vereinen, und wäre ihr Hauptzweck noch so bieder-
meierisch, nationalökonomische oder sozialpolitische Fragen, diese heute jeden
Deutschen bewegenden Angelegenheiten, nicht irgendwie zum Worte kommen
sollten. Bei solcher Sachlage ist es möglich gewesen, daß dem Vereinsleben
von der Polizei nach den Anordnungen des Vereinsgesetzes ernste Schwierig¬
keiten bereitet werden konnten. Insbesondre hat bedeutendern Vereinen, wenn
sie dem natürlichen Zuge der Dinge folgten, wenn sie dem Zwange ihrer
Interessen gemäß miteinander in Verbindung traten, ohne andre, tiefere Gründe
kurzerhand mit dem Paragraphen 8 Spalte d ein Ende gemacht werden
können. Von dieser Befugnis ist oft genug, auch aus bureaukratischer Klein-
meisterei, Gebrauch gemacht worden. Je häusiger das geschah, um so schwerer
erschien im Laufe der Zeit, wie die „politischen Köpfe" sagten, das Recht der
„Koalitionsfreiheit," dieses liberal-demokratische Ideal, grundsätzlich gefährdet.
Das ist weithin, und nicht etwa nur von den Sozialisten, als ein böser
Mißgriff der Behörden empfunden worden. Kann auch keine Rede davon sein,
daß die Verwaltung oder das Gericht in irgend einem Falle gegen das be¬
stehende Recht nach der Spruchpraxis der höchsten Gerichte verstoßen hat, so
kann doch andrerseits nicht verkannt werden, daß sich diese Gesetzesauslegung
zu der Auffassung des Volks in schroffen Widerspruch gestellt hat. Das Vereins¬
wesen ist ein wertvolles Gut des Deutschtums. An ihm und an seiner freien
Entfaltung hängen deutsche Menschen. Was sich dagegen richtet, das empfindet
das Volk als eine Antastung der Grundbedingungen seines Lebens. Darum
hat diese Entwicklung der Rechtsprechung schlimme Folgen nach sich gezogen.
Sie hat das Neichsgesetz vom 11. Dezember 1899 heraufgeführt, das von dem
Parlamente der Regierung geradezu abgezwungen worden ist, und zwar unter
Reden und Szenen im Reichstage, die bei Bismarcks Kanzlerschaft einfach un¬
möglich gewesen wären. Das Gesetz lautet: „Jrländische Vereine jeder Art
dürfen mit einander in Verbindung treten. Entgegenstehende landesgesctzliche Be¬
stimmungen sind aufgehoben." ^
Thebens
Krones ist nun nötig, einen Blick auf Österreich und die dortigen
Ereignisse zu werfen. Daß das Ministerium Körber wegen der
Zurückziehung der Wehrvorlage durch den Grafen Khuen seine
Demission genommen hatte, ist schon berichtet worden. Es
freuten sich manche Leute in Österreich darüber, nicht bloß die
en allein, sondern auch die Kreise, die im geheimen die gegen die
gerichtete demokratisch-parlamentarische Opposition der Magyaren gern»
sahen. Von dieser Seite wurde auch an angesehene reichsdeutsche Blätter
berichtet, der Monarch sei über das Vorgehn Körbers sehr aufgebracht. Das
dürfte kaum richtig sein, das Ministerium Körber war zu seinem Vorgehn voll¬
kommen berechtigt, und der deutliche Wink an die überreizten Magyaren, daß
auch noch andre Leute auf der Welt seien, konnte in keinem Fall etwas schaden.
Hätten die Heißsporne in Ungarn wegen des Vorgehns des unbeliebten Minister¬
präsidenten nicht alle Besinnung verloren, so hätten sie, gerade wie früher
immer, nun erst recht seine Partei ergriffen. Diesesmal taten sie es freilich
nicht. Die Vorgänge in Ungarn bewogen jedoch die deutsch österreichischen
Parteien, die sich schon früher zweimal unter einer Obmännerkonferenz geeinigt
hatten, sich wieder zusammenzuschließen. Die großen Erwartungen, die man
daran geknüpft hatte, haben sich aber nicht erfüllt; sie sind auch diesesmal
nicht über eine rein passive Haltung hinausgekommen und haben jedenfalls
nicht verstanden, der Krone beizuspringen, was ihnen doch in keinem Falle
Hütte schaden können; sie ließen sich durch die absichtliche kleinmütige Haltung
der Presse in ihrer Passivität bestärken.
Von größerm Einflüsse mar das Auftreten der Tschechen, die sofort bei
den magyarischen Heeresforderungen dieselben Ansprüche für ihre Nation an¬
meldeten, was sicher dazu beigetragen hat, die Krone von weiterer Nach¬
giebigkeit gegen die Ungarn abzuhalten. Die Deutschen taten nichts, als sich
in Deklamationen gegen die Zertrümmerung der Armee zu ergehn, sie schienen
sich aber im stillen schon darauf einzurichten. Am 25. Juni wurde der nutz¬
lose Reichsrat vertagt, und am 30. auf Grund des Paragraphen 14 der Ver¬
fassung ein sechsmonatiges Budgetprvvisorium dekretiert. Der tschechische Lands¬
mannminister Dr. Rezek trat zurück, weil er wegen der Obstruktion der Tschechen
im Ministerium keinen Zweck mehr erfüllte. Am 7. Juli wurde das Demissions¬
gesuch des Ministeriums Kröber mit einem sehr gnädig gehaltnen Handschreiben
des Kaisers Franz Joseph definitiv abgelehnt. Bemerkenswert ist die Tat¬
sache, daß die Zurückziehung der Rekrntenvorlage in Ungarn für Österreich
eine Verminderung der Rekrutenzahl um 5900 Mann bedeutete. Das wurde
gar nicht beachtet; zu andern Zeiten hätte man um eine solche Herabsetzung
einen wütenden Parlamentarischen Kampf geführt, jetzt ging das aber alles in
dem Schlagworte von der „Kapitulation der Negierung vor den Magyaren"
verloren.
In der zweiten Hälfte des Julis sandte Herr von Körber seinen Handels-
minister Baron von Call nach Budapest zu dem Zweck, mit der dortigen
Regierung Verhandlungen anzuknüpfen, zunächst über die siebzehn Posten des
Zolltarifs, die das österreichische Abgeordnetenhaus geändert hat, während sie
vom ungarischen Abgeordnetenhause nach der Regierungsvorlage angenommen
wurden, ferner über die Erneuerung des Handelsvertrags mit Italien, der auf
Szells Betreiben gekündigt worden war; außerdem erschien auch der österreichische
Finanzminister Dr. von Böhm wegen der Zuckersteuerfrage. Graf Khuen wies aber
alle Unterhandlungen barsch ab, und die österreichischen Minister kehrten un-
verrichteter Dinge aus Budapest zurück. Dies wurde nun wieder gegen das
Ministerium Körber ausgenutzt, das mau auch unausgesetzt der Vertschechung des
Beamtentums anklagte, während es doch keine deutschen Beamten in genügender
Anzahl gibt, und man sogar in deutsche Orte tschechische Beamte versetzen muß.
Mit solchen Kleinigkeiten, die übrigens vorderhand gar nicht zu andern sind,
weil die Fehler auf der deutschen Seite liegen, suchte man in den großen
Blättern die Deutsche» von der eigentlichen Hauptfrage abzuziehen und über¬
haupt zu verstimmen, damit sie ja nicht auf den nützlichen Einfall gerieten,
eine Diversion zugunsten der bedrängten Krone zu unternehmen. Ein einflu߬
reiches Mitglied des Polenklubs, Graf Anton Wodzicki, erklärte in einer Zu¬
schrift, daß die Polen das Verlangen der Ungarn nach einer selbständigen
Armee nicht unterstützen würden. Die Ungarn selbst fänden nur im Staate
Österreich eine feste Stütze, denn im Königreich Ungarn lebten sechzig Prozent
nichtmagyarische Völkerschaften. Man habe überhaupt 1867 nicht den Aus¬
gleich abgeschlossen und seither siebzig Prozent der allgemeinen Ausgaben ge¬
leistet, damit sich Ungarn dafür eine eigne Armee anschaffe. Das allpolnische
Blatt „Slovo polski" riet dagegen einige Tage darauf dem Polenklub, er möge
sich für die Wünsche der Ungarn aussprechen, dadurch die alte polnisch-magya¬
rische Freundschaft wiederherstellen und überhaupt dahin wirken, daß die
polnischen Regimenter polnische Offiziere und die polnische Kommandosprache
bekämen.
Noch bevor sich der Kaiser zum Empfang des Königs von England nach
Wien begeben hatte, war ein Reservatbefehl an die Armee ergangen, wonach
die im dritten Dienstjahre stehenden Mannschaften bis auf weiteres nicht in
die Reserve versetzt werden sollten. Es wurde ausdrücklich den Truppenteilen
aufgetragen, die von dem Rückhaltungsbefehl betroffnen Mannschaften über
die gesetzlichen Bestimmungen, die die Heeresverwaltung zu dieser Maßregel
berechtigten, sowie über die Ursachen, die ausnahmsweise die vorläufige Zurück¬
haltung nötig machten, in taktvoller Weise aufzuklären. Daß diese Maßregel
notwendig war, wollte man den Fortbestand der Armee sichern, leuchtet ohne
weiteres ein. Unter der Parteibrille nimmt sich aber das Vernünftigste meist
ganz anders aus. Man hätte doch annehmen dürfen, daß in einer Zeit, wo
die Magyaren auf eine eigne nationale Armee hinarbeiteten, wo die Tschechen
und die Allpolen schon das Messer wetzten, um für sich das entsprechende
Stück aus dem gemeinsamen Heer herauszuschreiben, die Deutschösterreicher
endlich auf den Gedanken kommen würden, die einheitliche österreichisch-unga¬
rische Armee, die man jetzt in nationale Stücke zerlegen wollte, müsse in
ihren Grundlagen doch eine eminent deutsche Einrichtung sein. Auf diesen
naheliegenden Gedanken kam aber der neugebackne vierzehngliedrige Ausschuß
der vereinigten deutschen Parteien nicht, er kam überhaupt auf keinen Ge¬
danken; die hauptstädtische Presse soufflierte auch keinen, im Gegenteil, sie tat,
ob mit Absicht oder unbewußt, ihr mögliches, keinen großen Gedanken auf¬
kommen zu lassen. Der konnte in diesem Falle nur lauten: Für die einheit¬
liche Armee bewilligen wir alles, dafür ist uns und unsern Volksgenossen kein
Opfer zu groß. Die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wäre dafür vor¬
handen gewesen, das zeigte sich wenig Wochen nachher, als die Heeres¬
verwaltung bekannt gab, wenn sich zur Einstellungsfrist Freiwillige meldeten,
würde man ebensoviele Dreijährige entlassen. Da kamen von vielen Seiten
Aufrufe an die Militärpflichtiger, sie möchten sich freiwillig melden und ihren
dreijährigen Kameraden, die unter der Ungunst der Zeitverhültnisse leiden
müßten, Helfen. Daraus Hütte sich doch etwas machen lassen! Die Leute
hatten mehr Verständnis für die Sachlage als die Führer. Da diese aber
keinen Gedanken zu fassen vermochten, mußte natürlich die Regierung schuld
sein, weil sie sich vor deu Ungarn gebeugt habe. Ob das wahr sei, wurde
gar nicht untersucht, man kam damit über den eignen Mangel an Entschlu߬
fähigkeit hinweg.
Aber auch wenn es wahr gewesen wäre, Hütte man jn gerade einen
Entschluß fassen müssen, und zwar einen, der den Fehler möglichst gut gemacht
Hütte. Daß jetzt eine Gelegenheit verpaßt wurde, die die Stellung der Deutschen
in der ganzen Monarchie mit einem Schlage geändert hätte, ist wohl heute den
„Führern" noch nicht klar geworden. Man habe ja der Negierung alles be¬
willigt, aber sie hätte sich vor den Ungarn gebeugt, wurde fortwährend wieder¬
holt. Das war in Wirklichkeit nicht wahr. Zunächst handelte es sich um
zwei verschiedne Regierungen, aber auch der eignen hatte man tatsächlich nichts
bewilligt. Wohl hatte man die Rekrutenzahl samt der Erhöhung zugestanden,
jedoch mit der Chiarischen Resolution, daß die Bewilligung bloß gelten solle,
wenn sie auch in Ungarn in gleicher Weise erfolge. Das war nun nicht ge¬
schehen, einerlei, ob durch Schuld des ungarischen Parlaments oder der Re¬
gierung, und die Bewilligung in Österreich war damit gefallen. Man ersieht
daraus wieder, wie wertlos und unter Umstünden schädlich eine solche für die
Sache selbst bedeutungslose, gegen Ungarn vexatorisch gemeinte und schon
darum unpolitische parlamentarische Klausel werden kann. Mit ähnlichen
parlamentarischen Kunststückchen hatte vor vierzig Jahren die liberale Partei
in Preußen die Hecresreorganisation verfahren und dadurch den großen Konflikt
hervorgerufen. Wäre die Resolution Chiari nicht gewesen, so hatte man in
Osterreich tatsächlich alles bewilligt, es Hütte keine Schwierigkeiten gegeben.
Auch wenn die Neichsmilitürverwaltung wegen der Verhältnisse in Ungarn auf
die Vermehrung der Mannschaften für die Artillerie usw. Hütte verzichten wollen,
konnte man in Österreich die mehr bewilligten 5900 Mann durch Anwendung
des ewig mißbrauchten Paragraphen 14 oder durch eine kaiserliche Verordnung
erlassen. Es würe zwar auch aus den bekannten „verfassungsmüßigen" und
„parlamentarischen" Bedenken darüber räsoniert worden, aber die Sache hätte
sich ohne besondre Führlichkeiten gemacht.
So war man aber trotz der vermeintlichen Bewilligung in Österreich ge¬
rade soweit wie in Ungarn, und die Militärverwaltung war in ihrem Recht,
als sie unter diesen Uniständen die Dreijährigen zurückbehalten wollte. Das
Wehrgesetz gibt der Kriegsverwaltung ohne weiteres das Recht und die Voll¬
macht, unter Umständen die Soldaten des dritten Jahrgangs auch über den
31. Oktober hinaus bis zum 1. Januar festzuhalten, und auch daun kann sie
sie als Reservisten sofort wieder einberufen. Bisher hatte die Heeresverwaltung
nicht nötig gehabt, von dieser Ermächtigung Gebrauch zu machen. Die Ma߬
regel war also nicht „verfassungswidrig," aber dringend geboten, weil schon
die Lage auf der Balkanhalbinsel die Schwächung der Präsenzzahl um etwa
100000 Mann unmöglich machte, ganz abgesehen von den Rücksichten aus den
Dienst. Daß einzelne davon betroffne Kreise mit der Zurückbehaltung der
Dreijährigen unzufrieden waren, lag nahe, aber es war falsch, diese Unzu¬
friedenheit zu verallgemeinern und die Sache so darzustellen, daß sie die Be¬
völkerung sogar als ungesetzlich empfand, was sie nicht war. Die impotente
Nörgelsucht fabulierte sogar von „wirtschaftlichen" Nachteilen, als wenn es
nicht wirtschaftlich vollkommen gleichgiltig wäre, ob 100000 Rekruten oder
ebensoviele Dreijährige vom Wirtschaftsleben ferngehalten werden! Aber so
lange man eben keinen Gedanken hat, müssen Surrogate aushelfen.
Endlich kam ein Gedanke, und was für einer! Natürlich von den Alt¬
deutschen, die in der unpraktischen Politik Meister sind. Man müsse den
Reichsrat einberufen, telegraphierten sie von Eger an den Ministerpräsidenten —
also den Reichsrat, den man vor kurzem hatte vertagen müssen, weil er arbeits¬
unfähig war und nicht einmal bis zur Budgetberatung kam. Die Neuberufung
konnte doch nur die Folge haben, den Tschechen die Möglichkeit zu geben,
daß sie für die Rekrutenbewilligung ihre Obstruktion einstellten und sich damit
nach oben hin empfahlen. Aber der Gedanke war so „verflucht gescheit,"
daß er überall zündete; es gab ja Abgeordnete genug, die ihre Sommerfrischen
gern aufgaben und gern zu den Diäten des Reichsrath zurückkehrten, andern
lieferten die parlamentarischen Verhandlungen willkommnen Stoff für ihre
Zeitungen, und endlich waren noch die vielen, die eine große Rede im Herzen
oder im Magen trugen und damit das Vaterland retten oder wenigstens in
die Zeitungen kommen wollten. Die Bewegung wuchs, und schließlich berief
die Regierung den Reichsrat wieder ein. Die Tschechen hatten auch die ihnen
so nützliche Güte, die Rekrutenbewilligung zu erlauben, im übrigen begann
das parlamentarische Tohuwabohu wieder, und nachdem man viele Wochen
lang Zeit und Diäten vergeudet hatte, wurde der Reichsrat unverrichteter
Dinge wieder heimgeschickt. Das einzige Gute hatte die Session, daß dem
Ministerpräsidenten or. vou Körber die Gelegenheit geboten worden war,
nachdrücklich den österreichischen Standpunkt gegenüber der magyarischen Nber-
hebung zu betonen.
Der Kaiser kehrte nach dem Besuche des Königs Eduard wieder nach
Budapest zurück, um die Krise in Ungarn zum Abschluß zu bringen. Er ver¬
zichtete zu diesem Zwecke sogar auf die Teilnahme an den Manövern im süd¬
lichen Ungarn, was aber die mißleitete österreichische Presse wieder dahin aus¬
legte, die Ungarn müßten doch in allem ihren Willen haben. Als wenn der
Monarch den Magyaren zuliebe dort geblieben wäre! Es hieß, Dr. von Lukacs
sei als zukünftiger Ministerpräsident ausersehen, aber die Nachricht erwies sich
bald als unrichtig, es traute sich noch kein Liberaler, das Ministerium zu über¬
nehmen, vielleicht weil die meisten noch ein Nachgeben des Monarchen für
möglich hielten. Der Kaiser traf zum Todestag der Kaiserin Elisabeth in
Wien ein, ging aber nicht mehr nach Budapest zurück, sondern reiste am
12. September zu den Kavalleriemanövern nach Galizien ab. Graf Khuen
blieb vorläufig Ministerpräsident, in offiziösen Blättern wurden die An¬
deutungen wiederholt, die liberale Partei möge selbst ein annehmbares Wehr-
Programm aufstellen, aber wieder ohne Erfolg, Sie tat auch nichts gegen
die Agitation im Lande, wo sich immer mehr Leute für die Forderungen der
Nnabhängigkeitspartei erklärten. Es sickerte inzwischen durch, daß sich der
Kaiser nicht nur aus militärische» Gründen gegen die magyarische Dienst¬
sprache erklärt habe, sondern auch den Standpunkt vertreten habe, daß sich
der ungarische Reichstag überhaupt nicht in diese Frage einzumischen habe.
Dieser Standpunkt mag mich für die weitere Betrachtung festgehalten werden.
Bemerkenswert war ein Vorgang im niederösterreichischen Landtag, wo der
Bürgermeister von Wien, Dr. Lueger, in einer heftigen Rede gegen die
magyarischen Ansprüche unter stürmischem Beifall dem Kaiser zurief, er möge
festbleiben, alle Deutschen stünden hinter ihm. In der deutschen Presse war
das freilich bisher nicht sehr hervorgetreten. Der Vorsitzende begnügte sich,
darauf hinzuweisen, daß Heeresangelegenheiten nicht vor den Landtag gehörten,
sagte aber über die Angriffe gegen die Magyaren nichts.
Während sich die Blätter weitschweifig mit einer vielleicht nur zufälligen
Begegnung des Ministerpräsidenten von Körber mit Herrn von Szell bei dem
ehemaligen ungarischen Minister von Szechcnyi beschäftigten, traf plötzlich eine
unerwartete Wendung ein. Der Monarch hatte beim Abschluß der Manöver
bei Chlopy in Gallizien als oberster Kriegsherr in einem Armeebefehl zu
seinem.Heer gesprochen und darin zum erstenmal öffentlich und unwiderruflich
Stellung zu der Armeefrage genommen, natürlich im Sinne der Aufrecht¬
erhaltung der bisherigen Organisation des gemeinsamen Heeres. Er knüpfte
an die Ergebnisse der Manöver an, die ihn in dem Entschlüsse bestärkt Hütten,
in keinem Falle den auf Lockerung dieser Organisation gerichteten einseitigen
Bestrebungen nachzugeben und von seinen verfassungsmüßigen Rechten etwas
zu opfern. Etwas andres hatten unterrichtete Leute nicht erwartet, nur die
militärische Entschiedenheit der Sprache überraschte und schlug in Ungarn
geradezu wie eine Bombe ein. Die ungarischen Hitzköpfe fuhren aus ihren
Selbsttäuschungen auf, denn sie erkannten, daß die Forderungen ans Änderungen
der Heeresorganisation in ihrem Sinne keine Aussicht hatten, jemals bewilligt
zu werden. Kaiser Franz Joseph war doch noch nicht so alt, als sie sich
eingebildet hatten. Die oppositionellen Blätter wüteten und bezeichneten den
Armeebefehl als eine Kriegserklärung gegen die Nation, aber nur eine Wahl
mit Bajonetten könnte den Magyaren die Armee entreißen. Leere Worte!
Die Herren, die das schrieben, wußten ganz wohl, daß eine Revolution ganz
unmöglich war. Die Straßenlürmer, Versammlungsschreier und die unver¬
meidlichen Klubredner, die bei allen Neuigkeiten voran sein müssen, hatte man
wohl an sich herangezogen, aber das eigentliche Volk nicht, das ganz ruhig ge¬
blieben war, noch weniger die Armee, am allerwenigsten aber die magyarischen
Offiziere, die nicht die geringste Absicht hegten, unter ein Parlament gestellt
zu werden, wo die Neigungen und die Intriguen der Barabas und Genossen
den Ausschlag gaben. Für sie war der Armeebefehl eine wahre Beruhigung,
sie hatten gar keine Sehnsucht nach den wenig beliebten ungarischen Garnisonen
und zogen deutsche Waffenplütze vor. Und sonst waren sie doch auch mit
Stolz gewöhnt, einer großen Armee anzugehören.
Eine Revolution Hütten die parlamentarischen Schreier wohl hervorrufen
können, aber eine für die Armee. Die Proteste der Deutschen, Kroaten,
Rumänen und Slowaken in Ungarn gegen die magyarische Kommaudosprache
waren immer stürmischer geworden, die Aufreizungen der Dreijährigen zu
Demonstrationen hatten wenig Erfolg, einige von den Zeitungen übertrieben
aufgebauschte Ungehörigkeiten wurden durch scharfe Dementis auf ihre Gering¬
fügigkeit zurückgeführt. Die Armee stand der „nationalen" Bewegung vollkommen
kühl gegenüber, in Szegedin hatten sogar die Soldaten gegen die Straßen-
demoustranten, ihre eignen Landsleute, von der Waffe Gebrauch gemacht. Die
Armee war noch vollkommen intakt, da war nichts zu machen, als sich auf
den gebräuchlichen parlamentarischen und journalistischen Lärm zurückzuziehen.
Am ruhigsten benahm sich die liberale Partei. Sie ließ sofort erklären, sie
werde es nun für ihre Pflicht halten, sich für das vom König bewilligte Maß
der Zugeständnisse einzusetzen und nicht darüber hinauszugehn. Sie hatte es
leicht, gefaßt zu sein, denn sie hatte längst gewußt, wie die Sache stand, und
nur darüber geschwiegen. Aber der entschiedne Ton, hinter dem sie vielleicht
mit einigermaßen bedrückten Gewissen noch mehr vermutete, war ihr auf die
Nerven gefallen, und darum geschah in den nächsten Tagen einiges Be¬
schwichtigende. Bei der Opposition hatte besonders noch der Schlußpassus
des Armeebefehls Aufregung hervorgerufen, der alle Nationen für die Armee
als gleichwertig bezeichnete. Merkwürdigerweise regten sich auch die Altdeutschen
darüber auf. In Deutschösterreich wurde der Armeebefehl mit großer Be¬
friedigung vernommen, damit aber der Jubel darüber nicht etwa zu praktischen
Taten ausarten möge, sorgten die hauptstädtischen Blätter sofort durch die Ver-
wüsserung, der Armeebefehl sei bloß wegen der soeben erfolgten Einberufung
des Reichsrath (!) erlassen worden.
Hier muß noch eines besondern Zusammentreffens gedacht werden. Kaiser
Wilhelm weilte in diesen entscheidungsreicher Tagen im südlichen Ungarn als
Jagdgast beim Erzherzog Friedrich. „Vilmos Csaszar," zu deutsch „Kaiser
Wilhelm," ist bei den Magyaren seit dem Jahre 1897, wo er ihnen dicke
Schmeicheleien gesagt hatte, sehr beliebt. Das war schon von den Deutsch¬
österreichern, namentlich dein alldeutschen Flügel, sehr übel genommen worden.
Sie hatten aber absichtlich oder aus Mangel an dem feinen monarchischen
Gefühl, wie es hauptsächlich in Norddeutschland zuhause ist, übersehen, daß
in den Lobreden mehrfach der Refrain von der „Treue zum Hause Habsburg"
wiederkehrte. Ernst politischen Köpfen schien das die Hauptsache zu sein.
Als er jetzt kam, feierten ihn fast alle ungarischen Blätter mit begeisterten
Artikeln, aber dann wurden sie auffällig still. Kaiser Wilhelm nahm auch
mit keinem Blick Notiz von den nationalen Schmerzen der großen magyarischen
Nation, sondern schoß ganz ruhig seine Vierundzwanzigender, verriet auch
Interesse für Donaudampfschiffahrt und ähnliches, aber die nationale Frage
schien nicht für ihn vorhanden zu sein. Er fuhr dann nach Wien und traf
gerade am Tage nach der Veröffentlichung des Armeebefehls dort ein, vom
Kaiser in alter Herzlichkeit empfangen und von der Bevölkerung jubelnd
begrüßt. Die ganze Wiener Garnison bildete Spalier, und dn machte es sich
von selbst, daß Kaiser Wilhelm in seinem Toaste sagte: „Der Anblick Eurer
Majestät stolzen Regimenter war mir eine Herzensfreude, denn den Bund
unsrer Länder tragen und festigen unsre beiden Heere zum Wohle des Friedens
in Europa." Gerade mit diesen andeutungslosen Worten wurde sehr viel
gesagt, und wer das nicht gleich begriff, den mußte die Geflissentlichkeit darauf
bringen, mit der Blätter, die immer die ungarischen Bestrebungen im geheimen
unterstützt hatten, jetzt überlaut betonten, diese Worte hätten gar keine Be¬
ziehung auf den ungarischen Armeekonflikt. Die Ungarn, mit Ausnahme der
Unversöhnlichen, taten natürlich auch so; direkt ließ sich bei der feinen Fassung
der Worte nichts beweisen, und der große Haufe brauchte wie gewöhnlich
nichts davon zu wissen. Die weitsichtigen ungarischen Politiker, die der
dortige Adel immer in seinen Reihen zählte, dachten ihren Teil dabei. Für
die nächsten Tage war auch noch der Besuch des Zaren am Wiener Hofe an¬
gesagt, und die Erinnerung an 1849 drängte sich ganz ungezwungen auf,
ebenso die Mahnung des alten Deal, daß die Sicherheit Ungarns nur in der
Anlehnung an Österreich zu suchen sei. Es war die höchste Zeit, den Degen
einzustecken.
Die Beschwichtigung für die liberale ungarische Partei ging schon am
nächsten Tage nach Budapest ab, und das „Ungarische Korrespondenzbureau"
meldete darüber: „Der Armeebefehl, der kein staatsrechtlicher (sondern ein rein
militärischer) Akt ist, präjudiziert nicht jene im Interesse der Parität wünschens¬
werten Abänderungen, welche die liberale Partei als notwendig erachtet, und
die der Ministerpräsident Graf Khucn in sein Programm aufgenommen hat."
Das hieß, was einmal versprochen worden ist, wird nicht zurückgenommen,
die Wendung von der „Parität" lautete sehr entgegenkommend, bedeutete
sonst aber nichts, am allerwenigsten nach dem Armeebefehl, und es war darum
recht kurzsichtig und kleinlich, daß Wiener Blätter sofort wieder die Stimmung
drücken wollten mit der Behauptung, damit wäre der Armeebefehl in der
Hauptsache zurückgenommen worden.
Am 22. September wurde Graf Khuen-Hedervary durch ein programm¬
artiges Schreiben des Kaisers wieder mit der Bildung des Ministeriums be¬
traut. In dem Schreiben wurde ebenso das Festhalten an dem Ausgleich
und an den kaiserlichen Rechten sowie die Zurückweisung der ungarischen
Heeresforderungen als der Sicherheit des Landes selbst nachteilig betont, wie
die schon versprochnen Änderungen von neuem zugesagt. Die liberale Partei
war froh, einlenken zu können, und beschloß einstimmig, den Armeebefehl im
Abgeordnetenhaus nicht zu besprechen, die Unabhängigkeitspartei wollte jedoch
den Kampf fortsetzen. Am 24. Oktober brüllte sie den Grafen Khuen wieder¬
holt nieder, und nur mit großer Mühe gelang es, den Beschluß durchzusetzen,
daß sich das Haus bis nach der Bildung des Ministeriums vertage. Graf
Khuen fand aber keine andern Ministerkollegen, weil ihn die liberale Partei
noch immer nicht leiden mochte. Inzwischen hatte Ministerpräsident von Körber
im Abgeordnetenhause eine Rede gehalten, in der er allerdings sehr scharf be¬
tonte, daß sich Österreich nicht in allen gemeinsamen Angelegenheiten die Butter
vom Brote nehmen lassen, sondern seinen verfassungsmäßigen Einfluß aus-
üben werde. Das hatte man in Ungarn natürlich wieder übel genommen,
und die liberale Partei drängte den Grafen Khuen, er solle den Minister¬
präsidenten von Körber zurückweisen. Dieser erklärte aber ganz offen, man
habe in Ungarn die Rede Körbers, der ganz recht habe, falsch aufgefaßt. Das
war freilich den edeln Magyaren zuviel, und auch die Liberalen beschlossen
nun, den Grafen Khuen zu beseitigen. Graf Apponyi setzte das auch gleich
ins Werk, indem er einen Beschluß gegen den Willen des Grafen Khuen
durchführte, worauf dieser seine Demission gab und sie dem Kaiser telegraphisch
anzeigte, bei dem gerade der Kaiser Nikolaus zum Besuch erwartet wurde.
Graf Khuen wurde erst nach der Rückkehr des Kaisers von Mürzsteg empfangen,
und nun begannen in Wien die Verhandlungen über die Neubildung des
Ministeriums, da auch der Kaiser den Grafen Khuen, weil er die Störung
beim Zarenbesuch nicht zu vermeiden verstanden hatte, fallen lassen wollte.
Inzwischen hatte die liberale Partei ein Neunerkomitee eingesetzt, das über
die militärischen Forderungen beraten sollte, dessen einstimmig gefaßten Be¬
schlüsse dem Kaiser aber nicht zusagten, der dem Ausschuß durch den Vertrauens¬
mann der Krone Dr. von Lukacs sagen ließ, mit der Krone verhandle man
überhaupt nicht. Die Sache zog sich ungemein lange hin, aber der Kaiser
gab nicht nach, und die Versuche der Liberalen, durch geschickte Abfassung
ihrer Beschlüsse einige ihrer Ansprüche wenigstens für die Zukunft zu retten,
hatten keinen Erfolg, obgleich sie wieder in Wiener Blättern dabei Unter¬
stützung fanden. Der Kaiser gab auch nicht zu, daß in den klaren Sinn
der ungarischen Verfassung künstlich etwas hineininterpretiert würde, was
nicht darin stand, und daß dadurch, wenn auch nicht seine eignen, so doch
die militärischen Hoheitsrechte seiner Nachfolger geschmälert würden.
Am 25. Oktober wurde Graf Stephan Tisza vom Monarchen empfangen
und am folgenden Tage mit der Kabinettsbildung beauftragt. Es wurde
behauptet, das vereinbarte Programm enthalte alle wesentlichen Beschlüsse des
Neunerkomitees, und die Abänderungen betrafen nur einzelne Ausdrücke. Aber
auf diese kam es ja gerade an, und die Opposition Appvnyis dagegen bewies,
daß es sich eben um wesentliche Ausdrücke handelte. Man sträubte sich an¬
gebrachtermaßen etwas in der liberalen Partei, aber schließlich gab ihre Presse
zu, daß Tisza seine Sache ganz ausgezeichnet gemacht habe, und die Opposition
Apponyis nur in der persönlichen Abneigung gegen Tisza ihre Ursache finde.
Die fortgesetzte Nörgelei der Wiener Blätter über die angebliche Nachgiebig¬
keit der Krone hatte in diesem Falle die wohltätige Folge, den Umschwung der
Meinung in Ungarn, wo sich der Anhang Apponyis von Tag zu Tag
minderte, zu fördern. Am Schluß des Monats waren die Bedenken zu Ende,
die liberale Partei begrüßte mit dem in Ungarn üblichen Jubel den neuen
Ministerpräsidenten, der versprach, zunächst versöhnlich auftreten zu wollen,
und Graf Apponyi unterließ seinen Austritt, weil ihm nur wenige gefolgt
wären. Die Oppositon beschloß, wie sich von selbst verstand, die Fortsetzung
der Obstruktion, und Apponyi legte die Präsidentenstelle im Abgeordnetenhause
nieder, worauf der energische Perczel gewählt wurde.
Mit der Konstituierung des Ministeriums Tisza war der Heereskonflikt
definitiv zu Ende, und er wird ebensowenig wiederkehren, wie er sich in
Preußen ernstlich erneuert hat. Nachwehen hat er natürlich hinterlassen, die
wird aber in der Hauptsache Ungarn selbst zu tragen haben, dessen parla¬
mentarische Verhältnisse noch unheilbar erscheinen. Graf Tisza wurde beim
Vortrag seines Regierungsprogramms von der Opposition zwar niedergebrüllt,
setzte sich aber doch durch und brachte auch den Antrag zur Annahme, daß
die Rekrutenvorlage auf die Tagesordnung gesetzt werde, gegen die aber von
der Opposition bis zum Jahresschluß mit allen Mitteln der Obstruktion ge¬
kämpft wurde. Da Graf Khuen mit seiner Rechtfertigung des Kvrberschen
Standpunkts so schlecht abgeschnitten hatte, beschloß Tisza, um seine Leute
für sich einzufangen, anders zu verfahren, und machte über eine neue Äußerung
des Ministerpräsidenten Dr. von Körber die Bemerkung, was Körber sage, sei
nur die Ansicht eines äistmAmsIroä lorÄKNör, sei aber für Ungarn ganz gleich-
giltig. Er hatte damit das ungarische Abgeordnetenhaus gewonnen, und Körber
rächte sich einige Tage darauf mit der geistreichen Wendung, er müsse feststellen,
daß der Ausdruck „fremd" für die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn
zuerst auf ungarischer Seite gefallen sei. In Österreich kochten die kleinen
Töpfe gleich wieder über und vertraten die Meinung, nach einem solchen
Austausch von Höflichkeiten sei das Nebeneinanderwirken beider Minister¬
präsidenten unmöglich. Körber und Tisza trafen sich aber einige Tage danach
in Wien, und die beiden Auguren mögen, als sie sich gegenüberstanden, gelacht
und gedacht haben: Man muß eben die Parlamente nehmen und behandeln,
je nachdem sie sind.
Mehr als diese persönlichen Reibereien vor der Öffentlichkeit könnten dem
Grafen Tisza einige staatsrechtliche Redewendungen, die er wohl nur zur
Festhaltung und Auffrischung seines Anhangs im ungarischen Abgeordneten¬
hause gebrauchen zu müssen glaubte, und die er zum Teil nachträglich wieder
abänderte, bei der Krone geschadet haben, da man in diesen Dingen dort, wie
Herr von Szell schon erfahren hat, sehr feinfühlig ist. Inzwischen war Gras
Apponyi endlich mit einigen Gesinnungsgenossen definitiv aus der liberalen
Partei ausgetreten, die Opposition ließ zeitweilig mit der Obstruktion nach,
brach dann aber immer wieder heftig damit los; die Verhandlungen kamen nicht
von der Stelle. Die Mahnungen Tiszas, wenigstens die Rekrutenvorlage zu
bewilligen, damit die Dreijährigen zu Neujahr entlassen werden könnten,
haben bisher keinen Erfolg gehabt. Es wird eben schließlich nichts übrig
bleiben, als nach Neujahr mit der Auflösung des Abgeordnetenhauses vorzu-
gehn, obgleich man nicht gern zu Neuwahlen schreiten möchte, da die mili¬
tärischen Forderungen der Magyaren alle übrigen Nationen in Ungarn über
die Maßen aufgeregt haben.
Diese Betrachtungen über den ungarischen Heereskonflikt unterscheiden sich
in vielen Dingen von der üblichen Darstellung in den Tagesblättern, was
aber weder ihrer Wahrheit noch ihrer Unparteilichkeit Abbruch zu tun geeignet
ist. Die Maßstäbe für die Beurteilung sind den Ereignissen und Erfahrungen
beim preußischen Heercskonslikt und während des Selbstvernichtungskampfes der
großen deutschen liberalen Partei unter dem letzten deutsch-österreichischen
Ministerium Auersperg, Ereignissen, die der Verfasser beide mit erlebt hat,
entnommen worden. Für die Deutschösterreicher bedeutet der Verlauf der
ungarischen Heereskrise leider wieder ein neues Glied in der langen Reihe
der verpaßten Gelegenheiten. Ihre Führer mögen für die Niederungen der
Fraktionspolitik geeignet sein, auf die Höhen einer weitschauenden Politik
haben sie noch keinen Pfad gefunden. Ihr ganzes Treiben erschöpft sich in
weinerlicher, stellenweiser heftiger, aber immer „impotenter Raunzerei," wie
Steinwender treffend gesagt hat. Die Angriffe gegen das Ministerium Körber,
die von ganz andern Leuten hinter der Szene ins Werk gesetzt werden,
mehren sich bei ihnen, und immer erscheint am Schlüsse der bekannte tschechische
Beamte, der an einen deutschen Ort versetzt wurde, während doch niemand
den deutschen Beamten zu zeigen vermag, der übergangen worden wäre, weil
er überhaupt nicht vorhanden ist.
Fürst Bismarck hat vor vielen Jahren den Deutschösterreichern geraten,
ihre neuere Geschichte zu studieren, damit sie die Fehler erkennten, die gemacht
worden sind. Aber das tun sie nicht, und darum ist ihnen unbekannt, wo
der Irrweg eingeschlagen worden ist, und sie tasten nun auf allen möglichen
Pfaden herum, von denen keiner zum Ziel führen kann, weil keiner der rechte
ist. Wie stellen sich denn die Herren eigentlich die Dinge vor, die nach einem
Ministerium Körber kommen würden? Was ihnen günstigeres soll denn nach¬
kommen! Die Gelegenheit, in der Heeresfrage wieder die den Deutschöster¬
reichern im Staate gebührende Stellung einzunehmen, haben sie richtig ver¬
paßt, aber gerade die letzte Wendung bietet ihnen den Anknüpfungspunkt zu
einem neuen Anschluß und Entschluß. Ans den Äußerungen des Monarchen
bei dem Empfang der Delegationsmitglieder kann man leicht einen Schluß
auf die künftige Politik ziehn. Der Kaiser hält die militärischen Zugeständnisse
an Ungarn für abgeschlossen, wünscht aber den Abschluß des Ausgleichs und
rechnet dabei auf die endige Mitwirkung der Deutschen; an eine Änderung der
innern Politik zugunsten der Tschechen oder andrer Slawen ist nicht zu denken.
Das könnte bloß anders werden, wenn die Deutschen wieder versagten. Die
so skizzierte innerpolitische Lage bleibt ja immerhin voller Schwierigkeiten, aber
sie bietet den Deutschen eine brauchbare Grundlage, noch einem zweiten Rat
des Fürsten Bismarck zu folgen und die verloren gegangne Anknüpfung ihrer
Interessen an die der Krone wiederzugewinnen. Für schwache Seelen mag
es ja leichter sein, die Verantwortung für den doch unvermeidlichen Ausgleich
dem Paragraphen 14 zuzuschieben, wer aber den Mut hat, seinen Wühlern
offen ins Auge zu sehen und auch eine vorübergehende Unpopularitüt nicht
zu scheuen, der möge den Ernst der Stunde in Erwägung ziehn. Alle solche
Widerwärtigkeiten rein persönlicher Natur würden mehr als reichlich aus¬
geglichen werden durch die ohne Zweifel dadurch gewonnene Möglichkeit, daß
die Deutschen die nationale Frage in einer ihnen nicht nachteiligen Weise
lösen könnten. Die Hoffnung auf einen Entschluß zu dieser rettenden Tat
ist freilich gering, die Furcht vor schönerer und Wolf ist zu groß, und der
Operettenwitz: „Es gibt keine Männer mehr" dürfte noch einmal zur Wahr¬
heit werden.
UMLle Verzweigung der menschlichen Tätigkeiten und der Berufe gehört
zu deu interessantesten Erscheinungen des Kulturfortschritts. Die
Volksführer, die sich im Anfang der Entwicklung von der Menge
absondern, haben entweder priesterliches oder kriegerisches Gepräge
^oder von beidem etwas, oder spalten sich in einen geistlichen und
in einen kriegerischen Grundadel. Vom Bauernstande löst sich das Gewerbe ab.
Im europäischen Mittelalter beginnt dann die Verzweigung der Leitenden mit
der Gründung von drei weltlichen Fakultäten neben der theologischen. Vom
Geistlichen stammt alles ab, was mit Mund und Feder arbeitet, wie das eng¬
lische Wort vim-Je bezeugt (man darf nicht sagen, mit Hirn und Feder, denn
ohne Hirn arbeitet nicht einmal der Zugochs, obwohl natürlich bei den gelehrten
Standen der Anteil des Hirns den der Muskeln überwiegt), doch bleiben an¬
fänglich die weltlichen Fakultäten noch innig verbunden mit dem Klerus; ihre
Angehörigen leben klösterlich, wie heute noch die englischen Hochschullehrer und
Studenten, und kirchliche Stiftungen gewähren den meisten von ihnen den Lebens¬
unterhalt. ' Das städtische Gewerbe verzweigt sich in einige Dutzend nach Besitz,
Macht und Rang abgestufte Zünfte und regiert sich selbst, nachdem es das Joch
der weltlichen und der geistlichen Grundherrschaften abgeschüttelt hat. Vom
sechzehnten Jahrhundert ab schreitet die Verzweigung des Standes der Ritter
von der Feder, vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts ab die des Gewerbes
in einem beschleunigten Tempo fort, das um das Ende des neunzehnten schon
rasend geworden ist. Der moderne Staat bedarf einer Unzahl von Beamten
verschiedner Art, die meist dem Juristenstande entnommen werden, in keinem
Zusammenhange mehr mit dem Klerus stehn und vielfach — hie und da schon
im dreizehnten Jahrhundert — in feindlichen Gegensatz zu ihm treten. Dem
weltlichen Lehrerstande ist es bis auf den heutigen Tag noch nicht gelungen,
seine Nabelschnur vollständig zu durchschneiden. Was aber das Gewerbe betrifft,
so sind seiner Zweige so viele geworden, daß es vielleicht nicht einmal einen
Fachmann gibt, der von allen die Namen wüßte. Eine Brücke zwischen Hammer
und Tintenfaß hat zuerst die zum Monstrum angeschwollne philosophische Fakultät
geschlagen, die auch die gelehrten Berufe untereinander verbindet. Sie hat die
technischen' Schulen geboren, und deren Zöglinge machen jetzt Miene, die Herr¬
schaft der Welt anzutreten. Über zu knappes Einkommen haben sie sich nach
Ansicht der Staatsbeamten nicht zu beschweren, und ihren Ehrgeiz hat man rin
dem Dr. InA. zu befriedigen gemeint. Aber darin täuscht man sich. Sie er¬
streben die Oberleitung der Staatsverwaltung und die Herrschaft über die gewerb¬
lichen Unternehmungen, wie man aus dem Buche ersieht: Das System der
technischen Arbeit von Max Kraft, o. ö. Professor in Graz. (Leipzig. Arthur
Felix, 1902.) Der Verfasser will die Techniker für ihre hohe Bestimmung aus-
rüsten und behandelt in den vier Abschnitten seines umfangreichen Werkes (mit
Personen- und Sachregister 986 kleingedruckte Großoktavseiten) die ethischen,
die wirtschaftlichen, die Rechtsgrundlagen und die technischen Grundlagen der
technischen Arbeit; er gibt eine Ethik, eine Nationalökonomie, eine Rechtsphilo¬
sophie und Verwaltungslehre und ein System der Technik für Techniker. Krafts
Ethik beruht auf seinem Begriff der Technik, den wir später darlegen. Im
zweiten und im dritten Teile beweist er, daß die oberste Leitung sowohl der
industriellen Unternehmungen als auch der wichtigsten Zweige der Staatsver¬
waltung dem Techniker gebühre, wie auch er vor allem zur Auslegung der
Gesetze berufen sei, weil nur er die umfassendste und durchdringendste Sach¬
kenntnis mit den für die höchsten Stellen nötigen ethischen Eigenschaften, vor
allem einem ausreichenden Maße sozialen Empfindens verbinde. Ohne Unter¬
nehmer, wird unter anderm bemerkt, könne ein Unternehmen blühen, wie die
Aktiengesellschaften bewiesen, niemals aber ohne einen Techniker, es sei denn,
daß der Unternehmer selbst Techniker würe. (Sonderbarerweise hebt er nicht
hervor, daß die berühmtesten unter den erfolgreichen Unternehmern: ein Borsig,
ein Krupp, ein Siemers, ein Carnegie, von Haus aus Techniker gewesen sind.)
Die Verderblichkeit der Juristenherrschaft wird von allen Seiten beleuchtet. Wir
wollen auf die Ausführungen dieser Themata nicht eingehen. Der Lauf der
Entwicklung wird ja entscheiden, dem neuen Stande die Stellung sichern, die
ihm gebührt, und den alten Stünden nehmen, was sie unter den heutigen Ver¬
hältnissen vielleicht zu viel haben. Im Handumdrehen kann sich eine solche
Umwandlung nicht vollziehn. Die xvssick«ut<Z8, die übrigens ihre bsgUtuäo
heute nicht übermäßig hoch anschlagen dürften, verteidigen natürlich ihre Stellung,
und die Neuregelung wird um so langsamer vor sich gehn, als die technische Ent¬
wicklung immer neue Klassen von Technikern hervortreibt, die alle im Verwal¬
tungsorganismus richtig unterzubringen keine leichte Aufgabe sein wird. Anstatt
uus in den Streit der Techniker mit den Unternehmern und den Juristen einzu¬
lassen, wollen wir lieber an der Hand Krafts, den vierten Abschnitt seines Buches
benutzend, eine den meisten Lesern wahrscheinlich willkommne Übersicht über das
weitschichtige Gebiet der heutigen Technik geben.
Technisch wird eine Arbeit genannt, wenn sie mit der Anwendung von
Naturkräften und Naturstoffen unter Berücksichtigung der Naturgesetze einen
Erfolg erstrebt, ein Produkt oder eine Einrichtung herstellt. Als Hauptergebnis
des ersten Teils seines Werkes wiederholt Kraft, daß es zum Wesen der tech¬
nischen wie jeder andern menschlichen Tätigkeit gehöre, ethisch zu sein, das bedeute:
jede Tätigkeit, ja jede einzelne Handlung sei nur dann berechtigt, wenn sie
menschliche Bedürfnisse befriedigt, „zur Erhöhung der Zufriedenheit und Zu¬
friedenheitsqualität >?j aller Menschen ohne Ausnahme, zur Erhöhung der Kultur¬
stufe der Allgemeinheit beiträgt." Wie schwierig, ja unmöglich es in unzähligen
Fällen ist. zu entscheiden, ob eine Tätigkeit oder Handlung diese Wirkung haben
wird, hat sich Kraft wohl nicht vorgestellt. Weit leichter ist es, zu erkennen,
ob eine Tätigkeit geradezu schädlich ist; deshalb erregt der folgende Satz weniger
Bedenken: „Alle Tätigkeiten, die der Allgemeinheit offenbar zum Schaden ge¬
reichen, wie verdeckte Verwendung von Surrogatswffen und sonstigen unlautern
Wettbewerb, hat der Ingenieur schonungslos aufzudecken; alle technische Tätig¬
keit, deren Vorteile nur Einzelnen zufließen, hat er bewußt, aber allmählich, in
Bahnen zu lenken, die eine gerechtere Verteilung dieser Vorteile ermöglichen.
Er ist Wer tritt nun wieder die Tendenz des Werkes hervors der einzige, dem
diese Aufgabe zufallen kann, da er der einzige ist, der den Wert der Leistungen
im Betriebe einer technischen Tätigkeit klar und gerecht zu vergleichen und zu
beurteilen vermag." Die meisten Leser werden gleich uns diesen Beweis
der Behauptung sehr unklar finden. Dagegen ist das folgende wieder ver¬
ständlich und unbestreitbar. „Der nächste Zweck der technischen Arbeit ist die Her¬
stellung aller Erzeugnisse, die von den Menschen und den Menschengemeinschaften
zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse begehrt werden, wobei der Ingenieur hin
Gegensatz zum Handwerker früherer Zelters in der Lage ist, durch Darbietung
neuer und qualitativ höher stehender Produkte die Bedürfnis- und Zufriedenheits¬
qualität s?s der Menschen und der Allgemeinheiten zu erhöhen. Diese Erzeugnisse
sind der Hauptsache nach körperliche Gegenstände und Energien." Die Benutzung
der Naturstoffe und Naturkräfte geschieht in der Weise, daß der Techniker, der
die Eigenschaften der Stosse und die Wirkungsweise der Kräfte kennt, durch
gewisse Einrichtungen (durch Herstellung von Maschinenbedingungen; Kraft
wendet diesen von Johannes Neinke in die Biologie eingeführten Ausdruck nicht
an) bewirkt, daß die an sich unabänderlich und mit Notwendigkeit verlaufenden
Energieäußerungen den von ihm beabsichtigten Erfolg haben. Den Handel, der
es bloß auf Erwerb abgesehen habe, mag Kraft nicht zu den Gewerben rechnen;
die Arbeit des Technikers sei beendigt, wenn er dem Kaufmann das fertige
Produkt liefere. Aber die kaufmännische Beförderung des Produkts an den
Absatzort durch die Verkehrsanstalten ist doch wohl auch eine Technikerangelegen¬
heit, und eine wie wichtige! Sie wird natürlich in dem Buche abgehandelt,
ebenso wie die Meßwerkzeuge und die Wagen, die auch der kleinste Kramladen
nicht entbehren kann, das Telephon und der Telegraph, die niemand mehr in
Anspruch nimmt als der Kaufmann. Die Technik wird also den Handel, den
Kraft mit agraricrhafter Abneigung ansieht, kaum von sich abschütteln können;
sie liefert ihm doch täglich neue Werkzeuge und Hilfsmittel, seit kurzem z. B.
Rechen-, Geldzähl- und Geldsortiermaschinen. Dagegen rechnet Kraft die Ur¬
produktion, vor allem ihren wichtigsten Zweig, die Landwirtschaft, zum Gewerbe,
da sie durchaus technischer Natur sei, und erklärt ihre in der Nationalökonomik
gebräuchliche Absonderung für unzulässig. Vom Standpunkte des Technikers
aus mag er recht haben, im Wirtschaftsleben aber muß schon darum der Unter¬
schied festgehalten werden, weil ein Volk mit vorherrschender Urproduktion von
einem Jndnstrievvlke grundverschieden ist. Dasselbe gilt von der Einteilung der
Güter in Genußgüter und Gebrauchsgüter, die er ebenfalls bekämpft.
Nach dem oben von dem beabsichtigten Erfolg Gesagten müßte das ganze
Gebiet der technischen Arbeit in zwei Untergebiete geteilt werden: die Erzeugung
körperlicher Produkte und die Erzeugung physischer Energie; Kraft fügt aber
noch ein drittes Gebiet bei: die Erzeugung geistiger Energie und Arbeit. Das
erste Gebiet teilt er in 21 Fächer: Land- und Forstwirtschaft, Bergbau und
Salinen, Industrie der Steine und Erden einschließlich des Glases, das Hütten-
Wesen, die Metallbearbeitung, die Erzeugung von Maschinen, Apparaten,
Instrumenten, Transportmitteln (welches ungeheuerliche Fach, da er in Klammer
Lokomotiven, Fahrräder, Schiffbau usw. hinzusetzt!), Holzindustrie, Erzeugung
von Waren aus Kautschuk, Guttapercha und Celluloid, die Verarbeitung von
Häuten, Leder, Borsten, Haaren, Federn und ähnlichen Materialien, die Textil¬
industrie, die Papierindustrie, das Tapezierergewerbe, die Vekleidungs- und
Putzwarenindustrie, die Ncihrungs- und Genußmittelindustrie, die chemische
Industrie, das Baugewerbe, die graphischen Gewerbe, das Vermessungswesen
Liefert das körperliche Güter? Es ist wohl nur die Fabrikation von Instrumenten
für Feld- und Landmesser gemeint^, der Straßen- und Wasserbau, der Brücken¬
bau, Gewerbebetriebe im Umherziehen, wie die der Schleifer, Drahtbinder, Kessel¬
flicker usw. Hier kommt ein falscher, nicht technischer Einteilungsgrund und damit
ein nicht technisches Gewerbe hinein, der Schleifer liefert nicht körperliche Gegen¬
stände, sondern verbessert diese bloß, er gehört zu der Klasse von Gewerb-
treibenden, die Dienste leisten, die also nach dem, was vom Handel gesagt
worden ist, gar nicht zum Gewerbe gerechnet, sondern Erwerbende genannt
werden sollten. Überhaupt werden wohl Systematiker gegen Krafts Klassifikation
verschiednes einzuwenden haben, aber die Hauptsache ist doch, daß man eine
Übersicht gewinnt, und dazu kann jede beliebige Klassifikation dienen. Die
zweite Abteilung: Erzeugung von physischer Energie, umfaßt nur zwei Klassen:
die Transpvrtindustrie und die Zentralanlagen für Kraft-, Licht- und Wärme¬
erzeugung. Als Zweige der „technischen Arbeit zur Herstellung geistiger Energie
und Arbeit" werden aufgezählt: das technische Versuchswesen, das technische
Unterrichtswesen, das technische Überwachungswesen des Staates. Hier wäre
doch zu bemerken, daß der zweite und der dritte Zweig freilich Wohl zur Technik
gehören, daß aber die darin geleistete Arbeit nur zum Teil technischer Art ist;
beim Unterricht die Arbeit im Laboratorium und in der Maschinenhalle, aber
nicht die im Hörsal.
Die theoretische Grundlage der technischen Arbeit besteht in der Kenntnis
der Eigenschaften der Materie und der Wirkungsweise der Energie, also in
den physikalischen Wissenschaften, zu denen natürlich auch die Chemie zu rechnen
ist. Jedoch füllt das Naturstudium des Technikers nicht mit dem des Natur¬
forschers zusammen. Jener kann sich z. B. nicht mit der Erforschung der all¬
gemeinen Eigenschaften der Materie begnügen; er hat die Materie als Material
zu behandeln und muß die technologischen Eigenschaften jedes Materials, wie
Dimension und Form, Schmiedbarkeit, Hämmerbarkeit, Walzbarkeit, Ziehbarkeit,
Preßbarkeit, Teilbarkeit, Verdichtbarkeit, Filzbarkeit. Gießbarkeit, Kittbcirkeit,
Hürtbarkeit, den Grad ihrer Volumbeständigkeit kennen lernen; ferner die
technisch-wirtschaftlichen Eigenschaften (wie Ergiebigkeit, Konkurrenzfähigkeit,
Transportfähigkeit, Dauerhaftigkeit, Zersetzungs- und Verwitterungsfähigkeit,
Feuerbeständigkeit) und die technisch-ästhetischen, wie Patinierfähigkeit, Polier¬
fähigkeit, Farbebeständigkeit, den Glanz, die natürliche Oberflächenzeichnung.
Dann arbeitet der Forscher mit kleinen Mengen und vorzugsweise mit einfachen
Stoffen und verhältnismäßig einfachen Verbindungen, während der Techniker
gewaltige Massen eines meist sehr zusammengesetzten Materials und höchst ver-
wickelte Gebilde zu bewältigen hat, sodaß der Erfolg seiner Arbeit, auch ab¬
gesehen von den wirtschaftlichen und den gesetzlichen Rücksichten, die er beobachten
muß, von einer viel größern Zahl von Umständen abhängt, seine Tätigkeit
darum viel schwieriger ist. Die Energie kann als die Ursache alles Geschehens,
als „das Unterschiedliche in Raum und Zeit" (Ostwald) oder als die Fähigkeit,
Arbeit zu leisten, definiert werden. Robert Mayer hat nur fünf Energieformen
gezählt: die Fallkraft, die Bewegung, die Wärme, den Magnetismus und die
Elektrizität, chemisches Getrenntsein. Ostwald zählt acht, nämlich vier mechanische:
Volumenenergie (wie das Ausdehnungsstreben der Gase), Flüchenenergie (wie
die Kapillarität der Flüssigkeiten), Distanzenergie (von der die Gravitation und
der Fall nicht unterstützter Körper die einfachsten Beispiele sind), Bewegungs¬
energie (des geworfnen Steins, der abgeschossenen Kugel) und vier nicht-
mechcmische: Wärme, Elektrizität und Magnetismus, strahlende Energie (Licht)
und chemische Energie. Dazu kommt dann noch die geistige Energie, die der
Verfasser streng materialistisch auffaßt. Doch ist folgende kurze Charakteristik
dieser Energieform — bis auf ein paar Wendungen und Ausdrücke — nicht
falsch. Eine ihrer Eigentümlichkeiten „besteht darin, daß während die Äußerungen
der Energie in ihren übrigen Formen von jedermann unmittelbar wahrgenommen
werden können, dies bei der geistigen Energie mir dem möglich ist, in dessen
Gchirnsubstanz die Umwandlung vor sich geht. Die Wirkungen dieser Energie¬
form, die wir Wahrnehmen, Vorstellen, Urteilen, Denken, Begehren, Wollen
nennen ^das Empfinden vergißt ers, wird von der Außenwelt, den andern Menschen
erst dann wahrgenommen, wenn sie in andre Wirkungsformen übergegangen,
Handlung geworden ist; sie muß darum als ganz individuelles Eigentum sowohl
der einzelnen Person wie eines Volkes bezeichnet werden. Trotzdem geht ihre
Umwandlung in andre Wirkungsformen nicht bloß in dem Individuum, das sie
erzeugt, sondern auch in andern Individuen vor sich. Der Gedanke geht durch
die Umwandlung in chemische und Bewegungsenergie, dann durch Distanz- und
Volumenenergie in den artikulierten Schall, die Sprache über, die sich im
Hörenden durch Volumen-, Bewegungs- und chemische Energie in geistige, in
Gedanken und in Willensregungen zurückverwandelt." Selbstverständlich glauben
wir nicht, daß chemische Energie in geistige umgewandelt werde. Der chemisch¬
physiologische Prozeß im Gehirn ist eine Bedingung fürs Denken, aber er
verläuft in sich abgeschlossen bis zur Zersetzung nach dem Tode; seine Produkte
sind immer nur chemisch-physiologischer Art. Bei Energieumwandluugen ver¬
schwindet die eine Energieform, wenn die andre hervortritt, die Bewegung des
fallenden Steins z. B., wenn der Anprall in der getroffnen Unterlage Wärme
erzeugt. Der chemische Prozeß im Gehirn geht neben dem Denkprozeß für sich
weiter. Wir drücken uns deshalb anders aus als Kraft: die molekularen Hirn-
vorgünge geben zur geistigen Tätigkeit den Anstoß, und diese gibt ihn zu jenen,
ähnlich, wie der Chemiker im Laboratorium den Anstoß gibt zu allerlei chemischen
Prozessen, von denen man nicht sagen kann, daß sich der Gedanke des Chemikers
in sie umgesetzt Hütte. Abgesehen von dieser notwendigen Korrektur des Ausdrucks
ist die Sache in Ordnung, und Kraft hebt oft hervor, daß ohne Psychische
Energie, d. h. ohne die bewußte und gewollte Tätigkeit des Menschen, technische
Arbeit nicht denkbar ist. Die Vorstellung, die menschliche Arbeit könne je ein¬
mal überflüssig gemacht und durch die automatische Arbeit von lauter Maschinen
ersetzt werden, weist er als eine phantastische Utopie zurück, indem er an die
Erfahrungstatsache erinnert, daß aus bekannten Ursachen das Maschinenwesen
bis jetzt die Summe menschlicher Arbeit nicht vermindert, sondern vermehrt hat.
Der Mensch bleibt also das unentbehrliche Subjekt der technischen Arbeit, und
zwar spaltet sich dieses bei der heutigen Arbeitsweise meist in das mittelbare
Subjekt: den planentwerfenden Ingenieur oder gebietenden Meister, und das
unmittelbare Subjekt: die ausführende Hand. Bei der Maschinenarbeit kommt
es vor, daß sich die Arbeit des unmittelbaren Subjekts auf die Einleitung des
Arbeitsprozesses (durch Heizung des Dampfkessels, Einstellung von Maschinen¬
teilen usw.) beschränkt, und der übrige Prozeß automatisch verläuft. Aber die
Einleitung durch den Menschen kann eben niemals entbehrt werden, und dieser
muß auch den Prozeß überwachen, öfter regelnd in ihn eingreifen und ihn, z. B.
durch Nachschieben von Brennmaterial, unterstützen. Man kann darum die natür¬
liche Energie, die den Prozeß im Gang erhält, die Spannung der Dämpfe im
Zylinder einer Dampfmaschine, den Chemismus einer galvanischen Batterie, das
Räder treibende Wasser höchstens stellvertretende Subjekte nennen. Zwischen
den Menschen und die Maschine schiebt sich oft noch das Tier ein, dessen Arbeit
„insofern nicht als automatisch bezeichnet werden kann, als das Tier selbst mit
einem Willen behaftet und nicht ganz frei von unvorhergesehenen, vom Menschen
nicht beherrschbaren physiologischen Zufällen und Zustandsünderungen ist, darum
dem Willen des Menschen nicht so unbedingt gehorcht, wie ein zur Energic-
umwandlnng hergestellter Apparat." Der Techniker liebt deshalb — als Tech¬
niker — das Tier nicht, wünscht es aus allen Arbeitsprozessen auszuschalten
und hält dieses Ziel für erreichbar. Der Mensch als Mensch und Nichttechniker,
der noch andre Interessen hat als die rasche, wohlfeile und sichere Erreichung
technischer Erfolge, ist meist andrer Meinung; er fährt z. B. lieber in einem
mit lebendigen schönen Pferden bespannten Wagen als in einem Automobil.
Der Mensch (ebenso das Tier) kann unmittelbar nur mechanische Arbeit leisten;
die Umwandlung dieser in andre Energieformen kann er nur einleiten durch Her¬
stellung der Bedingungen, z. B. durch Feuermachen oder Einstellen einer gal¬
vanischen Batterie; bei dem, was dann vorgeht, ist nicht mehr er, sondern die
Naturenergie das tätige Subjekt (oder vielmehr die tätige Kraft, denn Subjekte
können nur beseelte Wesen sein). „Das Handeln des Menschen kann niemals
die Form einer chemischen Reaktion, eines galvanischen Stroms, eines Licht- oder
Wärmestrahls, sondern nur die der mechanischen Bewegung annehmen, und dies
ist wohl auch die Ursache, weshalb man die mechanische Arbeit seit jeher als
den eigentlichen Repräsentanten aller Arbeit hingestellt hat und sie noch immer
so auffaßt. ... Die Mannigfaltigkeit der Wirknngsfolgen des technischen Handelns
fußt darum zum geringsten Teil auf der Körperkonstitution des Menschen, sondern
hauptsächlich auf seiner geistigen Energie, die ihn befähigt hat, Mittel zu finden,
mit deren Hilfe er die von seinem Körper ausgehende mechanische Energie in
die andern Energieformen umzusetzen vermag."
Die andern Energien entnimmt er unsern Energiespeichern, „die groß, aber
wahrscheinlich nicht unerschöpflich sind," der Erde und der Sonne, Werkzeuge
und Maschinen sind die Hilfsmittel, mit denen er entweder seine körperliche
Energie unmittelbar auf das zu bearbeitende Material überträgt oder irgend eine
Energieform der Natur für diesen Zweck in Dienst stellt; nur dieses Jndienst-
stellen ist selbstverständlich mit dem oben gebrauchten Ausdruck „Erzeugung von
Energie" gemeint. Sollen die Werkzeuge ihrem Zweck vollkommen entspreche!,,
so müssen sie eine Reihe von Forderungen erfüllen. Die „Hygienität ist so lange
an die erste Stelle zu setzen, als der ethische Satz gilt, daß jeder einzelne Mensch
ohne Ausnahme mehr wert ist als das durch den technischen Arbeitsvorgang
zu gewinnende Produkt." Dann muß das Werkzeug ökonomisch sein, d. h. so
eingerichtet, daß die bei seiner Anwendung unvermeidlichen Verluste an Material,
Energie, Zeit und Raum auf das kleinste Maß beschränkt bleiben, und es muß
den bestehenden Staatsgesetzen gemäß sein. Endlich muß es eine Anzahl tech¬
nische Forderungen erfüllen: es muß den in Betracht kommenden Materialien,
Energien, Aggregatzuständen sowie der Körperkonstitution der beteiligten Menschen
und Tiere angepaßt sein, muß im richtigen Verhältnis stehn zu den zu bewäl¬
tigenden Massen, muß anders eingerichtet sein, je nachdem der Arbeitsprozeß
ununterbrochen oder periodisch verläuft, muß sowohl dem Grade von Geschwindig¬
keit als auch dem Grade der Präzision, der bei dem Prozeß verlangt wird, ge¬
wachsen sein. Die Werkzeuge sind teils Handwerkzeuge, teils Maschinen. Die
ersten nennt Kraft psycho-physische Werkzeuge, weil bei ihrer Anwendung der
Geist das Material ununterbrochen beeinflußt, was nur durch Vermittlung der
Hand möglich ist, da nur diese, aber keine Maschinerie, jedem Willensimpuls
augenblicklich gehorcht. Die Maschinen, deren Tätigkeit vom Menschen nur ein¬
geleitet und hier und da durch einen Handgriff unterstützt oder geregelt wird,
erfordern keine andre geistige Tätigkeit als Aufmerksamkeit; Geschicklichkeit ent¬
weder gar nicht oder nur in geringem Grade und sind deshalb als physische
Werkzeuge zu bezeichnen.
Der technische Arbeitprozeß, der als eine Reihe von Wirkungen aktueller
Energie verläuft, beginnt mit der Umwandlung potentieller Energie in aktuelle,
und zwar, da er ohne ein menschliches Subjekt nicht möglich ist, zunächst mit
der Umwandlung potentieller menschlicher Muskelenergie in aktuelle. Soweit
der einzelne Mensch Unternehmer und Arbeiter in einer Person ist, wecken die
Bedürfnisse und Notdürfte des Leibes diese schlummernde Kraft; wo die Funk¬
tionen an verschiedne Personen verteilt sind, da „kausiert" der Sklavenhalter
durch Schmerzempfindungen, die Gesellschaftseinrichtung im freien Arbeiter durch
Überlegungen, die ebenfalls Lust- und Unlustempfindungen zum Gegenstände
haben, den Willen zur Arbeit. Um die Energie der Natur aus ihrem Schlummer
aufzuwecken, muß man eine Pvtentialdifferenz herstellen. Nur dort tritt Bewegung
ein, wo benachbarte Körper ein und dieselbe Energie in verschiednen Graden ent¬
halten. Nur wenn benachbarte Körper, z. B. Luftschichten, verschiedne Tempera¬
turen haben, geht Wärme von dem einen auf den andern, vom wärmern auf
den kältern über; nur wenn das Flußbett Abstufungen hat, kann Wasser, je nach
der Höhe der Stufen, mit größerer oder geringerer Gewalt abwärts fließen oder
herabstürzen und Räder treiben; nnr wenn Stoffe von verschiedner chemischer
Verwandtschaft zusammenkommen, kann eine Zersetzung lind Neuverbiudung ein¬
geleitet werden. Demnach erfordert die Einleitung automatischer Prozesse Vor¬
richtungen, durch die entweder (durch Feuerung, Besonnung, Reibung, Niveau¬
verschiedenheit) Potentialdifferenzen hergestellt oder sin Gefäßen) Stoffe von ver-
schiedner Potenz (Chemikalien, Elektrizitätsträger) einander nahe gebracht werden.
Es werden nun in dem Buche die hunderterlei Vorrichtungen zur Weckung, Fort¬
leitung (Transmission), Aufspeicherung und Verwendung aktueller Energie auf¬
gezählt und kurz beschrieben. In dem Abschnitt über die Explosionsmotoren
heißt es: „Ihnen an die Seite zu setzen sind die Geschütze und die sonstigen
Feuerwaffen der militärischen Technik, die nichts andres als Hilfsmittel zur Auf¬
nahme, Umwandlung und Weiterleitung der durch chemische Potentialdifferenz
geweckten aktuellen Energie sind. Wenn man die Gesamtheit der zuletzt be-
sprochnen Hilfsmittel zur bewußten Weckung, Aufnahme, Umwandlung und
Weiterleitung aktueller Energie sowie die Gesamtheit der Wassermotoren und
insbesondre die theoretische Durchleuchtung und praktische Gestaltung aller dieser
Hilfsmittel ins Auge faßt, so wird jeder vorurteilslos Denkende die auf so breiten
und gleichzeitig tiefen mathematisch-physikalischen Kenntnissen ruhende Lösung der
oft außerordentlich schwierigen, durch wirtschaftliche Forderungen eingeengten Auf¬
gaben für eine wissenschaftliche Kulturtat ersten Ranges erklären müssen; die
Konstruktion der Feuerwaffen als Zerstöruugswerkzeuge ausgenommen. Der
Ingenieur hat mit der theoretischen Durchdringung s?^ und der konstruktiven
Ausbildung der Wärme-, Wasser- und Luftmotoren gewissermaßen eine zweite,
weit kräftigere Generation von Sklaven, ein andres, mit der Würde des Menschen
vereinbares Sklcwentum geschaffen, ohne dessen ungeheure Leistungsfähigkeit das
heutige Leben der geistig höher stehenden Menschen überhaupt nicht gedacht werden
kaun, und dessen Schaffung nicht etwa in allmählicher, mehrere Jahrtausende
oder Jahrhunderte, sondern nur in etwa zehn Dezennien umfassender Arbeit jeder
andern Geistestat an die Seite gestellt werden kann, und die doch uur einen
Teil der Leistungen des Ingenieurs ausmacht." Unter den Veranstaltungen zur
Aufspeicherung von Energie werden als die wichtigsten die zuerst genannt, die
geistige Energie im Hirn des Ingenieurs ansammeln. Da der geistigen Energie
die physiologische zugrunde liegt, so mußte natürlich auch der Nahrungsmittel¬
aufnahme als der Voraussetzung der Aufspeicherung gedacht werden; aber es ist
falsch, daß er sie als den Anfang dieser Aufspeicherung hinstellt, ja, wie es
scheint, für den ganzen Aufspeicherungsprozeß ansieht, denn er fährt fort: „Die
geistigen Nahrungsmittel, die Hilfsmittel der Erziehung und Belehrung spielen
dabei die Rolle von Sicherungsmitteln, die einen regulierenden, die Intensität er¬
höhenden Einfluß auszuüben haben." Man kann einen Jungen tot füttern, und
wird damit noch nicht einen einzigen mathematischen Lehrsatz, nicht eine einzige
physikalische Erkenntnis in seinem Hirn erzeugen. Der Geist wird ganz allein
vom Geiste erzeugt, geweckt und genährt — selbstverständlich nicht ohne die Ver¬
mittlung durch körperliche Tätigkeiten —, und das einzige Richtige in dem Satze
ist die Erwähnung der geistigen Nahrungsmitttel. Nur diese, nicht die leiblichen,
bringen geistige Energie in den Menschen hinein und Speichern sie in ihm auf.
Die Erziehung sichert allerdings die Bewahrung des Vorrath und seine richtige
Anwendung, steigert auch die Intensität der geistigen Energie, aber die Belehrung
ist nicht Sicherungsmittel sondern Erzeugerin dieser Energie. Immerhin ist die
Leibesnahrung auch für den Ingenieur so wichtig, daß die Köchin, deren Ge-
schicklichkeit den physiologischen Prozeß bedeutend zu fördern vermag, als seine
Gehilfin genannt zu werden verdient Hütte. Bei der elektromagnetischen Energie
„füllt der Umstand auf, daß wir eine unmittelbare und charakteristische Wirkung
der Elektrizität und des Magnetismus, eine Wirkung, die sich unsern Sinnen als
spezifisch elektrisch oder magnetisch bemerkbar machte, gar nicht kennen. Wie ich
am Leitungsdraht eines galvanischen Stromes weder eine innere molekulare
noch eine äußere Veränderung wahrzunehmen vermag, so wird auch die Wirkung
des Stromes auf ein Material niemals in einer Form sichtbar, fühlbar und hör¬
bar, die man elektrisch nennen könnte, sondern als Wärme, oder Licht, oder
chemische Veränderung, oder mechanische Bewegung. Alle uns bekannten, d. h.
sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen des galvanischen Stromes sind mechanischer,
chemischer, thermischer oder strahlender Natur, und nur das Gefühl, das beim
Durchfließen des galvanischen Stromes durch unsern Körper entsteht, kann als
dieser Energieform eigentümlich bezeichnet werden, obwohl wir auch bei ihm
nicht wissen, ob seine unmittelbare Ursache uicht mechanische, chemische oder ther¬
mische Einwirkungen auf unsre Nerven sind." Die Musterung der Werkzeuge.
Werkzeugmaschinen und NebenhilfsMittel, wie Meßwerkzeuge und Kontroll¬
vorrichtungen, setzt durch die ungeheure Menge und Mannigfaltigkeit dieser
Schöpfungen des Technikers in Erstaunen. Es kommen hinzu Mittel zur Steuerung
der Maschinen und zur Regulierung ihres Ganges, Mittel zur Erhaltung und
Erhöhung der physischen und der psychischen Energie des Menschen wie die
chirurgischen Instrumente und die Ventilationsvorrichtungen, die Mittel zur Er¬
weiterung und Schärfung dieser Energie wie die optischen Instrumente und viele
andre Kategorien. Die technischen Prozesse lassen sich nur selten, vielleicht nie¬
mals genau abgrenzen, ihr Anfang und ihr Ende nicht sicher angeben, weil immer
jeder einzelne mehrere andre voraussetzt. Wonne beginnt die Kattuuweberei?
Mit der eigentlichen Weberei? Mit der Zurichtung der Baumwolle, mit deren
Transport,' mit der Banmwollenernte. mit dem Anbau der Baumwolle oder mit
der Verstellung der zum Anbau erforderlichen Werkzeuge? Und mit dem Prozeß,
der die Rohbaumwolle herbeischafft, muß zugleich der andre sehr lange, der die
Webmaschine erzeugt, in die Fabrik münden. So entstehn Ketten und Ketten¬
züge von Prozessen, die sich zu einem unentwirrbaren Kettengeflecht verknüpfen.
Der einzelne Betrieb, für dessen Gedeihen u. a. die Wahl des richtigen „Raum-
Punkts" von entscheidender Bedeutung ist, sondert eine Kette, einen Kettenzug, ein
Kettengcflecht für sich ab, aber ohne zahllose andre Betriebe könnte er nicht be¬
steh». Ein Betrieb beginnt weder noch endigt er und einem Schlage, sondern
jeder erlebt vier Perioden: 1- die Anfangsperiode unregelmäßiger Arbeit; 2. die
Periode der regelmäßigen Arbeit; 3. eine oder mehrere Perioden von Betriebs¬
krankheiten; 4. die Periode des allmählichen Erlöschens oder einer Umwandlung
und Neubelebung. Die große und fortwährend wachsende Zahl der Industrie¬
zweige nötigt auch die Wissenschaft der Technik, sich zu verzweigen, und es müßte
demnach soviel technische Disziplinen geben, als Hauptproduktionszweige gezählt
werden, also mindestens zwanzig. Daß das heut noch lange nicht der Fall ist,
liegt nach Kraft an der historischen Entwicklung der technischen Wissenschaft. Es
sind zuerst die Disziplinen ausgebildet worden, die am unentbehrlichsten schienen,
und bei den Ingenieuren stellt sich leicht das Vorurteil ein, daß nur die auf
den technischen Schulen vertretenen Industriezweige der wissenschaftlichen Be¬
handlung und Durchdringung fähig und würdig seien. Besonders auffallend sei,
„daß die Textilindustrie, die an Zahl der Werkstätten und der in ihnen ver¬
wendeten Arbeiter sowie an Steuerkraft den bedeutendsten Industrien mindestens
gleichsteht, wenn sie sie nicht alle überragt, heute noch der allseitigen und inten¬
siven wissenschaftlichen Durchleuchtung ihrer zahlreichen Wechselwirkungsketten
entbehrt. Hier kann der Grund uicht darin liegen, daß der geringe Umfang der
Industrie die Verwendung höchster geistiger Energie darauf unwirtschaftlich er¬
scheinen ließe; der Grund dürfte darin liegen, daß diese Industrie von den ein¬
seitig praktischen Engländern entwickelt worden ist und durch ihren empirischen
Werdegang in den Unternehmern das Vorurteil erzeugt hat, wissenschaftliche
Behandlung sei nicht nur nicht nötig, sondern geradezu vom Übel, sodaß die
von diesem Gebiete ferngehaltnen Ingenieure gar keine Gelegenheit hatten, sich
damit zu beschäftigen." Vielleicht haben die Baumwollenspinner und Kattun-
weber mit ihrer Ansicht nicht so sehr Unrecht. Tatsache ist doch, daß Indien
ohne eine Ahnung von Naturwissenschaft seit Jahrtausenden das Vollkommenste
in der Weberei geleistet hat, was sich denken läßt, und daß die moderne
Maschinenspinnerei und Weberei, bei der es auf rasche Massenproduktion abge¬
sehen ist, auch kaum übertroffen werden kann. Die Industrien sind eben in dieser
Hinsicht verschieden. Die Elektrotechnik ist ohne Physik nicht denkbar; der mo¬
dernen Weberei hat es bis jetzt genügt, daß ihr die Ingenieure Maschinen bauen,
und sie wird wahrscheinlich auch in Zukunft ohne eine besondre Webereiwissen¬
schaft blühen.
Im letzten Abschnitt kommt der Verfasser noch einmal auf die Unterschiede
zwischen dem Naturforscher und dem Techniker zurück und findet auch einen
ethischen heraus. Der Forscher betreibe die Wissenschaft als Selbstzweck, das
bedeute: zur Befriedigung seines Erkenntnistriebes, also ans Egoismus. Der
Techniker arbeite für das Wohl der Menschheit, also aus altruistischen, ethisch
höher stehenden Beweggründen. Freilich könne auch bei ihm das Geldinteresse
eine Rolle spielen, aber wenn auch mancher Techniker die Wissenschaft nur als
Melkkuh schützen sollte, so sei das doch sicherlich bei den Juristen und Medizinern
mindestens in demselben Umfange und Grade der Fall. Und da nun die
Ergebnisse der Technik nicht bloß ein persönliches Bedürfnis des Technikers,
auch nicht das einer kleinen Minderheit: das der wissenschaftlich Gebildeten be¬
friedigten, sondern dem Wohle der ganzen Menschheit dienten, und den edlern
unter den Technikern, namentlich ihrer höchsten Klasse, den Ingenieuren, das
hohe Ziel zur Triebfeder werde, so seien sie um dieses edeln Beweggrundes
willen ethisch höher zu schützen als die theoretischen Naturforscher, einige be¬
sonders hervorragende ausgenommen. Es soll uns lieb sein, wenn diese Charak¬
teristik zutrifft. Denn da der Einfluß der Techniker täglich wächst, und sie in der
Zukunft vielleicht wirklich einmal die Herrscherstellung einnehmen werden, die
ihnen nach Kreises Meinung gebührt, so hängt von ihrem ethischen Charakter
sehr viel ab fürs Volkerwohl.
O^5^>^
^ngeführ fünfzehn Jahre sind verflossen, seit der greise Gladstone
in einem lungern Aufsatz im ^wetsöntn Lentui^ mit allen Waffen
seiner klassischen Bildung zur Verteidigung des altorthodoxen
Glaubens in die Schranken trat. Der Angriff, den der be¬
rühmte Staatsmann so ernster Abwehr für würdig hielt, kam von
einer Frau, der Schriftstellerin Humphry Ward, die mit einem ihrer ersten
Romane: Rovsrt Msrasrs an Stelle des alten christlichen Glaubens ein neues
Evangelium predigte. Gladstone hat mit seiner scharfen Kritik, die doch nirgends
dem starken Geiste der Verfasserin die schuldige Achtung versagte, viel zur Be¬
rühmtheit von Frau Ward beigetragen. Seit dem sensationellen Erfolge von
liovsrt Msmerö hat sie in der englischen Romanliteratur die führende Stellung
eingenommen, die sie ohne Unterbrechung bis auf den heutigen Tag behauptet
hat. Um sie Scharte sich eine Gruppe von Schriftstellern, die ihre dichterischen
Werke nur zu dem Zwecke schrieben, soziale und religiöse Fragen darin zu
diskutieren. Der Geschmack der britischen Lesewelt höherer Ordnung steht im
allgemeinen dem Tendenzroman weniger feindlich gegenüber als in Deutschland.
Es ist bezeichnend, daß sich unter all den absprechender Kritiken, deren Gegen¬
stand Robert Msmörs wurde, kaum eine Stimme erhob, die das Unkünstlerische
in Frau Warth Werk tadelte. Zwar wurde allgemein betont, daß die Roman¬
form von der Verfasserin gewählt worden sei, weil sie so am wirkungsvollsten
zu den „gebildeten Massen" reden könnte, und daß die religiösen Wandlungen
ihres Helden nur den Vorwand lieferten zu einer gründlichen Erörterung des
Zwiespalts zwischen den Dogmen der anglikanischen Kirche und der sogenannten
LuristiM LrotKsruooä. Aber man nahm ihr das weiter nicht übel und folgte
ihr bereitwillig, als sie auf dem erwählten Pfade weiter wandelte und in ihren
spätern Romanen bald dieses bald jenes soziale Problem beleuchtete, so noch
vor fünf Jahren in Hslbsok ok Mumsäg-I«; die Möglichkeit einer Ehe zwischen
einem strenggläubigen Katholiken und einem Mädchen agnostischen Bekenntnisses
oder in dem vorletzten Roman MöÄnor eine Umwandlung der innern Verhält¬
nisse Italiens. Doch hier treten die ersten Spuren einer künstlerischen Wand¬
lung hervor, denn die politischen Erörterungen stehn nicht mehr im Vorder¬
grunde des Romans. Offenbar hat die Verfasserin mehr Freude daran gehabt,
zwei eigentümliche Charaktere wie Manisch und Eleanor zu schaffen, als an
sozialpolitischen Ausführungen über italienische Mißwirtschaft. Das rein mensch¬
liche Interesse überwiegt, und deshalb sind die tendenziösen Ausfälle nicht wie
früher als organische Bestandteile untrennbar mit dem Ganzen verbunden,
sondern sie wirken als überflüssiges Beiwerk, das nur störend und hemmend
den harmonischen Fluß der Erzählung unterbricht.
Und nun liegt das jüngste Werk der begabten Schriftstellerin vor uns.
Welcher Weg von Robert IA8in.<zrs zu I^Zx Kosv's DM^hehr! (Erschienen bei
Smith Eider, London, und in der Tauchnitz - Edition, Leipzig.) Keine Spur
dogmatischer oder politischer Weltverbesserungsversuche trübt hier die feine
psychologische Erzählungskunst. Es ist, als wenn sich die Verfasserin ans der
schwülen Atmosphäre kleinlichen Parteigetriebes emporgeschwungen hätte zu den
reinen Höhen echter Prosadichtung, deren Wesen nichts zu schaffen hat mit
religiösen und sozialen Streitfragen. Und als Frucht solcher Erkenntnis schenkt
uns das reiche Talent der Verfasserin dieses Werk, dessen Stoff wiederum der
Geschichte der französischen Literatur entnommen ist. Doch während der Held
ihres frühern Romans, Manisch, nur in einzelnen psychischen und physischen
Eigentümlichkeiten dem großen Romantiker Chateaubriand ähnelte, gleicht Lady
Rohes Tochter, Julie le Breton, Zug für Zug ihrer berühmten Namensschwester
Julie Lespinasse, der Königin der Pariser Salons um die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts.
Wie über das Leben der Freundin dÄlemberts der Schatten einer nicht
legitimen Geburt fällt, so leidet auch Julie le Breton unter demselben Schicksal.
Sie ist die Tochter Lady Rose Delaneys, die getrennt von ihrem pedantischen
Gatten, an den sie kein Band der Zuneigung fesselt, an der Seite des geist¬
vollen Schriftstellers Dalrymple in Belgien lebt, wo beide ihr Töchterchen mit
allen Schätzen ihrer Liebe und ihres reichen Geistes überschütten. Doch kaum
erwachsen, sieht sich Julie Dalrymple schon verwaist; sie findet Aufnahme in
einem Brüsseler Nonnenkloster. Bei einer zufälligen Begegnung wird die alte
Lady Henry Delafield von der Anmut und der Klugheit des Mädchens so an¬
gezogen, daß sie die Verlassene zu sich nimmt unter der Bedingung, daß ihre
Herkunft geheim bleibe. So begegnet Julie le Vretou — diesen Namen hat
sie auf Lady Henrys Wunsch angenommen — im Salon ihrer Beschützerin den
meisten ihrer Verwandten, doch nur wenige von ihnen wissen, daß sie zu ihrer
Familie gehört; auch Jülich Großvater nicht, Lord Lackington, der häufig
Gast bei Lady Henry ist. Julie le Breton bewegt sich in dieser aus den vor¬
nehmsten Aristokraten und den Führern der Wissenschaft und Literatur be¬
stehenden Gesellschaft mit so viel Grazie und Takt, daß sie sich bald alle Herzen
gewinnt. Hier entwickelt sich auch ihr glänzendes Konversationstalent und
ihr Hang zur Intrigue. Nach zwei Jahren sind sämtliche langjährigen Freunde
Lady Henrys auf ihrer Seite, und da die alte Dame natürlich auf diese Er¬
folge eifersüchtig wird, entsteht bald eilte Spannung zwischen ihnen, die immer
mehr wächst. Schließlich kommt es zum Bruch. Julie le Breton verläßt das
Haus Lady Henrys und siedelt in eine kleine, dem Herzog Crowborough ge¬
hörende Villa über, die ihr durch die Fürsprache der ihr eng befreundeten
Herzogin Evelyn überlassen wird. Frei von dem Druck, mit dem Lady Henrys
Tyrannei sie belastet hatte, entfaltet sich Julie le Bretons Persönlichkeit in ihrer
vollen fesselnden Art. Mehr als einer ihrer Freunde bietet ihr ein Heini an
seiner Seite, unter ihnen Jakob Delafield, der Erbe des Herzogs von Chudleigh.
Doch durch eine Laune ihres heißblütigen Temperaments, eines Erbteils der
Mutter, fällt ihre Liebe auf den einzigen Mann, der sie nicht wählen darf.
Denn schon ein Jahr zuvor, ehe Captain Warkworth das Haus Lady Henrys
betritt, hat er sich mit der lieblichen Alleen Moffatt. Juliens rechter Cousine,
verlobt. Obgleich er fest entschlossen ist, sein Verlöbnis aufrecht zu erhalten,
vermag er sich doch nicht dem Zauber zu entziehn, den Julie le Breton auf
alle, die ihr nahe kommen, ausübt. Zudem dankt er einen entscheidenden Erfolg
in seiner Karriere, die Ernennung zum Führer eines wichtigen Kommandos in
Afrika, allein ihrem Einfluß. Allmählich wandelt sich seine zurückhaltende
Freundschaft für die gütige Protektorin in heiße Liebe, und als er vor seiner
Abreise nach Afrika zum letzten Lebewohl zu ihr kommt, sucht er sie zu be¬
stimmen, daß sie in Paris noch einmal fern von allen Spähern zusammentreffen
wollen, um zwei glückliche Tage mit einander zu verleben. Und sie, die Tochter
Lady Rohes, die sich in Gedanken schon so oft über die Satzungen der guten
Gesellschaft als über kleinliche Skrupel hinweggesetzt hat, willigt ein, ganz wie
die andre Julie, die dem heimlich geliebten Guibert schrieb: usis 1a xru-
äkuoe . . . Hus vous Zirai-js? j'aiiQS l'kchgnclon; js n'gAis aus als vremisr
nicmvsmsnt, se j'g.iir>6 Z, 1s, tolle, on'on soit as nrsme avso moi!
Aber Julie le Breton hat wachsamere Freunde als die unglückliche Made¬
moiselle Lespinasse. Als sie nach ihrer Ankunft in Paris eben den Zug besteigen
will, der sie zu Warkworth führen soll, begegnet sie Jakob Delafield, der aus der
Anwesenheit Warlworths alles errät. Der nahe bevorstehende Tod Lord
Lackingtons bietet Delafield den Vorwand, Julie le Breton sofort nach London
zurückzuführen an das Sterbebett ihres Großvaters, der sie in Gegenwart
seiner Söhne als Lady Rohes Tochter anerkennt. Doch Jülich zarter Körper
bricht nnter den Aufregungen der letzten Wochen zusammen, denn auch die
Gewißheit, daß Delafield um das beabsichtigte Zusammentreffen mit Warkworth
weiß, ist ihr nicht erspart geblieben. So kommt ein hitziges Nervenfieber
fast wie Erlösung. Die junge Herzogin Evelyn pflegt ihre kranke Freundin
mit treuer Fürsorge und begleitet später die Genesende nach Italien. Und
hier tritt aufs neue Jakob Delafield in ihr Leben, der Mann, dessen Liebe
nach dem Eingriff in Jülich Schicksal bei ihrer Begegnung in Paris noch ge¬
wachsen ist. Er beruft sich auf das Versprechen, das Julie Lord Lackington
gegeben hat, daß er in Friede» sterben kann: Delafield ihre Hand nicht zu
verweigern, wenn er nochmals um sie werben sollte. Nach langem Widerstande
willigt Julie ein, seinen Namen zu tragen.
Die nun folgende Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden ist
eines der feinsten Seelengemälde, die Fran Ward jemals entworfen hat.
Delafield beginnt mit edler Selbstverleugnung seine Aufgabe, Julie zu trösten
und ihr die Gedanken an das Verlorne Liebesglück zu nehmen. Seine treue
Hingebung verfehlt nicht, auf das wunde Gemüt Jülich zu wirken. Allmählich
erwacht ihr Interesse an der Persönlichkeit des Gatten. Besonders tritt sein
mächtiger Einfluß auf sie hervor, als die Nachricht kommt, daß Warkworth
bald nach seiner Ankunft in Afrika am Fieber gestorben sei. Doch gerade in
dieser Krisis ist Delafield gezwungen, sie allein zu lassen. Der Tod des
Herzogs von Chudleigh, dessen Nachfolger er ist, fordert gebieterisch seine An¬
wesenheit in England. Und nun kommt für Julie die Gelegenheit, Jakobs
Liebe, in der sie bisher nur die Empfangende gewesen ist, zu vergelten. Seine
Neigung zur Askese schreckt vor allen den Reprüsentationspflichten, die ihm die
künftige hohe Stellung auferlegt, zurück, sodaß er ernstlich die Frage erwägt,
ob er nicht das Erbe zurückweisen solle. Da eilt seine Gattin zu ihm, und
ihrer sanften Überredung gelingt es, ihn mit den lästigen Pflichten zu ver¬
söhnen, und da er ihrer Liebe nun gewiß ist, schaut er leichtern Herzens in
die Zukunft.
Die Grazie und die Feinheit, die sich in diesem Roman mit tiefer Einsicht in
die Geheimnisse der Menschenseele vereinen, kommen nur bei ruhigem Genuß des
schonen Buchs ganz zur Geltung. Keine noch so ausführliche Besprechung ver¬
mag ihm gerecht zu werden. Durch die Anlehnung an ihre Vorbilder ist ein
leiser Hauch französischer Anmut in den Dialog und die Erzählung übergegangen.
Denn auch Lady Henry Delafield ist das Porträt von Mademoiselle Lespinasscs
Beschützerin und Rivalin, der Marquise du Desfcmd, und auch Warkworth
trügt einige Züge des Grafen Guibert. Nur hat Frau Ward das Wesen des
oberflächlichen Lebemanns vertieft, und die Wandlungen, in denen sich dank der
hingebenden Liebe einer edeln Frau sein Charakter lüntert und reinigt, kommen
in seinem letzten Brief an Julie ergreifend zum Ausdruck. Durch und durch
germanisch ist der Charakter Delafields. Frau Warth interessanter Versuch,
eine Mischung heterogener Eigenschaften in ein und derselben Person lebenswahr
darzustellen, ist nicht ganz geglückt. Delafield soll nüchterne Verstandesschärfe
mit dem Geiste des Schwärmers, des Mystikers vereinen, einer in der Chudleigh-
familie erblichen Eigentümlichkeit. Solche Züge dem Leser glaubhaft zu machen,
dazu braucht es jedoch mehr als gelegentlicher Winke vom „sechsten Sinn"
und „der Macht des Priesters, für die die Frauen besonders empfänglich sind."
Solche Eigenschaften müssen sich in ihren Wirkungen kundgeben, wenn sie
überzeugen sollen. Die einzige Gelegenheit, wo das geschieht, bei der letzten
Werbung Delafields um Julie, ist nicht sehr glücklich gewählt, weil dadurch
etwas Pathologisches in ihre Einwilligung hineingetragen wird, was Frau Ward
sicher nicht beabsichtigt hat. Für die Wechselbeziehungen Delafields und Jülich
liegen andre Erklärungen näher, wenn überhaupt die starke Anziehung zwischen
zwei Kraftnaturen, deren Züge in einem ausgesprochnen Gegensatz zueinander
stehn, einer Erklärung bedarf.
In England ist der Roman von der Presse und dem Publikum mit un¬
eingeschränkter Anerkennung begrüßt worden; so groß ist sein Erfolg, daß er
sogar eine Übersetzung der Briefe Mademoiselle de Lespinasses veranlaßt hat,
die jüngst im Verlage von Heinemann in London erschienen ist. Die VclinburAll
Rsvisv widmet in ihrer Julinummer der Persönlichkeit Julie Lespinasses einen
lungern Aufsatz, dem am Schluß eine kurze Besprechung des Wardschen Romans
beigefügt ist. Der ausschließlich geschichtliche Standpunkt, den der Kritiker auch
gegenüber dein Werke der Ward einnimmt, läßt ihn zu keiner gerechten
Würdigung der künstlerischen Schöpfung kommen. „Historische Charaktere, so
schreibt er, Persönlichkeiten der Gesellschaft eines bestimmten Zeitalters und
Volks in ein andres Land, eine andre Zeit zu versetzen und sie unter anderm
Namen darzustellen — mit andern Worten, sie der modernen Romandichtung
anzupassen —, ist ein neuer, geistreicher Einfall, der jedoch zu einigen Aus¬
stellungen Veranlassung gegeben hat. Die Genialität und die Neuheit von
Frau Warth Idee verleiht natürlich ihrem Roman: I^ä^ liosö's Denker
eine Frische, die viel zu seiner Popularität beigetragen hat; doch vom histo¬
rischen Standpunkt ist ihr gedankenreiches Werk von geringer Bedeutung.
Denn unser Urteil über Mademoiselle de Lespinasse wird durch Julie le Breton
weder erklärt noch verändert." Ist das denn noch nötig? Wohl war Julie
Lespinasse für ihre Zeitgenossen, die in ihr nur die geistvolle Leiterin eines
philosophischen Salons sahen, ein Rätsel. Doch das lösten ihre Briefe, die nach
ihrem Tode veröffentlicht wurden, und die ihren Freunden verrieten, welche
heiße, stürmische Leidenschaft sich unter der bewunderungswürdigen Selbst¬
beherrschung der Julie Lespinasse verbarg. Diese Briefe zeigen alle Regungen
ihrer Seele bis in die geheimsten Tiefen, was übrigens auch der Kritiker der
N<ZmwrKli Rövisv an andrer Stelle zugibt.
Die Wiedererweckung einer rein geschichtlichen Persönlichkeit ist Fran Ward
in hohem Maße gelungen. Denn obwohl die Briefe der Mademoiselle Lespinasse
mit ihren elementaren Ausbrüchen der Liebe und des Schmerzes gewiß immer
ihren psychologischen und poetischen Wert behalten werden, so wird der Kreis
ihrer Leser doch nur klein sein. Die Briefe klingen wie ein Vorahnen der
Wertherzeit, und nur wenige werden der immer neu betonten Verzweiflung dieses
kranken Gemütes mit ungetrübtem ästhetischen Genuß der edeln Sprache folgen
können. Die Ward hat aus ihren eignen, urgesunden Lebensanschauungen
dem Charakter der Julie so viel hinzugefügt, daß die Gefahr der Monotonie
ununterbrochner Tragik vermieden wird. Und in diesem Sinne dürfte es
ungerechtfertigt sein, der Verfasserin einen Vorwurf daraus zu machen, daß
sie „vom historischen Standpunkt" nichts Neues geboten habe. Denn sie hat
mit ihrer Darstellung der Sappho des achtzehnten Jahrhunderts gewiß der
großen Zahl ihrer Bewunderer eine erfreuliche Gabe gebracht und dem Kreise
ihrer internationalen Leser einen reinern Genuß bereitet, als mit jedem ihrer
vorhergehenden Tendenzromane.
Wahrend das Buch der Ward, die die englische Kritik meist als-
Naturalistin bezeichnet, von versöhnender idealistischer Weltanschauung getragen
wird, kennzeichnet krasser Realismus das letzte Werk eines andern hervor¬
ragenden Schriftstellers, die Skizzen- und Novellensammlung: 1^6 Untillsä ?isla
von George Moore. (Fisher Altwin, London, und Tauchnitz-Edition.) Das
„unbebaute Feld" ist Irland. Moores eigne Heimat, der, wie er vor etwa
drei Jahren ankündigte, sein ferneres künstlerisches Schaffen gewidmet sein soll.
Es ist eine sonderbare Erscheinung, daß gerade jetzt, wo über die grüne
Insel etwas wie freudiges Ahnen eines künftigen Aufschwunges weht, keine Spur
dieses Hoffnuugsstrahles in die verdüsterte Seele Moores Eingang findet. Nur
ein von Schwermut getrübtes Gemüt konnte das Leben des trotz seines Unglücks
so liebenswürdigen irischen Volkes in so einförmig grauen Farben widerspiegeln.
Dazu kommt eine Gewalt der Darstellung, die häufig an Zola erinnert, wenn auch
der Ire trotz seiner unwandelbaren Melancholie noch gesünder und deshalb
weniger pervers ist als der Franzose. Aber während Zola mit aller Kraft seines
Geistes für die einmal von ihm erkannten Ideale der Menschheit stritt, scheint
Moore sogar die Fähigkeit, sich zu begeistern, verloren zu haben. Er hat die
Hoffnung auf das Wiedererwachen seines Volkes aufgegeben: „Das Keltentum
schmilzt wie Schnee, noch zögert es in den Ecken der Felder in kleinen Flecken,
und von allen Seiten recken sich Hände danach aus — denn es ist menschlich,
nach Fließendem zu greifen —, aber ebensowohl könnte man versuchen, den
Schnee festzuhalten."
Den Grund dieses Niedergangs sieht Moore in der despotischen Herrschaft
der katholischen Geistlichkeit. Etwas wie Sehnsucht nach den heidnischen Zeiten,
wo die keltischen Stämme zu den Herrschenden in Europa zählten, klingt um
manchen Stellen des Buches wieder. Es ist, als fühle sich der Künstler wie
ehedem Byron und Shelley, deren Namen er in einem frühern Buche neben
seinem eignen genannt hat, ok xur« Kina. Die weichen, lieblichen Umrisse
der Berge von Howth, wo einst Ossian gewandert ist, mahnen ihn an das
heidnische Irland. So heißt es an einer Stelle: „Die Berge sind wie Musik,
sagte er, und er dachte an Ossian und seine Harfe. — Wird Ossian jemals
wiederkehren? — Lieber sterben, als hier leben. — Der Nebel wurde dichter,
er konnte Howth nicht mehr sehen. Das Land ist schmerzerfüllt', sagte er,
und wie eine Antwort tönte aus dem Nebel eine Melodie, so wehevoll, wie
er noch keine vernommen. Die Klage eines verfallenden Geschlechtes; dies ist
die Krankheit der Seele, vor der wir fliehen."
Aber George Moore gehört nicht zu denen, die vor ihr fliehen oder in
kraftvoller Auflehnung den Druck einer quälenden Stimmung zu besiegen wissen.
Sämtliche Erzählungen dieses Buches zeugen davon, daß der Schmerz dem
Dichter ein lieber Gefährte ist, dessen Spuren er überallhin verfolgt. Er findet
ihn in der Monotonie der trüben Moorlandschaft, in dem Wehen des Windes
und in dem Wallen des Nebels, in den Melodien der Hirtenflöte und schließlich
in unendlich vielfältiger Gestalt in den Seelen der Bewohner dieses Landes,
deren Schwungkraft gelähmt ist durch das Bewußtsein, daß sie dem Untergange
verfallen sind. Und in diesem nationalen Niedergange tritt die Neigung des
Iren, sich in sich selbst zurückzuziehen, immer mehr hervor. Über einem
intensiven innern Leben, über der Sorge des frommen Landmanns um seiner
Seele Heil werden die Pflichten der täglichen Arbeit vernachlässigt. Denn die
harmlosen Feste und Lustbarkeiten, die in vergangnen Tagen dieser verhängnis¬
vollen, tief im keltischen Volksgeiste wurzelnden Neigung ein so wirksames Gegen¬
gewicht geboten hatten, sind von fanatischen Priestern ausgerottet worden, weil
noch Spuren ihrer heidnischen Herkunft daran hafteten und die darin wohnende
urwüchsige Kraft das Volk von seiner widerstandslosen Ergebung unter geistliche
Autorität ablenkte. Durch das ganze Buch zieht sich ein bittrer Protest gegen
die Geistlichkeit, an deren übermächtigen Einfluß der Gale zugrunde geht:
„Der letzte Gale wird sich noch im Sterben an die Soutane des Priesters
klammern. Doch warum sollte ich ihn beklagen? Was hat er je geleistet? . . -
Es schien, als wenn Gott den Gälen bestimmt habe, Großes zu vollbringen,
doch plötzlich seinen Sinn geändert habe. Das geschah im zehnten Jahrhundert,
und seitdem hat das galische Volk eine unglaubliche Zahl von Priestern und
Polizisten, einige der besten Ringkämpfer und ein paar begabte Juristen hervor¬
gebracht, doch nichts wirklich Bedeutendes mehr. Ein liebenswürdiger, sympathischer
Bursche ist der Ire; jeder hat ihn gern, und ich liebe ihn herzlich und möchte
ihn retten. Aber er will mich nicht hören. Jeder kennt seine Bestimmung, auch
der Gale — sein Schicksal ist, zu verschwinden!" Diese Worte legt der Ver¬
fasser dem Politiker Red Carmady in den Mund, dem Helden der letzten Novelle
<Me miet (?008s), in dessen Wesen und Streben sich Moores eigne Gesinnung
unverhüllter offenbart, als in jeder andern Person seiner frühern Werke. Nach
jahrelangen Reisen durch alle Erdteile in die Heimat zurückgekehrt, versucht
Carmady eine Änderung der bestehenden Verhältnisse zu ungunsten der Geistlich¬
keit herbeizuführen. Doch der Kampf ist zu ungleich, und ein einziges unbedachtes
Wort veranlaßt Carmadys Niederlage. Dazu kommt ein Zwiespalt mit seiner
Frau, einer überzeugten Katholikin, von der er sich innerlich geschieden fühlt,
als er erfährt, daß in allen entscheidenden Lebensfragen das Wohl der Kirche
für sie den Ausschlag gibt und all ihre Liebe zu ihm nichts daran zu ändern
vermag. So hält ihn bald nichts mehr in der Heimat, und ein Zug wilder
Gänse, die er in düstre Betrachtungen über seine fehlgeschlagnen Hoffnungen
versunken nach Süden fliegen sieht, läßt in ihm den Wunsch reifen, gleich
ihnen nach Afrika zu ziehn und dort in die Reihen der Buren zu treten.
„Große Männer waren vor ihm in Irland aufgestanden und waren im Stich
gelassen worden; leicht gesagt, daß ihr Mißerfolg nur daher gekommen sei, daß
sie mit der Tradition ihres Volkes nicht in Berührung geblieben seien. Doch
einige Schuld muß auch auf feiten Irlands sein. ... Die Erzählung wechselt,
doch ihr Inhalt ist immer derselbe: Irlands Wohl wird den Interessen Roms
geopfert."
Trotz der in seinem innersten Wesen wurzelnden Antipathie gegen die
Geistlichkeit ist Moore gerecht genug, auch ihre edeln Seiten anzuerkennen. In
dem alten Pfarrer Me. Turnan, einer der liebenswürdigsten Gestalten des
Buches, schildert er einen greisen Priester, der in seiner einsamen Parochie
eins geworden ist mit den ihm anvertrauten Seelen, und dem es eine heilige
Pflicht ist, ihr Elend zu lindern. Und in dieser Gegend ist seine liebevolle
Fürsorge gewiß notwendig, denn es ist das ärmste Kirchspiel in Irland, und
aller drei bis vier Jahre tritt Hungersnot ein. „Sie würden längst gestorben
sein, wenn Father James nicht wäre," bemerkt der Kutscher, der den Erzähler
zu einem Besuche des Geistlichen fährt. Dank seinen Bemühungen werden von
der Regierung zu solchen Zeiten Wegebauarbeiten unternommen, um den Leuten
einen kargen Verdienst zuzuwenden. Aber diese Straßen durch das Moor haben
kein Ziel, sie enden mitten im Schlamm, wenn das dafür bestimmte Geld aus¬
gegeben ist. Alles Denken und Sinnen des ehrwürdigen Pfarrers ist der
Erleichterung der wirtschaftlichen Not gewidmet. Nacheinander versucht er,
häusliche Industrien, Spitzen- und Webearbeiten ins Leben zu rufen, ohne
doch je durchgreifende Erfolge zu erzielen- Er plant Passionsspiele nach dem
Muster Oberammergaus und wird auch hier enttäuscht. „Seine Augen sind
so melancholisch wie die Berge, aber die Natur hat ihn bestimmt, den Hoffnungs¬
losen Hoffnung zu bringen." Und diese Mission erfüllt er getreulich, und kein
Mißerfolg kann seine Zuversicht auf ein endliches Gelingen erschüttern.
Eine warme Sympathie für die rührende Gestalt des alten Pfarrers durch¬
bricht in den Skizzen vorübergehend den herb anklagenden Ton des Mvvreschen
Buches. Das Buch ist eine Apologie für das irische Volk, wie sie eindrucks¬
voller kaum gedacht werden kann. Die Schilderung des freudlosen Daseins
der Armen, das uns auf jeder Seite des Buches in immer neuen ergreifenden
Zügen entgegentritt, wirkt bei fortgesetzter Lektüre zwar wie der Aufenthalt in
ungesunder Atmosphäre, die den Atem hemmt. Aber die künstlerische Kraft
Moores, der alle Tiefen der Menschenseele durchforscht hat und ihr Fühlen
und Sehnen bis in die feinsten Regungen darzustellen vermag, nimmt den Leser
wider Willen gefangen. Die einzige Erleichterung gibt der Gedanke, daß ein
so düsteres Gemälde übertrieben sein muß, gleichviel, ob dieses Übermaß in dem
Temperament des Verfassers begründet liegt, oder in seiner Absicht, durch die
krasse Darstellung eine Änderung der sozialen Verhältnisse in seiner Heimat
herbeizuführen.
In völligem Gegensatz zu der tiefen Tragik dieser Bilder aus dem irischen
Volksleben steht eine andre Skizzensammlung, die zu den jüngsten Erscheinungen
des Tauchnitz-Verlages zählt: Ins Lxlencliä kath ?ortis8 von Gertrude
Atherton, einer amerikanischen Schriftstellerin. Auch dieses Buch gibt in
seinem reichen novellistischen Inhalt Charakterzüge eines ganzen Volkes. Frau
Atherton schildert die letzten glücklichen Jahre der Kalifornier, der von den
spanischen Eroberern abstammenden ersten Besitzer des Goldlandes, deren Romantik
und Üppigkeit so bald der herben Tatkraft der eindringenden Amerikaner weichen
mußte. Überschäumende Lebenslust, die mit ihrem Jauchzen das Raunen des
Verhöngnisses zu übertönen sucht, charakterisiert diese Erzählungen. Es ist, als
wenn die glücklichen Besitzer des paradiesischen Bodens ahnten, daß all die
Herrlichkeit nur noch für eine kurze Spanne Zeit ihr eigen sei, und daß sie
deshalb alle Lebensfreude in wenig Monden erschöpfen müßten. Und die Atherton
paßt zur Darstellung dieser stürmischen Zeit, in der schon die ersten Anzeichen
des Unterliegens der Romanen erscheinen, wie keine andre. Mit keckem Pinsel
läßt sie in leichter, skizzenhafter Manier all die sonderbaren Charaktere vor
uns erstehn, die die Blutmischung und die schrankenlose Ungebundenheit unter
der glühenden Sonne Kaliforniens hervorbrachten. Wesen und Temperament
dieser Geschöpfe zeigen ebenso vielfältige Schattierung wie ihre Hautfarbe. Der
Inhalt von zwei der gelungensten Skizzen möge einen Begriff von der poetischen
Art des Buches geben.'
In der einen, ?b.e Lo1l8 ot Lau Gabriel, wird uns erzählt, wie die
Missionskirche von San Gabriel zu ihren silbernen Glocken kam. Der Haupt¬
mann Don Luis de la Torre wird aus Mexiko mit seiner Truppe zu den
frommen Vätern gesandt, um sie beim Bau ihres Gotteshauses vor Angriffen
der Wilden zu schützen. Ungeduldig harrt er der Beendigung des Baues, denn
er will zu seiner Braut, Donna Delfina de Capalleja, zurückkehren. Da wird
zur Nachtzeit das nichtsahnende Kommando von den mit Übermacht heran-
ziehenden Indianern überfallen und bis auf den letzten Mann niedergemetzelt.
Landes Wehklagen erschallt in Mexikos Straßen, als die Trauerkunde bekannt
wird, nur Donna Delfina geht schweigend in ihr Haus, das sie nicht wieder
verläßt. Zu Ehren des gemordeten Hauptmanns und seiner Truppe soll eine
silberne Glocke gegossen werden. Enthusiastisch nimmt das Volk teil an dem
Ereignis, das mit besondrer Feierlichkeit auf der großen Plaza vollzogen
werden soll. Und als das Silber im Kessel schon flüssig geworden und Salut¬
schüsse und fromme Gesänge an das Gedächtnis der Tapfern mahnen, bildet
sich in der erregten Volksmenge plötzlich eine Gasse. Beladen mit all ihrem
Geschmeide, den Juwelen von Generationen, naht Donna Delfina. schweren
Schrittes tritt sie zum Kessel, löst langsam eine Kette nach der andern und
läßt sie in das siedende Metall fallen. Atemlos schaut das Volk ihren müden
Bewegungen zu, dann, als das letzte Armband abgestreift ist, bricht frenetische
Begeisterung aus. Die Menge drängt sich um den Kessel, und alle schleudern
ihre Kostbarkeiten hinein, sodaß, als das Opfer vollendet ist. das geschmolzene
edle Metall für fünf Glocken ausreicht, deren lieblicher Klang mehr als ein
Jahrhundert lang von San Gabriels Türmen tönt. Delfina aber, die mit
starrem Blick dein Treiben des Volkes zugesehen hat, wendet sich zum Gehen.
Doch nach wenig Schritten stürzt sie leblos zu Boden.
Noch eine andre Erzählung von Liebe und Tod, Ins ?<zarls ok I^orsto,
möge hier angedeutet werden. Die schöne Madel Herrera, die Favorita von
Monterey, hat geschworen, sich nur mit dem Manne zu vermählen, der ihren
Schoß mit Perlen fülle. Keiner ihrer Ritter in Nordkalifornien ist reich genug,
diese Forderung zu erfüllen. Da kommt zu einem Rennen der junge Vicente
de la Vega aus Los Angeles nach Monterey; von Isabels Schönheit entflammt
schwört er, ihr Gelübde um jeden Preis zu erfülle», obgleich sie bereit ist, vou
ihrem Verlangen abzustehn. Als er nach monatelanger Abwesenheit zurückkehrt,
schüttet er in das Gewand der Geliebten eine Fülle der schönsten Perlen. In
derselben Nacht noch soll sie mit ihm auf einem Schiff nach den Vereinigten
Staaten fliehn, doch vorher noch einmal auf einem Ball des Generals mit all
dem Reichtum geschmückt über ganz Monterey triumphieren. Und Asahel tanzt
unter allgemeinem Jubel M 8on, den spanischen Nationaltanz; aller Augen
hängen bewunderungstrunken an ihrer Schönheit, die ihnen nie so leuchtend
erschienen ist. Da geht die Tür auf, ein Mönch gleitet in den Saal und
deutet auf de la Vega: „Greift ihn! Er hat die Perlen der heiligen Jungfrau
von Loreto geraubt!" Freunde suchen die Flucht der Liebenden zu schützen —
umsonst; der Mönch hat den Fanatismus des Volkes erregt, und de la Vega,
der mit Asahel glücklich aus dem Saal entkommen ist und schwimmend das
Schiff erreichen will, wird, noch ehe er den Sprung von der Klippe gewagt
hat, von der rächenden Kugel ereilt. Asahel aber zieht den Sterbenden zum
äußersten Rand der Felsen, und ihn fest umschlingend, stürzt sie mit ihm in
die Tiefe.
In den Abteilungen, die von dem Kampf der Spanier mit den „Gringos"
berichten, behandelt Frau Atherton häufig dieselben Themata, wie der vor
Jahresfrist gestorbne Bret Harte, nur steht sie auf Seite der Spanier, die in
Bret Hartes Erzählungen meist eine wenig beneidenswerte Rolle spielen. Im
übrigen ist der Vergleich mit den Werken des Sängers der modernen Argonauten
für das Athertonsche Buch nicht eben vorteilhaft. Von Bret Hartes feinem
Humor und seiner abgeklärten Weltanschauung ist in diesen spanischen Er¬
zählungen nichts zu spüren. Sie tragen den Stempel eines bedeutenden Talents,
besonders in der dramatischen Lebendigkeit, mit der die abenteuerlichen Schicksale
der Schönen von Monterey und ihrer Anbeter erzählt werden. Aber man be¬
dauert, daß die Verfasserin ihren reichen Stoff nicht durch eine gediegnere
Darstellung vertieft hat. Es ist ein Buch, das große Erwartungen für das
zukünftige Schaffen der Verfasserin rechtfertigt. Und wenn ihr Studium der
Persönlichkeit Hamiltons, das gegenwärtig ihr Interesse ausschließlich in Anspruch
nehmen soll, abgeschlossen sein wird, darf man gewiß auf ansgereiftere Werke
hoffen, als die vorliegende, in ihren Einzelheiten so fesselnde Sammlung.
UM)
M^KMW
ll angsam fuhr die kleine Klingelbahn durch das Gelände. Aller Viertel¬
stunden, wenn nicht öfters, hielt sie an; Landleute gingen und kamen,
hier wurde Käse aufgeladen, dort ein Wagen mit Kornsäcken an¬
gehängt. Es war ein gemütlicher Verkehr, und auf jeder Station
tranken die Schaffner ein Glas Bier.
Ob wir wohl einmal ankommen? fragte Melitta von Hagenau
und sah ihren Reisegefährten lachend an.
Gleichmütig zuckte er die Achseln.
Ganz gewiß, Fräulein. Langsam aber sicher. Das Kloster entgeht Ihnen
nicht, und auch nicht die Langweile.
Melitta Hagenau und Klaus Fuchsins hatten sich vor etwa einer Stunde
im Wagenabteil dritter Klasse kennen lernen und waren schon ganz befreundet ge¬
worden. Melitta gehörte zu den jungen Mädchen, die leicht Bekanntschaften machen,
und denen ihre Schönheit etwas sichres, Siegbewußtes verleiht. Klaus Fuchsins
dagegen war einer von den jungen Männern, die das weibliche Geschlecht als ein
minderwertiges Spielzeug ansehen und es, im Grunde genommen, verachten. Aber
nur so lange sie nicht vor einem schönen Mädchen sitzen und schelmisch von ein Paar
flimmernden Augen angesehen werden. Klaus hatte kein häßliches Gesicht und war
ein junger, wohlgebauter Mann. Nur sein Mund war weichlich und zuckte oft
sonderbar, und in seine dunkeln Augen trat gelegentlich ein harter und doch un¬
sichrer Ausdruck. Auf diese Dinge achtete Melitta nicht. Sie dachte viel an sich,
und wenn sie sich langweilte, dann freute sie sich, jemand zu haben, der ihr die
Langweile vertrieb, besonders wenn dieser Jemand ein junger Mann war.
Wie lange werden Sie in Wittekind bleiben? fragte sie jetzt.
Fuchsius betrachtete seine unschön geformten Hände.
Das weiß ich nicht, entgegnete er mürrisch. Die Äbtissin hat an meinen
Seminardirektor geschrieben, ob ich nicht zur Aushilfe an die Dorfschule kommen
könnte, und ihr Wunsch war natürlich Befehl, obgleich ein altes Weib von Schulen
nichts versteht, und ich viel lieber in eine große Stadt gegangen wäre. Ich möchte
gern nach Berlin, und ich sagte es auch dem Direktor. Aber so ein Mann ahnt
natürlich nichts von höhern Dingen. Er sagte, ich sollte nur erst einmal nach
Wittekind gehn und mich aufs Examen vorbereiten. Dummkopf! Herr Klaus
Fuchsius schlug mit der Faust auf sein Knie, als ob es sein Direktor wäre.
Ach, Sie haben Ihr Examen noch nicht gemacht?
Nein! Klaus preßte die Lippen zusammen und sah aus dem Fenster. Wenn
das hübsche junge Mädchen ihn so fragend ansah, war er in Versuchung, ihr zu
sagen, daß er schon zweimal im Examen durchgefallen wäre, und daß der dumme
Direktor schuld daran sei; aber alles brauchte man nicht zu erzählen.
Ich habe mein Examen schon gemacht und habe schon drei Jahre unter¬
richtet. Aber gelegentlich muß man seine Stellung wechseln; denn die Vorsteherinnen
sind oft schrecklich! berichtete Melitta. Sie erzählte natürlich auch nicht, daß sie
schon zweimal ihren Platz wegen unpassender Koketterie mit verheirateten Lehrern
hatte wechseln müssen.
Wittekind ist ein schauderhaftes altes Dameunest! erzählte Klaus. Wohin man
sieht, sind Damen, und wenn mau ihnen begegnet, wird man angeredet und nach
allem möglichen gefragt. Die Damenklöster sollten aufgehoben und ihr Geld sollte
den Armen gegeben werden. Ich habe schon zwei Aufsätze darüber in der Zeitung
geschrieben.
Ach, Sie schreiben für die Zeitung? Melitta sah den Sprecher ehrfurchtsvoll
an, und er warf sich in die Brust.
Natürlich schreibe ich; und ich mache auch Gedichte. Kürzlich hat die Iduna
zwei davon gebracht.
Handelten sie von Liebe? fragte das junge Mädchen, und ihre Augen öffneten
sich weit.
Nein, von Stimmungen. Liebe ist altmodisch, Fräulein. Über diese Empfindung
kann jeder Esel dichten. Aber Stimmungen —
Klaus hielt inne und lächelte selbstbewußt und träumerisch. Aber Melitta
steckte sich verstohlen ein Schokoladenplätzchen in den Mund. Aus Stimmungen
machte sie sich viel. Sie nahm ihren großen Hut vom Kopfe und glättete
sich das dunkle Honr. Wenn man zu Taute Betty kam, mußte man glatt ge¬
kämmt sein; sonst gab es eine scharfe Bemerkung. Die gab es freilich immer;
so oder so, und es war nicht angenehm, Tante Betty zu besuchen. Aber Melitta
hatte niemand anders, zu dem sie, wenn sie stellenlos war, hätte gehn können, und
außerdem klang es andern Leuten gegenüber recht angenehm, sagen zu können:
Ich gehe zu meiner Tante, der Gräfin Eberstein im Kloster Wittekind. Und das
Kloster selbst hatte etwas Behagliches, und die andern Damen waren immer freund¬
lich. Sie fragten nicht viel, woher und wohin; sie freuten sich über ein junges,
hübsches Gesicht und luden zum Kaffee ein oder zum Tee. Denn wurde von vor¬
nehmen Beziehungen, manchmal sogar vom königlichen Hause gesprochen, und
Melitta, die in der Eingeschlossenheit eines Seminars groß geworden und später
von einer Stellung in die andre gestoßen worden war, empfand es als eine Erholung,
mit vornehmen Damen an einem Tische zu sitzen und von vornehmen Leuten zu
sprechen. Sie war doch auch von altem Adel. Obgleich sie dritter Klasse fahren
mußte und kaum so viel Geld hatte, sich anständig zu kleiden. Aber ihr Vater
hatte genau so viel Ahnen gehabt wie die alten Klosterdamen, und wenn er nicht
eine so törichte Heirat getan hätte, brauchte seine Tochter vielleicht nicht dritter
Klasse zu fahren und das Brot der Dienstbarkeit zu essen.
Sie machen jn ein furchtbar ernstes Gesicht, Fräulein! sagte Klaus Fuchsius.
Er starrte schon eine Weile in das hübsche, lebhafte Mädchengesicht vor ihm und
wunderte sich, daß er plötzlich unbeachtet war. Nach seiner Ansicht mußte jedes
Mädchen glücklich sein, mit ihm zu sprechen.
Melitta fuhr zusammen. Ich dachte an mancherlei Dinge.
Mädchen tun besser dran, nicht zu denken, entgegnete Klaus, wurde aber als¬
bald unruhig, denn die großen schillernden Augen der jungen Dame streiften ihn
mit einem lachenden Blick.
Weshalb sollen Mädchen nicht denken?
Frauen sind zur Liebe da, entgegnete er bedächtig.
Melitta lachte laut auf, und tausend Schelme lachten aus ihren Augen.
Von Liebe wird man nicht satt, Herr — ach, ich weiß noch nicht Ihren
Namen!
Ich heiße Fuchsius, lautete seine würdevolle Entgegnung. Klaus Fuchsins.
Und ich Melitta von Hagenau.
Er machte ein verdrossenes Gesicht.
Aus dem Adel mache ich mir nichts, Fräulein. Das ist ein untergehender
Stand und eine Herde von Parasiten. Wer nicht aus sich selbst etwas wird, den
verachte ich.
Melittas feines Gesicht rötete sich.
Nicht alle Leute können etwas aus sich selbst werden; aber sie sind verpflichtet,
ihren Ahnen Ehre zu machen. Und wer adlich ist, hat meist bessere Manieren, als
die Leute aus dem Bürgerstande!
So? Auch der junge Mann war böse geworden. Sie haben nette Ansichten,
Fräulein. Sie — Sie — er suchte nach Worten.
Da aber hielt der Zug plötzlich an, und der Schaffner rief den Namen der
Station.
Wer nach Kloster Wittekind will, muß auch hier aussteigen! setzte er gemäch¬
lich hinzu.
Melitta sprang eilig mit ihrem kleinen Handgepäck aus dem Wagen und nickte
Herrn Fuchsius nur noch von oben herab zu. Sie hatte zwar alsbald vergessen,
daß sie sich beinahe mit ihm gezankt hätte; aber im Bannkreis des Klosters wurde
sie hochmütig. Einen nur mäßig gekleideten Dorfschulmeister brauchte sie nicht mehr
zu kennen.
Ein alter Manu trat auf sie zu und legte den Finger an die Mütze.
Vielmals grüßen von Gräfin Eberstein, und ich soll den Koffer ins Kloster
bringen. Fräulein kennt wohl den Weg.
Melitta gab dem Torwart, denn er war es, ihre Handtasche und machte sich
auf den Weg nach Wittekind. Das Kloster lag etwa eine halbe Stunde Wegs von
der Station entfernt, und wenn die Klosterdamen ankamen oder abreisten, dann
mußte der Klosterpächter sein bestes Fuhrwerk mit einem Livreekutscher auf dem
Bock stellen. Aber für arme Verwandte war ein solcher Aufwand nicht nötig. Für
die war es heilsam, zu Fuß zu wandern.
Während Melitta die lange, reizlose Landstraße dahin schritt, ärgerte sie sich
über alle Maßen. Über die unfreundliche Tante Betty, und über sich selbst, daß
sie hergekommen sei. Aber sie hatte sonst niemand, den sie besuchen konnte, und
hatte kein Geld, sich irgendwo in Pension zu geben. Sie mußte das Beste aus
ihrem Leben machen, und sie nahm sich vor, es zu tun. Als bei einer Biegung
des Wegs das Kloster vor ihr lag, und sie die efeugrünen Mauern sah, die
blanken, freundlichen Fenster, und als sie das Schlagen der Glocke hörte, da war
sie schon wieder heiter.
Vielleicht werde ich auch noch einmal mit der Klosterkutsche abgeholt, tröstete
sie sich, und dann werde ich Tante Betty von oben herab behandeln.
Gräfin Eberstein empfing ihren Gast mit kühlem Gleichmut.
Bist du mal wieder da, Melitta? Sonderbar, daß du nie lange in einer
Stellung aufhältst. Liegt das an den Leuten oder an dir?
An den Leuten, Tante Betty!
Die Gräfin maß das junge Mädchen mit strafendem Blick.
Die Antwort ist verkehrt, Melitta, und du weißt es wohl. In deinen Ver-
Hältnissen muß man sich fügen und nicht wider den Stachel locken. Ich kann dich
nicht jedesmal, wenn dn keine Stellung hast, aufnehmen. Merke dir das und geh
jetzt in dein Zimmer.
Der Empfang war nicht freundlich, und als Melitta in ihrem Zimmer war,
hatte sie Lust zu weinen. Aber sie zog es vor, an ihr Fenster zu gehn und einen
Blick auf den kleinen Kirchhof und ans die Seite des Kreuzgangs zu werfen, die
man von hier aus sehen konnte. In frühern Zeiten hatte sich Melitta gegraust,
über dem Kreuzgang und dicht bei dein Kirchhof zu wohnen. Aber das Fremden¬
zimmer hatte einmal diese Lage, und Melitta wußte jetzt, daß die Toten, die da
drunten schliefen, ihr nichts taten. Und es war immer ganz nett, die Meuscheu zu
beobachten, die im Kreuzgang hin und her gingen. Meist waren es freilich nur
weibliche Wesen; es konnte aber auch gelegentlich ein Fremder dort wandeln, die
eingelassenen Epitaphien und die bunten Fenster zu betracheu. Und manchmal
konnte man hören, was gesprochen wurde.
Heute saß wahrlich ein Herr auf einer der Bänke, die gerade Melittas Fenster
gegenüber lagen. Ein wirklicher Herr mit scharfgeschnittnem Gesicht und einem
wohlgepflegten Schnurrbart. Er sah vor sich hin, summte ein Liedchen und zündete
sich eine Zigarre an.
Darf im Kreuzgang eigentlich geraucht werden? fragte Melitta die Gräfin.
W war nach dem Abendbrot; Gräfin'Eberstein hatte ihre üble Laune einigermaßen
vergessen und sprach recht freundlich mit dem jungen Mädchen. Jetzt hob sie die
Schultern.
Im Kloster darf sicherlich nicht geraucht werden; aber einige Herren be-
kümmern sich nicht um das Verbot. Wolf Wolffenradt zum Beispiel raucht seine
Zrgarre überall. Die Äbtissin hat ihn hente mit seiner Schwester zu Tisch ein¬
geladen, und er wird nachher den Kreuzgang verqualmt haben.
Ist Wolf Wolffenradt ein Bruder von Baronesse Asta, von der du mir er¬
zählt hast?
Allerdings. Ein viel jüngerer Bruder, der die Folge» einer törichten Heirat
zu tragen hat. Aber die Männer werden nie klug.
Die Gräfin sprach von andern Dingen, und Melitta mußte ein Gefühl der
^auschung überwinden. Also der nette Herr, den sie eben verstohlen betrachtet
hatte, war verheiratet? Wie kam es doch, daß die meisten Männer verheiratet
waren?
Weshalb seufzt du? fragte Gräfin Betty.
Ich gähne nur ein wenig, versicherte Melitta. Dabei dachte ich an meinen
Reisegefährten, einen Herrn Fuchsius. Ein sonderbarer Mensch.
Klaus Fuchsius? Die Gräfin wurde plötzlich ärgerlich. Taucht der Bengel
wieder ans? Ich dachte, er wäre sicher im Seminar untergebracht.
Er sagte, die Frau Äbtissin hätte ihn herbestellt, weil er Hilfslehrer
werden solle.
Ohne mich zu fragen? Gräfin Eberstein wurde rot vor Verdruß: Wie kommt
sie dazu?
Melitta erwiderte nichts, und die Gräfin beantwortete sich die Frage selbst.
Wahrscheinlich seiner braven Mutter wegen. Sie wohnt hinten auf Moor¬
heide, einem kleinen Hof. von der ihr keine Erdscholle gehört, und wir Stifts¬
damen haben ihr den Jungen abgenommen, um etwas aus ihm zu machen. Aber
es ist nichts ans ihm geworden. Auf der Schule konnte er nicht weiter kommen
und anch nicht auf dem Seminar.
Er macht Gedichte! erzählte Melitta lachend. Der augenscheinliche Verdruß
der Tante belustigte sie.
Gedichte? Die Gräfin saß starr da. Habe ich ihm dafür fünfzig Mark jähr¬
lich gegeben, daß er auch noch Verse macht? Vielleicht wird er sogar noch ein
Zeitungsschreiber, und dazu einer, der schlechte Witze über den Adel und adliche
Damenklöster macht. Morgen spreche ich mit der Äbtissin. So ein Mensch darf
nicht die Kinder unsrer Angehörigen unterrichten!
Aber Tante Betty! Melitta erschrak. Du weißt doch noch nichts von den
Gedichten des Herrn Fuchsius. Auch ist es kein Verbrechen, ein Talent zu haben.
Und außerdem —
Gräfin Betty machte eine kurze Handbewegung.
Wir wollen von andern Dingen sprechen, Melitta. Über diese Angelegenheit
hast du kein Urteil. Jedenfalls aber wirst du die Bekanntschaft mit Herrn Fuchsius
nicht fortsetzen. Hiermit verbiete ich es dir!
Als Melitta später in ihrem Zimmer war, nahm sie sich fest vor. die Bekannt¬
schaft mit Klaus Fuchsius sicherlich fortzusetzen. Er stieg in ihren Augen. Er
war undankbar und sprach schlecht über seine Wohltäter. Das konnte sie begreifen.
Über Tante Betty hätte sie auch gern schlecht geredet, sie wagte es nur nicht. Sie
und die ältere Dame verstanden sich nicht; das war von jeher so gewesen, und die
Wohltat, die Melitta annehmen mußte, drückte manchmal schwer auf ihr, bis sie
sie von sich abschüttelte und sich vornahm, nicht dankbar zu sein. Auch Herrn
Klaus Fuchsius wollte sie dem Kloster zu erhalten suchen.
Am nächste» Tage machte Melitta die Besuche, die sich für einen Gast von
Wittekind geziemten, und die sie von früher her gewohnt war. Zuerst ging sie
zu der Äbtissin, Frau von Borkenhagen, die sie mit großer Güte empfing, ange¬
legentlich nach ihreni Ergehen fragte und Gräfin Eberstein beneidete, einen jungen
Besuch im Hause zu beherbergen.
Ich habe gar keine Jugend in meiner Familie, sagte sie mit ihrer etwas
zirpenden Stimme. Sonst müßte sie herkommen und ihre alte Taute besuchen.
Die Jugend ist etwas Schönes! Dabei seufzte sie, und Melitta sah mit einem
Anflug von Teilnahme in ihr altes kluges Gesicht.
Ich würde Hochwürden Gnaden gern auf lange besuchen!
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Das würde Ihnen bald langweilig werden,
liebes Kind. Gräfin Eberstein paßt besser für Sie. Sie kann Sie auch noch er¬
ziehen; denn junge Mädchen müssen erzogen werden, und ich würde zu schwach
sein; viel zu schwach. Gräfin Betty ist stark, sehr stark.
Wiederum entschlüpfte ihr ein kleiner Seufzer, und Melitta entsann sich gehört
zu haben, daß Gräfin Eberstein ein strenges Regiment über die Äbtissin führte,
und daß diese selten etwas ohne ihre Erlaubnis tun durfte.
Frau von Borkenhagen empfing ihren Besuch in einem schönen alten Zimmer,
dessen Türen nach dem Garten weit geöffnet standen. Das war der sogenannte
Äbtissinnengarten, der in den allgemeinen Klosterpark hineinschnitt, von ihm aber
durch eine hohe Buchenhecke abgetrennt war. Er hatte einen großen Rasen und
viele Rosenbüsche und war friedlich und schön, wie alles im Kloster.
Melittas Augen ruhten mit beinahe sehnsüchtiger Bewunderung ans dem stillen
Gärtchen und dem Empfangszimmer, wo sie in einem bequemen Sessel Platz ge¬
nommen hatte. An den weißen Stuckwänden hingen schöne alte Bilder in Gold¬
rahmen; auf dem Fußboden lagen weiche Teppiche, und die blanken Mahagoni¬
möbel trugen zu einer etwas altmodischen Behaglichkeit bei. Das junge Mädchen
mußte immer in häßlichen Räumen leben. In kahlen Schulzimmern, oder in ihrem
bescheidnen Schlafgemach. Und gerade sie trug Verlangen nach Behagen und schöner
Umgebung und allem, was das Leben reich machte. Die Äbtissin berichtete ihr
von einige» Klosterereignisseu. Eine Dame war gestorben, eine neue war feierlich
eingeführt worden. Dem Klosterpächter, der seinen Hof hinter dem Park hatte,
war ein neues Wohnhaus gebaut worden, und die Schule, die in der Nähe des
Pachthofes lag, mußte vergrößert werden.
Das ist wohl die Schule, an der Herr Fuchsins unterrichten sollte? fragte
Melitta.
Sollte? Die Äbtissin wiederholte das Wort mit einigem Erstaunen. ^
Tante Betty mag ihn ja nicht leiden. Hochwürden. Ich bin nämlich gestern
mit Herrn Fuchsins hierher gereist, und ich faud ihn ganz nett. Aber als ich
Tante Betty von ihm erzählte und zufällig sagte, daß er Verse mache wurde sie
sehr böse und sagte, er solle das Kloster wieder verlassen. Er es wohl auch sehr
undankbar gewesen.
Die Äbtissin saß plötzlich sehr gerade. .
Ich wüßte nicht, daß Gräfin Eberstein über diese Angelegenheiten zu be¬
stimmen hätte.
Nein? Melittas Stimme klang unschuldig.
Tante Betty sagte, sie wollte ihn hier nicht dulden. Weil er doch dichtet
und undankbar ist.
Frau von Borkenhagen rückte unruhig aus ihrem Platz hin und her.
Jeder Mensch neigt zur Undankbarkeit; und wenn einer Verse macht, ist er
darum doch noch nicht schlecht. Gellert und Paul Gerhardt haben mich Lieder ge¬
dichtet, nicht zum Schaden der Menschheit, und andre Dichter ebenso. Ich habe
Klaus Fuchsins kommen lassen, weil er eben ein alter Bekannter von uns ist, und
ich für eine Anstellung für ihn sorgen konnte. Seine Mutter ist eine vortreffliche
Frau; Gräfin Eberstein weiß es ebensogut wie ich, und sie wird sich an Klaus
Fuchsins Gegenwart gewöhnen müssen.
Als sich Melitta mit einem ehrerbietigen Handkuß von der Äbtissin verab¬
schiedet hatte und wieder unter den Bäumen des Klostergartens ging, lächelte sie
vor sich hin. Nun bekam Tante Betty doch ihren Willen nicht gleich, und das
war ihr die Hauptsache.
Sie setzte ihre Besuchsrunde fort. Da war die älteste Dame des Klosters,
Fräulein Amalie von Werkentin, der sie ihre Ehrfurcht bezeigte, und bei der sie
sich immer langweilte. Eine alte vertrocknete Dame, deren Gedächtnis nicht immer
ganz klar war, und die meist von alten Zeiten sprach. Wer sich länger mit ihr
einließ, der konnte die Beobachtung macheu, daß ihr Geist eigentlich nur im Halb¬
schlummer lag, und daß er durch freundliche Teilnahme wieder erweckt werden
konnte. Zu solchen Versuchen hatte Melitta weder Lust noch Zeit. Sie zeigte sich
hier nur. besuchte noch einige jüngere Damen und traf gerade bei Asta Wolffeuradt
ein, als diese wieder mit ihrem Bruder beim Nachmittagskaffee saß.
Asta und Wolf hatten eine Unterhaltung beendet, die für beide nicht erquicklich
gewesen war. Asta hatte wieder von der reichen Frau von Manska, von Ehescheidung
und vom Dovenhof gesprochen, und Wolf hatte sich über alle drei angeschlagnen
Themata geärgert. Und doch war er es gewesen, der zuerst nach Frau von Manska
und dann nach dem Dovenhof gefragt hatte. Jetzt aber, als er wieder hören
mußte, daß der Dovenhof verkauft werden solle, und daß Frau von Manska sehr
viel Geld hätte, jetzt saß er mürrisch auf dem sonst so bequemen Lehnstuhl und
zog an seinem Schnurrbnrt. Auch Asta fühlte sich unbehaglich. Sie hielt es für
ehre Pflicht, den Bruder wieder in ein standesgemäßes und geordnetes Leben zu
bringen; aber ihr Gewissen schlug sie dennoch.
Deshalb freute sie sich, als Fräulein von Hagenau gemeldet wurde, des
fremden Elements, das eine angenehme Abwechslung versprach, und sie begrüßte
das junge Mädchen mit Herzlichkeit. Vor zwei Jahren, als Melitta zuletzt das
Kloster besucht hatte, war Asta noch nicht in Wittekind gewesen, und heute erst
lernte sie Georg Hagenaus Tochter kennen. Aber sie hatte sich schon vorgenommen,
besonders freundlich gegen die junge Waise zu sein; schon ans Trotz gegen Betty.
»ut auch Wolf sah wohlgefällig in Melittas hübsches Gesicht und in ihre flimmerten
Augen. Herr von Wolffenradt war immer ein Freund der Damen gewesen. Seit
seiner Heirat waren ihm keine andern Frauen als die seine entgegengetreten und
jetzt verkehrte er mit ernsten und ehrbaren Klosterdamen, und denen er meist gut
auskam. Ein junges Gesicht machte ihm aber doch einen andern Eindruck. Lebhaft
redete er auf Melitta ein, und sie antwortete ebenso lebhaft; Astr aber bereitete
neuen Kaffee und freute sich, eine Unterhaltung für ihren Bruder zu haben. Das
konnte ihn nur noch fester an sie fesseln.
Es gibt Menschen, die sich sofort finden. Als Wolf Wolffenradt Melitta
Hngenau später uach Hause geleitete, sprachen sie wie alte Bekannte miteinander.
Die Begleitung war ganz unnötig, denn Gräfin Eberstein und Baronesse Wolffen¬
radt wohnten zwar in zwei verschiednen Flügeln des alten Klostergebttudes, aber
sie hatten, wenn sie sich besuchen wollten, nur den Kreuzgang zu überschreiten.
Wolf fand es jedoch gemütlich, mit Melitta noch ein wenig im Kreuzgang
auf und ab zu wandern und in dem leichten Ton zu plaudern, der ihm früher,
in den alten und guten Zeiten so geläufig gewesen war. Melitta verstand es, auf
diesen Ton einzugehn.
Sie berichtete von ihrer Lehrerinnenlaufbahu und davon, daß es sehr lang¬
weilig sei, immer unterrichten zu müssen, und kein festes Heim zu haben, in das
man einmal flüchten könnte, und er empfand Mitleid mit ihr und zugleich Mitleid
mit sich, daß es auch ihm ähnlich und schlecht erginge.
Als sie sich trennten, wanderte Wolf zufrieden in seine kleine Stadt und war
in so guter Stimmung, daß er sogar eine Karte an Elisabeth schrieb, was er
lange nicht getan hatte. Er war eben kein Briefschreiber, und mit diesem Wort
absolvierte er sich von allen Unterlassungssünden.
Aber er war auch kein Briefleser. Elisabeths engbeschriebne Bogen überflog
er nur mit halber Aufmerksamkeit. Es freute ihn natürlich, daß Madame Heine-
mcmu und Jungfer Rosalie nett gegen seine Frau und die Kinder waren, daß
Elisabeth Herrn Müller vorlas, und daß es ihr gesundheitlich gut ging. Aber er
dachte nicht gern an die Klabunkerstraße mit ihren alten kleinen Häusern und der
Paulinenterrasse, in der nur Arbeiter wohnten. Da war es doch angenehmer, und
seiner Schwester über alte Fnmilienbeziehungen und über die Menschen zu sprechen,
zu deuen er durch Geburt und Erziehung gehörte. Die kleine Hagenau gehörte
doch auch eigentlich dazu. Während er an Elisabeth schrieb, daß es ihm gut gehe,
sah er das lächelnde lebensfrohe Gesicht Melittas vor sich. Sie war fast eine
Schönheit; er liebte flimmernde Augen und ein gewisses rassiges Benehmen, das
Elisabeth ganz abging, und er nahm sich vor, Melitta öfters zu sehen.
Gräfin Eberstein bekümmerte sich wenig um Melitta. Sie gab ihr zu essen
und zu trinken, ermahnte sie, sich eine neue Stelle zu suchen, und ließ sie sonst
ihrer Wege gehn. Bald nach Melittas Ankunft war sie bei der Äbtissin gewesen
und in schlechter Stimmung zurückgekehrt. Melitta bemerkte es und freute sich
darüber. Aber sie hütete sich wohl, irgeud etwas zu sagen.
Als sie schon einige Tage im Kloster war, ging sie eines Abends auf den
Pachthof. Er lag außerhalb der Klosterumfassung und bestand nicht allein aus
einem Wohnhaus und großen Stallungen, sondern auch aus einer Reihe von Tage¬
löhnerwohnungen und einem Schulgebäude. Zu dem Kloster gehörten mehrere
Dörfer, und so war es Wohl begreiflich, daß das Schulhaus, trotz seiner Reihe
von Fenstern, an der einen Seite durch einen Anbau hatte vergrößert werden müssen.
Hier ging Melitta auf und ab und sah neugierig um sich. Auf dem staubigen
Schulplatz spielten lärmend um das Turngerät Tagelöhnerkinder. Sie wandte sich
bald ab und wollte nach Hause zurückkehren, als ihr Klaus Fuchsius entgegentrat.
Er trug einen langen Rock, der vielleicht einmal elegant gewesen war, und rauchte
aus einer langen Pfeife.
Melitta lachte ihm entgegen.
Man sieht Sie kaum vor Rauchwolken, Herr Fuchsius. Ihre Pfeife ist nicht
gerade etwas schönes!
Der junge Manu zog nachlässig den Hut.
Soll ich Zigaretten rauchen, wie die meisten jungen Lassen? Ich tue, was
mir gefällt.
Er stieß mächtige Dampfwolken von sich, und Melitta empfand wieder etwas
wie Ehrfurcht or ihm. Er war nicht wie andre Menschen.
Wie gehts Ihnen denn, Herr Fuchsins? Befriedigt es Sie, hier zu unterrichten?
Nein, entgegnete er kurz. Die Jungen sind mir zu dumm, und die Mädchen —
er machte eine verächtliche Handbewegung. Entschuldigen Sie, Fräulein, aber die
Mädchen sind eine schlimme Gesellschaft. Und mein alter Lehrer ist ein Narr erster
Güte. Alte Leute sind meist närrisch. Sie schreiten nicht fort, das ist das Unglück.
Dann werden Sie uns bald wieder verlassen?
Weshalb das? fragte Klaus Fuchsius, während er gemächlich rauchend neben
Melitta herging. Die Welt ist nun einmal ein Narrenhaus, und hier nicht mehr
als anderswo. Vorläufig gedenke ich hier zu bleiben.
Hat die Frau Äbtissin mit Ihnen gesprochen?
Ja, die alte gute Person hat mich neulich kommen lassen, mir einige über¬
flüssige Ermahnungen gegeben und mir gesagt, ich sollte bleiben. Wenn ich mein
Examen mache, kann ich sogar erster Lehrer werden. Vorausgesetzt, daß mein
lediger Oberkollege stirbt oder versetzt wird.
Sie können sich etwas bei mir bedanken, Herr Fuchsius!
Vvv't^-. unruhigen Augen ruhten mit einem spöttischen Ausdruck auf
^ternas Gesicht.
Ebpi-s?? ^ '"^ ^ Frau Äbtissin gesprochen, berichtete sie mit Selbstgefühl. Gräfin
^ver,iew wollte Sie nicht hier behalten, und sie hat viel Einfluß. Sie sagt, Sie
waren undankbar gewesen!
.... ^"dankbar? Was diese guten Mädchen sich einbilden! Klaus lachte ver-
snM ihnen ein paar Taler annimmt, glauben sie gleich, man
Mte vor Dankbarkeit sterben. Als hätten sie um ihrer Wohltat willen einen
schlechter zu Mittag gegessen,
annimn t?"^"^' brauche uicht dankbar zu sein, wenn man Freundlichkeiten
Gewiß nicht. Wer etwas hat, muß dem geben, der nichts hat. Das ist ein
nuer Satz, der, wenn ich nicht irre, schon in der Bibel steht. Wer das nicht tut,
es em Schuft.
Klaus rauchte zufrieden weiter, und Melitta hörte ihm nachdenklich zu.
Eigentlich hatte er Recht, auch sie fand keinen Gefallen an der Dankbarkeit. Aber
sie kehrte doch zu ihrem ersten Gedanken zurück.
Bei mir dürfen Sie sich doch bedanken, Herr Fuchsius. Ich habe für Sie
bei der Äbtissin gesprochen.
Burschikos klopfte er sie auf die Schulter.
Nun, dann bedanke ich mich, kleines Mädchen! Wollen Sie einen Kuß zur
Belohnung haben?
Ungläubig sah sie ihn an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und
wandte sich hochmütig von ihm ab. Klaus sah ihr mit rotem Kopf nach. Mit
elastischem Schritt ging sie den von Weiden eingefaßten Weg entlang, der vom
Pachthof zum Eingang des Klosters führte. Sie hatte eine stolze Haltung, und
das Abendrot wob einen sanften Schein um ihre junge Gestalt. Ja, sie war
schön, und Klaus ärgerte sich, daß er sie um einen Kuß gefragt hatte, anstatt sich
einen zu rauben. Eben hatte er eine Stallmagd auf dem Hofe geküßt, und sie
hatte es kichernd geduldet. So mußte man mit den Weibern umgehn und nicht
viel Federlesens machen. Ein andresmal wollte er sich klüger benehmen und nicht
erst fragen. Mit großen Schritten wanderte er vor dem Schulhaus auf und ab
und quälende unablässig. Die langen Rockschöße flogen hinter ihm her, und die
Kinder auf dem Turnplatz lachten über ihn. Aber nur verstohlen. Denn der neue
Herr Lehrer hatte eine schwere Hand.
Unterdes ging Melitta durch den Klvsterpark in den Kreuzgang. Sie ärgerte
sich über den unverschämten Menschen, und sie fragte sich zugleich, ob die wirklich
bedeutenden Männer immer so anders wären, als andre, gewöhnliche junge Leute.
Klaus war doch sicherlich bedeutend, sonst würde er nicht so ganz besonders sein.
Und hier im Kloster, wo es nichts besondres gab, war dieser Mann jedenfalls eine
Abwechslung.
Woran denken Sie, Fräulein Melitta, fragte Wolf Wolffeuradt, der auf dem weichen
Wege unhörbar hinter ihr her gekommen war und sie nun im Kreuzgang einholte.
Melitta blieb stehn und sah ihn mit einem Seufzer der Erleichterung an.
Baron Wolffenradt. Sie sind es? Wie herrlich!
Was ist herrlich?
Daß ich Sie heute sehe. Ich sehnte mich gerade nach jemand, nach — ach,
ich weiß nicht, wonach! Aber nun sind Sie da, nun ist alles gut!
Nach mir sehnt sich sonst kein Mensch! entgegnete Wolf.
Nach mir auch nicht, Baron. Deshalb passen wir so gut zusammen!
Sie setzten sich auf eine Bank im Kreuzgang und sahen sich in die Augen.
Wolf war heute besonders verstimmt gewesen. Sein Postdirektvr hatte ihm gesagt,
er müßte sich mehr Mühe geben, sonst könnte er nicht darauf rechnen, sein Examen
zu bestehn. Aus diesem Grunde war Wolf gegen Abend noch einmal nach Witte¬
kind gekommen, um sich gegen seine Schwester auszusprechen. Nun traf er
Melitta, und das war ihm noch lieber. Seit seiner ersten Begegnung mit ihr
hatte er sie schou einigemal getroffen; es war ihm, als kennte er sie schon lange,
und sie schien dieselbe Empfindung zu haben.
Draußen im Klosterpark war es noch hell, hier im Kreuzgang glitt die
Dämmerung zwischen die Säulen. Aber die Luft war mild und weich, und es
schien natürlich, daß Melitta ihre Hand in der seinen ruhen ließ. Vielleicht war
es auch natürlich, daß sie plötzlich in Tränen ausbrach.
Was haben Sie, Kleine? fragte Wolf. Seine Stimme klang freundlich, und
sie schluchzte stärker.
Ich bin so einsam, Herr von Wolffenradt.
Unwillkürlich zuckte er die Achseln. Über Einsamkeit klagen viele Menschen.
Soll das ein Trost sein? erkundigte sie sich zwischen Lachen und Weinen.
Liebes Kind, andre Menschen haben anch zu klagen. Die Welt ist nun ein¬
mal sehr unvollkommen.
Seine Worte klangen ihm selbst gefühlloser, als er es gemeint hatte. Er zog
das junge Mädchen an sich und küßte es leicht auf die Stirn.
Wir Wollen nicht sentimental werden, Fräulein von Hagenau, aber wir können
gute Kameradschaft halten.
Melitta antwortete nicht, und sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander.
Vom Kirchhof her wehte zarter Rosenduft herüber, und im Efeu zwitscherte ein
verschlafner Vogel.
Durch den Kreuzgang schlürfte der Schritt eines Dienstmädchens. Baron
Wolffenradt stand ans.
Ich muß meine Schwester besuchen. Auf Wiedersehen, lieber Kamerad!
Als er bei Asta eintrat, lenchteten seine Augen.
Du siehst sehr gut aus, sagte seine Schwester.
Er setzte sich lächelnd. Es geht mir auch gut, liebe Asta.
Er hatte vergessen, wie schwer er sich vor einer Stunde geärgert hatte.
Fräulein von Wolffenradt lud ihren Bruder zum Tee ein und verließ, als
er zugesagt hatte, das Zimmer, um einige Anordnungen zu treffen. Als sie wieder
eintrat, stand Wolf vor ihrem Schreibtisch und hielt Fron von Manskas Photo¬
graphie in der Hand.
Ist sie nicht reizend? fragte seine Schwester. Ich habe heute wieder einen
Brief von ihr erhalten, worin sie mir mitteilt, daß sie zum Herbst mit Ver¬
wandten nach Italien geht. Ach, sie wird sehr umworben sein.
Wolf wurde nachdenklich, aber er sprach lebhaft vom Wetter und von der
kleinen Hnndwerkerfamilie, bei der er im Städtchen Wohnte. Die Kinder nannten
ihn Onkel, was ihn belustigte. Aber Asta machte ein mißbilligendes Gesicht.
Man darf mit fremden Menschen nicht zu vertraulich werden, Wolf.
Da wurde er schweigsam, dachte an Melitta und daran, daß er sie geküßt
hatte. Es war ein angenehmer Augenblick, aber doch ein Unsinn gewesen, und er
schämte sich.
Um diese Zeit saß Melitta Gräfin Betty gegenüber und legte eine Patience
mit ihr. Am Himmel verglomm das Abendrot, die Tauben flatterten über dem
Klosterdach, wie sie immer taten, ehe sie sich zur Ruhe begaben, und in der
Ferne stieg von einem zwischen die Heide eingebetteten Moorstreifen weißer
Nebel auf.
Friedlich war es draußen, und auch Tante Betty war friedlich gesinnt. Melittas
Herz klopfte noch immer. Sie sah Wolfs Gesicht vor sich und fühlte seinen Kuß.
War das die Liebe, was jetzt heiß und begehrlich in ihr aufstieg?
Hier soll ein Bube liegen, Melitta, und du hast eine Dame hingelegt, sagte
Gräfin Betty. Sonderbar, daß du keine Pantiencen lernen kannst!
Wie ist eigentlich Herrn von Wolffenradts Frau? fragte Melitta, nachlässig
den gewünschten Buben answeselnd.
Gräfin Eberstein zuckte die Achseln,
sein in d ^'"^ Es wird eine gewöhnliche Person
' G ^ne sie schon manchen schwachen Mann unglücklich gemacht hat.
Raum er sich nicht von ihr scheiden lassen?
stand? ^ gewiß, und wenn ich eine Andeutung von seiner Schwester richtig ver-
^. so arbeitet sie an einer Trennung der beiden. Sie hat eine reiche
^"'nom, die für den Baron gewiß eine passende Frau wäre. Aber, Melitta, achte
°5>'e Karten. Du begehst einen Fehler über den andern.
wi?et ? "'^ wirklich zerstreut. Jetzt nahm sie sich krampfhaft zusammen,
" ^' l° gut sie es verstand, und ließ Tante Betty gewinnen.
Um nächsten Morgen machte sie einen Besuch bei Asta.
rs ich vielleicht Ihre neuste Modenwelt sehen, Baronesse?
UM legte ihr einen Stoß der gewünschten Zeitschrift auf den Tisch.
. - >5 Sie sich ein Kleid nähen, Melitta? fragte sie freundlich. Sie hatte
su K r ^ das junge Mädchen, und manchmal tat es ihr leid. Sie selbst
von ihrer G^'d auszukommen, und dieses arme Kind hing jetzt
T!t ff^?" ""r nicht nähen, Baronesse, weil ich kein Geld zu neuem
^oft habe; aber ich muß mir eins verändern. In der Modenwelt sind oft gute
Ratschläge.
Sie blätterte eifrig in den Zeitungen. Asta betrachtete sie von der Seite,
^te war hübsch und jugendfrisch, ganz wie geschaffen für Lebensgenuß und Lebens¬
freude. Dazu ein Menschenkind, das sich unbefangen gab, und mit dem man bald
»ekannt wurde.
Asta empfand nicht immer viel Wohlgefallen an fremden jungen Mädchen,
"ver Melitta war jederzeit sehr artig gegen sie, und sie gefiel ihr gut. Außerdem
^ar es ihr ganz wertvoll, ihrem Bruder eine kleine Unterhaltung zu bieten,
gelegentlich dachte sie dann auch an ihre Jugend zurück und an den hübschen
'luttmeister von Hagenau, dem eigentlich jede junge Dame gut gewesen war. Asta
entsann sich dunkel, geweint zu haben, als Betty ihr anvertraut hatte, sie wäre
mit ihm verlobt. Aber Betty verstand immer den Sieg davonzutragen, und Asta
hatte dann später ein wärmeres Gefühl für einen andern Mann gehabt, der nicht
einmal an sie dachte.
Ich glaube, meine Schwägerin auf der Wolffenburg sucht eine Erzieherin für
ihre Tochter, sagte sie plötzlich.
Melitta sah sie mit ihren schimmernden Augen an.
Ach, gnädiges Fräulein, ist es wahr? Und würden Sie mich empfehlen?
Über Asta kam es wie Unbehagen. Woran es lag, konnte sie nicht sagen.
Melittas Blick gefiel ihr plötzlich nicht.
Ganz sicher weiß ich es nicht, sagte sie ausweichend. Aber ich will einmal
fragen. Meine Schwägerin Lolo ist unberechenbar, und vielleicht gefiele es Ihnen
dort gar nicht. Die Wolffenburg ist einsam.
Melitta war aufgestanden und an den Schreibtisch getreten. Sie betrachtete
die große Photographie Frau von Manskas.
Wie schon ist diese Dame! sagte sie begeistert.
Nicht wahr? Astas Blick verklärte sich.
Sie ist auch reizend.
Dann begann sie von Frau von Mcmska zu erzählen. Von ihrer Herzens¬
güte, ihrem Reichtum, ihrer unglücklichen Ehe. Sie vertiefte sich in diese Er¬
zählung, und Melitta stellte geschickte Fragen. Bald wußte sie alles, was ihr
wissenswert erschien.
Wie schade, daß Herr von Wolffenradt diese Dame nicht heiraten kann! sagte
sie endlich.
Asta warf ihr einen erstaunten Blick zu. Ja, es ist schade, erwiderte sie
langsam.
An meiner letzten Schule war ein Professor, fuhr Melitta fort, während sie
an den Tisch zurücktrat, der sich von seiner Frau hatte scheiden lassen. Sie war
ein ganz ungebildetes Mädchen und hatte ihn sehr unglücklich gemacht. — Nicht
wahr, gnädiges Fräulein, zu diesem Kleiderschnitt würden Sie mir doch auch raten?
Er ist jugendlich und dabei so einfach, wie es sich für mich geziemt.
Auf diese Weise enthob Melitta Fräulein von Wolffenradt einer Antwort, und
das war klug von ihr. Denn gerade in diesem Augenblicke begann Astr eine Ahnung
davon zu bekommen, daß sie ausgefragt wurde.
Als Wolf einige Abende später in tiefen Gedanken durch den Klostergarten
ging, um seine Schwester aufzusuchen, kam ihm im Dämmern Melitta Hagenau ent¬
gegen. Sie trug ein weißes Kleid, das ihr etwas Weiches und Anmutiges verlieh;
aber er runzelte die Stirn. Es kam ihm vor, als wäre das junge Mädchen zu
entgegenkommend gewesen, und er war ein verheirateter Mann, der nicht mit sich
spielen ließ. Mit kühlem Gruß wollte er an ihr vorübergehn. Aber als sie ganz
dasselbe tat und ihn mit einem Blick streifte, als sähe sie ihn zum erstenmal in
ihrem Leben, zögerte er einen Augenblick und ging dann doch neben ihr her.
Sie sagen mir nicht einmal guten Tag, Fräulein von Hagenau?
Ich erkannte Sie nicht, Herr von Wolffenradt, entschuldigte sie sich. Auch
war ich ganz in Gedanken.
An was dachten Sie?
Sie lächelte träumerisch.
An allerhand Verdrießliches, Baron. Daß ich nur eine Stellung suchen und
Geld verdienen muß. Es ist unangenehm, Hungers zu sterben; aber es ist auch
unangenehm, sich immer wieder als Lehrerin anzubieten und zu fremden Menschen
zu gehn.
Bleiben Sie doch hier! schlug er vor.
Sie wanderten jetzt unter der dichten Baumreihe des Parkes, die hart vor
dem Kreuzgang endete.
Das geht nicht, Baron. Tante Betty freut sich, wenn ich wieder in die
Weite gehe' Sie hat mich nicht gern; ich weiß es wohl.
Ihr Ton klang wehmütig, und Wolf hatte Mitleid mit dem anmutigen
Geschöpf.
Soll ich Ihnen eine Stellung bei der Post verschaffen? fragte er neckend.
Sie sah ihn ernsthaft an.
Ich möchte wohl mit Ihnen zusammen arbeiten, Baron, und einen guten
Freund haben; Ihre Tage bei der Post sind aber gezahlt. Wenn Sie nun ge¬
schieden sein werden und eine reiche Frau heiraten —
Unwillkürlich blieb er stehn.
Reden Sie keinen Unsinn. Melitta!
Aber sie legte ihren Arm in den seinen und zog ihn leise weiter.
Es wird das beste für Sie sein, Baron, und Sie müssen es tun für sich
selbst und für Ihre Familie. Sie sind doch ein vornehmer Herr und müssen
wieder vornehm werden. Wenn ich dann später eine steinalte Jungfrau bin und
in irgend einem Armenhaus mein Kcimmerchen habe, dann will ich Ihrer gedenken
und für Sie beten. Vielleicht fahren Sie dann einmal vierspännig an meinem
Siechenhaus vorüber und wissen nicht, daß ich darin wohne und an Sie denke. —
Ihre Stimme klang verschleiert. Er hörte ihr zu. dann lachte er.
Sie sind phantastisch, Fräulein Melitta. Mit Vieren werde ich niemals fahren,
ebensowenig, wie Sie Ihre Tage im Armenhaus beschließen werden. Vielleicht
treffen wir uns aber doch einmal im Alter und gedenken dann der Zeit, wo wir
jünger waren.
Vielleicht. Melitta sah träumerisch vor sich hin. Ein Lufthauch strich durch
die Bäume, und einige welke Blätter sielen um sie und in ihr dunkles Haar.
Wolf wollte nach ihnen greifen; sie aber bog den Kopf zur Seite und sah
ihn mit glänzenden Augen an
Die Bäume senden mir ihren Gruß, sagte sie geheimnisvoll. Lassen Sie sie
gewähren, und denken Sie darandaau wir welken müssen.
,
Unter den dunkeln Bäumen glitt sie davon, und vom Kreuzgang her kam
Fraulein von Wolsfenradt, die schon nach ihrem Bruder ausgesehen hatte und ihm
"un eine lange Geschichte von Frau von Manska erzählte. Aber Wolf hörte
nicht zu. > ^ v
(Fortsetzung folgt)
ist in Berlin mit all dem Pomp eröffnet worden,
der in neuerer Zeit bei solchen Anlässen üblich ist. An die Thronrede hat sich
zwei Stunden später noch eine Ansprache des Ministerpräsidenten an das Herren¬
haus geknüpft, die „Weihe des Hauses" und seiner neuen Räume. Es ist nicht
unbemerkt geblieben, daß Graf Bülow bei seinem ersten Erscheinen in diesem neuen
Hause auf den Fürsten Bismarck hingewiesen hat, „den größten Staatsmann,
den Preußen und den Deutschland hervorgebracht hat." Es war dort allerdings
um so mehr die Gelegenheit dazu, als Fürst Bismarck auch das bedeutendste
Mitglied gewesen sein dürfte, das das Herrenhaus in seiner Matrikel zu ver¬
zeichnen hat. Die Hervorhebung des Bismarckschen Wortes, daß das Herren¬
haus der Träger sein soll einer Politik, die nicht mit Leichtigkeit den Tages¬
strömungen folgt, sondern die den Regulator und den Ballast des Staatsschiffes
darstellt, den Ballast, der es vor Schwankungen bewahrt, darf man wohl in Zu¬
sammenhang mit den Aufgaben der neuen Session, speziell mit der Kanalfrage,
bringen. Das Herrenhaus hat in den letzten Jahren eine Reese neuer Mitglieder
erhalten, deren Ansehen sowohl wie ihr Votum von Bedeutung sein wird, wenn
die Kanalvorlage überhaupt bis an das Herrenhaus gelangt. Die Aussichten dieser
Vorlage sind allem Anschein nach im Abgeordnetenhause günstiger als früher. Die
kanalfreuudlichen Mitglieder werden weise genug sein, das Wünschenswerte nicht
dem Erreichbaren vorzuziehn, und sie werden es der Zukunft überlassen, den
„Torso" zu vollenden, d. h. den Kanal von Hannover bis zur Elbe weiterzuführen;
die Kanalgegner werden es nicht zum zweitenmal auf einen Konflikt mit der Krone
ankommen lassen, dessen Wirkungen sich leider auf dem gesamten Gebiet unsrer
innern Politik fühlbar gemacht haben. Die Prinzipienfrage ist ja genugsam er¬
örtert. Man kann mit schwerwiegenden Gründen Gegner des Kanals sein und den
Standpunkt behaupten, daß Kanäle einer Zeit angehört hätten, in der es noch keine
Eisenbahnen gab; man kann darauf verweisen, daß der Kanal die Erträgnisse der
Bahnen stark beeinträchtigen wird, daß er eine Reihe von Monaten im Jahre
nicht benutzbar sein wird, daß er dem Westen vielleicht nützt, aber dem Osten
schadet, dem man nicht zumuten dürfe, an seiner eignen Benachteiligung mitzuwirken.
Das alles kann theoretisch ganz richtig sein.
In der Politik entscheidet aber der Erfolg, und der scheint in einer neuen
großen Wasserstraße, die weite Landstriche erschließt, dadurch verbürgt, daß sie neue
Werte schafft, sich den Eisenbahnen als ein fleißiger und nützlicher Zubringer er¬
weist und durch Erhöhung der Kaufkraft der Industrie gerade der Landwirtschaft
nützt, die in einer blühenden Industrie mit ihre beste Kundin hat, was gerade
Fürst Bismarck oft genug hervorgehoben hat. Wenn die Bevölkerung des Deutschen
Reichs in zwanzig Jahren von sechzig auf achtzig Millionen Menschen angeschwollen
sein wird, entfällt der Löwenanteil an diesem Zuwachs doch auf Preußen. Macht
aber die Landwirtschaft in Deutschland nicht sehr große Anstrengungen, so wird sie
mit ihrer Leistungsfähigkeit für die Ernährung der Bevölkerung hinter dieser Zahl
sehr weit zurückbleiben; vermag der Osten aber landwirtschaftlich mehr zu leisten,
so kommt ihm wiederum die bequeme und billige Wasserverbindung nach dem
Westen zustatten. Unsre gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse sind in diesem Zeit¬
alter des Verkehrs, der Erfindungen usw. fortgesetzten Veränderungen unterworfen,
und bis einmal die geplanten Wasserstraßen vollendet sein, und ihre Wirkungen
sich auf unsre wirtschaftlichen Verhältnisse geltend machen werden, haben sich die
heutigen Unterlagen für deren Berechnung längst verändert. Gab es doch seiner¬
zeit konservative Stimmen, die sich gegen die Dampfersubventtonen richteten, weil
diese Dampfer Getreide als Rückfracht oder Ballast bringen würden! Heute
kommen auf nicht subventionierten Schiffen von Amerika gewaltige Massen Apfel
herüber, weil der deutsche Obstbau den Bedarf nicht einmal bei guten Ernten zu
decken vermag!
Konservative Blätter haben in der Besprechung der Thronrede die entgegen¬
kommende Haltung der Regierung anerkannt und die Erreichung eines Einver¬
ständnisses nicht von der Hand gewiesen. Dieses Einverständnis ist sehr viel
wichtiger als jede problematische Erörterung der Frage, ob und in welchem Um¬
fange sich der Kanal in Zukunft verzinsen werde. Wichtiger als das alles ist, daß
ein Gegensatz aus unserm öffentlichen Leben verschwindet, der auf den verschiedensten
Gebieten lähmend und erschwerend lastet. Und nach Jahren eines zerstörenden
Kampfes könnte sich die konservative Kanalopposition ähnlichen Ergebnissen gegen¬
übersehen wie einstmals die freisinnige Opposition in den Konfliktsjahren.
Fast schneller, als er¬
wartet werden konnte, hat durch die Unterzeichnung des amerikanisch-chinesischen
Vertrags der amerikanische Wettbewerb in Ostasien eine für Rußland ernste und
unbequeme Gestalt angenommen. Die Unterzeichnung des Vertrags, die von
amerikanischer Seite mit großer Dringlichkeit betrieben wurde, kommt einem Veto
gegen die russische Okkupation der Mandschurei ziemlich nahe. Denn erstlich erkennt
Amerika durch den Vertrag die territorialen Hoheitsrechte Chinas über die
Mandschurei von neuem und ausdrücklich an, zweitens legt es in die wirtschaftliche
Mauer, die Rußland um die Mandschurei zu ziehn gedachte, durch die vertrags¬
mäßige Öffnung der Häfen von Mulden und Artung eine tiefe Bresche, die durch
die eilige Bestellung amerikanischer Konsuln an diesen Plätzen sofort praktisch aus¬
genutzt werden soll. Die russischerseits bisher beiseite geschobne chinesische Autorität
in der Mandschurei empfängt durch diese beiden amerikanischen Konsulate im letzten
Augenblick eine wertvolle Unterstützung, deren Tragweite noch gar nicht abzusehen
ist. Denn die amerikanischen Konsuln werden selbstverständlich nicht mit den
russischen Behörden, sondern mit den chinesischen verhandeln, diesen somit einen
starken internationalen Rückhalt verleihen; sie werden deren schon zertrümmerte
Autorität den Russen gegenüber wieder aufrichten und so einen lebendigen wirkungs¬
vollen Protest Amerikas gegen die russische Okkupation darstellen, ein amerikanischer
Pfahl im russischen Fleische. Es läßt sich deshalb auch voraussehen, daß zunächst
jeder Versuch Rußlands, sich die Mandschurei formell von China abtreten zu lassen,
womit die russische Diplomatie zu lange gezögert hat, fortan auf den Widerspruch
Amerikas stoßen wird, das damit eine sehr bedeutsame Schwenkung in seiner früher
russenfreundlichen Politik vollzieht. Zu der Zeit Kaiser Alexanders des Zweiten und
auch noch des Dritten bestand zwischen Nußland und Amerika eine wohlverstandne
und von beiden Mächten England gegenüber gepflegte Intimität. Dieser Sorge ist
England jetzt ledig, der eilige Schachzug der Amerikaner nähert die Republik der
mgusch-japanischen Gruppe. Das in Washington geleistete Stück Arbeit kommt den
Japanern und den Engländern so gelegen, als ob es auf englische oder japanische
al^ ^ r"^^^^^^ worden wäre. Den Japanern konnte gar nichts besseres passieren,
unde^ s!.'"-^" s^nen Konsuln Schildwachen auf dem Boden der Mandschurei
ausst?M ^ ^ ""d tatsächlicher Anerkennung der chinesischen Territorialhoheit
emvoVi r für Dalny, das neue im Entstehn begriffene russische Handels-
fortan I ^ Präsident Roosevelt einen „Reisekonsnl" ernannt. Nußland wird
in ^ Berichten dieser amerikanischen Konsuln und deren Veröffentlichung
an ti? " ^ "ird sich damit einzurichten wissen. Unverkennbar haftet
Kik^i Schachzug der Amerikaner ein starker Beigeschmack von „Revanche für
dacht " ""^ ^ ^ russische Ablehnung der dem Petersburger Kabinett zuge-
Ein^" "'"Iranischen Entrüstungsnote. Der amerikanische Import wird nun seinen
^„Ar Mandschurei halten, und die mandschurische Bahn wird die ameri-
Waren nordwärts führen,
ruck "° wird so lange nicht daran denken können, seine Zollgrenzen vom Amur
um) >Süden vorzuschieben, bis etwa eine neue politische Kombination in naher oder
serner Zukunft Amerika dazu bestimmt, die Einverleibung der Mandschurei in das
Zarenreich gege» anderweite Äquivalente zuzugestehn. Vielleicht ist das der eigene-
"che Kern der amerikanischen Politik, die zunächst mit dem eiligen Abschluß des
chinesischen Vertrags Rußland nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen
diplomatischen Fehdehandschuh hingeworfen hat. An die militärische Räumung der
Mandschurei wird man demgegenüber in Petersburg weniger denn je denken,
^entschwang und Mutter können schon als Verbtndungspunkte zwischen Port Arthur
und Wladiwostok niemals aufgegeben werden. Eine russische Avantgarde steht in
^mitschwang — dem Knotenpunkt der mandschurischen Bahn zwischen der nach Peking
über Tientsin führenden Linie einerseits, der südwärts führenden Verlängerung
nach Port Arthur andrerseits — nur noch fünfhundert Kilometer von Peking, eine
Entfernung ungefähr wie von Königsberg nach Berlin, ganz abgesehen von der
Etfenbahnlinie. Es ist begreiflich, daß Nußland, namentlich solange Tientsin von
europäischen Truppen besetzt bleibt, von Niutschwang einen starken Druck auf den
Hof in Peking auszuüben vermag; dennoch scheint weder der diplomatische noch
der militärische Druck für diesesmal ausgereicht zu habe», den Abschluß des
amerikanisch-chinesischen Vertrags zu verhindern. Die letzten Gedanken der ameri¬
kanischen Politik sind freilich nicht ganz leicht zu erraten. Die Amerikaner haben
sich in Korea Interessen geschaffen; bet etwaigen Vorgängen in sont würden sie
militärisch mitsprechen, Amerika würde in Korea jeden Einfluß erreichen, den es
dort haben will. Wer bürgt den Japanern dafür, daß über dem so heiß ersehnten
Korea sich nicht eines Tages das Sternenbanner entfaltet? Von Luzon, der nörd¬
lichsten der Philippinen, bis nach Nagasaki sind nur 1400 Seemeilen, und für
das amerikanische Expansivbedürfnis ist die Gebietserwerbung auf dem asiatischen
Kontinent, von Formosa ganz zu geschweigen, ein ziemlich nahe liegender Gedanke.
Amerika könnte dann immer noch getrost das nördliche Drittel an Rußland über¬
lassen und sich mit den südlichen zwei Dritteln begnügen. Doch das sind Zukunfts¬
probleme. Einstweilen bleibt als Tatsache zu registrieren, daß der Hinzutritt der
Vereinigten Staaten eine weitausschauende Verschiebung aller wirtschaftlichen und
politischen Zukunftsgestaltuugen in Ostasien bedeutet. Ohne irgendwelche nennens¬
werte Machtentfaltung hat sich Amerika mitten in die chinesisch-russisch-japanische
Spannung hineingestellt — mit welchen Endzielen, wird die Zukunft lehren.
Einstweilen mögen sich die Japaner vergnügt die Hände reiben. Wollen sie
verständig handeln, so können sie sich durch dieses Vorgehn der Amerikaner für
jedes Kriegsgrundes entbunden erachten. Russischerseits scheint ebensowenig Neigung
zu bestehn, Teile von Korea zu okkupieren, als die japanische Flotte anzugreifen;
für Rußland fehlt das Objekt einer Offensive, so lange die Japaner nicht in Nord¬
korea eine Nußland bedrohende Stellung einnehmen oder gar gegen die Mandschurei
vorgehn. Nach dem Abschluß des amerikanisch-chinesischen Vertrags kann Japan
seine Finger von der mandschurischen Frage lassen, ebenso wie Rußland wegen
Koreas seine Zeit abwarten wird. Das Warten hat die russische Politik jederzeit
vortrefflich verstanden. In Europa wird man dabei nicht außer acht lassen dürfen,
daß jeder politische Erfolg die Japaner nur anspruchsvoller machen wird, nicht
nur Rußland gegenüber, und daß die ostasiatische Wunde offen bleibt. Wird
Deutschland auf die Dauer damit rechnen dürfen, in diesen großen und tiefen
Völkergegensätzen neutral zu bleiben, ohne Einbuße an seinem Ansehen und seinen
Interessen zu erleiden? Und wie steht es mit den Mitteln zum Schutze beider?
Es gibt in Deutschland
etwa 300 Vereine, in denen die heimische Geschichts- und Altertumswissenschaft, im
weitern Sinne also auch die Volks- und Heimatkunde gepflegt wird, und die
meisten von ihnen geben für ihre Mitglieder eigne Zeitschriften heraus, die in
größerm oder kleinerm Umfange, regelmäßig oder nach Bedürfnis erscheinen und in
der Regel Abhandlungen geschichtlichen Inhalts aus dem Vereinsgebiete enthalten.
Die Mitarbeiter der Zeitschriften sind einige wenige Vorstands- oder Vereinsmit¬
glieder, die ihre Geschichtsforschungen in den Heften veröffentlichen, und die meist
auch die einzigen Träger und Stützen der wissenschaftlichen Vereinstätigkeit sind.
Die Hauptmasse der Mitglieder begnügt sich mit der regelmäßigen Zahlung des
Beitrags und mit dem Anhören von Vortrüge», mit der Teilnahme an den Ver¬
sammlungen, Stiftungsfesten usw. und allenfalls noch mit dem Lesen der Zeitschrift.
So hat sich in den letzten dreißig bis vierzig Jahren ein gewaltiger Stoff in den
Vereinszeitschriften angesammelt, es ist unendlich viel geleistet worden, und es steht
unzweifelhaft fest, daß der allgemeinen Geschichtsforschung von diesen Einzelstudien
in den Vereinen viel zugute gekommen ist, obwohl die berufnen Geschichtsforscher
manchmal verächtlich und mit mißgünstigen Augen auf diese Kleinarbeit der Geschichts¬
und Altertumsfreunde herabgesehen haben. Erst in den letzten Jahren ist es dem
Gesamtvereine der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine gelungen, ein besseres
Verhältnis zwischen den Vereinen und den Universitätsprofessoren als den Trägern
der Geschichtswissenschaft anzubahnen; die alljährlichen Generalversammlungen werden
von diesen fast ebensogern besucht, wie von den Vereinsvertretern und den Archi¬
varen der Staats- und der Privatarchive.
So ist für die Geschichtsforschung allerseits aufs beste gesorgt; es werden viel¬
fach mit staatlicher Unterstützung Urkundenbücher herausgegeben, Ausgrabungen ver¬
anstaltet, Jahreshefte und Denkschriften gedruckt, von Jahr zu Jahr füllen sich die
Büchersammlungen mit Schriften geschichtlichen Inhalts, und doch fehlt es an einer
Vermittlung der gefundnen Ergebnisse an die weitern Volksschichten, Diese wissen
von den Forschungen, von der Tätigkeit der Geschichtsvereine so gut wie nichts;
sie lesen bestenfalls gelegentlich einen kurzen Bericht über diese oder jene Ver¬
sammlung oder über eine sonstige Veranstaltung ihres heimatlichen Vereins, der im
übrigen unter der Masse der andern Vereine verschwindet. Die Zeitschrift vollends
bleibt auf die Mitglieder beschränkt, wird höchstens im Tauschverkehr an andre
Vereine und an die öffentlichen Büchersammlungen verschickt, und die oft mit großer
Mühe zusammengestellten Arbeiten gehn für weitere Kreise verloren, zumal da es
nicht jedermanns Sache ist, sich in unsrer Vereinsreichen Zeit ohne innere Neigung
einem Altertumsverein anzuschließen.
Aus diesen Erörterungen folgt mit Sicherheit, daß die genannten Vereine und
ihre Zeitschriften der wirklichen Volks- und Heimatkunde nur in beschränkter Weise
dienen können, wenn man darunter nicht nur eine philologische Wissenschaft über
das Volk und die Heimat, sondern auch die Belehrung des Volkes über seine
Heimat und sein Wesen versteht. Ich habe schon einmal in diesen Heften darauf
hingewiesen, daß hier die Tageszeitungen eintreten und in ihren Sonntags- oder
Monatsbeilagen Volks- und Heimatkunde pflegen müßten, anstatt die Spalten mit
oben, häufig svgM wertlosen Romanen zu füllen.
lÄ ^M>U sich auch in dieser Hinsicht zu regen: im Juliheft der Deutschen
^, ^Htsblätter teilt der Herausgeber Dr. Armin Tille folgendes mit: „Der
bittet ^schichtsverein veranlaßt seit 1902 die Herausgabe der Fuldaer Geschichts¬
titel ä ^ Stadtarchivar Dr. Joseph Kardels leitet, und die mit dem Unter¬
des'^, sür Geschichte. Kunst-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, insbesondre
schein. Fürstentums Fulda. als Monatsbeilage zur Fuldaer Zeitung cr-
oire « ,Der erste Jahrgang liegt abgeschlossen vor und zeigt, wie ein Verein
aus ^" sich ein Organ schaffen und — was noch mehr ist — zugleich
Leitern Kreise wirken kann, da eben in der Beilage zur Tageszeitung
de^ ^ stehn, die ihm sonst nie zu Gesicht kommen würden. Die Leistung
denn n ^ Geschichtsvereins und des Schriftleiters verdient die vollste Anerkennung,
duali^ bchheidueil Mitteln ist hier viel erreicht worden: die Beiträge sind volks-
-5in- .r Hermann verständlich und doch zugleich sachlich wertvoll, sodaß jeder
j„ ,eyer ^"^ Zwecke hier brauchbares Material finden kann." Dr. Tille fügt
k i,5 " ^"werkung dann noch hinzu, daß auch die „Blätter für lippische Heimat-
"ave als monatliche Beilage der lippischen Landeszeitung in Detmold erscheinen,
er Ane daß ein Berein dahinter stehe.
Diese und ähnliche Blätter als Zeitnngsbeilagen sind der Übergang zu einer
andern Art vou Zeitschriften für Volks- und Heimatkunde, die in den letzten Jahren
unabhängig von Vereinen als selbständige buchhändlerische Unternehmungen ent¬
hauben sind und mit Freuden begrüßt werden können, da sie sich durchweg die
-Pflege eines gesunden Volkstums zum Ziel gesetzt haben.
Als das Vorbild dieser neuen Zeitschriften darf man wohl mit Recht den
»-Mir" betrachten, die bekannte Berliner illustrierte Wochenschrift für Geschichte und
modernes Leben. Länger als ein Vierteljahrhundet ist im Bären die Heimatkunde
sur Berlin und die Mark Brandenburg mit Liebe und Verständnis gepflegt worden,
es haben ja auch Männer wie Theodor Fontane u. a. fleißig daran mitgearbeitet.
Die Zeitschrift ist vor kurzem eingegangen, und an ihre Stelle ist der „Roland" ge¬
treten als Zeitschrift für brandenburgisch-preußtsche und niederdeutsche Heimatkunde; sie
rostet vierteljährlich zwei Mark fünfzig Pfennige und erscheint bei Fr. Zillessen in
Berlin. Inhaltlich steht der Roland mit dem frühern Bären etwa auf derselben
Stufe; er bringt vorgeschichtliche und geschichtliche Abhandlungen in gemeinver¬
ständlicher, anregender Form, wenn möglich mit Bildern und Plänen, Wanderungen
durch landschaftlich und geschichtlich hervorragende Gegenden der Mark mit photo¬
graphischen Aufnahmen, ferner geschichtliche Erzählungen und Romane aus der
Heimat, Berichte über Geschichtsvereine und eine Reihe von kleinern Mitteilungen
geschichtlichen und kulturgeschichtlichen, auch humoristischen Inhalts; sogar Gedichte
finden im Roland Aufnahme.
Die beste mir bekannt gewordne Zeitschrift auf dem Gebiete der Heimat¬
kunde ist wohl die seit drei Jahren erscheinende illustrierte Monatschrift: „Unser
Anhaltland" für das Herzogtum Anhalt.*) Sie erscheint im Verlage der Hofbuch-
druckerei von C. Dünnhaupt in Dessau, kostet vierteljährlich zwei Mark und ist ge¬
diegen und geschmackvoll ausgestattet. Jedes Heft in der Stärke von drei Bogen
hat eine besondre Kunstbeilage mit Darstellungen aus der Landschaft oder aus der
Kunstgeschichte des Herzogtums. Die Monatschrift will Kunst, Wissenschaft und
heimatliches Leben in Anhalt fördern und hat bisher diese Aufgabe in vollem
Maße erfüllt. Außer vorgeschichtlichen, geschichtliche» und kunstgeschichtlichen Aufsätze»,
die zum größten Teile von den Lehrern der höhern anhaltischen Schulen verfaßt
werden, bringt die Zeitschrift kleinere Skizzen und Laudschaftsschilderuugen mit
Bildern aus der Heimat, ferner eine Monatschronik des Anhaltlandes, Bücher¬
besprechungen, wissenschaftliche Wetterberichte und naturwissenschaftliche Aufsätze mit
Beziehung auf die Heimat. So ist z. B. in einem der Hefte ein Aufsatz über die
Pyramidenpappeln, deren es in der Umgebung von Dessau viele gibt, höchst lehr¬
reich; durch solche Schilderungen werden die Leser meist erst auf die vorhnudnen
Besonderheiten ihrer Heimat hingewiesen und lernen sie richtig schätzen und achten,
namentlich wenn die Gegenstände noch durch photographische Aufnahmen erläutert
werden. Bilder aus der bekannten Umgebung fesseln den Leser ganz besonders;
man geht gelegentlich wohl hinaus, sieht sich daraufhin die Landschaft an, begreift
nun erst die Schönheiten und Eigentümlichkeiten und lernt in Zukunft bei andern
Spaziergängen und Wanderungen ans alles achten, woran so mancher Mensch Zeit
seines Lebens stumpf und gleichgiltig vorübergeht. Einer der größten Vorzüge
der Liebhaberphotographie besteht denn auch — nebenbei bemerkt — darin, daß man
bei der Ausübung des Photographierens von Landschaften erst einmal richtig sehen
und schätzen, die schönsten Punkte herausfinden lernt. Es ist deshalb sehr gut, daß
sich hier für diese Zeitschriften die Liebhaberaufnahme in den Dienst der Wissenschaft
und der Heimatkunde stellt. Für die anhaltische Monatschrift ist in der Tat die
beliebte buchhändlerische Redensart am Platze, sie sollte in keinem Hause — des
schönen Herzogtums — fehlen; sie bildet Geist und Gemüt, lehrt Land und Leute
kennen und fördert Kunst und Wissenschaft, ohne dem rührigen anhaltischcn Ge-
schichts- und Altertumsverein, der ebenfalls eine eigne gelehrte Zeitschrift heraus¬
gibt, Abbruch zu tun.
Für den Nordwesten Deutschlands erscheint seit acht Jahren eine illustrierte
Halbmonatschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache, Kunst und
Literatur Niedersachsens unter dem Titel „Niedersachsen." Sie wird in Bremen
von Karl Schünemanns Verlag zum Preise von einer Mark fünfzig Pfennigen viertel¬
jährlich herausgegeben und soll wahre Religiosität, Liebe zur Heimat und zum
Herrscherhaus, Natürlichkeit und Rechtschaffenheit, kerniges Deutschtum und Pietät
für alles das, was die Vorväter niedersächsischer Zunge einst geschätzt haben, fördern
und erhalten. In diesem Sinne wird die Zeitschrift geleitet; es wechseln kleine
Geschichten verschiedensten Inhalts, zum Teil in niederdeutscher Mundart und mit
Humor gewürzt, rin Gedichten, Schilderungen und Bildern niederdeutscher Land¬
schaften und mit gelehrten Abhandlungen geschichtlicher Art auf Grund von Ur¬
kunden; ferner werden unter dem Sondertitel: Der Sammler kurze geschichtliche
und kulturgeschichtliche Nachrichten, alte Kinderreime, Nachrichten über Spiele, frühere
Sitten und Gebräuche veröffentlicht, und schließlich hat jedes Heft ein besondres
Titelbild, das eine niedersächsische Landschaft und ähnliches darstellt. Bis zum April
dieses Jahres wurde Niedersachsen von Hermann Heiberg geleitet; an dessen Stelle
ist jetzt Hans Pfeiffer in Bremen getreten.
Etwas ähnliches ist die im April dieses Jahres ins Leben gerufne Halb¬
monatschrift „Rote Erde"; sie wird mit Bilderbeilagen von A. Kellermann in Dresden-
Blasewitz zum Preise von einer Mark zwanzig Pfennigen vierteljährlich herausgegeben
und verfolgt ebenfalls den Zweck, für deutsche Art und deutsche Geschichtsbetrachtung,
für niedersächsische Stnmmeskuude und niedersächsisches Volkstum in Geschichte,
Sprache, Brauch und Sitte in dem Lande Wittekinds und Teuts einzutreten.
Die neue Zeitschrift will Romane und Erzählungen aus dem Lande der roten Erde,
größere und kleinere Beiträge zur Geschichte einzelner Kreise, Städte, Dörfer, Ge¬
meinden. Rittergüter, Schlösser und verfallener Burgen Niedersachsens, aber auch
Berichte über industrielle und gewerbliche Anlagen, über Bäder und Sommerfrischen
bringen, also Heimatkunde im weitesten Sinne treiben.
In einem engern, mehr wissenschaftlichen Rahmen erscheinen die „Hessischen
Blätter für Volkskunde." Diese legen besondres Gewicht auf die Erforschung alter
Sitten und Gebräuche, auf das ländliche Bauwesen, die Bauernhäuser und auf
die Bauernkunst früherer Jahrhunderte. Aber alle diese Zeitschriften haben das-
lelbe Bestreben, die Volks- und Heimatkunde in den Landschaften ihres Wirkungs-
5- verbreiten und zu vertiefen, und zwar in möglichst unbefangner, volks-
rnmilcher Form. Damit ist ein wirklich gangbarer Weg beschritten worden, auf
em die Volkskunde ins Volk dringen kann. Sie bieten eine gesunde, volkstümliche
in jedermann annehmbare Kost, und im Grunde genommen haben noch die meisten,
Ästigen Bestrebungen einigermaßen zugänglichen Menschen in ihren Feierstunden
und Verständnis für die Zustände und Vorgänge früherer Jahrhunderte in
Mer engern Heimat. Wenn die Zeitschriften auf Abbildungen, äußere Ausstattung,
gemeinverständliche, möglichst fremdwörterfreie, einfache Sprache und auf abwechs¬
lungsreichen Inhalt Wert legen, sowie auf einen möglichst niedrigen Preis halten,
>o müßte unser Volk alle Ideale verloren haben und gegen geistige Nahrung und
Genüsse vollständig stumpf geworden sein, wenn es sich nicht allmählich diese
eigen machen würde. Deshalb ist es dringend geboten, daß möglichst
v„e Landschafts-Einheiten und -Verbände Zeitschriften mit diesen Bestrebungen
ü"^"' ""^ notwendig ist es, daß genügende Mittel für das Bestehn bereit
gestellt werden, damit die Zeit chriften nicht ein buchhändlerisch gewagtes Unter¬
nehmen bleiben.
Die Regierungen und Verwaltungen, die heutzutage sich den Anforderungen
an Geldmittel für eine geordnete Denkmalpflege nicht mehr entziehen können, müssen
auch für die damit verbundne Volks- und Heimatkunde mit ihren verfügbaren
Mitteln eintreten: das ist die sozialpolitische Seite der Sache, die man nicht unter-
sthatzen sollte in einer Zeit, wo sich die Heimatbande und die Beziehungen zur
Scholle d
Wer auch nur mit einem von Jesu Worten im
Leben Ernst macht, der tut mehr als alle Schrifterklärer. Doch ist die Schrift¬
erklärung nicht zu entbehren; dagegen könnten wir den Streit über die echten
^esusworte ganz gut entbehren, den wir über uns ergehn lassen müssen, seitdem
sich die Kritik der Bibel bemächtigt hat. Im allgemeinen kommt dabei nichts
heraus. Wenn wir trotzdem von einem der neusten Versuche, die echten zu er¬
mitteln, Notiz nehmen, so geschieht es, weil dieser, obwohl von einem Nichttheologeu
herrührend, einen Fortschritt über den Theologenstreit hinaus bedeutet, und zwar
in doppelter Beziehung. Wolfgang Kirchbach spricht in seinem Buche: Was
lehrte Jesus? Zwei Urevangelien (Zweite, stark vermehrte und verbesserte Auf¬
lage, Berlin, Ferdinand Dümmler, 1902) die Überzeugung aus, daß die Lehre
Jesu ganz einzig sei und weder auf gnostische, noch auf neuplatonische, noch auf
buddhistische Quellen zurückgeführt werden könne; namentlich von der indischen
Philosophie sei sie grundverschieden. Ihre Originalität ist ihm das Kennzeichen der
Echtheit. Zum andern glaubt er, daß den Synoptikern und dem vierten Evan¬
gelium je eine Urschrift zugrunde liege, die beide wortgetreue Aufzeichnungen der
Lehre Jesu gewesen seien. Namentlich der Autor der Reden des vierten Evan¬
geliums sei der tiefste MetaPhysiker gewesen, den es nur einmal in der Welt ge¬
geben habe, und der eben kein andrer sein könne als der Jesus der drei ersten
Evangelien. Diese seien freilich später geschrieben worden als die Paulusbriefe,
aber die beiden Urevangclien seien der Zeit nach älter, und Paulus sei kein un¬
bedingt zuverlässiger Interpret der Lehre Jesu. In allen: diesem stimmen wir
Kirchbach bei, wenn wir auch nicht so weit gehn, Paulus für einen „rationalistischen
Phantasten" zu erklären und den Pcmlinismns für etwas vom Christentum Grund-
verschiednes, ja ihm Entgegengesetztes und Feindliches zu halten. Auch dem Alten
Testament wird Kirchbach gerecht. Er preist die schönen, von liebevoller Beobach¬
tung zeugenden Naturschilderungen, die erhabne, echt ethische Gesinnung und die
Humanität der Propheten, die Teilnahme am Schicksale der Tiere und die zarte
Fürsorge für sie und zeigt, daß die Bibel weder in der Schöpfungsgeschichte noch
in den Psalmen einen Protest gegen Darwin enthalte, vielmehr mit ihrer Nntur-
ansicht ganz auf dem Boden der Entwicklungslehre stehe. Er hätte nur nicht bloß
den Protest der Orthodoxen gegen Darwin, der keineswegs immer einen Protest
gegen die Entwicklungslehre bedeutet, erwähnen sollen, sondern auch deu Kampf
der Darwinianer gegen die Bibel. Was dann die Exegese der von ihm für echt
gehaltnen Jesusworte betrifft, so finden wir sie vielfach zutreffend und gut. Seine
Erklärung des „Dies ist mein Leib" mag der Beachtung des Schriftgelehrten
dringend empfohlen werden. Das Brot sei weder der Leib Jesu oder gar Christi,
noch bedeute es diesen Leib, sondern es bedeute die „Bundeseinheit zur Erfüllung
der Lebensanschauung Jesu, die materielle Durchdringung der Menschheit mit dem
höchsten Sittenleben." Nur sollte Kirchbach beachten — vielleicht weiß er das gar
nicht —>, daß alle seine Erklärungen/ namentlich die von dem Genuß des Lebens¬
brotes als der Aneignung der geistig-sittlichen Substanz Jesu, den christlichen
Lehrern aller Konfessionen nicht unbekannt und den bessern von ihnen geläufig
sind. Übrigens trifft er nicht immer ins Schwarze. Bei den Seligpreisungen
zum Beispiel, mit denen die Bergpredigt beginnt, übersieht er, was ihm, der den
Poeten für den berufensten Interpreten der Bibel hält, zu allererst hätte in
die Augen fallen müssen: daß die Wirkung dieses großartigsten aller Meister¬
stücke poetischer Rhetorik auf der Umwertung aller Werte beruht, daß darin alles,
was die Welt schätzt, entwertet, das Gegenteil empfohlen wird, darum das Wort
Bettler wörtlich genommen und in seinem gemeinen Sinne verstanden werden muß,
gleichviel, wie man das beigefügte „im Geiste" erklären mag. Und „was ihr
wollt, daß euch die Menschen tun sollen, das tuet ihr ihnen auch," fällt keines¬
wegs rin der kantischen Regel zusammen: „Handle so, daß die Maxime deines
Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Diese
Regel ist, wie wir öfter gezeigt haben, ganz unbrauchbar, weil ein Gesetz, das
unter allen Umständen, überall und immer für alle ohne Ausnahme gelten könnte,
nicht denkbar ist; ein Stantsgesetz nämlich, das die Handlungen regelt, und ein
solches meint Kant; mit dem Moralgesetz, das die Gesinnung regelt, ists anders.
Und ein solches stellt Jesus auf, ein unbedingt erfüllbares: jeder kann sich in die
Lage des andern, mit dem er zu tun hat, versetzen und sich fragen: Was würde
ich von meinem Gegenpart wünschen, wenn unsre Lagen vertauscht wären? Das
hat immer nur,eine ganz individuelle Entscheidung zur Folge, auf die sich ein
Staatsgesetz nicht gründen läßt. Abgesehen von solchen kleinen Meinungsverschieden¬
heiten können wir Kirchbach versichern, daß seine geistige und moralische Deutung
der Worte Jesu den gläubigen Religionslehrern durchaus nicht fremd ist, und daß
sie ganz so wie er auch die Wundertäter Jesu sinnbildlich und moralisch deuten;
es ist in der Kirche seit der patristischen Zeit von jeher gelehrt worden, daß das
Schriftwort außer seinem Wortsinn auch einen symbolischen und namentlich einen
moralischen Sinn habe. Aber freilich: außer dem Wortsinn; dieser wird nicht
verworfen oder für Legende oder Mißverständnis der Jünger erklärt wie in
Kirchbachs Buch. Wir unsrerseits haben nichts dagegen, daß man legendenhafte Zusätze
zu den Urevangelien und Anbequemungen Jesu an den Volksaberglauben im Neuen
Testament findet. Aber wir halten nicht alles Übernatürliche, was dann vorkommt,
für Legende, und wir glauben nicht, daß Jesus die Messiaswürde ausdrücklich ab¬
gelehnt, von seiner besondern Gottsohnschaft nichts gewußt habe und von einer jen¬
seitigen Seligkeit nichts habe wissen wollen.
In dieser Beziehung halten wir es mit Hegel, dem gerade die Gottheit
Christi das Wesentliche war. „Wenn Christus nur ein vortreffliches, sogar unfund-
liches Individuum und uur dies sein soll, so ist die Vorstellung der spekulativen
Idee, der absoluten Wahrheit geleugnet. Um diese aber ist es zu tun, und von
dieser ist auszugehn. Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr
wollt; ebenso zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren der Kirche auf den Konzilien
durch dieses oder jenes Interesse oder durch die Leidenschaft der Bischöfe zustande
gekommen oder von da oder dorther geflossen sind — alle solche Umstände mögen
beschaffen sein, wie sie wollen; es fragt sich allein, was die Idee oder die Wahr¬
heit an und für sich ist." Eduard von Hartmann will sogar, daß sich die Christen
nur an den Logos halten und den Menschen Jesus als eine halbmythische und
gleichgiltige Person fallen lassen sollen. Dieser Übertreibung gegenüber halten wir
wieder mit der Kirche daran fest, daß der Logos ohne den Menschen Jesus nicht
wirksam geworden wäre, und daß dieser Mensch Jesus für die Menschen aller
Zeiten die Offenbarung des Logos und der Führer zum Vater bleibt. Jesus soll
nach Kirchbach ganz kantisch die Unerkennbarkeit Gottes gelehrt haben. Mag sein!
Das schließt nicht aus, daß er für seine Person eine nicht unteilbare Kenntnis des
Jenseits hatte, wie viele seiner Worte andeuten. Eben weil wir das Jenseits,
„den Urgrund," nicht kennen, ist die Wnnderscheu töricht. Wir sehen täglich deut¬
licher ein, daß uns das Hervorgehn von Materie und Geist aus dem Urgründe,
ja schon das Hervorgehn einer Erscheinung aus der andern, des Organischen aus
dem Unorganischen, der Übergang einer Energieform in die andre Geheimnis
bleibt, ein Wunder, wie Otto Liebmann sagt, und darum halten wir es nicht für
ungereimt, daß Gott den, den er mit der wichtigsten aller Sendungen betraut hatte,
durch Zeichen beglaubigt habe, die sich in die kausale Verkettung der Naturvorgänge
nicht einfügen lassen. Das inwendige Reich Gottes, nach Kirchbach der Kern der
Jesuslehre, ist dem christlichen Lehrer und dem gläubigen Christen wahrhaftig nichts
neues; aber die Form, in der Kirchbach diese alte Wahrheit vorträgt, mit aus¬
drücklicher Abweisung eines äußerlichen Reichs Gottes, das erst im Jenseits seine
Vollendung finden soll, leidet an zwei Übelständen, die die Verbreitung der christ¬
lichen Religion unmöglich gemacht haben würden, wenn die Urgemeinde die Lehre
Jesu so verstanden und erklärt hätte. Er übersetzt Basileia ton Uranon mit „Macht
des Alls" und erklärt: „Die Macht des Alls soll unser innerer Besitz werden; das
All soll sich in uns konzentrieren, das Bewußtsein der Unendlichkeit und Gesetz¬
mäßigkeit des Alls, des Daseins soll uns stets begleiten." und daraus soll die
Sittlichkeit hervorsprießeu. Das versteht nun von tausend Menschen kaum einer,
und für den einen, der es versteht, ist es noch kein Leitstern für den Wandel,
keine Schutzwehr vor Versuchungen und keine Stütze in Widerwärtigkeiten. Alles dieses
dagegen ist und leistet die leicht verständliche Kirchenlehre, daß wir einen allmäch¬
tigen und allgüttgen Vater im Himmel haben, der uns so viel von sich, als wir
zu unserm Heile brauchen, durch seinen Sohn bekannt gemacht hat. und der das
in diesem unvollkommnen Erdenleben ungestillt bleibende Sehnen unsers Herzens
im Jenseits befriedigen wird. Das inwendige Himmelreich zu erstreben, ist Pflicht
jedes Christen; aber die Zahl derer, die es so vollkommen erlangen, daß sie seiner
Vollendung und Ergänzung im Jenseits nicht bedürfen, ist so klein, daß die christ-
liebe Religion wertlos wäre, wenn sich ihre Wirkung aus die Beglückung dieser
wenigen beschränkte. Übrigens lehrt Kirchbach nur, Jesus habe das jenseitige Reich,
die Fortdauer nach dem Tode, nicht verkündigt, nicht, er habe das Jenseits ge¬
leugnet; und Kirchbach leugnet es auch selbst nicht. Er schreibt u. a.: „Ob Gott
ist oder nicht ist, ob wir ihn durch Schlüsse nachweisen können oder nicht, diese
Schulfuchserfrage hat Jesus ebensowenig interessiert, wie etwa der freie Wille und
dergleichen. Zu behaupten: Gott ist in dem Sinne, wie etwa die Sterne sind,
würde eine Vermessenheit sein für jeden, der die Grenzen unsers Erkennens beob¬
achtet j?1 hat. Im populären atheistischen Sinne behaupten: Gott ist nicht, würde
eine ebensolche wissenschaftliche Unverschämtheit sein. Wir können keins von beiden
wissen." Wir begrüßen das Buch als einen Anfang unbefangner und beinahe
vorurteilsloser Würdigung der Bibel in den Kreisen der Nichtpositiven.
(Österreichische Verlagsanstalt
in Linz, Wien und Leipzig, 1903) ist ganz anders angelegt als das von Kirchbach.
Während dieses der Hauptsache nach neutestamentliche Exegese enthält, gibt jenes
einen Abriß der religiösen und der philosophischen Entwicklung der Menschheit,
Schilderungen der gegenwärtigen Lage und Zukunftsprogramme. Aber in einigen
ihrer Ergebnisse stimmen beide überein. Auch Ritter hält die Religion Jesu für
die absolute Religion, das bisherige Christentum für Paulinismus und erklärt, es
sei die höchste Zeit, endlich einmal mit der christlichen Religion Ernst zu machen.
Als das größte Hindernis ihrer Ausbreitung erscheint ihm die römische Hierarchie,
die vernichtet werden müsse; los von Rom! ist seine Losung; die Reformkatholiken
verspottet er. Der Protestantismus sei ja auch nur Paulinismus und seine gegen¬
wärtige Lage jämmerlich, aber er habe dem Christentum wenigstens den Weg be¬
reitet. In einigen andern seiner Ansichten wird ihm Kirchbach kaum beistimmen.
Er schätzt das Alte Testament gering, sieht im Christentum „die höchste Blüte des
arischen Weltverstehens," bekennt sich zur modernen Rassenlehre, preist Gobineau,
Chamberlain und — Tolstoi, will aber vom Antisemitismus nichts wissen, sondern
meint, für einen Krieg gegen vier Fronten: Rom, „die sozialen Verhältnisse, das
Mischlingstum" und den „alle Begeisterung und Hoffnung vergiftenden jüdischen
Hohn" sei das Ariertum nicht stark genug; man müsse das ungeheure geistige und
materielle Kapital der Juden annektieren, indem man sie in unsrer Rasse aufgehn
lasse; das werde nicht schwierig sein, weil sie noch viel „amoritisches" Blut hätten,
also den Ariern stammverwandt seien. Mit der Verbreitung der wahren Religion
aber müsse man endlich einmal energisch vorgehn (wie Herr Combes wohl?). „Die
Wahrheit darf gegen den Irrtum keine Toleranz kennen . . . was soll denn da
Gutes daran sein, daß jeder nach seiner eignen Fayon dumme Einbildungen hegen
darf?" Wer entscheidet aber, was Wahrheit, was dumme Einbildung ist? Herr
Albert Ritter natürlich. Nun hat er ja für den negativen Teil seiner Entscheidung,
den Kampf gegen Rom, viele Millionen Bundesgenossen; dafür wird es mit dem
positiven Teile, der Aufrichtung des neuen Gottesreichs, desto mehr hapern. Für eine
Religion, die Gobineaus, Dührings oder Chamberlains Rassentheorie, Tolstoiismus
und Philosemitismus vereinigt, findet er kein Dutzend Jünger unter den modernen
Geistern.
Wir fügen hier noch den Titel eines der Bücher an, für deren Besprechung
uns der Raum fehlt: Die Ethik Jesu von Eduard Grimm. (Hamburg, Grefe
und Tiedemcinn, 1903.) Es ist aus Vorträgen entstanden, die der Verfasser im
Auftrage der Hamburger Oberschulbehörde gehalten hat. Ein Abschnitt davon war
schon im Protestantenblatt veröffentlicht worden.
Die alte aristotelische Logik wird immer ein unentbehrliches
Mittel bleiben, den Gebildeten von mäßiger Fassungskraft im Gebiete der Verstandes¬
operationen zu orientieren und vor groben Fehlschlüssen zu bewahren. Aber die
neuere Forschung hat doch so viel neues psychologisches Material zusammengetragen,
daß das Bestreben erwacht ist, die Vorgänge beim Denken tiefer zu erfassen, als
es Aristoteles und die Aristoteliker vermocht haben. Hegels Logik war schon reine
Metaphysik, und heutige Logiker liefern Erkenntnistheorien als Grundlagen einer
Metaphysik. Ein solches Buch ist die Einführung in die moderne Logik von
Goswin Uphues. Professor an der Universität Halle (Fünfter Band des vom
Schuldirektor Beetz herausgegebnen Sammelwerkes: Der Bücherschatz des Lehrers.
Osterwieck am Harz. A. W. Zickseldt. 1901). Den Inhalt zu skizzieren, versuchen
wir nicht. Denn der Stoff ist so schon in dem Buche aufs äußerste zusammen¬
gepreßt, und wie der Verfasser richtig bemerkt: „Die Erkenntnistheorie umfaßt die
schwierigsten Fragen der Philosophie. Ihr Verständnis setzt nachdenkliche verinuerlichte
Naturen voraus, die heutzutage nicht allzuhäufig sind. Gewiegte Pädagogen be¬
haupten, daß manchen im übrigen gut begabten Schülern jede Anlage sür Mathe¬
matik fehlt. Mit anscheinend größerm Recht kann man sagen, daß fast allen Menschen
mit sehr wenigen Ausnahmen die Anlage für jenen Teil der Philosophie abgeht."
Aber Uphues versteht das schwer Verständliche so klar zu lehren, daß es verhält¬
nismäßig leicht verständlich wird, darum weisen wir Männer, die Beruf oder Neigung
zu diesen schwierigen Studien veranlaßt, an sein Buch, und wir tun es um so
lieber, weil seiue Ergebnisse im wesentlichen mit unsern eignen Überzeugungen über¬
einstimmen. Ein paar Anführungen mögen das dartun. „Wie unterscheiden sich
Wahrheit und Wirklichkeit? Das ist die für das Erkennen schwierige, vielleicht
unlösbare, jedenfalls noch nicht gelöste Frage. Sagen wir, das Wahre ist wirklich,
insofern es vom göttlichen Wesen nicht bloß gedacht sondern auch gewollt wird,
Raum und Substanz sind der symbolische Ausdruck für die scheinbare Selbständigkeit
der Dinge ihm gegenüber sbesser gefällt uns der Ausdruck »relative Selbständigkeit«,
den er anderwärts gebraucht^, Zeit und Kausalität der Ausdruck sür die völlige
Abhängigkeit der Dinge von ihm, so sind das jedenfalls viel zu allgemeine Ant¬
worten, um als genügend gelten zu können, obgleich sie eine ganze Weltanschauung
und vielleicht die einzig mögliche enthalten." In einer andern Schrift (Religiöse
Vorträge. Berlin, C.Ä. Schwetschke Sohn. 1903) sagt er: „Wir müssen an¬
nehmen, wie das von der Religion vorausgesetzt wird, daß die Ideale vor unsrer
Tätigkeit und unabhängig von ihr wirklich sind und als solche Wirklichkeiten auf
uns Einfluß üben, und daß wir unter solchem Einfluß handeln. Mit andern Worten:
Gott, in dem alle Ideale verwirklicht und zur Einheit verbunden sind, veranlaßt
und bewegt uns zum Streben nach den Idealen, er regt uns zu diesem Streben
an. setzt ihm sein Ziel und lenkt es dem Ziele zu. Gott ist nicht bloß das höchste
Gut, zu dem wir streben, sondern auch die Kraft, aus der wir handeln." In
der Logik zeigt er u. a., daß die Entwicklungstheoretiker den Zweckbegriff, den sie
in Bann getan hatten, durch Hintertüren selbst wieder in ihre Lehrgebäude ein¬
geschmuggelt haben, und beweist den Anmaßungen mancher Naturforscher gegenüber,
..daß den geschichtlichen Tatsachen, die wir sämtlich den Mitteilungen andrer ver¬
danken, kein geringerer sondern ein höherer Erkenntniswert zukommt als deu Wissens¬
inhalten der Naturwissenschaften. von denen wir viele dnrch unsre eigne Beobachtung
gewinnen, und die wir, wenn sie durch Beobachtung andrer gewonnen wurden, nach¬
prüfen können____Von dem Körperlichen, dem eigentlichen Gegenstande der Natur¬
wissenschaften, wissen wir streng genommen nicht, was es ist; von den Triebfedern
und Beweggründen menschlicher Handlungen, die sich uns als die Hebel der ge¬
schichtlichen Entwicklung darstellen, haben wir eine eigentliche, in einer Ew'Nyt
bestehende Erkenntnis." Da der Verfasser mit der Mehrzahl der heutigen Philo¬
sophen überzeugt ist. „daß wir von der Beschaffenheit der Dinge keine Erkenntnis
haben, so versteht man nicht, wie er die kantischen Dinge an sich verwerfen kann,
wenn sich die Verwerfung nicht etwa bloß auf den allerdings anfechtbaren Namen
beschränkt. Seine Fachgenossen werden wahrscheinlich finden, daß er gleich im
Anfang mehr dogmatisch als kritisch verfährt, indem er seinen Untersuchungen den
Begriff Wahrheit, und zwar seinen Begriff der Wahrheit vorausschickt. Ohne
Zweifel wird jeder, der unter des Verfassers Leitung die Schule der Logik durch¬
gemacht hat, welchem Forschungsgebiet auch immer er sich zuwenden mag, vor Ab¬
wegen sicherer vorwärts schreiten als andre, und wären alle Forscher einer so
tüchtigen logischen Schulung teilhaft geworden, so würden sie sich leichter und voll¬
ständiger miteinander verständigen, als es bis jetzt geschehen ist. Zu allgemeiner
Übereinstimmung jedoch in den höchsten und den tiefsten Fragen wird es niemals
kommen, nicht bloß darum nicht, weil auch das Denken der Gelehrten immer von
Vorurteilen, Neigungen, Abneigungen und Leidenschaften beeinflußt wird, so ent¬
schieden sie die Verwerflichkeit solcher Abhängigkeit vom Allzumeuschlichen in der
Theorie anerkennen mögen, sondern auch darum, weil jenseits der von Uphues selbst
sehr genau beschriebnen Grenzen unsrer Erkenntnis ein weites Gebiet liegt, worin
es keine Gewißheit sondern nur Wahrscheinlichkeit gibt, jedem aber etwas andres
wahr scheinen kann. Das Gebiet des Denknotwendigen begrenzt Uphues sehr eng;
er schreibt z. B.: „In dem Einheitsgesetz (das Shstem der Wahrheit setzt einen
Denkenden voraus, der alle Wahrheit erkennt) und in dem Gesetz der Kausalität
(das Ansaugende setzt ein andres schon Bestehendes voraus, das seinen Anfang er¬
möglicht) ist von einem Notwendigkeitsverhältnis zwischen dem Denkenden und dem
System der Wahrheit, zwischen dem den Anfang Ermöglichenden und dem An¬
fangenden in keiner Weise die Rede; ein solches Notwendigkeitsverhältnis wird
darum auch von diesen Gesetzen nicht gefordert." Dann darf man aber auch nicht
erwarte», daß sich jemals alle Denker innerlich genötigt fühlen werden, diese beiden
Gesetze und damit Gott als Weltursache anzuerkennen.
Eine umfangreichere Sammlung erkenntnistheoretischer und psychologischer
Untersuchungen hat der Ungar öl'. Melchior Palägyi (bei C. A. Schwetschke <K Sohn
in Berlin 1903) herausgegeben unter dem Titel: Die Logik auf dem Scheide¬
wege. Als einen Schüler von Uphues erkennt man ihn daran, daß er wie
dieser den kartesianischen Dualismus und sowohl die sensualistische wie die ratio¬
nalistische Methode verwirft und das Wesen der Erkenntnis darin sieht, daß im
Vergänglichen ein Ewiges gefunden wird. Am beifälligsten dürfte seine Unter-
suchung der Kategorien Zeit und Raum aufgenommen werden, die zu dem Ergebnis
führt, daß der Raum nicht ohne die Zeit, die Zeit nicht ohne den Raum gedacht
werden kann, und daß der Raum nicht etwas Beharrliches, sondern ein sich in
jedem Augenblick Erneuerndes ist: fließender, dynamischer Raum. Die anstrengende
Lektüre wird hie und da mit einem hübschen Bonmot versüßt, z. B. „Wir sind im
Grunde genommen alle MetaPhysiker, nnr mit dem Unterschiede, daß sich die einen
darüber ärgern, die andern nicht."
Palägyi Polemisiert sehr heftig gegen Kant: dieser aber kommt jetzt bei Leuten
zu Ehren, deren Lob ihn nötigen wird, sich im Grabe umzudrehn. Der siebente
Band von Vaihingers Kantstudien enthält eine Abhandlung von Albert Leclere,
DootMU'-of-lsttrss ü, Liois: I^s mouvvmsat «Molicius Kamelen, su Vr«vos 5. 1'Il.sure
xi'WMts. Man erfährt daraus, daß es auch heute noch zahlreiche liberale Katho¬
liken in Frankreich gibt, die die Aussöhnung der Religion mit der Wissenschaft
eifrig betreiben, und daß viele von ihnen in Kants Abgrenzung der beiden Gebiete
das Mittel der Versöhnung sehen. Es wird eine Reihe von Männern genannt,
die das Aussöhnungswerk in reger literarischer Tätigkeit fördern, deren Namen aber,
von Brünettere abgesehen, in Deutschland ganz unbekannt sind; Blondel und Bergson
scheinen die bedeutendsten zu sein. Der Verfasser hofft, daß sich diese Schule
Duldung, wo nicht Anerkennung in der Kirche erkämpfen werde; von den Tatsachen,
auf die er seine Hoffnung gründet, wollen wir nur die beiden anführen, daß
Thomas von Aquin seine Philosophie auf denselben Aristoteles gebaut hat, dessen Lehre
zehn Jahre vor jenes Geburt von der Kirche verdammt worden war, und daß
Leo der Dreizehnte im Jahre 1892 zu Mgr. d'Hülfe gesagt hat: man dürfe die
christlichen Gelehrten in ihren Arbeiten nicht stören, man müsse ihnen Zeit lassen,
zu zweifeln (oder: sich zu besinnen? Im Urtext steht älunitoi') und sogar zu irren-
In der jüngst abgehaltnen Generalversammlung der Görresgesellschaft hat sich der
Straßburger Philosophieprofessor Albert Lang gegen den Knnticmismus der fran¬
zösischen Apologeten ausgesprochen.
Mein Freund,
Professor E. Matthias in Burg, hat in seinem sehr lesenswerten Aufsatze: „Zur
Geschichte des Deutschen Wörterbuches der Brüder Grimm" (Grenzboten Ur. 47)
mehrfach auf meinen in Nummer 37 anonym veröffentlichten Artikel Bezug ge¬
nommen und auf S. 627 gesagt, daß meine Angaben „nicht ganz zutreffend" seien.
Ich kann dies nicht zugeben. Daß Professor Stosch schon 1895 mit der Fort¬
führung der Arbeit Erdmcmns betraut worden sei, habe ich nämlich nicht behauptet,
soudern nur, der Wahrheit gemäß, geäußert, Stosch (dessen Namen ich übrigens
nicht nannte) sei schon 1895 „in den Dienst des Wörterbuchs gestellt worden."
Tatsächlich wurde er auch auf Erdmanns Wunsch Ostern 1895 mit dem ausdrück¬
lichen Auftrage, diesen bei der Arbeit am Wörterbuche zu unterstützen, nach Kiel
versetzt.
Zu den übrigen Ausführungen von Matthias nur noch eine Bemerkung. Er
erklärt es für — gelinde ausgedrückt — wunderlich, daß ich schon jetzt von einem
auf breiterer Grundlage zu errichtenden neuen Wörterbuche „schwärme." Ich
meinerseits tröste mich diesem Vorwurfe gegenüber mit der Tatsache, daß vor mir
schon andre — und unter ihnen Wilhelm Grimms eigner Sohn Herman — den
Plan erörtert und die Notwendigkeit seiner baldigen Ausführung betont haben.
„Kupferberg Gold"
zeichnet sich durch erst¬
klassige Qualität, vor¬
züglichen Geschmack,
durch seine leichte Art
und große Bekömmlich¬
keit aus. Nach unserm
erfahrenen Urteil muß
es als das beste deutsche
Erzeugnis angesehen
werden.
^nseigen M
»^>»»»»»»» . .^>^»»>W»»»W»^^^?^
Inzerstensnnsdme -Zmcd «lie KxpeSition «er «renxboten, Leipzig
-» preis Illr ille 2«eigespi>»»e I!onpsrei»e?eile I Mark. Umschlagseilen erhöhte preise
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^ltrsnommlmt««, v«r»«uno» Jut»» I. II«.nxe», l» «i»!->x «ouvrer I>»!?e »» <I»i «!>«>; x»xv»ut«r <I«in lixl. 8vu!««»,
cksiu V»eriilii»i8, nisi»x«r »n<I «I«r «ol»in<l«»v»lvrj«. M«Kirk»<!l>v lieleiieliion-z. I.Iki. Lila«r.
-Iloinis« tur ^ntnmohll«.-——— K. Konnekelü, Oirölitor.
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RidliolZunS. .Vei»'
licuo I>e!kurz nun klü'
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A.erütin. ?ro»ve^es >^
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or.8MMkr'8 ?öMoii u. Lrnikdunzsäiist. l. sima«
u. KeKv»0llsedon6e ater Kessersn StiinÄö nimmt üinSer
LrvavKsenv doicksrlsi Kssolileodts »ut. IncUvickusIIv Lhu»n<U5' >
ü» weiter selbiit erblinSvt. Die Seliule stellt unter se»»tlioker
^uisiodt, Spa?.!erg. i. ü. liindl. u> «Ani-;. vrnAeßenü. ?r»t.
u. Katu. XiroKe rtia Orte. Uitssixe LsSinxun-z-zu. ürsto R6'
kersn--
.er. ?rosvslite steneii nur Veriuxunx. „
verxeNnrk hei Ililinhnrx, (Zrvve's <Z»rtoll >'
« SeMnA. flötet „ver I^aiservsf".^
SIMM«' von Z.SV MK. <>n. Kuhlgsle u. vornehmste r»g« Sellw^
AvdurtstaSs - LiMter - ?^raniiÄe. ^
^us-tinlnunlvgbsr. v.«. S. I^r. 1S?!7V5>. Und-llvlisnilgr Sohmuoii fiir jsrlon gedurtiisosiisoli.
Oden <i^s I^vbensliol>t. auk 6vn Reiter ale Denker in <Ier civr erlehtvn ^«we.
Uit 2 «vies» bis nu M llolitor» «llr. > inlrl. lvstom, it««dom Xmlon. lockte KtüoK 21'kg-
„ 3 ,! ,, >> KO ,, „ / Ver>»»6 untvr rs»olim»tuo. ?<>rto extra.
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Gustav Aleese's
T^omer KomgKuchen
^-^I^ sinnt «oKIsedmeeiiencl, ^ ^ nakrkaf» null btkömmliek. —EegrNncl-t >7S<
ligt. riokttekeran«
i" 24, April 1884 beauftragte Fürst Bismarck telegraphisch den
Konsul des Deutschen Reichs in Kapstadt, der Kapregierung zu
erklären, daß der Kaufmann Lüderitz und seine Niederlassung in
Angra Pequeua unter dem Schutz des Reichs stehe. Das
Politik ^"hr 1884 ist das eigentliche Geburtsjahr der deutscheu Kolonial-
grcimm 's^ i^er 24, April mit seinem überraschend wirkenden Tete-
^ ur pe mehrfach als deren eigentlicher Geburtstag bezeichnet worden. Das
das^'" s!"'" "^^ zutreffend, denn schon am 4, Februar 1883 hatte
da^ N"^, > Auswärtige Amt in London angefragt, ob die englische Regierung
mal's s^ Unternehmen schützen könne, nachdem drei Jahre zuvor die
pill ?s-^^^^^" Hereros das Land geräumt hatten. Lord Gmn-
rubte V ^ Februar diesen Schutz für unmöglich. Dann
stellte ^scheinend, bis Deutschland am 12. November die Anfrage
croit 't ' ^"'^"d auf Angra Pequeua Ansprüche erhebe. Lord Granville
Wesel^V ?k ^°^^>uber stolz. England halte eine fremde Kolonie an der
Ko - !> . ^^^^ ^' einen Eingriff in die Rechte Englands. Als in weiterer
keit s ^ ^ Antwort Englands ausblieb und die Kapregierung Schwierig-
^ en machte, ergii,g um 24. April jenes Telegramm, das wie ein herzerfrischendes
^rompetengeschmetter durch Deutschland klang. Die Kapkolonie antwortete mit
"ner Annexion der Küste bis zur Walfischbai, Deutschland lehnte am 4. Juni
Anerkennung ab, und nach längern Verhandlungen erfolgte am 22. Juni der
Schluß der englischen Regierung, das deutsche Protektorat anzuerkennen.
Inzwischen erschienen der deutsche Kreuzer „Elisabeth" und das Kanonen -
vvot „Wolf" an der Küste und stellten am 7. August das Gestade vom Oranje-
'luß bis Kap Frio mit Ausnahme der Walfischbai unter deutschen Schutz,
endlich nach mehrfachem Hin und Her begrüßte am 22. September die englische
Regierung Deutschland als Nachbar in Südwestafrikn; es geschah dies durch
eine vom englischen Geschäftsträger in Berlin überreichte Note.
Das ist, in großen Strichen, die diplomatische Vorgeschichte der Er¬
werbung unsers südwestafrilanischen Schntzgebiets, das in diesem Augenblick
wiederum zum Gegenstand unsrer besondern Sorge geworden ist. Man kann
in Deutschland wohl die Frage aufwerfen, woher P es gekommen, daß wir
'
heute dort noch so in den Anfangen stehn? Daß nach zwanzig Jahren unsre
Position in diesem Lande noch nicht so gefestigt und geschützt ist, daß sie den
Farmern und den kleinern Militürposten Schutz und Sicherheit gegen Neger¬
aufstände gewährt? Gewiß ist Südwestafrikn in seiner Entwicklung noch sehr
weit zurück, und die Anzeichen einer wirtschaftlichen Hebung des Landes in
größerm Stil beschränken sich immer noch mehr auf Hoffnungen als auf Tat¬
sachen. Aber es ist nicht zu verkennen, daß nachdem im Jahre 1891 Graf
Caprwi getreu seinem Altsspruch: „Je weniger Afrika, desto besser" den Ver¬
kauf der Kolonie an England ernstlich in Angriff genommen Nüssen wollte,
von 1894 ab unverkennbar große Fortschritte eingetreten sind.
Windhuk, die Hauptstadt des Landes, hat sich stattlich entwickelt, mehr
fast noch Swakopmund, das im Jahre 1894 ein völlig öder, wegen der
Brandung kaum zu erreichender Strand war und heute ein ganz ansehnlicher
Ort mit stattlichem Molenbau, Hotels und Kaufhäusern, der Ausgangspunkt
der Eisenbahn in das Innere und demgemäß auch der Ein- und Ausgangs-
punkt für den gesamten Verkehr nach Europa ist, mit diesem durch Kabel¬
anschluß verbunden. Aller Anfang ist schwer, und das ganz besonders auf
einem so öden Strande, wie die dortige Küste. Zwei unternehmende junge
Deutsche, die 1894 auf dem einsamen Strande landeten, konnten nur mit Hilfe
von Matrosen an Land kommen und ihr Zelt aufschlagen. Heute sitzt der eine
von beiden als Rechtsanwalt und Herausgeber der „Südwestafrikanischen
Zeitung" dort, der andre hat sieben Jahre lang als Vertreter der Kolonial¬
gesellschaft für Südwestafrika an dem Erblühen von Swakopmund einen hervor¬
ragenden Anteil genommen.
Von großem Einfluß ist sodann der Eisenbahnbau gewesen, den bekannt¬
lich die Berliner Eisenbahntrnppe geleitet und zum großen Teil auch ausge¬
führt hat. Leider scheint es der Bahn an hinreichendem Ausrüstungsmaterial,
an Maschinen und an geschulten Personal zu fehlen. Schon die Erbauung
als Schmalspurbahn war nicht ohne Bedenken und nur der Scheu entsprungen,
für den gewollten Zweck auch die nötigen Mittel einzusetzen. Neben der Eisen¬
bahn ging auch die Post kolonisierend vor; die Zahl der Postanstalten im
Schutzgebiet ist im Etat für 1904 auf 32 angegeben. Mitten in diese Ent¬
wicklung hinein füllt nun der Hereroaufstand, der vor allen Dingen erkennbar
macht, daß die militärischen Machtmittel im Lande, gleichfalls der Übeln Laune
des Reichstags zuliebe, ganz unzureichend sind. Es wiederholt sich die alte
Erfahrung, daß die zur Unzeit und am unrechten Orte gemachten Ersparnisse
in solchem Augenblick zehnfach ausgegeben werden müssen.
Als Fürst Bismarck nach dem Fehlschlag in der Samoasache damals eine
deutsche Kolonialpolitik wieder aufnahm, ging er dabei von Voraussetzungen
aus, die der spätern tatsächlichen Entwicklung nur teilweise entsprochen haben.
Er hoffte, daß sich die großen Kaufleute, daß sich namentlich die Hansastädte
der Sache bemächtigen, größere Unternehmungen begründen und auf Grund
Kaiserlicher Frei- oder Schutzbriefe in eigner Verwaltung führen würden. Die
Beteiligung des Reichs mit Ausübung staatlicher Hoheitsrechte dachte er sich
sehr gering, lehnte sie zum Teil sogar ausdrücklich ab. Die Veranlassung, einer
Protektoratssrage überhaupt näher zu treten, bot ihm der Umstand, daß zu
Anfang 1883 zwischen Frankreich und England eine Übereinkunft geschlossn
wurde über eine bei neuen Besitzergreifungen auf der Sierra-Leoneküste zu
beobachtende Grenzlinie und über die gegenseitige Behandlung ihrer Unter¬
tanen in den beiderseitigen westafrikanischen Besitzungen. Durch Erlaß vom
14. April 1883 wurde daraufhin der Gesandte von Kusserow in Hamburg
beauftragt, die Senate der freien Hansastädte zu befragen, ob und welche
Wünsche der hanseatische Handelsstand wegen seines Schutzes und seiner Ver¬
tretung im Verkehr mit Westafrika hege. Lübeck hatte keine Beziehungen zu
Westafrika, Bremen ungeachtet einiger Handelsbeziehungen keine besondern
Wünsche, sehr eingehend war dagegen die Hamburger Antwort auf Grund einer
Denkschrift der Hamburger Handelskammer vom 6. Juni 1883. Sie regte in
klarer sachlicher Sprache ein politisches Vorgehn Deutschlands als dringend
erwünscht an und empfahl die Erwerbung der spanischen Insel Fernando Po
als Flottenstation, sowie eines Küstenstrichs am gegenüberliegenden Festlande.
Diese Denkschrift ist vielleicht als der eigentliche Ausgangspunkt und als die
Grundlage unsrer Kolonialpolitik anzusehen. Als der Kronprinz Ende 1883
nach Madrid ging, wurden dort Verhandlungen wegen Fernando Po gepflogen,
deren praktisches Ergebnis allerdings nie recht bekannt geworden ist. Spanien
soll die Errichtung eines Marine- und Kohlendepots zugestanden haben, ein
Gebrauch ist deutscherseits davon nicht gemacht worden. Im Fortgang der Ver¬
handlungen mit Hamburg wurde der Generalkonsul Dr. Nachtigal mit Voll¬
machten und einer später der Öffentlichkeit übergebnen Instruktion versehen,
an bestimmten Küstenstrichen Westafrikas zum Schutze des deutschen Handels
Freundschafts-, Handels- und Schutzverträge abzuschließen.
Die Hamburger Firmen waren inzwischen verständigt worden, sich durch
Verträge über Landerwerb und deutschen Schutz mit den Häuptlingen der
Küste die Küstenstriche zu sichern. Am 27. Juni entwickelte Fürst Bismarck
dem Reichstage sein kolonialpolitisches Programm in einer oft zitierten Rede,
später folgten noch Verhandlungen in Friedrichsruh mit den Inhabern der
interessierten Hamburger Firmen. Fürst Bismarck lehnte sowohl die Flotten¬
station auf Fernando Po wie jede Gebietserweiteruug aus Reichsmitteln ab,
von einer eignen kolonialpolitischen Tätigkeit des Reichs wollte er nichts
wissen; er beharrte bei dem Grundsatz, daß der Handel die Bahn zu brechen,
die Flagge ihm schützend zu folgen habe. Seitdem hat uns nicht nur die
kolonialpolitische Entwicklung zur Zeit Bismarcks, sondern namentlich auch der
Erwerb und das schnelle Aufblühen von Kiautschou gelehrt, daß die Flagge
voraufzugehn und den Kreis der deutschen Interessen, die Interessensphäre
militärisch zu sichern hat, der Handel und andre Unternehmungen folgen ihr
dann schon, sobald sie sich sicher und geschützt wissen, wie wir das jetzt ni.
Schankung sehen. In frühern Jahrhunderten konnte es dem Handel überlassen
bleiben, auch kolonialpolitisch die Bahn zu brechen; namentlich England und
die Niederlande sind auf diese Weise vorgegangen, es war der regierende Kauf¬
mann, nicht der Seeoffizier oder der Beamte, der für diese Staaten die großen
kolonialpolitischen Erwerbungen machte, auch waren damals Handel und
Kolonialpolitik noch identische Begriffe. Deutschland scheint das traditionell
nicht gegeben zu sein, denn als der Große Kurfürst in Westafrika festen Fuß
fassen wollte, sandte er einen Major to. d. Grveben) und Soldaten hinüber,
die das Fort Groß - Friedrichsburg bauten. Fürst Bismarck aber sagte in
seinem kolonialpolitischen Glaubensbekenntnis: „Unsre Absicht ist nicht, Pro¬
vinzen zu gründen, sondern kaufmännische Unternehmungen, aber in der höchsten
Entwicklung, auch solche, die sich eine Souveränität, eine schließlich dem
Deutschen Reiche lehrbar bleibende, nnter seiner Protektion stehende kauf¬
männische Souveränität erwerbe», zu schützen in ihrer freien Entwicklung,
sowohl gegen die Angriffe ans ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, als auch
gegen Bedrückung und Schädigung von feiten europäischer Mächte." Nun,
dieser Versuch ist zweimal gemacht worden: mit der ostafrikanischen Gesellschaft
und der Neu-Guineakompagnie. Die erste, mit zu geringen Mitteln ausgestattet
und ungenügend geleitet, erlag dem Aufstande, und Ostafrika ist heute voll¬
ständig Kronkolonie, eine von den kolonialen „Provinzen," wie Bismarck sie
1884 entschieden nicht wollte. Die Neu-Guineakompagnie fing mit reichen
Mitteln, einer klugen, intelligenten, weitblickenden Leitung und einer großen
patriotischen Ausdauer an. Aber schließlich mußte auch ihr Leiter, der jüngst
verstorbne Geheimrat vou Hansemann, erklären, daß es nicht Aufgabe einer
Kolonialgesellschaft sei, zu regieren oder Regierungsgewalt auszuüben. Ihre
Aufgaben könnten nur wirtschaftlicher, nie rcgiminalcr Natur sein, solche lägen
dem Staate ob. So ist anch Um-Guinea Kronkolonie, „Provinz," geworden.
Das Bismarckische Programm von 1884 setzte bei der Kaufmannschaft
sehr große Mittel und vor allem den Erwerb von Gebieten voraus, die
Pflanzen- oder Bodenprodukte in außerordentlicher Fülle enthalten, endlich
auch ein Zeitalter, wo die Verkehrswege noch in den Anfängen stehn, und
die Ausbeutung jener Schütze ein gewimibringendes Monopol bedeutet. Von
alledem ist heute in der Welt überhaupt nicht mehr die Rede, am wenigsten
in den Gebieten, die Deutschland zugefallen sind. In Ostafrika müssen Aus-
fnhrprodutte aus der Pflanzenwelt — Kaffee, Kakao usw. — erst mühsam
herangezüchtet werden, Bodenschätze werden unablässig gesucht und niemals ge¬
funden; in Neu-Guinea ist dasselbe der Fall. Da ist es freilich den Kolonial¬
gesellschaften nicht zu verargen, wenn sie ihre Mittel auf die wirtschaftliche
Erschließung beschränken und alle Belastungen mit Staatshoheitsrechten und
-Pflichtein Rechtspflege und Verwaltung, Polizei, Vermessung, Sanitätswesen,
militärischen Schutz, Strafexpeditionen usw. weit von sich abweisen. Als die
Engländer und die Niederländer zu solchen Unternehmungen auszogen, standen
sie fast konkurrenzlos in der Welt. Die kühnen Unternehmer brauchten nur zu¬
zugreifen, ihr Wagnis brachte ihnen schnell reichen Gewinn, jeder Erdteil lebte für
sich abgeschlossen, und die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit ihrer fieber¬
haften intensiven und expansiven Entwicklung waren noch nicht vorhanden.
Was Deutschland bisher an Kolonien zugefallen ist — das vermag sich
nur zu entwickeln, wenn der Privatmann seine Mittel ausschließlich, sei es für
den Farmbetrieb, sei es für die Gewinnung von Handelswerten, anlegt, aber
der Hafen-, Straßen- und Eiseubcihnbau, der Schutz, die Errichtung von Schulen
und öffentlichen Gebäuden, die Rechtspflege und die Verwaltung — das muß
dem Reich verbleiben, und je reichlicher das Reich fich auf diesem,
feinem eigensten Staatshoheitsgebiet betätigt, desto mehr wird
das der Kolonie zugute kommen. Es ist unserm großen Reichskanzler
in diesen grundlegenden Fragen der Kolonialpolitik so ergangen wie in seinen
letzten Lebensjahren mit der Flotte, als er immer uur von Kreuzern wissen
wollte, die den deutschen Handel und die Kolonien schützen, die feindlichen im
Notfalle bedrohen sollten. Erst spät hat er sich noch den Erwägungen gefügt,
daß die Kreuzer ohne Rückhalt an einer Schlachtflotte ebenso bald ausgespielt
haben würden, wie vorgeschobne Neiterabteiluugen im feindlichen Lande, denen
keine größern Heeresmassen folgen.
Aber bei den neuen Anfängen deutscher Kolonialpolitik ist auch noch etwas
Weiteres unbeachtet geblieben, nämlich daß sich Handel und Kolonisation,
mögen sie ehedem aufeinander angewiesen gewesen sein, längst getrennt und
sich ihren voneinander grnndverschiednen Aufgaben zugewandt haben. Bismarcks
Programm betont wesentlich den Schutz der Handelsinteressen, der bestehende»
oder der zukünftigen überseeischen Faktoreien, als kolonialpolitische Aufgabe.
Heute sind Kolonial- und Handelspolitik ganz verschiedne, eigentlich ent¬
gegengesetzte Dinge. Die Kolonialpolitik für die deutschen Schutzgebiete
wird noch auf lange Zeit schutzzölluerifch bleiben müssen, während der Gro߬
handel immer freihändlcrisch sein und deshalb für kolonialpolitische Unter¬
nehmungen wenig übrig haben wird. Daher auch die begreifliche Zurückhaltung
der Hansastädte, wo noch heute die Mehrzahl der großen Handlungshäuser
kolonialen Bestrebungen kühl oder ablehnend gegenübersteht. Auf Handels-
unternehmungen läßt fich jetzt eine Kolonialpolitik nicht mehr aufbauen. Der
Handel ist heute nicht mehr imstande, seine Mittel in Unternehmungen festzu¬
legen, die erst nach vielen Jahren möglicherweise einen Gewinn in Aussicht
stellen. Auf die großen Handelshäuser der Hausastädte können wir also in unsern
Kolonien erst rechnen, wenn diese ihnen einen gesicherten Gewinn aus wirk¬
lichen und großen Ansätzen zu bieten vermögen. In Kamerun und Togo scheint
sich dieser Zeitpunkt zu nähern.
Bedingung dieser Möglichkeit aber ist eine zuverlässige Sicherheit, unter
deren Schutz die sehr mühevolle Arbeit des Farmers oder des Faktoreibesitzers
langsam reifen und gedeihen kann. Wo dieser Schutz auch nur einmal versagt
oder durchbrochen wird, wie jetzt in Südwestafrika, ist die Arbeit in der Regel
auf Jahre hinaus vernichtet, und die aufgewandten Mittel sind verloren. Die
jetzigen Vorgänge dort enthalten eine ernste Lehre.
So wie bisher kann es weder in Südwestafrika noch in den andern
Kolonien weitergehn. Diese zaghafte, nnlustige. von einem Jahre zum andern
aufschiebende Methode schafft keine Werte, sondern vernichtet sie. Wir oben
hier an den Folgen der'anfänglichen unrichtigen Jnstradierung unsrer Kolomal-
Politik. die der Ansicht zuneigte, daß die Verwaltungskosten der „Schutzgebiete"
von den regierenden Handelsgesellschaften bestritten werden würden, und das
Reich wenig oder keine Kosten davon haben dürfe. Damit ist von vornherein
im Reichstage eine für alle Bewilligungen ungünstige Stimmung erzeugt, richtiger
vielleicht die vvrhandne ungünstige Stimmung, die sich 1880 in der Ablehnung
der Samoavorlage betätigt hatte, als solche befestigt worden. Daher kommt
es auch, daß die Kolonialetats mit Positionen bepackt worden sind, die gar
nicht dahin gehören, wie z, B. die gesamten militärischen Ausgaben. Aus
den „Schutzgebieten" mit losen Handels-, Freundschafts- und Protektorats¬
verträgen sind Provinzen des Reichs geworden, für die das Reich die vollen
Pflichten zu tragen hat. Die erste Pflicht ist aber die Sicherung, namentlich
den Eingebornen gegenüber, über die das Reich die herrschende Macht, die
Übermacht unausgesetzt behaupten muß. Was heute in Südafrika geschehen
ist, kann sich morgen bei den volkreichen Stämmen des Hinterlandes von
Kamerun wiederholen, auch dort ist ein viel stärkerer Schutz, ist eine wesentlich
festere Fundamentierung der deutschen Herrschaft nötig. Als Spielzeug sind
die Kolonien zu teuer, als Provinzen des Reichs ausgebaut, gepflegt und ge¬
hütet, werden sie sich bezahlt machen.
in Asien scheinen die großen Gegensätze zu einer Entscheidung zu
drängen. Rußland ist in Zentralasien bis an den Fuß der
iranischen Randgebirge vorgerückt, im Osten bis ans Gelbe Meer;
mit der sibirischen Eisenbahn hat es sich eine neue unangreifbare
!Welthandels- und Militärstraßc geschaffen, und zugleich hat es
sozusagen in aller Stille eine mächtige Flotte aufgestellt und damit nicht mir
das Ergebnis des Krimkriegs bis auf die letzte Spur zerstört, sondern auch
einen Anteil an der Herrschaft des Großen Ozeans gewonnen, wo früher allein
die englische Flagge gebot. Auf dieser ganzen ungeheuern Linie, vom Per¬
sischen Golf bis an das Gelbe Meer, stößt es überall mit England zusammen,
das von Indien aus Iran und Tibet unter seinen Einfluß zu bringen sucht
und mit eifersüchtiger Sorge über China wacht. Zugleich hat Rußland, indem
es die Hauptplätze des zentralasiatischen Islams in seine Hände gebracht hat,
den Weißen Zaren, den Ak Padischah, neben dem Sultan und Khalifen in
Konstantinopel zum Schutzherrn der Mohammedaner erhoben, also der in ganz
Westasien herrschenden Weltreligion, und wenn England, das in Indien schon
viele Millionen Buddhisten beherrscht, mit Tibet auch den Dalai-Lama irgend¬
wie in seine Gewalt bekommen sollte, dann würde es für den Buddhismus,
der in Ostasien dominiert und dreihundert Millionen Bekenner hat, in eine
ähnliche Stellung einrücken, wie der Zar deu Mohammedanern gegenüber.
Hinter diesen beiden europäisch-asiatischen Großmächten tritt Frankreich weit
zurück, obwohl es den größten Teil der hinterindischen Halbinsel direkt oder
indirekt in seiner Hand hat; dafür haben die Vereinigten Staaten mit starker
Faust über den Großen Ozean nach Ostasien herübergegriffen, und sie drohen
im Wettkampf um die wirtschaftliche Vorherrschaft dort der gefährlichste
Gegner der europäischen Mächte zu werden. Zwischen diesen drei erdum-
«
spannenden Kolossen liegt das Chinesische Reich als eine ungefüge, riesige
Masse, stark in der Defensive schon als Masse, aber unfähig zu einer Akkon.
weil es nicht darauf organisiert ist; nur Japan hat mit raschem Sprunge das
lang Versäumte nachgeholt. Es ist noch keine Weltmacht, aber mit fernen
45 Millionen Menschen eine asiatische Großmacht, die einzige emheumsche. die
es jetzt gibt, und die einzige heidnische der Erde. Die Intervention Rußlands,
Englands und Deutschlands hat ihm den besten Teil des Siegespreises aus
seinem Kriege mit China 1894/5 aus der Hand gewunden, aber im Boxer¬
aufstand ist es Seite an Seite mit den christlichen Mächten marschiert, und
jetzt scheint es fest entschlossen zu sein, die maßgebende Macht in Korea zu
werden, also doch auf das Festland hinüberzugreifen. Im Hintergrunde steht
dabei jedenfalls der Gedanke, unter japanischer Leitung China, das Mutter-
land der japanischen Kultur, wehr- und aktionsfähig zu machen, also die gelbe
Rasse vor der völligen Überwältigung durch die europäischen Völker zu schützen.
Das steht auf dem Spiele, um diesen Preis, nicht nur um Landgewinn und
Handelsvorteile würde sich ein Krieg zwischen Rußland und Japan drehen.
Möglich, wahrscheinlich sogar ist es, daß er zunächst lokalisiert bliebe, aber
eben so möglich ist es. daß daraus ein Weltkrieg würde. Denn mit Rußland
'se Frankreich verbündet, mit Japan England, und dieses würde ohnehin eme
völlige Niederwerfung Japans niemals zugeben; ein russisch-japanischer Krieg
wäre tatsächlich vom ersten Kanonenschuß an schon ein Krieg zwischen Ru߬
land und England.
Vor diesen grenzenlosen Perspektiven verschwindet beinahe die lange Zeit
schlechtweg sogenannte orientalische Frage, das Schicksal der Türkei. Nur die
ostasiatischen Interessen haben Rußland veranlaßt, mit Österreich zusammen
dem Sultan Reformen in Makedonien abzunötigen, also dort einigermaßen
haltbare Zustände zu schaffen. Aber der Blick des russischen Volks bleibt auf
Konstantinopel gerichtet, und die griechisch-orthodoxe Kirche bildet im ganzen
Osmanenreich eine Vorhut Rußlands bis nach Palästina hin; eine verhüllte
Schutzherrschaft über deu Sultan ist das zähe festgehaltne Ziel der russischen
Politik, die zugleich von Armenien her auf Kleinasien drückt und das Schwarze
Meer völlig beherrscht. In den Westen der Balkanhalbinsel mögen sich ja
vielleicht einmal Österreich und Italien teilen, aber den Osten und Kleinasien
hat Rußland sicherlich niemals als seine gute Beute zu betrachten aufgehört.
So stehn drei Weltgroßmächte im Ringen um die Herrschaft der Erde
voran. Was sie von den andern Großmächten unterscheidet, das ist nicht nur
die ungeheure Ausdehnung ihres Gebiets und ihre riesige Menschenzahl,
sondern die Art dieses Gebiets. Halbe und ganze Erdteile sind heute in einer
Hand vereinigt; Rußland beherrscht den ganzen Osten von Europa und die
Nordhülfte Asiens, England den größten Teil Südasiens, ein Viertel Afrikas,
den nördlichsten Streifen Nordamerikas und ganz Australien, damit die wich¬
tigsten Welthandelsstraßen; die Vereinigten Staaten umfassen den besten Teil
Nordamerikas und wichtige Außenkante in beiden Ozeanen. Alle drei Mächte
sind schon durch ihre Lage und ihre Ausdehnung so gut wie unangreifbar,
sie umschließen Menschen der verschiedensten Stämme und Rassen. Landschaften
der verschiedensten Klimate, sie können also alle ihre wirtschaftlichen Bedürf-
nisse aus eignen Mitteln befriedigen, können riesige wirtschaftliche Einheiten
bilden, wie es das russische Reich schon tut, Nordamerika und England
wenigstens versuchen. Was früher Mittelstaaten und später große National¬
staaten vermochten, das vermögen heute uur noch Weltmächte.
Wo bleiben wir? Wo bleibt Deutschland?
Unsre territoriale Grundlage ist schon in Europa viel zu schmal, politisch
und wirtschaftlich. Wir sind von drei Seiten her angreifbar, und fremde
Heere haben Deutschland in den Zeiten seiner Schwäche bis in den letzten
Winkel durchzogen, während seit Jahrhunderten in Rußland kein Feind weiter
gekommen ist als bis Moskau, England und die Union von feindlichen Truppen
überhaupt nicht betreten worden sind. Wir glaubten lauge Zeit genug getan
zu haben, wenn wir — endlich! — unsern geschlossenen Nationalstaat ge¬
gründet hatten, und wir entdecken jetzt mit Schrecken, daß es Nationalstaaten
fast nur in Europa gibt, das; die ganze Idee verhältnismüßig sehr jung ist, daß
die drei Weltgroßmächte der Gegenwart zwar auf geschlossenen Nationalitüten
aufgebaut, aber als Ganzes keineswegs Nationalstaaten, sondern Völkerreiche
sind, so gut wie einst das griechisch-makedonische, das altrömische, das mittelalter¬
liche deutsch-italienische Reich. Wir wissen längst, daß Deutschland bei seiner
wachsenden Bevölkerung ohne massenhafte Ausfuhr von Jndnstrieprodukten,
mit der es die unentbehrliche Einfuhr von Lebensmitteln bezahlen muß, gnr
nicht mehr leben kann, also vom Auslande abhängig ist, und daß es viel zu
klein ist, sich selbst zu genügen. Wir sind in Europa die stärkste Großmacht,
aber was bedeuten wir außerhalb Europas? Wenig mehr, als das, was
unsre Parteistcllnng für die auch in Europa ansässigen Weltgroßmächte be¬
deutet, und von diesen beiden ist für uns England vorläufig unerreichbar.
Unsre Armee wirkt fast nur defensiv, indem sie uns sichert — in Europa;
unsre Flotte ist noch im Ausbau begriffen lind noch viel zu schwach. Wir
haben uns bei der um im wesentlichen abgeschlossen Teilung Afrikas nach
schweren Versäumnissen, nachdem uns die Vernachlässigung unsrer Seemacht und
die lange unvermeidliche europäische Beschränktheit unsrer Politik in den achtziger
Jahren die Schutzherrschaft über die Burenstaaten und Sansibar gekostet hatte,
immerhin ansehnliche Gebiete gesichert, wir haben in der Südsee und in China
Fuß gefaßt, aber was bedeutet das alles im Vergleich mit den riesigen Nüumen
und Menschenmassen, die jene drei Großmüchte beherrschen! Wir besitzen
außerhalb Europas fast keine maritimen Stationen und sehr wenig überseeische
Kabel, sind also auch für die Verbindung sogar mit unsern eignen Kolonien
fast ganz ans den guten Willen andrer, vor allem Englands, angewiesen.
Wir dürfen sagen, daß die nordamerikanische Union fast ebenso gut eine deutsche
Kolonie ist wie eine englische, und wir dürfen hoffen, daß der neue deutsch¬
amerikanische Nationcilbuud deutsche Kultur und Sprache bei unsern Volks¬
genossen drüben besser erhalten wird, als es bisher geschehen ist, aber
politisch und wirtschaftlich sind die Deutsch-Amerikaner eben Amerikaner, also
unsre Konkurrenten, und sie glauben oft genug auf das europäische Mutter¬
land mit Geringschätzung herabsehen zu dürfen. So wird es ähnlich gehn,
wie es mit den ostgermanischen Wanderstämmen in Italien, in Spanien und
Nordafrika während der Völkerwanderung gegangen ist: für sich selbst hatten
sie gesorgt, aber dem Heimatlande waren sie verloren. Wir haben in der
asiatischen Türkei vor allem dnrch Eisenbahn- und Hafenbauten große wirt¬
schaftliche Interessen geschaffen, aber politische Macht geben diese uns nicht,
und wenn sich England an der Mündung des Euphrat und des Tigris fest¬
setzt, was wird dann aus der Vagdadbahn? Unsre Handelsflotte ist die zweite
der Welt, unser Handel umspannt die Erde; aber bei einem Konflikt und einer
großen Seemacht würde, wie die Dinge jetzt stehn, diese Flotte bald vom
Meere weggefegt sein, und unser Handel wäre gelähmt. Kurz, wenn wir ehrlich
sein wollen und uns nicht durch hochtönende patriotische Phrasen, in denen
wir immer viel stärker gewesen sind als in patriotischen Taten, täuschen lassen,
so müssen wir uns sagen: das heutige Deutsche Reich steht in der Weltpolitik
höchstens da, wo Preußen in Europa vor 1866 stand.
Die Frage ist: soll es so bleiben, darf es so bleiben? Soll Deutschland
ruhig zusehen, wie auch Ostasien den drei Weltgroßmächten politisch und wirt¬
schaftlich anheimfällt, wie auch noch über die Türkei und über den Rest von
Afrika ohne uns verfügt wird? Sollen wir uns für alle Zeiten mit einem
kaufmännischen Unternehmergewinn begnügen, wir. ein Volk von 58 Millionen
allein im Reiche^
Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Schon zweimal hat Deutschland,
dank dem Weitblick des Kaisers, in die ostasiatische Frage eingegriffen, das
erstemal diplomatisch, das zweitemal militärisch; aber es vermochte das nur,
weil alle Mächte hier einig waren. Wird es stark genug sein, seine Interessen
hier zur Geltung zu bringen auch im Kampfe der Mächte? Leider kann man
nicht sagen, daß das Verständnis für die Schwierigkeiten unsrer Lage irgendwie
in breitern Schichten unsers Volks, ja mich nur der Gebildeten, vorhanden
Wäre. Parteiinteressen, soziale Spaltungen, kirchliche Zänkereien nehmen uns
ganz ungebührlich in Anspruch, und während wir uns über Reichsfinanz¬
reform, Wahlrechtsreformen, Bekämpfung der Sozialdemokratie, konfessionelle
Parität und dergleichen innere Fragen raufen, vergessen wir, ganz wie schon
einmal im sechzehnten Jahrhundert, daß da draußen die Welt verteilt wird,
und zwar, wenn das bei uns so fortgeht, wahrscheinlich wieder ohne uns.
Die Sache steht nicht soviel anders, als vor hundert Jahren, wo wir uns
über unsre politische Nichtigkeit damit trösteten, daß wir in Dichtung und
Wissenschaft an der Spitze der Zivilisation marschierten und das halb be¬
spöttelte, halb bewunderte Volk der Dichter und Denker waren. Die deutsche
Kulturarbeit in allen Ehren, aber eine selbständige Rolle wird eine nationale
Kultur erst dann spielen, wenn sie sich auf eine politische Macht stutzen kann.
Ohne die Machtstellung Frankreichs unter Ludwig dem Vierzehnten hatte tue
französische Bildung, die auch in die germanischen Völker etwas von der Grazie
und der Schönheit der romanischen Kulturen brachte, nicht anderthalb Jahr¬
hundert laug ihre Vorherrschaft in Europa behauptet, und die französische
Sprache niemals ihren Vorrang im diplomatischen Verkehr errungen. Auch
die griechische Kultur ist erst dnrch die makedonische Eroberung ins innere
Asiens bis nach Indien und China hin vorgedrungen, wie spater die römische
nach Westeuropa im Gefolge der römischen Heere. Soll die deutsche Bildung
nicht nur als Kulturdünger zugunsten fremder Völker wirken, wie im wesent¬
lichen bisher, so muß Deutschland zur wirklichen Weltmacht werden, es muß
einen viel größern Teil der Erdoberfläche für sich in Anspruch nehmen als
bisher. Wer an diesem Ringen nicht energisch teilnimmt, der wird verdienter¬
maßen leer ausgehn. Ob aber die Entscheidung so oder so fallen wird, ob
wir in unsrer europäischen Beschränkung verkümmern oder einen unsers innern
Wertes würdigen Anteil an der Weltherrschaft der weißen Nasse erringen sollen
*
v^M0
W>'
MD,,er das Gesetz vom 11. Dezember 1899 liest, ohne seine Vorgeschichte
zu kennen, dem muß eigentlich der Verstand stille stehn. Erscheint die
Rechtsprechung und die Berwaltungspraxis über „politische Vereine
und Verbindungsfreiheit" wenig glücklich, so kann von diesem Gesetz
! nur gesagt werden, daß es eine Schöpfung blinder Erregung ist,
ein überstürztes Augenblicksmachwerk, bei dem die Vernunft vor der Leidenschaft
nicht aufgekommen, und bei dem das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden
ist. Das Gesetz nimmt dem Staate zugunsten einer gesellschaftlichen Einzelgröße
ein Hoheitsrecht, auf das er um der Allgemeinheit willen gar nicht verzichten
kann; denn „der Staat ist, wie es am kürzesten Löning in Conrads Handwörter¬
buch der Staatswissenschaften VII, 382 ff. ausdrückt, um seiner selbst willen, um
die gesamte rechtliche und gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu halten, genötigt,
das Vereinswesen seiner Aufsicht zu unterwerfen." Sind die Negierung und
die Gerichte mit ihrer Auslegung des Vereinsgesetzes nach Ansicht der parla¬
mentarischen Mehrheitsgruppen von heute zu weit gegangen, so hat das diesen
doch nimmermehr das Recht gegeben, ein Gesetz zu ertrotzen, das mit gewollten
Auftrumpfen gegen die ihnen greuliche Auslegung weit über das Ziel hinaus¬
greift und eine schwere Schädigung des Staats und seiner Gesamtbürgerschaft
gezeitigt hat.
Damit haben die deutschen Volksvertreter in ihrer großen Masse wieder
einmal bewiesen, daß bei ihnen vor den gesellschaftlichen Neigungen die Staats¬
notwendigkeiten schweigen müssen. Der alte Jammer der deutschen Geschichte!
Wieder einmal auch muß Preußen den Schaden von dem tragen, was das Reich
gesündigt hat. Dieses Neichsgesetz hat nämlich Preußen die Möglichkeit genommen,
mit den polnischen Vereinen, die im vollen Sinne des Begriffs politische Vereine
sind, auf Grund der Tatsache, daß sie insgesamt miteinander in Verbindung
stehn, unter Anwendung der Paragraphen 8 und 16 der Verordnung mit einem
Schlag aufzuräumen. Das ist jetzt für Preußen vorbei. Die schmähliche, vom
Standpunkte des alten gewaltigen preußischen Staatsgedankens geradezu unbe¬
greifliche Torheit ist übrigens nur möglich geworden, weil die „regierende Parte,,"
das Zentrum, noch mit Lieber an der Spitze, verleitet durch überkommene, heute
für sie gar nicht mehr passende Ladenhüter ihres Parteiprogramms, dabei mit¬
geholfen hat. Nun. dem Zentrum haben schon heute die Polen. Korfanty voran,
mit Fußtritten ihren Dank für die Beseitigung der besonders dem Sokolwesm
hinderlichen wesentlichen Schranken des Vereinsgesctzes abgestattet. Snail ouuins.
Das Satyrspiel wäre wirklich zum Lachen, wenn seine Folgen nur nicht zum
Schaden für den preußischen Staat wären.
Was tun? Mit den jämmerlichen Resten der Verordnung vom 11. März 1850
das polnische Vereinstreiben zu bekämpfen, wäre eine Danaidenarbeit, wenn
nicht gar ein Schildbürgerstück. Darüber braucht sich niemand blauen Dampf
vorzumachen. Aber diese Erkenntnis kann nicht das Schlußwort des Kapitels
sein. Immer zwingender drängt sich jedermann im Reiche die Überzeugung auf,
daß bei dem Vereinswesen der Polen irgend etwas von Rechts wegen nicht in
Ordnung ist. denn es ist einfach widersinnig, daß die polnische unmittelbar und
offen gegen den preußischen Staat gerichtete Vereinsbewegung von den Gesetzen
dieses preußischen Staats geschützt, ja gefördert werden soll. Da muß irgendwo
ein Fehler stecken. Ihn festzustellen, kann allein noch die Losung sein. Wie
Dinge liegen, bleibt dazu nichts andres übrig, als den großen Zügen des
deutschen Vereinswesens und den für die preußische Nereinsgesetzgebuug ma߬
gebenden Gedanken nachzugehn und womöglich daraus die Grundanschauungen
herauszuschälen, die als allgemeine volkstümliche Überzeugungen dieses Vereins-
wesen beherrscht, insbesondre aber die hier in Frage kommenden Bestimmungen
in der Verfassung und im Vereinsgesetz veranlaßt haben.
A
usgedehnteVereinsfreiheit ist altes deutsches Recht. Das hat seinen
Grund in der Neigung des Volks zu Sondergesellungen und deren selbständiger
Entwicklung. „Das vielfach bis zur äußersten Grenze getriebne Sondertum
des Volkslebens, sagt Riehl in seiner Bürgerlichen Gesellschaft, ist der tiefste
Jammer und zugleich die größte Glorie Deutschlands. Unser Bestes und unser
Schlechtestes wurzelt in demselben, nicht seit heute und gestern, sondern seit es
eine deutsche Geschichte gibt." Was dabei als tiefere, der Grundgewalt der
deutschen Seele entspringende Ursache sein, inwiefern dabei der Jndividualisierungs-
geist der Deutsche« mitwirken mag. das wollen wir hier nicht näher erörtern.
Die Tatsache steht fest, daß der vielberufne Sonderungstrieb, jener deutsche Par-
tikularismus. die ethische Wurzel des deutschen Vereinswesens ist. Da schließen
sich Gruppen nach eng gegriffner Nachbarschaft zusammen, da lnlden sich Krn e
von Personen gemeinsamer Sitte, gemeinsamen Berufs: eine »nabsWare ^er-
fthiedenheit von Vereinigungen örtlichen Ursprungs, eine unendliche Menge v n
Verbindungen persönlicher Neigung. Einzelgebilde über Einzelgebilde der sonder¬
barsten Abstammung und Ausgestaltung.
Bei genauer Prüfung sehen wir noch einen charakteristischen das Ge^mt-
bild mit beherrschenden Zug. Alle Vereinigungen sind veranlaßt durch Nütz-
lichkeitserwägungen. meist solche des nächstliegenden, gewöhnlichsten Lebens. Mag
die Form manchmal noch so feierlich gewesen, sogar bis zur ecmM'lüio gegangen
sein, die wahre Ursache kann man doch nie verkennen, und sie war und ist
immer nüchterne Selbstsucht, hartes, rücksichtsloses Suchen und Ringen nach
Vorteilen.
Ein Beispiel für viele. Die bekannte Ganerbschaft sieht, äußerlich betrachtet,
gewiß uicht geschäftlich ans. Sie erscheint, obenhin betrachtet, als eine ideale
Verbindung, geschaffen zur Pflege des Fnmiliengeistes, des Sippenzusammen-
halts. Nichts ist falscher als das. Die Gauerbschaft war eine wirtschaftliche,
auf rein praktischer Berechnung beruhende Einrichtung. Geriet eine Burg durch
Erbgang oder Ausbau oder sonstwie in die Gewalt mehrerer Adlicher, so setzte
sich die ganze beteiligte Gesellschaft mit Kind und Kegel auf ihr fest. Ihr
Gemeinleben, das manchmal nicht bloß eine Familie, sondern mehrere nicht
einmal verschwägerte umfaßte, hieß Ganerbschaft. Wie da einer auf dem andern
saß, einer den ander» belauerte, läßt sich denken. Jeder suchte pfennigfuchseud
das Seine. Oft genügten die Erträgnisse nicht zur Befriedigung aller Bedürfnisse,
auch wenn diese aufs notwendigste herabgesetzt wurden. Hunger tut weh, und
Not kennt kein Gebot. Deshalb wurden gerade die ganerbschaftlichcn Burgen
die Nester der ärgsten Stegreifritter und Landschaden. Rohe Nahme war es,
was das Leben dieser ritterlichen Vereinigungen ausmachte.
Mit den großen Nitterbünden ist es nicht anders gewesen. Seit dem Falte
der Staufer, seit dem Aufhören großer auswärtiger Kriegszüge saßen die ehernen
Schlachtengünger, vor denen unter Heinrich dem Sechsten die Welt gezittert hatte,
die Ritter, d. h. die Soldaten der Zeit, als Krippenreiter ohne großen Zweck
daheim. Daß sie lange Zeit in den Bürgerkriegen und den Fehden unter den
Habsburger» und deu Lützelburgern einander die Hülse brachen und dadurch ihren
Besitz untereinander verschoben, änderte an der Lage des Standes im großen
und ganzen nichts. Ihr schließlicher, durch die gemeinsame Not ihrer aller
erzwungner Zusammenschluß hatte nur das eine Ziel, durch ihr vereintes Auf¬
treten eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse zu erzwingen. Als das
nicht gelang, lösten sie sich sang- und klanglos auf.
Von den Städtebnnden im Süden ist kaum zu reden. Sie sind immer
nur Augenblicksschöpfungen gewesen. Ihre wirtschaftlichen und geschäftlichen
Ziele wichen voneinander ab. Wohl gab es für sie genug andre Ursachen, sich
fest zusammenzuschließen; aber die davon herbeigeführten Vereinigungen waren
nur von kurzer Dauer. Anders im Norden. Hier am Meer hatten alle Städte
ein gemeinsames Hauptinteresse, nämlich das an der Freiheit und Sicherheit der
See, der großen Vermittlerin und Trägerin ihres Erwerbs, des Handels mit dem
Auslande. Dieses gemeinsame wirtschaftliche Interesse bewog die Städte zu
vereintem Tun: sie schufen die Hansa. Die Hansa hat gegen Fürsten in Nord-
deutschland, ja gegen die nordischen Königreiche lange Kriege geführt, aber nie
aus politischen Gründen, sondern mir, wenn ihr die Land- und die Seestraßen
von den Fürsten gesperrt wurden und sie ihre Fahrstraßen frei machen wollte.
Ihre Siege ließ sie sich mit Handelsvorteilen bezahlen. Worüber die Hansestädte
auf ihren Tagfahrten allein berieten, das waren die Angelegenheiten des „ge¬
meinen Kaufmanns." „Von der Politik Lübecks, sagt Nitzsch in seiner Geschichte
des deutschen Volks, empfangen wir den Eindruck, den die damalige städtische
Bewegung überhaupt bietet, das; die merkantilen Interessen alle ubngen voll¬
kommen in den Hintergrund gedrängt haben. Der deutsche Kaufmann stand den
politischen Zustünden der Heimat in vollstündiger Passtmtüt gegenüber.'
Sogar über den Deutschen Orden, die sogenannte erste Verkörperung der
modernen Staatsidee in Deutschland, kann kein andres Urteil gefüllt werde».
Er ist nicht dazu gelangt, über den Horizont seiner Gesellschaft hinauszuschauen,
die uneigennützige Pflege der Gesamtinteressen seines Machtkreises zum Ziele
zu nehmen, politisch zu denken und zu handeln. Er hat keine Staatspolitik
getrieben. Ju welchen äußerlichen, an staatliche Einrichtungen späterer Zeü
erinnernden Formen sich die Ordenswaltung in Preußen abgespielt haben mag.
darauf kommt es für die Entscheidung der Frage nicht an. Den Ausschlag
gibt, was der wahre Gehalt des Ordenslebens gewesen ist. Da ist die Antwort
nicht zweifelhaft: Der Orden hat. oft sogar unter unmittelbarer und ihm wohl
bewußter Schädigung der wichtigsten Angelegenheiten seiner Bürger in Stadt
""d Land, unbekümmert um höhere Zwecke ausschließlich und grundsätzlich allen,
für die engen Sonderinteressen seiner Bruderschaft, seiner Verewigung gearbeitet.
D^ehe gesellschaftlich selbstsüchtige Haltung des Ordens ist unbestreitbar, und
sie ist es auch gewesen, woran er zugrunde gegangen ist.
D
as deutsche Vereinswesen wird offenbar von einem bestimmten umern
Gesetze beherrscht Es ist an das Gebiet rein gesellschaftlicher Bildungen ge¬
bunden. Darüber hinaus kaun es nicht; in den Bereich des politischen Staats¬
lebens hinüberzugreifen ist ihm nicht gegeben. Und das ist heute noch genau
so der Fall wie früher. Gerade jetzt ist das den erstaunt aufhorchenden und
hilflos nach einem annehmbaren Grunde fragenden Zeitgenossen durch Bebels
Auftreten gegen die Revisionisten bei der Vizepräsideutenfrage wieder einmal
sehr hahnebüchen zwar, aber auch sehr lehrreich beigebracht worden. Als Politiker
haben Vollmar, Heine. Auer usw. sicher Recht; denn wer im gebvtnen Augen¬
blicke die Hemd nicht mit an die Kurbel der Staatsmaschine legt, der kommt
schließlich unter ihre Räder. Das ist eine uralte Geschichte; das hat schon
Solon gewußt. Trotzdem hat. dcutschsozialistisch gedacht, den Bernstein und
Genossen gegenüber Bebel Recht. Was nämlich die Revisionisten vertreten, das
ist Ergebnis abgeklärten politischen Denkens, nicht aber Ausfluß unmittelbaren
sozialen Empfindens. Das hat der alte Drechsler und Großlophta der deutschen
Arbeitergesellschaft und ihres urwüchsigen Sturms und Drangs sicher heraus¬
gefühlt, und ans diesem Gefühle heraus wettert er gegen die Revisionisten-
Wirtschaft. Fast alle nichtsozialistischen Zeitungen haben Bebels Vorgehn a s
ein persönlich interessiertes verdächtigt, weil er sich gegen die Revisionisten als
Parteipapst habe halten wollen. Da Bebel sich nie in seiner Partcmrbelt einer
Persönlich interessierten Handlung schuldig gemacht hat, ist die jämmerliche Unter¬
stellung sicherlich falsch. Wer das Vorleben des Mannes betrachtet und dann
seine Dresdner Reden erwägt, der kann nur zu dem eine.. Schlusie kommen.
daß der heißblutige Sozialdemokrat nicht aus Mglicher Überlegung sondern in.s
leidenschaftlicher Erregung gehandelt hat. Ihm, dem Naturburschen mit dem
Klasseninstinkt des deutschen Arbeiters, ist es eben nur zu gewiß, daß die um
Heine die Sozialdemokratie auf ein Feld, das politische, ziehn. wo sie nach
seinem drängenden, ihm allerdings wohl kaum zu klarer Anschauung verdichteten
Empfinden scheitern muß; denn er, der typische deutsche Gesellschaftsmensch seiner
Klasse, hat es ja im Blute, in jeder Fiber, das Vorgefühl, die Ahnung, daß
seine Genossenschaft, das deutschgesellschaftliche Gebilde in Reinkultur, ihrem
innerste« Wesen nach zu politischem Handeln nicht fähig ist. Und wie er
empfindet und denkt die gesamte deutsche Arbeiterschaft. Ob sie dabei gut fährt,
ist eine andre Frage. Sie Hütte wohl Ursache, mit ihren Forderungen die
„Zwölf Artikel" der Bauer» von 1524 zu vergleichen und dann an Jücklein
Rohrbach und Thomas Münzer zu denken. Das wäre ohne Zweifel klüger,
als auf die drei Millionen Stimmen zu pochen. Die Bauernvereinigung stand
auch in erdrückender Überzahl gegen die Staatsgewalt. Was aber ist aus ihr
geworden? Gott erbarms! — Aber die Gedankenreihe kann hier nicht weiter
ausgesponnen werden. Hier muß es bei der Feststellung verbleiben, daß Bebels
und seiner Sozialdemokraten Haltung ein mit zwingender Gewalt sprechender
Beleg letzter Zeit für den rein gesellschaftlichen, staatsfeindlichen, unpolitischen
Grundzug des deutschen Vereinswesens ist.
Um das Maß voll zu machen, sei für diesen Satz noch ein andrer, himmel¬
weit der Partei der Gleichheitsapostel fernstehender Schwurzeuge angeführt.
Wilhelm von Humboldt hat schon in seinen Ideen zu einem Ver¬
such, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, erklärt: „Wenn
die Staatsverfassung den Bürgern, seis durch Übermacht und Gewalt oder
Gewohnheit und Gesetz, ein bestimmtes Verhältnis anweist, so gibt es außerdem
noch ein andres, freiwillig von ihnen gewühltes, unendlich mannigfaltiges und
oft wechselndes. Und dies letztere, das freie Wirken der Nation untereinander,
ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine
Gesellschaft führt. Die eigentliche Staatsverfassung ist diesem, als ihrem Zwecke,
untergeordnet und wird immer nur, als ein notwendiges Mittel, und da sie
allemal mit Einschränkungen der Freiheit verbunden ist, als ein notwendiges
Übel gewählt." Einen feinern Empfinder und Künder deutscher Art als Wilhelm
von Humboldt wird schwerlich jemand nennen können. Unbedingt muß es mit
ihm als Schluß der vorstehenden Erwägungen heißen: Der Vereinignngshang
der Deutschen ist durch und durch unpolitischer Natur.
Das mag manchem, besonders nach der Spruchpraxis von Obertribunnl,
Kammer- und Oberverwaltungsgericht, seltsam vorkommen. Aber an dem eben
herausgeschälten Ergebnis wird dadurch nichts geändert. Es kann nun die
Frage veranlassen, woher der Eindruck des seltsamen bei diesen Erörterungen
und ihrem Schlüsse kommt. Die Antwort muß lauten: Unsre Anschauungen
über Vereinswesen sind durch fremde Einflüsse, besonders französische, gefälscht
worden. Das ist auch eine Erbschaft des Liberalismus französischer Mache.
Was unsre Liberalen, die ja gerade am lautesten um die „politische" Vereins¬
freiheit schreien, bis auf diesen Tag noch nicht wissen, ist die Tatsache, daß
dem Romanismus das ganze Vereinswesen deutscher Art ein Greuel ist.
Macchiavelli und Rousseau sind dafür die besten Zeugen. Der kluge Floren¬
tiner führt im siebenten Buche der Geschichte seiner Stadt wörtlich aus: Vera
«OLÄ ö, öls iilonrii slivisiovi miocnno sUk i'kpul)Motiv <z »Ivvms Siavgrw:
Quoeonc» vns sono ckslls sedes s 6a xartigiani ittzooinxaAiiaw: ^usllv
FwVMo elig sstts, soni-ig, Mi'lig'iMi, si manwuzzono. Avr xownäy
iMllPis provvsclsro ,in de>n6ator«z et'una rsMMios, ein; non sig.no ulmi-
2lois in MsUa, Im eka vrvvvsÄor alinsnc» olrs non ol 8uno söll«. Der
rassige Genfer erklärt im Buch II, Kapitel 3 seines vortrat 80<zia>1, nachdem er
das Dasein von Ässoomtions vartikUss als schädlich für das nach ihm allein
berechtigte Wirken der volontö ASnürals nachgewiesen hat, mit scharfer Ent¬
schiedenheit: II imxorw äonv, ponr avoir I,im l'önoiroö 6s 1a volontv
ASQMale, ^i'ji n'z^ g.ii xa8 ä<z soviötö partivlliz aan8 1'neae. Beide haben
von ihrem Standpunkt aus, dem romanischer Anschauung von Welt und
Menschen, Recht. Dem Romanismus ist nämlich gesellschaftliches und staat¬
liches Leben eins und dasselbe. Als Fassung für alles nicht private Leben,
soziales wie politisches, kennt er, kann er nach seiner ihm angebornen Auf¬
fassungsweise nur ein einziges öffentliches Gebilde kennen, und das ist der
Staat, die seit den Zeiten Alt-Roms auf ihn gekommene und seiner Natur ge¬
mäße Organisation seiner Gemeinangelegenheiten. Unter romanischen Ver¬
hältnissen, denen gesellschaftliche und politische Regungen nur verschieden be¬
nannte Aufgüsse derselben Suppe sind, wird jede Sondervereinigung, WsocziMon
Mrtislls, im Gebiete des Staats, wie Macchiavelli und Rousseau zweifellos
richtig erkannt haben, zu einer politischen Größe im Kleinen, zu einem Staat
im Staate, einer sedes. nach dem Ausdrucke des Jtalieners, einem vino nach
der Sprechweise der Franzosen. Die Wahrheit dessen hat die Revolution be¬
wiesen. Jeder der unzähligen Klubs jener Tage hat in großer Politik gear¬
beitet, und der von ihnen das am schärfsten betrieben, der die tollste Rotte
hinter sich gehabt hat, der Jakobinerklub, das Stadthaus, ist schließlich selbst
der Staat geworden. Nach dem Sturze Robespierres wurden 1795 die Klubs
sämtlich aufgehoben, und 1793 wurden alle politischen Vereine geschlossen.
Es war das Nichtige. Soziales Wirken wird bei den Romanen, wie die lange
Reihe von dem Jakobiner Boisfel bis zum Minister Millerand zur Genüge be¬
weist, allemal zu Politik; die aber ist unter Ausschluß aller äivisioni und
soeiürüs xartivllös Sache des Staates.
Seit der Zeit der Klubisten ist bei dem übermächtigen geistigen Einflüsse
der Nevolutionsgedanken auch in Deutschland der Glaube entstanden, daß
Vereinsleben und politisches Leben der Natur der Dinge nach, mindestens aber
der Idee nach eng miteinander zusammenhingen. Diese Auffassung hat sich in
der preußischen Gesetzgebung schnell geltend gemacht. Bei der großen Neuord¬
nung seines Rechts am Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte sich Preußen
von den bis dahin allgemein geltenden Sätzen des römischen Rechts, des Polizei¬
staats s, 1a Louis des Vierzehnten, abgewandt. Die altdeutschen Anschauungen
wieder aufnehmend hatte es sich ganz unbefangen zum Vereinswesen gestellt und
jede Art von Gesellschaften, sogar geheime, erlaubt. Es hatte grundsätzlich keinen
Unterschied zwischen politischen und unpolitischen Bereinen gemacht. (A. L.-R.
Teil II, Titel 6.) Davon kam Preußen unter den Eindrücken der Revolution
zurück. Das Edikt vom 20. Oktober 1798 verbot alle Vereine, die die Beratung
Polnischer Angelegenheiten zum Zweck hatten, oder in denen unbekannten Obern
Gehorsam oder bekannten Obern unbedingter Gehorsam versprochen wurde, oder
deren Mitglieder sich zur Verschwiegenheit über Vereinsangelegenheiten ver¬
pflichteten. Die Verordnung vom 6. Januar 1816 sprach die Geltung des
Edikts für das gesamte neue Staatsgebiet Preußens ans. Nach dem Hambacher
Feste 1831 brachte Metternich an, Bunde den Beschluß vom 5. Juli 1832
durch; er machte für ganz Deutschland, d. h. besonders auch für die süddeutschen
konstitutionellen Staaten, alle Vereine mit politischen Zwecken und jede öffentliche
Versammlung von der Pvlizeierlaubnis abhängig. Der Zwang, der damit deutscher
Art angetan war, führte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Rückschlag
herbei. Natürlich schoß man nach dem alten Satze von Druck und Gegendruck
über das Ziel hinaus.
In dem Tollen und Toben der Jahre 1848 und 49 hat alle Welt im
Versammlungs- und Vereinstreiben förmlich geschwelgt. Versammlungen über
Versammlungen und Vereine über Vereine liefen nach freisten Belieben zu¬
sammen und schwätzten das Blane vom Himmel herab, seit 6. April 1848 in
Preußen sogar mit hoher obrigkeitlicher Genehmigung. „Die Lust, alle Ange¬
legenheiten genossenschaftlich zu behandeln, sagt Riehl aus eigner Anschauung
der Dinge, überstürzte sich bis zum Unsinn, und mancher sonst arbeitsame
Bürgersmann ist dazumal vor lauter Korporation, ständischen söll^ovornirieut.
und Vereinswesen ein Lump geworden." Der Trubel fand seinen Gipfel in
Berlin. Die Vereinigungen vor den Zelten und bei Milentz modelten sich nach
berühmten! Pariser Muster. Sie gaben und dachten sich schließlich volles Ernstes
als Klubs. Gemäß dein von Jacoby in der Nationalversammlung verkündeten
„Grundsatze, daß der Gesamtwillen des Volks die ursprüngliche, die einzige
Quelle jeder Macht im Staate," gemäß diesem „Grundsatze der Volkssouveränität"
erörterten und beschlossen sie, was im Staate geschehn sollte, und sie gingen
munter daran, ihre Sprüche auch kurzerhand ins Werk zu setzen. Noch am 14. April
1849 schrieb die Demokratische Korrespondenz: „Die Klubs sind notwendig,
weil sich das Prinzip in ihnen allein und unverfälscht aussprechen kann, weil
sie Zentralpunkte bieten für die Bewegung. . . . Die Klubs sind die wahren
Früchte der Revolution, und sie werden stets den Charakter ihrer Mutter, die
Energie, die Leidenschaft haben. In ihnen wird die Arbeiterarmee gebildet
werden. ... Es lehrt übrigens schon die Geschichte der Revolutionen, daß man
der Klubs bedarf, um das Drama einer Revolution zum vernünftigen Ende,
d. h. zum Siege der revolutionären Ideen zu führen."
Zu gesetzlicher Fassung haben sich die damaligen Meinungen über Versamm¬
lungs- und Vereinsrecht in den Bestimmungen des Artikels 8 der Grundrechte
des Deutschen Volks von 1848, des Paragraphen 161 der Reichsverfassung
von 1849, verdichtet. Nach ihnen haben die Deutschen das Recht, sich ohne
vorhergehende obrigkeitliche Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln
und Vereine zu bilden. Mit geringfügigen Abschwüchungen ist das für Preußen
durch die Artikel 29 und 30 der Verfassung gleichfalls Rechtens geworden, nur
daß noch zur Regelung des Versammlungs- und Vereinslebens im einzelnen
das oben schon angeführte Sondergesetz vom 11. März 1850 ergangen ist.
In Preußen sind die ersten Verhandlungen über das Vereinsgesetz gepflogen
Worden; sie haben sich noch im April 1849, wenig Tage nach dem stürmischen
Herzensergüsse der Demokratischen Korrespondenz, in dem ersten preußischen Ab-
geordnetenhause, damals zweite Kammer genannt, abgespielt. Als unmittelbare
Nachfolgerin der Nationalversammlung stand diese Volksvertretung noch zum weit
überwiegenden Teil in dem Banne der Nevolutionsströmungen. Die Redner der
linken Seite fühlten sich eigentlich alle, wie ihre manchmal geradezu grotesk
wirkenden Auslassungen beweisen, als solonische oder gracchische Geister. Leider
wird sich niemand, der heute ihren Redeschwall nachliest, der Überzeugung ent-
ziehn können, daß sie die Vorlage keineswegs mit großem politischem Sinn oder
"und nur geistvoll behandelt haben. Der gepriesene Waldeck sagte bei den Er¬
örterungen einmal wörtlich: „Wollen Sie bedenken, was eigentlich das Ver
smnmlungsrecht ist? Es ist doch wirklich etwas höchst Einfaches; denn es besteht
in der ^mbination zweier Rechte, die niemand bestritten hat, in dem Rechte,
M gehn, und in dem Rechte, zu sprechen. Denn das Recht, zu gehn, schließt
notwendig auch das Recht in sich, an einem bestimmten Orte stillstehn zu dürfen,
und das Recht, zu sprechen, wird ebensowenig bestritten werden können als das
Recht, zu gehn." Das hat er, wie seine weitere Ausführung beweist, in tiefen.
Ernste vorgebracht, und es ist doch eine solche Plattheit, ja ein solcher Blöd¬
sinn, daß es geradezu wie eine Kraftstelle ans dem feierlichen Ulk einer Bier
rede anmutet. Der das aber sagte, galt nicht nur als ein glänzender Jurist,
sondern auch ganz besonders als politische Leuchte des Freisinns jener Tage.
Abgesehen von den: einen Scherer, dem Berichterstatter über den Gesetz¬
entwurf, hat sich keiner unter den Vertrauensmännern des Volks gefunden, der
etwas Beachtenswertes zur Sache zu sagen gewußt hätte. Die Masse ihrer Er¬
gießungen ist seichtes Allerweltsgerede über Allerweltsredereien gewesen. Während
die ihnen vorliegende Aufgabe, die staatsrechtliche Ordnung des öffentlichen Ver¬
einigungswesens, zweifellos ein Stoff von erstem politischem Range, mit innerer
Notwendigkeit auf eine genaue Umschreibung und Feststellung dessen hindrängte,
was unter den Begriffen „politischer Verein" und „politische Angelegenheit"
zu versteh» sei, haben sie sich insgesamt über dieses Eine, das zunächst not tat
und eigentlich allein not tat, vollständig ausgeschwiegen. Statt dessen hat sich
die weise Kammer unendlich weitschweifig und immer wiederholt über Dinge
herumgestritten, die nur als läppische Nebensachen bezeichnet werden können, über
Anmeldung von Versammlungen und Vereinen bei den Behörden, über die dafür
notwendigen Fristen, wobei um Stunden gemarktet wurde, über die Anwesenheit
von Beamten bei den Versammlungen, über deren Erscheinen mit oder ohne Uni¬
form, mit oder ohne Waffe und dergleichen mehr. Das hat für die Hauptfrage
doch wirklich gar nichts bedeutet. Wollen ernste, ehrliche Staatsbürger von
ihren, Rechte, sich zu versammeln, Gebrauch machen und zusammentreten, um
vernünftig und sachlich irgend eine öffentliche Frage gemeinsam zu besprechen,
dann kann und wird es ihnen sehr gleichgiltig sein, ob über ihr Vor¬
haben ein Stück Papier beim Ortsvorstande zu irgend einer beliebigen
Glockenstunde niedergelegt wird, und ob ein oder hundert Polizisten mit oder
ohne Flamberg ihrer Absprache zuhören; denn durch dieses Drum und Dran
unsers fürsorglichen Ordnungsstaats wird weder dem Stantsbürgerrecht etwas
abgebrochen, noch dem freien Worte irgend eine Schranke errichtet. Das hätten
gerade die vor Königsthronen stolzen Catone jener Kammer am besten vertreten
sollen. Mirabeau hat es am 23. Juni 1789 großartig verstanden. Weder ihnen
noch sonst jemand von ihren Bankgenossen ist etwas ähnliches in den Sinn
gekommen. Es konnte eben keiner von ihnen gegen seine Natur. Was aber
mit innerer Notwendigkeit ihr ängstliches Auftreten bestimmte, das ist offenbar
das drängende Gefühl gewesen, daß schon die Anwesenheit untergeordneter Träger
der Staatsgewalt eine Gefahr für freies Atmen in Versammlungen und Vereinen
sei. Einen andern wirklich zureichenden Grund für ihr trotz aller ruhigen Gegen¬
erklärungen aufrecht erhaltnes Gezeter gegen die von ihnen ausgebauschten Neben¬
sächlichkeiten gibt es tatsächlich nicht; er aber deckt psychologisch das Gebaren
der damaligen Linken ganz genau. Ihretwegen ist das hier freilich nicht ge¬
schrieben. Es ist erörtert worden, um herauszuschälen, was eigentlich in der
damaligen zweiten Kammer unter den Begriffen Versammlung und Verein ver¬
standen wurde. Das stellt sich nun klar genug heraus. Hatten sie ungeachtet der
Ereignisse seit 1848 kein selbstbewußtes Empfinden von der ethischen Macht
öffentlicher Willenskundgebungen vereinter Bürger, so galt ihnen das Vereins¬
wesen als nichts Großes. Versammlungen und Vereine waren nach ihrer Vor¬
stellung nichts weiter als politisch bedeutungslose Sondergesellungen, die ihnen
der allumfassenden Staatsgewalt gegenüber als tönerne Töpfe vor einem eisernen
erschienen. Das ist die uralte deutsche Anschauung. Das ist die grundsätzliche Auf¬
fassung von Vereinigungen als auf Personen oder auf Orte beschränkten und ihrer
Natur nach unpolitischen Zusanimenschlüssen. Treten solche Gruppen vor die
Öffentlichkeit, wohlan, das will ihnen deutsche Herzensneigung durch keine
Schranke verwehrt, vielmehr nach Vereinsrecht und Vereinsgesetz auf jede Weise
gesichert wissen. Der Grundgedanke, der überall in diesem Gedankengefüge
vernehmbare Unterton, der ton <M kalt 1a mu8i«Ms, ist jedoch immer der, daß
Vereinigungen bei öffentlichem Auftreten die Grenzen ihrer Besonderung wahren,
daß sie aus und mit der Sachkunde ihrer Sonderverhältnisse die Gemeinver¬
hältnisse zum Nutzen der Gesamtheit, insbesondre aber auch zum Frommen der
zur Wahrung der öffentlichen Angelegenheiten amtlich Berufnen erörtern, „um
so. wie damals ein Volksvertreter erklärt hat, für die Besserung der öffentlichen
Zustände zu wirken, indem die Ortspolizeibehörde, die zunächst den Beruf hat,
für die öffentlichen Angelegenheiten zu sorgen, durch die Teilnahme und Kenntnis¬
nahme von den öffentlichen Versammlungen in beständiger Bekanntschaft bleibt
mit allen Mißständen, welche Unzufriedenheit erregen und nähren, und mit allen
Mitteln, die zur Abhilfe derselben in Vorschlag gebracht werden."
So der eine Grundgedanke, der in den ersten Verhandlungen der zweiten
Kammer über das Vereinsgesetz klar zutage tritt.
Er hat einen Zwilling, der ursachlich mit ihm zusammenhängt, und der
eben so sicher zur Geltung gekommen ist. Es ist die von der Volksvertretung
offen bekannte tiefe Abneigung gegen alles Klubwesen. Wohl sind vom Redner¬
pulte auch hier und da Worte gefallen, die im Anklange an Milentzsche Sprech¬
weise, wenn auch verblümt, dem Vereinstreiben rechte politische Bedeutung bei-
messen wollten; das ist aber nur selten und immer mit dem Gefühle geschehn,
daß man für eine Verlorne Sache einträte. Demgegenüber hat sich die große
Mehrheit dieser doch überwiegend liberalen Kammer mit erdrückender Wucht zu
der Überzeugung bekannt, „die Handhabung der öffentlichen Ordnung durch
Pflichttreue Beamte nicht zu vertauschen mit einer Souveränität der Klubs."
Die Kammer wurde aufgelöst, bevor sie das Gesetz regelrecht verabschieden
konnte. Die neue Kammer wandte dem Stoffe zum erstenmal bei der Beratung
der Verfassung ihre Aufmerksamkeit zu. In der Sitzung vom 12. Oktober 1849
besprach sie die Artikel 29 und 30 der Verfassung. Sie drang in die Sache
nicht tiefer ein und redete eigentlich nur über die Behandlung von Versamm¬
lungen in geschlossenen Räumen und solchen unter freiem Himmel hin und her.
Daß sie aber von keinen andern Grundanschauungen über das Vereinswesen
beherrscht wurde als ihre Vorgängerin, ergibt sich doch aus jedem Wort und
aus jeder Wendung. Das ist schließlich gründlich durch die Sitzung bestätigt
worden, in der das Vereinsgesetz seine endgiltige Fassung erhalten hat, die vom
16. Februar 1850. In ihr ging die Kammer, und zwar ohne besondern Widerspruch,
gegen das politische Vereinsgetriebe noch über den ihr von der Regierung vorge¬
legten und im allgemeinen nach den Erörterungen der vorigen Kammer gearbeiteten
Entwurf hinaus vor. Laut ihrem Berichte hat die Kommission ausdrücklich „der
Hoffnung Raum gegeben, daß der gesunde Sinn des Volkes, nach dem Beispiele ver¬
wandter Nationen, selbst die Gefahr erkennen werde, die mit einer allzu ausgedehnten
Ausübung des Vereinsrechts verbunden sei, und demgemäß freiwillig und ohne
formelles Verbot wenigstens darauf verzichten werde, eine rege Teilnahme
namentlich solchen Vereinen zuzuwenden, welche nicht sowohl speziell augenblickliche
Zwecke verfolgen, als vielmehr eine dauernde, ganz allgemeine Kontrolle des
gesamten Staatslebens und besonders der Regierung zum Gegenstande haben."
Das stimmt genau mit dem oben Ausgeführten überein. Das ist unter ernster
und als nötig empfundner Achtung vor jedem „spezielle Zwecke verfolgenden,"
das heißt Sonderbestrebungen pflegenden, deutschtümlichen Bereinsleben die ab¬
gesagte Todfeindschaft gegen alles kommunesüchtige, auf „allgemeine Kontrolle
des gesamten Staatslebens" gerichtete, das heißt jakobinische Klubtreiben.
Aus dieser ihrer Herzensmeinung heraus schuf die Kommission den schon
wörtlich wiedergegebnen Paragraphen 8 des Vereinsgesetzes. und zwar sie allein
aus eignem Antriebe, ohne jedes Zutun der Regierung. Bei seiner Beratung
sagte der Berichterstatter Hartmann.- „Die Majorität glaubte, daß es nicht an
der Zeit sei, mit direkten Verboten der politischen Klubs hervorzutreten, daß sich
aber Beschränkungen derselben rechtfertigen ließen. Die Beschränkungen sollen
sich indes, nach der Ansicht der Kommission, nicht auf alle politischen Vereine
beziehn, sondern nur auf solche Vereine, die bezwecken, politische Angelegenheiten
in Versammlungen zu erörtern. Das wäre ungefähr die Definition von einem
Politischen Klub." Wegen ihres letzten Satzes ist das eine unglückliche Aus¬
führung. Der sie gesprochen hat, und der sie als Vertreter der Kommission,
auch von ihr unwidersprochen, geäußert hat, ist mit seinen Erklärungen für die
Fassung des Gesetzes maßgebend geworden. Aus seinen Auslassungen müßte
also bei dem Mangel andrer Ausführungen aus der Mitte der Kammer eigentlich
entnommen werden, was die Kammer mit dem Gesetze gewollt und bestimmt hat.
Auf den vorliegenden Fall angewandt hieße das: als Klub galt der Kammer
jeder Verein, der bezweckte, politische Angelegenheiten in Versammlungen zu
erörtern. Müßte das zugegeben werden, so wäre das höchst bedauerlich; denn
dann müßte bei den ganz anders lautenden und viel weiter gehenden Äußerungen
über die Klubs und deren Bedeutung, die in der Kammer nach den angeführten
Stellen gefallen find, auch eingeräumt werden, daß bei der Beratung des Vereins-
gcsetzes unter dem Begriffe Klub mindestens Verschiednes verstanden worden sei,
und daß von einer einheitliche»! Auffassung des Klubwesens in der Kammer
nicht gesprochen werden könne. Diese letzte Folgerung wäre das Schlimme.
Nun, die Hartmann im Übereifer des Redestreits entschlüpfte Augenblickserklärnng
von dem, was er unter Klub verstand, braucht nicht und darf nicht streng ge¬
nommen zu werden. Er selber würde sich, wie seine Redeweise ergibt, sehr un¬
gemütlich gefühlt haben, wenn jedes oder auch nur ein wichtigeres seiner Worte
auf die Goldwage gelegt worden wäre. Demgemäß hat auch schon er selber
seinem Satze die Spitze abgebrochen. Das „ungefähr," das er in seine Er¬
klärung eingefügt hat, nimmt ihr bedingungslos jede grundsätzliche Bedeutung-
In Wirklichkeit haben auch weder er noch die Kommission irgend eine grund¬
sätzliche Umschreibung oder Auslegung der für das Vereinsgesetz maßgebenden
Begriffe „Verein," „politischer Verein," „Klub" und dergleichen geben wollen;
sie haben das vielmehr sogar ausdrücklich abgelehnt. Das sagt der Kommissions¬
bericht ganz klar. Da heißt es: „Es wurde die Schwierigkeit erkannt, eine
allgemeine Definition der politischen Vereine oder der politischen Angelegenheiten
aufzustellen, und es wurde vorgezogen, es in jedem konkreten Falle der richter¬
lichen Beurteilung zu überlassen, ob ein Verein sich mit politischen Dingen
besckMM." (Schluß folgt)
^HZ)ireibund und Zweibund sind die Losung der europäischen Politik.
Im Anschluß an andre Völker sieht jedes die Gewähr der eignet!
Sicherheit, und die Kriege der Zukunft stellt man sich kaum noch
anders vor als als Koalitionskriege. Und doch lehrt die Ge¬
lschichte, daß Bundeskriege, mit Mißtrauen begonnen, mit Eifer¬
sucht geführt, jedesmal mit gegenseitigen Anklagen und oft mit dauernder
Berstimmnng geendet haben. siebenunddreißig Jahre sind verflossen, seit sich
Preußen und Italien zu gemeinsamem Kampfe zusammengeschlossen hatte, und
noch heute ertönen sogar aus der sich so objektiv gebärdenden Geschichtswissen¬
schaft heraus Stimmen, worin die Eifersüchteleien jener Tage mit ungeschwüchter
Leidenschaft zum Ausdruck gelangen.
Als die beiden Bände von Bernhardis italienischen Tagebüchern er¬
schienen, war es von vornherein wahrscheinlich, daß die Unerbittlichkeit seiner
Kritik gegenüber den italienischen Staatsmännern und Heerführern ein un¬
freundliches Echo wecken würde. Es liegt jetzt vor uns in Luigi Chialas
Buche, das sich in nicht mißzuverstehendem Anschluß an La Marmoras be¬
rüchtigte Streitschrift ^noora, un xo' M all tuos betitelt,^) selbst mehr eine
Streitschrift als ein wissenschaftliches Werk. Es stellt die italienische Politik
des Jahres 1866 vom Anfang der Vertragsverhandlungen bis zum Friedens¬
schlüsse dar und bereichert unser Wissen durch die sehr dankenswerte Mit¬
teilung bisher ganz oder teilweise unbekannter Aktenstücke. Der Zweck der
Arbeit ist ausgesprochnermaßen eine Rettung La Marmoras. Am heftigsten
werden die Anklagen gegen diesen und am erbittertsten Chialas Verteidigungs¬
kampf von dem Punkte an, von wo die bisherige Darstellung von deutscher
Seite hauptsächlich auf Bernhardis Berichten beruht. Chiala geht darauf
aus, den Wert dieser so unschätzbaren Geschichtsquelle geradezu zu vernichten,
indem er den Freund Moltkes und Roons, den Geschichtschreiber Rußlands
und der Befreiungskriege, einen der feinsten Geister der deutschen Gelehrten¬
republik, als einen phantastischen Narren hinstellt, der, von Eitelkeit gebläht,
sich in Dinge mischt, die ihn nichts angehn, und durch haßerfüllte, irreführende
Darstellungen das Verhältnis zwischen Preußen und Italien vergiftet.
Die hohe und ungelenke Wertschätzung, die Bernhardi vor wie nach
seinem Tode in Deutschland in allen leitenden politischen, militärischen wie
wissenschaftlichen Kreisen genossen hat, beweist allein schon, daß der italienische
Angriff weit über das Ziel hinausschießt. Aber ebensowenig läßt sich ver¬
kennen, daß er doch ein Körnlein von Wahrheit enthält, daß Chiala mit dem
Scharfblicke des Hasses auch manche schwache Stelle in Bernhardis Wirken
herausgefunden hat, und daß die bisherige landläufige Ansicht über dessen
Sendung nach Florenz im Jahre 1866 in wesentlichen Stücken einer Revision
bedarf.
Zunächst muß man seine zweite Sendung dorthin im Jahre 1867 von
der ersten deutlich unterscheiden. Aus seinen Tagebüchern geht klar hervor
— und auch Chiala gibt es zu —, daß er 1867 ganz formell unter Bei¬
legung eines militärischen Ranges zum Militürbevollmüchtigten ernannt wurde,
sodaß er eine „unabhängige und selbständige" Stellung neben der Gesandtschaft
einnahm (VII, 319, vergl. auch Busch II, 79). So einfach liegen die Ver¬
hältnisse im Jahre 1866 nicht. Die bisherigen Darstellungen sind über die
Sache ziemlich leicht hinweggegangen, indem sie sich den Ursprung und den
Charakter von Bernhardis Mission etwa so zurechtlegten.
Anfang März hatte Moltke selbst nach Florenz gehn sollen, um den
preußisch-italienischen Vertrag zustande zu bringen und allerlei militärische
Verabredungen zu treffen. Die Sendung General Govones und der Abschluß
des Bündnisses zu Berlin am 8. April hatten diesen Plan vereitelt. Nach La
Marmoras Versicherung war darauf mehrmals die Ankunft eines preußischen
Generals in Florenz angekündigt worden.
Da aber damals, so stellt es Sybel dar, ein höherer preußischer Offizier
nicht zu entbehren war, erfolgte stattdessen die Sendung Bernhardis, der so
gewissermaßen in die zunächst für Moltke selbst bestimmte Stellung eintrat.
Der General von Bernhardi bezeichnet zu Beginn des siebenten Bandes der
Tagebücher seinen Vater als militärischen Bevollmächtigten,*) und in Einklang
damit sagen die Herausgeber von Moltkes militärischer Korrespondenz (II, 225):
„Während des Aufmarsches der preußischen Armee hatten mit Italien Ver¬
handlungen stattgefunden, um eine Übereinstimmung des beider¬
seitigen Vorgehens gegen Österreich zu erzielen. Zur Führung dieser
Verhandlungen waren der Major im Generalstab von Lucadou und der
Legationsrat von Bernhardi nach Florenz gesandt worden."
Hier knüpft Chiala an und leugnet mit aller Bestimmtheit, und wie wir
sehen werden, nicht ganz mit Unrecht, daß Bernhardis Mission diesen Charakter
getragen habe, daß er mit Verhandlungen über die Kriegführung beauftragt
und dazu berechtigt, daß er überhaupt Militärbevollmächtigter gewesen sei.
In der Tat hatte Moltke von Anfang an besondre Abmachungen mit
Italien über die militärischen Operationen abgelehnt, die unabhängig von¬
einander auf völlig getrennten Kriegsschauplätzen geführt werden würden.
Der Vorteil liege nicht in ihrer Kombination, sondern in ihrer Gleichzeitig¬
keit (Mit. Korr. II, 48), und als Govone aus eignem Antriebe — La Marmor«
war immer dagegen — mehrmals auf den Abschluß einer Militärkonvention
drängte, erfuhr er in Berlin entschiedne Abweisung. Ju wiederholten Ge¬
sprächen mit ihm vermied Moltke beinahe peinlich jede Erörterung des
italienischen Feldzugsplans, und nur als Entgegnung auf eine ähnliche Be¬
merkung des Generals wies er einmal auf die zerstreute Aufstellung der
Italiener hin. Nicht ein Wort in diesen Unterredungen, die bis in eine Zeit
reichen, wo Bernhardi schon in Florenz angekommen war, lassen auf eine
Absicht Moltkes schließen, sich in die Einzelheiten der italienischen Kriegs¬
führung zu mischen; nicht mit einem Worte wird Bernhardis Sendung auch
nur erwähnt.
Aber auch aus dessen Tagebüchern geht nicht hervor, daß er einen Auf¬
trag zu Verhandlungen mit der italienischen Heeresleitung hatte, vielmehr im
Gegenteil, daß die ihm zugewiesene Aufgabe viel bescheidner ausfiel, als er
selbst gewünscht und gehofft hatte. An seiner Mission ist von Anfang an
immer das Auffallendste gewesen, daß hier im Widerspruch zu aller preußischen
Tradition einem Zivilisten eine offizielle Stellung übertragen wurde, die ihrer
Natur nach einem hohen Offizier zukam. Bernhardi selbst fühlte das deutlich
und verlangte deshalb von vornherein für sich einen militärischen Rang, um,
wie er sagt, „seine Stellung zu sichern und Einfluß auf die Operationen zu
gewinnen" (VI, 326). Aber auch die Übertragung eines militärischen Ranges
paßte so wenig in den Rahmen preußischer Anschauungen, daß sich der König
dazu noch nicht entschließen konnte, und daß Keudell Bernhardi sehr bald er¬
öffnete, dieser Gedanke sei unausführbar, man könne ihm bloß den Titel als
Legationsrat beilegen. Verlor schon so Bernhardts Stellung den offiziellen
militärischen Charakter, so wurde sie als eine diplomatische ganz fest um¬
schrieben durch die Bestimmung, daß er nicht vom Generalstab, sondern vom
Ministerium des Auswärtigen ressvrtieren, seine Berichte zwar an Moltke
richten, aber unverschlossen an Usedom, den preußischen Gesandten in Florenz,
zur Weiterbeförderung übergeben sollte. Auch ein Kreditiv von Souverän zu
Souverän sollte er nicht erhalten, sondern Usedom sollte ihn einführen;
Keudell sagte ausdrücklich, er werde der Gesandtschaft attachiert. Als ein¬
facher Legationsrat war er der Untergebne Usedoms, und eine selbständige
Rolle wurde ihm dadurch sehr erschwert. Es waren ihm, offenbar sehr zu
seinem Leidwesen, die Bedingungen versagt, die er für nötig hielt, „um Ein¬
guß auf die Operationen zu gewinnen." Aber die Unterredungen, die er
vor seiner Abreise mit den maßgebenden Persönlichkeiten hatte, lassen darauf
schließen, daß er gar nicht eigentlich zu diesem Zwecke nach Italien geschickt
wurde. Am 18. Mai war er zum letztenmal mit Moltke zusammen. Dieser
teilte ihm kurz die letzten Nachrichten über die Aufstellung der italienischen
Armee, sowie die geplante, aber schon in den folgenden Tagen aufgegebne
Konzentration des preußischen Heeres in der Oberlausitz mit. Die später von
Bernhardt mit Hochdruck betriebne Expedition Garibaldis nach Ungarn er¬
wähnte er als eine Absicht der italienischen Regierung, ohne selbst einen be¬
sondern Ton darauf zu legen. Oberstleutnant Veith sollte Bernhardt mit
Karten und Ausweisen über die verschiednen Armeen versehen; er selbst wollte
ihm eine von ihm entworfne Denkschrift über den Krieg in Italien anver¬
trauen. Zu welchem Zwecke, wird nicht gesagt, doch wohl nur zu seiner
Information. Denn von einem Auftrage, in bestimmtem Sinne auf La
Marmora zu wirken, eine „Übereinstimmung des gegenseitigen Vorgehens herbei¬
zuführen," fällt nicht ein Wort. Damit war alles Notwendige zwischen ihnen
erledigt. In den drei Tagen vom 21. bis 23. Mai, wo Bernhardi nach
einem Abstecher nach Haus noch in Berlin verweilte, hat er Moltke nicht mehr
gesehen.
In der Abschiedsaudienz am 22. Mai spricht König Wilhelm von der
Politischen Lage, von dem bevorstehenden Kongresse, nicht von den Geschäften
eines in wichtiger Mission abgehenden Mtlitärbevollmächtigten. Bernhardi
sucht, wie er ausdrücklich bemerkt, auf den Krieg in Italien zu kommen; der
König erwidert mit einer kurzen, unbedeutenden Bemerkung. Bernhardi spricht
weiter vom Festungsviereck usw. „Der König geht darauf nicht ein," und
nachdem Bernhardi zum drittenmal vergeblich versucht hat, das Gespräch auf
seiue Interessen zu lenken, verliert es sich aufs neue in politischer Plauderei.
Auch beim Kronprinzen streift die Unterhaltung den italienischen Krieg nur
ganz oberflächlich, und Roon bespricht mit Bernhardi nur den bevorstehenden
Kampf in Deutschland. Bismarck aber hatte er seit Übernahme seiner Mission
überhaupt nicht gesehen, und auch am 27. April war Italien zwischen ihnen
nicht erwähnt worden.
Was war nun aber der Zweck seiner Sendung? Moltke bemerkt am
18. Mai, Lucadou müsse nun aus Italien zurückgerufen werden (was jedoch
nicht geschah). In dessen Stellung sollte also nach Moltkes Auffassung
Bernhard! einrücken. Lncadou aber hatte wie sein Vorgänger v. d. Burg
bisher ganz abseits von den großen Entscheidungen gestanden, hatte, wie
Chiala versichert, nie mit italienischen Offizieren den Kriegsplan besprochen
und war ihnen nur dadurch bekannt, daß er täglich beim Kriegsministerium
vorsprach, um für seine Berichte nach Berlin Informationen einzuholen. Damit
stimmt völlig das einzige amtliche preußische Schriftstück überein, das über
Bernhardis Sendung bisher bekannt geworden ist, nämlich das von Chiala
zuerst veröffentlichte Schreiben Usedoms an La Marmorn vom 18. Juni
(Chiala S. 592), worin er mit Beziehung auf die Unterbringung des
italienischen Obersten Apel im preußischen Hauptquartier um Unterkunft, Ver¬
pflegung und Transportmittel ersucht für 1s Na^jor as I^uoaäou se- 1s Oon-
8öilsr (so!) cis I><zMti0n Nonsieur as L«zrnb.g,M onvo^k xar Is lioi xour I^ni
t'Airs als rapvvrw iniliwirss partiouliörs (lauf 1ö Huartier AönsiÄl 6« Lg.
NiZiMts is lioi ä'Ittüiö. Hier ist der Charakter von Bernhardis Stellung
so deutlich wie möglich ausgesprochen, nur mit der Ungenauigkeit, daß seine
Berichte nicht direkt an den König, sondern durch Usedom an Moltke gingen.
Berichten sollte er, nicht auf die italienische Kriegführung einwirken. In
Einklang mit diesem eingeschränkten Zwecke der Sendung behandelte man sie
von Berlin aus mit solcher Gleichgültigkeit, daß Usedom, als Bernhardi sich
am 28. Mai bei ihm meldete, von seiner bevorstehenden Ankunft, die doch
schon für den 18. festgestanden hatte, noch nicht benachrichtigt war. Über
die wichtigsten Tatsachen der politischen Lage wurden Usedom wie Bernhardi
in der tiefsten Unkenntnis gehalten. Aus Äußerungen des Generalsekretärs
Le Biene im italienischen Ministerium erst bekommt Bernhardi eine Ahnung
von dem französischen Versuche im Anfang Mai, Italien zum Abfalle von
Preußen zu bewegen. Ja. am 30. Mai schließt er aus dem Briefwechsel
zwischen Bismarck und Usedom, daß am 27. April (in Wahrheit schon am 8.)
ein preußisch-italienisches Bündnis abgeschlossen worden sei. „Das hatte man
uns in Berlin nicht gesagt," bemerkt er nicht ohne Bitterkeit. Die Vertreter
Preußens bei der italienischen Regierung waren also ohne Mitteilung über
die Grundlagen der Beziehungen zwischen den beiden Staaten geblieben. Über¬
haupt ist die preußische Gesandtschaft in Florenz in dieser Zeit sehr auf der
Schattenseite der Ereignisse, was sich aus Bismarcks Stellung zu Usedom
und seiner bekannten Meinung über diese „geistreiche Dame" zur Genüge
erklärt. Aber auch sein Verhältnis zu Bernhardi war sehr oberflächlich. Abeken
sagte noch im Februar, Bismarck scheine über Bernhardi nicht recht orientiert
zu sein, und es war kein Wunder, wenn er dem Altliberalen, dem Freunde
Vinckes und des Herzogs von Koburg, dem freiwilligen Agenten Augustenburgs
mit einigem Mißtrauen gegenüberstand.
Alles in allem liegt der Schluß nahe, daß Bernhardis Sendung von
leitender Stelle keine übergroße Bedeutung beigelegt wurde. Zur Abfassung
sachverständiger Berichte über Heeresverhältnisse und Kriegsereignisse war die
Kenntnis des bestehenden Vertrags nicht so notwendig, wie sie es für die
Verhandlung über einen gemeinsamen Kriegsplan gewesen wäre. Chialas Be-
hauptung aber, man habe Bernhard!, nachdem er sich lange vergeblich um eine
dienstliche Stellung bemüht gehabt habe, mit einem gleichgiltigen Auftrage
nach Florenz geschickt, um einen lästigen Nörgler auf unschädliche Weise los
zu werden, ist eine gehässige Entstellung und wird schon durch die Verwendung
Bernhardts auch in den folgenden Jahren widerlegt.
Diese Formlosigkeit und Oberflächlichkeit der geschäftlichen Behandlung,
die Bernhardis Sendung von leitender Stelle erfuhr, trug die Hauptschuld an
en folgenden Irrungen. Aus seinen Tagebüchern läßt sich uicht erkennen,
W oder von wem er über die Grenzen seiner Tätigkeit aufgeklärt worden
^'e> sodaß sich leicht ein Mißverständnis einschleichen konnte. Jedenfalls
hatte er keine schriftlichen Instruktionen in der Hand, und so war es bei
enden Manne von seinem Tätigkeitsdrang und seinem hohen Selbstbewußtsein,
der daran gewöhnt war, über die wichtigsten militärischen Dinge mit Moltke
und Roon auf dem Fuße der Gleichheit zu verhandeln, durchaus natürlich,
wenn er seine Wirksamkeit möglichst auszudehnen und sich von der Statisten¬
rolle des berichtenden Begleiters zu einflußreicher Aktion einen Weg zu bahnen
suchte. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß ihm aus diesem Streben von
seinen Vorgesetzten kein Vorwurf gemacht worden ist. Usedom arbeitete ja
ganz in derselben Richtung, so mit seiner berühmten Note vom 17. Juni, die
soviel Staub aufwirbelte und der Anstoß zu seinem Sturze wurde. Auch in
Moltkes Brief an Bernhardi vom 15. Juni wird volles sachliches Einver¬
ständnis ausgesprochen, wenn er auch freilich, wie Chiala hervorhebt, nicht die
leiseste Aufforderung enthielt, mit der Beeinflussung der italienischen Autoritäten
fortzufahren. Andrerseits aber ist es begreiflich, daß sich die italienische Heeres¬
leitung, der Bernhardis Persönlichkeit ganz unbekannt war, ihm gegenüber
auf formellen Standpunkt stellte und nicht geneigt war, über seine ihm amtlich
zustehende Stellung hinaus irgend welche Konzessionen zu machen. So lag
ohne eine Schuld auf einer Seite schon in den Verhältnissen selbst ein Keim
zu Konflikten, der bei der Beschaffenheit der beteiligten Personen in kurzer Zeit
zu voller Entwicklung gelangen mußte.
Man kann es La Marmora wie Chiala glauben, daß La Marmora in der
großen Unterredung vom 6. Juni nicht das Bewußtsein hatte, einem preußischen
Militärbevollmächtigten gegenüberzustehn. Ein Zivilist in solcher Stellung
war jedenfalls eine Erscheinung, deren Glaubwürdigkeit durch starke urkund¬
liche Beweise Hütte belegt werden müssen. Noch aber hatte die italienische
Negierung keine schriftliche amtliche Ankündigung von Bernhardis Sendung
in der Hand, und Usedom scheint bei seiner Einführung mit einer verhängnis¬
vollen Oberflächlichkeit verfahren zu sein. Wie Bernhardi selbst berichtet, stellte
er ihn am 5. Juni bei Cerulli, dem Staatssekretär im Ministerium des Aus¬
wärtigen, nicht als Untergebnen, sondern als Freund vor. Dasselbe geschah
jedenfalls unmittelbar hinterher bei La Marmora. So nahm dieser von
Bernhardi zunächst wenig Notiz und konnte wohl in dem Glauben bleiben,
es mit einer Privatperson zu tun zu haben, zumal Usedom ihm zugleich
eine wichtige diplomatische Meldung abstattete, die als der eigentliche Zweck
seines Besuchs erscheinen mußte. Auch am 8. Juni nennt ihn Usedom, als
er La Marmorn schriftlich um eine Empfehlung Bernhardis an Cicildin: bittet,
nur mon alni, und La Marmor« bezeichnet ihn in dem Empfehlungsschreiben
an Petitti einfach als Vertrauten des Königs von Preußen (oonllÄMte- Ael rö),
wie er ja auch in seiner Schrift Hu xo' M al tuos von ihm als einer myste¬
riösen Persönlichkeit spricht, von der man nicht wisse, ob sie vom Ministerium
oder vom König als dessen Spezialhistoriograph geschickt worden sei. Auch
aus Bernhardis Schilderung von seiner Einführung bei König Viktor Emanuel
gewinnt man nicht den Eindruck, als ob dieser auf seine Person und seinen
Auftrag besondres Gewicht gelegt Hütte.
Unterdessen hatte sich bei Bernhard:, hauptsächlich auf Usedoms Dar¬
stellung hin, eine vielleicht berechtigte, durch eigne Erfahrung jedenfalls damals
noch nicht hinreichend begründete Meinung von La Marmoras geistiger Be¬
deutungslosigkeit festgesetzt. Auch über den italienischen Kriegsplan war seine
Ansicht fertig, noch ehe er auch nur zu einem einzigen italienischen Offizier
in Beziehung getreten war. Der ungarische Abenteurer Türr ging bei Usedom
ein und aus und hatte diesen ganz in seinen Ideenkreis zu ziehen gewußt.
Der Plan einer Revolutionierung Ungarns war nicht neu; schon Govone hatte
mit Bismarck darüber verhandelt, und Usedom hatte eine Unterstützung von
Preußen her beantragt. Viktor Emanuel setzte große Hoffnungen darauf,
während La Marmora aus hier nicht zu erörternden Gründen sie entschieden
bekämpfte. Bernhard: war der Gedanke ursprünglich fremd gewesen, und seine
Moltke überreichte Denkschrift enthielt davon nichts. Sein Wirklichkeitssinn
durchschaute wohl die Hohlheit der Emigrantenentwürfe. Als aber die ersten
Unterredungen mit Usedom und Türr in ihm den Glauben befestigten, La
Marmora beabsichtige nur einen lahmen Festungskrieg um Peschiera oder
höchstens Verona, da gewann der Gedanke, nur eine Expedition Garibaldis
über Dalmatien nach Ungarn könne die italienische Kriegführung vom Festungs¬
viereck ab und in das Herz der österreichischen Monarchie ziehn, bei ihm
eine solche Kraft, daß er schon am 2. Juni in diesen: Sinne an Bismarck
und an Moltke schrieb. Um diese Idee zu verwirklichen, entfaltete er in den
folgenden Wochen eine lebhafte, nach allen Seiten ausgreifende Tätigkeit,
indem er auf verschiedne italienische Heerführer einzuwirken versuchte. Ver¬
gebens. Seine Bemühungen erregten peinliches Befremden und ernteten meist
kalte oder spöttische Zurückweisung. In einem schon 1873 in der Uuovs,
^nwIvFia, erschienenen Aufsatze sagt R. Bonghi, die Unterredung Bernhardis
mit La Marmora sei ihm immer als eine sehr witzige Lustspielszene erschienen:
dieses Gegenüber des stolzen Soldaten voll Sachverständnis und Kriegserfah¬
rung, der überzeugt von der Überlegenheit seiner Stellung und seiner Fähigkeit
war, und der eingebildeten preußischen Zivilperson, die sich mit unfehlbaren
Besserwissen den gewiegten Praktiker zu belehren angemaßt habe. Ein Spott,
der in sich zusammenfällt, wenn man sich erinnert, daß Moltke es nicht verschmäht
hatte, den Rat des „mittelmäßigen Literaten" mit Achtung entgegenzunehmen.
Auch der damalige Major, später General, Gicmotti, der im Auftrage Cialdinis
in Bologna Bernhard: als Führer dienen mußte, sucht dessen Person ins
Lächerliche zu ziehn. In der Voraussetzung, einen General vor sich zu haben,
wurde er sehr enttäuscht, als Bernhardt sich ihm als bloßen Historiker zu er¬
kennen gab. Er beschreibt ihn als einen in militärischen Dingen unwissenden
aber eingebildeten Pedanten, der mit seinem Ruhme prahlt, rin bell' ori^matt,
dem es sogar an dem notwendigsten gesellschaftlichen Takt gebreche. Niemand
in Deutschland wird einen Augenblick bezweifeln, daß die Italiener uns hier
nicht ein Bild, sondern eine verzerrte Karikatur liefern. Aber auch eine
solche muß gewisse Grundzüge des Originals wiedergeben. Cialdini, den
Bernhardi selbst hochschützte, kann es sich nicht ganz aus den Fingern ge¬
igen haben, wenn er am Tage seines Besuchs an La Mcmnora schreibt:
"^r erklärte nur sofort, er sei ein Schriftsteller von hohem Rufe und gehöre
einer Familie an, die seit 700 Jahren ans lauter Gelehrten bestanden habe."
Die Tagebücher sind durchweg in einem Tone der überlegensten Sicherheit
geschrieben, auch wo sie Kombinationen vortragen, die durch die folgenden
Ereignisse schnell widerlegt wurden. Wenn nun ein solcher Mann hier dem
italienischen Heerführer und leitenden Staatsmann, der auch von starkem
Selbstgefühl erfüllt war, mit Ansprüchen gegenübertrat, die durch die amtliche
Stellung keine völlige Deckung erfuhren, so war es nicht wunderbar, daß er
sich Feindseligkeiten schuf, und daß, als die spätern Ereignisse ihm obendrein
Recht gaben, bei dem Gedemütigten eine Flut des Hasses über ihn hereinbrach.
Charakteristisch für die Art von Bernhardts Auftreten ist die berühmte
Unterredung mit La Marmora vom 6. Juni. Fraglich bleibt es (Chiala leugnet
es), ob dieser wirklich die Anregung dazu gegeben hat durch die Bemerkung
zu Usedom, es sei jetzt Zeit, die beiderseitigen Operationen zu kombinieren.
Jedenfalls tritt eine solche Absicht in dem langen Gespräche nirgends hervor.
Bernhard: merkte sofort, „daß La Marmora nicht geneigt sei, sich eingehend
Mlszusprechen," und daß er selbst „die Initiative ergreifen müsse, wenn es
überhaupt zu Mitteilungen kommen solle." So setzte er ihm denn den
Preußischen Kriegsplan für Böhmen mit aller Ausführlichkeit auseinander,
wohlgemerkt, seinen eignen, nicht Moltkes, den er nicht kannte und nicht kennen
konnte, weil er in solcher Genauigkeit gnr nicht existierte. Bekanntlich hatte
Bernhardt schon gegen Ende des März in einem längern Aufsatze Moltke
seine Ideen über den böhmischen Krieg mitgeteilt und am 17. April mit ihm
durchgesprochen. Moltke hatte den Plan wohl an sich für richtig gesunde»,
doch geäußert, er beruhe auf falschen Voraussetzungen über die Machtver¬
hältnisse. Auch seinen Generalstabsoffizieren gegenüber hatte er die Denk¬
schrift gelobt; man könne sie sehr gut benutzen, doch müsse der Plan in
mancher Beziehung abgeändert werden. Die von Bernhardt vorgeschlagne
Offensive war ihm zu verwegen. „Das einzige, was mir Moltke unbedingt
und ohne Einschränkung bestehn läßt, ist mein Entwurf für die Armee Italiens."
Im ganzen war Bernhardt von der Unterredung verstimmt; „die militärische
Zuversicht entspreche nicht der Kühnheit der politischen Pläne." Am 18. Mai
hatte ihm Moltke nur noch einige Mitteilungen über den Aufmarsch an der
böhmischen Grenze gemacht. Die Denkschrift, die man ihm mitgegeben hatte,
betraf nur Italien. Trotzdem läßt er La Marmora gegenüber die preußische
Armee dem Feinde in die rechte Flanke marschieren, ihm die Eisenbahnver-
bindung mit Wien abschneiden, ihn auf Prag und das linke Moldauufer
zurückwerfen und bei Mäulern über die Donau gehn. Ein eigentümliches
Verfahren für die offizielle Verhandlung über eine Kombination der beider¬
seitigen Heercsbewegungen! Wenig überzeugend ist es demnach, wenn Bernhardi
1868 erklärte, La Marmora habe seinen Charakter als Militärbevollmächtigter
schon aus dem Umstände erkennen müssen, daß ihm der böhmische Kriegsplan
bekannt gewesen sei. La Marmora aber hatte Moltkes Ansichten schon aus
Berichten Govones erfahren, sodaß ihm die subjektive Natur von Bernhardts
Auseinandersetzungen nicht gut verborgen bleiben konnte. Der große Spiel¬
raum, den dieser hier seinen Privatideen ließ, gab der Unterhaltung mehr den
Charakter einer akademischen Diskussion. Das Gespräch stockte dabei unauf¬
hörlich. „La Marmora war keineswegs geneigt, nun auch seinerseits ent¬
sprechende Mitteilungen zu machen, und tat es gewiß nicht, wenn ich ihn
nicht dazuzwcmg." Mit Kunst und Beharrlichkeit muß er alles, was er über¬
haupt erführe, aus dem Italiener herauspressen, und es ist sehr fraglich, ob
sich aus den abgerissenen Resultaten dieses Verhörs ein zusammenhängendes,
richtiges Bild von La Marmoras Absichten gewinnen ließ, wie es sich Bern¬
hardi auf seine schon vorher gewonnene Überzeugung hin bildete und nach
Berlin berichtete.
Es würde hier zu weit führen, auf die fernern von Chiala behandelten
Fragen einzugehn, ob und inwieweit die lahme Kriegführung der Italiener
auf Spekulation auf Frankreich, auf englischem Einflüsse oder auf dem bösen
Willen des obersten Heerführers beruhte. Natürlich erhält Bernhardi auch
hier noch eine Reihe von Seitenhieben. Chiala bringt alles herbei, was sich
über ihn Übles sagen läßt oder gesagt worden ist, das ungünstige Urteil des
Kronprinzen (Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I, 175) und Bis-
marcks abfällige Bemerkung bei Busch (II, 79). Das alles zusammenfassend
bezeichnet er ihn als den bösen Dämon des Mißtrauens zwischen Preußen
und Italien. Dieses Mißtrauen habe von vornherein in den Verhältnissen
begründet gelegen, zumal bei dem zweifelhaften Verhalten Napoleons und der
traditionellen Abhängigkeit Italiens von Frankreich. In dieser delikaten Lage
wäre ein Diplomat von Vorsicht, Kaltblütigkeit und konzilianten Benehmen
am Platze gewesen. Der phantasievolle, unklare Usedom mit seiner Verbindung
mit abenteuerlichen Revolutionären wie Türr, und Bernhardi mit seiner vor¬
gefaßten schlechten Meinung von La Marmora und seinem anmaßenden Auf¬
treten hätten einerseits die Italiener vor den Kopf gestoßen, andrerseits durch
schiefe Berichte Bismarcks ohnehin schon argwöhnische Stimmung erst recht
verbittert. So habe sich durch die Wirksamkeit dieser beiden Männer zwischen
den verbündeten Völkern eine ganze Atmosphäre von Anklagen, Verdacht und
Übelwollen gelagert.
Ein gerechtes Urteil ist von einer Tendenzschrift, und eine solche ist
Chialas Buch, nicht zu erwarten; aber eine ernste und dringende Aufforderung
werden wir aus ihm entnehmen müssen, nämlich an Bernhardis Tagebücher
in ihrem ganzen Umfange mit der kritischen Sonde zu treten und ihren Quellen-
wert mit denselben Methoden und derselben Peinlichkeit zu untersuchen, wie
sie die Geschichtswissenschaft antiken und mittelalterlichen Quellenschriftstellern
gegenüber von altersher anwendet/ Dasselbe gilt für die ganze Memoiren¬
literatur der Zeit Bismarcks. Mit solcher Fülle strömt das neu veröffentlichte
Material aus uns nieder, daß zunächst alle Hände beschäftigt sind, auch nur
den Rahm davon abzuschöpfen. Nur mit Bismarcks Gedanken und Erinnerungen
ist von Marcks, Lenz und Kaemmcl der glänzende Anfang kritischer Unter,
snchungen gemacht worden. Von Bernhardts Nachrichten sind alle neuern
Darstellungen der großen Zeit gleichsam durchtränkt. Die Dankbarkeit aber für
den Reichtum des Gebotneu und die Scheu vor der nchtuuggebietenden Persön¬
lichkeit des Verfassers dürfen uns nicht abhalten, auch diese Autorität erst
""zuerkennen, wenn sie die Feuerprobe bestunden hat.
eben den unerschöpflichen Meistern stehn rasch ausgeschöpfte:
ueben Tizian, Rembrandt und Goethe stehn Watteau, Hans
von Marees, Kleist und I. P. Jakobsen; der Stil des Alters
ueben der Kunstsprache der Frühgestorbnen.
Es gibt Frühgestorbne, die durch den Tod plötzlich und
unerwartet aus der Bahn ihrer Entwicklung geworfen worden sind; ihr Stil
hat nichts Gemeinsames, nnßer etwa das Merkmal des Unfertigen.
Dagegen läßt sich wohl von einem gemeinsamen Stile solcher Jung-
verstorbnen reden, deren künstlerisches Schaffe,? im Schatten des Todes stand,
des leiblichen oder des seelischen.
In der kurzen, ihnen vergönnten Spanne Arbeitszeit durchmessen sie mit
unerhörter Raschheit alle Entwicklungsstadien der Langelebenden. Die Knospe
verdrängt, kaum erschienen, den Keim, das Fruchttragen folgt dem Blühen,
und der Reife das Welken. Die Ahnung oder die Gewißheit eines schnellen
Endes zwingt ihnen diese» Lebensstil auf, und die gemeinsame Form der Ent¬
wicklung prägt so eine gemeinsame Kunstsprache der Frühgestorbneu.
Es gilt, diese verführerische Hypothese durch Beispiele zu stützen. Zwei
Maler und zwei Dichter — die schon anfangs genannten — mögen aus der
>^ahi junggestorbner Künstler im angedeuteten Sinne herausgegriffen werden.
Zu nichts haben die Frühgestorbneu Zeit, kaum zum Jungsein. Jugend
heißt ja Unreife, bedeutet Ansätze und Versprechen, die erst die Zukunft er¬
füllen soll und kann, ist die Zeit des Tastens und des Abwartens — bei
alledem dürfen sich Menschen nicht aufhalten, für die es keine Zukunft gibt,
die alles, was ihnen zu leisten überhaupt möglich ist, bald, sofort tun müssen,
ehe es zu spät ist.
Darum fehlt dein Stil der Frühverstorbnen die Eigenschaft der Jugend¬
lichkeit, er trägt vielmehr den Charakter einer ausnahmsweise, einer unheimlich
rasch eingetretnen Reife. Doch nicht einer Reife, wie sie das schließliche Ergebnis
langer Entwicklungsprozesse ist, sondern einer forcierten Vollendung, die nur mit
einer Überspannung aller Kräfte erreicht werden kann. Eben ihres erzwungnen,
bewußten Charakters wegen ist diese Feinheit schon dein Raffinement benachbart.
Der Stil der Frühgestorbnen geht leicht in Manier über.
Ich erinnere an Watteaus letzte Bilder, an Jakobsens „Hier sollten Rosen
stehn" und an Illustrationen Beardsleys.
Aber neben Höchstvollendetem steht ganz Unfertiges, neben dem Schönen
das Absurde. Was nicht auf den ersten Wurf gelingt, glückt diesen Künstlern
überhaupt nicht, und was unrein herauskommt, bleibt so. Die Arbeitsmethode
der Frühgestorbnen ist die Improvisation; Folgen improvisierter Leistungen
sind jene Erscheinungen.
Watteau malte sein berühmtestes Bild, die „Einschiffung nach Cythere"
(Louvre), in wenig Tagen, sein letztes, das Firmenschild Gersaints, in den
Morgenstunden einer Woche, und auch Giorgione liebte die Technik des
Malens Mg, xrimg.. Die Form der „Penthesilea" Kleists zeigt in ihrem
durch keinen Akteinschnitt gehemmten, stürmischen Ablauf den Rhythmus, in dem
die Tragödie geschaffen wurde.
Zum Feilen, zum Glätten, zum Redigieren kommen die Frühgestorbnen
nicht, weil sie keine Pausen zwischen zwei Schaffensperioden kennen. Die
Zeiten der Unfruchtbarkeit oder des stillen Keimens zukünftiger Werke und
des Pflegens schon vorhandner sind ihnen fremd. Kaum konzipiert, muß eine
künstlerische Idee auch schon ausgeführt werden, daß sie der nächsten Platz
mache. Homer, der „zu Zeiten schläft," war ein Langelebender, die Jung¬
verstorbnen sind die Jmmerwachen.
Sie fühlen sich gehetzt von hundert Problemen und Sehnsuchten; jede
hat so unendlich viel zu sagen — so werden diese Menschen die großen
Fragmentisten. Wie die Improvisation ihre Methode, ist das Fragment
ihre Form.
Kleists dramatisches Schaffen drängt sich in dem Zeitraum von zehn
Jahren zusammen — sein größtcmgelegtes Werk, der „Robert Guiskard," blieb
ein Bruchstück. Die junggestorbnen Hölderlin und Novalis, von denen der
eine wahnsinnig wurde, wie Schumann und Hugo Wolf, der andre an der
Schwindsucht starb, wie Watteau, Jakobsen und Chopin, waren die Fragmen¬
tisten unter den Romantikern. Fast sämtliche Bilder Marees sind unvollendet
geblieben, und aus der Überfülle von Plänen und Gedanken heraus, die zu
verwirklichen die Kraft fehlt, ruft Jakobsen:
O, welche Lust, nicht weiter denken,
Als ein verschlafnes Auge sieht.
Und nun, neben starker schöpferischer Kraft, neben den ungeheuer ge¬
steigerten Vorsätzen — ein diesen hohen Selbstansprüchen nicht immer genügendes
Gestaltungsvermögen: die Unfähigkeit, das übergroß gedachte auch übergroß
zu verwirklichen. Das ist der Konflikt, der sie so rasch verbraucht, der sie
schneller vernichtet, als es aller ihnen eigne Mangel an Ökonomie der Lebens¬
führung, aller maßlose Energieverbrauch tut.
Die Mittelmäßigkeit hat die Genügsamkeit, nicht mehr zu wollen, als sie
kann, die sich organisch entfaltenden und langsam auflebenden Genies haben
die glückliche Gabe, zu können, was sie wollen.
Beides ist den Früh gestorbnen versagt. Schwerer als andre müssen sie,
Wie die Brahmanen:
^ ^ Haupt im Himmel weilend
Fühlen, Paria, dieser Erde
niederziehende Gewalt.
Die großen Vorsätze sind die vornehmste Eigenschaft der Frühgestorbnen.
Auf der einen Seite — bei Watteau. Chopin und Jakobsen — ist es der
Kampf der lebendigen Psyche mit der kranken Physis. Diese Menschen, die
ihr Körper zeitlebens zur Zuschauerrolle dem Leben gegenüber verurteilt.
vutMsrs scheinbar des Glücks und der Schönheit, erobern sich die Welt im
Traum und genießen sie in der Erscheinungsform der Kunst. lädörtm
Esprit, Unis sag<z as uusurs, sagte Gersaint von Watteau, dem Maler des
"Dekamerone in Rokokotracht," und das Motto über Jakobsens Leben ist das
seines Mogens: In Sehnsucht leb ich, in Sehnen. Auf der andern Seite der
Kampf der Ansprüche, die der Künstler an sich selbst stellt mit seiner Leistungs¬
fähigkeit. Das Leben Kleists wie das Marees läßt sich bezeichnen als ein
Ringen mit dem Ideal.
Kleist ging daran zugrunde, daß seine künstlerische Schaffenskraft ihn
enttäuschte. Er hatte sein Leben daran gesetzt, ein Ideal der dramatischen
Kunst, die Vereinigung der Griechen mit Shakespeare, zu erreichen; Guiskard
war der Stoff, in dem es verwirklicht werden sollte. Als Kleist in dieser
Geisterfchlacht unterlag, fühlte er sich ganz reif zum Tode, wie seine Penthesilea,
die er sein Schicksal erleben und für sich sprechen ließ:
Das Äußerste, das Menschenkräfte leisten.
Hab ich getan — Unmögliches versucht,
Mein Alles hab ich an den Wurf gesetzt,
Der Würfel, der entscheidet, liegt, er liegt:
Begreifen muss ichs, und daß ich verlor.
Kleist wußte, daß es für ihn ein Herabsteigen vor sich selbst nicht gab.
Da ihm das künstlerische Schaffen die einzige Realität war. bedeutete dessen
Auflösung für ihn den Tod. Sein Tod war sein letztes Werk: der not¬
wendige Schlußakt einer Tragödie, deren Dichter, Spieler und Held Kleist
selber war.
Auch Hans von Marees war am Ende, als er starb. Seine Freunde
gestehn es ein: er hätte Großes nicht mehr geleistet. Das Leben wäre ihm eine
Kette der furchtbarsten Enttäuschungen geworden. Die Lösung seines Lebens¬
problems: der nackte Mensch im Raume, war ihm zu finden nicht beschreden.
Seine Bedeutung liegt in der Tiefe und im Schwunge seiner Intentionen.
Er geizte nie mit seiner Kraft — und das ist das Vornehme.
Da es also diesen Künstlern nicht vergönnt ist, die Fülle an Schönheit.
Gefühlsanteil und Leidenschaft, die ihnen eigen sind, zu verteilen auf eine
durch ihr Leben gebreitete Folge von Werken, legen sie in jede ihrer wenigen
Schöpfungen den ganzen Glanz und Schmerz ihrer Seele. Die Intensität
des Schaffens ersetzt ihnen dessen Extensität. Daher das Jnnerlichkeitsgeprüge
ihrer Leistungen. Die Werke der Frühgestorbnen sprechen am deutlichsten ihrer
Schöpfer Eigenart aus.
Eine Zeile von Jakobsen oder Kleist, ein Bild Mnrees weiß man sofort
zu bestimmen.
Die Frühgestorbnen stehn im Zeichen des Todes, sie leben sich, sozusagen,
in den Tod ein. Nun gehört zu den Wandlungen, die die Nähe des Todes
im Wesen eines Menschen hervorruft, ein Überwiegen der Objektivität über
subjektive Wertungen in der Stellung des Menschen zur Welt. Das Gefühl
des nahen Endes hebt über die tausend kleinen Angelegenheiten des Alltäg¬
lichen und Gesundmenschlichen hinaus in eine Sphäre des feinern Verständ¬
nisses und einer heitern Jnteresfelvsigkeit am Nebensächlichen. Das Viel¬
fach-Kleine verliert seine Wichtigkeit und seinen Ernst. Damit kommt ein
aristokratischer Zug, die Vornehmheit der Krankheit im Gegensatz zum Plebe¬
jischen der robusten Gesundheit, in den Stil der Frühgestorbnen. Ein Zug
von Feierlichkeit, doch nicht der schwerfälligen, sondern einer lächelnden Ge¬
haltenheit. Die Vornehmheit dieser Art hatte z. B. Jakobsen, den sie im
Hause Kiellands im richtigen Gefühl dafür „Exzellenz" nannten.
Und nun noch ein letztes Merkmal des Stils der Frühgestorbnen: die
morbiäWiia, die rührende Anmut der Krankheit, oder wie Fontane sagt: „der
wehmütige Zauber aller derer, die früh abgerufen werden," der über den
Schöpfungen dieser Künstlergruppe liegt.
Wie eine Farbe durch die Nachbarschaft der Komplementärfarbe ihre
volle Eindruckskraft erlangt, wie das Zarte erst neben dem Derben spricht,
das Tragische am tiefsten wirkt durch den Kontrast mit dem Komischen, so
bekommt auch der Stil der Frühgestorbneu Relief und Bedeutung erst durch
die Konfrontation mit dem Stile der Alterswerke großer Meister.
Es gibt einen Stil des Alters. Schon die physiologischen Veränderungen
und Erscheinungen, die das Alter kennzeichnen, haben der Jugend gegenüber
auch eine gewandelte Kunstsprache zur Folge. So ist es z. B. bekannt, daß
mit der geringern Blutfülle des Gehirns im Alter sich die Farbenempfindung
der Künstler ändert. Tizians und Rembrandts letzte Bilder beweisen die Be¬
hauptung. Mit dem Verlorengehn ferner der leiblichen Gelenkigkeit scheinen
auch die Gelenke der Seele teilweise einzurosten. Wir glauben eine Empsindnngs-
erkaltung bei unangetasteten intellektuellen Fähigkeiten zu bemerken. Die
Folge davon ist ein Ersetzen des Gefnhlsgehalts im Kunstwerke durch formale
Werte. Freude an der Technik, um der bloßen Fertigkeit ist ein Charakteristikum
greiser Künstler gegenüber der Wärme des Anteils auch am Stofflichen in der
Jugend. Ich denke an Goethes späte Dichtungen, an Michelangelos letzte
Werke. Das künstlerische Interesse wird aber im Alter nicht nur kühler, es
wird auch einseitiger. Eine Ausbreitung über das Vielfältige individueller
Gestaltungen macht der Beschränkung auf das Wenige und Wesentliche der
Dinge Platz. Dem greisen Künstler liegt es näher, Typen zu schaffen, als
Individuen. Der Zug, zu vereinfachen, zusammenzufassen, im großen zu sehen,
kurz die künstlerische Ökonomie ist ein entscheidendes Merkmal der Kunst¬
sprache des Alters, und zugleich widerspricht es am schärfsten dem unöko¬
nomischen Kraftverbrauche, der ja für Leben und Kunst der Frühgestorbnen
ch
ewöhnlich erreicht man Burg oder Lübbenau, die Orte, von denen
aus die Bootfahrt dnrch den obern Spreewald unternommen wird,
mit der Bahn und ist dann gleich mitten in der eigentümlichen Land¬
schaft. Es gewahrt aber auch einen Reiz, ganz allmählich hinein¬
zukommen. Deshalb benutzten wir von Altdöbern aus die nordwärts
führende Landstraße und gelangten zunächst nach Ogrossen, dem
Kreuzungspunkte der Kalau-Drebkauer und der Senftenberg-Vetschauer Chaussee.
Vor dem altertümlichen Kirchlein des Dorfes stand eine Linde von so ungewöhnlicher
Größe und Schönheit, daß wir von den Rädern sprangen, um den ehrwürdigen
Baum näher zu betrachten. Er war es wert: denn seine Geschichte ging gewiß bis
auf Luthers Tage zurück, und der Duft von Millionen von Blüten und das Summen
von Tausenden fleißiger Bienen erfüllte weithin die Luft. Wir gingen auch weiter
um die Kirche herum und sahen einen an den Friedhof angrenzenden geräumigen
Hof, wo wiederum unter einer breitästigen Linde in idyllischer Behaglichkeit ein
einstöckiges Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude lagen.
Wir vermuteten darin die Pfarre; als wir aber einen Mann mit blondem
Vollbarte in leinenen Drillanzuge, die weichselne Tabakspfeife im Munde, bar¬
füßig in Holzpantoffeln aus der Haustür herauskommen und danach im offnen
Schuppen Holz hacken sahen, wurden wir in dieser Annahme irre und gingen,
ohne von ihm und seinen ebenfalls ganz ländlich gekleideten Kindern Notiz zu
nehmen, ins Innere der Kirche hinein. Später stellte sich aber heraus, daß der
fleißige Holzhauer doch der Herr Pfarrer war, und wir baten ihn wegen unsrer Eigen¬
mächtigkeit gebührend um Entschuldigung, ebenso dafür, daß wir, in sächsischen An¬
schauungen befangen, die hier in ganz anderen Sinne ländlichen Verhältnisse bei
der Einschätzung seiner Person nicht in Rechnung gezogen hätten. Wir erhielten
freundliche Verzeihung, und unser Herr Pfarrer im Drillichgewande erwies sich dann
als ein ebensogut unterrichteter und freundlicher Mentor, wie wenn ihn der übliche
schwarze Tuchrock umhüllt hätte.
Die Kirche in Ogrossen ist in ihrer heutigen Gestalt ein zu Anfang des acht¬
zehnten Jahrhunderts errichteter Anbau an den uralten, aus Feldsteinen gebauten
Kirchturm, der sich, wie der zu Altdöbern, auf einem viereckigen Postamente nach
oben zu achteckig verjüngt. Eine große Anzahl interessanter Grabsteine ziert die
Wände. Wir sehen daraus, daß Ogrossen in dem Besitz der Familien von Gers¬
dorf, von Lüttichau. dann aber derer von Stutternheim gewesen ist; dieser letzte
Name hatte auch einen guten Klang im Heere Friedrichs des Großen. Ein Grab¬
stein der 1728 verstorbnen Witwe des sächsischen Geheimrath und Oberamtspräsi¬
denten Otto Hieronymus von Stutternheim, einer gebornen von Milkau, meldet der
Nachwelt, daß sie init ihrem Gatten „sechsundzwanzig Jahre in vergnügter Ehe"
gelebt hat — und doch war sie nicht seine erste Liebe. Denn das Kirchenbuch beginnt
mit der Angabe, daß sich Otto Hieronymus von Stutternheim am 6. Januar 1652
mit Anna Maria von Leipzigin auf Beerwalde hatte kopulieren lassen. Die Pfarrer
von Ogrossen haben fast alle der löblichen Sitte gehuldigt, in den Pfarrakten eine
kurze Selbstbiographie zu hinterlassen. Darunter zeichnet sich der lateinische Lebens¬
lauf des Pfarrers Starcke aus, eines alten Grimmensers, der zu Napoleons Zeit
hier wirkte. Er schließt mit dem Jahre 1813, doch ist 1817 ein aMitÄwöntuw
ssrius hinzugefügt, das mit den Worten beginnt: ?s,trig. einen! Äiviss, v volo <zuoä
illas alni aräöntissillw in Laxoniam rs^lam rsäii.
In und um Ogrossen wird schon längst kein slawisch mehr gesprochen, aber
an Erinnerungen an die Slawenzeit fehlt es nicht. In der ganzen Gegend von
Altdöbern bis hierher und wohl auch weiterhin können die Eingebornen kein an¬
lautendes h aussprechen, sie sagen also: „Der err alte seine and über dich." Auch
kommen hier die aufgeschlitztem Bäume vor, mit denen es folgende Bewandtnis hat.
Ist ein Kind schwer erkrankt, so wird unter bestimmten Zeremonien in der Nacht
ein junger Baum in der Mitte aufgeschlitzt, doch so, daß die Krone unversehrt
bleibt. Der Spalt wird nun auseinandergedehnt, und das Kind wird hindurch¬
gesteckt. Die Sitte hängt wohl mit dem uralten germanisch-slawischen Baumkultus
zusammen. Man denkt sich den Baum beseelt und meint nun, daß er seine gesunde
Lebenskraft bei der Zeremonie mit der kranken des Kindes vertausche. So hängen
ja die Waldhäusler des Erzgebirges gern den Kreuzschnabel ins kleine Stübchen und
meinen, daß die Gebrechen der Insassen auf den armen Vogel übergehn. Der
aufgeschlitzte Baum dient auch als Orakel. Geht er ein, so ist das ein schlimmes
Zeichen für die Lebensdauer des durchgestecktem Kindes. Wächst er trotz der schweren
Verwundung weiter, so hat auch das Kind ein langes Leben. Der Pfarrer zeigte
uns einen solchen aufgeschlitztem Baum im Schloßparke, eine Weide, die sich aber
trotzdem weiterentwickelt hatte.
Auch die Kirche des benachbarten Dorfes Gabler soll eine Erinnerung aus
heidnischer Zeit bewahren. Es ist nämlich in der Außenwand ein aus schwarzem
Stein gehauener Kopf eines slawischen Götzen eingemauert, der als der letzte Rest
eines Tempels des Czernebog aufgefaßt wird. Hat der rätselhafte Kopf wirklich
diesen Ursprung, so liegt die bei der Erhaltung und Einmauerung befolgte Absicht
klar zutage: man wollte die Slawen in die Christenkirche locken, indem man sie
an die Stelle des frühern Tempels baute und sogar dem Slaweugotte ein Plätzchen
an der Außenmauer gönnte. So ist z. B. in Rom über einem alten Heiligtum
aus republikanischer Zeit ein Mithräum und über diesem wieder die Krypta der
Kirche San Elemente errichtet worden.
Aus solchen Betrachtungen wurden wir, als wir von Ogrossen um die Mittags¬
zeit auf der Straße nach Vetschau weiterführen, durch ganze Scharen von Land¬
leuten aufgeschreckt, die in Gesellschaft von Kühen und Kälber, hier und da auch
mit einem mutig dreinschauenden jungen Bullen heimwärts zogen. Demnach mußte
wohl an diesem Tage in Vetschau einer der berühmten Viehmärkte abgehalten werden,
auf denen die Bedeutung der Stadt teilweise beruht. Und in der Tat: die obere
Hälfte der Stadt mit Einschluß des Marktes war noch bei unsrer Ankunft mit be¬
haglich wiederkäuenden Rindern, die untere Hälfte mit muntern Rossen erfüllt. An
der Tür des Rathauses stand oder lehnte vielmehr der Gemeindediener, mit sanft
schwimmenden Augen unter der kriegerischen Pickelhaube hervorschauend, und mit
einem satten Schmunzeln unter dem martialisch gesträubten Schnurrbart, die Beine
gekrümmt unter der Last des Bauches, der aus den Anschwemmungen unzähliger
solcher Viehmärkte entstanden war, und schaute erhaben auf das Getümmel der
Spreewaldbauern und der in ihrer bunten Tracht erschienenen Bäuerinnen, die mit
kundigem Griffe die Wampe einer Kuh oder eines Öchsleins befühlten. Herrlich
anzusehen war besonders eine stattliche Vierzigerin in rotem Rock, schwarzem Sammet-
Mieder und blauseidnen, bis auf die Achseln reichenden, weit vom Haar abstehenden
Kopfschmuck, der in schweren goldnen Fransen endigte. Größer noch als in der
Oberstadt war das Getöse in den untern um das alte Lynarsche Schloß herum
liegenden Straßen, wo die Pferde seilgehalten wurden, meist Füchse und Rappen,
mittelgroße, teilweise sehr zierliche, feinfüßige Tiere. Trotz der Enge der Straßen
wurden die Tiere an der Trense dem Käufer im Trabe vorgeführt, sodaß aller¬
orten eilige Hufschläge über dem holprigen Pflaster ertönten, dazwischen Kreischen
und Schreien der Weiber und Kinder: da galt es schnell zur Seite springen mitten
unter die an den Wänden angebundnen Pferde hinein, und doch ereignete sich dabei
^in Unglücksfall, das Pferd ist eben verständiger als ein Automobil. Ehedem muß
der Vetschauer Markt noch interessantere Bilder geboten haben: es soll nämlich hier
^jährlich ein großer Gesindemarkt abgehalten worden sein, bei dem die Lieberoser
Herrschaft das Vormietungsrecht hatte; bei einer andern Gelegenheit wurde all-
ehrlich auf dem Vetschauer Markt ein großer Ball des gesamten Gesindes der
Umgegend veranstaltet, zu dem einst 1080 Mägde in ihren Spreewälder Flügel¬
bänder und roten Röcken erschienen sein sollen. Der herrschaftliche Förster hatte
dabei den Vortanz, konnte ihn aber gegen einen Silbertäler an einen andern über¬
essen. Was mag da für ein Tosen und Jauchzen, für ein Dirnenschwenken und
Nöckefliegen auf dem Vetschauer Markte geherrscht haben, wenn der Förster in
grüner Pikesche mit der seidenbebänderten Obermagd aus dem Schlosse zum
ersten Reigen antrat, und die langkittligen, buntwestigen wendischen Musikanten
un't Fibeln und Brummbaß, mit Klarinetten und dem besonders beliebten Dudelsack
aufspielten!
Aber die Zeiten solcher buntbewegten frohen Volksfeste liegen weit hinter
uns — wir mußten froh sein, daß wenigstens der Viehmarkt dem stillen Städtchen
etwas Leben verlieh. Dieser warf seine Wellen weithin. Auch die nordwärts von
Vetschau in den eigentlichen Spreewald führende Straße war den ganzen Nach¬
mittag voll von Vieh, und als wir an dem vorläufigen Ziel unsrer Fahrt, dem
Gasthof zum schwarzen Adler in Burg, dem Hauptort des obern Spreewalds, an¬
langten, waren auch vor diesem Gasthofe zahlreiche Rinder und Rosse angebunden.
Drinnen saßen die neuen Besitzer und beredeten ihren Handel in einen? interessanten
Gemisch von Wendisch und Deutsch. Deutsch waren die technischen Ausdrücke, die
Rassenbezeichnungen, deutsch vor allem die eingestreuten Flüche. Das schwarze ein¬
heimische Bier stand vor den Zechern in großen bauchigen Humpen, aber es wurde
nur gegen den ersten großen Durst, weiterhin, wie ich es einst in Schweden ge¬
sehen hatte, nur anstandshalber getrunken; beliebter war die daneben stehende kleinere
Rasche voll Schnaps. Der Spreewälder, sonst ein braver und biedrer Mensch,
huldigt dem Laster des Branntweintrinkens in nicht unbedenklicher Weise; auch zum
Trost für den einsamen Heimweg ließen sich die meisten Gäste des Schwarzen
Adlers beim Abschied die Schnapsflaschen noch einmal füllen.
Natürlich war in Vetschau nicht lauter Edelware gekauft worden. Einer hatte
einen alten, auf den Vorderbeinen etwas struppierten Fuchs erstanden — wir
gingen mit ihm aus dem Kruge fort —, aber nicht lange führte er das Roß an
der Trense. Zwar war er noch dreimal älter als das Tier, aber ihn packte die
Erinnerung an jüngere Tage der Rüstigkeit, und so wollte er denn seiner Haus¬
frau hoch zu Roß entgegentraben, obwohl er weder Steigbügel noch Sattel noch
Decke zur Hand hatte. Vor einer Sägemühle lag ein Haufen Klötze — von dieser
Höhe aus versuchte der Alte, den Rücken des neuen Hausgenossen zu erklimmen,
der mißtrauisch doch geduldig mit rückwärts gewandtem Kopfe seinem Beginnen
zusah. Lange Zeit war alles Bemühen vergeblich: immer wieder rutschte der Alte
zur Seite des Pferdebauchs herunter. Endlich umklammerte er mit beiden Armen
den Hals des Tieres, und allmählich gelang es ihm, das steife Bein über das
spitzkantige Rückgrat hinüberzuschieben. Der überlistete Fuchs sträubte sich eine Weile
und manövrierte rückwärts auf einen wohlgefüllten Wassergraben zu, der Bauer
aber rief unsre Vermittlung an. Wir hinderten also den Fuchs, so gut es ging,
an seinem teuflischen Vorhaben und trieben ihn mit Händeklatschen langsam vor¬
wärts. An einer Wegbiegung verloren wir das würdige Paar aus den Augen,
aber nach einer Viertelstunde trafen wir es wieder. Der Alte war selig eingenickt,
saß aber noch immer stramm auf dem steilen Rücken des Tieres, der Fuchs ging
mit vornübergebeugten Kopfe langsam im Leichenschritt dahin, dann und wann eine
Handvoll Gras vom Wiesenrnnde rupfend — ob die beiden wohl ihre Klause noch
erreicht haben?
Die größte Sehenswürdigkeit von Burg ist der eine Viertelstunde nordwärts
liegende Burgwall, von den Einwohner» meist das Schloß oder der Schloßberg
genannt, die uralte Befestigung, die auch dem Dorfe den Namen gegeben hat. Die
ehrwürdige Anlage hat etwas gelitten, seitdem die von Kottbus über Burg nach
Lübben führende Kleinbahn mitten hindurch geführt worden ist. Aber noch immer
ist des Charakteristischen genug übrig geblieben. Das „Schloß" imponiert nament¬
lich aus einiger Entfernung — von Süden oder Norden aus, wenn man die
durch die Kleinbahn ihm eingehauene tiefe Schramme nicht sieht, und es sich als
ein Ganzes über die grüne, von Baumgruppen unterbrochne Spreeau heraushebt.
Es ist einst ein acht bis zehn Meter hoch aufgeworfner unregelmäßiger Rundbau
aus Erde und Feldsteinen gewesen, mit drei nach Osten zu vorspringenden Bastionen,
rings von Wasser umgeben; noch jetzt nähert sich ihm der Wasserspiegel bei Hoch¬
wasser auf der Südseite. Aber jahrhundertelange Verödung und noch mehr ein seit
länger als einem Jahrhundert betriebner Anbau haben die Konturen etwas ver¬
wischt und die Profile des Bodens und des Wallganges einander genähert. Die
Gräben, wenn überhaupt solche vorhanden waren, sind verschüttet, ein andrer Teil
der Erdmassen ist nach innen gestürzt, sodaß nur in der Mitte des Ganzen die
ursprüngliche Sohle des Bodens erkennbar ist. strotzende Kartoffel- und wogende
Kornfelder füllen jetzt die ganze Fläche des „Schlosses" aus.
Unter einer großen Eiche, die am Westrand des Walles gewachsen ist, steht
eine grüne, aussichtsreiche Bank. Dort saßen wir lange im Schein der Nach¬
mittagssonne und genossen den eigentümlichen Reiz der Landschaft. Über uns kreiste
ein Storch, zu unsern Füßen dehnte sich ringsum das lieblichste Bild: strohgedeckte
Blockhäuser und Scheuern, dazwischen auch einmal ein rotes Ziegeldach schmiegen
sich weitverstreut in bunter Regellosigkeit an die starken Stämme hochwipfliger
Linden und Pappeln; die grenzenden Linien, die des Landmanns Eigentum scheiden,
werden nicht von Rainen gebildet, die Demeter in den Teppich der Flur gewirkt
hat, sondern von schmalen Wasserläufen, den zahlreichen Verästelungen der Spree,
die sich weithin durch die das Naß begleitenden schlanken hochstämmigen Erlen
kenntlich machen. Auf den Feldern sind fleißige Spreewäldler beschäftigt, das Korn
noch in altvaterischer Weise mit der Sichel zu schneiden und in „Mandeln" auf¬
zurichten. Dicht vor unserm Sitz beobachteten wir drei Geschwister, einen schlanken
Burschen und zwei liebliche Mädchen, die eine in blauem, die andre in rotem Rock,
beide in schwarzen Sammetmiedern, schneeigen Hemdärmeln und stark gesteiftem
linnenen Kopfschmuck, wie sie sich alle drei in einer gewissen vornehmen Lässigkeit,
die nur dem wohlhäbigen Besitzer eigen ist, mit zierlichen und doch kraftvollen
Bewegungen bückten und hoben, sich wiegten und schmiegten, wie es gerade ihre
Arbeit verlangte. Dann kam die rüstige Mutter in dunklerer Kleidung hinzu und
leitete sänftlich das Ganze, ein herrliches Bild von homerischer Einfalt und Anmut-
Von der sonnigen Gegenwart schweifte das innere Auge rückwärts zu den grauen
Gefilden der Vorzeit. Auf dem Burger Schloßberge ist der rechte Ort, über die
Natur dieses merkwürdigen Geländes und seine Schicksale nachzudenken.
Kein deutscher Fluß kann sich an eigentümlicher Gestaltung seines Laufes mit
der lausitzisch-märkischen Spree vergleichen. Gespeist von einer ganzen Anzahl
kleinerer Quellflüsse, die ihr die reichlichen Wasser des Lausitzer Gebirges zuführen,
gewinnt sie rasch Bedeutung und macht Miene, selbständig das Gestade der Ostsee
zu erreichen. Aber nördlich von Kottbus stellt sich ihr das von der Oder west¬
wärts zum Flciming streichende sandige, kiefernbedeckte wellige Hügelland in den
Weg. Sie biegt weit nach Westen aus, und nun beginnt ein ewiges Hin und
Her des Laufes je nach der Richtung der Hügelwellen, sodaß sie sogar ein großes
Stück wieder nach Südosten fließen muß, bis endlich zwischen Beeskow und Fürsteu¬
walde eine deutliche Nordwestrichtung zum Siege kommt und damit die Elbe statt
der Oder als Ziel erscheint, das sie von Spandau an in schwesterlicher Gemein¬
schaft mit der Havel zu erreichen sucht. Oft kann sich das hellbraune, durch Torf
und Eisen gefärbte Wasser der Spree aus den breiten Niederungen, die zwischen
den Hügelwellen liegen, kaum wieder herausfinden: dann entsteh» die Seen wie
der Drahmsee bei Alt-Schadow oder der weit gewaltigere Schwieloch nördlich von
^leberose oder der Müggelsee bei Köpenick; aber die größte dieser Anstauungen
>vcir doch der See, dessen ungeheure Wasserfläche sich vom Nordabhcmge des Kott-
buser Schloßberges bis nach Lübben erstreckte, das Gebiet des jetzigen obern Spree¬
waldes. Die östlichen Reste dieses Sees sind die großen Teiche südlich von der alten
Sumpf- und Wasserfestung Penz, seine nördliche Randlinie wird bezeichnet durch
die von Lübben über Neu-Zauche nach Straupitz führende Straße, die südliche
durch die von Lübben über Lübbenau und Vetschau nach Kottbns gehende Bahn,
die einem alten von den Elbstcidten Torgau und Wittenberg zur Oder führenden
den Spreewald südwärts umgehenden Handelswege folgt. Wenn man von den
Bahnhöfen oder Bahndämmen dieser Verkehrslinie auf die Spreewaldauen nieder¬
schaut, sieht man keinen Seespiegel mehr; infolge des Anbaues und verminderter
Zuflüsse aus den Quellgebieten ist der See verschwunden; er hatte für viele Jahr¬
hunderte einem schwer zugänglichen sumpfigen Urwalde Platz gemacht. Seit einigen
Jahrzehnten ist auch dieser gefällt; grüne Wiesen und durchsichtige Erlenzüge sind
an feine Stelle getreten, aber die Spree mit ihren Hunderten von teils natürlichen,
teils künstlichen Verästelungen, die „ein so verzweigtes Geäder darstellen wie die
Venen des menschlichen Körpers," ist die eigentliche Herrscherin des Geländes ge¬
blieben. In der Urzeit ragten aus der unabsehbaren Wasserfläche nur einzelne
diluvische Inseln heraus, die sich durch Anschwemmung und Anwehung von Sand
allmählich zu dunenartigen Erhebungen vergrößerten. Auf einer solchen, dem
Lutchenberge — eine niederdeutsche Benennung von lüll klein, Berg der kleinen
Leute — liegt der Kern des Dorfes Burg (Grod); eine andre bildete den ersten
Ansatz zum Schloßberge.
Die ersten Ansiedler auf diesen und andern Inseln waren, soweit die Gräber¬
funde Kunde geben, germanische Semnonen. Größere Vronzefunde, z. B. die beiden
Bronzewagen und der Halsschmuck von Baboo (teilweise im Königlichen Museum
für Völkerkunde in Berlin), deuten auf einen Tauschhandel mit den alten Etruskern,
Münzen der römischen Kaiserzeit auf einen Verkehr mit Rom. Der Kaiser Augustus
selbst ist der gewichtigste Zeuge dafür; er erzählt in dem großartigen Rechen¬
schaftsberichte über seine Regierung, im Uonumenwm ^,ne^rg,nun, die Semnonen
und andre Germanenstämme derselben Gegend hätten durch Gesandte um seine und
des römischen Volkes Freundschaft geworben. Unter den Stürmen der Völker¬
wanderung sind die Semnonen, den suebischen Stämmen beigezählt, aus der Lausitz
verschwunden; etwa im sechsten nachchristlichen Jahrhundert rückten die Slawen in
die verlassenen Wohnsitze ein; im zehnten Jahrhundert begann die späterhin oft
wieder abgeschüttelte Herrschaft der Deutschen, unter deren ersten Trägern die
wettinischen Markgrafen der Niederlausitz Dietrich der Zweite (1034) und Dedi
der Zweite (1046 bis 1075) erscheinen. Doch war die deutsche Herrschaft lange
Zeit auf die Behauptung einiger strategisch wichtiger Punkte beschränkt. Erst
Konrad der Große, Markgraf der Lausitz feit 1136, und sein Sohn Dietrich (115V
bis 1185) konnten unter der Beihilfe von Klöstern, z. B. Dobrilugks, gestiftet 1165,
an eine wirkliche deutsche Kolonisation des Spreegebiets denken. In den nord¬
östlichen Gegenden der Niederlausitz faßte das Deutschtum erst festen Fuß nach der
Gründung des Klosters Neuzelle (1268); noch länger erhielt sich ein halb unab¬
hängiges Wendentum im Spreewalde.
Es ist gewiß eine gut beglaubigte Überlieferung, wenn der Bürger Schlo߬
berg als der Zufluchtsort des letzten wendischen Fürsten bezeichnet wird. Die noch
jetzt in Burg lebendige Sage erzählt: „Der wendische König hat auf dem Schlo߬
berge zu Burg gewohnt und war ein Räuber. Er schlug die Hufeisen verkehrt
auf, daß niemand wissen sollte, ob er heraus- oder hereingeritten war, und hatte
eine lederne Brücke, die sich von selbst hinten zusammen- und vorn wieder aufrollte.
Darüber ist er geritten; so konnten sie ihn nicht abfassen, denn damals war alles
Sumpf und Wasser. Er hatte viel Geld, darum ist der Schloßberg verwünscht
worden. Zuletzt kam ein Gewitter und erschlug den König, und das Schloß ver¬
sank. Das kann man noch sehen, denn in der Mitte ist der Schloßberg tief, und
stößt man mit einer Stange auf, so klingt es hohl. Auf dem Schloßberge ist viel
Spuk, vornehmlich nachts. Die Pferde werden scheu, denn das Tier sieht mehr
als der Mensch. Der alte wendische König reitet ohne Kopf über den Berg; es
geht immer in der Dämmerung eine Fran herum, ganz weiß gekleidet, bei Tage
schwarze Männerchen; viele Flammen sieht man, auch im Winter auf dem Schnee.
Auch eine Verwünschte ist im Berge, eine Jungfrau, die Tochter des wendischen
Königs. Sie sitzt und spinnt an einem Spinnrade und soll zwölf Hemden machen,
doch jedes Jahr bloß einen Stich, dann ist sie gelöst, dann wird alles wieder
herauskommen, der König auch."
Von dem ehrwürdigen Sitze dieses Spukes lenkten wir unsre Schritte nord¬
wärts und konnten der Versuchung nicht widerstehn, einem der schmalen, durch das
weiche Gras führenden Fußpfade zu folgen. Aber gar bald sahen wir rechts und
links von uns Wasserarme, zwischen denen ein baumbesetzter Wiesenstreifen spitz¬
winklig bis zu dem Punkte verlief, wo sich die beiden Wasserläufe verewigten;
nirgends ein Steg, wohl aber lag unter hohen Erlen und Silberpappeln einer
jener slawischen Einzelhöfe, die für diese Gegend so charakteristisch sind. Uns
reizte die Neugier, dieses Gehöft in der Nähe und womöglich auch im Innern zu
betrachten. Als wir hiuankcunen, fiel uns zunächst die Weitläufigkeit und Zertragen-
heit der ganzen Anlage auf. Während z. B. in den fränkischen und den erzgebirgischen
Walddörfern eine strenge Geschlossenheit der Siedlungen herrscht, sodaß die kleinern
Besitzer die Wohnräume, die Stallung und die Scheuer gern unter einem Dache
vereinigen, die großem ihre Gebäude möglichst eng zum eintorigen, viereckigen,
ringsummauerten Hofe zusammenschließen, bestand diese slawische Siedlung aus
sechs ziemlich weit auseinander liegenden Blockhäusern von verschiedner Größe.
Das sehr lange und schmale einstöckige Wohnhaus, hinter dem ein blumenreicher
Gartenstreifen umzäunt war, schaut nach Osten, gegenüber liegt die Scherer, an
die ein Kahnhaus angebaut ist, nach Norden zu der Stall, die Hofecken bleiben
offen, nach Süden zu aber, regellos durcheinander, das Backhaus, der Schweinestall
und der Holzschuppen. Als wir unter dem Gebell des Hundes über den freien
Raum zwischen Wohnhaus und Scheuer dahinschritten, sahen wir die lange Gestalt
des Besitzers — es war der „Ganzkossat" Markusseu-Krüger — mit einem
Eimer kristallklaren Wassers von dem Ziehbrunnen auf die geöffnete Tür des
Pferdestalles zugehn, aus dem ein herrlicher Fuchs mit rückwärtsgewandtem Kopfe
verlangend nach dem Wasser und dann wieder neugierig zu uns herüberäugte.
Markussen-Krüger blieb stehn, stellte den Eimer hin, streckte uns beide Hände entgegen
und rief, indem er uns mit seinen blauen Augen lächelnd betrachtete, fast in einem
Atem: „Was bringt ihr mir, wo kommt ihr her, um wen trauert ihr?" Wir
gaben ihm die verlangte Auskunft, aber er hatte, wie ein Mann, der nur selten
mit Fremden spricht, schon wieder eine ganze Reihe andrer Fragen bereit: nach
unserm verstorbnen König Albert, der ihm als Kriegsmann bekannt war, nach den
klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen unsrer Heimat, die er nur vom Hören¬
sagen kannte. Unterdessen kamen die Kinder herbei und gaben uns der Reihe nach
still die Hand. Sie konnten nicht mit uns sprechen, weil sie im Deutschen noch
nicht genügend fortgeschritten waren, auch der neunjährige Knabe nicht, der seit
drei Jahren die Schule besuchte — ein sonderbarer Eindruck mitten im Deutschen
Reiche, noch sonderbarer, wenn man erwägt, daß die Ahnen unsers Markussen-
Krüger vor hundertundfunfzig Jahren Deutsche waren. Denn wie sein deutscher
Name andeutet, entstammt er wohl einer jener Kolonistenfamilien, die Friedrich
Wilhelm der Erste oder Friedrich der Große im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts
hier angesiedelt haben. Namentlich ausgediente Soldaten wurden unter diesen
beiden Herrschern im fiskalischen Walde dieser Gegenden gegen geringen Erbzins
mit Land versorgt, wenn sie eine Holzbude herbeibrachten und an passender Stelle
aufschlugen. Sowie nach der ersten Nacht, die sie auf dein neuen Grunde ver¬
acht hatten, der Rauch aus ihrer Hütte emporstieg, galten sie als Besitzer des
okkupierten Bodens.
Später (1765) wurden insbesondre böhmische, schlesische und sächsische Weber
»"t je achtzehn Morgen Wiesen- und Waldland in dem Teil des weitverstreuten
Orts Burg, der südlich von der Mühlspree liegt, angesiedelt, damit nach den Grund¬
sätzen des Merkantilismus etwas Industrie in diese rein landwirtschaftliche Gegend
käme. Der Staat baute diesen Webern sogar eine Leinwandbleiche am Nordrande
ihrer Kolonie. Aber im Zeitalter der Maschinen verfielen die Webstuhle, und aus
der Leinwandbleiche wurde längst der Gasthof „zur Bleiche," aus den Webern
wurden kleine Landwirte und Bootführer. Vor allem aber haben die eingewanderten
deutschen Familien der Kaupergemeinde und der sogenannten Kolonie im Laufe der
Zeit durch Verschwägerung mit den überwiegenden Wenden ihre deutsche Muttersprache
so Verlernt, daß heutzutage sogar ein „Krüger" erst in den höhern Klassen der
Volksschule sich wieder einigermaßen deutsch ausdrücken kann. Das ist sehr lehr¬
reich. Es erklärt so manchen auffallenden Prozeß von Slawisierung in unser«
Ostmarken, es erklärt aber auch, warum so manches von deutschen Bauern ge¬
gründete mittelalterliche Dorf einige Generationen später unter slawischen Namen
erscheint. Unser Markussen-Krüger hatte seine Umformung in einen echten Deutschen,
wie er selbst erzählte, erst während seiner militärischen Dienstzeit durchgemacht.
Mit Stolz zeigte er uns, als wir ihm ins Wohnhaus hinein folgten, die weiß-rote
Mütze der Gardekürassiere, bet denen er vor zwanzig Jahren eingetreten war.
Die Wände der Wohnstube wiesen keinerlei Schmuck auf außer zwei Bildern,
die auffallenderweise nichts Preußisches darstellten, sondern Napoleon inmitten der
alten Garde bei Waterloo und den Kaiser Franz Joseph von Osterreich. Daß
aber sein Anwesen selbst ein schönes Bild abgebe, das wußte Markussen-Krüger wohl,
denn er erzählte, daß jedes Jahr mehrere „Photographisten" kämen, um es abzu¬
nehmen. Das bedeutendste Gerät der Wohnstube war der große Kachelofen mit
der Ofenbank, doch waren hier und da im Hause auch noch ältere Kamine erhalten.
In merkwürdigem Gegensatze zu der offenbaren Wohlhabenheit des Besitzers stand
die primitive Einrichtung der Schlafräume: nur für die Eltern war ein breites
Ehebett vorhanden, die Kinder schliefen in Bettkisten, die flach auf dem Fußboden
standen. Und doch war noch eine schöne altertümlich bemalte Bettstelle vorhanden,
aber sie stand unbenutzt auf dem Oberboden des Hauses. Dort sahe» wir auch
buntbemalte Truhen und Kleiderschränke; in diesen nahmen die zum Sonntagsstaat
gehörenden, mit Watte gesteifter Weiberröcke den größten Raum ein. Reichliche
Nachsbündel hängen an Pflöcken, Spinnräder stehn darunter. Sie werden im
Winter hervorgeholt — und wenn dann der Sturm in den leeren Wipfeln der
Pappeln und Erlen braust und die dicht fallenden Schneeflocken den Verkehr von
Gehöft zu Gehöft erschweren, dann ist wohl der große Kachelofen der Wohnstube
mit dem knisternden Erlenscheit der ideale Mittelpunkt der Familie — vor ihm
dreht sich „um die schnurrende Spindel der Faden," und die Kinder tröstet in ihrer
Vereinsamung das träumerische slawische Lied der spinnenden Mutter.
Wenn draußen die Natur schlummert und die ländliche Arbeit ruht, dann ist
die Zeit, wo die Geister der Vergangenheit aufwachen. Besonders zu der Zeit der
Jahreswende kehren die alten Götter auf einige Zeit zurück: dann schwirren unter
dem jungen Volk, das zur „Spinte" geht, die Sagen vom Nux und vom Bub,
vom Schlangenkönig und von der todbringenden Mittagschleiche, der Frau Pschesponiza.
Aber auch im Spreewalde ist der alte Volksgeist unter dem Einflüsse des Fremden,
des Großstädtischen im Absterben begriffen; glücklicherweise hat vor einem Viertel¬
jahrhundert ein kundiger, dichterisch empfindender Mann, Willibald von Schulenburg,
alles aufgezeichnet, was davon noch lebendig war. Er hat noch Leute gekannt, die
in einer von fremden Einflüssen kaum berührten Vergangenheit wurzelten, z. B. den
alten Fischer Kilo Park, von dem er, ein Meister der Schilderung, folgendes be¬
richtet: „Es war an einem schönen Sommerabend, als ich durch Busch und Wiesen
heimkehrte und vor mir ein graues Männchen über den Weg streifen sah, dem
gleich Flügeln die Bogen eines Kreuzhamens von den Seiten abstanden. Ich
winkte ihm, er blieb steh», und ich brachte eine Skizze desselben flüchtig zu Papier.
Dann wünschte ich ihm: clobr? v^aeor (guten Abend) und folgte durch das feuchte
Gras, durch Wiesen und Weidengebüsch. Zuletzt kamen wir an ein Wasser und
gingen über den schwankenden Steg. »Hier wohne ich«, sagte das absonderliche
Männchen und wies auf das dichte Blättergrün. Ich konnte kein Haus sehen,
aber bald standen wir vor einem uralten Hüttchen, versunken in die Erde, mit
schiefen Wänden und mit Schilf umstellt. Gebückt folgte ich jenem auf den Flur,
in dessen Ecke ein Baumstamm mit Kerben lehnte, die Treppe zum Boden. Durch
die kleine Tür traten wir in die vor Alter geschwärzte Stube mit ebensolchen
Schemel und Tischchen, die neben dem Bette und altertümlichen Ofen nur wenig
Raum auf dem dunkeln Lehmestriche ließen. Noch schmückten das Tellerbrett und
ein Schränkchen mit der Bibel die Wand. Hastig trat der Alte an den Tisch,
ergriff einen Spaten und preßte mit dem Griffe unter Schmerzen seine Brüche in
den Leib. Dann schlug er Feuer, stülpte die Buschka über die Pfeife und sprach:
»Jetzt, Herr, laßt uns reden.« Eine so geheimnisvolle, halb unterirdische Existenz
wie der alte Kilo bildet die Brücke zu den Vorstellungen des Volkes von den
Lutchen, die ehedem die Gegend von Burg bewohnten, Leutchen, so groß wie eine
Kleiderbürste, die in backofenartigen Höhlungen und Erdlöchern wohnten. Der Ur¬
großvater und die Großmutter haben sie noch gesehen und mit ihnen gesprochen.
Sie waren Heiden und Zauberer — und konnten keine Glocken und keinen Gesang
vertragen. Wenn sie starben, verbrannten sie die Leichen und taten die Knochen
in die Erde. Dabei hielten sich die Nächsten aus der Freundschaft die Tränen¬
näpfchen unter die Augen und fingen darin die Tränen auf und setzten sie um die
großen Töpfe herum. Wie die Glocken kamen, haben die Lutchen »Vergang ge¬
nommen«, krochen in ihr Geschirr hinein und sind darin gestorben. Die im Schlo߬
berge liefen zusammen und sagten:
?v brmndiM IgUl alö »voeu,
mu«z^n^ »SW ng »ovo,
(Die Brumbaken kommen in die Welt,
Wir müssen jetzt aus der Welt.)
Mancher wendische Fischer nach Kitos Art ist wohl selbst zur mythischen Figur ge¬
worden wie Krepel aus Leipe, der fischte mit einem kleinen Kahne von Erlenholz.
Da erhob sich ein Wirbelwind, ergriff ihn und fuhr mit ihm in die Höhe bis an
den Himmel hinan und stieß mit dem Kahne an den Himmel. Und da frug unser
Herrgott: (Mo tam jo, wer ist da? — ^rjvpjel 2 I^jW'ox, Krepel aus Leipe."
Schulenburg klagte im Jahre 1880 mit Recht darüber, daß der natürliche
Auflösungsprozeß, dem das alte Volksleben des Spreewaldes unterliegt, noch be¬
schleunigt werde durch polizeiliche Verordnungen, dnrch die eine Menge harmloser
Sitten und Gebräuche, die ein Band mit der Vergangenheit knüpften, verboten
worden sind. Solche durch das Alter geweihte Gebräuche des Landvolkes, sagt er,
wie die Spinten, die Holzabende, Mummenschanz, Zampereien und ähnliche Zusammen¬
künfte der Jugend sollte mau eher begünstigen als verbieten. In ihnen wurde
eine feinere Umgangsweise als sonstwie gepflegt, in ihnen der Geist der Dichtung
von Geschlecht ans Geschlecht vererbt. „Gegen den jammervollen und volksver-
nichteuden Branntweintrunk ist gerade das gesellschaftliche Zusammenleben mit den
Frauen und Mädchen das beste und einzige Mittel und wiederum die gemeinsame
Spinte die beste Gelegenheit. Was sonst an langen Winterabenden in bläulichem
Dunste die Schenken füllt und mit wüstem Gebrüll die Karten ans den Tisch haut,
mit Branntwein das Hirn verbrennt und mit Messern die Schädel zerschlägt, das
gewöhnt sich in Spinnstuben an feineres und geordnetes Verhalten, um meist früh¬
zeitig in einer glücklichen Ehe sein Los zu sichern." Das sind beherzigenswerte
Worte, die nicht nur für den Spreewald gelten. Ich kann Schulenburg aus
'»einer Erfahrung im sächsischen Erzgebirge nur zustimmen: wo noch ein Rest der
nider Spinnstuben oder des gemeinsamen Strohflechtens das Zeitalter Polizeilicher
und pastoraler Verfolgung überdauert hat, erweist er sich als ein Hort feinerer
Gesittung.
Bei sinkender Sonne machten wir noch einen Gang in die westlich vom
eigentlichen Dorf liegende Kolonie Burg und zum Gasthof „zur Bleiche." Da es
Sonnabend war, langten noch immer Boote aus Lübbenan an, gefüllt mit Fremden,
die am folgenden Tage den berühmten Burger Kirchgang sehen wollten. So saß
denn die alte Gaststube der Bleiche voll von schmalschädligen, wendisch aussehenden
Fährleuten, draußen aber im Garten und in der Veranda drängten sich elegante
Damen und Herren aus Berlin und Dresden und andern Großstädten. Unver¬
geßlich ist mir der Rückweg in unser Quartier durch die linde Sommernacht, die
der Wirkung des eigentümlichen Geländes auf deu Menschen fast noch günstiger ist
als der helle Tag. Über eine „Bank," d. h. über einen hohen steilen Steg „im
rohesten Rialtostile," unter dem die Boote hinwegfahren, gelangten wir auf das
rechte Ufer der Mühlspree und gingen nnn unter uralten Erlen zwischen hohen
bedanken Grashalmen einen schmalen Pfad hin, an schweigenden Siedlungen der
Menschen vorüber — hier und da schlug ein Hund an — sonst war es still.
Wir Modernen zogen furchtlos durch die Nacht, aber der echte Spreewälder hat
zu solcher Stunde seine Gesichte. Da huscht das Irrlicht über die Wasserspiegel
hin und her. oder es hängt oben im phantastischen Gezweig der alten Weide, oder
der Kobud (Kobold) wandert an finstern Stellen neben ihm. Jeder spricht davon
in seiner Sprache. Der junge Goethe sagt:
Der Spreewälder erzählt: „Einer ging einmal nach der Mühlspree. Da schritt
ein altes Männchen nebenher, das war erst ganz klein, wuchs immer mehr und
ragte zuletzt bis zur halben Dachhöhe. An der Brücke huschte es wie eine Gans
übers Wasser, wurde ein Ungeheuer und fletschte ans der andern Seite mit großen
Zähnen."
Als wir ganz nahe an den Fluß kamen, genossen wir ein wunderbares
Schauspiel: abwärts lag noch die orangene Glut der letzten Abendröte im Wasser,
und aufwärts schon das silberne Licht des Mondes, das in langgezognen Tropfen
durch das dichte Geländ niederglitt — kein Laut des Lebens ringsumher — nur
dann und wann zog ein Wasserkäfer seine Kreise über die silberne Fläche. Lange
standen wir still unter dem Zauber dieser Mondnacht. Dn tönte plötzlich von fern
ein leises Plätschern zu uns heran — es kam näher und rührte von sechs Booten
her, deren Insassen eine Mondscheinpartie nach der Kanomühle machten, junge
Damen und Herren ans Kottbns mit ihren Eltern. Aber auch sie waren von
der sanften Herrlichkeit der Szenerie so ergriffen, daß jeder übermütige Scherz
verstummt war und sie uns mir durch Winter und geflüsterte Rede zur Mitfahrt
aufforderten. Wir konnten leider der Lockung nicht folgen, da wir des Schlafes
bedürfte». Und so sahen wir den geräuschlos dahinziehenden Kähnen noch lange
sehnsüchtig nach, bis das Ruder des letzten noch einmal silbern aufleuchtend unter
der „Bank" verschwunden war.
Unsre wohlverdiente Nachtruhe fanden wir im Landhause eines Fuhrwerks¬
besitzers in einem Zimmer mit so blütenweißen Betten und so sorgfältiger, blitz¬
saubrer Ausstaffierung, daß wir uns förmlich bemühten, die Harmonie des Ganzen
durch unsern Aufenthalt möglichst wenig zu stören. Dieses Haus steht im Ver¬
hältnis einer Dependame zum „Schwarzen Adler," dem besten und stimmungs¬
vollsten Spreewaldgasthofe, den ich kennen gelernt habe. Er leistet sein Höchstes
in dem berühmten Abendessen: Hecht mit Spreewaldsauce — aber auch das Kaffee¬
stündchen in dem anmutigen Garten war sehr behaglich. Der Hauptreiz eines
Sonntagmorgens in Burg besteht in der Beobachtung des Kirchgangs der Spree¬
wälderinnen — die Männer haben leider die Volkstracht abgelegt —, bei dem die
bunteste» Geheimnisse der Truhen und Schränke, aber auch viel natürliche Anmut
und Lieblichkeit zur Entfaltung kommen. Lange vor Beginn des Gottesdienstes
stellen sich die ankommenden Frauen und Mädchen, die teilweise einen zwei¬
stündigen Weg zurückzulegen haben, auf dem geräumigen Platze vor und neben der
Kirche auf.
Es ist bekannt, wie sich ihre weitgespreizte, aber im ganze» doch nicht un¬
schöne Tracht, die den- Gange etwas sanft Wiegendes verleiht, nach Alter, Stellung
und Besitz unterscheidet. Gemeinsam ist alle» eine gesunde Farbenfreudigkeit, die
sich an gelben und roten, grünen und blauen Lichtern nicht genug tun kann.
Am auffallendsten ist das Abzeichen der Braut und der Brautjungfer: die
breite, steife, vielfältige weiße Halskrause, auf der der sauber gezopfte, weißhäubige
Kopf zu schwimmen scheint. Während sich die weniger bunt gekleideten Mütter
besonders auf dem Vorplatze der Kirche ihr Stelldichein gaben, sammelten sich die
buntem Scharen der Mädchen links von der Kirche vor einem kleinen Kramladen.
Sie wissen wohl, daß sie der Mittelpunkt des Interesses der Hunderte von Fremden
sind, und tragen meist ein selbstbewußtes, aber sehr zurückhaltendes Wesen zur
Schau. Endlich ziehen sich die Scharen der Kirchgänger in das Gotteshaus hinein.
Die Neigung der Wenden zu buntem Flitterstaat überträgt sich sogar auf dieses;
wir fanden es mit auffallend geschulteren Guirlanden aus buntem Papier nach allen
Richtungen hin durchzogen. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt, das
ganze Schiff ist voll Frauen und Mädchen, und wenn sie sich nun andächtig über
das Gesangbuch beugen, so sieht man von ihnen nichts als lange Reihen weißer
Hauben, ein sonderbarer und doch feierlicher Anblick.
Unterdessen hatte unser schon tags zuvor gedungner Fährmann, ein älterer
Wirtschaftsbesitzer aus Burg, das Boot zur Wasserfahrt gerüstet. Wir wollten das
verschlungne Geäder der Spreearme gründlich kennen lernen und deshalb auf
großen Umwegen mitten durch die einsamsten Partien des Waldes nach Lübbenau
vordringen. Die Boote, die dazu verwandt werden, sind sehr flach, weil die
Seitenkanäle oft recht seicht sind. Man sitzt aber doch auf der lose über die Boots¬
ränder gestellten zweisitzigen Bank leidlich bequem, während der Fährmann im
hintern Teile des Kahnes aufrecht stehend ihn mit einem leichten Ruder bewegt
und lenkt. Die schöne Körperhaltung der Spreewälder soll eine Folge dieser
Gewohnheit sein. Die fünf- bis sechsstündige Fahrt bringt uns an interessante
Einzelsiedlungen der Gemeinde Burg und später der Kauperkolonie (Kaupe — eine
Erderhöhung, auf der ein Gehöft gebaut ist); statt der Straße führt ein Wasser¬
arm auf den Hof, nahe bei der Haustür, oft auch unter der übers Wasser gebauten
Scheuer liegen die Kähne — hier und da stehn kleine Mädchen in Spreewälder¬
tracht am Ufer, Teichrosen in der Hand, die sie auf einen ermunternden Zuruf
der Bootsinsassen in den Kcihn werfen, wofür man mit einer kleinen Münze dankt.
Es kam auch eine Stelle, wo unser Boot, weil das Wasser abfiel, unweigerlich ini
Sande festsaß, aber da waren hilfreiche Jungens zur Hand, die es, bis zum Ober¬
schenkel im Wasser stehend, über die kritische Stelle hinwegschoben, bis das Fahr¬
wasser wieder tiefer wurde.
Ungefähr in der Mitte unsrer Fahrt lag das Forsthaus Eiche in der Nahe
einer Stelle, wo die drei Kreise Kalau, Kottbus und Lübben zusammenstoßen. Hier
kamen wir also aus altbrandeuburgischem Gebiet (Kreis Kottbns), zu dem z. B.
das Dorf Burg gehörte, wieder auf solches, das bis 1815 kursächsisch gewesen
War. Aus dem Forsthause ist im Laufe der Zeit ein wohlbewirteter Gasthof ge¬
worden. Ganz besonders schön ist der begleitende Erlenwald zwischen Eiche und
^anomühle, obwohl die Raupen auf einigen Strecken das Land abgefressen hatten.
Dafür gab es eine andre Plage nicht, ans die wir uus mit Ernst und Eifer ge¬
ästet hatten: die Mücken. Namentlich der Apotheker in Großenhain hatte unser
Gewissen in dieser Hinsicht geschärft: er hatte uns nicht nur eine Tinktur gegen
den Spreewalder Mückenstich gegeben, sondern auch eine prophylaktische Salbe, mit
der wir Hände, Stirn und Wangen bei der Annäherung des bösen Feindes ein-,
reiben sollten. Das Zeug stank mörderlich nach Nelken- und Lorbeeröl und tötete
alle bessern Geister unsers Rncksacks, aber keine Mücke ließ sich sehen, der kühle
Sommer hatte die ganze Brut vertilgt.
Bei der Kanomühle passiert das Boot eine Schleuse und nähert sich dann
durch große, waldumsäumte Wiesenflächen, auf denen die Heuschober getürmt wurden,
der Wotschvfska; so heißt eine alte erinnernngsreiche Eiche, in deren Schatten ein
anmutiges Wirtshaus oberbayrische» Stils mit großem Garten den Fremdling zur
Rast lockt. Hier erreicht das Betreibe der ankommenden und abfahrenden Boote
den Höhepunkt. Sie sind meist von Berlinern besetzt, die der sonntägliche Früh¬
zug nach Lübbenan gebracht Hot. Ihre wohlberechtigte Freude darüber, daß sie
dem dumpfen Häusermeer einmal entschlüpft sind, paart sich mit dem Bedürfnisse,
ihre spezifische Intelligenz vor den Nichtberlinern leuchten zu lassen, und so gleicht
denn die schmale Wasserstraße zur Wvtschofska einer großen Lästerallee, in der man
alle Spielarten des Berliner Witzes Von einer liebenswürdigen Anzapfung im
Vorbeifahren herab bis zur derbsten Schnoddrigkeit ebensogut studieren kann wie
in der Hasenheide.
Nach der Wotschvfska ist der Glanzpunkt der Fahrt das Dorf Lehde. ein Klein-
Venedig ins Urwaldliche übersetzt, wo jedes Hans auf einer Insel liegt, und sogar
der Schulweg im Kahn zurückgelegt wird. Hier sahen wir auch die echten land¬
wirtschaftlichen Erzeugnisse des Spreewaldes: ganze Kähne voll Meerrettich. Mohr¬
rüben und Gurken. Manch liebliches Bild zog an uns vorüber — ein kleiner
Blondkopf heulte am Ufer, weil ihm der Kahn fortgeschwommen war, in dem er
die Großmutter besuchen wollte; zwischen zwei riesigen Linden vorm Hause saß
eine Wendin in der hellen Nachmittagssonne und besserte Fischnetze aus. Wunder¬
voll sind die wechselnden, kulissenartigeu Prospekte der wassererfüllten Dorfstraße.
Endlich gleitet das Boot am Parke des Grafen Lynar vorüber in den reich be¬
lebten Gondclhafen des Städtchens Lübbenan. Es bietet wenig Merkwürdiges; aber
am Nordende des Ortes steht noch die kursächsische Postsäule mit der Inschrift:
Nach Dippoldiswalde 28, nach Töplitz 34 Stunden. Wie lauge ist es doch her,
daß diese Verbindung für Lübbenau von Wichtigkeit war! Sonst habe ich nnr
wenig Spuren der sächsischen Vergangenheit in Lübbenau wahrgenommen: die kur¬
sächsische Zeit ist hier wie im ganzen Spreewalde fast vergessen.
Dafür ist die Gestalt des Alten Fritz um so lebendiger. Das kommt wohl
daher, daß gerade in diesen Gegenden schon im achtzehnten Jahrhundert die
kolonisierende Tätigkeit der preußischen Könige das Wenige, was von Sachsen aus
damals in dieser Richtung geschah, bei weitem überstrahlte. In Schulenburgs
Sagenbuche kommt der sächsische Kurfürst uur zweimal vor, einmal als „der Starke
aus Sachsen," das andremal ohne Namen. Diese letzte Geschichte unter dem Titel
„Die Leiper und der sächsische Kurfürst" ist für beide Teile nicht eben ehrenvoll;
sie zeigt die unverstcmdne Dörflichkeit dieser Hinterwälder im Gegensatz zu der
volksfremden Eleganz des sächsischen Hofes. Sie lautet: „Der sächsische Kurfürst
besuchte mal den Grafen in Lübbenau, und die Untertanen sollten die Feste mit¬
feiern. Auch die Leiver kamen und standen da in ihren braunen Kappen und
Bärenmützen, jeder Mann mit seiner Frau uuter dem Arme. Wie nun der Kur¬
fürst herangaloppierte und die Musikanten spielten, fingen die Leiper an zu tanzen.
Da fragte der Kurfürst: »Was sind das für Leute?« und gräfliche Hoheit ant¬
wortete: »Das sind die Leiper ans dem Spreewalde.« Da sagte der Kurfürst:
»Das sind rechte pohlsche Ochsen.« Wie die Leiper nach Hause kamen, fragten die
andern: »Wie war es denn?« »Na, sagten die, etliche bissen die Stöcke von der
Seite, andre von der Quere und am Ende, und der Kurfürst ging immer mit
einem Schimmel auf die Quere. Solche Ehre haben wir uns da geholt.«"
Es war eine merkwürdige Fügung, das; die Grundherrschaft über die kur¬
sächsischen Spreewälder im sechzehnten Jahrhundert auf eine italienische Adelsfamilie
überging. Graf Rochus zu Lynar, genannt nach dem zerstörten Schlosse Limari
bei Florenz, erst in französischen Kriegsdiensten, siedelte bei Beginn der Hugenotten¬
kriege, da er selbst Protestant geworden war, nach Sachsen über und wurde 1570
demi Kurfürsten August Obcrartilleriemeister und Befehlshaber der Festungen, später
trat er in brandenburgische Dienste und starb 1596 in Spandau. Von ihm stammt
das noch heute blühende Geschlecht der Grafen und Fürsten Lynar in der Nieder¬
lausitz. Das Volk war geschäftig, deu Ursprung des Geschlechts, das eine Schlange
im Wappen führt, von dem sagenhaften Schlangenkönig abzuleiten. Die Lynars
gelten dem Volke noch heute als die Nachfolger des wendischen Königs — und
in gewissem Sinne sind sie es auch.
Leiter ging der Sommer. Der Juli halte heiße Tage gebracht, und
wer kühl auf dem Lande wohnte, gedachte mit flüchtigem Mitleid
!der arme» Städter, die in ihren Steinhäusern fast erstickten. So
! wenigstens ging es Wolf Wolffenradt. Wenn er in den kühlen
Zimmern seiner Schwester saß oder im Kreuzgang auf und nieder
!ging, dann glitt hin und wieder ein Gedanke an Elisabeth und die
Kinder durch seinen Kopf. In Hamburg war es heiß. Elisabeth schrieb in jedem
Briefe davon. Es tat ihm sehr leid, und er hätte ihr gern frische Luft gesandt.
Aber am Tage mußte auch er im heißen Postamt sitzen und langweilige Arbeit
tun, damit tröstete er sich, und es rührte ihn, daß er doch für Frau und Kinder
arbeite. In der letzten Zeit hatte er allerdings immer seltner an seine Familie
gedacht. Je länger er im Kloster Wittekind und mit vornehmen Damen verkehrte,
desto klarer wurde es ihm, daß er niemals wieder in die Paulinenterrasse zurück¬
kehren konnte. Wie es mit ihm und Elisabeth werden sollte, wußte er nicht. Er
wollte auch nicht darüber nachdenken und ließ sich vom Leben treiben.
Das Kloster hatte einen Rendanten, der die Geldgeschäfte besorgte. Dieser Herr
war Plötzlich erkrankt und hatte in ein Bild reisen müssen. Da wandte sich die
Äbtissin an Wolf mit der Frage, ob er geneigt wäre, einige laufende Geschäfte zu
übernehmen. Wolf nahm dieses Anerbieten gern an. Die Post konnte, wie sein
Direktor etwas spöttisch sagte, ihn wohl auf einige Zeit entbehren, und er erhielt
eine kleine Vergütung obendrein.
Jetzt verkehrte er also von Amts wegen auf dem Kloster und hatte jeden
Morgen eine Besprechung mit der Äbtissin, hatte auch schon einige kleine Reisen
sür das Kloster gemacht und war zu der Erkenntnis gekommen, daß er für alles
"ndre besser geeignet sei als zum Postbeamten.
Heute, an einem frischen Augustmorgen, saß er im Vorzimmer der Äbtissin
und wartete. Es war noch nicht die Stunde, in der sie ihn zu empfangen pflegte,
M s ^ dachte schon daran, noch einmal wegzugehn und zu sehen, ob etwa
-"elitta sich sehen ließe, aber es saß sich zu behaglich in seinem hohen Lederstuhle,
^>d der Garten, in den er vom Fenster aus sah, war so friedlich, daß er keine
^use verspürte, sich zu rühren. Seine Gedanken wanderten aber doch zu dem
^ugen Mädchen. Sie beide waren die Fremdlinge im Kloster, und sie sahen sich
häufig. Manchmal war es Wolf, als müßte er sie lieben, als müßte sie sein
werden; dann wieder fühlte er sich von ihr abgestoßen. Sie spielte mit ihm wie
Zum Zeitvertreib, dann aber sah sie ihn wieder mit sehnsüchtigen Augen an. Und
der Sommer war heiß, und die Abende waren weich!
Wolf sah nach der Uhr. Er hörte im Arbeitszimmer der Äbtissin sprechen.
Die alte Dame hatte Besuch; sie ließ manchmal die Leute durch das an ihr
Arbeitsgemach stoßende Empfangszimmer zu sich kommen; Bittsteller, die nicht gern
durch das Vorzimmer und am Rendanten vorüber gingen und ihre Angelegenheiten
der hochwürdigen Frau Äbtissin allein vortragen wollten. Frau von Borkenhagen
War gegen diese Bittenden immer besonders geduldig, sprach lange und ihnen und
u'eß ihren Rendanten ruhigen Herzens warten.
Wolf sehnte sich nach einer Zigarre und einem kühlen Platz im Kreuzgang,
wo er zu Melittas Fenster hinaufsehen konnte. Manchmal stand sie in ihrem
^»lauernden und sah zu ihm herunter, mit ihrem strahlenden Lächeln und ihren
schimmernden Augen. Der Baron erhob sich; da klopfte es laut an die Tür, und
ein junger wenig sorgfältig gekleideter Mann trat ein.
Kann ich die Äbtissin sprechen? erkundigte er sich, ohne den Hut vom Kopfe
zu nehmen.
Sie müssen den Hut abnehmen und dann warten, bis Ihre Hochwürden Zeit
hat, lautete die scharfe Antwort.
Klaus Fuchsius sah den Herr», der ihn so zurechtwies, erstaunt an.
Wer sind Sie? fragte er.
Es ist wohl richtiger, wenn ich erfahre, wer Sie sind, entgegnete Wolf kühl.
Baron Wolffenradt war seiner Natur ucich freundlich, aber dieser Mensch,
dessen Augen ihn mit unruhig flackernden Blick betrachteten, flößten ihm Wider¬
willen ein.
Klaus lachte kurz auf. Dann setzte er sich und nahm nachlässig den Hut
vom Kopfe.
Mein Name ist Klaus Fuchsius, und ich habe in meiner Eigenschaft als Lehrer
mit der Äbtissin zu reden. Da Sie hier Kammerdiener zu sein scheinen, so wissen
Sie wohl jetzt genug.
Wolf fühlte das Blut in seine Wangen steigen. Dann sah er ein, daß er
selbst nicht freundlich gewesen sei, und nahm sich zusammen.
Mein Name ist Baron Wolffenradt.
Ach so! Klaus kniff die Augen zusammen. Von Ihnen habe ich schon gehört.
Sie lernen Postschwede. nicht wahr? Das muß leicht sein; denn Sie sind immer
hier auf dem Kloster zu finden.
Wolf antwortete nicht. Hier im Vorzimmer der Äbtissin mußte dieser junge
Mensch mit seinem dreisten Benehmen ertragen werden.
Einen Augenblick wartete Klaus, ob Wolf etwas sagen würde; als dies nicht
geschah, sprach er weiter.
Ja, es ist nett, adlich zu sein. Da fliegen einem die gebratnen Tauben in
den Schnabel. Die alten Mädchen, die keinen Mann gekriegt haben, erhalten
eine fette Pfründe, und die Männer, die nicht arbeiten mögen, bleiben dennoch
feine Herren.
Mögen Sie denn arbeiten? fragte Wolf, der den jungen Mann komisch zu
finden begann.
Klaus seufzte. Gewiß nicht! Der Mensch ist auch nicht zum Arbeiten geboren,
sondern zum Genuß. Aber unsereins muß Schuften. Ich muß fünfunddreißig Kinder
unterrichten und bekomme nur hundert Mark monatlich dafür. Das ist ein Skandal,
und die Äbtissin muß Abhilfe schaffen.
Haben Sie nicht auch freie Station?
Gewiß. Beim Oberkollegen gibts Essen und Trinken. Aber der Mann ist
ein Schubiak und gibt mir nicht einmal Sonntags ein Glas Wein. Wofür sind
denn die Reben gewachsen?
Wenn Sie älter werden und fleißig sind, kommen Sie vielleicht in die Lage,
sich Ihren eignen Wein halten zu können, sagte Wolf lachend.
Klaus warf ihm einen bösen Blick zu. Weshalb lachen Sie? Ich bin zwei¬
undzwanzig Jahre alt und habe ein Recht dazu, Wein zu trinken. Als Sie so
alt waren, tranken Sie wahrscheinlich jeden Tag Champagner und arbeiteten doch
nicht. Höchstens, daß Sie einen Rekruten prügelten. Denn Sie sind doch Offizier
gewesen, nicht wahr?
Wieder kämpfte Wolf mit aufsteigenden Zorn, aber er zwang ihn.
Sie sind schwerlich Rekrut gewesen, nicht wahr?
Ich bin dienstuntauglich.
Das ist ein Glück für die Armee; im übrigen wäre Ihnen eine militärische
Erziehung nur dienlich gewesen, junger Mann!
Empört warf Klaus den Kopf in den Nacken; aber in diesem Augenblick
steckte ein atemloses Kind den Kopf in die geöffnete Tür.
Ach, Herr Fuchsius, sind Sie hier? Herr Lehrer Schmidt sucht Sie überall!
Die biblische Geschichtsstunde hat schon lange begonnen.
Unmutig erhob sich der junge Mann.
schauderhafter Zwang! knurrte er. Dann machte er eine halb drohende Be¬
wegung gegen Wolf.
Wir treffen uns wieder, mein Herr!
Unterdessen saß die Äbtissin an ihrem mit Papieren bedeckten Schreibtisch
und sprach mit einer einfach gekleideten Frau, die sich bescheiden auf der Ecke eines
Stuhles niedergelassen hatte.
Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, liebe Iran Fuchsius. Verlieren Sie
nur nicht den Mut, und arbeiten Sie fleißig weiter, es kann noch alles ganz gut
werden, und der Klaus hat doch jetzt sein Auskommen!
Die alte Dame konnte sehr milde sprechen; Frau Fuchsius saß mit vorge¬
beugtem Kopf und hörte auf die gütigen Worte.
Hochwürden sind immer so gut gewesen, erwiderte sie, mit der Hand über
das frühgealterte Gesicht fahrend. Ja, wenn ich die Damen vom Kloster nicht
gehabt hätte, wäre ich schon lange verzagt.
Sie hatte eine müde Stimme und leicht vorgeneigte Schulter«, als trüge sie
eine große Last auf ihnen.
Ist Klaus zufrieden? fragte die Äbtissin.
Frau Fuchsius errötete. Er ist nur einmal bei mir gewesen, Hochwürden-
Damals, als er ankam, und ich ihm seine Sachen in Ordnung bringen mußte. Er
sagt immer, Moorheide sei zu langweilig. Er ist ja so furchtbar klug geworden.
Sie seufzte.
Hoffentlich kann er Sie bald etwas unterstützen, Frau Fuchsins. Zuerst hat
er hier nur einen kleinen Gehalt, aber unser Herr Schmidt, der ja sehr tüchtig
ist, wird vielleicht bald an eine größere Schule versetzt. Wenn Klaus dann nur
inzwischen sein Examen macht, hoffe ich ihn fest anstellen zu können. Oder meine
Nachfolgerin wird es tun! setzte die Äbtissin hinzu. Dann also kann Ihr Sohn
für Sie sorgen, liebe Frau.
Frau Fuchsius strich ihre reine Schürze glatt. Das wird er wohl nicht tun,
Hochwürden. Er hat andre Gedanken, und er ist so klug. Da braucht man mehr
^eit, als gewöhnliche Leute. Ich habe es auch nicht nötig. Für mich allein
^erde ich noch immer satt. Und die zehntausend Mark, die mein armer Bruder
Moorheide gesteckt hat, die kann Klaus ja doch nicht bezahlen. Ach Hochwürden,
N?"" ^ ^ ^ar tausend Mark leihen könnte, ich glaube, ich könnte
^ ^orheide uoch hoch bringen. Der Hof ist wirklich gar so schlecht nicht, und
""U guter Mann hat sich nicht so geirrt, als er ihn gern kaufen wollte. Aber
^ ist darüber weggestorben, und mein armer Bruder hat sein Geld dazu herge-
s bull niemand auch nur einen Groschen für den Hof zahlen. Des¬
halb darf ich ja dort wohnen bleiben und kann ein paar Hühner halten und Ge¬
müse pflanzen, sodaß ich nicht zu verhungern brauche. Aber wenn ich nur ein
paar tausend Mark hätte!
>;hr Gesicht war viel jünger geworden, und ihre Augen blickten nicht mehr
?o trübe. Aber die Äbtissin rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
Liebe Frau Fuchsius, ich habe kein Geld. Ich will gern etwas für Ihren
Zungen tun und habe ihn mir vom Seminar eigens ausgebeten, obgleich nicht
alle Stiftsdamen damit einverstanden waren, und ich will Ihnen eine kleine Unter¬
stützung geben, aber einige tausend Mark habe ich nicht.
Ihre Stimme zitterte, und Frau Fuchsius, die ganz von ihren eignen Ge¬
danken eingenommen gewesen war, erschrak und küßte ihr die Hand.
Hochwürden, daran dachte ich nicht. Hochwürden haben schon soviel für mich
getan, und die andern Damen auch, da werde ich doch nicht unverschämt sein
wollen. Es ist ja nur, daß ich so gern noch arbeiten möchte, und daß die Leute
letzt immer von meinem Manne denken, daß er sie um ihr Geld beschwindelt habe.
Und er hat es doch nicht schlecht gemeint. Nur daß er leichtgläubig war und
glaubte, daß alles gut gehn müßte!
Die Äbtissin beruhigte sich und entließ Frau Fuchsius freundlich, die durch
das Wohnzimmer davonschlüvfte. Herr von Wolffenradt wurde gebeten, einzu¬
treten. Mit ihm verhandelte die Äbtissin einige Angelegenheiten, und als er sich
zurückzog, trat Gräfin Eberstein ein.
Auch sie hatte eine Mappe mit amtlich aussehenden Schreiben in der Hand
und wechselte mit Wolf im Vorübergehn einige Worte.
Wie gehts, lieber Baron? Also Sie vertreten unsern Rendanten? Hoffentlich
werden Ihnen seine Obliegenheiten nicht allzu schwer!
Diese Art von Geschäften sind kinderleicht! entgegnete Wolf rasch. Der hoch¬
fahrende Ton der Gräfin ärgerte ihn.
Halten Sie sie nur nicht für zu leicht! warnte fie. Die Angelegenheiten des
Klosters müssen immer ernst genommen werden.
Mit kurzem Gruß verschwand sie im Arbeitszimmer der Äbtissin, und Wolf
mußte an Melitta denken, die ihm anvertraut hatte, daß sie Tante Betty Eber-
Iwn eigentlich nicht leiden könne. Aber ich darf es ja nicht merken lassen! hatte
sie hinzugesetzt. Sie ist ja meine Wohltäterin.
In gewisser Weise war jetzt auch Wolf von ihr abhängig, und da er wußte,
daß sie zur Nachfolgerin der jetzigen Äbtissin bestimmt sei, so mußte er sich vor¬
sichtig benehmen.
Gräfin Eberstein saß vor der Äbtissin und hielt ihr einen Vortrag über
innere Angelegenheiten des Klosters, über Verhandlungen mit der Regierung, über
Dinge, die eigentlich von der Äbtissin behandelt werden sollten, die aber Gräfin
Eberstein ihr abgenommen hatte. Denn die Äbtissin war alt, älter als die meisten
Damen dachten. Schriftliche Arbeiten und alles, was eine gewisse Lebhaftigkeit
des Geistes verlangte, wurden ihr schwer. Und Gräfin Eberstein verstand es aus¬
gezeichnet, ihr alles Schwere abzunehmen und gut auszuführen. Deshalb hätte die
Äbtissin nicht ohne die Hilfe der Gräfin auskommen können, und wenn sie auch
manchmal etwas unter ihrer Tyrannei seufzte und gelegentlich etwas tat, was die
Gräfin nicht billigte, so ließ sie sich in den meisten Stücken von ihr beherrschen.
Wie gehts Ihrer Melitta? fragte Frau von Borkenhagen, nachdem sie einige¬
mal ihren Namen unterschrieben hatte, und die geschäftliche Konferenz erledigt war.
Es geht ihr gut, entgegnete die Gräfin, sie sucht sich eine Stellung und hat
bis jetzt nichts finden können. So näht sie sich einige Kleider, läuft spazieren und
trinkt Kaffee bei den Damen, die sie einladen.
Ich würde gern etwas für sie tun, sagte die Äbtissin zögernd. Ihr vielleicht
ein Kleid schenken oder so etwas. Was raten Sie, liebe Gräfin?
Ich würde sie nicht verwöhnen, Frau Äbtissin. Sie hat Anlage zum Übermut
und muß zur Bescheidenheit erzogen werden. Sie und Klaus Fuchsins gehören
eigentlich nicht hierher.
Die Äbtissin lächelte vor sich hin. Es war ihr immer ganz ergötzlich, zu
beobachten, daß Gräfin Eberstein sich über die Anwesenheit des jungen Mannes
ärgerte und diesen Verdruß täglich aussprach. Gerade dadurch bestärkte sie Frau
von Vorkenhagen in dem zufriedner Gefühl, einmal selbst ihren Willen durch¬
zusetzen.
Wir wollen von andern Dingen sprechen, liebe Gräfin, sagte sie abwehrend.
Wenn Sie erst um meinem Platze sind, werden Sie auch finden, daß man seinen
persönlichen Empfindungen nicht immer folgen darf.
Gewiß nicht! antwortete die Gräfin kühl.
Fran von Borkenhagen kramte in ihren Papieren.
Ja, liebe Betty, manchmal kommen mir doch sehr ernste Abschiedsgedanken,
und ich freue mich, eine so gute Nachfolgerin in Ihnen zu haben. Ein Jahr noch
gedenke ich den Krummstab zu halten, dann ziehe ich ans diesem großen Hause
aus und hoffentlich in Ihre Klosterwohnung, auf mein Altenteil. Das heißt, wenn
Gott mir dann noch das Leben schenkt!
Die alte Dame sprach wehmütig, die Gräfin antwortete einige freundliche
Worte, aber sie war diese Unterhaltungen gewohnt, und sie machten ihr keinen
großen Eindruck. Noch ein ganzes Jahr warten zu müssen, ehe sie selbst zur Ne¬
gierung käme, war ermüdend genng. Die Äbtissin nahm einen Brief in die Hand.
Sieglinde Treuenfels hat mir lang und ausführlich geschrieben. Wahrscheinlich
wird sie nächstens ihre leerstehende Wohnung im Kloster beziehen und Fühlung
mit den andern Damen suchen. Mit einigen hat sie es schon getan. Ich glaube,
sie trägt den brennenden Wunsch im Herzen, Äbtissin zu werden.
Betty Eberstein preßte die Lippen zusammen, um nicht zu antworten. Die
alte Äbtissin liebte es manchmal, zu necken, und wenn sie glaubte, Gräfin Eberstein
ein wenig erziehen zu müssen, dann suchte sie ihr klar zu machen, daß sie nicht
allzu sicher auf ihre Nachfolge rechnen dürfe. Aber sobald sie merkte, daß die
Gräfin gleichgiltig blieb, lenkte sie gleich wieder ein.
Nein nein, sagte sie jetzt eifrig, Fräulein von Treuenfels muß ihren Wunsch
zu Grabe tragen. Sie ist zwar klug und sehr gebildet; aber Sie, liebe Gräfin,
eignen sich doch besser zum Oberhaupt des Klosters. Schon weil Sie allen Be¬
dingungen entsprechen, die an eine Äbtissin gestellt werden. Neulich noch sprach
ich init unsern ältesten Stiftsdamen darüber, und sie waren ganz meiner Ansicht-
Die heutige Zeit rüttelt an allem Bestehenden und an mancher alten Tradition;
darin aber sind wir Ältesten des Klosters uns ganz einig, daß eine Äbtissin, die
im nächsten Jahre gewählt werden soll, ebensowenig verlobt oder verliebt gewesen
sein darf wie ich oder meine Vorgängerinnen.
Verliebt — die Gräfin sprach das Wort unwillkürlich nach.
Die Äbtissin lachte. Sie machen ein so betroffnes Gesicht, Grafin, als ob ich
etwas Böses gemeint hätte. Ich spreche aber nnr den Bestimmungen nach, die irn
Jahre 1788 von den damaligen Obern des Klosters, dem geistlichen Inspektor, der
Äbtissin und dem gesamten Damenkonvent aufgesetzt worden sind, und darin kommt
der Satz vor, daß eine Äbtissin weder verlobt noch verliebt gewesen sein dürfe.
Verliebt — auch sie wiederholte das Wort, lehnte sich in ihren hohen Sessel zurück
und sah vor sich hin. Wenn man jung und fröhlich ist, wenn die Sonne den
ganzen Tag lang scheint — sie räusperte sich ein wenig. Wir sind alle warm¬
herzige Menschenkinder gewesen, und fern liegt es mir, irgendwie richten zu wollen.
Aber zum Beispiel Fräulein von Treuenfels ist verlobt gewesen. Nicht gerade
öffentlich — dann könnte sie niemals daran denken. Äbtissin werden zu wollen;
"ber doch in einer Weise, daß die Menschen um ihr Geheimnis gewußt haben.
Später ist die Verlobung wieder aufgehoben worden; ich glaube, der Herr war
kein angenehmer Mensch, und niemand denkt mehr an die Sache. Mir aber würde
es doch nicht in den Sinn kommen, Fräulein von Treuenfels als meine Nachfolgerin
vorzuschlagen. Sie verstehen, liebe Gräfin. Eine Äbtissin darf weder einen Mann
geküßt noch Liebesbriefe geschrieben haben. Liebesbriefe! Das ist wirklich ein
abscheulicher Gedanke. Man stelle sich vor. daß solche Briefe noch in der Welt
umherirrten oder in irgend einem Schreibtisch lägen und plötzlich an die Öffentlichkeit
gezogen würden. Eine Zeit wie die heutige hat keine Pietät, und so etwas ist
für diese Stellung undenkbar!
Die alte Dame hatte sich in Aufregung gesprochen. Sie wischte sich die
Stirn, griff nach ihrem Riechfläschchen und schloß die Augen. Draußen im Garten
lärmten die Spatzen, und eine Hummel kam durch das offne Fenster in das stille
Gemach. Laut brummend flog sie gegen die Decke und die Bilderrahmen an den
Wänden. Immer mit einem Schlag und mit verstärktem Brummen. Sie tat sich
weh in diesem Zimmer und konnte doch keinen Ausweg finden, obgleich das Fenster
weit offen stand, und draußen die Blumen des Gartens ans sie warteten.
Unwillkürlich horchte die Gräfin auf die Hummel, und dann blickte sie in den
Garten und sah auf den Rasen, wo die alte graue Sonnenuhr stand. Schon lauge
hatte die dort gestanden, und auf ihren: Zifferblatt war mit Messingbuchstabeu ein¬
gelassen: „Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott." Es war der Gräfin.
°is flimmerten die blanken Buchstaben vor ihr auf und nieder. Aber dann schüttelte
sie wie unwillig den Kopf und stand auf, um sich zu verabschiede,,.
Wir haben wohl alles Geschäftliche erledigt, Frau Äbtissin, sagte sie kühl.
Die alte Dame strich sich die weißen Söckchen aus der Stirn. Alles, erwiderte
sie. Nein, verlobt darf man nicht gewesen sein, Gräfin. Sie waren es doch
°und nicht?
Natürlich nicht. Frau Äbtissin!
Das war das letzte Wort, und Betty Eberstein ging langsam durch den Kloster¬
park in ihre Wohnung.
Fräulein Asta von Wolffeuradt war in dieser Zeit außerordentlich verstimmt
und traurig. Das kam daher, daß es ihr schwer wurde, sich Gräfin Betty Eber¬
stein als ihre zukünftige Äbtissin zu denken. Sie hatte sich selbst nicht gestanden.
Wie sehr sie in ihrem Herzen darauf gerechnet hatte, diesen Platz einzunehmen, wie
sie seit Jahren mit dem Gedanken beschäftigt gewesen war und es für ganz selbst¬
verständlich gehalten hatte, daß ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Nun merkte sie,
daß kein Mensch an sie gedacht hatte, und daß Gräfin Eberstein schon längst für
die Würde bestimmt war. Das Wunderliche dabei war, daß keine der Damen
Betty Eberstein besonders liebte. Dazu war sie nicht liebenswürdig genug, und
manche der Konventualinnen litt unter ihrem bestimmten, hochfahrenden Wesen.
Gerade diese Eigenschaften waren es aber gewesen, die ihr die Anwartschaft auf
die Stellung verschafften. Wo andre bescheiden zurücktraten, da drängte sie sich
vor, und von dem Augenblick an, wo sie in das Kloster eingeführt worden war,
hatte sie sich vorgenommen, die höchste Würde für sich in Anspruch zu nehmen.
Es war auch niemand andres da, der ihr den Platz streitig gemacht hätte. Die
meisten Stiftsdamen scheuten die Würde des Amts, die ja manche Bürde mit sich
brachte, und es war ihnen angenehm, jeglichen Nachdenkens über eine Nachfolgerin
für Frau von Borkenhagen enthoben zu sein.
Nur Asta Wolffenradt grämte sich heimlich und bereute es bitter, die ersten
Jahre ihrer Stiftsdamenschaft nicht in Wittekind, sondern auf Reisen und auf der
Wolsfenburg verlebt zu haben. Dadurch hatte Betty Eberstein die Vorhand be¬
kommen, und es war klar, daß sie sie behalten würde. Frau von Borkenhagen
stand ganz unter ihrem Einflüsse, und so lange die Äbtissin lebte, hatte sie zu be¬
stimmen.
Asta war mit diesen Dingen so beschäftigt, daß sie für Wolf wenig Gedanken
hatte. Sie freute sich, daß er eine Beschäftigung auf dem Kloster habe, und daß
sie ihn dadurch öfters um sich hätte als vorher; aber sie hatte es aufgegeben,
über Scheidung und von ihrer Freundin, Frau von Mcmska, zu sprechen. Er
mußte selbst wissen, was er zu tun hätte. Daß Melitta Hagenau noch im Kloster
war, und daß Wolf etwas Unterhaltung durch sie hatte, war ihr ganz recht. Daß
Melitta ihrem Bruder gefährlich werden könnte, fiel ihr nicht im Traum ein.
Wenn er bei ihr war, betrachtete er jedesmal Frau von Manskas Bild und fragte
nach ihr; so dachte sie, diese Angelegenheit würde sich vielleicht doch noch zur Zu¬
friedenheit erledigen.
Gräfin Eberstein war weniger zufrieden, daß sie Melitta Hagenau noch immer
beherbergen mußte.
Vier Wochen sitzt sie nun schon bei mir herum und hat noch immer keine
Stellung, sagte sie zu Fräulein von Wolffenradt.
Die Damen hatten sich im Klosterpark getroffen und gingen unter den großen
Bäumen auf und nieder.
Vier Wochen ist doch keine lange Zeit, entgegnete Asta.
Die Gräfin schlug mit ihrem Sonnenschirm nach einem Kohlfalter, der sich
hierher verirrt hatte.
Du bist nie einerlei Meinung mit mir! sagte sie scharf. Aber sei du einmal
vier Wochen mit einem Wesen zusammen, das dir im Herzen unsympathisch ist-
Es ist nicht sehr erquicklich!
Verschaffe ihr doch einen Platz!
Betty Eberstein blieb stehn.
An sechs verschleime Pensionate und Familien habe ich schon geschrieben; aber
es ist aus allem nichts geworden. Übrigens hast du Melitta versprochen, sie deiner
Schwägerin auf der Wolsfenburg zu empfehlen; da ist ja eine Tochter von etwa
vierzehn Jahren. Hast du Elsie schon geschrieben?
Noch nicht, erwiderte Asta zögernd. Wieder kam es über sie wie ein leises
Widerstreben.
Dann werde ich es tun, sagte die Gräfin kurz. Ich kenne deine Schwägerin
von früher her.
Sie verbraucht jedes Jahr mehrere Erzieherinnen, und wahrscheinlich wird
sich Melitta auch nicht für Elsie eignen, wandte Asta ein.
Man kann aber doch den Versuch machen, erklärte die Gräfin. Für Melitta
ist es jedenfalls besser, wieder in eine Tätigkeit zu kommen. Und nun lebe wohl,
Asta; ich muß zur Äbtissin. Die Regierung macht uns ewige Scherereien; aber
ich wehre mich meiner Haut!
Mit kurzem Gruß ging sie weiter. Asta sah ihr nach. Sie sprach schon so,
als wäre sie schon das Klosteroberhaupt.
Als sie einige Schritte weiter gegangen war, begegnete ihr eine der jüngern
Stiftsdamen, ein Fräulein von Wildling, die erst seit einem Jahr im Kloster war
und durch ihr angenehmes, freundliches Wesen allen gefiel.
Fräulein von Wildling kam durch das Klostertor und trug einen großen Strauß
Heideblumen in der Hand.
Wissen Sie, daß da draußen die Heide in Blüte steht? fragte sie ganz auf¬
geregt. Wenn man etwa eine Stunde wandert, dann ist man mitten darin;
zwischen Moor und Heide. Herrlich, herrlich!
Asta sah lächelnd in ihr frisches Gesicht.
Ich bleibe eigentlich immer zwischen meinen Klostermauern, aber das ist
sicherlich verkehrt. Wenn Sie mich einmal mitnehmen wollen, komme ich gern.
Dann machen wir eine wirkliche Fußwanderung und trinken Milch auf Moor¬
heide, wo die nette Frau Fuchsius wohnt. Sie wissen, die Mutter von dem sonder¬
baren kleinen Lehrer.
Ist der junge Fuchsius sonderbar? fragte Asta zerstreut.
Haben Sie nicht von ihm gehört? Er soll wunderliche Gedichte macheu, und
neulich hat er von der Äbtissin eine Gehaltsaufbesserung verlangt, zum Ärger von
Gräfin Eberstein. Sie hat ihm aber den Marsch geblasen. Gestern hat sie einen
Kaffee gegeben und davon berichtet. Ich glaube, daß sie die geborne Äbtissin ist
und auch mit unverschämten Männern fertig werden kann.
Glauben Sie?
Astas Stimme klang kühl; aber Fräulein von Wildling achtete nicht darauf.
Sie setzte sich auf eine Bank, breitete ihre Heideblumen neben sich und wühlte eifrig
in ihnen herum.
Sie müssen einen Teil der Blumen mitnehmen, Fräulein von Wolffenradt.
Heidekraut schmückt das ganze Zimmer. Unsre künftige Äbtissin erhält auch ein
Bukett.
Asta setzte sich neben die jüngere Klosterschwester und zupfte eine rote Blume
auseinander. Wissen Sie schon so genau, fragte sie, daß Gräfin Eberstetn unsre
künftige Äbtissin wird?
Wer sollte es sonst werden, Fräulein von Wolffenradt? Die Gräfin ist so
wundervoll energisch. und Frau von Borkenhagen will es doch selbst sehr gern.
Und außerdem — Fräulein von Wildling lachte —, sie erfüllt alle Bedingungen.
Sie ist nie verlobt gewesen, und so weiter, und so weiter.
Nie verlobt? Asta machte so große Augen, das; die jüngere Dame rot wurde.
Haben Sie nie gehört, daß unsre künftige Äbtissin nicht verlobt gewesen sein
darf? Weder öffentlich noch heimlich? Ich Habs auch nicht gewußt, bis vor einiger
Zeit, als die Äbtissin einige Damen, auch mich, zum Tee eingeladen hatte. Ich
glaube, sie wollte uns noch einmal ihren Wunsch aussprechen, Gräfin Eberstein und
"icht Fräulein von Treuenfels zu wählen, die unter den nicht hier wohnenden
Damen ziemlich viel Anhang haben soll. Da erzählte sie also, daß Fräulein
^on Treuenfels verlobt gewesen sein solle, und daß dies schon Grund genug wäre,
sie niemals zur Äbtissin zu wählen. Eigentlich sonderbar, nicht wahr? Denn was
man früher erlebt hat, kann doch schließlich nicht mehr in Betracht kommen — es
sei denn eine heimliche Heirat.
Fräulein von Wildling lachte bei diesem Gedanken. Dann legte sie Asta einen
gauzen Busch Heidekraut in die Arme. Gesetz ist Gesetz! fuhr sie fort, und Ordnung
'muß sein. Wenn Gräfin Eberstein Äbtissin wird, wird sie noch genauer darüber
wachen als Frau von Borkenhagen, denn sie ist viel strenger. Nun aber muß us
gehn. Also ich darf Sie einmal abholen, Fräulein von Wolffenradt?
Mit eiligem Gruß war sie verschwunden, und Asta ging mit ihrem Arm voll
oder Blumen nach Hause. Auf dem Dache des Klosters saßen die Tauben und
blähten sich in ihrem weißen Gefieder; dazwischen flatterten und zwitscherten die
Sperlinge, und ein großer schwarzer Vogel saß mitten unter ihnen und teilte nach
rechts und links Schnabelhiebe aus. Das war eine Dohle aus der Stadt. Sie
kam manchmal zu Besuch und fraß den Tauben das Futter weg. Die Jäger hatten
schon auf sie geschossen, aber statt ihr nur den unschuldigen Tauben das Lebens¬
licht ausgeblasen. So ging es meist in der Welt. Wer nur den Mut hatte, ein
Eindringling zu sein, dem ging es gut.
Asta wußte nicht, daß sie auf einer Bank im Kreuzgang saß und unverwandt
die Dohle betrachtete. Sie dachte an Betty Eberstein, und daß sie es in der
Hand habe, ihren Lebenswunsch zu vereiteln. Wenn sie der Äbtissin von Georg
Hagenau berichtete, dann waren Bettys Aussichten zu Ende. Aber sie würde
natürlich nicht hingehn und die alte Geschichte erzählen. Frau von Borkenhagen
würde ja auch nach Beweisen fragen; und sie hatte keine. Es wäre auch eine
Gemeinheit, eine alte Jugendfreundin zu verraten.
Aber wunderlich, sehr wunderlich war es doch. Wie Asta den schwarzen Vogel
anstarrte, kam es ihr vor, als wäre er ein kleiner Teufel, der sie mit spöttischen
Augen betrachtete.
Sie stand auf und ging mit hastigen Schritten davon.
Gräfin Eberstein hatte sich noch von andrer Seite Mißfallen zugezogen.
Ich muß sagen, daß Ihre Tante recht ungebildet ist! sagte Klaus Fuchsins
zu Melitta.
Diese zwei Menschenkinder trafen sich gelegentlich beim Pachthof, stritten sich
heftig und versöhnten sich dann wieder.
Melitta hatte Klaus verziehen, daß er sie hatte küssen wollen. Er war doch
unterhaltend, und sie sehnte sich immer nach Abwechslung. Der Verkehr mit Wolf
war ihr natürlich wertvoller; aber der Baron war nicht immer in der Stimmung,
mit ihr zu scherzen. Seitdem er im Kloster zu tun hatte, war er vorsichtig und
zurückhaltender geworden.
Klaus war also wieder in Gnaden angenommen worden und hatte es auch
nicht anders erwartet. Nach seiner Ansicht war er unwiderstehlich und durfte sich
alles erlauben.
Recht ungebildet! wiederholte er, während er große Rauchwolken aus seiner
Pfeife sog und die Schöße seines langen Rockes über die Knie legte.
Jeden Nachmittag ging er auf einem kleinen, von Weiden überhangnen Wege
spazieren, der hinter dem Klosterpachthof in die Felder führte, und hierher kam auch
Melitta, wenn sie sich langweilte.
Ist es noch immer die nlle Geschichte, über die Sie jammern? fragte sie
lachend.
Klaus sah sie unwillig an. Es gibt keine alten Geschichten, Fräulein, besonders
wenn es etwas ist, was mich betrifft. Ihre Tante war neulich sehr unbescheiden
gegen mich; ich werde es ihr nie vergessen. Immer wieder sprach sie davon, daß
die Klosterdamen mich auf der Schule und dem Seminar erhalten hätten, und daß
ich bescheiden sein sollte. Zum Teufel auch! Von Bescheidenheit ist noch kein Mensch
satt geworden!
Er setzte sich auf einen alten Weidenstumpf, und Melitta nahm ihm gegenüber
auf einem Stein Platz.
Ich kann mir Tante Bettys Predigt so gut denken, sagte sie lachend. Wenn sie
einmal anfängt, hört sie so bald nicht wieder auf. Dankbarkeit ist ihr Lieblingsthema.
Dankbarkeit ist die törichtste Eigenschaft der Welt! erklärte Klaus. Alle großen
Leute sind undankbar gewesen: Napoleon, Robespierre, Friedrich der Große. Das
ist ganz natürlich. Dankbarkeit ist ein Zeichen von Schwäche, und diese Mensche»
waren stark. Es wäre lächerlich, wenn ich dankbar sein wollte, weil die alten
Mädchen mich auf die Schule geschickt haben. Sie hätten mich auf die Universität
schicken sollen, aber dazu waren sie zu geizig. Es ist jämmerlich, wie kleinlich die
meisten Menschen sind! Setzen Sie sich nur neben mich, Fräulein!
Ihr Tabakdampf stört mich! entgegnete Melitta abwehrend.
Er sah sie mit seinen flackernden Augen an.
Mädchen dürfen sich nicht zieren; dadurch verlieren sie an Reiz.
Haben Sie denn eigentlich die Gehaltserhöhung erhalten? erkundigte sie sich,
ohne auf seine Worte zu achten.
Er wurde rot.
Nein! Nachdem ich zweimal vergebens im Vorzimmer der Äbtissin gewartet
hatte, ließ sie mich zu sich eintreten, und als ich meinen Wunsch ausgesprochen hatte,
hielt mir die Gräfin Eberstein eine Pauke. Diese alten Damen können entsetzlich
reden; ich kam mir vor wie ein Schwächling, als ich vor ihnen stand.
Sie sagten nichts?
Ich hatte Mitleid mit ihrer Gebrechlichkeit und ging schweigend davon.
Melitta brach in Helles Gelächter aus.
Wenn Tante Betty hörte, daß Sie sie gebrechlich nennen! Ich glaube, sie hat
"och nie einen Schnupfen gehabt und ist gesünder als Sie.
Klaus wurde von ihrer Fröhlichkeit angesteckt und begann selbst zu lachen;
dann verschanzte er sich wieder hinter seine gesträubte Würde.
Mag die Gräfin gesund oder krank sein, jedenfalls hat sie sich sehr unpassend
gegen mich benommen. Aristokraten taugen eben nichts; das habe ich bei diesem
Baron Wolffenradt gemerkt, der jetzt im Äbtissiunenhcmse herumsitzt und den großen
Herrn spielt, obgleich er nur eine Art Kassierer ist. Ich habe ihm schon einmal meine
Meinung gesagt und werde nicht verfehlen, es bei Gelegenheit noch einmal zu tun.
Melitta sah den Sprecher mit einem kühlen Blick an.
Ich kann mir nicht denken, daß sich Baron Wolffenradt anders als passend
benimmt. Außerdem ist er sehr viel älter als Sie, und Sie dürfen ihm nicht
Ihre Meinung sagen.
Klaus nahm die Pfeife aus dem Munde.
Dieser Patron scheint ein Freund von Ihnen zu sein, Fräulein! Er schien
mir aber einen Trauring zu tragen.
Er ist verheiratet. Aber er ist sehr nett!
Melittas Ton klang trotzig, und Klaus lächelte argwöhnisch.
Lassen Sie sich nicht mit einem solchen Kerl ein, Fräulein. Der segelt unter
Trauringflagge, und das sind die gefährlichsten Verführer!
Wenn Leute verheiratet sind, müssen sie doch einen Trauring tragen!
Vielleicht, aber man braucht nicht zu heiraten und ist dann viel aufrichtiger.
Wollen Sie niemals heiraten?
Melitta fand die Unterhaltung wieder ergötzlich.
Nein, niemals. Ich bin für freie Liebe, das ist die beste und dauerhafteste!
Kommen Sie, Fräulein, setzen Sie sich nur ruhig neben mich. Ich tun Ihnen
nichts und lese Ihnen mein letztes Gedicht vor!
Aber Melitta erhob sich.
Augenblicklich habe ich keine Zeit mehr!
Sie war gegangen, ehe sich Klaus Fuchsins besinnen konnte. Nun saß er
allein auf seinem Weidenstumpf, rauchte und sprach allerhand ärgerliche Worte in
die Rauchwolken. Es war ihm nicht ganz klar, aber das schöne heitere Mädchen
hatte es ihm doch angetan, und daß sie ihn von sich entfernt hielt, reizte ihn.
Aber er war doch zu bequem und zu sehr von sich eingenommen, als daß er
seiner langen Pfeife hätte entsagen und liebenswürdiger werden mögen. Nach seiner
Ansicht waren die Mädchen doch nur dazu da, sich in ihn zu verlieben.
Melitta dachte nicht mehr an ihn. Er belustigte sie. und manchmal hatte sie
Interesse für ihn; als sie aber jetzt vom Pachthof durch den Klosterpark und dann
zum Kreuzgang wanderte, hatte sie hundert andre Gedanken. Wolf Wolffenradt
sah sie wenig, und Tante Betty wurde mit jedem Tage unliebenswüringcr. Melüta
liebte das Kloster und sein stilles vornehmes Leben, besonders wenn ste steh gelegent¬
lich auch einmal mit Männern unterhalten konnte; aber sie sah ein, daß es besser
wäre, möglichst bald eine neue Stellung zu finden. Ach diese neuen Stellungen!
Melitta preßte die Lippen zusammen und sah zornig um sich. Und dann mußte
sie doch gleich wieder lächeln. Denn sie war halb unbewußt auf den kleinen
Kirchhof getreten, und was ihre Augen so böse anblickten, waren Kreuze, Büsche
und lange Gräser. Die Sonne hüllte das Plätzchen in ein sanftes warmes Licht.
Über den dichten halb abgeblühten Rosenbüschen schwebte ein rostbrauner Falter,
und das lange Zittergras schwankte auf und nieder. Sonst war alles still, so still,
daß es lächerlich war, an Ärger und Zorn, an irdische Wunsche und heißes Ver¬
langen zu denken. Unter diesen alten Kreuzen lagen Menschen, die auch einmal
geträumt und gehofft hatten, die vielleicht anch verzagt gewesen waren. Nun war
das alles vorüber, niemand dachte mehr an sie. Die Schmetterlinge flogen über
ihr Grab, und die Zittergräser schaukelten leise.
Nun, mein gnädiges Fräulein, so ganz in Gedanken?
Wolf kam vom Kreuzgang her und blieb neben dem jungen Mädchen stehn.
Sie sah ihn mit schwermütigen Augen an.
Ich möchte in diesen: kurzen Leben gut werde», Baron Wolffenradt!
Er lächelte beruhigt.
Welcher brave Vorsatz I Wissen Sie, daß der Weg zur Hölle mit guten
Vorsätzen gepflastert ist? Aber bon, seien Sie gut, ich will Sie nicht daran
hindern. Im Gegenteil. Morgen kommt meine Schwägerin Lolo von der Wolffen-
burg, und sie sucht eine Erzieherin für ihre Tochter.
Melittas weiche Stimmung war schnell verflogen, »ut ihre Augen schimmerten.
Wenn sie mich nur haben, will, Baron. Fräulein Asta war neulich ein wenig
kühl bei dem Gedanken.
Sie müssen sich vorstellen und sehr nett sein! sagte Wolf väterlich.
Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. Ich kann sehr nett sein!
Als ob ich das nicht wüßte!
Sie sahen sich beide an, aber Melitta wurde wieder ernst.
Ich dachte, Sie verkehrten nicht mit Ihren Verwandten auf der Wolffenburg.
Wir sind immer gute Freunde gewesen, meine Schwägerin und ich, auch wenn
wir einmal eine Zeit lang nicht miteinander verkehrt haben.
Er nahm ihre Hand, legte sie in seinen Arm und führte sie feierlich aus dem
Friedhof in den Kreuzgang zurück. Wenn Sie wirklich eine Stellung suchen, fuhr
er fort, daun bewerben Sie sich bei ihr. Meine Nichte Elsie war früher ein
süßer kleiner Balg und hatte einen guten Charakter. Mit ihr werden Sie gut
fertig werden!
So gut wie mit Ihnen? fragte Melitta und sah ihm lachend in die Augen.
Wolf beugte sich zu ihrer Hand nieder und küßte sie.
Eben so gut! versicherte er. Aber er richtete sich Plötzlich in die Höhe, riß den
Hut vom Kopf und verbeugte sich förmlich.
Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein! sagte er. Dann war er verschwunden.
Von der andern Seite des Kreuzganges kam Gräfin Eberstein gegangen und
sah mit großen Augen auf das Paar. Hatte sie etwas gemerkt? Als sie näher
kam, spürte Melitta eine lähmende Angst. Aber die Gräfin sagte nichts. Sie
hatte nur einen verächtlichen Ausdruck in den Augen, und der Ton, mit dem sie
Melitta etwas Gleichgiltiges sagte, war eisig kalt. Das junge Mädchen atmete
dennoch auf, und dann überkam sie die heimliche Freude am Unerlaubtem. Alle
guten Gedanken waren verflogen, wie die Schmetterlinge, die über den Rosen-
büschen geschwebt hatten und nun verschwunden waren.
(Fortsetzung folgt)
Die Aussendung des Marineinfanteriebataillons nach Swakopmund ist in der
Tat eine Musterleistung sowohl der Marine als des Norddeutschen Lloyds, der binnen
drei Tagen das unsrer Marineinfanterie seit der Chinaexpedition so vertraute Trans¬
portschiff „Darmstndt" völlig ausgerüstet zur Stelle schaffte. Binnen vierundzwanzig
Stunden war dann alles an Bord und das Schiff in See. Möge der wackern
Truppe ihre Aufgabe gelingen. Wo immer unsre Marineinfanterie zur kriegerischen
Verwendung gelangt ist, ist es mit Ehren geschehn; das ruhmvolle Verhalten der
Pekinger Gesandtschaftswache wird immer ein leuchtendes Blatt in unsrer Kriegs¬
geschichte sein. Bekanntlich hat auch die französische Marineinfanterie seit Napoleons
Zeiten rühmliche Traditionen aufzuweisen. In dem schweren Kampfe des Yorkschen
Korps um Probstheida in der Schlacht bei Leipzig war es die französische Marine¬
infanterie, deren Widerstand am schwersten gebrochen werden konnte, ebenso leistete
s'e die zäheste Verteidigung von Bazeilles in der Schlacht bei sedem.
Aber nicht vergangne und künftige Ruhmestaten dieser Mustertruppe sind es,
die für uns heute in Betracht kommen, sondern der Umstand, daß die Marine¬
infanterie durch überseeische Entsendungen, die sie tatsächlich in eine Kolonialtruppe
Verwandeln, ihrem eigentlichen Zweck entzogen wird. Die Marineinfanterie hat in
der heimatlichen Mobilmachung und Küstenverteidigung ganz bestimmte Aufgaben
zu erfüllen. Sie kann durch ihre starken Reserven auf eine Brigade, ja auf mehr
gebracht werden, die die Kriegsbesetzungen von Kiel, Wilhelmshaven usw. zu stellen
hat. Starke und dauernde Entsendungen an Marineinfanterie beeinträchtigen und
gefährden also die Mobilmachung der Marine, zumal wenn diese Entsendungen den
Aufgaben und Zwecken der Marine so völlig fern liegen, wie gegenwärtig die
Herstellung der Ruhe und Ordnung im innern Südwestafrika. Nimmt, wie voraus¬
zusehen ist, diese Kommandierung längere Zeit in Anspruch, so müssen die beiden
Seebataillone durch Einstellung von Rekruten, Einziehung vou Reserven oder durch
Ergänzung durch die Landarmee auf ihren normalen Stand gebracht werden.
Man kann nie wissen, was im Schoße der Zeiten schlummert, und bei Kriegs¬
ausbruch hat gerade die Marine, und was mit ihr zusammenhängt, am allerwenigsten
Zeit, sich lange zu besinnen, denn die gesamte Marine steht in einer Vorposten-
siellung und muß damit rechnen, sich binnen vierundzwanzig Stunden, wenn nicht
früher, dem Feinde gegenüber zu sehen.
Die Entsendung von Marineinfanterie in Fällen wie dem jetzigen ist zwar
ein recht bequemes aber für die Dauer absolut unzulässiges Auskunftsmittel. Die
Marineinfanterie, wenigstens das, was wir jetzt haben, ist nicht für den Kolonial-
dicnst da. und wenn es einerseits selbstverständlich ist, daß das Reich bei dem Be¬
dürfnis einer Plötzlichen Hilfeleistung zu den Mitteln greift, die es am schnellsten
und nächsten zur Hand hat, so ist doch andrerseits recht sehr mit der Möglichkeit
SU rechnen, daß dieses „nächste" und bereiteste Hilfsmittel doch eines Tages nicht
Zur Hand sein könnte. Gesetzt den Fall, die Hereros wären so schlau gewesen,
den Aufstand zu der Zeit zu unternehmen, wo die Marineinfanterie in China war,-
Was wäre dann geschehen? Dann hätte natürlich die Armee aushelfen, das heißt
umständlich aus Freiwilligen „Schutztruppen"formationen errichten müssen. Wie
lange das dauerte, sehen wir jetzt, wo die Verstärkungstransporte nach Südwest¬
afrika erst am 29. Januar und am 5. Februar abgehn können! Acht bis vierzehn
Tage später als die Marineinfanterie. Das könnte unter Umständen überhaupt zu
spät sein.
Hierzu kommt, daß die Armeeverwaltung bei dem heutigen komplizierten
Mobilmachuugsorgcmismus die „Plünderung" der Truppenteile für koloniale
Zwecke höchst ungern sieht. Alle diese Gründe sprechen laut dafür, dem militärischen
Schutz der Kolonien endlich eine geeignetere Organisation zu geben, indem man
die „Schutztruppen" — eine an sich recht unschöne Bezeichnung — unter die
Marine stellt. Ob und in welchem Zusammenhange mit der Marineinfanterie mag
militärischer Erwägung vorbehalten bleiben. Sachlich richtiger wäre ja die Stellung
unter das Kriegsministerium. Aber da stolpert man über das staatsrechtliche
Bedenken, daß die „Kaiserlichen" Schutztruppen nicht unter das „Königlich" preußische
Kriegsministerium gestellt sein dürfen. Das ist nicht einmal richtig, denn die
„Kaiserliche" Gendarmerie in Elsaß-Lothringen steht doch auch unter dem „Königlich"
preußischen Kriegsminister, und ihr Offizierkorps unter dem Königlich preußischen
Militärkabinett. Nach dieser Analogie können doch auch die „Schutztruppen" der
Armeeverwaltung untergeordnet werden, die für ihre Rekrutierung und Bewaffnung
sorgen, ihnen Offiziere, Ärzte usw. liefern muß und jedenfalls damit viel mehr zu
tuu hat als die davon völlig unberührte Marine. Die geeignete Instanz wäre das
Generalkommando des neunten Armeekorps (Altona). Sollte diese Frage nicht
endlich einmal im Reichstage angeschnitten werden? So wie gegenwärtig, wo
Armee und Marine, Generalstab und Admiralstab nötig sind, tausend Mann nach
Afrika zu werfen, und doch keine einheitlich leitende Behörde vorhanden ist,
kann die Sache nicht bleiben. Das könnte uuter Umständen zu argen Verzögerungen
führen. Mit der sachgemäßer» Organisation müßte dann auch die Aufstellung
eines Stammkorps von tausend Mann Infanterie und Artillerie und sechshundert
Reitern verbunden werden.
Nach längerer Pause ist auch einmal wieder unser Verhältnis zu Frank¬
reich, richtiger das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland, in etwas andrer Be¬
leuchtung erschienen, als es in den letzten Jahren anläßlich der verschiedentlicher
Austausche von Höflichkeitserweisen der Fall war. Auch wenn man ohne weiteres
zugeben will, daß die Attacke der französischen Nationalisten, der die Ausweisung
des Pfarrers Delsor zum Vorwande gedient hat, mehr dem Ministerium Combes
als Deutschland gegolten hat, so steht man doch der lehrreichen Zahl von 295
gegen 243 Stimmen gegenüber. Sie sagt, daß in der französischen Deputierten¬
kammer am 22. Januar nur eine Mehrheit von 52 Stimmen vorhanden war, die
Bedenken trug, mit dem elsässischen Feuer zu spielen. Nun braucht man freilich noch
nicht zu glauben, daß wenn die nationalistischen Schreier in Frankreich an das
Ruder kämen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sofort einen
ernstern Charakter annehmen würden. Aber es läßt sich doch nicht verkennen, daß
sich diese Partei diesesmal durch ein ungewöhnliches Maß von Unverschämtheit,
Unverschämtheit nicht gegen die eigne Negierung, sondern gegen Deutschland, fest¬
gelegt und damit einen Standpunkt eingenommen hat, von dem sie nicht so leicht
wieder herunter kann.
Die radikalen Republikaner haben einen Pfarrer ausgewiesen, wie ehedem
Herr Meliue unter dem Beifall desselben Herrn Ribot, der sich jetzt ganz besonders
als Mundstück „der Seele Frankreichs" gab, den Sozialdemokratin! Buch aus¬
gewiesen hat, beide Elsässer und beide deutsche Reichstagsabgeordnete. Würden
die Behörden in Elsaß-Lothringen Mitglieder der Pariser Deputiertenkammer aus¬
weisen, die sich im Lande lästig machten, so würde drüben ein gewaltiger Lärm
darüber entstehn, während wir hüben stets ziemlich ruhig dabei bleiben und es
auch bleiben können, wenn die Franzosen Elsässer. und obenein gewählte elsässisch^
Abgeordnete, aus dem Lande jagen. Herr Combes hat mit großer Geschicklichkeit
ans das Beispiel seines Angreifers verwiesen, der selbst als Minister zwei Elsässer
ausgewiesen und sich dabei der Formel „deutscher Untertan" bedient hat, und dabei
zugleich deu Angriff des internationalen Anstrichs zu entkleiden gesucht, der der
französischen Regierung leicht Schwierigkeiten schaffen konnte. Er nannte diesen
Angriff mit dem rechten Namen einen Stoß, der das Kabinett Combes zum Sturze
bringen sollte. Aber die französischen Nationalisten müssen entweder eine sehr h"he
Meinung von der Friedfertigkeit Deutschland haben, oder gewillt sein, der Gefahr
eines Bruchs nicht auszuweichen, ja ihn unter Umständen sogar herbeizuführen,
wenn sie mit solcher Unverfrorenheit ihre Parteifehden auf dem Rücken Deutsch¬
lands auspauken. Eine solche Verleugnung und Verhöhnung des bestehenden Rechts¬
zustands und der völkerrechtlichen Abmachungen zwischen beiden Nationen, wie sich
die Nationalisten am 22. dieses Monats erlaubt haben, kann in Deutschland doch
nicht unbeachtet bleiben, und es dürfte nützlich sein, wenn im Reichstage Gelegen¬
heit genommen würde, anstatt mancher überflüssigen Strohdrescherei die Herren
Nachbarn auf ihre Neigung, Feuer anzulegen, etwas energisch hinzuweisen. Wir
wollen ganz davon absehen, daß die Pariser Presse das rednerische Paradestück fast
seit vierzehn Tagen entsprechend eingeläutet hat, und daß einzelne Blätter dabei
^me Sprache führten, die an die Tage von Ems erinnerte. Sogar der ministerielle
"Temps" erlaubte sich die Äußerung, daß man in Frankreich die Grenze von
Usaß-Lothringen nicht wie jede andre Grenze ansehen könne. Wenn das für
Frankreich gilt, gilt es natürlich anch für Deutschland. Derlei ministerielle Unklug-
heiten haben schon einmal das bekannte Bismarckische 5 vorsairs — Om-san-o et Seni
wachgerufen und die Aufrichtung der Paßschranke zur Folge gehabt, die den Fran¬
zosen etwas nachdrücklicher zu Gemüte führen sollte, was „Grenze" bedeutet.
Die Berliner „National-Zeitung" kommentierte damals den Erlaß der Pa߬
verordnung dahin, daß ohne dieses Auskunftsmittel „der Verkehr zwischen beiden
Ländern wahrscheinlich durch die Vorposten gehn würde." Ist den Franzosen der
Kamm so sehr geschwollen, daß eine starke Minorität der Kammer kein Bedenken
trägt, die Politik der Herausforderungen wieder aufzunehmen? Es ist immer
dieselbe Spezies gewesen, die den Frieden gefährdet hat, 1870 wie 1888. Die
französische Teputiertenkammer trug an dem Kriege von 1870 die Hauptschuld,
demgegenüber ist es nicht ohne Bedeutung, wenn die Majorität gegen die Natio¬
nalisten am Freitag nur 52 Stimmen betrug. Was würde man in Paris sagen,
wenn eine ähnliche Minorität in der italienischen Kammer analoge Reden über
Nizza und Savoyen hielte? Und obendrein hat Frankreich Elsaß und Lothringen
in einem ungerechten Kriege verloren, während es sich seine Vundesgenossenschaft
von 1859 von der „romanischen Schwester" mit jenen Gebieten bezahlen ließ.
Herr Cassagnac ist außer sich, daß die Kaminer mit ihrer Abstimmung am Freitag
»den Frankfurter Frieden ratifiziert hat" — er vergißt ganz, daß schon die
Nationalversammlung von Bordeaux das am 3. Februar 1871 getan hat, und zwar
in einer für die Elsässer tief verletzenden Form. Die Aufzeichnungen des elsässischen
Abgeordneten Schneegans haben es festgelegt für alle Zukunft, wie die National¬
versammlung, „die freiest gewählte, die Frankreich jemals gehabt hat," die abzu¬
tretenden Landesteile im wahrsten Sinne des Wortes als a.nimt>no neZliAeablo
behandelt hat. Als im Jahre 1896 Herr Möline als Ministerpräsident die
deutschen Sozialdemokraten Buch und Bebel ausgewiesen hatte, hat die Kammer
damals diese Maßregel mit 361 gegen 73 Stimmen gebilligt, obwohl Herr Buch
Elsässer ist, und Herr Bebel seinen Mangel an deutschem Nationalgefühl seit 1871
immer wieder durch Proteste gegen die Rücknahme des Elsaß an Deutschland zum
Ausdruck gebracht hatte. Dieses Znhlenverhältnis: 361 zu 73 gegen 295 zu
243 Stimmen könnte in dem starken Anwachsen der Minorität bedenklich erscheinen,
aber Herr Meline hatte doch die Kammer anders in der Hand als Herr Combes,
und damals war die Mehrheit zugleich eine antisozialistische, während diesesmal die
starke Minderheit zugleich eine antiradikale, klerikale ist. Der Vorgang enthält aber
trotz alledem. zumal in Anbetracht der ihn begleitenden Haltung der Presse, für
uns Deutsche vou neuem die Mahnung, jederzeit eingedenk zu bleiben, daß mindestens
eine starke Minderheit der Franzosen den Frankfurter Frieden nach wie vor nnr
als eine Episode betrachtet, und daß schneller, als wir es denken, eines Tages
wieder ein Kriegsgewitter an unserm westlichen Horizonte stehn kann. Wir wollen
bei diesem Schachspiel doch nie versäumen, rechtzeitig: Mnclk!-! zu sagen.
Gewiß, wir Deutschen können dafür
dankbar sein, daß wir auch „einen solchen Kerl" gehabt haben, wie Mommsen war.
Ein Gelehrter, der mit stählerner Kraft und Stetigkeit seiner Forscherarbeit lebte
und zugleich eine volkstümliche Gestalt nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutsch¬
land war, und in Italien erst recht. In Rom sind ihm die größten Ehrungen
erzeigt worden, und er war dort jedem Quiriten lieb und bekannt, der kleine
Mann, nur Sehnen und Muskeln, das Auge über die große Brille hinweg leuchtend
aufblickend, der wallende weiße Haarschmuck, der sich unter dem runden Filzhut
hervordrängte. Seine Büste ist neben der Winkelmnnns und Herzens dem Pantheon
der großen Männer in den kapitolinischen Museen eingegliedert. Es gibt zwar keine
Piazza Mommsen, aber doch eine Via Mommsen in Roni. Und wenn Mommsen
in der Straßenbahn von Berlin nach Charlottenburg fuhr und unbekümmert um
die Menschen seiner Umgebung eifrig die letzten Korrekturbogen las, die noch naß,
aus der Druckerei gekommen waren, dann stießen sich die Insassen des Wagens an:
Das ist er. So saß er täglich da, in sich gebückt, aber nicht unbekannt, und die
„Woche" des Meisters der Reklame und der geistigen Versimpelung, des erfolg¬
reichen schert, der sich der elegantesten Equipage in der Reichshauptstadt rühmt,
streckte alle ihre tausend Fühlhörner aus, um etwas von Mommsen und über
Mommsen zu erlangen. Nach seinem Tode sammelte man Mommsenanekdoten, die
der Abteilung „Vermischtes" in den Tageszeitungen zur Zierde gereichten. Auch
manche der wandernden Scherze, die gleich Schmetterlingen, eine Blume suchend,
herumschwirren, hefteten sich an seine Persönlichkeit, wie das so geht. Auch hier
gilts: „Wer da hat, dem wird gegeben."
Worin lag nun eigentlich der Grund für diese seltne Volkstümlichkeit? Berlin
ist immer ein besonders dankbarer Boden gewesen für die Kreierung von Zeitgrößen.
Aber die Volkstümlichkeit ist noch etwas andres als die Salonverehrung. War es
die Ehrerbietung für die seltne Arbeitskraft und die außerordentliche Arbeitsleistung
dieses Mannes? Arbeiten allein macht nicht populär. Dazu muß mindestens noch
die Gabe und der Trieb kommen, die Öffentlichkeit irgendwie zu beschäftigen. Daß
dieser Trieb in Mommsen sehr lebendig war, beweisen seine nationalen und inter¬
nationalen Kundgebungen, die fliegenden Blätter, die er an die Zeitungen verstreute,
und die geflügelten Worte, die epigrammatisch, scharf, einseitig, bitter Zeiterscheinungen
charakterisierten.
Mit solchen Worten wird seine Eigentümlichkeit offenbar. Gerade in ihnen
treten die Züge des „Herrenmenschen" hervor, der sich freut, daß ihm die Geister
Untertan sind. Und eben diese erregten die Aufmerksamkeit und riefen bisweilen
auch Leidenschaften wach zur Beistimmung oder zum Kampf. In ihnen stigmati¬
sierte er vor allem seine Feinde. Denn das ist charakteristisch für seine Art, er
hatte ein starkes Bedürfnis zu lieben und zu hassen; und zwar gilt von ihm nicht,
was jenem großen Politiker der Konfliktszeit sein Grabstein nachrühmt: „Er hat
geliebet die Gerechtigkeit und gehasset die Ungerechtigkeit" — nein, er liebte die
Menschen, die ihn verehrten, mit ihm arbeiten wollten und sich ihm zur Ver¬
fügung stellten, und er haßte oder verachtete jeden, der seinen Weg kreuzte, ohne
mit ihm zu gehn, sei es auf seinem Arbeitsgebiet, sei es in den Idealen seiner
Weltanschauung. Wie viele haben das erfahren von seinen Zeitgenossen, was
Mommsens Abneigung bedeutete, und sie Habens getragen je nach ihrer Gesinnung,
August Zumpt, der fleißige stille Gelehrte, Ernst Curtius, der auch im vertrauten
Kreise niemals ein bitteres Wort über Mommsen sagte, der Theologe I. A. Dörner,
von andern zu schweigen. Und auch als Historiker hat Mommsen diese Kraft zu
lieben und zu hassen reichlich betätigt. Treitschke wollte er als Historiker nicht
gelten lassen. Aber in seiner römischen Geschichte arbeitet er, wo er charakterisiert
und wertet, ebensowenig wie dieser deutsche Patriot, der bisweilen preußischer ist
als die Preußen, mit dem Griffel objektiver Darstellung. Die Leidenschaften der
Konfliktszeit, die Verachtung der offiziellen Gesinnungslosigkeit, der ideenarmen
Politik, des Junkerhochmuts, woran sich jene unklare Übergangsperiode gegen¬
seitiger Verkennungen aufregte, färben stark ab in seiner römischen Geschichte, die
dadurch einen pikanten Beigeschmack erhielt. Cicero, der Typus der Gesinnungs¬
losigkeit, Pompejus, der Typus stilvoller Impotenz, und Cäsar, das Ideal eines
allumfassenden schöpferischen Heldengeistes. Und als sich dann Bismarcks Größe
enthüllte, da hätte man denken sollen, daß der Historiker Mommsen etwas von
seinem Cäsarideal in diesem großen Deutschen verwirklicht sehen müßte; aber nein!
Bismarck wurde ihm zum „Hausmeier," der die Dynastie der Hohenzollern ge¬
fährdete, Bismarck treibe „eine Politik des Schwindels."
Diese Erinnerungen wurden in mir wnchgerufeu, als ich jüngst eine Äußerung
von Friedrich Naumann las. Wie mit andächtigem Angenaufschlag berichtet er von
einem unvergeßlichen Abend, den er im privaten Kreise mit Mommsen verlebt hatte.
Da sprach Mommsen über die verarmte gegenwärtige Zeit, und zwar nach „historisch¬
persönlicher Prophetenart." „Er hielt deu Schaden der Bismarckischen Periode sür
unendlich viel größer als ihren Nutzen, denn die Gewinne an Macht sah er nur
für zweifelhafte vorübergehende Werte an. Die Knickung der Persönlichkeiten, des
deutschen Ich-Geistes aber hielt er für ein Verhängnis, das nicht wieder gut ge¬
macht werden könnte." Also sprach Mommsen. In seinem Munde nimmt sich
dieses Urteil absonderlich aus; denn eben den Vorwurf, Persönlichkeiten geknickt zu
haben, erhebt so mancher gerade wider ihn, den er zu Arbeiten benutzte, und dem
er dadurch Wege wies, die nicht zu dein erstrebten und gewünschten Ziele führten,
sondern zu einem Schiffbruch mindestens des innern Glücks. Mommsen sagte einmal:
»Die Wissenschaft ist grausam." Das Wort kennzeichnet ihn. Für die Wissenschaft
ist es ebensowenig charakteristisch, wie das Wesen der Kunst durch den Mythus
von Apollo, der als Sieger den Marsyas geschunden hat, ausreichend umschrieben
wird. Ich meine, echte Wissenschaft ist wahrheitsliebend und nennt das Richtige
richtig, das Hohle hohl und das Ente eitel. Grausam sind die Tyrannen, die
eifersüchtig sind auf ihre Macht. Man darf trotz aller Scheu vor ursachlichen
Verallgemeinern es als ein „Gesetz" der Menschenkunde bezeichnen, daß gerade die
eigenen Fehler uns bei andern am unerträglichsten sind. Wir hassen unsre Fehler
nicht sowohl ein uns selbst, sondern an andern, wenn wir nicht sehr scharfe Augen
für die Selbstprüfung haben.
Im übrigen gehört das Knicken der Persönlichkeiten auch zu der Gruppe schnell
nachgesprochner, aber schlecht begründeter Vorwürfe. Dieser wird stets erhoben, wo
einmal ein mächtiger Geist rücksichtslos nach großen Zielen trachtete. Cäsar, Luther,
Friedrich der Große — haben sie nicht manche Persönlichkeit geknickt? Aber dazu
gehört nicht nur, daß einer da ist, der knickt, sondern auch einer, der sich knicken
laßt. Es gibt zu allen Zeiten Persönlichkeiten, die das Bedürfnis haben, sich knicken
,',u lassen, die in sich keinen Schwerpunkt haben und deshalb Schleppenträger und
Diener ohne Rückgrat werden. Darf man dem großen Manne, der die Menschen
braucht, um eiuen Neubau aufzuführen, zum Vorwurfe machen, wenn unter denen,
die für ihn arbeiten, auch Handlanger ohne Charakter sind? Ich möchte diesen
Borwurf ebensowenig gegen Mommsen wie gegen Bismarck richten. Jedes Licht
hat seinen Schatten, und vollkommne Menschen leben nicht in dieser Welt der Ein¬
seitigkeiten und des Kampfes. In der rechten Weise erfreuen wir uns erst der
großen Männer, deren Lebensleistung uns gefördert hat, wenn wir nicht ver¬
gessen, daß auch ihre Persönlichkeit ebenso ihre Schranke hat wie die Sonne ihre
ein Edelanarchist, wie er selbst sich
nach einer Mitteilung seines Verlegers Eugen Diederichs in Leipzig nennt, ist eine
interessante Persönlichkeit. Als Gerichtsschreiber in einem ungarischen Neste hat er,
36 Jahre alt, sich an eine von der Berliner philosophischen Gesellschaft 1887 ge¬
stellte Preisaufgabe gemacht und eine Arbeit über Hegels Dialektik geliefert, die
als die beste anerkannt wurde. Die ungarische Regierung schickte den strebsamen
Autodidakten auf deutsche Universitäten, aber die akademische Laufbahn mochte er
nach seiner Rückkehr in die Heimat nicht einschlagen, weil er voraussah, daß ihn
seine Ansicht vom Staate in Konflikte verwickeln würde. Er nahm nur eine
Bibliothekarstelle an und gab auch diese samt seinen Pensionsansprüchen auf, als
ihm zugemutet wurde, auf die schriftstellerische Verbreitung seiner Ideen zu ver¬
zichten. Sein Eintreten für die gedrückten ungarischen Landarbeiter zog ihm
mehrere Prozesse zu, in denen er jedoch freigesprochen wurde.
In einem Buche, dessen bedeutenden Gedankengehalt und schöne Form wir im
12. Hefte des Jahrgangs 1902 der Grenzboten gelobt haben, sucht er die Dogmen¬
bildung der patriotischen Zeit als das Ergebnis eines Kompromisses der christlichen
Priesterschaft mit der Staatsgewalt zu erklären, der einen Abfall vom echten
Christentum eingeschlossen habe; bet einer andern Gelegenheit haben wir erwähnt,
daß er die Gnostiker als die echten Jünger Jesu, als die Bewahrer und Fort¬
bildner seiner Lehre preist und von der Wiedererweckung ihrer Ideen eine höhere,
reinere und edlere Kultur erhofft. Den Beweis für diese Ansicht glaubt er in
seinem neuesten Buche erbracht zu haben: „Die Gnosis, Grundlagen der Welt¬
anschauung einer edlern Kultur. 1. Band: Die Gnosis des Altertums." Darin
feiert er zunächst Jesus (dessen im ersten Buche hervorgchobne Proletarierrolle er
hier zurücktreten läßt) als den Vollender einer in den indischen Philosophien, in
der Zendlehre, in den Büchern Weisheit und Sirach, von Plato und dem Juden
Philo verkündeten Mystik, zeigt, wie die Gnostiker diese Mystik ausgebaut und ver¬
tieft haben, und entdeckt in ihren Schriften sogar die neuere und die neuste Physik
und Biologie. Von dem göttlichen All und Nichts, dem Pleroma der Gnostiker,
das alle Möglichkeiten und alle Gestalten in sich schließt, gehen Wellcnströme aus;
die feinsten Wellen erzeugen das Geistesleben, die gröbern die sinnlichen Vor¬
stellungen, die gröbsten die Sinnendinge. Im mathematischen Denken und in der
Erkenntnis der Gattungsidee zuerst kommt der vom Pleroma weit entfernte Tier¬
mensch zu sich und vermag sich durch fortschreitende Läuterung zur beseligenden
Anschauung der göttlichen Lebensfülle durchzuringen. Die Kircheuhistoriker mögen
prüfen, wieviel von dem, was Schmitt aus den Gnostikern herausliest, von ihm
hinein interpretiert worden ist. Uns will scheinen, daß wir die meisten dieser vor¬
geblich gnostischen Lehren schon recht oft von christlichen Philosophen, Mystikern,
Dichtern und Predigern vernommen haben, auch von solchen, die, wie Bonaventura,
Dante, Meister Eckhart, Angelus Silesius von der Kirche, dieser organisierten
Tiermcnschhcit, keineswegs als Ketzer verurteilt worden sind. Daß die gewöhnlichen
Gläubigen, die nur in Sinnenbildern denken können, sich nach des Verfassers An¬
sicht Gott als rachsüchtigen Gewaltherrn vorstellen, und deren Hierarchie sich mit
der Weltmacht, mit dem Fürsten dieser Welt, also dem Teufel, zur Übung von
Gewalttat verbündet hat, während Jesus (der Tolstoiische Jesus!) der ohne äußer¬
liche Gewalt wirkende Logos ist, von dem die reinen allbezwingenden Licht- und
Liebeswellen ausgehen, daß also die gewöhnlichen Christen und — auch die un¬
gläubigen Materialisten etwa zweihundertmal Tiermenschen genannt werden, halten
wir weder für notwendig, noch für geschmackvoll, noch für christlich. Gnostisch ist
es allerdings, da die Pneumatiker mit grenzenlosem Hochmut auf die Psychiker und
die Hyliker herabgesehen haben. Es ist uns nicht ganz klar geworden, ob Schmitt
in die Kategorie der Tiermenschen auch die Psychiker einschließt. In diesem Falle
gehören wir selbst dazu, denn wir müssen bekennen, daß wir der beseligenden An¬
schauung bis jetzt noch nicht teilhaft geworden und darauf angewiesen sind, vom
Göttlichen entweder mit dein gewöhnlichen Menschenverstande zu räsonieren oder
es uns in Bildern zu versinnlichen. Schmitt sollte aber die Tiermenschcn, für die
er ja übrigens opferwillig eingetreten ist, nicht gar so sehr verachten, denn wenn
die alle Pneumatiker würden, so hätte das aus lauter Pnenmatikeru bestehende
„dritte Reich" nichts zu essen, nichts zum Heizen, weder Kleidung noch Wohnung,
und auf dieser Erde wenigstens würde der Lichtstoff des Pleromas kaum fortfahren
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zu schwingen, wenn die grübern Wellen ihren Dienst einstellten. Und da doch auch
die Tiermenschen noch nicht wirkliche Tiere sind, so wird eine kirchlich-staatliche
Organisation, die ihnen ihr bescheidnes Teil angemessener Seelennahrung reicht,
kaum zu entbehren sein.
Rezensent stimmt mit dem Verfasser in vielem überein. Er verwirft wie
dieser das Hollen- und das Erbsündendogma. Er teilt mit ihm den Dualismus
wie den Monismus, indem er glaubt, daß Körperliches und Geistiges nicht aus¬
einander abgeleitet werden können, daß aber beide verschiedne Offenbarungen des¬
selben einen Weltgrundes sind; er gibt auch zu, daß die Kirchengründung einen
Abfall bedenket, in demselben Sinne, wie jede Verwirklichung einer Idee zugleich
Abfall von ihr ist. Aber wenn wir auch noch viel mehr zugeben und die
gnostischen Schwarmgeister für die Inhaber aller Wahrheit und Weisheit halten
Zollten, so würde damit gegen Kirche und Staat noch nicht das geringste bewiesen
sein. Denn nicht so sehr auf die wahren und erhabnen Gedanken kommt es an
im Gange der Weltgeschichte, als auf die lebendigen Kräfte, was die Gedanken für
sich allein noch nicht sind. Ohne die Kirche und ohne die politischen Gewaltmittel,
die ihr in den großen weltgeschichtlichen Krisen zur Verfügung standen, auch der
protestantischen — was wäre Luther ohne seinen Kurfürsten. Kalvin ohne seine
Republik, der englische Protestantismus ohne Elisabeth und Cromwell gewesen! —,
ohne dieses Bündnis der Kirche mit dem Fürsten dieser Welt hätten wir weder
die biblischen Bücher, in denen Schmitt einen Quell lauterer Gnosis anerkennt,
noch die von den „dummen" Kirchenvätern aufbewahrten Reste gnostischer Schriften;
das alles wäre in der Völkerwanderung und bei den nachfolgenden Einbrüchen
asiatischer Horden von Barbaren vernichtet worden. Der gnostische Geist macht
keine Ausnahme von allen irdischen Geistern: es kann ihrer keiner ohne Leib leben,
und der Leib muß stark sei» in dieser gewalttätiger Welt, wenn er seinen Geist
schützen soll. Die gnostische Organisation hätte die Kirche schon darum nicht er¬
setzen können, weil sich ihre Vorsteher für Pneumatiker, für Inhaber einer auf dein
gewöhnlichen Wege eines ordentlichen Unterrichts nicht erwerbbaren Erkenntnis
hielten. Eine Körperschaft, die sich so etwas einbildet, wird ganz gewiß im Laufe
der Zeit eine Narrengesellschaft, wenn sie es nicht schon von Anfang an war.
Die Lehre, daß es Pflicht des echten Gnostikers sei, unter allen Umständen
auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, hat Schmitt rin Tolstoi gemein,
wenn er sie nicht von diesem empfangen hat, und da ans Nietzsche derselbe Haß
gegen die Kirche spricht wie aus Tolstoi, so bringt diese Gemeinsamkeit im Hasse
das Wunder fertig, daß Schmitt in beideu seine Gesinnungs- und Bundesgenossen
sieht, obwohl das deutlich erkennbare Lebensideal Tolstois, dessen Verwirklichung
ungefähr so aussehen würde wie die jüdischen Essenergemeinden, gerade das Gegen¬
teil ist von den mancherlei schwer faßbaren Idealen, die in Nietzsches Schriften
irrlichteln, und Nietzsches Haß sich nicht sowohl gegen die Kirche als gegen Jesus
richtet. Jedem der beiden großen Schwärmer hat Schmitt eine Monographie ge¬
widmet.
Wie unzählige andre von den Greueln der Weltgeschichte und den Übeln
unsrer Kultur erschreckt und abgestoßen, hat Schmitt die Überzeugung gewonnen,
daß die kirchlichen und die politischen Ketzer allemal recht, Kirche und Staat allemal
unrecht haben, und diese Überzeugung ist ihm nun bei seinen historischen und philo¬
sophischen Forschungen der irreführende Leitstern geworden. Bekanntlich ist lior
zweihundert Jahren Gottfried Arnold unter demselben PseudoPolarstern ins Meer
der historischen Urkunden hinausgesegclt und hat seine „Unparteiische Kirchen- und
Ketzerhistorie" heimgebracht; hat auch, wie Schmitt, besonders die Gnostiker ins
Herz geschlossen und in spätern Schriften gnostische Ideen vertreten. (Daß er sich
zuletzt doch noch dem kirchlichen Christentum zugewandt hat und ein brauchbarer
Geistlicher geworden ist, soll hier nicht weiter betont werden.) Die Ketzer haben
nun zwar nicht in allem, aber doch in vielem recht, vorzugsweise darin, daß sie sich
das Recht der Kritik wahren, ohne dessen beständige Ausübung Kirche und Staat
verholzen, verkalken und vermorschen; sie sind die bewegende, die lösende Kraft im
Gegensatz zur bindenden, organisierenden; nur im Spiel beider Kräfte bauen sich
die sozialen Organismen auf, bleiben sie lebendig und gesund. Geht das Gleich¬
gewicht einmal nach links hin verloren, und gewinnt die kritisierende Partei die
Oberhand, so löst sie entweder den Organismus in seine Elemente, in ein anarchisches
Chaos ans, oder sie wird selbst konservativ und nun ihrerseits Gegenstand der An¬
griffe der Oppositionsparteien. Gewöhnlich besorgt sie dann die öffentlichen An¬
gelegenheiten noch ein wenig schlechter als ihre Vorgängerin. Wie sich die Sozial¬
demokraten, die zurzeit allein noch in Betracht kommende Oppositionspartei im
Deutschen Reiche, als Herrscher und Regierer aufführen würden, davon haben sie
ja auf dem Dresdner Parteitag eine ergötzliche Probe abgelegt.
Das eigentlich Bedeutende an Schmidts Buche ist übrigens nicht die ab-
gcdroschne Polemik gegen Kirche und Staat, sondern seine Opposition gegen die
mechanistische und die materialistische Welterklärung; darauf gedenken wir bei einer
andern Gelegenheit zurückzukommen. In den nichtchristlichen Kreisen hat die Gegen¬
strömung gegen eine Philosophie der Geistlosigkeit vorwiegend die Form des
Okkultismus und heidnisch-philosophischen Mystizismus angenommen und sich in
viele Schulen und Sekten verzweigt. Alle diese modernen Mystiker operieren mit den
Waffen und den Werkzeugen der modernen Naturwissenschaften. Ähnlich wie Schmitt
will der Engländer Edward Carpenter (in seinem Buche: Die Zivilisation, ihre
Ursachen und ihre Heilung; in Übersetzung Leipzig, Hermann Seemann, 1903)
uicht den Geist aus der Körperwelt, sondern die Natur aus dem Selbstbewußtsein,
das All von innen heraus verstehn und erklären; und in Deutschland hat sich den
mancherlei Organen dieser nun schon recht breiten Strömung ein neues zugesellt:
die Halbmonatschrift „Die Gnosis." Sie erscheint in der Manzischen Hof-,
Verlags- »ut Universitätsbuchhandlung zu Wien und bemüht sich, streng wissen¬
schaftlich zu sein. Die ersten uns vorliegenden Hefte enthalten u. a. naturphilo-
sophische Spekulationen über Gegenstände der Physik und Chemie, mathematische
Abhandlungen, Untersuchungen über die Atlantis und eine sehr interessante Artikel-
reihc über die Eleusinischen Mysterien. In der Polemik gegen den Materialismus
stützen sich die Mitarbeiter auf den kantischen Apriorismus.
Odol ist »ach den übereinstimmenden Angaben hervorragender Forscher das M
zur Zeit den AnfordcrmMil der -Zahn Hygiene am vollkommensten entspricht.Du ißt, Du sprichst, Du atmest mit dem Mund,
Wenn dieser gut gepflegt und kerngesund,
Dann geht Dir Speis' und Trank gedeihlich ein,
Dann wird, mit Zähnen blank und perlenfein,
Voll Klarheit, Anmut Deine Sprache sein,
Dein Atem duftig, frisch und rein! -
So viel hängt ab von Deines Mundes Wohl!
Bedenk es, Mensch, und brauch „Gdol"!
in Jahre 1891 schrieb Kaiser Wilhelm der Zweite an den
Generalpostmeister Stephan: „Die Welt am Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Verkehrs; er
durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen, und knüpft
zwischen den Nationen neue Beziehungen an." Der erste Teil
dieses Satzes ist unendlich oft wiederholt worden, man kann ihn längst zu den
geflügelten Worten rechnen; aber die Folgerung, die der zweite Teil aus dem
ersten zieht, ist, wie das so zu gehn pflegt, weniger beachtet worden. Und
doch liegt gerade darin die praktische Wichtigkeit des Ausspruchs. Der Kaiser
pflegt sich nicht damit zu begnügen, Tatsachen zu behaupten, die ohnehin
offen daliegen; ihm hat jede Erscheinung ihre Bedeutung für sein Volk und
für die Welt und die Zeit, in der dieses Volk lebt. Ein Historiker der Zu¬
kunft wird daran erinnern, daß es die Zeit des Kampfes um die neuen
Handelsverträge war, in der diese Worte gesprochen wurden.
Am 1. Februar 1892 liefen die meisten Handelsverträge mit den euro¬
päischen Staaten ab, Ende 1891 beriet der Reichstag die Tarife der Verträge
mit Österreich, Italien, der Schweiz und Belgien. Da galt es, von den
Vismarckischen Schutzzollschraukeu soviel abzutragen, als die herangewachsne
Industrie und die gesteigerte Vvlksdichtigkeit unsers Landes brauchten, und
"ndre zu ähnlichen Abtragungs- und Durchbrechungsarbeiten zu veranlassen,
vor Mem Rußland, mit dem der Zollkrieg 1893 durch einen Vertrag ab¬
geschlossen wurde, der gegen den zühesten Widerstand der Agrarier durchgesetzt
worden ist. Damit war die Periode langfristiger Handelsverträge eröffnet, in
denen der Schutz der eigentümlichen Arbeit jedes Staates zwar festgehalten,
Zugleich aber manche Erleichterung geschaffen wurde, wie das unaufhaltsame
Wachsen des Verkehrs es fordert. Mit Deutschland fast zugleich gingen
Österreich, Italien, die Schweiz denselben Weg. Und was sich in den zwölf
Jahren der Dauer unsrer wichtigsten Handelsverträge an Verkehr und Aus¬
tausch der wichtigsten Völker Europas, und besonders Mitteleuropas, entwickelt
hat. fordert weitere Niederlegungen und Durchbrüche. Immer wird es ja
klarer, daß diese Verkehrscntwicklung nur die Konsequenzen der natürlichen
und geschichtlichen Bedingungen zieht, die Mitteleuropa zu einem einzigen
Wirtschaftsgebiet gemacht haben wollen. Lage, Klima, natürliche Ausstattung
des Bodens, Volksart und Geschichte: alles weist und treibt daraufhin.
In derselben Zeit der stürmischen Beratungen über die mitteleuropäischen
Handelsverträge ist auch eine andre Entwicklung hervorgehoben worden, die
von außen her auf die Mächte dieses Gebiets eindringen und einigend wirken
mußte. Zuerst hat der Reichskanzler Caprivi in der Ncichstagssitzuug vom
10. Dezember 1891 die Rückwirkung der großräumigen Staatenbildungen auf
das zersplitterte Europa als eine politische Notwendigkeit klar bezeichnet: „Es
ist in der letzten Zeit eine weltgeschichtliche Erscheinung, die ich hoch anschlage,
zum Bewußtsein der Völker gekommen: das ist die Bildung großer Reiche,
das Selbstbewußtsein dieser Reiche, das Bestreben, sich gegen andre abzuschließen.
Der Schauplatz der Weltgeschichte hat sich erweitert, damit sind die Propor¬
tionen andre geworden, und ein Staat, der als europäische Großmacht eine
Rolle in der Geschichte gespielt hat, kaun, was seine materielle Kraft angeht,
in absehbarer Zeit zu den Kleinstaaten gehören. Wollen nun die europäischen
Staaten ihre Weltstellung aufrecht erhalten, so werden sie nicht umhin können,
so weit sie wenigstens ihren sonstigen Anlagen nach dazu geeignet sind, sich
eng aneinander zu schließen." Es gehört kein großer Scharfsinn dazu, den
Zusammenhang dieses Ausspruchs des Reichskanzlers mit dem des Kaisers zu
erraten. Und man müßte die Geschichte schlecht kennen, wenn man annehmen
wollte, der Gedanke der Annäherung der mitteleuropäischen Staaten, der beiden
zugrunde liegt, sei in den dazwischenliegenden Jahren dort vergessen worden,
wo er zuerst gewichtige Worte gefunden hatte. Aber die Verwirklichung dieser
Gedanken bedeutet freilich nichts weniger als eine große Umwälzung, die sich
nur dann in friedlichen Bahnen vollziehn wird, wenn sie ihren innern Trieb¬
kräften ganz überlassen bleibt.
Wie ist eigentlich heute die Lage, der Bestand Mitteleuropas?
Da haben wir zunächst sechs Staaten, die in voller Selbständigkeit und
Unabhängigkeit nebeneinander stehn, wiewohl sie an Macht weit verschieden
sind. Unterschiede der Machtmittel zur Behauptung der politischen Unab¬
hängigkeit kommen aber nirgends auf der Erde weniger in Betracht, als gerade
hier, wo sich die einzelnen durch Allianzen und Neutralitätsvertrüge gewisser¬
maßen mit- und gegeneinander wechselweise versichert haben.
Ziehn wir das nußenliegende Dalmatien samt seinem böhmischen Hinter¬
kante ab, so liegen alle diese Länder in dem Streifen zwischen dem 55. und
45. Grad nördlicher Breite, worin sie eine kompakte Masse bilden, die belebt
und verbunden wird durch gemeinsame Beziehungen zur Nordsee, zum Mittel¬
meer, zum Rhein, zur Donau, zur Elbe, diesen kräftigsten Adern europäischen
Binnenverkehrs. In drei von diesen Ländern hat das deutsche Volkstum die
überwiegende Mehrheit, im vierten ist es noch immer politisch und wirtschaftlich
leitend, in den beiden nordwestlichen hat der nahverwandte niederfränkische
Sprößling die Mehrheit. Trotz 45 Millionen Slawen, Magyaren, Franzosen,
Italienern sind es germanische Staaten nach Geschichte und Einrichtungen;
die Germanen sind mit mehr als drei Fünfteln in der Gesamtzahl der Be¬
völkerung vertreten, und ihre Sprache herrscht in Handel und Verkehr.
Nationalitätenkämpfe können nicht diese gemeinsamen geschichtlichen Grundlagen
des Lebens der Völker in diesem Erdraum vergessen machen. Ebensowenig
wird aber freilich die Pflege ihres Verkehrs den gesunden nationalen Be¬
strebungen Eintrag tun, denn am Ende ist ein Volk, das wirtschaftlich ge¬
deiht, immer am sichersten, daß sein Gesamtleben auf dem rechten Wege ist.
Bei soviel Gemeinsamkeiten konnten weder die natürliche» noch die poli¬
tischen Grenzen auf die Dauer die Völker Mitteleuropas auseinanderhalten.
Allerdings dürfen diese politischen Grenzen anch nicht als bloße Dinge der
Form und des Herkommens aufgefaßt werden. Darin liegt ja gerade das
Sonderbare und die Schwierigkeit der politischen Entwicklung Europas über¬
haupt, daß seine Staaten und Völker in ein Zeitalter großer Räume und
immer lebhafter pulsierenden Verkehrs die engen Grenzen und zum Teil auch
die engen Horizonte längst vergangner Zeiten mit herübergenommen haben.
Aber an allen Ecken und Enden schafft sich das Bedürfnis nach Verkehr und
Austausch Wege. Und die vierzig Eisenbahnlinien, die Deutschland und
Osterreich, die sieben, die Deutschland und die Schweiz verbinden, die zwanzig,
die in die nordwestlichen Nachbargebiete hinüberführen, ein Verkehr, wie er
auf der Elbe, dem Rhein, der Donau pulsiert, die tausend deutschen Schiffe
mit 2 Millionen Tonnen in Antwerpen, die tausend mit 1,2 Millionen in
Rotterdam (1902) sind doch ebensogut Tatsachen wie die verwickelten Zoll¬
grenzen und Zollgesetze. Eine Organisation wie der Verein deutscher Eisenbahn¬
verwaltungen, der von der Schelde bis zu den Donanmündungen reicht, die
neuern Post- und Telephonvertrüge und so vieles andre zeigen, wie sich auch
diese Bedürfnisse Organe und Wege schaffen.
Mit den Waren wandern die Menschen, und mit den Menschen die
Ideen. Deutschlands Ausfuhrhandel war 1902 am größten nach England,
Österreich-Ungarn, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Belgien; heben
wir die vier mitteleuropäischen Nachbarstaaten heraus, so empfingen sie gegen
Zwei Fünftel von der Gesamtausfuhr Deutschlands nach europäischen Ländern.
Die Ausführen Österreich-Ungarns gehn zumeist nach Deutschland. 1902 nahm
dieses Land mehr als die Hälfte der österreichisch-ungarischen Ausführen auf.
Die Schweiz führte nach Deutschland und Österreich-Ungarn 1902 ein Fünftel,
die Niederlande nach Deutschland 47 Prozent, Belgien nach Deutschland
22 Prozent ihrer Gesamtausfuhren. Auch Italien, das ja nach seiner Lage
ebensowohl ein echt mitteleuropäisches wie südeuropäisches Land ist — seine
Eisenbahnen haben bekanntlich die mitteleuropäische Zeit—, gab (1902) an
Deutschland, Österreich und die Schweiz 43 Prozent seiner Ausführen.
Das sind so enge wirtschaftliche Beziehungen, Verwandtschaften möchte
man sie nennen, daß es nicht wundernehmen kann, wenn seit Jahren gerade
in den in Frage kommenden Staaten der Wunsch nach erleichterten und aus¬
gebreitetem Beziehungen immer wieder laut geworden ist. Der Gegenstand
verschwand hauptsächlich in Deutschland und Österreich nicht mehr aus der
öffentlichen Diskussion, er fand besonders warme Vertreter in Österreich, aber
nicht wenige auch in Italien, wo 1902 der Volkswirt und Politiker Luzzati
mit dem Vorschlage hervortrat, eine europäische Zollkonferenz als eine Beratung
„groß- und weitdenkender Männer" einzuberufen, die die Möglichkeit eines
engern wirtschaftlichen Zusammenschlusses europäischer Staaten erörtern, wo¬
möglich dessen Hindernisse, soweit sie in den Parlamenten liegen, beseitigen
sollte. Es war dabei hauptsächlich an die Abwehr der amerikanischen Gefahr
gedacht. Von andrer Seite ist in Italien die Anregung zu einem internatio¬
nalen Agitationskomitee für einen europäischen Zollbund ausgesprochen worden,
ungefähr zugleich mit der berühmten Aufforderung Carnegies an den deutschen
Kaiser, die „Vereinigten Staaten von Europa" ius Leben zu rufen. Unzählige
Zeitungsartikel haben diese und ähnliche Anregungen besprochen, aber durchaus
nur in der halb ungläubigen, halb vorsichtig tastenden oder anstreifenden Weise,
in der man Dinge zu behandeln pflegt, an denen sehr viel aber auch sehr
wenig sein könnte. Die Tagespresse hat leider nicht mehr die Zeit, voraus¬
eilende Gedanken zu prüfen, sie stellt im besten Fall den „Theoretikern," die
solche Gedanken vertreten, eine Spalte zur Verfügung. So ging es auch, wo
einzelne Fälle dieser großen Frage zur Besprechung kamen, wie zum Beispiel bei
dem Plan eines deutsch-niederländischen PostVertrages etwa nach dem Muster
des deutsch-österreichischen. Die Diskussionen brachten höchstens den Vorteil,
daß weitgehende Wünsche als unerreichbar erkannt wurden, und daß sich die
möglichen Lösungsversuche in den Augen der Besonnenen verminderten und
einschränkten.
Von anßen her hat vielleicht die sogenannte amerikanische Gefahr am
meisten dazu beigetragen, daß die Wärme für die Sache nicht ganz verschwunden
ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das leistungsfähigste unter
den geschlossenen Wirtschaftsgebieten der Erde; sie sind deshalb das Gebiet,
auf das die Augen der europäischen Wirtschaftspolitiker am schärfsten gerichtet
werden müssen. Warum sollte mau es nicht aussprechen, daß der Aufschwung
des nordamerikanischen Wirtschaftslebens den Hauptanstoß zu der Neubelebung
des Gedankens eines mitteleuropäischen Zollbundes gegeben hat? Viele werden
ja zunächst an den überlieferten Wettbewerb Englands denken, und wenn
man nur unsre Zeitungen liest, könnte man freilich glauben, die große Gefahr
für das kontinentale Wirtschaftsleben sei im Chamberlciinismus und im Orsater
Lriwin z« suchen. Für unsre Landwirtschaft sind die in Betracht kommenden
englischen Kolonien — eigentlich mehr Tochterländer — Kanada und Australien
wenig zu fürchten, und industrieller Wettbewerber ist England für Mittel¬
europa bekanntlich nicht mehr in solchem Maße, daß es darum zu fürchten
wäre. Die Gefahren, die von England drohen, sind mehr politische als
wirtschaftliche. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind dagegen in allen
Beziehungen im Wachsen: räumlich, an politischer Geltung, an Reichtum und
an wirtschaftlichen Kräften jeder Art. Im Laufe des letzten Jahrzehnts sind
sie eine Kolonialmacht geworden, ihr Einfluß im Stillen Ozean ist ununter¬
brochen im Steigen, die Vorhersagung, daß mit zunehmend größerer Volks¬
zahl ihre Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zurückgehn müsse, ist durch
die wachsende Intensität des dortigen Bodenbaues Lügen gestraft worden,
und daß die Vereinigten Staaten heute das erste Eisen- und Stahlland der
Welt sind, ist allgemein bekannt, und nicht weniger sind es die sich daraus
ergebenden Folgen für ihren allgemeinen industriellen Aufschwung. Die
Steigerung der Fabrikatausfuhr wird von Amerika aus systematisch in großem
Stile gefördert und organisiert, wir haben sie sich mehr als verdoppeln sehen
in den letzten fünf Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wir werden dieses
gewaltige Wachstum wiederkehren und sich selbst überbieten sehen. Dabei ein
innerer Markt, der räumlich so groß wie Europa, aber von einer Einheitlich¬
keit ist, die man in Europa kaum jemals erreichen wird.
Aber gerade hier kann und muß das Bemühen ansetzen, politische und
wirtschaftliche Schranken, die zu eng gezogen sind, zu vermindern. Es werden
immer noch genug Unterschiede übrig bleiben, aber die schädlichsten können un¬
schädlich gemacht werden. Es handelt sich nicht bloß um die gemeinsame Abwehr
dieser „amerikanischen Gefahr." Gegenüber der künstlichen Züchtung von In¬
dustrien durch das „nationale System" der politischen Ökonomie, das in jedem
kleinen Lande jede Spezialität haben will und die Staaten voneinander ab¬
schließt, muß eine gesunde Arbeitsteilung angestrebt werden, die den gegebnen
Verhältnissen entspricht. Verstärkte Konkurreuzkraft, verminderte Produktions¬
kosten, Sicherheit des innern Marktes, diese Vorteile des großen Wirtschafts¬
gebiets sollten die mitteleuropäischen Länder einander, und ihren Produzenten
so gut wie ihren Konsumenten, schaffen.
Diese Einsicht klingt ja auch ganz vernehmlich aus all den neuern
deutschen Schriften über Nordamerika. Es macht keinen Unterschied, ob ein
Geldmann wie Goldberger oder ein Dichter wie Potenz die Vereinigten
Staaten von Amerika schildert: der weite Raum, die „weiträumiger Gedanken"
der amerikanischen Staatsmänner und Unternehmer erregen ihre Bewunderung,
und sie fragen sich: Wie könnte Alteuropa seinen Raum nutzen? Wie könnte
schädliches engräumiges Denken geheilt werden?
Wir verdanken es den seit Jahren mit bewußter Energie fortgesetzten Be¬
mühungen des Breslauer Professors der Staatswissenschaft, Julius Wolf, daß
sich endlich eine Reihe von einflußreichen Geschäftsmännern, Politikern und
Gelehrten auf ein Programm geeinigt hat, das ans dem Wege eines engern
wirtschaftlichen Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Länder vorwärts führen
könnte.
Julius Wolf ist als geborner Österreicher, der auch in der Schweiz gelebt
und gewirkt hat, wohlvertraut mit den Ländern Mitteleuropas, die hier zuerst
in Betracht kommen. Er hat seit Jahren ihre wirtschaftliche Annäherung in
besonnener Weise vertreten, bald in Zeitschriften und Zeitungen, bald in Vor¬
trägen in politischen oder Interessentenkreisen. In der seit 1898 von ihm
herausgegebnen Zeitschrift für Sozialwissenschaft haben auch andre diesen Ge¬
danken erörtert; besonders möchte ich auf Sartorius von Waltershausens
gründliche Arbeit über eine wirtschaftliche Föderation Mitteleuropas hinweisen.
In einer besondern Schrift „Das Deutsche Reich und der Weltmarkt" stellte
Wolf 1902 dem immer wieder auftauchenden und doch zu der Zeit unver-
wirklichbaren Plan eines europäischen Zollvereins, mit oder ohne Rußland und
England, die praktisch mögliche, zum Teil schon angebahnte Annäherung einer
Anzahl von Staaten Mitteleuropas und vielleicht auch Sttdeuropas gegenüber.
Er wiederholte in mehreren Veröffentlichungen in deutschen und österreichischen
Zeitschriften den Gedanken der „wirtschaftlichen Allianzen," die die Selbst¬
bestimmung der Staaten unberührt, politische Zwecke völlig beiseite lassen, und
nur Übereinstimmung in der Behandlung solcher wirtschaftliche,? Fragen an-
streben, in denen die Interessen dieser Staaten übereinstimmen. Und da diese
ruhigen und klaren Erörterungen entschieden den Beifall einzelner und ganzer
Körperschaften fanden, war endlich der Augenblick zur Anbahnung der Ver¬
wirklichung gekommen. Wolf versandte Ende 1903 ein Heft „Materialien be¬
treffend einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverein, Verein zur Förderung der
gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der mitteleuropäischen Staaten," die
hoffentlich noch in den Buchhandel kommen werden. In dieser Schrift wird
das Programm entwickelt, der positive, uuaggressive und unpolitische Charakter
der Bewegung festgestellt und besonders die Stellung der mitteleuropäischen
Länder zu Nordamerika und England besprochen. Wir versuchen das Pro¬
gramm in folgenden Sätzen so gedrängt wie möglich wiederzugeben.
Der mitteleuropäische Wirtschaftsverein lehnt von vornherein jede Propa¬
ganda für einen mitteleuropäischen oder europäischen Zollverein als unpraktisch
ab. Er geht aber von der Ansicht aus, daß sich zunächst die mitteleuropäischen
Staaten ihr Gedeihen in höherm Maße als jetzt sichern können durch gleich¬
mäßige Regelung gewisser Gegenstände des Wirtschaftswesens und des Wirt¬
schaftsrechts, durch wechselseitige Dienstbarmachung der Einrichtungen, die sie
haben, zum Beispiel im Grenzwachdienst, in der Kontrolle der Ein- und der
Ausfuhr, Clearings von einem Staate in den andern und dergleichen, durch
besondre Rücksicht auf die besondern Zölle, Eisenbahntarife usw., durch dauerndes
Studium der auf diesem Gebiet vorhnndnen Möglichkeiten, statt sich auf Ver¬
handlungen, die nur aller Jahrzehnte einmal wiederkehren und hastig durch¬
geführt werden müssen, zu beschränken. Es erscheint ferner möglich, daß sie
mit der Vertretung ihrer Interessen im fernern Allsland hin und wieder
gemeinsam Organe betrauen, oder wieder auch Organe des einen Staats dem
andern dienstbar machen, daß sie bei Verhandlungen mit dem fernern Aus¬
land, wo dies ersprießlich ist, im Einvernehmen vorgehn, daß sie für die
Schlichtung internationaler Streitigkeiten auf dem Gebiete des Wirtschafts-,
insbesondre des Zollwesens ständige Schiedsgerichte einsetzen.
Es ist zweifellos, sagen wir mit dem Schlußwort des Programms des
mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins, „daß bei systematischer Arbeit auf allen
diesen Gebieten jeder der Staaten gewinnender sein muß, zweifellos, daß
Gelegenheiten und Aufforderungen zu solcher Arbeit in sehr großer Zahl vor¬
handen sind, und weiter auch klar, daß jene Arbeit getan werden kann, ohne
das wirtschaftspolitische, geschweige denn politische Selbstbestimmungsrecht der
Staaten im geringsten zu gefährden." Zweifellos, möchten wir hinzufügen, ist
es auch, daß die Aufforderung zur positiven Arbeit an einer so großen Auf¬
gabe gerade in unsrer Zeit der Zerklüftung und Unlust an und für sich freudig
zu begrüßen ist.
Am 21. Januar 1904 ist der Verein ins Leben getreten. Herzog Ernst
Günther von Schleswig-Holstein ist zum Präsidenten gewühlt worden, Mit¬
glieder des deutschen Reichstags und der Parlamente Österreichs und Ungarns,
führende Männer der Industrie und des Handels sind dem Ausschuß beige¬
treten. Eine günstige Aufnahme ihrer Bestrebungen in der Schweiz, in den
Niederlanden und in Belgien, auch in Italien ist zu erwarten; hoffen wir, daß
diese Länder praktisch mitarbeiten. Das nächste Ziel ist ja ein wirtschaft¬
liches, aber wenn sich auf dein Wege, den man beschritten hat, kein unvorher-
gesehenes Hindernis erhebt, können wir uns keine Vereinigung denken, die der
allgemeinen Wohlfahrt der Völker und auch dem Frieden unter den Stämmen
und Staaten Europas dienlicher fein könnte als der mitteleuropäische Wirt¬
schaftsverein.
lkohol und Idealismus? Warum denn nicht Schwefelsäure und
Idealismus? Warum denn nicht Alkohol und Realismus? -
Diese Fragen sind berechtigt; die Überschrift bedarf einer Er¬
läuterung.
Daß hier mit dem Worte Alkohol nicht das Ding gemeint
ist, das mit der chemischen Formel ^H^O bezeichnet wird, sondern daß
darunter die berauschenden Getränke der Kulturvölker verstanden sind, recht¬
fertigt der heutige Sprachgebrauch. So hat auch jeder Leser dieses Wort
aufgefaßt. Was aber ist unter Idealismus gemeint?
Idealismus im strengen Sinn ist der Name für jede Weltanschauung, die
den geistigen Inhalt des Lebens für den hauptsächlich oder allein wertvollen
erklärt und deshalb annimmt, daß das Wesen der Dinge in einem geistigen
Sein bestehe. Den Gegensatz bildet auf der einen Seite der Realismus, der
von der gegebnen Wirklichkeit ausgeht und in seiner Weltanschauung allen
Erscheinungen der Wirklichkeit gerecht zu werden versucht, auf der andern Seite
der Materialismus, der den sinnlich wahrnehmbaren Stoff für den einzigen
Grund aller Wirklichkeit ansieht.
Faßt man das Wort Idealismus in diesem seinem eigentlichen Sinne, so
spricht unser Thema einen Unsinn aus. Ein aristophanischer Witzbold könnte
den Alkohol und eine philosophische Weltanschauung zusammenschirren; die
Gedankenfahrt mit diesem sonderbaren Gespann wäre grotesk genug: aber zu
einer so halsbrechenden Reise sind die Leser nicht eingeladen worden.
Wir sind in der Bestimmung des philosophischen Idealismus dem Begriffe
des Wertes begegnet. Der Idealismus erklärt den geistigen Inhalt des
Lebens für den wertvollen. Der Wert der Lebensinhalte ist von vornherein
für die Gestaltung seiner Weltanschauung maßgebend. Es kommt ihm nicht
bloß darauf an, die Welt zu begreifen, sondern er will ihren Inhalt ordnen
nach Werturteilen, die auf sittliche Bedürfnisse begründet sind. Nicht die
Außenwelt liegt für den Idealismus im Vordergrund, sondern der Mensch ist
sein einziges großes Thema, und zwar wendet sich sein ganzes Interesse der
Innenwelt des Menschen zu; hier ruhen die unendlichen Werte des Mensch-
tums: seine geistige Freiheit, seine sittliche Obmacht.
Für das gewöhnliche Verständnis der Gebildeten ist diese praktische Seite
des Idealismus sein Kennzeichen geworden. In seinem üblichsten Gebrauche
hat der Begriff Idealismus das Philosophische fast völlig abgestreift; man
versteht darunter die Gemütsrichtung, deren Ziel die geistigen Güter des
menschlichen Lebens sind. Diese Güter liegen nicht bloß auf dem Gebiete des
Erkennens, sondern mindestens in gleichem Maße auf den Gebieten des Glau¬
bens, des Handelns und des ästhetischen Empfindens. Somit ist Idealismus
die Gemütsbeschaffenheit, auf deren Boden außer der Wissenschaft auch die
Religion, die Sittlichkeit und die Kunst ihre kräftigste Nahrung finden. In
diesem Sinne ist denn nun auch das Wort in unserm Thema gemeint.
Nun aber kann man die Frage nach der Berechtigung dieses Themas
stellen. Ist eine Beziehung vorhanden zwischen dem Idealismus als einer
Gemütsrichtung und den berauschenden Getränken? Ich höre die Antwort:
Allerdings; aber nur eine negative. Alkohol und Idealismus sind Feinde, von
denen ein jeder, wenn er zur Herrschaft gelangt ist, den andern verdrängt.
Mit Verlaub, so einfach ist das Verhältnis zwischen den beiden nicht.
Es ist durchaus nicht so, daß die Gegnerschaft gegen den Alkohol in der
idealistischen Gesinnung begründet sein müßte. Es lassen sich allerdings Fälle
denken, wo ein Mensch abstinent wird aus religiöser Überzeugung, oder weil
er es für seine Pflicht halt, einer großen Aufgabe ein Opfer zu bringen.
Aber solche Fälle werden zu den Ausnahmen gehören. Das Natürliche ist,
daß einer abstinent wird, weil er sich überzeugt hat, daß alkoholische Getränke
auch in kleinen Dosen schädlich seien, also aus realistischen Gründen. Die
meisten Abstinenten werden sich gegen die Behauptung verwahren, als ob sie
sich für die bessern Menschen hielten oder wenigstens in der Enthaltung von
alkoholischen Getränken eine Beendigung ihres Idealismus sähen. Auf der
andern Seite lehrt die Erfahrung, daß in tausend und tausend Fällen der
Idealismus mit einer bedenklichen Zuneigung zu alkoholischen Getränken ver¬
bunden ist. Dem Leser werden bei kurzem Besinnen eine Menge von Bei¬
spielen einfallen.
Aus dieser Sachlage wird ein vorsichtiger Mann keinen andern Schluß
ziehn als den, daß der Alkohol in keinem Verhältnis zum Idealismus stehe,
und daß ihre freundliche oder feindliche Begegnung nur individuelle Ursachen
habe. Hiermit wäre unser Thema als sinnlos erwiesen.
Nun aber gibt es Erscheinungen und Erfahrungen, worin sich geradezu
ein positives Verhältnis zwischen Alkohol und Idealismus ankündigt. Es gibt
sicherlich in unsern Tagen viele Menschen, die aus Gründen idealistischer Art
mit dem Alkohol nicht völlig brechen. Es würde ihnen persönlich nicht die
mindeste Entsagung kosten, auf den geringen Gebrauch, den sie von berau¬
schenden Getränken machen, zu verzichten. Eine geraume Weile unterlassen
sie diesen Gebrauch, eigentlich ohne sich dessen besonders bewußt zu werden;
dann aber kommt eine Begegnung, ein Erlebnis, wo sie, gerade im innigsten
Zusammenhang mit idealistischen Stimmungen, eiuer Flasche den Hals brechen
helfen. Man darf vermuten, daß sehr viele, die die Nützlichkeit der Ab-
stinenzbcwegung anerkennen, es um solcher idealistischer Momente willen
vorziehn, bei der Sitte der Väter zu bleiben. Es scheint fast, daß bei den
Menschen, in denen der Idealismus nach all seinen Auswirkungen hin die
sicherste Heimat hat, gerade mich der Idealismus das Bollwerk des Alkohols
ist. Darum verlohnt es sich, deu innern Zusammenhängen zwischen Alkohol
und Idealismus nachzugehn. Es geschieht das hier ohne jede Absicht, weder
in der, das Bollwerk zu stürmen, noch in der, es zu entsetzen. Es kommt
dem Verfasser nur darauf an, die Wirklichkeit zu verstehn; er verfährt durchaus
nicht in der Weise des Idealisten, sondern nur in der des Realisten.
In der Gcmütsrichtnng des Idealisten liegt es begründet, daß er die
Schranken, die ihm die Wirklichkeit zieht, mitunter recht peinvoll empfindet.
Denn wenn nur der geistige Inhalt des Lebens wertvoll ist, so gehören all
die Verhältnisse, durch die dieses Lebenswürdige beeinträchtigt wird, zu dem,
was überwunden werden sollte, und die Erfahrungen, die uns an unsre Ab¬
hängigkeit von tausend unwürdigen Dingen erinnern, sind die schmerzlichsten.
Darum ist der Idealist ein Mensch der Sehnsucht. Er möchte emporgehoben
sein über die glanzlose beklemmende Wirklichkeit mit ihren kleinen Maßstäben
in das Reich der Ideale. In ihrer lichten freien Höhe würde sein Lebens¬
gefühl von allem Druck befreit sein, die geistige Kraft sich ungehindert aus¬
wirken, das Dasein müßte zur Lust werden! Das ist die Sehnsucht des
Idealisten.
Aber der Idealist kennt auch Stunden in seinem Leben, wo diese Sehn¬
sucht am Ziele war. Das war dann geschehn, wenn ein einziges Gefühl oder
ein einziger Gedanke die Seele so erfüllte, daß in ihr nichts andres vorhanden
war als dieses Eine. Da hat dies Eine alles innere Leben in sich gesogen,
die Persönlichkeit war darin aufgegangen; der ganzen übrigen Welt gegenüber
war das Ich empfindungslos, sie war nicht mehr dn, sie lag unten in der
Tiefe, als ob sie versunken wäre, oder als ob sich der Geist über sie empor¬
geschwungen hätte.
Wer solche Stimmungen kennt, der zählt sie zu den höchsten und glück¬
seligsten seines Lebens. Das Heimweh nach ihnen ist es, was uns in den
spätern Jahren des Lebens so wehmütig an die Jugend erinnert. Wer
sich die Fähigkeit erhalten hat, so etwas zu erleben, der bleibt jung im
weißen Haar.
Was es ist, das die Seele in diese Erregung versetzt, wo sie aus ihren
Tiefen heraus ein einziges Gewoge ist, das ist bei den einzelnen Menschen
überaus verschieden. Der junge Offizier des schlesischen Hauptquartiers, der
den Säbel schwingt und an der Spitze der stürmenden Reiterschar in das
Katzbachtal niederbraust — der Forscher, der nach langem mühevollem Suchen
und Sinnen mit einemmal, vom Entdeckerglück überwältigt, in die Wahr¬
heit hineinschaut — der Liebende, den die Ahnung, nein, die Gewißheit durch-
blitzt, daß er wieder geliebt werde — zwei Freunde, die in lauer Sommer¬
nacht auf der Gartenbank ruhn Brust an Brust und das Innerste ihrer Seelen
austauschen — der Wandrer, dem der Frühling bis ins innerste Mark hinein
strömt, und dessen Seele in das wonnige Weben zerfließt — der Knabe, der
am Waldrande liegend Kleists Hermannsschlacht liest und den ersten großen,
von der Schule nicht vergällten Eindruck von einem Kunstwerke der Poesie
empfängt: das sind die Glücklichen, die es erleben, wie die Sehnsucht zum
Ziele fliegt.
Solche Zustände sind Geschenke des Himmels; wer sie erlebt, dem ist das
Leben gnädig gewesen, und in stillem Heimweh wartet er auf neue Erweisungen
solcher Gnade.
Aber ist nicht dem Heimweh ein Mittel gegeben, sie herbei zu zwingen?
Warum anders nennen wir sie seelische Trunkenheit, reden wir von einem
Liebesrausche, von einem Rausche musischer Begeisterung, als deshalb, weil
die Wirkung des Weins auf die Seele den Wirkungen ähnlich sieht, die die
Erreger geistiger Bewegungen im Gemüte hervorrufen?
Hier ist der Punkt, wo sich Alkohol und Idealismus berühren.
Der Alkohol vermehrt die Pulsschlüge uno die Atemzüge, beschleunigt
die Strömung des Blutes, gibt ein wohltuendes Gefühl der Wärme. Durch
all dies erhöht er das Lebensgefühl. Er steigert die Empfindung und ver¬
mindert zugleich die Selbstbeherrschung und die Kraft der Überlegung. Hier¬
durch nimmt er Befangenheit und Angst: er ist der Sorgenbrecher. Er ver¬
engert den Horizont der geistigen Umschau, sodaß für das Bewußtsein nur
noch die gesteigerten Gefühle vorhanden sind. So versetzt er in einen seelischen
Zustand, bei dem es dein Menschen vorkommt, als ob seine Seele sich empor¬
gehoben habe über alle Hemmungen des Lebens in die Höhen des Da¬
seins, wo der Mensch in ungetrübter Frende sich selbst genießt und die innere
Freiheit hat, über alles, was ihn sonst schreckt und ängstigt, zu lächeln.
Das ist denn auch die Ursache, warum gerade idealistisch gerichtete
Menschen geneigt sind — viel mehr als die nüchternen Naturen —, zum
Weine zu greifen, wenn sie etwas erleben, was nach ihrer Wertung es ver¬
dient, durch ein gesteigertes Gefühl gefeiert zu werden. Es liegt darin ein
Werturteil über die Bedeutung der Stunde, also ein echt idealistischer Zug.
In dem Wunsche, das gehörige Maß seelischer Erregung zu empfangen, tut
man das gleiche, was die Hausfrau tut, wenn sie in den Tagen des Über¬
gangs vom Frühherbst zum Spätherbst einbeizen läßt in der Besorgnis, es
möchte die eigne Körperwärme der Hausgenossen nicht zureichen.
Wenn sich drei Freunde in einer fremden Stadt unverhofft begegnen,
wird gerade der Idealist unter ihnen den Vorschlag machen, das Wiedersehen
bei einer Flasche Wein zu feiern. Wenn bei einem Hochzeitsmahle die ein¬
ander fremden Teilnehmer in vorsichtigem Tischgespräch Anknüpfungen suchen,
wird gerade der Idealist den Augenblick herbeisehnen, wo die leise Wirkung
des ersten Glases Champagner die Wangen der Damen rötet und Rede und
Gegenrede lebendiger, freier, wärmer macht. Was er in solchen Stunden
scheut und haßt, nämlich die farblose blutleere Nüchternheit, die werktägige
hmlsbackne Philisterhaftigkeit, wird das nicht durch jene paar Tropfen Alkohol¬
giftes überwunden, die der Wein in das Blut flößt? Die Poesie des Weins
ist darum so alt wie die lyrische Dichtung selber. Und besonders ist es die
Geselligkeit, die von jeher in ihrem gemeinsam gesungnen Lied die Poesie des
Weins gepflegt hat, von Pindars Tischgesängen an bis zu dem Kommerslied
unsrer Studenten. Es ist die begreiflichste Sache von der Welt, daß das
Kommersbuch wie von dem fröhlichen Geklirr der Waffen so von dem fest¬
lichen Klingen der Gläser erfüllt ist.
Unser deutsches Volk hat in der langen Geschichte seiner Kultur keine
Geselligkeit erlebt, die geistig bedeutender und zugleich anmutiger gewesen
wäre als die des Weimarischen und Jenaischen Kreises in den Tagen Goethes
und Schillers. In all den Liedern, die aus dem innersten Leben dieser Ge¬
selligkeit entstanden sind, ist bald zarter, bald kräftiger der Hauch des Weins
zu spüren.
Ich erinnere an das wundervolle
ein Lied, dessen Schönheitsfülle man erst als gereifter Mann versteht. Oder
denken wir an das Lied voll entzückender Nichtsnutzigkeit:
Was dem Idealismus zuwider ist, das ist die Philisterhaftigkeit. Er
rechnet die Verse:
zu dem Einfältigsten, was je ein Reimschmied verfertigt hat; dagegen stimmt
er von ganzem Herzen dem alten Horaz bei, der einmal sagt: Ilnlee e-se
clösixere in I000, zu deutsch: Es ist ein gut Ding, auch einmal über die Schnur
zu hauen. Wer nie dazu imstande gewesen ist, mit dem kann der Idealist
zwar vortrefflich zusammenarbeiten, aber Herzenskamerad kann er ihm
nicht sein.
Nun aber wollen wir die Helfersrolle, die der Alkohol bei solchem closi-
pöriz in I000 spielt, etwas genauer betrachten.
Es besteht doch ein ungeheurer Unterschied zwischen der idealistischen Er¬
regung, die aus dem Grunde des Herzens quillt infolge eines gewaltigen
Eindrucks, und der von außen her stammenden mechanisch wirkenden Erregung,
die der Alkohol erzeugt. Dort ist es in Wahrheit ein Aufersteh« der innersten
Kraft des Gemüts, eine Erhebung durch die Schwungkraft der eignen Flügel
über die Bindungen und Klammern der Wirklichkeit empor, hier dagegen ist
nur der Schein von dem allen; dort erweist der Geist seine Macht über die
Materie, hier dagegen die Materie ihre Macht über den Geist. So wenig
als Ofenwärme einen Frühling erzeugt, so wenig erzeugt der Alkohol eine
wirkliche Begeisterung. Eine leise Beihilfe vermag er zu geben; sobald er
aber weiter waltet, rächt sich diese Beihilfe durch einen tückischen, abscheuliche»
Rückschlag.
Was für ein Chcirlatan der Alkohol ist, das offenbart sich mit besondrer
Deutlichkeit an einem bestimmten Punkte, wo die auffallende äußere Ähnlich¬
keit die denkbar größte innere Verschiedenheit in sich birgt. Ein eigentüm¬
licher Zug der idealistischen Stimmung ist ihre Einfachheit, Einheitlichkeit und
Geschlossenheit. Diese Erfahrung kann nicht schöner ausgedrückt werden, als
es Weislingens Junge tut. Nachdem er Adelheids Schönheit gepriesen hat,
erwidert sein Herr: Dn bist darüber gar zum Dichter geworden, worauf Franz:
So fühl ich denn in dem Augenblick, was den Dichter macht, ein volles, ganz
von einer Empfindung volles Herz. An diese Beschaffenheit des Gemüts er¬
innert es, daß bei dem Berauschten nur ein Gedanke den Geist erfüllt, nur
eine Empfindung die Seele beherrscht. Aber dort ist ein Reichtum der Seele
die Ursache dieser Einfachheit, hier eine Verarmung — dort eine Fülle vor¬
handen, eine Fülle, aus der bei dem Künstler das Kunstwerk entspringt, hier
ist eine Entleerung da, die schließlich nichts übrig läßt; dort ist die ganze
Welt dunkel geworden, weil das Eine die Seele mit überstrahlenden Glänze
blendet, hier ist die Welt verschwunden, weil grauer Nebel alles bedeckt. Läßt
sich ein größerer Gegensatz denken?
Es ist eine ungeheure Übertreibung oder eine bewußte Lüge, wenn die
Trinklieder die Wirkungen des Alkohols preisen. Mit genialischer Frechheit
tut dies das Vagantenlied Nidi 68t vroposiwm in wosrn-i moll, ein Lied,
von dessen Anmut die Bürgersche Verdeutschung: „Ich will einst bei ja und
nein vor dem Zapfen sterben" nur eine geringe Vorstellung gibt. Wenn es
hier heißt: .
^. ^ o^d»
Laovlius äoiiur>Al,in',
In ML ?KvLl>U8 ii'l'uit
^0 MN'iMiZg, Ki-tur,
so kann man nur sagen: so viel Worte, so viel Lügen. Mit dem Alkohol
hat Apollo auch nicht das geringste zu schaffe«. Auch wenn er seine Leier
stimmt, um den Wein zu besingen, hat er selber den Wein verschmäht. Jedes
gute Trinklied ist von einem nüchternen Menschen geschaffen worden. Vor
siebzehn Jahren hat der Verleger des Lahrer Kommersbuchs einen Preis aus¬
gesetzt auf das beste Zechlied. Wer hat den Preis davon getragen? Frida
Schanz, die Schriftleiterin des Frauendaheims. Goethe äußerte einmal zu
Eckermann, wenn ein dramatischer Dichter, der häufigen Kränklichkeiten und
Schwächlichkeiten unterworfen ist (dachte ^ ^ Schiller?), durch geistige Ge¬
tränke die stockende oder zeitweilig völlig mangelnde Produktivität herbeinötigen
und die unzulängliche dadurch steigern wollte, so würde man es allen Szenen,
die er auf solche Weise gewissermaßen forciert hätte, zu ihrem großen Nachteil
anmerken. Was Goethe hier von der Arbeit des Dramatikers sagt, das trifft
zu für jedes künstlerische Schaffen. Goethe selbst hat ein Beispiel dazu ge¬
liefert. Die Satire „Götter, Helden und Wieland" hat er bei einer Flasche
Burgunder niedergeschrieben; diese Schrift macht, besonders gegen das Ende
zu, um Goethes eignes Wort zu gebrauchen, den Eindruck des „Forcierten."
Die produktiv machenden Kräfte, die im Weine zu liegen scheinen, besteh« in
nichts anderm als in der Bindung der Überlegung und in der Einschränkung
des Horizonts. Wer bei künstlerischem Schaffen an eine Stelle gelangt ist,
wo sich vor ihm die Wege scheiden, und er keinen zu gehn wagt, weil ihn auf
keinen die innere Notwendigkeit führt, der wird nach einigen Gläsern Weins
leicht und schnell einen Entschluß fassen und so in Geschwindigkeit über das
Hindernis hinauskommen. Aber am andern Morgen wird er mit großer Ver¬
drießlichkeit ausstreichen, was er geschriebett hat. Und wer es gar wagt, in
dem Zustande, der auf reichlichen Weingenuß zu folgen pflegt, zur Leier zu
greifen, dem ergeht es, wie Eduard Mörike erzählt:
Köstlicher kann das abscheuliche Huiä xro Mo, das einem der Alkohol
vormacht, nicht dargestellt werden. Zur Warnung ruft der Dichter zum
Schlüsse'
^"rkr
Der einzige Gott, der einen in diesem Zustand erhört, ist der Gott des
Stumpfsinns.
Welch ein Abgrund zwischen dieser Morgenstimmung und der andern, die
derselbe Dichter schildert:
Dort Alkohol — hier Idealismus.
Zur innern Freundschaft kommt es zwischen den beiden nie. Es ist ein
Spiel, ein anmutiges Pyantasiespiel, das der Idealismus mit dem Wein treibt.
Greifen wir die schönsten der geselligen Lieder Schillers und Goethes
heraus!
So beginnt Schillers Dithyrambe.
Wie soll der Dichter die Himmlischen bewirten? Er hat nichts, was
ihrer würdig wäre, als die Sehnsucht. So bittet er sie, ihn empor zu heben
zum Olymp.
Seine Bitte wird erfüllt. Hebe schenkt dem Dichter ein. Er empfängt
und trinkt, und ^ -» . . ^ r >"
Das himmlische Ideal des Trunks wirkt gerade das Gegenteil wie sein irdisches
Zerrbild. Der Alkohol regt den Busen auf und trübt das Auge.
Und nun das schon erwähnte Goethische Bundeslied! Wohl, zu seinem
Beginn erscheint der Wein. Er erhöht die Stunde im Vereine mit der Liebe.
Es wird angestoßen; der neue Bund wird gefeiert, des alten gedacht. Dann
aber erhebt sich das Lied und zieht immer höhere, weitere Kreise. Die Liebes-
mnigteit, die Freiheit, die Großheit, alles Herrliche, was im Bunde gedeiht,
wird besungen. Zum Schlüsse heißt es:
Wo ist der Wein geblieben? Er ist völlig vergessen, denn der Idealismus
tut seine königlichen Flüge.
Diese Überwindung des Niederziehenden durch den emporstrebenden Geist
hat im hellenischen Volke ein Werk von unermeßlich segensreichen Folgen
vollbracht. Es war eine furchtbare Gefahr für das Hellenentum, als der
Kultus des thrakischen Sonnengottes Dionysos herniederbrauste auf die
griechischen Länder und Inseln und wie im rasenden Sturm Männer und
Frauen in seinen orgiastischen Taumel riß. Der fremde Gott, dessen Lust es
war, Phantasie und Empfindung zu höchster Spannung emporzutreiben, bis
die menschliche Seele in unerträglicher Erregung ihren Kerker sprengte, um
in ein mächtigeres Leben aufgenommen zu werden, dieser Gott, den sich die
Thraker als einen Taumelnden, Trnnknen dachten, nahm den berauschenden
Wein in seinen Dienst, um die Menschen zu seinen tosenden Dienern zu
machen. Aber was widerfuhr dem Gott bei den Hellenen? Er wurde ge¬
mildert, gesittet, geadelt; aus dem Gotte des Rausches wurde der Gott der
gesteigerten Lebensfreude, die er allen Menschen gönnt. Er trat neben Ceres
hin, der Spenderin des Brotes, und wurde mit ihr der menschenfreundlichste
unter den Göttern, der Retter, der Befreier, der Liebling der Sklaven. Aber
noch mehr! Er reichte dem hehren Apoll die Hand, er trat in den Reigen
der Musen. Der berauschende Strudel wurde gebannt durch das Zauberwort
der Kunst. Das tosende Jauchzen, der tolle Sinnengenuß ist aus der Höhe
der Gottheit herniedcrgesunken auf den platten Boden, wo des Dionysos
dienendes Gezücht, die Satyrn, die Silenen und die Mänaden ihr Wesen
treiben; er selber aber, an seine Ariadne gelehnt, sieht in seligem Frieden dem
tollen Treiben zu, träumerischen Blicks, in weicher, linder Sehnsucht. Und
aus den dionysischen Festen ist die Tragödie erstanden, eine der hehrsten
Gaben, mit denen hellenischer Geist die Welt beschenkt hat. Bergetief liegt
unter diesem Kinde des Dionysos alles, was die volksmüßige Vorstellung mit
dem Faßreiter Bacchus, der im Bremer Ratskeller spukt, in Verbindung bringt.
Wir sehen, der Wein kann der Ausgangspunkt für den Idealismus sein;
aber wo sich dieser in seiner höchsten Kraft betätigt, läßt er den Wein weit
hinter sich zurück, wie der Pfeil die Kerbe des Bogens.
Und wenn sich der Idealismus zum Wein wendet und ihm zu huldigen
scheint, so ist es wahrhaftig nicht der Alkohol, den er meint, sondern der
geistige Inhalt, den er aus seinem eignen unerschöpflichen Börne nimmt und
in den Wein hineinlegt. Die Poesie feiert den Maitrank, aber sie meint die
Lieblichkeit der Mainacht. Sie besingt den Abschiedstrunk, aber sie meint die
Wehmut des Scheidens. Sie preist die Reben, die zwischen Frankreich und
dem Böhmerwnld wachsen, aber sie meint die Herrlichkeit des Vaterlandes.
Wo sie aber den Anschein nimmt, als ob sie in dem Wcinschlurf selber
etwas Schönes und zu Feierndes sehe, da macht sie von ihrem Rechte Gebrauch,
die Wirklichkeit zu verklären durch ihr eignes wundersames Licht. Der Dichter
hat die Gabe des Midas. Was er anrührt, wird zu Gold.
Ein zechender Landsknecht war gewiß in Wirklichkeit keine anmutige
Erscheinung; wem aber geht nicht das Herz auf, wenn im Liede des
„tuenden Brüderleins" der verwogne Gesell, dem der Leichtsinn und die Gut¬
mütigkeit aus den Augen lachen, in die Tür der Schenke tritt und der Dirne
urue:
Der Zwerg Perkeo war in Wirklichkeit ein ekelhafter Bursche; unser Scheffel
hat aus ihm einen Philosophen des Weines gemacht, und wer möchte so
poesielos sein, daß er an diesem Perkeo nicht seine Freude hätte? Wenn
jemand sagt, die Poesie solle dergleichen Stoffe meiden, so antwortet ihm die
Muse: Laß deine Finger weg, das verstehst du nicht, denn du bist ein
Philister; mein ist die ganze Welt, dir gehört dein Winkel.
Es gibt kein schöneres, herzerquickenderes Bild der aus der Sinnlichkeit
quellenden Lebensfreude als jener Rembrandt, wo der Künstler seine Saskici
auf dem Schoße hat und das Glas mit dem perlenden Wein hochhebt. Wer
kann in diese vier lachenden Augen schauen, ohne daß ihm das Herz aufgeht?
Wer denkt bei diesem Anblick daran, daß es ein verderbliches Gift gibt, das
Alkohol heißt? Gewiß kein Mensch, der natürlich empfindet. Die Schönheit
und die Freude, die aus dem Bilde lachen, stammen aus dem Gemüte des
Künstlers, und alle sinnliche!? Dinge, die im Bilde erscheinen, haben Glanz
und Duft aus diesem Gemüte, Sie selber sind für sich gleichgiltig; ihren
einzigen und so unvergleichlich hohen Wert haben sie durch das Geistige, das
die idealistische Lebensanschauung des Künstlers in sie hineingelegt hat.
Hier ist ein einzelner Mensch der Idealist, ein andermal ist es ein ganzes
Volk. Wenn wir Deutsche seit Klopstocks Tagen den Rheinwein preisen, so
ist es der Rhein selber, dem unsre Liebe und unser Rühmen gilt. Leuchtet
der Rheinwein im Römer, dann hören wir den heiligen Strom rauschen
im Mondenlicht, und aus der Blume duftet uus die starke Würze deutschen
Wesens.
Der Idealismus braucht sinnliche Träger für seine heilige Flamme; aber
seine Leuchte ist nicht an bestimmte Träger gebunden, jeden einzelnen kann
er entbehren. Er wühlt sich dann einen andern. Und von jedem einzelnen,
den er gewählt hat, befreit er sich: er überwindet ihn und löst ihn auf in
Glanz und Dufthauch. Er ist wie der Blitzstrahl, der aus der Wolke fährt:
ist keine Pappel da, so zuckt er in die Eiche, und ist keine Eiche da, so
schießt er in den Hausgiebel; aber was er ergreift, das löst er auf in Licht
und Glut.
So ist auch der Alkohol einer von den unzähligen, die die Lebenspoesie
begnadigt, dann und wann ihr Diener zu sein. Die Herrin gibt ihrem Knechte
auch einmal ein Kissen zu tragen, worauf eine Krone ruht, oder ein Kästchen,
das mit Juwelen gefüllt ist. Und wenn er sich artig zu stellen weiß als
hübscher Cherubino, dann kann sie ihn auch einmal herausputzen und mit ihm
tändeln; warum nicht? Aber wenn sie standesgemäßen Besuch bekommt, dann
schickt sie ihn fort. Sie kann ihn auch ganz entbehren, ohne im geringsten
etwas zu vermissen; ist sie doch so reich an Dienern!
Jedoch wenn der Knecht zum Herrn wird, dann richtet er die arme schöne
Königin unfehlbar zugrunde, schmählich und jammervoll.
in 14. Oktober 1806 waren die beiden preußischen Feldarmeen
von Napoleon geschlagen worden, und mit dem fridericianischen
Staate war es zu Ende. Die schmachvolle Übergabe der Festungen,
die Auflösung des Heeres, die klägliche Ohnmacht des Beamten¬
tums, der Stumpfsinn des Volks, die Verzweiflung der Besser¬
denkenden, der ehr- und schamlose Hohn und Abfall des hohen und des niedern
Pöbels, der vor dem empörenden Übermute des Siegers kroch — das waren
die bittern Eindrücke, die mit fürchterlicher Schnelligkeit aufeinander folgten.
Aber so gewaltige Erschütterungen waren notwendig, den faulen Stoff aus dem
Lebensorganismns des Staatskörpers auszutreiben und für neue, gesunde Säfte
Platz zu schaffen. Freilich war der Tag von Jena und Auerstädt nicht das
Ende der Demütigung, sondern vielmehr ihr Anfang; aber er brachte doch auch
das Gute mit sich, daß die Lüge der erträumten Macht in ihrer Nichtigkeit
offen dalag, daß man erkannte, es sei vorbei mit der prahlerischer Selbst¬
täuschung der Vergangenheit, und daß die Leichtfertigkeit und Liederlichkeit der
Gesinnung am Boden lag oder dem Feinde zugetrieben wurde. Mitten in der
beispiellosen Verwirrung und Auflösung der alten Zustände erwachte die Trieb¬
kraft zum Bessern. Daß der Staat des großen Friedrichs an der Saale zerbarst,
war für Preußen und Deutschland die herbste Prüfung. War die Nation noch
einer Fortdauer wert, so mußte sie es jetzt zeigen. Und sie zeigte es.
Ans den beiden Flügeln der großen Armee, in Pommern, in Westpreußen
und in Schlesien, wurde der Festungskrieg fortgesetzt. Zwar lieferten auch hier
Kopflosigkeit, Verzweiflung, Feigheit und Leichtsinn manche Festungen dem
Feind aus, aber nicht einmal das Elend dieser Zeit der Enttäuschung hat es ver¬
mocht, die Erinnerung an Taten der Aufopferungsfreudigkeit und der Hingebung
an König und Vaterland zu verwischen. Derselbe Glanz, der die Namen
Gneisenau, Schill, Graf Götzen n. a. umleuchtet, wirst auch seinen verklärenden
Schimmer ans den des alten Helden von Graudenz, dessen Lebensbild in den
folgenden Abschnitten gezeichnet werden soll.
Guillaume Neue de l'Homme, Seigneur de Courbiere, stammte aus einer
in der Dauphine, bei Grenoble, einstmals begüterten Adelsfamilie, deren Glieder
größtenteils wegen ihres reformierten Glaubensbekenntnisses infolge der Auf¬
hebung des Edikts von Nantes uach den Niederlanden ausgewandert waren.
Sein Vater, Alexois de l'Homme, starb als Major in niederländischen Diensten.
In Maastricht erblickte der spätere Verteidiger von Graudenz am 23. Februar 1733
das Licht der Welt. Schon im Alter von vierzehn Jahren trat er in dasselbe
Regiment, worin sein Vater stand, in das Regiment von Leyden (früher von
Span) ein und machte in ihm den Schluß des österreichischen Erbfolgekriegs
mit. So war er zum Beispiel bei der tapfern Verteidigung der Stadt Bergen
op Zoom tätig, die nach fast dreimonatiger Belagerung von den Franzosen
unter Marschall Löwendahl 1747 eingenommen und geplündert wurde. Als
nach dem Aachener Frieden die Stärke des niederländischen Heeres vermindert
wurde, wurde auch der junge Courbiere verabschiedet, bald jedoch wieder, 1755,
durch ein Patent der Prinzessin Anna, der Mutter des Erbstatthalters der
Niederlande, als Souslieutenant in seinem Regiment angestellt.
Noch in demselben Jahre verließ er jedoch den holländischen Dienst und
ging mit dem spätern General von Colignon nach Preußen, wo er 1757 als
Jngenieurkapitän in den Dienst des großen Friedrichs trat, dessen Name schon
damals in ganz Europa begeisterte Bewunderung erregt hatte. Beim Ausbruch
des siebenjährigen Krieges wurde er Hauptmann in dein von dem berühmten
Parteigänger, Obersten von Mähr, 1756/57 errichteten Freibataillon. Bei der
ersten Belagerung von Schweidnitz zeichnete er sich schon so ans, daß der König
den Fünfundzwanzigjährigen am 20. Oktober 1758 zum Major beförderte und
g,ä ivtsrirn mit der Führung des Freibataillons betraute, das aber noch den
Namen von Colignon führte. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß sich der
junge Kommandeur unter den Angen des Königs selbst im Oktober 1759 bei
der tapfern Verteidigung der kleinen, offnen Stadt Herrnstadt in Schlesien gegen
die Russen unter Soltikoff neue Lorbeeren erwerben konnte. Zur Belohnung
für die tapfere Waffentat beförderte ihn der König am 6. März 1760 außer
der Reihe zum Oberstleutnant und Chef des Freibataillons, dessen bisheriger
Inhaber von Colignon das früher Angelellische Freibataillon bekam. Am
13. Juli desselben Jahres erhielt er deu Befehl, dem Heere vorauszueilen und
die Belagerung von Dresden vorzubereiten. Hier gelang es ihm, den Großen
Garten vom Feinde zu säubern und die Garnison durch das völlig ungewohnte
Schützenfeuer seiner leichten Infanterie stark zu beunruhigen. Dafür erhielt er
vom König den Orden ?c>ur Is irmrlts und ein „Bandgeld" von hundert Gold¬
stücken. Auch bei dem Entsatze von Kolberg, sowie in den Schlachte,: von
Liegnitz und Torgau zeichnete er sich aus. Als der König von Dresden nach
Schlesien marschierte, erhielt Courbiere den ehrenvollen Auftrag, seinen Herrscher
mit dem Freibataillou und deu Husaren Zielens als Avantgarde zu begleiten.
Da der König die Avantgardetrnppen persönlich befehligte, bot sich für den
jungen Stabsoffizier hänfig die Gelegenheit, sich mit dem König zu unterhalten,
im täglichen Verkehr mit ihm bekannter zu werden und sich dessen Wertschätzung
auch als Mensch zu erwerben. Das königliche Vertrauen fand darin seinen
Ausdruck, daß Courbiere 1761 auf den pommerschen Kriegsschauplatz entsandt
wurde, wo er mit zwei Bataillonen und zehn Schwadronen den Postenkrieg
gegen die Russen selbständig leiten sollte. Hier traf ihn am 20. Oktober das
Unglück, bei Baumgart vom Pferde gestochen und in russische Gefangenschaft
abgeführt zu werden. Bei dem durch die Thronbesteigung Peters des Dritten
verursachten Umschwung der politischen Verhältnisse wurde er jedoch bald wieder
frei. Während des Winters von 1760 und 1761 war das Freibataillon zu
einem Regimente von zwei Bataillonen verstärkt worden. Courbiere führte
jedoch immer nur das erste Bataillon, während das zweite unter dem Befehle
des Prinzen Heinrich in Sachsen stand. Bei der Heeresverminderung nach dem
Hubertusburger Frieden von 1763 wurden alle Freibataillone aufgelöst: nur
das von Courbiere geführte blieb erhalten, wahrscheinlich deshalb, weil der König
gesehen hatte, wie Courbiere es verstand, die allen möglichen Lebensverhältnissen
entnommenen Leute zu gehorsamen, tüchtigen und leistungsfähigen Soldaten
zu erziehn. Aus diesem Grunde wurde Courbiere auch nicht beiseite gestellt,
sondern zum Kommandanten von Emden ernannt. Dort vermählte er sich mit
der Freiin Weiß von Tannenberg, der Tochter eines verstorbnen Kapitäns.
Der König hatte ihm bei der Erteilung der Heiratserlaubnis ein gnädiges,
eigenhändiges Schreiben zugehn lassen. Courbieres Ehe währte 43 Jahre, und
die Gattin schenkte ihm neun Kinder, deren einige kurze Zeit ihre Schulbildung
durch den bekannten Dichter Seume empfingen, der als gemeiner Soldat diente
und in Courbiere einen hochherzigen und mitleidigen Vorgesetzten fand. Da
die Verminderung des preußischen Heeres nach dem Frieden einen Stillstand
in der Beförderung herbeigeführt hatte, mußte Courbiere bis zum 9. Sep¬
tember 1771 auf seine Beförderung zum Obersten warten. Einen neuen
Gnadenbeweis des Königs empfing er durch die gegen Ende Februar 1778
erfolgte Ernennung zum Drosten von Leer. Das Amt war eine mit guten
Einkünften ausgestattete Sinekure, da die wirklichen Drosteigeschüfte von einem
Stellvertreter besorgt wurden. Courbicres Bataillon war damals das einzige
leichte im preußischen Heere, und sein Kommandeur arbeitete eifrig daran, es
für den Felddienst immer geschickter zu machen. Er wünschte dringend die Ein¬
richtung mehrerer solcher leichten Bataillone, deren hohe Brauchbarkeit im Felde
er ja genugsam erprobt hatte, und schrieb über diesen Gegenstand mehrere
Denkschriften an den König, der ihm die Errichtung vou sechs Füsilierbataillonen
anbefahl. Die letzte Gnade des Königs bestand in der am 4. Juli 1780 er¬
folgten Verleihung des Generalmajvrpatents, die er mit einem eigenhändigen,
schmeichelhaften Handschreiben begleitete, worin es heißt:
I^s souvsnir Ah Aos xioMSSsss se cke vos looM se üäslss Services x^rleut
»Mlsment «zu kuveur as votrs äsnmnäs an 27. cle -tulit äsruier, se -1s vsux bisn
vsus Klüver a,u Ar-^as as AMSiÄ-iiaaM'. I^es oräros sont äiM äoruiKs xonr t'vx-
xsäition (in bropst se ^s suis xsrsnaäs, cjuo vous trouverss! äans estts äistmetiou
un ncmvsau motik aux ssutimsots se clispositions <M sxxriwv votrs susäite Isttrs.
8ur es <Sö xris visu pu'it vous s>it su 8» s^mes et al^us xarcls.
Bald darauf erhielt Courbiere den Befehl, den König auf einer Besichti¬
gungsreise nach Schlesien zu begleiten. Das war im August und Sep¬
tember 1780. Bald nach dem Tode des großen Königs befahl sein Nachfolger
Friedrich Wilhelm der Zweite dem General Conrbiere, zwei Füsilierbrigaden
zu errichten, und stellte ihm dazu das in der Bildung begriffne Freiregiment
von Müller, das dritte Bataillon des Regiments von Leipziger, das stehende
Grenadierbataillon Ur. 1 und ein Garnisonbataillon zur Verfügung. Cour¬
bieres neue Garnison war Magdeburg. Am 20. Mai 1789 zum General¬
leutnant befördert, zog er an der Spitze der Garden 1792 in den Krieg gegen
das republikanische Frankreich. Er nahm Verdun ein, dessen Gouverneur er
wurde, als später seine Truppe zur vormarschierenden Armee gezogen wurde.
An ihrer Stelle erhielt er zwei Bataillone und ein Korps französischer Emi¬
granten unter dein Befehl des Grafen von Mortange in einer Stärke von
1500 Mann; er war aber mit dieser Emigrantentruppe höchst unzufrieden, wie
aus seinem Bericht vom 2. Oktober 1792 an den Herzog von Braunschweig
hervorgeht, worin er schreibt: „Überhaupt ist mit diesen Menschen nichts zu
machen, und ein Bataillon von unsrer Armee würde mir in allen Fällen lieber
wie 1500 Emigranten sein/' Er behielt jedoch die Franzosen nicht lange unter
seinem Befehl. Der Marschall Broglio, Oberbefehlshaber aller Emigranten, hatte
es übel vermerkt, daß seine Leute nicht in der Stadt selbst, sondern in den Vor¬
städten Quartiere angewiesen erhalten hatten, und befahl deshalb dem Grafen
von Mortange den Abmarsch. Der Widerspruch Courbieres wurde nicht be¬
achtet. Auch die Vorstellungen des Barons dn Breteuil, der Kommissar des
Grafen von Provence bei der Armee war, und an den sich Conrbiere gewandt
hatte, machten auf Broglio keinen Eindruck, und der Graf von Mvrtange
marschierte mit seiner Truppe ab. Statt der dringend erhellten Verstärkungen
erhielt Courbiere nun den Befehl, Nerdnn gegen möglichst günstige Bedin¬
gungen dem Feinde zu übergeben, seiue Truppen jedoch dem Korps des Grafen
von Kalckreuth zuzuführen und sich persönlich ins königliche Hauptquartier zu
begeben. Als nun der französische Revolutionsgeneral Dillon vor der Festung
erschien, erfolgte gleich auf die erste Aufforderung am 12. Oktober die Über¬
gabe, da die Besatzung nicht einmal zum Verschen des leichtesten Wachtdienstes,
geschweige denn zur Verteidigung ausreichte und überdies die starke republikanische
Partei in der Stadt bisher nnr mit Anstrengung hatte niedergehalten werden
können. Am 14. Oktober zog die Besatzung mit klingendem Spiel und brennenden
Lunten ab, und Courbiere begab sich nach Mcmgiennc, um sich beim König zu
melden. Dort erhielt er sofort den Befehl, mit einer Truppenabteilung von
sechs Bataillonen, fünf Schwadronen und zwei Batterien nach Koblenz zu mar¬
schieren, dort die sogenannte Kartcmse zu besetzen und fortifikatorisch zu ver¬
stärken, mu den Feind am Rheinübergang zu verhindern und einen Stützpunkt
für fernere Unternehmungen zu gewinnen. Erschwert wurde dem General die
Wirksamkeit in Koblenz durch die Anwesenheit zahlreicher französischer Spione,
die sich in Verkleidungen in dein Gewimmel der Emigranten in Koblenz be¬
wegten. Die vom König befvhlne strenge Überwachung war eine Aufgabe,
deren Lösung nur durch gänzliche Entfernung aller Emigranten möglich ge¬
wesen wäre. Diese Lösung aber scheiterte an der wohlwollenden Gesinnung
des Königs.
Im Feldzuge deS Jahres 1793 erhielt Courbicre den Befehl über den
linken Flügel der Armee des Herzogs von Braunschweig, und in dieser Stellung
führte er die Entscheidung in der Schlacht von Pirmasens herbei. Als er
nämlich auf dem Kirchberge bei Pirmasens anlangte, erkannte er die Lage der
Schlacht, marschierte links ab und warf den feindlichen rechten Flügel. Mit
seinen letzten noch verfügbaren Bataillonen — es war das zweite Bataillon
des Regiments von Wolframsdorf — verfolgte er den abziehenden Feind bis
zum Dorfe Nicdclbcrg, zog unterwegs noch das zweite Bataillon Prinz
Ferdinand und zwei Schwadronen Lottum-Dragoner nebst einer halben reitenden
Batterie heran und nahm dieses Dorf, Als später wieder der Vormarsch an¬
getreten wurde, befehligte er ein detachiertes Korps von sieben Bataillonen
nebst einiger Reiterei und Artillerie und nahm mit diesen Truppen eine Stellung
bei Bobenthal und Bondenthal an der Lauter ein, um den rechten Flügel der
kaiserlichen Armee unter dem General Grafen Wurmser und den linken Flügel
der Preußen zu decken, wo der Erbprinz von Hohenlohe den Befehl hatte. Als
Belohnung für die Wasfentat bei Pirmasens erhielt Conrbierc den großen
Orden vom Noten Adler. Der Kronprinz benutzte die Gelegenheit, den
General durch ein eigenhändiges Glückwunschschreiben zu erfreuen, dessen Schluß-
wenduug lautete:
Unter vielen Nachrichten war sobald mir keine angenehmer, und mein Ver¬
gnügen darüber wird vollkommen sein, wenn Sie in dem Besitz dieses Ordens
diejenige Satisfaktion finden, welche ich so aufrichtig Ihnen wünsche als des Herrn
Generallentnants sehr wohl affektwnierter Freund > ^ > . c^>.,< ,"^
Da die Niederlage der kaiserlichen Truppen den Rückzug der preußischen
Armee zur Folge hatte, rückte mich Courbiere in die Winterquartiere. Im
Postenkriege des Feldzugs von 1794 zeichnete er sich unter dem Oberbefehl
des Feldmarschalls von Möllendorf bei Trippstadt und bei andern Gelegen¬
heiten aus. Nach dem Frieden von Basel kehrte er in seine Garnison Magde¬
burg zurück. Seinen oft geäußerten Wunsch, ein eignes Infanterieregiment
errichten zu dürfen, erfüllte der König am 12. September 1797, indem er ihn
beauftragte, das Regiment aus einem Grenadierbataillon, zwei Musketier-
bntaillonen und einem vierten Bataillon zu bilden. Conrbieres neue Garnison
war Bartenstein, wo er am 15. Oktober eintraf.
Der Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms des Dritten brachte jedoch
eine Veränderung und Erschwerung dieses Befehls, da Courbiere seine Garnison
in Goldap nud seinen Kanton in der neu erworbnen Provinz Ncnostprenßcn
erhielt, deren Kantonisten böswillig waren. Dazu kam die Schwierigkeit der
Polnischen Sprache. Trotz aller Erschwerungen errichtete Conrbierc jedoch in
kurzer Zeit sein Regiment, über dessen Offizierkorps der General von Nhaden
in den „Wanderungen eines alten Soldaten" das rühmende Urteil fällt, es
habe aus dem Holze bestanden, ans dem man Generale schmilzt. Daß dem in
der Tat so war, bezeugen die Namen der aus ihm hervorgegangueu Generelle
von Horn, von Roter, von Brauchitsch, von Kamptz, von Tippelskirch, von Legat
und andre. Am 20. Mai 1798 ernannte der König Conrbiere zum General
der Infanterie, um ihn, wie er in dem Kabinettsschreiben sagt, „für seine lang¬
jährigen, treuen Militärdienste, für seinen Eifer und für seine in so vielen
Kampagnen gezeigte Erfahrung und Tapferkeit einen öffentlichen Beweis Seiner
Gnade und Erkenntlichkeit zu geben." Auch fügte er hinzu, „wie es Ihm die
größte Genugtuung sein würde, wenn der General solches als eine wohlver¬
diente Belohnung ansehe." Die erste Besichtigung durch den König erlebte das
neue Regiment im Jahre 1802. Es marschierte vou seiner Garnison Goldap
nach Kalthoff bei Königsberg. Courbiere wohnte der Besichtigung an den beiden
ersten Tagen bei, erhielt aber den Befehl, nach Memel abzugehn, um dort den
Befehl über eine Truppeunbteilung von sechs Bataillonen, fünfzehn Schwadronen,
sechs Bataillonsgeschützen und einer halben reitenden Batterie zu übernehmen,
die der König gleichfalls besichtigen wollte. Bei diesem Anlaß wurde Courbicre
von seinem Herrscher mit dem Schwarzen Adler ausgezeichnet; auch erhielt er
von dem als Gast anwesenden Kaiser Alexander von Nußland eine goldne, mit
Brillanten besetzte Dose. Am 20. Mai 1803 wurde er Gouverneur von
Graudenz. Diese Stellung war jedoch für ihn zunächst nur eine Sinekure, die
ihm eine Gehaltszulage von 1200 Talern einbrachte, denn er blieb weiter in
seiner Garnison Gvldap, während der General von Treskow, sowie später der
hochbetagte General von Pirch als Kommandanten die Geschäfte des Graudenzcr
Gouvernements leiteten. Als im Jahre 1805 die Mobilmachung angeordnet
wurde, die eiuer durch Rußland zu befürchtenden Neutralitätsverletzung be¬
gegnen sollte, erhielt er den Befehl, sich persönlich nach Graudenz zu begeben,
da, wie es in dem Befehl heißt, „die besondre Wichtigkeit dieses Platzes bei
den jetzigen bedenklichen Zeiten" dort einen Mann erforderte, zu dem der König
„ein vorzügliches Vertrauen" habe. Aber bald trat eine Änderung in der
politischen Lage ein, nach der man Rußland nicht mehr als den erwarteten
Feind anzusehen brauchte. Die begonnene Armierung der Festung Graudenz
wurde schon am 19. Oktober eingestellt und die Palisadierung ganz unterlassen.
Courbiere erhielt den Befehl über alle in Preußen zurückbleibenden Truppen
und zugleich Königsberg als Garnison, während der Inhaber dieses Kommandos,
der General von Rüchel, zum Heere abging. Courbieres Aufgabe war sehr
wichtig, da die neuen Provinzen Ncnost- und Südpreußen fortgesetzt eine starke
Besetzung, besonders der preußisch-russischen und der preußisch-österreichischen
Grenzen, und die von Banden flüchtig gegangner Dienstpflichtiger verübten
Räubereien ein bewaffnetes Einschreiten forderten. Im Januar 1806 wurden
die drei Neservekorps des Feldmarschalls von Möllendorf, des Herzogs Eugen
von Württemberg und des Generalleutnants von Thile demobil und bezogen
ihre Friedensgarnisonen, wie auch die in Preußen znsammengezognen Truppen.
Da Courbiere nun nichts als die Gouvernementsgeschäfte in Königsberg zu er¬
ledigen hatte, die seinen Tätigkeitsdrang nicht befriedigten, erbat und erhielt er
seine Entbindung von diesem Kommando und kehrte nach Goldap zurück. Schon
im Angust 1806 aber erhielt er den Befehl über die ostpreußischen Regimenter,
da die beiden Generalinspekteure, der General der Kavallerie Graf von Kalck-
reuth und der Generalleutnant von Rüchel, zu der wieder mobilgemachten Armee
abgingen. Die Aussicht, in einem nahe bevorstehenden Feldzuge gegen Napoleon
nicht mitwirken zu können, sondern in einer Stellung zurückbleiben zu müssen,
die seiner Tatkraft nicht entsprach, war ganz geeignet, den alten, tapfern Feld¬
soldaten unglücklich zu machen. Er richtete deshalb sofort nach dem Eingänge
des königlichen Befehls ein Gesuch an den König um Verwendung bei der
Feldarmee, worin er ausführte, daß „es ihn äußerst glücklich machen werde,
an des Königs Seite zu siegen oder zu sterben, seine Gesundheit anch noch so
beschaffen sei, wie solche zu Anfang der französischen Kampagne (1792) war."
Der König aber genehmigte das Gesuch nicht. Vielleicht hielt er den vicrund-
siebzigjährigen General in der Tat nicht mehr für felddienstfähig, oder er ließ
sich durch die Erwägung bestimmen, daß Courbiere, der nächst den Feld-
marschüllen Herzog von Vraunschweig und von Möllendorf der älteste General
in der Armee war, den als tüchtig geltenden Generalen Graf von Kalckrenth
und Fürst von Hohenlohe im Kommando hätte vorgezogen werden müssen. Um
aber dem hochverdienten alten Herrn einen Beweis seines Wohlwollens zu
geben, ernannte er ihn von seinem Hauptquartier Naumburg aus am 29. Sep¬
tember zum Vizegouverneur von Königsberg. Der eigentliche Gouverneur, der
Generalleutnant von Rüchel, stand bei der Armee. Mit dieser Stellung war
für Courbiere eine Zulage verknüpft, die ihm durch das königliche Wohlwollen
zufloß. Der alte Herr mußte sich fügen; aber bald sollte ihn das Schicksal
auf die Stelle bringen, in der er sich sein größtes, sein unsterbliches Verdienst
erwarb.
Nach der Veeudignng des unglücklichen Feldzugs an der Saale begab sich
das Königspaar mit dem Hofstaat, dem Oberkriegskollegium, den Chefs aller
zum Kriegswesen gehörenden Abteilungen und den höchsten Staatsbehörden nach
Preußen, begleitet von einem wirren Trosse von versprengten Husaren, Garde-
grenadiereu, Garde du Corps, Dragonern des Regiments von Auer, Artilleristen,
reitenden Jägern usw. und einer Menge flüchtender Privatleute. Inzwischen
war der größte Teil der in Preußen zurückgebliebnen Truppen schon früher
mobil gemacht und nach der Weichsel in Bewegung gesetzt worden, wo der
Generalleutnant von L'Estocq den Befehl übernehmen sollte. Anfang November
erhielt der General der Kavallerie Graf Kalckrenth den Befehl über die ge¬
samten mobilen Streitkräfte. Conrbiere sollte die befohlnen Neuforinationen
von Königsberg ans leiten. Aber es kam nicht dazu. Da der König den von
Napoleon cmgebvtnen Waffenstillstand abgelehnt hatte, wurde die Weichsel der
nächste Kampfgegenstand, und den Weichselfestnngen fiel ganz unerwartet die
wichtige Aufgabe zu, den Besitz der preußischen Lande zu sichern. Infolgedessen
erhielten die Gouverneure den Befehl zur persönlichen Übernahme ihrer Festungen.
Graf Kalckreuth ging also nach Danzig und Courbiere nach Graudenz, während
L'Estoeq den Befehl über die mobilen Truppen übernahm und Rüchel, als
neuernannter Generalgouverueur von Preußen, die nen zu formierenden Truppen
befehligen und zugleich sein Gouvernement Königsberg leiten sollte. Der
General von Besser, der neuernannte Kommandant von Graudenz, traf in der
Festung^) am 6. November, der Gouverneur Courbiere am 9. November ein.
Schon seit dem 2. November weilte der König in der Stadt, und Graudenz
wurde der Sammelpunkt für alle Hof- und Staatsbehörden, sowie für das
militärische Gefolge lind die Reste des preußischen Heeres. Es waren z. B.
damals in Graudenz der Kriegsminister von Diethardt, der Generalleutnant
von Geusau, Generaliuspekteur der Festungen, die Prinzen Wilhelm und Heinrich
»ut der Prinz von Koburg, der Prinz Eugen von Württemberg, der General-
leutnant von L'Estocq, die Generale von Laurens, von Meerkatz, von Missitschek,
von Knobelsdorf, von Köckeritz und zahlreiche Offiziere aller Regimenter und
Dienstgrade. Dabei herrschte, wie es mir natürlich war, ein unablässiges Gehen
und Kommen, Treiben und Drängen, Fragen und Sorgen.
Seit dem 30. Oktober wurde an der von Schneidemühl aus befohlnen
fortifikatorischer und artilleristischen Armierung der Festung gearbeitet. Am
4. November wurden die Befehle zur Verproviantierung erlassen. Der König
selbst besah die Werke und ordnete an, was geschehen sollte. Aber die Ar¬
mierung hatte mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der einzige diensttuende
Jngenieuroffizier am Platze war der Leutnant Streckenbach, denn der Jngenieur-
leutnant von Bronikowski, der außer diesem in der Festung stand, hatte durch
einen Sturz von« Pferde das Bein gebrochen. Ende November war von
20000 Palisaden erst wenig mehr als der vierte Teil aus dem Graudenzer
Stadtwalde geliefert. Auch die Verproviantierung machte nur langsame Fort¬
schritte. Zwar gab es eine von der Kriegs- und Domünenkammer zu Marien¬
werder entsandte Kommission in Graudenz, aber sie stieß in ihren Bemühungen
auf große Hindernisse, die in der unerhörten Kopf- und Ratlosigkeit der Be¬
hörden und der Gemeindevorstände bestanden und durch keine Autorität zu be¬
seitigen waren. Die Friedensvorräte erwiesen sich bei einer durch den Ober¬
proviantmeister Major zu Putlitz vorgenommenen Besichtigung größtenteils, der
Roggen sogar völlig unbrauchbar. Es ist kein Wunder, daß alle diese Wahr¬
nehmungen und die beispiellos ängstlichen Anstrengungen der an der Wehrhaft-
machung der Festung beteiligten Personen in Verbindung mit den wiederholt
eintreffenden Hiobsposten von außerhalb die Gemüter niederdrückten und lähmten.
Die Bürgerschaft fürchtete — und zwar mit Recht, wie sich später zeigte —,
die Stadt werde von einem feindlichen Belagerungskorps besetzt und dann von
der Festung aus beschossen werden. Wer also in der Lage war, fortzuziehn
und Fuhrwerk zu erhalten, flüchtete aus der gefährdeten Stadt.
Sehr wenig befriedigende Zustände herrschten auch bei den Verteidigungs¬
truppen der Festung. Die Friedensgarnison hatte aus zwei dritten Musketier¬
bataillonen, sogenannten Depotbataillonen, der Regimenter von Manstein und
von Natzmer und aus zwei Jnvalidenkompagnien bestanden. Nun wurden noch
herangezogen die beiden Depotbataillone der Regimenter Jung-Larisch und Ham-
berger, sowie das zweite Feldbataillon des Regiments von Besser (das jetzt das
dritte ostpreußische Grenadierregiment Ur. 4 ist). Ein Remontekommcmdo Blücher¬
husaren, eine schwache Schwadron unter Führung des braven Premierleutnants
von Hymnen, wurde angehalten. Von der an der Saale geschlagner Armee
waren das Füsilierbataillon des tüchtigen Oberstleutnants Borel du Vernay,
der Rest des Füsilierbataillons Knorr und eine Jägerkompagnie unter dem
Kapitän von Valentini bis nach Graudenz durchgekommen. Artillerie war ver¬
hältnismüßig viel vorhanden: zunächst die Garnison-Artilleriekompagnie Ur. 13,
die schon im Frieden in Graudenz gewesen war, unter dem Stabskapitän Schöne¬
wald, ferner die Kompagnie 48 des Königsberger vierten Fußartillerieregiments
und die sechspfündige Batterie Ur. 2 mit zwölf schweren Geschützen, die von
einem Teile des in Berlin stehenden ersten Fußartillerieregiments unter dem
Befehl des Kapitäns von Pritzelwitz besetzt waren. Diese Truppe war erst
nachträglich mobil gemacht und von Berlin nach Graudenz beordert worden,
als die unheilvolle Nachricht von Jena und Auerstädt in der Hauptstadt
eintraf. Zu den genannten Artillerietruppen traten noch kleinere Artillerie¬
abteilungen, die entweder bei der Auflösung des Heeres nach der Weichsel ent¬
kommen oder, auf dem Marsche nach Thüringen begriffen, rechtzeitig umgekehrt
waren, wie zum Beispiel die Laboratorienkolonne Ur. 6 nnter dem Fenerwerks-
leutncmt Vogt und einige Mannschaften des in Vreslau stehenden zweiten Fu߬
artillerieregiments.
Nach einem Verzeichnis vom 27. Oktober, das der um die Festung hoch¬
verdiente Oberst und spätere General von Schramm aufgestellt hat, lagen die
nachstehend aufgeführten Stücke in der Festung: 1. auf den Wällen: 11 drei¬
pfündige, 18 sechspfündige, 32 zwölfpfündige Kanonen; 5 siebenpfündige,
15 zehnpfündige Haubitzen; 2. zur Disposition: 19 dreipfündige, 3 sechspfün¬
dige, 6 zwölfpfündige, 20 vierundzwauzigpfüudige Kanonen; 3 siebenpfündige
Haubitzen; 16 fünfzigpfündige und 4 Steinmörser; 3. Summa aller: 30 drei¬
pfündige, 25 sechspfündige, 61 zwölfpfündige, 20 vierundzwauzigpfüudige Ka¬
nonen; 16 siebenpfündige, 19 zehnpfündige Haubitzen; 16 fünfzigpfündige und
4 Steinmörser.
Also betrug die Gesamtzahl der Geschütze 190. Die verfügbaren drei-
uud sechspfündigen Kanonen wurden in den kasemattiertcn Flanken und die
verfügbaren andern schweren Geschütze zur Verstärkung der angegriffnen Front
bestimmt. An Pulver waren damals 5800 Zentner vorhanden, und von
Küstrin erwartete man noch weitere 2000. Die Artilleriemannschaften, etwas
mehr als 700 Mann, waren lauter gute, ruhige und zuverlässige Leute, die
jedoch für die Zahl der Geschütze, mit denen die Festung bestückt war, wegen
ihrer geringen Zahl nicht recht ausreichten, sodaß Mörser und Vierundzwanzig-
pfünder zunächst nicht bedient werden konnten. Mit Ausnahme des Bataillons
von Besser, der Jäger, Husaren und der Artillerie hatten alle diese Truppen
ihre Kantons in Südpreußen oder doch in den polnischen Strichen von West-
Preußen. Überdies waren die dritten Bataillone erst vor kurzem durch Ein¬
ziehung der Beurlaubten vollzählig geworden.
In diesen Landesteilen, die länger als drei Jahrhunderte unter polnischer
Oberhoheit gestanden hatten und erst seit 1772 zu Preußen gekommen waren,
konnte natürlich von einer Verschmelzung der durch Sprache, Sitte und Reli¬
gion geschienen deutschen und polnischen Bevölkerung keine Rede sein. Mit
den Erfolgen der französischen Waffen war die Unzufriedenheit, besonders in
Südpreußen, gewachsen, und es brach ein Aufstand aus, der in engem Anschluß
an Napoleon die Wiederaufrichtung des alten polnischen Reichs erstrebte. Die
Franzosen taten erklärlicherweise alles, um diese Bewegung zu nähren. Es
drohte die ernste Gefahr, daß sich die aus den aufständischen Gegenden stam¬
menden Soldaten nicht mehr an den dem König von Preußen geleisteten
Fahneneid halten, sondern in Masse mentem würden. Schon auf dem Marsche
nach Graudenz hatte mau zahlreiche Fahnenflüchtige gehabt, und auch in der
Festung wurde jede Gelegenheit zur Flucht benutzt. Im Laufe der Belagerung
gingen zum Beispiel beim ersten Zusammenstoß mit den Franzosen dreißig bis
Vierzig Murr des Bataillons Borel während des Gefechts zum Feind über,
und die Wachtmannschaft auf Lünette Ur, 2, in der Stärke von dreißig Mann,
fesselte den wachthabenden Offizier, den Fähnrich von Goulard, vom Regiment
von Manstein, an Händen und Füßen mit seiner eignen Schärpe und knebelte
ihn mit dem eignen Taschentuche, worauf sie mit allen Waffen desertierte.
Mehrere Stunden war deshalb die Festung einem feindlichen Überfall offen,
und die Wache wurde erst wieder besetzt, als der inspizierende Oberst von
Obernitz die Sache entdeckte.
Inzwischen waren die Franzosen unaufgehalten vorgerückt, und der pol¬
nische Aufstand begann, sich nach Westpreußen hinüberzuziehn. Am 11. No¬
vember wußte man in Graudenz, daß die Franzosen in Bromberg, am 14., daß
sie in Schwetz angelangt seien. Am 15. November wurde in der Stadt Alarm
geschlagen, und die Garnison trat unter die Waffen. Eine Abteilung preußischer
Reiter hatte vom jenseitigen Weichselufer zwei gefangne französische Husaren
eingebracht, wobei einige Schüsse gefallen waren. Der Wirrwarr in der Stadt
war groß; überall herrschte unter der Einwohnerschaft Furcht und Bangigkeit.
Der König war zum letztenmal nach der Festung geritten und sah selbst den
Feind am jenseitigen Ufer, blieb aber mit der Königin noch in Graudenz, um
die Einwohner zu beruhigen. Am 16. November reiste der Hof mit Tages¬
anbruch nach Osterode ab, und bald darauf überbrachte ein französischer Oberst
vom Lannesschen Korps ein Schreiben. Der Major von Ziethen fuhr hinüber
und nahm es entgegen. Es war natürlich eine Aufforderung zur Übergabe
der Festung. Courbiere beantwortete sie dadurch, daß er den sogenannten
Schanzenberg, oberhalb des Zugangs zu der hart bei der Stadt liegenden
Weichselbrücke, stark mit Geschützen zu besetzen und die Brücke zu zerstören
befahl. Man hieb die Ankertaue am jenseitigen Ufer durch, ließ die los¬
gerissenen Brückenteile mit dem Strome treiben und die stehn gebliebner in
Brand stecken. Man rettete selbst von dem Brückenmaterial, was zu retten
möglich war; zwei Pontons und vierzig Ankertaue wurden eingebracht, und der
Artillerie wurden 1100 Bohlen zu Bettungen überwiesen. Das Korps des
Generals von L'Estocq, das am jenseitigen Ufer stand, um die Festungsarbeiten
zu decken, mußte am 5. Dezember die Verteidigung der Weichsel aufgeben und
nach Osterode abmarschieren, um dort den Anschluß an andre Überreste des
preußischen Heeres zu suchen. Bald darauf fielen mit der Stadt Thorn auch
die dort liegenden großen Magazine in französische Hände. Nun kamen die
Franzosen auch in die Nähe von Graudenz. Schon am 4. Dezember hatten
die.Husarenpatrouillen mit französischen Chasseurs auf der nach Kulm führenden
Straße ein Scharmützel gehabt, und am 12. Dezember waren die in der Stadt
Graudenz gebliebner Truppen, verstärkt durch ein Kommando von Jägern und
Husaren aus der Festung, in der Nähe des Gutes Rondsen, etwa fünf Kilo¬
meter von Graudenz, den ganzen Tag am Feinde gewesen.
(Fortsetzung folgt)
>us der doppelten Tatsache, daß es Übel in der Welt gibt, und
daß Katastrophen oft auch über religiöse Menschen hereinbrechen,
hat man im Laufe der Jahrtausende wesentlich folgende vier Konse¬
quenzen gezogen: Viele tapfergesinnte Persönlichkeiten sehen den
> Ansturm der Übel als eine nicht ganz unwillkommne Gelegenheit
an, ihre Widerstandskraft zu beweisen und ihre Opferfähigkeit zu betätigen. Solche
Naturen treten uns ja z. B. in den Stoikern entgegen, und wir brauchen uns
nur an die heroischen Themata, die Cieero in seinen „ Tuskulauischen Dispu¬
tationen" behandelte — „über die Verachtung des Todes," „über die Erduldung
des Schmerzes" —, zu erinnern, und die Geistesart solcher Personen steht in
ihrer kristallnen Klarheit und granitnen Festigkeit vor unsern Augen. Andre
Seelen wurden durch die Übel, die in den Naturbestand gemischt sind und im
Geschichtsverlauf wohl über jeden Sterblichen hereinstürmen, zu einer pessimistischen
Weltanschauung verleitet und zum Weltschmerz gestimmt. Einen seiner schrillen
Töne hört man schon aus Homer erklingen. Denn da liest man auch den Satz: „Es
gibt unter alle dem, was ans Erden atmet und wandelt, nichts Jammervolleres
als den Menschen" (Ilias 17, 445). Daraus entwickelt sich weiterhin sogar
stumpfe Apathie und fauler Quietismus gegenüber den Eindrücken und den Auf¬
gaben des Lebens, wie das hauptsächlich im Buddhismus hervortrat (A. Bertholet,
Buddhismus und Christentum, 1902, 38f.), und wie der moderne Hauptapostel
des Pessimismus die Verneinung des Willens zum Leben als Ideal empfohlen
hat (vgl. Schopenhauer in seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vor¬
stellung" II. 707 in der Ausgabe von I. Frauenstädt). Diese doppelte Tat¬
sache hat ferner bekanntlich bei den alten Persern und weiterhin zur Annahme
zweier feindlicher Weltmächte — Ahurcuncizda (Vertreter des Lichts, des Reinen
und Heilsamen) und Angromainjus (Verkörperung des Finstern und Unheil¬
vollen) —, also zur Ausbildung einer dualistischen Weltanschauung geführt. Die
Lehre vom Neide der Götter wurde sogar bei den Hellenen erst durch Plato
überwunden. Erst dieser ideale Denker schwang sich zu dem Satze „Neid hat
in der göttlichen Sphäre keine Stelle" (Phädrus 247^.) empor. Die äußerste
Folgerung endlich, zu der manche durch die erwähnten beiden Tatsachen ge¬
zwungen zu werden meinten, war die Leugnung der göttlichen Gerechtigkeit oder
sogar der Existenz Gottes. Oder weiß man nicht, daß die Niederlage der Buren
manchen fast seinen Gottesglauben gekostet hat? Welchen ergreifenden Ausdruck
hat eine solche Niederschmetterung des Gottesglaubens auch in den Sätzen ge¬
funden, die man in dem für die Sklavenfrage klassischen und in unsrer sozialistisch
bewegten Zeit wieder recht lesenswerten Buche „Onkel Toms Hütte" liest: „Eliza
mein Herz ist voll Bitterkeit; ich kann nicht Gott vertrauen! Warum läßt er
solche Dinge geschehen?" (Reclamausgabe, S, 21), Atheismus war auch die Folge¬
rung, die aus jenen beiden Tatsachen, wie von den Buddhisten, so von den
Pessimisten unsrer Tage gezogen wurde.
Sind solche Fragen denn aber auch von den alten Hebräern erörtert worden?
Gewiß, und man möge sich überhaupt nicht das Geistesleben, das sich in der
althebräischen Literatur reflektiert, wie den unbewegten Spiegel eines Teiches
oder gar eines Sumpfes vorstellen. Nein, auch da rollen die Wellen und branden
schänmend am felsigen Ufer. Sogar einem Manne wie dem Propheten Jeremia
drängte sich ja die Frage auf: „Weswegen ist der Weg von Gottlosen glücklich,
leben in ruhiger Sicherheit alle Vollbriuger von Trug?" (12, 1). Ferner im
fünften Jahrhundert äußerten Zeitgenossen Maleachis: „Jeder, der Böses tut,
ist gut in den Angen Jcchves" Mal. 2, 17). Auch in einigen Teilen der Poesien¬
sammlung, die man Psalter genannt hat, spritzen die Wogen des pessimistischen
Zweifels zu kühn ansteigenden Schaumkuppen empor; aber in derselben Gedicht¬
sammlung erschallt auch ein „dennoch," das mit Galileis K pur si mnovg wohl
nicht vergeblich um den Siegespreis der Heldenhaftigkeit ringt. Dies ist das
„dennoch," an dem die pessimistischen Zweifelsgedanken des Dichters von Psalm 73
abprallten. Das ist das „dennoch" des Stoßseufzers „Dennoch bleib ich stets
an dir, o Gott." O wie vielen Seelen schon hat dieser Satz die Nacht des
Zweifels mit einem Saum der Morgenröte vergoldet!
Aber wie verhält sich das Hiobgedicht dazu?
Diese Frage muß schon deshalb ein allgemeineres Interesse beanspruchen,
weil die Hiobdichtung auch aus rein ästhetischen Gründen eine hohe Stellung in
der Menschheitsliteratur einnimmt. Zu diesem Urteil wird man immer wieder
hingedrängt, mag man die Größe der Problemstellung, die dialogische Disposition
der Gedankenentwicklung, oder die grandiose Höhe der Bilderwahl, den Glanz
der Sentenzen, die Kühnheit der Satire und die Glut des Strebens nach Wahr¬
heit ins Auge fassen, die aus dieser Dichtung dem Beschauer entgegenleuchten.
Lowth, ein Hauptbegründer der hebräischen Poetik, hat ja auch das Hiobgedicht
aus guten Gründen mit Ödipus auf Kolonos verglichen, ferner hat Herder in
seinem Buch „Vom Geist der Ebräischcn Poesie" (1782) die Hiobdichtung laut
gerühmt und hauptsächlich mit Abschnitten aus Officin zusammengestellt; diese
Dichtung hat in der einen oder der andern Hinsicht Männern wie Dante, Milton,
Klopstock und Goethe als hehres Muster vorgeschwebt!
Wie also hat sich dieses berühmte Denkmal der Weltliteratur zu dem Problem
des Übels und insbesondre des Leidens religiös gesinnter und ethisch hoch¬
strebender Menschen gestellt? Wird es wirklich richtig als „das Hohelied des
Pessimismus" charakterisiert?
So nämlich ist es in der neuesten Erklärungsschrift geschehen, die zu dem
Hiobgedicht erschienen ist (Friedrich Delitzsch, „Das Buch Hiob, nen übersetzt und
kurz erklärt," in einer Ausgabe ohne sprachlichen Kommentar und in einer mit
einem solchen Kommentar 1902 erschienen). Da wird folgende Begründung des
erwähnten Urteils vorgelegt: Wenn ein in Gesinnung und Wandel wahrhaft
gottesfürchtiger Mann von Gott mit böser Krankheit geschlagen wird, kann er
da noch länger an einen gerechten Gott glauben? „Wenn eine Geißel plötzlich
ein Sterben verursacht" (9, 23g.), ist es da nicht klar, daß „Gott der Anzahl
Unschuldiger unter den Opfern spottet" (9, 23 b), daß ihm „unsträflich oder gott¬
los" völlig gleichgiltig, er somit kein gerechter Gott ist? Wenn ein frommes
Volk von einem mächtigern freventlich mit Krieg überzogen wird, und Gott
trotz aller Gebete gleichgiltig bleibt (24, 12), ist es da, trotz der dem Frevler
sicher bevorstehenden Strafe, noch möglich, an einen gerechten Gott zu glauben?
Diese Betrachtungen führen unsern Dichter bezüglich seiner ganzen Lebensauf¬
fassung zu dem düstersten Pessimismus, indem er unentwegt ans die eine Ant¬
wort zurückkommt, daß Gott ein zorniger Gott sei und bleibe, der dem Menschen
sein Recht vorenthalte, der auch des Menschen Gebet nicht erhöre (S. 91 f.).
Aber ist damit die Meinung, die Hiobdichtung sei „das Hohelied des Pessi¬
mismus," in abschließender Weise begründet?
Nein, der Zorn der Gottheit, von dem der Dichter seinen Haupthelden
sprechen läßt, ist nach mehreren von dessen Äußerungen nicht unmotiviert. Oder
ist der Zorn unberechtigt, der den Frevlern angedroht wird? Das geschieht
aber mehrmals in Hiobs Reden. Denn wir lesen ja: „Zum Tage des Zorns
werden sie (die vorher erwähnten Bösewichter) hingeleitet" (21, 30). Damit ist
zwar behauptet, daß die Bösen nicht immer sofort bestraft werden, aber es wird
doch zugleich zugegeben, daß sie vom göttlichen Unwillen einen Gerichtstermin
fürchten müssen. Damit stimmt zusammen, daß Hiob seinen Gegnern warnend
zuruft: „Strafen wird er euch, wenn ihr im geheimen Parteilichkeit treibt"
(13, 10), oder „Fürchtet euch vor dem Schwert!" (19, 29). Gottes Zorn ist
schon danach nicht der blinde Ausbruch einer Naturgewand. Er kennt sein Ziel.
Er trifft die Freveltaten der Menschen. Derselbe Gedanke ist ja auch noch in¬
direkt ausgedrückt, wenn Hiob sagt: „Ihr (der Frevler) Glück liegt nicht in ihrer
Hand" (21, 16), denn „für den Tag des Mißgeschicks wird aufbewahrt der Böse"
(21, 30). Oder gönnt er etwa seinem — wirklichen — Freunde das Schicksal
des Bösewichts? Nein, er ruft vielmehr aus: „Es werde einem Frevler gleich
mein Feind!" (27, 7). Denn „droht nicht Unheil dem Ungerechten"? (31, 3).
„Was soll er erwidern, wenn Gott Rechenschaft fordert?" (V. 14). Also zuerst
halb unbewußt und fast unwillkürlich, aber allmählich immer klarer und be¬
stimmter läßt der Dichter seinen Haupthelden aussprechen, daß wenigstens zu¬
nächst dem anerkannten Frevler gegenüber die Gerechtigkeit der Weltgeschichte zu¬
tage tritt.
Der Dichter hat den Haupthelden aber auch aus seinem eignen Leiden nicht
„unentwegt" das Urteil ableiten lassen, daß „Gott ein zorniger Gott sei und
bleibe, der dem Menschen sein Recht vorenthalte." Denn er läßt seinen Haupt-
Helden betonen, daß er zwar nicht im Sinne seiner sogenannten Freunde ein
Frevler sei. aber trotzdem nur relative Unschuld habe. Auch in bezug auf dieses
Bekenntnis kann man eine Skala immer deutlicherer Töne vernehmen. Denn
zuerst ließ der Dichter den Hiob nur im konditionalen Sinne von seiner Pflicht¬
verletzung sprechen: „Habeich gesündigt, so usw." (7,20). Dann aber legte er
ihm in bezug darauf eine sich selbst verneinende rhetorische Frage in den Mund:
„Inwiefern wäre ein Mensch gerecht neben Gott?" (9, 2). Weiterhin spricht
Hiob positiv wenigstens von seinen Jugendsünden: „Du läßt mich erben die
— Vergeltung für die — Missetaten meiner Jugend" (13, 26). Endlich ließ
der Dichter ihn die moralische UnVollkommenheit aller Menschen anerkennen. Denn
er legte ihm den ohnmächtigen Wunsch „O könnte man doch einen Reinen von
einem Unreinen herstammen lassen!" (14, 4) auf die Lippen. Die ruhige Stimme
seines religiös-sittlichen Bewußtseins flüsterte ihm also immer deutlicher zu, daß
er, am absoluten Maßstab, d. h. an der göttlichen Vollkommenheit (9, 2), gemessen,
doch mangelhaft sei. Folglich hatte er um so weniger Anlaß zu der Klage,
daß Gott ihm „sein Recht vorenthalte," und konnte nur eine solche Behandlung
vom Schicksal erwarten, die seiner bloß relativen Unschuld entsprach.
Diese Erwartung konnte der Dichter seineu Haupthelden aber in psychologisch
ganz erklärlicher Weise aussprechen lassen, und er hat ihm auch wirklich einen
immer deutlichern Ausdruck dieser Erwartung in den Mund gelegt.
Als der Dichter nämlich den Hiob im ersten Disputationsgange (Kap. 4
bis 14) bis zu der Einsicht gebracht hat, daß er von den Menschen im äußersten
Maße verkannt werde, da konnte er ihn in richtiger psychologischer Entwicklung
mit dem Bewußtsein seiner relativen Unschuld zu Gott zurückführen. Denn diesen
hatte er zwar in der Qual des Schmerzes und im Oppositionseifer gegenüber
den Anklägern ungerecht genannt, aber von Gottes Seite her war doch noch nicht
ausdrücklich bezeugt, aus welchem Grunde er dem Hiob das Leiden gesandt
hatte. Der Dichter erlaubte also seinem Haupthelden, von dem Gotte der Gegen¬
wart sozusagen an den Gott der Zukunft zu appellieren.
Einen solchen Appell hat er ihn nnn wirklich mit wachsender Deutlichkeit
aussprechen lassen und hat auch dadurch die Meinung zerstört, daß er seinen
Haupthelden zum bewußten und absichtsvoller Herold eines unmotivierten Gottes¬
zorns habe machen wollen.
Diesen Appell hören wir zuerst in folgenden Worten: „O Erde, bedecke nicht
mein Blut, und nicht sei ein Ruheplatz für mein Geschrei vorhanden!" (16, 18).
Also wie Abels Blut einst (1. Mos. 4, 10) mit Erfolg die göttliche Strafe ge¬
fordert hat, so möge auch Hiobs Ruf nach göttlicher Gerechtigkeit oder wenigstens
Aufklärung nicht wirkungslos auf der Erde verhallen. Dem Totengräberwerk
und dem Totschweigungsstreben der Menschen wagte also Hiob ein „Halt!"
zuzurufen. Denn sein religiös-sittliches Bewußtsein flößte ihm trotz seines
momentanen Schicksals die Zuversicht ein, die in Kapitel 16, Vers 19 aus¬
gesprochen ist: „Auch jetzt ja existiert im Himmel mein Zeuge," und da seine
Klagen und Anklagen ihm nur durch den überwältigenden Druck des Schmerzes
oder durch die Opposition der Gegner ausgepreßt waren, so fühlte er sich auch
subjektiv nicht von Gott losgerissen, und über seine Lippen konnte das Geständnis
kommen: „Zu Gott traut mein Auge" (16, 20). Einen solchen Appell von dem
sich verbergenden zu dem sich enthüllenden Gotte vernehmen wir auch in den
bekannten Worten: „Ich bin mir dessen bewußt geworden: mein Loskäufer lebt,
und als Letzter wird er auf dem Staube sich erheben" (19, 25). Was andres
als ein solcher Appell erklingt auch in den Sätzen „Sieht er — nämlich Gott —
nicht meine Wege und zählt alle meine Schritte?" (31, 4). Auch in dieser Frage
ringt sich der Gedanke empor, daß die letzte Entscheidung bei dem Allwissenden
liegt, und so sehen wir, daß sich der Hauptheld mit wachsender Bestimmtheit
Von seinen irdischen Gegnern zu Gott als der letzten Instanz flüchtet. Wie
weit also ist der vom Dichter gezeichnete Menschentypus Hiob davon entfernt,
„unentwegt auf die Eine Antwort zurückzukommen, daß Gott ein zorniger Gott
sei und bleibe"!
Es wird ja auch nicht viele geben, die die Frage aufwerfen wollen, wie
es möglich gewesen sei, daß der Dichter dem Vertreter der Hauptrolle solche
abwechselnde Äußerungen in den Mund legte. Konnte er in ihm nicht einen
Menschen charakterisieren wollen, der sich in bezug auf ein Problem der Welt¬
anschauung zur Klarheit emporrang? Gewiß, und bei solcher Absicht wandelte
der Autor des Hiobsgedichts auf den Spuren vieler großer Meister. Man denkt
ja sofort z. B. an Goethes Faust. Oder verkennen wir etwa den Dichter des
Hiob, wenn wir ihm den Plan, eine Entwicklung seines Haupthelden darzustellen,
zuschreiben? Im Gegenteil, in der Hiobdichtung werden wir — was freilich
weniger bekannt ist — sogar aufgefordert, nicht einseitig auf eine einzige Reihe
von Sätzen zu hören, sondern allen Stimmen der Dichtung zu lauschen und
den allerersten Eindruck uicht als den abschließenden hinzunehmen.
In dem ersten Monolog, worin die Hauptperson das vieltügige Schweigen
endlich bricht (3, 3—26), dringen ja freilich Klagetöne von geradezu elementarer
Heftigkeit an unser Ohr: Hiob verflucht seinen Geburtstag und schlagt die Welt¬
ordnung in Stücke. Aber schon in seiner nächsten Rede ruft er den „Freunden"
zu: Worte zu korrigieren, darauf seid ihr bedacht, und doch sind Worte eines
Verzweifelnden nur für den Wind (6, 26). Hat er also die Äußerungen des
Monologs nicht hinterher die Worte eines Verzweifelnden genannt? Hat er
nicht hinzugefügt, daß solche Äußerungen „für den Wind" seien? Er meint
— und das ist ein Zeichen einer geradezu frappierenden Seelenkenntnis —,
solche Worte, die auf der Folterbank des Schmerzes ausgestoßen würden, seien
in Wirklichkeit nur ideenlose Schallwellen. Ein solcher Schmerzensausbruch sei
mehr eine physiologische als eine psychologische Erscheinung, sei ein Affekt, ein
Anprall der seelischen Vorgänge an den Nervcnapparat und die von diesem
hervorgerufnc Reaktion. Schon da also läßt der Dichter den Haupthelden erklären,
daß die in dem Monolog Kapitel 3, Vers 3 bis 26 ausgestoßene Klage keine
innerliche und bleibende Zerreißung seiner Gottesbeziehung ausdrücken könne.
Dazu kommt, daß er die Quelle für einen andern Teil seiner Äußerungen
in seiner gänzlichen Isoliertheit und in der Verunglimpfung suchen lehrt, die ihm
von seinen sogenannten Freunden zugefügt wird. „Ist Kraft der Steine meine
Kraft? Kann ich etwa ausharren, wenn dem Verzagenden sogar von seinem
Freunde Schimpf zuteil wird?" ruft er uns zu (6, 12. 14). Der Widerspruch
nörgelnder Opponenten reißt den Menschen ja natürlich zu extremen Behaup¬
tungen fort.
Demnach hat der Dichter sogar selbst den Beurteiler seines Werkes dazu
angeleitet, einen Teil der Äußerungen des Haupthelden sozusagen als Schlacken
zu betrachten, wie sie bei jedem Läuterungsprozeß ausgeschieden werden. Eben¬
darauf hat der Dichter übrigens schon durch einen formalen Umstand hingedeutet.
Er hat die Heftigkeit der Schmerzensausbrüche Hiobs in immer sinkendem Grade
vermindert. Denn so vulkanisch eruptiv, wie „Verflucht sei der Tag, an dem ich
geboren ward usw.!" (3, 3 ff.), ergießt sich keine spätere Klage im Hiobgedicht.
Die Direktive, die darin für die Beurteilung der Äußerungen des Haupt¬
helden vorgezeichnet ist, leuchtet jedem von selbst entgegen: Weder die Äußerungen,
die Hiob unter dem Ansturm des physischen Schmerzes ausstößt, noch die Sätze,
die ihm vom psychologisch erklärlichen Oppvsitionsstreben des Menschen entlockt
werden, überhaupt aber nicht die ersten, sondern die spätern Sentenzen des
Haupthelden sollen für seine Gesamtwürdigung maßgebend sein. Also auch wenn
Hiobs Stellung zu dem großen Leidensproblem beurteilt werden soll, ist haupt¬
sächlich auf die Worte zu lauschen, die der Dichter ihn in ruhiger Einkehr
bei sich selbst und als die im Feuer der Läuterung gereinigte Persönlichkeit
aussprechen läßt. Nach diesen Äußerungen aber trifft, wie wir gezeigt haben,
der göttliche Zorn auch in Hiobs Person nicht einen wirklich Unschuldigen, und
die Gottheit bleibt die letzte Instanz der Weltgerechtigkeit.
Folglich hat der Autor der Hiobdichtung in dem Träger der Titelrolle
uns keine Persönlichkeit dargestellt, die „bezüglich ihrer ganzen Lebensauffassung
zu dem düstersten Pessimismus geführt" wurde. Nein, er zeichnet uns einen
Menschen, der, wenn die Nacht der Trübsal ihn umhüllt und menschliche Hilfe
gänzlich versagt, mit siegesgewisser Hand hinauf in die Sternenwelt greift, um
von dort her Licht und Trost zu holen. Wir hören ja, wie der Dichter die
Hauptfigur seines großen Seelengemäldes immer kühner zu der Erkenntnis vor¬
dringen läßt (31, 35 bis 37), daß die letzte Antwort auf die Leidensfrage von
dem Weltgeiste kommen muß. Wir vernehmen ja auch, daß der Autor schließlich
die Ideen, die einst den Weltplan ausmachten und im Universum gleichsam
gebunden wurden, vor dem Geistesauge seines Haupthelden wieder lebendig
werden (38,1 ff.) und folgende — keineswegs pessimistische — Schlußsentenz
in ihm aufleuchten ließ: Richtet der Mensch seinen Blick auf das Weltall, so
findet er in diesem eine große Zahl von Punkten, bei denen er vor Verwundrung
stillstehen und die alles überragende Intelligenz des Weltendenkers anerkennen
muß. Hat er daraus also nicht den Schluß zu ziehen, daß diese Intelligenz
das Universum in allen Beziehungen durchwaltet? Muß er ihr nicht einen
vernünftigen Zweck auch bei der kleinen Dosis von Weltbestandteilcn zutrauen,
die nach des Menschen Empfinden als Übel zu betrachten sind? Wird er ferner
nicht auch zu dem Urteil gedrängt, daß die Weltgeschichte mit ihren Wellen¬
bergen und Wellentälern von ebenderselben überragenden Intelligenz schließlich
doch zu einer lichten Höhe geleitet werden wird?
So klingt die Hiobdichtung — diese in dem ursprünglichen Umfang genommen,
wie sie von der jetzigen Literarkritik fast einstimmig abgegrenzt wird — keines¬
wegs in den „düstersten Pessimismus" oder einen lähmenden Weltschmerz aus.
Nein, die Dominante, die sich aus dem fugenartigen Stimmengewirr dieser Poesie
endlich siegreich emporringe, ist das aus weitesten Geistesblick hervorblitzende
und mit allem Tapfern in der Menschenbrust zusammenstimmende: „Dennoch
bleib ich stets an dir, o Gott," das, um mit Goethe zu sprechen, die Zeiten
des Glaubens zu den größten in der Weltgeschichte gemacht hat.
!ir erreichten Kottbus bei Nacht und waren erstaunt über die Fülle
des Lichts, die uns schon lange vor der Einfahrt des Zuges vom
Bahnhofe her entgegenschimmerte. In der Tat mache» die Bahnhofs¬
anlagen, das Verkehrsleben und das Gasthofsmesen in Kottbus gleich
bei der Ankunft auf den Fremden einen großstädtischen Eindruck
Dos alte Bild der gemütlichen Lausitzer Kleinstadt, das uns vor¬
schwebte, wenn wir als Kinder sagten: „Der Kottbuser Postkutscher putzt den
Kvttbuser Postkutschkasten," stimmt nicht mehr, wenn man die breite, asphaltierte,
mit den elegantesten öffentlichen und Privntgebäudeu eingefaßte Bahnhofstraße
hineingeht und eben solche Straßen rechts und links davon ein Westviertel bilden
sieht, dessen sich weder Leipzig noch Dresden zu schämen hätten. Kottbus ist jetzt
mit Einschluß der einverleibten Vororte eine Stadt von gegen 500()() Einwohnern
und an Größe und Bedeutung für Verkehr, Handel und Industrie ohne Zweifel
die erste Stadt der ganzen Niederlausitz. Ihre Anfänge verlieren sich in das
Dunkel der Sage. Eine Furt über die Spree und die hochwasserfreie Lage des
Schloßberges mögen die erste Ansiedlung veranlaßt haben. Schon vor der deutschen
Herrschaft muß hier ein slawischer Handelsplatz bestanden haben, dann ein deutscher
Burgwart, der freilich auf lange Zeit wieder den Polen anheimfiel, und seit der
Mitte des zwölften Jahrhunderts eine kleine deutsche Stadt. Sie stand erst unter
einem Ministerialen der Wettiner, dann aber war „hus und stat" ein markgräf¬
liches Lehen der Herren von Kottbns, die sich bis in die Mitte des fünfzehnten
Jahrhunderts in diesem Besitze behaupteten.
Schon 1357 gab Ludwig der Römer von Brandenburg den Herren von
Kottbus ein Strnßenprivilegium, das Kaiser Karl der Vierte 1371 in Bautzen bestätigte
und dahin erweiterte, „daß die gemeine Kansmannstraße durch Kottbus gehn soll,
wo der von alters her übliche Zoll zu entrichten sei; von da sollen die Kaufleute
nicht nach Fehrow, sondern nach Penz fahren." Im Jahre 1462 kam Kottbns
im Gubener Frieden an die brandenburgischen Hohenzollern; seitdem gebieten deren
Amtsleute auf dem Schlosse. Sie kommen wegen der Privilegien der hohen Straße
oft in Streit mit den Amtsleuten der Wettiner. So bezeugt der Kotlbnser Landes¬
hauptmann Christoph von Zabeltitz im Jahre 1509, daß die Breslauer Fuhrleute
bisher immer ungehindert nach Kottbus und weiter nach Leipzig gefahren seien,
neuerdings aber würden sie dort bestraft, weil sie nicht über Großenhain gefahren
wären, ebenso verlange Georg von Schlieben ans Radeburg, daß die böhmischen
Güter über Pirna, Stolper, Bischofswcrda, Ortrand, Lübben, Beeskow, also ohne
Kottbus zu berühren, nach Berlin und in die Seestädte gebracht würden. Trotz
solcher Konkurrenz der ältern „hohen Straße" zog auch die „niedere" und mit
ihr Kottbus einen bedeutenden Handel an sich.
Auch ein reges geistiges Leben muß schon vor Beginn der Reformation in
Kottbus geherrscht haben. Die Pfarrer von Kottbus erscheinen an der Wende vom
fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert als Räte der brandenburgischen Kurfürsten,
so vor allem Hieronymus scultetus, „der würdige und hochgelahrte Er (Herr),
Probst, Licentiat und Pfarrer zu Cottbus," der nicht nur Streitigkeiten zwischen
Adel und Fürsten schlichtet und Einigungen für die Säuberung der Straßen von
Wegelagerern zustande bringt, sondern auch vollkommen trnnkfest war, sodaß er, wenn
die andern längst unter die Bank gesunken waren, noch aufrecht stand und den Fürsten
seine Meinung sagen konnte. Kurfürst Joachim der Erste, dessen Gevatter er war,
verschaffte ihm 1507 das Bistum Brandenburg und danach auch das von Havelberg.
In diesem Amte war scultetus dem Wittenberger Dr. Luther ein schonender, gütiger
Vorgesetzter, der ihm zwar den Rat gab: „Steht stille und laßt Euch nicht zu weit
ein," aber doch jeder Gewalttat gegen den kühnen Augustiner widerstrebte. Willibald
Alexis hat ihm in seinem Roman „Der Wärwvlf" ein Denkmal gesetzt. In Kottbns
wurde die Reformation eingeführt durch Johann Briesmann, einen Minoriten des
Kottbnser Franziskanerklosters, der als eifriger Gegner Luthers zu der Leipziger
Disputation zog, danach aber noch einmal in Wittenberg studierte und 1522 als
begeisterter Anhänger Luthers unes Kottbus zurückkehrte. Zwar mußte er hier dem
Zorne Joachims des Ersten weichen, aber Luther schickte ihn als Reformator zum
Herzog Albrecht von Preußen, und dieser erhob ihn in Königsberg erst zum Propst
der Kneiphvfischen Kirche, dann zum evangelischen Bischof von Samland.
In der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs bot der Kottbnser Kreis, gerade wie
die sächsisch gewordnen Teile der Niederlausitz, vielen böhmischen Exulcmteu ein Ashl.
Interessante Zeugnisse sind davon übrig. Die Kirche des westlich von Kottbus am
Rande des Spreewalds gelegnen Dorfes Werben besitzt den herrlichen Abendmahls¬
kelch und die Pateue des Grafen Joachim Andreas Schlick, eines der bekanntesten
Opfer des Prager Bluttags (21. Juni 1621). Et» „deutscher Theologus" Magister
Werben (so genannt nach seinem Heimatsorte) hat diese Kleinodien dahin gebracht,
die ihm vom Grafen Schlick, den er vor der Hinrichtung mit dem heiligen Abend¬
mahl versehen und dann zum Schafott geleitet hatte, übergeben worden waren.
Der entsprechende Kelch des Freiherrn Budowetz von Budowa, der trotz seiner
fünfundsiebzig Jahre das Blutgerüst besteigen mußte, findet sich in der ehedem
kursächsischen Niederlausitzer Stadt Finsterwalde; nach einer Angabe des Kirchenbuchs
hat ihn Joachim von Maltitz von einem Herrn von Sndowsly zu Sadowa gekauft
und nach Finsterwalde gestiftet.
Die wirtschaftliche Blüte von Kottbus begründete Friedrich der Große, der
1752 sechs Wvllspiunhäuser erbauen ließ, wo auch auswärtige (preußische) Unter¬
tanen in der Verarbeitung der Wolle unterrichtet wurden. Das ist der Anfang der
jetzt zu hoher Blüte entwickelten Kottbuser Webschule. Durch diese und andre
Maßregeln steigerte er die alteinheimische Tuchfabrikation von 3000 Stück jährlich
auf 6000, die insgesamt 100000 Taler wert waren. Jetzt beträgt der Wert der
jährlichen Tuchfabrikation in Kottbus 25 Millionen Mark. Der Wert der von
Kottbns im Jahre 1797 verfrachteten Waren, unter denen 151 Stück Zitronen
ausdrücklich genannt werden, betrug gegen 900000 Taler; auch heute noch ist das
Kottbuser Speditionsgeschäft bedeutend; im Mai findet ein Wachs-, im September
ein berühmter Karpfenmarkt statt, und der Umsatz der Reichsbaukstelle betrug schon
1894 die Summe von 274 Millionen Mark. Trotz dieses gewaltigen Aufschwungs
und der damit verbundnen Banveränderungen hat sich Kottbus den alten, wohl¬
ummauerten, hufeisenförmigen, und Toren und Türmen bewehrten Kern der Stadt
fast unversehrt erhalten; es liegt nämlich so günstig inmitten einer weiten Ebene,
daß es seiue Peripherie immer zwanglos nach allen Seiten hinausschieben konnte,
ohne die ältern Stadtteile zu zerstören. So ragt denn noch heute ans dem höchsten
Punkte des Stadtbodeus der ehrwürdige Bergsried des alten Schlosses, wenn auch
mit erneuerter Bekrönung, aussichtsreich in die Luft, während die übrigen Teile
der Feste dem Landgericht Platz gemacht haben. Noch verkünden die altertümlichen
Backsteinbauten der Oberkirche und der noch originellem langgestreckten Kloster¬
kirche, daß wir uns hier an der Schwelle Niederdeutschlauds befinden; und wenn
sich am Sonntag an dem schlanken, roten Glockenturm dieser Kirche, der noch die
alte, grcmbetalkte Spitzhaube mit der Wetterfahne trägt, die buntgekleideten Wen-
binnen versammeln, so sehen wir, beiß die slawische Sprachinsel des Kottbuser
Kreises doch noch nicht ganz verschwunden ist.
Der Lieblingsspaziergang der Kottbuser führt durch die schönen Anlagen der
Spreeaue südwärts in den Park des Gräflich Pücklerschen Gutes Brauitz. Dieser
Park ist eins der interessantesten Vermächtnisse des 1871 hier verstorbnen Fürsten
Heinrich von Pückler-Muskau und zeigt, trotz einiger Spuren des Verfalls, noch
heute seine eigentümliche Geistesrichtung, Fürst Pückler-Muskau (geb. 1785), der
Sproß eines alten schlesischen Geschlechts, ist bekanntlich der Meister einer besonders
an englische Muster sich anschließenden Gartenkunst gewesen, der in Deutschland den
sogenannten natürlichen Stil eingebürgert hat, d. h. einen Geschmack, der die ver-
schnittnem Hecken, die Wasserkünste und die Marmvrleiber der französischen Gartenkunst
ebenso vermeidet wie die Grotten, Felsen und Freundschaftshütten der phantastisch¬
englisch-chinesischen Richtung, dafür aber die von der Natur selbst gebotnen Vor¬
teile des Wassers und des Geländes auszunutzen bemüht ist, oder wo solche fehlen,
mit aller Kunst doch nichts andres schaffen will, als ein idealisiertes Stück Natur.
Die berühmten Parkanlagen von Babelsberg, Ettersburg bei Weimar, Wilhelmstal
bei Eisenach u. n. sind unter seinem Einflüsse entstanden. Seine ersten Schöpfungen
waren die Gcirteu und Anlagen auf seinem väterlichen Gute Muskau; als er aber
diese Herrschaft 1845 verkauft hatte, wandte er allen Geschmack und Fleiß auf die
Verschönerung von Branitz, wo er seineu Wohnsitz aufschlug. Die Natur hatte ihm
hier so wenig wie möglich geliefert, nämlich nur eine flache, mit Triebsand erfüllte
Ebene. Aber der Fürst schaffte mit ungeheuern Kosten ganze Schichten guter Erde
herbei und schuf so eine durch Spreekanäle wohlbewässerte Hügellandschaft mit
lauschigen Wasserspiegeln und so herrlichen Baumgruppen ans grünem Grasgrunde,
daß Branitz noch jetzt als ein unübertroffnes Muster des freien, unabhängigen
Garteustils gilt. Aber Fürst Pückler - Muskau war nicht nur ein Gartenkünstler,
sondern auch ein viel- und weitgereister Mann und als solcher auch ein viel¬
gelesener Schriftsteller jungdeutscher Richtung, der mit der scharfen Beobachtungs¬
gabe des weltbefcchrnen Reisenden den oft höhnischen, oft resignierten Ton der Ge¬
sellschaft des imeiön rössime, der letzten Vertreter des Rokoko, sagen wir des Prinzen
Heinrich von Preußen, verband. Ein gewisses Kokettieren mit dem Tode ist dieser
Richtung eigen. Das erste größere Werk des Fürsten Pückler-Muskau trägt den
Titel: „Briefe eines Verstorbnen," das zweite: „Tutti Frutti aus den Papieren
eines Verstorbnen." Seine Gemahlin, eine Tochter des Kanzlers Hardenberg, hat
er auf einer kleinen Insel eines Sees des Brnnitzer Parks unter Trauerbirken be¬
graben und ihrem Gedächtnis eine vom Wasser umspülte, rasenbewachsne Erd¬
pyramide errichtet, zu der viele Stufen emporführen. Unter einer andern Pyramide,
der ersten gegenüber, ruht er selbst; sie ist bekrönt dnrch einen eisernen Umgang
mit der aus dem Metall geschnittuen charakteristischen Inschrift: „Gräber sind
die Bergspitzen einer fernen, neuen Welt." Diese ägyptisierenden Pyramiden und
diese Inschrift riefen mir einen andern geistreichen, bald schwärmenden, bald
spöttelnde» Weltreisenden ins Gedächtnis: den römischen Kaiser Hadrinn, der sich,
nachdem er fast alle Provinzen seines ungeheuern Reichs durchwandert hatte, am
Tiber selbst sein Grabmal empvrtürmcn ließ und die wichtigsten Erinnerungen von
seinen Reisen in der großartigen Villa von Tivoli am Anio nachbildend verkör¬
perte: das Tal Tempe, das Prytaneion von Athen, den Serapistempel von
Canopus u. a. Auch Hadrian war der Vertreter einer untergehenden Zeit, voll
von Weltschmerz, voll von Tvdessehnsucht und Todesfurcht zugleich: er starb mit
der bangen Frage auf den Lippen:
Der antike und der moderne Weltreisende waren wohl beide gleichweit von
den Tröstungen entfernt, die dem gläubigen Christen die letzten Stunden erleichtern,
aber sehr verschieden sind die Mciße ihrer Schöpfungen; hier Gigantenwerk und
dort Maulwurfsarbeit: die Molch Hadrinni in Rom schaut noch heute als Engels-
burg nach einer unvergleichlichen Geschichte auf das Volksgetümmel am Tiber
in ungebrochner Kraft hernieder, und die Ruinen der Hadriansvilla in Tibur,
fünf Kilometer im Umfange, erfüllen noch heute den nordischen Wandrer mit Be-
wundrung vor der Majestät ihres interessanten Bauherrn, aber in Branitz schlingt
der gierige Sand allmählich den darübergeschütteten guten Boden ein, und ob die
Grabpyramiden des Fürstenpaars noch ein Jahrhundert erleben werden, ist mir
zweifelhaft.
Die kürzeste Straße von Kottbus zur Oder führt über Penz und Tauer nach
Guben im Tal der Reiße. Penz, das lansitzische Mantua, hat nur als Festung
eine Geschichte. Schon früh muß in Penz ein festes Schloß gestanden haben, das
in den Kämpfen der Landesherrschaft gegen den aufsässigen Adel eine Rolle spielt.
Im Jahre 1357 zum Beispiel schließen die Herren Hannus und Hartmann Mager
auf Penz nach langem Kampfe mit den wettinischen Markgrafen Friedrich dem
Strengen und Balthasar Frieden und geloben, cia« vir in filrnsnj und nirssr vsstsn
<ihr ?^v2su SotrMkKsa bsliollsu «5a Sutton vvsMoKsn . . omni in mit Äsrsslbon
uossr vsstM Kovsrtsir uncl in Zis okkcmsn sMsn nnÄ vollizn Wu sllsn irsn
llöwir, xWvKMsn uncl lisKörnngin, vsnrxz uncl vz^s ciioks gis A«s dsclurkkon
oäsr an no8 autor, ans altfr on-WvA, llinclorni/ uncl ^vicisrrocis. Zehn Jahre
später, als Herzog Bolko von Schweidnitz Landesherr ist, wird ein (Zurn^s Lor
KrirKKiAvs «ur ?^vW von As2 KoroMKso. vvKsa erwähnt. Eine größere Rolle
begann Penz erst zu spielen, als der Markgraf Hans von Küstrin, der jüngere
Sohn Joachims des Ersten von Brandenburg, Herr der Neumark und des Kott-
buser Kreises (1535 bis 1571), um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts den
Plan faßte, diesem rings von habsburgischen Gebiet umgebnen Ländchen ein Boll¬
werk zu schaffen: er wählte dazu das mitten zwischen Sümpfen und Seen am
Ostrande des Spreewnlds gelegne Penz, das in den Jahren 1559 bis 1562 zu
einer für jene Zeit stattlichen Festung ausgebaut wurde. Sie wurde sehr wertvoll
wnhrcud der Nöte des Dreißigjährigen Kriegs. Im Oktober 1636 ritt der un¬
glückliche brandenburgische Kurfürst Georg Wilhelm an der Spitze seiner Leib¬
eskadron hier ein, um vor den siegreichen Schweden Zuflucht zu suchen, neben ihm
der Graf Adam Schwarzenberg, der damals die brandenburgische Politik ganz im
habsburgischen Interesse lenkte, »ut der Oberstleutnant von Rochow, der später
(1640) dem jungen Kurfürsten Friedrich Wilhelm den Eid nicht leisten wollte, ehe
ihn der Kaiser von seinem Eide entbunden habe. Die kleine Lausitzer Festung war
damals längere Zeit der Sitz der brandenburgischen Regierungsbehörden — das
Schicksalsschiff des Kurstaates war der Strandung nahe, ehe „der neue Herr" mit
rüstigem Arm das Steuer ergriff. Später hat Penz besonders die Rolle eines
Gefängnisses für politische Verbrecher gespielt. Hier saß der trotzige Königsberger
Schöffenmeistcr Rohde im Kerker, der im Namen der Stadt 1662 an den frühern
Oberlehnsherrn Preußens, an den Polenkönig geschickt, erklärt hatte: „Die Königs¬
berger wollten lieber dem Teufel untertänig sein, als länger unter dem Drucke der
vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm verfügten Verfassung leben"; er büßte seine
Verwegenheit mit der Verurteilung zum Tode, doch wurde das Urteil nicht voll¬
streckt, sondern er blieb bis an sein Ende (1678) Festungsgefangner in Penz.
Dann war von 1697 bis 1707 der ehemalige Erzieher und Minister Friedrichs
des Dritten, Eberhard von Danckelmann, der besonders durch die Intriguen seines
Nachfolgers, des Oberkämmerers von Kolbe, Grafen von Wartenberg, gestürzt
worden war, Staatsgefangner in Penz. Seine Familie teilte seine Haft, bis ihm
endlich die Übersiedlung nach Kottbus erlaubt wurde.
Im siebenjährigen Kriege verlor Penz den im Dreißigjährigen Kriege be¬
haupteten Ruhm der Uneinnehmbarkeit: es wurde zweimal von den Österreichern
und ihren Bundesgenossen erobert. Friedrich der Große hat deshalb nach dem
Frieden die Festungswerke schleifen lassen.
Wenig Kilometer östlich von Penz trennt ein Höhenzug die etwas oberhalb
ziemlich benachbarten Flüsse Malxe und Reiße: jene wendet sich zur Spree, diese
zur Oder; wir überschreiten also hier eine Wasserscheide zwischen Nord- und Ostsee.
Ehe die Reiße die Oder erreicht, nimmt sie, etwa fünfundzwanzig Kilometer nord¬
östlich von Penz, die von Sommerfeld herkommende Lubis auf. Von da an ist die
Reiße bis zu ihrer Einmündung in die Oder schiffbar. An so bevorzugter Stelle
mußte frühzeitig ein wichtiger Handelsplatz entstehn: das ist Guben l^not wendisch
— Mündung, russisch ---- Hafen). Der Ort war sicherlich schon in den polnisch-
dentschen Kämpfen des elften Jahrhunderts von Bedeutung; 1235 erhielt er von
dem Wettiner Heinrich dem Erlauchten das magdeburgische Stadtrecht. Ein Jahr¬
hundert später, als die Wettiner wieder einmal (1350 bis 1364) Landesherren
der Lausitz waren, beherbergte Guben außer den Zünften schon ein selbstbewußtes
Patriziat und machte bei deu Streitigkeiten um die Herrschaft im Lande seine
Stimme geltend. Die Herren von Budissin, von Stradow, von Lieberose, die
Zache, Ziegenfras, Tylo, die mit den Einkünften der Judenhöfe, mit der Münze,
mit ganzen Dörfern belehnt werden, saßen als Bürger zu Guben; Männer aus
diesen Familien erscheinen aber auch, wie die gleichzeitigen Ahnen Bismarcks, Rule
und Claus, Bürger von Stendal, im brandenburgischen Hof- und Verwaltungs¬
dienste eine wichtige Rolle zu spielen, als Bankiers und Räte der Landesherren der
Niederlausitz. Der Reichtum dieser Geschlechter war wohl durch gewinnbringenden
Handel auf der Oder und der Weichsel begründet worden. Auf diesem Gebiete
wird Guben freilich bald durch Frankfurt an der Oder überflügelt. Aber noch
1359 haben die Brandenburger und die Wettiner ans einer Verhandlung in
Jüterbog die Privilegien der Gubener bestätigt. Später hat auch Karl der Vierte
öfters in Guben geweilt, und der dortige Zoll war so bedeutend, daß Markgraf
Jost 1491 daraus jährlich 199 Schock böhmische Groschen für ein Darlehen von
2999 Schock verpfänden konnte, das er von dem Wettiner Wilhelm dem Ersten
erhalten hatte.
Im Jahre 1526 kamen die Lausitzer und Böhmen, Schlesien und Mähren
an das Haus Habsburg; trotzdem fand bei der Wnrzelschwäche des österreichischen
Regiments die Reformation in Guben leicht Eingang. Das Gnbener Jungfrauen¬
kloster wurde 1563 säkularisiert, und 1589 wurden darin königlich böhmische Salz¬
siedewerke errichtet, in denen man portugiesische und spanische Baisalze verarbeitete,
die von Stettin her ans dem Wasserwege nach Guben gelangten. Dann kam
während des Dreißigjährigen Krieges das kursächsische und seit 1815 das preußische
Regiment. Guben hatte damals 6999 Einwohner; heute ist es die zweite Stadt
der Niederlnusitz mit mehr als 39999 Einwohnern. Es wird von allen Nicder-
lausitzern mit Stolz genannt. „Guben ist unser Paradies," sagte man uns schon
in Forst und in Pforten. Wir waren nämlich nicht auf dem nächsten Wege von
der Spree her ins Neißetal gefahren, sondern hatten den Brühlischcn Schlössern
zuliebe den Umweg über die genannten Städte gewählt. Unsre Erwartungen erfüllten
sich. Als wir von Süden her aus den die Lnbis begleitenden Wäldern ins offne
Land kamen, sahen wir Guben mit seinen zahlreichen Türmen an einer wohlangebauten
Hügelkette liegen, die wir der Niederlausitz nie zugetraut hätten. Winzerhcinser
und Villen stehn am obern Rande, Weinberge, Saatfelder und Fruchtgärten ziehn
sich von ihnen in schimmernden Streifen zur Flußniederung herab. Das Ganze
erinnert an das ethische Fruchtgelände zwischen Lnschwitz und Wachwitz, nur sind
die Verhältnisse kleiner. Auch in Guben ist der Weinbau zurückgegangen, aber
einst war er von großer Bedeutung. Die Sage meldet, der Wettiner Konrad der
Große, seit 1136 auch Markgraf der Lausitzer, habe den Weinbau hier eingeführt. Ein
Hauptabnehmer in alter Zeit war das Ordensland Preußen: die Stadtrechnungen
von Elbing beweisen, daß dort die Hochmeister 1412 und 1413 mit Gubener Wein
bewirtet wurden, der meist von Johannes Birsmede in Guben bezogen war.
Auch die Rechnungen der Küchenmeister der Mecklenburger Herzöge von 1538
bis 1624 beweisen, daß in jenen Zeiten fast alljährlich dreißig Fuder und mehr
Gubener Wein auf dem Wasserwege über Stettin in die herzoglichen Kellereien
verfrachtet wurden. Noch 1816 schreibt das Schumannsche Lexikon: „Gegenwärtig
erbaut man fast ausschließlich rote« Wein, der dem Burgunder nicht nur nu Farbe,
sondern, wenn er einige Zeit gelegen hat, auch an Geschmack gleichkommt und
deshalb sehr geschätzt wird. Er gerät fast jedes Jahr, und in einer Reihe von
fünfzig Jahren ist er kaum zweimal so schlecht ausgefallen, daß man ihn nicht hatte
trinken können .., der höchste Jahresertrng ans dem Stadtgebiete war 4583 Eimer."
Neuerdings ist in Guben mehr und mehr der Anbau von edelm Obst und von Gemüsen
an Stelle des Weinbaus getreten. Wir trafen hier schon in der ersten Hälfte des
Aprils die Pfirsiche und Reineclauden in voller Blüte und ließen uns erzählen,
daß im Sommer der Salat loriweise nach Berlin verfrachtet würde.
Auch ein Bauwerken bietet Guben manches Interessante. Der weithin sicht¬
bare Mittelpunkt der Stadt, ist eine gewaltige Backstetnkirche; ihrem vielstöckigen
roten Turme fehlt die krönende Spitzhaube, dafür steht ein keckes Renaissance-
türmchen auf der breiten Plattform, das sich wie eine Schildwache ausnimmt.
Dicht neben der Kirche erhebt sich das vielgieblige, zierliche Rathaus mit schlanken?
Turm und der schöne gotische Zweitaiserbrunnen, dem Gedächtnis Wilhelms des
Ersten und Friedrichs des Dritte« geweiht. Hinter dem Brunnen ist an der
Wand der Kirche eine Gedächtnistafel für den geistlichen Sänger Johann Frank
(1618 bis 1677) angebracht, der in kursächsischer Zeit in Guben Bürgermeister
war. Sein Abendmahlslied „Schmücke dich, du liebe Seele" lebt noch in den
Herzen von Millionen evangelischer Christen, während die Gedichte eines andern
Poeten dieser Gegend, des Christoph Otto von Schönaich aus Umlitz an der Lubis,
den Gottsched 1752 in Leipzig zum Dichter krönen ließ, nur noch ein literarisches
Interesse haben.
Ein schönes Bild der Stadt hat man von der Mitte der Neißebrücke. Die
Reiße ist hier schon ein breiter und mächtiger Fluß, der schäumend und tosend
von zwei Wehren niederstürzt; am Nordende der Stadt wird er durch Aufnahme
der Lnbis schiffbar. Bei gutem Wasserstande können sogar größere Oderdampfer
bis in den Gubener Hafen heraufkomme». Auf einer grünen Insel nahe bei der
Lubismündung liegt das schöne Schauspielhaus; wenn darin Goethes „Iphigenie"
über die Bretter geht, wird man wohl daran denken, daß die erste Trägerin dieser
Rolle, seine schöne und ideal gesinnte Freundin Corona Schröter, 1751 in Guben als
Tochter eines Musikers geboren war. Weiter abwärts am Flusse liegen zahlreiche
anmutige Landhäuser. Überhaupt ist Guben, wenn man von dem eng zusammen-
gedrängten innersten Kern absieht, eine Garten- und Wnsserstndt; überall sieht man
zwischen den Häusern der Vorstädte junges Grün, überall malerische Prospekte
an den Flußufern und nach den Fruchthügeln hin. Leider konnten wir nicht allzu¬
lange in diesen anmutigen Gefilden verweilen, weil wir noch bei guter Zeit die
Oder selbst erreichen wollten.
Wir fuhren am linken Rande der Neißeniederung hin nach Wellmitz und vou
dn nach Ratzdorf. Als wir aus der mit niedrigen Häusern eingefaßten Dorfgasse
hinunter an den Gnsthof zum Anker kamen, sahen wir die Oder zum erstenmal
vor uns und waren erstaunt, wie sehr sie in bezug auf Wasserfarbe, Größe und
Gestaltung der Ufer unsrer heimischen Elbe ähnelt. Weidengebüsch, aus dein die
Kiebitze aufflogen, begleitet die Ufer, die durch rechtwinklig zur Stromrichtung
laufende Buhnen gestützt sind; dasselbe „Hvlüber" wie in Sachsen ruft auch hier
den Fährmann herbei; bald knirscht sein Boot auf dem groben Sande, wir steigen
ein, und es trägt uns sanft hinüber -ins rechte Ufer, wo hinter einem breiten
Gürtel von weidenbewachsnem Geröll ein ziemlich hoher Erddnmm und dahinter
die bescheidnen Gehöfte des Kossätendorfes Schiedlo liegen. Aus deu Stroh-
»ut Ziegeldächern erhebt sich breit der holzverkleidete Turm der alten Fachwerk-
lirche mit seiner spitzen Schieferhaube, auf der der stark verbogne kupferne Turm¬
knopf mit einer kupfernen Wetterspitze nicht gerade hoffnungsfreudig in die kühle
Aprilluft emporschnut.
Schiedlo hat eine noch ungeschriebne bedeutende Geschichte. Es ist sicherlich
einer der ersten Punkte gewesen, wenn nicht überhaupt der erste, den die Deutschen
jenseits der Oder in Besitz genommen haben. An dieser Stelle, zu der die gegen¬
über mündende Reiße den Weg zeigte und keinerlei natürliches Hindernis den Ftuß-
übergang erschwerte, fluteten die polnischen und die deutschen Heere über den Strom
als Sieger und Besiegte, hierher kamen die ersten wohl von Magdeburg ausge-
gangnen Sendbote» des Christentunis, hier erwuchsen die ersten schüchternen An¬
fänge ostoderischen Deutschtums. Der Ort bietet außer einem bequemen Zugang
zur Oderfähre auch eine gewisse Sicherheit, weil er wie eine Halbinsel ans drei
Seiten von der Oder umflossen wird. Bei der Trümmerhaftigkeit der Überlieferung
können wir deutsche Vasallen der schlesischen Herzöge in Schiedlo allerdings nicht
weit über das Jahr 1229 rückwärts nachweisen, aber vermutlich ist doch schon im
Übergang von, zwölften zum dreizehnten Jahrhundert in Schiedlo eine deutsche
Burg an Stelle der alten polnischen Kastellanei getreten, nud um dieselbe Zeit ist
wohl auch bereits die dem heiligen Georg, dem Schutzpatron der Reisenden und
Kaufleute, geweihte Kirche erbaut worden. Außer dem Herzoge von Schlesien
scheint aber auch der Bischof von Lebus — dieses Bistum ist 1133 gegründet - eine
Lehnshoheit über das Gebiet von Schiedlo ausgeübt zu haben. Denn 1241 bestätigt
Bischof Heinrich von Lebus den Tempelherren den Zins von den hundert Hufen im
Gebiete des Schlosses Schiedlo, den ihnen der Herzog von Schlesien geschenkt hat.
Um diese Zeit war aber auch schou ein Wettiner am linken Oderufer auf
dem Posten und spähte aufmerksam ostwärts über den Strom, um den meißnischen
Löwen womöglich noch weiter ins polnische Gebiet hineinzutragen. Das war
Markgraf Heinrich der Erlauchte, eins der edelsten Reiser, die der ehrwürdige
Stamm Wettin getrieben hat. Zwar Franz Xaver Wegele, der bekannte Geschicht¬
schreiber Friedrichs des Freidigen, hebt einen Satz der ^.una-lW Votöroesllöusss
hervor, die Heinrich als vrmesvs pavis, o^neuf, 8s,xisn8 nach dem Wahlspruch
handeln lassen: transxroäi^ris ambitionv den-minos va>t,rum worum und meint,
Heinrich der Erlauchte könne nicht eine hvchstrebende Persönlichkeit genannt werden,
er habe es immer geliebt, sich auf einer bestimmten mittlern Linie zu halten; in
seiner Stellung zu den großen politischen Fragen seiner Zeit habe er sich mehr
treiben lassen, als daß er je eine entschlossene Initiative ergriffen hätte. Dieses
Urteil besteht für die mittlern und die höhern Jahre des Fürsten gewiß zu Recht,
aber nicht für seine Jugend und sein erstes Mannesalter.
Im Jahre 1237 sehen wir den einundzwanzigjähriger Markgrafen an der
Spitze von fünfhundert Vasallen im Bunde mit dem Deutschordeusmeistcr Hermann
von Salza im fernen Prenßenlande Krieg führe»! sogar zwei Kriegsschiffe „Pil-
gram" und „Friedli" läßt er dumm, ebenso die festen Burgen Elbing und Balga
am Frischer Hufs, von der noch heute Ruinen übrig sind. Auch bemannte er diese
Burgen mit Rittern und Knechten, die er aus der Heimat mitgebracht hatte: die
Folge davon war ein lebhafter Verkehr zwischen den wettinischen Landen und dem
Ordeusgebiete. In den folgenden Jahren kämpft Markgraf Heinrich um Mitten¬
walde und Köpenick, einst Teile der Lausitz, und den brnndenburgischeu Askaniern,
er wird aber besiegt. Seit 1247 nimmt der thüringische Erbstreit seine Kraft
vorzugsweise in Anspruch, aber noch immer wendet er auch den Verhältnissen an
der Oder ein großes Interesse zu. Am 20. April 1249 besuchte ihn in Meißen
Herzog Heinrich von Schlesien und erlangte von ihm die Zusage kriegerischer Hilfe
gegen Boleslav, einen Bruder des schlesischen Herzogs; dafür bedingt sich der
Markgraf entweder Stadt, Burg und Land Krossen oder das ganze Land
zwischen Qneis und Bober bis zum böhmischen Grenzwalde und endlich das Schloß
Schiedlo ans.
Dieses muß in der Tat bald darauf in seinen Besitz übergegangen sein, denn
er macht am 20. Oktober 1253 der Sankt Georgenkirche zu Schiedlo eine be¬
deutende Stiftung. In derselben Zeit, um 1250, gründet er etwas abwärts von
Schiedlo auf dem linken Oderufer die Stadt Fürstenberg, deren Name an das
von Ottokar von Böhmen 1255 gegründete Königsberg in Ostpreußen erinnert;
schon fünfzehn Jahre früher hatte Heinrich dem dnrch die Reiße mit der Oder
verbundnen Hafen Guben das Stadtrecht verliehen (s. o. S. 289). Hält man das
alles zusammen, so hat man den Eindruck, daß Heinrich der Erlauchte entschlossen
war, sich an der Strecke der mittlern Oder, die der polnisch-deutsche Verkehr und
der Handel mit dem aufstrebenden Weichselländischen Ordensgebiete zu überschreiten
pflegte, eine gesicherte, auch auf das rechte, polnische Ufer hinübergreifende Stellung
zu schaffe».
Schiedlo konnte der Ausgangspunkt einer weiter nach Osten gerichteten Er¬
oberung werden. Aber in den Jahren 1256 bis 1264 wurde Heinrich durch die
Entwicklung des Erbstteits in Thüringen gezwungen, seine Hauptmacht dorthin zu
werfen. Und als er sich endlich das schöne Land durch den Frieden gesichert
hatte, war es für eine ungehinderte Ausbreitung der wettinischen Macht nach Osten
zu spät: denn unterdes hatten die mächtig ausgreifenden Askanier Otio und Johann
von Brandenburg 1260 die Neumark, das Bistum Lebus und das Land Stern¬
berg erworben und damit das wettinische Gebiet nach Nordosten zu umklammert.
Noch blieb der Weg über Krossen nach Osten frei, wenn nur Heinrich der Er¬
lauchte nicht eben damals schon die ersten Anzeichen von Regierungsmüdigkeit ge¬
geben hätte, indem er den größten Teil seiner Länder den Söhnen überließ.
Immerhin geschah noch manches zum Ausbau der wettinischen Stellung an
der Oder: 1268 stiftete Heinrich selbst das wichtige Cisterzienserklöster Neuzelle,
wenige Kilometer westlich von Schiedlo auf dem linken Ufer der Oder, die nörd¬
lichste kirchliche Gründung der Wettiner. Seinen Sohn Dietrich von Landsberg
finden wir 1272 im Ordenslande, wo er nach dem Beispiel des Vaters Krieg
führt und wettinische Vasallen zurückläßt. Dietrich war kurz vor seinem Tode im
Winter 1284/85 in Schlesien, wo er seine Tochter Gertrud mit dem Herzoge
Bolko dem Ersten von Schweidnitz verlobte. Auch Albrecht der Entartete vermählte
seinen Sohn Heinrich mit einer polnischen Prinzessin, mit Hedwig, der Tochter
Heinrichs des Dritten von Breslau, und der Sohn aus dieser Ehe Friedrich
(geb. 1273) ging 1233 nach Schlesien zu seinem Oheim Heinrich dem Vierten,
der ihm 1290 bei seinem Tode durch Tausch das Land Krossen verschaffen wollte.
Doch dieses wichtigen Landes bemächtigte sich bald nach 1300 der Markgraf
Waldemar von Brandenburg, und die Wettiner, in den alten Erbländer von den
damaligen Kaisern schwer bedroht, waren nicht imstande, sich des länderlosen Vetters
anzunehmen. Im Jahre 1301 kommt das vasrrum 8et>Lade,Iowe> (Schiedlo) noch
einmal in einer Urkunde Diezmanns vor, dann aber sah sich dieser 1303/04 ge¬
zwungen, die ganze Niederlausitz, den ältesten Besitz seines Hauses, an den gewaltig
aufstrebenden Waldemar von Brandenburg zu verlaufen.
Zwar hat es auch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert nicht an
Plänen der Wettiner gefehlt, die Niederlausitz wieder zu erwerben oder Teile
Schlesiens zu gewinnen, aber weder das Jahrzehnt wettinischer Pfandherrschaft in
der Niederlausitz unter Friedrich dem Strengen und seinen Brüdern (1353 bis
1364), noch die Erwerbung des Fürstentums Sagen und der biebersteinischen Ge¬
biete unter den Brüdern Ernst und Albrecht führte zu einem dauernden Besitze.
So verschwindet der Name Schiedlo wieder auf Jahrhunderte ans den wettinischen
Urkunden; aber ein großer Gewinn aus dem Zeitalter Heinrichs des Erlauchten
blieb doch zurück: der rege Handelsverkehr zwischen den wettinischen Ursitzen der
Kultur und den östlichen und nördlichen Kolonialländern. Wie die sächsischen
Fürsten und Städte während des ganzen fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts
auf das eifrigste bemüht Ware», die Privilegien der „hohen Straße" zu schützen,
die in verschiednen Zweigen ans dem Ordensgebiete und dem innern Polen um
die Oder, insbesondre nach Breslau und von da durch die Sechsstädte über Großen-
hain, Dresden, Freiberg, Zwickau nach Nürnberg, oder über Oschatz, Grimma,
Leipzig nach Thüringen und durch Hessen nach Frankfurt am Main führte, das ist
in einem frühern Aufsatze dargestellt worden (1903, I, S, 153 f.).
In der Tat bildeten während des schwachen Regiments der spätern Luxem¬
burger und der Jngcllonen die Lausitzer, Schlesien und Polen mit den wettinischen
Ländern ein großes, zusammenhängendes Wirtschaftsgebiet. Erst das nach dem
Schmalkaldischen Kriege erstarkende böhmische Königtum der Habsburger hat dieses
für das Kurfürstentum Sachsen überaus gewinnbringende Verhältnis durch hohe
Dnrchgangszölle in Schlesien und in der Lausitz zu zerreißen gesucht. Deshalb
wendet sich die wettiuische Politik, die sich längere Zeit in einem westlichen Kurs
versucht hatte (Jülich, Kleve, Berg) mit Beginn des siebzehnten Jahrhunderts
wieder mehr in ein östliches Fahrwasser, Im Präger Frieden 1635 werden die
Lausitzer erworben, sechzig Jahre später wird Angust der Starke zum König von
Polen gekrönt. - ,
(Schluß folgt)
le Baronin Lolo Wolffenrndt besuchte fast alljährlich das Kloster Witte-
kind. Nicht allein um sich nach ihrer Schwägerin Asta umzusehen,
die ja erst seit wenig Jahren ihren Stiftsplatz eingenommen hatte,
sondern um vor allen Dingen ihre Großtante, Fräulein Amalie von
Werkentin, zu besuchen. Sie war die einzige nähere Verwandte
dieser nlteu Dame und hielt es für ihre Pflicht, sich nach ihrem
Befinden zu erkundigen. Allerdings kam noch der Umstand hinzu, daß Fräulein
von Werkentin wohlhabend, und die Baronin Lolo immer in Geldverlegenheit war,
daß es also für sie von Interesse war, von der alten Dame nicht ganz vergessen
zu werden. Davon aber wurde natürlich nicht gesprochen.
Asta flauo sich mit ihrer Schwägerin recht gut. Baronin Lolo war ein Welt-
kind, das alle Dinge von dem Standpunkt eines gewissen Gleichmuth beurteilte und
deshalb manche Eigenschaften der Schwägerin nicht recht begreifen konnte. Aber
ihr Grundsatz war, alle Dinge leicht zu nehmen und sich womöglich niemals auf¬
zuregen. So kam sie mit allen Leuten gut aus. Früher hatte sie bei ihren Kloster-
besucheu im Fremdenzimmer ihrer Tante gewohnt, seit aber Fräulein von Werkentin
ein Faktotum in ihre Dienste genommen hatte, das Auguste hieß, sehr tüchtig und
treu war und ihre Herrin mit starker Hand regierte, seit dieser Zeit wurden in
der Fremdeustube allerlei Vorräte aufbewahrt, und für Logierbesuch war kein
Platz mehr.
Es war gut, daß Asta jetzt im Kloster wohnte und sogar zwei Betten in
ihrem Gastzimmer hatte, denn in diesem Jahre kam die Baronin mit Elsie, ihrer
ältesten, dreizehnjährigen Tochter.
Auch Asta gehörte zu deu Damen, die einem Hausbesuch nicht ohne Schrecken
entgegensehen; als sie aber am nächsten Morgen nach der Ankunft ihrer Ver¬
wandten mit ihnen beim Kaffee saß, hatte sie fast ein Gefühl der Erleichterung.
Sie hatte sich in der letzten Zeit innerlich zerquält und zerärgert; Betty Eberstein
fiel ihr mit ihrer hochmütigen Siegesgewißheit auf die Nerve», und sie war dankbar
dafür, durch ihren Besuch davon abgehalten zu werden, immer um ihren Verdruß
denken zu müssen.
Ihr kleines Eßzimmer war behaglich eingerichtet. Die Fenster standen weit
offen und ließen die frische Morgenluft herein. Heiter glänzte die Sonne auf ihre
altertümlich geformten Silbersachen und Porzellanteller, und der Samowar brodelte
und dampfte.
Es ist reizend bei dir, Asta, sagte ihre Schwägerin, während sie die Tasse
zum Munde führte; wahrhaftig, wenn ich nicht einen Mann und drei ungezogne
Rangen hätte, legte ich auch noch ein Gelübde ab und nähme den Schleier!
Aber Mutterchen! sagte ihre kleine Tochter vorwurfsvoll.
Die Baronin machte eine hastige Bewegung.
Liebes Kind, sagte sie, laß mir meine kleinen Scherze. Trink deinen Kaffee
aus, und geh ein wenig im Klostergarten spazieren. Die Morgenluft ist für kleine
Mädchen von dreizehn Jahren das allergesundeste.
Elsie gehorchte schweigend. Sie war ein allerliebstes Mädchen von dem
Typus, der hübsch werden kann, vielleicht aber immer wenig hübsch bleibt. Aber
sie hatte klare Augen und einen weichen lieben Mund. Mit einer liebkosenden
Bewegung legte sie den Arm um ihre Mutter, küßte sie und war dann gegangen.
Asta hatte der kleinen Szene lächelnd zugeschaut. Seit Elsie sprechen konnte,
sagte sie „aber Mütterchen," wenn nach ihrer Ansicht die Baronin etwas tat oder
sagte, was nicht ganz recht war, und obgleich die Baronin manchmal entrüstet über
ihr Töchterchen war, so konnte doch kein Mensch leugnen, daß die einst kühle und
etwas selbstsüchtige Weltdame seit Elsies Dasein manche bessere Eigenschaften ent¬
wickelt hatte.
Jetzt, als die Kleine gegangen war, seufzte sie allerdings.
Kinder sind schrecklich, Asta. Bei Elsie kann ich keinen Witz machen, ohne
daß sie mich ermahnt, und wenn ich gelegentlich um die Wahrheit herumfchleiche
— du weißt, Asta, es geht oft uicht anders —, dann habe ich förmlich Angst vor
dem Wurm. Aber sie merkt es, Gott sei Dank, nicht immer!
Asta schwieg gedankenvoll, die Baronin aber sprach schon von andern Dingen.
Sie war eine sehr schlanke, sehr gut gekleidete Dame, mit einem jungen, etwas
müden Gesicht. Seitdem sie ihren guten, aber recht langweiligen Mann geheiratet
hatte, war die Müdigkeit über sie gekommen und nicht wieder gegangen.
Also dein Bruder Wolf ist hier in der Nähe und bei der Post angestellt?
Ich freue mich, ihn einmal wieder zu sehe». Wie gehts deun eigentlich seiner Frau?
Ich weiß es nicht.
Astas Stimme klang abweisend, aber Lolo ließ sich nicht einschüchtern.
Ach jn, diese Heirat war nicht angenehm, aber schließlich —
Ich hoffe, daß Wolf sich entschließt, sich scheiden zu lassen, fiel Asta ein.
Lolo machte große Augen. Sich scheiden zu lassen? Die Dame taugt also
auch nichts? Der arme Wolf! Also er ist wirklich hineingefallen! Nun, dann
hoffe ich nur, daß sich die Sache zur Zufriedenheit auflöst.
Lolo sprach mit Erleichterung. Damals, als sich Wolf verheiratet hatte, und
Asta wie ihr Mann sehr aufgeregt und empört gewesen waren, hatte sie die Sache
ruhiger aufgenommen. Im Laufe der Jahre war aber auch ihr klar geworden,
daß Wolf etwas Unverzeihliches getan habe.
Wolf durfte kein armes Mädchen heiraten! fuhr sie fort. Der Dovenhof steht doch
auf dem Spiel, und Felix grämt sich darum, daß er aus der Familie gehn wird!
Ist er schon verkauft? fragte Asta hastig.
Nein. Der erste Käufer hat sein Angebot zurückgezogen. Der Hof liegt ihm
zu weit aus dem Verkehr. Es ist recht schade. Felix könnte den Teil der Summe,
der ihm zukommt, gut gebrauche»; du und Wolf, ihr würdet ja auch etwas er¬
halten. Nun, es wird sich vielleicht bald ein andrer Käufer finden.
Felix sollte mit dem Aufbieten des Hofes noch warten, sagte Asta unruhig.
Mau kaun nicht wissen —
Lolo sah sie prüfend an. Hoffst du noch immer für Wolf? Nun allerdings,
man kann es nicht wissen. So ein Verkauf kommt oft erst nach Jahren zustande;
ich möchte Felix wünschen, nicht allzu lange warten zu müssen. Das Gut kostet
alljährlich beträchtliche Summen und bringt nichts ein.
Die beiden Damen wurden in ihrer Unterhaltung durch Astas Dienstmädchen
unterbrochen, die zu Fräulein von Werkentin geschickt worden war, um zu fragen,
wann die Baronin ihrer Tante einen Besuch abstatten dürfte. Der Bescheid
lautete, das gnädige Fräulein wäre um zwölf Uhr Vormittags zu sprechen.
Hoffentlich ist Tante Amalie in recht guter Stimmung! sagte Lolo, als das
Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte. Hast du ihr nicht gesagt, Asta, wie
schwer Felix auf der Wvlffeuburg sitzt, daß ich drei unmündige Kinder habe, und
daß mein Mann in alle Zustände kommt, wenn ich nur das Wort „Kleid" aus¬
spreche?
Ich hoffe, daß die Wolsfenburg in der Lage ist, ihre Herrin anständig zu
kleiden! entgegnete Asta steif. Im übrigen will ich dir gern ein Kleid schenken!
Ach Gott, Asta, sei nicht so! Du weißt, daß ich manchmal gern einen Scherz
mache, besonders wenn Elsie nicht zugegen ist und mich sanft zurechtweist! Tante
Amalie könnte wirklich etwas mehr für mich tun. Früher hat sie mir gelegentlich
einmal eine kleine Summe zu Weihnachten geschenkt, jetzt strickt sie mir uur noch
Pulswärmer, die ich mit dem besten Willen nicht tragen kann!
Du mußt dich gut mit Auguste stellen, riet Asta, die nun selbst lachte. Wir
Stiftsdamen verkehren eigentlich nur noch mit Auguste, wenn wir etwas mit
Fräulein von Werkentin bereden wollen. Vielleicht kannst du ihr eine Freundlich¬
keit erweisen.
Nimmt sie Trinkgelder? fragte Lolo gespannt. Darüber aber konnte Asta ihr
keine Antwort geben.
Um die Mittagszeit wanderte die Baronin also zu ihrer Tante. Sie hatte
ihr einfachstes Kleid angelegt und machte, als sie dem alten Fräulein gegenübersaß,
ein sehr ernstes Gesicht.
Tante Amalie hockte bei geschlossenen Fenstern in ihrem kleinen mit vielen
altmodischen Möbeln angefüllten Zimmer und war noch dazu in ein Umschlagetuch
gewickelt.
Bist du schou wieder dn, Lolo? fragte sie verdrießlich. Mir scheint, du bist
immer im Kloster. Auguste sagt es auch.
Mem letzter Aufenthalt war im Juni vorigen Jahres, und nun sind wir im
August.
Taute Amalie wickelte sich noch fester in ihr Tuch.
Auguste, bringen Sie ein Glas Malaga für die Baronin.
Lolo schauderte. Nach diesem Malaga hatte sie vor vierzehn Monaten ent¬
setzliche Kopfschmerzen bekommen.
Danke für Wein! sagte sie hastig; aber schon kam Auguste mit der feinen
alten Kristallflasche, worin die Flüssigkeit mit dem spanischen Namen war, und sie
konnte nur bitten, ihr nur ein Schlückchen einzuschenken.
Der Wein ist sehr gut! sagte die alte Dame, die sich auch ein Gläschen ein¬
schenken ließ und kräftig nippte. Eine feine Sorte. Unser Krämer in der Stadt
hat ein ausgezeichnetes Weinlager. Nicht wahr, Auguste?
Gewiß, gnci Frölen! Die Dienerin stand hinter ihrer Herrin und nickte be¬
dächtig.
Sie hatte kein unangenehmes Gesicht, aber einen so bestimmten Zug um den
Mund und so scharfblickende Augen, daß Lolo Scheu vor ihr empfand.
Die Unterhaltung wollte nicht recht in Fluß kommen, trotz dem Malaga und
Lolos gutem Willen. 'Sie erzählte von der Wolffenbnrg, von ihren beiden Jungen,
von Elsie; aber Tante Amalie antwortete kaum. Die Luft im Zimmer war sehr
beklemmend, und dazu kam ein fetter Mops, der bis jetzt unter dem Sofa gelegen
hatte, hervor und legte sich auf Lolos Kleid. Sie versuchte ihn heimlich abzu¬
schütteln, aber er verstand die Sache falsch und brach in ein lautes Geheul aus.
Die beiden Alten, Herrin wie Dienerin, gerieten in Aufregung.
Moppi, was fehlt dir? fragte Fräulein von Werkentin angstvoll, und Auguste
nahm das beleibte Tier in ihre Arme.
Frau Baronin hat ihn getreten! entgegnete sie. Frau Baronin hat dich ge¬
treten! Sei still, mein klein Moppi, sei still, sei still!
Sie schaukelte Moppi hin und her, und er knurrte behaglich. Aber Fräulein
von Werkentin weinte beinahe.
Auguste, ich will Moppi streicheln, ich will ihn haben! Moppi, was denkst
du Wohl von den schlechten Menschen?
Halb war die Baronin belustigt, halb war sie ärgerlich.
Ich habe dem Vieh wahrhaftig nicht weh getan, Tante Amalie, mein Besuch
scheint dir aber nicht gelegen zu sein.
Moppi hat geweint! erwiderte Fräulein von Werkentin kläglich.
Die Baronin erhob sich. Vielleicht paßt es dir ein andresmal besser, sagte
sie kurz.
Fräulein von Werkentin erwiderte nichts, und sie wandte sich zum Gehn.
Dabei fiel ihr Blick auf ein kleines Pastellbild, das an der Wand hing, und sie
blieb einen Augenblick davor stehn, um es zu betrachten. Dann war sie nach
kühlem Abschied gegangen, und Auguste trank das Glas Malaga aus, das die
Baronin hatte stehn lassen.
Sonst geht sie immer in Weiß, trägt seidne Unterröcke und hat Straußen¬
federn auf dem Hut! sagte sie dabei. Und heute ist sie in simpel Schwarz mien
Matrosenhut. Bloß weil sie sich anschmeicheln will.
Sie sagte es mit spöttischem Tone. Moppi, den sie auf die Erde hatte gleiten
lassen, kroch unter Fräulein von Werkcntins Stuhl. Diese aber wickelte sich aus
ihrem Tuche.
Auguste, was besah die Baronin?
Die Dienerin schenkte sich verstohlen noch einmal ein.
Das kleine Bild von grä Frölens Schwester. Ich weiß nicht, wie sie ge¬
heißen hat.
Das ist eine Frau von Rieden und die Großmutter von der Baronin Lolo
gewesen. Meine geliebte Schwester Luise, die so früh sterben mußte.
Die Stimme der alten Dame zitterte, und sie machte eine Bewegung, als
wollte sie aufstehn und das Bild betrachten; aber Auguste hielt sie zurück.
Man keine Aufregung, grä Frölen. Sterben müssen wir alle, bloß daß man
nicht daran zu denken braucht. Frau Baronin aber wollte sich anschmeicheln, das
konnte jedermann merken. Die Wolsfenradts haben nicht viel Geld, wie ich
man gehört habe, und der Herr Baron Wolffenradt, der hier jetzt auf dem Kloster
kommt, soll gar nichts haben. Er besorgt Herrn Seiferts Geschäfte und geht mit
Fräulein von Hagenau spazieren, obgleich er eine Frau und auch Kinder haben soll.
Fräulein Amalie achtete nicht auf Augustens Reden. Sie stand so plötzlich
von ihrem Stuhle auf, daß Moppi ein entrüstetes Geheul ausstieß, nahm das Bild
von der Wand und streichelte es.
Luise, sagte sie mit ihrer zitternden Stimme, sei mir nicht böse. Ich bin
manchmal so greulich, aber ich bin so alt!
Baronin Lolo war in den Kreuzgang geeilt. Hier setzte sie sich auf eine
Bank, fuhr.mit dem Taschentuch über ihr Gesicht und ärgerte sich, weil sie Tränen
in den Augen hatte.
Vorsichtig hauchte sie auf das feine Gewebe, drückte es gegen ihre Lider und
lächelte ihrer Tochter entgegen, die vom Klostergarten her kam.
Nun, Mutterchen, bist du schou wieder da? Wann soll ich zu der Tante
kommen?
Gar nicht! erwiderte die Baronin lakonisch.
Gar nicht? Will sie mich nicht sehen?
Elsie setzte sich neben ihre Mutter und sah sie prüfend an.
Mama, was ist dir denn? Du hast rote Augen. Hast du Verdruß gehabt?
Ich habe mich geärgert, rief ihre Mutter. Schauderhaft war es, kann ich
dir sagen! Zwei alte Hexen, ein infamer Hund, eine noch infamere Behandlung,
und eine Luft, gegen die unser Schweinestall ein balsamischer Aufenthalt ist!
Aber Mutterchen!
Bitte, laß deine Ermahnungen, Elsie! Zu dieser alten Tante gehe ich
niemals wieder. Sie hat mich sehr schlecht behandelt, und diese beideu alten
Weiber sind entsetzlich.
Aber Mutterchen, eine Großtante darf man nicht ein altes Weib nennen!
fügte Elsie ermahnend, wahrend sie die Hand ihrer Mutter streichelte und sie leise
auf die Stirn küßte.
Diese Behandlung schien die Baronin zu beruhigen, sie lächelte schon wieder
und legte sich in den Arm ihrer Tochter.
Deine Tröstungen tun mir gut, Kindchen, aber es ist mir klar, daß ich Taute
Ancille niemals beerben werde. Schade darum, denn ich habe nie Geld, und sie
hat nur mich als direkte Erbin. Nun, ich werde mich darein finden und vielleicht
nur den infamen Mops vergiften.
Mutterchen, du mußt ein Brausepulver nehmen, rief ihre Tochter entsetzt. Du
hast ja schreckliche Gedanken!
Die Baronin lachte über den Schreck ihrer Tochter, und als sie wenig Augen¬
blicke später ihrer Wohnung zugingen, waren beide sehr heiter, und Lolo hatte
ihren Ärger ganz vergessen.
Bei Asta wartete Melitta von Hagenau auf die Baronin. Sie war hübsch
und doch bescheiden gekleidet, trug ein Paket Zeugnisse in der Hand und bewarb
sich in wohlgesetzten Worten um den Platz als Erzieherin bei Elsie.
Mit großen Augen sah das junge Mädchen auf die schöne elegante Er¬
scheinung. Unwillkürlich drängte sie sich an ihre Mutter; Lolo aber musterte
Melitta mit Wohlgefallen. Sie hatte gern hübsche Menschen um sich, und Melittas
sanfte, schmachtende Art gefiel ihr. Dann wurde Elsie aus dem Zimmer geschickt,
und nach längerer Unterhaltung mit Melitta versprach ihr die Baronin, sich bald
zu entscheiden.
Dir gefällt die kleine Hagenau doch auch gut? fragte die Baronin nachher
Asta, als sie mit ihr nach dem Essen wieder allein war.
Einen Augenblick zögerte Asta mit der Antwort.
Sie ist reichlich hübsch, erwiderte sie dann.
Lolo lachte. Bei uns macht das nichts. Felix ist immer artig gegen die Er¬
zieherinnen; aber weiter geht er niemals. Der Verwalter ist steinalt, der Pastor
im nächsten Dorf ist verheiratet. Mir ist es sehr angenehm, daß die junge Dame
aus guter Familie ist und ein hübsches Äußere hat.
Die Unterhaltung kam zu keinem Abschluß. Wolf erschien, um seiue Schwägerin
zu besuchen. Am Tage vorher hatte er keine Zeit gehabt; nun entschuldigte er
sich und erzählte von dem, was er für die Äbtissin zu tun habe. Zuerst war er
doch verlegen, denn er hatte seine Schwägerin nicht gesehen, seitdem er durch seine
vielen Schulden und seine unbesonnene Heirat eigentlich mit der Familie gebrochen
hatte. Aber seine guten Formen und die Unbefangenheit der Baronin überbrückten
gewisse innerliche Hindernisse, und als Elsie gerufen worden war, begrüßte der
Onkel sie lachend und neckte sie gleich, weil sie so groß geworden wäre.
Sie war sehr zutraulich mit ihm, erzählte von der Wvlffenburg und den
Brüdern und hörte zu, als Wolf anfing zu berichten. Aber er erzählte nur von
seiner augenblicklichen Beschäftigung und davon, daß die Äbtissin so verge߬
lich würde.
Es ist gut, das; sie bald abgehn will, sagte er. Sie kann das Amt doch nicht
länger ausüben.
Denkt man schon an ihre Nachfolgerin? fragte Baronin Lolo.
Gewiß! Gräfin Betty Eberstein wird Äbtissin werden. Sie ist eine sehr
Willensstärke Dame, die ihre Mitschwestern schon in Ordnung halten wird. Nicht
wahr. Asta?
Er wandte sich zu seiner Schwester; diese aber erhob sich eben und verließ
das Zimmer. Von Betty Eberstein konnte Asta nicht sprechen hören. Es kam
dann eine Art Zorn über sie, dessen sie sich schämte, aber sie konnte nichts dagegen
machen. Es war krankhaft und mußte überwunden werden; vorläufig aber ging
sie lieber allein im Kreuzgang auf und nieder und suchte ihre Seele auf ruhiges
Gleichmaß zu stimmen. Lauge saß sie auf einer Bank, schaute auf den Kirchhof
und wollte gerade in ihre Wohnung zurückkehre», als Gräfin Eberstein plötzlich
vor ihr stand.
Bist du es, Asta? Ich glaubte dich zu erkennen, deshalb kam ich her. Du
hast das Haus voll von Besuch — ich freue mich, dich trotzdem hier zu finden!
Sie setzte sich neben Asta und spielte mit ihrem Schirm.
Eigentlich wollte ich es dir nicht sagen. Es sieht ans wie Klatsch, und ich
hasse alles, was ihm ähnlich sieht. Aber ich fürchte, daß dein Bruder Wolf ein
kleines Verhältnis mit Melitta hat.
Unsinn! Astas Stimme klang scharf.
Die Gräfin wurde rot.
Ich pflege keinen Unsinn zu sprechen, liebe Asta. Meine Absicht war, dich
zu warnen. Wie ich höre, will Melitta Erzieherin auf der Wolffenburg werden.
Wird sie geeignet sein, deine Nichte zu erziehen?
Ich kann mir nicht denken, daß Wolf ihr den Hof macht! entgegnete Asta
ausweichend.
Leichtsinnig ist er immer gewesen. Seine Heirat, sein früheres Leben bezeugen
es. Melitta mag ihm sehr entgegenkommen; ich traue es ihr zu, und deshalb halte
ich es für meine Pflicht, dich zu warnen.
Du bist sehr gütig.
Du glaubst mir nicht? Die Gräfin bohrte ihren Schirm zwischen die Fliesen.
Du mußt bedenken, daß im Kloster keine unpassenden Liebeleien vorkommen dürfen.
Ein Wort von mir gegen die Äbtissin würde genügen, deinen Bruder zu ver¬
anlassen, daß er das Kloster meide.
Asta stand auf.
Sprich das Wort doch aus, Betty. Du hast ja doch schon die Zügel der
Regierung in der Hand — und du wirst sie behalten!
Auch die Gräfin erhob sich.
Ich wollte nur warnen. Hier darf kein Ärgernis gegeben werden.
Tue. was du willst!
Asta drehte der einstigen Jugendfreundin den Rücken und ging langsam davon.
In ihrem Herzen flammte der Zorn; noch ein Wort weiter, und er hätte sich Luft
gemacht. Auch die Gräfin war so erregt, daß sie nur kurz auflachen konnte. So
gingen die beiden auseinander. Jede von ihnen haßte die andre; Melitta und
Wolf waren vergessen.
Asta sagte selbstverständlich Baronin Lolo nichts von ihrer Unterredung mit
der Gräfin Eberstein. Sie war zu böse und wollte auch nicht glauben, was diese
behauptete. Aber als ihre Schwägerin am nächsten Tage Melitta noch einmal
kommen ließ und sie als Erzieherin fest annahm, benutzte Asta die nächste Gelegen¬
heit, mit ihrem Bruder allem zu sprechen. Diese fand sich am Sonntag. Die
Baronin war mit Elsie in die Kirche gegangen, und Wolf, der wieder auswärts
zu tun gehabt hatte, kam auf Astas Einladung eine Stunde vor dem Essen. Er
hatte etwas Verstimmtes und Gedrucktes, und Asta wollte ihn eben fragen, was
ihm sei, als ihr einfiel, daß er vielleicht unangenehme Nachrichten von seiner Familie
hätte, und von der wollte sie ja nichts wissen. Also begann sie als Einleitung
von Frau von Mcmska und dann von dem Dovenhvf zu sprechen. Wolf hörte zu.
Seine Verstimmung rührte nicht daher, daß er schlechte Nachrichten aus Hamburg
erhalten hätte — er schrieb immer nur flüchtige Karten dorthin, und Elisabeth
antwortete ihm wohl mit längern Briefen, aber auch ihre Berichte wurden spär¬
licher. Sie merkte es wohl, daß er nicht mehr viel an sie dachte.
Wieviel Geld hat Frau von Mcmska eigentlich? fragte Wolf.
Ich weiß es nicht gemein. Sie hat immer von einer halben Million ge¬
sprochen.
Eine halbe Million. Damit wäre der Dovenhof bezahlt —
Du solltest ein Ende machen! sagte Asta rasch. Wahrhaftig, Wolf, ein Mann
mit deinem Namen und deinen äußern Vorzügen kann doch nicht an diesen leidigen
Verhältnissen zugrunde gehn. Nicht einmal deine Frau wird das wünschen. Wenn
du es nicht willst, kann ich ja mit ihr sprechen. Das Opfer will ich dir gern
bringen.
Wolf antwortete nicht. Mit finsterm Gesicht betrachtete er seine Stiefelspitzen.
Im Herbst muß ich doch einmal nach Hamburg, fuhr Asta fort. Willst du
mir die Adresse deiner Gattin geben?
Im Herbst — Wolf wiederholte das Wort. Ich glaube — er stockte und
zuckte mißmutig die Achsel». Ich bin ein armer Teufel, Asta! Jetzt muß ich
Rendnnteugeschäfte besorgen und mich von Gräfin Eberstein anfahren lassen. Eben
komme ich von ihr; sie behandelte mich wie einen Schusterjungen!
Sie behauptet, du wärest mit Melitta Hagenau zu intim.
Wolfs Gesicht rötete sich; er zuckte aber nur die Achseln.
Vielleicht hat Gräfin Eberstein einmal auch nicht nur Damen zu Freunden gehabt.
Aber, lieber Bruder —
Liebste Asta, unterbrach er sie, Melitta Hagenau und ich sind ganz harmlos
befreundet, ganz harmlos, nichts weiter. Nun geht sie weg, und wir werden uns
kaum jemals wiedersehen. Ist es übrigens hier im Kloster ein todeswürdiges Ver¬
brechen, sich mit einer jungen Dame zu unterhalten?
Gewiß nicht! Asta atmete auf. Gräfin Eberstein klatscht, setzte sie in¬
grimmig hinzu.
Wolf nahm eine Zeitung zur Hand. Dazu haben alle Damen Neigung, ent-
gegnete er und erzählte dann, daß auch er Melitta seiner Schwägerin hätte als
Erzieherin empfehlen wollen; aber sie wäre ihm zuvorgekommen.
Von der Kirche verkündeten die Glocken das Ende des Gottesdienstes, und
bald trat Lolo zu dem Geschwisterpaar ein.
Eine so schöne Predigt! sagte sie. Und die meisten Klosterdamen schliefen
fest. Elsie, wenn du einmal Stiftsdcnne wirst, bitte ich mir aus, daß du munter
bleibst in der Kirche!
Wenn ich nun ganz alt und müde bin, Mutterchen?
Die Baronin sah nachdenklich auf ihre Tochter, die in ihrem Weißen Kleide,
mit langen Zöpfen und einem Schäferhut nicht an Alter und Müdigkeit gemahnte.
Hoffentlich bekommst du einen ordentlichen Mann, Kind! Einen netten Guts¬
besitzer uns alter Familie. Das ist immer das Sicherste.
So einer, wie Papa ist? Nicht wahr?
Die Baronin strich über Elsies weiche Haare und seufzte plötzlich kurz auf.
Vom Heiraten darfst du noch nicht sprechen, Kind. Nicht heiraten hat auch
seine segensreichen Stunden. Hast dn übrigens gesehen, wie fest Tante Amalie
schlief? Und neben ihr saß eine Dienerin in weißer Mütze. Das war Auguste,
Die alte Urgroßtante hatte ein ganz verschrumpeltes Gesicht, sagte Elsie nach¬
denklich.
Früher soll sie sehr schön gewesen sein; aber das ist lange her. Denn sie ist
achtundsiebzig Jahre alt und wird bald sterben. Dann wird diese schreckliche Auguste
sie natürlich beerben, obgleich ich ihre nächste Verwandte bin!
Aber Mutterchen, man muß doch nicht immer ans Erben denken!
Wolf, der dieser Unterhaltung lächelnd zugehört hatte, mischte sich jetzt hinein.
Wir großen Leute müssen manchmal an so unangenehme Dinge denken, Elsie.
Du hast es noch nicht nötig. Dn brauchst mir an deine Lernstunden und daran
zu denken, daß du Fräulein von Hagenau Frende machst!
Elsies Augen wurden ernst. Onkel Wolf, ich fürchte, daß ich Fräulein von
Hagenau uicht besonders gern leiden mag.
Weshalb nicht?
Elsie sah sich nach ihrer Mutter um, aber die Baronin sprach in einer Ecke
des Zimmers mit Asta.
Mama will ich es nicht sagen, Onkel Wolf. Sie hat Fräulein von Hagenau
gern und hat sie für mich ausgesucht. Meine frühere Gouvernante war Mama
zu häßlich; deshalb mußte sie gehn. Aber diese — Elsie zog die Stirn in ernst¬
hafte Falten.
Du wirst dich schon an sie gewöhnen! sagte Wolf nach einer Pause tröstend.
Ich hoffe es, Onkel Wolf, und die Brüder werden sie gewiß gern haben;
aber ich — sie seufzte, und dann faßte sie ihren Onkel Wolf zutraulich am Arm.
Onkel Wolf, ich sähe so gern einmal deine Kinder. Es sind zwei kleine
Mädchen, nicht wahr?
Zwei kleine Mädchen! wiederholte er mechanisch. Wenn er in Elsies klare
Augen sah, mußte er immer an seine kleine Jetta denken.
Sie sind gewiß reizend, fuhr Elsie fort.
Über sein Gesicht ging ein Lächeln. Sie sind noch dumm und klein, sagte er
halb entschuldigend.
Können sie nicht hier bei dir wohnen, und deine Frau auch?
Wolf wurde der Autwort dadurch enthoben, daß Asta zum Mittagessen einlud.
Er war sehr still geworden.
Zwischen Suppe und Braten flüsterte Astas Dienstmädchen der Baronin Lolo
einige Worte zu. Sie stand auf, ging hinaus und kam nach einigen Minuten
wieder.
Tante Amalie läßt mich einladen, heute um vier bei ihr Kaffee zu trinken,
berichtete sie.
Wirst dn hingehn? fragte ihre Schwägerin.
Ich habe der vorzüglichen Auguste erklärt, daß ich keine Zeit hätte. Sie war
enttäuscht und sagte, grä Frölen würde sich langweilen. Wahrscheinlich hat sie aus¬
gehn wollen und kann es nun nicht. Aber es fällt mir nicht ein, hinzugehn. An
der einen freundlichen Aufnahme habe ich genug. Elsie, gib mir die Kartoffel-
schüsfel und starre mich nicht an. Ich bin deine leibliche Mutter und weiß, was
ich zu tun habe!
Wolf und Asta lachten über diesen Schluß, und man sprach von andern
Dingen.
Am Nachmittage wanderte Elsie im Kloster umher. Die drei erwachsenen
Wolffenradts saßen, jedes mit einem Buch, in der Sofaecke und dachten nach;
Elsie aber konnte diese Vorliebe für Sofaecken noch nicht begreifen und machte
lieber einen Gang in das Klostergebäude. Das große alte Haus lag ebenso still
und schweigsam da wie der Kreuzgang. Im Erdgeschoß gab es keine Wohnungen,
nur weite, dunkle Gänge und Räume, die vielleicht ehemals Refektorien oder Bet¬
säle gewesen waren. Jetzt standen Vorratsschränke, Balken und Bretter an den
kahlen, verwitterten Wänden; über den Steinfußboden liefen Kellerasseln, und die
Sonne semble nur durch wenige Fenster einen Strcihl. Es war düster und un¬
heimlich hier. Nachdem Elsie verschiedne Türen betrachtet hatte, hinter denen die
Treppen zu den einzelnen Wohnungen lagen, ging sie wieder in den Kreuzgang
und dann in den Klostergarten. Warm lag der Sonnenschein ans den weiten
Rasenflächen. Die Bäume, deren Laub jetzt tiefer gefärbt war, standen regungslos,
und in der Luft schwebten weiße Fäden. Elsie strich sie sich aus ihrer jungen
Stirn. Dann hob sie den Kopf und lauschte. Aus der einen Allee kam es wie
ein kläglicher Laut, ein Hilferuf. Mit flinken Füßen eilte sie dorthin und sah eine
alle Dame, die sich fest an einen der Bäume klammerte. Moppi, Moppi, das
darfst du nicht. Moppi, sei vernünftig! sagte sie dabei.
Aber der dicke Mops, dem sie ihre Ermahnungen zuteil werden ließ, konnte
nur winseln. Seine Herrin hielt ihn an einer langen Leine, und diese Leine hatte
er so lange um den Baum und die Beine der alten Dame geschlungen, daß sie
!'es wirklich festhalten mußte, um nicht zu fallen. Je mehr Moppi nun am Bande
Zerrte, desto fester schlang es sich um Dame und Baum, und ihm selbst hing die
Zunge vor Aufregung aus dem Halse. ,
Hilfreich griff Elsie ein, und in wenig Augenblicken waren die alte Dame,
der Baum und Moppi aus der Umschlingung befreit. Erschöpft saß Fräulein von
Werkentin auf einer Bank und sah mit wunderlich klaren Augen in das freundliche
Gesicht des kleinen Backfischs.
Sie haben Moppi und mir das Leben gerettet, mein Kind, sagte sie ernsthaft.
Ich sah den Tod vor Augen, denn ich wäre bald umgefallen und dann gestorben.
Moppi sah eine Katze, und damit begann die Geschichte. Er kann keine Katzen
leiden, auch diese nicht, obgleich sie der Frau Äbtissin gehört. Sie kletterte auf
diese» Baum, und er wollte hinterher. Er ist so ehrgeizig!
Moppi muß mehr Bewegung haben, entgegnete Elsie, die neben der alten
Dame Platz genommen hatte. Er ist zu fett. Unser Mops auf der Wolffenburg
ist voriges Jahr an Herzverfettung gestorben.
Sie sprach so ernsthaft, wie Landkinder es tun, die mit Tieren groß werden,
und Fräulein von Werkentin betrachtete sie noch aufmerksamer.
Also du bist Lolos Tochter? Nun, ich hätte es niir beinahe denken können.
Du hast ja so viel Ähnlichkeit — sie brach plötzlich ab; ihre Augen ruhten prüfend
auf Elsies Gesicht.
Weshalb ist deine Mutter nicht zum Kaffee gekommen? Auguste hat ihren
Ausgang, und die Frau, die bei mir einhütet, ist sehr ungeschickt. Weshalb ist sie
nicht gekommen? Ich hatte sie doch eingeladen!
Elsie errötete bis zu den Haarwurzeln.
Mama — begann sie; dann zog sie an einem ihrer blonden Zöpfe.
Sprich die Wahrheit! sagte Tante Amalie energisch. Kinder müssen immer
die Wahrheit sagen.
Mama wollte nicht, Tante Amalie.
Weshalb nicht?
Weil — unglücklich spielte Elsie mit ihren Händen.
Weiter!
Du bist so unfreundlich gegen Mama gewesen, Tante Amalie. Mama war
sehr betrübt, als sie nach Hause kam. Sie hatte rote Augen.
Bei dem Gedanken, daß ihre heißgeliebte Mutter gekränkt worden war, löste
sich Elsies Zunge.
Fräulein von Werkentin zog ihren Mops zu sich und klopfte sein Fell, das
aus lauter Fettfalten bestand.
Ich habe uicht gern Verwandtenbesuche, erwiderte sie trotzig. Und Auguste
ist dann auch immer verdrießlich. Wenn ich tot bin, kann deine Mutter ja her¬
kommen und nehmen, was ich ihr bestimmt habe; aber vorher soll sie mich in Ruhe
lassen. Auguste sagt es auch! Was siehst du mich an? fuhr sie auf.
Elftes Augen waren immer größer geworden, und nun begannen ihre Lippen
zu zittern.
Arme Tante Amalie! sagte sie. Arme Tante!
Unruhig rückte diese auf der Bank hin und her.
Ich bin nicht arm. Ich habe Geld — viel Geld; wenn du brav bist, hinter¬
lasse ich dir etwas!
Elsie wischte sich eine dicke Träne aus den Augen.
Bitte nein, Tante, bitte nein!
Weshalb nicht?
Dann würde ich vielleicht auch so — auch so eklig wie du!
Einen Augenblick saß Tante Amalie still; dann lachte sie plötzlich hell auf und
erhob sich schneller, als sonst ihre Art war.
Nun gehe nur mit mir nach Hause und trinke bei mir Kaffee. Meine Ur-
großnichte bist du ja doch einmal, und ich habe noch Kuchen vom vorigen Sonntag,
der sehr gesund für Kinder ist!
Wo wohl Elsie bleibt? fragte die Baronin am Ende des Sonntagnachmittags.
Sie hatte sich in einen Roman vertieft, während Asta und Wolf miteinander
spazieren gegangen und noch nicht zurückgekehrt waren.
Gerade als sie diese Worte an das Dienstmädchen richtete, erschien Elsie auf
dem Korridor. Sie hatte rote Backen und in der Hand ein großes Paket.
Mama, ich habe bei Tante Amalie Kaffee getrunken, und sie hat nnr zwei
Paar Strümpfe geschenkt. Selbstgestrickte aus dicker Jägerwolle!
Sie berichtete lebhaft, wie alles gekommen war, die Bekanntschaft im Kloster¬
garten und Moppis Betragen.
Tante Amalie meint, ich soll ihm zu Weihnachten eine Decke sticken, berichtete
Elsie weiter. Nur ein N mit einer Krone darüber.
Die Krone erscheint mir allerdings sehr angebracht! meinte die Baronin
lachend. Dann wurde sie ärgerlich.
Mausi, ich mag nicht, daß du mit Menschen verkehrst, die gegen mich ab¬
scheulich waren.
Aber Mutterchen, ich glaube nicht, daß Tante Amalie es so schlecht meint.
Sie sagte so etwas, daß sie manchmal komisch wäre; aber sie wäre alt, und mit
alten Leuten müßte man Geduld haben. Auguste war auch recht nett. Als sie
nach Hause kam, gab sie mir gleich ein Glas Malaga.
Nun vergiften diese verrückten Alten mir auch noch mein Kind! rief die
Baronin. Aber Elsie legte begütigend die Hand auf ihren Arm.
Mama, er schmeckte prachtvoll. Ich habe zwei Gläser davon getrunken, und
dann hat mir Tante Amalie ein Bild gezeigt. Es ist ein ganz junges Mädchen,
mit blonden Flechten über den Ohren, und es ist deine Großmutter und meine
Urgroßmutter. Tante Amalie weinte ganz plötzlich und sagte, ich hätte Ähnlichkeit
mit dem jungen Mädchen. Und dann sagte sie, ich sollte nur innerlich auch so
gut werden, und daß sie sich immer nach ihrer Schwester sehnte. Mutterchen,
Tante Amalie tat mir leid. Und dann nahm sie den alten, schrecklichen Moppi
auf den Schoß und sagte, er wäre der einzigste, der sie noch lieb hätte. Ich wurde
wirklich betrübt, Mama. Denn ich kenne Tante Amalie so wenig, ich konnte nicht
sagen, daß ich sie lieb hätte. Aber ich könnte es vielleicht versuchen.
Dummes Zeug! sagte ihre Mutter; aber sie strich doch leise über die heißen
Kinderwangen.
Und ob wir nicht übermorgen beide bei Tante Amalie essen wollten, bestellte
Elsie weiter. Auguste hat es auch gesagt. Wenn wir zusagen, soll es gebratne
Hähnchen geben. Nicht wahr, Mutterchen, wir sagen zu? Ich bin noch niemals
zu Tisch ausgebeten worden!
Die Baronin besann sich. Meinetwegen, sagte sie dann gleichmütig. Sie ist
ja nun einmal meine Großtante, und ich will nicht allzu unhöflich sein. Das aber
sage ich dir: Ich ziehe mein bestes Kleid an und sage alles, was mir in den
Sinn kommt. Rücksichten nehme ich nicht mehr, und der infame Mops darf nicht
auf meinem Kleid liegen!
So kam es, daß die Baronin doch noch einmal ihre Großtante besuchte, daß
sie sehr elegant gekleidet und sehr von oben herab mit Auguste war. Daß sie
gleich darum bat, ein Fenster öffnen zu dürfen und Moppi auf den Korridor zu
verbannen, und daß sie viel weniger liebenswürdig war, als sie eigentlich hatte
sein können.
Tante Amalie ließ sich aber alles gefallen. Elsie mußte neben ihr sitzen, und
sie sah sie immer wieder an.
Aus der kann noch eine gute Frau werden! sagte sie, sich zu Lolo wendend.
Diese zuckte die Achseln. Wahrscheinlich eine Stiftsdame, liebe Tante. Arme
Mädchen heiraten heutzutage nicht mehr!
Stiftsdame ist das feinste! schob Auguste ein, die natürlich nur aufwarten
sollte, aber immer im Zimmer blieb und sich mit großer Unbefangenheit an der
Unterhaltung beteiligte.
Die Baronin streifte sie mit einem hochmütigen Blick.
Wenn Elsie Stiftsdame wird, hoffe ich. daß sie keinen Mops hat und keine —
Elsie legte ihr die Hand auf den Arm.
Mama, ich Stricke dann für die ganze Wolffenburg Pulswärmer und Strümpfe,
und zu Weihnachten schicke ich Geld! Nicht wahr, Tante Amalie?
Die alte Dame war nachdenklich geworden.
Strümpfe und Pulswärmer kann man immer gebrauchen, sagte sie endlich.
Nicht wahr. Auguste?
Gewiß, grä Frölen.
Aber Tante Amalie sah sich doch unruhig um.
Ich bin immer so allein, so schrecklich allein! Man muß Geduld mit mir
haben!
Plötzlich begann sie von ihrer Jugend zu erzählen. Ganz abgerissen und
manchmal nur in Andeutungen. Aber sie richtete sich im Stuhl auf, ließ das sie
ewig verhüllende Umschlagtuch fallen und berichtete von ihrer Kindheit und ihren
Geschwistern. Was sie gesagt und getan hatten, als sie klein waren, was sie am
liebsten gegessen hatten, wie sie voll von lustigen Gedanken gewesen waren. Und
nun waren sie alle tot — lange deckte sie der grüne Rasen, oder sie schlummerten
in einer modrigen Familiengruft der Auferstehung entgegen.
Atemlos hörte Elsie ihr zu; und ihre Mutter vergaß, daß sie hatte unliebens¬
würdig und beleidigt sein wollen. Draußen schüttelte der Sommerwind die Bäume,
und viele Blätter schwebten zur Erde. Hin und wieder schlug die Klosteruhr. und
Moppi kratzte draußen an der Tür. Aber niemand achtete auf ihn und auf den
Gang der Zeit; sie horchten auf die gebrochne Stimme der Greisin, und über Lolo
und ihre Tochter kam das große Mitleid, das die Jugend mit dem zitternden
Alter hat, wenn sie sieht, wie reich man ist im Vergleich zu denen, deren Lauf
auf dieser Welt nur noch ein Abschiednehmen ist. Ein Abschied von allem, was
die Herzen klopfen macht und die Sinne entzückt.
Als Mutter und Tochter später heimwärts gingen, war Lolo nur noch
gerührt.
Wir wollen an die Tante in Liebe denken, und wenn sie Pulswärmer schickt,
Wollen wir sie nicht gleich weggeben, sagte sie. Wir können sie ja einkampfern.
Und ich darf Moppi eine Decke sticken? N mit einer Krone?
Die Baronin seufzte. Meinetwegen. Für diese Erlaubnis bekomme ich dann
vielleicht im Himmel eine kleine Krone!
An diesem Tage machte Melitta ihre Abschiedsbesuche im Kloster. Baronin
Lolo hatte bestimmt, daß sie gleich mit ihr und ihrer Tochter auf die Wolffenburg
zurückkehren sollte. Obgleich dem jungen Mädchen der Abschied von Wittekind schwer
wurde, so sah sie ein, daß es besser war, Gräfin Eberstein nicht länger mit ihrem
Besuch beschwerlich zu fallen. Besonders in der letzten Zeit hatte die Gräfin ihre
junge Anverwandte mit ausgesprochner Verachtung behandelt, und Melitta hatte die
Empfindung, daß diese Verachtung in der Spielerei mit Wolf seinen Grund habe.
Sie hatte sie also verdient; das aber machte sich Melitta nicht klar. In ihr brütete
eine dumpfe Wut; und schon deshalb allein war es gut, sich so bald wie möglich
von Gräfin Eberstein zu trennen.
Bei der Äbtissin, bei den andern Damen fand sie heute freundliche Aufnahme.
Alle wünschten dem hübschen, lebhaften Mädchen eine angenehme Zukunft, und
die Äbtissin, die jungen Leuten von jeher zugetan war, schenkte ihr noch ihr
eignes Bild.
Mit einem Anflug von Rührung ging Melitta jetzt zum Klosterpachthof hinaus
und an der Schule vorüber. Wieder empfand sie ein heimatliches Gefühl und den
brennenden Wunsch, einmal ganz hierher ziehn zu können. Dieser Wunsch konnte
aber niemals in Erfüllung gehn; sie gehörte zu den unglücklichen Wesen, die auf
dieser Welt von Ort zu Ort ziehn, ohne einen Ruheplatz zu finden.
Trotz dieser bittern Gedanken warf Melitta einen forschenden Blick auf den
Pachthof, auf dem jetzt öfters ein gut gekleideter Volontär umherging. Sie hatte
noch nicht mit ihm gesprochen; aber sie grüßten sich, und das war schon ganz nett.
Der junge Herr zeigte sich jedoch nicht, und Melitta wandle sich dem Schulgebäude
zu. Sie hatte Klaus Fuchsins längere Zeit nicht gesehen und wollte ihm nun doch
Lebewohl sagen. Aber nur der gute alte Lehrer stand vor dem Hause und band
die Schlingrosen fest; von Klaus war nichts zu sehen. Aber als sie weiterging,
aus dem Klostertor und auf die Landstraße, sah sie den jungen Mann daher¬
kommen. Heute trug er nicht den langen Rock, sondern dieselbe verschliffene Joppe,
worin sie seine Bekanntschaft gemacht hatte; dazu einen riesigen Knotenstock und
ein Paket, aus dem etwas Wolliges herausquoll.
Seine Erscheinung hatte etwas Auffallendes.
Als Melitta vor ihm stand, lachte sie ihn an. Bei welchem Modeschneider
sind Sie denn gewesen, Herr Fuchsius?
Bei keinem! sagte er trotzig. Wenn Sie mich nicht so hübsch finden wie den
hochmütigen Baron Habenichts und Kannnichts, dann sprechen Sie nur nicht
mit mir!
Sie erschrak vor seinem finstern Blick.
Weshalb so böse, Herr Fuchsius? Ich wollte Ihnen nur Lebewohl sagen.
Morgen oder übermorgen gehts nach der Molffenburg!
Sie berichtete ihm, daß sie Erzieherin der kleinen Elsie würde.
Erzieherin? Klaus lachte spöttisch. Sie müssen selbst noch erzogen werden!
Und dann auf der Wolsfenburg, bei lauter eingebildeten Menschen? Das wird nicht
lange gut gehn! Denken Sie an mich!
Es tut Ihnen hoffentlich leid, daß ich weggehe! erwiderte Melitta halb empört.
Er sah sie starr an. Ich freue mich. Sie haben meine Gedanken in Un¬
ruhe gebracht; das Weib soll für den Mann ein angenehmer Zeitvertreib, keine
Beunruhigung sein!
Sie müssen Verdruß gehabt haben, daß Sie so schlechter Laune sind I erwiderte
Melitta schon wieder belustigt.
Er legte sein Wollenpaket von einem Arm in den andern.
Ich war bei meiner Mutter und wollte mir Geld holen. Wozu hat man
eine Mutter, wenn sie einen nicht unterstützt? Die meine behauptet, dazu nicht
imstande zu sein. Sie sitzt auf Moorheide, leidet Hunger und Kummer und schläft
nicht, weil sie keine Zinsen bezahlen kann.
Da müssen Sie ihr Geld geben, Herr Fuchsius.
Ich? Klaus machte große Augen. Was ich einnehme, gebrauche ich selbst.
Dazu habe ich auch noch Schulden; wer große Gedanken hat, hat immer Schulden;
Mutter sollte mir helfen; aber sie strickt mir nur Strümpfe, Ein Glas Milch,
zwei Eier und drei Paar Strümpfe. Mehr gabs nicht; deshalb bin ich den ganzen
Weg über Land gelaufen.
Sie sind undankbar! Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, aber es hat
nichts geholfen. Und nun leben Sie wohl; ich muß nach Hause!
Seine Stimmung hatte gewechselt. Mit einem sonderbar hungrigen Ausdruck
sah er sie an. Schreiben Sie mir, Fräulein; dann antworte ich Ihnen und schicke
Ihnen ein Gedicht. Ich habe viele schöne Gedanken; aber die Menschen stören
mich. Die dumme Schule! Alles ist dumm auf dieser Erde. Davon will ich
dichten, Fräulein. Und Sie schreiben mir?
Dieser wunderliche junge Mensch in seinem halb lächerlichen Aufzug hatte
einen merkwürdigen Einfluß auf Melitta. Wie es kam, hätte sie selbst nicht sagen
können; aber sie versprach ernsthaft, ihm zu schreiben und von dem, was sie er¬
lebte, zu berichten.
Jetzt nahm er ihre beiden Hände in seine und näherte sein Gesicht dem ihren.
Ich nehme Abschied, sagte er feierlich. Wenn ich ein großer Dichter bin,
Fräulein, dann — er wandte sich plötzlich ab und sah in die Ferne. Versprechen
will ich nichts; aber es könnte doch sein — wieder hielt er inne. Melitta aber,
die auf dem Landwege Menschen daherkommen sah, machte sich hastig von ihm los
und ging eilig nach Hause.
Nach zwei Tagen fuhr sie erster Klasse mit der Baronin und ihrer Tochter
Von der Station Wittekind ab, und wie sie sich in die roten Sammetpolster zurück¬
kehrte, konnte sie kaum begreifen, jemals mit dem kleinen, armseligen Lehrer ge¬
sprochen zu haben.
Baron Wolf brachte seine Angehörigen auf die Bahn und scherzte mit Elsie
bis zur Abfahrt.
Kommst du bald auf die Wolffenburg, Onkel? fragte sie ihn.
Wenn ich einmal Zeit habe. Jetzt bin ich Klvsterrendant.
Und deine Kinder? flüsterte sie.
Er antwortete nicht, strich ober leise über ihr Gesicht.
Hoffentlich, lieber Wolf, ändert sich alles zum guten! sagte die Baronin, die
Elsies letzten Satz nicht gehört hatte.
Er hob die Schultern. Wer weiß?
Für Melitta hatte er nur einen höflichen Gruß, und sie Verlangte anch nicht
mehr. Als aber der Zug langsam aus der Station dampfte, und sie seine schlanke,
vornehme Gestalt auf dem Bahnsteig stehn sah, kam etwas wie sehnsüchtige Liebe
über sie. Er war hübsch und vornehm, nächstens wurde er geschieden und mußte
Frau von Mcmska heiraten. War sie nicht besser als Fran von Mnnska?
Dann wurden ihre Gedanken durch Frau von Wolffenradt unterbrochen, die
dem eintretenden Schaffner eine Flasche Malaga schenkte und deswegen von ihrer
Tochter eine kleine Ermahnung erhielt.
Mutterchen. Tante Amnlicns Wein war doch wunderschön!
Was ist auf dieser Welt wunderschön? fragte die Baronin lachend, und Melitta
wiederholte bei sich die Frage.
Ja, was war denn eigentlich wunderschön?
(Fortsetzung folgt)
Die Frage der Reichstagsdiäten be¬
ginnt wieder eine Rolle zu spielen. Schon ist ein Antrag auf „Einbringung eines
Gesetzentwurfs noch in dieser Session" beschlossen worden, und der Chorus in der
gesamten liberalen Presse tritt für die große Aktion ein. Es ist auffällig, wie
sehr der Reichstag bei der Hand ist, wenn es sich um eine weitere Demokrati¬
sierung der Reichsverfassung handelt. Würden die Regierungen mit einer Vorlage
kommen, die bestimmt wäre, die Reichsverfassung im konservativen Sinne zu
ergänzen, so würde man ihnen sofort das „Heiligtum" der Verfassung, der „Volks¬
rechte" usw. entgegenhalten, und sie würden damit noch wesentlich schlechtere Ge¬
schäfte machen, als trotz allem der Reichstag bisher mit seinem Dicitenverlangen
gemacht hat. Wenn der Bundesrat überhaupt noch alle die Vorlagen entwerfen
und beraten soll, die ihm in Anträgen und Resolutionen als „noch in dieser
Session vorzulegen" angesonnen werden, so müßte man damit anfangen, mindestens
noch ein Neichscunt „für Gesetzmacherei" zu errichten. Das wäre ja auch gleich
eine gute Gelegenheit, alle die verschiednen Ministerkandidaten und solche, „die es
werden wollen," in den entsprechenden Rangstufen unterzubringen.— Eins ist klar
und unwiderleglich: die bedingungslose Diätengewährung wäre eine fundamentale
Abänderung der Reichsverfassung und damit auch des Bundesvertrags in einer
seiner wichtigsten Grundlagen. Gegner des schrankenlosen allgemeinen Stimm¬
rechts sind, wie in den „Grenzboten" neuerdings wiederholt hervorgehoben worden
ist, gerade die liberalem deutschen Fürsten, von 1866 bis nach 1870 vor allen
der Kronprinz, die Großherzoge von Baden, Oldenburg und Weimar gewesen,
die unter den einflußreichern deutschen Landesherren am entschiedensten für Kaiser
und Reich eingetreten sind. Verschiedne neuere Publikationen haben das eingehender
dargetan. Der Kronprinz schrieb noch unter dem 15. Oktober 1870 an seine
Schwester, die Großherzogin von Baden: „----Ich glaube, daß jetzt der letzte
Augenblick herbeigekommen ist, um ein Zweikammersystem noch einzuführen, das
wir namentlich den allgemeinen Wahlen gegenüber bedürfen." Ebenso
ist die Zähigkeit bekannt, mit der Großherzog Peter von Oldenburg an diesem
Gedanken festhielt. Wenn diese national und liberal gesinnten Fürsten schon da¬
mals ein Gegengewicht gegenüber dem allgemeinen Stimmrecht für nötig hielten,
als von Diäten noch gar keine Rede war, um wieviel weniger wird die größere
Zahl der deutschen Landesherren heute einer weitern Demokratisierung der Reichs¬
verfassung geneigt sein. Wenn sich einzelne deutsche Ministerien ihren Landtagen
gegenüber für Reichstagsdiäten ausgesprochen haben, so war das ein um so be¬
quemeres und billigeres Zugeständnis, als sie mit absoluter Sicherheit wissen, daß
eine Anzahl deutscher Souveräne, darunter an erster Stelle der König von Preußen,
für diesen Ruck nach links ohne vollwichtiges Gegengewicht nicht zu haben sind.
Übrigens hat auch wohl keine deutsche Regierung erklärt, daß sie zu eiuer be¬
dingungslosen Diätengewährung bereit sei. Das Deutsche Reich ist nicht nur die
einzige Großmacht, sondern überhaupt der einzige größere Staat mit Einkammer¬
system. Dieses System ist mit der Diätenlosigkeit unauflöslich verbunden. Der
Bundesrat ist kein Staatenhaus, dessen Mitglieder nach ihrer Überzeugung votieren,
sondern er ist eine Vertretung der Regierungen, nach Instruktionen stimmend und
— wenn auch nur im gewissen Umfange — mit ministeriellen Befugnissen aus¬
gerüstet. Es ist deshalb auch durchaus unzutreffend, wenn ein nationalliberales
Blatt von der „Gleichstellung der gesetzgebenden Faktoren" spricht. Die „Gleich¬
stellung" beruht nur darin, daß der eine „Faktor" ohne den andern keinen Akt
der Gesetzgebung zustande bringen kann. Auch das ist nur bedingt richtig, weil
der Bundesrat in Notfällen, in Abwesenheit des Reichstags, handeln kann und
nur die nachträgliche Zustimmung einholen muß, während der Reichstag diese Be¬
fugnis selbstverständlich nicht hat. Der Kaiser hat den Mitgliedern des Bundesrath
den diplomatischen Schutz zu gewähren (Artikel 10), er kann ohne Zustimmung des
Reichstags, aber nicht ohne Zustimmung des Bundesrath Krieg erklären (Artikel 11,
Absatz 2). Also von einer absoluten Gleichstellung der „beiden gesetzgebenden Faktoren"
ist in der Verfassung keine Rede. Die Oberhansidee ist 1867 und 1870 an dem
ganz bestimmten „Nein" des Fürsten Bismarck gescheitert, der hierfür eine ganze
Reihe in den damaligen Verhältnissen wurzelnder, durchaus berechtigter Gründe
hatte. Aber diese sind zum großen Teil weggefallen. Ein entscheidender Umstand,
der heute noch gegen ein Oberhaus spräche, würde uur der sein, den ja Fürst
Bismarck seinerzeit auch geltend gemacht hat, daß dadurch der Gesetzgebungsapparat
zu kompliziert würde. Wäre es bei der unermeßlichen Gesetzfabrikation, die wir
heutzutage leisten, wirklich ein Unglück, wenn diese ganze Gesetzgebung noch durch
den Filtrierapparat eines Oberhauses zu gehn hätte? Wir glauben entschieden,
daß das nicht nur kein Unglück, sondern ein Segen sein würde. Freilich häugt
viel davon ab, wie dieses Oberhaus zusammengesetzt sein soll, diese Frage liegt
aber heute anders, als sie 1870 gelegen hätte.
Will man durchaus Diäten haben, und soll das allgemeine, geheime und direkte
Wahlrecht dabei unangetastet bleiben, so gibt es als Gegengewicht nur zweierlei:
entweder die Errichtung eines aus lebenskräftigen Elementen zusammengesetzten Ober¬
hauses, oder die Verleihung von wenigstens hundert Virilstimmen für den Reichs¬
tag an die großen Städte, die Hochschulen, die großen Korporationen des Reichs.
Vielleicht Wäre dieser letzte Modus, der dem Reichstag eine starke Schar tüchtiger
Männer zuführte, vorzuziehen, weil er das legislative Räderwerk nicht vergrößern
würde. Wirkungsvoller, zumal in kritischen Zeiten, wäre das Oberhaus, allerdings
nur bei entsprechenden Befugnissen. Will der Reichstag durchaus die Verfassung
durch Einführung von Diäten ändern, so wird er jene weitere Verfassungsänderung,
die das Gleichgewicht wieder herstellt, mit in den Kauf nehmen müssen. Der Um¬
stand, daß die Mitglieder des Bundesrath, soweit sie nicht in Berlin ansässig sind, Tage¬
gelder und Reisekosten beziehen, kann nicht in Betracht kommen, weil diese Mitglieder
nicht freiwillig nach Berlin gehn, nicht für ihre Entsendung einen großen Wahl¬
kampf entfachen, sondern als Beamte einer Anordnung ihrer Regierung oder ihres
Landesherrn Folge zu leisten haben, während der Entschluß der Abgeordneten, ein
diätenloses Mandat anzunehmen, durchaus freiwillig ist.
Auch Freifahrkarteu durch ganz Deutschland sind für die Reichstagsmitglieder
verlangt und beschlossen worden. Der Andrang zu den Mandaten ist, wie die letzten
Wahlen wiederum erwiesen haben, trotz den damit verbundnen Zeit- und Geld-
vpfern und mitunter recht bedeutenden körperlichen Anstrengungen, doch so groß,
daß er einer künstlichen Unterstützung auf öffentliche Kosten wahrlich nicht bedarf.
Herr Eugen Richter hat bei der Besprechung der
jüngst veröffentlichten diesjährigen Kiantschoudenkschrift trotz aller Bemängelungen
schließlich doch anerkannt, daß diese von der Marine verwaltete Kolonie die einzige
sei, die tatsächlich vorwärts komme, und daß es deshalb richtiger sein möge, sämt¬
liche Kolonien unter die Marine zu stellen. Wie aus parlamentarischen Kreisen
verlautet, begegnen sich in dieser Beziehung Herrn Richters Gedanken mit denen
des Kaisers, der die Vereinigung der Marine- und der Kolonialverwnltung längst
gewünscht habe. Staatssekretär von Tirpitz soll sich jedoch ablehnend Verhalten,
weil nach seiner Ansicht die ganze Tätigkeit der Marineverwaltuug für den Ausbau
der Flotte eingesetzt werden müsse, und diese Lebensaufgabe durch Belastung mit
der Kolonialverwaltung leicht Schaden leiden würde, namentlich auch dem Reichs¬
tage gegenüber, der seine geringe Bewilligungsfreudigkeit für Kolonialzwecke auch
auf die Marine übertragen könnte. In Frankreich sind Marine und Kolonien
längere Zeit in ein Ressort vereinigt gewesen, seit einigen Jahren hat man sie
infolge des großen Anwachsens beider Verwaltungen wieder getrennt; die Kolonien
bilden ein eignes Ministerialressort, doch stehn die Kolvnialtruppen unter dem
Kriegsministerium.
Es wäre kaum ganz richtig, von Kiautschou auf die andern Kolonien zu schließen.
Kiautschou haben wir von der Regierung eines zivilisierten Landes, zu der Deutsch¬
land in regelmäßigem diplomatischem Verkehr steht, auf dem Wege des Vertrages
erworben zum Stützpunkt für unsern Handel in Ostasien sowohl als für unsre
maritime Stellung dort. Unser dortiges Gebiet stoßt an ein reich bevölkertes,
unter einem geordneten Verwaltungsorganismus stehendes Hinterland, wir mußten
angesichts dieser Umstände sowohl als auch im Hinblick auf die in China vor-
handnen englischen, französischen, russischen Besitzungen, ans die Nähe von Japan usw.
in Kiautschou ganz anders organisieren als in Afrika. Der Marinestützpunkt wies
von vornherein darauf hin, das neue Gebiet unter die Marine und ihren Schutz
zu stellen. Eine Marinebehörde neben einer vou der Kolonialabteilung rcssorticrenden
Verwaltung wäre dort nicht möglich gewesen; es konnte zumal bis zum beendeten
Ausbau dort nur eine leitende Hand geben, und die Marine hatte in dem leider
so früh dahingerafften Kapitän zur See Jäschke eine vorzügliche Kraft. In Kiautschou
kommen zu allererst maritime Interessen in Betracht, die Nähe Schanghais und
andrer Punkte mit reich entwickeltem deutschem Handel lassen darüber keinen Zweifel,
Tsingtau ist als Aus- und Einfuhrhafen der Provinz Schankung gedacht. Für diese
Kolonie, die von vornherein als xrovineia impviii, nicht als rätselhaftes „Schutzgebiet"
behandelt wurde, hat denn auch der Reichstag nicht gekargt; daher die blühende
Entwicklung, wie sie durch die den jährlichen Denkschriften beigefügten Photographien
so erfreulich veranschaulicht wird. Hätte der Reichstag eine ebenso freigebige Hand
für Ost- und Südwestafrika sowie für Kamerun gehabt, so würden wir zweifellos
auch dort viel weiter sein, wenn auch natürlich nicht so weit wie mit einer Kolonie
auf chinesischem Boden, inmitten eines im Vergleich zum nackten und bedürfuislosen
Neger hoch entwickelten Kulturvolkes. Also nicht das Ressort, sondern die geo¬
graphischen und ethnographischen Verhältnisse, sowie die finanziellen Aufwendungen
geben hier den Ausschlag. Dar es Salair zum Beispiel hat einen prächtigen Hafen,
der eine ganze Flotte aufnehmen kann, aber der Hafen von Tsingtau wird längst
fertig, mit Docks und allen Einrichtungen, mit starken Befestigungen versehen sein,
bevor wir in Dar es Salam auch nur das notwendigste geleistet haben, was es
uns zu einem Stützpunkt machen soll. In China bauen Wir Vollbahnen, in Afrika
dürftige Schmalspurbahnen. Trotz diesem allem mag aber zugegeben werden, daß
unsre Kolonialverwaltung auf ein höheres Niveau gehoben werden muß. Mit einer
Verordnung, durch die die jetzige Kolonialabteilnng unter das Reichsmarineamt
gestellt wird, ist aber die Sache nicht gemacht. Die Marine konnte in Kiautschou
mit alterfahrnen und geschulten Kräften vorgehn, sie verfügte über eine hinreichende
Zahl von Offizieren, Ärzten, Beamten, die Ostasien, speziell China, aus längeren
und wiederholtem Aufenthalt vorzüglich kannten. Jeder junge Offizier kommt nach
Ostasien. Die Kolonialverwaltung dagegen, die man besser in ein Kolonialamt mit
einem Staatssekretär an der Spitze ausgestalten sollte, muß sich ihre Leute erst
mühsam suchen und erziehen. Jeder Beamte, jeder junge Offizier, der hinausgeht,
ist Neuling und muß sich draußen seine Sporen erst verdienen; nicht besser sieht
es mit der Zentralstelle aus. Wie viele von den Räten kennen überhaupt irgend
eins der Schutzgebiete, geschweige das, worüber sie referieren und entscheiden oder
doch Entscheidungen vorbereiten sollen. Die Marine könnte in China noch ein
halbes Dutzend Punkte wie Kiautschou mit sachkundigen Offizieren besetzen; dort
liegt der Schwerpunkt immer an der Küste, in Afrika aber liegt er tief im Innern.
Trotzdem sind unsre Marineoffiziere für überseeische Verhältnisse, für das Leben in
den Tropen, auch für die Behandlung der Eingebornen entschieden praktischer vor¬
gebildet als der junge Landoffizier, der sich mit vieler Begeisterung, etwas Abenteurer¬
lust und starker Sehnsucht, aus dem Einerlei des Garnisondienstes wegzukommen,
zum Kolonialdienst meldet, seine Garnisonanschauungen dorthin überträgt und sich
nach verhältnismäßig kurzer Zeit mitten in der afrikanischen Einöde mit einer
Handvoll Leute den Eingebornen gegenübersieht, von deren richtiger Behandlung
und Beurteilung nicht nur sein und seiner Leute Leben, sondern der Friede der
ganzen Kolonie abhängt. Unsre Seeoffiziere sind für alle die Kleinigkeiten und
Kleinlichkeiten eines solchen Berufslebens meist viel brauchbarer geschult. Sturm
und Wellen erziehn und verstehn keinen Spaß. Sie schärfen den Blick und festigen
die Hand. Aber vorläufig hat die Flotte niemand übrig."
Sodann fehlt die Wechselwirkung zwischen den „Schutzgebieten und der
Berliner Zentrale. In der Kolonialverwaltung brauchen wir wirklich nicht aus¬
schließlich Juristen, sondern Leute des praktischen Lebens als Referenten, die wieder¬
holt die Weltmeere gekreuzt haben und wissen, wie es im Innern Afrikas aus¬
sieht. Das Referat über Kamerun sollte nur jemand haben, der das Land bis
zum Tsadsee genau kennt, möglichst auch die benachbarten englischen und französischen
Gebiete, auch wenn er niemals eine deutsche Universität auch nur von außen ge¬
sehen hat. Dasselbe gilt für Ostafrika, Südwestafrika und die Südsee, Togo ist
wohl mit Kamerun zu einem Dezernat vereinigt.
Da diese Dezernenteustellen ein ganz andres Maß von Erfahrung und ge¬
opferter Gesundheit und Lebenskraft fordern, als sonst die Dezernenteustellen in
den meisten Ministerien, so müßten sie in Rang und Einkommen entsprechend be¬
messen sein. Die größere Unkontrollierbarleit schließt auch eine größere Summe
von Vertrauen und Verantwortlichkeit ein. Der Kolonialdienst soll draußen wie
in der Heimat eine Auszeichnung sein, die besten Kräfte sind dazu gerade gut
genug. Ebenso sollten aber auch endlich einige Leute, die „draußen" waren, in
den Reichstag kommen. Unser Reichstag urteilt über die Kolonien wie der Blinde
über die Farbe, um so mehr sollte man ihm am Bundesratstisch und in den
Kommissionen erfahrne Männer gegenüberstellen. Alles Militärische aber gehört
in das Kriegsministerium, das sich sehr wohl um ein Departement für Kolonial¬
truppen vergrößern kann. Daß das „Kaiserlich" und „Königlich" dabei keine
Schwierigkeit mehr macht, beweist der Umstand, daß nicht nur die Ostasiatische
Brigade vom Kriegsministerium ressortiert, sondern die ganze Chinaexpedition von
ihm ressortiert hat. Damit würde auch die „Kommcmdobehörde" aus der Kolonial¬
abteilung ausscheiden und in eine Inspektion wie die der Jäger und der Schützen
oder der Verkehrstruppen, etwa mit erweiterten Befugnissen umzuwandeln sein. Bei
einer ordnungsmäßigen militärischen Verwaltung könnte es doch nicht vorkommen,
daß — wie jetzt aus Südwestafrika — die Geschütze nach Europa zur Reparatur
geschickt sind, ohne daß man irgend Ersatz im Lande hat! Dieser eine Vorgang
spricht Bärbel
Diese Betrachtungen sind selbstverständlich rein sachlicher und nicht persönlicher
Natur. Sie haben weder mit dem bedauerlichen Beschluß der Budgetkommission
wegen der Kolonialattaches noch mit gewissen Intriguen, die dabei — für die
Mehrzahl der Kommissionsmitglieder unerkennbar — mitspielten, irgend welchen
Zusammenhang, am wenigsten sind sie gegen den fleißigen, arbeitsfreudigen und
von regsten Pflichtgefühl beseelten jetzigen Leiter der Kolonialabteilung gerichtet,
der sich mühsam und gründlich in sein Ressort eingearbeitet hat. Es war er¬
f
1. Im Reichstage ist der Antrag eingebracht
worden, den Soldaten für ihre Urlaubsreisen freie Eisenbahnfahrt zu gewähren.
Mit diesem Verlangen könnte man sich wohl einverstanden erklären, wenn den Sol¬
daten hierbei die vierte Wagenklasse angewiesen würde.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die größte Zahl der gemeinen Soldaten
nach der gesellschaftlichen und der.finanziellen Stellung, die bei der Wahl der Wagen-
Kasse für die Eisenbahnfahrt in Betracht zu kommen Pflegt, nicht in die dritte,
sondern in die vierte Klasse gehört. Mir liegt nichts ferner, als mit diesem Urteil
eine Herabsetzung des Soldatenstandes zu verbinden; denn ich pflege selbst dritter
Klasse zu fahren und würde keine eaxitis äimmutio in einer Fahrt vierter Klasse
sehen. Diese wird heutzutage ja auch von durchaus guten Volkskreisen, Studenten,
Volksschullehrern, unbemittelten Kaufleuten und Künstlern benutzt, während die dritte
Klasse im allgemeinen von dem mittlern Bürgerstande, zugleich aber auch von Ärzten,
Juristen, oft von Offizieren in Zivil, von Landwirten usw. gewählt wird. Namentlich
auch Frauen, die ja häufig anspruchsloser sind als ihre Herren Ehemänner, fahren
vielfach aus den „allerbesten" Gesellschaftskreisen dritter Klasse.
Für viele dieser Kunden der dritten Klasse ist der Vaterlandsverteidiger nicht
immer eine angenehme Zugabe. Verhält er sich auch in der großen Mehrzahl
bescheiden und zurückhaltend, so tritt doch auch gelegentlich, zumal wenn mehrere
Soldaten zusammen fahren, der entgegengesetzte Fall ein, oder es findet mindestens
eine so lebhafte und so laute kameradschaftliche Unterhaltung statt, das; es keine Ver¬
gnügen ist, in einem solchen Abteil zu fahren.
Ich schlage deshalb vor: für die Unteroffiziere die dritte, für die Gemeinen
die vierte Klasse; auch den Gefreiten bin ich bereit, die dritte Klasse zu bewilligen.
Allenfalls könnte man ja bei den beabsichtigten Freikarten die Lösung einer Zuschlag¬
karte erlauben, sodaß der Soldat, der nicht ans Staatskosten umsonst vierter Klasse
fahren will, für einen geringen Zuschlag dritter Klasse fahren könnte.
2. Bei dem vielbesprochnen Militärpensionsgesetz ist bisher ein Punkt völlig
unerörtert geblieben, der von großer Tragweite ist und die Voraussetzungen der
Pensionierung betrifft. Ich würde jedem Anwärter eine möglichst große Erhöhung der
Pension von ganzem Herzen gönnen, wenn bei der Pensionierung von Offizieren der
für Zivilbeamte maßgebende Grundsatz eingeführt würde, daß bei ganz freiwilligem
Abgehn die Pension überhaupt wegfällt. Ein Zivilbeamter kann dreißig Jahre
gedient haben und erhält doch bei freiwilligem Abgange keinen Pfennig Pension,
wenn er nicht invalid ist. Dagegen bekommt ein Leutnant, der in der ausge-
sprochnen Absicht, nur kurze Zeit Soldat zu sein, nach zehn Jahren abgeht, auch
ohne hierzu aus Gründen des Dienstes oder der Gesundheit gezwungen zu sein,
eine Pension. Zahlreiche Herren haben die angenehme Anwartschaft auf ein
Familiengut und wollen nur solange Soldat bleiben, bis der Erdfall eintritt; andre
sind schon beim Dienstantritt entschlossen, es höchstens bis zum Hauptmann oder
Rittmeister zu bringen und dann aufs Land zu ziehn, oder sonst etwas zu über¬
nehmen. Alle diese Herren würden nach den für Zivilbeamte geltenden Grundsätzen
keine Pension bekommen und sollte» sie auch als Offiziere aus den dort maßgebenden
Gründen nicht erhalten, und zwar um so weniger, als kein Bedürfnis dazu vor¬
liegt. Es soll also an der Befugnis, jeden Offizier aus dienstlichen Gründen jederzeit
zu pensionieren, nicht gerüttelt werden, und selbstverständlich muß der Offizier, bei
dem das geschieht, eine auskömmliche Pension erhalten; wer aber weder aus dienst-
lichen Gründen noch aus Gesundheitsrücksichten, sondern ganz freiwillig den Dienst
verläßt, sollte überhaupt keine Pension erhalten, weil eine Verpflichtung des Staates
hierzu durch nichts begründet werden kann.
Die finanzielle Tragweite einer solchen Neuerung vermag ich nicht zu beur¬
teilen; aber ohne Zweifel würde sie einen großen Betrag ersparen, der zu der jetzt
beantragten Erhöhung der Pensionen beisteuern könnte.
3. Die Armee leidet, mit Ausnahme der Feldartillerie, an einem fühlbaren
Mangel an Leutnants. Demgegenüber muß immer von neuem an die Tatsache
erinnert werden, daß eine ganze Reihe von Regimentern, nicht nur bei der Reiterei,
sondern auch bet den Fußtruppen, nur adliche Anwärter annehmen und deshalb
jeden bürgerlichen unbedingt zurückweisen, auch wenn er allen sonstigen Ansprüchen
genügt. Sogar Söhne von bürgerlichen Offizieren haben diese Abweisung zu
erwarten, und es ist ein besonders anmutiges Bild, wenn bürgerliche Regiments-
kommcmdeure nach der Ehre streben, ein ausschließlich adliches Offizierkorps zu
haben. Bekanntlich hat über die Annahme der Regimentskommandeur ausschließlich
und endgiltig zu entscheiden; aber selbstverständlich wäre das edle Streben der be¬
treffenden Kommandeure durch Anweisung von oben oder durch Hineinversetzungen
jeden Augenblick zu vereiteln.
Es ist schwer, diesen Anspruch ruhig und ohne Satire zu erörtern, und es
bedarf keiner Ausführung, wie sehr er allen modernen Anschauungen widerspricht.
Aber auch vom rein dienstlichen Standpunkt aus, der doch in der Armee fort¬
während, zum Beispiel auch bei den kostspieligen Pensionierungen, laut hervorge¬
hoben wird, muß gefordert werden, daß man den eiteln Anspruch fallen läßt.
Niemand, auch nicht der adliche Offizier, behauptet, daß der Besitz des Adels einen
militärischen Vorzug mit sich brächte; mit welchem Recht weist man da den gut
bürgerlichen Anwärter zurück? Bekanntlich sind es im allgemeinen gerade die
durch gute Garnisonen bevorzugten Regimenter, insbesondre die der Garde, die
die bürgerlichen Anwärter zurückweisen; das Ergebnis ist, daß gerade die besten
Garnisonen den adlichen Offizieren vorbehalten sind. Bei der Reiterei wird man
kaum eine gute Garnison nennen können, in der es einem bürgerlichen Anwärter
möglich wäre, anzukommen. Dagegen ist man so freundlich, sie in den kleinen
Grenzgarmsonen anzunehmen. Man werfe einen Blick in die Rangliste, und man
Wird und ziemlicher Genauigkeit verfolgen können, daß je besser die Garnison eines
Regiments ist, um so mehr das adliche Element vorwiegt oder alleinherrschend
wird, während die bürgerlichen Namen in demselben Maße abnehmen und dafür
mit der Unerfreulichkeit der Garnison zunehmen. Wo bleibt da die kameradschaft¬
liche Gleichheit? Die dienstlichen Ansprüche und Leistungen sind unstreitig überall
dieselben; mit welchem Recht benachteiligt man die bürgerlichen Anwärter? Es
wäre erwünscht, den Herrn Kriegsminister, obwohl dieser keine unmittelbare Ein¬
wirkung auf diese Verhältnisse hat, um eine Antwort auf diese Fragen anzugehn.
Es sei hier auf ein
in bescheidnen Gewände erschienenes Buch hingewiesen, auf die in der „Sammlung
Göschen" herausgekommene Kolonialgeschichte von Dietrich Schäfer. Der bekannte
Heidelberger Historiker gehört ja zu den wenigen deutschen Gelehrten, die es nicht
verschmähen, gelegentlich die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung in popularisierender
Form einem breitern Publikum zugänglich zu machen.
Nach einer Einleitung, die sich über die Begriffe Kolonialgesellschaft und
Kolonisation verbreitet, erzählt Schäfer in großen Zügen die Geschichte der Kolonial¬
gründung aller Völker, vom grciuesten Altertum bis zur Gegenwart. Die schlichte,
jedem verständliche Darstellung ist durchsetzt mit feinen Urteilen und Bemerkungen,
die den scharfsinnigen und gedankenreichen Geschichtsforscher und den weitschauenden
Politiker erkennen lassen. Das kleine Buch könnte ein Lehrbuch werden für unser des
kolvniälpolitischen Verständnisses noch so sehr entbehrendes Volk! „Man behauptet
uicht zu viel, wenn man sagt, daß die Bedeutung des einzelnen Volkes für den
Gang der Weltgeschichte sich in erster Linie abmißt nach seinen Leistungen auf dem
Gebiete der Kolonisation; jedenfalls ist dies die Arena, in der um Macht und Dauer
gerungen wird. Nur was hier besteht, kann einen Platz behaupten im Leben der
Völker." So heißt es in der Einleitung. Schäfer schildert, wie die Kolonialreiche
der romanischen Völker vor der überlegnen Tat- und Lebenskraft der germanischen
Nationen zusammengebrochen sind; er zeigt aber auch, durch was für eine Schule
harter Erfahrungen Engländer und Niederländer, die man als die zum Kolonisieren
besonders befähigten Völker anzusehen gewohnt ist, haben hindurchgehn müssen, ehe
sie die Früchte ihrer Arbeit ernteten. In wie unheilvoller Weise sonst bedeutende,
an hervorragender Stelle stehende Männer die Kolonialentwicklung einer Nation
beeinflussen können, läßt er am Beispiel Ludwigs des Vierzehnten und Napoleons
erkennen. Hätte sich Ludwig an Frankreichs festländischen Grenzen bescheiden mögen,
so möchte sein Volk, geleitet von einem Colbert, den Engländern in den Kolonien und
zur See überlegen geworden sein. Und wenn Napoleon, der in England Frankreichs
gefährlichsten Rivalen sah, nach dem Frieden von Luneville dieser Einsicht entsprechend
gehandelt hätte, so wäre Englands Schicksal wohl besiegelt gewesen. Daß der
angelsächsische Zweig des großen teutonischen Stammes mit den günstigsten Aus¬
sichten ans Erweiterung seines Volkstums in das zwanzigste Jahrhundert eingetreten
ist, ist unleugbar. Aber auch sür das 75-Millionenvolk der Deutschen bestehe
durchaus die Möglichkeit, sich im Wettbewerb zu behaupten: „Ihre Sprache und
Art auf außereuropäischen Boden zu größerer Geltung zu bringen, wie es Eng¬
länder und Franzosen, Russen und Amerikaner getan haben und fortgesetzt tun,
dazu ist es noch nicht zu spät, wenn auch Zeit nicht mehr zu verlieren ist und
Gelegenheiten nicht mehr versäumt werden dürfen. In solchem Streben liegt kein
krankhaftes, ruhmsüchtiges Chauvinistentum. wie beschränkte oder böswillige Hetzer
es zu brandmarken bemüht sind, sondern die gesunde, natürliche Beendigung vor¬
handner Trieb- und Lebenskraft." Möchte der Geist, den solche Sätze atmen,
immer mehr Gemeingut der führenden Schichten unsers Volks werden!
Nicht Kunst und Wissenschaft allein,
Geduld will bei dem Werke sein;
Ein stiller Geist ist jahrelang geschäftig,
Die Zeit nur macht die feine Gärung kräftig.
Die Sektbereitung ist keine Fabrikation in gewöhnlichem Sinne des Worts,
die sich nach der Schablone vollzieht, und bei welcher Art und Folge der Vor¬
gänge nur der Regelung bedürfen. Der Wein selbst ist eine Materie von end¬
loser Mannigfaltigkeit, bedingt durch die Art der Rebe, ihren Boden, durch die
Witterungsverhältnisse in allen Stadien der Entwickelung der Frucht, durch die
Behandlung der ausgereiften Traube und ihres Saftes zur Zeit der Lese und
endlich durch das Werden des Weines aus dem gärenden Moste. Ohne ge¬
naue Kenntnis jener Mannigfaltigkeit im Charakter des Weines,
ohne geschickte Behandlung aller Einzelheiten bei seiner Auswahl
und Verwendung zum Sekt, ohne die liebevollste Fürsorge während
der langen Dauer seiner Entstehung läßt sich kein Schaumwein er¬
zielen, der das Beste vom Besten bilden soll.
/ Auf solchem Boden und ans solchen Prinzipien ist unsere Marke „Kupfer¬
berg Gold" entstanden. Es ist nur natürlich, daß die aufgewandte Mühe ein
Produkt ergeben hat, das allerseits als unübertroffen an Güte und Ge¬
schmack gilt. Wem „Kupferberg Gold" einmal die Sinne belebt, wem das Herz
erwärmt hat, der wird seine herrliche Wirkung nicht vergessen und zeitlebens
ein treuer Anhänger von ihm bleiben. ^ „
MWDußland hat sich eine große Basis geschaffen. Die ganze östliche Hülste
Europas und die nördliche Hälfte Asiens nennt es sein eigen.
^MM
MINicht eingeengt durch kräftige Rassen oder trennende Ge¬
birge, sondern glücklich gelegen, hatte es im Westen und im Norden
hochentwickelte Kulturstaaten als Nachbarn, die ihm viele ihrer
besten Männer als Erzieher und Lehrer abtraten, die ihm einen großen Teil
ihrer hohen Kultur schenkten. Im Süden und im Osten dagegen lag ein weites,
reiches Gebiet, auf dem sich sein kräftiges Volk entwickeln konnte, auf dem es
sich eine Basis schaffen konnte, die den Stürmen der Jahrhunderte trotzen wird.
Seine bisherigen Eroberungen hatten immer den Keim zu neuen Er¬
oberungen in sich und tragen ihn teilweise heute noch in sich, bis die russischen
Grenzen frei sind: frei sind von Nomadenvölkern, die diese Grenzen nicht achten;
frei sind von Handelshindernissen, die ihm einen Zugang zum eisfreien Meere
verlegen und die Ausnutzung der großen Schätze des Riesenkontinentalstaates
hindern.
Die Organisation und die Beherrschung großer Gebiete sind durch das ver¬
besserte Verkehrs- und Nachrichtenwesen außerordentlich erleichtert worden. Die
Staaten sowohl wie auch die Grenzen des Einzelstaates sind dadurch einander
näher gerückt. Es sind deshalb die Staaten, deren Grenzpfähle eine gewaltige
Ländermasse umschließen, nicht nur lebensfähig und zur Existenz berechtigt ge¬
worden, sondern da sie, innerlich ausgeglichen, die Produkte des Nordens und
des Südens in sich vereinigen und gewaltige Strecken kultivierbaren Landes und
aufnahmefähiger Absatzgebiete einschließen, sind sie die Staaten der Zukunft
geworden. Nur eins müssen sie haben: eine gesunde Rasse, die durch Bluth¬
und Interessengemeinschaft zusammen gekittet wird, und — das hat Rußland,
je länger es wartet, je mehr.
Rußland hat Zeit, sehr dick Zeit! Wenn es jahrzehntelang keinen Schritt
vorwärts tut, so kann es sich das erlauben. Auf Jahrtausende basiert, wird
das russische Volk noch große Zeiten, noch schwere Kämpfe bestehn müssen, bis
es sich zur freien Höhe eines großen Kulturvolks durchgerungen haben wird.
Aber die folgenden Geschlechter werden den großen Machthabern Dank wissen^
die seine Basis früh gesichert und ausgebaut haben. Wenn auch augenblicklich
das Gefühl vorhanden ist, daß der russische Staatsmagen nicht mehr Länder
verdauen kann, so ist doch das jetzige Fortschreiten eine unumgängliche Natur¬
notwendigkeit, wenn seine großen Ländereien einen breiten Weg zum eisfreien
Meere, zum freien Weltverkehr erhalten sollen. Das weitgestcckte Endziel:
die Hegemonie in Asien und die Herrschaft über den Teil des asiatischen
Kontinents, der von niedern, organisationslosen Nassen bewohnt wird, ist vom
Volke instinktiv durch die Jahrhunderte angestrebt worden.
Die Kaufleute, die Kosakenführer, die Generale haben diese Länder besetzt.
Männer wie Jermack, Newelski und Murawiew waren die glücklichen Leiter.
Aber der Staat, der diesen Führern teilweise widerwillig folgte, hat jetzt die
Pflicht, diese Gebiete seinem Volke nutzbar zu machen.
Um die Segnung dieser gewaltigen Schöpfung zu ernten, braucht Rußland
einen langen Frieden. Falls sich aber bei diesem Ausbau des Reiches andre
emporstrebende Mächte entgegenstellen, deren eigne Ziele mit diesen russischen
Erweiterungsplänen zusammenstoßen, so muß es diese niederwerfen. So muß
es, gegen seine friedlichen Absichten, trotz des augenblicklichen Nächtens, im Inter¬
esse seiner großen Sache zum Schwert greifen.
Eine solche emporstrebende Macht ist ihm in Japan entstanden. An¬
dauernde Arbeit und Kriegsrüstungen haben dieses Land zu einer ausschlag¬
gebenden Macht im fernen Osten erhoben. Nassenverwandtschaft und ehrgeizige
Pläne haben im Volke das Gefühl erweckt, daß es als Führer der mon¬
golischen Rasse berufen sei, „Asien den Asiaten" zu sichern. Zum erstenmal
in Rußlands asiatischer Politik tritt hier der Augenblick ein, wo es nicht lange
warten kann. Japan hat sich in sehr kurzer Zeit zur Großmacht entwickelt.
Aber nicht nur die militärische Kraft dieses Landes, die schon ein bedeutendes
Gewicht in die Wagschale wirft, sondern seine Rassenverwandtschaft und sein
Verständnis für China geben hier den Ausschlag.
Eine erstaunliche Änderung hat seit dem japanisch-chinesische» Kriege unter
den Völkern des Osten stattgefunden. Die beiden alten Erbfeinde Japan und
China haben sich von Jahr zu Jahr mehr verstehn lernen und sind sich
näher gerückt.
Das japanische Volk, das vor dem Kriege den Chinesen verachtete, hat
sehr schnell begriffen und ist durchdrungen von dem Gefühl, daß das einzig
gesunde Bündnis im Osten ein Schutz- und Trutzbündnis mit China ist, und
dazu sucht es mit allen Mitteln China bündnisfähig und bündniswert zu
machen. Der Frieden von Shimonoseki und die darauffolgenden Jahre haben
ihm nur zu genau die Absichten und die Richtung der Politik der europäischen
Großmächte gezeigt. Sein Haß wandte sich hauptsächlich gegen den Anstifter
des Friedens und den gefährlichsten Gegner — Rußland. Der politische Kampf
um die Vorherrschaft in Korea nahm nach der Besetzung der Mandschurei durch
Rußland immer schärfere Formen an. Aber nicht nur der Kampf um Korea
wird hier ausgefochten werden, sondern der Kampf um die Hegemonie im
mongolischen Asien steht bevor, denn auch in China hat sich durch das fort¬
währende Drängen der europäischen Großmächte nach Konzessionen, Kolonien usw.
die instinktive Abneigung gegen die westlichen Barbaren sehr verstärkt, und von
Jahr zu Jahr wird es den reellem und natürlichern Rassenzielen Japans
zugänglicher werden, sodaß ein Zurückdrängen der russischen Macht durch Japan
mit Hilfe von China in den nächsten Jahrzehnten zu den politischen Möglich¬
keiten gehören wird.
Hierin liegt der Schwerpunkt der Gefahr für Rußland in Ostasien. Noch
hat es den Vorteil, daß es mit seinen gewaltigen Landstreitkräften auf dem
asiatischen Kontinent als einzige Landmacht ersten Ranges herrscht, während
Japan erst die Seeherrschaft erringen und dann nach gefährlichen Seetransporten
zur eigentlichen, ausschlaggebenden Arbeit auf dem Kriegsschauplatz übergehn
muß, wenn es einer überlegnen Landmacht den Siegespreis abringen will.
Wie sehr würden sich aber die Verhältnisse ändern, wenn China nach einem
erfolgreichen Kriege Japans von diesem Volke reorganisiert würde?
Was würden Rußland und die westlichen Kulturvölker zu erwarten haben,
wenn das kluge und energische japanische Volk die Regierung in China an sich
risse und die Chinesen diesen wie einst dein kleinen Volke der Mandschus
Untertan würden? Nicht nur die dadurch entstehende gewaltige Militärmacht
ans dem Festlande, die durch die von den Japanern gedrillten und ihnen blind
ergebner Volksmassen der Chinesen entsteh,, würde, müßte Rußlands Macht¬
stellung in Asien sehr verändern; sondern auch Europa würde in wenig Jahr¬
zehnten das prophetische Wort Kaiser Wilhelms des Zweiten verwirklicht sehen
können. Das zu vermeiden und als Vorkämpfer der westlichen Kultur Europa
gegen die gelbe Gefahr zu schützen, sowie die enormen Lündereieu Nord- und
Ostasiens der Kultur zu öffnen ist die Nächstliegende Hauptlebensarbeit des
großen, uns befreundeten russischen Volkes.
Trotz der großen Nähe des russischen Grenznachbarn waren doch jahr¬
hundertelang die Beziehungen beider Staaten zueinander nur sehr gering. Das
Hauptinteresse des sich sehr schnell ausdehnenden russischen Reiches wandte sich
natürlich den näherliegenden großen Aufgaben zu. Die schlechten Verbindungen
mit diesen fernen Grenzlanden sowie die mangelhaften Häfen an ihren Küsten
machten im Verein mit der stumpfen Weltabgeschiedenheit Japans jedes größere
nationale Interesse in dieser Richtung unmöglich. Die ersten Anknüpfungs¬
versuche, die Peter der Große einst begonnen hatte, waren ohne Erfolg geblieben,
ebenso scheiterte der Versuch, im Jahre 1804 einen Handelsvertrag mit Japan
abzuschließen. Der einzige Berührungspunkt, der in der Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts die beiden Staaten zu Verhandlungen zwang, war die Insel Sachalin.
Diese hatte Japan zwar nie besetzt, aber da sie innerhalb der japanischen Insel¬
gruppe liegt, immer zu Japan gerechnet.
Als Nußland nun im Jahre 1853 zwei Militärstationen ans Sachalin
errichtete, legte Japan dagegen Protest ein und schloß einen Vertrag mit Ru߬
land ab, nach dem beide' das Recht hatten, die Insel zu besetzen und wirt¬
schaftlich auszunutzen. Dieser ungesunde Vertrag schaffte natürlich einen unhalt¬
baren Zustand auf der Insel, sodaß sich beide Staaten im Jahre 1875 in einem
neuen Vertrag einigten, durch den Rußland Sachalin und Japan die Kurilen
erhielt, die vorher von Nußland besetzt -gewesen waren. Für Japan hatte im
Jahre 1854 mit der Eröffnung des Landes für den Seehandel aller Nationen
die wichtigste und folgenschwerste Periode begonnen, die die Geschichte dieses
Landes zu verzeichnen hat. Dieser Entschluß der japanischen Regierung war
wesentlich beschleunigt worden durch die Verhandlungen des russischen Admirals
Putjatin, der im Anfang des Jahres 1854 mit einem russischen Geschwader
in Nagasaki erschien.
In den hierauf folgenden Jahrzehnten hatte Japan schwere innere Um¬
wälzungen zu bestehn, in denen es sich aus einem mittelalterlichen Feudalstaat
zum modernen Kaiserreich nach europäischem Muster umwandelte und sich zur
Weltgroßmacht und ausschlaggebenden Macht in Ostasien gestaltete. Während
Rußland diese so plötzlich und gewaltig beginnende Entwicklung und Erstarkung
Japans zuerst nur angenehm und dienlich erschien, da es in diesem Lande den
alten Erbfeind Chinas sah, dessen unauslöschlicher Haß ihm einen vorzüglichen
Bundesgenossen gegen China schaffen würde, und mit dessen Hilfe es seine
weitern Pläne über Korea und China durchzusetzen hoffte, änderte es seine
Stellung Japan gegenüber, nachdem dieses seit dem Jahre 1882 immer deut¬
licher seine alten Absichten auf Korea durchblicken ließ. Korea hatte seit langer
Zeit zu China ini Abhängigkeitsverhältnis gestanden, und China hatte hier seine
Hoheitsrechte ausgeübt; anders war es mit Japan, zu dem Korea zwar auch seit
den japanischen Kriegen von 201 bis 270 n. Chr. und 1592 bis 1596 in Vasallen¬
abhängigkeit stand, das aber seine Hoheitsrechte nicht aufrecht erhalten konnte.
Nachdem Japan nun aus seinem langen Schlaf aufgerüttelt worden war, und
seitdem es im Gefühl seiner schnell wachsenden Stärke in seiner äußern Politik
China gegenüber offensiver wurde, nahm es zu allererst den in der Tradition
des Volkes schlummernden Gedanken der Eroberung Koreas wieder auf.
Einen willkommnen Vorwand boten die im Jahre 1882 und 1884 aus-
gebrochnen Unruhen in sont, die teilweise gegen die von den Koreanern wegen
ihrer frühern Greueltaten sehr verhaßten Japaner gerichtet waren. Beide Staaten,
Japan und China, sandten Truppen zum Schutz ihrer in Korea wohnenden
Untertanen. Die darauffolgenden Verhandlungen führten im April 1885 zum
Vertrage von Tientsin. In diesem wurde die Gleichstellung beider Staaten in
Korea gesichert. Es wurde festgesetzt, daß sich die beiderseitigen Truppen inner¬
halb von vier Monaten nach Unterzeichnung des Vertrags zurückziehn sollten.
Sobald Unruhen ernster Art in Korea entstünden, die es für beide Mächte oder
eine davon notwendig machten, Truppen dorthin zu entsenden, sollte diese Macht
der andern eine schriftliche Mitteilung darüber zugehn lassen und nach Bei¬
legung der Angelegenheit ihre Truppen zurückziehn. Die Ausbildung der
koreanischen Truppen, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit
dienen sollten, war Offizieren einer dritten Nation zu übertragen.
Im Jahre 1894 brach in Korea ein neuer Aufstand ans, und der König
von Korea wandte sich um Hilfe an China. China entsandte Truppen und
teilte das der japanischen Regierung mit. Hierauf besetzten, trotz dem Vertrage
von Tientsin, japanische Truppen sofort sont. Der japanische Gesandte in
sont schickte an die koreanische Regierung ein Ultimatum mit der Aufforderung,
das Zurückziehn der chinesischen Truppen zu veranlassen. Als darauf eine un-
befriedigende Antwort eintraf, bemächtigten sich die japanischen Truppen der
Person des Königs von Korea. Eine neue Regierung von Anhängern Japans
wurde eingesetzt, und ein Vertrag abgeschlossen, durch den die Vertreibung der
chinesischen Truppen aus den koreanischen Landen veranlaßt werden sollte. Hier¬
durch wurde der japanisch-chinesische Krieg veranlaßt, durch dessen schnelle und
so außerordentlich glückliche Durchführung sich die Überlegenheit Japans und
die vollkommne militärische Schwäche Chinas offenbarten. Nußland sah sich
nach Beendigung dieses Krieges plötzlich nicht mehr dem rivalisierenden China
und Japan in Korea gegenüber, sondern nur dem jugendkräftig emporstrebenden
und festen Zielen melkenden Japan. Durch deu Friedensvertrag von Shimono-
seki, der am 17. April 1895 abgeschlossen wurde, erhielt Japan von China die
Anerkennung der vollständigen Unabhängigkeit Koreas, die Abtretung des süd¬
lichen Teils der Provinz Schöngking (Halbinsel Licmtung), der Insel Formosa
und der Pescadores - Gruppe sowie 200 Millionen Taels in sechs Jahren zahl¬
bar. Als Garantie für die Erfüllung der Bestimmungen des Vertrags erklärte
sich China mit der zeitweiligen Besetzung von Wei-hei-wei durch japanische
Truppen einverstanden. Die Räumung dieses Platzes hatte nach Auszahlung
der letzten Rate der Entschädigung zu erfolgen, sollte aber nicht eher geschehen,
als bis die Auswechslung der Ratifikationen des Handels- und Schiffarts¬
vertrags stattgefunden hätte.
Durch diesen Friedensvertrag hatte Japan eine Festlandsstelluug gewonnen,
die ihm durch ihre außerordentlich günstige Lage die Herrschaft über Nordchina
gab, denn Port Arthur und Talienwcm <Dalny) liegen kaum 300 Kilometer von
Tccku entfernt, sodaß Peking von dem zum modernen Kriegshafen und Truppen¬
konzentrationsplatz ausgebauten Port Arthur in wenig Tagen zu erreichen ist.
Weiter würde sich der japanische Einfluß auf Korea sehr vergrößern, da die
Grenzen dieses neuerworbnen Gebiets am Jalu an die koreanische Grenze
stießen. I,g,8t, not least hatten die Großmächte den noch unter dem Druck der
Auslösung von Wei-hei-wei zu ratifizierenden Handels- und Schifsartsvertrag
zwischen Japan und China zu befürchten, dessen Einfluß auf die Fortentwicklung
ihres Handels und ihrer Machtstellung in China nichts gutes hoffen ließ.
Die große Gefahr, die in diesem enormen Anwachsen des japanischen Ein¬
flusses auf China und Korea lag, hatte Nußland sofort erkannt. Infolgedessen
änderte es, mit Deutschland und Frankreich zusammengehend, den Friedens¬
vertrag von Shimonoseki in der Weise ab, daß Japan aus der Mandschurei
hinausgedrängt wurde, weder die Halbinsel Liautung erhielt noch sonst irgend einen
Punkt am Festlande, sondern als Ersatz hierfür dreißig Millionen Taels. Ebenso
verkürzte es die großen Handelsvorteile, die Japan von China zu erlangen
suchte, ganz bedeutend und machte die Auslösung von Wei-hei-wei nicht von
der Ratifikation des Handels- und Schiffahrtsvertrags abhängig, soudern von
der Zahlung der Kriegsentschädigung. Drei Monate nach deren letzter Raten¬
zahlung sollte Wei-hei-wei geräumt werde». Während Japan durch die Rück¬
gabe von Licmtuug die Mandschurei und das Festlandsgebiet Chinas, der Haupt¬
stützpunkt seines zukünftigen Einflusses über China, verloren gingen, hoffte es jeden¬
falls, Korea von sich abhängig machen zu können; aber auch hier arbeitete Nuß-
land ihm fortgesetzt entgegen, China war zwar durch den Frieden aus allen
koreanischen Angelegenheiten ausgemerzt morden. An dessen Stelle war aber
das mächtige Rußland getreten, das in der richtigen Erkenntnis der so sehr
veränderten Machtverhältnisse in Ostasien seine Position unausgesetzt vervoll¬
kommnete und im Begriff war, eine Bahn zu bauen, die es militärisch bald
zum Herrn des Festlandes von Nordchina und Korea machen würde.
Japan hatte sofort die einflußreichsten Beamten Koreas durch solche Koreaner
ersetzt, die nur für Japan arbeiteten. Dadurch war dem König jeder anti¬
japanische Einfluß auf die Negierung des Landes genommen worden. Das
bedeutendste Hindernis für die Tätigkeit der Japaner in Korea war aber die
Königin. Diese wurde deshalb am 8. Oktober 1895 im Palast ermordet. Der
Versuch, sich des Königs zu bemächtigen, mißlang; dieser flüchtete sich, um der
fortwährenden Bedrohung durch die Japaner zu entgehn, in die russische Ge-
sandtschaft. In den nun folgenden Verhandlungen zwischen Nußland und Japan,
die in dem Abkommen vom 14. Mai 1896 in sont, vom 6. Juni 1896 in
Moskau niedergelegt wurden, und die nach Organisierung der koreanischen
Finanzen und Truppen durch Rußland im Vertrage von Tokio am 25. April 1898
zum Abschlüsse kamen, wurde die gänzliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit
des koreanischen Reiches von beiden Staaten anerkannt, mit der gegenseitigen
Verpflichtung, sich jeder Einmischung in die innern Angelegenheiten des Landes
zu enthalten. Falls Korea den Rat und die Unterstützung einer der beiden
Mächte nachsuchen sollte, verpflichteten sie sich, keine Maßnahmen zu treffen,
ohne zuvor darüber zu einem gegenseitigen Einverständnis gelangt zu sein. Auch
verpflichtete sich Nußland, dem japanischen Handel keine Hindernisse in den
Weg zu legen. Rußland hatte hierdurch erreicht, daß Japan alle die Vorteile,
die es durch seinen Krieg mit China Korea gegenüber zu erlangen hoffte, vor--
tausig aufgeben mußte. Korea blieb in derselben hilflosen, für Nußland ange¬
genehmen Verfassung wie vor dem Kriege. Rußland konnte weiter arbeiten
und abwarten, bis ein günstigerer Augenblick, nach Herstellung seiner Bahn
und nach Erledigung seiner näher liegenden Aufgaben in der Mandschurei und
südlich davon, ihm neue Wege zur Erreichung seiner großen Ziele in Korea
chüele.
Und Rußland arbeitete weiter. Die schnell aufeinander folgenden großen
Erfolge der damaligen Zeit zeugen am besten, welchen gewaltigen Einfluß es
auf China ausüben konnte. Kurz nach dem Kriege machte es China finanziell
von sich abhängig. Die von Japan geforderte Kriegsentschädigung betrug
230 Millionen Taels. Der russische Finanzminister Witte setzte nun zur
Zahlung dieser Summe und zur Reorganisation der chinesischen Armee und
Marine mit Hilfe von sieben französischen und vier russischen Banken den Ab¬
schluß eines Anleihekontrakts durch. Unter Führung der russischen National¬
bank verpflichteten sich diese zur Übernahme einer Anleihe von 400 Millionen
Franken unter Garantie der russischen Regierung im Falle der Zahlungsunfähig¬
keit der chinesischen.
Von China wurden für die Zinszcchluug und die Amortisation die noch
nicht anderweitig verpfändeten Einnahmen der Seezollämter angewiesen- Um
diese Abhängigkeit Chinas zu verstärken, errichtete Rußland 1896 zum Bau der
mandschurischen Bahn die „russisch-chinesische Bank," deren Filialen heute Ru߬
lands feinste Fühler im Osten sind.
Wegen der so außerordentlich veränderten Machtstellung Japans nach dem
japanisch-chinesischen Kriege kam es für Rußland jetzt hauptsachlich darauf an,
eine militärische Stellung in Nordchina und am Golf von Petschili zu haben.
Außer dem natürlichen Wunsch, seine Bahn auf dem kürzesten Wege zu einem
eisfreien Hafen zu führen, hegte es auch den politisch so außerordentlich wich¬
tigen Wunsch, einen befestigten Platz am Golf von Petschili zu besitzen. Alles
dies erreichte Rußland durch den Vertrag vom 6. September 1896, durch den
es das Recht erhielt, von einer Station der transbaikalischen Bahn durch die
Mandschurei nach einer Station der Ussuribahn eine Bahn zu bauen; sowie
durch das am 27. März 1898 in Peking unterzeichnete Abkommen, auf Grund
dessen der Konteradmiral Dubassow am 28. März 1898 offiziell Port Arthur
besetzte. In diesem Abkommen ist die Verpachtung Port Arthurs und Tcilien-
wans (Dalny), sowie eines kleinen Territoriums der Halbinsel Liautung auf
fünfundzwanzig Jahre vom Tage der Unterzeichnung ausgesprochen, sowie die
Herstellung einer neutralen Zone nördlich davon vorgesehen.
Wegen des Aufbaues der mandschurischen Bahn wurde bestimmt, daß
eine Zweigbahn nach Talicnwan (Dalny) durchgeführt werden sollte. Ani 28. März
erhielten die fremden Regierungen die Mitteilung, daß der Hafen von Talienwcm,
den Nußland in Dalny umtaufte, für den ausländischen Handel eröffnet sei,
während Port Arthur ausschließlich Kriegshafen bleiben solle. Die Erlangung
dieses Territoriums mit den beiden so günstig liegenden Häfen, sowie der Aus¬
bau der sibirischen Bahn durch die Mandschurei, wodurch die Stellung Ru߬
lands in Ostasien und Nordchina so außerordeutlich verbessert wurde, war wohl
der wichtigste und folgenschwerste Schritt, den dieses Land im vorigen Jahr¬
hundert im Osten gemacht hat. Mit dem Beginn des Baues der mandschu¬
rische,, Bahn marschierten die russischen Truppen zu deren Schutz in die
Mandschurei. Heute ist die Zahl der Soldaten auf etwa 100 000 ange¬
wachsen, und die Mandschurei ist als Hauptteil der Statthalterschaft des fernen
Ostens angegliedert.
Diese Vorwärtsbewegung Rußlands erlitt auch durch den Boxeraufstand
im Jahre 1900 durchaus keinen Aufschub, sondern wurde im Gegenteil durch
diesen beschleunigt. Die russischen Truppen, die bis dahin in der Mandschurei
gestanden hatten, wurden in diesen unruhigen Zeiten sehr verstärkt und erhielten
eine Organisation, die die allgemeine militärische Besetzung dieses Landes zur
unabänderlichen Tatsache machte. Die vielen Verhandlungen, die seit jener Zeit
von Rußland mit China wegen der Räumung der Mandschurei gepflogen
worden sind, haben auch bis jetzt „och nichts daran geändert, bieten aber ein
typisches Bild russisch-asiatischer Diplomatie, die im Interesse der friedlichen
Besetzung eines Landes die Verhandlungen so lange hinzieht, bis die Gegner
den günstigen Zeitpunkt offensiven Vorgehns verpassen. Nachdem Rußland
zuerst zur Beruhigung der interessierten Mächte die Forderung der Räumung
unter langfristigen Verträgen bewilligt hatte, wurde der Ausbau der Bahn und
die militärische Besetzung des Landes weiter durchgeführt.
Dann wurden diese Vertrüge wegen der Unsicherheit im Lande verlängert
und die Bahn sowie die ganze militärische Stellung im Osten so vervollkommnet,
daß man allen eintretenden Verhältnissen gewachsen war. Nachdem anch das
erreicht war, ging man zu Verhandlungen mit China wegen der dauernden Be¬
setzung der Mandschurei über, während zugleich deren Räumung als eine An¬
gelegenheit bezeichnet wurde, worin Rußland nur mit China verhandle, und
worin es sich von andern Mächten nicht beeinflussen lasse. Jedenfalls haben
sämtliche Mandschurei-Abkommen, ob sie geheim oder öffentlich, ob sie unter
Drohungen oder Versprechungen unterzeichnet oder nicht unterzeichnet worden
sind, an der Absicht der russischen Politik, diese Provinz besetzt zu halten, nichts
geändert. Sie haben aber für Nußland den Vorteil gehabt, daß eine allge¬
meine Beruhigung darüber in den Kabinetten eintrat, da man mehr und mehr
einsah, daß nach dem Bau der Bahn und nach der Besetzung der Häfen von
Port Arthur und Dalny die Verwirklichung der vollkommnen Rückgabe der
Provinz an China nur dann für Nußland möglich sein würde, wenn in China
die normale Lage vollends wiederhergestellt und in Peking eine Zentralregierung
wäre, die, unabhängig und stark, Nußland vor einer Wiederholung der Ereignisse
des Jahres 1900 schützen könnte. Im April 1903 wurde die Lokalverwaltung
der Mandschurei den Chinesen wieder übergeben, wodurch die russische Militär¬
herrschaft nicht beeinträchtigt, die Verwaltung des Landes aber bedeutend er¬
leichtert wurde. Die Räumung der Hauptplätze des Landes aber war nie von
längerer Dauer und nur von lokalem Wert. Im Oktober 1903 wurden zur
einheitlichen Verwaltung des ganzen Gebiets: die Mandschurei, das Amur-
generalgouvcrnement und das Kwcmtunggebiet als „Statthalterschaft des fernen
Ostens" zusammengeschlossen. Der Statthalter, Admiral Alexejew, wurde mit
der höchsten Gewalt in allen Zweigen der Zivilverwaltuug des Gebiets be¬
kleidet, die zugleich der Leitung der Ministerien entzogen wurde.
Ihm liegt auch die Sorge für Ruhe, Sicherheit und Wohlfahrt sowohl
der an der chinesischen Ostbahn (mandschurischen) liegenden Gegenden als auch
der an die Statthalterschaft angrenzende», jenseits der Grenze liegenden russischen
Besitzungen ob. Die Kompetenzen und Pflichten des Statthalters für die Ver¬
waltung des fernen Ostens sind dieselben, die 1845 für die kaukasische Statt¬
halterschaft maßgebend waren, mit geringen Einschränkungen, die sich im allge¬
meinen durch die Verschiedenheit der staatlichen Verhältnisse in der jetzigen Zeit
und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ergaben. Die diplomatischen Be¬
ziehungen im Verkehr dieser Gebiete mit den Nachbarstaaten sind in den Händen
des Statthalters konzentriert. Ihm wurde auch das Kommando der Kriegs¬
flotte im Stillen Ozean sowie aller Truppen des Gebiets übertragen. Ein
besondres Komitee unter dem Vorsitz des Zaren muß die Anordnungen des
Statthalters mit den allgemein staatlichen Ansichten und der Tätigkeit der
Ministerien in Einklang bringen.
Durch dieses äußere Zeichen der Einverleibung der Mandschurei in die
übrigen Besitzungen Rußlands im fernen Osten sowie durch die Nichträumüng
des Landes und hauptsächlich Niutschwangs, des einzigen offnen Hafens der
Mandschurei, nach Ablauf der letzten Verlängerungsverträge in Verbindung mit
der vollkommnen Abschließung des ganzen Landes wurde die öffentliche Meinung
in Japan so sehr erregt, daß auf beiden Seiten sehr emsig an den Kriegsvor¬
bereitungen gearbeitet wurde. Wenn auch der japanische Handel in der Mand¬
schurei in den letzten Jahren sehr zugenommen hat, so ist doch in dieser Be¬
ziehung keine Kriegsgefahr zu befürchten, da das Festhalten der Mandschurei
durch Nußland Japan im allgemeinen weniger interessiert. Es würde aber
sehr in Mitleidenschaft gezogen werden, sobald diese Besitzergreifung auf die
Verhältnisse in Korea einwirkte. Bei der Betrachtung der geographischen Lage
von Korea muß es aber jedem klar werden, daß dieses als breites Hindernis
zwischen Wladiwostok und Port Arthur liegt.
Japan ist deshalb zu der Ansicht geneigt, daß der erste Schritt Rußlands
nach dem Permanentwerden der Besetzung der Mandschurei ein Versuch sein
werde, Korea zu besetzen. Für die gesunde Weiterentwicklung des russischen
Ostasiens, dessen beide Hauptplätze am Großen Ozean durch ein Korea in feind¬
lichen Händen nicht nur getrennt, sondern flankiert würden, wäre dies ein durch¬
aus verständlicher und folgerichtiger Schritt.
Die japanische Regierung kann aber der Besetzung Koreas durch Nußland
durchaus nicht zustimmen, da sowohl die geographische Nähe dieses Landes
seine freie insulare Stellung sehr schwächen würde, als auch die Tradition seines
Volks und seine großen Ziele in betreff der mongolischen Rasse dies nie zulassen
könnten. Es hat infolgedessen die dem Kriege folgende Zeit nicht unbenutzt
gelassen und sowohl die Armee wie die Marine außerordentlich verstärkt und
modernisiert, sodaß es ihm gelungen ist, mit Rußlands allein Feind und Rivalen
in Asien — England — ein Bündnis für fünf Jahre abzuschließen, dessen
Artikel ich der großen Wichtigkeit wegen, die sie unter den augenblicklichen Ver¬
hältnissen haben, wörtlich folgen lasse. Der Grundgedanke dieses Vertrages ist
die Erhaltung des staws ano und der Interessen beider Länder in Ostasien,
sowie die Verhinderung irgend welchen Eingreifens einer dritten Macht bei einem
Kriege zwischen Japan und Rußland.
Wenn man diese Handlungsweise Englands ganz verstehn will, muß man
sich die Geschichte der vorhergehenden Zeit der Rivalität Rußlands und Eng¬
lands in Ostasien vor Augen halten.
Während England in Ostasien die Vorherrschaft seit seinem ersten Auf¬
treten hatte, gelang es Nußland, auch diesem gegenüber in den letzten Jahr¬
zehnten ähnliche Erfolge zu erlangen wie gegen Japan. Aber auch die Erfolge
Rußlands gegen Japan sind als Mißerfolge seines Rivalen England anzusehen,
da dieses sein diplomatisches Gewicht immer zu dessen Gunsten eingesetzt hat.
Nachdem Rußland im Jahre 1835 seine Truppen gegen die afghanische
Grenze vorgeschoben hatte, besetzte England Port Hamilton. das die Korea¬
straße beherrscht und die Seeverbindung von Wladiwostok mit dem Gelben
Meere abschneidet. Ein energischer Protest Rußlands unter gleichzeitiger Zu¬
sammenziehung seiner Land- und Seestreitkräfte in Wladiwostok bewirkte die
Räumung Port Hamiltons durch England.
Der zweite große Erfolg Rußlands gegen England war die Rückgabe der
Halbinsel Licmtung. Denn während Rußland mit Deutschland und Frankreich
gegen die Abtretung dieses Gebiets und gegen jedes Fußfassen Japans auf
dem Festlande vorgingen, versuchte England dafür zu arbeiten. Es geschah in
der richtigen Erwägung, daß durch diese Gebietsabtretungen Chinas an Japan
dieses als asiatischer Festlandsstaat ein guter Puffer gegen das weitere Vor¬
dringen Rußlands in Nordchina würde.
Schon im Frühjahr 1898 erhielt aber Rußland selbst gerade diese Plätze
abgetreten, indem es sie auf fünfundzwanzig Jahre, eine Frist, die nach gegen¬
seitigem Einverständnis verlängert werden kann, von China pachtete und dadurch
auch England gegenüber im Kampf um die Hegemonie in China einen außer¬
ordentlichen Vorteil errang, der Rußland in Verbindung mit dem Ausbau der
sibirischen Bahn zum tatsächlichen Herrn in Nordchina machte.
Die nun folgenden Verhandlungen zwischen Rußland und England, durch
die England das Jangsetal und Rußland alles Land nördlich von der Mauer
als Eisenbahnkonzessionssphäre zugeteilt wurde, mit der Verpflichtung, daß beide
Staaten in den entsprechenden Gebieten des andern nicht für ihre Untertanen
Eisenbahnkonzessionen fordern oder den Forderungen des andern entgegentreten
wollten, hatten den Zweck, jeden Grund zu Uneinigkeiten in diesen Eisenbahn¬
fragen zu vermeiden. Hierdurch erhielt Rußland freie Hand, weitere Zweig¬
bahnen von der mandschurischen oder sibirischen Bahn zu bauen und sich ein
Schienennetz in Nordchina herzustellen, das dieses wirtschaftlich und strategisch
beherrscht. Die weitern Projekte Rußlands, deren wichtigstes den Bau der
Bahn Kiächta-Kalgan-Peking vorsieht, lassen an dieser Absicht keinen Zweifel.
Die durch dieses ruhige und sichere Fortschreiten Rußlands in Nordchina
immer großer werdende Sorge für den Handel und die Interessen Englands
und Japans fand darum ihren Ausdruck in dem am 30. Januar 1902 in
London unterzeichneten englisch-japanischen Vertrag, der so lautet:
Die Regierungen von Großbritannien und Japan, einzig geleitet durch
den Wunsch, den stg-tus cjnv und den allgemeinen Frieden im fernen Osten
zu erhalten, sowie besonders interessiert in der Aufrechterhaltung der Unab¬
hängigkeit und der territorialen Unverletzlichkeit des Kaiserreichs China und des
Kaiserreichs Korea, außerdem bemüht, die Gleichstellung des Handels und der
Industrie in diesen Ländern für alle Nationen zu sichern, beschließen hierdurch
wie folgt.
Die hohen kontrahierenden Parteien haben die Unabhängigkeit Chinas und
Koreas gegenseitig voll anerkannt und erklärten, ganz unbeeinflußt durch irgend
welche aggressiven Absichten in einem der beiden Länder zu sein. Indem sie
jedoch besonders ihre speziellen Interessen im Auge haben, von denen die von
Großbritannien in der Hauptsache in China liegen, während Japan mit Hinzu¬
fügung seiner Interessen in China, insbesondre in hohem Grade politisch sowohl
wie kommerziell in Korea interessiert ist, erkennen sie, daß es für jeden von
ihnen unerläßlich sein wird, solche Maßregeln zu ergreifen, die nötig sind, diese
Interessen zu sichern, falls einer von ihnen durch aggressives Vorgehn von
irgend einer andern Macht bedroht werden sollte, oder durch Unruhen, die in
China oder Korea ausbrechen sollten, und die für die Erhaltung des Lebens
und des Eigentums ihrer Untertanen die Einmischung einer der hohen kontra¬
hierenden Parteien verlangen.
Wenn einer von beiden, Großbritannien oder Japan, in der Verteidigung
ihrer eben beschriebnen Interessen mit einer andern Macht in Krieg verwickelt
werden sollte, hat die andre kontrahierende Partei stritte Neutralität zu be¬
wahren und ihre ganze Macht dazu zu benutzen, andre Mächte vom Eintritt
in Feindseligkeiten gegen ihren Verbündeten abzuhalten.
Wenn in diesem Falle eine andre Macht oder andre Mächte auch in
Feindseligkeiten gegen ihren Verbündeten treten sollten, so hat die andre kontra¬
hierende Macht beizustehn lind mit ihr Krieg zu führen und Frieden zu machen
uach gegenseitigem Übereinkommen mit ihr.
Die hohen kontrahierenden Parteien beschließen, daß keine von ihnen, ohne
die andre zu fragen, besondre separate Verträge mit einer dritten Macht ein¬
geht, die zum Nachteile der eben beschriebnen Interessen der andern Macht sind.
Wenn immer nach der Ansicht einer der beiden, Großbritanniens oder Japans,
sich ihre oben erwähnten Interessen gegenseitig berühren, werden beide Regierungen
miteinander offen und ehrlich verhandeln.
Der vorstehende Vertrag soll in Kraft treten unmittelbar nach dem Tage
der Unterzeichnung und in Kraft bleiben für fünf Jahre nach jenem Tage.
' In dem Falle, daß eine der beiden Parteien zwölf Monate vor dem Ab¬
lauf der oben erwähnten fünf Jahre die Absicht kundgibt, den Vertrag zu ver¬
längern, soll dies bindend sein bis zum Ablauf eines Jahres von dem Tage,
an dem eine der Parteien dies der andern mitgeteilt hat. Aber wenn an dem
Tage, an dem der Vertrag abläuft, einer der beiden Verbündeten in Krieg
verwickelt ist, soll das Bündnis, ixso taoto, fortdauern, bis der Friede ge¬
schlossen ist.
Durch dieses englisch-japanische Bündnis war die durch das seines Ziels
bewußte und erfolgreiche Fortschreiten Rußlands sehr geschwächte diplomatische
Kraft der beiden Staaten unzweifelhaft gewachsen.
Da außerdem dieses Bündnis offenbar gegen Rußland gerichtet war, ver¬
öffentlichte dieses, um das diplomatische Gleichgewicht gegen diesen ostasiatischen
Zweibund wieder herzustellen, den französisch-russischen Vertrag, durch den die
Allianz dieser beiden Mächte auch auf Ostasien ausgedehnt wurde. Wenn nun
auch beide Bündnisse den guten Kern haben, daß wahrscheinlich der Krieg auf zwei
Mächte beschränkt bleibt, so ist doch durch sie die Spannung zwischen Rußland
und Japan in keiner Weise verringert, sondern eher vergrößert worden. Das hatte
jedoch auch andre Gründe. Es lag hauptsächlich daran, daß Japan im Jahre
1903 sein Flvttenbauprogramm durchgeführt und seine dadurch erreichte Flotte
einexerziert hatte. Im Gefühl seiner augenblicklichen Stärke und seines in den
nächsten Jahren nur wenig zunehmenden Kräftezuwachses hatte es die große
und berechtigte Furcht, in den folgenden Jahren in der Verbesserung seiner
maritimen Stellung, auf die es ihm als Inselstaat besonders ankam, mit Ru߬
land nicht Schritt halten zu können. Hierzu kam die Sicherheit, den Kredit
des reichen mit ihm verbündeten Englands zu haben und im Falle eines Krieges
nur gegen Rußland kämpfen zu müssen. Infolgedessen nutzte es diesen für
ihn glücklichen Augenblick aus und begann, nachdem Rußland seine Oberhoheit
über die Mandschurei offiziell durch die Gründung der Statthalterschaft und die
Schließung des Landes ausgesprochen und die schon begonnene Räumung rück¬
gängig gemacht hatte, bestimmte Forderungen an Rußland zu stellen. Diese
Forderungen wurden außer von England auch von den Bereinigten Staaten
unterstützt, indem sich diese auf ihren Handelsvertrag mit China beriefen.
Was hat nun England veranlaßt, sich mit einem großen Industriestaat
und gefährlichen Konkurrenten zu verbünden? Nur die Entlastung seiner in¬
dischen Grenzen vom russischen Druck und die erhoffte Schwächung der russischen
Stellung in Ostasien durch Japan kann der Grund hierfür sein. Japan aber,
durch das Bündnis moralisch gestärkt, wird seine Forderungen höher schrauben
und sich leichter zum Kriege hinreißen lassen. Falls nun Rußland in diesem
Kampfe siegen sollte, wird England das Anwachsen des russischen Einflusses nur
wenig aufhalten können, da ihm ein aktives Eingreifen Indiens wegen unsym¬
pathisch ist. Falls aber Japan siegreich wäre, würden England und die Welt
einen Konkurrenten am Großen Ozean erhalten, wie er gefährlicher nicht zu
denken wäre. Also nur das gegenseitige Schwächen beider Staaten, ohne die
vollkommne Niederlage des einen wäre ihm von Vorteil. Ein Resultat, das
aber bei zwei modernen und energisch geleiteten Großmächten kaum zu er¬
warten ist. —
Man muß zwar bei der Begründung der großen Erfolge, die Rußland in
den letzten Jahrzehnten in Ostasien errungen hat, berücksichtigen, daß es durch
seine geographische Lage außerordentliche Vorteile vor den andern konkurrierenden
Staaten hat. Wenn man aber bedenkt, welche gewaltigen Summen die Er¬
bauung der Eisenbahn, die russische Besiedlung Ostsibiriens und die Unter¬
haltung einer so großen Streitmacht in Ostasien kosten, durch die ja allein
Rußlands dominierende Stellung gesichert ist, und mit deren Hilfe es seine
Politik in Asien durchführen konnte, so muß man sich sagen, daß es auch weder
Mittel noch Menschen geschont hat, um die ihm von der Natur gegebnen Vor¬
teile auszunutzen. Folgerichtig, ohne Übereilung, ging es Schritt für Schritt
vor. Zuerst führte Murawiew die friedliche Besetzung Ostsibiriens durch, indem
er, möglichst ohne auf Verhandlungen mit China einzugehen, immer weiter nach
Süden vordrang und nur dann Verträge abschloß, wenn die politische Kon¬
stellation für Rußland günstig und seine Machtmittel allen eintretenden Ver¬
hältnissen gewachsen waren, sodaß sie furchtgebietend einen Rußland günstigen
Abschluß verbürgten. Weiter wurde dann nach Abtretung der Gebiete in gro߬
artiger Weise deren Kolonisation und Russifizierung begonnen, und nach Anlegung
der hierfür notwendigen Verkehrsmittel und nach Aufstellung einer gewaltigen
Streitmacht seine dominierende Stellung im Osten so befestigt, daß Japan und
England von ihm aus Nordchina nur durch diplomatische Verhandlungen hinaus-
gedrängt werden konnten. Dann machte es China mit Hilfe von französischem
Kapital finanziell von sich abhängig und befriedigte durch die Besetzung von
Port Arthur und Dalny, zweier Häfen am Gelben Meere mit strategisch vor¬
züglicher Lage, sein Bedürfnis, einen eisfreien Handelshafen als Endpunkt der
großen sibirischen Bahn und einen eisfreien Kriegshafen als Stützpunkt für seine
Flotte zu haben. Hierdurch und durch den Bau der mandschurischen Bahn wurde
Rußland vollkommen Herr in Nordchina. Nachdem es dann in mehreren
Mandschurei-Abkommen die Besetzung dieses Landes als eine temporäre be¬
zeichnet und die Integrität Chinas für unverletzlich erklärt, trotzdem aber die
Besetzung weiter durchgeführt hatte, verbündeten sich Japan und England zur
Erhaltung ihrer großen Interessen und des staw8 quo in Ostasien.
Das beantwortete Nußland durch ein ähnlich lautendes offizielles ost¬
asiatisches Bündnis mit Frankreich, der Verweigerung der Öffnung der Mand¬
schurei, sowie der offiziellen Angliederung der Mandschurei an Nußland durch die
Formierung der Statthalterschaft des fernen Ostens. Hierdurch und durch die
Überlegung, daß Rußland nach der Besetzung der Mandschurei als nächsten
Schritt die Besetzung Koreas durchführen werde, veranlaßt, begann Japan eine
schärfere Tonart gegen Rußland anzuschlagen. Denn auch Japan hatte seine
Zeit nicht unbenutzt verstreichen lassen, sondern sich eine starke Position in Ost¬
asien geschaffen. Sein Volk begann in sich die Kraft zu fühlen, nicht nur
seine Politik in vezug auf Korea durchsetzen zu können, sondern hauptsächlich
als Führerin der mongolischen Rasse „Asien den Asiaten" zurückerobern zu
müssen. Es hofft, vielleicht mit Recht, daß ihm als dem ersten erwachenden
Mongolenvolk, falls es mit Erfolg kämpfen sollte, sehr schnell unter seiner Er¬
ziehung und Leitung das übrige Mongolentum nachfolgen würde.
Seit das japanische Volk durch den von Rußland. Frankreich und Deutsch¬
land diktierten Frieden von Shimonoseki um die Früchte seines Sieges gebracht
worden ist, und seit später gerade Rußland diese Plätze besetzte und aufbaute,
sowie das Festsetzen der Japaner in Korea verhinderte, ist Japan von einem
tiefen Haß gegen Nußland durchdrungen.
Von seinem alten traditionellen Recht auf Korea überzeugt, verlangt es
dieses und strebt nach der Herrschaft über die Mongolen. Der Kampf um die
Politische Hegemonie im Osten wird aber, wenn Japan siegen sollte, zugleich
den Ausschlag für die wirtschaftliche Hegemonie geben.
Eine schwere Konkurrenz im Großen Ozean ist den Industriestaaten der
Welt schon jetzt in dem industriellen Japan erwachsen. Wieviel mehr wird das
bei einem siegreichen Japan der Fall sein. Das letzte Jahrzehnt hat uns zwei
neue Weltgroßmächte, die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan, gegeben,
die sich beide zu großen Militär- und Industriestaaten auswachsen, und deren
Programm im nächsten Jahrhundert das Zusammenfügen und Organisieren der
Völker des amerikanischen Kontinents und der mongolischen Staaten ist.
Damit zugleich geht die wirtschaftliche Einigung Englands mit seinem
Kolonialreich und die Abrundung des russische,, Reiches vor sich. Alles werdende
gewaltige staatliche Einheiten, die innerlich ausgeglichen, die Produkte des Nordens
und des Südens in sich vereinigen, enorme Strecken kultivierbaren Landes
und aufnahmefähiger Absatzgebiete einschließen, und die von Völkern bewohnt
werden, die imstande sind, die Nrprodukte ihres Landes sowie die Vorteile
ihrer politischen Abrundung auszunutzen- Deutschland und Mitteleuropa werden
zwar für ihre Entwicklung im nächsten Jahrhundert mehr Aktionsfreiheit er¬
halten, da Rußland durch das erwachende Mongolentum nach Osten hin ab¬
gelenkt wird, und seine aggressiven Kräfte dort absorbiert werden. Die deutsche
Industrie wird aber nicht nur gegen die hohen russischen Zollschranken sondern
auch gegen die der andern mächtigen wirtschaftlichen und politischen Organi¬
sationen ankämpfen müssen. Wie wird sie diesen ihm an UrProdukten und
Absatzgebieten weit überlegnen Weltmächten gegenüber bestehn, wenn deren
teils hochentwickelte Industrie in ihrer Entwicklung so fortschreitet? Was kann
sie tun, wenn diese Staaten sich durch hohe Zollschranken abschließen?
Nur die friedliche wirtschaftliche Einigung mit den mitteleuropäischen Staaten
und deren Kolonien wird dem Deutschen Reich und seiner Industrie eine gewisse
Gleichstellung mit diesen gewaltigen Staaten der Zukunft geben und die hoch¬
entwickelte Kultur Mitteleuropas vor dem Niedergang schützen, wenn eine see¬
gewaltige Flotte diesem Wirtschaftsbund in der Welt und eine große Armee
in Europa Recht und Frieden verschaffen.
ter dem Reichstage vorliegende Gesetzentwurf über den Servis-
tarif und die Klasseneinteilung der Orte ist in der ersten Lesung
im Plenum beraten und an die Budgetkommission überwiesen
worden. Wie zu erwarten war, zeigte sich der Reichstag nicht
I befriedigt, da die Resolution zu dem Gesetz vom 7. Juli 1902
in dem Entwurf nicht berücksichtigt worden ist. Alle maßgebenden Parteien
gaben ihrer Enttäuschung Ausdruck, hielten aber mit ihren Bedenken im
einzelnen zurück; nur daß die Geltungsdauer des Gesetzes von zehn auf fünf
Jahre verkürzt werden müsse, wurde allgemein im voraus erklärt. Welches
Schicksal die Vorlage in der Budgetkommission haben wird, läßt sich nicht
ohne weiteres voraussagen. Aus den Verhandlungen des frühern Reichstags
müßte man allerdings schließen, daß sie ebenso wie die Vorlage von 1902
in der vorgeschlagnen Fassung nicht angenommen werden wird, zumal da
die Mehrheit des neuen Reichstags der des alten „wie ein El dem andern"
gleicht. Nun verspricht der Entwurf jedoch manche Vorteile, einmal einer
ganzen Reihe von Offizieren und Beamten dnrch die Einreihung von 205 Orten
in eine höhere Servisklasse (gegen 168 im Jahre 1902), darunter von sieben
Orten in die ans elf Städten bestehende, seit 1873 unverändert gebliebne
Ausnahmeklasse Berlin, und sodann mich den Gemeinden der niedrigsten, der
vierten Servisklasse durch Erhöhung der Tarifsätze für den Naturalquintierservis
auf die Sätze der dritten Klasse. Der frühere Reichstag wollte aber durch¬
aus die MißHelligkeiten beseitigen, die durch die Verquickung des Servis- und
des Wohnungsgeldtariss entsteh«, und es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß
auch der jetzige die neue Klasseneinteilung ablehnt. Dagegen wird sich ver¬
mutlich für den neuen Naturalquartierservistarif eine Majorität finden, da
die häufigere Belastung der kleinern Orte durch Einquartierung eine höhere
Vergütung für die Quarticrleistung gerechtfertigt erscheinen läßt.
In der vorigen Tagung des Reichstags gingen die Forderungen nicht
bloß dahin, „den Zusammenhang von Servis und Wohnungsgeldzuschuß zu
lösen und eine selbständige Klasseneinteilung für den Wohnungsgeldzuschuß zu
schaffen," fondern auch im Anschluß hieran dahin, den Selbstmieterservis für
Offiziere und Militärbeamte aufzuheben und den Wohnungsgeldzuschuß ent¬
sprechend den seit 1873 gesteigerten Mietpreisen der Wohnungen zu erhöhen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Forderungen einen wesentlich größern
Geldaufwand verursachten, als die jetzige Vorlage auf Grund der revidierten
Ortsklnsseneinteilung fordert. Zu eiuer Zeit, wo der Neichshaushaltsetat nur
durch eine Zuschußanleihe ins Gleichgewicht gebracht werden kann, ist auch
der für 1904 geforderte Betrag von 2380000 Mark an fortdauernden Aus¬
gaben nicht ohne Bedeutung. Bei der Beurteilung der Finanzlage des Reichs
darf man aber nicht außer acht lassen, daß die wirtschaftliche Krisis als über¬
wunden gelten muß, und daß der neue Zolltarif voraussichtlich noch in diesem
Rechnungsjahr in Kraft treten wird, sodaß auf bedeutende Mehreinnahmen
im Reich gerechnet werden kann. Wenn also auch für diefes Jahr noch
größte Sparsamkeit geboten ist, so kann man doch hoffen, daß im nächsten
Jahre die Mittel reichlicher fließen werden, und daß dann endlich der Zeitpunkt
gekommen sein wird, als erste Maßnahme zu einer Besserung der Beamten-
einkünfte eine billigen Ansprüchen gerecht werdende Erhöhung des Wohnungs¬
geldzuschusses vorzunehmen.
Die Reichsregierung hat die Schwäche der Gesetzgebung in bezug auf
den Servis und den Wohnungsgeldznschuß vollkommen anerkannt und ist auch
einer Aufbesserung des Wohnungsgeldzuschusses zu gelegner Zeit nicht abge¬
neigt. Angeblich ist aber bisher kein gangbarer Weg gefunden worden, auf
dem die Angelegenheit ohne Schädigung der Interessen einzelner Kreise zum
Ziele geführt werden kann. Es lohnt sich deshalb, der Sache näher zu treten
und den Versuch zu machen, zur Lösung der aktuell gewordnen Frage bei¬
zutragen.
Als der Wohnungsgeldzuschuß im Jahre 1873 als ein die Verschieden¬
heit der Preisverhältnisse, namentlich der Wohnungsmieten in den einzelnen
Orten ausgleichender, beweglicher Teil des Diensteinkommens eingeführt wurde,
legte man dem Tarif „bis zu anderweiter gesetzlicher Regelung" die vorhandne
Klasseneinteilung der Orte für den Militärservis zugrunde. Seitdem ist die
gesetzliche Regelung noch immer nicht erfolgt. Vielmehr ist nur die Ortsklassen¬
einteilung mehrmals revidiert, und dabei ist nach veränderten Grundsätzen ver¬
fahren worden. Anfangs hatte nur die Bevölkerungszahl der Ortschaften den
Maßstab für die Einreihung in die einzelnen Ortsklassen gegeben. Sodann
wurden in den beteiligten Orten Erhebungen gemacht, durch die allein der
Wert der Quartierleistung ohne Rücksicht auf die ortsüblichen Mietpreise der
Wohnungen festgestellt werden sollte, da es nur darauf ankam, den Quartier¬
gebern eine billige Entschädigung für die zur Unterbringung des Militärs
gelieferten Wohn- und Schlafräume, sowie für Beleuchtung und Heizung zu
gewähren, nicht aber einen Gewinn zu verschaffen, wie ihn die Wirte durch
Vermietung ihrer Wohnungen erstreben. Erst im Jahre 1902 wurde in den
„Grundsätzen" ausgesprochen, daß die tatsächlich gezählten Mietpreise „einen
gewissen Anhalt" für die Beurteilung des Werth der Quartierleistung böten
und deshalb entsprechend zu berücksichtigen seien. Die für die damalige Re¬
gierungsvorlage angestellten Ermittlungen der Mietpreise erstreckten sich auf
345 planmäßig ausgewählte Orte, in denen höchstens fünfundzwanzig Offiziere
und Beamte jeder Wohnungsgeldzuschußklasse nach der Zahl der bewohnten
Zimmer und dem dafür zu zahlenden Mietpreise befragt wurden, damit man
daraus den Durchschnittspreis für ein Zimmer in jedem der Orte berechnen
könnte. Aus den Ergebnissen dieser Erhebungen wurde ein Anlaß zur
Trennung der Klasseneinteilung für Servis und Wohnungsgeldzuschuß nicht
hergeleitet, sondern nur zur Aufhebung der frühern fünften Servisklasse und
zu ihrer Vereinigung mit der vierten Klasse. Der gewonnene Einheitszimmer¬
preis wurde zwar bei einer größern Anzahl von Orten als entscheidend für
die Versetzung in eine höhere Ortsklasse erachtet, im allgemeinen blieb jedoch
zunächst der Wert der Quartierleistung maßgebend. Demzufolge schlug die
Reichsregierung zum Beispiel von den neunundzwanzig Städten, die in An¬
betracht ihrer Teuerungsverhältnisse, besonders der hohen Mietpreise ihr Auf¬
rücken in die Ausnahmeklasse ^ (Berlin) beantragt hatten, keine einzige zur
Aufnahme in diese Klasse vor, obwohl die Lebensverhältnisse in den dazu ge¬
hörenden zehn Städten außer Berlin dieses Hütten rechtfertigen können. Der
Reichstag lehnte aber alle Vorschläge der Regierung aus Einreihung von
Orten in höhere Servisklassen ab, um eine Trennung von Servis und
Wohnungsgeldzuschuß zu erwirken, wie er es schon früher gewünscht hatte.
Wie im Lause der Zeit die Ansichten in dieser Frage geschwankt haben,
dafür bietet die Stadt Köln ein interessantes Beispiel. Sie wurde zuerst im
Jahre 1887, ebenso wie Breslau und Leipzig, zur Versetzung nach Klasse ^
(Berlin) vorgeschlagen; der Reichstag gab jedoch zur Vermeidung von Be¬
rufungen von andern Städten und auch wegen des bedeutenden Kostenauf¬
wands, der daraus erwachsen wäre, seine Einwilligung nicht. Im Jahre 1897,
als eine Petition der Kölner Beamten vorlag, verhielt sich die Reichsregierung
ablehnend unter der Begründung, daß sich die Wohnungsverhältnisse in Köln
infolge der inzwischen eingetretnen Entfestigung und Erweiterung der Stadt
wesentlich gebessert Hütten; die Petition blieb deshalb unberücksichtigt, zumal
da auch die Kölner Serviskommission und die Stadtverwaltung erklärt hatten,
daß an Wohnungen kein Mangel sei, und die Höhe der Kosten für die Ein¬
quartierung der Truppen eine Versetzung der Stadt in die höchste Servis¬
klasse nicht rechtfertige; allerdings verlautete, daß bei der Verhandlung der
Frage in der Gemeindeverwaltung die unausbleibliche Rückwirkung der Änderung
auf die Besoldungen der Kommunalbeamten und der Lehrer eine Rolle gespielt
habe. Nachdem die Reichsregierung auch nach der Feststellung der Durchschnitts¬
mietpreise im Jahre 1902 ein Aufrücken der Stadt in die Klasse ^ nicht für
nötig gehalten hatte, liegt der Antrag dazu jetzt vor. Dem Reichstag wird
mithin der Beweis zu bringen sein, daß sich die Verhältnisse in der kurzen
Zeit wieder ungünstiger gestaltet haben.
Dieser fortgesetzte Wechsel in den Entschließungen der maßgebenden Körper¬
schaften ist eine Quelle der Unzufriedenheit geworden, die zu verstopfen im all¬
gemeinen Interesse liegt. Es ist ohne weiteres klar, daß bei dem jetzigen
Verfahren dem subjektiven Ermessen ein viel zu weiter Spielraum gelassen
worden ist. Wenn man die Verhandlungen im Plenum und in der Budget¬
kommission des Reichstags bei den wiederholten Revisionen der Ortsklassen¬
einteilung übersieht, so zeigt sich, wie für die einzelnen Orte bald die Interessen
der Gemeinden, bald die der Beamten in den Vordergrund gerückt werden, und
wie mitunter das Urteil eines einflußreichen Parlamentariers genügt, die Er¬
höhung eines Ortes gegen den Vorschlag der Regierung durchzusetzen oder
eine Herabsetzung zu verhindern. Diesem Zustande ein Ende zu machen und
die Regelung des Wohnungsgeldzuschusses auf eine bessere Grundlage zu stellen,
erscheint darum unbedingt nötig.
Einer Trennung von Servis und Wohnungsgeldzuschuß kommt jetzt der
Umstand zu Hilfe, daß infolge der gleichen Normierung der Entschädigungssätze
für Orte der vierten und der dritten Servisklasse in der Regierungsvorlage
die vierte Ortsklasse für den Naturalquartierservis wegfallen soll, und im
ganzen Deutschen Reich nur noch für 366 Orte, darunter 221 mit mehr als
20000 Einwohnern, höhere als die allgemeinen Sätze gelten sollen. Für
Wacht- und für Arreststuben, für Dienstpferde, wie die zweiten und weitern Pferde
der Offiziere (außer für Servisklasse ^) bestehn schon jetzt dieselben Sätze für
alle Orte. Eine neue Prüfung der Verhältnisse in den Städten der Aus-
ncchmeklasfe ^ würde vielleicht dahin führen, auch diese Klasse wegfallen zu
lassen, sodciß für den Naturalquartierservis nur noch drei Servistlassen mit
teilweise abweichenden Tarifsätzen übrig blieben. Für Garnisonorte hat der
Naturalquartierservis mehr und mehr an Bedeutung verloren, weil durch
den Bau von Kasernen die Unterbringung der Truppen in Privatquartieren
immer weniger nötig wird. Für Einquartierungen auf Märschen oder in
Kantonnements von längerer oder von kürzerer Dauer können die größern Ge¬
meinden einen vollständigen Ersatz der tatsächlich aufgewandten Kosten in der
Regel nicht beanspruchen, besonders dort nicht, wo sie zur Entlastung der zur
Ouartierleistung verpflichteten Grundbesitzer Einrichtungen getroffen haben,
deren Kosten mit dem Wert der Quartierleistung nicht im Einklange stehn.
Man wird aber jedenfalls leichter geneigt sein, Härten auszugleichen, wenn
mit der Einreihung eines Ortes in eine höhere Servisklasse nicht auch
noch Mehrausgaben an Wohnungsgeldzuschuß und Selbstmieterservis ver¬
bunden sind.
Wird nun den Wünschen des Reichstags gemäß eine Neuregelung des
Tarifs und der Klasseneinteilung der Orte für den Naturalquartierservis vor-
genommen, so muß der jetzige Selbstmieterservis für Offiziere und Militär¬
beamte, d, h. nur der Personalservis wegfallen, während der Stallservis nach
dem für das Naturalquartier geregelt und dementsprechend in den Sätzen für
die zweiten und weitern Pferde der Offiziere usw. erhöht werden müßte. Diese
Forderung läßt sich leicht erfüllen, und der Reichshaushaltsetat würde nur
durch die Steigerung des Stallgeldes belastet werden.
Bei allen Verhandlungen über die Servisfrage ist es im Reichstag als
ein Übelstand bezeichnet worden, daß die Offiziere und die Militärbeamten durch
die Versetzung ihres Garnisonortes in eine höhere Servisklasse nicht nur eine
Aufbesserung des Wohnungsgeldzuschusses, sondern auch eine solche des
Quartiergeldes erhalten, also gegenüber den Zivilbeamten, für die nur der
erste in Betracht kommt, mehr als doppelt bedacht werden. So würde jetzt
bei der Versetzung der Städte Breslau, Leipzig, Köln usw. ein Oberst
642 Mark, ein Major oder Hauptmann 510 Mark mehr erhalten, wogegen
die diesen Chargen gleichstehenden Zivilbeamten nur einen Vorteil von 300
und 240 Mark Hütten. Dieser Übelstand ist dadurch veranlaßt worden, daß
man bei der Einführung des Wohnungsgeldzuschusses für die Beamten im
Jahre 1873 die Offiziere nicht leer ausgehn lassen wollte und ihnen neben
dem schon bestehenden Selbstmieterservis in Anerkennung ihrer Verdienste in
den der Gründung des Reichs vorangegangnen drei Feldzügen auch den
Wohiumgsgeldzuschuß als ein Benefizium bewilligte. Für die Offiziere sind
damit zwei bewegliche Teile ihres Diensteinkommens geschaffen, die eine den
Verhältnissen nicht entsprechende Verschiedenheit in ihren Dienstbezügen herbei¬
geführt haben. Vergleicht man nämlich die vorher genannten Offizierchargen
in der niedrigsten und der höchsten Servisklasse, so bezieht ein Oberst in Orts¬
klasse IV an Servis und Wohnungsgeldzuschuß zusammen 1134 Mark, ein
Major oder Hauptmann 852 Mark, hingegen ein Oberst in Ortsklasse ^
(Berlin) 2514 Mark, ein Major oder Hauptmann 1872 Mark, mithin gegen¬
über Ortsklasse IV je 1380 und 1020 Mark mehr, während sich das Ein¬
kommen der Beamten derselben Wohnungsgeldklassen nur um 660 und
480 Mark steigert. Offenbar ist die Spannung zwischen den Sätzen für die
Offiziere zu hoch, für die Beamten eher zu niedrig, abgesehen von der Differenz
von 720 und 540 Mark zu ungunsten des Beamten.
Will man nun den Selbstmieterservis ausscheiden, so würde die Summe
der bisherigen Einkünfte der Offiziere an Servis und Wohnnngsgeldzuschuß
um den pensionsfähigen Teil des ersten zu kürzen, und der Rest als Wohnungs¬
geld zu gewähren, der pensionsfähige Servisteil aber als Gehalt oder — für
die höhern Chargen — als Dienstzulage zu verrechnen sein. Danach wäre,
um bei den erwähnten Offizieren zu bleiben, dem Oberst eine Dienstzulage
von 870 Mark, dem Major und dem Hauptmann eine Gehaltszulage von
640 Mark zu bewilligen, sodann blieben als Wohnungsgeldzuschuß in den
einzelnen Servisklassen für den Oberst 1644, 1002, 606, 414 und 264 Mark,
für den Major usw. 1232, 722, 476, 344 und 212 Mark übrig, Beträge,
die als besondre Sätze in dem Tarif für den Wohnungsgeldzuschuß aufzu¬
führen wären. Es würde sich hier also zunächst nur um ein Rechenexempel
handeln und eine Belastung des Budgets nicht in Frage kommen. Mit der
Aufbesserung des Wohnungsgeldzuschusses für die Beamten würden dann die
berechneten Sätze um die diesen gewährten Mehrbeträge erhöht werden, sodaß
die Offiziere nur denselben Vorteil wie die Beamten genießen würden. Die
bisherige Ungleichheit in den Bezügen müßte somit vorerst bestehn bleiben und
könnte erst später bei einer neuen Gehaltsregulierung vermindert werden.
Als pensionsfähiger Teil des Wohnungsgeldzuschusses würde den Offizieren
derselbe Betrag zugute kommen, der für die Beamten derselben Wohnungs¬
geldklasse feststeht oder später festgestellt werden wird. Die Regelung der
Bezüge der Militärbeamten hätte in derselben Weise zu erfolgen, wodurch ihre
Gehaltssätze, die bisher um den Selbstmieterservis niedriger waren, denen
der entsprechenden Zivilbeamten gleichgestellt würden.
Daß sich die Klasseneinteilung der Orte für den Servistarif, nicht auch
für den Wohnungsgeldzuschuß eignet, haben die Bundesstaaten außer Preußen,
die ihren Beamten zur Ausgleichung der Preisverhältnisse in den einzelnen
Stationsorten ebenfalls Wohnungsgeldzuschüsse gewähren, sehr Wohl erkannt
und von der Übernahme der Reichseinrichtung zum Vorteil ihrer Beamten
Abstand genommen. Württemberg, Baden und Sachsen sind auf Grund be¬
sondrer Erhebungen bei der Mehrzahl der Beamten zur Bildung andrer Orts¬
klassen gelangt, die der Billigkeit mehr entsprechen; auch enthielt die vom
bayrischen Landtage leider abgekehrte Regierungsvorlage vom Jahre 1902
über Einführung von Wohnungsgeldern eine bessere Einteilung der Orte in
Bayern. Auch diese Aufnahmen in den Bundesstaaten liefen darauf hinaus,
für jeden Stationsort den Durchschnittspreis eines Zimmers zu ermitteln und
diesen Preis der Abstufung der Ortsklassen zugrunde zu legen. Besonders
sorgfältig fand die Klassenbildung in Bayern und in Baden statt, indem die
gefundnen Einheitmietpreise der Orte in Vergleich zu dem der Städte
München und Mannheim gestellt und in Prozenten des an diesen Orten be¬
stehenden höchsten Mietpreises angesetzt wurden. Wenn danach die Klassen¬
einteilungen in den genannten Staaten auch als zuverlässiger gelten können,
als die im Reich, wo nur partielle Erhebungen vorgenommen worden sind,
und eine Vergleichung der Preise mit dem für Berlin unterblieben ist, so er¬
scheinen sie doch ebensowenig einwandfrei, weil sie hauptsächlich auf den An¬
gaben der Interessenten, der Beamten, basieren. Beamte ohne Privatvermögen,
d.h. weitaus die meisten — und diese sind hauptsächlich befragt worden —,
haben bei ihrem mäßigen Diensteinkommen alle Ursache, sehr haushälterisch
über ihre Einnahmen zu verfügen. Die Ausgaben für den Lebensunterhalt
und für die Erziehung der Kinder lassen sich in der Regel nicht einschränken,
am wenigsten bei zeitweiliger Steigerung der Preise für Lebensmittel und Be¬
darfsartikel. Es bleibt darum für den Beamten nur übrig, soviel als möglich
an der Wohnungsmiete zu sparen. Infolgedessen sind sie unter dem Drucke
der örtlichen Verhältnisse häufig genötigt, kleinere Wohnungen mit weniger
Zimmern zu mieten, als es das Wohl der Familie gebietet, oder Wohnungen
in den höhern Stockwerken der Häuser oder in weiterer Entfernung von ihrer
Amtsstelle in der Peripherie der Städte zu beziehn. Unter diesen Umständen
kann die Größe der Wohnungen nicht als der richtige Ausdruck für das
Wohnungsbedürfnis einer Beamtenklasse angesehen werden, ebenso können die
dafür gezählten Mietpreise nicht die sichre Grundlage für die Berechnung des
Einheitmietpreises der Orte und für die Feststellung der Ortsklassen bilden.
In Anerkennung dieser Sachlage hat die badische Regierung, die eine be¬
sonders warme Fürsorge für ihre Beamten an den Tag legt, die Angaben
der Beamten durch Erhebungen bei den Gemeinden ergänzt und die be¬
rechneten Durchschnittspreise der Wohnungen für jede Beamtenkategorie auf
Grund der Gemeindeangaben zum Teil nicht unwesentlich erhöht, um die
Mittel zur Beschaffung einer standesgemäßen Wohnung zu gewähren.
Wenn die Regelung der Wohnungsgeldzuschüsse für die Offiziere und die
Beamten auf einer richtigen Grundlage erfolgen soll, bleibt nichts andres
übrig, als durch statistische Aufnahmen in den einzelnen Gemeinden die
durchschnittlichen Preise für Mietwohnungen verschiedner Größen festzustellen
und nach den sich ergebenden Einheitpreisen für ein Zimmer die Ortsklassen
zu bilden. Durch solche allgemeine Erhebungen allein kann ein objektives
Urteil über die Mietverhältnisse der in Frage kommenden Orte gewonnen
werden.
Da aber der Wohnungsgeldzuschuß nicht nur einen Zuschuß zur Wohuungs-
miete, sondern auch einen Ausgleich der sonstigen Preisverhältnisse zu bieten
bestimmt ist, so kommen neben den Mietpreisen der Orte nötigenfalls auch
ihre Teuerungsverhältnisse in Betracht. In dieser Beziehung hat man bisher
eingenommen, daß sich die Preise für Lebensmittel im allgemeinen ausgleichen,
und daß sie im Osten des Reichs am niedrigsten stehn und sich nach dem
Westen zu steigern. Tatsächlich weichen sie aber schon in kleinern Bezirken
bedeutend voneinander ab, wie die diesbezüglichen Feststellungen im Königreich
Sachsen beweisen. Nach der sächsischen Regierungsvorlage vom Jahre 1901
ist durch eine Erhebung in 400 Orten mit mehr als 1500 Einwohnern er¬
mittelt worden, daß sich die Preise für bestimmte Mengen Kohlen und Lebens¬
mittel (mittlerer Qualität) in den billigsten Orten zu denen in den teuersten
wie 100 : 145 verhalten, und daß sich das Preisniveau in den größern
Städten durchweg über dem Durchschnitt hält. Man wird deshalb einen Zu¬
sammenhang der Wohnungsmieten und der Lebensmittelpreise gelten lassen
können und nur bei Badeorten und sonstigen notorisch teuern Ortschaften die
Einheitszimmerpreise entsprechend zu erhöhen brauchen, sodaß besondre Er¬
mittlungen in dieser Richtung nicht nötig sein werden. Außerdem müssen aber
außergewöhnlich hohe Kommunalabgaben sowie Kirchen- und Schullasten
Berücksichtigung finden, da es sich hier um Ausgaben handelt, denen sich der
Beamte nicht entziehn kann. Zu den berechneten Durchschnittspreisen für ein
Zimmer würden also in einzelnen Fällen noch kleinere oder größere Zuschlage
zu machen sein, zum Beispiel auch für Beschaffung von eignen Öfen usw.,
wie es in den westlichen Orten (Köln usw.) nötig ist.
Über die Höhe der Mietpreise liegen für eine Anzahl der größten Städte,
und zwar von denen mit eignen statistischen Behörden, jetzt schon ausführliche
Angaben in dem „Statistischen Jahrbuch deutscher Städte" vor. Schon in
den Jahren 1890 und 1895 sind bei den Volkszählungen die Preise der
„besetzten Mietwohnungen, ausschließlich der untrennbar mit Geschäftslokalen
verbundnen," im Jahre 1900 die der „Mietwohnungen ohne gewerbliche
Nebenbenutzung" nach der Zahl der heizbaren Zimmer erhoben worden. Für
die einzelnen Jahre können also die Mietpreise einer Reihe von Städten ver¬
glichen werden. Hierbei können jedoch nur die Wohnungen mit zwei bis
sieben heizbaren Zimmern in Betracht gezogen werden, da einerseits einem
etatsmäßigen Unterbeamten aus hygienischen und ethischen Rücksichten mindestens
zwei heizbare Zimmer mit einem Nebenraum zuerkannt werden müssen und
andrerseits Wohnungen von sieben heizbaren Zimmern allen Ansprüchen ge¬
nügen, die höchsten Beamten und Offiziere mit Dienstwohnungen und Miet¬
entschädigungen aber bei dieser Frage überhaupt ausscheiden. Berechnet man
aus den vergleichbaren Zahlenangaben für besetzte Wohnungen von zwei bis
sieben heizbaren Zimmern den Durchschnittspreis für ein Zimmer, so ergeben
sich für 1895 bei Berlin 263. bei Hamburg 203, bei Frankfurt a. M. 203
(für Wohnungen einschließlich der untrennbar mit Gewerberäumen verbundnen),
bei Dresden 201, bei Altona 165, bei Breslau 204, bei Leipzig 190, bei
Königsberg i. Pr. 189, bei Magdeburg 173, bei Mainz 169, bei Frank¬
furt a. O. 126, bei Lübeck 119 und bei Liegnitz 116 Mark; dagegen für 1890
bei Berlin 266, bei München 193. bei Dresden 188, bei Altona 173, bei
Breslau 211, bei Leipzig 194, bei Köln 157, bei Magdeburg 185, bei
Mainz 136 und bei Frankfurt a. O. 125 Mark. Diese Zahlen zeigen, daß
Berlin in beiden Jahren in der Höhe der Mietpreise allen Orten voranstand,
daß die jetzt zur Versetzung in die Servisklasse ^ vorgeschlagnen Städte
Breslau, Leipzig und Köln sich zwar mit den übrigen zu Klasse ^ gehörenden
Städten Dresden, München, Frankfurt ni. M., Hamburg und Altona, nicht
aber mit Berlin messen konnten, und daß schließlich auch zum Beispiel
Magdeburg und Königsberg i. Pr. berechtigt gewesen wären, in Klasse ^ aus¬
zurücken.
Ähnlich stellen sich die Verhältnisse für 1900 bei der Aufnahme der
„Mietwohnungen ohne gewerbliche Nebenbenutzung." Dresden zeigt 211,
Hamburg 187, Altona 165. Straßburg i. E. 127. Breslau 205, Leipzig 177,
Hannover 194, Magdeburg 160 und Frankfurt a. O. 155 Mark; für Berlin
und Charlottenburg sind die Angaben zur Vergleichung nicht zu verwenden,
da die Preise für „Wohnungen ohne Gewerberäume" ermittelt sind.
Dagegen läßt sich aus der Wohnungsaufnahme für Berlin und dreiund¬
zwanzig Nachbargemeinden vom Jahre 1900 das Verhältnis Berlins zu seinen
Vororten ersehen. Hiernach beläuft sich der Einzimmerpreis von Woh¬
nungen (ohne Gewerberäume) mit zwei bis sieben heizbaren Zimmern für
Berlin ans 268, für Charlottenburg auf 264, für Deutsch-Wilmersdorf auf
250, für Schöneberg auf 248, für Rixdorf auf nur 164, für Tempelhof auf
217, für Friedenau auf 204 Mark usw.; für Kolonie Grünewald am höchsten:
auf 301 Mark. Die Erhebung bestätigt die bekannte Tatsache, daß die west¬
lichen Vororte Berlins bedeutend höhere Mietpreise haben als die übrigen.
Für die zur Regelung der Wohnungsgeldfrage nötige Wohnungsaufnahme
Würde« am besten die für Berlin erlassenen Bestimmungen in Anwendung zu
bringen sein. Die Erhebung müßte sich auf die 473 Orte mit mehr als
10000 Einwohnern und auf die kleinern Orte mit Garnisonen oder einer
größern Zahl von Beamten erstrecken, und das Ergebnis könnte bis Ende
dieses Jahres sehr gut abgeschlossen sein. Wenn man zugleich einen all¬
gemeinen Einblick in die Wohnungsverhältnisse der einzelnen Orte erlangen
will, so empfiehlt es sich, auch die Preise der kleinern Mietwohnungen mit nur
einem heizbaren Zimmer, sowie die der größer» mit mehr als sieben Zimmern
zu erheben; für den vorliegenden Zweck würden aber nur die Wohnungen
mit zwei bis sieben heizbaren oder mit Heizanlagen versehenen Zimmern in
Frage kommen.
Die Bildung der Ortsklassen muß nach dem Einzimmerpreis erfolgen,
und zwar können fünf Ortsklassen geschaffen werden in Abstufungen von
50 Mark, sodaß Orte mit einem Einheitspreis von mehr als 250 Mark zur
ersten, mit 200 bis 250 Mark zur zweiten, mit 150 bis 200 Mark zur
dritten, mit 100 bis 150 Mark zur vierten und mit weniger als 100 Mark
zur fünften Klasse gerechnet werden. Für jede Ortsklasse müssen ferner als
Grundlage für die Bemessung der Höhe des Wohnungsgeldzuschnsses die
Durchschnittspreise für die Wohnungen der verschiednen Großen ermittelt
werden, oder einfacher nur für eine Anzahl größerer Orte mit den höchsten
Einzimmerpreisen in jeder Ortsklasse. Je nachdem die eine oder die andre
Methode gewählt wird, muß schließlich der Prozentsatz der Durchschnittsmiete
festgestellt werden, der als Wohnungsgeldzuschuß gewährt werden soll.
Es bleibt nun noch für die einzelnen Beamtenkategorien die Größe einer
standesgemäßen Wohnung zu bestimmen. Der jetzige Wohnungsgeldzuschuß-
tarif für das Reich unterscheidet nur fünf Beamtenklassen und ebenso auch nur
fünf Klassen von Offizieren. Dadurch sind Beamte sehr verschiedner Amts¬
stellung zu einer Kategorie vereinigt, während zum Beispiel für die Tagegelder
und die Umzugskosten dem Amtscharakter und der standesgemäßen Lebens¬
haltung der Beamten in weiteren Maße Rechnung getragen worden ist. Der
Major, auch als Kommandeur eines allein garnisonierenden Bataillons, bezieht
denselben Wohnungsgeldzuschuß wie der Hauptmann, der Jntendanturrat wie
der Jntendantnrassessor, der Rendant beim Gericht wie der Kanzlist oder die
Telephonistin, der Schutzmannswachtmeister wie der Bahnwärter. Eine größere
Rücksichtnahme auf die Rangklassen erscheint hier unbedingt geboten. Man wird
es als durchaus billig anerkennen müssen, daß auch für den Wohnungsgeld¬
zuschuß eine weitere Gliederung des Beamtenpersonals eingeführt wird. Lehnt
man sich nur an die Gliederung für die Tagegelder und Umzugskosten an, so
werden folgende Kategorien unterschieden: ^. Minister und Staatssekretäre (in
Preußen Beamte der ersten Rangklasse), die als Dienstwohnungsinhaber hier
außer Frage bleiben; L. Direktoren der obersten Reichsbehörden (in Preußen
Beamte der zweiten Rangklasse); 0. vortragende Räte der obersten Reichsbe¬
hörden (in Preußen Beamte der dritten Rangklasse); v. Mitglieder der höhern
Reichsbehörden (in Preußen Beamte der vierten Rangklasse); D. Mitglieder
der übrigen Reichsbehörden (in Preußen Beamte der fünften Nangklosse);
?. Sekretäre der höhern Reichsbehörden (in Preußen mittlere Beamte erster
Klasse); v. Subalternbeamte der übrigen Reichsbehörden (in Preußen mittlere
Beamte zweiter Klasse); U. Unterbeamte in gehobnen Stellungen und I. andre
Unterbeamte (S und I ähnlich wie in Preußen). Die Offiziere rangieren in den
Beamtenklassen wie bisher, die Stabsoffiziere in Klasse v, die Hauptleute in
Klasse L. — Die Klasse der Unterbeamten ist in der Reichsverwaltung bisher
nicht getrennt. Es wird sich deshalb empfehlen, dies bei dieser Gelegenheit
zu tun und in Kategorie U die Unterbeamten in gehobnen Stellungen und
möglichst die Unterklassen einzureihen, die vorzugsweise aus versorgungsbe¬
rechtigten Militüranwürtern bestehn, in Kategorie I die Unterbeamten, bei deren
Anstellung in der Regel ein Zivilversorgungsschein nicht verlangt wird. Eine
solche Maßnahme könnte auch auf den Unteroffizierersatz einen günstigen Ein¬
fluß üben.
Zur Bestimmung der Größe einer standesgemäßen Wohnung, auf die der
Wohnungsgeldzuschuß für jede Kategorie angerechnet werden soll, wird bei der
untersten Klasse I anzufangen sein. Eine Wohnung für diese muß dem not¬
wendigen Bedürfnis entsprechen und ist, wie wir früher gesagt haben, mit zwei
heizbaren Zimmern und einem Nebenraum — außer dem üblichen Zubehör
(Küche, Keller usw.) —, also mit zwei bis drei Zimmern zu bemessen. In
fortschreitender Reihe würden dann für Klasse K: drei, für Klasse 6: drei bis
vier (3,5), für Klasse?: vier, für Klasse vier bis fünf (4,5), für Klasse v:
fünf, für Klasse L: sechs und für Klasse L: sieben heizbare Zimmer als an¬
rechnungsfähige Wohnung in Ansatz kommen. Eine ähnliche Festsetzung liegt
für Baden vor. Dort sind für die niedrigste Beamtenklasse drei Zimmer, für
jede der folgenden Klassen ist ein halbes Zimmer mehr und nur für die oberste,
die zweite Klasse gegenüber der vorigen ein ganzes Zimmer mehr angenommen,
sodaß die Größe der standesgemäßen Wohnung für die badischen neun Beamten¬
klassen von drei Zimmern bis sicbeuundeinhalb Zimmer aufsteigt. Diese höhern
Sätze für die Reichsverwaltung anzuwenden, erscheint jedoch nicht angängig,
weil der finanzielle Effekt bei den hohen Mietpreisen namentlich der Städte der
ersten Ortsklasse ein ganz bedeutender wäre, und weil das Gehalt der Reichs¬
beamten wie der preußischen Beamten im Durchschnitt größer ist als das der
badischen Beamten.
Aus denselben Gründen können auch die Prozentsätze des standesgemäßen
Wohnungsaufwandes, die Baden zur Berechnung des Wohnungsgeldes für jede
Beamtenklasse benutzt hat, für das Reich nicht angewandt werden. Baden ge¬
währt nämlich mit Rücksicht darauf, daß mit der Erhöhung des Wohnungs¬
geldes eine allgemeine Gehaltsaufbesserung bezweckt wurde, für die drei untern
Veamtenklassen 100 bis 95 Prozent, für die drei mittlern 90 bis 85 Prozent
und für die drei obern 80 bis 70 Prozent der veranschlagten Mieter als
Wohnungsgeld. In der Reichsverwaltung wird man deshalb zum Teil zu
niedern Sätzen greifen können, und zwar werden bei der ersten Ortsklasse für
die beiden untersten Beamtenklassen 85 Prozent, für die mittlern Beamten
82^2 Prozent ausreichen, und für die höhern Beamten 80 Prozent wie in
Baden, für die höchsten, mit Dienstwohnungen oder Mietentschädigungen nicht
bedachten Beamten 75 Prozent, also 5 Prozent mehr, als in Baden angesetzt
werden können.
Wie sich nach der vorgcschlagnen Einteilung der Beamtenklassen und nach
den Mietpreisen für die standesgemäßen Wohnungen die Höhe des zu ge¬
währenden Wohnungsgeldzuschusses stellt, soll nunmehr an einem Beispiel für
die erste Ortsklasse gezeigt werden. Unter Zugrundelegung der nach der Ber¬
liner Wohnuugsaufnahme vom Jahre 1900 berechneten Durchschnittspreise der
Wohnungen (ohne Gewerbcräume) von zwei bis sieben heizbaren Zimmern ge¬
langt man für Berlin zu folgenden Beträgen:
(Für die Offizierchargen würden sich nach Abzug des zum Gehalt geschlagner pensions¬
fähigen Teils des Selbstmieterquartiergeldes ergeben: Klasse L für Divisionskommandeur
2000 Mark, für Brigadekommandeur 1960 Mark, Klasse O für Regimentskommandeur 1740 Mark,
Klasse v für Stabsoffizier 1380 Mark, Klasse K für Hauptmann 1230 Mark und Klasse 1? für
Leutnant 760 Mark.)
Die hiernach sich ergebenden neuen Wohnungsgeldzuschüsse für die Beamten
erscheinen, wenn man die sonstigen Lebensverhältnisse in Berlin in Betracht
zieht, eher zu niedrig als zu hoch, stehn aber, wie anerkannt werden muß,
in einem bessern Verhältnis zur Miete, als die bisherigen, die für die untern
und die mittlern Beamten ganz unzureichend sind.
Zu erwägen ist schließlich noch, ob dieselben Prozentsätze für jede der
andern vier Ortsklassen gelten sollen. Offenbar genießen die Beamten in
billigern Orten bei gleichen Sätzen bemerkenswerte Vorteile gegenüber den
Beamten in den teuersten Orten. Es sollte deshalb der Grundsatz aufgestellt
werden, daß die einzelnen Beamtenkategorien, die im ganzen Reich dieselben
Gehaltssätze beziehen, überall denselben Teil ihres Gehalts zu den Wohnungs-
mieten beizusteuern haben. Demzufolge würden die Prozentsätze für die Orts¬
klassen so abgestuft werden müssen, daß die Höhe der ungedeckten Wohnungs¬
mieten überall möglichst gleich ist.
Die in den vorliegenden Ausführungen enthaltnen Vorschläge erstrecken
sich auf folgende Punkte:
1. Annahme der Regierungsvorlage nur für den Naturalquartierservis
nach Prüfung der Klasseneinteilung der Orte unter Beachtung der Punkte,
die für die Ermittlung des Werth der Quartierleistung maßgebend sind; Ein¬
führung von nur drei Servisklassen.
2. Aufhebung des Selbstmieterquartiergeldcs für Offiziere und Militär¬
beamte durch Einrechnung seines pensionsfühigen Teiles in das Gehalt, dem-
gemäß besondre Feststellung der Sätze für die Offiziere in dem Wohnungs-
geldzuschußtarif; Gewährung des Stallgeldes an die Offiziere nach den Sätzen
für den Naturalservis.
3. Schaffung einer besondern Ortsklasseneinteilung für den Wohnungs¬
geldzuschuß auf Grund statistischer Erhebungen über die Wohnungsmietpreise
in allen beteiligten Orten nach dem Einheitspreis für ein heizbares Zimmer;
Erhöhung der Einzimmerpreise mit Rücksicht auf außergewöhnliche Teuerungs-
verhältnisse, ausnahmsweise hohe Kommunalabgaben, sowie Kirchen- und Schul¬
lasten usw.; Bildung von fünf Ortsklassen.
4. Bestimmung der Größe einer standesgemäßen Wohnung für jede der
aufgeführten acht Veamtenkategorien.
5. Feststellung der Wohnungsgeldzuschttsse unter Anwendung von Prozent¬
sätzen der durchschnittlichen Wohnungsmieten (Ziffer 4) für jede Beamteukategorie;
Abstufung der Prozentsätze nach den Kategorien und nach den Ortsklassen;
Zuschlag der Beträge, um die sich die Wohnungsgeldzuschüsse für die Beamten
erhöhen, zu den für die Offiziere berechneten Tarifsätzen (Ziffer 2).
Die mit der Regelung der Wvhnungsgeldzuschüsse im Zusammenhang
stehenden Fragen, ob und wie weit die Wohnungsgeldzuschüsse als pensions¬
fähig anzusehen sind, ob den unverheirateten Beamten (oder den Beamten ohne
Familie) ein Teil (z. B. wie in Sachsen die Hälfte) des Wohnungsgeldzuschusses
zuzubilligeu ist, und ob die Teuernngs- oder die Stellenzulagen schon bei
dieser Gelegenheit oder erst später bei der zu erwartenden Regulierung der
Minimalgehälter wegfallen sollen, bleiben hier zunächst unerörtert.
Wie sich jetzt schon übersehen läßt, werden nicht alle Tarifsätze für den
Wohnungsgeldzuschnß erhöht werden können, weil in manchen Fällen die im
Jcihre 1873 gewährten Sätze bei der angestrebten, möglichst gerechten Ab¬
messung noch den heutigen Preisen der Wohnungsmieten entsprechen. Auch
wird sich vermutlich bei einzelnen Orten infolge der statistischen Wohnungs¬
aufnahme zeigen, daß sie in eine niedere Ortsklasse gehören, und deshalb für
die eine oder die andre Beamtenkategorie niedrigere Betrüge als die bisherigen
angesetzt werden müssen. In keinem Falle soll aber diese Reform den Offizieren
oder den Beamten Schädigungen bringen. Die Beteiligten werden vielmehr
grundsätzlich im Genuß ihrer jetzigen Bezüge zu lassen sein, solange sie an
ihrem Stationsort bleiben; die über die neuen Sätze hinaus zu zahlenden
Betrüge würden deshalb in den Etats als künftig wegfallend zu bezeichnen sein.
Die finanzielle Wirkung der Vorschlüge läßt sich erst erkennen, wenn die
Ergebnisse der Wohnuugsaufuahme abgeschlossen vorliegen. — Für diese selbst
ist jetzt die günstigste Zeit, da in der Bewegung der Mietpreise augenblicklich
ein Stillstand eingetreten ist, und bei dem neuen wirtschaftlichen Aufschwung,
dem wir entgegenzugehn scheinen, die Preise bald wieder eine steigende Tendenz
zeigen werden. — Nach den frühern statistischen Erhebungen, deren Ergebnisse
vorher mitgeteilt worden sind, kann man z. B. annehmen, daß in die erste
Ortsklasse (jetzige Ausnahmeklasse ^) wahrscheinlich weniger Orte kommen
werden, als jetzt darin sind; die für diese geplanten Tarifsätze würden mithin
einen geringern Kostenaufwand verursachen, als wenn für die jetzt eingereihten
achtzehn Städte die Tarifsätze erhöht würden, was für die Stadt Berlin
und deren westliche Vororte zweifellos dringend nötig ist. Dagegen werden
sich vermutlich die Wohnungsgeldzuschüsse für die zweite Ortsklasse (jetzt I)
in einigen Sulzen ebenso hoch, in andern vielleicht noch höher stellen, als die
heutigen der Ausnahmeklasse Berlin. Den Beamten kann es aber gleichgiltig
sein, ob ihr Stationsort in einer höhern oder niedern Ortsklasse rangiert, sie
werden mehr Wert darauf legen, daß der Wohnungsgeldzuschuß mit den ört¬
lichen Verhältnissen im Einklang steht und ihrer Amtsstellung entspricht.
Mag die Neuregelung der Wohnungsgeldfrage auch mehrere Millionen
mehr kosten, als die von der Regierung vorgeschlagne Ortsklasseneinteilung
fordert. Für das Rechnungsjahr 1904 ist im Reich eine Summe von
2^/2 Millionen schwerer aufzubringen, als für das nächste Jahr ein weit
höherer Betrag. Die Finanzlage in Preußen hat sich unerwartet derart
gebessert, daß die Beschaffung der Mittel für die preußischen Beamten schon
jetzt keine Schwierigkeit hat. Es wird deshalb die Aufgabe des Reichstags
sein, die Bereitstellung der Mittel für die Aufbesserung der Wohnungsgeld-
zuschüssc zu betreiben, damit die Neichsbeamten den preußischen Beamten
gegenüber uicht ins Hintertreffen kommen. Geht das Reich aber voran, dann
wird Preußen gewiß nachfolgen. So hat es der Reichstag in der Hand,
dahin zu wirken, daß auch den preußischen Beamten die längst als notwendig
erkannte Erhöhung ihrer Dienstbezüge zuteil wird.
An dem guten Willen des Reichstags und der Regierung, die Frage in
einer allseitig befriedigenden Weise zu lösen, ist nicht zu zweifeln, und — wo
und dieser schriftlichen, also genau überlegten und festgestellten
Kommissionsmeinung, die zunächst dem Satze Hartmanns jeden
offiziellen Zug nimmt und ihn zu einer reinen Privatüußerung
stempelt, kann bei ihrem vollkommnen und gewollten Gegensatze,
bei ihrer grundsätzlichen Verwahrung gegen irgendwelchen parla¬
mentarischen Definitionsversuch der in Frage kommenden Begriffe und bei
ihrer Übertragung der Auslegung dieser Begriffe allein an die Gerichte dem
hastigen, in sich selbst unsichern und außerdem laut Kommissionswillen unzu¬
ständiger Worte Hartmanns die Rolle einer authentischen Äußerung darüber,
was damals Kommission und Kammer unter Klub verstanden, nicht beigemessen
werden. Der beim ersten Anblick anscheinend wichtige Satz kann nicht aus dem
Inbegriffe der Verhandlungen herausgerissen werden; er darf vielmehr nur im
Zusammenhange mit dem Großen und Ganzen der Erörterungen gelesen und
ausgelegt werden. So, richtig gewürdigt, stellt er sich als eine übereilte, die
Gesamtanschauung der Kammer durchaus nicht fassende und somit von Rechts
wegen gleichgiltige Einzelüußernng heraus. Ohne Ausnahme hat die Kammer,
wenn das damals bei der Neuheit des erörterten Stoffs für Preußen auch
nicht scharf zum Ausdruck gekommen ist, unter Klubwesen ganz zweifelsohne
dasselbe verstanden, was heute allgemein und klar unter den Begriff gebracht
wird, nämlich eine streng zusammengefaßte, bei weiter Verbreitung doch in
einem beherrschenden Hauptzirkel fest geschlossene politische Organisation mit
dem Zweck, offen oder insgeheim als Gegeuparlamcnt oder gar als Gegen¬
regierung zu wirken, Staat im Staate zu sein oder zu werden. Ein solches
Wesen hat die Kammer nicht gewollt, und ein solches Wesen hat sie vom
Umkreise preußischen, deutscheu Lebeus mit dein Gesetze ausschließen wollen
und ausgeschlossen, weil sie nach den Worten des Kommissionsberichts der
Überzeugung war, „daß durch eine förmliche Organisation der politischen
Vereine neben der geordneten Regierung sich eine zweite bilde, die jene zu
untergraben und zu zerstören drohe, und daß eine Regierung kaum noch möglich
sei, wenn alle politischen Vereine sich berufen fühlen, ihr Gewicht in die Schale
der Entscheidung zu legen."
Wie sehr die Kammer insgesamt von dieser Auffassung durchdrungen ge¬
wesen ist, beweist am besten die einzige Stimme, die sich in ihr gegen das
Gesetz erhoben hat, die des Grafen Dyhru. So weitläufig er sich gegen das
Gesetz ausgelassen hat, so leidenschaftlich hat er dem Klubwesen abgesagt. Nach
alledem ist überhaupt kein Zweifel darüber möglich, von welchen Grundüber¬
zeugungen Negierung wie Volksvertretung bei der Vereinbarung des Vcreins-
gesetzes getragen worden, insbesondre von welchem leidenschaftlichen Widerwillen
gegen den Klnbismus sie dabei erfüllt gewesen sind. Das aber ists, worauf es hier
ankommt; denn aus dieser Erkenntnis ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit
und Sicherheit der wirkliche Wille der gesetzgebenden Kräfte, damit weiter aber
auch die wahre Bedeutung der Gesetzessätzc. Und jetzt, nach solcher Feststellung,
gewinnt der Paragraph 8 des Gesetzes erhöhte, gewinnt er erst seine rechte
Tragweite. Er enthält und er soll nach der klar und offen von der Kommission
ausgesprochnen Absicht der Gesetzgeber enthalten das äußerste Maß dessen, was
um politischem Vereinswesen in Preußen zulässig ist. Nach der in Paragraph 1
verkündigten Billigung von Versammlungen, in denen öffentliche Angelegenheiten
erörtert oder beraten werden sollen, d. h. von vorübergehenden, allgemein gehaltnen,
rein politischen Vereinigungen, und nach der in Paragraph 2 gegebnen Zulassung
von Vereinen, die eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten beabsichtigen,
d. h. von dauernden, eigen beseelten, bedingt politischen Vereinigungen: darüber
hinaus haben Daseinsberechtigung nur noch solche Vereine, die bezwecken, politische
Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, sie freilich uur unter stark ein¬
schränkenden Bedingungen. Gemäß Paragraph 8 gebildete Vereine können als
verkrüppelte, zur Unfruchtbarkeit verurteilte Zwittergeschöpfe oder als kümmerliche
Ansätze zur Weiterentwicklung der Urgebilde von Paragraph 1 und Paragraph 2
angesehen werden. Das mag jeder nach seinem politischen Gusto halten, wie
er will; das kann er sogar ausknobeln. Nie und nimmer aber ist in den Be-
Stimmungen von Paragraph 8, mögen sie gedreht und gebeutelt, gekehrt und
gewendet werden, auch nur in etwas Geist vom Geiste und Fleisch vom Fleische
dessen zu spüren, was uach obiger Feststellung von der Kammer als Klubwesen
verabscheut worden, und was wirklich Klubwesen ist. Ist das der Fall, wie gar
nicht zu bestreiten ist, und gibt zugleich der Paragraph 8 den verfassungsrecht¬
lichen Eichstrich für politische Vereinsschöpfungen in Preußen, wie ebensowenig
zu bestreiten ist, so stellt dieser Paragraph des Vereinsgesetzes in Tat und
Wahrheit unanfechtbar klar, daß Preußen, in richtiger Erfassung und Ausge¬
staltung einer uralt volkstümlichen Grundanschauung, alles und jedes Klubwesen
verworfen hat.
Die Achtung des Klubwesens in Preußen hat nicht nur das unter das
Vereinsgesetz fallende Gebiet, nicht nur das politische Vereinswesen betroffen,
sondern ganz allgemein jedes, auch das unpolitische Vereinsleben. Die Ver¬
handlungen über die Artikel 29 und 30 der Verfassung stehn wenn auch nicht
in unmittelbarem sachlichen, so doch in unlösbaren und ursächlichen ideellen
Zusammenhange mit denen über die Verordnung, der Artikel 30 verweist ja auch
ausdrücklich auf das Vereinsgesetz als Ergänzung und Zubehör seiner selbst
und des ihm vorgehenden Artikels. Die Gedanken, die die Verordnung be¬
herrscht und geformt haben, sind auch für diese Artikel grundsätzlich maßgebend
gewesen. Nun erstrecken sich ihre Bestimmungen ans alle Arten von Berscunm-
lnngen und Gesellschaften ohne irgend eine Ausnahme, auf unpolitische Ver¬
bindungen nicht minder als auf politische. Daraus folgt mit unanfechtbarer
Bestimmtheit, daß in Preußen laut Verfassung uicht nur politische Vereine, für
die es durch die Entstehungsgeschichte und den Wortlaut des Sondergesetzes
vom 11. März 1850 ausführlich belegt ist, sondern genau in demselben, grund¬
sätzlich keinen Unterschied lernenden Maße auch unpolitische Vereinigungen, wie
immer sie eingekleidet oder bezeichnet sein mögen, wider Recht und Gesetz sind,
sobald sie irgendwie dem Klubwesen anheimfallen.
So die Lage nach preußischem Rechte. Sie hat bis heute keine wesentliche
Änderung erfahren. Dem Vereinsgesetz ist, obgleich seine Mangelhaftigkeit schon
lange erkannt ist, in Preußen eine weitere Regelung der in seinen Rahmen
fallenden Fragen nicht gefolgt — übrigens auch ein Beweis für die Abneigung
des Volks gegen politisches Vereinstreiben. Das Reich seinerseits hat sich erst
im Bürgerlichen Gesetzbuche mit dem Stoffe beschäftigt, aber nur in sehr be¬
schränktem Maße. Der zweite Titel des ersten Abschnitts vom ersten Buche
handelt mit von politischen Vereinen. Mit ihnen beschäftigt sich das Gesetz aber
nur so weit, als die Regelung ihrer privatrechtlichen Gebarung in Frage kommt;
die Bestimmung von Form und Gehalt ihres öffentlich-rechtlichen Daseins ist
der Gesetzgebung der Einzelstaaten vorbehalten geblieben. Danach ginge wohl an,
das Bürgerliche Gesetzbuch hier gar nicht in Anschlag zu bringen. Seine förm¬
lichen Verordnungen mögen und müssen auch wirklich beiseite bleiben. Was aus
ihm hier in Betracht gezogen werden soll und erörtert werden muß, das ist die
Grundauffassung vom Vereinswesen, die zu und bei der Schaffung und Aus¬
gestaltung der Vereiusparagrapheu im Bürgerlichen Gesetzbuch ursachlich wirksam
gewesen ist. Sie führt auch für den, der ihr auf den Grund geht, eine ein-
dringliche Sprache, Auf den Grund zu gehn, ist bei ihr allerdings sehr nötig;
an der Oberfläche oder gnr in einigen sofort ins Auge springenden Schlag¬
worten ist sie nicht zu finden. Zwar ist in den Verhandlungen des Reichs¬
tags, der das Bürgerliche Gesetzbuch verabschiedet hat, sowohl bei dessen Be¬
sprechung wie auch sonst unendlich viel über Vereine und Vereinswesen geredet
worden, zwar ist immer von neuem und auch im Berichte der Reichstags¬
kommission für die Vorberatnng des großen Gesetzwerks das Vereinskapitel als
eins der nllerwichtigsten bezeichnet und von der Einigung über seine Be¬
stimmungen zwischen Negierung und Reichstag geradezu das Zustandekommen
des Gesetzes abhängig gemacht worden, aber trotzdem ist in dieser ganzen Un¬
masse von Worten tatsächlich kein einziges enthalten, das eine schärfere Be¬
leuchtung, eine weitere Erkenntnis zur Sache gebracht hätte. Hier einen Beleg,
und wäre er noch so drastischer Fassung, einen auch nur kurzen Aufschluß über
die grundlegenden Gedanken bei der Abfassung der Vereinsparagraphen zu
finden, ist ausgeschlossen. Hier waltet darüber tiefes Schweigen. Hier läßt sich
die Meinung der gesetzgebenden Größen nur in den Bestimmungen des Gesetzes
selber finden.
Die grundsätzliche Auffassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs davon, was es
uuter Verein begreift, enthält Paragraph 21. Er lautet in seiner endlichen,
Gesetz gewordnen Fassung: „Ein Verein, dessen Zweck nicht auf einen wirt¬
schaftliche« Geschäftsbetrieb gerichtet ist, erlaugt Rechtsfähigkeit usw." Er um¬
faßt, im Gegensatz zum folgenden, von wirtschaftlichen Vereinen sprechenden
Paragraphen, unterschiedslos und ausnahmslos alle sogenannten idealen Ver¬
eine. Das ist eine hochbedeutsame grundsätzliche Abweichung von der Art, wie
die preußische Verordnung vom 11. März 1850 zum Vereinswesen Stellung
genommen hat. Dort in Preußen war im Vercinsdurcheinander eine Scheidung
und Sichtung nach politischen und unpolitischen Zwecken vorgenommen worden;
hier im Reiche ist gemäß der wissenschaftlichen und gesetzlichen Entwicklung seit
1850 davon gänzlich abgesehen, vielmehr politisches Vereinswesen mit jedem
andern idealen, sei es gemeinnützigen, wohltätigen oder wissenschaftlichem,
sei es künstlerischem, religiösem oder hygienischem, kurzerhand und mit vollem
Bewußtsein in einen Topf geworfen worden. Wahrlich, diese weitgehende, brüske
Znsammenwürfelnng hat eine beredtere Zunge, als sie die wortreichsten und er¬
leuchtetsten Regierungs- und Reichstags-Tribonicme hätten führen können; sie ist
ein Chrhsostomns ersten Ranges. Als ideell eins mit Einungen der genannten
und noch andrer Art, zum Beispiel auch Suppeuvereinen, hat der Gesetzgeber
Politische Vereine nur dann ansehen können, wenn er sie nach dem Sein und
Wirken, das er an ihnen nach seiner Erfahrung, nach seinem Wissen vom deutschen
Leben kannte, sachlich nicht anders als irgendwelche idealen Vereine sonst wertete.
Wäre bei der Feststellung des Paragraphen, 21 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nur
der Gedanke aufgetaucht, wäre nur ein Zweifel rege geworden, ob nicht vielleicht
im Sinne der erwähnten Korrespondenz politische Vereine als „Zentralpunkte der
Bewegung," revolutionärer oder evolutionärer, als Urzeiten und Brutstätten zu
Hege und Pflege des „GesamtwillcnS des Volks" nach Jacvbyschcm Rezept
aufzufassen sein könnten, so wäre der Paragraph 21, wie er nun wirklich
Rechtens ist, überhaupt nicht möglich geworden. Bei solcher oder auch nur an¬
nähernd solcher Auffassung politischer Vereine, nach der sie grundsätzlich als auf
hohe Politik gerichtete, als zu unmittelbarer Einflußnahme auf die Leitung der
allgemeinen Staatsangelegenheiten berufne öffentlich-rechtliche Gebilde erscheinen,
wäre ihre rechtliche Kuppelung mit andern idealen Vereinen, die zweifelsohne, um
mit dem Oberverwaltungsgerichte in Band 27 Seite 428 seiner Entscheidungen
zu reden, nur „einen in sich geschlossenen, bestimmt abgegrenzten Kreis von
innerlich unter sich verbundnen Personen," also gesellschaftliche Sonderkörper in
der Allgemeinheit des Staats, darstellen, ein logisches Unding gewesen. So
ergibt sich aus der Zusammenfassung von politischen und sonstigen idealen Ver¬
einen in Paragraph 21 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, daß jene auch hier, wie
zu Zeiten des preußischen Vcreinsgesetzes, allein als gesellschaftliche Sonderge¬
bilde, allerdings mit politischer Richtung, sonst aber in Charakter und Bedeutung
diesen gleich, gedacht siud. Es ist das alte Lied; es ist die uralte deutsche
Vereinsweise. Gerade dadurch, daß das Gesetz dazu geschritten ist, von sich
aus die Bebclei oder den Bund der Landwirte mit einem Jünglingsverein oder
einem Verein zur Wöchnerinnenpflege auf eine Stufe zu stelle», ist unwider-
leglich und unantastbar festgestellt, daß nach deutschem Rechtsbewußtsein dem
Begriffe des politischen Vereins jeder, auch der geringste Zug von einer all¬
gemeinen Machtorganisation mit dem Endzwecke, der Staatsgewalt Herr zu
werden, grundsätzlich fern steht und fern bleiben muß, und daß die Urheber und
Verfasser von Paragraph 21 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die deutschen Denker,
die sich zuletzt von Gesetzes wegen zu der brennenden Frage geäußert haben,
genau wie alle ihre Vorgänger, in dem Begriffe auch nicht ein Fäserchen von
Klubismus gefunden haben.
Wie sehr von Haß gegen das Klubwescn die Väter des Bürgerlichen
Gesetzbuchs erfüllt gewesen sind, dafür legt noch eine andre Stelle in ihm
durchschlagendes Zeugnis ab. Der Neichstagsstrcit über Vereinsangelegenheiten,
die in den Nahmen des Bürgerlichen Gesetzbuchs fielen, hat sich hauptsächlich
um die Frage gedreht, ob gewissen Vereinen die Rechtsfähigkeit zu verleihen,
oder ob sie ohne weiteres als Rechtspersönlichkeiten anzuerkennen wären. Aus
dieser Tatsache ließe sich auch noch viel darüber ausführen, wie völlig dem Reichs¬
tage jede Klubregung fremd gewesen ist. Aber das würde hier zu weit führen
und mag deshalb unterbleiben. Der Streit hat schließlich zu einer Einigung
auf der Mittellinie geführt, zu der Bestimmung, daß Vereine nach Paragraph 21
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wenn sie den im Gesetz aufgestellten Normativ-
bestimmungen entsprechen, durch die Eintragung in das Vereinsregister Rechts¬
fähigkeit erlangen. Dem Satze ist jedoch eine Einschränkung angefügt worden:
der Paragraph 61 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ordnet an, daß gegen die
Eintragung von der Verwaltungsbehörde Einspruch erhoben werden kann,
wenn der Verein einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck ver¬
folgt. Das ist eine von Rechts wegen nnr schwer denkbare Verkümmerung
der allgemeinen Satzung vou Paragraph 21; es ist ein scharfer Bruch in der
folgerichtigen Linie des Gedankengangs von Paragraph 21. Darin hat also
nicht eine rechtliche Erwägung, soudern eine sachliche Willkür ihren gesetzlichen
Niederschlag gefunden. Was will das bedeuten? Die Motive zum Bürgerlichen
Gesetzbuch erklären dort, wo sie sich mit Vereinen politischer, religiöser oder
sozialpolitischer Tendenz beschäftigen, geradezu: „solange sie der Persönlichkeit
entbehren, mögen sie sich die Sammlung und Verwendung ökonomischer Mittel
ihren Bedürfnissen gemäß angelegen sein lassen; eine gesicherte Grundlage ge¬
winnen sie erst durch die Vermögensfähigkeit; mit ihr erlangen sie einen festen
Halt, Stetigkeit der Organisation und die Gewähr dauernden Bestandes. So
ausgerüstet, treten sie bei Verfolgung ihrer Zwecke nicht mehr als lose Gesell¬
schaften, sondern als festgegliederte Körperschaften in die Schranken und sind
einer Machtentwickluug fähig, die sich im voraus nicht ermessen läßt." Der Schluß
der Ausführung lautet dann: „Die gefährlichsten Vereine erscheinen oft in dem
unschuldigsten Gewände. Die Erfahrung lehrt auch, daß an sich harmlose Vereine
unter dem Einflüsse politischer Ereignisse in falsche Bahnen geraten. Die Mög¬
lichkeit, gegen Vereine, die im Widerspruche mit der im Statute kuudgegebneu
Tendenz gcmeinschüdlich wirken, von Staats wegen einzuschreiten und ihre Auf¬
lösung herbeizuführen, macht den in der vorgängigen Prüfung liegenden Schutz
der Gesamtheit nicht überflüssig."
Was hier in drastischen, fast erregten und darum an dieser Stelle seltsam
ergreifenden Worten, wenn auch ohne grundsätzliche Erkenntnis dessen, um was
es sich am letzten Ende handelt, doch sachlich klar genug ausgedrückt und dann
in Paragraph 61 zu gesetzlicher Fassung gekommen ist, das ist nichts weiter
als die deutscher Natur eingeborne Todfeindschaft gegen das Klnbwesen. Nicht
genug getan wird ihr mit der „Möglichkeit, gegen solch Gebilde von Staats
wegen einzuschreiten und seine Auflösung herbeizuführen." Nein, schon ganz
von weitem will man sich dagegen sicher stellen, daß deutsches Vereinsleben
irgendwie dem Pesthauche des Klubismus ausgesetzt werden könnte. Darum
fordert man, ehe einem Vereine nach Paragraph 21 Rechtsfähigkeit eingeräumt
wird, „zum Schutze der Gesamtheit vorgängige Prüfung," ob nicht doch in
ihm eilt Keim vorhanden sei, der früher oder später die Milch der volkstümlichen
Denkungsart in klubistisches Drachengift verwandeln könnte. Gewiß, ethisch großes
Sinns, oder auch nur rechtlich unanfechtbar ist das nicht. Sei es so! Gerade
das ebenso unwillkürliche wie unbezwingliche Vorsorgen gegen noch gar nicht
gegebne, vielleicht überhaupt niemals Gestalt gewinnende Möglichkeiten gewährt
einen bis auf den Grund reichenden Einblick in die gewissermaßen unbewußt,
wie mit Naturgewalt arbeitende» Seelenregungen der Urheber des Gesetzes, in
das unmittelbare Urempfinden der Volksseele. Es ist hier das Wesentliche; es
gibt die Entscheidung. So kann auch hier der Schluß nicht abweichen von dem,
was sich sonst zur Frage ergeben hat, und er lautet wie schon immer: Deutschen
Menschen, dem Deutschtum ist das Klubwesen ein Greuel.
So ärmlich die Staaten- und Reichsgesetzgebung Deutschlands auf dem
Gebiete des idealen Vereinswesens geblieben ist, so reich hat sie sich auf dem
der Wirtschastsvereine entfaltet. Von dem preußischen Gesetze vom 27. Mürz 1867
und dem ersten Bundesgesetze vom 4. Juli 1868 an hat sich die Genossenschnfts-
gesetzgebung immer weiter ausgebreitet, und sie hat bis heute in ihrer Entwicklung
noch kein Ende gefunden. Darüber, welche Grundanschauung vom Vereins-
Wesen hier das ganze Gebäude trägt, sind natürlich kaum Worte zu verlieren.
Hier liegt es auf der flachen Hand, daß unter Verein grundsätzlich nur eine
örtlich, sachlich oder persönlich streng umhegte Einung zu einem bestimmt ab¬
gesteckten Sonderzwecke begriffen wird. Hier läßt sich kein auch noch so ge¬
ringer Hauch von Klulnvesen spüren. Ein Wirtschaftsverein, der offenbar oder
auch nur seinem wahren, wenn schon verschleierten Wesen nach als Klub er¬
scheint, ist in Preußen wider Recht und Gesetz.
Damit wäre die Zerfaseruug der preußischen und der reichsdentschen Be¬
stimmungen über Vereinswesen und die Aufdeckung ihrer treibenden Grund¬
regungen am Ende.
Nur noch einen kurzen Blick auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts.
Vielleicht könnte es scheinen, als ob mit ihr die oben gegebnen Ausführungen,
insbesondre deren Schlüsse in Widerstreit stünden. Das Reichsgericht hat näm¬
lich von „jeder dauernden Vereinigung Mehrerer zur Verfolgung bestimmter
gemeinschaftlicher Zwecke" als Verein gesprochen. Obenhin gelesen könnte
dieses „jeder" im Satze des Reichsgerichts zu der Meinung veranlassen, daß es
auch Klubs ohne irgendwelche Einschränkung zu den Vereinen im Sinne des
preußischen oder deutschen Vereinsrechts zählt. Der Widerspruch ist nur schein¬
bar. Das Reichsgericht hat sich in Wahrheit überhaupt noch nicht eiuer
Prüfung der Frage unterzogen. In den Erkenntnissen, in denen sich diese Aus¬
führung über den Gehalt des Begriffs „Verein" findet, hat das Reichsgericht sie
nicht nach eigner Beurteilung des Stoffs gegeben; es hat sich einfach, ohne
sich selber mit dem Kerne der Sache zu beschäftigen, damit begütigt, festzustellen,
was „preußischer Rechtsprechung zufolge" uuter Verein verstanden werde, und hat
diese Feststellung blindlings durchgehn lassen. Das preußische Gericht, auf das
sich das Reichsgericht verlassen hat, ist das Obertribunal in seinem Urteil vom
30. April 1869. Dort heißt es aber ausdrücklich, die Auslegung des Begriffs
„Verein" sei nicht dem Wortlaute und Sinne des Gesetzes, sondern dem all¬
gemeinen Sprachgebrauche entnommen. Liegt die Sache so, und ist einem auf
Sprachen-, nicht aber auf Nechtserwägungen beruhenden Richtersprüche selbst¬
verständlich keine wahre Rechtsbedeutung beizulegen, so kann überhaupt keine
Rede davon sein, daß über den Hauptteil der Frage uach dem, was unter
einem Vereine deutscher Art zu begreifen ist, eine Obergerichtserklärung vor¬
handen sei, am wenigsten eine reichsgcrichtliche.
Sämtliche polnische Einungen, ideale wie wirtschaftliche Vereine, Gesell¬
schaften wie Genossenschaften, sind ihrem Grundzuge uach, bei dessen für sie
entscheidender Bedeutung ein Mehr oder Minder seiner Betonung unwesentlich
ist. Klubs.
Die Pole» leben heute ausnahmslos der Hoffnung, daß die Wieder¬
herstellung ihres Nationalreichs in seinem vollen frühern Umfange und unter
Einschluß aller Teile ihres Volkes in näherer oder fernerer Zukunft möglich,
wenn nicht gar sicher sei. Darauf arbeiten sie auf jeden Fall eben so bewußt
wie leidenschaftlich hin. Seit dem unbedingten Herrschen ihrer Volkspartei, das
in den letzten Reichstagswahlen besiegelt worden ist, können auch blöde oder
befaugne Deutsche an der Tatsache nicht mehr zweifeln. Heute hat die national-
Polnische Idee fast schon jeden Polen dermaßen in ihren Bann gezogen, daß
er nach ihr zu allem, was ihn angeht, Stellung nimmt. Damit ist es so weit
gekommen, daß ein Pole eigentlich jeden Vorgang, der ihn berührt, oder bei
dem er in Betracht kommt, von vornherein und voreingenommen daraufhin
Prüft, ob darin vielleicht irgend etwas dem Polentum Dienliches oder Schäd¬
liches stecken könnte.
Mit der ganzen Glut, die ihm nach Ausweis der Geschichte innewohnt,
hat sich das polnische Nationalempsinden jetzt darauf geworfen, mit den praktischen
Handhaben, die das Leben im heutigen Deutschland bietet, mit den wirtschaft¬
lichen Mitteln Neupreußens, das große Werk der Wiedererhöhung des weißen
Adlers vorzubereiten. „Das Bestreben der Polen, sagt Massow Seite 73, geht
dahin, die Vorteile, die aus deutscher Kultur, Bildung und Wirtschaftlichkeit
gewonnen werden können, recht gründlich für das Polentum zu verwenden,
sich am Deutschtum zu bilden und aufzurichten, um dann einmal zu gegebner
Stunde gerüstet zu sein, den unversöhnlichen, glühenden Haß zu kühlen und die
große geschichtliche Zukunftsrolle des Slawentums aufzunehmen." Wohl der
beste Beweis für dieses Verfahren der Polen liegt in ihrem Entgegenarbeiten
gegen die Ansiedlungskommission. Sie haben das bekanntlich in sehr wirksamer
Weise vollbracht. Die Form, in der sie es geleistet haben, hat darin bestanden,
daß sie eine polnische Landbank und kleinere Parzellierungsgesellschaften gegründet
und in deren Kassen durch ein geschicktes, von der Vermittlung ihrer nationalen
Vereine getragnes und überall hin verbreitetes Kreditsystem die Spargelder der
kleinen Leute, insbesondre auch der im deutschen Westen reichen Verdienst
findenden Sachsengänger, Bergleute usw. zu sammeln und von hier aus für
ihre Gegenansiedlungsmanöver nutzbar zu machen gewußt haben. Und den
Ausschlag dabei, den Haupthebel für den polnischen, unmittelbar ein preußisches
Staatsunternehmen bekämpfenden Vorstoß und Erfolg hat das polnische Vereins-
wesen gegeben.
Das polnische Vereinswesen ist die Größe, die das praktische Streben der
Polen zur Verwirklichung ihres politischen Zukunftstraums vor allem trügt;
zugleich aber und umgekehrt ist in ihm wieder unter Rückstellung aller andern
und recht nahe liegenden Interessen der polnische Nationalgedanke die treibende
Kraft, der Dampf in der Maschine.
Wie allmächtig der Nationalgedanke im gesamten polnischen Vereinsleben
ist, dafür ein mehr als drastischer Beleg aus jüngster Zeit. Im Jahre 1903
ist der Verband katholisch-polnischer Vereine für Westpreußen gegründet worden.
Seine Satzungen sind ihrem Wortlaute nach, wie immer bei polnischen Vereinen,
durchaus harmloser Art. Wer hätte nach ihnen auf die Idee kommen können,
an dem neuen Polenbunde etwas zu bemängeln? Da wählte der Verband
den Bischof Rosentreter von Kulm zu seinem Patron. Der Bischof erklärte sich
zur Annahme der Wahl bereit, stellte aber die Forderung, daß in den Vereinen
Politik ausgeschlossen sein müßte. Schon dieses vorsichtige Verlangen des mit
den Verhältnissen wohlvertrauten Kirchenfürsten wirft ein mehr als bezeichnendes,
ungemein grelles Schlaglicht auf den wahren Geist polnischer Vereine, wenn
sie sich auch angeblich nur um Kartoffeln, Gelddarlehen oder dergleichen kümmern
wollen. Das ist indes längst nicht alles geblieben, was der Fall lehrt. Der
Verband hat die bischöfliche Bedingung und mit ihr das bischöfliche Patronat,
etwas Gewaltiges bei Polen, rundweg verworfen. Mehr noch: anch das hat er
noch ausdrücklich begründet. Wahrlich, die Begründung hat Hörner und Klauen.
Sie erklärt, daß der Verband durch die Zusammenfassung der wirtschaftlichen
Kräfte der Vereine, der Spar- und Darlehnskassen und der Bibliotheken die
sozialpolitische Bekämpfung des Deutschtums als sein selbstverständliches, darum
nicht noch erst in den Satzungen besonders zu betonendes Ziel eben so entschieden
wie bewußt zu fördern beabsichtige.
In Politik aufgehn, ist die Losung des gesamten polnischen Vereinswesens,
und in welcher Art von Politik! In überhitztem Nationalgefühl wurzelt dieses
Wesen. Es ist darauf angelegt, unter den Polen das Bewußtsein zu erhalten und
zu stacheln, daß sie Kinder eines trotz äußerer Unterdrückung noch lebendigen und
sonnt zu staatlichem Eigendasein berechtigten Volkes seien. Es geht offen
darauf aus, sich und seine Angehörigen unter scharfer Loslösung vom Deutsch¬
tum zu einer festgeschlossenen Einung zu formen, zu einem eigentümlichen, nach
Vereinen und Verbänden gegliederten und geordneten und einer einheitlichen
Weisung gehorchenden Körper. Sein Ziel ist, ein nationales, radikal polnisches
Eigenleben im Nahmen des preußischen Staats, einen Staat im Staate zu
bilden. Wer will, mag sich fragen, ob das Ziel schon erreicht sei. Das polnische
Streben danach steht über jeden Zweifel erhaben ganz sicher fest. Die Polen
selber bekennen sich ja schon offen dazu.
Und nun, das alles, solche Vereinspolitik, was ist sie ihrem Grundwesen
nach? Klubwesen! Das, ausgesprochen das, abgekartet das, nur das, nichts
andres sonst. Es fehlt nichts, rein gar nichts an den bezeichnenden Merk¬
malen des Klubismus. Die Züge, die dem Jakobinerklub eigen gewesen sind,
sie finden sich restlos in reizender Klitterung an den polnischen sogenannten
Einzelvereinen und Samtverbänden. Ob diese sich Soloth, Marcinkowskiverein
oder Darlehnskasse betiteln, ist gleichgültig; die Jakobinermütze tragen sie alle.
Wäre Preußen so dumm oder so lässig, das polnische Vereinsspiel fortdauern
zu lassen, das Gesippe würde, sobald sich nur die rechte Gelegenheit fände, mit
Wollust den blutigen Beweis seiner Wahlverwandtschaft mit Maul und Genossen
führen. Übrigens sollte die Ausgestaltung des polnischen Vereinswesens, die
deutscher Anschauung eine Afterbildung ist, kaum jemand verwundern. Der
alte Spruch: On rsvieirt Wu.j0v.r8 ü, xr<zmisi'8 ainourZ gilt überall, wo
Herz und Gemüt in Frage kommen. Bei den Polen gilt er sicherlich. Mögen
ihre Einungen zu der Zeit, wo sie begannen, wo sie noch unter deutschem
Muster, deutschem Einflüsse in größerm oder geringerm Maße standen, mehr oder
minder deutschtümlichen, rechten Vereinswesens gewesen sein, das schwand und
mußte schwinden, und je länger um so entschiedner, seitdem das Vereinswesen
unter den Polen immer weiter um sich griff, seitdem es endlich mit bewußter
Abstoßung alles Deutschen unter rein polnische Wirtschaft geriet. Eigentümlich
polnisches Empfinden und Denken, eigentümlich polnische Art mußte da das
polnische Vereinswesen durchdringen. Das wieder mußte mit Notwendigkeit
dazu führen, daß ihm dasselbe geschah, was einst der Nachahmung deutscher
Einungen in Polen durch Borkowicz, die Konföderation von 1352 und deren zahl¬
lose Nachtreter widerfahren war, Waren jene alten sarmatischen Einrichtungen
zuletzt dahin gediehen, sich als Staaten im Staate zu geben, so mußten diese
neuen Verbindungen der Warthegegend, sobald das Polentum in ihnen das
große Wort sprach, ebenso enden. Das liegt in der Natur der Dinge; denn
Art läßt nicht von Art. Krätze den deutschtümlichen Vereinsfirnis ab, und das
sarmatische Konföderatentum kommt zum Vorschein. Konföderatentum ist der
von Zivilisation nicht beleckte, rüdere Bruder des Klubwesens.
Damit ist den gesamten polnischen Vereinigungen in Preußen das Urteil
gesprochen.
Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, die ganze große Frage von Amts
wegen mit einem Federzuge des Ministers des Innern zum Austrage zu bringen.
Über so ein abgekürztes Verfahren würden wahrscheinlich weiche Gemüter
Zeter schreien, wahrscheinlich auch die „unentwegter Linkser" der Volksver¬
tretung Himmel und Erde in Bewegung setzen wollen. Ihnen ließe sich Wohl
helfen. Es könnte ein Gesetz erlassen werden, das nur zu lauten brauchte: Polnische
Vereinigungen sind verboten. Die Begründung wäre nicht schwierig. Die
Entwicklung, die das deutsche Vereinswesen unter den Tolpatschhänden der
Polen im preußischen Osten genommen hat, läuft unmittelbar den Grundideen
des deutschen Vereinswesens entgegen. Die Gefahr droht nicht nur, sondern sie
liegt schon vor, daß durch die Wirkung, die diese Entwicklung sowohl offen wie
vor allem mit ihrer im stillen schleichenden Verfälschung der Anschauungen aus¬
übt, die ethischen Grundlagen des deutschen Vereinswesens verrückt werden.
Damit würde eine Hauptgröße des deutschen Volkslebens, der deutschen Volks¬
kraft schwerem Siechtum ausgesetzt, wenn nicht gar verdorben. Dem mit aller
Macht zu begegnen, hat Preußen jede Veranlassung, und zwar, wenn es
anders nicht ratsam erscheinen sollte, durch schleunigen Gesetzerlaß. Das müßte
auch den Angstmeiern und Satzungsbonzen genügen. Zu empfehlen wäre ein
solches Vorgehn nicht. Zunächst liefe es auf Schnffuug eines Ausnahmegesetzes
hinaus, und das wäre für Deutschland gerade nichts sonderlich Angebrachtes.
Dann stäke darin auch das zwar verhohlene, aber doch unleugbare Zugeständnis,
daß Preußen mit seiner Polensippschaft im gewöhnlichen Wege Rechtens nicht
fertig zu werden vermöchte. Ein solches Armutszeugnis des noch unter Wilhelm
dem Ersten so mächtigen preußische» Staatsgedankens sind die Polen schwerlich
wert. Schließlich und hauptsächlich wäre es rechtlich durchaus verfehlt, aus
einem bestehenden und einer Volksüberzeugnug treffenden Ausdruck gebenden
Gesetze uicht alles herauszuholen, was wirklich darin liegt, und etwa gar statt
dessen zur Herrichtung eines neuen, aber nichts andres sägenden Paragraphen¬
werks zu schreiten. Über einen und denselben Stoff doppelt und dreifach
Gesetze in die Welt setzen, ist das Zeichen eines verfallenden Staats, der
seinen Anordnungen nicht mehr Achtung zu schaffen weiß. Dazu um der
Prächtigen Polen willen gebracht zu werden, wollen sich die Deutschen doch
gründlich verbitten. Das soll die Regierung ihnen nicht bieten. Tue sie ruhig,
was ihres Amtes ist. Das aber ist, die Volksgesetze richtig zu lesen und ihnen
dann von Amts wegen, möchten auch noch so viel Parlamentsschreier darüber
aus ihrem Konstitutionshäuschen geraten, rücksichtslos Geltung zu verschaffen.
Beim Polenrummel gibt es kein Leisetreten und kein Achselzucken mehr.
Da heißt es jetzt zuvörderst: Wohlan, Regierung, voran, nie Iilioär>8, nie falls !
>in Königsplatze zu München sprudelt der Quell Melusinens.
Weißblau und schwarzgelb weht es vor dem Ausstellungsgebäude
von hohen Masten. Moritz von Schwinds Gestalten grüßen in dem
griechischen Tempel von den Wänden und sichren den Beschauer
! in ferne Jugendtage zu der märchenerzählenden Mutter zurück.
Der Meister grüßt uns selbst. Ein bißchen schalkhaft sieht er drein, fast
möchte man glauben, ein Becher edeln Weines habe ihm die Wangen leicht
gerötet. Der Mann hatte gar nichts Muckerisches an sich. Daß trotzdem seine
Kunst den Muckern so wohl gefällt, wenigstens den Muckern der Grenzboten!
Wenn er heute lebte — er wäre wahrscheinlich Mitglied des Goethebundes
und hätte den Künstlern des „Simplicissimus" und der „Jugend" die Be¬
wunderung gezollt, die kein Verständiger ihrer Kunst versagt. Vielleicht im
Stile von Thomas. Künstler sind weich, werden durch Geist und Kunst leicht
bestochen und verzeihen gern, auch wenn sie nicht in der Schule des Lasters
alles verstehn gelernt haben. Er Hütte es vielleicht gar nicht bemerkt, wie sich
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Lebenslust der Großstadtjugend verschlechtert
hat. Er wäre ja sicher kein Schnüffler!
Doch so, als ob er seine eignen Jungen an einem Fenster, hinter dem
die pornographischen Erzeugnisse unsrer Tage neben Eiern und Kuchen prangen,
ruhig die Nasen platt drücken oder mit Kameraden wegen des „Hineingehens"
und Kaufens parlamentieren ließe, so sieht der Mann nicht aus.
Und wenn er in diesen Tagen wiederkäme, die Straßen Münchens durch¬
wanderte und im Vorübergehn an den vielen Stätten, wo nur Erzeugnisse der
Presse oder neben buntem Gifte Griffel und Abziehbilder, Milch und Kuchen
verkauft werden, suchend den Blick über die heitern Ladenbilder schweifen ließe,
ob es ihn dann nicht widerlich berührte, wenn er auf einem hübschen Titel¬
blatte der „Jugend" sein eignes Bild, von seinem Rübezahl und seinem ge¬
stiefelten Kater getragen, fände, ringsum aber — 1.6 ?avoriUQÄ, das „Album,"
das „Kleine Witzblatt," die „Auster," den „Simplicissimus"? Und ob ihm
nicht beim Durchblättern der seinem Andenken gewidmeten Nummer der „Jugend"
die Freude an der seiner Kunst und seiner Person entgegengebrachten Pietät
verdorben würde durch den Jnseratenschmutz, der auch in diese Nummer gekehrt
worden ist, und durch die Athene Porre, die als „Kunst" den „Ritter Sabatier
von Oggersheim" dadurch erbost, daß sie sein nach dem Vorbilde des heiligen
Martinus angebotnes Mantelopfer verschmäht?
Im Verlage des „Kunstwarts" ist eine billige Ausgabe der schönen
Melusine und eine des Märchens von den sieben Raben erschienen. Sie kosten
zwei und anderthalb Mark, sind also so billig, daß auch ein Armer mit einem
kleinen Opfer seinen Durst nach Schönheit und Mürchenzauber stillen kann. Die
fand ich in keinem der kleinen Läden, wo die Kunst der Witzblätter willige
Käufer findet, wohl aber stattliche Hefte mit Titeln wie I.s Nu. Salon 1897
oder „Frauenreiz."
Am Feierabende der Woche wollte ich mich an der zwar nicht modernsten,
aber am innigsten mit den Schwindschen Zeiten verwachsenen und am lautersten
aus Märchenquellen gefüllten Wochenschrift für deutschen Humor, den „Flie¬
genden Blättern," erquicken. Schwind auch hier, seine lieben Gestalten begrüßt
und umringt von den Kindern eines ihm verwandten liebenswürdigen Künstlers.
In der Mitte des Bildes, Melusinen und ihren Gespielen gegenüber, in einem
modernen Gewände mit Linienornamenten, einen modernen Hut auf dem
Madonnenscheitel — Cleo de Merode. Die Ironie des Künstlers ist fein, aber
die Wirkung seines Bildes stört diese Athene Porre. Es gibt anch heutzu¬
tage, wie seine eignen Werke beweisen, noch andre Kunst, deren Göttin mit
reinern, verwandtem Zügen den Kindern Schwinds entgegentreten könnte. Cleo
de Merode kann auch im wallenden Gewände mit dem Künstlerwappen als
Brustschmuck nur als Personifikation der Dirnenkunst unsrer Tage gelten.
Diese Kunst darf aber auch nicht huldigend dem großen Meister und seinen
reinen Schöpfungen nahen, mag sie auch den Kunstmarkt und die Gemüter
geistes- und seelenarmer „Deutscher" beherrschen, wie sie aus dem internatio¬
nalen Hexenkessel unsrer Großstädte aufsteigen.
Die Ausstellung der Werke Schwinds könnte reichen Segen für das deutsche
Volk bringen, wenn die bayrischen Volksvertreter aus den ?vues8 Kslnsinas
so viel Liebe zur Heimat tränken, daß sich zunächst die beiden Gegnergruppen
mit den schwarzen und den roten Farben, in die sich der deutsche Kosmopoli¬
tismus kleidet, daß sich die im Kerne deutschen Männer mit dem international¬
katholischen und dem internationaldemokratischen Programm vereinigten, um den
zügellosen Handel mit literarischem und künstlerischem Gifte zu verurteilen und
ein Schutzgesetz für die Jugend vorzubereiten. Vorderhand droht eine Fort¬
setzung des Kampfes zwischen den beiden Gruppen. Der sozialdemokratische
Abgeordnete Müller hat ihn nach manchem Kampftage in Aussicht gestellt:
„Beim Kultusetat, wo diese Dinge noch zur Sprache kommen werden, auf ein
fröhliches Wiedersehen!"
Um was soll gekämpft werden? Um die Freiheit des künstlerischen Schaffens?
Ist sie gefährdet? Nein, es soll nur die Freiheit des Angebots der literarischen
und der künstlerischen Giftstoffe beschränkt werden. Kein medizinischer Forscher
erhebt Anspruch auf das Recht, seine Versuche, seine Präparate, die Ergebnisse
seiner Forschungen der unreifen Jugend und den übrigen Unmündigen der
Nation zugänglich zu machen. Jeder ist zufrieden, die Teilnahme und den
Beifall seiner Mitarbeiter, der übrigen Vertreter der Wissenschaft und des reifen
Teils der Nation zu finden. Sein Erntesegen kommt der ganzen Menschheit,
vielleicht in Form einer neuen Therapie, eines neuen Mittels zu Anästhesierung,
zugute, ohne daß durch seine Versuche und Präparate Kinder gefährdet
worden wären. Die Pshcho- und Neuropathologen und die Bakteriologen der
Literatur und der Kunst fügen sich diesem ungeschriebnen Gesetze nicht. Sie
gefährden mit ihren Bakterienpräparaten und Krankheitsschilderungen, die An¬
steckungsstoff für Tausende enthalten, in der vermessensten Weise die Gesundheit
des Volkes. Das ungeschriebne Gesetz reicht für sie nicht aus, also muß es
für sie geschrieben werden.
Wirklich gefährdet ist die Reinheit der geistigen Lebensluft, in der unsre
Kinder außerhalb des Hauses und der Schule aufwachsen, und damit die
Freiheit der Erziehung in den Häusern, wo man die widerlichen Witzblätter
als ein die Jugend aufs schwerste schädigendes, die Volkskraft schwächendes
Gift betrachtet. Denn dieses Gift verfolgt, wie die Dinge jetzt liegen, die
jungen Menschen überall. Beim Einkaufen der Kleinigkeiten, die das flinke,
willige Söhnchen oder Töchterchen für den Haushalt aus dem nächsten kleinen
Laden holt, und beim Besorgen der Schreibmaterialien während der ganzen
langen Schulzeit, überall lockt dieses lächelnde Gift unsre Kinder.
Und trotzdem stießen die Männer, die es auf sich nahmen, im bayrischen
Landtage die Einschränkung der Kolportage der Witzblätter und ein Schutzgesetz
für unsre Jugend zu beantragen, auf erbitterten Widerstand.
Die liberale Partei konnte es nicht über sich gewinnen, vorauszusetzen,
daß auf der Seite der Gegner der ehrliche Wille und die Fähigkeit seien, für
das Wohl des ganzen Volkes zu sorgen. Der dem Zentrum angehörende
Abgeordnete Lerno begründete die Forderung, den Kleinhandel mit dem lite¬
rarischen und dem künstlerischen Gifte der Witzblätter schärfer zu überwachen,
hauptsächlich damit, daß er den die Sitten gefährdenden Inhalt dieser Blätter
charakterisierte, daneben aber auf ihre feindselige Kritik der Autorität hinwies.
Sein Gegner, der liberale Abgeordnete Dr. Casselmcmn, gab „für seine Person"
ihm zu, daß eine Gefahr vorliege: „Mir fällt es gar nicht ein etwa für all den
Unflat, wollen wir einmal den Ausdruck wählen Schweinerei, einzutreten, die
mitunter in unsrer Schundliteratur heutzutage auf den Markt gebracht wird."
Doch schwächte er dieses Zugeständnis mit der Forderung: „die »Jugend« und
den »Simplizissimus« nicht mit dieser Schundliteratur auf gleiche Stufe zu
stellen," versagte seine Mitarbeit an der Schaffung eines Schutzgesctzes mit
dem kühlen Versprechen, dem Entwurf eines solchen Gesetzes, sofern es die
Kunst nicht verletze, zuzustimmen, und stellte die ehrliche Absicht seiner Gegner
in Frage, indem er den Schmerz der ihnen von den beiden Blättern beige¬
brachten Witzwunden als Grund ihres Kampfes gegen diese Blätter bezeichnete.
Dann Scherz auf Scherz, und immer wieder
«<7/?«oros ö'«^' ^an^ra /^ve ^««xtt^Löst Axo?ot,->.
Es wird in unserm Parlamente viel zu viel gelacht. In die Besprechung
einer so ernsten Sache passen Scherze schlecht. Werden ernste Fragen durch
die Volksvertreter ohne Ernst behandelt, so verleitet man einen großen Teil
des Bürgertums, die Wichtigkeit dieser Fragen zu unterschätzen.
Der liberale Abgeordnete Dr. Deinhard, der in seiner Antwort auf die
von dem Abgeordneten Lerno mit Ernst und Wärme gestellte Forderung, die
Jugend besser gegen die Giftstoffe der pornographischen Kunst und Literatur
zu schützen, dieses aus ehrlicher Sorge erwachsene Verlangen fast ganz unbe¬
achtet ließ und „die Liberalen aller Schattierungen" mit einer Variation des
Nelsonschen Signals aufforderte, ihre Pflicht im Kampfe für die Freiheit der
Kunst und Literatur zu tun, wurde neunmal durch Heiterkeit, dreimal durch
große Heiterkeit, zweimal durch stürmische Heiterkeit unterbrochen. Ein Scherz
wie der: „In keiner Stadt der Welt werden die Erzeugnisse des Geistes und
der Kuh in demselben Laden verkauft, wie dies in München der Fall ist,"
entfesselte stürmische Heiterkeit. Der Vorschlag, das von dem Abgeordneten
Kohl geforderte Schutzgesetz nicht Isx Kohl-Feilitzsch, sondern le-x Kohl oder
lsx Kohlrabi zu nennen, wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen. Sogar
die ernsthafte Erwähnung der Frösche des Aristophanes erregte Heiterkeit.
Dr. Deinhard gab mehr zu, als ich behauptet habe. Daß nur in München die
Erzeugnisse eines zersetzenden Geistes und der Kuh in demselben Laden verkauft
werden, ist gewiß nicht erfreulich. Aus einer Jugend, die mit solcher Milch
genährt wird, werden nicht Krieger erwachsen, die angesichts des Todes das
Flaggenlied fingen und ihre Pflicht tun, wenn das Vaterland es erwartet.
Es ist befremdend, daß Männer, die nie die Notwendigkeit, das deutsche
Schwert scharf zu erhalten, verkannt und geleugnet haben, den Arm, der es
führen soll, nicht vor schwächenden Krankheiten schützen wollen.
Übrigens kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß es die liberale
Partei, die in Bayern den Reichsgedanken nährt, schwer schädigen muß. wenn
sie mit einer die Pflicht gegen das Vaterland verletzenden Nachsicht den inter¬
nationalen Geschäftsliberalismus, dessen Wärter- und Schaukelverleger die
Pornographie auf den Markt bringen, sowie die von der internationalen
Dirnenliteratur angesteckten heimischen Preßerzeugnisse vertritt.
Mit größerm Ernste hat der sozialdemokratische Abgeordnete Müller in
der Sache gesprochen, wenn er auch ihren Kern, die Forderung eines Schutz¬
gesetzes für die Jugend, nur flüchtig berührte. Er ging nur mit folgenden
Worten darauf ein: „Es ist mir gesagt worden, der »Simplizissimus« sei eine
Gefahr für die Jugend, er enthalte nicht nur pornographische Bilder sondern
auch pornographische Inserate, er sei in jedem Milchladen zu haben, die Kinder
tragen ihn in den Schulranzen nach Hause, und so wird die Jugend vergiftet.
Meine Herren! Derartige Blätter sind nicht für die Kinder geschrieben und
es wird auch wohl eine Ausnahme sein, daß ein Kind derartige Blätter
erhält wie die »Jugend« und den »Simplizissimus«, oder daß sie sie verstehen.
Ich hoffe wenigstens von unsern unter der christlichen Erziehung groß gewordenen
Kindern, daß sie das nicht verstehen werden, und sie brauchen es nicht zu
verstehen, bis die Zeit kommt, wo in ihnen das natürliche Verständnis für
natürliche Vorkommnisse geweckt wird, und es wäre vielleicht gut, wenn über
natürliche Vorgänge nicht so der Schleier der Heuchelei gebreitet wird, wie es
bisher der Fall ist." Es ist wenigstens in München keine Ausnahme, daß
Kinder Blätter wie die „Jugend" und den „Simplicissimus" und weit Gefähr¬
licheres erhalten. Der Abgeordnete Müller kennt München nicht, wenn er so
optimistische Anschauungen hegt. Auf die Gefahr hin, nicht von ihm, aber
von weniger ernsten Gegnern als „Schnüffler" bezeichnet zu werden, will ich
ihm von meinen Beobachtungen einiges mitteilen.
Leidig oft sehe ich von der Trambahn aus in der Theresienstraße, in
der Augustenstraße und in andern von der Ninglinie der Münchner Trambahn
durchzognen Straßen Knaben und Mädchen an Schaufenstern verweilen, die
an Auffallenden, zum Verweilen Einladendem nur die bunten, vielverheißenden
Titelblätter des „Albums," des „Panoramas," des „Kleinen Witzblattes," der
„Auster," des „Simplicissimus," leider auch der „Jugend" enthalten. Leidig
oft sah ich vor einigen Jahren, als mich mein Weg just um die Zeit, wo sich
die Schulen füllen, durch die Schwanthalerstraße führte, Gruppen von Jungen,
die höchstens die Tertia erreicht hatten, vor einem Laden stehen, wo eine
Anpreisung von Aktphotographien für Künstler mit einer Fülle von Proben,
weiblichen Halb- und Ganzakten, umrahmt war. Leidig oft sehe ich in der
Liebfrauenpasfage Jungen aus Mutostopen um einen Nickel Gift für ihre
Phantasie kaufen. Oder enthalten diese Kästen mit den Aufschriften „Sie
taugen nicht für das Nonnenkloster!", „Ein reizvoller Blick in das Damenbad,"
„Die bloßgestellte Gouvernante" unverfängliche Dinge? Bedenkt man, wie
früh bei senstbeln, erblich belasteten Großstadtkindern der Geschlechtstrieb erwacht,
wie früh oft die geschlechtliche und wie spät die sittliche Reife eintritt, so kann
man die Forderung, das Gedeihen und Reifen der Jugend vor der Störung
durch widerliche Produkte gewissenloser Unternehmer zu bewahren, nicht zurück¬
weisen. Kein Parteiprogramm verbietet seinen Vekennern den Schutz der
Jugend. Sind die Kinder der Sozialdemokraten gegen das pornographische
Gift des „Simplicissimus" immun, weil zwischen ihren Vätern und diesem
Blatte in politischen Dingen Übereinstimmung herrscht? Gibt es eine Partei,
die nur für ihre Zukunft, nur für ihre Kinder zu sorgen hat?
Ich verkenne nicht das vielen Erzeugnissen der modernen Literatur eigne,
an Goethes mildes Gedicht „Der Gott und die Bajadere" erinnernde Be¬
streben, das Gold zu zeigen und ahnen und finden zu lehren, das von dem
Schlick der Lebensflut bedeckt auf dem Grunde mancher Seele ruht. Ansätze
dazu finden sich in der „Jugend" und im „Simplicissimus," aber muß man
nicht trotzdem und gerade deswegen die Kinder vor täglichen unvermeidlichen
Begegnungen mit diesen Zeitschriften schützen? Macht das Vorhandensein
dieses Strebens ein alle sittlichen Schäden malendes Erzeugnis der Literatur
geeignet, bei unmündigen Kindern, bei Männern und Frauen verbreitet zu
werden? — Ich bekenne gern, daß mich die Gründe, womit der Abgeordnete
Müller seine Forderung, Prostituierte durch eine Ärztin untersuchen zu lassen,
stützte, sehr wohltuend berührt haben. Nirgends wird er für seine Anschauung
mehr Verständnis finden als in dem Kreise, zu dem die „protestantisch-konser¬
vativ-muckerischen" Grenzboten sprechen.
Der Humanität sollten Parteischranken nicht verschlossen sein. Aufgaben
der Humanität sind international, interkonfessionell und interfccktional. Gleich¬
wohl stählt die Kraft derer, die es auf sich nehmen, an der Lösung jener
Aufgaben zu arbeiten, gerade die Liebe zum eignen Volke oder zur eignen
Konfession oder zur eignen Partei. Ich muß mich zu der ersten Gruppe
rechnen, denn weder eine Konfession noch eine Partei ist in mir lebendig.
Früh schon hat mir die rauhe Hand eines romanisierten Religionslehrers den
Stab geknickt, an dem ich durch das steinige Leben zum Ziele wallen sollte.
Was ich mir aus den Resten zurechtgemacht habe, funde bei keinem Bischof
und bei keinem Konsistorium Billigung. Doch mühe ich mich, ein Christ zu
sein. Ein gütiges Geschick hat mich in Zeiten, wo ich unreif und verbittert
harte Wege gehn mußte, vor dem Gifte der damals noch nicht wennn
wuchernden satirischen Literatur und Kunst bewahrt. So sind mir neue Lebens¬
stützen erwachsen, vor allem die Liebe zu meinem Vaterlande, das alles trägt,
was mir teuer ist, und dessen Erde alles deckt, was mir teuer war. Trifft mich
der Vorwurf der Muckerei mit Recht, wenn ich von den Blüten meines Volkes,
soweit ich es mit schwacher Kraft vermag, den Wurm fernzuhalten suche?
Der Abgeordnete Müller findet es „ganz sonderbar, wenn »Simpli-
zissimus« und »Jugend« in den Ausführungen der »Grenzboten« in Zu¬
sammenhang gebracht werden mit einer Herabsetzung der Wehrhaftigkeit des
Volkes und wenn damit auf Frankreich exemplifiziert wird." Das ist in den
Grenzboten nicht geschehn. Ich habe die Franzosen als die verderblichen Vor¬
bilder der unsre Witzblätter füllenden Schriftsteller und Künstler, nicht aber
als warnendes Beispiel eines an künstlerischer Überreife zugrunde gehenden
Volks erwähnt. Der Gedanke, daß sittliche Entartung die Wehrkraft schädigt,
ergibt sich allerdings aus meinem ersten Artikel. Ausgesprochen wurde er in
den freien zusammenfassenden Zitaten, womit der Abgeordnete Lerno über
jenen Artikel berichtete. Der Gedanke an den Rückgang der Bevölkerung in¬
folge sittlicher Entartung lag mir jedoch ganz fern. Ich dachte nicht an eine
Verminderung der Zahl unsrer wehrhaften Männer, sondern an eine Schwächung
ihrer sittlichen und körperlichen Kraft. Ist es übrigens nicht ein aus der
künstlerischen Überreife der Franzosen erwachsender Zustand, das Bedürfnis
nach Komfort, die Furcht vor der Not, der an dem Rückgange der franzö¬
sischen Bevölkerung wenigstens mitschuldig ist? Mir genügt das in den
folgenden Worten des Abgeordneten Müller enthaltne Zugeständnis: „Will
man mir . . etwa mit der »großen Unsittlichkeit in den französischen Gro߬
städten« kommen und damit beweisen, daß das eine Schuld der Entvölkerung
sei, so ist gewiß der Rückgang der großstädtischen Bevölkerung auch damit ver¬
ursacht, daß sexuelle Krankheiten in hohem Maße in einer gewissen Gesell-
schastsschichte in Frankreich bestehen. Aber das übt ans die Bevölkerung des
ganzen Landes gar keinen bestimmenden Einfluß aus." Ist nicht sogar diese
optimistische Auffassung der französischen Verhältnisse, die angesichts des hin und
her flutenden Verkehrs zwischen den Sitzen der Schulen, Kasernen und Fabriken
und den ländlichen Menschenquellen schwerlich aufrecht erhalten werden kann,
genügend, maßvolle Forderungen, die zur Sicherung unsrer Volkskraft gestellt
werden, zu rechtfertigen? Weckt nicht der Umstand, daß der Abgeordnete
Müller die „Auster" „ein wirklich pornographisches Blatt" nannte, in vielen
sozialdemokratischen Familienvätern den Wunsch, ihre Kinder vor dem Gifte
dieses Blattes geschützt zu wissen? Rege wird dieser Wunsch in vielen Herzen,
aber laut wird er bei Tausenden und Abertausenden von Männern aller Par-
leim nicht. Wenn wirklich der größte Teil des gebildeten deutschen Publikums
den „Simplicissimus" geradezu für unentbehrlich hält, wie der Abgeordnete
Müller meint, so tut er das aus Indolenz oder Feigheit.
Es drückt zu viele deutsche Männer das Bewußtsein, daß sie in jungen
Jahren in maßlosem Genusse das Recht, diese sittlichen Schäden zu bekämpfen,
verscherzt haben, und daß sie es immer wieder in reifen und alten Tagen auf
der Metbank verscherzen. Wie wüchse die Zahl der Streiter gegen die Feinde
unsrer Jugend, wenn dieser Druck nicht viele sonst tüchtige Männer verhin¬
derte, an dem Kampfe teilzunehmen, und wenn der Stammtisch nicht wäre
mit seiner „blonden Jda," irgend einem armen Mädchen, dessen Blüte junge
oder alte Wüstlinge gebrochen haben, und das nnn unbewußt die beleidigte
Würde seines Geschlechts rächt, indem es nur durch seine Anwesenheit oder
durch Koketterie die Zote nährt, die alles Gute und Schöne, was sonst aus
froher Geselligkeit erwachsen könnte, erstickt, sonst ernste Männer entwürdigt,
sonst gewissenhafte Diener des Staats zur Gefährdung der Volkskraft ver¬
führt. Wie viele Stammtische gibt es im weiten Deutschen Reiche, an denen
nicht „Erzählungen für die reifere Jugend," ekelerregende Verse von dem
Wirtshaus an der Lahn, Mikvschgeschichtcn und andre Widerwärtigkeiten Tag
für Tag erzählt und sogar von denen belacht werden, die dabei schamrot
werden, weil sie sich nicht zornrot zu werden getrauen. Denn oft genug sind
es ältere Leute, Vorgesetzte, die in dieser Weise die Geselligkeit entweihn. .
Aber mächtiger noch als der Respekt vor dem Alter und der amtlichen
oder gesellschaftlichen Würde fesselt die Furcht vor der Lächerlichkeit, die stärkste
Form der Feigheit, den Widerspruch. So vermögen die Vertreter jener ge¬
fährlichen Erzeugnisse der Presse einen weit wirkenden Terrorismus aus¬
zuüben. Denn nichts fürchtet der Gebildete mehr, als des verzeihlichsten und
verbreitetsten Mangels, des Mangels an Kunstverständnis, geziehen zu werden.
So strecken die meisten vor allem, was sich Kunst nennt, nicht nur die
Waffen der ästhetischen und technischen, sondern auch der moralischen und
politischen Kritik.
Die Konfiszierung der Nummer 42 des „Simplicissimus" war in diesem
Augenblicke ein Mißgriff, der die Verständigung zwischen den in allen Par¬
teien vorhandnen Männern, in deren Herzen unter dem Gestrüpp der Partei¬
wünsche die Liebe zum Vaterlande schüchtern blüht, noch schwieriger macht,
als sie ohnehin schon war.
So bleibt es vorderhand dabei: Oorruioxere et oorrumpi s^evuluni
vooawr. Wie lange noch? Das goldne nee, das Tacitus diesen Worten vor¬
setzen konnte, wann wird es wieder wahr?
Wann steigt dem deutschen Michel die Zornesröte in die Wangen über
die Frechheit, womit die Zote die deutsche Frau leise und laut umkichert und
umwiehert? schamrot zu werden über diesen Frevel, dazu hat er nicht mehr
Zeit, nur noch zum Dreinhauen. Wer von den Neichsboten reicht ihm dazu
die Waffe, seis Hammer oder Schwert?
> uf den ersten Blick scheint es, als sei in Frankreich von jeher ein
starkes allgemeines Interesse für Goethes Faust vorhanden ge¬
wesen, und als sei es noch vorhciuden. Denn nicht weniger als
etwa fünfundzwanzigmal ist er seit dem Jahre 1823, da Stapfer
Idie Reihe eröffnete, ins Französische übersetzt worden. Es kommt
also im Durchschnitt auf jedes dritte Jahr ein neuer Versuch. Diese Mittler
Goethischen Geistes trugen zum Teil Namen vom besten Klänge; sie haben
sich auf die verschiedenste Weise, mit mehr oder weniger Beruf und Erfolg
bemüht, die größte deutsche Dichtung ihren Landsleuten zu eigen zu machen.
Und daneben fehlt es in Frankreich nicht an Schriften und Aufsätzen über
Goethes Faust und an Zeugnissen dafür, wie tief die Dichtung auf manchen
Franzosen gewirkt hat. In A. Serre haben unsre Nachbarn gar einen „Goetho-
mcmen," wie er auch in Deutschland selten ist; er hat sich ans Goethes Faust
eine eigne, absonderliche Weltanschauung herausdestilliert.
Aber die Zahl dieser einzelnen für den Faust begeisterten Franzosen darf
nicht täuschen. Wohl nur in der Zeit der französischen Romantik haben weitere
Kreise der Franzosen tiefern Anteil am Faust genommen, dessen Kenntnis
ihnen namentlich die Übersetzungen von Gerard de Nerval und Blaze de Bury
vermittelten. In unsern Tagen zumal ist das Interesse dafür recht matt
geworden; man findet das äußerlich dadurch bestätigt, daß es keine Über¬
setzung der letzten Jahrzehnte auf eine neue Auflage (von Ausgaben abgesehen)
gebracht hat. Die Bemühungen der Franzosen um Goethes Faust sind bei
uns in Deutschland meist aufmerksamer betrachtet, lebhafter begrüßt worden, als
in Frankreich selbst, und wir haben uns gewöhnt, mit Spannung zu beobachte»,
ob wohl den Franzosen das schwierige Problem gelingen werde, das Gedicht
in ähnlicher Weise für ihre Literatur zu gewinnen, wie etwa Voß den Werken
Homers, Schlegel und Genossen den Dramen Shakespeares, Gildemeister den
Dichtungen Byrons bei uus Bürgerrecht verschafft haben. Die Frage, inwie¬
weit überhaupt über das Formelle hinaus die Goethische Dichtung dem roma¬
nischen Geiste vermählt werden könne, soll hier nicht erörtert werden.
Auf der französischen Bühne ist Goethes „gespenstiger Doktor" von
jeher nur in Vermummungen, zumeist gar in den bizarrsten Verzerrungen,
in ernsten und komischen Opern, Oratorien, Vaudevilles, Balletts, „phan¬
tastischen" und „metaphysischen" Dramen erschienen, nie aber anch nur
entfernt in der ihm vom Dichter gegebnen Gestalt. Und heute kennt der
größte Teil der gebildeten Franzosen ihn nur aus der Gouuodschen Oper,
aus Berlioz Dg-miiMoii as ?g.use, die man in der letzten Zeit in Frank¬
reich als den Gipfel aller dramatischen Musik zu preisen liebt, und
durch die Schefferschen und Tissotschen Bilder. Von einer auf tieferen Inder-
esse beruhenden Kenntnis des Goethischen Faust sind sie vielleicht weiter
entfernt als je. Die letzten Übersetzungen konnten, wie schon erwähnt
worden ist, nur wenig Boden finden, und in der Ursprache haben wohl
nur Auserwählte jenseits des Rheins den Faust gelesen, verstanden und ge¬
nossen. In französischen Zeitungen ist das in der letzten Zeit wieder un¬
umwunden zugegeben worden, und die Artikel, in denen es geschah, sprechen
selbst zur Genüge dafür. Wirkliches Verständnis für die Dichtung findet man
kaum darin. Von den frühern Übersetzungen ist den meisten Kritikern nicht
viel bekannt: im ?emxs las man, es gebe deren nur wenige; außer Schul-
übersetzungen in Prosa, meint gar ein andrer, funde man keine. Im ?edle
?g.risi6n wird der historische Faust immer noch mit dem Buchdrucker Fühl
verwechselt und den Lesern aufgebunden, daß Goethe Fusts angebliche Flucht
aus Paris im Jahre 1462 als Kern seiner Dichtung benutzt und das andre
hinzuerfunden habe. Die Idee des Faust findet wieder ein andrer im Konflikt
zwischen Wissenschaft und Liebe, den „Angelpunkten des modernen Lebens"!
Und der wilde Drumont greift in seiner liibrs ?aro1s gar auf die schamlose
Verunglimpfung Goethes zurück, die Dumas im frischen Nachgefühl des Krieges
vor dreißig Jahren der Bacharachschcn Faustübersetzung vorangeschickt hatte.
Auch Ed. Roth vor einigen Jahren erschienenes Buch über oder besser gesagt
gegen Goethe mag als Symptom dafür gelten, wie es zurzeit mit der
Würdigung unsers größten Dichters in Frankreich steht.
So dürfen wir denn im Interesse unsers Nachbarvolkes jeden neuen
Versuch, Goethes Faust in Frankreich einzubürgern, begrüßen, und wir freuen
uns, heute wieder über einen solchen*) berichten zu können. Die letzte, ver¬
ständnisvolle, aber gar zu nüchterne und steifleinene Übersetzung war die des
französischen Schweizers Georges Pradez, der bald nach dem Erscheinen seiner
Arbeit (1895) in faustischem Alter die Augen schloß. Seine verwitterten, geist¬
vollen Züge habe ich noch in lebhafter Erinnerung. Auf den Greis ist nun
ein junges Mädchen gefolgt, Fräulein Suzanne Paquelin, die Tochter eines
bedeutenden Pariser Arztes, der über die Grenzen seines Landes hinaus als
Erfinder eines nach ihm genannten medizinischen Brennapparats wohl be¬
kannt ist. Einer der besten französischen Verleger, Lemerre, hat den neuen
Faust nach seiner Gewohnheit in ein feines Gewand gekleidet. In demselben
Verlage erschien vor zwölf Jahren die Benoitsche Übersetzung, die Anatole
France rühmend bei seinen Landsleuten einführte.
Am Ende einer langen Reihe steht Fräulein Paquelin nun als erste
französische Faustübersetzerin. (Frau von Stael kann als solche natürlich nicht
gelten.) Seit ihrem zwölften Lebensjahre ist Goethe ihr, besonders als der
Schöpfer des Faust, als das höchste Ideal eines Dichters erschienen, und
ihrer Begeisterung für ihn hat sie durch die Übertragung des „heiligen
Originals" in ihre Muttersprache Ausdruck gegeben. Die erste Hälfte ihrer
Arbeit liegt vor uns; mit der Übersetzung des zweiten Teils ist Fräulein
Paquelin noch beschäftigt. Für die Würdigung der Dichtung in Frankreich
beabsichtigt sie durch die Einführung ihres Buches in möglichst viele öffent¬
liche Bibliotheken noch in besondrer Weise zu wirken.
Vor so viel anmutiger und pietätvoller Begeisterung möchte man am
liebsten von vornherein das kritische Messer senken. Aber Fräulein Paquelin
bedarf durchaus nicht etwa besondrer Nachsicht, denn innerhalb des selbst¬
gesteckten Nahmens hat sie ihre Aufgabe in sehr anerkennenswerter Weise ge¬
löst. Dieser Rahmen freilich ist verhältnismäßig eng. An die von so manchen
Vorgängern erstrebte Lösung des Problems, wenn man so sagen darf, eine
textgenaue und überall sinnvolle Wiedergabe mit künstlerischer, dem Genius
der französischen Sprache und Prosodie nicht zuwiderlaufender Form zu ver¬
binden, hat sie nicht versucht, und auf das metrische Gewand hat sie verzichtet.
Peinliche Treue gegenüber dem Texte war ihr vornehmstes Ziel, und deshalb
gibt sie Vers für Vers möglichst in derselben Wortfolge, auch non SW»
quelauss rössrvLs die vulgären und grobkörnigen Ausdrücke, nach dem Original
wieder. Nur einige Gocthische Gedankenstriche hat sie durch Wörter aus¬
gefüllt, der derbsten einen allerdings zu harmlos ausgedeutet. Fräulein Pa¬
quelin meint, daß die von ihr gewählte Art der Übersetzung noch nicht ver¬
sucht worden sei, aber sie unterscheidet sich von der Benoitschen Übertragung
äußerlich doch eigentlich nur durch die in der letztern fehlende Abteilung
der Verse. Fräulein Paquelin hat sich erfolgreich bemüht, trotz des Zwangs,
den die wörtliche Übersetzung ihr auferlegte, eine dichterisch erhöhte Sprache
anzuwenden, und hat nicht selten den Eindruck freier Rhythmen hervor¬
gerufen. Mattheiten und Plattheiten hat sie zu vermeiden gesucht, aber
der Verzicht auf die metrische Form hat es doch mit sich gebracht, daß man
ohne ihr Verschulden hie und da an das Wort von Cervantes erinnert wird,
ein Werk in einer Übersetzung lesen sei wie einen Teppich von der Rückseite
betrachten. Und je schöner der Teppich, um so stärker der Kontrast. Dafür
aber hat Fräulein Paquelin vor den metrischen Übersetzern des Faust voraus,
daß Reim und Versmaß sie niemals im Ausdruck beengen, sie nicht zwingen.
Feinheiten der Dichtung unter den Tisch fallen zu lassen oder, um getreu zu
sein, ihre Sprache in spanische Stiefel zu zwängen. Ihre prosaischen Vor¬
gänger dagegen übertrifft sie darin, daß sie durch ihre gute Kenntnis des
Deutschen, ihr feines Sprachgefühl und tiefes Verständnis für die Dichtung
deren Sinn weit mehr gerecht wird, daß sie Hindernisse nicht umgeht, sondern
zu überwinden sucht, daß sie Gedanken durch Gedanken wiedergibt und um¬
schreibt, wo frühere Übersetzer Wort für Wort übertrage« haben und not¬
wendig unverständlich bleiben mußten.
Bei Übersetzungen, die die künstlerische Form betonen, wäre es kleinlich,
Irrtümer und Ungenauigkeiten im einzelnen aufzuspüren und auszunutzen.
Die Schlegel - Tiecksche Shakespeareübersetzung war eine hervorragende Tat
trotz ihrer wahrlich nicht wenigen Fehler. Eine Übersetzung aber, die sich die
Wiedergabe der Bedeutung und der Bedeutungen eines Werks auch im ein¬
zelnen als Ziel setzt, wird man genau daraufhin ansehen dürfen, inwieweit
ihr Verfasser überall in den Geist des Originals eingedrungen ist und dessen
Sprache bemeistert hat. Insbesondre wir Deutschen haben die Berechtigung,
die neue Übersetzung sachlich zu prüfen; in bezug auf die Form, bei deren
Beurteilung für den Fremden Zurückhaltung geboten ist, mag hier für uns
das Urteil mancher Franzosen sprechen, die Fräulein Paquelins Sprache als
im besten Sinne französisch bezeichnet haben.
Auch von unserm Standpunkt aus muß gesagt werden, daß die Über¬
setzerin im ganzen ihrer Aufgabe durchaus gewachsen gewesen ist. Man spürt
überall, daß sie in den Geist und den Sinn der Dichtung eingedrungen ist,
und daß sie sich mit Hilfe deutscher Kommentatoren — namentlich Schroers,
wie es scheint — auch durch das Faustgestrüpp redlich durchgearbeitet hat.
Durch Anmerkungen, die allerdings für französische Leser wohl noch zahlreicher
hätten sein können, sucht sie das auch ihren Landsleuten zu erleichtern. Ganz
freilich ist Fräulein Paquelin der Schwierigkeiten unsrer Sprache nicht Herrin
geworden. Namentlich die Umgangsphraseologie: jemandem etwas zum besten
geben, was rechtes, wie sie kurz angebunden war — eine berüchtigte Klippe für
französische Fanstübersetzer! —, seine liebe Not haben, mörderlich Geschrei u. ü.,
ist ihr nicht immer geläufig, und sie gibt deshalb formelhaft gewordnes gern zu
bestimmt wieder. Es finden sich ferner Beziehungen auf eine falsche Person,
auch ist die Dynamik des Ausdrucks hie und da nicht getroffen, er ist übermäßig
abgeschwächt oder zu sehr verstärkt worden. Die für den Franzosen manchmal
recht schwierigen Goethischen Satzkonstruktionen finden wir meist richtig auf¬
gedröselt, nur bei der im Faust nicht seltnen bindewortlosen Verknüpfung zwischen
Haupt- und Nebensatz ist das nicht immer gelungen. Durch solche Verstöße,
wie auch gelegentlich durch falsche Deutung des deutschen Textes, ist der Sinn
an einigen Stellen — wenn auch nirgends gröblich und weitwirkend — ge¬
stört worden. Schade, daß Fräulein Paquelin, wohl aus verzeihlichen Selb-
ftändigkeitsdrange, ihre Vorgänger nicht benutzt zu haben scheint; sie hätte sich
über manche Schwierigkeit hier beim einen dort beim andern Rats holen können.
Aber diese UnVollkommenheiten sind nicht allzu zahlreich. Wenn in einer zweiten
Auflage die Mängel ausgemerzt sein werden, werden die Franzosen eine
Faustübersetzung haben, die an Genauigkeit kaum übertroffen werden kann.
Und damit ist Fräulein Paquelin eine ehrenvolle Stellung in der langen
Reihe ihrer Mitstrebenden gesichert.
Dabei darf aber doch nicht verkannt werden, daß die neue Faustübertraguug
gegenüber den besten frühern nur bedingt einen Fortschritt bedeutet. Das
Ziel bleibt eine metrische Übersetzung, die dem deutschen und dem französischen
Standpunkte gleichermaßen genügt. Sabotier ist nahe herangekommen; seine
Übersetzung ist namentlich in Deutschland bei ihrem Erscheinen von Berufnen
und Unberufnen und jüngst noch wieder mit besonderm Pathos in einem wenig
ergiebigen Buche von M. Lcmgkavel über die französischen Faustübersetzungen
gepriesen worden. Aber indem sich Sabntier auf die Goethischen Versmaße
festlegte, wandte er zum Teil Formen an, die der französischen Prosodie nicht
nUr den „Regeln" nach zuwiderlaufen, und spannte seine Sprache oft auf ein
Prokrustesbett. Zudem war er dadurch gezwungen, auf die Wiedergabe mancher
für den Gesamtsinn zwar entbehrlichen, aber doch nicht unwichtigen Feinheiten
zu verzichten. Es hieß jüngst, Edmond Rostand wolle den Franzosen eine
neue Übersetzung des Faust schenken. Von seiner Formenkunst dürfte man wohl
vortreffliches erwarten. Sei es nun Rostand oder ein andrer, dem es beschieden
sein wird, die reiche Mühe so mancher Vorgänger zu krönen — sollte er wie
die meisten seiner Landsleute mit der deutschen Sprache auf gespanntem Fuße
stehn, so wird ihm Fräulein Paquelins Arbeit eine sehr wertvolle Hilfe sein.
Dieses künftigen also wollen wir warten. Zunächst aber freuen wir uns,
daß die Franzosen nun aufs neue in so trefflicher Weise auf den Faust hin¬
gewiesen werden. Zur Zeit arbeitet Fräulein Paquelin, wie wir schon sagten,
auch an der Übertragung des zweiten Teils, dem die frühern vier Übersetzer
gar zu viel schuldig geblieben sind. Man darf gespannt darauf sein, wie sie
diese weit schwierigere Hälfte ihrer Aufgabe bewältigen wird. Zumal nach
dem Erscheinen des zweiten Teils, der in Frankreich so gut wie völlig unbe¬
kannt ist, werden nach dem Lesen der Übersetzung oder gar, dadurch angeregt,
nach dem Studium des Urtextes hoffentlich viele Franzosen mit Staunen er¬
kennen, daß im Faust doch ganz etwas andres beschlossen liegt, als das
jämmerliche Libretto ahnen läßt, zu dem Gounot eine so schöne Musik ge¬
sch
in der Klabunkerstraße zu Hamburg sah es im September nicht viel
anders aus als im Juli. Es war allerdings nicht so staubig und
heiß; wenn Tiras jetzt mit dem Milchkarren kam, dann brauchte er
die Zunge nicht mehr ganz so lang aus dem Halse hängen zu lassen.
Die wenigen Sträucher in Madame Heinemanns Garten hatten schon
I längst ihre Blätter verloren, und was hier und dort sonst noch seine
Zweige ausbreitete, war schwarz von Kohlenstaub. — In diesem Jahre schien die
Herbstsonne mit großer Beständigkeit, und um die Mittagszeit saßen Jetta und
Irmgard noch oft in Madame Heinemanns Garten, sprachen mit dem Milchmann,
oder mit Tante Rosalie, oder halfen im Laden.
Jetta is grasig klug! sagte Madame Heinemann zu ihrer Schwester, und diese
nickte ernsthaft.
Es erscheint mir auch. Wir wollen hoffen, daß es so bleibe.
Mamsell Drümpelmeier sprach immer etwas gewählt, selbst jetzt, wo sie, wie
sie es ausdrückte, in Anfechtung lebte. Seit dreißig Jahren hatte sie tagtäglich,
mit Ausnahme der Feiertage, genäht, geflickt und auch gestickt. Nun wollten die
Augen nicht mehr.
Pausieren! sagte der freundliche Augenarzt, der sie genau untersuchte. Sie
müssen aufs Land, liebes Fräulein, und Blumen pflücken.
Rosalie Drümpelmeier seufzte.
Herr Doktor, wenn es erlaubt ist zu sagen, so habe ich keine Bekanntschaft
auf dem Lande. Und dann auch — ihr feines, faltiges Gesicht rötete sich.
Der Doktor verstand sie.
Sie können den Verdienst nicht entbehren?
So ist es, Herr Doktor.
Nun empfahl er ihr vor allen Dingen Schonung und Vorsicht; aber Rosalie
merkte an seinem Gesicht, daß er ihr wenig Hoffnung gab, auf diese Weise das
Augenlicht zu erhalten. Von nun an machte sie sich doch gelegentlich von der
Näharbeit frei, saß im Garten und spielte mit Elisabeths Kindern. Im Sommer
ging das auch; aber wenn der Winter jetzt kam mit seiner Kohlenrechnung, seinem
Petroleumverbrauch, dann mußte Rosalie wieder mehr verdienen.
Mit ihrer Schwester sprach sie nicht über ihre Sorgen; aber als sie einmal
Elisabeth geholfen hatte, die Kinder zu Bett zu bringen, kam es über sie, daß sie
laut ausweinte. Und dann sprach sie sich aus.
Wenn ich nur nicht blind werde, Frau Wolffenradt!
Die junge Frau tröstete sie in ihrer ruhigen Weise, und während sie sprach,
sah Rosalie in das feine, schmal und ernsthaft gewordne Gesicht.
Nehmen Sie meine Trübsal nicht übel. Frau Wolffenradt. Sie haben auch
Ihr Teil zu tragen, und Sie quälen keinen Menschen damit!
Elisabeth mußte ihr Teil tragen. Wolf hatte seit Wochen nur die flüchtigsten
Karten geschrieben, und alle ihre Fragen ließ er unbeantwortet. Jeden Tag bekam
Elisabeth beim Anblick des Briefträgers Herzklopfen, und jeden Tag wurde sie
enttäuscht. Und wenn eine Karte kam, war die Enttäuschung fast noch bitterer.
Niemals ein Wort der Liebe, des Trostes, der Sehnsucht. Ich bin gesund, du
hoffentlich auch! Das war alles.
Manchmal kam eine lähmende Angst über die junge Frau; dann aber warf
sie den Gedanken weit von sich. Nein, Wolf war gut; er konnte sie nicht ver¬
lassen — er hatte sie doch geliebt; und die Liebe verging nicht.
Wenn Elisabeth zu Herrn Müller ging, lag oft die Klabunkerstraße im Sonnen¬
schein. Die spitzen Giebel ihrer Häuser steckten die Köpfe zusammen, und vom Hafen
her klang das Pfeifen der Schiffe. Bei Herrn Müller stand jetzt oft ein Fenster
offen; er aber saß in der dunkelsten Ecke und empfing seine Vorleserin rin un¬
freundlichem Brummen.
Die junge Frau konnte sich schwer an seine Art gewöhnen; aber die vier Mark
täglich vermochte sie nicht zu entbehren. Besonders jetzt nicht, wo sie wußte, daß
sie bald eine Zeit lang nichts verdienen würde. Sie gab jetzt auch in der Familie
eines Krämers abends Nachhilfestunden; aber die Kinder Waren wild und unartig
und machten sie nervös.
An einem Montagmorgen schalt Herr Müller mit ihr. Er ließ sie jetzt Bücher
aus der Leihbibliothek vorlesen, und sie hatte den zweiten Band eines fesselnden
Kriminalromans nicht erhalten können. Dazu kam am Montag keine Zeitung, und
Herr Müller saß also auf dem Trocknen.
Wenn Sie sich nicht mehr Mühe geben, werde ich mir eine andre Vorleserin
suchen! sagte er zornig.
Der Band war doch nicht vorrätig, entschuldigte sich Elisabeth.
Schweigen Sie! Sie lügen ja doch nur! Alle Frauen lügen!
Herr Müller —
Sie sind entlassen! schrie er sie an. Meinen Sie. daß Sie mir widersprechen
dürfen?
Entlassen. Elisabeth saß am offnen Fenster der dunkeln, hohen Stube, und
die spitzen Giebelhäuser tanzten vor ihren Augen auf und nieder. Entlassen. Keine
vier Mark täglich mehr. — In der Ferne stieg ein Gespenst vor ihr auf, mit
hungrigen Augen und wimmernden Munde.
Langsam ging Elisabeth die Treppen hinunter. Herr Müller rief hinter ihr
her; sie hörte es nicht. Sie ging über die Straße in ihre Terrasse. Die Kinder
waren nicht da; sie saßen im Gärtchen der Frau Heinemann; sie sollte sie erst um
zwölf Uhr holen.
Mit einer gewissen Neugierde setzte sie sich und sah sich in ihrem Zimmerchen
um. Wie lange noch würde das kleine Sofa an seiner Stelle stehn, die Stühle,
der Schrank, und hinten im Schlafzimmer die Betten der Kinder? Sie kannte
schon das Pfandhans und den schlechtgekleideten Mann, der an den Etagentüren
klingelte und Bettzeug und Wasche kaufen wollte. Er gab nach seiner Versicherung
die besten Preise. Und sie sah das Zimmer leer werden und ihre Kleinen immer
blasser und hungriger. Bis ganz zuletzt —
Sie wohnen schrecklich hoch, Frau Wolsfenradt! sagte Herrn Müllers brummige
Stimme. Er war ihr nachgegangen bis in ihr Zimmer, und hier, bei den kleinen
Leuten, gab es keine verschlossenen Haustüren.
Schrecklich hoch! wiederholte er, während er sich setzte und sich umsah. Warum
sind Sie so empfindlich, Frau Wolsfenradt? Wer für Lohn arbeitet, darf nicht
empfindlich sein.
Sie haben mich entlassen, erwiderte Elisabeth müde.
Er ruckte an seiner blauen Brille und nahm sie endlich ab.
Den andern Vorleserinnen mußte ich ein dutzendmal kündigen, ehe sie über¬
haupt wegblieben. Sie dagegen rennen davon, als wäre der Böse hinter Ihnen.
Wer ist der Mann?
Herr Müller zog Wolfs Bild zu sich und betrachtete es. Es hatte ein neues
Glas erhalten; aber es war ein billiges, das die Züge der Photographie nicht
veredelte.
Es ist ein Bild meines Mannes
Prüfend schob Herr Müller das Bild hin und her.
Also das ist er, Rosalie Drümpelmeier hat mir von ihm erzählt. Er ist ein
vornehmer Herr, und ist auf Reisen gegangen. Vornehme Herren gehn manchmal
auf Reisen. ^
Ich erwarte, daß mein Mann bald heimkehren wird! sagte Elisabeth mit
Fassung.
Heimkehren? Herr Müller sah sich in dem einfach eingerichteten Zimmerchen
um. Glauben Sie wirklich, daß dieser vornehme Herr die Panlinenterrasse oder
die Klnbunkerstraße seine Heimat nennen wird?
Wieder betrachtete er das Bild.
Er hat einen schwachen Mund. Solche Lippen können von Liebe sprechen;
aber wenn dann der Sturm kommt — der Sturm — Er wiederholte das Wort,
und sein Gesicht wurde düster. Ich habe eine Frau gekannt, die lief ihrem Manne
davoir, weil ihr gesagt worden war, er hätte gestohlen. Er hatte es nicht getan.
Er war ehrlich; und der Spitzbube, der dem Weibe ins Ohr flüsterte: Komm mit
mir, dein Mann ist ein Dieb, der war der Schuldige!
Langsam legte er das Bild aus der Hand und setzte sich schwerfällig.
Gerade in diesen Tagen ist es zwanzig Jahre her, daß meine Frau mir
davongelaufen ist. Mit einem Manne, dem ich wohlgetan hatte. Sein Dank war,
daß er mich verleumdete und meines Weibes Herz vergiftete. Noch heute steht er
geachtet da; und der Frau, die mir die Treue brach, geht es gut an seiner Seite.
Das ist die Gerechtigkeit im wirkliche» Leben, und deshalb glaube ich nicht an sie.
Aber in Büchern wird der Verbrecher bestraft. Er wird geköpft, gehängt, oder er
sitzt im Gefängnis. Und wenn die Welt sein Verbrechen nicht bestraft, dann be¬
straft er sich selbst und kann die ganze lange Nacht nicht schlafen. Deshalb liebe
ich die Bücher mit den Verbrechergeschichten. Der Böse wird in ihnen gepeinigt;
in der Wirklichkeit aber ist es anders. Ich verlor alles, was ich lieb hatte, und
hatte kein Unrecht getan; aber ich liege Nachts wach im Bett und wünsche mir
den Tod!
Er schwieg und sah Elisabeth an. Sie wußte nichts zu sagen, als daß sie
seine Hand faßte.
Man muß Geduld haben! sagte sie endlich.
Er lächelte bitter.
Zwanzig Jahre lang habe ich Geduld gehabt und auf die Bestrafung der
beiden gewartet. Aber sie kommt nicht. Sie sind glücklich, und ich bin elend. Ich
heiße der langweilige Herr Müller, und sie werden vielleicht unterhaltsam und
fröhlich genannt.
Glauben Sie wirklich, Herr Müller, daß es ein Glück gibt, das auf dem
Unglück andrer erbaut ist?
Er lächelte finster.
Am eignen Leibe habe ich es erfahren! Zwanzig Jahre! Hören Sie nicht?
Vor zwanzig Jahren lief meine Frau mir davon, und noch lebt sie glücklich mit
ihrem Verführer! Wo ist da Gottes Gerechtigkeit?
Ehe Elisabeth antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Jetta erschien auf
der Schwelle.
Mulli, Onkel Louis sagt, dn bist hier. O, Mulli. er hat nicht gelogen!
Sie zog Irmgard hinter sich her und blieb dann überrascht vor Herrn
Müller stehn.
Dich kenne ich aber gar nicht!
Ich dich auch nicht! erwiderte er unfreundlich.
Das ist Herr Müller, dem ich immer vorlese.
Der langweilige Herr Müller? Jellas Augen strahlten. Ach, bitte, Herr
Müller, wie kommt es, daß du immer so langweilig bist?
Wie kommt es? plapperte Irmgard nach und legte ihr fettes Händchen auf
sein Knie.
In sein gefurchtes Gesicht kam es wie ein Lächeln. Dann stand er auf.
Frau Wolffenradt, ich will Sie nicht länger aufhalten, und morgen kommen
Sie zum Vorlesen!
Als er gegangen war, fand Elisabeth in ihrem Nähkörbchen die vier Mark,
die sie mit Vorlesen heute verdient haben würde, und eine Quittung war ihr nicht
abverlangt worden.
Nachdenklich stand Elisabeth vor dem Bilde ihres Mannes. Hatte er wirklich
einen so schwachen Mund?
Als sie am andern Tage zu Herrn Müller kam. saß er wieder unbeweglich
in seiner Sofaecke, und da der zweite Band des Romans angelangt war, so konnte
Elisabeth mit frischen Kräften an die Arbeit gehn.
Nach einer Stunde aber gebot Herr Müller ihr Einhalt.
Nun erzählen Sie etwas von sich und Ihren Kindern! befahl er. Ich fürchte,
im Buch geht doch nicht alles so, wie es sein müßte.
Die junge Frau kam in Verlegenheit. Sie war nicht gewohnt, von sich zu
sprechen, und hatte wenig Zeit, an sich zu denken. Aber dann empfand sie Mit¬
leid mit dem einsamen Manne in seinen zornigen Gedanken. stockend begann sie
zu berichten. Von ihrer Kindheit, ihrer Mutter, der sorglosen Jugendzeit und
ihrer Liebe. Sie sprach leise, halb entschuldigend; dann, als sich ihre Gedanken
der Vergangenheit zuwandten, kamen die Worte schneller, eifriger. Sie vergaß,
wer ihr zuhörte, und es war wie eine Aussprache. Es war ihr, als wäre sie
allein in dem dunkeln Zimmer, und nur Gott hörte von dem, was in den Tiefen
ihrer Seele an Trauer und Sehnsucht ruhte. Die Uhr schlug zwölf. Elisabeth
vernahm es nicht; aber Herr Müller stand plötzlich vor ihr und legte ihr Honorar
vor sie hin.
Machen Sie, daß Sie nach Hanse kommen! sagte er kurz. Sonst warten
die Kinder zu lange mit dem Essen!
Als Elisabeth vor ihrer Wohnung angelangt war, dachte sie halb im Traum
darüber nach, was Herr Müller gehört und was er vielleicht nicht gehört hätte;
aber da stand Alois Heinemann mit seinem lachenden, sorglosen Gesicht vor ihr.
Er nahm den Hut vom Kopf.
Gnädige Frau, heute Mittag zwei Uhr Rendezvous an der Sankt Pcmli-
Landungsbrttcke! Mit Kind und Kegel!
Er machte noch eine Verbeugung und lief dann davon, während seine Mutter
kopfschüttelnd hinter ihm herkam.
So is er nu, Frau Wolffenradt. Gleich muß er Unsinn machen und kann
kein vernünftiges Wort sagen. Wo er ein Bild von meinen Apfelbaum gemalt
und for einhundertundfufzig Mark verkauft hat. Is es zu denken? Den lumpigen
Apfelbaum in mein Garten, for den mich der Tischler mal drei Mark geboten hat,
und denn sagt er, hätt er Schaden bei, und Louis kriegt for son Bild einhundert¬
undfufzig!
Sie schüttelte den Kopf, strahlte aber doch vor Freude.
Nu sollen wir ja alle nach Blankenese, Frau Wolffenradt. Mitn Staber
Dampfer, und denn Kaffee bei Sagebiel. Kuchen nehmen wir mit in ne Tute.
Louis wollte es nich; ich aber sag: Mein besten Jung, verswenden kannst noch
immer. Ist »ich wahr, Frau Wolffenradt? Sie abers müssen mit oder die Partie
sein, und die klein süßen Görms. Die Zimmertüreus werden abgeflossen, und
bei mich kommt ein Zettel: Wegen Jnventuraufnnhme geschlossen. Ich hab ihm
gedruckt. Weil daß ich einmal im Jahr in der Natur gehe. Abers Inventur
klingt feiner!
Elisabeth war nicht in der Stimmung, eine Vergnügungsfahrt zu machen.
Aber sie dachte an ihre Kinder, und wie glücklich die sein würden, einmal ans
einem Schiff zu fahren. Die Sonne schien warm, und die Herzen der Menschen,
die sie einluden, waren uoch wärmer.
Um zwei Uhr glitt sie mit ihren Kindern aus den? Hamburger Hafen.
Madame Heinemnnn hatte ein altes schwarzes Kleid an, das aber ihr bestes war,
und hatte die Hände über einem Korb gefaltet, der Butterbrode und Kuchen barg.
Hundertundfufzig Mark! sagte sie zu Rosalie, die neben ihr saß. Kann man
das forn alten Appelbanm geben?
Hedwig, es gibt noch höhere Preise für Bilder. In der Familie Herzlich
haben sie ein Gemälde, das tausend Mark gekostet haben soll.
Nu ja, Herzlichs sind auch Senators gewesen. Bei so Hcrrschaftens Wunder
ich mir über nix, abersten bei Louis — ach Rosalie, wenn er man bloß nich
übermütig wird!
Jetta lief jubelnd auf dem Schiff umher; Elisabeth aber hatte sich etwas ab¬
seits gesetzt und hielt Irmgard auf dem Schoß. Die Kleine schlief bald ein, und
ihre Mutter sah die Elbufer an sich Vorübergleiten. An der einen Seite die hoch¬
ragenden Häuser, die Kirchen mit dem grünen Dach, an der andern Seite die
sanft verschwimmenden Hügel Hannovers. Auf und nieder glitten die Schiffe, die
Dampfer, die Segler; leise gluckste das Wasser am Kiel, und der Wind rauschte
im Sonnensegel. Wie war doch die Welt so lieblich und voll Sonnenschein.
Elisabeth schloß die Augen. Da sah sie Herrn Müllers finsteres Gesicht vor sich
und hörte seine Stimme.
Der Mann dort auf dem Bilde hat einen schwachen Mund!
Alois war oben auf der Kommandobrücke gewesen, nun kam er herunter und
setzte sich »eben die junge Frau.
Ist die Welt nicht schön? fragte er. Sehen Sie dort den Fischerewer mit
seinem roten Segel mitten auf dem blauen Wasser? Und dahinter der schwarze
Dampfer. Fein, fein. Und er schlug in die Hände vor Entzücken.
Sie sah mit einem leisen Neidgefühl in sein strahlendes Gesicht. Er war
nicht viel jünger als sie, und es war, als könnten ihm die Sorgen des Lebens
nichts anhaben.
Famoses Glück! plauderte er weiter. Daß der Herr Moritz mein Bild im
Ladenfenster sehen und gleich laufen muß! Fritz Feddersen sagt auch, so etwas
passiert einmal in hundert Jahren!
Er griff in die Tasche und spielte mit Silbergeld.
Wie klingt das? erkundigte er sich lustig. Sollte mau nicht denken, ich
Wäre ein seiner Herr? und nicht ein armer Teufel, der Pvrzellantassen fürs Ge¬
schäft malt?
Sie sollten nur recht viel Bilder mehr malen, Herr Alois!
Er machte ein krauses Gesicht.
Mein Professor sagts auch. Heute habe ich ne Pauke gekriegt. Heinemann,
sagt er, Sie müssen fleißiger werdeu, mehr nachdenken. Sitzfleisch, Sitzfleisch! Und
dann mal nach München und Paris. Sehen müssen Sie lernen und die Augen
aufmachen! — Aber immer fleißig sein, ist scheußlich schwer!
Weiter glitt das Schiff den Elbstrom hinunter, und plötzlich begann eine
Drehorgel zu spielen. Ein schwermütiges Lied, das wie geschaffen schien für den
Herbstsonnenschein, der schon an die Nähe des Winters gemahnte.
Alois klimperte wieder mit seinem Gelde. Dem alten Stelzfuß gebe ich auch
ne Mark. Ich Habs ja, und Mutter hat fünfzig gekriegt für ihre Zinszahlung
im Oktober. Großartig, nicht wahr? Ich unterstütze meine Familie.
Und wieviel hat Fritz Feddersen bekommen? erkundigte sich Elisabeth lächelnd.
Nur zehn Mark, Fran Wolffenradt. Er hatte mir doch den Rat mit dem
Bild gegeben, das ich in das Ladenfenster hängen lasten sollte, und eigentlich hatte
er zwanzig Mark verdient. Aber er hat mich geärgert.
Womit denn?
Alois zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete.
Weil er etwas dummes gesagt hat. Er behauptet, ich müßte mir eine un-
glückliche Liebe zulegen, eine furchtbar unglückliche — dann würde ich besser malen
können. Und auch fleißiger werden. Dumm, nicht wahr? Unglückliche Liebe!
Er schüttelte sich in komischer Abwehr. Die gibts nnr in Romanen, und Romane
lese ich nicht!
Nun waren sie in Blcinkenese bei Sagebiel. In dem Wirtshaus mit der
Terrasse und den großen Bäumen, wo man weit ans den Fluß hinaussieht — so
weit, daß man ihn für das Meer halten könnte. Jetta kletterte auf einen Stuhl
und richtete die Augen in die Ferne, wo wcißbeschwingte Segler dem großen
Wasser zustrebten.
Mulli, ist da der Himmel? fragte sie, ihre Hände zusammenlegend.
Es war eine lustige kleine Gesellschaft. Alois bestellte mit großer Wichtig¬
keit Kaffee und Milch. Madame Heinemann packte ihren Korb aus, und sogar
Rosalie wurde vergnügt und freute sich über alles. Dann, nach dem Kaffee, trug
Alois Irmgard hinunter an den Strand, damit sie in dem Weißen Sand spiele;
die andern folgten; uur Elisabeth blieb oben, unter dem Schatten der Bäume
sitzen. Leise kam der Wind von Westen, und ans dem Flusse hob sich das Wasser.
Die Flut setzte ein, und wo eben noch eine Sandbank gewesen war, spielte» die
Wellen.
Viele einzelne Gruppen von Besuchern saßen ans der Terrasse. Einige aßen
zu Mittag, andre tranken Kaffee oder Bier; einige kamen, andre gingen; es war
ein beständiger Verkehr.
Neben dem Tisch, an dem Elisabeths Gesellschaft gesessen hatte, war vorhin
»och ein leeres Plätzchen gewesen; jetzt saßen zwei Damen dort, die lebhaft mit¬
einander sprachen. Beide »kochten Anfang der Dreißiger sein, waren mit einfacher
Eleganz gekleidet und mußten, ihrer Sprache nach, zu der vornehmen Gesellschaft
gehören. Es schienen zwei Freundinnen zu sein, die sich zufällig auf der Reise
getroffen und nun zusammen eine Fahrt nach Blcinkenese gemacht hatten. Sie
lachten über geniei»same Pensionseriuneruugen, über Lehrer und Lehrerinnen/
sprachen über Schulgeschichteu und unterhielten sich vortrefflich.
Elisabeth hörte ihnen zuerst halb aus Zerstreutheit, dann mit einer leisen
Wehmut zu. Mit wirklich gebildeten Menschen war sie lange Zeit kaum in Be¬
rührung gekommen; aus dieser Unterhaltung wehte sie eine andre Luft an, als die
aus der Klnbunkcrstraße und der Pmilinenterrasse, und es kam über sie die Sehn¬
sucht nach Schultagen und Kinderglückseligkeit.
Und jetzt warst du im Damenstift, Lolo? fragte die eine Freundin. Lebt
denn deine alte Tante Amalie noch?
Ja, gewiß; sie lebt und wird sicherlich noch lange leben. Aber sie ist mit dem
Alter verdrießlich geworden. Früher pflegte ich bei ihr zu wohnen, und sie war
dann recht nett mit mir; jetzt war es ganz selbstverständlich, daß ich mit Elsie bei
meiner Schwägerin Asta wohnte. Diese ist gleichfalls Stiftsdame geworden und
hat ihren Wohnsit; im Kloster aufgeschlagen.
°
sprachst dnfrüher nicht davon, daß du deine Tante beerben wolltest?
Über das feine Gesicht der andern flog ein Ausdruck der Verlegenheit.
Ach, Ria, erinnere mich nicht an alte Zungensündeu. Wenn Elsie das hörte,
was ich alles früher gesagt habe, würde sie mich aufgeben; und das wäre schrecklich,
denn sie arbeitet mit Erfolg an meinem inwendigen Menschen. Sie hat auch
bewirkt, daß Tante Amalie und ich nicht wie zwei Feinde auseinander gegangen
sind, sondern uns lieben, wie es sich für Verwandte gebührt. Ich denke nicht
mehr ans Erben, denn Tante Amalie wird mich natürlich überleben.
Die Freundin sah lächelnd in das lebhafte Gesicht der Sprecherin.
Und dein Schwager Wolf? Hat er wirklich eine schlimme Heirat gemacht?
Der arme Kerl! Früher sind wir so lustig miteinander gewesen!
Ja, die Heirat ist wohl schlimm gewesen. Nachdenklich spielte Baronin Lolo
mit ihrem Kaffeelöffel. Seine Schulden waren vielleicht noch schlimmer. Immerhin
scheint sich jetzt alles zum besten kehren zu wollen.
Ist die Frau tot?
Das nicht. — Jedoch, es gibt ja andre Wege, seine Frau los zu werden. Asta
machte eine Andeutung — Die Baronin hob den Kopf und hielt mit Sprechen inne.
Sie sah gerade in Elisabeths Augen, die weit geöffnet auf ihr ruhten. Hastig stand
sie auf und veranlaßte die Freundin, dasselbe zu tuu.
Die arme junge Frau! sagte sie nachher zu ihrer Freundin. Wie elend sah
sie aus! Ich mochte nicht, daß sie unser lustiges Geplauder weiter horte!
Die kleine Gesellschaft aus der Klnbuukerstraße kam wieder auf die Terrasse,
und die Kiuder hatten ihr Taschentuch voll Muscheln gesammelt. Dann folgte die
Heimfahrt. Notglühend versank die Sonne im Westen, und die graue Nebelwolke
über Hamburg hatte rosenrote Streifen.
Als Elisabeth am nächsten Morgen zu Herrn Müller kam, saß er wie ge¬
wöhnlich in seiner Sofaecke und ließ sich vorlesen, wie immer. Die Unterhaltung
zwischen ihm »ut der jungen Fran schien ganz vergessen zu sein. So ging es eine
ganze Woche lang, und Elisabeth dachte kaum mehr an das, was der alte Mann
ihr gesagt hatte. Da schrien eines Morgens die Zeitungsverkäufer das Wort:
Extrablatt! auch durch die Klabunkerstraße, und auf Herrn Müllers Wunsch ging
Elisabeth hinunter, um sich das Blatt zu erstes». Es war meist nichts besondres,
was gemeldet wurde; heute aber war es ein Eisenbahnunglück in Frankreich.
Gottlob, nicht hier! sagte die junge Frau, als sie die schrecklichen Einzelheiten
mit Widerstreben vorgelesen hatte.
Herr Müller erwiderte nichts. Aber er nahm die Brille von den Augen
und sah starr vor sich hiu.
Lauter Unschuldige! sagte er endlich. Wo bleibt die Gerechtigkeit?
Es war einige Tage später, als der alte Schlüter Elisabeth begegnete, wie
sie gerade in die Lesestunde ging.
Gutmütig nickte er ihr zu und hielt seinen Karren mit dem zähnefletschender
Tiras an.
Nu, Frau Wolffenradt, is Herr Müller noch menner so langweilig? Ich kenn
ihm ja nich mehr, weil daß er mein Milch siecht fand, sonst könnt ich ihm was
verzählen. Anton Bertram is tot. ' Hat ins Blatt gestanden. Mit den is Müller
noch in die Schule gegangen. Er und sein Frau siud reiche Herrschaftens ge¬
worden und haben in Schina gelebt und wollen um nach Hanse, weil daß sie ja
woll Heimweh kriegen. Und denn reisen sie über Frankreich, und denn fahren da
ein paar Zügens zusammen, und beide bleiben tot. Is es nich merkwürdig?
Gerade wo sie un ein büschen Spaß von die Heimat und von ihr Geld haben
wollen. Ich sag, Reichtum allein macht es nich!
Schlüter stützte sich auf seine Wagendeichsel und fuhr sich jetzt mit dem
Taschentuch übers Gesicht.
Verzählen Sie es man an Herr Müller, sagte er noch einmal. Es hat ins
Blatt gestanden, und er konnt Anton Bertram gut.
Er rasselte weiter mit dem Karren, und Elisabeth entledigte sich ihrer Bot¬
schaft. Vorsichtig und tastend, weil es sie wie eine Ahnung beschlich; aber Herr
Müller hörte sie schweigend an und erwiderte kein Wort. Dann las sie ihren
Roman weiter und ging mit ihrem Honorar heim.
Spät am Abend wurde sie von Herrn Müllers Köchin zu ihm gerufen.
Er lag im Bett, und seiue Augen glitzerten sie unruhig an.
Anton Bertram! flüsterte er. Er ist tot, und seine Frau auch. Das war
einmal meine Frau, und ich habe sie lieb gehabt. Nun ist die Gerechtigkeit doch
gekommen, Frau Wolffenradt! Ich mag sie aber nicht; ich will sie nicht. Es war
meine Fran, und sie ist mir gestohlen!
Elisabeth versuchte ihn zu beruhigen; er achtete nicht auf sie.
Es war meine Frau, und ich habe sie lieb gehabt. Aber dann habe ich Gott
gebeten, daß es ihr schlecht ergeb» sollte. Dies aber wollte ich nicht. Ein solcher
Tod — er schauderte. Plötzlich weinte er bitterlich und wurde erst ruhiger, als
Elisabeth seine Hand faßte und leise auf ihn einredete.
Von dem Tage an blieb er bettlägerig; und wenn Elisabeth am Morgen
kam, mußte sie an seinem Lager sitzen. Manchmal mußte sie ihm vorlesen; meistens
aber sprach er jetzt. Von seiner schweren Jugend und deu vielen Entbehrungen.
Wie er, draußen im Osten, eine Frau gefunden hatte, die ihm die Falten von
der Stirn strich und seine Sorgen teilte. Aber er war uicht immer freundlich.
Er war mürrisch gewesen, unverträglich, tadelsüchtig. Und sein Schulfreund Anton,
der plötzlich in derselben Niederlassung aufgetaucht war, kounte lachen und scherzen
und verbreitete Sonnenschein, wohin er kam. — Bei dem Bankgeschäft, an dem
Herr Müller einen bedeutenden Anteil hatte, und an dem auch Anton Bertram
arbeitete, wurden große Unterschleife entdeckt. An dem Tage, wo der Aufsichts¬
rat zusammentrat, um eine Untersuchung anzustellen, war Anton Bertram ver¬
schwunden und mit ihm Herrn Müllers Frau. Sie schrieb ihrem Manne, sie
könnte nicht mehr mit ihm leben, weil er ein Dieb sei. Er! — Der alte Mann
stöhnte, wenn er an diese Anschuldigung dachte. Vom Aufsichtsrat wurde seine
Unschuld nie bezweifelt; der Fehlbetrag wurde von allen gedeckt; auf die Verfolgung
von Anton Bertram wurde verzichtet. Er tauchte dann später mit einer schönen
Fran in Kalkutta auf, und es ging ihm gut.
Herr Müller aber reiste bald heim und wurde der langweilige Herr Müller,
der auf Gottes Gerechtigkeit wartete und sie nicht hatte entdecken können, bis jetzt
nach zwanzig Jahren. Und nun war er auch nicht zufrieden und verwünschte sich
selbst und seine heißen Zorngebete.
Ich habe sie doch noch lieb gehabt, Frau Wolffenradt!
Das war beständig sein letztes Wort, und Elisabeth dachte an Wolf, und daß
sie ihn immer noch liebe, daß sie nicht an ihm zweifle, und daß er ganz sicher
bald wieder kommen müßte.
Es war gegen Ende November, und dnrch Hamburgs Straßen fegte ein
schneidender Ostwind. Der Himmel hing grau und bleiern über den rauchgeschwärzten
Häusern, und die Italienerin, die ein mit allerlei buntem Weihnachtstand behängtes
Gestell durch die Straßen trug, preßte ihre roten Lippen aufeinander und versuchte,
ihre dünnen Röcke gegen den Wind zu schützen. Wenn aber der Sturm einen
Augenblick Atem schöpfte, dann strich sich die Tochter des Südens die schwarzen
Hcinre nus der Stirn und rief mit gellender Stimme: Zähn Fänige das Schlick,
zählt Fänige! < ,< ^^<-^
Astr von Wvlsfenradt sah die Frau vor sich herwandern, und ihr fiel plötzlich
ein, daß Weihnachten nur noch ein paar Wochen entfernt wcw Sie hatte .wenig
an das bevorstehende Fest gedacht. In frühern Jahren hatte es Swckabende bei
der Äbtissin gegeben; aber in diesem Herbst war die alte Dame Viel kränklich ge¬
wesen, und ihr sonst so gastliches Haus war für jedermann verschlossen. Gräfin
Eberstein aber hatte wohl keine Lust gehabt, diese Strickabende zu übernehmen.¬
Es war ein böser Herbst gewesen. Die Influenza hatte sich in Wittekind ein
genistet, und fast alle Damen waren mehr oder weniger von der tückischen Krankheit
befallen worden. Auch Asta hatte einige Wochen lang mit einem schrecklichen Ubel-
befinden gekämpft, und ihr Bruder Wolf mußte denselben Zustand durchmachen. Er
arbeitete jetzt zwar wieder auf der Post und half gelegentlich dem noch immer
kränkelnden Rendanten bei den Klostergeschäften; aber er litt unter einer allgemeinen
Verstimmung und Müdigkeit, die für seine Schwester etwas niederdrückendes hatte.
Gerade sie bedürfte der Aufheiterung. Betty Eberstein war die einzige Stiftsdame,
die von der abscheulichen Krankheit verschont geblieben war. Sie regierte das
Kloster, als wäre sie schon dessen Äbtissin; sie hatte schon verschleime Neuerungen
eingeführt, sie verhandelte mit dem Klosterpächter, als wäre sie seine Herrin, und
bei der letzten Auszahlung der Stiftsdameneinnahme hatte sie jeder Konventualin
einen beträchtlichen Abzug gemacht, um, wie sie sagte, eine größere Summe zur
Verschönerung des Klosters verwenden zu können.
Die meisten Damen sagten nichts dazu; sie wußten, daß Gräfin Eberstein im
nächsten Jahre die Zügel der Regierung ganz und gar in die Hände bekommen
würde, und vielen war es auch ganz bequem, regiert zu werden. Aber Asta litt
bei alledem mehr, als sie sich selbst eingestand. Betty und sie sprachen nach ihrer
letzten Unterredung nur das Notwendigste miteinander; die Gräfin Eberstein be¬
handelte ihre einstige Jugendfreundin mit kühler Geringschätzung.
Da war es verständlich, daß sich Asta aus diesen unangenehmen Empfindungen
in eine andre Gedankenwelt rettete, und daß sie vor allem wieder darüber nach¬
dachte, wie sie Wolf helfen könnte. Er mußte sich von Elisabeth scheiden lassen
und Adele Mauska heiraten; das stand bei ihr fest. Sie liebte Frau von Manska,
und sie war überzeugt, die Freundin würde ihren Bruder glücklich macheu. Dazu
würde ihr Reichtum ihn in ein andres und standesgemäßes Leben führen.
Aber Wolf war lässig geworden, verdrießlich und müde. Die Influenza saß
vielleicht noch in ihm. Wenn er zu Astr tum, hatte er keine Lust zur Unterhaltung,
und wenn sie vou ihren Vorschlägen zu sprechen begann, konnte er sogar grob
werden. Es war klar; ihm war die Energie verloren gegangen, jemand anders
mußte kommen und ihn in den Sattel setzen, dann würde er schou wieder reiten
können. Deshalb hatte sich Asta kurz entschlossen, sobald es ihre Gesundheit erlaubte,
nach Hamburg zu reisen. Sie hatte zwar niemals nach Elisabeth gefragt; jetzt aber
wollte sie der unerquicklichen Geschichte ein Ende machen. Sie wollte die junge
Frau aufsuchen, ihr alles auseinandersetzen und sie darum bitten, Wolf freizugeben.
Ans ihrer Jugendzeit her lebten in Asta noch romantische Gedanken. Eine Frau,
die ihren Mann liebte, mußte ihn jederzeit freigeben, sobald sie erfuhr, daß es
ihm ohne sie besser gehn würde. Es sollte Elisabeth kein Schade daraus erwachsen.
Wenn sie sich willig zeigte, Was Verlangen zu erfüllen, wollte Fräulein von
Wolffenradt dafür sorgen, daß sie sich eine anständige Existenz gründen könnte.
Adele Mnnska hatte ein edles Gemüt; sie würde schon einspringen, und Asta würde
tun, was in ihren Kräften stand. Während Asta dnrch Hamburgs Straßen wanderte,
war es ganz angenehm, mit diesen Plänen beschäftigt zu sein. Der kalte Wind
blies hinter ihr her, und sie freute sich über ihn; es kam ihr vor, als wehte in
Wittekind niemals ein Wind. Die Luft blieb auf derselben Stelle, und die Gedanken
taten es auch. Wohin Asta hier sah, war Leben und Bewegung. Von den vornehm
ausgestatteten Läden, auf denen der Poetische Hauch des kommenden Festes ruhte,
bis zu dem verfrorenen Straßenjungen, der Hampelmänner perkaufte; von deu
lebhaften und freundlichen Gesichtern einer Gesellschaft älterer Herren, die eifrig
miteinander sprachen und In ihrer ganzen Erscheinung deu Eindruck der verkörperten
Intelligenz machten, bis zu dem mit Paketen beladueu Boten eines großen Geschäfts¬
hauses. Hier pulsierten Gedanken und Pläne; hier regierten eiserner Fleiß, weit¬
schauende Voraussicht, und wie Asta jetzt durch Geschäftsstraßen ging, blieb sie
manchmal stehn und sah um sich. Sie war in der Anschauung erzogen, daß der
Kaufmannsstand etwas Untergeordnetes sei; hier beschlich sie die Ahnung, daß es
leichter sein mochte, auf ererbten Besitz zu Hansen und ererbte Vorteile ohne An¬
strengung zu genießen, als ein Kaufmannsfürst zu werden und seine Gedanken in
die entferntesten Länder zu senden, immer zu wagen, hier zu gewinnen, dort zu ver¬
lieren, immer weiter zu streben, zu versuchen und zu arbeiten.
Arbeiten — Asta wiederholte das Wort, wahrend gerade eine Dampfpfeife nach
der andern ihren schrillen Laut ertönen ließ, als die Straße plötzlich voll wurde
von Arbeitern jeder Art, von berußten und unberußten, von riesigen Schauerleuten
und leicht gebeugten Kohlenträgern, von halbwüchsigen Knaben mit dem Arbeits¬
kittel und alten Männern, die dieselbe Kleidung trugen.
Asta hatte sich im Gewirr der Straßen verwirrt; obgleich sie deu Namen
Elisabeths im Adreßbuch gefunden und ein majestätischer Oberkellner ihr mit Er¬
staunen auf dem Stadtplan die Lage der Klabunkerstraße erklärt hatte, so war sie
nun doch gerade um zwölf Uhr in die Nähe des Hafens gekommen. Sie bereute es
uicht. An einen eisernen Pfahl der elektrischen Bahn gelehnt, sah sie in das Gewühl
vor sich und dachte dann an die stille Behaglichkeit ihres eignen Lebens. Und es
war ihr, als käme auch über sie wieder die Kraft, fleißig und mutig zu sein. Sie
wollte schon mit der Frau, die ihren Bruder bestrickt hatte, fertig werden.
Bald darauf war sie in der Klabunkerstraße. Hier waren nicht so viel Arbeiter
wie am Hafen; aber hier und dort kam einer mit schweren Schritten und fröhlichem
Gesicht die Straße herab; Kinder liefen ihm entgegen, oder er blieb stehn und sah
einem Verkäufer zu, der vor seinen Augen ein Spielzeug tanzen oder laufen ließ.
Asta achtete nicht auf die spitzgiebligeu Häuser, auf den Rest von altväter¬
licher Behaglichkeit, der über dieser Gegend ruhte, sie sah nach den Hausnummern
und suchte nach der Paulinenterrasse. Dann aber blieb sie mit einem Gefühl des
Unbehagens stehn; um sie herum war es lebhaft geworden. Auf den Beischlägen
hockten Kinder und Frauen, und auf der Fahrstraße drängte sich eine Anzahl von
Menschen um einen Leichenzug. Ein schwarzer Wagen mit schwankenden Feder¬
büschen und schwarzbehängter Pferden kam ihr entgegen, und voran eine Anzahl
jener altfränkisch gekleideten Männer mit Degen und schneeweißen Kragen, die in
Hamburg reitende Diener genannt werden und bei keiner feierlichen Beerdigung
fehlen dürfen. Asta wurde von eiuer Anzahl von Kindern gegen ein Haus gedrückt;
sie traten auf ihr Kleid, rissen ein Loch hinein und liefen ohne Entschuldigung weiter.
Der Wagen aber schwankte vorüber, und die zuschauenden Frauen und Kinder
verschwanden allmählich.
Gott, Madana, wahr Loch in Ihr Kleid! sagte eine freundliche Stimme zu
Asta. Kommen Sie man ein büschen ein in mein Laden, ich nah es Sie gleich
wieder. Ja, was die Klübers sind, die sind ümmer außer Rand und Band, wenn ein
Leichenwagen zu sehen kommt. Als passierte das nich alle Tage, und als wär das nich
auch unser letzter Wagen. Kommen Sie man ein, Madana; ich kurier den Schaden
in ein Momang. Wofor bin ich denn Madana Heinemann von die Klabunkerstraße
und hab den holländschen Warenladen. — Nu, klein Jetta, mach ein büschen Platz!
Die letzten Worte waren an ein kleines Mädchen gerichtet, das auf dem einzigen
Stuhl in Madame Heinemanns Laden saß und mit strahlenden Augen die Ein¬
tretenden betrachtete.
Das war aber fein, Tante Heinemann, sagte sie. Oh, was füm feiner Sarg!
Madame Heinemann wischte sich die Angen.
Den hat er auch verdient, klein Deern, das wirst noch gewahr werden. Und nun
geh nach oben, mein Jetta. Wo Onkel Louis sein Stube hat.
Ich will zu meinem kleinen Bruder! erwiderte Jetta. Meinem süßen kleinen
Bruder!
Noch nich, klein Deern, noch nich. Viellcich morgen! Nu geh man! Ach,
Madana, verschuldigen Sie!
Mit sanfter Gewalt schob sie die Kleine aus der Zimmertür. die nach dem
innern Hause führte, und Asta mußte sich sehen. Ihr ganzer Rocksaum war ihr
abgetreten worden, und die gute, gefällige Frau erschien ihr wie eine Hilfe in der
Not. Dennoch sah sie sich fast ängstlich in diesem kleinen Laden um, wo ein
Petroleumofen brannte, und wo es nach vielen merkwürdigen Dingen roch.
Ein niedliches Kind! sagte sie, als sich die Tür hinter Jetta geschlossen hatte;
und als Frau Heinemcmn ihre Arbeit damit begann, daß sie ihren Fingerhut nicht
finden konnte.
Nich, Madana? Son süße kleine Deern und fors Geschäft wie geschaffen.
Sie kann schon Stecknadelns verkaufen. Abersten nu wird sie das nich mehr nötig
haben. Na, ich freu mir, ganzen gewiß, freu ich mir; und wenn ich an ihr Mutter
denk, ihr Schwester und den süßen kleinen Jungen, denn sag ich, Gott hat allens
wohlgemacht. Der Jung is ja ein klein büschen zu früh gekommen, was ja nich
zu verwundern is, weil sein Mutter die Pflege von Herr Müller hatt, und denn
vielleich noch Sorgens. Gott, Madana, die haben wir ja all, und mich deucht,
unser Herrgott is ganzen verständig, daß die Sorgens nich aus die Welt kommen;
abersten die klein Frau Wolsfenradt konnt ihnen nich gut gebrauchen! So, Madana,
nu setzen Sie sich man so, daß Sie auf Ihre» Unterrock zu sitzen kommen; denn
hab ich das Kleid in meine Gewalt!
Der Fingerhut war gefunden worden, und Madame Heinemann nähte eifrig.
Welchen Namen nannten Sie? fragte Asta.
Die Luft im Laden war schlecht; sie sprach beinahe gedankenlos.
Wolffenradt, Madana. Sie is eine Frau Baronin, und ihr Mann is all
lange weg. Ich frag nich nach ihm; ne, das tu ich nich; ich sag immer, Hedwig,
was nich deines Amtes is, da laß deinen Fürwitz von. Die klein Frau hat es
abers nich gut gehabt. Sie gab ja Stundens, und bei Herr Müller verdiente sie
vier Mark den Tag; aber da waren die zwei kleinen Deerns, und in die letzte
Zeit möcht sie nich mehr recht ausgehen. Abers was Herr Müller is, den hat sie
zu Tode gepflegt. Er war ein langweiligen Kerl, und kein ein möcht ihm leiden;
und was mit ihm in Schina passiert is, das kann ich nich sagen. Abersten fünf-
malhunderttausend Mark hat er in Vermögen gehabt, und Frau Baronin Wolffenradt
hat allens geerbt. Gestern, einen Tag vor seine Beerdigung is das Testament offen
gemacht worden, und da hat es ein gestanden. Gerade an denselben Tag, wo Frau
Wolffenradt den kleinen Jung kriegt — is das nich merkwürdig? Sie is noch
sehr schwach, und sie weiß nix von die ganze Geschichte. Der Rechtsanwalt sagt,
das macht nix; sie kriegt das früh genug zu wissen — und was mein Schwester
Rosalje is — sonsten näht sie, abers nu pflegt sie bei Frau Wolffenradt —-, die
meint, wenn sie man bloß wußt, wo der Mann wär, denn wollt sie ihm Bescheid
sagen. Weil die klein Frau früher so viel Sehnsucht nach ihren Mann hatt, und
der doch woll von allens Bescheid wissen muß. Sie kann abers nich nach die
Adresse fragen, weil Frau Wolffenradt noch an nix denken und sich um nix
quälen soll. Was der Doktor is. der will es nich! Er sagt, sie is schrecklich
schwach!
Während Madame Heinemann unaufhaltsam redete, nähte sie zugleich mit
großer Behendigkeit. Nun nahm sie einen neuen Faden und sah in Astas starres
Gesicht.
Fehlt Sie was, Madana? fragte sie besorgt. Sie beswiemeln mich doch nich?
Asta schüttelte den Kopf.
Gewiß nicht! Es ist nur die Hitze hier! Sie sind sehr freundlich!
Dann nahm sie sich mit einem Ruck zusammen.
Fünfmalhunderttausend Mark! murmelte sie.
Is es nich großartig? Mehr, als mau in die Lotterie gewinnen kann! Wer
hätt das von den langweiligen Herrn Müller gedacht, wo er doch immer so un¬
freundlich war und nix ausgab und mit keinen Menschen schmackte? Wahr aber is
es. Was mein Louis is, der hat selbst mit den Rechtsnuwalt gesprochen, weil der
doch nix von den kleinen Jungen bei Frau Wolffenradt wußte und sie parens be¬
suche» wollt. Und darum is mein Louis, was mein Sohn is, er is Kunstmaler,
Madana, auch mit bei die Beerdigung gewesen, und Pastor Behrmann hat herrlich
geredet. Wie er das immer tut und es nich anders kann. — Und furchbar viele
Leute aus die Klabuukerstraße, die sich sonst nix aus Herrn Müller machen, sind
bei die Beerdigung gewesen, und ich hab auch ein Kranz geschickt und —
Die Tür ging auf, und Jetta erschien auf der Schwelle.
Onkel Louis ist gar nicht in seinem Zimmer, Tante Heinemann! sagte sie
vorwurfsvoll.
Ach, mein klein Süße, ich hatt ja vergessen, daß er mit Onkel Müller sein
Sarg is, sei man nich bös, klein Deern!
Jetta war nicht böse. Sie fuhr sich über ihre blonden Haare, und als in
diesem Augenblick ein Dienstmädchen in den Laden trat, ging sie ihr mit einem
Knicks entgegen.
Guten Tag, Fräulein? Was ist gefällig? Darf ich Ihnen bedienen?
Kann sie es nich prachtvoll? flüsterte Madame Heinemann entzückt. Ganzen
wie geboren for den Laden! Bloß daß sie es nu nich nötig hat. Denn un wird
Frau Wolffeuradt wieder ne Baronin, und klein Jetta is ein Baronesse. Ach
Gott ja, freuen tu ich mir; abersteu wenn ich denk, daß die süßen Klübers nu
auch weg kommen — Frau Heinemaun wischte sich die Augen. Allens, wie Gott
will, Madana, und Herr Müller hat es natürlicherweise gut gemeint! Jawoll,
Fräulein, ich hab die echten englischen Strumpfbänders, warten Sie man ein
Momang!
Die letzten Worte richtete Frau Heiuemann an das Dienstmädchen, während
sie zugleich die Arbeit an Astas Rock beendet hatte.
Mit freundlichem Is gern geschehen! lehnte sie jede Belohnung ab; als die
Stiftsdame jedoch ein Markstück auf den Ladentisch legte, nahm sie es ohne Ziererei.
Asta handelte ganz mechanisch. Sie stand jetzt auf der Klabunkerstraße und suchte
ihre Gedanken zu sammeln, und dann machte sie unwillkürlich wieder einen Schritt
dem eben verlassenen Laden zu, wo ein Sprößling des freiherrlichen Geschlechts
der Wolffenradt vor einem Dienstmädchen knickste und »ach ihren Befehlen fragte.
Asta hatte selten an Wolfs Kinder gedacht. Seit sie auf dem Kloster lebte, kam
sie höchstens einmal mit Tagelöhnerkiuderu in Berührung, und auch das nur selten.
Wenn sie an Wolfs Heirat dachte, dann war es die Frau, deren Geschick sie be¬
schäftigte, daß auch blauäugige blonde Kinder dazu gehörten, war ihr entfallen. Und
eben noch war ein Knabe geboren worden, ein kleiner Wolffenradt — ihres Bruders
Sohn und ihr leiblicher Neffe.
Aber Asta wandte sich nach kurzem Zögern zum Weitergehn und stand gleich
darauf vor dem Torweg, an den mit verwaschnen Buchstaben Paulineuterrasse ge¬
schrieben war. Noch einige Schritte, und sie sah vor sich ein düstres, langes viel-
fenstriges Haus. Kleine Haustüren mit schmalen, in die obern Stockwerke führenden
Treppen, ansgetretne Stufen, blinde Fensterscheiben, abgefallner Putz und all¬
gemeine Verwahrlosung. Auf dem Hofe spielten Kinder; Frauen zankten sich, und
von allen Seiten kamen Essensgeruch und Kohlenqualm.
Asta Wolffenradt hatte noch niemals eine Proletarierwohnung in der Großstadt
gesehen, nun stand sie vor ihr und betrachtete sie mit Schauder. Also hier hatten
Wolfs Kinder gelebt, hier war sein Sohn geboren worden. Und wie das Menschen-
herz wunderlich ist, so vergaß sie plötzlich die Frau und dachte nur an die Kinder
und die Pflichten, die der Vater ihnen gegenüber hatte; die Frau wurde ihr gleich-
giltig; die Kinder mußten aus dieser Umgebung gerettet werdeu. Wie war es
möglich, daß Wolf sie vergessen konnte?
Mit eiligen Schritten verließ sie die Paulinenterrassc mW die Klabunkerstraße,
um sich zum nächsten Telegraphenamt zu begeben. Hier, als sie das Formular
vor sich hatte, auf dem sie ihren Ruf nach Wolf schreiben wollte, fiel ihr erst
wieder ein, weshalb ihr Bruder schon ganz notwendig kommen mußte. Sie lies;
die Feder sinken und suchte ihre Gedanken noch einmal zu sammeln. Fünfmalhundert¬
tausend Mark hatte die Frau gesagt.
Mit einem Seufzer der Befriedigung schrieb Asta die Adresse. Nun war
der Dovenhof für Wolf und die Kinder gesichert.
(Fortsetzung folgt)
Ob die Ratschläge, denen
Japan gefolgt ist, als es den Interessenkonflikt mit Rußland auf die Spitze trieb,
ihm zum Heile gereichen werden, ist eine Frage, die nur der Erfolg beantworten
kann. Der Ausgangspunkt dieser Politik ist der am 30. Januar 1902 geschlossene
englisch-japanische Bündnisvertrag.*) Aus Artikel 5 dieses Vertrags geht hervor,
was auch durch manche andre Anzeichen bestätigt wird, daß Japan im engsten Ein¬
vernehmen mit England handelt. Der englisch-japanische Vertrag wurde geschlossen
in dem Augenblick, wo sich der Krieg in Südafrika zwar entschieden zum Vorteil
Englands gewandt hatte, aber sein Ende noch keineswegs nahe schien, als ferner
die Verhältnisse in Irland von neuem einen bedenklichen Charakter anzunehmen
drohten, und als der Kriegsminister im Unterhaus erklärte, die Rekrutierung des
letzten Jahres habe uur 45000 Mann ergeben, offenbar sei England an der
Grenze der Nekrutierungsmöglichkeit angelangt. Dazu hatte der finanzielle Aufwand
eine uicht unbedenkliche Höhe erreicht. Aber so ernst das Jahr 1902 für Gro߬
britannien begonnen hatte, so erfreulich war sein Verlauf. Das Bündnis mit Japan
war der Anfang der Wendung; Ende März begannen die Verhandlungen mit den
Buren, und am 1. Juni konnte der König in einer Botschaft an das englische Volk
die Beendigung des Kriegs in Südafrika ankündigen. Drei Tage vorher hatte die
Regierung im Unterhause mitgeteilt, daß seit April 1901 für die Flotte fünfund¬
dreißig Schiffe fertiggestellt, fünfundsiebzig noch im Bau seien, darunter vierzehn
Schlachtschiffe und vierundzwanzig Panzerkreuzer. Während wir in Deutschland
„«schiffe" bauten, baute England „Flotten."
Ein Krieg Japans gegen Rußland gehört zweifellos in die Kategorie der
Präventivkriege, vor denen Fürst Bismarck wiederholt gewarnt und gegen die er
sich im Reichstage sowohl als auch in seinen „Gedanken und Erinnerungen" mit
großer Bestimmtheit ausgesprochen hat. Japan bricht heute diesen Krieg vom Zaun,
weil es glaubt, augenblicklich zu Lande und zur See besser gerüstet zu sein als
Rußland, und weil es die Vollendung der russischen Rüstungen nicht abwarten will.
Daß es hierin im vollen Einvernehmen mit England handelt, steht schon nach dem
Bündnisvertrage fest. England wirft den Russen in Asien den japanischen, in
Europa den makedonische» Knüppel zwischen die Beine. In dem Augenblick, wo
die Kriegsslamme in Asien auflodert, sehen wir auf der Balkanhalbinsel wieder alle
die bekannten Elemente an der Arbeit, in das mühsam unterdrückte Feuer zu blasen.
Die russische Staatskunst sieht sich vor Entschließungen von großer Tragwette, die
russische Armee und Flotte sehen sich vielleicht vor große Aufgaben gestellt. Schon
ist ein englischer Flankeustoß in Tibet im Gange, und Rußland wird sich einrichten
müssen, den Krieg nicht nur in Ostasien, sondern auch in Mittelasien zu führen.
Englische Blätter haben in den letzten Monaten immer wieder den Versuch
gemacht, Deutschland die Rolle des Hetzers in dem russisch-asiatischen Gegensatz
zuzuweisen, Deutschland Hetze Rußland in den Konflikt hinein. Abgesehen davon,
daß Rußland überhaupt nicht so leicht „zu Hetzen" ist und von niemand Rat an¬
nimmt außer von seinen Interessen, die immer starker und mächtiger sein werden,
als alle politischen Theorien und persönlichen Sympathien, so ist es gerade die
deutsche Presse gewesen, soweit sie Anspruch auf Ansehen und Autorität hat, die
seit Monaten und bis unmittelbar vor Eintritt des Bruchs für die Erhaltung des
Friedens eintrat und an ihn glaubte; Berliner Blätter haben sogar über die
„norddeutsche Allgemeine Zeitung" gespottet, weil sie bis zum Ende der vorigen
Woche nicht aufgehört hatte, die Situation als eine friedliche zu behandeln. Es
entsprach das durchaus den Interessen der deutschen Politik. Deutschland kann an
dem Ausbruch eines Kriegs, dessen Umfang, Dauer und Ausgang unberechenbar
sind, ganz und gar nichts gelegen sein. Durch unsre Niederlassung in Kiautschou,
durch die Notwendigkeit, in Ostasien ein Kreuzergeschwader zu erhalten, sowie durch
den unabweisbaren Verbleib der ostasiatischen Brigade in Tientsin sind wir in
Ostasien viel verwundbarer geworden, und die Leitung unsrer Politik wird viel
Umsicht und Weisheit anwenden müssen, wenn sie verhüten will, daß unsre
Interessen in den russisch-japanischen Gegensatz verstrickt werden. Ganz besonders
läge diese Gefahr nahe, wenn sich China an dem Kriege beteiligte. Der Nachteil,
den der deutsche Handel und die deutsche Schiffahrt zunächst wenigstens unver¬
meidlich erleiden werden, kann es für Deutschland nur wünschenswert machen, daß
keine weitern Komplikationen eintreten, die unvermeidlich auf die chinesischen Terri¬
torialfragen von Einfluß sein würden. Heute ist es verständlich, weshalb England
im Jahre 1902 die Räumung von Schanghai mit so großem Nachdruck be¬
trieben hat.
Die Vorgänge in Südwestafrika haben auch
die Organisation unsrer Kolonialverwaltung wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
In, vorigen Heft der „Grenzboten" ist schon darauf hingewiesen worden, daß sich
eine sehr starke Strömung zugunsten der Einordnung der Kolonialabteilung in das
Reichsmarineamt geltend mache, und es schien sogar, daß diese Strömung im Zu¬
nehmen war. Von andrer Seite wird die Errichtung eines selbständigen Kolonialamts
lebhaft gefordert, für das auch die „Kvlonialzeituug" mit großem Nachdruck ein¬
tritt. Diese Lösung muß auch als die richtigere erscheinen, schon aus dem Grunde,
daß sowohl die Marine als die Kolonien in fortwährendem Anwachsen begriffen
sind, und somit über kurz oder lang die verantwortliche Leitung eines so großen
Ressorts auch die Arbeitskraft eines Mannes wie des Admirals von Tirpitz über¬
steigen würde. Dann wäre die Notwendigkeit, die Kolvninlverwaltung selbständig
zu machen, so wie so gegeben. Außerdem würde die Unterstellung der Kolvnial-
abteilung unter den Staatssekretär der Marine zunächst tatsächlich einen Rückschritt
bedeuten. Der Kolonialdirektor ist jetzt direkt unter den Reichskanzler gestellt und
vom Auswärtigen Amt nur noch abhängig in den Fragen, die zu Berührungen
mit andern Nationen führen: zum Beispiel Grenzfragen oder gemeinsame Unter¬
nehmungen. Wie alle unsre Reichsämter wächst auch die Kolonialverwaltung aus
ihrem ursprünglich sehr engen Rahmen heraus. Es sei hierbei an das Reichs¬
schatzamt erinnert, das ursprünglich als Abteilung des Reichskanzleramts errichtet,
mit einem Ministerialdirektor an der Spitze, nur als eine für den Vortrag in
Reichsfinanzsachen beim Reichskanzler bestimmte Stelle gedacht war, die man nur
um die Empfindlichkeit der andern Bundesstaaten zu schonen, nicht beim preußischen
Finanzministerium errichtet hatte. Ein selbständiges Reichsschatzamt existiert erst seit
1879. ja bis zum Jahre 1877 gab es nicht einmal eine eigne Finanzabteilung
im Reichskanzleramt, sondern nur einen vortragenden Rat in Reichsfinanzsachen.
Bei der Errichtung des Amtes im Jahre 1879 trat der vorzügliche Finanzmann
Scholz zunächst als Unterstaatssekretär an die Spitze, erst später wurde ein Staats¬
sekretär und eine Exzellenz daraus, nachdem Fürst Bismarck in, Reichstag erklärt
hatte, auf ein paar Ministertitel käme es nicht an. Ähnlich ist es der Kolonial¬
verwaltung ergangen. Bis nach Bismarcks Rücktritt im Jahre 1890 wurden die
Kolonialangelegenheiten im Auswärtigen Amt von einem vortragenden Rat, I)r.
Kayser, der sich selbst damals als „Mädchen für alles" bezeichnete, bearbeitet.
Erst im Laufe des Jahres errichtete Bismarcks Nachfolger, Caprivi, der
kolonialfeindlichste aller Reichskanzler, die Kolonialabteilung als fünfte Abteilung
des Auswärtigen Amts mit or. Kayser als Dirigenten, später als Ministerialdirektor
an der Spitze. Unter Hohenlohe wurde dann die Abteilung unmittelbar unter deu
Reichskanzler gestellt, d. h. der Direktor hatte direkten Vortrag. Nach dem Dienst¬
schematismus gehört die Abteilung aber formell noch zum Auswärtigen Amt, mit
dem sie ja auch noch mancherlei Berührungspunkte hat. Will man ein selbständiges
Amt aus ihr machen, so ist es mit dem Titel und mit der Abtrennung der Be¬
hörde und ihrer Angehörigen vom Ressort des Auswärtigen Amts nicht getan.
Die wichtigste Frage bleibt die des Verhältnisses des Leiters der Zentralstelle
zu den Gouverneuren, die die einzelnen Kolonien verwalten. Im allgemeinen
besteht die Annahme, der Staatssekretär der Kolonien stehe zu den Gouverneuren
ungefähr in demselben Verhältnis wie der Staatssekretär des Reichspostamts zu
den Oberpostdirektoren. Die Annahme ist jedoch irrig. Im Hinblick sowohl auf
die Entfernungen als auch auf die Vielseitigkeit des Dienstes in den Kolonien
würde das nicht durchführbar sein. Der Oberpostdirektor kann einen noch so großen
Bezirk haben, dieser liegt doch immer mitten im Reich, ist von Berlin in zehn bis
zwölf Stunden erreichbar, telephonisch in wenig Minuten, und der ganze Dienst¬
betrieb beschränkt sich auf Post- und Telegraphenverwaltung. So ist das Ressort
des Reichspostamts ungeachtet der ihm unterstellten weit über 100090 Beamten
doch immer sehr einheitlich geordnet und leicht übersehbar. Ju den Kolomen um¬
faßt aber die Leitung jeder einzelnen fast alle Zweige des Staatsdienstes: Militär,
Polizei, Gericht, Zollwesen, Eisenbahn, Straßenbau, Schiffahrt, Eingebornenfragen,
die Rechtsverhältnisse der in der Kolonie arbeitenden deutschen und fremden Gesell¬
schaften usw. usw. Dazu Berührungen mit der Marine, deren Schiffe an der Küste
kreuzen, mit den benachbarten fremden Kolonialbehörden, mit allerlei wissenschaft¬
lichen und andern Expeditionen, die von Europa kommen. Hier liegt, noch völlig
abgesehen von den Personnlangelcgenheiten, eine reiche Fülle von Fragen, deren
Behandlung sich von Berlin aus weder im allgemeinen reglementieren noch ini
einzelnen vorschreiben läßt, sodaß dem Gouverneur ein weiter Spielraum zu eigner
Betätigung notgedrungen verbleiben muß. Das Reichspostamt hat immer nur mit
seinem eignen, höchst übersichtlich geordneten Dienst zu tun, andre Ressorts sprechen
selten mit oder kommen doch nnr als „wünschende" in Betracht. Der Gouverneur
in Afrika sowohl als die Kolonialleituug in Berlin haben aber mit allen Ressorts
zu rechnen, die draußen irgendwie beteiligt sind; man denke nur an die Mitwirkung
der Armeeverwaltung, insbesondre des Militärkabinetts, bei der Anstellung oder
dem Ausscheiden von Offizieren, Verstärkung oder Ablösung der Schutztruppen usw.
Sowohl den Gouverneuren als den mitwirkenden heimischen Ressorts gegenüber ist
es aber doch in hohem Grade wünschenswert, daß die oberste Stelle der Kolonial¬
verwaltung mit der vollen ressortmäßigen Selbständigkeit nicht nur, vorbehaltlich der
entscheidenden Stellung des Reichskanzlers, sondern auch mit dem Ansehen der äußern
Rangstellung bekleidet sei und in allen Personalfragen, abgesehen von den militärischen,
völlig freie Hand habe. Alles Militärische, das gesamte Schutztruppenwcsen, sollte
dagegen, mit Einschluß der sehr wenig sachgemäßen und auch wenig sympathischen
Bezeichnung, auf das Kriegsministerium übergehn, demgemäß auch neben dem Etat
der Reichsmilitärverwaltung geführt werden. Das Reich, das die Kolonien unter
seinen Schutz gestellt und ihnen diesen Schutz zugesagt hat, darf sie nicht mit den
Kosten dieses Schutzes belasten. Diese Kosten sind militärische und liegen somit
der Militärverwaltung ob. Selbstverständlich können die Schntztruppen nicht auf
das Heer und seine Präsenzstärke in Anrechnung gebracht werden. Die Organisation
und die Friedensstärke des Heeres beruhen auf den Anforderungen, die die Mobil¬
machung stellt, und die Schutztruppen kommen für die Landesverteidigung der Heimat
nicht in Betracht. Sie müßten deshalb ebenso wie das Reichsmilitärgericht auf
einem gesonderten Etat neben dem Militäretat geführt werden. Für diese Etats
des engern Reichsdienstes hätte der Kriegsminister als Stellvertreter des Reichs¬
kanzlers zu fungieren.
Selbstverständlich müssen dabei die „Schutztruppen" bis zu einem gewissen
Grade unter die Gouverneure gestellt bleiben, schon damit die Führer nicht neben
dem Gouverneur Politik und etwaige Expeditionen auf eigne Faust machen; in jeder
andern Hinsicht bleiben sie aber Teile des Heeres und unterliegen der Jnspiziernng
durch eine für sie als zentrale Kommandostelle zu errichtende Inspektion. Für die
Kolonialverwaltung wäre es ein großer Nutzen, wenn sie davon entlastet würde,
dagegen in allen Personalfragen freiern Spielraum erhielte, namentlich auch in,
Austausch zwischen der Zentralverwaltung und dem Außendienst in den Kolonien.
Die gesamte Laufbahn innerhalb des Kolonialdienstes würde dadurch wesentlich anders
und sachgemäßer werden, und die Kosten des militärischen Schutzes, die heute die
Kolonien in völlig unsachgemäßer Weise belasten, verschwänden von einer Stelle,
auf die sie gar nicht gehören. Die Frage ist heute selbstverständlich noch nicht
spruchreif und steht vollständig im Rahmen der akademischen Erörterung. Vielleicht
wird sie auch das Plenum des Reichstags bei der zweite» Lesung des Etats be¬
schäftigen. Der Herervaufstand und die traurig große Zahl der Opfer werden
hoffentlich das Gute zur Folge haben, daß in die Handhabung unsers Kolonial¬
!wei Artikel der Reichsverfassung sind von Veränderungen be-
droht: Artikel 32, der bestimmt, daß die Mitglieder des Reichs¬
tags als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehn
dürfen, und Artikel 59, der die dreijährige Dienstpflicht bei den
I Fahnen ausspricht. In bezug auf Artikel 32 hat sich der Bundes¬
rat bisher, wenn auch nicht rund ablehnend, so doch ausweichend verhalten,
in bezug auf Artikel 59 liegt dagegen nicht nur die Praxis eines zehnjährigen
Bestehens der zweijährigen Dienstzeit der Fußtruppen, sondern auch die be¬
stimmte Zusage des preußischen Kriegsministers vor, daß mit der Ein¬
bringung eines neuen Neichsmilitärgesetzes die dauernde gesetzliche Festlegung
der zweijährigen Dienstzeit, d, h. eine Abänderung der Reichsverfassung in diesen,
Sinne, erfolgen werde.
Für die verbündeten Regierungen wäre es vielleicht ein einfacher und
sichrer Weg gewesen, bei einer sich darbietenden Gelegenheit, etwa in einer
Thronrede, zu erklären, daß sie in absehbarer Zeit in keinerlei Abänderung der
Verfassung, des Bundesvertrags, zu willigen entschlossen seien. Damit hätten
sich alle Sturmlaufversuche auf eine granitne Wand gerichtet, und die Volks¬
vertretung hätte sich fügen und es anerkennen müssen, wenn die Regierungen
„Recht und Vertrag" — im Uhlandschen Sinne — unangetastet aufrecht er¬
halten wissen wollten. Es wäre dies eine sichere und sturmfreie Basis für die
Verteidigung der Verfassung gewesen, die Regierungen waren in dieser Rolle
die stärkern. während sie bei einem Nachgeben, sogar unter Kompensationen,
vielleicht die schwachem sein werden. Artikel 32 der Verfassung ist zudem so
klipp und klar, daß man an den Bezug heimlicher Besoldungen und Ent¬
schädigungen den Mandatsvcrlust, die Hinfälligkeit des Maubads ipso lÄow,
knüpfen könnte. Der Präsident des Reichstags Hütte nur von jedem Abgeordneten
die Erklärung an Eidesstatt zu fordern, daß er für die Ausübung des Maubads
keinerlei Besoldung oder Entschädigung beziehe; mit der Feststellung des Gegen¬
teils, worüber im Streitfalle ein Senat des Reichsgerichts oder dieses in xlsno
zu entscheiden hätte, wäre das Mandat erloschen.
Aber diese logische Konsequenz ans der Verfassung ist zu andern Zeiten
nicht gezogen worden, wo das vielleicht noch ein Leichtes und jedenfalls unver-
hältnismäßig leichter als heute gewesen wäre. Heute ist das Drängen nach Diäten
oder Anwesenheitsgeldern, und damit der Verzicht auf den rein ehrenamtlichen
Charakter des Maubads, bis in die rechte Seite des Reichstags hinein ver¬
breitet. Was uns bis jetzt vor der praktischen Einführung bewahrt hat,
ist nur die Schwierigkeit, einerseits ausreichende Kompensationen zu finden,
andrerseits sie vom Reichstage annehmen zu lassen. Staatssekretär Graf
Posadowsky hat vor kurzem, als er für eine höflichere Behandlung des Bundes¬
rath durch die Linke plädierte, eine verfassungsmäßige Gleichstellung beider
Körperschaften, Bundesrat und Reichstag, zugestanden. Aber der Bundesrat
ist eine von den Regierungen ernannte, nach deren Instruktionen abstimmende,
zudem mit Regierungsbefugnissen ausgestattete Körperschaft, die als auf einer
völlig andern Basis stehend einer aus dem allgemeinen, gleichen und geheimen
Stimmrecht hervorgegangnen nicht ebenbürtig sein kann. Der Reichstag ist auf¬
lösbar, der Bundesrat nicht; er hat vielmehr laut Artikel 24 die Auflösung des
Reichstags unter Zustimmung des Kaisers zu beschließen. Also eine verfassungs¬
mäßige Gleichstellung ist weder vorhanden, noch durch die Verfassung beabsichtigt.
Doch das sind zunächst akademische Betrachtungen, während dagegen die Frage
der Dienstzeit mitten in die harte Praxis hineinführt. Ein Menschenalter und
mehr ist vergangen, seit König Wilhelm der Erste nicht nur das Behagen der
fürstlichen Existenz seiner hohen Jahre, sondern seine Krone daransetzte und die
Not schwerer Kämpfe auf sich nahm, um die dreijährige Dienstzeit, die er für
absolut nötig erachtete, dem Abgeordnetenhause gegenüber aufrecht zu erhalten.
In den ernsten Zeiten der Konfliktsjahre hat es wiederholt Momente gegeben,
wo die Streitaxt um deu Preis der zweijährigen Dienstzeit begraben werden
konnte. Aber der König war eher bereit, die Krone niederzulegen als in ein
Zugeständnis zu willigen, das er sein Leben lang in Wort und Schrift bekämpft
hatte, und das seinen festgefügten Überzeugungen, die sich auf die Erfahrungen
eines funfzigjährigen Soldatenlebens gründeten, schnurstracks zuwider war. Es
war die Infanterie der dreijährigen Dienstzeit, die Düppel und Alsen stürmte
und in den Feldzügen von 1866 und 1870 so hervorragende Leistungen voll¬
brachte, daß Fürst Bismarck später einmal von ihr sagte, die Infanterie von
1870 sei die beste gewesen, die Preußen jemals gehabt habe. Wenn dennoch
schon fünf Jahre nach dem Tode Kaiser Wilhelms bei einer abermaligen
Armeeverstärkung die zweijährige Dienstzeit eingeführt wurde, so geschah das
nicht in pietätloser Hintansetzung seiner Grundsätze, sondern weil man der Über-
zeugung zu sein glaubte, daß ohne dieses Zugeständnis die Bewilligung nicht
zu haben sei. Ob das wirklich so der Fall war, das heute ex xost zu unter¬
suchen, hätte höchstens noch historischen Wert, jedenfalls mochte der damalige
Reichskanzler es auf Kämpfe um die Dienstzeit nicht ankommen lassen. Hierzu
kam allerdings, daß seit Mitte der siebziger Jahre einer solchen Entschließung
durch zunehmende umfassende Beurlaubungen des dritten Jahrgangs unwider-
leglich vorgearbeitet worden war. Der sogenannte Königsurlaub hatte, um deu
finanziellen Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, immer größere Dimensionen
augenommen: mit späterer Einstellung, frühzeitigerer Entlassung, Ernteurlaub
und sonstigem Urlaub sank bei manchen Truppenteilen die durchschnittliche Dienst¬
zeit auf zweieinhalb Jahre und weniger. Der dritte Jahrgang verkümmerte in-
folgedessen, und sogar erfahrene Militärs sprachen sich dahin aus, daß wenn
man nicht einen vollen dritten Jahrgang haben könne, es besser sei, diesen
Torso völlig abzuschaffen, sofern man dafür zwei volle Dienstjahre und ent¬
sprechend verstärktes Ausbildungspersonal erhalten könne. Auf dieser Grund¬
lage entstanden die Mißgeburten der Caprivischen Halbbataillone, die sich als
nicht lebensfähig und nicht leistungsfähig erwiesen. Aber als man sie endlich
auflöste und zu vollbürtigen Truppenteilen machte, vergaß man, daß sie ihrer
eigentlichen Bestimmung wieder entzogen wurden, ohne daß man dafür Ersatz schuf.
Fortan lag in allen drei Bataillonen des Regiments den sehr knapp bemessenen
Unteroffizieren wieder der gesamte Dienst mit Einschluß der Ausbildung ob, eine
ununterbrochne Arbeit vom letzten Septembertage des einen bis zum letzten
Septembertage des nächsten Jahres, worauf dann wieder von vorn angefangen
wurde. Man hat sich darum schon genötigt gesehen, auch die zweijährige Dienstzeit
in xiiixi unterhalb der Grenzen von vierundzwanzig Monaten zu bemessen.
Nun kann man nicht leugnen, daß seit den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts, wo König Wilhelm so harte Kämpfe um die dreijährige Dienst¬
zeit auf sich nahm, nicht nur bei unsern Nachbarheeren eine wesentliche Herab¬
setzung der Dienstzeit stattgefunden hat, sondern daß auch bei unserm eignen
Ersatz Intelligenz, Findigkeit und Gewandtheit zugenommen haben, ein Umstand,
der der Ausbildungsfähigkeit, wenn auch nicht immer der Disziplin und dem
sittlichen Halt des Mannes zugute kommt. An die Stelle des früher weit über¬
wiegend ländlichen Ersatzes ist in sehr großem Umfange — infolge des Anwachsens
des Fabrikwesens und der großen Städte — städtischer Ersatz getreten, beide
Kategorien halten zahlenmäßig einander fast die Wage. Von dem Standpunkt
der erleichterten Ausbildungsfähigkeit mag somit eine dauernde Herabsetzung
der Dienstzeit zulässig erscheinen. Als Thiers im Jahre 1871 die französische
Armee reorganisierte, verlangte er die fünfjährige Dienstzeit bei der Fahne.
Heute führen die Franzosen schon die zweijährige ein, und man wird nicht be¬
haupten können, daß der französische Ersatz dem deutschen überlegen sei; Öster¬
reich-Ungarn ist gleichfalls zur zweijährigen Dienstzeit übergegangen. Rußland
hat die Dienstzeit der Fußtruppen mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
allmählich ans vier Jahre herabgesetzt, tatsächlich werden es im weiten Zaren¬
reiche wohl meist nur drei Jahre sein. Unter diesen Umständen begeht die
deutsche Heeresverwaltung kein Unrecht — weder an der Armee noch an den
Erinnerungen Kaiser Wilhelms des Ersten —, wenn sie sich zur dauernden
Festlegung der zweijährigen Dienstzeit entschließt unter der Voraussetzung, daß
ihr die dauernd nötigen Kompensationen in Gestalt der Vermehrung des Lehr¬
personals, der Aufbesserung seiner Lage und in einer solchen allmählichen Ver¬
mehrung der Ccidres gewährt werden, die die Mängel in unserm jetzigen Heeres-
vrganismus beseitigt. Damit wird zugleich die Möglichkeit gesichert, die wehr¬
fähigen jungen Deutschen auch in ihrer stetig wachsenden Zahl durch die Schule
des Heeres gehn zu lassen.
Das Fazit jeder neuen sachlichen Erörterung der Frage kann immer nur sein,
daß prinzipiell eine dreijährige Ausbildung einer zweijährigen gewiß immer vor¬
zuziehen bleibt, und daß man die endgiltige Preisgebung der dreijährigen nur
mit tiefem Bedauern verzeichnen kann. Aber sie wäre bei der wachsenden Volks-
Vermehrung nur durchführbar, wenn man das Prinzip der allgemeinen Wehr^
Pflicht in bedenklichster Weise durchbräche. Bei Aufrechthaltung der jetzigen
Präsenzzahl von etwa 500000 Mann könnten statt 252000 Mann für die
zweijährige doch nur 166000 Mann für eine dreijährige Dienstzeit jährlich
eingestellt werden. Es wäre aber eine große soziale Ungerechtigkeit, und es
läge außerdem auch nicht im öffentlichen Interesse, alljährlich noch 90000 Dienst¬
fähige von der Waffenschnle der Nation fern zu halten. Und wiederum alles
auf drei Jahre einzustellen, was an waffenfähiger Mannschaft heranwächst, dazu
würden weder die Finanzen jemals ausreichen, auch nicht nach einer Finanz¬
reform, noch wäre es wünschenswert, ein so gewaltiges Friedensheer auf den
Beinen zu halten. Drei Jahrgänge je von wenigstens 400000 Mann unter
stetigem Wachsen dieser Zahl! Auch hätte bei der heutigen starken Konkurrenz
aller Industriestaaten, bei dem sich für jeden Einzelnen immer schärfer gestaltenden
Existenzkampf, sowie bei dem Umstand, daß der Landwirtschaft ohnehin viele
Kräfte fehlen, der Staat wohl nicht die Berechtigung und nicht das Interesse,
soviele Hände ans drei Jahre der schaffenden Arbeit zu entziehn.
Es bleibt darum nichts übrig, als innerhalb der auf Erwägungen für
Krieg und Frieden beruhenden Präsenzzahl bei den Fußtruppen mit der zwei¬
jährigen Dienstzeit das Mögliche zu erreichen. Geringer als die Infanterie
andrer Heere wird die deutsche wenigstens aus diesem Grunde niemals sein,
solange ihr ein ausreichendes und tüchtiges Lehrpersonal erhalten bleibt. Dies
ist die Überzeugung eines alten Vorkämpfers der dreijährigen Dienstpflicht,
der sich bei diesen Zeilen des Blücherschen Armeebefehls nach der Schlacht bei
Belle-Alliance erinnert: „Niemals wird Preußen untergehn, solange eure Söhne
und Enkel euch gleichen!"
Es ist für die Leser vielleicht nicht ohne Interesse, ein Bild von der Ver¬
wendung eines Jahrgangs zu erhalten. Nach der dem Reichstage vorliegenden
Übersicht über das Heeresergänzungsgeschüft für das Jahr 1902 wurden in den
Listen 1610741 Dienstpflichtige geführt. Davon gehörten dem jüngsten Jahr¬
gang, die Zwanzigjährigen umfassend, 692389 an. Von diesen sind
Es sind also von 516000 Mann 119000, ziemlich der vierte Teil, in die
Armee gekommen. Da die Gesamtzahl der Ausgchobnen und Freiwilligen für 1902
252251 Mann betrug, so hat der Jahrgang der Zwanzigjährigen dazu fast die
Hälfte gestellt.
Tatsächlich kommt nur ein reichliches Fünftel der wehrpflichtigen Deutschen
zur Einstellung in das stehende Heer und die Flotte. Mit der allmählichen
Aufstellung der heute noch fehlenden 41 dritten Bataillone, der Vermehrung
der Kavallerie und einiger kleiner Formationen sowie der Zunahme der Marine
wird sich die jährliche Zahl der Rekruten und der Freiwilligen mit der Zeit um
25000 bis 30000 Mann erhöhen. Aber was will das sagen gegenüber einem
jährlichen Zuwachs um 1 Million Menschen in Deutschland, wovon 500000
männlichen Geschlechts. In zwanzig Jahren, also ungefähr 1925, wird Deutsch¬
land 80 Millionen Einwohner haben, also wenigstens 400000 Wehrpflichtige
oder 80000 bis 100000 Mann Dienstfähige mehr! Selbstverständlich ist
nicht mit der finanziellen Möglichkeit zu rechnen, diesen Zuwachs noch einzu¬
stellen, auch wäre aus militärischen Gründen ein so großes Friedensheer kaum
wünschenswert. Es werden also innerhalb der nächsten zwanzig Jahre Ein¬
richtungen getroffen werden müssen, diesen Massen wenigstens das Notwendigste
an militärischer Ausbildung und Erziehung durch Einstellung bei der Ersatz¬
reserve oder bei der Landwehr sowie durch häufigere Übungen zu gewähren.
Das alles weist aber immer mehr auf ein starkes, geschultes, berufsfrohes und
berufskräftiges Ausbildnngspersonal hin.
Eigentlich zur allgemeinen Überraschung hat die Budgetkommission des
Reichstags die Forderung von etwa achthundert Unteroffizieren abgelehnt, die
dazu bestimmt waren, die Lücken auszufüllen, die durch dauernde Abkomman¬
dierung einer ebenso großen Zahl in Schreiber- und Zeichnerstellen bei den
Truppen entstanden waren. Achthundert Unteroffiziere sind freilich nur ein Pro¬
zent von der Gesamtzahl der Unteroffiziere des Reichsheeres, aber da wir keinen
zu viel, wohl aber manchen zu wenig haben, so werden sie an den Stellen,
wo sie fehlen, vermißt, ein andrer muß die Arbeit des fehlenden tun. Wird
das ein dauernder Zustand, so entwickelt sich daraus leicht der Grad von Erregt¬
heit und Reizbarkeit, der bei den Soldatenmißhandlnngen eine so große Rolle
spielt. Soll der Armee ein brauchbarer und ausreichender Unteroffizierstand
erhalten werden, so wird man das nur dadurch erreichen können, daß man die
Stellen nach Möglichkeit ausbessere, die Zahl der höher bezahlten Stellungen
und damit die Avencementsaussichten vermehrt und zugleich dafür Sorge trägt,
daß der einzelne Unteroffizier im Dienst uicht überlastet wird, daß also bei jeder
Kompagnie. Schwadron oder Batterie eine auskömmliche Anzahl vorhanden ist.
Je höher und je vielseitiger unser Kulturleben sich entwickelt und die Zahl der
bürgerlichen Berufe vervielfacht, desto mehr werden junge Männer, die früher
den Untcroffizierstcmd zum Beruf erwählt und sich darin Wohl befunden hätten,
geneigt sein, auf das Kapitulieren zu verzichten und nach Beendigung ihrer
Dienstpflicht eine bürgerliche Laufbahn einzuschlagen. Einzelne Gegenden des
Reichs werden in dieser Beziehung eine größere Anziehungskraft ausüben als
andre, aber namentlich in den westlichen Provinzen wird es immer schwerer
werden, einen tüchtigen Unteroffizierstand zu erhalten, zumal da die Kapitulanten
aus den östlichen Landesteilen es meist vorziehn, in den heimatlichen Korps¬
bezirk zurückzukehren, Kapitulanten aus dem Westen aber immer knapper werden.
Es sind dann auch nicht gerade immer die brauchbarsten und wünschenswertesten
Leute, die dort bei der Truppe bleiben. Um so notwendiger ist es, einem
Mangel rechtzeitig durch geeignete Maßregeln vorzubauen, namentlich wenn
man damit rechnen muß, daß das gewaltige Anwachsen der Bevölkerung zur
Ausbildung zahlreicher Ersatzreserven führen wird, eine Arbeit, die — wie die
Erfahrung der achtziger Jahre gelehrt hat — mit dem Personal des Frontdienstes
nicht geleistet werden kann. Man wird dann notgedrungen auf neue Formen
kommen, bei denen dem Unterofsizierpersonal große Aufgaben zufallen.
Abgesehen von der Expedition nach China und den Kolonialkämpfcn hat
sich die Armee eines nun dreiunddreißigjährigen Friedens zu erfreuen gehabt.
Wie lange er noch dauert, steht dahin. Um so dringender ist es, daß mit dem
Augenblick, wo sich die zweijährige Dienstzeit aus einem Notbehelf zu einer
dauernden, gesetzlich festliegenden Einrichtung umwandelt, der Armee auch alles
das gewährt werde, was sie haben muß, wenn sie mit dieser Neuerung auf ihrer
alten Höhe bleiben will. Bis zum Jahre 1893 konnten die Fußtruppen ihr
Unteroffiziermaterial den Mannschaften des dritten Jahrgangs entnehmen; von
diesen Leuten ist wohl nur noch ein geringer Bruchteil im Heere, seit zehn
Jahren hat man den Nachwuchs in einem Dienstalter zum Unteroffizier ge¬
macht, wo er ehedem zum Gefreiten befördert wurde. Daß diesen jungen
Unteroffizieren nicht nur die Erfahrung, sondern mit der Erfahrung nicht selten
auch die Autorität fehlt, die dann in einer Neigung zur Überhebung Ersatz suchen
wird — das alles bedarf keiner Ausführung, und wenn eines Tags bei einer
Mobilmachung die alten Reservisten in die Korporalschasten der jungen Unter¬
offiziere eingereiht werden, wird es bei diesen sehr vielen Tales bedürfen, sich
ohne Konflikte ihre Stellung zu wahren. Die Armeeverwaltung hat rechtzeitig
mit den Vizefeldwebeln, von denen ziemlich jede Kompagnie einen erhalten hat,
den jungen Unteroffizieren in einem ältern Kameraden ein Vorbild und zugleich
eine Aufsichtsinstanz gegeben. Damit ist der Durchschnitt der Qualität der
Unteroffiziere einer Kompagnie nicht unwesentlich verbessert worden; vielleicht
empfiehlt es sich, in Zukunft hierin noch einen Schritt weiter zu gehn. Wir
können nie genug Unteroffiziere haben, und sie können nie tüchtig genug sein.
In der preußischen Armee ist seit der Regentschaft König Wilhelms immer
auf eine gewisse Selbständigkeit und auf die Lebendigkeit des Verantwortlichkeits¬
gefühls auch der Unteroffiziere hingearbeitet worden. In einem der schlesischen
Gefangnenlager befand sich während des Krieges von 18K6 u. a. ein wackrer,
mit der Tapferkeitsmedaille und andern Ehrenzeichen geschmückter Feldwebel
des österreichischen Deutschmeister-Regiments. Auf die Frage des preußischen
Lagerkommandanten, wie es denn gekommen sei, daß ein Mann wie er un-
verwundet in Gefangenschaft geraten wäre, erwiderte er, er habe sich mit seinen
Leuten erst ergeben, als alle Offiziere gefallen oder doch verwundet gewesen
seien. Auf die weitere Frage, weshalb denn nicht er die Führung der Kom¬
pagnie übernommen habe, erwiderte er: Ich hatte halt keinen Befehl dazu.
Eine solche, für die damalige tapfre österreichische Armee charakteristische Auf¬
fassung wäre im preußischen Heere nicht möglich gewesen. Nach den Metzer
Schlachten waren Sergeanten als Kompagnieführer keine Seltenheit, bei dem
arg gelichteten Füsilierregiment Ur. 40 habe ich das zu Ende August 1870
mit eignen Augen gesehen. Das heutige in völliger Auflösung der Verbände
geführte Feuergefecht stellt an die Selbständigkeit, Umsicht und Charakterfestigkeit
der Unteroffiziere noch viel höhere Ansprüche als die einzelnen Gefechtstage
von 1870, um so mehr muß die Armee auf die geistige Hebung des Standes,
damit zugleich aber auch auf seine materielle Verbesserung bedacht sein. Der
Unteroffizier von heute hat eine Menge Dinge zu lernen und muß vieles verstehn.
was 1870 noch nicht von ihm verlangt wurde, woran überhaupt niemand dachte,
und - wohl die intellektuellen Potenzen der Massen, nicht aber die moralischen
sind seitdem stärker geworden! Möge der Reichstag dessen eingedenk sein, daß
jeder tüchti
bgleich nach außen hin immer der Versuch gemacht wird die
ganze polnische Bewegung als harmlos hinzustellen. plaudert die
polnische Agitationspresse doch recht offenherzig aus, wie sich in
den Köpfen ihrer nationalen Agitatoren das „zukünftige Polen¬
reich" eigentlich darstellt. Es ist noch nicht viel über em Jahr
her. daß das Graudenzer Polenblatt schrieb: „Unser Baterland Polen reicht
von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und ragt über die Gipfel der
Karpathen hinweg ^um gesamten Polen gehören der polnische Teil von
Pommern. Westpreußen. Ermland. Masovien. das Großherzogtum Posen.
Preußisch-Schlesien. Österreichisch-Schlesien. Galizien. das Königreich Polen.
Litauen. Wolhynien und Podolien. Das ist das ganze Polen, das ist unser
Vaterland! Es ist größer, viel größer, nicht nur als das Königreich Preußen,
sondern als das ganze Deutsche Reich. Es ist ja wahr, daß unser Vaterland
heute nicht mehr als besondrer und freier Staat mit eigner polnischer Regierung
besteht. Schlesien nämlich, sowohl das preußische wie das österreichische, und
ebenso Preußisch-Masovien sind schon vor einigen hundert Jahren von Polen
abgezweigt worden, und der Rest des polnischen Staats ist durch die Grenz¬
nachbarn vor hundert und einigen zehn Jahren in drei Teile, in das preußische,
österreichische und russische Polen zerrissen worden. Aber für uns Polen haben
die drei Grenzpfähle, die die drei Nachbarstaaten auf der Fläche unsers Vater¬
landes aufgestellt haben, keine Bedeutung. Wir alle fühlen uns auch so als
Söhne eines großen Polenlandes, unsers Märtyrervaterlandes." Das ist offen,
und der Wunschzettel läßt an Deutlichkeit und Dreistigkeit wahrlich nichts zu
wünschen übrig. Man wird auch nicht dagegen einwenden können, daß es sich
da nul die Hirngespinste eines einzelnen polnischen Redakteurs handle. Nein,
politische Ansprüche derselben Art werden überall in den polnischen Blättern
erhoben, man findet sie nur nicht immer so fleißig zusammengestellt. Die Herren
beanspruchen eben alles, wo nur irgendwann einmal eine polnische Macht,
nicht die Herrschaft des ehemaligen Königreichs Polen allein, zur Geltung
gekommen war. Die deutsche Stadt Vreslcm wird zurückgefordert und mit ihr
das gesamte preußische wie österreichische Schlesien, obwohl das doch seit sieben
Jahrhunderten nichts mehr mit dem Königreich Polen zu tun gehabt hat; das
soll angeblich nur „einige hundert Jahre" her fein. Wollten die Deutschen
ebenso rechnen, so könnten sie ganz Italien beanspruchen, denn gerade auch
vor denselben „einigen hundert Jahren" lebte und herrschte Kaiser Friedrich
der Zweite bis Sizilien, ihm war Ober- und Unteritalien Untertan, und er
starb auf dem Vormarsche nach Rom. Der Deutsche ist allerdings zu geschichts-
kundig und nicht dreist genug, daß er an so weit hinter uns liegende Begeben¬
heiten etwas andres als historische Erinnerungen anknüpfe.
Der allpolnischc Gedanke ist noch nicht sehr alt, hat sich auch bisher aus
das Gebiet der Agitation beschränkt und noch nicht zu Zusammenstößen geführt.
Solange die Schlachtn die Leitung der polnischen Bewegung allein in den
Händen hatte, richtete sie ihre Tätigkeit meist auf Kongreßpvlen, wo sie durch
Aufstände ihre frühere Adelsherrschaft wiederherzustellen suchte, aber mit allen
scheiterte, zum letztenmal im Jahre 1863. Schon während der letzten Auf¬
stände, seit 1848, hatte sich eine demokratische Richtung unter den Polen be¬
merkbar gemacht, die zu Spaltungen führte und dadurch die Niederlage der
Aufständischen beschleunigte. Dieser demokratische Flügel geht in seiner Haupt¬
zahl aus dem Bürgertum hervor, ist der Wiederherstellung einer reinen Adels¬
herrschaft abgeneigt und mit Erfolg bestrebt, der Schlachtn die Führung des
polnischen Volkes aus der Hand zu nehmen. Es ist derselbe Vorgang, der
sich mit dem vergangnen Jahrhundert bei fast allen Völkern des Kontinents
zeigte, daß der bürgerliche Mittelstand meist mit „studierten" Führern an der
Spitze unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Reaktion die Leitung der
öffentlichen Geschäfte den früher damit betrauten Klassen und Familien zu
entreißen sucht. In Deutschland ist die Entwicklung schon so weit gediehen,
daß die eine Schicht des Bürgertums, die der Arbeiter und der kleinen Leute,
die sich von ihren Führern unter der ganz falschen Bezeichnung Proletarier
zusammenfassen lassen, mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts darangeht, das
von andern Kreisen des Bürgertums für ihre Führer an politischem Einfluß
schon Erreichte wieder abzunehmen und im eignen Klassen- und Parteiinteresse
auszunützen. Daß von all diesen Schiebungen die Masse des eigentlichen
Volkes gar nichts hat, sondern nur die Führer eine Befriedigung ihrer Wünsche,
mindestens ihrer Eitelkeit, dabei finden, wissen die Einsichtigen längst, aber es
ist einstweilen nicht zu ändern, bevor die Völker nicht selber dahinterkommen,
daß sie pro vibilo arbeiten, solange sie sich von Agitatoren mißbrauchen lassen.
Ein geschicktes Schlagwort ist in unsern Zeitläuften etwas wert. Die „Wieder¬
herstellung Polens" mit der Adelsherrschaft im Hintergründe hatte außer den
Schlachtschitzen wenig Anhänger, namentlich wollten die polnischen Bauern nichts
davon wissen. Die Verwirklichung war trotzdem noch in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts keineswegs aussichtslos, denn es handelte sich dabei
in der Hauptsache um russisches Gebiet, Nußland war nicht beliebt und hatte
schon mehrmals fast das ganze vereinte Europa sich gegenüber gesehen. Auch
wenn die Kriege von 1866 und 1870 anders ausgefallen wären, konnten sich
Aussichten auf eine Wiederherstellung Polens eröffnen. Intriguen und Ver¬
lockungsversuche, um durch Anbieten des polnischen Königsthrons an einen
Großfürsten, einen Erzherzog oder an einen preußischen Prinzen eine der drei
beteiligten Mächte für die Sache zu gewinnen, sind wiederholt ins Werk gesetzt
worden, zum letztenmal wohl beim Reichskanzler Caprivi in Deutschland,
natürlich vergeblich. Die Umgestaltung der politischen Lage in Europa während
der letzten vier Jahrzehnte hat alle diese Bestrebungen zur Aussichtslosigkeit
verdammt. Diese gar nicht abzuweisende Erkenntnis hat aber gerade die Agi¬
tation der polnischen Demokratie gefördert. An Stelle der „Wiederherstellung
Polens" mit der Adelsherrschaft im Hintergrunde setzte sie die großpolnische
Idee mit einem Zukunftsreich „von Meer zu Meer/' ein ganz nebelhaftes
Gebilde, das freilich alles umfaßt, was die nationale Begehrlichkeit eines Polen
nur träumen mag, dessen Unbestimmtheit dem jüngsten Phantasten wie dem
fanatischen Greise den weitesten Spielraum gewährt. Sie hat damit den Vogel
abgeschossen und tatsächlich schon der Schlacht« die Führung der polnischen
Bewegung aus der Hand genommen.
Für die Entfaltung des allpolnischen Banners ist freilich in Europa kein
Raum, und man kann auch nicht annehmen, daß die Führer dieser Bewegung
im Ernst daran denken, denn es würde sich dabei doch um eine Zerstückelung
der drei mächtigsten Monarchien des Kontinents handeln. Es dreht sich bei
ihrer Agitation nur um die Führerschaft, und bei Agitationen ist die Möglich¬
keit des angeblich Gewollten nie in Rechenschaft gezogen worden, im Gegenteil,
je vager das Schlagwort, desto mehr zieht es und lockt größere Massen an.
Hat nicht auch Bebel auf dem sozialdemokratischen Parteitage mit der Wieder¬
holung alter kommunistischer und revolutionärer Phrasen die Mehrheit an sich
gerissen, obgleich in seiner starker gewordnen Partei immer mehr die Über¬
zeugung wachst, daß etwas Positives geleistet werden müsse, wolle man nicht
die'Zukunft der Partei gefährden? Die Schlachtn ist selbstverständlich der
natürliche Feind der neuen demokratischen Richtung im Polentum. sie wird aber
mehr und mehr gezwungen, mit ihr zu paktieren, will sie sich überhaupt in
der Leitung der Nation erhalten, ja sie muß zu diesem Zweck sogar chauvi¬
nistischer auftreten. Infolge dieses gegenseitigen Überbietens läßt sich auch, je
mehr der polnische Mittelstand an politischem Einfluß gewonnen hat, das
Anwachsen der polnischen Agitation verfolgen. Dabei geht die Beherrschung
der kleinern Kreise und der polnischen Bauern, die vom Adel nichts wissen
wollen, in immer schnellerm Tempo auf den Mittelstand und die niedre Geist¬
lichkeit über, und der Schlachta entgleitet mehr und mehr die Leitung des
polnischen Volkes. Wenn sich die allpolnische Agitation im „preußischen Anteil"
am lebhaftesten zeigt, so hat das seinen eigentlichen Grund auch nur darin,
daß dort der polnische Mittelstand am kräftigsten ist und die Führung so gut
wie ganz an sich gerissen hat. Die freie Verfassung und Verwaltung, das
gehobne Schulwesen und günstige Erwerbsbedingungen haben da einen polnischen
Mittelstand entstehn lassen, über den zwar russische Blätter spotten: das würeu
gar keine Polen, sondern polnisch redende Deutsche; aber er ist vorhanden, hat
durch die Mittel der modernen demokratischen Agitation die Führung an sich
gerissen, und die Schlachta sucht, sie vergeblich zurückzugewinnen. In Russisch-
Polen ist diese Entwicklung bedeutend weniger fortgeschritten, am geringsten
in Galizien, wo die Schlachta dieser Bewegung mit Besorgnis gegenübersteht,
denn ihre politisch erfahrnen Häupter erkennen, daß das Weiterschreiten auf
solcher Bahn zunächst ihre und ihres ganzen Volkes bevorzugte Stellung in
Österreich kosten würde, wo sie bisher mit großem politischem Geschick die
Pflege ihrer Nationalität mit dem Schimmer des Patriotismus zu umkleiden
verstanden hat. Sie wissen ferner recht gut, daß Rußland, um bei seinen weit¬
ausschauenden Unternehmungen in Asien eine feste Rückendeckung zu haben, mit
Deutschland gute Freundschaft hält und mit Österreich ein Abkommen über ge¬
meinsame Niederhaltung aller Balkanwirren abgeschlossen hat und sich natürlich
auch nicht einen Augenblick besinnen würde, mit beiden Staaten gegen alle
polnischen — aber auch magyarische» — Bestrebungen vorzugehn, die geeignet
sein könnten, die Unruhen der Balkanländer weiter nach Norden zu verpflanzen.
Die Zeit der frühern Eifersucht unter den europäischen Mächten, von der die
Polen Nutzen ziehn könnten, wenn man sie brauchte, sind sicher auf längere
Dauer vorbei.
Die gänzliche Aussichtslosigkeit einer Agitation ist freilich nirgends ein
Grund zur Einstellung gewesen. Leichtgläubig und augenblicklichen Eindrücken
zugänglich war der Pole immer, dazu ein Meister glatter Höflichkeit und
liebenswürdig täuschender Verstellung. Die dnrch eine mehr als hundert¬
jährige Geheimbunds- und Revolutiouspolitik erworbne Schulung in den zu
nationalen Angelegenheiten erklärten Fragen ist allen Kreisen ihres Volks
eigen geworden. Ihre Preßorganisation ist ausgezeichnet geordnet, weiß sich
auf allerlei liberalen und klerikalen Umwegen in deutschen und ausländischen
Blättern Eingang zu verschaffen und dann wieder den Rückweg in die pol¬
nischen Zeitungen zu finden, wo alles als polenfreundliche und deutschfeind¬
liche Stimme erscheint. Sogar der Panslawismus wird zuweilen für die Polen
in Bewegung gesetzt. Nun ist die Mehrzahl der Russen gewiß nicht deutsch¬
feindlich gesinnt, aber ihr Panslawismus ist praktisch und geht davon aus,
daß alle Westslawen einfach Russen werden müssen; sie denken nicht daran,
für polnische Träume auch nur einen Zoll breit russisches Land herzugeben.
Man darf sich nun freilich fragen, was die fortgesetzte Selbsttäuschung durch
die polnische Presse für einen Zweck haben soll, die bekannte polnische
Neigung zur nationalen Intrigue und Selbstbespiegelung gibt keine aus¬
reichende Erklärung dafür. Man hat eben nur die Mache der radikalen
Agitatoren vor sich, die als Führer des Volks eine Rolle spielen wollen.
Heutzutage liest der Pole, wenn er überhaupt lesen kann, was wenigstens in
Preußen so ziemlich allgemein der Fall sein dürfte, ausschließlich polnische
Blätter. Wenn er nun darin jeden Tag eine Auslese deutschfeindlicher Pre߬
stimmen liest, so wird er nach und nach zu dem Glauben kommen, daß die
ganze Welt nur darauf brennt, an Deutschland Rache zu nehmen, und danach
natürlich Polen wieder herzustellen. Der einfache Mann, der nicht weiter sehen
kann, muß schließlich den Gleisnern glauben und die Verwirklichung der poli¬
tischen Träume des Polentums als Möglichkeit der nahen Zukunft ansehen-
Mit so plumpen Täuschungen ist die Verbreitung der allpolnischen Idee und die
Radikalisierung des polnischen Volks in immer größerm Umfang erreicht
worden. Und auf diesem Wege ist überhaupt an kein Einhalten mehr zu
deuten. Wie in allen andern Fällen, wird immer ein Agitator, um an die
Spitze zu kommen, den andern, eine Richtung die andre zu überbieten suchen
bis schließlich alles im Kommunismus und Anarchismus endet. Trotzdem ist
nirgends an eine größere polnische Erhebung zu denken, es wird alles bei der
wüsten Agitation stehn bleiben, obgleich tagtäglich dem polnischen Bürger,
Bauern und .Handwerker die aufwieglerische Kost geboten wird, meist unter
tätiger Mitwirkung der Geistlichkeit, die noch für solche Blätter Propaganda
macht. Selbstverständlich sind die Folgen der demokratischen allpolmschen
Agitationen in den östlichen preußischen Provinzen, wo sich der polnische
Mittelstand am stärksten entwickelt hat. am schärfsten hervorgetreten und haben
schon Gegenmaßregeln des Staats hervorgerufen. Es dürfte auch in Oster¬
reich bald die Zeit kommen, wo man die Richtigkeit der Worte Friedrichs
des Großem „Man darf den Polen keine Komplimente machen, das verdirbt
sie nur." klarer als jetzt einsehen und danach handeln wird. Die leitenden
Kreise in Rußland verfolgen mit Mißtrauen die Verbreitung des Polentums,
namentlich in den Ostseeprovinzen, aber anch westlich von dem Weichselgebiet, und
man sucht, mit einer strengen Nussifizierung der Volksschulen auch diesem Übel
zu begegnen. Es ist noch gar nicht lange her, daß die russische Presse auf
die polnische Gefahr im Westgebiete hinwies, auf das unaufhaltsame Vor¬
dringen polnischer Elemente in den Grenzgouvernements des eigentlichen Ru߬
lands. Die Russen sind im Weichselgebiete nur ein sehr kleiner Teil der
Bevölkerung. Aber schon seit mehreren Jahren geht man daran, nach dem
Beispiele der preußischen Ansiedlungskommission geschlossene russische Dorf¬
gemeinden zu bilden.
Seit die demokratische Richtung die nationale polnische Agitation an sich
gerissen hat, denkt das Polentum nicht mehr daran, nnr seinen alten histo¬
rischen Besitz zu verteidigen, sondern ist zum Angriff auf Gebiete übergegangen,
die niemals Teile des polnischen Reichs waren. Der Sitz dieser Agitation
ist Russisch-Polen, wo der Gedanke der Wiederaufrichtung eines polnischen
Reichs bei Gelegenheit eines politischen Weltbrandcs am eifrigsten gehegt
wird, und wo man es sich auch ein gutes Stück Geld kosten läßt, die Propa¬
ganda dafür namentlich in der nichtndlichen Bevölkerung von Preußisch-Polen
und von Galizien zu beleben. Die führenden Kreise haben längst erkannt, daß
ihrem Volte der neue Zuwachs wirtschaftlicher Kraft durch die polonisierten
Deutschen geworden ist; denn diese haben sich nnr zu leicht bewegen lassen,
meist unter dem Einfluß ihrer polnischen Frauen und der Geistlichkeit, ihrem
Volke abtrünnig zu werden und die fremde Jacke zu tragen. Ein so nütz¬
liches Geschäft mit aller Umsicht und Tatkraft fortzusetzen, ist das mit größtem
Eifer erstrebte Ziel der polnischen demokratischen Agitation, und die gro߬
polnische Idee hilft auch hierbei mit. Die nationale Arbeit beginnt schon in
den Kindergärten und in den Volksschulen, wird in allen höhern Klassen und
Lehranstalten, in allen Vereinen und bei öffentlichen Festlichkeiten und Aus¬
zügen fortgesetzt, die Deutschen unterliegen ihr bald; meist ist schon die zweite,
sicher die dritte Generation vollständig politisiert. Man braucht ja nur die
Namen der polnischen Führer in Posen und Galizien. sogar in Russisch-Polen,
wie auch die der Unterzeichner von polnischen Ausrufen und Petitionen zu
lesen und wird mit sehr gemischten Gefühlen wahrnehmen, wie sehr die
Polonisierung fortgeschritten ist. Hauptsächlich ist das in den Städten der
Fall, aber in Posen und Westpreuszen, wie auch in Galizien. gibt es ganze
Dörfer, die früher durchaus deutsch waren, und deren Bewohner sich hente
als Polen ansehen. Alle Mittel der Überredung wie der direkten Bedrückung
sind dabei angewandt worden, wer sich nicht polonisieren lassen will, wird
boykottiert und auch sonst schlecht behandelt. Das geschieht gleichmäßig in
allen „drei Anteilen" des angeblichen Polenreichs, ohne daß die Regierungen
viel dagegen getan haben oder tun konnten. Im Königreich Polen sind die
Russen zu wenig zahlreich und lieben auch die Deutschen nicht, solange sie
nicht Russen werden wollen; ob sie deutsch bleiben oder polonisiert werden,
ist ihnen gleichgiltig. In Preußen gibt die liberale Gesetzgebung fast gar
keine Handhaben gegen die polnischen Übergriffe, sobald sie nicht direkt als
Landesverrat behandelt werden können; ohne ein Ausnahmegesetz, für das im
Abgeordnetenhause schwer eine Mehrheit zu finden sein wird, dürften auch die
unter Bismarck begonnenen und neuerdings mit verstärkter Kraft und mit be¬
deutenden Geldmitteln betriebnen Ansiedlungsversuche kaum das gewollte Ziel
dein geschlossen vorgehenden Polentum gegenüber erreichen. In Galizien, das
seit länger als dreißig Jahren dein Schlachtschitzentum vollständig ausgeliefert
ist, kann die Polvuisierung des deutschen Teils der Bevölkerung als so gen
wie beendet angesehen werden, auch die uralten deutschen Ansiedlungen in
den ehemaligen plastischen Herzogtümern Auschwitz (jetzt nur noch Oswiecim
genannt) und Zatvr sind polnisch geworden, die Bewohner der letzten deutschen
(meist protestantischen) Bauerndörfer sind zur Auswandrnng uach Posen ent¬
schlossen und dürften der preußischen Ansiedlungskommission willkommen sein.
Jetzt richten sich die Hauptangriffe der polnischen Glücklichmacher nur noch
gegen die gewerbtätige deutsche Grenzstadt Biala, einst „königliche Freistadt,"
und zwei nüchstgelegne Dörfer Alzen und Kunzendorf, deren deutsche Namen
von den galizischen Behörden schon nicht mehr anerkannt werden. Sie leisten
tapfern Widerstand, und hoffentlich blühen ihnen mich noch in Österreich
bessere Tage, denn die weitere Entwicklung der polnischen Dinge muß schlie߬
lich ebenso zum Konflikt mit der Krone führen, wie das in der ungarischen
Frage gegenwärtig schon der Fall ist. Die Polen kultivieren ihr Volk da¬
durch, daß sie alles, was sich in ihrem Bereich an deutscher Kultur vorfindet,
ins Polnische übersetzen, aus eigner Kraft haben sie blutwenig geleistet.
Trotzdem hat in den letzten Jahrzehnten das Polentum eine unheimliche
Expansionskraft entwickelt, es greift schon über sein historisch politisches Gebiet
hinaus, und wie sich der polnische Übermut in Westpreußen anschickt, das
wendische Gebiet der Kaschuben im nordöstlichen Pommern durch polnische
Ärzte und andre Sendlinge für die große polnische Nation zurückzugewinnen,
so ist im Süden die polnische Agitation eifrig bemüht, das österreichische Ost-
schlesicn, das ehemalige „Herzogtum Teschen," für das zukünftige Großpolen
zu erobern. Wenn man diese polnische Dreistigkeit klarer erkennen will, muß
man einige Blätter der Geschichte nachschlagen. Das Herzogtum Teschen liegt
am Nordrande des Beskidengebirges und grenzt an Mähren, Ungarn, Galizien
und Preußisch-Schlesien. Es bildet den östlichen, durch die Landspitze bei
Mährisch-Ostrau abgetrennten Teil von Österreichisch-Schlesien, das bis zu den
Schlesischen Kriegen zwischen Friedrich dem Zweiten und Maria Theresia mit
dem preußischen Schlesien vereint war. Das Herzogtum Teschen umfaßt die
Quellgebiete und den obern Lauf der Weichsel, sowie der Olsa und der
Ostrawitza, die beide zum Odergebiete gehören, und hat einen Flächenraum
von 2300 Quadratkilometern mit etwa 350000 Einwohnern, von denen
ungefähr der siebente Teil Deutsche sind. Geht man den dunkeln Über¬
lieferungen aus vorgeschichtlicher Zeit nach, so ergibt sich ohne weüeres, daß
alles Land in Österreich und Deutschland bis weit nach Osten über die
Weichsel hinaus ursprünglich germanisches Gebiet war. also der obere Lauf
der Weichsel und Olsa ohne Zweifel auch. Freilich wird niemals mehr fest¬
gestellt werdeu können, welcher deutsche Volksstamm da gewohnt oder geherrscht
hat. Bis zum zehnten Jahrhundert unsrer Geschichtsschreibung gibt es ten,
beglaubigtes historisches Dokument oder sonstiges Denkmal über die Bewohner
dieser Gegend, die weitab voll den Schauplätzen der Geschichte und den Mittel¬
punkten der Kultur ihr Dasein verbracht haben. Zweifellos ist nur, daß das
Gebiet schon längere Zeit vor seinem Eintritt in die Geschichte von einem
Volke slawischer Zunge bewohnt wurde. Wie die Slawen in ehemals deutsche
Länder gekommen sind, ist niemals genau festgestellt worden. Sie waren
immer plötzlich vorhanden, wenn eine der germanischen Völkerschaften, deren
Weg in der Geschichte deutliche Spuren hinterlassen hat. das Land verlassen
hatte. Die russischen Historiker Hilferding, Smirnow, Drinow und neuerdings
Dr. Pero Gavranitsch erklären diese Erscheinung damit, daß die Slawen zuerst
unfreiwillig aus Sarmatien im Gefolge erobernder germanischer Stämme als
landwirtschaftliche Sklaven mitgeführt wurden, später im Lande blieben, wenn
ihre Gebieter wieder nach Westen weiter zogen, und durch Zuzüge aus der
Heimat verstärkt wurden. In dem sür uns in Betracht kommenden, wie über¬
haupt in dem ganzen oberschlesischen Gebiete wohnte, als der erste Strahl der
Geschichte dahin fiel, der in zahlreiche Gaue verteilte slawische Stamm der
Lenden. sagenhaft ist auch noch der Beginn des plastischen Herrscherhauses,
das nach der gebräuchlichen Annahme um die Mitte des neunten Jahrhunderts
die Herrschaft über Polen erlangt haben soll.
Mesko der Erste war der erste polnische Piast. der sich durch Berührung
mit dem Christentum und dem großen Kulturvolke der Deutschen in die Ge¬
schichte einführte. Er erkannte um 963 die Oberherrlichkeit des römisch¬
deutschen Kaisers an und trat 966 auf Veranlassung seiner Gemahlin Dubrawa.
einer Tochter des Herzogs von Böhmen, mit einem Teile seines Volkes zum
Christentum über. Der erste polnische Bischof Jordan stand unter dem Erz-
bischof von Magdeburg. Meskos großer Sohn. Boleslaw der Erste Chrobry,
der 992 zur Regierung kam, darf als der eigentliche Gründer des polnischen
Reiches angesehen werden, denn er unterwarf 999 Krakau und das gesamte
Westgalizicn (Chrowatien) und gliederte zum erstenmal die Lechenstümme auf
schlesischer Erde und in Chrowatien einem Reiche ein. Das Verhältnis zum
Deutschen Reiche bestand zunächst fort; mit Kaiser Otto dem Dritten stand
Boleslaw auf gutem Fuß, und er eilte ihm entgegen, als er im Jahre 1000
zum Grabe seines Freundes, des heiligen Adalberts, pilgerte. Damals stiftete
Otto der Dritte das Erzbistum Gnesen, dein er die zugleich errichteten Bis-
enner Kolberg, Breslau und Krakau unterordnete, und er ahnte nicht, daß
er mit dieser Sonderstellung des polnischen Erzbistums die spätere Trennung
Polens vom Reiche einleitete, denn schon nach Ottos Tode riß sich Boleslaw
los und erhielt die Lausitzer als Lehen des Deutschen Reichs, Das Bistum
Breslau umfaßte beinahe das gesamte Gebiet, das später den Namen Schlesien
erhielt, und zu dem auch das nachmalige Herzogtum Teschen gehörte, das zum
erstenmal in der Geschichte als Kastellatur des Bistums Breslau genannt
wird, dem es auch heute noch zugeteilt ist. Die Nachfolger von Boleslaw
gerieten in langwierige Kämpfe mit Böhmen, Boleslaw der Dritte (1102 bis
1138) teilte das Reich unter seine drei Söhne, woraus wieder Streitigkeiten
hervorgingen, deren für uns wichtiges Ergebnis war, daß die Söhne des aus
Krakau Vertriebnen Herzogs Wladislaw des Zweiten 1163 init dem gesamten,
zum Bistumsprengel Breslau gehörenden Lande abgefunden wurden, das sie
unter sich teilten, und wobei Mesko Teschen und Rcttibor erhielt. Schlesien
bekam damit seine eignen, wenn auch noch nicht vollständig selbständigen
Fürsten, und seine eigne Geschichte beginnt somit mit dem Jahre 1163. Wann
das Kastell von Teschen entstanden ist, weiß man nicht, jedenfalls stand es
aber von Anfang an auf dem heutigen Schloßberg, der für eine solche An¬
lage nicht günstiger hätte gefunden werden können; in Urkunden wird es
ziemlich spät, zum erstenmal 1155 erwähnt. Noch lange nach der Trennung
Schlesiens von Polen kannte man noch kein Herzogtum Teschen, dessen Gebiet
über hundert Jahre lang ein Teil des Herzogtums Oppeln und Ratibor
blieb. Auch der Name Schlesien wurde damals für die östlichen Teile noch
nicht angewandt, sondern galt nur für Niederschlesien, erst später nahmen
zuerst die Herzöge von Teschen auch den Titel „Herzog von Schlesien" an,
und die übrigen oberschlesischen Piaster folgten diesem Beispiel.
Der Zusammenhang zwischen polnischen und schlesischen Piaster hatte
sich schon nach der ersten Teilung sehr rasch gelockert, wie die übrigen
Teilfürsten kümmerten sich auch die schlesischen wenig um den Oberherrn des
Hanfes in Krakau. Nachdem die Polen schließlich selbst dem Senioratsgesetz
Boleslaws des Dritten untreu geworden waren, fiel für die schlesischen Piaster
jede Rücksicht darauf weg, und sie wollten die ihnen zugewiesneu Länder
nun so unabhängig wie möglich besitzen. Seit dem Beginn des dreizehnten
Jahrhunderts galten sie auch als vollkommen unabhängige Herren und hatten
sich schon mehr Deutschland genähert als den Herzögen von Krakau. Bei der
Machtlosigkeit so kleiner Territorialherren war freilich die Selbständigkeit eine
sehr unsichere Sache, und es lag in ihrem Interesse, im Anschluß an einen
kräftigen Staat eine Sicherheit zu suchen, die auch allein dem Lande und
seinen Bewohnern eine gedeihliche Entwicklung gewähren konnte. Die schlesischen
Piaster schlössen sich darum an Böhmen an, und das erste Beispiel der Unter¬
werfung unter die Oberlehnshoheit Böhmens gab Herzog Kasimir von Beuthen,
der im Einverständnis mit seinen Söhnen und den Adlichen seines Landes
nach der zu Prag am 10. Januar 1289 ausgestellten Urkunde sein Herzog¬
tum dem König von Böhmen übergab und es von diesem als Lehen zurück¬
erhielt. In den nächsten Jahren traten auch sein Bruder Mesko der Zweite
von Teschen und Boleslaw von Oppeln in eine ähnliche enge Verbindung
mit dem Königreich Böhmen. Mesko war 1290 durch Teilung mit seinem
Bruder Przemislans, der Rcitibor behielt, selbständiger Herzog von Teschen
und Auschwitz geworden. Zu dem Gebiete der schlesischen Piaster gehörten
nämlich auch Savbusch. Auschwitz und Zator, die kirchlich dem Sprengel des
Bischofs von Krcckau zugeteilt waren. In die Zeit der Selbständigmachung
der schlesischen Piaster und ihres Anschlusses an Böhmen fallen die ersten
deutschen Ansiedlungen. Gleichwie die Herrscher von Böhmen und Mähren,
von Ungarn und von Polen sahen sich auch die schlesischen Fürstenhäuser veran¬
laßt, ihrem Staatshaushalte durch Heranziehung von deutschen Ansiedlern
ein neue Grundlage zu geben. Das geschah jedoch keineswegs aus besondrer
Vorliebe für die Deutschen, sondern bloß aus dem Grunde, durch die Kauf¬
und Zinsgelder, die von den auf früheren Waldboden angesiedelten Deutschen
erhoben wurden, die Einkünfte zu mehren. Herzog Kasimir der Zweite (1211
bis 1229) hat sich um die Kultur des Landes durch die Gründung von
Dörfern und Städten nach deutschem Recht große Verdienste erworben, des¬
gleichen sein schon genannter Sohn Mesko der Zweite. Jedenfalls verdankt
Schlesien gleich den Nachbarländern sein Städtewesen dem deutschen Volke,
denn erst seit der Einwanderung der Deutschen entstehen da Gemeinden, die
als Städte bezeichnet zu werden verdienen. Neu gegründete Märkte und
Städte erhielten gewöhnlich die Rechte einer schon bestehenden deutschen Stadt,
so wurde den Städten Teschen, Auschwitz, Zator, Skvtschan. Sillein in Ungarn
und andern das Recht von Löwenberg verliehen. Aus einer Urkunde des
Herzogs Meskos des Ersten vom 31. Januar 1290 über die Anlegung des
Dorfes Boguschowitz geht hervor, daß Teschen schon damals das deutsche
Städterecht hatte, was auch mit der Rechtsentwicklung in den Ländern der
böhmischen Krone übereinstimmt, wo seit der Mitte des dreizehnten Jahr¬
hunderts die Verleihung des deutschen Städterechts gebräuchlich geworden
war. Przemyslaus der Erste von Teschen verlieh der Stadt Teschen das
Magdeburger Recht, wie aus einem Briefe der Ratmcmnen von Teschen vom
2. März 1374 hervorgeht. Die Sprache der Urkunden war bis zur Mitte
des vierzehnten Jahrhunderts die lateinische, dann nnter der Herrschaft der
Luxemburger ist über hundert Jahre die deutsche Sprache allein im Gebrauch
gewesen, von der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts bis zum Aussterben
der Teschner Piaster (während des Dreißigjährigen Kriegs) kam in der Haupt¬
sache die tschechische Sprache in Anwendung. Die Handfeste des Herzogs
Boleslaws des Ersten für die Stadt Teschen vom 28. Februar 1416 ist noch in
deutscher Sprache abgefaßt, von den Brüdern Wladislcms und Przemislaus
von Teschen gibt es im Jahre 1440 die erste tschechische Urkunde. Polnische
Urkunden hat es in dem Lande nie gegeben. Überhaupt war die Trennung
von Polen und der Anschluß an Böhmen schon unter Kasimir dem Ersten
Von Teschen (1316 bis 1358) so weit gediehen, daß von dieser Zeit an der
Wappenschild, der bisher den polnischen weißen Adler im roten Felde geführt
hatte, einen ungekrönten goldnen Adler im blauen Felde erhielt. Das
Land machte die guten und die bösen Tage des Königreichs Böhmen mit,
und dessen Geschicke blieben nicht ohne Einwirkung, Der Aufschwung der
tschechischen Sprache während der Hussitenzeit und der seit jenen Tagen hervor¬
tretende Widerstand gegen die deutsche Sprache machten sich auch hier geltend,
und namentlich trat der Adel sehr für das Tschechische ein. Die größte
Schwächung aber erlitt das Deutschtum durch die harten Maßregeln gegen
die Protestanten während der Gegenreformation, nachdem das Herzogtum
Teschen als erledigtes Lehen der böhmischen Krone 1653 definitiv an das
Haus Habsburg gekommen war. Übrigens wurden die zahlreichen polnisch
sprechenden Protestanten in Ostschlesien davon wohl eben so schwer betroffen,
und es scheint, daß die damaligen gemeinsamen Leiden Deutsche und Polen
einander unser gebracht und das noch in der Gegenwart bestehende freund¬
schaftliche Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in Österreichisch-Schlesien
begründet, oder wenn es schon bestand, befestigt haben. Die weitern politischen
Ereignisse nach dem Dreißigjährigen Kriege haben das Kronland Schlesien an
den Schicksalen der Habsburgischen Monarchie teilnehmen lassen, die nicht ge¬
eignet waren, weder an die längst verjährten und vergessenen polnischen Be¬
ziehungen noch an das spätere Verhältnis zur böhmischen Krone belebend
und auffrischend zu erinnern. Nachträglich bemerkt zu werden verdient nur
noch das Schicksal der einst auch den schlesischen Piaster gehörenden Herzog¬
tümer Auschwitz und Zator. Zu der Zeit der Minderjährigkeit des Ladislaus
PostHumus fielen beide Herzogtümer an Polen zurück, indem Wenzel von
Zator und Johann von Auschwitz zuerst die böhmische Lehusherrschaft mit der
polnischen vertauschten und nachmals ihre Gebiete auch an die Krone Polen
verkauften. Trotzdem behaupteten beide Herzogtümer später noch eine be¬
sondre Stellung, und sie gehörten anch bis zur Auflösung des Deutschen
Bundes 1866 zum Deutschen Reich. Erst danach sind sie mit Galizien voll¬
kommen vereinigt worden.
In Anbetracht dieser geschichtlichen Entwicklung müßte es wundernehmen,
wenn in den ehemaligen Piastenländern, insbesondre in dem Herzogtum Teschen,
irgend welche polnischen Überlieferungen vorhanden sein sollten. Seit genau
740 Jahren von dem politischen Zusammenhang mit Polen getrennt und vor
schon 600 Jahren in ein dauerndes Lehnsverhültnis zu Böhmen getreten,
konnte das Land doch kaum eine polnische Entwicklung nehmen. Aber auch
von dem eigentlichen Herrschaftslande Böhmen lag es zu weit entfernt, als
daß es in besondrer Weise zum Tschechentum hinübergezogen worden wäre. Alle
Kultur kam von den Deutschen, und während der letzten Jahrhunderte von
einer vorwiegend deutschen Beamtenschaft. Es war unter diesen Umständen
nur natürlich, daß die Bevölkerung weder polnisch noch tschechisch sein wollte,
dagegen den Deutschen gegenüber willig und freundschaftlich gesinnt war, ja
es entwickelte sich in ihnen sogar ein gewisser Grenzzorn, der sich namentlich
gegen das schon damals verarmte Galizien richtete, die Benennung „Polak"
wurde als schwere Beleidigung ausgegeben und empfunden, und heute noch
will der einen polnischen Dialekt redende Schlesier nur Schlesier, um keinen
Preis ein Pole sein — von einigen, meist eingewanderten, Agitatoren ab¬
gesehen. Mit dem polnischen Dialekt der Ostschlesier hat es nun auch eine
eigne Bewandtnis. In Schlesien versteht jeder halbwegs Gebildete, auch der
bessere Bauer und bessere Arbeiter, der seiner Schulpflicht Genüge geleistet
hat, deutsch und kann es auch sprechen. Die breiten Schichten des Volke?
verstehn weder die polnische noch die tschechische Schriftsprache, die überhaupt
erst wieder im neunzehnten Jahrhundert zu neuer Entwicklung gediehen sind,
und die Leute verständigen sich in einem Idiom, das sie xo QgWSma nennen,
und das ein Gemenge von polnisch, tschechisch und deutsch ist, der unverkennbare
Niederschlag der geschichtlichen Entwicklung des Landes. Bemerkenswert ist,
daß beinahe alle Ausdrücke, die die bessere Lebensführung und den Fortschritt
der Kultur ausdrücken, der deutschen Sprache entlehnt sind. Der schlesische
polnische Bauernstand ist dem galizischen in jeder Beziehung um hundert Jahre
voraus, und in der richtigen Erkenntnis des Wertes, der der Kenntnis der
deutschen Sprache im Zeitalter des Verkehrs zukommt, ist er bestrebt, seinen
Kindern die deutsche Kultur nicht fernzuhalten. Dabei weiß jeder schlesische
Mann ganz genau, daß seine Kinder ihrer Nation nicht entfremdet werden,
wenn sie die deutsche Schule besuchen, und er läßt sie so viel als möglich
lernen, damit sie ihr Fortkommen in der Welt finden. Die große Mehrzahl
der schlesischen Polen, obwohl sie an der heimatlichen Scholle, der Mutter¬
sprache und den Gebräuchen der Vorfahren treu hängen, zieht die deutsche
Kultur der polnischen und der tschechischen vor, und ihr durchaus berechtigtes
Streben ist, mit den deutschen Heimatgenossen weiter in Frieden zu leben
und sich nicht von dem galizischen Emissär für nationale Zwecke ausbeuten zu
lassen. Das ganze Land Schlesien will von irgend welcher Verbindung mit
Gcüizien absolut nichts wissen, sogar auch die polnisch redenden Schlesier
wollen das nicht, sondern sie fühlen sich als Schlesier und wollen es bleiben.
Es ist eine Dreistigkeit sondergleichen, daß sich die polnische Agitation in
dieses so gesinnte Land gewagt hat. Sie will eben immer größere Gebiete für
sich erobern, sie will womöglich das ganze ostelbische Preußen für ihr zukünftiges
Reich in Anspruch nehmen, sie dringt doch schon in Pommern, in Mittel¬
schlesien und in der Mark vor, wie sollte sie vor dem ihr so nahe und bequem
liegenden österreichischen Ostschlesien vorübergehn? Es handelt sich um den
Kampf um „unsre westlichen Grenzen" (valkg, na Krs8g.e,Il), das wird in nll-
Polnischen Blättern ebenso offen wie die Versicherung ausgesprochen: „Polen
ohne Zutritt zum Baltischen Meer und zum Schwarzen Meer wäre eine politische
und wirtschaftliche Unmöglichkeit, auf ein solches Rumpfpolen müßten wir
verzichten, denn es wäre nicht lebensfähig." Natürlich wird jeder vernünftige
Politiker solche Redensarten für das ansehen, was sie sind, nur für Agitations¬
phrasen, an deren Verwirklichung niemand denken kann, und die polnischen
Auguren nicken ja auch immer lächelnd ihre Zustimmung zu dieser Ansicht,
und sie versichern, die polnischen Bestrebungen seien an sich ganz harmlos,
und niemand unter ihnen sei so töricht, eine Revolution vorbereiten zu wollen.
Es wäre aber mehr als kurzsichtig, wollte man sich durch solche Beschwichtigungen
über den Ernst der polnischen Agitationen täuschen lassen. Natürlich wollen
sie nicht morgen den halben Erdteil in Flammen setzen, um so weitsichtige
Pläne ins Werk zu setzen, aber ihre politische Schulung hat in ihnen aus-
gezeichnet die Befähigung entwickelt, alles, was der Tag bringt, zur Förderung
ihrer nationalen Bestrebungen heranzuziehen und auszunützen. Die an Aus¬
dehnung noch immer zunehmende Sachsengängerei, die ihren Ausgang in der
heimischen Not nahm, wird ebenso für ihre Zwecke ausgebeutet, wie die Hilfs¬
mittel der modernen Parteiagitation, die ja überall mit großen Worten arbeitet,
um die Menge an sich heranzuziehen und dadurch den politischen Einfluß der
„Führer" zu stärken oder wenigstens ihrer Eitelkeit zu schmeicheln. Sogar
die galizische Schlachta, der doch jede demokratische Agitation, und daheim
auch die der polnischen Demokraten, ein Greuel ist, fördert in Schlesien mit
allen Mitteln die allpolnische Bewegung, denn es ist ihr ganz recht, wenn
sich die heißesten Köpfe des Volkes auf die äußere Bewegung richten. Je
mehr sie ihre Kräfte dort verbrauchen, um so weniger werden sie Zeit haben,
ihre Aufmerksamkeit den elenden Zuständen in Galizien zuzuwenden, wo das
polnische Volk in Armut und Unwissenheit verkommt, während sich die Schlacht-
schitzen ganz wohl dabei befinden, weil sie noch in der Herrschaft sind. So
viel haben sie aus der Geschichte gelernt, daß alle schlechten Staatsmänner,
wenn sie innere Nöte nicht zu bewältigen wußten, einen äußern Krieg begannen.
Das an sich ganz natürliche Nationnlgefühl nimmt eben, wenn es engherzig
ist, mitunter Züge an, die mit der Liebe zum eignen Volksstamm fast nichts
mehr gemein haben. Aber schon vor vier Jahren sagte der „Dziennik polski"
den österreichisch-schlesischen Polen den „Schutz des plastischen Landes vor den
Krallen der deutschen Tiger" zu.
Die polnische Bevölkerung Ostschlesiens war immer deutschfreundlich ge¬
sinnt und ist es in ihrer weit überwiegenden Mehrheit noch heute, trotz der
jahrzehntealten rastlosen Agitation, die betrieben wird, um in sie den natio¬
nalen Chauvinismus hineinzutragen. Sie hat von jeher gern die Segnungen
der Kultur, die nach und nach durch Deutsche zu ihnen gekommen ist, über
sich ergehn lassen. Sie weiß, von andrer Seite ist ihr nichts gebracht worden,
und sie ist auch unterrichtet genug, daß sie deutlich erkennt, daß Galizien ihr
keinen Fortschritt bringen kann, weil es dort sogar an den notwendigsten
Schulanstalten aller Art fehlt, wahrend in Schlesien nie Mangel daran war.
Die polnischen Ostschlesier wissen auch, die wenigen Agitatoren und ihren be¬
sondern Anhang ausgenommen, daß überall, wo Polen wohnen, in ihrem
Lande, in Preußen und sogar in Russisch-Polen auch für ihre Volksgenossen
die Fortschritte der Neuzeit nicht unerreichbar bleiben, daß überall das wirt¬
schaftliche Gedeihen zunimmt, nur in Galizien nicht, wo Quadratmeile um
Quadratmeile Öde, Armut, grauenhafte Unwissenheit und Willkür der Be¬
hörden ein abschreckendes Bild zeigen, das dadurch nicht lieblicher wird, daß
die Herrschaft dort von polnischen Volksgenossen ausgeübt wird. Danach
sehnen sich die Ostschlesier nicht. Es war nicht leicht, in dieser Bevölkerung
eine nationalpolnische Bewegung in Gang zu bringen, und sie hat auch heute
noch keinen sichern Boden darin. Die polnischen Aufstände seit 1794 haben
dort wenig Sympathien gefunden, sogar die revolutionären Kämpfe in den
dreißiger, vierziger und sechziger Jahren nicht, die doch das ganze liberale
westliche Europa in Bewegung hielten. Wohl hat der eine oder der andre
Ostschlesier, darunter auch mancher Deutsche, unter Mieroslawski oder
Langiewicz mit gegen die Russen gefochten, weil sie meist durch Gelegenheit
oder Zufall in den Strom mit hineingezogen worden waren, aber von einer
nationalen Teilnahme oder Erregung der ostschlesischen polnischen Bevölkerung
war dabei gar nicht die Rede. Die Stimmung war uuter den dortigen
Deutschen, der allgemeinen liberalen Tagesströmung gemäß, wärmer und
polenfreundlicher als unter den Polen selbst. Die polnische Agitation in Ost¬
schlesien hat erst nach der gescheiterten Revolution in Russisch-Polen vom
Jahre 1863 begonnen, doch soll nicht gänzlich in Abrede gestellt werden, daß
es einzelne stille Schwärmer gegeben hat, die vielleicht infolge von Anregungen
aus Kraken und aus Warschau oder auf Grund eigner Belesenheit für polnische
Ideen Begeisterung gefaßt hatten.
(Schluß folgt)
>ohl selten hat es eine größere Krise in der Industrie und im
Handel gegeben, als die Baumwvllhungersnot lootton lÄnrms),
das Aufhören von Zufuhren an Rohmaterial infolge des ameri¬
kanischen Bürgerkriegs, das nach dem Jahre 1860 des ver-
I gangnen Jahrhunderts sämtliche Spinnereien und Webereien in
Lancashire zum Stillstand brachte und Hunderttausende von Arbeitern nicht
für Monate, sondern für Jahre ihres Verdienstes beraubte. In der Tat ein
dunkler Punkt in der an großartigen Erfolgen so reichen englischen Jndustrie-
und Handelsgeschichte. Aber wenn dabei eins zu bewundern ist, so ist es die
zähe Energie, mit der sofort Gegenmaßregeln ergriffen wurden. Die Lotton
suppig W8oeig.tioii durchspähte die ganze Erde, um an geeigneten Plätzen die schon
vorhcmdne Banmwollproduktion zu fördern oder eine neue ins Leben zu rufen.
Jedoch weder Indien noch Süd- und Zentralamerika, weder Ägypten
noch Italien und die Levante konnten auf die Dauer die nordamerikanische
Zufuhr entbehrlich machen, und so hatten schließlich die Bestrebungen der
Assoziation nur auf einem Gebiete einen dauernden Erfolg, nämlich auf dem
der Wissenschaft selbst. Es waren namentlich die Italiener, die sich damals
der Frage einer Wiederbelebung des Baumwollbaus in ihrem Lande — der
ja im Mittelalter schon einmal in Sizilien und in Unteritalien eine gewisse
Bedeutung gehabt hatte — energisch annahmen und ihn durch botanische
Studien zu fördern suchten. Die namentlich für die Unterscheidung der Spezies
grundlegenden Arbeiten von Todaro und Parlatore verdanken diesen Zeit¬
verhältnissen ihre Entstehung, und so hat sich Italien wenigstens dadurch einen
bleibenden Namen in der Geschichte der Baumwolle erworben, wenn auch die
Hoffnungen, die man damals an die wirtschaftliche Konstellation knüpfte, nicht
in Erfüllung gegangen sind.
Wir entnehmen diese Angaben dem vor einigen Monaten erschienenen
Buche des auf diesem Gebiete schon lange rühmlich bekannten Professors
August Oppel in Bremens) das bei den augenblicklich in der Baumwollprodnktion
und -fabrikation herrschenden Schwierigkeiten besondre Bedeutung gewinnen
dürfte. Das Buch Oppels ist als zusammenfassende Arbeit jahrelanger Studien
zu betrachten, von Studien, die nicht nur am heimischen Arbeitstisch auf Grund
gedruckten Materials ausgeführt sind, sondern die den Verfasser auch nach
Amerika hinübergeführt haben, wo er an Ort und Stelle auf einer mehr¬
monatigen Studienreise die Baumwollproduktion in dem wichtigsten Anbaugebiete
kennen lernte. Zu diesen jahrelangen Studien kam jedoch noch ein günstiger
äußerer Anlaß, der das Erscheinen eines so gut ausgestatteten, mit 236 Bildern
und Karten versehenen Buches zu einem verhältnismäßig billigen Preise (20 Mark)
ermöglicht hat. Die Eröffnung des Monumentalgebäudes für die Geschäfte
der Bremer Baumwollbörse, deren Bestehn seit dem Jahre 1871 den deutschen
Baumwollhandel von Havre und von Liverpool unabhängig gemacht hat, veran¬
laßte diese Körperschaft, Oppel mit der Abfassung seines Buchs zu beauftragen.
Ein schönes Beispiel für die Verbindung deutschen Unternehmcrgeistes mit echt
wissenschaftlicher Gesinnung.
Was die botanische Betrachtung der Pflanze betrifft, so ist Oppel von
der Unterscheidung einer Unmasse von Spezies zurückgekommen, und er be¬
gnügt sich mit der Aufführung von fünf Arten, die auch für den Handel Be¬
deutung haben: 1. (^oss/pium nirsutuin, die sogenannte Upland, die im
Binnenland des nordamerikanischen Baumwollgebiets gezogen wird und für die
Bedürfnisse der Fabrikation den Hauptanteil liefert. 2. Oos^pium d-ud^äsusö,
die sogenannte Seaisland, durch einen überaus laugen und weichen Faden aus¬
gezeichnet und deshalb trotz ihrer geringen Menge für bestimmte Gewebe von
besondrer Bedeutung. Ihre Heimat find die Antillen; sie verlangt feuchtes
Klima und wird namentlich an der atlantischen Küste der Vereinigten Staaten
gezogen. Später hat man sie auch nach Ägypten verpflanzt, wo sie als so¬
genannte Gallini zeitweilig eine gewisse Bedeutung erhalten hat. 3. «Zoss^pium
M-uviimum, in Südamerika heimisch, wo sie neuerdings namentlich für Bra¬
silien sehr wichtig geworden ist. Man unterscheidet „Rauhe und Sanfte Peru"
(Kouß'it Ära Lincoln ?sruviim). Auch sie hat in Ägypten eine zweite Heimat
gefunden. 4. KossWinin nsrbaosum, die indische Baumwolle. Obwohl sich
diese durch große Fruchtbarkeit auszeichnet, hat sie sich bis jetzt, hauptsächlich
infolge der Nachlässigkeit der indischen Anbauer, keine hervorragende Stellung
im Welthandel errungen. 5. tZoLs^poa »rhin'suo, die baumartige Baum¬
wolle, die eine Höhe von sechs Metern erreicht und mehrere Jahre ausdauert.
Ihr Aubau- und Verbrauchsgebiet ist Afrika. Für den Welthandel kommt sie
überhaupt nicht in Betracht.
Fragen wir min nach der Urheimat dieser verschieden Arten, so ist jeden¬
falls die Tatsache festzuhalten, daß sich eine einzige Quelle für den Ausgang
der Baumwolle bis jetzt nicht feststellen läßt. Wir möchten vielmehr drei
Herde für ihre allmähliche Verbreitung annehmen: Indien, Afrika und Zentral¬
amerika. Von diesen hat Indien für die Alte Welt die größte Bedeutung
gehabt. Von Indien kam die Baumwolle schon in verhältnismäßig früher
Zeit nach Vorderasien; die Griechen lernten sie zuerst auf dem Alexanderzuge
kennen, und Theophrast beschreibt ihren Anbau auf den Inseln des Persischen
Meerbusens. Auch in Arabien war sie anscheinend vorhanden. Josephus,
Pciusanias und eine Stelle des Neuen Testaments (1. Korinther 4, 21) be¬
weisen ihren Anbau für Palästina, derselbe Pausanias vielleicht für Griechen¬
land. Wenigstens ist es wahrscheinlich, daß unter dem von Plinius und
Pausanias erwähnten „Vysfus" Baumwolle zu verstehn sei. Nach diesen An¬
gaben wurde das Produkt in Elis gewonnen, in Patras aber verarbeitet, wo
diese Industrie einen starken Überschuß der weiblichen Bevölkerung über die
männliche und schlimme moralische Verhältnisse zur Folge hatte.
Wenn sich so die Baumwolle von Indien ziemlich rasch nach Westen
verbreitete, so scheint sie gegen Osten nicht so gute Erfolge gehabt zu haben.
In China war der Anbau zur Zeit des berühmten venezianischen Reisenden
Marco Polo (dreizehntes Jahrhundert) noch eine Seltenheit; Marco Polo
fand sie nur in der Provinz Follen vor. Wahrscheinlich konnte sie im eigent¬
lichen China mit der Seide noch nicht konkurriere!!. Dagegen fand die Baum¬
wolle damals schon in Zentralasien (Turen und Turkestan) eine reichliche
Verwendung, und hier gab sie zur Entstehung einer Sage Anlaß, die mit
unglaublicher Zähigkeit bis ins achtzehnte Jahrhundert festgehalten worden ist.
Es ist das die Sage vom „Boromez" oder Pflanzenschaf, einem naturwissen¬
schaftlichen Wunder, halb Pflanze, halb Tier, das in zahlreichen Abbildungen
verbreitet wurde. Gleichwohl war die Banmwollfciser schon im Mittelalter ein
vielfach gebrauchter Artikel; ja auch die Pflanze selbst war in Südeuropa
wohlbekannt. Durch die Araber und später durch die Kreuzzüge war sie von
Kleinasien, Palästina und Afrika nach Cypern, Kreta und dem Peloponnes,
nach Malta und Sizilien gelangt. Die Handelsschriftsteller der damaligen
Zeit, wie der bekannte Florentiner Pegolotti in seiner „Handelspraxis," die
Historiker und die Geographen haben ihren Anbau besprochen. Die italienischen
Seestädte beschäftigten sich mit ihrer Ausfuhr, und schon zu Beginn des vier¬
zehnten Jahrhunderts wurde in Deutschland Baumwolle gesponnen. Es scheint,
daß Deutschland den Ruhm hat, zuerst die Baumwolle in größern Mengen
verarbeitet zu haben, und es ist die Stadt Konstanz, der hierbei anscheinend
die Priorität gebührt. Von Konstanz kam die Fertigkeit nach Ulm, wo schon
seit 1320 Baumwolle verwertet wurde. Ukas „Barchente" haben dann viele
Jahrhunderte den Markt beherrscht, nicht nnr den deutschen, sondern auch den
ausländischen. So erwähnt Chaucer um 1375 Kleider aus Barchent, „der
nicht in England gemacht war," also wohl deutschem Gewerbfleiß seine Ent¬
stehung verdankte. Von Ulm breitete sich die Kunst weiter aus, einmal rhein-
abwärts, wo namentlich Köln ein Zentralpunkt für Baumwollenweberei wurde,
und wo man im Mittelalter Gcnetzsche und Fenetzsche, d. h. genuesische und
venezianische Baumwolle unterschied. Andrerseits drang die Fertigkeit nord-
ostwürts über Augsburg nach Nürnberg und schließlich nach Sachsen vor, wo
es zum Beispiel in Chemnitz im Jahre 1532 schon bestimmte Baumwoll-
statuteu gab. Erst das siebzehnte Jahrhundert machte dieser blühenden In¬
dustrie ein Ende, nicht sowohl, wie Opp.'l meint, durch den Dreißigjährigen
Krieg, dem man mit Unrecht häufig eine allzugroße wirtschaftsgeschichtliche
Bedeutung beimißt, sondern durch das Zusammenwirken verschiedner welt¬
wirtschaftlicher Ereignisse, die damals den Westen Europas begünstigten und
in Mitteleuropa nicht soviel Verständnis fanden, daß man der ungünstigen
Konjunktur mit Erfolg hätte entgegenwirken können.
Damit aber bricht auch eine neue Periode in der Geschichte der Baum¬
wolle an. Die Neue Welt beginnt jetzt ihren Einfluß geltend zu machen.
Freilich dauerte es noch lange, ehe Amerika die führende Stellung auf dem
Gebiete der Baumwollenproduktion erringen konnte, die es heute unbestritten
behauptet. Erst die Erfindung der Sägemaschine (Sawgin) durch Eti Whitney
(1794) hat die unendliche Ausdehnung der nordamerikanischen Produktion im
Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ins Leben gerufen. Denn bis dahin
hatte man sich mit einem langwierigen, viel Zeit lind Arbeitskräfte bean¬
spruchenden Verfahren begnügen müssen. Die Schwierigkeit bei der Sache ist
folgende: Es kommt darauf an, die Samen, an denen die Baumwollfasern
haften, zu entfernen. Zu diesem Zwecke bediente man sich seit den ältesten
Zeiten, und so noch jetzt in Indien, eines Apparats, der aus zwei Walzen
besteht, von denen die untere durch eine Kurbel in Bewegung gesetzt wird.
Schiebt man einen Baumwollflocken zwischen diese Walzen, so gleiten die
Fasern nach vorn hindurch, während die Samen abgepreßt werden und hinten
herausfallen. Diesen Apparat, der mit entsprechenden Abweichungen überall
wiederkehrt, pflegt man mit indischem Namen „Churka" zu nennen. Whitney
— und seine zwei Rivalen, die ihm den Ruhm der Erfindung streitig machen,
Holmes und Watkins — brachen mit diesem Verfahren. Sie setzten an Stelle
der Walzen, die zwar den Faden wenig beschädigen, jedoch sehr langsam
arbeiten, eine Säge, die in rotierender Bewegung den Faden von den
Samen abschneidet. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß es ungemein
rasch ist, wenn auch freilich der Faden dabei manche Beschädigung erleidet.
Jedenfalls hat erst die Sägemaschine den ungeheuern Aufschwung der Baum¬
wollenverarbeitung im neunzehnten Jahrhundert ermöglicht, und das um so
mehr, als kurz vorher in England die großen Erfindungen auf dem Gebiete
der Spinnerei und Weberei gemacht worden waren. Seit Hargreaves Erfin¬
dung der ersten Spinnmaschine, die er nach seiner Tochter „Spinning Jenny"
taufte (1767), hat der grübelnde Geist auf diesem Gebiete nicht geruht. Schon
zwei Jahre später (1769) tauchte eine neue Maschine auf, Arkwrights Wasser¬
spinnmaschine (Madel-draine), nach dem nebensächlichen Umstände so genannt,
daß sie der Erfinder zum Betrieb mit Wasserkraft konstruiert hatte. Die
Maschine brachte Richard Arkwright Millionen und den Adel ein, während
James Hargreaves arm gestorben ist. Es folgte 1775 eine Verbindung beider
Arten, die von dem Erfinder, Samuel Crompton, als Bastardmaschine (Nrils-
^emnz?) bezeichnet wurde.
Zu diesen Erfindungen auf dem Gebiete der Spinnerei kamen zugleich
die in der Weberei. Auch sie hatten ihre Vorläufer auf dem Kontinent. Wie
die englischen Spinnmaschinen nicht möglich gewesen wären ohne die Erfindung
des Spinnrades dnrch den Braunschweiger Joh. Jürgens (1530), so hat die
Erfindung der mechanischen Weberei ihre Vorgeschichte namentlich in Frank¬
reich gehabt. Aber erst der Engländer Edmund Cartwright (1785) brachte ein
entscheidendes Ergebnis, und sein Webstuhl kann als der Vater aller Vor¬
richtungen, die jetzt in Gebrauch sind, gelten.
Es kann nicht unsre Aufgabe sein, der fernern großartigen aber auch
komplizierten Ausgestaltung der Baumwollindnstrie an der Hand unsers Buches
hier weiter ncichzugehn. Der Verfasser hat mit unendlicher Vielseitigkeit sein
Thema nach allen Seiten hin behandelt. Er schildert uns den modernen
Anbau mit seinen mannigfachen Bedürfnissen und Einrichtungen, mit seinen
durch Ausnutzung der Nebenprodukte erreichten Vorteilen — die übrigens
heute bezeichnenderweise den eigentlichen und einzigen Verdienst der Pflanzer
ausmachen — und mit seinen mannigfachen Schwierigkeiten. Er schildert uns
den Handel, der auch nur durch eine sinnreiche Erfindung, die amerikanischen
Pressen, in seiner heutigen Ausdehnung möglich geworden ist. Er führt uns
durch die verschiednen Länder, worin Baumwolle gebaut und verarbeitet wird,
und entwirft so ein Bild, dem zur Vollständigkeit nichts fehlen dürfte.
Eine solche Darstellung aber muß um so wichtiger sein in einer Zeit, wo
in mancher Hinsicht eine neue Periode in der Geschichte der Baumwolle zu
beginnen scheint. Man bemerkt nämlich bei den einzelnen Nationen das Be¬
streben, sich von der amerikanischen Zufuhr unabhängiger zu machen. Hierzu
gehören die großartigen Unternehmungen der Russen in Turen und Turkestan,
einem alten Vaumwollgebiet, die mit dem ausgesprochnen Bestreben arbeiten,
ihre Fabriken künftig nnr noch mit russischer Baumwolle zu versorgen. Dazu
kommt die in Deutschland immer stärker betonte Absicht, unsre Kolonien mehr
und mehr der Vaumwollknltur dienstbar zu machen. (S. u. a. v. Keller, Die
Baumwollknltur in den deutschen Schutzgebieten. Beilage zur M. Allg. Ztg.
1902. Ur. 270.)
Bei allen diesen Bestrebungen wird es aber immer gut sein, die Gesamtheit
der Verhältnisse nicht ans den Augen zu verlieren. Wenn sich z. B. ein so
geistreicher Beobachter wie der baltische Theologe und spätere Berliner Jour¬
nalist, Paul Rohrbach, bei den russischen Erfolgen zu der Bemerkung konnte
hinreißen lassen, daß nach Bewässerung der sogenannten Hungersteppe die
Russen von Turan aus imstande sein würden, ganz Enropa mit Rohmaterial
an Baumwolle zu versorgen (Persien und die deutschen Interessen. Vortrag
vom 19. Dezember 1901, S. 11), so glaube ich, daß Rohrbach bei Kenntnis der
Oppelschen Arbeit seine Behauptung wohl stark eingeschränkt haben würde.
Ähnliche Erwägungen aber wird man sich auch bei unsern nationalen Kolonial¬
bestrebungen vor Augen halten müssen. Gewiß sind solche Unternehmungen
nicht aussichtslos. Wer selbst drüben war, wird darüber besser urteilen können.
Nur das lehrt eine zusammenfassende Betrachtung, wie sie uns in dem
Oppelschen Buche vorliegt, daß allzu sanguinische Hoffnungen hier nichts
nützen können, daß es vielmehr darauf ankommt, zu lernen und zu arbeiten.
Dann wird es vielleicht gelingen, zwar nicht die amerikanische Zufuhr in ab¬
sehbarer Zeit ans dem Felde zu schlagen, aber ihr doch eine bedeutende deutsche
Produktion an die Seite zu stellen.
le Franzosen verschwanden zwar wieder aus der Gegend, aber
an ihrer Stelle drangen polnische Konföderationstruppen überall
nach dem linken Weichselufer vor, indem sie allerorten preußische
Beamte mißhandelten und vertrieben. So kam das ehemalige
Pommerellen in polnische Hände. Es schien so, als ob sich die
Franzosen um Graudenz gar nicht mehr kümmerten. Aber Courbiere ließ
trotzdem und trotz seines hohen Alters nicht ab, in unermüdlicher Tätigkeit
alles anzuordnen und zu überwachen. Daß er eine unerquickliche Aufgabe
fand, ist schon vorhin bemerkt worden. Die Hindernisse bei der Armierung
und der Verproviantierung bewirkten, daß viele aus der Umgebung des greisen
Generals die Überlegung und die Geduld verloren. Er selbst behielt beides
und blieb jederzeit Herr der Lage. So hielt er sein Wort, das er dem schei¬
denden König gegeben haben soll: „Majestät, solange noch ein Tropfen Bluts
in meinem Körper ist, wird Graudenz nicht übergeben!" Tag und Nacht wurde
gearbeitet, die Festung in einen bessern Verteidigungsznstand zu setzen, und die
Bauern mußten in Person und mit Vorspann helfen. Der gedeckte Weg wurde
mit neuen, baumstarken Palisaden besetzt, stellenweise mit doppelten Reihen, und
Traversen, tiefe Einschnitte und spanische Reiter wurden angebracht. Außerhalb
des gedeckten Weges, auf der Glaciskrone, ließ Courbiere eine dreifache Reihe
von Wolfsgruben anlegen, d. h. tiefe, trichterförmige Gruben, in deren Mitte
spitze Pfähle aufragten. An dem jähen AbHange zur Weichsel entstanden starke
Blockhäuser; die Wälle wurden mit Geschützen bestückt, Bettungen wurden gelegt,
Schießscharten geblendet, die ungeheuern Fallgatter für den Fall eines Sturm¬
angriffs hergerichtet, und zur Zerschmetterung der Sturmleitern wurden schwere
Ballen von den abgetragnen Zeughausdüchern quer über den Wall gelegt. Die
seit den Zeiten der polnischen Jnsurgentenkriege im Zeughause liegenden Sensen,
Piken und andern Waffen wurden auf den Wällen verteilt, auch Handgranaten
und schwere Steine wurden zwischen den Wallgeschützen haufenweise aufgesetzt.
Aus altem Eisen schmiedete man eine Unmenge von Fußangeln, um sich ihrer
auf dem Glacis, in den Gräben oder bei einer etwaigen Bresche zu bedienen-
Die Bürger der Stadt erhielten den Rat, ihre Wertgegenstände zu vergraben
oder sonst in Sicherheit zu bringen. Denn der Gouverneur dachte auch an die
vielleicht eintretende Notwendigkeit, die Stadt in Brand setzen zu lassen.
Auch ging er rücksichtslos und ohne Ansehen der Person gegen die vor,
die ihm für die wirksame Verteidigung aus irgend einem Grunde nicht ge¬
nügten. So zum Beispiel wurde der Kommandant, Generalmajor von Besser,
gegen den Courbiere den Argwohn hegte, daß er mit den Franzosen in Ver¬
bindung stehe, am 12. Dezember von seinem Kommando entbunden und nach
Königsberg geschickt. Über der ganzen Angelegenheit ruht ein noch nicht ge¬
lichtetes Dunkel. An seine Stelle trat der eomruanäsur on ob.öl der preußischen
und pommerschen Festungsartillerie, Oberst Schramm. Die zuverlässigen Truppen
sahen mit hoher Achtung auf den greisen Gouverneur, der ihnen allen in seiner
Unermüdlichkeit im königlichen Dienst ein begeisterndes Vorbild war. So kam
allmählich Ordnung und Festigkeit in den Stand der Dinge, und mit dem kräf¬
tigern soldatischen Leben zog ein vortrefflicher Geist bei den gutgesinnten Sol¬
daten ein. Mit voller Hingebung wurde der Dienst geleistet, und bei aller
Größe der Not im Vaterlande und bei allem Leid, das noch in so frischer Er¬
innerung war, regte sich doch schon wieder die Berufsfreudigkeit und der frohe
Mut, der sich mit dem Ungemach der Gegenwart abfindet und auf bessere
Zeiten hofft.
Am 17. Januar 1807 erschien der Feind in größern Massen — meist
waren es Hessen-darmstädtische Truppen, etwa 3000 Mann stark —, rückte am
22. in die Stadt Graudenz ein und nahm auf allen Seiten gegen die Festung
Stellung. Schon am nächsten Tage ging in der Festung durch eiuen Parla¬
mentär ein Schreiben des Befehlshabers der Einschließungstruppen, des Generals
Rvuyer, ein, das in der Übersetzung folgendermaßen lautet:
Hauptquartier vor Graudenz, den 23. Januar 1807.
Der Divisionsgeneral Rouyer, Kommandierender der französischen und alliierten
Truppen vor Graudenz, an Se. Exzellenz den Generalleutnant de Courbiere, Gou¬
verneur der Festung.
Sie sind von sehr zahlreichen Truppen eingeschlossen; eine beträchtliche, durch
den Prinzen von Ponte-Corvo befehligte Armee ist auf Danzig und Königsberg
marschiert, und in dem Augenblicke, wo ich schreibe, sind beide Städte wahrscheinlich
schon in unserm Besitz. Sie haben keine Hilfe von außen zu erwarten, und in
Ihrer Lage würde eine Kapitulation nicht nur keine Unehre, sondern eine Not¬
wendigkeit sein, ehrenvolle und vorteilhafte Bedingungen zu erhalten. Ich beauf¬
trage den Oberstleutnant vom vierten Husarenregiment, Ihnen die gegenwärtige
Aufforderung zu überreichen und Ihnen eindringlich (c>o vivo voix) vorzustellen,
onsz ich ^ Bedingungen zu gewahren, die Sie von einem groß-
mütiger Feinde erwarten dürfen.
Courbiere ließ zunächst mündlich antworten, ein solches Schreiben verdiene
keine Antwort, schiKx h^in,, ^ doch den Husarenleutnant von Tilemcmn
zu Rouyer nach der Stadt Graudenz mit dem folgenden deutsch geschriebnen
Briefe:
Feste Graudenz, den 24. Januar 1807.
Der Kgl. Preusz. General der Infanterie und Gouverneur der Festung Grau¬
denz, wie auch Ritter der Kgl. Orden, Herr de L'Homme de Courbiere an Se.
Exzellenz den Divisionsgeneral und kommandierender Offizier der Kaiser!, und
Königl. französischen und dessen-darmstndtischen Truppen in der Stadt Graudenz,
Auf Euer Exzellenz unter dem gestrigen Dato an mir abgelassenes Schreiben,
worin Dieselben für gut befinden, mir mit wenig Truppen und ohne Belagerungs¬
geschütz bei sich zu haben, aufzufordern, Hochdenenselben eine der stärksten Festungen
von Europa zu übergeben, verfehle ich nicht, in dienstlicher Antwort zu erwidern,
daß diese Aufforderung so unbescheiden ist, daß sie gar keine Antwort verdient.
Ich würde solche auch nicht beantwortet haben, wenn ich nicht vernommen hätte,
daß sich in der Stadt Graudenz einige von meinen Untergebenen als Gefangene
befinden. Da sich hier nun (in der Festung) Kaiserlich französische und hessen-
darmstädtische Gefangene befinden, worunter ein Hessen-darmstädtischer Leutnant ist,
so benutze ich diese Gelegenheit, bei Euer Exzellenz anzufragen, ob es Hochdenen¬
selben gefällig sein sollte, diese Gefangenen Mann gegen Mann auszuwechseln.
Wenn dieses der Fall ist, so ersuche ich Euer Exzellenz, einen Tag zu bestimmen,
wo diese Auswechselung auf der Chaussee, die von der Stadt Graudenz nach der
Festung führt, statthaben kann. Erlauben Euer Exzellenz, daß ich bei dieser Ge¬
legenheit Hochdenenselben von meiner vorzüglichsten Hochachtung versichere.
Wenig Tage spater wurde die Festung von der Einschließung vorüber¬
gehend frei, da die preußischen und die russischen Armeen zur Offensive über¬
gingen und Nonyer sich deshalb zum Abzüge gezwungen sah. Courbiere ließ
den abziehenden Feind durch seine Jäger und Husaren verfolgen, die vom
zweiten Bataillon von Besser unterstützt wurden, und brachte ihm einige Ver¬
luste bei; auch wurden ein Hauptmann und über hundert Mann gefangen ein¬
gebracht. Am 31. Januar berichtete der Gouverneur über die Vorkommnisse
an den König. Die Stadt Graudenz wurde wieder besetzt, und die Kriegs¬
gefangnen, etwa 115 Mann, wurden nach Danzig abgeschoben. Die Zeit der
größern Bewegungsfreiheit benutzte der greise Gouverneur dazu, eifrig an der
Befestigung der gelockerten nnlitnrischen Zucht und an der Herstellung eines
pünktlich geordneten Dienstbetriebs zu arbeiten. Dabei entfaltete er eine staunens¬
werte persönliche Tätigkeit. Er erschien häufig mwermutet und bestrafte un-
nachsichtlich jede Vernachlässigung in: Dienste. So zum Beispiel war die üble
Gewohnheit eingerissen, daß sich Offiziere im Wachtdienst gegen Geldentschädigung
Stellvertreter beschafften, die oft drei oder vier Tage auf Wache blieben. Das
verbot Conrbiere nun auf das strengste. Trotzdem begegnete er beim Abreiten
der Wachen einmal einen? zur Wache kommandierten Leutnant vom Regiment
von Natzmer, der gerade nach Hause gehn wollte. Der Leutnant wurde vom
Kriegsgericht mit viermonatigem Festungsarrest bestraft, den er in der Weise
verbüßte, daß er seinen Dienst zwar tun mußte, nachher aber als Arrestant be¬
handelt wurde. Dasselbe Vergehn ließ sich bald darauf ein Leutnant vom
Regiment von Manstein zu schulden kommen, der ebenfalls schwer bestraft wurde.
Ferner wurde ein Füsilier vom Bataillon Borel durch eine zurückkehrende
Husarenpatrouille vor den Vorposten aufgegriffen. Ähnliche Fälle waren schon
mehrfach vorgekommen, aber die Betroffnen hatten den Versuch der Fahnen¬
flucht geleugnet und irgend einen Vorwand anzugeben gewußt. Da aber die
Desertionen zunahmen, hatte Courbicre den Befehl erlassen, jeder außerhalb
der Vorposten betroffne Soldat sei als Deserteur anzusehen und als solcher zu
bestrafen. Der aufgegriffnc Füsilier wurde kriegsgerichtlich zum Tode durch
Erschießen verurteilt, und das Urteil wurde des Beispiels wegen im Hauptgraben
der Festung vollstreckt. Bei so schlimmen Zustanden konnte natürlich keine
lebhafte Tätigkeit im Außenseite entfaltet werden. Zuverlässig waren eben nur
die ganz vortreffliche Jägcrkompagnie und die Husaren, sowie im großen und
ganzen das Fcldbataillon von Besser. Aber auch in der zuletzt genannten
Truppe zeigte sich schon der Geist der Zuchtlosigkeit. Ein Soldat dieses
Bataillons erschoß nämlich meuchlings den Fähnrich Philipp vom Füsilier¬
bataillon Borel aus Rache, weil ihn dieser wegen eines Wachtdienstvergchens
hatte bestrafen lassen. Der Mörder wurde zum Tode durch das Rad ver¬
urteilt und der Scharfrichter unter Vermittlung des feindlichen Befehlshabers,
des Marschalls Lefebvre, aus Marienwerder herbeigeschafft.
Man hat zuweilen dem alten Conrbiere Grausamkeiten zur Last gelegt.
Dazu hat wohl ein Mißversteh» seiner unleugbar vorhandnen dienstlichen
Strenge Veranlassung gegeben. Weil er ans seiner Festung mit einer großen
Zahl unzuverlässiger Truppen zu tun hatte, nahm man eben an, daß er ihrer
nur durch Pulver und Blei Herr werden konnte. So sagt zum Beispiel Thiers in
seiner Geschichte des Konsulats und des Kaiserreichs: „Man wirft ihm die äußerste
Strenge vor, die er den Soldaten gegenüber zeigte. Stockschläge (Spießruten),
Pranger und Galgen machten die gewöhnlichen Strafen aus, die er bei ihnen
anwandte." Das ist ein ganz ungerechtes Urteil. Courbiere hatte im Gegenteil
ein warm empfindendes und menschenfreundliches Herz, wie das zum Beispiel
schon aus seinein Briefwechsel mit dem feindlichen Befehlshaber über das Schicksal
der Stadt Graudenz und aus seinen Verhandlungen mit den Vertretern der
Graudenzer Bürgerschaft zur Genüge hervorgeht. Von beiden Dingen wird
später noch die Rede sein. Besonders macht man Courbiere den Vorwurf, er
sei grausam gegen die gefangnen polnischen Soldaten gewesen, die er gemi߬
handelt habe. Mit Unrecht! Diese polnischen Solduten waren Mitglieder der
Polnischen Konföderation; es waren Landeskinder, die sich gegen die Landes¬
obrigkeit mit den Waffen in der Hand aufgelehnt hatten, um preußisches Gebiet
für ein polnisches Reich in Besitz zu nehmen. Aus der Tntsache, daß der
Befehlshaber der französischen Belagerungstruppen die polnischen Konföderierten
zu seinen Zwecken benutzte, kann man nicht folgern, daß Courbiere diese be-
rittnen Kämpfer, die sogenannten Towarzhschen, als Feinde in völkerrechtlichem
Sinne hätte ansehen müssen. Es waren und blieben vielmehr aufständische Landes¬
kinder, die das Recht der anständigen Behandlung und des leichten Arrestes,
die sonst für kriegsgefangne Feinde üblich sind, verwirkt hatten. Die bei einem
Ausfall gefangnen Towarzyschen waren nach kricgsgerichtlichein Spruche Bau¬
gefangne geworden. Diese Behandlung kann nicht als Mißhandlung, sondern
muß vielmehr als denkbar größte Milde und Gnade bezeichnet werden. Und
der Gouverneur, der nicht einmal gegen diese Aufständischen Pulver und Blei
angewandt hatte, sollte gegen die Soldaten der eignen Festung diese Mittel
gemißbraucht haben? Die zahlreichen Desertionen, erleichtert dnrch den harten
Winter von 1806 und 1807, der die Weichsel, den natürlichen Schutz der
Festung auf der schwächern Wasserseite, in eine Eis- und Schnecwüste ver¬
wandelt hatte, mußten dem Gouverneur die strengsten Mittel nahelegen.
Deshalb setzte er auf das Einbringen eines Deserteurs eine Belohnung von
zwanzig Talern und gab nebenbei sein Ehrenwort, er werde jeden ergriffnen
Deserteur erschießen lassen. Aber die noch vorhandnen Rapporte zeigen, daß
er nicht oft in die Lage gekommen ist, sein Wort wahr zu machen. Von der
im November 1806 vorhandnen Besatzung in Stärke von 132 Offizieren und
5721 Mann desertierten während der Velägerung 827 Mann. Als unzuver-
lässig wurden nach dein Tilsiter Frieden an die Sachsen in Graudenz, deren
König bekanntlich auch das neugeschaffne Herzogtum Warschau von Napoleons
Gnade» erhalten hatte, 791 Mann abgeliefert. An der Ruhr und am Typhus
infolge der engen Besetzung der Kasematten starben 735 Mann. Bor dem
Feinde blieben nur 23 Manu. Wege» Fahnenflucht wurden zwei Manu er¬
schossen; wegen Ermordung eiues Offiziers und zweier Soldaten wurde ein
Mann kriegsgerichtlich gerädert. Durch kriegsgerichtliches Urteil ferner wurden
zwanzig Mann zu den Sträflingen versetzt. Der gesamte Abgang betrug also
2399 Mann, und nur zwei Soldaten sind währeud der Belagerung wegen
Fahnenflucht erschossen worden. Daß es in den Wallgraben zahlreiche Grab¬
hügel gibt, ist richtig. Aber das sind nicht die Massengräber von erschossenen
Deserteuren, wie die törichte Sage behauptet, sondern es sind eben die Gräber der
an Krankheiten gestorbnen Personen. Mit der Andichtung übertriebner Härte
hat man also dem alten tapfern Herrn ein schweres Unrecht angetan. Nichts
davon ist erwiesen. Conrbiere war streng, aber nicht grausam, unbeugsam, aber
nicht ungerecht. Wie er vielmehr für seine Soldaten sorgte, zeigt zum Beispiel
die auf seine Bitte hin vollzogne Kabinettsordre vom 27. August 1808, wonach
der Garnison der Festung Graudenz die schwere, feldmäßige Brotportion von
zwei Pfund auch nach dem Frieden belassen bleiben sollte. Und das ist auch
geschehn und so bis zum 20. Dezember 1874 geblieben. Auch war er jederzeit
bestrebt, durch reichliche Verproviantierung, besonders in der ersten Hälfte des
Februars 1807, für das leibliche Wohl seiner Soldaten zu sorgen.
Nach der kurzen Ruhepause erschien der Feind am 11. Februar wieder
vor der Festung, und am 15. war der erste Battericbcm auf dem Schloßberg
beendigt. Aber die Einschließung war vorläufig nur erst eine Blockade. Noch
konnten die Ansfalltruppen der Festung manch kühnes Stücklein wagen. So
gelang es zum Beispiel den Jägern und den Husaren, am 28. Februar sowie am
11. März Wagen mit Lebensmitteln wegzunehmen, sowie eine auf der Weichsel
beabsichtigte Wegschaffung von Belagerungsgeschützen zu verhindern, die von
Thorn nach Danzig gebracht werden sollten. Da nun Napoleon den Besitz von
Graudenz wünschte, ohne dazu Anstrengungen machen zu müssen, schickte er
seinen Geueraladjutcmteu Savary als Unterhändler nach Graudenz ab. Das
geschah wohl deshalb, weil er an eine sich in die Länge ziehende Belagerung
nicht mehr gewöhnt war, und auch wohl deshalb, weil die Belagerungstruppen
durch Entsendungen nach Danzig geschwächt worden waren und nur noch etwa
2000 Mann betrugen, Savary traf am 14, März in der Stadt Graudenz
ein und übersandte noch an demselben Tage den folgenden Brief an den
Gouverneur:
Graudenz. den 14. März 1807.
Ich habe die Ehre, Ihnen anzuzeigen, daß ich hier eingetroffen und beauf¬
tragt bin, auch die Ehre zu haben, Sie zu unterhalten, da Ihnen ohne Zweifel
die'letzten Ereignisse noch unbekannt sind.
Ihre lange und ruhmvolle Laufbahn hat Sie ohne Zweifel mehr als über¬
zeugt, daß der Widerstand von Graudenz schon weiter getrieben ist, als Sie es
hoffen konnten, wenn die Aufmerksamkeit der Armee nicht durch Operationen von
großer Wichtigkeit abgezogen worden wäre. Gegenwärtig ist sie weder mit der
Stellung der preußischen Armee noch mit deren Monarchie ferner in Einklang.
Doch ehe ich über diese Dinge auf Einzelheiten eingehe, wünsche ich die Ehre zu
haben, Sie morgen zu sehen, und ich beauftrage meinen Adjutanten, den Über¬
bringer dieser Depesche, über Zeit, Ort und Art, wie diese Zusammenkunft statt¬
haben soll, Ihre Befehle entgegenzunehmen.
Ich biete Ihnen Geiseln an, wie den General Ronyer selbst und noch mehrere
andere, wenn Sie deren für eine freie Rückkehr Ihrer Person für nötig er¬
achten sollten.
Ich habe die Ehre, Ihnen zu bemerken, daß ich mich als Parlamentär be¬
trachte und die Nacht in Graudenz bleiben werde, um Ihre Antwort zu erwarten.
In keinem Falle aber werde ich vor Beendigung meiner Mission abreisen.
Sollte es Ihnen angenehm sein, sich von Ihren höhern Offizieren begleiten
zu lassen, so werde ich sie mit sehr großem Vergnügen empfangen und Ihnen alle
Geiseln stellen, die Sie verlangen.
gez. Savary.
Courbiere antwortete sofort darauf wieder deutsch, wie folgt:
Feste Graudenz. den 14. März 1807.
Auf Ew. Hochwohlgeboren an mir erlassenen, sehr geehrten Schreiben vom
heutigen Datum, worinnen Hochdieselben mit mir eine Zusammenkunft zu haben
wünschen, ermangele ich nicht, in ganz ergebenster Antwort zu erwidern, daß solche
auf keinen Fall statthaben kann, weil mir dieses von Sr. Kgl. Majestät von Preußen
schlechterdings verboten ist. Alles, was Ew. Hochwohlgeboren mir hierbei zu er¬
öffnen haben könnten, bitte ich Hochdieselben schriftlich zu tun. Sollte es aber eine
abermalige Aufforderung (d. h. zur Übergabe) sein, so bitte ich Hochdieselben, sich
acht die Mühe zu geben, weil ich in diesen, Falle genötigt sein würde, ohngeführ
die nämliche Antwort zu geben, welche ich dem Herrn General v. Ronyer vor
einiger Zeit bei gleicher Gelegenheit gegeben habe.
Aber schon am nächsten Tage schrieb Savary an Conrbicre den folgenden
Brief:
Graudenz, den 15. März 1807.
Ich habe Ihre gestrige Antwort erhalten und hätte viel dabei zu bemerken,
wenn Sie nicht gleich in den ersten Sätzen ans das bestimmteste eine ausdrück¬
liche Weigerung aussprnchen, die sich vermutlich auf das Mißtrauen über die Ab¬
sichten gründet, die mich vor Ihre Festung geführt haben. — Es ist einem
Gouverneur immer erlaubt gewesen, mit der Gegenpartei in Unterhandlungen zu
treten, besonders wenn die Autorität, die ihm dies verboten zu haben scheint, die
Umstände nicht vorhersehen konnte, die von einem Augenblick zum andern seine
Lage ändern.
Die Zusammenkunft, die ich von Ihnen verlangte, war vernünftig; sie kompro¬
mittierte nicht die Festung Graudenz, deren ich mich nicht allein mit einigen Ordon-
nanzen bemächtigen konnte. Ich erbot mich gleich anfangs zum Stellen von Geiseln.
Waren Sie uicht jederzeit Herr, sich zurückzuziehn, wenn das Gespräch einen Cha¬
rakter annahm, der nicht mehr mit Ihrer Würde übereinstimmte? Ich glaube uicht,
daß es ganz und gar in Ihrer Absicht lag, mir in einer so abweisender Art zu
antworten, wie Sie es gestern Abend getan.
Sie können nicht daran zweifeln, Herr General, daß der Zeitpunkt Ihrer
Übergabe nicht mehr sehr fern ist, und Sie sind gewiß noch mehr davon überzeugt,
daß Ihr Widerstand weder von großem Nutzen für Ihre Monarchie, noch eine mäßige
Diversion gegen unsere siegreichen Armeen ist. Es bleibt also nichts als eine Sache
persönlicher Eigenliebe und würde mir folglich das Recht verleihen, der Garnison
jedes Schicksal nach meinem Gefallen aufzuerlegen, wenn mir einige Wochen Geduld
die Tore von Graudenz geöffnet haben, was unausbleiblich ist, weil Sie nicht unter¬
stützt werden können, und die Armeen Ihrer Alliierten in einer Lage sind, die den
Glauben rechtfertigt, daß sie sich durchaus uicht um den Punkt kümmern, den Sie
besetzt haben.
Sie stellen deshalb, Herr General, alles bloß, was Sie besitzen, ebenso wie
die Offiziere der Garnison, die Freiheit aller und das Leben einiger. Denn ich
täusche mich uicht und bin von allem unterrichtet, was in Ihrer Festung vorgeht,
und es ist im Kriege immer erlaubt gewesen, Repressalien anzuwenden, sogar un¬
billige, gegenüber einigen Leuten, die es sich erlauben, aus einer Verteidigung ihre
persönliche Angelegenheit zu machen, die nicht mehr mit der Lage der Hauptarmee
übereinstimmt, von der sie Hilfe erwartet, und mit all und jeder Schlußfolgerung
ini Widerspruch steht.
Ich wiederhole es, Herr General, die Zusammenkunft, die ich von Ihnen
verlangte und zu der ich Sie bat, Ihren nächsten, sowie Ihre höhern Offiziere
mitzubringen, gefährdete in keiner Weise den von Ihnen befehligten Platz. Und
wenn es wirklich wahr ist, daß Sie nicht selbst dazu kommen konnten, so können
Sie den zweiten Kommandanten, den Herrn Oberst Schramm, oder sonst eine Person
schicken, die am meisten Ihr Vertraue» hat. Ich kauu diese noch einen großen
Teil des Tages erwarten. Und wenn ich nicht selbst eine Person von Auszeichnung
hier empfange, so rechne ich so sehr auf Ihre Biederkeit, daß ich mir von Ihnen
die Erlaubnis erbitte, Sie selbst in Ihrer Festung aufzusuchen und zu sprechen.
Nachschrift: Ich wünsche sehr, daß es Ihnen gefällig wäre, mir in französischer
Sprache zu antworten, da ich das Deutsche durchaus uicht verstehe.
Trotz der in der Nachschrift ausgesprochnen Bitte schrieb Courbiere sofort
wieder in deutscher Sprache folgendermaßen:
Feste Graudenz, 15. März 1807.
Auf Euer Hochwohlgeboren sehr geehrtes, anderweitiges Schreiben vom heutigen
Dato ermangele ich nicht, Hochderselben in ergebenster Antwort zu erwidern, daß
ich weder den Herrn Obersten v. Schramm nach Graudenz schicken, auch ebenso
wenig selbst dahin kommen kann, weil dieses uns von Sr. Kgl. Majestät, unserm
Allergnüdigsten Herrn und Svuvernin, verboten ist. Wenn Euer Hochwohlgeboren
nur Eröffnungen zu machen haben, so muß ich meine gestrige, getane Bitte wieder¬
holen, dies schriftlich zu tun, weil dieses die einzige Art ist, ans welche wir uns
unterhalten können. Wenn aber die Unterhaltung die Übergabe der Festung betrifft,
die mir anvertraut ist, so ist es ganz unnötig, hierüber weiter zu korrespondieren,
weil ich fest entschlossen bin, nicht aus Eigenliebe, wie Euer Hochwohlgeboren zu
meinen belieben, sondern aus Pflicht, Graudenz so lange zu behaupten, bis ich
durch Gewalt der Waffen oder Mangel an Lebensmitteln genötigt bin, selbige dem
Feinde zu übergeben. Was übrigens die Drohungen betrifft, die Euer Hochwohl¬
geboren in dem Schreiben zu äußern belieben, so werden Hochdieselben leicht ein¬
sehen, daß solche wenigen Eindruck machen auf einen Mann, der nnter den Waffen
grau geworden und viele Jahre mit Ehren gedient hat.
U. f. w.
Diesen Brief beantwortete Savary am 16. März, wie folgt:
Graudenz, den 16. März 1807.
Ich erwartete nicht, von so weit her vor Ihre Festung zu kommen, um hier
die größte Unhöflichkeit zu erfahren, die mir zuteil geworden ist, seit ich die
Ehre habe zu dienen, und ich sollte glauben, daß, indem der Kaiser, mein Herr,
Ihnen die Ehre erwies, mich zu Ihnen zu schicken, Sie selbst mir wenigstens die
erweisen würden, mich anzuhören. Es ist aber nunmehr schon das dritte Schreiben,
das ich wegen dieser Unterredung an Sie richte, die den Gesetzen des Krieges und
den sogar bei den ungesittetsten Völkern, wie den Türken, üblichen Gebräuchen
entspricht. Ungeachtet dessen verweigern Sie diese aber hartnäckig. Ich glaube
nicht mehr, daß Ihre Behauptung, sie sei Ihnen verboten, eine Folge der Ver¬
teidigung ist; denn seitdem der Krieg die Welt bewegt, hat es keine Belagerung
gegeben, ohne daß man sich vorher angehört hätte. Ich hätte vielleicht das Recht,
Sie wie die Garnisonen Kalabriens zu behandeln, die, da sie noch ihre alte Dynastie
anerkannten, trotz ihres Widerstandes unter das Joch mußten, und zwar unter
grausamen Bedingungen, denn Sie behaupten, wie jene, einem Herrn zu dienen,
der uns alle seine Rechte überlassen hat, indem er uns seine Staaten überließ.
Was würden Sie dazu sagen, wenn ich ebenso unbillig mich weigerte, Sie
anzuhören, sobald der Zeitpunkt Ihrer Kapitulation herbeigekommen sein wird?
Hätte ich nicht ebenfalls dann ein Recht zu der Behauptung, es sei mir verboten,
mich in Unterredungen einzulassen? Aber die Grundlage dieser Einwendung ist
zu ungeschickt oder zeugt zu sehr vou Schwäche, während sie zugleich denen wenig
Ehre macht, die sich ihrer bedienen. Ich glaube nicht, daß der König von Preußen
sie angenommen hätte. Ich täusche mich nicht über die Quelle, der sie entspringt,
und es wird mir leicht sein, sie zu erkennen, sobald die Zeit dazu gekommen
sein wird.
Von heute ab wird man sich ernsthaft mit der Festung Graudenz beschäftigen,
und ich erkläre Ihnen: wenn Sie die erste Parallele vollenden lassen, so erhält
die Garnison, Offiziere und Soldaten, keine andern Bedingungen als Kriegsgefangen¬
schaft auf Diskretion und Abführung nach Frankreich in die Pyrenäen.
Ich höre, Herr General, daß gegen Soldaten der polnischen Konföderation,
die den Ihrigen in die Hände gefallen sind, Härten verübt wurden. Bedenken
Sie wohl, Herr General, was dies herbeiführen würde. Frankreich verläßt seine
Verbündeten niemals, und wenn bei Ihrem Verlassen von Graudenz mir diese Leute
nicht wie Franzosen und Hessen übergeben werden, so werde ich den höchsten
preußischen Offizieren dieselbe Behandlung zuteil werden lassen, die diese haben
erdulden müssen.
Ich habe Ihnen billige Vorschläge überbracht, die den Interessen Ihrer
Garnison und dem Ruhme Ihrer persönlichen Laufbahn entsprechen und zugleich
günstig für die Lage jedes Ihrer Offiziere waren, von denen die Mehrzahl
Familien hat. Was werden Sie diesen zu antworten haben, wenn sie Sie mit
Recht ihres Unglücks und des Verlustes von allem, was ihnen blieb, anklagen?
Zeigen Sie ihnen doch, wenn Sie es wagen, die Stelle meines Briefes, die sie
betrifft, und da Sie sich weigern, mich anzuhören, so bemühen Sie sich, ihr Geschrei
zu ersticken.
Ich reise ab und nehme Ihre Weigerung mit, und — ich erkläre es Ihnen
offen — ich werde nichts verabsäumen, Sie so behandeln zu lassen, wie Sie es
verdienen. Ich entbinde Sie von einer schriftlichen Antwort, wenn Sie mich nicht
mündlich hören wollen, oder mir uns der Stelle jemand schicken, um sich der Un¬
Höflichkeit wegen zu entschuldigen, über die ich mich zu beklagen habe.
Ich bin, Herr General,
der Adjutant des Kaisers
Dieses Schreiben atmet den ganzen Ärger Scwnrys, der es fürchtete, vor
Napoleon bekennen zu müssen, daß seine Entsendung erfolglos gewesen sei;
denn er hatte den Ehrgeiz, Polizeiminister zu werden. Übrigens hat er später
diese Stellung auch erreicht. Als der Überbringer des Briefes, der Oberst¬
leutnant Ahme, bei der Verlesung an die Stelle kann „Sie behaupten, einem
Herrn zu dienen, der uns alle seine Rechte überlassen hat, indem er uns seine
Staaten überließ" (su nous Ädanäsnnant öff Sols), unterbrach ihn der alte
Courbierc lächelnd mit den Worten: Votrs AvnsM ins an lei, pu'it n'z? a plus
no. Roi Ah ?russs, xnis aus los ?rg,nsiüs out oseuxs öff stg,es. M Kien,
hö xsu.t; mais s'it ir'^ a, plus un Koi Ah l?russs, it sxists Moors uir roi
as (ZlAlläsnii. An diese Worte knüpft sich die in vielen Büchern verbreitete
Legende, Courbiere habe sich damit als König von Graudenz bezeichnen wollen.
(„Dann bin ich König von Graudenz.") Das steht aber durchaus im Wider¬
spruche zu der Auffassung, die er von seinem Verhältnis zu feinem König hatte.
Er hat vielmehr nur sagen wollen, der König habe Graudenz noch nicht ver¬
lassen (adanckonns), sondern sei dort noch immer König. Möge also diese
richtige Auffassung in der Form: „Wenn es keinen König von Preußen mehr
gibt, so gibt es doch noch einen König von Graudenz" in Schul- und Volks¬
büchern künftig Platz finden, zum Ruhme des greisen Helden von Graudenz,
der in schlimmer Zeit treu zu seinem König und Herrn hielt und sich weder
durch Drohungen noch durch Schmeicheleien, weder durch Geschosse noch Mangel
in seiner Unbeugsamkeit erschüttern ließ.
Auf Savarys unverschämtes Schreiben antwortete Courbiere gar nicht.
Es findet sich aber im Festungstagebuch die Bemerkung: „Der Gouverneur
antwortete auf diesen Brief mit Granat- und Kugelfeuer nach der Stadt." Die Ruck-
ficht, die er bisher genommen hatte, mußte vor dem Ernst der Lage weichen.
Freilich litt die unglückliche Stadt sehr, aber der Feind mußte sie räumen. Das
war der Abschluß der Verhandlungen. Erbittert reiste Scwciry zu Napoleon
und erfüllte im kaiserlichen Hauptquartier alle maßgebenden Persönlichkeiten
mit Haß gegen den unbeugsamen Verteidiger der Festung. Die Wirkung seiner
Umtriebe trat nach dem Tilsiter Frieden zutage, indem man die Blockade trotz
des Friedensabschlnsses noch bis zum 12. Dezember, also noch fünf Monate,
aufrecht erhielt. Inzwischen hörten die Desertionen in der Festung nicht auf,
und Conrbiere konnte aus Mangel an genügend starken, zuverlässigen Truppen
im Außenseite nichts Wirksames gegen den Feind unternehmen. So konnte
er es nicht verhindern, daß auf der Weichsel häufig Transporte nach Danzig
befördert wurden. Ein Versuch, am 24. Mai Nachts das Fahrwasser durch
Versenkung eines großen Kahnes zu sperren, mißlang dadurch, daß das ge¬
samte Kommando fahnenflüchtig wurde. An demselben Tage schnitt übrigens
der Feind fünf Scharten in den Damm.
(Schluß folgt)
Wle protestantische Theologie des neunzehnten Jahrhunderts hat
uns die natürlichen Bestandteile des Christentums, die natür¬
liche Seite seiner Entstehung und seiner geschichtlichen Ent¬
wicklung kennen gelehrt. Diese natürliche Seite schließt die über¬
natürliche so wenig aus. wie es die göttliche Hilfe in der Not
zunichte macht, wenn der natürliche Lauf der Dinge einen beherzter Mann
an der Stelle des Flusses vorüberführt, wo gerade ein Kind hineingefallen ist;
denn Gott ordnet eben den natürlichen Lauf ohne Störung der Naturgesetze
so, daß die vorausbestimmten Rettungen darin ihre Stelle finden. Diese
historische Betrachtungsweise entfernt sich von der ursprünglich lutherischen,
die ganz unhistorisch in der anderthalbtausendjährigen Entwicklung der Kirche
nichts als Verderben und Abfall gesehen hatte, und nähert sich wieder der
katholischen, die an dem Gleichnisse vom Senfkorn festhält, nur zu sehr daran
festhält, dem, biblische Gleichnisse decken die zu versiunbildende Sache ebenso¬
wenig wie die der weltlichen Literatur; um im Rahmen des Gleichnisses zu
bleiben, muß man mindestens ergänzend hinzufügen, daß so manches von dem,
was im Laufe der Zeit am Baume der Kirche hervorgetreten ist, nicht zu den
aus dem Keime entwickelten Bestandteilen gehört, sondern sich als Schmarotzer-
gewüchs angeheftet hat. Und das Gleichnis paßt überhaupt nicht genau,
weil sich im Laufe der Zeit auch Bestandteile an der Kirche entwickeln , die
zwar nicht als Schmarotzer bezeichnet werden können , die aber nur vorüber¬
gehende Bedeutung haben und wieder verschwinden. Nur das Wachstum
und die Entwicklung mannigfacher großer Gebilde aus einem kleinen Keime
sind als unbedingt zutreffende Bestandteile des Gleichnisses festzuhalten.
Jedenfalls hat diese historische Auffassung einzelne liberale Theologen
befähigt, der katholischen Kirche mehr gerecht zu werden, als es die alten
Orthodoxen und die Reformatoren selbst vermocht hatten. Wenn sich heute
die Orthodoxen den Katholiken nähern, so geschieht das bekanntlich weniger
infolge gegenseitigen Verständnisses als zur gemeinsamen Abwehr des Un¬
glaubens, dem sich manche liberale Theologen in bedenklicher Weise genähert
haben. Und darin besteht nun überhaupt die Gefahr der liberalen Theologie,
daß sie leicht über der natürlichen Seite des Christentums seine übernatürliche
übersieht, ja darin so weit geht, die gewonnene historische Auffassung wieder
preiszugeben, indem sie schou das übernatürliche Element des Christentums
und alles, was damit zusammenhängt, als Entartung der ursprünglichen Jesns-
lehre ansieht. Aus Besorgnis, von den heutigen Naturphilosophen nicht als
wissenschaftlich anerkannt zu werden, beugt sie sich vor der ganz unberechtigten
Anmaßung dieser Herren, die Welt natürlich erklären zu wollen, und gibt
dafür die wirklich verdienstliche Leistung derselben Philosophie, die Ent¬
wicklungslehre, zugunsten der veralteten Abfallslehre preis, wobei es ihr denn
auch noch begegnet, daß ihr der Inhalt des Christentums zu eiuer ganz un¬
ansehnlichen und bedeutungslosen Kleinigkeit zusammenschrumpft.
Diese Verirrung hat ein liberaler katholischer Theologe Frankreichs,
Alfred Loisy,*) an Harnacks Schrift, „Das Wesen des Christentums," be¬
leuchtet in dem Buche: Evangelium und Kirche (Autorisierte Übersetzung
nach der zweite«, vermehrten, bisher »»veröffentlichten Auflage des Originals
von Johanna Griere-Becker; München, Kirchheimsche Verlagsbuchhandlung,
1904). Ich untersuche nicht, ob Loisy Harnacks Meinung überall genau ge¬
troffen hat, denn die Grenzboten sind nicht der Ort für theologische Abhand¬
lungen, sondern skizziere nur Loisys Auffassung von Evangelium und Kirche,
weil sie charakteristisch ist für den liberalen Katholizismus des heutigen Frank¬
reichs und außerdem der meinen sehr nahe steht.
Loisy nimmt die Ergebnisse der protestantischen Vibelkritik der Haupt¬
sache nach an. Die Evangelien sind nur in sehr beschränktem Maße als
historische Urkunden anzuerkennen. Die Chronologie des Johaunisevangeliums
ist willkürlich nach einem Schema der Zahlensymbolik konstruiert. Eine
authentische Darstellung der Lehre Jesu haben wir nicht. „In den Evangelien
bleibt von den Worten Jesu mir ein notwendigerweise geschwächtes und etwas
gemischtes Echo; es bleiben der allgemeine Eindruck, deu er auf seine günstig
gestimmten Zuhörer hervorgebracht hat, sowie die wirkungsvollsten seiner
Sprüche in der Art, wie sie verstanden und interpretiert worden sind; es
bleibt endlich die Bewegung, deren Urheber Jesus gewesen ist." Unter diesen
Umständen kann das Wesen des Christentums nnr aus dem Werke Jesu er¬
schlossen werden; „man würde es vergebens in einigen Überresten seiner Reden
suchen." Zur Erläuterung ist beizuziehn die Gesamtheit der neutestamentlichen
Texte, deren Echtheit am wenigsten angefochten wird, und die so klar und
unzweideutig sind, daß ihr Sinn nicht leicht durch Jnterpretationskünste ver¬
dunkelt werden kann. Diesem natürlichen Verfahren ist das von Harnack
gerade entgegengesetzt. Er schiebt nicht allein das Werk Jesu, seine immer¬
währende Bethätigung in der Kirche, beiseite, sondern auch die Masse der Texte,
läßt das ganze Christentum auf eine individuelle psychologische Erfahrung
Jesu und derer, die ihm glauben: das Kindheitsbewußtseiu Gott gegenüber,
zusammenschrumpfen und gründet dieses armselige Christentum auf zwei un¬
bedeutende Stellen, deren Echtheit keineswegs feststeht, und die nur durch
eine willkürliche Interpretation zu Beweise» seiner These gemacht werden
können. Die eine davon: „Das Reich Gottes ist in euch" (Lukas 17, 21)
kann gar nicht den Sinn haben, den ihr Harnack beilegt: daß das Reich
Gottes etwas rein Innerliches sei; dem. sie ist Einleitung zu einer eschato-
logischen Prvphezie von der bevorstehenden Ankunft des Menschensohns, und
sie ist an die Pharisäer gerichtet, von denen Jesus sicherlich nicht sagen wollte,
daß sie deu Himmel im Herzen trügen. Wenn die Stelle echt ist, so kann
sie nur bedeuten, entweder: das Reich Gottes ist schon in eurer Mitte, ihr seht
es nur nicht; oder: es wird ganz uucrwcirtet, durch kein Zeichen angekündigt,
kommen und plötzlich da sein. Die andre Stelle Harnacks (Matth. 11. 27)
lautet: „Niemand kennt den Sohn als der Vater, und niemand kennt den
Vater als der Sohn." Das Bewußtsein aber, daß wir Gott zum Vater
haben, das Jesus durch seine eigne innerliche Erfahrung in uns geweckt
haben soll, ist weder ein ausschließliches Gut der Christenheit, noch von solcher
Bedeutung im Neuen Testament, daß man neben ihm die Fülle andrer
^lanbenswahrheiten gering achten dürfte, die einen viel breitern Raum ein¬
nehmen. Wer unbefangen das Neue Testament liest, der kann seine Augen
>"ehe vor der Tatsache verschließen, daß es zwei Glaubenssätze in den Vorder¬
grund stellt und in unzähligen Variationen einschärft: das Reich Gottes und
dle Messiaswürdc Christi. Was diese betrifft, so fällt sie mit seiner Gottsohn¬
schaft zusammen, die keineswegs die allen Menschen zukommende Gotteskind-
schaft, sondern im Anschluß an die Weisheit des Buches der Sprichwörter
und an den Logos Philos metaphysisch gedacht ist, sodas; eS also gegen die
offenbare und unbestreitbare Absicht der neutestamentlichen Autoren streitet,
wenn Harnack behauptet, nur der Vater, nicht der Sohn gehöre ins Evan-
gelinin hinein. „Beim Lesen des Evangeliums würde man nie auf den Ge¬
danken kommen, Jesus fordere nur, das; man an die Güte Gottes glaube,
ohne sich um die Zukunft noch um ihn selbst zu kümmern." (Frau Griere
schreibt: „noch um sich selbst"; es ist dies die einzige Stelle in der sehr guten
Übersetzung, wo ich einen Fehler vermute,)
Die Zukunft aber und das äußerliche Reich Gottes sind so wesentliche
Bestandteile der Evangelien, daß es ihnen bis zur Vernichtung Gewalt antun
heißt, wenn man in der vou ihnen verkündigten Erlösung nichts sehen will
als einen individuellen und gegenwärtigen psychologischen Vorgang, Das ist
nicht der Glaube Jesu und des Neuen Testaments, sondern der unter dem
Vorurteil der lutherische» Rechtfertigungslehre entstandne Glaube Harnacks,
der ins Neue Testament hineingetragen wird. Allerdings geben die Evangelien
das nationale Element des alttestamentlichen Messiasglaubens auf. und das
eschatologische tritt ein wenig hinter dem moralischen und dem religiösen zurück.
Aber es wird keineswegs fallen gelassen. Gerade in der Einladung zum
himmlischen Festmahl besteht die frohe Botschaft, das Evangelium. Alle Gleich¬
nisse der letzten Zeit Jesu haben sie zum Gegenstand, Außer den Gleichnissen
vom großen Mahle selbst, u. a. das von den klugen und den törichten Jung¬
frauen, das vom wachsamen Knechte, der die Rückkehr seines Herrn erwartet,
von den Knechten, die mit dem Gelde des Herrn wuchern sollen, vom unge¬
rechten Verwalter, der sich für den Tag der Rechenschaft bei den Schuldnern
seines Herrn eine Zusluchtstütte bereitet, das Gleichnis vom reichen Manne
und dem armen Lazarus, das zeigt, wie im Jenseits die diesseitigen Un¬
gerechtigkeiten ausgeglichen werden. Beim letzten Abendmahl endlich ladet
Jesus seine Jünger, indem er ihnen den symbolischen Becher reicht, zur Zu¬
sammenkunft beim himmlischen Festmahle ein (Markus 14, 25). „Die Idee
des himmlischen Reiches ist also nichts andres als eine große Hoffnung, und
da keine andre Idee einen so großen Raum in der Lehre Jesu einnimmt und
sie so vollständig beherrscht, so ist es eben diese Hoffnung, in die der Historiker
das Wesen des Christentums legen muß, wem, es überhaupt irgendwo auf¬
zufinden ist." Schon daß wir im Vaterunser beten sollen: Dein Reich komme,
beweist, daß das Reich als etwas Zukünftiges gedacht ist. Was gegenwärtig
ist, und was schon zu Jesu Lebzeiten gegenwärtig war, das ist nur die Vor¬
bereitung auf das Reich, Mit der Feststellung des Reiches als des eigent¬
lichen Inhalts des Evangeliums ist zugleich schon gesagt, daß das Christentum
keineswegs eine rein innerliche und individuelle Angelegenheit sein könne (vom
Nechtfertigungsprozeß findet sich in den Evangelien keine Spur), sondern daß
es eine Geineinschaftsangelegenheit und eine äußerliche Angelegenheit ist.
Neben dieser großen Zukunftsangelegenheit erscheinen alle irdischen, alle
Gegenwartsangelegenheiten nichtig. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich
diese Nichtachtung von allem, was uns heute wichtig erscheint, auch der Arbeit,
mit unsern modernen Anschauungen schlechterdings nicht vereinigen läßt. Die
Grundidee des Christentums mußte eben bei seiner Gründung rein, kräftig und
unvcrklansuliert ausgesprochen werde», und diese Grundidee ist, daß ohne die
Harnacks Christentum ist nach Loisy nicht allein dürftig bis zur Kläglich¬
keit, es ist nicht allein schriftwidrig, es hebt sich sogar selbst auf, indem es
seinen Gründer verächtlich macht. „Wenn das Wesen des Evangeliums und
Jesu Bewußtsein der Gottessohnschaft weiter nichts bedeutet, als daß Jesus
Gott als den Vater der Menschen erkannt hat, so erscheinen die Idee des
Reichs und das Messiasbewußtsein Jesu nicht allein wie geringwertige Neben¬
sächlichkeiten, sondern sogar wie reine Illusionen, wie ein vom Heiland an die
Vorurteile seines Volks gezahlter Tribut. Das Werk Christi stellt sich dann
als ein unüberlegter Begeisterungstaumel dar, der nur durch die innige Re¬
ligiosität des Mannes vor der Ausartung in Fanatismus bewahrt wurde,
ohne dadurch seinen chimärischen Charakter einzubüßen. Vergebens bemüht sich
Harnack, diesen Jesus über Sokrates zu stellen. War die messianische Hoff¬
nung eine Illusion, dann ist der für die Sache der Vernunft sterbende Philosoph,
der keine irrigen ZuluuftShoffnungen erweckte, weiser gewesen, als der für
einen falschen Glauben sterbende Christus. So wird das Evangelium vom
theologischen Rationalismus mißhandelt, statt erklärt zu werden; dieser er¬
niedrigt Jesus unter dein Vorwande, seine Größe zu wahren, nicht allein unter
Sokrates, sondern unter alle geistig gesunden Menschen. Das Evangelium
und Christus werden in zwei Bestandteile zerlegt: in ein moralisches Gefühl,
das man bewundernswert zu finden geruht, und in einen Traum, den mau
noch nicht lächerlich zu finden wagt."
Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum in der Lehre und in dem.
Leben der Kirche stellt Loisy ähnlich dar, wie ich es wiederholt, zum Beispiel
in Hellenentum und Christentum, versucht habe. Gewiß sind die Dogmen
iMsch-hcllemsche Spekulationen, aber wenn man sie, wie Harnack, dem echten,
auf eine einzige Idee reduzierten Christentum als etwas Fremdes gegenüber¬
stellt, so löst man, wie Loisy richtig bemerkt, das Christentum aus Natur und
^schuhte heraus und verstößt, wie ich das eingangs ausgedrückt habe, gegen
^ besetz der Entwicklung. Die jüdischen und die platonischen Spekulationen
musim darum, weil sie jüdisch und heidnisch sind, noch nicht als etwas Ar-
ten s ' ? Unchristliches verworfen werden: gerade dadurch hat das Christm-
as in s"s ^'keit und zugleich seinen universellen Charakter bewährt, daß
Gott ? ^nahm, was die menschliche Vernunft schon im Nachsinnen über
der N'? Beachtenswertes gefunden hatte. Nur gegen den Anspruch
kalt ^ Protestieren, daß sie mit ihren Formulierungen den Jn-
^ s,. göttlichen Geheimnisse erschöpft und den unbedingt giltigen Ausdruck
>ur gefunden habe, den sich jeder bei Strafe der ewigen Verdammnis an¬
zueignen verpflichtet sei. Nach Loisy erhebt die katholische Kirche diesen An-
Much gar nicht. Das Evangelium enthält „keine absolute und abstrakte
Doktrin," sondern verkündigt einen lebendigen Glauben. Diesen Glanben der
Welt zu erhaltenj dazu „war ein Anpassungsprozeß erforderlich und wird
Miner einer erforderlich sein." Der Historiker sieht in den Dogmen „eine
durch mühsame theologische Gedankenarbeit erwvrlme Interpretation religiöser
Tatsachen. Mögen die Dogmen ihrem Ursprung und Wesen nach göttlich sein,
so sind sie doch nach Bau und Zusammensetzung menschlich," und der Prozeß,
der immer neue Formulierungen hervorbringt, um den Ausdruck des Glaubeus-
inhalts dem jeweiligen Erkeuutnisstandpnnkte der Gläubigen anzupassen, kann
niemals für abgeschlossen angesehen werden. Das kirchliche Formular ist nur
ein Hilfsmittel des Glaubens, „die Richtschnur des religiösen Denkens; der
vollständige Ausdruck des Gegenstands dieses Denkens kann es nicht sein, da
dieser Gegenstand Gott selbst, der Unerforschliche, Christus und sein Werk ist;
jeder eignet sich ihn mit Hilfe der Formeln so gut an, wie er kann." Wird
sich der Episkopat, wird sich der Papst mit dieser Auffassung des Dogmas
einverstanden erklären? Ich wünsche es Loisy und allen liberalen Katholiken,
wünsche es anch der ganzen Christenheit, glaube aber nicht, daß es im nächsten
halben Jahrhundert schon geschehn wird. Loisy selbst formuliert die drei
Grnnddogmen folgendermaßen: „Es gibt nnr einen ewigen Gott, und Jesus
ist Gott, so lautet das theologische Dogma. Das Heil des Menschen ruht
vollständig in der Hand Gottes, und doch hängt es vom freien Willen des
Menschen ab, ob er sich rettet oder nicht; so kantet das Dogma von der
Gnade. Die Kirche hat Machtvollkommenheit über die Menschen, und doch
hängt der Christ nur von Gott ab; das ist das Dogma von der Kirche."
Jeder dieser drei Sätze enthält einen logischen Widerspruch; damit wird das
Bekenntnis abgelegt, daß die Vernunft unfähig ist, das Wesen Gottes, der
Schöpfung und der Erlösung zu begreifen.
Auch die Hierarchie und die Sakramente nebst dem Meßopfer führt Loisy
nicht auf ausdrückliche Einsetzung Christi zurück, der nnr Apostel lind Jünger
erwählt, die Anfnahmezcremonie der Taufe und das Erinnerungsmahl an¬
geordnet habe, sondern läßt sich das alles ans dem Samenkorn, der Ur-
gemeinde, im Laufe der Zeit entwickeln. Eine Kirchenverfassung mußte, da
die unsichtbare Kirche ein Urgedanke ist, mit Notwendigkeit von selbst entstehn.
Ein Kultus mußte sich in Anbequemung an griechische, römische, germanische
Gebräuche entfalten, denn, meint der Verfasser, wenn die Kirche aus Griechen,
Römern, Germanen bestehn sollte, so mußte sie natürlich selbst griechisch,
römisch, germanisch werden. Auch in dieser Anbequemung lag nach ihm kein
Abfall vom Christentum, weil es christliches Leben war, was sich in den cmf-
genommnen und fortgebildeten, oder wie man bei der Bußanstalt sagen muß,
durch die veränderten Zustände erzwungnen Bräuchen und Einrichtungen ent¬
faltete. Nach meiner Ansicht geht Loisy zu weit, wenn er meint, die römische
Kirche sei nie in ein weltliches Reich ausgeartet, weil auch die weltliche Macht,
die ihr der Entwicklungsprozeß aufgenötigt habe, immer im Dienste der
Religion verwandt worden sei, und wenn er das heutige Übermaß von zum
Teil abergläubischen Zeremonien und Audachtsformeu damit rechtfertigt, daß
es die Frömmigkeit desordre. Man muß doch fragen: Was für eine Frömmig¬
keit? Aber man kauu dergleichen Rechtfertigungsversuche mit der schwierigen
Lage, in der ein liberaler Katholik ist, entschuldigen. Will ein solcher auf
seine Glaubensgenossen einwirken, so muß er sich davor hüten, den Fanatikern
eine Handhabe darzubieten, die seit Pius des Neunten Regierung übermächtig,
und die alle nicht abergläubisch Bigotten aus der Kirche hinauszudrängen be¬
strebt sind. Auf diese Rücksicht ist wohl auch die sehr verklausulierte Ausdrucks¬
weise Loisys zurückzuführen, die seiue eigentliche Meinung mitunter mehr nur
s ist in Sachsen zur Gewohnheit geworden, über die polnischen
Pläne Augusts des Starken erbarmungslos den Stab zu brechen,
sie als ein sinnloses, an und für sich verwerfliches Abenteuer hin¬
zustellen. Dieses Urteil ist sehr wohlfeil zu finden, wenn man von
dem schließlichen Erfolg dieser Bestrebungen ausgeht. Wer aber die
Vorgeschichte der Erwerbung Polens kennt, die in den jahrhunderte¬
langen Bemühungen der sächsischen Fürsten enthalten find, ihren wirtschaftlich reich
entwickelten Landen den ungestörten Bezug der polnischen Rohprodukte und einen
gewinnbringenden Absatz der sächsischen Jndustrieprodukte nach Osten zu sichern,
der wird etwas vorsichtiger urteilen. Er braucht deswegen nicht zu verkennen, das;
für August den Starken die kräftigsten Impulse in seinem romantisch-ritterlichen
Lebensideal, in seiner ungezügelten Begierde nach Ruhm und Glanz gegeben
waren, er wird aber daneben bemerken, daß die Erwerbung der polnischen Krone
in gewissem Sinne auch als der Abschluß einer seit Heinrich dem Erlauchten be-
?V-^"I"^ bezeichnet werden kann. An besonnenen Urteilen über die polnische
-Politik Sachsens hat es in keiner Zeit gefehlt, sie sind nur nicht die herrschenden
V > ' n "r unmittelbar nach dem siebenjährigen Kriege, als Sachsens
d.? 'i'.i it - lag. hat zum Beispiel der sehr gut unterrichtete Verfasser
Kammer n k^''^ ^ ^ °°"r - - ^ Laxe en 1769, vermutlich der Geheime
die polnMe ^ '^"^ Albrecht Ludwig von der Schulenburg-Klosterroda,
Er sagt- Die ^ '"^'Mes anders beurteilt, als es heute gewöhnlich geschieht,
vorteilhaft "odei- ^ Krone Polens für den Kurfürsten von Sachsen
nur nack Leidens^? '^^t. hat man seit langer Zeit vielfach besprochen, aber
beurteilt Die in . ! " einseitigen Interessen, man hat sie niemals unbefangen
Hebung' des ^ ^. V ' ^ dem Lande dadurch entstehn, sind eine wesentliche
Sachsen deo denn durch den Verkehr zwischen beiden Ländern wird
dulde des ^ ^ Handels zwischen dem Süden und Polen. Alle Pro-
Nnmen . "^"s und der Fabriken Sachsens gehn nach Polen unter fremden
on ^ K ^""fest mit Waren andrer Länder. Die polnischen Juden kaufen
selen k" " Ladenhüter, welchen die sächsischen Kaufleute anderwärts nicht ab-
tat . > Ur die Hauptstadt Dresden entsteht ein andrer Gewinn dadurch,
ib„ r Polnische Magnaten dort, um in der Nähe des Königs zu sein,
^e reichen Einkünfte verzehren. Man hat behauptet, daß die polnische Krone
bat?? ^' ^ Einkünfte Polens den Aufwand nicht deckten, allein man
M ^ ""^ ^rü Erfolge geurteilt. August der Zweite hatte den beschwer¬
ten Kr,eg ,^ Schweden zu führen . . ., allein dieser Krieg war ein Zufall und
"eyk eine unabweisliche Folge des Besitzes der Krone Polens. August der Dritte
aber hatte einen Minister, dem alle Schätze Perus und Mexikos nicht genügt
haben würden. Graf Brühl würde Sachsen ruiniert haben, auch wenn August
der Dritte niemals König von Polen gewesen wäre.
Ein König von Polen genießt als solcher mehr als eine Million Taler Ein¬
künfte, eine Summe, die jedenfalls genügt, um den Mehraufwand, den die Krone
einem Kurfürsten von Sachsen verursucht, zu decken. Nicht zu unterschätzen ist
auch der politische Einfluß, den die Krone Polens dem Kurfürsten auf alle Ver¬
hältnisse Europas sichert. Denn wenn auch seine Rechte als Souverän auf sehr
enge Grenzen beschränkt sind, vermag er doch, wenn er es richtig versteht, viel
durchzusetzen. Viele Momente weisen darauf hin, daß dieser Fürst nach der vollen
Souveränität strebte, und daß nnr das Waffenglück Schwedens Polen seine Frei¬
heit erhielt, von der das Volk keinen Gebrauch zu machen versteht. August der
Zweite war jedenfalls ein Mann von viel Talent, allein es läßt sich nicht in Ab¬
rede stellen, daß er selbst viel zu den Erfolgen Karls des Zwölften beigetragen
hat. So leicht es vielleicht August dem Zweiten gewesen sein würde, seinerzeit
sich die Souveränität zu sichern, so schwer würde dies aber jetzt (1769) einem
.Könige von Pole» werden. Rußland war damals noch nicht zur Entwicklung
seiner Kräfte gelangt, Preußen erhielt sein Heer nur durch die Subsidien der See¬
mächte. Einen Beweis der Befähigung Augusts des Zweiten bietet der Umstand, daß
bei seinem Tode trotz der ungeheuern Kosten, welche die Kriege und seine Feste
erfordert hatten, doch die Finanzen des Landes nicht in Unordnung und ver¬
hältnismäßig wenig Schulden vorhanden waren. Wenn man die Kassenbestände,
welche am Todestage des Königs, am 1. Februar 1733, vorhanden waren, in Abzug
bringt, betrugen die Schulden Sachsens nur 4131347 Taler." Zum Vergleiche
füge ich hinzu, daß die Staatsschuld beim Tode Augusts des Dritten (1763) das
Elffache, nämlich fünfundvierzig Millionen Taler betrug.
Zwei Ziele mußten natürlich dem neuen Polenkönig vorschweben: erstens die
Herstellung einer stärker» Autorität der Krone in Polen, und zweitens die Be¬
schaffung einer zollfreien Landverbindung zwischen Polen und Sachsen. An beiden
Aufgaben hat August der Starke, freilich in seiner Weise, lebenslang gearbeitet.
Dabei erlangte der Name Schiedlo gar bald bei ihm Interesse und Bedeutung.
Denn von welchen! Punkte aus konnte die Laudverbindung mit Polen besser ge¬
sucht werden als von dem einzigen Gebietsstreifen ans, den man als Ausgangs¬
punkt weiter nach Osten zielender Wünsche auf dem rechten Odernfer besaß?
Besonders im Nordischen Kriege erschien Schiedlo als der Brückenkopf zu der
kürzesten Straße nach Polen, die durch das preußische Krossen und Züllichau ein
die Grenze des weißen Adlers führte. Mehrere Aktenstücke des Königlichen Haupt¬
staatsarchivs in Dresden, auf die mich Herr Hauptmnnu Freiherr von Weint
freundlichst aufmerksam gemacht hat, und die Kirchenbücher des Schiedlo benach¬
barten Dorfes Wellmitz erzählen davon. In diesen heißt es: „Anno 1704 ist
auf unserm kleinen Felde vom Vorwerk bis zum alten Hofe ein Königlich Polnisches
und Churfürstlich sächsisches Lager forniiert worden, woselbst über acht Regimenter
Reiterei gestanden . . ., die Infanterie aber stund bei Gilden, und weilen eine
Brücke über die Oder gebauet worden und auch Schanzen gemacht, daß eine
starke Wache dabei hat gehalten werden können, sind sie endlich alle über die
Brücke, sowohl die Kaffallerie als Infanterie . . . über 26 bis 30 Regimenter . . .
gegangen, und nachdem ein sehr trockner Sommer gewesen, sind täglich und wöchent¬
lich hin und wieder zu Fuß, Wagen und Pferden die Straße gezogen." Im
folgenden Jahre 1705 zog August der Zweite sei» Heer in Guben zusmumc»,
wieder w»rde bei Schiedlo eine Brücke geschlagen und diese durch Erdwerke ge¬
deckt. Dann kamen die Jahre der schwedische» Invasion in Sachsen und der
demütigende Friede von Altranstädt. Als aber im Jahre 1709 von den gegen
Schweden verbündeten Mächten der, Beschluß gefaßt worden war, daß sich August
der Starke die polnische Krone zurückerobern sollte, erschien dieser von neuem mit
15000 Mann in Guben, ließ bei Schiedlo die Brücke schlagen und den Brücken¬
kopf befestigen.
Über Art und Größe dieser Befestigungen, sowie über des Königs persönlichen
Anteil daran erfahren wir Genaueres aus der 1743 verfaßten „Wemnäßigen
Nachricht von dem 1709 erfolgten Schiedloer Schantzeu-Bein" (H.Se.A.Loe.6125)
des Obristen von Soeben, der das seinerzeit vom Schiedloer Gute losgetrennte
Schanzterrain zurückzukaufen wünschte: „Als M. Aug. 1709 die Königl. Armee
nach Pohlen wieder einmarschieren sollte und sich zu dem Ende die Cavallerie bei
Guben zusamengezogen hatte, so mußte diese die Oder bey Schidlow passieren, wes-
halben zu Bedeckung der Schiffbrücke eine rsts co ?eine aufgeworffen oder eigent¬
lich nur ein schou vier Jahre vorher vou der Russischen und Chursnchsischeu In¬
fanterie gemachtes Werk wieder hergestellt ward. Es haben aber auch Ihre in
Gott ruhende K. Majestät, nachdem Sie in höchster Person dorthin gekommen und
die Lage von Schidlow in Ansehung deren hiesigen, nur an diesem und noch an
einem Orte, nehmlich bey Fürstenberg sich über den Oder-Strohm extendirenden
Lande sehr vorteilhaft befunden, die Anlegung einer Schanze daselbst angeordnet.
Der Anfang ist damit ungesäumt gemcichet, eine Anzahl von 1000 Schcmz-Arbeitern
darzu aufgebothen und die Anlegung zu einem Sechseck abgestecket worden, worüber
der Ingenieur-Major Bruyn die Direktion erhalten. Ob nun wohl von dem
Hochpreisl. Geh. Consilia gegen diesen Schanzen-Bau ein und andre Vorstellungen,
insonderheit wegen Unvermögenden des Landes und der Kriegskasse, auch der damit
an denen Höfen zu Wien und Berlin gar leicht zu erweckenden ombiÄZs, mittelst
Berichte vom 3. Sept. 1709 und 14. Febr. 1710 geschehen . .. So ist doch Ihrer
K. M. allergnndigste Resolution, daß Sie den Schidloer Schanzenbau fortgestellet
(fortgesetzet) wissen wollen, suo ewa> den 27. April und 11. Juni 1710 ein-
gelauffen. Folgends hat der Major Bruyn einen Anschlag derer Kosten zu
sothcmer, doch nunmehro auf ein Fünfeck dergestalt, daß ein jedes Polygon in der
Länge 136 Rheinländische Ruthen (510 in) halten sollen, angegebner kortitiWtion
auf 510389 res. 21 gr. eingereichet, welches das Hochpreißl. Geh. Consilium zu
einem abermahligen umständlichen Bericht vom 31. Juli et. a., damit dieser Sache
Anstand (Aufschub) gegeben werden möchte, und noch zu einem andern vom
12. Sept. ä. -z. wegen unumgänglicher Nothwendigkeit eines mit dem Freyherrn
von Loben (dem Besitzer des Gutes Schiedlo) zu treffenden Abkommens veranlasset.
Worauf ein special Rescript alö ciato Lcmgfurth bey Danzig den 6. Oct. 1710
verfolget, daß mit dem Freyherrn von Loben Vergleich auf so leidliche Conditiones
^möglich getroffen und der Ihre Königl. Maj. sehr angelegene Schanzen-Bau
''fördert werden möe."
K.s A energische Verfügung des Königs hin wird zwar im Jahre 1711
?°re ^.?^^ v°n dem Freiherrn von Loben angekauft. aber doch kein rechter
^ Baues erreicht. Im Jahre 1712 hat der Major Bruyn zur PaK-
la^erung der Schiedloer Kontreskarpe w Gubener Stadtforst 1700 Stämme schlagen
5-^°.' /'"^ Transporte werden Gubener Artilleriepferde verwendet. Aber dem
Mut» ^ Baus sein.d ein tragisches Schicksal bevor: er erstach im Juni 1712 den
^uvener Burger Gottfried Rößler. flüchtete, geriet dann in Gefangenschaft und
in dach Fürbitte seines alten Vaters der Hinrichtung.
. dem Erlöschen des Nordischen Krieges trat das Interesse des Königs an
ven Festungsbau in Schiedlo etwas zurück, aber seine Bemühungen um Herstellung
nner Landverbindung mit Polen dauerten fort. Außerdem war es sein Plan. Teile
Polens den Nachbarn, zum Beispiel Rußland und Preußen, aufzuopfern und in
dem ihm verbleibenden Reste den Absolutismus herzustellen. Falls es zu einem
Zusammenstoße mit Preußen käme suchte er die Landverbindung von Schiedlo aus
durch Erwerbung von Krossen und Züllichau. Doch bahnte er später ein besseres
Verhältnis zu Preußen an und wartete aus die schwache Stunde Österreichs, d. h.
auf den Tod Kaiser Karls des Sechsten, dessen pragmatischer Sanktion er wider-
strebte, weil er kraft des Erbrechtes seiner Schwiegertochter Maria Josepha, der
Gemahlin des Kurprinzen, beim Aussterben des Mannesstammes der Habsburger
ganz Böhmen mit Mähren und Schlesien zu erwerben hoffte. Man kann wohl
einwenden, daß die militärischen Kräfte Sachsens dazu nicht ausreichten, und daß
August nicht der Mann war, einen solchen Plan durchzuführen. Gewiß, zur Zeit
des Nordischen Kriegs war ers nicht: bis zum Jahre 1706 zumal macht er in
seinem vergeblichen Kampfe gegen Karl den Zwölften den Eindruck eines Mannes,
der immer vou neuem von den furchtbaren Stößen des Nordischen Stieres gepackt
und aus der Bahn geschleudert wird. Aber der Nordische Krieg war für August
den Starken anch eine bittre Lehrzeit, die nicht ganz ohne Frucht blieb, namentlich
auf militärischem Gebiete. Sachsen hatte im Jahre 1725 ein ganz andres Gewicht
als 1695, und konnte nicht auch sein Fürst unter dem Einflüsse besonnener Rat¬
geber die Schlacken abstoßen und eine geläuterte Glut seines Willens zeigen?
Die Sonne war dem Untergange nahe, und der kühle Wind pfiff uns um
den Kopf, als uns der Ferge von Schiedlo über das dunkle Wasser wieder ans
linke Ufer fuhr. Da stand August der Starke vor meinem innern Auge nicht mehr
als der Held unzähliger Liebesabenteuer und Bacchanalien, das bunte Pantherfell
über der vergoldeten Rüstung, sondern als der gereifte Mann, wie ihn Louis
Silvestre nach dem Besuche Friedrich Wilhelms des Ersten in Dresden (1730)
mit diesem zusammen gemalt hat (Dresdner Galerie Ur. 770, Saal 69b), das
geistvolle Gesicht schon gefurcht von den Enttäuschungen des Lebens, um den Mund
ein nervöses Zucken, der Widerschein seiner zahllosen, sich überstürzenden politischen
Entwürfe. Der »eben ihm stehende preußische König mit seinem runden, gleich¬
mäßigen und gleichmütigen Gesicht erscheint dagegen fast hausbacken. Mit dem
Silvestreschen Bilde muß man die feine Charakteristik Augusts des Starken ver¬
binden, die sein Gehilfe, der Feldmarschall und Minister Graf Flemming, am
16. Januar 1722 handschriftlich von dem zweiundfünfzigjnhrigen Könige entworfen
hat. Flemming hat ihn gekannt wie wenige, darum weicht auch seine Zeichnung,
in der die Schwächen keineswegs verschwiegen werden, beträchtlich von dem üblichen
Gerede über August ab. Sie findet sich in französischer Sprache in einer Hand¬
schrift der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden und lautet in ihren
wichtigsten Sätzen folgendermaßen: „Er ist melancholischer Gemütsart (melancholisch
ist hier im Sinne der Alten und auch noch Albrecht Dürers soviel wie grübelnd,
nachdenklich) und hat deshalb eine lebhafte Auffassungsgabe. Er stellt sich die
künftigen Freuden eindrucksvoller vor, als sie es in Wahrheit sind, und ebenso die
künftigen Leiden. Sein durchdringender Scharfsinn bewirkt, daß er, wenn er
Kummer hat, sich niemandem eröffnet in der Meinung, daß, wenn er kein Heil¬
mittel zu finden wisse, es unnütz sei, bei andern danach zu suchen. Er glaubt,
wenn er sich die Mühe geben wolle, jemand für sich zu gewinnen, könne ihm
niemand widerstehn, und er hat es oft ausprobiert; jedoch ist er auch oft von un-
edeln Leuten, die er manchmal mit den edeln verwechselt, getäuscht worden; das
schreckt diese ab, während jene mit ihrem Betrug vorwärts kommen. Er ist im
höchsten Grade mißtrauisch, was seinem Scharfsinn Abbruch tut, denn gewöhnlich
ist der Scharfsinnige frei von Mißtrauen.
Sinnenlust und Ehrgeiz sind in ihm die herrschenden Leidenschaften; doch hat
die Lust die Oberhand; oft ist sein Ehrgeiz von seinen Vergnügungen durchkreuzt
worden, aber niemals sein Vergnügen vom Ehrgeize. Er hat ein fast universelles
Wissen, und es macht ihm Freude, gerade in den Studien fortzuschreiten, in denen
er in seiner Jugend stark vernachlässigt worden war. Dieser Fehler in der Er¬
ziehung hat bewirkt, daß er einen falschen Gebrauch von der Geschichte macht; denn
es passiert ihm oft, daß er ihre Ausschmückung für geschichtliche Wahrheit nimmt,
und daß sich deshalb in seinem Tun etwas Romanhaftes findet. ... Er verlangt
nicht, daß man ihm auf unerlaubten Wegen Geld schaffe, aber wenn einer so
freundlich ist, macht er sich kein Gewissen daraus, es anzunehmen, und glaubt sich
gegen jeden Vorwurf gedeckt, wenn er die Schuld auf einen andern abwälzen kann.
Der Ehrgeiz und der Wunsch, den Beifall jedermanns zu gewinnen, haben ihn oft
dazu gebracht, auch mit der Kenntnis der unbedeutendsten Dinge glänzen zu wollen,
deshalb hat er oft sehr ernste und wichtige Dinge durch seine Einmischung auf¬
gehalten.
Unter den Vergnügungen war für ihn die hauptsächlichste die Liebe; doch hat
er darin nicht soviel Befriedigung wirklich gefunden, wie er andre hat glauben
machen wollen; ein Liebesverhältnis mußte,' wenn es nach seinem Geschmacke sein
sollte, Aufsehen erregen, er umkleidete es gern mit dem Schimmer des Geheimnis¬
voller; er hat sich oft selbst Schwierigkeiten geschaffen, um das Verhältnis romantisch
erscheinen zu lassen.
Nach der Galanterie ist das Bauwesen, und zwar das militärische wie das
nichtmilitärische, eine seiner größten Freuden gewesen, und alle Welt ist darüber
eung, daß er von beiden viel versteht . . . aber der Wunsch, den Beifall aller
Welt zu finden, läßt ihn oft einen Plan ändern, sodaß er viele Sachen anfängt,
über keine vollendet. ... Er liebt es, wenn man ihm die Wahrheit sagt, aber
es darf nicht vor Zeugen und nicht in lehrhaften Tone geschehn. ... Er ist zart¬
fühlend, ohne es scheinen zu wollen ... er ist eifersüchtig auf alle, die Ruhm haben,
er vergißt nicht leicht eine Beleidigung, aber er verzeiht sie. ... Er hat danach
gestrebt, ein zweiter Alcibiades zu sein, indem er sich durch Tugenden und Laster
gleichermaßen berühmt machte. ... Er schickte viele Minister an fremde Höfe, denen
man Instruktionen gegeben hatte, die mit den Meinungen andrer unter sich zwie¬
spältiger Minister übereinstimmten, sodaß sich in der Geschäftsführung seiner Minister
oft Widersprüche fanden. Aber seit der Einrichtung des Geheimen Conseils hat
er dies Verfahren aufgegeben."
Sehr interessant in diesem Charakterbilde ist der romantische Zug, der durch das
Wesen des Fürsten geht und uns seine Liebschaften wenigstens zum Teil im Lichte einer
spätritterlichen Minne erscheinen läßt; sehr interessant ist auch der immer wieder
betonte Wissenstrieb, sein Streben nach Ruhm und Unsterblichkeit, das ihn als den
Sohn einer späten Renaissance zur Nachfolge Alexanders des Großen treibt. Man
rechne dazu sein Verständnis und seine Fürsorge für Kunst und Technik jeder Art,
für die Verbesserung der Rechtspflege und der Verwaltung, für die wirtschaftliche
Hebung seiner Länder durch Abschluß günstiger Handelsverträge, dnrch Einführung
neuer Industrien wie der Glashütte» des Barons Tschirnhaus und der gleichfalls
auf Tschirnhaus Erfindung beruhenden Pvrzellanmanufaktur in Meißen: und man
wird von ihm den Eindruck eines trotz seiner Schwächen überaus regsamen und
bedeutenden Mannes haben. Das sächsische Volk befand sich unter seinem Regimente,
nachdem einmal die Lasten des Nordischen Krieges abgeworfen waren, Verhältnis-
mäßig wohl, trotz der Verschwendung des Hofes, die ihm ja großenteils wieder zu¬
gute kam; gegen das Ende seiner Regierung stieß man fast überall auf Kennzeichen
eines blühenden Wohlstandes und eines frohen Genießens. Nur gerade in seiner
groß angelegten äußern Politik blieb dem Könige jede Frucht versagt Die Gründe
lagen teils in ihm selbst, teils außer ihm.
fürstliche Pflichtgefühl, das persönliche Neigungen und augenblickliche Ein¬
falle im Zaume halt das seinem weit schwächer beanlagten Nachbar Friedrich Wilhelm
dem Ersten in s° hohem Grade eigen war. war bei August dem Starken nur un¬
genügend entwiMt; bei der Fülle seiner sich überstürzenden, teilweise sogar einander
widerstrebenden ProMe entbehrte sein Handeln zu sehr jeder geruhigen Stetigkeit;
im falschen vertrauen auf die Unerschöpflichkeit seiner Kraft hatte er immer so viele
Eisen zu gleicher Zeit im Feuer, daß er keins recht schmieden konnte. So ver¬
puffte denn schließlich die herrliche Mitgabe, die die Vorsehung den Wettinern in
seinen reichen Talenten verliehen hatte, nutzlos, wie eine der glänzenden Leucht¬
kugeln seiner unzähligen Feuerwerke. Und dabei fühlte er sich auch selbst nicht
einmal glücklich. Dem Rausche folgte ebenso oft die Ernüchterung, und Flemmings
Charakterzeichnung beweist, daß dieser bet seinem Herrn Stunden der Niederge¬
schlagenheit, des Weltschmerzes und der Sorge um die Zukunft sehr wohl kannte.
Aber die Charakterfehler Augusts des Starken waren es doch nicht allein, die den
Erfolg seiner Politik verhinderten: auch das Glück hat ihm gefehlt. Es war sein
Unglück, daß er vor Kaiser Karl dem Sechsten sterben mußte. Hätte er dessen
Tod erlebt, wäre der letzte Habsburger statt 1740 etwa 1730 gestorben, wer will
sagen, ob da nicht August die Rolle gespielt hätte, die später Friedrich der Große
spielte, oder aber, wenn August das Jahr 1740 erlebt hätte, ob da uicht der
doppelte Einsatz, den er zu bieten hatte, sein vortreffliches Heer und eine Teilung
Polens zwischen Sachsen und Preußen, die er schon Friedrich Wilhelm dem Ersten
angeboten hatte, Friedrich den Zweiten zu einem Abkommen mit Sachsen bewogen
hätte, das den südlichen Streifen Schlesiens, etwa gemäß einer Linie von Lauban
nach Myslowitz oder Mähren und ein entsprechendes Verbindungsstück den Wettinern
als Landbrücke nach Polen überließ? So aber trat, gerade als er im Begriff
stand, die Maschen des zwischen ihm, Bayern, Preußen und Frankreich wegen der
Habsburgischen Erbschaft bestehenden Einvernehmens fester anzuziehn, der Tod an
den noch nicht Dreiundsechzigjährigcn heran. Als er während seiner letzten Krank¬
heit — „Jnflammntion im Fuß," verbunden mit tiefen Ohnmachten — in Warschau
am 30. Januar 1733 von den Ministern gefragt wurde, ob er uicht noch vor
seinem Ende der zum Reichstag versammelten Republik seinen Prinzen zum successor
antragen lassen wolle, hat der König geantwortet: er habe eine Dornenkrone ge¬
tragen, stelle seinem Prinzen frei, ob er solche annehme» wolle, wolle ihm die
Krone zwar gönnen, aber auch dabei mehr Glück als er gehabt wünschen. Die
„Dornenkrone" wurde August dem Dritten 1735 zuteil, aber statt des Glücks er¬
wählte er den Grafen Brühl zum Minister, der durch seine ränkevolle, mit den
kleinlichsten Mitteln arbeitende Politik das noch verdarb, was aus dem Schiffbruche
größerer Hoffnungen hätte gerettet werden können. Es kam der große Moment,
der sogar Friedrich dem Großen für einen Augenblick die Wange bleichte: der Tod
Kaiser Karls des Sechsten am 20. Oktober 1740. Für jeden weitblickenden Staats¬
mann gab es, um die ersehnte Landverbindung mit Polen zu gewinnen, nur einen
Weg: offnen Anschluß an Friedrich den Großen, dem Sachsen bei seinem kühnen
Angriffe auf Schlesien ein wertvoller Bundesgenosse hätte sein können. Statt dessen
begann Brühl eine Schaukelpolitik zwischen Preußen und Osterreich, die nur verlust¬
reich sein konnte. Sächsische Bataillone hätten mit den preußischen Schulter an
Schulter in Schlesien einrücken müssen; da das nicht geschah, ging auch die letzte
Hoffnung auf eine größere Machtstellung der Wettiner im Osten verloren. Denn
nachdem Preußen fast ganz Schlesien gewonnen hatte, aber erst dann, war das
Königreich Polen für Sachsen ein Verlorner Posten. Der so gewaltig vergrößerte
Nachbar wollte und konnte den Wettinern die Landverbindung mit Polen nicht be¬
willigen, und im Osten stieg Rußland dominierend herauf. Die polnische Frage
war für Sachsen mit dem Breslauer Frieden von 1742 und mit dessen Bestätigung
in den Jahren 1745 und 1763 zu Ende; alle spätern Versuche, diese Frage wieder
aufs Tapet zu bringen, waren aussichtslose Träumereien.
Schiedlo wurde nach dem ersten Schlesischen Kriege der Gegenstand einer
Politik der Nadelstiche zwischen Sachsen und Preußen. In einem am 25. April 1792
auf dem herrschaftlichen Hause in Schiedlo niedergeschriebnen Altum wird uns
erzählt, wie ein alter Grenzstreit der Schiedloer mit dem östlich davon gelegnen
preußischen Dorf Schönfeld immer wieder ausgelebt sei, bis Anno 1752 „unter
höchster Genehmigung Seiner Königlichen Majestät in Preußen und Seiner Kur¬
fürstlichen Durchlaucht zu Sachsen ein intgiiroistieum wegen der Nutzungsgrenzc
salvo ,juro tsrritoriali zustande gebracht, und diese Grenze durch den Ingenieur
Kossert mit 23 Säulen kcnntbar gemacht worden." Aber Friedrich der Große
empfand diesen Brückenkopf sächsischen Landes auf dem rechten Oderufer wie einen
Pfahl im eignen Fleische; deshalb wurde gleich bei Beginn des siebenjährigen
Krieges „auf Königlich preußischen Befehl diese Grenze einseitig aufgehoben und
zum Vorteile der Schönfelder in das Schiedloische herein erweitert, mit Feldjägern
besetzt und andre Pfähle eingeschlagen." Schiedlo erschien dem preußischen Könige
wegen der einst daran geknüpften sächsischen Hoffnungen so wichtig, daß es sogar
im Hubertusburger Friedensinstrument vorkommt. Im achten Artikel dieses Friedens
wird bestimmt: der Oderzoll von Fürstenberg und das Dorf Schiedlo samt Zubehör
gehn in den Besitz des Königs von Preußen über, sodaß künstig alles, was jenseits
der Oder liegt, preußisch wird. Dafür soll der Kurfürst von Sachsen ein an Ein¬
künften gleich wertvolles Äquivalent erhalten. Dieser Artikel ist. da der Schiedlo-
Fürsteuberger Oderzoll jährlich 30000 Taler betrug, also ein Äquivalent schwer
zu finden war, nicht ausgeführt worden. Demnach lebten auch die alten Grenz¬
streitigkeiten wieder auf; endlich aber kam im September 1777 ein „Hauptvergleich"
zustande, durch den „300 Magdeburgische Morgen und in und mit solchen der
große Schiedloische Busch und Lösche Gurke wieder an Schiedlo zurückgegeben und
diese g, Laveulis bestandnen Streitigkeiten wiewohl mit Nachteil gänzlich beendigt
worden." So blieb Schiedlo sächsisch, bis es 1815 mit der gesamten Niederlausitz
"n Preußen überging.
Diese Gedankenreihen begleiteten uns, als wir der Oder den Rücken kehrten
und auf der Straße nach Wellmitz dahiufuhren. An einer Biegung des Wegs
grüßte uns noch einmal die melancholische schiefe Turmspitze des Dorfs, dann ent¬
schwand auch sie unsern Blicken.
Das also war Schiedlo. Der Rodensteiner würde sagen: „Ein Dorf, was
ists, nur Mist und Rauch" — eine unscheinbare, ärmlich bebaute Scholle in un¬
scheinbarer Landschaft — und doch welche Erinnerungen werden hier wach! Mit
dem Abendwinde zieht der Geist der Geschichte durch die flüsternden Weidenbüsche
am User. Still ists hier geworden. Der ganze Handel und Verkehr, der hier
einst die Oder überschritt, hat sich nach Frankfurt gezogen, von wo die Eisenbahn
schnurgerade westwärts uach Berlin und ostwärts nach Posen geht. Einst sah
Schiedlo die vergoldeten Karossen des sächsisch-polnische» Hoff und die aus dem
Adel ganz Europas erlesene Chevaliergarde mit ihren von Gold und Edelgestein
strotzenden Uniformen — und heute erregt der schlichteste Fremdling das Aussehen
des ganzen Dorfes. Neugierig glotzte» uns die auf dem Damm spielenden blonden
Kinder an, als wir dem Kahn entstiegen, und Kopfschütteln der Erwcichsnen be¬
gleitete uns, als wir die Postagentur suchten, um einen postlagernden Brief zu
erheben. Nur eine dunkle Sage von der Brücke Augusts des starken und seinen
Festungswerken hat sich bei den Einwohnern erhalten. Unser Fuhrmann erinnerte
sich, daß er als Knabe mit seinem Vater beim Buhnenbau etwas aufwärts von
der jetzigen Fährstelle auf alte eichne Jochhölzer und Unterbauten einer Auffahrt
gestoßen se?. So liegen die Reste der Schiedloer Brücke und der Festung im Kies¬
geschiebe des Oderbettes, und mit ihnen schlummert der letzte Traum von einer Gro߬
machtstellung der Wettiner.
>s war Frühling geworden, und der kleine verwilderte Garten auf
dem Dovenhof war bedeckt von Blüten. In dem alten Ziegeldach
des Gutshauses zankten sich die Stare mit den Sperlingen, und weit
hinten, wo der Bach mit den überhängenden Weidenbäumen Wiese
und Garten voneinander trennte, sang die Nachtigall. Elisabeth
> Wolffenradt horchte auf sie, wenn sie Abends zwischen wildwachsenden
Taxushecken auf und nieder schritt, den weiten Himmel über sich betrachtete, die
Bäume in ihrem jungen Land und die Ferne, die sich weit und geheimnisvoll um
sie ausdehnte.
Elisabeth war noch immer schwach. Wenn sie eine Zeit lang gegangen war,
mußte sie sich wieder setzen und sich ausruhn. Auch ihre Gedanken ruhten sich aus,
und manchmal kam es ihr vor, als dämmerte sie durch das Dasein. Aber sie hörte
doch das Leben und das Treiben auf dem Dovenhof, das Fahren der Wagen, das
Sprechen der Menschen; sie horchte auf die Stimmen von Jetta und Irmgard, die
so viel frischer klangen als ehemals, und sie versuchte, den Wage» mit ihrem Jungen
selbst durch die Wege zu schieben. Aber es ging noch immer nicht. Sie war zu
krank gewesen, damals vor Weihnachten, und die Kräfte kehrten nur langsam zurück.
Frau Baronin sollten sich schonen! sagte Rosalie Drümpelmeier mit ihrer
ernsten, nachdrücklichen Stimme.
Elisabeth lächelte und setzte sich.
Dafür haben mich der Herr Baron eigens engagiert, daß ich ans die Frau
Baronin und ihre Schonung achten soll, sowie auf die kleinen Fräulein! fuhr
Rosalie fort, während sie ein Tuch um Elisabeths Schulteru legte.
Sie druf, Rosalie, Sie durs! versicherte die junge Frau etwas ungeduldig;
und nach einer Weile stand sie wieder auf, wanderte nach eiuer Seite, wo Rosalie
nicht war, und horchte auf das Rauschen der Bäume und das Singen der Nachtigallen.
Es war ihr noch immer wie ein Traum, dieses alte Gutshaus mit den hohen
dunkeln Zimmern, der verträumte Garten, und die Felder und Wiesen, die Wolf
jetzt bewirtschaftete. Zwei Monate laug hatte Elisabeth kein klares Bewußtsein ge¬
habt; als sie dann wieder um sich sehen und ihre Umgebung erkennen konnte, lag
sie in einem schön eingerichteten Zimmer, und ihr Mann beugte sich über sie.
Wolf! sagte sie leise und atemlos.
Er küßte ihre Hand.
Keine Aufregung, Liebling; es ist alles vorüber!
Ja, es war vorüber. Krankheit und Angst, Sorge und Sehnsucht. Er, den
sie liebte, stand neben ihrem Lager und lächelte sie an; im anstoßenden Zimmer
hörte sie die kräftig schreiende Stimme des Kindes, an dessen Ankunft sie mit Grauen
gedacht hatte.
War es denn alles ein Traum?
Mit den zunehmenden Kräften kam die Erinnerung, und eines Tags fuhr sie
aus hindämmernden Schlaf auf.
Herr Müller — wo ist Herr Müller!
Der gute Herr Müller! Wolf antwortete ihr lächelnd. Er ist tot; wir wollen
seiner stets in Dankbarkeit gedenken!
Da sah sie den alten sonderbaren Mann wieder vor sich, hörte seine klagende
Stimme und ihre eignen leisen Antworten. Sie waren gute Freunde geworden,
der alte Mann und die junge Frau, und ihr hatte er seine Seele geöffnet. Ihm
war viel Bitterkeit im Leben widerfahren; vielleicht war es Elisabeths linde Gegen¬
wart gewesen, die ihn ausgesöhnt hatte mit den vielen unbeantworteten Fragen
seines Daseins. Sanft und friedlich war er eines Tags, mit ihrer Hand in der
seinen, eingeschlafen, an dem Tage, wo sie mit gewaltsamer Anstrengung noch zu
ihm hinaufgekommen war und dann, nach seinein Scheiden, ihre eigne Wohnung
nicht mehr verlassen hatte.
Der gute Herr Müller. Ja, er mußte gut gewesen sein. Er hatte ihrer
gedacht und ihr sein Geld vermacht; allmählich hatte sie es erfahren, und Wolf
bestätigte ihr die Tatsache. Er sprach allerdings nicht gern darüber und dachte
nur mit Widerwillen an die Klcibunkerstraße und Panlinenterrcisse, an alles, was
damit zusammenhing; aber Herrn Müllers Geld war nicht zu verachten.
Ich habe gleich meine Auszahlung für den Dovenhof gemacht, sagte Wolf zu
Elisabeth, als sie etwas kräftiger geworden war, und er mit ihr über Geschäftliches
sprechen konnte. Hoffentlich ist es dir so recht. Für unsern Jungen war es doch
das beste.
Gewiß! entgegnete sie hastig. Mit dem Gelde kannst du schalten nach deinem
Wohlgefallen.
Es gehört dir und den Kindern, begann er von neuem. Da nichts anders
abgemacht ist, so leben wir auch in Gütergemeinschaft; aber es ist immerhin dein
Vermögen, und ich möchte dir Rechenschaft ablegen. In den Dovenhof muß eine
große Summe hineingesteckt werden, daß er ertragfähig wird. Da —
Leise legte sie ihm die Hand auf die Lippen.
Sei nicht fo fremd mit mir, Wolf. Was mein ist, gehört dir. du weißt es
doch. Was sollte ich mit dem vielen Geld beginnen, wenn ich dich nicht hätte?
So kam es also, daß Elisabeth nichts von Geldgeschäften hörte, daß ihr Mann
alles für sie besorgte, und sie sich freute, ihn beschäftigt und in guter Laune zu
sehen. Daß die beide,: Eheleute sich fremd geworden waren, merkten sie zuerst
kaum. Die Veränderung, die mit ihnen vorgegangen war, mußte erst überwunden
werden. Die neuen Umgebungen beschäftigten beide; manchmal aber wollte es
Elisabeth vorkommen, als wäre ihr Mann früher anders gewesen als jetzt. Was
war es denn, das ihr fremd erschien? Seine grauen Schläfen, die er früher noch
nicht gehabt hatte, eine gewisse Unruhe, die sie nie an ihm gekannt hatte? — Er
war krank gewesen. Die Influenza, die heimtückischste der Krankheiten, hatte ihn
monatelang gequält. Deshalb hatte er nicht schreiben mögen, um Elisabeth die
Sorge zu ersparen. War doch das Leben fern von seinem Weibe so schwer und
unerfreulich gewesen, daß er am liebsten von allem schwieg, was er erlebt hatte.
Elisabeth fragte auch nicht. Es kamen noch Stunden, wo sie jener Wartezeit
mit Schaudern und mit halb ungläubigem Staunen gedachte. War es denn wirklich
möglich, so viel durchzumachen und nicht daran zugrunde zu gehn? Es war möglich
gewesen, und jetzt kam Sonnenschein und Frieden.
Langsam schob Elisabeth den Kinderwagen vor sich her. Ihr Junge lag darin,
ihr Stolz, ihre Wonne.
Hübsch ist er nicht! versicherte Wolf, der manchmal vorsichtig hinter die grünen
Vorhänge und in ein Paar verträumte Kinderaugen sah.
Bei diesen ketzerischen Worten strahlte er über das ganze Gesicht; und nur er
allein wußte, wie stolz er auf seinen Sohn war.
Elisabeth lachte über seine Behauptung. Sie kannte sie von den kleinen Töchtern
her und wußte, daß ihr Mann sie necken wollte. Aber Rosnlie Drümpelmeier war
leise entrüstet.
Herr Baron, einen hübschem kleinen Knaben als unsern Rüdeger gibt es nicht!
Fräulein Rosalie. Sie haben mich nicht gesehen, als ich so klein war. Ich war
viel, viel hübscher.
Mit Erlaubnis zu sagen, das glaube ich nicht, Herr Baron!
Lachend ging Wolf davon; und Elisabeth freute sich über seine Heiterkeit und
darüber, daß Rosalie Drümpelmeier sie ans den Dovenhof begleitet hatte; die alte
guten Herzen ^wu^ten Sprache, der steifen Haltung und dem unergründlich
Herr von Wolsfenradt hatte sie damals zur Pflege bei Elisabeth vorgefunden,
und obgleich er einer selbstsüchtigen Regung folgend, sie gern weggeschickt hätte
dit Ä"^^ in der Klabunkerstraße so war es der Wunsch des Arztes,
tak voll um! ^ '5- sollte. Bei aller Wunderlichkeit zeigte sie sich
armen ^ '"ehe mehr, als die Gelegenheit forderte. Aus der
it endet s7s.^ ^".^ '""rde sie gleich wieder die Baronin, und Wolf bot
T,, ?.^?t an. dauernd bei seiner Frau und den Kindern zu bleiben. Sie
hatte mit der Antwort gezögert.
Herr Baron bei vornehmen Herrschaften bin ich nur in der Hinterstube ge¬
wesen; und ob ich die Zufriedenheit von Ihnen erringe, weiß ich nicht!
Rver ver Arzt, der von ihrem Augenleiden wußte, hatte ihr dringend zuge¬
redet; und nun wohnte sie mit auf dem Dovenhof. Pflegte und versorgte die Kinder
und konnte es acht dankbar genug aussprechen, wie gut es der liebe Gott mit ihr
gemeint habe: Wenn es auch nicht leicht ist, von Hedwig entfernt zu sein und
von Louis; da dieselben doch meine einzigen Verwandten sind! sagte sie zögernd
zu Elisabeth. Aber vielleicht ist es gestattet, sie in spätern Zeiten einmal zu be¬
suchen! Dies setzte sie in ihrer bescheidnen Art eines Tags hinzu, als Elisabeth,
auf sie gestützt, einen Rundgang in dem alten Herrenhause machte. Sie war schon
einen Monat auf dem Dovenhof und hatte noch nicht alle Räume des weitläufigen
Gebäudes gesehen; allmählich aber wuchsen ihre Kräfte, und mit ihnen die Freude
am Besitz.
Sie standen in einer mit allerhand Rumpelkram angefüllten Kammer. Hier
war alter Hausrat übereinander geschichtet, wurmstichige Stühle und wunderlich
geformte Tische; an den Wänden hingen alte Ölbilder: Landschaften und stark nnch-
gedunkelte Ahnen der Wolffenradts.
Neugierig sah Elisabeth um sich.
Natürlich sollen Ihre Verwandten Sie einmal besuchen, Rosalie — sie be¬
trachtete die Bilder genauer, und dann kam ihr ein Gedanke. Aber sie sprach ihn
nicht aus.
Nach dem Mittagessen ging sie mit Wolf im Garten spazieren. Die Sonne
schien warm, und von den Feldern kam kräftige, würzige Luft.
Elisabeth atmete sie in tiefen Zügen ein.
Ach, Wolf, es ist doch alles noch ein Traum!
Eine angenehme Wirklichkeit! erwiderte er lächelnd.
Und alles durch Herrn Müller und dadurch, daß ich ihm vorgelesen habe!
Über Wolfs Gesicht glitt eine Wolke. Gewiß, liebes Herz. Er ist tot und
begraben, und wir wollen sein Andenken in Ehren halten. Aber wir wollen nicht
immer von ihm sprechen.
Du hast keine Anlage zur Dankbarkeit, Wolf.
Elisabeths Stimme klang schärfer als sonst, und ihr Mann streifte sie mit
einem erstaunten Blick. Sie war anders als früher.
Ich bin dankbar, antwortete er langsam.
Herr Müller ist dein Wohltäter gewesen und auch der meine. Aber er ist
tot; und sein Geld konnte er nicht mitnehmen.
Er hätte sein Vermögen andern hinterlassen können. Nun hat er dein Wappen¬
schild neu vergoldet.
Und das deiner Kinder, erwiderte Wolf kühl. Du mußt bedenken, liebe
Elisabeth, daß es nichts Verdienstlicheres gibt, als ein altes Adelsschild neu zu
vergolden. Der besitzende Adel ist die Stütze des Throns und jeglicher Ordnung.
Findest du übrigens, daß ich dein Vermögen nicht richtig verwalte, so schicke mir
einen Rechtsanwalt, damit ich ihm Rechenschaft ablegen kann.
Weshalb bist dn so empfindlich, Wolf? fragte Elisabeth. Ich bin ja so
dankbar, daß alles so gekommen ist, und daß ich dich wieder habe. Es war ent¬
setzlich schwer, allein zu sein!
Wolf antwortete gar nicht. Schweigend ging das Ehepaar eine Weile neben¬
einander her, bis Elisabeth ihren Arm in den ihres Mannes legte und ihn freund¬
lich ansah.
Ich möchte mir etwas kaufen.
Er machte eine zustimmende Bewegung.
Wie du befiehlst. Soll ich dir einen Schmuck kommen lassen?
Sie schüttelte den Kopf.
Ich möchte einen kleinen Hof erwerben. Er heißt Moorheide und liegt —
ja, wo liegt er? Aber ich habe den Wunsch, ihn zu erwerben.
Moorheide, bei Wittekind?
Wolf blieb stehn, als traute er seinen Ohren nicht.
Richtig, bei Wittekind. Den kleinen Hof möchte ich zum Eigentum haben.
Elisabeth sah den überraschten Ausdruck im Gesicht ihres Mannes und be¬
gann zu erzählen. Von dem Milchmann Schlüter, wie er so gut gegen sie ge¬
wesen war, und wie er sein Geld verloren hatte. Er wurde gichtisch, und seine
Frau war es schon lange. Und er hatte ihr beigestnnden. als es ihr selbst so
schlecht ergangen war.
Sie sprach lebhaft und eindrucksvoll; bei der Erzählung von der Güte des
alten Milchverkäufers traten ihr die Tränen in die Augen. Sie war noch nervös
und leicht angegriffen; liebkosend legte Wolf den Arm um sie.
Wir wollen morgen weiter davon reden. Gewiß, der alte Schlüter ist ein
Ehrenmann! Man könnte ihm eine Rente aussetzen.
Ich will den Hof Moorheide! sagte Elisabeth. Du hast den Dovenhof, las;
mir die Moorheide.
Ihr Ton klang eigensinnig, und Wolf sah sie zweifelnd an. Von dieser Seite
kannte er sie auch noch nicht. War das der Fluch des Geldes, daß feine sanfte,
hingebende F-mu auf ihrem Willen bestand? Noch einmal versuchte er zu wider¬
sprechen. Er kannte Moorhcide. Es war ein wertloses, kleines Ding, keine zehn¬
tausend Mark wert; und er glaubte, mau müßte mehr bezahle». Wenn Elisabeth
wirklich selbst einen Besitz haben wollte — wozu eigentlich? —, so war doch der
Dovenhof da. Wollte sie es aber wirklich, dann sollte sie sich etwas Besseres kaufen.
Aber Elisabeth blieb bei ihrem Wunsch. Ich will die Moorheidc haben, und
der Hof soll auf meinen Namen geschrieben werden. Vornehme Damen erhalten
oft bei ihrer Heirat einen Witwensitz angewiesen. Bin ich nicht urplötzlich eine
vornehme Dame geworden, und kann ich nicht von meinem eignen Geld einen
Witwensitz kaufen?
Sie war kindisch, und Wolf versuchte nicht, seine Stimmung zu verberge».
Aber es nutzte ihm nichts, und schließlich gab der Klügste nach. Er schrieb also
noch an demselben Tage an feinen Rechtsanwalt und beauftragte ihn, so billig
wie möglich diese kleine elende Kutsche zu kaufen und auf den Namen seiner Frau
schreibe» zu lasten.
Elisabeth war glücklich, als Wolf ihr von diesem Briefe sagte.
Nächstes Jahr werde ich einmal selbst mit deu Kindern auf mein eignes Gut
gehn! scherzte sie. Vielleicht lade ich dich dann ein, Wolf, und du besuchst von
dort aus das Kloster Wittekind, deren Bewohnerinnen dn so gut kennst!
Das war ganz harmlos gesagt; aber ihr Mann warf ihr einen kühle»
Blick zu.
Du bist sehr gütig, sagte er steif. Ich kann mir aber nicht denken, daß ich
den Dovenhof verlassen möchte! Vielleicht leistet dir dieser wunderbare Herr
Schlüter Gesellschaft!
Bei diesem Gedanken lachte Elisabeth, dann faßte sie Wolfs Hand.
Dn bist nicht zufrieden, Liebster. Aber du hast auch nicht viele Monate in
der Pnulinenterrcisse gewohnt und die Güte der einfachste» Me»sche» erfahre». Sie
waren alle fo herzlich. Wolf, so gut. daß ich mir oft gewünscht habe, ich möchte
es ih»en einmal vergelten können. Und nun, wo ich reich geworden bin, sollte ich
sie vergessen? Sollen sie von mir denken, daß ich sie nur meines Umgangs wür¬
digte, solange ich sie gebrauchte? Wäre das nicht gemein?
Die alte Rosalie haben wir doch gleich ins Haus genommen! murmelte er.
Weitd
ß u. daß Rosalie mich zur Vorleserin bei Herrn Müller vorgeschlagen
hat? sie kannte ihn ein wenig von früher her und nähte für ihn. Bis zu».
^ ""es nicht einmal zu mir gesagt: Ich bin die Ursache
Ihres Glucks gewesen. Noch niemals, Wolf! Sie sorgt für Jetta und Irmgard.
sie pflegt und hegt mich, und sie behandelt mich mit solcher Ehrfurcht, als hätte
sie mich nie die steilen Treppen der Panlinenterrasse hmaufkraxeln sehen, und nie
gesehen, wie glücklich ich über den Verdienst von vier Mark täglich war!
Wolf stieß einen ungeduldigen Seufzer aus.
Hoffentlich denkst du bald um andre Dinge, liebe Elisabeth. Ihr Fraue» habt
ein ganz besondres Talent, in alten, unangenehmen Geschichten zu wühlen.
Liebkosend strich sie über sein Haar.
Ich will dich nicht mehr quälen, mir einen Wunsch noch mußt du mir ge¬
währen. Laß den kleinen Alois Heinemann auf einige Wochen herkommen und
unsre alten Bilder ausmalen, aufbessern, oder ähnliches mit ihnen tun. Er ist
nicht immer fleißig, aber wirklich voll Talent, und ich gönne ihm einen Land¬
aufenthalt.
Ist er vielleicht auch aus der Klabunkerstraße? erkundigte sich Wolf mit einem
Ausdruck solcher Ergebenheit, daß Elisabeth lant auslachte.
Ja, das ist er; und ein Neffe von Rosalie. Sie wird sich ungemein freuen;
und von diesem Besuche wirst du keine Unannehmlichkeiten haben. Im Gegenteil;
der junge Mensch wird dir gefallen!
Wolf sagte ja zu allem, aber er war verstimmt. Es kam ihm so vor, als
dächte Elisabeth nicht immer genügend an ihn und an sein Behagen. Natürlich
sah er ein, daß er sie vernachlässigt, daß er Grund genng hatte, ihr in allen
Stücken nachzugeben; aber eben dieses Bewußtsein machte ihn nicht liebevoller.
Es war eben die alte Geschichte. Im Grunde genommen hatte Elisabeth ihm zu
verzeihen, aber daß sie das nötig hatte, brachte ihn gegen sie auf. Es kam über
ihn wie ein leiser Zorn auf sie, und daß sie es war, die ihm zum Dovenhof ver-
holfen hatte, machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil, die Furcht kam über
ihn, sie werde jetzt immer ihren Willen durchsetzen wollen.
Er war ritterlich gegen die Frauen, aber er konnte es nicht ertragen, daß sie
einen Willen hätten und ihn gebrauchten.
Mit einem gewissen Zorn vertiefte er sich in die Bewirtschaftung des Doven-
hofs. Da war ein alter Verwalter, der langsam arbeitete; der Viehstand war
verlottert, die Gebäude hatten unendliche Schäden, und die Felder verlangten
große Pflege. Wolf war überall. Die Beschäftigung rin der Landwirtschaft
machte ihm Freude, und er vergaß seinen Verdruß. Für Elisabeth hatte er nicht
mehr so warme Gefühle, wie in den Zeiten der jungen Liebe, und es kam auch
vor, daß er plötzlich die lachenden Augen Melittas zu sehen meinte; aber er dachte
doch nicht viel an diese kleine Freundin. Sie schien in der Wolsfenburg gut auf¬
gehoben zu sein; eine gelegentliche Frage an Asta hatte ihm dies bestätigt. Es
war auch besser, diese Wittekiuder Episode zu vergessen. Der Baron Wolffenradt
war jetzt Besitzer vom Dovenhof und Vater eines wundervollen Jungen, den er
im stillen vergötterte. Da dachte mau nicht mehr an die Torheit unbeschäftigter
Stunden.
Wolf vergaß übrigens auch Alois Heinemann und machte große Augen, als
er. eines Tags vom Felde kommend, ein lautes Jubelgeschrei im Garten hörte.
Neugierig trat er näher und sah, wie Jetta und Irmgard sich an einen jungen
Mann hängten, den jede von ihnen mit der schrillsten Stimme begrüßte.
Onkel Louis! Wie einmal fein! Willst dn bei uns bleiben?
Das war Jetta, die zum Kummer ihres Vaters noch manchmal Neigung
zeigte, ein etwas leichtsinniges Hochdeutsch zu sprechen, während Irmgard gleich¬
falls emsig plapperte und ihre Freude durch allerhand unverständliche Laute
äußerte.
Der Ankömmling stand jetzt mit dem Hut in der Hand vor dem Baron und
begrüßte ihn.
Die Frau Baronin hat mich eingeladen, die Bilder nachzusehen. Ich bin
Alois Heinemann!
Onkel Louis, Onkel Louis! riefen die Kleinen von neuem.
O Gott, Papa, was kann er fein mit uns spielen! Das kannst du nicht!
rief Jetta.
Der Baron kümmerte sich selten um seine kleinen Mädchen, deswegen aber
war er doch kein schlechter Vater. Das gutmütige Gesicht und die klaren Auge»
des Malers gefielen ihm, und die Freude der Kinder rührte sein Herz. Freund¬
licher, als er beabsichtigt hatte, bewillkommnete er Herrn Heinemann und freute
sich später an dem glücklichen Gesicht von Tante Rosnlie. Wolf konnte es nicht
begreifen, daß man Heimweh nach der Klabunkerstraße haben könnte; aber Rosalie
mußte es doch empfunden haben. Jetzt zeigte sie ihren: Neffen das ganze Hans
und führte ihn feierlich in ein kleines Giebelzimmer nach Norden, wo er die alten
verstaubten Bilder nachsehen und womöglich aufbessern sollte.
Sie haben hoffentlich Freude an der Beschäftigung! sagte Elisabeth zu dem
Maler. Sie hatte ihn herzlich begrüßt und ging mit ihm durch den Garten.
Er sah sich mit seinen scharfen Augen um und zeigte plötzlich auf ein Dach,
das aus hohen alten Rosen und Fliederbüschen heraussah.
Dort hinten steht eine alte Kapelle! erklärte sie, ich dachte mir schon, daß
Sie sie gleich sehen würden. Vielleicht malen Sie sie von irgend einem hübschen
Standpunkt aus.
Alois schüttelte den Kopf.
Ich werde es wohl nicht können, Frau Baronin. Bin zu dumm — er seufzte.
Der Professor ist unzufrieden, daß es mit mir nicht so recht vorwärts geht.
Ich bleibe in den Ansichtskarten und im Handwerk stecken!
Wo bleibt Ihre unglückliche Liebe? erkundigte sich Elisabeth scherzend.
Er sah sie überrascht an, dann lachte er.
Daran denken Sie noch, Frau Baronin? Fritz Feddersen hat oft so verrückte
Gedanken, aber sie verwirklichen sich Gott sei Dank nicht.
Damit war diese Unterhaltung beendet, und Elisabeth kam nicht mehr viel
dazu, mit ihrem Gast zu sprechen. Es war auch nicht nötig, er war wohl aus¬
gehoben bei Rosalie und den Kindern, und Elisabeth konnte sich einem andern
Besuch widmen, der eines Tages unangemeldet bei ihr vorfuhr.
Es war Baronin Lolo, die ihre Schwägerin so unbefangen begrüßte, als hätte
sie sie seit Jahren gekannt.
Ich mußte doch scheu, wie ihr auf dem Dovenhof wohnt! sagte sie. Für
dieses alte Gut schwärme ich, so lange ich mit Felix verheiratet bin. Ganz platonisch
allerdings. Denn ich habe es nie gesehen, und Felix behauptete immer, es koste
ihn ein Heidengeld!
Dann ließ sie sich durch Haus und Garten führen, sprach über Feldwirtschaft und
Viehfütterung, scherzte mit den Kindern und betrachtete die alten, ans dem Boden
gefundnen Bilder mit nachdenklichen Blicken.
Ähnliche Sachen haben wir auch noch auf der Wolffenburg. Wenn Herr
Heinemann hier fertig ist, muß er zu uns kommen!
Sie war so harmlos liebenswürdig, das; Elisabeth ihr gut sein mußte. In
frühern Zeiten hatte sie vielleicht mit einiger Bitterkeit der stolzen Verwandtschaft
ihres Mannes gedacht, die von seiner Ehe keine Notiz nahmen, sie erinnerte sich
auch wohl noch der Unterredung der beiden Damen in Blankenese, doch dnrch ihre
schwere Krankheit war mancherlei in ihr abgeschwächt. Vielleicht war sie innerlich
noch nicht stark genug, um nachtragen zu können, und was Lolo damals gesagt hatte,
war ihr eigentlich unverständlich gewesen. Und die Schwägerin war wirklich anziehend
und liebenswürdig, dabei eine vollendete Weltdame, die mit Leichtigkeit über das
hinwegging, was andern Menschen als unüberwindlich erschien. Elisabeth war
"'mais mit g eichalterigen Mädchen befreundet gewesen: die Liebe zur Mutter,
ihre frühe Verlobung hatten sie daran gehindert. Jetzt fühlte sie sich oft noch
schwach und anlehnungsbedürftig, da war es ein schönes Gefühl, in Lolo ein Wesen
zu finden, das ihr mit unbefangner Herzlichkeit entgegenkam, ihr von der Wolffenburg,
ihren Kindern berichtete und ihr die Empfindung gab. daß sie jetzt wirklich zur
Familie gehöre, und daß sie von allen mit Achtung behandelt werde. — Diese
Umwandlung kam von der Erbschaft: darüber war sich Elisabeth ganz klar. Aber
wir sind alle Menschen und alle Sklaven der äußern Umstände.
Lolo blieb leider nur eine Woche dn. Der Doktor schickte sie in ein Stahl¬
bad, und dann wollte sie ins Engadin.
Heutzutage gibt es zwei Arten von Frauen, sagte sie in ihrer lächelnden
Art. Die eine Art ist willensstark und kräftig, will Arzt werden oder philo¬
sophischer Professor, die andre Art muß sich immer von den Anstrengungen des
Lebens erholen. Zu ihr gehöre ich. Wenn meine Tante Amalie stürbe und mich
zur Erbin ihres Vermögens einsetzte, würde ich meine Tochter Elsie und ihre
Gouvernante mit auf die Reise nehmen. Aber erstens wird Tante Amalie schwer¬
lich jemals sterben, und dann wird sie mich auch niemals zur Erbin einsetzen.
Außerdem darf ich meiner Tochter wegen solche Gedanken nicht in meiner schwarzen
Seele aufkommen lassen.
Nun hörte Elisabeth näheres vom Kloster Wittekind, von Tante Amalie, von
Movpi, dem dicken Mops, und endlich auch von Melitta.
Laß Elsie mit ihrer Gouvernante doch während deiner Abwesenheit hierher
kommen! schlug sie vor.
Die Damen waren in dem hohen Zimmer zu ebner Erde, dessen Glastüren
auf eine kleine Terrasse gingen und weit offen standen. Elisabeth, die noch viel
ruhen mußte, saß in einem langen Stuhl und sah träumerisch in den Garten, der
noch immer verwildert war, aber gerade deshalb anziehend mit seinen uubeschnittncn
Taxushecken, seinen Rosenbüschen und den alten Ulmen, die schützend ihre Kronen
um ihn legten.
Auch Lolo hatte in die grüne und blumige Wildnis geschaut und richtete jetzt
die Augen auf Elisabeth.
Du bist sehr gut. Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, will ich dir gesteh»,
daß ich diese Einladung mit Freuden annehme. Mein Mann kümmert sich wenig
um seine Tochter, und die Jungen haben einen Hauslehrer bekommen, den Fräulein
Melittas schöne Angen etwas beunruhigen.
Hat sie so schöne Augen? fragte Elisabeth. Lolo zuckte die Achseln.
Mein Geschmack ist die kleine Person eigentlich nicht! Aber ich stehe schon
so wie so im Ruf, meine Erzieherinnen zu viel zu wechseln, und Elsie hat sich
an Fräulein von Hagenau gewöhnt, sodciß sie sie jetzt ungern ziehn ließe. Es ist
komisch, aber ich traue ihr nicht ganz — dein Mann kennt sie übrigens etwas
von Wittekind her; frage ihn doch einmal nach ihr!
Elisabeth lächelte gleichmütig.
Sie wird sich vielleicht hier einleben und eine nette Gesellschaft sein — Wolf
erinnert sich ihrer gewiß kaum. Laß sie und Elsie nur kommen, Lolo, ans Elsie
freue ich mich, und sie kann hier ebensogut lernen wie zuHanse!
Der Baronin war das Herz erleichtert. Ihr gefiel der Dovenhof, für Elisa¬
beth empfand sie etwas wie renevolle Schwärmerei; Elsie erschien ihr hier besser
aufgehoben, als unter den vielen Männern der Wolffenburg. Die beiden Schwägerinnen
machten also ab, daß Melitta und Elsie in der allernächsten Zeit kommen sollten,
und als Elisabeth einige Stunden später in das Arbeitszimmer ihres Gatten trat,
trug ihr Gesicht einen fröhlichen, etwas geheimnisvollen Ausdruck.
Wolf faß am Schreibtisch, in allerlei Berechnungen vertieft. Als seine Frau
eintrat, sprang er auf und geleitete sie zu seinem bequemsten Stuhl.
Was verschafft mir die Ehre? fragte er scherzend, und doch lag in seiner
Stimme eine gewisse Förmlichkeit. Gerade wie Elisabeth ihrem Manne gegen¬
über nicht immer die alte unbefangne Liebe empfand.
Mit einem Scherz suchte sie darüber hinwegzugehn.
Nächstens bekommst du wieder neuen Besuch!
Er setzte sich und spielte mit seinen Papieren.
Wer aus der Klabuukerstrnße soll jetzt einer Einladung gewürdigt werden!
Der leise Spott verletzte sie, aber sie ließ es sich nicht merken.
Mach mir meine Klabunkerstraße nicht schlecht, lieber Wolf. Wir haben Grund,
sie in Ehren zu halten. Diesesmal aber sind es Gäste aus der Wolffenburg, die
für einige Zeit zu uns kommen wollen. Elsie. Lolos Tochter, und ihre Erzieherin,
Fräulein von Hagenau. Du sollst sie auch etwas kennen.
Fraulein von Hagenau! Wolf lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Was soll
sie hier? Seine Stimme klang scharf.
Sie und Elsie werden hier einige Zeit wohnen, und deine Nichte kann hier
ebensogut von Fräulein von Hagenau unterrichtet werden, wie auf der Wolsfenburg.
Elisabeth berichtete von ihrer Unterhaltung mit Lolo, und daß die Schwägern:
es so wünschte. Wolf stand auf und ging im Zimmer auf und ab, stellte sich
endlich ans Fenster und schlug leise an die Scheiben.
Fräulein von Hagenau paßt nicht hierher!
Weshalb nicht? Sie ist doch nicht aus der Klabunkerstraße, vor der du solche
Angst hast.
Er antwortete nicht und sah aus dem Fenster, an dem zwei Tauben vorüber-
flogen. Sie waren weiß, wie die Tauben von Wittekind.
Du mußt die Folgen tragen! sagte er endlich halblaut vor sich hin.
Elisabeth horte ihn nicht. Sie war an seinen Schreibtisch getreten und nahm
einen Briefumschlag in die Hand, der ihren Namen trug.
Ist das etwas für mich?
Es ist der Kaufvertrag zwischen dir und den Gläubigern des Hofes Moor¬
heide. Du bist jetzt seine Besitzerin!
Elisabeth tat eiuen kleinen Freudenschrei.
Wie wundervoll! Nun hat der gute Herr Schulter sein Geld, und ich habe
etwas, das mir ganz allein gehört!
Trotz seiner Verstimmung mußte Wolf über sie lächeln.
Ja, dn hast nun deinen Willen, aber er legt dir auch Verpflichtungen auf.
Vorläufig bleibt die jetzige Verwalteritt, Frau Fuchsins, noch in dem Hause wohnen,
später aber mußt du selbst einmal Hinreisen und nach dem Rechten sehen!
Wie kommt man hin? erkundigte sie sich, und ihr Mann sagte es ihr. Auf¬
merksam horte sie zu.
Wenn Rüdeger einige Monate älter ist, reise ich einmal mit allen Kindern
hin und lerne dann auch das Kloster Wittekind und deine Schwester Asta kennen.
Ich dachte eigentlich, daß uns Asta diesen Sommer besuchen könnte, sagte er.
Im letzten Herbst ist sie sehr nett gegen mich gewesen, und sie kommt mir nach
ihren Briefen etwas herabgestimmt vor!
Gewiß. c,ewiß! Elisabeth freute sich, ihren, Mann einen Gefallen tun zu
könne.^ ^es bitte sie noch heute um ihren Besuch!
s^-s " ^"ß- ^ und nahm den Kaufvertrag mit, der auf ihren Namen ge-
^"g, vor. ihn in seinen Geldschrank zu legen, aber Elisabeth
äclMzutnd' den Mllen"" ^ ^'"s'"«^ ^«r sein, er ließ ihr
war her"zlich^" ""^ ^' Abschied der zwei Schwägerinnen
So a """"" Balg schicken, und du willst gut zu ihn. sein?
ltw
auch versuchen e? """"" ^de! versicherte Elisabeth. Und ich werde
den Eindruck 'al^ w^ s"'H"»man angenehm zu machen. Leider habe ich
"
L°lo horchte.s'tesondersangenehm.
Er nu!' sorglosen Art.
ge.icht.
nichts, über den Ge?V ^ ^ ""eng. miteinander gesehen. Nun, das tut
zieherinuen haben sie manch.mal etwas"" '"^ ""^ ^r-
'
zwei Se!!nde,7we?^.^"?"^' undLolo stieg in den Wagen, der sie nach der
ni aV'E^ bringen sollt. Wolf begleitete sie
> letzt wieder in ,rimmer begab, überkam sie ein Geül
der Trauer, obgleich Jetta ihr lachend entgegenlief, und Irmgard sie am Kleid
faßte, obgleich sie im Garten die Stimme ihres Jüngstgebornen hörte, und da¬
zwischen das leise Singen von Alois Heinemann. Denn auch er saß im Garten
und versuchte ein Bild zu malen; aber es wollte ihm wieder einmal nicht glücken.
(Fortsetzung folgt)
Nach dem Beispiel sozialdemokratischer und
freisinniger Stimmen macht sich in der Presse nicht mir, sondern auch hier und
da beim Publikum ein „Japanismus," eine ebenso überschwengliche wie unbe¬
sonnene Parteinahme für Japan bemerkbar, zu der vom deutschen Standpunkt aus
nicht die geringste Veranlassung vorliegt. Seit den verhältnismäßig so leichten
Siegen der Japaner über die Chinesen ist jenen der Kamm mächtig geschwollen;
sie halten sich für die führende Macht in Ostasien und können es den Europäern
nicht vergessen, daß diese sie verhindert haben, die reiche Ernte des chinesischen
Krieges in die Scheuern zu bringen. Seit Jahren klagen die Vertreter ver-
schiedner Mächte in Tokio in ihren Berichten, daß das Verhalten der Japaner
gegen die Fremden unfreundlicher und unhöflicher geworden sei. Namentlich ist
das auf den Eisenbahnen, an den Post- und Eiseubahnschaltern bemerkbar. Sogar
in dem Verhalten der Gerichte ist eine bewußte Animosität gegen Fremde nicht zu ver¬
kennen, und von wohl unterrichteter Seite sind schon wiederholt Bedenken darüber
laut geworden, ob es richtig war, die Exterritorialität der Fremden und ihre
Konsulargerichtsbarkeit aufzuheben. Der gewöhnliche Mann auf der Straße, der
früher dem Europäer mit Ehrfurcht auswich, hat das längst verlernt. Im Gegen¬
teil, er macht ihm nicht mehr Platz und bekundet auch seinerseits damit, daß er
eine Überlegenheit der weißen Rasse nicht mehr anerkennt. Ohne uns das Wort
„Größenwahn" anzueignen, das längst in bezug auf das Verhalten der Japaner
gefallen ist, glauben wir doch, daß vom Standpunkt der deutschen Interessen uns
absolut nichts auf eine antirussische Parteinahme für Japan hinweist. Wenn sich
irgend ein Berliner Bierhuber zu mitternächtiger Stunde gedrungen gefühlt hat,
wie die Berliner Montagsblätter berichten, seinen Sympathien für Japan Aus¬
druck zu geben, so hat das, zumal in der Faschingszeit, an sich wenig zu bedeuten.
Aber ernstere Männer sollten in ihrem Verhalten nicht den Impulsen folgen, die
durch die ersten, anscheinend stark übertriebnen Siegesnachrichten hervorgerufen
worden sind. Zu irgend welcher Aufregung ist dazu ebensowenig Anlaß wie zu
dem Pessimismus der Börse, hinter dem nur eine wüste Spekulation steckt. Gewiß
hat Japan in seiner schnell verlaufnen Aufklärungsperiode Deutschland viel ent¬
nommen und viel zu verdanken.
Gar vieles in der Pflege der Wissenschaft, im Heer- und Marinewesen, in
der Rechtspflege und so manches andre entstammt deutschen Vorbildern. Man hat
auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens deutsche Lehrer nach Japan gezogen,
eine große Anzahl von Japanern ist nach Deutschland gekommen, um sich in den
verschiedensten Fächern auszubilden und namentlich auch unsre Industrie kennen zu
lernen. Das haben sie so gründlich betrieben, daß sie jetzt sehr vieles selbst er¬
zeugen, und daß gar manche deutsche Fabriken den Japanern keinen Zutritt mehr
gewähren. Ein ernster Sieg Japans über Rußland würde für die ganzen Be¬
ziehungen Deutschlands zu Ostasien schwerlich von günstigen! Einfluß sein, die
Schwierigkeiten für die neutralen Biächte würden vielmehr erst nach einem für
Japan günstigen Kriege beginnen. Das sollten unsre Bierphilister doch recht sorg¬
fältig bedenken.
Andrerseits ist Rußland unser Nachbar, mit dem wir auf einer langen Land-
und Seegrenze dauernd zu tun haben. Daß Rußland zurzeit in einem Bundes¬
verhältnis zu Frankreich steht, können wir ihm nicht zurechne». Alexander der
Dritte hat sich widerwillig und schweren Herzens dazu erst entschlossen, als er
1890 für eine Verlängerung der vertragsmäßigen Beziehungen zu Deutschland,
die seit 1881 bestanden hatten und 1884 und 1887 neu bekräftigt worden waren,
in Berlin kein Entgegenkommen mehr fand. Die damaligen Mißverständnisse und
Mißverhältnisse sind seitdem glücklich beseitigt. Gewiß sollen wir Rußland nicht
nachlaufen, brauchen das auch nicht. Wohl aber liegt es im deutschen Interesse,
unser politisches Verhalten so einzurichten, daß Rußland sich nicht in die Not¬
wendigkeit versetzt sieht, Frankreich als feinen einzigen Freund zu betrachten. Der
russisch-japanische Krieg wird in einigen Monaten, seien es mehr oder weniger,
vorüber sein, und — wie seinerzeit der Friedensschluß auch ausfallen möge — wir
müssen heute schon zusehen, daß wir nach dem Kriege mit unsern Interessen nicht
ins Gedränge kommen. Japan muß dann das Bewußtsein haben, von Deutschland
durchaus korrekt behandelt worden zu sein, das ist die einzig richtige Basis unsrer
spätern Beziehungen, und der Kaiser von Rußland muß wissen, daß er in schweren
Zeiten an Deutschland einen wohlwollenden und erprobten Freund hatte. In den
Beziehungen der großen Mächte zueinander, namentlich wenn sie Seemächte und
Nachbarn sind, findet sich immer eine Gelegenheit zum Präsentieren einer Gegen-
rechnuug. Wir können für die Tapferkeit und Todesverachtung der Japaner, für
den Fleiß und die Opferwilligkeit, mit der sie sich ein den modernen Erforder¬
nissen entsprechendes Heer und eine ebensolche Flotte geschaffen und beide auf eine
bedeutende Höhe der Ausbildung gehoben haben, die höchste Achtung bekunden.
Aber das darf nie so weit gehn, daß wir durch ungerechtfertigte Sympathien für
Japan das nus benachbarte Rußland tief verwunden, mit dem wir in den schwersten
Zeiten unsrer neuern Geschichte durch Waffenbrüderschaft oder durch echtes freund¬
schaftliches Wohlwollen verbunden gewesen sind. Heute wissen wir noch nicht, ob
nicht Japan den Krieg schließlich zu bereuen haben wird. Hüten wir uns, daß wir
nicht ein vorschnelles und unkluges Einsetzen unsrer Sympathien und Interessen zu
bereuen haben!
Deutschlands Interesse in Ostasien gipfelt darin. Chinas Beteiligung am
Kampfe, gleichviel ob durch offnen Krieg oder durch fremdenfeindliche Aufstände,
zu verHuten. Das gilt gleichmäßig für alle andern neutralen Mächte, die dort
Interessen haben und das Kabinett von Washington hat auf Anregung Deutsch¬
lands in dieser Richtung hin eine dankenswerte Initiative ergriffen Eine Be¬
teiligung Chinas würde die Verwicklung unübersehbar und, gleichviel mit welchem
Ausgange, auch für Deutschland sehr folgenschwer machen. Heute schon rächen sich
die zehn Jahre, die wir in unsrer maritimen Entwicklung zurückgeblieben sind.
Sehen wir zu, daß wir die „Ersparnisse" nicht teuer bezahlen müssen!
Der Vorgang bei Port Arthur, wo es den japa¬
nischen Torpedobooten gelungen ist, in die russischen Linien hineinzukommen und dort
schweren Schaden anzurichten, hat schon zu einigen superkluger Bemerkungen über
die ..Überflüssigkeit der teuern Linienschiffe" Anlaß gegeben. Das will ungefähr
soviel sagen, als wenn man die Artillerie abschaffen wollte, weil es einer kühnen
Reiterschar geglückt ist, in ein vielleicht ungenügend bewachtes Artillerielager ein¬
zudringen und einen Teil der dort cmfgefahrnen Geschütze entweder unbrauchbar zu
machen oder zu zerstören. Die japanischen Torpedoboote waren geschickt und todes¬
mutig geführte Patrouillen, die sich Mängel in der Schlachtaufstellung des Gegners
zunutze gemacht und so den Angriff ihrer eignen Panzerflotte erfolgreich unterstützt
haben. Der Vorgang lehrt höchstens, daß Geschwader nie genug Torpedoboote bei
sich haben können, und daß wir gut daran tun werden, wenigstens zwei Torpedoboot¬
divisionen nach Tsintau zu legen. Aber die Frage steht nicht: Torpedoboot oder
Panzerschiff, sondern Panzerschiff und Torpedoboot. Bis heute fehlt noch alles
Material zur Beurteilung der Gefechtsbereitschaft der russischen Flotte bei Port
Arthur; jedenfalls ist der japanische Angriff bei seiner Erneuerung um 9. dieses
Monats trotz der Verwundung dreier russischer Schiffe abgeschlagen wordeu.
Es macht deshalb auch einen sehr komischen Eindruck, in solchen deutscheu Zei¬
tungen, die in der Regel ernsthaft genommen werden wollen, von dem „Helden"
oder dem „Sieger" von Port Arthur zu lesen. Ein Angriff ohne jeden taktischen
oder strategischen Erfolg ist doch kein „Sieg," ein Sieg wäre nur die Zerstörung
der russischen Flotte oder die Wegnahme von Port Arthur gewesen. Noch weniger
kann doch von einem dabei durch die japanische Führung bekundeten „Heldentum"
die Rede sein. Ein Offensivstoß ist doch noch keine „Heldentat." Bei einem Volke,
das ans die schwer erkämpften, opferreichen Siege von 1870 zurückblickt, nimmt es
sich um so seltsamer aus, wenn seine „nationale" Presse derartig mit Lorbeerkränzen
um sich wirft.
Es hat noch
keine Reichstagssession mit einem solchen Überschwang von „Resolutionen" und
„Anträgen" gegeben, wie diese erste der im Zeichen der Drei-Millionen-Sozial¬
demokraten stehenden Legislaturperiode. Diese Anträge und Resolutionen erstrecken
sich auf alle möglichen Dinge und noch einige andre. Dabei findet ein unglaub¬
liches und ziemlich würdeloses „Beglückuugswettlaufen" statt, das sich uicht nur auf
die vorzugsweise begünstigten gewerblichen Arbeiter, sondern auch auf das Heer und
die Unterbeamten erstreckt. Die Natioualliberalen wollen jedem Soldaten, wenn
auch nicht Sonntags ein Huhu in deu Topf, so doch einen regelmäßigen Urlaub
gewähren, ohne Rücksicht darauf, ob die Haltung und die Ausbildung des einzelnen
Mannes das verdient, oder ob die Ausbildung der Truppe bei der so kurzen
Dienstzeit das überhaupt zuläßt. Unsre Soldaten sind doch keine Muttersöhnchen.
Und wie soll es bei der Marine gehalten werden? Will man da auch so beur¬
lauben, dann muß man zunächst einen bedeutend höhern Mannschaftsstand bewilligen,
da ans den Schiffen kein Mann überflüssig ist, ganz abgesehen von den Schiffen
im Auslande. Hoffentlich werden der Kriegsminister und der Staatssekretär der
Marine da ein rundes Nein sprechen. Urlaubserteilung ist Sache der Kom¬
mandobehörden nach dienstlichen Rücksichten; den Urlaub durch Reichstagsreso¬
lutionen festzulegen — das wäre der beste Weg zur Parlameutsarmee. Dann
hätten wir statt des „Königsurlaubs" den „Neichstagsurlaub." Das streift
doch zu nahe an die Bürgcrwehr! Wir hoffen hier ans ein uuumwundnes Nein.
Der Soldat hat Urlaub bekommen zu einer Zeit, wo die Fraktionen nud ihre
Populnritätsbedürfnisse uoch nicht erfunden waren; es wäre sehr bedenklich, die
Armee auf solchen Fundamenten zu erbauen. — Ungefähr auf derselbe» Höhe
steht die sozialdemokratische „Resolution," wonach alle wegen Soldateumißhand-
lungen ergangnen Urteile der Militärgerichte monatlich zur Kenntnis der Armee
gebracht, und die Soldaten dabei zugleich auf ihr Beschwerderecht hingewiesen werden
sollen. Es fehlt nur noch die Auberaumung einer allmonatlicheu großen Parade
vor den Herren Bebel, Singer usw. Es ist bedauerlich, daß solche Anträge über¬
haupt erst gedruckt werden; ihre Diskutierung hat gar keinen andern Zweck als
durch sozialdemokratische Brandreden und ihre Verbreitung die Armee zu revo¬
lutionieren. Hoffentlich ist eine Mehrheit zur Stelle, die sofort Schluß und Kehraus
macht. Am Kriegsminister wird es nicht fehlen.
Nicht geringeres Bedenken haben wir hinsichtlich der Zentrumsresolutiou
zum Postetat, worin eine „eingehende Nachweisung" verlangt wird über «die
tägliche Dienstzeit, die Sonntngrnhe, insbesondre die Ruhe am Sonntag Vormittag,
die Ruhetage und der Erholungsurlaub" der mittlern und der niedern Post¬
beamten. Das sind Interim des Dienstbetriebs, die den Reichstag ganz und
gar nichts angehn. Eine solche Forderung sollte ebenfalls vom Staatssekretär, besser
noch vom Bundesrat, s. unius abgewiesen werden. Das um so mehr, als sie nur
für den Reichsdienst, nicht sür Bayern und Württemberg in Betracht käme, also
innerhalb des Reichs doch Ungleichheiten bestehn bleiben würden. Auch hierbei
handelt es sich ausschließlich um Parteiinteressen und Popularitätsbedürfnisse der
Zeutrumsfraktion, deren Befriedigung nur auf Kosten der Autorität der Behörden
und der Vorgesetzten erfolgen könnte. Der parlamentarische Topf droht nachgerade
auf allen Seiten überzukochen, es ist an der Zeit, daß sich der Bundesrat nach
dem Deckel umsieht. Es ist eine völlig destruktive, die Fundamente unsers Dienst¬
lebens erschütternde Tendenz, wem, die Beamten fortgesetzt durch fraktionelles Wohl¬
wollen gestreichelt und damit angehalten werden, ihr Wohlergehn und ihre Förderung
nicht von ihren Vorgesetzten, sondern von parlamentarischer Wichtigtuerei oder dem
Popnlaritätsbedürfnis der Parteien zu erwarten. Schließlich kommt es dahin, daß
die Urlaubsgesuche usw. oder Beschwerden über eutzogne dienstfreie Stunden an den
Reichstag oder die Zentrumsfraktion gehn. Es ist nachgerade dringlich, den
Fraktionen klar zu machen, daß sie im Reiche weder zu regieren noch zu ver¬
walten haben, sondern daß der Beamte seinen Diensteid dem Kaiser zu leisten
und zu halten hat. Solche parlamentarische Übergriffe sollten einem unbeugsamen
Willen begegnen. Kann die Staatsautorität dem Parlament gegenüber nicht mehr
„stabiliere" werden, so ist sie auch für die Massen verloren. Über das Ende kann
Die Versuche, eine Fahrgeschwindigkeit
von mehr als 200 Kilometern in der Stunde zu erreichen, sind im Herbst auf
der Militäreisenbahn Marienfelde-Zossen von Erfolg gewesen. Geschwindigkeiten
von 207 und 210 Kilometern in der Stunde, die der Siemenssche Wagen und
der Wagen der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft zurückgelegt haben, übertreffen
die Geschwindigkeiten unsrer Schnellzuge etwa um das Dreifache, überhaupt bei
weitem die Grenze, die für die Fortbewegung eines Fahrzeugs bisher als die
äußerste galt. Mit der erreichten Durchschnittsgeschwindigkeit würde die Eisenbahn¬
fahrt von Berlin nach Köln in noch nicht drei Stunden zurückgelegt werden können.
Noch nie, solange die Welt steht, hat ein Mensch diese Geschwindigkeit erreicht,
außer beim Absturz in eine grausige Tiefe. Die Versuche und ihre Resultate haben
im Inlande wie im Auslande große Aufmerksamkeit erregt, und auch von Leuten,
die die Entwicklung der deutschen Industrie mit Voreingenommenheit verfolgen, wird
zugegeben, daß die unglaublichen Geschwindigkeiten einen außerordentlichen Erfolg
sür die deutsche Industrie bedeuten, einen Triumph deutscher Geistestätigkeit und
Willenskraft, die ein mit großer Kühnheit ergriffnes Unternehmen mit allen Mitteln
der modernen Technik glänzend durchgeführt haben. Es war wohl auch nur in
Deutschland möglich, daß sich Spitzen der Staats- und der Militärbehörden, wissen¬
schaftliche und technische Größen zu einer Vereinigung zusammenfanden, die sich ein
so bemerkenswertes Ziel setzte, und daß ihr die Militäreisenbahn und Material der
Staatseisenbahnverwaltung zur Verfügung gestellt wurde. Auch hierin zeigt sich,
daß Deutschland auf dem Gebiete der Elektrizität um der Spitze steht, und man
wird überall erkennen, daß eine Industrie, die in einem solchen Fall das schier
Unmögliche geleistet hat, wissenschaftlich und technisch auf einer Höhe steht, daß man
ihr mit Zuversicht jede Aufgabe anvertrauen kann.
Nach solchen Ergebnissen könnte man annehmen, daß nun unmittelbar die Zeit
des Schnellbahnverkehrs eröffnet werden würde. Das ist aber durchaus nicht der
Fall, und wenn schon gesagt worden ist, man denke daran, einen Schnellbetrieb von
150 Kilometern auf der Strecke Berlin-Hamburg einzuführen, so schießt man auch
damit über das Ziel hinaus, denn auch einer so verminderten Schnelligkeit würden
sich unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg stellen. Es liegt auch gar kein
Bedürfnis dafür vor und das Bedürfnis ist doch die Hauptsache. Ganz falsch
wäre es nun aber wieder, wenn man daraus folgern wollte, daß es sich bloß um
eine technische Spielerei gehandelt habe, die keine praktischen Folgen nach sich zieh»
werde. Worauf es ankam, war zu ermitteln, ob die Anwendung so großer Ge¬
schwindigkeiten in der Praxis möglich sei. Diese Frage ist wegen der Abnutzung
des Bahnkörpers, obgleich sich der neue von der Staatseisenbahn benutzte schwere
(normal-) Oberbau dabei vorzüglich bewährte, wie sich jetzt praktisch erwiesen hat,
im verneinenden Sinne entschieden worden. Es ist gewiß, daß dieser Oberbau für
Fahrten von mehr als 150 Kilometern Fahrgeschwindigkeit nicht entfernt ausreicht,
und daß auch der Unterbau viel zu wünschen übrig läßt. Wenn somit die Er¬
gebnisse der Versuchsfahrteu kaum zur Einführung von Schnellbahnen ermutigen,
so haben sie doch theoretisch und wissenschaftlich viel Interessantes und Wertvolles
geboten. Von besondern! Werte sind die Beobachtungen, die über die Wirkung des
Luftdrucks angestellt werden konnten, auch hat es sonst nicht an wissenschaftlichen
Feststellungen gefehlt, die nach mancherlei Richtungen hin von Bedeutung sind.
Der Nutzen der Versuchsfahrten liegt demnach nicht einmal so sehr auf praktischem
Gebiete als in der Förderung der theoretischen Erkenntnis, die mittelbar der Praxis
wieder zugute kommen wird.
Was auf der Zossener Militärbahn erreicht worden ist, ist unter Ausnahme¬
bedingungen geschehen, die wohl theoretisch aber nicht auch praktisch auf allen
andern Strecken geschaffen werden können. Solche Geschwindigkeiten fordern nicht
nur ungeheure Betriebskosten, sondern sie sind auch nur auf besondern Bahnen mit
sehr günstigen Steigungsverhältnissen und äußerst geringen Krümmungen möglich,
außerdem können bei solchem Schnellverkehr langsam fahrende Züge nicht zwischen¬
durch befördert werden. Ans der Militärbahn ließ sich das für kurze Zeit machen,
auf jeder audern Bahn ist das schlechthin undurchführbar. Wollte man aber auch
annehmen, daß das alles noch möglich wäre, so bleiben noch die ungeheuern
Schwierigkeiten des eigentlichen Betriebs. Die vollkommenste Maschine kann doch
nur insofern von Nutzen sein, als ihre Leitung in der Hand des Menschen bleibt.
Das war bei den günstigen Witterungsverhältnissen an den Versuchstagen ans der
Militärbahn der Fall, bei einigermaßen trüber Witterung würde aber die Beobachtung
der Signale, Haltezeichen usw. unmöglich werden, die Vorbedingung des Eisenbahn¬
betriebs: unbedingte Sicherheit und Regelmäßigkeit, nicht erfüllbar sein, und darum
der Betrieb eingestellt werden müssen. Für den Großverkehr ist ferner der elektrische
Einzelwagen, der etwa einen Zehnminutenverkehr ermöglichen könnte, nicht geeignet,
und man müßte darum zur elektrischen Lokomotive mit angehängten Wagen greifen.
Einen solchen Zug aber in Bewegung zu setzen und auch zu erhalten, würde so
große Kräfte und Kraftschwankungen fordern, daß die hohen Kosten des Betriebs
eine solche Erhöhung der Fahrpreise verursachen würden, daß sich kaum die ge¬
nügende Anzahl von Reisenden finden dürfte. Die Erfahrungen, die mit den
schnellfahrenden Luxuszügen gemacht worden sind, reden dafür eine deutliche Sprache-
Nach Lage der Sache wird demnach für absehbare Zeit auf den heute vorhandnen
Bahnen der Dampfbetrieb jedenfalls im Vorteil bleiben, weil der ganze Rahmen
darauf zugeschnitten, und dieser Betrieb auch wesentlich billiger ist. Trotzdem wird
die einmal erreichte Geschwindigkeit von 210 Kilometern auch hier als Anregung
wirken. Ist auch diese Schnelligkeit in der Praxis noch unerreichbar, so würden
100 bis 120 Kilometer in der Stunde schon einen so gewaltigen Fortschritt be¬
deuten, daß die Versuche nicht vergeblich gewesen sein würden. Der Dampfbetrieb
verträgt auch diese Geschwindigkeitsvermehrung, wie die Verhältnisse gewisser englischer
Bahnen und neuere deutsche Leistungen im Lokomotivenbau ergeben haben. Auch
für die Elektrizität müssen sich Vorteile für die Zukunft aus den so überaus günstigen
Versuchen ergeben. Ganz abgesehen von der Schnelligkeit wird die Bedeutung der
Elektrizität als wichtigste Zugkraft in den Vordergrund treten und namentlich bei
neuen Linien in Rechnung gezogen werden. So geht man jetzt in Osterreich daran,
sür die Alpenlinien der Staatsbahn Entwürfe ausarbeiten zu lassen, um die dortigen
ungeheuern Wasserkräfte für den elektrischen Zugbetrieb nutzbar zu machen. Das
hat nun allerdings mit der Schnellbahn zunächst nichts zu tun; sür die Einführung
solcher wird das Bedürfnis maßgebend fein, und ein solches liegt nicht vor. Wir
bedürfen weder des lenkbarem Luftballons noch des Achtstundenverkehrs mit Paris.
So alt wie die Kunst sind auch Feindseligkeiten zwischen
alten und jungen Künstlern, ja sogar zwischen berühmten Meistern und ihren Schülern,
wenn diese den Lehrer übertreffen. Schon der mythische Dädalus, den die Griechen
mit Ehrfurcht nennen, wie die Deutschen den Schmied Wieland, soll auf seinen
Gesellen, seinen eignen Neffen, neidisch geworden sein, weil dieser unter andern
nützlichen Sachen die Säge erfunden hatte. Er soll ihn aus purer Eifersucht in
Athen den Burgfelsen hinuntergestürzt haben. Ja, es wäre um den hoffnungsvollen
Jüngling geschehn gewesen, wenn ihn nicht Pallas Athene noch rechtzeitig aufge¬
fangen und in ein Rebhuhn verwandelt hätte. „Kein Vogel — heißt es in Gesners
Vogelbuche — hat mehr eine kirsende Stimm, gleich einer Sagen, dann das Reb¬
huhn." Seitdem lebt der Neffe des Dädalus unter dem nicht ungewöhnlichen
Namen Rebhuhn in der Geschichte fort.
Forscht man nach, wie dem Rebhuhn diese wichtige Erfindung geglückt war,
so erhält man folgenden Bescheid: die Natur war seine Lehrmeisterin gewesen. Er
hatte einmal die Wirbelsäule eines Fisches betrachtet und beschlossen, die Gräten
in Eisen nachzumachen. Nsäio spinas in pi8of nota^as traxit in vxsmxlum,
sagt Ovid in den Metamorphosen. Nach andern hätte er sich eine Schlange zum
Modell genommen und ihre spitzen, nach hinten gekrümmten Zähne nachgebildet.
Es ist oftmals so, daß einer durch eine gewöhnliche Tatsache zu etwas Epoche¬
machendem geführt wird; aus allem kann man lernen, wenn man nur ein Genie
ist. James Watt kam durch den schwingenden Deckel eines Teekessels auf den
Kondensator.
Was mich wundert, ist nur, daß der Nebhuhn nicht gleich den Sägefisch kopiert
hat! Den Sägehai, dessen Schnauze in ein richtiges langes Sägeblatt ausgeht, und
der mit dieser seiner Säge die Walfische ansagt! Diese schwimmende Säge war
den alten Griechen wohlbekannt, sie nannten das Tier: Pristis, was wörtlich den
Sägefisch bedeutet und mit den griechischen Worten für sägen und Säge zusammen¬
hängt. Damit verwandt ist auch der Ausdruck Prisma.
In den römischen Katakomben sieht man die Geschichte des Propheten Jonas
häusig dargestellt: sie ist vorbildlich für Christi Auferstehung. Der große Fisch,
der den Propheten verschlungen und wieder ausgespien haben soll, wird von Luther
zu einem Walfische gestempelt, was ganz verfehlt ist: der Wal kann höchstens einen
Hering auf einmal verschlucken, der Durchmesser seiner Speiseröhre beträgt etwa
zehn Zentimeter. Brehm denkt an einen Haifisch, der allerdings ganze Matrosen
verschlungen und wieder von sich gegeben haben soll; die altchristlichen Maler haben
sich an ein heidnisches Motiv gehalten. Sie haben das Seeungeheuer abgebildet,
dem die Andromeda von ihrem Vater preisgegeben wurde. Dieser Seedrache ist
vou den Alten bei der Freiheit, die der Phantasie in solchen Dingen gelassen war.
auch als Sägefisch gefaßt und demnach: Pristis genannt worden. Aus Pristis
entstand im Munde der Römer: Pistris und sogar: Pistrix, ein Name, den das
fabelhafte Tier bei den Katakombenforschern gewöhnlich führt. Man findet es in
meinem Buche „Rom" Seite 219 abgebildet. Die Kulturhistoriker haben erfreulicher-
weise das Versäumte nachgeholt und den Sägefisch wirklich für Rebhuhns Modell
erklärt. Sie ermangeln nicht, dem Menschen der Urzeit die Säge des Sägefisches,
das Schwert des Schwertfisches und den Speer des Narwals für seine ersten
Waffen und Werkzeuge als naheliegende Vorbilder zu empfehlen. Sie sind
überhaupt sehr schnell mit ihren wohlfeilen Kombinationen bei der Hand. Wie sie
aus dem Hammer die Faust, aus dem Stocke den verlängerten Arm herausgefunden
haben, so schwelgen sie nun auch in den Modellen und den Typen, die dem an¬
gehenden Techniker die Tierwelt dargeboten habe: er war so glücklich, den Vögeln
ihren Schnabel und ihre Krallen, dem Bienchen den Stachel abzusehen; er achtete
auf das Geweih des Riesenhirsches, auf die Hörner des Auerochsen und auf die
Gewehre des Wildschweins und sann nach, wie er sich diese Waffen aneignen, wie
er dem Viehzeug seine Vorteile wettmachen könne. Kurz, wenn es nach der Kultur¬
geschichte ginge, so hätte der Sporer einen Hahn, der Waffenschmied einen Narwal,
der Schwertfeger einen Schwertfisch und womöglich noch eine Schwertlilie gebraucht,
um etwas hervorzubringen; diese Werkzeuge hätte er in seiner Werkstatt aufgehangen
wie der Rebhuhn das Skelett eines Fisches. Die Kulturhistoriker fassen eben die
Sache häufig am verkehrten Ende an.
Gewiß hat der Kulturmensch von den Tieren, ja sogar von den Pflanzen
vielerlei übernommen. Gewiß, daß wir in unsern Waffen und Werkzeugen nicht
nur unsre eignen Arme und Hände wieder, sondern daß wir noch die Organe und
die Schuhvorrichtungen andrer Wesen dazu bekommen haben. Wir sind weit mehr
als ein bloßer Briareus. Ganz neue, fremdartige Gliedmaßen legen wir uns zu,
setzen uus Teile an, die Mutter Natur dem Menschen vorenthalten hat, und machen
uns einen Panzer wie der Krebs, Schilde wie die Schildkröte, Stacheln wie der
Skorpion oder das Stachelschwein. Wenn die Landsknechte mit ihren Spießen nach
allen Seiten Front machten, bildeten sie einen Igel; wenn die altrömischen Soldaten
beim Angriff auf eine Festung die Schilde über Rücken und Köpfe hielten, so nannte
man das: Schildkröte. Und so könnte man wohl die mittelalterlichen Ritter, die
mit eingelegter Lanze turnierten und buhurdierten, mit einem Rudel von Narwalen
vergleichen. Teilen wir mit unsern Torpedos nicht Schläge wie Zitterrochen aus,
hantieren wir nicht tagtäglich mit Krauen, Rammbären und Böcken? Infolge¬
dessen sehen wir schon nicht mehr wie ein Hundertarm, sondern wie ein leibhaftiges
Monstrum, wie ein Drache der Jurazeit aus; und jeder Schneider scheint mit seiner
Schere einen Krebs, mit seinem Bügeleisen den Schnabel eines Tyrannen und mit
seinen Nadeln einen Dornstrauch abzubilden.
Aber hätten wir uns denn bei dieser Selbstausrüstuug die Tiere und die
Pflanzen zum Vorbild genommen? Hätten wir ihre abenteuerlichen Kampforgane,
ihre Trutzwnffen, ihre Schutzvorrichtungen absichtlich nachgeahmt? — In einzelnen
Fällen o ja. Unmittelbar eignen wir uns die fremden Organe an, um sie für uns
zu brauchen. Freilich in der Regel nicht dazu, wozu sie eigentlich da sind, sondern
zu ganz andern, heterogenen Zwecken; ihrer wahren Bestimmung werden sie dabei
vollkommen entwandt, was wohl darin seinen krassesten Ausdruck findet, daß wir
sie essen. Dieser Elefantenzahn, der auf meinem Schreibtische liegt, hat kein Falz¬
bein werden sollen; dieses Horn, das als Trinkgefäß, diese Muschel, die als Schale,
dieses Geweih, das als Schaufel, diese Gräte, die als Nadel, dieses Bein, das als
Flöte dienen muß, hat offenbar seinen Beruf vollkommen verfehlt. Nur ganz aus¬
nahmsweise werden die Spolien der Natur im Sinne der Natur benutzt, zum
Beispiel die Pelze; gewöhnlich passen wir sie unsern Bedürfnissen, unsern persön¬
lichen Zwecken an. Trotz unsrer märchenhaften Verkleidung bleiben wir doch immer
Menschen, wir müßten denn Werwölfe oder Berserker geworden sein. Das tut aber
gar nichts zur Sache; es kommt nur darauf an, ob der angehende Kulturmensch
mit den Resten andrer Organismen überhaupt etwas anzufangen wußte. Und das
wußte er freilich; brauchen konnte er jeden Knochen und jede Kinnlade, deren er
habhaft wurde; wie er seine Beute verwertete, geht niemand etwas an. Aus solchen
natürlichen Beutestücken werden also manche Utensilien hervorgegangen und diese
dann allmählich verbessert und nachgemacht worden sein. Das ist ein Weg gewesen,
auf dem die Menschen zu Werkzeugen und Waffen kamen. Ich zweifle aber stark,
daß er gerade bei der Säge eingeschlagen worden ist.
Ich weiß ja nicht, was für ein Gegenstand zu Dädalus Zeiten zum Sägen ge¬
nommen worden ist; wahrscheinlich war es ein auf dem Burgfelsen aufgelesener
Stein. Ein Stein mit einer recht scharfen Kante, etwas zackig wie ein Sägeblatt;
Feuersteinsägen finden sich in der Steinzeit. Das Steinreich mit seinen mannig¬
fachen, von der Natur im Spiel erzeugten Formen mag überhaupt eine Haupt¬
fundgrube von Werkzeugen gewesen sein. Aber das weiß ich bestimmt, daß kein
Mensch jemals probiert hat, einen Baumast mit einem Schlangengebiß oder mit
einer Fischgräte abzusägen, wie der geniale Rebhuhn. Und doch hätte er es erst
einmal damit probieren müssen — ehe er es probierte und mit Erfolg Probierte,
hatte er überhaupt noch gar keine Vorstellung von der Wirksamkeit einer Säge.
Die alten Griechen sind spaßhaft: entweder die Gräten und die Zähne waren schon
eine soge; dann brauchte sie Rebhuhn nicht erst zu erfinden. Oder es ließ sich
überhaupt nicht damit sägen; dann nützten sie Rebhuhn nichts. Er war dann um
nichts klüger. Etwas andres wäre es, wenn er wenigstens einmal ein Tier hätte
sägen sehen.
Es heißt, daß die Schwanzflosse des Walfisches einen Deutschösterreicher auf
die Idee der Propellerschraube gebracht, und daß der Ingenieur Brunek, der Er¬
bauer des Themsetunnels, seine Methode, einen Gang von zylindrischer Form zu
graben, einem Bohrwurme verdankt habe. In der Tat können wir direkt von den
Tieren lernen, ihre Tätigkeit beobachten, ihre Organe nachbilden und somit auf uns
verpflanzen. Wenn man will, kann man die gesamte Schiffahrt im Tierleben vor¬
gebildet finden: jeder Fisch gleicht einem lebendigen Boote, das in den Flossen
Steuer und Ruder hat; der Schwan ist ein Schiff mit Flügeln. Die Flügel dienen
ihm im Luftmeere als Ruder, der Schwanz ist sein Steuerruder. Auch die Flügel
sollen von Dädalus nachgemacht und so die Segel erfunden worden sein. Beobachtungen
wie diese sind freilich nicht Sache des Urmenschen.
Es sind Vergleiche, die man anstellte, als man schon selber rudern konnte.
Der Mensch, der sich in prähistorischer Zeit abmühte, des Wassers Herr zu werden,
der es bald mit einem Baumstamme, bald mit einer Eisscholle, bald mit einem
Kanoe versuchte, mußte sich selbst forthelfen. Die Fische sah er wohl schwimmen
und die Seehunde rudern, aber von ihnen lernte er nicht gondeln, so wenig wie
von den Vögeln fliegen, was er heute noch nicht kann. Diese Modelle hätten aber
-"^^ ^ gehabt, daß sie richtig gewesen wären. Beim Sägefisch
Kiner a WalÄ n das naheliegende Vorbild zu, er sägt gar nicht; zwischen
,ein gewaltigen Masse. ,me der er den Walfischen den Bauch aufreißt, und einer
Ä '"^H°^ s"ge. besteht doch nur eine äußere Ähnlichkeit.
5is^,V? . ?"lichkeit ist eben das Verführerische gewesen; sie hat die Kultur-
Lm. ^ . eine eitle Phantasie, die erst geboren wurde, als das Werkzeug
i ° n ^ Wirklichkeit zu übertragen und eine ganz imaginäre Säge
menn Die Sachlage wird vollständig verkannt. Nachher,
^ ^ne Säge hatte, lag es nahe, ihre Spitzen mit Fischgräten
^"'"c^" ^rgleichen, wie das heute noch geschieht; und die Säge am
^nde dem Sägefisch z« leihen wie dem Schwertfische das Schwert. Bilden nicht
sogar die Bergspchen eine Säge, eine Sierra Nevada? Haben die Alpen keine
^e , ^ UUes tourne darauf an. den Spieß nicht umzukehren und Dinge, die
nachträglich mit Werkzeugen verglichen worden sind, an die Spitze der Entwicklung
zu setzen. Denn der Mensch, der aus der Natur schöpfte, näherte sich allerdings
mit den aufgegriffnen Geräten oft ganz fernliegenden Organen und Naturgebilden,
und so wurde die Bahn für allerhand spaßhaft und ernsthaft gemeinte Kombinationen
frei. Etwa wie man im vierzehnten Jahrhundert anfing, die Feuerwaffen mit Falken
und Habichten oder, wenn die Rohre recht lang waren, mit Schlangen zu ver¬
gleichen. Niemand wird das wissenschaftlich finden. Viele Dinge lassen sich
vergleichen und haben doch gar keine Beziehung zueinander; man sagt, daß darin
der Witz bestehe, der wie ein gewissenloser Priester jedes ihm vorkommende Pärchen
t
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur auf die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breitem Rande erbeten.
n den letzten Wochen sind unsre Blicke sehr nachdrücklich übers Meer
gelenkt worden. Zuerst kam der Hereroaufstand. So schmerzlich
die Verluste an Menschen und Gütern sind, die sein plötzlicher, und
wie es scheint, auch die Behörden ganz überraschender Ausbruch
uns zugefügthat, er hat uns doch auch schützbare Lehren gegeben,
die hoffentlich nicht erfolglos gewesen sein, sondern auf unsre künftige Kolonial¬
politik ihren Einfluß äußern werde». Zunächst die Lehre, daß unsre Verwaltung
den Schwarzen gegenüber zu vertrauensselig gewesen ist. Daß sie Hinterladcr-
gewehre an die Eingebornen verkauft hat, wenn sie sich auch besonders hohe Preise
zahlen ließ, wenn auch viele Waffen über die schlecht bewachte portugiesische
Grenze eingeschmuggelt worden sein mögen, daß sogar die Geschütze von Windhnk
zur Reparatur nach Deutschland geschickt wurden, ohne daß mau zugleich für
Ersatz aus der Heimat sorgte, das sind sicher Dinge, die nicht wieder vorkommen
dürfen. Die zweite Lehre aber war, daß wir dort schon viel größere Interessen
zu schützen haben, daß die Zahl unsrer Ansiedler und der Wert ihrer Güter
schon viel ansehnlicher sind, als man sich das im allgemeinen vorgestellt hatte,
woraus freilich eine dritte folgt, nämlich die, daß unsre militärische Macht dank
der knauserigen Zurückhaltung, die bisher die Rcichstagsmehrheit in solchen
Fragen gezeigt hat, dort viel zu gering war — ein schwaches Reiterregiment
auf einer Fläche, die um die Hälfte größer ist als das Deutsche Reich —, als
daß sie hinreichenden Schutz gegen plötzliche unberechenbare Aufstandsgelnste der
Hottentotten und der Kaffern gewähren könnten. Solchen Lehren steht um glück¬
licherweise noch eine andre gegenüber. Bei der Überraschung und bei den ge¬
ringen Streitkrüften hat sich der Wert unsrer Eisenbahn Swakopmnnd-Windhuk
aufs klarste herausgestellt, und unsre Leute da drüben haben sich aufs trefflichste
bewährt. Jeder Offizier und Unteroffizier tat in der schwierigsten Läge, oft an
der Spitze einer Handvoll von Männern, selbständig, nach eignem Urteil, was
eben in seiner Lage zu tun war, und unsre heimische Organisation wußte in
der kürzesten Frist ansehnliche, wohlausgerüstete Verstärkungen hinüberzuwerfen,
die ausreichen werden, die Kolonie zu sichern. Auch der Reichstag hat hier
einmal einmütig getan, was er tun mußte.
Hoffentlich wirkt das nun auch günstig auf die Behandlung andrer
kolonialer Fragen ein. Demnächst muß die Frage einer Zinsgarantie des Reichs
für die Erbauung der Eisenbahn von Dar es Salam nach Mrogoro, des ersten
Stücks einer großen Binnenbahn nach den Seen, im Reichstag zur Entscheidung
kommen. Will man denn länger zusehen, wie die englische Eisenbahn von
Mombas nach dem Viktoriasee, dessen Südhülfte uus gehört, den Durchgangs¬
verkehr aus unserm ostafrikanischen Gebiet mehr und mehr an sich zieht, wie
schon englische Dampfer auf dem See schwimmen und demnächst vielleicht sogar
Kanonenboote? Wenn man aus einem ausführlichen Aussatze des Zentrums¬
führers P. spähn über die Deutsch-Ostafrikabahn in der neuen katholischen
Monatsschrift „Hochland," herausgegeben von Karl Muth (München und
Kempten, Jos. Kösel, 5. und 6. Heft), der hier auf Grund eines reichen Materials
sehr entschieden für den Wert dieser unsrer größten Kolonie und für die
Notwendigkeit des Eisenbahnbaues eintritt, schließen darf, so wird sich seine
Partei für die Zinsgarantie entscheiden, und das wird hoffentlich auch andre
Parteien antreiben, dem „reichsfeindlichen" Zentrum nicht ganz und gar die
Initiative in einer nationalen Sache zu überlassen. Wir werden uns über¬
haupt wohl allmählich daran gewöhnen müssen, aus unsern „Schutzgebieten"
„Reichsländer," Provinzen des Reichs, zu machen, also auch die entsprechenden
Pflichten ihnen gegenüber zu übernehmen. Dann, wenn es hinreichenden
Schutzes sicher ist, wird wohl auch das Privatkapital endlich mehr und mehr
aus seiner hemmenden Zurückhaltung heraustreten, und dann wird die ganze Ent¬
wicklung rascher gehn. Zum behaglichen schleudern haben wir keine Zeit mehr.
Wie stark wir schon in überseeischen Fragen interessiert sind, das lehrt uns
auch und vor allem der längst erwartete und doch urplötzlich ausgebrochne ost¬
asiatische Krieg. Hier nach Recht und Unrecht zu fragen oder gar zu erörtern,
wer „angefangen hat," ungefähr wie bei einer Prügelei von Schulbuben, wäre
ganz überflüssig; es stoßen hier eben russische und japanische Lebensinteressen
aufeinander, und solche werden immer nur durch die ultium ratio re^um ent¬
schieden, nicht durch irgendwelches Schiedsgericht, d. h. nur durch den Beweis
überlegner geistiger und physischer Kraft der einen Seite, der einleuchtender, über¬
zeugender, dauernder wirkt als jedes gerichtliche Urteil. Wieder einmal ist die
Idee vom ewigen Frieden und von der Ersetzung des Kriegs durch internationale
Schiedsgerichte Adsnräuin geführt worden, gewiß eine höchst schmerzliche
Erfahrung für ihren mächtigsten Förderer, den Zaren, der den Frieden ganz
sicher ehrlich gewollt hat. Aber die innere Konsequenz der russisch-asiatischen
Politik hat ihn in den Krieg hineingedrängt. Wenn Rußland eisfreie Häfen
um Großen Ozean haben wollte und haben mußte, so blieb ihm nichts übrig,
als die Mandschurei so oder so zu nehmen, und wenn seine Haupthafen Port
Arthur und Dalny am Golfe von Petschili wurden, dann wuchs sein Einfluß
in Peking, dann konnte es auch nicht dulden, daß Korea in irgendwelcher Form
japanisch wurde und die freie Verbindung dieser Häfen mit dem ältern Wladi¬
wostok („Herrin des Ostens") unterbrach. Aber indem nun Japan über die
Grenzen seines dichtbevölkerten Jnselreichs hinausstrebte nach dem asiatischen
Festlande, hinein in die schwerfällige, unbehilfliche Masse des chinesischen Reichs,
des Mutterlandes der japanischen Kultur, mußte es vor allem Korea bemustern,
eine dünnbevölkerte, in der Entwicklung weit zurückgebliebne Halbinsel fast von
der Größe Italiens. So stoßen hier zwei Offensiven aufeinander, beide un¬
vermeidlich, deshalb beide innerlich berechtigt.
Binnen acht Tagen haben nun die Japaner, allen weitem Verhandlungen
und Zögerungen rasch ein Ende machend, umsichtig, kühn und energisch, wie
sie sich schon vor zehn Jahren gegenüber China gezeigt haben, mit plötzlichen
Angriffsstößen die Herrschaft zur See an sich gerissen, indem sie eine Anzahl
der russischen Schiffe auf längere Zeit hinaus kampfunfähig machten oder ver¬
nichteten, und Korea in ihren Besitz gebracht, wo sie eine Armee von
80000 Mann gelandet haben sollen. Sie haben sich also des wichtigsten
Kampfpreises schon versichert; sie haben es jetzt völlig in der Hand, die noch
von Westen langsam und vereinzelt herankommenden russischen Kriegsschiffe
abzufangen und ihrer Armee in Korea, das ja wenig leistungsfähig ist, zur
See alles nachzuführen, was sie braucht. Dieser ebenso kräftigen als plan¬
vollen Kriegführung gegenüber haben die Russen bisher eine erstaunliche Unbe-
hilflichkeit gezeigt und sich von ihr völlig in die Defensive werfen lassen.
Es fragt sich, ob sie noch aus dieser herauskommen können, denn der Auf¬
marsch ist bekanntlich das Entscheidende bei jedem Feldzuge. Wäre es ihnen
möglich, wenigstens den größten Teil ihrer Flotte nach Ostasien zu bringen,
so könnten sie vielleicht noch die Überlegenheit der Japaner zur See brechen,
aber darüber müssen bei den riesigen Entfernungen Monate vergehn, und bis
dahin können zu Lande große Entscheidungen gefallen sein. Ob zugunsten der
Russen? Die russische Armee ist gewiß hervorragend tüchtig, aber selbständige
Initiative der einzelnen Befehlshaber und vollends des einzelnen Mannes
liegt nicht im Volkscharakter; Rußland ist deshalb immer in der Verteidigung
viel stärker gewesen als im Angriff, wie auf der einen Seite schon der Krim¬
krieg, auf der andern der letzte russisch-türkische Krieg beweisen kann, und
jetzt hat es den schweren Nachteil, daß es für alle Nachschübe nach dem Osten
nur eine Tausende von Kilometern lange, eingleisige und noch wenig leistungs¬
fähige, nicht einmal solid gebaute Eisenbahn besitzt, die obendrein leicht unter¬
brochen werden kann, und daß seine nächste Operationsbasis, die Mandschurei,
für den längern Unterhalt einer großen Armee gar nicht die Mittel bietet. Ob
da die Russen überhaupt zu einem umfassenden Angriff auf Korea kommen
werden, der doch immer auch, solange die Japaner die See beherrschen, gefähr¬
lichen Flankenstößen ausgesetzt bliebe, ist sehr zweifelhaft. Daß aber der Krieg
trotzdem kein kurzer sein wird, dazu ist bei dem Selbstgefühl und der Stärke
der beiden Gegner alle Aussicht.
Die Sympathie der unbeteiligten Zuschauer wendet sich leicht dem Sieger
zu, aber wir Deutschen haben doch Wohl allmählich gelernt, in solchen Fällen
nach unsern eignen Interessen zu fragen, statt Partei zu ergreifen wie vor fünfzig
Jahren etwa im Krimkriege, wo wir eifrig russisch oder türkisch waren, weil wir
nicht wußten, wo Deutschland eigentlich lag und was sein Interesse sei. Heute
darf unser Ruf nicht sein: Hic Rußland! oder: Hie Japan! sondern wie immer
und überall: Hie Deutschland! Da ist es zunächst klar, daß die möglichste
räumliche und zeitliche Beschränkung des Krieges in unserm Interesse liegt.
Jedes Eingreifen einer dritten Macht würde den Weltkrieg entfesseln, dem wir
auf die Dauer schwerlich fern bleiben könnten, und dessen Ende sich nicht ab¬
sehen ließe. Zunächst ist eine solche Einmischung glücklicherweise nicht zu be¬
fürchten. Denn Frankreichs schwache und gerade deshalb im Innern tyrannische
Regierung wird es ohne die dringendste Not kaum wagen, einen großen Krieg
zu führen, der sofort und vor allem ein französisch-englischer werden würde, und
in England erheben sich schon Stimmen, die einen durchschlagenden Sieg Japans
keineswegs für ein englisches Interesse halten, trotz der im ganzen doch rnssen-
feindlichen Gesinnung jenseits des Kanals. In der Tat, im Interesse der neutralen
Mächte, und namentlich Deutschlands, wäre es weder, wenn Rußland Japan völlig
niederkämpfte, noch wenn Japan die russische Stellung in Ostasien zerstörte. Denn
im ersten Fall würde Rußland dort ein erdrückendes Übergewicht gewinnen und
sicher zur Schutzmacht Chinas werden; wir Deutschen aber können nicht wünschen,
daß sich das Gewicht einer der drei Weltgroßmächte noch verstärke. Ein Sieg
Japans aber, der ihm nicht nur die Herrschaft über Korea eintrüge, sondern
Nußland auch aus der Mandschurei hinausdrängte, wäre eine Niederlage der
christlich-europäischen Gesittung gegen eine heidnische Zwitterzivilisation; er
würde Japan die ersehnte Möglichkeit geben, China unter seinen überwiegenden
Einfluß zu bringen und diese schwerfällige Masse politisch, militärisch und wirt¬
schaftlich so zu organisieren, daß sie eine schwere Bedrohung für alle abend¬
ländischen Mächte würde und die Herrschaft über Asien an sich reißen konnte.
Vor dieser „gelben Gefahr" hat unser Kaiser schon vor Jahren gewarnt, als
ihm noch niemand glauben wollte, und danach hat er 1895 gehandelt, als er
im Einverständnis mit Rußland und Frankreich die Japaner verhinderte, ein
Stück des chinesischen Festlandes an sich zu reißen.
Eine für uns günstige Folge des Krieges zeigt sich aber schon jetzt in
Europa. Offenbar hat sich das Verhältnis des „heiligen" Rußland zu der
von Atheisten regierten französischen Republik gelockert, das zu Deutschland in¬
timer gestaltet. Frankreich hat erkannt, daß es für seine Nevanchehoffnungen
vom Zaren gar nichts zu erwarten hat, Rußland, daß Frankreich ihm in Ost¬
asien schwerlich helfen wird, und daß die ehrliche, bis zu einem gewissen Grade
wohlwollende Neutralität Deutschlands ihm höchst wertvoll ist, weil es damit
jeder Sorge über seine Westgrenze enthoben wird. Das kann zu eiuer neuen,
unsre Stellung wesentlich erleichternden Gruppierung der europäischen Mächte
«SMMA ußland steht jetzt in der Mandschurei. Daß es diesen Besitz
wieder aufgeben wird, ist ausgeschlossen! wahrschein-
^' ^ sich Rußland auch mit dem bis jetzt Erworbnen
begnügt, und das; die Grenzen Russisch-Asiens nur vor-
lA-ÄW^M tausig gezogen sind. Rußland beginnt mit der Kolonisation der
Mandschurei, wie es vor Jahrhunderten mit der Besiedlung Sibiriens begann.
Der Unterschied ist uur der, daß sich der Vorgang etwas rascher abspielen wird
als zu Beginn der russischen Aneignungspolitik. Es sind sast genan dreihundert
Jahre verflossen, seit die Russen zum erstenmal mit dem chinesischen Reich in
Berührung kamen. Im Jahre 1604 wurde Tomsk gegründet, und bald darauf
brachten die von hier aus vordringenden Kosaken die Kunde von einem Nachbar¬
volke, deu Chinesen. Noch vor Ablauf des siebzehnten Jahrhunderts griffen
die Interessen beider Staaten so sehr ineinander, daß es nötig wurde, die
Grenzen festzulegen. Das geschah im Vertrage zu Nertschinsk im Jahre 1689.
Damit hatte das Vordringen des russischen Reichs am Amur vorläufig ein
Ende erreicht, China behauptete das Gebiet dieses Stromes. In den nächsten
150 Jahren sah Nußland seine Aufgabe nur in der Erforschung und der wirt¬
schaftlichen Erschließung des ungeheuern Gebiets vom Altai bis zum Eismeer
und vom Ural bis zum Stillen Ozean. Das Verhältnis zu China blieb im
wesentlichen unverändert. Dieser Zustand der Ruhe währte bis zur Ernennung
des Grafen Murawjew zum Generalgouvemeur von Ostsibirien im Jahre 1847.
Er nahm den Gedanken der Russen aus der Zeit vor 1689 wieder auf und
erwarb das Amurland im Vertrag zu Aigun 1853. Dieser Vertrag war nnr
der Beginn weiterer Forderungen Rußlands, das seit dem Tage von Nertschinsk
stark genug in Sibirien geworden war. jetzt den früher überlegnen Nachbar
zu immer neuen Zugeständnisse» zu zwingen, deren nächstes wohl die völlige
Preisgabe der Mandschurei sein wird. Erst durch die Besetzung der Mand¬
schurei hat Rußland die Grenze überschritten, die es bis 1689 gewonnen,
damals aber wieder eingebüßt hatte. Das gegenwärtige Vorgehn Rußlands
knüpft also unmittelbar an die durch den Vertrag zu Nertschinsk unterbrochne
Vorwärtsbewegung an, und aus diesem Grunde dürfte eine Betrachtung der
ersten Periode der russischen Politik in Asien und seiner ältesten Beziehungen
zu China von Interesse sein.
Unsichre Nachrichten über das Verhältnis des emporstrebenden moskowi¬
tischen Staates zu den Völkern jenseits des Urals reichen zurück ungefähr bis
1500. Beglaubigt erscheint aber erst, daß der Khan von Sibirien, Jcdiger,
im Jahre 1554 Tribut nach Moskau sandte. Dies macht dann auch die
Nachrichten von frühern russischen Kriegszügen nach dem Ob wahrscheinlich.
Als sich Kutschnm der Herrschaft Jedigers bemächtigte, verweigerte er auch den
Tribut. Ein Zufall aber half den Russen, das Verlorne Gebiet wieder zu
gewinnen. Den Donischen Kosaken war endlich durch den Staat das Räuber¬
handwerk gelegt worden. Sie sahen sich deshalb nach einem geeignetem Schau¬
platz für ihre Tätigkeit um. Durch die Stroganows erhielten sie nähere Kunde
von dem Tatarenreiche jenseits des Urals. So zog Jermak Timofejew mit
seinen Kosaken über das Gebirge, bekriegte auf eigne Faust den Khan Kutschum,
dessen Macht er durch die Erstürmung der Tschuwaschenhöhe 1581 brach. Wenig
Tage darauf zog Jermak als Sieger in Ister, Kutschums Residenz, ein. Sein
Atnman Iwan Kolzow wurde mit fünfzig Kosaken an den Zaren gesandt. Er
stellte das gewonnene Gebiet diesem zur Verfügung. Die mitgebrachten Zobel-,
Fuchs- und Biberfelle überzeugten Iwan den Schrecklichen so nachdrücklich von
dem Werte der Eroberung, daß er die ehemaligen Straßenrüuber seiner ganz
besondern Gnade versicherte, ein feierliches Dankfest abhalten ließ und Jermak
mit der Verwaltung des Gebiets betraute. Mit der Einnahme von Ister
waren aber die Kämpfe nicht zu Ende, sie zogen sich noch jahrelang hin.
Bei einem Überfall des russischen Lagers durch Kutschum suchte sich Jermak
durch einen Sprung ins Boot zu retten. Er sprang fehl und ertrank im
Irtysch. Das geschah in der Nacht vom 5. zum 6. August 1584.
Rußland verlor das Land, das auch Jermak nur mit Mühe behauptet
hatte, bald wieder; aber es war nicht gewillt, die aussichtsreiche Beute wieder
fahren zu lassen. Der Bann war einmal gebrochen, der Ural überschritten,
die Wege und Gegenden jenseits des Gebirges bekannt, und verwegne Gesellen
fanden sich genug, des Gewinnes halber alles zu wagen. So begann denn
Rußland zum drittenmal mit der Eroberung des Landes, dessen gewaltige
Ausdehnung es nicht einmal ahnte. Die Art des Vordringens der Russen
war aber jetzt gänzlich verschieden von den rein kriegerischen Unternehmungen
Jermaks. Man kann schließlich nicht mit Unrecht vom Beginn einer friedlichen
Eroberung Sibiriens reden, wenn man damit sagen will, daß sie sich ohne
großen Waffenlärm vollzog. Man muß aber immer daran denken, daß die
Kosaken das Schwert mehr in der Faust als in der Scheide führten. Das
Bestimmende für diese Zeit ist der Anfang der kolonisatorischen Tätigkeit. Das
erste, was die beiden ausgesandten Woiwoden Turin und Mäsnoi und ihre
dreihundert Strelitzen und Kosaken im Juli 1586 taten, war, eine verschanzte
Niederlassung dort zu ballen, wo heute Tjnmen steht. Im folgenden Jahre
entstanden die Anfänge von Tobolsk nicht weit von dem seit Jermaks Tode
wieder von Tataren besetzten Ister. Hinterlistig, bei einem Gastmahle, tötete
man die geladner Tataren. Auf diese Weise wurde die ganze Gegend von
Tobolsk und Silur (Ister) vou alleu dem russischen Reiche gefährlichen Feinden
auf einmal befreit. „Und von selbiger Zeit an hat die Stadt sibir aufgehört,
eine Wohnung der Menschen zu sein." (Fischer. sibir. Gesch. I, 3, 7.) Am
Straßenübergange von Rußland über den Ural, dort wo die Loswa schiffbar
wird, baute man etwa 1589 Loswinskoi, das jedoch wieder aufgegeben wurde,
als man einen günstigern Weg über das Gebirge fand und dort 1597 Wercho-
turje anlegte. Bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts entstanden Pelym,
Beresow, Surgut, Obdorsk, Narym und Tara. Damit hatten die Russen das
Stromgebiet des Ohs besetzt. Narym war der östlichste Platz; 1604 entstand
Tomsk.
Alle diese Gründungen waren zunächst einfache Niederlassungen, einige
Blockhäuser mit Palisaden umgeben. Sie dienten als Handelsniederlagen und
zum Schutze der Gegend bei den Aufstünden eingeborner Stämme, die durch
Tributerhebungen allzu gründlich um die erbeuteten kostbaren Pelze erleichtert
wurden. Diese Art von Ansiedlungen nannte man Winterhütten, Simowien;
hier hausten die auf eigne Faust vordringenden Pelzjüger oder auch Kosaken,
die Tribut erhoben. War die Lage günstig, so baute man die Winterhütte
zu einem Ostrog aus, der eine größere Besatzung aufnehmen konnte. Wo es
sich von Haus aus um militärische Stützpunkte handelte, wie am Amur, legte
man gleich Ostrogs an. Viele dieser Winterhütten wurden verlassen und ver¬
gessen, mancher Ostrog erlangte nie irgendwelche Bedeutung. Die günstig
liegenden aber wuchsen sich zu Städten aus, die dann selbst wieder der Aus¬
gangspunkt neuer Gründungen wurden. Über die Stadt und ihr Gebiet war
ein Woiwode gesetzt, dem die Rechtspflege oblag, und der den Tribut nach
Moskau abzusenden hatte. Er hatte auch das Recht und das Bestreben, den
Handels- und damit den Machtbereich seiner Stadt immer weiter auszudehnen.
Er sandte in die benachbarten Gebiete Expeditionen, die Simowien und Ostrogs
anlegten, er schickte Kosakenabordnungen an hervorragende einheimische Macht¬
haber, um Grenzstreitigkeiten zu schlichten, Verbindungen anzuknüpfen und
schließlich die Anerkennung der russischen Oberhoheit zu erwirken.
Der Woiwode der jungen Stadt Tomsk suchte ebenfalls sein Gebiet zu
erweitern. Aber bei dem Erheben des Tributs, der hier wie überall in Pelzen
bestand, griff er in das Gebiet eines Mongolenfürsten über, der seine Rechte
gewahrt wissen wollte. Man mußte sich mit ihm, dem sogenannten Altin-
Khan, auseinandersetzen. Sein eigentlicher Name war Kunkcmtschei, den Bei¬
namen verdankt er den Kirgisen, die ihn seines Reichtums wegen so nannten,
zu deutsch also etwa deu „goldnen König." Mehr als eine Gesandtschaft zog
zu ihm, ohne etwas mit dem geriebnen Mongolen anfangen zu können. Im
Jahre 1616 entschloß man sich aber zu einer außerordentlichen Abordnung.
Der Ataman Wasilei Tumeuez und der Desütnik Iwan Petrow mit einigen
Kosaken reisten im Namen des Zaren Iwan Feodorowitsch ab. Eine Menge
Geschenke sollten die Forderungen der Russen unterstützen. Nach einem be¬
schwerlichen Zuge über das Sajanische Gebirge erreichte man den Khan am
Uhha-nor. Die Gesandten blieben acht Tage im Lager, ohne etwas ausrichten
zu können; auf ihrer Rückreise wurden sie von einer Gesandtschaft des Khans,
die nach Moskau ging, begleitet. Von besondern, Interesse ist eine Stelle
des Berichts der Kosaken: „Weil bei dem »goldnen König« auch aus ver-
schiednen andern Reichen und Herrschaften Leute zugegen waren, so haben wir
uns nicht weniger nach den Umständen dieser Völker erkundigt. Zuvörderst
hörten wir von dem Königreich Kitai, daß dort ein König Taibin Ta-
Ming-Dynastie) regiere. Das Reich aber liegt an einem Meerbusen, und die
königliche Hauptstadt, die von Ziegelsteinen erbaut ist, hat eine Größe von
zehn Tagereisen zu Pferd im Umkreis (!). Die Waffen der Chineser sind
Feuerröhre und Kanonen. Es kommen zur See große Schiffe mit Segeln
dahin des Handels wegen, da jedes Schiff auf zwei- bis dreihundert Mann
hat. Die Kleidung der Chineser ist bald wie die der Bucharen. Von dem
Hoflager des »goldnen Königs« bis nach China ist ein Monat zu Pferd zu
reisen durch ein ebnes Land; man hat weder große Flüsse noch Berge zu
passieren." Dieser Kundschafterbericht klang zu verlockend, als daß nicht der
Woiwode von Tomsk Hütte alles daran setzen sollen, mit dem Altin-Khan,
dessen Gebiet nach seiner Meinung den Zugang zu China bot, die schwebenden
Verhandlungen zum Abschluß zu bringen. Im Jahre 1619 wurden abermals
zwei Kosaken ausgesandt, Petlin und Kisyllow, um den Weg nach China zu
erkunden, womöglich nach China selbst vorzudringen. Sie kamen aber nur
bis zum Uhha-nor, ohne irgend etwas erreicht zu haben. Die Verhandlungen
schliefen allmählich ein. Als sie 1632 der Khan von neuem anknüpfen wollte,
ging man nicht besonders eifrig darauf ein, obwohl er versprach, dem russischen
Reiche neue Länder zu unterwerfen und sogar auch den Weg nach China zu
zeigen. Man erkannte, daß alles nur darauf hinauslief, Geschenke einzu¬
heimsen, brach aber die Verbindungen bis zum Tode des Khans 1657 nicht
ab. Der Stadt Tomsk war es nicht geglückt, auf diesem Wege China zu
erreichen.
Mehr Erfolg, wenigstens insofern als China wirklich gefunden wurde,
hatte die Stadt Tobolsk. Im Jahre 1619 wurde von hier aus am Jenissei
ein neuer Ostrog gegründet, der Anfang der Stadt Jenisseisk. Der Ataman
Wasilei Tumenez, der schon von Tomsk aus nach Süden vorgedrungen war,
sollte 1620 von Jenisseisk aus einen Weg nach China suchen. Er zog mit
Andrei Scharigin fort, aber über das Ergebnis seiner Reise ist nichts bekannt
geworden, er erreichte also sein Ziel nicht. Während nun für die fernere Zeit
Jenisseisk der Ausgangspunkt für die Unternehmungen an der Lena und am
Baikal wurde, und der obere Ob und Jenissei die Interessensphäre von Tomsk
waren, war Tobolsk der Hauptort des sich immer mehr entwickelnden Gebiets
am Irtysch. Im Jahre 1654, als schon längst der Amur erreicht war, sandte
auch Tobolsk eine Expedition ans, um China aufzusuchen. Feodor Baikow
zog mit einer Begleitung von etwa hundert Mann den Jrthsch aufwärts
über Tara, deu Sciisscm-nor und den obern Irtysch entlang. Er über¬
stieg den Altai und gelangte endlich im Mürz 1655 nach Peking. Über
deu Erfolg seiner Reise herrschen verschiedne Ansichten. Die einen sagen, die
Reise sei völlig resultatlos verlaufen, die andern, er habe ein Schreiben des
Kaisers von China an den Zaren mitgebracht. Im Juli 1657 traf er wieder
in Tobolsk ein. Einen wirklichen Nutzen hat diese Reise für die Russen kaum
gehabt; denn die Verbindung der beiden Länder auf diesem Wege war viel
zu beschwerlich, als daß sie für den Handel Vorteile geboten Hütte. Dann
aber waren die Russen um diese Zeit am Amur schon so weit vorgeschritten,
daß sie von hier aus eine Verbindung mit China herzustellen suchten, die ihnen
weit bequemer erschien. Ganz Sibirien, jeder Pelzjüger, Ansiedler und Kosak
schwärmte damals für das reiche Amurland, und die Reise Baikows geriet in
Vergessenheit.'
Im Jahre 1627, nachdem sie schon etwa zehn Jahre früher von Turuchansk
aus entdeckt worden war, hatte von Jenisfeisk aus der Desütnik Bugor die
Lena gefunden; er befuhr sie zuerst von der Kuka- bis zur Tschajamündung.
Der Woiwod von Jenisseisk beschloß, als er die Menge der mitgebrachten
Zobel sah, eine Expedition nach der Lena zu senden; der Anfang zur Stadt
Ilinsk wurde gelegt. An der Lena empfing man Nachrichten über die Ja¬
kuten. Im Jahre 1632 wurde Jakutsk gegründet, und diese Stadt wurde zum
Ausgangspunkt aller weitern Entdeckungen im Osten; 1636 fuhr Busa die
Lena abwärts bis zur Mündung, 1637 Kopylow den Altar aufwärts, er
legte dadurch den Grund zur Herrschaft der Russen über die Länder des Nord-
ostcns. Einer seiner Kosaken, Iwan Moskwitin. drang in östlicher Richtung
vor und kam mit 31 Mann an die Mündung des Uljaflusfes. Er hatte den
Stillen Ozean erreicht. Er baute eine Winterhütte, und im Frühjahr fuhr er
an der Küste des Meeres entlang bis zur Mündung des Ad. Hier horte er
durch Tungusen, daß an den Flüssen Tschi (Seja) und Silkar (Amur) eine
Nation wohne, die Ackerbau treibe, mit der sie (die Tungusen) zu handeln und
ihre Zobel gegen Getreide zu vertauschen pflegten. Diese Tungusen gaben
auch Nachricht von einem Flusse Omne (Augur?), dessen Anwohner ebenfalls
Tungusen seien; diese trieben Handel mit einem Volk Natkcmi (Giljaken), das
zunächst an der See wohne und seine eigne Sprache rede. Die omutischen
Tungusen brächte» ihnen ihre Zobel gegen Silber, kupferne Schüsseln, gläserne
Korallen usw. Die Natkani aber bekämen alle diese Sachen von einem Volk
am Mamur (Amur), das Landbau und Viehzucht treibe. Die Kosaken hatten
wohl die Absicht, nach Süden vorzudringen, aber die Unfreundlichkeit der
Tungusen hinderte sie, und als dann auch die Lebensmittel knapp wurden,
schickten sie sich zur Rückkehr an.
Das war die erste Kunde vom Amur, die die Russen erhielten. Aus¬
führlichere Nachrichten brachte der Ataman Maxim Perfiriew heim. Er war
1638 von Jenisseisk aufgebrochen, den Witim bis zum Zitafluß und 1640
auch diesen ein Stück aufwärts gefahren. Hier erzählten ihm die Tungusen
von einem tungusischen Fürsten^ bei dem man Zobelfelle, allerlei Vieh. Silber
und seidnes Zeug antreffe. Dies bekomme er von dem Fürsten Lawkai, der
drei oder vier Tagereisen von ihm entfernt an der Schilka wohne. Dort
werde Silber gefunden und geschmolzen. Dieses Silber würde gegen Zobel
verhandelt, die Zobel aber nach China. Dafür bekämen sie seidnes Zeug und
andre Waren. Auch Perfiriew mußte wegen Mangels an Lebensmitteln
umkehren.
Diese beiden Vorstöße nach Süden hatten die Russen in unmittelbare
Nähe des Amur gebracht, und die Nachrichten, die sie über die Länder an
dem großen Strom erhielten, waren nicht derart, sie von weiteren Vordringen
abzuschrecken. Die Haupttriebfeder fernerer Unternehmungen war die Nachricht
von dem Vorkommen von Silber, Blei und Kupfer in dem neuen Lande.
Peter Golowin. der erste Woiwode von Jakutsk, suchte sich die Erfahrungen
der Reisen Moskwitins und Perfiriews nutzbar zu macheu, Kosaken, die er
zunächst den Witim aufwärts gesandt hatte, kamen unverrichteter Sache zurück.
Eine zweite Expedition sollte den Altar aufwärts fahren, denn Golowin schloß
aus den vorliegenden Nachrichten, daß man von den obern Nebenflüssen des
Altar aus nach den südwärts fließenden Zuflüssen des Amur kommen müsse,
wenn man nur das Gebirge, das beide Stromgebiete trenne, überschritten habe.
Wenn man einmal auf der Seja sei , habe man freien Weg nach dem Amur.
Führer der neuen Expedition war Pojartow. Mit 132 Mann, die sich ihm
freiwillig angeschlossen hatten, brach er im Juli 1643 von Jakutsk auf. Er
ging die Flüsse Altar, Utschur, Gouan aufwärts nach Anweisung seiner
tnngusischeu Führer. Dann erbaute er eine Simowie und blieb einen Teil
des Winters. Im Frühling setzte er die Reise zu Land fort, überschritt das
Stanowoigebirge und gelangte in das Stromgebiet des Amur, den er dann
glücklich erreichte. Er wandte sich aber nicht nach Westen, sondern fuhr den
Strom abwärts und segelte dann die Küste entlang bis zur Uljamündung.
Hier überwinterte er zum drittenmal und kam im Juni 1646 wieder nach
Jakutsk.
So war der Amur erreicht, man hatte ein an Zobeln äußerst reiches
Gebiet durchzogen und ein fruchtbares Land gefunden, das nach Pojarkows
Meinung ohne sonderliche Schwierigkeiten behauptet werden konnte. Bald
fand mau auch einen weit kürzern Weg. Im Jahre 1647 überstiegen Pelz¬
jäger das Jablouoigebirge. Sie waren am Oleünaflusse dem Zobelfang nach¬
gegangen und auf der Arka an den Amur gelangt. Neben der Kürze hatte
dieser Weg auch noch den Vorzug, daß er unmittelbar ins Gebiet des im Rufe
ganz außerordentlichen Reichtums stehenden Fürsten Lawkcn führte. In Jakutsk
beeilte man sich, diesen neuen Weg zu verfolgen. Chabnrow, selbst ein Pelz¬
jäger, stellte sich dem Woiwoden von Jakutsk zur Verfügung mit dem Er¬
bieten, eine Schar seiner Genossen anzuwerben und das entdeckte Gebiet zins¬
pflichtig zu machen. Im März 1649 brach er auf; aber im Frühjahr 1650
traf er am Amur statt der erwarteten reichen Städte Lawkais fünf verschanzte,
aber verlassue Ansiedlungen. „Die Befestigungswerke bestanden aus hölzernen
Wänden mit vier bis fünf Schießtürmen. Umher waren hohe Wälle und tiefe
Gräben. Unter den Türmen bemerkte man verdeckte Pförtchen zum Ausfalle»
und heimliche Wege nach dem Wasser. Inwendig standen große hölzerne Häuser
von einzelnen Zimmern mit papiernen Fenstern, die im Falle der Not fünfzig
bis sechzig Mann beherbergen konnten." Man suchte Verhandlungen mit
Lawkai anzuknüpfen, doch der traute nicht und überließ den Russen die Ort¬
schaften. Chabarow mochte einsehen, daß dieser Rückzug mir vorläufig war,
daß er hier mit andern Verhältnissen rechnen mußte, als er sie hatte unter
den Jakuten kennen lernen, deren Wälder er bisher durchstreift hatte. Er
war in eine Gegend gekommen, die zahlreiche Ortschaften aufwies, und deren
Boden wohl angebaut war. Der Einfluß der benachbarten chinesischen Kultur
war überall zu bemerken. Er ging deshalb noch in demselben Jahre nach
Jakutsk zurück, um Verstärkung zu holen, da er mit seinen wenigen Leuten
das Laud unmöglich gegen vorauszusehende Angriffe halten konnte. Im Früh-
ling 1651 kam er mit etwa 200 Mann zurück und legte den Ort Albasin an,
jedenfalls an der Stelle des einen der Dörfer Lawkais. Daß er in ein Gebiet
gekommen war, das schon in Beziehungen zu China stand, trat ihm bald
deutlich entgegen; denn im Juni desselben Jahres fuhr er den Amur abwärts
und stieß überall statt ans friedliche Unterwerfung ans energischen Widerstand.
Chabarow zerstörte eine Menge Ortschaften längs des Stromes und traf auch
auf Chinesen, die sich aber nicht am Kampfe beteiligten, sondern auf das Süd¬
ufer des Stroms zurückgingen. Gefangne Tungusen berichteten, die Chinesen
pflegten zu kommen, um Tribut einzuziehn und Handel zu treiben. Unter¬
dessen war aus Jakutsk Nachschub eingetroffen, darunter der Kosak Petrillowskoi
der als Gesandter nach China ging. Man hat nie wieder etwas von ihm
gehört.
Zum ersten größern Kampfe zwischen Russen und Chinesen kam es 1652.
Chabarow hatte in Atschanskoi-Gorod am untern Amur überwintert und schon
einen tungusischen Angriff abgeschlagen, als im März ein chinesisches Heer
vor den Ort rückte, das aber init großem Verluste zurückgeschlagen wurde.
Die Russen hatten 10 Tote und 78 Verwundete, die Chinesen 676 Tote,
außerdem verloren sie 2 Kanonen, 17 Flinten, 8 Fahnen, 830 Pferde. Die
Schwierigkeiten, mit denen Chabarow zu kämpfen hatte, waren groß. Ab¬
gesehen von den offnen Angriffen der Chinesen stand das ganze Land in
Aufruhr gegen die russischen Eindringlinge. Er sandte nach Jakutsk um Hilfe;
hier wußte man keinen Rat und schickte seinen Boten nach Moskau. Dort
hatte man schon Kunde von den Vorgängen am Amur und schon im Mürz
1652 Unterstützung nbgescmdt. Sinowiew hatte Befehl erhalten, „die Kosaken
am Amur der allerhöchsten Zarischen Gnade zu versichern, goldne Münzen
unter sie auszuteilen, sie zur Fortsetzung ihrer bisherigen Tapferkeit zu er¬
nähren. 150 Mann frische Völker und an Pulver und Blei je 50 Pud mit
sich dahin zu nehmen, von der Beschaffenheit und dem Werte der dortigen
Gegend, von der Stärke und Kriegsart der Feinde, und was sonst zu wissen
nötig, Nachricht einzuziehn. vornehmlich aber für eine nach dem Amur zu
schielende größere Macht alles mögliche zu veranstalten." Im August 1653
trafen Sinowiew und Chabarow an der Sejamündung zusammen. 320 Gold¬
münzen wurden nnter die Kosaken verteilt, sonst hatte Sinowiew nichts mit;
er kam ohne Hilfstruppen, und Pulver und Blei hatte er aus Bequemlichkeit
zurückgelassen. Er schien also auch das nötige Verständnis für feine Aufgabe
nicht mitgebracht zu haben. Er ordnete den Bau neuer Ostroge an, ohne
Mannschaften zur Besatzung zu haben, er wollte die wenigen Kosaken Cha-
barows zum Ackerbau anleiten, um Lebensmittel für die 5000 bis 6000 Mann
zu erhalten, die noch kommen sollten, aber niemals kamen. Dem Fürsten
Lawkai. den Chabarow gefangen genommen und als Geisel behalten hatte,
schenkte er die Freiheit. Er verkannte die Sachlage völlig, wenn er damit die
aufgeregte Bevölkerung zu beruhigen hoffte. Er ordnete 1653 auch den
Kosaken Tschetschigin als Gesandten nach China ab. der denn auch kurz darauf
mit allen seinen Begleitern erschlagen wurde. Im Frühling 1654 ging
Sinowiew wieder zurück nach Moskau, nicht ohne auch noch vorher Chabarow
seines Postens zu entheben, damit er in Moskau Bericht erstatten könne.
Chabarow ist nie mehr an den Amur zurückgekehrt; er erhielt die Verwaltung
des Lenagebiets.
Hatte Sinowiew nichts getan, am Amur wirklich Hilfe zu bringen, so
sorgten die beiden uach Moskau geschickten Kosaken um so besser für ihre Ge¬
nossen. Sie machten unterwegs durch ihre Erzählungen und ihr Auftreten
eine außerordentliche Reklame für die Gegend. Der Amur, hieß es, sei un¬
erschöpflich an Reichtümern; man habe dort Überfluß an Gold, Silber, schönen
Zobeln, Viehzucht, Ackerbau und Vaumfrüchten. Die Einwohner trügen keine
andern Kleider als von Goldstücken und Damast. Die Kosaken hatten selbst
solche Kleider und zeigten sich darin jedem, sodaß an der Wahrheit des Er¬
zählten kein Zweifel blieb. Kurz, die Gegend am Amur galt „für ein neues
Kanaan, für ein sibirisches Paradies." Die Folge war, daß eine große Zahl
von Freibeutern dort ihr Glück versuchen wollte. Von andrer Seite erhielten
die Amurkosaken ebenfalls unerwartete Unterstützung. Das Gerücht von den
Reichtümern des Amurlandes hatte auch in Jenisseisk Aufsehen erregt. Von
hier aus versuchte man — der Baikalsee war 1643 zum erstenmal von einem
Kosaken aus Jakutsk befahren worden — durch das heutige Transbaikalien
den Strom zu erreichen. Beketow drang schließlich, an den Flüssen Selenga
und Chilok aufwärts gehend, über das Jablonoigebirge bis an die Schilka
vor. An der Mündung der Nertscha erbaute er 1654 einen Ostrog, den er
aber bald wieder verließ. Mit seinen 54 Leuten stieß er zu Stepanow, der
seit Chabarows Abreise am Amur das Kommando führte. Stevanow begann
im Oktober desselben Jahres mit dem Bau von Kcnnarskoi-Ostrog, wo er zu
überwintern gedachte. Man muß annehmen, daß alle diese Ostroge, die im
Laufe der Jahre am Amur entstanden waren, nicht dauernd gehalten wurden.
Dazu reichte vor allen Dingen die Zahl der Leute gar nicht aus; Stevanow
wird kaum über mehr denn 500 Mann verfügt haben. Es ist vielmehr wahr¬
scheinlich, daß bei Anbruch der warmen Jahreszeit die Kosaken ihre Streifzüge
längs des Stroms begannen, Tribut heisesten und Beutezüge unternahmen.
Den verlassenen Ostrog aber zerstörten bald die aufsässigen einheimischen
Stämme. So ist auch Albasin jedenfalls schon 1651 wieder zerstört worden.
Stevanow hatte auch in seinem Winterlager eine der üblichen Belagerungen
zu überstehn; die Chinesen mußten aber ohne Erfolg wieder abziehn.
Bisher war Jakutsk immer der Ort gewesen, an dem die Besatzung des
Amurlandes einen Rückhalt hatte. Das änderte sich im Jahre 1655. Ste¬
vanow schickte die in seinem Winterlager aufgespeicherten Zobel nach Moskau,
aber nicht durch den Woiwoden von Jakutsk, sondern direkt. Er tat dies aus
Anordnung des oben erwähnten Sinowiew, der damit, wenn auch unbewußt,
seinen bedrängten Landsleuten am Strome einen schweren Schlag versetzte;
denn der uneigennützige Woiwode von Jakutsk dachte in Zukunft: Keine
Zobel — keine Kosaken! und versagte jede Unterstützung. Endlich traf am
Amur im Frühling 1658 von Moskau aus eine namhafte Hilfstrnpve ein,
Paschkow kam mit Pulver, Blei, Saatkorn und Mehl, und vor allem mit
etwa 560 Mann, und legte noch in demselben Jahre den Grund zur Stadt
Nertschinsk. Zugleich erging an Stepanvw der Befehl, Albasin wieder auf¬
zubauen und 100 Mann nach Nertschinsk zu senden. Doch Stepcmow war
nicht mehr am Leben, die Chinesen hatten ihn im offnen Felde angegriffen
und mit einem Teil seiner Mannschaft niedergemacht.
(Schluß folgt)
lie erste großpolnische Agitation zeigte sich Ende der sechziger
Jahre in der protestantischen Gemeinde zu Teschen. Diese ist
sehr umfangreich, und es sind ihr, trotz mehrfacher Abtrennung
neugebildeter Kirchgemeinden, noch immer über vierzig Ortschaften
eingepfarrt, deren Bewohner fast ausschließlich das landesübliche
polnische Idiom reden. Es ist darum notwendig, daß die Prediger der Gemeinde
der polnischen Sprache mächtig siud. Zum ersten Pfarrer wurde im Früh¬
jahr 1866 der bisherige Pastor an der evangelischen Kirche Augsburgischer
Konfession in Warschau, Dr. Leopold Martin von Otto, Schulinspektor und
Mitglied der dortigen staatlichen Unterrichtsbehörden, gewählt, und er trat
sein Amt im Oktober des genannten Jahres an. Er blieb, was damals nach
der österreichischen Gesetzgebung möglich war. russischer Untertan, seltsamer¬
weise aber auch noch Pastor in Warschau und bezeichnete sich selbst bei
mehreren Gelegenheiten als solcher, er war also gewissermaßen nur beur¬
laubt. Im Oktober 1875 kehrte er auch auf seinen Posten uach Warschau
zurück. Es wurde bald bekannt, daß er in seiner Gemeinde eine slawische
Agitation betrieb, und man betrachtete ihn in dentschen und deutschfreundlichen
Kreisen mit Argwohn, ohne aber die Art und Richtung seiner Bestrebungen
klar zu erkennen. Man hielt ihn im allgemeinen für einen Anhänger des
Panslawismus, wie man damals die slawischen Bestrebungen insgemein, die
sich als deutschfeindlich und österreichfeindlich kennzeichneten, benannte. Er war
ein wohlhabender Mann und erhielt öfters Geldsendungen in Rubeln aus
Warschau, was jene unklare Ausfassung zu bestätigen schien. Nun, jedenfalls
gibt es keine polnischen Rubel oder andre Münzen. An seinen Früchten hat
N1>1n "man erst erkannt, daß er ein allpolnischer Emissär war. Er war der erste
der in weitere Kreise des Volkes die Anschauung zu verpflanzen suchte, daß
W ein Teil des großen Volkes der Polen seien, das einst von Meer zu Meer
geherrscht habe, daß sie erst glücklich werden würden, wenn dieses mächtige
Polenreich wieder hergestellt sei das durch die hassenswürdigen Deutschen
zerstört wurde, dessen Wiederaufrichtung aber vor der Tür stehe. Die Absicht
und Wirkung dieses Treibens war, Haß gegen die Deutschen zu verbreiten und
den Unfrieden ins Land zu tragen. Noch heute ist das Hauptthema der
polnischen Agitatoren, daß nur der ein guter und treuer Sohn seines Volkes
sei, der die Deutschen und überhaupt alles, was deutsch ist, aus dem tiefsten
Grunde seines Herzens hasse und verachte. Das ist der Gedanke, der seit
jener Zeit von Galizien und Warschau aus durch die verschiednen geistlichen
und pädagogischen Emissäre in dem bis dahin friedlichen Ostschlesien gepflegt
wird, der aber zuerst in der evangelischen Gemeinde von Teschen feste Wurzeln
faßte. Dort hatten es die politischen Zöglinge des Pastors Otto trotz der
geringen Zahl ihrer Anhänger in der Bevölkerung verstanden, durch den
Terrorismus ihrer Führer sogar die Mehrheit in den Vcrtretungskörpern zu
erlangen und fast dreißig Jahre auch zu behaupten, obgleich diese evangelische
Gemeinde einst von Deutschen begründet und von jeher auch durch Deutsche
geleitet worden war. Dort war der erste Kern für die Vorkämpfer des An¬
schlusses von Ostschlesien an Galizien und das zukünftige Großpoleu, der
Ausgangspunkt aller nationalen Hetze gegen die Deutschen. Von da aus hat
sich die Bewegung in weitere Kreise verbreitet, zum Teil infolge des Reizes
der Neuheit, zum Teil auch, weil sie agitatorisch angelegten Gemütern Anlaß
zur Entfaltung ihrer bisher unerkannt gebliebner Talente bot und ihnen den
Aufstieg zu politischen und kirchlichen Ehrenämtern eröffnen konnte, von denen
Abgeordnetenmandate, für protestantische Geistliche auch die Erlangung des
schlesischen Seniorats und der evangelischen mährisch-schlesischen Superinten-
dentur höchst begehrenswert erscheinen mochten. Außer einigen Mandaten für
den schlesischen Landtag und den Reichsrat ist aber bis jetzt nichts erreicht
worden und wird auch nichts erreicht werden, wenn die Deutschen in Ost¬
schlesien ihre Saumseligkeit aufgeben und sich nicht immer mit der Ausrede
behelfen, die Regierung sei an allem schuld. Die ostschlesischen Polen sind
noch immer in ihrer Mehrzahl deutschfreundlich und wollen mit den Deutschen
gehn, aber man hat sie zeitweise nicht einmal unterstützt, sondern die .fiände
in den Schoß gelegt.
Nachdem einmal der Agitationsstrom Einlaß gefunden hatte, fand er auch
Zuflüsse von andern Seiten, namentlich traten Geistliche auf, diesesmal katholische,
die entweder direkt aus Galizien kamen oder in Krakau zu der Entdeckung ge¬
kommen waren, daß sie eigentlich Polen, natürlich Großpolen, seien. Man be¬
gann, sich zu organisieren und die Eroberung des alten Piastenlandes für die
grvßpolnische Idee und den Anschluß an Galizien planmäßig in die Hand zu
nehmen. Protestantische und katholische Agitatoren gingen dabei einmütig vor,
und noch heute kann man erleben, daß protestantische Geistliche, die ehemaligen
Nachbeter des Herrn Otto, eng verbündet an dem gemeinsamen „Kulturwerk"
arbeiten mit katholischen Kaplänen, die gelegentlich auch einmal äußern: „Ein
Protestant ist nicht wert, daß man ihn anspeie." Die Deutschen draußen im
Reich, von denen ja nnr der geringste Teil ans eigner Erfahrung weiß,
wie ein Nationalitätenkampf eigentlich aussieht, könnten daraus lernen, daß
der Unterschied des Glaubensbekenntnisses gar nichts sagen will gegenüber
dem nationalen Hader, wenn er einmal in Gang gekommen ist. In solchen
Kämpfen sieht, ob protestantisch oder katholisch, der Deutsche nur den Deutschen
und der Pole nur den Polen. Die Zentrumspartei in Preußen, die in den
Polen der östlichen Provinzen bisher immer nur bedrängte Katholiken zu sehen
vermeint hat, hat ja schon einige warnende Fingerzeige erhalten, sie wird aber
noch manche bittern Erfahrungen machen müssen, ehe sie dahinterkommt, daß
es sich bei den Polen einzig darum handelt, die Dentschen, einerlei ob pro¬
testantisch oder katholisch, zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen.
Nächst dem Kampf um Abgeordnetenmandate und politischen Einfluß
hat sich der Streit im letzten Jahrzehnt in der Hauptsache um die polnische
Schulfrage in Teschen gedreht. Diese Stadt ist ausgesprochen deutsch, liegt
im geographischen Mittelpunkt von Ostschlesien und nimmt als Eisenbahnknoten¬
punkt einen raschen Aufschwung. Sie hat ein Staatsgymnasium, mit dem im
Jahre 1873 das ehemalige evangelische Gymnasium vereinigt worden ist, eine
Staatsoberrealschule, eine staatliche Lehrerbildungsanstalt und ein reich ent¬
wickeltes städtisches Volks- und Bürgerschulwesen, das von der Stadtverwaltung
mit großen Opfern erhalten und gefördert und auch den Kindern der ländlichen
Bevölkerung, die meist polnisch spricht, bereitwillig offen gehalten wird. Man
kommt damit nur dem Bedürfnis des Landvolks entgegen, das seinen Kindern
nach Möglichkeit deutschen Unterricht zu verschaffen wünscht. Wenn man in
Betracht zieht, daß in den Teschener Volksschulen allein 700 Schüler sitzen,
die eigentlich in den umliegenden Ortschaften eingeschult sind, so läßt sich daraus
ersehen, daß die Stadt für diesen Zweck große Opfer bringt, wenn es ihr
auch vielfachen Nutzen gewährt, daß in ihrer Umgebung die Bildung überhaupt,
insbesondre aber die deutsche, zunimmt. Gerade das ist aber den polnischen
Agitatoren ein Dorn im Auge, denn da sie darauf ausgehn, die schlesischen
Polen für ihre großpolnische Idee einzufangen, ist ihnen dieses Streben nach
deutscher Bildung im höchsten Grade störend, und sie beschuldigen darum die
Deutschen der Germanisierungssucht. Wollte Gott, daß das wahr wäre, es
hätte sich auf diesem Gebiete, wenn man nur planmäßig vorgegangen wäre,
auch ohne zu agitieren oder gar zu terrorisieren, wie es Polen und Tschechen
immer machen, viel erreichen lassen. Das ist aber nicht geschehen, dazu sind
die Deutschösterreicher in der Regel überhaupt zu passiv, die Ostschlesier machen
keine Ausnahme und begnügen sich mit dem, was ihnen durch die höhere Zahl
und die Kultur des deutschen Volkstums von selbst zufällt, und sie wissen oft
kaum das zu erhalten und zu verteidigen. Die seit drei Jahrzehnten vom
Deutschliberalismus als höchste politische Weisheit gepredigte Opposition, die
keinen praktischen Erfolg haben konnte, die Gewohnheit des Schreiens über
jede Regierung und doch zugleich wieder Hilfesuchens bei jeder haben alles
Verständnis für die Wege und die Ziele einer praktischen Politik ertötet. Wenn
die Schulpolitik der Teschener Gemeindevertretung, die dabei doch nur ihr aller¬
nächstes Beste im Auge hat und ohne jedes vorher erwogne gemeinsame Vorgehn
mit andern handelt, nun schon imstande ist, der polonisierenden Tätigkeit der
von Warschau mit Geld unterstützten und von Krakau aus geleiteten Agitatoren
so ärgerliche Hindernisse zu bereiten, so leuchtet ohne weiteres ein, daß der
trübe Schaum der galizischen Kultur, die in das Land gespült werden soll,
an dem Felsen der' deutschen Kultur machtlos zerschellen mußte, wenn man
nur das geringste tun und namentlich die selbst geschaffnen Lücken verstopfen
wollte, durch die der Zufluß aus Galizien immer wieder stattfinden kann.
Selbstverständlich ist sowohl bei den staatlichen wie den städtischen Schul-
anstalten in Teschen die Unterrichtssprache deutsch, doch an allen ist Vorsorge
getroffen, daß auch die polnische Sprache gepflegt werden kann, und tatsächlich
hat die bisherige Einrichtung der Schulanstalten in Teschen zum Beispiel die
Herren Cienenla, Gebrüder Michejda und andre in Ostschlesien geborne An¬
hänger der großpolnischen Lehre nicht gehindert, ihr nationales Herz zu ent¬
decken. Ein Bedürfnis für polnische Schulen war demnach gar nicht vorhanden,
sie sind nicht ein Wunsch und der Ausdruck des Strebens des schlesischen Volks
nach Kultur, sondern die Schöpfung des polnischen Chauvinismus, dem Fürst
Sapieha einst bei einem Fest in Lemberg Allsdruck verlieh, und der Absicht, den
Westen für das polnische Volk zu erobern. Zuerst wurde ein Privatgymnasium
mit polnischer Unterrichtssprache in Teschen von dem Vereine „Macierz Szkolna
dia ksiestwa Cieszynskicgo" im Jahre 1895 errichtet Und bis Ende August 1903
erhalten, wo es als Anstalt mit polnischer Unterrichtssprache vom Staat über¬
nommen wurde. Diese Schule dient unter den geschilderten Umstünden nicht
dem Unterrichtsbedürfnisfe, sie ist allein zu dein Zweck eröffnet worden, dem
Großpolentum in Österreichisch-Schlesien eine feste Stellung zu schaffen, von
der aus der Kampf gegen das Deutschtum mit größerm Nachdruck und mit
mehr Aussicht auf Erfolg geführt werden soll in diesem Lande, wo die slawische
Bevölkerung die nationalpolnische Agitation selbst nicht wünscht, sondern sie
direkt zurückweist. Dieses außerhalb Galiziens errichtete Gymnasium hat nur
den Zweck, die polnische Propaganda in Schlesien zu fördern; und das
wird nun auf Staatskosten geschehen, weil den Polen das Geld ausgegangen
war. Man wird eine solche Schulpolitik auch im Reich der Unwahrschcinlich-
keiten nicht für möglich halten, und doch ist alles auf ganz natürlichem Wege
zugegangen, aber nur für den verständlich, der eben die österreichischen Ver¬
hältnisse kennt. Wie wenig die Anstalt dem Bedürfnis entspricht, kann man an
einigen Zahlenbeispielen deutlich nachweisen. Sie wurde 1895 mit der ersten
Klasse (in zwei Abteilungen) eröffnet, die 70 Schüler aus Schlesien und 4 aus
Galizien hatte. Diese erste Zahl wurde niemals wieder erreicht, im fünften
Schuljahr (1899/1900) hatte die erste Klasse 60 Schüler, vou denen aber nur
37 aus Schlesien waren. Von den 230 Schülern dieses Jahres waren 55
aus Galizien (23^ Prozent), bei der Übergabe an den Staat hatte die Anstalt,
die inzwischen sämtliche Klassen erhalten hatte, nur 250 Schüler, von denen
44 (17 Prozent) aus Galizien stammten, aus der Stadt Teschen aber nur 6;
im Schuljahre vorher gab es nur 2 Schüler aus Teschen, und es liegt darum
nahe, daß die Zahl 6, die dem Bericht der Direktion des polnischen Gymnasiums
entnommen ist, einer von der gewöhnlichen Auffassung etwas abweichenden
Deutung des Begriffs „aus Teschen" ihre Entstehung verdankt. Stellen wir
daneben, daß im Schuljahre 1898/99 an den Staatsgymnasien und den Real¬
schulen mit deutscher Unterrichtssprache in Teschen und in Bielitz 340 polnische
Schüler aus Ostschlesien, also doppelt so viel als am polnischen Gymnasium,
eingeschrieben waren, so ergibt sich schon daraus, wie gering das Bedürfnis
der polnisch sprechenden Schüler nach einer polnischen Mittelschule war. Dabei
darf nicht vergessen werden, daß die polnischen Agitatoren das möglichste ge¬
leistet hatten, der Anstalt Schüler zuzuführen, daß namentlich auch einzelne
katholische Geistliche ihren Einfluß auf die Landbevölkerung geltend gemacht
hatten. Die Wirkung blieb aber trotzdem aus; wohlhabendere Leute schickten
ihre Söhne trotzdem in die Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache, und
meist nur Kinder armer Leute traten in das polnische Gymnasium ein, wo
reichliche Unterstützungen gezahlt wurden. Der Verein „Macierz Szkolna"
gab im Jahre 1896/97 bei einem Schülerstande von 174 nicht weniger als
4542 Gulden 50 Kreuzer und im nächsten Schuljahre bei einer Schülerzahl
von 197 gar 7323 Gulden 73 Kreuzer an Unterstützungen aus, sodaß im
Jahre 1898 im Durchschnitt auf einen Schüler 37 Gulden 77 Kreuzer (etwa
64 Mark) kamen. Es sei hier jedermann vollkommen freies Urteil darüber
erlaubt, ob der Drang nach polnischer Bildung oder die Aussicht, ihre
Kinder auf billige Weise etwas lernen zu lassen, die ärmern Ostschlesier ver¬
anlaßt haben mag, ihre Söhne ins polnische Gymnasium zu schicken. In
dieser Zeit des Hochdrucks an Geld- und Agitationsmitteln, wo es galt, der
Regierung durch eine ansehnliche Schülerzahl die Notwendigkeit dieses polnischen
Gymnasiums zu beweisen, konnte man auch die erfreuliche Beobachtung machen,
daß die Zahl der in die Staatsrealschule in Teschen eintretenden schlesischen Polen
auffüllig zunahm, weil viele Eltern eigentlich ihre Söhne in das deutsche
Gymnasium schicken wollten, um aber dem Drängen der Agitatoren wegen des
polnischen Gymnasiums zu entgehn, lieber die Realschule mit deutscher Unter¬
richtssprache wählten. Übrigens hat das polnische Gymnasium in Teschen dem
dortigen Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache keinen merkbaren
Abbruch getan. Alle diese Umstände beweisen, daß für die Errichtung dieses
Gymnasiums in Schlesien kein Bedürfnis bestand.
Das Bedürfnis dafür war auf ganz andrer Seite lebendig. Nach der
Absicht der demokratischen großpolnischen Agitation soll eine ganze Reihe von
polnischen Schulen in Teschen errichtet werden zu dem ausgesprochnen Zweck,
in der Jugend einen nationalen polnischen Geist zu entzünden, ihr den Ge¬
danken einzuimpfen, daß sie ein Teil der nach politischer Selbständigkeit
strebenden Polen sei. sie ihren deutschen Mitbürgern zu entfremden und sie
in den Bann der großpolnischen Partei zu ziehn. Wo der Sitz dieser Agitation
zu suchen sei, war nach den spärlichen Veröffentlichungen von polnischer Seite
leicht zu erkennen. Nach dem Berichte des Vereins „Macierz Szkolna" hatte
dieser elf Ehrenmitglieder, unter diesen nur eins aus Schlesien, dagegen fünf
aus Rußland, vier aus Galizien und eins aus Amerika. Als der Verein
im Jahre 1886 gegründet wurde, gingen an Gründungsbeitrügen sofort
10000 Rubel aus Warschau, 1712 Gulden von den Polen in Rumänien,
250 Gulden aus Galizien, aber nur 150 Gulden aus Ostschlesien ein. Nach
dem Jahresbericht vom 24. November 1901 waren bis Eude 1899 Beitrüge
von 53438 Gulden eingeflossen, von denen 33215 Gulden aus Rußland
(hauptsächlich aus Warschau), 5400 Gulden aus Posen, 7703 Gulden aus
Galizien, aber nur 3700 Gulden aus Ostschlesien stammten, der übrige Rest
war aus dem weitern Ausland gekommen. Es kann doch danach gar kein
Zweifel darüber sein, daß das polnische Gymnasium in Teschen weniger den
Polnisch redenden Ostschlesiern als dem polnischen Volke in Rußland, Posen
und Galizien ans Herz gewachsen ist, daß die Agitation dafür namentlich von
der alten Hauptstadt des Königreichs Polen, von Warschau, aus mit ganz
außerordentlichen Geldmitteln betrieben wird, und daß sich das geographisch
ebenso nahe liegende Galizien aus mancherlei Gründen mehr auf die politische
Unterstützung durch den Polenklub bei den österreichischen Regierungen be¬
schränkt hat. Aber wie schon früher angedeutet worden ist, schürt der Polen¬
klub den von den polnischen Demokraten angestifteten Kampf um Ostschlesien
gern, stellt sich sogar mitunter mit Geräusch an die Spitze, weil er dadurch
die Aufmerksamkeit der übrigen Polen von seiner eignen verderblichen Wirt¬
schaft in Galizien ablenkt.
Bei der Verschwendung an Stipendien und Unterstützungen, womit eine
ansehnliche Schülerzahl für das polnische Gymnasium angelockt werden sollte,
ging dem Verein „Macierz polska" bald das Geld aus, und er erließ deshalb
zu Anfang des Jahres 1903 folgenden Aufruf: „Das polnische Gymnasium
in Teschen hat die Aufgabe, ein fester Pfeiler für die polnische Nationalität
in Schlesien zu werden. Leider sind unsre Mittel gänzlich erschöpft, und wir
bedürfen noch zur Erhaltung des Gymnasiums bis zum Ende des laufenden
Schuljahrs der Summe von 40260 Kronen. Ohne schleunige Hilfe der
polnischen Bevölkerung müßten wir die Anstalt zur Freude und zum Triumphe
unsrer nationalen Feinde einfach schließen, wodurch der polnischen Sache in
Schlesien der Todesstoß versetzt und die nationale Arbeit eines halben Jahr¬
hunderts zerstört werden würde." Dieser Aufruf ist nach mehrfacher Richtung
hin in erfreulichster Weise deutlich: er gibt über die allpolnischen Ziele, die
mit der „Arbeit eines halben Jahrhunderts" verfolgt wurden, klaren Auf¬
schluß, zeigt aber auch, daß die polnischen Agitationsgelder nicht so reichlich
einflössen, als man sie in Teschen auszugeben verstand. Zwar hatte das
Blatt der Schlachtschitzenpartei, der Krakauer „Czas," auf den Aufruf der
„Macierz polska" sofort gelärmt, „es handle sich um die Wiedereroberung
Schlesiens für die polnische Sache," aber es war klar, daß man in Galizien
gar nicht in der Lage war, eine so bedeutende Summe aufzubringen, denn
die Schlachtschitzen brauchen wohl selbst immer viel Geld, haben aber selten
welches. Auch in Preußisch - Polen schien keine Begeisterung mehr für die
Kulturarbeit der ostschlesischen Agitatoren vorhanden zu sein, wenn auch das
in Teschen erscheinende polnische Blatt „Gwiazdka" die Schuld der geringen
Eingänge von dort auf „die preußische Vergewaltigung" und die Marien-
burger „kreuzritterliche Frechheit" zu schieben versuchte. Es scheinen aber
wohl ganz besondre Gründe dabei mitgespielt zu haben, denn drei Jahre
vorher hatte das klerikale galizische Blatt „Ruch katolicki" das Teschner pol¬
nische Gymnasium in dein verbindlichen Tone, durch den sich die polnischen
Kulturblütter immer auszeichnen, eine „Gnunerhöhle" genannt, „die vom
Kopfe bis zum Schwänze nach faulen Fischen stinkt," und ferner den Vor¬
wurf erhoben, daß „in der Verwaltung des polnischen Schulvereins Mi߬
bräuche geduldet und bewußt verhehlt würden." Der Lehrkörper des pol¬
nischen Gymnasiums wandte sich in einer entrüsteten Erklärung gegen diese
Anschuldigungen und betonte darin auch, daß er nicht aus Leuten bestehe,
die weder dem polnischen Namen noch ihrem Amte Ehre machten und den
Stand der Bildung des Gymnasiums herabsetzten. Wie sich die edeln Polen
über diese doch sicher sehr ehrenrühriger Beschuldigungen ausgeglichen haben,
ist nicht bekannt geworden, von gerichtlichen Verhandlungen darüber hat man
nichts gehört. Jedenfalls ist es Tatsache, daß, als die Not am größten war,
der Einfluß des Polenklubs die Übernahme des polnischen Gymnasiums durch
den Staat durchzusetzen wußte. Dadurch hat Ostschlesien sein polnisches
Gymnasium und wird es auch nicht wieder los.
Es sind hier noch einige Erläuterungen über die gesetzliche und die politische
Lage einzuschieben. Nach der seit Ende der sechziger Jahre geltenden liberalen
Schulgesetzgebung ist es eigentlich jedermann, namentlich Korporationen, er¬
laubt, Schulanstnlten zu gründen, die den gesetzlichen Bestimmungen ent¬
sprechen. Weisen solche Schulen geordnete Unterrichtsverhültnisse auf, und
genügen die Erfolge den Anforderungen des Staates, so kann ihnen das
Öffentlichkeitsrecht zuerkannt werden. Auf dieser an sich ganz vernünftigen
Grundlage hat sich nun eine ganz eigentümliche Schulpolitik ausgebildet.
Die Stadtgemeinden oder andre Korporationen, die solche Schulen gegründet
haben, kommen häufig, nachdem der erste Feuereifer vorüber ist, und mit der
zunehmenden Anzahl der Jahrgänge und der Klassen die Kosten in rascher
Steigerung wachsen, zu der Erkenntnis, daß sie sich über ihre Kräfte ein¬
gelassen haben. Dann suchen sie um staatliche Unterstützung nach, die in den
meisten Fällen gewährt wird, schließlich bitten sie um Übernahme der Anstalt
durch den Staat, was auch in der Regel geschieht, wobei diese mit den
Schulgebäuden von der staatlichen Schulverwaltung übernommen wird, während
den Korporationen gewöhnlich die Pflicht der Erhaltung des Gebäudes auf¬
erlegt wird. Dagegen ist eigentlich auch nichts einzuwenden, es liegt aber an
den heutigen innern Verhältnissen Österreichs, daß solche Unterstützungen und
Verstaatlichungen mit der nationalen Brille angesehen und mit dem üblichen
Geschrei über Begünstigung begrüßt und bekämpft werden. An dieser Stelle
lst der Hinweis am Platze, daß sich diese Ursache nationaler Erbitterung gar
acht hätte ausbilden können, wenn man sich nicht von dem Bachschen
Grundsatz abgewandt und in gemischtsprachigen Provinzen die Mittelschulen
zweisprachig gelassen hätte. Es hätte dann auch an einem Anlaß zur Grün¬
dung des polnischen Gymnasiums in Teschen gefehlt. Diese Anstalt hat nun
ganz den eben geschilderten Entwicklungsgang durchgemacht. Das Öffentlich¬
keitsrecht wurde bald erworben, denn die entscheidenden Jahre fielen in die
Zeit der Ministerien Baden und Thun, unter denen es einem Lcmdesschul-
inspektor sicher nicht zur Empfehlung gereicht hätte, wenn sein Bericht un¬
günstig ausgefallen wäre, auch hat man sich sicher während dieser Zeit in der
Anstalt tüchtig angestrengt. Nachdem das Öffentlichkeitsrecht erlangt war,
fiel die staatliche Unterstützung und schließlich die Übernahme durch deu Staat
unter dem Drängen des einflußreichen Polenklubs nicht mehr schwer. Dieser
zählt ja nur einige sechzig Mitglieder, da er aber immer festgeschlossen und
auch regierungsfreundlich auftritt, so vermag er mehr auszurichten, als die
dreimal stärkern deutschen Abgeordneten, die in eine Reihe verschieden starker
Fraktionell zersplittert sind, von denen jede ihre eigne deutsche Tonart hat.
Sie können sich eben nie zu einer deutschen Harmonie vereinigen, deren
Melodie dann doch alles übertönen würde. Wenn man sich jedoch erinnert,
welchen Sturm zu verschiednen malen das slowenische Gymnasium in Cilli
heraufbeschworen hatte, muß man sich doch billig wundern, warum die Ver¬
staatlichung des Teschner polnischen Gymnasiums mit so viel äußerer Ruhe
hingenommen worden ist. Die Sache hat einen sehr einfachen Grund.
Die Stadt Friedel, ein ebenfalls in starkem Aufblühen begriffner Ort,
hatte im Jahre 1858, also nach der Geburt des leider wieder heimgegangnen
Kronprinzen Rudolf, beschlossen, ein Gymnasium zu gründen, und hierzu einen
Fonds geschaffen, der infolge der eifrigen Unterstützung der Bürgerschaft endlich
so weit angewachsen war, daß man im Jahre 1895 daran gehn konnte, die
Anstalt ins Leben zu rufen. Dieses Gymnasium, niemand zum Trotz, sondern
aus treuer patriotischer Gesinnung gegründet, auch zu einer Zeit in Aussicht
genommen, wo an die heutigen nationalen Streitigkeiten Noch gar nicht ge¬
dacht wurde, lag nicht bloß räumlich dem polnischen Gymnasium in Teschen
nahe, sondern machte auch ungefähr in denselben Zeiträumen dieselbe Ent¬
wicklung dnrch, zeichnete sich aber dnrch vorzügliche Leistungen ans. Die
Stadt Friedel freilich, der bei ihrer raschen Entwicklung die Ansprüche des
modernen Städtewesens an Straßen, Beleuchtung, Kaualisierung, Wasser¬
leitung n. a. große Opfer auferlegten, empfand die sich rasch steigernden
Kosten für das Gymnasium sehr schwer und suchte um staatliche Unterstützung
nach, die gewährt wurde, als sich aber danach die Finanzlage der Stadt noch
verschlimmerte, um Verstaatlichung der Anstalt, weil diese sonst hätte eingehn
müssen. Man braucht nun kein politischer Weiser zu sein, wenn man begreifen
will, warum das Ministerium Körber bei der heutige» politischen Lage in
Österreich die beiden Gymnasien mit gleichen Unterstützungen bedachte und
beide zugleich in die Staatsverwaltung übernahm, und warum die Deutschen
wegen der Verstaatlichung des polnischen Gymnasiums keinen großen Lärm
schlugen. Teschen und das ganze Land Österreichisch - Schlesien haben jetzt
ihre polnische Trutzanstalt, an der sich die Verhältnisse nach der Verstaatlichung
wahrscheinlich nach der Richtung etwas ändern dürften, daß die Lehrkräfte
nicht mehr nötig haben, als polnische Agitatoren auftreten zu müssen. Die
Anstalt wieder loszuwerden, gibt es nnr einen Weg, nämlich den, zu der
Bachschen Einrichtung zurückzukehren und die Mittelschulen in Schlesien wieder
zweisprachig zu machen. Dann würde der Staat seine jetzigen beiden Gym¬
nasium in Teschen, von denen das polnische überhaupt nie eine große Schüler-
zahl erreichen dürfte, zusammenlegen, und das besondre polnische wäre be¬
seitigt. Das Bachsche zweisprachige Schulwesen bietet überhaupt die einzige
Möglichkeit für die Sndetenländer, der weitern Slawisiernng des Beamten¬
tums entgegenzuwirken. Dieser Gedanke der zweisprachigen Beamten hat auch
in Österreich neuerdings Boden gefaßt. Der Reichsratsabgeordnete der mäh¬
rischen Volkspartei, Albrecht, bemüht sich, ihm Geltung zu verschaffen, auch
ist er Ende November in einer Versammlung mährischer deutscher Studenten
in Brünn zugunsten eiuer deutschen Universität proklamiert worden. Es ist
unter diesen Umständen am Platze, darauf hinzuweisen, daß die Grenzboten
schon Monate vorher die Zweisprachigkeit der Mittelschulen und des Beamten¬
tums für die Sudetenländer als politische Notwendigkeit hingestellt hatten.
Das polnische Gymnasium war nicht das einzige Ziel, das sich die all¬
polnische Agitation für Teschen gesetzt hatte, die deutsche Stadt sollte auch
noch mit andern polnischen Schulen beglückt werden. Eine polnische Volks¬
schule sollte das Schülermaterial für das polnische Gymnasium und die in
Aussicht genommene polnische Lehrerbildungsanstalt und eine polnische Real¬
schule liefern. Auf diese Weise hofft man, allpolnisch gesinnte Beamte und
Lehrer im Lande selbst zu erziehen. Nachdem man bei der Stadtverwaltung
Teschen mit dem Antrage, sie möge eine polnische Volksschule errichten, ge¬
scheitert war, weil die zur Errichtung nötige Schülerzahl nicht nachgewiesen
werden konnte, beschwerte man sich beim schlesischen Landesschulrat, der
eine eingehende Untersuchung anordnete. Diese ergab, daß keine genügende
Schillerzahl vorhanden war, und einzelne Eltern erklärten dabei freiwillig, sie
seien bloß überredet worden, ihre Kinder in die polnische Schule zu schicken,
sie wollten aber gerade haben, daß sie Deutsch lernten. Natürlich wies der
Landesschulrat die Beschwerde ab, und nun errichtete der Verein „Macierz
szkolna" im Jahre 1900 auf eigne Kosten eine viertlassige polnische Privat¬
volksschule, nachdem sich ein „Patriot" in Warschau, der Arzt Dr. Stanislaw
Hassewicz, verpflichtet hatte, für diese Anstalt jährlich 6000 Kronen bei¬
zutragen. Auch hier zeigt sich, daß der Sitz der allpolnischen Bewegung
Warschau ist. Wie wenig nun auch die polnische Volksschule einem wirklichen
Bedürfnisse entspricht, geht deutlich daraus hervor, daß die Teschner Volks¬
schulen im Jahre 1892 von 2800 Schülern besucht waren, von denen 700 aus
der hauptsächlich polnischen Umgebung kommen, während die polnische Privat¬
volksschule in ihrem dritten Schuljahre, trotz aller Agitation, nur von
227 Kindern besucht wurde, von denen aber nur 63 in der Stadt wohnen,
während die übrigen aus den Nachbargemeinden, in denen doch überall
Polnische Schulen bestehn, hereingezogen wurden. Es wird also genau das¬
selbe Spiel getrieben wie beim polnischen Gymnasium. Daß solche Geschichten
aber Geld kosten, liegt nahe, und die schou genannte „Gwiazdka" klagte schon
im August 1902, daß der polnische Schulverein zur Erhaltung der Volks¬
schule in, Jahre 1902/3 nicht einen Kreuzer in der Kasse habe. Vielleicht
verbarg sich auch hinter diesem Notschrei nur eine gewöhnliche polnische
Bettelei; die Mittel sind beschafft worden, und da der österreichische Staat
so freundlich, gewesen ist, dem „patriotischen" Polenklnb zuliebe der „Macierz
szkolna" die Sorge für das polnische Gymnasium abzunehmen, wird es den
Polen nicht schwer fallen, die polnische Volksschule über Wasser zu halten.
Die Vorgänge der letzten Jahre haben übrigens doch dazu gedient, auch
die Energie der deutschen Bürgerschaft von Teschen ein wenig zu beleben.
Früher hatte um, sich begnügt, sich über die polnische Agitation zu entrüsten,
höchstens von der Negierung Abhilfe zu erwarten und sie gelegentlich mit
Petitionen zu bestürmen, die gar keinen Erfolg haben konnten. Neuerdings
scheint man aber selbst handeln zu wollen; jedenfalls hat man den Bürger
der Stadt, der den Polen ein Haus für ihr Gymnasium vermietet hatte,
obgleich keine wirtschaftliche Nötigung dazu vorlag, da Wohnungsnot herrschte,
und der bis dahin eine angesehene Stellung in der Stadtvertretung einge¬
nommen und immer an allen deutschen Erklärungen tapfer teilgenommen hatte,
in zwei Wahlperioden hintereinander nicht wieder gewählt, weil er schließlich
auch noch den Bau der polnischen Volksschule möglich machte. Dieser Geschäfts¬
sinn war den Deutschen doch zu viel. Die Strafe kam zwar etwas post
t68wo, doch der Vorgang war immerhin löblich und für manchen lehrreich.
Das polnische Staatsgymnasium und die polnische Privatvolksschule in
Teschen genügen aber dem Agitatorenkomitee in Warschau noch nicht. Schon
im Jahre 1900 wurde der Beschluß gefaßt, auch eine polnische Lehrerbildungs¬
anstalt in Teschen zu errichten. Daß eine solche ganz überflüssig ist, versteht
sich von selbst, denn an der staatlichen Lehrerbildungsanstalt wird polnisch
als obligater Unterrichtsgegenstand gelehrt, und jeder Kandidat kann ans
Wunsch die Reifeprüfung in polnischer Sprache machen. Nach den Mitteilungen
der „Gwiazdka" wurden in den Jahren 1900 und 1902 für die polnische
Lehranstalt im ganzen 40817 Gulden gesammelt. Davon waren aus Warschau
30787 Rubel (38788 Gulden), aus Posen 3320 Mark, aus Galizien
25 Kronen und aus Schlesien 48 Kronen gekommen. Dazu ist doch kaum
noch ein Wort zu verlieren. Österreichisch-Schlesien gibt so gut wie gar
nichts, Galizien eigentlich noch weniger, aus Posen hat man über 3000 Mark
herausgelockt, und in Warschau gibt man sogar beinahe 40000 Gulden.
Rechnet man noch hinzu, daß aus Warschau für das Gymnasium schon mehr
als 33000 Gulden geschickt worden waren, so ergibt das eine Summe von
72000 Gulden für beide Anstalten, für die, nach den veröffentlichten Aus¬
weisen wenigstens, im ganzen nur 94255 Gulden gesammelt worden sind.
Außerdem hat der schon erwähnte Dr. Hnssewicz in Warschau für die polnische
Volksschule jährlich 6000 Kronen zur Verfügung gestellt und früher schon
zu Unterstützungszwecken für das polnische Gymnasium eine Stiftung von
10000 Gulden gemacht. Der österreichischen Regierung sind diese Dinge nicht
unbekannt, und man darf neugierig sein, wie sie sich weiter zu der Sache
verhalten wird. Es lag nahe, daß die polnische Agitation, nachdem ihr der
Versuch, das polnische Gymnasium dem Staate aufzuhängen, geglückt war,
nun dasselbe Experiment mit der polnischen Lehranstalt machen werde. Man
kam auch sofort beim Unterrichtsministerium um die Bewilligung einer polnischen
Privatlehrerbildungsanstalt ein. Dieses Gesuch wurde an den schlesischen
Landesausschuß geleitet, der es mit einem umfangreichen, ausführlich be¬
gründeten Beschluß ablehnte. Der schlesische Landcsschulrat erkennt den von
der „Macierz szkolna" vorgelegten, für Galizien geltenden Lehrplan und die
dort eingeführten Lehrbücher nicht an. Daraufhin hat das Unterrichts¬
ministerium das Gesuch aus formellen Gründen abgelehnt. Selbstverständlich
ist die Sache damit noch nicht abgetan, wenn auch der bekannte Abgeordnete
Dr. Michejda gesagt hat: Heuer geben wir mit der Lehrerbildungsanstalt Ruhe.
Ob dafür ein Wink des Polenklubs oder der Stand der Kasse der „Macierz
szkolna" maßgebend gewesen ist, dürfte für die Folge ziemlich gleichgiltig sein. So
Viel Mittel wird man immer aufbringen, als man bedarf, die Anstalt ins
Leben zu rufen, sie einige Jahre hinzuschleppen und sie dann dem Staate
aufzuhalsen, wie mau es mit dem Gymnasium schon gemacht hat. Dann wird
mit einer Realschule dasselbe Experiment versucht. Die Bedingung dafür
ist natürlich, daß der Staat sich das gefallen läßt, und das ist unter den
heutigen Verhältnissen und bei der Zcrspitterung, sowie der gänzlich un¬
praktischen und darum einflußloser Haltung der Deutschen wohl möglich. Sie
werden dann weiter darüber zetern, aber es kann ihnen niemand helfen,
solange sie das nicht selbst lernen. Daß die schlesischen polnischen Agitatoren
nicht warten werden, dazu haben sie selbst allen möglichen Anlaß. Sie wissen
zwar nicht, was sie mit den Schülern ihres polnischen Gymnasiums machen
sollen. Nach Galizien mögen wenige, denn „in Polen ist nichts zu holen,"
sagt das nur zu wahre Sprichwort. Doch das kümmert die Agitatoren wenig,
gerade Leute, die wenig gelernt und kein entsprechendes Auskommen haben,
eignen sich am besten dazu, die Volksmassen aufzuwühlen. Für die aus den
untern Klassen abgehenden Zöglinge ihres Gymnasiums würde der Lehrer¬
beruf sehr wünschenswert erscheinen, und schon darum wird man die Errichtung
der polnischen Lehrerbildungsanstalt betreiben. Die aus ihr hervorgehenden
Lehrer würden dann natürlich die allpolnische Propaganda in Ostschlesien ver¬
stärken, die ja die nicht gerade große Zahl galizischer Lehrer, die herüber¬
gekommen sind, meist schon eifrig fördert. Es kann dem schlesischen Landes¬
ausschuß bei der Anstellung neuer Lehrer nur Vorsicht anempfohlen werden.
Wenn man die bisherigen Erfolge der allpolnischeu Agitation im Herzog¬
tum Teschen ansieht, so sind sie nicht gerade beträchtlich, und sie haben ihre
stärkste Förderung zu der Zeit der Ministerien Badeni und Thun erfahren.
Aber auch während dieser Zeit haben die Aufreizungen der Bevölkerung zu
nationalen Forderungen, namentlich was die Sprache anlangt, kaum einen
Einfluß ausgeübt. Hochpolnische Schriftstücke sind ihr noch weniger ver¬
ständlich als deutsche, die aber seit undenklichen Zeiten als „kaiserliche" in
Achtung stehn. Der intelligente Bauersmann in Schlesien hat nicht die ge¬
ringste Lust, sich unter das Joch der galizischen Polen zu beugen, und hat
er auch jahrelang der Agitation gelassen zugesehen, so scheint er doch in
neuerer Zeit selbst dagegen aktiv auftreten zu wollen. Die Stellung der groß-
Polnischen Agitatoren ist schon recht schwankend geworden, und es fehlt nur
ein energisches Zusammenwirken der Deutschen und der deutschfreundlichen Ost-
schlesier, daß sie vollkommen gestürzt würden. Dazu ist allerdings die höchste
Zeit, denn sie haben für Nachwuchs gesorgt, der ihre Reihen verstärken wird,
wenn man sie jetzt nicht lichtet. Bis jetzt sind schon einige erfreuliche
Regungen gesunden Widerstands des polnischen Volkes gegen die allpolnischen
Agitationsherde in Ostschlesien zu bemerken gewesen. So hat im vergangnen
März die evangelische Gemeinde zu Teschen seit dreißig Jahren zum ersten¬
mal die nationalpolnische Clique, die die Herrschaft an sich gerissen hatte,
Mann für Mann hinausgewählt, darunter auch den Reichsrath- und Landtags¬
abgeordneten Dr. Michejda. Es wurden nur deutschfreundliche Kandidaten ge¬
wählt, und alle Förderer der polnischen Schulen usw. unterlagen. Das ist
eine deutliche Demonstration gegen die Führung der Herren, die Ostschlesien
der galizischen Unkultur dienstbar machen wollen, und die Geschäfte der natio¬
nalen Komitees in Warschau, Krakau und Lemberg besorgen. Eine vielleicht
noch derbere Niederlage erlitt die allpolnische Agitation im November 1902,
als ihr katholischer Führer (die Michejdas sind Protestanten) ?. Londzin bei
der Landtagswahl glänzend durchfiel; ohne daß von einer besondern Agitation
viel die Rede gewesen wäre, wurde der geachtete schlesische Landwirt Halfar
gewühlt. Mau will eben die wüste Hetze, die von einigen landfremden und
einheimischen politischen Strebern betrieben wird, durchaus nicht. Der mehr¬
fach erwähnte Dr. Michejda war bei der Landtagswahl nur mit zwölf Stimmen
Majorität gewählt worden, und es wäre bei einiger Anstrengung, namentlich
der Deutschen, wohl möglich gewesen, ihm das Mandat zu entreißen. Ähnlich
war es bei der letzten Reichsratswahl, wo Dr. Michejda in der Kurie der
Landgemeinden wohl mit ziemlicher Mehrheit gewählt wurde, aber sein Gegen¬
kandidat, ein polnischer Landmann, den man erst aufgestellt hatte, nachdem die
Wahlmännerwahlen schon vorüber waren, und für den erst in letzter Stunde
agitiert wurde, kam ihm in der Stimmenzahl sehr nahe.
Ostschlesien wäre gegen die allpvlnische Agitation, über die sich noch viel
sagen ließe, sehr leicht zu verteidigen. Seit der Reiz der Neuheit vorüber ist,
der anfangs das unbefangne Auge geblendet hatte, und seit man die Herren
in ihrer Tätigkeit gesehen und erkannt hat, wohin die Reise gehn soll, ist ihr
Nimbus hin. Es handelt sich nnr darum, durch eine Gegenagitation das
tiefe Mißtrauen der schlesischen Bauern gegen die einheimischen Agitatoren
— die galizischen mögen sie überhaupt nicht — dadurch zu festigen, daß man
sie von der Schädlichkeit der allpolnischen Agitation, mit deren Endzielen die
Leute klug zurückhalten, überzeugt und sie darauf aufmerksam macht, was sich
eigentlich dahinter verbirgt. Dazu gehört aber mehr politische Regsamkeit und
Arbeitsfreudigkeit, als sie die Deutschen in Ostschlesien in den letzten Jahr¬
zehnten entwickelt haben. Man rechnet immer auf eine „starke Negierung"
und hat sich bisher auf die Behauptung der Mandate in den Stadtbezirken be¬
schränkt. Die Landmandate sind jedoch bei der heutigen Stimmung auch zu
haben, nicht für die Deutschen, denen natürlich dabei die Führung zufallen
würde, aber für Vertreter der einheimischen deutschfreundlichen Bevölkerung.
Nach jeder Landtags- und Neichsratswahl flammt wohl das Feuer auf, und
es wird beschlossen, ein gemeinsames Wahlkomitee zu gründen, aber die Sache
scheitert jedesmal an persönlichen, lokalen und parteilichen Kleinlichkeiten, in
der Hauptsache aber an der Unlust zu politischer Arbeit. Es ist so recht
Österreich im kleinen! „Die Negierung soll es tun!" ist noch immer die
Phrase, an der alle politische Tatkraft erlahmt. Die Slawen sind rühriger,
und daher kommen ihre Erfolge, nicht von den Regierungen, wie gewöhnlich
und nicht immer nach bestem Wissen, behauptet wird. So lange man sich in
Ostschlesien nicht entschließt, das Land gegen den allpolnischen Angriff zu ver¬
teidigen, indem man nicht die Söhne des Landes in bequeme Stellungen nach
reindeutschen Provinzen abwandern läßt, sondern sie verpflichtet, im Lande zu
bleiben, damit nicht der Galizianer ihren Platz einnehme, so lange nicht dieser
feste Wille alle Deutschen und deutschfreundlichen Polen durchdringt. wird man
die allpolnische Agitation nicht los werdeu. Wenn dieser Wille vorhanden
wäre, wenn man nicht immer die eigne Untätigkeit zu beschönigen suchte, wäre
es gar nicht so weit gekommen. Leider liegt die Gefahr vor, daß die all¬
polnische Agitation Fortschritte macht, weil sie Nachwuchs zu erzengen ver¬
steht. Man ist auch schon in Preußen auf diese Verhältnisse aufmerksam ge¬
worden, und gewiß kann mau es dort nicht mit Gleichmut ansehen, wenn die
Negierung in ihrem Kampfe mit der Anmaßung des Polentums bemerken
muß, daß sich im befreundeten Nachbarland derselbe Gegner zur nationalen
Nberflügelung des Deutschtums anschickt. Besondre Gefahren für das Deutsch¬
tum wie für den Dreibund entstehn wohl daraus direkt noch nicht, aber die
ostschlesischen Deutschen konnten daraus scheu, daß ihnen in dieser Zeit ein
recht entscheidungsvoller Posten zugewiesen ist, und daß von ihrer Kraft oder
Schwäche politische Gestaltungen der Zukunft abhängen können und werden.
in 28. Mai erhielt der Gouverneur die Nachricht von dem Falle
von Danzig. Mit diesem Zeitpunkte wurde die förmliche Be¬
lagerung begonnen. Napoleon, der seine bisherigen Bemühungen,
Graudenz in seine Hände zu bekommen, als gescheitert ansehen
mußte, ließ nnn merken, daß ihm doch viel am Besitze der Festung
^g. Er verstärkte nämlich die Belagerungstruppen um 3000 Mann und beorderte
Zu ihnen französische Jngenieurofsiziere, Genietruppen und Geschütze. General
Victor, der in preußischer Gefangenschaft gewesen, aber gegen Blücher ausge¬
wechselt worden war, übernahm den Befehl. Weitere Verstärkungen trafen am
5- Juni ein in Gestalt von fünf Bataillonen Hessen, einem Regiment Würzburg,
einem Regiment Berg und zwei Bataillonen Polen. Die Gesamtzahl der Truppen
vor der Festung belief sich also auf etwa 7000 Mann. Am Abend des 1. Juni
bewarf der Feind vom Weichselbaum aus die Festung mit Geschossen, worauf
der Gouverneur gebührend erwiderte, indem er die Stadt, das Hmiptauartier
des Generals Victor, beschoß. Am nächsten Tage lief in der Festung der
folgende Brief Victors ein:
2' Juni 1807.
Wenn die Stadt Graudenz nur Soldaten in sich schlösse, so würde ich nicht
die Ehre haben, dieses Schreiben an Eure Exzellenz zu richten, aber sie wird von
Personen jedes Alters und Geschlechts bewohnt, die dem Waffenhandwerk und dem
gegenwärtigen Kriege durchaus fremd sind. Diese Erwägung bestimmt mich. Sie
Zu bitten, ihnen günstig zu sein. Ich finde -bis jetzt gar keinen Grund für die
strenge Züchtigung, die Sie über sie verhängen. Wenn es einen solchen gibt, den
ich heben kann, so würde ich Sie bitten, mich ihn wissen zu lassen.
Courbieres Antwort lautete:
An Se. Exzellenz, den französischen Divisionsgeneral,
Herrn v. Victor.
Festung Graudenz, den 3. Juni 1807.
Auf Euer Exzellenz sehr geehrtes Schreiben vom 2ten dieses ermangele ich
nicht, in ganz ergebenster Antwort zu erwidern, daß sich hier in der Festung eben¬
falls eine große Anzahl Individuen befinden, die nicht zu dem Verteidigungsstand
gehören. Da diese durch das Wurfgeschütz, von welchen Euer Exzellenz seit einigen
Tagen Gebrauch machen, allein leiden, weil die Garnison in bombenfesten Kase¬
matten einquartiert ist, so bin ich wider meinen Willen genötigt gewesen, Re¬
pressalien zu gebrauchen. Da nun durch ein Bombardement die hiesige Garnison
nichts leidet und die Eroberung der Festung Graudenz um keine Stunde hierdurch
verfrüht wird, so wird es lediglich von Euer Exzellenz abhängen, ob die unglück¬
liche Stadt Graudenz, die bereits so viel gelitten hat, noch mehr leiden wird
oder nicht.
Wenn Euer Exzellenz von dero Geschütz Gebrauch machen, um die hiesigen
Festungswerke und das daraufstehende Geschütz zu beschädigen, so werde ich der
unglücklichen Stadt Graudenz mit meinem Willen keinen Schaden zufügen; wenn
aber Euer Exzellenz für gut befinden, die hiesige Festung zu bombardieren, wodurch
nichts als wehrlose Leute leiden, so werde ich wider meinen Willen und Wünsche
genötigt sein, mit mehr Nachdruck, wie bishero geschehen ist, zu bombardieren, um
der dortigen Besatzung bemerklich zu machen, daß es unangenehm ist, in seinen
Kantonnierungsquartieren durch Wurfgeschütz beunruhigt zu werden.
Zugleich hatte auch der Magistrat der beschossenen Stadt durch den Justiz¬
bürgermeister Fischer brieflich um Schonung gebeten und diese Bitte bald darauf
noch in einer mündlichen Unterredung, die mit Genehmigung Victors erfolgte,
verstärkt. Am 3. Juli schrieb der General Victor wieder, wie folgt:
3. Juni 1807.
Die Festung, die Sie kommandieren, ist dazu bestimmt, bombardiert zu werden,
aber die friedliche Stadt Graudenz ist nicht in diesem Falle. Sie sind Herr, sie
zu verbrennen und die Einwohner darin zu vernichten, wenn dies so in Ihrem
Willen liegt. Ihre Erhaltung hat für uns kein andres Gewicht als das Interesse,
das die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit einflößen. Es ist dies aber kein Grund,
uns zu verhindern, die Festung anzugreifen, wie und wann wir wollen.
Courbiere erklärte sich darauf bereit, nicht mehr auf die Stadt zu feuern,
wenn der Feind das Feuer vom Schloßberge ans einstellen würde. Er wußte,
daß die Franzosen darauf eingehn würden, denn trotz der hohen Lage war die
Festung auf der Landseite von keinem Punkte zu sehen, da das Glacis mit
den Wällen wie eine aufsteigende Ebene erschien, in der sich nicht der geringste
hervorragende Punkt aus dem Innern der Festung zeigte. Die Festungswerke
sah man erst in unmittelbarer Nähe. Nur der Rauch, der aus den in den
Wällen ausmündenden Schornsteinen der Kasematten aufstieg, verriet die ge¬
waltige Festungsanlage. Sogar vom Kummel aus hielt es schwer, in das
Innere der Festung zu sehen. Dieser Kummel ist ein alter Turm auf dem
Schloßberge, der Überrest einer Deutschordensburg. Die französischen Ingenieure
hatten zwar durch die Errichtung eines Gerüstes auf dem Turme versucht, Ein¬
blick zu gewinnen, und hatten auch mit vieler Mühe Geschütz hinaufgewunden,
aber mehrere wohlgezielte Granaten aus der Festung hatten die Aussicht auf
eine artilleristische Verwertung des alten Turmes verdorben. Wie schwer es
übrigens dem Gouverneur geworden sein mußte, die Stadt zu beschießen, beweist
auch ein Brief, den er später an den Magistrat richtete. Am 21. August 1807
hatte der Magistrat nämlich um Courbiere den folgenden Brief geschrieben:
Euer Exzellenz Mut und Standhaftigkeit haben wir es lediglich zu danken,
daß unsere Stadt noch ferner das Glück genießt, den preußischen Staaten einver¬
leibt zu bleiben. Wir schätzen diese Wohltat mit echter patriotischer Ergebenheit
und tragen alle Gefahren und alles Ungemach des Krieges in der gewissen Hoffnung
eines baldigen Endes unserer Leiden und der unmittelbaren Unterstützung unseres
väterlichen Landesherrn. Euer Exzellenz ist es hinlänglich bekannt, daß unsere
Stadt die Kriegsübel Wohl am härtesten empfunden hat. Durch ungeheure Re¬
quisitionen und Erpressungen sind wir in eine Schuldenmasse von 300000 Talern
versunken, die wir allein nicht einmal zu verzinsen, geschweige zu tilgen imstande
sind. Wir erdreisteten uns schon vor wenigen Tagen, Euer Exzellenz die drückende
Lage, in welcher sich unsere Stadt befindet, vorzustellen und erhielten die trost¬
reiche Versicherung, daß Sie sich für sie bei des Königs Majestät verwenden
wollen. — Nur durch allerhöchste Unterstützung könnte diesem sonst so nahrhaften
Orte, der in ruhigen Zeiten allein an Aeeisegefällen mehr als 40000 Taler der
Königl. Kasse eingetragen hat, geholfen werden. Deshalb bitten wir Euer Ex¬
zellenz wiederholentlich um kräftige Fürsprache. Es geziemt uns zwar nicht, die
Art der Unterstützung vorzuschreiben, allein gegen Euer Exzellenz sind wir so frei
zu bemerken, daß, wenn des Königs Majestät nur einen Teil in barem Gelde für
jetzt geben könnte, der Stadt durch Tresorscheine, die bei allen Kassen umgesetzt
werden könnten, zu helfen wäre.
Dieses immerhin etwas dreiste Schreiben beantwortete Conrbiere am
11. September mit großem Wohlwollen folgendermaßen:
Ich habe das von dem Wohllöbl. Magistrat zu Graudenz an mir erlassenes
geehrtes Schreiben vom 21. v. Mes. wohl erhalten und ermangele nicht, darauf
in ergebenster Antwort zu erwidern, daß es mir leider nur zu sehr bewußt ist,
wie sehr die gute Stadt Graudenz und ihre rechtschaffenen Einwohner durch die
harte Behandlung unserer ehemaligen Feinde gelitten hat und noch leidet, und daß
ich mit Vergnügen alles beitragen werde, was in meinen Kräften steht, um ge¬
dachte Stadt zu dienen. — Da es nun beinahe ganz sicher ist, daß Se. Königl.
Majestät dero Rückreise nach Berlin über Graudenz nehmen und sich wahrscheinlich
hier einige Zeit aufhalten werden, so werde ich diese Gelegenheit ergreifen, um
Sr. Königl. Majestät das Maß der Bedrückungen zu schildern, welches die Stadt
Graudenz und ihre treue Einwohnerschaft erlitten und gewiß alles anwenden, was
ich tun kann, um Sr. Königl. Majestät zu disponieren, der Stadt Graudenz und
ihren patriotischen Einwohnern in ihrer bedrängten Lage so viel wie möglich be¬
hilflich zu sein.
Feste Graudenz, den 11. Sept. 1807.
Wir kehren zu den Ereignissen des Sommers zurück. Der König hatte
den Verteidiger voll Danzig, den General der Kavallerie Grafen von Kalckrenth.
zur Belohnung zum Generalfeldmarschall ernannt. Courbiere war darüber mi߬
gestimmt, denn Graf Kalkreuth war bedeutend jünger. Courbiere hatte als
Oberstleutnant in Pommern schon ein selbständiges Kommando gehabt, als Graf
Kalckreuth noch Sekondelentumit im Regiment Garde du Corps und Adjutant
des Prinzen Heinrich gewesen war. Deshalb richtete Courbicre am 2. Juni
ein Gesuch an den König, das dieser von Piktupöueu aus am 6. Juli gnädig,
aber vorläufig ablehnend beantwortete. Darauf wiederholte Courbiere sein Gesuch
am 16. Juli. Ju seinem Schreiben heißt es:
Dn Ew. Majestät mir einen Hintermann vorgezogen und nicht die Gnade
haben, diese mich so tief beugende Ungnade zu redressieren, so kann die Armee
nicht anders denken, wie Ew. Majestät mich nicht würdig halten, um Feldmarschall
von Allerhöchst dero Armee zu sein. Wie unglücklich dies einen Offizier machen
muß, der dem Staate 49 Jahre als Stabsoffizier gedient und sich jederzeit so
betragen, daß drei Monarchen und Ew. Majestät selbst mit meinen Diensten zu¬
frieden gewesen und dem die Ehre immer über alles heilig gewesen ist, können sich
Ew. Majestät selber leicht vorstellen.
Die vom 21. Juli aus Memel abgegcmgne Antwort des Königs lautet:
Ihr habt Euch durch die rühmliche Verteidigung der Festung Graudenz Meine
Achtung in dem Grade erworben, daß Ich daher gern Veranlassung nehme, Euch
hiermit zum Generalfeldmarschall Meiner Armee zu ernennen. Indem Ich durch
diese Beförderung Euren vieljährigen guten Diensten, Eurer Anhänglichkeit an
Meine Person und den Staat die gebührende Gerechtigkeit widerfahren lasse,
wünsche Ich, daß Ihr Euch überzeugen möget, wie sehr ich Eure Verdienste an¬
erkenne und Euch schätze, und daß es Euch nicht auf die entfernteste Weise zum
Präjudiz gereichen kann, wenn ich den General Grafen v. Kalckreuth früher zum
Generalfeldmarschnll befördert habe. Die glänzende Verteidigung der Festung
Danzig wird nicht bloß in der Geschichte des jetzt beendeten Krieges Epoche machen,
sondern auch in der Geschichte der Kriege überhaupt stets eine ehrenvolle Er¬
wähnung verdienen. Die Gerechtigkeit erfordert es also, denjenigen besonders aus¬
zuzeichnen, der diese Verteidigung geleitet hatte. Mit Vergnügen habe Ich Euch
diese Auszeichnung bewilligt, da Ihr Euch durch die gute Verteidigung der Festung
Graudenz ebenfalls hervorgetan habt. Die Umstände haben es indessen veranlaßt,
daß die Beförderung des Generals Grafen Kalckreuth eher erfolgt ist als die Eurige.
Und weil beide zu extraordinären Belohnungen bestimmt sind, so ist es nicht zu¬
lässig, dabei auf die Tour Rücksicht zu nehmen und letztere der ersteren vorzuziehen,
zumal Ihr bei dem jetzigen Zustande der Armee nicht in so nahes Dienstverhältnis
kommen werdet, daß Ihr Kollisionen besorgen durftet. Ich erneuere Euch übrigens
die Versicherung der besondern Wertschätzung, womit Ich jederzeit sein werde
Das Patent als Generalfeldmarschall wurde am 22. Juli unterzeichnet.
Am 4. Juni wurden die in Neudorf liegenden Belagerungstruppen ver¬
trieben, und das Dorf wurde in Brand gesteckt. Am 7. Juni erkannte man,
daß der Feind an acht Verschnnzungen arbeitete, die man unter gut gezieltes
und gut genährtes Feuer nahm. Inzwischen war der General Victor zur
Opcratiousarmee abberufen worden, und Rouyer hatte wieder den Befehl über¬
nommen. Am 8. Juni erhielt der Gouverneur anläßlich des Falles von Danzig
eine erneute Aufforderung zu Übergabe. Das Schreiben lautete:
Unter diesen Umständen ergreife ich die lange gesuchte Gelegenheit, Sie
der vollen Hochachtung zu versichern, die ich für den Ruf empfinde, dessen Sie
bei den preußischen und französischen Armeen genießen, indem ich Ihnen vor dem
völligen Ruin der von Ihnen befehligten Festung und dem Verluste niehrerer
Braver auf beiden Seiten die Kapitulation anbiete, die Ihre Beständigkeit für die
Interessen Ihres Königs und Ihre Talente in so gerechter Weise verdienen. Ich
erlaube mir in diesem Augenblicke nicht, Euer Exzellenz irgend etwas vorzuschreiben,
aber ich kann auf meine Ehre versichern, daß alles das, was der langen Freuud-
schnft zwischen unsern beiden Souveränen entspricht, die Basis des Vertrages sein
wird, zu deren Redaktion wir beiderseits Offiziere ernennen würden.
Courbicre antwortete fest, er wolle sich gerade durch die Verteidigung die
Zufriedenheit des Königs und die Hochachtung seiner Waffenbrüder erhalten
und werde die Festung erst übergeben, wenn ihn eine Bresche in seinen letzten
Berteidignngswerken oder der drückendste Mangel an Lebensmitteln hierzu zwinge.
Die Arbeit an den Belagernngswerken und das heftige Feuer auf beiden Seiten
wurden also fortgesetzt. Da der Feind in der Nacht zum 14. Juni seinen
rechten Flügel bis an das Weichselufer gebracht hatte und sich trotz der großen
Nähe von 700 Schritten durch das Feuer aus der Festung nicht abhalten ließ,
an den Verschanzungen weiter zu arbeiten, befahl der Gouverneur für die
Nacht zum 16. Juni eiuen Ausfall, den der Vizekommandant, Oberstleutnant
Borel, befehligte. Er hatte den Erfolg, daß der Feind überfallen, vertrieben
und die Arbeiten, so weit es die Zeit zuließ, zerstört wurden. Indessen fuhr
der Feind auf dem linken Ufer fort, Scharten einzuschneiden, die aber am 17.
und 18. Juni lebhaft beschossen wurden.
Am 20. Juni erneuerte Rouyer die Aufforderung zur Übergabe, indem er
die Nachrichten von den Schlachten bei Heilsberg und Friedland, sowie den
Fall von Königsberg mitteilte und ausführte, alle Länder bis zum Riemen
seien nun von den Franzosen besetzt; eine längere Verteidigung sei unnütz und
ohne jeden vernünftigen Zweck, da sie allen Grundsätzen der Humanität wider¬
spreche. Unbeugsam lehnte aber der alte tapfere Herr die Übergabe ab, indem
er erklärte, die Niederlagen der Russen stünden nicht in der geringsten Ver¬
bindung mit der Verteidigung der Festung; sie sei noch in demselben Zustande,
wie bei der letzten Aufforderung; er habe also zur Übergabe auch uicht den
mindesten Grund. Zugleich ließ er an diesem Tage, sowie am 22. und 23. ein
heftiges Feuer gegen die Arbeiten auf dem Galgenberge und gegen den feind¬
lichen rechten Flügel unterhalten. Am 24. wurde die mittlerweile vor dem
feindlichen rechten Flügel im Bau begriffne Wurfbatterie von dem Feuer aus
der Festung demontiert, und auf dem linken Flügel wurden zwei neue, gegell
das weit vorspringende Hornwerk eingeschnittene Schanzen zerstört. Auch in
der Nacht schwieg das Feuer nicht ganz. In der Nacht vom 27. zum 28. hob
der Feind mit großer Anstrengung die zweite Parallele aus. Die erste Parallele
bestand nur in unzusammenhüngenden Emplacements und Batterien und in
einem kurzen Stücke einer eigentlichen Parallele. Die Festungsartillerie blieb
der feindlichen im allgemeinen überlegen und verursachte schwere Beschädigungen,
die die Franzosen in der Nacht nur ungenügend ausbessern konnten, wobei sie
auch noch durch die Allsfälle der Jäger gestört wurden. Auch am 29. und
30. wurde das Feuer lebhaft fortgesetzt. Da wurde die kriegerische Tätigkeit
unerwartet durch das Erscheinen des Obersten Ayine unterbrochen, der am
30. ein Schreiben Rouyers überbrachte, das eine Abschrift des zwischen Preußen
und Franzosen vollzognen Waffenstillstands enthielt. Die Abschrift war in¬
dessen ungenau, da sie nicht den Abschnitt enthielt, wonach die Feindseligkeiten
erst nach vierwöchentlicher Aufkündigung wieder eröffnet werden sollten. Erst
am folgenden Tage traf aus dem königlichen Hauptquartier Piktupöueu der
richtige Wortlaut ein.
Trotz der augenblicklichen Waffenruhe war die Festung in eiuer schwierigen
Lage. Die Verproviantierung war von Haus aus nur für vier Monate vor¬
gesehen gewesen. Die Blockierung und die Belagerung dauerten aber schon
fünf Monate. Durch verschiedne Mittel, auch die werktätige Hilfe vaterländisch
gesinnter Einwohner, war jedoch die Verpflegung bis Ende Juli gesichert worden.
Von da ab waren alle Vorräte erschöpft. Nur Brotkorn war noch für längere
Zeit vorhanden. Man konnte aber die Garnison wegen der etwa 700 unzu-
friedncn und unsichern Polen nicht nur auf Brot setzen. Dazu hätte hin¬
gebende Treue gehört. Courbiere erbat deshalb am 2. Juli von Nouyer eine
Unterredung, um ihn zu bewegen, die Verpflegung der Festung zu gestatten.
Nouyer aber machte Einwendungen. Er erklärte, keine Anweisung für diesen
Fall zu haben und der kaiserlichen Ermächtigung zu bedürfen. Deshalb sandte
Courbiere den Leutnant von Leslie an den König mit einem Schreiben, worin
er die Lage der Festung schilderte und um Verpflegungsgelder bat. Die Genernl-
kriegskasfe wurde infolgedessen angewiesen, 22000 Taler an das Gouvernement
zu zahlen, und auch die Lieferung der erhellten Arzneien wurde versprochen.
Beides gelangte denn auch nach dem Frieden in die Festung.
Am 16. Juli kam die Nachricht von dem am 9. Juli abgeschlossenen Frieden
von Tilsit an die Vorposten der Festung. Vergeblich wartete der Gouverneur
auf nähere Kunde und schickte dann einen Brief an Nouyer. Darin bat er ihn,
er möge, wenn der Friede tatsächlich feststehe, von dessen Zustandekommen und
Bedingungen in der Festung nichts bekannt sei, die Besatzung aus den Parallelen
ziehen und ihm Arzneimittel aus der Stadt Graudenz senden. Nouyer antwortete
daraufhin aus Stremotzin am 17. Juli. Der Brief lautet im Auszug folgender¬
en-
In Erwiderung des Schreibens, das Euer Exzellenz am 16. laufenden Monats
an mich gerichtet haben, antworte ich, daß alle Arzneimittel, die Graudenz liefern
laute, heute an Sie abgesandt worden sind. Was aber Dero Forderung betrifft,
daß ich die Trnnchee verlassen soll, so verweise ich Dieselben auf den Wortlaut des
Waffenstillstands. Sie scheinen von den Friedensartikeln Kenntnis zu wünschen,
und ich beeile mich deshalb, Euer Exzellenz eine Abschrift davon zu übersenden.
Die Übersendung der Friedensbestimmungen ein Courbiere mutet wie eine
Verhöhnung an, dn sich Rouyer zugleich weigerte, die Parallelen zu verlassen.
Die Franzosen hatten, wie aus dem Friedensinstrmnent klar hervorgeht, vor
Graudenz nichts mehr zu suchen. Der Gouverneur drückte also in einem
Schreiben vom 18. seine Verwunderung über die hartnäckige Fortsetzung der
Blockade aus. Der Brief lautet im Auszuge:
Wahrend des Waffenstillstands war es natürlich, daß die Trancheen besetzt
blieben. Ebenso natürlich dagegen ist es, daß nach dem formellen Abschluß des
Friedens diese Besetzung durch ehemals feindliche Truppen (par Ses troupog ^als
önuömies) aufhöre, und es ist dies wahrscheinlich das erste Beispiel in der Ge¬
schichte, daß ein General, der zur Belagerung eines Platzes bestimmt war und der
die Trancheen davor eröffnet hat, hartnäckig darauf besteht, sie auch noch nach dem
formellen Abschluß des Friedens besetzt zu behalten. Wie dem aber auch sei, wenn
Euer Exzellenz darauf beharrt, die Trancheen besetzt zu halten, so werde ich auch
meinerseits fortfahren, meine Posten so zu besetzen, daß die Nachbarschaft fremder
Truppen so nahe bei meiner Festung mir nicht die geringste Unruhe einzuflößen
vermag. Euer Exzellenz werden also durch Ihre Maßregeln nichts gewinnen, als
das Vergnügen, unsre Truppen unnützerweise anzustrengen und den Kennern, die
hier vorbeipassieren, die Frage aufzudrängen, warum zwei vernünftige Generale
(äsux xizllSi'aux son^s) dieselben Maßregeln, die sie beim Beginn der Belagerung
anwandten, auch noch beibehalten, nachdem ihre Souveräne Frieden miteinander
geschlossen haben.
Übrigens schrieb Courbiere, obgleich er das Deutsche nur mangelhaft sprach
und schrieb, während der Belagerung nur deutsch, um dem Feinde auch nicht
das geringste Zugeständnis zu machen, nach dem Frieden aber französisch, da
er damals ein höfliches Entgegenkommen zeigen durfte, ohne unrichtige Erwar¬
tungen zu erwecken.
Am 21. Juli traf der Major-General der französischen Armee, Marschall
Berthier, aus der Durchreise in der Stadt Graudenz ein. Courbiere, der davon
Kenntnis erhalten hatte, benutzte die Gelegenheit, sich an ihn zu wenden, um
sich über Nouyers Hartnäckigkeit und Verletzung des Völkerrechts zu beklagen.
Er wünschte dessen Verfahren abgestellt zu sehen und erklärte, die Festung sei
noch auf vier Monate verproviantiert, also weit über den 1. Oktober hinaus,
wo die gesamten preußischen Lande vertragsmäßig geräumt sein müßten; die
feindseligen Maßregeln belästigten nur die Privatpersonen und verursachten oder
beschleunigten den Tod von Kranken.
Wie es scheint, wußte Courbiere dabei noch gar nicht einmal, daß nach
der am 12. Juli in Königsberg abgeschlossenen Konvention das gesamte rechte
Weichselufer schon am 20. August geräumt sein sollte, daß sich also von Rechts
wegen kein Franzose oder Rheinbündler an diesem Tage noch in der Stadt
Graudenz und im Festuugsbereich aufhalten durfte. Berthier dagegen mußte
das wissen, denn er selbst hatte ja mit dem Grafen von Kalckreuth die Königs¬
berger Konvention abgeschlossen. Für die Beurteilung Berthiers ist es also
ungemein bezeichnend, daß er dem General Rouyer ausdrücklich die Aufhebung
der Blockade und die Räumung der Trancheen verbot, während er Courbiere
benachrichtigte, er werde von Thorn eins Antwort schicken. Diese Antwort aber
traf niemals ein. Am 22. Juli teilte Nouyer dem Gouverneur diese Ent¬
scheidung Berthiers mit und willigte zugleich darin ein,, daß zwischen den Vor¬
posten ein Marktverkehr eröffnet werden sollte. Courbicre berichtete über den
Stand der Dinge an den König und bat um Verhaltungsmaßregeln für die
Zukunft. Die Verpflegung war mit Mühe bis Mitte September gesichert
worden; der Feind aber wollte augenscheinlich das ganz Unerhörte tun, d. h.
die Übergabe der Festung mitten im Frieden durch Hunger herbeiführen.
Am 27. Juli erhielt Courbiere von preußischer Seite ein Exemplar des
Tilsiter Friedensinstruments und der Königsberger Konvention. Danach sollte
am 20. August das rechte Weichselufer geräumt sein und nach Artikel 4 der
Konvention „keine vor Auswechslung der Ratifikation nicht öffentlich bekannt
gewesene Kontribution Giltigkeit haben." Rouyer zog erst in der Nacht vom
19. auf den 20. August ab, aber nicht ohne zuvor ganz gegen die Bestimmungen,
wie Courbiere in dem Bericht an den König erwähnt, „die Stadt Graudenz
auf die härteste und grausamste Weise durch immer neue Requisitionen gedrückt
und diese Requisitionen durch strenge Exekutionsmittel beigetrieben zu haben."
Courbiere bezeichnet Nouyer in diesem Berichte geradezu als „einen unmensch¬
lichen Räuber."
Nach dem Artikel 2 des Tilsiter Friedens sollte die Stadt und Festung
Graudenz nebst den Dörfern Neudorf, Pcirskau und Swierkoszin bei Preußen
verbleiben, wodurch für die Festung ein Verteidigungsrayon gewonnen werden
sollte. Die Franzosen aber legten zu ihren Gunsten diese Bestimmung so aus,
daß das Flüßchen Trienke die neue Grenze sein sollte. Danach gehörte zwar
die Stadt Graudenz, aber nicht ihre südliche, sogenannte Thvrner Vorstadt zu
Preußen, und die Grenze lief so nahe an der Festung vorbei, daß das kleinste
Kaliber hinüberreichte. Darum ließen die Franzosen anch nach ihrem Abzüge
noch die Thorner Vorstadt durch sächsische Truppen besetzen und sächsische Vor¬
posten im Geschützbereich der Festung stehn.
Am 21. Angust zeigte der Kommandant der Sachsen, Generalmajor von
Polentz, an, er habe Befehl, die ganze Stadt Graudenz wieder durch fünf
Bataillone Infanterie zu besetzen. Courbiere hatte vom König die Ernennung
zum Gouverneur von Westpreußen erhalten und sollte sich nach Marienwerder
begeben, sah sich jedoch durch die eben mitgeteilten Verhältnisse genötigt, vor¬
läufig seine Abreise zu verschieben. Die an den König über den Zustand der
Festung am 21. August erstattete Meldung ließ er durch den Jngerleutnant
de Marees mündlich erläutern. Man hatte erfahren, die Festung solle wieder
von aller Zufuhr abgeschnitten und aufs neue eng blockiert werden, und der
Feind beabsichtige, bei Mockerau, in unmittelbarer Nähe der Festung, ein Lager
zu beziehn. Dabei waren Lebensmittel in der Festung nur bis Mitte Sep¬
tember vorhanden. Obwohl sich nun zwar die Nachrichten von den Absichten
des Feindes nicht bestätigten, so blieb doch jeder Verkehr nach außen gehemmt,
und dazu drohte die Aussicht auf eine offene Meuterei der polnischen Besatzungs¬
truppen. Es war nämlich durch die Sachsen die Nachricht in die Festung
gelangt, daß alle neuostpreußischen und südpreußischen, sowie die aus der
Danziger Gegend und dem Herzogtum Warschau stammenden Soldaten auf
königlichen Befehl entlassen werden sollten. Da nun ein großer Teil der
Festungsinannschaften gerade ans solchen Leuten bestand, so machte der Geist
der Empörung mit jedem Tage die Lage schwieriger. Am 2. September deser¬
tierten 70 Mann mit ihren Waffen zu den Sachsen. Sie wurden anfangs von
den sächsischen Vorposten irrtümlicherweise beschossen, dann aber freundlichst
aufgenommen. In dieser ernsten Lage berief Courbierc alle Bataillonschefs und
Kommandeure, um über den Grad der Unzuverlässigkeit ihrer Truppenteile
Pflichtmäßige Auskunft zu erhalten. Das Ergebnis war sehr betrübend, und
infolgedessen wurde der Beschluß gefaßt, trotz der andauernden Blockade alle
Soldaten polnischer Nation zu entlassen. Demzufolge wurden 791 Mann an
diesem Tage und den folgenden den Sachsen übergeben. Am 4. September
kehrte der Leutnant de Marees mit einem vom 30. August datierten königlichen
Befehl zurück. Darin hieß es, es solle für die Konservierung der Festung unter
allen Umständen gesorgt werden; die Anweisung von Geldern werde erfolgen.
Noch an demselben Tage berichtete Courbiere an den König, Seine Majestät
könne sich darauf verlassen, „daß der hiesige Gouverneur alles tun wird, was
Allerhöchstdieselben von treuen Dienern erwarten können, um die uns anver¬
traute Festung, so lange es nur immer möglich sein wird, zu konservieren."
Trotz der Wachsamkeit der Sachsen gelang die Einführung einiger Wispel
Korn und etlicher Schlachtochsen. Bis Ende September also war die Ver¬
pflegung wieder notdürftig gesichert. Obwohl um zwar keine Feindseligkeiten
erfolgten, dauerte die Blockade und die Besetzung der Parallelen gegen jedes
Völkerrecht fort. Die sächsischen Offiziere mochten das Ungesetzliche der ihnen
aufgenötigten Handlungsweise fühlen und wollten diese Empfindung zur Geltung
bringen. Sie fanden freilich ein höchst sonderbares Mittel dazu, indem sie
einen Ball in Graudenz vorbereiteten und dazu die Offiziere der Festung ein¬
luden. Selbstverständlich lehnte der alte Courbierc diese Zumutung rundweg
ab. Übrigens lagen die Verhältnisse zwischen den Festungstrnppen und dem
Blockierungskorps recht eigentümlich. Zwei Neffen des Obersten von Obernitz
nämlich standen vor der Festung in sächsischen Diensten, und von zwei Brüdern
von Petrilowski war der eine sächsischer Offizier bei den Blockiernngstruppen,
der andre preußischer in der Festung. Bei so engen Beziehungen bahnte sich
deshalb allmählich eine Art von Verkehr an, der an und für sich nach dem
Abschlüsse des Friedens auch nicht bedenklich war. Dabei aber blieben die
Trancheen besetzt, wenn auch die Batterien ohne Geschütze waren, und die Vor¬
posten standen einander nahe, wie im Kriege. Da Feindseligkeiten von den
Preußen vermieden werden mußten, war es nicht möglich, Proviant mit Gewalt
beizutreiben, vielmehr mußte er heimlich bei Nacht auf der Weichsel eingebracht
werden. Dazu herrschte Geldmangel; die öffentlichen Kassen waren nahezu er¬
schöpft, und die Verpflegungsgelder konnten nur in geringen Raten an das
Gouvernement gezahlt werden. Dieser unerquickliche Zustand dauerte bis in den
Dezember hinein. Am 3. Dezember erst zogen die Sachsen ab. Sofort aber
rückten wieder Franzosen in die verlassenen Stellungen ein. Sie handhabten
die Blockade noch strenger, um offenbar durch die Not die Übergabe des einzigen
festen Punktes an der Weichsel zu erzwingen, der noch in preußischen Händen
war. Immer wieder aber gelang die Einführung von Lebensmitteln in die
Festung und vereitelte die widerrechtlichen Bemühungen des Feindes.
Am 12. Dezember endlich — nach elfmonatiger Einschließung — räumte
der Feind die Stadt Graudenz und das Festuugsgebiet und zog sich hinter die
neue Grenze zurück. Aber auch so blieb die Lage der Festung mitten im
Frieden noch gefährdet, denn die Grenze lag sehr nahe, und eine Grenzbesetzung
kam in ihrer Wirkung einer Blockade beinahe gleich. Bei den politischen Ver¬
hältnissen dieser Zeit lag übrigens auch ein Handstreich nicht so ganz außer
dem Bereich der Möglichkeit, denn durch die Abtretung von Danzig, wo
30000 Franzosen jederzeit marschbereit standen, war die militärische Bedeutung der
Festung Graudenz noch außerordentlich gewachsen. Graudenz trennte Thorn und
Danzig voneinander und beherrschte so den Verkehr auf der Weichsel. Wäre
die Festung verloren gegangen, so wäre es um den Zusammenhang der Pro¬
vinzen rechts und links der Weichsel geschehn gewesen. Der König genehmigte
deshalb die Anwesenheit des Gouverneurs in Graudenz, damit er für alle Fälle
gleich zur Hand sein konnte. Courbiere leitete also von Graudenz aus die Ge¬
schäfte des Gouvernements von Westpreußen. Der König machte übrigens dem alten
Helden die Freude, daß er ihm das Regiment Courbiere Ur. 58 als Garnison in
die Festung legte. Dieses Regiment war an der tapfern Verteidigung von Danzig
rühmlichst beteiligt gewesen und hatte bewiesen, daß sein greiser Organisator es
verstanden hatte, den Sinn für Ruhm und preußische Waffenehre im Offizier¬
korps zu erhalten und zu vertiefen. Wie ganz anders vielleicht wäre die Ge¬
schichte der Belagerung von Graudenz verlaufen, wäre dieses tüchtige Regiment
schon früher in der Festung gewesen! Seit der neuen Heeresorganisation von
1808 hieß das Regiment zwar zweites Westpreußisches Infanterieregiment, er¬
hielt aber auf Courbieres Bitte unter dem 27. Juli die königliche Zusicherung,
daß es Cvurbieres Namen tragen solle, solange dieser selbst lebe. Das geschah
denn auch. Im Jahre 1817 verlieh es der König seinem zweiten Sohn, dem
Prinzen Wilhelm, und seit 1861 führt es den Namen Grenadierregiment König
Wilhelm der Erste (zweites Westpreußisches) Ur. 7. Das seit 1889 den Namen
Courbiere tragende Infanterieregiment (zweites Posensches) Ur. 19 wurde 1813
als siebentes Neserveregiment aus Abgaben des zweiten Westpreußischen, also
des alten Regiments Courbiere, errichtet.
Das Regiment aber blieb zum Bedauern seines Inhabers kaum ein Jahr
in der Festung, denn es wurde infolge seiner Zugehörigkeit zur westpreußischen
Brigade mit dieser im Januar 1809 nach Schlesien versetzt. An seine Stelle
trat das vierte Ostpreußische Infanterieregiment, und der Chef der neuen west¬
preußischen Brigade, der Generalmajor vou Aork, wurde der unmittelbare Unter¬
gebne des alten Courbiere. Droysen stellt in seiner Geschichte Yorks von Warten¬
burg (1. Band, S. 241. Berlin 1851) Courbiere als einen hinfälligen, alters¬
schwachen Herrn hin, der unter dem Einflüsse seiner Kinder gestanden habe.
Das ist entschieden unrichtig. Jork war bekanntlich zu allen Zeiten ein sehr
schwieriger Untergebner. Wenn nun Courbiere in Marienwerder weilte, ordnete
Uork öfter Dinge an, die Courbiere, der seine Stellung durchaus nicht als eine
Sinekure ansah, nicht gefielen. So kam es, daß der alte Herr seinem Briqade-
chef oft recht unbequem wurde. Die Charaktere beider Männer waren einander
ähnlich: beide hatten ihre Laufbahn an der Spitze leichter Fußtruppen be¬
gonnen, beide waren eisenfeste Soldaten aus der altpreußischen Schule, und
beide wollten ihren Willen innerhalb ihrer dienstlichen Befugnisse mit voller
Entschiedenheit durchsetzen. Zwischen zwei so ähnlichen Charakteren war eine
Zuneigung wohl nicht gut möglich, wie jn bekanntlich eine solche auch
zwischen York und Blücher nicht bestand; wohl aber bestand eine gegenseitige
Achtung, und das Urteil Droysens ist durch keine Äußerung aus Yorks
Munde gestützt.
Im Winter 1809 kam der König auf seiner Reise von Marienwerder nach
Berlin durch Graudenz. Bei dieser Gelegenheit sah Courbiere seinen königlichen
Herrn zum letztenmal. Am 1. Februar verlor der alte Feldmarschall seine
treue Gattin, aber schon nach einigen Jahren, am 23. Juli 1811, folgte er ihr
im Tode nach. Er hatte sein Leben auf 78^ Jahre gebracht. Die gemein¬
same Gruft liegt im Innern der Bastion III, wo Courbiere oft seinen Stand¬
ort bei der Beobachtung der Belagerung hatte. Von seinen fünf Söhnen standen
vier 1813 im Felde, zwei davon als Landwehrbataillonskommandeure; der
älteste und der dritte ließen im Freiheitskampf ihr Leben. Gleich nach dem
Frieden, am 26. Mai 1815, wurde dem alten Helden von Graudenz auf könig¬
liche Kosten ein einfaches, aber würdiges Denkmal gesetzt. Es trägt die Inschrift:
„Wilhelm Reinhard de l'Homme de Courbiere, Königl. Preuß. Generalfeld¬
marschall und Gouverneur von Graudenz, geboren 23. Februar 1733, gestorben
23. Juli 1811. — Ihm, dem unerschütterlichen Krieger, verdankt König und
Baterland die Erhaltung dieser Feste." Seit 1893 hat die ehemalige Zitadelle
der Festung zum ehrenden Gedächtnis des alten Helden den Namen „Feste
Courbiere" erhalten.
Durch Conrbicres tapfere Tat und unbeugsame Entschlossenheit wurde
freilich der Gang der großen geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit nicht aufge¬
halten und in andre Bahnen gelenkt; er wurde von andern Umstünden be¬
stimmt. Das aber muß rühmend als das hohe und unsterbliche Verdienst
Courbieres hervorgehoben werden, daß dnrch seine heldenhafte Verteidigung von
Graudenz Mut und Selbstvertrauen wieder aufgeweckt wurden, und daß trotz
des furchtbaren Niederbruchs und des grenzenlosen Elends im Preußenlande
die Hoffnung auf bessere Zeiten aufrecht erhalten wurde.
s ist oft nachgewiesen worden, daß die literarischen Selbstporträts
! bedeutender Persönlichkeiten viel an Ähnlichkeit zu wünschen übrig
lassen. Vertrauliche Mitteilungen, Memoiren, briefliche Ergüsse,
insbesondre feierlich abgelegte reumütige Geständnisse muß man
!auch von den berühmtesten Bußfertigen mit Vorsicht annehmen.
Denn niemand kennt sich selbst. Dagegen enthalten zum Ersatze die Werke
hervorragender Schriftsteller ungetrübte Reflexe echter Augenblicksstimmungen.
Sobald sich ein aufmerksamer Leser in die innerste Art eines Autors vertieft,
wird er ungeahnte Schätze heben und mit ihrer Hilfe die Lücken der Biographien
ausfüllen können.
Über George Sand (Aurore Dupin 1804 bis 1876) ist viel geschrieben
worden. Es fehlt weder an Material zu ihrer Lebensbeschreibung noch an be¬
deutenden französischen und ausländischen Interpreten ihres Genies. Aber die
Fülle ihrer Werke und der freimütig darin aufgespeicherten Lebensansichten er¬
möglicht, ja berechtigt zu einer noch schärfern Beleuchtung ihres Charakters und
ihrer geistigen Anlagen. Einige bekannte Daten ihrer Biographie werden unsrer
Betrachtung gelegentlich als Anhaltspunkte dienen. Im Jahre 1822 vermählte
sich die achtzehnjährige Aurore Dupin mit dem ehemaligen Obersten Baron
Dudevcint. Diese Ehe entbehrte bald jeder Harmonie, und ein 1834 ange¬
strengter, ärgerliches Aufsehen erregender Ehescheidungsvrvzeß sicherte der jungen
Frau schließlich neben der seit einigen Jahren fest behaupteten individuellen
Freiheit die gesetzlich anerkannte wirtschaftliche Unabhängigkeit. An diesem Wende¬
punkt ihres Lebens liegt eine Frage nahe: Wie hat sich George Sand, wenigstens
nachträglich, ihre Handlungsweise bewußt zurechtgelegt? Man muß bedenken,
daß Aurore nach dem Tode der feingebildeten Großmutter auf Veranlassung
ihrer Mutter mit einer gewissen Passivität in die Ehe getreten war. In welt¬
fremder Verkennung der Wichtigkeit dieses Schrittes reichte sie einem ungeliebten
Manne die Hand. Als Mutter zweier Kinder verließ sie das Haus des Gatten,
ohne jemals Reue über dieses Wagnis zu empfinden. Niemals hat sich wohl
in ihrer Seele, ganz im Gegensatze zu Madame Stael, der Wunsch nach einem
neuen Ehebunde geregt. An ein pekuniär sorgenfreies Dasein gewöhnt, nahm
sie unerschrocken den Kampf um ein selbständiges Leben auf. Solche eigen¬
mächtigen Umgestaltungen des Frauenlebens gelten für unerhört. Dieses trotzig
begehrte Sichausleben im Weltstrudel einer überdies Mutter gewordnen Gattin
scheint auf den ersten Blick einen Mangel sittlicher Kraft zu bekunden. Aber
George Sand zimmerte sich schon vor Ibsens Nora eine der Bedeutung ihrer
Persönlichkeit angemessene Lebenstheorie zurecht, indem sie namentlich am Anfang,
insbesondre wahrend der ganzen ersten Periode ihrer Schriftstellerlaufbahn, leb¬
haft Protest erhob gegen die vernachlässigte Erziehung der Mädchen in den
höhern Gesellschaftskreisen und die sich daraus notwendig ergebenden schweren
Übelstände. Die ganz planlose Lektüre der Mädchenjahre George Sands zeigt
schon, wie hilflos sie nach einer bessern Erkenntnis der Hauptlebensfragen suchte.
In ihren Erstlingsromanen findet man verschiedne Äußerungen, die sich auf
konkrete Fälle einer argen Verkümmerung der weiblichen Geistesfühigkeiten be¬
ziehen. Für die verständige Weltanschauung der Verfasserin sind sie bezeichnend
und für die Gegenwart nicht ohne Interesse. In IrräixwA (1831) wird der
Bildungsgrad der unglücklichen Heldin mit einer gewissen Ironie gekennzeichnet:
„Unwissend wie eine echte Kreolin hatte Frau Delmare bisher noch niemals
daran gedacht, solche ernsten Interessen abzuwägen, wie sie jetzt alle Tage vor
ihr erörtert wurden. Sie war von Sir Ralph erzogen worden, der von der
Intelligenz und der Logik der Frauen nur eine mittelmäßige Meinung hatte (weil
er sie alle nach seiner eignen Mutter beurteilte) und ihr deshalb nur einige
Positive Kenntnisse von praktischem Nutzen übermittelte. Sie kannte deshalb
die Weltgeschichte nur in ihren äußersten Umrissen, und jede ernste Be¬
sprechung bereitete ihr tödliche Langeweile." In Valentin«? äußert sich die
Dichterin noch schärfer und ausführlicher. Ohne sich in dieser Periode ihres
Lebens schon mit sozialen Fragen zu beschäftigen, weist sie nachdrücklich darauf
hin, daß sogar ernste Staatsumwälzungen und Verschiebungen überlebter Ver¬
hältnisse nicht zum Anstoß werden, die schwankende Existenz der oft gegen ihren
Willen auf eigne Füße gestellten Frau der höhern Stände durch vertiefte Jugend-
bildung zu sichern. Da die Regierung von jeder den Ansprüchen des stärkern
Geschlechts entsprechenden Fürsorge für die Frauen absieht, greift die nach¬
denkende Valentine zur Selbsthilfe. Sie wächst heran unter den Augen der mit
einer gewissen Biederkeit liebäugelnden Aristokratin der Revolutionszeit, ihrer
Großmutter, und einer Emporkömmlingin des Empire, ihrer Mutter. Sie hat
viel gehört von dem Emigrantenelend in Koblenz und von dem tollen Ver-
gnügnngsrausche nnter Marie Louise. Ihr ernster Sinn führt sie von selbst
auf den richtigen Weg. Sie erzählt, daß sie sich ausschließlich der Malerei
gewidmet habe. „Denn in den Zeiten, in denen wir leben, bedürfen wir einer
ganz ausgebildeten Fähigkeit. Unsre Lebensstellung, unser Vermögen ist unsicher.
Vielleicht wird der Staat in einigen Jahren mein väterliches Erbteil, den Land¬
besitz von Raimbanlt, konfiszieren, wie schon einmal vor fünfzig Jahren. Die
Erziehung, die man uns Mädchen angedeihen läßt, ist jämmerlich; von allem
erhalten wir kaum die Elemente; man erlaubt uns keinerlei Vertiefung. Wir
sollen gut unterrichtet sein, aber an dem Tage, an dem wir für gelehrt gelten
könnten, droht uns die Lächerlichkeit. Man erzieht uns immer für den
Reichtum, niemals für die Armut. Die bornierte Erziehung unsrer Gro߬
mütter war immer noch um vieles besser; sie konnten wenigstens stricken. Die
Revolution fand in ihnen mittelmäßige Frauen vor, sie fügten sich geduldig
darein, als Frauen des Mittelstands zu leben. Ohne Sträuben verdienten sie
ihren Lebensunterhalt mit Flickarbeit: was würden wir anfangen mit unsrer
ungenügenden Kenntnis des Englischen, des Zeichnens, der Musik, mit unsern
Holzmalereien, Aquarellverzierungen von Ofenschirmen, Sammetblumen und vielen
andern kostspieligen Nichtigkeiten, die die Luxusverbvte einer Republik sofort
außer Gebrauch setzen würden? Welche Dame unsers Standes würde sich ohne
Kummer zur Ausübung eines rein mechanischen Berufs herbeilassen? Denn auf
zwanzig unsrer Damen kommt kaum eine einzige, die auf irgend einem Gebiete
gründliche Kenntnisse hätte. Meiner Ansicht nach könnten sie höchstens Kammer¬
jungfer werden. Aus den Berichten meiner Großmutter und meiner Mutter
(zweier so völlig entgegengesetzter Existenzen der Emigrantenzeit und des Empire,
Koblenz und Marie Louise) habe ich frühzeitig die Lehre gezogen, daß ich eben¬
sosehr auf der Hut sein müsse vor den Entbehrungen der einen wie dem Über¬
flusse der andern. Und sobald ich einigermaßen nach eignem Gutdünken handeln
durfte, merzte ich die Talente aus, die mir keinen Gewinn versprachen. Meine
volle Kraft widmete ich einem einzigen, weil ich bemerkt hatte, daß jeder sich
der Zeit und der Mode zum Trotz in der Welt zu behaupten vermag, sobald
er ein Ding von Grund aus versteht."
Wir können, durch G. Sands Histoirs als eng, vis bestärkt, die zitierten
Äußerungen getrost als eine spontane, nur teilweise verschleierte Klage der
angehenden Schriftstellerin auffassen, die nach allen Richtungen hin Lücken in
der eignen Bildung spürte und nur durch die elementare Kraft ihres Genies
und die damit verbundne rücksichtslose Offenheit ungeahnte Ziele erreichte.
Hat sie jemals in intimen Augenblicken Musset gegenüber Unzufriedenheit ge¬
äußert über die Schwierigkeiten, die ihr anfangs aus mangelndem Wissen
erwuchsen? Eigentümlich berührt auf alle Fülle die schadenfrohe Äußerung
Paul de Müssets in dem wenig großmütiger Ilui et Mle-, daß die Dichterin
dank ihrer Mädchenerziehung nur eine Schwinge ihres Talents regen gelernt
habe. In ^eciues (1834) stoßen wir auf eine neue, für die Selbstbespiegelung
der Dichterin charakteristische, revolutionäre Meinungsäußerung. Sie hält die
Ansicht für falsch, daß ein Mann mit dreißig Jahren, was Erfahrung und
Urteilskraft betrifft, jünger sein soll als Frauen von zwanzig. „Der Mann ist
genötigt, sich für einen Beruf auszubilden, sich eine Stellung in der Gesellschaft
zu erringen, sobald er die Schule verläßt; das junge Mädchen findet dagegen
seinen Platz im Leben schon vorbereitet, sobald es das Kloster verläßt; sei es,
daß man es verheiratet, sei es, daß die Eltern es noch einige Jahre bei sich behalten.
Nadelarbeiten anfertigen, kleine Haushaltsgeschäfte besorgen, einige Talente ober¬
flächlich Pflegen, Gattin und Mutter werden, sich gewöhnen, seine Kinder selbst zu
nähren und zu waschen, das nennt man eine „gereifte" Frau sein. Ich bin aber der
Allsicht, daß eine fünfundzwanzigjährige Frau noch ein Kind ist, wenn sie nach der
Verheiratung nicht mit der Welt in Berührung kommt. Ich denke, daß die Welt,
in der sie sich als junges Mädchen bewegte, sie bloß lehrte, wie man sich zu kleiden,
zu gehen, zu setzen und eine Verbeugung zu machen habe. Aber das Leben lehrt
andre Dinge, und die Frauen lernen sie zu spät und immer auf ihre Kosten.
Anmut, Anstand, Unterhaltungsgabe genügen nicht; auch seine Kinder pünktlich
genährt und seinen Haushalt ein paar Jahre geführt haben, genügt nicht, sich
vor allen Gefahren geborgen zu wähnen, die dem Glücke den Todesstreich ver¬
setzen können. Wie viele Dinge lernt dagegen der Mann in dem unbeschränkten
Gebrauche der Freiheit, die ihm gewährt wird, sobald er kaum das erste
Jünglingsalter hinter sich hat! Wie viele rauhe Erfahrungen, wie viele ernste
Lehren, wie viele Enttäuschungen, die zur Reife führen müssen, kann er sich schon
im Laufe des ersten Jahres zunutze machen. Mit wieviel Frauen und Männern
verkehrt er schon in dem Alter, wo das Mädchen nur Vater und Mutter kennt!"
Deshalb verwirft die Dichterin energisch den üblichen allzu großen Altersunter¬
schied in der Ehe, schon ein zehn Jahre älterer Gatte werde infolge vertiefter
Lebenskenntnis leicht mürrisch, pedantisch oder despotisch.
Man wird sicher nicht fehl gehn, wenn man diese einen Kern von Wahr¬
heit bergenden Äußerungen auf die ungünstigen Eheverhältnisse George Sands
selbst deutet. Jedenfalls fühlte sich Frau Düdevant noch als unerfahrne
Provinzlerin, als sie ihren gesonderten Lebensweg in Paris uuter dem
Pseudonym George Sand zu bahnen anfing. Sie hatte ihrer Ansicht nach
unerträgliche Fesseln abgestreift, aber der erste selbständige Einblick ins Leben
wies trotz Sandeaus Hilfe Augenblicke der Verzagtheit auf. Eine besonders
beredte Stelle in Inäi^ng. wirkt wie eine hervorbrechende Klage der in unge¬
ahnte Verhältnisse geratenen Kämpferin. Die Mit- und die Nachwelt stellen
sie sich vorwiegend als frische, in Männerkleider gehüllte Besucherin aller
erlaubten und unerlaubten Bildungsstätten der männlichen Jugend von Paris
vor. Aber wie die Heldin ihres Romans lebte sie doch allein in Paris ohne
den Schutz des Gatten. In ihrer Mansarde tauchte das Bild der Heimat, des
eignen Haushalts wehmutweckend vor ihr auf. Deshalb schildert sie den
Aufenthalt in dem Hotel garni, wo Indiana zu stranden droht, in den düstersten
Farben. Die Plafonds sind verräuchert, die Fensterscheiben blind, an deu
fremden Möbeln forscht der Blick vergebens nach einer sympathischen Erinnerung.
In der Ecke des Spiegelrahmens erinnert eine steckengebliebne Karte flüchtig
an einen der vielen Passanten, die hier vorübergehend ein käufliches Asyl ge¬
funden hatten. Dazu der schrille stete Lärm auf der Straße, der den Fremdling
hindert, dem Kummer und der Langweile im Schlafe wenigstens auf einige
Zeit zu entrinnen. „Armer Provinzler, der du deine Felder, deinen Himmel,
deine grünen Gefilde, dein Haus und deine Familie verlassen hast und dich in
diesen Kerker des Geistes und Herzens einschließest, sieh Paris, dieses schöne
Paris, das du dir so wunderbar gekrümmt hast! Sieh, wie es sich vor dir
ausbreitet, ganz schwarz von Straßenkot und Regen, lärmend, von Übeln
Gerüchen erfüllt und reißend wie ein schlammiger Strudel. Da hast du den
würzigen Lebensgenuß, den man dir verhieß, da hast du die berauschende Freude,
die packenden Eindrücke, diese Schätze für Auge, Ohr und Geschmack, die alle
zugleich auf deine taumelnden Sinne einstürmen sollten."
Ebenso bitter schildert die Dichterin den nur mit sich beschäftigten Gro߬
städter, die Einsamkeit, die dem Fremden inmitten dieses Menschengewühls
droht. Sie schließt mit dem Ausrufe: „Aber gar Frau sein und hier leben
ohne Geld, was viel schlimmer ist als die Verlassenheit in der Öde einer
wasserlosen Wüste; in seinein ganzen bisherigen Leben keine Erinnerung an
genossenes Glück haben, die nicht vergiftet wurde oder versiechte, und in der
Zukunft keine Hoffnung auf ein Dasein, das der Widerwärtigkeit der gegen-
wärtigen Lage ein Ende machte, das heißt bis zur letzten Stufe des Elends
und der Verlassenheit hinabsinken." Klingt nicht der Nachhall eigner Bitterkeit,
eignen Wehs aus dieser ergreifend geschilderten Lage? Noch aHute die
Schreiberin dieser Zeilen nicht, daß die dumpfe Atmosphäre der Metropole
Lorbeeren für sie reifen, daß sie dnrch IiMxmg. mit einem Schlage berühmt
werden sollte. In der Glut des geistigen Brennspiegels Frankreichs erwachte
bisweilen das Verlangen nach dem ländlichen Zauber ihrer Heimat, nach der
vornehmen Abgeschlossenheit des Familienlebens.
Die erotischen Träume, die der Hauptinhalt ihrer ersten Romane sind,
trübt der leidenschaftliche Kampf gegen unmoralische Ehen, ein neuer Beweis,
daß mitten in den frischen Erlebnissen die Erinnerung an die Vergangenheit
wachblieb. Ganz unmerkbar aber rückt die Lebenserfahrung um einen wichtigen
Schritt weiter. An der Seite der in der Ehe geistig unterdrückten Roman¬
heldinnen taucht der wortbrüchige Verführer in wechselnder Gestalt auf. Don
Juan hat George Sands Gedanken oft in Anspruch genommen; ihre persön¬
lichen Erlebnisse boten ihr reichlich Gelegenheit, in dieser Richtung Studien
nach dem Leben zu machen. In I^Ua, reihte die französische Romantiker» mit
der ihr eigentümlichen Weitschweifigkeit Stenios Neneausbrüche in einem aus¬
führlichen Kapital gleichsam an einen einzigen Faden, um das Sündenregister
Don Juans einmal mit einer scharfen Frauenlupe zu prüfen. George Sand
ist wohl die erste Frau — und zwar nicht bloß in Frankreich —, die Don
Juans Seelenzustand einen: förmlichen Examen unterwirft. Bei dem grimmigen
Verhör, das sie mit ihm anstellt, erhält sein von Moliöre fixiertes Porträt
ganz neue, der üblichen Vorstellung widersprechende Züge. Diese in stürmische
Frageform gekleidete Analyse verrät, daß George Sand in der Periode unge¬
zügelter Leidenschaft Veranlassung fand, gefährliche Angriffswaffen gegen an¬
gebliche männliche Überlegenheit zu schmieden und mit großem Spürsinn nicht
nur weibliche Charakterblößen aufzudecken. Nie in ihrem Leben bequemte sie
sich zur Rolle der trauernden, insbesondre der verlassenen Donna Elvira.
Molieres Don Juan erlaubt nur mit Vorbehalt eine Parallele zu George
Sands subjektiver, aus persönlicher Erfahrung hervorquellender, wenn auch
kritischer Anklage. Die impulsive Sprache der gekränkten Frau steht in einem
seltsamen Gegensatz zu der stellenweise an die Farce streifenden Verspottung, die
weniger dem Dichter als dem bedrängten Schauspieldirektor in die Feder floß,
als seine durch das Tartüffeverbot geschädigte Truppe dringend nach einem
Kassenerfolge begehrte. Wer kennt nicht die wirkungsvolle Szene, in der Moliere
Don Juans ritterlichen Mut so nachdrücklich hervorhebt? George Sand hat
einen höhern Begriff von echter Ritterlichkeit. Im Namen der Frauenwelt
schleudert sie dem gewissenlosen Verführer das Schimpfwort „Feigling" ins
Gesicht. „Du gestandest niemand das Recht zu zu sagen: Don Juan ist ein
Feigling, denn er treibt Mißbrauch mit der Schwäche, er verrät wehrlose Frauen.
Nein, du schenkest nie vor der Gefahr zurück. Wenn ein Rücher seinen Arm
für die Opfer deiner Ausschweifung waffnete, kam es dir auf eine Leiche mehr
oder weniger nicht an. Du fürchtetest nicht zu straucheln, wenn du den Fuß
auf seine im Tode erstarrten Glieder setztest."
Neben dem Mangel an sittlichem Mute verspottet die Dichterin das plan¬
lose Vagabundentum, deu wenig ästhetischen Sinn des Allerweltsverftthrers:
I.o atro'c an tsinplo on lo kuinier 60 l'öwbll? ssrv^it ä'oroiller ^ wu 80um0it.
Auch kennt er nicht einmal die Licht- und Schattenseiten des weiblichen Gemüts,
obgleich sich sein ganzes Dichten und Trachten um die Eroberung schöner
Frauen dreht. George Sand fragt ihn, ob die Flatterhaftigkeit nicht gleichfalls
in der Frauennatur begründet sei, ob er nicht manchmal in Sorge geschwebt
habe, daß weiblicher Wankelmut seinen unbeständigen Sinn überflügeln könnte.
Ob nicht Scham seine Seele erfüllt habe, wenn übereifrige, halsstarrige Liebe
seineu Egoismus an Ketten zu fesseln drohten. „Hattest du irgendwo in Gottes
Ratschlüsse» gelesen, daß die Iran eine ausschließlich zum Vergnügen des
Mannes bestimmte Sache sei, die weder Widerstand noch Wankelmut kennt?
Glaubtest du, daß es auf Erden das Ideal der Entsagung gebe, dazu bestimmt,
dir die unerschöpfliche Erneuerung deiner Freuden zu sichern? Glaubtest du, daß
das schrankenlose Entzücken eines Tages den Lippen deines Opfers die Blasphemie
entlocken würde: Ich liebe dich, weil ich leide; ich liebe dich, weil du eine
ungelenke Freude löstest; ich liebe dich, weil ich an deinen matten Küssen,
deinen erschlaffenden Armen spüre, daß du meiner bald müde sein und mich
vergessen wirst. Ich opfere mich auf, weil du mich verachtest; ich werde mich
deiner erinnern, weil dn mich aus deinem Gedächtnisse löschest. Ich werde dir
in meinem Herzen ein unantastbares Heiligtum errichten, weil du meinen Namen
in deine prahlerische schmachvolle Liste eintragen wirst." Die zornsprüheude
Apostrophe der Dichterin erreicht ihren Höhepunkt in dem scharfen Tadel der
Phantomjägcr, die Don Juan zu einem idealen, der Wirklichkeit abholden
Schwärmer stempeln möchten, die in seinem Geschick das Zeichen eines glor¬
reichen hartnäckigen Kampfes gegen die Wirklichkeit zu fehen meinen. „Hätten
sie nur wie du, Leib an Leib, mit der Orgie gekämpft, so würden sie schon
wissen, was dir gefehlt hat. Geh! Du warst nur ein herzloser Wüstling, eine
schamlose Höfliugsseele im Leibe eines Ackerkuechtes." ^n api^ du Mihir (M
s'Lprusö, w u'apoioövais ruf ig, s^rriMniL iriMorionsö cM clemenrö g,r>rQ8
1'loro8hö ach solis, l'^Motion xaisidlo se sersiiro, ani survit aux exwses ä'nuk
oonens oinwumöo ot q> äondls xar ig 8c.uvvr.ir 1(-8 voluxtv» vviwouws.
Diese ongiuelle weibliche Kriegserklärung an Don Juan ist bis jetzt weder
von den Dichtern uoch den Literarhistorikern der Beachtung wert gehalten worden.
Und doch verbreitet sie eine eigentümliche Beleuchtung über die männliche und
die weibliche Psyche. Dieselbe Frau, deren Unsittlichkeit im Leben und in
Schriften mit höchster Entrüstung vor den Richterstuhl der öffentlichen Meinung
gezerrt worden war, wagte in ungekiuistelter Frische die Kluft aufzudecken, die sich
zwischen ihrem und Müssets Lebenswandel aufgetan hatte. Mit deu Worten:
„Ich habe mich schwach gefunden, gebrechlich an Leib und Seele, ich habe die
Phantasie mit der Intelligenz verwechselt, das Verlangen mit dem Bedürfnis,
deu Willen mit der Kraft. Ich habe alles vermengt, und meine Kraft ist im
Kampfe gegen die schwachen Seiten meiner Organisation gebrochen," löst George
Sand prophetisch das Lebensrätsel, über dem Müssets Dichtergeist verfrüht die
Fittiche senkte: schrankenloses sinnliches Begehren in einem schwächlichen Körper.
Die Dichterin dagegen hatte eine kerngesunde Natur; sie litt nie an krankhafter
Sinnlichkeit und rettete aus den Jugendstürmen den nötigen sittlichen Ernst für
einen würdigen patriarchalischen Lebensabend. Ihre Don Juankritik fehlt in
einem Hauptpunkte: es gibt keinen beschaulichen Wüstling, der sich eindringliche
Fragen nach dem eignen Unwert vorlegt, es gibt keinen tiefen Denker, der sich
die Lebensaufgabe stellt, in der Verführnngskunst Meister zu werden. Die
durchs Leben tändelnde Sorglosigkeit hat Moliere mit echter Menschenkenntnis
zum Hauptzuge seines Don Juan gemacht. George Sand hatte diese Sorg¬
losigkeit nicht. Trotz ihrer vielen Liebesverhältnisse bewahrte sie sich eine große,
nie versagende Arbeitslust und ein lebhaftes Interesse für alle großen Zeit¬
fragen und gerechten Kämpfe der Menschheit. Es ist zu bedauern, daß ihre
glühende Teilnahme für alle unvermeidliche«? Evolutionen ihres Zeitalters nur
durch die Umstoßung des Sittengesetzes ermöglicht wurde, das die Gesetzgeber
der Frauenwelt kategorisch vorgeschrieben haben.
Trotz vieler Verirrungen hat der Wahrheitstrieb, die Liebe zum Schönen,
der Sinn für das Gute George Sand zeitlebens beseelt. Der Sinn für das
Gute machte sie zur begeisterten, blinden Anhängerin der Samt-Simonistischen
Ideen. In Pierre Leroux und Lamennais verehrte sie einflußreiche philosophische
und religiöse Apostel des groß angelegten aber krankhaften Schwärmers. Mit
vollem Recht ist behauptet worden, daß der Sinne-Simonismus heilsam auf
ihr Seelenleben gewirkt habe. Einerseits bestärkte er sie durch seine frei¬
mütige Kritik des Verhältnisses zwischen Mann und Weib in der Ansicht, daß sie
vollberechtigt gewesen sei, sich den Verpflichtungen einer unüberlegt geschlossenen
Ehe zu entziehen, andrerseits ermutigte er sie zur regelt Teilnahme an dem
Geschicke der arbeitenden Klassen der Bevölkerung und sonnt zu ausgesprochnen
demokratischen schriftstellerischen Tendenzen. Dem Interesse für unverdorbne
Volkskraft verdankt ihr Genie eine Art von Ncubefrnchtnng in der zweiten
Schaffensperiode. Ganz prophetisch klingt ihr Vorwort zum vompagnon Zu
I'our «in Fi-nov (1840): „Mit Hilfe der echten Volkssitten, die den höhern
Stünden so fremd bleiben, wäre eine ganz neue Literatur ius Leben zu rufen.
Diese Literatur ersteht im Schoße des Volkes; binnen kurzem wird sie glänzend
zutage treten." L'est in. Mo rotromiivr-r >it irluso ron-neuen«, volle innso
6miueim»ont rsvolutioimkuro, ot Mi, clvpuis son axparitivn dan8 1«8 lottros,
ckorolio vino et su, KraiNo. In der starken Volkskraft wird sie die geistige
Frische wiederfinden, deren sie zu ihre»? Auffluge bedarf. Doch fügt die Dichterin
bescheiden hinzu, daß ihr selbst die Aufgabe, die moderne Geschichte des Proletariats
zu schreiben, zu schwierig erscheine, und daß sie deshalb die Ehre des Unter¬
nehmens all die ernsten Männer zurückverweise, die sie feierlich damit belehren
wollten. ^Schluß folgt)
in Garten des Dovenhofs rauschten die Bäume, und die Blumen
dufteten. Dazu sang ein Vogel leis und süß. Immer denselben
Sang, wie ein Lied, das nur eine Strophe hat.
Ich liebe dich; ich liebe dich! sagte Alois Heiuemann zu Melitta.
!Er stand vor ihr; zitternd, atemlos wie jemand, der eine große
I heilige Offenbarung empfangen hat, und dem die Welt von nun an
voll süßer Schauer ist.
Ich liebe dich! wiederholte er und wagte, sich neben sie zu setzen. Hast du
es nicht gemerkt, weißt dn es nicht?
Lächelnd sah sie in sein Gesicht, in feine schwärmerischen Augen.
Du bist ein lieber Narr!
Er seufzte tief auf.
Du hast Recht. Ich bin ein Narr. Aber die Liebe macht närrisch. Seit ich
dich gesehen habe, habe ich nicht mehr schlafen, nicht mehr essen können; zehnmal
habe ich dich gemalt; wohin ich sah, warst du, was ich dachte, warst du. Ich
schäme mich; aber die Narrheit verschwindet darum doch nicht. Ich bin dein;
willst du nicht mein sein?
Sie lächelte wieder. Stolz, siegesgewohnt und doch ein wenig gerührt.
Wir sind beide arm, Alois. Was soll die Liebe zwischen uns?
Arm? Er machte große Augen. Wir sind reich; wir haben die Liebe; und
dann meine Arbeit!
Er stand Plötzlich auf und reckte die Arme auseinander.
Wenn du mich liebst, bin ich reich, Melitta! Ich will groß und berühmt
werden deinetwegen; ich werde alles erringen; nur gib mir deine Liebe!
Melitta sah mit schwimmenden Augen und ihrem gefährlichsten Lächeln zu
ihm auf. Sei nicht sentimental, mein lieber Narr, sagte sie leise; sprich nicht so
große Worte. Wir sind arme Schacher, und die Liebe ist für nus mir ein schöner
Wahn; aber — sie sagte nichts weiter, denn ihr Kopf war auf der Brust des
Malers gebettet, und seine Lippen berührten die ihren. Mit scheuer, ehrerbietiger
und doch heißer Inbrunst. War das wirklich die Liebe? Melitta schloß die Auaen
und ließ sich küssen.
Im Gartenzimmer saß Asta und erzählte Jetta und Irmgard Geschichten.
Von einem Wolffenradt, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte und im Morgen¬
lande gefallen war. Jetta hörte zu; Irmgard aber schlief sanft ein. Wie es sich
für ihre drei Jahre gebührte, die uoch nichts wissen von Ahnenstolz und Freude
an dem, was vor vielen Jahren geschehen war. Jellas Augen dagegen hingen
gespannt am Munde der Tante.
Wie viel Türken hat der Onkel totgeschlagen?
Es war kein Onkel, berichtete Asta. Ein Ahne; einer von den Ururgroß-
vätern.
Ich kenne bloß Onkels! erklärte Jetta; Onkel Heinemanu und Onkel Schlüter.
Onkel Louis ist hier; aber Onkel Schlüter verkauft Milch in der Klabunkerstraße.
In Jetta stieg die Erinnerung ein die Stadt noch oft auf, ganz besonders, Wenn
Tante Asta ihr etwas erzählte. Woran das lag, konnte niemand ergründen; vor
allem nicht die Stiftsdnmc, die dielleicht deswegen an alte halb vergessene Familien¬
geschichten dachte. Asta hatte keinen besondern Dünkel; nnr gerade jetzt hatte sie
das Bedürfnis, den Kindern von der Familie zu berichten, der sie angehörten, und
es war für sie ein stolzes Gefühl, daß der kleine Rüdeger auf einem Herrensitz
groß wurde, der ihm auch später gehören sollte. Während Jetta plötzlich von
Onkel Schlüter berichtete und von Tante Heinemcmn, die solchen süßen Laden mit
Knöpfen, Fingerhüten und Badepuppen gehabt hatte, suchte die Taute nach andern
Erinnerungen, die mit dem Namen der Wolffenradts verknüpft werden konnten.
Asta war seit einer Woche auf dem Dovenhof. Die freundliche Einladung
Elisabeths hatte sie zuerst kühl ablehnen wollen, dann erfuhr sie, daß Elsie schon
mit ihrer Erzieherin ans dem Gut ihren Einzug gehalten hätte, und dieser Umstand
änderte ihre Absichten. Sie fühlte sich einsam in Wittekind, und die bittre
Empfindung, hier zur Seite stehn zu müsse», wo ihr Ehrgeiz etwas andres bean¬
spruchte, wurde immer stärker in ihr. Es war besser, einmal in eine fremde Um¬
gebung zu gehn und neue Eindrücke auf sich wirken zu lassen. So war sie also
gekommen, redete sich ein, daß sie diesen Besuch nur im Interesse der Familie
mache, und freute sich im stille», ihren Bruder nicht vorzufinden. Gleich nachdem
Melitta und ihr Zögling auf dem Dovenhof eingetroffen waren, war Baron Wolf
auf Reisen gegangen. Er hatte verschiednes zu besorgen, Pferde- und Maschinen-
eiukäufe zu machen und sich in andern landwirtschaftlichen Betrieben umzusehen.
Sie müssen meiner Frau hübsch Gesellschaft leisten, sagte er zu Melitta, die
ihm bald nach ihrer Ankunft allein im Garten begegnet war und ihn eben so
fremd begrüßte, wie er es getan hatte. Sie trug ein eng anliegendes graues Kleid
und einen großen schwarzen Hut, unter dem ihr zartgefärbtes Gesicht hervorblickte.
Jetzt lächelte sie verbindlich.
Ich werde mein Möglichstes tun, den Herrn Baron zufrieden zu stelle».
Mit artigen Gruß wollte er weitergehn, drehte sich aber noch einmal um.
Wie ists denn auf der Wolffenburg gegangen?
Sehr gut, Herr Baron.
Wer hat Ihnen denn dort den Hof gemacht?
Mir den Hof gemacht? Melitta öffnete die Augen rin gut gespielter Ver¬
wunderung. Einer armen Erzieherin macht man nicht den Hof, Herr Baron. Sie
wird kaum beachtet.
Elsie kam mit den kleinen Cousinen durch den Garten gelaufen, und Wolf
ging ans einem Seitenweg dem Wirtschaftshofe zu. Am nächsten Tage reiste er,
und als Asta anlangte, mußte sie sich von Elisabeth allein empfangen lassen. Die
junge Frau kam der ältern Schwägerin mit unbefangner Freundlichkeit entgegen,
und Asta empfand diese Unbefangenheit so angenehm, daß sie liebenswürdiger war,
als sie es beabsichtigt hatte.
Das Sommerleben auf einem Gutshof ist zwanglos; man kann die Einsamkeit
oder die Menschen aufsuchen; niemand bekümmert sich darum. Asta kam mit ihrer
Schwägerin nur bei den Mahlzeiten zusammen; sonst suchte sie sich mit den Kindern
zu beschäftigen und freute sich, an Melitta eine angenehme Gesellschaft zu haben.
Das junge Mädchen schien ihr gesetzter und ernsthafter geworden zu sein. Das
war ihr angenehm, und daß Melitta ihr in zarter Weise den Hof machte; freute
sie natürlich auch. Sie war nicht verwöhnt dnrch Aufmerksamkeiten.
Tante Asta, bist du mal in der Klabunkerstraße gewesen? fragte Jetta jetzt.
Die Tante berichtete gerade von einer Ahnfrau, die täglich hundert Arme aus ihrer
Küche gespeist hatte.
Asta stand auf. Nun wollen wir einmal sehen, wie es der Mama geht, und
was Elsie macht.
Elisabeth mußte wieder mit ihrer Gesundheit kämpfe», und der Arzt hatte ihr
sehr viel Ruhe verordnet. Da lcig sie denn auch hente auf der Terrasse, und Elsie
saß neben ihr nud erzählte ihr etwas. Elsie und ihre neue Tante hatten sich ge¬
sunde». Wenn die Stunden bei Melitta beendet waren, und Elsie keine Lust mehr
hatte, mit den kleinen Cousinen zu spielen, saß sie bei Elisabeth, und wenn diese
keine Zeit für sie hatte, hängte sie sich an Rosalie.
So viele nette Menschen wie auf dem Dovenhof habe ich noch nie auf einem
Haufen gesehen! erklärte sie gerade jetzt.
Bei euch sind doch sicherlich anch nette Menschen? fragte Elisabeth.
Gewiß, einige sind nett; aber solche wie Mamsell Drümpelmeier gibts wirklich
nicht. Und daun du selbst, Tante Elisabeth, und Herr Heinemcmn — hier stockte
sie einen Augenblick und wurde rot. Er malt so hübsch: ich kenne ihn ja nicht,
und er sieht meistens nur Fräulein Melitta an. Aber sein Gesicht ist so freundlich.
Elisabeth hatte selten an Alois gedacht. Sie hatte ihm erlaubt, die kleine
verfnllne Kapelle im Garten zu seinem Atelier herzurichten, und manchmal kam er
zu deu Mittag- und Abendmahlzeiten. Öfters aber blieb er auch bei seiner Arbeit,
und das Essen wurde ihm vou seiner Taute ius Atelier gebracht. Er schien wirklich
fleißig z» sein; Tante Rosalie sprach es aus, und Elisabeth freute sich darüber.
Aber die Gedanken an Haus und Kiuder, an ihre eigne, noch immer schwankende
Gesundheit, und die Ansprüche, die an sie als Wirtin gemacht wurden, verdrängten
doch auch bei ihr ein wenig das Interesse für die alten Freunde.
Ja, Herr Heinemann ist freundlich und gut — erwiderte Elisabeth jetzt mit
einem Anfluge von schlechtem Gewissen. Also dn hast ihn gern und seiue Taute
auch. Es sind gute Menschen.
Kommt Herr Heinemann eigentlich aus einem ganz kleinen Laden? fragte
Elsie halb verlegen.
Wer will das wissen?
Niemand eigentlich, Fräulein Melitta fragte mich neulich danach, ich weiß es
ja nicht, mir ist es wirklich einerlei.
Du hast Fräulein Melitta gern? Elisabeth fing doch felbst an, von der
Klabunkerstraße abzulenken.
Recht gern, Tante Elisabeth. Sie ist doch auch meine Lehrerin, und ich muß
sie ehren.
Die Antwort klang ausweichend, und Elisabeth wollte weiter fragen. Da trat
Asta auf die Terrasse und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie setzte sich
dann neben die Schwägerin, und Jetta zog Elsie am Arm.
Komm, wir wollen Puppeuladen spielen. Rosalie zeigt uns, wie man das
macht; l>ut ich will bedienen!
Elsie sagte lachend zu, und dann liefen das große und das kleine Mädchen
auf Rosalie zu, die gerade mit dem Kinderwagen ans dem Hause kam. Die Amme
des Kleinen, eine behäbige Bauernfrau, liebte die Bewegung nicht allzusehr, und
Rosalie tat nichts lieber, als mit Rüdeger in den Garten zu fahren und ihrem
Neffen in seinem Atelier einen Besuch abzustatten. Alois hatte es sich dort sehr
nett eingerichtet, und die alten Ahnenbilder zogen allmählich ein andres Ge¬
wand an. ^ o ^ ^ /
v ..
^"^ freute sich immer, wenn Jetta etwas von ihr verlangte, und sie
bei d > ^ ^ freundliche Elsie in aller Bescheidenheit. Sie sagte gleich zu. ihnen
d.» ^ Achtung des Ladens helfen zu wollen, und schlug einen Platz mitten in
5' ^- Auch Irmgard war aufgewacht, und lustig zogen alle n.it
' danon
in ^'Ä Zeitung und begann Elisabeth vorzulesen, als nach wenig
Augenblicken Elfte wieder erschien. Sie war totenblaß und warf sich zitternd in
einen Stuhl der Terrasse, sudaß die beideu Damen erschräke...
Was geschehe..? Asta.
Die Nichte suchte nach Worten.
Tante Asta, es ist — Melitta — Herr Heinemann —
Sind sie tot?
Sie — sie küssen sich!
Elsie brach in Tränen ans.
Einen Angenblick herrschte Schweigen; dann nahm Asta ihre Brille ab und
faltete die Zeitung zusammen.
So etwas darfst du nicht sehen, liebes Kind; und außerdem — sie suchte
nach einem passenden Schlußsatz.
Sie haben sich natürlich miteinander verlobt! schob Elisabeth ein.
Verloht — hin! Asta räusperte sich. Es überkam sie plötzlich eine Er¬
innerung.
Aber da sprang Elsie auf und lief Rosalie entgegen, die mit dem Wagen
wieder dem Hause zufuhr. Sie Habens doch auch gesehen, Mamsell Drümpelmeier!
Rosalie trat bis an die Terrasse und wischte sich die Augen.
Ach Gott, gnädige Frau! der Louis ist so glücklich; er weiß sich nicht zu
bergen. Ich habe ihn noch niemals in diesem Zustande der Verklärung gesehen!
Ach Gott, was wird seine gute Mutter sage»! Und solch ein schönes, feines
Mädchen! Ich Habs nicht lassen können, Frau Baronin! Als ich sie beide in
Zärtlichkeit sitzen sah, da bin ich aus dem Dunkel des Busches getreten und habe
sie gesegnet. Im Namen der Mutter, Frau Baronin!
Elisabeth erhob sich.
Der gute Alois! Hoffentlich wird er glücklich. Komm, Asta, laß uns dem
Brautpaar unsre Glückwünsche bringen.
Aber die Klosterdame blieb sitzen.
Sie können zu uns kommen! erwiderte sie kühl. Sie empfand einen leisen
Verdruß bei der Nachricht von Melittas Verlobung, während bei Elisabeth das
Gegenteil der Fall war. Ihr schien ein Stein vom Herzen zu fallen, und sie
lachte über Elsie, die mit tränenschweren Angen vor ihr stand.
Armes Kindchen, hast dn deine Melitta so lieb, daß du sie nicht hergeben magst?
Elsie wandte sich ab und trat z» dem Kinderwagen, worin Rüdeger lag und
gerade den Mund zum Schreien verzog. Denn er wußte, daß er die Hauptperson
war, und konnte sich nicht darein finden, gar nicht beachtet zu werde».
Andern Tags wandelte Melitta allein dnrch die Felder. Ja, sie war mit
Alois Heinemann, dem Maler aus der Klabunkerstraße, verlobt, dessen sorgloses
Gesicht und fröhliche Art sie gleich am ersten Tage ihrer Bekanntschaft dazu ge¬
drängt hatten, ihre alten Künste zu versuchen. Ans der Wolffenburg war es lang¬
weilig gewesen, und der Garten auf dem Dovenhvf so still und schattig, so ganz
geschaffen für verstohlnes Lachen und heimliche Liebe. Und Alois war nicht übel.
Wenn er vor der Staffelei saß und seine Augen groß und ernsthaft wurden, oder
wen» er an ihrer Seite ging und ihr seine Seele öffnete. Er hatte etwas Reines,
Weiches und doch wieder Männliches; Melittas Gedanken beschäftigten sich immer
mehr mit ihm. Aber sich mit ihm verloben? Bei diesen: Gedanken hätte sie noch
vor vierundzwanzig Stunden gelacht. Nun hatten aber seine starken, jungen Arme
nach ihr gegriffen, seine Lippen sie geküßt; und dann war Mamsell Drümpelmeier
gekommen und hatte etwas Unverständliches und sehr Feierliches gesagt. Melitta
war überrumpelt worden. Heute hatte sie schou die Glückwünsche des ganzen
Dovenhofs entgegennehmen müssen. Nur nicht vom Besitzer selbst. Bei diesem
Gedanken blieb Melitta stehn und preßte die Lippen zusammen. Dann lachte sie.
Es konnte noch immer anders kommen. Das Wunderliche aber war, daß sie sich
doch nicht so ärgerte, wie sie gedacht hatte.
Während sie allein über die Wiesen ging, saß Alois in seinem Atelier und
schrieb an Madame Heinemann in der Klabunkerstraße.
Liebe Mutter, begann er. Dann ließ er die Feder sinken und sah um sich.
Es war ein altes, verfallnes Kapellenhänschen, in dem er seine Werkstatt ans-
geschlagen hatte, und er war glücklich gewesen, sein Malgerät hierher bringen zu
dürfen. Es war so vergnüglich gewesen, eine Weile auf diesem stillen Gut, um¬
geben von fröhlichen Kindern, in der Nähe feiner guten Tante leben zu können.
Allerlei Pläne von hübschen Postkarte», vielleicht auch von Bildern waren durch
seine Seele geflattert, manchmal war es über ihn gekommen wie eine Sehnsucht
nach eifrigem Schaffen; dann wieder hatte er sich gefreut, für sich allein sitzen und
tatenlos auf das Locken der Vögel, die Menschenstimmen in der Ferne zu horchen.
Und nun war die Welt ganz anders geworden. Gab es so viel Seligkeit, so viel
Freude, so viel heiße Glut? Am Tage ihrer Ankunft hatte er Melitta verstohlen
aus der Ferne betrachtet. Sie hatte ein so schönes Gesicht — er hätte es wohl
"uf die Leinwand bringen mögen. Dann sah er plötzlich nur ihre Augen, den
feinen Ansatz ihres Kopfes, dos wellige Haar. Und sie war gut gegen ihn. Gar
nicht stolz. Unbefangen plauderte sie mit ihm und erzählte ihm, wie arm sie selbst
sei, wie sie sich ihr Brot verdienen und heimatlos von einer Fremde in die andre
wandern mußte. Dann kam die Zeit, wo sich die beiden jungen Menschen Abends
sahen. Am Abend, wenn Elsie, die zart war, im Hause bleiben oder zu Bett gehn
mußte. Gerade der Abend im Garten war verschwiegen und geheimnisvoll, so
recht geschaffen, sich kennen und verstehn zu lernen. Dann kam die Liebe, die
große Liebe, die den Menschen verändert, das Leben verklärt.
Alois Heinemann legte die Feder hin, hente konnte er nicht schreiben; er
mußte aufspringen, einen Wouneschrei ausstoßen und in den Garten hinaus, um
Melitta zu suchen — sie war sein, und er gehörte ihr. Morgen konnte er vielleicht
Worte für seine Mutter finden.
Es war gut, daß Taute Rosalie schüchtern zu ihm eintrat. Da er von An¬
fang an mit den Herrschaften an einem Tische gegessen hatte, waren Tante und
Neffe nicht viel miteinander zusammen gekommen; und wenn sie ihm auch einmal
seine Mahlzeit bringen dürfte, war er doch für sie ein vornehmerer Herr geworden.
Jetzt mischte sich in ihre Rührung über seine Verlobung die Ehrfurcht vor der
adlichen Braut.
Ach, mein Alois, was wird deine Mutter sagen!
Seit sie Melitta im Arm ihres Neffen hatte sitzen sehen, war das das A und O
ihrer Gedanken; und nun sagte sie dieselben Worte.
Willst du uicht an Mutter schreiben? rief Alois mit einem Gefühl der Er¬
leichterung. , .
Sie sah ihn erstaunt an, nickte aber gleich bejahend.
Gewiß, mein Junge, natürlich. Du hast wohl selbst keine Zeit.
Einen Tag später lief bei Madame Heinemann ein Brief ein, dessen Inhalt
sie in eine so große Aufregung versetzte, daß sie statt weißem Strickgarn Sicher¬
heitsnadeln verkaufte, und daß sie nachher so weinte, daß die Kunden glaubten,
sie wäre krank geworden, oder Torte Rvsnlie wäre gestorben. Dann aber erholte
sie sich bald, und nach wenig Stunden schon wußte die ganze Klabuukerstraße, daß
Alois Heiuemann eine Braut hätte. Und sie war sogar von Adel.
Von Adel? Was ist das? fragte der Krämer Lorenz, der an der Ecke wohnte,
n'ne'^i^" ^^'"ßvater hamburgischer Senator gewesen war. Adel gibt es hier
tur»? -z^ ^ hinzu- Aber der ehemalige Milchmann Schlüter, der seit
der M s lebte," sich dabei schrecklich langweilte und jeden Tag in
"^"''^^raße zu finden war, belehrte den Krämer eines andern,
^vel ,s doch gut! sagte er. Wo ich doch auch ne warraftige Baronin kennen
ni, uno sie is auch hier gewesen, und kein ein hat ihr was angemerkt. Aberstcn
wenn ne meh gewesen wär, dann hätt ich mein Geld aus Moorheide nich gekriegt.
Adel is gut, Herr Lorenz!
Aber Herr Lorenz sagte, Hamburger Bürger sein wäre besser, und die beiden
Männer zankten sich, bis der Krämer an sei» Petroleumfaß gerufen wurde und
uicht mehr wußte, weshalb er sich eigentlich gestritten hatte.
An diesem Abend wollte Madame Heinemaiui eigentlich „etwas ausgeben."
Tee mit Puffer und Stuten für einige Freunde in der Nachbarschaft,' oder mit
der Elektrischen nach Teufelsbrück zum Bäcker. Aber sie tat es doch nicht.
Ich wart, bis mein Junge wiederkommt und denn sein klein Braut mitbringt.
Denn will ich ein feine Gesellschaft geben, sagte sie zu einer ihrer Freundinnen.
Wieder stürzten ihr die Tränen über die Wangen.
Gott, was freu ich mir! Und was freu ich mir auf mein Swiegertvchter!
Und wenn sie auch fein is! Die Liebe macht allens eingal!
Denselben Gedanken wie Madame Heiuemann hatte Fräulein Astr. Zuerst
hatte sie sich über die Verlobung der jungen Leute erschrocken; dann als sie sich
die Sache überlegte, sand sie sie nicht so schlimm. Alois machte einen angenehmen
Eindruck, und Melitta durfte keine großen Ansprüche machen. Im tiefsten Grunde
ihres Herzens empfand sie vielleicht eine Art Erleichterung, daß Melitta in irgend
einer Art versorgt wurde, und zugleich kam über sie die Rührung, die sich der
ältern Damen bei Verlobungen bemächtigt.
Was wird Gräfin Eberstein sagen! sagte sie endlich lächelnd.
Da war Melitta schon eine Reihe von Tagen verlobt, das Erstaunen ans dem
Dovenhvf hatte sich gelegt, und das Leben ging weiter.
Alois Heinemann saß in seinem Atelier und malte mit leuchtenden Farben
an den alten Bildern herum, und Asta hatte Melitta aufgefordert, mit ihr einen
Spaziergang zu machen.
Der Herr Heinemann muß einmal ohne Sie fertig werden! sagte sie.
Melitta sah sie ernsthaft an.
Gewiß, Fräulein von Wolffenradt. Er muß fleißig sein, sehr, sehr fleißig;
und auch ich darf meine Pflichte» uicht versäumen!
Dabei wandte sie sich zu Elsie, um mich sie zu dem Spaziergang aufzufordern.
Diese aber faßte Elisabeths Hand.
Darf ich uicht bei Tante Elisabeth bleiben?
Natürlich wurde ihr die Erlaubnis uicht verweigert, und Asta freute sich,
einmal ungestört mit Melitta sprechen zu können. Sie hatte sie jetzt wirklich gern
und hatte Teilnahme für sie.
Die beiden Damen gingen über Wiesen und Felder einem nahen Walde zu.
Was wird Gräfin Eberstein sagen! wiederholte Asta. Melitta hatte ihr uicht
gleich geantwortet, sondern sich zu einigen Zittergräsern gebückt, um sie zu pflücken.
Jetzt zuckte sie die Achseln.
Tante Betty wird nicht viel sagen. Sie freut sich, daß sie mich dauernd
los wird. Nach der Wolffenburg hat sie mir kein einzigesmnl geschrieben.
Sie hat andre Gedanke».
Melitta blieb stehn und beugte sich von neuem nach Blumen.
Nun ja; die Äbtissinnenwürde rückt immer näher, in einem halben Jahre
oder wohl noch früher soll die Wahl sein.
Wahrscheinlich noch früher!
Auch Asta blieb stehn und blickte auf die Feldblumen am Rain. Aber sie
beugte sich nicht nieder zu ihnen und dachte nicht an die schwanken Gräser.
Tante Betty hat Karriere gemacht. Sie kau» Gott danken, daß mein Vater
sie hat sitzen lassen, sagte das junge Mädchen spöttisch.
Asta fuhr zusammen.
Das — das wissen Sie?
Mit einem Strauß Blumen stellte sich Melitta neben sie und steckte ihr die
halberblühten Mohnstengel in die Hand.
Sie müssen sie in Wasser stecken, gnädiges Fräulein. Morgen früh haben
Sie dann einen Mobilgarden. Weshalb wundern Sie sich so? Meinen Sie, ich
hätte nicht gewußt, daß Tante Betty beinahe meine Mutter geworden wäre? Papa
hat oft davon gesprochen, manchmal, glaube ich, kath ihm leid, daß nichts darnns
geworden war. Dann las er ihre Briefe und seufzte über ihnen —
Ihre Briefe — Astas Finger zerrten an den feinen Mohnstengeln, Sie hat
Briefe geschrieben —
Gewiß — Bräute pflegen Briefe zu schreiben; vielleicht tue ich es auch,
wenn der gute Alois und ich voneinander getrennt sind. So zärtlich werde ich
vielleicht nicht sein; früher war man vielleicht sentimentaler.
Briefe mit ihrer Unterschrift?
Ihr Name, Betty Eberstein, steht darunter. Wollen Sie sie sehen, Fräulein
Asta? Sie sind in meiner Schreibkassette, die ich immer mitnehme, und auch jetzt
bei mir habe. Drei oder vier mögeus nur sein, aber sie erheitern mich oft, wenn
ich traurig bin. Und manchmal habe ich schon daran gedacht, sie Tante Betty
»ach ihrer Wahl zur Äbtissin als Angebinde zu schicken. Sie soll dann einen
kleinen Wermutstropfen in ihrem Freudenbecher haben, und erfahren, daß ich etwas
weiß, was sie wurmt.
Das würde kein Wermutstropfen in ihrem Freudenbecher sein. Im Gegen¬
teil — Asta hielt inne — die eigne Stimme klang ihr fremd,
Kein Wermutstropfen?
Sie würde Gott danken, daß sie diese Briefe in Händen halte und ver¬
brennen dürfe. Daß sie Äbtissin geworden sei, und daß niemand erfahren habe,
daß sie es eigentlich nicht hätte werden dürfen.
Asta und Melitta standen sich gegenüber, und sahen sich in die Augen. Vom
Walde her kam der starke Duft der Tannen. Auf den Wiesen wurde das Gras
gemäht, und die Arbeiter sangen dabei.
Die künftige Äbtissin darf keine Liebesbriefe geschrieben haben? fragte Melitta
mit ungläubigem Lachen.
Sie darf nicht verlobt gewesen sein, noch Liebesbriefe geschrieben haben. Es
ist eine alte Bestimmung.
Wenn aber ihre Verlobung und ihre Liebesbriefe ein Geheimnis bleiben?
Asta spannte ihren Schirm auf. Die Sonne stand tief und schien ihr gerade
in die Augen.
Dann bleibt es eben ein Geheimnis!
Mit ungleichen Schritten ging sie weiter, und Melitta hielt sich neben ihr.
Plötzlich legte sie den Arm um die ältere Freundin.
Sie sollten Äbtissin werden, Asta, und nicht Tante Betty! Sie sind würdiger,
viel würdiger, und ich gönne Ihnen die Stellung!
Mit einem Aufschrei riß sich Fräulein von Wolffenradt los.
Wer macht mich dazu! Wer hilft mir? Wer denkt an mich? Kein Mensch!
Betty Eberstein hat alle Stimmen für sich, ich stehe beiseite — ich — sie erschrak
selbst über ihre Worte.
Lassen Sie uns weiter gehn, Melitta, und von andern Dingen sprechen. Ich
bin nervös und abgespannt, wie Sie merken. Jedermann hat seine Sorgen, Betty
Eberstein wird sicherlich eine gute Äbtissin werden.
Sie darf es nicht werden! sagte Melitta leise.
Asta zuckte die Achseln.
Wo kein Ankläger ist, da ist kein Richter! Lassen Sie uns in den Wald
gehn. Melitta, es ist schattig dort, hier blendet die Sonne!
baktr Singen in den Schatten der Tannen und führten eine gezwungne Unter-
^ zusammen auf einem kleinen Bänkchen saßen, und Melitta von
neuem den Arm um Aalete
st g.
sehr lieb? ^" ^'"'"^ zusammenhalten, nicht wahr? Und ich darf Sie lieb haben,
Ihre Augen hatten einen liebevollen Blick, ihre Glieder schmiegten sich warm
an die^ andre. Asta brach in Träum aus.
^a, wer wollen uns immer lieb haben und uns nicht verlassen!
Schweigend gingen sie heimwärts, zwischen ihnen aber flatterten die Gedanken.
Melitta dachte an Betty Eberstein, die sie haßte, und daran, daß sie Asta Wolffen-
radts Freundschaft vielleicht noch gebrauchen könne. Und in Astas Seele glühte
nur noch ein Wunsch: doch noch zum Ziele zu kommen!
War es möglich, sich vom Dovenhof weg nach der Klabunkerstraße und der
Paulinenterrasse, nach der freundlichen Frau Heinemann und nach der geräuschlosen
Arbeit der Lehrerin und Vorleserin zu sehnen?
Elisabeth schalt auf sich und ans ihre schwache Gesundheit, die sie reizbar
und verstimmt machte und ihr das Leben schal erscheinen ließ. Sie hatte es ja
gut auf dem Dovenhofe mit seinem stillen, ernsten Haus, mit dem Garten, mit
den weiten Feldern, auf denen fleißige Menschen schafften, mit ihren Kindern, die
sich so fröhlich entwickelten. Rüdeger streckte die Arme aus, wenn er seine Mutter
sah; Jrmgcird begann ohne Fehler zu sprechen, und Jetta wurde sich schon der
Stellung als älteste Tochter bewußt und erkundigte sich bei der Köchin, was ge¬
gessen werden sollte.
Elisabeth aber konnte ihres Lebens nicht froh werden. Ihr fiel Asta mit
ihrer kühlen Umständlichkeit auf die Nerven, und sie vermied es nach Möglichkeit,
sie zu sehen. Ähnlich ging es ihr mit Melitta. Sie hatte nichts gegen das junge
Mädchen; aber sie freute sich, wenn sie ihre Stimme nur in der Ferne hörte.
Sie bewunderte ihre Schönheit und ihre Gewandtheit, aber sie hatte nicht das
Bedürfnis, sie näher kennen zu lernen. Melitta mußte es nicht viel anders ergehn.
Auch sie suchte niemals freiwillig die Gesellschaft der Gutsherrin auf; und es
war immer Elsie, die mit Vorliebe bei der Tante saß.
Über die Verlobung des jungen Mädchens mit dem Maler begann sich
Elisabeth zu ärgern. Er erschien ihr zu gut für sie. Aber das Unheil war ge¬
schehen, und wenn Elisabeth Rosalie in gerührter Glückseligkeit einherwandern sah,
dann hielt sie sich selbst für schlecht und bemühte sich, ein freundliches Wort an
die Braut zu richten. Das war alles, wozu sie sich entschließen konnte; als Alois
ihr einmal von selner Liebe, seinem Glück und seinen Zukunftsplänen vorschwärmte,
unterbrach sie ihn ungeduldig und fragte nach den Bildern, an denen er noch
immer arbeite. Betroffen sah er sie an; er beantwortete ihre Frage und entfernte
sich dann schweigend. Von dieser Zeit an ging er ihr leise aus dem Wege und
konnte es um so eher, als Elisabeth sich zurückzog und selten in sein Atelier kam.
Der Sommer schritt weiter. Von den Wiesen, die waldumsäumt in der
Nähe des Hoff lagen, war das Heu eingefahren; nun begann die Roggenernte,
und der alte Verwalter fragte jeden Tag, ob der Herr Baron denn immer noch
nicht wiederkehre? Er hatte zwar seine Verhaltungsmaßregeln, aber es wäre ihm
lieber gewesen, nicht allein die Verantwortung zu tragen.
Heute sind es schon vier Wochen, daß Herr Baron verreist ist, und er
wollte nur acht Tage wegbleiben, sagte er mit leisem Vorwurf zu Elisabeth, der
er jeden Morgen Bericht erstattete.
Sie tröstete ihn mit freundlichen Worten. Gestern hatte Wolf gerade ge¬
schrieben, daß er sich nach der Heimkehr sehne, daß aber allerlei dringende Ge¬
schäfte ihn zurückhielten.
Er hatte eine Musterwirtschaft besucht, sich neumodische Milchkeller angesehen
und inzwischen Einkäufe gemacht. Elisabeth verstand es, gütig mit den Unter¬
gebnen zu verhandeln; als sich Herr Schröder zurückzog, war er entzückt von
seiner Herrin und über den Verbleib seines Herrn beruhigt. Als die junge Frau
aber wieder allein war, trat ein Zug ernste» Nachdenkens in ihr Gesicht. Sie konnte
es selbst nicht begreifen, daß ihr Mann so lange wegblieb, und wieder stieg etwas
in ihr auf, das sie mit leisem Groll erfüllte.
An diesem Abend stand Wolf unerwartet vor ihr. Er hatte sich auf der
Bahnstation einen Wagen genommen und schien sich zu freuen, wieder daheim zu
sein. Elisabeth brachte gerade ihren Jüngsten zur Ruhe, und der Baron nahm
ihn auf den Arm und tanzte mit ihm im Zimmer umher. Dadurch fiel die Be¬
grüßung der Ehegatten kurz aus, und alle weitern Erklärungen unterblieben.
Beim Abendbrot begrüßte Asta ihren Bruder; er scherzte mit Elsie, lächelte
Melitta mit freundlichem Wohlwollen zu und fragte Herrn Heinemann, wie es
mit seiner Malerei ginge. Dann berichtete er von seiner Reise und zog sich
endlich früh zurück, weil er sehr müde war. Erst am nächsten Morgen erfuhr er
von der Verlobung Melittas, und zwar durch Rosalie. Mamsell Drümpelmeier
spazierte frühmorgens mit den kleinen Mädchen im Garten, begrüßte den Haus¬
herrn ehrerbietig und konnte dann ihre Nachricht nicht länger bei sich behalten.
Was haben Herr Baron denn zu der Verlobung gesagt?
Zu welcher Verlobung, Rosalie? Haben Sie meinen guten Schröder endlich
erhört?
Es war Wolfs stehende Neckerei, daß sich der Verwalter hoffnungslos in
Rosalie verliebt hätte.
Sie errötete heftig.
Nein, Herr Baron, Herr Schröder hat nichts gesagt und wird sich gewiß
niemals aussprechen; aber mein Neffe, Herr Heinemann und Fräulein von Hagenau.
Wolf führte gerade eine Tochter an jeder Hand; nun stieß er beide Kinder
unsanft von sich.
Reden Sie keinen Unsinn, Rosalie!
Ach, Herr Baron, werden Sie nicht böse. Ich habe es ja selbst nicht glauben
wollen; aber die Liebe ist nun einmal etwas Großartiges und fragt nicht nach der
Vornehmheit.
Wolf hörte sie schon nicht mehr. Mit langen Schritten ging er weiter in
den Garten hinein, gerade auf Melitta zu, die aus einem der Seitenwege trat.
Was machen Sie für Dummheiten? fragte er scharf.
Mit erstaunten Lächeln hob sie die Augen zu ihm auf.
Haben Sie es heute erst gehört, Herr Baron, und sind Sie überrascht?
Wie die Morgenfrische selbst stand sie vor ihm, und er mußte sie mit Elisabeth
vergleichen, deren zartes Gesicht verblüht und matt geworden war.
Sie wollen doch nicht den Tüncher heiraten, den Malergesellen?
Er ist ein guter Kerl, Herr Baron, und ich bin ein armes heimatloses
Mädchen. Ihre Frau Schwägerin auf der Wolsfenburg hat mich auch nicht mehr
gern, und es ist schwer, von Haus zu Haus zu ziehn.
Die Stimme des jungen Mädchens zitterte, ihre Augen schimmerten feucht.
Wolf wurde gerührt.
Kind, Sie sind doch noch zu jung, eine reine Versorgungsehe einzugehn — und
noch dazu eine solche! Herrn Heinemann in Ehren; aber —
Leise legte ihm Melitta ihre Hand auf den Mund.
Nicht böse sein, lieber Baron, nicht böse sein!
Er war es gar nicht. Er war nur bekümmert, küßte ihre Hand und streichelte
ihr Hciar.
Den ganzen Tag widmete er sich seiner Wirtschaft, und Herr Schröder konnte
"^t ihm zufrieden sein. Als er am Abend allein mit Elisabeth war, sprach er
zuerst nur von den Gutsangelegenheiten. Dann aber folgte doch die andre Frage.
Weshalb hast du mir nicht geschrieben, daß sich Heinemann mit Melitta ver¬
lobt hat?
Sie sah ihn betroffen an.
Interessiert dich das so? Ich wußte nicht, daß du Fräulein von Hagenau
mit Vornamen nennst.
Diese Verlobung ist ein Unsinn! rief er heftig.
Manche Verlobungen kommen andern Menschen wie Unsinn vor und fallen
doch noch ganz gut aus. Deine Familie wollte nichts von mir wissen; nun besucht
sie mich nicht ungern.
Du hast meine Verwandte selbst eingeladen.
Gewiß, ich wollte nur sagen, daß sich die Zeiten andern können. Nach
meiner Ansicht hat Herr Heinemann als Maler eine Zukunft, und Fräulein von
Hagenau kann sich freuen, einen so guten Manu zu bekommen.
Das Ehepaar sprach von andern Dingen. Aber beide waren innerlich ver¬
stimmt und wollten es sich doch nicht merken lassen.
In den folgenden Tagen wurde Wolf ganz von der Ernte in Anspruch ge¬
nommen, und seine Familie sah ihn selten. Wenn er zu den Mahlzeiten erschien,
war er artig, aber zerstreut. Auch Asta war in sich gekehrt und oft so in ihre
Gedanken versunken, daß sie ihre Umgebung wenig beachtete.
Der kleine Rüdeger bekam Zähne und hatte manchmal Krämpfe. Da mußte
Elisabeth Viel bei ihm sein und versäumte auch wohl die Esseusstunden. Es War
also kein ordentliches Zusammenleben der Menschen auf dem Dvvenhof; wenn nicht
die Kinder gewesen wären, die keinen Gegensatz spürten, und wohin sie kamen,
Leben und Fröhlichkeit brachten, so wäre es manchmal trübselig genug gewesen.
Aber Jetta und Irmgard freuten sich des Sommers und des Gartens; nur Elsie
klagte eines Tags über Hitze und Kopfschmerze» und mußte zu Bett geschickt werden.
Der Arzt konstatierte ein ganz leichtes gastrisches Fieber, und die gute Rosalie Pflegte
das Kind in jeder freien Stunde.
Elsie war sehr liebenswürdig und geduldig. Sie lag still im Bett, verlangte
keine Unterhaltung, und durfte anch nicht aufgeregt werden, und da sie Elisabeth
anvertraute, sie möchte ihre Erzieherin nicht gern um sich haben, so war es natürlich,
daß Fräulein von Hagenau von jeder Pflege entlastet wurde. Melittas ganze
Zeit gehörte jetzt ihr selbst, und wo sie sich immer aufhielt, das wußte niemand.
(Fortsetzung folgt)
In der vorigen Woche wurde die Nachricht verbreitet, daß ein Teil des
russischen Ostseegeschwaders die Durchfahrt durch den Kaiser-Wilhelm-
Kanal auf der Ausreise nach Ostasien angemeldet habe. Gleich darauf erging
von Kiel ein offiziöses Dementi, daß dort von einer solchen Absicht nichts bekannt
sei. Die Lancierung der Nachricht ist wohl direkt oder indirekt von japanischer
oder englischer Seite erfolgt, um festzustellen, wie Deutschland sich einem solchen
Verlangen Rußlands gegenüber Verhalten würde. Es kann gar keinem Zweifel
unterliegen, daß nach dem Eintritt des Kriegszustandes der Kanal für Flotten
oder einzelne Kriegsschiffe der kriegführenden Mächte gesperrt ist. Wenngleich der
Kanal seinerzeit als internationale Wasserstraße für Friedenszeiten allen seefahrenden
Nationen geöffnet worden ist, so ist er doch eine Binnenwasserstraße des Reichs,
darf also für Kriegszwecke fremder Mächte, denen gegenüber Deutschland neutral
ist, nicht benutzt werden. Wir könnten sonst möglicherweise erleben, daß der Kanal
oder die Buchten an seinen Mündungen zum Schauplatz der Kämpfe fremder
Mächte auf deutschem Boden würden, gerade wie zur Zeit des Dreißigjährigen
Kriegs. Ebenso wie die deutschen Landstraßen, sind auch die deutschen Wasser¬
straßen von der Benutzung für Zwecke der Kriegführenden ausgeschlossen. Man
darf auch nicht annehmen, daß Rußland ein solches Ersuchen an Deutschland stellen
würde. Die russische Ostseeflotte, falls sie wirklich noch den Versuch macheu sollte,
nach Ostasien zu gelangen, erspart auf dem Wege durch den Kanal statt dnrch den
Sund und das Kattegat, wenn sie von Kronstäbe her kommt, nur 24 Stunden, wobei
freilich in Betracht zu ziehn bleibt, daß die Fahrt durch den Kanal ruhiger
angenehmer und gefahrloser als durch das Kattegat und das Skagerrak geht.
Aber bei der Niesenentfernung, die russische Kriegsschiffe auf dem Wege von Kron¬
stäbe bis Port Arthur zurückzulegen haben, mit so dielen Aufenthalten unterwegs,
fallen diese 24 Stunden wenig in das Gewicht und wiegen jedenfalls den Nach¬
teil nicht auf, der für Rußland entstünde, wenn Deutschland daraufhin einer gegen
Rußland in die Ostsee eindringenden feindlichen Flotte den Kanal ebenfalls öffnen
müßte. Für eine eindringende feindliche Flotte würde von der Nordsee bis Kron¬
stäbe die Ersparnis wesentlich größer sein und für den operativen Zweck ganz anders
in das Gewicht fallen. Der Krieg ist erst in seinen Anfängen; heute ist es jeden¬
falls unübersehbar, welche Dimensionen er annehmen, welche Staaten er noch in
Mitleidenschaft ziehn wird. Bei allem Wohlwollen für Nußland wird Deutschland
dieser Macht doch jedenfalls einen großem Dienst leisten, wenn es den russischen
Schiffen den Durchzug versagt, damit es ihn gegebnenfalls auch andern fremden
Flotten versagen kann, als wenn es heute einige russische Schiffe passieren ließe,
und daraufhin vielleicht im Laufe des Jahres irgend eine Flotte gegen Rußland
passieren lassen müßte. So viel bekannt ist, hat aber Rußland bis jetzt einen
solchen Antrag gar nicht gestellt, Deutschland hat ihn deshalb auch nicht abzulehnen
brauchen. Einstweilen ist der Kronstadter Hafen auch Wohl noch zugefroren.
Es knüpft sich daran die weitere Frage, ob Deutschland imstande sein würde,
auch die Erzwingung einer Durchfahrt einer mächtigen Flotte zu verhindern. Bezüglich
der Ostseite bejaht sich diese Frage ohne weiteres, denn keine feindliche Flotte dürfte
geneigt sein, die Einfahrt in den Kieler Hafen zu erzwingen, wenigstens würde
nicht viel übrig bleiben, das nachher noch durch den Kanal fahren könnte. Was
die Einfahrt von der Westseite, von Brunsbüttel her, anbelangt, so ist auch dort
dafür gesorgt, daß sich jede feindliche Flotte die Sache lieber zweimal überlegen
wird, zumal da sie ja schließlich in den Kieler Hafen wie in einen Sack hineinkäme.
Der Kanal kann zu Kriegszwecken allein für Deutschland und seine Verbündeten
in Betracht kommen. Hoffen wir, daß das auf absehbare Zeit nicht der Fall sein,
und Deutschland namentlich von jeder Berührung mit den jetzigen Verwicklungen
frei bleiben werde. Mit einer Anweisung auf eine im Jahre 1920 fertig werdende
Flotte, die dann halb so stark sein wird, als sie nach Lage der Dinge sein müßte,
können wir uns in Händel, die zur See ausgefochten werden, nicht mischen. Viel
wäre schon gewonnen, wenn wir die Bauzeit für unsre Linienschiffe auf 28 Monate
herabsetzten; die deutschen Werften könnten es sehr wohl leisten. Aber bei einem
Reichstage, dessen Mitglieder fähig sind, wie die Abgeordneten Payer und Müller
(Fulda). in der Sitzung der Budgetkommission vom 19. dieses Monats, die Frage
auszuwerfen, was wir überhaupt in Ostasien zu tun haben, wird es uns mit der
Flotte ergehn wie der Stadt Schilda bei ihrem berühmten Rathcmsbau. Zu der
Einsicht, daß die Kosten einer starken Flotte für Deutschland nur die Prämie der
Versicherung gegen Feuersgefahr darstellen, können sich unsre kurzsichtigen Parlaments-
politiker noch immer nicht aufschwingen. Einem siegreichen Feinde würde man freilich
mit größter Beschleunigung das Vielfache von dem zahlen und zahlen müssen, was
man heute dem eignen Baterlande versagt, obwohl der weitaus größte Teil dieser
Flottenkosten in die Hände deutscher Arbeiter fließt.
In den Betrachtungen über die sogenannte „Kunstdebatte" im Reichstage
haben einige Blätter Verwunderung darüber zu erkennen gegeben, daß der Reichs¬
kanzler diesen Erörterungen fern geblieben ist. Nach unsrer Ansicht hatte er gar
keine Veranlassung, sich daran zu beteiligen. Die Ansprache des Kaisers an die
Berliner Künstler, um die sich die Debatte zum nicht geringen Teile gedreht hat,
hat in Gegenwart des preußischen Kultusministers stattgefunden, und wenn für
solche Meinungsäußerungen des Monarchen überhaupt eine ministerielle Verant¬
wortlichkeit zu statuieren ist. so fällt sie dem Kultusminister zu. Man redet zwar
vou einer „deutschen" Kunst, aber diese Kunst ist nicht Reichssache, sondern ihre
Pflege geht die Einzelstaaten an. Der Anlaß, aus dem der Kaiser, in diesem Falle
der König von Preußen, eine Anzahl Berliner Künstler um sich berufen hatte, war
ebenfalls eine rein preußische, die Vollendung der Berliner Siegesallee, Es wäre
also korrekt gewesen, für jene Rede den preußischen Kultusminister verantwortlich
zu machen, und das um so mehr, als ja auch der Berliner Akademiedirektor Anton
von Werner, der Hauptschuldige in der Affüre der deutschen Kunstbeteiliguug in
Se. Louis, ebenfalls ein Nachgeordneter Beamter des preußischen Kultusministers
ist. Da Herr von Werner seine Sache vor dem Reichstage nicht selbst führen
kann, so hätte er durch seinen vorgesetzten Minister dort gedeckt werden müssen.
Das war weder des Reichskanzlers noch seines Vertreters Aufgabe. Wenn immerhin
die Ausstellung vom Neichsamt des Innern ressortiert, so sind doch weder der
Reichskanzler noch Graf Posadowsky Autoritäten auf dem Gebiete der Kunstkritik,
haben sich das auch nie angemaßt. Hier steht die Verantwortlichkeit bei dem
preußische,? Kultusminister. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird deshalb eine zweite
Aufführung des Stückes im Preußischen Abgeordnetenhause stattfinden. Daß den
Einzelstaaten und ihren Höfen ein Preiser aus den Reihen der Fortschrittspartei
sÜÄ8 Freisinnigen Partei entstehn würde, wie jetzt in der Person des Abgeordneten
Dove, hätte im Jahre 1866 niemand für möglich gehalten. I'smxora. mutantur
se nos mutÄMnr in illis!
Was die verlangte Beteiligung des Reichskanzlers an der „Knnstdebatte"
betrifft, so genügt es, die Frage aufzuwerfen, ob wohl jemand an den Fürsten
Bismarck eine solche Zumutung gestellt haben würde, und wenn ja, welche Ant¬
wort er Wohl erhalten hätte. Graf Bülow hat, das wird jeder ruhige Beobachter
zugeben müssen, den einzig richtigen Standpunkt eingenommen, daß es nicht das
Amt des deutschen Reichskanzlers sei, in Kunstfragen oder sonstigen ästhetischen
Fragen den Kritiker oder den Schiedsrichter zu spielen.
Wie schon im vorigen Hefte hervorgehoben worden ist, werden bei oder nach
der Beratung des Militäretats Resolutionen über die Beurlaubung der Mann¬
schaften eine Rolle spielen. Wir haben betont, daß der Urlaub niemals Gegen¬
stand einer Parlamentsresolution sein kann. Das ist Kommando- und Dienstsache
und muß es bleiben, solange die Armee sich nicht in eine Schützengilde oder
Bürgerwehr verwandeln soll, die ihre Urlaubsbedürfnisse in ihren Statuten fest¬
setzt. Der Urlaub soll und muß eine Belohnung durch den Kompagniechef für
gute Ausbildung, gute Haltung und gutes Betragen sein. Ein in der Ausbildung,
im Schießen usw. zurückgebliebner Mann oder ein solcher, dessen Betragen Anlaß
zu ernstem Tadel gibt, kann und darf nicht Anspruch auf Urlaub haben. Im
Interesse der Armee und der Disziplin muß eine solche Resolution also besser
unterbleiben. Dagegen ist es angezeigt, wenn der Reichstag den Wunsch ausspricht,
daß die zur Belohnung beurlaubten Soldaten freie Fahrt in der dritten Wagen¬
klasse, auch unter Benutzung der Schnellzuge, auf allen deutschen Bahnen haben
sollen. Das wäre eine Maßnahme im Interesse der sozialen Gerechtigkeit, weil
sich sonst mancher arme Mann trotz guter Ausbildung vom Urlaub ausgeschlossen
sähe, der nicht die Mittel hat, von Berlin nach Memel oder ins Elsaß zu fahren.
Die Freisinnige Partei hat einen solchen Antrag eingebracht, und man wird, wenn
auch in andrer Fassung, dem nur zustimmen können. Sein Inhalt wird von hohen
Militärs durchaus gebilligt. Wir würden sogar noch einen Schritt weiter gehn
und vorschlagen, daß den zur Belohnung beurlaubten Soldaten die Löhnung für
die Urlaubstage nicht abgezogen werden soll. Dieser Abzug schreibt sich
noch aus der Zeit her, wo die Obersten ihre Regimenter oder die Hauptleute
ihre Kompagnien bezahlen mußten. Auch der auf vierzehn Tage beurlaubte Soldat
bleibt Soldat und bleibt unter militärischem Zwange, wie er ja auch die Uniform
trägt. Auch bei freier Eisenbahnfahrt ist die Urlaubsreise in die Heimat mit
Kosten verknüpft; wie oft hat nicht schon der Hauptmann in den Beutel gegriffen,
um tüchtigen, aber armen Soldaten die Reise zu ermögliche«. Nicht selten werden
auch die bemittelter« Kameraden zusammengelegt haben Aber "es Ver °ar s
jedenfalls, wenn Beurlaubungen, sei es. daß sie zur Be ohnnng. ^ ^ d ^ ^ „
Erkrankungs- oder in Todesfällen stattfinden, nicht mit einer S°M^ung ve^
bunten würden. Die freie Eiseubcchufahrt hätte ans Bescheinigung des Kompagui^
des Schwadron- oder des Batteriechefs hin zu erfolgen. Diese kleinen Op r kam
das Reich für seine Söhne bringen: kein Soldabzug und freie Fahrt, MS me
Eisenbahnen überhaupt eine Vergütung beanspruchen sollten, was kaum wahrschein¬
Die Erfahrung wiederholt sich bei einem nach¬
denklichen Menschen immer wieder, daß eine richtige Formulierung, wenn sie einmal
ausgesprochen ist, etwas befreieudcs hat. Was vorher undeutlich vorschwebte,
drückend empfunden wurde, tritt ins Licht. Die Zeit ist erfüllt.
Als Student las ich einmal auf einem Buche Steinthals das Motto: Denken
ist schwer. Das hatte ich subjektiv wohl gespürt, wenn ich mich ehrlich mit den
höchsten Problemen quälte, die der Jüngling lösen will, und denen gegenüber sich
der Greis bescheidet. Aber diese Empfindung war mir wie ein Mißtrauensvotum
gegen meine Denkkraft vorgekommen. Die glatte, objektive Formulierung: „Denken
ist schwer," wurde mir Trost, Ermutigung, Klärung. Eben wenn das Denken dir
schwer wird, hast du das Kriterium dafür, daß du denken kannst.
Zur Zeit vollzieht sich, wenn die Zeichen nicht trügen, auf dem Gebiete des
öffentlichen Lebens auch eine Klärung, die wir den Schmutzexpektorationen des
sozialdemokratischen „Reichstags" in Dresden verdanken. Die Liebedienerei gegen
den großen Herrn „Niemand den Kündbaren" ist ebenso alt wie die Eitelkeit und der
Ehrgeiz der Menschen. Sie holt die Scheite zusammen für den Altar, auf dem
die Opfer der Selbstanbetung brennen. Zu einer geradezu technischen Ausbildung
ist diese Liebedienerei durch die Anforderungen des parlamentarischen Lebens ge¬
worden — solange es Dumme gibt, die vergessen, daß versprechen noch nicht
halten ist. Und wann sterben die aus? Insbesondre ists ein Kunstgriff zur Er¬
werbung der Popularität und zum Erraffen des Erfolgs, gewissen einflußreichen
Ständen zu schmeicheln, ihr Standesbewußtsein zu kitzeln. Als Wilhelm Jordan
sich in das Frankfurter Parlament wählen lassen wollte — er war damals Privat¬
dozent der flämischen Sprachen in Leipzig —, ging er, ich denke, nach Finster¬
walde. Dort stand ihm eine biedre, ungeschickte Lokalgröße gegenüber, die kurz
und bündig den Wählern ihr Sprüchlein Von Thron und Altar hersagte. Da trat
ihm der gärende Jüngling entgegen, allen unbekannt und doch siegesgewiß. „Ich
wende mich an euch, die eigentlichen Träger der Intelligenz, die Opfer euers
stillen, unscheinbaren Berufsfleißes; ihr habt die Entscheidung, wenn ihr wollt."
Er meinte die Schulmeister. Und diese setzten in der Tat die Wahl des damals
noch ganz unbekannten Jünglings durch.
Unter dem Eindruck der Enthüllungen des Dresdner Parteitags hat der
Reichskanzler das bezeichnende Wort „Volksschranzen" geprägt. Gewiß, es gibt
auch Volksschranzen, die durch Erweckung und Stärkung der niedern Instinkte derer,
die ihnen vertrauen, um die Macht buhlen. Der Rattenfänger von Hameln ist ihr
Typus. Dem ehrlichen Arbeiter wird von ihnen künstlich ein Märtyrerbewußtsein
angezüchtet. Er sei der Enterbte. „Die verdammte Zufriedenheit" muß ihm ver¬
leidet werden. Der Haß und der Neid seien die erste Arbeiterpflicht. Alles, was
geschieht, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß unsre wirtschaftlichen Verhältnisse
sich geändert haben, die großartige, opferwillige, soziale Gesetzgebung Deutschlands,
alles das wird als Angstprodukt des zitternden „Bourgeois" in Fratzen verwandelt.
Daß Produzenten, Arbeiter. Konsumenten dieselben Ansprüche an billige Berück¬
sichtigung haben, daß Unterschiede des Werth mich für die Arbeit gelten, die in
verwickelten Kulturverhältnissen geleistet werden muß, das wird verleugnet. Oth-den,
>is in, gue> ,jo w'x netto, das bleibt die Parole.
Jetzt scheint auch in den Kreisen des „vierten Standes," dem sein mächtiger
Aufschwung manchen ehrlichen Idealisten zugeführt hat, die Erkenntnis allmählich
aufzudämmern, daß die gewissenlose Agitationspolitik der alten Rattenfänger den
Ast abzusägen wohl geeignet ist, auf dem eben der vierte Stand selbst sitzt, und
man muß doch sagen, mit Behagen und Selbstgefühl sitzt. Es ist ihm ja seit
zwanzig Jahren von denen, die er verachtet, in immer neuen Tönen gesagt worden,
daß man es mit ihm gut meine und seine berechtigten Forderungen, so weit es
das Wohl der Gesamtheit erlaubt, berücksichtigen und erfüllen wolle.
Die Erkenntnis dämmert auch den mit Übelwollen genährten Massen auf, daß
die Kapitalisten nicht bloß Ausbeuter sind, und daß die Religion nicht bloß Pfaffen¬
trug ist, und daß die Affenlehre naturwissenschaftlicher Religionsstifter, wie Haeckel,
nicht bloß Wissenschaft ist. Glück auf! Wenn diese Einsicht erstarkt, werden sich
die „Volksschranzen" mehr und mehr als das, was sie sind, enthüllen. Die Mög¬
lichkeit zu ehrlicher Zusammenarbeit für das Wohl des Ganzen, die billige Aner¬
kennung der Tatsache, daß es im Staatsleben sehr verschiedene, aber gleichberechtigte
Interessen gibt, wird festere Gestalt gewinnen. Das Gefühl des Unbehagens, das
jetzt wie ein beißender Nebel in alle öffentlichen Verhältnisse dringt, wird der Er¬
kenntnis weichen, daß getrennt marschieren das vereinte schlagen nicht aufhebt. Ja,
Wie der Vatikan als geistiger und weltlicher
Mittelpunkt der katholischen Kirche seit alters her ein besondres Interesse bean¬
sprucht hat, das auch nach dem 20. September 1870, dem Falle des weltlichen
Papato, wenn auch unter veränderten Verhältnissen bestehn blieb, so hielt auch jetzt
wieder das langsame Dahinsiechen des greifen Leos des Dreizehnter, der trotz seiner
94 Jahre wiederholt schwere Krankheitsfälle wunderbar überstanden hatte, die ganze
zivilisierte Welt in Spannung, daß sogar wichtige politische Ereignisse vollständig
in den Hintergrund gedrängt wurden. Und wie groß die aufrichtige Teilnahme
an seiner letzten schweren Krankheit war, die diesen längst geschwächten Körper nun
doch dahinraffte, bewiesen die vielen tausend telegraphischen Erkundigungen während
der Krankheit und die Beileidsdcpeschen bei seinem Ableben, die von Fürsten, Städten
und Korporationen der ganzen Welt bei seinem treuen Kanzler, dein unbeugsamen
Kardinal Rampolla, einliefen.
So bekannt auch der Se. Peter, die größte und prächtigste Kirche der Christen¬
heit, und einzelne Teile des Vatikans mit seinen retchen Sammlungen sind, so wenig
weiß man von den Prunk- und Staatsgemächern im Vatikan, die sehr schwer zugänglich
sind, und die außer bei Audienzen wohl selten der Fuß eines Unberufnen betreten
hat. Seit das Konklave den Kardinal G. Sarto zum Nachfolger für den Stuhl
Petri erwählt hat, ist das Interesse für diese geheimnisvolle Welt und die Wohnung
Pius des Zehnten gewachsen. So verlohnt es sich Wohl, die prächtigen Räume
zu beschreiben, die wir während unsres langjährigen Aufenthalts in der ewigen
Stadt wiederholt zu besuchen Gelegenheit gehabt hatten, zumal da bisher noch nicht
viel über sie in die Öffentlichkeit gelangt sein dürfte.
Rechts neben der Peterskirche sieht man einen umfangreichen Komplex von
Gebäuden, aus denen sich vor den andern ein mächtiger fast quadratischer Palast
besonders hervorhebt, der im zweiten Stock die Wohnung des verstorbnen Papstes
und darüber (im letzten Stockwerk) die seines damaligen energischen Kanzlers enthielt.
Während die Fenster dieser Wohnungen nach dem Petersplatz hinausgehn, liegeu die
Staatsgemächer, die ebenfalls im zweiten Stock sind, nach den innern Höfen, also
nach Osten und Norden zu. Der Weg von der Bronzetür, dem allgemeinen Eingange
zum Vatikan, bis zur obern Wachtstube der Schweizer dauert wohl eine Viertel¬
stunde, da man bei den verschiedensten Posten, die Tür und Treppe bewacht
halten, sich genau ausweisen muß. Über die nusgetretue heilige Treppe rechts
hinauf gelangt man zu dem schon von außen deutlich erkennbaren Damasushof, der
den Besuchern der vatikanischen Bibliothek wohl bekannt ist Dreistockige hohe Ge¬
bäude mit Loggten von Bramante umgeben den Hof an dre Ser en, der ruckwa s
durch eine Kolonnade abgeschlossen ist. Die Treppe links uhrt. wie die late^
Inschrift sagt, nach der vatikanischen Bibliothek und den Räumen der ^
im Hintergrund unter der Säulenhalle find nebeneinander die berühmte päpstliche
Mosaikfabrik (deren Farbenskala über 20000 Nuancen auswerfe), das ^erlags-
magaziu der Tipografia Vallee.na und die päpstliche Apotheke für die vielen Be¬
wohner und Angestellten im Vatikan. Nachdem wir glücklich die Gendarmen passiert
haben, wenden wir uns rechts dem uuter Sixtus dein Fünften erbnuten eigentlichen
vatikanischen Palaste zu. der im Erdgeschoß das uküoio des allgewaltigen in-is^ro
ni oW (vonn. xueeinolli ^ Haushofmeister) enthält, der die xsrwessi zum Ge¬
suche der vatikanischen Gärten ausstellt und die kleine Kasse des Vatikans verwaltet
(Rechnungen und Löhne bezahlt usw.). Die Wachen am Eingang, ebenso auch die
Schweizer, die auf jedem Treppenabsatz zu finden find, lassen uns endlich ohne
weitere Schwierigkeiten passieren, sodasz wir Muße finden, uns in dem prächtigen
Treppenhause umzusehen. Auf dem ersten Flur bemerken wir zwei bunte Fenster, die
Apostelfürsten Petrus und Paulus darstellend, das Geschenk einer deutschen Prinzessin.
Oben betreten wir in Begleitung des freundlichen Führers, der uns schon erwartet
hat, die Laka Svgli Lvi^sri (Wachtstube der Schweizer), deren Raum bei Empfängen
kleiner Pilgerzüge manchmal als Audienzsaal benutzt wird. Die Decke ist als Himmels¬
gewölbe gedacht und stellt in schöner Freskomalerei eine nach oben hin offne Säulen¬
halle dar mit dem Blick in den freien Himmel. Über der Eingangstür des sonst
kahlen Raumes ist ein Gemälde mit einem Schiff im Sturm auf hoher See. Der
Fußboden ist mit bunten Marmorplatten mosaikartig gedeckt, und an den Wänden
laufen ringsherum die schmalen Bänke für die wachthabenden Schweizer, die aller
zwei Stunden einander ablösen. Durch die Tür rechts gelangen wir in die 8ala,
äei LsÄW-i, den Aufenthaltsort der päpstlichen Sesselträger, über deren Amt wir
zum bessern Verständnis folgendes mitteilen. Außer dem treuen Leibdiener des
Papstes Leos des Dreizehnter, dem in der letzten Zeit vielgenannten Cav. P. Centra,
einer im Leoninischen Stadtviertel wohlbekannten Persönlichkeit, bestehn am Vatikan
noch als Diener im weitern Sinne des Worts die sogenannten Oamsrisii ssZrsii
und die Lsäi-ni, die alle jedoch mit der Person des Papstes wenig in Berührung
kommen. Aufgabe der 8oäiari ist es neben innerm Dienst in den Vorzimmern, den
ehrwürdigen Papst selbst in der ?ortÄnting. (Sänfte) innerhalb des Palastes oder
in der Löäia, Köstatoriii (Thronsessel) zu kirchlichen Feierlichkeiten auf den Schultern
in den Se. Peter oder die Cappella Sistina zu tragen. Es sind fast alles hohe,
kräftige Gestalten, augenblicklich nur vierzehn an der Zahl, die in ihrer kostbaren
Livrxe aus rotem Frackrock, ebensolchen Kniehosen, langen Strümpfen und schwarzen
Schnallenschuhen einen sehr ehrwürdigen Eindruck machen. Einer davon ist Deutsch¬
ungar aus Preßburg und spricht noch heute trotz italienischer Familie und Um¬
gebung geläufig feine Muttersprache.
Doch nun wieder zurück zu unsrer Wanderung. Wir waren inzwischen durch
den ersten Vorsaal getreten, während unser Führer beim ersten vamsriorö ssZrsw
die Erlaubnis einholte, uns die Säle zeigen zu dürfen. Der erste Raum ist wieder
von einem Schweizer bewacht, der mit der Hellebarde in der Hand auf einem
Stuhle sitzend, sich in feinen Träumereien nicht stören läßt. Die Einrichtung des
kleinen Zimmers bot nichts besondres, die wenigen sehr dunkeln Gemälde waren
wie viele andre in den folgenden Gemächern nicht zu erkennen, dafür entschädigte
uns die wundervolle Aussicht vom Fenster über die innern Höfe und vielen Ge¬
bäude des Vatikans, den neuen Stadtteil „Prati" bis zum Monte Mario und
dem fernen Gebirge mit der scharfen Spitze des Soracte. Das nächste Zimmer
gehört schon zu den Räumen, deren Fenster nach der Engelsburg und dem „Borgo"
zu liegen, mit schönem Blick über den nördlichen Teil der Stadt; es hat schon
eine bedeutend wohnlichere Einrichtung. Den Fußboden deckt ein riesiger bunter
Teppich, während die Wände dieses sowie der folgenden Räume mit rotem Damast
(die rote Farbe ist am Vatikan vorherrschend) bekleidet sind, wodurch eine besonders
feierliche Stimmung hervorgerufen wird, zumal da auch die Decken alle reich kafsettiert
sind und in der Mitte jedesmal das Wappen eines Papstes tragen. Neben der
Eingangstür links ist ein größeres Gemälde: eine Madonna mit dem Bcmibino, in
der Ecke links steht hinter einem schweren, roten Vorhange die rote „Portcmtinci,"
die Sänfte des Papstes. An der Wand hängt ein Se. Georg mit dem Drachen,
dessen Meister sowie die fast aller übrigen Gemälde leider nicht zu erfahren und zu
erkennen waren. Unter den vielen kleinen Holzgemälden, die den Raum schmücken,
ist, wie mein Begleiter, ein bekannter deutscher Maler, versicherte und was uns
Deutsche ganz besonders interessieren dürfte, neben der Ausgangstür des Zimmers
ein Lukas Cranach. Es ist das Brustbild eines jungen Mannes in dunkler Kleidung
mit blondem Bart und großer weißer Halskrause. Es ist schade, daß ein Ge¬
mälde eines unsrer bedeutendsten alten Meister dort verlassen und vielleicht nicht
einmal erkannt der Öffentlichkeit verloren gegangen ist. Der nächste Raum, die Sa-Is,
Ac-Ali ^.rsÄi-i, enthält, Wie schon der Name sagt, drei große Gobelins, die je eine ganze
Wandfläche einnehmen. Die Farben der prächtigen Gewebe sind gut erhalten, nur
das erste rechts, eine Auferweckung des Lazarus aus dem Jahre 1759, hat etwas
gelitten; wie uns unser Führer mitteilte, ist es vor längerer Zeit einmal gewaschen
worden, wobei sich die Fäden des Gewebes verzogen hatten. Die Heilung des
Aussätzigen in der Mitte, sowie die Hochzeit zu Kann sind Meisterwerke und
tadellos gut erhalten. Alle drei in riesigen vergoldeten Rahmen wirken zusammen
überaus harmonisch auf den Beschauer. Woher die Gobelins stammen, und wer
sie verfertigt hat, war leider nicht zu erfahren. Das nächste Zimmer, an das sich
rechts die kleine Privatkapelle des Papstes anschließt, ist sehr einfach gehalten, ohne
Gemälde oder sonstigen Schmuck, nur vor dem Fenster links steht ein Kruzifix auf
einem kostbaren Marmortisch. Die Cappella Privata (der Madonna del Carmine ge¬
weiht), in die wir einen Blick werfen konnten, ist sehr klein und schmucklos, das
Halbdunkel läßt auch leider keine genaue Besichtigung zu. In der Mitte des engen
Raumes steht ein kleiner einfacher Altar mit einem Kruzifix, umgeben von einigen
Kerzen, in der Ecke der Hauskapelle, die der Papst direkt von seinen Privatgemächern
aus jeden Morgen allein besuchte, hängt die ewige Lampe; spärliches Licht dringt
durch zwei Fensterchen, die mit gelben Gardinen verhängt sind, aus dem Hinter¬
grund in den Raum, den wohl selten ein profaner Fuß betreten hat. Zurück geht
es in den Vorraum und dann weiter nach dem Thronsaal, der seiner Bestimmung
entsprechend prächtig ausgestattet ist. Den zwei Fenstern gegenüber an der Rück¬
wand des weiten Saales steht unter einem vergoldeten Baldachin der erhöhte Thron-
sessel mit rotseidnem Kissen, auf dem der Papst Platz nimmt, um die zur Audienz
geladner Personen zum Hand- und Fußkuß zu empfangen. Die Decke ist prächtig
tassettiert und mit reich vergoldetem Stuck bedeckt. Das nächste Zimmer, schon nach
dem Petersplatze zu, konnten wir nicht mehr betreten, da wir schon in der aller¬
nächsten Nähe der päpstlichen Privatgemächer waren. Es ist ein schmaler, ein-
fenstriger Raum ohne Schmuck; ein Kreuz auf einem kleinen Tisch macht die ganze
Einrichtung des sehr bescheidnen Zimmers aus.
Hier hatte der Vatikan für uns ein Ende, denn es folgen nun nach dem
Petersplatze zu die fünf Privatgemächer des Papstes, die überhaupt nicht besichtigt
werden dürfen. Es sind dies je ein Vorzimmer für den Leibdiener, den schon ge¬
nannten Cav. P. Centra, und die vamsriori ssArsti, deren Zimmer die Verbindung
nach der Privatkapelle herstellt. Es folgen das zweifenstrige Wohn- und Arbeits¬
zimmer mit kleinem Thron, das kleine Schlafzimmer und der Bibliothekraum. Die
Einrichtung der Privatgemächer ist sehr einfach, doch möchten wir das Schlafzimmer
des verstorbnen Papstes, das er während seiner letzten schweren Krankheit nicht
mehr verlassen hatte, etwas näher beschreiben. Das einfenstrige Zimmer enthält
in der Ecke im Hintergrunde unter einem Baldachin aus grünem Damast das ein¬
fache Bett des Papstes aus Eichenholz mit weißen Vorhängen. Die Wände sind
mit grünem Damast bedeckt, um das blendende elektrische Licht, das vor drei und
einem halben Jahre im ganzen Vatikangebiet mit eigner Kraftstation eingerichtet worden
ist, zu dämpfen. Rechts neben dem Fenster steht ein reich geschnitzter Schrein im
Renaissancestil mit vielen Schubkästen, links davon ein großer Schreibtisch mit einem
großen Tintenfaß aus Silber und der traditionellen Gänsefeder, einem Kruzifix aus
Elfenbein und einigen Büchern, darunter Dante, Virgil, Horaz (dem Lieblingsdichter
Leos) und eine Bibel. Vor dem Schreibtisch steht ein Lehnstuhl mit rotem Damast¬
bezug und vergoldeter Lehne. Abseits auf einem kleinen rundet Tisch mit roter
Sammetdecke steht eine kleine Statue der Madonna del Carmine (Beschützerin Leos),
ein Kabinettbild des Papstes, und dabei liegen einige Zeitungen. Neben dem Bett
stehen ein zweiter Lehnsessel und ein Betpult. Acht Polsterstühle und einige Fu߬
schemel mit roten Damastbezügen vervollständigen das Mobiliar. Über dem Bett
hängt als einziges Bild eine Raffaelische Madonna in Goldrahmen.
Es bleibt nun noch die Kais. äst vonsistoro zu besichtigen übrig, die getrennt
von den übrigen Räumen hinter dem Schweizer- und Sediarizimmer nach dem Belve-
dere zu liegt. Hier werden die Kardinäle ernannt, die Versammlungen der obersten
Kirchenbehörde abgehalten und zuweilen auch größere Pilgerzüge empfangen. Es
ist der prächtigste und größte Raum, seiner Bedeutung entsprechend würdig deko¬
riert. Rechts ueben der Eingangstür sieht man unter einem Baldachin den er¬
höhten Thron mit weißem Kissen, auf dem in prächtigen Farben die Übergabe der
Schlüssel an Petrus dargestellt ist. Eine Madonna bildet die Rückwand des Throns.
Vor diesem stehn seitwärts zwei Betpulte. Zwischen den vier Fenstern hängen drei
große, leider verdunkelte Gemälde, deren Meister und Bedeutung nicht zu erkennen
waren; das mittlere stellt einen Johannes den Täufer dar. Auf der gegenüber¬
liegenden Längsseite sind ebenfalls drei riesige Gemälde, die sich besser erkennen lassen.
Vorn neben der Tür eine Anbetung der heiligen drei Könige, in der Mitte die
Auferweckung des Lazarus von Muticmus und zuletzt ein in grellen Farben ge-
haltnes Martyrium eiues jungen Mannes. Die sechs Gemälde nehmen jedoch nur
etwa ein Drittel der Wandhöhe ein, der Raum darüber bis zur kassettierteu präch-
ttgen Decke ist mit Medaillons der Apostel und Darstellungen von Szenen aus der
Heiligen Schrift reich bedeckt. Im Hintergrund, also dem Throne gegenüber, steht
i ^"cA ^"gelstatue aus weißem Marmor mit Kreuz. An den Längsseiten des
in der Mitte freigebliebnen Raumes steht eine Reihe unbequemer aus Eichenholz
geschnitzter Stühle für die Kardinäle.
n s^ die geheimnisvolle, geweihte Welt des Vatikans, von dem aus
; i Dreizehnter kluge und vorsichtige Politik das Ansehen und die Ausbreitung
,einer Kirche trotz aller Gegenströmungen kräftig zu fördern wußte.
. s.^ Felix Hollaender, ein in Seelenmalerei, Erfindung und Kom-
^ '1"" starker Novellist, schickt seinem ersten großen Roman: Der Weg des Thomas
i,^e .su .^^^rmanns Monatsheften einen zweiten nach: Traum und Tag. Dieser
r ? "'^ darum, weil er in dem mir durch Jugenderinnerungen teuern
n^an,^ ^ "ud Land und Leute naturgetreu abbildet. Fischbach liegt in der
Mrttbr-.. der von Bergen umschlossenen Ebne, die man fälschlich das
^verger Tal nennt, am Fuße der Falkenberge, zweier wie Zwillinge anmutender,
icyon geformter Granitkegel. Das Schloß mit einem Park, in dessen dunkle Laub-
»."Durchblicken die Schneekoppe hineinlugt, gehört den Erben des
Prinzen Wilhelm, eines Bruders des Königs Friedrich Wilhelms des Dritten. Am
Umgänge stehen zwei Kanonen, die dem Prinzen Waldemar die Engländer geschenkt
haben in dankbarer Anerkennung seiner Teilnahme an dem Kampfe gegen die Sikhs
im Jahre 1845. Für die Hauptpersonen seines Romans nun hat der Verfasser
offenbar als Modelle wirkliche Personen benutzt, und es war in der Ordnung, daß
er diesen falsche Namen beilegte. Aber ein Pseudonym finde ich unberechtigt. Es
wird das Grabdenkmal eines Arztes, des Doktor Kriege!, erwähnt, und an die
Erwähnung knüpft sich ein Lebensabriß des hochverdienten und verehrungswürdigen
Mannes. Dieser Lebensabriß ist streng historisch, und die meisten der Anekdoten,
die Hollaender von ihm erzählt, habe ich in jünger« Jahren vernommen und noch
einige mehr. Flügel, so hieß er in Wirklichkeit, gehörte zu den von Gott be¬
gnadeten Ärzten, die beim ersten Blick den ganzen Menschen und die Natur seines
Leidens durchschauen, die helfen, wenn noch Hilfe möglich ist, und die ihren Beruf
als ein heiliges Amt im Dienste Gottes und der leidenden Menschheit ausüben.
Natürlich zeichnete er sich auch wie alle täglich überlaufnen und nicht selten mit
unverschämten Zumutungen geplagten Ärzte durch göttliche Grobheit aus, und
vielleicht hat ihn in dieser Eigenschaft keiner seiner berühmten Kollegen erreicht.
Er hat auch im Verkehr mit den allerhöchsten Herrschaften, die damals allersommerlich
in Erdmannsdorf und Fischbach weilten, kein Blatt vor den Mund genommen.
Ich finde es nun töricht, daß Hollaender den wackern Dr. Flügel Dr. Kriegel
nennt. Eine Biographie bekommt dieser nicht; ob ihm bei seinem Tod auch nur
ein Nachruf in den Zeitungen gewidmet worden ist, weiß ich nicht; da Hütte Hol¬
laender auf das Denkmal, das er ihm in seinem Roman setzt — was sehr hübsch
von ihm ist —, auch seinen richtigen Namen schreiben sollen, den zu verschweigen
d
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur auf die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breitem Rande erbeten.
Im Dienst der Runst, der Wissenschaft, des Lebens,
Brauchst Du den Mund zu Deiner Mitwelt Wohl;
Drum acht' es als ein Hauptziel Deines Strebens
Ihn rein zu halten — mit „Odol"!
le Überschwemmungen an der Oder Ende Juli vorigen Jahres
haben wieder einmal Anlaß gegeben, daß man sich mit wasser¬
wirtschaftlichen Fragen und mit Deichfragen beschäftigt. Der Ver¬
fasser dieses Artikels hat sich seit seiner Jugend dem Wasserrecht
> gewidmet, insbesondre sind ihm die Verhältnisse an der mittlern
Oder und deren Deichwesen von Jugend auf bekannt; es sei ihm deshalb erlaubt,
durch diesen Aufsatz das Interesse für die Verbesserung der Deichverhältnisfe an
unsern Flüssen wach zu erhalten.
Es fragt sich zunächst, ob nicht dadurch, daß regelmäßig Notstandsgelder
nach jeder Überschwemmung gewährt werden, der Notstand schließlich zu einem
dauernden gemacht wird, und ob es nicht richtiger ist, allmählich in andrer
Weise dahin zu wirken, daß ein Notstand nicht mehr eintreten, d. h. eine Über¬
schwemmung nicht mehr schädlich wirken kaun. Als im Hochsommer 1854 die
größte bis dahin gekannte Überschwemmung an der Oder eintrat — der Wasser¬
stand im vorigen Jahre hat allerdings den von 1854 sogar in etwas über¬
holt —, wollte man damals, um die Gefahren der Überschwemmungen zu be¬
seitigen, eine einheitliche Deichbauart an der Oder schaffen; das hat man
durch die Gründung von Deichverbänden und durch die Errichtung eines Längs¬
deiches getan. Vorher hatten sich nämlich die einzelnen Dörfer meist allein
einen Damm gezogen, teils als Ringdamm um das einzelne Dorf, teils halbkreis¬
artig die Enden mit einer Anhöhe verbunden. So wurden einzelne Niederungen
durch einen Damm geschützt, andre uneingedeicht gelassen. Jedenfalls waren
die damals bestehenden Deiche unter sich nicht zu einem einheitlichen Bau ver¬
bunden. Es herrschte vielmehr damals der sogenannte Potter- oder Ringdamm¬
bau vor. Aber diese Deiche hatten den Vorzug, daß sie meist nur die höher
liegenden Gebiete durch einen Damm eingedeicht hatten und die tiefer liegenden
einfach überschwemmen ließen. Es wuchs deshalb in der Oderniederung genügend
Gras, und Viehwirtschaft und Milchwirtschaft konnten betrieben werden.
Bei der Eindeichung von 1854 verließ man die anscheinend systemlose, auf
Zufälligkeiten beruhende Polderanlage, weil man sie nicht für richtig hielt, und
re
errichtete längs der Oder, sehr nahe an ihrem Laufe, ja allzunahe einen Längs-
damm, den man möglichst standhaft, breit und hoch hinstellte. Man suchte
dadurch möglichst viel Land dem Strom abzugewinnen und möglichst viel ein¬
zudeichen nach den Anschauungen der damaligen Zeit, weil man einerseits für
den Acker, also den Körnerbau, Land gewinnen wollte, und weil man andrer¬
seits auch recht viel Ländereien schon deshalb eindeichen wollte, um die Kosten
der Eindeichung auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Je mehr Land
man durch die Eindeichung dem Flusse abgewann, für um so vorteilhafter hielt
man sie.
In der Tat konnte man nach 1854 einen Teil der höher liegenden Weide
in fruchtbare Äcker verwandeln, und man fühlte sich allgemein durch den neuen
Deich so geschützt, daß man sich für absolut sicher hielt. Man trug nicht nur
die alten, sich um die Dörfer hinziehenden Oderdeiche ab, sondern erbaute auch
neue Häuser in der Niederung, ohne Rücksicht auf eine etwaige Überschwemmungs¬
gefahr oder einen etwaigen Deichbruch, den man nach Errichtung des neuen Deichs
so gut wie für unmöglich hielt. Man errichtete die Häuser in der Niederung,
obgleich es in der Nähe höhere Lagen gab, ja sogar manchmal gänzlich vom
Hochwasser freie Höhen. Wozu die unbequeme Höhe aufsuchen, wenn man in
der Niederung bequemer und näher bei dem Flusse wohnen konnte? Das Hoch-
wasser war zwar früher manchmal oder regelmäßig dorthin gedrungen; aber die
Wiederkehr solcher Überschwemmungen erschien ja nach der Errichtung des neuen
Deichs ganz unmöglich. Es war jedoch eine Wahnidee, wenn man damals
einen Damm und insbesondre den neuen Oberbaum für einen unfehlbaren Schutz
ansah, ein Wahn, von dem auch unsre Regierung mindestens damals noch be¬
fangen war, obgleich sich etwa zu derselben Zeit die französische Negierung
öffentlich ganz anders aussprach.
In einem Briefe, den Napoleon der Dritte 1856 an sein Land richtete, wurde
klar ausgesprochen, daß man in Frankreich nachgerade eingesehen habe, daß jeder
Deichbau nur zur Verarmung der Niederungsbewohner führe, daß jeder Deichbau
unheilvoll und fehlerhaft sei, weil er niemals die Überschwemmungen aus der
Welt schaffen könne, daß man deshalb Deiche in Frankreich nicht mehr bauen
wolle, sondern daß man durch Talsperren und durch andre Maßnahmen das
Wasser besser zu beherrschen gedenke. In Preußen war man damals auf dem
Gebiete der Wasserwirtschaft noch nicht zu dieser bessern Einsicht gelangt. Wenn
man auch durch den neuen Längsdamm aus Weiden Äcker machte, was man
damals als vorteilhaft ansah, weil sich der Körnerban auch in den folgenden
Jahren noch sehr ertragreich erwies, wenn auch die Deichbrüche, Über¬
schwemmungen usw. zunächst gar nicht oder nur spärlich eintraten, zeigte es
sich doch nach mehreren Jahrzehnten mehr oder minder deutlich, daß sich der
Strom durch einen Deich nicht regieren und dauernd in Fesseln schlagen lasse.
Bei einer völligen Eisversetzung wird so wie so jeder Strom so hoch steigen,
daß er über jeden Damm fließt, und je näher die Dämme am Flusse errichtet
sind, um so größer sind die Gefahren der Eisversetzung.
Solche Eisversetzungen mit Überschwemmungen haben sich insbesondre an
der untern Weichsel in gefährlicher und schadenbringender Weise allzuoft ein-
gestellt; dabei wurde von den Berichterstattern, die die überschwemmten Weichsel¬
niederungen besuchten, aus einer Gegend gemeldet, daß die alten Häuser, die
vor der Anlegung des Deiches gebaut worden waren, auf einem Hügel so hoch
stünden, daß das Wasser ihnen keinen Schaden habe antun können, und daß nur
die neuern Häuser vom Wasser weggespült oder mehr oder weniger bedeckt seien.
Man hatte offenbar in früherer Zeit in der Weichselniederung die Häuser so
hoch angelegt, daß sie auf einem eigens dazu errichteten Hügel hochwasser¬
frei lagen. Erst später nach der Errichtung der Deiche unterließ man diese
Vorsicht.
An der mittlern Oder hielt man auch noch lange nach 1854 den Deich
für einen völligen Schutz und baute seitdem ruhig neue Häuser in der ein¬
gedeichten Niederung. Als in der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft im
Jahre 1891 auf Anregung von Schultz-Lupitz und Graf Arnim-Schlagenthin
der Entwurf eines Wassergcsetzes beraten wurde, wurde unter Mitwirkung des
Unterzeichneten in diesem ausgearbeiteten Entwurf der Deutschen Landwirtschafts¬
gesellschaft im Paragraphen 57 folgendes Verlangen an den Gesetzgeber gestellt
und folgende Bestimmung als Gesetz erbeten: Die Leitung des gesamten
Deichwesens untersteht dem Wasseramt nach Maßgabe der bestehenden Ver¬
ordnungen oder Gesetze, d) Zu allen Bauten und sonstigen Anlagen im ein¬
gedeichten Lande beziehungsweise im Überschwemmungsgebiet eines Flusses ist
zuvor die Genehmigung des Wasseramts einzuholen, o) Im Überschwemmungs¬
gebiet eingedeichter Flüsse dürfen weder Häuser, die Menschen zur Wohnung
oder zum Aufenthalte dienen, noch Stallungen neu errichtet werden, wenn nicht
der Fußboden des Erdgeschosses mindestens so hoch wie die Deichkrone ist, oder
die betreffenden Gebäude noch durch einen besondern genügend hohen Ring¬
damm (außer dem Längsdeiche) geschützt werden."
Man ging hierbei davon aus, daß ein Längsdeich einen dauernden sichern
Schutz gegen Hochwasser nie gewähren wird. Wenn auch die allmähliche aber
notwendig eintretende Erhöhung des Flußbettes eingedeichter Flüsse erst nach
längern Zeiten, vielleicht erst nach einem Jahrhundert ins Gewicht fällt, so
bietet doch ein Lüngsdeich weder bei Eisversetzungen noch bei Deichbrüchen
einen unfehlbaren Schutz. Es entsteht in dem Überschwemmungsgebiet ein Not¬
stand, die Wohnhäuser werden überschwemmt und für längere Zeit zum Wohnen
ungeeignet. Wenn sich auch die Menschen meist noch rechtzeitig auf den Boden
oder eine Anhöhe retten können, gelingt das beim Vieh oft nicht. Dieser Not¬
stand bei Überschwemmungen eingedeichter Flüsse muß immer größer und furcht¬
barer werden, da sich die Häuser, ja sogar die Dörfer im Überschwemmungs¬
gebiete vermehren, und der eingedeichte Fluß sein Bett langsam aber ständig
erhöht.
Der später von der preußischen Regierung ausgearbeitete Entwurf eines
Wafsergesetzes, der im Jahre 1894 veröffentlicht worden ist, lehnte die Auf¬
nahme der von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft geforderten Bestimmung
ohne Begründung ab. Man ist also auch damals in Regierungskreiseu von der
Sicherheit der Deiche noch durchdrungen gewesen. Jetzt scheint sich vereinzelt
schon eine andre Anschauung Bahn gebrochen zu haben, denn der Bezirks-
ausschuß zu Breslau hat neuerdings beschlossen, daß zu Bauten im eingedeichten
Lande eine besondre Genehmigung nötig sei, und daß diese nur ausnahmsweise
erteilt werden solle.
Aber mit solchen polizeilichen Maßnahmen allein wird man nicht durch¬
dringen, wenn nicht durch ein umfassenderes Gesetz allmählich der Überzeugung
immer mehr Bahn geschafft wird, daß das Überschwemmungsgebiet eingedeichter
Flüsse zum Wohnen für Menschen nicht geeignet ist, und daß die Häuser des¬
halb möglichst aus diesem Gebiet beseitigt oder verlegt werden müssen.
Da das nicht völlig durchführbar ist, so wird man für die Wohnstätten,
um die Überschwemmungsgefahren für diese auf ein möglichst geringes Maß zu
beschränken, eben noch weitere Vorsichtsmaßregeln treffen müssen, wie sie etwa
in dem Entwurf der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft aufgestellt sind. Sollten
durch dieses Verlangen die Neubauten im eingedeichten Lande wegen der Er¬
schwerungen unterbleiben, dann um so besser für das Land.
Inzwischen hat die Eindeichung aber auch andre Nachteile gezeitigt. Der
Graswuchs in dem eingedeichten Lande (binnendeich) ließ ganz nach, und das
wenige Gras, das außendeichs wuchs, war teils wegen der Überschwemmung
unsicher, teils reichte es auch nicht, einen genügenden Viehstand zu erhalten.
So zeigte sich an der mittlern Oder, wo eine großartige Viehwirtschaft hätte
betrieben werden können, wenn man den Deich nicht so nahe an den Fluß ge¬
rückt hätte, daß das Eindeichen doch seine Nachteile hat. Diese Nachteile wurden
um so fühlbarer, als ausländisches Getreide in Deutschland Eingang fand und die
Getreidepreise fortwährend sanken, sodaß jetzt der Körncrbau durchaus nicht mehr
lohnender als die Graswirtschaft erscheint, vielmehr diese jetzt vorteilhafter und
gewinnbringender ist. Dabei ist die Graswirtschaft sichrer und nicht von so
vielen Zufälligkeiten abhängig wie der Körnerbau in dem eingedeichten Lande,
Denn wenn das Frühjahrshochwasser lange hoch steht und nur langsam ver¬
schwindet, macht sich das Drange- oder Trnrwasser innerhalb der Deiche auch
so schädlich bemerkbar, daß Wintersaaten leicht versäuern, versumpfen und ganz
verloren gehn. Der Körnerbau im eingedeichten Lande wird immer ertragloser
und unsichrer, und um so unsichrer, je höher infolge der Eindeichung das
Flußbett steigt. Denn jeder Fluß führt immer Geschiebe mit sich und ist wohl
nie imstande, alle seine Geschiebemassen mit sich bis ins Meer zu schaffen,
insbesondre sind auch bei der mittlern Oder die Sandablagerungen bedeutend.
Wenn man mit Hilfe der Buhnen, die man immer weiter in den Fluß
hineinbaute, eine Fahrstraße von der Versandung frei zu halten sucht, und
wenn das auch gelungen sein mag — obgleich es von den meisten bestritten
wird —, so dienen doch die Buhnen andrerseits gerade dazu, daß sich die
Sandmassen des Flusses zwischen ihnen ablagern. Auch läßt jedes Hochwasser
in dem Teile des Flußbettes, der bei gewöhnlichem Wasserstande trocken liegt
und nur bei Hochwasser bespült wird, also in dem Teile des Flusses, der den
Dämmen am nächsten liegt, jedesmal einen Schlammrückstand zurück, der bei
einer Überschwemmung zwar unbedeutend ist, aber durch die vielen jährlichen
Hochwasser schon in einem Jahre zu einer merkbaren Erhöhung des Landes
beiträgt.
Es wird sich deshalb nicht nur trotz der Buhnen, sondern gerade infolge
der Buhnen das Flußbett des eingedeichten Flusses mit Notwendigkeit erhöhen,
unzweifelhaft hat es sich ja auch seit 1854 an der Oder erhöht, was um so
fühlbarer Hervortritt, als das eingedeichte — binneudeich liegende — Land seit¬
dem der fruchtbringenden Überschwemmung nicht mehr ausgesetzt gewesen ist
und durch Schlammrückstände nicht mehr erhöht worden ist. Das Flußbett
wird also immer höher, und das eingedeichte Land bleibt so niedrig, wie es war.
Infolgedessen müssen natürlich die Deiche auch erhöht werden. Das kann man
zwar machen, aber der Mensch ist nicht imstande, überall die eingedeichten Flächen
zu erhöhen. Das vermag erfolgreich uur die Naturkraft des Flusses.
Das alles beweist die Geschichte eingedeichter Ländereien; so ist zum
Beispiel das Flußbett des Pos bei Ferrara schon über die Dächer dieses Ortes
gehoben, während das Flußbett der Etsch bei Legnago nicht weniger als sechs
Meter höher liegt als die Straßen dieser Stadt. Die Folge jeder Eindeichung
eines Flusses ist also, daß die eingedeichte Niederung allmählich versumpft
und eher oder später von den Menschen verlassen werden muß, weil ihre
Bebauung keinen Nutzen mehr bringt, und ihr Bewohnen immer gesundheits¬
schädlicher werden muß. Läßt man also den Deichbau an der mittlern Oder
nicht fallen, so werden sich mit Naturnotwendigkeit die Überschwemmungen
immer öfter ereignen und immer gefährlicher werden. Auch wenn man die
Deiche immer mehr erhöht, wird dennoch das eingedeichte Land allmählich durch
Versumpfung vom Flusse wieder zurückgefordert werdeu und seinen Bewohnern
verloren gehn. Daß das eintreten muß, darüber besteht kein Zweifel; zweifel¬
haft ist nur, wann es geschehen wird. Es hat sich darum auch in Laudwirt-
schaftskreiseu immer mehr die Überzeugung Bahn gebrochen, daß es so nicht
mehr weiter geht.
Die einen verlangen einfach, daß man die Deiche ganz abreißen und dem
Fluß zur Überschwemmung alles Land wieder zurückgeben soll, was ihm von Natur
gebührt. Aber dieser Vorschlag ist schon deshalb nicht angebracht, weil die
Deiche doch mindestens den einen Vorteil haben, daß sie dem Hochwasser einen
bestimmten Lauf vorschreiben, und daß infolge der Deiche die schädlichen Ver¬
sandungen der fruchtbaren Ländereien unterbleiben, und der Fluß auch beim
Hochwasser nicht, wie dies sonst oft vorkam, dadurch ausartet und verwildert,
daß er sich teilweise ein andres Bett sucht. Also die Deiche erscheinen schon
dadurch zweckmäßig, daß sie dem Flußlauf auch bei Hochwasser eine bestimmte
Richtung, ein bestimmtes Bett vorschreiben.
Wenn Professor Schlichting in seinem Vortrag über anderweitige Eindeichung
der Flußtäler (Sorau 1880) eine Deichbauart auf den Unterschied zwischen
niedern Sommerdeichen — als Längsdeichen — und höhern Winterdeichen (als
Querdeichen) stützt, so mag er dafür seine Erfahrung am Niederrhein anführen,
wo die Sommerhochwasser nie die Höhe erreichen wie die Frühjahrs- oder die
Winterhochwasser. An der mittlern Oder, insbesondre oberhalb Glogaus, erreichen
jedoch die Sommerhochwasser den höchsten Stand und übertreffen meist die
Frühjahrswasser; noch größer wird dieser Unterschied weiter oberhalb. Man
kann deshalb an der mittlern Oder nicht wie am Unterrhein niedere Dämme
errichten, die nur das Sommerhochwasser abhalten, und über die das höhere
Winterhochwasser frei hinwegfließen kann. Gerade die Sommerdeiche müßten
die höhern sein, dann kann aber das befruchtende Winterwasser nicht über sie
hinweg. Doch der Gedanke von Schlichting ist richtig, daß in die eingedeichten
Länder das befruchtende Frühjahrshochwasfer zur Düngung eingelassen werden
muß, und daß diese nur vor dem unzeitigen und deshalb meist schädlichen
Sommerhochwasser durch die Deiche geschützt werden müssen.
Gerson hat deshalb in seiner 1888 in zweiter Auflage erschienenen Schrift:
„Wie es hinter unsern Deichen aussehen müßte" dagegen vorgeschlagen, die
Längsdeiche zu lassen, wie sie einmal sind, und sofern sie zu niedrig sind, noch
zu erhöhen, dagegen das eingedeichte Land wieder der Wiesen- und Weidewirt¬
schaft dadurch zurückzugeben und es für den Graswuchs dadurch wieder vorteil¬
haft zu machen, daß man bei Hochwasser, insbesondre im Frühjahr, die Gewässer
des Flusses hinter die Deiche, über sie hinweg oder durch sie unschädlich leitet
und so diese Flüchen mit dem fruchtbaren Naß und dem Schlammreichtum des
Flusses düngt. Durch dieses Einlassen des Hochwassers in das eingedeichte
Gebiet und durch den infolgedessen zurückbleibenden Schlamm bewirkt man auch
wieder eine allmähliche Anhöhung des eingedeichten Landes, sodaß dieses nicht
in derselben Weise der spätern Versumpfung anheimgegeben wird wie jetzt.
Trifft dagegen ein Hochwasser zur Unzeit im Sommer ein, wo das Gras noch
nicht abgeerntet ist, so läßt man es eben nicht durch die Dämme, sondern be¬
schränkt die Überrieselung auf geeignete Zeiten im Frühjahr, im Winter oder
auch im Herbst.
Obgleich sich Gerson mit seinen Bestrebungen viele Mühe durch Wort und
Schrift gegeben, und obgleich er dem preußischen landwirtschaftlichen Ministerium
nachgewiesen hat, an welchen Stellen und in welchen Gebieten wenigstens
probeweise das Wasser des Flusses hinter den Damm gelassen werden könne,
so ist meines Wissens noch nicht einmal eine Probe damit gemacht worden.
Es leuchtet ein, daß eine solche Veränderung nur mit großen Schwierigkeiten
durchzuführen sein wird, ja auch nur mit vielen Kosten. Aber das erscheint
mir angebracht, wenn es durchaus nicht anders gehn sollte, daß die Negierung
schlimmstenfalls die eingedeichten, jetzt wenn nicht wertlosen, so doch der Gefahr
ausgesetzten Ländereien aufkauft, sie zur Bewässerung für das Hochwasser für
Vieh- und Graswirtschaft geeignet macht und diese für den Graswuchs so
fruchtbar und wertvoll gemachten Lündereien wieder verkauft oder auch als
Domänen verpachtet.
Sollte man eine Probe erst mit dem Einlassen von Hochwasser in einzelnen
Gebieten machen wollen, so wird es nicht schwer sein, überall geeignete Gebiete
zu finden, wo dies am leichtesten ausgeführt werden kann und den größten
Vorteil verspricht. Unterzeichneter hält zum Beispiel eine Fläche an der mittlern
Oder gegenüber von Köder ganz besonders dazu geeignet. Allerdings muß dann
der Lüngsdeich durch Querdämme mit der nahen Anhöhe verbunden werden,
damit das Hochwasser nur an einzelnen Abschnitten nach Art großer Landseen
eingelassen werden kann, und hinter den Deichen nicht ein neues Fließen des
Stroms beginnen kann. Aber solche Querdämme werden gerade dazu beitragen,
die Hochwassergefahr sehr stark zu vermindern, denn es kann dann ein Deich¬
bruch immer nur bis zum nächsten untern Querdamm schädlich wirken, während
sich jetzt ein Deichbruch meilenweit bemerkbar zu machen Pflegt, und es jetzt,
um größern Schaden abzuwenden, notwendig wird, den Deich auch unterhalb
zu öffnen, damit das Wasser an geeigneter Stelle seinen Lauf in den Fluß
zurück nehmen kann. Bei der vorjährigen Überschwemmung der Oder hat das
Wasser ja an der einen Stelle den Damm durchbrochen, um auszutreten, und
sodann unterhalb den Damm nochmals zerrissen, um in den Strom zurück zu
können. Weder ist aber das Hochwasser immer so verständig, noch liegen überall
die Höhenlagen so günstig, daß das Wasser in den Fluß wieder zurück kann.
Jedenfalls wird man nur dadurch, daß mau Notstandsgelder einsammelt,
die Überschwemmungsgefahren nicht beseitigen und die Deichverhältnisse nicht
verbessern, im.Gegenteil eher verschlechtern. Denn solche Gelder tragen mit
dazu bei, daß die Niederungsbewohner die gefährliche Niederung nicht verlassen
und sich mit ihren Wohnstätten nicht auf die natürlichen Anhöhen zurückziehn.
Je eher das geschieht, um so vorteilhafter ist es für die Wasserwirtschaft und
die Niederungsbewohner selbst. Hoffentlich bewirkt das Hochwasser des vorigen
Sommers, das so plötzlich und so gewaltig eintrat, daß endlich unsre Deich¬
wirtschaft geändert wird. Diese Änderung kann nur darin bestehn, daß man
das Hochwasser künstlich und unschädlich in das eingedeichte Land zur Be¬
fruchtung und Düngung hineinläßt, daß man die Wohnstätten allmählich aus
der eingedeichten Niederung auf die nahe Anhöhe verlegt, daß man keinen Acker¬
bau mehr in der Niederung treibt, die von Natur zur nutzbringenden Graswirt¬
schaft bestimmt ist, daß man mit einem Worte dem Flusse das Land freiwillig
zurückgibt, das ihm gehört.
>n den folgenden Jahren trat keine Veränderung in dem Ver¬
hältnis der beiden Nachbarländer ein; es war nach wie vor ein
nnunterbrochner Grenzkrieg; irgend ein entscheidender Erfolg
wurde auf keiner Seite errungen. Die Russen bauten 1666
I Albasiu wieder auf, sie schickten 1672 und 1673 mehrere Bauern-
wlomen, die auch gut gediehen, ins Amurland und trieben nach wie vor
den Zobeltribut ein. Dabei kamen einige besonders auffallende Übergriffe
vor, sodaß man in Moskau eine größere kriegerische Aktion Chinas befürchtete.
Man ordnete deshalb einen außerordentlichen Gesandten nach Peking ab.
einen Griechen. Nikolaus Spafari. den Interpreten in der Gesandtschaftskanzlei.
Er reffte als erster von Moskau über Nertschinsk und Tsitsikar nach Peking,
1675 bis 1677. Wenn man zu Moskau gehofft hatte, durch diese Gesamte-
schaft die ganze Grenzangelegenheit beilegen zu können, so war man im Irr¬
tum gewesen. Spafari hatte nicht nur bedeutende Zugeständnisse machen
müssen, die er bei seiner Rückkehr am Amur bekannt gab (von Albasin aus
darf weder Amur noch Seja befahren, noch von den Tungusen der Seja
Tribut erhoben werden), sondern er hatte auch von den kriegerischen Absichten
Chinas erfahren und warnte die Russen vor einem chinesischen Überfall. Man
kehrte sich nicht daran, sondern fuhr fort, in der hergebrachten Weise zu
schalten und zu walten. Da verbreitete sich 1682 plötzlich die Nachricht, eine
große chinesische Macht sei gegen Albasin im Anzüge.
Es handelte sich diesesmal nicht um ein kriegerisches Unternehmen der
üblichen Art, sondern um einen großen, planmüßig angelegten Feldzug. Die
Chinesen verschanzten sich zunächst in Aigun, nicht weit von der Mündung
der Seja; dann begannen sie alle Ostroge und Simowien im Gebiete der
Seja und des untern Amur zu zerstören und das Land zwischen Amur und
dem Stanowoigebirge von den Russen zu säubern; Udskoi-Ostrog war der
einzige Ort, den sie nicht berührten. Im März 1685 streiften sie schon bis
in die Nähe von Albasin, am 11. Juni schickte der chinesische kommandierende
Feldherr ein Schreiben an Tolbusin, den Kommandanten, und forderte zur
Übergabe auf. Als keine Antwort erfolgte, begann am folgenden Tage die
Belagerung. Die Besatzung machten 450 Mann Kosaken, Bauern, Kaufleute
und Pelzjäger aus, an Feuerwaffen hatte man 3 Kanonen und 300 Musketen.
Entsatz kam nicht, die Munition ging zu Ende, und die Verluste schon der
ersten Tage betrugen über 100 Mann. Da übergab Tolbusin am 22. Juni
den Ort gegen freien Abzug nach Nertschinsk. Auf dem Wege dahin be¬
gegneten ihnen die aus Nertschinsk zum Entsatz abgesandten Truppen. Sie
mußten auch wieder mit umkehren. Die Chinesen folgte» bis zur Mündung
des Argun. Damit waren die Chinesen wieder unbestrittne Herren des Amur¬
gebiets, wie sie es jedenfalls auch schon vor Ankunft der Russen waren; aber
„man konnte sich doch russischerseits deshalb nicht überreden, der chinesischen
Gewalttätigkeiten halber alles Recht auf die ehemaligen Besitzungen am Amur
fahren zu lassen." Der Woiwode von Nertschinsk „erkannte die Größe des
Verlusts und erwog die feindliche Ungerechtigkeit. Er gedachte auf Mittel,
das Verlorne wieder zu behaupten." Die Chinesen waren, nachdem sie auch
Albasin verbrannt hatten, nach Aigun zurückgekehrt. Am 25. September be¬
gannen die Russen mit dem Wiederaufbau Albasins; zur besondern Sicherheit
umgab man den Ort noch mit einem Walle. Man brachte die Ernte, die
nicht vernichtet worden war, in Sicherheit, bestellte das Feld von neuem und
erhob auch wieder Tribut. Schon im November zeigten sich chinesische Späher.
Im März 1686 wurde der Kosakenoberst Beiton mit 300 Mann auf Kund¬
schaft ausgesandt. Am 7. Juli stand schon wieder die gesamte chinesische
Streitmacht vor Albasin. Die Belagerten zählten 736 Mann und hatten
8 Kanonen nebst dem nötigen Vorrat von Stückkugeln, Pulver und Blei;
das chinesische Heer zählte 7000 bis 8000 Mann und verfügte über 40 Ge¬
schütze. Die Russen büßten viel Leute ein, nicht nur durch feindliche Kugeln,
sondern besonders durch den Scharbock, der in den feuchten, unterirdischen
Wohnungen wütete. Der Kommandant Tolbusin fiel. Den Befehl übernahm
ein Deutscher, von Beiton. der es in russischen Diensten bis zum Kosaken¬
oberst gebracht hatte. Er hielt die Belagerung aus, die bis Ende November
dauerte, dann in eine Blockade verwandelt wurde, die am 30. August 1687
mit dem Abzug der Chinesen endete.
Den plötzlichen Abbruch der Belagerung hatte ein Befehl aus Peking
angeordnet. Dort war 1686 ein russischer Gesandter, Nikifor Wenukow, er¬
schienen mit dem Vorschlag einer friedlichen Lösung der Grenzstreitigkeiten.
Der Grund zu dieser Maßnahme ist nicht schwer zu finden. Wenukow war
am 11. Dezember 1685 von Moskau abgereist. Erst im Laufe dieses Jahres
konnte man in Moskau genaue Nachricht über die Bedeutung der chinesischen
Unternehmungen am Amur erhalten haben. Man erkannte erst jetzt den Ernst
der Lage. Hatte man vielleicht bei frühern Meldungen an einen der gewöhn¬
lichen chinesischen Angriffe gedacht, zu deren Abwehr ja die Besatzung am
Amur genügte, so wußte man jetzt, daß jede militärische Hilfe zu spät kommen
mußte, daß höchstens ein ernsthafter Vorschlag über eine Grenzrcguliernng
das weitere Vorgehn der Chinesen unterbrechen und damit die Zerstörung
sämtlicher russischer Niederlassungen und eine dauernde Besetzung auch des
linken Amurufers durch die Chinesen verhindern konnte. China war im¬
stande, weit mehr Truppen und in kürzerer Zeit in das Amurland zu werfen,
als dies Rußland je Hütte tun können. Es machte zum Beispiel den Russen
schon Schwierigkeiten, zu den kommenden Verhandlungen drei Regimenter von
je etwa 600 Mann als Begleitmannschaften für die Gesandten zusammen¬
zubringen; eins stand zur Verfügung, das zweite sollte eigentlich von Tobolsk
aus die Grenze im Süden gegen die Kirgisen sichern, und das dritte mußte
unterwegs in Jenisseisk, Ilinsk und andern Orten mühsam zusammengesucht
werden. Noch viel schwerer wäre es Rußland geworden, ein Heer aufzustellen,
das einer chinesischen Armee von etwa 10000 Mann hätte die Wage halten
können. Ganz abgesehen davon, daß der Weg nach dem Amur von Moskau
aus weiter war als von Peking, von wo aus in kürzester Zeit hätte Nach¬
schub eintreffen können, hätten die gefürchteten sibirischen Winter, die bei den
damaligen Verhältnissen jeden Verkehr unterbrachen, in dem kaum besiedelten
Lande die Verpflegung nahezu unmöglich gemacht. Rußland war also im
Osten — trotz des Heldenmuth der Kosaken — dem chinesischen Reiche gegen¬
über völlig ohnmächtig. Da sich demnach Rußland bei der Währung seiner
Interessen nicht auf die Gewalt seiner Waffen verlassen konnte, so mußte es
den friedlichen Weg beschreiten und durch diplomatische Verhandlungen mög¬
lichst gut abzuschneiden suchen. So wurde Wenukow abgeschickt, und er reiste
in größter Eile, um seinen Auftrag nicht von den Ereignissen am Amur über¬
holen zu lassen. Zwar war Albasin schon genommen, als er von Nußland
aufbrach, aber die Zähigkeit der Greuzkosaken hatte sich das Land noch nicht
entwinden lassen, und' während Wenukow in Peking die russische Grenz¬
kommission anmeldete, lag das chinesische Heer zum zweitenmal vor Albasin.
Der Kaiser von China ging auf den Vorschlag Rußlands ein und ließ sofort
die Belagerung von Albasin aufheben. Diese Eile mag auffallend erscheinen.
In Wahrheit war der günstigste Zeitpunkt zum Abschluß eines Grenzvertrags
für China gekommen. Bis 1682 hatten sich die beiden Mächte ziemlich gleich¬
stark gegenüber gestanden. Die Vorteile, die China seither errungen hatte,
erlaubten ihm, zu fordern, die Russen, die als die Bittenden kamen, mußten
gewähren, wenn sie nicht alles auf eine Karte setzen und alles verlieren
wollten. Jetzt konnte China verhindern, daß die Russen die Amurlinie be¬
festigten, wie es ihre Absicht war; denn dann Hütte China offen vor ihnen
gelegen, ohne jede natürliche Grenze. Welche Vorteile aber die eindringenden
Feinde durch das Fehlen jedes Grenzhindernisfes hatten, das war gerade den
Mandschu besonders deutlich geworden, als sie wenig Jahrzehnte vorher in
das offne China eingerückt waren. Das Streben Chinas bei den bevorstehenden
Grenzregulierungen mußte schon aus diesem Grunde dahin gehn, die Russen
zum Aufgeben des linken Amurufers zu zwingen.
Schon im Februar 1686 brach die russische Gesandtschaft, Fedor Golowin
als Bevollmächtigter an der Spitze, von Moskau auf. Man reiste in größter
Eile und kam im September desselben Jahres nach Jenisseisk. Hier erfuhr
man von der zweiten Belagerung Albasins. In Nibenskoi-Ostrog über¬
winterte die Gesandtschaft vom September bis zum Mai des folgenden Jahres.
Im September 1687 kam man in Udinskoi-Ostrog an. Ohne Aufenthalt
wollte der Gesandte weiter, um dem bedrängten Albasin beizustehn, als ein
Eilbote eintraf, der von der Aufhebung der Belagerung und dem Abzug der
Chinesen berichtete. Nun ging Golowin nach Seleuginsk zurück und sandte
Korowin nach Peking, die Ankunft der Russen zu melden und um Bestimmung
des Verhcmdlungsvrtes zu bitten. Er kam im Juni 1688 zurück, die Ver¬
handlungen sollten in Seleuginsk stattfinden.
Nun wartete man auf die Chinesen. Sie kamen erst ungefähr ein Jahr
später. Zwar war schon im Mai 1688 die chinesische Kommission einmal von
Peking abgereist, aber wegen verschiedner Unruhen in der Mandschurei wieder
dahin zurückgekehrt. Im Juni 1689 reiste die Gesandtschaft, die auch von
zwei Jesuiten, dem Pater Pereyra und dem Pater Gerbillon, begleitet wurde,
ab und kam im Juli in Nertschinsk an, das mittlerweile als Verhandluugsort
bestimmt worden war. Die Russen waren mit etwa 1500 Mann erschienen,
die Chinesen verfügten aber über nicht weniger als 10000 Mann, auf dem
Strome vor Nertschinsk lagen 76 Fahrzeuge mit fast ebensoviel Kanonen.
Die Russen protestierten selbstverständlich gegen eine solche Anhäufung von
Streitkräften. Man kam endlich dahin überein, daß jeder der beiden Bevoll¬
mächtigten nur 40 Begleiter und 760 Soldaten mitbringen durfte; davon stellten
sich 500 Russen an der Festung, 500 Chinesen an den Schiffen in Schlacht¬
ordnung auf, je 260 Mann, nur mit dem Seitengewehr bewaffnet, begleiteten
die beiden Gesandten bis zum Konferenzort. Die Chinesen, „die noch nie mit
einer fremden Nation Frieden geschlossen und vom Völkerrecht gar keine
Kenntnis hatten, setzten ein gar zu großes Mißtrauen ans die Moskowiter;
sie besorgten allerlei ausgebreitete Fallstricke: sie wollten ihre Person gern in
Sicherheit setzen, weil sie nicht wußten, daß der Charakter eines Abgesandten
auch nnter den Feinden unverletzlich wäre," berichtet Gerbillon. Allmählich
wurden auch die Russen nervös, da die Chinesen immer wieder die Schlacht¬
reif der 500 möglichst nahe heranrücken ließen. Die beiden Jesmten mußten
alles aufbieten, die Chinesen zu beruhigen: „Wir erklärten ihnen, was hrerm
das Völkerrecht mit sich brächte; wir gaben ihnen zu verstehn, daß der russische
Gesandte sich nur darum so schwierig stelle, weil er nicht glauben könne, daß
man mit so vielen Tausenden um des Friedens willen gekommen wäre."
Nachdem alle Zeremonien überwunden waren, und man endlich in dre
Beratungen eintrat, machte der Nüsse den ersten Vorschlag: der Amur solle
d'e Grenze zwischen beiden Reichen sein, der Norden den Russen, der Süden
den Chinesen gehören. „Dazu hatten unsre Abgesandten keine Ohren, be¬
richtet Gerbillon, weil einesteils noch gar volkreiche Städte auf jener Seite
des Flusses lagen, teils die Zobeljagd in den jenseitigen Teilen des Gebirges
ihnen im Gemüte lag. Sie taten deshalb einen ausschweifenden Antrag und
forderten mehr, als sie begehrten." Die Russen sollten bis zur Selenga
weichen und Albasin, Nertschinsk und Selengiusk abtreten. Damit endete der
erste Beratungstag. Auch der zweite Tag führte zu keinem Resultat. Die
Chinesen gaben sich den Anschein, als wollten sie die Verhandlungen abbrechen.
Hier griffen nun die Jesuiten ein, die wußten, daß den Russen Selenginsk
und Nertschinsk gelassen werden sollte. Sie erboten sich, die Russen zur Ab¬
tretung von Albasiu zu bringen. Nach Ablauf von vierzehn Tagen kam end¬
lich der Wortlaut der einzelnen Bestimmungen zustande.
Als Grenze zwischen beiden Reichen wurde der Gorbizafluß, ein linker
Nebenfluß des Amur, angenommen, „und da von dieses Flusses Ursprung an
ein großes Gebirge bis ans östliche Weltmeer sich erstrecket, so soll ferner
längs den Gipfeln dieses Gebirges die Grenze dergestalt angenommen werden,"
daß alle Flüsse, die zu dem Stromgebiet des Amur gehören, chinesisch, alle,
die nordwärts fließen, russisch sein sollten. Über die Flüsse, die zwischen Ad
und Amur ins Meer münden, wollte man sich „entweder durch Gesandte oder
durch freundschaftliche schriftliche Unterhandlungen" einigen. Von der Gorbiza-
mündung aus sollte die Grenze längs des Argun nach Süden laufen. Arguns-
koi wurde auf das russische, linke Argunufer verlegt; Albasin mußte geschleift
werden. Die Jäger beider Reiche solle» aus keinerlei Ursache die Grenze
überschreiten. Die Überläufer aus der Zeit vor dem Traktat wurden uicht
ausgewechselt, in kommenden Zeiten aber sollten sie sofort zurückgeschickt werden.
Die Untertanen beider Reiche hatten „die Freiheit, mit Pässen versehen, aus
einem in das andre Reich zu reisen, dort zu kaufen oder verkaufen, was ihnen
gefällig ist." „Da nun auf diese Weise alle auf den Greuzen beider Kronen
entstandnen Irrungen beigelegt und ein ewiger Friede zwischen beiden ge¬
troffen worden ist.' so wird keine Ursache neuer Verwirrungen entsteh» können,
wenn die vorhingedachten Bergleichsnrtikel fleißig beobachtet werden."
Durch den Vertrag von Nertschinsk waren die Russen vom Amur abgo
drängt worden. Die Chinesen sorgten dafür, daß alle Bedingungen aufrecht
erhalten wurden. Alljährlich reisten chinesische Beamte den Amur aufwärts
und den Argun abwärts bis zur Mündung des Gorbizabaches. „Dort
wartete eine Partei auf die andre, um von dem, was bei der Besichtigung
der Grenze wahrgenommen worden war, einander Nachricht zugeben." Längs
der Grenze standen Pfähle, die das Datum der Revision trugen. Die Russen
bauten Nertschinsk zu einem ansehnlichen Grenzort aus, der seit 1690 als
Stadt bezeichnet wurde. Hier häuften sie alles Kriegsmaterial an, über das
sie im Osten verfügten, und belegten die Stadt und ihre Umgebung mit zwei
Regimentern Kosaken. Der Verkehr beider Reiche beschränkte sich in der Folge¬
zeit fast uur auf einen geringen Warenaustausch; es war ein Handel, der sich
müde dahinschleppte.
Den wesentlichsten Anteil an den: Zustandekommen des Vertrags haben
unzweifelhaft die beiden Jesuiten gehabt. Müller in seiner Sammlung
russischer Geschichte und v. Baer in seinem Buche: Peters des Großen Verdienst
um die Erweiterung der geographischen Kenntnisse bezeichnen das Auftreten
der Jesuiten „als ein betrügerisches in bezug auf die russische Gesandtschaft,"
und Baer fährt fort: „Wie sich denn die Jesuiten dessen auch in ihrem eignen
Berichte (vergl. Dn Halbes vesoription 6v Liuiinz, loins IV) rühmten und
von dem Kaiser von China öffentlich belobt wurden. Sie waren zu dem
russischen Gesandten Fedor Alexejcw Golowin, angeblich ohne Wissen der
Chinesen und unzufrieden mit den Prätensionen derselben, gekommen, teilten
aber konfidentiell mit, daß die Chinesen Befehl hätten, auf der Abtretung
Albasins zu bestehn. Da man nun ebenso konsidentiell gegen sie bemerkte,
daß man im äußersten Notfalle wohl darein willigen könnte, machten sie in
der wiedereröffneten offiziellen Verhandlung, der sie beiwohnten, diese Mit¬
teilung bekannt und betrachteten sie als Basis." Müller und Baer berufen sich
auf Gerbillons eignen Bericht; dort stellt sich aber die ganze Angelegenheit
etwas anders dar. Die Chinesen brachen am 23. August die Verhandlungen
ab, weil sie sich angeblich von den Russen beleidigt glaubten. Am 24. August
fanden überhaupt keine Verhandlungen statt. Da keine der Parteien nach¬
geben wollte, die ganze Angelegenheit damit auf einem toten Punkte ange¬
kommen war, so erboten sich die Jesuiten als Vermittler und begaben sich im
Einverständnis mit den chinesischen Gesandten zu den Russen, allerdings unter
einem Vorwande, damit die chinesischen Unterhändler nicht als die nach¬
gebenden erschienen. „Die Moskowiter, denen soviel als uns an Frieden
gelegen war, berichtet Gerbillvn, bezeugten sich über unsre Ankunft sehr ver¬
gnügt. Wir sagten ihnen rund heraus, wenn sie nicht Lust oder Befehl
hätten, Jaks« (Albasin) an die Chinesen abzutreten, so sei alle Arbeit vergeblich,
weil wir gewiß wüßten, daß die Abgesandten ausdrücklichen Befehl hätten, sich
ohne dieses gar nicht weiter einzulassen. Was aber die Länder zwischen Aaksa
und Niptchou (Nertschinsk) beträfe, ungleichen die Nordseite des Flusses Saghcilien
(Amur), so könnten wir nicht sagen, wie weit unsre Leute sich revanchieren könnten,
sie möchten aber selbst überlegen, was für ein Ort zwischen beiden Plätzen zur
Bestimmung der Grenzen am dienlichsten sei, und wir zweifelten gar nicht, daß
unsre Abgesandten aus Liebe zum Frieden alles nur mögliche eingehn würden.
Der Gevollmächtigte antwortete: Wenn sich die Sache also verhielte, so möchten
die Abgesandten ihm nur ihre letzte Entschließung zu wissen tun. Den 26.
stellte sich ein Deputierter bei uns ein und wollte unsrer Abgesandten letzte
Entschließung abholen. Man zeigte ihm auf einer großen Karte die Grenzen,
die zwischen beiden Reichen festgesetzt werden müßten"; usw.
Es waren die Grenzen, die später wirklich zustande kamen. Die Kon¬
ferenz vom 23. August war die letzte gemeinsame der Gesandten gewesen, von
da an verhandelten sie nur noch mit Vertrauenspersonen der Gegenpartei;
auf chinesischer Seite waren dies die Jesuiten. Schon am 27. widerriefen
die Russen ihr Zugeständnis und verlangten als Ostgrenze des Amurlandes
nicht die Gorbizamündung, sondern Albasin. „Sobald wir diesen Vortrag ge¬
höret, erzählt Gerbillon, standen wir auf, beschwerten uns über den Mißbrauch
unsrer redlichen Absicht, ... sie hätten also unsern Abgesandten mit der.Hoffnung.
Naksa abzutreten, nur das Maul schmieren wollen; es sei also schwer, ein
Vertrauen zu ihnen zu fassen, oder die Unterhandlungen ferner fortzusetzen."
Am 28. endlich kam eine Deputation der Russen, die Aaksa abtrat, unter der
Bedingung, daß der Ort zerstört und niemals wieder aufgebaut werde; im
übrigen wurden alle wesentlichen Bedingungen der Chinesen erfüllt; am 29.
wurde über einige russische Forderungen verhandelt, die nicht vou besondrer
Bedeutung waren, und den 30. und 31. August brachten die Jesuiten „mit
der lateinischen Übersetzung der Friedeusartikel zu, die wir den Russen vor¬
lasen und eine Abschrift davon nehmen ließen." Am folgenden Tage baten
die Russen um Aufklärung über den einen Artikel, der als Grenze das Ge¬
birge bezeichnet, das sich von der Gorbizaquelle bis ans Meer hin erstreckt.
Da man sich über den genauen Verlauf der Linie nicht einigen konnte, ver¬
schob man die Entscheidung auf spätere Zeiten. Am 7. September kamen die
Verhnndluugen zum Abschluß. Die Vermittlerrolle der Jesuiten in allen
diesen Fragen war um so schwieriger, als jede der Parteien ihre Forderungen
äußerst schroff vertrat, um den Gegner zum Nachgeben zu zwingen. „Das
verdrießlichste dabei war dieses, daß sie (die Russen) mit einer gebietenden
Stimme bezeugten, als ob ihnen alle diese Länder zugehört hätten." Diesen
tönenden Worten setzten die Chinesen eine zähe Unnachgiebigkeit entgegen, die
die Russen nicht zu besiegen vermochten. Der Grund dieser Zähigkeit muß
in den genauen Vorschriften zu suchen sein, die sie aus Peking mitbrachten,
und in der Furcht, auch durch die kleinste Abweichung das Mißfallen ihres
Kaisers zu erregen. So erklärt sich auch ihr Verhalten bei unvorhergesehenen
Fällen, die sie vor eine selbständige Entscheidung stellen: bei der Aufteilung
des Udgebiets suchen sie ängstlich einen Vorteil herauszuschlagen, als ihnen
das nicht gelingt, brechen sie lieber die Verhandlungen ab und sind nur mit
Mühe zu einem Aufschub zu bewegen. Die Chinesen traten also in Nertschinsk
mit ganz bestimmten Forderungen auf, die vom Hofe in Peking ausgingen.
Die Gesandten hatten nur den Auftrag, den kaiserlichen Willen auf jeden
Fall durchzusetzen, lieber die Verhandlungen abzubrechen als nachzugeben;
lieber Krieg als einen unvorteilhaften Frieden. Ganz anders lag der Fall
bei den Russen. Im Bewußtsein ihrer Schwäche gegenüber China konnten
sie nicht nachdrücklich auf dem bestehn, was sie gern gehabt hätten. Wieder¬
holt versucht der Russe, Albasin zu behaupten, trotz der Drohungen der
Chinesen die Verhandlungen abzubrechen; als aber die Chinesen am Abend
des 27. Augusts Truppen fortschicken, die „um Uaksa herum alles Getreide
verderben" sollten, bewilligt der russische Gesandte am 28. die chinesischen
Forderungen. Sein Auftrag wird gewesen sein: Möglichst viel zu erreichen
suchen, schließlich auch mit wenigem zufrieden zu sein, auf jeden Fall aber
Frieden zu schließen.
Es lag also durchaus nicht in der Macht der Jesuiten, in Fragen der
Grenzregulierung einen Einfluß auf den chinesischen Gesandten auszuüben, der
ja selbst an eine starre Vorschrift gebunden war. Sie hatten kein Recht, an
den Besprechungen der chinesischen Würdenträger teilzunehmen, wurden aber
dazu „geladen" und auch „befohlen"; denn für die Chinesen waren sie als
Europäer unentbehrlich im Verkehr mit Europäern, sie waren ihnen Unter¬
händler und Ratgeber, soweit ihre eigne Macht reichte. Doch die Jesuiten
hüteten sich, jemals bei irgend einer Beschlußfassung ausschlaggebend sein zu
wollen: „In dieser Unentschlossenheit wollten sie (die Chinesen) unsre Meinung
hören; wir trugen aber billig Bedenken, etwas in dieser kitzligen Sache zu
sagen." Irgend welche Verantwortlichkeit wollten sie niemals auf sich nehmen.
Die Stellung der Jesuiten charakterisiert sich demnach als die von Vermittlern,
die aus eigner Machtvollkommenheit weder Zugeständnisse machen noch For¬
derungen aufstellen konnten, und die sogar in untergeordneten Fragen jedes
entscheidende Eingreifen vermieden, wenn ihnen daraus Weiterungen hätten
entstehn können.
So dürfen wir auch den Grenzvertrag von Nertschinsk nicht als unter
jesuitischen Einfluß entstanden ansehen; soweit reichte ihre Macht nicht, und
Baer betrachtet den ganzen Vorgang durch die Brille des Russen, es erscheint
ihm rühmlicher, das Zurückgehn seiner Landsleute am Amur nicht mit ihrer
erklärlichen militärischen Schwäche zu begründen, sondern sie als die Be-
trognen hinzustellen. Es lag auch gar nicht in der Absicht der Jesuiten, den
Russen irgendwie schaden zu wollen. Die beiden frommen Väter sollen hier
durchaus nicht als die uneigennützigen Friedensengel hingestellt werden. Ihre
Handlung war von Anfang an Berechnung: ihr Zurückschrecken vor einem
ausschlaggebenden Rate, der schließlich nachteilig sein konnte, in den Kon¬
ferenzen der Chinesen, ihre rastlose Vermittlertütigkeit im Dienste der unbe¬
holfnen chinesischen Gesandten und ihre verheißenden Andeutungen, die sie
dem russischen Bevollmächtigten machten, dem ihre Dienste ebenfalls von
größtem Nutzen waren. Das aber, worauf sie rechneten, war die Dankbar¬
keit aller Beteiligten; nicht für sich beanspruchten sie die, sondern für ihren
Orden. „Daher versprach uns auch der russische Bevollmächtigte, daß er bei
seinem Herrn, dem Großfürsten, die guten Dienste, so wir hierbei geleistet,
würde zu rühmen wissen, wobei er uns die Hoffnung machte, daß unser
Jesuiterorden in Moskau sollte geschützt werden. Eben diese Gerechtigkeit
ließen uns auch unsre Abgesandten widerfahren. Denn sie trugen dem Offi¬
zier, der dem Kaiser von ihrer Ncgotiation Nachricht bringen mußte, insonder¬
heit dieses auf, daß er dem Kaiser sagen möchte, daß diese wichtige Angelegen¬
heit ohne uns nicht würde geendigt worden sein, und daß sie uns alles zu
danken Hütten," schreibt Gerbillon. In China erreichten sie denn auch ihren
Zweck durch das Edikt vom 20. März 1692, das den Jesuiten „wegen ihrer
mannigfaltigen Verdienste um den Staat" die Verbreitung des Christentums
in China erlaubte. „Daß man auch in Moskau mit dem Grenztraktate von
Nertschinsk nicht unzufrieden war, zeigt die Erhebung Golowius in den
Bojarenstand und seine schriftliche Belohnung," sagt Baer.
Es mögen noch kurz die Gründe für den hartnäckigen Kampf um das
Amurland erwähut sein. Von den Russen wurde es erstrebt wegen seines
Reichtums und als Pforte nach China, aus denselben Gründen wurde es von
den Chinesen verteidigt, die sich vor den Russen schützen wollten. Am Argun
durften die Russen bis zum Strome selbst Vordringen, denn zwischen China
und Nußland turnte sich hier das unbequeme Chingangebirge auf, und das
Interesse der Chinesen hat sich niemals ans das Gebiet jenseit des Gebirges
erstreckt. Sie überließen Trcmsbcnkalien bereitwillig dem russischen Nachbar.
Ganz anders lagen die Verhältnisse jenseits des Amur. Hier war der Einfluß
Chinas schon vor den Russen maßgebend. Chabarow berichtet ja von zahl¬
reichen chinesischen Händlern am Strome, und alle Russen erfahren ja, noch
ehe sie die Wasserscheide zwischen Lena und Amur überschritten, von dem aus¬
gebreiteten chinesischen Handel; anch erheben die Chinesen sogar am linken
Ufer des Stromes Tribut und versetzen bäurische Stämme ohne Anwendung
von Gewalt vom linken Ufer auf das rechte. Das Amurland war also schon
vor der Ankunft der Russen in wirtschaftlicher, teilweise auch in loser politischer
Abhängigkeit von China. Gaben die Chinesen das Amurland preis, so ver¬
loren sie nicht nur ein Absatzgebiet für ihre Waren und eine billige Bezugs¬
quelle für die kostbaren Pelze, vielleicht auch politischen Einfluß, sondern die
Russen würden auch ihre unmittelbaren Nachbarn, denen dann der Weg nach
China ungehindert offen stand. Die Gefährlichkeit dieses Nachbars erkannten
oder witterten die Chinesen. Deshalb umgaben sie die Mandschurei mit Wall
und Graben: im Norden hatten sie den Amurstrom und den Gebirgskcnnm,
Teile der Jablonoi- und Stcmowoikette; im Westen die Mauer des Chingan-
gebirges und den Argunstrom. Diese doppelte Verschanzung blieb so lange
unübersteigbar. als die Russen sie nicht durch dieselben Kräfte bezwingen konnten,
durch tue sie die Chinesen aufgerichtet hatten, durch militärische und wirtschaftliche
Überlegenheit.
is sich am 23. Mai des Jahres 1830 württembergische Offiziere und
Beamte in Stuttgart versammelten, um sich achtzehn Jahre nach der
Beendigung des russischen Feldzugs mit seinen entsetzlichen Stra¬
pazen, denen so viele ihrer Kriegskameraden erlegen waren, wieder
zu begrüßen — es waren 80 aktive Offiziere, 22 in den Ruhe¬
stand versetzte, 10 aktive Militärbeamte und 25 in den Zivildienst und in das
Privatleben eingetretne Offiziere und Militärbeamte —, gab General von Stock-
mayer in seiner Rede einen Überblick über ihre damaligen Erlebnisse. „Auch
dieser ist in Rußland gewesen, schloß er, das wird das Losungswort sein, an
dem wir uns für unsre ganze Lebenszeit als Brüder, als Kameraden erkennen
werden."
Unter den dort versammelten Offizieren war auch Karl von Martens,
damals Major und Adjutant des Kriegsministers, und sein Bruder, der Haupt¬
mann Christian von Martens. Beide hatten als Unterleutnants in noch jungen
Jahren diesen Feldzug, wie den vorangehenden österreichischen und die zwei
folgenden, den sächsischen und den französischen Feldzug, mitgemacht. Aus Ober¬
italiens sonnigen Fluren waren sie einst nach Deutschland gekommen und in
württembergische Kriegsdienste getreten. Christian von Martens ist durch sein
im Jahre 1862 erschienenes Werk „Vor fünfzig Jahren, Tagebuch meines
Feldzugs in Nußland," wie durch sein Tagebuch über seinen Feldzug in Sachsen,
erschienen 1863, in weitem Kreisen, nicht bloß in militärischen, bekannt geworden.
Sein Bruder, Karl von Martens, der als Generalmajor a. D. im Jahre 1861
starb, hat sich als militärischer Schriftsteller, vor allem durch seine „Geschichte
der innerhalb der gegenwärtigen Grenzen des Königreichs Württemberg vorge-
fallnen Kriegsereignisse vom Jahre 15 vor Christi Geburt bis zum Friedens¬
schlüsse 1815" ebenfalls einen Namen gemacht. Seine handschriftlich noch vor-
handnen Erinnerungen an seine vier Feldzüge sind dagegen bis jetzt noch nicht
im Druck erschienen. Er verdient es aber, im Gedächtnis unsers Volkes weiter
zu leben als ein hochverdienter, bei aller Schlichtheit und Bescheidenheit doch
ungemein tüchtiger und berufstreuer Mann. Seiner Erinnerung sollen diese
Zeilen gewidmet sein, die die wesentlichsten Züge seines Lebensbildes, seines
Wirkens und seiner wichtigsten Kriegserlebnisse kurz wiedergeben möchten.
Karl von Martens wurde am 12. Juli 1790 in der Nahe von Venedig
auf dem Landgut Miravecchia bei Doto von deutschen Eltern geboren. Sein
aus Hamburg stammender Vater war dänischer Generalkonsul in Venedig, seine
Mutter eine Schwester des am 3. Februar 1826 in Stuttgart gestorbnen General¬
leutnants von Scheler, der uach glücklicher Rückkehr aus dem russischen Feldzug
auf der Feuerbacher Heide in trauriger Weise verunglückte. Seine Eltern
wohnten den größten Teil des Jahres auf dem Lande, wo es gänzlich an ge¬
eigneten Schulen fehlte. Sie waren überdies die einzige evangelische und deutsche
Familie in der Umgebung Venedigs, deshalb ließen sie ihre Kinder durch Hof¬
meister unterrichten, die aus Württemberg kamen. Schon hatte Karl von Martens
sorgenlos und in den angenehmsten Verhältnissen das achtzehnte Lebensjahr
zurückgelegt, ohne daß über seinen künftigen Beruf entschieden worden wäre, und
ohne daß er sich für ein bestimmtes Fach vorbereitet hätte, als er durch einen ältern
Bruder, der ein Jahr zuvor die Universität Tübingen bezogen hatte, die Nach¬
richt erhielt, daß, wenn er Lust zum Militürstand hätte, ihm sein Onkel,
Graf Scheler, zur Erlangung einer geeigneten Anstellung in Württemberg be¬
hilflich sein wolle. So schwer es ihm auch wurde, sich von seinen geliebten
Eltern zu trennen, so entschloß er sich, durch die Notwendigkeit getrieben, irgend
einen Beruf zu ergreifen, mit ihrer Einwilligung sogleich dazu. Auch sein
Bruder Christian schlug dieselbe Laufbahn ein. Im Herbst 1808 kam Karl
nach Stuttgart und wurde in: Oktober desselben Jahres als Kadett bei der
Garde zu Fuß mit der Erlaubnis angestellt, dem Unterricht in dem damaligen
Kadetteninstitut beiwohnen zu dürfen. Er genoß ihn jedoch nur ein halbes
Jahr. Da brach im Jahre 1809 der Krieg zwischen Frankreich und Österreich
aus. Er wurde zum Sekondeleutnant bei dem Infanterieregiment „Kronprinz"
ernannt und machte nun seinen ersten Feldzug mit, den er gleich den folgenden
in einem regelmäßig geführten Tagebuche geschildert hat. Seine Schilderungen
sind meist sehr ruhig, mehr in rein historischer Art gehalten, erheben sich aber
bisweilen zu spannender, lebendiger Darstellung und frischer, gewandter Be¬
schreibung. König Friedrich von Württemberg stellte als Rheinbuudfürst damals
ein Truppenkorps von 13000 Mann Infanterie (3 Brigaden), 2600 Reitern
und 22 Geschützen mit der Pflicht der französischen Heeresfolge auf. Zu seiner
Führung war der Feldzeugmeister v. Cämmerer bestimmt, der jedoch auf die
Nachricht hin, daß der wegen seiner Rücksichtslosigkeit und Grobheit unbeliebte,
ja verhaßte französische General Vcmdcnnme zum Kommandanten des württem¬
bergischen Korps in Aussicht genommen sei, seine Entlassung erbat. An seine
Stelle trat General von Neubronn. Unter ihm brach die Division am 11. April
aus dem Lager bei Heidenheim ans und rückte in der Nahe von Ingolstadt
an die Donau. Nun folgte vom 19. bis zum 24. April eine Reihe von Ge¬
fechten und Schlachten, durch die Napoleon die Österreicher über die Jsar und
den Jnn drängte. Wohl bei keiner andern Gelegenheit zeigte sich Napoleons
Genie bekanntlich glänzender, als in diesem sechstägigen Feldzuge an der Donau.
Am 20. April ließ der Kaiser die württembergische Division uuter seinem Befehl
gegen Abensberg vorrücken. Vor dem dort bevorstehenden Kampfe ließ er der
Division folgenden für seine Auffassung deutscher Geschichte bezeichnenden Armee¬
befehl vorlesen: „Soldaten von Württemberg! Ihr seid im Begriff, euch mit
einem Feinde zu schlagen, der seit langer Zeit Deutschland tyrannisiere hat.
Als Protektor des Rheinbundes habe ich mich an eure Spitze gestellt. Euer
Souverän hatte früher nur eine Handvoll Truppen; ich habe seine Staaten
vergrößert, und er erscheint jetzt als eine Macht in Europa. Zeigt euch würdig,
an der Seite der großen Armee zu fechten und das Vertrauen zu verdienen,
das ich in euch setze! Ich befinde mich allein in eurer Mitte und habe nicht
einen Franzosen um mich. Dies ist eine Ehre für euch ohne Beispiel!" Die
Division nahm damals die feindliche Stellung mit Mut und Entschlossenheit
und rückte den Österreichern bis Siebenburg nach. Am 21. April wurde der
Brückenkopf von Landshut an der Jsar erstürmt, und am folgenden Tage
nahmen die Württemberger, in der Avantgarde des rechten Flügels der fran¬
zösischen Armee stehend, rühmlich teil an der für Napoleon siegreichen
Schlacht bei Eggmühl. Am 1. Mai passierte die Division den Jnn bei
Braunau. — Am 4. Mai kam Karl von Martens nach Linz, wo am Tage
vorher ein heftiges Gefecht stattgefunden hatte. Er schreibt darüber: „Die
Stadt stand noch in vollen Flammen, und die schwer Verwundeten, die sich
darin aufhielten, hörte man aus den einstürzenden Häusern um Hilfe rufen, die
man ihnen doch nicht leisten konnte. Mit großer Gefahr und immer über
Leichname schreitend mußten wir durch die ganze Stadt durch, bis wir jenseits
zwar keinen erfreulichen aber doch imposanten Anblick genießen konnten. Für
mich war es der erste der Art. Bei der Dunkelheit der Nacht gewährte nämlich
die brennende Stadt, deren hellauflodernde Flammen sich in der Traun spiegelten,
und die unzählbaren Feuer der unweit davon biwakierenden großen Armee ein
furchtbar schönes Schauspiel, wobei freilich das Auge sich unterhalten, aber
nicht ergötzen konnte. Unsre Artillerie beschoß die Vorstadt und steckte sie in
Brand, um die Österreicher daraus zu vertreiben." Am 8. Mai hielt General
Vandamme Musterung über die Brigade, an: 14. wurde ein Freudenfeuer wegen
der inzwischen vollbrachten Einnahme von Wien angezündet. Am 17. Mai
fand nochmals ein Gefecht bei Linz statt, an dem der Feind einen Oberst,
zwölf Offiziere, gegen 1500 Mann und sechs Kanonen verlor. Nun zog das
wttrttembergische Korps weiter über Dirnberg, secher, Moll, Se. Potter. Am
20. und 21. Mai fand die blutige Schlacht bei Aspern und Eßling statt, in
die jedoch die Württemberger unter General Vandamme, da sie in Reserve
standen, nicht mehr eingriffen. Auch bei der Schlacht von Wagram, den 6. Juli,
war das Gros der Württemberger uicht beteiligt. General Vandamme ließ von
einer Anhöhe aus noch einige Kanonenschüsse abfeuern, worauf Kaiser Napoleon,
als er das hörte, zu seiner Umgebung sagte: Hnoi, l«z Avnüral VanäMiinv s'<zu
mois aussi! Hierauf soll General Vandamme, als man es ihm an seiner
Tafel erzählte, gesagt haben: 81 je uns ra'vir susss xas ensis 11 g. olu^t
ans, l'Dmpsrkur ssrait «noors Aarcls-cocckons. Die Württemberger bekamen
nun den Auftrag, nach dem Friedensschluß die Stadt Graz in Steiermark, die
sich uoch nicht ergeben hatte, zu besetzen. Am 21. Juli rückten sie dort ein,
nahmen den Schloßberg ohne Mühe und hielten sich bis zum 30. Juli dort
auf. Daun marschierten sie über Wien, vor dessen Mauern sie ein Lager auf¬
schlugen, langsam durch Österreich und Bayern wieder zurück und kamen im
Januar des nächsten Jahres in ihr Vaterland zurück, wo sie von König Friedrich
in Göppingen empfangen wurden. Die Regimenter waren fast vollzählig, sodaß
sie in ihrer neuen Bekleidung mehr den Anschein einer erst ins Feld ziehenden,
als einer aus dem Feld kommenden Armee darboten.
Wieder ins Vaterland zurückgekehrt und zum Regimentsadjutanten ernannt,
suchte sich Karl von Martens nun weiter in seinen militärischen Kenntnissen
auszubilden. Bald darauf aber, im Jahre 1812, kam es zum zweiten, zum
russischen Feldzug. Das Kontingent, das König Friedrich zu der großen Armee
zu stellen hatte, betrug im ganzen 15800 Mann zu Fuß, 3400 Reiter und
32 Geschütze. Die württembergische Division (drei Brigaden Infanterie und
vier Regimenter Kavallerie) stand unter dem Kommando des Kronprinzen Wil¬
helm und marschierte am 11. Mürz aus ihren Quartieren bei Heilbronn ab,
mit der Bestimmung, sich an der Oder mit der übrigen Armee zu vereinigen.
Sie wurde zur 25. Division der großen Armee ernannt und bildete mit der
10. und der 11. französischen Division das dritte Armeekorps unter dem Mar¬
schall Ney, der sich bei den Franzosen wie bei den Rheinbundtruppen gleich
großer Beliebtheit erfreute.
Karl von Martens, zum Brigadeadjutanten ernannt, hat mit seinem Bruder
Christian diesen furchtbaren Feldzug von Anfang an bis zum Ende mitgemacht.
Am 25. Juni setzte er über den Riemen, nicht ohne den schweren Gedanken:
„Wer weiß, wer wieder über diesen verhängnisvollen Fluß zurückkehrt?" In
Wilna erkrankte der württembergische Oberbefehlshaber Kronprinz Wilhelm und
mußte in die Heimat zurückgehn, worauf der Oheim Karls, Generalleutnant
von Scheler, das Kommando übernahm. Schon damals waren die württem¬
bergischen Regimenter infolge der fürchterlichen Strapazen auf ein Drittel des
frühern Bestandes zusammengeschmolzen. Am 14. August kam es zum Gefecht
bei Krasnoi, am 17. und 18. zur blutigen Schlacht von Smolensk, in der auch
Generalleutnant von Scheler leicht verwundet wurde, und der General von Koch
eine schwere Verwundung erhielt. „Eine Anhöhe neben unserm Lager, erzählt
von Mariens am ersten Abend der Schlacht, gewährte uns eins der schreck¬
lichsten Schauspiele, die das Auge sehen kann. Bei einer stockfinstern Nacht
war das Erdreich mit Feuer bedeckt, vor uns die in Glut liegende Stadt, in
Flammen aufgehende Gebäude, noch vor einem Augenblick die Zierde der Stadt,
jetzt Asche und Kohle. Ringsum die zahllosen Wachtfeuer der beiderseitigen
Armeen, deren Schimmer sich erst in der entlegensten Ferne verlor — alles
gewährte einen ergreifenden Anblick. Hier blieb das Gefühl des Sieges über
das des Mitleids Meister, dort hielt die Hoffnung, das Vertrauen auf aus¬
dauernden Mut die Gemüter aufrecht, welche in Rauch aufgehn sahen, was ein
dreitägiger, hartnäckiger Kampf nicht retten konnte." Am 19. August, nach
dem Übergang über den Dnieper, wurde der furchtbare Kampf fortgesetzt. Der
Morgen des 20. August gewährte einen gräßlichen Anblick auf das Schlacht¬
feld. Wo man hinsah, lagen Tote, Verwundete, Sterbende, Verschmachtende,
Verbindende; die unglücklichen Russen mußten hilflos, wie sie lagen, ver¬
schmachten, während die Franzosen zurückgetragen und verbunden wurden. „In
den nächsten Tagen marschierten wir weiter, die stärksten Kompagnien waren
kaum noch dreißig Mann stark. Der ganze Stand der württembergischen Division
bestand noch an Infanterie aus 1456 Mann und war in sechs Monaten auf
ein Zehntel des Ganzen herabgeschmolzen, die Reiterei war noch 162, die
Artillerie 418 Mann stark." Bei Borodino am 7. September wurde die äußerste
von den Russen hartnäckig verteidigte Redoute von der württembergischen In¬
fanterie unter Schelers Führung im Sturm genommen. Bei dieser Gelegenheit
retteten die Württemberger den König Murat, der, als seine Schwadronen von den
russischen Kürassierer geworfen wurden, auf seinem Schimmel und in seiner
phantastischen Uniform weithin kenntlich, in höchster Gefahr war, gefangen zu
werden, und sich in die von den Württembergern besetzte Schanze warf. Die
württembergische Division hatte einen Verlust von ungefähr 600 Mann an
Toten und Verwundeten.
Am 14. September Abends sechs Uhr sahen die Truppen die Türme
von Moskau. Karl von Mariens erhielt den Auftrag, vor dem Einzug das
Gros der Armee, den Fürsten von Neufchatel, der mit Napoleon und seiner
Garde zuerst hin einmarschiert war, aufzusuchen. „Der Weg dahin, erzählt er,
war voll von zerbrochnen russischen Waffen. Eine steinerne Treppe führte mich
in den Palast hinauf, wo ich, die Zimmer des Fürsten suchend, einige sehr
schöne Säle und Zimmer sah. Ich gab einem seiner Adjutanten die Depesche
ab, weidete mich von einer Altane aus an dem Anblick der großen schönen
Stadt und setzte mich dann auf das Pferd, um ins Lager zurückzukehren.
Unterwegs hielt ich bei einem Keller, aus dem die Soldaten den Wein in
Bouteillen dutzendweise hinausschleppten, ließ durch meinen Bedienten auf zwei¬
mal dreizehn Bouteillen herausbringen, die wir nebst einem Schinken, den er
in einem andern Hause bekam, in das Lager brachten und meinem Onkel und
Bruder anstellten. Gräßlich war das Trinkgelage der Gardisten, die bis an
die Knöchel in Wein wateten. Als am 16. September alles die Erlaubnis zur
Plünderung Moskaus bekam, fehlte es nicht an Zwistigkeiten, Schlägereien und
selbst Mordtaten, viele wurden von den brennenden Häusern erschlagen, neun
Zehntel der Stadt brannten ab."
Bei dem furchtbaren Rückzug aus Rußland kam Mariens am 28. November,
dem „gräßlichsten Tag im ganzen Feldzug," auf der Brücke über die Beresina
nach langem Warten und größter Lebensgefahr endlich glücklich hinüber und
erreichte am 8. Dezember nach den entsetzlichsten Strapazen Wilna. Bei der
grimmigen Kälte erfroren ihm jedoch bald darauf beim Weitermarsch beide Füße,
und nur der glückliche Umstand, daß ihm sein Onkel, der General von Scheler,
einen Schlitten samt Pferd verschaffen konnte, rettete ihm das Leben. Leider
verlor er unterwegs sein wertvolles Tagebuch vom ganzen Feldzug, seine
Ordenspatente — er war unterwegs mit den: französischen Militärverdienstorden
geschmückt worden— und seine gute Karte von Rußland. Am 18. Dezember
kam er in Königsberg an; die ganz erfrornen Füße waren schwarz und brandig
geworden. Er mußte sich in Thorn einer schmerzhaften Operation unterwerfen,
lag wochenlang zwischen Leben und Tod danieder, wurde aber doch gerettet
und kam nach einer Abwesenheit von 348 Tagen am 7. März 1813 glücklich
in Stuttgart wieder an. Sein Bruder Christian war schon am 27. Januar
dort angekommen. Noch konnte er zwar den rechten Fuß nicht wieder gebrauchen,
aber gleich seinem Bruder hatte auch er das Recht, mit Schiller in seinem
Siegesfest voll innigen Dankes gegen Gott auszurufen:
In Stuttgart mußte er zuerst noch seine Genesung abwarten. Beim Aus¬
bruch des Befreiungskriegs, bei Preußens Erhebung im März 1813 waren die
Nheinbundstciaten noch mit eisernen Ketten an Napoleon gebunden. König
Friedrich beeilte sich, als kiävls aUiö Napoleons, dem französischen Imperator,
dessen Genie und drakonische Strenge in dieser kritischen Lage mit unglaublicher
Schnelligkeit Armeen aus dem Boden stampften, wieder ein Kontingent zur
Verfügung zu stellen. Schon am 19. April brach das Gros der württem¬
bergischen Division unter dem Oberbefehl des Generalleutnants von Franquemont
in einer Stärke von 7300 Mann mit 1400 Pferden von Mergentheim auf und
marschierte nach Sachsen. Einen Monat später folgte die zweite Kolonne,
4000 Mann und 1300 Pferde, unter den Generalen von Normann und von Koch-
Die württembergische Division wurde wieder als 25. Division der großen Armee
dem vierten Armeekorps unter dem General Bertrand eingereiht. Am 20. und
21. Ma fand die große Schlacht bei Bautzen statt, in der Napoleon nur mit
ungeheuern Opfern den Sieg erfocht, der doch unfruchtbar blieb. Die Generale
von Frcmquemont und von Neuffer mußten verwundet das Schlachtfeld ver¬
lassen, worauf General von Jede das Kommando der Württemberger übernahm.
General von Koch löste ihn später darin ab. Erst jetzt konnte sich Mariens,
nachdem sein Fuß geheilt war, wieder auf den Kriegsschauplatz begeben. Die
blutige, für die württembergischen Truppen so verhängnisvolle Schlacht bei
Dennewitz oder Jüterbog, den 6. September, in der ganze Bataillone zusammen¬
gehauen oder gefangen genommen wurden, wo „den württembergischen Hunden"
von den erbitterten Preußen kein Pardon gegeben wurde, und die Schlacht bei
Wartenburg, wo Mariens Regiment auf 144 Mann zusammenschmolz, waren
die wichtigsten Schlachten, die er mitmachte. Damals mußte er eine neu zu¬
sammengesetzte Kompagnie von Grenadieren kommandieren. Während der drei¬
tägigen Völkerschlacht bei Leipzig kamen die württembergischen Truppen nur
wenig zur Verwendung und waren mehr Zuschauer als Mitkämpfende. Die
Brigade des Generals Grafen Normann, ungefähr 1000 Reiter stark, mit zwei
Geschützen, ging in offner Schlacht zu den Verbündeten über. Die Division
gelangte auf ihrem Rückmarsch an Erfurt vorüber nach Fulda. Südlich davon
ist die Stelle, wo sich die Frankfurter und die Würzburger Straße scheiden.
Dort machte während eines kurzen Halts General Frcmquemont die Division
mit dem ihm vom König zugegcmgnen Befehl, die französische Armee zu ver¬
lassen, bekannt. Mau übergab den Franzosen ihren bis dahin bewachten Wagen¬
park und marschierte südwärts der Heimat zu, die freilich am 31. Oktober nur
noch 1000 Mann mit 1000 Pferden und zwei Geschützen bei Mergentheim
wieder erreichten. Am 2. November schloß König Friedrich, der Not gehorchend,
seinen Vertrag mit den Verbündeten und trat in die Koalition ein. Er erbot
sich, 24500 Mann Infanterie nebst 2900 Reitern und 24 Geschützen ins Feld
zu stellen, außerdem sollte auch ein Landsturm bis zu 100000 Mann im Lande
selbst organisiert werden. Das württembergische Korps, eine Kavallerie- und
eine Infanteriedivision umfassend, kommandierte wieder Frcmquemont. Das
Kontingent bildete zusammen mit österreichischen Truppen das vierte Armee¬
korps, das unter den Befehl des Kronprinzen Wilhelm gestellt wurde. Am
30. und 31. Dezember 1813 überschritt dieses Korps den Rhein bei Markt
unterhalb Hüningen und besetzte das Gelände zwischen Rhein und Ill. Seine
Aufgabe war. den General Rousseau, der die Stadt Epinal besetzt hielt, zuerst
aus seiner Stellung zu vertreiben. Am 11. Januar 1814 begann das Armee¬
korps den Angriff auf die genannte Stadt; der Feind zog sich zurück. Nun
ging der Marsch nach Langres, wo Marschall Mortier mit 12000 Mann
Stellung genommen hatte. Da sich dieser jedoch vor Ankunft der Deutschen
auf Chaumont an der Marne zurückzog, rückte ihm der Kronprinz auf dem
kürzesten Wege dorthin nach. Es gelang zwar, am 18. Januar den Feind auf
das jenseitige Ufer zu treiben, aber von einem Angriff auf seine vorzüglich be¬
festigte Stellung jenseits der Marne mußte man absehen. Mortier zog indessen
selbst ab und nahm eine neue Stellung bei Bar sur Aube, wurde aber von
Stellung zu Stellung zurückgedrängt und zog sich gegen Troyes zurück. Am
30. Januar kämpfte Blücher samt den württembergischen Truppen gegen Na¬
poleon, der nun selbst herbeigeeilt war, bei Brienne, mußte sich aber auf das
vierte Korps zurückziehn. Am 1. Februar dagegen erfocht er, mit den Russen
vereint, nachdem die Württemberger Lesmont erstürmt hatten, den Sieg bei
la Rothicre über Napoleon.
Martens schildert diese Kämpfe, an denen er überall beteiligt war, in seinen
Memoiren sehr genau und erzählt dann weiter die Erstürmung der Festung
Sens durch die württembergischen Truppen am 10. Februar, die erst nach hart¬
näckigem Kampfe gelang. Die Stadt wurde geplündert, da sich die Bewohner
auch am Kampfe beteiligt hatten; viele vornehme Bürger wurden bis aufs Hemd
ausgezogen. Eine hervorragende Aufgabe siel dem Kronprinzen Wilhelm am
17. Februar bei Montereau zu. Hier wurde er bekanntlich mit einer solchen
überlegnen Macht von Napoleon selbst angegriffen, daß er sich zurückziehn und
nach der tapfersten Gegenwehr, bei der er selbst in dem Defile bei der Brücke in
die größte Lebensgefahr geriet, mit großen Verlusten der Übermacht weichen
mußte. General von Stockmayer gelang es unter den größten Anstrengungen
und unter der höchsten Lebensgefahr, den schon von allen Seiten umringten
Kronprinzen herauszuhauen. Martens blieb auch in diesem Kampfe, wie seit¬
her,- unverwundet. Der Verlust der Württemberger war an diesem Tage groß,
er betrug über 700 Tote und 2000 Gefangne. Doch die siegreiche Schlacht
von Urals sur Aube, den 21. März, wobei der Kronprinz mit den drei ihm
übergebnen Armeekorps Napoleon zum Rückzug zwang, ebenso das glückliche
Gefecht bei Fere champenoise gegen die französischen Marschälle Marmont und
Mortier, die sich mit Napoleon vereinigen wollten, waren eine glänzende
Waffentat. Am 30. Mürz erschienen die verbündeten Heere vor Paris, wo
das vierte Korps den Kampf gegen die letzten disponibel» Truppen des Feindes
bei Vincennes, Se. Maur und Charenton zu bestehn hatte. Am 31. März
kam es noch in der Nacht zur Kapitulation der Stadt Paris und tags darauf
zum triumphierenden Durchmarsch. Auf allen Balkons wehten weiße Tücher,
alles war schon mit weißen Kokarden versehen, der Ruf: Vlvs i<z roi, vivsnt
los g.11lo8, vivo Iicmis XVIII! ertönte überall. „So wurde, sagt Martens,
diese stolze Nation zwar besiegt, aber nicht gedemütigt. Ein Volk wie das
französische sieht die gemäßigte Behandlungsart nicht als das, was sie sein
soll, sondern als Schwäche an und fühlt sich dadurch mehr geschmeichelt, um
ruhig zu bleiben, als gedemütigt und überwunden." Er schildert uns dann im
letzten Hefte seines Tagebuchs die Zeit vom Friedensschluß bis zur Rückkehr
nach Stuttgart. Er erhielt im Elsaß die Kunde von seiner Versetzung zum
Generalstab. Mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen zog sein Regiment
an Straßburg vorbei ins deutsche Vaterland. Dabei trug sich beim Verlasse»
des feindlichen Bodens noch eine bemerkenswerte Szene zu. „Als ich, so er¬
zählt General von Stockmayer, am 1. Juni Vormittags auf der Höhe der
Vogesen anlangte, ließ ich meine Brigade aufmarschieren, alle Hornisten und
Trompeter vor der Front vereinigen und brachte dem alten deutschen Bater
Rhein und besonders unserm deutschen Vaterlande, dessen Berge vor unsern
entzückten Augen standen, ein herzliches Lebehoch, das von der Brigade mit
höchstem Jubel noch oft wiederholt wurde, indem gegen achtzig Hörner und Trom¬
peten dazu schmetterten. Hierauf wurde das von mir während unsers Nück-
marschs verfertigte oder vielmehr nach dem alten Kaplied umgearbeitete Ab¬
schiedslied der Württemberger von Frankreich abgesungen, und als es an die
Strophe kam:ddann
da wollte es des donnernden Lebehochs und des Jubelgeschreis gar kein Ende
nehmen. Als ich dann zum Weitermarsch wieder antreten ließ, nahm ich sämt¬
liche Trompeter der Brigade, führte sie rückwärts gegen die Seite von Frank¬
reich und ließ nach dorthin das damals bei unsrer Reiterei durch besondre
Trompetenstöße eingeführte Pereatsignal geben, worauf dann in die Ebene, dem
Elsaß zu hinabgestiegen wurde. Am 6. Juni marschierten wir an Straßburg
vorbei, über die Rheinbrücke und Kehl nach Bischofsheim im Großherzogtum
Baden. Vor der Rheinbrücke wurde noch das Lied angestimmt:
Auch warf Major von Landenberger, einem frühern Versprechen gemäß, das
einzige, was er von Frankreich besaß, seinen Hut, mitten auf der Brücke in den
Rhein und setzte dann ohne Kopfbedeckung seinen Marsch weiter fort. Gleich
nachdem wir durch Kehl defiliert waren, ließ ich auf dem rechten Rheinufer
auf deutschem Boden Halt machen. Die Brigade formierte sodann ein Kolonnen¬
karree und trank noch mit französischem Wein auf das Wohl des Vaterlandes,
unsers Königs und unsers Kronprinzen. Hierauf wurde jenes Abschiedslied von
den besten Sängern gesungen, und als es an die Worte kam: »Daß Straß-
burgs Turm erbebt«, nahm mich der Oberst Graf Lippe, der in diesem Augen¬
blick selbst nicht mehr ganz fest auf dem Boden stand, unter den Arm, zeigte
mir den vor uns stehenden Münster und rief: »So wahr Gott lebt, Herr
General, der Kerl wackelt, er wackelt wahrhaftig!« In diesem Augenblick fuhr
Fürst Schwarzenberg an uns vorbei und erfreute sich herzlich des Jubels der
Brigade."
Mariens schildert uns zuletzt noch die Heimkehr und die Musterung der
württembergischen Truppen in Vaihingen durch den König, der sich äußerst zu¬
frieden mit ihnen bezeugte und ihnen Erfrischungen reichen ließ. Am 15. Juni
kam Wartens wohlbehalten in Stuttgart an und freute sich, alle die Seinigen
wohlbehalten zu treffen. Er schließt sein Tagebuch mit dem Gedichte:
Mariens war während des Rückmarschs zum Divisionsadjutmiten bei
seinem Onkel, dem Grafen von Scheler, und zum Hauptmann ernannt worden.
Die Rückkehr Napoleons von der Insel Elba nach Frankreich im Jahre 1815
störte abermals den Frieden. Die württembergischen Truppen wurden wieder
auf den Kriegsfuß gestellt, und dein Hauptmann von Wartens wurde am
14. April die Ehre zuteil, dem Generalstab des aus Württembergern, Oster-
reichern und Hessen bestehenden dritten Korps der Armee am Oberrhein, be¬
fehligt von Kronprinz Wilhelm, zugeteilt zu werden. Das württembergische
Korps, 20000 Mann Infanterie und 3300 Reiter mit 30 Geschützen unter
General Franquemont, vereinigte sich am 10. Mai mit 18000 Österreichern
und 8000 Hessen. Die Schlacht bei Belle-Alliance am 18. Juni war aber
schon geschlagen, als dieses Armeekorps den Rhein bei Germersheim überschritt.
Schon am folgenden Tage ließ der bei Weißenburg stehende General Napp
dem Kronprinzen sagen, da Napoleon abgedankt habe, hoffe er die Feindselig¬
keiten als beendigt ansehen zu können. Dies hielt jedoch den Kronprinzen nicht
ab, seinen Marsch gegen Süden fortzusetzen. Da dem Korps des General Rapp
durch die Bewegungen der andern deutschen Korps der Rückzug ins Innere Frank¬
reichs unmöglich gemacht worden war, beschloß er, sich auf die Festung Stra߬
burg zurückzuziehn, zuvor aber noch hinter dem Suffelbach in einer vorteil¬
haften Stellung eine Schlacht zu wagen. Diese endigte aber am 28. Juni mit
einem vollständigen Siege des Kronprinzen; der Feind wurde aus allen seinen
Stellungen geworfen und mußte sich in die Festung zurückziehn. Das dritte
Armeekorps trat nun den Marsch über die Vogesen in das Innere Frankreichs
an, gelangte ohne weitere Schlachten bis Autun und Revers, worauf es am
21. Oktober den Rückmarsch begann und am 16. November die Heimat wieder
erreichte. Am 20. November 1815 kam dann der zweite Pariser Friede zu¬
stande. Württemberg erhielt von der Kriegskostenentschädigung 1 Million
300000 Gulden und 3 Millionen 950000 Gulden Kontributionsgelder.
Für seine Leistungen während seines fünften und letzten Feldzugs wurde
Wartens mit dem russischen Se. Wladimirorden vierter Klasse und mit dein
für diesen Feldzug gestifteten Ehrenzeichen belohnt. Nachdem der Generalstab
des Kronprinzen infolge des Friedensschlusses aufgelöst worden war, trat Haupt¬
mann von Wartens bei dem Generalstab des württembergischen Korps ein und
wurde am 19. November 1815 zum Adjutanten des Korpskommcmdanten
Grafen von Frcmquemont ernannt. Diese Stelle behielt er jedoch nicht lange,
da auf den Antrag des Generalquartiermeisters von Varnbüler zu Anfang des
Jahres 1816 sämtliche Offiziere des Generalquartiermeisterstabs zu «zugemessener
Beschäftigung und Ausbildung in Ludwigsburg zusammengezogen wurden. Ihm
wurden besonders die Adjutanten- und Kanzleigeschäfte übertragen, neben denen
er sich jedoch auch mit wissenschaftlichen Arbeiten zu beschäftigen hatte. Ins¬
besondre wurde er der Hauptarbeiter an dem von den Offizieren des General¬
stabs herausgegebnen „Beitrag zur Geschichte der Feldzüge in Frankreich in
den Jahren 1814 und 1815."
Im Jahre 1820 übernahm er das Amt, die Aufsicht über die neugegründete
Offizierbildungsanstalt in Ludwigsburg zu führen. Als im März 1821 wegen
der damals stattfindenden Verhandlungen mit dem Papste die Absendung eines
Kuriers nach Nom nötig wurde, fiel die Wahl zu dieser Sendung auf ihn,
weil er als der italienischen Sprache mächtig für besonders geeignet gehalten
wurde, zugleich sichere Nachrichten über die damaligen unruhigen Bewegungen
in Italien, über die Stimmung des Volks usw. einzuziehn. Es wurde ihm
auf dieser Reise die Freude zuteil, seine Eltern wieder zu umarmen. Am
27. September 1821 rückte er zum Hauptmann erster Klasse vor, am 6. De¬
zember 1828 wurde er zum Major und Adjutanten des Kriegsministers be¬
fördert, am 26. September 1834 wurde er Oberstleutnant und im Jahre 1837
zum Kommandanten des Landjägerkorps ernannt. Auch in dieser Stellung, wo
er für das Wohl seiner Untergebnen und ihrer Witwen väterlich sorgte, erhielt
er mannigfache Anerkennung seiner treuen Dienste, 1840 wurde er zum Obersten,
1849 zum Generalmajor befördert und mit dem Komturkreuz des Militär-
Verdienstordens belohnt. Im März 1856 bat er, da er in ein höheres Alter
vorgerückt war, nach fast achtundvierzigjähriger Dienstzeit um seine Versetzung
in den Ruhestand. Diese Bitte wurde ihm am 9. April 1856 unter Erteilung
des Komturkreuzes erster Klasse des Friedrichsordens als „Anerkennung seiner
langen, treuen und ausgezeichneten Dienste" gewährt. Das Kommando über
das Landjügerkorps, das er mehr als achtzehn Jahre geführt hatte, gab er
jetzt ab.
Nun widmete er sich in seiner Muße vor allem seinen schriftstellerischen
Arbeiten, für die er ganz besondres Interesse, aber auch hervorragende Be¬
gabung, unermüdlichen Fleiß und sorgfältige objektive Darstellungskraft hatte.
Er verfaßte noch verschiedne militärische und kriegsgeschichtliche Arbeiten. Am
berühmtesten und heute noch wertvoll ist seine „Geschichte der innerhalb der
gegenwärtigen Grenzen des Königreichs Württemberg vorgefallnen Kriegs¬
ereignisse vom Jahre 15 vor Christi Geburt bis zum Friedensschlüsse 1815,"
erschienen in Stuttgart 1847 mit dem Ovidischen Motto: xws sse Mrias
tkotÄ rstsrrs Is-dor. Auch seine „Geschichte von Hohentwiel," im Auftrage des
Königlichen statistisch-topographischen Bureaus 1857 in Stuttgart erschienen, ist
ein Muster einer sorgfältig geschriebnen Monographie. Unvollendet blieb eine
„chronologisch-synchronistische Übersicht der allgemeinen Kriegsgeschichte," auf
die er viel Zeit und Mühe verwandte, und für die er reichliches Material
sammelte.
Im Jahre 1859, als der Ausbruch eines Kriegs gegen Frankreich bevor¬
stand, Preußen sein ganzes Heer mobil machte, und der Bund auch das
württembergische Kontingent mit dem siebenten und dem achten Armeekorps am
Oberrhein mobilisierte, wurde Martens nochmals von seinem König zu wichtigen
Diensten berufen. Er wurde zum Stellvertreter des die ausmarschiereudeu
württembergischen Truppen befehligenden Kriegsministers bestimmt. Diesen Posten
bekleidete er noch vom 20. Juni bis zum 24. August in einer Weise, daß er
als Anerkennung seiner umsichtigen und verdienstvollen Tätigkeit das Großkreuz
des Friedrichsordcns erhielt. Von da an verlief sein Leben still und friedlich.
Die Sorge für seine Kinder und Enkel war ihm besonders wichtig. Am
23. Dezember 1861 starb er in Stuttgart nach kurzer Krankheit. Sein Seel¬
sorger, Prälat von Müller, hob an seinem Grabe vor allem seinen biedern
Charakter, seinen rechtschaffnen Wandel, seinen ernsten religiösen und kirchlichen
Sinn, seine Einfachheit und Bescheidenheit bei so mannigfacher Begabung, Aus-
zeichnung und hoher Stellung, seine unwandelbare Gewissenhaftigkeit in allen
Ämtern, seine väterliche Teilnahme am Wohl und Wehe seiner Untergebnen
und sein brüderliches Mitgefühl für alle Not seiner Mitmenschen hervor. Seine
am 1. Dezember 1821 mit Minona, Tochter des Obertribnnalprokurators Müller
von Stuttgart, geschlossene Ehe wurde, so glücklich sie sonst war, durch die
Schwermut, an der seine Gattin jahrelang bis zu ihrem Tode krankte, sehr ge¬
trübt. Sein Gottvertrauen und sein heiterer Sinn verließen ihn jedoch nicht bis
an das Ende seines Lebens.
«M^/'M'l >^>eberraschend wirkt es, welche Stellung der Sezession von den
Rednern im Reichstag eingeräumt worden ist, und wie sie politisch
in einen Gegensatz zu der sogenannten „höfischen Kunst" ge¬
drückt wird.
Es handelt sich hier doch zunächst um die Gegensätze zwischen
der ältern, besser und umfassender gesagt: deutschen Kunst und einer inter¬
nationalen, die unter dem Kennwort: Sezession jetzt wirklich nur noch unnötiger¬
weise die Gemüter der Politiker aufregt.
Die Bezeichnung „höfische Kunst" soll hier ausgeschaltet werden, und die
Verantwortung dafür dem sxiritu8 reowr, Herrn A von Werner, überlassen
bleiben. Dagegen aber muß einmal ausgesprochen werden, daß auch nicht einer
der Redner im Reichstage das Wesen der Sezessionen, wie sie sich jetzt heraus¬
kristallisiert haben, erfaßt und klar gekennzeichnet hat. Die Herren glauben, es
handle sich auch jetzt noch um die Bestrebungen und die Ziele, die seinerzeit, vor
zehn Jahren etwa, bei uns die Sezessionsbewegung ins Leben riefen. Ideale
Ziele freilich hatten die Sezessionisten damals auf ihr Banner geschrieben. Es
galt, einen neuen, frischen Strom in ein stagnierend gewordnes Wasser hinein¬
zuleiten, neue Kunstanschaunngen zu Worte kommen und zur Tat werden zu
lassen, kurzum ein neues, blühendes, aufstrebendes Schaffen mit neuen Idealen
— aber doch Idealen — zu fördern und zu stützen.
Das klang sehr schön und Hütte auch sehr schön, zum mindesten sehr an¬
ziehend und lehrreich werden können, wenn nicht alsbald aus der „Arbeit" ein
„Kampf" entstanden würe, wenn man sich nicht alsbald in den Mitteln und in
dem Werkzeug erstaunlich vergriffen hätte. Man begann mit Steinwürfen auf
all die alten, bis dahin verehrten, mit mehr oder weniger Glück und Ver¬
ständnis verehrten Götter, und schaffte zunächst eine Trümmerstätte. Das wäre
nicht nötig gewesen. Es war genug Platz da für die alten und für die neuen
Götter. Auch das wilde Feldgeschrei, womit das verwunderte und bestürzte
Publikum angetrieben wurde, blindlings vor den neu aufgestellten Götzenbildern
zu beten, war um ein beträchtliches zu laut und zu heftig, war vor allen
Dingen vollständig unkünstlerisch. Nicht nebeneinander- oder gegenüberstellen
war die Losung, nicht leben und leben lassen, sondern nieder mit allem, was
vorher da war. Die paar gottbegnadeter Künstler, die zu groß und zu ruhig
waren, als daß man um sie herum gekonnt hätte, wurden einfach ins neue
Lager mit hinübergenommen, ohne daß sie in ihrer unberührbaren Ruhe und
Unbekümmertheit eine Ahnung davon gehabt hätten, was man mit ihnen für
ein politisches Spiel trieb. Sie und ihre Werke dienten den Neuen nun als
Schmuckstücke und dem verblüfften Publikum gegenüber als Lockmittel.
Aus dem verheißenen Kunstfrühling war unversehens ein böser Sommer
mit Ungewitter und Wirbelstürmen geworden. Ein wilder Groll hatte sich der
Gemüter bemächtigt, und ein ödes, unfruchtbares Parteiwesen, besser Partei-
n n Wesen, das jedes künstlerische Zusammenarbeiten der verschiednen Richtungen
unmöglich machte und vernichtete, hatte sich ausgebildet. Vor allen Dingen
waren die glänzenden Versprechungen nicht eingelöst worden, die man so laut
verkündet hatte. Es entstand wohl eine zum Teil technisch eigentümliche und in
den künstlerischen Anschauungen neue und interessante Kunstübung, aber die Er¬
wartungen, die auf die Schaffung einer deutschen Kunst gesetzt worden waren,
blieben unerfüllt. Die Sezessionen wurden zu Pflegstätten der Modemalerei,
anstatt einem gemeinsamen, großen Ziele zusteuern zu helfen. Eine Kunstmode
folgte dort der andern in fliegender Hast. Keine Ruhe, kein Ausreifen der
neuen Anschauung konnte eintreten. Heute wurde ein neuentdecktes Genie von
der Presse und den Gesinnungsgenossen jubelnd auf den Schild gehoben, und
ein Jahr danach raste dieselbe Rotte Geharnischter jubelnd über seine Leiche
neuen Götzenbildern zu. Heute standen Naturalismus, Impressionismus, und
wie die kräftigen Schlagworte alle heißen, auf der Tagesordnung; übers Jahr
lächelte man über sie als über veraltete und abgelebte Dinge, und neue, vom
Auslande importierte Moden waren die allein seligmachenden. Durch das Reklame-
getrommel der jüngsten und der allerjüngsten Kritik wurde für die große Sache
Propaganda gemacht. Das Publikum wurde hypnotisiert, sodaß es gelegentlich
eine Kartoffel für eine Ananas verspeiste und obendrein noch entzückt ihren
Wohlgeschmack und ihr Aroma lobte. Es gelang auch, eine Gilde von neuen
„Zukunftskunstgeschichtsschreibern" heranzubilden, aber merkwürdigerweise ent¬
standen darum die wirklichen großen Künstler von Himmels Gnaden in nicht
schnellerm Tempo und in nicht größerm Prozentsätze als früher. Diese mit
Sezessionsgespinst und -Gerank umhängten paar Riesen nahmen sich in der
neuen Umgebung zwar wunderlich aus, aber das schon nicht mehr ganz augen¬
sichre Publikum ließ sich geduldig erzählen, daß vor Beginn der Sezession diese
Leute überhaupt nicht richtig erkannt, nicht richtig gewürdigt worden seien, und
daß sie ihre Wertschätzung eigentlich erst der Sezession verdankten. Für sich
selber sorgten die Führer der neuen Zunft nach dem alten Satz: Wer am lautesten
schreit, behält zuletzt recht. Das auch schon nicht mehr ganz vhrensichre Publikum
glaubte ihnen alles, weil es keinen andern Ton neben ihnen mehr hörte, weil
es einfach betäubt wurde. Auf diese Weise gelang es ihnen, eine Reihe von
Helden ins Leben zu rufen, die gleich auf Lebenszeit zu Göttern ausgerufen
wurden, und die sich auf ihren Postamenten ganz natürlich ausnahmen, weil
sie selbst an sich glaubten. Es wurde keinem von ihnen vor seiner Gottühnlichkeit
im geringsten bange. Nur Sälen sie mit diesem Verfahren eigenhändig den Keim des
Mißvergnügens in ihre Reihen. Denn zum Weihrauchstreuen und zum Singen
sind die Herren Götter höchstselbst nicht zu benutzen; sie bedürfen dazu ihrer
Priester. Immer nur Priester zu sein, wird aber auf die Dauer langweilig.
Es gehört Talent zum einen wie zum andern. So hatte man denn den Hader
nun auch in dem Lager der Sezessionisten selber. Es entstanden lauter einzelne
Gruppen. Ragende Helden, gottbegnadete Führer, umgeben von auch be¬
rühmten Vorstandsmitgliedern und einigen ergebner und mutigen Freunden, die
der Sache dienten. Alle übrigen aus der großen Heerschar hatten weiter nichts
mehr zu tun, als im allgemeinen das Bild des „Sezessionsmilieus" abzugeben.
Bei der Errichtung eigner Sezessionsausstellungsgebäude durften sie brav die
Kosten bestreikn — auf ihre künstlerische Mithilfe aber wurde bald zugunsten
von Ausländern verzichtet. Dieses Liebäugeln mit draußen, dieses Heranzieht:
fremder Arbeiten zur Ausschmückung des Heimischen bedeutet meiner Anschauung
nach eine große Gefahr für die Entwicklung einer guten, nationalen Kunst. Es
kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, daß die Kunst eines Landes
nur dann auf die Dauer Bestand haben kann, wenn sie aus dem Heimatboden
erwächst. Nationen, und wenn sie noch so befreundet miteinander wären, werden
nie miteinander verschmelzen, immer bleiben sie Du und Ich. Sie können sich
auch nichts gegenseitig borgen. Und wenn wir den Amerikanern den Icmkee-
Doodle noch so „echt" hinlegen — sie lächeln nur über uns. Ebenso wie wir
lächeln würden, wenn sie sichs da drüben einfallen lassen wollten, uns mit einem
deutschen Volkslied zu kommen. Es füllt ihnen aber gar nicht ein. Auf solche
Scherze kommen leider nur wir Deutschen.
Mit den Errungenschaften einer neuen Kunstanschauung, mag sie genommen
sein, woher sie wolle, ist erst ein wirklicher Erfolg verbunden, wenn sie den
Empfindungen des eignen Volks angepaßt worden, wenn sie — in unserm
Falle — deutschem Fühlen und Denken dienstbar gemacht worden sind. Für
diese Forderungen haben aber die Führer der Sezessionen nichts übrig. Sie
wollen nicht deutsch sein, sie wollen auffallen. Sie wollen nicht still und stark
wie alle großen Bäume des Waldes den Wolken entgegenwachsen, sie wollen
sich breit machen und alles andre, was da wächst, verdrängen, erdrücken. Und
sie wollen — last not Isast — tüchtig Geschäfte machen. Hier stehn wir bei
der großen Brot- und Magenfrage: beim Geschäft. Warum wollten denn die
Sezessionen nur dann die Ausstellung in Se. Louis beschicken, wenn sie gemein¬
same Süle zur Verfügung hätten und womöglich eine eigne Geschäftsleitung?
Glauben die Herren Redner vom Reichstage nicht auch, daß gute Kunstwerke
neuer Richtung überall, so auch zwischen guten Werken der ältern Schule
wirksam sein könnten? Oder wird ihren Gemälden der Stempel des Kunst¬
werks erst dann aufgedrückt, wenn sie in besondrer Aufmachung vorgeführt
werden? Ist es denn so schlecht mit den Sezessionisteu bestellt, daß sie sich
jedem Vergleich in nächster Nähe entziehn müßten? Ganz gewiß nicht. Es
ist einfach die häßliche und völlig überflüssige Reklamesucht, die dieses Ver¬
langen stellt, die Sucht, unter allen Umständen aufzufallen, etwas andres zu
tun als die andern. Welch ein Aufsehen, wenn die „Internationale" in ge¬
schlossener Phalanx auf dem Plan erscheinen würde. Und wie herrlich die be¬
teiligte Presse den politischen Parteigenossen zuliebe vorgearbeitet haben würde.
Was aber hat die Politik mit der Kunst zu schaffen? Ist das noch eine
Kunst, die sich solche Hilfstruppen heranrufen muß? Die sich als Spielball
für politische Parteiplänkeleien hergibt, nur um unter allen Umständen Auf¬
sehen zu erregen, von sich reden zu machen? Ganz und gar nichts hat die
Kunst mit Politik zu tun. Sie steht ganz allein für sich, über jedem Partei¬
wesen, und sie zerfüllt, wenn einmal unterschieden werden soll, nur in zwei
Dinge: in gute und in schlechte, nicht in ältere und in Sezessionskunst. In einem
Alter, wo die meisten berühmten Sezessiomsten schon abgewirtschaftet haben
— kurzlebig, wie alles Moderne, ist auch der moderne, in Treibhausluft ge¬
wachsene Ruhm —, fing Menzel an, seine ersten Erfolge als Vorkämpfer einer
neuen gesunden Kunstanschauung zu erringen. Er führt uns noch heute. Herr
Spahn spricht von Liebermann. Max Liebermann hat vor zwanzig Jahren
neue Kunstanschauungen nach Deutschland getragen, und man hat ihn als
Künstler anerkannt. Damals war er ein Neuerer. Heute ist er ein Künstler,
den man mit Fug und Recht zu den Alten, Bewährten rechnet, auch ein
»alter Herr," wie die Sezessiomsten Menzel, Kraus, Meherheim so gern be¬
zeichnen. Und wenn eins seiner guten, alten Bilder, zum Beispiel eins aus
der Nationalgalerie, in Se. Louis ausgestellt würde, so brauchte er sich dessen
wahrlich nicht zu schämen, obwohl es nicht von heute früh ist. Sicher aber
ist die Meinung irrig, daß man Menzel, Kraus, Lenbach usw. nicht auszustellen
brauche, weil man sie ja drüben kenne. Gerade diese deutschen Künstler, die
im heimischen Boden wurzeln, geben das eigentliche Bild deutscher Kunst.
Besser jedenfalls als sezessionistische Nachahmungen fremder Kunstmoden.
Die Forderung der Sezessiomsten, eigne Ausstellungsräume zugewiesen zu
erhalten, war abgelehnt worden, da man eine Zersplitterung der Kunstinteressen
befürchten mußte. Daraufhin taten sich die Führer der Sezessionen mit ihren
Freunden zusammen, in der weisen Einsicht, daß es in diesem Falle mehr auf
sie selber als auf die eignen Sezessionsmitglieder ankäme, und begründeten
unter Mitführung Max Liebermanns, der in Berlin von Sezessiomsten so gern
als der „Kunstpapst" bezeichnet wird, den Weimarer Künstlerbund. Nachdem
sie konstatiert und sich gegenseitig versichert hatten, daß sie sozusagen die
Künstlerelite ausmachten, boten sie sich in dieser neuen Bundesform zur Rettung
der Ausstellung in Se. Louis an. Hier zeigt es sich wieder ganz klar, daß es
den Führern der Sezessionen nnr darauf ankommt, ihre persönlichen Sonder¬
interessen zu fördern, nicht aber etwa eine Lanze für die sezessionistische Kunst
zu brechen. Mit allen nur erdenklichen Mitteln haben sie die Genossen von
der ältern Kunstrichtung beiseite geschoben, unterdrückt, haben in der Presse
durch Selbstverherrlichung und durch schnöde Verulkung der „Überwundnen"
gewirkt, und gehn nun gar, wo es ihnen von persönlichem Nutzen erscheint,
gegen eine Reihe von eignen Parteigenossen mit offnem Visier vor. Der
Waldesboden deutscher Kunst ist gedüngt, ist übersättigt von Keimen der sich
immer selbst erneuernden Giftpilze, die mit ihren prachtvollen Farben die
Augen blenden. Immer neue Vereinigungen, neue Moden, neue Sezessionen
schießen über Nacht aus der Erde. Neu ist auch ein im „jüdischen Verlage"
zu Berlin erschienenes Werk: „Jüdische Künstler," das in einer ersten Serie
sechs jüdische Künstler, unter andern Liebermanu, verherrlicht, und das dazu
auffordert, ein bewußt jüdisches Publikum zu schaffen, das „seine" Künstler
kenne und bevorzuge. Nötig haben wir aber deutsche Kunst und deutsche
Künstler. Mit spezifisch englischen und französischen Kunstnachahmungen ist
der nationalen Kunst so wenig gedient, wie mit einer spezifisch jüdischen, wie
sie M. Büder, der Herausgeber der „jüdischen Künstler," erstrebt.
Vielleicht tragen diese Auseinandersetzungen dazu bei, daß die Herren Ver¬
treter im Reichstage nicht noch eine neue unbeabsichtigte Reklame für die Se-
zessionisten machen und sich lieber inzwischen die Dinge einmal genauer an¬
schauen, ehe sie künftighin wieder für deutsche Kunst eintreten müssen.
Daß die Kunstgenossenschaft bei Vertretung deutscher Kunst im Auslande
die geeignetste Einrichtung ist, ergibt sich aus ihrem langjährigen Bestehn und
aus ihren Zielen: die beste Vertretung der gesamten Künstlerschaft im Auslande
zu organisieren. Altdeutsch und unkünstlerisch ist die Sucht der Sezessionisten,
allerwege ihren Extratisch gedeckt finden zu wollen. Nur in einer gemeinsamen
Vorführung aller Kunstrichtungen liegt das Heil für die Vertretung deutschen
n den vierziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts reinigt das
revolutionäre Feuer des gewaltigen Staatsbrandes die Seele
George Sands von allerhand Schlacken. Allmählich bereitet sich
die ruhigere, sittlich gemäßigte Weltanschauung vor, die der viel-
TÄKSLZWW seitigen Entwicklung der kühnen Denkerin die Krone aufsetzt. In
dieser von sozialistischen Forderungen stark beeinflußten Übergangszeit hat sich
die wohlhabende, wenn nicht reiche Frau gelegentlich mit einem gewissen, /^IM^.'U/
Fanatismus der sittlichen Rechtfertigung von Liebesverhältnissen gewidmet, deren
gesetzliche Regelung durch Geldmangel und gesellschaftliches Vorurteil gehindert
scheint. Diese Verteidigung erreicht die Dichterin besonders dadurch, daß sie mit
echtem Künstlergeschick die leichtfertige Lebensführung der Aristokratie in schroffen
Gegensatz zu der Uneigennützigkeit unverdorbner Volksnaturen setzt. George
Sand äußert sich härter über die ausschließlich einem frivolen Müßiggange
frommte Damenwelt als über die doch immerhin noch eher beschäftigten männ¬
lichen Vertreter der Aristokratie und Plutokratie.
Aus den scharfen Äußerungen, die in Noraoe fallen, lugt der Ekel über
die gedankenlose Härte, über den schrankenlosen Egoismus der besitzenden Klassen.
Sobald ein Herkommen der sogenannten „guten" Gesellschaft dem natürlichen
Rechtssinn Hohn spricht, erwacht ihre Kampfeslust. Aber alle Rechtsfragen
sind verwickelt, und da sich George Sand in viele Widersprüche begibt, so haben
sogar ihre reinsten Absichten oft eine ganz falsche Auslegung erfahren. Sie galt
und gilt noch heute vielen als eine Gegnerin der Ehe. Und dennoch erhebt
sie in Wirklichkeit nur hartnäckig Protest gegen die übliche Ansicht, daß die
gesetzliche Eheschließung auch immer einen moralischen Erfolg bedeute, während
lebenslängliche Treue in einem Liebesverhältnisse, das der kirchlichen Sanktion
entbehre, undenkbar sei. Echte Frauenwürde wird sich ihrer Meinung nach in
den schwierigsten, zweideutigen Verhältnissen zu behaupten wissen. Mit Inbrunst
hat sie in Eugenie (Rorg-ve) ein Vorbild schönster weiblicher Vorzüge gezeichnet.
Dieses schlichte Wesen hat gesunden Verstand, Rechtsgefühl, wahre Herzensgüte,
Fleiß, rastlose Dienstfertigkeit, Aufopferung, feinen Takt, Gleichmut und Be¬
dürfnislosigkeit. Gleichwohl hat der angehende Arzt, dessen bescheidnen Heim
sie vorsteht, nnr eine Art von Gewissensehe mit ihr geschlossen — aber eine
Gewissensehe im vollsten Sinne des Wortes, da er auch Vnterfreuden als
möglich in Betracht zieht. Im Anschluß an die Schilderung dieses Verhältnisses
rüttelt die Dichterin beherzt an den starren Satzungen des Gesetzgebers, der
die Vaterliebe so klüglich vor dem natürlichen Rechtsbewußtsein verkümmert hat.
„Die Liebe, die Hingebung und die sorgsame Pflege machen das Wesen der echten
Vaterschaft aus. In dieser schrecklichen Welt, wo es einem Manne erlaubt ist,
die Frucht seiner Liebe in Stich zu lassen, ohne für ein Ungeheuer zu gelten,
haben die Bande des Blutes so gut wie keine Geltung."
Wir, die wir den Samt-Simonistischen Strömungen fern stehn, fühlen
uns allerdings zu der Frage berechtigt, warum diese musterhafte Eugenie nicht
trotz ihrer Armut zur gesetzlich anerkannten, allgemein geachteten Gattin erhoben
wird. Man fühlt sich wirklich versucht, bei George Sand in dieser Umstnrz-
Zeit an eine gewisse Art von Bravour zu glauben. Sie hat in dieser Zeit
entschieden unter ihren Thesenromanen einige „Bravourstückchen" geliefert. Sie
wollte um jeden Preis die „freie Liebe" feiern. Oft saug sie ein verkehrtes
Loblied, nicht selten, um ihre eignen Torheiten vor sich selbst zu rechtfertigen.
Sobald sie aber die echte Liebe feiert, die dem Gesetze zum Hohne besteht, liegt
kaum etwas Unnatürliches in der Übertreibung, mit der sie Saint-Simonistische
Ideen in ihren Romanen illustriert.
In Hör-z-c-k befriedigt sie den Leser nicht ganz, da weder der junge Arzt
noch Eugenie durch ein unübersteigliches Hindernis gehemmt sind, sich in die
staatlich vorgeschriebne Ordnung zu fügen. Dagegen nötigt die echt romantische
Schöpfung 6abiisl, der Seelengröße George Sands fast bedingungslos zu
huldigen. In diesem dialogisierten Romane bedient sie sich ungewöhnlicher, aber
doch einwandsfreier Mittel, ein dem Liebesglücke hingegebnes Menschenpaar von
der gesetzlich anerkannten Vereinigung fernzuhalten. Die vorauszusetzende Hand--
lungsweise naher Verwandten des Helden und der Heldin leidet allerdings stark
an UnWahrscheinlichkeit. Ein rankesüchtiger Großvater, der dem weiblichen
Sprößling eines bevorzugten Sohnes das Majorat sichern will, läßt Gabriele
in völliger Unkenntnis ihres Geschlechts abgeschlossen von der Welt heranreifen.
Bezahlte Kreaturen haben sie in dem Glauben erhalten, daß sie ein Mann sei.
Als ihr endlich die Enthüllung des Geheimnisses nicht länger mehr vorenthalten
werden kann, erforscht sie den Aufenthalt des Vetters, der durch den verübten
Betrug ahnungslos des Majorats verlustig gegangen ist und sein Dasein nur
mit Schwierigkeit fristet. Ein Zufall lüftet ihm das Geheimnis der Geburt
Gabrielens, und bald vereinigt echte Zuneigung ein glückstrahlendes Liebespaar.
Die Rücksicht auf die Ehre des greisen Familienoberhaupts und der Argwohn,
daß der Vetter sie nur vor den Augen der Welt zu seiner Gattin machen wolle,
um sein Erbrecht zu genießen, bewegen Gabriele, auf die Eheschließung zu ver¬
zichten. Auch ihr Geliebter zaudert, das Geheimnis ihrer Geburt der Öffentlich¬
keit preiszugeben, da er nicht den unwürdigen Verdacht gemeiner Habsucht auf
sich laden will. Diesen Zwiespalt hat die Dichterin fein psychologisch begründet,
sie täuscht dabei über die echt romantische UnWahrscheinlichkeit der Nebenumstände
hinweg.
George Sand hat hier ein ungewöhnliches Problem aufgestellt. Diese
engelreine Gabriele, die himmelhoch über die Alltagsgesinnung andrer Frauen
hinwegragt, wird der allgemeinen Sittenbahn des Lebens durch eine tragische
Schuld entrückt, deren Ursprung wiederum dem mangelnden Gerechtigkeitssinne
des Gesetzgebers zuzuschreiben ist: „Ich behaupte, daß diese männliche Erbschafts¬
folge (beim Majorat) ein ärgerliches, vielleicht sogar ungerechtes Gesetz ist.
Dieser fortwährende Besitzwechsel innerhalb verschiedner Familienzweige dient
nur dazu, das Feuer der Eifersucht anzufachen, Mißstimmungen zu schärfen,
zwischen nahen Verwandten Haß zu schüren, die Väter zu zwingen, ihre Töchter
zu verabscheuen, die Mütter mit Scham zu erfüllen, Kindern ihres eignen Ge¬
schlechts das Leben geschenkt zu haben." Aber die Polemik, zu der der Stoff
von (?abris1 reichlich Veranlassung bot, enthüllt noch andre wissenswerte Dinge.
Astolphe (der Vetter) hat Gabriele unter dem Vorwande, daß sie seine ange¬
traute Gattin sei, in das Haus seiner Mutter geführt. Es ist begreiflich, daß
die Mutterliebe dieser so plötzlich auftauchenden Schwiegertochter grollendes
Mißtrauen entgegensetzt. Aber durch die uneigennützige Liebe zu Astolphe weiß
Gabriele, dank der weitsichtigen männlichen Erziehung, die sie genossen hat, den
Frieden des Hauses auf Kosten des eignen Wohlbefindens zu wahren. Sie
wird sogar zur beschwichtigenden Vermittlerin, als Astolphe die eifersüchtigen
Zornausbrüche seiner Mutter gegen die vermeintliche Schwiegertochter als häßliche
Flecken an der Matronenwürde brandmarkt. Die modernsten Frauenrechtlerinnen
überflügelnd, hat George Sand den Gedanken angeregt, daß weitsichtigere
Bildung die beklagenswerte weibliche Kurzsichtigkeit in Familienfragen erfolgreich
bekämpfen werde, Gabriele sagt ausdrücklich: „Du hast mich wieder zum Weibe
gemacht, aber dabei habe ich doch nicht völlig darauf verzichtet, Mann zu sein.
Zwar habe ich die Kleidung und die Beschäftigungen meines Geschlechts an¬
genommen, aber trotzdem wahrte ich mir den Instinkt moralischer Größe und
das friedliche Bewußtsein der Kraft, die eine männliche Erziehung in mir ge¬
weckt und entwickelt hat."
Den Verfechterinnen der Frauenfrage eröffnet George Sand mit der
Schilderung Gabrielens strahlende Aussichten auf ungetrübtes Familienglück.
Das buchstäblich ausgeführte männliche Erziehungsprogramm hat ja in diesem
Falle herrliche Früchte getragen. Dem Erzieher der Geliebten erklärt Astolphe:
„Sie waren wohl vor allem der Ansicht, ein philosophisches Experiment angestellt
zu haben? Nun gut, was haben Sie dabei entdeckt? Daß eine Frau durch
Erziehung ebensoviel Logik, Wissen und Mut erwerben kann wie ein Mann.
Aber Sie haben es nicht hindern können, daß ihr Herz liebevoller blieb, und
daß die Liebe bei ihr den Sieg über den Ehrgeiz davontrug. Das Herz ist
Ihnen entgangen, Herr Abbe, Sie haben nur den Kopf gebildet!"
George Sand hat viele Utopien ausgesonnen. Oft hat sie den Wunsch
ausgedrückt, das Familienleben vor der Gefahr des innern Zusammenbruchs ge¬
rettet zu sehen. In den Lspt, lüoräks as 1a I-/ro wendet sich der wackere Al¬
bertus mit einem aus der Tiefe seiner Seele hervordringenden Schrei an seine
geliebte Schülerin Helene: „Du weißt, daß die Menschheit alle Ehrfurcht vor
ihrem uralten Gesetz verloren hat; du weißt, daß sie die Liebe verkennt und
Hymen entweiht; du weißt, daß sie mit wildem Rufe nach einem neuen Gesetze,
nach einer reinern Liebe, nach weniger engen aber desto festern Banden ver¬
langt. Komm mir zu Hilfe, leihe mir dein Licht, o dn, in deren Seele ein
Strahl des Himmelslichts herniedergetaucht ist!" Wohl hat ihr eignes leiden¬
schaftlich wandelbares Gemüt die Dichterin gedrängt, die Liebe der Geschlechter
bisweilen in paradoxer Form (I-uorsüig, Plorikmi) zu feiern, wohl hat ihr die
Teilnahme für darbende Volksschichten schließlich sogar das rote Banner des
Sozialismus in die Hand gedrückt, aber der wilde Tumult, worin sich in den
vierziger Jahren ihr Leben abspielt, macht Augenblicken der Sammlung Platz,
in denen ihr Äußerungen einer geklärten Weltanschauung in die Feder fließen.
Schon im L0inxg.g'lU)ii ein?cor co Kranes macht der dithyrambische Schwung
der Entrüstung über das zum Himmel schreiende, vom Staate ignorierte Un¬
recht einer vorübergehend scharfsichtig abwägenden Betrachtung Platz. In diesen?
kulturhistorisch merkwürdigen Romane mustert die kluge Denkerin alle Fragen,
die das Rätsel unverdienten irdischen Elends bei ihren Zeitgenossen weckte. Sie
spricht von Reich und Arm, von der ungleichen Verteilung geistiger Gaben,
von dem unbefriedigten Bildungsgange des Unbegüterten, von der unheimlich
wachsenden Menschenfülle, die den Erdkreis schließlich zu eng finden muß, von
den Schattenseiten der bestündig sich entwickelnden Industrie, von den verderb¬
lichen Zwistigkeiten innerhalb der Arbeiterparteien, die dem gesunden Fortschritt
zum Hemmnis werden. Der Proletarier ist im besten Falle nur ein stammelnder
Philosoph, deshalb fühlt sich George Sand berufen, seinen berechtigten Klagen
ihre beredte Zunge zu leihen. Zugleich hört sie nicht nur „eines" Mannes
Rede, Der stürmischen Unzufriedenheit des jugendlichen „Meister Pierre" setzt
sie die gelassne Altersweisheit des Grafen von Villepreux entgegen. So lange
die Erde besteht, wird es Reichtum und Armut geben. In vielen Füllen führt
die Strebsamkeit eine Besserung der ursprünglich kümmerlichen Lebenslage herbei.
Die Menschennatur entwickelt sich nach aufwärts, und geistige Vorzüge werden
von der ungleich austeilenden Natur verliehen. Nur die Übergriffe des Genies
weist die großsinnige Frau mit dem schönen Ausspruche zurück: „Ich würdige den
Respekt, den man der Intelligenz schuldig ist, aber findet ihr es gerecht und
großmütig, daß ein Mensch im Elend, auf Stroh gebettet verkommen soll, weil
ihm Gott nicht ebensoviel Verstand und Gesundheit verliehen hat wie euch?
Der Starke soll dem Schwächern helfen, und zwar nicht nur durch herab¬
würdigende Almosen."
George Sand ist eine warme Fürsprecherin der erweiterten Volksbildung,
ganz im Gegensatze zu Voltaire. In gesunder Landluft aufgewachsen, erkennt
sie auch die Gefahren des Industriestaats. „Die Industrie weckt Bedürfnisse, die
sie nicht befriedigen kann, sie streut Genüsse aus, die sich die menschliche Familie
nur verschaffen kann, indem sie sich bisher ungekannte Entbehrungen auferlegt.
Überall wird neue Arbeitsgelegenheit geschaffen, und überall nimmt das Elend
zu. Fast möchte man das Fendalwesen zurückwünschen, das wenigstens den Sklaven
ernährte, ohne ihn zugrunde zu richten, ihn vor den Qualen trügerischer Hoff¬
nungen bewahrte, ihn vor Verzweiflung und Selbstmord schützte." Diese letzte
unerwartete Äußerung konservativer Gesinnung drängte sich der Dichterin auf,
als sie in Paris die Fabrikarbeiterzahl beängstigend anwachsen sah und das un¬
gewisse Los der Unglücklichen ins Auge faßte, die von der Hand in den Mund
lebend ihre Hoffnung auf Führer setzten, die ihnen Rechte aller Art zu erobern
verhießen. Diese sanguinischen Erwartungen teilte die Dichterin nicht immer:
„Ist es so leicht, der Arzt der Menschheit zu werden? Ihr begehrt Führer
und Ratgeber, die in sich den Wagemut Napoleons und die Demut Jesu Christi
vereinen? Das heißt von der menschlichen Natur auf einmal zu viel ver¬
langen; und wenn ein solcher Mann käme, würde er kein Verständnis finden."
Für die Pulveratmosphäre von 1848 suchte die Dichterin Erholung im
Ausmalen des ländlichen Idylls. Auf diese friedlich-volkstümliche Bahn haben
sie die meisten Leser begleitet. Ausgesprochne Kampfeslust erwachte in ihr erst
wieder im Jahre 1863, als sie in Ug-äsinoisells as 1s. (juintinie öffentlich ein¬
gehend Stellung zur Kirche nahm. Was die fast 59jährige Frau von religiösen
Ansichten äußerte, ist ernst zu nehmen. Wer gerecht ist, wird sicherlich nicht
alle in ihre Sturm- und Drangjahre fallenden Bekenntnisse auf die Wagschale
legen. Von Jugendäußerungen sind eigentlich nur zwei von Belang. In I^ita
sieht die Dichterin nicht ein, warum Klöster absolut dazu nötig sein sollen, dem
Menschen einen Gott wohlgefälligen Wandel zu sichern. Später deutet sie in
nicht mißzuverstehender Weise an, daß das luxuriöse Gepränge mancher Kirchen¬
bräuche bei dem mühselig einen Bissen Brot erringenden Armen Mißtrauen
gegen die Geistlichkeit weckt. Von der angehenden Greisin erhalten wir ein
Glaubensbekenntnis, das ihrem Herzen Ehre macht, das den Beweis liefert, wie
treu sie ihrer ursprünglichen, liebevollen Natur geblieben ist. Die Tiefe ihres
Gemütes kann sich nicht mit dem Dogma des Höllenglciubens aussöhnen. Die
Existenz des Teufels, der Gottes Absichten vereitelt und dem Sünder ewige
Höllenstrafen zuziehn kann, erscheint ihr unvereinbar mit der Idee der allbarm¬
herzigen christlichen Liebe. Hatte der leidenschaftliche Byron in seinem „Man¬
fred" die Macht der Höllengeister mit den grollenden Worten zurückgewiesen,
daß ein verfemter Mensch schon auf Erden die höchste Qual in seiner eignen
Brust trage, so erklärte die altersreife Dichterin, daß es der Kirche mit den
angedrohten Schrecknissen darum zu tun sei, „den Bauern, Frauen und Kindern
Furcht einzuflößen." Diese Erklärung hat einen humoristischen Anflug, schärfer
wendet sich George Saud in einem Alter, in dem die Leidenschaften schweigen,
gegen die asketischen Zeloten, die jeden frohen gesunden Lebensgenuß, ins¬
besondre die geschlechtlichen Regungen der Menschennatur, am liebste» zum Ver¬
brechen stempeln möchten. Gegen solche verkehrte Bevormundung der vom
Gottesgedanken geregelten Schöpfung erhebt sie lebhaft Protest. „Zu Gott
beten, daß er unsre Sinne töten, unser Herz erhärten, uns die heiligsten Bande
verhaßt machen soll, d. h. ihn bitten, sein Werk zu verleugnen und zu zer¬
stören, die Schöpfung umzukehren und uns auf die tiefste Stufe der Gattungen
zurückzudrängen, tiefer als das Tier, tiefer als die Pflanze, vielleicht tiefer als
das Mineral." Die feindliche Stellung, die die Kirche gegenüber der Wissen¬
schaft einnimmt, sobald sich diese die vvraussetzungslose Forschung zur Grund-
lage wählt, kennzeichnet George Sand mit modernem Scharfblick. „Die Kirche
hat vergessen, daß sich ihre Kreise, dem Horizonte der Wissenschaft entsprechend,
von Jahrhundert zu Jahrhundert erweitern müßten, und hat sie im Gegenteil
eingeengt." Als Beispiel zitiert die Dichterin die Ehelosigkeit des Priester¬
standes, die nicht zu den ursprünglichen Einrichtungen des Christentums gehört
habe. Nicht hartnäckig genug kann sie vor allem betonen, daß freimütige Kritik
unhaltbar geworduer kirchlicher Zustünde den erfolgreichsten Feldzug gegen den
Atheismus eröffnen werde. „Nur Pharisäer verschwören sich gegen die mensch¬
liche Freiheit; wenn es ihnen, da ihnen die Scheiterhaufen der Inquisition fehlen,
gelingt, die Tortur der Herzen und Gewissen einzuführen, heißt es bereit sein:
Ich bin bereit! Ich biete ihnen Trotz."
Die Orthodoxie kann und will sich mit dein geforderten 1lor<z sxlunöii
rsliMux nicht einverstanden erklären. Niemand aber darf in Abrede stellen,
daß George Sand die schönste Lehre des Christentums, die Nächstenliebe, zeit¬
lebens in die Praxis übersetzt hat. In diesem Sinne erzog sie auch ihre Kinder.
Auf der fremdenfeindlichen Insel Majorka fand sie 1838 keinen einzigen Menschen,
der für den schwerkranken Chopin die leiseste Regung von Mitleid gehabt hätte,
nur ihr vierzehnjähriger Sohn und ihre neunjährige Tochter offenbarten eine
für dieses zarte Alter rührende Aufopferungsfähigkeit, „(usf petits seölöraw,
die bei mir unter fluchwürdigen philosophischen Einflüsse aufwachsen sollen, be¬
merkt die Dichterin bitter, hatten mehr Vernunft und barmherzige Liebe als
diese ganze Bevölkerung von Heiligen und Aposteln."
Die leidenschaftlichen Verirrungen der Jugend machten einer würdigen
Altersruhe Platz. Die Matrone, in der Mitte ihrer Kinder und Kindeskinder
im Schlosse zu Nohant, bot Freunden und Besuchern ein sympathisches Bild.
Dieser stimmungsvolle Lebensabend spiegelt sich am klarsten in den Erzählungen,
die sie ihren Enkelinnen Aurore und Gabriele widmete. Wer die treffliche Er¬
zählerin unter die Jugendschriftsteller einreihen wollte, würde bei den Pädagogen
sicher auf heftigen Widerspruch stoßen. Und dennoch! Wie prächtig denkt sich
diese echte Kinderfreuudin in das Gemüt der Kleinen hinein. Wie geschickt
flicht sie in oft humorvollen Bericht unaufdringliche Lehren. Sie weckt Teil¬
nahme für einfache Sitten, für ein ländliches schmuckes Heim, zieht die über¬
triebne Putzsucht ins Lächerliche, bekämpft den törichten Hochmut, fördert die
Liebe zur Natur und verklärt die Alltäglichkeit mit einem nicht übertrieben
phantastischen Hauche. Im 66g,vt, ^vous feiert sie symbolisch die alles über¬
windende geduldige Arbeit, in den ^i1s8 <te (üour^Zö schildert sie einen der
Kinderwelt vortrefflich angepaßten modernen Robinson Crusoe, in !><Z ^uaZ-g rv8s
dichtet sie ein liebliches Märchen, das den Fleiß der Spinnerin zum Motiv hat.
In den Duft eines Nvsenwölkchcns hüllt sie den entschwundnen Mädchentraum
einer Greisin, die ihrer gelehrigen Großnichte am Spinnrade das schlichte Ge¬
heimnis unverdrossenen Eifers verrät und mit den bedeutungsvollen Worten
schließt: „Träume entfliehen, die Arbeit bleibt."
Wer heute in der Fülle der zum Teil vergessenen Werke George Sands
nach einem passenden Lebensmotto für die Licht- und die Schattenseiten dieser
großen Natur sucht, der möge sinnend Halt machen vor einer Stelle der 8sxt
(üorclt;« lÄ I^rs: „Die Liebe ist die höchste Weisheit; die Tugend beruht
auf der Liebe, und das tugendhafteste Herz ist das, das am meisten liebt!"
>u der Erklärung volkstümlicher Ausdrücke und Wendungen ist
viel gesündigt worden, teils dnrch allzu flotte Zurechtdeutung,
teils durch übertriebne Spitzfindigkeit. Der zuverlässigste Weg
bleibt aber doch die rückschreitende Forschung, die zunächst die
I Spuren hinauf verfolgt, soweit das möglich ist, und dann die all¬
mähliche Entwicklung und Ausbreitung von der gefundnen Wurzel aus aufzeigt.
Voraussetzung dazu ist die sorgfältige Sammlung und Sichtung der einschlügigen
Belege. Das ist bisher nicht immer ausreichend geschehen. Denn mag auch
das in Betracht kommende Sprachgut in oft jahrhundertelangem Umlauf bis¬
weilen nicht nur das ursprüngliche Gepräge stark abgeschliffen, sondern wohl
gar die äußere Form arg verunstaltet haben, so ist es dennoch weit nützlicher,
diesen Fundstücken durch aufmerksame Prüfung ihre Geschichte mühsam abzu¬
fragen, als sich in wohlfeilen Phantasievorstellungen zu gefallen. Darum
soll hier an einer Reihe anspruchsloser Lesefrüchte zur Ergänzung der Hcmpt-
fundstütte, des Grimmschen Wörterbuchs, das Aufkommen und Fortleben einer
Anzahl volkstümlicher Redensarten weiter erläutert und zum Teil neu erklärt
werden. (Vgl. die in Heft 25 des vorigen Jahrgangs S. 721 ff. von R. W. ge¬
gebnen dankenswerten Ausführungen.) Ich schließe mich dabei auch an Wust¬
manns durchgreifende Neubearbeitung des Borchardtschen Sammelwerks an
(Leipzig, 1894).
Eine jetzt abgestorbne Redensart, die
aber mehrere Jahrhunderte hindurch im Munde geführt wurde und noch in
Goethes Faust nachklingt (Zweiter Teil, V. 11739). Ursprünglich wurde sie
durchaus im guten Sinne gebraucht und bezog sich auf den (frommen) Wunsch
„(Gott) gesegne 's Bad!" womit man den Badenden begrüßte. Sehr früh aber
bekam sie auch ironische Färbung und bedeutete „es jemand schlimm bekommen
lassen." Als ältesten Beleg dafür notiere ich eine Stelle ans den Gedichten
Oswalds von Wollenstein (1367 bis 1445), wo er ein mißglücktes Liebes¬
abenteuer erzählt und dann den fatalen Empfang bei der Gattin mit den
Worten schildert: ^ . ^ - ,ora Mögnizt mir das ps,ä
> ^
mit iluooksn und mit »oiislÄM.
(Siehe Ausgabe von Beda Weber, Innsbruck 1847, S. 207.) Im übertragnen
Sinne, wobei die alte Beziehung schon ganz entschwunden ist, begegnet sie auch
bei Langbein 1805 (Ausgabe von Goedike XIV, S. 55): „Das Bad, das sie
ihm zugedacht hatten, ward des folgenden Tages ihnen gesegnet."
Daß dieser Ausdruck zuerst angewandt worden
ist, um etwas als ebenso fremdartig wie die slawischen Dorfbezeichnungen und
das ganze slawische Idiom überhaupt zu charakterisieren, ist nicht zu bezweifeln.
In diesem Sinne ist er schon seit dem sechzehnten Jahrhundert geläufig. Es
lohnt kaum, die Belege dafür zu häufen. Vergleiche zum Beispiel Tentzels
„Monatliche Unterredungen" 1689 (Neue Ausgabe 1690, S 875), Hanckes
Gedichte 1731 (Erster Teil, S. 212). Interessant aber ist, wie der Ausdruck
schon um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu Parnllelbildungen heraus^
fordert in immer neuerer Abwechslung. Zuerst finde ich in einem Briefe des
österreichischen Dichters von Scheyb vom 6. Juni 1750 (Gottscheds handschrift¬
licher Briefwechsel XV, Bl. 272) „arabische Dörfer" entsprechend erwähnt.
Dann spricht Goethe in Werthers Leiden (Zweites Buch, 24. Dezember 1771)
bon „spanischen Dörfern." Und Angust Wilhelm von Schlegel versucht
1828 in einer Anmerkung zu einem neu abgedruckten Athenäumsaufsatz ge¬
wissermaßen die Erklärung dazu zu geben, indem er im Anschluß an eine
Strophe aus dem Gedichte »Schläferin« von Voß des nähern ausführt:
„Fremd, wie Böhmen und Spanien,
Sah das Mädchen mich an. . .
In der ersten Zeile sind zwei sprichwörtliche Redensarten zusammengeknetet;
die eine »Das sind ihm böhmische Dörfer«; die andre »Dies oder jenes kommt
einem spanisch vor«. Die erste ist wohl daher abzuleiten, daß in den böhmischen
Städten beide Sprachen geredet wurden, in den Dörfern aber nur die böh¬
mische, sodaß der Deutsche sich da nicht mehr verständigen konnte. Zu der
zweiten Redensart mochte die strenge Kriegszucht Anlaß geben, die Herzog Alba
auch unter den deutschen Truppen einführen wollte."
Sogar „ägyptische Dörfer" erwähnt Bogumil Goltz in gleichem Sinne
in seinem Buche „Ein Kleinstädter in Ägypten" (1853, S, 114), Aller alle
diese Neubildungen haben den alten Ausdruck nicht verdrängen können, der
nebenher bei Thümmel, Seume, Langbein, Brentano, Hoffmann von Fallers-
leben u, a. weiter geführt wurde und heutigestags noch ganz gäng und gäbe
ist. Vergleiche zum Beispiel die hübsche humoristische Äußerung von Gutzkow
(Gesammelte Werke 1845. I, 181): „Bei dem Einen sieht ein höhnisches Dorf
so aus wie das, wovon gerade die Rede ist, beim Andern wie ein Satz aus
der Naturgeschichte, beim Dritten wie der Pythagoräische Lehrsatz, beim Vierten
wie die Theorie der Gleichungen vom vierten Grade, beim Fünften, einem
Minister, wie sein Portefeuille, beim Sechsten wie etwas, was man schon wieder
vergessen hat oder, bei musikalischen Referenten, wie Etwas, wovon man nichts
versteht" usw.
Diese Wendung leitet
Borchardt im Anschluß ans Grimmsche Wörterbuch von der Musik her. Ich
halte das für irrig und glaube, daß sie ursprünglich auf die Vorrichtung (den
Dämpfer oder das Dampfhorn) zielt, die man auf die Lichter setzte, um sie da¬
durch auszulöschen. Nach Adelung ist dieser Dämpfer ein an einem Stab be¬
festigtes Horn, das man zum Beispiel in den Dorfkirchen zu verwenden pflegte.
Diese Vorstellung liegt zum Beispiel schon in einer Stelle aus Langbeins
„Harfnerin zu Drachenstein" 1801 deutlich vor (Goedikes Ausgabe X, 95), wo
es von der jungen Gräfin Mathilde beim Anblick des verlassenen Geliebten
heißt: „Ihre nicht erstorbene, nur unterdrückte Liebe für den Unglücklichen
loderte jetzt, wie das letzte sprühende Flämmchen eines niedergebrannten Lichtes,
für einen Augenblick wieder hoch empor; doch eilend stürzte die Eitelkeit ihren
kalten Dämpfer darüber, und die Flamme des Herzens erstickte." Später aller¬
dings mag sich mit dieser Vorstellung die der musikalischen Vorrichtung zum
Abdampfen von Klangwirkungen verbunden haben, sodaß mit dem Abkommen
jener Sitte auch das Bewußtsein von der ursprünglichen Entstehung des Aus¬
drucks schwand. Jetzt bezeichnet man damit eben weniger das Abstellen (Aus¬
löschen) als vielmehr das Mäßigen einer Handlung.
Über das Aufkommen dieser
Redensart im Deutschen herrscht keine rechte Klarheit. Schon Reinhold Köhler,
der außer einer griechischen auch spanische Parallelen herbeizieht, fragt nach
ältern Belegen (Kleinere Schriften III, 542), die über das neunzehnte Jahr¬
hundert zurückführen. Die Wendung selbst ist aber seitdem allgemein üblich.
Vergleiche zum Beispiel noch Gutzkows Buch „Aus der Zeit und dem Leben"
1844, S. 67: „Wenn sie alle Sprühteufel ihres Witzes und ihrer Affektation
losgelassen haben und plötzlich, wie verabredet, eine Erschöpfung, eine Pause
eintritt, wo man nichts als einen klappernden Teelöffel hört, dann sagen sie:
Ein Engel geht durchs Zimmer." Ähnlich Heyse (Gesammelte Werke 1872.
I, 82). Auch in Klaus Groths plattdeutscher Erzählung vom „Peter Kummt"
(Quickborn, I. Teil) ist zu lesen:
— An mit eenmal wer dat still,
As flog der, wie man seggt, en Geist doert Hus.
Die Redensart scheint
in der Form relativ jung zu sein. Das Grimmsche Wörterbuch merkt sie zwar
an, aber ohne ein Beispiel dafür zu bringen. Und die Umschreibung „es bei
jemand verschütten" gibt keine befriedigende Erklärung über den Ursprung.
Das Richtige lehren verwandte ältere Wendungen, wie: „Hans lapp ins
mus" (Schwabe, Volleingeschenktes Tintenfüßl, 1745) oder eine noch nicht be¬
achtete Stelle bei Oswald von Wolkenstein (Webers Ausgabe S. 180), die uns
noch ein paar Jahrhunderte weiter zurückführt: Käme^l tritknxrsx, d. i. „Heinz
tritt in Brei," beides Spottbezeichnungen für ungeschickte Menschen oder Tol¬
patsche. Also scheint unsrer Redensart etwa der Sinn „bei jemand ins Fett¬
näpfchen tappen, patschen" zugrunde zu liegen, d. h. eben dann, dadurch seinen
Zorn erregen, es mit ihm verderben. In dieser abgeblaßten Bedeutung ist sie
mir zum Beispiel in Langbeins „Herbstrosen" (1829) begegnet (Goedikes Aus¬
gabe VIII, 12): „El. da traten sie bei ihm gewaltig ins Näpfchen!"
Nach Borchardt-Wustmanu ist das
zugrunde liegende Bild vom Fechten genommen. Das bezweifle ich. Mir scheint
der Ausdruck vielmehr ursprünglich von einem ungeschickten Schlächter herzu¬
rühren. So wird die Wendung zum Beispiel in Clemens Brentanos Festspiel
„Victoria und ihre Geschwister" (1813) verwandt, wo zwar die Redensart „es
ist halt weder gehauen noch gestochen!" (Gesammelte Schriften 1852. VII, 358)
zunächst schon auf die ungereimte Rede geht, aber doch aus dem vorhergehenden
die Beziehung auf das Schlachten eines Kalbes ganz unverkennbar ist. Das
Bild des Fechters schwebt dann allerdings auch Grillparzer vor in einem
satirischen Epigramm 1830 (Scmersche Ausgabe III, 99):
Ein treffendes Beispiel, wie das Volk, wenn
ihm das Verständnis für eine Wendung verloren gegangen ist, sich dieselbe
zurecht deutet, bietet die volksübliche Entstellung dieser Redensart in den Zuruf
„.Hand von der Butter!" Daran hat schon Wustmann erinnert, der auch
die richtige Ableitung von dem Gefäß zum Einsammeln der Trauben wiedergibt.
Das zeigt zum Beispiel ein Beleg, der zugleich die lateinische Parallele bei¬
bringt, in der „Verteidigung des Lobt. Schneider-Handwerks" (von Adrian
Schmatteren) 1745, S. 22: „806 mWmn 6s t-Mit»., die Hand von der Butte:
es seyn Weinbeer drinnen." Also ursprünglich ein Drohruf, nicht zu naschen.
Aber schon in der ersten Hülste des achtzehnten Jahrhunderts gebraucht man
die Wendung auch in übertragnem Sinne als „ablassen von einer Sache."
Vergleiche noch Brentano (Gesammelte Schriften VII, 302), wo die Marketenderin
dem Lützowschen Jäger zuruft, von dem Mädchen abzulassen:
Schnabel, das ist nicht sein Futter,
Von der Butte weg die Hand.
Dieser Wendung liegt sicher die Vor¬
stellung zugrunde, sich bei Tische aus der Schüssel das größte Stück oder
wie der anschauliche Beleg im Grimmschen Wörterbuch verrät „eine große Gurke
herausnehmen." Dazu stimmt zunächst sehr gut ein etwas jüngeres Zeugnis
aus dem Jahre 1748 in Gottscheds „Neuem Büchersaal" VI, 369: „Zankten
sich, wer am ersten zulangen, und wie wir reden, am ersten eine Gurke, d. i.
was Rechtes sich herausnehmen sollte." Gegen diese Auffassung verschlägt
es nicht, daß die bisher ältesten Belege in abgeblaßterer Form erscheinen und
auch später zumeist so auftreten. Die nähere Ergänzung lag doch eben von
Anfang an nahe genug. Dennoch läßt sich die sinnenfällige Form der Redens¬
art bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein belegen und wird auch jetzt im
Volksmunde zum Teil noch bewahrt. Vergleiche eine ganze Reihe von der¬
gleichen Beispielen, die alle in übertragnem Sinne verwandt sind: „anmaßend,
aufgeblasen sein" bei Langbein zum Beispiel (Goedikes Ausgabe) XII, 106:
„Sie nehmen sich zu viel Gurken heraus, junger Herr!" Ebenda VII, 112:
„Sich vor uns Allen eine Gurke herausnehmen" (1804); VI, 228: „Sich bei
seiner Obrigkeit keine Gurke zu viel herausnehmen" (1812).
Ein vom sich aufbäumenden Pferde
entlehntes Bild. Da die Belege im Deutschen Wörterbuch zu spärlich sind,
sei namentlich eine Stelle aus Langbeins Schriften nachgetragen, die noch recht
deutlich zeigt, wie man sich anfangs doch etwas sträubte, die Wendung auch
auf einen sich weigernden Menschen ohne weiteres zu übertragen (Goedikes Aus¬
gabe X, 53): „Ehe er wieder — mit Respekt zu sagen — auf die Hinterbeine
tritt." Die Vermittlung scheint die Burschensprache bewirkt zu haben. Seit
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gewinnt der Ausdruck an Boden. Nie¬
mand wohl bedient sich seiner ausgiebiger und kühner als Bettina von Arnim.
So ließe sich zum Beispiel aus ihrem 1843 erschienenen Königsbuch allein eine
ganze Lese zusammenbringen. Vergleiche Ausgabe von .1852, S. 147: „Mit
dem Harnisch angetan des Zeitgeistes sich auf die Hinterbeine gestellt"; S. 166:
„Ich beeilte Ihr Ingenium einen faulen Heius und das stellt sich auf die
Hinterbeine"; S. 357 werden sogar politische Mäuse erwähnt, die sich auf die
Hinterpfoten stellen können. Bei ihr dient der Ausdruck nicht bloß zur Be¬
zeichnung des Widerstrebens, sondern bekommt zugleich oft den Sinn des tat¬
kräftigen Entgegenstrebens.
Ein nach englisch-französischem Vor¬
bild geformter Ausdruck. Überdies der seltne Fall, daß ein Tiervergleich eine
Anerkennung ausdrücken soll. Anfangs besonders beliebt für die Charakterisierung
von künstlerischen, besonders musikalischen Größen des Salons oder der Saison.
So die im Deutschen Wörterbuche gegebnen Heinezitate. Über das allmähliche
Durchdringen und Abschleifen des Ausdrucks freilich ersieht man daraus nichts.
Schon 1839 sind dem Freiherrn von Gaudy (Ausgabe von Mueller VIII, 93
und XII, 113) Wendungen wie „Löwen des Schiffs" oder „ein rechtschaffener
Löwe" durchaus unauffällig. Dann taucht der „Löwe der Gesellschaft" auf,
und erst in den vierziger Jahren setzt sich die Form „Löwe des Tages" end-
giltig durch. So nennen die Grenzboten 1843, S. 146 den vielgefeierten Dichter
Herwegh noch durchweg „Lion des Tages," während im Stuttgarter Morgen¬
blatt 1848, S. 1128 die Benennung „Löwe des Tages" ohne jedes Kennzeichen
der fremden Herkunft erteilt wird. So auch jetzt.
Diese volksmäßige Vergleichung führt Wnst-
marm mit Recht auf die unzuverlässigen, oft unwahr aufgebauschten Zeitungs¬
berichte zurück. Bald aber findet sich der Ausdruck ganz allgemein auf das
geduldige Papier angewandt. Die Formel „gedruckte Lügen" begegnet uns
zum Beispiel schon in Gottscheds Gedichten (1736) S. 205 und kehrt darauf
bei Lessing, Kotzebue usw. wieder. Ebenso wird schon in den „Beiträgen zur
deutschen Sprachkunde" (1794) S. 254 gebucht: „Jemandem die Haut voll
lügen, du lügst es in deinen Hals; Er lügt, als wenn es gedruckt wäre." Auch
die Wendung „gelogen wie telegraphiert" soll schon vor Bismarck der
Politische Schriftsteller Karl Heinzen nach der Angabe von Johannes Scherr
gebraucht haben.
Das Wort ist sonderbarerweise im Deutschen Wörter¬
buche ganz Übergängen worden. Nur das farblose „Schweigegeld" wird
notiert, aber ohne Beispiel. Auch Sanders läßt im Stich. Dennoch hat diese
volkstümliche Prägung anscheinend eine interessante Vergangenheit. Hoffmann
von Fallersleben bezeichnet ein vom 9. Juni 1843 datiertes Gedicht mit dieser
Überschrift, die er aber in einer besondern Anmerkung eigens begründet (Aus¬
gabe von Gerstenberg IV, 301): „Jochmanns Reliquien von Zschokke III, 232
(1833): In der guten Stadt Ulm kam — und kommt vielleicht noch jetzt —
von den neun dasigen Stadtgeistlichen jede Woche einer an die Reihe, sämtliche
im Laufe dieser Woche vorkommenden Leichen von Stande zu bepredigen.
Wollten die Erben des Verstorbnen dem ehemaligen Beichtvater desselben, auch
wenn an diesem die Reihe nicht war, den Vorzug geben, so mußten sie vor
allen Dingen dem Wöchner einen Taler abreichen. Das hieß: der Schweige¬
taler. Der Ausdruck, ungeachtet seiner beschränkten örtlichen Bedeutung, ist
vielleicht einer allgemeinern Anwendung fähig und wert. Schriftstellerpensionen
zum Beispiel, ließen sie sich treffender bezeichnen als durch diesen — Schweige¬
taler?" Und so hat er deun in der Tat den Ausdruck als satirische Bezeich¬
nung für die von König Friedrich Wilhelm dem Vierten ausgesetzten Jahres¬
gehälter für loyale Dichter in Umlauf gesetzt und eingebürgert. Heute ist er
besonders geläufig als Ausdruck für kleine Abfindungen und Durchstechereien.
> er glücklichste Mensch auf dem Dovenhof war Alois Heinemmm. Ihm
leuchtete die Seligkett aus den Augen, und wenn er mit Melitta durch
den Garten ging, küßte er sie zaghaft und flüsterte ihr zu, wie er sie
liebe, und wie er Nachts aufwache, um Gott zu denken für sein Glück.
I Sie lachte über ihn und hörte ihm zu. Aber sie ermahnte ihn zum
«^l^So^it Fleiß, und er mußte täglich viele Stunden malen, und eines Tags,
"is er von einer Waldecke gesprochen hatte, die sich besonders malerisch mit alten
Eichen in eine Wiese hineinschob, da schickte Melitta ihn weg, daß er sofort eine
Skizze mache. Er hatte ihr erzählt, daß er in Hamburg ein Bild gemalt und
verkauft habe. Nun sollte er es noch einmal versuchen. Vergnügt ging er vom
Hof, suchte sich einen Platz zum Malen und vertiefte sich in sein Werk.
Es war früh am Nachmittag gewesen, daß Melitta ihren Verlobten weggeschickt
hatte, und niemand hatte davon gewußt. Als Elisabeth an diesem warmen und
etwas träumerischen Tage durch den Garten ging, fiel ihr ein, daß sie sehr lange
nicht in Herrn Heinemanns Atelier gewesen sei. Bei der Arbeit stören wollte sie
ihn nicht. Aber sie wollte leis eintreten und sich auf ein Höckerchen setzen, das fast
verborgen im Schatten des halb zerfallnen hohen Altars stand. Einen Augenblick
wollte sie sich ausruhn, ehe sie sich mit Alois unterhielt. Seit seiner Verlobung war
sie selten zum Gedankenaustausch mit ihm gekommen, aber sie begann ihm gegen¬
über eine gewisse Gleichgiltigkeit zu empfinden, die sie schwer überwinden konnte.
Das Innere der kleinen Kapelle lag zum Teil im Dämmerlicht, die wenigen
schmalen Fenster waren verhängt. Aber Alois hatte die Erlaubnis erhalten, den
mittlern Teil des Daches zu beseitigen und an die Stelle der alten Ziegel einige
alte Treibhausfenster zu legen. Nun fiel Heller Lichtschein in den Mittelraum auf
die dort stehenden Staffeleien mit ihren Bildern und auf Wolf Wolffenradt, der
hier unter dem einfallenden Tageslicht stand, den Arm um Melitta Hagenau gelegt
hatte und sie bedächtig küßte.
Ans Wiedersehen, liebe Kleine! sagte er jetzt in einem Ton, als handelte es
sich um etwas Selbstverständliches; fürs erste, Lebewohl!
Er ließ sie los, küßte sie noch einmal, drehte sich kurz um und ging an
Elisabeth vorüber aus der Tür. Ohne sie anzusehen, und mit einem leisen Lächeln
um die Lippen, als küßte er Melitta in Gedanken noch.
Und dann standen sich die junge Frau und Melitta gegenüber.
Sie werden mein Haus noch heute verlassen! sagte Elisabeth mühsam.
Einen Augenblick war Melitta vor Schrecken starr. Dann faßte sie sich mit
Blitzesschnelle.
Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Die ganze Sache war sonst nicht böse ge¬
meint. Ich fragte nach Frau von Manska, und der Baron ärgerte sich. Da mußte
ich ihn versöhnen.
Elisabeth wollte sich abwenden, blieb aber doch stehn, und Melitta sprach
langsam weiter.
Frau von Manska ist die Dame, die der Baron zur zweiten Frau haben
sollte. Sie ist reich und eine Freundin von Fräulein Asta. Der Baron bedürfte
des Geldes, weil er doch einmal aus dem Elend heraus mußte. Der Dovenhof
sollte nicht aus der Familie gehn.
Melittas Stimme klang sanft, und ihre schimmernden Augen sahen starr auf
Elisabeth, die halb betäubt vor ihr stand.
Frau von Manska — wiederholte sie wie im Traum.
Er liebte sie nicht, gnädige Frau. Wie sollte er? Er kannte sie nicht ein¬
mal. Aber das Geld ist ein Zauberer. Es zaubert auch Liebe hervor.
Und Sie — verachtungsvoll sah die junge Frau in Melittas Gesicht; die
aber hielt den Blick ruhig aus. Sie hatte Elisabeth gehaßt, als sie sie noch nicht
gekannt hatte; jetzt haßte sie Wolfs Gattin noch mehr.
Ich bin arm, erwiderte sie. Ich konnte den Dovenhof nicht bezahlen. Aber
ich kann Ihren Mann trösten, wie ich ihn schon in Wittekind getröstet habe.
Jetzt wandte sich Elisabeth von ihr ab.
Also Sie sind — ein böses Wort trat ihr auf die Zunge; aber sie schloß
die Lippen und zeigte nur nach der Tür.
In dieser Bewegung lag so viel Verachtung, daß Melitta sie am Arm ergriff.
Ich bitt nicht schlechter als die meisten Mädchen und auch nicht schlechter als
Sie, Frau Baronin. Nur mit dem Unterschied, daß Ihr Gatte mich liebt und
Sie nicht. Ja, er liebt mich, wiederholte sie triumphierend, und liebt mich weiter,
ob er nun Frau von Manska heiraten oder bei Ihnen bleiben mußte.
Ihre Worte trafen wie Keulenschläge, und Elisabeth stand mit gesenktem Haupt.
Wie ein Mensch, der im Wasser versinkt, und an dem ein Wirrsal von Gedanken
vorüberzieht.
Sind Sie nicht Alois Heinemanns Braut? fragte sie, weil dieser Gedanke
ihr plötzlich auf die Zunge trat.
Melitta lachte. Sie kam sich vor wie eine Siegerin. Triumphierend warf
sie den Kopf in den Nacken.
Ich bin seine Braut. Muß ich ihn aber darum lieben? Wer aus Vernunft
heiratet, braucht niemals zu lieben.
Elisabeth verließ die Kapelle. Draußen sangen die Vögel, und die Sonne
schien; um sie aber war es sehr dunkel. Sie sah nicht, daß Alois Heinemann
hinter dem Altar stand, wo sie vorhin gestanden hatte; sie ging wie eine Blinde
durch den sonnendurchglühten Garten. Dann aber glitten Bilder an ihr vorüber.
Sie sah die Klabunkerstraße mit ihren kleinen Häusern vor sich; sie sah sich zum
Psandleiher gehn und dann die Treppen zu Herrn Müller hinaufsteigen. Sie
glaubte Frau Heinemanns gutmütige Stimme zu vernehmen, die ihr einen freund¬
lichen Ratschlag nach dem andern gab, und sie hörte, wie Tiras bellte, und wie der
Milchkarren rasselte. Wie war sie doch manchmal so dumpf verzweifelt, so hoffnungs¬
los gewesen. Alles zu der Zeit, wo sie sich jeden Abend mit Wolfs Namen auf
den Lippen zur Ruhe gelegt hatte. Und er hatte im Kloster Wittekind Melitta
geküßt und an eine Scheidung von seiner Frau gedacht! Melitta log nicht. Mau
sah es an ihrem trotzigen Gesicht. Und Wolf hatte sie heute in den Armen ge¬
halten. Er, der sich von ihr hatte scheiden lassen wollen. Oder war es eine ge¬
meine Verleumdung?
Die junge Frau hatte sich ins tiefe Gebüsch gesetzt. Die Glieder vermochte
sie nicht zu rühren; aber ihre Pulse hämmerten, und in ihrem Kopf brausten die
zornigen Gedanken.
Von der andern Seite des Laubganges kam Asta auf sie zu. Ihr Gesicht
war verdrossen und müde; sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und Kopf¬
schmerzen peinigten sie.
Als sie Elisabeth hier sitzen sah, wollte sie vorübergehn; aber die junge Fran
faßte sie am Kleide.
Hat sich Wolf von mir scheiden lassen wollen?
Fräulein von Wolffeuradt blieb fassungslos stehn.
Die Sache ist längst vorüber! erwiderte sie hastig.
Also es ist davon die Rede gewesen?
Mein Gott — Asta suchte nach Worten. Damals — als Wolf in so schlechten
Verhältnissen war, als ich ihm helfen wollte.
Also es ist von einer Scheidung die Rede gewesen?
Elisabeths Stimme hatte einen fremden Klang, und Asta wurde erregt.
Frau von Manska hat nichts davon erfahren, liebe Elisabeth. Es war ja nur
ein Plan, als es Wolf so schlecht erging.
Die Stiftsdame faßte sich an ihren schmerzenden Kopf und ließ sich auf die
Bank fallen. Aber Elisabeth stand auf und ging mit schleppenden Schritten dem
Hause zu. Sie wußte genug. Nur der Dovenhof hatte ihr Wolfs Liebe erhalten;
nur das Geld und Gut, nur Herrn Müllers Erbschaft. Seine wirkliche Liebe
gehörte dem schönen, übermütigen Mädchen, das ihr hohnlachend die Wahrheit
ins Gesicht geschleudert hatte. Durch die Bäume ging es wie ein klagender Laut,
und in der Ferne verklang ein Kinderlachen; aber Elisabeth hörte nichts; sie haßte
den Dovenhof.
Asta blieb auf der Bank sitzen und rieb sich die Schläfen. Sie hatte einen
Schreck bekommen, und ihr Kopfschmerz wurde heftiger.
Nach einer Weile stand sie auf und wandte sich der Kapelle zu. Sie wollte
Melitta fragen, was denn eigentlich vorgefallen wäre. Mit Melitta war sie wahr¬
haft befreundet geworden. Woher diese Freundschaft rührte, wußte sie nicht oder
wollte es nicht wissen. Die Briefe der Gräfin Eberstein hatte sie noch nicht ge¬
sehen, und sie schwankte, ob sie sie zu sehen wünschte.
Jetzt stand sie vor der Kapelle und rief nach Melitta. Sie nannte sich jetzt
du mit ihr und empfand diese Vertraulichkeit als etwas Angenehmes.
Melitta, bist du hier? wiederholte sie; als keine Antwort erfolgte, trat sie
vorsichtig in den Atelierraum. Halbwegs mit schlechtem Gewissen, denn Herrn
Heinemann wollte sie doch nicht besuchen. Als sie jetzt den jungen Mann unter
dem einfallenden Licht vor seiner Staffelei stehn sah, trat sie doch näher.
Haben Sie Melitta gesehen, Herr Heinemann? Sind Sie krank? setzte sie
hinzu. Er war totenblaß, und seine Augen hatten einen starren Blick.
Er begann zu lachen.
Wer aus Vernunft heiratet, braucht niemals zu lieben. Niemals!
Sein Lachen klang mißtönend, und die Stiftsdame ging eilig aus dem Atelier.
Was hat er nur? dachte sie, während ihr Kopf immer stärker schmerzte.
Hat er nur schlechte Manieren, oder ist er krank? Heute ist es hier schrecklich.
Sie atmete auf, als ihr im Garten Rosalie Drümpelmeier mit einem Haufen
Kinderwäsche im Arm begegnete.
Gehn Sie schnell zu Ihrem Neffen ins Atelier! befahl sie.
Die Frau Baronin hat den Wunsch geäußert, daß ich mit der trocknen Wäsche
gleich zu ihr kommen soll! entgegnete Rosalie unschlüssig.
Sehen Sie nur einen Augenblick nach Herrn Heinemann. Ich fürchte, daß
er krank ist!
Astr sagte es herrisch und griff dann verzweifelt an ihren Kopf. Die
Migräne war auf ihren Höhepunkt gestiegen, und sie mußte sich hinlegen. Elisa¬
beths unbedachte Art hatte den Zustand arg verschlimmert. Mit wankenden Schritten
ging sie in ihr Zimmer, verriegelte die Tür und legte sich zu Bett. Doch auch
jetzt konnte sie noch nicht zur Ruhe kommen, sie hörte Stimmen, Türen schlagen,
und dann rollten Wagen vom Hof. Ärgerlich erhob sie sich noch einmal, nahm
ein Schlafpulver und schlief ein. So fest, daß sie, als es heftig an ihre Tür
klopfte, nur langsam zu sich kam.
Bist du gestorben? fragte Wolfs ungeduldige Stimme.
Als sie ihm nach einigen Minuten halbverstört öffnete, trat er hastig ein.
Was ist geschehen? erkundigte er sich scharf. Um zwei Uhr bin ich wegge¬
fahren, eben komme ich spät nach Hans. Niemand ist hier. Elisabeth, die Kinder,
die Amme, Rosalie, sogar Herr Heinemann sind verschwunden, vom Hof gefahren.
Vom Hof gefahren? — Asta sah ihren Bruder hilflos an. Der späte Sommer-
tag warf auf die Welt draußen noch einen matten Schein, aber Wolf trug ein
brennendes Licht in der Hand, das gespenstisch sein Gesicht beleuchtete.
Vom Hof gefahren. Asta wiederholte das Wort. Sie verstand noch nichts,
auch nicht, als sie mit Wolf durch alle Räume des Hauses gegangen war. Überall
Schweigen und Stille. In den Ecken brütete die Dämmerung, auf den Korri¬
doren schienen Geister zu huschen. Im Kinderzimmer standen die leeren Betten
der Kleinen, Ruttgers Wagen war verschwunden, die Amme mit ihm, und in der
Kirche saß die Köchin und weinte.
Wolf sagte nichts mehr, er war totenblaß, und auf seiner Stirn lag eine
tiefe Falte. Asta sah ihn von der Seite an, in ihr selbst kämpften die ver¬
schiedensten Empfindungen. Aber sie kam sich hilfsbedürftig, schlecht behandelt vor.
Als Melitta plötzlich neben ihr stand und den Arm um sie legte, da zog sie sie
noch fester an sich.
Melitta, was machen wir? klagte sie. Da meldete das verstörte Hausmädchen
den Verwalter, und Herr Schröder trat ein mit einem Brief in der Hand.
Ich bin beauftragt, dies Schreiben von der gnädigen Frau abzugeben,
meldete er. Sie ist mit den Kindern, der Amme und Rosalie heute Nachmittag
nach der Bahn gefahren.
Sie waren alle unten im Gcirtenzimmer, dessen Türen weit offen standen.
Eine Fledermaus huschte ins Zimmer, flog gegen die Wand und fiel schwer nieder.
Wolf hatte die brennende Kerze auf den Tisch gesetzt und starrte den Verwalter
an. Langsam nahm er den Brief, riß ihn auf, tat einen Blick hinein und sah
dann wieder in Herrn Schröters Gesicht.
Sie haben die Herrschaften nach der Bahn fahren lassen?
In zwei Wagen, Herr Baron.
Die Fledermaus umkreiste das Licht, und Melitta trat einen Schritt vor.
Wo ist Herr Heinemann?
Er ist ebenfalls mitgefahren.
Der Baron machte eine entlastende Bewegung.
Sie können gehn, Herr Schröder!
Als der alte Mann geräuschlos das Zimmer verlassen hatte, wandte Wolf
sich an Melitta, die noch immer Asta umschlungen hielt.
Können Sie mir eine Erklärung geben?
Die Gefragte schüttelte den Kopf.
Ich hatte mich zu Elsie hingesetzt, Baron. Sie wissen, die Kleine muß noch
immer gepflegt werde». Schließlich wunderte ich mich, daß es kein Abendessen
gab, bin dann aber darüber eingeschlafen.
Sie sprach ruhig, und Wolf hörte ihr gedankenlos zu. Dann nahm er den
Brief und las ihn halblaut vor sich hin.
Lieber Wolf. Ich lasse dir den Dovenhof, laste du mir die Kinder. Unsre
Wege gehn auseinander, deine Freuden kann ich nicht gutheißen, du vielleicht
nicht meine Art der Lebensauffassung. Schon einmal hast du an Scheidung ge¬
dacht, nun tritt auch dieser Gedanke in meine Seele. Ich gehe nach Moorheide;
solltest du mir sagen können, daß du mir immer die Treue gehalten hast, sowohl
in Gedanken wie in Werken, so bin ich bereit, zurückzukehren. Sonst laß uns
in Frieden scheiden! Elisabeth.
Die drei Menschen sahen sich an, und die Fledermaus traitee sich an die
Wand, und fiel von neuem schwer nieder.
Asta fand zuerst Worte. Sie hatte Elisabeth niemals geliebt, und in diesem
Augenblick vergaß sie sogar die Kinder.
Eine Frau, die so weggeht, darf uicht wiederkehren, rief sie. Niemals! Das
verbietet die Ehre unsrer Familie.
Niemals. Wolf wiederholte das Wort. Aber sein Gesicht war entstellt.
Schwer ließ er sich auf einen Stuhl fallen und zuckte zusammen, als Melitta
neben ihn trat.
Ich will allein sein! sagte er rauh, aber sie legte ihre weichen Arme um
seinen Nacken.
Laß mich bei dir bleiben, rief sie leidenschaftlich. Ich liebe dich, und ich werde
dir die Treue halten.
Sie wandte ihr lebensprühendes Gesicht Asta zu, die sie in wortlosen Staunen
anblickte.
Auch dir will ich zeigen, wie ich dich liebe. Betty Eberstein soll niemals
Äbtissin von Wittekind werden!
Die Fledermaus hatte den Ausweg gefunden und huschte geräuschlos in die
Sommernacht. Wolf Wolffenradt aber empfand nichts als eine ungeheure Bitterkeit.
War die Strafe verdient, die ihn ereilte? Er dachte nicht darüber nach.
Der brennende Wunsch, sich an Elisabeth zu rächen, kam über ihn, und er stieß
Melitta nicht zurück.
Die alte Äbtissin, Frau von Borkenhagen, saß früh am Morgen in ihrem
Arbeitszimmer und ärgerte sich. Zum ersten über ihre zunehmende Schwache, und
dann darüber, daß Gräfin Eberstein manchmal zu vergessen schien, daß sie, die
Äbtissin, noch lebte und bis zum September eigentlich auch noch regieren wollte.
Im neunten Monat des Jahres wollte sie den Krummstab niederlegen, sich endgiltig
zur Ruhe setzen und nur noch bei der Äbtissinnenwahl den Vorsitz führen; vorher
aber sollte es doch wenigstens den Anschein haben, als könnte sie befehlen.
Gräfin Eberstein ließ ihr nichts mehr. Heute morgen hatte sie erfahren, daß
der Hilfslehrer Klaus Fuchsius seine Entlassung erhalten und schon das Kloster
verlassen hatte. Ohne ihre Erlaubnis, ohne daß sie ein Wort davon vorher ge¬
wußt hatte. Der Hauptlehrer war eben bei ihr gewesen und hatte sich für die
schnelle Entscheidung bedankt; er hatte mit dem jungen, sonderbare,! Meuschen
nichts mehr anfangen können und war froh, daß die hochwürdige Äbtissin ein
Machtwort gesprochen hatte.
Frau von Borkenhagen beantwortete den Dank mit einigen kühlen Redens¬
arten; jetzt, da sie allein war, ärgerte sie sich. Über Klaus Fuchsius hatte sie
Klagen gehört, aber doch noch die Hand über ihn gehalten. Er sollte etwas ver¬
rückt sein; aber wer war denn heutzutage noch geistig gesund? Und war sie des¬
wegen so gut gegen Gräfin Eberstein gewesen, daß diese sie nur als Popanz
betrachtete und sie nicht einmal mehr fragte, wenn sie einen der Angestellten des
Klosters entließ?
Der alte Klosterdiener trat ein und brachte einen Brief.
Will Hochwürden Gnaden das Schreiben hier behalten, oder soll ich es an
Gräfin Eberstein bringen? fragte er.
Die Äbtissin riß ihm das umfangreiche Schreiben aus der Hand.
Meinen Sie, daß ich nicht mehr lesen kann? rief sie gereizt, und der alte
Mann entfernte sich eilig.
Mit der Frau Äbtissin war in dieser Zeit nicht ganz gut zu Verkehren, und
Gräfin Eberstein verlangte ebenfalls Gehorsam. Da war es vorsichtiger, beiden
Damen fern zu bleiben.
Frau von Borkenhagen blieb allein, betrachtete den Brief, dessen Handschrift
sie nicht kannte, und öffnete ihn mit einem schmalen Pnpiermesser.
Es war friedlich in dem Arbeitszimmer der Äbtissin, das auf dem Kloster
das Äbtissinnengemach hieß. Wohl deswegen, weil die Bilder von frühern Äb¬
tissinnen in Öl gemalt und in dunkeln Holzrahmen an der Wand hingen und mit
ernsten Augen auf den Platz am Schreibtisch zu blicken schienen, wo ihre Nach¬
folgerin über das Wohl und Wehe des Klosters nachdachte. Heute glitten
funkelnde Sonnenstrahlen von einem gemalten Antlitz zum andern, warfen hier
einen Kreis, dort einen goldigen Funken und eilten dann weiter. Wie sie schon
viele Jahrtausende weiter geeilt waren, von der Wiege des Neugebornen bis zu
seinem Grabe. Von schillernder Pracht und Lebensfreude bis zum tränenreichen
Elend und der Verzweiflung des Verlassenen.
Ernsthaft blickte Frau von Borkenhagen in den funkelnden Sonnenschein. Wie
lange noch würde er ihr scheinen?
Es klopfte, und Gräfin Eberstein trat ein. Eifrig, mit dem Ausdruck des
Beschäftigtseius, der den guten Willen in sich birgt, früh das Tagewerk zu be¬
ginnen und es nicht eher aus den Händen zu legen, bis alles beendet ist.
Guten Morgen, liebe Hochwürden! Wie haben Sie geruht? Wie? Sie
sind schon bei der Arbeit? Darf ich Ihnen nicht den Brief abnehmen?
Und sie griff nach dem Umschlag, den die Äbtissin noch immer in den
Händen hielt.
Danke vielmals! Die Stimme der alten Dame klang trocken. Weshalb haben
Sie den jungen Fuchsius weggeschickt? fragte sie gleich hinterher.
Gräfin Eberstein setzte sich mit Gemütsruhe.
Es ging nicht anders, Frau Äbtissin. Der junge Mensch wußte nicht, was
Pflichterfüllung heißt. Er blieb aus dem Unterrichte weg, wann es ihm beliebte,
deklamierte den Mädchen auf dem Pachthof Gedichte vor, hörte nicht auf die Er-
Mahnungen seines Vorgesetzten und war außerdem so läppisch, daß seine Schul¬
kinder nicht den geringsten Respekt vor ihm hatten. Sie ließen vor seiner Nase
Sperlinge fliegen und Mäuse laufen!
Die Äbtissin hörte diesem Bericht schweigend zu. Nun hatte sie doch nicht
die Kraft, gegen solche Anschuldigungen etwas zu sagen.
Seine Mutter tut mir leid.
seiner Mutter soll es nicht schlecht gehn. Wie ich höre, ist Moorheide ver¬
kauft, und Frau Fuchsins wird als Wirtschafterin dort weiter wohnen.
Wer hat diesen kleinen Hof erworben?
Ich weiß es nicht. Irgend jemand, der sein Geld vielleicht nicht anders
gut los werden kann. Herr Fuchsins ist übrigens nicht zu seiner Mutter, sondern
nach Berlin gegangen. Er will Dichter werden.
Die Äbtissin seufzte. Wenn die Gräfin mit so kühler Verachtung von
jemand sprach, konnte sie ihn nicht verteidigen.
Leise klopfte es. Der Herr Rendant erschien auf der Türschwelle, mit Papieren
in der Hand, und die Gräfin erhob sich schnell.
Ich komme schon, Herr Seifert; Sie sollen die Frau Äbtissin nicht mit Ihren
Berechnungen quälen. Vielleicht lesen Sie unterdessen Ihren Brief? wandte sie
sich an Frau von Borkenhagen und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten.
Verdrießlich vor sich hin murmelnd, tat die Äbtissin, wozu sie, wie sie spöttisch
dachte, die gnädige Erlaubnis erhalten hatte.
Es dauerte eine Weile, ehe die Gräfin wieder eintrat. Im Vorzimmer hörte
man ihre befehlende Stimme und die höfliche Erwiderung des Rendanten. Beide
schienen nicht ganz derselben Meinung zu sein; aber die Gräfin siegte. Man hörte
es an der Art ihres Sprechens, und wie sie nun wieder eintrat, lag auf ihren
Zügen die Befriedigung, einmal wieder ihren Willen durchgesetzt zu haben.
Nun, liebe Äbtissin, haben Sie Ihren Brief gelesen, und ist es etwas Ge¬
schäftliches, das ich gleich beantworten soll?
Die Gefragte saß in ihrem Lehnstuhl und sah, über ihre Brille weg, mit
einem eignen Blick in Betty Ebersteins Gesicht.
Haben Sie mir nicht einmal gesagt, Gräfin, daß Sie niemals verlobt ge¬
wesen seien?
Die Gefragte setzte sich.
Ich glaube.
Wollen Sie mir die Unterschrift dieses Briefs vorlesen?
Die Äbtissin schob der andern Dame ein vergilbtes Stück Papier hin.
Halb gedankenlos las die Gräfin die Worte: Deine dich heiß liebende Braut —
sie hob den Kopf.
Fran Äbtissin —
Haben Sie den Brief geschrieben, oder haben Sie ihn nicht geschrieben?
Die Gräfin sprang auf, ließ sich aber gleich wieder in ihren Stuhl sinken.
Ich habe diese Worte geschrieben, Frau Äbtissin; aber — einen Augenblick
holte sie tief Atem; dann nahm sie den Brief in die Hand und zerriß ihn in
kleine Stücke. Ich hoffe nicht, setzte sie hinzu, daß es Menschen gibt, die mir
diesen jugendlichen Irrtum nachtragen können. Wir wollen von andern Dingen reden,
Frau Äbtissin.
Die alte Dame zitterte an allen Gliedern.
Sie haben den Brief zerrissen, Gräfin Eberstein; aber zwei andre Schreiben
mit derselben Unterschrift sind noch in meinem Besitz. Es schmerzt mich tief, daß
Sie mir damals, als ich Sie fragte, ob Sie verlobt gewesen wären, mit einer
Unwahrheit geantwortet haben. Ihnen wäre die Demütigung erspart geblieben,
jetzt der Aussicht auf die Würde einer Äbtissin entsagen zu müssen.
Es war still in dem Zimmer geworden. Draußen gnrrten die Klostertauben,
und nebenan hörte man den Rendanten mit dem Diener sprechen.
Einen Augenblick saß Gräfin Eberstein regungslos. Dann hob sie den Kopf.
Darf ich fragen, wem Sie Ihre Mitteilung verdanken?
Schweigend schob ihr die Äbtissin ein Blatt Papier hin.
„Eurer Hochwürden Gnaden erlaubt sich eine Freundin des Klosters beifolgende
Schriftstücke zu übersenden. Vielleicht werden sie, angesichts der bevorstehenden
Äbtissinnenwahl, nicht ohne Interesse sein."
Gräfin Eberstein hatte halblaut gelesen; dann schob sie das Schreiben wieder
der Äbtissin zu.
Es ist die Handschrift von Melitta Hagenau. Mit ihrem Vater war ich verlobt:
er verließ mich; seiner Tochter erwies ich Wohltaten: sie verrät mich. Und Sie,
Frau Äbtissin, wollen darauf hin, auf diese gemeine Denunziation, eine Änderung
in unsern Beziehungen eintreten lassen? Ich traue Ihnen das nicht zu. Lassen
Sie uns auch die zwei andern Briefe vernichten und zugleich die Sache auf ewig
begraben I
Ihr Ton war wieder selbstbewußt geworden; leise legte sie ihre Hand auf
die der Äbtissin und wollte ihr die Briefe entwinden, die diese gefaßt hielt. Aber
Frau von Borkenhagen hielt fest.
Ich allein kann nichts an den Klostersatzungen ändern, Gräfin Eberstein; und
ich würde nicht ruhig sterben können, wenn ich wüßte, daß meine Nachfolgerin nicht
den Anforderungen entspräche, die von alters her an sie gestellt wurden. Aber
wenn Sie darauf bestehn, das Amt der Äbtissin zu übernehmen, werde ich sämtliche
Stiftsdamen zusammenrufen und ihnen die Angelegenheit vortragen. Ist der Konvent
einverstanden —
Gräfin Eberstein ließ sie nicht ausreden.
Sie wollen allen Damen erzählen, daß ich verlobt gewesen bin?
Ich muß es!
Die Gräfin stand auf.
Dann verzichte ich auf die Würde der Äbtissin. Heute noch werde ich für
einige Monate das Kloster verlassen und erst zurückkehren, wenn ein neues Ober¬
haupt gewählt ist.
Sie hatte drohend gesprochen. Wie jemand, der seine Unentbehrlichkeit kennt
und genau weiß, daß er seine Worte nur spricht, damit ein andrer sie widerruft.
Aber die Äbtissin widerrief sie nicht. Zwar wurde ihr das Sprechen schwer,
und ihre alten, gelben Hände zitterten; um ihren Mund aber legte sich eine eigen¬
sinnige Falte.
Wie Sie wollen, Gräfin. Selbstverständlich werde ich dann nicht nötig haben,
den Konvent einzuberufen, noch den Rat andrer zu erfragen. Sie brauchen auch
nicht abzureisen; denn niemand wird erfahren, was Sie und ich miteinander ge¬
sprochen haben!
Die Gräfin wandte sich zum Gehn; aber noch einmal kehrte sie zurück.
Was wollen Sie ohne mich beginnen, wer soll das Kloster regieren, wenn
ich Ihnen nicht helfe? Sie sind alt und gebrechlich; die andern sind ungewandt
in den Geschäften und schwerfälligen Geistes. Besinnen Sie sich, Frau Äbtissin,
und lassen Sie die dumme Geschichte unter uns bleiben!
Die alte Dame erhob sich und faltete die Hände.
Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich versucht, das Kloster so zu regieren,
wie es in meinen schwachen Kräften stand. Ich habe die Satzungen gehalten und
alles getan, was ich tun mußte. Gott ist meiner Schwachheit gnädig gewesen, und
wenn ich einmal auf dem Kirchhofe liege, hoffe ich in Frieden zu schlafen, bis er
mich ruft. Aber ich kann nicht in Frieden schlafen, wenn ich jetzt anfangen wollte
zu lügen. Lassen Sie uns den Konvent zusammenrufen!
Niemals! sagte die Gräfin mit harter Stimme. Dann ging sie hochaufge¬
richteter Hauptes ans der Tür.
Noch immer schien die Sonne in das stille Gemach, und die Äbtissin setzte
sich von neuem, während sie die hellen Lichter verfolgte, die von einem Bild zum
andern huschten. Dann schloß sie die Augen und lächelte vor sich hin. Es war
doch ganz gut zu wissen, daß sie noch regieren konnte.
Die folgenden Tage brachten für das Kloster Wittekind allerhand Erstaunliches.
Gräfin Eberstein reiste plötzlich ab; und es hieß, sie würde nicht gleich wieder¬
kommen, sondern plane eine Reise nach dem Süden. Die Äbtissin gab, als sie
gefragt wurde, ausweichende Antworte»; aber allmählich wurde es den andern
Damen klar, daß etwas Sonderbares, Geheimnisvolles geschehen sei. Was war es
gewesen? Niemand wußte es; niemand erfuhr es. Man hörte nur, daß Gräfin
Eberstein eine Wahl zur Äbtissin aus Gesundheitsrücksichten nicht annehmen würde,
und daß man sich deshalb nach einer andern Nachfolgerin umsehen müßte.
Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, daß Gräfin Eberstein nicht fehr beliebt gewesen
war, daß einige Damen sich sogar freuten, sie nicht als Oberin zu bekommen.
Wer soll denn nun Äbtissin werden? fragte Fräulein Amalie von Werkentin.
Sie ging mit ihrer Auguste und mit ihrem Moppi im Klostergarten spazieren, und
die Dienerin berichtete ihr von den Neuigkeiten, die das Kloster bewegten. Auguste
trat einen Käfer tot, der, wie es ihr schien, drohend auf Moppi zulief.
Die Deinen sprechen von Fräulein Asta von Wolffenradt, erwiderte sie. Weil
sie doch so friedfertig ist und nicht so regiersüchtig!
Asta von Wolffenradt? Das ist ja die Tante von meiner kleinen Elsie! Die
alte Dame blieb stehn und wackelte mit dem Kopf. Die Wolffenrcidts sind eine
alte Familie, Auguste.
Jawoll, grä Frölen!
Und Elsie ist auch eine Wolffenradt!
Jawoll, grä Frölen!
Energisch riß Fräulein von Werkentin an Moppis Strippe.
Auguste, wir wollen für die Baronesse Wolffenradt stimmen!
Das find ich auch, grä Frölen!
Auch die andern Damen erwähnten Asta von Wolsfenradts Namen. Wie es
gekommen war, daß ihr Name plötzlich in den Vordergrund des Interesses getreten
war, konnte vielleicht nur die Äbtissin sagen, die viel an sie dachte und von ihr
sprach. Asta war es gewesen, an die die alte Dame zuerst, nach dem Bruch mit Gräfin
Eberstein, geschrieben hatte, und sie war es denn auch, die bei der im September
vorgenommenen Äbtissinnenwahl die Mehrzahl der Stimmen ans sich vereinigte.
Nach vollzogner Wahl stand sie neben Fran von Borkenhagen im Äbtissinnen¬
gemach und sah halb ungläubig auf die alten Bilder nu den Wänden. War es
denn wirklich kein Traum, war das, was sie kaum zu hoffen gewagt, um das sie
innerlich gekämpft und gelitten hatte, war es wirklich in Erfüllung gegangen?
Die alte Äbtissin legte ihr halb zärtlich die Hemd auf die Schulter.
Nun zieh ich hier aus, und Sie ziehn ein; Gott gebe Ihnen Kraft, die Bürde
zu tragen!
Asta küßte ihr die Hand, und über ihre Lippen glitt ein stolzes Lächeln. Sie
fühlte die Kraft in sich, und die Bürde erschien ihr nicht groß.
Das war alles vor fünf Jahren geschehen. Nun war die alte Äbtissin, Frau
von Borkenhagen, schon seit vier Jahren tot und auf dem alten Kirchhof inmitten
des Kreuzgangs begraben. Obgleich dieser Friedhof eigentlich keine Toten mehr
aufnehmen dürfte, und sogar die Regierung hatte gefragt werden müssen, ob
der letzte Wunsch der alten Dame noch erfüllt werden könnte. Die Regierung
gab ihre Zustimmung; und wer nun im Kreuzgang spazieren ging, der sah in der
Mitte des Gottesackers ein schlankes Marmorkreuz sich erhebeu und konnte, wenn
er wollte, einen Gedanken zu der alten Frau von Borkenhagen senden. Aber fünf
Jahre sind eine lange Zeit. Die Stiftsdcunen, die lebhaft sprechend durch den
Gang schritten, hatten an andres zu denken, als an die Zeit, die schon längst
zurücklag, die dem Kloster manche Veränderung und manche neue Dame gebracht
hatte. Nur wenn Fräulein von Werkentin am Arm ihrer Auguste am Kirchhof
vorbei wanderte, blieb sie wohl stehn und blinzelte zu dem weißen Kreuz hinüber.
Sie wartet auf mich, Auguste, sagte sie, und ihr altes Gesicht zitterte.
Auguste zog ihre Herrin weiter.
Laß sie man noch ein büschen warten, murrte sie. Denn sie fand das Leben
dieser Welt angenehmer als das jener, von der niemand Genaues weiß.
Fräulein von Werkentin ließ sich weiter ziehn.
Moppi ist auch tot! klagte sie vielleicht, und dann vergaß auch sie das Weiße
Kreuz, ebenso wie sie Moppi vergessen hatte, der einem Schlagfluß erlegen war,
und bei dessen Tode sie sich halb wahnsinnig gebärdet hatte. Aber wir Menschen
sind ein vergeßliches Geschlecht, und das, was wir einst liebten, vergessen wir fast
noch schneller als das, was wir haßten.
Fünf Jahre können aber auch eine kurze Spanne Zeit bedeuten. Wenigstens
kam es der Äbtissin, Frau von Wolffenradt, manchmal vor, als sei es erst gestern
gewesen, daß sie vom Dovenhof nach dem Kloster Wittekind fuhr, um wieder ihr
Leben im Stift zu beginnen. Damals, vor fünf Jahren, als Wolf von seiner
ersten Frau verlassen worden war, als sie und Melitta ihm beistehn mußten, diese
Beleidigung zu tragen.
Asta dachte nicht gern an diese Zeiten zurück. Sie waren vergangen, wie
alles vergeht; und alles war dann so gekommen, wie es kommen sollte. Wolf
Wolffenradt hatte sich von Elisabeth scheiden lassen und Melitta Hagenau ge¬
heiratet. Seit den vier Jahren ihrer Ehe lebte das Ehepaar viel auf Reisen
und kam selten auf den Dovenhof. Wolf hatte plötzlich Reisefieber bekommen, und
Melitta schien dieselbe Krankheit zu haben. Im Innern ihres Herzens war Asta
nicht unglücklich darüber. Seitdem sie Äbtissin geworden war, widmete sie sich
ihrem Beruf und ging darin auf. Die Familie war bei ihr in den Hintergrund
getreten. Mochte sie tun und lassen, was sie wollte; sie hatte das Kloster Witte¬
kind zu leiten und konnte nicht an viel andres denken. Asta Wolffenradt war eine
gute Äbtissin. Die Damen liebten sie, ihre Beamten und Klosterangehörigen ver¬
ehrten sie; sie war milde und gerecht, ehrerbietig gegen die ältern, gütig gegen die
jüngern Damen. Wer von ihr sprach, konnte nur Gutes berichten; und als eines
Tags Baronin Lolo Wolffenradt unerwartet mit ihrer Tochter bei ihr eintraf,
faßte die Schwägerin sie nach der ersten Begrüßung lächelnd um die Schulter.
Wahrhaftig, Asta, mir scheint, -du hast einen Heiligenschein bekommen!
Nennst du so meine weißen Haare? erkundigte sich die Äbtissin mit halbem Lächeln.
Lolo sah sie prüfend an. Allerdings, du bist schneeweiß geworden. Es steht
dir gut, und Moppi würde sagen: du bist wunderschön!
Moppi war ein kleiner Junge, der zur Überraschung der ganzen Familie vor
vier Jahren auf der Wolffenburg geboren war, und den die dortigen Wolffenradts
vergötterten. Er hieß Kurt; seine Mutter aber nannte ihn Moppi, weil sie be¬
hauptete, daß er dem Mops von Fräulein von Werkentin zum Verwechseln ähnlich
sähe, und dieser Name verblieb ihm natürlich.
Eigentlich hätte ich dir den Jungen mitbringen wollen, fuhr Lolo fort,
während sie sich in dem schönen Gartensaal des Äbtissinnenhauses umsah. Dann
aber fürchtete ich, du würdest ihn nicht leiden mögen, und das hätte ich nicht er¬
tragen können. Nun habe ich dir lieber Elsie gebracht und wollte dich bitten,
sie einige Zeit zu behalten!
Freundlich sah die Äbtissin in Elsies klare Augen.
Gewiß, Kindchen, bleibe bei mir, so lange du magst! Hoffentlich ist es dir
hier nicht zu still!
Elsie war ein junges, schlankes Mädchen geworden, mit sorglos lachenden
Augen und dichtem blondem Haar. Nicht besonders hübsch, und doch sehr lieblich.
Darf sie wirklich bleiben? Die Mutter war erfreut. Das ist sehr gut von
dir, Asta. Sei nur recht strenge mit ihr, und laß sie einige neue Bekanntschaften
machen. Sie schwärmt für neue Bekanntschaften. Und habt ihr vielleicht einen
jungen Pastoren oder Kandidaten hier, dann laß sie ihn nur kennen lernen. Sie
wird sich gleich in ihn verlieben.
Aber, Mutterchen!
Elsie war rot geworden.
Liebes Kind, verlieben ist keine Schande, und Kandidaten sind eigentlich sehr
nette Gegenstände dazu. Weiter als zum Verlieben darf es natürlich nicht gehn;
wenn du dereinst Tante Astas Nachfolgerin werden willst, darfst du niemals ver¬
lobt gewesen sein. Nicht wahr, Astci, ists nicht so?
Asta machte eine abwehrende Handbewegung.
Wir wollen von andern Dingen sprechen, liebste Lolo! sagte sie mit der
Würde, die sie sich schnell angeeignet hatte, und die ihr gut stand.
Der Gegenstand des Gesprächs wechselte also. Lolo wußte viel zu berichte».
Sie hatte Elsie aus einer süddeutschen Pension geholt, wo sie seit zwei Jahren
gewesen war; ihr ältester Sohn war auf der Ritterakademie in Brandenburg; für
den andern suchte sie einen Hauslehrer. Auf der Wolffenburg wurden Verände¬
rungen an den Gebäuden vorgenommen, und der Majoratsherr plante mit seiner
Frau und „Moppi" eine ausgedehnte Reise.
Der Arzt verlangt für Felix eine längere Ausspannung, berichtete Lolo. Er
soll Bergluft haben und im Herbst einen Aufenthalt an den oberitalienischen Seen.
Eigentlich haben wir kein Geld zu diesem Luxus; aber die Gesundheit ist bekanntlich
die Hauptsache, und ihr muß man Opfer bringen!
Die Baronin konnte noch immer so plaudern wie vor fünf Jahren. Sie
war äußerlich nicht älter geworden und behauptete sogar, durch Moppis Erscheinen
verjüngt zu sein. Asta betrachtete sie nicht ohne Neidgefühl. Sie selbst kam sich
sehr alt und sehr würdig vor; so würdig, daß sie es unbequem fand.
Am nächsten Tage wollte Lolo wieder abreisen.
Zu Tante Amalie komme ich diesesmal nicht, sagte sie, als sie später allein
mit Asta durch den Äbtissinnengarten ging. Elsie war zurückgeblieben. Sie wollte
ihren Koffer auspacken und dann ein wenig umhergehn. Es war einmal wieder
Frühsommer; alle Bäume standen in lichtem Grün, und die Tage waren lang.
Elsie kann zu Tante Amalie gehn, wiederholte sie. Ich bin doch nichts für
die alte Dame und für Auguste, ich werde ungeduldig oder ungezogen, oder fange
an zu lachen, wo ich nicht lachen soll. Bei Elsie braucht man das alles nicht zu
fürchten. Sie ist ein Musterjuugesmädcheu. Wie sie damals Tante Amalie und
wich mit sanfter Hand zusammengebracht hat, so wird sie auch jetzt irgend eine
Kette finden, mit der sie Tante Amalie ein sich befestigt. Die Sache überlasse ich ihr.
Stehst du noch im Verkehr mit deiner Tante? fragte Asta.
Ganz wie früher. Ich gratuliere ihr zum Neuen Jahre, und sie strickt für
uns Pulswärmer. Malaga hat es nicht wieder gegeben. Auch diese Angelegen¬
heit überlasse ich Elsie.
Die alte Dame ist noch merkwürdig frisch, sagte Asta, während sie vor einem
Jasminstrauch stehn blieb und eine Blüte pflückte.
Sie wird uns alle überleben! Lolo sagte es gedankenlos. Auch sie stand
still, sah in den mattblauen Himmel über sich, in die Ferne, wo ein Heiderücken
sanft anstieg, und dann faßte sie Astas Arm.
Liegt der Hof Moorhetde wirklich hier in der Nähe?
Man geht etwa eine Stunde bis dorthin.
Hast du Elisabeth jemals gesehen?
Unwillkürlich warf Asta die weiße Jasminblüte von sich.
Nein. Du weißt, Lolo, ich war niemals für sie. Unsre Wege haben sich
getrennt, sie mögen getrennt bleiben.
Du bist wirklich mehr für Melitta?
Asta zögerte mit der Antwort. War sie für Melitta?
Wir müssen die Sachen hinnehmen, wie sie sind, sagte sie ausweichend. Wenn
es dir recht ist, Lolo, dann lassen wir dieses Thema unberührt.
Die beiden Damen gingen wieder dem Hause zu. Lolo setzte noch einigemal
zum Sprechen an, dann sah sie in Astas strenges Gesicht und schwieg. Es war nicht
ihre Angelegenheit, und ihr Murr war dafür, sich nicht einzumischen, wo eine Ein¬
mischung nicht verlangt wurde. Das war ein bequemer Grundsatz, ebenso bequem
wie der von Asta, daß man die Dinge hinnehmen müßte, wie sie eben wären.
Aber wir sind alle bequem und scheuen uns, an etwas zu denken, das uns Unbe¬
hagen verursachen könnte.
Als Lolo am nächsten Tage im offnen Landauer des Klosterpächters zur Bahn
gebracht wurde, und ihre Tochter sie begleitete, berührte sie plötzlich den Arm des
Kutschers mit ihrem Schirm.
Können wir über den Hof Moorheide fahren?
Der Mann drehte sich halb um.
Das ist ein großer Umweg, gnädige Frau, und dazu haben wir keine Zeit.
Müde legte sich die Baronin, zurück.
Nun, dann fahren Sie schnell zur Bahn!
Elsie hatte ihre Mutter erstaunt angesehen, nun rückte sie ihr näher.
Ans Moorheide wohnt Tante Elisabeth, nicht wahr?
Die Gefragte seufzte. Sie wohnt dort, aber ist, wie du hörst, nnr auf einem
Umwege zu erreichen. Dein Vater aber wäre nicht für Umwege.
Mutter und Tochter fuhren schweigend auf der Landstraße weiter. Hier
waren flache Felder im frischen Grün, blühende Hecken und gerade gepflanzte
Bäume, eine bescheidne Landschaft mit bescheidnen Reizen. Aber der Himmel, der
sich über sie spannte, war weit, und die Ferne begrenzten die Heidehügel.
Träumerisch sah Elsie vor sich hin. Mit achtzehn Jahren strebt man in die
Weite, und das, was gewesen ist, macht auf das Herz wenig Eindruck. Wohl
entsann sie sich des Dovenhofes und der wunderlichen Dinge, die dort geschehen
waren. Aber es mochte von ihrer Krankheit herrühren, daß alles nur noch in
verschwommener Ferne lag. Als Tante Elisabeth mit den .Kindern den Hof ver¬
lassen hatte, war anch sie bald von einer alten Dienerin abgeholt und auf die
Wolffenburg gebracht worden. Auch Herr Heinemann war verschwunden, und
Melitta hatte ihren Onkel Wolf geheiratet. Es war alles rätselhaft gewesen, wer
aber fragt in der Jugend uach Rätseln und ihrer Losung? Zuerst hatte sie sich
wohl bei ihrer Mutter erkundigt, wie denn alles zugegangen sei, dann aber die
Antwort erhalten, wenn sie größer wäre, sollte sie alles erfahren.
Mutterchen, hattest du Tante Elisabeth nicht sehr gern? fragte sie jetzt.
Gewiß, liebes Kind.
Lieber als Tante Melitta?
Lolo warf den Kopf zurück. Ich habe Fräulein von Hagenau zuerst Wohl
gern gehabt, später aber nicht mehr. Im übrigen ist sie Onkel Wolfs Frau und
gehört zur Familie. Also müssen wir sie nehmen, wie sie ist, und solltest du sie
bei Tante Asta treffen, dann mußt du höflich gegen sie sein. Auf die Wolffenburg
Wird sie schwerlich eingeladen werden. Sieh, dort kommt schon der Bahnhof mit
seinem roten Dach, und der Zug dampft herbei. Wir haben wirklich wenig Zeit! Nun,
Kindchen, sei brav und gut, schreibe deiner alten Mutter nicht zu selten, und verliebe
dich nicht allzusehr in irgend jemand. Du hast ein so schwärmerisches Gemüt!
Du hast mir einen Kandidaten erlaubt! sagte Elsie lachend, und die Mutter
schlug sie leicht auf die Wange.
Du weißt, deine alte Mama spricht manchmal Unsinn. Das kommt daher,
weil ich noch aus der Zeit stamme, wo man lustig sein durfte. Heutzutage ist die
junge Welt viel vernünftiger!
Nach einem zärtlichen Abschied fuhr Elsie bald denselben Weg zurück. Mit
schwerem Herzen und Tränen in den Augen. Die Aussicht, eine längere Zeit bei
der Tante Äbtissin bleiben zu müssen, beglückte sie nicht. Sie kannte die Tante
Wenig und sie hatte Scheu vor ihr. Aber sie wußte auch, daß die Geldverhältnisse
ihres Vaters nicht besonders waren, und daß er nicht daran denken konnte, sie
auch noch aus diese lange Reise mitzunehmen.
Leise weinte Elsie vor sich hin, und der Kutscher aus dem Bock hatte sich,
ohne daß sie es bemerkte, schon öfters nach ihr umgesehen. Nun hielt er plötzlich an.
Soll ich jetzt über Moorhcide fahren?
Elsie trocknete ihre Tränen. Moorheide? sie besann sich. Aber schon lenkte
der Wagen in einen Seitenweg, und der Kutscher lachte ihr zu.
Da kriegen wir einen ganz hübschen Weg, klein Fräulein, und denn können
wir ja mal sehen, wie weit sie auf Moorheide sind. Weil das Land sich da
höllisch gekommen ist, und ich es mir mich gern einmal ankucke. Frau Fuchsins
versteht ihre» Kram, und die Frau von Wolffenradt, die da nun wohnt, mag ja
wohl arbeiten!
Elsie vergaß ihren Kummer und hörte aufmerksam zu.
Kennen Sie Frau von Wolffenradt?
Der Kutscher Christian schüttelte den Kopf.
Die kriegt man nicht zu sehen, klein Fräulein. Aber ich kenne Frau Fuchsins;
und die versteht was von der Landwirtschaft. Mehr als ihr Sohn vom Kinder¬
lehren. Der ist mal bei uns in der Schule gewesen, und mein Junge hat viel
Prügel vou ihm gekriegt. Nun ist er aber schon lange weg und schreibt bloß ans
Papier, was er dann drucken läßt.
Der Wagen hielt jetzt in der Nähe eines kleinen, sauber gehaltnen Hofes.
Ein Wohnhänschen mit rotem Ziegeldach lag unter jungen Bäumen; hinten erstreckte
sich ein großer Garten; um der Seite lagen gut gehaltne Wirtschaftsgebäude.
Alles ist gut im Stand! sagte Christian wohlwollend. Die Frau von Wolffenradt
hat ja wohl ein bißchen Geld mitgebracht, und Schulden waren da nicht mehr. Nun
ziehn sie Gemüse und haben Hühnerzucht. Ein Knecht tut die grobe Arbeit. Es
ist alles gut im Stand!
Elsie stand im Wagen aufrecht und blickte angestrengt nach Moorheide hinüber.
Christian zeigte mit der Peitsche auf einen kleinen Teich, der an einer Seite von
dünnem Kiefernholz begrenzt war.
Da laufen die kleinen Mädchen im Winter Schlittschuh, und im Sommer angeln
sie. Aber Fische sind nicht darin!
Dann wandte er den Wagen und fuhr heimwärts.
Nun haben wir Mvorheide gesehen, sagte er gemütlich, und klein Fräulein
braucht nicht mehr traurig zu sein. In unsrer Gegend ist es wirklich wunderschön!
Der gute Christian hatte Recht: es war ganz gut ans dein Kloster, und Elsie
lebte sich in wenig Tagen ein. Das große, stille Äbtisfiunenhaus flößte ihr zwar
Scheu ein; aber ihr Zimmerchen ging nach dem Garten und war sehr behaglich.
Tante Asta war zuerst fremd mit ihr; dann wurde sie freundlicher. Elsie mußte
sich ein wenig der Wirtschaft widmen, gelegentlich Besuche annehmen und wohl
einmal Geschäftsbriefe schreiben. Mit der Verwaltung des Klosters war viel
Schreiberei vermacht; Besuche kamen und gingen; bald wurde hier die Meinung
der Äbtissin verlangt, bald dort, und Elsie begann ihre Tante zu bewundern.
Du bist schrecklich geduldig, Tauenden! sagte sie ihr eines Nachmittags.
Da hatte die Äbtissin fast den ganzen Tag Konferenzen und Besprechungen
gehabt, und jetzt, als Elsie ihr gerade eine Tasse Kaffee brachte, kam der Diener
mit einer Visitenkarte.
Laß den Besuch wieder kommen! rief Elsie dem Diener entgegen; ober Asta
schüttelte den Kopf und nahm die Karte in Empfang.
Der Herr soll in den Salon eintreten! sagte sie, nachdem sie einen Blick auf
den Namen geworfen hatte.
Du bist schrecklich geduldig! rief Elsie noch einmal.
Asta lächelte flüchtig. Ich tue nur meine Pflicht, liebes Kind. Außerdem
wird mir der Baurat die Genehmigung der Regierung überbringen, die längst ge-
wünschte Restauration unsrer Klosterkirche beginnen zu dürfen. Also muß ich ihn
wohl empfangen. Willst dn aber zuerst hineingehn und ihn zu unterhalten ver¬
suchen, dann wäre es mir angenehm.
Gehorsam ging Elsie in das Empfangszimmer, und als die Tante nach einer
Viertelstunde folgte, fand sie das junge Mädchen mit dem Baurat in eifrigster
Unterhaltung.
Herr Heinemann kommt auch! flüsterte sie der Tante zu, während sie aufstand,
um der Äbtissin ihren Platz abzutreten.
Asta achtete nicht auf sie, sondern begrüßte den Baurat, einen ältern Herrn,
in ihrer etwas gemessenen Art.
Beide vertieften sich gleich in Pläne und Zeichnungen, die der Bcmbecunte
vorlegte, und Asta empfand eine flüchtige Verwunderung, daß Elsie bei der Ver¬
handlung zugegen blieb. Aber sie mußte wohl Interesse an Bauwerken haben, und
dann war es gut, daß sie hier etwas lernte.
Mit der Renovierung der alten, stark nachgedunkelten Kirchenbilder sowie für
einige neue Arbeiten wünscht die Regierung einen Maler zu beschäftigen, dessen
Name Alois Heinemann ist, sagte der Baurat im Laufe der Unterhaltung.
Die Äbtissin hob den Kopf und wunderte sich einen Augenblick über Elsies
glänzende Augen. Dann war sie wieder ganz bei der Sache.
Kann er etwas?
Er ist ein junger, aufstrebender Künstler, der schon sehr gute Arbeiten ge¬
liefert hat, und der —
In der Münchner Ausstellung hängt ein Bild von ihm! rief Elsie, und der
Baurat lächelte über ihr eifriges Gesicht.
Er hat, wie gesagt, sehr gute Arbeiten geliefert und neulich in der Gcorgs-
waldaner Kirche die innere Ausschmückung geleitet. Wenn es Eurer Hochwürden
recht ist, möchten wir ihm auch hier Gelegenheit zu einem größern Werk geben.
In Asta erstand eine Erinnerung, und sie zögerte mit der Antwort. Aber
nur einen Augenblick; dann beugte sie sich über die Pläne und betrachtete sie eifrig.
Ich bin sehr dafür, aufstrebenden Talenten den Weg zu erleichtern, erwiderte
sie und sprach mit dem Baurat von andern Dingen.
Er mußte eine Tasse Tee trinken, und Elsie war so freundlich mit ihm, daß
er sie mit Wohlgefallen betrachtete.
Würden Sie mich vielleicht in die Kirche begleiten? fragte er sie am Schluß
seines Besuchs, und die Äbtissin stimmte eifrig zu.
Nehmen Sie sie nur mit, Herr Baurat. Es ist gut, wenn junge Mädchen
beizeiten alles lernen!
Während Elsie den Herrn begleitete, blieb die Äbtissin selbst zurück. Nach¬
denklich ging sie in ihrem großen Empfangszimmer auf und nieder. Dann hob sie
die Hand und schob etwas Unsichtbares zur Seite. An die Zeit vor fünf Jahren
wollte sie nicht mehr denken, und was sie nicht wollte, das tat sie auch nicht.
Herr Heinemann war für sie ein ganz Fremder; und auch er würde ungern an
alte Geschichten denken.
Elsie und der Baurat wanderten durch die Kirche. Es war ein düstrer Bau
aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Kanzel und Gestühl hatten reiches
Schnitzwerk, und die bunten Fenster leuchtende Farben. Aber die Bilder an den
Wänden waren schmutzig und verwahrlost, ebenso wie die Überreste der Fresken.
Bedächtig ging der Baurat hin und her, tat einen Blick in die Sakristei, die gleich¬
falls der Aufbesserung bedürfte, und vergaß das junge Mädchen an seiner Seite.
Sie aber begleitete ihn getreulich und redete ihn endlich an.
Kennen Sie Herrn Heinemann sehr genau, Herr Baurat?
Der Gefragte klopfte an eine besonders schadhafte Stelle der Wand.
Ich habe ihn nur einmal flüchtig gesehen, gnädiges Fräulein. Er ist viel
auf Reisen gewesen und erst seit einiger Zeit in die Gegend zurückgekehrt. Was
ich aber von ihm in der Kirche von Georgswcildau sah, hat mir gefallen.
Ob er wohl — ob er wohl verheiratet ist? erkundigte sich Elsie gepreßt.
Der Baurat ging noch einmal in die Sakristei und sah sich die Decke dort an.
Hier, mein gnädiges Fräulein, sehen Sie noch den Rest der alten gemalten
Ornamente. Gefallen sie Ihnen nicht? Sehen Sie dort den Weinstock, hier die
Reben, alles sein säuberlich gemalt und doch poetisch dabei. Ob Herr Heinemann
verheiratet ist? Ich glaube nicht. Dazu wirds bei ihm kaum gelangt haben. Darf
ich nun noch ins Klostergebäude gehn?
Geduldig wanderte Elsie mit ihm und horchte auf seine Erklärungen bei jedem
Mauerwerk. Nach Herrn Heinemann mochte sie nicht mehr fragen.
Unterdessen empfing die Äbtissin noch einen Besuch. Allerdings nicht in ihrem
Salon, der nur Gleichstehenden geöffnet wurde, sondern in dem sogenannten Äbtissinnen¬
zimmer. Mit den alten Bildern an den Wänden und dem großen Schreibtisch in
der Mitte, der dem ganzen Raum etwas Würdiges verlieh. Die Äbtissin saß in
ihrem Lehnstuhl, und vor ihr stand Klaus Fuchsins. Er hatte sich in den fünf
Jahren wenig verändert. Sein Anzug war sorgfältiger geworden, seine Wäsche
eleganter. Aber seine Augen hatten denselben unsteten, lauernden Blick.
Es ist mir nicht geglückt, Frau Äbtissin, sagte er jetzt in seiner unzufriedncu,
halb unverschämten Art. Die Welt versteht keine Dichter mehr. Nun will ich
nichts mehr von der Welt wissen. Haben Sie nicht eine Anstellung für mich?
Die Äbtissin schüttelte den Kopf.
Hier ist alles besetzt.
Klaus seufzte. So ist das nun. Wohin ich komme, ist alles besetzt. Gerade
als wär ich zuviel auf der Welt. Und früher haben die Stiftsdamen noch etwas
für mich getan. Doch Gräfin Eberstein konnte mich nicht leiden; wenn ich mich
aussauge, hat sie mich ans dem Gewissen.
Sie sollten zu ihrer Mutter gehn, lieber Fuchsius.
Die kann mich nicht gebrauchen, Hochwürden. Auf Moorheide wohnt ja die
geschiedne Frau von Wolffeuradt, und ihr gehört die ganze Geschichte. Kann ich
nicht hier etwas finden?
Die Äbtissin dachte nach. Lieber Fuchsius, ich weiß wirklich nichts für Sie.
Aber — sie legte dem jungen Mann ein Zwnnzigmarkstück hin; nehmen Sie dieses,
und kommen Sie später einmal wieder.
Klaus wollte sich hochmütig abwenden; dann besann er sich eines Bessern,
nahm das Geld, murmelte einen Dank und näherte sich der Tür. Auf der Schwelle
drehte er sich noch einmal um.
Der Torwart hat ein Zimmerchen frei; darf ich dort vorläufig wohnen? Das
Kloster gefällt mir nun einmal gut, setzte er hinzu, als die Äbtissin einen Augen¬
blick auf ihre Antwort warten ließ.
Fremde dürfen eigentlich nicht auf dem Kloster wohnen, erwiderte sie dann.
Er lachte bitter auf.
Bin ich denn ein Fremder? Habe ich hier nicht unterrichtet, und haben die
Damen mir nicht geholfen? Wäre Gräfin Eberstein nicht gewesen, so hätte ich jetzt
den Platz hier als Hauptlehrer. Aber Gräfin Eberstein —
Die Äbtissin unterbrach ihn. Ich erteile Ihnen die Erlaubnis, hier zu wohnen;
aber ich bitte Sie, gegen Gräfin Eberstein keine Vorwürfe zu erheben. Sie hat
sie nicht verdient.
Klaus Fuchsius entfernte sich, und die Äbtissin fuhr sich über ihre weißen
Haare. Den Namen der Gräfin Eberstein konnte sie nicht hören.
(Fortsetzung folgt)
Der erste lähmende und alarmierende Eindruck, den der jähe
Kriegsausbruch in Ostasien hervorgerufen hat, ist vorüber. Das Publikum beginnt
sich daran zu gewöhnen, daß es einer ziemlich langwierigen Entwicklung gegenüber¬
steht, und daß entscheidende Schläge, wie in den großen europäischen Kriegen, auf
lange Zeit hinaus nicht zu erwarten sind. Vielleicht ist heute schon die Frage nicht
unberechtigt, ob das schließliche Kriegsergebnis für beide Teile die Opfer an Menschen
und an Mitteln wert sein dürfte, die es jedenfalls den Russen wie den Japanern
kosten wird. Rußland kann, und wenn mich erst nach Monaten, eine erdrückende
Übermacht auf den Kriegsschauplatz werfen, deren Achillesferse freilich die lange und
schwierige Verbindung mit den eigentlichen Hilfsquelle» der russischen Macht bleibt.
Sein Heer sieht sich mit allen seinen Nachschüben, mit der Verproviantierung, dem
Muuitionsersatz, mit dem Rücktransport von Verwundete» und Kranken auf den
einzigen ebenso langen als dünnen Faden der eingleisigen Bahn angewiesen, während
den Japanern die ihnen offenstehende See tausend Hilfsmittel bietet. Jeder Pvst-
dampfer, der von Europa unes Asien geht, hat Sendungen für Japan an Bord, die
aus und über England bezogen werden. Die deutsche chemische Industrie zum Beispiel
ist mit großen Lieferungen für beide Teile betraut, die für Japan gehn über Eng¬
land durch unzählige Gelegenheiten, während die gesamten Sendungen für Rußland
durch die eine einzige Bahnlinie bewältigt werden müssen. Außerdem hat Japan
die Hilfsquellen seines eignen Landes in der Nähe, hat die ungehinderte Verbin¬
dung mit Amerika, die für Rußland doch nnr in sehr beschränktem Umfange offen
steht. Trotzdem wird Rußland eines Tags zu Laude der Stärkere sein. Bis
dahin freilich macht es die Erfahrungen, die England im Burenkriege gemacht hat.
Ohne gehörig gerüstet und vorbereitet zu sein, Hot es — ebenso wie damals Eng¬
land — durch seine drohende Haltung den Kriegsausbruch herbeigeführt und ebenso,
wie der Krieg für England in Südafrika ungünstig verlief, bis es seine gesamte
Feldarmee hinüber geführt und eingesetzt hatte, so wird auch Rußland zum mindesten
mit entscheidenden Erfolgen nicht eher zu rechne» haben, bis es seine Feldarmee
in der Mandschurei versammelt haben und ihre dann den Japanern überlegnen
Kräfte einzusetzen in der Lage sein wird. Darüber kann leicht noch eine Reihe
von Monaten hingehn. Ob Japan seinerseits einen Krieg ohne entscheidende Er¬
folge finanziell so lange aushält? Die japanische Nation ist durch den schnellen
und glücklichen Verlauf des Krieges mit China verwöhnt und wird nun erst lernen
müssen, daß ein Krieg mit einer europäischen Großmacht doch eine andre und
ernstere Sache ist.
Hätte Rußland nur einen Teil der Vorbereitungen, die es für einen euro¬
päischen Krieg getroffen hat, auf Ostasien verwandt, wo nach der ganzen Tendenz
der russischen Politik und bei den vorhandnen Rivalitäten ein Konflikt seit Jahren
doch viel wahrscheinlicher war, so würde es heute nicht von dem so sehr unter¬
schätzten Gegner das Gebot des Krieges annehmen müssen. Die japanische Diplo¬
matie wird sich nach Möglichkeit bemühen, weitere Verwicklungen zu schaffen; sie
wird formell die Aufrechterhaltung der Neutralität Chinas betreiben, daneben aber
eine Bewegung schüren, die den Pekinger Hof zur Teilnahme am Kriege bestimmen
soll. Die Spuren dieser Tätigkeit sind schon in der Erklärung Chinas wegen
der Kaisergräber in Mulden enthalten. Ob Japan bei diesen Bestrebungen Helfer
hat, ist noch nicht klar zu übersehen. Die Großmächte werden doch sämtlich damit
rechnen müssen, daß eine Beteiligung Chinas am Kriege unvermeidlich zu einem
neuen Ausbruch des Fremdenhasses führen würde. Schon jetzt ist ein Wiederauf¬
leben der Boxerbewegung erkennbar und unsre ostasiatische Brigade, über die
die Budgetkommission des Reichstags soeben recht im Stil vo« „Gevatter Schneider
und Handschuhmacher" zu Rate gesessen hat, kaun in recht kurzer Frist wieder vor
Aufgaben gestellt sein, die auch über unsern spießbürgerlichen Parlamentarismus in
der Heimat sehr schnell zur Tagesordnung übergehn würde. Wahrend England
und Frankreich ihre Machtmittel in Ostasien mit unverkennbarer Eile verstärken,
vertieft sich unser Reichstag in Erörterungen, wieviel Offiziere, Ärzte und Spiel¬
leute wohl an unserm dortigen Truvpeubestcmd zu kürzen seien. Dazu das Drängen
nach Zurückziehung der Truppe, womit allen andern Interessen gedient sein, würde,
nur den deutschen nicht. Eine Beseitigung des Blitzableiters während eines
heraufziehenden Gewitters! Immer wieder der Beweis politischer Unfähigkeit und
Kurzsichtigkeit.
Eine Beteiligung Chinas am Kriege würde wahrscheinlich zur Folge haben,
daß China schließlich die Kosten zu tragen hätte. Rußland kann sich mit Japan
beim Friedensschluß leicht über Korea verständigen, zumal da der Krieg, wie er auch
enden möge, doch nur eine Etappe sein wird. China dagegen würde sich kaum um
den Preis der Mandschurei loskaufen können, wobei dann für andre Mächte,
namentlich für England, sofort die Frage des Gleichgewichts begönne.
Einstweilen bleibt England in der angenehmen Lage, zur gegebnen Zeit, wenn
beide Mächte erschöpft sein werden, und Japan am Ende seiner militärischen und
finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen sein wird, seine guten Dienste sür die
Friedensvermittlung anzubieten und dadurch wieder in die Stellung als arbitrs für
Ostasien zu kommen, zugleich auch in die dankbare Position des tsi-tius ^^nasus.
Rußland wäre dann Wohl kaum imstande, englischen Forderungen ernsten Widerspruch
entgegen zu setzen, mit Frankreich würde das Londoner Kabinett sich zu verständigen
wissen, und Deutschland hätte das Nachsehen, namentlich wenn der deutsche Reichstag
fort und fort zu erkennen gibt, daß ihm die ostasiatischen wie überhaupt die über¬
seeischen Interessen gleichgiltig sind, und daß die deutsche Regierung hierin auf eine
freudige und nachhaltige Unterstützung ihrer Volksvertretung nicht rechnen kann.
Allerdings sind ja neuerdings fast alle Beschlüsse unsers Reichstags nur noch Minoritäts¬
beschlüsse, meist sogar einer minimalen Minorität, aber unsre Regierung pflegt ja
nun einmal damit zu rechnen und diesen Beschlüssen eine Bedeutung zuzuerkennen,
die ihnen verfassungsmäßig gar nicht beiwohnt und nicht zukommt. Denn Artikel 28
der deutschen Verfassung besagt: „Der Reichstag beschließt nach absoluter Stimmen-
mehrheit. Zur Giltigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der
gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich." Somit wären die Verbündeten
Regierungen berechtigt, eigentlich wohl verpflichtet, jeden Reichstagsbeschluß als
ungiltig zu behandeln, der dieser Voraussetzung nicht entspricht. Die Möglichkeit,
daß davon gelegentlich einmal Gebrauch gemacht werde, ist ja nicht ausgeschlossen,
zunächst drängt sich theoretisch die Frage auf, ob man nicht auf diesem sehr ein¬
fachen Wege der chronischen Beschlußunfähigkeit des Reichstags abhelfen könnte.
In Ostasien wird aber zur gegebnen Zeit noch eine ganz andre Macht
auftreten: Amerika. Auch die Amerikaner sorgen vor. Sie schicken Schiffe nach
Ostasien, Truppen nach den Philippinen und, was zunächst am bedeutsamsten ist,
in größter Eile Konsule in die Mandschurei. Damit etablieren sie „ein Auge"
auf dem Kriegsschauplatz. Der für Dalny bestimmte Konsul wird ja einstweilen
in Schanghai bleiben, aber Amerika hat deutlich genug zu erkennen gegeben, daß
ohne Mitwirkung des Washingtoner Kabinetts große Veränderungen an den asiatischen
Gestaden des Stillen Ozeans nicht mehr stattfinden sollen. Es will dort zu ge¬
gebner Zeit die Vorherrschaft antreten, die ihm schon Goethe zuerkannt hat, und
Rußland sieht sich unmittelbar seinem großen Zukunftskonkurrenten gegenüber, auf
den der jetzige Zar einst als Thronfolger bei einem Besuche in Berlin hingewiesen
hat. Um so bemerkenswerter ist die Mühe, die man sich in England bei der
Regierung gibt, die öffentliche Meinung nicht gegen Rußland einnehmen zu lassen,
Während die englische Presse Deutschland auf jede Weise bei den Russen zu dis¬
kreditieren sucht. England will freie Hand behalten, um je nach Bedarf Japan zu
unterstützen, oder sich Rußland als Friedensstifter und Befreier aus großer Berlegen-
heit zu nähern. Dabei aber will es anscheinend doch die russische Verlegenheit aus¬
nutzen, um mit Rußlands aggressiven Vorgehn in Zentralasien einfürallemal ein
Ende zu machen. Die Reise des russischen Botschafters in London nach Petersburg
gerade im jetzigen Augenblick wird darum viel beachtet und als politisch bedeut¬
samer Vorgang angesehen, zumal angesichts der persönlichen Rücksichtslosigkeit, die
ihm durch das jüngst veröffentlichte Blaubuch über Tibet widerfahren ist. Nicht
minder bedeutsam, wenn sie sich bewahrheitet, ist die Nachricht, daß das Washingtoner
Kabinett ein neues Kabel von den Philippinen nach Japan herstellen läßt, „um
eine Isolierung Japans für den Fall zu verhindern, daß Nußland die beiden Kabel
von Schanghai nach Japan durchschneiden sollte," was vielleicht die Aufgabe des
jetzt in Schanghai festliegenden russischen Kreuzers „Mandschur" gewesen wäre.
Dieses neue Kabel wäre jedenfalls mit den bestehenden Auffassungen von Neutralität
nicht vereinbar, da „die Isolierung des Gegners" mit zu den zulässigen Kriegs¬
mitteln, ja Kriegsnotwendigkeiten gehört. Wohl aber liegt dieser Schritt in der
Richtung der Etablierung der amerikanischen Vorherrschaft auf dem Stillen Ozean
und läßt die Annahme zu, daß falls nicht heute schon ein geheimes Bündnis zwischen
Amerika und Japan besteht, es zweifellos eine der Folgen des Krieges sein wird.
wird noch vor Ostern in die erste
Beratung der Kanalvorlage eintreten, und der Schwerpunkt des politischen
Interesses, soweit unsere innere Politik in Frage kommt, rückt damit für einige
Zeit in diese, hinter den Reichstag leider so stark zurückgetretene Körperschaft. Was
die Kanalvorlage an Kanalbauten im allgemeinen bringen soll, ist schon bekannt.
Ebenso ist bekannt, daß man auf liberaler Seite geneigt zu sein scheint, einstweilen
zu nehmen, was man bekommen kann, zumal ja der ganze Mittellandkanal doch
nicht an einem Tage gebaut werden kann. Aus diesem Grunde kann man auch
annehmen, daß die Provinz Hannover den ihr nach dem Gesetze zufallenden Zu¬
schuß auch für den einstweiligen Torso leisten wird. Bei den Konservativen über¬
wiegt in starkem Umfange das Bedürfnis, die Streitaxt mit der Krone endlich zu
begraben. Hierfür liegen nicht nur Anzeichen, sondern positive Erklärungen vor.
Man sieht sich jedoch in diesen Kreisen, wenigstens zum Teil, nach einer goldnen
Brücke um, und diese scheint in der Auflegung von Abgaben nicht nur auf die
künstlichen Wasserstraßen, sondern auch auf die Benutzung der Kunstbauten an den
natürlichen Wasserstraßen gefunden worden zu sein. Es mag dabei hier und da
auch wohl der Hintergedanke bestehn, durch diese Abgaben noch eine indirekte Zoll¬
erhöhung auf das auf diesen Wasserstraßen hereinkommende Getreide zu legen. Aber
die preußische Regierung wird einerseits keinen Abgaben zustimmen, die über die
Amortisierung oder die Verzinsung des Anlagekapitals hinausgehn, noch wird sie
andrerseits den Westen abgabenfrei lassen können, wie es dort mit großem Nach¬
druck verlangt wird, während die östlichen Provinzen die Zinsen für ihre Kanal¬
anlagen aufzubringen haben. So betragen zum Beispiel die Schiffahrtabgaben in
der Provinz Brandenburg bei nur zweiprozentiger Verzinsung des investierten
Kapitals jährlich über drei Millionen Mark, ebenso hat Pommern sie aufzubringen;
dort haften sogar die beteiligten Kreise und Kommunen für die Verzinsung. Findet
sich der Westen, namentlich die Rheinprovinz, bereitwillig in die verhältnismäßig
geringen und die Schiffahrt wenig betastenden Opfer, so darf das Zustandekommen
der Kanalvorlage als gesichert gelten; im andern Falle wird es harte Kämpfe
kosten, und der Erfolg wäre zweifelhaft. Selbstverständlich handelt es sich nicht
um Besteuerung der natürlichen Wasserstraßen, das ist schon durch die Reichs¬
verfassung ausgeschlossen, wohl aber um die Verzinsung der Anlagen, die zur
Verbesserung dieser Wasserstraßen ausgeführt werden, wie teilweise Kanalisierung,
Hafen- und Kaibauten, Loses- und Entlöscheinrichtungen usw.; auch da soll, wie
gesagt, nur der jährliche Kostenaufwand nebst einer Kapitalverzinsung aufgebracht
werden. In manchen konservativen Kreisen mag man freilich, wie gesagt, diese
Kanal- und Schiffahrtabgaben als einen beweglichen Zuschlag zum Getreidezoll be¬
handeln wollen. Davon kann natürlich keine Rede sein. Für das fremde Ge¬
treide, das auf den Wasserstraßen und Kanälen nach Deutschland hineinkommt,
kommt als preisbildend weder der Zoll noch die Binnenschiffahrtabgabe in Betracht,
sondern ausschließlich die Seefracht. Hierfür genügt ein Beispiel: Auf der Strecke
Rotterdam-Mannheim betrug die Rheinfracht für die Tonne Getreide:
Was spielt diesen Zahlen gegenüber eine Erhöhung des Getreidezolls um
fünfzig Pfennige für eine Rolle oder eine Schiffahrtabgabe, die bei einem Verkehr
von über fünf Milliarden Tonnen auf dem Rhein (preußische Strecke) sich für den
Tonnenkilometer nur nach Bruchteilen von Pfennigen berechnet! Bei diesen sehr
einfachen Verhältnissen möchte man in der Tat glauben, daß für die Erledigung der
Kanalvorlage, wenn sie vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet wird,
keinerlei ernste Schwierigkeit vorhanden sein könnte, zumal da auch noch weitre
Arbeiten im Interesse der östlichen Landesteile in Aussicht stehn. Die Annahme
der Vorlage würde eine so starke Entlastung unsrer innern Gesamtlage bedeuten,
daß sich schon aus diesem Grunde alle patriotischen Parteien auf dem Boden eines
rein wirtschaftlichen und nur künstlich politisch aufgebauschten Entwurfs zusammen¬
finden sollten. Bei der Zusammensetzung des preußischen Abgeordnetenhauses ist
die Haltung des Zentrums selbstverständlich nicht ohne Belang. Aber die Zentrums¬
fraktion wird das Odium, die Vorlage abermals vereitelt zu haben, schwerlich auf
sich nehmen, sobald die andern Parteien sich einigen. Der Klageruf freisinniger
Blätter, daß die Regierung den Agrariern zu willen sei, indem sie die Kanal¬
vorlage ohne die Notstandvorlagen einbringe, hat gar keinen Sinn. Die Wasser¬
schadenvorlage für Oberschlesien bedarf noch der Dnrchberatung durch den schlesischen
Provinziallandtag, weil es sich unter andern, auch um Bestimmungen handelt, die
Überschwemmungsgebiete von Ansiedlungen möglichst frei zu machen und die jetzt
vorhandnen, soweit es ausführbar ist, unter Entschädigung zu verlegen. Ebenso
muß der brandenburgische Provinziallandtag wegen der Oderregulierung befragt
werden. Die schlesische Wasserschadenvorlage gleichsam als Prämie für die Annahme
der Kanalvorlage zu behandeln, kann in der Tat keiner verständigen Regierung
einfallen.
Auf einer Reise
durch Deutschland hat Herr Gaston Leroux erfahren, daß in Königsberg der hundert¬
jährige Gedenktag an den großen Philosophen Kant gefeiert wird. Er macht sich
also auf den Weg nach Königsberg, denn er hofft, wie er in der Zeitung l.s Ug,tin
vom 17. Februar berichtet, dort eine alltitusss psut-fers eurisu8s se llullsinsut
woals zu dem rohen Kriegsschauspiel zu finden, das sich im fernen Osten zwischen
feindlichen Rassen abspielt. Dieser reisende Franzose wird natürlich mit dem scheuen
Respekt, der ja dem guten Deutschen vor jedem Ausländer, namentlich dem Franzosen,
schon in der Schule angedrillt wird, auch in Königsberg bei der Kantfeier empfangen
und von dem Kultusminister und dem kommandierender General begrüßt, oss
wsssisurs ins ürsut Is msillsur g-oeusil se ins clsmauäsrsnt es aus ^s xsnsais ass
Mös as Hallt. Und was weiß nun dieser öde fade Schwätzer seinem Pariser
Publikum von der Kantfeier zu berichten? Von der Kantischen Philosophie und
der Stellung Kants in dem Geistesleben der Völker weiß er natürlich nichts, und
so sieht er in der ganzen Feier nur eine spaßhafte Komödie, in der der Ober¬
bürgermeister genau sieben Minuten geredet, und der Professor Stampf versichert
habe, daß Kant, wenn er heute lebte, dem Philosophen Nietzsche eins auf den Kopf
geben würde, un coup av marks^u sur la. Ms as Mstuseno. Über den Haupt¬
redner schüttet Monsieur Leroux die ganze Schale seines Spottes aus; dieser druf
dsÄU se tout-d.-kalt loinwin visillarä habe keine Festrede gehalten, sondern zwei
Stunden lang wie im Traum ein Selbstgespräch geführt. Man könne die Rede
in drei Perioden einteilen: in der ersten habe man neugierig das vornehme Greisen¬
haupt bewundert, in der zweiten habe sich der Oberpräsident Herr von Moltke ver¬
geblich bemüht, gegen den Schlaf anzukämpfen, in der dritten hätten sich die anfangs
stolz erhobnen Banner der Studenten immer tiefer und tiefer gesenkt. Mit einem
höchst melancholischen Gesänge sei die verschlafne Feier beendigt worden. Mehr
über Kant und das Kantsche weiß der reisende Sprachlehrer oder Reporter seinen
Landsleuten nicht zu erzählen — halt, noch eins! er vergißt nicht, gewissenhaft
zu berichten, daß der Professor Walter auf der Straße ausgeglitten und durch
diesen Sturz sur Is üsirisro aus seinen provenzalischen Träumereien aufgeschreckt
worden sei. Dem Professor Koschwitz (er schreibt ihn Xoosnnit«, also fast chinesisch)
läßt er zwar Gerechtigkeit widerfahren, aber im übrigen erscheint ihm doch die
Stadt der reinen Vernunft als ein merkwürdiger Raritätenkasten. Der Himmel
behüte die andern Universitäten vor solchen ausländischen Berichterstattern!
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur auf die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breiten: Rande erbeten.
Deutsches
Erzeugnis
le preußische Regierung hat eiuen Gesetzentwurf über Familien-
fideikommisse veröffentlichen lassen, der seinerzeit dem Landtag vor¬
gelegt werden soll. Die konservative und die ultrcimoutcine Partei
haben auf Anregung des Kammerherrn von Riepenhausen-Crcmgen
wiederum einen Heimstüttengesetzentwurf im Reichstag eingebracht.
Er ist eine Wiederholung des Entwurfs von 1890 und 1894. Beide Gesetz¬
entwürfe erstreben dasselbe: den Familiensinn und die Familie zu stärken, aber
teils auf verschiednen Wege, teils für verschiedne Kreise. Für jedes Familien-
fideikvmmiß verlangt der Entwurf ein Jahreseinkommen von 10000 Mark (nach
dem Preußischen Landrecht, Paragraph 51, II, 4 genügt ein Mindestreiuertrag
von 7500 Mark); was die Größe der Heimstätte alilangt, so schreibt der Gesetz¬
entwurf vor, daß sie die eines Bauernhofs nicht übersteigen dürfe.
Also für die Fideikommisse eine Beschränkung nach unten, für die Heim¬
stätte nach oben. Das Fideikommiß soll nicht zu klein, die Heimstätte nicht zu
groß sein. Wie reimt sich dies mit demselben Zweck zusammen, wird man
fragen, und wo bleiben die zwischen den beiden Größen liegenden Güter?
Offenbar sind beide Gesetzentwürfe etwas einseitig. In der Tat will man durch
das Familienfideikommiß Wohlhabenheit in einer Familie (sxlsnclor tÄiniliklö)
erhalten. Deshalb wird durch das Fideikommiß das große Gut entrückt:
erstens dem Pslichtteilsrecht (der Fideikommißnachfolger erbt es nicht, sondern
wird zur Nachfolge durch die alte Stiftungsurkunde berufen) und zweitens dem
Angriffe aller zukünftigen Gläubiger. Es ist nicht bloß unveräußerlich und
im gewissen Sinne unvererblich, sondern auch der Hauptsache nach der Zwangs¬
vollstreckung entzogen.
Die Heimstätte dagegen, wie sie sich in Nordamerika ausgebildet hat, be¬
schränkt sich auf eine Mindestgröße an Grund und Boden, die allerhöchstens
so groß sein darf, daß sie einer Familie entweder nur Wohnung oder auch
außerdem durch ländliche Nutzung und Verwertung ihrer Arbeitskräfte Nahrung
gewähren kann. *)
Sie ist für den bessern Arbeiterstand in Stadt und Land geschaffen. Die
Größe ist deshalb für dessen Bedürfnisse bemessen. Größer darf die Heimstätte
nicht sein, wenn auch diese Größe in den einzelnen Staaten sehr verschieden be¬
messen ist. Auch darf nur der eine Heimstätte stiften, der Familienvater oder
Familienvorstand (Haushalter) ist und wenigstens ein Kind hat. Das Grund¬
stück muß, wenn es das Recht einer Heimstätte erlangen soll, vom Eigentümer
bei der Behörde angemeldet werden, und die Anmeldung wird in ein Buch
(Register) eingetragen. Dadurch wird die Heimstätte dem Angriff künftiger
Gläubiger entzogen.
Der Familienvater kann also ohne Sorge sein; auch wenn noch so viel
Unglück über ihn hereinbricht, die Heimstätte kann ihm und den Seinigen nicht
genommen werden. Denn die Heimstätte bleibt auch nach seinem Tode noch
so lange bestehn, als seine Witwe lebt oder ein Kind von ihm noch minder¬
jährig ist. Ist beides nicht mehr der Fall, so erlischt sie. Jedoch kann sie
von einem seiner Kinder oder Erben unter derselben Voraussetzung wie sonst
wieder von neuem dazu bestimmt und geschaffen und damit als neue Heim¬
stätte gegründet werden. Die Heimstätte erlischt aber auch dann, wenn sie von
Familienmitgliedern nicht mehr bewohnt und benutzt wird. Zur Züchtung von
Mietkasernen ist sie nicht geschaffen.
Bei der amerikanischen Heimstätte wird auch ganz besonders die Befriedigung
des Wohnungsbedürfnisses betont. Es kann auch ein Haus allein — ein
städtisches kleines Haus — ohne nutztragende Grundstücke zu einer Heimstätte
gestiftet werden. Eine solche Heimstätte — Wohnungsheimstätte — verhindert,
daß die betreffende Familie obdachlos werden kann. Kann in dem Hanse ein
kleines städtisches Gewerbe betrieben werden, so bietet die Wohnungsheimstätte
tatsächlich doch auch mehr. Diese Wohnuugsheimstätte ist im deutschen Entwurf
gar nicht zugelassen, wie überhaupt der dem Reichstag vorliegende Entwurf
mehrfach von dein amerikanischen Vorbild abweicht, wie noch näher ausgeführt
werden soll.
Die Heimstätte wird im amerikanischen Recht nur als eine noirs8t6g.ä
oxeinxtion betrachtet, als eine Ausnahme oder Beschränkung der Zwangsvoll¬
streckung. Sie bezweckt die Erhaltung eines Heims für einen Familienvater und
eine Art Witwen- und Kinderversorgung. Bei den heutigen sozialen Verhält¬
nissen sicherlich etwas erstrebenswertes und gewiß etwas, daß den Familiensinn
heben und stärken muß.
Eine dritte Rechtseinrichtung ist das Höferecht oder die Landgüter¬
rolle in Preußen. Diese wendet sich nur gegen das Pflichtteilrecht. Dem
Anerben soll die Fortführung des väterlichen Gutes dadurch ermöglicht werden,
daß die Pflichtteilrechte der Geschwister beschränkt werden.
Das in die Landgüterrolle eingetragne Gut bleibt veräußerlich, es kann
auch jederzeit auf Antrag des Eigentümers in der Rolle gelöscht werden, und
damit können dem zukünftigen Anerben die Vorteile bei der Regulierung wieder
entzogen werden.
Das Höferecht der Laudgüterrolle greift ebenso wie das amerikanische Heim¬
stättenrecht eigentlich gar nicht in die Freiheit des Grundeigentümers ein, er
kaum das Gut in der Güterrolle jederzeit löschen lassen, kann es ganz ver¬
äußern. Nur beim Todesfall des Eigentümers werden die gesetzlichen An¬
sprüche der Miterben bei der Nachlaßteilung dem Anerben gegenüber beschränkt,
für den das Gut bestimmt ist. Die Landgüterrolle ist das Rechtsinstitut, das
am wenigsten die wirtschaftliche Freiheit beschränkt, am wenigsten Bedenken her¬
vorruft, das eigentlich nur vorteilhaftes im Sinne der landwirtschaftlichen Eigen¬
tümer schafft. nachteilig ist es nur den Pflichtteilerben. Diese erben weniger.
Der dem Reichstag vorliegende Entwurf eines deutschen Heimstättengesetzes
sucht die amerikanische Heimstätte mit dem Höferecht zu verbinden, es gestaltet
sie dadurch sideikommißähnlicher.
Das Fmnilienfideikommiß geht jedenfalls in seinen Beschränkungen am
weitesten. Es ist, wenn man will, dem Lehnrecht nachgebildet. Wie ein Lehns-
uachfolger das Lehn ox Melo se xroviäsntüi w-iM-um überkommt — nicht
erbt —, so der Fideikommißnachfolger. Das preußische Fideikommißrecht geht
jedoch in seinen Verüußerungsbeschränknngen noch weiter als das Lehnrecht.
Es bindet das zum Fideikommiß geschaffne Gut für immer, und seine
Wirkungen sind mit der Überlassung an eine tote Hand zu vergleichen. Das
Fideikommiß ist an sich unveräußerlich. Man kann deshalb mit Recht den Be¬
strebungen nach Familimfideikommissen entgegenhalten, daß es — aus allge¬
meinen Gründen — nicht wünschenswert sei, daß allzuviel Grund und Boden
an eine tote Hand — die Familie — gebunden und dem Verkehr so gut wie
ganz entzogen werde, es ist also nicht wünschenswert, daß allzuviel Fideikommisse
in dieser schroffen, strengen Form entstehn.
Wenn jedoch die Gegner der Familienfideitommisse hervorheben, daß diese
— wie die Statistik ergibt — in den letzten Jahren stark zugenommen haben, so
beweist das doch nichts. Denn bis vor einigen Jahrzehnten waren in Preußen
sehr viele Güter — in einzelnen Provinzen wohl die meisten — durch das
Lehnrecht gebunden. Die Lehne sind aufgehoben und nur zum Teil in Fidei¬
kommisse verwandelt worden. Natürlich mußten sich zu einer solchen Zeit der
Umwandlung der Lehne in Fideikommisse diese ganz besonders vermehren.
Ferner würde aber das Zunehmen der Fideikommisse doch auch dafür an¬
zuführen sein, daß für sie ein Bedürfnis besteht, und daß sie einem Bedürfnis
entspreche«.
So wie jedoch das Fideikommißrecht in Preußen gestaltet worden ist und
auch durch den neu veröffentlichten Gesetzentwurf gestaltet werden soll, ist eine
allzugroße Vermehrung der Fideikommisse immerhin bedenklich, sie ist um so
bedenklicher, als auch der neue Entwurf keine Beschränkung der Fideikommisse
nach oben festsetzt. Es können also auch riesengroße Fideikommisse entstehn,
was nicht im Staatsinteresse liegt, auch können sich die schon bestehenden Fidei¬
kommisse weiter vergrößern.
Das ist eine Lücke des Entwurfs, denn wenn auch schon der Para¬
graph 56, II, 4 des Allgemeinen Landrechts zu größern Fideikommissen über
30000 Mark Reinertrag die landesherrliche Genehmigung vorsieht, so scheint
dies Erfordernis allein nicht ausreichend zu sein.
Unbedingt muß anch für ein neues Fideikommiß eine Grenze nach oben
gesetzt, d. h. es darf über eine gewisse Größe hinaus nicht gestiftet werden, also
etwa bei der Errichtung nicht mehr als zum Beispiel einen jährlichen Durch¬
schnittsreinertrag von 50000 oder 100000 Mark gewähren.
Im volkswirtschaftlichen Interesse sind drei Fideikommißbesitzer mit je
30 000 Mark Einkommen besser, als ein Fideikommißbesitzer mit 90000 Mark
Einkommen. Je niedriger man also die Grenze zieht, um so besser. So soll
es früher auch einmal die Bestimmung gegeben haben, das; niemand mehr als
hundert Rittergüter sein eigen nennen durfte. Bei den großen Besitzungen der
reichen Klöster war diese Vorschrift sicherlich berechtigt, sie ist auch heute bei
den großen Kapitalanhäufnngcn nicht zu entbehren, und deshalb darf in einem
neuen Fideikommißgesetz nicht das Verbot fehlen, daß ein Fideikommiß eine be¬
stimmte Größe nicht übersteigen dürfe.
Wenn man es ferner für möglich hält, daß sich die Fideikommisse noch
stark vermehren — und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür —, so ist auch noch
eine gesetzliche Beschränkung dahin nötig, daß der in Fideikommisse festgelegte
Grundbesitz in einem Kreise eine festzusetzende Höchstgrenze, zum Beispiel ein
Viertel der gesamten Grundfläche des Kreises, nicht übersteigen dürfe.
Wenn in der Tat die Gebundenheit des Fideikommisses starr und stündig
für alle Zeit so wie bisher bleiben soll, so sind solche Beschränkungen durch¬
aus nötig.
Der Entwurf hält mit Unrecht die Festlegung solcher Grenzen für über¬
flüssig, er erachtet das Erfordernis der landesherrlichen Genehmigung, die nur
durch die Ministerien erreicht werden kann, für genügend. Das ist nicht zu
billigen, auch spricht die Erfahrung dagegen.
Jedoch hat der Entwurf in den Paragraphen 139 bis 141 mit Recht die
Bestimmung neu geschaffen, daß zwei oder mehr Fideikommisse nicht dauernd in
einer Hand vereinigt bleiben dürfen, und daß andernfalls das eine Fideikommiß
freies Eigentum wird. Beim Heimstüttenrecht liegt es im Wesen der Heim¬
stätte, daß niemand mehr als eine Heimstätte haben darf, und im deutschen
Entwurf ist diese Bestimmung auch enthalten.
Überhaupt wird man gut tun, das Fideikommißrecht etwas beweglicher als
bisher zu gestalten, insbesondre die Aufhebung eines Fideikommisses durch
Familienschluß jederzeit zu erlaube«. Je beweglicher und freier man das
Fideikommißrecht macht, um so länger wird es sich in Geltung erhalten, um
so weniger wird es Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt sein, um so
weniger werden sich nicht zu rechtfertigende Härten oder volkswirtschaftliche
Nachteile zeigen.
Das beweist das englische Fideikommißrecht. Dort hat ein Fideikommiß
rechtlich nicht länger Bestand, als bis zur dritten Hand, wenn man also will,
bis zum dritten Geschlecht. Dann wird es freies Eigentum. Doch kann der
jedesmalige Eigentümer es immer wieder von neuem für zwei Geschlechter fest¬
legen, und auf diese Weise kann das. Fideikommiß doch jahrhundertelang und
länger in derselben Familie bleiben, und in England ist das auch regel¬
mäßig geschehn, was sich aus der Geschichte des englischen Fideikommisses be¬
weisen läßt.
Wie also jedes Bauerngut in der Güterrolle jederzeit gelöscht werden kann,
aber nicht gelöscht zu werden braucht, sondern darin stehn bleiben kann, wie
nach amerikanischem Recht jede Heimstätte immer wieder vom Sohne zu einer
neuen Heimstätte gestiftet werden kann, aber nicht gestiftet zu werden braucht,
so ähnlich ist das englische Fideikommiß in der zweiten Hand.
In Preußen, und noch mehr im übrigen Deutschland, bestehn zwar auch
solche testamentarische Fideikommisse, die in der zweiten Hand diese Eigenschaft
verlieren, wenn sie nicht testamentarisch erneuert werden, sie sind jedoch nicht
so beliebt wie die dauernden Fideikommisse. Sie sind auch nicht so sicher ge¬
staltet, ja man muß vom Nechtsstandpunkt aus zugeben, daß das in Preußen
bestehende dauernde Familienfideikommiß besser ausgebildet und das logischere
ist. Freilich hat sich die logische Rechtskonsequenz im Leben und in der Praxis
nicht immer als brauchbar erwiesen. Das Leben und der Verkehr stellen an
das Recht oft andre Anforderungen, als sich mit dessen starrer logischer Durch¬
bildung scheinbar vereinigen lassen. Die Säkularisation der Kirchengüter zur
Zeit der Reformation in den evangelischen Landen, und die noch allgemeinere
zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, würden sich nicht so einfach, nicht so
glatt, ja fast ganz widerstandslos vollzogen haben, wenn sich nicht längst die
allgemeine Rechtsüberzeugung gebildet gehabt hätte, daß es nicht zu rechtfertigen
sei und sich allgemein als schädlich erweise, daß so viel Grund und Boden
dauernd in der toten Hand der Kirche bleibe und dadurch dem Verkehr, ja wohl
auch manchem Fortschritt, verschlossen werde.
In der Tat kommt es auch bei den Fideikommissen vor — und je mehr sie
sich vermehren, um so häufiger wird es vorkommen —, daß sich gerade Riegen ihrer
Gebundenheit der zeitige Eigentümer außerstande sieht, kostspielige Verbesserungen
(Meliorationen) auszuführen, die durchaus notwendig und zeitgemäß wären. Er
kann das Fideikommiß nur mit gewissen schwierigen Voraussetzungen verpfänden,
und es wird ihm darum nicht immer möglich sein, sich das zur Verbesserung
nötige Geld zu verschaffen, er mag aber auch vou seinem Vermögen nicht so viel
hineinstecken, weil er, wenn er entweder gar keine Kinder oder nur Töchter
hat, die zur Nachfolge nicht berechtigt sind, seinen rechtmäßigen Erben vielleicht
dann gar nichts hinterlassen würde.
Einst war ein Steinkohlenbergwerk zum Fideikommiß gestiftet worden zu
einer Zeit, wo alles außerordentlich günstig lag. Als aber die obern Flöze
erschöpft waren, und die Einrichtung eines Tiefbaus nötig wurde, sah sich
der Eigentümer außerstande, die vielen Hunderttausende aufzubringen, die der
Tiefbau verlangte. Dem Eigentümer konnte nur dadurch geholfen werden,
daß sich die Subhastation des Fideikommisses wegen einer Kleinigkeit als zu¬
lässig erwies, und so mußte das Fideikommiß, weil ein andrer Ausweg nicht
zu finden war, gewissermaßen künstlich zur Versteigerung gebracht werden.
Das ist auch mit Erfolg geschehn.
Ebenso ist mir ein andrer Fall bekannt, wo schon gegen die dritte Generation
im Fideikommiß der neue Besitzer jedesmal kurz nach Übernahme des Fidei¬
kommisses in dauernden Vermögensverfall geriet, sodaß die Bewirtschaftung dein
eigentlichen Besitzer kaum etwas einbrachte, sondern nur immer dessen Gläubiger.
Wenn solche Fälle bisher auch nur ganz vereinzelt vorgekommen sind, so
beweisen sie doch, daß ein dauerndes Gebundensein des Fideikommisses nicht
immer im Interesse der Allgemeinheit oder des Staates liegt.
Man kann deshalb wohl die Frage aufwerfen, ob nicht doch das englische,
rechtlich nur zeitliche, in Wirklichkeit aber meist dauernde Fideikommiß den
Vorzug vor der starren Gebundenheit des preußischen verdient.
Verneint man das mit mir, namentlich mit Rücksicht darauf, daß die Fidei-
kommisse gerade für die pflegliche Erhaltung eines Waldbestandes vorteilhaft
sind, dessen Wirtschaftszeit bisweilen hundert Jahre überschreitet, so wird man
das Fideikommißrecht möglichst beweglich gestalten müssen, sodaß die Aufhebung
eines Fideikommisses in gewissen Füllen leicht möglich werden kann, sei es
durch Beschluß eiues zu schaffenden Familienrats, wie diesen der Entwurf vor¬
sieht, sei es durch einen Familienschluß, für den dann nicht genug Erleichterungen
geschaffen werden können, sei es durch beider Beschlüsse gemeinschaftlich, wie
der Entwurf es will.
Je starrer man das Fideikommißrecht gestaltet, um so eher wird es der¬
einst als Rechtseinrichtung einmal gänzlich verschwinden, je beweglicher man es
hinstellt, um so dauernder wird es sich bewähren, wie England beweist. Des¬
halb dürfte der ein wahrer Freund des Familienfideikommisses sein, der für seine
bewegliche Gestaltung eintritt. Es fragt sich nun, hat der preußische Gesetz¬
entwurf, der bewußt und mit Absicht die englischen oder die römisch-rechtlichen
Grundsätze verwirft, genügend Erleichterungen und Beweglichkeit für das Fidei¬
kommiß vorgesehen, sodaß seine dauernde Gestaltung nicht fehlerhaft erscheint?
Ich möchte das verneinen. Abgesehen von den Bedenken, die schon im vorigen
Jahrgange in Nummer 39, S. 745—756 geltend gemacht sind, sei hier noch
folgendes hervorgehoben. Zunächst fehlt, wie schon dargetan worden ist, die
Festsetzung einer Höchstgrenze für jedes Fideikommiß sowie die Vorschrift, daß
nicht mehr als ein bestimmter Teil des Grundbesitzes eines Kreises als Fidei¬
kommiß festgelegt werden dürfe. Endlich müßte der Familienrat mit mehr Macht¬
befugnissen ausgestattet werden. So ist z. B. die Aufhebung eines Fideikommisses
nach dem Entwurf nur möglich, wenn sich drei Viertel aller Anwärter und der
Familienrat einstimmig dafür erklären. Dies scheint mir bedenklich. Denn wenn
auch der Entwurf eine Aufhebung des Fideikommisses sogar von Amts wegen
dann vorsieht, wenn die Besitzung nicht mehr einen land- und forstwirtschaft¬
lichen Reinertrag von jährlich 5000 Mark abwirft, so scheint ein einstimmiger
Beschluß des Familienrats als Erfordernis bei den sonstigen Aushebungen dock)
wohl zu erschwerend, wenn sich daneben noch drei Viertel aller Anwärter dafür
erklären sollen.
Die Frage endlich, ob ein Fideikommiß ein hohes Mindesteinkommen
gewähren muß, ist wohl nach der Art und Weise, wie die Fideikommisse in
Preußen behandelt werden, zu bejahen. Wenn die Fideikommißbehörde der
Senat eines Oberlandesgerichts ist, so, kann man diesen nicht mit kleinlichen
Vermögensverwaltungen oder mit der Aufsicht über solche behelligen, auch
werden andre Bestimmungen, wie z. B. die über die zahlreichen Anwärter und
deren Feststellung, bei kleinern Gütern nicht praktisch sein.
Für den Mittelstand mögen deshalb, wenn >nan ähnliches erreichen will,
andre Wege geschaffen werden, soweit sie nicht schon bestehn. Aber wenn man
Fideikommisse für den Großgrundbesitz schafft, darf man die Heimstätte und
das Höferecht dem bäuerlichen Besitz nicht versagen. Diese Einrichtungen dürften,
wenn sie erst allgemeiner verbreitet sein werden, noch segensreicher wirken als
die großen Fideikommisse.
Der Entwurf sieht ferner neben dem Grundbesitz die Bildung besondrer
Vermögensmassen bei jedem Fideikommiß als zwingend vor, so die Schaffung
einer Abfindungs- und einer Ausstattungsstiftung, diese beiden zur Milderung
der Härten des formell beseitigten Pflichtteilrechts, und endlich auch die Schaffung
einer Verbesserungsmasse, die nötigenfalls zur Verbesserung des Fideikommisses
dienen soll. Diese Verbesserungsmasse muß durch jährliche Beiträge des Fidei-
kommißbesitzers gebildet werden, und ihr werden auch die davon ausgelaufnen
Zinsen so lange zugeschlagen, bis die Verbesserungsmasse ihren stiftungsgemäß
festgesetzten Höchstbetrag erreicht hat. Dieser Höchstbetrag soll jedoch uicht das
hundertfache Jahreseinkommen des Fideikommisses aus land- und forstwirtschaft¬
lichem Grundbesitze übersteigen dürfen. Ist diese festgesetzte Höhe erreicht, so
fallen die Zinsen dem Fideikommißbesitzer zu. Da in Preußen Fideikommisse
mit einem Einkommen von 100000 Mark und mehr bestehn, so erscheint der
hundertfache Betrag etwas sehr hoch, es würde dann die Verbesferungsmassc
schon zehn Millionen betragen dürfen. Es ist aber volkswirtschaftlich nicht zu
billigen, so gewaltige Geldforderungen aufzusammeln und festzulegen. Vielleicht
empfiehlt sich als Grundsatz aufzustellen, daß der Höchstbetrag in der Regel
das Zehnfache des Jahreseinkommens betragen soll, aber 500000 Mark oder
auch uur 300000 Mark in keinem Falle übersteigen dürfe. Es scheint hier
angebracht, eine bestimmte Summe als Höchstsumme für jede Verbesserungs¬
masse festzusetzen.
Man muß es eben gesetzlich zu verhindern suchen, daß die Fideikommisse
^~ auch im Gelde — allzusehr anwachsen. Eine Grenze nach oben auch für
Geldmassen erscheint noch notwendiger als die Grenze nach unten.
Der Entwurf erlaubt nun neben den Grundstücken auch Kapitalien zum
Familienfideikommiß zu stiften und schreibt für diese Kapitalien als Höchstgrenze
das hundertfache Jahreseinkommen aus dem land- und dem forstwirtschaftlichen
Grundbesitze vor. Doch muß dann daneben eine Verbesserungsmasse mindestens
von dein zehnfachen Betrage des Einkommens schon ausgesetzt sein. Wenn
sich auch gegen diese Festsetzung und Abgrenzung der Verbesserungsmasse nichts
sagen läßt, so erscheint doch die Höchstgrenze der Kapitalien im Paragraphen 6
mel zu hoch gezogen, als daß man sie volkswirtschaftlich rechtfertigen könnte.
Der Entwurf hat es eben unterlassen, die Entstehung allzu großer Fideikommisse
gesetzlich zu verhindern.
Auf die übrigen Einzelheiten des Gesetzentwurfs über Familienfideikommisfe
soll hier nicht eingegangen werden, zumal da er schon im vorigen Jahre in Ur. 39
der Grenzboten besprochen worden ist.
Der Hauptzweck des Fideikommisses ist und bleibt immer, den Familiensinn
M stärken. Wenn nun das Fideikommiß nur für die Stärkung des Familien-
sinus bei den Reichbegüterten bestinimt ist, so fragt es sich, ob nicht auch beim
Mittelstande und den wenig und sehr gering Begüterten ähnliches angebracht
sein würde. In der Tat ist von einem volkswirtschaftlichen Standpunkt und
staatspolitischen Standpunkt aus überhaupt die Stärkung des Familiensinns
und die Erhaltung der Familie allgemein wünschenswert und beim Mittelstand
vielleicht noch mehr geboten als beim Adelsstand oder den Reichsten.
Behauptet man doch, daß gerade China deshalb seine Kultur jahrtausende¬
lang erhalten habe, und daß das chinesische Reich deshalb länger bestehe,
als irgend ein andres Reich der Welt je bestanden hat, weil in China die
Familie den Familienmitgliedern nicht bloß einen engern Zusammenschluß ge¬
währt, sondern weil die Familie selbst anch große Macht den Familienmitgliedern
gegenüber ausübt, und weil in China die Ehrfurcht der Kinder vor ihren Eltern
ganz besonders ausgebildet ist, und diese Pietät auch in einem besondern Worte
ihren Ausdruck findet.
Hierbei erscheint es auch nicht zufällig, daß in China der vierte Teil alles
Grundbesitzes in kleinen Wirtschaften von vier bis sechs Morgen je in einer
Familie rechtlich festgelegt ist und in dieser verbleibt.
Man muß deshalb sagen, daß es auch im Mittelstande wünschens- und
erstrebenswert ist, den Familiensinn zu fördern und die Macht und das Ansehen
der Familie zu heben.
Wenn sich sogar in den demokratisch verwalteten Staaten Nordamerikas
ein Rechtsinstitut wie die Heimstätte neu bilden und vortrefflich bewähren
konnte, so beweist das, daß eine solche Einrichtung dem Wesen des Staats
oder richtiger der Familie entspricht, ganz gleichgültig, welcher Parteinnffassung
man huldigt.
Darum ist es nur zu billigen, wenn sich Neichstagsmitglieder bemühen,
ähnliche, für den untern Stand wohltätige Einrichtungen ins Leben zu rufen.
Es fragt sich nur, entspricht der dem Reichstage vorgelegte Entwurf über
die Familienheimstätte unsern Rechts- und Wirtschaftsverhältnissen? Ich möchte
im allgemeinen beides bejahen, wenn ich auch gewünscht hätte, der Entwurf
hätte mehr das amerikanische Vorbild zum Muster genommen.
Zunächst muß nach dem Entwurf die Heimstätte die Erzeugung land¬
wirtschaftlicher Produkte ermöglichen und soll die Größe eines Bauerngutes
nicht übersteigen. So berücksichtigt der Entwurf nnr Bauerngüter oder kleinere
Landwirtschaften.
Warum diese einseitige Berücksichtigung der landwirtschaftlichen Nutzung?
In Amerika ist man davon frei geblieben und hat die Heimstätte ans dem
Dorfe wie in der Stadt, in dieser als eine Wohnungsheimstütte, zugelassen-
Es wird gerade vom Kammerherrn von Riepenhausen in seiner Schrift über
gesicherte Familicnheimstütten — 2. Aufl., Leipzig, 1890 — näher ansgeftthrt,
wie nützlich eine solche Einrichtung auch für unser städtisches Leben wäre.
Ein Kaufmann, der selten seine Spekulation, seine geschäftlichen Maßnahmen
so einrichten kann, daß er vor einem Vermögenszusammenbruch immer bewahrt
bleibt, würde sicher gern bereit sein, in guter Vermögenslage und in guten
Jahren seiner Fran und seinen Kindern eine Heimstätte — ein „Eigenhaus" —
zu stiften, um sie bei einem Vermögenszusammenbruch vor dem Äußersten zu
bewahren, nämlich davor, daß sie obdachlos werden. Aber auch der Gelehrte,
der Beamte, überhaupt der ganze Mittelstand, jeder Gewerbtreibende würde
sicher gern davon Gebrauch macheu. Ist doch beispielsweise weder ein Grund¬
buchrichter noch ein Notar vor jedem Versehen bewahrt, da irren menschlich ist.
Der peinlichste Beamte kann schließlich auch einmal ein Versehen begeh», das
ihm das ganze Vermögen kostet. Ähnlich liegt auch die Sache bei andern
Ständen. Sicherlich würde ein solcher Familienvater, wenn das Heimstätten¬
recht bei uns bestünde, Hans und Garten als Heimstätte hinstellen, um sie sich,
seiner Frau und seinen Kindern vor dem Anspruch späterer Gläubiger zu sichern.
Man geht nicht zu weit, wenn man sagt, daß wenn sich das Heimstüttenrecht
bei uns eingebürgert hätte und in großem Umfange benutzt worden wäre, die
Wohnungsfrage nicht eine solche Schärfe und Härte angenommen haben würde,
wie es jetzt bei uns der Fall ist.
Wenn das Fmnilienfideikommiß und die Landgüterrolle nur für den Land¬
besitz geschaffen und für den nutzbaren Grundbesitz bestimmt sind, so widmet sich
doch jetzt bei dem Emporblühen der Städte und dem allgemeinen Zuge der
Bevölkerung nach den Städten nur ein Bruchteil der Staatsbürger der Land¬
wirtschaft. Familiensideikommisse und Landgüterrvllen suchen nur in diesem
Bruchteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung den Familiensinn zu heben und
zu stärken. Sollte es nicht bei der Mehrzahl der Bevölkerung, bei der
städtischen Bevölkerung erst recht wünschenswert erscheinen, gesetzgeberische Ma߬
nahmen zu treffen, die dasselbe bei der städtischen Bevölkerung erstreben? Man
wird das sicherlich bejahen müssen. Die Grenze für die Wohnungsheimstätte
nach oben kann man in dem angemessenen Wohnungsbedürfnis der betreffenden
Familie — in dem „Eigeuhaus" — finden, d. h. das Haus soll nicht größer
sein, als nötig ist, der betreffenden Familie eine angemessene, also standes¬
gemäße Wohnung zu gewähren. Auch mag das Recht der Heimstätte erlöschen,
wenn die Familie oder deren Mitglieder das Haus uicht mehr selbst bewohnen.
Die Heimstätte soll das Eigenhaus, nicht die Mietwohnung begünstigen.
Ähnlich bestimmt das der schweizerische Entwurf eines Zivilgesetzbuchs,
der sich überhaupt das amerikanische Heimstnttenrecht zum Muster genommen hat
und auch die Wohnungsheimstätte zuläßt.
Ebenso möchte ich, wie das in Amerika geschieht, die Gründung einer
Heimstätte nur einem Familienvorstand erlauben, d. h. einem, der ein Kind hat,
desgleichen einer Mutter unter derselben Voraussetzung. Auch möchte ich sie
nicht auf so große Güter wie Bauerngüter ausdehnen, sondern zunächst nur aus
Büdner- oder Hüuslerstellen mit wenig Land beschränken.
Es ist mit Recht gegen die Ausdehnung des Heimstättenrechts auf land¬
wirtschaftliche Güter von der Größe eines Bauernguts geltend gemacht worden,
daß ein Bauer, der in so schlechten Vermögensverhültnissen ist, daß Zwangs¬
vollstreckung gegen ihn stattfindet, nur ein schlechtes oder ungenügendes Wirt¬
schaftsinventar besitzen oder sich erhalten oder es auch in der Not ganz ver¬
äußern wird. Dann ist er aber nicht imstande, das Bauerngut erfolgreich zu
bewirtschaften, und es nützt ihm wenig, daß ihm das Gut nicht versteigert noch
genommen werden kann. Solche unwirtschaftlichen Existenzen künstlich zu erhalten,
sei nicht zu billigen.
Ganz anders liegt jedoch die Sache, wenn die Heimstätte auf ein Haus
mit einer Wohnung und ein Anwesen von einigen Morgen beschränkt wird, die
der Eigentümer mit seiner und der Seinen Hände Arbeit selbst bestellen kann,
ohne kostspieliges Inventar. Dann fällt nicht bloß jener Grund fort, sondern
es wird dann auch die Zwangsvollstreckung nur soweit beschränkt, als gerade
notwendig ist, eine Häusler- oder Arbeiterfamilie vor dem Untergang zu be¬
wahren. Man darf füglich auch die Zwangsvollstreckungsmaßregeln nicht all¬
zusehr beschränken.
In Amerika hat man auch die Grenze ziemlich eng gezogen, und das
Heimstättenrecht ist dort weiter nichts als eine Einschränkung der Zwangsvoll¬
streckung zugunsten der Familie.
Ob es empfehlenswert ist, die Heimstätte mit den Grundsätzen des An¬
erbenrechts zu verknüpfen, also festzusetzen, daß sie sich nur auf ein Kind, den
Anerben, vererbt, erscheint zweifelhaft. Ich möchte es verneinen. Diese Ver¬
quickung kann mit dazu beitragen, daß die Gründung einer Wohnungsheimstätte
unterlassen wird, da man bei deren Gründung noch gar nicht wissen kann, ob
es sich empfehlen wird, das Haus einem Kinde allein zu überlassen. Man
weiß weder, wieviel Kinder noch geboren werden, noch wie sie sich später
entwickeln oder welchen Beruf sie ergreifen.
So schön es auch vom landwirtschaftlichen Standpunkt aus gedacht sein
mag, die amerikanische Heimstätte mit dem Höferecht zu verbinden, sie dadurch
weiter zu entwickeln und sie so dem Fideikommißrecht ziemlich nahe zu bringen,
so gefährlich erscheint mir diese Verquickung für die Einrichtung von Heimstätten
in unserm Lande.
Wenn man einen Baum in fremdes Land verpflanzt, so darf man ihn
nicht zugleich veredeln, sondern man muß ihn erst angehen und sich fest¬
wurzeln lassen.
n der Nummer vom 5. November 1903 dieser Zeitschrift hat
Otto Kaemmel auf Grund der biographischen Skizze von Anton
de Waal und einzelnen Nachrichten, die er sonst gesammelt hat,
ein knappes Bild vom Entwicklungsgange Giuseppe Sartos ent¬
worfen, dessen wohltuende Wärme den objektiven Beobachter
verriet. Am 3. Dezember erschien an derselben Stelle eine kürzere Ausführung,
die die Frage zu beantworte» suchte: „Ist Pius der Zehnte ein »politischer«
Papst?" So richtig manche der dort entwickelten Gedanken sind, so sehr muß
ich andre, weil sie nicht aus eigner Anschauung entsprossen sind, als nicht
beweiskräftig ablehnen. Ich will es in den folgenden Zeilen versuchen, auf
Grund durchaus zuverlässiger Mitteilungen — um nicht mehr zu sagen —
einige Gedanken zu entwickeln, die dazu beitragen dürften, den Gedankenkreis
des Papstes meinen Lesern näher zu rücken.^)
Ich glaube, daß es niemand bestreiten wird, wenn ich sage, daß ein
Wechsel in den leitenden Stellen hoher und höchster Ordnung in den weitaus
meisten Fällen auch einen Umschwung in manchen wichtigen Fragen und Auf¬
fassungen mit einer gewissen innern Notwendigkeit herbeiführen muß. Die
Geschichte lehrt uns, daß im besondern wohl bei jedem Pontifikatswechsel in
der geschäftlichen Behandlung, Weiterführung, Absetzung oder Vertagung der
religiösen wie religiös-politischen Gegenstände tiefer gehende Änderungen ein¬
treten. Nach Leos Tode mußte das um so mehr stattfinden, als manche
Dinge auf einen toten Strang gefahren worden waren, von dem weder der
Papst noch ^seine damals maßgebenden Berater sie wieder wegziehn wollten.
Pius der Zehnte würde vielleicht den Gedanken, den Staatssekretär seines
Vorgängers beizubehalten, nicht von der Hand gewiesen haben, wenn Kardinal
Rampolla nicht zu Beginn des Konklaves der aussichtsreichste unter allen
Kandidaten gewesen und so Gegenstand der Zensurierung als xsrsonÄ minus
Mg,eg, durch Österreich geworden wäre.
Das Kardinalkollegium sah sich durch den plötzlichen Tod des Kon-
sistorialsekretärs Msgr. Volpini seines gebornen Konklavesekretärs beraubt
und mußte sich also einen andern wählen. Unter der warmen Fürsprache der
Kardinäle Rampolla und Oreglia ti Santo Stefano wurde Msgr. Merry
del Val zu diesem Amte ausersehen. Im Konklave von Venedig 1799/1800,
aus dem Barnabas Chiaramonti als Pius der Siebente hervorging, hatte der
Konklavesekretär Msgr. Herkules Consalvi den wesentlichsten Anteil um der
Wahl des Mannes, mit dem ihn dann eine beinahe fünfundzwanzigjährige
Freundschaft innigster Art bis zum Tode vereint hielt. Wenn jemand gedacht
haben sollte, daß Msgr. Merry del Val imstande sein würde, einen ähnlichen
Einfluß auf die Wahl auszuüben, so hat er sich vollständig getäuscht gesehen.
Der Konklavesekretür hat es nicht einmal versucht, sich in den Tagen vom
31. Juli bis zum 4. August eine, wenn auch noch so kleine Einflußsphäre
zu verschaffen.
Obgleich Msgr. Guiseppe Sarto als Bischof von Mantua und der
Kardinal Sarto als Patriarch von Venedig den öffentlichen Vorgängen mit
scharfem Auge folgte, so interessierten ihn doch in der Hauptsache die innern
Kämpfe um die Mehrheit in den Selbstverwaltungskörpern in Stadt und
Provinz sowie die Fragen der sozialen und charitativen Tätigkeit, sodaß eine
genauere Kenntnis der großen Kirchenpolitik bei ihm nicht vorhanden war,
als er am 4. August zu seinem eignen größten Leidwesen zum Papste gewählt
wurde. Wenn ihm die kirchenpolitischen Verhandlungen zum Teil ganz un¬
bekannt, zum Teil nur in ihren Endergebnissen bekannt waren, so mangelte
ihm die Kenntnis der eigentlichen Technik der kurialem Diplomatie, ein Er¬
gebnis vielhundertjähriger Überlieferungen, vollständig.
Die im vorstehenden angedeuteten Gedankenkreise machten sich in auf¬
dringlicher Weise geltend, als die mit der Krönung vom 9. August verbundnen
Folgegeschüfte etwas abgeflaut waren. Pius der Zehnte hatte sich in seiner
achtundzwanzigjährigen Verwaltungstätigkeit in Treviso, Mantua und Venedig
einen so sichern Blick und Überblick angeeignet, daß ihn der Gedanke, auch die
Politik des Heiligen Stuhles leiten zu müssen, am wenigsten beunruhigte.
Zudem war seine Wahl in die politisch tote Zeit hineingefallen, ihn: also eine
gewisse Muße gewährt worden, sich einigermaßen in seinem neuen hohen
Pflichtenkreise mit einiger Ruhe umsehen zu können.
Der italienische Abgeordnete Macola, mit dem zusammen der Patriarch
Sarto den radikalen Stadtrat von Venedig gestürzt und einen konservativ¬
katholischen an dessen Stelle gesetzt hatte, schreibt in seiner Zeitung, daß
Giuseppe Sarto es in seiner langen Laufbahn immer verstanden habe, sich
einem dauernden maßgebenden Einfluß seiner Mitarbeiter zu entziehn. Rat
habe er von allen angenommen, aber die vollste Freiheit seiner Entschließungen
habe er sich immer in kraftvoller Weise zu wahren gewußt. Als Papst werde
er, obschon in den oft verschlungnen Pfaden der Diplomatie gänzlich uner¬
fahren, doch niemand eine größere Beeinflussung seiner Maßnahmen zubilligen.
Seine erstaunliche Gewandtheit des Geistes werde ihn bald auf die Höhe der
Lage führen.
Wie Macola es vorhergesagt hatte, so ist es gekommen. Ein Überblick über
die Lage belehrte den Papst, daß er am besten handeln würde, wenn er den
Konklavesekretär, der ihm gleich sympathisch geworden war, zum Prostaats-
sekretür ernennen würde. Er fand so Gelegenheit, selbst langsam in alle
Geschäfte des Staatssekretariats einzudringen, ohne von einem gewandten
Routinier in der Auffassung der Dinge und in den zu treffenden Entscheidungen
in den Schatten gestellt zu werden, da Msgr. Merry de Val ebenso ein
Neuling war, wie er selbst. Der Unterstaatssekretär Msgr. della Chiesa war
in jenen Sommertagen eine viel wichtigere Persönlichkeit, als sonst kuriale
Unterstaatssekretäre zu sein Pflegen, da er sozusagen alle Fäden in der Hand
hatte, die er langsam in die Hand Merrys und des Papstes gleiten zu lassen
berufen war. Diesen delikaten Auftrag hat er mit sicherm Takt und nicht
ohne große Selbstüberwindung, die ihm zum höchsten Lobe gereicht, aus¬
geführt.
Der Sekretär der Kongregation für außerordentliche kirchliche Angelegen¬
heiten, Msgr. Gasparri, der jeden Dienstag unmittelbaren Vortrag beim
Papste hat, half von seiner Seite auch, den Papst in alle laufenden Ge¬
schäfte seines Bereichs einzuführen, sodaß Pius der Zehnte keinerlei Bedürfnis
verspürte, die Sachlage so bald zu ändern.
Mittlerweile beobachtete der Papst seinen noch jungen Prvstaatssekretär,
an dem er das vornehme Gebaren und die außerordentlichen Sprachkenntnisse
sehr schätzte, aufs genauste und kam zu dem Entschluß, ihn im ersten Kor-
sistorium zum Kardinal und dann zum Staatssekretär zu ernennen. Unter
den ältern Kardinälen waren viele gewesen, die sich für das Amt ausgezeichnet
geeignet Hütten, wie zum Beispiel die Kardinäle Agliardi, Serasino und Vin-
cenzo Vanutelli, Cavagnis usw.. aber deren keiner würde ohne dringendes
Bitten des Papstes die politische Erbschaft des Kardinals Rampolla gern an¬
getreten haben. Man muß hervorheben, daß der Entschluß des Papstes,
Merry zu ernennen, im heiligen Kollegium selbst keinerlei Verwunderung
hervorgerufen hat. Man hatte diese Lösung kommen sehen und bezeichnete
sie als die augenblicklich vorzüglichste.
Die volle Selbständigkeit des Papstes war also gewahrt worden, und
doch war auch sachlich nichts geschehen, was man als eine Schädigung der
kirchlichen Interessen hätte bezeichnen können. Die große Ruhe, womit in
den seit der Krönung abgelcmfnen sieben Monaten die Geschäfte des Heiligen
Stuhls erledigt worden sind, zeigt an, daß allen Fragen ein volles Ver¬
ständnis entgegengebracht worden ist.
Was wurde aus dem Kardinal Rampolla?
Nachdem das Konklave vorbei war, bezog der frühere Staatssekretär die
Palazzina auf der Piazza ti Santa Marta hinter Se. Peter, deren Benutzung
ihm als Erzpriester dieser Basilika zusteht. So lange er im Vatikan gewohnt
hatte, war das Gebäude vermietet gewesen. Am 5. August fand die dritte
und letzte der feierlichen Huldigungen statt, die der Senat der römischen Kirche
seinem Erkvrnen unmittelbar nach der Wahl darbringen muß. Inmitten der
andern Kardinäle hatte ihn Pius da zuletzt gesehen. Als er dann vier Tage
später zu seiner Krönung nach Se. Peter hinunterstieg und in der Vorhalle
angekommen war, mußte der Erzpriester der Basilika, Kardinal Mariano
Rampolla del Tindaro, in seinem und des Kapitels Namen den Papst feierlich
begrüßen und die herzlichsten Glückwünsche aussprechen. Es war ein hoch¬
dramatischer Augenblick, als der mächtigste Mann aus dem verflossenen Ponti-
fikate, der mit dreißig Stimmen der Tiara ziemlich nahe gewesen war, dem
an seiner Stelle Erwählten mit fester, klarer Stimme und in ungebeugter
Haltung unter anderen folgende Worte zurief: Jago.dro8 cui xrg.6vo.rrerv.ut
6los, in cMvv.8 als8iäerg.ti88lui ^nteoe88ori8 ?ni nniver8U8 duro.8 inAeMv.it,
eÄnäiäas tgnclein rum8 luois exognere 1g.etitig.rü; eum vroviclens Leus pl-
ang.eg.6 Ü<z<no8la,o, ciug-rü ÄvauiÄvit 8g.ngv.me 8ne>, ?e orng.meme.i8 virtv.to.rü
?rg.ce1grvm, lieetorein cleäerit, Ug.gi8dro.rü et vuvern. ?rc> cjnc> äivino
Keoevtv rnrmers irnmortg.le8 ciuiclsin agencige sunt grgtiae .... Ov.ro. leg.<zue
s.88v.invtionem Imi g.et gpieein 8gverc1oeil t.otv.8 protuÄs ganäiis mo.naiv.8
VX8uIwt, et czg.eins8 ip8i planäere ciueäs-rnmoclo et gs8tire viclentur;
later 8grell88irre, ingreäere kelieiter Mg.xiro.um nov verseunclriincius Ls1iZiom8
clomieiliurn, 8g.cri8 emeritus se gloriv8i8 tropg.el8 ?rineixi8 ^xo8toloruin in-
ÄKne, ciuo, oongrs.WIg.rite! ?ontinouin »ginine, a.ni .... ^po8toliegin Leckern
Ain8trg.rund ... I^e, exirnivrn vvltorern 8nnnr ex Ug.clrig.tioi mari3 8inn aä
NiÄMnin Nagi8drum äeäneit, ut eins QatneärÄin von8<zenäen8 et fummi
sg.eeräotii 8olernnig. ogvsssg« et pro äignitg-te et merito lidgrnsntg. Ironorum
revivig.8 ....
Wie aller Augen auf dem Gesichte dieses Mannes ruhten, kann man sich
leicht vorstellen. Aber er verriet mit keiner Miene, was er im Innern dachte.
Meiner Ansicht nach war Kardinal Rampolla mit der ganzen Wahlangelegen¬
heit, so nahe sie ihn durch die hohe Stimmenzahl und den Eingriff Österreichs
berührt hatte, innerlich vollständig fertig, noch bevor er am Abende des
4. Augusts seine Zelle verlassen hatte und in sein neues Heim übergesiedelt
war. Die Charakterstärke des Kardinals Rampolla, so sehr man von dieser
Seite seine Tätigkeit beanstanden, von jener Seite etwa seine Art, sich zu
geben, als nicht übermüßig sympathisch bezeichnen mag, darf von niemand
bestritten werden, da alle, die ihn persönlich gekannt haben, in diesem Urteil
übereinstimmten. Ein gewisser großer Zug geht durch das innere Leben dieses
vielumstrittnen Mannes, der es nach so langen Jahren intensivsten öffentlichen
Lebens verstanden hat, sich so zurückzuziehn, daß die Öffentlichkeit nicht mehr
von ihm spricht. Das ist weitaus das Schwerste und Anerkennenswerte für
alle die Männer, die eine wirklich bedeutsame Stellung im öffentlichen Leben
eingenommen haben.
Die nach außen erkennbare Tätigkeit Papst Pius des Zehnten weist
natürlich noch nicht viele Schriftstücke auf. Das Rundschreiben an die Bischöfe
des katholischen Erdkreises, die Ansprache im Konsistorium vom 9. November,
der (üoclsx iuriäiczus über die Kirchenmusik und ihre Reform und das Rund¬
schreiben vom 2. Februar — veröffentlicht am 12. Februar im lateinischen Urtext
und in amtlicher italienischer, französischer und deutscher Übersetzung — sind die
hauptsächlichsten, auf die gesamte Kirche bezüglichen Dokumente. Einzelfragen
ordnen die Notu proprio über die katholische Bewegung in Italien, über die
Unterdrückung der Kongregation as slixsuclis exiseoxi^ über die dauernde Ver¬
einigung der Kongregation der Riten mit der der Ablässe und Reliquien, über
das Breve über die thomistische Philosophie, gerichtet an die Akademie des
heiligen Thomas, über die Abmachung mit Frankreich wegen des vobis rwining.vit
und über einige andre von geringerer Bedeutung.
Was ergibt sich für die Beurteilung der Richtlinie in der Tätigkeit Pius
des Zehnten aus diesen Kundgebungen?
Otto Kaemmel hat in seiner oben erwähnten Besprechung des Buches von
de Waal dessen Worte aufgegriffen, daß Leo „mehr Theoretiker" gewesen sei.
Das ist nicht nur vollkommen richtig, sondern man muß, wenn man ganz im
allgemeinen spricht, betonen, daß Leo der große Theoretiker auf dem päpst¬
lichen Throne war, den die Zeiten brauchten. Er hat in seinen meist wissen¬
schaftlichen Erörterungen die brennenden Fragen der Zeit von der höchsten Warte
aus theoretisch untersucht und meisterhaft behandelt. Dadurch hat er die Grund¬
lagen für die praktische Arbeit der Katholiken geschaffen, die sich vielerorts so
segensreich hat entwickeln können. Und wenn es auch nach dem Urteile aller
ruhig Denkenden, die objektiv an die Würdigung von Menschen und Dinge»
herantreten, feststeht, daß in Leos zartem Leibe ein Riesengeist gewohnt hat, so
hat das Arbeitsfeld doch auch für einen solchen gewisse Grenzen. Leo vermochte
nicht alles zu umfassen und mit derselben Kraft zu beherrschen. Daher kam
es, daß er manchen innerkirchlichen Angelegenheiten nicht die Aufmerksamkeit
schenken konnte, die sie vielleicht verlangt hätten. Die Kirchenmusik hat unter ihm
unzweifelhaft eine nicht unwesentliche Mehrung ihrer Gesetze erfahren; aber weil
er von andern großen und wichtigen Fragen in Anspruch genommen wurde,
hat Leo der Dreizehnte der Ausführung der Gesetze nicht den Nachdruck ge¬
geben, den sie wohl hatten brauchen können.
Wie in dieser innerkirchlichcn Angelegenheit, so ging es auch in manchen
andern Dingen, sodaß es nicht ungerecht ist, wenn man sagt, daß in Ansehung
der Zeitumstände der Pontifikat Leos des Dreizehnter, von einigen Tatsachen
abgesehen, mehr die äußere Stellung und das äußere Ansehen der Kirche hat
fördern müssen, als daß er Zeit gehabt Hütte, die Erscheinungen des inner¬
kirchlichen Lebens im Auge zu behalten.
Genau wie Leos Arbeit die Ergänzung zur Tätigkeit Pius des Neunten
war, so sehen wir in Pius des Zehnten Handlungen die Ergänzung der Taten¬
reihe des dreizehnten Leo. Wenn die Leser Otto Kaemmels Nachrichten über
das Vorleben des jetzt regierenden Papstes nachschlagen wollen, so werden sie
finden, daß dieser vom Jahre 1858 bis zum 4. August 1903 ununterbrochen
in der Seelsorge jeder Art und jeden Grades sowie in allen Zweigen der
kirchlichen Verwaltung — Pfarrer, Seminardirektor, Generalvikar, Bischof und
Metropolit — unausgesetzt und mit dem größten Erfolge tätig gewesen ist.
Es müßte ganz merkwürdig zugehn, wenn eine so reiche, aus fünfund-
vierzigjähriger Tätigkeit hervorgegangne Erfahrung nicht ihren Ausdruck in
den päpstlichen Kundgebungen des ersten Jahres finden sollte. Und so ist es
in der Tat. Der geradezu meisterhafte Erlaß über die Kirchenmusik — der,
man beachte es, zum großen Teil eine wörtliche Wiederholung des venezianischen
Hirtenbriefes Giuseppe Sartos vom 1. Mai 1895 ist — und die Schürfe, wo¬
mit der Papst unbedingten Gehorsam in allen Kirchen des lateinischen Ritus,
welcher Vorrechte und welcher Sonderstellung sie sich auch erfreuen mögen,
verlangt, ist eine Großtat für das innerkirchliche Leben, wie man sie
nicht glänzender verlangen kann. Bei aller Herzensgüte, die ihm eigen ist,
versteht der Papst in kirchlichen Fragen keinen Scherz; er hat eine eiserne
Hand und läßt sie sehr fühlbar auf die fallen, die glauben sollten, daß sie
nicht zum Gehorsam oder zum ganzen Gehorsam verpflichtet seien. Leo hatte
in Benevent, Brüssel und Perugia neben oder über den Menschen in seiner
Geistesklause gelebt. Daher die eigentümliche Färbung aller seiner Kund¬
gebungen. Er legte das Rechte dar und glaubte, daß die Menschen dann bei
klarer Erkenntnis immer von selbst gehorchen würden. Pius hat zeit seines
Lebens mit den Menschen aller sozialen Schichten und aller politischen und
religiösen Anschauungen gelebt. Daher seine wesentlich mehr auf das Praktische
gerichtete Form der Erlasse und die ausdrückliche Forderung unbedingten
Gehorsams. In diesen Kennzeichnungen, die natürlich ganz allgemein auf¬
gefaßt werden müssen, ist der Unterschied in beider Regierungsweise klar ge¬
geben. Auch die Auswahl der Probleme, die der eine und der andre ins
Auge faßten oder der andre fassen wird, ergibt sich aus dieser Gegenüber¬
stellung.
Die unglückliche Phrase des sonst so geistvollen Franz Xaver Kraus vom
Politischen und religiösen Katholizismus, die in höchst epigonenhafter Weise
von den Leuten des „Zwanzigster Jahrhunderts" bis zum Überdruß variiert
wird, hat man auch auf Leo und Pius anwenden wollen. Den ersten nannte
man einen „politischen" Papst, und den zweiten wollte man bereitwilligst als
„religiösen" Papst verschleißen, wenn er sich seine Konzepte vom Berliner
Tageblatt und der Neuen Freien Presse machen lassen wollte. Das sind Tor¬
heiten, wie in dem erwähnten Artikel dieser Zeitschrift auch lichtvoll ausein¬
andergesetzt ist. Pius der Zehnte würde sich einer groben Pflichtverletzung
schuldig machen, wenn er für seine Schäflein nicht die moralische Bewertung
politischer Theorien oder einzelner Unternehmungen vornehmen wollte. Er
würde ein Tor sein, wenn er nicht mit den Regierungen über die Lage der
katholischen Kirche in den betreffenden Ländern unterhandeln, wenn er nicht
alle Mittel anwenden wollte, seiner friedlichen Sendung Gehör zu verschaffen.
Wer einigermaßen weltkundig ist, kann nie auf den verschrobnen Gedanken
kommen, daß die Oberleitung einer moralischen Weltmacht, wie es die katholische
Kirche doch ist und sein muß, ohne enge Beziehungen zu den politischen
Mächten sein könnte. Und sogar wenn in allen Staaten die Trennung von
Kirche und Staat durchgeführt wäre, was viele ersehnen, so würde trotzdem
die kirchenpolitische Beendigung des Papsttums ihren Gang ruhig weiter gehn.
Und darum hat Pius der Zehnte Recht, wenn er in seiner Konsistorial¬
ansprache vom 9. November 1903 ausdrücklich auf die ihm obliegende politische
Tätigkeit zu sprechen kommt. Das heutige Verhältnis zu Italien spielt im
Leben einer zwcitausendjührigen Einrichtung eine sehr kleine Rolle. Die Kirche
hat ganz andre Stürme ausgehalten. Wie diese Frage einst gelöst werden
wird, kaun niemand voraussagen. Daß sie aber dnrch die Wucht der Ereignisse
gelöst wird, unterliegt sür den Kenner der Geschichte nicht dem geringsten Zweifel.
Wer ohne die genaue Kenntnis der innern Verhältnisse des Königreichs Italien
darüber urteilen will, haut immer daneben. Auch wer kein Pessimist ist, muß
bei der reißend zunehmenden republikanischen Gesinnung in Italien für die
Zukunft des Königreichs bangen. Und wenn alle konservativen Kräfte Italiens
so handeln würden, wie Giuseppe Sarto es bei seinem Zusammentreffen mit
König Humbert und seinem Sohne, dem jetzigen König, in Venedig getan hat,
so wird das doch blutwenig helfen. Die Strömung hat sich längst vom Thron
abgewandt und fließt im republikanischen, wenn nicht sozialistischen Bett. Und
was es dann geben wird, wenn diese subversiven Kräfte den Untergang des
Hauses Savoyen herbeiführen, ist gar nicht abzusehen. Ebensowenig kann
man im voraus erkennen, in welche Lage das Papsttum dann gestellt werden
wird. Aber so, wie die Dinge liegen, können sie bei den verworrenen und
zum Teil gefährlichen Verhältnissen nicht mehr sehr lange bleiben. Mit innerer
Notwendigkeit drängt es auf eine Entscheidung hin, die unaufhaltsam zu sein
scheint. Die Risse werden zur Zeit mit Mühe noch verstopft; bald wird das
auch nicht mehr gelingen. -
Vorstehende Fragen habe ich jüngst mit einem Diplomaten erörtert, der die
römischen Verhältnisse aus eigner Anschauung kennt. Er gab zu, daß sich
das von mir entrollte Bild der innerpolitischen Verhältnisse Italiens nicht weit
von der Wirklichkeit entferne. Wenn dem nun so ist, meinte er, so ist es doch
ganz unverständliche warum die Kurie durch Verbot der Beteiligung an den
Politischen Wahlen so große Kreise der italienischen Bevölkerung kühne. Sicher
ist, daß alle die Männer, die dem päpstlichen Befehle gehorchen, dadurch zu
erkennen geben, daß sie konservativen, staatserhaltenden Gedanken huldigen.
Würden diese mitwählen, so wäre eine bedeutende Stärkung der monarchischen
Rechten vorauszusehen, sogar wenn sich die etwa gewählten katholischen Abge¬
ordneten zu einer eignen Gruppe zusammenschließen würden.
Meine Antwort auf diese Einwürfe, die sehr bestechend zu sein scheinen,
war sehr einfach. Ich machte folgende Punkte geltend: Abgesehen davon, daß
es in den menschlichen Verhältnissen nicht üblich ist, daß der Beraubte dem
nunder beisteht, wenn er seinen Raub verteidigen muß — denn so liegen die
Dinge vom Standpunkte der Kirche aus gesehen —, so ist es zunächst nötig,
daß man ein festes Programm hat, wenn man Wahlen machen und dann
in der Politik tütig sein will. Ein italienisch-politisches Programm für die
Beteiligung der italienischen Katholiken an der innern Politik hat die Kurie
aber nicht aufgestellt und kann ein solches zurzeit unmöglich ausarbeiten
lassen. Des weitern müssen dem, der im politischen Kampfe siegen will, ge¬
schulte Massen zur Verfügung stehn, die bereit sind, persönliche Dinge dem
allgemeinen leitenden Gedanken unterzuordnen. Die italienischen Katholiken
sind aber trotz ihrer sogenannten Organisation in der Oxsra, nisi Longrsssi
noch völlig undiszipliniert. Mit ihnen kann niemand politische Kämpfe
ausfechten. Ein Allseinanderlaufen der Massen in Dutzende von kleinen Par¬
teien, denen dann jeder Einfluß fehlen würde, wäre die unmittelbare und un¬
abweisbare Folge eines jeden Versuchs in dieser Richtung. Endlich würde es,
sogar angenommen, alle diese Schwierigkeiten wären einmal beseitigt, der Würde
des Heiligen Stuhls nicht entsprechen, wenn die katholischen Abgeordneten an
den notwendig entstehenden Kämpfen über die Stellung des Königreichs zum
Heiligen Stuhl teilnahmen. Was die Italiener in ihrer Kammer tun, wenn
sie uuter sich sind, ist eine ganz andre Sache. Treue Söhne der Kirche
können aber im italienischen Parlament an solchen Erörterungen keinen
Teil haben.
Der Kardinal Sarto fand, als er nach Venedig kam, daß die Katholiken
sozusagen kaum organisiert waren. Er wollte aber den radikalen Stadtrat im
Interesse der religiösen Erziehung des Volks stürzen. Was tat er nun? In
mehrjähriger, ununterbrochner und mühsamer Arbeit schuf er sich sein Heer,
das seinen Befehlen blindlings gehorchte. Nachdem alle tüchtig geschult waren,
die Führer ihre Aufgabe voll erfaßt hatten, schlug er los und siegte glänzend.
Nachdem er Papst geworden war, wartete er den Ausgang der Katholiken¬
versammlung in Bologna im November 1903 ab, um zu sehen, was dort ge¬
leistet werden würde. Das Ergebnis war kläglich. Ausgesprochenste Disziplin¬
losigkeit war das Ergebnis der Tagung. Da griff Pius ein. In einem
aufsehenerregenden Now xroprio zeichnete er mit seltner Klarheit die Richt¬
linien der katholischen Bewegung in Italien, engte die Bewegungsfreiheit auf
das äußerste ein, rief eine scharfe Oberaufsicht des Episkopats über die ka¬
tholischen Vereine und die Presse ins Leben und forderte in der unzweideutigsten
Weise den rückhaltlosesten Gehorsam. Der ganze Erlaß ist auf eine in den
Anfängen stehngebliebne Bewegung zugeschnitten, die der sorgfältigsten Führung
und Beaufsichtigung bedarf, wenn sie langsam etwas erreichen soll. Des
Papstes Vorschriften richten sich hauptsächlich auf die Disziplin des Ganzen
wie jedes Einzelnen, und er macht jetzt im großen den Versuch für ganz
Italien, den er mit Erfolg in Venedig gemacht hat. Die ausdrückliche Be¬
stätigung des Hom sxxsäit durch Pius ist darum eine absolute Notwendigkeit
gewesen. Was Pius der Zehnte tun wird, wenn die italienischen Katholiken
einmal auf der Höhe der Disziplin der deutscheu Katholiken angekommen sein
werden, entzieht sich natürlich jeder Beurteilung. Zurzeit haben wir nur
mit den vorliegenden eben so klugen wie kraftvollen Befehlen des Papstes zu
tun, die aus dem praktischen Leben hervorgegangen sind. Leos Rundschreiben
lieferten das Material zur praktischen Gesetzgebung Pius des Zehnten auf diesem
Gebiete, wodurch meine Auseinandersetzungen eine weitere Stütze erhalten.
Es steht, wenn man sonst zuverlässig bedienten Blättern Glauben schenken
darf, zu erwarten, daß der Papst im Laufe der nächsten Monate noch eine
Anzahl bedeutsamer Erlasse herausgeben wird, die sowohl den Geschäftsgang
an der Kurie wesentlich zu vereinfachen berufen sein als auch das uralte
Institut der Diözesan- und Provinzialsynoden zu neuem Leben erwecken werden.
In neuster Zeit wird dann auch noch eine Behandlung der schwierigen Katechismus¬
reform angekündigt, die jedoch, wie leicht verstündlich ist, mehr Arbeit verur¬
sachen wird, als es auf deu ersten Blick erscheinen könnte.
Papst Pius der Zehnte stellt sich uns als ein seine Unabhängigkeit eifer¬
süchtig währender, gelehrter, in der Praxis des täglichen Lebens hocherfahrner
Papst dar, der mit Verständnis den Bedürfnissen der Zeit gegenübersteht. Seine
hohe persönliche Tugendhaftigkeit und Nächstenliebe rücken ihn dem Herzen eines
jeden rechtlich Denkenden nahe. Seine milde Art wird ihn in allen Fragen,
die außerhalb des innerkirchlichen Lebens liegen, die verbindliche, ruhige Form
finden lassen, die den Weg zur Verständigung auf das wesentlichste ebnet.
en am 8. Dezember vorigen Jahres verstorbnen Herbert Spencer
verehren die Engländer als den größten Philosophen des vorigen
Jahrhunderts. Aus seinem Leben hat der Verner Professor
Dr. Ludwig Stein interessante Einzelheiten mitgeteilt in einem
Aufsatze, der in die Sammlung „Der Sinn des Daseins" (Tübingen
und Leipzig, I. C. B. Mohr, 1904) aufgenommen worden ist, und nach seinem
Tode in einem Feuilleton in Ur. 343 der Frankfurter Zeitung. Es ergänzt
ihn ein Aufsatz von Dr. S. Saenger in Ur. 481 der Wiener Wochenschrift
„Die Zeit/' Wir verzichten auf einen Auszug aus diesen Mitteilungen, weil,
wie Stein berichtet, der Philosoph eine Autobiographie hinterlassen hat, die
sein Sekretär herausgeben wird. Nur die drei Tatsachen sollen angemerkt
werden, ohne deren Kenntnis man sein Lebenswerk nicht gehörig würdigen
kann: daß er Autodidakt gewesen ist, keinerlei gewöhnlichen Schulunterricht
genossen und es namentlich verschmäht hat, fremde Sprachen zu erlernen; er
hat mir „die Anfangsgründe der klassischen Sprachen einigermaßen bemeistert
und später französisch lesen gelernt"; seiner völligen Unkenntnis der Gram¬
matik seiner Muttersprache pflegte er sich zu rühmen. Dann daß er zeitlebens
kränklich und zeitweise sehr leidend war. Lange Jahre hat er, wenn über¬
haupt, höchstens drei Stunden täglich arbeiten können. Er selbst spricht davon
u. a. in der Vorrede der zweiten Ausgabe der Prinzipien der Biologie, in der
zum dritten Bande der Prinzipien der Soziologie und in der zu den Prinzipien
der Ethik. Endlich, daß er an sein großes Werk, dessen Verlag kein Buch¬
händler riskieren mochte, sein ganzes Vermögen gewandt hat, daß dieses aber
noch nicht reichte, und daß ihm erst eine amerikanische Gabe von 7000 Dollars
und einige Erbschaften die Fortsetzung ermöglichten. Einen Teil dieser Summen
benutzte er dazu, drei Sekretäre zu besolden, die ihm das Material zu seiner
VvMriMvö LooioloM zusammentragen mußten. Aus dem Konversationslexikon
wissen die Leser, daß dieses Werk, das er im Verein mit andern Gelehrten
herausgab, unvollendet geblieben ist, und daß er, abgesehen von unzähligen
Broschüren und Zeitschriftenaufsützen, ein zehnbündiges Lehrgebäude der syn¬
thetischen Philosophie herausgegeben hat, das er als sein eigentliches Lebens¬
werk ansah, und das sich in I^irst?rineir>1s8, ?rin<zixl<Z8 ok ok l?LMio-
lc»M, ok LooioIoM, ok Mniv8 gliedert. Wir heben aus dem Riesenwerk einige
Partien hervor, um solchen Lesern, die Spencer gar nicht kennen, einen Be¬
griff von ihm zu geben, und um uns mit seineu Grundanschauungen ausein¬
anderzusetzen.
Diese Grundanschauungen hat Spencer, als ein durchaus origineller Denker,
in jungen Jahren fertig gehabt. Auch seine Entwicklungslehre hat er selbständig
gefunden; er und Darwin haben sich, wie Stein bemerkt, unabhängig vonein¬
ander entwickelt und einander ergänzt, wobei natürlich Spencer mehr zoologische
Entdeckungen, Darwin mehr philosophische Gedanken entlehnte. Der große
Gedanke, den Spencer in seiner synthetischen Philosophie durchgeführt hat, ist:
daß alle Gebiete des Universums aus den Grundgesetzen der Mechanik erklärt
werden müssen, soweit sie erklärbar sind, und daß eine solche Erklärung allein
den Namen einer Philosophie verdient. Soweit sie erklärbar sind, denn frei
von Anmaßung und Illusionen, hat er wie Kant (von dem er wahrscheinlich
nicht viel gewußt hat) sich von vornherein klar gemacht, daß sich die Erklärungs¬
versuche auf das Gebiet der Erscheinungen beschränken müssen, daß aber jede
Erscheinung ein Erscheinendes voraussetzt, und daß dieses der menschlichen Er¬
kenntnis verschlossen bleibt. Seine „Ersten Prinzipien" beginnen denn auch
mit einer Erörterung des Verhältnisses der Philosophie zur Religion. Gegen¬
stand der Religion ist der unbekannte und unerkennbare Ursprung der Welt
und ihr Endziel. Man mag das Universum anfassen, wo man will: beim
Raum, bei der Zeit, bei der Bewegung, bei der Materie, beim Geiste — man
kommt immer zu einem Punkte, wo einem das, was man durchforschen wollte,
unter den Hunden zerrinnt, wo man gestehn muß: Ich weiß nicht, was dieses
Ding ist, das ich betrachte. Man findet immer nur Bedingtes, das auf ein
unzugängliches Unbedingtes hinweist. Die Anerkennung nun dieses unlösbaren
Problems, dieses Mysteriums macht das Wesen der Religion aus. Die ein
zclnen Religionen haben alle dadurch gesündigt, daß sie die Religion in ihr
Gegenteil verkehrten, indem sie Mythen und Dogmen verkündigten, die für
Lösungen des Mysteriums ausgegeben wurden, und die religionsgeschichtliche
Entwicklung hat die allmähliche Ausscheidung der Dogmen, die das Mysterium
nnmysteriös machen, zum Ziele. Zwar hat die Religion dieses ihr großes Ziel
jederzeit vor Augen behalten, und die Menschheit ist ihr unendlichen Dank
dafür schuldig, daß sie sie davor bewahrt hat, ganz und gar im Vergänglichen,
im Alltäglichen aufzugehn; aber ihre Vertreter sträuben sich doch gegen den
Reinigungsprozeß, dem sie von der Wissenschaft unterworfen wird. Und jetzt,
wo sie gezwungen werden, von ihren irreligiösen Erklärungen so viel aufzu¬
geben, werden sie von der ganz unbegründeten Furcht gepeinigt, es könne
dereinst einmal alles erklärt werden. Einen ganz ähnlichen Läuterungsprozeß
hat die Wissenschaft durchgemacht, die anfangs unwissenschaftlich mit mytho¬
logischen Vorstellungen wie dem norror vacui arbeitete. Durch ihre beider¬
seitige Reinigung nähern sich Religion und Wissenschaft einander. Sie lassen
sich vollständig miteinander versöhnen, wenn sich jede von beiden auf ihr Gebiet
beschränkt: die Wissenschaft erklärt, was erklärbar ist, in das Unerklürbare
aber nicht einzudringen sich anmaßt, die Religion das Mysterium verehren
lehrt. Wenn Spencer den Vertretern der Religion Irreligiosität und Ver¬
unstaltung der Religion vorwirft, so ist damit natürlich nur gemeint, daß der
Kirchenglaube als Irreligiosität und Verunstaltung erscheine, wenn man ihn
mit dem religiösen Ideal vergleicht. Eine subjektive Schuld kann er bei seinem
Glauben an eine sich mit Notwendigkeit vollziehende Entwicklung der Priester¬
schaft und den Theologen nicht beimessen. Ausdrücklich erkennt er an, daß
jeder Glaube der beste ist für die, die ihm anhängen, weil er für sie der einzige
mögliche ist, der Glaube, für den das Volk oder die Zeit reif war. Es sei
deshalb auch der Widerstand der Gläubige« gegen neue Ansichten über religiöse
Dinge berechtigt. Der theologische Konservatismus wirke wie der politische
als nützlicher Hemmschuh. Ein allzu stürmischer Fortschritt der Ideen sei be¬
sonders deswegen gefährlich, weil die Religion das sittliche Verhalten durch
Motive sichere und fördere, deren plötzlicher Wegfall Unheil anrichten würde.
Bis hierher haben wir gegen Spencers Beurteilung der Religion und
ihrer Entwicklungsgeschichte nichts einzuwenden. Dagegen vermögen wir seine
Kritik der Schöpfungshypothese nicht zu unterschreiben. Es müsse befremden,
meint er, daß die Menschen glauben konnten, Gott dadurch zu ehren, daß sie
ihn sich ähnlich dachten. Nicht die Wesensverschiedenheit Gottes von der
Welt, sondern gerade eine gewisse Menschenähnlichkeit Gottes sei der Bestand¬
teil des Glaubens, den diese gottlosen Frommen für den allerwesentlichsten
hielten. Es sei so, wie wenn sich eine Uhr, die Bewußtsein bekäme, einbilden
Wollte, auch der Uhrmacher werde zu seinen Handbewegungen durch Federn
und Ruder genötigt. Er entrüstet sich über die „transzendentale Frechheit"
eines Philosophen, der sich eingebildet habe, der höchsten Macht in die Werk¬
statt schauen und die Art und Weise ihres Wirkens beobachten zu können,
die ganz ähnlich der eines Handwerkers beschrieben werde. Ohne uns dieses
ungenannten Philosophen anzunehmen, müssen wir doch sagen, daß Spencer
in seinem Agnostizismus zu weit geht. Gewiß, Gottes Wesen und Wirken
sind unbegreiflich und unerforschlich, und wenn ein Theolog unsrer Zeit, die
über die Stufe der Kindlichkeit längst hinaus ist, gewisse kindliche Vorstellungen
älterer Zeiten noch als buchstäblich zu nehmende Glaubenswahrheiten lehrt,
so darf er vielleicht frech genannt werden. Aber Schlüsse wie die folgenden
sind weder frech noch unwissenschaftlich: Weil die Ursache alle ihre Wirkungen
enthalten muß, und weil in der Welt Vernunft und Güte gefunden werden,
so müssen beide auch in der Weltursache, in Gott, angenommen werden. Weil
Vernunft und Güte das Höchste in der Welt sind, sodaß alles andre, die
ganze materielle Welt, nur insofern Wert und einen Sinn hat, als sie der
vernünftigen Güte oder der gütigen Vernunft als Werkzeug dient, so haben
wir uns Vernunft und Güte als das Wesen des Weltgruudes zu denken.
Und weil Vernunft nicht anders als vernünftig, das ist mit Rücksicht auf ein
vernünftiges Ziel tätig sein kann, so vermögen wir uns auch die schöpferische
und erhaltende Tätigkeit Gottes nicht anders zu denken. So weit ist der
theologische Anthropomorphismus unvermeidlich. Die Ursache muß bis zu einem
gewissen Grade in der Wirkung erkennbar sein. Daß der Uhrmacher aus
Federn und Rädern bestehe, würde eine sehr törichte Folgerung der mit
Bewußtsein begabten Taschenuhr sein; aber daß ihr Schöpfer ein intelligentes,
zwecksetzendes und seinen Zweck mit tauglichen Mitteln erreichendes Wesen sei,
das wäre durchaus keine törichte, sondern eine unbedingt notwendige Folgerung.
Wenn wir uns Gott aus Knochen, Muskeln und Nerven bestehend dächten,
würden wir der törichten Uhr gleichen. Weder von dem Innenleben Gottes
können wir uns eine Vorstellung machen, noch davon, wie er es anstellt, den
Reichtum dieses seines Lebens in einem Universum nach außen zu entfalten
und für einen Teil seiner Geschöpfe in einem Abbilde wahrnehmbar zu machen.
Aber daß er von dem Höchsten, was diese Geschöpfe kennen, der Urquell sein
muß, daran kann kein Vernünftiger ernstlich zweifeln.
Ist der Gegenstand der Religion das Unerkennbare, so hat es die Wissen¬
schaft mit dem Erkennbaren zu tuu. Eine tiefere und klarere Erkenntnis, als
sie die bloße Sammlung, Registrierung und Ordnung von Tatsachen gewährt,
wird dadurch erlangt, daß man Gruppen von Tatsachen daraufhin untersucht,
was sie gemeinsames haben, und nach welchem Gesetz sie aufeinander folgen.
Diese wissenschaftliche Art der Erkenntnis begründet die Fachwissenschaften,
und die Vereinigung aller Fachwissenschaften zu einem Ganzen ist Philosophie.
Deren Aufgabe ist es, die Erscheinungen aller Gebiete auf ein einziges Gesetz,
einen einzigen Grundsatz zurückzuführen, der, da allen Erscheinungen physi¬
kalische Vorgänge zugrunde liegen, nur physikalischer Art sein kann. Wissen
der untersten Stufe also ist noch nicht vereinheitlichte Erkenntnis, Wissenschaft
ist teilweise vereinheitlichte Erkenntnis, Philosophie ist vollkommen vereinheit¬
lichte Erkenntnis. Die allgemeine Philosophie, die Spencer ?irst?rin<zip1hö
nennt, hat die Grundwahrheiten zu entwickeln, und in den einzelnen Zweigen
der Philosophie werden dann die gewonnenen Grundwahrheiten dazu benutzt,
die Gebiete der verschiednen Fachwissenschaften zu beleuchten, die Erscheinungen,
die ihren Gegenstand ausmachen, zu erklären.
Die allerersten Grundwahrheiten nun sind keine andern als die von der
heutigen Mechanik allgemein anerkannten Grundgesetze. Das erste ist das der
Erhaltung von Materie und Kraft, oder kurz der Erhaltung der Kraft, da ja
die Materie nichts sein soll als eine besondre Kraftäußerung. Dabei wird
vorausgesetzt, daß sich die verschiednen Energieformen ineinander verwandeln.
„Jede Kraftäußerung, sei sie nun ein unorganischer Vorgang oder die Be¬
wegung eines Tieres, oder ein Gedanke, ein Gefühl, läßt sich nur als Wir¬
kung einer vorhergehenden Kraftäußerung erklären." Das ist unzweifelhaft
richtig; aber wenn damit gemeint sein sollte, daß der einen geistigen Vorgang
veranlassende physikalische Vorgang den hinreichenden Grund von jenem ent¬
halte, so müßten wir diese Auffassung natürlich ablehnen. Der zweite Haupt¬
satz der Mechanik lautet: Jede Bewegung geht in der Richtung des geringsten
Widerstandes vor sich. Für uns, die wir im Seelenleben etwas andres sehen
als Mechanik, existiert der Einwurf gegen dieses Gesetz nicht, daß der dressierte
Hund mit dem im Maule quer gehaltnen Stock durch die zu enge Tür nicht
hindurch kauu, und daß sich die kleinen wie die großen Menschenkinder,
namentlich auch die politischen Parteien, oft genug nicht viel klüger anstellen.
Der philosophierende Engländer aber, dem alles Mechanik ist — Spencer
war noch dazu ursprünglich Ingenieur gewesen —, hält es für nötig, diesen
EinWurf zu widerlegen. Auch die Muskelspannungen seien so eingerichtet, daß
das Ziel, auf das sich der Wille richtet, mit dem geringsten Widerstande er¬
reicht werde. Ungeschickte Menschen wählten allerdings nicht immer den an
sich kürzesten Weg, aber der Weg, den ein solcher einschlage, sei der, auf dem
ihm seine geistige Beschaffenheit am wenigsten hinderlich ist.
Bewegung entsteht immer nur dadurch, daß zwischeu zwei benachbarten
materiellen Elementen oder „Systemen von Elementen" das Gleichgewicht ge¬
stört ist. Der Weltprozeß kann also nnr von einem Zustande gestörten Gleich¬
gewichts ausgegangen sein. Dieser Prozeß, dieses Gewimmel von Verände¬
rungen, stellt sich uns dar als eine immerwährende Andersvertcilung von
Stoff und Kraft, die sich in rhythmischen Schwankungen vollzieht. Unter den
bis jetzt bekannten Rhythmen ist die gewaltigste die zwanzigtausendjährige
Perioden umfassende Abwechslung in der Verteilung der Sonnenwärme auf
der Erde, die durch das langsame Schwingen oder Drehen der Erdachse be¬
wirkt wird. Sofern alle Bewegung auf die Herstellung von Gleichgewicht ge¬
richtet ist, muß der Prozeß als ein Jntegrationsprozeß bezeichnet werden, bei
dein sich die Materie zu immer größern Massen zusammenballt und die Be¬
wegung verschwindet. Dieser Jntegrationsprozeß, der aus dem zerstreuten
Urnebel Sonnen, Planeten, Sonnensysteme gebildet hat, zielt offenbar ans die
Zusammenballung aller Weltkörper zu einer starren Masse ab. Aber in einem
gewissen Stadium des Weges vom Urnebel zur Versteinerung, in dem Stadium
unsrer eignen Erdenzeit, sehen wir in den Jntegrationsprozcß einen andern
eingreifen, den der Differenzierung, die in Wechselwirkung mit der Jntegrierung
individuelle Gebilde schafft und diese durch Umbildung zu immer höhern, d. h.
reicher gegliederten, fester zusammenhängenden, von der Umwelt durch größere
Bestimmtheit ihres eigentümlichen Charakters sich abhebenden Wesen entwickelt.
Die Entwicklung bedeutet also deu Fortschritt vom Gleichartigen zum Ungleich¬
artigen, vom Unbestimmten zum Bestimmter. Im bestimmten ungleichartigen
Ganzen sehen wir das Höhere, Vollkommne.
Einer Lehre, die das allein Wertvolle im Universum, den Menschengeist,
zu einer vorübergehenden Erscheinung in einem mechanischen Weltprozesse
herabsetzt, der unendlich lange Zeiträume vor und nach dem Menschendasein
geistlos durchläuft, vermögen wir den Namen einer Philosophie nicht zu-
zugestehn. Die Kant-Laplacische Hypothese mit der Aussicht auf die Erkaltung
und Erstarrung unsers Sonnen- oder Sternensystcms und seiner Wieder¬
belebung durch den Anprall an benachbarte Sonnen- oder Sterneusysteme
lassen wir uns als astronomischen Zeitvertreib gern gefallen. Mit der Philo¬
sophie, deren eigentlichen Gegenstand das Leben und die Schicksale des Geistes
ausmachen, haben solche Hypothesen wenig zu schaffen. Was es außerhalb
unsers geistigen Seelenlebens gibt, das kann uns nur insoweit interessieren,
als es das Seelenleben berührt. Die materielle Maschinerie nun, die unser
Seelenleben ermöglicht, interessiert uns freilich, als Daseinsbedingung unsers
Ichs, im höchsten Grade; die Kenntnis ihrer Einrichtung und der Gesetze,
nach denen sie arbeitet, ist für uns von der höchsten theoretischen und prak¬
tischen Wichtigkeit. Aber nur ihren gegenwärtigen, den Erfordernissen unsers
menschlichen Daseins angepaßten Zustand vermögen wir zu erkennen. Was sie
vordem gewesen ist, und was sie nach der Erfüllung ihres Zwecks sein wird,
wie sie geworden ist und dereinst wieder vergehn wird, das wissen wir nicht
und können wir nicht wissen, und es ist nicht wissenschaftlich, dieses Unwiß-
bare uns als Bestandteil, ja als Grundlage der Philosophie darzubieten.
Wie Spencer in Beziehung auf deu Schöpfer zu bescheiden ist und den Um¬
fang des Erkennbaren zu eng begrenzt, so dehnt er in Beziehung auf die
Schöpfung die Grenzen des Wißbaren hier und da zu weit aus, sowohl bei
dieser Grundlegung seiner Philosophie wie auch in der sich daran anschließenden
Biologie.
Spencers zweibündige Biologie ist außerordentlich reich an anatomischen
und physiologischen Einzelheiten aus den Gebieten der Zoologie und der
Botanik. Ob ihnen neben unsrer so reichen deutschen biologischen Literatur
noch irgend welcher Wert zukommt, sodciß das Werk einem Studenten als
Handbuch zu empfehlen wäre, können nur die Herren vom Fach entscheiden.
Selbständige Forschungen scheint Spencer nicht unternommen zu haben. In
der Vorrede sagt er, Professor Huxley und Dr. Hooker hätten ihm Material
geliefert (supMsä vitü wtormö-lion, vlisrs in^ von is clsüoiönt) und hätten
beim Durchlesen der Probebogen Irrtümer berichtigt. Ein theologischer Gegner,
or. Watts — ans seine theologischen Gegner ist Spencer sehr schlecht zu
sprechen —, gab diesem den beiden Naturforschern abgestatteten Dank die Form:
Spencer verdanke die (also alle) Tatsachen, die sein Werk enthalte, jenen
beiden. Spencer, darüber sehr empfindlich, drückt sich deshalb später genauer
aus: er habe Huxleh und Hooker befragt über solche Gegenstände, die in den
ihm zur Verfügung stehenden Werken nicht abgehandelt würden. Ein Lehr¬
buch der Biologie wollte er ja auch gar nicht schreiben, sondern ein Lehrbuch
der Prinzipien der Biologie. Sein Zweck war: „die allgemeinen Wahr¬
heiten der Biologie darzulegen, wie sie die Gesetze der Entwicklung beleuchten
und durch diese verstündlich werden; Einzeltatsachen sollen nur soweit mit¬
geteilt werden, als zum Verständnis der allgemeinen Wahrheiten erforderlich
ist." Und im Vorwort zur Ausgabe von 1898 schreibt er: „Wenn das Werk
eine Biologie wäre, nicht bloß eine Darlegung der Prinzipien der Biologie,
so hätte er bei dem reißenden Fortschritt dieser Wissenschaft nicht hoffen
können, es auf die Höhe ihres gegenwärtigen Standes zu bringen. So aber
dürfe er hoffen, trotz oftmaliger Unterbrechung durch Krankheit mit dem
schwachen Rest seiner Arbeitskraft das Werk in seinem Sinne vollendet zu
haben."
Anders als mit den von ihm gesammelten Tatsachen steht es mit seinen
Erklärungsversuchen; diese sind durchaus originell, höchst anregend und wirk¬
lich geeignet, die biologischen Vorgänge zwar nicht begreiflich aber einigermaßen
verständlich und vorstellbar zu machen. In der Beschaffenheit der chemischen
Elemente, die in den organischen Verbindungen vorkommen, und in der Be¬
schaffenheit dieser Verbindungen selbst sieht er einige Hauptbedingungen des
organischen Lebens erfüllt. Die hauptsächlichsten jener Elemente: Sauerstoff,
Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff, sind unter sich außerordentlich ver¬
schieden. So hat der Sauerstoff die größte chemische Aktivität, verbindet sich
am leichtesten mit andern Elementen, Stickstoff die geringste. Kohlenstoff hat
die stärkste Kohäsion, sodaß Kohle nur im elektrischen Bogen verflüchtigt
werden kann, die andern drei Elemente haben die schwächste. Nun lassen sich
Einheiten (Spencer nennt nine8, was die deutschen Philosophen Elemente im
nicht chemischen Sinne oder kleinste Teile zu nennen pflegen) desto leichter
voneinander trennen, aus einer Verbindung lösen, je verschiedner sie von¬
einander sind. Darum muß das Gleichgewicht in allen organischen Ver¬
bindungen außerordentlich labil sein. Es kann um so leichter gestört werden,
je mehr Stickstoff darin enthalten ist, wie man aus dem Umstände schließen
muß, daß alle Explosivstoffe Stickstoff enthalten. Den Explosionen ähnlich
ist die durch Innervation verursachte Muskelkontraktion, sodaß man das von
dieser Seite betrachtete Tier als eine Maschine zur Vervielfältigung von
Energie definieren kann, als einen Bau von Einrichtungen, durch die eine
kleine Bewegung der Menge nach große Bewegungen einleitet.
Ferner sind Kohlenstoff und Sauerstoff so bereit zur Umlagerung ihrer
Atome, daß sie schon für sich allein die Fähigkeit der Allotropie haben, ver-
schiedne Gestalten annehmen (der Kohlenstoff als Kohle, Graphit und Diamant,
der Sauerstoff als gewöhnlicher Sauerstoff und Ozon). Und endlich sind die
organischen Verbindungen so außerordentlich kompliziert, daß zum Beispiel
eine Proteinmolekel mehr als 220 Äquivalenteenthält, sodaß schon die
bloße Umlagerung der Atome innerhalb einer Molekel eine praktisch unend¬
liche Anzahl von Kombinationen hervorbringen kann. Alles dieses zusammen
verleiht den organischen Einheiten einen hohen Grad von Veränderlichkeit und
Vildsamkeit, und diese beiden Eigenschaften kehren in den Verbindungen von
Einheiten in erhöhtem Grade wieder, da ja durch die Verbindungen von
Dingen, die an sich schon vielgestaltig und veränderlich sind, die Anlässe zu
Veränderungen und die Möglichkeiten solcher vermehrt werden. So kann
man denn verstehn, daß, wenn einmal einfach organische Wesen vorhanden
waren, der Wechsel ihrer Daseinsbedingungen sie unaufhörlich verändern, und
daß unter der Herrschaft des Gesetzes der Jntegriernng und Differenzierung eine
unendliche Fülle sich immer feiner gliedernder Organismen entstehn mußte.
Die beiden Hauptsachen: der Anfang der organischen Entwicklung, und
daß dabei überhaupt individuelle Gebilde und zwar generationenlang sich gleich¬
bleibende Arten solcher Gebilde herauskommen, bleiben freilich auch für Spencer
noch geheimnisvoll. Bald gesteht er das verklausuliert ein, bald spricht er
so zuversichtlich, als ob er der Sache auf den Grund gekommen wäre. Schon
in den M'se xrinoixlss schreibt er: „Fassen wir eine unorganisierte aber
organisierbare Stoffmasse ins Auge, entweder den Leib eines niedrigen Lebe¬
wesens oder den Keim eines Wesens höherer Art (beide sind doch keine unor¬
ganisierten Massen!), so ist eine solche Masse entweder von andern festen
Massen oder von Lust umgeben oder in einen elterlichen Organismus einge¬
schlossen. In jedem Falle sind ihre äußern und innern Teile der Einwirkung
ihrer Umgebung ausgesetzt, durch die sie entweder zersetzt oder zu Änderungen
veranlaßt wird, die keine Zersetzung sind. Bei den Embryonen höherer
Organismen treten allerdings die von außen veranlaßten Umänderungen vor
solchen zurück, die von dem ererbten Streben nach Ausbildung des Arttypus
herrühren." Dieses Streben ist nun eben ein Hauptkennzeichen des Lebens,
und Leben ist „die beständige Anpassung innerer Verhältnisse an äußere Ver¬
hältnisse." Verhältnisse zwischen was für Dingen? fragt er, ohne diese aller-
wichtigste Frage beantworten zu können. Was steckt in all diesen organischen
Einheiten und Gebilden, das ihre aufbauende Tätigkeit leitet und den zer¬
störenden Einflüssen der Umgebung bis zu einem gewissen Grade Wider¬
stand zu leisten vermag? In Formeln der Mechanik oder der Chemie (in
xliMvo - edsinitzg-l den-ins) kann dieses Etwas nicht ausgedrückt werden. Nur
so viel steht fest, daß dieses unbekannte und unerkennbare Etwas eine Ursache
von Bewegung (g. xrinoixls ok activity — dieses „Prinzip" oder xrinoixlö ist
einer der abscheulichsten Kunstausdrücke) sein muß. „Aber unsre Oberflächcn-
kenntnis der Wirkungen dieser Ursache ist eine in ihrer Art ganz zuverlässige
Erkenntnis, wofern wir nur im Auge behalten, daß es eben nur eine Ober¬
flächenkenntnis ist."
Ein Rezensent hat eingewandt: Spencer leitet die Bewegungsrichtungen
(so übersetzt man wohl am besten tsnäsnÄss unä xrooliviUss) seiner Einheiten
von Vererbung ab; aber die ersten Organismen können die ihrigen doch nicht
ererbt haben. Außerdem lehnt er die Urzeugung ab, leugnet also, daß sich
die ersten Organismen aus der unorganischen Welt könnten entwickelt haben,
und versperrt sich so selbst der an sich zulässigen Annahme, daß jene Bewegungs¬
richtungen auf die Einwirkung der Umgebung als ihren letzten Grund könnten
zurückgeführt werden. Spencer antwortet darauf (S. 702 ff. des ersten Bandes
der Ausgabe von 1898): Der Rezensent hätte recht, wenn man notwendiger¬
weise einen ersten Organismus annehmen müßte, wenn das Leben an einem
bestimmten Punkte anfinge, wenn es eine deutlich erkennbare Linie gäbe, die
den einfachsten Organismus von der organischen Materie schiebe (wo kommt
die her vor dem Organismus? Wir kennen keine organische Materie, die
außerhalb eines Organismus entstünde; die paar organischen Verbindungen,
die es in der Retorte herzustellen gelungen ist, sind noch keine organische
Materie; auch die aus Organismen gewonnenen Stoffe, wie Eiweiß und
Zucker, hören, vom Organismus getrennt, sofort auf, organische Materie zu
sein). Die Evolutionshypothese schließe stillschweigend die Verneinung einer
solchen Grenze ein (und ist deshalb in dieser Form, weil willkürlich und dog¬
matisch, unannehmbar). Auch werde die Verneinung desto mehr durch die
Tatsachen gerechtfertigt, je besser wir sie kennen lernen. Er führt aber keine
andre Tatsache an, als die wir schon kennen: die außerordentliche Komplexität
der biologischen Einheiten. Eine Proteinmolekel könne tausend isomere Formen
annehmen; die Zahl der verschiednen Verbindungen, die ein so vielgestaltiges
Wesen eingehn könne, lasse sich gar nicht in Zahlen ausdrücken. Eine durch
solche Verbindung entstandne Molekel nun, die in Komplexität und Struktur
vielleicht die Proteinmolekel um so viel übertrifft wie diese eine unorganische
Molekel, möge die eigentümliche Einheit einer besondern Art von Organismen
sein. Infolge ihres Baues müsse sie einen hohen Grad von Plastizität haben
und für umbildende Einflüsse äußerst empfänglich sein. Demzufolge vermöchten
solche Molekeln eine unbegrenzte Zahl verschiedner organischer Strukturen zu
bilden. Jeder Organismus einer bestimmten Art habe nun seine eigne Art
solcher Einheiten, die sich mit dem Organismus entwickeln, den sie bilden, mit
feiner Differenzierung selbst differenzieren und durch dieselben Vorgänge, die
einen Organismus in verschiedne Arten umbilden, selbst in verschiedne Arten
umgebildet werden.
So weit unser Philosoph. Seine biolo^los,! oder oonstitutional nuits sind
wohl als Gebilde zu denken, die in Struktur und Größe zwischen der Molekel
und der Zelle stehn. Daß die Bestandteile des Organismus einen hohen Grad
von Vildsamkeit und Umwmidlungsfühigkeit haben müssen, leuchtet ein, und
die Erklärung, die er von diesen Eigenschaften gibt, dürfte richtig sein. Aber
so wenig aus höchst bildsamen Ton durch zufällige Erschütterungen jemals
eine Bismarckbüste hervorgeht, eben so wenig können einige Billionen Molekeln
bloß darum, weil sie höchst bildsam, vielgestaltig und kombinationsfähig sind,
für sich allein, ohne daß jemand ihr Zusammenwirken leitet, einen lebendigen
Bismarck oder auch nur einen Laubfrosch, einen Regenwurm fertig bringen.
Und nun stelle man sich einen reichgegliederten Organismus vor und bedenke,
was seinen und.8 zugemutet wird! Eine solche Keimeinheit muß jeder der
Billionen neuen Einheiten, die sie sich beim Wachsen angliedert, auf irgend
eine Weise mitteilen, was für eine Funktion sie auszuüben hat. Sie muß
zum Beispiel, wenn sie einem Sprößling des Herrn Kohn gehört, einer Ab¬
teilung der für die obern Gegenden bestimmten nuits auftragen, dem kleinen
Kohn gerade eine solche Nase zu machen, wie sie sein Vorfahr gehabt hat, der
vor viertausend Jahren an der Wand einer ägyptischen Grabkammer verewigt
worden ist. Und eine Gesellschaft von vielleicht einer Billion kleiner Arbeiter
so zu disziplinieren, auf Jahrtausende hinaus mit allen ihren Nachkommen*)
zu disziplinieren, was über jedes Menschen Kraft unendlich weit hinausgehn
würde, das soll nun so eine Molekel oder non leisten!
Um diese wunderbare Leistung einigermaßen vorstellbar zu machen, nimmt
Spencer S. 367 ff. ein Gleichnis zuHilfe. Wenn Kolonisten derselben Ab¬
stammung, darum auch von demselben Typus, ein Land besiedeln, so werden
sie sich von selbst in verschiedne Berufe differenzieren und werden je nach
Neigung und Bedürfnis die einen Landwirte, die andern Waldarbeiter oder
Handwerker oder Händler werden. So gliedert sich das Ganze in Stunde,
jeder Stand gliedert sich weiter für sich, ohne daß die Organisation von einem
bewußten Zentralwillen geleitet würde; es genügt die Beschaffenheit, die jede
dieser sozialen Einheiten ererbt und aus ähnlichen Gesellschaften mitgebracht
hat. Nach diesem Muster, meint Spencer, können wir uns eine dunkle Vor¬
stellung davon machen, wie sich bei der Entfaltung eines Embryo und beim
Wachstum des daraus hervorgehenden Individuums zuerst die Hauptschichten
sondern, dann die Umrisse des Organismus zeigen und die großen Organe
sich in immer kleinere gliedern. Ja, den Verlauf sich vorzustellen, das ist
eigentlich gar nicht schwer, den lehren ja Embryologie und Anatomie. Nur
das Weben und Wirken der raies sich vorzustellen ist schwierig oder vielmehr
unmöglich, weil diese Dingerchen nicht, wie die Kolonisten, Hände, Augen,
Verstand, Willen, Lehrmeister und die zum Zusammenwirken nötigen Ver-
stündigungsmittel haben. Auch sind es ja hier gar nicht die ursprünglichen
Kolonisten, die sich beim Wachstum gliedern, sondern die neugebildeten raies,
die nicht einmal ererbte Fertigkeiten haben können, und deren Zahl in einem
Menschen-, Pferde- oder Rinderleibe die Zahl der im Embryo enthaltnen viel-
tausendmal übertrifft. Spencer widmet der Widerlegung Weismanns einige
Abschnitte seines Werkes. (Längere, nebenbei bemerkt, als der Bedeutung dieses
Zoologen zukommt. Seiner Bedeutung als Biolog nämlich. Durch den Ge¬
brauch, den die Nassentheoretiker und die Sozialaristokraten von seiner Keim-
Plasmalehre machen, wirkt er allerdings über die Fachkreise hinaus und auf
die Politik ein.) Der englische Gelehrte behauptet dem deutschen gegenüber
die Vererbung erworbner Eigenschaften und verspottet — das ist es, was uns
hier ein wenig interessiert — Weismanns Determinantentheorie. (Die den
Bau je eines Organs oder Organteils leitenden Molekeln nennt Weismann
Determinanten.) Er berechnet, daß zum Bau einer einzigen Pfauenfeder
480000, zu dem des ganzen Schwanzes viele Millionen Determinanten not¬
wendig sein würden. Aber die Leistungen von Spencers nuits sind nicht weniger
unglaublich, als es die Zahl der Determinanten Weismanns ist. Jener gesteht
übrigens, wie gesagt, gelegentlich ein, daß alle diese Vorgänge in ihrem tiefsten
Grunde unerforschlich bleiben, daß keine der bis jetzt erdachten Hypothesen das
Dunkel völlig aufhellt, daß namentlich die Darwinische Theorie zwar manches
aber nicht alles erklärt.
Selbstverständlich leugnet er auch nicht den hypothetischen Charakter seiner
eignen Theorie. Einen Vorzug der Entwicklungshypothese vor der Schöpfungs¬
hypothese findet er u. a. darin, daß für jene die Frage nicht existiere: wozu
lange vor dem Menschen andre Wesen geschaffen worden seien, und daß man
nicht anzunehmen brauche, Gott habe die Tiere dazu geschaffen, einander
Schmerzen zuzufügen; die unvermeidlichen Leiden der Geschöpfe würden durch
die Evolution mehr und mehr vermindert. Wenn Spencer Eduard von Hart¬
mann kennte, so würde er wissen, daß bei nus Deutschen die Frage gar nicht
mehr lautet: Evolution oder Schöpfung? sondern: Vom göttlichen Intellekt
geleitete oder blinde Evolution?
Eine große Anzahl seiner Erklärungen kann man als befriedigend und
endgiltig hinnehmen unter der Voraussetzung, daß nicht Erklärung der Ur¬
sachen oder auch nur des innersten Geschehens gemeint ist, sondern nur eine
Darlegung der Bedingungen, nnter denen die Ursache wirkt, die sich auch diese
Bedingungen ihres Wirkens selbst hergestellt hat, und eine Darstellung des
äußerlichen Verlaufs: eine Oberflachenerkenntnis, wie er selbst es nennt.
Wunderschön zeigt er zum Beispiel, wie aus einer Hautstelle ein Auge werden
kann, wenn — denken wir natürlich hinzu — ein metaphysisches Wesen die
natürlichen Veränderungen lenkt. Weniger „wenn" und „aber" stellen sich
ein, wo er einfachere Vorgänge, zum Beispiel die chemische Wirkung des Lichts
auf die Pflanzen, erklärt. Die Körperatome schwingen in einem bestimmten
Tempo, und wenn das Tempo eines chemischen Elements dem Tempo ge¬
wisser Ätherschwingungen entspricht, so werden seine Atome von einem Strom
solcher Schwingungen, einem Lichtstrahl, ergriffen, aus ihrer Verbindung mit
den Atomen andrer Elemente gelöst und in den Anziehungsbereich wieder
andrer Elemente fortgeführt, mit denen sie sich verbinden. Man hat gegen
die Darwinische Hypothese u. a. eingewandt, daß gerade die wichtigsten Art¬
charaktere, die morphologischen, wie die Stellung der Blätter am Pflanzen¬
stengel, ganz gleichgiltig fürs Fortkommen des Organismus feien, darum aus
dem Überleben des Angepaßten nicht erklärt werden könnten. Spencer findet
einen Nutzen der Blattstellungen heraus: sie seien die für die gleichmüßige
Besonnung aller Blätter günstigsten. Daß er die Schönheit biologisch erklärt,
das ist ganz — englisch.
Am Schlüsse des Werks stellt er die Integration der gesamten organischen
Welt zu einem Ganzen dar; anfangs stehn die noch sehr unvollkommnen
Organismen in keinem Verkehr miteinander; dieser Verkehr tritt ein als Aus¬
tausch von Sauerstoff und Kohlensäure bei der Differenzierung der Organismen
in Tiere und Pflanzen und wird in dem Maße inniger und vielgestaltiger,
als sich die lebenden Wesen immer feiner organisieren. Tiere nähren sich von
andern Tieren und von Pflanzen, viele Tiere leben als Schmarotzer von
andern oder in Symbiose mit andern; manche Arten leben in Herden, andre
in wohlorganisierten Staaten zusammen; Pflanzen werden von Insekten be¬
fruchtet. In der menschlichen Gesellschaft gipfelt diese Integration. Nachdem
er die Zukunftsaussichteu des Menschengeschlechts, namentlich in Beziehung
auf das Maß seiner Vermehrung, ausführlich erörtert hat, schließt er, in die
Soziologie übergreifend, das Werk mit den Worten: „Unser Endergebnis ist,
daß im Menschengeschlecht alle diese Ausgleichungen (öMiMratioris) zwischen
Konstitution und äußern Bedingungen, zwischen der Struktur der Gesellschaft
und der Natur ihrer Glieder, zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit zugleich
einem gemeinsamen Ziele zustreben. Indem sich der Mensch dem Gleich¬
gewicht zwischen seiner Natur und den stetig wechselnden Umstünden nähert
und auch dem Gleichgewicht zwischen seiner Natur und den Anforderungen der
Gesellschaft, nähert er sich zugleich jener untersten Grenze der Fruchtbarkeit,
die die Bevölkerung im Gleichgewicht erhält, indem immer gerade so viel
Kinder geboren werden, als Erwachsne sterben. Aber in einem Universum,
dessen Teile beständig in Bewegung sind, sodaß jeder einzelne Teil einem be¬
ständigen Wechsel der Daseinsbedingungen unterworfen bleibt, kann weder
dieser noch irgend ein andrer Gleichgewichtszustand jemals vollkommen werden."
Les, ol-i.den'! , . . Koi'vom. o^oss!
u den denkwürdigen Tagen, deren Gedächtnis das neue Jahr in
uns wachruft, gehört auch der 21. März. Hundert Jahre sind
verflossen, seitdem in der nebligen Nacht vom 20. zum 21. März
der Herzog von Enghien im Festungsgraben zu Vincennes als
schuldloses Opfer napoleonischer Herrschsucht unter den Kugeln der
Gendarmen siel. Keine Tat hat auf Napoleons Leben einen so schwarzen
Schatten geworfen wie diese; keine scheint darum auch sein Gewissen so schwer
belastet zu haben, denn er war später aufs eifrigste bemüht, sie in mildern
Lichte darzustellen. Auch die Hinrichtungen Palus und Hofers waren Gewalt¬
taten, aber es läßt sich für sie doch wenigstens ein Schein der Rechtfertigung
finden, denn Palm wurde nach wirklich bestehenden Gesetzen gerichtet, deren
Anwendung auf seinen Fall freilich eine tyrannische Willkür war, und Hofers
Tod entschied der Spruch eines wenigstens in der Form regelrechten Kriegs¬
gerichts. Die Erschießung Enghiens aber läßt sich in keiner Weise entschul-
tigem; sie ist und bleibt eine brutale Gewalttat des Korsen, der sich in seinem
maßlosen Ehrgeiz nicht scheute, jeden Rechtsbegriff eines gebildeten Volks dreist
zu verhöhnen. Daß diese Untat überhaupt geschehn konnte, zeigt so recht die
namenlose Schwäche und Ohnmacht der deutschen Regierungen vor hundert
Jahren, denn der Schrei des Entsetzens, von dem ganz Europa widerhallte,
fand in Deutschland kein Echo, wie es damals so oft geschehn ist.
Louis Antoine Henri von Bourbon-Conde wurde am 2. August 1772 in
dem Schlosse Chantilly geboren als einziger Sohn seines Vaters Louis Henri
Joseph von Bourbon-Conde und seiner Mutter Louise Marie Therese Bathilde
von Orleans. Den Namen Herzog von Enghien führte nach der Überlieferung
immer der älteste Sohn des Herzogs von Conde. Enghien ist ursprünglich eine
Besitzung der Condes in Belgien. Mit der gesamten bourbonischen Familie
wurde der junge Herzog 1789 durch die revolutionäre Bewegung für einen
Fremdling erklärt, aus Frankreich vertrieben und für immer verbannt. Die zeit¬
genössischen Darstellungen rühmen neben seiner jugendlichen Schönheit seine
ritterliche Tapferkeit und sein edles Herz. Es erscheint deshalb wohl begreiflich,
daß die Familie auf ihn und seine entschlossene Tätigkeit die größten Hoffnungen
setzte, die er bei einem langem Leben vielleicht auch erfüllt haben würde; sagte
doch die Königin Karoline bei der Nachricht von seinem Tode: Welches Unglück!
Er war der einzige Mann von Herz in der Familie! Im Jahre 1792 trat er,
um die seinem Hause entrissenen Rechte wiederzuerlangen, in das von seinem
Großvater Louis Joseph von Bourbon-Conde befehligte Emigrantenkorps ein
und führte mit Umsicht, Erfolg und persönlicher Tapferkeit die Avantgarde im
Kampfe gegen die Revolution in den Jahren 1796 bis 1799. Als nach dem
Frieden vou Luneville 1801 das Korps in Untersteiermark aufgelöst wurde,
trennte er sich von seinem Großvater, der sich nach England zu seinem Sohne
begeben wollte. Er geleitete den greisen Fürsten bis nach Wien, reiste dann
nach Graz und richtete von hier aus an den durch die Halsbandgeschichte be¬
kannten Bischof von Straßburg, den Kardinal Rohan - Guemene'e, ein Gesuch,
worin er um die Erlaubnis bat, in dem (später badischen) Städtchen Etten-
heim wohnen zu dürfen. Dieser Ort gehörte zum Straßburger Sprengel und
war vom Juli 1790 bis 1803 die Residenz des letzten Straßburger Fürstbischofs
aus dem Hause Rohan. Der Herzog scheint Ettenheim gewählt zu haben
einmal wegen der Nähe der französischen Grenze, damit er bei einem plötzlichen
Umsturz der politischen Verhältnisse schnell in Paris sein könnte, vor allem aber
trieb ihn eine mächtige Leidenschaft dorthin, die er für seine dort zum Besuche
weilende Base gefaßt hatte. Diese Dame war die Prinzessin Charlotte Frcmyoise
Dorothee von Rohan-Nochefort, deren Bruder, Prinz Charles Louis, an des
Kardinals Großnichte verheiratet war. Der Kardinal Rohan erlaubte dem
Herzog von Enghien die Niederlassung in Ettenheim und räumte ihm dort das
ehemals Jchtratzheimsche Schlößchen ein. Im Jahre 1802 wurde mit dem
rechtsrheinischen Besitze des Straßburger Bistums auch Ettenheim badisch, und
1803 starb der Kardinal. Enghien hatte nun Sorge um seinen weitern Auf¬
enthalt in Ettenheim und fragte deshalb bei der Regierung des badischen Kur¬
staats an. Er erhielt jedoch von Karl Friedrich nicht nur beruhigende Zu-
Sicherungen, sondern auch die ihm sehr willkommne Jagdgerechtigkeit. Übrigens
war die französische Negierung von dem Aufenthalt des Herzogs in Ettenheim
unterrichtet und hatte dagegen nichts eingewandt.
Enghien glaubte nun, in Ettenheim unter dem Schutze des Völkerrechts
ohne jede Besorgnis leben zu können, da das badische Land neutral war und
mit Frankreich die besten Beziehungen unterhielt. Seinen Unterhalt bestritt er
seit August 1802 meist aus einer englischen Monatspension von 150 Guineen,
die ihm bei seinem stillen, zurückgezognen und häufig den Freuden der Jagd
gewidmeten Leben auch die Unterstützung armer Emigranten ermöglichte, die
sich öfter bei ihm einfanden.
Damals waren die royalistischen Flüchtlinge, die sich zahlreich im west¬
lichen und im südlichen Deutschland aufhielten, bestrebt, sich zu einer Organisation
gegen den Bonapartismus zusammenzuschließen. Von England aus wurden
diese Bestrebungen natürlich lebhaft unterstützt. Auch in Frankreich selbst regte
sich der royalistische Gedanke wieder stärker. Enghien kannte alle diese poli¬
tischen Verhältnisse, hielt sich aber vorsichtig zurück. Noch am 26. Februar 1804
schrieb er an seinen Vater nach England: Ich will und wünsche nicht, etwas
davon zu wissen; diese Mittel sind nicht nach meinem Geschmack. (Oboss, gue
us poux ol As ä6siro, e»r oss rio^eins Q6 food xg,s 6s mon xsurs.)*)
Mehrere von ihm unternommene Reisen, z. B. eine Schweizerreise 1802, hatten
jedoch die Aufmerksamkeit Talleyrands, des französischen Ministers des Äußern,
erregt. Er schrieb über diese angeblich geheimnisvollen Entfernungen an den
Ersten Konsul. — So war das Jahr 1804 herangekommen. Damals wurde
Bonaparte durch die bekunde Verschwörung Georges Cadoudals, des ehemaligen
Führers der Choucas, und der Generale Pichegru und Moreciu schwer bedroht.
Durch seine Londoner Agenten rechtzeitig gewarnt, konnte Napoleon seine Gegen¬
maßregeln treffen und die Verschwörer fassen. Die gefangnen Genossen hatten
bei der Untersuchung ausgesagt, die königlichen Prinzen hätten um den Anschlag
gewußt und erklärt, bei der Ausführung gegenwärtig sein zu wollen. Damit
war der Graf von Artois gemeint, der in der Tat sein Erscheinen in Frank¬
reich in Aussicht gestellt hatte. Zugleich tauchten in Paris allerhand Nach¬
richten über politische Umtriebe und Wühlereien englisch-bourbonischer Unter¬
händler in Süddeutschland auf. Tatsächlich waren dort englische und royalistische
Agenten tätig. Aber auch französische Spione entfalteten dort eine rege Tätig¬
keit und setzten vielfach in dem Bestreben, ihre Dienste um so wertvoller er¬
scheinen zu lassen, lügenhafte Berichte in die Welt. Man war deshalb in Paris
damals sehr nervös und mißtrauisch und witterte überall Verschwörungen. Eine
dieser französischen Tatarennachrichten brachte nun auch den Herzog von Enghien
mit den politischen Quertreibereien in Verbindung und stellte ihn als den ent¬
schlossensten und tätigsten der bourbonischen Prinzen dar. Napoleon, ohnehin
von dem glühendsten Hasse gegen das gesamte Hans Bourbon erfüllt, schloß
daraus, daß der Herzog dem Komplotte nicht fernstehe. Er befragte darum den
Straßburger Prcifekten Shce und entsandte überdies einen Spezialkommifsar,
den Gendarmenkorporal Lamothc, von Straßburg nach der badischen Ortenau,
um nähere Nachrichten zu erlangen. Der Kundschafter berichtete unmittelbar an
Napoleon, der nun den Tod Enghiens beschloß, da ihm der Graf von Artois
nicht erreichbar war.
Der Erste Konsul wollte mit einem blutigen Beispiele jeden davon ab¬
schrecken, Hoffnungen auf den Thron Frankreichs zu nähren, unbekümmert um
das Urteil der Welt. Er sagte damals in einer Unterredung dem Staatsrat
Real, auf den Bericht des Spezialkommissars deutend: v'est xar lui et xar Is
prstet Zs LtrasbourA, hus je visr>8 as savoir tont os Hui eonosins 1s cluo
«l'LnANien, inNS osla us Zursrg. pÄ8: ^j'al Äcmnü l'orärs <is 1'snlsvsr avso
tems 8hö pavisr8: ssei pgs86 ig, pig.i8Äntsris; it 8srgit og,r trop ^b8o.reif c^u'on
v!ut ä'lZttsn.nsi«r orZg-nissr un g.883.88og.t sontrs moi se c^us 1'on 8S ernt su
3Ürstö, xg.roh am'on sse Zur uns tsrrs vtrgvgöre. °") Am Nachmittag des
10. Mürz hatte eine Staatsratssitzung stattgefunden, an der die drei Konsuln,
der Minister Talleyrand, der Großrichtcr und Fouche teilgenommn hatten. Nur
Cambaceres war gegen Gewaltmaßregeln gewesen. So war die Aufhebung be¬
schlossen worden.
Enghien war allerdings nicht ungewarnt. Freunde hatten ihm geraten, im
Hinblick auf Bonapartes Rachsucht nicht in dem von Frankreich abhängigen
badischen Kurstaate zu bleiben. Der Herzog erwog auch eine Übersiedlung nach
Freiburg, das im Besitze des österreichischen Erzherzogs Ferdinand war. Er
ließ sich sogar dort eine Wohnung suchen. Aber es eilte ihm mit dem Wechsel
des Wohnorts nicht. Das eben war sein Verderben. Lamothe hatte gemeldet,
der Herzog sei noch in Ettenheim, und bei ihm befinde sich der General Du-
mouriez. Gerade den aber suchte Napoleon. Diese Meldung war jedoch in¬
sofern irrig, als nicht Dumouriez, sondern der ganz ungefährliche Marquis
de Thumery, ein früher Condescher Oberstleutnant, bei Enghien weilte. Die
Ähnlichkeit der Namen hatte diese Verwechslung herbeigeführt. Napoleon wurde
in seinen Entschließungen bestärkt durch die Zustimmung Talleyrands, der erklärt
hatte, man solle nicht vor einer Verletzung der Neutralität zurückschrecken, sonst
würden die Schuldigen entrinnen; auch solle die badische Regierung von der
Aufhebung erst dann benachrichtigt werden, wenn alles vorbei sei.
Mit der Aufhebung wurden der General der reitenden Gendarmerie der
Konsulargarde, Ordener, und Ccmlaincourt, Generaladjutant des Ersten Konsuls,
betraut. Beide reisten nach Straßburg, wo Ordener in der Nacht vom 12. auf
den 13. März eintraf, während Caulaincourt erst vierundzwauzig Stunden später
erschien. In zwei Kolonnen wurde am Abend des 14. März der Rhein zugleich
an verschiednen Stellen überschritten. Die dreiste Verhöhnung des Völkerrechts
hatte damit begonnen. Caulaincourt ging mit dreihundert Mann Infanterie,
ebensoviel Dragonern und einer Kompagnie Artillerie mit vier Geschützen bei
Kehl, das besetzt wurde, über den Rhein, Ordener mit dreihundert Mann vom
22. Dragonerregiment Schlettstadt, hundert Jnfanteristen und zwei Geschützen bei
Rheinau. Beide Kolonnen hatten zahlreiche Gendarmerie bei sich. Die Ver¬
bindung wurde durch Patrouillen aufrecht erhalten. Bei Ordener befand sich noch
der General Fririon, bei Caulaincourt der General Leval. Alles schien der Auh-
führung des Verbrechens günstig zu sein. Zugleich mit Enghien sollten auch die
Baronin Reich von Platz und andre, angeblich royalistische Verschwörer oder
Agenten des Londoner Kabinetts in Offenburg aufgehoben werden. Diese Auf¬
gabe sollte Caulaincourt lösen. Der Gendnrmenkorporal Pferdsdorf, ein ge¬
wandter Mensch, hatte den Befehl erhalten, in einer Verkleidung nach Etten-
heim zu gehn und sich dort über die Lage der herzoglichen Wohnung, die
Bewachung des Schlosses, die Zahl der Diener und die Möglichkeit eines
Widerstands durch den Herzog oder die Bürgerschaft unterrichten.
Enghien hatte von dem gegen ihn beabsichtigten Anschlage Nachricht be¬
kommen. Schon am 12. März war er gewarnt worden, legte aber, da alles
ruhig war, keinen sonderlichen Wert auf die Warnung. Am 13. März wieder¬
holte sie sich, und nun sah er sich doch veranlaßt, den Baron von Schwcngs-
feld-Grünstein, einen frühern Condeschen Obersten, der bei ihm in Ettenheim
war, zur Nachforschung zu entsenden. Grünstein kehrte jedoch ohne Erfolg
zurück. Der dem Herzog treu ergebne Kammerdiener Joseph Canone sollte das
Haus in der Nacht bewachen und durch die Straßen patrouillieren, während
Grünstein in einem neben dem Schlafzimmer des Herzogs liegenden Raume
schlafen sollte. Am 14. März, in der Morgenfrühe, sah Canone zwei verdäch¬
tige Gestalten das Haus umschleichen. Es waren französische Spione, Pferds¬
dorf und ein gewisser Stahl, früher französischer Quartiermeister. Erkundigungen
ergaben, daß die Fremden mit gemieteten Pferden in der Richtung nach Stra߬
burg abgefahren waren. Die Bitte Canones, ihm zu erlauben, den Fremden
nachzusetzen, lehnte der Herzog ab, schickte aber Grünstein und einen gewissen
Leutnant Schmidt, der gleichfalls früher in Condeschen Diensten gestanden hatte,
auf Erkundigung aus. An demselben Tage lag er der Jagd im Rheinheimer
Walde ob. Dort erhielt er vom elsüssischen Ufer, aus Rheinau, vom Notar
Rösch die dritte Warnung. Sofort brach er die Jagd ab und kehrte nach
Ettenheim zurück. Da er aber alles in gewohnter Ordnung fand, beschloß er
in unbegreiflichen Leichtsinn, noch die Nacht dort zuzubringen und sich am
nächsten Tage in Sicherheit zu begeben. Nur sollten sich Grünstein und Schmidt,
mit Waffen und Munition versehen, im Nebenzimmer für den Notfall bereit
halten. Beide Herren waren unterdessen zurückgekehrt, konnten jedoch nichts von
Bedeutung berichten.
Während sich Caulaincourt nach Offenburg begab, marschierte Ordener
in aller Stille eilig nach Ettenheim. Tief in der Nacht des 15. März kam er
dort an und ließ unter Pferdsdorfs Führung alle Ausgünge des Ortes be¬
setzen. Im Schlößchen war alles still und dunkel. Der Herzog lag, von der
anstrengenden Jagd ermüdet, in ruhigem Schlafe. Es war fünf Uhr Morgens,
da erwacht er infolge eines Geräusches. Er ruft dem kurz vorher erst ein-
geschlafnen Diener Canone zu: Schnell, nimm dein Gewehr! Sie sind an
meiner Tür! Rasch erhebt er sich, reißt das Fenster auf und macht sich mit
Canone zum Feuern fertig. Wer kommandiert hier? lautet seine Frage. Der
kommandierende Offizier, Rittmeister Charlot von der 33. Brigade, ein ehemaliger
Perückenmacher, antwortet: Wir haben darüber keine Rechenschaft zu geben!
Nun will Enghien feuern, aber die Waffe wird ihm von Grünstein, der iu-
zwischen ins Zimmer geeilt war, entwunden. Grünstein, von dem überfalle
erschreckt, weist ihn auf die Zwecklosigkeit und Gefährlichkeit des Widerstandes
hin: es seien französische Truppen; sie seien schon über die Mauer gedrungen,
und der Hof sei besetzt. Da rät Canone, der Herzog solle sich durch ein rück¬
wärts gelegnes Fenster retten, aus dem sich schon zwei Diener geflüchtet hatten.
Enghien lehnte jedoch ritterlichen Mutes den Vorschlag ab. Ein bewaffneter
Widerstand schien ihm nicht ohne Aussicht zu sein, da sich sieben bewaffnete
Männer bei ihm befanden, die sechzig Schüsse abgeben konnten, und da die
französischen Gendarmen und Dragoner noch nicht zahlreich waren. Es waren
in der Tat erst etwa dreißig Mann eingetroffen. Der Lärm des Kampfes
hätte überdies die Einwohner Ettenheims rasch alarmiert. Entschlossen, Freiheit
und Leben teuer zu verkaufen, springt Enghien wieder zum Fenster und ergreift
das Gewehr, um zu schießen. Aber wieder wird er von seiner zaghaften Um¬
gebung daran gehindert. Es hatten sich inzwischen noch mehrere im Schlößchen
weilende Emigranten bei ihm eingefunden. Da dröhnen schwere Tritte auf
den Treppen, die Franzosen schlagen die Tür ein und dringen mit gespannten
Pistolen und blanken Säbeln in den Fäusten ins Gemach. Charlot schreit:
Wer ist der Herzog? Nach der kurz zuvor hastig getroffnen Abmachung sollte
Grünstein sich für ihn ausgeben. Aber er bleibt in der Erregung und Ver¬
wirrung stumm, ohne sich der Verabredung zu erinnern. Da Charlot nochmals
fragt, antwortet Enghien: Wenn Ihr kommt, ihn zu verhaften, so habt Ihr
ohne Zweifel sein Signalement. Sucht ihn! Charlot, der in dem Sprecher
nur einen Angestellten des Herzogs zu sehen glaubte, entgegnet grob: Wenn
ich das Signalement hätte, würde ich nicht fragen! und schreit seinen Leuten
zu: Führet die Herrschaften alle heraus aus der Stadt und erwartet mich in
der Mühle! Sofort erfolgte der Aufbruch. Alle Anwesenden — es waren
zehn Personen — wurden fortgeschleppt. Enghien, noch immer unerkannt, fügte
sich der bittern Notwendigkeit. Er war noch im Nachthemde, ohne Strümpfe,
aber in Beinkleidern und Pantoffeln. Kaum wurde ihm erlaubt, einen Mantel
überzuwerfen. Sein treuer Sekretär Jacques schloß sich, obwohl leidend, seinem
verhafteten Herrn aus freien Stücken an. Der Papiere des Herzogs hatte man
sich schon vorher bemächtigt. Vor dem Hause vereinigten sich mit dem Ver¬
haftungskommando andre Abteilungen von Gendarmen und Jnfanteristen. Sie
hatten inzwischen in aller Stille teils die Kirche besetzt, um ein etwaiges Sturm¬
läuten zu verhindern, teils die Häuser, um die Einwohner zurückzuhalten. Der
traurige Zug ging an der Wohnung der Prinzessin Rohan vorbei, die schon
von dem Vorfall benachrichtigt war und vom Fenster aus zusah, ohne helfen
zu können. Bei der sogenannten Belzmühle, außerhalb der Stadt, machte man
Halt, um Enghiens Person festzustellen. Canone wollte versuchen, seinen Herrn
zu retten. Es lagen Bretter über dem Mühlbach. Der Herzog, der sich in
einer zu ebner Erde gelegnen Stube befand, sollte durch eine sonst offne Hinter¬
tür entfliehn. Aber der Müller hatte sich beim Nahen der Franzosen aus dem
Staube gemacht, die Hintertür verschlossen und rasch von außen verrammelt,
um die Verfolgung zu erschweren. Unterdessen war von Charlot auch der
Bürgermeister von Ettenheim herbeigeholt worden. Er sollte auf Befehl die
Namen der verhafteten Personen nennen. Da der brave Mann aber hartnäckig
schwieg, fürchtete Enghien dessen Mißhandlung und gab sich selbst zu erkennen.
Schnell ließ man nun nach dem Wunsche des Herzogs dessen Barschaft, Kleider
und etwas Wäsche ans der Stadt holen. Dann wurde, da sich das ganze
Kommando inzwischen in der Mühle eingefunden hatte, der Marsch angetreten.
Man wollte bei Kappel den Rhein überschreiten. Aus dem Mühlengchöft wurde
ein Vauernwagen requiriert, den der Herzog besteigen mußte. Gendarmen um¬
ringten den Wagen, Infanterie bildete die Spitze, und der Zug setzte sich in
Marsch. Unter den Offizieren Ordeners war auch einer, der Enghien kannte.
Er war einst an der Jsarbrücke bei München im Gefecht von einer Haubitzen¬
kugel schwer verwundet, von den Österreichern gefangen und von Enghien
freundlich aufgenommen worden. Enghien hatte ihn pflegen und den wieder
Transportfähigen den französischen Vorposten übergeben lassen. Die Dank¬
barkeit veranlaßte nun diesen Offizier, der die Infanterie befehligte, durch Zeichen
und Benehmen noch mehr als durch Worte dem Sekretär Jacques die Absicht
kundzutun, Enghien entkommen zu lassen. Drei Schiffe waren für die Tal¬
fahrt nach Rheinau bestimmt: zwei für die Gendarmen, eins für die Infanterie.
Der Herzog müsse, so meinte der Offizier, womöglich auf dieses dritte Schiff
gebracht werden. Das Vorhaben wurde aber durch Ordeners bestimmten Befehl,
daß die Infanterie zuerst eingeschifft werden sollte, durchkreuzt. Der Herzog
blieb bei den Gendarmen, und Ordener ließ ihn wahrend der ganzen Fahrt
nicht aus den Augen. Da an der Landesteile bei Rheinau die bestellten Wagen
nicht zur Stelle waren, ging es zu Fuß bis nach Boofsheim. Von dort ab
fuhr der Herzog zusammen mit Grünstein ans einem Postwagen nnter Neiter-
eskorte nach der Zitadelle von Straßburg, wo man um vier Uhr Nachmittags
anlangte. Da jedoch der Befehl zur Aufnahme des Verhafteten noch nicht ein¬
getroffen war, brachte man ihn in das Haus des Rittmeisters Charlot. Ein
Versuch Enghiens, Charlot zu bewegen, die Flucht zuzulassen, scheiterte. Bald
darauf traf der Befehl zur Einbringung ein, und Enghien wurde samt seinen
Gefährten in die Zitadelle abgeführt. In einen Saal der Kommandantur hatte
man Matratzen schaffen lassen. Ein Doppelposten ging im Saale auf und ab;
ein dritter Posten stand an der Tür; das Vorzimmer war mit Gendarmen
angefüllt. Am Morgen des nächsten Tages erschienen die Generale Ordener und
Fririon bei dem Verhafteten. Fririon benahm sich gegen den Herzog steif und
mit eisiger Kälte, Ordener aber ließ ihn in einen andern Raum bringen, wo er
nicht unmittelbar durch die Anwesenheit der Posten belästigt war. Nur standen
vor seinem Zimmer zwölf Mann unter dem Befehl eines Offiziers. Es wurde
ihm erlaubt, an die Prinzessin Rosen einen Brief zu schreiben, dessen Beförderung
Leval zwar übernahm, aber nicht ausgeführt zu haben scheint. Der Verkehr
mit Schmidt und Jacques wurde ihm erlaubt, Grünstein aber wurde aus irgend
einem Grunde abgesondert. Als der Rittmeister Charlot mit dem Polizei-
kommissar Popp erschien, um die Papiere zu holen, die der Herzog noch bei
sich trug, wünschte der Gefangne zwei Briefe, die spöttische Wendungen über
Bonaparte enthielten, ins Feuer zu werfen, aber Charlot verhinderte das, ob-
schon Popp nicht abgeneigt war, des Herzogs Wunsch zu erfüllen. So verging
der 17. Mürz. Zwei Tage schon weilte der Unglückliche in der Zitadelle, ohne
den Grund seiner Verhaftung zu kennen. Er hatte zwar gegen Frankreich
gekämpft, aber als offner Feind, und seitdem hatte er nichts gegen sein Geburts¬
land unternommen. Seine Papiere konnten keinen Anhaltpunkt für die An¬
nahme einer Verbindung seiner Person mit den Verschwornen bieten. Aber der
ihm wohlbekannte Haß Napoleons gegen die bourbonische Familie nud seine
außerordentlich strenge Bewachung flößten ihm doch lebhafte Besorgnisse ein.
In der Nacht zum 18. März wurde er von Charlot geweckt. Er mußte
sich eiligst ankleiden und hatte kaum Zeit, von seinen Gefährten einen kurzen,
schmerzlichen Abschied zu nehmen. Das Ziel der Fahrt wurde ihm nicht an¬
gegeben. Ans seinen Wunsch, von dem Kammerdiener begleitet zu werden,
wurde ihm bedeutungsvoll gesagt, er bedürfe keines Dieners mehr. Nur die
Mitnahme zweier Hemden wurde ihm erlaubt. Ein geschlossener Postwagen,
mit sechs Pferden bespannt, hielt auf dein Münsterplatz. Enghien mußte ein¬
steigen; neben ihm nahm der Gendarmerieleutnant Petermann, ihm gegenüber
ein Gendarm Platz. Auf dem Bocke saß ein Korporal, auf dem Trittbrettc
des Wagens stand wieder ein Gendarm. Die Reise ging Tag und Nacht mit
größter Eile ohne Unterbrechung von statten. Am 20. März gegen 4^ Uhr
Nachmittags war die Barriere von La Billette, einer der Zugänge nach Paris,
erreicht. Man brachte den Unglücklichen jedoch in das alte Schloß von Vin-
cennes, wo man nach einer halben Stunde anlangte. Dort waren alle Zu¬
gänge schon mit starken Posten besetzt, und auf der nach dem Walde zu
liegenden Esplanade stand eine Abteilung der Asnä^rinsris 6'6Ins. Der Herzog
wurde in ein ärmliches Gemach geführt, erhielt ein karges Mahl und warf
sich, von der ruhelosen Neise ermüdet, auf das schlechte Lager. An dem Tage,
wo man in Paris die Ankunft des Herzogs erwartete, hatte ein Konsular-
beschluß stattgefunden, nach dem er einer Militürkommission überwiesen wurde.
Diese Kommission sollte sich im Schlosse zu Vincennes versammeln. Der Kon-
sularbeschluß enthielt auch die Angabe der dem Herzog zur Last gelegten Ver¬
brechen. Es hieß darin, der Herzog habe sich in englischen Sold begeben und
beziehe noch einen solchen : ferner habe er sich an den von England ausgehenden
Komplotten gegen die innere und die äußere Sicherheit der Republik beteiligt.
Murat, Napoleons Schwager, damals Gouverneur von Paris, hatte die Kom¬
mission ernannt. Den Vorsitz führte Hulin, Brigadegeneral und Kommandant der
Gardegrenadiere zu Fuß, der ehemalige Bastillenstürmer; Mitglieder waren die
Obersten Guitton, Bazancourt, Napier, Barrois und Rcibbe, sämtlich von der
Pariser Garnison. Als Napporteur fungierte der Major in der Elitegendarmerie
Dautaneourt; ihm zur Seite stand als ßi-öMsr der Kapitän Mölln. Alle diese
Offiziere waren natürlich Kreaturen des Ersten Konsuls. Außerdem mußte der
Polizeichef Bonapartes, Savary, der spätere Herzog von Rovigo, der Ver¬
handlung beiwohnen, angeblich, um etwaige Skrupel der Richter auf der Stelle
lösen zu können, tatsächlich aber, um im geeigneten Falle auf die Richter einen
Druck auszuüben. Die ganze Sache war nur eine Farce. Enghiens Tod war
längst beschlossen, obwohl die Papiere des Unglücklichen nicht geeignet waren,
ihn bloßzustellen, und obwohl sich die Meldung Lamothes von der Anwesen-
heit des Generals Dumouriez in Ettenheim als irrig herausgestellt hatte und
Massias, der französische Geschäftsträger am kurbadischen Hofe, für die Harm¬
losigkeit des Herzogs eingetreten war. In einem freilich erst nach Enghiens
Tode geschriebnen Briefe an Talleyrand vom 2. Zörraingl an XII (23. März
1804) schilderte Massias den Herzog als un ro^^ufte xlvin 6« lo^aues,
IiÄi88g.ut humilis ü'en reoevoir une xsnsion, <z«zonorai8^ut pour
xouvoir s'su xasser, vivant, a IZttenbsira avse 1a xlus ^ranäk 8iinxlioit6,
kÄSWt ü, ach in^lneureux clss lArMssss eonlormss Z. Situation, xsu kalt
xour l'intriguö, snnsmi as toute IKonetö, aonorrant 163 as8g.ssins. (Boulay,
a. a. O., ?love8 Mtiliog-tivss, S. 319.)
(Schluß folgt)
ichelangelo ist der Mittelpunkt und der Gipfel der Renaissance. Er
wurzelt noch in der Frühreuciissance, seine besten Mannesjahre
fallen in die glänzendste Medieeerzeit; er selber bildet den Über¬
gang zum Barockstil und leitet diesen mit den Mediceergrübern
ein, deren Genialität von keinem andern erreicht worden ist,
während die Auflösung des Giebeldaches, auf dessen Hülsten Figuren liegen,
bald überall nachgeahmt wurde. Michelangelo wurde an Lebensalter von
seinem Zeitgenossen Tizian noch weit übertroffen, doch umfaßt er mit seinen
neunundachtzig Jahren nicht nur selbst beinahe drei Menschenalter, sondern er
steht an geistiger Tiefe nicht nur weit über dem farbenfreudigen Venezianer,
sondern auch über allen Künstlern und Dichtern seines Zeitalters. Ja was
die Welt der Kunst und der Dichtung anbelangt, so wird es schwer sein, zwischen
Sophokles und Shakespeare eine einzige Person von derselben Hoheit der Seele
und derselben Schöpferkraft des Geistes zu nennen mit Ausnahme Dantes, der
aber doch weit mehr seiner Zeit, dem Mittelalter, gelebt hat und von dem
heutigen Geschlecht mehr vom historischen Standpunkt aus betrachtet wird. Wir
nennen Michelangelo in einem solchen Zusammenhange mit der Kunst und der
Dichtung natürlich nicht, weil wir ihn als Dichter neben Sophokles, Dante und
Shakespeare zu stellen gedächten; nur sein Rang war derselbe, sein Wirkungs¬
feld ein andres.
Sein langes Leben, seine unvergleichlichen Werke, sein Seelenadel, die
Höhe seines philosophischen Geistes, sein Einfluß, der noch heute tief empfunden
wird, haben den Schöpfer des Moses zu einem bevorzugten Gegenstand für
Biographen und Kunstgelehrte gemacht. Hermen Grimm schrieb seinen Michel¬
angelo und gab damit die ganze Geschichte seiner Zeit. Forscher haben sich
»ber alle Einzelheiten seines Lebens hergemacht und wissenschaftlich die objektive
Wahrheit ermittelt. Und glücklicherweise ist uns an Briefen, Schriftstücken und
Gedichten von dem großen Meister, an Dokumenten und zeitgenössischen Ur¬
teilen über ihn so viel erhalten geblieben, daß die Kunstgelehrten ihre Phantasie
an die Leine legen und sich, statt auf kühne Kombinationen auszugehn, mit dem
Tatsächlichen begnügen müssen. So weit das Material reicht, sind wir nun über
Michelangelos Erdenwallen eben so kritisch belehrt wie über das Goethes.
Thode hat die Forschungen alter und neuer Zeit zu einem großartigen
Gesamtbilde vereinigt. Er hat nach einer Seite mehr, nach einer andern weniger
getan als tzerman Grimm. Der große Rahmen der Gesamtkultur der Re¬
naissance fehlt, mit Ausnahme einer ausgezeichneten Skizze der literarischen
Entwicklung Italiens von Petrarca und Boccaccio bis Michelangelo. Der große
Künstler selber wird dafür um so eingehender, gründlicher, und wir dürfen wohl
sagen, psychisch erhebender geschildert. Neben ihm kommen nur noch zwei
Personen zu einer umfassenden und vertieften Darstellung: Savonarola, den
Thode als den für Michelangelo maßgebenden religiös-sittlichen Genius ansieht,
und Vittoria Colonna, die ihm durch eine innige, herrliche Freundschaft ver¬
bunden war. Der erste Band zeigt uns den Menschen Michelangelo, der zweite
den Dichter und Philosophen, der dritte wird dem Künstler gelten.
Der erste Band ergreift vor allem durch die Fülle von eignen Äußerungen
Michelangelos, die uns durch seine Briefe, seine Gedichte oder durch glaub¬
würdige Zeitgenossen übermittelt worden sind. Wahrhaft packend ist die hohe
Seele, aus der die Flut prachtvoller, edler Gedanken hervorbricht. Niemals
wird man einer Spur von Falschheit. Tücke oder Niedrigkeit begegnen. Michel¬
angelo hatte ein cholerisches Temperament. Die Wogen der Leidenschaft durch¬
bebten seine Seele. Nicht sauft wiegte ihn das Schicksal durch sein Leben.
Er empfand die Qualen der unerwiderten Liebe, er hatte zu kämpfen mit Neidern
und Feinden. Am schlimmsten war ihm, daß er die großen Werke, die in
seinem Haupte vollkommen durchgereift waren, wegen äußerer Hindernisse nicht
schaffen konnte, vor allem das große Glanzwerk aller Bildhauerkunst, das Julius¬
denkmal, von dem außer einigen kleinern Bestandteilen nur der Moses fertig
geworden ist: genug, daß es uns einen erschütternden Begriff von der schmerz-
und zornerfüllten Seele des titanischen Meisters geben kann. Michelangelo
konnte sogar ungerecht anklagen, so die Nachfolger des Papstes Julius des
Zweiten, daß sie ihn an der Vollendung des Denkmals hätten hindern wollen
und ihn deshalb mit Plänen zu einer neuen Fassade für die Kirche San
Lorenzo in Florenz und mit dem Jüngsten Gericht hingehalten hätten. Aber
so leidenschaftlich sein Herz schlug, niemals wird man einer von niedriger Ge¬
sinnung eingegebnen Äußerung begegnen. So wächst unter der Fülle des be¬
zeugenden Materials die seelische Riesengröße Michelangelos vor unsern Blicken
empor: er selber ein Moses, der im Zorn über das kleine Geschlecht seiner
Umgebung die Gesetzestafeln zerschmettern möchte, ein solcher Moses, wie er
nur aus Michelangelos Hand hervorgehn konnte, und wie er jetzt in ergreifender
Leidenschaft über die Besucher von San Pietro in Vincoli hinwegschaut. Wer
ist der Mensch, der nicht vor diesem sittlichen Titanen seine Kleinheit em¬
pfunden hätte!
In ergreifenden Worten zieht Thode das Ergebnis aus seiner psychologischen
Darstellung: „In Treue und Langmut, Milde und Gerechtigkeit. Barmherzigkeit
und Demut betätigt sich die Güte des Herzens, in schwärmerischer Hingebung
und begeisterten Freundschaftsempfindungen beschwingt die Phantasie das Gefühl,
in Hoffnung, Geduld und Glauben bewährt sich der feurige Mut. Mit allen
hohen, zu gewaltigster Art gesteigerten Eigenschaften tritt der erhabne Mann,
vom Drange nach künstlerischem Schaffen getrieben, der Welt gegenüber — und
Menschen und Schicksal widersetzen sich der freien seelischen und künstlerischen
Äußerung seiner Natur. Das Mißverhältnis, das durch seine Leidenschaft, der
Neid und Haß, die durch seine Größe hervorgerufen werden und in demselben
Grade zunehmen, wie die Kraft seines Genies wächst, »wehren« seinem Streben,
das, unpersönlich, nur auf das Gemeinsame, Ideelle gerichtet ist, »die Pfade«.
Verkannt und angefeindet sieht sich die zartbesaitete, wehrlose Natur genötigt,
auf die eigne Verteidigung und Rettung bedacht zu sein. Das tiefe Bewußt¬
sein von ihrer Lauterkeit, ihrer ethischen Bedeutung und der Würde ihrer künst¬
lerischen Aufgabe zeigt sich im Widerstand gegen die Lieblosigkeit als Stolz,
der in gewissenhafter Pflichterfüllung das Recht der individuellen Freiheit wie
die Ehre des Mannes und der Familie findet und Freiheit wie Ehre gegen
jede unberechtigte Zumutung schützt. Drohenden Angriffen aber, die mit gleichen
Waffen feindseliger Willkür zurückzuschlagen der Edelmut des Charakters un¬
fähig ist, lernt, durch harte Erfahrungen von Jugend an beängstigt, die Leiden¬
schaft durch heftige Ausbrüche, die Phantasie durch Argwohn zuvorzukommen."
In begeisterten Worten strömt Thodes Schilderung dahin. Um so be¬
fremdender ist es, daß er seinen Helden einer psychologischen Sezierung unterwirft
und in seine einzelnen Charaktereigenschaften zerlegt, als da sind Liebe, Stolz,
Wahrhaftigkeit, Lauterkeit, Ehrgefühl, Schwärmerei, Argwohn usw. Die Seele
des Menschen, wenn man es nicht gerade mit den physiologischen Raritäten
zu tun hat, die ein alternierendes Bewußtsein haben, wirkt immer als eine Einheit,
wenn sie auch viele Eigenschaften hat. Man kann aus einem geschliffnen
Diamanten nicht die einzelnen Facetten herauslösen. Aber Thode ist ein An¬
hänger Schopenhauers und wird dadurch verleitet, auf die Welt Michelangelos
die ihr so ganz fremden Begriffe der Schopenhauerschen Ethik anzuwenden.
Ja obwohl er fast vollständig vermeidet, andre künstlerische oder dichterische
Genies, soweit sie nicht mit Michelangelo in unmittelbare Berührung kommen,
auch nur in Vergleichen zu streifen, zieht er Richard Wagner mehrmals herein,
und zwar mit Versen aus den Musikdramen, in denen sich „Schopenhauerismus"
verkörpern soll. Es wird kaum zwei Künstler geben, die weniger miteinander
zu tun hätten als Michelangelo und Wagner. Nun muß man aber weiter
sagen, daß diese Dissonanz eigentlich nur in der Gliederung des Stoffes und
in der Auswahl der Kapitelsprüche hervortritt, niemals in dem eigentlichen
Inhalt. Das versöhnt einen rasch wieder. Man könnte mit ganz geringer
Mühe die ganze Schopenhauerei ausmerzen: ein Beweis, wie lose und äußerlich
sie mit dein Gegenstande verbunden ist.
Wer in den großen Genius wahrhaft tief eindringen will, dem raten wir
ernstlich, sich nicht durch die an die Phrenologie erinnernde Teilung der Seele
in ihre Eigenschaften, wie sie in den Kapitelüberschriften ausgedrückt sind, ab-
schrecken zu lassen. Er wird als Kern der Frucht Michelangelo selbst finden,
in der Fülle sorgfältig ausgewählter, schlagender und von einem kundigen Führer
beleuchteter Aussprüche.
Der Schluß des ersten Bandes wird durch hundertvierzig Seiten Annalen
gebildet, die in aller Kürze wohl alle Daten enthalten, die wir mit Bezug auf
das Leben Michelangelos haben.
Der zweite Band widmet sich der Erkenntnis der Michelangelo beherr¬
schenden Zeitideen und dem Zusammenhange seines geistigen Lebens init der
allgemeinen Kultur der Renaissance. Die Beurteilung der großen Werke des
Meisters ist dem noch nicht erschienenen dritten Bande vorbehalten. Im zweiten
gilt die Einleitung einer sehr gut geschriebnen aber doch nicht wesentlich neuen
Schilderung der Renaissance. Thode verführt in der Datierung dieses wichtigen
Abschnitts der Menschengeschichte anders, als es früher üblich war. Man
pflegte die Kunst des Mittelalters von der der Renaissance dort zu scheiden, wo
die antiken Formen in der Architektur, der Ornamentik und in der Darstellung
des menschlichen Körpers zuerst wieder erscheinen. Brunelleschis Domkuppel
und Ghibertis Baptisteriumtüren, beide ins erste Viertel des fünfzehnten Jahr¬
hunderts fallend, sind oft als Ausgangspunkt der neuen Zeit gewählt worden.
Thode hat in seinem vortrefflichen Buche über den heiligen Franz von Assise
und den Einfluß der Bettelmönchorden auf die Kunst erfolgreich verfochten, daß
der Beginn der Renaissance viel früher angesetzt werden müsse. Ihm erscheint
als Wendepunkt das Leben des genannten Heiligen (1182 bis 1226). Aber
wie aller Same auch einmal Frucht gewesen ist, so ist auch die stark pietistische,
auf Werkheiligkeit ausgehende Lehre des Franz von Assise auf ältere Er¬
scheinungen zurückzuführen. In Südfrankreich, woher des Franziskus Mutter
stammte, blühte stark das Waldensertum, das die Franziskanerlehre so sehr be¬
einflußt hat. Vor allem aber war der Einfluß der Kreuzzüge, die Wieder¬
berührung des Occidents mit dem Orient, das Herüberfliegen geistigen Samens
aus Konstantinopel und andern Griechenstädten in vollem Gange. Jeder
Einschnitt, den der Geschichtschreiber in die Zeit macht, ist mehr oder weniger
willkürlich. Doch erkennen wir gern mit Thode an, daß um diese Zeit eine
neue geistige Bewegung wie ein Flugfeuer über das Land ging. In unglaublich
kurzer Zeit nach der Stiftung des Franziskaner- (und der fast in dieselbe Zeit
fallenden des Dominikaner-) Ordens waren die predigenden Bettelmönche über
das ganze Gebiet der römischen Kirche verbreitet. Überall wußten sie die
Menschheit zur Zerknirschung zu bringen. Überall wurden an Stelle der ein¬
fachen Meß- und Zeremonienkirchen weite Hallenkirchen gebaut, damit sie die
Menge der Gläubigen fassen könnten. Die Gotik geht mit den Bettelorden
durch Frankreich, Deutschland und England. In Italien ist der Zusammenhang
zwischen der wiederauflebenden Kunst und dem Franziskanertum so eng wie nur
denkbar. Giottos Kunst, die Wiedereroberung der dramatischen Malerei, ist aufs
innigste mit dem Leben des Franziskus verbunden; in Assise selbst entstehn die
ersten großen Werke dieser Art. Giotto lebte von 1266 bis 1337, sein größerer
Zeitgenosse Dante von 1265 bis 1321. Die bildende Kunst hat von Giotto
an eine fast ununterbrochne Entwicklung, bis sie mit dem Tode Michelangelos
1564 im wesentlichen ihren Abschluß, ihr Ende erreicht.
Die Dichtung, die Philosophie und die Gelehrsamkeit nahmen einen andern
Gang. Dantes Hohe haben sogar seine beiden großen Nachfolger Petrarca
und Boccaccio nicht wieder erreicht. Nach ihnen aber erlangte die lateinische
Sprache in der Dichtung wieder das Übergewicht und erstickte damit deren
Lebensodem. Die mittelalterliche Philosophie und die scholastische Wissenschaft
erreichten in Thomas von Aquino und Antonius von Padua ihren Höhepunkt,
wenigstens für Italien. So große Namen findet man in den folgenden Jahr¬
hunderten nicht wieder. Vor allem zeigten sich keine Ansätze zu geistiger Freiheit
auf dem religiösen Gebiet. Die überlieferten Legenden galten als Tatsachen,
die Ansichten der Kirchenväter als unbedingte Autorität auf kirchliche»,, die des
Aristoteles auf philosophischem und die des Plinius auf naturwissenschaftlichem
Gebiet. Während im Norden Wiclif und Huf eine Brücke zur Reformation
hinüberspannten, während die Buchdruckerkunst für die große Umwälzung der
Geister das technische Hilfsmittel lieferte, leuchtete in Italien nur am Himmel
der bildenden Kunst ein prachtvoller Sonnenschein. In Naturwissenschaft,
Philosophie und Religion war es dunkle Nacht. Politisch litt das arme Land
unsäglich unter der Zersplitterung, unter den unaufhörlichen Kriegen und Bürger¬
kriegen, sowie unter dem Eindringen fremder Truppen. In sittlicher Beziehung
nahm der Klerus einen traurigen Tiefstand ein, die Laienschaft war einem
solchen Klerus entsprechend. Die Päpste hatten von 1378 bis 1415 in Avignon
residiert, und als sie zurückkehrten, besserte sich noch wenig. Konnte doch um
das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein so skrupelloser Verbrecher wie
Alexander der Sechste deu Stuhl Petri einnehmen!
Erst im letzten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts kehrte die Dichtung
wieder zur italienischen Sprache zurück. Das war das Verdienst Lorenzo ti
Medicis, der selbst artige Sonette und Madrigalen zu dichten verstand. Er
und seine Freunde belebten auch das Studium der Philosophie von neuem.
Die bedeutendste Wirkung zeigte sich wohl bei Michelangelo. Der Mücen
hatte den Jüngling, bei dem wir auch in so frühen Jahren einen hellen Ver¬
stand, einen starken seelischen Schwung voraussetzen dürfen, an sich gezogen
und in die philosophischen Studien eingeführt. Das tritt in vielen Versen des
Künstlers hervor. Philosophie, später auch religiöse Betrachtungen und die
Liebe sind der Hauptinhalt der zahlreichen Dichtungen. Auch die Liebe! Wir
wissen wenig von den weiblichen Wesen, die es verstanden, einen Michelangelo
einzuziehn (Vittoria Colonna gehört in diesem Sinne nicht zu ihnen), aber die
Gedichte bekunden, daß seine Leidenschaft stark war. Ob sie erwidert wurde
oder nicht, und ob sie gar nur unerwidert blieb, weil in der Knabenzeit ein
Faustschlag sein Antlitz für immer entstellt hatte, bleibt der Vermutung über¬
lasten. Dem Thodischen Buch verdanken wir nicht nur eine vortreffliche Neu¬
übersetzung vieler Dichtungen, sondern auch eine kundige Erläuterung, von der
wir freilich den Teil, der sich auf die Einordnung in Schopenhauersche philo¬
sophische Schulbegriffe bezieht, ohne Bedauern vermissen würden. Als Dichter
kann Michelangelo ohnehin nur deshalb unser Interesse erwecken, weil er
zugleich der große Künstler ist. Dem Dichter standen zu sehr die herrschende
Zwangsform des Sonetts und der ganze vernünftelnde Ton der damaligen
Poesie entgegen, den wir, auf dem Boden unsrer freien und vielgestaltigen Lyrik
und Epik stehend, durchaus nicht mögen.
Weit schwerer im einzelnen zu verfolgen aber aller Wahrscheinlichkeit nach
von weit tieferen Einfluß als die am Ende doch nur notdürftig galvanisierte
platonische Philosophie ist das Auftreten des Kirchenreformators Scwoncirola,
des bekannten Vorläufers Martin Luthers. Er hat eine tiefe religiöse, ethische
Glut im Herzen des dafür sicherlich so sehr empfänglichen Jünglings entfacht.
Auch hier war Lorenzo ti Medici der Vermittler. Vielleicht ist sein früher
Tod in keiner Richtung mehr zu beklagen, als daß durch ihn der Kirchen-
reformcr seinen Halt verlor und in eine eigne politische Laufbahn gedrängt
worden ist, die, einem Jkarusfluge vergleichbar, ihn zu einem jähen Sturze
führen mußte. Savonarola lebte als Dominikanermönch in Bologna, als
Lorenzo ihn, den Siebenunddreißigjährigeu, 1489 nach Florenz berief. Die
moralische Verkommenheit des Klerus hatte einen unglaublichen Grad erreicht,
der sich am besten dadurch kennzeichnet, daß ein Alexander Borgia wenig Jahre
später Papst werden und einen seiner Söhne, den an Verruchtheit den Vater
noch übertreffenden Cesare Borgia, zum Gonfaloniere der Kirche machen konnte.
Wäre der Laienstand sittlicher gewesen, so hätte er eine solche Kirche nicht er¬
tragen. Wir wissen aber anch aus vielen Zeugnissen, daß zügellose Begierden
das ganze Leben der Zeit beherrschten, und daß Verbrechen zu ihrer Befriedigung
für nichts erachtet wurden. Die Zerknirschung, die zweihundert Jahre früher
die Vcttelmönche hervorgebracht hatten, war verflogen, wenigstens im Süden;
die Orden selbst hatten sich einem skrupelloser Wohlleben ergeben, das religiöse
Leben des italienischen Volkes ging wenig tief, es ging in dürftigsten Zeremonien¬
kram und in der bildenden Kunst auf, die in einem unbeschreiblich glanzvollen
Gegensatz zu allem übrigen stand. In diese faulen Zustünde hinein schmetterten
die Predigten Savonarvlas wie die Posaune des Weltgerichts. Er predigte
Buße und Umkehr; eine Reinigung der Kirche wollte er nicht im Sinne eines
Abfalls vom Papste, wie bald darauf die deutschen Reformatoren; dazu stand
ihm als Dominikaner der Sinn nicht. Im Gegenteil, stark abweichend von
Luther suchte er in der mönchischen Askese das Mittel, die päpstliche Kirche an
Haupt und Gliedern zu reformieren. Seine Predigten schlugen durch, in dem
geistig regen Florenz noch weit mehr als in dem gemächlichern Bologna. Das
Volk strömte in seine Kirche und wurde von ihm elektrisiert. Es gereicht
Lorenzo zum höchsten Ruhme, daß er in die Reformbewegung Savonarvlas
eintrat und diesen zu seinem persönlichen Umgang heranzog. Michelangelo
war bei der Berufung Savonarvlas erst vierzehn Jahre alt; als er siebzehn
Jahre alt geworden war, starb Lorenzo (1492); in diesen drei Jahren haben
Savonarola und Michelangelo zu Lorcnzos Kreise gehört. Es ist nicht denkbar,
daß der gereifte Mann, der alle Herzen erschütterte, die empfängliche Seele des
Jünglings ohne den tiefsten Einfluß gelassen hätte. Der Tod des klugen
Staatsmannes war für den Reformator ein Verhängnis. Mit seinen Söhnen
Lorenzo und Giuliano entzweite sich bald das florentinische Volk. Savonarola
übernahm immer mehr die politische Führung der Republik, da er die Volks¬
massen mit der Macht seiner Rede beherrschte. Die Verfassung von Florenz
sollte zugleich republikanisch und theokratisch sein; ein durch seinen Lebenswandel
vorbildlicher Klerus sollte bedeutenden Einfluß auf die Regierung haben. Einige
der größten Künstler standen dabei auf der Seite Savonarolas, so Sandro
Botticelli und Fra Bartolommeo, der mit ihm im Kloster San Marco lebte.
Auch Michelangelo, der der Partei der 1494 Vertriebnen beiden Mediä feindlich
gegenüberstand, hat aller Wahrscheinlichkeit nach zu diesem Kreise gehört. Er lebte
in Florenz bis zum Oktober 1494 und dann wieder vom Frühling 1495 bis
zum Juni 1496. Seitdem sind sich die beiden bedeutenden Männer nicht wieder
begegnet. Eine Wendung in den politischen Ereignissen: der unerwartete
Abzug der Franzosen aus Italien, stand mit Savonarolas bis dahin immer
eingetroffnen Prophezeiungen in Widerspruch. Sein Einfluß nahm ab. Die
Medici kamen, freilich nicht ans diesem Grunde allein, wieder empor. Die
Franziskaner konnten 1498 endlich den lange vorbereiteten Schlag gegen ihn
ausführen. Sie ließen Savonarola durch einen Volkshaufen gefangen nehmen
und an das vom Papste eingesetzte geistliche Gericht ausliefern. Bis dahin
hatte der Reformator, durch das florentinische Volk geschützt, der päpstlichen
Vorladung und sogar dem Bann trotzen können. Nun aber hatte man ihn
und machte ihm schleunigst den Prozeß. Auf dem Markte von Florenz erhängte
man ihn mit zwei andern Mönchen auf einem Scheiterhaufen. Untätig sah
dasselbe Volk, das vor kurzem für Savonarola durchs Feuer gegangen wäre,
den Flammen zu, die seinen Leib verzehrten.
Den Einfluß Savonarolas auf Michelangelo schlägt Thode sehr hoch an;
obwohl er im einzelnen nicht nachweisbar ist, wird man aus allgemeine«
Gründen gern einer solchen Ansicht folgen. Michelangelo, so sagt der Biograph,
war der größte Schüler und Nachfolger des Reformators als Christ. Er
„empfing durch die Predigten in San Marco und im Dom sein Christentum lind
mit ihm die Kraft seines Duldens und Schaffens, die Innerlichkeit des
künstlerischen Genius, unermeßlich empfänglich und fruchtbar, die Bestimmung
des Glaubens aus der verwandten Innerlichkeit des Mönches." Mit Recht
weist Thode aber die Hypothese zurück, daß Michelangelo, obwohl er in seinem
spätern Leben von der deutschen Reformation genug gehört haben muß, ein
geheimer Lutheraner gewesen sei. Nicht daß er um Hofe der Päpste wirkte
und lebte, ist ein Gegenbeweis, sondern der Plan, noch im hohen Alter Wall¬
fahrten nach berühmten Gnadenorten vorzunehmen.
Der Sinn des italienischen Volkes war der Kirchenreform nicht zugänglich,
sonst hätte es einen Savonarola nicht vor seinen Augen verbrennen lassen.
Nach diesem furchtbaren Ereignis ist niemals eine eigne religiöse Bewegung
wieder aus Italien hervorgegangen, nicht einmal die Gegenreformation, denn
diese war, wie die Gründung des Jesuitenordens, ein Werk der Spanier. Es
blieb stumm auf der Halbinsel. Wohl flog auch der Same der Reformation
von Deutschland hierher. Er ging in Venedig und in Neapel auf, dort im
wesentlichen auf einige Kirchenfürsten, hier auf Kreise beschränkt, die von
protestantischen deutschen Landsknechten beeinflußt waren. In den dreißiger
Jahren des sechzehnten Jahrhunderts schien es wohl, als ob aus der Neigung
einiger venezianischen Bischöfe zur kirchlichen Reform mehr hätte werden können.
Aber als der Papst die Häupter zu Kardinälen beförderte und damit die Aus-
sicht zu kommen schien, daß sich die Kirche aus sich selbst reformiere, als sich
die andern Reformfreunde unter der Anklage der Ketzerei fühlten und sich,
nachdem einige von ihnen gestorben waren, klüglich unterwarfen, war die ganze
Bewegung für immer aus. Thode glaubt, daß der Kardinal Caraffci, der
spätere Papst Paul der Vierte, der Haupturheber der Gegenreformation, deu
schlauen Schachzug der Kardinalsernennung angeraten habe. Jedenfalls wurden
hervorragende Mitglieder des Neformkreises später Ketzerverfolger. Einige wenige
zogen die volle Konsequenz und wurden Protestanten, verließen aber Italien.
Zu diesen gehörte der Kapuziner Ochrida, der für die Geschichte Michel¬
angelos besonders wichtig ist, weil er zeitweilig einen großen Einfluß auf
Vittoria Colonna gehabt hat. Diese seltne Frau entstammte dem altrömischen
Adelsgeschlecht der Colonna. Sie war im Jahre 1492 geboren und wurde,
kaum zur Jungfrau erblüht, mit dem Marchese von Pescara vermählt, an dem
sie mit schwärmerischer Liebe hing, trotzdem er ihr die Treue gebrochen hatte,
und trotzdem er sie nach nur zweijährigem Zusammensein verließ und sie
niemals wiedersah. Ihr Sinn neigte sich bald dem Religiösen zu. An dem
Eintritt ins Kloster wurde sie nur durch das Verbot des Papstes gehindert.
Sie wandte sich nach Neapel und kam hier in Verbindung mit den Reformern;
auch in Rom, wohin sie sich 1534 begab, trat sie diesen näher, namentlich dem
Kardinal Pole und jenem Kapuziner Ochrida. Dieser war ein feuriger Reform-
Prediger. Vittoria Colonna wurde so durch seine Reden ergriffen, daß sie zum
Beispiel eigens nach Pisa reiste, nur um ihn hören zu können. Sie brachte
es fertig, die Auflösung, mit der der Papst den ganzen Franziskanerorden, zu
dem auch die Kapuziner gehören, bedrohte, abzuwenden. Sie empfing sogar
durch Ochridas Vermittlung den Besuch Calvins. Als der Pater 1542 von der
Inquisition gerichtet werden sollte und durch Flucht entkam, war sie ihm wahr¬
scheinlich dabei behilflich.
An der Reinheit des Lebenswandels Vittorias darf man nicht den geringsten
Zweifel hegen. Ihr kann nichts vorgeworfen werden. Im Gegenteil, je länger
desto mehr ergab sie sich qualvollen Kasteiungen, weil sie der Inbrunst ihres
Glaubens nicht genug tun zu können vermeinte. Es ist überhaupt ein eignes
Verhängnis, daß sie, die anfänglich durchaus an der Kirchenreform hängende
Frau, die große sittliche Entschlußfähigkeit, sich von ihrer Kirche zu trennen,
nicht hatte. Innerhalb der Kirche wäre sie vermutlich der Reformpartei treu
geblieben. Aber diese existierte nicht mehr. Die zum Protestantismus über-
getretnen waren geflohen, die übrigen zum Teil gestorben, zum Teil mit der
Kirche versöhnt. Vittoria Colonna blieb bei den Versöhnten, vor allem blieb sie
in inniger Verbindung mit Kardinal Pole, der sie „wie eine Mutter verehrte"
und die Rechte, die sie ans Leben hatte, soweit zur Geltung brachte, daß sie
nicht durch Hunger und Kasteiung den Tod fand. Sie starb 1547.
Als Dichterin war sie schon lange in ganz Italien berühmt. Ihre
Sonette gingen von Hand zu Hand. Zuerst hatte sie fast immer in über¬
schwenglichen Worten den geliebten Gemahl besungen. Später neigten sich
ihre Verse immer mehr philosophischen und religiösen Gefühlen zu. Ihren
mystischen, pietistischen Grübeleien konnte sie gar nicht genug tun. Daß uns
die Dichtungen kalt lassen, liegt einesteils an dem gezwungnen Versbau und
der unlyrischen, vernünftelnden Gedankenbildung, andernteils an dem Zurück¬
sinken in die nicht reformierte und nicht reformierbare, vielmehr in Gegen¬
reformation und Jesuitismus erstarrende alte Kirche. Ihre geistvolle, liebens¬
würdige Unterhaltung bezeugen alle, deren Aussagen auf uns gekommen sind.
Vor allem wissen wir es von Michelangelo. Seit etwa 1535 genoß er
ihren Verkehr. Anfangs war sie häufig, später fast immer in Rom. Sie lebte
in Klöstern, aber nicht als gebundne Nonne. Bei ihr verkehrten außer den
schon genannten Männern mehrere Mitglieder des reformfreundlichen Kreises,
zum Beispiel der hochgebildete Kardinal Bembo. Durch sie dürfte Michelangelo
in den Kreis gelangt sein. Keinem Menschen scheint der Künstler so nahe ge¬
standen zu haben wie ihr. Geist und Charakter schützte er gleich hoch an ihr,
sie aber meinte, wer Michelangelos Charakter nicht höher schätze als seine noch
so berühmten Werke, der habe nicht das Glück, seinen Charakter zu kennen.
Nach dem Zeugnis Condivis sagte Michelangelo: über nichts betrübe er sich
so sehr wie darüber, daß er, als er nach ihrem Hinscheiden hingegangen sei, sie
zu sehen, ihr nur die Hand und nicht auch die Stirn und das Antlitz geküßt
habe. Ihr Tod machte ihn für längere Zeit ganz fassungslos und wie der
Sinne beraubt.
Von wein das gesagt werden kann, von dem gilt in der Tat das Dichter¬
wort: Wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten.
Die Lebensschilderung, die Thode von ihr gibt, kann man mit dem einen
Worte „Meisterstück" bezeichnen.
>er Juniwind raschelte in den Efeuranken des Klosters. Die eiserne
Wetterfahne auf dem Äbtissinnenhause begann leise zu knarren, bis
sie in ein zorniges Kreischen ausbrach. Denn aus dem Juniwind
wurde der Junisturm. Er fuhr über die Heide und suchte die
schwanken Birken im Moor zu brechen; er warf die Ziegel vom
I Dach der alten Klosterkirche und heulte im Kreuzgang. Die Rosen¬
büsche auf dem Kirchhof zerknickte er, und das Storchnest auf dem Pachthof warf
er auf die Erde. Obgleich die Störchin beide Flügel über ihre nackten Jungen
breitete und mit dem Schnabel gegen den Wind hieb. Doch der Sturm lachte
ihrer Wut. Als im Morgengrauen der gelbe Kater des Pachthofes wie von un¬
gefähr an dem großen Düngerhaufen vorüberwandelte, sah er dort etwas liegen,
das seine Neugierde im höchsten Grade fesselte. Ehe er aber mit einem Sprunge
nach dem noch lebenden Storchenkind greifen konnte, faßte ihn ein scharfer Schnabel
so fest in den aufwärts stehenden Schwanz, daß er einen gellenden Schrei ausstieß,
und sobald er sich mit einem Ruck frei gemacht hatte, das Weite suchte. Ein Ende
des Schwanzes blieb im Schnabel der Storchenmutter, der er nicht zu munden
schien, und der Kater hatte den ganzen Tag zu tun, an seinem Schwanzstummel
zu lecken.
Es war eine böse Nacht. Elsie, die sonst ihre zehn Stunden schlief, saß auf¬
recht im Bett, horchte auf das Fauchen des Windes und dachte daran, ob Herr
Heinemann sie wohl noch erkennen würde.
Sie sah ihn deutlich vor sich mit seinem jungen, lustigen Gesicht. Denn ihn
hatte sie von allen Menschen auf dem Dovenhof am wenigsten vergessen. Schon
deswegen, weil sie auf einer Ausstellung ein Bild von ihm gefunden hatte. Es
war ein Stückchen wildeu Gartens gewesen, das er hingemalt hatte, und Elsie
stand mit einem wunderlichen Gefühl davor. Aber ihre Freundinnen zogen sie
weiter, und das Gefühl verschwand. Heute aber kam es wieder; und dann eilten
ihre Gedanken weiter. Zu der Tante, die sie lieb gehabt hatte, zu der guten,
freundlichen Rosalie, zu deu Cousinen und dem kleinen Vetter. — Konnte man alle
Menschen vergessen und sich dann plötzlich ihrer entsinnen? — Elsie horchte auf
den Sturm und empfand Sehnsucht uach dem, was gewesen war.
Auch die Äbtissin konnte nicht schlafen; das aber war nichts Ungewöhnliches
bei ihr. Manche Nacht ging sie ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab. In leichten
Schuhen und so, daß niemand sie hörte.
Auch heute mußte sie an Betty Eberstein denken. Die Gräfin war niemals
ins Kloster zurückgekehrt. Seit fünf Jahren stand ihre Wohnung leer, und sie ließ
sich ihre Einnahme durch den Rcndnnten bald hier- bald dorthin schicken. Sie
sollte mit einer Dame aus fürstlichem Hause befreundet geworden und mit ihr viel
auf Reisen sein. Die andern Stiftsdamen sprachen oft von ihr und wunderten sich
über ihr Ausbleiben. Gelegentlich sagte auch eine Konventualin, Gräfin Eberstein
könnte doch wiederkehren. Was will sie in der Welt? Ja, was wollte sie?
Äbtissin Asta zog die Vorhänge vom Fenster und sah zum sturmgepeitschten
Himmel empor. Es war kein Junihimmel, wie ihn die Dichter besingen; etwas
Drohendes lag in seinem matten Grau, seinen gelb umrandeten Wolken. Und Asta
wandte sich von ihm und kroch müde auf ihr Lager.
Und noch ein Menschenkind horchte auf den Sturm und sah in den düstern
Himmel; das war Elisabeth Wolsfenradt aus ihrem Hofe Moorheide. Sanft und
füß schliefen ihre beiden Töchter neben ihrem Bett; im anstoßenden Zimmer atmete
Rüdeger Wolsfenradt, und als sie zu ihm trat, ballte er im Schlaf die Hände und
rief: Laß sie nur kommen, ich schlage alle tot! Denn er war ein kriegerischer Junge
und so groß und stark geworden, daß der alte Schlüter, der manchmal nach Moor¬
heide kam, ihm sagte, er sollte sich in Hamburg für Geld sehen lassen. Nun warf
er sich auf die andre Seite, und das brennende Licht in Elisabeths Hand warf
einen Schein auf sein schlafendes Gesicht. Dann zog ein lustiger Traum an ihm
vorüber, denn er lachte und zeigte seine Zähne. Gerade wie sein Vater es zu tun
pflegte, als er noch jung war, fröhlich und leichten Herzens, als er und Elisabeth
sich liebten.
Geräuschlos glitt Elisabeth wieder aus dem Zimmer. Sie mußte zufrieden
mit dem Leben sein, das sie sich geschaffen hatte. Es war einsam, voll von Mühe
und Arbeit, und die bittern Stunden blieben nicht aus. Nachdem sie den Dovenhof
verlassen hatte, war ihre Gesundheit schwankend gewesen, und was sie tat und an¬
ordnete, war rein mechanisch geschehen; allmählich war es dann besser geworden.
Mit leisem Schauder dachte sie noch heute an ihren Einzug auf Moorheide, ihren:
Besitztum. Sie hatte den Hof öde und traurig gefunden; und wenn Frau Fuchsins
nicht gewesen wäre, würde die Verzagtheit über sie gekommen sein. Frau Fuchsius
aber nahm die neue Arbeit und Verantwortlichkeit mit Freuden auf sich, und durch
sie erhielt Elisabeth neue Spannkraft. Dann war anch Rosalie ein Trost. Immer
milde, sanft und hilfsbereit. Es war selbstverständlich, daß sie bei Elisabeth blieb
und nicht mehr daran dachte, in die Klabunkerstraße zurückzukehren. Nur zuerst
ging sie auf einige Zeit nach Hamburg, als ihr Neffe Alois ein bißchen wunderlich
im Kopf geworden war, als er nicht sprechen mochte und immer in ein kurzes
Gelächter ausbrach, und als Madame Heinemcmn den ganzen Tag weinte und nicht
einmal mehr Lust verspürte, Nah- und Stecknadeln zu verkaufen. Aber die Zeit
war längst vorüber. Alois hatte sich erholt und war eines Tags nach Paris ge¬
gangen; Madame Heinemann hatte wieder angefangen gemütlich zu werden und
hatte denn ein junges Mädchen in den Laden genommen, und Rosalie war beruhigt
nach Moorheide zurückgekehrt.
Es kommt schon alles wieder in die beste Ordnung, gnädige Frau, sagte sie
zu Elisabeth. Man soll nur nicht verzagen!
Die junge Frau wollte auch nicht verzagen. Nach einem Jahre war sie in
aller Form von Wolf Wolffenradt geschieden und erhielt dnrch seinen Rechtsanwalt
ein kleines Jahrgeld, sodaß sie mit den Kindern bescheiden aber sorgenlos auf Moor¬
heide wohnen konnte.
Der Dovenhof war Wolf zugesprochen worden; dafür hatte er sich verpflichtet,
feiner ersten Frau vorläufig die drei Kinder zu lassen. Vorläufig. Das Wort
klang drohend, fast fo drohend wie das Heulen des Sturmes.
Wieder horchte Elisabeth auf die Atemzüge der Kinder. Noch hatte Wolf
niemals nach ihnen gefragt, obgleich Melitta ihm keine Kinder gegeben hatte. Aber
Melitta war dennoch die Siegerin geblieben. Bon neuem heulte der Wind, und
der Regen rauschte hernieder. Elisabeth versuchte, sich alles Denkens zu enthalten.
Am andern Morgen spiegelte sich die Sonne in tausend Tropfen, und was
im Kloster an Blättern und Zweigen von den Bäumen gefallen war, wurde vor¬
sorglich weggefegt. Elsie sah es, als sie zum drittenmal zu ihrer alten Tante
Amalie ging. Zweimal schon hatte sie versucht, dem Fräulein einen Besuch zu
machen; aber Auguste hatte ihr den Einlaß verweigert. Heute Morgen nun, nach
dem bösen Unwetter, hatte sie sagen lassen, grä Frölen wünsche Fräulein Elsie zu
sehen, und diese machte sich gehorsam auf den Weg.
Sie hatte schon gehört, daß die beiden Alten immer wunderlicher geworden
seien, und daß Auguste ganz allein das Regiment führte. Das junge Mädchen
empfand ein wenig Schen vor diesem Besuch und ging sehr langsam durch den
Klostergarten und dünn durch den Kreuzgang. Bis dahin war sie nicht unzufrieden
gewesen, ihrer Mutter melden zu können, daß Tante Amalie nichts von ihr wissen
wollte.
Bald aber stand sie vor der zusammengesunknen Gestalt der Greisin, küßte ihr
die Hand und bat den lieben Gott im stillen, sie nicht so alt werden zu lassen.
Bist du Elsie Wolffenradt? fragte die alte Dame kläglich. Sahst du früher
nicht anders aus?
Das junge Mädchen lachte.
Tauenden, damals war ich dreizehn Jahre alt. Jetzt werde ich bald neunzehn!
Fräulein von Werkentin wickelte sich in die Decke, die über ihren Knien lag.
Neunzehn Jahre! Auguste, sind wir nicht auch einmal so jung gewesen?
Ja, grä Frölen. Und von der andern Seite kam Auguste und packte ihr
Fräulein noch mehr ein.
Der Sturm — murmelte die alte Dame. Der klappert mit den Dachpfannen
und pfeift durch die Türritzen. Als ich jung war, wehte es niemals!
Wirklich nicht? Elsie setzte sich „eben die Alte und faßte ihre Hand. Früher
wehte es niemals?
Es war immer Sonnenschein! sagte Auguste vorwurfsvoll, und Fräulein von
Werkentin nickte eifrig.
Immer Sonnenschein! erwiderte sie.
Da hast du es gut gehabt, Tante Amalie! Elsie lachte. Denke dir, ich weiß
ganz genau, wie oft es bei uns geregnet hat, und Christian, der Kutscher vou euerm
Pachthof, sagt auch, daß es im Sommer meist regnet. Kennst du Christian, Tante
Amalie? Oder lässest du dich nicht ausführen? Ich glaube, er versteht es gut. Er
kann aber auch Storchnester bauen. Denn denke dir, der arme Storch vom Pachthof
hat heute Nacht sein Nest verloren!
Und Elsie berichtete von dem Ereignis auf dem Pachthof, das sie auf ihrem
ersten Spaziergang heute Morgen schon erfahren hatte.
Ist es nicht traurig? setzte sie hinzu. Die armen Störche! Unwillkürlich
sprach sie, wie man mit Kindern spricht.
Tante Amalie sah sich nach Auguste um. und diese zuckte die Achseln.
Störche sind nichts für ein Kloster! sagte sie spitzig, und Fräulein von Werkentin
nickte von neuem.
Störche sind nichts für uus! erwiderte sie.
Ratlos sah das junge Mädchen von einer Alten zur andern und begann dann
von Eltern und Geschwistern zu berichten, bis sie endlich aufstand und sich empfahl.
Tante Amaliens Augen waren etwas Heller geworden; als sie allein mit Auguste
war, sagte sie von selbst:
Auguste, wir wollen ihr doch ein Vergnügen machen. Denn sie ist die Ur¬
enkelin meiner lieben Schwester Luise.
Zwanzig Mark! sagte Auguste kurz und mit einem verkniffnen Zug um
den Mund.
Die alte Dame besann sich.
Zuerst wollen wir mit ihr ausfahren, mit Christian, der es so gut versteht!
Im Sommer machte Fräulein von Werkentin gelegentlich noch Auffahrten,
und Auguste ließ sich auch gern die frische Luft um die Wangen streichen. Deshalb
hatte sie nichts gegen dieses Vergnügen einzuwenden und überbrachte dem kleinen
Fräulein selbst die Einladung. Gerade als man im Äbtissinnenhause treppauf
treppunter lief, und die stillen Räume in eine gewisse Aufregung versetzt zu sein
schienen.
Was ist hier los? fragte Auguste den Diener, der ihre Bestellung ent¬
gegennahm.
Er seufzte ein wenig. Denn er war auch kein Kind mehr und liebte das
ruhige Leben.'
Wir kriegen Besuch, Auguste; Frau Baronin Melitta von Wolffenrcidt und
ihren Herrn Gemahl. Ganz was Feines; das Telegramm war aus Paris. Unsre
Frau Äbtissin wurde blaß, als sie es las.
Hausbesuch ist niemals schön! erwiderte Auguste im Weggehn, und der Kollege
zupfte an seiner weißen Halsbinde. Sie sagte, was er nicht auszusprechen wagte;
und um sich zu entschuldigen, wiederholte er, was er schon einmal gesagt hatte.
Frau Äbtissin wurde ganz blaß.
Das war richtig. Asta hatte beim Empfang von Melittas Anmeldung einen
großen Schreck bekommen. Sie und ihre Schwägerin hatten sich seit den Ereig¬
nissen im Dovenhof nur einmal und zwar damals gesehen, als Wolf und Melitta
heirateten. Nach Elisabeths Abreise hatte auch Melitta den Dovenhof bald ver¬
lassen. Allerdings nicht eher, bis sie und Wolf sich endgiltig verlobt und ein
baldiges Wiedersehen an einem andern Orte verabredet hatten. Wolf war auf
alles eingegangen. Er hatte auf Asta nicht den Eindruck eines glücklichen Mannes
gemacht; im Gegenteil, er war zuzeiten sehr verstimmt gewesen. Melitta aber
verstand es doch, ihn zu allem zu bringen, was sie wollte. Ein wunderbarer
Zufall hatte es gefügt, daß um diese Zeit ein Verwandter von Melittas Mutter
gestorben war, der es zu etwas gebracht, und der außer ihr keine andern Erben
hatte. Sie wurde von einem schlesischen Gericht aufgefordert, ihre Ansprüche geltend
zu machen, und hatte nach wenig Monaten die Befriedigung, ein kleines Ver¬
mögen ihr eigen zu nennen. Nun blieb sie in Schlesien, und nachdem Wolf von
Elisabeth gerichtlich geschieden worden war, ließ er sich mit Melitta in Breslau
trauen.
Hier also sahen sich auch Asta und ihre neue Schwägerin wieder, und mit
einem besondern Lächeln faßte Melitta nach dem goldnen Kreuz, das die jetzige
Äbtissin von Wittekind trug.
Nun, Asta, bist du mit mir zufrieden?
Die Gefragte neigte den Kopf, sprach aber gleich von etwas anderm. Welcher
Mensch möchte wohl daran erinnert werden, daß er seine Stellung nicht dem eignen
Verdienst verdankt?
Melitta ging auch zu einem andern Gegenstand über. Sie war aufgeregt
und von fieberhafter Fröhlichkeit.
Wie gehts dem kleine» Maler? der weglief, ohne mir Lebewohl zu sagen?
Asta konnte keine Antwort geben. Sie wußte nichts von Herrn Heinemann,
und es war ihr angenehm, nichts zu wissen.
Seit der Zeit hatte die Äbtissin nur selten von ihren Geschwistern gehört,
und es war ihr sehr recht gewesen. Die flüchtige Freundschaft, die sie für Melitta
empfunden hatte, war längst verflogen. Der alte Diener hatte recht gesehen. Sie
war sehr blaß geworden.
Auch Elsie war aufgeregt. Sie mußte an Alois Heinemann denken, und
dann daran, daß sie Melitta niemals recht hatte leiden können. Aber sie war jetzt
erwachsen und mußte sich wie eine Dame benehmen.
Als Abends spät der Wagen vor dem Äbtissinnenhnuse hielt, und eine elegante
Dame ausstieg, der viele Koffer folgten, trat Elsie ihr artig entgegen.
Kommt Onkel Wolf nicht auch? fragte sie nach freundlicher Begrüßung.
Neugierig sah Melitta in das zarte Gesicht des jungen Mädchens.
Wolf ist nach dem Dovenhof gefahren. Bist du Elsie Wolsfenradt? Du
scheinst ja sehr nett geworden zu sein. Und hier ist meine liebe hochwürdige
Äbtissin? Ich freue mich wirklich, dich wieder zu sehen!
An diesem Abend wurde es spät im Äbtifsinuenhcms, und als Elsie ihren
Kopf auf die Kissen legte, schlief sie gleich so fest und traumlos, daß sie sich am
nächsten Morgen erst allmählich auf ihre Tante Melitta und den letzten Abend
besinnen konnte. Dann meinte sie, daß alles sehr nett gewesen sei. Tante Melitta
konnte so hübsch von Paris und von der Riviera erzählen. Von den Kleidern,
die sie und die andern Damen getragen, von den Vergnügungen und den vor¬
nehmen Leuten, die sie kennen gelernt hatte. Tante Asta hatte nicht viel gesagt;
aber die war von Natur still und sprach wenig.
Eigentlich war es nett, daß Elsie nicht mehr mit der Äbtissin allein in dem
großen Hause war.
Also hier ist dein Reich! sagte Melitta zu Asta. Sie stand in dem Arbeits¬
zimmer und sah sich neugierig um. Dann setzte sie sich in den Stuhl der Äbtissin
und spielte mit einen? Papiermesser.
Komisch! sagte sie halb vor sich hin.
Was meinst du damit? fragte die Äbtissin; aber sie erhielt keine Antwort.
Melitta betrachtete die Sachen des Schreibtisches, stand auf und gähnte.
Findest du das Leben auch so langweilig? fragte sie plötzlich.
Ich habe meine Pflichten zu erfüllen und denke nicht an Langeweile!
Du bist aber merkwürdig gealtert!
Ihre Schwägerin verzog das Gesicht. Auch als Äbtissin mag man ein solches
Wort nicht hören.
Betty Eberstein hat sich wunderbar gehalten, setzte Melitta ohne Übergang
hinzu. Ich sah sie im vorigen Jahre in Florenz mit ihrer Durchlaucht zu¬
sammen — du weißt gewiß, daß sie sich mit einer Prinzessin befreundet hat. Die
Damen durchstreiften Italien und schienen sich sehr gut zu unterhalten.
Hast du mit ihr gesprochen? Astas Stimme zitterte unmerklich, und Melitta
schüttelte den Kopf.
Sie beachtete mich nicht, und als ich sie einmal in den Cascinen anredete
— die Fremden begegnen sich ja ewig in Florenz —, da sagte sie mir, daß sie mich
nicht mehr zu kennen wünschte. Eigentlich war es natürlich, aber doch nicht ganz
angenehm. Sie verkehrte mit den interessantesten Menschen dort, und ich lernte
sie alle nicht kennen.
Du hast ja deine« Mann!
Melitta lachte. Findest du deinen Bruder eigentlich interessant?
Das mußt du besser beurteilen können als ich, liebe Melitta. Außerdem — die
Äbtissin hatte ein scharfes Wort auf der Zunge, aber Melitta sah sie fast drohend
an. Da schwieg sie lieber.
Jedermann hat seine Enttäuschungen, sagte sie nach einer Weile, und ihre
Schwägerin lachte spöttisch.
Welch ein Glück ist es doch, daß es noch Gemeinplätze gibt. Damit kann
man sich immer trösten.
Aber sie wurde wieder freundlicher, und als Elsie zusammen mit den zwei
Damen das frühe Mittagessen einnahm, belustigte sich das junge Mädchen an den
Erzählungen ihrer ehemaligen Erzieherin und an der Art, wie sie viele Dinge ins
Komische zu ziehn wußte,
Melittas Erscheinung war noch eleganter geworden; und wenn ihre Züge auch
oft etwas Abgespanntes hatten, so mußte sie doch wegen ihrer schönen Augen und
einer gewissen bestrickenden Art der Unterhaltung gefallen. Sie wandte sich mit
ihren Erzählungen auch mehr an Elsie als an Asta, und es tat dem jungen
Mädchen fast leid, nach dem Essen zu ihrer alten Tante gehn zu müssen. Aber
die Ausfahrt war von Fräulein von Werkentin auf den heutigen Nachmittag an¬
gesetzt worden, und obgleich das Wetter noch immer regnerisch und kühl war, so
hatten sich die beiden Alten auf diesen Tag vorbereitet und wünschten das Ver¬
gnügen nicht zu verschieben.
Der Kutscher Christian hielt mit seinem Landauer schon vor dem Kreuzgang
und lächelte Elsie wohlwollend an.
Wir wollen einen hübschen Weg fahren, klein Fräulein! sagte er, und als
die beiden Alten mühsam eingestiegen waren, und Fräulein von Werkentin sich vor
lauter Kissen und Decken kaum rühren konnte, begann die Fahrt.
Elsie saß auf dem Rücksitz. Eigentlich hatte Auguste getan, als wollte sie
diesen einnehmen, dann aber hatte sie es geschehn lassen, daß die junge Baronesse
diesen Platz für den besten erklärte, und sich würdevoll neben ihre Herrin gesetzt.
Aus dem Kloster ging der Weg durch die Felder, dann über die Heide und an
weiten Moorstreifen entlang. Hier und dort stand ein junger Tannenwald, dann
wieder kam man an Kiefern vorüber, die auf weißem Heidesand wuchsen, und da¬
zwischen lagen Bauernhäuser und grüne Felder. Elsie versuchte, sich mit ihrer
Tante zu unterhalten, aber Fräulein von Werkentin schlief gleich ein, wie sie meist
tat, wenn sie eine Wagenfahrt machte, die ihr deswegen wohl so gut bekam.
Auguste war niemals zum Sprechen aufgelegt, und Elsie konnte an Melitta denken.
Sie dachte jetzt viel an sie und an frühere Zeiten. Und sie grübelte darüber nach,
Wie es wohl möglich wäre, sich mit einem Manne zu verloben und einen andern
zu heiraten.
Der Wagen fuhr die Landstraße entlang und bog dann in einen Heckenweg
ein. Lächelnd sah sich Christian nach Elsie um. Schlief sie auch, wie die zwei
alten Damen, oder merkte sie, welcher Hof jetzt vor ihnen auftauchte? Aber Elsie
saß regunglos, der Kutscher wandte sich noch einmal zu ihr und rciusperte sich
leise. Gerade in dem Augenblick, da ein Scherenschleifer über den Weg fuhr, und
sein großer Hund dem Handpferd bellend an den Kopf sprang. Und dieses Hand-
Pferd, auch Pollux genannt, haßte alle Überraschungen. Es bäumte sich hoch auf,
sprang über die Stränge und raste, das andre Pferd mit sich reißend, querfeldein.
So wenigstens berichtete Christian nachher die Geschichte. Ganz genau den¬
selben Wortlaut aber hatte sie niemals, sondern hing von seinen verschiednen
Stimmungen ab, und er konnte sie auch nicht haarklein erzählen, da er erst wieder
zu sich gekommen war, als das Wasser eines Moortümpels ihn umspült hatte.
Auguste lag ganz in seiner Nähe. Vom Wagen und den Pferden war aber eben¬
sowenig etwas zu sehen wie von Fräulein von Werkentin oder Elsie. Mit einem
derben Fluch kroch der Kutscher aus der Lache und suchte Auguste zum Aufstehn
zu bewegen.
Schreien Sie nicht so, sagte er dabei. Sie leben ja noch.
Denn sie schrie aus vollem Halse. Mit einem zornigen Blick sah sie ihn um.
Was wissen Sie davon?
Dicht vor dem Hof Moorheide wickelte ein junger Mann Fräulein von Werkentin
aus ihren Decken.
Wollen Sie versuchen, geehrte Dame, ob Sie aufstehn können?
Die Angeredete richtete sich mühsam auf.
Wie kam es eigentlich? fragte sie erstaunt.
Ja, wer konnte das sagen? Sogar Elsie, die fast zugleich mit der Tante
aus dem Wage» geflogen war und uun gänzlich unversehrt herbeieilte, wußte nicht,
wie es zugegangen war. Aber Fräulein von Werkentin war in eine Pfütze ge¬
fallen und in einem Zustand, in dem sie sicherlich in ihrem ganzen Leben nicht
gewesen war. Doch sie war merkwürdig gefaßt; als sie sich umsah und nirgends
Auguste entdeckte, die sie hätte fragen können, wandte sie sich an den Herrn.
Sie müssen uns schon eine Zeit lang in Ihrem Hause aufnehmen, mein Herr!
Ein etwa sechsjähriger Junge, der mit weitgeöffneten Augen in der Nähe
gestanden hatte, drängte sich jetzt an sie heran.
Das Haus gehört Mama und nicht Onkel Louis Heinemann. Der ist nur
gestern zum Besuch gekommen. Aber Mama wird dich gern aufnehmen und dir
gewiß ein reines Kleid geben!
Zutraulich schob er seine Hand in den Arm der alten Dame.
Soll ich dich ein wenig anfassen? Ich kann es ganz gut.
Wie heißt du? fragte sie, in sein lebhaftes Kindergesicht blickend.
Rüdeger Wolffenradt! lautete die Autwort. Ich habe auch uoch zwei Schwestern,
Gabriele und Irmgard. Willst du sie einmal sehen? Sie sind im Hause, weil
sie bei Mama lernen sollen; ich brauche noch nicht zu lernen, weil ich uoch nicht
ganz sechs Jahre alt bin. Aber ich kenne die Buchstaben. Weißt du, wieviel drei
und fünf sind? Ich weiß es.
Langsam ging Fräulein von Werkentin und horchte auf Nuttgers Geplauder.
Dann wandte sie sich an Alois Heinemann, der sie vorsichtig stützte.
Bitten Sie die Frau von Wolffenradt um Aufucchme für Fräulein von
Werkentin und Elsie Wolffenradt von der Wolffenburg.
Unwillkürlich sah sich der Maler nach Elsie um, die hinter der kleinen
Gruppe ging.
Zuerst darf ich Sie gewiß ins Haus geleiten; meinen Auftrag werde ich so¬
dann ausführen, sagte er dann höflich.
Auf diese Weise also machte Elsie ihren Besuch auf der Moorheide, und als
sie mit Hilfe der Hausfrau ihre alte Tante von Schmutz und Nässe gereinigt und
sich selbst in ein Kleid von Elisabeth gesteckt hatte, wagte sie es, sich ein wenig
umzusehen. Es war ein bescheidnes, kleines Bauernhaus mit wenig und einfach
eingerichteten Räumen, worin die Wolffenradts wohnten; aber ein schöner, frucht¬
barer Garten erstreckte sich weit in die umliegenden Felder hinein. Hier ging sie
mit zwei kleinen Mädchen und Alois Heinemann, und alle drei zeigten ihr. wo
die Erbsen wuchsen und die Bohnen, der Blumenkohl und der Salat. Wo sich
der Hühnerhof in den Garten schob und durch ein hohes Drahtgitter abgesperrt
war, weil die Hühner so kratzten und ein unbescheidnes Wesen zur Schau trugen.
Jetta und Irmgard führten die Unterhaltung. Sie waren groß geworden, und
Elsie würde sie niemals wieder erkannt haben; und sie selbst hatten natürlich keine
Erinnerung an die Cousine. Aber Alois Heinemann hatte ihnen Elsie als Ver¬
wandte vorgestellt, und nun waren sie sehr zutraulich.
Wohnst du in Wittekind bei den ganz alten Damen? Dorthin möchten wir
auch wohl einmal; aber Mulli meint, es tut nicht nötig. Die Frau Äbtissin heißt
auch Wolffenradt, unser Knecht hat es uus erzählt, aber wir sind wohl nicht ver¬
wandt. Und wenn wir verwandt sind, dann Verkehren wir doch nicht miteinander.
Rosalie sagt, so etwas kann angehn, und dich haben wir ja auch nie gesehen.
Elsie öffnete den Mund und wollte widersprechen; dann sah sie zu Herrn
Heinemann hinüber und wurde verlegen. Er aber schien nicht auf Jellas Ge-
plauder geachtet zu haben und wandte sich jetzt an Elsie.
Ist es hier nicht hübsch? fragte er. Dabei deutete er auf eine grüne Wiese
hinter dem Hause, an die sich ein kleiner Wald anschloß. Zu beiden Seiten er¬
streckten sich Heiderücken, auf denen einzelne alte Bäume standen.
Für einen Maler gibt es eine Menge von Bildern! setzte er hinzu.
Schüchtern betrachtete sie ihn von der Seite. Es kam ihr vor, als wäre er
früher breitschultriger gewesen, und sein Gesicht hatte einen andern Ausdruck an¬
genommen. Seine Augen waren ernsthaft geworden, und sein Mund so fest ge¬
schlossen, als hätte er keine Lust, viel zu lachen.
In Wittekind ist es auch malerisch, sagte Elsie.
So höre ich, und das freut mich sehr. Morgen werde ich eiumcil hinkommen
und mir die Kirche ansehen!
Sie sollen sie ja restaurieren!
Ich nicht, dazu ist der Herr Baurat da und eine ganze Kommission. Aber
ich soll mich um die Ausschmückung bekümmern und einige alte Bilder begutachten
und vielleicht erneuern.
Er erzählte von einer Kirche, wo er kürzlich ein schönes altes Gemälde auf
dem Boden gefunden hatte, und sein Gesicht wurde lebhafter. Elsie hätte ihm noch
lange zuhören können; aber die kleinen Cousinen mischten sich in die Unterhal¬
tung, und denn kam eine ältere Person den Gartenweg entlang. Alois ging ihr
entgegen.
Willst du uns rufen, Tante Rosalie?
Ich sollte nur fragen, ob das junge gnädige Fräulein eine Tasse Tee
belieben.
Sie sprach mit großer Zurückhaltung; aber Elsie trat auf sie zu und gab ihr
die Hand.
Ach, Rosalie, kennen Sie mich nicht mehr? Sie haben mich doch damals so
schön gepflegt und sind so gut gegen mich gewesen!
Mamsell Drümpelmeier sah freundlich in Elsies Gesicht.
Ach ja, natürlich weiß ich es noch, Fräulein Elsie; nur — sie seufzte, man
weiß nicht immer, ob man sich an alles erinnern darf oder lieber alles vergißt!
Elsie wußte es selbst nicht; aber dann saß sie doch am Teetisch mit den
andern Wolsienradts und sah Elisabeth mit fast schwärmerischer Verehrung an.
Sie hatte diese Tante ehemals sehr geliebt und sie dann vergessen. Nun begann
sie sie von neuem zu lieben.
Fräulein von Werkentin hatte im Sofa Platz genommen und schon zweimal
hellauf gelacht. Rüdeger saß neben ihr und unterhielt sich unausgesetzt mit ihr.
Eine so alte Dame wie dich habe ich noch nie gesehen, versicherte er ihr
gewiß zum zehntenmal. Aber ich habe dich gern, und du mußt wiederkommen.
Nicht wahr, Mulli, die alte Dame darf wiederkommen?
Gewiß, Rüdeger!
Elisabeth beteiligte sich wenig an der Unterhaltung und sorgte nur für das
leibliche Wohl.
Dann werde ich dich auch einmal im Kloster besuche»! verkündete der Junge.
Ich zeige dir dann, wie man am Turnreck eine Riesenwelle macht. Die alte
Dame weiß nicht, was das ist! setzte er entschuldigend hinzu, und Tante Amnlie
lachte von neuem.
Ja, komm du nur und bringe deine Schwestern mit!
Sie war wie ausgelebt und strich immer wieder mit der Hand über den
Blondkopf neben ihr. Jetzt fuhr ein Wagen vor das Haus, und ehe Rosnlie
ans der Tür war, um zu sehen, wer es wäre, stand schon Auguste im Zimmer.
Gila Frölen ist hier? Gila Frölen ist nicht tot?
Fräulein von Werkentin lachte zufrieden.
Ich bin nicht tot, Auguste, und mir scheint, daß auch Sie noch leben.
Gila Frölen müssen gleich nach Hans und zu Bett! rief Auguste.
Aber ihre Herrin warf ihr einen kühlen Blick zu.
Stören Sie mich nicht, sondern gehn Sie in die Küche. Ich weiß, was ich
zu tun habe!
Die Dienerin riß die Augen auf, verschwand dann aber, ohne ein Wort zu
sagen, und Rüdeger klopfte seine neue Freundin auss Knie.
Du bist eine feine alte Dame, sagte er bewundernd; aber die andre scheint
mir nicht so nett!
Nach einer Stunde durfte Christian die ihm anvertrauten Damen wieder zum
Kloster zurückfahren. Er selbst war in gedrückter Stimmung und warf nur hin
und wieder einen Blick auf den Wagen, den er samt den Pferden bald wieder
gefunden, der aber an mehreren Stellen Beschädigungen erlitten hatte. Auch
Auguste sagte nichts, sondern saß kerzengrade auf dem Rücksitz.
„Gila Frölen" hatte nämlich gesagt, sie sollte diesen Platz einnehmen; und
Elsie mußte neben ihrer Urgroßtnnte sitzen. Die Fahrt war schweigsam, niemand
sprach viel, erst als Fräulein von Werkentin vor dem Kreuzgang ausstieg, wandte
sie sich an Elsie.
Morgen mußt du gleich zu mir kommen, sagte sie befehlend.
Mit ihrer getreuen Auguste ging sie davon, und Christian wandte die Pferde
und fuhr Elsie zum Äbtissinnenhause.
In meinem ganzen irdischen Leben ist mir so etwas nicht passiert! klagte er.
Ach, klein Fräulein, sür Malheur kann keiner; aber das glaubt niemand. Pollux
lst schwer zu nehmen, und er hat die Schuld; aber ich kriege sie!
Elsie versuchte ihn zu trösten, aber er schüttelte den Kopf.
Da krieg ich noch Ungelegenheiten von, klein Fräulein, das glauben Sie man!
Und ich wollte Sie so gern fahren! Du liebe Zeit, du liebe Zeit!
Er jammerte noch vor sich hin, als Elsie schon ausgestiegen war, und er
langsam seinem Pachthofe zufuhr. Elsie dachte nicht viel an ihn. Sie grübelte
darüber nach, was sie Tante Asta und Melitta von ihrem Abenteuer erzählen
sollte. Diese Sorge war ganz unnötig. Melitta ließ sich an diesem Abende nicht
sehen und tat am nächsten Tage keine Frage, und Asta hatte so notwendige Ge¬
schäfte zu erledigen, daß auch sie keine Zeit fand, sich um Elsie zu kümmern.
Wenn Elsie also das Bedürfnis empfand, sich einer Seele mitzuteilen, dann
mußte sie es schon in einem Brief an ihre Mutter tun. Aber obgleich sie am
nächsten Morgen einen Bericht von ihrem Tun und Treiben in Wittekind ab¬
sandte, kam doch das Abenteuer bei Moorheide nicht darin vor.
(Fortsetzung folgt)
Der hervorragende Soldat, der soeben aus dem Leben geschieden ist, Feldmarschall
Graf Waldersee, hat seit seiner Rückkehr aus China in engerm Kreise immer
wieder auf die Unvermeidlichkeit der Entwicklung in Ostasien, der wir jetzt bei¬
wohnen, und insbesondre auf das zu gewärtigende Hervortreten Amerikas hinge¬
wiesen. Auch die Sorge um unsre deutschen Zukunftsinteressen sprach dabei mit.
Amerikas Stellung zu Japan erklärt sich einerseits ans seinen Handelsinteressen,
die es mit Japan und der Mandschurei verknüpfen, andrerseits ans seinem Anspruch
ans die Hegemonie auf dem Großen Ozean. Will Amerika diesen Anspruch be¬
haupten, so muß es mit Japan Freund oder Feind sein. Einstweilen fordern seine
Interessen ein freundschaftliches Verhältnis, wobei die noch unzureichende Stärke der
amerikanischen Flotte und das englisch-japanische Bündnis entscheidend in das Gewicht
fallen. Vorläufig wird dieses Bündnis wenigstens auf der asiatischen Seite des
Ozeans der amerikanischen Hegemonie noch einen festen Riegel vorschieben. Ein
englisch-amerikanisch-japanischer Dreibund im Osten wäre vielleicht nicht unmöglich,
aber England ist nicht gewöhnt, in einem solchen Bunde der Zweite zu sein, und
daun — gegen wen soll ein solches Bündnis sich richten? Gegen Rußland oder
gegen ein mit Rußland verbündetes China? China kaun heute den Russen als
Gegner unbequem werden, als Verbündeter käme es, auch Japan gegenüber, wenig
in Betracht. Oder gegen eine Beleidigung der russisch-französischen Interessenge¬
meinschaft in Ostasien? Anfänglich hat man sich ja in Paris nicht genug gegen
den Gedanken wehren können, daß Frankreich dein ^mi se ^.Als auch in Ostasien
verpflichtet sei. Noch vor kurzem konnte man in einer angesehenen Pariser Revue
lesen, daß der russisch-französische Notenaustausch — der Gegenzug gegen das
englisch-japanische Bündnis — inhaltlos und folglich iuntilo gewesen sei. Mit
Wohlgefallen sonnte man sich in der Idee einer englisch-französischen Intimität.
Den ^wi in Nöten gab „Marianne" leichten Herzens auf und spann den Flirt mit
dem Nachbar am Kanal; ein englisches Blatt erklärte verbindlich: Frankreich muß bei
England finden, was es von Rußland vergeblich erhofft hat — Elsaß-Lothringen.
Aber seit einigen Tagen scheint in die englisch-französische Suppe ein Haar
gefallen zu sein. Die Pariser politischen Kreise zeigen sich besorgt um Jndo-China,
„die Reiskammer des Ostens/' und die Kammer schilt deu Marineminister, daß er
nicht genug für die Verteidigung dieser Kolonie vorgesorgt habe. Mit Stirn¬
runzeln verzeichnen Pariser Blätter, daß ein englischer Admiral das Vorgehn der
japanischen Torpedoflotte ohne Kriegserklärung gegen Port Arthur sowie deu An¬
griff auf die russischen Schiffe bei Tschemulpo für vollkommen korrekt erklärt habe.
Im heutigen Seekriege könne man nicht anders vorgehn, heute sei der Krieg
zugleich die Kriegserklärung. Die Pariser Publizistik beginnt zu prüfen, wie
solchen Anschauungen gegenüber die Situation der französischen Häfen beschaffen sei,
und Balfours Äußerung, daß wenn die kontinentalen Staaten einen Angriff Eng¬
lands abwarten wollten, sie ruhig ihre Flotten abschaffen könnten, hat in Frank¬
reich einen ganz entgegengesetzten Eindruck gemacht, zumal da bald darauf die Ver¬
sicherung folgte, daß die englische Flotte immer stärker als die russisch-französische
sein werde. Um das Maß voll zu machen, graben englische Blätter die „Schlacht
bei Dorking" wieder aus oder erfinden eine neue, die auf der Voraussetzung
beruht, „eine andre feindliche Flotte" habe die englische geschlagen, und Deutsch¬
land schicke nun von den ostfriesischen Häfen aus, wo alles seit langer Hand sorgfältig
vorbereitet sei, eine Landungsflotte nach England hinüber. Mit Maßnahmen zur
Küstenverteidigung gegen einen deutschen Angriff hat man sich drüben ohnehin seit
längerer Zeit beschäftigt. Abgesehen von dem Hafen am Firth of Fife, der sich
direkt gegen Wilhelmshaven richtet, werden schwere Batterien an bestimmten Küsten-
Punkten gebaut und armiert. Dieses Doppelspiel in der englischen Presse, gleich-
zeitig ein englisch-französischer Krieg gegen Deutschland und ein englischer gegen
Frankreich, dabei ein fortgesetztes Schüren gegen Deutschland verbunden mit tiefen
Verbeugungen bor Rußland, die Brüskierung des so englandfreundlichen russischen
Botschafters von Benkendorf durch ein Blaubuch und zugleich ein Verbot an die
Singspielhallen, die Volksstimmung gegen Rußland und den Zaren zu montieren —
das alles sollte eigentlich den Schluß zulassen, daß die englische Politik sich an
einem Scheidewege befindet, aber über die weiter einzuschlagende Richtung im
unklaren ist. Wenigstens was Ostasien anbelangt. Dort einzugreifen hat Eng¬
land zunächst kein Interesse. Es könnte das auch nur zur See tun, und da fehlt
es an einem Kampsobjekt. Einstweilen hält ja die japanische Flotte die russische
im Schach. Mit Truppen in die Mandschurei zu gehn, dafür würde England
sich bestens bedanken, es hat an kostspieligen Vergnüge» dieser Art vollständig
genug. Die großen asiatischen Interessen Englands liegen vielmehr auf der Linie
vom Persischen Golf bis Tibet, dort handelt es sich um den direkten Schutz
Indiens und der Grenzländer. Während des südafrikanischen Krieges hat Kaiser
Nikolaus der Königin Viktoria bekanntlich das Versprechen gegeben, daß er die
Verlegenheiten Englands nicht ausnutzen »volle. Ob England jetzt bereit sein wird,
Reziprozität zu üben, oder ob es mit Beschleunigung alles daran setzen wird, durch
Besetzung vorgeschobner Positionen in Mittelasien und durch Etablierung einer
Hegemonie über Persien dem bisher so unaufhaltsamen russischen Eroberungsgange
Halt zu gebieten?
Auf dem eigentlichen Kriegstheater wird England ruhig zusehen, solange
Rußland dort keinen Verbündeten hat, oder bis die Chinesen etwa in den Krieg
eingreifen und dann ein neuer Aufstand gegen die Fremden in China die un¬
vermeidliche Folge sein wird. Dann würden freilich Situationen eintreten, die auch
uns nicht gleichgiltig lassen könnten. Bei jeder Gebietsverschiebung in Ostasien
infolge des Kriegs könnte England „zur Herstellung des Gleichgewichts" Kom¬
pensationen verlangen, wenn es sich nicht schon vorher vertraulich mit Rußland
darüber verständigt, und auch diese Kompensationen könnten unsre Interessen be¬
rühren. England leistet schon durch eine bloße Sympathie, fern von jedem aktiven
Beistande, Japan die wertvollste Hilfe, indem es den russischen Schiffen im Mittel¬
meer, am Suezkanal usw. die Kohlen versagt, und es so jedem russischen Geschwader,
das uicht eine Kohlenflotte mit sich führt, fast unmöglich macht, nach Ostasien zu
gelangen. Die trefflich redigierten Wochenübersichten der „Marine-Rundschau"
haben zwar ein Verzeichnis der Rußland zur Verfügung stehenden Kohlenstationen
gegeben, aber ob dort Kohlen in größerm Umfange zu erhalten sein werden?
Man erinnere sich, daß als Prinz Heinrich mit der „Deutschland" hinausging,
England an allen Häfen von Port Said bis Hongkong sämtliche Kohlenvorräte
ausgekauft hatte, und es nur dem energischen Zugreifen eines deutschen Konsuls zu
verdauten war, daß die deutschen Schiffe unterwegs noch Kohlen fanden. Unter
diesen Umständen ist es wenig wahrscheinlich, daß Rußland im Frühling seine
Ostseeflotte nach Ostasien senden oder gar einen Versuch mit der Flotte des Schwarzen
Meeres machen wird. Sogar wenn England seine Zustimmung gäbe, daß die letzt¬
genannte die Dardanellen passiere, würde Rußland im eignen Interesse diese Ge¬
schwader zuhause lassen, weil es England gegenüber wehrlos wäre, sobald es in
der Ostsee und auf dem Schwarzen Meere keine Flotte mehr hätte. Bedingung
für diese Entsendung wäre eine absolut korrekte Neutralität Englands und die
formelle Zusage, daß England gegen Rußland keinen Krieg führen werde. Aber
auch nach Überwindung all dieser Wenn und Aber käme immer noch das größte —
die Balkanfrage.
Die Absendung der Flotte des Schwarzen Meeres nach Ostasien käme einem Ver¬
zicht Rußlands auf seine aktive Beteiligung an der Lösung der Balkanwirren gleich
eine Rolle, in die kein russischer Kaiser willigen kann. Von dem Augenblick an wäre
Rußland mit seinen Balkaninteresfen England auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert
Um so bemerkenswerter ist es, daß jüngst der „Figaro," anscheinend als Dolmetscher
italienischer Anschauungen, für die freie Durchfahrt der russischen Flotte durch die
Meerengen eintrat und dies im Namen der Neutralität verlangte. Er führte dabei
aus, die Bedeutung des Prinzips der Neutralität bestehe in der Anerkennung des
absoluten Rechts der Kriegführenden, sich ohne jede fremde Einmischung zu schlagen
und zu verteidigen. Einem der Kriegführenden das Recht versagen, von allen seinen
Hilfsmitteln Gebrauch zu machen, verriete die Absicht, ihn seinem Gegner gegenüber
in die Bedingungen militärischer Jnferioritä't zu versetzen, das heiße soviel als diesem
eine indirekte Hilfe gewähren. Rußland werde im Notfalle diese Anschauungen
bei den Mächten geltend machen und — so schließt der „Figaro" — bei der
italienischen Regierung dabei keinem Hindernis begegnen. Wir glaube» nicht, daß
Rußland seine europäischen Küsten entblößen wird, um in Ostasien Seesiege zu
erringen, wo es bei gehöriger Umsicht und Nachhaltigkeit des schließlichen Erfolges
zu Laude unbedingt sicher ist. Die Entsendung der Flotte nach Ostasien würde
die militärischen Verhältnisse in Europa sehr zu seinen Ungunsten verschieben.
Der Herr Abgeordnete Dr. Beumer hat sich in der Reichstagssitzung vom
6. dieses Monats darüber beklagt, daß die „Grenzboten" die von ihm eingebrachte
Resolution zum Militäretat, wonach die Soldaten im Urlaubsfalle freie Eisenbahn¬
fahrt haben sollen, als den Weg zur Pnrlmnentsarmee bezeichnet hätten. Die
Partei verlange nicht, Urlaub erteilen zu können, sondern wünsche nur, daß im
Falle des Urlaubs die Fahrt auf der Eisenbahn frei sei. Der Herr Abgeordnete
hat für die nationalliberale Resolution recht, aber die freisinnige, die denselben
Gegenstand behandelt (Ur. 241), geht viel weiter und verlangt „mindestens
einmal während der Dienstzeit" für eine Reise in die Heimat freie Hin- und Rück¬
fahrt. Hier wird die Sache also schon obligatorisch. Nicht gegen den Wunsch
als solchen haben wir uns gewandt, sondern gegen die Form der Resolution,
die in den Augen der Meuge den Charakter eines dem Soldaten zustehenden
Rechts annimmt und deshalb gerade in Heeressachen von allen staatserhaltenden
Parteien vermieden werden sollte. In der Sache selbst gehn wir sogar noch weiter
als die beiden Resolutionen und wünschen, daß der Sold während einer Urlaubs¬
zeit bis zu vierzehn Tagen, soweit es sich nicht um Ernteurlanb handelt, womöglich
nicht einbehalten werde, zumal der Soldat ja auch während des kurzen Urlaubs
Soldat bleibt.
Wir haben also keinen Einwand gegen die Sache, sondern gegen die Form
der Resolution des Reichstagsbeschlusses erhoben und sind der Meinung, es
würde eine viel bessere Wirkung gehabt haben, wenn die Parteien übereinstimmend
einen auf die freie Fahrt bezüglichen Wunsch zu erkennen gegeben hätten, dessen
Erfüllung ja bekanntlich gar nicht vom Reich, sondern von den Einzelregierungen
abhängt. Das Reich kann höchstens den Abzug des Soldes aufheben. Da nicht
überall Eisenbahnen gehn, so hätte zur Vervollständigung der Resolutionen übrigens
hinzugefügt werden müssen: „bezw. auch für Beförderung mit der Post oder mit
sonstigen staatlichen Verkehrsmitteln." Daß die Urlaubserteilung ohnehin längst
in einem sehr großen, fortwährend wachsenden Umfange erfolgt, lehrt das militärische
Aussehen unsrer Eisenbahnzüge vor und nach den großen Festen zur Genüge. I"
die zwei Dienstjahre fallen sechs große Feste. Es müßte also, wenn jeder Soldat
während seiner Dienstzeit „mindestens einmal" freien Heimatsurlaub haben so^'
zu jedem großen Feste der sechste Teil der Armee und Marine auf Urlaub
gehn, das heißt, die deutschen Eisenbahnen müßten zu jedem großen Feste un¬
gefähr hunderttausend Mann hin und zurück befördern. Auch noch in Schnellzügen?
wie die freisinnige Resolution verlangt! Außerhalb der Festzeit noch im größern
Umfange Urlaub zu erteilen, dürfte bei der knappen Dienstzeit der Fußtruppe»
kaum ausführbar sein. Die Beantragung von „Resolutionen," die die Interim
des Dienstes auch nur annähernd berühren, sollte doch ein Privilegium oäiosnw
In dem von König Wilhelm
dem Ersten am 28. Februar 1866 nbgehaltnen Ministerrat, wobei außer dem
Kronprinzen und den Ministern auch Moltke und Manteuffel sowie der Vertreter
Preußens in Paris, Graf Goltz, zugegen waren, erklärte Bismarck voran und
ebenso Moltke und Manteuffel mit deu sonst Anwesenden, außer Finanzminister
Bodelschwingh, der sich für einen Ausgleich mit Österreich in der schleswig-
holsteiuischen Frage äußerte, es sei unvermeidlich, salls Österreich nicht freiwillig
aus den Herzogtümern weiche, zum Schwerte zu greifen. Aber der Kronprinz
widersprach, weil der Krieg mit Österreich ein Bruderkrieg sei, und sich das Aus¬
land gewiß hineinmischen werde. Der König selbst war mit Bismarcks Plan ein¬
verstanden, einen engern Bund unter Führung Preußens zu schaffen, worüber er
übrigens schon vor der Berufung Bismarcks einen Plan durch den Grafen Berns-
dorff den deutschen Höfen hatte mitteilen lasten; nur scheute er vor einem Kriege
mit Österreich zurück. Aber in diesem Ministerrat überraschte er mit der Be¬
merkung, der Besitz der Herzogtümer sei eines Krieges schon wert, doch sei eine
friedliche Erlangung immerhin wünschenswerter; wenn es aber sein müsse, sei er
auch zum Krieg entschlossen, den er, nachdem er Gott gebeten habe, ihm den
richtigen Weg zu zeigen, für einen gewagten halte. Den Widerspruch in diesen
Worten rügt Heinrich Friedjung in seinem Geschichtswerk: „Der Kampf um die
Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866" (Aufl. 5 von 1901/2, Bd. 1, S. 156),
dem dieser Auszug entnommen ist, mit der Bemerkung: „Nur zu gut stimmte das
Wort Gottes mit den Wünschen überein, die er sich selbst nicht eingestand." Das
Ergebnis des Ministerrath war wichtig genug, es geheim zu halten. Unterhand¬
lungen Bismarcks mit Napoleon und Moltkes mit Italien, die ja nur auf einen
Krieg mit Österreich gerichtet sein konnten, konnten nicht verborgen bleiben. Aber
Graf Bismarck machte aus seinen großen Plänen ebensowenig ein Geheimnis wie
aus dem Widerstreben des Königs. Ein von Moltke ausgearbeiteter Entwurf zu
einem Angriffskriege gegen Österreich, der mit einem überraschenden Überfall
Sachsens und einer Überrumpelung der Bundesfestung Mainz beginnen sollte, wurde
als ein gegen alles Völkerrecht verstoßender Friedensbruch vom König Wilhelm
abgelehnt; aber Bismarck kannte den Stolz der Habsburgischen Monarchie, die eher
einen Krieg wagen, als sich zu einem freiwilligen Zurückweichen in der schleswig¬
holsteinischen Frage herbeilassen werde, besser als sein König. Die Stimmung am
Berliner Hofe und im Kabinett zu Berlin kannte man am österreichischen Hofe
aus den Berührungen mit den höchsten Kreisen der Berliner Gesellschaft, bis in
die königliche Familie, sehr wohl. Biegeleben und Belcredi warnten vor einem
plötzlichen Überfall Sachsens und Böhmens durch Preußen. Aus Berlin waren
Berichte an das Auswärtige Amt in Wien gelangt, daß gewichtige Vertreter einer
solchen Ansicht unter den preußischen Militärs seien. Gerüchte von preußischen
Rüstungen, wenn sie auch noch grundlos waren, liefen schon um.
Eine wegen ihres Urhebers Beachtung verdienende Warnung des Bankiers
Bleichröder in Berlin, der in finanziellen Dingen Berater Bismarcks wie auch des
Grafen Hohenthal, damals sächsischen Gesandten in Berlin, war, und dessen Inter¬
esse darin bestand, sich im Falle eines Krieges beiden Parteien zu empfehlen, be¬
unruhigte damals den sächsischen Hof. Bleichröder wollte erfahren haben, daß im
Ministerrate vom 28. Februar die Frage eines Überfalls auf Sachsen ernstlich er¬
wogen worden sei; dabei sei beschlossen worden, Sachsen erst zu besetzen, wenn der
Krieg mit Österreich unabwendbar geworden sei, und dann mit der Kriegserklärung
sogleich in Sachsen einzurücken. Es mochte das aus dem Moltkischeu Entwurf be¬
kannt geworden sein, der sich ja ernstlich mit dem Plan eines preußischen Einfalls
in Sachsen beschäftigt hatte. Graf Hohenthal war von dieser Mitteilung auss
äußerste betroffen und gab seiner Regierung sofort Nachricht. Er konnte jedoch Bis¬
marck nicht gut selbst über das ihm von Bleichröder anvertraute Staatsgeheimnis be¬
fragen und versuchte es, ihn in andrer Weise zur Aussprache zu veranlassen. Er lud
Bismarck für den 10. März zum Diner ein, und seine Gattin übernahm es, den
unbarmherzigen Feind ihres Vaterlands auszuforschen. Bei dem Mahle stellte sie
an Bismarck, ihren Tischnachbar, die Frage, ob er wirklich Sachsen überfallen und
Österreich bekriegen wolle? Dieser aber, vielleicht nur sein kühnes Spiel fortsetzend,
ging ohne Zögern auf den verfänglichen Gesprächsstoff ein und setzte die Gräfin
durch anscheinend offenherziges Enthüllen des die Zukunft deckenden Schleiers in
Schrecken. „Zweifeln Sie nicht, liebe Gräfin, antwortete er, ich habe nie einen
andern Gedanken gehabt, und ich habe mich seit meinem Eintritt ins Ministerium
stets damit beschäftigt. Der Augenblick naht; unsre Kanonen sind schon heute ge¬
gossen, und bald werden Sie Gelegenheit haben, sich zu überzeugen, ob unsre ver¬
besserte Artillerie nicht der österreichischen überlegen ist." (Das war nun freilich
im folgenden Kriege, nach der Geschichtschreibung, nicht der Fall, Wohl aber war
das neue preußische Zündnadelgewehr allen Waffengattungen der Österreicher über¬
legen.) Und Bismarck habe ihr dann, wie erzählt wird, auf die Frage, ob sie
sich auf ihre Besitzung bei Leipzig oder auf die in Böhmen zurückziehn solle, mit
ernster Miene geraten, sie möge ruhig bei Leipzig bleiben, denn in der Nähe ihres
böhmischen Schlosses würden die Österreicher angegriffen und geschlagen werden.
Ob dies bloß die Verspottung einer neugierigen Fragerin oder ein Mittel war,
durch die sächsische Gesandtschaft in Berlin die Welt in Besorgnis und Verwirrung
zu setzen, konnte in Wien nicht entschieden werden. Herr von Bismarck selbst
wurde von mehreren Diplomaten gefragt, was an der Sache sei, und da erwiderte
er heiter, er habe sich mit der Dame einen Scherz gemacht.
Freilich lehrten die folgenden Monate, welcher Ernst dahinter verborgen lag.
Den französischen
Chauvinisten und Revancheschreiern, die alle Vorgänge im deutschen Heerwesen mit
nervöser Spannung verfolgen, haben die jüngsten Militärromane und die deutsche
Presse in der letzten Zeit viel Stoff zu hoffnungsfreudigen Betrachtungen gegeben.
Eins der wütendsten Hetzblätter, I^v Hgulois, brachte vor einigen Wochen einen
Leitartikel von dem Oberstleutnant Roussel, worin er seinen Landsleuten ein Licht
über die gefürchteten deutschen Offiziere aufsteckt. Da seine Betrachtungen in der
Übersetzung viel von ihrer Tollheit verlieren würden, so geben wir einige der
Phrasen im Urtext:'
I^o corps av8 cMoiors, gutrotoi8 si riZourou8vinont 8ölootionno 8omblo, 8g.ban-
äoimor ü ,jo no sais ciuol tourbillon alö Mssions violontos, on soinbront xou ü. psu
sa clignito, 8on xro8tiM ot 8on gutorito. II 80 ig.88o ä'uno g,u8torno ami ^jaäi8 gvait
kg.it 8g toros, se, 8'1I ggrclo 8g morguo ä^ggrogblo, gvoo a.no1<iuo8 cingulo8 x-ro-
tosÄoniiollLS, o'ost qu'it mot tont on tgcMo, ot rng.8a.ne; Äoriioro son gttitucko tigutaino
un xrotoncl gKgi880mort inorgl. ^o no poux ni oxgxoror, ni Aonorgli8or g 1'gdsurclo.
^'ontonck Ämxlornont r68umor alö8 imxro8Sion8 göö.ni808> avouöos, a.no nul, nomo
pgrnii 1v8 ellguvin8 g,IloMgncl,8, no al8siinulo, ot g.uxcjuollos lo 8vuvorgin lui-anno
no rosto pg.8 inäitkorsnt.
?c>ur 1o8 8on8-oktioisr8, <lui von8titugiont nggnöro uno as8 l>g,808 los piu8 8oUäss
av l'öäiüeo, it on va xi8 onooro. 0n non8 ig8 xro8ordo oommo lo torrgin ä'elootio»
av ig Korruption ot av 1'immorg.ins.'
^jouton g. oolg, — et lo8 prooo8 inL088gut8 8ont til. xour lo prouvor — a.u^
n'oxiÄo clgns l'grmoo gllomgnäo guoun lion mora.l ontro 1s olrok ot 1<z suboräonnö-
1gnäi8 ein'on ?rgnoo, mglgrv ton3 is8 se?ort8 av8 g,ntiinilitgri8to8, los raxports
niörgreniciu<Z8 sont oonstgmmont konäös sur lo ro8rook, l'o8diuo ot 1'gtkootion rooi-
xroouos, ils 80 r68umont olrosi nos voi8in8, on Krutglitö8 8g.NAlgnto8 ot on violonoos
av ton8 turioux. I^'ottioior 7 torno uno ogsto; lo 8on8-ottioior uno elg88o; lo 8viage
un troupogu, ein'on molto g, ooup8 av xlgt alö 8gbro, ciuancl 00 n'ost pas ^ ooups
av voinZ.
'
1vllo 08t ig. situgtion oxgoto av ootto grmöo!
Außerhalb des Königreichs Sachsen wird es kaum bekannt
sein, daß der um 22. Juni 1882 gestorbne Großkaufmann Franz Ludwig Gehe
in seinem Testament zwei Millionen Mark für den doppelten Zweck bestimmt hat:
„erstens eine geeignete Vorbereitung und Ausbildung von Männern, die sich dem
Dienste der Gemeinden oder einer andern öffentlichen Wirksamkeit widmen wollen,
zu unterstützen; zweitens Herren, die ohne für ihr Alter sorgen zu können, ihr
Leben in verdienstlicher Weise dem öffentlichen Wohle geweiht haben, beim Versagen
ihrer Kräfte, durch Aufnahme in ein zu begründendes Herrenstift, eine Art mo¬
dernes Prytaneum, oder nach Umständen durch Verleihung von Geldbenefizien vor
Bedrängnis zu bewahren." Den ersten dieser beiden Zwecke sucht die Gehe-
stiftung, die ihr vorläufiges Heim als Untermieterin des Vereins für Erdkunde
in Dresden, Kleine Brüdergasse 11, gefunden hat, durch Veranstaltung von Vor¬
tragszyklen, Einzelvorträgen, Diskussionsabenden und durch eine über 50000
Schriften umfassende Bibliothek mit Lesesaal zu erreichen, die sie den Bildungs¬
bedürftigen zur Benutzung darbietet. Im Winter 1902/3 nun hat die Gehestiftung
durch einen Vortragszyklus die Fachleute auf die bevorstehende deutsche Städte¬
ausstellung vorbereitet, und der Sekretär der Gesellschaft, Herr Theodor
Petermann, hat dann durch die Veröffentlichung dieser Vorträge (Die Gro߬
stadt, als neuntes Jahrbuch der Gehestiftung 1903 bei Zahn und Jaensch in
Dresden erschienen) eine bleibende Frucht der Ausstellung auch solchen gereicht, die
sie nicht besucht haben.
Im ersten der sieben Vorträge behandelt Karl Bücher „die Großstädte in
Gegenwart und Vergangenheit" und zeigt, daß die moderne Großstadt von der
asiatischen Despotenresidenz, der klassischen Polis und der mittelalterlichen Stadt etwas
grundverschiednes, ja nach dem hergebrachten Begriff eigentlich überhaupt keine
Stadt mehr ist (was die englische Bezeichnung dieser neuen Erscheinung durch den
neuen amtlichen Ausdruck Urban Distrikt — zum Unterschiede von Borough und
Town — rechtfertigt), und daß auch das Schlagwort vom Zuge nach der Stadt
nicht zutrifft. Bei dem vormals nie dagewesenen Wachstum der Bevölkerung
hätten die Großstädte auch ohne Zuzug durch ihren innern Zuwachs bedeutend an¬
schwellen müssen; der Zuzug bleibe allerdings nicht aus, aber die Bewegung sei
nicht gerade auf die Stadt gerichtet — viele alte Städte verkümmerten sogar —,
sondern auf den Ort der größten Erwerbsmöglichkeit, und das sei ebenso oft eine
Land- wie eine Stadtgemeinde. Nicht so viel wie Verstädterung bedeute die
heutige Binnenwanderung (zunächst, würden wir hinzusetzen, denn am Ende bleibt
sie nirgends aus), sondern nur Anhäufung der Volksmassen an den Orten mit der besten
Aussicht auf Erwerb.
Es handelt sich also bet der heutigen Verteilung der Bevölkerung um die
letzte der vier Beziehungen des Volks zu seinem Boden, von denen Friedrich
Ratzel in seinem Vortrage über „die geographische Lage der großen Städte"
ausgeht; dem Menschen ist sein Boden: Wohnstätte, Heimat, Schutzgebiet und
Nährboden. Es versteht sich, daß der Meister anthropogeographischer Darstellung
diese vier Beziehungen an den Großstädten mit der Anschaulichkeit darlegt, die
man bei ihm gewohnt ist; auch eine Anzahl von Plänen gibt er bei. Da die
vierte der genannten Beziehungen schon an sich für die Bewohner eines Ortes
einen weitern Lebens- und Wirkungskreis abgrenzt als die andern drei — wenn
man bei einer so schwankenden und unbestimmten Beziehung von abgrenzen reden
darf —, der heutige Verkehr aber für die Industrie- und die Handelsorte ein¬
ander kreuzende und deckende Erwerbskreise schafft, deren jeder sich über den
ganzen Globus ausdehnen kann, so ist die Verkehrslage Hauptbedingung für das
Entsteh« einer Großstadt. Am Schluß hebt Rachel eine Leistung der Städte hervor,
an die bisher noch wenig gedacht worden ist, die aber, einmal erkannt, Wohl als
die wichtigste geschätzt werden wird. „Als die Siedlungen so groß und so fest ge¬
worden waren, daß der siegreiche Eroberer eines Landes sie nicht mehr mit leichter
Mühe zerstören konnte, war ein großer Fortschritt im Völkerleben gemacht: Staaten
konnten nicht mehr vollkommen entwurzelt, Völker nicht mehr zerstreut werden,
auch nach der tiefsten Niederlage blieb von einem Volke noch etwas übrig. Da¬
durch gewannen die Städte eine höhere Bedeutung für die Dauer der
Völker und zumal der Staaten. So weit es einen Fortschritt in der Ge¬
schichte gibt, muß er in der Förderung der Arbeit des heutigen Geschlechts durch
die Berührung mit dem Ertrage der Arbeit des gestrigen liegen. Für diese Er¬
haltung und Vermehrung der Kulturgüter sind die Städte als Lebenszentren und
als Denkmäler geschaffen."
Dr. Georg von Mayr spricht über „die Bevölkerung der Großstädte," und
zwar über ihre Zusammensetzung, Schichtung, Körperbeschaffenheit und Fruchtbar¬
keit. Die Frage, ob der Mensch in der Großstadt degeneriere, ist ungeheuer wichtig,
weil heute in Deutschland schon jeder sechste Mensch (in England jeder dritte) ein
Großstädter ist; 1850 war (nach Bücher) unter 38 Deutschen 1 Großstädter, 1870
unter 20, 1880 unter 13, 1890 unter 8. Mayr nun zeigt in einer Übersicht
über die statistischen Untersuchungen, wie ungemein schwierig die Beantwortung der
Frage ist, und daß vorläufig das statistische Material zur Beurteilung der äußerst
verwickelten Verhältnisse, die da in Betracht kommen, noch gar nicht verarbeitet ist.
Er warnt vor voreiligen Übertreibungen nach beiden Seiten, läßt aber durchblicken,
daß das vorhandne Material in Beziehung auf Militärtauglichkeit und Geburten¬
überschuß den Pessimisten einigermaßen Recht zu geben scheint. Auf die bange
Frage: Wie lange noch wird und kann das so weiter gehn mit dem Wachstum?
antwortet er mit dem Trost: Gott wird weiter helfen!
Im vierten Vortrag über „die wirtschaftliche Bedeutung der Großstädte" von
Professor Dr. Waentig wird zunächst ein Überblick über die fortschreitende Ver¬
städterung der Vereinigten Staaten gegeben und dann fortgefahren: „Merkwürdig
ist es nun, daß Deutschland . . . trotz großer natürlicher und kultureller Verschieden¬
heiten im allgemeinen doch die gleichen Entwicklungstendenzen erkennen läßt."
Nein, das ist gar nicht merkwürdig. Wo anders soll denn unser jährlicher Über¬
schuß hin als in die Städte, da doch der landwirtschaftliche Grund und Boden
verteilt und in festen Händen ist? Dagegen ist es merkwürdig, daß die noch so
schwach besiedelten Vereinigten Staaten schon diese bei uns durchaus natürliche
Entwicklung mitmachen, und dafür muß man allerdings mit Waentig die „kapita¬
listische Verkehrswirtschaft" verantwortlich machen. Daß zu den Ursachen, die
bei uns den an sich unvermeidlichen Prozeß verstärken und beschleunigen, die all¬
gemeine Militärdienstpflicht gehört, die den jungen Mann im entscheidenden Alter
aus seinen Verhältnissen herausreißt, dem Dorfleben entfremdet und mit den wirk¬
lichen und den Scheinvorzügen des Stadtlebens bekannt macht, hat keiner der Vor¬
tragenden erwähnt. Am Schlüsse der Abhandlung wird der neue Mensch gepriesen,
den die Großstadt erzeugt hat, dessen hervorstechender Charakterzug höchste geistige
Wachsen, dessen Daseinsprinzip größte Lebensintensität in Arbeit und Genuß sei.
Und auch noch die Überspannung und Überreizung wirke Gutes: sie erzeuge die
Sehnsucht nach dem Lande. „Nicht der Ländler mit seinem dämmerhaften Bewußt¬
sein, der Städter, der Großstädter war es, der das Land ästhetisch entdeckte."
Zukunftsideal sei die wechselseitige Durchdringung von Stadt und Land, ihre Ver¬
schmelzung zu einer höhern Einheit. (Hier hätte die Deutsche Gartenstadtgesellschaft
erwähnt werden können, die freilich wohl noch nicht gegründet war, als der Vor¬
trag gedruckt wurde. Eben geht uns die Nummer 5 ihrer Korrespondenz zu. Als
Geschäftsstelle ist Schlachtensee genannt; für den Vorstand zeichnet Heinrich Hart.)
ol'. Simmel liefert in seinem Vortrag über „die Großstädte und das Geistes¬
leben" eines seiner feinen und saubern seelenanatomischen Präparate, die man weder
auszugsweise wiedergeben noch durch Vorlegung von Probestücken empfehlen kann.
Besondre Beachtung verdient in dieser Röntgenphotographie der Psyche des Gro߬
städters der Gedanke, daß es hauptsächlich die Wucht des objektivierten, des in einer
Unmasse von Erzeugnissen verkörperten und vergegenständlichten Geistes ist, was
die Einzelpersönlichkeit zu erdrücken droht und sie reizt, sich wenigstens durch Ab¬
sonderlichkeiten geltend zu machen.
Theodor Petermann verfolgt in seiner Abhandlung über „die geistige
Bedeutung der Großstädte" die geistige Entwicklung Deutschlands von der Kloster¬
zelle bis in die Großstadt und stellt namentlich das Verhältnis des Buchdrucks, der
Presse und der Universitäten zu den Großstädten dar; er zeigt u. a., warum in
früherer Zeit die Hochschulen auch in kleinen Städten gedeihen konnten, hente aber
der Großstadt bedürfen. Es ist jedoch „kein Gefühl ungemischter Freude, mit der
man schließlich auf die Ansammlung so vieler geistiger Potenzen und Impotenzen
in den Großstädten Hinblicken kann. ... Die Großstadt ist zumeist eher eine Feindin
als eine Freundin der großen Originale, die sich dem landläufigen Mittelmaße nicht
einfügen wollen. Hat freilich eine nicht tot zu machende Kraft diesen Widerstand
überwunden, dann bietet ihr die Großstadt einen ungeheuern Resonanzboden."
Professor Dr. Dietrich Schäfer behandelt „die politische und militärische
Bedeutung der Großstädte." Er weist u. a. uach, daß der Konstitutionalismus noch
mehr konzentriert als der Absolutismus. Und ihm kommen auch noch die heutigen
Verkehrsanstalten zu Hilfe. Für den Großstädter, der ja die Politik macht, ist das
Land gar nicht mehr vorhanden. „Wenn man in einer der schönen süddeutschen
Universitätsstädte einen Studierenden fragt, was er denn auf der Hin- und Her¬
reise uach seiner Berliner oder Hamburger Heimat Schönes und Interessantes ge¬
sehen habe, erhält man in neun unter zehn Fällen die Antwort: was es denn da
zu sehen gebe? Die Reise wird in der Regel bei Nacht gemacht." Wenn be¬
schrieben wird, wie im modernen Europa die Hauptstädte die Politik machen, und
dann bemerkt wird, nur in England nicht, so hätte doch auch der Grund dieser
Ausnahme angegeben werden müssen. England ist eine aristokratische Republik mit
monarchischer Fayade. Es sind also die Landlords, die Fabrikanten und die Gro߬
händler, die die Politik machen. Von diesen drei Bestandteilen des herrschenden
Körpers residiert nur ein Teil des dritten in London, denn London ist keine Fabrik¬
stadt. Und es ist darum auch nicht sozialdemokratisch, denn der größte Teil seiner
untern Mittelstandschicht besteht aus Leute», die vom Handel ihr Brot haben; das
Lumpenproletariat über kommt politisch nicht in Betracht. Von England im allge¬
meinen wird gesagt, daß dort „eine grundsätzlich umstürzlerische Richtung trotz freier
Verfassung und noch freierer politischer Gewohnheiten in den vertretenden politischen
Körperhaften bis jetzt kaum zu Worte gekommen ist." Wir würden nicht trotz
sondern wegen geschrieben haben; selbstverständlich ist die freie Verfassung nicht die
einzige Ursache. Daß in Frankreich der Sozialismus, trotz Block (Sozialisten, die
Minister oder ministeriell werden, erleiden eine ähnliche Verwandlung wie ein
liberaler Kardinal, der Papst wird), schwächer ist als in Deutschland, erklärt sich,
was Schäfer nicht gehörig hervorhebt, aus dem Umstände, daß Frankreich mit seiner
stationären Bevölkerung immer noch mehr Agrarstaat als Industriestaat ist.
Unsre Ansicht über Haeckel haben wir so oft und fo gründlich
ausgesprochen, daß wir nicht nötig haben, an das Erscheinen der vorliegenden zwei
prachtvoll ausgestatteten Bände (Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des
Menschen. Von Ernst Haeckel. Fünfte Auflage. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1903).
die bei der Popularität des Verfassers reißenden Absatz finden werden, lange Er¬
örterungen zu knüpfen. Obwohl Laien in der Zoologie, vermögen wir doch die
Verdienste zu würdigen, die sich der eifrige Forscher um die Anatomie, Morphologie
und Biologie erworben hat, und sind ihm dankbar für die Aufdeckung des Zusammen¬
hangs der Keimesgeschichte mit einer zwar hypothetischen aber wahrscheinlichen
Stammesgeschichte. Dagegen bleiben wir dabei, daß die Beschreibung des Verlaufs
der Entwicklung noch keine Erklärung, die Erhebung der Naturwissenschaft zur
Naturphilosophie zwar ein Verdienst, die Verachtung der sich bescheiden aus exakte
Beschreibung beschränkenden Naturwissenschaft aber nicht gerechtfertigt ist, und daß
der Naturphilosoph seine Zuständigkeit überschreitet, wenn er seine hypothetischen
Erklärungsversuche als Dogmen verkündigt, die in Zukunft statt der Dogmen des
Christentums gelten sollen. Noch dazu tut Haeckel das oft in beleidigender Form,
so im Vorwort zur fünften Auflage. Er schreibt da von seinem Buche über die
Welträtsel: „Wenn diese »Gemeinverständlichen Studien über die monistische Philo¬
sophie« sich eines ungewöhnlichen Erfolgs erfreuten, so schreibe ich denselben keines¬
wegs einem besondern Vorzuge meines Buchs zu, sondern vielmehr dem lebhaften
Wunsche weiter Bildungskreise, mit den Ergebnissen der fortgeschrittnen Natur¬
philosophie bekannt und von dem Aberglauben der herrschenden Theologie und Meta¬
physik befreit zu werden." Wenn der Zoolog vom Aberglauben der Theologie und
der Metaphysik spricht, dann haben auch der Theolog und der Metaphysiker das
Recht, den Glauben der Darwinianer an Darwins und Haeckels Hypothesen Aber¬
glauben zu schelten.
um Aufsatze: „Der Held von Graudenz" (Grenzboten, Heft 5,
7 und 8). Infolge eines Versehens, an dem ich allein die Schuld trage, ist der
Hinweis auf die Benutzung von Frölich: De Courbiere, Graudenz 1890, verab¬
säumt worden. Frölich hat zuerst die Legende zerstört, wonach Courbiere die Worte
gesprochen haben soll: „Dann bin ich König von Graudenz." Auch hat er den
Nachweis erbracht, daß dem alten Helden mit Unrecht der Vorwurf der Grau¬
samkeit und Härte gemacht worden ist. Das soll hierdurch richtig gestellt werden.
> s war ein reiches Soldatenleben, das der Tod am 5. März dieses
Jahres ausgelöscht hat. Wie die Laufbahn so vieler bedeutender
Generale des preußischen Heeres hat auch die des Grafen Alfred
Waldersce im Kadettenhause begonnen. Er durfte bis zum Alter
> von zweiundsicbzig Jahren in fast ungebrochner Kraft dem Heere
aktiv angehören, erst der Tod nahm ihm den Marschallstab aus der Hand.
Aber im übrigen unterscheidet sich sein Lebensgang recht wesentlich von dem
der meisten preußischen Heerführer. Der hervorragend begabte Soldat hat dem
Frontdienst nur kurze Zeit, von den vierundfünfzig Jahren seines Dienstlebens
wohl keine fünfzehn Jahre lang angehört. Vom Kadettenhaus trat er mit
achtzehn Jahren als Leutnant in die Gardeartillerie, in deren Reihen er
— abgesehen vom Besuch der Artillerie- und Ingenieurschule und mehreren
andern teils kürzern, teils langem Unterbrechungen — bis zum Hauptmann
vorrückte. Im Jahre 1865 wurde er als solcher zum Adjutanten beim General¬
feldzeugmeister, dem Prinzen Karl von Preußen, dem Bruder des Königs,
berufen, von da ab ist er nur noch auf zwei an Unterbrechungen ebenso
reiche Jahre als Kommandeur des 13. Ulanenregiments vorübergehend in den
Frontdienst zurückgekehrt. Er ist niemals Brigndckommandeur und niemals
Divisionskommandeur gewesen, aber dennoch hatte er einen klaren Blick für
die Bedürfnisse wie für die Leistungen der einzelnen Waffen. Als er dann
im Jahre 1891 wider sein Erwarten, nachdem er schon seit drei Jahren den
Rang als Kommandierender General hatte, noch zur Führung eines Armee¬
korps berufen wurde, hat sich sicherlich keiner der seinem Korps angehörenden
Truppenteile über Vernachlässigung durch den Kommandierenden zu beklagen ge¬
habt. In dieser seiner Stellung als Kommandeur des 9. Armeekorps (Schleswig-
Holstein) war er anch der Marine näher getreten, war ihrer Entwicklung
und ihren Aufgaben mit Interesse gefolgt. Als er sich bei seiner Abberufung,
nach siebenjähriger Kommandoführnng in Altona, von der Kieler Station
verabschiedete, ahnte er nicht, daß er nach zwei Jahren unter einzigartigen
Verhältnissen auch einen großen Teil der Flotte unter seinem Oberbefehl
haben sollte.
Als Graf Waldersee am 27. April 1850 bei der Gardeartillerie eintrat,
stand er unter den Eindrücken, die nach den beiden bewegten Revolutionsjahren
die ganze Armee, zumal aber die Berliner Garnison, erfüllten, und die uns
General Prinz Kraft tzohenlohc in seinen vom General von Teichmann heraus¬
gegebnen Aufzeichnungen, deren weitere Veröffentlichung leider unterbrochen worden
ist, so überaus fesselnd geschildert hat. Prinz Kraft Hohenlohe war fünf Jahre
zuvor in das Regiment getreten; die für heutige Anschauungen zum Teil un¬
glaublichen dienstlichen Verhältnisse, in denen sich der Prinz zu bewegen hatte,
werden für den jungen Grafen Waldersee nahezu dieselben gewesen sein. Er¬
wähnt sei hierbei noch, daß Prinz Kraft Hohenlohe und Graf Waldersee die
ersten und bis heute die einzigen diensttuenden Flügeladjutanten waren, die aus
der Artillerie hervorgegangen sind, der erste von Friedrich Wilhelm dem Vierten,
der andre von König Wilhelm ernannt. Beiden Männern war es vergönnt, in
den verschiedensten Stellungen dem Vaterlande große und wichtige Dienste zu
leisten. Den Grafen Waldersee finden wir dann im Jahre 1866 als Adjutanten
des Prinzen Karl im Gefolge des Königs bei Königgrütz. Zehn Tage später wird
er als Hauptmann in den Generalstab versetzt, noch vor Ablauf des Monats
zum Major befördert und dem General von Moltke beigegeben. Nach sechzehn¬
jähriger Dienstzeit Major im Generalstabe — das darf für damalige Verhält¬
nisse als eine ganz außerordentliche Auszeichnung angesehen werden. Nach dem
Kriege wurde Graf Waldersee zum Gouvernement in Hannover kommandiert,
um die Angelegenheiten der ehemaligen hannoverischen Offiziere zu ordnen. Daß
der damals vierunddreißigjährige Major mit dieser schwierigen Aufgabe, die ein
hohes Maß von Takt und Gewandtheit forderte, betraut wurde, zeugt ebenso für
die außerordentliche Befähigung des also Ausgezeichneten, für seine Umsicht, seinen
Charakter, für seine Fähigkeit, Menschen zu beurteilen und zu behandeln, wie
auch für die großartige Eigenschaft des Königs, sich für jede Aufgabe den richtigen
Mann herauszusuchen. Auf jener damaligen Dienstleistung des Grafen Waldersee
in Hannover, die ihn mit so vielen Menschen in Berührung gebracht hatte, auf
seinem dabei bekundeten Billigkeitssinn, seiner vornehmen Denkungsart und seiner
Geschicklichkeit beruhen zum nicht geringen Teile das Ansehen und die Popu¬
larität, deren er sich in Hannover sein Leben lang erfreut hat.
Die ihm gestellte Aufgabe gab ihm zugleich vielfach Gelegenheit zum Ein¬
blick in die Zivilverwaltung, wie sie ihn auch mit den: Ministerpräsidenten
Grafen Vismarck in Verbindung setzte. Im Stäbe des zehnten Armeekorps
tätig, erwarb er sich die hohe Anerkennung seines sonst so gefürchteten Komman¬
dierenden Generals von Voigts-Nheetz, der vor der Berufung Moltkes all¬
gemein als der künftige Chef des Generalstabs der Armee gegolten hatte. Seine
warme Empfehlung führte wohl ebenso wie die Bekanntschaft mit Bismcirck
dazu, daß Graf Waldersee zu Anfang des Jahres 1870 als Militärattache zur
Botschaft nach Paris kommandiert wurde, eine Stellung, in der er unter dem
2. Mai auch zum Flügeladjutanten des Königs vorrückte. Graf Waldersee
machte sich sehr schnell mit den Aufgaben seines neuen Postens vertraut, seine
Berichte über das französische Heer und die militärischen Hilfsmittel Frankreichs
sind für die deutsche Heeresleitung vom höchsten Werte gewesen. Eine populäre
Zusammenstellung über die Marsch- und Gefechtsweise der französischen Armee,
ihren Lagerdienst usw., eine Art „kleiner Waldersee" des französischen Heeres,
gelangte in den Tagen nach der Kriegserklärung vom 19. Juli in Berlin zur
Veröffentlichung und ist in vielen Tausenden von Exemplaren als „Leitfaden
für den Sieg" mit nach Frankreich gewandert. Bei der Mobilmachung wurde
Waldersee zum Oberstleutnant befördert und in das Große Hauptquartier be¬
rufen. Seine dortige dienstliche Stellung führte ihn häufig mit Bismarck zu¬
sammen, an dessen Tisch er ein nicht seltner Gast war. Buschs bekannte Auf¬
zeichnungen enthalten darüber mancherlei Material. Zum erstenmal finden wir
ihn am 21. August in Commercy erwähnt, wo sich Bismarck beim Könige
bemüht hatte, die Verleihung des Eisernen Kreuzes an die Süddeutschen durch¬
zusetzen, aber sowohl beim Monarchen als bei Moltke auf entschiednen Wider¬
spruch gestoßen war.
Der Krieg brachte dem Grafen Waldersee Gelegenheit zu einer hervor¬
ragenden Dienstleistung, die nicht nur die Augen der gesamten Armee, sondern
auch weiter Kreise im Vaterlande auf ihn richtete. Die Operationen gegen die
französischen Neuformationen an der Loire waren durch die dazu bestimmte
Armeeabteilung des Großherzogs von Mecklenburg und die gegen Mitte No¬
vember nach der Kapitulation von Metz dort eingetroffne zweite Armee nicht
mit dem Grade von Umsicht und Energie betrieben worden, den die Kriegs¬
lage verlangte. Man begann in Versailles wegen der weitern Entwicklung der
Dinge Besorgnis zu empfinden, und der König, der den Optimismus seiner
militärischen Umgebung seit Sedan ohnehin nicht zu teilen vermochte, mit der
Berichterstattung der beiden genannten Oberkommandos auch wenig zufrieden
war, beschloß einen Offizier dorthin zu senden, der in unabhängiger Stellung
die Sachlage prüfen, ihm Bericht erstatten und zumal bei dem Prinzen Friedrich
Karl die Anschauungen des Königs vertreten sollte. Zu diesem Entschluß
scheint der König nach dem Militärvortrage vom 23. November gelangt zu
sein. Die Wahl war nicht leicht zu treffen. Es mußte die Empfindlichkeit
des Prinzen geschont, auf die souveräne Stellung des Großherzogs, nicht
minder auf Moltke und den Großen Generalstab Rücksicht genommen, dennoch
aber im Sinne des Königs mit Energie gehandelt werden. Der König trug
den Gedanken einen ganzen Tag lang mit sich herum, ohne mit jemand
darüber zu sprechen. Schließlich fiel seine Wahl auf den Grafen Waldersee, aber
erst am folgenden Morgen erhielt dieser durch den General von Albedyll den
Befehl, sich zur sofortigen Abreise in das Hauptquartier des Prinzen Friedrich
Karl bereit zu Machen. Bald darauf wurde er zum Könige entboten, der ihm
mit der ihm eignen ruhigen Klarheit auseinandersetzte, um was es sich handelte,
ihm auch ein Schreiben an den Prinzen behündigte, worin die Ansichten des
Königs entwickelt waren, die Waldersee seinerseits noch mündlich erläutern
sollte. Die Abreise sollte ohne vorherige Meldung oder Rücksprache bei Moltke
oder dem Generalstab erfolgen, damit Graf Waldersee die Anschauungen des
Königs in voller Unabhängigkeit und unbeeinflußt vertreten konnte; er erhielt
zudem den Befehl, bis zu seiner Abberufung bei dem Prinzen zu bleiben und
dem Könige täglich zu berichten. (Über diese Mission enthält Fritz Honigs vor¬
zügliches Buch „Der Volkskrieg an der Loire" sehr eingehende und interessante
Einzelheiten, so namentlich auch die mündliche Instruktion des Königs.*) Der
verstorbne Feldmarschall hat den Verfasser mit dem ihm zu Gebote stehenden
Material unterstützt.) Der Prinz, dem Graf Waldersee schon als Adjutant seines
Vaters bekannt geworden war, empfing ihn sehr freundlich und erleichterte ihm
seine delikate Mission auf jede Weise, indem er ihn zugleich für Unterkunft und
Verpflegung seinem Hauptquartier attachierte.
Waldersee machte jedoch, um sich die völlige Unabhängigkeit der Bewegung,
des Sehens und des Handelns zu sichern, davon nur einen bescheidnen Gebrauch.
Er hatte in Versailles drei Gefreite der Königlichen Stabswache zur Bedeckung
erhalten. Mit diesen und einem kleinen leichten Wagen zur Unterbringung
von Proviant und Fourage begab er sich, selbst ein vortrefflicher Reiter und
vorzüglich beritten, der seinen stählernen, abgehärteten Körper an eine große
Bedürfnislosigkeit gewöhnt hatte, hinaus zu den Vorposten, ritt die ganze Linie
der deutschen Aufstellung ab, ging oft bis nahe an die feindlichen Vorposten
heran, besprach sich mit den Kommandierenden Generalen der einzelnen Korps
und ihren Stabschefs, war somit binnen weniger Tage nicht nur selbst aus¬
reichend orientiert, sondern er konnte auch dem Prinzen mit nützlichen Winken
und beschleunigten Meldungen an die Hand gehn, während sein klarer Über¬
blick über die Sachlage es ihm ermöglichte, dem König eingehende, den Monarchen
durchaus beruhigende Berichte einzusenden. Waldersee hatte es sich dabei zum
Grundsatz gemacht, alle Personenfragen aus dem Spiele zu lassen. Er wußte,
daß der König das vorschnelle Urteilen der Jugend nicht liebte und mit ge¬
ringem Vertrauen aufnahm, um so mehr befleißigte sich Waldersee strenger
Sachlichkeit. Ohne dem Könige Wichtiges, für die Beurteilung der Lage Not¬
wendiges vorzuenthalten, vermied er es, ihm Dinge mitzuteilen, die den
durch die Verhandlungen über die deutsche Verfassungsfrage, die Verträge mit
Bayern usw. in jenen Tagen ohnehin schon sehr bewegten Monarchen noch mehr
hätten beunruhigen können.
Honig erzählt, wie hochbefriedigt Prinz Friedrich Karl schon nach wenigen
Tagen über Waldersees Tätigkeit war und erfreut aussprach, daß dieser ihm
sein altes Soldatenglück wiedergebracht habe. Um aber in den Augen der Armee
nicht nur als der kritisierende Berichterstatter zu gelten, schonte Wcildersee sich
selbst nicht, setzte vielmehr die Truppen in Erstaunen durch seine gewandten,
ja waghalsigen Ritte an den feindlichen Vorposten oder im Gefecht an den
französischen Schützenlinien entlang. Was er Wichtiges sah, flog dann sofort
durch Ordonnanzen oder durch den Feldtelegraphen an die berufnen Kommando¬
stellen; nicht selten führte er die vorgehenden Truppen in die dem Angriffs¬
zweck am besten angepaßte Richtung. Bei Veanne la Rolande trug ihn ein
schneller Ritt von drei Meilen, an dem zur Verstärkung des zehnten Armee¬
korps anrückenden brandenburgischen Armeekorps vorüber, ans das Schlachtfeld.
Daß er dem zehnten Korps die Kunde bringen konnte, die Brandenburger seien
im Anmarsch und wohl innerhalb dreier Stunden zu erwarten, hat nicht wenig
dazu beigetragen, das zehnte Korps im todesmutigen Ausharren zu bestärken.
So konnte er denn auch den anrückenden Truppen der fünften und sechsten
Division die geeignete Richtung zum Angriff geben, auf Wunsch des Komman¬
dierenden Generals von Alvensleben führte er „als alter Artillerist" die erste
auffahrende Batterie des dritten Armeekorps in Stellung. Graf Waldersees
Verfahren unterschied sich an jenem Tage wesentlich von dem des Oberkommandos
der zweiten Armee, das trotz des herüberschallenden Kanonendonners und der
vom zehnten Korps eingehenden Meldungen in Pithiviers blieb, erst nach
ein Uhr Mittags stieg der Prinz zu Pferde. Waldersee saß im Zimmer mit
der Abfassung des Berichts an den König über die Vorgänge des vorigen
Tags beschäftigt, als der erste Kanonendonner ertönte. Er riß das Fenster auf,
vernahm nun deutlich die fernen Kanonenschüsse, beendete schnell den Bericht,
stieg dann sofort zu Pferde und ritt ohne nähere Kenntnis der eingegangnen
Meldungen auf den Geschützdonner zu. Er traf schon um elf Uhr Vormittags
bei dem General von Voigts-Nheetz am Bahnhof von Becmne la Rolande ein,
von wo er am Nachmittag in einem kritischen Moment der Schlacht dem dritten
Armeekorps entgegeneilte, um den Anmarsch zu beschleunigen und zu dirigieren.
In der Schlacht bei Loigny am 2. Dezember griff Graf Waldersee ebenfalls
im Moment einer ernsten Krisis persönlich ein. Er befand sich beim Großherzog
von Mecklenburg in dem von Infanterie- und Granatenfeuer überschütteten Loigny,
die französische Brigade de Sonis unternahm eben einen energischen Vorstoß,
dem gegenüber sich bei den durch ein fast vierstündiges Dorfgefecht stark durch¬
einander gekommnen und arg dezimierten Verteidigern eine Tendenz nach rück¬
wärts geltend machte. Da griff im Süden des Ortes Graf Waldersee, im Orte
selbst der Brigadekommandeur General von Kottwitz ein. Waldersee brachte einige
weichende Trupps zum Stehn, jagte dann zu einer Pionierkompagnie, sprang
vom Pferde, dessen Zügel er einem Husaren zuwarf, und kommandierte, selbst
ein Gewehr ergreifend, „Marsch. Marsch, vorwärts!" Alles folgte dem helden¬
mütigen Offizier in der Richtung auf die in diesem Augenblick ziemlich entblößte
Sttdspitze von Loigny. In der Höhe einer dort stehenden Kompagnie des vier¬
zehnten Jägerbataillons angekommen, befahl er: „Halt — Schnellfeuer, hundert
Schritt!" Er selbst feuerte in die feindlichen Linien hinein, der Erfolg des
Schnellfeuers war vernichtend. General von Kottwitz ließ das Signal „Das
Ganze — avancieren!" blasen, das weithin aufgenommen wurde. Der General
war abgestiegen und führte zu Fuß Teile des 76. Regiments gegen den Feind,
im Nahkampfe mußte er wiederholt vom Degen Gebrauch machen. Die Schlacht
von Loigny hat so den Grafen Waldersee in enge Beziehungen zum neunten
Korps und insbesondre zu den Hanseaten gebracht, es war dasselbe Armeekorps,
das er später sieben Jahre lang kommandieren sollte.
Nach Versailles zurückgekehrt, empfing Graf Waldersee von seinem dankbaren
Könige das Eiserne Kreuz erster Klasse, das König Wilhelm ihm selbst auf den
Rock heftete. Später wirkte er noch eine kurze Zeit als Chef des Stabes beim
Großherzog von Mecklenburg; mit Eintritt des Waffenstillstands trat er in das
Große Hauptquartier zurück. Als vor dem Einzug in Paris General von
Kameele zum Kommandanten von Paris (des von den Deutschen zu besetzenden
Teils) ernannt wurde (23. Februar), wurde Graf Waldersee wiederum Chef
des Stabes, er kehrte als solcher zunächst vorübergehend in die französische
Hauptstadt zurück, die er im Juli zuvor verlassen hatte. Bevor er sich nach
Paris begab, meldete er sich bei Bismarck. Auf die Frage über das Verhalten
bei eintretenden Unruhen entgegnete der Kanzler, daß Schreien, Schimpfen
und einzelne Steinwürfe von Straßenjungen ignoriert werden sollten; würden
dagegen die deutschen Truppen ernstlich angegriffen, „so schießen Sie dazwischen,
daß die Knochen fliegen." Bekanntlich dauerte die Besetzung von Paris nur
drei Tage. Als bei dem großen Zapfenstreich am Abend des dritten Tages
das Kommando „Helm ab zum Gebet" erklang, entblößten mit den Truppen
auch viele Pariser das Haupt, und Graf Waldersee hörte aus deren Reihen
das Wort: L'ost uns Isycm. Ähnlich berichtet auch Graf Fred Frcmckenberg in
seinem Kriegstagebuche über die Äußerung: voila c-s «mi nous inMaus.
Als nach dem Friedensschluß die diplomatischen Beziehungen zur fran¬
zösischen Negierung wieder aufgenommen werden sollten, wurde Graf Waldersee
am 12. Juni 1871 als Geschäftsträger damit beauftragt — ein neuer Be¬
weis für das hohe Vertrauen in seine vielseitige Befähigung. Er trat damit
vorübergehend in den diplomatischen Dienst und wurde der Untergebne Bis-
marcks. Zu diesem wie zu den Mitgliedern der französischen Regierung und
auch zum General Manteuffel, dem Oberbefehlshaber der Okkupationsarmee,
hatte Waldersee in den folgenden Monaten sehr lebhafte Beziehungen. Wir
finden bei Busch die Notiz aus einem Erlaß Vismarcks an Waldersee vom
25. Juni 1871: „Die Erhaltung von Gesandtschaften der Bundesstaaten im
Auslande liegt nicht im Interesse des Reichs. Wir können aber ihr allmäh¬
liches Verschwinden von der Zeit und den Budgetdebatten der Einzelstaaten
erwarten." Bis jetzt, nach 33 Jahren, hat sich diese Voraussetzung noch nicht
erfüllt, man könnte für die Münchner Kammer eher das Gegenteil behaupten,
dagegen haben sich die Gesandtschaften der Einzelstaaten bisher auch wohl
nirgends der Reichspolitik nachteilig erwiesen. Allerdings konnte sogar Bismarck
die mächtige Entfaltung nicht voraussehen, die der Neichsgedanke seitdem ge¬
nommen hat. Das diplomatische Kommando dauerte bis zum August. Da¬
zwischen war Graf Waldersee zum Oberst vorgerückt und hatte das Kommando
des 13. Manenregiments in Hannover, der heutigen Königsulanen, erhalten.
In dieser Stellung blieb er dann — mehrfach zur Dienstleistung bei der
Person des Kaisers berufen (so während der Berliner Dreikaiserzusammenkunft
und der Reise des Kaisers nach Petersburg im Frühjahr 1873) — bis zum
Dezember, wurde zum Chef des Stabes des 10. Armeekorps ernannt und trat
einige Jahre später als Generalmajor und Abteilungschef in den Großen
Generalstab über. Im Herbst 1879 wohnte er in Frankreich den dortigen
Manövern bei, wurde 1880 General ^ 1a fünf, 1881 Generalquartiermeister,
1882 Generalleutnant, 1885 Generaladjutant. Kaiser Friedrich ernannte ihn
zum General der Kavallerie, am 10. August 1888 wurde er Moltkes Nach¬
folger unter Stellung a, ig. fünf des 13. Ulanenregiments. Die Stellung an
der Spitze des Großen Generalstabes, die Graf Waldersee bis zum Januar 1891
bekleidete, bezeichnet den eigentlichen Höhepunkt seines Wirkens. Durch ihn
wurde zugleich der Große Generalstab auf eine Höhe gehoben, die er sogar
unter Moltke nicht erreicht hatte, und die ihm ein Ansehen wie in keiner andern
europäischen Armee verschaffte. Hierzu kam, daß die Dreibundmächte auf Wunsch
Italiens besondre militärische Verabredungen für den Fall beschlossen hatten,
daß ihre politischen Bündnisse in praktische Wirksamkeit treten müßten. Italienische
und österreichische Offiziere wurden in den Generalstab nach Berlin kommandiert,
Verabredungen über Mobilmachung und Aufmarsch getroffen, die seitdem unter
wesentlich veränderten Verhältnissen längst hinfällig geworden sind. Graf
Waldersee selbst war in jenen Jahren dienstlich in Wien und in Rom. Als
sich gegen Ende der Regierungszeit Kaiser Wilhelms des Ersten die Beziehungen
zu Rußland ernstlich zu trüben schienen, trug natürlich auch der Generalstab
diesem Verhältnis Rechnung; hatten doch schon im Jahre 1879 die damaligen
Drohungen Rußlands die militärische Aufmerksamkeit auf die Ostgrenze gelenkt.
Es ist behauptet worden, daß Moltke die vorhcmdne militärische Überlegenheit
gegen Rußland habe ausgenutzt wissen wollen. Aber bei dem hohen Lebens¬
alter Kaiser Wilhelms und der schweren Erkrankung des Kronprinzen Hütte für
Deutschland nichts unerwünschter sein können als ein Krieg mit einer euro¬
päischen Großmacht oder gar mehreren Großmächten, in dem der kaiserliche Ober¬
befehl ' gefehlt haben würde und tatsächlich in die Hände des Königs Albert von
Sachsen hätte übergehn müssen. Auch ist Bismarck bekanntlich ein entschiedner
Gegner von Präventivkriegen gewesen, er hat sich im Jahre 1888 öffentlich mit
großer Bestimmtheit dagegen ausgesprochen.
Unser jetziger Kaiser war schon als Prinz in nahe Beziehungen zum Grafen
Waldersee getreten, die sich nach der Thronbesteigung zunächst noch verdichteten
und befestigten. Zugleich aber war der Name Waldersees aus nicht militärischem
Anlaß in die öffentliche Diskussion gezogen worden. Die Waldersee-Versäum-
ung im Winter 1887, das heißt eine zu Zwecken der Förderung der innern
Misston einberufne Versammlung, der Prinz und Prinzessin Wilhelm bei¬
wohnten, hatte den General auf einem Gebiet der innern Politik in einer Rich¬
tung hervortreten lassen, von der sich Moltke sorgfältig ferngehalten hatte.
Er wurde in der Presse das Ziel heftiger Angriffe, die in Anbetracht der hohen
»nlitürischen Vertrauensstellung nur wenig erwünscht sein konnten. Dazu kam
dann noch ein bis in das Jahr 1889 hinein dauernder publizistischer Kriegs¬
lärm, wobei eine militärische Mitwirkung unverkennbar war, die freilich durch
die Boulanger-Periode, die Häufung von landesverräterischen Vorgängen in
Elsaß-Lothringen und den Schnäbelefall einen ernstern Hintergrund erhielt. Die
dadurch hervorgerufne Polemik in der Presse zeigte, daß es sich um bestimmte
Vorgänge handle, über die der Schleier auch heute noch nicht völlig gelüftet
ist. Schon die militärischen Dreibundabmachungen waren nicht nach dem Ge¬
schmack Bismarcks gewesen, weil dadurch eine militärische Ueberströmung in der
Politik erzeugt wurde, und weil aus solchen Abmachungen leicht Konsequenzen
entstehn, die auf die verantwortliche Leitung der Politik drücken. So war im
Jahre 1873 in Petersburg ein militärisches Abkommen zwischen Moltke und
dem Feldmarschall Fürsten Baratinski unterzeichnet worden, das auch die Ratifi¬
kation beider Kaiser empfangen hatte. Dieses Abkommen war es dann haupt¬
sächlich, das Kaiser Wilhelm dem Ersten bei Eingehung des Bündnisses mit
Österreich im Jahre 1879 so schwere Gewissensbedrüngnis verursachte, wie sich
denn auch wohl Kaiser Alexander der Zweite auf Grund dieses Abkommens
damals zu seiner fast drohenden Sprache berechtigt glaubte. Der Clausewitzsche
Satz, der in jenen publizistischen Erörterungen eine Rolle spielte: „Der Krieg ist
die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln," berechtigt einerseits die Leitung
der Politik zu der Forderung, daß sie zu bestimmen habe, ob und wann ein Krieg
nötig sei, und daß sie während des Krieges auch die politische Leitung als die
maßgebende fest in der Hand behalten müsse. Andrerseits läßt sich der auf
demselben Grundsatz fußende militärische Anspruch nicht ganz abweisen, daß die
obersten militärischen Stellen auch im Frieden mit all den Phasen der Politik,
die möglicherweise zu Verwicklungen führen können, vertraut sein müssen, damit
sie rechtzeitig erfahren, ob und in welcher Richtung sie sich vorzubereiten haben.
Es ist schwer zu entscheiden, ob den zum Teil recht scharfen Polemiken, die in
den Jahren 1888 und 1889 durch die Presse gingen, nur akademische Be¬
trachtungen oder unmittelbare praktische Erwägungen zugrunde lagen; in der
Märzkrisis von 1890 scheinen Fragen dieser Art allerdings nicht ohne ent¬
scheidende Mitwirkung gewesen zu sein.
Bei den großen Manövern in Schlesien im Jahre 1890 hatte Graf Waldersee
als Schiedsrichter fungiert und sich in der Schlußkritik mißbilligend über die
Anlage des vom Kaiser befohlnen großen Kavallerieangriffs geäußert. Im
Laufe des Winters traten dazu noch Differenzen über die für Kriegsspiele ge¬
stellten Aufgaben und deren Lösungen. Diese Differenzen führten zu einem
wiederholten Abschiedsgesuche des Grafen Waldersee, das der Kaiser in einer
von hoher Anerkennung seiner Verdienste erfüllten Kabinettsorder mit der Er¬
nennung zum Kommandierenden General des neunten Armeekorps beantwortete.
Es wurde darin ausgesprochen, daß Graf Waldersee im Kriege zur Führung
einer Armee ausersehen sei, da er aber noch nie ein Korps geführt habe, so
sei es um dieser künftigen Verwendung willen erwünscht, daß er einige Jahre
an der Spitze eines Armeekorps stehe. In dieser Stellung ist Graf Waldersee
bis zum Jahre 1898 geblieben. Sie hat ihn in engste Beziehungen zu der
Bürgerschaft der Hansastädte gebracht und ihm in deren Kreisen eine große
Popularität erworben, die sich in der Verleihung des Ehrenbürgerrechts von
Hamburg und von Lübeck, sowie von Altona, Itzehoe und andrer schleswig¬
holsteinischer Städte bekundete. Von Altona, dem Sitz seines Generalkommandos
aus, nahm er auch die Beziehungen zum Fürsten Bismarck wieder auf und
war Zeuge all der Huldigungen, die diesem zu seinem achtzigsten Geburtstage
bereitet wurden. Beim Kaiser hat er wiederholt im Sinne einer Versöhnung mit
dem alten Kanzler zu wirken gesucht, überbrachte auch mit dessen Zustimmung
dem Fürsten Bismarck nach Friedrichsruh die Grüße Kaiser Alexanders des
Dritten, die dieser bei einem Zusammentreffen mit unserm Kaiser in Kiel dem
Grafen Waldersee auftrug. Was Graf Waldersee während dieser sieben Jahre
dem Korps und dessen einzelnen Waffen gewesen ist, wie sehr er bedacht war,
es auf die höchste Höhe der Ausbildung und Vervollkommnung zu heben,
andrerseits sich das Wohlergehen von Offizieren und Mannschaften angelegen
sein ließ, ist noch soeben im Nachruf, den das Armeekorps ihm gewidmet hat,
dankbar anerkannt worden. Während dieser Kommandoführung erhielt Graf
Waldersee zweimal ein Armeekommando für die Dauer der Kaisermanöver.
Im Jahre 1898 folgte er dem Feldmarschall Grafen Blumenthal in der dritten
Armeeinspektion und trat damit zu den unter diese gestellten Armeekorps in
nähere Beziehungen. Zu diesen gehörte auch das dreizehnte (württembergische)
Armeekorps, dessen Inspizierung er vierzig Jahre zuvor als Leutnant und
Adjutant des damit beauftragten Generalleutnants von Hermann zum erstenmal
beigewohnt hatte. Graf Waldersee wurde sowohl am württembergischen Hofe
wie in den Garnisonstädten überall mit verdienten Ehren aufgenommen, auch
am badischen Hofe, den er mehrfach aufsuchte. Alte vertrauliche Beziehungen
zum Großherzog Friedrich wurden damit wieder aufgenommen.
So kam das Jahr 1900 heran, das ihn wider Erwarten noch in eine
Oberbefehlshaberstelle berufen sollte, und obenein in eine solche, wie sie noch
niemals für einen preußischen General, überhaupt für keinen Feldherrn irgend
einer Zeit der Geschichte, bestanden hatte. Die gemeinsame Intervention der
Mächte in China führte zu der Notwendigkeit eines einheitlichen Oberkommandos,
und dieses wiederum konnte nur Deutschland zufallen, das den Tod seines
Gesandten zu rächen hatte, das das stärkste Truppenaufgebot stellte und von
den in Betracht kommenden Großmächten an chinesischen Territorialfragen am
wenigsten beteiligt war. Stellte Deutschland den Oberbefehlshaber, so war es
auch notwendig, diesem ein so starkes deutsches Kontingent unterzuordnen, daß
bei der sehr losen Unterordnung der andern Kontingente die Durchführung seiner
militärischen Absichten und das Ansehen des Deutschen Reiches gewahrt blieb.
Infolgedessen wurde auch das deutsche Geschwader in China ihm unterstellt,
da die andern Mächte ihre Geschwader nicht in den Oberbefehl mit einbezogen
offen wollten, der Oberbefehlshaber aber doch zur See nicht machtlos sein
konnte. Die deutsche Marine sah sich sicherlich nur ungern bei ihrer ersten
großen überseeischen Verwendung der Landarmee untergeordnet, aber die Persönlich¬
keit Waldersees wußte auch hier nicht nur jede Friktion auszuschließen, sondern
auch dem ganzen Verhältnis die angenehmste und ersprießlichste Form zu geben.
Viel schwieriger war es freilich, die Stellung des Oberbefehlshabers zu den
Truppen der andern Nationen, namentlich zu den Franzosen und Amerikanern,
zu regeln, deren militärische Verwendung von den politischen Interessen ihrer
Regierungen abhängig blieb, wodurch die Befehlsführung des Oberkommandos
stark beeinträchtigt wurde. Dennoch gelang es dem Feldmarschall, ein solches
Verhältnis herzustellen, daß die französischen Generale zwar mit Rücksicht auf
die Kammern und die Presse in der Heimat äußerlich eine gewisse Reserve und
Zurückhaltung bekundeten, tatsächlich aber, soweit sie nicht durch Verhaltungs¬
maßregeln gebunden waren, den Anordnungen und Anregungen Waldersees
willig folgten. Gerade von französischer Seite ist ihm nachträglich offne Aner¬
kennung zuteil geworden. Seine eigentliche Bestätigung in China ist weit mehr
politischer als militärischer Natur gewesen, aber auch die erste verlangte einen
hohen Grad von Gewandtheit, Klugheit und Umsicht, eine Vereinigung von
Entschlossenheit und Milde, Eigenschaften, die seiner Aufgabe in hohem Maße
zustatten kamen. Der ausgezeichnete militärische Stab, den er sich erwählt
hatte, und dessen Mitglieder ihm mit wärmster Anhänglichkeit bis an sein
Lebensende ergeben geblieben sind, war zugleich ein Zeugnis dafür, daß für
die Armee von 1370 ein ebenbürtiger Nachwuchs vorhanden ist.
Sicherlich war es für den achtundsechzigjährigen Feldmarschall ein großes
Opfer, daß er sich auf den Ruf des Kaisers sofort zum Antritt einer Stellung
bereit erklärte, die wenngleich nicht ohne besondern Reiz, doch sowohl in Anbetracht
der klimatischen Verhältnisse und des chinesischen Fanatismus nicht ohne persönliche
Gefahr war, als auch in Anbetracht des internationalen Charakters des Heeres be¬
rechtigte Aussicht aus Schwierigkeiten aller Art bot. Waldersee war die gegebne
Persönlichkeit, diese Schwierigkeiten zu überwinden, die Gefahren schreckten seinen
Soldatenmut und sein Gottvertrauen nicht, und den klimatischen Verhältnissen
hoffte er mit seinem gestählten und rüstigen Körper gewachsen zu sein. Gerade
diese Zuversicht war wohl die einzige, die ihn getäuscht hat. Schwere Dys¬
enterien, von denen er in China wiederholt heimgesucht wurde, haben wohl deu
Grund zu dem Leiden gelegt, das ihn jetzt auch mit zweiundsiebzig Jahren viel
zu vorzeitig weggerafft hat; seine ungewöhnliche Rüstigkeit und Frische hatte er
sich noch bis in die letzten Tage bewahrt. Soviel an ihm gelegen hat, hat
Graf Waldersee seiue Aufgabe in China zu seiner und Deutschlands Ehre erfüllt-
In Japan wurde er auf der Rückreise mit großer Auszeichnung empfangen. Nach
der Heinikehr im Jahre 1901 uneben er seine Geschäfte als Armeeinspekteur
wieder auf. Am 8. April 1902 beging er seinen siebzigsten Geburtstag, ge¬
hoben und erfreut durch zahlreiche Sympathiebeweise aus allen Teilen des
Vaterlandes.
Deutschland hat in dem Grafen Waldersee einen hochbegabten Soldaten
verloren, ans den die Armee für ernste Zeiten mit berechtigter Zuversicht sehen
durfte, und dem die hohe Achtung des In- und des Auslandes wohlverdient zuteil
geworden ist. Die Entschlossenheit und Tapferkeit, die Klarheit, Umsicht und
Geschicklichkeit, die er im November 1870 an der Loire bekundete, hat er im
Jahre 1900 in China von neuem an den Tag gelegt, die Altersweisheit
hatte die Kraft und Entschlossenheit des Handelns nicht gebrochen, die Klarheit
und Umsicht nur noch gehoben und veredelt. So wird sein Bild in der Ge¬
schichte fortleuchten als des letzten unsrer Generale, der im Jahre 1870 in
selbständiger Tätigkeit gewirkt but, und Deutschland wird immer von den andern
Nationen beneidet werden dürfen, solange an der Spitze unsrer Heere Generale
wie Graf Alfred Waldersee stehn. Auch sein Lebensgang ist ja, so wenig wie
irgend ein andrer, frei von Irrtümern gewesen, aber das viele und helle Licht
seines Lebens drängt die einzelnen Schatten weit in den Hintergrund zurück.
Je reicher er an Ehren wurde, desto demutsvoller ist sein Sinn geworden, und
wenn es bei ihm auch vielleicht eine kurze Zeit des politischen Ehrgeizes gegeben
hat, wie bei andern hochbefähigten Generalen auch — seine reichen Gaben
hätten ihn vielleicht berechtigt, nach dem höchsten Amt zu trachten; die Ernennung
des Generals von Caprivi zum Reichskanzler mag er als eine Art Zurücksetzung
empfunden haben. Aber im übrigen klingt die soeben durch die Presse gehende
Äußerung durchaus glaubhaft, die er im Jahre 1889 zu dem Reichstagsabge-
ordneten Bürgermeister Fischer in Augsburg auf dessen Befragen getan haben
soll: „Wer einmal Nachfolger des toten Bismarck wird, ist schon nicht zu be¬
neiden; aber Nachfolger des lebendigen Bismarck werden zu wollen, für so
dumm werden Sie mich nicht halten." Sein wirkliches Streben ist doch mir
immer das gewesen, als Soldat das Höchste zu leisten und für die Armee die
denkbarste Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dem engern Kreise der Seinen und
den ihm nahestehenden Freunden ist er mit einer in guten und bösen Tagen voll¬
bewährten und erprobten Treue immer derselbe geblieben. Auch dieser Charakter¬
zug fügt sich ebenso wie sein edler, im stillen reich betätigter Wohltätigkeitssinn
harmonisch diesem seltnen und glücklichen Lebensbilde ein.
n der letzten Zeit ging durch viele Zeitungen die Nachricht, daß der
millionste Rentner auf Grund des Jnvalidenversicherungsgesetzes
geschaffen worden sei, und je nach ihrer Farbe knüpften sie mehr
oder weniger freudig bewegte Erörterungen an die Erreichung
dieser Wegmarke auf dem von Deutschland der übrigen Kultur¬
welt voran beschrittnen Pfade des Versuchs zur Ausgleichung der sozialen
Gegensätze. Wenn auch ab und zu der Ärger über nicht genügende Anerkennung
der Wohltaten dieser Gesetze, die sowohl Industrie als auch Landwirtschaft un¬
zweifelhaft stark belasten, bei den Versicherten, oder die Überzeugung einzelner,
daß diese Lasten zu schwer seien, den Wunsch nach Stillstand auf diesem Wege
laut werden läßt, so braucht man doch diesen vereinzelten Stimmen bei aller
Anerkennung ihrer individuellen Gründe nicht ein zu großes Gewicht beizulegen
und kann die Überzeugung aussprechen, in den Kreisen des deutschen Bürgertums
habe der Gedanke an das Bestehen und die Notwendigkeit der Weiterentwicklung
der sozialen Gesetzgebung so feste Wurzeln geschlagen, daß an einen Stillstand
oder gar einen Rückschritt wohl ernstlich niemand mehr denkt.
Es kann deshalb jetzt wohl nicht mehr schaden, wenn einem an der Hand
habung und der Ausführung der sozialen Gesetze weniger beteiligten Publikum
auch einmal die Schattenseiten gezeigt werden, die sie im Gefolge gehabt
haben, um auch diese Kreise zur Bekämpfung der Gefahren, die die Gesetze
mit sich bringen, anzuregen und für die nicht immer angenehme Tätigkeit der
an der Ausführung dieser Gesetze Beteiligten gerechtes Interesse zu erwecken.
Man kann es leider nicht leugnen, daß diese Gesetze, die so viel Tränen
getrocknet, so viel kleines Menschenglück, das früher vernichtet worden wäre,
erhalten haben und erhalten werden, als traurige Nebenwirkung eine gewisse
Schädigung der Volksmoral mit sich gebracht haben, von der es ungewiß ist,
ob sie sich bei der weitern Ausdehnung der Fürsorge nicht noch steigern wird.
Am wenigsten kann man diese Schädigungen bei den Wirkungen des
Krankenversicherungsgesetzes feststellen. Natürlich kommen bei den Ver¬
sicherten Simulationen und Übertreibungen genng vor, durch die sie sich in den
Genuß des Krankengeldes setzen oder dieses länger behalten wollen. Aber das
Krankengeld ist in der Regel doch so wenig bedeutend, daß die Verlockung,
deswegen eine moralisch verwerfliche Handlung zu begehn, nicht groß genug
ist. Besonders in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs wird die Krankenkasse
leicht als Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ausgenutzt, aber mildernd tritt für den
Beurteiler solcher Handlungsweise sowohl die Notlage des Versicherten als auch
der Umstand ein, daß mit dem wirtschaftlichen Niedergang eine Herabsetzung der
Lebenshaltung einhergeht, die dazu geeignet ist, den Gesundheitszustand ungünstig
zu beeinflussen. Die ganzen hierdurch geschaffnen Verhältnisse führen dazu,
leichte, dadurch gesteigerte Krankheitszustände schlimmer aufzufassen, als es in
Zeiten drängender Arbeit und guten Verdienstes geschehen würde, und so kann
leicht einem noch moralisch tüchtigen Menschen auf dem Wege der fehlerhaften
Vorstellung die Überzeugung kommen, daß er krank und des Krankengeldes
bedürftig sei. Natürlich handelt es sich hier nie um Dinge, die der Arzt, dem
die unangenehme Pflicht zufällt, über die Arbeitsfähigkeit des Betreffenden zu
entscheiden, sofort als nichtig erkennen würde, sondern um das Heer der innern
Krankheiten, wie z. B. der rheumatischen, die der scharfen Erkennungszeichen
ermangeln. Allzulange kann aber der auf diese, ich möchte sagen beinahe un¬
schuldige Weise gewonnene, aber im strengen Sinn unrechtmäßige Vorteil nicht
dauern, da die sorgfältige Kontrolle durch die Kassen, die die geringste gewinn¬
bringende Beschäftigung während der Krankheit verhindert und beim Ertappen
dabei die Auszahlung des Krankengeldes ausschließt, die vielfach vorhandne
Einrichtung der Nachuntersuchung durch besondre, an der Behandlung nicht be¬
teiligte Vertrauensärzte einem solchen Mitglied bald das Handwerk legen werden.
Eine viel einschneidendere Bedeutung für die behauptete Schädigung der
Volksmoral haben die beiden andern Gesetze, das Unfall- und das Invaliden-
versicherungsgesetz. Diese haben in weiten Kreisen des arbeitenden Volkes
eine so krankhafte Rentengier, milder kann man es gar nicht nennen, wach¬
gerufen, daß es jeden, der kraft seiner Stellung einen Einblick in die Verhältnisse
tun kann, tief betrüben muß. Unter den Zuschmiern ist der Hauptleidtragende
zunächst der Arzt, dem diese Rentengier, wenn er sein hohes Amt, von dessen
unparteiischer Verwaltung die Ausführung der Gesetze zum größten Teil abhängig
ist, richtig auffaßt, d, h. niemand zuliebe als der Wahrheit, seine Tätigkeit
geradezu verbittert. Sowohl der Ärztestand wie auch die zur Entscheidung
über die Renten berufnen Behörden und Gerichte haben im Laufe der Jahre
unendlich viel lernen müssen und tatsächlich gelernt. Für den Arzt haben diese
Gesetze ein reiches, zum größten Teil ganz neues Gebiet erschlossen, das ihm
die besten Anregungen zu neuem Forschen gegeben, ja sogar eine eigne Disziplin,
die Unfallheilkunde, geschaffen hat. Daß unter diesen Umständen im Anfang
Fehler gemacht werden mußten, als man sich ganz neuen, früher nie beachteten
Dingen gegenüber sah, ist menschlich, und so ist die in den ersten Jahren der
Wirksamkeit des Unfallversicherungsgesetzes von den Ärzten vielfach, besonders
bei Nervenkrankheiten nach Unfällen, geübte Simulantenriecherei jetzt ein über-
wundner Standpunkt. Man hat jetzt die Erfahrung und die Kenntnisse, die dazu
nötig find, die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Klagen bei mehr oder
weniger fehlenden tatsächlichen Krankheitszeichen nach einem Unfall zu entscheiden,
sodaß auch bei zweifelhaften Fällen die Besorgnis, einem wirklich der Rente
Bedürftigen könne eine solche nicht zuerkannt werden, gegenstandslos ist — be¬
sonders auch im Hinblick auf die höchst wohlwollende Rechtsprechung der Schieds¬
gerichte und des Neichsversicherungscimts. Diese Auffassung fehlt aber bei den
Angehörigen der beteiligten Volkskreise nicht nur vollkommen, sondern der Arzt,
der sie eben noch von schweren Unfallfolgen befreit hat, dem sie sogar bei der Ent¬
lassung noch sehr dankbar sind, ist nach ihrer Auffassung in demselben Augenblick
„der böse Feind, der mit den Reichen unter einer Decke steckt, um die armen
Leute um ihre ihnen rechtmüßig zustehende Rente zu betrügen," wenn er ihren
Wünschen nach richtiger Erkenntnis der Bedeutung ihrer Unfallfolgen für die
Arbeitsfähigkeit nicht entspricht. Es gehört das anerkannte Pflichtgefühl der
deutschen Ärzteschaft dazu, den Versuchungen zu widerstehn, sich die Freundschaft
der Patienten durch Nachgiebigkeit gegen ihre Rentenwünsche zu erhalten, und
man kann es dem Arzt in bedrängter, kleiner Praxis nicht verdenken, wenn er
sich in zweifelhaften Fällen lieber der Notwendigkeit, ein Gutachten abzugeben,
entzieht. Natürlich werden sich die nachfolgenden Schilderungen zunächst auf
die in verschiedner Hinsicht „zweifelhaften" Fülle beziehen, da die wirklich
schweren Unfälle sowie die sicher vorhandnen ernsten Krankheiten beim Jnva-
lidenverfahren den Beteiligten viel weniger Gelegenheit geben, unredliche Mittel
anzuwenden, da über die Berechtigung zu entsprechenden Renten ja kein Zweifel
herrscht.
Das Denken und Fühlen der den Gesetzen Unterworsnen dreht sich in
einem solchen Maße um Rente und wieder Rente, wie es dem der Sache Fern¬
stehenden kaum glaublich erscheinen würde, wenn es ihm in der Praxis ent¬
gegenträte. Der Grund ist ja menschlich und würde verzeihlich sein, wenn
acht die besten Charaktereigenschaften dadurch verderbt würden; er liegt in dem
Gegensatz des sichern Einkommens, das die Rente bietet, und sei sie auch noch
so klein, zu der Unsicherheit des Verdienstes eines auf Lohnarbeit Angewiesenen —
ich brauche mit Absicht nicht das Wort „Arbeiters." Mag sein, daß dem
Schreiber dieser Zeilen von andern Erfahrenen widersprochen, oder daß es ihm
als ein gewisser Optimismus ausgelegt wird, aber nach seinen Erfahrungen ist
die Gier nach Unfallrente bei der dem landwirtschaftlichen Betriebe angehörenden
Bevölkerung größer als bei der industriellen, obwohl es sich bei jener um viel
geringere Summen bei ganz gleichen Bedingungen, sie zu erlangen, handelt, als
bei dieser. (Es sei zum Beispiel bemerkt, daß in unsrer Gegend eine landwirtschaft¬
liche Rente für weibliche Versicherte von zehn vom Hundert der gesetzlichen Voll¬
rente etwa 1 Mark 35 Pfennig im Monat beträgt.) Eine gewisse Erklärung und
Entschuldigung für die ländlichen Nentensucher liegen in den ganz verschiednen
Verhältnissen beider Volksschichten den sozialen Gesetzen gegenüber. Bei der In¬
dustrie ist alles geordnet und übersichtlich, jeder Unfall wird sofort gemeldet,
behandelt und untersucht. Die Arbeitsgenossen sind meist Zeugen, kurz die völlige
Erdichtung eines Unfalls zum Zweck der Nentenerschleichung wird so bedeutend
erschwert, daß sie bei diesen Kreisen zu den großen Ausnahmen gehört. Es
bleibt die Übertreibung der Folgen und später bei objektiv eingetretner Besserung,
wozu nach einer Entscheidung des Reichsversicherungsamts auch die Gewöhnung
an den Zustand gehört, der Kampf um den ungeschmälerten Besitz der Rente,
der die häßlichsten Auswüchse zeigen kann — aber andrerseits ist der Industrie¬
arbeiter unzweifelhaft einer Belehrung über die Verhältnisse, die zur Verleihung
oder Verminderung einer Rente führen, zugänglicher, ja ich habe sogar Fälle
erlebt, in denen der Rentner eine Verminderung oder Aufhebung als berechtigt
anerkannte.
Ganz anders sind die Verhältnisse der versicherten Landbewohner, die unter
einem besondern Gesetz stehn. Die wesentlichen Unterschiede zwischen diesem und
dem gewerblichen Unfallversicherungsgesetz liegen in der Zugehörigkeit der ein¬
zelnen Personen zu den gegen Unfall Versicherten und in der Berechnung des
Lohnes, wonach die Höhe der Rente bestimmt wird. Während in der Industrie
nur der einzelne selbständige Kassenangehörige gegen Unfall versichert ist und
sich die Rente nach der Höhe des tatsächlich von ihm vor dem Unfall ver¬
dienten Lohnes richtet, ist in der Landwirtschaft praktisch alles versichert, Knechte
und Mägde, abhängige Arbeiter, alle selbständigen Unternehmer vom kleinsten
Mieter, wenn er nur den Schwerpunkt seines Erwerbs in der Landwirtschaft
hat, bis zum wohlhabenden Bauern, der bis zum Einkommen von 2000 Mark
zur Versicherung gezwungen ist, und von allen diesen alle Familienangehörigen
vom ältesten Mütterchen bis zum eben zur Dienstleistung heranwachsenden Schul¬
kinde. Da es unter diesen Verhältnissen ganz unmöglich ist, bei der Berechnung
der etwaigen Rente das von dem einzelnen dieser verschiednen Versicherten durch
landwirtschaftliche Arbeit gewonnene Einkommen festzustellen, so hat der Gesetz¬
geber den Ausweg gefunden, ein Normaleinkommen, für männliche und fiir weib¬
liche Versicherte getrennt, aufzustellen, das der Rentenberechnung zugrunde gelegt
wird. Von allen diesen Versicherten sind — und das auch nur in einige»
Gegenden — allein die Knechte und die Mägde sowie die Guts- und die bäuer¬
lichen Arbeiter in Kassen und sonnt der unentgeltlichen ärztlichen Hilfe teilhaftig.
Nur aus diesem Grunde nähern sich die Verhältnisse der Rentenbewerbung dieser
Personen den Formen der Industriearbeiter. Bei der bei weitem größern Mehr¬
zahl der Versicherten auf dem Lande sind diese aber ganz andre, und es kommt
deshalb zu ganz abweichenden Formen der verschiednen unehrlichen Mittel,
sich in den Besitz der Rente zu setzen, sie zu erhalten und womöglich noch
zu erhöhen.
Überaus häufig ist die Erdichtung von Unfällen. Es tritt irgend ein
Krankheitszustand ein, er wird wie gewöhnlich zuerst nicht beachtet. Wenn den
Leuten klar wird, daß dauernde Folgen bleiben können, wird eine Unfallanzeige
gemacht, morale-, ja jahrelang nach dem angeblichen Unfall. Aus den An¬
gaben über das Datum, den ersten Besuch beim Arzt usw. geht häufig sonnen¬
klar hervor, daß es so nicht gewesen sein kann, wie in der Anzeige steht, aber
die geschilderten Verhältnisse, der Gedanke an die ländliche Unbeholfenheit und
Gesetzesunkenntnis haben die Selbstverwaltungsbehörden zu einer weitgehenden,
im Interesse der wirklichen Unfallpatienten auch nur freudig zu begrüßenden
Liberalität und Humanität gebracht, die den Betrug erleichtern, denn in vielen
Fällen wird der Gutachter so lange nachher nicht in der Lage sein, mit Be¬
stimmtheit den ursächlichen Zusammenhang mit dem angeblichen Unfall zurück¬
zuweisen. Wie oft hat Verfasser nicht bei Augenübeln die Patienten beim Ein¬
tritt in die Behandlung eingehend gefragt, ob nicht eine Verletzung vorläge, und
eine verneinende Antwort bekommen. Ein Vierteljahr später findet er in den
Akten eine blühende Schilderung des Unfalls. Daß manchmal die ländliche
Unbeholfenheit an diesem Widerspruch schuld ist, gibt er gern zu, aber doch eben
nur manchmal.
Milder in moralischer Beziehung liegen die zahlreichen Fülle, wo wirklich
etwas Unfallähnliches vorgekommen ist, das die Leute veranlaßt, ganz unmög¬
liche Folgen des Unfalls vorzutragen und mit jenem ursachlich zu verknüpfen.
Hier die Grenze zwischen dem guten Glauben und bewußter Unwahrheit zu
finden, ist auch für den erfahrenen Gutachter schwer. Weiter kommt häufig
genug vor, daß tatsächlich vorgekommne, ganz außerhalb des Betriebs geschehene
Unglücksfülle als Betriebsunfälle dargestellt werden, und es gelingt aus Mangel
an vorhandnen Zeugen dieser Versuch nicht selten. Noch schlimmer als alles das
sind die Fälle, wo uralte, seit Jahrzehnten bestehende krankhafte Veränderungen
Plötzlich aus Gewinnsucht zu Unfallfolgen eines erdichteten Unfalls gemacht
werden, zum Beispiel Unterleibsbrüche. Da es sich vielfach um Spezialgebiete
handelt, kann es vorkommen, daß dem ersten Gutachter der Widerspruch zwischen
dem Befund und den Angaben nicht genügend zum Bewußtsein kommt, und
daß die Leute jahrelang im Genusse der erheblicheren Rente bleiben. In solchen
Fällen ist bei späterer Entdeckung die Verurteilung wegen Betrugs in einer
ganzen Reihe von Fällen herbeigeführt worden.
Alle bisher geschilderten Fülle sind glücklicherweise, so häufig sie auch
absolut genommen vorkommen, immerhin noch Ausnahmen. Regel aber ist bei
wirklich vorhandnen Unfallfolgen eine solche Übertreibung, sowohl dem unter¬
suchenden Arzt als anch den Behörden gegenüber — bei diesen meist ausgedrückt
in mehr oder weniger den trüben Ursprung aus der Schreibstube des Winkel¬
advokaten verratenden Schriftsätzen —, daß eine Bewilligung der Renten auf
Grund dieser Behauptungen alle Träger der Rentenlasten geradezu bankerott
machen würde. Es würde leicht sein, zahlreiche beweisende Beispiele anzuführen,
aber die Rücksicht auf den Raum verbietet es. Hervorgehoben muß aber der
Gerechtigkeit halber noch werden, daß einen Teil der Schuld an dem Aufkommen
dieser Zustände die frühern Schiedsgerichte haben mit ihrer ja menschlich sehr
schönen Bereitwilligkeit, auch gegen den Rat des ärztlichen Gutachters auf das
Gejammer der meist persönlich bekannten und erschienenen Kläger hin unver¬
hältnismäßig hohe Renten zu bewilligen. Daß der tägliche Anblick eines Dorf¬
genossen, der genau dasselbe leistet, was er vor dem Unfall geleistet hat, und
nun als Belohnung eine nach den Begriffen der Leute hohe Rente dazu be¬
kommt, geeignet ist, andre zu ähnlichen vorteilhaften Klagen zu veranlassen, dürfte
klar sein. Die neuen Schiedsgerichte, die einen Vorsitzenden im Hauptamt
haben, der auch die ganze Unfallliteratur kennt, dazu Beisitzer ohne Rücksicht auf
den Stand des Klügers, haben sich gegen den anfänglichen Widerspruch sehr
gut bewährt, und ihre Urteile entsprechen bei allem Wohlwollen der objektiven
Gerechtigkeit so sehr, daß niemand mehr zur Übertreibung verleitet wird.
Das wichtigste von allen drei Gesetzen ist im Laufe der Zeit das In¬
valid engesetz geworden, und seine Wichtigkeit wird sich bei wachsender Erkenntnis
seiner Vorteile in den weitesten Volksschichten noch mehr steigern. Der Grund
dafür ist der Umstand, daß es nicht einen zufälligen Vorgang, wie einen Unfall,
zur Grundlage seiner Wohltaten macht, sondern den ganzen körperlichen und
geistigen Zustand des Nentenbewerbers berücksichtigt. Bei dem Mangel eines
Zwanges und der, euphemistisch gesagt, Sparsamkeit der Landbewohner spielt
das Gesetz für diese noch eine so verschwindende Rolle, daß nur die Jndustrie-
bevölkerung sowie die persönliche Dienste leistende Bevölkerung bei der Besprechung
des Themas in Frage kommen. Der Besitz der eigentlichen Invalidenrente hat in
mancher Beziehung einen höhern Wert als der einer Unfallteilrente, da jene,
abgesehen von den vorübergehenden sogenannten Krankenrenten, ein viel sichrer
Besitz als die durch Nachuntersuchung bei eingetretener Besserung gefährdete
Unfallrente ist, und so wird auch von den Beteiligten alles in Bewegung gesetzt,
um eine Invalidenrente zu erlangen. Natürlich zeigen sich ganz ähnliche Ver¬
suche und Bestrebungen, wie sie vorher geschildert worden sind; aber man kann
doch einen sehr großen Unterschied feststellen. Alle die krassen, oben geschilderten
Fälle sind hier größere Ausnahmen als dort, weil junge Leute ohne ganz
schwere Leiden, die schon den Verbrauch der ganzen Krankenkassenleistnngen
veranlaßt haben, gar nicht in die Lage kommen können, Invalidenrente zu be¬
antragen, und bei ältern Leuten der handarbeitenden Bevölkerung immerhin so
vielerlei kleine und große Gebrechen vorhanden sind, daß man ihnen den guten
Glauben an ihre Berechtigung in viel höherm Maße zubilligen kann als den
schon geschilderten Patienten mit kleinen oder gar erfundnen Unfällen, auch
wenn Arzt und Behörde der Ansicht sind, daß sie noch nicht die Bedingungen
des Gesetzes zur Erlangung der Rente erfüllt haben. Es ist somit die moralische
Schädigung keine so große wie beim Unfallgesetz. Andrerseits ist aber der
Übertreibung deswegen auch ein weiter Spielraum gewährt, weil es sich, wie
oben bei dem Krankenkassengesetz gezeigt worden ist, vielfach um Krankheiten
handelt, die leichter vorgegeben werden können als chirurgische oder Augen¬
verletzungen. Ein Grund, der hier häufig zu Übertreibungen und falschen
Behauptungen führt, ist der Umstand, daß das Jnvalidengesetz auch in seiner
Novelle keine sogenannte ..Berufsinvalidität" anerkennt, sondern eine Rente
nur dem gewährt, der auf dem ganzen Arbeitsmarkt mit einer seinen körperlichen
und geistigen Fähigkeiten entsprechenden Arbeit nicht mehr em Drittel des von
einer gesunden Person derselben Art verdienten Lohnes gewinnen kann. kann
sehr leicht vorkommen, daß ein sonst noch durchaus rüstiger Mensch durch irgend
einen Fehler an der Ausübung gerade seines Berufs verhindert wird, aber nicht
die Tatkraft hat. sich einen andern für ihn passenden, ihm auch dasselbe Ein¬
kommen verschaffenden Beruf zuzuwenden, und nun alle Mittel anwendet, um
sich fälschlich als invalide im Sinne des Gesetzes darzustellen. Es muß an.
erkannt werden, daß bei dem in der Regel niedrigen Bildungsstande der in
Frage kommenden Personen das Gesetz hier etwas sehr Schweres verlangt, und
man könnte meines Erachtens die Unehrlichkeiten, wie sie eben geschildert worden
sind, am besten dadurch verhindern, daß man die Berufsinvalidität als Grund-
lage nähme, aber den sonst noch rüstigen Verufsinvaliden eine Teilrente gäbe,
die ihnen den Übergang in die neuen Verhältnisse dauernd erleichterte.
Ich habe mir Mühe gegeben, in den vorstehenden kurzen Darlegungen alle
die Umstände hervorzuheben, die geeignet sind, die infolge der Nentengier auf¬
tretenden häßlichen Erscheinungen zu mildern, aber es bleibt dennoch so viel übrig,
daß meine im Anfang des Aufsatzes aufgestellte Behauptung, diese Erscheinungen
stellten eine Schädigung der Volksmoral dar. bestätigt wird. Es ist em Gluck
daß die Zeugen in dem Rennverfahren nur in ganz seltnen Fallen vereidet
werden. Es würden in sicher bei eidlicher Vernehmung viele Aussagen unter¬
bleiben, aber es würde sich unzweifelhaft auch die Zahl der Meineide, und zwar
der um Lappalie», steigern. Anzeigen wegen Betrugs von solchen dle und
Recht oder Unrecht der Ansicht sind, daß eine Person die Reute unrechtmäßiger¬
weise bekomme, finden sich mit oder ohne Namensunterschrift genug in den
Akten. Wie muß auch der Neid angestachelt werden, wenn es die Haus¬
bewohner, die unter denselben Umstünden leben, mit ansehen müssen, wie em
Hausgenosse, von dem sie ganz genau wissen, daß er nicht mehr oder nicht
weniger einer Invalidenrente bedürftig ist. als sie selbst, fertig bekommen hat,
Arzt und Behörden zu täuschen, um sich in den Besitz der von allen ersehnten
Rente zu setzen! Und wie werden diese Erfahrungen durch Belehrungen der
noch Unschuldigen ausgenutzt! Jeder Sachkenner weiß Beispiele in Menge, daß
Leute, die bei der Schlußuntersuchung vor der Entlassung aus der Behandlung in
der Freude über die mehr oder weniger wiedererlangte Gesundheit tadellos der
Wahrheit entsprechende Angaben machen, diese nach kurzer Zeit aber bei un¬
verändertem objektivem Befund widerrufen — sie sind eben in der Zwischenzeit
log gemacht worden. Daß die Leute, die auf diesem Gebiet unehrlich suo.
Mf allen andern Gebieten des wirtschaftlichen Lebens tadellos sem °^r tuewen
sollten, darf man nicht annehmen, und so dehnt sich die von dem Gesetzge
nicht gewollte. aber unvermeidliche Schädigung der Moral auch noch weit uver
die ursprünglichen Kreise aus. ..
^,...
Wenn dem Idealisten auf sozialem Gebiet, und zu diesen zahlt sich der
Verfasser trotz seiner Erfahrungen auch, vorstehende Darlegungen wenig gefallen
werden, so ist einerseits aber auch die Kenntnis der Schattenseiten zur Be-
urteilung einer Sache nötig, und andrerseits wird der Volksfreund einen, wenn
auch wehmütigen Trost darin finden, daß auch bei der freiwilligen Unfall¬
versicherung der höher stehenden Kreise die Fälle von Übertreibung und Ver¬
schlimmerung der Unfallfolgen zur Erlangung pekuniärer Vorteile leider nicht
allzu selten sind.
el der Grundanschauung Spencers versteht es sich von selbst,
daß Untersuchungen des körperlichen Werkzeugs der Seele einen
breiten Raum einnehmen. Er beginnt mit dem, was das tierische
Leben für die sinnliche Wahrnehmung charakterisiert, der selb¬
ständigen Bewegung. Die Tiere niedrigster Art bewegen sich
sehr langsam. Das Infusorium scheint unterm Mikroskop rasch hin und her
zu schießen; aber diese Schnelligkeit ist nur ein durch die Vergrößerung be¬
wirkter Schein; in Wirklichkeit kommt es nicht rascher von der Stelle als der
Minutenzeiger einer Taschenuhr. Je mehr sich ein Nervensystem entwickelt,
je größer dann bei den höhern Tierarten die Hirnmasse wird im Verhältnis
zur Körpermasse, desto rascher nicht allein, sondern auch desto mannigfaltiger
wird die Bewegung, desto größer also die Menge der Bewegung. Das Pferd
läuft rascher als der Mensch, aber dennoch ist die Menge von Bewegung, die
der Mensch erzeugt, viel größer als die des Pferdes, weil die Bewegungen
seiner Glieder, namentlich der Arme, Hände und Finger, viel mannigfaltiger
sind und noch die feinen Bewegungen seiner Stimm- und Sprachwerkzeuge
hinzukommen. In Beziehung auf Anatomie und Physiologie nun werden wohl
deutsche Studierende aus Spencer nichts wesentlich Neues erfahren, ihn jedoch
mich nicht ohne Nutzen lesen, da manche seiner originellen Darstellungen zu
bessern: Verständnis verhilft. So der schon erwähnte Vergleich der Muskel-
innervation mit einer Sprengvorrichtung alten Stils (mit Pulver). Ein etwa
von einem erleuchteten Fenster aufgehender Lichtstrahl trifft die Zäpfchen der
Netzhaut. Diese, wie überhaupt die Nerven, bestehn aus einer Masse, deren
Gleichgewichtszustand sehr labil ist (die äußerst unsta-vie sind, pflegt Spencer
zu sagen; von labilem Gleichgewichtszustand dürfte die beste Übersetzung dieses
Wortes sein). Die Störung pflanzt sich ins Hirn fort, wo sie auf eine
Ganglienmasse trifft, die noch erregbarer ist, die empfcmgne Bewegung ver¬
stärkt und in motorischen Nervensträngen eine Welle von Erregungen erzeugt,
die, bei gewissen Muskeln angelangt, hier große mechanische Bewegungen,
etwa Gehbewegungen, auslöst. So gibt die feinste Molekularbewegung in
mikroskopischen Zellen den Anstoß zu großen mechanischen Bewegungen-
Wunderbar erscheint an dieser Auffassung nur, daß sich das — oft in rascher
Aufeinanderfolge unzähligemale — in den Nerventeilchen gestörte Gleichgewicht
immer augenblicklich von selbst wieder vollkommen herstellt. An der Stelle im
Gehirn, wo die Störungswelle aus dem sensoriellen in den motonschen
Nervenstrang umbiegt, greift in den mechanischen Prozeß der pMMe em
durch Überlegung und einen von der Sinneswahrnehmung veranlaßten ^Mens-
mtschluß. Allerdings nicht immer, und desto seltner, je älter und wllkommner
entwickelt der Mensch ist. Das kleine Kind bedarf zu jedem Schritt, der An¬
fänger im Klavierspiel zu jeder Berührung einer Taste der Überlegung und
eines besondern Willensakts. Durch Übung, d. h. durch oftmalige Leitung
einer Störungswelle auf demselben Wege, entsteht eine dauernde Verbindung
zwischen dem Sehnerven und den Gliedmassen, eine feste Bahn, die von lever
durch irgend einen Anstoß erregten Welle ohne Hindernis und ohne seitliche
Abweichung durchlaufen wird, sodaß die Seele an der Biegungsstelle acht
mehr einzugreifen braucht: die Bewegung wird automatisch. Doch das anco
wissen die Leser längst aus deutschen Büchern.
Das wichtigste in dem Werke ist die Bestimmung des Verhältnisses von
Leib und Seele, oder vielmehr, weil das Wort Seele schon em metaphysisches
Dogma voraussetzt, das Spencer ablehnt, zwischen den materiellen und den
psychischen Erscheinungen. Wir stellen die entscheidenden Äußerungen abge ur
zusammen. Das sechste Kapitel des ersten Teils überschreib er Althophystolog..
(das sprachlich richtigere Ästhesiphysiologie ist ihm zu schwerfällig); das s
bemerkt er! noch nicht eigentliche Psychologie, aber e sei dan" doch sah^v°n den die Nerventätigkeit begleitenden Bewnßtseinserscheinungen Handel' '
Wir kommen also Saat er zu einer von der vorhergehenden durchaus ver-
schienem Seite unsers Gegen lands (des Nervensystems). Vor uns liegt eme
Klasse von Tat ache^ zwischen denen und den bisher betrachteten kemerle
Gemeinsamkeit wahrgenommen oder auch nur vorgestellt werden kann Die
Physik weiß nichts von den Grundbestandteilen dieser Tatsachen; we objektive
Beobachtung und Zergliederung muß hier durch die subjektive ersetzt werden
Wir haben von d?n Nervenphänomenen zu handeln, sofern ste Pha»»
des Bewußtseins sind. Die Veränderungen, die als Zustände eines Nichtsbetrachtet und als mechanische beschrieben worden sind (napf desu exxrösssa
w tsrms ok inotivv). sollen nun als Zustände des Ich aufgefaßt und als
Empfindungen beschrieben werden (napf to dö expre^sa in wrms ok tsÄillAs).
Nachdem wir diese Veränderungen von außen betrachtet haben, sollen wir ne
nun von innen beschauen. Doch: wir sollen sie beschauen, als ob sie zu
derselben Zeit von mehreren wahrgenommen werden könnten. ^ "M genau
gesprochen; ich habe die Beziehungen zu beschreiben, die zwischen den
meinem Bewußtsein auftretenden Empfindungen und den mechanischen ^zungen
des Nervensystems, das ich aus gewissen Gründen zu haben 3^ ' ^stehn, und der Leser hat zu beobachten, ob in ihm ahnt^e BeziehWischer solchen Bewußtseinszustünden und den vorausgesetzten Nerve wffek wu«
vorkommen. Man wird das für unnötige Weitläufigkeit wo acht gar fu
Skepsis halten, aber es ist in Wirklichkeit noch lange nicht w el wchg rounÄ
awuy genug. Deal nur auf einem sehr langen Umwege ge arg n wir zu
dem Glauben, daß Nerventätigkeit und Empfindung ^einander gel^nimmt nur seine eignen Empfindungen wahr. Daß solche Empfindungen auch
in den andern Menschen vorkommen, schließt er aus der Ähnlichkeit des Leibes
aller Menschen mit seinem Leibe und aus der Ähnlichkeit der Bewegungen
dieser Leiber mit gewissen Bewegungen seines Leibes, die gewisse eigne Em¬
pfindungen zu begleiten Pflegen. Diese beiden Schlüsse als richtig voraus¬
gesetzt (ganz richtig ist der zweite auf keinen Fall, weil die Erfahrung lehrt,
daß unsre eignen Empfindungen von denen andrer Menschen oft sehr verschieden
sind), so folgt daraus noch lange nicht, daß das, was subjektiv angesehen
Empfindung ist, objektiv Nerventätigkeit sei. Der gewöhnliche Beobachter sieht
Nerven weder an andern Menschen noch in seinem eignen Leibe, und er weiß
nichts davon, daß die Nerven Empfindung verursachen. Erst wenn man als
Physiolog oder Patholog experimentiert, findet man Beweise für eine solche
Annahme, und zwar nur sehr indirekte. Die Experimente werden nicht an
Menschen, sondern an sehr viel niedrigern Wesen angestellt. Muskelkontrak¬
tionen an Fröschen, Zuckungen und Schreie von Vögeln und von Säugetieren,
deren Nerven man mißhandelt, sind die Erscheinungen, aus denen man schließt,
das Nervensystem müsse der Sitz der menschlichen Gefühle, und diese müßten
Begleiterscheinungen von Nervenerregungen sein. Die einzige gewichtige Be¬
stätigung dieser Folgerungen liefern die Chirurgie und die Leichensektion; jene,
indem sie zeigt, wie bei Unterbrechung der Nervenleitung die Empfindung
schwindet, diese, indem sie im Gehirn von verstorbnen Geisteskranken Abnormi¬
täten entdeckt.
Es fragt sich nun, ob zwischen Nervenerregung und Empfindung ein
Quantitätsverhältnis besteht, sodaß wir die eine als das Äquivalent der
andern ansehen können, ähnlich wie eine bestimmte Wärmemenge das Äqui¬
valent einer bestimmten Menge von Bewegung ist. Der Leser wird eine be¬
jahende Antwort erwarten; aber eine solche könnte nur unter vielem Vor¬
behalt gegeben werden. Die Vorgänge sind außerordentlich verwickelt. Viele
Nervenerregungen verlaufen unbewußt. Andre wecken nur in der Kindheit
Empfindungen. Von: Erwachsenen wird ein und derselbe Vorgang im Nerven¬
system bald wahrgenommen, bald nicht wahrgenommen, je nachdem die Aufmerk¬
samkeit darauf gerichtet oder davon abgelenkt ist. Ja man kann bei derselben
Körpertemperatur das einemal Hitze, ein andermal Kälte empfinden. Große
physische Anstrengung des Kindes bringt nur eine kleine Wirkung (Muskel-
kraftäußcrnng) hervor, während die kleine Anstrengung des Mannes eine be¬
deutende Wirkung erzielt. Auch sind die Anfangs- und die Endquantität eines
Nervenstroms nicht gleich, da ja die Wellen unterwegs verstärkt werden.
„Wenn nun keine Äquivalenz besteht zwischen einer an der Peripherie er¬
zeugten Nervenerregung und der dadurch verursachten Empfindung, keine
Äquivalenz zwischen dieser Empfindung und ihrer Entladung in einer Muskel¬
bewegung, was kann da für ein quantitatives Verhältnis obwalten? Die
Antwort ist einfach: ein quantitatives Verhältnis besteht zwischen Nerven¬
erregung und Empfindung, wenn alles andre gleich bleibt > damit ist wohl
gemeint, wenn die Nervenerregung außer der Empfindung keine andern Wir¬
kungen, etwa bleibende Veränderungen, wie Zerstörung einer Hirnpartie, ver¬
ursacht^ und ein quantitatives Verhältnis zwischen Empfindung und dadurch
verursachter Muskelkontraktion findet statt, wenn alles übrige unverändert
bleibt. lZn dem übrigen gehört wohl auch der Grad der Aufmerksamkeit die
auf den Vorgang gerichtet oder von ihm abgewandt wird.) ^n diesem ^aUe
wird der Reiz, der durch einen sensorischen Nerv einem Hirnzentrum zugeführt
wird, eine Empfindung erwecken, die einigermaßen im Verhältnis zum ^e.z
(in sowetliinZ Ms tue s-MS Proportion) wächst und abnimmt. Ein Quantitats-
verhältnis kann man hier also nur innerhalb sehr enger Grenzen annehmen.
Im Zentrum, wo auf geheimnisvolle Weise ein objektiver Vorgang, eme Ver¬
änderung in der Hirnmasse. einen subjektiven, eine Veränderung im Bewußt¬
sein, erzeugt, mag quantitative Äquivalenz stattfinden; aber es besteht kein
auch nur annäherungsweise bestimmtes quantitatives Verhältnis zwischen der
molekularen Umlagerung im Empfindungszentrnm und einerseits der Störung
im äußern Ende des Empfindungsnerven, andrerseits der Störung un ^e-
wegungsapparat."
,^Nach unsrer Ansicht verhält sich die Sache so. Ein ciuantitatwes Ver¬
hältnis besteht - o^loris xarions. wozu u. a. gehört: bei derselben Aufmerk¬
samkeit, immer zwischen Nervenerregung und Stärke der Empfindung, wie
Zwischen Gefühlserregung und Muskelanstrengung. Ein ganzes Orchester er¬
zeugt eine stärkere Tonempfindung als das Zwitschern eines V°gelesen» und
wenn die Frau aus dem Volke sehr wild ist wegen des zerschlagnen Milch¬
topfs, so drischt sie stärker auf den ungeschickten Jungen los. als wenn pe
sich nur ein bißchen verdrießlich fühlt. Aber mag auch das An- und das
Abschwellen der Empfindung dem An- und dem Abschwelle» von Nerven¬
strömen entsprechen, so kann doch von arithmetischer Formulierung des Ver¬
hältnisses der beiden Vorgänge zueinander und darum auch vou Äquivalenzkeine Rede sein. weil, wie Spencer selbst später nachweist, die beiden Vorgange
"-vergleichbar sind, während sich die Wärme als Molekularbewegung mit der
mechanischen Bewegung unter einen Begriff bringen läßt. Und beide können
gemessen werden, aber wo soll das Seclenmaß sein? Schmerzempfindungen
und Affekte könnten höchstens bei Kindern. Ungebildeten und solchen Wilden,
die sich nicht gegen Martern abhärten, an der Heftigkeit ihrer Bewegungen
einigermaßen gemessen werden. Bei Gedanken. Ideen und Absichten hat das
Wort messen gar keinen Sinn; was der Psychometer mißt, das ist
Größe oder der Wert eines Gedankens, sondern die Geschwindigkeit des Ab¬
laufs einer Reihe von Vorstellungen. Endlich würde, wenn die in der Mrven-
masse vor sich gehenden Molekularbewegungen wahrgenommen oder wie die
bei chemischen Prozessen stattfindenden, aus wahrnehmbaren Veränderungen er¬
schlossen werden könnten, wahrscheinlich erwiesen werden, daß jede ,vale
Molekularbewegung ihr volles Äquivalent erhält in einer andern, durcy 1 e
hervorgerufen Molekularbewegung, daß also nicht der sie begleitende MMI^
Vorgang das Äquivalent ist.
^^,-
Indem dann Spencer von der ÄsthophYswlogie zur P ychologie übe gel t,
entwickelt er von dieser eine Begriffsbestimmung, die ziemlich wunderlich an¬
mutet. ^ und L seien etwa Farbe und Geschmack einer Frucht Dann ist
die Untersuchung von ^ und ö Physik. . und b seien die Wahrnehmungen
von ^ und L durch die Nerven der Augen und des Gaumens, dann ist die
Untersuchung von g. und d Physiologie. Psychologie aber treiben wir, wenn
wir die Beziehungen von a und b zu ^ und L untersuchen. Wir würden
das zur Ästhophysiologie rechnen. Subjektiv angesehen, heißt es dann weiter,
ist die Psychologie eine Wissenschaft, die man einzig in ihrer Art nennen muß,
unabhängig von allen übrigen Wissenschaften (de> all vere-r 8oiLQ<zö8 vkatsve-r)
und ihnen entgegengesetzt. Die Gedanken und Gefühle, die ein Bewußtsein
ausmachen, und die jedermann unzugänglich sind, den Besitzer dieses Bewußt¬
seins allein ausgenommen, sind Daseinsformen, die unter den in den übrigen
Wissenschaften behandelten Daseinsformen keine Stelle finden. Obwohl Be¬
obachtung und Experiment die Annahme begründen, daß Geist und Nerven¬
tätigkeit die subjektive und die objektive Seite desselben Dinges sind, finden
wir uns unfähig, zu sehen, ja uns nur vorzustellen, wie die beiden zusammen¬
hängen (fre rölÄwä). Der Geist ist ein Etwas, das mit keiner andern Art
von Dingen verwandt ist, und von der Wissenschaft, die durch Selbstbeobachtung
die Daseinsgesetze dieses unbestimmbaren Wesens (ok tlÜ8 soraetninA) ent¬
deckt, führt kein Übergang, auch nicht ein solcher in unmerklichen Schritten,
zu den Wissenschaften, die die Daseinsgesetze der andern Dinge entdecken.
Dazu müssen wir doch bemerken, daß die von Spencer so gut hervorgehobne
unüberbrückbare Kluft zwischen Geist und Materie liegt, nicht zwischen der
Psychologie und allen übrigen Wissenschaften, weil die übrigen Geisteswissen¬
schaften: die Metaphysik, die Ethik, die Ästhetik, die Politik beide Gebiete
umfassen und also eine Brücke bilden. Läßt man die Logik als eine besondre
Wissenschaft gelten, dann gehört sie als reine Geisteswissenschaft an die Seite
der Psychologie.
Das erste Kapitel der eigentlichen Psychologie ist: Das Wesen des Geistes
(eh.6 8no8eka<Z6 ok mira) überschrieben und beginnt folgendermaßen. Es sieht
sonderbar aus, wenn man ein Kapitel zu dem Zwecke schreibt, zu zeigen, daß
wir von dem Gegenstande, von dem das Kapitel laut Überschrift handeln soll,
nichts wissen und nichts wissen können. Aber es ist notwendig, weil sonst
vieles von dem, was vorhergeht und was folgt, mißverstanden werden würde;
notwendig auch darum, weil je nach dem Sinn, in dem wir unsre Ausdrücke
gebrauchen, völliges Nichtwissen eingestanden werden muß oder partielle
Kenntnis behauptet werden darf. Denn wenn wir mit dem Ausdruck: Wesen
des Geistes den in unterscheidbare Kundgebungen differenzierten Geist meinen,
so wissen wir etwas vom Wesen der Seele und können möglicherweise mehr
davon erfahren. Nehmen wir ein diesen Kundgebungen zugrunde liegendes
Etwas an, so können wir in einigen Fällen beobachten und in andern uns
wenigstens vorstellen, wie seine vielfältigen Modifikationen entstehn. Wenn
dagegen der Ausdruck das den unterscheidbaren Kundgebungen zugrunde
liegende Etwas bezeichnen soll, so wissen wir nichts von ihm, und können
niemals etwas von ihm wissen. Es genügt nicht zu sagen, daß solche Er¬
kenntnis jenseits der menschlichen Fassungskraft liegt, wie diese jetzt beschaffen
ist; denn kein Maß von dem, was wir Erkenntniskraft nennen, mag es auch
das gegenwärtig vorhandne noch so weit übersteigen, kann solche Erkenntnis
fassen. Er weist alle bei den Philosophen vorkommenden Begriffe von der
Seele als unhaltbar zurück und führt aus. wie die chemischen Elemente auf
Atome, so ließen sich die psychischen Erscheinungen auf nuits, aus Nerven-
erschütterungen zurückführen (nervous suoeks). Gemeine ist natürlich d:e Em¬
pfindung eines solchen Nervenstoßes; jede wahrnehmbare Empfindung ist aus
den Empfindungen zusammengesetzt, die von einer großen Anzahl Meyer
Nervenstöße oder Nervenschwingungen verursacht werden. Der Ausdruck 8o.ook
scheint übrigens schon eine Abweichung vom strengen psychologischen Agnostizis¬
mus und ein Zugeständnis an die Annahme von Seelenmonaden zu enthalten,
denn wenn die Schwingung eines Nerventeilchens als Stoß bezeichnet wird
s° wird das gestoßne somMiwZ Spencers, das wir andern Seele nennen, a s
etwas von den stoßenden materiellen Teilchen verschiednes. nicht bloß als
seine Inneneite oder Innenansicht, gedacht.
Die Auflösung des Geistes oder der Seelensubstanz in Nervenstöße, fahrt
^ dann fort, widerspreche durchaus nicht ihrer Unerkennbarkeit denn sie
bringe uns der Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Psychischen
ebensowenig nahe, als uns die hypothetische Auflösung der chemischen Element
in Atome über das Wesen der Materie Aufschluß gibt. Die angenommene
einfachste Daseinsform ist in dem einen wie dem andern Falle weiter aq s
°is ein Hilfsbegriff (wren) für unser Denken. Nachdem ;ete der b de
Daseinsformen auf ihre angenommenen einfachsten Bestandteile zurückgeführt
Worden ist. müßten nun. um der philosophischen Forderung der Vereinheit¬
lichung zu genügen, die einfachsten Bestandteile der einen Art auf die d
°"dern zurückgeführt werden. Das wird aber vom ersten Anfang an durch
die Unterscheidung von Subjekt und Objekt unmöglich gemacht, denn dies
Unterscheidung ist das Bewußtsein von einem schlechterdings nicht aufzuhebenden
Unterschiede. Jede Analyse, weit entfernt davon, den Gegensatz auszugleichen,
macht nur die Unmöglichkeit, sie unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen,
immer deutlicher. Nehmen wir als bewiesen an. daß alles objektive Dasein
aus Einheiten der einen Art besteht, daß alles objektive Geschehen durch
rhythmische Bewegungen dieser Einheiten verursacht wird, und daß ^ diefen
Geschehnissen auch die durch Nerven und Nervenzentren fortgepflanzte ^tote-
kularbewegung gehört. Nehmen wir ferner als bewiesen an. daß sich aues
subjektive Dasein in solche Bewußtseinseinheiten auflösen lasse, die wir als
Nervenstöße (Empfindung von solchen!) kennen, und von denen jeder das
Korrelat einer rhythmischen Bewegung einer materiellen Einheit oder einer
Gruppe von solchen ist. Können wir uns dann das objektive und das
subjektive Geschehnis als ein und dasselbe denken? Können wir uns die
Schwingung einer Molekel als Empfindung oder die Empfindung ^ ^
bewegung eines Massenteilchens vorstellen? Wir mögen uns «och 1 ° ^
Mühe geben, wir können es nicht. Je näher wir die beiden Geschehn sie
einander bringen, desto deutlicher wird uns ihre Verschiedenheit. V^r 'leyn
wir an der Schranke, die für beide gleich unübersteiglich ist für Male v e
geistige Erscheinungen materialistisch zu erklären versuchen, und für Mcye. o e
der Gedanke ängstigt, es könne eine solche Erklärung gefunden werden. 6le,e
beweisen durch ihre Furcht nicht weniger als jene durch ihre Hoffnung, daß
sie eine mechanische (in terrns c»t w-Msr gegebne) Erklärung des Seelenlebens
für möglich halten, während so mancher, den sie einen Materialisten schelten,
von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen ist, daß auch nicht die
entfernteste Möglichkeit von so etwas besteht.
Wer unerschrocken die Analyse bis zum äußersten treibt, der erkennt klar,
daß unser Begriff von Materie weiter nichts ist als ein Sinnbild, ein Zeichen
der einen Form von Offenbarung einer unbekannten und unerkennbaren Macht,
und daß dieses Symbol der symbolisierten Sache nicht gleichen kann. Er er¬
kennt nicht weniger deutlich, daß die Darstellung der objektiven Geschehnisse
als Bewegung eben nur eine Darstellung, nicht eine Erkenntnis ist, und daß
es absurd sein würde, wenn wir uus die in den Geschehnissen sich offen¬
barende Macht oder Kraft als materielle Bewegung dächten. (Er stellt noch
einmal die Widersprüche dar, in die alle Hypothesen über das Wesen der
Materie verwickeln.) Ebenso sind auch die Vorstellungen, die wir uus von
den einfachsten Bestandteilen des Bewußtseins machen, nur Symbole. Wären
wir gezwungen zu wählen zwischen der Auflösung der Bewußtseinserscheinnngen
in physische Vorgänge und der Auflösung dieser in jene, so würde die zweite
ausführbarer erscheinen. Denn unser Bewußtsein kennen wir, von der ge¬
samten Körperwelt dagegen kennen wir gar nichts als die Wirkungen, die sie
in unserm Bewußtsein hervorbringt. Das Seelenleben in Materie auflösen
wollen, würde also heißen, ein verhältnismäßig Bekanntes dnrch das absolut
Unbekannte erklären wollen. Am faßbarsten ist die Annahme, daß wir es
mit zwei Offenbarungsformen derselben Wesenheit zu tun haben, daß es
dasselbe ist, was sich objektiv gesehen als materielle, subjektiv gesehen als
Bewußtseinseinheit darstellt. Doch auch bei dieser Annahme bleibt uns die
Verknüpfung der beiden Daseinsweisen so dunkel wie zuvor. Sobald wir den
Ausdruck substÄnos ok urinä anders gebrauchen als das X einer Gleichung
(jedenfalls hat er eine Gleichung im Sinn, die nicht aufgelöst werden kann),
so verwickeln wir uns in Irrtümer. Auf dem richtigen Wege können wir
nur bleiben, wenn wir uns bestündig vor Augen halten, daß Symbole eben
nur Symbole sind, und daß wir den Dualismus nicht los werden. Da das
Unwißbare, sofern es sich innerhalb unsers Bewußtseins als Gefühl kundgibt,
nicht weniger unerforschlich ist, als wenn es sich außerhalb unsers Bewußtseins
in andern Gestalten kundgibt, so kommen wir dem Verständnis dieser andern
Gestatte,, dadurch nicht näher, daß wir sie auf geistige Elemente zurückführen.
Weder das bedingte Subjektive noch das bedingte Objektive kann das beiden
gemeinsam zugrunde liegende unbedingte Wesen sein.
Es wird dann gezeigt, wie sich der Geist mit dem Leben, also biologisch,
entwickelt. Leben wird noch einmal definiert, und zwar als eine sich in
Wechselwirkung mit äußern Tätigkeiten selbst erhaltende innere Tätigkeit. Die
einfachsten Lebewesen empfangen von ihrer ganz gleichförmigen Umgebung,
dem Wasser, nur gleichförmige Eindrücke. Wachsende Mannigfaltigkeit der
Umgebung und der Einwirkungen gliedert den Leib immer feiner und erzeugt
nach Entstehung eines Nervensystems eine immer größere Mannigfaltigkeit
von Bewußtseinszuständen. Sehr schön und ausführlich wird gezeigt wie tue
Wechselwirkung des Innenlebens mit der Außenwelt wächst in Beziehung aus
Raum, Zeit. Gliederung und Verflechtung. Am Anfange des ^»3^^ 5^Beispiel entsteht die Wahrnehmung von Zeitunterschieden «"s /raumver-
Hältnissen. Das Tier lernt seine Tätigkeit auf ein zukünftiges Ziel r ep en.
indem es durch Erfahrung inne wird, daß sich das in Sehweite g langt
Veuteticr noch nicht in der Greifweite befindet, und indem es den dazwycyen
Agenten Raum abschätzen lernt. Am Ende der Entwicklung berechnet rnnge-
kehrt der Astronom die ungeheuern Entfernungen der Gestirne vonemande
°us den Zeiten, die zwischen ihren verschiednen Stellungen verfließen, ^e
der Betrachtung der Fortschritte des Seelenlebens taucht nun die Frage nack)
seinem Zusammenhange mit dem Leibe aufs neue auf. da sich za Lei» uno
Seele, insbesondre Nervensystem und Seele in Wechselwirkung miteinander
entwickeln. Spencer weist die Hypothese einer vom Schöpfer Pras abMenm
Harmonie zurück und erklärt es für das bis zur Gewißheit Wahrscheinliche.
d°ß die innern Beziehungen und Verknüpfungen, die das bewußte «eben aus¬
machen, durch die äußern Beziehungen und Verknüpfungen verursacht werde .
Wenn drei von außen verursachte Empfindungen: das Erblicken der Be ^d°s Ergreifen der Beute und der Genuß beim festen "une^verbunden vorkommen, so verknüpfen sich auch ihre V°rstellmigen der Und et
des Veutetiers ruft die andern beiden hervor und erzeugt die zum Ergreifen
^^
Dochbrauchenbei dieser Art. aus den niedrigsten F°rnen des Seele^lebens durch immer reichere Erfahrung und mannigfaltigere Verknup u g all^mählich die höchsten hervorgehn zu lassen, nicht zu verweilen weck abe
Methode aus dein eben Psychologien und Psychophysiologieu hmlang ich del^ist- Wir bemerken nur daß sich Spencer trotz seiner heftigen Polemik g g
Leibniz S. 469 bis 470 des ersten Bandes genötigt sieht, eme gewissermaßen
prüstabilierte Harmonie zuzugeben, da gewisse innere Beziehungen, die an Kants
apriorische Anschauungsformen erinnern, so mit den Beziehungen der ÄNyen-
Welt verknüpft sind, daß sie vor aller Erfahrung und unabhängig von )oicyer
sofort mit dem Erwachen des Bewußtseins hervortreten. S. 616 ff. steht c
sich noch einmal veranlaßt, den Vorwurf des Materialismus zurückzuweisen.
Es sei gezeigt worden, daß der Geist wächst, nicht anders wie em tun^us ooe
ein Wurm. So sollen wir also folgern, läßt er den Gegner ragen, daß der
Tiefblick des Erfinders, die Inspiration des Dichters. d:e Abstraktion d .
Mathematikers, die edelsten Regungen aufopfernder Nächstenliebe weiter nickt,
seien als Eigentümlichkeiten gewisser Anordnungen von Massenteilchen ^un.
erwidert er auf diese Frage, daß der Rausch am Denken hindert daß der ^e
je nach Menge und Umständen aufregt oder betäubt, daß S^ßer ^«ve
Bewußtlosigkeit zur Folge hat. daß das unentwickelte Kind meh ^ ^n kann
wie ein Mann, das sind doch Tatsachen. Der Matermlist konnt dem P ^dualistischen Kirchgläubigen Mitworten: Du rühnch dich ^dem Schöpfer und sprichst doch von seiner materiellen Schöpfung M ^sie vom Teufel stammte. Und wie wunderbar ist diese Matene! Wizusammen-
gesetzt das scheinbar Einfache, wie lebendig das scheinbar Tote! Ein andrer,
der genauer erkennt, um was es sich handelt, wird sagen: Da du mich einen
Materialisten nennst, so scheinst du zu meinen, ich identifizierte Geist und
Materie. Ich tue jedoch nichts dergleichen. Ich identifiziere Geist und Be¬
wegung, Bewegung aber ist nichts Materielles. Du meinst, ich sähe keinen
wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Gehirn. Ebensogut könnte ich
dich beschuldigen, du sähest keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Musik
und dem Piano, dem sie entlockt wird. Aber dieses Bild ist noch zu roh.
Und auch deine Borstellungen, du Spiritualist, sind mir zu grob. Ich weiß
nicht, in welchem Grade du den von den Urmenschen ererbten Glauben an
Geister, wie er sich noch bei Naturvölkern findet, verfeinert hast. Diese Geister
waren so materiell, daß sie an Schlachten teilnehmen und womöglich noch
einmal totgeschlagen werden konnten. In meiner Vorstellung ist der Geist nicht
etwas relativ Immaterielles, sondern das absolut Immaterielle. Er hat nicht
einmal die feine Materialität des Äthers, der das füllt, was du den leeren
Raum nennst, aber er läßt sich mit der Wirksamkeit sowohl des Äthers als
auch aller andern wahrnehmbaren Wesen vergleichen. Überall ein- und aus¬
strömend, löst er unaufhörlich die organischen wie die unorganischen Wesen auf
und bildet sie aufs neue. Den erfüllten wie den scheinbar leeren Raum gleicher¬
weise durchdringend, verleiht er der wägbaren Substanz die Kraft zu wirken
und auf Einwirkungen zurückzuwirken, der unwägbaren Substanz aber die
Kraft, Wirkung und Rückwirkung von einem Körper auf den andern zu über¬
tragen.
Doch auch diese verhältnismäßig zutreffende Antwort des sogenannten
Materialisten ist nicht die, die Spencer selbst geben will. Er wiederholt noch
einmal: Weder vermag der Psycholog die Natur der Seele, noch der Chemiker
die Natur der Materie, noch der Physiker die der Bewegung zu ergründen.
Wir wissen nicht, was ein Atom ist, und obwohl wir Grund haben, Mole¬
kularbewegung und eine Erschütterung des Bewußtseins Stoole ok vonsoiousnöss
schreibt er hier besser für das, was er gewöhnlich nkivons snoolc nennt) für
ein und dasselbe Ding zu halten, so bleiben wir doch unfähig, die beiden so
miteinander zu verbinden, daß wir eine Vorstellung von der Wesenheit dessen
bekämen, wovon sie die zwei entgegengesetzten Ansichten sind. Fest steht nur
dieses: wir können von der Materie nur reden in Ausdrücken, die dem geistigen
Leben entnommen sind (weil alles, was wir von ihr aussagen, aus den
Empfindungen stammt, die sie uns verursacht), und wir können vom Geiste
nnr reden in Bildern, die der materiellen Welt entnommen find. Sind wir
mit der Erforschung der Materie an die äußerste Grenze gelangt, so werden
wir an den Geist gewiesen, uns von ihm die Antwort auf die letzte Frage zu
Holm, und haben wir sie empfangen, so werden wir zur Materie zurückgeschickt,
daß sie sie uns verständlich mache. So wird es uns denn auch hierdurch zur
Gewißheit, daß es dieselbe Wesenheit ist, die sich uns als Objekt und als
Subjekt offenbart, und daraus folgt nun weiter, daß für die innere und für
die äußere Welt dieselben Entwicklungsgesetze gelten.
Diese Auffassung des Verhältnisses von Geist und Materie uutersche.det
sich nicht wesentlich von der unsrer deutschen Monisten idealistischer Richtung,
wie Lotze und Hartmann, der wir auch selbst huldigen. Spiritualisten wie den.
gegen den Spencer seinen Materialisten ins Feld schickt, mag es unter den
englischen Theologen noch geben, unter den deutschen schwerlich. Die Dar¬
stellung der Art und Weise.' wie sich das Geistesleben in Wechselwirkung mit
der Differenzierung und Verflechtung des Nervensystems entwickelt, und wie
der Verbindung von Nervenbündeln und der Verbindung solcher Verbindungen
immer zusammengesetztere Gefühle, immer abstraktere Vorstellungen entsprechen,
ist eine großartige und höchst verdienstliche Arbeit. Aber in der Abweisung
der .Hypothese von einer Seelenmouade stimmen wir Spencer acht bei. Mag
auch kein menschliches Bewußtsein anders als ans dem von ihm beschnebncn
Wege entsteh» - ohne eiuen individuellen, vom Weltgeist verschiednen geistige..
Trüger können wir uns das durch Nervenstöße wachgernfne Bewußtsein acht
denken, und diesen persönlichen Träger, dieses unser vom göttlichen ^es so
^'schiednes Ich lassen wir uns uicht in ein bloßes Gewimmel sich von innen
beschauender Molekeln auflösen. Daß uns das Wesen dieses ^h so uner-
forschlich ist wie das der Einheiten, die die Materie und zugleich Spencers
ausmachen, versteht sich von selbst. Daß ferner dieselben Entwicklungs¬
gesetze für Materie und Geist gelten, erkennen wir nur lus zu einer genus
Grenze an. Das Wachstum und die Vervollkommnung des Geiste» geht auf
demselben Wege vor sich wie das des Leibes: durch Stoffaufnahme. Stoff¬
wechsel. Verknüpfung und Gliederung. Aber zum Verständnis der De.üge etzc
und der ästhetischen wie der sittlichen Werturteile tragen diese Entwicklungs¬
gesetze nichts bei Deshalb versagt Spencers Methode in der zweiten Hälfte
des zweiten Bandes, wo er solche Erscheinungen zu erklären versucht wahrend
er in der vorangehenden Kritik metaphysischer Ansichten, zum Beispiel des
'"etaphysischen Idealismus, der Leugnung der Außenwelt. Beachtender es
leistet. Merkwürdig ist eine Polemik gegen Stuart Mill. in der nachgewiesen
Werden soll, daß die Logik nicht eine Denklehre sondern eine SnchwisfenßtM
ist. und daß der Mensch nicht in Syllogismen denkt, auch uicht in abgekürzten
und unbewußten. Als Kuriosum erwähnen wir noch, daß er — der immer
Kranke - S. 590 des ersten Bandes dem körperlich kräftigsten Menschen das
kräftigste Geistesleben zuschreibt, den leiblich Unkrüftigen als einen .VceuMn
schildert, der in der Jugend an den Vergnügungen seiner Altersge.offen nicht
teilnimmt, das Studium zu mühsam findet und später apathischen Müßiggang
verfällt. Etwas Wahres ist ja dran, an dem alten Spruch: of^ in
empöre- «^o. Aber daß ein im Zergliedern des Verwickelten s° 3^"^
Philosoph diese verwickelte Sache so einfach und grob auffaßt, muß sogar
wenn wir seine Nationalität in Anschlag bringen, noch wundernehmen ^em
auch in England werden die Sieger im Fußball und bei den Ruderregauen
nicht durchweg im Griechischen und in der Mathematik die ersten em. Kurz ^
haben deutsche Zeitungen, veranlaßt durch eine ärztliche Unke^uchung^eruner
Schüler, ähnliche Ansichten ausgesprochen. Der Kladderadatsch aber, ver mcyr
ganz unphilosophisch ist, hat daraus die Folgerung gezogen, daß man Genies
erzielen könne durch Mästung. Wir stehn da an einem der Punkte, wo die
Identität des materiellen und des geistigen soinstninZ in die Brüche geht.
>aß Napoleon in der Tat Enghiens Tod von vornherein be¬
schlossen hatte, beweist die Äußerung der Frau des Ersten Konsuls,
iJosephinens, zu Frau von Remusat am 18. März, Enghien sei
verloren. Und dabei trafen doch erst am 19. März dessen mit
!Beschlag belegte Papiere in Paris ein.*) Vergebens hatte sich
Josephine bemüht, Bonaparte zur Milde zu bewegen. Er hatte ihre Bitte
schroff abgeschlagen.**) War er nicht vor der offnen Verletzung des Völker¬
rechts zurückgeschreckt, so scheute er sich auch jetzt nicht, die Gesetze des Landes,
die er selbst zum Teil gegeben hatte, ganz nach seinem Belieben als nicht
vorhanden anzusehen. Er hätte den Unglücklichen, der ja nun in seiner Ge¬
walt war, in den Kerkern des Staatsgefängnisses ermorden lassen können,
aber er zog es vor, den politischen Mord mit dem Schein des Rechts zu um¬
geben. Der unglückliche Herzog sollte schnell abgeurteilt werden. Die Zeit
zur Inszenierung der widerlichen Gerichtsposse drängte deshalb. Kurz vor
Mitternacht ließ der Major Dautcmcourt, begleitet von einigen Offizieren und
Soldaten, den in tiefem Schlummer der Erschöpfung liegenden Herzog wach¬
rütteln und ein Verhör mit ihm anstellen. Auf die einleitende Frage, ob er
Sold von England beziehe, antwortete Enghien, England habe ihm toujours
un t-raiteinsni bewilligt, und er habe nur das zum Leben.***) Dann wurde
er nach seinem Range in der Condeschen Truppe befragt, worauf er antwortete:
OonnnanZg.ut as 1'ÄVg.ut-gg.r66 su 1796 et denn'ours, Äsvnis 1796, c-oriens
oominanäant Se 1'g.og.ut-garäs. Eine Bekanntschaft mit Pichegru stellte er in
Abrede mit den Worten: ^s us I'al, js vrois, Minais vn; ^js n'g-i point su
as relations avec Imi. 5s 8ais, «zu'it a ä6sirs ins voir. -1s ins Ions <Zs of
xg,s 1'g.voir oonnn, ä'axiss Iss vns mo^fus aoud on alle ein'it g, voulu hö ssrvir,
s'us sollt or^is. Auch Dumouriez habe er nicht gesehen, ebensowemg nur ihm
verkehrt. (?^8 ä'^vaut^s; je ne Mmais vu.) In das über das kurze
Verhör abgefaßte Protokoll trug er eigenhändig die Bemerkung em: ^vaut
6s siMvr 16 xrössnt xrooks-vöiwl, ^ kais, avec illstWoo, 1a üöinanäo 6 avoir
uns Mäisllee xartiouliöre xremier vollsul. Roll lion, man ranZ, ma
taovll as xenssr et 1'llorrsllr us ma siwMoll, nrs tout <Z8v6rer a.u'i1 hö
rskusera vag a og. äeillg.lläs.
Dann wurde der Herzog der Kommission vorgeführt, worüber das Urteil
die Stelle enthält: I.« xr6siäellt a fait ameuer 1s xrevsllu livro et «ans this.
^ a oräonllo an oaxitaille-ravxorteur av Sollllör eollllaissWM ach xieees
will a oil^e a.u'a Äeonarss. an vomvis ä'litt«. Diese xiöoe iilli^us war der
Konsularbeschluß. Auf dem Tische lagen die aufgefangnen Briefe des Herzogs,
ferner die Briefe des Straßburger Präfekten Shee und ein umfangreicher Bericht
des Staatsrates Real, worin Enghien als Teilnehmer an einer gegen die Sicher¬
heit oder vielmehr die Existenz des Staates gerichteten Verschwörung geschildert
war. Gendarmen waren zur Sicherheit des Saales anwesend. Zunächst wurde
der Konsularbeschluß. als das Aktenstück der Anklage, verlesen. Dann begann
wieder das Verhör. Auf die Frage, ob er gegen Frankreich die Waffen ge¬
tragen habe, entgegnete der Herzog: oll'it avlüt lÄit doues 1a Zuerrs. ot Mil
p^kalt äslls 1a Ävelaratioll an'it a si^Sö. ferner ^u'ü 6we xrst a lauf
^ Snerre, et «it'it ässirait avoir <w ssrvios äav8 1a llollvelle ^orre (es
^n^loterre eolltre 1. Balles. Er bejahte wieder die Frage nach der englischen
Unterstützung. Weiter erklärte er: 1'al ooinwttu avo wa kamills pour rooollvrsr
l'nsrit^o Ah ins« -illoßtre8. se äepllis a^ 1a xaix est kalte. ^j'in r«it ^u it
u> a plus Ah rois M Luwxe. und endlich: ?ans8-moi a88a88mer, x^^no
t°As o«t 1'mtelltioll ac oewi am voll« a sllvo^s loi. 1° it'al xws rioll a
^»s 6irs. Obgleich ans tiefem Schlafe gerissen, bewahrte er seine volle Würde
und antwortete auf alle Fragen mit ruhiger Sicherheit und Festigkeit. Ale
Kommission erachtete sich nun als hinreichend belehrt; das Verhör wurde be¬
endigt und der Herzog abgeführt.
in^^Dieses Verhör entsprach nicht den gesetzlichen Vorschriften, ^ach ven
französischen Gesetzen Hütten dem Herzog die Antworten nochmals vorgelesen
werden müssen, um die Richtigkeit des Protokolls zu erhärten.*) Das geschah
aber nicht. Ferner bestimmte das Gesetz, daß sich nach Schluß des Verhörs
der Angeklagte einen Verteidiger zu wählen habe, oder daß ihm em solcher zu
bestellen sei.**) Auch das geschah nicht. Der Herzog hätte sich ja auch nur
aus den Gendarmen einen Verteidiger wählen können. So blieb ihm auch me,e
vom Gesetz ausdrücklich bestimmte Wohltat versagt. Es erfolgte nun eme kurze
Beratung der sogenannten Richter. Aber noch in derselben Stunde, kurz nach
Mitternacht, wurde der Unglückliche wieder dem Gerichtshofe, d. h. derselben
Militärkommissivn, vorgeführt. Auch das war wieder ein ganz ungesetzliches
Verfahren, denn das Gesetz bestimmte, das Gericht solle bei Tage und öffentlich
stattfinden. Aber freilich, dieses Gaukelspiel eines Spruchgerichts vertrug die
Tageshelle nicht. Es handelte sich ja auch nur darum, irgend einen Grund
für das Erkenntnis des Todesurteils aufzufinden. Noch vor dem Urteils¬
spruche war schon das Grab im Schloßgraben ausgeworfen worden. Savary
hat diese Scheußlichkeit später vergeblich zu leugnen versucht. Die gerichtliche
Untersuchung war im wesentlichen nur eine Wiederholung des ungründlicher
Verhörs. Bei dem Mangel an Zeugen für oder gegen den Angeklagten waren
die gegen ihn erhobnen Beschuldigungen nicht beweiskräftig, sobald der An¬
geklagte die Schuldfrage verneinte. Aber dieser Punkt kümmerte den Gerichts¬
hof nicht, bei dem alles Ungesetzliche möglich war, weil der Tod Enghiens
schon bestimmt war. Auch jetzt antwortete Enghien ruhig, fest und mit edler
Würde. Die Anklageschrift beschuldigte ihn erstens, gegen Frankreich gefochten
zu haben, zweitens, im Solde Englands zu stehn, und drittens, mit England
Komplotte gegen die innere und die äußere Sicherheit der Republik geschmiedet
zu haben. Die beiden ersten Punkte konnten nicht dnrch französische Gesetze
abgeurteilt werden, da Enghien als ein Bourbon nicht Untertan der Republik
war, und da er ferner nicht Emigrant, sondern Verbannter und nicht mit den
Waffen in der Hand auf französischem Boden oder im eroberten Feindeslande
ergriffen, sondern aus einem neutralen Lande unter Verletzung des Völkerrechts
aufgehoben worden war. Der dritte Anklagepunkt aber gehörte nach dem
französischen Gesetz über Komplotte überhaupt nicht vor eine Militürkommission,
sogar nicht unter dem Vorwande des Konnexes mit andern Verfehlungen, sondern
vor einen Zivilgerichtshof. Zu dem ersten Punkte erklärte Enghien wieder
freimütig, gegen Frankreich gefochten zu haben, und nannte die Feldzüge, an
denen er beteiligt gewesen sei. Auf die zweite Anklage gab er zu, eine englische
Pension bezogen zu haben, stellte aber entschieden in Abrede, im Solde Englands
zu stehn. Den dritten Anklagepunkt wies er als ganz unwahr und unbegründet
mit Entrüstung zurück. Nun versuchte der Gerichtshof, den Herzog in die
Verschwörung von Pichegru, Cadoudcil und Genossen zu verwickeln, da man
unbedingt einen Grund für die Verurteilung zum Tode haben mußte. Enghien
jedoch erklärte fest seine Unschuld: er habe nichts davon gewußt, keinen der
Verschwornen gekannt und niemals mit ihnen in Verbindung gestanden. Die
Richter waren in einer höchst unangenehmen Lage. Dem Herzog war nicht
beizukommen, und man konnte keinen Rechtsgrund auffinden, der zur Begründung
des Todesurteils genügt hätte, das der Erste Konsul haben wollte. Hulin
bekam später, als er alt und halb blind geworden war, Gewissensbisse und
schrieb eine Rechtfertigungsschrift, betitelt: Hxplieatiovs ollkrtss g.ux noinnies
i!NMrt,ig,ux an sujet as in, vomnüssion nu11eg,irs instituvs XII xour
juger 1e elne ä'DnANien (Paris, 1823), worin er sich vergebens bemühte, seinen
Anteil der Schuld an dem widerwärtigen Gaukelspiel dieser Gerichtssitzung von
sich abzuwälzen. Darin sagt er über das Verhalten Enghiens vor der Kommission,
der Herzog de.be mit stolzer Sicherheit und mit Verachtung jede Anschuldigung
einer auch nur mittelbaren Teilnahme an einer Verschwörung gegen das Leben
des Ersten Konsuls zurückgewiesen, aber freimütig bekannt, gegen Frankreich
gefochten zu haben. Den oft wiederholten Bemühungen der Richter, ihn zur Uo-
schwächnng seiner Tonart zu bewegen, sei er mit hochherziger Entschlo senden
entgegengetreten. Er habe geäußert, daß er nur die Rechte seiner Fanulre auf¬
recht erhalten habe, und daß ein Conde nur mit den Waffen in der .Hand wieder
in sein Vaterland zurückkehren könne. Seine Geburt und seine Denkweise
machten ihn für immer zu einem Feinde der gegenwärtigen Regierung.
Standhaftigkeit seiner Gestündnisse habe die Richter in Verzweiflung gebracht.
Zehnmal hätten sie versucht, ihm einzugeben, von seinen frühern Erklärungen
°bzustehn. Seine Antwort sei immer dieselbe geblieben: er sehe die ehrenwerten
Absichten der Mitglieder des Gerichtshofs, könne sich aber der von ihnen an¬
gebotenen Mittel nicht bedienen. Nochmals sprach Enghien die Bitte an eme
Unterredung mit dem Ersten Konsul aus. wie er es schon am Schlüsse deo
ersten Verhörs vor Dautaucourt getan hatte. Die Richter schienen für einen
Augenblick Napoleons Forderung vergessen zu haben und die Begleit der
Bitte einzusehen. Aber Savarh verhinderte die Erörterung der ^iter mit der
Bemerkung, aus eetw äeiuanäe 6tM inopportune. (Hüten a. a. O. S. b.) ^le
Richter mußten sich fügen. Nun ging man an die Abfassung des VerdisDas war bei de Lage der Dinge eine höchst schwierige An gäbe denn das
französische Gesetz verengte ausdrücklich, daß im Protokoll die Tatsachen in t
größter Genauigkeit angegeben würden, für die die Todesstrafe verhängt wurde.
Ferner war die Angabe der Gesetzesartikel vorgeschrieben, nach der die Sen euz
^f°lgt war. und schließlich mußte natürlich die Sentenz der Anklage entsprec^in
D°s alles machte der Kommission schweres Kopfzerbrechen. Endlich stellte man
den Wortlaut des Verdikts, wie folgt, fest:")
^,^Das Kriegsgericht erklärt Louis Antoine Henri von Bourbon, Herzogvon Enghien
1. einstimmig für schuldig, die Waffen gegen die französische Republik
getragen zu haben.
2. einstimmig für schuldig, seine Dienste der englischen Regierung, dem
Feinde der Republik, angeboten zu haben.
.3. einstimmig für schuldig, von besagter englischer Negierung Agenten aus¬
genommen und akkreditiert, ihnen Mittel zum Verkehr in Frankreich an die Hand
gegeben und sich mit ihnen gegen die innere und äußere Sicherheit der Republik
verschworen zu haben,
.
^ 4. einstimmig für schuldig, sich an die Spitze einer Vereinigung französischer
Emigranten und andrer gestellt zu haben, die sich an Frankreichs Grenzen in
Freiburg und in Baden sammelten und von England besoldet wurden,
5- einstimmig für schuldig. Verbindungen mit der Stadt Straßburg in ver
Absicht gepflogen zu haben. Aufruhr in den benachbarten Departements zu
erregen, um eine Diversion zugunsten Englands zu machen,
6. einstimmig für schuldig, einer der Begünstiger oder Mitschuldigen der von
den Engländern gegen das Leben des Ersten Konsuls gerichteten Verschwörung
zu sein und beabsichtigt zu haben, im Falle eines Erfolgs dieser Verschwörung
in Frankreich einzudringen.
Man erkennt die ganze Ungesetzlichkeit des Verfahrens aus diesem Schrift¬
stücke. Auf die drei Anklagepunkte des Konsulnrbeschlusses erfolgt ein Verdikt,
das deren sechs enthält, von denen nur der erste zutraf, aber wie schon oben
bemerkt wurde, nach den damals in Frankreich giltigen Gesetzen keine Bestrafung
herbeiführen konnte. Die fünf folgenden Anklngepunkte sind absichtlich erfunden-
Ferner hatten die Richter, entgegen der bestimmten Forderung des Gesetzes,
kein dullstin ass lois (Gesetzbuch) vor Augen. Auch ist es nicht bezeugt, daß
der Vorsitzende den Text des Gesetzes vor dessen Anwendung auf den vor¬
liegenden Fall vorgelesen hätte. Eine Abschrift dieses Schriftstücks wurde sofort
dem Ersten Konsul zugestellt, der sie mit dem Vermerk: Zum Tode verurteilt,
ohne Zeitverlust der Kommission wieder zugehn ließ. Das zuerst entworfne
Protokoll des Kriegsgerichts trug neben dem Datum des 20. März den Zusatz:
äsux Ksurss an niatin. Diese Worte wurden ausradiert, aber nur flüchtig, so-
daß sie dennoch lesbar blieben. Seit der Vorführung des Unglücklichen waren
also schon zwei Stunden verflossen. Da Enghien nun noch vor dem Grauen
des Morgens ausgelebt haben sollte und das Grab schon seiner harrte, war
nur noch wenig Zeit übrig für die Fassung des Urteilspruchs in gesetzmüßiger
Form unter Hinzufügung der einschlägigen Gesetzesartikel. Aber nicht das Urteil,
sondern der Tod Enghiens war ja die eigentliche Aufgabe des Kriegsgerichts,
und so glaubte man, für die Formalitäten Zeit genug nach der Hinrichtung zu
haben. Das Todesurteil hatte gelautet: I/rman,init6 ass voix Ä6olar6 oou-
xaols, et 1o.i g, appliaus l'art. . . . as 1a loi an. . . a-nisi ocmsu ... se, so. von-
se^usncs, ocmäarnns' a 1a vsins as mort. Oräorms Hus 1s orüssut juAö-
nisut fers, sxs'vo.es as fünf, g. 1a, cliliZsiios av. vaxitg,ni.s-rÄxvortsv.i', avrs8
en s,voir clono.6 Issturs, en xr6heros as8 äiktsrsu8 ästaodsinsns as8 oorvs
as 1a ssarnisoo, M oonäkilins'. ?ait, olos se jnZs usw. (Visess ^als. S. XVIII,
Ur. 5.) Die punktierten Stellen blieben unausgefüllt. Auch fehlte die Unter¬
schrift des Gerichtsschreibers, ohne die nach dem französischen Gesetz die Strafe
nicht vollzogen werden durfte. Übrigens war auch die Bestimmung der unge¬
säumten Urteilsvollstreckung ungeheuerlich und völlig ungesetzlich. Denn das
Gesetz gewährte gegen alle kriegsgerichtlichen Urteile entweder den Rekurs einer
Revision oder eine Kassationsinstanz wegen des Jnkompetenzpunkts. Das Gesetz
vom 17. Messidor des Jahres XII, wonach jeder Rekurs gegen die Urteile der
Militärkommissionen untersagt war, ist erst vier Wochen nach dem Tode Enghiens
erlassen worden; aber sogar dieses strenge Gesetz bestimmte ausdrücklich, daß die
Urteile 8front <zx6vues3 äans Is8 vinZt> cjMt>rs Ksurs as Isur prononoiMou.
Unter den Richtern sogar wurden Zweifel an der Giltigkeit dieses Meisterstücks
bonapartistischer Gerechtigkeitspflege laut, und Hulin selbst äußerte später über
diesen Punkt, die vermeintliche Urschrift, ungeachtet des Umstands, daß sie mit
allen Unterschriften versehen war, sei wegen ihrer mangelhaften Form beseitigt
und nach Ablehnung mehrerer mißglückter Entwürfe durch ein regelmäßigeres
Schriftstück ersetzt worden. Er habe nur vergessen, das erste hiermit zu einem
bloßen Entwürfe gewordne Schriftstück zu vernichten, ahnten, LxMo^lors,
S. 11 u. 12.) In allen wesentlichen Punkten stimmt übrigens das oben ange¬
führte zweite Schriftstück mit dem ersten überein, nur enthielt es an ^chtusse
statt des Befehls der unverzüglichen Hinrichtung die Bemerkung: Orcionns
en Ski-x, suvo^ü, äW8 Iss äüws xrösorits x-u- 1-i loi, 5 1k äüiZenes (In xrv-
siäsvt se An raxxorwur, uns oxiMit.ion time -lo winistrs Ah 1a ^us. ^Zr^ä-^M, niwiströ as 1a Lustlos, et an Z6n6ra1 onst. Aouverusur cis
?aris. (xiöees ^alö., S. XXX u. ff.) Das scheint ein letzter Versuch gewesen
zu sein, durch die Beobachtung der gesetzlichen Formalitüten Zeck zu gewinnen
und vielleicht eine Milderung des napoleonischen Befehls herbeizuführen, ^in
Zusammenhange damit wurde nochmals Enghiens Bitte um eine Unterredung
mit dem Ersten Konsul besprochen, und Hulin entschloß sich, an Bonaparte zu
schreiben, um ihm Enghiens Bitte vorzutragen. Da aber trat Savary wieder
M dem Schreibenden mit der Frage: Was machen Sie da? Als Hüten ant¬
wortete: Ich schreibe an den Ersten Konsul, um ihm die Bitte des Angeklagten
und die Anempfehlung des Gerichtshofs vorzutragen, nahm ihm Savary vie
Feder aus der Hand und erwiderte: Sie haben Ihr Geschäft beendigt was
nun noch zu tun ist. liegt mir ob. Darauf verließ er das Zimmer, das e
hinter sich abschloß. Während die Richter noch auf den Wagen warteten, wurde
plötzlich das Knallen einer Gewehrsalve hörbar. Der Justizmord war voll¬
bracht. Hulin legte später in seinem und seiner Mitrichter Namen gegen die
furchtbare libUlung bei der Vollstreckung des Urteils lebhafte Verjüng
co. da ihr Urteil nur angeordnet habe, daß Abschriften an den KnegsmiNiste.
den Oberrichter und den Gouverneur von Paris, der allem die Hinrichtung zu
^fehlen hatte, gehn sollten. Diese Abschriften waren noch acht einmal ange-
Wigt. da hatte Enghien schon ausgelitten. Savary kümmerte sich freilich Nicht
u>n die Formalitüten; er wußte, was er zu tun hatte.
^„„^Über die letzten Augenblicke des unglücklichen Opfers bleibt noch folgendes
nachzutragen. Der Offizier, der Enghien zum Tode führte, hieß Hare und
war der Kommandant des Schlosses von Vincennes. Er h^te se her in
Regiment Rohalinfanterie gedient und Enghien noch als ^^ben gewen. T
ergriffe» teilte er seine Erinnerung dem Herzog mit. der ebenfalls em^Bewegung empfand. Es ging bei Fackelschein eine fwstre Wendeltreppe w
boab. Von einem furchtbaren Gedanken ergriffen, fragte Enghien senis ehen
°w Offizier: Wohin führen Sie mich? Ich würde lieber sterben. °is lebendigw einem Keller begraben sein! Nein. Monseigneur. sagte Harel nut schluch¬
zender Stimme, darüber können Sie ganz ruhig sein. Man trat nun durcheme kleine Pforte in den Schloßgraben. In der Nähe des °ff«in Grabes
stand das Exekutionskommando der Elitegendarmen. Mein Gott nef Enghien
aus. was habe ich denn getan? Da trat ein Adjutant vor mit verlas das
Todesurteil. Enghien bat ihn. die einleitenden Formeln und die Einzelheiten
wegzulassen und zur Hauptsache zu kommen, bewahrte übrigens auch ^etzt nocy
seine edle Haltung. Dann wünschte er einen Beichtvater, der jedoch mcyt zu
haben war. Nun kniete der unglückliche Herzog zu kurzem Gebete meter, eryoo
sich und sprach mit fester Stimme: Na,r<zN0i)3! Es war ungefähr vier Uhr.
Der Morgen dämmerte nur ganz schwach; es war ein dichter Nebel. Fackeln
waren deshalb zur Stelle. Dem Todgeweihten soll sogar eine Laterne an
einem Knopfe des Rocks befestigt worden sein, damit die Schützen das Ziel
nicht verfehlten. Enghien ließ sich, ohne zu zittern, an die Stelle führen, wo
er sterben sollte. Man wollte, daß er niederknie, aber er tat es nicht, sondern
sagte mit Festigkeit: Ein Bourbon beugt das Knie nur vor Gott! Er reichte
noch eine Haarlocke, die er sich abgeschnitten hatte, samt einem goldnen Ringe
und einem Briefe dem nächsten besten Soldaten hin mit der Bitte, die Andenken
nach Ettenheim an die Prinzessin Rosen gelangen zu lassen. Schon streckte
der Soldat die Hand danach aus, da rief der befestigende Offizier: Niemand
soll hier die Aufträge eines Verräters ausrichten! Enghien wollte sprechen;
er begann: Meine Freunde! wurde aber wieder durch den Offizier unterbrochen,
der ihm zurief: Du hast hier keine Freunde! Der Herzog konnte nur noch
sagen: Meine Tapfern, ich sterbe für mein Vaterland und meinen König! Da
rief Savary, der auf der Brustwehr stand, dem Offizier den Befehl zu, Feuer
zu geben. Dumpf knallten die Schüsse in der dicken Luft. Enghien fiel leblos
zu Boden. Aber sogar der Tod des Opfers hinderte die Schergen Bonapartes
nicht, den Leichnam, angekleidet wie er war, ohne jedes Anstandsgefühl in die
Grube zu rollen. Das Trauerspiel war zu Ende. Die korsische Vendetta hatte
ihr Opfer vernichtet. Als man wenig Stunden später dem Ersten Konsul die
Vollstreckung des Todesurteils meldete, sagte er kurz: <ü's8t bien!
Wie Savary später, obwohl vergebens, sich zu rechtfertigen suchte in seiner
Schrift: Meran as8 ins'inoires as N. 1e ano as lioviA» (zonesrug-Qt ig. oata-
strvxlis as N. 1s äas ä'Nlignisn (Paris, 1823), so war auch Napoleon in der
Folgezeit bemüht, die Schuld von sich abzuwälzen. Zwar beunruhigten ihn die
Äußerungen der europäischen Höfe nicht eben sehr, aber die allgemeine Ent¬
rüstung in Frankreich selbst war ihm sehr unangenehm; sie störte ihm seine
Kreise. Paris war nach dem Bekanntwerden der Nachricht von der Hinrichtung
in einem Zustande dumpfen Schreckens wie zur Zeit des Terrorismus. Diese
Volksstimmung machte auf Napoleon einen tiefen und nachhaltigen Eindruck-
Noch in seinen Nswoirss as 8t. Ilslsns bürdete er Tallehrand und Savary
die Verantwortung auf. Aber Talleyrand konnte an Enghiens Tod kein In¬
teresse haben, und Savary war nur der gehorsame Diener seines Herrn.
Napoleon stellte die Hinrichtung Enghiens als einen Akt der Notwehr und
Selbstverteidigung hin, wenn er schreibt: Von allen Seiten wurde ich durch die
Feinde bestürmt, die die Bourbons gegen mich hetzten, wurde bedroht von
Windbüchsen, Höllenmaschinen und verderblicher Kriegslist jeder Art- Auf
Erden hatte ich keinen Gerichtshof, bei dem ich hätte Schutz fordern können.
Also hatte ich ein Recht, mich selbst zu beschützen, und indem ich einen von
jenen tötete, deren Anhänger mein Leben bedrohten, wurde ich befugt, den
übrigen einen heilsamen Schrecken einzuflößen. Auch sagte er in einem Zusatz
zu seinem Testament: ^I'al kalt arrZtsr se ^ör 1s aus ä'LnANisn, xg,roh
oslg. 6tM Qses88g,irs 5, 1a 8Ürst6, 5 1'intsrst se Z, 1'normsur an xsuxle tra»'
?N8, lorsyus 1s homes ä'^revis sritretsnait, as 8on avsu, 3oixg.oth g,88e>,88M8
K ?aris. O^us une ssinblMs eireonstMos, ^'g-Airais as rosnis. (Boulay
a- a. Q. S. 283.)
Und die Staaten Europas? — Ein Schrei der Entrüstung durchhallte die
europäische Welt; das ungesetzlich vergossene Blut schrie um Rache; das ver¬
höhnte Völkerrecht heischte Sühne. Der Unwille einzelner Stimmen war sogar
Napoleon vernehmlich. Aber was geschah durch die Regierungen? — Nichts! —
15. März hatte Nachts um ^1 Uhr der Kommandant des in Kehl liegenden
badischen Jnfanteriepostens, Leutnant Husschmidt, in fliegender Eile den Prinzen
Ludwig von Baden von dem Einbrüche der Franzosen in das badische Gebiet
benachrichtigt. (Politische Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden, V. Band.
Heidelberg, 1901. S. 8, Ur. 7.) Kurfürst Karl Friedrich verlangte daraufhin
von dem französischen Gesandten Massias Aufklärung. Statt der Antwort über¬
reichte dieser am Nachmittage ein vom 10. März datiertes Schreiben Talleyrands
"et den Minister, Baron v. Edelsheim, worin die unverzügliche Auslieferung
ewes vorgeblich in Offenburg bestehenden, Hochverrätischen Ausschusses sowie
^aut der Abmachungen des Friedens von Luneville die Ausweisung sämtlicher
im badischen Lande aufhaltenden Emigranten gefordert wurde. In der
^ehe trafen weitere Nachrichten in Karlsruhe ein, die die Ettenheimer und
^ffenburger Gewalttaten meldeten. Nun erst, nachdem alles vorbei war, über-
landte Caulaincourt nach dem erhaltnen Befehle das zweite Schreiben Talleyrands
an Edelsheim, das vom 11. März datiert war. Darin führte der Minister aus,
die Verhafteten hätten sich durch ihre staatsgefährlichen, verbrecherischen Pläne
außerhalb des Völkerrechts gestellt. Mit diesem durchaus haltlosen Hinweise,
durch den die unerhörte Gewalttat des Friedensbruches gerechtfertigt werden
!v verband der Minister den ganz unberechtigten Vorwurf, die kurbadische
Legierung habe alle Umtriebe des Prinzen von Enghien und der übrigen Ver¬
hafteten stillschweigend geduldet. In Karlsruhe herrschte eine ungeheure Anf¬
ügung bei Hofe und in der Bevölkerung, als diese Vorfälle bekannt wurden,
""d sie wuchs noch, sobald man von der Schreckenstat von Vincennes Kenntnis
erhielt. Tief empfand der greise Kurfürst den ihm cmgetanen Schimpf, der ihn
^ so schmerzlicher traf, da Talleyrand wie Napoleon selbst sich sogar bemühten,
en Schein zu erwecken, als ob die badische Negierung mit den französischen
Maßregeln einverstanden gewesen sei.*) Aber was konnte er tun? Er mußte
la leider mit der Schwäche seines Ländchens gegenüber dem mächtigen und noch
dazu höchst rachsüchtigen französischen Nachbarn rechnen. Es konnte für ihn
6ar kein Zweifel darüber herrschen, welches Schicksal er und sein Staat im
^alle eines Protestes gehabt haben würden. Eine Erklärung der sittlichen
Entrüstung wäre nur ein beschriebnes Blatt Papier gewesen; sie hätte die ein-
^ geschehene Sache doch nicht mehr ungeschehen gemacht, vielmehr nur dazu
^getragen^ die exponierte Stellung des Kurstaats zu verschlechtern. Es galt
die Lösung der sehr mißlichen Aufgabe, vorsichtig und zurückhaltend jede Reizung
Bonapartes zu vermeiden und dabei doch nach Möglichkeit die eigne Würde zu
wahren. In dieser schweren Verlegenheit sah man sich sogar genötigt, der auf¬
geregten Bevölkerung alle öffentlichen Gespräche über das Ereignis unter Straf¬
androhung zu verbieten. Durch ein Generaldekret vom 16. März ferner erfüllte
man Talleyrands Verlangen nach einer Ausweisung sämtlicher Emigranten, fügte
jedoch die bestimmte Erklärung hinzu, daß das bisherige Verhalten der kur-
badischen Regierung in der ganzen Sache keinen Tadel verdiene. (Polit. Korresp-,
S. 15, Ur. 16.) Das Generaldekret wurde im Moniteur vom 27. März 1804,
Ur. 186 in einer bis auf eine absichtliche Fälschung getreuen Übersetzung ver¬
öffentlicht. In dem badischen Original heißt es nämlich: „Nachdem nun durch
eine von der französischen Staatsregierung eingetretne Requisition, gewisse be¬
stimmte Ausgewanderte wegen Verwicklung in eine Staatsverschwörung wider
die dortige Verfassung handfest machen zu lassen, und durch die zu gleicher
Zeit von einer militärischen Streifmannschaft geschehene unvermuthete Bei-
fahung derer in diese Classe gerechnete Individuen der Fall eingetreten ist, wo
Ihre Kf. D. den Aufenthalt der französischen Ausgewanderten in Ihrer Landen
als der Ruhe des deutschen Reiches gefährlich und der französischen Staats¬
regierung verdächtig ersehen müssen, wird .... das Verbot des Aufenthalts
für sämtliche Emigranten .... erneuert usw." Der französische Text im Moniteur
aber lautet: 1,6 60uvsrnsniöut traurig vsnAnt als rsczusrir 1'a.rrsstatiori <1s
vörtg-los suuArss clsnomiusZ, imM<zus8 nig-us 1s ooinxlot trg,in6 vontrs 1a von-
Mtution, et uns xatrcmills inilitkürs vsns-ut as lkirs 1'g.rrsstÄtivn clss cnmxris
inäivicluL clans vstte olg-öff, Is woinsnt sse vsnu, on 8. ^. 8. sse odli^s
als voir usw. Man hat hier also absichtlich die Worte „zu gleicher Zeit" und
„unvermutet" einfach nicht mitübersetzt, um ein Einverständnis der badischen
Regierung mit dem französischen Gewaltstreich zu konstruieren. Mit solchen
Mitteln arbeitete das Kabinett Bonapartes! Als diese Fälschung im Moniteur
erschienen war, gab der badische Gesandte in Paris, Freiherr v. Dalberg, dem
Minister v. Edelsheim zu erwägen, ob nicht eine amtliche Verwahrung gegen
diese Entstellung am Platze sei. Aber man war am Karlsruher Hofe bei der
Schwierigkeit der Lage froh, daß Napoleon und Talleyrand sich zufrieden
gegeben hatten. Die Haltung, die Baden damals gegen den französischen Gewalt¬
haber einnahm, war ohne Frage sehr schwächlich, aber man würde ungerecht
sein, wenn man vergessen wollte, einmal, daß sie von der Macht der Verhältnisse
erzwungen war, und zweitens, daß auch andre, viel mächtigere Reichsstünde damals
nicht wagten, ihre Meinung in dieser Angelegenheit frei zu äußern.
Am preußischen Hofe z. B. war man von der Verhaftung und Hinrichtung
Enghiens zwar höchst schmerzlich berührt, scheute sich aber, durch eine Erklärung
der Mißbilligung die Pflege der guten Beziehungen zu Frankreich zu gefährden.
In diesem Sinne schrieb Lombard damals an Hardenberg die jämmerlichen
Worte: „Das Beste, was wir bei diesem Vorfalle tuu können, ist, keinerlei
Lebenszeichen von uns zu geben." Und Hardenberg stimmte dem völlig bei.
(Bcnlleu: Preußen und Frankreich II, 262 und Banken: Briefwechsel König
Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise mit Kaiser Alexander I, 52.)
Auch in Österreich rührte man sich nicht. Denn man fürchtete mit banger Sorge
eine kriegerische Verwicklung mit Napoleon und war erfreut darüber daß der
badische Gesandte, dem Befehle seiner Regierung gemäß, keine offizielle Anzeige
von dem empörenden Vorgang gemacht hatte. In Ermanglung einer solchen
konnte der Kaiser seine stillschweigende Haltung bewahren. Der Gras Eobenzt
äußerte damals zu dem russischen Botschafter, der ihn auf die Notwendigkeit
Mich Vorgehens im Namen der beleidigten Wurde des Reiches hinwies. die
bezeichnenden Worte: Mus sommes 5 1a dvuone 6u o^on. Ebenso ktagucy
und würdelos war das Benehmen des Reichstags in Regensburg. Die tur-
badische Negierung hatte dorthin natürlich eine Mitteilung des Vorfalls gesandt.
Wer sie war dabei mit der größten Vorsicht zu Werke gegangen, denn sie hatte
sich mit einer knappen, mit Aktenbelegen versehenen „Geschichtserzählung" (Pol.
Korresp. S. 14 Ur. 15) begnügt, ohne Urteile oder Empfindungen auszudrücken.
Auch sollte der Vertreter der badischen Regierung in Regensburg nur mündlichen
Gebrauch davon machen. Der Reichstag aber, diese oberste Behörde der deutschen
Nation, war leider ganz und gar nicht dazu angetan. dem tiefgekränwn Gerechtig¬
keitsgefühl zu einer wirksamen Genugtuung zu verhelfen und eme Sicherung vor
einer Wiederholung solcher Gewalttätigkeit zu verschaffen. Man wäg e. abgesehen
v°n einigen Worten des Unwillens, die der kaiserliche Kommissar v Hügel
äußerte, kein offnes Wort gegen den Gewaltigen in Paris; waren doch auch
die Gesandten mancher fremden Mächte in Paris so furchtsam gewesen, daß sie
ihren Höfen nicht einmal die Mitteilung von dem Justizmorde zu machen gelvag
hatten, um den Ersten Konsul ..uicht zu irritieren"! Abwiegelnd ließ sah der
Kurerzkanzler in Regensburg vernehmen, von jeher habe Übermacht sich Gewal-
t°tigkeitm erlaubt; den Größern stehe es zu. einer solchen Übermacht Grenzen
SU setzen, die andern müßten geschehen lassen, was sie nicht hindern konnten.
Der traurige Fall Enghien schien also in Vergessenheit gerate« zu sollen
Aber der König Gustav Adolf von Schweden, der sich seit Ende September
an dem nahe verwandten Hofe in Karlsruhe als Gast aufhielt gab Wner
Wken Entrüstung in einer Note lauten und offnen Ausdruck. Auch bündelte er
°en französischen Geschäftsträger und sogar den greisen Kurfürsten mit Rücksichts¬
losigkeit' ^ merkwürdigem Widerspruche damit steht freilich le wund^Tatsache, daß der krankhaft launische Maun zugleich semen Adjutanten nach
Paris schickte und sich als Zeichen seiner unerschütterlichen Freundschaft die
Überlasse des Testaments Eughiens vom Ersten Konsul erwt Der Karls¬
ruher Hof aber sehnte sich lebhaft nach der Abreise des gefährlichen Gastes,
um s° mehr, als man durchaus nicht sicher davor war. daß der Korse in seinem
blinden Hasse eiues Tages den ..Zaunkönig" aufheben und dem SchickM
Enghiens verfallen lasten könnte. Doch die unbequeme Mahnung machte n
Paris offenbar nur geringen Eindruck. Weit mehr störte dort das Verhalten
des russischen Kaisers. Am Petersburger Hofe herrschte schon fett längerer Zer
eine tiefe Abneigung gegen den Bonapartismus und neuerdings eine ungeyeure
Empörung über den Fall Enghien. Kaiser Alexander befahl Hoftrauer uno
gebrauchte die heftigsten Schmähworte gegen die französische Negierung. Dieses
..Gesindel von Räubern und Mördern" (rex-urs ac wiganckch. Er war um
so tiefer entrüstet, als der Kurfürst Karl Friedrich ihm nahe verwandt war.
Der russische Ministerresident mußte deshalb Talleyrand eine Note vorlegen,
worin sich Rußland über die Verletzung des badischen Gebiets bitter beklagte.
Auch überreichte der russische Geschäftsträger in Regensburg, v. Klüpfell, am
6. Mai dem Reichstag ein Schreiben seines Souveräns, in dem gegen den
Ettenheimer Frevel entschiedne Verwahrung eingelegt und auf die Gefahr hin¬
gewiesen wurde, die für das Reich entstehe, „wenn solche Gewaltstreiche für
zulässig gälten oder stattfinden könnten, ohne gefühlt und gehindert zu werden."
Man geriet darob in Regensburg in peinlichste Verlegenheit. Auf die russische
Anregung hin mußte unbedingt etwas geschehen, aber man war dabei fest ent¬
schlossen, in verbindlichster Form zu Werke zu gehn. Darum erklärte am 14. Mai
der österreichische Gesandte — und in ähnlicher Weise infolge einer Vereinbarung
mit dem Wiener Hofe auch der preußische Geschäftsträger —, der Kaiser glaube,
daß es keinem Anstünde unterliege, wenn Frankreich um eine hinlänglich be¬
ruhigende Aufklärung ersucht werde. Darauf berannte man eine sechswöchige
Verlaßzeit und die Eröffnung des Protokolls auf den 18. Juni an. Napoleon
geriet über alle diese Störungen seiner Politik in große Wut. Er antwortete
mit der Proklamation des Kaisertums und der Abberufung seines Petersburger
Gesandten. Österreich bemühte sich, Napoleon zu besänftigen, und Cobenzl
mußte Talleyrand den Rat geben, Frankreich möge die von ihm abhängigen
Reichsstände zu einer Erklärung bewegen, die die russische Note unwirksam zu
machen geeignet sei. Talleyrand ging darauf ein und schlug zu diesem Zwecke
Baden vor. Dazu gab Cobenzl seine Zustimmung. Vergebens bemühte sich
Dalberg, die höchst peinliche Aufgabe seinem Hofe zu ersparen. Er mußte sich
Talleyrands Willen fügen, doch bestand er fest darauf, daß seinem Souverän
wenigstens nichts angesonnen werden solle, das wider Recht und Billigkeit
verstoße und seine Ehre antaste. Man einigte sich schließlich am 25. Mai auf
den Entwurf einer Erklärung, worin der Kurfürst unter einer Höflichkeits¬
erklärung für Rußland „auf Grund erhaltner Aufklärungen" den Wunsch aus¬
drücken sollte, es möge den Eröffnungen vom 6. und 14. Mai keinerlei Folge
gegeben werden. In Karlsruhe war man nun wieder in einer peinvollen Ver¬
legenheit, um so mehr, als der neuernannte russische Gesandte, Baron v. Maltitz,
gerade damals den badischen Hof dringend aufforderte, des Zaren Vorgehn in
Regensburg zu begünstigen. Soviel jedoch war klar: man konnte den Entwurf
vom 25. Mai in der vorliegenden Fassung nicht annehmen. Denn der Kurfürst
konnte nicht erklären, hinlänglich beruhigende Aufklärungen erhalten zu haben.
Er hätte sonst vor ganz Europa Lügen gestraft werden können; auch hätte
man sonst von ihm gesagt, daß alles mit seinem Wissen und Willen geschehn
sei. Man änderte deshalb den Entwurf dahin ab, daß von „Aufklärungen"
nicht mehr die Rede war, sondern nur der Wunsch geäußert wurde, es möchten
etwaige üble Folgen, die sich aus dem Ettenheimer Ereignis ergeben und die
Ruhe des Reiches gefährden könnten, in Zeiten beseitigt werden. Napoleon
aber war aufs äußerste aufgebracht, daß man in Karlsruhe gewagt habe, den
Entwurf vom 25. Mai eigenmächtig abzuändern. Er drohte, der Kurfürst habe
jetzt die Wahl zwischen Frankreich und Rußland; länger lasse er sich nicht
foppen. Talleyrand machte der kurbadischen Regierung den Vorwurf der Un¬
dankbarkeit und Zweideutigkeit und verlangte gebieterisch eine unverzügliche,
zufriedenstellende Erklärung, die den Wunsch enthalten müsse, daß der russischen
Note keine Folge gegeben werde. Dalberg äußerte voll Verzweiflung: Das
Messer sitzt uns an der Kehle! Es blieb nichts übrig, als sich dem Zwange
des Gewaltigen zu beugen. Am 27. Juni gab Edelsheim darum dem Grasen
Görtz die Ermächtigung, in der nächsten Sitzung eine Erklärung zu verlesen,
die in allen Stücken der französischen Forderung genügte. Dieser Auftrag wurde
am 2. Juli vollzogen. Um nun allen Schwierigkeiten und peinlichen Erörterungen
aus dem Wege zu gehn, fand man in Regensburg schließlich das schmachvolle
Mittel, noch vor Beginn der offiziellen Ferien, die erst Ende August anfingen,
schleunigst abzureisen. Damit war der traurige Fall Enghien vor dem Reis¬
tage endgiltig abgetan. Konnte die Ohnmacht und Erbärmlichkeit des Reiches
deutscher Nation vor aller Welt deutlicher dargetan werden?
Aber die Jammerseligkeit dieser Politik der namenlosen Schwäche rächte
sich an Deutschland bitter. Wie hätte Bonapartes Übermut nicht ins Unge¬
messene steigen sollen, da er sehen mußte, wie schlechte Hüter ihrer Rechte die
deutschen Fürsten waren! Ungestraft hatte er das badische Gebiet verletzt^ un¬
gestraft tat er dasselbe 1806 an Preußen, ungestraft behandelte er zwei ^ahre
später zu Erfurt das „Parkett von Königen" en w^tollo. Erst das Volt,
das gemißhandelte und geknechtete deutsche Volk, zahlte ihm. als es zum Be¬
wußtsein seiner Würde und Kraft gelangt war. seine Sünden heim.
Im Jahre 1816 - Bonaparte saß schou in seinem FZenkerker Se^Helena
Ueß Ludwig der Achtzehnte durch eine besondre Kommission nach dem Opfer
v°n 1804 Nachforschungen anstellen. Man fand alle seine Reste, der Schädel
?°r durch Kugeln ganz zertrümmert. Von den Kleidern fand man noch Über¬
bleibsel, die gleichfalls Kugelspuren auswiesen. Man fand d:e goldne K t.
den Ring, die Geldtasche mit dem Wappen der Condes. einen kleinen Schlüssel
und schließlich noch siebzig Dukaten und Gulden in Rollen, die ihm bei ver
Trennung in Straßburg noch der treue Jacques übergeben hatte. (Das Pro¬
tokoll der Kommission ist abgedruckt als Lxtrait, <w Nonitsur an 30 raars 1»to
bei Maquart: K^i-in as xmdliö x»r N. 1° ano 6e ^o.
Paris. 1823. S 53 u ff.) Die Reste des beklagenswerten Opfers bonapartischer
Rachsucht wurden am 21. Mai in einem Bleisarge mit allen seinem fürstlichen
Stande zukommenden Ehren in demselben Saale beigesetzt, wo er zum Tode
verurteilt worden war Der Saal wurde in eine Kapelle verwandelt, und dem
Gemordeten daselbst auch ein Denkmal errichtet. Hundert Jahre sind seit Mer
Mürznacht verflossen; die napoleonische Herrlichkeit ist versunken; andre, bessere
Zeiten sind gekommen, aber die Gegenwart soll mit teilmhmvollem Auge
hineinschauen in die Abgründe der Vergangenheit.
Wien am 23. October 1812.
FGM
T5M»6
v--_^K>U /^verzeihlich, wie Dein Stillschweigen jetzt, war Deine Abreise, Du
hast, bey Gott, viel wieder gut zu machen. Wie, wo, und womit
lebst Du? — Bist Du schon verheyrathet? Was macht Deine Luise?
^Was macht die Kunst? — Tausend solche Fragen habe ich auf¬
zuweisen, die ich rüsten und mobil machen könnte, um landstürmerisch
l Deine Seelen- und Freundschaftsfestung zu überrumpeln. Da ich im
Augenblick Deines Fortgehens mit dem Loose meiner Zukunft in der Hand da¬
stand, und der nächste Augenblick es aufrollen mußte, und dennoch keine Frage um
die Entscheidung aus Deinem Munde zu vernehmen war, so mögte sich das leicht
einem gewissen Kaltsinne zuschreiben lassen, den ich ungern in dem Seelen Garten
meines (?) unsres (?) Hegar gewahr würde. Zu Deiner Ehre glaube ich, Dich dennoch
mit der Nachricht zu erfreuen, daß ich ganz glücklich bin. Toni ist meinem Vater eine
liebe Tochter, er hat sie gesehen und uns geseegnet. Meine Eltern waren 3 Wochen
lang hier. Ich gestehe, ich habe sie mit anderm Gefühl als sonst begrüßt. Wenn
man liebt, so sinkt jedes Verhältniß in seiner Kraft, obgleich es zugleich an Heilig¬
keit und Innigkeit gewinnt. Was meine Kunst betrifft, so bin ich ziemlich zufrieden
mit meinem Fleiße. Der Zriny, mein großes Trauerspiel, ist geendet, und ich darf
wohl sagen, zu der Meisten Zufriedenheit. Humbolds, Schlegels, hev., haben auf
das liebreichste drüber geurtheilt. So wäre denn mein Weg bestimmt, das Ziel
ist da, die Rosse aufgezäumt, und Muth und Glück stehen mit mir im Wagen.
Wie gehts denn meinen Manuskripten. Ich bitte Dich, bey der Direcktion doch ja
auf meine Honorare zu dringen, und sie mir unter der Addresse /
Xöruör
x. Ää6. ^ K. SeuAötsr in der Köllnerhofgasse (?)
zuzusenden. Bis Ende November bleibe ich noch hier, und erwarte die baldigste
Antwort. Deiner Luise meine innigsten Grüße. Ich beneide Dich um ein Glück,
das mir erst in 3 Jahren lächelt. Hoffentlich finden wir uns wieder bald einmal
Herz an Herzen, und wir sagen uus dann mit dem nehmlichen strengen Blick wie
vor 4 (?) Jahren und einem halben Jahre, daß wir glücklich sind, und uns dessen
nicht unwürdig glauben. Mit einem Bruderkuß scheide ich. — Grüß D. August!
Vorstehender, mir durch die Liebenswürdigkeit einer Berliner Autographen¬
sammlerin zur Verfügung gestellter, hier zum erstenmal veröffentlichter Brief
stammt aus Theodor Körners glücklichster Zeit. Einen Monat zuvor hatte er
wie in einem Freudenrausche seinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und
seiner Familie nach Dresden darüber berichtet: „Noch nie hat mich ein
23. September so glücklich gefunden. Der Kranz der Liebe ist um mich ge¬
schlungen, und alle Blüten, die Ihr in mir erzogen habt, hat die Sommerzeit
meines heiligsten Gefühls, hat meine Toni mir zum ewigen Frühling ausgeruht.
Ich fordere den auf, der sich glücklicher wähnen kann."endreundeear
Die Anwesenheit seiner Eltern, von der er seinemJugg
berichtet, hatte im August stattgefunden - sie hatten Toni Adamberger kennen
und lieben gelernt, und Chr. Gottfried Körner war von ihrem Liebreiz ihrer
Anmut, dem keuschen Zauber ihres Wesens so bezwungen worden, daß er sie
später, in der Biographie des Sohnes, ein holdes Wesen nannte. »S^am
vom Himmel zu seinem (Theodors) Schutzengel bestimmt," das ihn feffeue
"durch Reize der Gestalt und der Seele." „
erua-
Der junge Dichter sah die Wahl der Geliebten gebilligt durch di
haltlose Zustimmung seiner Eltern, stolz und freudig konnte er nun aller -UZelt
sein Liebesglück offenbaren. Durch die Anwesenheit des Vaters in Wien war
er in mehrere, für ihn wichtige, kunstfreundliche. für die Kaiserstadt gesellschaft¬
lich wie literarisch ausschlaggebende Häuser gekommen, er hatte das fordernde
Interesse des Fürsten Lobkowitz, der Frau von Pereira für sich gewonnen und
bei Humboldts und Schlegels hatte er. wie auch dieser Brief wieder bestätigt
Wren „Zriny" vorlesen können und „liebreichstes" Urteil gefunden. Kur dar
er jubeln: „So wäre denn mein Weg bestimmt, das Ziel ist da. die
aufgezäumt, und Mut und Glück stehn mit mir im Wagen." Nur eins n der
^ dem Freunde, das Glück der Ehe mit der Geliebten - em Gluck, das hin.
wie er hier in sehnenden, verlangendem Hoffen ausspricht, erst in drei ^
lächeln würde. Seine Hoffnung auf den Erfolg des „Zriny." auf Dichter u in
und glänzende Anerkennung ist ihm reich in Erfüllung gegangen, in er °t sich
°g°r der Teilnahme des Olympiers in Weimar erfreuen dürfen - aber da.
Glück der Vereinigung mit Toni hat ihm nicht mehr geleuchtet. Zeh" M°n°te
diesem glückjubelnden Brief, am 26. August 1813 wurde ^ da^casse --
zugleich ein Sänger und ein Held. Es hat etwas "ngemein W h^
d"ser Brief und die Versicherung, „daß wir glücklich sind undunv dessen meh
^würdig glauben." Und doch - dem Dichter Theodor Körner den man
damals, wie Dorothea Schlegel berichtet, allgemein den zwecken Schiller nannte
h°t dieser frühe Tod. dieses frühzeitige Abendrot vor Sinken der Sonne d e
eigentliche Verklärung gebracht. Denn zum mindesten ist es ^glich^ ob in ^r-
Münz gegangen wäre was ihm und sich der Vater in seinem Briefe vom
Janu^ 1?13 "g"wM hat: ..Was die Propheten des Ma Tas^no
waren, ist für das jetzige Zeitalter der Dichter. So hätte auch ich gern ge-
wirkt, aber wohl mir. wenn du ausführst, was ich gewollt hätte."
Der mit einem bräunlich-roten, drei Grazien zeigenden Siegel geschlossene
Brief trägt die Adresse des
Professor Dr. Ludwig Hegarzu Gießen
Näheres über diesen Jugendfreund Körners war bisher nicht bekannt ge¬
wesen. In der großen Körnerbiographie von Peschel und Wildenow (Leipzig,
Seemann, 1898) wird sein Name einmal erwähnt, in der Mitteilung, daß Körner
1809 „zusammen mit Hegar, der bald darauf nach Tübingen ging," zu der
Mutter Geburtstag habe nach Dresden kommen wollen. Das Körnermuseum
besitzt zwei von Hegar herrührende Abschriften vom „Schwarzen Domino" und
von „Toni" mit Korrekturen von Körners Hand. Sonst etwas über Hegar
zu erfahren, ist dem verdienstvollen Forscher Dr. Peschel, dem Begründer und
Direktor des Körnermuseums, wie er mir mitteilte, trotz seiner Nachforschungen
nicht gelungen.
Ein glücklicher Zufall verhalf meinen Nachforschungen über Ludwig Hegar
zu gutem Erfolge. Die Adresse unsers Körnerbriefes wies auf Gießen. Meine
Erwartung, daß die dortigen Universitätsakten etwas zur nähern Kenntnis
Hegars enthalten würden, fand freilich bisher keine Bestätigung, aber von der
bereitwilligen Liebenswürdigkeit des Herrn Professors Dr. Bostroem, Geh.
Medizinalrat in Gießen, fand ich so erfolgreiche Unterstützung, daß jetzt hier
zum erstenmal die Personalien Ludwig Hegars mitgeteilt werden können.
Während weder das Universitätsarchiv in Gießen noch die Ministerialakten in
Darmstadt wesentliches zur Kenntnis Hegars erbringen, hat Herr Professor
Bostroem, durch seine Gattin mit den Nachkommen Hegars verwandt, in lang¬
wierigen und zeitraubenden Anfragen und Nachforschungen ein Material zu¬
sammengestellt, dessen Ergebnis ich mit herzlichem Danke für den großen Dienst,
den er der Körnerliteratur geleistet hat, nun mitteilen kann.
Ludwig Leonhard Hegar wurde am 9. September 1789 zu Darmstadt ge¬
boren als Sohn des Generaldirektors der fürstlichen Zahlenlotterie Ernst Fried¬
rich Hegar und dessen Gattin Anna Elisabeth geb. Kleinschmidt. Wo Ludwig
Leonhard Hegar studiert hat, ist nicht genau festzustellen. Dem Dr. ilicet. et
enirursis.« Ludwig Hegar wurde jedoch schon laut Dekret vom 21. Dezember 1811
nach Ablegung einer Prüfung vor dem LolleKiuirt ineäieuin in Darmstadt
„auf sein unterthänigstes Nachsuchen und in Rücksicht seiner Uns bekannten
Qualifikation" die erledigte Professur der Chirurgie und Geburtshilfe auf der
Universität zu Gießen nebst der Direktion über das dortige Entbindungshaus
übertragen. Laut Dekret vom 11. September 1812 wurde er als Medizinalrat
zum Mitglied des Regierungskollegs im Fürstentum Hessen ernannt, am
20. August 1812 hielt er in Gießen die übliche Antrittsrede.
Ein Jugendleben also von überraschend schneller und glücklicher Entwicklung-
Zwei Jahr älter als sein Freund Körner, den er wohl 1809 in Leipzig kennen
gelernt hat, erscheint er diesem als ein Dreiundzwanziger schon auf den Höhen
des Lebens: er ist bereits Professor und ist, was ihm Körner mehr neidete,
schon verheiratet: „ich beneide Dich um ein Glück, das mir erst in drei Jahren
lächelt": Körner hat dieses Glück nicht mehr erlebt, aber auch Hegar hat sich
des Eheglücks nur kurze Zeit erfreuen dürfen; nach zweijähriger Ehe ist er am
12. Februar 1814 in Gießen gestorben, am „Lazarettfieber," ein halbes Jahr
nach dem Heldentode Körners. Seine Gattin Luise, mit der er trotz seiner
Neigung zur Eifersucht eine sehr glückliche Ehe geführt hat, hat ihn um mehr als
Vier Jahrzehnte überlebt. Luise Schröder, geboren etwa 1793 in Spangenberg,
war die Tochter eines höhern Beamten; ihre Mutter, eine geborne Lcmdre, ent¬
stammte einer Hugenottenfamilie. Frau Luise, die zwei Jahre nach Hegars
Tode einen Arzt, Dr. Heraus aus Hanau, heiratete, soll eine sehr hübsche, noch
im Alter fast mädchenhafte Erscheinung mit wunderschönen dunkeln Augen ge¬
wesen sein und sich als sehr lebenslustige, fein gebildete, witzige, vornehme Dame
großer Beliebtheit in allen Kreisen erfreut haben. Sie starb Anfang 1857.
Der frühe jähe Abschluß der zu großen Erwartungen berechtigenden Lauf¬
bahn Hegars läßt es begreiflich erscheinen, daß bisher nichts Näheres über ihn
bekannt gewesen ist. Als erfolggekrönte Jünglinge sind beide gestorben, Körner
wie Hegar. Und wie die beiden bei Lebzeiten innige Freundschaft verbunden
hat, so ist es jetzt ein Freundschaftsbrief Körners, der die Veranlassung gegeben
hat, daß endlich auch Ludwig Hegar aus dem rätselvollen Dunkel, das ihn
bisher u
>as Wetter wurde wieder warm, über der weiten Landschaft brütete
die Sonne, und auf dem Klosterdach saßen die weißen Tauben, zankten
sich, gurrten, erhoben sich in einer Wolke und fielen dann gleich
wieder auf demselben Dache nieder.
Melitta saß im Klostergarten und verfolgte seit längerer Zeit
z.. Spiel der flatternden Schar. Dann erhob sie sich, ging einige
chritte, setzte sich von neuem und gähnte. Sie langweilte sich. Sie war schon eine
im Kloster und dachte daran, es wieder zu verlassen; aber sie wußte nicht
He, wohin sie gehn sollte. Asta hatte ihr vorgeschlagen, nach dem Dovenhof zu
'im, wo auch ihr Mann war; aber gerade weil Asta ihre Entfernung wünschte,
«i k!. ^- Lust dazu. Außerdem langweilte sie sich mit Wolf. Als sie noch
He mit ihm verheiratet gewesen war, hatte sie sich ihn anders vorgestellt; nun
^ er oft verdrießlich, verstimmt und müde. Gerade so wie sie selbst.
Sie Hütte ihn nicht heiraten sollen, sie wußte es längst. Aber es war nun
wmal geschehen. Melitta gähnte von neuem und schloß die Augen. Sie wollte
versuchen zu schlafen.
- /D°um fuhr sie mit einem Schreck in die Höhe. Jemand hatte sich neben sie
°us dle Bank gesetzt und sah ihr voll ins Gesicht.
Herr Fuchsins? sagte sie zweifelnd.
Kennen Sie mich noch? Er stützte das Kinn in die Hand und betrachtete
Mit einem kalten Blick. Ich dachte, Sie hätten mich vergessen.
gedacht^wiH nicht! Melitta streckte lächelnd die Hand aus. Ich habe oft an Sie
Er sah die Hand nicht.
Sie haben mich verraten, sagte er. Sie wollten mich heiraten, nun haben
^le einen Baron genommen. Den Dummkopf, dem ich einmal die Wahrheit ge-
sagt habe, und der nicht wert ist, mir die Schuhriemen zu lösen. Aber er ist ein
Baron, und Sie sind ein Weib, das sagt alles. Ich verachte Sie!
Melitta hatte lachend dieser Rede zugehört. Sie langweilte sich plötzlich nicht
mehr, und das war viel wert.
Herr Fuchsins, ich habe Sie nie heiraten wollen, und Sie mich auch nicht.
Aber wir haben uns oft gut miteinander unterhalten. Lassen Sie uns das auch
heute tun.
Er schüttelte den Kopf.
Mit Ihnen unterhalte ich mich nicht. Sie haben mich verraten. Sie wollten
mir schreiben und taten es nicht. Sie wollten mir gut sein und haben mich ver¬
gessen. Glauben Sie, daß man so mit einem deutschen Dichter verfährt?
Trotz seiner Worte blieb er neben Melitta sitzen und sah mit einem finstern
Blick in ihr schönes Gesicht. Sie lachte immer noch.
Wollen Sie mir nicht verzeihen, Herr Fuchsins? Die Ehe wäre nichts für
Sie gewesen, Sie sind zu bedeutend, als daß Sie sich an ein Weib binden dürften.
Ein Mann wie Sie muß frei sein.
Seine Züge heilten sich auf.
Sie mögen Recht haben, ich bin zu bedeutend, viel zu bedeutend.
Er ist verrückt geworden! dachte Melitta bei sich; aber dieser Gedanke be¬
lustigte sie. Denn die Welt war nun einmal ein Narrenhaus. Mit sanften, ein¬
schmeichelnden Worten redete sie auf Klaus Fuchsins ein, rückte ihm näher und sah
ihm tief in die Angen. Sie wollte ihn Wohl zahm machen, diesen überspannten
Gesellen, an dem sie trotz aller törichten Reden ein flüchtiges Wohlgefallen empfand.
Besonders deswegen, weil er ihr so viel Ungezogenheiten sagte.
Und Klaus Fuchsius ließ sich zähmen. Wohl über eine Stunde saßen die
zwei zusammen ans diesem stillen Platz, und als Elsie in einiger Entfernung an
ihnen vorüberging, sah sie verwundert auf Tante Melitta und den Mann, den das
ganze Kloster den verrückten Schreiber nannte, und dem zu begegnen auch Elsie
vermied. Aber Tante Melitta hatte nun einmal ihren besondern Geschmack und
tat nie dasselbe wie die andern Menschen.
Langsam ging Elsie zum Klvstertor und sah hinaus in die Landschaft. Hier
stand sie setzt oft und wünschte sich einen Wagen, um über die Heide zu fahren,
oder ein Paar Reisegaloschen, wie die im Märchen, die man nur anzuziehn brauchte,
wenn man an irgend einen andern Ort versetzt werden wollte. Elsie hätte sich
dann nach Moorheide gezaubert, um zu sehen, wie es Tante Elisabeth und den
Cousinen ginge. Im stillen hatte sie gehofft, Taute Amalie würde am nächsten
Tage wieder nach Moorheide fahren; aber als sie dem Befehle Fräulein von
Werkeutins gehorchte und sie am andern Tage gleich besuchte, war die alte Tante
so verdrießlich wie sonst gewesen, und Auguste ebenso herrschsüchtig. Elsies heim¬
liche Hoffnung, daß die Taute sich schnell verändern würde, hatte sich nicht erfüllt;
und obgleich sie sie jetzt täglich besuchte, hatte sie Tante Amalie nicht wieder lachen
hören. Elsie sah die Landstraße entlang. Es war um frühen Nachmittage, und
auf den Feldern arbeiteten die Leute. Auch Tante Asta saß in ihrem Äbtissinnen¬
zimmer, beschrieb etliche Bogen mit Klosterangelegenheiten und dachte nicht an ihre
einsame kleine Nichte.
Diese ging halb gedankenlos auf den Fahrweg, ließ sich den Wind ums Ge¬
sicht wehen und stand endlich an einer Stelle, wo die Straße hoch anstieg und
dann allmählich wieder abfiel. Von hier aus sah man das Moorheider Haus in
der Ferne liegen, dahinter das Holz, den Garten, den kleinen braunen Wasser¬
tümpel. schuldbewußt schaute Elsie rückwärts. Die Klostergebäude lagen etwa
eine halbe Wegstunde hinter ihr, und so weit durfte sie sich allein nicht von
Wittekind entfernen. Wer aber fragte danach? Sie seufzte, sehnte sich nach Eltern
und Geschwistern und ging dann doch weiter, bis sie den Schritt innehielt und un¬
willkürlich in den Schatten von zwei großen Bäumen glitt. . Auf der Landstraße
) ete ein einspänniges Gefährt ohne Kutscher. Das Pferd war an einen Baum
der « ^ ""^ ^"'^ seitwärts auf einem Steinwall, der das Feld von
die n °'""be trennte. Er drehte Elsie den Rücken zu, hielt ein Fernglas vor
sein/ ^r" "'^ ^"'^ aufmerksam zu dem kleinen Hof hinüber. Scharf hob sich
ba d s a Hi'"'"el ab, und Elsie sah auch bald in sein Gesicht, das er
sicut ^ dorthin wandte. Sie selbst stand zuerst regungslos, dann aber
ah s- <5 .^"gierde. und sie trat vorsichtig näher. Der Herr drehte den Kopf,
nie n ^" ""^ ""t einem Satz auf die Landstraße zurück. Er war rot
u worden und streifte das junge Mädchen mit einem unfreundlichen Blicke.
Sie aber ging auf ihn zu.
Onkel Wolf, bist du es wirklich?
Seine Augen öffneten sich vor Staunen, und sie sprach eilig weiter,
erkannt Wolffenradt, ich wohne bei Tante Asta und habe dich gleich
Sein Gesicht wurde nicht freundlicher.
Aas hast du hier auf der Landstraße zu suchen? fragte er scharf,
ste wurde verlegen.
Dame^- ^ ^ tmM eigentlich nicht; aber im Kloster ist es so still, und die
beid. tod so viel älter als ich. und neulich war ich doch zufällig auf Moor-
^ ^' und da dachte ich —
band den Zügel des Pferdes los.
sich n'""^ ""t auf meine» Wagen, sagte er kurz; für junge Damen schickt es
^ aq>. allein auf der Landstraße umherzustreifen.
und - ^ gehorchte schweigend; der Baron schwang sich auf den Bock,
pas Pf^d setzte sich in Bewegung,
sie si k betrachtete Elsie ihren Onkel von der Seite. Eigentlich wunderte
SchM ^ ^" erkannt hatte; sein Gesicht war so hager geworden und seine
Scio-s ^ ^"5 weiß. Und dann sah sie das Fernrohr, das aus der Seitentasche
^les herausragte.
Kind? ? Tagen war ich nämlich auf Moorheide, begann sie tapfer. Die
N 'j! .6""5 wohl, und Rüdeger ist so nett. Sogar Tante Amalie fand es!
Abenteuer ^ ^ überstürzend und etwas unklar berichtete sie ihr kleines
Sie waren alle so gut und ganz wohl! wiederholte sie zum Schluß,
gerade - Wolffenradt hatte sein Pferd langsam gehn lassen und die Augen starr
gerichtet. Hörte er zu, oder dachte er an andres?
Ä s Elsie schwieg, strich er eine Fliege vom Halse des Pferdes,
so Rüdeger ist groß geworden?
as war alles, was er sagte, und er sah Elsie nicht an.
rasch Abtissinnenhans erregte die unerwartete Ankunft Wolfs einige Über-
zuers!"^',? begrüßte ihren Bruder mit besondrer Herzlichkeit, während Melitta
i'i^ finden war und dann nnr zögernd erschien.
Tel?«^ ^lM'^en greifen meistens an! sagte sie übellaunig. Es gibt doch noch
Gramme.
Wolf zuckte die Achseln,
hierbei ^ Gegend zu tun und nahm mir schließlich einen Wagen, um
ja, d s ^ Überraschung wollte ich dir gar nicht bereite». Du wußtest
ich allmählich a»es einmal erscheinen würde,
sich ni, begatten sprachen wenig miteinander. Bei der Abendmahlzeit unterhielt
walt hauptsächlich mit seiner Schwester über den Dovenhof. Sein alter Ver-
oi-in^^^ kränklich geworden; nun suchte er einen Gehilfen für ihn und hatte
uemetnt. ihn in dieser Gegend zu finden.
'e hat der Dovenhof dein langes Fernsein vertragen? fragte die Äbtissin,
spielte mit seinem Weinglas.
Alljährlich bin ich ein- oder zweimal hingereiht und habe nach dem Notwen¬
digsten gesehen.
Einmal war ich auch mitgefahren, warf Melitta ein. Aber es ist doch ein
alter, grauslich langweiliger Besitz, und ich bin fast vor Verdummung gestorben.
Jetzt wirst du doch mit mir kommen müssen. Denn das Reiseleben habe
ich satt!
Wolfs Stimme hatte einen frostigen Klang.
Melitta aber lachte höhnisch.
Du bist sehr freundlich, aber ich habe das Reiseleben nicht satt. Jeder vou
uns wird also vorläufig seine eignen Wege gehn!
Hastig sprach Asta von andern Dingen; aber es war ein unerquickliches Bei¬
sammensein. Elsie wurde bald heiß, bald kalt. Von ihrem Elternhause her war
sie gewohnt, daß sich Vater und Mutter mit großer Rücksicht behandelten; hier
fiel ein scharfes Wort nach dem andern, denn Wolf blieb auf Melittas letzten Satz
die Antwort nicht schuldig und sagte ihr, daß sie mit ihm zu gehn hätte. Ver¬
gebens suchte Asta zu vermitteln, es gelang ihr nicht; das einzige, was sie konnte,
war, die Tischsitzung möglichst schnell aufzuheben und sich selbst zurückzuziehn.
Auch Elsie verschwand eilig. Draußen war es noch hell und warm; sie schlüpfte
aus dem Äbtissinnengarten in den anstoßenden Klvsterpark und ging dann im
Kreuzgang auf und nieder. Hier war es schon ein wenig dämmrig und ganz
still. Elsie setzte sich auf eine Bank, sah auf den kleinen, friedlichen Kirchhof in
der Mitte und weinte plötzlich bitterlich. Weshalb, wußte sie vielleicht nicht ganz
genau, aber es war sehr schön zu weinen.
Nun, kleine Nichte, weshalb bist du denn so traurig?
Elsie blickte auf. Da stand ihr Onkel Wolf und betrachtete sie mit einem teil¬
nehmenden Lächeln.
Hast du auch schon einen Kummer? erkundigte er sich weiter, während er
neben ihr Platz nahm.
Eilig trocknete sie ihre Augen.
Eigentlich nicht, Onkel Wolf. Ich bin hier auch sehr gern. Manchmal aber
denke ich doch viel an Mama und meinen kleinsten Bruder. Er ist vier Jahre alt,
und wir nennen ihn Moppi. Mama sagt, er sähe aus wie Tante Amaliens ver¬
storbner dicker Mops; aber Kurtchen ist so niedlich. Nicht so hübsch wie Rüdeger,
aber —
Sie hielt plötzlich inne. Von Rüdeger hatte sie nun nicht mehr sprechen
wollen. Der Onkel fragte auch nicht weiter. Er saß still neben ihr, und sein Ge¬
sicht war fahl und grau. Elsie versuchte eine andre Unterhaltung. Sie erzählte
vom Kloster, vom Kutscher Christian, von den Damen, die alle so freundlich wären;
er aber schien ihr nicht zuzuhören. Er saß nur neben ihr, und seine Gedanken
schienen anderswo zu sein. Aber als Elsie endlich aufstand, um nach Hause zu
gehn, begleitete er sie.
Als das junge Mädchen in ihrem eignen Zimmer war und ihr langes, blondes
Haar zur Nacht einflocht, vergaß sie, daß sie zu Bette gehn sollte. Ganz lange
stand sie am Fenster und sah in den blassen Sommerhimmel. Erst als sie etliche
mal entschlossen vor sich hingenickt hatte, legte sie sich in die Kissen und schlief
gleich ein.
Am nächsten Morgen stand sie so frühzeitig vor ihrer Tante Amalie, daß
diese sie ganz erschrocken ansah.
Auguste ist in der Küche, und ich bin nicht zu sprechen, sagte sie kläglich.
Elsie setzte sich neben sie.
Tauenden, sprich nur mal mit mir, und fahre heute Nachmittag mit mir nach
Moorheide. Wo du so vergnügt warst!
Tante Amalie spielte mit ihrer Decke.
Auguste sagt, ich soll nicht wieder hin. Sie ist eine geschiedne Frau, die
Wolffenradt nämlich. Ich Habs nicht gewußt; ich weiß ja niemals mehr etwas.
Aber der Verkehr ist nicht passend!
Liebkosend strich Elsie der alten Dame die Wangen.
Tue es mi zu Ge allen, schmeichelte sie. Ich will so ^rü or der hin und
Frau von Wolffenradt hat mir noch einen Kletderrock g^^n den 'es dock^überbringen muß. Die Kinder sind meine leiblichen Blutsverwandten, und
weißt doch auch, daß man seine Verwandtschaft nicht vergessen darf
^^Sie ist geschieden, wiederholte Tante Amalie; ihr Ton war jedoch schwanreno
^°
Aber Elsie ließ nicht nach mit Bitten, und als Auguste nach einer Weile ein¬
trat, kniff sie den Mund zusammen. Ihr gnädiges Frau en, hatte das P stellbi d
ihrer längst verstorbnen Schwester in der Hand, verglich Elftes Inge mit denen
ihrer Urgroßmutter und war gerührt. Und dann erklärte sie. daß sie an diesem
Nachmittage nach Moorheide sahren wollte.
Auguste warf den Kopf in den Nacken.
^ 9eben lieb, Dann brauche ich wohl nicht mit. grä Frölen wo ich d°es "'em Leben Uev
habe, und Christian ein alter Trunkenbold ist Und gra Fr im ^ehr Testament unterschreiben, das fix und fertig in der obersten SelretarMlade liegt.
„egufsa^ sie mit einer ihr ^ f^ab ^wünsche nicht, daß Sie dem gnädigen Fräulein solche Antwo en geben. ^-
Sie meine Tante quälen. anstatt ihr das Alter zu erke et) rü und ^kleine Abwechslung zu bereiten, dann muß ich much nach einer andern ^merk
""^
AlsElsie gesprochen hatte, setzte sie sich nieder ^
pu»^^'
!sazAte schon seit Jahren
^"en Denkzettel nötig; aber ich konnte ihn ihr acht mehr gew
, ^ Am Nachmittage fuhr Christian die alte und die Mge D«me nach M° r
he^de. Da sich niemand über ihn beim Klosterpächter beklagt hatte. 1° war s Mgingen, möglichst leicht über einen Unfall mit dem W"ge^er war nicht bestraft worden. Mit einem fast z°rMchen Blick s reche er ^ich
Gestalt; aber er hie t sich kerzengerade und gab ans die Pferde beM t.
.. Auf Moorheide war es nicht viel anders als das erstemal. ^ sah ^ ^^ gdie Gäste mit ihrer stillen Freundlichkeit, Rüdeger freute sich über Sramem von
Werkentin. und Jetta und Irmgard führten die Cousine wieder in den Garten.
Verstohlen sah sich Elsie hier unter den großen Bäumen um
, Onkel Louis Heinemann ist nicht "e r hier! ,agte J^«der« Auftrag v°? einem Gutsbesitzer erhalten, dessen spe fez'inmer er an«
'°U- Dort ist er nun hingereiht; und wenn er wiederkommt wohnt r auch ntcybei uns. sondern in der Stadt. Das ist schade, acht wahr? Aber wir yaoen
Kom Pi^. Sieh mal, Herr Schlüter, wir haben Besuch!
^tenweaeAn alter weißhaariger Mann kam den Cousinen aus einem der Gartenwege
entgegen. Er grüßte sehr freundlich, ging aber gleich weiter.
. Das ist Herr Schlüter aus Hamburg! berichtete Jetta. Er ist leyr n
kommt im Sommer oft her. um seiner Schwester Ratschläge zu geben. Hast °
die schon gesehen? Sie heißt Frau Fuchsius und Me »us b^Dort hinten steht sie und pflückt Gemüse zum Verkauf. Herr Schlüter be,orgl u s
Käufer, auch für unsre Eier und Hühner. Wir nehmen manchmal ganz viel wew
ein; aber wir gebrauchen auch viel. Mama sagt, das Leben ist teuer.
Fuchsius? Elsie wiederholte den Namen, und Jetta lachte.
Denkst du vielleicht an Klaus Fuchsins auf dem Kloster? Das ist der Sohn
von Frau Fuchsins; aber er macht ihr keine Frende. Neulich ist er einmal hier
bei seiner Mutter gewesen und hat Geld haben wollen; aber sie konnte ihm wirklich
nichts geben. Er sagte, daß er eine große Reise machen wollte; und Frau Fuchsius
riet ihm, zuHaus zu bleiben. Da ging er zornig davon, obgleich seine Mutter ihm
uoch nachlief.
Irmgard berichtete, wie Frau Fuchsius hinterher geweint hätte, und beide
Kinder waren noch aufgeregt von diesem Besuch. Man merkte, wie jede Abwechslung
sie in ihrem stillen Dasein erregte und beschäftigte. Elsie hörte ihnen halb zerstreut
zu. Ihre Gedanken waren mit andern Dingen beschäftigt, und als sie später Rosalie
einen Augenblick für sich haben konnte, war sie glücklich.
Herr Heinemann soll ja unsre Klosterkirche beaufsichtigen, sagte sie ohne jeden
Übergang, und Mamsell Drümpelmeier, die gerade einen Teller mit feinem Butter¬
brot ordnete, lächelte stolz.
Ja, liebes Fräulein, man sollte es nicht gedacht haben. Ich habe meinen
Neffen ja immer lieb gehabt »ut große Stücke auf ihn gehalten. Aber er war
immer ein wenig leichtsinnig und glaubte, alles Gute mußte von selbst komme».
Jedem Menschen aber wird in seinem Leben wohl eine Mahnung gesandt, und
dann bekommt die Welt ein andres Gesicht —
Sie hielt inne, weil sie von einem andern Tisch rosige Radieschen holte, mit
denen sie die Schüssel verzierte.
So tut man das in Hamburg! setzte sie hinzu.
Elsie hatte Mamsell Rosalie in der Küche aufgesucht, und die kleinen Cousinen
waren ins Wohnzimmer gegangen, um sich Ruttgers alte Freundin zu betrachten.
Der Junge saß neben ihr und führte die Hauptunterhaltung, während Tante Amalie
ihr Alter und ihre Grämlichkeit vergaß. Sie lachte über seine drolligen Fragen
und beantwortete jeden Satz.
Elsie war also allein mit Rosalie, schob einen Stuhl an den Küchentisch und
sah gespannt in ihr freundliches Gesicht.
War Herrn Heinemanns Verlobung damals eine Mahnung? fragte sie
schüchtern.
Jungfer Drümpelmeier legte noch Salatblätter auf die Schüssel.
Ich weiß es nicht ganz genan, liebes Fräulein, und ich weiß noch weniger,
ob das Sprechen darüber erlaubt ist. Es gibt Dinge, die man am besten der
Vergessenheit anheimgibt, und Sie, Fräulein Elsie, sollten noch nichts von der¬
gleichen erfahren.
Dann aber sprach sie doch weiter.
Auch ich bin damals sehr geschmeichelt gewesen, daß mein Neffe eine so vor¬
nehme Braut haben durfte, und daß er gewissermaßen eine Herrschaft wurde. Denn
wir sind alle einfache Leute, und das ist auch ein Stolz. Meine Schwester Hedwig
und ich wollen nicht mehr sein, als wir sind. Sie hat ihren holländischen Waren¬
laden in der Klabunkerstraße, und wenn ich nicht schwache Augen bekommen hätte,
würde ich noch heutigen Tags zum Nähen ausgehn. Nun hat mir der liebe Gott
einen andern Beruf gegeben; und ich habe die Kinder großziehn helfen und arbeite
jetzt in der Wirtschaft. Aber mehr als Mamsell Drümpelmeier habe ich niemals
sein wollen, und die vornehme Dame, die meinen Neffen heiraten wollte, würde
von mir keine Belästigung erfahren haben. Dennoch freute ich mich sehr, daß der
Junge so glücklich war!
Rosalie legte die Hände auf den Tisch und seufzte.
Zu viel Glück ist vielleicht nicht gut, Fräulein Elsie. Es kam einmal ein
Tag auf dem Dovenhof, an den mag ich noch heute nicht denken. Sie waren ein
Kind und lagen krank im Bett und haben nichts gemerkt; und anch ich weiß heutigen
Tags noch nicht genau, wie alles so kommen konnte. Aber die Frau Baronin
wollte plötzlich mit den Kindern davvnreisen und hatte wohl ihre Gründe dazu,
d ich will aus dem Grasgarten. Ivo immer die Wäsche hing. Dei begegnete mir
v-."mein Astr von Wvlffenradt. die ja jetzt die Äbtissin ist, und schickte mich dorthin,
wo mein Neffe das Atelier hatte.
Von neuem hielt sie inne. Dann schüttelte sie den Kopf.
alm,b> ^ c-^"'^ ^'^^ manchmal aber denke ich doch daran. Ich
So,,' , ^ ^ Junge verrückt geworden wäre, und konnte ihn nicht begreifen,
nur ^ ^ ^""^ verstehn. daß die vornehme Dame ihn doch nicht liebte und
ferus ^ ^spielt hatte. Nun ja; er war ja auch mir aus der Klabunker-
atn i !- Mutter handelte mit holländischen Waren; aber dennoch — Rosalie
Fra?' ^° ^^""^ ""^ Unrecht. Fräulein Elsie. und wenn auch
griff ^"s^^^° ^"'^ vornehme Heirat gemacht hat — sie hielt inne und
^ s nach der Schüssel mit Butterbrot. Ich verschwatze mich hier, und die gnädige
»">" örinnen wartet.
Elsie faßte sie am Arm.
^»n hat ers vergessen, nicht wahr?
^edachtig strich Rosalie ihre Schürze glatt,
wir ib ' ^ ^" ^ damals den Dovenhof verließen, haben
Hamb" ^ ^ Eisenbahnstation mitgenommen, und er ist dann gleich nach
sei "''ö gefahren, während loir nach Moorhcide reisten. Bald aber schrieb meine
A 't ^ ^ Hedwig, ob ich nicht ein wenig zu ihr kommen könnte. Denn sie hatte
die Jungen, weil er nicht so war, wie er sein sollte, und weil ihm
kein M^ Leben vergangen war. Er saß in unserm Garten, der eigentlich
war ' ^" ^' ""d se""'te vor sich hin. wollte nicht arbeiten und nicht essen. Es
>,„, ^^ häßliche Zeit. Fräulein Elsie; und es ist nicht angenehm, wenn alle Hoff-
eineu ^. ^ getragen hat, zusammensinken. Aber es war gut. daß er
mälili /^""d hatte, der manchmal zu ihm kam und mit ihm sprach und ihn all-
und i? i!'"^ ^"'^^ Gedanken brachte. Dann wanderte er eines Tags auf die Heide
Paris ^ ^" Es wurde gleich verkauft; und darauf ging der Louis nach
geWord - München. Und jetzt sagen sie alle, daß er ein tüchtiger Mann
'se. Also wollen wir zufrieden sein!
sthweink ^"^ sie ins Wohnzimmer, und Elsie folgte ihr langsam. Sie war
dem Ä"!" geworden und noch in sich versunken, als sie mit Fräulein von Werkentin
"'^"'
T
mis Rute'^ ^.'""^e aber merkte nichts davon. Sie war von neuem ausgelebt; und
sei» ^ den Wagen kletterte, um ein Stückchen mitzufahren, lachte sie über
gnügtes Gesicht.
Gesuche mich einmal auf dem Kloster! sagte sie ihm zum Abschied.
^ schüttelte den Kopf.
^ geht nicht, alte Dame!
Weshalb nicht?
Ar Junge zog seine glatte Stirn in ernsthafte Falten.
ama sagt, es geht nicht; und was Mama sagt, das gilt!
Christi/ Juchzer schwenkte er seine Mütze und lief dann querfeldein. Kutscher
"'"" Jah ihm bewundernd nach.
^"s ist aber eine feine Sorte!
^-""te Ancille aber wurde bekümmert.
Wir ni.i? ^""^ hat Recht. Er kann mich nicht besuchen, und es ist wohl besser.
civen den Verkehr. Die Frau ist nett; aber sie ist doch einmal geschieden!
ebenfalls sagte Elsie traurig, und Fräulein von Werkentin seufzte
vielleick!^ Und der Junge ist so nett. Die Äbtissin braucht es
Saat ^ on wissen, daß wir hier waren. Sonst wundert sie sich; und Auguste
>'/ °W ich auf meinen Ruf halten muß!
Gren
Sie seufzte noch einmal, und Elsie wußte keine Antwort, Gegen Auguste
konnte sie doch nichts machen.
Fräulein von Werkentin saß sehr nachdenklich da, und als sich der Wagen
dem Kloster näherte, drückte sie Elsie eiuen Taler in die Hand.
Den gib Christian. Wir sind nur spazieren gefahren!
Christian lachte nachher über das ganze Gesicht und steckte bedächtig den
Taler ein.
Gott, klein Fräulein, ich klatsche doch nicht. Klein Fräulein hat uicht erzählt,
daß Pollux so eklig war; ich kann auch schweigen.
Elsie hatte aber doch ein schlechtes Gewissen, daß Tante Asta von ihrem Aus¬
flug nichts wissen sollte. Aber die Äbtissin nahm mir eilig am Abendtee teil und
ließ sich ihre Lampe an den Schreibtisch bringen. Sie hatte jetzt niemals Zeit zu
längerer Unterhaltung. Melitta ging ebenfalls davon; und nur Baron Wolf
wanderte im Äbtissinnengarten ans und nieder und rauchte seiue Zigarre. Er war
schweigsam gewesen, wie jetzt immer, und sah kaum auf, als Elsie zu ihm trat.
Ich war heute auf Moorheide! sagte sie leise und verlegen.
Einen Augenblick wandte er ihr sein Gesicht zu, dann bückte er sich und nahm
einen Stein vom Wege auf.
War alles wohl? fragte er.
Elsie berichtete, was sie wußte. Vou Elisabeth und den .Kindern, von Herrn
Schlüter und von Rosalie, von allem, an das sie in der Eile denken konnte.
Sie wollte noch erzählen, was Rüdeger gesagt hatte, da kam Melitta in deu
Garten. Die junge Frau trug ein rotseidnes Kleid, das ihr sehr gut stand nud
bei jedem Schritte knisterte.
Was habt ihr denn für Geheimnisse? fragte sie, ans Onkel und Nichte zugehend.
Wir unterhalten uns von schönen Dingen, erwiderte ihr Mann.
Sie blieb stehn und sah ihn mit einem spöttischen Lächeln an.
Gibt es wirklich noch schöne Dinge auf dieser Welt?
Er schüttelte den Kopf. Nicht viele. Und die es gibt, hat mau verloren.
Melitta kreuzte die Arme unter der Brust, und ihr Gesicht uneben einen nach¬
denklichen Ausdruck an.
Du hast Recht; wir haben sie beide verloren!
Sie wandte sich ub und ging weiter in einen der dunkelsten Wege, und Elsie
sah ihr beklommen nach. Sie verstand nicht, was die beiden Gatten sagten, aber
sie empfand, daß beide nicht das hatten, was man Glück nennt.
Zwei Tage später wurde Wolf telegraphisch uach dem Dovenhof gerufen, weil
der alte Verwalter heftig erkrankt war. Er reiste eilig ab; und Melitta war an
diesem Tage in sehr guter Stimmung.
Männer haben oft ihr Unbequemes, sagte sie zu Asta, mit der sie nach Wolfs
Abreise im Gartenzimmer saß. Dn kannst dich freuen, liebe Schwägerin, ohne Mann
Frau Äbtissin geworden zu sein.
Asta räusperte sich. Sie hielt die Gelegenheit für passend, Melitta einige
Vorstellungen zu machen.
Nimm es mir nicht übel, Melitta; aber ich finde, du bist uicht liebenswürdig
gegen deinen Mann. Ihr habt euch doch ans Liebe geheiratet, und nun —
Weißt du gewiß, daß wir uns aus Liebe geheiratet haben?
Asta suchte uach Worten. Ja, mein Gott, ihr liebtet euch doch damals
so sehr —
Melitta unterbrach sie. Die Liebe vergeht! erwiderte sie kurz. Und außer¬
dem — sie faltete die Stirn, und ihr Gesicht nahm, einen düstern Ausdruck an.
Wolf und ich passen nicht zusammen. Wir haben das bald gemerkt; aber es war
zu spät.
Dle Äbtissin stand erregt auf. Du sagst mir etwas Entsetzliches!
deiiwÄ^ /c" wieder. Rege dich nicht auf, liebe Schwägerin; du hast
der "ut ich habe deinen Bruder bekommen. Damals erschien
Handel verständig; aber nicht jedermann handelt mit Glück,
le Äbtissin trat einen Schritt auf sie zu.
S» bringen"°^^ ^ ersuchen, meine Stellung nicht zu deiner Ehe in Beziehung
Mit funkelnden Augen sah Melitta sie an.
habe d 's "'"^ ^ gegenüber diesen Ton nicht anzuschlagen. Ich
es ' "'^ Kosten meiner eignen Selbstachtung zur Äbtissin gemacht. Auch war
das, ? ""genehm für mich, Betty Ebersteins kaltes Gesicht zu sehen und zu wissen,
briefe "'^ ^ verachten. Was gingen mich ihre alten Liebes¬
verrat""' meinen eignen Vater gerichtet waren. Er hat sie
aem.'i ' ""^ hinein Beispiel gefolgt. Mein Benehmen aber war noch
S° würde er nie eandeltaben!
Mc
Aufatmend hielt sie inne. Asta hatte sich wieder gesetzt.
^Las du tatest, war dein eigner freier Wille! sagte sie tonlos,
weise »^^^^'i"ng; du dagegen warst alt. Niemals hättest dn meine Handlungs-
Sclu.', dürfen. Es wäre besser gewesen, dn hättest mich mit Schimpf und
wä'ur V"" ^^^uhof gejagt, als das; du beide Augen schlossest und mich ge-
^ur N Warum reistest du Elisabeth nicht nach und brachtest sie wieder
sollte ^shalb machtest du Wolf keine Vorstellungen und sagtest ihm, er
und V eigensinnig und beleidigt sein? Dn dachtest nur an Betty Eberstein
lasse» ^' ^ ein Mittel in der Hand hatte, sie nicht Äbtissin werden zu
' Dein Wunsch ist erfüllt. Bist du ebenso glücklich wie ich?
deren ^ '""^ ^"in Blick auf Asta, die in sich zusammengekauert saß, und
esicht einen versteinerten Ausdruck trug,
hilft de ^"^en schweigen, sagte die junge Frau in verändertem Ton. Reden
Moralpred"^^' "'^ geschehen ist, ist geschehen. Aber ich verbitte mir deine
an de^5^^^" summend ging sie aus dem Zimmer in den Garten; sie ging
durch . "unenuhr vorüber, an der die Messingbuchstaben hell aufleuchteten, und
verd^ Seitenpförtchen in den Klosterpark. Hier wanderte Klaus Fuchsius mit
roneßlichem Gesicht auf und nieder.
<M) habe eine halbe Stunde gewartet! rief er ihr entgegen.
Melitta schlug ihn lächelnd auf die Schulter,
versucl, ^ ""^ '"ehe, großer Dichter. Ich hatte einen kleinen Erziehungs-
z,i <^/, ZU wachem und war unentbehrlich. Nun aber will ich zwei Stunden lang
>'a,ren Füßen sitzen und andachtsvoll alles anhören, was der Geist Ihnen eingab.
Maus sah sie mißtrauisch an; aber sein Zorn verflog,
wein -z^ ^teor der „Eule" hat zwei Gedichte von mir angenommen und will
rana lesen, berichtete er. Sie hat mir auch Honorar geschickt!
«
ehen Sie wohl. Schon Goethe sagt —
in 55^? " "icht für Goethe! unterbrach er sie. Lassen Sie die alten Dichter
en schlafen!
""' dann will ich hören, was Klaus Fuchsius sagt!
z
lag a«, M ne° ging mit dem neuen Dichter an einen stillen, kleinen Platz. Er
besucht . ".^ ^ Klosterparks und unter Weiden so versteckt, daß er nur selten
le^e ^ Klaus Fuchsius seine neuen Gedichte vor, und Melitta
wehret ""^ Hängematte, die zwischen den Bäumen befestigt war. Seit
und s>, ^" schon traf sie sich Morgens mit Klaus, ließ sich von ihm vorlesen
betrat. ^ alter Weise. Nur daß sie ihn jetzt wie ein Spielzeug
^ langweiligen Stunden Vertrieb.
Ah
^5'" Abt,ssi»neuhaus saß Asta. Seitdem sie das Kloster regierte, hatte niemand
Worte mit ihr gesprochen, wie Melitta es heute zu tun gewagt hatte. Worte, die
ihr den dichten Schleier, in den sie sich gehüllt hatte, von der Seele rissen. Bis
dahin hatte sie nur so weit gedacht, wie es ihr gut erschien; hente merkte sie, daß
es so nicht weiter ging. Sie hatte sich und ihre Kraft zum Bösen überschätzt; wo
aber war der Weg. der in das Geleise des guten Gewissens führte? Sie legte
den Kopf auf die Tischplatte und stöhnte. Aber als Besuch gemeldet wurde, nahm
sie sich mit eiserner Kraft zusammen und sprach wie sonst.
Elsie merkte nicht viel von dem, was im Hause vorging. Die Handwerker kamen
aus der Stadt und versahen die Klosterkirche im Innern mit Gerüsten, und was zum
Gottesdienst an Geraden notwendig war, wurde in einen alten Konveutsanl gebracht,
der unten im Klvstergebttnde lag und sonst nur als Durchgang gedient hatte. Hier
sollte Sonntags gepredigt werden, und der Klosterpfarrer ging eilfertig hin und
her, um alles zu beaufsichtigen. Er war ein gelehrter, etwas scheuer Herr, der
sich gern von allem zurückhielt und wenig Fühlung mit den Stiftsdamen hatte.
Jetzt kam er aber doch in Bewegung, und als Elsie am Tage von Baron Wolfs
Abreise zu Tante Amalie gehn wollte, stand der Pastor mitten im Kreuzgang und
zeigte Alois Heinemnnn einige in die Wand eingelassene Wappenschilder. Beide
Herren waren so eifrig im Betrachten und Erläutern, daß sie die junge Dame
nicht bemerkten, obgleich Elsie langsam an ihnen vorüberging und sich dann noch
einmal umsah. Von dem Pastor konnte sie keinen Gruß erwarten, weil er sie noch
nicht gesehen hatte, und der junge Maler verwandte kein Auge von den in Stein
gehauenen langweiligen Wappenschildern. Elsie sah verstohlen in sein ruhiges, auf¬
merksames Gesicht. Hatte er wirklich einmal Melitta geliebt, und war er fast ver¬
zweifelt, als sie ihm untreu wurde? Seine Stimme klang hell und zufrieden, seiue
Augen blickten scharf und klar; und nun fuhr er mit der Hand über den spitzge-
schnittneu Bart und lachte hell auf. Der den Damen gegenüber so schweigsame
Geistliche mußte ihm etwas Lustiges erzählt haben. Nachdenklich betrat Elsie die
Wohnung der Tante.
Hier öffnete ihr ein fremdes Dienstmädchen, und Fräulein Von Werkeutin kam
ihr auf dem Vorplatz entgegen.
Auguste ist krank, sagte sie kläglich. Sie sagt, sie wolle sterben.
Die Dienerin lag mit verbundnen Kopf im Bett und antwortete nur mit
Stöhnen auf Elftes Fragen. War sie wirklich krank? Elsie konnte es uicht er¬
gründen und suchte ihre Taute zu trösten.
Aber Fräulein von Werkcntin weinte.
Du hast sie angefahren, Elsie, davon ist es gekommen. Sie sagt, es ist die
Schwindsucht im Kopf, und die bekommt man immer vor Kummer.
Was sagt der Doktor? fragte Elsie beklommen.
Sie will keinen, und ich mag auch keinen. Sie sind alle so neumodisch,
Kind. Früher gaben sie Wiener Trank und ließen zur Ader. Aber nun lachen
sie, wenn man so etwas haben will!
Es war eine traurige Geschichte. Elsie sah, daß Fräulein von Werkeutius Locken
nicht gut saßen, daß die Zimmer nicht aufgeräumt waren. Das fremde Mädchen
hantierte in der Küche, und ein brenzliger Geruch verbreitete sich in der Wohnung.
Sie kann nicht kochen, berichtete die alte Dame, nach der Küche hinweisend.
Nur Milchsuppe und gebratne Kartoffeln. Gestern habe ich auch Milchsuppe und
gebratne Kartoffeln gegessen, und morgen kommt dasselbe Gericht. Wenn Auguste
noch länger krank bleibt, werde ich sterben!
Ich will bei dir bleiben, Tauenden! sagte Elsie entschlossen. Viel kochen kann
ich nicht, aber vielleicht kann Auguste mich vom Bett aus unterweisen, und ich will
mir viele Mühe geben, alles so gut wie möglich zu macheu.
Tante Amalie wollte Einwendungen erheben; dann sah sie in Elftes freund¬
liches Gesicht und seufzte erleichtert. Wie du willst, Kind; deiner Urgroßmutter
siehst du wirklich ähnlich.
> ...So wurden Elsies Gedanken in ganz andre Bahnen geleitet. Ob Auguste
? n!"^ allerdings nicht feststellen, aber der junge Arzt,
auf Elftes Wunsch am andern Morgen aus der Stadt geholt worden war,ermahnte zur Schonung. Es konnte, wie er sagte, immerhin "eine Krankheit sein.
i<^°«i°A-öM" Ausbruch kommen wollte, und Auguste erklärte, diese Krankheit würde
jedenfalls erscheinen.
sucht. b^chunchtigte ihr Gewissen, das sie Augustens wegen anklagte, und
Freu», - ^ ^"M Verhältnisse zu finden. Sie hielt es für richtig, in das kleine
moenzimmer der Urgroßtante zu zieh», und die Äbtissin billigte ihren Entschluß,
das, K ^""se du ja wieder bei mir wohnen, sagte sie. Aber ich freue mich,
' ^" erfüllen hast und deiner alten Tante Gutes erweisen kannst,
Esk
«n and ^ ^re ^""^ aussah, aber dann mußte sie wieder
soll^°^. ^ denken, und sie vergaß über ihrer veränderten Lage das blasse,
Mtzgewordne Gesicht der Äbtissin."
sehr n c^"^ ^^^^ Pflichte». Die alte Dame, die kraute Auguste, die neue,
kam .^"^ ^ägt nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Hin und wieder
Wort Stiftsdame, um ihr einen guten Rat zu geben oder ein aufmunterndes
Woche ^" meistens aber war sie doch allein, und als sie nach etwa einer
daß sie s'"/" Brief ihrer Mutter erhielt, überwältigte sie die Sehnsucht.
r..l>es beim Lesen zusammennehmen mußte, daß sie nicht weinte.
z
Reisen/'s ^um schrieb heiter, wie es ihre Art war, berichtete von allerlei
zu ^ ^Nissen, von interessanten Bekanntschaften und kam dann auf Elfte selbst
FnmM?^ ^" bist auf Moorheide gewesen und entzückt von der ganzen
schwärt ^ ^ denken. Für Elisabeth habe ich damals mich ge-
verqis-t s' ^""^ ^^"^ dumme Mutter. Zuerst schwärmt sie, und dann
Das b i K .^"dem beging Elisabeth den großen Fehler, ihren Mann zu verlassen,
sie bel" ^hr übel genommen, und ich durfte mich nicht weiter um
es gott"s""'!^ Du weißt ja, wie die Männer sind — nein, Mausi, du weißt
wir fr-rü "^t, aber wenn du sie einmal kennen lernst, wirst du erfahren, daß
gewisse„"s" '"""^ die Schuld haben. Also Elisabeth muß auch für mich eine
du fix ^'ein sein, und ich darf an sie nur aus der Eutfernung denken. Daß
dir ist , 5 gesehen nud gesprochen hast — oh Mausi. ich bin stolz ans dich! In
Mutter > ^ ^ früher sagte, als ich noch Pensionsmädchen und nicht
ist. Dal ."-^^ Kindern war. von denen das jüngste Moppi heißt und schrecklich
schreibst ^ ? ^ '"^ ^""^ Amalie ein. Heute kommt deine Karte, ans der dn
ich freu!- > ^" ^" gezogen bist, und daß Auguste krank ist. Liebstes Kind,
denkst d- "s^ dich- ^ber hüte dich vor Illusionen. Und davor, daß dn
schwer meiden Alten würden dir später dankbar sein. Enttäuschungen sind so
dann n ^ber nun von andern Dingen. Wir bleiben noch eine Weile im Engndin,
heiinkeb ""^ Lugano. Der Doktor findet, daß dein Vater noch nicht wieder
der List seine Nerven schlecht sind. — Weißt du. wen ich gestern in
banie d s angekommenen Fremden las? Gräfin Betty Eberstein. Stifts-
sanunen °?^eil Klosters Wittekind. Die Gräfin reist mit einer Prinzessin zu¬
gleich v'v""<in "^ ^"be beide Damen schon kennen gelernt. Natürlich sprachen wir
Edelmuth's „ ^'ut. und die Gräfin fragte nach vielem, wovon ich nichts wußte,
früher f ^ ^ herrschsüchtige Dame gewesen sein, Papa sagt es, der sie von
^indini "^r sie ist jetzt milde und freundlich geworden. Nach Tante Asta
und --^ ^l) sehr, bitte, erzähle dies einmal. Addiv. Carissiina. schreibe bald
> ""^ deine alte Mama.
lM
Alten n, /.^ ^" 5° °^ hatte, diese aber fehlte ihr oft. Beide
Semitin-s, s Ansprüche an sie und nahmen ihre Dienste als etwas selbstver-
nnd bei ^ ^"^lZen. Mit Tante Amalie mußte sie spazieren gehn, ihr vorlesen
ein an^ s^ . helfen. Auguste verlangte Pflege und diktierte ihr jeden Tag
""es Testament. Sie sprach viel von ihrem Tode, aber sie wußte nicht,
wem sie ihre irdische Habe vermachen sollte. Da sie erklärte, keine nähern Ver¬
wandten zu haben, so konnte Elsie ihr auch nicht raten, und es blieb immer bei
einem neuen Anfang des letzten Willens.
Inzwischen schritt der Sommer weiter vor, und viele Stiftsdamen verreisten.
Schon früher war Elsie das Kloster still vorgekommen, wenn sie jetzt aber mit
Frcinleiu von Werkentin durch den Klvsterpark und den Kreuzgang ging, dann be¬
gegnete ihr nicht einmal mehr eine alte Dame, und es kam ihr vor, als würde
auch sie bald achtzig Jahre, und ihre Jugend wäre nur ein Traum gewesen.
In der Klosterkirche aber hämmerte es, und die Arbeiter standen auf hohen
Gerüsten und klopften den Kalk von den Wänden. Alois Heincmann war hier
oft zu finden. Er hatte vorläufig sein Atelier in der kleinen Stadt aufgeschlagen,
wollte sich aber bald einen Arbeitsraum in der Kirche einrichten.
Er hatte der Äbtissin einen Besuch gemacht, sie aber nicht getroffen; uun war
er seiner gesellschaftlichen Pflichten ledig und konnte tu», was ihm beliebte.
Als er eines Tages um die Mittagsstunde allein in der Kirche war, schob
er sich eine Staffelei zurecht und zeichnete mit scharfen Strichen eine Ecke der
Kirche, die ihm besonders malerisch erschien. Hierher waren die Arbeiter noch
nicht gekommen, und durch die hohen bunten Fenster warf die Sonne ihre Lichter.
Bald spielte sie auf den dicken Backsteiusäulen, bald auf dem stark nachgedunkelten
Ölbild eines alten Geistlichen, das man versäumt hatte, wegzunehmen, und dessen
Augen nachdenklich in die Kirche blickten.
Alois zeichnete so eifrig, daß er nicht hörte, wie es leise hinter ihm rauschte.
Erst als ihn eine leichte Hand berührte, wandte er sich um.
Da stand Melitta vor ihm. In weißem Kleide, umflossen von der Mittag¬
sonne, und die schimmernden Augen auf ihn gerichtet.
Alois, ich habe Sie schon lauge wiedersehen wollen. Schon lange. Haben Sie
mir noch immer nicht verziehen?
Der Maler hatte den Stift fallen lassen. Nun bückte er sich danach, und
dann sah er ernsthaft in Melittas Gesicht.
Ich habe Ihnen lange verziehen, gnädige Fran!
Aber Melitta sah, daß seine Hand zitterte. Sie trat ihm näher, sodaß er
den feinen Duft ihres Haares spüren konnte.
Weshalb gingen Sie damals fort, Alois? Ohne ein Wort der Erklärung,
des Abschieds? Sie gingen und ließen mich allein. Da bin ich Ihnen untren
geworden. Aber trug ich allein die Schuld?
Ihre Stimme klang dringend, und Alois sah einen Augenblick nichts als ihr
schönes Gesicht. Aber er machte einen Schritt rückwärts.
Es ist alles jetzt vorüber, gnädige Frau. Sie haben ein andres Leben er¬
wählt; ich habe meine Kunst.
Also wir wollen uns nicht über vergangne Zeiten aussprechen?
Er schüttelte den Kopf.
Es ist vorüber, sagte er noch einmal.
Sein Gesicht war düster geworden, und Melitta sah ihn nachdenklich an.
Ob Sie mich Wohl jemals geliebt haben, Alois?
Er antwortete nicht, und sie seufzte, lächelte daun aber gleich wieder.
Können wir uicht Freunde sein, Herr Heinemann? Das Leben ist kurz,
weshalb soll man sich ewig zürnen?
Sie rückte einen Holzbock dicht neben die Staffelei des jungen Malers und
begann mit ihm zu plaudern, wie mit einem alten Bekannten. Von Paris und
den Eindrücken ihrer Reise. Zuerst horchte Alois nur auf ihre Stimme, dann
auf ihre Worte. Auch seine Unbefangenheit kehrte zurück, und als die Arbeiter
von der Mittagspause zurückkamen, sahen sie verwundert auf die elegante Dame,
die in der staubigen Kirche bei dem Maler saß. Als Alois jedoch später nach
der Stadt ging, hatte er eine Empfindung dumpfen Unbehagens. Vor Jahren
eins! 5 ^ ^«en Strich unter den bittern Schmerz gemacht, den ihm Melitta
aerM ' ^ damals, als ihm in der Kapelle der Schleier von den Augen
Abe !!' ^de>, war gesund geworden, und seine Arbeit war seine Freude,
ihr s> ? wiedersehen, vor der sein Herz einst im Staube gelegen hatte, mit
dank- ^ ""t einem gleichgiltigen Wesen, war das möglich? In tiefen Ge¬
ber hör""^^ der ^"^^ ^in Städtchen mit dem viereckigen Turm zu, hinter ihm
der 9 k?^ ^ Svmmerivind, die Bäume rauschten, und die Lerchen sangen hoch in
manu se. ^ ^"^^ ^ gegeben, da rauschte kein Baum für Alois Heine-
Sch»/ ^^"^ Lerche sang. Da war seine Seele wund gewesen von den großen
jett? A"' die nur einmal über ein armes Menschenkind kommen können. Und
' in ^ denn noch nicht gefeit gegen schöne Angen und eine siisze Stimme?
Herr Heinemann, soll ich Mutter grüßen? fragte eine Stimme neben ihm.
Malp^ gehörte dem alten Schlüter, der, einen dicken Reisesack in der Hand, den
^r eingeholt hatte und sich ihm anschloß,
eine A? '""^ nämlich doch wieder in die Klabnnkerstraße, plauderte er, ohne uns
die in.f ^ warten. Is ja gut hier aufn Land, und was Ihr Mutter is,
Klab» « '""l kommen, abersten Hanibnrg ist doch das Beste. Und dann die
Nich, Herr Heinemann?
Der Maler sagte nicht viel, aber er nahm demi alten Mann den Reisesack ab.
hab ick k " Dank, Herr Heinemann! Schlüter rieb seinen Arm. Wo ich jung war,
gefallt !°5 ^e alten Kerls auch was getragen, und um muß ich mich das selbst
klnqen ?n die Jugend is furchtbar flink vorbei. Abers ich will nich
wo'lit V ' " NUN" ^eit hob ich wieder gekriegt aus Moorheide, und wenn ich
ich ivul/^'^ ich "ix mehr zu tun. Abers ich mag nich fanlenzen. Darum komm
huschen ^""r" ""^ Moorheide, kuck nach die Wirtschaft und geb ein
""d ti ,u ^"d denn kenn ich ja mich ein Mann, der die Hübners kauft
"darf ^ ^"''sens. Mein Schwester, die Fuchsins, die versteht da auch was von,
dnzwis^""?sine»Sehens ^in können es doch nich so gut. als wenn wir Manners
'
Ä o> r ' H^ Heinemann?
^uge'wußte ^ ""^ Geplauder des Alten. Der sagte Dinge, die er
mal a^s'!^ begann bald wieder zu sprechen. Ich hab mich auch das Kloster
Mutter s s Heinemann. Da malen Sie ja woll was, und wenn ich Ihr
grasig?,, 5^' .will ich ihr ein büschen was verzählen. Ich hab da ja anch son alt
sei« Mut/ ^ wohnen, Klaus Fuchsins, der einer von die Gelehrten is und von
Jung, ^ wissen will, als daß sie ihn in Zeug hält. Is ein gräflichen
son büsfs/ ^ will ganzen gewiß nix mit ihn zu tun haben. Abersten wie ich
was put ^ ^ Willen Wegens bein Kloster spazieren geh, hör ich mit einmal
ein Ber^ ">"d denn seh ich mein Nepos Klaus unterm Baum sitzen. Er hat
niodschx s-..^"pierens in die Hand und liest und liest. Und neben ihn in son nen-
hübschp K""gemalte, was doch eigentlich nur forn Schiff is, liegt ne ganz wunder-
gräsjge,, g?"e'isperson »ut hört Klaus zu. Warraftigen Gott, sie hört meinen
Fuchsig, con>h zu, und sagt mannichmal Bravo, Bravo! Ah, wie schön, Herr
und wie 's 6""sen gewiß, das tut sie. und ich kann mich gar nich vermuntern,
büschen x ""^her auf deu Pachthof komme, wo ich den Kutscher Krischan ein
Und Krisck""^' "h den, >pas is denn eigentlich rin Klaus Fuchsins los?
liest sei,,! ^legt ganz furchtbar das Lachen und sagt: Ja, Herr Schlüter, der
weiter ol ^oichtens der Frau Baronin von Wvlffenradt vor, und erzählt mich
radt aus, ^^^^ Baronin. Das is die Person, die die Frau von Wolffen-
hinter M ^ ^^^t und ihr den Mann weggenommen hat. Und nu is sie
treffen s"""6 wuWus her. Is das nich schrecklich? Krischan sagt, jedweden Tag
Barvui, n-'/cV ""d ihr Mann is verreist. Und um son Frauensmensch is unsre
denken - V. h "e geschiedne Frau! Ach, Herr Heinemann, man sollt es nich"en, was die Welt steche is!
Herr Schlüter hatte sich in Eifer geredet und merkte nicht, daß sein Gefährte
kein Wort sagte. Die ersten Hänser der Stadt waren erreicht, und Herr Schlüter
nahm seinem Begleiter den Reisesack wieder ab. Er wollte noch einen Freund be¬
suchen und die Nacht bei ihm bleiben. Alois ging allein in seine Wohnung. Aber
er arbeitete nicht, noch wanderte er nach dem Gasthof, um seine Mahlzeit einzu-
nehmen. Er feste sich und grübelte lange vor sich hin.
Am nächsten Morgen begab er sich etliche Stunden eher, als es sonst seine
Gewohnheit war, aufs Kloster und ging dem Pachthof zu. Als er dann unter
den Weiden lantes Vorlesen hörte, wandte er sich dem Platz zu, wo Klaus Fuchsius
Melitta seine Gedichte mitteilte. Die junge Fran lag in ihrer Hängematte und
blinzelte in das Sonnenlicht, und der Dichter hatte sich von seinem Platz erhoben
und begleitete seiue Worte mit lebhaften Gebärden.
Alois verstand nicht, was Klaus Fuchsius las. Ein Baum versteckte ihn vor
dem sonderbaren Paare, und seine Augen ruhten auf der Iran, die er geliebt
hatte wie nichts auf Erden. Und er mußte an ein schönes geschmeidiges Raubtier
denken, das halb satt in der Sonne liegt und von neuem Raube träumt. Leise
ging er davon.
Um die Mittagszeit stand Melitta wieder neben seiner Staffelei in der Kirche.
Darf ich Sie heute von neuem besuchen? fragte sie leise.
Der Maler lächelte höflich.
Gewiß, gnädige Fran, Ihr Besuch ist nur eine angenehme Abwechslung.
Die junge Frau machte große Angen. Der Ton schien ihr nicht zu gefallen,
und sie versuchte einen andern anzuschlagen. Aber Alois glitt gewandt über die
einschmeichelnde Art hinweg, mit der sie jetzt von sich zu sprechen begann, und er¬
zählte von deu Pariser Malerateliers.
Wohl oder übel mußte Melitta auf seiue geflissentlich leichte Unterhaltung
eingehn, aber sie stand bald auf und ließ ihn allein.
Wie sie aus dem Portal und daun in den Klostergarten ging, sah er ihr
ernsthaft nach.
Es ist vorüber! sagte er vor sich hin. Und er griff zum Stift.
Melitta aber saß lauge im Äbtissinnengarten »eben der Sonnenuhr und dachte
nach. Sie langweilte sich nicht mehr, und über sie kam ein hungriges heißes
Gefühl, wie es über die Menschen kommt, die das Beste in ihrem Leben in deu
Staub getreten und auf immer verloren haben, und die sich uicht denken können, daß
alles Suchen vergebens ist.(Fortsetzung folgt)
Es hieße der Wahrheit Gewalt centum, wollte mau verhehlen, daß die Ver¬
handlungen des Reichstags, ihre Art und ihr Inhalt, im Lande mit wachsender
Besorgnis und zunehmendem Widerwillen begleitet werden. Es ist nicht mir die
Zeitvergeudung, die in dem unaufhörlichen Wiederholen und Wiederkäuen der¬
selben Reden und derselben Dinge getrieben wird, sondern diese Session de>t
als ein Novum auch eine Einmischung des Reichstags in die eigensten Angelegen¬
heiten der Verwaltung in einem Umfange gezeitigt, wie er nie zuvor erhört gewesen
ist. Hierin liegt für die verantwortliche Führung der Geschäfte der einzelnen
Ressorts eine schwere Gefahr, die ganz unvermeidlich ein Nachlassen der Bande der
Disziplin und des dienstlichen Gehorsams zur Folge haben muß. Es ist nicht Auf¬
gabe des Reichstags, in dieser Weise die Vorsehung für die Beamten, für die
Armee zu spielen, die Fürsorge der Fraktionen an die Stelle der Fnrorge^PMund Treue der VoraeseKten zu setzen. So kann das nicht werter gehn. Im Lande
besehe sich der E ut? urch solche Einmischung die Tausende von kleinen
Gliedern schließlich gelöst werden, d^ in ihrer Gesamtheit das zum F«n
Ganzen bisher nnerschüiterliche ..ut intakt erhaltne Getriebe unsers Verwalwngs
organisu.us darstellen. Während das Anstand bisher gewöhn war. ^f^unsers Reichsdienstes als mustergiltig zu betrachten und seit Jahrzeln ten A^aller Art zu ihrem Studium entsandte, erfährt es jetzt zu acht gern ger M -
r°schung aus den Verhandlungen der dentschen Volksvertretung. d°ß d' ser g"n .Organismus. Heer. Flotte. Post usw.. eigentlich wenig taugt und dß^Lungenkraft dir Redner und eines gewaltigen Zeitanfwandes des Reichstags bedarf
um unsre n.it unzähligen Mängeln und Torheiten behaftete, zu den größten öe-
deuken Anlaß bietende Verwaltung notdürftig in Ordnung zu bringen.
^ Zum Teil ist diese Unsitte ja eine Folge des unseligen Merhandnehnre s der
Sozialpolitik, die ans dem besten Wege ist. das von ihr gehegte und g p ^Kind mit dem Bade auszuschütten. Nachdem wir M fast einem
Sozialpolitik getrieben haben und die gesetzliche Fürsorge wie Mig en er chrer
berufensten Vertreter dargetan hat. unermeßliche Summen in MM'on n von M°r
belebt bat ganz abaeseden von den gewaltigen An wendungen, d e infolge von
allerlei ^Vorsärift^ allen Zweigen des Gewerbebetriebs nötig geworden
s'ut. hat - weil oder obgleich - im Reichstage eine R.ehe eng ^gewonnen, die sich ans diesem Gebiete gar nicht genug tun kann und ^ist- einem sozialpolitischen Sport zu verfalle» Die «a^Enqueten usw.. die fortgesetzt über die Lage bald ^eher, ba^beantragt oder beschlossen werden und °uf gewerbepolit.sah em Gf 'eg lmaßig
unen geringern Schaden anrichten, als die Steigerung °^,-den n der tziaenBeunruhigung des ganzen Erwerbszweiges herbeizuführen, werden der M gen
Session^ verstärktem Maße anch auf die Einrichtungen unsers of^t i^übertragen. Die Herren Antragsteller geben sich ganz und gar keine Rechenschaft,daß °» --^ - -
Frak
Ressortchef für das normale Funktionieren seiner Verwaltung mehr eine Verant¬
wortlich et behalten kann, wenn diese Verwaltung fortgesetzt in öffentlicher diM die
Jm«tat gedeckt» Rede als eine schlechte, herzlose, der Korrektur nrch den Rmchs-
oder durch die einzelne Partei im höchsten Grade bedürftige d»rg se «t w
_nbild - . «^Nu-U^si^^et ljLv^it jj""z ^jul. ^c^i,^ </^^u^>>>u^i^.
Frak^ ^ um Dinge handelt, die nicht den Reichstag und das jeweilige
.v, 'onsinteresse, sondern die Dienstpragmatik angehn, und daß schließlich kein
,einer Artvoblindem Eifer, dem freilich zum nicht gen °e" Tut der
StMmenfang zugrunde liegt, denken die Wortführer nicht daran, c
er/'"«^g.S.o^"?ehr als dreißigjährigen Fnedeusperiode ihr Dasein ^ no , ^
^nes C,p,, ^ g^^^ Staat bedeut^ Ju ^^^^Anspannung aller Kräfte zum schütze und zur ^"wumig u.! . ^heischen, würde von allen solchen Dingen gar keine Rede s^ « >^" den. Wunsche nach einem großen Kriege gelangen, der unste in» r» ^ y"isle endlich menai wieder in eine normale Bahn ^kalte. D U^arg.
^zialp.Aelt erreicht hat. wenn anders sie den Nan-en ..Pol'de ^
L^ut. hat dazi/ geführt, daß ^all n^ ^ dieblassen, nur noch von Rechten, von Pachter ^Rede ist. Jetzt ist man auf dem besten Wege, die ^'einen Aufgabe«, vou der Gemeinschaft aller aus "s d "ndem Be°in g ^und 7- auf das Heer zu übertragen. SoM
endlich Halt! zu sagen und den Fuß fest beM Mal ^ s tzm . ^ >ne angenehmenner alle Welt beglückenden Sozialpolitik zu errichten ^se s )Beschäftigung, nan.endlich eine solche, bei der man eines großen Beifalls immer „es
sein kann. Aber nachdem wir schon fast fünfundzwanzig Jahre daran bauen, ver¬
lohnt es sich doch vielleicht, zunächst einmal nach den Fundamenten zu sehen, ob
diese den Ban auch noch tragen. Recht viel davon ist schon verloren gegangen.
Sorgen wir, daß der Rest imstande bleibt, Stürmen Trotz zu bieten.
Klagen über die trostlose Geschäftslage des Reichstags hallten in den letzten
Wochen abermals durch die Blätter, aber bei allen Betrachtungen lautete der
Weisheit letzter Schluß: Gebt Diäten oder doch wenigstens Anwesenheitsgelder!
Als dann so überraschend der Bundesratsbeschluß über den Paragraphen 2 des
Jesuitengesetzes bekannt wurde, folgerte ein Korrespondenzorgan, daß der Bundesrat
in Gebelaune sei, und da die Diäten oder Anwesenheitsgelder ebenfalls wesentlich
Zentrumsbedürfnis sind, so wurde der publizistische Ententeich kühnlich um die fette
Ente bereichert, daß auch eine Diätenvorlage schon im Anzüge sei. Erfreulicherweise
hat die Ente nur ein kurzes Dasein gehabt, das aber ausreichte, beim „Vorwärts"
die Idee einer Reichstagsauflösung aufkommen zu lassen, wohl in der sachlich richtigen
Erwägung, daß eine solche Verfassungsänderung die Bedingungen für die Reichs¬
tagswahlen zu sehr verschieben würde, als daß die einfache Fortsetzung des unter
ganz andern verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gewählten Reichstags noch als
zulässig erscheinen könnte.
Bei Einführung von Diäten würde das kaum zu umgehen sein, bei „Anwesen¬
heitsgeldern," deren Ertrag ja von dem Sitzfleiß des einzelnen Abgeordneten ab¬
hängig wäre, erscheint die Frage strittig. „Anwesenheitsgelder" würden das Präsidium
des Reichstags in nicht geringe Verlegenheit setzen. Wer hätte als „anwesend" zu
gelten? Auch jetzt kommt eine Anzahl Abgeordneter auf eine oder zwei Stunden
in die Sitzung, und sobald ihnen die Sache langweilig wird, was bei heutigen
Verhältnissen ziemlich häufig der Fall ist, verschwinden sie wieder. Bei weitem
nicht alle „Abwesenden" sind auch von Berlin abwesend. Sollen diese Abgeordneten
nun als „anwesend" gelten, wenn sie auf eine kurze Zeit im Hause erschienen sind
und ihren Hut in die Garderobe gehängt haben? Man müßte sich die Feststellung
der Präsenz mithin ungefähr wie folgt denken: Beim Eintritt in das Haus Hai
jeder Abgeordnete in Zukunft ein Tonrniquet zu passieren. Am Beginn der Session
erhält er ans dem Bureau eine bestimmte Anzahl Karten mit seiner Matrikel¬
nummer, zum Beispiel 151. Beim Passieren des Tonrniquets wird die Karte von
einem Diener mit einer mit Stnndenstempel versehenen Zange durchkocht, ähnlich
wie auf den Bahnhöfen. Der Abgeordnete behält die Karte, um sie, sobald er
das Haus verläßt, beim Passieren des Tourniquets abzugeben. Der Beamte durch¬
kocht sie wieder mit Stundenstempel und liefert die vou ihm zu sammelnden Karten
täglich an den Bureaudirektor ab. Auf diese Weise ist der Präsident in der Lage,
festzustellen, daß Nummer 151 um zwei Uhr das Haus betreten und um fünf Uhr
wieder verlassen hat. Ein Minimum von Aufenthalt im Hause, das zur Beanspruchung
von Anwesenheitsgeldern berechtigt, wird ja wohl festzusetzen sein. Selbstverständlich
werden Tourniquets an allen Eingängen vorhanden und mit mindestens zwei Beamten
besetzt sein müssen. Bundesratsmitglieder und Kommissare — sofern sie nicht einen
eignen Eingang erhalten — könnten sich durch eine Passierkarte legitimieren, die
nicht durchkocht wird, ebenso die Vertreter der Presse; das Publikum könnte auf
einen oder zwei bestimmte Ein- und Ausgänge beschränkt werden. Das wäre immerhin
eine sachgemäße Kontrolle.
Daß jedoch Anwesenheitsgelder und sogar Diäten die Sache auch nicht machen,
beweist soeben das preußische Abgeordnetenhaus, das trotz Diäten mit dem Etat
nicht fertig wird, weil sich der alte Fluch unsers Volkes, daß die Interessen des Indi¬
viduums höher angeschlagen werden als die der Allgemeinheit, nicht nur in unsrer
gesamten neuern Gesetzgebung, sondern auch in dem Verhalten der Fraktionen und
der einzelnen Abgeordneten in nahezu unerträglicher Weise geltend macht. Bei
den Fraktionen das Bedürfnis nach Anträgen und Resolutionen, bei den Abgeordneten
eine Redewut, die im Reichstage fast den Charakter einer verkappten Obstruktion
B?°^""" ^ Plenum wie in den Kommissionen. Die Verhandlungen der
uogetkommission beginnen mitunter komisch zu werden. Beim Marineetat als
»eraoezu typisches Beispiel ein langes Geschwätz über zweitausend Mark für einen
PMvgraphen, der bisher aus den sächlichen Ausgaben bezahlt worden ist. Diese
drao^ "^"^et) mit der Ausdehnung der Flotte; damit nun keine Erhöhung dea
verlässt brauchte, zugleich die Stelle bei ihrer Wichtigkeit mit einem zu-
Vorn ?M"une dauernd besetzt werden könnte, wurde sein Gehalt auf den
cuta? , 5 Eine so gute Gelegenheit konnte sich die Mehrheit nicht
Alle d' ^ sächlichen Ausgaben um den Gehalt des Photographen.
Folg unnatürlichen und kleinlichen Streichungen haben zur unvermeidlichen
wird ^ ^ häufenden Etatsüberschreitungen, über die dann wiederum geklagt
Hofes ^ Reichstag verwechselt seine Aufgabe und Stellung mit der des Nechnungs-
haben ? ^ ^""^ ^ir diese ausgezeichnete und pflichtmäßig arbeitende Behörde
Ding ' K Reichstag auf die kleinliche Kalkulaturarbeit verzichten. Solchen
g n begegnen wir in keinem andern Parlament, minima non ourat xiaotor.
etat ? s ^- dagegei:, wie glatt das englische Unterhaus den britischen Marine-
Kom, ^' dreimal so groß ist als der deutsche, und zwar im Plenum ohne
die "!,^°"sberntung, so erhält man einen deutlichen Fingerzeig, woher bei uns
Vers ^ des Reichstags stammt. Sie beruht auf dem unglückseligen
Stro? ^ ^ der Lesung des Etats vier Tage laug zumeist leeres
an d/ ^droschen wird, daß dann alle, auch die unbedeutendsten Neuforderungen
bei d Budgetkommission verwiesen werden, und daß es schließlich für das Plenum
denen Lesung eine Art von Sakrament ist, die Beschlüsse dieser Kommission,
Hj„ » ^ einseitigsten Auffassungen zugrunde liegen, einfach zu legalisieren.
MM" ' infolgedessen die Plenarbeschlüsse der zweiten Lesung ebenfalls
Reol '"^^ beschlußfähigen Hause gefaßt werden, leider aber hat die
widri^'^ die Gepflogenheit angenommen, solchen durchaus verfassungs-
der Wi" ^^es^sser nicht zu widerspreche». Würde z. B. der Kriegsminister oder
Verses ^tretär der Marine nur ein oder zweimal erklären, daß er solche, der
würd ^ Zuwiderlaufende Beschlüsse nicht als verbindlich anerkennen könne, so
BZirku Zweifellos eine für die Beschlußfähigkeit des Reichstags sehr heilsame
^?en ^ ^"ben. Außerdem ist aber auch das Präsidium von dem Vorwurf einer
Mitau der Geschäftsordnung nicht frei zu sprechen. Von den fehlenden
der G-s f?r" ^ kleinste Teil beurlaubt oder entschuldigt. Nach Paragraph 65
Zeit ^ ? tsordnung kann der Präsident Urlaub auf acht Tage erteilen, für längere
Zeit si«I der Reichstag den Urlaub bewilligen, Urlaubsgesuche auf unbestimmte
Hauses ""statthaft. Tatsächlich kehrt sich nur ein geringer Bruchteil des hohen
Awcinzi Bestimmungen der Geschäftsordnung; Sitzungstage, wo nur
auf öl n - ^Vg, Mitglieder anwesend sind, sind durchaus keine Seltenheit, bis
und ob «in Dutzend fehlen alle andern — also gegen 350! — ohne Urlaub
rügen ^ Entschuldigung. Würde der Präsident das öfter und nachdrücklicher
lich h' ^le Namen der auf solche Weise Fehlenden wöchentlich ein paarmal vffent-
Presse .""t geben und in die stenographischen Berichte aufnehmen lassen — die
peits^w » betreffenden Wahlkreise würde gewiß bereitwillig die Rolle des Ein-
'ers übernehmen.
Gebote r"^" Hilfsmitteln, die der Regierung und dem Präsidium zu
und »° ^ehr, ist noch keins versucht worden. Wohl aber haben Nationalliberale
gebrack! " ^'^ gleichlautende Anträge oder vielmehr Resolutionen zum Etat ein-
berlcma!' ^ Abänderung des Artikel 32 der Verfassung von neuem dahin
Auweh s"^' ^ die Abgeordneten für die Dauer ihrer Anwesenheit in Berlin
dem fr»! Höhe von zwanzig Mark für den Tag erhalten sollen, außer-
Session ^ ^"^^^ "else Tage vor Beginn und acht Tage nach Schluß der
dem El ? Deutsche Reich ist die einzige Großmacht, deren Volksvertretung auf
Großbe? 1^"^^», beruht; auch alle mittlern Staaten bis zu den deutschen
v-' rzogtumern haben das englisch-belgische Zweikammersystem, die Monarchien wie
die Republiken: Amerika, Frankreich. Schweiz. In allen diesen Ländern stellt eine
Erste Kammer oder ein Senat gegenüber einem weitgehenden Wahlrecht zur Zweiten
Kammer das Gleichgewicht her. Diese ausgleichende Einrichtung fehlt in
Deutschland, und deshalb ist bei uns der Einfluß und das Gewicht des einzelnen
durch das allgemeine Stimmrecht gewählten Abgeordneten viel größer als in andern
Staaten, wozu dann noch der Unterschied zwischen Bundesstaat und Einheitsstaat
kommt.
Die übliche Behauptung, daß der Bundesrat ein Oberhaus sei, ist doch
tatsächlich eine Fiktion, ihm fehlen sämtliche Attribute eines solchen. Der Bundesrat
stellt ausschließlich die Gesamtheit der deutschen Regierungen dar, seine Mitglieder
sitzen als Regierungsvertreter im Reichstage, er übt ein Verordnungsrecht und ist
allein berechtigt, die Auflösung des Reichstags zu beschließen. Wie kann eine Kammer
die andre auflösen! Man kann nicht einmal geltend machen, daß die Vorlagen
doch nach der Beschlußfassung aus dem Reichstag wieder an den Bundesrat gehn.
Der Bundesrat hat dabei keine Oberhausfunktion, sondern ausschließlich Regierungs¬
funktion, er ist die Ministerialinstcinz, er darf nur nach Instruktionen, nicht nach
Überzeugungen beschließen. Dem Grafen Bülow wird wohl noch nie der Gedanke
gekommen sein, daß er Präsident eines deutschen Oberhauses sei. Der starke Schutz¬
damm, den in allen andern zivilisierten Ländern, sogar in Japan, die Ersten Kammern
oder Senate gegen die anschwellende demokratische Flut bilden, ist in Deutschland
nicht vorhanden, und deshalb sollten die deutsche Verfassung und das deutsche Wahl¬
recht durch Einführung von Diäten oder Anwesenheitsgeldern — ohne jedes Äqui¬
valent — nicht noch weiter demokratisiert werden. Es ist wahrlich schon genug und
entspricht nicht der Verfassung, daß die Regierungen die Partetdiäten der Sozial¬
demokraten zulassen. Eigentlich sollte jedes heimlich bezahlte Mandat ipso lÄeto
erlöschen, und der Betreffende auf zehn Jahre nicht wieder wählbar sein. Eine
solche Bestimmung ist leider 1367 wie 1871 in die Verfassung aufzunehmen verab¬
säumt wordeu. Will man schon eine Verfassungsänderung machen, so wäre sie
Durch
Beschluß des Bundesrath vom 9. März ist der Paragraph 2 des Jesuiteugesetzes
vom 4. Juli 1872, also die Befugnis der Regierungen, einzelne Jesuiten aus¬
zuweisen, gemäß den wiederholten Beschlüssen der Reichstagsmehrheit aufgehoben
worden. Was die Reichstagsmajorität dabei bestimmte, war keineswegs nur die
Stellung des Zentrums, sondern ebensogut die prinzipielle Abneigung auch liberaler
Männer gegen ein Ausnahmegesetz, die ja schon stark mitwirkte, als es sich 1890
um die Erneuerung des Sozialistengesetzes handelte. Gleiches Recht für alle ist ja
einer der wichtigsten Grundsätze des Liberalismus. Jedenfalls ist der Vorgang
formell und rechtlich ganz unanfechtbar. Das wird ja nun auch von den Gegnern
der Aufhebung gar nicht bestritten, nur daß die Liberalen inkonsequent sind, wenn
sie es dem Bundesrate, d. h. den Verbündeten Regierungen, deren Organe bekannt¬
lich die Mitglieder des Bundesrath sind — sie haben hier „nur ein Amt und
keine Meinung" —. zum Vorwurfe machen, daß er einem seit 1893 mehrmals
wiederholten Beschlusse des Reichstags zustimmt, während sie es ihm verdenken,
daß er das in der Diätenfrage nicht tut. Was weithin in protestantischen Kreisen
Bedenken und Verstimmung erregt, das ist vor allem die Furcht vor einer Störung
des konfessionellen Friedens, vor einer Verstärkung der katholischen Propaganda,
und diese Furcht erscheint uns als weit übertrieben. Wenn eine Anzahl von aus¬
gewiesenen deutschen Jesuiten, die nicht bedeutend sein kann, schon weil von der
Ausweisungsbefugnis nur sehr selten Gebrauch gemacht worden ist, wieder heim¬
kehrt, so ist damit bekanntlich die Erlaubnis zur Gründung jesuitischer Nieder¬
lassungen im Reiche noch keineswegs gegeben, denn Paragraph 1 des Gesetzes von
1872. sein Kern, der solche wie den ganzen Orden verbietet, bleibt bestehn, und
außerdem würde unter allen Umständen eine Niederlassung des Ordens von d r
Genehmigung jeder Landesregierung abhängen. Zweitens ist auch der Einfluß der
verbannten Ich neu in der katholischen Presse niemals zu verhindern gewe u und
verhindert worden. Drittens ist das. was den konfessionellen Freden g f° rdet mehder Jesuitenorden, sondern die konfessionelle Unduldsamkeit d" keines^Haft der Jesuiten allein ist. und wenn man sich vor der whvlischen Propaganda
fürchten wollte, so wäre das ein schlechtes Zeugnis für die w^e Kra t des Pr ^lese-mtismus. Gerade auf protestantischer Seite macht man w'ner ^Fehler, den Kulturkampf, aus den. das Jesuitengesetz gleich «uf-nigh hervorging»is einen Kampf gegen die katholische Kirche zu betrachten Das sollt er gar
nicht sein, er sollte nur die Hoheitsrechte des Staats gegen hierarchische Üb rgnsiwahren. Die Stärke dieses Bedürfnisses wechselt mit den Ze tumstanden uprm-
Heller Ausgleich zwischen der obersten Gewalt der romi chen K.rede und d r
Souveränität des Staats ist bekanntlich nicht möglich, nur ein moÄus vio na und
w°nu der preußische Staat einen großen Teil der v°n Anfang an olu,ehr
°is ein Kampfmittel behandelten Maigesehe aufgegeben hat. so w.rd wo l auch d
Heimkehr der paar ausgewiesenen Jesuiten erträglich se n, um s°/ hr als s e
°wen Grund der Beschwerde und der Gereiztheit fiir unsre athol scheu Mitbürger
?us dem Wege räumt! So lange das Zentrum d-^°uschlaggebeud Pa t
^ in
Reichstage bleibt, wird eben jede Neichsregierung mit ihm be.onde s r
Für äußerst nuk ug aber würden wir es halten, wenn man "u pr°t Stauch"-eile das Zugeständnis des Bnndesra.s an die katholische 5'che °is e »e ^^ung des Protestantismus darstellte; das wäre nicht gee ^Frieden zu sichern, sondern ihn zu gefährden. EineStaruug ^ P""u«
und der berufnen Reichsverdrossenheit" von dem Beschlusse des Bundes als zu
harten, ist so ein ältig. daß es sich nicht der Mühe lohnt davon
?e ist ein unberechtigter Anachronismus, der zweite eme p°U 'seh'Kinder ^^cher. die in.mer noch nicht begreisen wollen, daß unsre Existenz als Nation ansdem mir,-^ ...... ^ ^
sah "mener engern Zusammenschluß aller Teile beruht. Eins kündigt sich freilich
ihre R^-' nämlich eine Reihe von Interpellationen an einzelne Regierungen über
moti Kimmung im Bundesrate. Hoffentlich werden die Regierungen dabei den
Mal^Ü beweisen, damit gewissen Leuten die schöne Gelegenheit, wieder ein-Are Absti
'"zen T
ge
Zu
d"K ol ^^artigsten Erscheinungen in unserm deutschen Staatsleben gehört es.
^^öeutlich der Versuch gemacht wird, eine Regierung gegen die andre, einen
selbst, r ^ klar „Stamm") gegen den andern auszuspielen. Noch immer ist der
S^^'ländliche Gedanke, daß wir alle ohne Unterschied des Stammes und des
sür das Reich leben müssen und vom Reiche leben, keineswegs überall
ort,,_t rungen. Davon lieferte in der Reichstagssitzung vom 8. März der Abge-
-.freis' , iter aus dem Meininger Wahlkreise, beiläufig ein bayrischer Landrichter
iüdeni Bekenntnisses aus Nürnberg, einen besonders erbaulichen Beweis,
das > ^ schlankweg behauptete, das bayrische Offizierkorps sei „gebildeter" als
außer s" ^^ ^' H' beiläufig als das Offizierkorps aller deutschen Armeekorps
dort» iunf)' "^it nämlich in Bayern angeblich weniger Soldatenmißhandlnngeu
Manns ^" ""'^ ihm am 10. März aus dem Munde eines bayrischen Lands¬
haft b bayrischen Bundesratsbevollmächtigen Generalmajor Endres, eine wahr-
ei,^ ^^erhebende und herzerfreuende Abfertigung zuteil. Der General, der schon bei
Unisn " Gelegenheit den Versuch, Bayern gegen die angeblich übertriebnen
Kgjs Wanderungen in den „preußischen Armeekorps" zur „Obstruktion" gegen den
bayris^°Ä"^°^^"' schlagfertig abgewiesen hatte, sagte unter cmdernn „Was das
Re n> Offizierkorps ist, das hat es neben der treuen Sorge seines allergnädigsten
einmal " preußischen Kameraden zu verdanken. (Lebhaftes Bravo.) Das muß
ausgesprochen werden. Ich habe nichts dagegen, wenn es hinausgeht über die
Räume des Reichstags, ich habe selbst nichts dagegen, wenn es hinausgeht über die
Grenzen des Reichs. (Zurufe.) Was ich hier sage, erfährt man in München so genau,
Wie Sie es hier erfahren. Wenn ich die Verantwortung dafür ausdrücklich auf mich
nehme, so zeige ich nur, daß ich ein furchtloser Mann bin. (Lebhaftes Bravo.) Ich
weiß, daß ich hier über den Nahmen eines eigentlichen Bundesbevollmächtigten hinaus¬
gehe, aber wenn mich etwas bewegt, so sprengt es die äußere Form, ich fühle
meine Pflicht, heute hier als treuer bayrischer Soldat mit heißer Dankbarkeit all
jener Förderung zu gedenken, die ich selbst in meinem Streben von seiten der
preußischen Soldaten, von seiten der preußischen Armeeverwaltung, von seiten meines
allergnädigsten Herrn empfangen habe. (Lebhaftes Bravo.) Als die bayrische Armee
in die allgemeine Heeresorganisntion eingefügt war, damals war es, wo die
preußische Regierung und der allergncidigste Kaiser uns die reichen Quellen des
geistigen Lebens, die in der preußischen Armee sprudelten, mit Vorurteilslosigkeit
zugänglich machte, wo uns, vom gewöhnlichen Kompagniedienst anfangend, gestattet
wurde, mitzuwirken bis herauf in die weltbewegenden Pläne eines Moltke. Es wäre
eine brutale Undankbarkeit von seiten der bayrischen Armee, wenn sie ein Lob in
Empfang nehmen wollte, das auf Kosten ihrer preußischen Kameraden ging. (Lebhafter
Beifall.) Ich frage, meine Herren, welches Recht hat Herr Müller, die bayrischen
Offiziere, die er für gebildeter hält als die preußischen, für so ungebildet zu halten,
daß sie ein solches Lob in Empfang nehmen? (Sehr gut!) Ich frage, was weiß
der Abgeordnete Müller-Meiningen von den innern Verhältnissen der Armeen zu¬
einander, von den Tausenden von geistigen Fäden, die da hin und Wider gesponnen
wurden? Was weiß er von dem innern Wesen der ganzen Armee? Er klebt an der
Oberfläche, an den Uniformen. Wenn er ein so kluger Mann wäre, wie — man
glaubt (Heiterkeit), so hätte er zweifellos in der Diskussion die Wege der Kritik nicht
verlassen, denen er gewachsen ist, und hätte sich nicht auf ein Gebiet gewagt, wo er
unser Allerheiligstes, unsre Zusammengehörigkeit berührt. Ich konstatiere hier: einen
Armeepartikularismus gibt es nicht." Und in einer zweiten Rede fügte er noch hinzu:
„Wir sind in einem föderativem Staatsgebilde, das Leben der Föderation aber ist
das Vertrauen der Regierungen untereinander. Jeden Versuch, ich will nicht sagen,
Zwietracht zu säen, aber die eine Regierung zu loben und die andre zu tadeln, muß
ich hier als pflichtgetreuer Vertreter der Verbündeten Regierungen mit aller Energie
abweisen, denn es handelt sich um eine Existenzfrage." (Bravo!) Jawohl, Bravo,
Herr General! Hoffentlich hat nun die reichstägliche Nörgelei (die ernste Kritik bleibt
dabei vorbehalten) an unserm Heer ein Ende, an diesem Heere, das Unvergleich¬
liches geleistet hat und soeben in Südafrika wieder vor dem Feinde steht. Sie be¬
sorgt nur die Geschäfte des Simplicissimus und ähnlicher Organe, die die Sensations¬
lust und Nörgelsucht des „biedern" Deutschen zu kitzeln wissen, und — die Geschäfte
unsrer Feinde. So aber steht es: die starken Säulen des Reichsbaus sind die
Dynastien und das Heer; im Reichstage macht sich der Partikularismus der Par¬
Angesichts der Arbeiten zur
Reform unsers Strafprozesses dürfte es angebracht sein, die Frage der Abschaffung des
Eides einmal ernstlich ins Auge zu fassen. Hierbei hat man zweierlei zu prüfen:
einmal, ob wir den Eid abschaffen sollen, und dann, ob wir ihn abschaffen können.
Gegen den Eid kann man verschiednes geltend machen. Von theologischer
Seite wird mit Recht immer ans das unzweideutige Wort der Bergpredigt hinge¬
wiesen: Ihr sollt aller Dinge nicht schwören. In der Tat muß es wundernehmen,
daß die christlichen Kirchen — von einigen Sekten abgesehen — bisher mit diesem
Wort ihres Stifters so wenig ernst gemacht haben, obwohl ihnen der Staat, so
wenig wie jenen Sekten, ein Hindernis in den Weg legen würde, wenn sie ihre
Glieder vom Eid fernhalten wollten. Das Gebot Christi lautet doch so be¬
stimmt, daß keine historische Erklärung, keine einschränkende Auslegung darüber
hinweghelfen kann.
Aber auch wenn man vom formal christlichen Standpunkt absieht, lassen sich
gewichtige Einwendungen machen. Der Eid ist seinem Zweck nach Zwangsmittel zur
Erforschung der Wahrheit, ebenso wie es ehedem die Folter war. Er bedeutet
einen Druck wie diese, nur mit dem Unterschiede, daß dieser Druck uicht ausreicht,
°en Gewissenlosen zu beugen. Der Gewissenhafte andrerseits bedarf des Druckes
Aecht und wird es immer beschämend empfinden, daß sein schlichtes Wort nicht genügt.
°,em einen Fall, wo der Eid seinen Zweck erfüllt, indem er eine wahre Aussage
herbeiführt, die vielleicht ohne ihn nicht gemacht worden wäre, bietet sich immer
zugleich ein widerwärtiger Anblick; denn es ist nie schön, wenn es eines Zwanges
°edarf, damit Menschen ihre Pflicht tun. Es gibt ja, wo es sich darum handelt,
e Wahrheit zu sagen, nur ein Entweder — oder, kein mehr oder weniger. Die
lihrheit ist immer nur eine. Darum heißt es auch in der Berpredigt: Eure
soll d ^ ^ ^' darüber ist, das ist vom Übel. In der Tat
der Eid die Behauptung nicht wahrer, sondern nur glaubhafter machen.
- . Wenden wir uns nun zu der Ausbildung, die der Eid in unsrer Zeit ge-
b>e A ^t, so erheben sich weitere schwere Bedenken. Wie bekannt ist, vollzieht sich
i-it in unserm Zivil- und Strafverfahren gleichermaßen in der Weise, daß der
schwörende „Gott den Allmächtigen und Allwissenden" zum Zeugen seiner Be-
^"ptung anruft und mit der Beteuerung schließt „So wahr mir Gott helfe."
Zunächst die Anrufung Gottes betrifft, so enthält es vor allem eine nuper-
«bare Profanierung des Gottesgedankens, wenn er dem Zweckgetriebe eines
Etlichen Verfahrens dienen muß. Wer diese Profanierung nicht empfindet, der wird
ins ^ Gefühl haben, daß er eine Komödie aufführt, und noch häufiger wird
) Wohl ein unbehagliches Gemisch von beiden Empfindungen einstellen.
^ Besonders eigentümlich nimmt sich aber in unsrer fortgeschrittnen Zeit die
r s eurungsformel „So war mir Gott helfe" aus. Diese enthält nämlich bei Licht
eichen ein Stück krassesten Aberglaubens. Es wird der Wunsch ausgesprochen,
Di ^ des Meineids die allzeit präsente Hilfe Gottes ausbleiben möge.
^^Bekräftigung der beschworner Behauptung liegt dann darin, daß, wenn das
g ..^lie des Meineids verdiente Strafgericht nicht sofort hereinbricht, der Beweis
der? ^' ein Meineid nicht vorliege. Man sieht, der Gedankengang ist
leide wie bei den mittelalterlichen Gottesgerichten. Natürlich beruht die
in >> ^ Eides für den Richter nicht auf diesem Gedankengang. Aber er kommt
Vi>>,^ des Eides zum Ausdruck, und bestimmungsgemäß soll er auch den
^leistenden beherrschen.
iinni . ?,^ches dessen muß man eher fragen, wie es kommt, daß sich der Eid noch
salls^r halt. Hierauf läßt sich eine einfache Antwort kaum geben. Viel hat jeden-
„ . das Beharrungsvermögen des Althergebrachten ausgemacht. Der Eid ist eine
Mte Einrichtung und wurzelt tief in unserm Volksbewußtsein. Dazu kam, daß
um^'s ^ der Folter, dieses Zwangsmittels nicht glaubte entbehren zu können,
w w Mehr, als es, im Gegensatz zur Folter, leicht und bequem zu handhaben
nur,'4 waren die mit der Einrichtung des Eides verbundnen Mißstände keine
dein Zulage tretenden, zur Abhilfe zwingenden. Endlich würde mit
gutes - wertvolles Ausstattungsstück unsrer Gerichtsszenerien fallen und ein
Teil des Nimbus mit sich fortreißen, der heute noch unsre Gerichte umgibt,
insb x ist auch, daß im Falle der Abschaffung des Eides in der ersten Zeit
/ordre in ländlichen und weniger gebildeten Kreisen eine gewisse Verwirrung-P^S greifen würde.
gew'hö das darf nicht ausschlaggebend sein. Richtig ist nur soviel, daß
» öl„e Sicherheiten für wahrheitsgemäße Aussagen nicht entbehrlich sind. Von
we^ ^rafdrohung für unwahre Angaben vor Gericht wird also nicht abgesehen
wi ^ können. Den Eid mit seiner Anrufung Gottes und seiner Selbstver-
aa!> "6 brauchen wir nicht. Beseitigen wir darum diesen Überrest einer ver-
.g.ngnen Kulturzeit. Die anzudrohende Strafe für Unwahrheit vor Gericht kann,
^ ^ jetzt schon bei der Meineidstrafe der Fall ist, je nach den Folgen der
falschen Aussage abgestuft werden. Im allgemeinen kann sie aber milder sein als
die Meineidstrafe, schon deshalb, weil die sakrale Seite wegfällt. Mildernde
Umstände, die bis jetzt als allgemeiner Strafmilderungsgrund beim Meineid fehlen,
wären jedenfalls vorzusehen. Wünschenswert, um den Ernst der gerichtlichen Aus¬
sage zum Bewußtsein zu bringen, wäre es vielleicht, wenn vor der Vernehmung
ein Wahrheitsgelöbnis verbunden mit Handschlag angeordnet würde. Im Ergebnis
käme man damit zu einer Verallgemeinerung von Einrichtungen, wie sie das Gesetz schon
jetzt für Mitglieder solcher Religionsgesellschaften vorsieht, die den Eid verbieten.
Die Vorteile einer solchen Änderung liegen auf der Hand. Der Eid mit all
dem Anstößigen, was er nach dem Ausgeführten an sich hat, fällt. Das Hand¬
gelübde, das ihn zu ersetzen hätte, bietet dieselben Garantien, ohne demütigend z"
wirken oder peinlich zu berühren. Auch dem Richter wird es angenehm sein, wenn
er nicht mehr veranlaßt ist, alle Augenblicke gewohnheitsmäßig und dazu bei den
nichtswürdigsten Anlässen auf die „Heiligkeit" des Eides hinzuweisen und von
„Sünde," „zeitlichen und ewigen Strafen" usw. zu reden.
Man wage es nur einmal, und man wird sehen, daß es ohne Eid ebenso
geht, wie es ohne Folter ging, sobald nur einmal der Eid, wie die Folter, einen
Friedrich den Großen findet, der bereit ist, ihn abzuschaffen.
Diese Redensart stammt weder aus der
Fechter- noch aus der Schlächtersprache, sondern, wie ich nachträglich gelernt habe,
aus der Sprache der Barbiere, und zwar muß ihre Entstehung in die Zeit vor
Erfindung des Schießpulvers zurückgehn. Ein Verwundeter, der zum Barbier kam
oder gebracht wurde, um sich verbinden zu lassen, war im Mittelalter entweder
gehauen oder gestochen; erst später kamen als dritte Art der Verwundung die
Schußwunden hinzu. Noch in der ältesten erhaltnen Jnnungsordnung der Leipziger
Barbiere (von 1556) werden erst die Hiebwunden, dann die Stichwunden, danach
die Schußwunden besprochen. Der Barbier hatte aber jede Hilfe, die er einem
Verwundeten leistete, der Behörde anzuzeigen. „So jemand in der Stadt Weichbilde
gehauen oder gestochen wird — lautet eine Bestimmung der Jnnungsordnung—,
den soll sich niemand unterstehen zu binden, er sei denn ein Balbierer und in der
Bruderschaft. Und wenn also ein Meister einen Verwundten binden würde, der
soll dem Bürgermeister oder dem Richter bei des Rats und des Gerichts Strafe
alsbald ansagen, wer der Verwundte und Verletzte sei, denn welcher solches ver¬
schweigen würde, dem soll sein Handwerk ganz und gar gelegt sein." Um eine
Wunde kunstgerecht binden zu können, mußte der Barbier natürlich zunächst unter¬
suchen, ob sie gehalten oder gestochen war, und da wird er wohl manchmal in Ver¬
legenheit davorgestanden, sich hinterm Ohr gekratzt und gesagt haben: „O weh, das
sieht bös aus, das ist ja weder gehauen noch gestochen!" Das ist die Quelle
der Redensart.
lie Unterstützung, die die nationalpolnische Bewegung im Winter
1871/72 sowohl durch die zahlreich in jenen Landesteilen an¬
lesenden ausländischen Jesuiten als auch durch sonstige fremde
^ Ordensgeistliche insbesondre bei der Wahlagitation empfing, hatte
-^am 21. Februar 1872 den preußischen Minister des Innern be-
gen, gegx,, weilenden, im Deutschen Reiche nicht heimatberechtigten
IMten und andre fremde Ordensgeistliche die Ausweisung zu verfügen,
ber Anordnung ist Ausgang und Ursprung des Jesuiteugesetzes. Sie
dem ""^ ^ Tatsache, daß schon damals die nationalpolnische Bewegung in
^^"berger Jesuitenhauptquartier ihre nachhaltigste Stütze und Förderung
zu, ' Tatsache, die heute noch im ganzen Umfange fortbesteht und vielleicht
iiis^ geringen Teile die reiche Fülle der Mittel erklärt, über die die pol-
^ Propaganda gebietet. Jede kräftige, auf ein bestimmtes Ziel hinsteuernde
^^'"^kenpolitik, d. h. eine Politik der Abwehr der Polonisierung deutscher
esteile, wird deshalb den im Paragraphen 1 des Jesuitengesetzes errichteten
lutzwall nicht nur intakt erhalten, sondern nach Möglichkeit verstärken,
der ^ ^der Zweifel darüber ausgeschlossen, daß die Ostmarkeupolitik
des ^"^^ri und der deutschen Negierung trotz und wegen der Aushebung
Paragraphen 2 des Gesetzes durchaus auf diesem Boden steht,
eine dieselbe Zeit käm es durch die Beschlagnahme von Briefschaften bei
^ ^ Haussuchung bei dem Prälaten von Kozmian in Posen zur Kenntnis der
Mal' ^gieruug. daß der Papst bei Gelegenheit des Konzils dem da-
eines^" ^bischof von Posen und Gnesen, Grafen Ledochowski. die Würde
der s^"^ von Polen verliehen habe. Nach der polnischen Tradition und
des ^tnsclM Verfassung war der Primas von Polen der Stellvertreter
niann d^"^ ^ Thronerledigung. In diesem Zusammenhange ge-
n die nationalpolnische Propaganda fremder Ordensgeistlicher in der Provinz-p"'en ehre besondre Bedeutung.
der historisch und beglaubigt fest, obwohl es bei einem Teile
der Generation, die im behaglichen Genuß der erworbnen, richtiger:
ererbten Güter nicht gestört sein will, in Vergessenheit geraten sein mag.
c«. . derselben Zeit war in Süddeutschland eine starke Bewegung gegen die
-"
Lehrtätigkeit solcher religiöser Orden entstanden, die unter einem außerhalb
Deutschlands wohnenden Obern stehn, und hatte sich zu Antrügen in der
badischen Zweiten Kammer verdichtet. Am 10. März wurden darauf bezügliche
Gesetzcsvorschlüge mit Zustimmung der badischen Regierung angenommen, zehn
Tage später auch in der Ersten Kammer. In der beim Schluß des Landtags
am folgenden Tage vom Minister Jolly verlesenen Thronrede wurde aus¬
gesprochen, der Landtag habe das Verhältnis der Kirche zum Staat, ein Problem,
an dem zu arbeiten alle gesetzgebenden Versammlungen durch die Zeitverhältnisse
genötigt seien, durch ergänzende Vorschriften zu den bestehenden Gesetzen sichrer,
als es bisher der Fall war, zu bestimmen versucht. Die Regierung hoffe unter
fester Aufrechterhaltung der Gesetze und der unveräußerlichen Rechte des Staats
durch billige Schonung jeder innern Überzeugung zur Erhaltung des kirchlichen
Friedens beizutragen.
In Preußen erging unter dem 13. März eine Allerhöchste Kabinetsorder,
die die Ausweisung fremder Ordensgeistlicher grundsätzlich regelte. Auf Grund
dieser Order verfügte einige Wochen später ein gemeinsamer Erlaß der Minister
des Innern und des Kultus „erstens, daß denjenigen Mitgliedern des Jesuiten¬
ordens, die weder dem preußischen Untertanenverband noch demjenigen eines
andern deutschen Staates angehörte»?, ebenso fremdländischen Mitgliedern andrer
Orden und ausländischen Weltpriestern, vorläufig mit Ausschluß der Ordens¬
schwestern, die Niederlassung in der Provinz Posen nicht mehr gestattet sei;
zweitens, daß mit der Ausweisung der zurzeit in der Provinz befindlichen Aus¬
länder derart vorzugehn sei, daß nach Ablauf von zwei Jahren die Provinz
von den betreffenden Jndividnen vollständig geräumt sei." Zugleich waren für
Posen, Schlesien und Westpreußen Anordnungen für die Bildung besondrer
Kommissionen zu einer außerordentlichen Schulrevision ergangen, auch wurde
eine Konferenz zum sofortigen Zusammentritt einberufen, die sich mit der Für¬
sorge für den deutschen Sprachunterricht in den Schulen Oberschlesiens beschäf¬
tigen sollte. Heute nach zweiunddreißig Jahren sehen wir das Polentum in
Oberschlesien in gewaltiger Zunahme begriffen.
Dem Reichstage, der am 8. April 1872 zusammengetreten war, lag eine
große Fülle von Petitionen gegen und für den Jesuitenorden vor; dieser hatte
es verstanden, eine starke Gegenbewegung zu seinen Gunsten zustande zu bringen.
Die Petitionskommission des Reichstags hatte dem Abgeordneten Gneist das
Referat über diese Petitionen übertragen, die Vertreter der liberalen Fraktionen
einigten sich zu einem gegen den Jesuitenorden gerichteten Antrage. In diese
Zeit füllt die Ablehnung des vom Kaiser zum Botschafter beim päpstlichen
Stuhle ausersehenen Kardinals Hohenlohe durch den Papst und die dadurch
hervorgerufue größere Spannung zwischen der preußischen Negierung und dem
Vatikan. Am 15. Mai erstattete der Abgeordnete Gneist sein Referat, wobei
er im Namen der Petitivnskommission beantragte: erstens, die verbündeten Re¬
gierungen zu veranlassen, sich über gemeinsame Grundsätze zu verständigen in
betreff der Zulassung religiöser Orden, in betreff der Erhaltung des Friedens
der Glaubensbekenntnisse unter sich und gegen die Verkümmerung staatsbürger¬
licher Rechte durch die geistliche Gewalt; insbesondre aber noch in dieser Session
dem Reichstag einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den die Niederlassung
"vn Mitgliedern der Gesellschaft Jesu und der ihr verwandten Kongregationen
"hre ausdrückliche Zulassung der betreffenden Landesregierung unter Strafe
gestellt würde. Von der liberalen Reichspartei (Lamey, Fürst Hvheulvhc-
Schillingsfürst, Volk, Meyer ^Thorn^, Kiefer, Eckhard) lag hierzu der Antrag
"°r: „......durch welchen den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu und der ihr
verwandten Kongregationen die Errichtung von Niederlassungen sowie die Aus¬
übung geistlicher Funktionen und der Lehrtätigkeit unter Androhung von Strafe
verboten wird." Im Namen der Konservativen beantragte der Abgeordnete
Wagener (Neustettin), der sich in einer viel beachteten Rede sehr scharf gegen
^e Jesuiten ausgesprochen hatte: „......insbesondre einen Gesetzentwurf vor-
Sulegeu, welcher auf Grund des Artikels 4 Nummer 16 der Reichsverfassung
die rechtliche Stellung der religiösen Orden, Kongregationen und Genossenschaften,
'hre Zulassung und deren Bedingungen regelt, sowie die Tätigkeit derselben,
namentlich der »Gesellschaft Jesu«, insoweit sie sich als eine staatsgefährliche
darstellt oder sollst gegen die Reichs- und Staatsgesetze verstößt, unter Strafe
stellt." Hierzu wurde schließlich noch ein Kompromißantrag Marqnardsen im
tarnen der Konservativen, der Deutschen Reichspartei und der Nationalliberalen
eingebracht, der im Eingang mit dem Obigen übereinstimmend besagte: ,.....so-
^le die staatsgefährliche Tätigkeit derselben, namentlich der Gesellschaft Jesu,
unter Strafe stellt." Der konservative Antrag wurde mit dem Amendement
Marquardsen mit 205 gegen 84 Stimmen angenommen.
Eine auf Grund dieses Neichstagsvotums ausgearbeitete Vorlage gelangte
"'u 8. Juni an den Bundesrat und wurde von diesem drei Tage später (11. Juni)
genehmigt. Der Entwurf lautete:
Den Mitgliedern des Ordens der Gesellschaft Jesu oder einer mit diesem
^rden verwandten Kongregation kann, anch wenn sie das deutsche Jndigenat be-
utzen, ein j^em Orte des Bundesgebiets der Aufenthalt von der Landesvolizei-
vehörde versagt werden.
^le zur Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Anordnungen werden vom
Bundesrat erlassen.
Gegen diesen Entwurf war einzuwenden, daß er die Jesuitenfrage uicht
prinzipiell durch Verbot des Ordens regelte, sondern nnr die einzelnen
^Suiten ins Auge faßte und sie je nach der Art ihrer persönlichen Tätigkeit
bedrohte. Je nach der Auffassung der Behörden konnten sich daraus große
Ungleichheiten ergeben. Gegen die Bestimmung, daß deutschen Jesuiten überall
W Deutschland der Aufenthalt versagt werden könne, sprachen gewichtige Rechts-
"edenken, zumal so lange der Orden selbst nicht verboten war. Kein obligato¬
risches, nur ein fakultatives Vorgehn, das ganz in das Belieben des Bundesrath
g^egt war, stand damit in Aussicht, nur die Vollmacht sollte bereit gestellt
werden, im gegebnen Fall handeln zu können. Die Begründung des Gesetzes
sprach dies noch deutlicher als das Gesetz selbst aus. Sie berief sich einfach auf
den Beschluß des Reichstags und erklärte, daß dieser Entwurf zunächst dazu be-
stimmt sei, dem Teile des Neichstagsbeschlnsses, der sich auf den Orden der Gesell¬
schaft Jesu bezieht, dnrch eine Beschränkung der Freizügigkeit für die Mitglieder
des Ordens eine gesetzgeberische Folge zu geben, indem es vorbehalten bleiben müsse,
zur Regelung der sonstigen in dem Beschlusse des Reichstags angeregten Fragen
weitere Gesetzgebungsakte nach Maßgabe der Reichsverfassung folgen zu lassen-
Ein Reichsgesetz über das Ordenswesen, wie es in dem Beschlusse des
Reichstags in Aussicht genommen war, ist niemals vorgelegt worden. Ob
ein solcher Entwurf überhaupt je ausgearbeitet worden ist, ob er im preußischen
Staatsministerium oder im Bundesrat stecken geblieben, etwa in dieser Instanz
an der Zuständigkeitsfrage gescheitert ist, ob er beim Kaiser auf Widerstand
gestoßen, das festzustellen wäre für die geschichtliche Forschung von Interesse-
Es ist bekannt, welchen großen Schwierigkeiten die Vorlage über die Zivilehe
in Preußen begegnet ist, ebenso, daß es die protestantische Gegnerschaft und
deren Einfluß war, der der Minister Fakel schließlich erlag. Dennoch ist die
Zivilehe fast die einzige von den durch die Staatsgewalt im Verlaufe des
Kulturkampfes erstrittenen Positionen, die ihr intakt erhalten geblieben sind,
und an deren Abmindernng auch niemand denkt. Die katholische Kirche hatte
zudem längst gelernt, sich mit dieser Einrichtung abzufinden, nur die prote¬
stantische Kirche Preußens sah darin eine ihr nachteilige Verschiebung ihrer
Machtgrenzen. Der katholische Widerstand hatte darum zumeist nur den Zweck,
den protestantischen anzustacheln, um ihn als Verbündeten gegen einen verhaßten
Minister zu gewinnen. Dieser Plan ist dann freilich vollständig gelungen.
Ein Reichsgesetz über das Ordeuswesen — wäre es zu erlangen gewesen —
würde wahrscheinlich eine grundlegende Maßnahme von bleibender Bedeutung
geworden sein; angesichts der oben mitgeteilten Begründung der Jesuitenvorlage
bleibt allerdings nur die Annahme übrig, daß man bei ihrer Einbringung noch
mit einem Gesetz über die Orden rechnete, das sich später als unmöglich erwies,
oder an das man aus andern Gründen nicht herantreten wollte. Es genügt,
an die Schwierigkeiten zu erinnern, die bei den weibliche«? Orden ohnehin durch
die Gunst entstanden waren, deren sie sich an hohen Stellen erfreuten.
Die Jcsnitenvorlage des Bundesrath trug somit bewußtermaßen den Stempel
des Unfertigen und des Unzureichender. Es ist begreiflich, daß sie im Reichs¬
tag eine wesentliche Erweiterung erfuhr. Bei der ersten Lesung am 14. Juni
wurde von der Regierung zur Begründung der Vorlage ausgeführt, daß der
Reichstag die staatsgefährliche Tätigkeit der Jesuiten habe nnter Strafe stellen
wollen. Die verbündeten Regierungen seien jedoch der Ansicht gewesen, den
Weg der Strafgesetzgebung auf diesem Gebiete, wenn irgend möglich, zu ver¬
meiden und mildere Mittel anzuwenden, so lange mit solchen auszukommen sei.
Sei die Tätigkeit des Ordens in seinen einzelnen Mitgliedern eine Gefahr für
das Reich und dessen Frieden, so müsse das Mittel gesucht werden, dein
Friedensstörer auf dem Wege des Hausrechts die weitere Störung unmöglich
zu machen. Deshalb wolle man zu eiuer gewissen Einschränkung der persön¬
lichen Freiheit, zur Aufenthaltsbeschränkimg und zur Ausweisung greifen. Es
sei das freilich ein Eingriff in die staatsbürgerlichen Rechte des Einzelnen,
aber von dem Augenblick an, wo erkannt sei, daß der Orden und seine Mit-
glieder durch ihre Tätigkeit eine Gefahr für das Reich bedeuteten, sei um. ....
Stande der Notwehr, wenn man zu diesen Mitteln greife. Das Gesetz trage
s°""t deu Charakter der Notwehr, eines Notgesetzes. Die verbündeten Regie¬
rungen erkennten es ausdrücklich an. daß das Gesetz ein proviforisches Notgesetz
zur Notwehr sei. und daß eine umfassende Regelung der Ordensfragc über¬
haupt, auch zur Regelung der Frage über den Jesuitenorden führen werde ^el
den folgenden Ausführungen ans der Mitte des Reichstags waren die Ansichten
des dem Reichskanzler nahestehenden Geheimrath Wagener besonders vemerte.w-
wert. der erklärte, daß er an seinem Teile in der Sache gern weiter gegangen Ware,
wenn nicht Bedeuten wegen der Kompetenz des Bundesrath bestanden hat en.
Aus diesen erklärt sich also zunächst der provisorische Charakter des Gesetze»
»ut die Verweisung auf ein künftiges allgemeines Ordcusgesctz. was freilichvielleicht schon damals als unerreichbar oder in weiter Ferne liegend galt, ^iocham Abend des 14. Juni traten Vertrauensmänner aller Fraktionen. «ut An¬
nahme des Zentrums, zusammen, um einen weitergehenden Antrag an die StcUe
der Regierungsvorlage zu setzen. Man einigte sich über folgende Fass
^ Die Gesellschaft Jesu und alle verwand
^ ^MgKongregationen sind im Gebiete des Deutschen Reichs ve böte^ ^ i »
^Niederlassungen dieser Gesellschaft ^'^rsa^. M ^ U ab längstens"sfungen müssen binnen einer vom Bundesrat zu veMinmcn^n ^ >
drillen sechs Monaten aufgelöst werden.
^ Die Angehörigen der Gesellschaft Ich.i oder ^rthr«
-~ wenn sie Ausländer sind - ans dem Deutschen -1' ^) » !"«den; s,f^ sie aber das deutsche Jndigena besitze^ )i» bestimmten Gebieten versagt oder ein bestimmtes Gebiet zum ^useniygewiesen werden.
^ Die z..r Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen A""^Bundesrat erlassen Die Ausführung der von ihm angeord ten M"^^^^^^^^^^^durch die Landespolizeibehörden. (Folgen Bestimmungen über Beschwerden n,w)
Man ersieht hieraus, daß der Reichstag
^neigt war. ganze Arbeit zu machen. Zu der ^«^^Betritt zum Jesuitenorden für alle Deutschen nach Puh^on d^s Gesetz
unter Strafe zu verbieten, ist man dennoch Nicht gelangt. U.^d doch a v
'°r allen Dingen notwendig gewesen! Damit wäre der ^^or^n fu
Deutschland wirklich ans den Aussterbeetat gekommen! D^r v n Fasi ng
wurde bei der weitern Beratung der Fraktio.'en und rhrer Del ren am
Senden Tage eine neue substituiert, worin der Zesutte.wrden usw n G
boten,- so..ier.i vom Reichsgebiet ..ausgeschlossen" wurde ^s"^s ug
^langte das Gesetz mit großer Mehrheit zur Annahme, in dritter Lesung
181gegen93Stimmen.
^ ^ . ^.„„s, redaktionelleBekanntlich zeichnen sich viele Gesetze der siebziger ^andre durch ' baten
Nüchtigkeiteu und Inkongruenzen aus. die auch Bismarck einmal in Micr offe.it
lichen Rede gerügt hat, So ist denn auch im Jesuitengesetz die Inkongruenz, daß
im Paragraphen 1 vom „Reichsgebiet," im Paragraphen 2 vom „Bundesgebiet"
die Rede ist. Artikel 1 der Reichsverfassung spricht allerdings vom „Bundesgebiet"
und setzt dessen Umfang fest, da aber nach der Einleitung zur Reichsverfnssung
der ewige Bund der deutschen Fürsten und Freien Städte „den Namen Deutsches
Reich führen soll," so ist es korrekter, „Reichsgebiet" zu schreiben; jedenfalls
erscheint die gleichzeitige Anwendung beider Beziehungen in einem und demselben
Gesetz als Inkongruenz. Am 25. Juni genehmigte der Buudesrat den Ent¬
wurf in der Fassung des Reichstags, am 28. Juni wurde die Vollzugsver¬
ordnung beschlossen, am 2. Juli die Ausdehnung des Gesetzes auf Elsaß-
Lothringen. Die Vollziehung des Gesetzes erfolgte zu Eins am 4. Juli durch
den Kaiser, das Gesetz und die Vollzugsvervrdnung wurden am 5. Juli publi¬
ziert. Nicht unerwähnt darf bleiben, daß eine Deputation rheinischer Städte
am 29. Juni unter Führung des Oberbürgermeisters Contzen von Aachen in
Eins den Versuch macheu wollte, beim Kaiser vor der Vollziehung des Gesetzes
gegen dieses vorstellig zu werden. Der Monarch lehnte den Empfang der
Deputation ab, empfing nnr Herrn Contzen privatim, aber auch diesen mir,
um ihm jeden Zweifel darüber zu nehmen, daß der Kaiser mit dem Buudes¬
rat und dem Reichstag völlig einverstanden sei.
Bei der dritten Lesung hatte der Abgeordnete Laster gegen das Gesetz
gesprochen und schließlich auch dagegen gestimmt, „weil es sich um die Ver¬
folgung deutscher Staatsbürger handle," ohne daß Bürgschaften gegen eine
mißbräuchliche Anwendung des Gesetzes gegeben seien. Der Göttinger Kirchen-
rechtslehrer Dove hatte ihm entgegnet, daß die Anfenthaltsfreiheit für die
Jesuiten, die Laster ihnen erhalten wolle, schon durch die Ordensregeln aufge¬
hoben sei, wonach jeder Jesuit sofort dahin abzugehn habe, wohin ein Oberer
ihn schicke.
Dieser kurze geschichtliche Rückblick ist notwendig, um die jetzt erfolgte
Aufhebung des Paragraphen 2 objektiv zu beurteilen. Vergegenwärtigt man sich,
daß der Bundesrat ursprünglich überhaupt nichts weiter beantragt hatte als
eine Drohung — der Entwurf war bezeichnet als „Entwurf eines Gesetzes
betreffend die Beschränkung des Rechts zum Aufenthalt der Jesuiten im
Deutschen Reich" —, oder richtiger gesprochen, daß er den preußischen Behörden
in Posen und Schlesien Mittel an die Hand geben wollte, sich der national-
polnischen Propaganda der Jesuiten zu erwehren, so begreift man, wenn jetzt
nach zweiunddreißig Jahren der Reichskanzler erklärt, er glaube mit den gewöhn¬
liche« strafgesetzlichen Bestimmungen auskommen zu können. Hätte die damalige
Gesetzgebung die Zugehörigkeit eines Deutschen zum Jesuitenorden unter
Strafe gestellt, so würde von der Aufhebung einer solchen Bestimmung auch
heute keine Rede sein können, und es würde deutsche Jesuiten in Deutschland
heute überhaupt kaum uoch geben.
Aber da man sich damals nicht entschlossen hat, vollständig eg-dulg. rasn
zu machen, im Gegenteil den Eintritt Deutscher in die Gesellschaft Jesu nicht
ausdrücklich verneint hat, so legte die Gesetzgebung von 1872 im Paragraphen 2
von vornherein den Gedanken fest, daß er nur „auf gegeben sei. denn
niemand konnte wohl daran denken, daß eine polizeiliche Befugm. zur Aufent¬
haltsbeschränkung deutscher Staatsbürger für ewige Z.^t^'. fortdauern tom.^Von katholischer Seite konnte sonach in unsern Tagen und eungem Rechte geltend
gemacht werde., daß eine Rechtsbeschränkung, die den S°zlaldemokrateu gegm-
Wer ans besondres Verlangen der liberalen Parteien jetzt schon seit ol rzeh
Jahren aufgehoben sei. deutscheu Katholiken gegeuüber nicht aufrecht erhalt
werden dürfe, zumal in einem Augenblick. wo man diese zum Zusammenschluß"iter bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie auffordere.
Das Jesuitengesetz trug von seinem ersten Entwurf an das Gepräge eme ge¬
wissen Halbheit. So schloß der Paragraph 1 wohl den Orden und die ihm verwand en
Kongregationen vom Reichsgebiet ans. enthielt aber keinerlei Bestmrmuug über
die Tätigkeit einzelner Jesuiten. Hier mußten erst die AusführuuO eMmnnge
des Bundesrath nachhelfen, die zu 1 sagen: Da der Orden der Gesellschaft ^ u
von. Deutschen Reiche ausgeschlossen ist, so ist deu Augehongen W^Ort^°" Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondre K res' und
Schule. sowie die Abhaltung von Missionen nrch zu ^se - ^
der gegen die Aufhebung des Paragraphen 2 ^ne^ senamentlich i.mener wieder hervorgehoben worden, daß der P°'° ^Gesetzes ohne den Paragra hen 2 nicht haltbar ser. und zum we eM hin^ ^Anschauung entspringt die lebhafte Bewegung der Gemüter gegen den Bundes-
beschoß vom 8. März dieses Jahres. Nun beruht aber die Erfüllung des
ragraplM i des Gesetzes in der Hauptsache auf dem Paragraphen 1 der
M ""Ntmachung des Bundesrath vom 5. Juli 1872, und so lange diese in
friste ^ — zurückgezogen ist sie jedenfalls nicht —, sind auch die Vor¬
dem? s °^ Erfüllung des Paragraphen 1 des Gesetzes intakt und für alle
Na s > " ^andespolizcibehvrden obligatorisch. Wenn die Münchner Neuesten
'mission " Beispiel die Befürchtung aussprechen, daß nun die Jesuiteu-
einem ^ nieder aufgenommen werden würden, die sich bekanntlich auch bei
freuen ^ne des katholischen Pfarrklerus sehr geringer Sympathien er-
ihre ^'Sö^ diese Befürchtung völlig unbegründet, so lange die Polizeibehörden
die i" / ^ Schuldigkeit tuu. Sie können allerdings reichsdeutsche Jesuiten,
des ».^^^endwo zu Missionszwecken einfinden, fortan nicht mehr auf Grund
del Pelzes zur Abreise zwingen, wie das noch vor zwei Jahren, der letzte
ZHissi" e Fall dieser Art, in Lüdenscheid geschehen ist, und sie werden namentlich
wem, s'^' ^ 'n Kirchen abgehalten werden, kaum noch inhibieren können,
geistli l Betreffenden nicht fügen. Es bleibt dann nur übrig, den Pfarr-
l'estas "'^ Jesuitemnissioneil vor Gericht zu stellen. Andre Hilfsmittel
wenn s gegenüber den Leitern sozialdemokratischer Versammlungen nicht,
>'e das Auflösuugsgebot der Behörde nicht respektieren,
gravb ^ die Auffassung, daß der Paragraph 1 ohne den Para-
selbst ^ "'^ ^i, auch durch die Beschlüsse des Reichstags von 1872
der ^ ^ ^egt worden. Der Inhalt der Regierungsvorlage war im wesentlichen
^"halt des heutigen Paragraphen 2; dadurch, daß der Reichstag deu Para-
graphcn 1 schuf, der nach wie vor in Geltung bleibt, legte er den Schwerpunkt
des Gesetzes in diesen und bekundete, daß der Paragraph 2 ohne den Para¬
graphen 1 wenig Wert habe. Es ist bezeichnend, daß sich die damalige Regierungs¬
vorlage auf eine fakultative Jnternierungsandrohung beschränkte und die An¬
rufung des Strafgesetzes vermieden wissen wollte. Es war der Notbehelf des
politisch-polizeilichen Eingreifens, dessen Anwendung und Wirkung nicht von
einem Richterspruch abhängig sein sollten. Als augenblickliche Waffe im poli¬
tischen Kampfe mochte das genügen, in einem dauernden Gesetz war und blieb
es der schwache Punkt.
Den: Abgeordneten Laster ist es damals als liberale Dogmatik ausgelegt
worden, daß er gegen den Ausschluß des Richterspruchs und des Strafgesetzes
sprach und die dauernde Bedrohung eines verfassungsmäßigen Rechts durch die
Verwaltungsbehörden beanstanden zu müssen glaubte, aus diesem Grunde auch
gegen das Gesetz stimmte. Heute wird mau anerkennen müssen, daß der Ab¬
geordnete Laster hierbei weniger als Politiker, als als Jurist, als solcher aber
durchaus logisch gedacht hat. Er ordnete nicht nur das augenblickliche politische
Bedürfnis seinem Rechtsbewußtsein unter, sondern er erkannte den schwachen Punkt
des Gesetzes und hielt es deswegen nicht für haltbar. Die jetzige Aufhebung
des Paragraphen 2 gibt ihm nachträglich Recht. Gewisse Bedenken gegen die
Anrufung des Richters waren ja vielleicht nicht von der Hand zu weisen. Der
katholische Richter wäre auf Grund seiner Glaubensanschauungen, seines innersten
Empfindens, leicht zu einem andern Rechtsspruch gekommen als der protestan¬
tische, der wiederum bei einer katholischen Bevölkerung in diesen Dingen als
befangen gegolten haben würde. Aber das war doch nur möglich bei einem so
unklaren und lückenhaften Gesetz, das „den Orden Jesu" nicht „verbot," sondern
nur „ausschloß" und deshalb die Frage über die Strafbnrkeit des einzelnen
Jesuiten völlig offen ließ. Die Vundesratsverordnung mußte diese Lücke ergänzen,
aber auch sie traf nur „die Ordenstütigkeit," nicht die ganze geistliche Tätig¬
keit des einzelnen Jesuiten, sodaß zum Beispiel den Bischöfen völlig unbenommen
blieb, Jesuiten in ihre Umgebung zu berufen, wenn diese sich nur der „Aus¬
übung einer Ordenstätigkeit" enthielten. Zudem traf auch die Bundesrats¬
verordnung nur die öffentliche Ordenstätigkeit, wühreud sich der wichtigste
Teil der Ordenstätigkeit der Jesuiten bekanntlich der Öffentlichkeit entzieht.
Es hätte deshalb der Orden für Deutschland „verboten," daraufhin auch jede
wie immer geartete geistliche Tätigkeit seinen deutschen Mitgliedern bei Strafe
untersagt, ebenso der Eintritt neuer Mitglieder mit der Publikation des Ge¬
setzes bei Strafe verboten und als in jeder Hinsicht rechtsungiltig bezeichnet
werden müssen. Als letzter Schlag blieb dann immer noch die Konfiskation
der bedeutenden Liegenschaften des Ordens in Deutschland übrig. Aber indem
man vor jedem radikalen Mittel zurückschreckte, die Tür nicht zumauerte, sondern
nur einfach verschloß, ließ man damit nicht nur die Möglichkeit, sondern die
Wahrscheinlichkeit zu, daß diese Tür eiues Tags wieder geöffnet werden würde,
wenn anders die Jesuiten das Warten verstanden. Sie haben es verstanden,
der Paragraph 2 des Gesetzes mußte schließlich dem Schicksal aller halben
Maßregeln verfallen.
Von liberaler Seite sind gegen den Reichskanzler wegen der von ihm be¬
wirkten Aufhebung des Paragraphen 2 lebhafte Vorwürfe erhoben worden, gegen
die sich Graf Bülow im preußischen Abgeordnetenhause mit dem Hinweis auf
die wiederholten Mehrheitsbeschlüsse des Reichstags und auf die Ausführungen
natioualliberaler Führer - von Bennigsen bis Bassermann — erfolgreich ver¬
teidigt hat. Diese Vorwürfe bewegen sich weit mehr auf dem Gebiet des subjek¬
tiven politischen Empfindens als auf dem der sachlichen Begründung. Es ist
um die liberale Dogmatik ein eigen Ding. Bei der Vorlage des SozuMen-
gesetzes im September 1873 hatte der Paragraph 16 des Regiernugsentwurss
«me den Bestimmungen des Paragraphen 2 des Jesnitengesetzes analoge Fassung.
Der Reichstag änderte diese Bestimmung gründlich um. indem er die Aufenthalts¬
beschränkung nur auf Grund richterlichen Erkenntnisses und auch nur dann zu¬
ließ, wenn der Betreffende seinen Wohnsitz noch nicht sechs Monate inne hatte
E 22). Die Negierungsbefugnis gegen die Jesuiten war danach also weit
größer als gegen die Sozialdemokratie, hat aber dennoch das SozmKstengesch
um vierzehn Jahre überdauert. .
^Als der Entwurf eines neuen Sozialistengesetzes un ^ahre 1889 die
Ausweisuugs- und Jnterniernngsbefugnis auf ein Jahr beschränkte und sogar
n°es von der nachträglichen Genehmigung des Reichstags abhängig machte,
lehnte die Mehrheit des Reichstags, darunter die Nationalliberalen diese Be¬
stimmung ab. Hätte die Partei konsequent sein »vollen, so hätte sie damals
auch die Aufhebung des Paragraphen 2 des Jesuiteugesetzes beantragen müssen.
Jedenfalls kann man den katholischen Stimmen, die verlangen, daß deutsche
Jesuiten nicht schlechter behandelt werden sollen als seit 1890 deutsche Sozial¬
demokraten und Anarchisten, nicht Unrecht geben. Dem Sozialistenge es gegen¬
über konnten sich die liberalen Parteien in der Einschränkung der Befugnisse
der Staatsgewalt nicht gennq tun - sie haben die Folgen dieser liberalen
Dogmatik seitdem sehr am eignen Leibe empfunden. Bei dem ^e mtengesetz
s°it auf einmal fast Noch- und Landesverrat sein, was bei Sozialdemokraten von
den Liberalen als Recht und Billigkeit bezeichnet und gefordert wurde! Eine
solche Logik ist wirklich schwer zu begreifen. Was ist da „liberal ? Man
h°t der Aufhebung der Diktaturparagraphen für Elsaß-Lothringen mit se.neu
recht nützlichen Bestimmungen zugestimmt, weil sie durch Nichtamvendung obsolet
geworden seien, und man ohne sie auskommen könne. Der Paragraph 2 deo
Jesuitengesetzes ist ebenfalls durch Nichtanwendung fast obsolet geworden, und die
Staatsgewalt glaubt künftig ohne ihn fertig zu werden; darüber aber ist große
Empörung. Wie seltsam, daß diese Maßregel, durch die sich die Staatsgewal
s^iwillig wichtiger Machtbefugnisse entkleidet, im liberalen Lager auf solchen
Widerspruch stößt, während man dort in parallelen Fällen eme ganz entgegen¬
gesetzte Haltung angenommen hat! Nach dem Schlagwort, daß d'e s boar
Gefahr größer sei als die rote, läßt sich in solchen Dingen acht urteilen Di
Frage bleibt, ob dem Staate ein Nachteil, dem Protestantismus em Unrecht
zugefügt worden ist. Beides ist unbedingt zu verneinen. Das Gesetz von 1872
war eine den damaligen Verhältnissen entnommene politische Maßregel; wir
G
glauben, daß das Deutsche Reich es vertragen kann, wenn man, ohne das
Gesetz selbst in Frage zu stellen, es einer seiner am meisten verwundenden Spitzen
entkleidet.
^>"W »tWt>
ZMW>le drei starke Bünde füllende Soziologie können wir kurz
! abfertigen, weil die Grenzboten schon in zwei Beleuchtungen
der neuerdings bei uns Mode gewordnen politischen Anthro¬
pologie das Wesentliche von dem gesagt haben, was sich
!über und gegen dergleichen Versuche sagen läßt. Gewiß, der
Geist entwickelt sich im und am Organischen, aber ist er fertig, so folgt er
dann seinen eignen Gesetzen. Gewiß, in seinen Lebensäußerungen, zu denen
die sozialen gehören, walten auch solche Gesetze, die ein Analogon von mathe¬
matischen, mechanischen und sonstigen physikalischen Gesetzen sind, und sofern
das soziale Leben als ein Gewebe von Leibern und Seckel?, von Natur und
Geist entsteht, unterliegt es nicht bloß einem Analogon von Naturgesetzen,
sondern diesen selbst; aber so interessant es sein mag, dem Walten dieser
Gesetze in der Gesellschaft nachzuspüren, Regeln für die Politik lassen sich
daraus gar nicht oder nur sehr im allgemeinen und darum ohne sonderlichen
Nutzen für die Praxis ableiten. Bei Spencer nimmt nun noch dazu das
Ethnologische einen sehr breiten Raum ein; für jede soziale Erscheinung, für
jedes soziale Verhältnis stellt er die seiner Meinung nach passenden Beispiele
aus der Geschichte der alten Griechen, der Jnkareiche, Chinas, der neuern
europäischen Völker und aus den Sitten und Bräuchen der Naturvölker neben¬
einander. Dieses Verfahren verdunkelt aber die für uns brennenden Fragen
mehr, als es sie aufhellt; denn wenn sich anch, was nicht der Fall ist, der
Unterschied zwischen unserm Leben und dem der Naturvölker auf die größere
Komplexität unsers Gesellschaftszustandes beschränkte, so würde schon darum
das Heranziehn nrznstüudlicher Sitten und Verhältnisse nutzlos für uns sein,
weil sich eben in ihnen das Komplexe, wofür wir Maßregeln brauchen, nicht
findet; es ist, wie wenn man in einer Abhandlung über die Pflege der Kopf¬
haut, der Augen und der Zähne auf die Qualle zurückgehn wollte, die weder
einen Kopf, noch Augen, uoch Zähne hat. Bei den Fidschiinsulanern können
nur uus keinen Rat holen für unsern Zolltarif, für ein preußisches Gesetz über
die Schulunterhaltungspflicht, für die Entscheidung der Frage, ob Konfessions¬
oder Simultanschule, für die Regelung der böhmischen Sprachenfrage und für
den österreichisch-ungarischen Ausgleich. Jedermann weiß heute, daß alle
sozialen Bildungen in einem Differcnziernngs- und Jntegrationsprozeß vor
sich gehn; aber das hilft uns für die Praxis nichts, und für die Theorie
nur insofern, als daraus die Unvernunft derer hervorgeht, die zugleich den
Kulturfortschritt und die Gleichmacherei betreibe,? wollen. Manches, wie die
Orgcmisations- und Wachstumscrschcinuugen, macht ja Spencer recht hübsch
klar und zeigt u. a. sehr gut auf biologische Weise, was wir alle längst aus
der Weltgeschichte und aus der politischen Praxis wissen, daß das Wachstum
der Staaten seine natürliche Grenze findet an der Organisation. Je größer
em sozialer Körper wird, desto fester muß, soll er nicht zerfallen, seine Orga¬
nisation werden. Die Festigkeit der Organisation aber hindert das weitere
Wachstum auf zweifache Weise; einmal verbraucht der organisierende Ver¬
waltungsapparat die lebendigen Kräfte und die Geldmittel, die dem rohem
Volke für Eroberungen zur Verfügung stehn, und zum andern ist die An- und
Eingliederung neuer Gebietsteile in ein Staatswesen desto schwieriger, je feiner
dieses organisiert, und je schärfer ausgeprägt sein Volkstum ist, je verschiedner
von den Vvllssplittern, die es verdauen soll.
In einer Beziehung aber ist Spencers Soziologie im höchsten Grade
interessant und lehrreich: sie läuft auf das reine Manchestertum hinaus. Da¬
mit tritt diese angeblich reine, streng positivistische und exakte Philosophie uicht
allein in Widerspruch zu andern Evolutionstheorien, die sich sämtlich rühmen,
ganz streng positivistisch und exakt und rein von Religion und Metaphysik zu
sein, sondern auch in Widerspruch mit sich selbst; von den drei konvergierenden
Tendenzen, die Spencers Manchestertum ausmachen: der Feindschaft gegen den
Militarismus, gegen den Staat und gegen den Sozialismus läßt sich zeigen,
daß sie nicht aus seinen mechanischen Prinzipien, sondern aus persönlichen
Antipathien und nationalen Vorurteilen hervorgehn. Die Unterscheidung des
unione t/xs vom ivclustiial t^xs drängt sich dein modernen Engländer auf
bei der Vergleichung seines Vaterlandes mit den europäischen Festlandsstaaten;
sie findet sich schon bei Adam Smith angedeutet; Buckle hat sie schärfer her¬
vorgehoben, Spencer endlich zum Angelpunkt seiner Staatsphilosophie gemacht.
Er identifiziert deu industriellen Typus mit der freiwilligen Kooperation und
Organisation, den militärischen mit der erzwnngnen. Die Zwangsorganisation,
wird ausgeführt, habe das Wohl des Ganzen zum unmittelbaren Ziele und
desordre das Wohl der Einzelnen nur mittelbar. Bei freiwilliger Kooperation
suche jeder Einzelne unmittelbar nur seinen eignen Vorteil, desordre aber da¬
durch mittelbar das Gemeinwohl. Im Anfange des Kulturlebens, im Kriege
aller gegen alle, sei die militärische Organisation notwendig, weil nur durch
Zucht und Zwang ein Zusammenwirken vieler zur Abwehr feindlicher Angriffe
möglich werde. In friedlichen Zeiten höre die Notwendigkeit der Verteidigung,
damit die Notwendigkeit des Zwangs auf, und werde darum der militärische
Typus vom industriellen abgelöst. Es wird ausdrücklich bemerkt, daß dieser
nicht etwa durch den Gewerbfleiß der Bürger charakterisiert werde; auch in
manchen Militärstaaten, wie im alten Ägypten, seien die Leute sehr fleißig
gewesen, sondern nur durch die Freiwilligkeit der Kooperation, dadurch, daß
gemeinsames Handeln nicht von oben erzwungen, sondern vertragsweise ver¬
einbart werde. Wo das Militär der mächtigste Stand im Staate sei, da drücke
dieser Stand auch der Verwaltung, ja allen sozialen Verhältnissen und Tätig¬
keiten sein Gepräge auf: der Militärstaat sei darum immer zugleich Polizeistaat
und suche auch das Gewerbe, deu Handel, das Bilduugswescn zwangsweise zu
regeln. Der heutigen hohen Kulturstufe zieme natürlich nur die freiwillige
Organisation, aber die vielen Kriege des neunzehnten Jahrhunderts hätten dein
Militär aufs neue Macht verliehen. Daraus seien alle die reaktionären Freiheits¬
beschränkungen zu erklären, die das deutsche Volk unter Bismarck zu erdulden
gehabt habe, und leider sei auch England von der Reaktion nicht verschont
geblieben; in sehr bedenklichem Grade habe es sich in den letzten Jahrzehnten
dem Militärtypus genähert.
Es würde unterhaltend und vielleicht nicht ganz nutzlos sein, in der Form
einer ausführlichen Analyse und Kritik der Staatslehre Spencers alle heutigen
brennenden Fragen durchzusprechen. Leider haben wir zu dein Buche, das
daraus werden würde, keine Zeit, und würden die Grenzboten dafür schwerlich
Papier genug übrig haben; wir müssen uns darum auf ein paar abgerissene
Bemerkungen beschränken. Zunächst widerspricht schon die Unterscheidung der
beideu Typen den Grundlagen des Systems. Die sozialen mung — er ge¬
braucht auch hier diesen Ausdruck — können auf Grund eines freiwilligen
Vertrags zusammen wirken, weil sie vernünftige Menschen sind; physikalische,
chemische und biologische nuits können das nicht; sie folgen allesamt blind und
ohne Widerstreben den: geheimnisvollen Zwange, der ihre Bewegungen in gesetz¬
mäßigen Bahnen erhält. Das also, was nach Spencer in der Gesellschaft das
Ziel der Entwicklung sein soll: freiwilliges Zusammenwirken mit Ausschluß
jedes Zwanges, kommt weder in der Physik, noch in der Chemie, noch in der
Biologie vor; folglich kann man aus diesen untern Daseinsgebicten die Gesetze
nicht ableiten, nach denen das Menschenleben zu ordnen ist. Die Zwangs¬
organisation von oben aber, durch eine Autorität, kommt zwar im biologischen
Gebiet vor, genauer gesagt: die ganze Biologie ist nichts als Darstellung
solcher Zwangsorganisntionen (ohne militärische Fürbuug natürlich), aber nicht
im physikalischen. Eine Hirnmolekel regiert die gewaltige Masse des Elefanten¬
leibes und seiner plumpen Glieder, und wie die Bewegungen des fertigen
Tierleibes vou einer Zentraleinheit ausgehn, so muß auch sein und des Pflanzen¬
leibes Aufbau, wie ja Spencer selbst zu glauben scheint, von gestaltenden nuits
geleitet worden sein. In der physikalischen Welt gibt es solche nicht. Die
Bewegung der Gestirne wird nicht von regierenden Molekeln, sondern durch
ihre Massenverhältnisse bestimmt. Die Sonne zieht die Planeten an, nicht
weil in ihr ein besonders gescheites Sanerstoffatvm oder eine Gruppe von
solchen steckte (ein Dämon wie die Alten, ein Engel wie die Scholastiker
glaubten), sondern weil sie siebenhundertmal so viel Masse hat wie alle Pla¬
neten zusammengenommen. Alle Atome, alle Molekeln derselben Art haben,
solange sie nicht Bestandteile eines Organismus werden, genau dasselbe Maß
anziehender und abstoßender Kraft, woraus allein schon folgt, daß aus den
Gesetzen der Mechanik nicht einmal die Biologie, geschweige denn die Soziologie
konstruiert werden kann. Dann aber sind die beiden Erscheinungsformen, die
uns als militärischer und industrieller Typus vorgestellt werden, gar keine
ausschließenden Gegensätze. Der Zwang zur Verteidigung ist auf allen Stufen
der uns bekannten historischen Entwicklung gleich groß geblieben. Nicht auf
höhern Kulturstufen, sondern nur auf entlegnen Inseln, in unzugänglichen
Wüstenoasen und Gebirgen, die es heute nicht mehr gibt (bald wird sich auch
Tibet des Schutzes nicht mehr erfreuen, den ihm bisher seine Lage auf dem
höchsten Hochlande der Erde gewährt hat), durften sich die Menschen der Sorge
der Verteidigung von Gut und Leben gegen ihre lieben Mitmenschen ein¬
schlagen. Was sich im Laufe der Zeiten ändert, das sind nur die Formen
des Krieges, des wirklichen Krieges; denn wir meinen nicht etwa, daß der
Mutige Krieg heute dem unblutigen Konkurrenzkampfe Platz mache, vielmehr
erzeugt dieser jenen aufs neue, wie die Erfahrung von Jahrhunderten beweist.
England, von dem die englischen Philosophen ihren inäustrial t^xo abstra¬
hieren, hat in den letzten zwei Jahrhunderten mehr Kriege geführt als die
gwßen Militärstaaten. Daß es sie mehr mit Geld und Schiffen als mit
Landtruppen geführt hat, und daß es seine Landtruppen niemals in der
Heimat, sondern nur jenseits des Meeres, meist in andern Erdteilen, ver¬
wenden durfte, daß es auch bei seiner iusularen Lage mit einem verhältnis¬
mäßig kleinen Landheer auskommt, hat in den Köpfen seiner Bewohner die
Einbildung erzeugt, der Jndustrialismus lind die freiwillige Organisation schlössen
den Militarismus aus.
Hätte Spencer nicht bloß fragmentarische Geschichtskenntnisse gehabt (die er
wie die ethnologischen aus den von Hilfsarbeitern gelieferten Exzerpten geschöpft
haben wird), so würde ihm gegenwärtig gewesen sein, wie sich in dem durch¬
aus kriegerischen Mittelalter nicht allein die Gewerbe zu hoher Blüte entwickelt
haben, sondern auch das, was seinen inäuLtri-et t^pe ausmacht, die freiwillige
Kooperation, so kräftig gewirkt hat wie zu irgend einer andern Zeit; denn die
bilden, Innungen, Brüderschaften, Kloster- und Ritterorden sind nichts andres
gewesen als freiwillig eingegaugue Vereinigungen zu gemeinsamem Wirken oder
An gegenseitiger Unterstützung. Daß die Verträge stärker und länger banden,
uls heutige Arbeitvcrtrüge zu binden pflegen, können wir nicht für eine Ent¬
stellung des Typs ansehen; Arbeitverträge wie die der heutigen Kellner, die
"uf vierzehntägige oder ans eintägige Kündigung abgeschlossen werden, er¬
scheinen uus so wenig ideal wie Ehen auf Zeit. Er würde auch aus der
beschichte seines Vaterlandes erfahren haben, daß es nie und nirgends einen
s" harten Zwang, eine so schmachvolle Sklaverei gegeben hat, wie sie in
England vor hundert Jahren unter dem Schein und Schirm des freien Ver¬
lags entstanden sind.
Mitunter macht den englischen Philosophen sein Vorurteil blind gegen
°le dicksten Tatsachen. So schreibt er Seite 339 des 3. Bandes: „Wo, wie
^u Deutschland und Frankreich, die Organisation vorherrschend militärisch ist,
da ist die Arbeit außer dem Hause, die den Frauen obliegt, schwer und an¬
haltend, während in England und Amerika, zwei weniger militärisch organi¬
sierten Staaten, diese Frauenarbeit leichter Art und der Quantität nach un¬
bedeutend ist." Bei deu Türken, einem echten Soldatenvolk, arbeiten die
Fwueu nicht allein niemals außer dem Hause, sondern sie arbeiten überhaupt
Alast und bringen in den Harems, in die man sie sperrt, die Zeit mit Müßig¬
gang zu. Von den europäischen Nationen sind die Spanier, ebenfalls eine
ritterliche Nation, in ihren Sitten den Orientalen am ähnlichsten, und auch
bei ihnen leben die Frauen sehr zurückgezogen. Dagegen ist es noch gar
nicht lange her, daß deutsche Ethnologen in England Weiber in Leder-
Hosen gesehen haben, die mit dem Schmiedehammer zuschlugen. In Nord¬
amerika haben bisher zwei Umstände den Frauen ihre günstige Stellung
gesichert. Daß mehr Männer als Frauen einwanderten, verlieh ihnen Selten¬
heitswert; und daß Laudübersluß die Lohnarbeit selten und teuer machte, über¬
hob die Frau des Lohnarbeiters der Notwendigkeit, zum Unterhalt der Familie
beizutragen. Sollte Spencer mit der outäoor-Arbeit nicht die Arbeit im
Freien, sondern die außerhalb der eignen Wohnung gemeint haben, dann wäre
sein Irrtum geradezu monströs, weil es weltbekannt ist, daß in England
einige Jahrzehnte hindurch Frauen und Kinder die Männer in der Erwerbs¬
arbeit, in der Fabrik und teilweise sogar in der Grube, abgelöst haben.
Sollten heute weniger englische Frauen in der Fabrik beschäftigt sein als
deutsche, worüber die Herren von der Sozialen Praxis Auskunft geben können
werden, so würden die Engländerinnen diese Erleichterung ihres Loses nicht
dem iiuiustrml t^xs zu verdanken haben, der vielmehr sie und die Kinder in
die unerhörteste Sklaverei hinabgestoßen hatte, sondern dein militare, ez^s;
denn auf diesen führt Spencer die Einmischung des Staates in die Privat¬
angelegenheiten der Bürger und namentlich die Arbeiterschutzgesetze zurück, die
er verabscheut.
Seine Entrüstung über die Einmischungssucht des Staates und seine Ab¬
neigung gegen den Sozialismus entspringen derselben Wurzel und streben
demselben Ziele zu: der Herstellung eines Zustandes, wo nichts mehr im
Staate von Autoritäts wegen und zwangsweise, sondern alles nur auf dem
Wege des Vertrags geordnet wird. Seine Widerlegung der sozialistischen und
kommunistischen Theorien, seine Verurteilung der Gesetzgeber, die ihnen mit
Arbeiterschutzgesctzen und Zwangsversicherung entgegenkommen, seine Kritik der
heutigen Vielregiererei und Gesetzmacherei ist so schneidig und doch so streng
wissenschaftlich, daß die mit der Sozialpolitik des Reichs unzufriednen deutschen
Brotherren nichts besseres tun konnten, als Spencers Strafpredigten in Flug-
blütterform verbreiten. Die Menschen der ärmern Klassen sind nach ihm selbst
schuld an ihrem Elend; dieses ist die natürliche Strafe für ihre Unfähigkeit
und ihre Laster und dient durch die Vernichtung der Minderwertigen dem
Ausleseprozesse, in den hemmend einzugreifen ein Frevel wider die Natur ist.
Die Leser kennen diese Weisheit aus Ammon und Alexander Tille. Nur
sind diese konsequenter als Spencer; denn sie stützen sich auf Weismanns Be¬
hauptung, daß erworbne Eigenschaften nicht vererbt werden. Spencer hat
diese Ansicht in der Biologie widerlegt, und in einem der Aufsätze, die er in
der Broschüre lug uiem vörsu8 tus 8eg.te zusammengefaßt hat, findet er
schlechte Gesetze und Institutionen besonders darum schädlich, weil sie ebenso
wie Klima und Boden die Natur der Menschen ändern, und weil solche
Änderungen durch Vererbung gefestigt werden. Er Hütte sich also fragen
müssen, ob der Staat nicht Minderwertige züchtet, wenn er eine unter dem
Schein des freiwilligen Vertrags verübte Arbeitercmsbeutuug zuläßt, die Ver-
küminerung des gegenwärtigen Geschlechts und eine schlechte Nachkommenschaft
zur Folge hat. Er Hütte auch aus der gar nicht alten Geschichte seines
Landes wissen müssen, daß es nicht „Humanitätsdusel" gewesen ist, was die
ersten Kinderschutzgesetze veranlaßt hat, sondern die Wahrnehmung, daß sich
von den Arbeitervierteln der Großstädte aus ansteckende Krankheiten verbrei¬
teten, und daß bei dem elenden körperlichen Zustande der arbeitenden Klassen
die Rekrutierung der Marine Schwierigkeiten machte. Er führt aus, daß für
die Gesellschaft der Erwachsenen ein Gesetz gilt, das dem für die Familie
geltenden entgegengesetzt ist. Wenn den Kindern die Gaben nach ihren
Leistungen zugemessen würden, müßten sie umkommen; ihnen werden, damit
as Geschlecht erhalten bleibe, die Gaben im umgekehrten Verhältnis zu ihren
Leistungen zugeteilt. Für die Erwachsenen dagegen gilt, daß jeder im geraden
^erlMnis zu seinen Leistungen die Mittel der Bedürfnisbefriedigung empfange,
^aß diese Forderung der Gerechtigkeit erfüllt werde, dafür sorge der freie
^erkehr. Der Sozialismus der Kommunisten und der Staatssozialismus der
putschen Negierung und des englischen Parlaments nun führe das für die
Binder geltende Gesetz in den Verkehr der Erwachsenen ein, beraube die Tüch¬
tigen ihres Lohns, beschenke die Untüchtigen und zündte damit Untüchtigkeit.
^anz richtig, wenn man dabei den radikalen Kommunismus im Auge hat.
Aber wie sehen denn die Wirkungen der radikalen — der scheinbar radikalen —
Verkehrsfreiheit aus?
Spencers Leistungen wiegen an Menge und Schwierigkeit der darauf
verwandten Arbeit wie an Wert die von mehreren Dutzend Ministern, Kattun-
labrikanten, Bankdirektoren und Verwaltungsräten auf. Sein Verkehr mit den
Verlegern und dem Publikum war nicht bloß scheinbar, sondern wirklich frei,
beruhte ganz allein auf beiderseits freiwillig abgeschlossenen oder abzuschließenden
Erträgen; kein Gesetz, keine Regierung, kein Parlament, keine Polizei hat in
lesen Verkehr, in diesen natürlichen Lauf der Dinge eingegriffen. Haben ihm
"un seine literarischen Arbeiten das Funfzigfache von einem Verwaltungsrat¬
gehalt eingetragen? Hätten nicht amerikanische Freunde mit einem Almosen
"ut einige Glücksfälle helfend eingegriffen, so wäre er verhungert und Hütte
sein Werk nicht vollenden können.
Wenn nun unsern Brotherren die angedeuteten Partien seiner Schriften
ganz ausgezeichnet behagen müssen, so werden ihnen dafür andre desto schlechter
gefallen. Denn diese Herren wollen nicht allein den sogenannten freien Kon¬
trakt mit den Arbeitern und sonst nichts von Staats wegen ini Arbeitverhültnis,
wollen auch Zölle, Kanüle, Zunftvorrechte, Militür, viel Polizei, Erziehung
er Jugend zur Gottes- und Herrenfurcht und noch vieles andre, was Spencer
weht weniger entschieden verdammt wie die arbeiterfreundlichen Gesetze. Auch
er Schulzwang ist ihm ein Greuel; es liegt ihm gar nichts daran, daß das
'"nit lesen lerne, da das Gesinde! doch nichts vernünftiges lese. Niemand soll
von der Obrigkeit zu irgend einer Leistung gezwungen werden. Die Obrigkeit
Me nur die Freiheitsphüren der einzelnen zu schützen und darf deshalb nicht
Handlungen, sondern nur Unterlassungen erzwingen, die Unterlassung von
Handlungen, wodurch der eine in die Freiheitsphüre des andern eingreift oder
sie ungebührlich einengt, Wogegen u. ni. einzuwenden wäre, daß es bei solcher
Beschränkung des Staats auf den Nachtwächterdienst in dichtbevölkerten Län¬
dern Millionen geben würde, die gar keine Freiheitsphärc hätten, weil sie
ihnen in solchem Gedränge nur der Staat erzwingen kann.s Sobald der
Staat etwas gebietet, was zwar viele wollen, viele andre aber nicht wollen,
vergewaltigt er diese andern. Er darf nur gebieten, was alle wollen. Nun
gibt es nur zweierlei, was alle wollen: die Verteidigung des Staats gegen
äußere Feinde und die Verteidigung des Lebens und Eigentums der Bürger
gegen die innern Feinde, die Verbrecher; darüber hinaus hat er nichts zu tun-
Spencers Philippiken gegen die Gesetzmacherei, gegen den Fetisch Staat, den
man sich mit der Macht, alle zu beglücken, ausgerüstet vorstelle, gegen die
naturwidriger Papierkonstitntionen, gegen den Parlamentarismus sind amüsant
und an sich wahr. Sklaverei, führt er unzähligemal aus, bleibt Sklaverei,
gleichviel, ob die Herrschaft von einem, von wenigen oder von einer Mehrheit
ausgeübt wird; nicht darauf kommt es an, wessen Geboten man folgt, sondern
ob man überhaupt einem andern als dem eignen Willen folgen muß. Ehedem
hatte der Liberalismus die Aufgabe, die Macht der Könige einzuschränken;
wenn wir statt des verkappten Toryismus, der sich heute Liberalismus nennt,
wieder wirklichen Liberalismus haben werden, so wird seine Aufgabe sein, die
Macht der Parlamente einzuschränken. Ganz unser Geschmack! Nur unter¬
scheiden wir uns dadurch von Spencer, daß wir die Unmöglichkeit einer nach
unserm persönlichen Geschmack eingerichteten Gesellschaftsordnung einsehen. Denn
wenn weder ein Monarch, noch eine Aristokratie, noch eine Parlamentsmehrheit
im Namen des dummen Demos regiert, so haben wir die Anarchie; diese aber
hat keinen Bestand, nicht zu reden davon, daß sie das Gegenteil von Ver¬
wirklichung der Freiheit ist — in einer dichtgedrängten Bevölkerung nämlich;
bei Hinterwäldlern kaun sie ganz gut bestehn; aber bei denen kann nun wieder
kein zehnbändiges System der Philosophie geschaffen werden.
Das schönste ist endlich, daß diese unserm Geschmack so zusagende Staats¬
lehre den Grundlehren der Speucerschen Philosophie ins Gesicht schlägt. Sie
erklärt das Allernatürlichste für Eingriff in den Naturlnuf. Wenn es eine
Erscheinung gibt, in der sich das Gesellschaftsleben als ein Naturprozeß dar¬
stellt, als wirkliche Fortsetzung, nicht als bloße Analogie der biologischen Ent¬
wicklung, so ist es das Zusammenwachsen der Einzelnen zu Berufsständen und
Jnteressentenverbänden, von denen die mächtigsten wiederum zur herrschenden
Aristokratie zusammenwachsen. Als Mikrokosmus für sich bestehn können nur
der unangreifbar Mächtige, der Philosoph (womit natürlich nicht der Philosophie¬
professor gemeint ist) und der Narr; gewöhnliche Menschen müssen, um sich
behaupten und ihre Zwecke verwirklichen zu können, sich mit ihren Mit¬
interessenten verbünden. Wo Spencer die Anfänge des Staates darstellt, zieht
er selbst das Zusammenwachsen von Nerven- und Muskelfasern zu Strängen,
Bündeln und ganzen Systemen zur Erklärung heran, und erst am Schluß der
Entwicklung, wo sein System den völligen Untergang der persönlichen Freiheit
gefordert haben würde, springt er, von seiner gesunden Natur genötigt, plötz¬
lich um, vergißt sein ganzes System und wird aus einem Soziologen ein
Anarchist. Nicht bloß bis zur organischen Bindung der zweibeinigen nuits
hätte ihn sein System führen müssen, sondern zur völligen Erstarrung, zu.n
Aufhören des geistigen Lebens als Vorbereitung der physischen Erstarrung,
auf die der Jntegrationsprozeß unsers Sternensystems lossteuert.'
Statt ihrerhat er sich als Ziel der sozialen Entwicklung eme andre
Integration ausgedacht: die Menschenseelen sollen sich durch sittliche Vervoll¬
kommnung so aneinander anpassen, daß ein jeder nur heulen eignen willen
erfüllt, indem er. 'seine Funktionen als Glied der Gesellschaft ausübend, den
Willen aller übrigen ausführt. Wir haben wiederholt gezeigt, daß dieser
Jdealzustand nichts andres ist als das christliche Himmelreich, daß man aber
Utopist sein muß. wenn man seine Verwirklichung auf Erden für möglich oder auch
nur für vorstellbar halten will. Indem nnn Spencer das, was er nach seinem
System für Fortschritt halten müßte: die immer stärkere Bindung der Einzelnen
durch immer festere Organisation, unter dem Einfluß seiner liberale.. Neigungen
für Rückschritt zu einem überwnndnen TYP erklärt, verwickelt er sich in einen
zweiten Widerspruch mit seinen Grundanschauungen. Diesen versucht er nun
dadurch zu heben. daß er auf das Gesetz der Rhythmik oder Per-odiMät aller
Bewegungen zurückgreift. Wir befänden uns eben jetzt in einer Rückschwii.gnug
°ber bei diesem 5.in- und Herschwingen komme die Welt und die Menschheit
d°es im ganzen vorwärts und ihrem Endziele näher. Den Rhythmus erkennen
wir an. verstehn ihn aber anders als Spencer und die frühern Verkündiger
der spiraliqen Fortbewegung (man könnte statt ihrer auch die Echternacher
Pwzession nennen), in der das Menschengeschlecht seiner Bestimmung cntgegen-
schwanken soll Wir sehen in den wechselnden sozialen Bindungen und
Lösungen eine Wiederholung des Prozesses, der die chemischen Elemente zu
organischen Gebilden vereinigt und sie wieder daraus löst. Soll das Pflanzen-,
soll das Tierreich bestehn bleiben, so müssen fortwährend die jetzt lebenden
Pflanzen und Tiere aufgelöst werden, damit die frei gewordnen Bestandteile
zum Aufbau neuer Pflanzen und Tiere verwandt werden können. Gleicher¬
weise müssen die sozialen Gebilde, soll das geistige Leben nicht ersterben, be¬
ständig umgebildet, aufgelöst und ihre lebendigen Bestandteile zu Neubauten
verwandt werden Dieser Wandel hat aber nicht die Herbeiführung eines
zukünftigen Jdealznstandes zum Zweck oder - da die streng kausale Welt¬
betrachtung keine Zwecke anerkennt - zum Ziel, sondern er Med um der
Judividuen jeder Generation willen statt, die nicht als vernünftige Menschen
l^en könnten, wenn sie über die Futtersuche hinaus nichts zu tun Hütten.
Ihre Haupttätigkeit besteht nun eben in der bewußten Arbeit am Aufbau.
Umbau und der Zersetzung ihrer Gesellschaftsorganismen, einer Arbeit, en -
sprechend der. die'von den Körperatomen und Massenteilchen unbewußt voll¬
zogen wird. Perioden nnn. in denen das Auflösen und Umbauen vorherrscht,
gewähren den kräftigen und energischen Individuen einen verhältnismäßig
weiten Spielraum und ein reichliches Maß von Freiheit; Zeiten des Auvbauev
der Neubildungen und der erlangten größten Festigkeit binden alle ehre Aus¬
nahme und legen gerade den kräftigsten Individuen drückende Fesseln an.
Jene werden liberale, diese konservative oder reaktionäre Perioden genannt.
In unsrer Zeit aber rühren Druck und Bindung weniger von der erreichten
hohen Stufe innerpolitischer Organisation her als von der Enge, in die sich
jeder dieser großen Organismen von seinen Konkurrenten auf der zu klein
gewordnen Erde gedrängt sieht; diese Einengung des Ganzen schnürt natürlich
auch die Glieder ein, und ans dem Zwange zur gewaltsamen Abwehr der
lieben Nachbarn oder wenigstens zur Drohung einer solchen erklärt sich jedem
nicht durch Vorurteil Verblendeten der von Spencer so tief beklagte Rückfall
der Kulturvölker in den militare. t^x«z, der übrigens gar kein Rückfall, sondern
nnr die Fortdauer eines niemals unterbrochner Zustandes ist.
Doch kehren wir zu unserm Philosophen zurück! Von dem Widerspruch,
in den ihn sein starker persönlicher Individualismus mit seiner Philosophie
verwickelt hatte, scheint ihm keine Ahnung aufgedämmert zu sein. Dagegen
hat er etwas andres bemerkt, was die Grundlagen seines Systems erschüttert,
und hat es mit anerkennenswerten Mute ausgesprochen. Im Vorwort zum
ersten Bande der Ethik erklärt er, wie es komme, daß er mit der Veröffent¬
lichung dieses als Schluß des ganzen Werkes gedachten Teils beginne, bevor
der zweite und dritte Band des vorhergehenden Teils, der Soziologie, er¬
schienen sei. Er fürchte bei seinem hohen Alter (er schreibt das 1892) und
bei seiner Kränklichkeit, das ganze Werk nicht vollenden zu können, und
darum habe es ihn gedrängt, wenigstens die Ethik zu vollenden, die ihm am
meisten am Herzen liege, weil jetzt, wo die religiöse Begründung der Pflichten
ihre Kraft verliere, leicht alles aus Rand und Band gehn könne, wenn nicht
eine weltliche, rein wissenschaftlich begründete Pflichtenlehre Ersatz biete. Im
Vorwort zum zweiten Bande aber gesteht er: bei aller Freude über die
Vollendung der Ethik fühle er sich einigermaßen niedergedrückt durch die Ein¬
sicht, daß dieser zweite (die spezielle Pflichtenlehre enthaltende) Band die Er¬
wartung nicht erfülle, die man von ihm hegen mußte. „Die Entwicklungs¬
lehre ist darin nicht in dem Grade Führerin gewesen, wie ich gehofft hatte.
Das meiste darin unterscheidet sich nicht von dem, was die gesunde sittliche
Empfindung im Verein mit kultivierter Erkenntniskraft längst festgestellt hatte.
Nur hier und da kommen entwicklungstheoretische Folgerungen vor, die teils
die landläufigen Lehren ergänzen, teils von ihnen abweichen." Er ist aber
schon im ersten Teile von der Anwendung der Entwicklungstheorie ziemlich
weit abgekommen, besonders in einer sehr guten Polemik gegen die Utilitäts-
moral in Benthamscher Fassung. Daß der sittliche Mensch als letztes Ziel
das Glück aller oder doch möglichst vieler anstreben müsse, erkennt er an;
aber er erklärt es ganz richtig für unmöglich, daß der Staat oder der Einzelne
dieses Ziel unmittelbar anstreben könne, schon aus dem Grunde, weil Glück,
xlsasurs, Seligkeit die relativsten und subjektivsten aller Dinge sind. (Es
handelt sich dabei nicht etwa bloß um die Interessenkonflikte, die bewirken,
daß wat dem einen sin Ul ist, dem andern sin Nachtigall ist, und daß man
gewöhnlich dem einen nicht helfen kann, ohne einen andern zu schädigen,
sondern darum, daß wirklich keiner erraten kann, was einen beliebigen andern
beglücken wird. In Mexiko, lasen wir dieser Tage in einer Reisebeschreibung,
verwendet der ärmste und nebenbei bemerkt im übrigen schmutzigste und zer-
lumpteste Kerl fünfzig Mark auf einen prunkvollen Hut, der so schwer und
unbequem ist, daß jeder vernünftige Mensch es für die ärgste Strafe halten
würde, ihn noch dazu bei der dortigen Hitze tragen zu müssen.) Darum soll
man sich nicht, lehrt Spencer, das eigne und das fremde Glück zum unmittel¬
baren Zweck setzen, sondern die Erfüllung der Pflichten der Gerechtigkeit und
er übrigen Moralvorschriften, von denen die Erfahrung lehrt, dnß sie im
^°^u und ganzen der Erhaltung des Menschengeschlechts dienen und sein
Wohlbefinden fördern.
Das hat sein Landsmann Buckle ohne den biologischen Umweg erkannt,
"pudern Gutes tun, zu ihrem Besten ihre eignen Wünsche opfern, unsern
, ochsten lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften
^ Zaume halten, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der Moral.
'e sind seit Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten und Bibelerklürungen der Moralisten und Theologen ihnen hinzu¬
fügen vermocht." Ebensowenig die Theorien der modernen Soziologen,
s ist sehr hübsch, zu sehen, wie Spencer mit den gelehrten und scharfsinnigen
^ttsuchungen seiner beiden Kapitel: Egoismus gegen Altruismus und
Altruismus gegen Egoismus bei Jesu Regel ankommt: Du sollst deinen
Webster lieben wie dich selbst. Die Moral, das hat Buckle richtig dargestellt,
^unveränderlich; was sich ändert, das ist die Erkenntnis und die davon
^influßte Anwendung der Moralregeln. Die spanischen Inquisitoren, sagt
^ sehr gut, sind Männer von der reinsten und uneigennützigsten Nächstenliebe
gewesen. Wenn wir heute unsre Nächstenliebe nicht mehr durch das Ver¬
kennen von Ketzern bekunden, so kommt das nicht von einer seitdem ein-
getretnen Steigerung der Liebe oder von einer Änderung der Moralgrund-
^se, sondern von der Änderung der Weltansicht. Diese Beeinflussung des
glichen Handelns durch die fortschreitende Erkenntnis ist eine der von uns
ster beleuchteten Ursache», die den Schein erzeugen, als sei die Moral ein
'es beständig wandelndes Produkt des biologischen Prozesses. Entwickelt
^'d freilich die moralische Anlage wie alle andern Anlagen im Lebens-
^esse, aber nicht anders wie der Pflanzenkeim, der auch ein gegebnes Un¬
abänderliches ist- Biologisch erklärt werden kann die Anlage, Handlungen
^ "es zu werten, so wenig wie ihr Träger, der Geist; wohl aber können
ewe vom biologischen Standpunkt aus betrachtet werden. Und bei solcher
, "rachtnngsweise wird man Spencer darin beistimmen, daß das Moralische
^ großen und ganzen das Lebenerhaltende und Lebenfördernde ist. Natur-
^) nur unter der Voraussetzung, daß nicht etwa die Pessimisten Recht haben,
. ' wenn Nichtsein besser wäre als das Leben, daraus die Verpflichtung
gen würde, das vorhandne Leben zu vernichten und neues nicht entstehn
^ lassen; das hebt Spencer ausdrücklich hervor. Wenn er jedoch den
^sketisnms in Bausch und Bogen verdammt — als den verschleiert fort-
"U'chernden Teufelsdienst der Wilden —, so schüttet er nicht allein das Kind
mit dem Bade aus, sondern verkennt auch Ursprung und Wesen der hellenischen
5"e der christlichen Askese.
Herbert Spencer hat sich von der großen Illusion moderner Möchtegern-
titaneu frei erhalten, daß der Mensch den Weltgrund und Weltkern, die Wurzel
alles Daseins und dessen Hervorgchn aus jenem blaßlegen und sichtbar machen
könne; aber er ist doch zwei kleinern Illusionen verfallen. Er glaubte an die
Möglichkeit, innerhalb der Oberflücheukenutuis, die allein dem Menschen zu¬
gänglich ist, die kausale Verknüpfung aller Erscheinungen nachweisen, und er
glaubte diesen Nachweis von unten herauf, aus der Atommechauik bis in die
höchsten Höhen des geistigen Lebens führen zu können. Beides ist unmöglich-
Die kausalen Verkettungen verlaufen innerhalb der verschiednen Gebiete eine
jede für sich. Ohne Zweifel hängen sie alle im tiefsten Grunde zusammen, aber
dieser Zusammenhang liegt jenseits der unserm Erkenntnisvermögen gezognen
Grenzen.
Noch durchsichtiger ist die zweite Illusion, Spencer hat sie eigentlich
durchschaut; sagt er doch selbst, das Geistige aus dem Materiellen ableiten,
heiße das verhältnismäßig Bekannte durch ein völlig Unbekanntes erklären
wollen. Anstatt jedoch die Illusion aufzugeben, modifiziert er sie, indem er
um die Unmöglichkeit der Ableitung mit der Annahme herumzukommen sucht,
daß Bewußtseiuserscheiunug oder Empfindung und Molekularbewegung die
Innen- und die Außenseite derselben das Gehirn bildenden unit.8 seien. Wir
teilen diese Annahme, weil man sich doch von den letzten Elementen eine Vor¬
stellung machen muß, und weil uns diese Vorstellung unter allen möglichen
als die annehmbarste erscheint. Aber zur Erklärung des Geisteslebens oder
auch nur zur Orientierung in den Gebiete»? der Logik, der Psychologie, der
Ethik, der Ästhetik, der Politik trägt jene Hypothese nicht das geringste bei,
denn alle diese Wissenschaften haben es nicht mit metaphysischen nuits oder
Monaden zu tuu, sondern mit menschlichen Personen, die etwas ganz andres
sind. Die modernen Naturwissenschaften haben nicht allein die Technik ge¬
schaffen und uns mit materiellen Gütern überschüttet, sondern auch unsern Geist
mit einer Fülle von Einsichten, Bildern, neuen Aufgaben bereichert, aber für
alle, die von ihnen die Lösung des Weltrütsels erwarteten, sind sie nichts als
eine großartige Fopperei gewesen. Es gilt von ihnen allen, was Camillo
Schneider in seiner Abhandlung über „Vitalismus" (im vorjährigen Augustheft
der Preußischen Jahrbücher) von der Biologie sagt: „Das Ergebnis aller bio¬
logischen Bestrebungen des neunzehnten Jahrhunderts ist ein großes Fiasko."
Sofern nämlich diese Bestrebungen auf die Erklärung des Lebens und der Ent¬
stehung der Arten gerichtet waren; als Hilfswissenschaft oder auch als Zusammen¬
fassung der Anatomie und der Physiologie hat die Biologie nicht Fiasko ge¬
macht, sondern Glänzendes geleistet.
Die Philosophie ist in keinem Sinne Welterklärung, weder in dein unsrer
kleinen Titanen noch in dem bescheidnen Sinne Herbert Spencers. Sie ist
Orientierung in der Welt und unternimmt Erklärungsversuche nur innerhalb
solcher Gebiete, in denen durchlaufende Kansnlreiheu und Kausalnetze sichtbar
sind, die sich aber, wie gesagt, immer jedes auf sein Gebiet beschränken. Ein
philosophisches System ist ein geistiger Gesichtskreis. Ein solcher Horizont
verdient philosophisches System genannt zu werden, wenn er alle Dinge deutlich
sichtbar macht, scharf voneinander abgrenzt und unter sich wohl geordnet zeigt-
Ein jeder hat nun zwar seinen eignen geistigen Horizont, aber die meisten haben
einen sehr kleinen und wirren; und wollen sie mehr und deutlicher seyen, so müssen
sie sich eine geistige Brille aufsetzen, die ihnen mehr und andres leistet als eine
von Glas, sie müssen die Wcltdurcl, das System eiues selbständigen Denkers
beschauen. Unter den Systemen aber sind die wertvollsten solche, die am besten
unsre praktischen Bedürfnisse befriedigen: unser Gemüt beruhigen und uns zum
Richtighandeln anleiten. Nach diesem Kriterium urteilend, können wir Spencers
System als Philosophie, als Lebensweisheit im höchsten Sinne des Worts nicht
anerkennen, wenn auch unendlich viel einzelne Weisheitslehren und naturwissen¬
schaftliche Erkenntnisse darin aufgehäuft liegen. Vor der Großartigkeit seines,
freilich von vornherein verfehlten Unternehmens, und vor der beharrlichen Energie
und dem Opfermut, mit dem er es in beinahe fünfzigjähriger Arbeit durchgeführt
hat, muß man Ehrfurcht hegen. Auch soll es ihm unvergessen bleiben, daß er
mit seiner kleinen Schrift über Erziehung, die in deutscher Übersetzung bei uns
viel gelesen wird, die Verbesserung des Erziehungs- und Unterrichtswesens nicht
wenig gefördert hat." Solchen, die das Büchlein noch nicht kennen, empfehlen
wir besonders das Studium der darin entwickelten Straftheorie. Deren Grund¬
satz lautet: Die Eltern sollen, als Diener der Natur, dafür sorgen, daß ihre
Kinder jederzeit die natürlichen Folgen ihrer Handlungen, die natürlichen Rück¬
wirkungen (Beulen und Verletzungen, Mühe des Aufräumens der umhergestreuten
Sachen, Wiedervergeltung jeder Unfreundlichkeit durch gleiches Benehmen der
Kameraden oder Dienstboten usw.) erfahren; diese natürlichen Strafen sollen sie
weder abwenden (lebens- und sehr gesundheitsgefährliche ausgenommen) noch
verschärfen oder durch willkürliche ersetzen
in vierten Akte des „Macbeth" hat Shakespeare in das ziemlich
wörtlich seiner Quelle, Holinsheds Geschichte Schottlands, ent¬
lehnte Gespräch zwischen Malcolm und Macduff mit feiner Kunst
eine selbständige Zutat eingefügt. Am Hofe Edwards des Be-
^!kenncrs finden sich die durch die Grausamkeit des schottischen
Thronräubcrs Bedrohten und Vertriebnen hilfesuchend zusammen. Vor dem
Palaste (nicht, wie die alte Bühnenanweisung will, in einem Zimmer) sucht
Macduff den Prinzen Malcolm auf, um ihn für das Werk der Befreiung,
als dessen Lohn der väterliche Thron winkt, zu gewinnen. Malcolm muß in
ven Flüchtling zunächst einen Späher Macbeths sehen, der ihn in eine Falle
locken will, und gibt seine wahre Gesinnung erst zu erkennen, als er sich über¬
zeugt hat, daß hier kein Verrat droht. Für ihr Unternehmen brauchen sie die
Hilfe des englischen Königs, auf dessen Erscheinen sie warten, und nach dem
sie den heraustretenden Arzt fragen.
Sagt, Doktor, kommt der König?
Malcolm: Doktor: Ja, Herr, denn eine Schar von Jammerseelen
Harrt seiner Heilung; ihre Krankheit trotzt
Dem klügsten Rat der Kunst; doch sein Berühren
(So heilge Kraft erschuf Gott seiner Hand)
Kuriere sie augenblicks.Ich dank euch, Doktor,
Malcolm: (Doktor ab.) Macduff: Welch Leiden meint er?
Malcolm: Wie mans nennt, das „Übel,"
Ein wundersames Werk des guten Königs,
Das oft ich ihn, seit ich in England- weile,
Verrichten sah. Wie ers von Gott erfleht,
Weiß er am besten; doch Schwerheimgesuchtc,
Geschwolln-Auswüchsige, jammervoll dem Auge,
Dran ärztlich Tun zu Spott wird, heilet er,
Um ihren Hals ein golden Münzlein hängend,
Mit heiligen Gebeten; und man sagt,
Er hinterläßt den künftgen Herrschern auch
Den heilenden Segen. Dieser seltnen Kunst
Eine er der Prophezeiung Himmelsgabe.
Besondre Segnung wallt um seinen Thron,
Lautrufend: er fand Gnade.
Es werden hier dem Typus des unechten, gemeinschädlichem Gewalt¬
herrschers Züge aus dem Wesen des rechtmäßigen, gottgeweihten, segenvollen
Königtums nach den Anschauungen der Zeit gegenüber gestellt. Der Glaube,
oder wie wir sagen müssen, Wahn, daß die rechtmäßigen Könige von England
und Frankreich die Gabe haben, gewisse Krankheiten wie Skrofeln — tus
Kind's soll oder auch nur eilf von genannt — und Kropf durch ihre Berührung
(touvKinZ, attouvQöinvnt,) zu heilen, wird nicht nur von der „geschichtlichen"
Überlieferung auf Edward den Bekenner zurückgeführt, sodaß hier keiner der
bei Shakespeare beliebten Anachronismen vorliegt, sondern war auch seinen
Zeitgenossen ganz vertraut. Amtlich ist er in Frankreich erst vor etwa achtzig
Jahren erloschen, und in England soll man ihn unter dem Landvolke nach
dem Zeugnis englischer Schriftsteller jetzt noch finden. Die kleine Szene zeigt
wieder einmal die vielgerühmte Shakespearische Treue in der Beobachtung der
Einzelheiten. Das Wunder der königlichen Berührung, dessen Bedeutung als
Beweismittel der Legitimität er erkannte, war zwar auch unter den Tudors
und den frühern Königshäusern geübt worden, aber unter keinem Geschlecht
ist soviel Wesens von dem <komnir rs^inen, der „königlichen Gabe," gemacht
worden wie unter den Stuarts. Holinshed erzählt an einer andern Stelle
(in der Geschichte Englands) von Edward dem Bekenner: „Er hatte den Geist
der Weissagung und auch die Gabe, Gebrechen und Krankheiten zu heilen.
Er pflegte denen zu helfen, die von dem Leiden geplagt wurden, das gemeinhin
das Königsübel genannt wird, und hinterließ diese Kraft gleichsam als ein
Erbstück seinen Nachfolgern, den Königen dieses Reichs." Da hier aber von
dem nanZing a Zolüen stamp ^vieil nolz? xrg^srs nichts gesagt wird, so ist es
wahrscheinlich, daß der Dichter das Buch Tookers, eines Doktors der Theo-
logie, über diesen Gegenstand vom Jahre 1597 wenigstens dem Inhalt nach
gekannt, auch wohl einmal einer Heilung beigewohnt hat.
Jakob der Erste, in dessen ersten Regierungsjahren, zwischen 1603 und
^610, die Tragödie entstand, ein Mann, der durch äußerliche Würde die
uwere Hohlheit seines Wesens verdecken mußte, der schon etwas Großes zu
tun vermeinte, wenn er (zum Teil freilich aus Geldnot) mit dem Baronettitel
kom höhern, erblichen Grad der Ritterwürde neu einführte, der vor ver¬
sammeltem Hofstaat den Ritterschlag zu erteilen liebte, ließ sogar fürstliche
Gaste der oft wiederholten Zeremonie, die so sehr geeignet schien, den ge¬
heimnisvollen Glanz des königlichen Namens zu erhöhen, beiwohnen. Es ge¬
Horte das damals zu den einem vornehmen Besuche gebotnen Schaustücken,
wie etwa heutzutage eine Truppenschau. In der Beschreibung der Reise des
lungen Prinzen Otto von Hessen-Kassel an den englischen Hof im Jahre 1611,
dle handschriftlich aus der Landesbibliothek in Kassel liegt, gibt der unbekannte
Erfasser, wahrscheinlich der Oberst Kaspar von Widmarckter, auch einen kurzen
Gericht über eine solche für die fremden Gäste neue Feierlichkeit. (Der junge
Landgraf war einer Einladung des ihm altersgleichen, zu früh verstorbnen
Sulzen Heinrich Friedrich von Wales gefolgt, mit dem er seit einigen Jahren
M vertraulichem Briefwechsel stand; daß der Hauptzweck der Reise eine Braut¬
werbung um „Früuleiu" Elisabeth, die nachmalige Pfälzerin und Winterkönigin,
gewesen, ist eine naheliegende Vermutung.) In dem Itiriöiariuin heißt es:
"Den 23. JMi, nämlichen Dienstags (auf welchem man alle Wochen predigt,
weil die Verräterei zu London, so mit Pulver unterm Parlament angelegt,
^n einem Dienstag geoffenbaret), haben Ihre Kön. Majestät unsern Gnädiger
Mrsten und Herrn um 9 Uhr morgens zur Predigt fordern lassen in K. M.
Kapellen. In die Predigt sind mitgegangen der Prinz und die Prinzessin,
^ach gehaltener Predigt haben I. K. M. 8 oder 9 Personen kurieret, welche
tu Kropf, struwÄm, sonst los ssoroilss (franz. Iss serouelles) gehabt. Also
^ König saß auf einem Stuhle, der Prinz stund zur rechten und hielt des
^°nigh Hut, dann stund die Prinzessin; dann rührte K. M. die Patienten,
^ vor ihm knieten, mit zwei Fingern an, redete etzliche Wort auf englisch,
Ungefähr: »Der König rührt dich an, Gott heile dich«, hing einem jeden
^nen Engelotten (die anssöl genannte Goldmünze im Werte von zehn Mark)
"n einem weißen seidnen Bande an den Hals; zwei Bischöfe mit langen,
weißen Chorröcken beteten knieend, und ward mit dem Gebete geschlossen,
.^t geschehen im Beisein des Bischofs von Coventri und Litzfeldt (Lichfield),
^ des von Glouster. Diese Krankheit soll unter den Spaniern gar ge¬
mein sein, die Leute zerschwellen sehr und können nicht leichtlich kurieret
werden."
Wir brauchen nicht zu untersuchen, wie weit dein großen Dramatiker das
Wunder der königlichen Berührung etwas Gegenständliches, Wirkliches war.
Shakespeare schaltete für seine Zwecke souverän mit dein menschlichen Wissen
und der menschlichen Erfahrung seiner Zeit, ja er nahm mit der Beobachtung
des Blutumlaufs und der Gravitation die Entdeckungen Harveys und Newtons
vorweg. Er hat, wie Goethe sagt, die ganze Menschennatur nach allen Rich¬
tungen hin und in allen Höhen und Tiefen erschöpft. Er hat, wie schon
A. W. Schlegel hervorhob, Seelenkrankheiten mit so uuwidersprechlicher und
allseitiger Wahrheit geschildert, daß die bedeutendsten Irrenärzte noch jetzt
daran, wie an wirklichen Fällen, ihre Beobachtung bereichern können, eine
Kunst, für die ein kürzlich in dieser Zeitschrift erschienener Aufsatz über Falstaff
ein schönes Beispiel liefert. Wir brauchen auch nicht danach zu. fragen, ob
er es mehr mit der Schule der Solidisten oder der Humoralisten unter den
damaligen Ärzten gehalten hat. Jedenfalls war dem umfassenden, „ozeanischen"
Geiste des Dichters mit den tausend Seelen — tbs tkon8ima-8ouiöä KIi-zK»
üvesrö, wie ihn Coleridge genannt hat —, worin sich, wie jede allgemein
menschliche Bestrebung, so alle Strömungen seiner Zeit widerspiegeln, der all¬
gemein verbreitete Glaube an die Wirksamkeit der Berührung etwas tatsächlich
Gegebnes. Da dieser Glaube noch lange nach seiner Zeit lebendig geblieben
ist und auch eine politische Rolle gespielt hat, so lohnt der Gegenstand wohl
eine ausführlichere Besprechung.
Die erste Schrift, die sich ausschließlich mit der Gabe der Heilung be¬
schäftigt, hat der schon genannte Geistliche und Doktor der Theologie William
Tooker 1597 in London unter dem Titel: ObMisirig. floh Donau Limatiorüs
herausgegeben. Er behandelt darin, wie schon der lange Untertitel angibt,
zunächst die Wnnderheilungen im allgemeinen, von der ehernen Schlange
(4. Mose 21 und 2. Kön. 18, 4) und den, Teiche Bethesda (Joh. 5) an bis
zu den Heiligen des Mittelalters, sodann die den englischen Königen verliehene
Gabe und insbesondre deren erfolgreiche Anwendung durch Elisabeth. Dieser
rsligiosissiing. xriuvsxs hat er sein Buch gewidmet. Seiner Meinung nach ist
die Gabe ein Licht, das auf den Leuchter gehört, das das Reich des Teufels
aber unter den Scheffel verstecken will. Der Gaben seien mancherlei. Diese
habe Gott allein den Vorfahren der Königin geschenkt, ein Beweis seiner
sonderlichen Liebe gegen das Inselreich und sein Königsgeschlecht. Es habe
viele berühmte Frauen gegeben, aber Elisabeth stehe höher, weil sie zugleich
Jungfrau, Christin und Königin sei. Alle christlichen Könige hätten etwas
Göttliches an sich, indem sich in ihren Herzen die Gottheit unmittelbar offen¬
bare und wirksam erweise.
In seinen geschichtlichen Betrachtungen weist Tooker die Behauptung des
Guido von Avignon (ans der Zeit des Papstes Clemens des Sechsten,
vierzehntes Jahrhundert) zurück, daß nur den Königen von Frankreich die
Heilkraft zukomme. Er will den Franzosen ihren Ruhm nicht bestreiten, beruft
sich aber auf das Zeugnis französischer und andrer Schriftsteller des Mitte -
"lters dafür, daß schon Edward der Bekenner Kropflcidende geheilt habe, so
auf den Franzosen Johannes Tagantius in seinem Lehrbuch der Chirurgie
und auf den Italiener Polydor von Urbino. Ja er ist geneigt, den Anfang
der Heilgabe für die britischen Könige bis ins zweite christliche Jahrhundert
hinaufzurücken, nach dem alten Spruche KöMum änAlms rsMnrn voi und
unter Berufung auf das Zeugnis Tertullians, daß Britannien Christo Untertan
sei- Er führt die Gabe eins deu ersten christlichen Britenkönig Lucas zurück;
die Franken seien erst unter Chlodovech Christen geworden. So ganz sicher
scheint ihm die Sache aber doch nicht zu sein, denn später führt er eine Stelle
aus Eilreds Vita KärmrcU vontessoris an. in der offenbar die erstmalige Ent¬
deckung der Wunderaabe berichtet werden soll, und wo es heißt: „Eine jung
Erheiratete Frau litt an skrofulösen Kropf und Unfruchtbarkeit. Die Mandeln
waren geschwollen und eiterten. Die widrige Krankheit flößte ihrem Manne
Abscheu ein. wahrend zugleich die Unfruchtbarkeit seine Zuneigung minderte.
S° lebte die junge Frau ihrem Manne verhaßt, ihren Eltern Last, von
Kunden und Verwandten wegen des Übeln Anblicks gemieden. Kein Arzt
k°'wee helfen, darum Tag und Nacht nichts als Tränen. Schmerz und Seufzen.
Da bat sie Gott, er möge sie von dem Schimpf erlösen oder von der Erde
'"denen. und sie erhielt im Traume den Befehl, zum Palaste zu gehn und
den Händen des Königs Rettung zu erwarten. Wenn diese sie wuschen.
berührten und mit dem Kreuze zeichneten, werd
Heuung empfangen. Vom Schlafe erwacht, eilt sie. ihres Zustandes und Ge-
^ echtes vergessend, zum Hofe, berichtet von dem Orakel und fleht um Hilfe,
^»n frommem Mitleid ergriffen, achtet der König des Ekels nicht, läßt Wasser
^ gen, wäscht die kranken Stellen, betastet und bekreuzt sie mit den Fingern.
. a Platzt die Haut, Eiter und Maden quellen hervor, Geschwulst und Schmerz
^ "en nach zur Verwunderung aller Anwesenden, die solche Heiligkeit unter
e>n Purpur, solche Wunderkraft in den zeptertragenden Händen sehen. Die
^a» verbleibt am Hofe unter Aufsicht der königlichen Beamten, bis ihre
funden vernarbt sind. Voll Dank gegen Gott und seinen Gesalbten nach
- use zurückgekehrt, gewinnt sie die Liebe ihres Gatten wieder, zumal da sie
H bald mit der ersehnten Leibesfrucht begnadet wird.")e sie durch sein Verdienst
s ^ sich König Edward also erst durch einen Anstoß von außen der
^^'unisvollen Kraft bewußt geworden, die er auf seine rechtmäßigen Nach-
ger vererbt hat. Daß auch die französischen Könige denselben Vorzug
bat^"' Tooker deshalb nicht von Chlodovech ableiten, sondern lieber
urch erklären, daß die englischen Könige früher einen große» Teil von
Frankreich beherrscht Hütten, und die Gabe auf ihre dortigen Nachfolger über-
^ gangen sei. Der Königin sei diese Gnadengabe mit der Salbung und
uung zuteil geworden iMssirm se SW<jhm sanancli Al-atmen et i'öArmncli
Gre
Aloris-in ipso ing-uZuratiovis mainvut» s-äspta sse). Die Römischen hätten
zugestehn müssen, daß die Exkommunikation Heinrichs des Achten durch
Clemens den Siebenten und Paul den Dritten und Elisabeths durch Pius
den Fünften keine Kraft gehabt habe, da diese „wahrhaft katholischen"
Fürsten nach wie vor viele Wnnderheilungen vollbracht hätten. Er selbst sei
einem Papisten begegnet, der erzählte, er sei, kürzlich aus dem Gefängnis ent¬
lassen, von der Königskrankheit befallen worden, habe vergebens viele Ärzte
gebraucht, dann sich der Königin zu Füßen geworfen und sei geheilt worden;
so habe er erfahren, daß der päpstliche Bann ohne Wirkung geblieben sei, und
Elisabeth in der Kraft Gottes herrsche, der nirgends für die Lüge zeuge. So¬
nach erkennt Tooker in der wunderbaren Gabe ein Siegel der Wahrheit, Vor¬
sehung und Güte der göttlichen Allmacht.
Über das Verfahren bei der Heilung berichtet Tooker ausführlich aus
eigner Anschauung, da er mehrere Jahre lang dabei war, wenn die Königin
berührte: „Die christliche Barmherzigkeit Ihrer Majestät kennt kein Ansehen
der Person. Ohne Unterschied des Geschlechts, Alters, Standes, ob arm ob
reich, alle haben Zutritt. Danach wird bei keinem gefragt, sondern, damit
kein Betrug geschehe, nur danach, ob er wirklich an der Königskrankheit leide
und vergeblich ärztliche Hilfe gesucht habe. Die Voruntersuchung liegt den
Leibärzten der Königin ob. Sie legen auf die kranken Stellen ein Pflaster,
das, ohne Heilwirkung, nur den häßlichen Anblick lindern soll; denn die
Heilung ruht nur in der Hand der Majestät. Sie kann an jedem Tage statt¬
finden, zumeist an den Sonn- und den hohen Festtagen, doch immer zur ge¬
wöhnlichen Gebetstunde. Es besteht dafür eine besondre Liturgie, die von den
königlichen Kaplänen besorgt wird. Die Handlung ist öffentlich, die Königin
erscheint mit großem Gefolge, indem »Menschen und Engel zuschauen«. Die
Kranken werden einzeln der Königin von den Ärzten vorgestellt und bitten
knieend um Hilfe. Währenddessen wird Markus 16, 14—18 vorgelesen. Dann
erfolgt die Berührung, worauf V. 19 und 20 verlesen werden. Danach erhebt
sich I. Majestät, hängt jedem einzeln wieder Vortretenden ein durchlochtes
Goldstück im Werte von zehn Schillingen, nicht als Amulete, sondern als
heiliges Almosen und sichtbares Pfand der Liebe, um den Hals und bekreuzt
die kranken Stellen unter Verlesung des Anfangs des Johannisevangeliums.
Nachdem die Königin knieend ein Gebet gesprochen und die Versammlung auf
den Knieen die Responsorien dazu aufgesagt hat, macht ein allgemeines Dank¬
gebet den Schluß." Tooker ist voll Lobes über die einfache Würde des Vor¬
gangs, den er über die Fußwaschung stellt, die alljährlich nur einmal, und
zwar an Gesunden, stattfinde und abgesehen vom Almosen kein dönolloiuw
enthalte, sondern nur ein Erweis der wahren Nachfolge Christi durch die eng¬
lischen Könige sei. Er gerät sogar in eine Art von Verzückung, und seine
Sprache nimmt einen lyrischen Schwung an, wenn er sich vorstellt, wie oft
er die königliche Jungfrau lind mächtige Herrscherin im Gebete knieend die
wunderschönen, schneeweißen Hände habe ausstrecken und die Elendesten ihrer
Untertanen nicht bloß mit den Fingerspitzen, sondern mit vollen, Druck be¬
rühren sehen, „am letzten Karfreitag allein 38." Er glaubt, die Urzeit der
Kirche sei mit ihrer ersten Liebe zurückgekehrt.
An dem Erfolge der Heilung ist »ach Tooker nicht zu zweifeln. Er hat
^'"t vielen Geheilten gesprochen, die er selbst hat berühren sehen, und die
anernd gesund geblieben sind. Einige davon führt er mit Namen an, so
äwei Personen aus seiner Vaterstadt Exeter. Von einer der bekannten Familie
-^urberville angehörenden Frau, die er in ihrer Krankheit gekannt hatte, er¬
zählt er, daß er sie zehn Jahre nach der Kur gesehen und diese bis dahin
^gehalten habe. Als er die Goldmünze zu sehen wünschte, gestand ihm die
Mau zögernd, daß sie diese in einer Notlage ausgegeben habe. Daraus zieht
^ den Schluß, daß die Münze mit der Heilung nichts zu tun habe, auch
erer Bestand nicht an den Besitz des Goldes geknüpft sei. Er kann nicht
e Namen aufzählen, aber unter Elisabeth allein seien viele Tausende geheilt
vordem. Dabei übe die Königin die Gnadengabe in aller Demut aus. Als
w ^ ^"^ ^ Nähe von Gloucester von der Menge bestürmt
ist ^ ' ^ fromm-bescheiden gesagt: „Der allmächtige und allgütige Gott
It der rechte Arzt für alle, an den wendet euch, der wird euch helfen." Auf
^ Frage, ob alle geheilt werden, gibt Tooker die Antwort: Gewiß alle, die
M durch Unglauben oder Kleinglauben der Wirkung einen Riegel vor¬
geben. Denn auch dieses Wunder wirkt nur aä MÄloKmm ticlsi, nach Maß-
M'e des Glaubens, gleich wie die Sakramente.
M... Während in Tooker der Theologe zu Worte kam, äußerte sich noch unter
^°dets auch ein Arzt, Dr. Clowes, über die königliche Gabe. Dieser schrieb
^ 2 eme Abhandlung über die „künstliche," d. h. die chirurgisch-medizinische
s..^ Kropf und Skrofeln, erklärte aber darin die Berührung für den
"Ersten Weg zur Heilung.
. Zwölf Jahre nach Tooker ließ der Leibarzt Heinrichs des Vierten von
Mankrcich und Kanzler der Akademie von Montpellier Andreas Laurentius
Amsterdam ein Buch erscheinen unter dem Titel: v6 mirabili struinas sg.-
et s> ^ 6aI1iÄ6 RsAidus Ltiri8tiitnis8lui8 äiviniws voucsssÄ libsr unus,
ein t^- ^"^^^ ng-tura, clillörentm, osusis, ouraticmö, ciuas ut arte se in-
dex^ ^ .^<it<zg,, libgr Mg,.. Der erste Teil behandelt also die wunderbare,
dar ^-^^ ^ natürliche, ärztliche Heilung. Der beigegebne Kupferstich stellt
^on ^ ^^«^ unter freiem Himmel auf dem Hof eines prächtigen Schlosses?
.^^'ehen, Ärzten und Trabanten umgeben, vor einer großen Menge an
our ^"^er Reihe knieenden Hilfesuchenden entlang geht und die Berührung
d s.^es^' indem der diensttuende Leibarzt jedesmal hinter dem Kranken stehend
u> ^ Huiterkopf unterstützt. Der Verfasser ist ein ausgesprochner Aristoteliker
' betont wiederholt das Kausalgesetz.
Die Sache ist nach ihm in Frankreich, Italien und Spanien allgemein
n ""t; er selber habe Tausende jeden Standes, Geschlechts, Alters und
. ^ i^er Jahreszeit heilen sehen. Dennoch sei der Gegenstand literarisch
es nicht behandelt worden und verdiene es seiner Meinung nach doch so
)r. Von Tvvkcrs Buch hat er gehört, es aber noch nicht auftreiben können.
. entnehmen aus dem Buche des Laurentius folgende Angaben: Gewohn-
leitsmäßig berührt der König an den vier großen Festen, Ostern, Pfingsten,
"erheiligen und Weihnachten, ist aber nicht an diese Zeiten gebunden. Die
'«eisten Patienten sind natürlich Franzosen, aber auch aus Deutschland, den
Niederlanden, Lothringen, Italien, Portugal, Spanien kommen sie; aus
Spanien suchen und finden jährlich mehr als 600 Heilung. Häufig hat
Laurentius mehr als 1500 auf eiumnl gezählt, besonders auf Pfingsten, sei
es, weil dann die Kranken die Wirksamkeit des heiligen Geistes für lebendiger
halten, oder weil die Jahreszeit alsdann für die Reisenden am günstigsten ist.
Bei den meisten hören die Schmerzen sofort auf, die Schwellungen lassen nach,
und über die Hälfte werden binnen ein paar Tagen vollständig gesund. Die
Berührungsformel lautet bei ihm: I^v Ro.v to touob.6, se Ilisu es Aus-me. Die
Gabe leitet er von der Taufe und Salbung Chlodovechs her und hält die
Zurückführung auf deu heiligen Markulf (von dem später die Rede sein wird)
für falsch, da dieser erst unter Childebert und Chlotar dem Zweiten gelebt
habe. Ludwig der Neunte. der Heilige, habe die Heilung nicht begonnen,
sondern nur das Zeichen des Kreuzes hinzugefügt. Laurentius hat davon
gehört, daß Tooker deu französischen Königen die Gabe abgesprochen habe
(was nicht richtig ist). Er behauptet dagegen, daß die französischen Könige
schon, ehe die Engländer Teile von Frankreich beherrschten, geheilt Hütten, ja
daß, ehe die Angelsachsen in Britannien Christen wurden, der allerchristlichste
König dies schon getan habe. Er geht also auf die altchristliche Zeit in Bri¬
tannien vor den Angelsachsen nicht ein. Die von Edward dem Bekenner be¬
richteten Heilungen sind nach ihm ein einzelner Fall, der bei diesem frommen,
später heilig gesprochnen Fürsten persönlich zu erklären sei. Falsch sei der
Glaube, daß siebente Söhne (ohne dazwischen geborne Mädchen) im franzö¬
sischen Gebiete nach drei- bis neuntägigen Fasten im Namen Gottes und des
heiligen Markulf die Skrofeln durch Berührung heilen könnten. Auch die
Barone d'Aulmont schrieben sich in den Erstgebornen der Familie diese Gabe
fälschlich zu. Nur die Könige von Frankreich Hütten eine solche durch die
erbliche Nachfolge und die heilige Salbung. Von Franz dem Ersten erzählt
Laurentius, daß er auch außerhalb Frankreichs während seiner Gefangenschaft
in Madrid viele Spanier geheilt habe.
In dem geschichtlichen Teil holt Laurentius etwas weiter aus als Tooker.
„Schon im Altertum ist die königliche Würde über alles Irdische erhaben und
ein Gegenstand der Ehrfurcht gewesen. Den Persern galt der König als ein
Abbild der Gottheit, die alles erhält; nach seinem Tode trat ein fünftägiger
Rechtsstillstand ein. Homer nennt die Ordner und Hirten der Völker zeus¬
entsprossen und läßt sie nnter dem besondern Schutze des Zeus Basileios
stehn." Aus Stellen der Sprüche Salomonis und der Psalmen soll bewiesen
werden, daß durch göttliches Vorrecht den Königen himmlische Kräfte bei¬
gelegt worden sind. Plutarch erzählt von Purrhus, dem König von Epirus,
daß er dnrch die Berührung mit dem großen Zeh, der nachher bei der Ver¬
brennung seines Leichnams unversehrt blieb, Milzsüchtige geheilt habe. Bei
Tacitus macht Vespasian einen Blinden sehend, indem er ihm in die Augen
spuckt, einem andern heilt er den kranken Arm — bei Sueton ist es ein
Schenkel — mit der Ferse. Älius Sparticmus berichtet im Leben des Hadrwn,
der nach Cassius Dio einen Wassersüchtigen heilte, ein erblindetes Weib habe
das Gesicht dadurch wieder erlangt, daß sie die Kniee des Kaisers küßte, und
um blinder alter Mann aus Pannonien sei nicht bloß selber sehend geworden,
sondern auch der Kaiser sei durch die Berührung von einem Fieber befreit
worden. Als Behelfe bei der Heilung dienten vielfach Ringe, in denen, wie
dem Ringe des Gyges, eine geheimnisvolle Kraft wohne» könne. Nach
^ssius Dio habe Agrippa mit einem von Augustus erhaltnen Ringe geheilt,
^e englischen Könige aus dem Hause Anjou heilten die Fallsucht durch die
Übergabe vou Ringen, die als Amulette getragen wurden. Durch das Zeichen
des Kreuzes heilten die Könige von Ungarn die Gelbsucht, die von Spanien
°" Besessenheit, heilte König Gnnthram nach Gregor von Tours das Wechsel¬
nder. Laurentius macht darauf aufmerksam, daß ähnlich wie die Heilkraft
Reh auch die Priesterwürde mit dem Königtum verbunden finde: „In der
^reif ist Arius zugleich der König der Menschen und der Priester des Apollo;
die Perserkönige waren auch Priester, gleichwie Melchisedek."
Beim Auskramen seiner antiquarischen Weisheit steigt jedoch dem könig-
lehen Leibarzt das Bedenken auf, ob er seinem Herrscher nicht etwas dadurch
an seiner Ehre abbreche. Deshalb schränkt er alsbald die Bedeutung der von
UM selber vorgebrachten Beispiele ein nach dem in der Apologetik der katho-
schen Heiligenlegenden und Reliquien üblichen Rezept: Jsts nicht wirklich,
>° ist es wenigstens geglaubt worden. Nach Laurentius liegt die Heil¬
est nicht in der Königswürde an sich, sonst müßten alle Könige sie haben;
e^ habe sie aber nicht einmal jeder christliche König, sondern nur der aller-
chnstlichste. „Sie haftet auch nicht am Blute, denn von Chlodovech bis anf
Heinrich den Vierten hat es verschiedne Geschlechter gegeben, und nichtregierende
^wzen haben die Kraft nicht. Auch nicht an den gesprochnen Worten,
Wenigstens nicht allein, denn (Zauber-) Worte haben keine wirkliche Kraft.
'Auge, besonders die Araber, behaupten, die Heilung komme zustande durch
^e Einbildungskraft. Dagegen ist zu sagen, daß die Einbildungskraft des
Mlerchristlichsten Königs, sei sie auch noch so stark, höchstens auf ihn selbst,
"'ehe auf den Körper eines fremden Menschen wirken könnte. Die eigne Ein-
l oung kann bei den skrofulösen mit ihrem verschiednen Temperament,
^ ter usw. nur von geringem Einfluß sein; denn wiewohl die Einbildungskraft,
le sich Vertrauen und Hoffnung äußert, die ärztliche Hilfe vielfach nntcr-
lNtzt, ist das doch nur bei akuten, nicht bei chronischen Krankheiten der Fall.
^le Änderung der Lebensweise und Nahrung könnte nur bei den Ausländern
'"^sprechen, ist aber ohne Bedeutung, denn die Spanier zum Beispiel werden
^ehe durch den Aufenthalt in Fraukreich geheilt, sondern erst durch die könig-
Berührung. Die Heilung kann nur aus übernatürlichen Ursachen kommen,
""d da gibt es zwei Möglichkeiten, erstens durch böse Geister, zweitens
durch Gott."
Der Verfasser gibt bei dieser Gelegenheit ein ganzes System der Dümono-
"gie und der dämonischen Heilungen (die nur Schein und Trug seien) zum
besten, dessen wissenschaftlicher Anstrich hente, wo das Zeitalter der Hexen-
^vzesse längst hinter uus liegt, wunderlich genug anmutet, handhabt einige
Wner aristotelischen Lieblingsbcgriffe, wie des ?r^ro,/ xtvoi)^ (den Urheber
er Bewegung), ursprüngliche und abgeleitete Ursachen (vausa prima und c^usa
sscmriäa) ganz wacker und hält es für ansgemcicht, das; bei dem allerchrist-
lichsten König nnr Gott selber durch unmittelbares Eingreifen die Heilung
bewirkt, die also ein wirkliches und echtes Wunder sei.
In England erlebte die Gabe der Heilung unter den Stuarts ihre Blüte¬
zeit, verfiel aber im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts unter dem Einflüsse
der zunehmenden Aufklärung und der innern politischen Wirren immer mehr
der Kritik. Daß und wie Jakob der Erste die Heilung übte, ist schon erwähnt
worden. Dieser schwachsinnige Fürst, der in einem Buche über Zauberei und
Hexenwcseu (vsömoiwIoN') den wüstesten Aberglauben vorgetragen hat, war
sicherlich selber von seiner Befähigung zu heilen überzeugt, die sich so gut in
die von dem Hause Stuart betonten Prärogative der königlichen Gewalt ein¬
gliederte. Aber auch bei den Schriftstellern seiner Zeit werden noch keine
zweifelnden Stimmen lant. Die Zahl der Bewerber wurde unter ihm so
groß, daß er durch einen Erlaß vom 25. März (dem damaligen Neujahrstnge)
1616 die Berührung im Sommer versagte. Es wird da derselbe Grund an¬
gesprochen haben wie bei dem Erlasse seines Enkels Karls des Zweiten vom
9. Januar 1683, der als Termine die Zeiten von Allerheiligen bis eine
Woche vor Weihnachten, von Neujahr bis zum 1. März und die stille Woche
festsetzte, weil die kühlere Hälfte des Jahres wegen der Gefahr der Ansteckung
bei dem so nahen Zutritt zu Seiner Majestät geheiligten Person (da hätte man
wirklich sagen können: Arzt, hilf dir selber!) die passendere Jahreszeit sei;
andre Zeiten werde Seine Majestät bestimmen. Daß sich diese Beschränkung
nicht durchführen ließ, zeigt eine Bekanntmachung in der ^oiuton (Z^feto,
datiert Whitehall, 8. Oktober 1684: „Se. Maj. hat allergnädigst geruht, die
Freitage für die Heilung zu bestimmen." Von Karl dem Ersten ist ein Er¬
laß bekannt, der, um den wiederholten Empfang des Goldes zu verhindern,
zum erstenmal bestimmt, daß niemand ohne Zeugnis seiner Heimatbehörde
kommen solle.
Die Zeiten des Bürgerkriegs und der Republik brachten es mit sich, daß
das Urteil über die „Gabe" von der politischen Stellung des Einzelnen ab¬
hängig wurde. Daß nach der Überzeugung der Rundköpfe, Puritaner und
Independenten, die sich nicht scheuten, Karl den Ersten aufs Schafott zu
bringen, die Berührung eines Königs nicht mehr Wirkung hatte als die eiues
gewöhnlichen Sterblichen, kann man sich denken. Um so eifriger hielten die
Royalisten den Glauben an die Wundergabe aufrecht. Während der Ver¬
bannung Karls des Zweiten mußte zunächst ein in das Blut des königlichen
Märtyrers getauchtes Taschentuch als Ersatz dienen. Später machte ein
schottischer Kaufmann, wie heutzutage die Unternehmer von Pilgerfahrten nach
Lourdes, ein Geschäft daraus, jedes Frühjahr Kranke von Schottland und
Newcastle nach Brüssel, Breda, Brügge, Antwerpen, oder wo sich der Ver¬
bannte gerade aufhielt, zu schaffen. Dieser soll auch Einheimische, so in
Brüssel zwei Töchter des Statthalters der spanischen Niederlande, Marquis
Carascenas, geheilt haben.
Aber auch die entschiednen Anhänger der Stuarts sind nun nicht mehr
alle unbedingte Verfechter der Gabe. Während Peter Hehlin (1600 bis 1662),
em Geschichtschreiber geistlichen Standes und loyalster Gesinnung, gutgläubig
Wunder als Tatsache anerkennt, äußert sein nicht minder royalistischer
Zeitgenosse Thomas Füller (1608 bis 1661) schon leise Zweifel, Bei der Art
"ches Schriftstellers, Ernst und Scherz zu mischen und sich keine Gelegenheit
Zum Anbringen eines geistreichen Witzes entgehn zu lassen, ist es freilich
nicht immer leicht, seine wahre Meinung zu erkennen. In seiner Kirchcn-
öeschichte von Britannien kommt er bei Edward dem Bekenner auf die Gabe
°er Heilung zu sprechen. Nach seiner Ansicht haben die Mönche das Leben
^ches Königs mit Wundergeschichten überpfeffert (ovsi'sxiokä), was ihre Be¬
ichte für den Gaumen eines gemäßigten Glaubens ungenießbar mache. Ein
^ erber Krüppel, der in seinen vielen Krankheiten ein ganzes Lazarett dar-
hellte, sodaß sein Anblick zarte Seelen durch Mitgefühl selbst zu Krüppeln
pansee, soll kühn genug von diesem Könige verlangt haben, ihn auf dem
gucken in die Kirche zu tragen, was der gütige Fürst auch getan habe mit
em Erfolge, daß ans dem Vierbein ein Zweibein wurde (<mi venit cjug.clrui)6L,
oevsÄt dipss). Für den Glanben, daß Edward auf seine Nachfolger, sofern
standhaft im christlichen Glauben blieben, die Gabe der Heilung vererbt
ycibe, denst sich Füller zwar darauf, daß man sich die Bestätigung mit den
^gnen Angen verschaffen könne, aber er kennt doch eine Anzahl Einwände
^ Zweifler und Gegner, die er nicht alle entschieden ablehnt. Er meint
wncilistisch, wenn ein armer Patient, der vielleicht niemals einen König
flehen habe, es erfahre, wie sich eine so demütige Hand eines so mächtigen
Niles herablasse, Wunden zu berühren, vor denen geringere Personen Augen
Nasen schlössen, so könne das wohl seine Lebensgeister soweit aufrütteln,
W sie der Natur bei der Überwindung der Krankheit erfolgreich zu Hilfe
amen. Deshalb bekämpft er die Ansicht des Deutschen Kaspar Peucer, daß
^ Kur uur auf Aberglauben beruhe und die dabei üblichen Zeremonien, wie
Gebrauch bestimmter Bibelabschnitte, die Austeilung der Münzen, der
^"zeszeichen, anstößig seien. Wenn einige die Kur zu einem richtigen
under machen und in der Hand des Königs den Finger Gottes erkennen,
^ die von seiner Hand geschlagne Wunde durch die Hand seines Stellver¬
treters heilt, so will er das nicht als unmöglich bestreiten. Der Himmel habe
16 die niedrigsten Lebewesen, die Pflanzen, ja leblose Stoffe wie Mineralien,
Mancherlei Heilkräften ausgestattet. Sollte es da uicht glaublich sein, daß
^istenmenschen, die edelsten der Körperwesen, Könige, die hervorragendsten
^ er Christenmenschen, Könige von Britannien, die Blüte aller christlichen
"°'"ge, besondre Vorrechte vor andern Wesen hätten? Nach seiner Ansicht
kann man aber in solchen Fragen den Unterschied zwischen Papisten und Pro¬
testanten erkennen. „Jene greifen in ihrer Wundersucht nach leeren Schatten,
und je weniger bei ihnen wirkliche Wunder geschehen, desto eifriger erfinden
sie welche. Diese dagegen sind bedenklich gegenüber allem, was ihnen als
wunderbar entgegentritt. Obgleich die protestantische Religion, weil fest und
sicher auf der Heiligen Schrift gegründet, zur Bekräftigung ihrer Wahrheit
keine Wunder nötig hat, mag man doch die Wunderkraft der Heilung als eine
von Gott frei gewährte Zugabe (overpws) dankbar hinnehmen."
Dem Franzosen Laurentius wirft Füller vor, sein Urteil sei durch seine
Stellung als königlicher Leibarzt in eine schiefe Richtung gelenkt worden. Die
Schmeichelei sei eine so ansteckende Krankheit, daß zuweilen sogar die besten
Doktoren der Medizin davon befallen würden. Er spreche den englischen
Fürsten die Heilung des „Übels" überhaupt ab und wolle sie mit dem Zu¬
geständnis abfinden, daß die von Gottfried Plantagenet abstammenden Könige
aus dem Hause Anjou die fallende Sucht durch geweihte Amulette geheilt
hätten, was doch längst außer Übung gekommen sei. Er selber stellt sich auf
den Standpunkt des Dr. Tooker, will also die Gabe der französischen Könige
nicht bestreiten, doch seien die englischen viel länger in deren Besitz.
Futters Zweideutigkeit zeigt sich auch in einer Anekdote, mit der er seinen
Exkurs schließt. Kurz vor dem Beginne des Bürgerkriegs wurde ein Geist¬
licher angeklagt und wäre bald in Ungelegenheiten gekommen wegen einer
Stelle in einer Predigt, daß die Bedrückung das eigentliche Königsübel sei
(elne, oppreLÄoQ ddo Kind's von); aber zur Verantwortung gezogen,
deutete er seine eignen Worte dahin, daß die Bedrückung nicht ein vom König
verschuldetes Übel, sondern eins sei, das nur er allein in diesem Lande
heilen könne. ^ - r^ (Schluß folgt)
i^^X^
^5MS).
S^MMit augenfälliger Deutlichkeit heben sich die Österreicher von der
allgemeinen deutschen Nationalliteratur ab. Mögen sie unter
sich wieder so verschieden sein wie nnr möglich — sie haben
doch alle etwas Gemeinsames, das sie stärker verbindet als die
Kinder irgend einer andern deutschen Landschaft. Vielleicht liegt
es wirklich daran, daß jedem Österreicher nach einem hübschen Worte Hermann
Bahrs noch der Spanier im Blute steckt. Vielleicht ist auch die hier besonders
enge Berührung mit den Slawen und Magyaren an dieser Besonderheit
schuld. Bei manchen deutschen Kritikern ist es leider Mode geworden, diesen
österreichischen Einschlag zu schelten — sehr mit Unrecht. Denn ihn missen
wollen, hieße auf einen Teil des Farbenreichtums verzichten, der gerade den
Stolz der deutschen Kunst ausmacht.
Ein Österreicher war auch der jüngst verstorbne Karl Emil Franzos. Er
ZU der Gruppe kräftig gestaltender Erzähler, der mich Frau von Ebner-
Ichenbach, Anzengrubcr, Kürnberger und Kompert, jeder in seiner Art, zuzu¬
zählen sind. Und wie Kompert ein böhmisch-jüdischer, wurde Franzos ein
ganzisch-jüdischer Heimatkünstler. Seine Kunst war ehrlich und verleugnete
'ne den starken didaktischen und pädagogischen Zweck, den er mit seinem Schaffen
ervand. So konnte ihm denn auch ein Roman so großen Stils gelingen,
^ „Ein Kampf ums Recht" — trotz manchen Längen ein sehr hoch anzu¬
sagendes Werk. Und es soll Franzos unvergessen sein, daß er schon in
^ner Zeit für Bismarck stritt, als dieser Mann jenseits der Habsburgischen
rwze verhaßt und verachtet war.
Ganz anders als die Dichter der ältern Generation Österreichs sehen die
^ gern ans. Auch sie haben neben dem allgemein Österreichischen noch etwas
ewndres, das sie verbindet — eine träumerische Weichheit und dabei ein ge¬
sellt ^"s^'" "ach „Impressionen," nach Eindrücken, die dann oft so unbe-
unt und ungreifbar wiedergegeben werden, wie etwa auf den Bildern des
Malers Klient. Die ^Novellen des Lyrikers" von Hugo Salus
^ . ' ^g"" Fleischet und Co.) sind dafür recht bezeichnend. Der begabte
'W liebenswerte, an Heyse und Falke geschulte Lyriker möchte gern Novellen
Leiden. Aber er kann es nicht. Die Stoffe verschwimmen ihm unter den
El> d " ^ Wiedergabe eines gut gesehenen und fein nacheinpfundnen
n rucks kommt Salus nicht hinaus. Er begleitet seinen Oheim, einen Land-
, ans Sterbebett eines Bauers. Und nun sieht er im hereinfallenden
amtliche die Hände des Arztes neben denen des Geistlichen sich um die
for^" ^"d>e des Kranken bewegen, der sich allen Bemühungen des Seel-
gers und des Mediziners schnell genug entzieht. Wie gesagt: ein mit
geschautes Bild, nicht mehr. Dann erhält der kleine Band ein Märchen:
sein ^ Kinder her? Zart und innig erzählt der Dichter, wie er
Und^ Empfängnis und Geburt darstellen würde — ohne den Storch
doch olMe einen unreinen Ton. — Damit ist aber erschöpft, was Salus
», 1/ '.^"n alles andre sind mühsam abgerungne Skizzen, dürftige Stimmnngs>
<Ze ("Der Handschuh") dürftig ausgeführte und darum unglaubhafte
^ Wilder. Man kann „Novellen des Lyrikers" schreiben, auch wenn man
nicht so nennt (Theodor Storm hat es gekonnt) — Salus aber kann
^ nicht.
Von Storm zu seinem Freunde und Bewundrer Heyse ist nur ein Schritt.
l,>» ^uis zu Heyse sind es deren mehr. Denn Heyse versteht sich freilich
?er aufs Novellenschreiber. Wieviel Bände hat er in seinem erstaunlich
s,. "senden Lebenswerk aneinander gereiht! Und wenn nicht alle diese Ge>
Achten so meisterhaft sind wie die von den „Unvcrgeßbaren Worten" und
^ von der „Himmlischen und irdischen Liebe" und die Terzinennovelle „Der
Mamander" — etwas ist in jeder dieser vielen, vielen Erzählungen, das
^^de und uns nicht losläßt. Und wenn es nichts andres wäre als dieser
^ni. in dem Paul Heyse schreibt! Wie Marmor, der innerlich belebt ist,
ndet er mich an, eine vollendete äußere Form, durch die man Blut und
finden fühlt. — In dem bisher letzten Bande: „Moralische Unmöglich-
^re
leiten und andre Novellen" (Stuttgart und Berlin, Cottci Nachf.) zeigen sich
solche Vorzüge wieder aufs glänzendste, am reinsten für mich in der dritten
Novelle „Zwei Witwen." Hier läßt der Dichter eine Frau selbst erzählen
— und solche Selbsterzählungcn gelingen Heyse fast immer meisterhaft —,
welches Verhängnis ihre vieljährige und in vielem überaus glückliche Ehe doch
nur zu einer halben Ehe machte, der die letzte Hingebung fehlen mußte. Das
wird in rührender Keuschheit aus einem schluchzenden Herzen heraus berichtet,
und es ist überaus fein, wie diese unerwartete Eröffnung eine andre, jüngere
Witwe über den fassungsloser Schmerz eines früh Verlornen, vollkommenem
Glücks hinwegbringen soll und auch hinwegbringt. Das letzte freilich läßt
Heyse uns mir ahnen, aber ich glaube es ihm, glaube es ihm, aufrichtig ge¬
sagt, mehr als den Schluß der Titelnovelle, ja als diese überhaupt. Denn
auch die gerade in diesem Stücke des Bandes bewährte, den Faden unmerklich
schürzende Kunst macht den Vorgang uicht wahrscheinlich, daß ein Verlobter
die Braut, seine erste, einzige, heiße Liebe, auf die Gefahr des Verlusts preis¬
gibt, wenn nicht ein zelotischer Geistlicher das auch dem künftigen Ehemann
zum Wohnsitz unwiderruflich bestimmte Gut der Schwiegereltern verläßt. Sogar
die grelle Zeichnung des Theologen als eines Tartüffes schlimmster Sorte,
sogar seine Feindschaft gegen den glücklichern Nebenbuhler um die Hand der
Gntstochter machen diese Zuspitzung des Konflikts nicht glaublicher. Und der
Schluß wird dann durch eine Nachlässigkeit des halbgebnndnen Bräutigams
bewirkt, der sich seiue Briefe auf eine Genesungsreise nicht nachschicken läßt.
Um so reiner tönen die beiden übrigen, leicht humoristisch gefärbten Erzählungen
„Er selbst" und „Ein Idealist" aus. In beiden fällt die Bescheidenheit an¬
genehm ans, mit der Heyse die eigne Person einführt, durchaus im Gegensatz
zu einigen Stücken bei Salus. Und ein Bild aus einem märkischen Dorfe sehe
ich immer noch deutlich vor mir: „Zwei Reihen unregelmäßig aufgebauter,
einstöckiger Häuser, deren kleine Fenster unter tief herabhängenden Strohdächern
wie niedriggestirnte Gesichter nnter schwerem Haarwuchs vorsahen."
Von allen Jüngern steht nach meinem Empfinden Georg Neicke Paul
Heyse am nächsten. Zunächst im Stil. Reicke schreibt von allen jüngern Er¬
zählern das beste Deutsch, und auch bei ihm wogt hinter der Ruhe des Aus¬
drucks die Lebhaftigkeit des Gefühls. Dann merkt man der umfassenden
Bildung beider den Nährboden einer klassisch-philologischen, historischen Er¬
ziehung an. Und endlich haben beide ein eignes, inniges Verhältnis zur
Malerei. Bei Heyse brauche ich die Belege nicht zu nennen, für Neicke ver¬
weise ich auf den Roman „Das grüne Huhn" und die Dramen „Freilicht"
und „Morgen." Beide sehen übrigens auch viel mehr wie Maler als wie
Dichter aus. Die Umgebung freilich, worin Georg Reickes, eines gebornen
Königsbergcrs, Roman „Im Spinnenwinkel" (Berlin, Schuster und Löffler)
spielt, hat nichts von künstlerischem Schwung, nichts von der genialischer oder
scheingenialischen Unbekümmertheit um die Regelung des äußern Daseins, wie
Heyses und auch Reickes Dichtungen sie manchesmal zu zeigen lieben. In
der sogar in ihren Ausschweifungen philiströsen Enge einer ostpreußischen
kleinen Stadt sitzt der junge Referendar Gerhart, innerlich halb noch Beamter,
mit einem regelmäßigen Lebenslauf vor sich, halb schon Schriftsteller, Künstler
mit einem Ausblick in eine unsichre, nnr von seinem werdenden Talent ge¬
tragne Zukunft. Und hier lernt er die Menschen kennen, die unter allen
andern ihm einzig innerlich zu schaffen machen: den Kreisphysikus und seine
Tochter Allee. Jener ist halb ein Idealist, der gegen ihm angetanes Unrecht
einen zähen Kampf führt, halb ein Egoist von starker Willens- und Anzrehnngs-
kwft, der andre und auch Gerhart für seine Sache arbeiten läßt, i.n ganzen
eine mit sich und der Menschheit längst zerfallne Natur. die sich dnrch daS
Morphium eines gewissen Cynismus und endlich durch das wirkliche Gift noch
aufrecht hält. Allee ist halb Egoistin, die mit Menschen, Männern und auch
""t Gerhard spielt, halb wirklich durch Feinfühligkeit und Fähigkeit zur Hin¬
gebung über ihre Umgebung hinauswächst. Und von dieser wieder gilt das
alte: '„Halb sind sie kalt, halb sind sie roh." - Ich gebrauche absichtlich das
Wörtchen halb so oft. weil Reicke seinen ganzen Roman aufbaut auf Schopen¬
hauers Wort von „diesem durchweg zweideutigen Leben." Und es ist der
besondre Wert dieses schönen Romans, daß er diese Zweideutigkeit alles
Lebendigen unaufdringlich durchführt. So unaufdringlich ist die Tendenz, daß
der Verfasser sie nnr an einer Stelle, ans Alicens Munde, einmal laut werde.,
laßt. Nichts ist konstruiert; mit Notwendigkeit rollen die Erlebnisse, äußerlich
recht einfacher Art. alles Licht nach innen werfend, vorüber. Über den schlich.
Gerhart, gereizt und enttäuscht, die kaum begonnene Laufbahn aufgibt,
"in ganz der Dichtung zu leben, läßt sich streiten. Er erscheint nicht
s völlig
notwendig gegeben, aber er tut anch dem Ganzen keinen Abbruch, dessen «prach
""t ihrer latenten Poesie unübertrefflich ist.e
Wollte mau Schulbeispiele für einen Roman der festen Führung und für
an'en des steuerlosen Hintreibens aufstellen. so könnte um, kann, etwas
besseres tun. als Reickes Buche deu ..Schmale., Weg zum Glück" vou Pan
Ernst entgegenhalten (Stuttgart und Leipzig. Deutsche Ncrlagscmstalt). Ernst
wollte den Roman des Förstersohnes Hans Werther schreiben und nennt diesen
selbst gelegentlich seinen „Helden." Solange Hans ans der väterlichen Zagere,
und in der kleinen Gymnasialstadt ist. geht alles gut. Die Erzählung tou-
öentriert sich um die Entwicklung des Knaben zum Jüngling; was etwa von
"»ßer hineingezogen wird, fügt sich organisch an. als müßte es so dastehn.
'iber in dem Augenblick, wo Hans Berlin erreicht, wo er studieren will, zer¬
ließt das Werk vor den. Leser, wie es dem Dichter zerflossen ist. Von den,
Wege, den Hans Werther selbst äußerlich und innerlich geht, hören wir sehr
'"eilig. J^e Person, die in noch so loser Beziehung in seinen Kreis tritt,
Zieht den Verfasser ab. und er gibt uns ihre Geschichte; ja er spinnt diese
Episoden so weit ans. daß sie nicht mehr Einstrenungen in den Verlan der
eigentlichen Handlung bleiben. Sie werden selbständig. Schicksal reiht sich an
Schicksal, und wenn 5aus sich wieder zeigt, muß man sich fragen, wie er
nberlM.pe „och hierher kommt. Dadurch wirkt der gen.ze Roman überaus
unruhig. Wie wenig das beabsichtigt ist. zeigt der Stil des Buches: es ist
i" einem kernhaften. stark an Luther »„klingenden Deutsch geschrieben. Die
Durchführung dieser Form ist im ersten Buch sehr gut gelungen. weil sie dn
natürlich wirkt. In den übrigen Abschnitten wirkt auch die Form nicht mehr
rein, weil der Autor doch nicht naiv genug ist, Vorgänge ans dem literarischen
und dem politischen Leben der letzten Jahrzehnte, aus der heutigen Gesell¬
schaft in dieser treuherzigen Manier zu schildern. Karl Fischer, der Verfasser
der Denkwürdigkeiten eines Arbeiters, schildert auch solche Dinge, wie sie bei
Ernst den Arbeitern geschehen. Aber ihm ist seine Ausdrucksweise natürlich
angewachsen, und sie muß um so natürlicher wirken, als Fischer immer mitten
in den Verhültuisseu steht, die er mit unbewußter Kunst wiedergibt. Ernst
zeigt von einem ganz andern, außen liegenden Standpunkt aus eine bunte
Menge verschiedner Ereignisse und Entwicklungen und kaun das Komplizierte
nicht immer in den gewählten Rahmen pressen. Einzelne seiner Erzählungen
sind freilich von außerordentlicher Schönheit, und man fühlt, daß Ernst ein
nicht gewöhnlich begabter Novellist sein muß. Aber an der Romanform ist er
abgeglitten, wie der Lyriker Salus an der Novelle. „Wenn wir das Leben
eines Menschen betrachten, soweit es betrachtenswert ist, also seine Bildung, so
kann es uns einmal so scheinen, als stelle es eine zusammenhanglose Reihe
von Zufällen dar; in andrer Geistesverfassung erblicken wir in demselben
Leben ganz deutlich eine planmüßige Führung durch Gott; und wiederum
mögen wir einen unbeirrbaren Trieb sehen, der diesen einzelnen durch die
wirre Umwelt mit untrüglicher Sicherheit vorwürtsstieß, daß er durch diese
Kraft sich das eine aneignete, das andre zur Seite ließ; endlich ist sogar eine
bewußte Gestaltung des Lebens durch diesen Willen des betreffenden Menschen
zu finden." Wenn Ernst selbst mit solcher Klarheit die Möglichkeiten zeichnet,
seines Helden „schmalen Weg zum Glück" zu betrachte», dürfte mau erwarten,
das so angeschlagne Thema auch durchgeführt zu finden. Schade, daß es
nicht geschehen ist!
Einen ganz andern Pfad als Ernst und doch auch einen ganz andern
als Reicke geht Ricarda Huch in ihrem neuen Roman „Bon den Königen und
der Krone" (5. Auflage, Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlagsanstalt). Die
Krone und das fürstliche Geschlecht ihrer Erzählung sind zuhause im ödesten
Teil eines furchtbaren Gebirges, das die Küsten des Adriatischen Meeres be¬
schattet. Die letzten Sprößlinge der längst entthronten Dynastie scheinen
zunächst in einem schier unentwirrbaren Knäuel buntester Ereignisse hängen zu
bleiben. Aber mit der „feinsten Künstlerhand," die Detlev von Liliencron
von jedem Künstler verlangt, leitet Ricarda Huch ihre Gestatte,: hiudurch-
Was wüst, ohne Zusammenhang, wie eine sinnlose Folge halbverständlicher
Träume erscheint, wächst sich aus zu schimmerndem, starkem Leben. Freilich
ist es ein Leben fern von dem Treiben und der Art alltäglicher Menschen,
Übergossen von einem Glänze vergangner Sage und einem Hauche verwester
Poesie. Diese Menschen leben unter den Verhältnissen der Gegenwart und
tragen doch unter dem Arbeitsrock und dem Frack spinnewebne Gewänder
einer fabelhaften Vorzeit. Sie sprechen solange wie ihre Umgebung, bis in
der Stunde der Erregung ihre andre Art, ihr Herrscherblut durchbricht. Als
die Witwe des letzten Königsenkels um Totenbette des Gatten sitzt, empfindet
sie erst voll dieses Merkwürdige; da sagt sie sich „hilflos staunend," daß der
Tote, „wie ein hoher Verfolgter, um in der Verborgenheit zu bleiben. Ver¬
stellung geübt und den Stern mif seiner Brust versteckt Hütte, und nun bei
seinem Tode das schwere Geheimnis offenbar würde." Und wie wundervoll
ist diese Fran dem Manne gegenübergestellt, sie. die keine Last des Gewehren
trägt, in veren Kerzen ..reingestimmte Frühlingsglocken läuten und unfehlbare
Sterne leuchtend auf- und uiedergehu." Ihr Lasko stirbt im Grunde nicht
durch die wahnsinnige Hand, die ihn mordet, sondern am Leben selbst; sie
wird selbst den Tod jubelnd grüßen als Eingang zu einem andern Leben,
denn wie sollte so ein quellendes Dasein enden?
Das Buch von Ricarda Huch ist nicht mir ein schönes Werk, eine rein
abgestimmte Dichtung schlechthin, sondern es ist mehr, nämlich das Buch einer
echten Frau. Was die Fran so sehr vor dem Manne auszeichnet, die
Genialität des Aufnehmens, ist darin und dann die recht weibliche Kunst,
vibrierende Stimmungen zu geben, zwischen den Dingen und deu Zeilen zu
lesen und lesen zu lassen. Das Ideal einer Dichterin kann ja nicht sein, so
schaffen, daß'ihr Werk wirkt wie das eines Mannes, sondern so. daß der
Genießende fühlt: das kommt von einer Frau, denn das kann kein Mann
so-' Wie selten dieser Eindruck wachgerufen wird, zeigen so recht zwei andre
Frauenbücher: Auf roter Erde" von Maw Schoepp (Berlin und Leipzig.
Schuster und Löffler) und „Narren" von Marie zur Megede (Berlin. F. Fontane
und Co.). Beide Bücher sind keineswegs schlecht, aber sie bieten schlechterdings
keine Handhabe für den. der etwas mehr von den darin auftretenden Leuten
"ut von den Verfasserinnen selbst erfahren mochte. Es sind glatt hingeschnebne
Romane, dem von Frau Schoepp läßt sich ein gewisser Humor, dem der Frau
von Megede ein mehr als oberflächliches Gefühl für die ostpreußische Natur
"achrühmen — beiden leider auch ein wenig Langeweile.
Vielleicht darf ich nach so vielen Lebenden am Schlüsse noch eines Toten
gedenken. Theodor Fontane ist nun fast sechs Jahre nicht mehr unter uns.
Eine auch nur annähernd vollständige Sammlung seiner Werke steht immer
«och aus, ist nicht einmal angekündigt. Tüchtige Männer sind, wie ich weiß,
am Werke uns mit Montanes Briefen und Kritiken zu beschenken. Mögen
sie oder andre uns auf eine ante Gesamtansgabe des Dichters nicht mehr
allzu lange warten lassen. Es wird heute in Dentschland viel zu we.ng von
ihm gesprochen. Und wir sollten doch dafür sorgen, daß nicht Fontanes
resignierter Altersrttckblick Recht behält:
Von hundert geliebt, von tausend mißacht't,
So hab ich meine Tage verbracht,
sondern sein hoffnnngsfroher Spruch:
Und ob verwehn die welken Blätter,
Die frischen schlingen sich zum Kranz.
le Schlacht bei Beauue La Rvlcmde, um 28. November 1870, hat
nach einem Ort ihren Namen bekommen, um den besonders heftig
gekämpft, und der von den braven Sechzehnern und Siebenundfünf-
zigern so ruhmvoll und siegreich verteidigt wurde. Sehr heftig wurde
aber auch auf dem linken Flügel des zehnten Armeekorps gegen die
überlegne Macht des achtzehnten französischen Korps gekämpst, jedoch all
wechselndem Glück. Namentlich drehte sich der Kampf stundenlang um Jurauville. Die
Sechsundfünfziger und die Einundneunziger eroberten es am Vormittag und machten
dabei viele Gefangne; sie hielten es auch lauge Zeit gegen den immer von neuem
andringenden weit überlegnen Feind, mußten es aber gegen Mittag doch endlich
räumen und sich nordwestlich auf Les Cvtelles und den dahinter liegenden
Mühlenberg zurückziehn. Das Bataillon, bei dem der Verfasser dieser Erinnerungen
als junger Reservelentnant stand, hielt das Dorf Les Cotelles besetzt, indem einige
Kompagnien gegen die nnn von Jurauville heftig andringenden Feinde kämpften
und sie durch energisches Feuern erfolgreich abwehrten, während meine Kompagnie
sich in und zwischen deu Gehöften des südlichen Dorfrandes zur Verteidigung ein¬
gerichtet hatte, um die Feinde abzuwehren, die rechts und links von der nach
Bellegarde führenden Chaussee standen. Ans dieser Südseite gab es aber lange
Zeit so gut wie gar nichts für uns zu tun, da der Feind nicht bis auf Schu߬
weite herankam, wir also keine Möglichkeit zu schießen hatten. Auch die Franzosen
schössen mit ihren Gewehren, die viel weiter, als die unsrigen, trugen, stundenlang
nur wenig und brachten uns keine Verluste bei.
Bald uach Mittag jedoch rückten sie plötzlich heftiger vor und feuerten stärker.
Infolgedessen wurde es auf unsrer Seite für ratsam gehalten, von der auf dem
schon erwähnten Mühlenberge aufgestellten Artillerie zwei Geschütze weiter vorzu¬
schicken, um den Feind kräftiger abzuwehren; denn von dem Mühlenberge konnte
das Gelände südlich von Les Cvtelles nicht genügend übersehen werden. Diese beiden
Geschütze fuhren aber durch die südliche Umfassung des Dorfes östlich von der
Chaussee leider zu weit vor, sodaß sie ihre Bestimmung nicht erfüllen konnten-
In dem Augenblick, wo abgeprotzt wurde, überschüttete der Feind die beiden Geschütze
mit einem solchen Hagel von Geschossen, daß von der Bespannung des einen
Geschützes zwei Pferde getötet, zwei verwundet und dazu ein Teil der Bedienungs¬
mannschaft kampfunfähig gemacht wurde. Da nun auch der Boden tief aufgeweicht
war, konnten die übrig gebliebneu Pferde dieses Geschütz nicht wegziehn, es mußte
stehn bleiben; nur durch die grüßte Tapferkeit der Leute war es möglich, die Protze
und das andre Geschütz zurückzubringen. Zwar wurden durch deu Adjutanten unsers
Bataillons sehr schnell frische Pferde vom Windmühlenberge herbeigeholt, freiwillige
Mannschaften erboten sich, den Versuch zu machen, mit diesen das Geschütz zurück¬
zuschaffen. Da jedoch der Feind noch näher herangerückt war und sehr heftig und
wirksam feuerte, verbot unser Bataillonskommandeur jeden Versuch zur Rettung des
Geschützes, daß nicht unnötige Verluste herbeigeführt würden. So blieb dieses Ge¬
schütz den Feinden preisgegeben und wurde dann die erste Ursache dazu, daß nachher
ich mit dem kleinern Teile meines Zuges in die Gefangenschaft der Feinde geriet.
Um die vierte Nachmittagsstunde begann nämlich der Feind das Dorf Les
Cvtelles auch von Westen zu umfassen, bedrohte es nunmehr also von drei Seiten!
^ Wurde das Signal zum Räumen des Dorfes und zum Rückzüge gegeben.
er uuter meiner Führung stehende Zug hatte zuletzt seine Stellungen zu verlassen
ni >r den Rückzug zu schließen. Dazu kamen wir aber nicht mehr in geordneter
, use. Ehe noch alle meine Leute die Gehöfte, in und zwischen denen sie standen,
verlassen und sich gesammelt hatten, als einige schon die Dorfstraße passiert hatten
^no sich auf dem von einer steinernen Mauer umgebnen Kirchhofe sammelten, andre
°es herbeiliefen, sahen wir ganz plötzlich und unerwartet eine Schar feindlicher
Geiers, etwa fünfzig Mann, heransprengen. Da ihr Herannahen erst bemerkt
, ' sie nur noch dreißig bis vierzig Schritte von uns entfernt waren, konnte
^) weht einmal versuchen, meine Leute zusammenzurufen; ja, ehe sich auch mir kleine
Zausen schießen und ehe einzelne Leute feuern konnten, waren die Reiter und ihren
"gelegten Lanzen schon »litten zwischen uns, ritten einzelne nieder, bewegten ihre
^cnizen drohend vor unsern Gesichtern hin und her und machten jeden Widerstand
""Möglich.
Kükkommandierende Offizier, ein Eskndronchef, sprengte mit geschwungnem
avei auf mich indem er wiederholt rief: 0n Kinn Ihr ilei (Amor? Doch
U d"res das Furchtbare und Entsetzliche, das in dieser Minute so plötzlich
us^ meinen Zug hereingebrochen war, so aufgeregt und außer mir, daß
zunächst gnx nicht klar erfassen konnte, was vorging, und nicht verstand, was
^uef und wollte. Nur so viel wurde mir klar, daß ich nicht imstande war, mich
n ? 6" setzen oder der Gewalt der Reiter, in der ich war, zu entfliehn; so
In» un dem Offizier meinen Degen überreichen und mich gefangen nehmen
in!>^"' Umstände, daß zugleich einige Granaten in die Reiterschar einschlugen
w Verwirrung in ihr hervorriefen, ist es zuzuschreiben, daß es, wie ich spater
fuhr, dem größern Teil meiner Mannschaften gelang, zu entkommen und das
kia^ erreichen, das inzwischen seinen Rückzug aus Les Cotclles ausgeführt
Sö„^' °hre von dieseni letzten Vorgange etwas zu bemerken. Etwa die kleinere
N?" des Zuges wurde und mir gefangen genommen Ein Unteroffizier und ein
sind am andern Tage, als die Unsernefnnden worden; die Braven hatten^ "um sind am andern Tage, als die Unsern Les Cotelles wieder besetzten, von
s'l ^ Lanzenstichen durchbohrt als Leichen gefunden worden; die Braven hatt
) also zur Wehr gesetzt nud ihr vergebliches Bemühen mit dem Tode bezahlt.
da? bedanken oder die Empfindungen, die mich in diesen Augenblicken — denn
>v^ ^ nor natürlich das Werk einer Minute — erfüllten und durchwogten,
^1 .Zugehen oder zu schildern, bin ich nicht fähig. Gewiß erfaßte mich
Feld d^ Todesgefahr, die so unmittelbar noch nie im Verlaufe des
so , u^es herangetreten war; ich war entsetzt über die Lage, in die ich
wu> /p,' geraten war, mir graute vor dem, was mir bevorstand. Dazu kam anch
w> ?irger, Zorn u. a. Wer nicht in gleicher oder ähnlicher Lage gewesen ist,
j, sich wohl schwerlich ganz hineindenken können; und mir selbst bebt noch jetzt
djx wieder dos Herz, so oft ich an diese Stunde denke, und mir zittert noch
Hand, wenn ich von ihr schreibe.
sei,l ^ebst einigen Leuten wurde ich von mehreren Reitern genötigt, mit ihnen
d^unigst das Dorf zu verlassen und in schnellem Marsche südwärts zu eilen. Es
fra uicht lange, da kam der Eskadronchef wieder an mich herumgeritten und
? ^ von neuem nach den xiöczW ü<z <za.no», und nun konnte ich ans seinen Worten
Gess- ' d"ß er mit seinen Reitern ausgesandt war, das stehen gelassene preußische
^ut-in holen; er war aber zu weit vorgeritten und hatte infolgedessen ganz
ruhte getroffen und gefangen genommen. Ob er dann noch Reiter nach der
yttgen Stelle gesandt hat, weiß ich nicht mehr,
da; versuchte sich mit mir zu unterhalten und ließ auch, obwohl ich wenig
ben> l ^"^lst war, nicht ab, mich zu fragen. Seine erste Frage, woher ich stamme,
, Uwortete ich ganz kurz: -Ms ?i->iWi<zu; als er dann erklärte, daß er das
Dents s^^''er Uniform sehe, aber gern wissen wolle, welchem Teile Preußens oder
er l !?^"dö ich entstamme, erwiderte ich noch ebenso kurz: ä'Hallovrs. Da wurde
eohaft und rief mir mit großem Eifer zu: ^.Il, monsisur, iüors vous n'StW
?russi<zu! und er ließ sich auch durch meine barsche Antwort: Nais oui, je suis
?M8AM, nicht stören, des Langem auf mich einzureden. So weit ich ihn versteh»
konnte, sprach er seine Verwunderung darüber aus, daß ich mich „Preuße" neunte
und mich uicht gleich als Hannoveraner zu erkennen gegeben hätte, da ich als
solcher doch auf Sympathien bei den Franzosen rechnen könnte. Ganz vergeblich
war es, daß ich ihm bestimmt und kurz erwiderte, ich sei nichts andres und wolle
nichts weiter sein, als Preuße und preußischer Offizier, und wünsche, nur als solcher
von ihm angesehen und behandelt zu werden. Er ließ nicht nach, mir Vorstellungen
zu machen, die dahin gingen, daß wir Hannoveraner, die wir im preußischen Heere
am Kriege gegen Frankreich teilnahmen, doch sehr undankbar seien gegen dieses
Land, das unsre aus der Heimat entflohenen Landsleute, die sich der preußischen
Herrschaft entzogen hätten, so freundlich aufgenommen habe; ich solle mich also
freuen, jetzt in französische Gefangenschaft geraten zu sein nsiv. Ich war ja viel
zu aufgeregt, war damals auch uoch zu ungewandt im Sprechen des Französischen,
als daß ich ihm hatte ordentlich antworten können; doch bemühte ich mich, ihm
ganz höflich aber auch nachdrücklich zu sage», daß ich mit den landesflüchtigen
Hannoveranern durchaus nichts gemein hätte und auch gar nichts zu tun haben
»volle, daß ich vielmehr preußischer Soldat und Offizier sei und meine Pflicht als
solcher kennte. Es kam mir vor, als wenn ihm das nicht so ganz verständlich sei;
er gab es bald auf, mich andern Sinnes zu machen, bot mir aber sehr freundlich
seine Hilfe an, wenn ich meinen Angehörigen eine Mitteilung über mich und mein
Geschick senden wolle. Ich hätte natürlich von diesem Anerbieten sehr gern Gebrauch
gemacht, aber es wurde mir nachher dazu leider keine Gelegenheit mehr gegeben.
Bei unserm Marsche konnten wir rechts und links die Feinde in ihren
Stellungen und im Vormarsch sehen, und wir mußten über die große Anzahl der
Truppen staunen, die uus gegenüber im Kampfe gewesen waren, über ihre gute
Kleidung und Ausrüstung, über die verschiednen Waffengattungen usw. Manche
eilten nahe an den Weg heran, um uus anzugaffen und sich über unsern Anblick
zu freuen; sie hatten doch Wohl fast alle noch keinen deutschen Soldaten in solcher
Nähe gesehen. Sie blieben dabei aber im ganzen ruhig und enthielten sich aller
Zurufe gegen uns. Unterwegs kam uns auch der Regimentskommandeur der Lanciers
entgegengeritten und ließ sich von dem Eskadronchef Meldung machen. Dabei erhielt
er offenbar auch über mich einen Bericht, denn er kam bald an mich herangeritten
und begann sich mit mir zu unterhalten. Da er aber sehr rasch und deshalb für
mich undeutlich sprach, konnte ich nicht viel von dem verstehn, was er sagte; doch
kam es mir vor, als ob auch er mir Vorwürfe machte, daß ich als Hannoveraner
gegen Frankreich angekämpft hätte und mich nun nicht freute, durch meine Ge¬
fangennahme dem überhoben zu sein. Aber bald gab er das auf, da er wohl
aus meinen Antworten merkte, daß ich für solche Vorstellungen durchaus uicht
empfänglich war.
Als schon völlige Dunkelheit eingetreten war, erreichten wir nach einem Marsche
von mehr als einer Stunde das Dorf Laton. Hier schwenkten plötzlich die Lanciers
von uns ab, und ich wurde nebst einem Mann einigen LiMsck'ar'tuo» übergebe»,
die uns zu einem etwas abseits stehenden Hause führten; wo die übrigen Leute
blieben, die mit mir bis hierher gekommen waren, erfuhr ich zunächst nicht. In
dem Hause, zu dem man uns beide brachte, war der untere Raum ein Wachtlokal,
während oben ein Felotelegraphenburcan lag. Vor einem Kamin, worin ein Feuer
munter brannte, saßen einige (ZsuZÜ'^rmW, die uns mit Staunen und Jubel
empfingen. Zunächst gönnten sie uns anch einen Platz am Kamin, damit wir uns
wärmten, wiesen uns jedoch bald in ein anstoßendes dunkles und dumpfes Gemach,
wo eine große Pritsche mit etwas Stroh stand. Da konnten wir uns denn hinlegen
und uns ungestört den Gedanken überlassen, die nun in schrecklicher Hast und
wirrem Durcheinander heranstürmten. Dem Körper, der seit dem frühen Morgen
nicht zum Sitzen oder Ruhen gekommen war, tat das Liegen natürlich sehr wohl,
der Geist aber konnte sich nun erst recht nicht beruhigen, arbeitete jetzt vielmehr
der nußern Stille nur um so heftiger. Nach einiger Zeit löste sich die große
Regung meiner Nerven in einem starken Träneustrom auf, doch auch der brachte
Mre Beruhigung. Und das ist ja auch ganz natürlich. Das Gefühl, kriegsgcfaugen
SU kein, ist ohne Zweifel für jeden Soldaten schrecklich, ganz besonders aber wohl
>ur einen jungen Offizier, bei dem zu allen andern Empfindungen auch noch quälende
ednnkeu kommen, wodurch er etwa sein und der Seinen Los verschuldet habe,
er es vielleicht hätte vermeiden können und dergleichen.
Wir beide hatten mindestens eine Stunde so still gelegen, jeder für sich mit
Mum Sorgen und Gedanken beschäftigt, da wurde Plötzlich die Tür unsers Verließes
geöffnet und ein Unteroffizier meines Zuges zu uns gebracht. Das erregte natürlich
..^ern ganzen Schmerz von neuem, wenngleich es uus nun auch Anlaß gab, uns
er die letzten Stunden und das, was wir erlebt und durchgemacht hatten, aus-
suivrecheu. Freilich konnte solches Aussprechen uns keinen Trost bringen, es diente
Mr Beruhigung der Nerven; und im Austausch der Meinungen fand all-
wyluh auch Gedanke Raum, daß auch dieses Unglück eine Fügung des
^mächtigen Gottes sei, in die wir uns schicken müßten. Noch gar nicht kam uns
diesen Stunden die Sorge, was nun aus uns werden mochte; wohl aber
ge achte,, wir mit Schmerz an die Kameraden, die mit uns gefangen waren, dachten
ut Sehnsucht an die Kompagnie und das Bataillon, von denen wir so jäh los¬
gerissen waren. Allmählich machte aber auch der Körper sein Recht geltend, und
« die Kew8ä'urivss uus etwas zu essen anboten, schlugen wir das nicht aus,
Indern nahmen einige Speise zu uus. Bis dahin hatten sich diese Aönscl'in'inos
M g^uz angemessen, ja freundlich gegen uns benommen; als wir aber spät am
l ./'^ einmal hinauszugehn wünschten, wollten sie uns nur gefesselt ins Freie gehn
. "en. Natürlich weigerten wir uns dessen zunächst ganz entschieden, und ich erklärte
^neu bestimmt, sie hätten kein Recht, einen Offizier zu binden. Auch einer der
^egraphenbeamten, der zufällig dabei war, suchte es ihnen nuszuredeu und sie
is das Angehörige ihres Ansinnens hinzuweisen, doch alles das nützte gar nichts,
^ Grieser sich beharrlich auf ihre angebliche Instruktion, und so blieb mir schließlich
ches übrig, als mich darein zu finden und mir eine Handschelle gefallen zu lassen,
in Nacht ging in sehr unruhigem Schlaf und mit vielen wirren Träumen
^ ^ >ehr langsam hin, und ebenso schlichen die Stunden des folgenden Tages, wie
uns vorkam, viel langsamer als sonst, ohne eine Veränderung unsers Schicksals
sah Wir lagen bald auf unsrer Pritsche, bald saßen wir am Kamin und
em?" Offiziere oder Ordonnanzen zum Telegraphenbureau gehn und sich wieder
A> x "en. Selbstverständlich waren wir Gefangnen für alle ein Gegenstand der
sMerksmnkeit, doch kam fast gar nichts Besondres und Erwähnenswertes dabei
^ ^ Ein General jedoch, der auch den Raum passierte, um zum Telegraphen-
^lreau zu geh,,, redete mich, als wir aufgestanden waren, freundlich und teilnehmend
/ragte nach dem Truppenteile, dem wir angehörten, usw. VouK s,v«zö uns dslls
^u<z^ u,el„te er unter anderm und erwiderte dann ans meine Entgegnung: Aals
8 KomiAW iruülisursux s, xrössr>t, scherzend, wir sollten doch den Franzosen nach
^en ihren Niederlagen und Verluste» auch einmal eiuen kleinen Erfolg gönnen.
Was ^ ^ erwähnte Telegrnphenbeamte erzählt,
als ^ 6snKcl'«.rings am Abend vorher mir angetan hatten. So trat er denn,
^ er wieder herunterkam, lebhaft auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte:
, . ^isutMWt, Sö vous ÄeniMäs Mr-Zon an mori als tiAu?in8s, und sprach
^ des Langem sein Bedauern und seine Mißbilligung aus über die Härte, die
rz.^ Zugefügt worden sei; natürlich bemühte ich mich, so gut ich kounte, ihm dafür
^"ut zu sage,,.
. der folgenden Nacht wurden wir plötzlich gegen vier Uhr Morgens durch
auf k Köpfen an die Tür und den Ruf ,Miout" aus dem Schlafe geweckt und
gefordert, uns möglichst schnell fertig zu machen, da wir fortgeschickt werden
sollten. Bald wurden wir etwa eine halbe Stunde weit in den Park eines Schlosses
bei Bellegarde gebracht, wo auch die andern Leute meines Zuges, die mit mir ge¬
fangen genommen waren, und noch mehrere andre Mannschaften von verschiednen
deutschen Truppenteilen, die in den letzten Tagen in Gefangenschaft geraten waren,
versammelt wurden; im ganzen waren es etwa hundert Mann, von einer großen
Anzahl französischer Soldaten bewacht. Es waren zwei Kompagnien Za-rÄss inobilss
aus der Vaucluse, der Gegend von Avignon, unter deren Bedeckung wir südwärts
über die Loire geführt werden sollten. Der älteste Kapitän, der die ganze Eskorte
befehligte, bot mir als Offizier einen Wagen an; doch wollte er nicht erlauben,
daß ein mit mir gefangner Portepeefähnrich und ein Vizefeldwebel, den ich hier
unter den andern Gefangnen fand, mit einstiegen, obgleich ich ihm versicherte, daß beide
in Offizierstellungen gewesen seien. So hielt ich es denn für richtiger, das freund¬
liche Anerbieten auch für mich dankend abzulehnen. Das hatte aber keineswegs
zur Folge, daß er oder die audern Offiziere nun nicht rücksichtsvoll und höflich gegen
mich waren; im Gegenteil, sie verstanden offenbar den Grund meiner Ablehnung
und achteten ihn. In den zwei Tagen, während deren wir der Behütung dieser
Offiziere und ihrer Soldaten überlasten waren, bemühten sie sich geflissentlich, so
viel sie konnten, unsre Lage zu erleichtern, indem sie sich mit uns (d. h. dem
Fähnrich, dem Vizefeldwebel und mir) unterhielte«, uns beim Rasten und an den
beiden Abenden zu ihren Mahlzeiten heranzogen, ihre Getränke, Zigarren und
Zigaretten mit uns teilten usw. Sie waren nach deutscher Bezeichnung Reserve¬
oder Landwehroffiziere, gehörten teils dem Kaufmanns-, teils dem Gutsbesitzer¬
stand um, und zwei von ihnen hatten längere Zeit in Deutschland gelebt und in
großen Geschäftshäuser» gearbeitet, der eine in Düsseldorf, der andre in Heidelberg.
So gab es auch in unsern so eigentümlichen und traurigen Verhältnissen doch
manchen und mancherlei Stoff zur Unterhaltung, und ich werde mich deshalb dieser
fünf Herren und der Stunden, die ich mit ihnen verlebte, immer mit großer Dank¬
barkeit erinnern und bewahre das Blatt, auf dem sie mir bei unsrer Trennung
ihre Namen aufschrieben, als ein liebes Andenken.
Am 30. November ging unser Marsch sehr bald von der großen Straße
Bellegnrde-Chateanneuf südlich ab und führte meist auf einsamen Seitenwege»
durch viele Waldungen bis nach Bouzh, einem ziemlich großen Dorfe, in dessen Wirts¬
haus außer für die fünf Offiziere auch für uns drei Gefangne ein Abendessen be¬
schafft und gute Betten geliefert werden konnten, natürlich gegen Bezahlung, während
die gefangnen Mannschaften in diesen Tagen immer in den Kirchen untergebracht
werden mußten. Am 1. Dezember marschierten wir zur Loire, überschritten sie
auf einer Kettenbrücke und kamen bis zu dem Städtchen Sully. Auch hier durften
wir noch den Abend mit den liebenswürdigen und rücksichtsvollen Herren aus
Avignon zusammen sein. Soweit meine Stimmung mir erlaubte, mich für unsre
Eskorte zu interessieren, waren diese Tage sehr lehrreich, zumal da sie keine neuen
Unannehmlichkeiten brachten. Zum erstenmal in meinem Leben war ich mit Fran¬
zosen in solcher Zahl zusammen, die sich nun auch vor uns keinen Zwang aufzu¬
erlegen brauchte», wie etwa die Bewohner der Ortschaften, in die wir Deutschen
bisher als Sieger u»d Eroberer, wenn auch sehr rücksichtsvolle, gekommen waren;
zu»? erstenmal lernte ich lebhafte Südfranzosen kennen, die sich ganz unbefangen
gaben und ihrer Munterkeit keine Zügel anlegten. Wie die Offiziere sich teil¬
nehmend gegen uns zeigte», so ließen es anch Unteroffiziere und Mannschaften an
Rücksicht und Artigkeit gegen die gefangnen Mannschaften im ganzen nicht fehlen,
ja sie bemühten sich geradezu, sie aufzuheitern. So hörten wir, und man wird es
Wohl nicht mißversteh», wen» ich hinzufüge, mit Interesse, die Marseillaise singen
und mußten anerkennen, daß es eine schöne, klangvolle Melodie sei; auch ein
Soldatenlied, dessen Melodie ganz unsrer alten Weise „Wer will unter die
Soldaten" glich, wurde uns mehrfach vorgesungen. Das Verhalten dieser Soldaten
machte überhaupt einen guten Eindruck; bei aller Lebhaftigkeit und Unruhe doch
keine Zügellosigkeit, keine Trunkenheit; im allgemeinen herrschte Ordnung und Ge-
)oriam, wenn auch natürlich nicht so strammer, wie wir ihn von unsrer preußischen
Infanterie gewohnt waren.
^. Leider mußten wir uns am Morgen des 2. Dezembers von dieser Eskorte ver¬
schieden und wurden zu weiteren Geleite der Mrcks uatiouals seäsutairs von
^ully übergeben, wobei wir zugleich erfuhren, daß wir nach Orleans gebracht
werden sollten. Also ging nun der Marsch parallel mit dem Flusse stromabwärts,
n/ kamen an diesem Tage bis Jargecm, wo wir drei unter gehöriger Be¬
dachung, mit einem Posten sogar vor der Tür unsers Schlafzimmers, in einem
^ ^use untergebracht wurden, was wir am andern Morgen recht teuer bezahlen
Wem. Der vierte Marschtag, der 3. Dezember, führte uns dann unserm vor-
mustgen Ziele, der Stadt Orleans, zu.
Ri^ ^ beiden Marschtage und ihre Erlebnisse kann ich nur mit großer
wa ^' ^ ""^ Unwillen zurückdenken, teils wegen der Eskorte, die uns gegeben
E?f' wegen der Bevölkerung der Orte, durch die wir nun zogen. Unsre
Sus^ ^ '"^ eigentlich eine militärische, bestand gar nicht ans wirklichen
Soldaten. Ich wüßte auch keinerlei Körperschaft in Deutschland, der ich sie ver-
Gt"^" könnte oder möchte, denn die Schützengesellschaften auch unsrer kleinsten
ick würde ich tief herabsetzen, wenn ich ihnen diese Leute — am liebsten sagte
diese Bande — an die Seite stellen wollte. Allerdings waren es tatsächlich
^ vitoysiig von Sully und am andern Tage von Jargeau; sie waren uniformiert
hat ^ Fnßzeug herrschte keine Gleichmäßigkeit, da neben Stiefeln und Leder-
)Aber auch Holzschuhe von ziemlich vielen getragen wurden — und in Kompagnien
s ^""ert, und sie standen unter dem Befehle von sogenannten Offizieren, die sie
ans ihrer Mitte gewählt hatten. Aber diese „Offiziere" unterschieden sich
unt! Mannschaften durch nichts weiter, als durch die Abzeichen an der Uniform
^ "«durch, daß sie statt eines Gewehrs einen Säbel trugen; an Bildung über-
gten sie in keiner Weise und hatten offenbar anch gar keine Autorität über
- So herrschte denn auch so gut wie gar keine Disziplin und Ordnung in der
lies^' ^ allgemeinen tat jeder, was er wollte, ging, wie und wo es ihm be-
>vn K ^egen uns Gefangne nun, die wir ihnen doch nicht nur zur Be-
dies sondern anch zur Obhut übergeben waren, benahmen sich die meisten
^ ^ edeln vno^fus tiM^ais höchst ungezogen und unmanierlich, höhnten und
steten ""^ ganzen und einzeln ohne jede Spur von Rücksicht. Und
aar sVk^^" versuchten nicht einmal, das zu hindern, ja sie beteiligten sich wohl
würd jedenfalls über die faulen Witze, die über uns gemacht
Was d" verstanden wir alle das meiste und gewiß kräftigste,
>ner^ Leute in ihrem xs/lois über uns sprachen und scherzten, gar nicht und
nat" ""^ ^en Mienen und Gesten, daß wir von ihnen verhöhnt wurden;
son^' ^nen auch gar nicht den Gefallen, uns darüber zu ärgern,
vern bemühten uns möglichst gleichgiltig dreinzuschauen,
wir ^n während des ganzen 2. Dezembers und noch viel mehr am 3. hörten
Wir s?" ^ den Schall lebhaften und heftigen Kanonendonners, woraus
seien ^" '"^ Affter, daß die Unsern im erfolgreichen Vorrücken auf Orleans
Paar 5. ""^ "'"^ einmal der Gedanke durch die Seele, es möchte» ein
bade ? ^rühmten und gefürchteten ullaus, und wäre es auch nnr eine Patrouille,
lej^^eiprengt kommen, wie würden dann wohl unsern vio^Mis davonlaufen, wie
könnten wir befreit werden! Aber leider waren solche Gedanken eitel und
»us kämpfenden deutschen Truppen waren ja noch meilenweit von
oder in^"^' ""^ allem trennte uns die Loire von ihnen. Ähnliche Gedanken
sein ^^.chinngen mögen aber auch den Franzosen, die uns eskortierten, gekommen
jedeisn ^ ""^ rüpelhaftem Benehmen gegen uns getrieben haben;
An^iaW wurde dieses ärger, je heftiger und lauter der Kanonendonner scholl.
H die Bevölkerung der Ortschaften, durch die wir zogen, zeigte sich, je mehr
Wir uns am 3. Dezember der Stadt Orleans näherten, um so aufgeregter, indem
sie nicht uur ihrer Freude, einmal gefangne I^ussisus zu sehen, eifrig und lebhaft
Ausdruck gab durch Rufe wie: vivs 1^ Iranc-iz, ü> das 1» ?russs! sondern uns auch
mancherlei Spott- oder Schimpfworte zurief, von denen wir jedoch außer den be¬
kannten böte, oocüicm, vlrien nichts verstanden. Einzelne suchten sich auch wohl
laeues an einigen der Gefangnen zu vergreifen, doch muß ich der Wahrheit gemäß
berichten, daß unsre Nationalgardisten wenigstens das verhinderten.
So kam unser Zug, immer mehr umtobt von der aufgeregten Bevölkerung,
nach Orleans. Der Einzug in diese Stadt nun war ganz schlimm und fürchterlich
für uns. Orleans war ja schon einmal für läugre Zeit im Besitz der Deutschen
gewesen, und erst vor wenig Wochen, Mitte November, hatte sich der General
von der Tann genötigt gesehen, diese Stadt wieder zu räumen. Nun wurde
wieder in der Nähe gerade um den Besitz dieser Stadt gekämpft, wieder mußten
die Einwohner aus nicht gar großer Entfernung den Kanonendonner aus den
Schlachten hören, in denen sich auch ihr Schicksal entschied; sie mußten voraus¬
sehen oder wenigstens befürchten, daß die Deutschen noch einmal als Sieger und
als Eroberer einziehn würden. So kann man wohl die ganz furchtbare Auf¬
regung der Bevölkerung erklären, in die wir unglücklichen Kriegsgefangnen nun
hineingeführt wurden. Das, was Wir da sahen nud hörten, spottet einfach aller
Beschreibung, die Eindrücke dieser Stunde lasse» sich gar nicht wiedergeben, sie
sind jedenfalls nächst der Gefangennahme selbst das Entsetzlichste, was ich je
erlebt habe.
Schon in dem letzten, sich lang hinziehenden Dorfe Se. Jean und dann in
dem Faubourg Se. Morceau auf dem linken Ufer der Loire war die Aufregung der
Bevölkerung noch viel größer und der Lärm noch viel stärker, als in den vorher
passierten Ortschaften. Als wir dann die Brücke zwischen einem dichten Spalier
schreiender und lärmender Menschen überschritten hatten und bald nach rechts in
eine breite und lange Straße einbogen, empfing uns ein so gewaltiges Tosen und
Schreien aus vielen Hunderten, ja Tausenden von Kehlen, daß man vor Entsetzen
beinahe zurückprallte. Die Straße war an beiden Seiten dicht gefüllt und alle
Fenster besetzt von Menschen jedes Alters und Geschlechts, die sämtlich schrieen und
tobten, als wären sie von Furien gepeitscht, und ein wüstes Gemisch von Jubel¬
rufen und Schimpfworten umschwirrte uns von allen Seiten. Ich ging im ersten
Gliede der Gefangnen zwischen dem Fähnrich und dem Vizefeldwebel, alle drei
mit dem Helm bedeckt. „Keine Miene verzieh«," raunte ich ihnen zu, und so
schritten wir, ohne nach rechts oder links zu sehen, mit fest aufeinander gelniffnen
Lippen einher und bemühten uus, keinerlei Empfindung zu äußern und durch nichts
zu zeigen, welchen Eindruck dieses Gebaren der Bevölkerung auf uns machte.
Immer in derselben schrecklichen Weise umtobt zogen wir durch mehrere Straßen,
kamen an der Kathedrale und einem Standbilde der Jeanne d'Are vorbei und am
Hotel de Ville vorüber. Auf dem freien Platze vor diesem sahen wir verschiedne
Hansen Bewaffneter, zum Teil in ganz phantastischen Uniformen, also mehrere
Scharen Franktireurs. Einen großen langbärtigen Manu sah ich plötzlich aus einem
dieser Haufen vorspringen und sein Gewehr auf mich anlegen. Ob er die Absicht
hatte, wirklich auf mich zu schießen, oder ob er sich nur deu Spaß macheu wollte,
mir Furcht einzujagen, kann ich natürlich nicht wissen; ich sah nur, wie das Gewehr
von einem andern Manne zurückgeschlagen wurde, und einen Schuß habe ich nicht
gehört. Nachdem wir noch einige Straßen durchschritten hatten und überall in der¬
selben Weise sozusagen Spießruten gelaufen waren, wurden wir drei vor einem
großen Gebäude genötigt, in ein weites Tor einzutreten; wir dankten Gott aus
tiefstem Herzen und atmeten auf, als wir uns zunächst in Ruhe und Sicherheit
sahen. Was aus deu Mannschaften wurde, erfuhren wir nicht; die armen Leute
sind damals nach der Insel Oleron, nahe bei der Mündung der Gironde, geschafft
le^^in ^ höchst elende Zeit in Schmutz und Not unter Entbehrungen
^ ver Art haben durchmachen müssen.
muss das ^ eingetreten waren, war ein Hospital. Wir
wo n " Gänge durchwandern und wurden schließlich tu ein Zimmer geführt,
von ^ . ""s^er Überraschung noch zwei Leutnants und einen Vizewachtmeister
Stell Iwetundzwanzigsten Division antrafen, die am Tage vorher an verschiednen
^ . " des Schlachtfeldes gefangen genommen und nun in ähnlicher Weise wie wir
, ^ Orleans gebracht worden waren. Ein Hospitaldiener gab uns zu essen und
»i trinken, und so verstrich einige Zeit, in der Wir sechs Deutschen, die so plötzlich
, ^"^"gewürfelt und Leidensgenossen geworden waren, uns oberflächlich bekannt
"usem fest"^ Erlebnisse und Eindrücke von den letzten Tagen und Stunden
uns ^" Gendarmerieofsizier, der den Auftrag hatte, mit uns über
Und Geschick zu verhandeln. Er brachte ein Schriftstück und, durch dessen
Verl^k^"""^ ^ "'^ ^ ""^^ Ehrenwort verpflichten sollten, im ganzen weitern
wir "w- ^ Feldzugs nicht nichr gegen Frankreich zu kämpfen. Danach sollten
1it>/. ^ mitteilte, sofort in Freiheit gesetzt werdeu und ooinMtsmsut,
fr»,? - ' andernfalls, so kündigte er uns an, würden wir am Abend nach Süd-
dnK ^ ' ?^hoche werden. Sicherlich war keiner von uns im Zweifel darüber,
kön t"^ solches Schriftstück unter keinen Umständen unterzeichnen dürften und
am, verständigten wir uns rasch darüber, die Unterzeichnung nicht gleich
^a>7 ^"^es abzulehnen, sondern zunächst einmal zu hören, was man denn für den
'. ^ wir unterzeichneten, mit uns zu machen gedenke. Glücklicherweise konnte
uns d'^ ^ beiden Offiziere gut und gewandt französisch sprechen und somit für
Ohs' ! ^"lerhandluug führe». Aber diese dauerte nicht lange, da der französische
Man >' ^ ^ übrigens sehr höflich gegen uns benahm, auf die Frage, was
Sek> vorhabe, ob man uns an die deutsche Grenze oder etwa nach der
Weit"^ bringen, oder ob man uns bei unsern Vorposten abliefern wolle, nichts
<s, ^ on erwidern wußte, als: ^loi« vou» ssrsü ooiQxlstsinsnt librss. Unser
eins^s versuchte ihm klar zu machen, daß es doch ganz unmöglich sei, daß wir
würd ^ ^leans ""s die Straße geschickt und der Wut des Pöbels preisgegeben
hatte ^"'i/'"" dessen Aufregung wir sämtlich gerade genug gesehen und gehört
^ doch er hatte weiter keine Antwort als sein „Sprüchlein": Vans Mi'M
unters - ^ KW'W. So lehnten wir es denn natürlich ab, die Erklärung zu
Horde, s"^"' ""^ erklärten uns bereit, über uns ergehn zu lassen, was die Be¬
fördert ? befänden. Nunmehr wurden wir durch denselben Offizier aufge-
Nacb ^' '^r^^ich auf Ehrenwort zu versprechen, daß wir auf unserm Transporte
enuik Süden Frankreichs keinerlei Versuch mache» wollten, zu entweichen. Er
stell/e h ""^ dringend, diese Erklärung abzugeben, indem er uns in sichere Aussicht
drück ' der Transport in einer uns möglichst wenig belästigenden und
Verses Weise erfolgen werde. Wir konnten uns nicht verhehlen, daß jeder
el» 6" fliehen aus Orleans oder später aus der Eisenbahn ganz unmöglich und
Bete"^ Zweckloses Nennen in den sichern Tod sein würde; so trugen wir kei»
eilten, dieses Schriftstück sofort zu unterzeichnen,
für d' ^"rde nun die Gelegenheit geboten, uns durch einen Hospitaldiencr
Zigar^ '"^ ^ vierundzwanzigstündige Reise Brot und Wurst, Wein, Kognak,
"M N?" besorgen, und mit solcher Reisekost wohl versehen wurden wir
gefiik ^ ^ einigen Gendarmen meist durch stille Nebenstraßen nach dem Bahnhof
Gent ' wenig beachtet und ganz unbehelligt ankamen. Nur von zwei
Wir '^'".^ begleitet, von denen jeder an einer Tür seinen Platz nahm, fuhren
folap"^ linea Coupe zweiter Klasse ab und mußten nun die Nacht und den ganzen
wir i Ü größere Unterbrechungen reisen. Auf den Haltestellen wurden
w der Regel gar nicht beachtet; uur in Bourges und in Se. Etienne gab es
längern Aufenthalt, weil Zugwechsel stattfand, und wir diesen in den Wartesälen
abwarten mußten. Da waren wir natürlich der Gegenstand der Neugierde und
wurden viel begafft, namentlich auch von jungen uniformierten Leuten, die sich
sammelten, um in den Krieg zu ziehen; sonst verlief die Reise ohne irgendwelche
bemerkenswerten Erlebnisse. An Stoff zur Unterhaltung fehlte es uns ja nicht,
und das Bedürfnis zu schlafen stellte sich auch ein, sodaß die Stunden dahinflogen.
Die beiden Gendarmen, das möchte ich noch hervorheben, erwiesen sich unterwegs
als höchst anständige und ehrenwerte Soldaten; sie unterhielten sich sehr wenig
mit uus und nahmen nichts von uns an, kein Gläschen Kognak, keine Zigarre!
Am Abend des 4. Dezembers endete unsre Reise in Le Puy en Vetens, unserm
Ziele, wo wir ungefähr um dieselbe Stunde eintrafen, in der sich die ersten deutschen
Truppen der Stadt Orleans wieder siegreich bemächtigten, die wir vor reichlich
vierundzwanzig Stunden als Kriegsgefnngne verlassen hatten!
Bei unsrer Ankunft in Le Puy gegen neun Uhr Abends wurden wir auf dem
Bahnhof von einem Kapitän der Gendarmerie sehr höflich empfangen und in
Droschken ins HStel du Nord gebracht, wo wir zunächst logieren mußten, und wo,
wie uns gleich erzählt wurde, schon mehrere gefangne deutsche Offiziere wohnten.
Mit einigen von diesen, die auf ihren Zimmern zusammen saßen, machten wir uus
noch am Abend bekannt und ließen uns einiges von dem Leben, das man dort
führte, erzählen. Wir konnten damals natürlich noch nicht ahnen, daß uns nach
Gottes Ratschluß ein fast dreimonatiger Aufenthalt hier bevorstand, wohl in äußerer
Sicherheit und ohne Lebensgefahr, aber doch so fern von unsern Lieben daheim,
fern von unsern Kameraden im Felde. Am nächsten Vormittag holte uns ein
Gendarm ins Bureau des genannten Kapitäns, der uns die nötigen Verhaltungs¬
maßregeln gab. Zunächst mußten wir, wie es die bisher hier eingetroffnen Offiziere
ebenfalls getan hatten, eine Erklärung unterzeichnen, durch die wir uns auf
Ehrenwort verpflichteten, nicht zu entfliehen; da wir ja etwa zwanzig deutsche Meilen
von der schweizerischen und der italienischen Grenze entfernt waren, brauchten wir
kein Bedenken zu hegen, solche Verpflichtung auf uus zu nehmen. Danach erhielten
wir die Erlaubnis, ganz nach unserm Belieben in einem Hotel oder in c-NNndrss
Minieh zu wohnen und auch sonst unser Leben einzurichten, wie wir wollten; nicht
nur in der Stadt, sondern auch in der nähern Umgegend durften wir frei umher¬
gehen. Einige Restaurants und zwei Cafe's wurden namhaft gemacht, die wir
besuchen könnten, während uus empfohlen wurde, alle andern öffentlichen Lokale zu
meiden. Wir erhielten ferner den Befehl, uns jeden Sonntag Mittag zu dem
regelmäßigen „Appell" im Hotel de Ville einzufinden, bei dem festgestellt wurde,
ob alle Gefangnen am Platze waren, und allgemein interessierende Dinge zur
Mitteilung gelangten. Endlich gab uns der Kapitän den Rat, um die ssMrruznts
der Bevölkerung zu schönen, uns möglichst wenig in Uniform zu zeigen, sondern
recht schnell uns zu insttrs su KourA-sois.
Hierauf waren wir schon am Abend vorher durch die erwähnten Kameraden
vorbereitet worden, wußten aber auch schon, daß dieses nicht so einfach sei, da die
Kaufleute und Handwerker in Le Puy den Gefangnen nichts auf Kredit gaben
und deutsches Geld nicht annahmen; von diesem hatten wir aber auch nicht genug
bei uns. So war unsre dringendste Sorge, Geld zu bekommen, und wir schrieben
also sofort an die Unsern in der Heimat, damit diese uns durch einen Schweizer
Bankier Geld anweisen ließen. Auf den Rat mehrerer von den schon hier lebenden
Kameraden wandten wir uns auch mit einer Bitte um Geld um den preußischen
Gesandten in Bern, und dieser sandte uns sehr rasch eine Summe Geldes, die uns
im Laufe des nächsten Jahres nach unsrer Freilassung auf dem Instanzenwege
wieder abgefordert worden ist. Ehe wir aber nicht genug Geld hatten, erhielten
wir keinen Zivilanzug geliefert, wenn wir ihn uns auch anmessen lassen konnten-
Ebenso fehlte es uns natürlich auch an Wäsche und Unterzeug, kurz an allem, da
ja keiner davon mehr bei sich hatte, als was er auf dem Leibe oder in seinem
kleinen Tornister trug, und auch von den andern Kameraden konnte nur wenig
Geld zur Anschaffung des Allernötigsten entliehen werden. Somit waren wir in
der ersten Zeit genötigt, möglichst wenig auszugehn, vielmehr uns fast ganz auf
das Leben zu Hause, d. h. im genannten Hotel, zu beschränken.
(Schluß folgt)
n diesem Nachmittage stand die Äbtissin vor ihrem Schreibtisch und
blätterte in einigen Papieren, als ihr der Baron Wolf gemeldet wurde.
Eilig ging sie ihm entgegen.
Wolf! Welche angenehme Überraschung!
Besorgt sah er in ihr schmales Gesicht. — Du siehst nicht gut
>aus, Asta! Was quält dich? Wird Melitta dir zu viel?
Eifrig wehrte sie ab.
Mir fehlt nichts. Das Sommerwetter greift mich immer etwas an. Schön,
daß du kommst! Herr Seifert ist einmal wieder in die Ferien gegangen, und ich
sitze über geschäftlichen Sachen, deren Verständnis mir schwer wird.
Also Melitta wird dir nicht zu viel? fragte er noch einmal. Ich wollte sie
wir heute eigentlich auf den Doveuhof holen und deine Gastfreundschaft nicht länger
in Anspruch nehmen. Mein Gut verlangt die Anwesenheit des Herrn.
Es war ihm, als atmete seine Schwester erleichtert auf.
Du mußt mit deiner Frau sprechen, Wolf. Ich sehe sie wenig, sehr wenig;
meine Zeit ist in Anspruch genommen. Die Damen sind zum Teil verreist, und
ihre Geschäfte mich ich ebenfalls erledigen.
Mit einer gewissen Absichtlichkeit brachte sie das Gespräch auf die Angelegen¬
heiten des Klosters und fragte dann nach dem Dovenhof. Wolf erzählte, daß es
Herrn Schröder besser ginge, und daß er eine Hilfskraft für ihn gefunden hätte.
Dann setzten sich die Geschwister zusammen hin und vertieften sich in eine Geld¬
angelegenheit, die Sache des Rendanten war, die dieser aber versäumt hatte, vor
seiner Abreise zu erledigen. Wolf versprach, nachher im Vorzimmer einen Brief
Ku schreiben. Er kannte ja die Art der Geschäfte von früher her. Als er fertig
^ar, verließ er seine Schwester, um nach Melitta zu sehen. Aber sie war im ganzen
Haus nicht zu finden, und der Diener sagte, daß sie im Klosterpark sei. Wolf begab
also auf die Suche nach ihr, fand sie jedoch nicht und setzte sich dann in das
^orzimmer, wo er einstmals als Vertreter des Rendanten gearbeitet hatte. Seine
Gedanken wanderten in die Zeit zurück, wo er noch nicht den Dovenhof besessen
Mlle, und Elisabeth seine Frau gewesen war. Mit Vorliebe ging er allem Nach¬
denken aus dem Wege. Seitdeni er mit Melitta verheiratet war, ließ er das Leben
"n sich vorübergleiten. Meist trug er ein verdrossenes Gefühl mit sich herum, und
von seiner ehemaligen sorglosen Heiterkeit war keine Spur mehr vorhanden. Mit
°en Jahren verschwand eben die Lustigkeit.
Starr sah er aus dem Fenster auf den breiten Kiesweg und die grünenden
-Lusche. So grün war es auch in dem Garten gewesen, wo er sich mit Elisabeth
verlobt hatte. Er wußte genau, wie sich die schlanke Mndchengestalt von dem tiefen
Grün einer Hecke abgehoben, und wie sein Herz bei ihrem Anblick geklopft hatte.
Wie er dann von seiner Liebe gesprochen hatte, seiner Liebe, die Not und Tod
überdauern sollte.
Es klopfte an die Tür, und Wolf fuhr auf. Dann rief er gedankenlos Herein!
und sah mit verstörten Augen eine ältere Frau an, die bescheiden eintrat. Sie bat
um eine Unterredung mit der Frau Äbtissin. Wolf dachte an das müde, ver¬
änderte Gesicht seiner Schwester und fragte, ob er nicht die Bestellung über¬
nehmen könne.
Die Frau sah ihn zutraulich an.
Der Herr Rendant hat mich immer zur alten Frau Äbtissin geschickt, und bei
dieser neuen Hochwürden bin ich noch nicht gewesen. Und wenn Sie nun vielleicht
ein neuer Gehilfe sind —
Setzen Sie sich, sagte Wolf gutmütig. Nennen Sie nur Ihren Namen und
was die Frau Äbtissin für Sie tun kann!
Ich bin Frau Fuchsius von Moorheide, sagte die Besucherin, wahrend sie
Wolfs Aufforderung folgte und sich auf eine Stuhlkante setzte. Da wohnt die ge¬
schiedn« Frau von Wolffenradt mit ihren Kindern, und ich führe die Wirtschaft.
Die gnädige Frau hat den Hof von mir gekauft, und er wird allmählich ganz
gut; gerade so, wie ich ihn mir gewünscht habe. Nur daß ich selbst solche Sorgen
habe, geehrter Herr!
In Frau Fuchsius Gesicht zuckte es.
Ich habe einen Sohn, geehrter Herr; der wohnt hier auf dem Kloster und
soll Verse machen. Ich wollte, daß er Lehrer werden sollte, und die Damen haben
mir geholfen, daß er etwas lernte. Zum Arbeiten aber hatte er niemals Lust, und
es ist nichts aus ihm geworden. Nun bummelt er hier umher, stiehlt dem Herr¬
gott die Zeit, und die Leute lochen über ihn. Jeden Morgen sitzt er im Kloster¬
garten und liest der Frau von Wolffenradt etwas vor. Der neuen Frau Baronin,
die den Bruder von unsrer Äbtissin geheiratet und ihn seiner ersten Gemahlin ab¬
spenstig gemacht hat. Sie kann ja vielleicht hexen, werter Herr, und will meinen
armen Jungen noch verrückter machen, als er schon ist.
Und was soll die Frau Äbtissin dabei tun? fragte Wolf nach einer Pause.
Frau Fuchsius sah ihn aus trüben Augen an. Ich wollte die hochwürdige
Frau um Rat fragen. Bei der verstorbnen Frau Äbtissin habe ich immer Rat
bekommen, und sie ist sehr gut gewesen. Nun komme ich hier ja gar nicht mehr
hin; aber wenn die Leute alle sagen, daß mein Klaus täglich verrückter wird
sie kämpfte mit dem Weinen. Dann faßte sie sich wieder. Er ist doch einmal mein
Sohn. Wenn er auch nichts taugt und nichts von mir wissen will. Vielleicht
könnte ihm Frau Äbtissin verbieten, hier auf dem Kloster zu wohnen. Dann muß
er in die Stadt ziehn und kann nicht jeden Morgen der schönen Dame vorlesen.
Wolf versprach, das Anliegen der Frau der Äbtissin vorzutragen. Sie stand
jetzt auf und wollte sich entfernen; er aber hielt die Frau zurück.
Wie gehts deun auf Moorhetde? fragte er.
Sie war etwas erstaunt.
Ach, da gehts gut. Das Gemüse war in diesem Jahre nicht so besonders,
und mit den Kalekuteu ist es mir nicht geglückt, aber —
Ich fragte nach den Menschen, unterbrach er sie ärgerlich.
Mit denen ist auch alles in Ordnung; nur die kleine Irmgard hat sich gestern
mit Kopfschmerzen zu Bett gelegt. Aber Rosalie meint, es ist nicht so schlimm!
Sie spürte jetzt Eile, wegzukommen, und entfernte sich, nachdem sie ihre An¬
gelegenheit Wolf noch einmal ans Herz gelegt hatte.
Eine Weile blieb er noch am Schreibtisch sitzen. Er war nicht eifersüchtig
auf Melitta, und was er von Fuchsius hörte, waren Torheiten. Er liebte es aber
nicht, wenn sich andre Menschen mit seiner Frau beschäftigten. Denn sie war nun
einmal seine Frau.
Baron Wolffenrndt nahm seinen Hut und ging vor dem Äbtissinnenhaus auf
und nieder; dann, als Melitta noch nicht kam, ging er durch den Klvsterpark bis
zum Tor und schaute hinaus über die Felder, bis zu dem Hügel, hinter dem Moor¬
heide lag. Noch hatte die Heide ihre Blüten nicht erschlossen; bald aber mußten
alle fernen Hügel ein rotes Gewand tragen, und von Moorheide aus konnte man
in eine leuchtende Unendlichkeit sehen.
Als er sich umdrehte, kam ihm Melitta entgegen.
Da bist du endlich! rief sie; Asta sagt, du wärest angekommen; zu mir aber
findest du nicht den Weg! Ach, über die Männer!
Sie hängte sich in seinen Arm und lächelte ihn an. Wie in alten Zeiten, als
fie ihn betören wollte.
Ich habe dich seit einigen Stunden gesucht! entgegnete er. Aber du ließest
dir vielleicht von Klaus Fuchsius vorlesen!
Melitta lachte unbefangen. Was weißt du von meinem Hofnarren?
Ich weiß, daß seine Mutter fürchtet, du könntest ihn verrückt machen.
Verrückt ist er schon lange; aber er vertreibt nur die Zeit, Wolf. Asta ist
recht langweilig.
Sie scheint mir sehr leidend zu sein, Melitta, und ich halte es für richtiger,
daß du mit mir auf den Dovenhof gehst. Ich werde Asta zu überreden suchen,
daß sie etwas für sich tut.
Nach dem Dovenhof? Melitta schmiegte sich fester an ihren Mann. Die Luft
hier bekommt mir so gut, das stille Leben, der Friede —
Eben sagtest du, daß du dich langweilst.
Nur mit Asta, mein Lieber. Aber ich sehe sie wenig. Laß mich noch einige
Wochen hier!
Mit bittenden Augen sah sie Wolf an, und er wunderte sich im stillen. Denn
Ne hatte lange nicht so freundlich mit ihm gesprochen wie jetzt. Ihr alter Zauber
umspann ihn einen Augenblick, und er sah sie unschlüssig an.
Für Klaus Fuchsius wäre es auch besser, wenn du ihm keine freundliche Zu¬
Hörerin sein wolltest!
Sie machte eine ungeduldige Bewegung.
Jage ihn vom Kloster; er ist mir längst langweilig. Freilich — sie lachte
d°n neuem; ein Hofnarr ist nicht so übel, und wenn du später wiederkommen und
dich ein wenig mit deinen Kindern anfreunden willst, so hast auch du Anregung
und Beschäftigung.
Nun blieb er stehn, und sie drängte ihn sachte in einen der großen Laubgänge.
.. Ich weiß ja, Wolf, daß deine Gedanken auf Moorheide sind; und ich kanns
dir nicht verdenken. Es sind deine Kinder, die dort, fern von dir, groß werden,
die nichts von dir wissen und deinen Namen gewiß niemals hören. Das ist ein
unhaltbarer Zustand, und du mußt ihn ändern.
Sie sprach ihm aus der Seele; aber er antwortete nicht, und sie erwartete
°und keine Antwort.
. Neulich bin ich ein wenig eifersüchtig auf Elsie gewesen, fuhr sie halb scherzend
^re. Du sprachest so freundlich mit ihr und sahest sie an, wie du früher wohl
^ich angesehen hast. Aber ich weiß jetzt, daß Elsie dir von Mvorheide berichtet
pat. Sie ist dort gewesen; neulich habe ich es zufällig erfahren. Asta sage ich
"ches von diesem heimlichen Umgang; warum auch? Sie denkt nur an ihren Beruf,
. u ihre eignen Sorgen. Mit mir aber bin ich zu Rate gegangen »ut sehe ein, daß
u wenigstens deinen Sohn zu dir nehmen mußt.
^ Sie hatte eilig gesprochen, als fürchtete sie, unterbrochen zu werden. Das aber
yatte keine Gefahr. Wolf horchte auf sie wie im Traum.
Mein Junge! sagte er nur einmal ganz leise.
, Ja, dein Junge. Er gehört dir, und wenn du mir die Erlaubnis gibst, werde
H Schritte tun, daß wenigstens er zu dir kommt. Gib mir nur Zeit zur Über-
legung und laß mich vorläufig hier bleiben. Solche Angelegenheiten müssen be¬
hutsam behandelt werden.
Nun horchte er argwöhnisch auf.
Deshalb allein willst du hier bleiben?
Beinahe hatte er hinzugesetzt, daß sie sonst niemals nach seinen Kindern ge¬
fragt hätte; aber er kam nicht dazu. Immer enger schmiegte sie sich an ihn und
redete so eifrig auf ihn ein, daß er endlich damit einverstanden war, vorläufig
wieder allein nach dem Dvvenhof zurückzureisen. Melitta wollte dann später
nachkommen und ihm Rüdeger mitbringen.
Eigentlich entbehrte Wolf seine zweite Frau nicht; es war nur der Leute
wegen, daß er sie bei sich zu sehen wünschte. Seine Liebe zu ihr War nur die
Liebe der Augen gewesen. Er wußte es ganz genau, und deshalb trug er jetzt
schwer am Leben. — Heute aber hatte er ihr gegenüber nur milde Gedanken, und
als er am Abend wieder zur Bahnstation fuhr, um einen Nachtschnellzug zu be¬
nutzen, wurde ihm die Trennung von ihr fast schwer.
Du hättest doch mit mir fahren sollen! sagte er, während er in den Wagen
sprang.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
Diesesmal nicht, mein Lieber! Aber später, später!
Und ihre Augen hatten den geheimnisvoll verheißenden Blick, mit dem sie sich
ihren Mann erobert hatte. Nachdenklich lehnte er sich in die Kissen des Landauers
zurück und sah in den hellen Nachthimmel. Manchmal verachtete er sich selbst seiner
Schwäche wegen. Aber die Verachtung nützte nichts. Sein Leben war doch
verdorben.
Der Kutscher drehte sich nach ihm um.
Es ist noch Zeit genug; soll ich über Moorheide fahren? fragte er, die Hand
an den Hut legend.
Wie kommen Sie darauf? Wolfs Stimme klang scharf.
Ich meine man bloß, Herr Baron. Weil doch die jungen Herrschaften — er
begann zu stottern —; die Leute sprechen ja nun einmal. Es sind sehr nette junge
Herrschaften!
Wolf mußte lachen.
Die jungen Herrschaften werden längst zu Bette sein. Fahren Sie nur den
gewöhnlichen Weg!
Aber wie Christian nun die Landstraße nach dem Bahnhof einschlug, wandte
Wolf den Kopf doch in die Richtung von Moorheide. Die Leute sprachen. Natür¬
lich, sie sprachen, und was sie von ihm sagten, würde nichts Gutes sein. Und
plötzlich sah er seine drei schlafenden Kinder im Bett liegen und eine schlanke Frau,
die mit stillem Gesicht dnrch die Zimmer ging.
Elisabeth! sagte er leise vor sich hin. Dann preßte er die Lippen zusammen.
Schon oft war die Sehnsucht über ihn gekommen, und dieser Name auf seinen
Lippen gewesen. Was nützte es? Die Sterne lächelten auf ihn nieder, wie sie
über alle irdische Sehnsucht lächeln.
Elsie hörte erst zwei Tage später, daß ihr Onkel in Wittekind gewesen war-
Asta begegnete ihr, als sie Fräulein von Werkentin im Kloster spazieren führte,
und erzählte von dem Besuch. Dann sagte sie Tante Amalie einige freundliche
Worte und ging eilig weiter. Die alte Dame sah ihr nach.
Die hochwürdige Frau hat niemals Zeit. Die andre Äbtissin hatte immer Zeit;
aber sie ist tot. Komm, Elsie, wir wollen dorthin gehn, wo die Sonne scheint.
Sie setzte sich auf das wärmste Fleckchen im Klosterpark und kehrte ihr faltiges
Gesicht der Sonne zu.
Wie gut das tut! sagte sie vor sich hin.
In der letzten Zeit nahmen ihre Geisteskräfte ab, und sie sprach nur, wen«
sie angeredet wurde. Um Auguste bekümmerte sie sich wenig; Elsie war ihr jetzt
die Hauptperson.
Elsie aber kam sich vor wie eine Gefangne. Jedermann lobte sie, daß sie
Mh der alten Tante widmete; und von ihrer Mutter erhielt sie einen freundlichen
Brief nach dem andern. Wenn aber draußen der warme Sonnenschein auf dem
Garten lag, und sie nur dann hinauskonnte, wenn sie die alte Tante vorsichtig
führen mußte, dann überkam sie oft die Sehnsucht, in die Welt zu laufen. Dorthin,
wo es kein Kloster und keine alten Tanten gab.
Schöne Sonne! sagte Tante Amalie noch einmal. Dann legte sie sich in die
Bank zurück und schlief ein. Das war ihre Gewohnheit, und Elsie mußte still
bei ihr sitzen.
Aus der Ferne klangen Stimmen, vom Pachthof her rollten Wagen, und man
hörte das Traben von Pferden. Sogar hier auf dem Kloster gab es noch Leben
und Bewegung, nur Elsie spürte sie nicht. Sie war alt geworden, wie die Alten
um sie her. Auch sie senkte den Kopf auf die Brust; über sie kam aber nicht der
Friede des Schlafes, sondern eine tiefe Traurigkeit. Deshalb hörte sie nicht, daß
sich ein leiser Schritt näherte, und fuhr zusammen, als sie angeredet wurde.
Nun, Fräulein Elsie, schlafen Sie ebenso fest wie Ihre Tante?
Alois Heinemann setzte sich vorsichtig neben sie und betrachtete sie lächelnd,
während ihre tiefe Traurigkeit auf leichten Schwingen davonflatterte.
Ich habe Sie sehr lange nicht gesehen, Herr Heinemann, sagte sie, um nur
etwas zu sagen.
Besuchen Sie mich doch einmal! flüsterte er. Ich arbeite jetzt täglich in der
Klosterkirche, und ein Kollege von mir hat ein großes Wandbild entworfen, das
Sie sich notwendig ansehen müssen. Es wird sehr schön werden!
Und was arbeiten Sie?
Er zuckte die Achseln. Ich habe die ganze Sache zu beaufsichtigen und male
hier und dort einen kleinen Engel. Wollen Sie mir nicht einmal Modell zu einem
dieser kleinen Kerle sitzen?
Ich? Sie machte große Augen. Ich bin doch kein Engel!
Das glaube ich schon! entgegnete er lachend. Aber wenn ich Sie nun ein
wenig idealisiere, dann könnte doch noch ein schöner weißer erwachsener Engel mit
Nügeln aus Ihnen werden!
Eine Weile plauderte er in diesem Tone weiter. Dann stand er auf.
Nun muß ich aber in mein Kirchlein. Nicht wahr, Sie kommen einmal?
Er war mit freundlichem Gruß gegangen, und Elsie sah seiner schlanken Gestalt
so lange wie möglich nach. Dann blickte auch sie in die Sonne und fand die Welt
lehr schön geworden.
Fräulein von Werkentin schlief heute lüuger als gewöhnlich; gerade als Elsie
darüber nachdachte, ob sie sie wecken sollte, kam Melitta an ihnen vorüber. Sie
begrüßte Elsie zerstreut und sah suchend um sich.
Sage, ist Herr Heinemann nicht eben hier gewesen?
Sie sprach laut, und Fräulein von Werkentin fuhr mit einem Schreck auf.
Was wollen Sie? rief sie kläglich. Ich habe Sie nicht gerufen!
Elsie suchte sie zu beruhigen, und Melitta ging weiter, ohne eine Antwort
erhalten zu haben. Das junge Mädchen aber konnte ihre Frage nicht vergessen;
und noch spät am Abend mußte sie an die junge Frau denken. Sie hatte so
Wunderschön ausgesehen, so stolz und siegesgewiß. Wollte sie wieder ihre Hand
^>es dem Maler ausstrecken wie ehemals? — Am Abend hatte Elsie immer Muße.
>;hre Taute und Auguste legten sich früh zur Ruhe, und Elsie hätte stundenlang
w! Kreuzgang und im Park wandern können. Doch um die Abendstunde schienen
ihr manchmal Schatten durch die Säulenreihen zu gleiten, und vom Kirchhof her
raschelte der Wind. Heute Abend aber prickelte die Unruhe in ihr, und sie dachte
uicht an die Schatten und an den raschelnden Wind. Eilig glitt sie durch den
Kreuzgang, stand unter den Bäumen des Parks und sah die Sterne durch das
Blätterdach funkeln.
Ob ehemals hier auch junge Füße gewandert waren, und junge Herzen ge-
schlagen hatten? Hier im Kloster, bei Sternenglanz und Blätterrauschen, unter dem
Weißen Nonnengewand und dem Tönen der Glocken?
Elsie lief durch die schweigende Welt, und ihre Gedanken eilten uoch schneller.
Zu Melitta, zu Alois Heinemann, zu den Engeln, die er malen wollte, und zu
der schönen Frau auf Moorheide mit den sehnsüchtig träumerischen Augen. Dann
stieß sie einen Schreckenslaut aus, und ihre Haare sträubten sich. Vor ihr stand
eine dunkle Gestalt.
Wer da? fragte eine Stimme, und Elsie atmete auf.
Ach. Tante Asta. bist du es? Ich erschrak so!
Die Äbtissin wollte an ihr vorübergehn; aber Elsie hielt sie am Arm fest.
Du liebst auch späte Spaziergänge? Gerade wie Mama, die so gern im
Dunkeln geht. Ich graute mich oft ein wenig. Heute aber wollte ich es einmal
versuchen, im Dunkeln zu gehn. Darf ich dich ein wenig begleiten, Tauenden?
Sie hatte schnell gesprochen. Die Äbtissin stand regungslos neben ihr.
Mich begleiten? wiederholte sie. Ich muß allein gehn.
Ihre Stimme klang wie abwesend.
Allein gehn ist doch manchmal langweilig, nicht wahr? Ich wenigstens —
Die Äbtissin machte sich los.
Ich möchte allein gehn!
Gehorsam trat Elsie zurück.
Wie du es wünschest, liebe Tante. Ich habe sonst recht lange nicht mit dir
gesprochen und möchte dir von Mama erzählen, und von Gräfin Eberstein, die
viel nach dir fragt.
Gräfin Eberstein? Asta horchte auf.
Wo ist sie?
In Pontresina, Tante Asta. Mit Mama zusammen, und eine Prinzessin ist
auch dabei. Mama schreibt aber besonders viel von Gräfin Eberstein.
Betty Eberstein. Asta hob ihr blasses Gesicht zum Sternenhimmel. Sie haßt
mich! murmelte sie. Und es war die Freundin meiner Jugend!
Weshalb haßt sie dich? fragte Elsie erstaunt.
Statt jeder Antwort schlug die Äbtissin die Hände vors Gesicht.
Sie hassen mich alle, und ich kann es nicht mehr ertragen. Ich will sterben!
Vorsichtig und liebevoll legte Elsie den Arm um sie.
Darf ich dich nicht nach Hause bringen, Tauenden? Ich fürchte, du bist krank.
Willenlos ließ sich die Äbtissin durch den Garten führen.
Als Elsie wieder in den Kreuzgang zurückkehrte, glitten schon die Strahlen
der Morgensonne auf seinen Fliesen. Die ganze Nacht hatte sie bei der Tante
gesessen, sie vorsichtig entkleidet, ihr tröstende Worte gesagt. Die Äbtissin war
endlich ruhig geworden, und jetzt schlief sie ganz fest. In der Nacht aber hatte
sie gejammert und gestöhnt und immer nach Betty Eberstein gerufen. Ob die
Gräfin wohl kommen sollte? Nachdenklich sah Elsie in den hellen Morgen, und
als von der Klosterkirche eine Uhr schlug, kehrte sie noch einmal in den Garten
zurück und ging bis zum Portal der Kirche. Gerade, als könnte sie sich hier Rat
holen. Es war aber kein Mensch zu sehen, und langsam betrat das junge Mädchen
die Wohnung ihrer Tante. Weder die alte Dame noch Auguste hatten bemerkt,
daß ihre junge Pflegerin die Nacht auswärts zugebracht hatte; keiner von den
Alten fiel es auch ein, eine besondre Frage zu tun, und Elsie kam sogleich wieder
in ihre Arbeit, daß sie erst allmählich ihre Müdigkeit merkte.
In freien Augenblicken quälte sie sich mit allerhand Sorgen und schrieb eilig
einige Zeilen an ihre Mutter, in denen sie von Tante Asta berichtete. Dann zerriß
sie den Brief. Ihre Mutter konnte vom Engadin aus doch nicht helfen, und
Melitta durfte sie auch nicht um Rat fragen. Sie hatte ihren Namen der Äbtissin
gegenüber genannt, aber da war die Tante so blaß geworden, und Elsie selbst
empfand fast ein Gefühl der Abneigung gegen die junge Frau.
Gegen Mittag kam ihr ein andrer Gedanke.
Tante Amalie, wie wäre es, wenn wir heute nach Moorheide führen!
Die alte Dame saß in ihrem Lehnstuhl und blickte grübelnd vor sich hin.
Nun hob sie den Kopf.
Russe du mich, Luise? Ja, ich komme, ich komme bald!
Es fiel Elfte auf, daß ihr Gesicht einen starren Ausdruck trug, aber die Tante
war jetzt oft wunderlich.
Ich möchte so gern mit Tante Elisabeth sprechen, fuhr sie fort.
Fräulein von Werkentin lächelte.
Und ich möchte gern mit Luise sprechen. Ich glaube, sie wartet schon lange.
Laß deu Wagen nur kommen!
Ihr Gesicht nahm wieder seinen gewöhnlichen Ausdruck an, und als Christian
Pünktlich mit dem Landauer erschien, atmete sie die Sommerluft in vollen Zügen ein.
Schnell rollte der Wagen durch die Felder, die Sonne schien, die Vögel sangen.
Ist es nicht schön hier? fragte Elsie.
Tante Amalie lächelte geheimnisvoll.
Sehr schön. Ich fahre aber auch zu meiner Schwester Luise!
Elsie verstand sie nicht und dachte an Moorheide. Als der Wagen vor dem
Wohnhause hielt, kam nur Frau Fuchsins aus der Tür.
Die beiden kleinen Mädchen hatten Scharlachfieber, und die gnädige Frau
Pflegte sie ganz allein. Kein Fremder durfte ins Haus, nur der Doktor.
Und wo ist Rüdeger? fragte Elsie erschrocken und enttäuscht.
Der Junge kam in diesem Augenblick über den Hof gelaufen und kletterte
ohne weiteres in den Wagen.
Alte Dame, bist du es? sagte er erfreut. Hier ist es schrecklich langweilig,
und Mama darf ich nicht sehen. Nehmt mich mit zu den andern Damen!
Aber Frau Fuchsins schüttelte den Kopf.
Du mußt hier bleiben, Rüdeger, was soll deine Rosalie sagen, wenn du
Weggehst?
Sie berichtete, daß Rosalie mit dem Jungen in einem Stall wohne, wo ein
Zimmer für sie hergerichtet wäre. Aber auch Mamsell Drümpelmeier sei nicht
ganz wohl.
Es wäre also wirklich am besten, wir nähmen Rüdeger mit! sagte Elsie; aber
Frau Fuchsius sah sie ernsthaft an.
Fräulein wissen, es geht nicht!
Elsie wußte es; was hätte der Kleine auch auf dem Kloster beginnen sollen?
Aber er saß nun einmal im Wagen, und Christian schlug vor, mit ihm ein Stündchen
umherzufahren und ihn dann auf Moorheide wieder abzusetzen.
So geschah es. Mit strahlendem Gesicht saß der Junge der alten Freundin
gegenüber, legte beide Hände auf ihre Knie und berichtete, was er getan und ge¬
trieben hätte. Es wäre nur alles so langweilig. Jetta und Irmgard könnten
manchmal eklig sein, aber wenn sie nicht da wären, wäre es noch schlimmer.
Fräulein von Werkentin erwachte aus ihrer Teilnahmlosigkeit, lachte und
Plauderte wie lange nicht, sodaß Elsie bedauerte, daß der Wagen wieder vor
Moorheide hielt. Rüdeger hatte genug vom Fahren und sprang leichtfüßig von
seinem Sitz herunter.
Adieu, alte Dame, komm bald wieder!
Dann besann er sich und stand mit einem Satz wieder vor ihr.
Ich will dir doch einen Kuß geben, liebe gute Dame!
Und er drückte seine frischen Lippen auf das welke Greisinnenangesicht.
Fräulein von Werkentin ließ alles mit sich geschehen; wie der Wagen jetzt
den Weg zum Kloster einschlug, lachte sie plötzlich vor sich hin.
So ein guter Kleiner, Elsie, und du bist auch gut. Und dazu die Sonne,
die liebe Sonne!
Mit großen Augen sah sie in das leuchtende Gestirn und auf die Landschaft
in Hellem Tagesglanz. Dann wickelte Elsie sie in die Decken, und sie legte sich
müde zurück.
Das junge Mädchen war in tiefen Gedanken. Scharlach ans Moorheide!
Sollte sie es gleich Onkel Wolf schreiben? Sie hatte vergessen, daß sie Elisabeth
Tante Astas wegen um Rat fragen wollte, und schrieb im Geist ihrem Onkel eine
Karte nach der andern. Weil er doch wissen mußte, was auf Moorheide geschah.
Tante Amalie sah mit weitgeöffneten Augen vor sich hin, und Elsie rückte ihr
näher.
Es geht dir doch gut, Tauenden, nicht wahr? fragte sie. Eine sonderbare
Angst legte sich plötzlich auf ihre Seele.
Fräulein von Werkentin lächelte.
Sehr gut geht es mir, mein Kind. Denn ich bin angekommen bei meiner
Luise.
Sie hob die Hände und sank vornüber — dem stillen Gast in die Arme, der
im Wagen mitgefahren war, und der sie nun leise zu ihrer Schwester geleitete.
Fräulein von Werkentin war schon seit acht Tagen begraben, und Elsie be¬
gann sich von ihrem Schreck und ihrer Trauer zu erholen. Denn sie war wirklich
traurig gewesen und war tagelang wie im Traum gewandelt, bis ihre junge
kräftige Natur über ihre Nerven gesiegt hatte, und sie von neuem frisch und fröhlich
geworden war. Sie wohnte jetzt wieder bei der Äbtissin, und die Tante war
sehr gütig mit ihr. Astas Befinden hatte sich offenbar gebessert, von ihrer nervösen
Gereiztheit schien keine Spur geblieben zu sein, und Elsie dachte mit Schrecken
daran, daß sie ihrer Mutter damals doch noch geschrieben hatte, sie sollte Gräfin
Eberstein bewegen, einmal herzukommen. Aber vielleicht hatte ihre Mutter über
die Worte hinweggelesen, und dann gab es auch andre Dinge, die Elsie be¬
schäftigten.
Fräulein von Werkentin hatte ihre Dienerin Auguste zur Universalerbin ein¬
gesetzt und mit keinem Worte der Nachkommen ihrer Schwester Luise gedacht.
Im Kloster war man sehr erstaunt über dieses Testament, und Elsie wunderte
sich auch. Aber das Erstaunen half nichts, und diese Überraschung mußte ertragen
werden. Elsie hatte niemals ans Erben gedacht; wenn sie aber an die hübschen
alten Möbel dachte, die jetzt in den Besitz einer gewöhnlichen Person übergingen,
dann wußte sie, daß sich ihre Mutter sehr ärgern würde.
Sogar Melitta sprach über Fräulein von Werkentin und darüber, daß alte
Leute immer kindisch würden. Das aber mochte Elsie nicht hören.
Tante Amalie war gut, und niemand soll etwas gegen sie sagen, erwiderte
sie trotzig. Melitta lachte und schwieg, sprach sich aber nachher mit Klaus Fuchsius
ans, mit dem sie noch immer allmorgentlich zusammentraf.
Die Werkentin hätte unter Kuratel gestellt werden müssen.
Eigentlich müßten das alle Damen! gab er mürrisch zur Antwort.
Melitta betrachtete ihn lächelnd. In den letzten Tagen war er sehr ver¬
drießlich geworden.
Sie sind heute einmal wieder unhöflich, Herr Fuchsius. Kommen Sie und
lesen Sie mir Ihre unsterblichen Werke vor!
Aber er griff nicht in die Tasche, um die gewohnte Manuskriptrolle heraus¬
zuholen.
Alle Frauen sind falsch; Sie auch, Melitta! Seine Augen hatten einen
düstern Blick.
Melitta gähnte. Gewiß, mein Freund, auch ich bin falsch. Sie wissen doch,
wie es im Liede heißt: A bissele Falschheit ist allweil dabei.
Klaus sah sie drohend an.
Sie sollen nur an mich denken. Haben Sie mich verstanden? Ich bin Ihr
Herr! Ich, ganz allein!
Lesen Sie Ihre Sachen, und reden Sie nicht so närrisch! rief Melitta unge¬
duldig.
In der letzten Zeit ließ sie sich nicht mehr alles von Klaus Fuchsius gefallen.
Der herrische Ton schien Eindruck auf ihn zu machen. Er las nicht, aber er
sprach leise einige schwermütige, liebeglühende Verse, und Melitta hörte ihm träumend
Zu. Sie war oft weich und dachte dann an Liebe, an die Liebe, die nie vergehn
soll. Gab es solche Liebe?
Als sich Melitta von ihrem Dichter getrennt hatte, ging sie, wie es ihre
Gewohnheit war, ins Äbtissinnenhaus, ruhte ein wenig, legte ein andres Kleid an
und begab sich gleich nach dem frühen Mittagessen in die Kirche. Hier arbeitete
Alois Heinemann jetzt in der Sakristei, und um die Mittagszeit war er immer
allein. Der Verkehr der zwei Menschen hatte sich seltsam gestaltet. Der Maler
war so ruhig geworden, daß er sich selbst darüber wunderte. Er malte jetzt an
einem schlanken Engel, der Elsies kindliche Züge trug, und wenn er mit Melitta
sprach, und ihre Stimme sich schmeichelnd um ihn legte, dann sah er in die klaren
Augen des Engels, und der weiche Ton an seinem Ohr erschien ihm wie ein Klang
aus fremdem Lande — aus dem Lande der Leidenschaft und der Verzweiflung,
das ihm immer weiter in die Ferne und in die Vergessenheit glitt.
Melitta empfand seine wachsende Gleichgiltigkeit, und in ihrem Herzen wurde
es still und traurig. Aber sie ließ es sich nicht merken. Niemals plauderte sie
heiterer, als in der kleinen Sakristei, niemals lächelte sie strahlender. Nur wenn
ste ganz allein war, wenn sie im Äbtissinnengarten auf und nieder ging und auf
das Raunen der Büsche horchte, dann konnten ihre Züge einen müden Ausdruck
annehmen, dann konnte sie auf eine Bank sinken und stundenlang vor sich hinstarren
oder auf die funkelnden Buchstaben der Sonnenuhr schauen.
Meine Zeit in Unruhe. Ja, die Unruhe war groß. Und die Hoffnung?
Konnte sie sagen: Meine Hoffnung in Gott?
Heute Plauderte Melitta eine ganze Stunde mit Alois, dann hörte sie die
Arbeiter wiederkommen, stand auf und verließ die Kirche. Mit einem Scherzwort
auf den Lippen und einem Lächeln in den Augen. Wie Alois sie immer sah, und
wie sie von ihm gesehen werden wollte.
Als sie jetzt aber allein und unbeobachtet war, nahm ihr Gesicht einen düstern
Ausdruck an. Mit gefalteter Stirn trat sie aus dem Kirchenportal und sah
Klaus Fuchsius vor sich stehn. Er schien sie erwartet zu haben, denn er ging
ihr einige Schritte entgegen; sie aber erstarrte plötzlich zu Eis.
Was wollen Sie hier, Herr Fuchsius?
Ich suche Sie, entgegnete er trotzig.
Mich? Sie warf den Kopf in den Nacken.
Das ist gegen die Verabredung. Am Vormittag schenke ich Ihnen schon über¬
genug Zeit.
Sie wollte an ihm vorübergehn, er aber stellte sich ihr in den Weg.
Ich habe gehört, der Maler wäre einstmals Ihr Freund gewesen. Ist
das wahr?
Lieber Herr Fuchsius — Melitta nahm vorsichtig ihr Kleid in die Hand —,
d'ete, gehn Sie mir aus dem Wege. Sie belästigen mich.
Klaus bog etwas zur Seite, sodaß sie an ihm vorübergehn konnte, dann aber
folgte er ihr.
Melitta, Sie lieben doch nur mich allein, nicht wahr? fragte er kläglich. Sie
wissen doch, ich öffne Ihnen meine Seele, meine große einsame Seele.
Die junge Frau blieb stehn und lächelte. Solche Worte berührten sie immer
angenehm.
Wir wollen gute Freunde bleiben, Herr Fuchsius; aber, bitte, laufen Sie mir
nicht nach. Sie müssen sich mit meinen Morgenstunden begnügen, und später muß
Ihre Kunst zu ihrem Recht kommen. Ein Mann wie Sie muß viel allein sein!
Eilig ging sie davon, und Klaus Fuchsius sah ihr nach. Sein Gesicht trug
einen fragenden Ausdruck, dann lachte er beruhigt vor sich hin.
Ich muß allein sein, ja, ich muß allein sein!
Dieselben Worte wiederholte er, als er an demselben Nachmittag nach Moor¬
heide ging, um seine Mutter zu besuchen. Er war lange nicht dort gewesen, aber
als ihm Frau Fuchsius entgegenkam, begrüßte er sie gleichgiltig.
Gib mir Geld, Mutter!
Bist du noch immer auf dem Kloster? fragte sie bekümmert. Ach Klaus, geh
doch anderswohin!
Gib mir Geld! wiederholte er drohend.
Sie ging ins Haus und kam mit einigen Markstücken wieder.
Ich habe nicht viel, Junge, und auch keine Zeit. Denn hier ist alles krank!
Ach Klaus, sie faßte ihn am Arm, kannst du nicht vom Kloster weggehn? Ich
träume oft so schreckliche Dinge von dir!
Beinahe mitleidig sah er sie an.
Wenn meine Stunde geschlagen hat, gehe ich, Mutter. Aber sie ist noch nicht
gekommen, und ich muß viel allein sein.
Das Silbergeld steckte er in die Tasche, klopfte seiner Mutter auf die Schulter
und ging davon.
Frau Fuchsius aber kehrte zu ihren Pflichten zurück und suchte über Moor¬
heide und seinen kranken Bewohnern den Sohn, der ihr verloren war, zu vergessen.
Elsie Wolffenradt ging an demselben Nachmittag zu Auguste. Die Dienerin
hatte sie um ihren Besuch bitten lassen, und Elsie war zu gutmütig, ihr nicht zu
Willfahren.
Nun gehört mir hier alles, Fräulein Elsie, sagte sie, während sie dem jungen
Mädchen würdevoll entgegenging. Nach dem Tode ihrer Herrin war sie wieder gesund
geworden. Nun gehört mir hier alles, wiederholte sie. Dabei setzte sie sich in Fräulein
von Werkentins Stuhl und wickelte sich in Fräulein von Werkentins Decken. Nur
die Wohnung nicht, Fräulein Elsie. Obgleich ich für treue Dienste wohl eine Stifts-
damenwohnuug verlangen könnte. Aber Frau Äbtissin sagt, ich soll ausziehn!
Verdrießlich sah sie sich um, und Elsie bemühte sich, nicht zu lächeln.
Ja, Auguste, alles kann der Mensch nicht haben. Nun können Sie in die
Stadt ziehn und gut von Ihrem Gelde leben!
Ich bin nicht für die Stadt, entgegnete Auguste. Ich bin für den Frieden.
Und ich bin auch nicht für die Einsamkeit. Sie seufzte. Fräulein Elsie, es ist nicht
gut, wenn der Mensch allein ist. Auch das Geld ist keine Gesellschaft.
Nehmen Sie sich eine Gesellschafterin! riet Elsie.
Auguste schüttelte den Kopf. Die taugen alle nichts und wollen nur mein
Geld. Gesellschafterinnen kenne ich. Sie schwieg und räusperte sich mehrmals.
Sie keimen doch den Kutscher Christian? fragte sie plötzlich.
Gewiß. Elsie wunderte sich.
Er ist Witwer, sagte Auguste langsam.
So? Elsie hatte noch nicht an Kutscher Christians Familienverhältnisse gedacht.
Er hat nur einen Sohn, fuhr Auguste fort. Dann wickelte sie sich aus allen
Decken heraus.
Fräulein Elsie, wenn Sie den Kutscher Christian sehen sollten, dann sagen
Sie ihm nur, daß er mich einmal besuchen dürfte. Es ist nicht gut, daß der
Mensch allein sei; und ich zeige ihm gern meine Sachen! Ich will ihm auch sagen,
daß ich ihm verziehen habe. Das Umwerfen nämlich.
Elsie ging ein Licht auf.
Kutscher Christian ist aber viel jünger als Sie, Auguste.
Die andre machte eine vornehme Handbewegung.
Vom Alter muß man nicht sprechen, Fräulein Elsie; das tut man niemals
un Kloster. Bestellen Sie es nur Christian, und dann suchen Sie sich ein An¬
denken an Ihre alte Tante aus. Es soll mir nicht darauf ankommen, und es kann
der beste Suppenlöffel sein!
Danke vielmals! Sogar Elsie konnte ein hochmütiges Gesicht machen. Ich
brauche nichts. An meine liebe Tante werde ich auch ohne Suppenlöffel denken!
Als sie sich halb zum Gehn wandte, haftete ihr Blick dennoch auf dem kleinen
^astellbilde ihrer Urgroßmutter, der Luise, von der die Tante in ihrer letzten
Kebensstunde gesprochen hatte.
Wollen Sie nicht sonst noch etwas haben? fragte Auguste verblüfft. Da sind
doch noch Silbersachen —
Geben Sie mir das Bild! sagte Elsie schnell.
Gewiß, gewiß! Hastig stand Auguste auf und nahm es von der Wand,
^ut wenn Sie sonst noch eine Kleinigkeit wünschen und dann den Kutscher
Christian nicht vergessen wollen —
Elsie hörte die letzten Worte nicht und ging eilig mit ihrem Andenken davon.
Auguste wurde ihr etwas unangenehm. Wie sie jetzt in den Kreuzgang kam, stand
Herr Heinemann dort und zeichnete ein steinernes Wappen ab. Als er das junge
-Rädchen erblickte, ging er ihr entgegen.
Nun, mein gnädiges Fräulein, sehe ich Sie auch einmal wieder? Sie wollten
doch zu einem Engel Modell sitzen.
Ich hatte keine Zeit, entgegnete Elsie ernsthaft. Meine alte Tante ist ge¬
storben. Sie war die Schwester meiner Urgroßmutter. Und dies ist meine Ur¬
großmutter.
Sie zeigte dem Maler das Pastellbild; aber ihre Hände zitterten, und ehe er
^ fassen konnte, fiel es auf die Fliesen. Alois stieß einen Laut des Bedauerns
"us und bückte sich nach dem Bilde, dessen Glas in Scherben gegangen war.
Nun werden wir ein andres Glas in den Rahmen einsetzen müssen, Fräulein
Elsie. Das hübsche Bild. Es sieht Ihnen ähnlich. Lassen Sie mich nur machen,
solche Dinge schlagen in mein Fach. Hier ist noch ein Briefchen I
Er hatte im Sprechen alles aufgesammelt; nun reichte er Elsie einen Zettel.
Ich habe keinen Brief verloren! entgegnete diese.
Er scheint hinter dem Bilde gesteckt zu haben. Alois betrachtete ihn neugierig.
Hier steht auch Ihr Name — ach —
Alois las, und Elsie sah ihn neugierig an.
Was ist es? fragte sie.
Der Maler zeigte ihr den Zettel.
Dem Fräulein Elsie von Wolffenradt, meiner rechtmäßigen Urgroßnichte, ver¬
mache ich mein gesamtes Vermögen, meine Möbel, alles, was ich habe, und bitte
Ne, für meine Dienerin Auguste Sorge tragen zu wollen. Amalie von Werkentin.
c>„ Dieses Dokument ist vor reichlich vierzehn Tagen geschrieben und datiert, setzte
Alois hinzu.
Elsie sah ihn ratlos an.
Was bedeutet das?
Es bedeutet, daß Sie die Universalerbin Ihrer Tante sind.
Aber Auguste hat alles bekommen.
Alois zuckte die Achseln.
Von Erbschaftsgeschichten verstehe ich auch nicht viel. Aber wir müssen uns
erkundige« —
Bitte, nein! sagte Elsie hastig. Auguste hat alles, sie mag es behalten. Sie
freut sich so —
Nachdenklich sah Alois in ihr junges Gesicht.
Fräulein Elsie, ich glaube, das geht nicht.
Weshalb nicht? Sie Wissens ja nur und ich —
Sie griff nach dem Zettel, um ihn zu zerreißen; aber Alois hielt ihre Hand
fest, und dann standen beide und sahen sich schweigend an.
Es geht nicht! wiederholte der Maler. Ganz sicher nicht. Ich bin auch nur
ein dummer Kerl; aber —
Sie sind nicht dumm!
Beide standen noch immer Hand in Hand. Nun trat Alois einen Schritt
zurück und holte tief Atem.
Ich will den Zettel verwahren, Fräulein Elsie. Ich bin vernünftiger als
Sie! Er seufzte tief. Es geht nicht alles, wie man möchte.
Mit einem plötzlichen Entschluß wandte er sich ab.
Ich verwahre den Zettel, Fräulein Elsie!
Er war gegangen, und Elsie sammelte noch einige Glasscherben von den
Fliesen. Und plötzlich kam es über sie wie eine große Frende, der eine tiefe
Niedergeschlagenheit folgte. Da war es denn gut, daß Kutscher Christian mit seinem
Lnndaner vor dem Kreuzgang hielt, um eine der Stiftsdamen zu einer Spazier¬
fahrt abzuholen, und daß sie ihm Augustens Bestellung ausrichten konnte. Bedächtig
legte er die Hand an den Hut.
Ich kann ja mal hingehn, klein Fräulein. Sie hat ja woll jetzt viel
Geld, nicht?
Sehr freudig schien er die Einladung nicht aufzunehmen. Als Elsie weiter
ging, rief er sie plötzlich zurück.
Ich meine, was der verrückte Fuchsins ist, der müßte weg von hier. Der
Torwart sagt auch, er mag ihn nicht mehr im Hause haben. Immer Schnacke er
vor sich hin; und nun hat er auch noch billig ein Gewehr gekauft. Frau Äbtissin
müßte ihn wegschicken.
Aber als Elsie ihrer Tante diese Bestellung ausrichtete, hörte diese nur
flüchtig darauf.
Du mußt dir nicht so viel von den Leuten Vorreden lassen, sagte sie mit
einiger Schärfe, und Elsie dachte an andres. Sie dachte an die Klabunkerstraße,
von der Rosalie ihr schon früher erzählt hatte, und an Alois Heinemann und
an das Bild ihrer Urgroßmutter. Alles andre ging unter in wunderlichen
Träumen.
Es gibt viele Träume. Auch Wolf Wolffenradt träumte, wenn er über den
Dovenhof ritt oder an seinem Schreibtisch saß, um Berechnungen zu machen.
Aber es waren nicht immer angenehme Träume; gewaltsam riß er sich von ihnen
los und dachte an die Ernte und seine Viehställe. Wenn er aber durch seinen
Garten ging, kamen die Träume wieder. Er hörte Kinderstimmen und sah seinen
Jungen durch die Wege laufen. Er hatte ein Recht auf ihn, das wußte er; dann
aber sah er Elisabeth vor sich, seine Frau, seine einzige Liebe. Ja, sie war seine
einzige Liebe; trotz aller Irrfahrten seines Herzens. Deshalb sollte sie die Kinder
behalten, was auch Melitta ihm vorgaukeln mochte. Denn sie war eine Gauklerin,
und deshalb vergaß er sie, sobald er sie nicht sah.
Als er an einem Vormittage von einem ermüdenden Ritte heimkehrte, lag
unter andern Postsachen ein Brief von unbekannter Hand auf seinem Schreibtisch.
Sie achten schlecht auf Ihre Frau, stand darin. Sie tut, was sie will, und betört
alle Menschen. Mittags in der Klosterkirche —
Hier war das Schreiben abgebrochen, und die Unterschrift fehlte. Die ganze
Handschrift hatte etwas Verworrenes. Wolf achtete nicht darauf und warf das
Blatt in den Papierkorb.
An diesem Tage dachte er nicht mehr an den Brief; aber in der nun
folgenden Nacht wachte er auf und ärgerte sich. Was redeten die Leute von
Melitta, und was tat sie? Dann siel ihm Klaus Fuchsins ein. Natürlich, es war
die alte Geschichte. Er las ihr jetzt wohl in der Klosterkirche vor, und die Leute
wunderten sich über den Geschmack der Fran Baronin. Dieser Laune mußte ein.
Ende gemacht werden. Am nächsten Morgen schon reiste er ab nach Wittekind und
um auch glücklich von der Hauptbahn ans den kleinen Klingelzug, der behaglich durch
die Heide weiter rollte. Zwei Stationen aber vor der Wittekinder Haltestelle blieb
die Lokomotive plötzlich stehn, und alle Passagiere mußten aufsteigen. Ein Güter-
Mg war kurz vorher entgleist, und man mußte sich auf ein längeres Warten gefaßt
wachen. Verdrießlich standen die Reisenden auf dieser kleinen windigen Heidestation
umher; einige Leute schalten, und andre erklärten, sie wollten zu Fuß weiter gehn.
war schon spät am Nachmittag, und niemand konnte sagen, wie lange der
Aufenthalt dauern würde. Wolf dachte auch an eine Fußwanderung; und er ging
halb gedankenlos durch das kleine Stationsgebäude auf die andre Seite des Bahn¬
hofs, wo ein schnurgerader Fahrweg mitten zwischen die Felder führte.
Hier hielt ein kleiner Einspännerwagen, und eine behaglich aussehende Frau
verhandelte mit dem Kutscher. . ,
Zeh» Mark bis nach Moorheide? fragte sie laut. Mein besten Mann, das
's zu viel. Sie selbst haben mich gesagt, es wär bloß anderthalb Stunden. So
viel Geld kann ich nich ausgeben, mein besten Mann, ganzen gewißlich nich. Ich
will ja man bloß ein büschen flink hin. weil daß sie da alle krank sind, und ich
die Unruhe hab. Sechs Mark, mein Besten, sechs Mark!
Sie wandte sich um und sah Wolf neben sich stehn.
Wollen Sie vielleich auch mitfahren? Da is noch ein Platz, und wir teilen
es uns denn. Sechs Mark, nich, Kutscher?
Zehn! murrte dieser. Dabei sah er Wolf an, der den Arm auf das Wagen¬
leder gelegt hatte.
Wer ist auf Moorheide krank? fragte er.
Wer?
Madame Heinemann knotete an den Hutbändern und sah den fremden Herrn
fassungslos an.
Ich glaube alle. Die gnädige Frau und die Kinder und nu auch mein
Schwester Rvsalje. Frau Fuchsins hat es an Herr Schlüter geschrieben, und Herr
Schlüter kommt gestern Abend zu mich und sagt —
Steigen Sie ein, unterbrach Wolf sie.
Dann, als sie erschrocken gehorcht hatte, setzte er sich neben sie und schlug den
^Ascher auf die Schulter.
Nach Moorheide fahren! befahl er.
Is mein Reisesack mit, und tut er es for sechs Mark? fragte Madame Heine-
Mann verstört.
Wolf zeigte auf einen bunt gestickten Sack, den der Kutscher zu sich auf deu
^°et gelegt hatte; und dann setzte sich der Wagen langsam in Bewegung. Das
Pferd hatte steife Beine und schob sie bedächtig hintereinander, und der Kutscher
Jndien ebenfalls keine Eile zu haben. Der Wind blies über die flachen Heidefelder,
und Scharen von Vögeln stiegen zum dunkelnden Himmel auf.
Wahn Wind!
. Madame Heinemann hatte sich beruhigt und wickelte sich ein Tuch um
den Kopf.
^ Ich dacht immer, es wehte bloß in Hambuch. Kennen Sie Hambuch, werter
Herr? Ich wohn in die Klabunkerstraße und hab da mein Geschäft; und weil ich
>°n nettes junges Mädchen hab, kann ich auch geruhig weggehn. Herr Schlüter
M auch, Madam Heinemann, sagt er, gehn Sie man hin. Wo Sie doch die
»amilje kennen, und Rosalje nu auch krank is. Wo kann doch einmal son Krank¬
heit schnell kommen! Abers wofor is denn der Freundschaft, wenn man sich nich
helfen will?
Sie schwieg und seufzte ein wenig. Das Pferd schnaubte, und der Kutscher
>aß in sich zusammengesunken.
Dann sind Sie bekannt auf Moorheide? fragte Wolf.
Frau Heinemann schüttelte den Kopf.
Da bin ich noch nich gewesen; abersten ich kenn der Fcimilje, die gnädge
Frau und die Klübers. Sie haben doch in meine Nachbarschaft, in die Paulinen-
terrasse gewohnt, und ich hab mir manchmal gewundert, was die klein Frau sich
durchsingen mußte. Der Mann war weg, und er schrieb furchbar selten. Ich wußt
das von August, von den Briefträger. Wenn der zu mich in den Laden kam,
denn sagt er woll, o, Madame Heinemann, nu hab ich wieder kein Brief for Frau
Wolffenradt in die Paulinenterrasse, nu mag ich da nich hin. Denn sie tutt mir
ümmer so wehleidig an, und ich kann da würklich nix bei tun, daß der Slüngel
von Mann sein klein Frau vergißt. Nee, August konnt da nix bei tun. Abers
nachher kam der Erbschaft; fünfmalhunderttausend Mark, und denn kam der Herr
Baron wieder retuhr. Ich hab ihm nie gesehen; abers es soll ja ein ganz an¬
sehnlichen Mann sein. Viel an ihn is abers doch Wohl nich gewesen, denn —
Sie hielt plötzlich inne.
Ach, mein besten Herrn, was schrack ich da, das geht Ihnen ja allens nich
an. Ich wollt man bloß sagen, daß ich die gnädige Frau auf Moorheide gut
kenne. Nu is sie ja all lang ab von ihren Mann, und der Herr Baron hat ein
andre Frau, ein —
Sie knotete von neuem an ihrem Kopftuch.
Von die Frau sprech ich nich; ich freu mir bloß, daß ich ihr nich kenne. Sie
mag ein schmucke Person sein; dem Herrn Baron sein Herz hat sie ja woll ge¬
stohlen; abers ich freu mir, daß ich ihr nich kenne!
Wieder pfiff der Wind über die Heide, der Kutscher richtete sich in die Höhe
und trieb sein Pferd an, und Wolf Wolffenradt saß regungslos. Er hatte die
Augen geschlossen und horchte auf das Knirschen der Räder im Sande. So
knirschten die Gedanken manchmal in ihm, zermahlten ihn und raubten ihm
die Ruhe.
Auch Madame Heinemann sagte nichts mehr. Teilnehmend betrachtete sie
ihren Reisegefährten von der Seite. Er schien zu schlafen; da wollte sie ihn
schlafen lassen. Aber sie mußte doch darüber nachdenken, ob dieser Herr wirklich
mit ihr nach Moorheide führe, und bet der Gelegenheit nickte auch sie ein.
(Schluß folgt)
Ob die Jesuitendebatte im preußischen Abgeordnetenhause tatsächlich als Aus¬
druck starker Schwingungen der protestantischen Volksseele gelten darf, wird man
an ihren Wirkungen ermessen können. Gelingt es, die protestantische Bevölkerung
aus ihrer Lethargie und Indifferenz in kirchlichen Dingen zu befreien und sie zu
einem wirklichen kirchlichen Leben zu erwecken, so wird sich schon aus diesem Grunde
die Aushebung des Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes und der dabei von pro¬
testantischer Seite geleistete Widerstand als ein Segen erweisen. Aber nachhaltig
muß dieser Widerstand sein, nicht einem augenblicklichen subjektiven Empfinden,
sondern einer unbeugsamen, innerlich gefestigten Überzeugung entstammen. Das
wird die Probe auf das Exempel sein. Freilich wird der evangelischen Bevölkerung,
zumal in Preußen, ein solcher Aufschwung nicht wenig erschwert durch die kirch¬
liche Zersplitterung und durch die innern Gegensätze, die oft kaum weniger schroff
sind als die allgemeinen zwischen Katholizismus und Protestantismus. Während
der Katholizismus eine einheitliche, fest geschlossene Front hat, gehn die Auf
fassungen, und nicht nur diese, von dem äußersten rechten Flügel der Protestantischen
Orthodoxie bis zum äußersten linken eines kirchlichen Radikalismus weit auseinander.
Dieser rechte Flügel steht dem Katholizismus, und politisch dem Zentrum, viel
näher als jenem linken Flügel der eignen Glaubensgemeinschaft. Aber diese Spal¬
tungen sind ebenso wie die zahlreichen politischen Parteibildungen unsers Bürger¬
tums in der Hauptsache Früchte eines langen Friedens, der Nährquelle der In¬
differenz und der Unzufriedenheit. Vor allen Dingen werden sich die protestantischen
Geistlichen aufmachen müssen und — im besten Sinne des Worts — „in das
Volk gehn." Proteste gegen die Aufhebung sind ja laut geworden, aber sie ent¬
behren des elementaren Nachdrucks, der zur Berücksichtigung zwingt und der Re¬
gierung gar keine Wahl läßt. Ob es dennoch durchaus notwendig war, den Para¬
graphen 2 trotz früherer Reichstagsbeschlüsse aufzuheben, darüber kann man ja
gewiß verschiedner Ansicht sein. Die Verantwortliche Neichsleitung hat geglaubt,
mit der Aufhebung das richtige zu tun, und hat sich dafür auf wiederholte positive
Zeugnisse der konservativen, freikonservativen und nationalliberalen Abgeordneten
von Bedeutung stützen können. Es ist richtig, daß diese Parteien nicht einheitlich
gestimmt haben, ein Teil blieb immer Gegner der Aufhebung. Aber sehr ge¬
mäßigt denkende Männer, namentlich unter den Nationalliberalen, auch in privaten
Kreisen, haben sich mit so großer Bestimmtheit für die Aufhebung ausgesprochen,
daß die Negierung, wenn sie nun einmal das Zentrum in dieser Frage zu be¬
friedigen wünschte, dies mit gutem Gewissen tuu konnte. Schwierigkeiten werden
sich ja in der Folge unzweifelhaft ergeben; bei Überschreitungen des Paragraphen 1
werden die Behörden oft nicht wissen, was sie zu tun haben. Sorgt das Zentrum
und sorgen die Bischöfe, deren einem ja ein ganz besondrer Anteil an der Um-
stimmung, die die Aufhebung ermöglichte, zugeschrieben wird, nicht dafür, daß die
Jesuiten in Zukunft jeden Konflikt mit dem Paragraphen 1 vermeiden, so können
daraus noch recht bedenkliche und für die wünschenswerte Beruhigung nichts
weniger als förderliche Folgen entstehn. Beruhige»!) wirkt es jedenfalls nicht, daß
Zentrumsredner und ZentrumSblätter schon heute auch die Aufhebung des Para¬
graphen 1 in sichre Aussicht stellen. Damit rufen sie das allgemeine Mißtrauen
wach und diskreditieren das Wohlwollen, das die Regierung nicht aus Vorliebe
für Zentrum oder Jesuiten, sondern in der Hoffnung auf eine verständige Haltung
des Zentrums gezeigt hat. Jetzt heißt es für den Protestantismus: Auf die
Schanzen! Es ist ja viel weniger die Aufhebung des Paragraphen 2 an sich, als
die beschleunigte und überraschende Art des Vorgehens, die einen so tiefen Ein¬
druck gemacht hat. Das ergab sich am deutlichsten daraus, daß die Debatte im
Abgeordnetenhause rein subjektiv verlief, ohne jedes objektive Eingehn in die
Sache selbst.
Der eigentliche Untergrund der Verstimmung, die in diesen Debatten nach
Ausdruck rang, war wohl viel weniger die Aufhebung des Paragraphen 2, als
vielmehr der Erlaß des Kultusministers wegen der marianischen Kongregationen,
dessen bedenkliche Tragweite sür unser Schulwesen auch in Berliner Regierungs¬
kreisen nicht verkannt wird, und schließlich auch noch die vom Bischof von Metz
so recht unnötig ausgeworfne Kirchhofsfrage. Der elsässische Unterstaatssekretär
Petri hat im Straßburger Landesausschuß das Vorgehn dieses von so hoher Gunst
getragnen Bischofs scharf getadelt und Remedur in Aussicht gestellt; der Staats¬
sekretär von Köller hat es aber in einer folgenden Sitzung für nützlich gehalten,
Herrn Petri nachdrücklich zu rektifizieren. Er hat sich damit in einen bedenklichen
Gegensatz zur Protestantischen Bevölkerung des Landes gestellt, in der sich Herr
Petri der höchste» Achtung und Sympathie erfreut. Alle diese gleichzeitigen Vor¬
gänge sind selbstverständlich nur zu sehr dazu angetan, die Aufhebung des Jesuiten¬
paragraphen in einem ungünstigern Lichte erscheinen zu lassen, als dies sonst vielleicht
der Fall gewesen wäre. Aber täuschen darf man sich in protestantischen Kreisen darüber
nicht, daß die unleugbar großen Fortschritte des Katholizismus in Deutschland, die
politische Machtstellung, die er sich erworben hat, doch wesentlich auf der Lethargie,
der Indifferenz und den Spaltungen der protestantischen Bevölkerung beruht. Geht
es so weiter, dann wird der Katholizismus in Deutschland bald nicht nur eine
Machtstellung, sondern die Herrschaft haben. Soll die vierhuudertjährige Gedenk¬
feier der Reformation Luthers Werk uicht im Niedergang finden, so werden seine
berufnen Hüter ein großes Stück Arbeit leisten müssen!
wächst schnell, der Offizierverlust ist
heute schon größer als während der chinesischen Expedition. Die südafrikanischen
Eingebornenstnmme haben sich in ihren eignen Kriegen immer als ebenso tapfere
wie grausame Krieger erwiesen. Hereros wie Ovambos sind Gebirgs- und Jäger¬
völker mit dem Unnbhängigkeitssinn jener und mit der Widerstandsfähigkeit und Schie߬
fertigkeit dieser. Unbegreiflich ist heute, daß man ihre Bewaffnung mit guten
Hinterladern in solchem Umfang erlauben konnte, und daß man nicht dafür sorgte,
durch geeignete Militärstationen die Portugiesische Grenze zu sperren, die Waffen¬
einfuhr, wenn nicht zu verhindern, so doch wesentlich zu erschweren. Leider ist wie
dieses so auch vieles andre aus Ersparnisgründen unterblieben. Das Verkehrte
dieser Politik wird man jetzt wohl einsehen, wo die Ersparnisse in zehn- und
zwanzigfachem Umfange draufgehn, wahrend zugleich so viclverheißende Anfänge für
die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vernichtet sind. Es ist barer Unsinn,
wenn behauptet wird, daß Südwestafrika nichts wert sei. Die Engländer würden
— wäre das der Fall — nicht so begehrlich die Hände danach ausstrecken. Aber
der wirtschaftliche Aufbau muß mit Umsicht, Verständnis und Konsequenz geleitet
und gepflegt werden. Ob wir Deutschen dazu das nötige und richtige Matertal
haben? Über eins dürfte sich die Kolonialverwaltung klar sein, mit dem Händler¬
wesen muß gründlich gebrochen werden. Diese herumziehenden Leute, die sich
selbstverständlich nicht aus den besten Elementen rekrutieren, tragen an dem Unheil
in Südwestafrika wie an den Unruhen im Croßgebiet (Kamerun) einen wesentlichen
Teil der Schuld. Der Handelsverkehr mit den Eingebornen sollte nur durch die
mit Verkaufsstellen (Stores) ausgestatteten Faktoreien vermittelt werden, alles andre
ist vom Übel und muß verboten werden. Gut geleitete und entsprechend beauf¬
sichtigte Faktoreien werden das Vertrauen der Eingebornen gewinnen können,
herumziehende, nur auf Ausbeutung bedachte Händler niemals. Andrerseits müssen
bei den Eingebornen in Südwestafrika die Kapitänschaften (Häuptlingsschaften) be¬
seitigt werden. Für die den künftigen Siedlungen der Eingebornen zu gebenden
Vorsteher dürfen nur Persönlichkeiten in Betracht kommen, die des vollen Ver¬
trauens, soweit in Afrika davon die Rede sein kann, der deutschen Verwaltung
würdig sind, nicht Häuptlinge, denen von den Deutschen obendrein gar der Hof
gemacht wird, und denen man in völliger Verkennung der Stellung des Weißen
zum Schwarzen allerlei Ehren erweist! Alle diese Fehler und die Grundsätze, auf
denen sie beruhen, sind leider zu spät erkannt worden; wir sind um eine teure
Erfahrung reicher. Doch diese Dinge stehn erst nach völliger Unterwerfung des
Aufstandes zur Erörterung. Auch bei diesen Maßnahmen beginnt der Grundsatz,
sich nur auf das Allernotwendigste zu beschränken, seine Früchte zu tragen. Um
Fehler zu vermeiden, die vielleicht bei der chinesischen Expedition begangen worden
sind, verfällt man jetzt in das entgegengesetzte Extrem. Hat man es damals — und
mit vollem Recht — auf Geld nicht ankommen lassen, sondern nur die Sache im
Auge behalten, so scheint man jetzt den Hauptwert auf die Geringfügigkeit der
Kosten zu legen. Das ist ein Fehler, der sich in der Kriegführung immer rächen
wird, zumal einem Aufstande gegenüber, wo nicht nur schnell, sondern auch so
energisch und umfassend gehandelt werden muß, daß der Erfolg mit unfehlbarer
Sicherheit verbürgt ist. Es hatte gleich bei den ersten Meldungen im Januar
damit gerechnet werden müsse», den Hereros mindestens sechstausend Mann gegen¬
überzustellen, die in wenig Tagen hätten aufgeboten und auf großen Transport¬
dampfern befördert werden müssen, wie es mit dem Seebataillon in so cmerkennens-
werter Weise geschehen ist. Weshalb werden dagegen die Schutztruppenverstärknngen
löffelweise hinausgesandt auf Wörmanndampfern?
Der Gouverneur hat jetzt telegraphiert, er brauche noch tausend Mann. Diese
gehn in drei Transporten innerhalb dreier Wochen, statt in einem Transport
innerhalb von acht Tagen ab. Der letzte kommt erst Anfang Mai nach Afrika,
und das alles bei einem im Januar ausgebrochnen Aufstande, der jetzt Ende März
schon unterdrückt sein sollte und sein könnte. Je länger die Sache dauert, desto
teurer wird sie an Menschenkräften und Menschenleben, desto später erfolgt die
Rückkehr zu normalen Verhältnissen. Wir werden mit Aufständen in unsern
Kolonien noch lange zu rechnen haben, immer wieder werden Truppenentsendungen
mit größter Beschleunigung notwendig werden; sollte sich da nicht durch schneller
funktionierende Organisationen Vorsorgen lassen? Es mag ja gewiß erschwerend
kein, daß Kolonialverwaltung und Kriegsministertum, zwei oberste Behörden, dabei
mitzuwirken haben. Um so mehr ist die Forderung berechtigt, daß die Schutz-
truppen unter das Kriegsministerium gestellt werden, das sie doch stellen und aus¬
rüsten muß. Der jetzige Modus, wonach die Kolonialverwaltung mit dem Kriegs¬
ministerium umständlich abrechnen muß, ist doch wirklich «ur bei unserm übertriebnen
Bureaukratismus und unserm rein schematischen Parlamentarismus möglich und
findet sich bei keiner andern Nation. Auch in dieser Beziehung haben wir noch
dick
Das deutsche Volk befindet sich augenblicklich wieder
in einer Lage, die weiten Kreisen sehr angenehm zu sein scheint, nämlich sich über
^inen andern Teil ereifern und erbittern und zugleich die Reichsregierung aufs
schwerste anklagen zu können. So ist man eifrig dabei, den Jesuiten eine höchst
wirksame und für die Bedeutung des Ordens höchst schmeichelhafte Reklame zu
machen. Daß die Jesuiten den katholischen Kirchenbegriff schärfer ausgebildet haben
als jede andre geistliche Gemeinschaft, und daß sie deshalb eine so strenge Unter¬
ordnung des Einzelnen unter die Befehle der Obern fordern, wie keine andre, daß
sie also im allerschärfsten Gegensatz zu der freien Selbstbestimmung des Protestantis¬
mus und zu dem Selbständigkeitstriebe der germanischen Natur stehn, das ist ja
unbestreitbar. Aber sie prägen doch eben das, was die römische Kirche überhaupt
^, nur schärfer aus, und wir müssen uns doch auch die römische Kirche in
Deutschland gefallen lassen, wir können die historische Entwicklung, die unsre Nation
uun einmal konfessionell gespalten hat, nicht rückgängig machen, wir können die
römische Kirche als eine mächtige Organisation, die mächtigste Organisation der
^ete, nur soweit in ihrer Entfaltung gesetzlich einschränken, als es unser nationales
Interesse, das heißt der konfessionelle Friede eines konfessionell gemischten Volkes und
Ac Staatshoheit verlangen. Im übrigen darf der Kampf, als ein Kampf geistiger
Gegensätze, nur mit geistigen Waffen geführt werden; ans der kulturkämpferischen
Stimmung müssen wir endlich herauskommen. Aber jetzt gebärdet man sich, als
ob die Jesuiten zum erstenmal nach Deutschland kämen, als ob sie nicht schon vor
^872 dagewesen wären. Und doch handelt es sich gar nicht einmal um die Auf¬
hebung des ganzen Gesetzes, sondern nur darum, daß eine Bestimmung beseitigt
""rd, die den Katholiken unbillig und gehässig erscheint. Man überlege sich doch
"und einmal ruhig: gegenüber der Sozialdemokratie, die den Klassenhaß schürt und
Ar ganzen bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung den Krieg bis aufs
-Ucesser erklärt, die sich bei jeder Gelegenheit offen ihrer Vaterlandslosigkeit ge¬
rühmt hat und über Millionen von Anhängern verfügt, ist das Ausnahmegesetz
Ichor 1890 aufgehoben worden; gegen die ausgewiesuen deutschen Jesuiten, eine
one Anzahl jedenfalls gelehrter und gebildeter Männer, die nur einen bestimmten
Rirchenbegriff vertreten, ist es bis jetzt bestehn geblieben und sollte nach der im
protestantischen Deutschland vorwiegenden Stimmung weiter bestehn bleiben. Unter
"Ausnahmegesetz" verstehn wir aber hier nur den ausgehöhlten Paragraphen 2 des
^esuitengesetzes, insofern er deutschen Angehörigen des Ordens allgemeine bürgerliche
Rechte verweigerte, keineswegs das ganze Gesetz, das den Orden als solchen vom
Reichsgebiet ausschließt und Niederlassungen verbietet. Denn es versteht sich von
selbst, daß jeder Staat kraft seiner Souveränität, seines Oberaufsichtsrechts über die
Kirche, des jus ciros, Wera, das Recht hat, Genossenschaften irgend welcher Art,
also auch geistliche Orden, zuzulassen oder zu verbieten (vergl. Treitschke, Politik I,
347 f.), wie bekanntlich zum Beispiel die sächsische Verfassung die Neugründung
von Ordensniederlassuugen schlechthin untersagt; der Kern des Jesuitengesetzes,
Paragraph 1, hat also gar nicht den Charakter eines Ausnahmegesetzes, und unter
diesem Titel kann niemand seine Aufhebung verlangen. Es konnte deshalb auch
Von Anfang an mit voller Bestimmtheit gesagt werden, daß die Reichsregierung an
eine Aushebung des ganzen Gesetzes gar nicht denke, und das hat jetzt der Reichs¬
kanzler im preußischen Abgeordnetenhause noch sehr nachdrücklich erklärt.
Nun fürchtet man freilich, daß einzelne Jesuiten, wenn sie zurückkehren, unter
irgend welcher Verkappung — und man traut ihnen ja alle mögliche Hinterlist
zu — doch Niederlassungen errichten werden, daß sie für ihre Kirche Propaganda
machen werden und dergleichen mehr. Nun, die Propaganda liegt im Wesen jeder
Kirche, und auch die protestantische Propaganda ist, wenn sie auch keineswegs von
den evangelischen Landeskirchen ausgeht, im deutschen Böhmen jetzt eben rege genug.
Es kann also ja sein, daß gewandte Jesuiten, die an Welterfahrung und Gelehr¬
samkeit gewiß sehr ernste Gegner sind, hier und da einige Konvertiten machen und
als Beichtväter in vornehmen katholischen Familien einigen Einfluß gewinnen.
Aber Konversionen gerade in solchen Kreisen sind auch bis jetzt schou vorgekommen,
davon weiß man zum Beispiel in Sachsen ein Lied zu singen, ohne daß dem
katholischen Königshause dabei irgend ein Vorwurf zu machen wäre. Aber was
die Hauptsache ist, eine erzieherische Tätigkeit, wie die Jesuiten sie sonst im großen
Maßstabe ausüben — das Jesuitengymnasium in Mariaschein bei Teplitz hat zum
Beispiel über zweihundert Zöglinge —, bleibt ihnen im Deutschen Reiche nach wie
vor verschlossen, denn sie dürfen keine Niederlassungen gründen.
Das ist der Tatbestand. Und deshalb wird ein Lärm geschlagen, als wenn
die „Seligmacher" des Grafen Dohna in Anmarsch wären. Man bestreitet mit
allerlei Rechtsgründen die Verfassungsmäßigkeit des Bundesratsbeschlusses, man
nimmt Anstoß daran, daß er nur mit einfacher Mehrheit und gegen mehr als
vierzehn Stimmen gefaßt ist, als wenn es sich um eine Verfassungsänderung handelte,
als wenn jede Majorisierung grundsätzlich vermieden werden und womöglich die
unsinnige Stimmenverteilung des alten Bundestags als „engern Rats," die den
Bund schließlich zersprengt hat, oder gar das I^ibsrum oso des polnischen Reichs¬
tags, das Polen zugrunde gerichtet hat, eingeführt werden müßte, als wenn nicht
fogar Preußen bei der Errichtung des Reichsgerichts in Leipzig von den Mittel-
und Kleinstaaten überstimmt worden wäre, zwei Drittel des Reiches durch die
Stimmen des letzten Drittels! Auf welche Weise sollte denn auch ein Beschluß
wieder rückgängig gemacht werden, den Bundesrat und Reichstag mit Mehrheit
gefaßt haben und der Kaiser mit seiner Unterschrift veröffentlicht hat? Man faselt
von der Wiederherstellung eines vorxns Rvanxelioorum, einer übrigens ziemlich un¬
wirksamen Einrichtung des Westfälischen Friedens, und bedenkt dabei gar nicht, daß
dieses ein Lorxus OatKolioorum zur Folge haben müßte, daß beide die konfessionell
geschlossenen Territorien des siebzehnten Jahrhunderts zur Voraussetzung hatten,
die Gott sei Dank längst nicht mehr existieren, da alle deutschen Staaten heute
konfessionell mehr oder weniger gemischt sind, daß dies die konfessionelle Spaltung
in den Bundesrat und in den Reichstag tragen hieße, daß endlich die kirchlichen
Angelegenheiten im wesentlichen Sache der Einzelstaaten und nicht des Reiches sind,
das ja nicht einmal einen Gesandten am Vatikan unterhält, wie bis 1872, sondern
die diplomatische Vertretung bei der Kurie Preußen und Bayern überläßt, daß
deshalb auch der „Kulturkampf" rechtlich eine preußische Angelegenheit war und
keine allgemein deutsche. Man unterwirft die einzelnen Regierungen einer pein¬
lichen Befragung nach ihrer Abstimmung im Bundesrate und spricht ihnen dann,
falls sie günstig ausfällt, seine Anerkennung aus, obwohl dieses Verfahren, die
einen auf Kosten der andern loben, allen Grundsätzen der Bundesfreundlichkeit
widerstreitet, wie das erst jüngst der General Endres bei einer andern Gelegenheit
im Reichtsage unter allgemeinem Beifall ausgeführt hat. Soll das etwa bei jeden:
Beschluß des Bundesrath, der einer Partei nicht gefällt, Mode werden? Man
ruft in einem Atem das Gewissen des deutsch-protestantischen Volkes und die viel¬
geplagten „Imponderabilien der Volksseele" auf und klagt doch über seine kirchliche
Gleichgiltigkeit, und man sieht nicht ein, daß man mit dem allen, mit dieser aber¬
gläubischen Angst vor ein paar Dutzend Jesuiten dem Protestantismus ein Armuts¬
zeugnis sondergleichen ausstellt, das er wahrhaftig nicht verdient. Kein Mensch
bedroht die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland, die Grundlage unsrer
ganzen geistigen Kultur für Protestanten wie für Katholiken, die wir uns niemals
nehmen lassen sollen und werden; aber wenn das so weiter gehn sollte, so würden
wir in einer Lage, wo die schwersten Machtfragen am politischen Horizonte stehn,
in einen widerwärtigen konfessionellen Hader hineintreiben. Dafür träfe dann auch
die katholische Presse und das Zentrum die Verantwortung, da sie immer und immer
wieder die Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes verlangen, das eben kein Aus¬
nahmegesetz ist, denn diese Aufhebung ist — darüber kann kein Zweifel bestehn —
bei der jetzigen Stimmung der deutscheu Protestanten unmöglich. Nicht die Durch¬
führung irgend welches Kirchenideals ist für uns die Hauptsache, sondern der Friede
und die Eintracht innerhalb der deutschen Nation. Diesem Zwecke haben sich alle
Ki
Es ist kaum glaublich, welche Menge von
Büchern und Schriften der Bilsesche Roman „Aus einer kleinen Garnison" und die
Beyerleinschen Erzeugnisse „Jena oder Sedan" und „Der Zapfenstreich" in kurzer
Zeit hervorgerufen und auf den Markt gebracht haben. Wir Deutschen haben bannt
wieder einmal den Beweis geliefert, daß wir selbst immer unser größter Feind sind.
Weder der Franzose noch der Engländer wird einzelne und vereinzelt dastehende
Ereignisse, die in allen Ständen und Berufsarten vorgekommen sind, vorkommen
und immer wieder vorkommen werden, in die Welt posaunen und damit ihre Wehr¬
kraft als auf dem absteigenden Ast stehend darstellen. Wir tun das, denn der
Deutsche kann glückliche Zustände nicht lange ertragen. Die oben erwähnten Werke
werden in Paris und in allen französischen Garnisonen mit wahrem Heißhunger
gelesen. Das auch von den Franzosen so hoch geschätzte und als für ganz einwand¬
frei betrachtete deutsche Heerwesen soll solche Mißstände aufweisen? Ein höherer
französischer Offizier, der unsre letzten Kaisermanöver in dienstlichen Auftrage mit¬
gemacht hat, ist ganz begeistert nach Frankreich zurückgekehrt und des Lobes voll
für unsre Leistungen. Und in Deutschland selbst solche Schriften?! Eine Schrift
»Weder Jena noch Sedan" von Alfred H. Fried schließt aus dem Umstände, daß wir
seit dreiunddreißig Jahren keinen Krieg in Europa gehabt haben, darauf, daß überhaupt
ein Krieg kaum mehr zu erwarten sei. Er nennt es eine Tatsache, daß ein langer
Friede die beste Armee kriegsuntauglich mache. Hat man denn ganz vergessen, daß
Preußen von 1815 bis 1864, also fast fünfzig Jahre lang, abgesehen von den
Kämpfen der Revolutionsjahre 1848/49, Frieden gehabt hat? Trotz alledem war
Preußen 1864 1866 und 1870/71 überall Sieger. Wodurch kamen die Erfolge?
Doch einfach dadurch, daß man in Preußen verstand, die Friedensarbeit richtig aus¬
zunutzen und in den Manövern alles für den Krieg zu lehren, was man überhaupt
im Frieden lehren kann. Wenn also der Verfasser der zuletzt genannten Schrift
behauptet, die alljährlichen Manöver glichen großen Generalproben, böten aber be,
den großen technischen Veränderungen, die seit dem letzten Kriege eingeführt worden
seien, nicht den geringsten Anhalt für die Wirklichkeit, so hat er Unrecht. So gut
die preußischen Manöver in den fünfzig Jahren vor 1864 ihren Zweck wirklich kriegs¬
mäßiger Ausbildung der Mannschaft und der Führer erfüllten, ebensogut werden
es auch die jetzigen Manöver tun. Daß die großen technischen Veränderungen bei
unsern Manövern nicht berücksichtigt werden, ist unrichtig. Denn Automobile, Fahr¬
räder, Maschinengewehre, Telegraphie, Telephonie und alle möglichen Signalarten
werden in unsern Manövern reichlich verwandt. Daß unsre Manöver nicht als
bloße Schauspiele angesehen werden, beweist schon der Umstand, daß alle Großstaaten,
namentlich aber England und Frankreich, immer höhere Offiziere ihrer Armeen zu
diesen Manövern befehlen.
Die genannte Schrift „Weder Jena noch Sedan" kommt auch auf den Ge¬
danken der Abrüstung, glaubt aber und gewiß mit Recht, daß es schwer sein
würde, alle Staaten zu einer gleichzeitigen Abrüstung zu bewegen, und ist der
Ansicht, daß die Abrüstung eines einzelnen Staates ein Unding sei. Es ist merk¬
würdig, daß der Begriff unsers auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden
Heeres immer noch nicht in die weitesten Kreise gedrungen ist. Wie ich in meinem
Aufsatze in den Grenzboten von 1898 „Zur Abrüstungsfrage" schon betont habe,
kann bei den auf allgemeiner Wehrpflicht beruhenden Heeren von einer Abrüstung
überhaupt nicht die Rede sein. Unser Heer ist kein Söldnerheer, das man durch
Anwerbung jeden Tag vergrößern, durch Entlassung jeden Tag verkleinern kann.
Unser Heer ist eine Schule des Volkes zur Erziehung des Charakters, der Ent¬
schlußfähigkeit und zur Ausbildung des Körpers. Neben unsrer allgemeinen Wehr¬
pflicht steht, wie ich auch schon mehrfach erwähnt habe, die allgemeine Schulpflicht,
überhaupt unsre systematische geistige Ausbildung.
Nun will der Verfasser allerdings die Abrüstung auch nicht durch eine Ver-
mindrung der Heere bewirken, sondern durch eine völlige Reform der Heeres-
orgcmisation. Er will mir ein Verteidigungsheer haben und kommt schließlich
auf Miliz. Die Miliz soll „das Offizierkorps vollständig regenerieren und ihm trotz
der mangelnden Kriege die Berufsfreudigkeit geben." Ja, aber unsre allgemeine
Wehrpflicht stellt ja doch nur auch ein Milizheer auf, selbstverständlich aber ein
solches, das eine Dienstzeit verlangt, die zur völligen Ausbildung genügt. Von
einer Dienstzeit von einigen Wochen, die der Verfasser als genügend für die Miliz
bezeichnet, um ein Verteidigungsheer auszubilden, kann keine Rede sein. Was Miliz¬
heere leisten, reicht weder für Verteidigungs- und noch viel weniger für Angriffs¬
kriege aus. Das zeigt uns der Burenkrieg in Transvaal und zeigen uns die
Mvbilgardenheere Gambetws im letzten französischen Kriege. Und diese Mobtl-
gardisten hatten die wenigen Wochen ihrer Ausbildung sogar in kriegsmäßigem
Zustande durchgemacht. Und dann vergißt der Verfasser, daß eine wirksame Ver¬
teidigung ohne energischen Angriff überhaupt nicht geführt werden kann; also mit
einem nur für die Verteidigung ausgebildeten Heere ist niemand geholfen.
Daß die Beziehungen der Staaten in Enropa zueinander, die Staaten¬
symbiose, das Zusammenleben der Staaten, wie der Verfasser sagt, Kriege seltner
macht, ist richtig. Die Symbiose ist eine Folge von Eisenbahnen, Telegraphen usw.,
wodurch die Entfernungen gekürzt und die Völker näher aneinander gebracht werden,
wodurch auch ihre Interessen mehr und mehr dieselben sind. Wenn früher ein Ritter
gegen den Besitzer seiner Nachbarburg, eine Stadt gegen die andre Fehde führte,
so berührte das die auf wenig Stunden entfernten andern Burgen und Städte
nicht. Jetzt ist das anders. Der Krieg in Transvaal übte seinen Einfluß auf
Handelsbeziehungen auch in Europa aus, und schon der Anfang des Krieges zwischen
Rußland und Japan macht sich an unsrer Börse bemerkbar. Wenn also bet den
heutigen Kriegen Freund und Feind und sogar Unbeteiligte Not leiden, so wird
man Kriege immer nichr zu vermeiden suchen und zwischen europäischen Staaten
in Europa selbst so wenig wie möglich führen.
Das schließt aber nicht aus, daß wir unser Heer in andern Erdteilen brauchen.
Die Unrichtigkeit der Annahme, daß gerade unser Heer, wie man aus den „Jena
und Sedan "-Schriften schließen könnte, nicht mehr auf der Höhe wäre, beweist die
Expedition nach China unter Generalfeldmarschall Graf Waldersee, wo in unglaublich
kurzer Zeit eine ganze Division aus lauter Freiwilligen zusammengestellt und mit
allen Vorräten usw. auf eignen deutschen Schiffen nach China entsandt werden
konnte. Welches Ansehen Deutschlands Heerwesen im Auslande genießt, geht daraus
hervor, daß sich alle Staaten, die an dem Feldzuge teilnahmen, sogar Frankreich,
wenn auch ungern, unter den Oberbefehl des Grafen Waldersee stellte-,. Eine
ebenso vorzügliche Leistung war vor einigen Wochen die Sendung von Hilfstruppen
nach Deutsch-Südwestafrika gegen den Herero-Aufstand. Von einer Verschlechterung
unsrer Heereseinrichtuugen kann also keine Rede sein. Immerhin sollen uns die
Schriften als Warnung dienen, denn schon in der Bibel heißt es: „Wer sich dunkel,
er stehe, der sehe wohl zu, daß er nicht fallet"
Glücklicherweise sind aber neben den vielen Romanen, Schriften und Witz¬
blättern, die mit Behagen Mißstände und Lächerlichkeiten aus dem Heere und aus
dem Offizierkorps in die Öffentlichkeit bringen, auch Zeitungsstiminen und Schriften
erschienen, die diesen Bestrebungen mit Ernst entgegentreten. So sagt Fedor
von Zobeltitz in der Neuen Freien Presse, es wäre doch endlich Zeit, daß Witz¬
blätter wie Simplicissimus, Lustige Blätter usw. ihre Spöttereien gegen deu deutschen
Offizier einstellten. Er zeichnet in kurzen Worten die ernste und aufreibende Tätigkeit
der heutigen Offiziere bei der Ausbildung unsrer Truppen. Möchten sich das die
Spötter über unser Heerwesen endlich einmal vor Augen halten! Und eine bei
E. S. Mittler in Berlin erschienene Broschüre, die offenbar der Feder eines ältern,
erfahrnen Offiziers entstammt und auch den Titel „Jena oder Sedan Ein Wort
zur Abwehr" führt, tritt Beyerleins Schriften in ruhiger, sachgemäßer Werfe und
auf die Geschichte des Heeres gestützt entgegen. Diese Schrift, die hoffentlich werte
Verbreitung findet und jedermann empfohlen sei, schließt mit den Worten: „Laß
dich nicht beirren, du deutsches Heer! Sammle und stärke die Kräfte deines Vater¬
landes; das sei und bleibe dein heiliges Amt! Tue unverdrossen deine Pflicht, un¬
bekümmert darum, ob und wann du einst deine Kraft wirst beweisen können, und
laß andre sich den Kopf darüber zerbrechen, ob deine ruhmreichen Fahnen einem
J
Bei verschiednen Gelegenheiten haben wir, von List und
Rodbertus belehrt, nachgewiesen, daß die Sparsamkeit, eine so löbliche Privattugeud
sie auch sein mag, als allgemeine Gewohnheit das Volk nicht reich, sondern arm
macht. Ein Amerikaner nun hat jetzt, in Einzelheiten eingehend, diese Wahrheit
kalkulatorisch nachgewiesen und gezeigt, wie jedes Sparen von dem Augenblick an,
wo das Ersparte nicht mehr in Kapital verwandelt, d. i, produktiv verwandt werden
kann, bestimmte andre Personen und das ganze Volk ärmer macht, während der
Verschwender meist nur sich und seine Angehörigen schädigt, der Volkswirtschaft
"ber nützt. Das Schriftchen ist mit einem Kommentar von Adolf Wagner in
Brooklyn ohne Angabe des Verlegers herausgekommen: „Depressionsperioden
und ihre einheitliche Ursache von I. I. O. Lahn, Verfasser von- Kreislauf des
Geldes und Mechanismus des Soziallebens. Brooklyn. N. Y.. 1903. Prof. Ad.
Wagners Kommentar zu den Seiten 62 bis 67." Die einheitliche Ursache der
Depressionen ist eben das Zurückbleiben des Verbrauchs hinter der Produktion.
Wagner schreibt: „Ich räume ein. was ich früher mehr bestritt, daß der Verfasser
einen sonst vernachlässigten Punkt richtig aufgedeckt hat." Für uns Deutsche ist am
wichtigsten, was auf Seite 57 steht: „Eine Depressionsperiode wird um so rascher
überwunden, je rascher die Chancen für erneute umfangreiche und andauernde Ka¬
pitalbildung heranreifen. Hier zeigt sich hauptsächlich die Zunahme der Bevölkerung
als bestimmender Faktor, denn mit dem Anwachsen der Volkszahl steigt das Be¬
dürfnis nach neuen Häusern. Fabriken usw.. und dieses Bedürfnis bildet die Grund¬
lage für neue Kapitalbildung. Beim Beginn der Depression mochte dre Bevölkerung
nicht groß genug sein, die Masse des vorhandnen Kapitals in Betrieb zu erhalten;
hat sich aber nach einer Reihe von Jahren die Volkszahl bedeutend vergrößert, und
dazu der Umfang des Kapitals eher vermindert als vermehrt, so ist die Zeit für
den Umschwung herangereift. — In einem Lande wie den Vereinigten Staaten,
Wo die Bevölkerungszahl noch weit von der Ernährimgsgrenze abliegt und sich für
den Aufbau neuen Kapitals überaus zahlreiche Gelegenheiten bieten, wird eine De¬
pression, die sich infolge überstürzter Kapitalbildung einstellt, viel rascher überwunden
werden als etwa in Deutschland, wo die Ernährungsgrenze schon überschritten ist,
und die Gelegenheiten für den Aufbau neuen Kapitals verhältnismäßig selten ge¬
worden sind. Im allgemeinen darf man annehmen, daß je mehr Kapital schon
aufgebaut ist, desto weniger aufzubauen übrig bleibt."
Hier wäre der Ort gewesen, die Zustände zu beschreiben, die sich in einem
übervölkerten Land entwickeln. Ist seine Bevölkerung so rege und energisch wie
die deutsche, und sind überdies seine Staatseinrichtungen darauf berechnet, allge¬
meine Tätigkeit zu erzwingen, so tritt eine Stockung, die allgemeine Arbeitlosigkeit
zur Folge hätte, noch nicht sofort ein, und die Kapitalbildung schreitet noch eine
Zeit lang fort. Aber viele von den Gütern, die mit den neuen Kapitalien erzeugt
werden, sind von geringem Wert, und der in Geld berechnete Reichtum des Volks
ist zu einem großen Teil Scheinreichtum. Der Durchschnittsangehörige dieses Volks
hat zu wenig Natur und Naturerzeugnisse — diese aber sind die beglückenden,
darum wahrhaft wertvollen — und dafür so viel Kunsterzeugnisse, daß sie ihm zur
Last werden. Er hat zu wenig Wohnraum, reine Luft, kostenloses reines Wasser,
Garten, Spielraum, Fleisch, Milch, Eier, Obst, dafür zu viel Bier, Schnaps, Tabak,
„Costümes," Ansichtskarten, Nippsachen, unbrauchbaren, bloß der Mode wegen an¬
geschafften Hausrat, Literatur und Zeitungschnnd. In den konservativen Zeitungen
wird augenblicklich über den durch den Götzen „standesgemäß" erzwungnen Luxus
der Offiziere und der mittlern Beamten gejammert und die Rückkehr zur altpreußischen
Einfachheit gepredigt. Volkswirtschaftlich angesehen bedeutet dieser Jammer: die
produktiven Stände haben die Wahl, ob sie durch die Rückkehr der Konsumenten
zur Einfachheit ruiniert werden wollen oder dnrch einen Steuerdruck, der es durch
fortwährende Steigerung der Besoldungen den Offizieren und Beamten möglich macht,
in immer luxuriöserer Lebensführung mit dem Wachstum des Produktivkapitals gleichen
Schritt zu halten. Auch die vermehrten Ansprüche an die Equipierung, von denen
behauptet wird, daß sie für sich allein schon hinreichten, einen ganz soliden aber
mittellosen Leutnant zugrunde zu richten, sind auf mehr oder weniger unbewußte
Anpassung an das steigende Absatzbedürfnis der Industrie zurückzuführen.
Mundhygienische Trilsgie.
n dem Aufsatz „Papst Pius der Zehntes mit dem Joseph Mayer
in Nummer 10 der Grenzboten eine neue Reihe seiner interessante»
Artikel „Catholica" einleitet, gibt er eine anziehende Charakteristik
des gegenwärtigen Papstes und seiner bisherigen Politik ans
Grund einer offenbar sehr weit hinaufreichenden Kenntnis vom
Standpunkte der Kurie aus. Da er dabei von zwei meiner eignen Artikel
ausgeht, so mag es gestattet sein, im Anschluß daran einige Punkte seiner
Ausführungen schärfer zu beleuchten, nicht deshalb, weil dem vortrefflich
unterrichteten römischen Verfasser diese Dinge unbekannt wären, sondern nur,
Um zu zeigen, wie sich die von ihm berührten Verhältnisse und Ereignisse von
euiem andern Standpunkt aus gesehen ausnehmen, der auch seine Berechtigung
und jedenfalls den Vorzug hat, der historischen Entwicklung ihr gutes Recht
Zu wahren.
Joseph Mayer betrachtet die Einziehung der Kirchengüter und des Kirchen¬
staats als einen „Raub," und das war sie wirklich vom Standpunkte der
Kirche ans. Es fragt sich nur, ob dieser abstrakte Nechtsstandpunkt der ma߬
gebende, ob er historisch überhaupt haltbar ist. Die Geschichte bewegt sich be¬
kanntlich nicht selten in Nechtsbrüchen vorwärts, dann nämlich, wenn das gel¬
tende, das positive Recht den neuen oder veränderten Bedürfnissen eines Volks
widerspricht und sich auf rechtlichem, gesetz- oder vertragsmäßigen Wege nicht
andern läßt. Deshalb sind die Kirchengüter, deren Charakter sie ja der freien
wirtschaftlichen Entwicklung entzieht, in allen europäischen Kulturstaaten ge¬
legentlich eingezogen worden, nämlich dann, wenn jener Widerspruch zu grell
geworden war, oder wenn dringende Staatsbedürfnisse das forderten. Das ist
^ Deutschland seit der Reformationszeit nach und nach geschehen, in Frank¬
reich durch die Revolution mit einem Schlage, und dort beruht darauf die Be¬
kundung eines freien Bauernstandes, in Deutschland die notwendige Steigerung
der landesherrlichen Gewalt.
In Italien hat die neue Regierung von diesen ihr zur Verfügung stehenden
kolossalen Giltermassen leider keinen vernünftigen sozialen Gebrauch zu machen
verstanden, sondern damit mir vorübergehenden finanziellen Verlegenheiten ab¬
geholfen, und sie ist dabei oft zu gewalttätig und ohne die gebotne Schonung
vorgegangen. Deshalb erscheint die ganze Maßregel noch heute den Anhängern
der Kirche in einem gehässigen Lichte, aber so oder so wäre sie doch unver¬
meidlich gewesen. Was für den Grundbesitz der Kirche gilt, das gilt in noch
höherm Grade von ihrer politischen Herrschaft. Zu einer solchen ist die römische
Kirche im Mittelalter nur deshalb gelangt, weil sie sich ohne weltlichen Besitz
und staatliche Rechte in diesem Zeitalter der Auflösung und Unsicherheit gar
nicht hätte behaupten können. Natürlich unterlagen diese Kirchenstaaten dem
allgemeinen Schicksal aller Staatengebilde. Die italienischen Kirchenstaaten
haben sich im Norden des Landes schon während des zwölften Jahrhunderts
in Stadtrepubliken verwandelt; übrig blieben nur das päpstliche Gebiet und
einige kleine Klosterherrschaften wie Monte Cassino. In Deutschland verloren
die geistlichen Fürstentümer ihre Selbständigkeit zum Teil schon in der Re¬
formationszeit, 1648 wurden eben diese mit weltlichen Staaten vereinigt, 1803
geschah dasselbe mit den noch übrigen, und keine Hand hat sich damals für
ihre Wiederherstellung erhoben, denn sie hatten ihre Aufgabe erfüllt; der
moderne Staat gewährte der Kirche den Schutz, den sie sich im Mittelalter
selbst hatte schaffen müssen.
Von diesen längst verschwundncn Kirchenstaaten war der päpstliche nur
der Größe, nicht dem Wesen nach verschieden, und wie mangelhaft der Schutz
gewesen ist, den er dein Papsttum, sogar in seiner größten Ausdehnung, im
sechzehnten Jahrhundert gewährt hat, das ist bekannt; es war also ganz
natürlich, daß er endlich dasselbe Schicksal hatte, wie alle andern Kirchen¬
staaten schon lange vorher. Was ihm den Untergang gebracht hat, das war
auch keineswegs der böse Wille der piemontesischen oder der italienischen Ne¬
gierung, das war der unwiderstehliche und berechtigte Drang der gebildeten
Italiener nach nationaler Einheit auf der einen, die Unfähigkeit des universalen
Papsttums auf der andern Seite, eine nationalitalienische Politik zu treiben.
Wenn sich die Hoffnungen, die man 1848 auf Pius den Neunten setzte, erfüllt
Hütten, so bestünde der Kirchenstaat wahrscheinlich heute noch; ja noch Viktor
Emanuel der Zweite wäre bereit gewesen, noch 1870, sich über ein weltliches
Vikariat mit Rom zu verständigen, und wenn er endlich Rom nahm, so geschah
das nur, weil das sonst die republikanische Aktionspartei getan hätte, und er
das unter keinen Umständen erlauben durfte. schlechthin von Recht oder Un¬
recht der einen oder der andern Partei kann in diesem Konflikte gar keine
Rede sein; beide Teile taten, was ihrem Wesen entsprach, und nicht so darf
die Frage gestellt werden: War das, was da geschah, im juristischen Sinne
ein Raub, also ein Unrecht, sondern nur so: Hat das Papsttum die für seine
kirchliche Selbständigkeit unentbehrliche, seiner universalen Würde entsprechende
Unabhängigkeit auch unter den neuen Verhältnissen bewahrt oder nicht? Die
vierunddreißig Jahre, die seit dem Einzuge der Italiener durch die Porla
Pia verflossen sind, haben diese Frage, solltet! wir meinen, hundertfach be¬
jaht und das Papsttum auf eine Höhe der geistlichen Macht und des An¬
sehens erhoben, von der noch vor fünfzig Jahren niemand auch nur zu
träumen wagte.
Trotzdem sind auch denkende patriotische Italiener vollkommen davon über¬
zeugt, daß die Art der 1870 vollzoguen Lösung der römischen Frage in
diesem Augenblick zwar unvermeidlich, aber ein Unglück war, weil sie die Aus¬
söhnung zwischen dem Staat und dem Papsttum aufs äußerste erschwert und
bis jetzt verhindert hat. In Cavours Sinne war diese gewaltsame Lösung
gar uicht, und es wäre wohl denkbar, daß seine feste Hand sie 1870 ver¬
hindert hätte, nachdem die Franzosen Rom geräumt hatten, und die nationale
Schmach einer fremden Besatzung auf italienischem Boden getilgt war. Auch
später uoch haben hervorragende Männer wie der Mailänder Gaetano Negri,
der 1902 als Senator des Königreichs starb, diesen sehr unpopuläre» Stand-
punkt offen und nachdrücklich vertreten. „Der Papst-König, sagte er einmal,
der jeder Idee des Fortschritts und der Zivilisation feindselig war, der
notwendigerweise in die Politik und die Verwaltung den Absolutismus der
dogmatischen Unfehlbarkeit übertrug, war in der Bewegung der Welt eine
isolierte Gestalt, gegen die sich alle lebendigen Kräfte der menschlichen Seele
erhoben. — Die Gewalttat an der Porta Pia verwandelte ihn in ein Opfer
und gab ihm mit dem Glorienschein der Verfolgung eine Anziehungskraft,
die er völlig verloren hatte. Mit seinen Generalen und Schergen war er
ein lächerlicher Feind; bewacht und geschützt vom nationalen Heere, spielt er
die Rolle des Gefangnen und ist ein furchtbarer Feind." Deshalb sprach
sich Negri noch am 17. Juli 1895 im Senat gegen den Gesetzentwurf aus,
den 20. September zum Nationnlfesttage zu erheben: „Die Pfeile, die wir
gegen das Papsttum schleudern, fallen auf uus selbst zurück. . . . Ein reli¬
giöses Problem wird nicht durch Kanonenschüsse und Gesetzparagraphen (wört¬
lich: g, volpi all eaimoiKZ o g, eolxi all IkM) gelöst, sondern durch innere
Kräfte, durch die die religiöse Macht (it xotsio reliZioso, nämlich die
Kirche) einer Umwandlung zugeführt wird." An eine Versöhnung in abseh¬
barer Zeit glaubte er nicht; die absolute UnVersöhnlichkeit sei für das Papst¬
tum die vorteilhafteste Position, denn sie gebe ihm die Möglichkeit, „vor der
Welt das Edelste, das Sympathischste, was es gibt, zu vertreten, die sieg¬
reiche Schwäche.""')
Auch I. Mayer erwartet erst von einer fernern Zukunft die Lösung der
römischen Frage, und er ist geneigt, sie als eine für das Papsttum ziemlich unter¬
geordnete zu betrachten, räumlich und zeitlich: „Das heutige Verhältnis zu Italien
spielt im Leben einer zweitausendjährigen Einrichtung eine sehr kleine Rolle."
Mag sein, aber auch Papsttum und Kirche leben zunächst in der Gegenwart und
haben mit der Gegenwart zu rechnen, und so ganz gleichgiltig kann auch der
Kurie das Schicksal eines großen Volkes nicht sein, in dessen Mitte sie selbst
lebt und leben muß, und aus dessen Söhnen sie zum allergrößte»! Teile ihre
Kräfte nimmt. Oder will sie ruhig zusehen, wie die nach Mayers Beobachtung
rasch anwachsende republikanische Strömung das Haus Snvvyen hinwegfegt und
über das Laud das Chaos herausführt? Ein republikanisiertes Italien würde
mit allen Rechten und Gütern der Kirche noch ganz anders aufräumen als
ein monarchisches, denn es würde von Atheisten regiert sein. Oder sollte man
im Vatikan daran denken, die dann unausbleibliche Verwirrung zur Wieder¬
herstellung des Kirchenstaats mit fremder Hilfe zu benutzen? Das wäre bettet
doch ein gar zu hoher Preis für die Aufrichtung einer entbehrlich gewordnen
Institution, die weder auf einem Dogma uoch auf irgend einem Worte Christi
oder der Apostel beruhte. Heißt es ja doch: „Mein Reich ist nicht von dieser
Welt." Von dem Hochsinn, der Weisheit und dem Patriotismus Pius des
Zehnten darf man uicht annehmen, daß er an solche Möglichkeiten denkt oder
gar etwas tut, sie herbeizuführen.
Allerdings, die Anschauung I. Mayers, daß die Dinge, wie sie heute
liegen, nicht mehr lange so bleiben können, wird auch auf andrer, nicht
klerikaler Seite geteilt. In einem höchst interessanten Artikel geht Giacomo
Bnrzellvtti, Professor an der Königlichen Universität Rom, deu in Italien
bisher regierenden Ständen und Parteien mit einer so scharfen und rückhalt¬
losen Kritik zu Leibe, daß es auch für die Leser der Grenzboten, die den
italienischen Verhältnissen immer eine größere Aufmerksamkeit gewidmet haben
als andre deutsche Zeitschriften, von Interesse sein wird, deu Gedankengang kennen
zu lernen.*) Die beiden großen Parteien des Landes, so führt er aus, die
klerikale und die liberale, diskutieren gar nicht miteinander, üben also auch keinen
Einfluß aufeinander aus, sie reden gewissermaßen immer aneinander vorbei.
Die Liberalen lesen die klerikalen Zeitungen nicht (sogar in Rom sind sie fast
nur am Gehn zu haben), und ihre Blätter berichten über päpstliche Erlasse
und dergleichen nur flüchtig, oder sie ignorieren sie ganz. Auch der rege gesell¬
schaftliche Verkehr zwischen den Angehörigen beider Parteien führt zu keinem
Meinungsaustausch über Politik.
An diesem sonderbaren Verhältnis, das in Belgien oder Frankreich ganz
unerhört wäre, tragen beide Teile die Schuld. Die Klerikalen können es nicht
über sich gewinnen, sich auf den Boden der vollendeten Tatsachen zu stellen,
also am politischen Leben teilzunehmen (an der städtischen Verwaltung nehmen
sie sogar sehr eifrig teil, anch in Rom), was doch die deutschen Klerikalen (trotz
aller Säkularisationen, also trotz zahlreicher „Rechtsbrüche!") tun, denn sie träumen
immer noch von der unmöglichen Wiederherstellung des Kirchenstaats, die ja auch
Leo der Dreizehnte erstrebt hat. Die Liberalen aber, d. h. die herrschenden Stände,
stehn auf rationalistischer, ja materialistisch-atheistischer Grundlage, oder sie huldigen
neuerdings teils der Herrenmoral (morals asi x^ärovi, asi suxeruommi) Nietzsches,
teils dem modischen Buddhismus; sie haben also gar kein religiös-sittliches Ver¬
ständnis und Interesse, haben keine Vorstellung von der Macht des Papsttums
und der Kirche, stehn deshalb auch den im ganzen kirchlich gesinnten Massen
fern und betrachten den Staat nur als eine Veranstaltung zur Befriedigung
materieller und persönlicher Interessen. Deshalb ist auch der Parlamentarismus,
der vou außen hereingetragen worden ist und für Italien gar uicht paßt, in
eine Cliquenwirtschaft entartet, und der Staat steht sozusagen außerhalb der soziale»
Frage, während die Kirche ihrer Natur nach mitten inne steht. Ein „innerer
Bankerott" (wnoarotw imo'RA) ist die Folge. Für die Losung der römische» Frage
haben deshalb die regierenden Parteien gar nichts geleistet; sie haben dem Papst¬
tum gegenüber n»r „eine Politik der Nadelstiche" (una xolitiea » oolxi all sMo)
verfolgt. Der tiefste Grund für diese Unfruchtbarkeit liegt darin, daß Italien
seine Neuzeit »icht wie Deutschland, Frankreich und England mit einer großen reli¬
giösen Bewegung begonnen hat (sondern mit der ästhetischen und philosophischen,
mwolkstümlicheu Renaissance). -Und doch zeigt die Wärme, mit der ungezählte
Volksmassen aus allen Stunden am 4. August vergangnen Jahres dem neuge¬
wählten Papst ganz spontan, ohne jeden äußern Anstoß huldigten, daß die
Überzeugung von der Macht der Kirche tief in den Herzen wurzelt. Diese Kirche
aber muß mehr und mehr zentralisieren, je mehr ringsum die Auflösung dnrch
den Liberalismus (d. h. hier deu Unglauben) um sich greift, und je mehr sich
die liberale Anschauung, der freie Gedanke könne die Religion ersetzen, als eine
..wissenschaftliche Lüge" (wen?oA0Ä cU soisn--») erweist. Mit Italien aber ist das
Papsttum aufs engste verwachsen; ja es hat, indem es die alte Bedeutung Roms
erhielt, erst die Möglichkeit geschaffen, daß dieses die nationale Hauptstadt wurde.
"Wir durften niemals und dürften niemals uns dem politischen Papsttum unter¬
werfen, niemals unmögliche Versöhnungsbedingungen vorschlagen oder annehmen.
Wir mußten die hohe sittliche Macht des religiöse» Papsttunis begreife» und
achten. Das gerade habe» wir »icht getan. Das fühlte die Menge, die sich
am 4. Attgllst auf dem Petersplatz und im Innern der großen Kirche drängte.
Der Rückblick auf diesen Moment... kann uns für die Zukunft orientieren."
Wie dieser Gegensatz überwunden werden könne, das führt Barzellotti nicht näher
ans, aber offenbar betrachtet er als die Grundlage dazu eine Wendung der
herrschenden Stände zur Religion, eine Abkehr von dem leeren und impotenten
Nationalismus und Atheismus. Auch I. Mayer ist viel zu zurückhaltend, als
daß er positive Vorschläge machen möchte, aber was er über die ersten Ma߬
regeln Pius des Zehnten sagt, das eröffnet vielleicht eine Aussicht. Der Papst
hat zunächst an dem von kxxscM, also an dem Verbot der Teilnahme am
politischen Leben für die „treuen Söhne der Kirche" festgehalten, aber nicht nur
"us prinzipiellen, sondern auch aus praktischen Gründen. Die italienischen
"Katholiken" sind bis jetzt nicht organisiert, würden also auch nichts leisten
können. Auf eine solche Organisation scheint Pius hinzuarbeiten, wie er sie
schon als Patriarch in Venedig durchgesetzt hat. „Was er tun wird, sagt
I- Mayer, wenn die italienischen Katholiken einmal auf der Höhe der Disziplin
der deutschen Katholiken angekommen sein werden (d. h. ob er dann das mein
npoM fallen lassen wird), entzieht sich natürlich jeder Beurteilung." Gesetzt
den Fall, er oder ein Nachfolger erlaubte dann die Teilnahme an der Politik,
was mit einem wenigstens stillschweigenden Verzicht auf die Wiederherstellung
des Kirchenstaats verbunden wäre, so würde sich sofort eine starke klerikale
Partei, ein italienisches Zentrum bilden, die, wenn sie, was nicht zu bezweifeln
ist, gut geleitet würde, die bisher herrschenden Parteien leicht aus dem Sattel
heben und den italienischen Staat beherrschen könnte. Darin könnte dann das
Papsttum eine Entschädigung für deu Verlust seiner weltlichen Macht finden.
Ob eine solche Wendung wünschenswert wäre, mag hier dahingestellt bleiben;
so lange aber die Kurie jedem treuen Italiener die Eigenschaft eines treuen
Katholiken abspricht, so lange wird die kirchen-, ja religionsfeindliche Richtung
unter den gebildeten Italienern nicht erlöschen, sondern zunehmen, und das zu
fördern ist doch wohl nicht die Aufgabe der römischen Kirche. Der universale
Gedanke, den sie vertritt, ist gewiß großartig und berechtigt, aber die Mensch¬
heit zerfällt nun einmal in selbständige Völker, und deren besondre Bedürfnisse
kann auch die römische Kirche nicht ignorieren.
ührend einiger Tage hat im preußischen Abgeordnetenhaus« wieder
^ eiuma l der Geist des Kulturkampfes geweht. Die Wiederzulassung
katholisch-religiöser Schülervereine, die der Aufhebung des Para¬
graphen 2 des Jesuitengesetzes unmittelbar voranging, wurde als
ein neuer Sieg des Zentrums beklagt, und die Gefahr der Aus¬
lieferung der Schule an Ultramontanismus und Jesuitismus in düstern Farbe»
geschildert. In Wirklichkeit ist der angenommne Zusammenhang der beiden
Maßregeln gar nicht vorhanden. Die preußische Unterrichtsverwaltung hat das
Verbot der katholischen Schülervereine auf Grund ihrer eignen wohlbegründeten
Erwägungen aufgehoben, und zwar war für sie vor allem die Rücksicht
entscheidend, daß evangelische Schülervereine mit religiösem Charakter an den
höhern Lehranstalten nicht nur geduldet, sondern begünstigt und gefördert werden.
Auch diese zu verbieten, wie Herr von Eynern vorschlug, sieht sie keinen Anlaß;
die Parität verlangt aber auch eine gleiche Behandlung der katholischen
Vereine, selbstverständlich mit den nötigen Vorkehrungen gegen Mißbräuche.
Die preußische Unterrichtsverwciltung hält es nicht für ratsam und wohlgetan,
Eltern in den Weg zu treten, die es als ihre Gewissenspflicht betrachten,
durch besondre kirchliche Hilfsmittel und Organisationen den religiösen Sinn
ihrer Kinder zu heben und sie vor sittlichen Gefahren zu schützen. Sie will
also Vereine mit solchen Zwecken zulassen, vorausgesetzt, daß dadurch die Ord¬
nung der Schule und die Erfüllung ihrer Aufgabe nicht gestört wird. Auch
die sogenannten Marianischen Kongregationen sind von der Genehmigung nicht
ausgeschlossen, jedoch ist für sie die besondre Bedingung gestellt, daß sie unter
der Leitung des Religionslehrers der Anstalt stehn müssen. Dadurch ist den
^efürchtnngen, daß sich die Jesuiten der Leitung bemächtigen könnten, der
<oder entzogen.
Die Bedeutung dieser Kongregationen ist im Abgeordnetenhause wie in
Presse außerordentlich überschätzt worden. Für die nächste Zeit allerdings
^rd ihnen diese von ihren Gegnern ausgegangne Reklame bei noch unent-
ichiednen katholischen Eltern zustatten kommen. Was aber die Störung des
konfessionellen Friedens betrifft, so ist diese weit weniger von der Zulassung
wieder religiösen Vereine zu befürchten, als von deren weiteren Ausschluß bei
en immer lebendig bleibenden und laut werdenden Forderungen und Beschwerden
"»es großen Teils der katholischen Bevölkerung.
Was die Kautelen betrifft, die in dem Ministerialerlaß vom 23. Januar
904 gegen eine mißbräuchliche Entwicklung des religiösen Schülervereinswesens
orgesehen sind, so kann die Frage, ob sie an sich ausreichend seien, unbedingt
'e^ahd werden. Die Zulassung jedes Vereins ist abhängig von der Genehmigung
°es Provinzialschulkollegiums, und diese darf nur mit Rücksicht auf die be¬
sondern Verhältnisse der betreffenden Anstalt erteilt werden; die Satzung ist
vorzulegen, und es ist zu prüfen, ob die Zulassung des Vereins für die Schule
oder die Schüler irgend welche Nachteile verursachen könne. Die genehmigten
vereine unterliegen der Aufsicht des Direktors, der seine Aufmerksamkeit be¬
sonders darauf richten muß, daß die Schüler nicht unmittelbar oder mittelbar
^ur Teilnahme an solchen Bereinen genötigt werden, und darüber wachen muß,
das friedliche Verhältnis unter den Konfessionen keinen Schaden leide;
endlich ist Genehmigung auch widerruflich. Für die Marianischen Kongre-
Mwnen kommt dazu noch die schon erwähnte Vorschrift in betreff ihrer
eitung durch den Religionslehrer. Die weitere Frage aber, wie weit diese
Bestimmungen mit praktischem Erfolge durchführbar sind, läßt sich natürlich
^de durch parlamentarische Debatten, sondern nur durch die Erfahrung ent-
>c)eiden. Man wird aber das Vertrauen zu der Regierung hegen dürfen, daß
l e weder durch Schikane und rigoristische Auslegung ihrer Vorschriften ihr
Zugeständnis an berechtigte Forderungen tatsächlich wieder rückgängig machen,
u°es andrerseits zögern werde, mit fester Hand wirksam einzugreifen, wenn es
'hr durch die Rücksicht auf das Wohl der Schule geboten erscheint.
5in den Angstruf Narikmi aves xorws vermögen wir darum nicht ein-
^'stimmen, und auch die Gegner der Maßregel dürften sich mit der Zeit Über¬
zügen, daß sie gegen einen imaginären Feind gekämpft haben.
on hoher Stelle soll bekanntlich einmal das Wort gebraucht worden
sein, die Sozialdemokratie sei eine vorübergehende Erscheinung.
Wenn man damit hat sagen wollen, daß die Sozialdemokratie,
wie alles Irdische, vergänglich sei und über kurz oder lang neuen
Erscheinungsformen werde Platz machen müssen, so wird man
dem selbstverständlich beitreten können. Es wird dann aber mit dem Worte
nichts neues, nicht besondres gesagt, nichts, was dem Politiker eine Grund¬
lage gäbe für seine Stellung gegenüber der Sozialdemokratie. Wenn man
aber damit hat sagen wollen, die Sozialdemokratie werde binnen kurzem, das
heißt vielleicht binnen einem Jahrzehnt oder höchstens einem Menschenalter,
verschwunden oder so verwandelt sein, daß sie für den Staat keine Gefahr
mehr bedeute, so werden dem heute nur noch wenige beistimmen. Wenn auch
die Sozialdemokratie sich in den letzten Jahren nicht mehr wie früher auf
den rein negativen Standpunkt gestellt, sondern an der positiven Gesetzesarbeit
teilgenommen und namentlich für die Arbeiterschutzgesetze und die verschiednen
Novellen der Arbeiterversicherungsgesetze gestimmt hat, so hat sich damit der
revolutionäre Charakter der Partei doch nicht im mindesten geändert. Für
den, der hierüber noch im Zweifel war, wird der Dresdner Parteitag die
nötige Aufklärung gebracht haben. Die sogenannten Revisionisten sind dort,
wie immer, schimpflich unterlegen, und wenn man auch den gewaltigen Sieg
der Gegner vor allem dem übermächtigen Einfluß eines Mannes, des alten
Bebel, zuschreiben muß, so darf man doch nicht außer acht lassen, daß durch
einen Mann wie Bebel das Wesen der Sozialdemokratie verkörpert wird.
Wenn er einmal nicht mehr ist, so wird das zwar für die Partei einen großen
Verlust bedeuten, aber unersetzlich ist niemand, und am wenigsten ein Bebel.
Leidenschaftliche, herrschsüchtige Führer, die das Empfinden der Massen ver¬
steh« und demnach die Massen zu leiten und zu lenken vermögen, wird
die Sozialdemokratie immer hervorbringen, und immer werden sie über
sogenannte Revisionisten den Sieg davontragen, wenn sich nicht das Wesen
der untern Schichten unsers Volkes verändert.
Man sagt zwar, die Sozialdemokratie sei gar keine Partei des großen
Volkes, sie sei eigentlich nur eine Partei der Führer, denn nur diese Hütten
die politische Einsicht, beurteilen zu können, was das sozialdemokratische
Programm bedeute, und nur sie seien gewillt, aus diesem Programm im
Ernstfalle die äußersten Konsequenzen zu ziehn. Das mag schon richtig
sein, aber dennoch wird man anerkennen müssen, daß die sozialdemokratische
Partei die Partei der großen Massen ist. Das beweisen weniger die Millionen
von sozialdemokratischen Stimmen bei den Reichstagswahlen — die könnten
la wohl zum Teil von Nichtsozialdemokraten abgegeben sein —, das be¬
weist vielmehr die gewaltige Organisation der Partei, die bei tausend Um¬
rissen zutage tritt und den sozialdemokratischen Arbeiter zu einem willenlosen
Werkzeug in den Händen der Partei hinunterdrückt. solange fast jeder deutsche
Industriearbeiter allwöchentlich für die sozialdemokratische Parteikasse, den Pre߬
oder Streikfonds und andre Parteizwecke seine schwer entbehrten Groschen
opfert und sich damit mit Leib und Seele der Partei verschreibt, kann niemand
ernstlich behaupten, die Sozialdemokratie sei nur eine Partei der Führer.
Würden die Führer in der Lage sein, ihren Worten Taten folgen zu lassen,
so würden sie die Massen nicht weniger hinter sich haben als heute. Und
wenn auch bei dem festgefügten, militärisch disziplinierten modernen Staate
oiese Gefahr, der große Kladderadatsch, nicht unmittelbar vor uns steht, so
wird doch jeder ernsthafte Politiker das Dasein einer sozialdemokratischen
Gefahr nicht leugnen.
Ich sehe diese Gefahr weniger darin, daß immer mehr sozialdemokratische
Abgeordnete in den Reichstag einziehn, und die Zeit gewiß nicht mehr fern
^se, wo die Sozialdemokratie eine positive Arbeit des Reichstags unmöglich
Macht. Denn wenn diese Zeit gekommen ist, wird eine Änderung des Neichs-
tagswahlrechts eine so unabweisbare Notwendigkeit sein, daß keine Regierung
davor zurückschrecken kann, sie auf diese oder jene Weise durchzudrücken. Ich
sehe die Gefahr vielmehr darin, daß die Mehrheit unsers Volkes in einem
politischen Irrwahn lebt, der für die nationale Entwicklung ein trauriges
Hemmnis ist.
Allerdings ist die Entwicklung des jungen Reiches in vieler Beziehung
ourchcms erfreulich gewesen. Handel und Industrie haben einen ungeahnten
Aufschwung genommen und die Wohlhabenheit so gesteigert, daß es neben dem
fortdauernden Ausbau des Landheeres möglich gewesen ist. nun auch eine
Achtung gebietende Flotte zu schaffen. Dabei sind die allgemeinen Aufgaben
ver Kultur gewiß nicht vernachlässigt worden. Schon die Dresdner Stüdte-
^usstellung ist ein glänzender Beweis für den Fortschritt auf dem Gebiet der
Cultur, und wenn dieser Beweis dort auch nur von den deutschen Großstädten
geführt wird, so weiß doch jeder, daß auch die Kleinstädte und sogar das
Platte Land nicht müßig gewesen sind. Aber was nützt uns dieser Fortschritt an
Wohlhabenheit und Komfort, wenn die große Mehrheit des Volkes ihn leugnet
"ud auf die Gelegenheit wartet, dem heutigen Staat mit allen seinen Einrich¬
tungen gewaltsam ein Ende zu machen und das unterste zu oberst zu kehren.
Gewiß ohne äußere Unterstützung wird es der Sozialdemokratie kaum je
gelingen, die bestehenden Zustande gewaltsam zu ändern. Aber wer bürgt
^sür, daß sie diese äußere Unterstützung nicht findet. Jeder Krieg kann sie
herbeiführen, jeder unglückliche Krieg muß sie geradezu herbeiführen. Und
^cum auch die Wahrscheinlichkeit eines großen europäischen Krieges nicht
'^k ist, die Möglichkeit besteht immer, und sie allein sollte den Staat ver¬
fassen, alles aufzubieten, der Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen
^egzuziehn. Diese Ansicht wird heute wohl auch ganz allgemein von allen
^rdnungsparteien vertreten, und sogar der äußerste Liberalismus gibt zu,
daß das 1g,i886r kg,1r6, laisssr Msr gegenüber der Sozialdemokratie nicht mehr
am Platze ist. Kürzlich machte ja eine durchaus liberale Tageszeitung in
einem länger» Leitartikel ganz ernstlich den Vorschlag, der Staat solle Wander¬
redner anstellen, die die irregeleitete Masse über die Haltlosigkeit der sozial¬
demokratischen Lehren aufklärten.
So komisch mir dieser Vorschlag erscheint, so bin ich doch auch der An¬
sicht, daß nnr eine Aufklärung der Massen der Sozialdemokratie die Macht
entziehn kann, nur glaube ich nicht, und darin wird mir wohl jeder zustimmen,
daß diese Aufklärung durch solche vom Staate bezahlten Wanderredner ver¬
breitet werden kann. Nach meiner Ansicht wird man vielmehr nur durch
systematische Erziehung der Jugend das Volk über die Gefahren der Sozial¬
demokratie mit Erfolg unterrichten können, und es handelt sich also darum,
Mittel und Wege zu finden, der Jugend die geeignete Erziehung zu geben-
Denn das ist selbstverständlich, daß die heutige Volksschule, die die Kinder in
einem Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren entläßt, nicht imstande ist, ihre
Schüler politisch zu erziehen. Wohl aber wäre dazu die allgemeine Fort¬
bildungsschule imstande, wenn sie entsprechend ausgebildet würde.
Zu diesem Zwecke müßte in allen deutschen Staaten eine allgemeine Fort¬
bildungsschule, zunächst vielleicht nur für die Knaben, in der Weise etwa ein¬
gerichtet werden, daß alle jungen Leute, die nicht eine höhere Schule besuchen
oder nicht die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst erworben
haben, verpflichtet würden, bis zum vollendeten siebzehnten oder achtzehnten
Jahre eine allgemeine Fortbildungsschule zu besuchen. Der Unterricht in der
Fortbildungsschule, der wohl zumeist in den Räumen und von den Lehrkräften
der Volksschule erteilt werden könnte, müßte natürlich so gelegt werden, daß
die jungen Leute daneben ihrer bürgerlichen Beschäftigung bis zu einem ge¬
wissen Grade nachgehn könnten, aber doch auch so, daß die Fortbildungsschule
nicht, wie meist heute, nur als ein Aschenbrödel behandelt würde. Der Unter¬
richt müßte also entweder in die frühen Morgenstunden, das heißt etwa von
sechs bis acht Uhr früh, oder in die späten Nachmittagsstunden, von fünf bis
sieben Uhr Abends, gelegt und am besten an jedem Werktage mit Ausnahme
des Sonnabends erteilt werden.
Die Unterrichtsstoffe müßten einmal die sein, die schon heute in den
Fortbildungsschulen gelehrt werden, das heißt Erweiterung dessen, was auf
der Volksschule gelehrt worden ist, in der deutschen Sprache und im Rechnen,
und Anwendung dieser Lehrstoffe auf das praktische Leben, und als neuer
Unterrichtsstoff allgemeine Bürgerkunde. Daneben könnte auch wohl Singen
und für Handwerker vor allen Dingen, wie schon heute, Zeichnen gelehrt
werden. Auch etwas Religionsunterricht würde gewiß nichts schaden. Den
Schwerpunkt möchte ich ans die Bürgerkunde gelegt wissen. In diesem Unter¬
richte sollte der Schüler an der Hand der historischen Entwicklung über die
Aufgaben und das Wirken des Staates und der Gemeinde aufgeklärt, das
heißt es sollte ihm praktische Politik gelehrt werden. Dabei würde es, ohne
einen einseitig politischen Standpunkt einzunehmen, leicht möglich sein, die
Lehren der Sozialdemokratie zu erörtern und ihre Irrtümer darzulegen.
Ich verkenne nicht, daß dieser Unterricht, der ein ziemlich weitgehendes
Maß an Kenntnissen in der Geschichte, der Staatswissenschaft und der Gesetzes¬
kunde voraussetzt, unsre Lehrer vor eine ganz neue, zweifellos sehr schwierige
Aufgabe stellen würde, der die meisten einstweilen nicht gewachsen wären; aber
die Schaffung einer solchen Fortbildungsschule, wie sie mir vorschwebt, geschieht
ja auch nicht über Nacht. Gut Ding will Weile haben, und sollte die An¬
legung, die ich zu geben versuche, auf fruchtbaren Boden fallen, so würden
Uwhl Jahre vergehn, ehe die Frucht aufginge. Inzwischen wäre es wohl
Möglich, den neuen Unterrichtsstoff, eine Staatswissenschaft im kleinen, auf deu
Seminarien einzuführen und zunächst einmal die angehenden Lehrer damit
vertraut zu machen. Ich zweifle nicht, daß wenn der Staat erst einmal Ernst
damit machte, sich unsre Lehrer die größte Mühe geben würden, in ihre neue
Aufgabe hineinzuwachsen. Allerdings ist mir wohl bekannt, daß schon heute
vielfach in Schulkreisen über all das neue geklagt wird, was der Schule auf¬
gebürdet wird. Aber hier handelt es sich ja auch nicht um die Volksschule,
die wohl kaum mehr leisten kann, als sie heute schon leisten muß, sondern
Um eine im wesentlichen neue Schulorganisation, für die sich natürlich ganz
Neue Aufgaben ergeben, Aufgaben, die zwar schwierig, aber wenn sie gelöst
werden, auch unendlich dankbar sind. Denn welches höhere Ziel könnte eine
schule haben, als das, unser irregeleitetes Volk im nationalen Sinne zu
erziehen?
Ich weiß wohl, daß man mich in weiten Kreisen einen Phantasten schelten,
daß mair sagen wird, mein Vorschlag fordre ungezählte Millionen, und der
Erfolg würde gleich Null sein. Aber das kann mich nicht schrecken. Ich bin
davon überzeugt, daß es so nicht weiter gehn kann, und daß es, nachdem sich
^e sozialpolitische Tätigkeit des Staates und der Privaten im Kampfe gegen
die Sozialdemokratie als völlig wirkungslos erwiesen hat, kein andres Mittel
uls das einer bessern und praktischem Erziehung der Jugend gibt.
Ich bin auch der Meinung, daß die allgemeine Einführung der Fort-
^dungsschule in Deutschland sowieso nur eine Frage der Zeit ist, daß die
-Mittel, die sie braucht, bei praktischer Ausnutzung der vorhandnen Schulräume
Und Lehrkräfte gar nicht unerschwinglich sind, und endlich, daß diese Mittel
Unter allen Umständen gut angewandt sind, auch dann, wenn das hohe Ziel,
das ich der Fortbildungsschule setzen möchte, nicht erreicht wird.
Die heutige Fortbildungsschule arbeitet an vielen Orten geradezu er-
^aunlich billig, und doch sind zumeist die Ergebnisse des Unterrichts gut,
unndestens befriedigend. Mir ist eine Fortbildungsschule bekannt, die bei rund
35v Schülern nur einen Zuschuß von rund 3000 Mark jährlich braucht, und
sind die Resultate der Schule entschieden gut. Allerdings erhalten die
Schüler in dieser Schule zur Hälfte etwa nur vier Stunden und zur andern
Zälfte sechs Stunden wöchentlich, während eine Fortbildungsschule, wie ich sie
nur denke, unter acht bis zehn Unterrichtsstunden wöchentlich kaum würde aus-
"unum können. Gewiß erhöhen sich dadurch die Ausgaben nicht unbedeutend,
??er unerschwinglich werden sie nicht. Ganz gewaltig würde sich wohl der
^derspruch der Fabrikherren regen, denen ja heute schon oft die Fortbildungs-
Mle ein Dorn im Auge ist. Und man darf nicht verkennen, daß das Bibel-
ort „Niemand kann zween Herren dienen" hier am Platze scheint. Aber wenn
es sich einfach um die Frage handelt, ob der Unternehmer auf die Beschäftigung
junger Arbeiter ganz verzichten oder sie Abends ein oder zwei Stunden früher
entlassen soll, so wird er wohl immer das letzte vorziehn und sich nicht scheuen,
fortbildungsschulpflichtige Arbeiter und Lehrlinge zu beschäftigen, zumal da
man den Interessen der Brotherren durch geschickte Anordnung der mindestens
auf achtzehn bis zwanzig Wochen zu bemcfsenden Jahresferien sehr entgegen¬
kommen könnte. Und ich zweifle nicht, daß bald jeder verstündige Prinzipal
der neuen Fortbildungsschule nur dankbar sein würde. Denn sicher wird durch
die Schule in die jungen Arbeiter ein ganz andrer Geist einziehn. Sie werden
gefügiger und gehorsamer werden, sie werden den Glauben an eine Autorität,
der heute zumeist verloren ist, wieder gewinnen. Denn selbstverständlich muß
die Fortbildungsschule mit ernsten Zwangsmitteln ausgestattet werden. Dabei
darf sie aber nicht als eine Besserungsanstalt angesehen werden. Durch
Unterricht in der Musik und der vaterländischen Geschichte, dnrch gemeinsame
Vergnügungen und Feste soll sie den jungen Leuten auch eine Stätte der Er¬
holung und Erfrischung sein. Das, was man mit deu christlichen Jünglings¬
vereinen leider oft nicht erreicht hat, die jungen Leute in ihren Freistunden
angemessen und zugleich angenehm zu unterhalten und sie dadurch von den
bellte unter den jungen Leuten meist üblichen Vergnügungen des Trinkens und
Tanzens fern zu halten, wird man in einer geschickt geleiteten Fortbildungs¬
schule zumeist leicht erreiche».
Nun sind zwar siebzehn- bis achtzehnjährige Jünglinge keine fertigen
Männer, und sollte es, wie ich hoffe, wirklich gelingen, den jungen Leuten
einen verständigen Begriff von dem Wesen und Wirken des Staats beizu¬
bringen, so könnte diese Frucht langjähriger Arbeit nach der Fortbildungsschule
durch den großen Einfluß älterer Kollegen sehr bald wieder verkümmern. Das
ist gewiß eine große Gefahr. Ihr müßte man dadurch zu begegnen versuchen,
daß man die politische Erziehung der jungen Leute während der militärischen
Dienstzeit fortsetzte. Das Heer ist zweifellos nicht nur eine Vorbereitungs¬
anstalt für den Krieg, sondern eine große Vvlkserziehungsanstalt, zum mindesten
sollte es das sein. Allerdings ist mir sehr wohl bewußt, daß das Heer in
dieser Beziehung seiner großen Aufgabe noch längst nicht gewachsen ist, aber
daß diese Aufgabe dem Heer gestellt ist, ist eine Auffassung, die sich an den
maßgebenden Stellen immer mehr Bahn bricht und mit der Zeit zum Siege
gelangen wird. Dann wird man auch das Heer in den Stand setzen, die
politische Erziehung der waffenfähigen Jugend zu vollenden und damit das
Vaterland nicht nur gegen den äußern, sondern namentlich gegen den innern
Feind zu schützend)
icht ganz klar ist auch die Stellung Richard Wisemans, eines
Leibchirurgen Karls des Ersten, den man als stärksten und un¬
verdächtigsten Zeugen für die Wirksamkeit der Heilung heran¬
gezogen hat, in dessen Brust aber zwei Seelen, die des Patrioten
und des Arztes, gewohnt zu haben scheinen. Die Frage, ob
er wirklich daran geglaubt oder wissentlich einen Betrug gefördert hat, kann
man schwer beantworten. Bedeutend in seinem Berufe, ehrlich und aufrichtig
als Schriftsteller, wie er war, scheint er doch unzweideutig seinen Glauben
nuszusprechen: „Ich bin selber häufig Augenzeuge von vielen hundert Kuren
gewesen, die der Kunst der Ärzte gespottet hatten. Es wäre endlos zu er¬
zählen, was ich selbst gesehen habe." Seine warme Anhänglichkeit an die
königliche Familie und Jugendvorurteile ließen bei ihm den Glauben gegen
das nüchterne Urteil vorwiegen. Denn einzelne Stellen seiner „Chirurgischen
Abhandlungen" verraten ein Bewußtsein des Widerspruchs. Diese OnirurAioal
IröMsss, erst 1676 in Folio erschienen, sind ein durchaus ernsthaftes, und
soweit ich als medizinischer Laie beurteilen kann, für ihre Zeit wissenschaft¬
liches Werk. Das vierte Buch handelt von tus iänz's «zvii. „Die Behand¬
lung des Leidens, sagt er, ist schwierig, aber zum Glücke hat Gott den eng¬
lischen Königen die »Gabe« verliehen. Da nicht geleugnet werden kann, daß
»Manche« geheilt hinweggehn, so haben einige es der Reise und Luftver¬
änderung, andre der Wirkung der Einbildungskraft, andre dem Tragen des
Goldes zuschreiben wollen. Dagegen spricht, daß Londoner in Whitehall
sowie Kinder und Säuglinge geheilt worden sind »durch geheime Strahlen
der Gottheit, die den Königen zu teil werden«, daß manche die Heilung trotz
Verlustes des Goldes bewahrt haben, wiewohl es auch Beispiele vom Gegen¬
teil gibt." Dagegen ist es dem Verfasser mehr als zweifelhaft, ob Leute ge¬
heilt werden können durch Gold, das andern vom Könige gegeben worden
war. Überhaupt deutet er an, daß die Kur durchaus nicht unfehlbar war.
Dem Könige wurden nur die leichtesten Fälle vorgeführt, nachdem die
schlimmsten vorher ausgeschieden waren. Und gerade in deren ärztlicher Be¬
handlung zeigt Wiseman umfassende Erfahrung, ohne daß er die königliche
Hilfe in Anspruch nahm. Bezeichnend sind die Worte, mit denen er den
Übergang zu dem wissenschaftlichen Teil des Kapitels macht: „Es ist nicht
notwendig, daß eine Krankheit, die durch ein Wunder geheilt wird, nicht auch
durch Regeln der Kunst geheilt werden könnte." Deshalb will er zur größern
Sicherheit doch auch das ärztliche Heilverfahren angeben und tut dies aus¬
führlich, doch mit dem Bekenntnis, daß die Wissenschaft hierin noch nicht weit
genug sei. Aus seiner reichen Praxis berichtet er über eine Anzahl Fälle.
Eine vornehme junge Frau zum Beispiel hatte eine hartnäckige Skrofel-
schwellung an der rechten Seite des Halses. Er behandelte diese mit Ätz¬
mitteln, brachte sie zur Eiterung und heilte sie. „Ungefähr ein Jahr nachher,
sagt er, sah ich sie in der Hauptstadt wieder und fühlte eine kleine Drüse
von der Größe einer Feigbohne. Ich hätte sie gern überredet, ein lösendes
Pflaster aufzulegen und sich berühren zu lassen; aber sie sagte, sie hielte es
nicht für das Königsübel." Also nachdem er seine Patientin einer schweren,
chirurgischen Kur unterzogen hatte, war er bereit, den Rest des Übels der
Hand des Königs unter dem Beistand eines lösenden Pflasters zu überlassen;
das Leiden war aber nun zu geringfügig, als daß die Frau auf eine weitere
Behandlung Gewicht gelegt hätte. Der größte Gegner der Berührung konnte
diese demnach nicht viel geringschätziger hinstellen. Alles in allem scheint
Wisemcms Meinung die gewesen zu sein, daß die Gabe der Heilung als etwas
Unbeweisbares hinzunehmen sei, das man als ehrwürdige Dekoration des
Königtums ehren, mit dem man aber die wissenschaftliche Medizin ver¬
schonen solle.
Eines ganz andern Geistes Kind war Wisemans Berufsgenosse John
Browne, Wundarzt an Xlil^'s Hospital in London und Lcibchirurg Karls des
Zweiten, der Verfasser eines kuriosen Buchs, das wohl einzig in der Ge¬
schichte der praktischen Medizin dasteht. Es erschien 1684 unter dem Haupt¬
titel ^äsnoe,Iwirg,as1og'iÄ lLehre von den Drüsen- und Kropfschwellungen) und
besteht aus drei selbständigen Teilen mit besondern Titeln. Der erste und
zweite geben die anatomische Beschreibung und die chirurgisch-medizinische Be¬
handlung, wobei man einen Blick in den abenteuerlichen Arzneischatz dieser
Zeit tun kann. Für uns ist nur der dritte Teil mit dem Titel LliMsiNÄ
L^silivo», or eilf RoM (ritt ok Hs^livF wichtig. Das ganze Werk, das von
dem ersten Leibarzt und den andern Hofürzten geprüft und gebilligt worden
war, ist dem Könige in den schmeichelhaftesten Ausdrücken gewidmet: „Diese
Bücher liegen hingestreckt zu Ew. Maj. Füßen, demütig E. M. geheiligte
Berührung erflehend." Der indolente Genußmensch Karl der Zweite, der
durch sein Unglück nichts gelernt und nichts vergessen hatte und durch das
üble Vorbild seines Hofhalts die öffentliche Sittlichkeit auf den tiefsten Punkt
brachte, ist dem Verfasser „der Erzeuger unsrer Gesundheit und unsers Wohl¬
ergehens, der durch die ihm von seinen Vorfahren her innewohnende balsa¬
mische Heilkraft, sowie durMWeisheit, Klugheit und Lebensführung (oonckuvt!)
alle Welt überstrahlt, die Wonne nicht nur seiner Untertanen, sondern auch
seines Schöpfers." Die Schmeichelei ist wirklich eine ansteckende Krankheit,
vor der auch die Ärzte nicht sicher sind. In der Vorrede an den Leser heißt
es: „Da in den letzten^Jahren meine Geschicklichkeit in ^betreff dieser Krankheit
in Frage gestellt worden ist, und mein Urteil manchen unhöflichen Wischer
von feiten unsrer Zunft, obwohl nicht von vielen, erfahren hat (ualli nöt
vieil iNÄi^ an unvivil rubb Sonis ok our xrolössion, MKouKN I vimnot
SAZs mali^), so habe ich mir einen frischen Mut gefaßt, der Übeln Laune
und Bosheit dieser verzweifelten Gegner kühn die Stirn zu bieten hev out-
brg,?«z). Ich fürchte mich nicht für die Sache des Übels einzutreten" — to
3WEar toi- ZZvil Qg,u8s, eine witzige Zweideutigkeit (für die schlimme
Sache vor Gericht erscheinen), die sich nicht übersetzen läßt, und die der Ver¬
fasser selbst durch den Zusatz erklärt: etat is to fuor all tkg axvMcmt <zg,us6L
ot' tue IZvil in xudlic
So albern Brownes Angaben auch sind, geht er doch mit dem möglichsten
Ernst auf alle Einzelheiten und Kleinigkeiten ein, was auf den Leser einen
geradezu grotesken Eindruck macht. Er muß entweder fest an die Kraft ge¬
glaubt haben und im derbsten Aberglauben befangen oder ein ErzHeuchler ge¬
wesen sein. Aber was auch immer die Meinung seiner Leibarzte gewesen sein
mag, höchstwahrscheinlich lachte der frivole Karl der Zweite über die Torheit
der Menschen. Im Geschichtlichen schreibt Browne seine Vorgänger Tooker
und Laurentius aus, uicht ohne gelegentlich gegen sie zu polemisieren. Mit
größter Wichtigkeit behandelt er Fragen, wie ob am Karfreitag die Wirkung
am stärksten sei. Er gibt ausführliche Anweisungen für die Zulassung, die er gern
reformieren möchte. Die Bewerber sollen von dem Geistlichen und den Pflegern
ihres Kirchspiels ein Zeugnis bringen, daß sie noch nicht berührt waren. Er
empfiehlt, daß die Bischöfe entsprechende Vordrucke an die unter sie gestellte
Geistlichkeit schicken. Viele betrogen den König um sein Gold, denn wenn
alle ehrlich wären, würde man nicht so viele Münzen Seiner Majestät bei
den Goldschmieden finden. Die Kranken sollten sich erst zuhause von einem
Arzte untersuchen lassen, denn viele kämen, die gar nicht am coll litten,
machten also überflüssige Reisen. „Am oft wechselnden Wohnsitz des Königs
angelangt, haben sie viel Aufenthalt und Geldausgaben; denn es ist schwerer
an den Chirurgen heranzukommen, als die Berührung zu erlangen." (Wie
John Evelyn in seinem Tagebuche 1684 erwähnt, war einmal das Gedränge
wegen Zulaßkarten so groß, daß sechs bis sieben Personen an der Tür des
Arztes totgedrückt wurden.) Browne rät dazu, daß der OlerK ok ins <Ac>8se,
damals der Bischof von Durham, der das Register führte und die Abrechnungen
Zur Entlastung der königlichen Schatulle an das Schatzamt vermittelte, zur
bessern Kontrolle ein alphabetisches Verzeichnis anlege.
Die Ausführung der Zeremonie beschreibt Browne natürlich aufs genauste.
Aber das merkwürdigste ist doch das zehnte Kapitel mit den Heilungsgeschichten,
besonders aus der Zeit Karls des Ersten. „Ein armer Gastwirt Cole, der
seine Geschwülste, die häufig aufbrachen und ihn zu ersticken drohten, mit
Mineralwasser reinhiclt, näherte sich dem Mürtyrerkönig, als dieser gefangen
durch Winton geführt wurde, konnte aber nicht an ihn herankommen. Der
König, der ihn bemerkte, rief ihm zu: Du kannst nicht sagen, was du wünschest,
aber Gott segne dich und gewähre dein Verlangen. Alsbald nahm das Wasser
in der verschlossenen Flasche ab, die zuletzt außen rissig wurde und sich mit
einer Art Ausschlag bedeckte. Als eine durchreisende Dame etwas von den
Auswüchsen der Flasche abpickte, bekam der Mann Schmerzen und verschloß
^ von nun an in einem wollenen Sack, ohne sie fortan seinen Gästen zu
zeigen. Gleichfalls in Winton lebte ein Mann mit seinem Sohne, beide krank,
dann der erstere berührt und geheilt; wenn der Sohn das Gold seines Vaters
umhing, war auch er gesund." Vom Golde, das nach Browne im Gegensatz
zu Tooker für die Heilung wesentlich ist, finden sich überhaupt mehrere
Wundergeschichten. Bei einer Quälerin tat es ein silbernes Zweipeneestück.
Dissenters wurden dadurch zur Staatskirche bekehrt, daß sie Blinde und Lahme
heilen sahen. Einer geheilten Dissenterdame brachen die Narben vorübergehend
auf, als das Haupt Karls des Ersten fiel. Ein Quäker aus Winchester hatte
wenig Glauben und wollte nicht heran, aber als er den König sah, wuchs
sein Glauben, wie er dem Hofbeamten John Stephens erzählte. Nach der
Berührung war er binnen vierundzwanzig Stunden völlig gesund, ging am
nächsten Sonntag in den Dom zu Winchester, um Gott öffentlich zu danken,
und blieb von da an ein treuer Sohn der bischöflichen Kirche. Eines Nonkon¬
formismen Kind wurde ohne dessen Wissen nach Breda gebracht und dort
vom verbannten König geheilt, der Vater aber dadurch „bekehrt."
Dankenswert ist die von Browne in einem Anhang gegebne Statistik
über die von Karl dem Zweiten vollzognen Berührungen nach Jahren und
Monaten. Vom Mai 1660 bis September 1664 und vom Mai 1667 bis
April 1683 belief sich die Gesamtzahl auf 92107. Wenn wir die Lücke bei
Browne von 1664 bis 1667 und die Zeit bis zum Tode des Königs,
Februar 1685, in Rechnung stellen, erscheint demnach die von Macaulay an¬
gegebne Schätzungszahl von 100000 Berührungen während dieser einen Re¬
gierung eher zu niedrig. Der für die Münzen nötige Aufwand betrug im
Durchschnitt jährlich mehr als 3000 Pfund Sterling, was zugleich wieder als
Schlüssel für die hohen Zahlen der Bewerber dienen kann. Gleich im Jahre
der Restauration ließen sich vom Mai bis Dezember 6725 Personen berühren.
Gleichwie Dryden in seinem Huldigungsgedicht ^strag^ Röäux mit der Wieder¬
herstellung des Königtums die Himmelstochter Gerechtigkeit (nach Vergil, Ell. 4)
auf die Erde zurückgekehrt glaubte, so sah man auch in der königlichen Be¬
rührung eine allzulang entbehrte öffentliche Wohltat dem Volke wieder zu¬
gänglich gemacht. So heißt es 1660 in einer Predigt: „Ist denn keine Salbe
in Gilead? Ja, sie ist vorhanden, darum laßt uns froher Hoffnung sein auf
die Heilung der Wunden der Tochter unsers Volkes, da sie unter der Pflege
gerade der Hände sind, denen Gott eine wunderbare Gabe der Heilung erb¬
lich verliehen lsntAÜscl) hat, wie in der Absicht, unsre Hoffnung zum Ver¬
trauen zu steigern, daß wir eines Tages diesen geweihten Händen nächst Gott
die Heilung der Übel der Kirche und des Volkes sowohl wie des Königs¬
übels zu verdanken haben." Und diese Predigt hielt kein geringerer als
Scmcroft, der spätere Erzbischof, der als Primas der Reichskirche der Willkür
Jakobs des Zweiten so mutig entgegentrat. Nach Browne verteilten sich die
Berührungen auf die einzelnen Monate und Jahreszeiten sehr ungleich. Es
findet sich kein Monat ganz ohne solche. Ein Anschwellen trat regelmüßig
um die Osterzeit und im Herbst ein. Die höchste Zahl in einem Monat,
2471, findet sich beim April 1682 verzeichnet, die geringste mit vier beim
Januar desselben Jahres. Auch der April 1674 weist 2160 auf, und Zahlen
Zwischen 1000 und 2000 sind für die Frühjahrsmonate und den September
Ziemlich häusig. Die geringste Gesamtzahl hat das Jahr 1686 mit 2461,
die höchste 1682 mit 8577. Die Gläubigen waren damals übrigens nicht
auf Großbritannien, ja nicht auf Europa beschränkt. In den Archiven von
Massachusetts und Virginien liegen jetzt noch Abrechnungen über Unter¬
stützungen, mit denen die Behörden der Kolonien mittellosen Kranken die Reise
nach London und die Wohltat der königlichen Berührung ermöglichten. Bei
den erwähnten großen Zahlen kann das Verfahren nur ein summarisches ge¬
wesen sein; aber auch so wird es dem nur für die heitern Seiten des Lebens
empfänglichen König manches Opfer an Bequemlichkeit und Wohlbehagen auf¬
erlegt haben.
Jakob der Zweite übte die Berührung in der hergebrachten Weise; ob
auch mit innerlicher Beteiligung, ist sehr zweifelhaft. Denn so sehr auch der
in dem alten Brauch liegende Vorzug seinem bigotten Wesen und seiner über¬
triebnen Meinung von den königlichen Vorrechte-, zusagen mochte, stand er
doch uach dem Zeugnis John Evelyns dem landläufigen Wunderglauben nicht
ganz kritiklos gegenüber. Evelyn berichtet in seinem Tagebuche uuter dem
September 1685 von einer Reise nach Portsmouth, auf der er den König
begleitete. Als das Gespräch einmal in größerm Kreise auf allerhand Wunder¬
geschichten, die Zawclaäows (von den spanischen Bischöfen ermächtigte Gaukler,
die ohne Schaden in heiße Backöfen krochen), das zweite Gesicht und dergleichen
kam, zeigte sich Jakob schwierig im Glauben, aus Furcht vor Betrug. Folge¬
richtig war es, daß der König, der sich seit seiner Thronbesteigung offen als
Papist bekannte, auch zu der Berührung, sehr zum Verdruss« seiner getreuen
Untertanen, römische Geistliche, Benediktiner und andre Ordensleute zuzog.
So bemerkt Evelyn in seinem Tagebuch unter dem 5. November 1688 (also
nur wenig Wochen vor dem Siege der unblutigen Revolution, während der
Prinz von Oranien schon aus dem Westen auf die Hauptstadt rückte): Ich
sah den König wegen des Übels berühren, wobei der Jesuit Piter amtierte.
Unter seinem Nachfolger, dem kühl überlegender und verschlossenen
Wilhelm dein Dritten, fand keine Berührung statt. Daß er einmal auf einer
Reise dazu vermocht worden sei zu berühren, indem er zu Gott betete, er
wöge den Kranken heilen und ihm mehr Weisheit verleihen, ist nur ein
unbeglaubigtes Gerücht, dessen Fassung zudem bei ihm keinen großen Glauben
an den Vorgang voraussetzt. Die Jakobiten legten ihm diese Zurückhaltung
als Bewußtsein von der Ungesetzlichkeit seiner Negierung aus, wie man ähn¬
liches früher gegen den Usurpator Cromwell geltend gemacht hatte, von dein
Browne fälschlich behauptet, er habe die Sache versucht, aber ohne Erfolg.
Der große Protektor war zu verschlagen, als daß er daran geglaubt, und
jedenfalls politisch viel zu klug, als daß er einen Versuch gewagt Hütte, der
gegen ihn hätte ausgebeutet werden können.
Unter der Königin Anna lebte die Berührung noch einmal auf. Sie
wurde von ihren Ministern veranlaßt, die Einrichtung zu erneuern und anf¬
icht zu erhalten, aus rein politischen Gründen, weil die Eidweigerer be¬
haupteten, die Kraft läge bei der verbannten Linie der Stuarts; geglaubt
daran werden ihre Staatsmänner nicht haben. Sie übte den alten Brauch
bis zu ihrem Tode am 1. August 1714, wenn auch die Zahl der Be¬
rührungen nicht entfernt an die der frühern Regierungen heranreichte. Nach
den Zeitungen wurden am 30. März 1714 an 200 Personen von ihr
berührt, darunter auch ein skrofellraukes Kind aus Lichfield, der nachher so
berühmt gewordne Lexikograph und Kritiker Dr. Samuel Johnson. Seine
Mutter hatte ihn auf den Rat ihres Arztes nach London gebracht, doch blieb
der Erfolg aus. Noch im Alter hatte Johnson eine verworrene, feierliche
Erinnerung an die königliche Fran im Diamantschmuck und schwarzen Schleier.
Sein Begleiter und Biograph Boswell pflegte scherzend zu ihm, der freimütig
mit jakobitischem Anstrich davon sprach, zu sagen, seine Mutter hätte ihn nicht
weit genug getragen, sie Hütte ihn bis nach Rom bringen müssen. Barrington
erzählt von einem Manne, der als Kind von Anna in Oxford geheilt
worden war und als Zeuge vor Gericht danach eine Zeitangabe bestimmte.
Er fragte ihn nachher, ob er wirklich geheilt worden sei. Der Mann ant¬
wortete mit einem bezeichnenden Lächeln, er selber glaube, sein Leiden habe
niemals den Namen KinZ's soll verdient, aber seine Eltern seien arm gewesen
und hätten nichts gegen das bißchen Gold gehabt.
Ein sehr bemerkenswerter Umstand unter der Regierung Annas war der
Druck der üblichen Liturgie in Verbindung mit dem Look ok Lominon ?r^ör,
also der staatskirchlichen Agende. Die älteste überlieferte Form ist die Hein¬
richs des Siebenten, die auch von Heinrich dem Achten und Edward dem
Sechsten mit einigen Änderungen gebraucht wurde. Nur die Teile wurden
in der Reformationszeit getilgt, in denen die Heiligen und die Jungfrau
Maria angerufen wurden. Von Elisabeth wurde das Kreuzeszeichen ange¬
wandt, von ihren Nachfolgern wieder weggelassen. Unter Karl dem Ersten
wurde der ganze Dienst englisch verrichtet, in der Form, die bis auf Anna
bestehn blieb. Obgleich man unter Jakob dem Zweiten die von Karl dem
Zweiten angewandte Liturgie benutzte, und anfangs staatskirchliche Kapläne der
Feier beiwohnten, war es doch Jakobs Absicht, hierin wie in allem andern als
Romanist vorzugehn. Er ermächtigte den Drucker Hills, die unter Heinrich
dem Achten vor dessen Abfall gebrauchte Form neu zu drucken, wenn diese
auch nicht öffentlich gebraucht wurde. Obgleich die Liturgie in jeder Fassung
ohne alle kirchliche Beglaubigung war, wurde sie doch unter Karl dem Zweiten
1662 mit den 39 Artikeln dem Loinirwii ?ra,^ör Look als Anhang beigegeben
und unter Anna sogar in den Text eingefügt oder wahrscheinlich vielmehr von
dem Leiter der Staatsdruckerei eingeschmuggelt; denn die Maßregel ist wenigstens
niemals von der Königin im Staatsrat verfügt worden. Diese Einfügung
wurde, obwohl Georg der Erste den Brauch für immer fallen ließ, doch noch
in der Ausgabe vou 1715 beibehalten, wohl aus Versehen, weil der Drucker
keine Gegennnweisung erhalten hatte. Dies gab den Anlaß, daß die Sache
auf dem nächsten Kirchentag (Oonvocation) verhandelt und gerügt wurde,
woraus man schließen darf, daß die Geistlichkeit nicht an die Berührung
glaubte, wie denn die Kirche amtlich nie von ihr Notiz genommen hatte.
War somit die königliche Gabe der Heilung in England erloschen, so
blieb es doch noch geraume Zeit die Politik der Jakobiten, die ihr günstigen
Vorstellungen im Volke lebendig zu erhalten. Im Jahre 1721 erschien der
»Brief eines Herrn in Rom an einen Freund in London" mit dem Berichte
einiger überraschender Kuren durch Berührung, die kürzlich in der Nähe dieser
Stadt bewirkt worden seien, offenbar um die Aufmerksamkeit und Teilnahme
auf den Prätendenten Jakob zu lenken. Doch berührte der jüngere Präten¬
dent Karl Edward während seines Aufenthalts in Edinburgh 1746 ein Kind
nur widerstrebend aus Zureden seiner Freunde.
Erwähnung verdient in diesem Zusammenhange als ein Beweis für den
Umschwung der Zeit das Mißgeschick, fast möchte man sagen der Reinfall,
eines ausgezeichneten Gelehrten. Thomas Carte (1686 bis 1754) veröffent¬
lichte von 1747 an eine seit 1743 sorgfältig vorbereitete Geschichte von Eng¬
land in großem Stil. Der Gemeinderat der City von London hatte zur
Deckung der Kosten auf sieben Jahre je fünfzig Pfund gezeichnet, ebenso die
Innungen der Goldschmiede, Krümer und Weinhändler jede zwanzig Pfund
auf dieselbe Zeit. Der Erfolg des Werkes wurde vereitelt durch die unvor¬
sichtige Einfügung einer Fußnote, die eigentlich gar nicht für den Druck be¬
stimmt war. Die Korporation von London und die Innungen zogen 1748
ihre Beiträge zurück. Der unermüdliche Sammler, mit seinem riesigen Stoff
allein gelassen, ließ zwar noch einen zweiten und dritten Band erscheinen
Und hinterließ einen vierten, der nach seinem Tode gedruckt wurde, aber sein
Werk siel der allgemeinen Nichtachtung anheim und wurde erst vom Ende des
Jahrhunderts ein nach Verdienst gewürdigt. Die verhängnisvolle Fußnote
häutet: „Was man auch sagen mag zugunsten einer Haftung der Gabe an
dem ältesten geraden Abkömmling der königlichen Hänser von Frankreich und
England, so habe ich persönlich ein sehr merkwürdiges Beispiel einer solchen
Heilung gesehen, das unmöglich der königlichen Salbung zugeschrieben werden
^ann. Ein gewisser Christoph Lovell aus Wells in Somersetshire, nachher
^u Bristol wohnhaft, war völlig durch das Königsübel herabgekommen, und
^n Arzt hatte ihm helfen können. Da entschloß er sich, ins Ausland zu
ö^du, um sich berühren zu lassen. Sein Oheim, ein alter Matrose, nahm
ehr im August 1716 mit nach Cork und weiter nach der französischen Insel
Von da reiste der Kranke über Paris an den Ort, wo er von dem
ältesten Abkömmling eines Königsgeschlechts, der weder gekrönt noch gesalbt
worden war (gemeint ist natürlich der Prätendent), Anfang November geheilt
wurde; und zwar begann die Heilung sofort mit der Berührung und Umhängung
eines Seidenbandes nebst Silberstück. Bald nach seiner Rückkehr nach Bristol,
Anfang Januar, sah ich ihn vollständig gesund, nur mit den Narben, und ich
hatte eine Besprechung mit zwei hervorragenden Ärzten, den Doktoren Lane
und die den Mann vorher behandelt hatten und den Fall zu den wunder¬
arsten Ereignissen rechneten, die je geschehn wären." Binnen wenig Tagen
^schienen drei Flugschriften gegen Carte, und es half diesem nichts, daß er
Klärte, er habe die Note nur geschrieben, um zu beweisen, daß die Heilkraft
"lebt an die Krönung und Salbung gebunden sei.
Im Lande Voltaires und der Encyklopädisten blieb das attouousinönt
noch etwas länger, bis zum Untergang des Moisn röAiine in Übung. Es
war ein wesentlicher Teil der Salbungs- und Krönungsfeierlichkeiten mit eigen¬
tümlichen Überlieferungen, über die das Buch Menins, eines Mitglieds des
Parlaments von Metz, Irs-les distoriqM et odronoloAiHus an Laors 6t
LouronliöiQsiit ctss Rois se ü-einss as ?rav.<zö, Amsterdam 1724, unterrichtet.
Am dritten Tage nach ihrer Salbung in Reims pilgerten die französischen
Könige altem Herkommen gemäß zu Pferde nach der Kirche des heiligen
Markulf in Corbigny zu einer neuntägigen Andacht und berührten dort im
Schiff der Kirche die zahlreich sich einstellenden Skrofelkranken. Sie bekannten
damit, daß die Heilkraft ein Geschenk des Himmels sei und keine andre Ur¬
sache habe als den Willen des Allmächtigen, der so seine Vorliebe für die
erstgebornen Söhne seiner Kirche bezeugte und ihnen die Bewunderung und
Ehrfurcht aller Völker des Erdkreises sicherte. Auch nach Menin hat Chlodo-
vech die Gabe bei seiner Bekehrung und Taufe empfangen. Er erprobte sie
zuerst an seinem Günstling Lanicet, der unmittelbar nach Chlodovech die Taufe
empfing, und von dem die Überlieferung das berühmte Geschlecht der Mont-
morency abstammen läßt. Deshalb führt diese altersstolze Familie, der man
nachsagte, daß ihr Ahn beim Einsteigen in die Arche den Vortritt vor Noah
verlangt habe, den Wappenspruch visu eääo g.u prsmisr ebrstiöv.. Der König
hatte geträumt, daß wenn er seinen kranken Liebling berühre, er gesunden
würde. Darauf ermahnte der heilige Remigius den König, ihn unter An¬
rufung Gottes zu heilen. Sankt Marknlf aus Bayeux baute unter Childebert
das Benediktinerkloster Nanteuil und verrichtete viele Wunder, besonders mit
der Heilung der Skrofeln. Er starb 558, und ein Teil seiner Gebeine ruht
in Corbigny, einer Priorei in der Diözese von Laon, die zur Abtei Se. Nenn
in der Champagne gehört. Die Wallfahrt nach Corbigny im Anschluß an die
Weihe und die Krönung machten die Könige seit Ludwig den: Heiligen, der
auch die neuntägige Andacht einführte. Wem die Staatsgeschäfte nicht er¬
laubten, neun Tage zu bleiben, der überließ die Vollendung der Andacht dem
Almosenier. Manche haben den Zug unterlassen, so wegen der Kriegsunruhen
Heinrich der Vierte, der die neun Tage in Se. Cloud aushielt, und Ludwig
der Vierzehnte, der sich mit einer kurzen Andacht in Se. Reni begnügte, wo
er auch am 9. Juni 1654 gegen 2600 Personen berührte. Ludwig der Fünf¬
zehnte konnte wegen der schlechten Wege, im Oktober 1722, nicht hingelangen
und ließ den Reliquienschrein des heiligen Markulf nach Se. Reni bringen,
wo er im Garten der Abtei am Vormittag des 29. Oktober mehr als 2000
heilte. Er war dabei barhaupt, der erste Arzt stützte die Hand auf den
Kopf jedes einzelnen Kranken, der Herzog von Harcourt hielt ihnen die ver-
schlungnen Hände, und der Almosenier Kardinalbischof Rohan teilte die Gaben
aus, jedem Ausländer dreißig, jedem Franzosen fünfzehn Sous. Die Spanier
kamen, wie es die Sitte wollte, zuerst, die Franzosen zuletzt an die Reihe.
Der König strich mit der rechten Hand von der Stirn zum Kinn und von
der einen zur andern Seite des Gesichts in der Form des Kreuzes. Drei
Chefs de Goblet hielten drei mit Essig, mit gewöhnlichem und mit Orangen¬
wasser getränkte Tücher bereit, die von den Herzögen von Orleans, von
Chartres und von Bourbon dem Könige gereicht wurden, der sich damit die
Hände wischte.
Zu der Menge überlebter, zum Teil uralter Einrichtungen, mit denen
die große Revolution aufräumte, gehörte auch das attouoluziuöut, das, wie
wan damals glauben durfte, mit seinem Träger, dem bourbonischen Königtum,
für immer verschwand. Und doch sollte es noch einmal eine kurze Auferstehung
erleben. Während Ludwig der Achtzehnte in den Mühen um die Neuordnung
der Verhältnisse vor und nach den hundert Tagen keine Zeit für eine Krönungs-
feier gefunden hatte, deutete sein Bruder und Nachfolger Karl der Zehnte
schon durch die prunkvolle Feierlichkeit, mit der er sich (29. bis 31. Mai 1825)
«ach dem alten, nur wenig zurechtgestutzten Zeremoniell in der Kathedrale zu
Reims salben und krönen ließ, unmißverständlich an, daß er ganz im Sinne
der alten „allerchristlichsten" Könige zu regieren gedenke. Die dort von ihm
vollzogn« Berührung sollte sich in die Gesamtheit der Mittel für die politisch¬
kirchliche Wiedergeburt einfügen, trug aber nur dazu bei, daß sich die große
Masse der Nation von einem Monarchen abwandte, der in hartnäckiger Ver¬
blendung die Verehrung alter, aus der roycilistischen Rumpelkammer an das
helle Tageslicht hervorgeholter Fratzen einem veränderten Zeitgeist aufnötigen
wollte. Ob und wie oft Karl der Zehnte nach den Tagen von Reims die
Berührung vollzogen habe, vermag ich nicht zu sagen, da ich keine Gelegen¬
heit gehabt habe, deu Moniteur aus den Jahren 1825 bis 1830 zu lesen,
worin sich die entsprechenden Angaben finden müßten.
In der wundertätigen Berührung können wir auch vom christlichen Stand¬
punkt aus nur ein Phantasiegebilde, einen Aberglauben sehen. Der evangelische
Glaube bedarf, wie wir schon von Füller gehört haben, solcher Surrogat¬
wunder nicht. Dennoch wäre es ungerecht, wenigstens für die ältere Zeit,
"on einem Schwindel zu reden; es war eine Verirrung, deren Wurzeln in
einem überspannten Begriff vom Königtum zu suchen sind. Das Alte Testament
^Zählt in einer der vielen großartig einfachen Geschichten, die für erste
Menschheitserfahrungen geradezu typisch sind, die Entstehung des Königtums
bei den Jsraeliten. Wie Samuel dem Volke vorhält, hätte dieses sich in
republikanischer Freiheit, nnr nach den Gesetzen Gottes, selbst regieren können,
wenn in ihm eine idealere, opferfreudige Gesinnung geherrscht Hütte. Aber
^e Menschen waren eben nicht danach. Sie fanden es bequemer, einen
^b'nig zu verlangen, wie alle Heiden hatten, der sie richtete und vor ihnen
Herzöge und ihre Kriege führte, und erwarteten von ihm eine Besserung ihres
selbstverschuldeten staatlichen und nationalen Elends. Daß einem solchen
^bnig neben schweren Pflichten auch weitgehende Rechte zufallen mußten, ohne
die er die Pflichten gar nicht erfüllen konnte, davon wollten sie nichts hören,
obgleich Samuel es ihnen nüchtern und eindringlich genug vorstellte. Der
höhere Nechtsstand des Königs fand feinen Ausdruck in der Salbung. Der
Won Gott berufne, gottgeweihte Herrscher, der Gesalbte des Herrn, wurde
bannt nicht zu einem Übermenschen gemacht, wohl aber, wie schon früher die
fester, aus der Masse des Volkes herausgehoben und auf eine höhere
^ose gestellt. Auch für uns sind die Titel „Kaiserliche und Königliche
Majestät" nicht byzantinische Redewendungen, sondern der zutreffende Aus¬
druck für eine überragende, rechtlich begründete Stellung, die für das naive
Volksgemüt leicht etwas Mystisches annimmt. Ich erinnere mich noch, mit
welchem Schauer der Ehrfurcht ich, als Knabe nach der Hauptstadt mit¬
genommen, zum erstenmal meinen Landesherrn sah — es war der letzte Kur¬
fürst von Hessen auf einer Ausfahrt nach Wilhelmshöhe. Wohl ist wahr,
Fürsten sind Menschen vom Weibe geboren und als solche den Gesetzen des
Menschendaseins unterworfen, wie andre Sterbliche der Freude und dem Leide,
Versuchungen und Irrtümern zugänglich; aber eins haben die gekrönten
Häupter doch voraus, ein unvergleichliches Amt, und bei denen unter ihnen
— daß auch hier Idee und Wirklichkeit nicht immer übereinstimmen, dafür
hat schon das Alte Testament eine Reihe von Beispielen —, die dieses wirk¬
lich auszufüllen bestrebt sind im wahren Sinne des Wortes „von Gottes
Gnaden," nämlich im Gefühle der Verantwortlichkeit gegenüber einem Höhern,
wird wohl auch das Wort ein wenig Wahrheit behalten: „Wem Gott ein Amt
gibt, dem gibt er auch den Verstand." Ganz abgesehen davon, daß die
Purpurgeboruen von dem Kleinkram des Lebens verschont bleiben, von den
kleinlichen, alltäglichen Hemmungen, die auch einen hochfliegenden Geist zuletzt
niederdrücken können; abgesehen davon, daß ihnen meist Mittel zu einer
freien Selbsteutfaltung zu Gebote stehn, die auch dem reichsten Privatmann
versagt sind, gibt ihnen ihr hoher Standpunkt — um nur ein Wichtiges zu
erwähnen — die Möglichkeit, sich in weit höherm Grade als gewöhnliche
Menschen gleicher Begabung eine schnelle und sichere Menschenkenntnis zu er¬
werben, wie man das beim alten Kaiser Wilhelm sehen kann, den seine
Mutter für das am wenigsten begabte ihrer Kinder hielt.
Alle diese Vorgänge erwecken in dem Volksempfinden wohl die Vor¬
stellung unbegrenzter Möglichkeiten, die zu einer abgöttischen Verehrung des
Herrschers und umgekehrt zu einer ungerechten Beurteilung seines für unzu¬
länglich gehaltnen guten Willens führen kann. Wenn dann, wie bei unsern
westlichen Nachbarvölkern, durch eine frühe Entwicklung zum Einheitsstaate
die ganze Macht eines Reiches in die Hand eines Einzelnen gelegt und auf
diesen ohne Einschränkung der spütrömische Rechtsgrundsatz vom Monarchen
als t'vns angewandt wird, wenn die Fülle der Rechte die Pflichten
zurücktreten läßt, dann entsteht, wenigstens in der Theorie, die Formel
o'sse w,ol, der Staat verkörpert sich völlig in seinem Regenten, wie denn
bei Shakespeare mit Lr-ZIg-na, ^ranos, ve.mag.ri: die Herrscher dieser Länder
angeredet werden. Lag so die Versuchung nahe, daß die Nationen ihr Volks-
tum in ihrem Königtum idealisiert vorstellten, dann war es auch natürlich,
daß die vom mittelalterlichen Wunderglauben ins Übermenschliche gesteigerten
Vorzüge ihrer Herrscherhäuser ein Gegenstand nationaler Eifersucht wurden.
Unter unsern alten Kaisem hat es keinen ü-ol Lolsil geben können. Das
alte römisch-deutsche Reich ist niemals ein straffer Einheitsstaat gewesen, und
die Saora (ÜÄöLarizg, Naiestas, die bei der individuellen Mannigfaltigkeit des
deutschen Lebens immer von dem guten Willen vieler abhängig war und
zudem oft mit einem oder gar beiden Füßen außerhalb Deutschlands stand,
hat zu keiner Zeit nach Karl dem Großen die Nation ganz, wie in Frank¬
reich und England, in sich verkörpert. Es ist deshalb kein Zufall, daß wir
in der deutschen Geschichte nichts der königlichen Gabe ähnliches finden. Dafür
sind uns auch wenigstens die Staatsumwälzungen erspart geblieben, die durch
den ganzen Vorstellungskreis notwendig wurden, worin allein der Glaube an
die königliche Gabe erwachsen konnte.
in Deutschen Herold, der bekannten Zeitschrift für Wappen-, Siegel-
und Familienkunde, wurde vor einiger Zeit (Septembernummer 1903)
zur Vorsicht in familiengeschichtlichen Forschungen gemahnt, und
zwar im Hinblick aus einen Aufruf zu der Zusammenkunft einer
bürgerlichen Familie, die angeblich ihre Abstammung bis ins
Jahr 1379 festgestellt hat. Ohne zu bestreiten, daß sich vielleicht Träger des
Namens dieser Familie bis ins vierzehnte Jahrhundert nachweisen ließen, wurde
darauf hingewiesen, daß für jeden Stammbaum ausschließlich urkundliche Belege,
M der Hauptsache also Geburth- und Sterbeurkunden zugrunde gelegt und alle
»och so verlockenden Vermutungen verworfen werden müßten, wenn die Forschung
von der Wissenschaft der Genealogie ernst genommen zu werden wünsche. Zü¬
rich bemerkte die Schriftleitung zur Sache, daß einzelne bürgerliche Geschlechter,
Namentlich städtische, ihre Stammtafel bis ins vierzehnte Jahrhundert mit Sicher¬
heit feststellen könnten, daß solche Fälle aber zu den Ausnahmen gehörten.
Diese Mahnung gibt Veranlassung, den heutigen Stand der familiengeschicht¬
lichen Forschung der bürgerlichen Geschlechter den Lesern der Grenzboten in
^rzen Umrissen vorzuführen, besonders da dieser Zweig der Geschichte noch ver¬
hältnismäßig jung und die Genealogie eigentlich erst in den letzten Jahren auf
die bürgerlichen Familien ausgedehnt worden ist. Die adlichen Geschlechter
haben von jeher auf die Erforschung ihrer Familiengeschichte schon deshalb mehr
Wert gelegt, weil mit dem urkundlichen Nachweis einer bestimmten Ahnenreihe
"7 abgesehen von dem Glänze und Ruhme des Geschlechts — mancherlei Vor-
^ne materieller Art, zum Beispiel in Stifts- und Erbschaftssachen, verbunden
^ind, die den einzelnen Gliedern zugute kommen können. Seit Jahrhunderten
haben sich deshalb die Gelehrten damit abgegeben, die Ahnentafeln der Ge¬
schlechter des Adels aufzustellen und dessen Stammbäume bis in die graue Vor-
hinaus zu verfolgen. Die Phantasie spielte dabei allerdings oft eine große
^olle, und es wirkt in unsern Tagen manchmal geradezu komisch, wenn irgend
^u alter Genealoge alles Ernstes die Wurzeln eines Adelsgeschlechts bis auf
^"ri den Großen oder bis zur Völkerwandrung, ja bis in die Römerzeit zurück¬
zuführen weiß. Das verflossene Jahrhundert hat auch auf diesem Gebiete
Mündlich aufgeräumt, an die Stelle haltloser Phantasien und Hypothesen ist
die nüchterne, auf Urkunden gestützte Forschung getreten und die Genealogie zu
einer beachtenswerten und leistungsfähigen Wissenschaft geworden, die über per¬
sönliche Liebhaberei hinaus dem Allgemeinen dienen und zur Erforschung der
Heimatsgcschichte beitragen will.
Die erste Bedingung für eine erfolgreiche Familienforschung ist die Kenntnis
der Quellen, woraus das Material zu entnehmen ist, und gerade in deren Auf¬
deckung ist in dem letzten Jahrzehnt viel geschehn. Vor allem find es die
Kirchenbücher, die über das Dasein und den Wandel der Familien im Laufe
der Zeit einen zuverlässigen Aufschluß geben, da sie eigens zu dem Zwecke an¬
gelegt worden sind, den Familienstand nachzuweisen. Lange Zeit ist das fast
unübersehbare Urkundenmaterial von der allgemeinen Geschichtsforschung unbe¬
achtet geblieben, und manches wertvolle Kirchenregister ist verloren gegangen,
ehe man den darin liegenden Wert erkannt und gewürdigt hat, der für die
Familiensorschung von hoher Bedeutung ist. Die Kirchenbücher gehn zum Teil
bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück und kommen deshalb in den frühern
Jahrhunderten fast ausschließlich in Betracht, da die etwa vorhandnen Steuer¬
listen, Verkcinfsurkunden und andre Register der Städte mehr zufälliger Natur
sind und nur selten für den urkundlichen Nachweis einer Geschlechterfolge ver¬
wandt werden können. Nachdem erst einmal die Wichtigkeit dieses Quellen¬
materials erkannt worden war, regte der Verein Herold in Berlin die Samm¬
lung der Kirchenbücher an, und jetzt ist fast in allen deutschen Staaten der
Bestand und das Alter der einzelnen Register veröffentlicht worden, sodaß man
sich von vornherein über das vorhcmdne Material in einer bestimmten Ortschaft
unterrichten kann, ohne erst bei dem Kirchenamte die nötigen Anfragen über die
Kirchenbücher stellen zu müssen. Die Forschung wird dadurch sehr vereinfacht,
wenn man weiß und angeben kann, wo die Urkunde zu suchen und vermutlich
zu finden ist.
Da es aber für den einzelnen Forscher immerhin noch schwierig ist, das
weitzersplitterte gedruckte und ungedruckte Material zu übersehen und planmäßig
zu sammeln sowie die Ergebnisse seiner Forschung schließlich der Öffentlichkeit
zu unterbreiten, so haben sich in jüngster Zeit Vereinigungen gebildet, die den
ausgesprochnen Zweck haben, ihren Mitgliedern die Erforschung der Familien¬
geschichte in jeder Weise zu erleichtern, ihnen dabei dnrch Wort und Schrift
behilflich zu sein und die Familienforschung allgemein zu fördern.
Schon zu derselben Zeit, wo der Verein Herold im Jahre 1891 die An¬
regung zur Veröffentlichung der Kirchenbücher gab, entstand unter seiner Leitung
ein genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien, von dem schon der zehnte
Band vorliegt. Es wird zurzeit von dem Regierungsasfesfor Dr. jur. Bern¬
hard Körner herausgegeben, bildet den Sammelpunkt für die Arbeiten auf dem
Gebiete bürgerlicher Familienkunde und soll für diese Familien das bedeuten,
was das bekannte Gothaische Taschenbuch für den Adel ist. Nach dem Vor¬
worte des zehnten Bandes hat sich das Handbuch die Aufgabe gestellt, in bürger¬
lichen Kreisen den Sinn zu fördern, der sich des Zusammenhanges in der Familie
bewußt ist, das Gedächtnis der Vorfahren mit Ehrfurcht pflegt und das An¬
denken der jetzt Lebenden bei den Nachkommen zu erhalten sucht. Die For-
derung des fortlaufenden Werkes ist in der Weise gedacht, daß der Familien-
fvrscher die Stammtafel seiner Familie in geschichtlich zweifelsfreier Treue und
Nahrhaftigkeit möglichst mit dem Wappen oder dessen Beschreibung an den
Herausgeber einsendet, der dann die weitem Bedingungen über die Aufnahme
das Handbuch mitteilt. Dieses erscheint im Verlage von W. T, Bruer in
Berlin 8W, Hafenplatz 4; jeder Band kostet sechs Mark, ist schön ausgestattet,
enthält viele Wappenabbilduugen und Tafeln in Buntdruck und gibt auf den
etwa sechshundert Textseiten einen guten Begriff von der Bearbeitung der
Familiengeschichte.
Ein eben erst ins Leben getretncs Unternehmen mit demselben Zwecke sind
die seit dem 15. Juli 1903 erscheinenden „Familiengeschichtlichen Blatter für
adliche und bürgerliche Geschlechter"; sie werden monatlich in Dresden heraus¬
gegeben und kosten für das Jahr sieben Mark. Mit dem Motto von Esaias
Gegner: „Schön ist es, den Spuren seines Geschlechts nachzugehen: denn der
Stcimmbanm ist für deu Einzelnen das, was die Geschichte des Vaterlandes für
ganzes Volk ist" deuten sie auf ihr Ziel hin: nämlich die Familiengeschichte
5u fördern und zur Pflege des Familiensinnes beizutragen. Im einzelnen sollen
^nulieugeschichtliche Abhandlungen, Stammtafeln, Urkunden und Auszüge daraus,
Abschriften von Grabdenkmälern, Erklärungen von Familiennamen, Beschreibungen
von Siegeln, Wappen und Hausmarken, Lebensläufe, Tagebuchschilderungen ge¬
macht, auch Familienstiftuugeu besprochen und Familienscigcn nebst der familien¬
geschichtlichen Literatur berücksichtigt werde». Für deu Ernst dieses neuen Unter¬
nehmens bürgt der Name des Herausgebers, der als Mitglied verschiedner
genealogisch-heraldischer und geschichtlicher Vereine bekannt ist.
Eine andre Zeitschrift mit denselben Bestrebungen besteht seit dem 1. Juli1900;
>!e nannte sich im ersten Jahrgange Der Wappensammler, heißt jetzt Wetters
Archiv für Stamm- und Wappenkunde und erscheint aller Monate im Verlage
von A. Weller in Kasia ^Thüringen) zum Jahrespreise von vier Mark. Sie
^ zugleich das Organ des Vereins zur Förderung der Stammkunde, der unter
dem Namen Roland am 18. Januar 1902 in Dresden gegründet worden ist,
und an dessen Spitze der Professor Unbescheid, Dresden. Lüttichaustraße 11,
"ehe. In Aufrufe zur Gründung dieser neuen Vereinigung wurde gesagt,
^ sei ein erfreuliches Zeichen unsrer Zeit, daß seit einigen Jahrzehnten in
Leitern Kreisen der Sinn für Familienforschung lebendig geworden sei, und daß
"ußer dem wissenschaftlichen, dem sittlichen und dem praktischen Werte der
Stammkunde die Vernachlässigung des Familienlebens — jene Schattenseite
es Vereinslebens — durch das Studium der Geschichte des eignen Geschlechts
^>d durch die Pflege der Familiei,zusammengehvrigkeit ausgeglichen werden
omne. Der Roland unterstützt seine Mitglieder bei ihren Forschungen, sorgt
^ kostenfreie Aufnahme von mehreren Genealogien in jedem neu erscheinenden
^ante des vorhin genannten Körnerschen Handbuchs und veröffentlicht im
^ersehen Archiv geeignete Aufsätze sowie Einzelschriften genealogischen In¬
halts. Alle drei Unternehmungen verfolgen also denselben Zweck und gehn Hand
Hand, ohne sich gegenseitig im Wege zu stehn, da sie verschiedne Wege zu
^"l Ziele einschlagen.
Schließlich müssen wir noch einer vierten Vereinigung gedenken, die aller¬
dings erst im Entstehn begriffen und im Februar 1904 in Tätigkeit getreten
ist: der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte. Die An¬
regung dazu ist von dem Leipziger Rechtsanwalt Dr. Breymann ausgegangen.
Es soll versucht werden, das weitschweifige gedruckte, für die Familiengeschichte
in Betracht kommende Material systematisch auszubeuten. Außer den Mitgliedern
der Vereinigung sollen geschichtswissenschaftlich geschulte Beamte für die Zentral¬
stelle arbeiten, damit die volle Gewähr für eine geordnete und gewissenhafte
Durcharbeitung des gesamten Urkundenmaterials geleistet werde. Als Grundlage
soll ein alphabetisch geordneter Zettelkatalog geschaffen werden, dessen einzelne
Zettel Geburth- und Taufzeit und Ort, Todeszeit und Ort, Angaben über
Wohnort und Lebensstellung, Verheiratung, Eltern und Kinder unter Angabe
der Quellen enthalten. Es werden dabei die Urkundenbücher, Universitätsmatrikel,
Bürgerlisten, Kirchenbücher und andre Register berücksichtigt werden, und einzelne
freiwillige Mitarbeiter sollen ihrer Neigung und ihrem Beruf gemäß für die
Zentralstellen tätig sein. An die volle Verwirklichung des Planes kann man
allerdings nur gehn, wenn die Beiträge eine genügende Höhe erreichen.
Es ist also reichlich dafür gesorgt, daß die Freunde der Familiengeschichte
bei ihrer Arbeit und der Verwertung ihrer Ergebnisse Unterstützung finden, ja
fast möchte man meinen, daß es besser sei, wenn sich die verschiednen Zeit¬
schriften und Vereinigungen zu einem einzigen großen Verbände zusammentüten,
eine einheitliche Forschung auf dem Gebiete der bürgerlichen Familiengeschichte
anzubahnen. Die meisten der Unternehmungen haben ohnehin ihren Sitz schon
im Königreich Sachsen, wodurch eine Verständigung für die Zukunft begünstigt
werden würde. Doch die Schwäche der gesamten Familienforschung liegt nicht
in der Zersplitterung der tätigen Kräfte, sondern in dem Mangel einer allge¬
meinen regen Beteiligung der bürgerlichen Familien selbst, um deren Geschichte
es sich handelt. Es gibt im Verhältnis zu der Zahl der sogenannten gebildeten
Kreise herzlich wenig, die sich um die Geschichte ihrer eignen Familie bekümmern;
bei den meisten geht die Kenntnis nicht über die Abstammung der Großeltern
hinaus. Es ist wohl nicht anzunehmen, daß man sich im allgemeinen scheut,
den Ursprung seiner Familie der Mitwelt preiszugeben: denn jeder Familien-
forscher muß darauf gefaßt sein, daß seine Ahnen aus Kreisen hervorgegangen
sind, die heutzutage gesellschaftlich vielleicht tiefer stehn als die eigne Familie;
das ist aber keineswegs eine Schande, sondern im Gegenteil das Zeichen eines
kraftvollen Stammes, der sich emporgearbeitet hat. Und gerade darin liegt der
Reiz der Familienforschung, die verschiednen Wandrungen eines Geschlechts, die
Berufsarten, die sozialen Stellungen einer Sippe in den einzelnen Jahr¬
hunderten, in bemerkenswerten politischen Zeitläufen, in dem Auf- und
Abwogen der Geschichte zu verfolgen, ein Genuß, der auch noch dadurch
erhöht wird, daß mit der Stammbaumforschung ein Studium der jeweiligen
Ortsgeschichte, ja sogar der allgemeinen Geschichte, mehr oder weniger ver¬
bunden ist, wenn man zum rechten Verständnis der Familiengeschichte kommen
will. Damit ist nun aber nicht gesagt, daß man nur die Familiengeschichte be¬
kannter oder berühmter Männer und Geschlechter verfolgen sollte; deren Ge¬
schichte ist zumeist ohnehin schon bekannt, und viel mehr trägt die Aufhellung
der Geschichte der bisher unbekannten Geschlechter, die jahrhundertelang im stillen
gewirkt und geschafft haben, zur Erweiterung der allgemeinen Kultur- nud
Wirtschaftsgeschichte bei, auf die heute so großer Wert gelegt wird.
Ebensowenig wie diese falsche Scham darf den Familienforscher aber auch
umgekehrt der andre Vorwurf anfechten, den man ihm wohl in der Presse
gemacht hat, daß es die bürgerlichen Familien dem Adel gleich tun wollten,
daß man damit eine neue Aristokratie, einen neuen Geburtsstand hervorbringen,
eine Geldaristokratie heranzüchten wollte. Im Vorworte zum neunten Bande
des Körnerschen Handbuchs ist dieser Vorwurf mit folgenden Worten abgetan
worden: „Echter Adel ist nur dort vorhanden, wo es einen Stamm überlieferter
Ehr- und Sittenbegriffe, wo es eine Familienüberlieserung und ein einheitliches
bewußtes Wollen innerhalb der Sippe gibt. Eine neue Aristokratie kann daher
nur dann entsteh», wenn bestimmte Familiengruppen, die nicht zur alten Aristo¬
kratie gehören, in dem, was das edelste im Adel ist, ihm gleichkommen, im Adel
der Gesinnung und des Handelns, im Stolz auf die Familie, im Festhalten an
der Erinnerung an die Vorfahren und in dem Bestreben, den ererbten Namen
rem und fleckenlos zu erhalten und zu seinem Glänze und seiner Macht als
ewes von vielen Gliedern desselben Bluts und derselben Sippe beizutragen,
soviel ein jeder vermag. Jene alte Aristokratie wird einen Mitbewerber — keinen
Nebenbuhler — nur dann finden, wenn echter Bürgerstolz und echter Bürger¬
sinn im Streben nach den höchsten Gütern ihr zur Seite tritt. In Ehren er-
worbner Reichtum, durch Generationen vermehrtes Vermögen und Wissen wird
den bürgerlichen Geschlechtern Macht geben, wenn sie ihre Gediegenheit und ihr
Selbstbewußtsein bewahren."
Das sind beachtenswerte Worte in unsrer hastigen, nach materiellem Gewinn
und Wohlleben jagenden Zeit, wo so viele nur für gutes Essen und Trinken
volles Verständnis haben, alle idealen Bestrebungen mitleidig belächeln und das
s° oft mißverstcmdne Schillersche Wort: „Was du ererbt von deinen Vätern
Mök, erwirb es, um es zu besitzen" ausschließlich auf die reiche Erbschaft be¬
lehn, die ihnen Gesetz und Testament gesichert haben, und darüber der „Väter"
selbst
in Hotel du Nord habe ich bis gegen Ende des Dezembers gelebt,
danach bezog ich eine olminbrs gN-rio. Wir hatten im Hotel zu
je zweien ein nnheizbnres Schlafzimmer, außerdem war den dort
wohnenden deutschen Offizieren zusammen ein Salon zur Verfügung
gestellt, wo man den größten Teil des Tags zubrachte. Unser Leben
—I spielte sich anfangs im allgemeinen in der Weise ab, daß man bis
im K ^ danach sich gegen elf Uhr zum gemeinsamen clchsunsi'
^cuon zusammenfand, dann weiter dort blieb und mit verschiedner Beschäftigung,
wie Lesen, Briefschreiben usw., oder Unterhaltung, Kartenspiel, Domino, Klavier
und andern, die Zeit hinbrachte. Um sechs Uhr folgte das gemeinsame älnsr, und
danach wurde der Abend in derselben Weise verlebt, bis man gegen Mitternacht
wieder sein Lager aufsuchte. Einige Besorgungen waren ja gelegentlich zu machen,
sonst aber beobachteten wir zunächst diese Ordnung streug, obgleich wir manchmal,
wie ich eines Tages in mein Tagebuch geschrieben habe, „die Zeit kaum tot zu
kriegen" wußten. Als dann nach anfänglicher Kälte in der Mitte des Dezembers
das Wetter wieder milder wurde, wagten wir es auch, einige etwas größere
Spaziergänge durch die Stadt und die nächste Umgebung zu machen, wobei wir
Neulinge den Mangel eines Zivilanzuges einigermaßen dadurch zu verdecken suchten,
daß wir einen geliehenen Paletot oder einen Regenmantel über die Uniform zogen
und einen Hut aufsetzten. Groß war die Freude, als kurz vor Weihnachten das
gewünschte Geld eintraf, und nun bürgerliche Kleidung gekauft werden konnte. Von
da an machte man, soweit das Wetter es irgend erlaubte, Spaziergänge zu den
verschiedensten Tageszeiten, konnte sich dadurch das Leben abwechslungsreicher ge¬
stalten und mehr der Gesundheit entsprechend leben. Denn nach dem so bewegten
und aufreibenden Leben im Felde bekam das notgedrungen stille Leben und der
Mangel an ausreichender Bewegung den meisten von uns nicht recht, zumal da
die Beköstigung recht gut war. Sie bestand beim Dejeuner aus vier Gängen, zweimal
Fleisch (manchmal in Form von Ragouts, wozu namentlich oft Lapins verwandt
wurden), je einmal Gemüse und xonunss as tsrrs kritss oder rutisL, alles nach
französischer Sitte, an die wir ja längst gewöhnt waren, einzeln serviert. Beim
Diner kam noch eine Suppe und als Nachtisch Obst hinzu. Zu jedem Couvert
gehörte bei beiden Mahlzeiten eine Flasche leichten und einfachen aber ganz trink¬
baren Landweins. Dafür und für das vorher beschriebene Logis bezahlte man täglich
vier Franken, also einen gewiß nicht zu hohen Preis, zumal da gut gekocht und von
allen Speisen reichlich gegeben wurde. Immerhin überstieg schon die Bezahlung
hierfür den monatlichen Sold, der uns mit hundert Franken vom französischen
Gouvernement gezahlt wurde, und man hatte doch das Bedürfnis, zwischen dem
Dejeuner und dem Diner noch einmal etwas zu genießen, wenigstens zu trinken; den
langen Abend konnte man auch nicht immer „trocken sitzen," man war gewohnt zu
rauchen, bekam aber natürlich keine „Liebeszigarren" mehr geliefert: also war mich
für das tägliche Leben noch ein großer Geldzuschuß notwendig.
Die Stadt Le Puy, die alte Hauptstadt der Landschaft Velay, liegt ungefähr
in derselben nördlichen Breite wie Turin und Mailand; sie liegt aber zugleich
schon so weit im Gebirge — den Ausläufern der Cevennen und dem Quellgebiete
der Loire — und so hoch (etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel), daß es
winterlich kalt war, als wir hinkamen, viel kälter als in der Nähe von Orleans,
wo wir doch mich schon Schnee und Frost erlebt hatten. Nachher trat dann wieder
milderes Wetter ein; aber gegen Weihnachten begann, wie damals ja im ganzen
westlichen und nordwestlichen Europa, eine überaus strenge Kälte; um Neujahr
hatten wir einige Tage 22 Grad Celsius. Im Laufe des Jnnnars wurde es all¬
mählich milder, und der Februar war schon ein reiner Frühlingsmonat. Infolge
der hohen Lage war die Luft im allgemeinen rein und klar, also das Klima recht
gesund. Das mag dazu beigetragen haben, daß ich die große Ermüdung und Ab¬
spannung, mit der ich nach allen Mühsalen und körperlichen Anstrengungen wie
seelischen Aufregungen in Le Puy ankam, bald überwand und nicht merkte, das;
alles das auf meine Gesundheit einen nachhaltig schlechten Einfluß übte.
Der ältere Teil der Stadt, der sich um eine große Kathedrale und eine große
Anzahl daran anstoßender oder damit in Verbindung stehender bischöflicher und
geistlicher Gebäude, Klöster, Schulen usw. gruppiert, liegt ziemlich eng zusammen¬
gedrängt an den Abhängen eines Hügels, dessen Gipfel, den roolisr as Om'QsiUo,
die Kolossalstatue der Mutter Maria, notis as>ins as lsrgnoo, krönt, ans Kanoneu-
nietall gegossen, das bei Sebastopol erbeutet worden war. Dieses neuste Zeichen der
französische Gloire war also weithin sichtbar, war auch ein Ziel vieler Spaziergänge;
denn von oben hatte man einen herrlichen Rundblick weithin auf und in die Berge,
euren Blick, der jederzeit wunderbar schön war, sowohl im Winter, wo alle Höhen
°o>i Schnee bedeckt waren, als nachher, wo überall das junge Grün hervorsproß.
6ur eine kleine Vergütung konnte man auch im Innern der Figur bis in den Kopf
hinaufsteigen und aus den Augen denselben Blick in die Weite noch schöner genießen.
neuern Stadtteile dehnen sich im Tale am Fuße des Hügels weithin, die Straßen
Md etwas breiter, doch nach Art der französischen Mittelstädte nicht sehr sauber.
Einigermaßen schön konnte man, damals wenigstens, nur die große, mit einem
herrlichen Mvnumentalbrnnnen geschmückte Place du Breuil vor dem Palaste des
Hrcifekten und den Platz vor dem Bahnhof nennen; das waren auch die beiden
Plätze, auf denen sich die feine Welt aus den etwa zwanzigtausend Bewohnern der
^ende manchmal zu einer Art Korso zusammenfand, dort stellte sich die Mrcls nationale
Zu Appellen und Exerzitien auf usw.
In den nächsten Tagen nach unsrer Ankunft und in den folgenden Wochen
es Dezembers kamen noch eine Anzahl verschiedner deutscher Offiziere zu den schon
h^r weilenden hinzu, sodaß es gegen Ende Dezember siebzig kriegsgefangne Offiziere
u> Le Puy gab; außer im Hotel du Nord wohnten etliche noch in einem andern
^odei, piete bezogen allmählich Privatwohnungen. Es waren so ziemlich alle Land-
i^sten Deutschlands und alle Waffengattungen vertreten, und so hatte man im
^erkehr untereinander, der sich von Anfang an sehr freundschaftlich gestaltete, Ge-
egenheit, mit den verschiedensten Menschen aus den verschiedensten Lebenskreisen
^Ujaminenzukommen und vielerlei Anschauungen kennen zu lernen. Großes Interesse
hat es mir als Norddeutschen, der ich vor dem Feldzuge noch nie außerhalb meiner
Heimntprovinz gelebt hatte, besonders gewährt, mit einer Anzahl bayrischer Offiziere,
ünientlich einigen echten Altbayern, zu Verkehren und die Kriegserlebnisse und
Weltanschauungen mit ihnen auszutauschen. Nicht nur der mir noch ganz fremde
""d doch gleich sehr sympathische altbnyrische Dialekt, ihr herzliches „Grüß Gott,"
)r lebhaftes „Dös wenn i gewußt hätt" und manches andre ist mir in lebhaftester'nnnerung geblieben und klingt mir immer uoch in den Ohren; auch ihre religiösen
' uipfindnngen und ihre politischen Ansichten, ihren teilweise recht engen Partikularismus
erkunden mit deutschem Patriotismus, ihre Verehrung für ihren jungen König und
a 'gleich doch auch für den greisen König Wilhelm, in manchem lebhaften Gespräche
d-,-"^ ""^ würdigen zu lernen, ist mir sehr lehrreich und für die Erweiterung
s eignen Gesichtskreises nützlich gewesen,
schiff große Anzahl Kapitäne und Steuermänner von ^deutschen Handels¬
zins ' ^ ^ Franzosen gekapert hatten, waren als „Offiziere" in Le Puy interniert
. verkehrten also auch wohl mit uns! dieselbe Notlage führt eben die Leidens-
srli ^"6 zusammen. Mit besonderm Interesse erinnere ich mich noch eines
ziemlich bejahrten Kapitäns eines Bremer Vollschiffs, der mit seinem Stener-
eine Zeit lang an demselben Tische mit mir speiste, sodnß wir uns viel
^erhielten, und ich gar oft der Erzählung von seinen mancherlei Erlebnissen in
Weltteilen und auf allen Ozeanen lauschte,
gefies ^ ""^ Weihnachten wohnte ich im Hotel du Nord. In mancher Beziehung
dix .. das Leben dort, d. h. der Verkehr mit den verschiednen Kameraden und
der listige Unterhaltung, recht gut; doch behagte mir je länger desto weniger
Wie . ^"i>. daß ich nie für mich allein sein, still lesen oder schreiben oder sonst-
- "und ernsthaft beschäftigen konnte. Und ich war doch bald auf den Gedanken
?."0nule>, ^,l->!^c___ ...-> -?-.,^»„5> .„^Ko,, ,,„K K!o i„ik^„ne,!M^,a
^ innen, gleichsam aus der Not eine Tugend zu machen und die unfreiwillige
eclat' s ^'"^ bessern Erlernen der französischen Sprache zu verwerten. Dazu bot das
sich 7 Leben, das eine eigentliche französische Unterhaltung doch nur wenig mit
P j ^ehre, nicht viele Gelegenheit; so wollte ich durch Bücher und womöglich durch
. <°/""terricht gründlicher und mehr Französisch zu lernen suchen und wollte also
-.arbeitDeshalb wohnte ich von Weihnachten an in einer nil^indrs Karnis, d. h.
vier Wochen in einer, die mir aber auf die Dauer zu teuer war, dann noch in
einer zweiten, billigern. Nun konnte mein Leben auch insofern anders eingerichtet
werden, als das Zimmer natürlich heizbar war und gleich, nachdem ich aufgestanden
war, geheizt wurde, ich also früher aufstehn konnte. Freilich gerade in den ersten
Tagen nach dieser Veränderung trat jene besonders heftige Kälte ein, und mein
Zimmer hatte selbstverständlich keinen Ofen, sondern nur einen Kamin. Da konnte
ich denn wohl am brennenden Feuer sitzen, habe aber die Unannehmlichkeiten dieser
Art zu heizen gleich ordentlich kennen gelernt: an der Seite, die ich dem Feuer
zukehrte und möglichst näherte, war ich in Gefahr zu braten oder anzubrennen,
während die andre Seite beinahe erfror. Später freilich, als das Thermometer „um
Null herum" stand, lernte ich auch die Behaglichkeit des Sitzens vor einem solchen
Kamin wohl kennen und würdigen, freue mich aber noch jetzt in jedem Winter wieder,
daß wir hierzulande ordentliche Ofen haben.
Um französischen Unterricht zu bekommen, wandte ich mich an den xrovissur
des oollsg's in Le Puy, und dieser wies mich einem seiner Kollegen zu, dem
xrotsWmu' as« lanAues vivg,necs. Dieser Herr war freilich Elsasser und hatte in¬
folgedessen, wie ich gleich merkte und hörte, keine besonders gute Aussprache, trotzdem
erschien er wie dem provissuz- auch mir deshalb wohl geeignet für meine Zwecke,
weil er natürlich auch geläufig Deutsch sprach, sodaß wir uns auf alle Fälle leicht
und sicher verständigen konnten. So wurde ich denn wieder „Schüler," ging
wöchentlich an zwei Nachmittagen zu ihm, und wir verbrachten eine Stunde mit
Übersetzen, Sprechen und grammatischen Erörterungen; auch schriftliche Übersetzungen
ins Französische arbeitete ich und hatte somit Gelegenheit und Veranlassung, meine
grammatischen und lexikalischen Kenntnisse aufzufrischen, zu erweitern und zu ver¬
tiefen und mich zugleich im „Parlierer" zu üben. An Unterhaltungsstoff fehlte es
uns auch nicht. Mein Professor war zwar durchaus französisch und republikanisch
gesinnt, interessierte sich aber daneben auch für manches Deutsche, namentlich für
unsre Klassiker; dazu erzählten wir uns von unsern Heimatländern, und einen ganz
unerschöpflichen Stoff boten ja die Tagesereignisse, die Kriegsnachrichten usw. Wie
kounte er lebhaft, ja hitzig werden, wenn auf Napoleon die Rede kam, den er nie
anders nannte als os KiutinAuczt,, oder auf Bazaine, den auch er für einen trkntrs
hielt. Wenn nun bei solchen Gesprächen natürlich oft ganz verschiedne, jn entgegen¬
gesetzte Ansichten zutage traten und unsre Debatten zuweilen sehr eifrig wurden,
so vertrugen wir uns doch immer sehr gut, die Stunden vergingen sehr angenehm
und sind mir eine liebe Erinnerung, und ich gedenke des alten Professors, mit dem
ich auch später noch einige Briefe gewechselt und die Photographie ausgetauscht habe,
immer mit vieler Dankbarkeit.
So hatte ich nun, was mir zusagte, ernstere geistige Arbeit, so viel ich wollte;
nun konnte ich auch französische Bücher, die ich mir teils kaufte, meistens aber von
meinem Lehrer oder meinen Hauswirten lieh, bald mit größerer Gewandtheit und
sicherm Verständnis lesen. Hierdurch bekam mein Leben auch mehr Inhalt, während
es sonst natürlich höchst gleichmäßig, ja sehr eintönig verlief oder vielmehr dahin-
schlich. Dazu trug die Stimmung, in der man als Kriegsgefangner lebte, auch ihr
Teil bei. Wohl war der Verkehr unter uns Deutschen kameradschaftlich zwanglos,
und nur selten wurde das freundschaftliche Einvernehmen gestört — ich entsinne
mich nur eines Streites, den ein Berliner Herr durch einige von uns übrigen
Preußen sofort entschieden mißbilligte Bemerkungen über und gegen die Bayern
verschuldet hatte —; wohl bewahrte sich bei uns wieder die Richtigkeit des alten
Satzes: „Leidenden ist es ein Trost, Genossen zu haben im Unglück," aber zufrieden
und wohl konnte sich doch niemand fühlen, und hat sich sicherlich niemand gefühlt.
Wenn man auch Gott dankte, daß man gesund und am Leben war, so erwachten
doch an jedem neuen Morgen auch von neuem der Schmerz und der Verdruß, daß
man Gefangner war. Tagtäglich lasen wir von dem Kriege und deu Kämpfen, wir
erfuhren von den Siegen der Unsern, an denen wir nun nicht, wie früher, teilnehmen
^unter, wir erfuhren von schmerzlichen Verlusten, von dem ehrenvollen Tode einzelner
ureunde und guter Bekannter — und wir lebten „weit vom Schuß," in Ruhe und
schmerzt das ^ wahrlich kein angenehmes Gefühl, das drückt nieder und
Gleich bei meiner Ankunft in Le Puy konnte ich die französischen Berichte
ein s' ^ Schlacht bei Beaune La Rolande lesen und fand in einer offiziellen Depesche
New' s "-'^ ""^ berührenden Satz, daß die Feinde auf ihrem linken Flügel zurück-
di P " Justs xrisoniüsrs se un <za,mal. Danach folgten nun allmählich
Nachrichten von den Siegen der Unsern, von der Wiedereinnähme von Orleans,
em weitern Vordringen der Deutschen nach Blois, Tours, Vendome, Le Maus usw.,
d->^"^^" Kämpfen im Norden und um Paris; nun gar Ende Januar von
Kaiserproklamation in Versailles und der Kapitulation von Paris: und das
fra ' >^^end wir untätig und sicher im Süden unsre Tage verbrachten. Die
dxA^vMM Zeitungen brachten natürlich an erster Stelle die offiziellen Depeschen
s'^uvsrnsinsut as la, äst'Suso nationals, die bekanntlich niemals gleich die
im ^"3en und Verluste der französischen Heere wahrheitsgemäß kundgaben, sondern
ti M vertuschte» und verschwiegen und nur allmählich, gleichsam tropfenweise,
^e Änhrheit sagten. So gewöhnten wir nus sehr bald daran, diesen Nachrichten
e vollen Glauben zu schenken, sondern womöglich zwischen den Zeilen zu lesen
in ^ ^ allmählich erfolgende Korrektur des anfänglich Gemeldeten zu hoffen
d^? warten. Und das ermöglichte und erleichterte uns auch noch der Umstand,
^ uur Genfer Zeitungen, sondern auch größere Blätter aus Lyon, Marseille
Bordeaux, die man täglich kaufen konnte, nach allen möglichen französischen
^ Achten von den vielen verschiednen Kämpfen, von der Not des eroberten Landes,
un? ^ Grausamkeit des barbarischen Feindes, schließlich auch auf der letzten Seite
^ . ^ 6sxZ<ckW sIlsiriMäss oder xruWisrmss die offiziellen Telegramme unsers Königs
. des Hauptquartiers aus belgischen oder schweizerischen Blättern brachten. Ei¬
gentlich bemerkte die Redaktion wohl, sie bringe diese Depeschen mir, um zu zeigen,
e „unwahr" der Feind sei: wir Gefangnen wußten aber, daß diese Depeschen
^ KUverlttssig und sicher seien, und erfuhren somit, wenn auch spät und nur in
°" Hauptsachen, doch immer die Wahrheit.
Durch die mancherlei Zeitungen, die wir also täglich lesen konnten, standen
den ^ Außenwelt immerfort in Zusammenhang und waren so ziemlich auf
Zusenden. Außer dem unmittelbaren und persönlichen Interesse, das wir alle
q /^unebener allen Nachrichten über den Krieg, allen Einzelheiten aus ihm me-
s^.. dachten, und mit dem wir auch die unwahrsten Schilderungen von der Grau-
e- ^ und Härte der Unsern, von dem Rauben und Stehlen der germanischen
Was K ""^ beschäftigte und fesselte uns auch viel die Beobachtung,
, doch alles an Entstellung und grober Unwahrheit dem französischen Volke von
> Mer augenblicklichen Machthabern' und Regenten, sowie auch von seiner Presse
nuk ^" wurde. Nur mit Verwunderung und Kopfschütteln konnte man vieles lesen,
ein /^elbe Verwunderung hat mich auch später immer wieder erfüllt, wenn ich
der? ."^wen Aufzeichnungen aus diesen Zeiten blätterte oder in einzelnen
französischen Zeitungen las, die ich mir aufgehoben habe. Freilich davon, was
^einer französischen Republik dem Volke vom Gouvernement zugemutet werden kann,
Wu/?^" ^ ^"en noch viel deutlichern und stärkern Beweis im Februar, als die
,^u.zur AWsiriblss ug,t.!ora1s erfolgen sollten, und Gambetta sich nun erkühnte,
Lei? eine ganze Menge angesehener Männer, kurz gesagt alle die
Wuth' ^ Napoleon dem Dritten irgend ein Amt bekleidet hatten, vom
euer r? auszuschließen. Bekanntlich protestierte Graf Bismarck auf das nller-
un»i <r ^ diesen Erlaß und erzwang seine Zurücknahme: es ist mir aber ganz
zweifelhaft, daß sich ohne diesen Protest Bismarcks die Franzosen selbst eine solche
rgejvaltigung hätten gefallen lassen. Wiederholt habe ich inmitten größerer
enichenknciuel vor den großen Plataeer gestanden, die den Erlaß verkündeten; da
habe ich wohl halblaute Worte des Ingrimms gehört, habe gesehen, wie dieser ohne
jener davon betroffne alte Mann die Faust ballte, aber von irgend einem energischen
Protest dagegen oder einem ernstlichen Versuch, seine Aufhebung zu bewirken, las
und erfuhr man gar nichts. Auch damals ließ man sich, wie sonst ja so oft, von einem
energischen und rücksichtslosen Mann einfach vergewaltigen.
Unser Briefverkehr mit der Heimat war angeblich gut geregelt und geordnet.
Wir waren angewiesen, unsre Briefe offen in einen bestimmten Briefkasten im
Hotel de Ville zu stecken, und es war uns geraten, möglichst in französischer Sprache
zu korrespondieren, damit die Briefe rascher gelesen und expediert werden könnten.
Aber mit der Schnelligkeit des Expedierens war es im allgemeinen sehr schlecht
bestellt, jedenfalls wurden die Briefe höchst unregelmäßig befördert. Mein erster
Brief an meine Eltern vom fünften Dezember, worin ich um schleunigste Anweisung
von Geld bat, war zwar schon am elften Dezember in ihren Händen, sodaß ich am
neunzehnten Dezember im Besitz des Geldes war, das dnrch einen deutschen Bankier
und durch Vermittlung eines Genfer Bankhauses auf ein Bankgeschäft in Le Puy
angewiesen war. Dagegen kam mein erster Brief an meine Braut erst Weihnachten
an: die Briefe wurde» auf einem Militärburean gelesen — auf einzelnen steht vu
S, 1a subciiviLim!, auf andern vn K I-r ZMllMmsus —, und da hat man offenbar
die Bitte um Geld für viel eiliger gehalten als deu Brief an die Braut. Die
weitern Briefe bis Anfang Januar 1871 haben in der Regel acht Tage Zeit ge¬
braucht, an ihre Adresse zu gelangen; dann wurde bestimmt, sie sollten zunächst nach
Bordeaux gesandt werden, und dort haben sie in der Regel wochenlang gelegen,
ehe sie, mit dem Stempel Ninistörs Ass Knanoss oder Direktion KÄiSrslo ävs ?o»est
versehen, weiter geschickt wurden. So haben die Meinen, obwohl ich regelmäßig
jede Woche schrieb, von Anfang Januar an lange Zeit überhaupt keine Nachricht
von mir erhalten, und mehrere meiner Briefe sind erst im März oder April, als
ich längst aus der Gefangenschaft entlassen war und wieder bei meinem Regimente
stand, in Deutschland deu Meinen übergeben worden. Umgekehrt war es natürlich
ebenso, ich blieb auch lange Zeiten ohne jede Nachricht, und verschiedne aus der
Heimat an mich gerichtete Briefe siud ganz verloren gegangen.
Eine damit in Zusammenhang stehende Episode mag hier noch erwähnt werden.
Am 4. Februar ließ mich plötzlich der Bankier, dnrch dessen Vermittlung ich mein
Geld bekommen hatte, zu sich bitten und zeigte mir einen Brief meines Vaters vom
27. Januar, worin dieser den Herrn, dessen Namen er aus der Quittung kennen
gelernt hatte, um eine Mitteilung bat, wie ich mich befände, ob ich noch in Le
Puh sei usw.; fast vier Wochen hatten meine Eltern keine Zeile von mir gesehen.
Der alte, freundliche Herr begann mir ernste Vorstellungen zu machen, daß ich ein
so schlechter Sohn sei, meine armen Eltern so lange Zeit in Sorge und Unruhe
um mich sitzen zu lassen; doch schenkte er bald meiner Versicherung Glauben, daß
ich regelmäßig jede Woche geschrieben und keine Schuld hätte, wenn meine Briefe
nicht zu den Meinen gekommen seien. Er ließ mich auf seinem Zimmer einen Brief
schreiben, deu er sofort zu befördern versprach, und der auch von einigen Zeilen
seiner Hand begleitet so rasch, wie es bei den damaligen Zeitläuften überhaupt
möglich war, in die Hände meiner Eltern gelangte.
War dies ein Beweis besondrer Liebenswürdigkeit von einem der Franzosen,
so muß ich auch im übrigen der Bevölkerung, unter der wir zu leben hatten, das
Zeugnis geben, daß ihr Verhalten uns gegenüber uur wenig Anlaß zu Klagen gab.
Wir hatten es in dieser Hinsicht viel besser als andre gefangne deutsche Offiziere,
die nach Montpellier gebracht und dort in der Zitadelle interniert wurden, nicht um
bewacht und am Entweichen verhindert, sondern um vor Insulten durch die aufgeregte
Bevölkerung gesichert zu werden, und die sich kaum auf der Straße bilden sehen
lassen können, ohne gröblichst beschimpft, ja laeues angegriffen zu werdeu. Die Bewohner
von Le Puy und der Umgegend sind im ganzen ruhige und gutmütige Menschen;
so waren nicht nur alle, die von uns Deutschen verdienen konnten, Schneider und
Schuster, Kaufleute und Händler, Hotelwtrt und Restaurateure, zuvorkommend und
höflich, sondern auch die übrigen Leute ließen sich selten zu Ungehörigkeiten hinreißen.
Wir konnten doch im allgemeinen ganz ruhig und unbehelligt unsrer Wege gehn, bei
Tage wie am Abend, konnten im Restaurant speisen, im Cafü Billard- oder Karten¬
spiel treiben und Zeitungen lesen, ohne darin gestört zu werdeu. Nur Menschen
der niedersten Klasse machten sich wohl, namentlich Abends, wenn man ihnen begegnete,
auf uns aufmerksam; da hörte man Äußerungen wie voM ass ^rnWicins, ein zweiter
rief etwa WZ oocznMs oder <ZW bSws; it taut, Iss xsnärs, it taut los tnsr meinte
etwa ein dritter, machte auch wohl eine bezeichnende Geste an seinen: Halse —
doch übersahen wir das natürlich, und so blieben die freundlichen Menschen bei
ihren guten Wünschen und beruhigten sich. Auch kam es Abends, wenn man zum
Diner ging oder von dort heimkehrte, wohl vor, daß ein Franzose einem mit solchen
Äußerungen folgte und, wenn man dann rascher ging, sich das kindliche Vergnügen
nicht versagte, ebenfalls rascher zu folgen; aber mehr und schlimmeres tat er uns
nicht. Ein Kamerad freilich, der infolge der ertragnen Strapaze» und erlittnen
Mißhandlungen sehr nervös war, kam manchmal Abends zum Diner ganz außer
Atem, weil ihm einige Nowdies gefolgt waren, sodaß er beinahe geprügelt worden
wäre; aber das geschah immer nur „beinahe," in Wirklichkeit waren ihm nie Tät¬
lichkeiten widerfahren. Überhaupt kam es, so weit ich mich erinnern kann, nur ein
einziges mal vor, daß ein Steuermann Abends mit einigen Franzosen in einen
Streit geriet, der in eine Schlägerei ausartete und ihm eine gehörige Menge
Schläge einbrachte; wer die Veranlassung dazu gegeben hatte, konnte nicht festgestellt
werden, aber es war sicher, daß unser Steuermann nicht ganz nüchtern gewesen war.
Auch über die französischen Behörden und Offiziere durften wir im allgemeinen
nicht klagen. Namentlich war der Kapitän der Gendarmerie, der uns zu überwachen
hatte, in jeder Hinsicht höflich und artig. Nur einmal waren wir nicht ganz mit
ihm einverstanden, als er uns an einem Wochentage zu einem besondern Appell
zusammenberief. Einer der jüngsten Gefangnen hatte gegen die getroffne Anordnung
einen Brief nach Deutschland geschlossen in einen öffentlichen Briefkasten gesteckt.
Das war höchst töricht, denn es mußte ja entdeckt werden, es war auch gewiß
nicht in der Ordnung, doch vermochten wir andern alle die Sache nicht so schlimm
aufzufassen, wie unser Kapitän, der jedenfalls sehr entrüstet tat und uns eine
längere Strafrede hielt, sich dann aber durch eine angemessene Entschuldigung des
Offiziers auch leicht wieder beruhigen ließ. Bald nachher erregte ein andrer Vor¬
gang größere und nachhaltigere Mißstimmung unter uns Gefangnen. Einige
Kameraden hatten eines Abends, ich weiß nicht mehr, aus welcher Veranlassung,
länger und mehr, als üblich und nötig war, zusammen gezecht und schließlich sogar
noch gesungen. Darüber hatten sich einige Citoyens beklagt, und so berief uns in
Abwesenheit des Kapitäns dessen nächster Vorgesetzter, der ooming,u<Zank, as l»
AMä-iiMA-is, zu einem besondern Appell und hielt uns eine sehr heftige Rede über
das Ungeziemende eines solchen Benehmens, wo der grausame Krieg noch onde,
Frankreich in Trauer sei usw. Dabei bediente er sich so starker und grober Aus¬
drücke, daß wir alle, wenngleich viele von uns ihm sachlich Recht gaben, sehr ent¬
rüstet waren und sofort einige aus unsrer Mitte beauftragten, in einer Eingabe an
den Divisionsgencrnl in Se. Etienne Beschwerde über den Kommandanten zu erheben.
Das ist denn auch geschehen, und dieser Kommandant hat sich seitdem nie wieder
um uns gekümmert; im übrigen hat die höhere Instanz auf unsre Beschwerdeschrift
gar nicht geantwortet.
Wie uns sämtlich jede Woche die Appelle zusammenführten, so vereinigten uns
auch freudige und traurige Veranlassungen mehrfach. Der heilige Weihnachtsabend
wurde in verschiednen Gruppen gemeinsam verlebt und gefeiert. Uns Gästen des
Hotel du Nord war es gelungen, einen schönen, großen Tannenbaum zu kaufen,
«ut uun beschäftigten wir uus, wie wir es von der Heimat her gewohut waren,
eifrig damit, aus bunten Papier Ketten, Blumen, Fähnchen, Sterne und dergleichen
zu Verfertiger, Nüsse zu vergolden, Zuckersachen und Lichte zu beschaffen und zurecht
zu machen. Am Abend vereinigte der schön geschmückte und im hellen Lichterglanze
strahlende Baum vierunddreißig Deutsche um sich; wir erfreuten uns an seinem
Anblick, und natürlich erschienen dabei auch die Familie des Wirts und das Personal.
Dann wurden kleine Geschenke verlost, Bowle getrunken, deutsche Weihnachtslieder
gesungen, und auf diese Weise verstrich der Abend in traulichem Verein. Doch weckte
der Weihnachtsbaum natürlich auch ganz besonders stark die schmerzlichen und weh¬
mütigen Gedanken an die Heimat, die Eltern und Geschwister, die Braut oder die
Gattin und Kinder, an die Kameraden im Felde. Wohl dankte jeder Gott, diesen
Abend zu verleben und zu feiern, aber viel lieber wäre doch jeder von uns bei
seinem Truppenteile gewesen und hätte auf einer Feldwache oder in einem kalten
Biwak Weihnachten verbracht. In ähnlicher Weise wurde der Silvesterabend in
kleinen oder größern Kreisen gefeiert, doch fehlte hier mit dem schönen Baume auch
der äußere Anreiz zur Freude, und so war wohl in allen Gruppen die Stimmung
sehr gedrückt, der Rückblick auf das verflossene Jahr trübe, der Ausblick in die
Zukunft fast hoffnungslos.
Zweimal hatten wir auch die traurige Pflicht, einen unsrer Schicksalsgenossen
zu Grabe zu geleiten. Im Januar starb ein Schiffskapitän, an dessen Beerdigung
wir natürlich sämtlich teilnahmen, auch die, die den Entschlafnen gar nicht gekannt
hatten; ein bayrischer Offizier hielt am Grabe eine Ansprache. Als bald nachher
ein gefangner Dragonerleutnant einem schweren Typhusanfall erlag, wurde von uns
dafür gesorgt, daß seine Bestattung mit den nach französischem Brauch für einen
Leutnant üblichen militärischen Ehren erfolgte (in Le Puy lag das Depotbataillon
eines Infanterieregiments), und auf gemeinsame Kosten ließen wir den protestantischen
Geistlichen aus Se. Etienne kommen, der am Grabe die Leichenrede hielt und die
in der reformierten Kirche gebräuchlichen Ritualien verrichtete. Zur Charakterisierung
der Bewohner von Le Puy will ich hinzufügen, daß sich natürlich eine große
Menschenmenge den Leichenzug anschaute und der Bestattung beiwohnte, daß sie sich
dabei aber immer höchst angemessen und würdig benahmen und weder gegen uns
Prussiens noch gegen den ihnen unbekannten und unsympathischen reformierten Ritus
irgendwie demonstrierten. Und man muß doch bedenken, daß die streng katholischen
Bewohner des Innern Frankreichs uus Protestanten kaum noch für Christen halten;
mir wenigstens sagte einstmals eine Bürgersfrau in Le Puy, mit der ich mich aus
Anlaß der Statue der Not,rs äg,ins as Kranes über die Verehrung der Mutter
Maria unterhielt, auf meine Äußerung, daß wir die Maria wohl ehrten als die
Mutter Jesu, aber nicht zu ihr beteten, kurz und bestimmt: ^lors vous n'ßtss xg.»
cQl'vtlövs!
Am 29. Januar begegneten einige von uns dem erwähnten Kapitän der
Gendarmerie, der sich beeilte, uns zu erzählen, daß die amtliche Nachricht von dem
Abschluß des Waffenstillstandes eingetroffen sei. Da erwachte natürlich in uns allen
die Hoffnung, daß nun unsre Gefangenschaft bald ein Ende haben werde. Nach
wenig Tagen brachten die Zeitungen die Bedingungen des Waffenstillstandes, zu
denen ja auch die Auswechslung der gefangnen deutschen Offiziere und Soldaten
gegen ebensoviele Franzosen gehörte. Aber unsre Hoffnung ging nicht so bald in
Erfüllung, unsre Geduld wurde noch auf eine sehr lange und harte Probe gestellt,
von Tag zu Tag wurde der Befehl erwartet, daß wir abreisen und der deutschen
Behörde übergeben werden sollten, doch er kam nicht. Ja, als am 19. Februar
der Befehl eintraf, daß die Kapitäne und Steuerleute abreisen sollten, fühlten wir
Offiziere uns sehr enttäuscht und niedergeschlagen, und es verbreitete sich auch das
Gerücht, auf Gambettas Befehl sollten wir nach Korsika oder gar nach Algier geschafft
werden, um als Pfand zu dienen. Dazu kam es nun freilich nicht, aber warten
mußten wir noch weiter. Etwas erleichtert wurde das allerdings durch das Pracht¬
volle Jrühliugswetter, das uns oft hinauslockte in die schöne und an interessanten
und lieblichen Punkten reiche Umgegend, hinauf auf den stellen LovKsr as 8t. Motivi
mit seiner kleinen Kirche oder weiter zu den sehenswerten Steinbrüchen, Iss orguss
und den Ruinen des oliKtsM as ?c>IiMg.o. Viel Interesse gewährte es,
das Leben der einfachen Landleute zu beobachten, den fleißig Spitzen klöppelnden
Frauen und Mädchen zuzuschauen und mit den harmlosen Menschen Gespräche an¬
zuknüpfen. Mit einigen bayrischen Kameraden ging ich auch ein paarmal zu einem
Dorfe etwa zwei Stunden von Le Puy, wo sich ein Bayer vor Jahren niedergelassen
und eine Brauerei errichtet hatte. Er war französischer Bürger geworden, hatte
eine Französin geheiratet, und seine Söhne dienten jetzt im französischen Heere; aber
es freute ihn sehr, nach langer Zeit einmal wieder heimische Laute zu hören und
sich nach diesen und jenen Dingen in der Heimat erkundigen zu können; und wir
hatten unter andern: auch das Vergnügen, „bayrisches" Bier zu trinken, wenn es
auch in Frankreich gebraut war.
Endlich am 23. Februar traf der so lange vergeblich ersehnte Befehl für unsre
Abreise ein, zu der die Vorbereitungen von uns allen ja längst getroffen waren.
Am Mittag des 1. März reisten wir ab: sämtlich in unsern Uniformen, so wenig
schön diese großenteils auch aussehen mochten, sammelten wir uns, jetzt von neu¬
gierigen, aber nicht mehr feindseligen Menschen in großen Scharen begleitet. Ein
so buntes Bild hat Le Puy wohl kaum je gesehen, denn es waren ja die meisten
Truppengattungen der deutschen Heere durch einzelne Offiziere vertreten, die nun
von der Bevölkerung angestaunt wurden. Es waren natürlich im Laufe der Zeit
auch manche Bekanntschaften entstanden, und die Freundlichkeit und Höflichkeit der
Franzosen zeigte sich jetzt beim Abschiednehmen in vollem Maße. So schieden wir,
wieder unter der Eskorte unsers Gendarmeriekapttäns und einiger Mos'ÄarMW, mit
den freundlichsten Eindrücken von Le Puy, das so lange unser Aufenthalt hatte sein
müssen. Mit großem Jubel begrüßten wir alle am 2. März Mittags in Lafertt
die ersten preußischen Soldaten, mit noch größerer Freude kamen wir in Orleans
an, wo uns der Bahnhofskommandant von dem Gendarmeriekapitän übernahm und
zu unsern Truppenteilen dirigierte. Da mein Regiment bei Tours lag, wohin erst
am andern Morgen ein Zug abging, bekam ich ein Quartierbillett, damit ich für die
Nacht zunächst in Orleans bliebe. So zog ich, allerdings nicht in einem geschlossenen
Zuge, wieder in diese Stadt ein und durchwanderte nun noch einmal die Straßen,
an die sich die so schrecklichen Erinnerungen für mich knüpften. Jetzt wogte keine
aufgeregte Volksmenge in ihnen, kein Mensch höhnte oder verspottete uns, friedlich
gingen die Bewohner ihrem Geschäfte nach und hatten sich an die Herrschaft der
Prussiens schon ganz gut gewöhnt. Am andern Morgen ging dann die Fahrt bis
in die Nähe vou Tours, wo ich mein Regiment und mein Bataillon fand und nach
der langen Trennung wieder eingestellt wurde.
Nur wenige der Kameraden, mit denen ich einst in Le Puy zusammenlebte
und freundlich verkehrte, habe ich seitdem wieder gesehen. Gewiß denkt jeder von
ihnen mit denselben Gefühlen an diese Zeit zurück, wie ich, nicht mit Sehnsucht,
aber doch mit Befriedigung darüber, daß sie verhältnismäßig gut für uns verlief.
So bewährt sich sicher auch an uns allen das alte Wort, das Äneas bei Virgil
Zu seinen Gefährten spricht: „Vielleicht wird einst die Erinnerung daran euch
erfreuen."
^ ^L^*ier Jahre lang war Elisabeth gesund gewesen; jetzt lag sie in ihrem
kleinen Wohnzimmer auf dem Ruhebett und wünschte sich den Tod.
Ein leises Einschlummern nach Kampf und Arbeit, einen tiefen Schlaf
nach allen Schmerzen der Sehnsucht und der Neue.
-^^^Von draußen her legte sich die Dämmerung über die Welt, und
im Nebenzimmer sangen die Kinder. Die armen Kleinen, die so lange
mit der Krankheit gekämpft hatten und sich nur langsam erholten. Rüdeger war
uoch immer nicht ganz gesund und leicht gereizt und weinerlich, wie man es sonst
nicht an ihm kannte.
Bei seiner Pflege hatte sich Elisabeth überanstrengt, besonders da auch Rosnlie
krank geworden war und ihr nicht hatte helfen können. Nun kämpfte sie mit einem
Zusammenbruch ihrer Nerven und war nur froh, wenn sie ganz still liegen konnte
und nicht nötig hatte zu denken. Aber die Gedanken kamen ungerufen, und die
große Sehnsucht in ihrem Herzen erhob ihr Haupt und nahm ihr die Ruhe. Sie
hatte so wenig Geduld mit Wolf gehabt. Sie war im Zorn von ihm gegangen
und hatte ihn vergessen wollen. Sie hatte ihren verletzten Stolz reden lassen und
nicht ihr Herz. Nun war sie einsam, und das Leben lag dunkel vor ihr.
Im Nebenzimmer sang Jetta:
Das Verschen hatte sie von Rosalie gelernt und eine Melodie dazu ersonnen.
Jetzt fiel auch Irmgard ein:
Dünn klangen die Kinderstimmen und müde dazu, aber Elisabeth richtete sich
auf und stützte den Kopf in die Hand. Wenn sie davonging: was wurde aus deu
Kindern?
Ich bin vergnügt, sang Irmgard, und ihre Mutter legte sich in die Kissen.
Wolf würde kommen und seine Kinder holen. Er hatte ein Recht auf sie, und
Elisabeth hatte sich schon lange heimlich gewundert, daß er dieses Recht nicht
geltend machte. Sie hatte ihm zwar den weitaus größten Teil ihrer Erbschaft
unter der Bedingung überlassen, daß die Kinder ihr verbleiben sollten; aber der
Rechtsanwalt hatte ihr damals gleich gesagt, daß der Vater immer Ansprüche auf
seinen Sohn hätte. Wolf hatte auch niemals seine Einwilligung zu diesem Vor¬
schlag gegeben. Er hatte Elisabeth ziehn und sich von ihr scheiden lassen; derselbe
Rechtsanwalt aber hatte ihr mitgeteilt, daß bei ihm alljährlich vom Baron Wolffen-
radt eine bedeutende Summe auf den Namen seiner Kinder hinterlegt würde.
Also Wolf dachte an seine Kinder, und Elisabeth ahnte, daß er sich mehr mit dem
Gedanken an sie beschäftigte, als er jemals eingestehn würde. Er war so stolz auf
Rüdeger gewesen, und wenn er sich anscheinend wenig um seine kleinen Töchter
bekümmert hatte, so war doch sein Gesicht so freundlich geworden, wenn er von
ihnen gesprochen hatte. Nun aber war er einsam. Immer dunkler wurde das
Zimmer, und in Elisabeths Seele wurde es noch düstrer. Sie hatte ihn doch immer
geliebt, trotz aller Fehler und Schwächen. Ach, und sie wußte kaum mehr, daß
er Fehler und Schwächen hatte. Wenn sie nur einmal seine Stimme hören, seine
Hand fassen könnte! Herr Müller hatte gesagt, sein Mund hätte einen Zug von
Schwäche. Was wußte Herr Müller davon? Und wenn er auch Recht gehabt
hatte, war sie denn immer stark gewesen?
Der Gesang nebenan war still geworden; eine freundliche Stimme sprach mit
den Kindern. Elisabeth horchte gedankenlos. Es war etwas in dem Klang, das
sie zurückführte in vergangne Zeiten; in eine Straße mit spitzen Giebeln, wo der
Milchkarren rasselte und der Hund bellte; wo die Arbeit mühselig war, und das
Herz viel unbeschwerter,
Leise klang ein Schritt neben ihrem Lager, und ein Mann kniete vor ihr.
Sie erschrak nicht; es war ein Traum.
Wolf, flüsterte sie, verzeihe mir.
Er legte seine Stirn auf ihre Hand.
Kannst du vergeben?
Bei dem Ton der Stimme richtete sich Elisabeth auf. fiel aber gleich zurück.
Ich mag nicht mehr lebe», Wolf, vergib mir.
Im anstoßenden Zimmer plauderten die Kinder; sie mußten sich über etwas
freuen, denn sie lachten. Hier war es ganz still geworden, Elisabeth brach endlich
das Schweigen.
Nimm dn die Kinder und sei gut mit ihnen. Habe Geduld mit ihrer
Schwachheit.
Ich will Gott bitten, daß er sie stärker werden läßt, als ich es war. er¬
widerte Wolf heiser. Aber nicht mir gehören sie, sondern dir. Ich habe sie
verwirkt.
Ich aber werde sterbe», Wolf.
Mit einem Schrei fuhr er auf.
Du darfst nicht sterben. Was soll ich beginnen ohne dich auf der Welt?
Wieder wurde es still zwischen ihnen. Was sollten sie auch sagen? Sie saßen
Hand in Hand, wie einst in schönen, sonnigen Tagen; zwischen ^ ihnen aber floß
das schwarze Wasser des „Zu spät."
Nach einer Stunde ging Wolf über die Landstraße, der Stadt zu. Der Abend
war zu einem Besuch im Kloster zu weit vorgerückt; auch konnte er sich nicht ent¬
schließen, von Elisabeth zu Melitta zu gehn. Zum Abschiede hatte er noch einmal
an der Tür des Nebenzimmers gestanden und seine Töchter plaudern hören. Mit
ihnen sprach die gute Frau Heincmaun, die sich so wunderte, daß er ganz mit nach
Mvorheide gefahren war, und noch mehr, daß er den Wagen allein bezahlt hatte;
die sich dann aber still abgewandt und kein Wort mehr gesagt hatte, obgleich sie
vor dem Ende der Fahrt wieder gesprächig geworden war und von ihrem Maler¬
jungen, von seinen schönen Bildern und der Kirche gesprochen hatte, in der er jetzt
malte. Nein, sie hatte nichts mehr gesagt, und Frau Fuchsins, die den Wagen
vor dem Hause erwartete und den ersehnten Besuch mit herzlicher Freude begrüßte,
hatte zuerst nur den fremden Gast erstaunt angesehen. Dann hatte Frau Heine¬
mann aus der Klnbunkerstraße sie ans die Seite gezogen, eifrig mit ihr geflüstert,
und Wolf hatte sich allein zu Elisabeth gefunden.
Elisabeth war nicht verlassen. Die Leute aus der Klabunkerstraße, die ihr
früher beigestanden hatten, würden sie auch jetzt nicht vergessen. Sie würde hoffentlich
wieder gesunden, und das Leben ging dann weiter. Auch für Wolf Wolffenradt.
Müde schlich er der Stadt zu, und der Wind flog hinter ihm her.
Die ganze Nacht lang heulte der Sturm. Er fegte über das Kloster zu
Wittekind und riß einige Dachziegel vom Äbtissimienhause. Als Melitta nach dem
Frühstück durch den Klosterpark ging, wickelte sie sich fröstelnd in ihren Loden¬
mantel.
Klaus Fuchsins kam ihr entgegen.
Im Torwarthaus ist es warm, sagte er. Ich will Ihnen dort den ersten
Akt meines neuen Dramas vorlesen!
Melitta warf ihm einen gleichgiltigen Blick zu.
Lieber Herr Fuchsius, ich mag keine Dramen mehr, und das Torwarthaus ist
mir nicht anziehend.
Was wollen Sie denn? fragte er.
Was ich will? Die junge Frau blieb stehn und sah in den Himmel. Graue
Wolken zogen darüber hin; ein Lappen Blau kam zum Vorschein, und die Sonne
sandte einen wässerigen Strahl auf die Erde.
Was ich will? Melitta wiederholte das Wort und wandte sich dann ab.
Sie will ich nicht, mein Lieber! sagte sie hochmütig und ging so schnell an
Klaus vorüber, daß er sie nicht einholen konnte. Er wollte es auch nicht; er blieb
stehn und griff an seinen Kopf.
Um die Mittagzeit malte Alois Heinemann wieder allein in der Sakristei.
Die Arbeiter hatten die Kirche verlassen, und sein Kollege, der hin und wieder zu
ihm kam, hatte die Gelegenheit wahrgenommen, auf dem Klosterpachthof sein Mittag¬
brot einzunehmen. Nun blieb er täglich länger aus; wahrscheinlich weil eine hübsche
junge Städterin auf dem Pachthof die Wirtschaft erlernte. Das also war für Melitta
die rechte Zeit, und sie benutzte sie dazu, mit Alois zu sprechen; in den letzten
Tagen aber war sie nicht gekommen, und Alois empfand ihr Ausbleiben wie eine
Erleichterung.
Er arbeitete besser, wenn Melittas Augen nicht jede seiner Bewegungen ver¬
folgten; ihre wunderlichen Reden verstörten ihn, und endlich dachte er immer öfter
an Elsie Wolsfenradt. Allerdings mit einem Seufzer über seine törichten Gedanken.
Das Seufzen aber half nichts; immer wieder glitt ein Gedanke durch seine Seele
und baute in seinem Herzen ein hellglänzendes Luftschloß. Trotz der spitzen Giebel¬
häuser der dunkeln Klabunkerstrciße.
Auch heute kam der zudringliche Gedanke wieder und wieder, trotz Seufzens
und Kopfschüttelns, als Melitta zu ihm eintrat.
Lassen Sie sich nicht stören, Herr Heinemann. Ich setze mich in eine Ecke
und sehe Ihnen still zu.
Alois verbeugte sich schweigend und arbeitete weiter an seiner Malerei, während
Melitta ihre Augen in dem kleinen Raum hin und her gehen ließ. Nachdenklich
sah sie endlich nach den schmalen hohen Fenstern der Sakristei, durch die die Sonne
schien. Es hatte sich aufgeklärt, und der Wind war still geworden.
Die ganze Nacht habe ich nicht schlafen können, sagte sie endlich. Ich denke
so viel nach, Herr Heinemann. Mein Leben ist verdorben. Früher dachte ich, ich
könnte es zwingen, und es könnte so werden, wie ich es wollte.
Sie schwieg und richtete ihre Augen auf Alois, als erwartete sie eine Antwort.
Er aber malte an zwei Engelchen, die sich auf einem Blütenbaume wiegten,
und antwortete nicht.
Da begann sie von neuem. Meine Mutter habe ich kaum gekannt. Sie starb,
als ich zehn Jahre alt war, und ich glaube, mein Vater trauerte kaum um sie.
Er hatte sie in törichter Übereilung geheiratet; dann machte sie ihn tief unglücklich.
Als ich größer wurde, war er ein müder, verdrießlicher Mann. Ich aber wuchs
auf mit dem Hunger nach einem reichen Leben, nach Liebe und Lust; nach allem
Schönen, das die Welt geben kann. Als ich aber das Glück in Händen hielt, warf
ich es in den Staub, und es ist niemals wieder gekommen.
Mitleidig hob Alois die Augen zu ihrem schönen, traurigen Gesicht; da ging die
Sakristeitür auf, und Klaus Fuchsius stand auf der Schwelle. Die eine Hand hielt
er hinter seinem Rücken verborgen, während er mit der andern auf Melitta zeigte-
Also wieder einmal hier, Frau Baronin? fragte er spöttisch.
In Melittas Gesicht trat ein harter Ausdruck.
Was wollen Sie hier?
Alois begann wieder zu malen. Es war ihm peinlich, daß dieser unangenehme
Mensch in seine Sakristei kam; und obgleich Melitta so rätselhaft war, so konnte
er doch nicht begreifen, daß sie mit Klaus Fuchsins, umgehn mochte.
Beide wechselten einige zornige Worte.
Gehn Sie hinaus! rief Melitta endlich.
Klaus Fuchsius lachte.
Komm du mit mir! Oder hast du diesen Anstreicher lieber als mich? Ich
will ihn wegfegen von der Ertel
Als Alois den Blick hob, sah er den Lauf eines Gewehres auf sich gerichtet.
In diesem Augenblick sprang Melitta auf und warf beide Arme um den
Maler. Mit dumpfem Dröhnen ging der Schuß los, und Alois hielt Melitta in
den Armen. Sie stand noch aufrecht; dann glitt sie leise an ihm nieder.
Für dich! sagte sie.
Klaus Fuchsius lachte. Er hielt die Doppelflinte noch auf Alois gerichtet.
Nun kommst du daran! sagte er zufrieden, stieß dann aber einen Schrei aus.
Denn eine kräftige Hand riß ihn zurück.
Du Dummkopf! schrie er. Aber seine Arme waren wie in einem Schraub¬
stock, und mit einem wütenden Blick sah er Wolf Wolffenradt an. Dann lachte er
von neuem.
Totgeschossen habe ich sie doch, du Dummkopf. Laß mich los! Ich will
mit mir allein sein!
Melitta lag noch immer in den Armen des Malers; nun ließ er sie sanft
zur Erde gleiten.
Kennst du mich? fragte Wolf leise. Er hatte Klaus Fuchsius den herbei-
geeilten Arbeitern übergeben und kniete neben seiner Frau.
Sie sah ihn geheimnisvoll lächelnd an.
Ich kenne mich selbst nicht, flüsterte sie. Wie sollte ich dich kennen?
So glitt Melitta aus dieser Welt der ungelösten Fragen in das Land, wo
alle Rätsel ihre Lösung finden sollen.
Die Wolffenradts von der Wolffenburg hatten sich im Engadin mit Gräfin
Betty Eberstein und mit ihrer Prinzessin befreundet und machten öfters Bergtouren
zusammen. Baron Felix, ein ruhiger, etwas phlegmatischer Mann, widmete sich
bor allem der Prinzessin, deren Ruhe und Liebenswürdigkeit er bewunderte.
Baronin Lolo aber schwärmte in voller Begeisterung für Gräfin Eberstein.
Betty Eberstein war bedeutend angenehmer geworden, viel ruhiger und nicht mehr
so energisch. Sie vermied es, andern Menschen unaugenehme Dinge zu sagen, und
ihr Urteil war sehr viel milder geworden.
Es war gut, daß ich das Kloster verließ und mich nicht in enge Verhältnisse
Zwängte, sagte sie eines Tags zu Baronin Lolo, als die beiden Damen philosophische
Betrachtungen über die besondern Lebensführungen der einzelnen Menschen an¬
stellten. Ich glaube, in Wittekind wäre ich ganz unausstehlich geworden.
Sollten Sie nicht einmal Äbtissin dort werden? fragte Lolo, die das Talent
hatte, die Angelegenheiten andrer teilweise zu vergessen und teilweise durcheinander
zu bringen.
Betty Eberstein antwortete nicht, und Lolo hatte die Empfindung, etwas
Taktloses gesagt zu haben.
Kommen Sie nicht einmal nach Wittekind? setzte sie hastig hinzu. Elsie schrieb
neulich, Wa sehnte sich nach Ihnen.
Nach mir? fragte die Gräfin nachdenklich, während sie einem Vogel nachsah,
der nach Norden flog. Aber sie ging nicht weiter auf die Sache ein.
Am andern Tage steckte Lolo der Grafin einen Brief in die Hand.
Dieses Schreiben aus Wittekind müssen Sie mir erklären.
Die Damen saßen in der Nähe ihres Gasthofes auf einer grünen Matte, und
um sie standen die schweigenden Alpenriesen.
Die Gräfin las bedächtig. „Ehrwürdige Frau Baronin! Da es mich im
Gewissen bedrückt, ich es aber nicht genau weiß, da Auguste vier Glas Malaga
getrunken hatte und sehr fröhlich war; ich aber doch lieber ne Junge will, wenn
ich an den Ehestand denke und noch nicht sagen kaun, ob überhaupt, so meine ich,
daß Auguste vielleicht nicht ganz rechtmäßig alles hat, was sie hat. Aber ich will
natürlich nichts gesagt haben und denk auch nnr an klein Fräulein, und das Gericht
darf es nicht wissen, und verbleibe Hochgeneigtest Christian Lührsen."
Die Gräfin betrachtete die Adresse des Briefes. „Jhro Ehrhvchwürden Frau
Baronin Wolffenradt, Schweiz."
Jedenfalls ist die Schweizer Post sehr gut, sagte sie lächelnd.
Und was meinen Sie zu dem sonderbaren Brief? erkundigte sich die Baronin.
Er riecht außerdem uach Pferden.
Pferdegeruch ist für jeden deutschen Landwirt etwas Hochanständiges, ent-
gegnete Betty. Außerdem muß Christian Lührsen nach Pferden riechen, denn er
ist Kutscher auf dem Pachthof zu Wittekind und wird auch Sie gefahren haben.
Der Brief hat etwas mit der Erbschaft von Fräulein von Werkentill zu tu».
Ach Gott! Lolo seufzte. Von der Geschichte möchte ich nichts mehr wissen.
Von der alten Großtante haben wir nun einmal nichts gekriegt, und da Elsie mit
Fassung schreibt und die Tante noch immer betrauert, so habe ich uuter diesen
Erbschaftstraum einen Strich gezogen, wie unter alle meine Träume. Christian
Lührsen hat natürlich Malaga aus dem Nachlaß der Tante zu trinken bekommen,
und dadurch ist sein Kopf verwirrt worden. Ich kann es mir denken und werde
ihm bei ineinem nächsten Besuch in Wittekind einen Briefsteller für Kutscher mit¬
bringen. Den gibt es gewiß; denn es gibt ja Bücher für alles. Nun aber soll
ich im Auftrag meines Mannes Sie und Ihre durchlauchtige Prinzessin fragen, ob
Sie Lust hätten, mit uns auf drei bis vier Tage nach Zermatt zu fahren. Wir
richten es bequem ein, und Sie werden nichts dagegen haben, daß wir Moppi mit¬
nehmen. Das Wetter ist günstig, und man muß es benutzen.
Beide Damen waren geneigt, diese Tour mitzumachen, und noch an demselben
Abend wurde Pontresina verlassen. Dann setzte bald ungünstiges Wetter ein; aus
den drei Tagen, die man für die Fahrt beabsichtigt hatte, wurden fünf, und als
die kleine Gesellschaft eines Abends spät in ihr Standquartier zurückkehrte, kam ihr
der Portier mit zwei Telegrammen entgegen, die schon länger auf ihre Empfänger
warteten.
Eins war von Elsie an ihre Mutter gerichtet. „Komme sofort" lautete es;
das andre trug die Adresse von Gräfin Eberstein, und sein Inhalt lautete: „Ich
lege mein Amt als Äbtissin in deine Hand. Asta Wolffenradt."
Einen Augenblick sahen sich die beiden Damen ratlos an. Was war in Witte¬
kind geschehen, was konnte geschehen sein?
Dann trat Baron Felix zu ihnen, und die ruhige, in jeder Lebenslage sich
gleich bleibende Prinzessin sagte dasselbe, was der Baron meinte. Die Damen
mußten am nächsten Morgen nach dem Kloster Wittektnd abreisen.
So geschah es; und Moppi, der nicht ohne seine Mutter sein konnte, ebenso
wie sie nicht zu begreifen vermochte, daß sie ohne ihn jemals hätte leben können,
begleitete sie. Es war eine lange Fahrt; zuerst mit der Post über die Pässe,
dann mit der Eisenbahn. Einmal wurde ein Anschluß verpaßt, und dadurch gingen
sechs Stunden verloren; aber an einem frischen Herbstmorgen stiegen die beiden
Damen mit dem Knaben auf der kleinen Eisenbahnstation ans und fuhren mit dem
aus der Stadt telegraphisch vorher bestellte» Wagen zum Kloster Wittekind. DeiM
allmählich war auch über sie die Furcht gekommen, und sie hatten beschlossen, M)
nicht anzumelden, souderu keine Zeit zu verliere».
Nun saßen sie also im Wagen und rollten durch die Felder, auf denen noch der
Morgennebel lag. Keine von ihnen sprach; beide hatten die Augen geschlossen und
empfanden die Strapazen der fieberhaften Reise. Nur Kurtchen Wolffenradt hatte
immer gut geschlafen, war jetzt ganz wach und zählte die Vögel, die an ihm vorüber-
flogen, oder die Bäume, die so kerzengerade in den blauen Himmel ragten. Der Wagen
näherte sich jetzt dem Kloster; das Bübchen stand auf und schlug in die Hände.
Muttchen, Tante Eberstein; da kommt aber etwas Schönes!
Die Damen fuhren auf aus ihrem Hinbrüten; der Kutscher aber lenkte sein
Gefährt zur Seite und nahm den Hut vom Kopfe. Vom Kloster begannen die
Glocken zu läuten, und aus dem Tor kam ein langer Leichenzug. Kerzengerade
saß Christian Lührsen auf dem Bock des Leichenwagens und lenkte die schwarz ver¬
hängten Pferde, während ihm eine große Menschenmenge folgte. Die Sonne trat
aus dem Nebel und warf ihr funkelndes Licht auf den schwarzen Wagen, auf den
Sarg mit seinen Silberbeschlägen und Kränzen, auf alle, die vor- und die hinterher
gingen. Rot hoben sich die Klostermauern von dem hellen Himmel ab, und eine
Schar von weißen Tauben flatterte auf und nieder.
Wer wird hier begraben? fragte Gräfin Eberstein einen Mann, der sich an
ihren Wagen gestellt hatte.
Er sah sich um.
Baronin Melitta Wolffenradt.
Die Glocken läuteten, und Gräfin Eberstein sah dem Leichenwagen nach.
Dann legte sie die Hände vor das Gesicht und weinte, wie sie lange nicht ge¬
wei
An diesem Tage stand Asta Wolffenradt vor Betty Eberstein.
Nimm mir die Last des Amtes ab, bat sie. Ich kann sie nicht mehr tragen.
Gräfin Eberstein faßte die Hand der Jugendfreundin.
Auch ich habe Lasten zu tragen und sehr viel gesündigt, sagte sie ernsthaft.
Wir alle sind schwache und elende Menschen.
Aber ich kaun nicht mehr! wiederholte Asta. Du weißt doch, daß ich mir das
Amt erheblich. Ich wußte um die Briefe!
Betty lächelte ein wenig.
Das wußte ich lange. Aber wie es kam, so ist es gut gewesen — für mich
wenigstens. Außerdem muß man die Gesetze halten; ich aber wollte sie umgehn.
Ich duldete Klaus Fuchsius auf dem Kloster und habe Melittas Tod auf dem
Gewissen! murmelte die arme Äbtissin.
Weißt du das so genau? War Melitta eine Persönlichkeit, die sich leiten und
lenken ließ? Ich habe sie nichr auf dem Gewissen als du! setzte Gräfin Eber¬
stein hinzu. Ich hätte sie lieben, sie behüten sollen; ich dagegen — sie ließ Asta
los und ging im Zimmer hin und her. Wir Menschen sind so schwach! So kleinlich,
so rachsüchtig. Auf der Reise, in den Bergen, im Verkehr mit einer geliebten
Freundin habe ich darüber nachdenken lernen. Draußen in der Welt ist meine
Seele freier geworden; deshalb war es gut, daß sie aus den engen Banden kam!
Ich aber bin in den engen Banden, und sie ersticken mich! rief Asta.
Betty sah in ihr abgezehrtes Gesicht.
Ruhe dich aus, tröstete sie. Ich will dir beistehn. Sind wir nicht ehemals
Freundinnen gewesen? Damals waren wir jung, jetzt sind wir alt. Aber gerade
das Alter kennt die Sehnsucht und die Einsamkeit.
Die Freundinnen hielten sich umschlungen, und die Schranke fiel, die Ehrgeiz
und Zorn zwischen ihnen errichtet hatten.
Im Äbtissiunengarten ging Baronin Lolo Arm in Arm mit ihrer Tochter.
Ich habe Melitta nicht lieb gehabt, sagte Elsie traurig. Und ich bin ihr
immer aus dem Wege gegangen. Das war sehr verkehrt, Mutterchen, ich hätte
gut mit ihr sein sollen, vielleicht — sie hielt inne.
Wo ist Herr Fuchsius? fragte Lolo nach einer Weile.
Er hat sich ruhig fesseln lassen und ist in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht
worden. Nur nach seineu Papieren im Torwarthause hat er gerufen und von
einem Drama gesprochen, das er vollenden müßte. Dazu bedürfte er der Ein¬
samkeit.
Und Onkel Wolf?
Ich habe ihn fast gar nicht gesehen. Er ging immer allein im Kreuzgang
hin und her, kein Mensch wagte mit ihm zu reden!
Mutter und Tochter standen an der Sonnenuhr, wo die Messingbuchstaben
im Abendschein glänzten.
Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott.
Die Baronin sagte es vor sich hin. Elsie aber brach plötzlich in Tränen aus.
Was hast du? fragte ihre Mutter überrascht.
Elsie schluchzte stärker. Du fragst gar nicht nach Herrn Heinemann, Mutterchen,
und er — er ist doch die Hauptperson!
Es war ein Glück, daß Kurtchen, genannt Moppi, in diesem Augenblick laut
nach seiner Mutter schrie, und daß die Baronin seinem Ruse folgen mußte.
Auf diese Weise hatte sie Gelegenheit, sich von einem Zustande großen Staunens
zu erholen. Sie fand auch später keine Muße, ihren eignen Gedanken nachzu¬
hängen. Die Äbtissin legte sich noch an demselben Abend mit einem schweren
Nervenfieber, und die Ärzte sagten, es würde lange dauern, ehe sie wieder imstande
sein könnte, ihr Amt auszufüllen.
Da war es also ein Glück, daß Gräfin Eberstein an ihre Stelle treten und
mit gewohnter Tatkraft alle Geschäfte übernehmen konnte. Sie war unermüdlich
und unübertrefflich, man merkte ihr an, mit welcher Freude sie einmal wieder
arbeitete. Dabei bemühte sie sich im Sinne von Asta zu handeln und zeigte auch
hier, daß sie wirklich milder und größer hatte denken lernen.
Lolo und Elsie blieben vorläufig im Äbtissinnenhause, Kurtcheu lernte für sich
im Kreuzgang allein spielen und pflückte sich manche Blume von dem stillen kleinen
Friedhof, und Baron Felix mußte allein nach Oberitalien reisen.
Das schadet ihm nichts, sagte Lolo zu Betty Eberstein. Männer müssen sich
gelegentlich allein helfen, dann kommt ihnen zum Bewußtsein, wie gut ihre Frauen
sind. Ich habe übrigens daran gedacht, ob ich nicht Wolf bitten sollte, zu seinem
Bruder zu reisen. Er kann sich doch nicht ganz und gar auf dem Dovenhof ein¬
spinnen.
Baron Wolf war nämlich gleich nach Melittas Beerdigung nach dem Doven¬
hof abgereist und hatte sich nicht wieder im Kloster sehen lassen.
Gräfin Betty schüttelte den Kopf.
Lassen Sie Ihren Schwager nur zur Ruhe kommen, ich denke mir den Doven¬
hof sehr zuträglich für ihn. — Heute Morgen hatte ich einen traurigen Besuch,
setzte sie nach einer Pause hinzu. Frau Fuchsius von Moorheide.
Waren Sie übrigens einmal ans Moorheide?
Die Baronin überwand eine leichte Verlegenheit.
Gestern fuhr ich hinaus. Ich sah aber nur Frau Heinemann aus der
Klabunkerstraße.
Sie betonte den Namen; aber die Gräfin achtete nicht darauf.
Ach so, die Mutter vom Maler. Ich habe schon von ihr gehört, es soll eine
sehr brave Frau sein, Frau Fuchsius sprach auch von ihr. Es ist wunderlich, daß
sich die Mutter des armen Narren und die des Malers gefunden haben. Frau
Heinemann soll der andern so warm Trost zusprechen; aber diese arme Mutter
war tief gebeugt. Aus der Irrenanstalt haben sie ihr geschrieben, sie dürfte ihren
Sohn nicht sehen. Er dichtet den ganzen Tag, will aber von keinem Menschen
gestört werden.
Der arme Narr! wiederholte Lolo mitleidig, und Betty schwieg eine Weile.
Ihre Gedanken gingen zu Melitta. Sie war auch ein armer Narr gewesen. Nun
schlummerte sie in der kühlen Erde, und nur noch wenige Menschen gedachten
ihrer. Bald war sie und ihr Schicksal vergessen, wie der andre Narr in der
Zelle des Irrenhauses. Gräfin Eberstein aber nahm sich vor, beide nicht zu ver¬
gessen.
Auguste wünscht ihre Aufwartung zu machen! meldete der alte Diener.
Hastig stand die Baronin auf.
Dieser Erbschleicherin wünsche ich nicht zu begegnen.
Dann ziehen Sie sich nur zurück! sagte Betty lachend.
So also stand nach einigen Minuten Auguste der Gräfin Eberstein allein
gegenüber.
Sie trug Fräulein von Werkentins Kleider und hatte sich ihre Gangart so
angeeignet, daß die Gräfin bei ihrem Eintritt beinahe erschrak, dann aber deutete
sie auf einen Stuhl.
Setzen Sie sich, liebe Auguste.
Die also Aufgeforderte gehorchte und faltete ihre in Hellem Leder steckenden
Hände.
Ich bin gerade beim Umzug, gnädige Gräfin, sagte sie, und es war nicht
leicht für mich abzukommen. Aber da gnädige Gräfin schickten und mich zu sprechen
wünschten, so dachte ich, ich wollte es man lieber tun.
Das war brav von Ihnen, Auguste, erwiderte Gräfin Eberstein gemütlich.
Ich weiß es von früher her, Sie konnten ganz brav sein!
Ich habe mir immer Mühe gegeben und meinem grä Frölen treu gedient.
Auguste sagte das mit großem Ernst.
Sie ziehn jetzt in die Stadt?
Vorläufig, gnädige Gräfin. Hier darf ich ja nicht bleiben, obgleich die
Wohnung noch leer stehn soll. Aber —
Sie haben Heiratsgedanken, nicht wahr?
Auguste rückte auf ihrem Sitz, die Angen der Gräfin sahen sie so scharf an.
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, sagte sie endlich weinerlich.
Natürlich ist es uicht gut. Besonders uicht, wenn man unangenehme Ge¬
danken hat. Die Gräfin veränderte ihren Ton. Gestern bin ich auf dem Gericht
gewesen und habe mir das Testament zeigen lassen, in dem Fräulein von Werkentin
Sie zur alleinigen Erbin eingesetzt hat. Der Name von Fräulein von Werkentin
ist nicht von ihr selbst geschrieben. Ich kenne ihre Unterschrift genau, und habe
kürzlich Gelegenheit gehabt, ein Blatt Papier zu sehen, auf dem sie, etwa drei
Wochen vor ihrem Tode, auch ihren Namen geschrieben hat. Ein Vergleich der
beiden Unterschriften würde den Unterschied deutlich zeigen.
Gräfin Eberstein hatte scharf gesprochen; nun schwieg sie, und es wurde still
im Zimmer. Draußen hörte man Moppi Wvlffeuradt mit seiner Mutter plaudern,
über dem Gemach gingen leise Schritte hin und her. Das war Astas Pflegerin,
die sich um ihre Kranke bemühte. Heute ging es dieser ein klein wenig besser,
und der Arzt prophezeite eine, wenn auch langsame Genesung. Aber gerade heute
hatte er einen Zweifel ausgesprochen, ob die Äbtissin jemals ganz gesund werden
könnte. Dann also war es anzunehmen, daß Betty Eberstein doch noch einmal
vor die Frage gestellt werden würde, ob sie das Kloster regieren wollte oder nicht.
Würde sie es tun, und würde ihr gerade hier nicht Melittas Schatten manchmal
begegnen? Betty trug keine Schuld an Melittas tragischen Ende; und doch -
und doch — wenn sie ihr Liebe und Geduld gezeigt hätte, wenn — ja wenn —
Unser Leben ist voll von Wenns! — Die Gräfin war so in ihre Gedanken ver¬
tieft, daß sie Augustens Anwesenheit vergaß und jetzt, als sie ihre weinerliche
Stimme hörte, zusammenschreckte.
Gila Frölen hat immer gesagt, ich sollte alles von ihr erben, und Frau
Baronin Lolo nichts. Weil Frau Baronin so weltlich war und soviel lachte. Und
ich hatte das Testament schon lange aufschreiben lassen, und zwei Zeugen standen
schon darunter, und grä Frölen ließ es sich vorlesen und sagte, es wäre gut.
Und es lag immer in der obersten Kommodenschieblade, und grä Frölen tat alles,
was ich wollte.
Und da haben Sie Fräulein von Werkentins Unterschrift nachgemacht?
Auguste begann zu weinen. Gott, gnädige Gräfin, wie kann sowas doch
Herauskommen, wo ich es doch keinem Menschen gesagt habe? Und wen geht es
an, wenn grä Frölen doch nur an mich denken wollte? Christian Lührsen ist
auch so furchtbar neugierig gewesen, und ich weiß nicht mehr, wie alles kam. Da
ich doch das schleichende Fieber hatte und manchmal etwas tat, was ich dann nachher
vergaß, und —
Liebe Auguste — die Gräfin unterbrach sie. Ich freue mich, daß Sie ein so
offnes Geständnis Ihrer Verfehlung ablegen, und habe es anch nicht anders von
Ihnen erwartet. Denn ich kenne Sie schon lange und weiß, daß Sie im Grunde
Ihres Herzens eine brave Person sind. Sie sind nur verdorben, weil das gnädige
Fräulein Sie zu sehr verwöhnte, und Verwöhnungen können wir alle nicht ver¬
tragen. Es wäre mir nun ganz schrecklich, wenn Sie ins Gefängnis oder gar ins
Zuchthaus wandern müßten, und ich weiß, daß die hochwürdige Frau Äbtissin, die,
wie Sie wissen, schwer krank ist, noch kränker werden würde, wenn Ihnen, der
langjährigen treuen Dienerin einer Stiftsdame von Wittekind, ein solches Schicksal
bevorstünde.
Auguste war aufgestanden; dann ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen.
Gefängnis — Zuchthaus? Ihre Lippen stammelten das Wort. Gnädige
Gräfin, gnädige Gräfin, helfen Sie mir!
Sie rang die Hände, und alle Würde fiel von ihr wie Staub von der Wand.
Ja, sehen Sie Wohl, sagte Betty Eberstein. Nun merken Sie selbst, wie
schnell die Sünde uus überkommt, und wie schwer es ist, ihre Folgen zu tragen.
Heute, gegen Abend erwarte ich unsern Rechtsanwalt aus der Stadt. Er
ist ein sehr verständiger Mann, und ich will ihm die ganze Sache vortragen. Er
wird einen Rat wissen, und da ich Grund habe, anzunehmen, daß Baronin Lolo
Sie nicht verklagen, ja daß Fräulein Elsie ganz gewiß für Sie sorgen wird, so
ist es immerhin möglich, daß Sie diesesmal noch mit einem blauen Auge davon¬
kommen. Danken Sie Gott, daß die lustige Baronin Lolo ein so gutes Herz hat, und
beten Sie täglich für sie!
Als Auguste nachher totenblaß durch den Kreuzgang schwankte, in den die
Packträger einen Teil von Fräulein von Werkentins Hausrat anstürmten, kam ihr
der Kutscher Christian entgegen.
Na, grä Frölen, fragte er spöttisch. Soll nun wahrhaftig all der feine Kram
in die Stadt?
Mit einer letzten Kraftanstrengung richtete sich die Dienerin ans.
Sie sind ein Trunkenbold, Christian Lührsen! Sie haben mich mit demi
Wagen umgeworfen, und nun haben Sie mich verraten. Von mir kriegen Sie
keinen Malaga wieder!
Zornig wandte sie sich von ihm, und er blieb stehn und kratzte sich hinter
dem Ohre.
Kann ich das nun versteh», oder kann ich das nicht verstehn? fragte er. Ihr
Malaga war gut, setzte er hinzu. Aber — langsam ging er weiter. Was ich für
klein Fräulein tun konnte, mußte ich tun.
An diesem Tage erhielt Elisabeth Wolffenradt einen Brief von Wolf. Er war
so lang, wie Baron Wolf noch niemals ein Schreiben abgesandt hatte, und die
junge Frau las ihn mit heißen Wangen und pochendem Herzen. Und obgleich sie
noch immer schwach war, und Denken und Schreiben ihr schwer wurden, so ant¬
wortete sie doch gleich. — Von nun an flogen die Briefe zwischen dem Doveuhof
und Moorheide hin und her, und was ehemals an Schreiben versäumt worden
war, wurde jetzt nachgeholt.
Madame Heinemann aber war wieder in der Klabunkerstraße und verkaufte
ihre holländischen Waren. Sie sorgte für ihren Sohn, der das Malen in Witte¬
kind einem andern Kollegen überlassen hatte und nach Hamburg zurückgekehrt war,
und betrachtete ihn manchmal nachdenklich. Denn Alois war schweigsam geworden
und nicht mehr so heiter wie vor seinem Aufenthalt im Kloster. Er hatte ein
Atelier in einem andern Stadtteil und war sehr fleißig.
Früher tat er nix, und nu tut er zu viel! vertraute Madame Heinemann
Fritz Feddersen an, der noch immer mit Alois verkehrte, obgleich er nur ein ge¬
wöhnlicher Stubenmaler geworden war.
Fritz zuckte die Achseln.
Man muß abwarten, Madame Heinemann. Abwarten und Tee trinken.
Das war so seine Redensart, wenn er keine Antwort wußte, und Madame
Heinemann schien damit zufrieden zu sein.
Aber sie sah doch ernsthaft die Straße entlang.
Mich deucht mannichmal, die Klabunkerstraße wird immer enger! sagte sie
mit einem Seufzer, oder kommt es davon, daß ich bei die feinen Herrschaftens auf
Moorheide war?
Sie seufzte noch einmal.
Son klein süße Deern soll es sein! sagte sie so unvermutet, daß Fritz Feddersen
sie erstaunt ansah.
Sie hatte eine Badepuppe in der Hand, und die erschien ihm nicht süß.
Der Herbst kam, und mit ihm viele Stürme und Regenschauer. Vor den
Toren Wittekinds brauste der Wind, zerzauste die Bäume oder trieb den Nebel
vor sich her. Und im Kreuzgang stöhnte und seufzte er oder riß an der Wetter¬
fahne, daß sie aufschrie. Asta Wolffenradts Befinden wurde langsam besser; arbeiten
aber mochte sie nicht mehr. Sie saß, in Kissen verpackt, am Fenster oder ließ sich,
wenn die Sonne schien, in ihren Garten bringen. Dort stand sie dann einen
Augenblick, sah die flimmernden Buchstaben an der Sonnenuhr und horchte in die
Ferne. Im Klostergarten klangen jetzt oft Kinderstimmen. Sie gehörten den Moor-
heider Wolffenradts, die ihren Vetter Kurt besuchten. Es war notwendig geworden,
daß Lolo und Elfte der Werkentinschen Erbschaft wegen noch eine Zeit lang in
dem Kloster blieben, und da Moppi doch nicht immer allein sein konnte, so war
es selbstverständlich, daß seine Verwandten ihn besuchten. Rüdeger war immer noch
nicht ganz frisch; aber die Auffahrten taten ihm wohl und auch die Hochachtung,
mit der sein jüngerer Vetter ihn behandelte. Rosalie begleitete die Kinder regel¬
mäßig; sie war schon lange wieder hergestellt und bewegte sich im Kloster mit
ehrfürchtiger Scheu. Doch war sie so vorsichtig und zurückhaltend, daß sogar Asta
die frühere Bekanntschaft mit ihr erneuerte, und daß Baronin Lolo gern länger
und eingehend mit ihr gesprochen hätte. Das war jedoch kaum möglich, und die
Damen wunderten sich manchmal darüber, daß es „heutzutage" noch so bescheidne
Wesen geben könnte.
Sie ist ans der Klabunkerstraße! sagte Elsie Wohl mit einem gewissen Selbst¬
gefühl, und Baronin Lolo sprach eilig von andern Dingen. Von Elisabeth zum
Beispiel, daß sie sich nur langsam erholte und noch niemals den Wunsch ausge¬
sprochen hätte, das Kloster zu besuchen. Das war ganz richtig. Elisabeth mußte
erst wieder innerlich zur Ruhe kommen; noch konnte sie nicht alles vergessen, was
sie selbst und was andre an ihr gesündigt hatten. Daß das Leben in gedämpften
Farben vor ihr lag, war nicht zu verwundern; aber sie ahnte, daß es ihr noch
viel Gutes geben würde. Und eine Ahnung des Glücks ist oft besser als eine
Gewißheit.
Die Erbschaftsangelegenheit ordnete sich zur Zufriedenheit. Auguste hatte
plötzlich vus den Nachlaß von Fräulein von Werkentin verzichtet, zu derselben Zeit,
wo Baronin Lolo den letzten Willen ihrer Tante, den hinter dem Bilde gefundnen
Zettel, dem Gericht übergab. Als nächste Erbin erkannte sie die Rechte ihrer
Tochter an und vermied dadurch viele überflüssige Weiterungen.
Es war ein dunkler, milder Herbstabend. Baronin Lolo hatte im Äbtissinnen-
gemach mit Gräfin Eberstein allerlei Geschäftliches erledigt; nun ging sie durch das
große Gartenzimmer, um ihre Tochter zu suchen.
Hier brannten große Lampen; Elsie war aber nicht da. Als die Baronin
aus der offenstehenden Gartentür trat, sah sie das junge Mädchen auf der Terrasse
stehn und in die Dunkelheit schauen. Das helle Lampenlicht fiel in ihr ernsthaftes
junges Gesicht, und ihre Mutter stand einen Augenblick still und sah sie an. Dann
ging sie rasch auf sie zu und legte ihren Arm in den der Tochter.
Nun, Mausi, sagte sie scherzend, wie gehts? Ich muß dir Glück wünschen;
Tante Amalie hatte mehr Geld, als wir dachten, und es ist alles dein. Auguste
hat sich schließlich ganz brav benommen, und sie erhält von dir eine hübsche Rente.
Langsam ging die Baronin mit ihrer Tochter auf und nieder. Dabei plauderte
sie lebhaft weiter.
Nun kannst du reisen, Mausi, die Welt sehen und ihre Herrlichkeiten, und
was du dir wünschest, kannst du erhalten.
Was ich mir wünsche? Elsie blieb stehn und sah in den dunkeln Herbsthimmel.
Plötzlich brach sie in Tränen aus.
Was hast du, Kind? Die Baronin umfaßte sie zärtlich. Sage es nur. Bin
ich jemals eine Rabenmutter gewesen?
Es dauerte eine Weile, ehe Elsie sich ausgeweint hatte. Dann legte sie den
Kopf auf Lolos Schulter.
Darf ich nicht einmal die Klabunkerstraße sehen? fragte sie leise.
Lieber Felix, so schrieb die Baronin eine Woche später an ihren Mann, ich
hoffe, du wirst dich nicht wundern, wenn ich dir erzähle, daß deine Frau und deine
Tochter Elsie in Hamburg und auch in der Klabunkerstraße gewesen sind. Du
wirst die Straße nicht kennen, und wenn ich dir beschreiben sollte, wo sie liegt,
würde ich es nicht können. Aber sie ist in der großen Handelsstadt zu finden,
hat spitze Häuser und soviel Kinder, daß ich zuerst dachte, mau könnte eins tot¬
treten. Ich habe es nicht getan. Ich habe Madame Heinemann besucht, die den
holländischen Warenladen an der Ecke der Paulinenterrasse hat, und von der die
ganze Straße kauft. Sie hat ein gutes Geschäft; Herr Schlüter sagt es auch, und
er muß es wissen, denn er läuft den ganzen Tag in der Klabuukerstraße umher
und ärgert sich über den neuen Milchmann, dessen Rahm so dünn ist, und dessen
Hund nicht einmal Tiras, sondern Miesche heißt. Ist Miesche ein Hundename?
Ich weiß es nicht; aber die Klabunkerstraße sagt, das kann eingehn, und die
Klabunkerstraße muß es wissen. Ich habe also Madame Heinemann besucht, die¬
selbe Frau, die ich schon einmal auf Moorheide kennen gelernt habe Vor zwei
Monaten, als ich mich nach Elisabeth umsehen wollte, aber nicht angenommen
wurde. Damals unterhielt ich mich mit Frau Heinemann, die zum Helfen und
Stützen nach Moorheide gekommen war und so gut half und stützte, daß bald alles
wieder in Ordnung kam. Jetzt wird alles noch mehr in Ordnung kommen, denn
Wolf und Elisabeth werden sich gewiß so bald wie möglich von neuem vereinen
und alles das nachholen, was sie gegenseitig aneinander versäumt haben. Die
Klabunkerstraße hat ihren Anteil am Schicksal der zwei Menschen; deshalb wollte
ich sie gern kennen lernen und auch deswegen, weil sie die Arme nach uns streckt.
Nach mir und dir, lieber Felix. Sie fragt nicht nach uusern alten Wappenschildern,
nicht nach den Taten unsrer mehr oder minder ruhmreichen Ahnen, sie sieht uns
an mit lächelnden kleinen Augen und greift nach unsern Herzen. Deshalb gerade
bin ich einmal zu ihr gegangen, bin auf ihrem holprigen Steinpflaster gewandelt
und auf ihren alten Treppenvorsätzen gesessen. Es gibt Stunden, wo es still darin
ist. Dann sind die Kinder in der Schule, die Großen bei der Arbeit. Aber nahe
dabei rauscht die große Stadt; die Schornsteine qualmen, die Pfeifen rufen, und
das unruhige Wasser des großen grauen Stromes steigt und fallt. Wie die Ge¬
schlechter steigen und fallen, und die Menschen kommen und gehn. — Lieber Felix;
ich hoffe, du hast dein Herz bald auskuriert, und wir besuchen dann gemeinsam
Madame Heinemann in der Klabunkerstraße und lassen uns von ihrem Sohn Alois
erzählen. Er wird jetzt nach München gehn, und Elsie ist ganz vernünftig, sagt
nichts und klagt nicht, spielt mit Moppi und hat eine lange Zeit vor Madame
Heinemanns Haus und dann in dem Garten gestanden, der kein Garten ist, und
in dem Alois doch sein erstes Bild gemalt. Ja, Elsie ist vernünftig, und ich bin
es auch; aber die Klabunkerstraße ist nun einmal da und streckt die Arme aus.
Lieber Felix, ich glaube, wir werden uns beide von ihnen umfangen lassen.
Unter dieser Überschrift veröffentlichen die
„Hamburger Nachrichten," einer Anregung aus Leserkreisen folgend, die bekannten
Schreiben, die Kaiser Wilhelm der Erste am 3. September 1873 an Papst
Pius den Neunten und am 18. Februar 1874 an Lord Odo Russell in London
gerichtet hat. Lord Russell hatte dem Monarchen die Sympathieresolutionen einer
großen Londoner Versammlung zu der Haltung übermittelt, die der Kaiser und
seine Regierung in dem damaligen Kampfe gegen die Herrschaftsansprüche der
römischen Kirche eingenommen hatten. Beide Schriftstücke, zumal das erste von
ausgesprochen offiziellem Charakter, sind hervorragende Denkmale aus der Regierungs¬
zeit unsers ersten Kaisers, sein Brief an den Papst Pius deu Neunten wird immer
einen Ehrenplatz unter den vielen weltgeschichtlichen Kundgebungen behaupten, die
von dem unvergeßlichen Monarchen ausgegangen sind. Wenn aber die „Hamburger
Nachrichten" hinzufügen, jene Briefe seien ein unvergängliches Denkmal jener Zeit,
„wo unser Volk und seine Führer fest zusammenstanden in der Erkenntnis dessen,
was ihm heilsam und gemäß sei und in dem festen Willen, dies und nichts andres
zur Richtschnur der Politik zu machen," so läßt sich dazu doch wohl bemerken, daß
„unser Volk" in diesem Sinne höchstens deu protestantischen Teil umfassen dürfte,
und nicht einmal diesen, denn es ist bekannt, daß der damalige Kultusminister
Dr. Fakel weit mehr den Anfeindungen und der Gegnerschaft protestantischer als
dem Hasse katholischer Kreise erlegen ist.
Davon ganz abgesehen, muß man aber doch fragen, was mit dem Wieder¬
abdruck der beideu Briefe im gegenwärtigen Augenblick eigentlich bezweckt werden
soll? Pius der Neunte ist längst nicht mehr am Leben, auch schon sein Nachfolger
Leo der Dreizehnte nicht mehr, zwischen dem Deutschen Reich oder Preußen und
dem jetzigen Papst Pius dem Zehnten besteht kein Kampf. Wir stehn vielmehr zum
Vatikan und zur römischen Kirche auf dem Boden eben jenes Kirchenfriedens,
den derselbe Fürst Bismarck geschaffen, aus dessen Feder jene beiden Briefe stammen;
derselbe Fürst Bismarck, der den Papst Leo den Dreizehnter zum Schiedsrichter in
der Karolinensache anrief, und der vom Papste den Christusordeu empfing, den
dieser sogar Herrn Windthorst versagt hat. Fürst Bismarck hat dann in seinem
(französischen) Dankschreiben vom 13. Januar 1886 dem Papst den unermeßlichen
Dienst erwiesen, ihn mit „Sire" anzureden und damit die souveräne Stellung des
Papsttums vor aller Welt neu anzuerkennen, allerdings Wohl in dem Gedanken¬
gange, daß sich der Schiedsrichter zwischen zwei souveränen Mächten selbst in
souveräner Position befinden müsse. Jene Briefe von 1873 und 1874 sind in¬
mitten der hochgehenden Wogen des Kampfes geschrieben worden, eines Kampfes,
von dem Fürst Bismcirck selbst gesagt hat, daß er niemals ausgetragen werden
würde, sondern wie jeder andre Krieg seine Momente der Waffenruhe, des Waffen¬
stillstandes und des beiderseitigen Friedensbedürfnisses haben werde. An die Stelle
Pius des Neunten, der das Steinchen ins Rollen zu bringen gedachte, das den
deutschen Koloß zerschmettern sollte, ist dann Leo der Dreizehnte getreten, der in
einer seiner ersten Kundgebungen ausgesprochen hat: „So werden Wir für die
deutsche Nation fortfahren zu wirken inmitten der Hindernisse aller Art, denn
Unsre Seele wird niemals Ruhe finden, solange der kirchliche Friede in Deutsch¬
land nicht wieder hergestellt ist." Schrittweise war man dann zur Herstellung
friedlicher Beziehungen gelangt. Fürst Bismarck erklärte in seinen am 12. und
13. April 1886 im Herrenhause gehaltnen Reden, die wir den „Hamburger Nach¬
richten" ebenfalls zum Wiederabdruck empfehlen, u. a.:
„. . . Aber ich habe es für nützlich gehalten, die Vorlage, die wir dem
preußischen Landtage zu machen beabsichtigten, zur Kenntnis Seiner Heiligkeit des
Papstes zu bringen und sein Urteil darüber zu hören, ohne zu versprechen, daß
wir unsre Entschließung dem Urteil gemäß ändern würden. Ich habe diesem Weg
den Vorzug gegeben, weil ich den Eindruck habe, daß ich bei dem Papst Leo dem
Dreizehnter mehr Wohlwollen und mehr Interesse für die Befestigung des Deutschen
Reiches und für das Wohlergehu des preußischen Staates finden würde, als ich
zuzeiten in der Majorität des Dentschen Reichstags gefunden habe. . . . Ich bin
auch entschlossen, in den weitern Phasen auf diesem Wege fortzufahren, da ich von
der Weisheit und Friedensliebe Leos des Dreizehnter mehr Erfolg für den innern
Frieden Deutschlands erwarte, wie von den Verhandlungen im Reichstage."
Und im preußischen Abgeordnetenhause am 4. Mai: . . . „Ich mache diesen
Versuch in dem von Sr. Majestät dem Könige geteilten und angeregten Vertrauen
nicht nur zu Sr. Heiligkeit dem Papste, sondern auch zu unsern katholischen Lands¬
leuten, daß sie ehrlich die Hand dazu bieten werden, auf dem Raum, welchen wir
frei machen Von dem Schutt, den die Maigesetze darauf gelassen haben — denn
Trümmer sind sie ja nur noch —, den Friedenstempel mit uns zu errichten und
die Friedenseiche mit uns ehrlich pflanzen, begießen und Pflegen zu wolle». Ich
meinerseits werde aufrichtig die Hand dazu bieten." (Lebhaftes Bruvo im Zentrum).
Papst Leo der Dreizehnte hat bekanntlich dem Fürsten Bismarck ein ehrendes
Andenken bewahrt und nach dessen Entlassung wiederholt die Äußerung getan:
roi aunos. Lismin-cet. Die „Hamburger Nachrichten" haben vor zehn Jahren diese
Äußerung wiederholt zitiert als einen Beweis dafür, wie sehr der Rücktritt des
ersten Reichskanzlers auch im Auslande empfunden wurde. Heute das Verhältnis
zu Pius dem Neunten in Erinnerung zu bringen und das völlig entgegengesetzte
zu Leo dem Dreizehnter zu verschweigen, liegt um so weniger ein Anlaß vor, als
sich der jetzige Papst Pius der Zehnte bisher für Deutschland durchaus wohlwollend
und freundlich erwiesen hat. Der Versuch, die Maßnahmen von 1874 gegen die
von 1904 auszuspielen, ist um so verfehlter, als Fürst Bismarck selbst wiederholt
in öffentlicher Rede die damalige kirchenpolitische Gesetzgebung „als viel zu juristisch
und zu wenig politisch" bezeichnet hat, er auch nicht zum wenigsten aus diesem
Grunde auf den weitaus größten Teil ihrer Bestimmungen für die Dauer wenig
Wert gelegt und sie für entbehrlich erachtet hat.
""
Als „nicht entbehrlich hat er noch in seinen „Gedanken und Erinnerungen
die Beseitigung der preußischen Verfassungs/reitet, die Kampfmittel gegen den
Polonismns „und vor allem die Herrschaft des Staats über die Schule" be¬
zeichnet. Ihm war der Kulturkampf nicht Zweck, sondern nur Mittel,
zu dem Frieden oder doch moäus vivoncli mit Rom und dessen Herrschaftsansprüchen
zu gelangen, der für Reich und Staat erträglich und nützlich war. Wenn jetzt der
Evangelische Bund und ein Teil der Presse die konfessionelle Streitaxt wieder aus-
graben, so dürfen sie sich deshalb keineswegs auf Bismarck berufen, denn sie ent¬
fernen sich damit im strengsten Sinne des Wortes weit von der Bismarckischen
Tradition und von seiner Auffassung des Staatszwecks, wie dieser ihm noch im
letzten Abschnitte seines Wirkens und am Abend seines Lebens vorschwebte.
Die „Hamburger Nachrichten" glauben nun noch einen besondern Trumpf
auszuspielen, indem sie ein Verzeichnis von vierundzwanzig Fällen veröffentlichen,
wo die Jesuiten aus europäischen Staaten ausgewiesen worden sind. In den weit¬
aus meisten Fällen wird es sich dabei um Ausländer gehandelt haben, d. h. um
landfremde Jesuiten, deren Ausweisung dem Deutschen Reich auch heute noch un¬
benommen ist. Inländer, Landesangehörige auszuweisen, war auch nach dem Para¬
graphen 2 des Jesnttengesetzes nicht zulässig, schon aus dem Grunde nicht, weil
kein Staat die Verpflichtung hatte, solche Ausgewiesene aufzunehmen. Aber das
Register der „Hamburger Nachrichten" hat überdem ein recht auffallendes Loch:
es fehlt darin die Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens den Vier¬
zehnten im Jahre 1773. Und wie stand die Sache damals in Preußen? Unter
dem besondern Schutze Friedrichs des Großen blieben die Kollegien der Jesuiten
in Schlesien nach der Aufhebung durch den Papst dort noch drei Jahre lang,
bis 1776, besteh», dann legten die schlesischen Jesuiten ihr Ordenskleid ab und
blieben als „Priester des Königlichen Schulinstituts." Also gegen die Aufhebung
des Paragraphen 2 kann man auch mit diesem Ausweisungsregister nichts beweisen,
und gelegentlichen Äußerungen König Friedrich Wilhelms des Ersten von
Preußen, die jüngst ausgegraben worden sind, stehn die Handlungen seines Sohnes
und Nachfolgers gegenüber. Andre Zeiten — andre Auffassungen und andre Auf¬
gaben!
Der Ruf „Fort mit Bülow!" ertönt auf verschiednen
G assen. Am lautesten erklang er wieder in der Berliner Torhalle, wo man außer¬
dem „die Gans Bülow" zu verbrennen wünschte, um aus der Asche einen neuen
Reichskanzler „als stolz daherrauschenden Schwan" auferstehn zu sehen. Es war die
von der nationalliberalen Fraktion durchaus nicht übernommene Absage des Herrn
von Eyneru, in die Tonart einer Berliner Volksversammlung übertragen. Schade
nur, daß der neue Neichskanzlerknndidat nicht öffentlich in Vorschlag gebracht worden
ist, dann wüßte man doch, wie er — nach den Wünschen jener Redner — aus¬
zusehen hat, und was man von ihm erwarten darf. Seine Hauptaufgabe würde
doch jedenfalls sein, einen andern Reichstag zu schaffen, wo „Zentrum nicht Trumpf"
wäre. Der Evangelische Bund hat aller Wahrscheinlichkeit nach das Geheimnis dieses
Rezepts nud begeht nun dadurch einen Verrat am Vaterlande, daß er es nicht ver¬
öffentlicht. Eine Zusammensetzung des Reichstags, wo Zentrum nicht Trumpf wäre,
d. h. nicht hundert Stimmen außer seinen vielen Mitläufern hätte, ließe sich
nicht einmal durch eine Änderung des Wahlrechts herbeiführen, sondern ausschließlich
durch eiuen festen Zusammenschluß der gesamten protestantischen Wählerschaft uuter
Verzicht auf alle Parteiunterschiede. Daß das in Deutschland jemals möglich sein
sollte, halten wir bei dem Charakter der Parteigliederung im lieben Vaterlande
auf absehbare Zeit für ausgeschlossen, zumal da das Verhältnis der einzelnen parla¬
mentarischen Parteien zum Zentrum — Konservativen, Reichspartei. National-
liberalen, Antisemiten und Freisinnigen aller Schattierungen — doch niemals das
eines Prinzipiellen Gegensatzes, sondern das eines Zusammengehens oder Bekämpfens
bon Fall zu Fall gewesen ist. Daran etwas zu ändern vermag kein Reichs¬
kanzler; mit einem abermaligen Entrollen des Banners des Kulturkampfes erst recht
nicht. Fürst Bismarck hat die Erfahrung gemacht, daß ihn in diesem Kampfe
erst die Konservativen und dann auch die Freisinnigen, die anfänglich die Rufer
?n. Streit gewesen waren, im Stich ließen, die in das Lager der Gegner nber-
MNgen, Was ihm also in dieser Beziehung nicht gelungen ist, davon wird jeder
inner Nachfolger mit Recht die Hände lassen. Fürst Bismarck ist später sehr froh
gewesen, in Leo dem Dreizehnter einen Papst zu finden, mit dem er den -zäitus
g,ni xaesm vereinbaren konnte. Der hergestellte Friede mit Rom war die
Situation, die die Nachfolger Bismnrcks vorfanden. Die Neigung, daran
zu rütteln, hat keiner von ihnen gehabt und wird auch so leicht keiner haben,
womit noch keineswegs gesagt ist, daß sie alle Wünsche Roms oder des Zentrums
erfüllt haben oder je erfüllen werden. Die Aufhebung des Jesuitengesetzes ist vom
Grafen Caprivi und vom Fürsten Hohenlohe wie mich jetzt wieder vom Bundesrat
abgelehnt worden, zur Aufhebung des Paragraphen 2 war sogar Fürst Hohenlohe,
der alte prinzipielle Jesnitengegner, bereit. Aber dein Zentrum genügte damals
der kleine Finger nicht, es verlangte die ganze Hand, sonst hätte schon der Vor¬
gänger des Grafen Bülow das Odium der Aufhebung des Paragraphen 2 auf sich
genommen. Fürst Hohenlohe hat vielleicht dieses „Odium" für geringer geschätzt, als
es sich heute, wenigstens in diesem Augenblick, trotz aller Reichstagsvoten herausstellt.
Ein Wahlerfolg gegen das Zentrum wäre im letzten Jahrzehnt nnr in einem
einzige» Falle möglich gewesen: als der Reichstag dem Fürsten Bismarck den
Ehrengruß zu seinem achtzigsten Geburtstage versagte, und der Kaiser ohne Verzug
seine entrüstete Mißbilligung öffentlich aussprach. Wäre die Neichstagsauflösung
da unmittelbar auf dem Fuße gefolgt, so würde inmitten der damaligen hoch¬
gehenden Wogen patriotischer Bewegung eine starke Niederlage des Zentrums vielleicht
in Aussicht zu nehmen gewesen sein. Dem Fürsten Hohenlohe ist ini Laufe des
Jahres 1895 der Rat, die aus Anlaß der fünfundzwanzigjährigen Gedenkfeier in
erfreulichster Weise betätigte patriotische Stimmung der Bevölkerung zu eiuer
Neichstagsauflösung zu benutzen, wiederholt nahegelegt worden. Er glaubte an
einen Erfolg nicht, vielleicht waren auch andre Gründe mit im Spiel, aber jeden¬
falls hat es seitdem weder für ihn noch für seine Nachfolger eine Gelegenheit
gegeben, wo mit einem Mißerfolg des Zentrums bei den Wahlen zu rechnen ge¬
wesen wäre. Wir glauben deshalb auch nicht, daß die vom Evangelischen Bunde
und seinen Organen in Aussicht genommene sofortige Vorbereitung künftiger Wahlen
von Erfolg sei» wird. Dazu wäre eine Belebung unsrer protestantischen Bevöl¬
kerung nötig, die sich in einem einheitlichen Sinne doch nie betätigen wird.
Auch wenn es gelänge, den größten Teil der zwei Millionen Wähler auf die
Beine zu bringen, die bei den letzten Reichstagswahlen gefehlt haben, und dieser
Teil weder der Zentrumspartei noch der Sozialdemokratie starke Kvntingente
abgäbe, so würde das Ergebnis wahrscheinlich viel mehr eine Bekämpfung der
„protestantischen" politischen Parteien untereinander als ein Zusammenschluß gegen
das Zentrum sein; dieses würde schwerlich ein Dutzend Sitze verlieren, vielleicht
kaum ein halbes, zumal da es bei eiuer solchen Bewegung auf die kräftigste Unter¬
stützung der Sozialdemokratie zählen könnte.
Hat man aber mit dieser Tatsache zu rechnen, so ergibt sich daraus für jeden
verständigen Politiker, daß wir in Deutschland mit dem konfessionellen Fanatismus
weder der einen uoch der andern Seite wirtschaften können, sondern daß wir ans
eine friedliche Gemeinschaft und ein friedliches Zusammenleben der
Konfessionen angewiesen sind. Das Deutsche Reich ist eine politische und
wirtschaftliche Gemeinschaft, eine Rechtsgemeinschaft, eine Waffengemeinschaft zu
Schutz und Trutz. Polnischer und wirtschaftlicher Niedergang oder gar militärische
Niederlagen würden uns alle, ohne Ausnahme und ohne Auswahl des Bekennt¬
nisses, treffen; so etwas zu verhindern haben alle ein gemeinsames Interesse. Am
Morgen der Schlacht von Se. Privat kam in der frühen Dämmerung ein evan¬
gelischer Feldgeistlicher an ein Bataillon der Gardeinfanterie herangeritten und rief
dem Kommandeur zu: „Herr Major, ich bitte um die evangelischen Mannschaften
des Bataillons." Die Antwort lautete: „Wir dienen alle einem Gott und folgen
eiuer Fahne, kommt uur alle her!" Und sie kamen — für viele von ihnen,
Katholiken wie Protestanten, angesichts der aufgehenden Sonne des weltgeschicht¬
lichen Tages das letzte Gebet. Was soll nun dem Ernst einer großen Zeit gegen-
über z. B. das Vorgehn der Jenenser Studenten gegen eine farbentragende katholische
Verbindung! Konfessionelle Verbindungen, Gliederungen der akademischen Jugend
nach dem Bekenntnis, sind an sich gewiß nicht erwünscht. Aber was dem Wingolf
als Protestantischer farbentrageuder Verbindung recht ist, sollte auch einer katholischen
Verbindung billig sein. Es ist darüber in Jena zu Tätlichkeiten gekommen, nud
der Jenenser Senat hat im Interesse des akademischen Friedens, vielleicht auch
mit Rücksicht auf die Nähe der Wartburg und ihrer Luthcreriuuernngen, die
katholische Verbindung untersagt. Die Beschwerden der „Germania" über die
dortigen Zusammenstoße zu prüfen, wird Sache des Richters sein. Den Reichstag,
der sich damit befassen soll, geht unsers Erachtens die Sache wenig an, der
Reichstag ist dafür nicht zuständig. Es wäre auch bedenklich, wollte man mit
Reichstagsbeschlüssen, je nach den wechselnden Majoritäten, in das innere Leben
unsrer Hochschulen eingreifen. Niemand ist gezwungen, auf der einen oder der
andern Universität zu studieren. Junge Leute, denen ein konfessionelles Farben¬
tragen Bedürfnis ist, mögen einstweilen nicht uach Jena gehn, bis sich auch dort
die Stimmung wieder beruhigt haben wird. Es wird so lange nicht dauern.
Vielleicht kommen inzwischen auch Organe wieder zur Besinnung, wie die
„Wartburg" des Herrn Superintendenten I). Meyer in Zwickau, der in seiner
„dritten Jesuitennnmmer," nachdem er zu wiederholten malen sein a,ng,tbomii «it!
über den Reichskanzler ausgesprochen, wörtlich schreibt:
„Zwar an den Jesuiten wird der Protestantismus nicht zugrunde gehn;
in: Gegenteil, er wird durch den Gegensatz gegen sie und im Kampfe mit ihnen
lebendiger und mächtiger werden. Aber den schwersten Schlag hat Graf Bülow
der römischen Kirche selber und dem Reich (!) versetzt."
Nun, wenn der Protestantismus durch die Aufhebung des Paragraphen 2
uur lebendiger und mächtiger wird, wenn der Reichskanzler damit „der römischen
Kirche selber" den schwersten Schlag versetzt hat, dann wäre es eigentlich doch wohl
logischer, wenn Herr v. Meyer dem Grafen Bülow ein begeistertes Dankvotum
schriebe. Besseres kann er sich ja in seinem Sinne gar nicht wünschen, als einen
Reichskanzler, „der der römischen Kirche den schwersten Schlag versetzt" und den
Protestantismus neu beleben hilft. Wir glauben, daß in der letzten Hinsicht Herr
v. Meyer sogar die ernstesten Wünsche des Reichskanzlers trifft. Was soll es denn
nu» aber heißen, wenn Herr v. Meyer weiter schreibt:
„Jetzt ist es unsre Aufgabe, die zukünftigen Wahlen vorzubereiten, daß sie uicht
im Sinne Vülows, der, um mehr Kähne, um die Handelsverträge, um eine ge¬
schlossene Phalanx gegen die Sozialdemokratie zu bekommen, mit dem Zentrum
handelt auf Kosten unsers Volkstunis und unsrer Kultur, sondern im Sinne unsrer
großen Geschichte zur Rettung der idealen Güter, der Glaubens- und Gewissens¬
freiheit erfolgen."
Man Wäre geneigt, an den Verfasser die bekannte Frage zu richten: „Wo
warst du deun, als mau die Welt verleitet?" Also keine Wehrkraft, keine Handels-
bcrträgc, keine Niederwerfung der Sozialdemokratie, auf alle diese Lebensbedingungen
unsrer staatlichen und nationalen Existenz kommt es nicht an, sondern ausschließlich
cris die idealen Güter der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Selbstverständlich die
Glaubens- und Gewissensfreiheit nur für deu Protestantismus. Was mit den zwanzig
Millionen deutscher Katholiken werden soll, darüber läßt Herr v. Meyer uns leider
M unklaren; jedoch — wenn es ihm gelingt, einen solchen Reichstag der idealen
Güter zu schaffen, wird sich Graf Bülow oder sein Nachfolger sicherlich mit dieser
neuen Majorität abzufinden wissen. Einstweilen wird Herr v. Meyer aber doch
gut tun, die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs und seiner Folgen recht gründ¬
lich zu studieren. Um ausschließlich seinen idealen Gütern leben zu können, braucht
ein Volt vor allen Dingen einen starken Schutz seiner politischen und wirtschaft¬
lichen Unabhängigkeit. Deutschland ist lange genug bei der Weltverteilung zu spät
gekommen. Wenn Herr v. Meyer unser Volk heute, im Jahre 1904, freundlich einlädt,
in dem Himmel seiner idealen Güter mit ihm zu leben — „so oft du kommst, er soll dir
offen sein" —, so ist das ohne Zweifel recht ideal gedacht. Aber das Leben eines
großen Volks regelt sich nicht nach den leicht beieinander wohnenden Gedanken,
sondern nach den sich hart im Raume stoßenden Sachen. Die Fackel der „Wart¬
burg" droht, nicht Licht anzuzünden, sondern die verzehrende Flamme der kon¬
fessionellen Zwietracht auflodern zu lassen, einer Zwietracht, die auch Herr v. Meyer
schwerlich zu den idealen Gütern unsers Volks rechnen wird, und die von der
Glaubens- und Gewissensfreiheit ebensoweit entfernt ist, wie das leuchtende Licht
vom verzehrenden Feuer. Das Ausland würde seine helle Freude daran haben.
Es wäre dem Grafen Bülow sicherlich ein Leichtes gewesen, sich durch eine
Philippika gegen den Jesuitismus eine wenn auch vielleicht falsche, so doch jeden¬
falls wohlfeile Popularität zu verschaffen und statt vielen Tadels eine Menge von
Lvbesartikeln einzuheimsen. Daß er das nicht getan, sondern das Gegenteil er¬
wählt hat, sollte einsichtige Männer doch zu einer gründlichern Prüfung ver-
cmlnssen, als sie in dem „steinigt ihn!" zutage tritt. Seit seinem Amtsantritt als
Staatssekretär hat sich Graf Bülow um das Deutsche Reich und seinen keineswegs
immer ungefährdeten Frieden gar manches Verdienst erworben, das für die große
Menge vielleicht nur deshalb nicht erkennbar geworden ist, weil er es nicht an die
große Glocke hängen ließ. Diese Tatsache sollte ihn doch vor einem gedankenlosen
„hinweg mit ihm" schützen. Je höher Deutschland am politischen Zenit empor¬
gestiegen ist, je zahlreicher die Mächte, je größer die Interessen sind, die im
politischen Weltenraum nach Herrschaft und nach Geltung ringen, desto mehr ist jeder
deutsche Reichskanzler verpflichtet, auf die einheitliche Geschlossenheit der
deutschen Macht Bedacht zu nehmen und den konfessionellen Hader zu den
Dingen zu zählen, die sich dem Interesse des Ganzen unterordnen müssen.
Die Taktik der Sozial-
demokratie ist gegenwärtig darauf gerichtet, den Geist der Unbotmäßigkeit und der
Empörung in das Heer zu tragen. Erst wenn das gelungen sein wird, dürfte
der Augenblick gekommen sein, wo auch den Mauserungsgläubigsten die Augen auf¬
gehen werden. Dieser sozialdemokratischen Taktik leistet das Thema „Soldaten¬
mißhandlungen" den denkbarsten Vorschub, und die andern Parteien wissen gar
nicht, was sie tun, wenn sie die tagelnngen Erörterungen dieses Gegenstandes nicht
nur erlauben, sondern ihrerseits auch noch direkt fördern. Die Ursachen der Sol¬
datenmißhandlungen sind mündlich und schriftlich bis zur Erschöpfung erörtert
worden. Diese bedauerlichen Erscheinungen sind so alt wie die Heere. Bei uns
fallen sie neuerdings mehr auf, erstens weil die Armee sich gegen die Zeit von
1870/80 verdoppelt hat, damit sind schon doppelte Relativzahlen gegeben; sodnnn
ist es unvermeidlich, daß für dieses verdoppelte Heer die Qualität des Lehrpersonals
oft mehr zu wünschen übrig läßt als ehedem. Dazu kommt, daß eine stark ge¬
steigerte Ausbildung bei deu Fußtruppen jetzt in zwei Jahre» erreicht werden soll,
statt früher in drei, daß der zahlreichere städtische Ersatz weit schwerer zu be¬
handeln ist, als früher der weit überwiegend ländliche, endlich daß die so sehr ge¬
steigerten Anforderungen bei der um eiuDrittel verkürzten Dienstzeit in der Front und
vor der Front unvermeidlich eine gewisse Nervosität zur Folge haben. Bei den
hochgehenden Anforderungen, die der Dienst heute stellt, darf man sich fast
wundern, daß der Andrang zur Offizierlaufbahn «och so groß ist, wenngleich sich
Erscheinungen, die auf eine Abnahme hindeuten, bemerkbar machen. Früher
wurden Mißhandlungen auf dem Disziplinarwege bestraft; kamen die Fälle vor das
Kriegsgericht, so erfuhr die Öffentlichkeit selten oder nichts davon. Heute wird
jeder einzelne Fall in öffentlicher kriegsrechtlicher Verhandlung, womöglich durch
zwei Instanzen hindurch, vor der Öffentlichkeit breitgetreten/und das Publikum
gewinnt so den Eindruck, als handle es sich um völlig neue und ehedem unerhört
gewesene Vorgänge in der Armee. Dabei übersieht man dann noch die psy-ho-
logisch merkwürdige Erscheinung, daß ein nicht geringer Teil der Mißhandlungen
von den „Kameraden" herrührt, und daß auch die mißhandelnden Unteroffiziere
erst wenige Jahre zuvor Rekruten gewesen sind, also wissen, „wie es tut."
Die Sozialdemokratie läßt es sich nun neuerdings angelegen sein, den Sol¬
daten die Lehre von der „Notwehr" einzuprägen, Bebel, Ledebour und andre
sind wiederholt darauf zurückgekommen. Diese Redner wissen sehr wohl, daß Fälle,
in denen das bürgerliche Strafgesetz die „Notwehr" überhaupt anerkennt und zu¬
läßt, sehr seltne sind, ja daß die meisten dieser Ausnahmen: Überfall, Einbruch usw.,
im Verhältnis der Vorgesetzten zu den Untergebnen völlig ausgeschlossen sind. Den
Sozialdemokraten kommt es nur darauf an, einzelne Soldaten zu dem Glauben
zu verleiten, daß sie sich ihren Vorgesetzten gegenüber im Stande der Notwehr be¬
finden, demgemäß handeln und damit dem Heere Beispiele bewaffneter Auflehnung
und Empörung bieten. Daß jenen armen Verführten ihre vermeintliche „Notwehr" sehr
teuer zu stehn kommen würde, ficht die Hetzer nicht an. Im Gegenteil, die unver¬
meidliche strenge Bestrafung dieser Art Notwehr würde von ihnen mit Vergnügen
dazu benutzt werden, die „Märtyrer" und „Opfer des Militarismus" in un¬
zähligen Hetzreden und Hetzartikeln zu beklagen, freilich ohne das Eingeständnis,
daß die durch die parlamentarische Immunität leider gedeckten Hetzredner aus¬
schließlich die Schuld an diesem Martyrium tragen.
Es bekundet einen bedauerlichen Mangel an Staatssinn, daß die andern Par¬
teien der Sozialdemokratie die gröbsten rednerischen Ausschweifungen auf diesem
Gebiete nicht nur erlauben, sondern ihnen bis zum gewissen Grade sekundieren.
Jeder echte Liberale glaubt sein Scheit zu dem Haufen hinzulegen zu müssen, auf
dem die mißhandelnden Vorgesetzten vor aller Welt verbrannt werden. Anstatt mit
einer die Vorkommnisse bedauernden Resolution, die die Regierung um gründliche
Abhilfe ersucht, zur Tagesordnung überzugehn, duldet man tagelange Erörterungen
in behaglichster Breite, der Präsident beschränkt sich auf wenige Unterbrechungen
oder gelegentliches Schwingen der Glocke, weil er befürchten muß, daß die Sozial¬
demokraten auf ein strengeres Eingreifen mit einem Antrag auf Aufzählung des
Hauses antworten, und so nimmt denn die Miuiernrbeit, die nach Bebels offnem
Eingeständnis nur dazu bestimmt ist, das ganze heutige Staatsgebäude in die Lust
zu sprengen, ihren lustigen Fortgang.
Einen sehr eigentümlichen Beitrag hat aber das Zentrum mit seiner Reso¬
lution Grveber geleistet, die darauf hinausgeht, „das heutige Mißverhältnis der
Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuchs über Verfehlungen der Untergebnen gegen
Vorgesetzte im Vergleich zu dessen Bestimmungen über Verfehlungen der Vorge¬
setzten gegen Untergebne zu beseitigen." Die Sozialdemokratie hat sich diesen Antrag
flugs zu eigen gemacht und eine „authentische Interpretation" des Paragraphen 124
verlangt, d. h. der darin vorgesehenen Berechtigung des Vorgesetzten, im Not¬
fall zur Erzwingung des Gehorsams gegen die sich laeues widersetzenden Unter¬
gebnen von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Der Reichstag hat es ja durch¬
gesetzt, die Resolution Groeber einer Kommission von sieben Mitgliedern zu überweisen,
die ihr eine andre „redaktionelle" Fassung geben soll; immerhin aber bleibt die
Tatsache bestehn, daß das Zentrum mit seinem Antrage dem auf die Erschütterung
der Disziplin gerichteten Vorgehn der Sozialdemokratie die Wege ebnet. Denn
wenn das Militärstrafgesetzbuch Ungleichheiten in der Behandlung solcher Vor¬
gänge stipuliert, so ist das doch nur deshalb der Fall, weil der Grundgedanke
unsers gesamten Militärstrafgesetzes der Schutz der Disziplin ist und bleiben
muß. Wer dagegen mit gesetzgeberischen Akten angeht, muß sich über die Folgen
klar sein. Wir hoffen, daß der Reichstag diese Resolution Groeber in einer wohl¬
tätigen Versenkung verschwinden läßt; sollte sie aber in gleichviel welcher Form
dennoch zur Annahme gelangen, so darf die Nation wie die Armee ein rundes
"Nein" des Bundesrath erwarten. Schwerlich konnte ein preußischer Kriegsminister
für ein Vorgehn im Sinne solcher Resolution eine Verantwortlichkeit übernehmen.
»»-
Ein Berliner Professor hat
einmal die Bemerkung gemacht: „Zu den Dingen, die sich auch in unsrer Zeit
schrankenloser Öffentlichkeit noch der vollständigsten und ausdauerndsten Unbekannt-
heit erfreuen, gehören u. a. auch die innern Zustände unsrer Universitäten." An
diese Worte wird man erinnert, wenn man sieht, wie in der Presse über die Ein-
kvmmensverhältnisse der Universitätsprofessoren geredet, und es fast ausnahmslos
für eine Schädigung der Interessen der betreffenden Universität erklärt wird, wenn
ein Professor einem Rufe folgt, ohne daß die Unterrtchtsverwciltung Opfer gebracht
hätte, um ihn zurückzuhalten. Es müßte sich aber doch jeder verständig Urteilende
sagen, daß es durchaus nicht empfehlenswert erscheint, in Bernfungsfällen, die nicht
von besondrer Art sind, jedesmal oder auch nur in der Regel ein Aufbietungs¬
verfahren zu veranlassen und auf diese Weise eine ungemessene Steigerung der
Professorenbesoldungen herbeizuführen. Das liegt weder im Interesse des Staats
noch in dem der Universitäten, die allen Grund haben, sich vor dem wachsenden
„Mammonismus," vor dem Paulsen mit Recht gewarnt hat, zu hüten.
Deshalb ist es für die Unterrichtsverwaltungen nötig, in jedem Berufungsfalle
zu prüfen, ob und wie weit sie ihrerseits mit einem Angebot vorgehn sollen. Denn
in ihren Augen ist nicht jeder Professor in dem Maße unersetzlich, wie er selbst
es vielleicht glaubt, oder wie es von seinen Anhängern versichert wird. Diese
Prüfung wird auch in Zukunft nicht selten dazu führen, daß dem Berufnen ruhig
die Wahl gelassen, die Entscheidung ohne jedes weitere Angebot in seine Hand
gelegt wird. Wenn aber in diesem Zusammenhange, was insbesondre Preußen be¬
trifft, auf das dort bestehende „Fiskalsystem des Honorarabzngs" und dessen ver¬
meintliche Nachteile aufmerksam gemacht wird, so beweist dies nur, daß die Herren
Kritiker die Bedeutung und Wirkungen dieses „Systems" nicht kennen. In Wahr¬
heit liegen die Dinge so, daß die preußische Unterrichtsverwaltung trotz desselben
imstande ist, es in deu Berufungsfällen, wo es angebracht erscheint, mit jeder
Konkurrenz außerpreußischer Universitäten aufzunehmen. Und so ist es denn auch
eine feststehende Tatsache, daß eine für wünschenswert erachtete Zurückhaltung eines
nach auswärts berufnen preußische» oder umgekehrt die Berufung eines außer-
preußischeu Professors nach Preußen ans finanziellen Rücksichten noch niemals ge¬
scheitert ist.
In dem am 19. Dezember vorigen Jahres zu
Riga verstorbnen Ernst von der Brügger betrauern die Grenzboten eine» ihrer
ausgezeichnetsten Mitarbeiter. Am 10. November 1840 zu Laidsen bei Talfer in
Kurland geboren, hat der Verewigte in Dorpat die Rechtswissenschaft studiert,
dann auf Auslandsreisen seine Ausbildung vollendet und 1867 eine Anstellung
bei der livländischen Gouvernementsregierung gefunden. Im Jahre 1871 übernahm
er die Leitung der Baltischen Monatsschrift und 1876 die der Nattoncilzeitung in
Berlin. Die wirtschaftliche Lage des Gutes Degaizen im Gouvernement Kowno,
das er 1869 erworben hatte, nötigte ihn, schon nach drei Jahren nach Rußland
zurückzukehren. Da sich jedoch das Besitztum trotz aller Anstrengungen nicht halten
ließ, siedelte er ganz nach Deutschland über und wurde 1882 in das Preßbureau
des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reichs berufen. Unter den Männern, denen
er in dieser Stellung näher trat, sind besonders Graf Herbert Bismarck und der
gegenwärtige Statthalter von Elsaß-Lothringen, Fürst Hohenlohe, zu nennen. Um¬
fassendes historisches Wissen, die genaue, nicht bloß aus Büchern sondern auch aus
lebendiger Anschauung gewonnene Kenntnis von Land und Leuten in den wichtigsten
Staaten Europas, besonders die in der Praxis des Gutsbesitzers erworbne tiefe
Einsicht in die wirtschaftliche Lage Rußlands, dazu ein durch Philosophie geschärfter
Blick in die Ferne, verbunden mit einem gefunden Sinn für die nahe Wirklichkeit
befähigten ihn zum politischen Publizisten ersten Ranges, um so mehr, als ein edler
Charakter und feines sittliches Empfinden nicht allein seinen Stil adeln, sondern
auch dafür sorgten, daß er bei der Würdigung politischer Zwecke und Mittel niemals
die höchsten sittlichen Ziele der Menschheit aus den Augen verlor.
Außer unzähligen Zeitschriftenartikeln hat er eine Reihe wertvoller Bücher
veröffentlicht: ..Polens Auflösung," „Rußland und die Juden," „Die Agrarver-
hnltnisse in den russischen Ostseeprovinzen," „Die Regierung Peters des Großen
»ut seiner nächsten Nachfolger." Sein letztes Werk: „Rußland. Kulturstudien von
E. v. d. Br.." ist im vierten Baude des Jahrgangs 1902 der Grenzboten S. 611
besprochen worden. Deren Mitarbeiter ist er viele Jahre lang gewesen. Wir
zählen nachstehend nur die Beiträge auf. die er seit 1900 gespendet hat. Im
ersten Bande des Jahrgangs 1900: „Polnische Politik" und „Englische Supre¬
matie in Afrika." Im zweiten Baude: „Wohin gehn wir?", dann: „Europa und
England" und „Kontinentales und maritimes Gleichgewicht." Im vierten Bande:
„Latifundien und Bauerngut" im den baltischen Provinzen) und „China" (wegen
des Jangtsevertrags). Im ersten Bande 1901: „Die Poleuknmpfe" (bei dem Streit
über die polnischen Briefausschriften). Im zweiten Bande: „Kipling und Tolstoi"
(Kipling als Verherrlicher des modernen Gladiatorentums; enthält eine meisterhafte
Charakterisierung des englischen und des russischen Volkstums). Im dritten Bande:
„Eine Denkschrift des Ministers Witte." Keine dieser Arbeiten ist eins der Pro¬
dukte flüchtiger Tagesschriftstellerei, die mit dem Ablauf des Tages ihrer Abfassung
jede Bedeutung verlieren; sie verdienen alle, vom Politiker, vom Historiker von
Zeit zu Zeit wieder nachgeschlagen zu werden. Von der Brüggens Blick war vor¬
zugsweise nach Osten gerichtet, und darum muß der Mann als ein Seher geschätzt
werden, den uns die Vorsehung gesandt hat, denn die Entscheidung der Geschicke
des deutschen Volks liegt tatsächlich im Osten. Man nehme nur folgende Gedanken
zusammen (im ersten Bande des Jahrgangs 1900 S. 67): „dort sin Rußlands
arbeitet man mit allen Mitteln des Staats vergebens daran, sich die Deutschen
vom Leibe zu halte»; hier sin Preußenj arbeitet man mit allen zulässigen Mitteln
und zweifelhaftem Erfolge daran, Deutsche herbeizulocken. Dort hat der Deutsche
alles zum Gegner und niemand zum Schutz als seine Kraft, die aber genügt, sich
Polen, Russen und Juden gegenüber zu behaupten; hier kann alle Macht des
Staats und alles Geld ihn kaum vor dem polnischen Andrang auf den Beinen
erhalten." Dann im zweiten Bande S. 555: „Deutschland mit seiner großen
Landmacht ist für England viel wert als Gegengewicht gegen Rußland und wäre
ihm von dem Augenblick an verhaßt, wo es aufhören müßte, zu glauben, daß sich
Deutschland im Notfall oder aus Interesse einem überschäumenden Slawentum
entgegenwerfen werde." Endlich S. 558 bis 559 den Nachweis, daß England
Europa kaum mehr braucht, Europa dagegen England nicht entbehren kann, während
ihm Rußland in seinem gegenwärtigen Zustande nichts nützt.. Man fasse diese
Stellen zusammen, und es zeigen sich die Umrisse eines der ernstlichsten Erwägung
würdigen Zukunftsprogrmnms. Verleger, Redaktion, Mitarbeiter und Leser der
Grenzboten werden dem zu früh dnhingegangnen verdienstvollen Manne ein dank¬
bares Andenken bewahren.
Außer der sexuellen Seite, die in den Grenz¬
boten (man vergleiche auch die vortreffliche Studie über das Nackte in der Kunst
im vorjährigen vierten Bande S. 294 und 359) hoffentlich zu allgemeiner Zu¬
friedenheit erledigt worden ist, hat die Sache noch mancherlei andre Seiten. Zum
Beispiel: eariearo heißt übertreiben. Die Kladderadatschbilder sind wirkliche Karika¬
turen, denn Fratzen wie die des verstorbnen Papstes lassen das Urbild leicht er¬
kennen, da sie die wirklichen Züge des Karikierten darbieten, nur daß sie das
weniger Schöne darin verstärken. Die Simplicissimusbilder dagegen sind nnr hä߬
liche Fratzen, aber meist keine Karikaturen; sie übertreiben zum Beispiel nicht die
weniger schönen Züge in der Erscheinung unsrer Soldaten »ut Offiziere, sondern
dichten ihnen nicht vvrhnndne an.
Dann: Das Häßliche ist in der Kunst berechtigt, soweit' es einen vernünftigen
Zweck erfüllt. Die Leute lachen zu machen, wofern es nicht auf Kosten eines höhern
Interesses geschieht, ist ein vernünftiger Zweck, denn der Mensch ist ein armes ge¬
plagtes Tier und bedarf der Erheiterung. Die Kratzen des Kladderadatsch er¬
füllen, bei mir wenigstens, diesen Zweck; dagegen haben'mir die des Simplicissimus
uoch nie ein Lachen oder Lächeln abgewonnen, sondern mir immer nur Wider¬
willen erregt. Sie scheinen nicht einem witzigen Kopfe, sondern einem erbosten
Gemüte zu entstammen, das den Zweck verfolgt, seine Opfer verhaßt und verächt¬
lich zu machen. Den einzelnen Mann, der Verachtung verdient, besonders wenn
er öffentlichen Einfluß ausübt, mag man der Verachtung preisgeben, und zieht sich
der Verfasser oder Zeichner dadurch eine Freiheitstrafe zu, so ist er ein Märtyrer
fürs Gemeinwohl. Aber ganze Stände der Verachtung preisgeben, deren Mit¬
glieder nach Tausenden zählen, Stände, über deren Wert und Bedeutung, man
verschiedner Meinung sein kann, die aber vorderhand noch unentbehrlich und
keinesfalls verächtlich sind, das ist kein vernünftiger, kein erlaubter Zweck.
Endlich: Früher haben Praktiker die schönen Künste u. a. darum geschätzt,
weil sie Väter und Mütter mit schönen Menschenbildern umgaben, und durch das
Auge wirkend, die Nasse verbesserten. Diese Ansicht mag ja nun der moderne
Anthropolog in die Rumpelkammer der abergläubische» Meinungen verweisen, aber
sollte doch etwas Wahres daran sein, so müßte die beständige Anfüllung der
Schaufenster mit häßlichen Fratzen eine Wirkung erzeugen, die Herrn Georg Hirth,
der uns mit dem jugendlichen Jdealbilde des deutschen Michel erfreut, unmöglich
gefallen könnte. Die Schönheit soll ja nach der neuesten Ästhetik an sich schon
eine abergläubische Illusion sein, aber es gibt immer noch Leute, die zwischen
Schön und Häßlich unterscheiden, und denen es Pein verursacht, sich überall von
Fratzen umgeben zu sehen; die außerdem überzeugt sind, daß, wie immer es mit
dem Versehen der Mütter stehn mag, die Seelen sich jedenfalls versehen, sodaß es
von Einfluß auf ihre Gestaltung ist, ob sie von Jugend auf vorherrschend Schönes
oder Häßliches zu sehen bekommen. Einen Kreuzzug für Schönheit und über¬
schäumende Lebenslust gegen Fanatiker und Mucker mit dein Feldgeschrei: Hie
Correggio und Rubens, Rembrandt, Teniers und Franz Hals — den würde ich
verstehn und uuter Umständen selbst mitmachen, aber mit dem ekelhaften Simpli¬
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Aeste beginnt diese Zeitschrift das 2. Vierteljahr ihres «4. Jahr-
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu or-
ziehen. Preis für das Vierteljahr ti Mark. Mir bitten, die Bestellung schleunig zu erneuern.
Unsre Keser mache» wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Grenzboten
regelmäßig jeden Donnerstag erscheinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung»
besonders beim (Wartalwechsel, vorkommen, so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit wir für Abhilfe sorgen Können.
K-ivzig, im März 1W4 Mx Verlagshandlung