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]]> n einer Reihe von Aufsätzen wollen wir versuchen, den Kampf
um den Weltmarkt, wie er sich jetzt in dem Wettbewerb zwischen
den großen führenden Handelsstaaten: England, dein Deutschen
Reich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wider¬
spiegelt, zu beleuchten. Suchen wir zunächst den Standpunkt,
von dem wir ausgehn wollen, kurz zu kennzeichnen.
Seit der Vereinigung der deutschen Stämme unter preußischer Führung
und seit der Begründung unsers neuen Kaiserreichs hat unser deutsches Volt
seine politischen Ideale mehr und mehr verlassen, und auf neuen Wegen sucht
es, fast kann man sagen, tastet es nach neuen Zielen seines Staatslebens.
Standen früher die politischen Kämpfe im Vordergrund des allgemeinen Inter¬
esses, so dreht sich jetzt das öffentliche Leben um materielle Fragen. In der
letzten Zeit haben große politische Parteien maßgebenden Einfluß allein dadurch
erlangt, daß sie sich der Verteidigung materieller Interessen einzelner Volks¬
klassen fast ausschließlich widmeten. Leider haben mit dieser Wandlung unsers
öffentlichen Lebens die politischen Kämpfe an Erbitterung zugenommen. Sie
werden jetzt mit einer Leidenschaftlichkeit, mit einer Schärfe geführt, die man
früher nicht gekannt hat.
Die Ursachen, die diesen Wechsel herbeigeführt haben, sind verhältnis¬
mäßig leicht erkennbar. Im alten Deutschland arbeitete unser Volk an der
Hebung und der Vertiefung seiner innern Kultur. Damals nannten uns die
Engländer das Volk der Denker. Mischte sich wohl auch in die Anerkennung,
die in diesen Worten lag, ein feiner Spott bei, so waren sie doch für das
damalige Deutschland bezeichnend. Wir strebten nicht in die weite Welt hinaus,
wir begnügten uus, unsern heimischen Boden zu bestellen. Wir waren ein wirt¬
schaftlich selbstgenügsames Volk.
Ganz anders im neuen Deutsche» Reich. Heute sehen wir, wie in unserm
Volke der Wert der sittlichen und der geistigen Kultur unterschätzt, der Wert des
Geldes und der materiellen Macht überschätzt wird. Waren wir lange in der
Entwicklung unsrer natürlichen Hilfsmittel gegen Frankreich und England zurück¬
geblieben, so suchten Nur jetzt i» sprnnghaftem Vorgehn die Westmächte eiuzu-
holen und wenn möglich zu übertreffen. Unsre Volkswirtschaft hängt von der
Zufuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln, von der Ausfuhr einheimischer
Waren lind der Bewertung deutscher Arbeit im Anstand ab. Die Grund-
lagen unsrer Wirtschaft haben sich in kaum drei Jahrzehnten wesentlich ver¬
schoben. Der Stand wie die Fortentwicklung unsrer heutigen Produktion ist
abhängig von den wirtschaftlichen Beziehungen des Deutschen Reichs zum
Ausland geworden.
Es hält schwer zu erkennen, welche Fäden von Deutschland zum Welt¬
markt und vom Weltmarkt zu Deutschland herüberfuhren, oder mit andern
Worten, wie die deutsche Volkswirtschaft in ihrem innern Aufbau durch ihre
Verflechtung mit der Weltwirtschaft beeinflußt wird. Von den politischen
Parteien, von der von ihnen beeinflußten Presse, in den parlamentarischen
Verhandlungen wird uns ein ganz verworrenes Bild der gegenwärtigen Lage
Deutschlands gezeichnet. Bald wird eine Tatsache für, bald gegen die hente
herrschende Wirtschaftspolitik angeführt. In solchen Zeiten des allgemeinen
wirtschaftlichen Kampfes hat die Wissenschaft nicht nur die Aufgabe, sondern
geradezu die Pflicht, auf den allgemeinen Zusammenhang wirtschaftlicher Ver¬
hältnisse hinzuweisen und fernab vom Tageskampfe über den wirtschaftlichen
Entwicklungsgang, innerhalb dessen wir gegenwärtig stehn, aufzuklären.
Wie sich aber ein Seefahrer auf bewegtem Meere nicht von Wind und
Wellen hin und her treiben läßt, sondern wie er einem fernen Ziele zusteuert,
so müssen auch wir in unsrer Untersuchung auf ein Ziel zustreben. Die wirt¬
schaftlichen Kämpfe, die unser Volk bewegen, werden zunächst im Parlament
ausgetragen. Die Parteien werden genötigt, wollen sie Einfluß gewinnen,
scharf ihren einseitigen Standpunkt zu betonen. In den politischen Kämpfen
wird deshalb bei wirtschaftlichen Fragen mehr das Trennende als das Eini¬
gende hervorgehoben. Wollen wir dagegen zu einer Beurteilung der neuern
deutschen Wirtschaftspolitik übergehn, so werden wir uns vergegenwärtigen
müssen, daß die Volkswirtschaft nicht in einzelne Teile zerfällt, die in einem
feindlichen Gegensatz zueinander stehn. Jede blühende Volkswirtschaft besteht
aus einer organischen Gliederung ihrer Teile, die in einem innern Wechsel¬
verhältnis zueinander stehn und ans diesem gegenseitigen Wechselverhältnis
Kraft und Leben schöpfen. Und so wird das Ziel, das wir bei einer Beur¬
teilung der Beziehung Deutschlands zum Weltmarkt ins Auge fassen müssen,
die Entwicklung einer organischen deutschen Volkswirtschaft sein.
Nur ein Volk, das gewissermaßen durch eine chinesische Mauer abgegrenzt
ist, vermag bei völliger Befriedigung seiner eignen Gütererzeugung zu leben.
Dann dringt keine Ware von außen ein, keine Ware geht hinaus. Nur ein
solches Volk kann eine selbständige, auf seine eigne Gütererzeugung und Waren¬
vermittlung allein Rücksicht nehmende Wirtschaftspolitik treiben. Sobald aber
dieses Volk in Verkehr mit dem Auslande tritt, ändern sich diese Verhältnisse.
Mit jedem Gut, das von außen in das heimische Wirtschaftsgebiet eindringt,
wird nicht nur in die Bevölkerung ein fremdes Element hineingetragen, es wird
auch dem einheimischen Markt ein fremdes Arbeitsprodukt eingefügt; mit jedem
Gut dagegen, das die nationalen Grenzen gegen das Ausland überschreitet,
wird auch ein Teil nationaler Lebenskraft an das Ausland abgegeben.
Die neuere Wirtschaft der europäischen Völker zeigt uns, wie nicht etwa
ein verhältnismäßig geringer Bruchteil der jeweiligen nationalen Produktion
ins Ausland geht, sondern wie der ganze Aufbau und Bestand der Volks¬
wirtschaft von seinem Außenhandel mit veranlaßt wird. Der nationale Markt
erscheint auf das engste mit dem internationalen Markte verbunden. In
einer solchen Lage aber wird, und darauf muß man großes Gewicht legen, der
nationale Markt entscheidender als der internationale Markt beeinflußt.
Auf dem internationalen Markte bildet sich ein Einheitspreis von Waren,
die ans den verschiedensten Produktionsgebieten stammen. Ein Beispiel mag
das erläutern. Der Weizen ist in den letzten Jahrzehnten zu deu Gütern mit
internationaler Preisbildung getreten. England erhält Zufuhr von Weizen aus
den Vereinigten Staaten, aus Rußland, Rumänien, Argentinien, Indien usw.
Gehn wir der wirtschaftlichen Gestaltung der Getreide produzierenden Staaten
nach, so finden wir die größten Gegensätze sowohl in der Höhe der Kultur
der einzelnen Staaten und damit in den Staats- und den Gcsellschafts-
anfordernngen, die an den Einzelnen gestellt werden, als auch in der Form der
wirtschaftlichen Organisation oder in der Technik der Bodenbearbeitung. Man
denke nur an die Lebenshaltung des amerikanischen Landwirth und vergleiche
sie mit der des russischen Bauern oder des indischen Landarbeiters, wenn man
sich die gröbsten sozialen Gegensätze vergegenwärtigen will. In jedem der ge¬
nannten Länder sind der Bodenpreis, die Unternehmerorganisativn und der
technische Betrieb verschieden, und doch müssen aus dem Einheitspreise des
Weizens, der auf dem englischen Markt erzielt wird, der Unternehmer, der
Grundbesitzer, der Arbeiter, der Kapitalist befriedigt werden. Ihnen allen wird
dnrch diese einheitliche internationale Preisbildung eine Zwangsjacke ange¬
legt. Der anhaltende Druck, der vom Weltmarkt auf die Produitivnsländcr
ausgeübt wird, muß auf die Dauer zu einer Ausgleichung der wirtschaftlichen
Gegensätze innerhalb dieser Länder führen. In einem der wichtigsten natio¬
nalen Prodnktionsgebiete wie dem Weizen müssen sich die einheimischen Pro¬
duktionsverhältnisse, die Verteilung des Ertrags an die einzelnen Produktions¬
gruppen den internationalen Konkurrenzverhältnissen unterordnen, und leider
ist hier die höhere Kultur nicht immer die siegreichere. .
Der Weltmarkt beeinflußt aber uicht mir die materielle Produktion der
Güter, sondern auch das wirtschaftliche Denken der Völker. In einem in sich
abgeschlossenen Staate wird das wirtschaftliche Deuten an die Vorgänge, die sich
innerhalb des geschlossenen Wirtschaftsgebiets abspiegeln, anknüpfen. Es handelt
sich um einen Wettbewerb nationaler Gruppen, die in festen, geschichtlich ge-
wordnen Verbänden zueinander stehn. Alle, die hier wirtschaften, haben gemein¬
sam den Grund und Boden, den Staatsaufban und die soziale Kultur.
Alles das ändert sich, sobald die einheimische Produktion ins Anstand
Güter abgibt und von dort empfängt. Die Wirkung, die der internationale
Absatz auf dem nationalen Markte hervorruft, greift so tief, rüttelt so stark
an den Grundpfeilern der nationalen Wirtschaft, daß sich über kurz oder lang
die nationale Auffassung der wirtschaftlichen Vorgänge nicht mehr als haltbar
erweist. Es entstehn hier zum erstenmal wirtschaftliche Theorien, die zu
ihrem Ausgangspunkte nicht den nationalen Verkehr, sondern die Beziehungen
des internationalen Markes zum nationalen Markt nehmen. So ist in England,
dem ersten Lande, das in die Weltwirtschaft verflochten wurde, die Merkantil¬
politik, die von nationalen Voraussetzungen ausging, überwunden worden
und die Freihandelstheorie entstanden. Und je nachdem die andern euro¬
päischen Nationen mehr oder weniger in die Weltwirtschaft hineingezogen
wurden, neigen sie jetzt dem Freihandel oder seinein wirtschaftlichen Gegen¬
bilde, dem Schutzzoll, zu. Denn auch dieser ist in seiner wirtschaftlichen
Struktur nur verständlich, wenn man von dem Güterverkehr auf dem Welt¬
markt ausgeht. Der Schutzzoll, wie er in Deutschland und in den Vereinigten
Staaten zumeist begründet wird, soll nicht in der Abwehr fremder Gütermasseu
schlechthin bestehn, sondern er soll nur dem industriell rückständigen Volke die
Möglichkeit gewähren, den industriellen Vorsprung seines übermächtigen Gegners
einzuholen. Jetzt bewegt sich die ganze innere Wirtschaftspolitik der in den
Weltmarkt eingeschlossenen Völker um die beiden Pole des Freihandels und
des Schutzzolls. Damit können wir unsre Betrachtung schließen. Nicht die
innere Wirtschaftspolitik ist bei den modernen wirtschaftlichen Großmächten
das Treibende und das Maßgebende, es ist die äußere Handelspolitik. Sie
übt einen immer mächtiger werdenden Einfluß auf unser Denken und auf unser
wirtschaftliches Handel« aus, und wie in unsern Handelsverträgen nicht die eigne
Kraft die Entscheidung allein bringt — er entsteht aus Druck und Gegendruck
Aett ist das Ergebnis eines internationalen Kampfes der beteiligten Staaten —,
so wird auch die nationale Wirtschaftspolitik durch den Druck, der von außen
durch die Handelspolitik ausgeübt wird, in ihrem Gange wesentlich beein¬
flußt. Wir werden es nun auch verstehn, daß, will man der Wirtschafts¬
geschichte Europas im letzte» Jahrhundert nachgehn, man nicht wie in frühern
Zeiten die nationale Wirtschaft zum Ausgangspunkt der Betrachtung nehmen
kaun. Die Geschichte der äußern Handelspolitik erweitert sich jetzt zu der
der umern Wirtschaftspolitik.
Auch die Grundlage alles Volkslebens: die Vermehrung und die Ver¬
teilung der Bevölkerung innerhalb des Staatsgebiets wird vom Weltmarkt
aus entscheidend beeinflußt.
In den dem Weltmarkt angeschlossenen Staaten können wir übereinstimmend
folgende Grundzüge ihrer Entwicklung nachweisen: die Bevölkerung wächst
rasch an, so rasch, wie wir es in frühern Jahrhunderten nie beobachten konnte»;
damit verschiebt sich der Nahrungsspielraum innerhalb der einzelnen Prodnktions-
gruppen. Die Zunahme der Bevölkerung verteilt sich ferner nicht gleichmäßig
über die verschiednen Berufe; Gewerbe und Handel nehmen eine immer steigende
Zahl voir Erwerbtütigen auf, die Landwirtschaft zeigt dagegen einen Stillstand,
der sogar manchmal in einen Rückgang übergeht.
Die wirtschaftliche» Folgen dieses Zustandes sind von weittragender Natur;
im einzelnen läßt sich jedoch nicht feststellen, welcher Anteil daran auf die
zunehmende Vevölkernngsdichtigkeit oder auf die Verflechtung der einheimische»
Produktion und Konsumtion mit dem Weltmarkt kommt. Am nächsten liegt
es wohl, zu sagen, daß eines die Ursache des andern ist, daß beide sich gegen¬
seitig beeinflussen.
In diesen Staaten vermag die Landwirtschaft auf die Dauer nur einen
immer kleiner werdenden Teil der Gesamtbevölkerung zu ernähren; ein stetig
wachsender Teil ist auf die Zufuhr aus andern Ländern angewiesen. Dasselbe
Verhältnis finden wir auch bei der Versorgung der Industrie mit Rohstoffen
(Kohle, Erze, Baumwolle), Andrerseits erzeugt die Industrie Giltermassen, die
die einheimische Landwirtschaft auch nicht annähernd aufzunehmen vermag. Das
Absatzgebiet der Industrie erweitert sich; es umfaßt nicht mehr ausschließlich
den nationalen Markt, es greift über die Staatsgrenzen hinaus.
Unter der frühern Nationalwirtschaft stand die Bevölkerung in enger
Wechselbeziehung zu Grund und Boden; sie konnte ohne große Schädigung
über die natürlich gegebnen Schranken nicht hinauswachsen. Die Weltwirt¬
schaft spiegelt uns das gerade Gegenbild wider. Der Boden bietet nicht mehr
den Nahrungsspielraum für die seßhafte Bevölkerung, er bietet nur noch den
Wohnsitz. Und ferner deckt sich nicht mehr das Staatsgebiet mit dem Wirt¬
schaftsgebiet; es treten vielmehr zu dem Staatsgebiet zwei außerstaatliche
untereinander scharf getrennte Wirtschaftsgebiete hinzu: eines, das die land¬
wirtschaftlichen Erzeugnisse und die gewerblichen Rohstoffe zur Ergänzung des
einheimischen Bedarfs liefert, ein andres, das die gewerblichen Waren abkauft
und aufnimmt.
Die Bahnen, in denen sich die ältere Wirtschaftspolitik einst bewegte,
werden nun verschoben. Die Industrie muß ihre Waren auf ausländischen
Märkten vertreiben und sucht überall in der Welt Verbindungen anzuknüpfen.
Die fremden Absatzmärkte können einmal geschlossen oder ihr Zugang zum
mindesten erschwert werden; sie stehn ebensowenig wie die Znfuhrmärkte unter
der einheimischen Staatsgewalt; über sie gebietet die Politik des Auslandes.
Jede dort getroffne Maßnahme spiegelt sich in der nationalen Wirtschaft
wieder: stetig bedroht ein Angriff von dieser Seite das nationale Leben.
Die auswärtige Politik eines Volkes gewinnt deshalb an Bedeutung, je
mehr es in die Weltwirtschaft verflochten wird bis zu dem Grade, daß man
nationale und internationale Politik im Staate nicht mehr zu unterscheiden
vermag. Von der jeweiligen geschickten Führung der ausländischen Politik
hängt dann das Gedeihen großer Volksmassen ab.
Innerhalb der Volksgemeinschaft wächst die Spannung zwischen den ein¬
zelnen Erwerbskreisen; nicht in wirtschaftlichen Beziehungen zueinander und
ans dem gegenseitigen Ausleben und Ausarbeiten beruht die Sicherheit des
Bestandes. Im Gegenteil. Einzelne Berufe sind gezwungen, zur Wahrnehmung
ihrer Vorteile Hand in Hand mit fremden auswärtigen Produzenten oder
Konsumenten zu gehen. Und schließlich stehn sich zahlreiche wirtschaftliche
Gruppen als erbitterte Feinde, von denen jeder die Lebensinteressen des andern
bedroht, innerhalb eines Volks gegenüber.
Auf überaus künstlicher Grundlage baut sich ein solches Staatswesen mit
seinem ausländischen Nährboden und Absatzgebiet aus.
Wir fassen die Kräfte, die wir in der Gegenwart wirken sehen, als histo¬
rische auf. Wir fragen also: Wie haben sich diese Kräfte entwickelt? und erst
dann, wenn wir die historische Entwickln««, verfolgt haben, können wir an die
Frage herantreten: Wie kann sich die Zukunft gestalten? Von den Mächten,
die heute am Handel auf dem Weltmarkte beteiligt sind, steht England an
erster Stelle. Es hat die unumschränkte Herrschaft auf der See, den umfassendsten
Kolonialbesitz und den größten Warenumsatz. Im Deutschen Reich und in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika sind ihm in den letzten zwanzig Jahren
zwei mächtige Hcmdelsgcgner erwachsen. Sie sind es aber nicht allein, die
England auf dem Weltmarkt zu bekämpfen hat. Eine Reihe andrer Staaten,
wie Frankreich, Belgien, die Schweiz, Österreich, suchen ebenso mit ihren natio¬
nalen Erzeugnissen ans dem Weltmarkt Fuß zu fassen. Die Zahl der Wett¬
bewerber Englands ist in stetigem Wachsen begriffen. Eine Untersuchung,
die den heutigen Kampf um den Weltmarkt zum Ausgangspunkt nimmt, müßte
sich auch auf alle diese Staaten mit erstrecken. Uns liegt nur daran, das
Typische aus diesem Kampfe herauszulösen, und da wir uns nicht so sehr ins
Weite verlieren wollen, wird es genügen, wenn wir uns darauf beschränken,
die Entwicklung Englands zu seiner heutigen See- und Handclsmcicht zu
schildern, die Bedeutung seiner heutigen wirtschaftlichen Stellung zu würdigen
und sein inneres Kräftemaß zu untersuchen. Erst dann wollen wir uns seinen
beiden wirtschaftlichen Hauptgegnern: Deutschland und den Vereinigten Staaten
zuwenden, um zu sehen, mit welchen Aussichten ans Erfolg diese beiden frisch
aufstrebenden Staaten in den Weltkampf eintreten, was sie ihrerseits mit¬
bringen, und wie groß ihr Einsatz in dem Kampfe ist. Haben wir so den
Kampfplatz und die Kämpfer geschildert, so können wir dann schließlich die
Vorteile und die Nachteile, die der Wettbewerb auf dem Weltmarkt mit sich
bringt, abwägen.
England erscheint uns als ein von Natur geradezu zur Beherrschung der
See berufnes Volk zu sein. Das Inselreich ist rings vom Meer umflutet,
abgeschlossen vom europäischen Kontinent lagert es sich vor die Westküsten.
Sein Verkehr wie die Verteidigung des Landes weisen auf die Beherrschung
der Seelinien hin. Der praktische, nüchterne Blick des Engländers ist sprich¬
wörtlich geworden. Napoleon der Erste soll sie zuerst ein Krämervolk genannt
haben, ein Schlagwort, das anch heute noch umläuft, und in das etwas von
dem Neid der kontinentalen Völker hineinklingt, hinter England um Wohlstand
und Handel zurückstehn zu müssen.
Wir glauben, daß der Charakter der Engländer seit Jahrhunderten fest¬
steht, und doch sind die Eigenschaften, die wir in dem modernen Engländer
finden, verhältnismäßig jungen Datums. Der Engländer, der jetzt im Besitze
der Weltherrschaft dasteht, ist als Seemann, als Industrieller, als Kaufmann,
als Kolonist eine verhältnismäßig junge Erscheinung. In langem, jahrhunderte¬
langem Ringen hat England erst seine heutige Größe erreicht, haben sich im
Volk erst die Eigenschaften entwickelt, die uns jetzt für den Engländer als
typisch erscheinen. Im Mittelalter hat das Meer an die Küsten Englands
genau so geflutet und gebrandet wie in der Gegenwart, und doch hatte Eng¬
land damals keine Seemacht, und nirgends griff es entscheidend in die Ge-
schicke der europäischen Völker ein. Handel und Industrie überließ es andern
Völkern, es sandte keine Söhne aus, fremde Landstrecken zu kolonisieren; es
lebte fernab still für sich auf seinem Eiland. Der große Staat, der die Ge¬
schicke des Mittelalters bestimmt hat, ist Deutschland gewesen, »ud ebenso, wie
wir unhistorisch die Engländer betrachten, ebenso unhistorisch denken wir über
unser eignes Volk. Unsre Größe, unser Schicksal liegt im Mittelalter. Eng¬
land ist dagegen der ausgeprägteste Staat der Neuzeit geworden. Wir Deutschen
leiten mit der Völkerwanderung das Mittelalter ein, und mit der Reformation
klingt es aus. Wir haben mit dein Schwert, mit der Pflugschar, mit dem
Handwerkszeug in jahrhundertelangem Kämpfen unsern heutigen Kulturboden
geschaffen und uoch weit darüber hinaus Vorposten ausgesandt. Der Ansturm
von Slawen, Hunnen und Türken ist an der deutschen Macht gescheitert. „Ziehen
wir eine Linie, die vom Kieler Hafen die Swentine entlang nach Bismarcks
Sachsenwald lief, von dort die Elbe hinauf bis zur Saalemündung, diesen
Fluß aufwärts bis zum Einlauf der Schwärzn, denn hinüber übers Gebirge
in die Bamberger Gegend und weiter zum Böhmerwalde, an diesem entlang
zur Donau und südwestlich über die Dauern ins Pustertal, da wo die Ge¬
wässer der Etsch und der Drau sich scheiden. Alles, was vou Deutschen heu¬
tigentags östlich dieser Linie wohnt, und das ist fast die Hälfte der ge¬
schloffen znsammensitzenden, für die preußische Monarchie die volle Hälfte, ver¬
dankt seine Heimat der Kolonisation des Mittelalters" (Dietrich Schäfer).
Wie wenig hat dagegen Italien, dem man gewöhnlich die Stelle des ersten
Staats während des Mittelalters zubilligt, für sein Volkstum geleistet. Es hat
seine Herrschaft über die griechischen Inseln, über die Küsten Jstriens und
Dalmcitiens nicht halten können. Es hat auch sein Sprachgebiet nicht wesent¬
lich zu erweitern vermocht. Und während der Italiener auf seiner alten Halb¬
insel gebannt blieb, breitete Deutschland seine Volksmacht aus!
Nur wir Deutschen strebten nach der Weltherrschaft. Der deutsche König
wurde Kaiser des heiligen römischen Reichs. Wir allein strebten danach, das
Imperium der römischen Cäsaren in ein germanisches Imperium Mitteleuropas
zu verwandeln. Kein andres Volk, weder das italienische, noch das franzö¬
sische, noch das englische, machte uns den Platz um die Weltherrschaft in
Europa streitig, und wenn der deutsche Aar auch in vergeblichem Fluge die
Weltherrschaft angestrebt hat, so ist es doch immer zu allen Zeiten das Streben
an sich gewesen, das die Menschheit groß gemacht hat. Auch innerlich ent¬
wickelte sich unser Volk während des Mittelalters zu wirtschaftlich hoher Blüte.
Wieviel mächtiger ist die Hansa mit ihrer Seemacht, mit ihren Stapelplützen,
dem Stahlhof in London, den Geschäftskontoren von Gotenbnrg bis Riga
gegenüber der Seeherrschaft, die Venedig und Genua ausübten! Aus rein
ländlichen Verhältnissen entwickelte sich auf breiter gesunder Grundlage eine
hohe städtische Kultur. Kein andrer europäischer Staat zählt so viele und so
volkreiche Städte während des Mittelalters wie Deutschland. Und als der
italienische Staatsmann Machiavelli Deutschland und Frankreich bereiste, da
zeichnete er in sein Tagebuch ein, daß von allen Ländern, die er gesehen
habe, in Deutschland der größte bürgerliche Wohlstand herrsche. Im Vergleich
zu Deutschland erschien ihm Frankreich als ein armes Land. Noch um die
Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, als die Grundlagen, auf denen sich
die deutsche Macht entwickelt hatte, zu wanken begannen, haben wir noch
die größten Bankiers gehabt, die die Welt bis jetzt gekannt hat: die Fugger.
Mit deutschem Gelde haben die Könige Spaniens ihre Kriege geführt. Wir,
nicht Italien, nicht England waren damals die große kapitalausleihende
Nation.
Am Ausgang des Mittelalters traten wir von der politischen Schaubühne
ab. Der Plan des Weltimperiums zerstob, unser Volk zerfiel in kleine, inner¬
lich zerspalten? Staaten; unser Wohlstand ging zurück, unsre Gesittung und
Kultur ließ nach, andre Nationen gewannen einen kaum einzuholenden Vor-
sprung. Und doch beruht auch hier alles, was die neue Zeit geleistet hat,
was ihr die sittlichen und moralischen Grundlagen gegeben hat, auf deutscher
Kraft. Aus deutschem Gemütsleben, aus deutschen! Freiheitsdrang entsprang
die Reformation. Es ist das letzte große Wort, das wir gesprochen haben,
und es hat umgestaltend auf Europa eingewirkt. Gerade England und die
Vereinigten Staaten kann man sich ohne protestantischen Geist nicht denken;
gerade der ist es, der den Einzelnen mündig gemacht hat, der dem Volke die
Schwungkraft und die Tatkraft gegeben hat, die wir an ihnen bewundern.
Alle großen Erfolge englischer Kultur, die große Geistesarbeit, die sie für uns
alle geleistet haben, gründen sich in ihren tiefsten Wurzeln in dein von
Deutschland ausgegcmguen Protestantismus.
Aber für unser deutsches Volk reiften die Früchte nicht. Das Schicksal
wandte sich gegen uns. Die Nation trennte sich in zwei große Lager, die in
der gegenseitigen Bekämpfung, in der Entfremdung der einzelnen Volksgenossen
ihre Aufgabe sahen, und Deutschland hörte um auf, der große führende Staat
zu sein.
Die Geschicke Europas bewegen sich vom sechzehnten Jahrhundert ab um
die Frage: Welcher Staat wird die Erbschaft von Deutschland und dem ihm
im Schicksal ähnlichen Italien antreten? Wer wird die Vormachtstellung in
Europa erringen? Zugleich aber taucht ein neues Problem auf, das sich mit
diesen? ersten verquickt und dadurch die Erkenntnis der politischen Vorgänge
außerordentlich erschwert. Kühne Seefahrer hatten Amerika erreicht, den See¬
weg uach Indien gefunden. Eine neue Welt wurde entdeckt; die sich dienstbar
zu machen, sie der europäischen Kultur anzugliedern, war von nun ab die
große Aufgabe, die den europäischen Völkern gestellt war. Es galt nun, nicht
nur im politischen Kampfe die Vormachtstellung in Europa zu erringen, es
galt auch die Seeherrschaft zu gewinnen.
Deutschland, das seine Vormachtstellung in Europa hatte aufgeben müssen,
konnte sich auch nicht an dem Kampfe um die Seeherrschaft beteilige«. Man
hat oft behauptet, daß die westeuropäischen Länder, weil sie Amerika näher
als Italien und Deutschland lügen, einen natürlichen Vorsprung vor diesen
beiden Länder» gehabt hätten; das heißt aber, das Vergangne mit neuzeit¬
lichen Augen ansehen. Bei der Segelschiffahrt, die allein vom sechzehnten bis
zum neunzehnten Jahrhundert in Betracht kommt, spielte die Frage, ob ein Schiff
acht »der vierzehn Tage später seinen Hufen erreichte, gar keine Rolle. Zeit
war früher überhaupt kein Gut, das die Menschheit besonders schätzte. Nur
wenig Tagereisen sind Danzig und Stettin, Hamburg und Bremen von hollän¬
dischen und englischen Häfen, Genua von den spanischen Häfen entfernt, und
heute, wo die Zeit ein immer kostbareres Gut geworden ist, wo wir im großen
internationalen Verkehr mit Stunden rechnen, vermögen Bremen und Hamburg
mit ihren Schnelldampfern nicht nur mit den günstiger liegenden Häfen Eng¬
lands und Frankreichs zu konkurrieren, ja sie vermögen diese sogar zu be¬
siegen. Wir lagen nicht weiter und nicht näher von der Neuen Welt ab als
Spanien und Frankreich, aber es fehlte uns die innere nationale Kraft, uns
an dem Wettkampf um den Besitz der Neuen Welt zu beteiligen.
So sind es denn die Weststaaten, Spanien und Portugal, denen zunächst
das Schicksal in ganz unglaublicher Weise gelächelt hatte, dann Frankreich und
Holland und schließlich England, die untereinander wettbewerbend auftreten.
Vom Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts bis zum Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts, fast dreihundert Jahre, herrschte ein beständiger Kampf zwischen
diesen Staaten, und aus diesen, Kampfe geht schließlich ein Volk, England,
als Sieger hervor. Seine erste Großtat ist 1588 die Besiegung der spanischen
Armada. Das Deutsche Reich hatte damals keine Flotte, mit der es einen
solchen Seesieg hätte erringen können. Damit ist die Entscheidung zwischen
uns und England schon gegeben. Wir mußten von da ab hinter England
zurückstehn. Das siebzehnte Jahrhundert ist dann mit drei großen Kriegen
Englands gegen Holland erfüllt. Sie gruppieren sich gewissermaßen um die
englische Navigationsakte von 1651. In dieser war bestimmt: Alle Küsten¬
schiffahrt soll englischen Schiffen vorbehalten sein; alle außereuropäischen Waren
dürfen nach England wie nach englischen Kolonien nur auf englischen Schiffen
verfrachtet werden; europäische Waren dürfen mir auf Schiffen des Ursprungs¬
landes und in direkter Fahrt, sonst auf englischen Schiffen in England ein¬
geführt werden. Neben der Hebung der eignen Seeschiffahrt war der vor¬
nehmliche Zweck dieses Gesetzes, den Durchfuhr- und Zwischenhandel Hollands
zu schädigen. In diesen Kriegen gelang es der weit ausschauenden englischen
Diplomatie, Frankreich zu überlisten und es im letzten Kriege gegen Holland
als Bundesgenossen zu gewinnen. Der schließliche Sieg fiel England zu.
Holland wurde tief gedemütigt; es mußte die englische Oberherrschaft zur See
anerkennen, und vor jedem englischen Schiff mußte,: seine Schiffe vom spa¬
nischen Kap Finisterre bis nach Norwegen die Flagge streichen.
England erreichte das Ziel, seine einheimische Seemacht zu stärken. Von
1673 bis 1702 stieg die Tonnenzahl britischer Schiffe in britischen .Häfen von
25000 auf 326000, und die der fremden Schiffe fiel von 47000 auf 29000.
Dem Gedanken aber, von dem die britische Nation damals beseelt war, hat
Lord Hardwicke 1743 offen und frank Ausdruck verliehen: „Wenn unser Handel
zurückgeht, ist der Handel der Nation, die uns vom Markt auf dem Kontinent
ausschließt, zu vernichten. Wir müssen ihre Schiffe von der See vertreiben
und ihre Häfen blockieren."
Ein größerer und mächtigerer Gegner als Holland und Spanien war
England noch geblieben: Frankreichs Auch bei der Beurteilung Frankreichs
sind wir nur zu sehr geneigt, aus den schließlichen Ergebnissen der historischen
Entwicklung rückwärts die Verhältnisse zu verurteilen. Heute hört man, be¬
sonders in England, oft geringschätzige Urteile über die Fähigkeit der Fran¬
zosen zur Kolonisation, und doch lagen die Verhältnisse über See im acht¬
zehnten Jahrhundert für Frankreich günstiger als für Englaud. Fraukreich
hatte sich in Nordamerika die besten und die politisch wertvollsten Teile ge¬
sichert. Es hatte in Indien erfolgreich begonnen, sich ein großes Kolonial¬
reich zu schaffen, und Seelcy, der Historiker der englischen Kolonialpolitik,
spricht es offen aus, daß das, was Frankreich in Indien damals geleistet
habe, bessere Arbeit als die von England verrichtete gewesen sei. Auch in
der innern wirtschaftlichen Kultur steht Frankreich in der ersten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts höher als England.^) Die ersten Anfänge einer
Großindustrie finden wir in Frankreich, nicht in England, und eng mit dieser
frühen Entwicklung hängt es wohl zusammen, daß der erste Ansturm gegen
den Merkantilismus von französischen Denkern ausgeht. Vor dem Schotten
Adam Smith schrieb der Franzose Turgot, und die englische Volkswirtschafts¬
lehre am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ist ohne die Lehre der fran¬
zösischen Phhsiokraten unverständlich. In Frankreich fiel zuerst das Wort,
das dann fast hundert Jahre später zum Schibboleth der englischen Freihcmdels-
theoric wurde: latssgr tdirs, iNssgr passer.
(Schluß folgt)
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MMmeer den Stürme» der großen französischen Revolution ist das
neunzehnte Jahrhundert geboren worden. Ihre Ideenwelt hat
es noch jahrzehntelang beeinflußt, und so ist es das Jahrhundert
des Ringens der Völker um Mitbestimmung über ihre Geschicke
geworden. Aus allem Übermaß hat sich schließlich das allge¬
meine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht als der höchste Ausdruck dieses
Strebens abgeklärt. Auch das junge Deutsche Reich wurde dieser Gabe des
Jahrhunderts teilhaftig. Und nun, wo das Jahrhundert dahingegangen ist,
da scheint es, als ob auch der Schimmer dieser seiner Errungenschaft mehr
und mehr verblassen wollte.
In immer weitere Kreise sehen wir die Zweifel an der Vollkommenheit
dieses Wahlrechts dringen; immer mehr befestigt sich bei den Leuten, denen
die Zukunft Deutschlands wahrhaft am Herzen liegt, die Überzeugung, daß
es so, ganz so wie es ist, auf die Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben könne.
Die stetig wachsende Zahl der sozialdemokrntischen Abgeordneten, das offen¬
bare Unterliegen ernster erwägender Beratung unter Parteienhandel rüttelt
auch Gleichgiltigere auf. Und nun haben wir gar noch die Obstruktion auch
in unsern Reichstag einziehn sehen, die Obstruktion mit allen ihren wüsten
und unparlamentarischen Mitteln, die wir, als sie nur in Österreich zuhause
war, so stolz als ein Zeichen des Verfalls deutete»; die, solange sie nur ans
Osterreich gemeldet wurde, von der Presse so gern die Glosse erhielt: Der
Parlamentarismus hat in Österreich abgewirtschaftet. Nun sind wir etwas
stiller geworden: droht uns denn dasselbe nicht anch? Wohl hat der Reichs¬
tag ein Mittel gefunden, das die Obstruktiv» niederhält. Aber das ist doch
ein gar zu äußerlicher Notbehelf; nötig, so lange wir nicht von innen hernns
eine Gesundung schaffet,, eine Gesundung des Wahlrechts, die auch den Parla¬
mentarismus wieder lebenskräftig macht.
Zahlreich sind die Vorschläge, die schon zur Verbesserung des Wahlrechts
gemacht worden sind. Dabei ist mau von den verschiedensten Seiten aus¬
gegangen. Ein Teil begnügt sich mit Zusätzen zu dem geltenden Wahlrecht,
neben denen die ganze Einrichtung unverändert bestehn bleibt; und es darf
nicht verkannt werden, daß von allen Vorschlägen, die überhaupt gemacht
werden können, diese jedenfalls den einen Vorzug haben, daß ihre Einführung
am wenigsten schwierig erscheint. Dahin gehören die Öffentlichkeit der Ab¬
stimmung-") und der Wahlzwang, zwei Anregungen, die zwar das Übel nicht
an der Wurzel fassen, ganz gewiß aber, wenn nicht mehr erreicht werden kann,
sehr beachtenswert sind.' Andre Vorschläge greifen tief in das bestehende Wahl¬
recht ein; dahin gehört die Wahl des Reichstags zum Teil dnrch direkte Wahl,
zum Teil aus den Staatenlandtageu, die indirekte Klasseuwahl und die Ge¬
währung ungleicher Stimmenznhl. Alle diese Vorschläge suchen zwar wohl
den heutigen Mängeln durch eine gründliche Abhilfe beizukommen, treffen
aber dennoch alle nicht den Kern des Übels, an dem unser gegenwärtiges
Reichstagswahlrecht krankt, erschweren sich dagegen, und zwar vor allem die
beiden letztgenannten, die die Gleichheit des Wahlrechts aufheben, damit selbst
die Möglichkeit der Durchführung.
Tatsächlich sind aber gerade diese beiden einschneidendsten Vorschläge w
den in neuerer Zeit vorgenommncn Wahlrechtsänderungen durchgeführt wordeu.
Man hat den Weg in der Beseitigung der Gleichheit des Wahlrechts ge¬
sucht: in Belgien, indem man bestimmten Kreisen geradezu eine höhere Stimmen-
zahl verliehen hat; in Sachsen durch die mittelbare Wahl in Klassen. Der
Widersinn, daß der Ochsenknccht. der hinter dem Pfluge hergeht, der Heizer,
der der Maschine die Kohlen zuführt — so tüchtig und gewissenhaft sie in
ihrem Berufe sein mögen —, denselben Anteil an der Beratung der wichtigsten
Staatsfragen haben 'soll wie der Großgrundbesitzer, der ausgedehnte Felder
sachgemäß bewirtschaftet, wie der Großkaufmann, der mit klarem Bunte dem
Wechsel des Weltmarkts folgt, wie der durch lange Studien gebildete Erzieher
der Jugend, daß man die Stimmen nur zählt, ungeordnet, wie eben einer
nach dem andern an die Urne tritt, dieser Widersinn ist so aufdringlich, daß
er keinem entgeht, der sachlich und ohne Voreingenommenheit an diese Frage
herantritt. Wenn aber schon jede Änderung eines so wesentlichen politischen
Rechts wie des Wahlrechts mit großen Schwierigkeiten verbunden zu sein pflegt,
so wachsen diese noch, sobald es sich um eine Beschränkung bestehender Rechte
handelt. Welche lebhafte Bewegung in weiten, much zweifellos königs- und
stantstreuen Kreisen hat in Sachsen, obwohl hier die Anregung von der Volks¬
vertretung selbst ausging, die Wahlrechtsvorlage hervorgerufen; man wird nicht
fehlgehn, wenn man die Ursache für das gute Gelingen und besonders für die
Beruhigung, die bald nach der Verabschiedung des Gesetzes wieder eingetreten ist,
darin sucht, daß in Sachsen die weitesten Kreise des Volks mit einem uner¬
schütterlichen, außerhalb des Landes in dieser Tiefe gar nicht geahnten Ver¬
trauen an ihrem Könige Albert, „dem Treuen," hingen. Übrigens hat man
jn auch in Sachsen das Klassenwahlrecht von Anbeginn an kaum als eine
endgiltige Einrichtung angesehen, sondern als den gangbarsten, in der drängenden
Kürze der Zeit zu schaffenden Ausweg aus drohender Gefahr, und neuerdings
werden immer mehr Stimmen für eine weitere leidenschaftslose Erwägung laut.
Es ist eine ganz andre, aber sehr wesentliche Frage, ob auch in jedem
andern Falle, unter andern Verhältnissen und besonders im Reiche mit seinem
bunten Stantenbilde von ähnlichen Grundsätzen ans eine ebenso friedliche
Lösung oder überhaupt eine Lösung ans friedlichem Wege durchführbar sein
würde. Francis Pnrkman sagt in einem Aufsatz über das Scheitern des all¬
gemeinen Wahlrechts in Amerika in der Nortd, ^msrioau Rsviovv im Jahre
1878, daß es vielleicht uicht möglich sein werde, auf friedlichem Wege ein ver¬
derbliches Wahlrecht abzuschaffen, wohl aber ihm entgegenzuwirken. Scheint
dieser Satz anch, wie das eben erwähnte Beispiel lehrt, nicht für jeden Fall
richtig, so ist er doch ganz zweifellos durchaus beachtenswert und mindestens
für den Weg, auf dem man an die Abänderung eines Wahlrechts heranzutreten
hat, von unleugbarer Bedeutung. Für Deutschland weist er auf die Erwägung
hin, ob es denn, da es augenscheinlich schwierig ist, durchans notwendig sei,
gerade die Gleichheit des Stimmrechts zu beseitigen, ob denn überhaupt sie
der größte Mangel des allgemeinen, gleichen und ungegliederten Wahlrechts
in der Anwendung auf deutsche Verhältnisse sei, oder ob nicht ein andrer,
vielleicht gangbarerer Weg dahin führen konnte, nicht das allgemeine und
gleiche Wahlrecht abzuschaffen, wohl aber deu mit ihm verknüpften bedenk¬
lichen Erscheinungen entgegenzuwirken.
Tritt man dem Gedanken an die Abänderung eines Wahlrechts näher,
so wird man Verschiednes unterscheiden müssen. Man wird zunächst feststellen
müssen, welche geschichtlichen Vorgänge und Erwägungen zur Einführung des
Wahlrechts geführt haben; sodann wird man ermitteln müssen, auf welchen
Mängeln im Aufbau denn die mißliebigen Erscheinungen dieses Wahlrechts
beruhn, und insbesondre warn»? der Aufbau gerade mit der Art des Volks, uns
das es uus ankommt, in Mißklang steht; und schließlich geht die Frage dahin,
auf welchem organischen Wege die Fehler wieder beseitigt werden können.
Denn wie die Mängel eines politischen Aufbaus, wenn er sich überhaupt
längere Zeit halt, ganz zweifellos nicht ohne tiefe geschichtliche Begründung
hineingelange siud, so darf man auch nie darauf rechnen, sie auf operativen
Wege zu entfernen, wenn mau nicht einen tiefen und gefährlichen Eingriff in
das Volksleben überhaupt wagen will. Dagegen wird sich oft geradezu eine
gesunde Entwicklung des Volksempsindens selbst gegen die falsche Anfpfropfung
auflehnen und den geschichtlich-logischen Weg zur Heilung schon wenigstens
tastend suchen, sodaß es uur insoweit einer Nachhilfe bedarf, als diesem
Drängen die Möglichkeit der Entwicklung geboten wird.
Für den dentschen Reichstag gilt von Anbeginn an, schon im Nord¬
deutschen Bunde, das gleiche, allgemeine und ungegliederte Wahlrecht. Sein
geschichtlicher Ursprung überhaupt ist aber natürlich nicht hier zu suchen; bei
der Gründung des Reichs lag diese Gabe des neunzehnten Jahrhunderts schon
voll entwickelt vor. Es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die Franzosen die
neuste Geschichte mit den Ideen haben versorgen müssen, aus denen dieses
Danaergeschenk erwuchs. Von Anfang an sind die Lebensanschauungen der ger¬
manischen und der romanischen Völker weit verschieden gewesen. Im Franzosen-
tum haben die romanischen und vielleicht mehr noch die keltischen Ursprünge die
germanischen vollkommen überwunden. Zumal dem großen Klassenkampfe vom
Ende des vorletzten Jahrhunderts haben sie die Prägung gegeben. In dem
Ringen des dritten und des vierten Standes um Recht und Gleichstellung
verwechselte das überbrausende Frcmzosentum die schrankenlose Freiheit mit
der sittlichen Freiheit, und ans der Forderung der Menfchenrechte erwuchs
auch die des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Es ist natürlich, daß diese
Errungenschaften des französischen Volks bei dem ungeheuerm Eindruck, den
die Revolution auf alle Nachbarvölker machen mußte, auch in Deutschland
Bedeutung gewannen, die Köpfe und Sinne beherrschten und ihren Einfluß
auf die politische Neugestaltung der deutschen Staaten in dieser oder jener
Richtung ausübten. So kamen sie denn, ucugeuährt durch die Revolution in
der Mitte des Jahrhunderts, die ja in Verknüpfung mit dem Ringen um den
jetzt verwirklichten Reichsgedankcn auftrat, auch zum Ausdruck in dein Reichs¬
wahlgesetze vom 12. April 1849. Doch sei schon hier hervorgehoben, daß sich
much 'in der damaligen Zeit, unter dem nahen Eindruck der Ereignisse an der
Wende und in der'ersten Hälfte des Jahrhunderts, gewichtige Stimmen, be¬
sonders allerdings in der Literatur, für eine andre Gestaltung des Wahlrechts
nusspracheu. Jedoch blieb das allgemeine, gleiche und ungegliederte Wahlrecht
eine liberale Forderung.
Als bei der Neugrüudung des Deutschen Reichs auch die Volksvertretung,
zunächst im Norddeutschen Bunde, geregelt wurde, nahm Bismarck diese libe¬
rale Forderung zunächst wesentlich um deswillen in sein Programm auf, weil
er sich der Zustimmung aller Liberalgesinntcn im weitesten Umfange ver¬
sichern, das Reich anch nach außen als einen Hort freiheitlicher Anschauungen
erscheinen lassen wollte. Er bediente sich schlechthin des Reichswahlgesetzes
von 1849, Charakteristisch bleiben die Worte des großen Staatsmannes: Ich
habe nie gezweifelt, daß das deutsche Volk, sobald es einsieht, daß das be¬
stehende Wahlrecht eine schädliche Institution sei, stark und klug genug sein
werde, sich davon frei zu machen. Kann es das nicht, so ist meine Redens¬
art, daß es reiten könne, wenn es erst im Sattel säße, ein Irrtum gewesen.
(Gedanken und Erinnerungen Bd. 2, S. 58.)
Man hat es nun später oft genug Bismarck als einen Fehler seiner
inner» Politik vorgeworfen, daß er seinerzeit das allgemeine gleiche Wahlrecht
in die Reichsverfassung eingeführt hat. Es wird hier am Platze sein, zu er¬
mitteln, ob sich nicht außer der Rücksicht auf die Durchführung und die
Sicherung des Neichsgedankens noch sonst innere Gründe dafür ergeben, daß
damals gerade dieses Wahlrecht in Kraft trat, ja treten mußte. Dabei muß
man zunächst feststellen, daß nach Bismarcks Plan das Wahlverfahren öffentlich
sein sollte, was von einer ganz wesentlichen Bedeutung für den gesamten
Charakter des Wahlrechts ist, und daß er selbst die Heimlichkeit für undeutsch
hielt. Doch abgesehen davon: der Liberalismus, einmal das politische Element,
das die freiheitlichen Gedanken der französischen Revolution für Deutschland
übernommen hatte, war zugleich der hoffnungsfreudige Träger des Neichsideals
von alters her, im Gegensatze zu deu konservativ-partikularistischeu Strömungen,
die nur schwer an das Neue herauwollteu. Wie schon die Revolutionen von
1848, damals in eiuer vielleicht fast befremdlich erscheinenden Verquickung,
dieses doppelte Gesicht gezeigt hatten, so waren beide Bestrebungen, nachdem
sich die revolutionären Stürme gelegt hatten, erst recht in innige Verbindung
getreten. Und so fand der Liberalismus, nachdem er manche Irrung über¬
wunden hatte, doch auch in dem auf ganz anderm Weg endlich verwirklichten
Reichsgedaukeu das Ziel seines langen Strebens. Das neue Reich konnte ja
auch uur im Gegensatz zu dem in Deutschland jahrhundertealten Partikula¬
rismus aus eiuer freiern Auffassung geboren werden. So war es in der Tat
eine innere Folge, daß dem neuen Deutschen Reiche liberale Gedanken sein Ge¬
präge gaben, daß sich die große liberale Forderung des allgemeine« Wahl¬
rechts in der Bildung der Volksvertretung ausdrückte. Inzwischen hat das
deutsche Volk Muße gehabt, sich in die neuen Verhältnisse auch innerlich ein¬
zuleben. Der verwirklichte Gedanke der Gründung ist abgelöst worden durch
deu des Aufbaus und der Weiterentwicklung; das Reich ist eine politisch
gefestigte Macht geworden, die nunmehr um ihre wirtschaftliche Stellung in
der Welt kämpft. Damit sind auch im politischen Denken des Volks andre
Interessen aufgetreten, und man entsinne sich, daß das Wahlrecht in der
jetzigen Form ursprünglich doch ein aufgepfropftes ausländisches Reis ist, daß
es dein eigentlichen deutschen Wesen doch nicht völlig entspricht.
An sich scheint das allgemeine gleiche Wahlrecht der idealste Ausdruck für
die Beteiligung eines Volkes am politischen Leben zu sein. Es wäre auch so, wenn
die idealen Grundlagen, aus denen dieses Gebände errichtet ist, in der Wirk¬
lichkeit vorhanden wären. Diese Voraussetzungen sind das ernste und gewissen¬
hafte Interesse jedes wahlberechtigten Staatsbürgers an dem Allgemeinwohls
des Staates, sowie klares Verstäuduis eiues jeden für jede Frage des poli¬
tischen Lebeus. Beides ist aber, wie es mit allen solchen idealen Unterlagen
idealer Ausbauten der Fall ist, nicht vorhanden, kann nicht vorhanden sein.
Ja, auch wenn es denkbar wäre, ein Volk in allen seinen Gliedern zum
höchsten politischen Interesse und Eifer heranzuziehn, in allen seinen Gliedern
die allgemeine Bildung auf die höchste Stufe zu bringen, so wäre die zweite
Voraussetzung doch nicht erreichbar, denn die Fragen des politischen und des
wirtschaftlichen Lebens der Völker sind heutzutage viel zu umfangreich und
vielseitig, als daß ein Einzelner sie übersehen könnte.
Dieser Maugel zweier für das Wahlrechtsgebäude notwendiger Voraus¬
setzungen äußert sich nun einmal bei den Personen der Wähler und andrerseits
bei den Gewühlten.
Für die Wähler ergibt sich die Folge, daß jeder Stimme, gleichviel ob
ihr Inhaber mehr, weniger oder gar kein Interesse und vor allem Verständnis
für die Fragen hat, über die mitzuentscheiden er berufen wird, doch das¬
selbe Gewicht beigelegt wird. Dieser Widersinn ist, wie bemerkt worden ist,
auch wohl beachtet worden, und seine Erkenntnis ist schon alt, sehr viel älter
als unser Neichstagswahlrecht. Zwar die Anschauung Justus Mösers ist
wohl nicht ganz den heutigen Verhältnissen angemessen, der die politische
Gesellschaft einer Aktiengesellschaft vergleicht, bei deren Angelegenheiten mich
nur der Inhaber von Aktien anzuraten habe. Dagegen werde» wir noch
heute dem Gedanken Barnutes zustimmen, der dem Satze in seinen „Kon¬
stitutionellen Fragen" zu Grunde liegt: es sei ein Verbrechen gegen die
Majestät der Vernunft und ein Hohn auf die Souveränität des Volkes, in
deu wichtigsten Entscheidungen, die eine ganze Nation interessierten, die
Meinung derer befragen und berücksichtigen zu wollen, denen die Kenntnisse
und die Freiheit fehlten. Die logische Folge davon aber zeigt John Stuart
Mill, indem er in seinen „Betrachtungen über repräsentative Regierung" als
eine der mit der repräsentativen Demokratie verbundnen Gefahren die einer
niedern Stufe der Intelligenz im Repräsentativkörper und in der ihn beauf-
sichtigenden Volksmeinung feststellt.
Das führt uns schon hinüber zu der bisher weit weniger beachteten
Wirkung auf die Abgeordneten. Von seinen Abgeordneten fordert der Wühler
heutzutage tatsächlich zwei Interessen: einmal das allgemeine für das Wohl
des Vaterlandes, dann aber auch das besondre des Wählerkreises für seine
berechtigten Bedürfnisse. Die Bedeutung dieser Bedürfnisse tritt mit unsrer
Wachsendell Volkswirtschaft mehr und mehr hervor, und trotz der Bestimmung
des Artikels 29 der Reichsverfassung, daß die Mitglieder des Reichstags
Vertreter des ganzen Volkes sein sollen, laßt sich nicht aus der Welt schaffen,
daß der Abgeordnete nach allgemeiner Auffassung daneben noch besondre Ver¬
pflichtungen gegenüber dem ihn aufstelleudeu Wählerkreise zu übernehmen hat.
Das allgemeine Interesse des Vaterlandes könnte nun an sich jeder gewissen¬
hafte Volksvertreter wahrnehmen, gleichviel ob er mit oder ohne Berücksichtigung
des besondern gewählt wird. Für dieses aber hat unser Wahlrecht keinen
Raum; denn schließlich kann die Wahl des Abgeordneten doch nur nach seiner
allgemeinen politischen Richtung erfolgen. Tatsächlich ist ja ein Einzelner gar
nicht imstande, die vielseitigen Interessen aller seiner Wähler, zu denen er sich
in seinem Programm bekennt, oder alles nur des größern Teils davon ange¬
messen zu vertreten.
Der heutige Abgeordnete ist losgelöst von der gesellschaftlichen Gliederung
des Volkes. Und gerade hierin liegt der bedeutungsvolle Widerspruch des allge-
meinen, gleiche« und — in diesem Sinne nannte ich es: ungegliederten — Wahl¬
rechts mit dein deutschen Volksgeiste und seinen geschichtlichen Betätigungen.
Nicht die Gleichheit als solche ist undeutsch. Sie entspricht durchaus
dem Empfinden der germanischen Völkerschaften. Aber daß die Gleichheit das
Volk zu eiuer formlosen Masse umbildet, das ist undeutsch. So wie der
einzelne Deutsche seine eigne Persönlichkeit und Meinung nicht unterdrücken
läßt, so bildet sich auch da, wo die gesellschaftliche Entwicklung zum Zusammen¬
schluß der Einzelnen drängt, diese Gemeinschaft nach Grundsätzen innerer Zu¬
sammengehörigkeit und entwickelt sich zu eiuer Gesamtheit, die andern Genossen¬
schaften gegenüber ebenso ihre Persönlichkeit wahrt wie der Einzelne. Sie
durchbricht verwandtschaftliche, örtliche und andre Bande im Interesse der
Genosfenschaftlichkeit. Die innere Zusammengehörigkeit, die zur wirklichen
Genossenschaftsbilduug führt, ist die der wesentlichsten Lebensinteressen, des
Berufes. Die Bildung von Vernfsgenossenschaften besonders ans wirtschaft¬
licher Grundlage ist in Deutschland geschichtlich; Gilden, Zünfte und Innungen
aller Art sind eine urdentsche Einrichtung. Aber anch auf anderm als wirt¬
schaftlichem Boden finden sich solche Stäudevcreinigungen. Und sogar da, wo
keine Organisation vorhanden ist, pflegen bis in die neuste Zeit die Berufs¬
stände einen ganz besondern Zusammenhalt zu haben. Sogar gesellschaftlich
hat der Deutsche seine Geltung fast weniger um seiner Person Nullen, als
als Glied seiner Standesgenossenschaft, sodaß sich die Stände zuweilen in fast
kölnischer Weise voneinander abschließen. Vielleicht mag wenigstens zu einem
ganzen Teile auch die vielverspottete deutsche Titelsucht darauf beruhn, indem
ihr oft genug nicht sowohl die Sucht zu glänzen zu Grunde liegt, als viel¬
mehr die, sich schon äußerlich als Angehöriger eines besondern Standes zu
erweisen. Auch die in Deutschland so überaus beliebte Anrede „Kollege"
sogar in Kreisen, wo von keinem Kollegium oder auch uur amtlicher Kollegialität
die Rede sein kann, beruht auf dieser Regung der Volksseele.
Diese tiefgehende Eigentümlichkeit des deutschen Wesens übersieht unser
heutiges Wahlrecht vollkommen. Das ist aber für die Stellung des Abgeord¬
neten zu seinen Wählern von außerordentlicher Bedeutung. Infolge seiner
Loslösung von der gesellschaftlichen Gliederung des Volkes ist er auch ohne
jeden geistige» Zusammenhang mit seinen Wählern überhaupt. Die wenigsten
seiner Wühler kennen von ihm viel mehr als seinen Namen, und er kennt meist
nur von den wenigsten seiner Wähler die wirklichen Interessen und Bedürf¬
nisse. Darum ist die Wahl zum Reichstage uicht mehr eine ruhige und sach¬
liche Erwüguug der Gründe, aus denen dieser und kein andrer Anwärter als
der beste Vertreter für den Kreis von Wühlern erscheint, der ihn zu entsenden
berufen ist; sie ist vielmehr zu einem widerwärtigen und aufregenden Ringen
zwischen verschiednen politischen Richtungen geworden, aus dem dann der Ab¬
geordnete als Vertreter allein und ausschließlich der siegenden politischen
Richtung nach der iwch dazu oft recht zufälligen Stimmenmehrheit hervorgeht.
So führt der österreichische Parlamentarier „Gf. L. W." in seinem „Recht
der Minorität," worin er sich mit dem Vorschlage des Genfers Naville und
seiner Anwendung ans österreichische Verhältnisse beschäftigt, treffend aus, wie
mancher Wühler in eine Partei hineingedrängt wird, der er nicht angehört,
der er sich nur anschließt, weil ihm eine andre noch gefährlicher erscheint; „das
Volk wird nur als Stimmvieh gebraucht." Und er sagt am Schluß: „D
Wahl ist jetzt der Kampf zweier Parteien; man spricht anch ganz ruhig v
einem »Wahlkampf«." Die Folge dieses Wahlverfahrens, das bei rufe....
geltenden Wahlrechte gar nicht zii vermeiden ist, ist die, daß über die allge¬
meinen Interessen des Staats und die besondern der Bevölkerungsstände die
Interessen der Partei getreten sind, daß sich unser politisches Leben nicht um
wirkliche Jltteressenqemeinschaften, sondern um Parteianschauungen und Pnrtei-
bewegt. folgt)in
von
ern
me für den Handgebrauch geeignete Sammlung der Reden des
jetzigen Reichskanzlers *)'darf ohne weiteres als eine sehr nützliche
Arbeit bezeichnet werden, die für die Staatsmänner des Inlandes
und des Auslandes — vor allem für den Grafen Bülow selbst —,
für Parlamentarier und für Publizisten sowie für spätere Ge-
itschreiber unzweifelhaft eine Lücke ausfüllt. Denn wenngleich die parla¬
mentarischen Reden des Reichskanzlers nud Ministerpräsidenten in den steno¬
graphischen Berichten der Parlamente urkundlich niedergelegt sind, so ist es
doch mühsam und für den Einzelnen oft nicht einmal durchführbar, sie im
Augenblicke des Gebrauchs sofort zur Hand zu haben; außerdem fehle» in
diesen stenographischen Berichten die außerhalb der Plenarsitzungen des Reichs¬
tags oder des Landtags gehaltnen Reden, auch die in Kommissionen abge¬
gebnen Erklärungen. Die Reden bei dem Stapellauf der „Deutschland" in
Stettin, bei der Enthüllung des Berliner Bismarckdentmals, an den Gro߬
herzog von Baden bei dessen fünfzigjährigein Regierungsjubilünm, die Tisch¬
reden an den deutschen Landwirtschaftsrat und andre würde man sich mühsam
aus Zeitungen zusammensuchen müssen. Aber das ist es nicht allein. Alle
diese Reden geben als Sammlung vereinigt ein Bild sowohl vou der Politik
des Reichskanzlers und von seinem Charakter als much von seiner Art und Be¬
gabung als Redner. Sie sind ein Besitz des deutschen Volkes, auf dessen
^icht zugängliche Benutzung die Nation einen Anspruch hat, denn diese Reden
gehören nicht nur unsrer Geschichte an, sondern sie machen zum Teil diese
Geschichte und legen sie in ihren charakteristischen Grundzügen und Merkmalen
fest. Der Herausgeber des Bandes, Johannes Penzler, ist im wesentlichen
dem Vorbilde von Horst Kohl bei der Herausgabe der Reden Bismarcks
gefolgt. Ob es bei spätern Ausgaben nicht praktisch wäre, die außerhalb
der Parlamente gehaltnen Reden räumlich vou deu parlamentarischen zu trennen,
wäre wohl zu erwägen. Das Register scheint mit Umsicht und Sorgfalt an¬
gelegt zu sein, wenigstens sind wir beim Nachschlagen auf keinerlei Lücken oder
Schwierigkeiten gestoßen. In den Anmerkungen und deu Erläuterungen ist
gleichfalls das Horst Kohlsche Verfahren befolgt, doch begrüßen wir es als
einen großen Vorzug, daß die Verdeutschung der Zitate und Redewendungen
aus fremden Sprachen, die Horst Kohl bis zum Übermaß in seinen An¬
merkungen durchgeführt hat, nicht nachgeahmt worden ist. Leuten, die die Reden
der deutscheu Reichskanzler politisch oder publizistisch benutzen müssen, darf wohl
soviel allgemeine Bildung zugetraut werden, daß sie solcher Verdeutschungen
nicht bedürfen. Die gesammelten Reden werden niemals Volksbücher für die
breite Masse sein können; will man eine Auswahl als Volksbuch herausgebe»,
so mögen die Verdeutschungen da am Platze sein, in der Kohlschen Manier
wirken sie geradezu störend.
Das Buch umfaßt dreiundachtzig Reden, die vom November 1897 bis
zum Mürz 1903 gehalten worden sind, und von denen 27 (bis zum Juni 1900)
ans die Amtstätigkeit des Staatssekretärs, die andern 56 seit dem Oktober 1900
ans die Amtstätigkeit des Reichskanzlers entfallen. Weitaus der größte Teil
dieser Reden gehört dem parlamentarischen Gebiet an, die meisten dem Reichs¬
tage, eine kleine Anzahl dem Abgeordnetenhause und dem Herrenhause; außer¬
parlamentarische zählen wir im ganzen zehn. Von den Ausführungen des
Staatssekretärs in den Kommissionen des Reichstags finden wir dreimal Aus¬
züge, die ja wohl gleichfalls als authentisch anzusehen sind. Eine nochmalige
Durchsicht der Reden, auch nur nach der formalen Seite hin, hat allem Anschein
nach vor dem Druck nicht stattgefunden- Ein Anhang enthält zwölf Schreiben
des Grafen Bülow, von denen das vom 17. Februar 1898 an den Grafen
Wintzingerode, das Beschwerden des Evangelischen Bundes über den Gesandten
beim päpstlichen Stuhl zum Gegenstande hat, sowie ein Rundschreiben an die
deutschen Regierungen vom 11. Juni 1900 über die Expedition nach China
die bedeutendsten sind; die andern behandeln meist die Gewährung amtlicher
Unterstützung wissenschaftlicher Forschungen. Eingefügt ist die sehr beherzigens¬
werte Äußerung des Reichskanzlers aus dem Juni 1902 über deu Pessimismus
in der deutschen Presse. Ein wohlgelungnes Bildnis des Grafen Bülow mit
faksimilierter Unterschrift ist dem Buche als äußerer Schmuck beigegeben.
Doch nun zu dem geistigen Gehalt. Graf Bülow hat vor seiner Be¬
rufung in das Staatssekretariat des Auswärtige« Amtes niemals Gelegenheit
gehabt, in öffentlicher Rede hervorzutreten. Er hatte weder der Volksvertretung
noch Kommunal- oder Prvvinzialvertretnngeu angehört, hatte auch sonst keine
Gelegenheit, seine Begabung als Redner öffentlich zu bekunden. Nicht wie
Bismarck ist er durch den Vereinigten Landtag und die preußische Kammer
gegangen oder in stnrmbewegter Zeit als UrWähler oder Wühler aufgetreten —
romxu M urstisr hat er sein Amt begonnen, und die erste Rede, von der
wir erfahren, ist eine kurze Abschiedsansprachc um die deutsche Kolonie in
Rom im November 1897, die diesen für sie wie geschaffnen Botschafter bis
auf den heutigen Tag schwer vermißt. Wahrend man Bismarcks politischen
Entwicklungsgang aus seinen Reden leicht verfolgen kann, dürfte das beim
Grafen Bülow nicht so leicht der Fall sein. Seine erste Rede im deutschen
Reichstage war nicht ein gelegentliches Eingreifen in die Debatte, sondern eme
Erklärung an den Reichstag über einen Zwischenfall in Haiti und über die
schwerwiegende Besitzergreifung von Kiautschou. Der neue Staatssekretär sah
sich also gleich in enfans rss gestellt, und der lebhafte Beifall, der seinen Er¬
klärungen folgte, bewies, das; die Anschauungen, die mit lauter und voll¬
tönender Stimme, in sympathischer, mit Würde und Festigkeit des Ausdrucks
verbundner Sprache vorgetragen wurden, die volle Zustimmung der großen
Mehrheit des Reichstags gefunden hatten. Gleich diese erste Äußerung von,
6. Dezember 1897 enthält eine Reihe programmatischer Grundsätze, die
der nationalen und patriotischen Saite einen hellen Klang entlocken. Es war
ein Hauch Bismarckischen Geistes, der durch diese Rede wehte und weithin im
Lande wohltuend empfunden wurde. „Der Platz an der Sonne" ist seitdem
ein geflügeltes Wort geworden.
Wenig Wochen zuvor hatte Graf Bülow in Rom sein Abberufungs¬
schreiben übergeben und sich bei der Gelegenheit auch von der dortigen
Kolonie verabschiedet. Auch diese Abschiedsworte, die damals uur unvoll¬
kommen in die deutsche Presse gelangt sind, waren zum großen Teil pro¬
grammatischer Natur und um so bedeutsamer, als der neue Staatssekretär ja
schon fast ein halbes Jahr lang die Geschäfte seines neuen Amtes führte, mit¬
hin hinlänglich Zeit gehabt hatte, einen Einblick in die fortan für ihn in
Betracht kommenden Persönlichkeiten und Verhältnisse zu gewinnen. Er er
klärte, an zwei Vorsätzen festhalten zu wollen: zunächst seine verfluchte Pflicht
und Schuldigkeit im Sinne des kategorischen Imperativs zu tun, auf dem
der preußische Staat aufgebaut sei. und das ohne viel Aufhebens davon zu
machen, aber auch ohne jede Schonung seiner Person; zweitens jederzeit die
Gebote der Gerechtigkeit, Billigkeit und wahren Menschlichkeit gegenüber
andern zu befolgen. Diese Worte, die ihre volle Bedeutung erst nach der Er-
nennung des Staatssekretars zum Reichskanzler in der Behandlung der poli¬
tischen Parteien gefunden haben, sollten eigentlich als Motto auf dem Titel¬
blatte des Buches stehn, denn sie sind für das gesamte Verhalten des Reichs¬
kanzlers dem Reichstage und den Parteien gegenüber charakteristisch und
maßgebend. Vou demselben Geiste durchdrungen sind die Äußerungen, die er sechs
Jahre später, am 3. Februar 1903, im Reichstage über die Aufhebung des
Paragraphen 2 des Jesnitengesetzes tat, sowie das, was er am 2. März d. I.
im Abgeordnetenhause bei der Erörterung über deu Trierer Schulstreit sagte:
„Wir sind tolerant gegenüber den Überzeugungen andrer, aber gegenüber der
Intoleranz dürfen und werden wir nicht tolerant sein."
Wenn Graf Bülow seine Reden während dieser sechs Jahre heute durch¬
blättert, darf er sie mit einer gewissen Befriedigung aus der Hand legen. Sie
enthalten keine Widersprüche, ihr Grundton ist vom Anfang bis zum Schluß
derselbe. Das tortitsr in r«z, «rmvitsr in rnoclo ist selten von einem politischen
Redner, der als Steuermann das Staatsschiff auf sehr bewegtem Meere zu steuern
hat, so konsequent und folgerichtig angewandt worden. So konnte er noch im
Januar d. I. den Altdeutschen entgegenhalten: „Jeder Kaufmann wird Ihnen sagen
können, daß Geschäfte uicht notwendig mit schlechten Manieren geführt zu
werden brauchen, Grobheit ist noch nicht Würde, und Kratzbürstigkeit ist noch
uicht Festigkeit. Chauvinismus und Vaterlandsliebe sind nicht identische Be¬
griffe." Andrerseits fand er im März v. I. Anlaß, den Parteien gegenüber
zu betonen, daß die Regierung notwendigen Konflikten nicht aus dem
Wege gehn werde. Das Gegenteil anzunehmen sei ein grober Irrtum, Kon¬
flikten, die im Interesse des Staats, im Interesse der Gesamtheit ausgefochten
werden müßten, werde er sicherlich nicht ausweichen. „Notwendige Konflikte
müssen aufgenommen, und sie müssen durchgeführt werden, unnötige Konflikte
zu provozieren, das ist freilich töricht." Ebenso bestimmt sagte Graf Bülow
in derselben Rede: „Die Regierung dieses Landes kann Wohl zeitweise mit
dieser oder jener Partei regieren, sie kann sich aber und wird sich von keiner
Partei regieren lassen."
Von Person friedlich, wohlwollend und menschenfreundlich, deu idealen
Regungen in dein Leben des eignen Volkes wie in dem fremder Völker zugetan,
ohne Standeshochmut oder bureaukratischen Dunkel, gleich liebenswürdig im
amtlichen wie im privaten Verkehr, ohne dabei den politischen Zweck aus
dem Auge zu verlieren, mit offnem Blick und mit Verständnis für die Vor¬
gänge des heimischen öffentlichen Lebeus nicht minder wie für das diplo-
matische Widerspiel des Auslandes hat Graf Bülow mit seinen Vorgängern,
zumal mit Bismarck und Hohenlohe, wohl manche Eigenschaft gemeinsam,
und doch ist er ein wesentlich andrer als dieser. Als er ins Amt trat,
war er in der innern Politik ein uomo liovu8, ein nnbcschriebnes Blatt.
In der auswärtigen Politik waren die Geleise für den Staatswagen viel
zu fest und zu tief, als daß neue Wendungen ohne die Gefahr des Um¬
werfens möglich gewesen wären. Auch war Graf Bülow in Bukarest und in
Rom langjähriger überzeugter Verfechter der D reib und spolitik, die doch die
Angel für die Bewegungen der deutschen Staatskunst ist. Es konnte sich
dem Auslande gegenüber also wohl nur um das größere oder das geringere
Maß von Energie, Umsicht und weiten Blick, um das größere oder geringere
Maß von Geschicklichkeit in der Ausnutzung günstiger, in der Vermeidung oder
Beseitigung ungünstiger Uiustäude handeln; wir glauben im Gegensatz zu manchen
Beurteilern uicht, daß Graf Bülow es hierin hat fehlen lassen. Wenn, wie
glaubhaft berichtet worden ist, Bismarck in seinen letzten Lebensjahren, sobald
er im Vertrantenkreise um einen Nachfolger für Herrn von Marschall befragt
wurde, immer wieder auf den jetzigen Reichskanzler hingewiesen hat, so wird
jedes wirklich unbefangne Urteil heute zugeben dürfen, daß Bismarck darin
das Nichtige getroffen hatte. In den internationalen Beziehungen ist Graf
Bülow uach Möglichkeit auf den Bismarckischcn Wegen geblieben; neue Auf¬
gabe«, die die neue Zeit gestellt hat, wie z. B. in China, sind bisher mit
Ehren und Nutzen für Deutschland gelöst worden. Mit einem andern
Reichstage wäre vielleicht noch manches mehr zu erreichen gewesen. Wenn
während des südafrikanischen Krieges ein Teil der öffentlichen Meinung mit
dem Gange der deutschen Politik nicht einverstanden war, so sind das Kreise,
die nicht einsehen konnten oder wollten, wem wir durch ein Zerwürfnis mit
England einen Gefallen getan Hütten. Wo deutsche Interessen unmittelbar
ins Spiel kamen, wie z. B. bei der Wegnahme des Dampfers „Bundesrat,"
hat Graf Bülow es nicht an Festigkeit fehlen lassen. Aber den Rächer und
Bergelter zu spielen, hatte Bismarck im Winter 1870 sogar Frankreich gegen¬
über abgelehnt. „Die Rache ist Gottes," wir haben nur unsre Interessen zu
Rate zu ziehn. Noch weniger konnte Deutschland daran denken, sich zum
Rächer der Buren aufzuwerfen. Graf Bülow hat dem Deutschen Reiche einen
großen Dienst dadurch geleistet, daß er das Staatsschiff uicht auf den irre¬
führender Wogen einer falschen Popularität treiben ließ, sondern das Steuer¬
räder in fester Hand behielt.
In den inner» Fragen zeigen die Reden des Grafen Bülow, daß er die
Parteien mit Billigkeit und Gerechtigkeit behandelt, im übrigen aber ihre
Geltung uach dem bemißt, was sie für die Gesamtheit bedeuten. In der für
unsre innere Politik schwierigsten Frage, der Stellung gegenüber dem Zentrum,
hat Graf Bülow uoch in der Trierer Schuldebatte erklärt: „Wir müssen dem
konfessionellen Zwiespalt begegnen im Zeichen der Gerechtigkeit, von selten
des Staats durch eine objektive Geschäftsführung, von feiten der Konfessionen
durch gegenseitige Duldsamkeit und durch Achtung der Rechte wie der Würde
des Staates." ' Wiederholt hat er ferner darauf hingewiesen, daß kein Land
so wie Deutschland unter dem Streit der Konfessionen gelitten habe. Am
markantesten ist diese Auffassung in der Polenrede vom 13. Januar 1902
hervorgetreten, in der der Kanzler erklärte, daß er die Ostmarkenfrage nicht
nur für eine der wichtigsten Fragen unsrer Politik, sondern geradezu für die
Frage halte, von deren Entwicklung die nächste Zukunft unsers Vaterlandes
abhänge. Er sagte in dieser Rede, die eine Bedeutung weit über die Ostmarken-
frage hinaus hat:
Nach einseitigen konfessionellen Gesichtspunkten werde ich Ihnen die Politik
dieses Landes niemals zurechtschneide». Ich werde Ihnen ebensowenig eme pro¬
testantisch-konfessionelle oder katholisch-konfessionelle Politik machen, wie ich ^sum
eine liberale oder konservative Parteipolitik machen kann und null. Für mich als
Ministerpräsidenten und Reichskanzler gibt es weder ein katholisches noch em Pro¬
testantisches, weder ein liberales noch ein konservatives Preußen und Dentschland,
sondern vor meinen Angen steht nnr die eine und unteilbare Nation unteilbar in
materieller und unteilbar in idealer Beziehung. Wenn es eine Lehre gibt Me
für ».ich resultiert ans der deutscheu Geschichte der letzten vier Jahrhunderte
s» ist es die. daß jeder Versuch der einen Konfession. die andre - ich will
nicht sagen z,i vernichten, denn das ist überhaupt unmöglich und deshalb von
vornherein ausgeschlossen - aber anch nnr zu >mterdrncken nie zu einem
praktischen und dauernden Resultat geführt, wohl aber jedesmal Schaden dem
gemeinsamen Vaterlande gebracht hat. Weder ist es de,i Äatholllen un ,ech-
zeh.neu und siebzehnten Jahrhundert gelungen, die neue Lehre zu hemme., uoch
habe.l spätere konfessionelle Streitigkeiten Nutzen gestiftet. Nach Kampf und
Streit und Rinnen kann es jedesmal darauf hinaus, daß alles ungefähr beim alten
blieb und man sich ineinander fügen mußte. . . . Vom politischen Standpunkt ans
betrachtet ist die Verschiedenheit der Konfessionen in Deutschland in der Vergangen¬
heit eine Quelle großer Leiden gewesen, und sie erfordert noch heute bei jedem
leitenden deutschen Staatsmann eine vorsichtige und behutsame Hand! . . . Deutsch¬
land kann nur eine Weltmacht bleiben, wenn wir keinen Riß aufkommen lassen in
dem Gefüge unsrer nationalen Geschlossenheit. , . .
Die Durchführbarkeit dieses an sich gewiß durchaus richtigen Gedankens
wird freilich erschwert bleiben, so lange der Katholizismus in Deutschland im
Zentrum politisch organisiert ist, während andrerseits bei einer freilich nicht zu
gewärtigeuden Auflösung der Zentrumspartei der Löwenanteil unter der Herr¬
schaft des allgemeinen Stimmrechts den weiter nach links stehenden Parteien
zufallen würde, für eine nationale Politik also schwerlich einen Gewinn bedeutete.
Es bleibt somit auf lange Zeit hinaus nichts weiter übrig, als einerseits durch
staatskluge Behandlung die Mitwirkung des Zentrums an der Erreichung der
Staatszwecke zu sichern, andrerseits zu verhindern, daß der politisch organisierte
Katholizismus gegenüber der auf Kosten der liberalen Parteien ständig an¬
wachsenden Sozialdemokratie mehr und mehr die allein ausschlaggebende parla¬
mentarische Macht werde. Damit ginge die Führung, die der Regierung
bleiben muß, auf das Parlament, auf eine parlamentarische Partei über.
Wollte man die Frage aufwerfen, welche von den Reden des Grafen
Bülow wohl die bedeutendste sei, so würde die Auswahl schwer werden,
namentlich deshalb, weil die innern und die äußern Schwierigkeiten, unter
denen der Reichskanzler jeweilig zu sprechen hatte, doch nur sehr wenigen Per¬
sonen bekannt sind. Einzelne Reden richten sich ganz oder teilweise an be¬
stimmte, nicht immer leicht erkennbare Adressen, andre haben wohl eine intime
Geschichte, die nur der Reichskanzler selbst zu schreiben vermöchte. Das
Charakteristische dieser meist wohl durchdachten Reden ist, dem Wesen des
Grafen Bülow entsprechend, ein menschlich wohlwollender, gerecht und geschickt
abwägender Zug, eine maßvolle Behandlung des jeweilige» Gegners, daneben
eine sichere Argumentation, die sich gelegentlich zu starker Betonung und zu
einer hohen ernsten Sprache erhebt. Zwischendurch finden sich geistvolle Pointen
und überraschende Wendungen eingestreut, und wenngleich Graf Bülow den
Gegner nicht mit scharfen wuchtigen Hieben niederstreckt, so gelingt es ihm
doch, ihn dnrch geschickt angebrachte Florettstöße zu entwaffnen, wobei er es
vermeidet, ihn zu verwunden. Es gebricht dem Redner somit weder an Festig¬
keit in der Defensive uoch an Ofsensivkraft. Eine der dankbarsten, aber mich
vielleicht schwierigsten Aufgabe» für ihn war die Rede bei der Enthüllung des Bis-
marckdenkmals, wobei er nicht nur der weltgeschichtlichen Bedeutung seines großen
Amtsvorgängers, den Empfindungen eines großen Teils der Nation und dem
Ansehen seiner eignen Reichskanzlerstellung, sondern auch deu Spannungen Rech¬
nung zu tragen hatte, die ungeachtet mancher Äußerlichkeiten zwischen dem Fürsten
Bismarck und dein Hofe bis zu seinem Lebensende bestanden. Graf Bülow löste
diese Aufgabe, indem er sich ausschließlich an die historische Bedeutung des ersten
Reichskanzlers als einer geschichtlich abgeschlossenen Persönlichkeit hielt und ihm
das volle Verdienst seiner großen Taten nngeschmülert und dankbar zuerkannte.
Die ältesten und ergebensten Freunde Bismarcks waren durchaus befriedigt:
dem höchsten Verdienst war gerechterweise die höchste Ehre zuteil geworden.
Graf Bülow hatte sich als aufrichtiger und warmer Verehrer seines großen
Borgängers vor aller Welt bekannt, ohne dabei die Selbständigkeit seines
Urteils und seiner eignen Auffassung preiszugeben. Denn jede Zeit hat ihre
eignen Aufgaben, und neben den unerschütterliche Grundzügen, die ein Reich
nur durch die geschichtlich berechtigten Mittel erhalten lassen, durch die es
geschaffen worden ist, schreiben mancherlei neue Erscheinungen und anders ge¬
artete Umstände von Fall zu Fall die Gesetze des Handelns vor.
Die Persönlichkeit Kaiser Wilhelms des Zweiten mit ihrer auf allen
Gebieten stark und tatkräftig auftretenden Initiative hat es zur unvermeidlichen
Folge, daß sich die öffentliche Meinung eingehender mit der Art des Monarchen
beschäftigt, als wir das früher in Preußen und in Deutschland gewöhnt waren.
Man muß sehr weit in der Geschichte zurückgreifen, wenn mau einen Herrscher
finden will, der in so häufigen und vielseitigen Verkehr — wie soeben noch auf dein
Sängerfest in Frankfurt — mit seinen Untertanen getreten ist, lind dessen an¬
regendes Interesse alle Gebiete des öffentlichen Lebens so umfaßt, wie das bei
unserm setzigen Kaiser der Fall ist. Natürlich hat sich ihm auch die Aufmerksamkeit
der politischen Parteien mehr zugewandt, und die parlamentarische« Erörterungen
über Äußerungen und Handlungen des Monarchen sind im Gegensatz zu früher
ziemlich häufig geworden. Graf Bülow hat, meinen wir, den richtigen Ton
getroffen, sich auch mit diesem delikaten Thema abzufinden. Er hat einerseits
entschieden und im Sinne der Verfassung verlangt, daß mau sich wegen
Handlungen und Reden des Kaisers nicht an die Person des Monarchen,
sondern an ihn als den Verantwortlicher Reichskanzler halte, der seine Ver¬
antwortlichkeit nicht nur der Form nach für den Kaiser einsetze, so lange es
mit seiner eignen Überzeugung irgend verträglich sei. Sodann aber hat sich
der Kanzler mit vollster Offenheit anch über die Persönlichkeit seines kaiser¬
lichen Herrn ausgesprochen, dessen Vorurteilslosigkeit ihm dabei Wohl ein guter
Helfer gewesen ist. Von besondrer Bedeutung ist hierbei die Rede in der
Reichstagssitzung vom 21. Januar d. I., worin Graf Bülow nach dein Hinweise
auf die fremden Länder, in denen er lange Jahre gelebt hatte, und in denen
man mit einer ganz effaeierten Haltung der Monarchie oft wenig einverstanden
war, im Gegenteil ihre stärkere Aeeentnieruug gewünscht habe, wörtlich sagte:
„Auch diejenigen, die mit dem Gang unsrer Politik nicht einverstanden sind,
sollten nicht ungerecht sein für das tatkräftige und redliche Wollen unsers
Kaisers, nicht ungerecht für den großen Zug in seinem Wesen, nicht ungerecht
für seinen freien und vorurteilsloser Sinn. Ich sage das ohne jeden Byzan¬
tinismus: an ihm ist nichts Kleinliches. Was Sie ihm auch vorwerfen mögen,
ein Philister ist er nicht, und das ist viel wert, sehr viel wert, Herr Vebel,
im zwanzigsten Jahrhundert." Bei einem frühern Anlaß hatte Graf Bülow
u. a. gefagt: „Unser Kaiser verträgt sehr gut Widerspruch; er will gar keinen
Reichskanzler haben, der nicht nnter Umständen einen Widerspruch erhebt. Ich
wünschte, Sie vertrügen den Widerspruch so gut und wären so wenig vorein¬
genommen wie Seine Majestät der Kaiser."
Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken. Auch Graf Bülow
ist mit den größern Aufgaben, als ihm in der schönen Behaglichkeit des
Palazzo Cnffarelli gestellt waren, gewachsen, er ist als Reichskanzler zum ge¬
wandten Debatter geworden, und Nur zweifeln nicht, daß die folgenden Bände
seiner Reden das noch in Höheren Grade zeigen werden. Möge sich die Zahl
dieser Bände noch in stattlicher Jahresreihe verlängern. Bei dein wahren
Staatsmann soll jede Rede eine Handlung, nicht jedes Handeln eine Rede
sein. Graf Bülow hat eher zu wenig und zu selten als zu viel und zu oft
gesprochen, man empfand wiederholt die Notwendigkeit, er solle nicht nur den
nationalen Gedanken, sondern auch den Reichskanzler etwas mehr vor Europa
leuchten lassen. Den vorliegenden Band wird somit auch der mit Befriedigung
in die Bücherei stellen, der an kanzlcrische Reden den strengen Schillerschen
Maßstab legt:
Wilh er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils.
co N. Tolstoi gilt gegenwärtig als der am meisten gelesene Schrift¬
steller; man hat ausgerechnet, daß seine Werke über Rußland in
reichlich sechs Millionen Bänden verbreitet sind, wozu noch min¬
destens 600000 Bünde an Übersetzungen komme». Die von Eugen
Diederichs in Leipzig begonnene gut übersetzte und ansprechend
ausgestattete Gesamtausgabe wird 13 Bunde sozialethischer, 4 theologischer und
19 rvmanartiger Schriften, in allein 86 Bände umfassen, also eine ganze
Bibliothek. Fragt man, worauf der beispiellose Erfolg beruht, so hat daran
jedenfalls die zweite Abteilung den geringsten Anteil, denn den frommen Heiden
über die Evangelien und die christliche Glaubenslehre reden zu höre», kaun
schwerlich noch einen eigentümlichen Reiz gewähren, da die Menge ähnlicher
Literatur schier unübersehbar ist. Ohnehin ist die Abhandlung, namentlich wenn
sie die wissenschaftliche Form hervorkehrt, seine schwächste Seite, er bleibt immer
Autodidakt, das Dilettantische hängt ihm an, er bringt keine neuen Gesichts¬
punkte und ermüdet durch weitschweifende Wiederholungen. Überhaupt darf
wohl einmal ausgesprochen werden, daß unter allen bedeutenden Schriftstellern
Tolstoi am wenigsten die Gabe hat, sich konzentriert auszudrücken, auf die man
doch sonst gerade in unsrer Zeit einen so großen Wert legt. Hiervon machen
allein eine Ausnahme seine kleinen Volkszählungen wie der Tod des Iwan
Jlitsch oder der Morgen des Gutsherrn, die ohne Frage, künstlerisch angesehen,
seine besten Leistungen sind; von den größern zeichnet sich selbstverständlich
Anna Karenina durch kräftige Schilderung ans, wogegen die vielgepriesene
„Auferstehung" nur noch in ihren ersten Partien lesbar, durch den Zusatz von
Selbsterlebtem pikant, sittengeschichtlich merkwürdig, aber als Ganzes verunglückt
und durchaus unkünstlerisch ist, ein Alterswerk abnehmender Kräfte, wie man
ja zur ErMruug sagen kann. Aber mich die besten Romane Tolstois üben
ihren Hnuptreiz nicht als Kunstwerke aus — Turgenjew und in seiner Art
Maxim Gorjki sind viel größere Künstler als er —. sondern durch die Ver¬
bindung der dichtenden Erzählung mit eiuer kurz gesagt moralisierenden Tendenz,
die sich zum Beispiel bei den französischen Realisten des Romans höchstens als
leise künstlerische Würze im .Hintergrund hält: dein Prophctenzorn Tolstois
liefert die Nommierzählung die Beispiele für seine Predigt, man kann auch sagen
die ganze Einkleidung, sie nimmt ihr das Ermüdende einer Predigt und wirkt
deshalb ganz anders, zumal mit ihrem höchst aparten Milien der russischen Zu¬
stände, einer an sich schon ganz eigentümlichen Gattung des Wunderbaren, die
für uns Westeuropäer kaum noch der dichtenden Zntnten bedarf, damit sie anzieht
und fesselt. Daß der Genuß der pikant garnierten Früchte in ihrem Ursprungs¬
lande verboten war, mag nebenbei ihre Verbreitung gefördert haben, aber gewiß
ist, daß der heilige, tiefe Ernst des Erzählers, also die Macht der Wahrheit,
die stärkste Triebfeder seiner weiten Popularität gewesen ist. Der Leser hat
neben der spannenden Unterhaltung dnrch seltsam ergreifende Lebensbilder immer
das Gefühl, daß er im Gefolge einer guten und wichtigen Sache geht, die er
durch seiue Teilnahme gleichsam fördert; er tut selbst beinahe schon ein gutes
Werk mit, indem er seine Phantasie auf eine so wenig mühsame Weise be¬
schäftigt. Auf dieser Kombiniernng der Reize, der gemischten Nahrung für den
literarischen Appetit, beruht die Zugkraft der Tolstoischen Romane, und das Neue
von Tolstoi zum Beispiel gegenüber Turgenjew besteht nur in der Verstärkung
der moralisierenden Tendenz. Wer aber einmal bloß diesem Element abgesondert
von der Erzählung sein kühles, kritisches Nachdenken widmen wollte, der könnte
sich zweierlei Eindrücken nicht verschließen: daß es nur eine kleine Reihe von
Gedanken ist, die sich immer wiederholen, und daß von diesen Gedanken kaum
irgend etwas über einen ganz kleinen Kreis hinaus durchführbar sein wird.
Wie praktisch und vielseitig steht dein gegenüber doch Carlyle da! Aber die
meisten denken überhaupt nicht so weit, weil sie nnr unterhalten sein Wollen.
Im Anfang der achtziger Jahre machte Tolstoi einen Wandel seiner An¬
schauungen und seines äußern Lebens durch: er gab seine Titel und sein Eigentum
auf und wurde zum Bauern. Dieser Periode entstammen seine svzialethischen
Schriften, deren lehrhafte Fassung des dichterischen Reizes seiner Romane ent¬
behrt und jeden, der sie lesen will, vor die Frage nach dem praktischen Wert
ihres Gehalts stellt.
Die erste Schrift dieser Reihe: „Meine Beichte," zuerst 1882 veröffentlicht,
erzählt in der Form eines Selbstbekenntnisses, wie er sein Verhältnis zum
orthodoxen Glanben aufgegeben hat; sie umfaßt nur 140 Seiten, ist aber doch
mehr als ausführlich, und das Merkwürdigste daran scheint die Kunst zu sein,
der es gelang, diese Seitenzahl mit Mitteilungen zu erreichen, die doch an sich
sehr wenig merkwürdig sind. Diesen Weg ist schon mancher vor Tolstoi ge¬
gangen, es gibt Selbstbekenntnisse, die viel inhaltreicher und interessanter sind
als diese im Predigttvn vorgetragnen Beiträge zur Geschichte der innern Per¬
sönlichkeit, die doch nur eine Seite der Sellrftbiographie behandeln. Mehr In¬
halt hat die zweite Schrift von 350 Seiten: „Mein Glaube" mit einer Vor-
rede, von 1884, Der Leitsatz ist: Wir sollen widerstreben dein Übel, Unter
dein Übel versteht Tolstoi die Kultur seiner Zeit, die ihre» Ausdruck in dein
Stadtleben der reichen Leute gefunden hat. Ihr Gegenteil sind das Dasein des
Bauern auf dem Lande, das Mitleben mit der Natur, die der Städter nicht
mehr kennt, das Glück nutzbringender Arbeit. Den Gegensatz empfindet man
ja auch bei uns, wenn auch nicht in der Schärfe wie in Nußland, und etwas
wesentlich neues springt bei dieser in vielen Beispielen durchgeführten Kon¬
trastierung nicht heraus, wenigstens nichts, was praktisch anzuwenden wäre,
wenn nicht jemand selbst, wie Tolstoi, zum Landbewohner, zum Bauern werden
kann oder will. Die praktischen Folgerungen aus dieser Schrift gibt sodann in
zwei starken Bänden das Werk: „Was sollen wir denn tun?," bis 1886 nieder¬
geschrieben. Die Anregung erhielt Tolstoi durch eine Volkszählung von 1882,
deren Geschäfte ihn in ein großes Miethans Moskaus führten und mit der
Lage seiner meist ärmlichen Bewohner in unmittelbare Berührung brachten.
Sein Eintreten in diese Zustände ist mit der herzlichen Teilnahme für jede
Einzelheit geschildert, die schriftstellerisch genommen seine schönste Eigenschaft
ausmacht, das Ergebnis heikler Untersuchung ist ganz anders, als er es er¬
wartet hat. Er hat uach Unglücklichen gesucht, nach Armen, denen er hätte
helfen können, indem er ihnen von dein eignen Überfluß abgab, aber solche,
denen er dnrch Geld nützen könnte, findet er nicht; sie fühlen sich fast alle wohl
in ihrem unseligen Leben, er müßte ihnen viel Zeit und Mühe widmen, um ihr
Leben zu ändern, er müßte zuvörderst sein eignes Leben andern. Das Leben,
das ich bisher geführt habe, mein Luxus, ist ein Verbrechen. Er nimmt zum
Beispiel einen verwahrlosten Jungen ins Haus, um sich ihn zum Diener zu
erziehn, der läuft ihm aber nach einer Woche davon, denn er hat gedacht, in
einen: Hause, wo die Kinder seines Alters nichts tun als lateinische oder
griechische Deklinationen lernen, was er doch nicht als eine schwere Arbeit an¬
sehen kann, müsse er auch nur essen und trinken und faulenzen dürfen. Einen
jungen Hund kaun man Wohl zu sich nehmen, füttern und pflegen und ihn
lehren etwas im Maule tragen und sich daun über ihn freuen; bei einem
Menschen genügt das nicht, ihn müssen wir lehren, wie er leben soll, das heißt
daß er weniger von andern nehmen und ihnen um so mehr geben soll. Er
hätte nun. berichtet er weiter, etwas wie eine wohltätige Veranstaltung gründen
können mit eignem und von andern gesammelten Gelde, aber er läßt den Plan
verzweifelnd fallen und zieht aufs Land, um seine Eindrücke zu einem Aufsatze
zu verarbeiten, der freilich nicht fertig geworden ist, denn nun erst ivird ihm
klar, warum er den Leuten in der Stadt nicht helfen kann, und was eigent¬
lich die Ursache der Stadtarmut ist. In der großen Stadt sammeln sich die
Reichen, weil sie nur da ihren Luxus entfalten und sich voreinander mit ihrem
Reichtum, den sie dem Lande entzogen haben, aufspielen können. Ihnen folgen
die nusgesoguen Bauern und versuchen mit allen Mitteln, von ihnen das wieder
zu gewinnen, was sie selber nötig haben; sie dienen ihnen und arbeiten mit
an der Befriedigung ihrer Lüste, lernen allmählich zu leben wie diese, verderben
und gehn zu Grunde. Diese durch deu Reichtum der Städte verdorbne Be¬
völkerung sind die Armen, denen ich helfen wollte und nicht helfen konnte.
Wenn ich den Dorfbewohnern die notwendigsten Güter abnehme und in die
Stadt bringe, um sie da genießen zu lassen, und wenn ich dann die, die mir
aus Not gefolgt sind, durch meinen unsinnigen Luxus verführe und verderbe —
wer bin ich dann, der ich diesen Menschen helfen will? Ich arbeite ja nicht.
Ich sehe, daß die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit immer mehr aus den
Hände» des arbeitenden Volks in die der nichtarbeitenden übergehn, daß den
Menschen an Stelle des Ideals eines arbeitsvollen Lebens das Ideal des
Geldbeutels erstanden ist. So kam es, daß ich fühlte, im Gelde selbst lüge
etwas häßliches und unsittliches, ich fragte mich daher: Was ist Geld? Manche
gebildeten Menschen behaupten, es stelle Arbeit dar und sogar die Arbeit derer,
die es haben; er selbst hat zu seinem Bedauern früher diese Meinung geteilt,
nun aber wendet er sich um Auskunft an die Wissenschaft, und der Leser, der
bisher sein Gefühl zur Teilnahme hat anregen lassen, bekommt zum erstenmal
eine Probe davon, wie der Sozialethiker Tolstoi seinen Verstand gebraucht.
Wenn sich die Pseudowissenschaft der Nationalökonomen, die das Geld als
Ware oder Tauschmittel betrachten, nicht wie alle juristische Wissenschaft das
Ziel gesetzt Hütte, eine Apologie der Gewalt zu liefern, so könnte sie sich
nicht der Erscheinung verschließen, daß die Verteilung des Reichtums, die Aus¬
schließung eines Teils der Menschheit von Laud- und Kapitalbesitz und die
Knechtung der eiuen durch die audern nnr Folgen des Geldes sind. Die
Sklaverei unsrer Zeit wird durch die Gewalt des Militarismus, die Aneignung
des Grund und Bodens und die Erhebung von Geldsteuern erzeugt. Wer von
der Mitschuld an diesem Zustand befreit werden will, muß aufhören, sich
fremde Arbeit zunutze zu machen, sowohl durch Grundbesitz, als auch dadurch,
daß er der Negierung dient, wie auch durch Geld. Dieser einfache Schluß ver¬
nichtet mit einem Schlage alle drei Ursachen, die uns hindern, den Armen zu
helfen: die Ansammlung der Menschen in den Städten, die Trennung der
Reichen und der Armen und den unsittlichen Zustand des Geldbesitzes. Der
Mensch braucht nur darauf zu verzichten, Nutzen aus fremder Arbeit ziehn zu
wollen, der Negierung zu dienen, Grund und Boden und Geld zu haben, er
braucht nnr nach Möglichkeit seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, so wird es
ihm nie in den Sinn kommen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt zu
zieh», so wird er mit dem arbeitenden Volke verschmelzen, so wird das über¬
flüssige, unnütze Geld aus unsern Taschen verschwinden. Dieses „er braucht
nur," an dem alle Folgerungen hängen, hat sich bekanntlich der Menschenfreund
Tolstoi aus freiem Willen auferlegt, da aber keine Macht die übrigen zwingen
kann, ebenso zu tun, so bleibt sein Weltverbcsseruugsplan eine Utopie, für die
die großen Kräfte des sozialen Lebens nicht existieren, der Trieb des Einzelnen
zum Aufsteigen, der Verkehr, die Industrie, der Handel, kurz die ganze Welt¬
geschichte. Und doch könnte ihn schon der kleinste Vorfall im Alltäglichen lehren,
wie alles miteinander zusammenhängt. „Mein Sohn schläft bis elf Uhr Morgens,
er entschuldigt sich, es sei Feiertag, und der Bauernbursche im gleichen Alter
ist schon früh aufgestanden und heizt nun schon den zehnten Ofen, während
er schläft. Wenn der Mensch doch wenigstens nicht den Ofen heizen wollte,
um diesen faule»! Leib zu erwärmen, dachte ich bei mir, aber ich erinnerte mich
sogleich, daß derselbe Ofen ja auch das Zimmer unsrer alten Haushälterin er¬
wärmt, die nicht Zeit dazu hat, ihn selbst zu heizen; um ihretwillen muß ge¬
heizt werden, und uuter ihrer Firma wärmt sich auch der Faulpelz." „Es ist
wahr, fährt er fort, daß die Interessen aller miteinander verflochten sind, aber
das Gewissen sagt uns ohne lange Berechnungen, auf wessen Teil die Arbeit
und auf wessen Teil der Müßiggang kommt, und noch klarer sagt es unser
Geld und unser Wirtschaftsbuch: je mehr Geld einer verbraucht, umso mehr
läßt er andre für sich arbeiten, je weniger, umso mehr arbeitet er selbst." Nun wendet
sich Tolstoi zu einer weit ausholenden, von der Kritik der Soziologie Comtes aus¬
gehenden Zergliederung des öffentlichen Lebens mit seiner Arbeitsteilung und
Standesscheidung, der Staatsordnung, den Wirtschaftseinrichtungeu, den Wissen¬
schaften und Künsten. Wir sehen und versteh» die Übel, die er aufdeckt, denn
wir kennen sie ja alle anch ohne seine Führung, aber am Ende jeder Be-
trachtnngsreihe fragen wir uns: Wozu das alles? Wir finden in der ganzen
Menge von Anklagen auch nicht eine einzige Stelle, an der dieser festgefügte
Bau von Übeln dnrch einen kritischen Keil zerteilt und ius Wanken ge¬
bracht werde» konnte. Praktisch genommen ist all dieses Gerede wertlos. Daß
jeder nach seinen Kräften arbeite, fordert von dem einen die Sittlichkeit und
von dem andern die Not der Verhältnisse; wo beide Triebfedern versagen, läßt
sich in der Regel kein äußerer Zwang ausüben. Daß das Eigentum die Wurzel
alles Übels sei, meinen ja auch die Sozialdemokraten; daß sie ausgerissen
werden könne, halten wenigstens alle andern für Unsinn. Daß körperliche Arbeit
ebenso ehrenhaft ist wie jede höhere Beschäftigung, hat Carlyle viel schöner
gesagt. Daß aber alles, was in den Bauten, Ministerien, Universitäten, Aka¬
demien und Ateliers getan wird, bloß Scheinarbeit sei, vorgenommen, um uuter
dem Deckmantel des Prinzips der Arbeitsteilung die Arbeit andrer auszubeuten
und das eigne Leben zu genießen, das ist nicht nnr vor den Ansprüchen der
höhern Kultur, sondern schon nach den einfachen Bedingungen des wirtschaft¬
lichen Lebens eine so große Torheit, daß nnr um des Zusammenhangs willen,
worin sie Tolstoi vorbringt, noch mit einem Worte dabei zu verweilen fein
wird. Die Frau der modernen Bewegung, sagt er, die sich in das Gebiet der
Münnerarbeit eindrängt, wird niemals verlangen, mit ihrem Gatten ins Berg¬
werk einzufahren, aber ans den Ansprüchen auf die scheiubnre Arbeit der
Männer zieht die sogenannte Frauenfrage in den bessern Ständen ihre haupt¬
sächliche Nahrung. Was er über die Frauenemanzipation sagt, ist durchweg
vernünftig und ohne Übertreibung das einzige Praktischgreifbare in diesen zwei
Bänden, aber den Namen eines Weisen von Jasnaja Pvljana verdient er
darum doch uicht, und mit einem wirklichen Sozinlpolitiker, wie Carlyle einer
war, kann er nicht von ferne verglichen werden.
Wenn uns dieses umfangreiche Werk wenigstens durch Stoffmenge und
konkrete Einzelschilderung unterhält und zum Nachdenken anregt, so enthält die
Schrift über „Die sexuelle Frage" (1890 niedergeschrieben) aus ihren 134 Seiten
auch nicht einen einzigen besonder» Gedanken, lauter selbstverständliche Dinge,
um die lange Tirade» gesponnen werden, keine eigentümliche Probe, die sich
dein Leser mitteilen ließe. Bei dem Titel: „Das einzige Mittel" (1901^
horchen wir hoch auf. Die Quintessenz steht auf Seite 11: Alle Not der
Arbeiter schaffen sich die Arbeiter selbst; sie brauchen nnr aufzuhören, den Be¬
sitzenden und der Regierung Beistand zu leisten, sich unter die Soldaten stecken
zu lassen usw,, und all ihre Not hat von selbst ein Ende. Also wieder das¬
selbe „sie brauchen nur," wie früher in „Was sollen wir nun tun?" Nur
daß das „brauchen," das dort in dem äußersten Bereich des Unwahrschein¬
lichen lag, hier für den realen Verstand zur Unmöglichkeit wird, sodaß es
zwecklos wäre, den übrigen 38 Seiten der kleinen Schrift nachzugehn.
Der sozialethischeu Schriftenreihe gehört noch ein größeres Buch an mit
dem Titel: „Was ist Kunst?" 1902, mit einer Vorrede von 1899, also eine
Ästhetik, wie die Tvlstoigelehrten sagen, die dieses Werk ihres Meisters als
eine sehr bedeutende Leistung anzusehen scheinen, während sich für den nicht
voreingenommenen Beurteiler, der Tolstoi ans andern Schriften hat kennen
lernen, die Sache wesentlich anders stellt. Dieser wird finden, daß sie so aus¬
gefallen ist, wie zu erwarten war, und wie er selbst sie sich beinahe g. xriori
hätte konstruieren können: nämlich in ihrer wissenschaftlichen Grundlegung voll¬
kommen dilettantisch, in ihren Lehrsätzen der Tolstoischen Weltanschauung an¬
gepaßt, deren Hauptsätze durch das ganze Buch wiederkehren: das Übel der
modernen Kultur, der Unterschied von Reich und Arm, von nutzbringender
Arbeit und genießenden Müßiggang, der Gegensatz von Stadt und Dorf usw.,
im übrigen dnrch Einzelbeobachtungen unterhaltend und durch paradoxe, witzige
und oft sehr treffende Bemerkungen zum Weiterdcnten einladend. Die ersten
hundert Seiten hätte er sich ruhig sparen können, wenn er, um zu beweisen,
daß die alten Griechen keine Ästhetik in nnserm Sinne gehabt haben (wozu
es keiner langen Worte bedurft hätte), und daß der Zweck der künstlerischen
Darstellung nicht die Schönheit sei, nichts besseres zu geben wußte, als lang¬
weilige Auszüge aus dein untergeordneten Buche von Max Schafter, das nicht
verdiente aus seiner Vergessenheit hervorgezogen zu werden. — Daß das
Schöne als Kunstprinzip für Tolstoi unannehmbar ist, versteht sich von selbst.
Ihm ist Kunst kein Genuß oder Zeitvertreib, sondern eine große Sache, sie
soll die Wahrheit zum Wohle der Menschen aus dem wissenschaftlichen Gebiet
des Verstandes in das Gefühl übersetzen. Der Künstler soll das Gefühl, das
er in sich hervorgerufen hat, durch Worte und Töne, durch Linien, Farben und
Bilder andern so mitteilen, daß sie es nacherleben. Es kann keine Kunst für
alle geben, weil die Gefühle der höhern und der niedern Klassen zu verschieden
sind; z.B. die Gefühle der Ehre, des Patriotismus, der Verliebtheit, die den
Hauptinhalt der jetzigen Kunst ausmachen, erzeugen in dein (russischen?)
Arbeiter nur Verachtung und Entrüstung. Wem, aber die Kunst, die wir
haben, uicht die Kunst des ganzen Volkes werden kann, so ist sie entweder
nicht die wichtige Sache, für die wir sie ausgeben, sondern nur ein Genuß für
auserwühlte Geister und Übermenschen, was wohl anch die Ansicht der meisten,
die sich jetzt mit Kunst beschäftigen, sein wird, oder sie muß anders werden,
d. h. wertvollere Inhalte bekommen. Während die Gefühle der Landbewohner,
die in der Natur unmittelbar leben und ihr Tagewerk tun, sehr mannigfaltig
sind, ist die „Stadtkunst" der Reichen arm an Inhalt, da sie im Grunde ge-
nominell nur drei einfache und geringe Gefühle kennt: Stolz, Lüsternheit und
Lebensttberdrnß; die Kunst unsrer höhern Klassen in ganz Europa lebt zum
größten Teil von der Erotomanie. Diese erste Gedankenreihe wird man nicht
nur von Tolstois Standpunkt aus, sondern auch nach Abrechnung einiger Über¬
treibungen überhaupt für ganz vernünftig halten. Wir möchten dem Leser aber
noch eine Vorstellung geben von dem Kompliziertern und Feinern, was auf
großer Bilderkcnntnis und Belesenheit und auf einer lebhaften und starken
Empfänglichkeit beruht, weswegen wir auch die Wirkung der Eindrücke nicht
durch kritische Zwischenbemerkungen abschwächen wollen.
Die Malerei der Impressionisten und Symbolisten, sagt Tolstoi, die Kunst
eines Böcklin, Stuck und Klinger, die Dramen Ibsens und die Romane und
Verse der neusten Franzosen, in der Musik der spätere Wagner, Liszt und
Richard Strauß, alle diese junge Kunst unsrer Zeit nennen wir dekadent, und
die Menschen der ersten Hälfte der neunzehnten Jahrhunderts, die.Kenner und
Liebhaber Goethes und Schillers, Beethovens, Lionardos, Raffaels und Michel¬
angelos, mißachten zum Teil jene ihrer Meinung nach tiefstehende Kunst. Aber
mit Unrecht, denu wenn wir so über sie urteilen wollen, weil wir sie nicht
verstehn, so gibt es doch eine ungeheure Menge von Menschen, das ganze
arbeitende Volk, die die Kunst Goethes, Schillers usw., die wir für gut halten,
ebensowenig verstehn, wie wir jene andre. Der einzige Vorzug dieser Kunst
vor der Dekadence besteht darin, daß sie einer größern Zahl von Menschen
zugänglich ist. Hat sich einmal eine Kunst der höhern Klassen von der Volks¬
kunst abgesondert, so muß man auch zulassen, daß der Prozeß weiter geht, und
die Kunst schließlich nur noch für einen kleinen Teil Anscrwählter, meinetwegen
für mich und meinen besten Freund, verständlich ist, sodaß die Künstler geradezu
sagen: „Ich schaffe und verstehe mich, wenn mich aber jemand nicht versteht,
desto schlimmer für ihn." Die Behauptung, daß die Kunst eine gute Kunst,
dabei aber einem großen Teile der Menschen unverständlich sein könne, ist un¬
gerecht, sie hat die berufsmäßige Kunstkritik hervorgerufen, d. h. die Schätzung
der Kunst nicht von allen und hauptsächlich nicht von einfachen Menschen,
sondern von gelehrten d. h. verdorbnen und zugleich dünkelhaften Leuten. Sie
wollen „erklären," aber was? Der Künstler teilt sein Erzeugnis, gleichviel ob
es sittlich oder unsittlich ist, durch sein Gefühl andern Menschen mit, und wenn
diese es empfinden, so ist die Deutung überflüssig, wenn nicht, unnütz; der
Kritiker spricht und schreibt also nur, weil er unfähig ist, nachzuempfinden, und
sein Gewerbe konnte erst anfblühn in einer Zeit, wo die Kunst entzweit ist,
und ein Teil von ihr, die der höhern Klassen, das religiöse Bewußtsein der
Mehrheit nicht mehr anerkennt. Unter dem „religiösen Bewußtsein" einer Zeit,
mit dem Tolstoi ein neues Element in seine Betrachtung einführt, versteht er
im allgemeinsten Sinne die Einsicht, daß unser ganzes Wohl in dem brüderlich
vereinten Leben aller Menschen enthalten sei. Nach diesem Maßstab sei auch
die Kunst abzuschätzen, und nur die in diesem Sinne religiös wirkende Kunst,
die er auch die wahrhaft christliche, katholische, d. h. allgemeine nennt, sei eine
gute Kunst, an deren Stelle namentlich die Menschen der sogenannten Renaissance
eine Kunst des Genusses gesetzt hätten; nach Ausscheidung des Religiösen, an
das sie nicht mehr glaubten, seien die guten Impulse der Kunst abhanden ge¬
kommen. Da dem Tolstoischen Kritiker selbstverständlich dieses religiöse Be¬
wußtsein fehlt, so ersetzt er das einzige sichere Kriterium einer guten Kunst
durch einen Maßstab der Willkür, den Geschmack der bestgebildetcn Menschen,
wodurch er bestimmte Dichter und Künstler, die einmal sür bedeutend an¬
gesehen wurden, die alten Griechen, Dante, Naffael, Beethoven usw. für groß
erklärt, und zwar in allen ihren Werken, auch den verfehltesten wie der Trans-
figuration oder der Neunten Symphonie; so stellt er den Künstlern seiner Zeit
Muster hin und veranlaßt Nachahmungen, Falsifikate aus künstlichen Effekten,
ohne eignes Gefühl, für das ihm ja selbst die Empfindung abgeht.
Wir überlassen es dem Leser, sich aus der Fülle der Beispiele aller Zeit¬
alter deu Tolftoischen Kanon für gute und schlechte Kunst zusanunenzustellen,
es ist gewiß von großem Interesse; er wird aber auch die Erfahrung machen,
daß das Kriterium des „religiösen Bewußtseins," so aufrichtig es gemeint ist,
und so vertrauensvoll und sicher es gehandhabt wird, ihn nicht vor den seltsamsten
Jrrgüngen hat bewahren können. Aber auch die Wunderlichkeiten sind bei
Tolstoi manchmal höchst geistreich und immer auf ihre Art vou Interesse oder
amüsant. Sehr uuterhnltend ist zum Beispiel eine weit ausgeführte Analyse der
Wagnerschen Nibelungen, deren Darstellung im Theater geistreich und witzig
mit der wirklichen Natur der dargestelltem Dinge verglichen wird. Was soll
ein erwachsener Arbeitsmeusch denken, wenn er sieht, daß Kahlköpfe mit grauen
Bärten, die Blüte der Gebildeten der höher« Klassen, sechs Stunden lang auf¬
merksam alle diese Dummheiten anhören, die ein siebenjähriges Kind kaum
noch für Ernst halten könnte. Ein Arbeiter von unverdorbnen Geschmack, also
nach Tolstoi ein ländlicher, kein städtischer, könne am besten echte Kunst von
falsifizierter unterscheiden, denn für ihn gebe es nur gesunde Gefühle, solche
der physischen und der sittlichen Kraft und Stärke oder des mitfühlenden Leides
und der Entsagung; die durch ihre Erziehung verbildete höhere Gesellschaft
könne sich allein nicht aus der Herrschaft der unechten Kunst befreien.
Wir halten hier inne, obwohl noch mindestens ein Drittel des Buches
unbesprochen übrig bleibt: die Gedanken wiederholen sich in immer neuen
Wendungen. Das Ergebnis ist sür Tolstoi, wie sich das von seiner ja durch¬
aus optimistisch-idealen Weltauffassung erwarten läßt, keineswegs negativ,
sondern voller Hoffnung sieht er in die Zukunft seiner wahren, echten und reichen
Kunst, deren Siegeslauf ihm so sicher ist wie der schließliche Untergang der
verderbten, für das Volk unverständlichen Klasscukunst unsrer Zeit. Wir lassen
das Zukunftsbild, zu dem wir nicht ebensoviel Vertrauen haben, auf sich beruhn,
meinen aber, daß die Kunst der Vergangenheit des Guten genug habe, was
sich auch zu einer Kunst des Volkes im Sinne Tolstois eignen würde, und
daß in seiner Betonung des Inhalts eines Kunstwerks und in seiner Wert¬
skala nach dem Werte der Gefühle, die das Kunstwerk mitteilt, neben vielen
Einseitigkeiten auch sehr viel richtiges liegt. Er faßt das Wesen und nament¬
lich auch den Zweck der Kunst tiefer, als z. B. viele unsrer sogenannten Kunst¬
erzieher, die das Volk immer nur „sehen" lehren wollen, d. h. auf das
Künstlerische achten. Dafür geht aber in seiner ganz auf seinen Begriff von
Volkskunst aufgebauten Theorie das Künstlerische so gut wie verloren. Es
gibt zwar eine dem einfachsten Manne ans dein Volke zugängliche Kunst, an
der auch der Höchstgebildete sein volles Genüge sinden kaun, daneben aber
wird es immer Werke der Literatur und der bildenden Kunst geben, deren
Verständnis ein gewisses Maß von höherer Bildung voraussetzt, und die darum
nicht weniger wahre und echte Kunst sind, und ohne solche „Klassenknust" würde
es überhaupt in der Geschichte nicht zu den Fortschritten in dem eigentlich Künst¬
lerischen gekommen sein. So wird es auch immer hier und da in der Kunst,
auch in der guten Kunst, noch etwas zu erklären geben, und der von Tolstoi
ausgewiesne Kritiker nicht ganz zu entbehren sein. Alle diese Einwendungen sind
selbstverständlich und beinahe trivial, um so deutlicher zeige« sie, wie groß der Unter¬
schied zwischen unserm Buche und einer wirklichen Ästhetik oder Kunstlehre ist.
Ein Band von 480 Seiten von Eugen Heinrich Schmitt aus demselben
Verlage ist betitelt: „Leo Tolstoi und seine Bedeutung für unsre Kultur"
(1901). Wir verstehn eigentlich nicht, daß es so dicke Bücher über Tolstoi
geben muß, an dem doch nicht gerade soviel zu erklären ist für solche, die über¬
haupt fähig sind, eine deutsche Übersetzung zu lesen: er ist nicht schwer und tief
von Gedanken und arbeitet anch nicht annähernd mit einer solchen Menge von
entlegnen Kenntnissen, wie z. B. Carlyle, bei dem sich allerdings die Aufgabe
eines Bearbeiters lohnt, und an den zu erinnern immer wieder nützlich ist,
wenn man uns Tolstoi nicht etwa als Dichter, sondern als wissenschaftlichen
Schriftsteller empfehlen möchte. Vielleicht ersetzen diese Bucher manchem die
Lektüre der Tolstoischen Schriften selbst, aber mit diesem Nutzen würde Schmitt
wohl nicht zufrieden sein. „Ich habe Ihr Buch nur oberflächlich durchgesehen,
schreibt Tolstoi, mir scheint aber, daß es unmöglich ist, besser, genauer und
klarer meine Weltanschauung auszulegen." Uns scheint vielmehr, daß sich zu einer
so wichtigen Sache der Briefschreiber wohl etwas mehr Zeit hätte nehmen
können. Weil das ihm aber nicht der Mühe wert war, so haben auch wir
Schmidts Buch nicht ganz, sondern nur abschnittweise gelesen und anch uicht
gefunden, daß uns irgend etwas von dem, was z. B. in Tolstois „Was ist
Kunst?" vorkommt, dadurch deutlicher oder infolge kritischer Beleuchtung
ertragreicher geworden wäre. Wir dachten, irgend eine Berührung mit den
von uns angedeuteten Einwänden gegen Tolstoi bei Schmitt zu sinden,
aber er erklärt rundweg, es komme hier bloß auf die von Tolstoi behauptete
Niedrigkeit des „ganzen kulturellen Niveaus" der Kunst seit der Zeit der
Renaissance an; alles andre zu berühren sei unstatthaft und verrate einen
Dilettantismus, der „den Kern der Frage gar nicht kennt." Da es sich nur
um diese „Grundfrage des ganzen kulturellen Niveaus handelt, eine durch das
Mark und Bein des kulturellen Lebens gehende heiligeruste Frage (das ncrven-
zerschneidende Wort kulturell begegnet uns auf mancher Seite dreimal), so
kann auch mit solchen Klügeleien und Gründen und Bedenken, die man gewöhn¬
lich gegen Tolstoi auch in dieser Frage vorzubringen pflegt, gar nichts ge¬
richtet werden. Die Frage kann nur ganz in dem großen Stile verhandelt,
seine Anschauungen nur so bestritten werden, in welchem großen Stile er die
Frage aufgeworfen hat. Jede andre Polemik berührt seine Aufstellungen nicht
einmal." Soweit wir die hilflose Grammatik dieser Sätze verstehe haben wir
uns also nach dem Verfasser der Kritik überhaupt zu enthalten und könnten
nun höchstens noch eine Vorstellung von dem „großen Stil" zu gewinnen ver¬
suchen, worin er selbst über seinen Autor handelt. Aber bei seiner wortreichen
Ausdrucksweise würde das sehr viel Platz fordern, und mit kurzen Auszügen
könnten wir ihm Unrecht zu tun scheinen. Vielleicht sieht sich einer unsrer
Leser die Diatribe über die Griechen an, denen Tolstoi nicht gerecht geworden
sei (Seite 418), wogegen Schmitt „anch hier als leuchtendstes Ziel der Kultur
jenen Punkt schaut, wo die Geistigkeit uicht mehr zu zittern braucht vor dem
Fleische und in scheuer Furcht es bloß zu verneinen und zu verabscheuen, wo
der Geist seine ganze Erhabenheit darin zeigen wird, daß er die ganze Schön¬
heit, ja die paradiesische Unschuld und Reinheit des Sinnengenusses erfassend,
dennoch Herr sein wird über das Sinnliche usw." Oder den Abschnitt über
die „angeblich christliche, in Wahrheit jedoch satnnistische Epoche der mensch¬
lichen Kultur" (Dante, Milton. Klopstock usw.) Seite 415. wo ihm auch eme
Antithese Nietzsches große Freude bereitet hat: anstatt der Überschrift über Dantes
Höllentor „Auch mich schuf die ewige Liebe" müßten über dem Eingang zum
christlichen Himmel die Worte stehn: „Auch mich schuf der ewige Haß." Auch
sonst bringt er Tolstoi und Nietzsche in Berührung, „die beiden großen Anti¬
poden unsers Zeitalters."
Gegen den ganzen Tolstoi und nebenbei auch gegen Schnüre wendet sich
ein andrer Tolstoigelehrter, H. von Samson-Himmelstjerna, in zehn kategorisch
gefaßten Kapiteln eines Buches von 160 Seiten, das er „Antitolstoi" benannt
hat (Berlin, Hermann Walther. 1902). Toisen ist ihm in allen Richtungen,
als Moralphilosoph. Theologe. Politiker usw. der Dilettant, Schmitt sem
halbgebildeter Geschäftsführer, der diesen Dilettantismus des Chefs serner
Firma in eine gefährliche Talmiwissenschaft umarbeitet. Ohne uns werter in
den häuslichen Streit der beiden Tolstoiforscher einzumischen, möchten nur nur
nach unserm persönlichen Eindruck sagen, daß Schmitt wenigstens eme Menge
Material allerdings ohne Ordnung und Klarheit vorbringt und gewiß von vielen
sehr gern gelesen werden wird, während der „Antitolstoi" neben dem unver¬
kennbaren Gewicht seiner Negationen doch in seiner durchgeführten Polemik
etwas recht ermüdendes hat. Samson-Himmelstjernn ist als Sinologe (er
zitiert öfter sein Buch über die „Gelbe Gefahr") zu der Überzeugung gekommen,
daß die Weltanschauung der Chinesen, die schou seit mindestens achttausend
Jahren deu Glauben an ein jenseitiges Leben aufgegeben Hütten und steh ganz
mit dem Diesseits begnügten und dabei vollkommen glücklich wären, einen Fort¬
schritt bezeichne, den wir Abendländer baldigst nachzuholen hätten, und er selbst
hat sich schon zu einem vollkommenen „Diessciter" umgebildet. Da nun Tolstois
"Wische und theosophische Richtung diesen der religiösen Indifferenz zusteuernden
Entwicklungsprozeß des Abendlandes aufhalte und den theologischen Lehr¬
meinungen und Streitfragen eine Wichtigkeit beilege, die ste gar nicht mehr
Hütten, so müsse hierin das Hauptübel seiner Schriftstellerei erkannt werden und
die Polemik das Hauptziel ihrer Angriffe sehen. Diesen Kampf wollen wir
aber als überzeugte' ..Jenseiter" den Verfasser allein ausfechten lassen.
Wir bilden uns nicht ein, in diesem Aufsatz irgend etwas gesagt zu haben,
was für die „Tolstoigemeinde" von Wichtigkeit wäre, wir haben ihn auch nicht
für sie geschrieben, sondern für die vielen, denen bei dein Anwachsen der Tolstoi¬
bibliothek und den Anpreisungen ihrer Verarbeiter in allen Formen der litera¬
rischen Mitteilung himmelangst werden könnte in dem Gedanken: Muß ich denn
das alles lesen, um nicht in meiner Bildung zurückzubleiben? Es ist ja leider
so, wir Deutschen haben als politisches Volk die Kinderschuhe noch lange nicht
ausgetreten, und in der Literatur, wo wir doch seit hundert Jahren als das Volk
der Dichter und der Denker gelten wollen, da lauft der gute deutsche Hans
häudcklatschend hinter jedem fremdländischen Gefieder her, ob es sich Tolstoi
oder Gabriele d'Annunzio oder Maeterlinck oder gar Sienkiewiez oder wie immer
nennen mag, und wenn anch diese Fremden von uns Deutschen noch so wenig
wissen wollen. Auch Leo Tolstoi ist bekanntlich nicht gerade unser Freund.
Da ziemt es sich doch wohl auch einmal darüber nachzudenken, ob denn wirklich
die Nöte des heiligen Rußlands so sehr unsre eignen Nöte und Sorgen sind, daß
wir darüber in Teilnahme und Begeisterung uns selbst vergessen und von unsrer
leidigen Fähigkeit, in eine fremde Haut zu schlüpfen, wieder einmal einen nach¬
gerade unzeitgemäßer und höchst lächerlichen Gebrauch machen. Daß der Buch¬
handel, der mit seinen Artikeln verdienen will und muß, seine Prospekte auf
die höchste Tonlage stimmt, ist eine Konveuienz, der man sich fügt, weil
man sie kennt und versteht. Wenn aber literarische Halbbildung — nach der
zutreffenden Bezeichnung Samson-Himmelstjernas — sich ausschließlich am
Gewiß eines einzelnen importierten Produkts berauscht, alle Maßstäbe verliert,
sich einen wissenschaftlichen Mantel umhängt und Zungenschlag vollführt, so
wird es erlaubt sein, darnu zu erinnern, daß Reklame und wissenschaftliche
Kritik zwei ganz verschiedne Dinge sind.
putschen Schauspielern liegen die meisten Rollen im Tell besser als
lsvlche, in denen sie Hofleute, große Herren und verschmitzte Intri¬
ganten darstellen sollen. Barbaren, wofür der Engländer und der
Franzose die Deutschen halten, sind sie nun zwar nicht, denn dazu sind
bei ihnen Geist und Herz meist zu sorgsam gebildet, aber ihre Haltung
!und ihr Betragen haben dafür oft etwas, was an die taciteischen
Schilderungen von der urwüchsigen Biederkeit der alten Germanen erinnert. Wenn
auch das viele Bier und die zu dessen kommentmäßiger Vertilgung nötigen Sitzungen
an der bisweilen etwas ungeschlachten Erscheinung des Deutschen schon in jungen
Jahren, mehr aber noch im vorgerückten Alter ihren Anteil haben, so ist doch der
eigentliche Grund, warum der mit Deutschen verkehrende Ausländer es bisweilen
mit einem ihm etwas unheimlichen, nur scheinbar gezähmten Wesen zu tun zu haben
glaubt, in der Rasse begründet. Beschreiben läßt sich das nicht und erklären noch
weniger. Die andern müssen uns nehmen, wie wir sind, und wir selbst müssen
mit uns ohne Änderung zufrieden sein. Wer weiß, welche Kämpfe und welche
Herkulesarbeiten unsrer verhältnismäßig jungen Nation bevorstehn: es ist deshalb
gut, daß die Schale der Kastanie die'von der Natur zum Schutze der inwendigen
glatten Frucht bestimmt scheint, noch da ist. und man muß auf der deutscheu Bühne
die Don Juans und die Grafen Almaviva, wenn sie etwas klobig ausfallen ohne
Makeln in den Kauf nehmen und dabei dankbar der strammen Pommern, Bayer»
und Schwaben gedenken, deren gesunden Fäusten und inri» wciWea, lrur durchGottes und Bismarcks Hilfe das zu danken haben, was vom einigen Deutschen
Reich schon da ist und sich, wenn alles gut geht, noch zu einem rechten, ganzen
Baum auswachsen soll.
Man wird nach dieser tröstlich klingenden Einleitung eitel Honig über die
Leistungen der Darsteller im Leipziger Tell erwarten, und ich werde auch außer
dem Melchthal. der es mir nie recht machen kann, an den Darstellern wenig zu
bemängeln haben. Um so mehr dagegen um der Inszenierung, die schon um des¬
willen nicht gut sein kann, weil man falschen Grundsätzen huldigt, indem maiisur
unfruchtbare Nebendinge ins Zeug geht und Hauptsachen darüber unbeachtet laßt.
Wilhelm Tell macht an die Juszeuierung dieselben Ansprüche wie eine Oper^und man sollte ihn überall da. wo man mit dein Eintrittsgeld einen Unterschied
zwischen Opern und Schauspielen zu machen gewohnt ist, nicht anders als zu i-->peru-
preisen geben. Tell ohne Orchester verliert sehr. Schiller hatte, als er ihn scyriev.
Bühnen im Auge, die für Vorstellungen aller Art über ein Orchester verfügten
und daß er für die volle Wirkung seines sehen.Spiels auf die Mitwirkung der Mustk
rechnete, bemerkt man recht, wenn man Vorstellungen gewohnt gewesen ist wovei
die Kapelle tätig war. und wenn man sich mit einemmal ohne diese hebe feu
soll. Wenn am Schlich des Rütlischwnres die Verbündeten zu drei verschied.ieu Seiten
abgehn und die leere Szene noch eine Zeit laug offen bleibt, um das Schauspiel
der über den Eisbergen aufgehenden Sowie zu zeigen, so hat das nur halbe Ortung
da, wo der „prachtvolle Schwung." womit das Orchester einsetzen soll, fehlt.
Mit den, Wegfall der Zwischeuaktsmnsik ist das überhaupt eine eigne Sache^Man glaubt damit wunder was geleistet zu haben, weil es eine Ersparnis ist uno
man hat damit doch nur den Theaterabend, der vor Jahren ein seiner, erfreulicher,
eleganter Genuß war. abermals eines seiner Reize beraubt. Gegen die längere,
sogenannte Eßpause sage ich nichts. obwohl der Anblick der sich am Bufett wie am
Schalter vor dem Abgang eines Ferienzugs auf Tod und Leben bekämpfenden,
angeblich hungrigen und durstigen Scharen nicht erfreulich ist. Aber die .'col-
weudigkeit oder doch Ersprießlichkeit einer solchen längern Pause zugegeben. Yt
nicht Zwischenaktsmusik für die. die es vorziehn. auf ihrem Platze zu bleiben, doch
«me große, und wo man sie entbehrt, ungern vermißte Annehmlichkeit? Ä-as
hätte ich bei der letzten Vorstellung des Tell, der ich beiwohnte darum gegeben.
wem, sich etwas Zwischenaktsmusik wie ein anmutiger Schleier über den nie ver¬
siegenden Redefluß einer meiner beiden Nachbarinnen gebreitet hätte. Denn ein
unglücklicher Zufall hatte mich zum rechten Nachbarn einer Dame gemacht, die nicht
bloß das Pulver erfunden, sondern auch die Welt geschaffen zu haben glaubte und
sich von einer ihr freiwillig oder notgedrungen Gesellschaft leistenden Begleiterin
hofieren ließ. Das Selbstbewußtsein von Ur. Z und die ohne Anerkennung ver¬
bleibende Selbstverleugnung Von Ur. 2 hätte man zur Not noch ertragen, aver
Ur. 1 hatte die schreckliche Gewohnheit, die ihr von Ur. 2 mit leiser, wohlklingender
Stimme zugeflüsterten Äußerungen wie ein obligates Fagott in,t fortlaufende»
Placets wie: ich verstehe, ganz recht, natürlich, nun ja zu begleiten, die in ^ect-
messerschem Tone ge prochen, ehr nach den. „Ge.merk" schmeckten. Was hatte ich
Kur Übertänbung oder auch nnr als Akkompagnement dieses weiblichen Sprech¬
automaten für ein Adagio oder eine Tirolienne gegeben!
Aber das ist jn nebensächlich, während etwas Onvertürenartiges und gu c
Zwischeimktsmnsiken bei der Ausführung des Schillerschen Teils Haupterfordernisse
sind. Die erste Szene muß durch Musik eingeleitet werden, wenn sie Wirken soll,
denn sie ist in ihrem ersten Teile, ehe „sich die Landschaft verändert," durchaus
melodramatisch, lyrisch. Was in Leipzig aus ihr wird, glaubt man nicht, wenn
man es nicht gesehen und gehört hat, und zwar nicht aus Maugel an gutem Willen,
sondern weil sich die Regie, wie schon gesagt Worden ist, mit Dingen abmüht, vie
dem Gesamtbild nur schaden, und das, was wichtig ist, darüber außer Augen läßt.
Während die Bühne, wie nicht oft genug betont werden kann, jederzeit ein freies,
übersichtliches Bild bieten und alles andre diesem Erfordernis untergeordnet werdeu
soll, ist man in Leipzig bemüht, sie, die dort ohnehin nicht zu groß ist, immer so
viel wie möglich durch angebrachte künstliche Bauten in eine Brvckenlnndschaft zu
verwandeln, sodaß der Schauspieler, wie Mephisto,
bei jedem Schritte
Vor einen Baum, vor einen Felsen rennt.
Kuoni, Werni, Ruodi und ihre Knaben macheu einem den Eindruck von Knechten
und Jungen, die in einer schlecht in Ordnung gehaltnen Numpelkcuumer hantieren,
oder vou Störchen, die im Snlat herumstcigen, und damit Tell die berühmte Frage!
Wer ist der Nimm, der hier um Hilfe fleht?
von dem Absähe eiues hochgelegneu Felsenwegs herunterrufen kann, was in Wahrheit
kein praktischer, hilfsbereiter Alpenjäger tuu würde, ist die Bühne so verengt, daß
sich ein Teil der von den braven Schweizern geführten Gespräche im Hintergründe
wie auf einer kleinen Nebenbühne abwickelt. Den Kuhreiher und das harmonische
Geläut der Herdenglocken, „welches sich auch bei eröffneter Szene noch eine Zeit
lang fortsetzt," bekommt mau nicht zu hören, und der Fischerknabe, der sich in einem
Kahn fährt und dabei nach der Melodie des Kuhreiheus das reizende Lied: „Es
lächelt der See, er ladet zum Bade" singen soll, scheint in Leipzig vou seiner musi¬
kalischen Leistung selbst so wenig erbaut zu sein, daß er es mit einem Verse des grau¬
samen Spieles genng sein läßt. Wenn man, statt die Schaulust des Publikums
mit allerhand überflüssige» Aufbauen zu beschäftigen, die Lieder des Fischerkuabe»,
des Hirten und des Alpenjägers durch geschulte Opernsänger, die sich ja hinter den
Kulissen aufstelle» könnten, singen ließe, fo wäre das bei weitem besser und geschmack¬
voller. Diese erste Szene muß als etwas hauptsächliches angesehen, es muß dem
Zuschauer Zeit gegeben werdeu, sich in die vom Rosental und vom Augustusplatze
so verschiedne Gegend, in die von den seinen so verschiednen Lebens- und Berufs-
gewvhnheiten schweizerischer Fischer, Jäger und Hirte» vor nahezu fünfhundert
Jahren hineinzudenken, und erst wenn dies mit Hilfe von Herdenglocken, Musik
und den schönsten Dekorationen und Menschenstimmen, die man hat auftreiben
können, geschehen ist, kommt der „graue Talvogt heraugebraust, Schatten von
Wolken laufen über die Szene," und das Unwetter, das den See bis in seine
innersten Tiefen aufrühren wird, zieht herauf. Mau suche sich uicht mit der Be¬
merkung herauszureden, der Zuschauer solle sich, da Schillers Tell ein Schauspiel
und keine Oper sei, mit den melischer Leistungen der Schauspieler begnügen und
nicht auch noch die Herbeiziehung von Operukräften verlangen, denn solche Aus¬
reden führen zu nichts, und wenn man das „O wie so sanft" der Oberouschen
Meermädchen durch Tänzerinnen singen ließe, nnter den: Vorwande, daß es sich
dabei um ein auf der Flut Wogen und Gaukeln handle, so würde das Publikum
mit Recht sagen, es könne verlangen, daß die Meermädchen von den schönsten Ballett¬
tänzerinnen getanzt und von den besten Sängerinnen gesungen würden. Wo wirk¬
licher Kunstgenuß in Frage kommt, ist kein Opfer zu groß, wo es sich dagegen
nur um Appareilleu und Versatzstücke aus Pappe und Holz handelt, ist es um jeden
Quadrntzeutimeter Raum, den man der freie» Bewegung der Schauspieler entzieht,
schade.
Natürlich kommen infolge der rechts und links aufgetürmten Felsen die Lnuden-
bergischeu Reiter zu Fuß an, was — jeder Zuschauer empfindet es — die Dring-
lichkeit der Tellfchen Heldentat weniger fühlbar macht, als wenn die gewappneten
Schergen plötzlich mit den letzten Sprüngen eines weise einstudierten Galopps
auf der Bühne erschienen. Und so mag denn der Artikel Pferd, in Bezug auf
den sich so viele Bühnen ganz ohne Not anstellen, als wenn sie Kleinkinder-
bewahranstalten wären, hier etwas ausführlicher abgehandelt werden, eine Besprechung,
die um so mehr am Platze ist, als auch in Leipzig die Szene des Apfelschusses
dadurch, daß dabei Geßler, Harras der Springer, Ulrich von Rudcuz und -perla
von Brunneck nicht beritten sind, sehr an Wahrscheinlichkeit und malerischer Wirkungverliert.
Das Pferd wird allerdings vielfach als scheues. unberechenbares Tier angesehen
das man lieber nicht auf die Bühne bringen solle, aber mit Unrecht. Man mußnur von einem Pferde nicht erwarten, daß es ohne vorgängige Bühneudresfur ansdem Theater brauchbar sei — das erwartet man ja, außer bei Statisten, auch vom
Menschen nicht. Es muß Platz sür seine Bewegungen vorhanden sein, auch wenn
sie etwas unvorhergesehener Art sind, der Fußboden und die Brücken, wo es deren
zu passieren gibt, müssen solid sein, und man muß die Tiere mit Guttapercha oder
Kautschuk beschlagen, damit sie nicht ohne Not dnrch das dröhnende Geräusch ihrer
Tritte scheu gemacht werden. Wenn dann der Berittene noch ein leidlicher fetter
ist, und wenn, ohne daß davon im Publikum etwas gemerkt zu werden trennst.
der Nähe jedes Pferdes zwei handfeste Stallknechte bei der Hand sind, die vel
einem unerwarteten Zwischenfall zugreifen können, damit der Held nicht mitsamt
dem Rosse über den Sousflcnrknsten weg zwischen dem Kapellmeister und der ersten
Geige einfalle, so hat die Sache keine Gefahr: es können hysterische Frauen ansder Bühne und im Theater sein. Der Tenorist Tichatschck pflegte als Cortez die
Revue seiner glücklich gekanteten Truppe« in kurzem Galopp abzunehmen und ....
»Rienzi« sang er das'«-mW »piritn cnvMsiv ans dem Sattel mit derselben «Ge¬
mütsruhe als wenn er. die Singstimme in der Hand, aus dein Podium neben den.
Konzertflügel gestanden hätte. Etwas zirkusähnlichcs soll nun freilich aus keiner
Bühne gemacht werden, und die Spektakelstücke im Chatelet, bei denen Ele arten,
Kamele. Löwen und Tiger, das Raubgesindel natürlich in Käfigen, die dnrch Gevuscymaskiert sind, zum Vorschein kommen, müssen schon dem Gcruchsnm des Zuschauers
zuwider sein. Aber wo der Künstler der Nntnr der Sache nach beritten sein muß.
darf das auf einer größern Bühne keine Schwierigkeiten machen. Wenn dave.
etwas nicht klappt, so beweist das. daß man es an der nötigen Dressur und an
den nötigen Proben hat fehlen lassen.
^Daß der kaiserliche Reichsvogt in Schwyz und Uri. Hermann Geßler, mit
seinem Gefolge nicht zu Fuß auf die Reiherbeize gegangen sein kann, wenn anders
damals zu diesem Vergnügen in der Nähe von Altorf Gelegenheit mar steht leder¬
mann ein: es ist deshalb auch schwer zu begreisen, warum er zu Fuß zurück-
»ekvmmeu sein sollte, und wenn er, wie es der Dichter ausdrücklich vorschreibt, zu
Pferd ist. kann er den Apfel, wie es sich gehört, von einem ..Baumzweige, der
über ihn herhängt" pflücken, statt daß ihn im Leipziger Stadttheater einer aus
dem Gefolge mit unverkennbarer snpiimUa der Hand von einem hinter der -daum-
knlisse angebrachten Konsölchen aufnimmt. Wenn anch größere Bühnen Geßler aus
demselben Roß in der Hohlen Gasse von Küßnacht erscheinen lassen, das er zu
Altorf ritt, so heißt das zwar dem Zuschauer etwas unwahrscheinliches zumuten,
da doch kaum anzunehmen ist. daß das unglückliche Tier die Mrnn c^ Seereise in.
Herrenschiff vo» Uri mitgemacht haben sollte, aber den. läßt sich abhelsen. da man.
wenn n.an bei dein Pferdejuden in die Lehre gegangen ist. ein Psero mir ..^pe-
rücken" und dergleichen bis zur Unkenntlichkeit zurechtstutze» (gr.mer) kann ane einen
Menschen. Wenn obendrein noch Sattel und Zanmzeng in möglichst ansfal.ger
Weise verändert werden, so glaubt jeder, der nicht ein besondres Auge für Pferde
hat. in Altorf und in der Hohlen Gasse verschiedne Pferde gesehen zu habe.. Für
das eine aber sollte die Regie unter allen Umständen sorgen, dafür nämlich, daß
die auf der Bühne erscheinenden Pferde nicht wie halbgezähmte und nicht recht
vertrauenswürdige Elefanten behandelt zu werden brauchen. Soweit muß jedes
auf der Bühne erscheinende Pferd dressiert sein, daß es nicht von einem nebenher
schreitenden Wärter um Zügel geführt zu werden braucht. Auch empfiehlt es sich,
einen erfahrenen Stallknecht mit einem Weidenkorb und einer „Schippe" in der
Kulisse aufzustellen, damit, wenn sich der Vorhang nach dem Aktschluß im Fall
eines Hervorrufs wieder hebt, nicht auf der sonst leeren Bühne etwas prange, was
auch in jedem Zirkus mit geschäftiger Eile beseitigt wird.
In der schönen vierten Szene des ersten Aktes, worin Walter Fürst und
Werner Stauffncher deu Grundstein legen, auf dem sich die Erneuerung des Wnld-
stättebundes aufbaut, hat Melchthal einen sehr schweren Stand, weil er die Be¬
ratungen der beiden Alten, für die der Zuschauer besondre Teilnahme empfindet,
wiederholt mit dem Jammer seines blutenden Svhnesherzens unterbrechen muß.
Der Dichter hat die unmenschliche, geradezu tierische Grausamkeit, womit sich der
Unterwalder Vogt an dem alten Melchthal versündigt hat, mit weislicher Berechnung
in den Vordergrund gestellt, damit dem Zuschauer an der Berechtigung der Eid¬
genossen, sich gegen die hnbsbnrgischen Vögte aufzulehnen und sie mit bewaffneter
Hand zu vertreiben, auch nicht der Schatte» eines Zweifels bleiben kann: jeder
Zuschauer würde, ohne die mindesten Gewissensbisse zu empfinden, dem Landeuberger
auf frischer Tat deu Hals umdrehn. Die Vorsicht des Dichters hat ihr Gutes
und war vor hundert Jahren in Weimar vielleicht uoch dringender geboten, als
dies heutigestags einem durch Ibsen und Hauptmann gestählten Publikum gegen¬
über der Fall sein dürfte, aber Melchthal darf sich deshalb doch aus dem ihm von:
Dichter zur Verwertung gegebnen Stoffe keine nur ihm und seinem Talente zugute
kommende Effekt- und Rührszene znrechtschneiden, wenn er nicht die fein berechnete
Entwicklung der Handlung beeinträchtigen will. Er muß auch mitten in der größten
Verzweiflung die neun herrlichen Zeilen, die er selbst spricht, im Gedächtnis behalten:
O fromme Väter dieses Landes!
Ich stehe, nur ein Jüngling, zwischen euch,
Den Vielerfnhrnen — meine Stimme muß
Bescheiden schweigen in der Landsgemeinde.
Nicht, weil ich jung bin und nicht viel erlebte,
Verachtet meinen Rat und meine Rede;
Nicht lüstern jugendliches Blut, mich treibt
Des höchsten Jammers schmerzliche Gewalt,
Was mich den Stein des Felsens muß ervarmen.
Und dieser selbe einsichtige, bescheidne junge Mensch, der unsre Teilnahme um
so mehr erregt, je weniger er sie durch äußere Mittel zu erwecken sucht, sollte sich
durch das ganze Stück bararmig wie ein im Schlachthaus beschäftigter Fleischer in
deu Vordergrund drängen, er sollte unruhiger als Quecksilber mit ausdrucksvollen
Gebärden wie ein Mciuinger Statisteuhäuptliug zwischen den Männern, Weibern
und Kindern Herumquirlen, er sollte es übersehen, wie er dnrch einen verschwende¬
rischen Aufwand von Gesten und Stimme die beiden „frommen Väter dieses Landes"
zu Nebenpersonen herabzudrücken Gefahr läuft? Was der Leipziger Darsteller des
Melchthal in dieser Beziehung leistet, geht allerdings auf keine Kuhhaut, aber die
Vorwürfe, die ihm deshalb gemacht werden müssen, verdient eigentlich doch nur
das Publikum, das ihn durch deu gespendeten Beifall reizt, immer noch einen
Schritt weiterzugehn, um „sein Bestes" zu geben. Daß er etwas sehr erfreuliches
leisten könnte, daß es ihm weder an Seele noch an einer modülatiousfcihigen
Stimme fehlt, beweist der junge Bacchant wider seinen Willen da, wo ihm die
ausdrückliche Vorschrift des Dichters keine Wahl läßt. Wo es heißt: „er drückt die
Hand vor die Augen und schweigt einige Momente; dann wendet er sich von dem
einen zu dein andern und spricht mit sanfter, von Tränen erstickter Stimme," sind
seine ersten Worte:
O eine edle 5^an>ielsgal>e ist
Das Licht des Auges!
ein wahrer Genuß. Schade! Er sollte es einmal mit dem verhaltnen. müde
Aufschreie scheuenden Schmerze versuchen. Die auf der Galerie sind doch trotz
allem, was über sie gesagt und gedruckt wird, fühlende Menschen wie wir andern.
Der bescheidne, in sich gekehrte' Jammer würde sie auch rühren, und es wurde
nicht lange dauern, bis sie die wahre Kunst der Effekthascherei vorziehn lernten
So sympathisch einem in der Regel der Schillersche Melchthal ist, so vieles
hat man an dem Mi des alten Freiherrn auszusetze». Er paßt mit feiner Berta
und seiner Pfauenfeder zu den eidgenössischen Freiheitshelden wie die Faust aufs
Auge, und Felix Mendelssohn fand ihn fo jämmerlich, daß er Vorschläge machte wie
er umgekrempelt und veredelt werden könnte. Ja, Mi ist inmitten der Fürst,
Stcmffacher und Melchthal mit seinen feudalen Ideen keine erfreuliche Erscheinung,
um wenigsten auf der Bühne des Leipziger Stndttheaters, wo der Regisseur und
der Ankleider einen schlecht geratneu Psefferkuchenmaun aus ihm machen. Und doch
sollte man ein Übriges für ihn tun und ihn. da er an idealem Schwung zu wünschen
laßt, wenigstens äußerlich möglichst stattlich ausstaffieren, schou feiner Berta zuliebe.
Schiller hat offenbar keinen albernen, verrotteten Junker aus ihm machen wollen
sondern einen Dutzendmenschen, den die Verhältnisse in eine schiefe Lage gebracht
haben, und der sich, wie das ja fo viele tun, blindlings der Liebe als Führern an¬
vertraut. Vom uneigennützigen, idealen Freiheits- und Vaterlandsfreunde hat aller¬
dings Mi. namentlich in der ersten Hälfte des Stücks, wenig an sich, und von ^omvat,
uicht von Gold muß er schon um deswillen sein, da er nicht bloß den eidgenössischen
Freiheitshelden, sondern auch dem alten Freiherr» als Folie dienen soll AVer
im Grunde ist doch zweierlei gut an ihm: er nimmt Rat an, wenn diesen em
hübsches junges Frauenzimmer und uicht ein alter Onkel erteilt, und sobald ihm der
Weg klar geworden ist, auf dem er zu seiner Berta gelangen kann, zeigt er, daf;
er das Herz auf dem rechten Flecke hat. Den orangefarbnen Mantel, dünn wie
Sp <^ ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder,
innweb,
den er in der ersten Szene des zweiten Auszugs trägt, werde ich nie vergessen: da
Mi auch pfefferkuchengelbe Haare und einen pfefferkuchengelbei. Schnurrbart hat fo
läßt freilich die Sinfonie in gelb an gründlicher Durchführung nichts zu wünschen
Mrig, aber wären die „Seide." die der alte Herr tadelt, und die „Pfauenfeder
und der „Purpurmnntel" diesem miserabeln Anputz uicht doch am Ende noch vorzu-
zehrwesen?
^ AMcmMg. die Schiller Nudeuz verfechten läßt, kaun ja in einem
Stücke wie Wilhelm Tell vor niemandes Auge Gnade finden aber um.kerhaft was
wir heutigestags uuter dieser Eigenschaft leider versteh« müssen ist sie nicht. .M.ge
Frankfurter und Bremer Patrizier, die statt die entschwnndne Libertat chrer Stadt
zu beweinen in preußischen Staatsdienst treten, denken und urteilen wie un, nur
daß uns bei diesem die Art, wie die Liebe eine Wetterfahne aus ihm macht geradezu
komisch berührt. Die sür Mi so brenzlige Stelle, wo er in der zweiten szeiie des
vierten Aktes nochmals gestehn muß, daß es ihm zunächst weniger um die Freiheit
des Landes als um die seiner Berta zu tun ist. sällt in Leipzig weg. Auch Hedwig
erscheint nicht am Totenbett des alten Freiherrn, um Walli zu sehn und an ihr ve-
tummertes Mutter- und Frauenherz zu drücken. ,'
Es wäre wirklich schön, wenn man erführe, warum pas die ^gu^
StreichiUig entschieden hat. Wenn es Herrn Käßmodel und Madame P epenbrin
Mich geschehn ist, so ist ja nichts zu sagen. Ehre, wem Ehre gebührt Aber wenn
jemand so wenig Verständnis hätte, daß er glauben könnte, die Szene soweit es sich
dabei um Hedwigs Verhalten und ihre Reden handelt, sei für den Gang der dra¬
matischen Handlung unwesentlich, so müßte er doch darauf aufmerksam gemacht werden,
daß er auf dem Holzwege wäre.
Der alte Attinghansen ist trotz der ihm in den Mund gelegten schönen und
verständigen, stellenweise sogar begeisterten und begeisternden Worte ein Gespenst,
ein inkarniertes Programm. Man kann Schillers intuitives Verständnis für Menschen
und Dinge, die er nie gesehen hatte, nicht genng bewundern. Es war ihm durch
die Eingebung seines Genies klar, wie ein alter eidgenössischer Freiherr, der sein
Lebtag als „Selbstherr auf seinem eignen Erb und freien Boden" gesessen hatte,
denken und empfinden mußte? was uns die Geschichte von den Schweizersiegen über
die burgundischen Ritterheere berichtet, konnte leicht zu einem prophetischen Gesicht
verwandt werden, dos die letzten Augenblicke des edeln Greises verklärte, und um
goldnen Sentenzen, die er dem alten Bnnnerherrn in den Mund legen konnte, und
die denn auch für immer der Schatzkammer des deutschen Volkes einverleibt worden
sind, fehlte es dem Dichterfürsten nicht. Der Attinghausen, sein herrliches Zwie¬
gespräch mit Nudeuz, das die politische Lage in großen Zügen kennzeichnet, und sein
Dahinscheiden als Patriarch und als Seher waren gewissermaßen auf synthetischen
Wege gefunden wordeu und haben bei aller hinreißenden Schönheit etwas unreales,
akademisches, was sich einem besonders im Vergleich mit Shakespeare knieend auf
die Seele legt.
Hedwig im Gegenteil ist eine ganz aus dem Leben gegriffne Gestalt, sie ist
mir von allen Schillerschen Frauen die liebste, weil sie gar nichts Heldinnen- oder
gonvernantenmnßiges an sich hat und sich immer nur in ihrer Liebe zu ihrem Mann,
zu ihrem Vater, zu ihren Kindern gehen läßt. Sie erinnert, was das völlige Auf¬
gehen in dein Schicksale ihres Mannes anlangt, an die Herzogin von Friedland,
des Grafen Harrach edle Tochter, nur daß sie nicht wie diese gebrochen und in
ihr Schicksal ergeben ist. Sie ist jäh — man nennt das heutzutage impulsiv —,
ungerecht, einseitig, sie hat bange Vorgefühle, die sie ausspricht, ohne sich darüber
weitläufig auszulassen, sie würde jeden andern als den Teil unter den Pantoffel ge¬
bracht haben, und alle diese Eigenheiten erscheinen einem bei ihr als Vorzüge, weil
sie ein warmes, liebendes, echt weibliches Herz hat. Und aus der Perlenschnur
dieser Prachtrolle läßt mau nahezu fünfzig Zeilen weg, Verse, wie:
Und lebt ich achtzig Jahr, ich seh den Knaben ewig
Gebunden stehn, den Vater auf ihn zielen,
Und ewig fliegt der Pfeil mir in das Herz,
und
O Vater! Und auch du hast ihn verloren!
Das Land, wir alle haben ihn verloren,
und
Wie die Alpenrose
Bleiche und verkümmert in der Sumpfesluft,
So ist sür ihn kein Leben als im Licht
Der Sonne, in dein Balsamstrom der Lüfte.
Gefangen! Er! Sein Atem ist die Freiheit,
Er kann nicht teilen in den: Hauch der Grüfte.
Sind das Verse, die für die Charakterschilderung Teils und seiner Gattin gleich-
giltig sind? Und wenn sie es wären, ist die Szene nicht geradezu unentbehrlich,
eine Lücke auszufüllen, die jeder schmerzlich empfinden müßte, wenn er die nächst¬
beteiligte, die Gattin des Helden in ihrer Angst um den, wie sie glaubt, irgendwo
in einem Verließe schmachtenden geliebten Mann nicht zu Gesicht bekäme? Wen zu
schützen und zu retten sendet Tell den tödlichen Pfeil in das Herz des Landvogts?
Handelt es sich für ihn nur oder auch uur zunächst um das Land? Nein!
Die armen Kindlein, die unschuldigen,
Das treue Weib muß ich vor deiner Wut
Beschützen, Landvogt!
sagt Tell. Es ist der Gatte, der Familienvater, der zum Befreier des Landes wird,
er hat „des Herdes Heiligtum beschützt," und wir sollten in der langen bangen
Zeit, die für Hedwig zwischen der Einschiffung in Flnelen und der ihr dnrch die
tausend Zungen des Gerüchts zugehenden Nachricht von Teils Errettung sowie von
Geßlers Tode zwischeninne liegt, die schwergeprüfte, zu Tode geängstigte nicht sehen,
wir sollten nicht erfahren, wie sie ihr Leid tragt und mit welchem Stolze, welcher
Treue sie an dem großen Schweizer hangt, der vor allem ihr Tell ist? Wieviel
dem Dichter daran liegt, daß wir den Vorgang nicht als etwas rein politisches an¬
sehen, sondern uns seines engen Zusammenhangs mit Teils Familienleben recht be¬
wußt werden, beweist in der ersten Szene des vierten Auszugs Teils Bitte an den
Fischer, er folle ihm die Liebe antun und nach Bürgleu eilen:
Mein Weib verzagt um mich; verkündet ihr,
Daß ich gerettet sei und wohlgeborgen.
Am Sterbebett des Freiherrn erfahren wir, daß die unglückliche Frau diese
beruhigende Botschaft noch nicht empfangen hat, daß sie sich um ihren Mann, den
sie i« Küßnncht gefangen glaubt, ängstigt:
Zu ihm hinab ins öde Burgverließ
Dringt keines Freundes Trost, Wenn er erkrankte!
Ach in des Kerkers feuchter Finsternis
Muß er erkranken.
Der Regie ist vielleicht die Sorge der Gattin um ihren Mann nicht sensationell
genug. Das Pnblirum weiß ja ohnehin, daß Teils Pfeil den Lnndvogt unschädlich
machen und so alle beteiligten Schweizerfamilicn der Sorge um die nächste ZuWust
entheben wird. Warum sollte mau sich also mit dem Schmerze und der Sorge der
nrmen Frau, die an der Sache doch nichts ändern kann, lange abquälen und durch
Hedwigs unruhige Dazwischenkunft deu Frieden des Sterbezimmers stören? Warum
Weil Schiller für das, was auf der Bühne wirkt und am Platze ist, ein ^er--
Stambuls hatte, das man um so mehr bewundert, je mehr man sich bannt beschäftigt
weil er genau wußte, was er tat, indem er neben den entblätterten Stamm das
blühende, keimende Reis stellte, weil er, ohne daß ihm nnchgeborne Negtssenre hilf¬
reiche Hand zu leiste» brauche». Geschick und Gewandhe.it genug hatte, eine ländliche
Familienepisode im Attinghauseuschen Saale zu vermeiden, wenn er das für besser
gefunden hätte. Hedwigs Erscheinen am Sterbelager des alten Freiherrn, wo fie
ihren geretteten Sohn und ihren Vater zu finden hofft, entspricht der Wirklichkeit:
wer diese kennt, weiß, daß sich die gebieterischen Anforderungen des Lebens auch
angesichts des Todes ihr Recht nicht nehmen lassen. Eine geängstigte Gattin, eme
zu Tode erschrockne Mutter kennt keine Schen, kein Hindernis. Oder sollten wir.
da es nun doch einmal des Dichters Absicht ist, daß Waltl von dein alten Herrn
mit sterbender .wnd gesegnet werde, und dies süglicherweisc nnr geschehn kann, wenn
er seinen Großvater zum Attinghauseuschen Edelhof begleitet hat. in die Lage kommen,
annehmen zu müssen, daß die Mutter deu Jungen, nachdem sich Mit ihm etwas av-
ilespielt hatte, was an furchtbarem Ernst die bloßen Vorbereitungen zur Opferung
Jsaccks nud Jphigeniens noch weit übertraf, gemütlich bei ihrem Vater hatte lassen
können, ohne Kopf und Kragen daran zu setzen, ihn wiederzusehen, und bis sich das
Schicksal seines Vaters entschieden haben würde, nicht einen Augenblick aus den Augen
zu lassen? Nein, sowie sie von dem schrecklichen Schuß in Altorf hört kommt sie
angestürzt wie eine Löwin, der ihr Junges geraubt worden ist. und ruht nicht tu -
sie sich mit eignen Augen überzeugt hat. daß der Junge heil und unversehrt ist.
Wenn Hedwigs Szene an Attinghausens Sterbelager wegfällt, kommen eme>n die
Teils wie eine Seiltänzerfamilie vor, die an Hals- und Beiuebrnch gewohnt ist. Und
auch diese kleinen Akrobaten sind ihren Müttern so ans Herz gewachsen, daß te ner
von ihnen nach überstandner augenscheinlich höchster Lebensgefahr wie ein Verlcmfnes
Hündchen beim Ehni gelassen werden würde. ^
Die beiden Knaben Walter und Wilhelm Tell, offenbar anf des Großvaters
und des Vaters Namen getauft, werden in Leipzig von zwei sehr niedlichen kleinen
Mädchen gegeben, die ihre Rolle wie am Schnürchen haben, und deren kleine
mimischen Künste man aufrichtig anerkennen und bewundern kann, ohne von dem
Eindruck, den einem die vou ihnen gegebnen Knnbeurollen machen, besonders erbaut
zu sein. Die Infantin Klara Eugenia, von einem Jungen dargestellt, würde auch
schwerlich das rechte sein, und die aus der Krim zurückkehrenden Znnven, die Frauen-
rollen mit erstaunlicher Meisterschaft zu geben verstanden, machten einem doch keinen
recht befriedigenden oder gar erfreulichen Eindruck.
Das Schlimmste, was ich in der Art gesehen und gehört habe, waren öster¬
reichische Zwerge, die auch Damenrollcn spielten und sangen und z. B. im Ver¬
sprechen hinterm Herd zwar unwiderstehlich komisch, zugleich aber doch auch namenlos
abscheulich waren. Auf der Athemlöcher Bühne sollen einzelne Schauspieler Frauen¬
rollen mit unübertrefflicher Meisterschaft gegeben haben; von Italienern gegebne
Sopranrollen Semiramis, Armide und andre werden hier, da sie Gott sei Dank
der Vergangenheit angehören, nnr der Vollständigkeit wegen erwähnt. In Balletts
und in Opern haben auch heutigestags noch junge Damen als Pagen nicht bloß
volle Berechtigung, sondern sogar besondern Reiz, und in französischen Theater¬
berichten begegnet mau der Bemerkung, daß Madame X oder Mademoiselle A su
rrnvesti entzückend ausgesehen habe, häufig.
Im allgemeinen dürfte es jedoch vorzuziehen sein, wenn Knnbeurollen von
Jungen, Mädcheurolleu von Mädchen gegeben werden. Was insbesondre die beiden
Teilhaben Knaben anlangt, so ist man gewohnt, sie sich als ein paar tüchtige, hand¬
feste kleine Schweizer vorzustellen, die uach des Vaters Art schlagen, und daß sie
so sein sollen, ist offenbar anch Schillers Absicht gewesen. Walter namentlich, der
ältere von beiden, weiß schon ganz genau, was er will:
Nein, Mütterchen. Ich «ehe mit dem Vater,
und in seinem Auftreten Geßler gegenüber beschämt er die Erwachsenen dnrch seine
Sicherheit und seinen Freimut:
Großvater, knie nicht vor dem falschen Mann!
und, zum Vater gewandt:
Dem Wütrich zum Verdruss« schieß und triff!
Wenn eine solche Rolle, für die die echte Patzige Jungcnnntnr die erste Be¬
dingung ist, durch ein zierliches, blondes kleines Mädchen mit langem Haar gegeben
wird, so kauu es nicht fehlen, daß die beabsichtigte Wirkung ausbleibt, und daß man,
wie bei Sarah Bernhardts Hamlet, bewundernd, aber höchst unbefriedigt eingesteht,
das .Kind — damit ist natürlich die große Französin nicht mitgemeint — habe „unter
den obwaltenden Umständen" das Unmögliche geleistet. Stellt man sich z. B. die
Szene des Apfelschusses von Defregger gemalt vor, so würde ein ans dem Bilde
angebrachter Waltl, der dem Leipziger nachgemalt wäre, für alle Zeiten ein Kunst¬
problem bleiben. Was kann, würde man sich fragen, der große Künstler damit ge¬
meint haben, daß er uns statt eines urwüchsigen, vierschrötiger Telljnngen ein
reizendes zartes Elfenkiud zeigt, das sicher nie auf den Gedanken gekommen wäre,
dem Land- oder richtiger Reichsvogt von der Fertigkeit des Vaters, der ihm ans
hundert Schritte 'nen Apfel vom Baume schieße, etwas vorznrenvmmieren, und das, wenn
es wirklich genug Seelenstärke und Nerv gehabt hätte, unbeweglich zu stehn, während
es dem Vater als Zielscheibe diente, doch nie auf die köstliche Jnngenphrase:
Und ich bin auch dabei gewesen, Mutter!
Mich muß man auch mit nennen,
verfallen wäre. Dem wahren Walli hat die Sache offenbar keinen andern Eindruck
gemacht, als daß der „falsche Manu" seines Vaters Schießgeschicklichkeit in Zweifel
gezogen habe und damit abgefallen sei, und wie er nun sieht, daß die Sache an
die große Glocke kommt, ist er gleich mit ein bißchen Renommieren da:
Vaters Pfeil
Ging mir am Leben hart vorbei, und ich
Hab nicht gezittert.
In dem Falle hätten Shakespeare und Goethe den echten, natürlichen Ton auch
nicht besser treffen können.
Ja, warum stehn denn die Jungen, die sich beim Seiltänzer, beim Akrobaten
und im Zirkus durch Brauchbarkeit, Findigkeit und Schliff auszeichnen, auf der
Bühne hinter den Mädchen zurück? Vielleicht siud sie, wo es sich um Papagecen-
kunste handelt, weniger gelehrig als die Mädchen, vielleicht siud tu dem Alter, das
ster in Frage kommt, die kleinen Mädchen geistig reifer als die Jungen, vielleicht
gibt es in diesen Jahren sür einen tüchtigen Jungen andre, stetigere oder einträg¬
lichere Verwendung, vielleicht hat das Publikum, das man nicht nach sich beurteilen
darf, und sür dessen Geschmack vielmehr die den größten Absatz findenden Mühen
Chromolithographien bezeichnend sind, mehr Freude an einem zarten eisenartigem
Wesen als an einem etwas rüpelhaften Jungen. Tatsache bleibt es, daß mau, statt einen
derben Jungen zu dressieren, dem die Rolle zu Gesicht stünde, ein entzückendes kleines
Mädchen, dem man, wenn es in Titanias Zuge erschiene, jede beliebige Sorte von
Flügeln zutrauen würde, mit der Rolle eines Schlingels belade, der ganz gewiß bis
tief hinein ins Schächentäl bei dessen kleinen Bewohnern für seine festen ..Gungse"
bekannt war.
In Trauerspielen und Dramen — von Opern und Balletts ist hier nicht die
Rede — haben die weiblichen Pagen immer etwas unwahrscheinliches und oft etwas
komisches, sie mögen stumm oder mit kleinen Meldungen betraut sein. Niedlich sind
sie ja immer, und wenn in Leipzig der nette kleine Page, der im fünften Akt der
Maria Stuart der Königin Elisabeth über seine Sendung zu Leicester und Burwgh
Rede und Antwort zu stehn hat, vor jedem Absatz seiner kleinen Rolle mit dem
Köpfchen nickt wie ein Huhn, das einen allzulanger Regenwurm nicht recht verschlucken
kann, so müßte man, wenn man das nicht hübsch finden wollte, ein hartgesottner
Menschenfeind sein. Aber einen wirklichen Pagen vor sich zu haben, glaubt weder
die Königin noch der dösigste Schusterjunge ganz oben im Paradies. Und doch
machen sich gutdressicrte Bürschchen als Pagen ganz gut, mau sehe sie sich uur z. B.
in Berlin im Weißen Saale an, und die allerdurchlanchtigste Schleppe lassen sie mit
keinem Blick aus deu Augen, denn wenn sich — was ebenso undenkbar ist, wie
daß in Dresden eines schönen Morgens August der Starke in langen Hosen neben
seinem keine Lar?abe machenden Pferde stünde — Majestät beim Verlassen des
Thrones umsehen müßte, um die beiden jungen Herren an ihre Pflicht zu erinnern,
so gäbe es eiuen Nrlnnbsabzng. den abzubüßen sogar Methusalems Alter uicht aus¬
reichen würde. (Schluß folgt)
le so unglücklich verlcmfne Flucht des Königs, seine Verhaftung in
Varennes und seine Gefangenschaft in deu Tuilerien hatten dem
Brande der Revolution neue Nahrung gegeben. Die klägliche Rolle,
die Ludwig der Sechzehnte bei deu Ereignisse» des 20. und
21. Juni gespielt hatte, mußte das Selbstbewußtsein seiner Feinde
-> stärken, und was noch schwerwiegender war, sogar bei seinen Anhängern
Zweifel erwecken, ob das monarchische Prinzip noch stark genug sein würde, sich°n diesem Schlage zu erholen. In jenen Tagen wurde zum erstenmal der Ge-
danke ein eine völlige Beseitigung des Königtums laut, anfangs zaghaft und ver¬
blümt und ohne daß man seiner Tragweite bewußt war, denn immer deutlicher
und herausfordernder. Der Pöbel, der vor allem neuen znerst erschrickt, ihm bald
darauf aber um so begeisterter huldigt, griff die Idee einer Republik um so be¬
gieriger auf, als sich die Journale, die jetzt wie Pilze emporschössen, zur vor¬
nehmsten Aufgabe machten, auf die Zeiten der römischen Republik als eine Periode
der allgemeinen Glückseligkeit, der Menschlichkeit und der Tugend hinzuweisen.
Und weil das Volk im dunkeln Bewußtsein seiner Urteilslosigkeit des Glaubens an
Autoritäten bedarf und sich bei seinem Tun gern an Namen klammert, mit denen
es einen unklaren Begriff verbindet, so beschloß es die feierliche Überführung der
Gebeine Voltaires aus der stillen Gruft von Seellieres nach dem Pantheon. Der
Staub des großen Spötters, aufgebahrt im Heiligtum der Revolution, sollte dem
Kampfe gegen Despotismus und Hierarchie die Weihe der Philosophie geben. Nicht
als ob die Fanatiker der Freiheit und der Gleichheit einer Rechtfertigung vor sich
selbst bedurft hätte«! Aber sie sahen die Augen der ganzen Welt auf sich gerichtet
und hielten es für nötig, die Völker durch Entfaltung eines theatralischen Pompes
zu blenden und für die neuen Ideen zu gewinnen. Im Auslande freilich hatte sich
längst ein Wechsel der Anschauungen vollzogen; auch dort, wo man die Anfange
der Revolution mit teilnehmender Begeisterung begrüßt hatte, war inzwischen die
Überzeugung durchgedrungen, daß die von Paris cmsgegangne Bewegung ihren
anfänglichen Zielen untreu geworden und auf dem besten Wege sei, das Übel der
Despotie durch das tausendmal schlimmere und widerlichere der Demagogie zu
ersetzen.
Die Monarchen Europas, durch die Ereignisse des 20. und 21. Juni unsanft
aus ihrem Schlummer aufgerüttelt, lumen langsam — ganz langsam — zu der
Einsicht, daß das, was ihrem allerchristlichsten Bruder von Frankreich zugestoßen
war, auch ihnen selbst einmal drohen könnte, wenn sie sich nicht bald entschlössen,
einen kalten Wasserstrahl in den Pariser Feuerbrand zu senden. Und in der all¬
gemeinen Not vergaßen sie ihre kleinen Zwistigkeiten und trafen Anstalten zu
gemeinsamem Vorgehn. Sogar zwischen Preußen und Österreich wurde ein Bündnis
vorbereitet, dessen Verwirklichung sich bei der grundsätzlichen Meinungsverschieden¬
heit der Monarchen über die zu gebrauchenden Mittel und bei der Schwerfälligkeit
der beiderseitigen Kabinette freilich sehr verzögerte und in der schwächlichen Deklaration
von Pillnitz zunächst seinen Abschluß fand. Am tatkräftigsten zeigte sich noch der
König von Schweden: er erschien in eigner Person in Aachen, um mit dem nach
Luxemburg geflüchteten General BouilllZ einen Kriegsplan zu entwerfen.
In Frankreich war man für diese Vorgänge nicht blind. Man schrieb sie den
Einwirkungen der Emigranten zu, obgleich diese um den Höfen keinen nennenswerten
Einfluß hatten und überall mit Mißtrauen aufgenommen wurden. Ludwig der
Sechzehnte selbst, in andern Dingen weniger scharfsichtig, sah nicht mit Unrecht in
den Flüchtlingen und ihrem Verhalten eine ernstliche Gefahr für sich und seine
Sache und bemühte sich — freilich erfolglos —, seine Brüder und ihren Anhang
zur Rückkehr zu bewegen. Die Nationalversammlung ging gegen das „auswärtige
Frankreich" mit aller ihr zu Gebote flehenden Strenge vor, sie bedrohte alle
Aristokraten, die bis zum 1. Januar des kommenden Jahres nicht zurückgekehrt
sein würde», mit der Todesstrafe und stellte die Prinzen und ihre Ratgeber unter
Anklage des Hochverrats.
Diese Maßnahmen steigerten den Haß und die Wild der Emigranten ins Un¬
gemessene und führten sie zu einer Überschätzung ihrer politischen und militärischen
Bedeutung. Seit der Graf von der Provence, der ältere der beiden Brüder des
Königs, ebenfalls in Koblenz Aufenthalt genommen und den fremden Mächten
gegenüber jede Negierungshandlung Ludwigs des Sechzehnten für unverbindlich er¬
klärt hatte, war die kurfürstliche Residenz zu einem kleinen Versailles geworden.
In demselben Maße, wie die Mittel der Prinzen zusammenschmolzen, vergrößerte
sich ihr Hofstaat und der Apparat, der die Bestimmung hatte, ihre geheiligten
Perjvnen und ihr kostbares Leben zu schieben. Der alte Korporal Roll, in dessen
Hände» bisher die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gelegen hatte, mußte
seine Autorität jetzt mit einem ganzen Aufgebot französischer Polizisten teilen. Die
Folge davon war, daß er jetzt noch öfter als sonst ein Extraspeziälcheu aufstand, in
den Kneipen und Tabagien „in der Bracke" ausgiebig auf das ganze fremdländische
„Saupnck" schimpfte und seinem Ärger gelegentlich mit dem Haselstocke Luft machte,
wenn er, was freilich selten genug geschah, einen der jüngern Kavaliere dabei er¬
wischte, wie er sein Reitpferd mitten durch die Beete des Hofgartens tummelte.
Ein Regent — den» als solcher wurde der Graf vou der Provence nun von
mehreren Höfen anerkannt —, ein Regent ohne Armee Ware uudenkbnr gewesen,
und so begann man denn zu rüsten. Was den Kompagnien, die bei dieser seltsamen
Mobilmachung die Regimenter ersetzen mußten, an Stärke, Disziplin und einheit¬
licher Organisation abging, ersetzten sie durch ihre Zahl, durch den Klang ihrer
Ruinen und die Pracht der Uniformen. Da gab es vier Kompagnien königlicher
Leibgarde, je eine Kompagnie Gardes de Monsieur, Gardes d'Artois, Musketiere,
leichte Reiter und Gendarmen, ferner die Kompagnie des heiligen Ludwig, die
Knrabiniers, die Dragoner de Monsieur, d'Artois und d'Angouleme, die Ritter der
Krone und endlich eine Reihe von Kompagnien, die sich aus dem Adel der einzelnen
Provinzen rekrutierten. Der alte Marschnll vou Broglio übernahm in dieser lustigen
Armee den Oberbefehl; alte Generale traten um die Spitze der Kompagnien, von
denen übrigens manche nur auf dem Papier existierte». Mau übte sich im Fechten,
allerdings mehr mit dem Munde als mit den Waffe«, man sparte für den bevor¬
stehenden Feldzug, indem man nichts mehr bar bezahlte, und entschädigte sich im
voraus für die kommenden Strapazen, indem mau die Freuden der Liebe, des
Weines und der Tafel bis auf den letzten Rest auskostete. Über die Art, wie
man die Rebellen im Vaterlande züchtigen wollte, war man nicht durchaus einig,
aber soviel stand fest: wehe den Demokraten, wenn dieses Heer von betreßter
Knaben und besternten Greisen seineu Einzug in Paris hielt!
Die kriegerische Stimmung blieb nicht ohne Einfluß auf die äußern Umstände
des Marquis vou Marigny und seines Schwiegersohns. Die Galndiners, die
Jagdfestlichkeiteu und Maskenbälle, mit deuen Clemens Wenzeslaus wohl oder übel
seinen französischen Neffen die Langeweile vertreiben mußte, stellten immer höhere
Ansprüche an die Kochkunst des alten Herrn, und da er es nicht verschmähte, sich
seine wunderbaren Leistungen wie ein echter Künstler bezahlen zu lassen, so kam
er gar nicht in die Lage, die Familienjuwelen verkaufen zu müssen. Im Gegen¬
teil: er konnte nicht nur von seiner Hände Arbeit gemächlich leben, sondern erzielte
noch ansehnliche Überschüsse. Wenn andre Sterbliche das Einstreichen des Honorars
als den annehmlichsten Teil ihrer auf Erwerb gerichteten Tätigkeit betrachten, so
war bei dem alten Aristokraten das Umgekehrte der Fall. Er kochte mit Be¬
geisterung und nahm die Röllchen neugeprägter trierischer Gulden, die ihm die
kurfürstliche Muudküchenkmnmer allmonatlich zweimal übermittelte, mit Widerstreben.
Er vermied es sogar, das Geld beim Empfange mit der Hand zu berühren und
hatte einen Modus des Einkassiereus erfunden, der wesentlich zur Beruhigung seines
aristokratischen Gewissens beitrug. Wenn der Kanzleidiener mit dem Honorar in
der Mansarde des „Englischen Grußes" erschien — an solchen Tagen war der
Marquis zufälligerweise stets zuhause! —, lag die fertig geschriebne Quittung nebst
dem üblichen Gulden Douceur für den Boten schon auf dein Tische. Dann mußte
der Beamte, einer genau getroffnen Verabredung gemäß, ohne Mariguy zu grüßen
oder auch nur vou seiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, die Geldrollen auf den
Tisch legen und schweigend, wie er gekommen, mit Quittung und Douceur wieder
verschwinden. War er fort, so erhob sich der Marquis, zog die Schieblade des
Tisches auf und hob diesen selbst an der entgegengesetzten Seite mit einem kräftigen
Ruck empor, daß die Rollen in die Schieblade hüpften, die dann durch einen Stoß
mit dem Fuße zugeschoben wurde. Hatte das Geld eine Weile dort gelegen, so
ließ es sich verwenden, ohne seinem Besitzer weiter Kopfschmerzen zu bereiten.
Wie aber die steigende Flut an der einen Küste des Ozeans Ebbe an der
entgegengesetzten hinter sich läßt, so ging uuter den Emigranten mit der gesteigerten
Wertschätzung materieller Genüsse eine Abnahme des Interesses an den schönen
Künsten Hand in Hand. Und in dem Maße, wie sich Marignys Schieblade füllte,
leerte sich die seines Schwiegersohns. Wer hätte jetzt noch Lust und Geld gehabt,
sich malen zu lassen! Jetzt, wo man gleichsam schon einen Fuß im Bügel hatte
und nur auf das Signal wartete, den andern über die Kruppe zu schwingen!
Es ging Villeroi und seiner jungen Frau in der Tat schlecht genug, und
hätte nicht gelegentlich ein Mitglied der Koblenzer Noblesse oder des Ratsstandes
das Bedürfnis empfunden, die liebe Gattin zu ihrem Namensfeste mit seinem wvhl-
getroffnen Konterfei zu erfreue», so würde das Paar die bitterste Not gelitten
haben.
Marigny konnte dies nicht unbekannt bleiben. Die Leute, mit denen er im
Kind zusammentraf, stellten sich zwar nach wie vor, als ob sie weder von seinen
Einkünften aus der kurfürstlichen Küche noch von seiner Eigenschaft als Vater einer
verleugneten Tochter etwas wüßten, unterließen es aber doch nicht, ihm in schonender
Weise Andeutungen über die mißliche Lage zu machen, in die ein junger Standes¬
genosse, der sich bemühe, sich und seine Frau durch Porträtieren zu ernähren, ge¬
raten sei.
Wie zu erwarten stand, verklang dieser Appell an die väterlichen Gefühle des
alten Herrn nicht wirkungslos. Er brachte Marguerite aufrichtiges Mitleid ent¬
gegen — darau vermochte auch die Tatsache nichts zu ändern, daß seine Eigen¬
liebe über das Eintreffen des von ihm prophezeiten Elends eine gewisse Be¬
friedigung empfand. Welcher Triumph für ihn, den so schnöde verlassenen Vater,
daß er jetzt einspringen mußte, um das gestrandete Schifflein der törichten jungen
Leute wieder flott zu machen!
Er leerte also seine Schieblade, machte aus den Rollen ein Paketchen, ver¬
senkte es in eine Tasche seines Rockes und begab sich in den Knrtrierischen Hof zum
Besuche der Baronin von Grmnont, von der er wußte, daß sie mit Marguerite
noch in den engsten Beziehungen stand.
Frau von Gramont mochte ahnen, was das Erscheinen des Marquis zu bedeuten
habe, aber sie gab sich den Anschein, als sei sie über den unerwarteten Besuch aufs
höchste erstaunt. Sie weidete sich innerlich um seinen nicht gerade geschickten Be-
mühungen, in unauffälliger Weise das Gespräch auf den Gegenstand zu bringen,
der ihm am Herzen lag. Sie kam ihm keineswegs hierbei entgegen, sondern ent¬
schlüpfte ihm, wenn er seinem Ziele nahe zu sein glaubte, gleichsam unter der Hand.
Es reizte sie, den alten Herrn ein wenig zappeln zu lassen, ehe sie auf seine Ab¬
sichten einging.
Endlich suchte er sich einen etwas gewaltsamen Ausweg. Indem er durch die
Lorgnette ein Bildnis des Kurfürsten betrachtete, das über dem Kamin des Gnst-
hofszimmers hing, sagte er: Ich kann so etwas nicht ansehen, ohne die lebhaftesten
Gewissensbisse zu empfinden.
Sie Gewissensbisse, Marquis? Sie — der rechtschaffenste aller Männer?
gab die Baronin zurück.
Ja, ich. Sehen Sie, Frau Baronin, ich komme mir immer wie ein Barbar
vor. Ich habe nie etwas für die Kunst getan. Wenn die Maler keine bessern
Kunden hätten als mich, so wären sie alle ohne Ausnahme längst verhungert.
Je nun — dafür werden Sie den Pastetcnbäckern um so mehr zu verdienen
gegeben haben.
Marigny tat als habe er diesen Einwand überhört.
Und ich glaube, fuhr er fort, Leute unsers Standes haben doch auch der Kunst
gegenüber gewisse Verpflichtungen.
Sie beabsichtigen also, sich ein Kcibinett zuzulegen? Wollen Sie hierzu nicht
lieber eine günstigere Zeit abwarten?
Daran denke ich gar nicht. Ich meine vielmehr, es sei angebracht, gerade jetzt,
wo die Kunst daniederliegt, irgend einen begabten Künstler zu unterstützen.
Ein Gedanke, der Ihrem Herzen Ehre macht!
Sehen Sie, weil ich mich ans solche Dinge wenig verstehe und die geringen
Mittel, die mir zu einem solchen Zwecke zu Gebote stehn, an keinen unwürdigen
verschwenden möchte, bitte ich Sie als eine Dame von Takt und Welterfahrung,
mir in dieser Angelegenheit behilflich zu sein.
Recht gern. Aber ich fürchte, ich verstehe Sie noch nicht ganz. Gibt es
Bedingungen, von deren Erfüllung Sie die Unterstützung abhängig zu machen
wünschen?
Bedingungen? Nein! Das heißt, der Betreffende müßte natürlich Franzose sein.
Selbstverständlich. Das ist auch meine Ansicht.
Ferner müßte er von Adel sein.
Bedenken Sie, daß Maler von Adel selten sind.
Um so nötiger ist es, daß man sie nicht Hungers sterben läßt.
Da haben Sie Recht.
Drittens müßte er verheiratet sein.
Ist das unbedingt notwendig?
Ganz unbedingt. Bei unverheirateten Künstlern ist mau nie sicher, ob sie
das Geld anch auf eine würdige Art verzehren.
Sie bestehn also auf dieser Bedingung?
Gewiß. Ich lege sogar den allergrößten Wert darauf.
Gut denn! Bedenken Sie aber, daß durch eine derartige Einschränkung die
ohnehin kleine Zahl der Kandidaten noch mehr zusammenschmilzt.
Tut nichts. Es kann ja doch nur ein einziger sein, der die Gabe empfängt.
Ich wüßte schon jemand, der eine Unterstützung gebrauchen könnte. Den Chevalier
von Roquelaure. Er malt Kühe und Schafe —
Dann mag er zusehen, ob ihm die Kühe und Schafe eine Unterstützung zu¬
kommen lassen. Ich werde mir für einen Künstler etwas tun, der Menschen malt.
Es muß also ein Porträtmaler sein. Wie wäre es da mit Herrn von
Larvusse, dem, der auf Wunsch des Herzogs von Orleans vom Könige nvbilitiert
wurde?
Larousse — der drei Ellen Leinwand zu jedem Bilde braucht? Nein! Der
Mann ist mir zu anmaßend. Drei Ellen! Als ob ein kleineres Format für sein
Talent nicht ausreichte! Man muß nicht nur die Kunst, man muß auch die Be¬
scheidenheit zu fördern suchen. Besser im Kleinen groß als im Großen klein! Mein
persönlicher Geschmack würde einem Miniaturmaler den Vorzug geben.
Da käme freilich mir eiuer in Frage: ein gewisser Herr von Villeroi.
Ganz recht. Ich entsinne mich, den Namen schon gehört zu haben. Sie steh»
mir dafür, daß er Trient hat?
Gewiß.
Und daß er verheiratet ist?
Auch dafür. Ich kann Ihnen zu Ihrer Beruhigung sogar mitteilen, daß ich
seiner Trauung selbst beigewohnt habe.
Das genügt mir. Und da Sie mit ihm bekannt sind, darf ich Sie wohl bitten,
ihm diese kleine Summe zu übermitteln?
Marignh griff in seine Tasche und brachte das Pnketchen mit dem Gelde zum
Vorschein.
Halt, Herr Marquis, sagte die Baronin, indem sie ihre Hand aus seinen Arm
legte, so weit sind wir noch nicht. Sie wissen ja noch gar nicht, ob er geneigt
ist, eine Unterstützung anzunehmen.
Ich dächte, er sei in Not?
Gerade deshalb müssen wir doppelt behutsam vorgehn. Herr von Villeroi
ist ein Künstler, und Künstler haben ihren besondern Stolz, und sie sind am aller-
stolzesten, wenn sie hungern.
So wollen Sie erst bei ihm aufragen, ob er die Gnade haben will, mein
Geschenk anzunehmen?
Allerdings. Und ich fürchte, die Autwort wird ablehnend ausfallen. Mein
Mann hat in dieser Hinsicht schon üble Erfahrungen gemacht.
Der Marquis rümpfte die Nase, ließ sein Pnketchen in die Tasche zurückgleiten
nud verabschiedete sich von Fran von Gramont in verdrießlicher Stimmung, nach¬
dem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, sie werde ihn von dem Ergebnis
ihrer Mission benachrichtigen.
Das tat sie denn auch schou am nächsten Tage. Der Brief war nicht gerade
erfreulich. Er sagte etwa folgendes: Herr und Frau vou Villeroi ließe» für das
ihnen zugedachte Almosen danken, seien aber nicht in der Lage, es annehmen zu
können, da ihre Mittel ihnen erlaubten, auch ohne fremde Unterstützung zu leben.
Marigny war nicht der Mann, sich durch diese trotzigstolze Abfertigung in
seinem Vorsatze beirren zu lassen. Waren die eisernen Köpfe noch nicht weich ge¬
worden, so war es der Kopf von Stahl noch weniger. Und eines Morgens — es
war gegen Ende des März — frisierte und puderte er sich doppelt sorgfältig,
legte einen Staatsrock aus dunkelblauem Sammet mit Kragen und Aufschlägen in
reicher Silberstickerei an und begab sich nach der Weisergasse, wo das Villeroische
Paar in einem bescheidnen Bürgerhause einige Kammern bewohnte.
Eine Frau, die gerade Küchenabfälle auf die Gasse warf, wies ihn zurecht.
Er stieg langsam die sauber gescheuerte und mit weißem Sand bestreute Treppe
hinauf und klopfte an die erste beste Tür.
Einen Augenblick blieb drinnen alles still, dann hörte er, wie eine weibliche
Stimme — es war Margnerites Stimme! — rief: Henri, sei so gut und öffne
du, ich bin dabei, die Kissen umzufüllen. Wenn ich jetzt aufstehe, fliegen mir die
Federn davon. Und Henri, der ein gehorsamer Gatte zu sein schien, kam und tat,
wie ihm geheißen war. Fast wäre er beim Anblick des unvermuteten Besuchers
zurückgeprallt, aber dieser hatte offenbar nicht die Absicht, die peinliche Szene zu
verlängern, sondern sagte, während er den Hut ein klein wenig lüftete, mit dem
gleichmütigsten Gesichte von der Welt: Verzeihn Sie, mein Herr — wohnt hier
vielleicht Herr von Villeroi, der Maler?
Der bin ich selbst, antwortete der Gefragte, der sogleich verstanden hatte, daß
der Marquis als Fremder rin einem Fremden zu verhandeln wünschte. Womit
kann ich Ihnen dienen?
Ich habe die Absicht, mich porträtieren zu lassen. Kann das bei Ihnen ge¬
schehn? Sie müssen wissen: ich närrischer Kauz fange auf meine alten Tage an,
eitel zu werden.
Villeroi führte den Besucher in ein Gelaß, das offenbar zugleich als Wohu-
uud Arbeitsraum diente. Er rückte einen Stuhl ans Fenster und ersuchte Marigny,
sich niederzulassen.
In welcher Weise wünschen Sie gemalt zu werden? fragte er.
In der allerbesten. Natürlich Medaillouformat, aber sauberste Ausführung
und dauerhafte Farben. Auf den Preis des Bildchens kommt mirs nicht an. Dafür
wünsche ich aber auch etwas ganz Vorzügliches zu erhalten.
Ziehn Sie Pergament, Elfenbein oder Kupfer vor?
Kupfer ist wohl am dauerhaftesten?
Ohne Frage.
Aber Elfenbein ist Wohl teurer?
Bei weitem. Ein Täfelchen Elfenbein wie dieses hier, gut poliert und ohne
allzu deutliche Adern würde, so wie es da ist, sechs rheinische Gulden kosten.
Haben Sie keins von zehn Gulden?
New, dieses ist das beste, das ich besitze.
Gut, so nehmen Sie das! Und wann können Sie mit dem Bilde beginnen?
Wann es Ihnen beliebt. Ich habe heute zufällig Zeit, und wenn Sie mir
jetzt gleich die erste Sitzung gewähren würden, so könnten wir ohne Verzug an¬
fangen.
Mit Vergnügen. Ich bin bereit. Kann ich so sitzen bleiben?
Lassen Sie mich einmal sehe»! Villeroi betrachtete Marigny, als sei es das
allererste mal, das; er den alten Herrn zu Gesicht bekommen habe. Er trat bald
etwas vor, bald zurück, fixierte ihn von vorn und von der Seite, benutzte die hohle
Hand als Perspektiv und sagte endlich: Sie können diese Stellung beibehalten.
Ihr Kopf macht sich im Profil um besten.
Während Villeroi einen Bogen grobes Papier auf ein Reißbrett spannte und
seine Stifte spitzte — er Pflegte jedesmal zuerst eine Aufnahme in Lebensgröße zu
machen und diese flüchtige aber meist sehr charakteristische Skizze dem Miniatur-
gemälde zu Grunde zu legen —, hatte der Marquis Zeit, sich in dem kleinen Ge¬
mache ein wenig umzusehen. Die Einrichtung war die allereinfachste. Ein Tisch,
ein paar Mannheimer Stühle, ein Eckschränkchen, das Henris Malgerät barg, und
darauf ein Korb mit Nähzeug — das war so ziemlich alles. An der Wand hing
ein Bild, ein großes ungerahmtes Blatt, mit vier Nägeln an die blau getünchte
Mauer befestigt: eine Ansicht des Schlosses zu Aigremont, wie sie Villeroi aus der
Erinnerung entworfen haben mochte.
Dem alten Herrn wurde es beim Anblick dieses Bildes seltsam genug zu
Mute, und mehr als einmal, wenn er in Gedanken verloren den Blick hinüber¬
schweifen ließ, mußte Henri, der, das Reißbrett ans den Knieen, vor ihm saß, die
Worte an ihn richten: Bitte, den Kopf ein klein wenig mehr nach rechts!
Die erste Sitzung war bei der Schnelligkeit, mit der Villeroi den Stift hand¬
habte, bald beendet, und Maler und Modell trennten sich mit derselben kühlen
Förmlichkeit, die sie während ihres Beisammenseins beobachtet hatten. Marigny
versprach, sich am übernächsten Tage wieder einzufinden.
Und pünktlich zur verabredeten Stunde stieg er wieder die sandbestrente
Stiege empor. Hatte er bei seinem ersten Besuch in der Weisergafse die Hoffnung
gehegt, er werde seine Tochter zu Gesicht bekommen, so rechnete er jetzt, da er zum
zweitenmal an die Tür pochte, mit Bestimmtheit darauf, Marguerite werde ihm
selbst offnem Sie mußte ja wissen, wer es war, der jetzt mit gleichmütigem Antlitz
und klopfendem Herzen an der Schwelle ihres Heims stand, und der — ach, wie
gern! — ein paar Jahre seines Lebens dafür hingegeben hätte, wenn er sie,
seine Verlorne und verleugnete Tochter — aber trotz allem seine Tochter! — noch
ein einzigesmal hätte sehen dürfen. Drinnen ließen sich schlürfende Schritte ver¬
nehmen. Nein, das war nicht Margnerites leichter Fuß! Oder lasteten etwa Sorge
und Not so schwer auf ihren jungen Schultern, daß sie sich müde und gebrochen
und jener Anmut bar, die das väterliche Auge so oft entzückt hatte und in der
Erinnerung noch heute entzückte, dahinschleppen mußte?
Eine grobknochige Frau von unbestimmbaren Alter tat ihn, auf. Sie trug
eine Schürze, die ihre Vorderseite vom Halse bis zu den Füßen vollständig ver¬
hüllte, und auf dem Kopfe eine gewaltige Flügelhaube, die einem Schmetterlinge
glich, der soeben seine Puppenhülle verlassen hat und nun die ersten ungeschickten
Versuche macht, seine Schwingen zu gebrauchen. Überraschender noch als die Er¬
scheinung dieser Frau war der Duft, der von ihr ausging: ein seltsames Gemisch
von Kampfer, Lavendel und Kannten. Sie sah den Herrn an der Tür durch die
runden Gläser ihrer Hornbrille prüfend an und stellte in einer Mundart, die er
nicht verstand, eine Frage an ihn. Als er in deutscher Sprache, so gut er es ver¬
mochte, erklärte, er wünsche zu Herrn von Villeroi geführt zu werden, schien der
Schmetterling aufstiege» zu wollen, so energisch wurde der Kops geschüttelt, der
ihm zum Sitze diente.
Jetzt kam noch ein zweites weibliches Wesen herbei, dasselbe, das den Marquis
beim ersten Besuche hier draußen zurechtgewiesen hatte und Wohl eine Hausgenossin
oder Nachbarin des Villeroischen Paares war. Diese Frau schien Bescheid zu
wissen, sie ließ Marigny in die Stube treten, bot ihm einen Stuhl an, den sie
erst mit ihrer Schürze abwischte, und eilte dann weg, um Herrn von Villeroi
zu holen.
Dem Besucher schien das Gemach noch dürftiger und enger geworden zu sein.
An der Wand, an der die Ansicht von Aigremont befestigt war, stand jetzt eine
schmale, roh gezimmerte und grün angestrichne Bettstelle. Außer einem Strohsack,
einem einzigen Kissen und einer groben Pferdedecke, die das Bett ausmachten, ent¬
hielt sie noch einen Mantelsack mit Wäsche und eine Anzahl Garderobestücke, die
offenbar in großer Eile und ohne Rücksicht ans ihre Zusammengehörigkeit dort auf¬
gestapelt worden waren,
Henri kam und machte sich nach kühler Begrüßung Marignys an die Arbeit.
Er hatte inzwischen die Konturen des Bildnisses aus das Elfenbeintäfelchen über¬
tragen, verglich die Zeichnung jetzt noch einmal mit der Natur, nahm kleine Ver¬
besserungen vor und begann dann das Porträt mit spitzem Pinsel in Farben aus¬
zuführen. Aber es schien, als sei er heute nicht recht bei der Sache. Bald mußten
die Farben verdünnt, bald wieder verdickt werden, bald bedürfte der Malgrund
einer stärkern Politur, bald war er so glatt, daß die Farbe nicht haften wollte.
Mehr als einmal sprang der Künstler von seinem Stuhle auf, eilte in das Neben¬
zimmer, Wo man ununterbrochen das Zwiegespräch gedämpfter Frauenstimmen ver-
machen, und kehrte in gesteigerter Erregung zurück.
Auch diesesmal vermieden es die beiden Männer, mehr als das Nötigste mit¬
einander zu reden, obgleich wenigstens dem ältern von ihnen das Herz voll war
von dem großen Ereignis des Tages: dem mörderischen Anfall auf den König von
Schweden. Wenn Gustav der Dritte seiner Wunde erlag — und die Nachrichten
aus Stockholm klangen hoffnungslos genug —, so hatte Ludwig der Sechzehnte,
dem der Tod erst eben den kaiserlichen Schwager Leopold den Zweiten geraubt
hatte, vielleicht den letzten, jedenfalls aber den eifrigsten seiner gekrönten Freunde
verloren. Das waren trübe Aussichten für die royalistische Sache und ihre
Anhänger!
Und wie der alte Aristokrat so dasaß, das Auge auf die mit Papier verklebte
zerbrochne Scheibe eines ärmlichen deutschen Bürgerhauses gerichtet, schweiften seine
Gedanken zu den Tuilerien hinüber, wo der König als Gefangner seines Volks
lebte und gezwungen wurde, Minister zu empfangen, die sich Herausnahmen, ohne
Schnallen auf den Schuhen, ohne dreieckiges Hütchen und mit nngepudertem Haar
vor ihm zu erscheinen. Aber das Schicksal, das in dieser Zeit ein besondres Wohl¬
gefallen an Überraschungen zu haben schien, das über jeden sonnigen Augenblick
die Schatten der Furcht und des Todes fallen ließ und wiederum in die finsterste
Nacht des Kummers und der Verzweiflung einen Strahl des Humors sandte, hatte
auch für den Marquis von Mariguy etwas Unerwartetes in Bereitschaft.
Denn gerade, als es um die Mundwinkel des alten Herrn zu zucken begann,
als eine Träne, die der greise Edelmann seinem unglücklichen Könige weihte, über
die breite Wange rollte, ertönte in, Nebenzimmer der langgezogne, schmerzerfüllte
Schrei eines dünnen, dünnen Stimmchens, eines Stimmchens, dem man, so un¬
geübt es auch noch im Ausdruck feinerer GefülMchnttierungen sein mochte, doch
deutlich genug anmerkte, daß sein Besitzer nicht gesonnen war, zu den ungewohnten
Einwirkungen mancher für ihn neuer phhsischer Erscheinungen wie Luft, Licht und
Kühle auch noch gewaltsame Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ohne ent-
schiednen Protest hinzunehmen.
Und welchen Eindruck dieses Stimmchen machte! Auf Menschen, die das so
energisch gegen die Übelstände dieser Welt protestierende Wesen noch nie gesehen
oder gehört hatten — zu einer Zeit, wo die Stimme so manchen urteilsfähigen,
erfahrnen und redlichen Mannes unbeachtet verhallte! Zunächst auf Villeroi selbst.
Es war, als habe die Schallwelle, die die winzige Lunge in Bewegung gesetzt
hatte, zu seinem Ohr einen ganz besonders kurzen Weg gefunden, denn der Pinsel,
der, getränkt mit der Farbe der Gesundheit, sich gerade die rundliche Wange des
Miniaturporträts zum Tummelplatz ersehen hatte, entfiel der haltenden Hand um
den Bruchteil einer Sekunde eher, als das Original des Porträts den ersten Ton
vernahm.
Die beiden Männer sahen sich fest ins Auge. Sie mochten beide fühlen, daß
die Scheidewand, die sie in ihrem kindischen Trotz zwischen sich aufgerichtet hatten,
zu schwanken und zu wanken begann wie die Mauern Jerichos beim ersten schrillen
Ton der Drommeten, und daß es nur einer kleinen Nachhilfe von dieser oder jener
Seite bedürfte, sie vollends zum Sturze zu bringen, aber sei es, daß jeder von
ihnen erwartete, der andre würde den helfenden Stoß tun, sei es, daß die Er¬
regung des Augenblicks allen beiden die Zunge lähmte — genug, die Scheidewand
siel nicht. Noch war freilich nichts verloren. Es gibt Mauern, die dem Wüten
eines Orkans, dem Anprall einer Sturmflut anscheinend trefflich widerstanden haben,
und die dann, vielleicht erst nach Wochen oder Monaten, eines schönen Tags ohne
erkennbare Ursache in Trümmer sinken. Also abwarten!
Jetzt öffnete sich die Tür, und die grobknochige Frau erschien. Die Flügel¬
haube hatte sie offenbar bei ihrer anstrengenden Tätigkeit abgelegt gehabt und nun
wieder aufzusetzen vergessen. Und das Paßte zu der Situation, es sah aus, als
habe sich der Schmetterling aufgemacht, um seinen kleinen Verwandten draußen in
den Gärten und auf den Feldern, den Zitronenfaltern, Pfauenaugen und kleinen
Füchsen, zu verkünden, daß dieser erste warme Frühlingstag in dem düstern, bau¬
fälligen Hause der engen, schmutzigen Weisergasse eine junge Meuschenknospe ge¬
zeitigt habe. Was jener Riesenschmetterling hätte tun müssen und wahrscheinlich
auch getan haben würde, wenn er wirklich ein Schmetterling und nicht ein seelen¬
loses Gebilde ans gesteiftem Leinen gewesen wäre, das tat die grobknochige Frau
jetzt selbst, indem sie den Mund genau so unvermittelt, ruckweise und weit wie
vorhin die Tür aufriß und mit einer Stimme, die dem Material und dem Gefüge
ihres Knochengerüsts entsprach, in die Stube rief: Nansionr, es ist ein ZlonÄsur!
Für Villeroi gab es nun kein Halten mehr. Das Wort UonÄvur, sonst ein
hohler Schall, millionenmal an jedem Tage ausgesprochen und millionenmal über¬
hört — hier war es zu einem inhaltschweren Begriff geworden. Ein Sohn!
Ein Enkel!
Ehe der Großvater noch die frohe Botschaft in ihrer ganzen Tragweite er¬
faßt hatte, war der Vater aufgesprungen und in die Wochenstube geeilt. Es hätte
nicht viel gefehlt, so wäre Marigny in der ersten Freude seines Herzens ihm dorthin
gefolgt. Er stand schon mitten im Zimmer, seine Hand streckte sich nach der Tür¬
klinke ans — da turnte sich wieder die Scheidewand vor ihm auf, höher als je
und so breit, daß er langsam vor ihr zurückwich, bis er den Stuhl erreichte, auf
dem er zuvor gesessen und dessen Lehne ihm nun als Stütze dienen ninßte. So
fand ihn Villeroi, als er nach einigen Minuten zurückkehrte und mit ein paar
kurzen Worten der Entschuldigung den Pinsel wieder aufhob. Auch jetzt uoch hatte
die Mauer stürzen können, aber der Marquis erwartete eine ausdrückliche An¬
kündigung des bedeutsamen Ereignisses, und Henri, der annehmen zu dürfen glaubte,
daß Marigny alles wisse, rechnete darauf, der beglückte Großvater werde den ge¬
kränkten Schwiegervater niederzwingen und mit einer wenn auch noch kühlen
Gratulation zugleich das erste Wort zu einer völligen Versöhnung aussprechen.
Da keins von beiden, geschah, blieb die Mauer besteh».
(Fortsehnn« folgt)
Mit fliegenden Fahnen
ist der weitüberwiegende Teil der Reichstagswähler des Königreichs Sachsen in
das Lager der Sozialdemokratie übergegangen. Von den 23 Reichstagssitzen des
Landes hat sie in der Hanptwnhl am 16. Juni schon 18, in der Stichwahl noch
4 erobert, also im ganzen 22, statt der bisherigen 12; nur der überwiegend länd¬
liche und wendische Wahlkreis Bautzen ist von den „staatserhaltenden," den „bürger¬
lichen" Parteien behauptet worden, sonst sind diese überall völlig zusammengebrochen.
Wäre die Entscheidung auch sonst im Reiche ähnlich ausgefallen, wäre die Zahl
der sozialdemokratischen Stimmen und Sitze überall in demselben ungeheuerlichen
Verhältnis gewachsen, wie in Sachsen, wo sie sich seit der letzten Neichstagswahl
sast verdoppelt hat, so würde heute die Neichsregierung einem so gut wie völlig
sozialdemokratischen Reichstage gegenüberstehn, worin nur noch ein paar schwache
„bürgerliche" Fraktionen vorhanden wären, und mit dem sie überhaupt nicht arbeiten
könnte. Da liegt die Vermutung nahe, daß in Sachsen neben dem allgemeinen
Anwachsen der städtisch-industriellen Bevölkerung, das doch hier keineswegs schwerer
als anderwärts in die Wagschnle fällt, und neben der Gedankenarmut der „bürger¬
lichen" Parteien noch besondre Umstände mitgewirkt haben, eine weitverbreitete
Unzufriedenheit und Verstimmung zu erregen, wie sie jetzt in dieser bisher un¬
erhörten, nahezu vollständigen Eroberung eiues Mittelstaats durch die Sozialdemo¬
kratie zum Ausdruck gekommen ist.
Über diese Gründe ist man in Sachsen selbst gar nicht im Zweifel; nur die
landesübliche Leisetreterei, auch der liberalen Blätter, die zwar an preußischen Ver¬
hältnissen eine fortlaufende scharfe und oft ungerechte Kritik üben, aber sehr empfind¬
lich werden, wenn eine preußische Zeitung an Sachsen etwas auszusetzen hat, hütet
sich, das offen auszusprechen. Das erste ist das unglückliche Wahlgesetz von 1896,
das die Arbeiterschaft vom sächsischen Landtage tatsächlich ausgeschlossen hat, das
gemeinsame Angstprodukt der konservativen und der liberalen Partei, dessen auf¬
reizende, erbitternde Wirkung sich natürlich erst allmählich fühlbar gemacht hat und
deshalb bei der Reichstagswahl von 1898 noch nicht so stark hervorgetreten ist.
Daraus ist in der zweiten Kaminer eine konservativ-agrarische Zweidrittelmehrheit
erwachsen, die den Landtag völlig beherrscht, die Liberalen zur Ohnmacht verdammt,
jedes ihr genehme Gesetz durchbringen, jedes ihr unangenehme verhindern kann, und
das in einem Lande, das kaum noch rein ackerbauende Bezirke hat, im deutschen
Belgien! Zu welchen Ergebnissen diese konservative Parteiherrschaft und Partei¬
wirtschaft führen, das zeigen der mißliche Zustand der früher so blühenden sächsischen
Finanzen, der Steuerzuschlag von 25 Prozent, eine Etsenbahnpolitik, die jedes
Kirchturininteresse sorgfältig berücksichtigte, falls das ähnliche eines andern Wahl¬
kreises auch befriedigt wurde, und den Zinsenertrag von Jahr zu Jahr herabdrückte,
übertrieben kostspielige und teilweise ganz überflüssige Staatsbauten und dergleichen
mehr. Die von, Landtag einmütig, ohne jeden Widerspruch bewilligte Erhöhung
der Zivilliste mag sachlich an sich gerechtfertigt gewesen sein, aber sie hat, was man
an maßgebender Stelle noch immer nicht einzusehen scheint, furchtbar böses Blut
gemacht, weil sie mit der ersten Erhebung des Steuerzuschlngs und mit der un¬
würdigen Beschneidung des dringend notwendigen, längst versprochnen Wohnungs¬
geldes für die Beamten zusammenfiel. Daß auch die geradezu unerhörten Versuche,
größere Steuererträge herauszupressen, hier mitgewirkt haben, liegt auf der Hand.
Aber auch das sächsische liberale Bürgertum hat eine schwere materielle und
moralische Schlappe in dem Leipziger Bankkrach vom Juni 1901 erlitten, der Tausende
und Abertausende aufs tiefste schädigte, mehrere Selbstmorde veranlaßte, vor allem
die Fahrlässigkeit und den Leichtsinn der Leiter des Unternehmens, also einer Reihe
von angesehenen Männern des höhern Leipziger Bürgerstandes, beschämend blo߬
stellte und nach der einfachen Empfindung des schlichten Mannes durch das juristisch
natürlich unanfechtbare gerichtliche Urteil mir eine höchst ungenügende Sühne fand,
etwa nach dem alten Sprichwort: „Die kleinen Diebe hängt man, die großen
läßt man laufen." Wie verwüstend dann endlich die traurige „Eheirrung" im
sächsischen Königshause gewirkt hat, wie sie von der sozialdemokratischen Presse
planvoll ausgebeutet, von der Klatschsucht, namentlich der Dresdner, widerwärtig
breitgetreten wurde, das bedarf keiner weitem Ausführung.
Es ziemt sich nicht, diese Dinge zu verschweigen, es ziemt sich vielmehr, sie
offen auszusprechen. Denn sie haben auch etwas Tröstliches. Bei weitem nicht
alle die sozialdemokratischen Stimmen der Wahlen vom 16. und vom 25. Juni sind
von Sozialdemokraten abgegeben worden, ein ansehnlicher Bruchteil rührt von
solche« Wählern her, die ihrer Unzufriedenheit über sächsische Verhältnisse einen
freilich recht unangemessenen und nachteiligem Ausdruck haben geben wollen. Diese
Verhältnisse aber lassen sich ändern, wenn man nnr den ehrlichen Willen dazu
hat. Das freilich wird größtenteils von der in Sachsen jetzt herrschenden Partei
abhängen. Je eher sie erkennt, daß sie eine kurzsichtige und schädliche Politik
verfolgt hat, desto besser für sie und für das Land. Aber ohne eine kräftige
Initiative der Regierung wird das nicht gehn; Sachsen muß wirklich regiert, nicht
nur verwaltet werde». Sonst wird das beschämende und niederdrückende Gefühl,
daß es mit uns bergab geht, immer weiter um sich greifen.
Vor einigen Wochen wurde in deutschen Zeitungen erwähnt, daß
sich das in Newyork erscheinende ^rmx ewa Mo^ Journal auch hier und da an
der in den Bereinigten Staaten hervortretenden mißgünstigen Stimmung gegen
Deutschland beteilige. Dafür dürfte« nachstehende Äußerungen des genannten Blattes
aus deu Monaten Mnrz und April Belege sein.
„Ein anonymer Schalk schlägt vor, die Vereinigten Staaten sollten dein
Deutschen Reiche als Gegengeschenk für die vom deutschen Kaiser ihnen angebotne Bild¬
säule Friedrichs des Großen eine Bildsäule von James Monroe schenken. Warum
ist dieser Vorschlag nicht einer ernsten Betrachtung würdig? Friedrich der Große
trat für den Grundsatz des Jmperalismus ein, dem die gegenwärtige deutsche Re¬
gierung unbedingt ergeben ist, während Monroe für eine» bestimmten amerikanischen
Grundsatz eintrat, zu dem sich die gegenwärtige amerikanische Negierung nicht
weniger entschlossen verpflichtet hat. Die Gegenwart der Bildsäule Friedrichs des
Großen in Washington würde für die Vereinigten Staaten ein sichtbares Erinnerungs¬
zeichen des deutschen Grundsatzes sein, während das Vorhandensein von Monroes
Bildsäule in Berlin eine ebenso zwingende Erinnerung an den amerikanischen Grund¬
satz für Deutschland sein würde. Laßt uns deshalb auf jeden Fall Bildsäulen aus¬
tauschen. Es würde dies ein ganz schöner Handel sein."
'''
Unter der Überschrift Ins leiser« IiisnÄsbix bringt eine andre Nummer des
^rio^ incl Mo^ -sonrrmls eine längere vergleichende Betrachtung der amerikanischen
und der deutschen Seemacht. Der Verfasser drückt darin die Hoffnung aus, daß
nur ein edler Wettstreit zwischen beiden Seemächten bestehe, der niemals im Ernste
ausgetragen werden würde. Dann aber wendet er sich zu der Beurteilung, die
die bekannte Rede des Admirals Deweh, worin er die amerikanische Flotte so sehr
lobt, im Auslande gefunden habe. Es sei diese Rede dem Admiral nicht zu ver¬
argen, denn wenn auch alle Verhältnisse der Flotten gleich wären, so sei doch der
„Jaukee"-Matrose in allen Eigenschaften, die für das Gefecht gefordert würden,
ohne gleichen und allen andern Seeleuten überlegen, und dann, wenn es auch bester
wäre, ein solches Lob von andern aussprechen zu lassen, so wäre es doch das
„Privileg eines jeden Hahnes, ans seiner eignen Dungstätte zu krähen!" Der
Verfasser fragt, ob die Amerikaner dieses Privileg nicht auch Deutschland zugestanden
hätten? Warum sollte der Admiral ans Furcht vor Deutschland schweigen?
Aber „wir wollen nicht unedel sein," fährt der Verfasser fort. „Von wem
könnten wir einen Tadel mit so viel Huld annehmen, als von unserm guten Freunde
Deutschland, der uns so sichtbare Beweise in der Bildsäule Friedrichs und in den.
Besuche eines Prinzen von der Falschheit des französischen Sprichwortes lo Z?i'UWian
sse, öWMtisIlowcmt eaux boubomms gegeben hat?" In dieser, wie es scheint,
spottenden Weise werden die Verhältnisse in der Manilabai, in Se. Domingo,
in Venezuela angeführt als Beweise von dem Wohlwollen des deutschen Kaisers
und von seiner Anerkennung der Monroelehre. Nach der Erwähnung früherer Aus¬
sprüche des Kaisers, wie: „Der Wille des Königs ist das höchste Gesetz" usw., kommt
der Verfasser zu dem Schlüsse, daß der absolutistische Kaiser seine Hochachtung für die
Amerikaner an den Tag gelegt habe, und daß ein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner
Gesinnung für Amerika ein Majestätsverbrechen sei, das nicht verziehen werden könne.
Deshalb, meint der Verfasser, könne Amerika ruhig mit seinem Panamakanal und
mit seinem Handel auf dem Stillen Ozean fortschreiten und seine Monroelehre anwenden
und dabei der herzlichen Wünsche seines guten Freundes Deutschland sicher sein.
Zum Schlüsse versichert der Verfasser, daß wenn Amerika eine Flotte baue,
so geschehe das keineswegs mit Mißtrauen gegen Deutschland. Amerika bereite sich
überhaupt nnr vor, daß es fechten könne, wenn es fechten müsse, um sich gegen
ungerechte Angriffe zu wehren. Wenn deshalb seine Werften von dem Lärm
fleißiger Arbeit bei dem Bau von Kriegsschiffen erdröhnten, so geschähe das und
wurde auch ferner geschehn, daß man auf alles gefaßt sei.'
Dabei enthielt eine Reihe von Nummern des Leiontine, Hiukrioan ausführliche,
illustrierte Darstellungen eines Seekriegspiels. Gegner sind eine amerikanische
und eine deutsche Kriegsflotte.
N. E. May lehrt uns: Das Grundgesetz der Wirt¬
schaftskrisen und ihr Vorbeugemittel im Zeitalter des Monopols (mit fünf Ta¬
bellen und einer Kurventafel; Berlin, Ferd. Dümmler, 1902). Sein Gesetz lautet:
„Eine Wirtschaftskrisis muß allemal dann entstehn, wenn die Verkaufspreise auf¬
hören, in fallender Richtung und (oder) die Löhne und Besoldungen aufhören, in
steigender Richtung fortzuschreiten zusammen (eins ins andre gerechnet) in gleicher
Geschwindigkeit mit der Produktivität der Arbeit." Nach eiuer Kritik der von andern
vorgeschlagnen Vorbeuge- und Heilmittel (Schutzzölle, Steigerung des Exports,
Verurteilung der überzähligen Arbeiter zum Hungertode), deren Unwirksamkeit er
nachweist, findet er nur eins, das er für wirksam hält: der Unternehmergewinn
müsse durch die Gesetzgebung begrenzt und auf sieben Prozent beschränkt werden;
nicht jeder Unternehmergewinn, sondern nur der Gewinn der kartellierten Unter¬
nehmungen, die ein tatsächliches, die Konkurrenz ausschließendes Monopol errungen
haben. May gibt eine Ursache der Krisen richtig an, aber ich leugne, daß sie die
einzige sei. Auch wenn durch Beschneidung übergroßer Unternehmergewinne das
Volkseinkommen gleichmäßiger verteilt und die Kaufkraft der Massen erhöht würde,
könnten diese die bei fabelhafter Produktivität der Arbeit hergestellten Gewerbe-
crzengnisse nicht aufnehmen, so lange der Prozentsatz der im Gewerbe beschäftigten
steigt anstatt im Verhältnis zur steigenden Produktivität der Arbeit zu sinken oder
wenigstens dem der UrProduzenten gleich zu bleiben. Auch die Kraft des Volks¬
magens, Kohle und Eisen in Gestalt von Panzerschiffen, überflüssigen Berg- und
Straßenbahnen und Autos zu verdauen, hat ihre Grenzen. Die Milderung der
steigenden Ungleichheit in der Einkommenverteilung genügt nicht, es muß auch die
unnatürliche Verschiebung des Znhlenverhältnisses zwischen Industriearbeitern und
landwirtschaftlichen Arbeitern rückläufig gemacht werden. Unter den Arbeitern ver¬
stehe ich die Arbeitenden, sodnß also die kleinen Besitzer, Handwerker und Bauern,
Es gibt viele Dinge, die wie die Dutzend¬
menschen gleichsam nur im Plural vorkomme». Namentlich die Kleinigkeiten^ die
Atome und die Insekten haben eine Tendenz, in Masse aufzutreten, ohne das
würden sie kaum beachtet. Sie ersetzen durch ihre Meuge, was thuen an Größe
abgeht. Infolgedessen sprechen wir von ihnen gar nicht anders als in der Mehr¬
zahl — sie stieben wie Schneeflocken um uus herum, sie vermehre» sich wie Sand
am Meer. Alle Körner, die Staubkörner und die Samenkörner sind dazu Belege.
Ein Hirsekorn hieß auf lateinisch Nilium, daher sprechen die Ärzte noch heute von
der Miliartuberkulose, indem sie die kleinen Knötchen mit Hirsekörnchen vergleichen.
Die Alten glaubten, daß dieses Allium mit dem Zahlwort Ritts zusammenhänge,
weil die Hirse gewissermaßen den Eindruck von Tausend mache. Die Tcmsend-
frucht wäre dann ein Seitenstück zu den Tausendmann, deu lateinischen Nilitos,
die so hießen, weil jede Tribus ihrer tausend zu stelle» hatte.
Solche Begriffe haben oft gar keinen Singular; sie bilden das, was die
Grammatiker eine Nur-Mehrzahl nennen. Diese Tausende, diese Gemeinen, diese
Vielzuvielen sind die Leute — die unzählbaren Feiertage der Studenten: die
Ferien — die Nickel, an denen wir Überfluß haben: die Moneten — und
die ärgerlichen kleinen Ausgaben, die gar kein Ende nehmen, machen alle zusammen
die Steuern, die Kosten ans. Wer wollte im Deutschen Reiche nur vou Einer
Steuer und von Einer Kohle reden? — Man hat nichts als Kosten und Unkosten.
Wenn aber ein Singular da ist, so setzen wir ihn nicht, wenigstens nicht im
Einzelsinne, sondern die mikroskopischen Wesen haben das Eigentümliche, daß sie
sich untereinander aufs Haar gleichen, daß sie gar nicht zu unterscheiden sind und
eine gleichartige Masse bilden wie die Fischeier den Rogen. Und deshalb ist ein
Individuum gut für die ganze Menge, wir brauchen nur ein einziges Exemplar
namhaft zu macheu, denu eins sieht aus wie das andre. Eben das Haar ist ein
gutes Beispiel. Wir haben so viele Haare auf dem Kopfe, angeblich hunderttausend
und in Ktlometerlänge; sie sind, versichert das Evangelium, alle gezählt. Und doch
sagen wir für alle zusammen nur das Haar; einer hat schwarzes, ein andrer
rotes, ein dritter weißes Haar. Die Gelehrten helfen sich damit, daß Haar in
diesem Falle ein Sammelwort sei; vou solchen Sammelwörtern haben sie eine ganze
Sammlung, das Laub, das Gras, das Holz, das Volk gehört dazu, letzteres im
Englischen uur im Plural üblich (poor evils, via evils, ^oung' evils). Aber mit
dem Sammelworte wird gar nichts erklärt; es sind überhaupt keine Sammelwörter,
diese müßten, wie Gewürm oder Gebüsch, mit der Vorsilbe Ge— anfangen, es
sind einfache Singuläre. Wie kommen sie denn nun dazu, die Mehrheit auszu¬
drücken? Weil man, wenn man eins gesehen hat, die ganze Gattung kennt.
Zwei klassische Beispiele sind die Rute und der Besen.
Ich denke hier um die Rute, die hinter dem Spiegel steckt, und mit der die
Kinder gezüchtigt werden, die auch der Knecht Ruprecht in der Hand hat. Jeder¬
mann erinnert sich aus seiner Kindheit, daß sie aus mehreren Ruten zusammen¬
gebunden und ein ganzes Bündel von Birkenreisern ist. Trotzdem ist die Rute
ein Singular. Warum nur ein Singular? — Beim Besen läßt sich der Hergang
noch genauer verfolge».
Der Besen ist nämlich ebenfalls eine Rute; diese Bedeutung, im Mittelalter
die stehende, lebt noch in der Zusamiucusetzung Staupbeseu fort. Du soll wehen
unter deines Mannes Besen! — spricht Gott der Herr zu Eva; das wird
der jungen Frau noch heute bei der Trauung vom Geistlichen vorgehalten. Sie
soll ihrem Mann Untertan sein. Aber wie die Rute, so ist der Besen verviel¬
fältigt und gebunden, ja sogar an einem hölzernen Stiele befestigt worden; das
Mädchen führt ihn, um die Stube damit zu kehren. Es sind von Rechts wegen
mehrere Besen; es sind Besemen. Wer besönne sich nicht auf die Stelle im Evan¬
gelium, Wo der unsaubre Geist zurückkommt und findet das Haus mit Besemen
gekehret und geschmücket? — Diese Reminiszenz findet sich noch bei Goethe.
Man muß nämlich wissen, daß der Besen ursprünglich der Besen hieß, wie der
Faden: Faden oder wie das französische risn: Rhin im Lateinischen. Besen
wieder hieß eigentlich: Beseme; dieses bildete den Plural Besemen, wie Bote den
Plural Boten. Wir aber kennen keine Besemen mehr, sondern nur noch einen
Besen, geradeso wie die Italiener keine Soopao mehr haben, sondern nur uoch eine
Loopa. Loopa war das alte lateinische Wort für eine Rute.
Umgekehrt, wir scheu die Haare und die Ruten auch, wie es sich gebührt, im
Plural, macheu aber von neuem einen Singular daraus, sodaß der Plural verkappt
und ignoriert wird und nicht zu seinem Rechte kommt. Ein klassisches Beispiel dieser
Plural-Singuläre haben wir in der Bürste.
Es ist jn eigentlich nicht recht logisch und geschieht nur der Kürze halber, die
vielen Haare als das Haar und ein ganzes Rutenbündel als eine einzige Rute zu
behandeln. Gegenstände, die in großer Menge vorhanden sind, fordern natürlich
die Mehrzahl, der Singular erscheint wie eine Art Abstraktion, die gar nicht am
Platze ist. Die Gräten sind gewissermaßen früher da als die einzelne Gräte, erst
sieht man den Wald von Haaren und dann erst jedes Härchen, in der Anschauung
und in der Sprache geht hier der Plural dem Singular voraus. Bei den Feld¬
oder den Baumfrüchten ist es gerade so —- wir kennen eigentlich nur die Äpfel und
nicht den Apfel, weil in der Markthalle ganze Korbe voll Äpfel stehn, und weil
man fast nie einen einzigen Äpfel kauft; weil es Äppeläppeläppeläppcl! in die
Höfe hineinruft gleich einem Trommelwirbel. Es ist bemerkenswert, daß das Volk
in vielen Gegenden geradezu Äpfel als einen Singular behandelt und mit Amiant!
der Äpfel sagt.
Daher eine Birne. Bei den Birnen ist nämlich der Singular vollständig
abgekommen und der Plural versteckt dafür eingetreten. Eigentlich trägt der Birn¬
baum Biren und die Obsthökerin hat Biren; am Rhein, am Taunus sprechen
sie noch ganz regelmäßig von den Biren und sogar von den Grundiren oder
den Grundbiren, das heißt von den Erdbirneu oder den Kartoffeln, ein Wort, das
bis nach Amerika gedrungen ist. Eben daher stammt der Familienname Bier-
baum, über deu sich vielleicht schon mancher gewundert hat. Der Bierbaum ist
der Birnbaum. Wer einmal in Bad Soden gewesen ist, der hat viele Bier¬
bäume gesehen.
Man merkt, daß in der Birne das n zu viel, und daß es ein Zeichen des
Plurals ist: Birne klingt wie Rieme. Die Biren oder Bieren waren ursprünglich
die Andeutschuug eines lateinischen Plurals, des Plurals ?ira. Die lateinischen
?irs. haben sich im Munde des Volks in Piren oder Biren verwandelt, wie die
,?rü,us, in Pflaumen oder wie die Lisrass, in Kirschen. Alle unsre Obstarten
stammen bekanntlich aus Italien. Die Obstfrau hatte also Biren, oder kürzer:
sie hatte gute Birn. Nun vergaß sie ganz, daß Birn eine Mehrzahl war. Sie
hielt die Birn für einen Singular und für ein Wort wie Dirn. Und so wurde
schließlich aus den Birn: die Birne, mit dem Plural: die Birnen.
Dieser Vorgang wiederholt sich häufig, auch bei rein deutschen Worten. Wir
haben vorhin die Gräten erwähnt: dies ist der Plural von Gräte, Gräte selbst
aber schon ein Plural, nämlich der Plural von Grat. Wollen wir nun die Probe
auf Bürste machen? — Bürste ist ein Plural wie Würste, nämlich der Plural von
Bürst; dies eine Nebenform von Börse, das in der Mehrzahl Borste lautete, wie
das Wort: die Worte. Der Plural die Bürste erlangte die Geltung eines Sin¬
gulars, und so entstand der Begriff einer Bürste, der gar nichts weiter als die
Borsten besagen will. Das französische LroWo steht für Broste, und diese verhält
sich zu unsrer Borste wie Bronn zu Born; Lrosso lebt wieder in England als
Lrusb. fort. Alle diese Begriffe hängen mit den Schweinsborsten zusammen, aus
denen die Bürste gebunden wird.
Ein Müllerbursche aus Todtuau im badischen Schwarzwald, namens Leodegar
Thoma, soll um das Jahr 1770 auf den Gedanken gekommen sein, ein Brettchen
an verschiednen Stellen zu durchbohren und in den Löchern Schweinsborsten mit
Hilfe von Pflöcken zu befestigen, um sich das Zusammenkehren des Staubmehls zu
erleichtern.*) Allmühlich begann er gewerbmcißig Bürsten zu binden und in der
Umgebung zu verkaufen, und das wäre der Anfang einer Hausindustrie gewesen,
die in Todtuau und am ganzen Südabhange des Feldbergs jetzt noch blüht. Es
ist bemerkenswert, daß die Bürste als deutsche Erfindung, ini Gegensatze zu dem
lateinischen Pinsel, einen echt deutschen Namen führt, ob sie gleich nur einen viel¬
fachen, in Holz gefaßten Pinsel darstellt. Die Alten hatten keine Bürsten, sondern
nur Pinsel (?ome,iIIciZ) und Besen (8eox->s).
Die Bürste ist also gleichsam ein künstliches Borstentier, ein wunderbares Holz,
auf dem Haare wachsen, wie es einmal ein Negerkvuig aufzufassen beliebte. Graf
Brazzn, der bekannte Afrikareiscnde, wurde eines Tages von zwei schwarzen
Majestäten, Bruder und Schwester, beehrt, die seine europäische Reiseausrüstung
einer eingehenden Prüfung unterwarfen. Besonders fiel ihnen eine kleine Kleider¬
bürste auf; die konnten sie nicht genug bewundern. Als die Leutchen fort waren,
sah Brazzu nach, ob er noch alles habe; siehe da, es fehlte die Kleiderbürste. Der
Graf beschwerte sich beim König, der lächelnd erwiderte: Es tut mir leid; wie
kann mau aber auch so unvorsichtig sein, so etwas herumliegen zu lassen, ein Stück
Holz, aus dem Haare Heranswachsen! Selber schuld, mein Teurer!
Daraus folgt, daß es eine Bürste ohne Borsten eigentlich nicht gibt, sowenig
wie einen Besen ohne Ruten. Haare möchten meinetwegen noch hingehn, zwischen
Haaren und Borsten ist ja kein großer Unterschied; wart, ich nehm dich bei der
Bürsten nud schüttle dir die Zeitige»! —- sagt der Bayer, wenn er es mit einem
gut meint; beim Friseur kann man sich den Bart en Wo8Sö schneiden lassen, wie
der ältere Brutus im kapitolinischen Museum. Und so kann ich mir allenfalls auch
eine Dnchshaarbürste, eine Ziegenhaarbürste denken. Aber vegetabilische Fasern, Draht!
Welch ein Unding, ein Borstentier, auf dem Gras wächst!
Unter deu vegetabilischen Bürsten steht die Affengrasbürste obenan. Das Assen-
gras ist die grobe, schwarze Piassavnfaser, die von den Blattstielen einer brasilia¬
nischen Palme gewonnen wird. Vor ein paar Jahrzehnten entdeckte die Piasscwa
ein Bürstenfabrikant in Liverpool, und zwar an einem brasilianischen Schiffe, das
zum Schutze gegen die Reibung an den Ufermauern einen Gürtel von Piassavci-
gras erhalten hatte. Der Gürtel war ans Ufer geworfen worden. In Italien
benutzt man die Rispen der Mohrenhirse, die man hier S^Mus, nennt, zur Her¬
stellung von Bürsten und Besen; zu Scheuerbürsten wird Reisstroh und selbst ge¬
meines Stroh genommen. Sogar Zahnbürsten wachsen auf dem Felde; in Ost¬
indien haben sie den sogenannten Zahnbürstenbaum, aus der Familie der Lonicercn,
dessen Wurzeln allgemein als Zahnbürsten gebraucht werden. Die Italiener be¬
nutzen zu demselben Zweck die Altheewurzel. Alles Bürsten, die keine richtigen
Bürsten sind.
Umgekehrt gibt es aber auch Besen, die keine richtigen Besen sind. Der Besen
muß im Gegensatz zur Bürste vegetabilisch sein; bei uns nimmt man gewöhnlich
Birkenreiser, im Süden hat man bestimmte Besenkräuter, Besensträucher und Besen¬
ginster. Es werden aber auch Besen ans Schweinsborsten hergestellt. Man nennt
sie dann Borstbesen oder Borstwische und setzt sie den Reisbesen entgegen. Die
Kehreulen in Rom liefert der Mäusedorn, die Schrubber das Schwein.
Beide Gerätschaften kann man so wie so nicht recht auseinanderhalten, weil
sie zum Teil ganz dieselbe Verrichtung haben: denn man braucht auch Bürsten, um
die Straßen und das Parkett zu reinigen, und Besehen, um die Kleider abzu¬
stäuben. Nun werden sie außerdem noch aus demselben Stoss gebunden. Nur der
Kenner sieht in Bürste den Plural, der zum Singular geworden ist; in Besen den
Singular, der einen Plural vorstellt. Und dabei kommt ihm die äußere Form zu
Hilfe, die ebenfalls beidemal charakteristisch ist: den Besen kennzeichnet der Stiel;
die Bürste das Bürsteuholz. Der Stiel ist eine Einheit, die der Bürste abgeht;
sowie man an der Bürste einen langen Stiel befestigt, wird ein Borstbesen daraus.
Verlangst du uicht nach einem Besenstiele? — sagte der Geist ans dem Feldberg
zur Bürste. Goethe hat diese Worte dem Mephistopheles in den Mund gelegt.
In clor ?estsenrit't, Äio vor einiger
2sit Äio virolltioa 6er visIcontoZvsvUsvKaK Lorliv i-n Avr?visr iliros kündig-
jÄiriMn VvstvKov8 Kerausgegeden Jene, tmävt sioli kolßvväo ^uösruvK v»via Ls.nso-
manns über Aas ^.Ictionwesen unÄ Äio os ausooutenÄon ZanKKreise aus Ava
.laiiro 1356^
„vio (Feinste, weleno Äio LröÄit inobilior u. a. maonon, borulion im vosent-
liedon »ut Avr jvtut KorrseKonÄon XKtisnmaaie. ^«Avr clioso novli advrllauxt Äio
Äermalige ^.Ictiontadriication Kann in Avr bisnorigon 'Weise ÄauernÄ bostoim,
unÄ Äioson snokulativon ^.KtiengesellLoltatton ÄroKt eine ZrolZo Kotalir Äureil zweierlei
Vorliältnisso. lürstlieln ÄaiZ Äio Aktion aut viror Xurs gotriedon worden, Avr cien
momentanen Verliältnisson etwa ontsprieiit, nieiit aber Ava walirscmeinlionen Künftigen
^lormalzustanÄo, unÄ ÄaK goraclo Avr iiolio Kurs eine Versuonung i?u seur gewagten
Lsosedäfton wirÄ; zweitens^ ÄaK Äio VorvaltungsmitglieÄor Avr Kesoilseliatt von
ottonoar guton lukrativon Koseiläkton Avr Ilaunttoil für sich dekalten, wenn aber
anÄro Kosedafto von Avr KosoiiseKaft goinaelit worden müssen, Äio sie, odgloioli moiir
aUgomein und/Iion, als merkantilisoil vortoilliatt Äonnooli naelr ikror LtoUung niont
xurüolcwoison Kann, Äio I?Isrron VorwaltungsmitglioÄor auf Xoston Avr KosollseKaft
I'inIantKrovou soin werÄon. Kurz Äio oigentlioli unmoralisono unÄ unroÄ-
liolio LinrioKtung Äiossr ^.KtiongssellsoKafton ist ein RadiKalfolilor.—
Vorläufig sinÄ wir ant' Ava V^ogo, viror nielit unoodoutondon Krisis ontgogonzugoim.
Ks domäektigt sioii moi>r unÄ mokr fast allor Volksklassen Äio Lpiolsuont in Aktien;
last ^odor Kante, nickt um zu dokalton, sonÄorn nack Avr ersten Kinzalllung, oÄor
moon womögliol» vorlior, mit oinem Kowinn wieder zu verkaufen."
^Vir entnommen Äioso L.uLorung Aos IZogründers Avr viskantogosollsokaft viror
KürzlieK orsekiononon Loiiritt Dr. Otto I^indondorgs: „fünfzig ÄaKre OoseliieKto
viror LnoKuIationsdanK." Viosos HueK zoiolmot siok zwar durok vino gowisso
inÄivicluoll suFosnit?.to I<'oinÄsoIigKoit unangonoiim aus, ontKAt ador in Avr Avr
tioutiZon <ZrünÄunM»anI(on unÄ I'amiKanton von inÄustrioaKtion üdoriiaunt gosa^ton
>Vanrnoiton vino solono l^ullo sielior do>viosnor ^nklagon, ÄalZ os oitol Illusion väro,
vonn Äio Laute- unÄ Zörsonlcroiso ^laudon solidor, sie Auror 'lotsoli^voigon aus
Avr 'Woll soliatton xu Könnon. Das lotnto ^akr^vunt liat Äio IZoroolrtiAung' Avr
Lotürontungon DaviÄ Ilansomanns aus 6om ^tauro 1836 Avril Avon Äoutlioli do-
vioson. vio aussonliolZIioli auk selinoll om^unoimsonÄo ^gioMwinno goriolitoto
KrünÄortätigKoit liat 8ielr goraclo in Avr tot-non soZonannton ^.utsollnunAsvorioÄo
soll vor an Avr Icautmännisonon Moral vorsünÄixt. UnÄ ^war olino Äaü Äio ülkont-
liolie Noinung Aarau rooliton .4.nstolZ gonommon liatto, unÄ vino ÄaK sie Avr oinnolnon
?orsönlionl!oiton, Äio Äio ungoliouorn Kursgewinns oinM8tooKt naoon, viror mora-
lisodon Vorwurt maoKon Jan»uto. Mor ÄaK os so niokt vvitvr gout, Äa8 nun Äooli
Avr HunÄorton von noudaolcnon Nillionäron hottst onno woitoros doim I.oson Aos
I,inÄvndorgsoKon IZuol^s nnÄ Aos Ilansemannsolion Lriotos Klar vorÄon. varo
hour i!u wünsodon, ÄaL aus Avr LanKiorKroison Iioraus dalÄigst niont nur vino 'WiÄor-
logung Avr I.inÄondorgsonon ^nlilaZon, soweit Äioso üdortriobon sind, unternommen
vürÄe, sonÄorn auoll ornstliolio Vorsolilago gomaedt vürÄon, vio Ava moÄornon
^KtienselnvinÄol ein Damm Zoxogon vorÄon lmnnto. Worm Äio IZanKiors Aas niollt
tun, so vorclon Äio ^grarior unÄ Äio Anne'tlor Äio Rokormon Äilctieron, unÄ Äio
LWialÄemoliraton worÄsn Äio KrünÄungsdanlcen selrvorlioli orkolxreieli vertviÄigon.
Die im ?reulZiselion Ltati8ti8oKen IZuroau Iierau8-
Zogvono „ Ltatistisotio Xorrosi)onÄonx" dringt über Aas ZZrgolmis Avr proulZisolien
Viodiialilung vom 1. vo^vnder 1902 tolxonÄe Xaiilon, Äio aueii Avr VioMg8tanÄ
Ach ^ürstontums 'WalcleeK umfassen.
Da/u liomorkt alö „gtatistisolie Korrosvonäenö" unter anäernr kolgenäes! „^.us
äeu vorstolienäen ^nZaben üdor ale bei am einzelnen Unterarten aer vier Ilauxt-
viekAattunZen von 1900 bis 1902 erfolgten Veränäerungen gellt als wielitigstes Dr-
gebnis nveitollos liorvor, äalZ vor^ugsvoiso alö Rinclvr und ale Lokals, gloiekvio
alö Dolrlen eine SeKääigung äureli asu ankaltonäen, grolZontoils nur striekvoissn
Niüvavlis örtukren. XaoK Xrckdörvn So8 tot^tern varon advr als D-uiävirto, vio
aus aer geringen ^.dnalrino l>el am Mngorn Altersklassen avr Rinäor unä SeKato
dorvorgollt, mit bestem DrkolZv dostrvbt, eine ^usgleiekung luzrbviüiMdrvn, alö
vvraussivktliok tala vollstänäig orroiekt sein virä. Unsre VioK/üeKtor liabon Sieb
tidrigons äainit noelr niokt begnügt, sonäorn äureli eine rasolio VerinoKrung avr
^ain avr Selrvoino, alö allein bei am untor '/z .lakr alton im K-auie von hio^el
^alrron alö orstaunlioko Ilöl^o von last oinvin Drittel iliros ursprünglielion Lestanäos
orreiolito, aom g-näernkalls seiir einxnnälieli ge^voränen Zeitweiliger NanAol an
DIoisennüilrung in aer Ilauvtsg-vue .idAviiolten."
oll.s ist alles sein- gut unä solium. Dio iininor reälioli domülito Nntlielie Statistik
I'reuüons, alö aulZororäontliel^en LoniüliunAen aer l^anävirto u>n alö Lrnälirung avr
(?ES!lenkt>evoIl!örung in äas godultronäe Dient ihn sollen, Kann äamit aber ale ^at-
saelie nielit aus avr >Volt soltaSen, aan bei äein jetzigen Xustanäo avr Violinueirt
in Doutsodlanä MLviUZNs unä anäro MilZstanäo innrer visäor alö Lot'rieäiFUNA äos
oinnoimiselion NarKtos init oiMeiiniselroin Dleiseli stören unä aut als Autuln- vom
^.uslanä auwoison verclon. I)lo Nasson/liolitung triiliroilor Kolr^eine ist als alö
glüolclieksto Dösung avr?rago auk I<viror Dall an/uerkonnon. Ds varo i^u vünselien,
äalZ am äoutsenon Danävirton nivlit avr (Zlaude doiZodraeKt würäe, äalZ sie »uob
in Lei?uF aut ale VioK^neue voit über ^jeäo Ilritilc erlradeu seien. Das vüräo am
besten clvm voKlorroielibaron IZiolo aimer, eine oeil roieliliolioro DloisednalirunN,
als alö lleutigo ist, 5ur äas äoutseke Volk in OoutsoKlanä solbst hin üüonten. Jm
übrigen verweisen vir auk ale in Holt 17 avr dron^boten FebraeKton Mitteilungen
über aom Vielidestanä Ooutsolüanäs.
^acti aom Lostiininungen ach Kunäesrats über alö Statistik äos Lostanäos aer
äeutsoden SooseKiKo (XautlalirtoiseKiAe) sollen in aom Küsten- unä asu Knoinutsr-
Staaten Los/ialvoriisiolinisso aller LoesoKitte, als in ausholt Staaten ikron Hoimats-
daten nadvn, autgestollt voräen. In äioso Vor/oiodnisse sollon allo in alö Selüsss-
register oinMtragnon SeKiKo aulgenominen, unä äarin äeron HutersoKeiäungssiFnal,
Uluno, IloimatsKaton, Gattung (Bauart), (ZröKo (naeli äem IZrutto- unä äein Rodeo-
raumgobalt), I^rbauungs^jalir, llauptmatorial, Vorbolzung, Boseblag, Libronometer-
küdrrmg, KoeÄor, SobiKsmbrvr runl regvImÄLixo IZoso-tünug »»gogobsn veram. Hieraus
werden alljälirliell vom Ltatistiselien ^Val Dbersiebton angefertigt und veröffentlicht.
In diese Übersichten worden ^jodoeli nur Lebitlo von mein- als 50 Kubikmetern
(17,65 Kegistortons) Bruttoraumgolialt aufgenommen, die zum Drwerb dureli die
Leetäbrt bestimmt und dsslialb nach ?aragraim 1 des (xosetzes vom 22. .luni 189!)
über ä»s ?1»MlU'code avr liÄuKlüu'toisenMv Ah KaMÄirtoisvbiK» botraobtot worävn
müssen, llZiornu goliSrvn auon I^atson-, Hoonsvonsvllvroi-, Lorguugs- und SvbloppkÄir-
zeuge, die demgomälZ in den IZostandsüborsieliten mitgezählt sind. Vagegen worden
Sie in die SeoiSsregistor eingetragnen Kriegs-, Regierungs- und Busttalirzouge, «der-
baui>t alle Lebifto, die Ah Kauffabrteisebilfe im Zinne dieser Bestimmungen nielit
anzusoben sind, nicht berüelcsielitigt.
Die am 1. ?u1i 1895 in Kräik Mtrvtnv (am 1. Uärz desselben dabres erlassene)
Lebiftsvermossnngsordnung bat Mgou irnnvr die Il'vstsvtiiuuA des Uettoranmgebalts
besonders bei den Bamptsebiffon geändert, eine Änderung, der bei der Vergloieliung
der Angaben über den Baumgel>alt der Lehnt'e am 1. Januar derdabro 1902, 1901,
1900, 1899, 1898 und 1897 mit denen trüberer.labrs Beebnung getragen werden
nun. Kinor Vermessung nach <1om abgeänderten Vei4Äiren sind, soweit bisher be-
lcannt geworden ist, von den am 1. >Januar 1902 vorbandnon Lelnilen unterworfen
worden: 1910 Logelsebitte mit einem Baumgellalt von 390472 Begistertons netto,
224 Lebleppsebitrn (Leoleiebtor) mit einem Raumgobalt von 72 611 Begistertons netto,
sowie 1309 Bamptsebitte mit einem Rauingebalt von 1421874 Begistertons netto.
Diese Lebiite, zu denen auch <lie neu binzugokvmmnen, die nur nach dem neuen
Vvrtabren vermessen worden sind, geboren, würden, wenn sie noch nach dein alten
Vertabren vermessen worden wären, einen um etwa 273200 Begistertons böborn
^ettoraumgelialt anweisen, und zwar die Legelselnftd etwa 18000, die Leblevn-
sebitlo (Looleiebter) etwa 2200, die vampisebiiie etwa 253000 Begistertons netto
(4^/„ 3"/» und 17"/») mehr. Um diesen Betrag würde also, wenn die trübere Lebisss-
vormessungsordnuilg beibelialton worden wäre, der Uettoraumgebalt der Lebitle am
1. Januar 1902 höher erselroinen, als er.jetzt naebgevviesen ist.
^Va 1. danuar 1902 bat der Bestand der doutseben Kauttabrtoitlotte an
registrierten 1'abrzvugen mit einem Bruttvraumgebalt von mehr als 50 Kubikmetern
3959 gebiSd mit einem Kosandraum gobalt von 3080548 Begistertons brutto und
2093033 Begistertons netto betragen. Hierbei: sind die Lebiile, deren Böschung
im LebiKsrogister bis diesem Zeitpunkt noeli nicht erfolgt, deren gänzliellvr
Verlust oder sonstiger Abgang aber bis dahin schun amtlich festgestellt war, schon
abgesetzt, ^in 1. .lanuar 1901 waren vorhanden 3883 Lebilio mit einem Kaum-
gobalt von 2 826400 Begistertons brutto und 1941645 Begistertons netto.
Um dioLnt>vieKlung der deutsellvn Kauffal^rteiflotte verfolgen zu Können, ist
bier der Bestand am 1. Januar der .labro 1875, 1880, 1885, 1890, 1895 und 1897
bis 1902 autgeiübrt. Der Baumgobalt ist nach Begistertons netto vorzeichnet.
Vs waren vvrilandon:
'Wenn man die zur Beförderung von (Gütern uncl Personen nicht bestimmten
LvbiÜe und Babrzeuge, also namentlich die Kebitt'e der grollen 8eenseberei.-die
1'iseblumdleitaln^ouge, dio Bntsenlnbrzeuge und die Ka.hiern- und Ilergungsdamvler,
ausscheidet, um den 1!ut>vielilungsgang «ter el gen duckten Ilan <l el stlotte Kennen
zu lernen, so ergeben sich tur den 1. 5anuar
Dio kiau Hab i' toiLv b i t't'v
svliiocinvu 8e.KiÜsbat0K;orion vioüborbaui>t vvrtoilton sich
lolgt.aut alö äroi untoi-
Ls ^varon vorhanden:
Lktraobwt man alö I^isvboi'oilabriiouL'oalloin,so stellen sichdie Aabloi
>vio t'olg't.
Ls varvll vorbanävn 1u k'isvboroitabrMugoll
Dabei ist um bemoi'ben, bat man die starbo Äinabme der 8oMlnsebei'fabr/suM
von 1890 bis 1895 vouixer auf neu ol'vorbuo LodiK,, als violmobr auk uwKwA-
rvivbv ZisgLlu-ogistrivrrmgou «uraelMKrvn nuk; so vuräsu alloiv in I'inKonväräör
vÄu-vnÄ dos ^adi-of 1892 104 und väbronÄ 1893 42 schon vorbandno Zogvllisvllvr-
1abr/enM nluzbtn'iKljcI, in dio Kvlniksroxistor viugvtiAgvll.
Nil dem vVinvaelisen <1er nickt /u eiMntliebeu llainlelsxvveelion dieneinlou
8<;biKo und bosonäors der 1'iselxntÄln^eugv bat sich auvii, >v!u die vorstvbvudv
Hbvrsicbt /.vigt, das auk ibnon bvsvbMigto kersoual bvtiÄvbtlieb vornlebrt. Doob
aucti ant' den übrigen 8eIdKon but sich der Nannsebaltsbestand, der sich von
1875 bis 1890 vvgvv des KüvkMiiM der 8a1iUs«adi bedeutend vnrmind^re und bis
1897 noch nicht vie»dor vesvutlivll xuMnommen Iiatto, in neuerer Xeit beträebtliel,
vorinnbrt, pas in dei' Ilaui'thun.Jo mit dein l<)ins<«IIvi> MvKer und vvrbuItnismüIZi^
viel in'llwuuuz; erlonlernilvr ?a»s»^ivnbu»i»l<!r /usamnieulningt. Dio liesat/un^
an Lord betrug
Übor alö Verteilung des I'1ottonvo8tara,8 ani alö IIg.uvtIcü8tonFodioto unä üdor
oinigo 8ion «.ut alö KrüLo avr LoiüKo toi?ioiionäo Diniioinoiton voräon 8nil.lor moon
MttoilunZon gon^ont voräon.
I^oiäor untor8onoiäot alö aoud8vllo ?Iottonbo8tiurä8t!>.ti8tiK alö l^aur^ougo niont
n^eil der „I'aäirt," in 6er sie rogolmäLig vor>parat voräon, vio ä^8 rum Loi8viol
alö onglisetio 8eg.ti8eile 8odor 8on violon .lalrr^olinton tut (Linnlovoä in tuo Iloino
"IiAäo unä Lmnlovoä in dito I'oroign Ir^av), unä odor8o u. Ä. in avr kr».n^ohl8onon
unä in avr amorikÄni8eIion 8t!ni8til< in äuroimu8 doirioäigonäor ^Vol8o äuroKxoWirt
i8t. Ng.n mun >vünsodon, aan alö IZunäo8rat.8no8timinungon in alö8or Riontung or-
voitort voräon. ^.uoli 8»I1to voniMtons avr Vor8non gon».ont voräon, alö i^g-upt-
iÄonlion aom ?^88g,ZiorvorKoIrr äiononäo Tonnage von avr aom l^raontvorlcolir
äiononäon i?u untvrsvdoiÄon. Innoriuäd avr irr vorn vunÄssrat FWvgnvn Koiiranlcon
8tont alö aoud8vno ?1ottonbo8eg,nästati8tiK sur (Zon^uigKoit unä NuvorläWigKoit un-
do8tritton odong.n.
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften, auch wegen des volkswirt¬
schaftlichen Teiles, wolle man an den Verleger persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr.
Wilh, Grunow, Jnselstraße 20).
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^Itrv»«»»»ivrtv«, our»»I»»v» Ilm>» I. ulmi^v», I» »!n?.ix «>;I>öiivr I^l^v >u> <Ivi'MI>«; xoxvniidvr >1ol» Xxl. «out««»,
<Jo»i vvvrnl»«,», it,vin»«r »»,1 <Jor Um»äI<I«-«»IvrIv. LI«K1ri»eI>>> It»Jo»>!l>t>i»i;. I.ilk. IZiiilvr.
--«. «ort»vtvia, virskwr.
Uvmiü« kiir >»i«»>«b!I«.
„vie Karten^ete^
schreibt unier 1!el«esKI?,?.en über <Je» gesund unserer
IZaumschuien: „r>lar fiel» man
form obst
v»n seltener vollen<In»g,
präcdtige Ooniferen
unä schöne
^iergeköl^e".
ü»r H luge v°>. Pormobstgärten
emplehle» v»ir unsere l>late»os gezogenen Formbäume in
mnsterhiilter, gesuucler Aare. — illuslr. Verzeichnis Irei.
6008 ^ i^oenemann
UersiNttl-Särlucrei »mit Kaumschulen. örossl>. IZess.
N.-lllslluf b. Z-rsnKiurt ->. Main.
8anflog8n
für nie X<^i v<^i
KroZkliürk fus Vult8vK gi°sti8 u. franko
lini-vn Sollen KlU., Kei-lin 8W.48. Mknsilzrnc»'-
^5cKIne ^SA^/MV
M^--,?-?^ ^^<?«s »5>?/^»?
^Lak^eLIeolmMlT8avövkN''Mi8vllMGüe!lor.
Lsrlin
und IIiu-
Mkunx.
12. ^.nQ.
^1902. Z^i —
Nordost'
DsutsoK-
' 1o.n<I nskst
Dii.iisins.rin.
87. ^.nil.
1902. ö^i! —
Roral.offt'I>snisonZ!iii>I. 27. ^.uti.
1902. K ^ — Lü<Z.-I>sui!Zc!in!>.n<I. 2?.^.uti.
1901. 0 ^«i — Ad.si»1»ii<1o. ü». H,u«. »SOZ.
lZ ^ — Lücl.I>a,?srii, Virol,^ Lsl^burg
vto. zö.^«ki»e>>. isos. — vstorrotod
(almv V»s>in>). 2». ^mit. ig»!!. S ^ —
ö»tsrrsivK.HnMrrr. S,!.L.un. 190».
Lsi^ihn ni^Ä IIc>IIa.n<I. 22. ^.uti.
1900. — Odöi'it^usu. 1« ^uti.1902.
8 ^ — Mittslit-nisu. I». ^.uti. 190!!.
7,S0^ — Ilntsritkilisii. 13. ^.uti. 1902.
L ^ — It»Usil port Asu ^.Ixsii bis
U's^iZsI. ü. ^nit. 18V». 8 ^« — Nivisrn,
n. Lü<Jost-I?r!1n1crsiLN. 3. ^.mit. 1902.
ö ^ — ?nris ii. Hingsli. Is. L.net.
1900. « ^«i (In lriwi!. Lpriwll«: Kranes:
Ls »fort-IIst. 1903. 5>^^.; I>s ZVorZ.-
Onsst. 1902. 5^; I-ö lZu<Z.-Dst. 19U1.
0««.; I.S f^i-1-c>ils8i. 1NVI. N ^) —
Srolwrlt-mnisri.. ü. ^.n«. 1890. 10 ^
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IZ,uIZI»,it<I. 5. ^uti. 1901. Is ^ Russi-
kdwv !jn>ü.cnlüliror 1 ^ü! — Se. ?stsrs-
Kurs. 1901. 4 ^«i — soo,vo<Z,su unÄ
LsorwöMU. 9. ^uti. I9N». 7>K0 ^! —
LoK-voeu. Sa. ^.nji. I9VL. « ^ — Lx»-
nisy ?c>rtnZ^I. S. ^.mit. Is99. 1« ^
^g^xtoii. b. L-mit. 19VS. 1b ^ —
(^risotisu1c»n<1. 3. L.on. I«9g. 8 ^ —
?s.1iistiii!i. Sz^'isii. ^S. ^.uti. 1900.
12 — Nor<Z.».Mörl1c!i. 189Z. 12 ^ (In
onxl. Sol^vllo: LlliiilÄil. 1900. 6 ^)
^ M ^ ^ ^
F.^.Um<;Kot8?^^
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kSnxvr ».,Ili!;>Il»«!i»or — 8«l»«rv» iiir »II« 2v«vir«.
iinnpw!oÄc-ri. V«i>1Z,i.HV,I^oil)iiiAör8er.118.
lAx.Verli.-Uioüsi'I.: ^millet'mi. K.N. gwinv.g -Ilmn-
Inirx, .lolnuinisstr. ki - tilli» ». In>., Iloneslr. Ill -
»rs>i>I«», ^VilsSrnLsistr. 7 - ^Vlv» l, «.StrntniiLrstl. 24
or. LoiMör's?kH8i0it u. Lrüiöliiill^MLt. k. MM
u, Sol>vncIwc!llvii(I« 6or dvsssrvn StüncI« nimmt liinüsr n.
IZrvaousonodvlävilLiKosenIvvIiwnnk. IiiaiviÄuvIIsLvbnnälg,,
Sa I^oitvr hottst »rdlindet. Die Sonulo flott uiitor stalttUonv^
^.ulsickt. Spnüivrg. i. d. UWSI. u. valcHg. vraxoeoiKl. ?rot.
u. Krim. Illi-euo um pro. NSKsixv lioMnxunxvn. Drsts R---
leren?.vu. ?rospo?ceo stonon?ur Vki^Uxnux.
Ilvrxvilorr I>ol Ilinolxirjk, (Zrovk's Vartvn 7.
XimM6I'8K>1K An8w>ten. ^i.'^^l«!"""!
MtseliM. 7öeMrdkiil,k
N!v»i»s?. Attis«I»«i»p«»»i«»i»»t« mit viWen«ob»kUi«I»l!r
: K<!l>>«IÄ»<I!x« t'i!I>r»»x vino« lilvlooro», sxul-lnirxvi-
llvlx»» IlMIüluUt«.
^ilswltvo: ».Itvr: ?rvio: ?I!U«o »Ins krvl:
in>tssvl, to»i»vnlrans (1894) 1K 9M«. .lannar 190».
So. cininoninülnnr» it-9N1) Jo') WVA.^prit in>S »vivre.
Willlolmgdölls, Nütliilrlonlnnn, IK > ttvtt «. Victoli-n-.
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voinoninsliansv uns in <Z»ü nu vosvntlion visson»olmktiioli<!r
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l.loi»i1«I«r
I?i liti»
im<I Itrüii Konvoi».
?a»t-l-lob<!colli üjl KZl. H-our. Sr>«üia.Iitiit
von La. Vi88ki-ing, l.KKI' >. 08ti>.
«>-n«»I>»»<II»»x in 8ii<I,vom«». «nglünüvt 1824.
reor?
RunäsoKs,u tur asu ahnt5oksn isuristsiists,na
VII. .I>Utrxm>!? INI»
I>I. II«. rii. Kovr^öl, Mliivltvii
Vorln« >1>»' Ilvlnln^xvln», Iiu<!>>I»kinn»»N »»»»«vor u. I.viMis
Jud-.le von l?llllnnsr Is vom 85. 7uni 18VZ:
«illüios.?.««»««!«!?»»!? n»,I ^»,v<!i»I»»!?. Üdoi' oinigu >>!u -
I^invnwilsoliv Ktroitkrakon. <<?«>>. u. 01>öl1>«in;l^t ?to>l. 1>r.
Xs. ^r»Se, XSnixubsrx.) — Xnlliüinn invisvlisn 6«n Rovlitun
<><!» Vonnrmcle» un>1 Sor »uttsr «las» unvl>vuot»vn Xind«».
(8ora>>-us 1>r. g°K»sksi, II-tinbuiA.) — ^imutüonriil'ol'i». ^ni^
»vtorm S«s SelivurxorioKt-i. (I«maM^vI»I«aw!lcI»r VWKIm,
II»MN i. w.) — nu z LU7 adh. 2 Ssr «UUUWibnttkvrleKlMM-
nunx. (Lou»t»i>r!it>t6vnd »in RoiodsmUItSrgai'IvKt 01. V. Hoxx-
MS.QN, liorUn.) — ^.it» noi» Up<:I>t»I<>>»,n. lix/.ollon?. »t.ol/.«t»
Sa^In-iMs vionstjubiMuin. — .luiixtiseko (ivsollsoliakt
I^vlMg. («soll»!tuo»le or. V. Xsukill-elln, l.oiiiülx.) — I)!o
Ki««n>>»tI»>»«I»o ftUtwnx. — vnd-mxl'vlolios vrtvil. —I>1ir »»<>
VVI<Jor. KllrMvK-det uns ^ukroobmin«. — vio «oluulvn>>«n>a.t>--
ptliol't VVMN v«r»eunt<1vn» hui ISrlüilunjZ viror Verbwaileli-
Koit. — ÜIv<u>MvoU«trLoIru»x xsxsn ISisondaunvn. — liilckot
illo Vta«r»pruol>««rll«bunt xoeo» <1< n XaI>U»i«»>»ekoI»I öl»<!
«VA. Vioüksjvoraussvt/.un^ <lo» clun» M»Imo<!ik»Iiil!N 1olMnü<!n
ore>sol»ol»vn Vvrk»Kron» v<»^ <1om ^me»z«livre? — ISinvenSuM
o<1-n- snkvrtig» IZosonvvrclv. — ISriionwnN uncl ?rlUunx <lo«
Ix!dro«ren>M>. — I»o «»nixlj«,,«n KisvnKalmKebriodxinspvK-
Uonon »in<I in rrvullvn /.u,n >Sol!t»!j<- von «eine.«rta«,MM>n
vvgsn dsKupoliMiliolu-r Vdvrtwwnxvn bvkuxd. — »!ut»«I,«i-
<Inn«!«n. i, Mvllsiuckion. 2. via vielltlWwn 1look,t»«rü>»1-
»liti!« <Jo» KnioiiftAvileUt« in »t>as»s>vUlln. — It,»ii>rc>t',I»l»u'<>». —
I!lip»or««Il».». — <I<i>» l'»l:I>v.<>I>«<:I>r>l't<>n.wkKbSÄen, i^cosas-Sttasse Y.
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»nei lZl,risie»ete»i - vie?ren»ac ne§ l^ciel,es Christi In Kisensc».
Kröte saule — LvAngeliscl» »oüiaier Kongress in »arms»»«'-
Drittes Stilet — verschiedenes: Kleine Mitteilungen.
in 2l>. Hefte des vorigen Jahrgangs der Grenzboten hat Otto
von Linstow aus einer Reihe von Betrachtungen über den In¬
stinkt der Tiere den Schluß gezogen: „Die seelischen Eigenschaften
der Menschen und der Tiere sind also nicht nur quantitativ,
sondern qualitativ verschieden, und darum ist der Mensch kein
höher entwickeltes Tier- das Darwin-Häckelsche Affenevangelium, das solches
lehrt, muß demnach als ein unbewiesenes, irrtümliches Dogma zurückgewiesen
werden"; und ein andrer Mitarbeiter der Grenzboten hat in einer reizenden
Satire die biologisch-rationelle Menschenzüchtung überaus geistreich verspottet.
Aber die Biologen arbeiten weiter, und da doch nicht alles Unsinn ist, was sie
sagen, so müssen wir von Zeit zu Zeit über das Ergebnis ihrer Arbeiten be¬
richten. In der soeben (bei der Thüringischen Verlagsanstalt in Eisenach und
Leipzig, 1903) erschienenen Politischen Anthropologie von Ludwig Wolt-
mann, dem Herausgeber der Politisch-anthropologischen Revue, ist das Poli¬
tische im ganzen verständig, sodaß mau vielem, wenn auch nicht allem, zu¬
stimmen kann. Die Ideale des Sozialismus und des politischen Liberalismus
werden darin zerstört durch den Hinweis auf die unausrottbaren Unterschiede
in der Begabung der Individuen und der Nassen, auf die Notwendigkeit fort¬
dauernder Konkurrenz- und Auslesekämpfe, und auf die Tatsache, daß gesell¬
schaftliche Organisation ohne Überordnung und Unterordnung nicht denkbar
ist, allgemeine Freiheit und Gleichheit also unmöglich sind. Dagegen müssen
wir den Versuch, diese altbekannten Wahrheiten ans den Darwinismus zu
gründen und durch diesen erst verständlich zu uneben, für verunglückt erklären.
Zu solchen Versuchen treibt der berechtigte und edle philosophische Drang, die
Welt als eine Einheit zu begreifen. Aber Illusion ist es, zu glauben, dieses
Ziel könne auf darwinischen Wegen erreicht werden oder sei gar schon erreicht:
organische Einheit geht niemals von unten, sondern immer von oben aus,
nicht vou der Peripherie sondern vom Zentrum, wie ja gerade Woltmann für
das politische Gebiet nachweist. Einbildung ist es, zu glauben, man habe die
Entstehung der Arten begreiflich gemacht, wenn man einige Kräfte und Um¬
stände nachgewiesen hat, die möglicherweise beim Entwicklungsprozeß mitgewirkt
haben; Einbildung, wenn man die Vererbung zu versteh» glaubt, weil man
gesehen hat, wie sich bei der Befruchtung eines Eis des Pferdespulwurms die
Chrvmatinkörnchcn der Eizelle und der Samenzelle vereinigen. Gewiß ist es
höchst interessant, der Natur so tief in ihre Werkstatt hineinschauen zu können.
Selbstverständlich ist es auch, daß sich an dieser Stelle und in diesem Augen¬
blick das Geheimnis der Vererbung vollzieht, und für wahrscheinlich dürfen
wir es halten, daß die von den Zoologen beobachteten Körperchen, die ein so
wunderliches Spiel aufführen, die Träger der Vererbung sind. Aber je genauer
man beobachtet, was dort vorgeht, desto unbegreiflicher erscheint doch dem sich
hinein Versenkenden das Wunder. In mikroskopisch kleinen Körperchen sollen
unzählige uoch weit kleinere enthalten sein, deren jedes ein Baumeister von
übermenschlicher Kraft und Geschicklichkeit ist, indem jeder dieser kleinen Bau¬
meister weiß, um welche Stelle des sich entwickelnden Leibes er sich begeben,
zu welcher Zeit er seine Arbeit beginnen muß, wie er es anfangen muß, ans
unorganischen und organischen Stoffen Blut, Knochenmasse, Muskeln, Nerven,
Haare, Federn, Horn zu bereiten, und wie er mit seinen Milliarden Kameraden
zusammenwirken muß, daß entweder die Gestalt und das mit einem bestimmtem
Muster gezeichnete Flügelpaar eines Schmetterlings, oder die Kehle der Nachtigall,
oder der ungeheure Leib des Walfisches, oder die griechische oder die römische
oder die Stumpfnase eines Menschen von bestimmter Nasse herauskommen, und
daß nicht der Bart sproßt, bevor die Zähne wachsen, sondern daß jede Neu¬
bildung die ihr gesetzte Zeit innehält. Den Wert solcher Erklärungsversuche
haben wir in den Artikeln des Jahrgangs 1897 über Neudarwinismus und
Vererbung, die dann nnter dein Titel „Sozialauslese" in Buchform erschienen
sind, so genau abgeschützt, daß wir nicht noch einmal darauf zurückkommen
wollen. Jetzt wollen wir ein paar andre Seiten der Sache betrachten.
Die eine ist die fortwährende Verwechslung von Grund und Folge bei
den Naturforschern darwinischer Richtung. Akts der Deseendenztheorie wollen
sie Veränderungen erklären, die innerhalb des Gebiets der menschlichen Er¬
fahrung vor sich gehn. Aber gerade umgekehrt sind es ja diese Erfahrungen,
ans denen sie ihre Hhpothesen ableiten. Daß Muskeln durch Übung gestärkt
werden, und daß die Beschäftigung, die ein Mensch jahrelang treibt, die einen
seiner Glieder und Organe ans Kosten der andern entwickeln oder auch die Ver¬
kümmerung des ganzen Leibes zur Folge haben, also den Menschen innerlich
und äußerlich, seiue Organe und seine Gestalt verändern kann, das ist eine
Erfahrmigstatsache. Aus dieser Tatsache folgern die Anhänger Lamarcks, die
durch einseitige Übung oder Nichtübung eiues Gliedes oder Organs bewirkte
Umbildung könne, wenn sich die Änderungen durch Vererbung summieren, im
Laufe der Zeit eine neue Gattung hervorbringen. Daß der Pflanzenzüchter
dnrch Bvdenmischungen die Farben der Blumen und den Geschmack der Früchte
ändern kann, daß der Tierzüchter durch Auslese der Zuchtexemplare je nach
Beliebet, Pferde für Lastwagen oder Nenner, Fleischschafe oder Wollschafe
züchten kann, das sind uralte Erfahrungstatsachen, ebenso, daß Behaarung,
Haut-, Augen- und Haarfarbe vom Klima beeinflußt werden. Daraus folgern
Darwin und sein Schiller, daß durch Anpassung an die äußern Lebensbedin-
gnügen und durch eine von der Natur geübte Zuchtwahl unter den mehr und
minder Angepaßten nicht allein neue Spielarten, sondern auch neue Arten
entstehn können- Also nicht die neuen Hypothesen erklären die altbekannten
Vorgänge, sondern ans diesen werden Hypothesen abgeleitet zur Erklärung von
vorgeschichtlichen Vorgängen, von denen kein Mensch weiß, ob sie sich überhaupt
ereignet haben- Daß wenn sich Abänderungen vererben sollen, die Änderung
auch die Zeugungsstoffe ergreifen muß, ist selbstverständlich- Wie aber ein Ge¬
lehrter sich einbilden kann, die Entstehung neuer Arten begriffen zu haben, weil
er sie auf den Träger der Vererbung, auf das Keimplasma zurückgeführt hat,
das ist unverständlich. Am auffälligsten wird die Verwechslung, wenn sie sich,
wie bei Woltmann, bis ins Politische fortsetzt. „Nein physiologisch betrachtet
sind mutterrechtliche und vaterrechtliche Erbfolge gleichwertig, da mütterliche und
väterliche Keimzellen in ihrer Erdkraft nicht verschieden sind." Was in aller
Welt sollen hier die Keimzellen? Nichts sollen sie, als gedankenlosen Lesern
die Meinung beibringen, die Biologie könne Vorgänge des Menschenlebens er¬
klären und Maßregeln der Gesetzgebung begründen. Daß sich die Eigenschaften
der Mutter ebenso oft vererben wie die des Vaters, das weiß man von An¬
beginn. Daraus kann, ja muß der Biologe folgern: also hat die Eizelle die¬
selbe Kraft, Eigenschaften zu vererben, wie die Samenzelle, aber für den
Politiker ist diese Folgerung wertlos; der physiologische Prozeß, über den sich
die Naturforscher den Kopf zerbrechen, geht ihn nichts an; ohne Darwin hat
man längst gewußt, daß der Sohn einer Zigeunerin weder zum Schneider noch
zum Finanzminister taugt. Erst Darwin, heißt es um einer andern Stelle,
habe uns die physiologischen Gesetze, denen die politische Geschichte unterworfen
sei, tiefer versteh» gelehrt. „Es ist die natürliche Zuchtwahl im Dnseinskampf
der Raffen, Stämme, Geschlechter, Familien und Individuen, die die soziale
Geschichte des Menschengeschlechts beherrscht. Die Überlebenden, die Sieger in
der natürlichen Auslese find die durchschnittlich und relativ Besten, in mancher
Hinsicht die absolut Beste,?, die berufe,? sind, aus ihren Taten und Leistungen
rechtlich giltige Vorzüge und Ansprüche herzuleiten." Nun, daß die Besten zur
Herrschaft berufen und die Schlechten zur Sklaverei verdammt sind, hat schon
Aristoteles und lange vor ihm Homer gewußt. Aber daß sich die Herrschaft
der Besten immer auf dem von Darwin beschriebnen Wege verwirkliche, das ist
einfach nicht wahr, und Woltmann selbst gesteht gelegentlich, daß die Welt¬
geschichte manchmal auch anders verläuft, zum Beispiel wenn er vor der Gefahr
der Verslawung des deutschen Ostens warnt. Die echten Griechen und die
echten Römer sind in einem Gemisch schlechterer Völker untergegangen, und
einige der edelsten Germanenstümme sind in den Zeiten der Völkerwanderung
teils spurlos verschwunden, teils haben sie durch Mischung mit Romanen
und Slawen deren Kraft gemehrt und die Macht der Germanen geschwächt.
Heute wünschen und hoffen wir zwar, daß wir Deutschen oben bleiben in der
immer stärker anschwellenden slawisch-tatarischen Völkerflut, aber wenn es mehr
und mehr die natürliche Auslese auf dem Warenmarkt ist, was die Schicksale
der Völker entscheidet, wird sich unsre Hoffnung kaun? erfüllen. Kurzum: die
modernen Anthropologen stellen die Wissenschaft auf den Kopf. Aus den uns
bekannten Vorgängen im Menschen-, Tier- und Pflanzenleben kann man Fol¬
gerungen ziehn auf das, was in Urzeiten geschehn sein mag, und n. a. auch
Hypothesen über die Entstehung der Arten aufbauen, aber aus diesen Hypo¬
thesen darf man keine Regeln für die praktische Politik ableiten; alle die Regeln,
die scheinbar so abgeleitet werden, hat man längst gewußt; auf der Grundlage
der geschichtlichen Erfahrung ruhn sie sicher. Der biologische Teil des Buches
von Woltmann ist sehr interessant, aber daß er die Grundlage des politischen
Teils sei, bildet sich der Verfasser nur ein; der politische Teil steht, soweit er
haltbar ist, für sich allein fest, und der biologische hat sich aus der Wissenschaft,
in die er hineingehört, nur in das Werk verirrt.
An die Einheit, die organische Einheit der Welt zu glauben, ist dem
Idealisten Bedürfnis; aber uns darwinischen Wegen wird sie nicht gefunden.
Selbstverständlich wird die Einheit nicht gewußt, sondern nur geglaubt, und
der Gläubige wird täglich neue Spuren von ihr entdecken. Wunderschön sagt
Frenssen im Jörn Abt: „Wer weiß etwas? Das ist die gemeinsame Sünde der
Jünger Darwins und der Jünger Luthers, daß sie zu viel wissen. Sie sind
dabei gewesen, die einen, als die Urzelle Hochzeit machte, die andern, als Gott
in den Knieen lag und wehmütig lächelnd die Menschenseele schuf. Wir aber
sind Anhänger jenes armen, staunenden Nichtwissers, der das Wort gesagt hat:
Daß wir nichts wissen können, das will uns schier das Herz verbrennen. Wir
staunen und verehren demütig neugierig. Wir erzählen, was wir gesehen haben,
und was uns erzählt worden ist, und machen nicht einmal den Versuch, das
Gesehene und Gehörte zu deuten." So bescheiden, wie es der letzte Satz fordert,
sind wir andern doch nicht. Wir versuchen, zu deuten. Wir spüren den Ge¬
setzen nach, die alles Geschehen regeln, und finden, daß die Vererbungs- und
die Auslesegesetze gleichermaßen in der Welt der Pflanzen, in der der Tiere,
in der der Menschen, die Anslesegesetze sogar in der der Waren gelten. Wir
bemerken, daß es eine Physik des Geistes gibt, daß wir von einem Vorstellungs-
mechauismus, daß wir anch im Gebiete des Geistigen von Polarität, vou
Erhaltung der Kraft, von Reibung und Stoß, von mechanischem Vorteil lind
entsprechendem Nachteil und vom Parallelogramm der Kräfte reden dürfen.
Und nicht bloß in den Gesetzen und in den Vorgängen, auch in den orga¬
nischen Gebilden finden wir eine Fülle von Analogien mit dein Menschen, seiner
Gesellschaft, seinen Kultnrgebilden. Woltmann meint, manche Soziologen gingen
mit ihren Analogien bis an die Grenzen des Komischen, und er nennt es baren
Unsinn, daß Schäffle die Schutzgewebe an der Oberfläche des Körpers: Haare,
Nägel, Stacheln, mit Schutzmauer», Zäunen und Verpacknugen, und daß ein
andrer Soziologe den Umlauf der Kaufmcmnsware im Gesellschaftskörper mit
dem Blutumlauf, die Straßen und Eisenbahnen mit den Adern vergleicht.
Diese Vergleichungen sind aber weder unpassend noch lächerlich; es gehört
Maugel an Phantasie dazu, das Treffende darin nicht zu sehen, nicht zu be¬
merken, wie voll von Analogien die Welt ist, wie wunderbar die Lebensprozesse
der Individuen und der Geschlechter, die Lebensprvzesse und die Mechanismen
miteinander übereinstimmen, wie mau im Kleinsten das Größte, im Größten
das Kleinste wiederfindet, wie das Lebendige und das Unlebendige einander
gegenseitig abbilden. Darin, in dieser Anordnung und Harmonie, die eins eine
ordnende Vernunft hinweist, liegt die Einheit der Welt, nicht in der Ab¬
stammung aller lebendigen Geschöpfe samt dem Geiste ans der einen Urzelle.
Das Material, mit und aus dem der ordnende Geist die Welt aufgebaut hat,
ist gleich giltig.
Daß aber bei aller Übereinstimmung der Naturgebiete ein jedes, vor allem
das des Menschlichen, seine eignen, besondern Gesetze hat, die nicht aus den
Gesetzen eines tieferstehenden Gebiets abgeleitet werden, können, kann man unter
andern an einer Polemik Woltmanns gegen Ratzel zeigen. Gegenüber der
Theorie von der anthropologischen Bedingtheit der politischen Kultur vertrete
Ratzel die Ansicht, daß die Kluft zwischen zwei Gruppen der Menschheit ganz
unabhängig sein könne vom Unterschiede der Begabung, Er spreche in der Ein¬
leitung seiner Völkerkunde von dem Volke der Tubu, das seine Lebensweise
seit Herodots Zeit nicht geändert habe, so arm und so reich, so weise und so
unwissend, so begabt und so tüchtig sei wie damals, während wir Europäer so
gewaltige Fortschritte gemacht hätten; er frage: „Sind wir aber als einzelne
Menschen so viel anders geworden? Sind wir unsern Ahnengeschlechtern viel
überlegner an Kraft des Körpers und des Geistes, an Tilgenden und Fähig-
keiten, als die Tubu den ihrigen? Mail darf zweifeln. Der größte Unterschied
liegt darin, daß wir mehr gearbeitet, mehr erworben, rascher gelebt, vor allem
aber, daß wir das Erworbne bewahrt haben und zu nützen wissen. Unser
Besitz ist größer, lebcnsreicher und jünger." Woltmmm antwortet ans die
Frage: „Daß die Germanen mehr gearbeitet, erworben, bewahrt haben, das
ist der springende Punkt, das ist die Leistung ihrer natürlichen Höherbegabnng
Ihr Erfindnngs- und Unternehmungsgeist, sowie ihr kriegerisches und organi¬
satorisches Talent, das ihre Rasse anthropologisch von der der Tuhr unter¬
scheidet, ist der natürliche Quell ihrer höher» politischen und Kulturentwicklung."
Der Quell ohne Zweifel, aber nicht die einzige Ursache; ohne Niederschlüge
versiegt der Quell. Hat der Verfasser nie etwas von deutschen Vauerngemeinden
gehört, die den Lehrer, den Pfarrer und den Landrnt, vielleicht auch einen
wohlwollenden Gutsbesitzer zur Verzweiflung bringen, weil sie bei ihren nr-
grvßväterlichen Gewohnheiten bleiben und sich zu keiner noch so notwendigen
Änderung ihres Wirtschaftsbetriebs bewegen lassen? Heute, wo der Strudel
des modernen Treibens schon die entlegensten Dörfer ergriffen, die Landleute
zu Spekulanten gemacht und ihnen das echte Bauernleben verleidet hat, mag
es ja keine solchen »lehr geben, aber bis vor dreißig Jahren gab es noch welche.
Auch der Germane macht weder Erfindungen uoch Fortschritte, wenn er, einzeln
oder in kleinen Gruppen, abseits vom Weltgetriebe lebt. Was haben die
Skandinavier, die reinblntigsten Germanen, für den Kulturfortschritt geleistet,
ehe sie der moderne Verkehr in dieses Getriebe hineingezogen hat? Nämlich
in ihrer Heimat; in England, in Frankreich, in Unterhalten, in Amerika sind
ihre Nachkommen Triebkräfte des Fortschritts geworden. Gewiß, die Tubu
würden auch in Europa wahrscheinlich keinen Kopernikus und keinen Kant
hervorgebracht haben, aber ein in die Heimat der Tüb» versetzter Germanen-
stamm würde so konservativ geblieben sein wie diese. Die Nachkommen der
indischen und der persischen Arier sind versumpft, und die dnrch ihre Keuschheit
berühmten Wandalen sind, ehe sie untergingen, den Versuchungen des Klimas,
des Reichtums und des schlechten Beispiels erlegen.
Endlich würden die Germanen auch in Europa nicht geworden sein, was
sie sind, wenn sie nicht als Schüler der Römer und des römischen Klerus die
rationelle Landwirtschaft samt den Anfangsgründen der Künste und der Wissen¬
schaften erlernt hätten, und wenn sie nicht von ihren römisch und christlich ge¬
bildeten Großgrundbesitzern in Hörigkeit hinabgedrückt und zum Arbeiten ge¬
zwungen worden wären; denn was Woltmann ganz richtig von den Menschen
im allgemeinen sagt, das; niemand ungezwungen arbeitet, das gilt ganz besonders
von deu Germanen, wie sie ursprünglich waren. Schließlich mußten ihre ost-
elbischen Kolonisten durch eine reichliche Beimischung von Slawenblut so viel
von ihrer eingebornen Eigenwilligkeit und Freiheitsliebe verlieren, daß sie sich
in die strengste militärische Disziplin fügen konnten, weil sonst der preußische
Staat nicht hätte entstehn und mächtig werden können. Es mußten also, die
Germanen zu dem zu machen, was sie sind, ihrer Begabung eine Menge
Fügungen der Vorsehung zu Hilfe kommen, von denen die beiden wichtigsten
sind, daß sie nach Nord- und Mitteleuropa versetzt wurden, und daß um die
Zeit ihrer Berührung mit den alten Kulturvölkern die christliche Kirche ge¬
gründet wurde. Die Weltgeschichte läßt sich also nicht aus dem menschlichen
Keimplasma herausspinnen und noch weit weniger aus dem der Spulwürmer,
sondern sie ist das Ergebnis göttlicher Veranstaltungen, zu denen allerdings
auch die verschiednen Nassencharaltcre gehören.
So weit Ratzel in der oben angeführten Stelle die UnVeränderlichkeit des
Massencharakters betont und die weltgeschichtlichen Veränderungen der Völker
nur in den verschiednen Ergebnissen ihrer Kulturarbeit sieht, steht Woltmann
nicht im Gegensatz zu ihm. Diese UnVeränderlichkeit ist ja gerade das Grund-
dogma der nendarwinischen Theoretiker wie Tille, Ammon und Woltmann, und
sie haben es bis zur UnVeränderlichkeit des Keimplasmas fortgesponnen, mit
der sie — ein weiterer Fall der oben beschriebnen Verwechslung von Grund
und Folge - ihr Dogma begründen zu können glauben. In dieser Lehre
nun, der man beistimmen muß, wenn statt UnVeränderlichkeit der Rasseneigen-
tümlichkeit große Beharrlichkeit gesetzt wird, liegt einer der stärksten Beweis¬
gründe gegen den Darwinismus offen zutage. Annehmen, daß planlose
mechanische Anstöße eine unlebendige, form- und strukturlose Masse zu einem
fein organisierten lebendigen Wesen umbilden könnten, das verdaut, wächst, em¬
pfindet und denkt und eine Gestalt von beharrlichem, vererbbarem Typus an¬
nimmt, daß auf diesem Wege von solchen Typen eine unendliche Menge ent¬
stehn könne, darunter Geschöpfe von der Schönheit der Rose, vom Nährwert
des Brotkorns, von der wunderbaren Organisation der Biene und ganz droben
die Menschen mit ihren Gelehrten und Künstlern, ihren Helden und Heiligen,
ihren Maschinen, Theatern und Kirchen — diese Annahme ist ja ein so toller
Unsinn, daß verständige Menschen gar nicht mehr darüber streiten sollten. Auch
die Jahrmillionen des Entwicklungsprozesses machen den Unsinn nicht zum
Sinn; auch in Jahrmillionen der Mischung kommt ans untereinander gewvrfnen
Buchstaben keine Ilias heraus. Aber sehen wir von dem undenkbaren materia¬
listischen Uranfang ab und fassen wir nnr das Nähere ins Auge! Wenn sich
zwei verwandte Tierarten miteinander entweder gnr nicht begatten, oder wenn
die Sprößlinge von Kreuzungen nicht fortpflanzungsfähig sind, so gelten die
beiden Arten nicht als Spielarten sondern als voneinander verschiedne echte
Arten. Mulatten und Mestizen pflanzen sich fort, die Menschenrassen sind also
nur Spielarten, nicht verschiedne „Tierarten"; sie sind näher miteinander ver¬
wandt als Pferd und Esel. Noch weniger kann es jemand einfallen, von
Deutschen und Polen, Engländern und Iren zu behaupten, daß sie Wesen ver-
schiedner Art seien. Trotzdem bleibt der Rassencharakter nicht bloß der drei
Hauptrassen sondern auch der einzelnen kaukasischen, mongolischen und Neger-
Volker unter allen Stürmen der Geschichte, auf allen Wanderungen, bei allem
Kulturfortschritt und in allen ökonomischen Umwälzungen unverändert; nur
Rassenmischung erzeugt neue Charaktere, wenigstens behaupten das die Anthro¬
pologen aus Gobiueaus wie die aus der nendarwmischen Schule. Wenn nun
die Spielart der Spielart des Menschengeschlechts bei aller sonstigen Anpassungs-
fähigkeit ihren Rasseucharakter auch gegen die mächtigsten Einwirkungen mit
wunderbarer Widerstandskraft behauptet, wie will mau uns einreden, bloße
äußere Einwirkungen könnten eine Art in die andre umschaffen und, immer
höhere Arten züchtend, den Molch zum Meuscheu „emporentwickcln" ?
In allem, was nicht mit dem geliebten Darwinismus zusammenhängt,
urteilt Woltmann verständig. So weist er die Vorstellung gewöhnlicher Fort-
schrittsschwärmer zurück, als ob das ganze Menschengeschlecht gleichmäßig fort¬
schritte und sich „zu gemeinsamen Kulturzieleu hinbewegte." Die verschiednen
Völker erzengen nach seiner wie nach unsrer Ansicht ihre eignen verschiednen
Kulturen, und die Gesamtkultur gleicht einem vielverzweigten Burne, der an
den Spitzen seiner Zweige die Kulturen der begabtesten Nassen trägt. Wir
haben dieses Bild öfter gebraucht, und zwar vom Menschengeschlechte selbst,
nicht bloß von seiner Kultur. Man kann es auch zu einen: Bilde der ganzen
organischen Schöpfung erweitern, und da macht denn auch diese Ansicht wieder
die darwinische Ansicht von der Entwicklung unwahrscheinlich. Nach dieser
müßten doch in der Nhnenreihe, die zum Meuscheu führt, nach und nach alle
eigentümlichen Vorzüge des Menschen hervorgetreten sein. Das ist aber nicht
der Fall. Wenn wir einmal zugeben, daß die zu stärkerer Differenzierung
ihrer Organe ansteigenden Stufenfolgen einander ähnlicher Geschöpfe als Ahnen-
reihen aufgefaßt werden können, so finden wir die menschlichen Fähigkeiten
an verschiedne Reihen verteilt. Die Hand kann der Mensch vom Affen oder
von einem ihm lind dem Affen gemeinsamen Stammvater geerbt haben, aber
nicht den Fuß; die Gestalt des Knochengerüstes wohl, aber nicht die Stimme,
den Gesang, das (bloß anatomische) Sprachvermvgen; diese Gabe ist den uns
in Gestalt, Bekleidung lind Gliedmaßen so unähnlichen Vögeln zu teil geworden.
Die Idee des Werkzeugs scheint der Affe, der den Stab gebraucht, gefaßt zu
haben, aber Bauten aufführen, das tun nicht die Assen, sondern die Bienen,
die Hummeln, die Vögel, die Biber. Zu den intelligentesten Tieren gehören
die Affen, aber es ist mehr Bosheit als Güte in ihnen; die Güte und die
Treue findet man beim Pferde und beim Hunde, die nicht in unsre sogenannte
Ahnenreihe gehören. Nebenbei gesagt, es ist merkwürdig, wie nachdrücklich die
Darwinianer die Schädelbildung »ut das Gehirngewicht der Affen betonen,
wie vorsichtig dagegen sie sich bei der Vergleichung des Affenskeletts mit dem
menschlichen um die Prognathie herumdrücken; auch Woltmann streift sie kaum.
Oder vielmehr, es ist nicht merkwürdig, denn betrachtet man den Affenschädel
im Profil, so sieht man auf der Stelle, daß der Affe ein Tier ist und nicht
unser Großpapa. In der Sozialciuslese haben wir geschrieben: „Der wichtigste
Teil des Skeletts, der Kopf, ist an einem Orang-Ulan nicht menschenähnlicher
als an einem Nilpferde (man vergleiche die Zeichnungen in Reelams »Leib
des Menschen«), und der Schädel eines Australiers läßt sich uoch ebenso deut¬
lich wie der eines Kaukasiers vom Affenschädel unterscheiden." Gewiß, die
organische Schöpfung ist die Vorbereitung auf die Menschenschöpfung. und
der Mensch ist ihre Krone, aber nicht ihr Sprößling im Sinne der leiblichen
Abstammung. Die im Menschen vereinigten leiblichen und seelische,? Gaben
sind im Pflanzenreich und im Tierreich breit auseinandergelegt, und jede
einzelne ist zum Merkmal eiuer besonder» Art geworden, sodaß sie der Mensch
nicht auf dein Wege der Vererbung von einer einzelnen Tierart empfangen
haben kann. Und der Geist, der die Sprache, die Wissenschaft, die Kunst,
die Religion, die Gesellschaftsordnung, die Kultur erzeugt — wo fände der
sich in der Tierwelt? Daß der Schöpfer nicht jede neue Art aus unor¬
ganischen Stoffen gebildet, daß er vielmehr die eine aus der rudern hat hervor¬
gehn lassen, finden anch wir wahrscheinlich; er kann sich dabei der von Lamcirck
und Darwin beschriebnen Hebel der Entwicklung bedient, und er kann anch für
die Menschenschöpfung eine Tierart verwandt haben. Ob es der Fall gewesen
ist, wissen wir nicht, und können wir in unserm irdischen Leben niemals er¬
fahren.
Den Versuch, die Politik ans die Biologie und ans die sogenannte natür¬
liche Schöpfungsgeschichte zu gründen, müssen wir als gescheitert ansehen. Daß
die natürliche Begabung der Individuen und der Völker in der auswärtigen
wie in der innern Politik eine entscheidende Rolle spielt, hat man immer ge¬
wußt. Der einzige Nutzen, der vielleicht aus den biologischen Studien für die
Politik gezogen werden kann, ist, daß man dein Verkehr der Geschlechter größere
Aufmerkscimkeit zuwendet. Daß Ehen mit Menschen schlechterer Nassen die
guten Rasse» verschlechtern, und daß entartete Menschen entartete Kinder zeugen,
war von jeher bekannt — Woltmann belegt das mit einer Menge von Zeug¬
nissen —, aber die Völker und die Regierungen denken nicht immer daran, und
so müssen wir es den Anhängern Darwins Dank wissen, daß sie so nachdrück¬
lich daran erinnern. Es ist nur die Frage, ob und wie die Mahnung wirken
wird. Wenn die Deutschen die Slawen, die sie beherrschen, zwangsweise
germanisieren und dadurch die Vermischung fördern, anstatt sie zu verhindern,
tun sie das Gegenteil von dem, was die politische Anthropologie fordert. Ein
Gesetz, das allen Kranken und Degenerierten verböte, Kinder zu zeugen, wäre
sehr zu wünschen, aber könnte man es durchsetzen, und würde es ausführbar
sein? Und über die zwei angedeuteten Maßregeln hinaus wird mau nichts
tun können, als beiß man jeden jungen Mann und jede Jungfrau vor der Ehe¬
schließung mit einer körperlich, geistig oder moralisch schlechten oder angefaulten
Person warnt. Jeder Versuch rationeller Menschcnzüchtung würde heute der
Lächerlichkeit verfallen, und mit Recht. Aus der Weltgeschichte sind zwei Fülle
bekannt — Woltmann erwähnt sie beide —, wo es nicht beim Versuch geblieben
ist. In Sparta hatte die Reinzucht die Wirkung, daß die neuntausend Spartiaten
Lykurgs im Laufe von sechshundert Jahren uns siebenhundert zusammenschmolzen;
und was aus dem arischen Herrcnvolke Indiens geworden ist, das sich, als
Kaste hermetisch abgesperrt, nicht einmal durch den Hauch des Mundes eines
Menschen von niedrer Kaste verunreinigen lassen mochte, das ist uns erst jüngst
wieder einmal zu Gemüte geführt worden, als ihre aufgeputzten Elefanten den
Einzug des englischen Vizekönigs verherrlichten, der mit einer Handvoll euro¬
päischer Soldaten ihr ZweihnndertnMionenreich beherrscht und ausbeutet. Wolt¬
mann selbst sieht ein, daß, auch wenn eine physiologisch richtige Züchtung Erfolg
verspräche, man sich zu ihr uicht entschließen dürfte, weil die Bedingungen all¬
gemeiner Vvlkskrnft und Volksgesundheit und die Voraussetzungen höherer
Kultur einander widersprechen. Das städtische, das industrielle, das Gelehrten- lind
das Künstlerleben bringen eine Menge unvermeidlicher Gesundheitsschüdigungen
mit sich; wo dagegen Gesundheit nud Körperkraft als einziges Ziel erstrebt werden,
wo, mit Konstantin Rößler zu reden, ein Olymp rotbäckiger Hausknechte das
Ideal ist, oder sagen wir lieber, ein Volk kräftiger Bauern und Jäger, da wird
es um Wissenschaft, Kunst, Technik und Industrie übel bestellt sein. So ver¬
mag also die Biologie den Regeln politischen Verhaltens, die nur auch ohne
si
! ach der Berechnung von Seeley hat England von 1688 bis 1815,
der Schlacht von Wnterloo, das heißt in einem Zeitraum von
126 Jahren allein mit Frankreich 64 Kriegsjahre gehabt, also
fast ein nnunterbrochnes Ringen zwischen diesen beiden damals
mächtigsten Staaten Europas. England kannte nur ein Ziel
in seinem Kampfe: Gewinnung der Seeherrschaft und damit Erwerbung von
Kolonien; Frankreich strebte zwei Zielen nach: es wollte die politisch führende
Stellung in Europa haben und zugleich die erste Seemacht werden. Daran,
daß es sich zwei Ziele steckte, ist es gescheitert. Sein Streben, in Europa die
erste Rolle zu spielen, war die wurde, verletzbare Stelle, an der Englands
Diplomatie einsetzte. Bei dem Kampfe, den Frankreich mit England ausfocht,
hatte es immer noch einen Gegner auf dem Festlande. Die englische Diplo¬
matie verband sich zunächst mit Habsburg gegen Frankreich, und sie über-
wand sogar ihren innerlichen Widerwillen gegen Friedrich den Großen undM
schloß mit ihm ein Bündnis gegen Frankreich. Auf die Dauer hat Frankreich
den Krieg nach zwei Fronten nicht aushalten können, und Napoleon der
Erste, der die aufkommende englische Weltherrschaft brechen wollte, verfiel
doch wieder in den schweren politischen Fehler, nicht alle seine Kräfte vereint
gegen England einzusetzen, sondern sie zugleich in Kämpfen mit Spanien, Italien,
Osterreich, Deutschland und Nußland usw. zu zersplittern. Mit Nelsons großem
Sieg bei Trafalgar erlangte England entscheidend die Zügel der Seeherrschaft,
die bis jetzt nicht wieder aus seiner Hand geglitten sind. Die große Kontinental¬
sperre Napoleons des Ersten erwies sich als ein vergeblicher Versuch, die
wirtschaftliche Stellung Englands zu brechen; im Gegenteil, sie stärkte Eng¬
lands See- und Handelsmacht. So betrug die englische Ausfuhr
also langsames Wachstum bis 1797, schnelles Wachstum während der Frei
heitskriegc. Auch innerlich hatte sich das Verhältnis zwischen Einfuhr und
Ausfuhr zu Gunsten Englands wesentlich verschoben. Man schätzt die Einfuhr
aus Deutschland nach England
Seit den Napoleonischen Kriegen hat kein Staat ernsthaft versucht, Eng¬
land in seiner Weltmachtstellung zu bedrohen, und die englische Politik ist deu
seit dem sechzehnten Jahrhundert eingeschlagnen Bahnen treu geblieben: keine
eignen Händel auf dem Kontinent zu suchen, sich nicht in die Wirren der
europäischen Völker einzulassen, sondern allein seine Stellung als Seemacht
zu sichern.
Überblickt man den dreihundertjährigeu Kampf, deu die Westmächte um
deu Erwerb der Neuen Welt untereinander geführt haben, in dem nach und
nach Spanien und Portugal, Holland und Frankreich zurückgedrängt wurden,
und aus dem allein England siegreich hervorging, so darf man nicht etwa
glaube», daß hier der Zufall die entscheidende Rolle gespielt habe. England
ging aus diesem jahrhundertelangen Kampfe als Sieger hervor, weil während
dieses .Kampfes die Engländer die Eigenschaften entwickelten, unter denen wir
uns jetzt das typische Bild eines Engländers vorstellen. Der stete ungebrochne
Wille, die Opferfreudigkeit der Nation für die Erreichung einer großen Auf¬
gabe, die innere Selbstzucht, die zu einer Selbstverwaltung und einer poli¬
tischen Freiheit führte, die noch hente unerreicht dasteht, die unverdrossene
Arbeit des Volkes, auch gegen widrige Schicksalsschläge seine Seemacht zu
stärken. Schließlich nannte es die besten Admiräle, die besten Seeleute und
die besten Schiffe sein eigen. Am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts
übertraf die englische Industrie in ihrer wirtschaftlichen Organisation, in ihrer
technischen Produktion allen kontinentalen Wettbewerb. Und die englische
Landwirtschaft stand an technischer Vollendung nicht hinter der Industrie zurück.
Sie hatte die Produktionskraft des Bodens in einer Weise entwickelt, daß die
kontinentale Landwirtschaft zu ihr als einem fast unerreichbaren Vorbilde
emporsah. Ein energischer Handel, ein weitsichtiger Uuternehmerstand, welt¬
wirtschaftlich geschult, sorgte für die Verwertung der einheimischen Hilfsquellen
und trachtete danach, sich die Völker des Erdkreises wirtschaftlich zu unter¬
werfen.
Erst nachdem die größten Wunden, die der Krieg Englands mit Napoleon
geschlagen hatte, vernarbt waren, suchte man nnn endgiltig mit dem Merkantil-
shstem, das fast dreihundert Jahre die Praxis in England beherrscht hatte,
zu brechen. Die Reformbewegung erstreckte sich über alle Gebiete des innern
wirtschaftlichen Lebens. Wir wollen hier nur kurz die Entwicklung des eng¬
lischen Zolltarifs berühren. England, Schottland und Irland waren dnrch
Zolltarife voneinander getrennt. Die erste und nächste Aufgabe Englands
war es, diese Länder zu einem einheitlichen Zoll- und Wirtschaftsgebiet zu¬
sammenzufassen. Erst 1822 gelang es Huskisson, Großbritannien mit einer
einzigen Zollschranke zu umgeben. Preußen, das uns immer als rückständig
gegenüber England geschildert wird, hatte schon durch das preußische Handcls-
und Zollgesetz vom 26. Mai 1818 alle Binnenzölle aufgehoben und eine Zoll¬
grenze um die Länder der preußischen Monarchie gezogen. Der alte englische
Zolltarif ähnelte in seiner Einrichtung den ehemaligen kontinentalen Zoll¬
tarifen. Die Ausfuhr wie die Einfuhr einer großen Anzahl von Waren
waren verboten oder doch durch Zölle erschwert, die einem Einfuhr- oder Aus¬
fuhrverbot gleichkamen. Diese ganze Maßnahme, den Warenumlauf durch
Zölle in gewisse Bahnen zu lenken, ist so völlig beseitigt worden, daß sich
auch heute weder in England noch auf dem Kontinent Reste davon erhalten
haben. In den Jahren von 1822 bis 1842 wurden in England zahlreiche
Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen aufgehoben, aber zu einer durchgreifenden
Änderung der alten Zollpolitik ging man zunächst noch nicht über. Erst als
durch die Agitation von Cobden und seinen beiden Helfern John Bright und
Gladstone die Stimmung in den Volksklassen immer mehr gegen die alte Zoll¬
politik erregt wurde, gaben anch die Regierung und das Parlament nach.
Im Jahre 1342 werden von 1200 Zolltarifpositionen 750 geändert, 1846
wurde der Zoll ans 430 Waren, unter ihnen der vielnmstrittene Getreidczoll,
aufgehoben, und 1849, fast genau zweihundert Jahre nach ihrer Einführung,
wurde die Navigationsakte aufgehoben, und bald darauf, 1854, gab man die
englische Küstenschiffahrt allen Nationen frei. Man vergleiche die Einführnngs-
zeit dieses Gesetzes — die englische Seeschiffahrt stand wesentlich hinter der
Frankreichs und Hollands zurück — mit der jetzigen Frcigebnngszeit: die eng¬
lische Seeschiffahrt und die Reederei stehen überwältigend groß da. Unter Glad¬
stone als leitendem Minister wurden weitere Warenzölle aufgehoben; 1860
gab es im Tarif nur noch 142, 1862 gar nur noch 47 Zollpositionen. Den
eigentlichen Zeitpunkt aber, wo der Freihandel in England völlig durchdringt,
bezeichnet der Abschluß des englisch-französischen Handelsvertrags von 18L0.
Cobden war der Unterhändler, Er erlebte noch den vollen Sieg der Frei¬
handelsidee in England und die Anerkennung dieser Theorie als das höchste,
wenn auch kaum erreichbare Ideal in Europa.
Sieht man auf die eben geschilderte Entwicklung des englischen Zoll¬
systems zurück, so wird man einer auffälligen Tatsache bald gewahr. Im
Jahre 1776 erschien des Schotte» Adam Smith großes Werk „Der Volks¬
reichtum," das sofort eiuen beispiellose!: Erfolg errang, und dessen Grundsätze
die zeitgenössischen Staatsmänner, namentlich Pitt der Jüngere, anerkannten.
Smith brach völlig mit der alten Merkantilpolitik. Er stand auf französischen
physiokratischen Ideen, wußte sie aber den praktischen Erfahrungen der eng¬
lischen Fabrikanten und der englischen Händler anzupassen. Weniger in der
blendenden Tiefe der Gedanken als in nüchterner Erwägung des praktisch
Erreichbaren liegt, wenn man von der klassischen Form absieht, die Größe
seines Werkes, hinter dem das ganze englische Unternehmertum stand. Man
hätte nun erwarten müssen, daß Gedanken, die ans so günstigem Boden er¬
wachsen waren, schnell in Gesetzgebung und Verwaltung eindringen würden.
Aber sehr, sehr langsam hat sich die Idee des freien Wettbewerbs in England
aus der Theorie in die Praxis umgesetzt. Fast fünfzig Jahre nach dem Er¬
scheinen des Volksreichtums beginnt die Agitation für Aufhebung der Waren¬
zölle kräftig, und fast vierzig weitere Jahre vergehn, ehe England in dem
Handelsvertrage mit Frankreich ganz in die Bahnen des Freihandels einlenkt.
Zu jener Zeit hatte England die unbestrittene wirtschaftliche Vormachtstellung
in Europa, und Grillparzer sagt: „Ihr schwärmt mit begeisterten Blicken für
die Freiheit der Länder, die ohne Fabriken."
Was wollte der englische Freihandel? Welchem Ziele strebte er zu? Ohne
uns in eine Betrachtung der Freihandelstheorie vertiefen zu wollen, müssen
wir doch einige wichtige Sätze dieser Theorie hervorheben.
Der Freihandel geht nicht vom nationalen Markte, sondern vom Welt¬
markt ans, nicht von der nationalen Arbeitsteilung, sondern von der inter¬
nationalen. Alle Volker sollen eine Gemeinschaft bilden, jedes Volk soll nur
das produzieren, wozu es durch seine Lage, durch die vorhandnen natürlichen
Hilfsquellen des Bodens, des Klimas usw., durch die besondre Befähigung
der Rasse am allergeeignctsten erscheint. In der internationalen Konkurrenz,
die der Freihandel herbeiführen soll, werden sehr bald die schwachen, künstlich
getriebnen Industrien und Gewerbe aus der Volkswirtschaft ausscheide!? müssen.
Jedes Volk liefert dann nur solche Güter, die es unter den günstigsten Ver¬
hältnissen und in technisch höchster Vollkommenheit zu produzieren vermag.
Nur die wirtschaftlich am billigsten gestellte Produktion kann sich innerhalb
des allgemeinen Freihandelsgebiets behaupten und erhalten, dagegen werden
die vom internationalen Standpunkt mit erhöhten Produktionskosten betriebncn
Gewerbe ausgeschieden und vernichtet. Jedes Volk soll nur das produziere»,
was es am besten produzieren kann. Indem es sich weise auf die ihm geeignetsten
Produktionsgebiete beschränkt, erreicht es ans diesen eine Höhe des technischen
Betriebs, die von den andern Nationen nicht erreicht werden kann; mit andern
Worten, es produziert am billigsten. Jede Verbilligung der Produktion aber
steigert den Vorteil des Konsumenten.
Der internationale Markt des Freihandclsgebiets bietet dann in seiner
Arbeitsteilung, in seinem ungehinderten Zusammenfluß aller Arbeitsprodukte
das Bild einer organischen Volkswirtschaft, während jetzt die einzelnen Staaten
durch Unterstützung kostspieliger Prodnktionsformen mit Vergeudung eines
großen Kapital- und Arbeitanfwandes einer Nationalwirtschaft zustreben. Die
Begrenzung des nationalen Marktes muß notwendig eine Verteuerung der
Produktion mit sich bringen, und das bedeutet eiuen wesentliche« Nachteil des
Einkommens aller Konsumenten.
Bei der internationalen Arbeitsteilung, wie sie sich auf dem Weltmarkt
gestaltet, findet innerhalb der durch Freihandel verbundnen Völkergemeinschaft
ein einziger Güteraustausch statt. Der gegenseitige Austausch der einzelnen
Völkergrnppen kaum aber nach den Gesetzen der Preisbildung weder die kaufende
uoch die verlaufende Nation schädigen. Es gibt innerhalb dieses Wirtschafts¬
gebiets keine Differenzen zwischen Ein- und Ausfuhr, keine sogenannte aktive
oder passive Handelsbilanz.
Eine solche wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Völker hat aber
weitere politische Folgen. Die Kriege entspringen dem wirtschaftlichen Jntcr-
essenstreit der Nationen. Mit dem Weltmarkt fällt die Reibung zwischen den
einzelnen Staaten weg; es gibt eine Bolksfamilie, getrennt durch Sprache,
Geschichte, Nasse, aber in einer Arbeitsgemeinschaft zusammengefaßt. An die
Stelle der nationalen Eigenproduktion tritt internationale arbeitsteilige Pro¬
duktion. Mit der Durchführung des Freihandels gibt es leine Kriege zwischen
Völkern mehr; kein Militär, keine Flotte braucht erhalten zu werden, kein
Staat geht ans Eroberungen oder ans Erwerbung neuer Kolonien ans. Cobden
predigte das Schlagwort: „An die Stelle des jetzt herrschenden Militarismus
tritt dann der Industrialismus."
Dies in Kürze die von den Freihändlern aufgestellte Theorie.
sehen wir nun zu, wie sich die Verhältnisse in England nnter der Frei¬
handelstheorie entwickelt haben. Cobden behauptete, England brauche seine
teure Flotte nicht mehr, die Wohlfeilheit seiner Produkte garantiere seinen
Welthandel; der Wegfall der Flotte bedeute eine Steigerung des Wohlstandes
des Landes. Ferner dürfe England keine neuen Kolonien erwerben, Kolonien
seien eine Last, man müsse die Politik dahin richten, sie sobald als möglich
selbständig zu macheu, Ideen, die besonders unter dem Ministerium Gladstone
England praktisch zu verwirklichen suchte. Das Band, das England mit seinen
Kolonien verband, wurde damals immer lockerer, es herrschte die „Politik der
Nachgiebigkeit"; so verzichtete England 1863 auf die Schutzherrschaft der
Ionischen Inseln, und so gab Gladstone 1881 gegen die Bnrenrepubliken in
Südafrika nach.
Während man in England in der Wirtschaftspolitik noch an der Frei¬
handelstheorie festhält, beginnt vom Ausgange der siebziger Jahre ab sich
zuerst laugsam, dann aber in verstärktem Maße auf dem Gebiet der äußern
Politik ein Umschwung bemerkbar zu machen. Dieser Umschwung zeigte sich
nicht etwa in den Worten der englischen Staatsmänner, wohl aber in ihren
Taten. D'Jsraeli erklärte 1876, England sei keine erwerbsüchtige Macht, es
sei auf der Erde nichts vorhanden, was es sich wünschen könne. Und doch
vergrößerte er die englische Macht um Natal, Cypern, Ägypten, Birma, und
sein Nachfolger Salisbury erklärte 1899: „Wir suchen keine Goldfelder, wir
suchen teilten Landbesitz, wir wünschen nichts weiter als gleiche Rechte für die
Männer aller Nassen." Während so die Reden der englischen Staatsmänner
auf die Freihandelssätze gestimmt sind, erweitert sich der englische Kolonialbesitz
zusehends. 1866 12,6 Millionen Quadratkilometer, 1899 27,8 Millionen
Quadratkilometer, Zunahme 15,2 Millionen Quadratkilometer.
Hand in Hand mit dem Kolonialerwerb ging seit den achtziger Jahren
die Verstärkung der englischen Marine. Es betrugen in der englischen Kriegs¬
flotte:
Nicht so markant wie auf dem politischen Gebiete ist der Rückgang der
Freihandelsidee auf dem wirtschaftlichen, aber auch da mehren sich in den
letzten zwei Jahrzehnten die Anzeichen einer Umkehr. Bis in die siebziger
Jahre hinein konnte die Industrie auf dem Festlande der englischen keine ernst¬
hafte Konkurrenz machen. Erst seit den achtziger Jahren begegnet England
ans seinem eignen Markt, dann in seinen Kolonien in Australien und Indien
und schließlich auf den Märkten von Japan lind China und Amerika einem
immer ernsthafter» Wettbewerb, der den Preis drückte, den Absatz einheimischer
englischer Produkte hemmte.
Diese Konkurrenz bleibt nicht ohne Rückwirkung auf das wirtschaftliche
Denken der heutigen Engländer. Zunächst sieht sich die Industrie bedroht;
sie verlangt nach Schutz vor der internationalen Konkurrenz. Im eignen Lande
ermnchst ihr im englischen Zwischenhandel ein energischer Gegner. Für diesen
Handel sind nicht nationale Interessen maßgebend; er will nach dem Grund¬
satz arbeiten, die Ware dort einzukaufen, wo sie am billigsten produziert wird,
und dort zu verkaufen, wo sie den höchsten Preis erlangt. Die alte Gegnerschaft
zwischen Warenerzeugung und Warenvermittlung, die, als einst Cobden auf¬
trat, zurückwich und sich dann in der Freihandelsidee einheitlich zusammenfand,
lebte wieder auf. Aber wohl in keinem Lande lassen sich Reformen schwerer
durchführen als in England. Wollte die Industrie irgend etwas erreichen,
so mußte sie versuchen, ihre Wünsche dem gegebnen Nahmen der heutigen
englischen Wirtschaftspolitik anzupassen. Der gerade Weg konnte nicht zum
Ziele führen; mir mit einer den wahren Sachverhalt verschleiernden Gesetz¬
gebung war etwas zu erreichet!, Und nur von hier ans kann man die 1887
erlassene Nerenancliss NarKs ^.ot versteh». Jede Ware, die aus einem fremden
Lande in England eingeführt wurde, sollte eine Marke ihres Ursprungslandes
ausweisen: Naäs w (?6rimam^! Die englische Industrie hoffte durch dieses
Gesetz unter Umgehung der im Volke unbeliebten Schutzzollmaßregeln die aus-
ländische Konkurrenz von den englischen Märkten zu verdrängen. Selbstver¬
ständlich war alle in England hergestellte Ware mustergiltig, und wenn das
Ausland erfolgreich nach und über England Waren auszuführen vermochte, so
konnte die Ursache einzig und allein darin liegen, daß man durch äußerliche
Ausschmückung der Ware den Käufer zu täuschen suchte, im innern Gehalt
aber, das war die felsenfeste Überzeugung der englischen Industrie, erreichte
keine ausländische Ware ihr englisches Vorbild. Bald zeigte sich, daß das
Gesetz nicht die günstige Wirkung hatte, die man erhoffte, sondern daß es
im Gegenteil von schädigender Wirkung auf die englische Industrie war, denn
erst jetzt zeigte sich, wie groß die Zahl der Waren war, die ausländischen
Ursprungs unter englischer Flagge verkauft wurden. Und nun erst zeigte sich
den fremden Abnehmern Englands, woher zum Teil die Waren stammten,
die sie über England bezogen hatten. Das Ansehen der englischen Industrie
sank, als man im Auslande wie in England gewahr wurde, wieviel Waren
von unzweifelhafter Güte bis jetzt unter englischer Flagge gesegelt waren.
Drastisch schildert uns Williams in seiner Flugschrift Ug,c1s in Okrnnui^
diese Verhältnisse. „Beobachtet, liebe Leser, eure eigne Umgebung. Ihr
werdet finden, daß wahrscheinlich der Stoff eurer Kleider in Deutschland
gewebt, die Kleider eurer Frauen aus Deutschland eingeführt sind. Zweifellos
sind aber die prächtigen Mäntel und Jacken, mit denen sich eure Dienstmädchen
am Sonntage schmücken, in Deutschland gemacht, denn nur in Deutschland
können sie mit billigem Aufputz so geschmackvoll gefertigt werden. Die Spiel¬
sachen, die Puppen, die Märchenbücher, die eure Kiuder in der Kinderstube
ruinieren, sind rng.av in Oorinany. Ja sogar das Papier, auf dem eure
patriotische Lieblingszeitung gedruckt wurde, hat sicherlich dasselbe Geburts¬
land. Durchstreift das ganze Haus, und die verhängnisvolle Marke blickt euch
aus jedem Winkel an, vom Flügel in euerm Wohnzimmer bis zum Kruge
auf euerm Küchenschranke, obgleich er mit der Aufschrift ?r686ut troni NiUAüw
geschmückt ist. Steigt zu den Kellerräumen euers Hauses hinab; dort werdet
ihr finden, daß sogar die Gartenspritzen manis in (Zczrmari? sind. Nehmt aus
dem Papierkorb die Reste eines Kreuzbandes, auch sie sind ni-las in «orinany.
Ihr werft sie ins Feuer lind überlegt dabei, daß sogar das Schüreisen in
Deutschland geschmiedet worden ist. Ihr springt vom Kaminplatzc auf und
stoßt dabei eine» Zierat von euerm Kaminsims ub. Während ihr die Scherben
aufhebt, lest ihr auf einem Stück rnAnnkg-owrecl in OsrinM^. Eure trüben
Betrachtungen schreibt ihr mit einem Bleistift, der inaäo in Qkrrnkn^ ist. Um
Mitternacht kommt eure Frau aus einer Oper nach Hause, die wa>alö in Sörnmny
ist. Die Oper wurde aufgeführt von Regisseuren, Sängern, Schauspielern,
die aus Deutschland stammen. Die Saiten- und Blasinstrumente des Orchesters
waren in-las in (Zorirmn/. Der Verlobte eurer Gouvernante ist ein Kommis
in der City, aber auch er ist minas in Osrinan/." -
In den Kolonien merkte man bald die wahre Sachlage. Die Nsroimnclisg
NarKiz ^vt gab das Ursprungsland der Ware an. Man fragte sich: Warum
sollen wir diese Waren über England beziehn und nicht lieber den direkten,
nähern und billigen, Bezugswcg einschlagen? So schlug die Norvtmnlii«o
NarKs ^,ot in ihr Gegenteil um. Sie steigerte das Ansehen der Kontinental¬
industrie, sie führte zur Umgehung des englischen Zwischenhandels und zur
Anknüpfung direkter Beziehungen zwischen den ausländische» und deu konti¬
nentalen Märkten.
Ein weiteres Verlassen des vom Freihandel vorgezeichneten Weges geschah
zu Gunsten der englischen Viehwirtschaft. Es berührt fast befremdlich, daß
die englische Regierung hier zu Schutzmaßregeln griff, denn seit lange ist die
Landwirtschaft das Stiefkind der englischen Wirtschaftspolitik. Die Not muß
sehr groß gewesen sein, daß man hier einmal versuchte, einzugreifen, freilich
nur mit halben Maßregeln. Man suchte die Einfuhr lebenden Viehs zum
Schlitz, wie man sagte, des einheimischen Viehbestandes gegen die ausländische
Scuchengefahr zu beschränken. Diese Senchengesetze haben nnr ans kurze Zeit
die Zufuhr lebenden Viehs znrückdämmen können.
Der englischen Landwirtschaft haben auch diese sanitären Maßregeln wenig
zu helfen vermocht.
Von viel größerer Bedeutung dagegen ist eine wirtschaftspolitische Strö¬
mung, die sich jetzt noch in ihren Anfangen bewegt, die aber später das einst
stolze Gebäude des englischen Freihandels vernichten kann. Der Ausgangspunkt
ist hier das Verhältnis Englands zu seinen Kolonien. Den Kolonien war
Selbstverwaltung und ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht von England
eingeräumt worden. Die ihnen zugestandne Freiheit wußten sie zu ihrem
Vorteil auszunutzen. Handelspolitisch ergibt sich daraus folgendes: England
ist für die englischen Kolonien ein wirtschaftlich gemalt so fernstehender Staat
wie etwa Deutschland, Amerika und Frankreich. Alle Waren, die von irgend
einem dieser Staaten nach den englischen Kolonien eingehn. werden genau so
behandelt wie die von England eingehenden. England hat gegenüber andern
Staaten in seinen Kolonien keine Vorzugsstellung. Die wirtschaftspolitische
Selbständigkeit der Kolonien hat aber noch weiter zu einer Entfremdung der
englischen und der kolonialen Wirtschaftspolitik geführt. Die Kolonien ver¬
treten eine Handelspolitik, die im vollen Gegensatze zu der in England geltenden
steht. Von deu Zolltarifen, die von den Kolonien in ihren Parlamenten aus¬
gestellt wurden, sind eine ganze Reihe nicht freihändlcrisch, sondern schutz-
zöllnerisch gehalten.
Es zeigt sich also in der Wirtschaftspolitik des (FrEickc-r öritiüu el»
klaffender Widerspruch: in England, dem Zentrum, Freihandel, in den Ko¬
lonien, gewissermaßen an der Peripherie des englischen Weltreichs, Schutzzoll,
ein Widerspruch, der auf die Dauer nicht haltbar ist, und den die neuere eng¬
lische Wirtschaftspolitik zu überbrücken versucht.
Nach zwei Richtungen hin, die aber in wechselseitiger Fühlung zueinander
stehn, und die im innersten Kern demselben Ziele zustreben, macht sich diese
Strömling geltend. Für die eine Partei ist der Schlachtruf ir-g/lo. Man
behauptet, daß in den letzten zwanzig Jahren durch die Schutzzollpolitik und
die damit verknüpfte Steigerung der Zolle England in Europa wie in Amerika
mit seinem Handel arg geschädigt worden sei. Es öffne seine Häfen alleil
Nationen, dagegen würde seinen Waren immer mehr lind mehr der Eingang
auf den kontinentalen Märkten erschwert. Wie sei dem abzuhelfen? Die Politik
des Freihandels gibt England keine Machtmittel gegen die Tarife in die
Hand. Eine viel bessere Stellung nehmen da die Schutzzollstaaten ein. Sie
können miteinander Handelsverträge abschließen, und jeder Vertrag bedeutet,
weil an die Stelle der autonomen Sätze die vertragsmüßig vereinbcirteu Zoll¬
sätze treten, daß man von seinen ursprünglich angenommenen Tarifsätzen nach¬
gelassen hat. Will England eine gerechte Behandlung seiner Ausfuhr er¬
reichen, will es nicht schlechter stehn, als die Schutzzollstaaten zueinander sich
stellen, so muß es für einen Handelsverkehr auf dem Fuße der Billigkeit und
wechselseitigen Rücksicht eintreten. Es muß eine Handelseinrichtuug Platz
greifen, wo uicht ausschließlich einem der Handel erschwert wird, sondern wo,
wenn einmal eine solche Erschwerung notwendig ist, wenigstens beiden handel¬
treibenden Staaten eine gleiche Behandlung zu teil werde. Vorläufig richtet
sich die Spitze dieser Bewegung gegen Deutschland. Man hält sich von
uns für schwer benachteiligt und glaubt, keine Waffe gegen uns in Händen
zu haben.
Die zweite Bewegung ist eine politische, es ist der Gedanke einer engern
Vereinigung der Kolonien mit dem Mutterreich unter Betonung der wirt¬
schaftlichen Gemeinschaft. Träger dieses Gedankens waren Anfang der neun¬
ziger Jahre die Commercial Union und die Imperial Federation. Nach dem
Vorbilde Deutschlands strebte man einem „Zollverein" zu, der Englaud und die
englischen Kolonien umfassen sollte. Das große Werk der englischen Weltpolitik
soll durch ein kaiserliches tres-ehr Lriwin gekrönt werden.
Wirtschaftlich denkt man sich einen Zollverein in folgender Weise orga¬
nisiert: England und die Kolonien umgibt eine gemeinsame Zollgrenze, und
bis dies durchgeführt wird, sollen englische Waren in den Kolonien eine
Vorzugsstellung genießen. Einmal soll der Bezug von englischen Waren
dadurch erleichtert werden, daß die auf englischen Schiffen verfrachteten Güter
zu einem Vorzugspreis befördert werden, und andrerseits sollen alle in den
Kolonien eingehenden Waren, je nachdem sie von England oder andern Staaten
kommen, differeuticll behandelt werden. Die Handelsverträge, die England mit
den Kontiuentalstaatcn abgeschlossen hatte, hinderten aber bis jetzt jede solche
Vorzugsstellung Englands in den Kolonien. So hat man in England den
Bertrag mit Deutschland gekündigt, und der erste Borstoß, die englischen Waren
bei der Einfuhr durch sogenannte Borzugszvllsätze günstiger zu stellen, ist von
Kanada ausgegangen, ohne bis jetzt von großem Erfolge begleitet zu sein.
Unverkennbar ist jedoch, daß der große afrikanische Krieg, den England
in den letzte» Jahren durchzukämpfen hatte, die Kolonien wieder näher zu
dem Mutterlande geführt hat, und das; der jetzt leitende Staatsmann, Chamber-
lain, weit über seine Partei hinaus in seinem Volke Unterstützung seiner
imperialen Bestrebungen findet. Wie stark sich die wirtschaftspolitische Strö¬
mung Englands jetzt schon vom Freihandel abwendet, zeigt sich in den neusten
Zöllen, die England auferlegt hat. Nicht nur hat es einen Kvhlenansfuhrzoll
erlassen und damit auf eine Maßregel der englischen Wirtschaftspolitik des
achtzehnten Jahrhunderts zurückgegriffen; es hat auch neuerdings wieder einen
Kornzoll eingeführt, freilich von verhältnismäßig geringer Höhe und wahrscheinlich
von kurzer Dauer. Viel bezeichnender als diese innere Zollpolitik ist es aber,
daß auch jetzt in Südafrika der Zolltarif eine gesonderte Behandlung von eng¬
lischen und außerenglischen Waren zuläßt. In steigendem Maße lassen alle diese
Maßregeln, die zunächst freilich nur als Symptome aufzufassen sind, erkennen,
welche tiefen Veränderungen in den Anschauungen Englands unter dem Drucke
der internationalen Konkurrenz Platz gegriffen haben. Die Abkehr vom Frei¬
handel wird immer sichtbarer, und wir werden uach dieser Richtung hin noch
ganz andern Ereignissen in den nächsten Jahren gegenüberstehn.
Ein englischer Nationalökonom, Hewins, schrieb kürzlich in einer Studie
über deu Imperialismus und seine voraussichtliche Wirkung auf die englische
Handelspolitik: Die meisten Engländer betrachten das Freihnndelspriuzip uicht
mehr als einen Glaubensartikel, sondern vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit
aus. Einer Änderung der Handelspolitik stehn sie nicht von vornherein ab¬
lehnend gegenüber, wenn sie als ein Mittel zur Erreichung eines so großen
Zieles wie das der Jmperinlföderation in Betracht kommt. Die Politik des
Imperialismus bedeutet „Freihandel innerhalb des Reichs," und sobald das
Reich an Stelle Englands zur Grundlage der Staatspolitik wird, müssen sich
Änderungen als notwendig erweisen, die Cobdens Schule nicht voraussehen
konnte. Übersetzen wir dies aus der schwerfülligeu Sprache des Gelehrten in
klares Deutsch, so heißt es: Wir wollen ein neues einheitliches Reich — Eng¬
land mit seinen Kolonien — gründen und es mit einem Schutzwall umgeben.
Des lieben Friedens wegen wollen wir diese Schutzzollpolitik einen einge¬
schränkten Freihandel nennen.
Zum Schluß wollen wir aus unsrer Darstellung zwei Tatsachen hervor¬
heben. Sie sprechen ihre eigne Sprache. Erst nachdem England die unbe-
strittne Seeherrschaft errungen hatte, als es sich den Besitz der wertvollsten
Kolonien gesichert hatte, als sein Handel und seine Industrie eine wirtschaft¬
liche und technische Stufe der Vollendung erreicht hatten, die, wie die englischen
Volkswirte glaubten, andre Staaten nie erreichen könnten, erst zu diesem Zeit¬
punkt öffnete es seine Häfen der fremden Schiffahrt und dem fremden Handel,
begann es seine Kriegsflotte abzurüsten, erklärte es auf weitern Kolonialbesitz
zu verzichten, lenkte es entschlossen in die Freihandclstheorie ein und forderte
es die Welt aus, sich an ihm ein Vorbild zu nehmen und seinen wirtschaft¬
lichen Grundsätzen nachzufolgen. Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahr¬
hunderts beginnen neue Kräfte sich zu regen. Frankreich entwickelt sich zu
einer großen Kolonialmacht in Afrika und Asien, Deutschlands Zukunft „liegt
über der See," die Vereinigten Staaten treten aus ihrer politischen Isolierung
zu Gunsten einer imperialistischen Politik heraus. Alle diese Staaten bauen
großartige Flotten, und zugleich beginnt England auf dem Weltmarkt einem
Wettbewerb der neu aufblühenden Industrie in einem Umfang, in einer Stärke
zu begegnen, wie man es früher nie geahnt hätte. Und diese Industrien sind
erwachsen in Schutzzolllandern, auf einer, wie der Freihandel lehrt, unmög-
lichen Grundlage des wirtschaftlichen Gedeihens. In diesen Zeiten beginnt
England von neuem zu rüsten, seine Marine zu vergrößern, es führt für den
Erwerb seiner Kolonien große und kostspielige Kriege, im Lande niber steine die
Stimmung für ?roh traäs allmählich ab. Man bedenke, wie lange es in Eng¬
land dauerte, ehe sich der Freihandel in die praktische Politik umsetzte; wird
diese Stimmung aber in die Forderung nach einem Schutzzoll umschlagen?
Die Stützen, auf denen sich einst der Freihandel aufbaute, werden welk
und morsch, ein neues Ideal beginnt England zu begeistern: der Zollverein
Englands mit seinen Kolonien — nnter Beschränkung des Handels fremder
Industriestaaten.
it der Feststellung des innern Widerspruchs zwischen unserm
ungegliederten Wahlrecht und dem deutschen Volksgeist sind
wir schon in das Gebiet der letzten zu erörternden grundsätzlichen
Frage eingetreten, auf welchem organischen Weg an eine Ab¬
änderung gegangen werden muß. Werfen wir zunächst einen
Blick in die ältere Geschichte der deutscheu Volksvertretung, so finden wir
von Anbeginn an auch auf diesem politischen Gebiet als charakteristisch die
ständische Gliederung. Zwar sehen die mittelalterlichen Stände ganz anders
aus als unsre heutige,, Berufsstüudc. Im Grunde beruhn sie aber doch,
den viel einfachern wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend, ans denselben
Unterlagen; die Geistlichkeit als der Gelehrtenstand, der Adel als die Grund¬
herren, die Städte als die Vertreter des emporkommenden Handels sind doch
auch nur Zusammenfassungen der drei Bcrnssständegrnppen, die im Mittelalter
allein politische Bedeutung hatten. Wie die einzelnen Stunde nach und nach
zu Bedeutung gelangen, so gewinnen sie ihre politische Vertretung. Aber,
und das ist beachtenswert, sie treten nicht eigentlich in die bestehende poli¬
tische Versammlung ein, sondern als ein neues Glied neben die ältern.
Wir sehen also, daß die Spuren des auch heute noch arbeitenden Volksgeistes
schon im mittelalterlichen Ständestaat erkennbar sind. Hat nun zwar die alles
gleichmachende französische Revolution diese geschichtlich begründete Gliederung
auch in Deutschland hinweggefegt und den Boden für das geltende Wahl¬
recht geebnet: sollte dadurch der Zusammenhang mit dieser jahrhundertealten
deutschen Einrichtung und Auffassung auch vollkommen verloren gegangen
sein? sollte sich das ganze Denken eines Volkes vou außen her so vollkommen
aus der Richtung dränge» lassen? Gewißlich nicht. Denn wir sahen schon,
daß derselbe alte Volksgeist noch rege, daß der Klassenzusammenhalt der
Stände heute noch so lebhaft ist wie je. Nur auf politischem Gebiete hat er
den zerschnittueu Faden noch nicht wieder weiterspinnen können. Doch sogar
i» politischen Organisationen haben sich noch Anklänge erhalten. So findet
sich ein spärlicher Rest des alten Unterschieds zwischen Stadt und Land, der
im Mittelalter den Unterschied zwischen Handel und Gewerbe und der Land-
wirtschaft bedeutete, zum Beispiel noch im sächsischen Landtagswahlrecht mit
seiner Einteilung in städtische und ländliche Wahlkreise; die ursprüngliche Be¬
deutung ist aber hier selbstverständlich fast ganz verloren gegangen.
Nun hat aber gerade in der neusten Geschichte die Berufsgliederung des
Volks neue Bedeutung gewonnen und greift immer weiter um sich. Von ein¬
schneidender Bedeutung ist dafür die Unfallversicherung des Deutschen Reichs
geworden. Das Drängen nach ärztlichen Ehrengerichten war ein Ausdruck
desselben Gedankens, und als neustes wichtiges Glied tritt die Umwandlung
der alten Innungen in Zwangsinnungen auf. Jedenfalls können wir fest¬
stellen, daß die organischen Grundlagen der alten ständischen Verfassung noch
im Volke vorhanden sind, ja wieder neue Lebenskraft gewinnen. Sollte diese
Kraft nicht ausreichen, auch das politische Leben wieder nutzbringend zu be¬
fruchten?
Und nun komme ich zum Kernpunkt der Untersuchung: Würde eine Über-
tragung der ständischen Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht imstande sein,
die Fehler des jetzigen Verfahrens wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern
und zu neuen richtigen Bahnen zu führen, und scheint eine solche Anwendung
ständischer Gliederung durchführbar?
Bei der Übertragung ständischer Grundlagen ans das Reichstagswahlrecht
würden — ans die Gestaltung wollen wir hier noch nicht näher eingehen —
sämtliche Angehörige eines bestimmten Berufsstandes innerhalb eines bestimmten
Gebiets einen Abgeordneten aus ihrer Mitte zu wählen haben. Wesentlich
ist dabei jedenfalls, daß der Abgeordnete dem Berufsstande, von Vorteil
wird es gewiß aber much sein, daß er auch dein Gebiete der Wählerschaft
angehört. Eine solche Verteilung der Abgeordneten zum Reichstage vou
toten Zahleugrnppen auf lebendige Bcrufsstäude würde sofort den verloren
gegcmgnen innern, geistigen Zusammenhang der Abgeordneten mit seinem Wähler¬
kreise zurückbringen. Erstens wären die Wähler in ganz untrer Weise als
bisher in der Lage, sich Leute auszusuchen, denen sie wirklich Vertrauen
entgegenbringen könnten. Von ihren hervorragenden Verufsgenossen haben
sie alle Kunde, auch in weitern Kreise». Sie konnten wirklich „wähle»" uuter
den Geeigneten und wären nicht darauf angewiesen, wie es jetzt oft geschieht,
einem Manne, von dem sie nicht das mindeste wissen, zu dein sie deswegen
auch kein Vertrauen haben können, nur um deswillen ihre Stimme zu geben,
weil er von der Partei, zu der sie sich zählen, empfohlen wird. Bei der größern
Ausdehnung der Wahlkreise, die durch das vorgeschlague Verfahren nötig
gemacht würde, böte sich der Vorteil, daß Leute gewählt werde» könnten,
die jetzt im engern Wahlkreise bei der Allgemeinheit weniger bekannt sind,
wohl aber in weiten Kreisen ihrer Standesgenossen mindestens als tüchtige
Leute gerühmt werden, ein Gewinn für die geistige Höhe der Abgeordncten-
versainmluug, auf den schon Joh» Stuart Mill in seinen erwähnten Betrach¬
tungen über repräsentative Negierung bei der Besprechung der Vorschläge vo»
Thomas Hare über die Vertretung der Minderheit hinweist.
Auch der Abgeordnete, der ans diesem Wege gewählt würde, wäre sicher
in ganz anderm Maße geeignet, seinen Wähler» ein wirklicher Vertreter zu
sein, als der jetzige. Er hätte die Bedürfnisse, die Nöte und die Hoffnungen
seines Standes am eignen Leib erfahren, und wenn innerhalb seiner Wähler¬
schaft die Interessen zwar auch noch recht verschieden sein würden, so würde
er doch nie in die Lage kommen, vor die Wahl zwischen ganz auseinander¬
gehenden Zielen gestellt zu werdeu. Er Hütte nur noch die Pflicht, die Inter¬
essen seines Wählerstandcs mit denen der Allgemeinheit, des Staats, im Ein¬
klang zu erhalten, und es würde ihm damit leichter gemacht, seine Entschließung
nicht nach Parteigrundsätzen, sondern nach sachlichen Erwägungen einzurichten.
Neben diesen innern Gewinn träte noch ein äußerer, der jedoch auch von
Wichtigkeit wäre. Alle die häßlichen Erscheinungen einer Reichstngswahl, wie
wir sie heute haben, die Aufregung aller Volkskreise, die Verhetzung der Klassen
gegeneinander, würden wenigstens viel ruhigere Formen annehmen, viel weniger
die Allgemeinheit aufrütteln, vielleicht vielfach sogar ganz wegfallen, wenn die
Wahl innerhalb geschlossener Berufskreise stattfände. Die Wahl würde vou
der Straße ins Innere geführt, sie würde aus dem Wahlkampfe wieder zu einer
wirklichen erwägenden Auswahl werdeu können. Gelänge es aber einem
Berufskreise nicht, sich so zu organisieren, daß er die störenden, ursachlichen
Mitglieder niederhalten könnte, dann würde immer nur diese eine Wahl-
grnppe, nicht aber das ganze Reich zugleich davon erschüttert werdeu und den
Schaden haben.
Man wird vielleicht einwenden, daß das, was den Abgeordneten jetzt viel¬
fach vorgeworfen wird, daß sie Svnderinteresscn über die der Allgemeinheit
stellten, mit der Wahl berufsständischer Vertreter geradezu eine gesetzliche
Billigung erlangen würde; daß damit der Klassenstaat in der Volksvertretung
zum Ausdruck käme; daß dies erst recht nicht mit den Absichten der Reichs¬
verfassung zusammenstimmen werde, jeder Abgeordnete solle Vertreter des
ganzen Volkes sein. Wenn dieser Verfassungssatz insbesondre auch ein Anruf
um das Pflichtgefühl des Abgeordneten ist, so kann ihm jeder gewissen¬
hafte Abgeordnete, gleichviel wie er gewählt worden ist, entsprechen, ja ich
meine, er kann ihm um deswillen, daß er zugleich Vertreter eines bestimmten
Standes ist, doch gewiß noch besser entsprechen, als der zwar von der All¬
gemeinheit gewählte Sozialdemokrat oder Vertreter ultramontaner Anschauungen.
Wenn aber weiter jetzt der Wählerkreis von seinein Abgeordneten ohnehin
eine Berücksichtigung seiner Sonderinteressen neben den allgemeinen fordert,
so wird der Abgeordnete nunmehr an einen Kreis berechtigter und crwogner
Berufsinteressen von Gesetzes wegen gebunden, an Stelle der Parteiinteressen
oft recht zweifelhafter Art, und es ist gewiß, wenn er den Verfassungssatz in
deu Wind schlüge, das kleinere Übel, es geschieht dies zu Gunsten der Berufs¬
interessen, statt der Parteiinteressen. Vor allem finden auch die berufs¬
ständischen Sonderinteressen bei einer gesunden Verteilung der Stände im
Reichstag eher ein Gegengewicht an denen andrer Stände, als heute die
Interessen von Parteien, bei deren Bildung oft ganz zufällige Zahlen mit¬
spielen.
Man darf übrigens nicht denken, daß die jetzigen Politischen Parteien
damit aus dem Parlament verschwinden würden. Auch für die politische Partei-
bildung bliebe noch ein weiter Spielraum. Aber das würde wohl verhindert
werden, daß die Partei ausschließlich das politische Leben beherrscht. Der
Arbeitervertreter würde nicht wagen können, Arbeiterinteressen schnöde zu ver¬
leugnen, wie dies hente der sozialdemokratische Millionär oder Redakteur kann,
der erwägen muß, daß die Erreichung von etwas Ersprießlichen für die Arbeiter¬
schaft die Unzufriedenheit vermindern und damit für seinen Einfluß verderb¬
lich werden könnte. Und allmählich würden die ständisch Vertretenen einsehen,
daß ihre echten Interessen im Zusammenschluß des Berufs besser gewahrt
werden können, als im Nahmen der politischen Partei.
Wird nun die Einführung berufsständischer Wahlen durchführbar, d. h.
hier auf dem Wege ruhiger Weiterentwicklung durchführbar sein?
Hierfür scheint mir von hervorragender Bedeutung eine Erscheinung zu
sein, der meines Wissens kaum noch die ihr gebührende Beachtung zu teil
geworden ist: daß nämlich das deutsche Volk schon ganz von selbst auch auf
politischem Gebiete wieder in die altgeschichtlicheu Geleise berufsständischer
Gliederung zurücklenkt. Sie finden auch im Reichstag ihre Andeutungen:
Spuren eines ständischen Zusammenschlusses zeigen sich, die ohne gesetzliche
Einwirkung und ohne Anschluß an sonst bestehende Berufsorganisationen dnrch
die wirtschaftlichen Verhältnisse hervorgerufen worden sind.
Hierher rechne ich selbstverständlich nicht etwa die sozialdemokratische
Partei als Arbeiterpartei. Man kann im Gegenteil sagen, keine Partei ver¬
trete so wenig einen Stand wie sie. Denn vor den Schriftstellern und Re¬
dakteuren, Zigarrenhäudleru und Gastwirten verschwindet die Zahl derer, die
gerade nach der von der Sozialdemokratie gern betonten Auffassung allein den
Namen Arbeiter zu führen berechtigt sein sollen.
Dagegen ist ein Zeichen solchen ständischen Zusammenschlusses das Auf¬
treten des unter wirtschaftlicher Not gebornen Bundes der Landwirte und des
Bauernbundes. Beide haben teilweise unmittelbar unter diesem Namen Ver¬
treter im Reichstage, eine Klasse also, die neben den übrigen Parteien gar
nichts gleichartiges mehr ist. Und augenscheinlich ist es zu einem ganzen
Teil nur der Einfluß der jetzigen Parteigliederung, daß sich noch eine ganze
Reihe von Angehörigen der beiden Vereinigungen an andre Parteien, zumal
an die Konservativen, angeschlossen hat. Und das ist vielleicht die interessanteste
Beobachtung: die konservative Partei bildet sich mehr und mehr zu einer Ver¬
treterin der Landwirtschaft aus, in ganz derselben Weise, wie Industrie und
Handel mehr in der nationalliberalen Partei zur Bedeutung gelangen. Zahlen¬
mäßig läßt sich hierfür freilich nur wenig beweisen. Wenn bei der Eröffnung
des vorigen Reichstags von 127 Gutsbesitzern und Berufslandwirten 56,
außer den 6 Bündlern, den konservative» Parteien, von 37 Industriellen und
Handeltreibenden ihr dagegen nur 3, wohl aber 13 der uatioualliberalen
Partei angehörten, so kann man mit Recht einwenden, daß der Beruf des
Abgeordneten selbst nicht zu viel entscheidet, wie ja andrerseits 24 Gutsbesitzer
und 10 Angehörige des Handelsstandes dein Zentrum, 17 Grundbesitzer den
Parteien der Polen, Welsen und Dänen angehörten. Doch ist der Beruf des
Abgeordneten durchaus nicht ganz ohne Bedeutung, da in Gegenden, in denen
ein Berufsstand ein entschiednes Übergewicht hat, auch heute schon gern ein
Angehöriger dieses Standes als Kandidat aufgestellt wird. Wichtiger ist schon
die Verteilung der Parteien ans die Gegenden, und so sehen wir denn auch,
daß der landwirtschaftliche Osten — von Zentrum und Polen abgesehen, für
deren Wahl ganz andre Gründe den Ausschlag gaben — den Staunn der
Konservativen in den Reichstag entsendet. Für industrielle Gegenden fällt die
Erscheinung nicht so ins Auge, weil hier, von anderm ganz abgesehen, jedesmal
noch der Gegenpart der Sozialdemokratie ins Gewicht füllt. Wer aber die
Verhältnisse industrieller Gegenden näher kennt, wird öfter die Beobachtung
machen können, daß die Konservativen hier im ganzen den Nationalliberalen
viel näher stehn, als im rein ländlichen Osten, daß aber auch die konservative
Richtung ihre Anhänger mehr auf dem Lande, die liberale mehr im Handels¬
stande hat.
Mehr aber noch als alles dies beweist das Auftreten und Verhalten der
einzelnen Parteien im Reichstage selbst. Einen Nachweis darüber zu geben,
würde an dieser Stelle zu weit führen, es bedarf seiner aber auch sogar für
oberflächliche Beobachter der Reichstagsverhandlungen, zumal über die Zolltarif¬
vorlage, nicht. Die jüngste Wahlbeweguug bestätigt nicht nur dieses Drängen
nach berufsständischer Vertretung und Gruppierung im Reichstage, besonders
z. B. in dem Verhalten der rheinischen Bauernvereine gegenüber dem Zentrum,
sie läßt sogar in dem Rufe nach mehr Vertretern der Kaufmannschaft ein
weiteres Vorschreiten auf dieser Bahn deutlich erkennen.
Wenn Nur so sehen, daß die berufsständische Gliederung des deutscheu
Volkes auch auf dem Gebiete der Politik heute mehr und mehr an Boden
gewinnt, sollte man da nicht hoffen dürfen, es werde möglich sein, die Ein¬
führung dieser Erscheinung in das politische und parlamentarische Leben mit
Erfolg weiter zu fördern und durchzuführen, ohne daß innere Schwierigkeiten
dem entgegenstünden?
Hier ist es uun von Interesse, festzustellen, daß ein solcher Versuch in
kleinern Verhältnissen schon durchgeführt worden ist. Die Stadt Chemnitz hat,
um der drohenden Demokratisierung der Stadtverordnetenversammlung vor¬
zubeugen, eine neue Wahlordnung für diese geschaffen, die in der .Hauptsache
nuf den hier vertretnen Grundsätzen beruht. Sie teilt die Wähler neben einer
allgemeinen Abteilung für solche, die in den Hauptgruppen nicht unterzubringen
sind, in die Gruppen des Arbeiterstandes, d. h. der rcichsgesetzlich Vcrsicherungs-
Pflichtigen, des Beamten- und Gelehrtenstandes, des Gewerbe- und endlich des
Handelstandes ein. Auf diese Gruppen sind die Zahlen der Stadtverordneten
nach der Bedeutung der Stände für die Stadt so verteilt, daß die allgemeine
und die Arbeiterabteilung je drei, die Gelehrten- und die Gewerbeabteilung
je vier und die Handelsabteilung fünf Verordnete wählt. Von einem nähern
Eingehn auf die im höchsten Grade interessante Einrichtung der Wahlordnung
kann man hier absehen; ich möchte nur bemerken, daß das Chemnitzer Wahl¬
recht insofern von dem oben Ausgeführten abweicht, als die Gewählten nicht
der Abteilung der Wähler anzugehören brauchen. Das ist für die Einrichtung
der Wahlordnung verhältnismäßig bedeutungslos, für die wirkliche Vertretung
der Stunde aber selbstverständlich vom größten Gewichte. Wenn nicht nnr
politische Erwägungen, sondern der mächtige bernfsständische Gedanke im Wahl¬
recht zum Ausdruck kommen soll, wird man auf die Zugehörigkeit der Ab¬
geordneten zum Stande der Gewählten keinesfalls verzichten dürfen.
In einem Vertretungskörper des Staats müßte natürlich eine ganz andre
und auch noch mehr ins einzelne gehende Gliederung stattfinden. Es geht
selbstverständlich über den Rahmen dieser Zeilen hinaus, die nur eine An¬
regung in weitere Kreise tragen sollen, und es würde auch jetzt noch nicht
zeitgemäß sein, die praktische Ausgestaltung eines solchen Reichstagswnhlrechts
bis ins einzelne zu verfolgen. Nur einige Andeutungen werden nötig sein, den
Gedanken weiter zu erläutern. Beginnen wir mit dem Arbeiterstande, so würde
schon dieser bei seinem Umfang und bei der Verschiedenheit seiner Interessen
nicht in einer Gruppe zusammengefaßt werden können, wenn auch die Grund¬
lage der Verhinderungspflicht hier mit einigen Erweiterungen wohl vorteilhaft
festgehalten werden könnte. Dieser Stand würde wenigstens zu teilen sein in
Arbeiter der Landwirtschaft, der Fabrikbetriebe, der Handwerke, des Handels,
von dem vielleicht much noch der Seehandel abzutrennen wäre. Die Gruppe
des Beamten- und Gelehrtenstandes würde vielleicht auch in Gruppen nach
verwandten Wissenschaften getrennt werden können. Eine zuweitgchende Tei¬
lung wäre hier schon um deswillen ausgeschlossen, weil die Zahl der Vertreter,
ohne jegliche Nntcrschätznngen der Wissenschaften und ihrer Bedeutung für
Deutschland, insbesondre auch der technischen für das politische Leben, doch
nnr beschränkt sein kann. Jedenfalls eine Gruppe für sich würde Wohl die
Geistlichen der großen christlichen Bekenntnisse zu umfassen haben; denn es
läßt sich nicht verkennen, daß die politische Stellung der Geistlichkeit — vor¬
läufig freilich mehr die der katholischen — anders als die des übrigen Ge-
lehrtenstandes ist. Handel, Fabrikbetrieb und Landwirtschaft werden sich vielleicht
für eine Einteilung nach kleinen, mittlern und großen Betrieben eignen; ob
für sie wie für das Handwerk daneben noch eine Teilung nach sachlichen
Gründen zu schaffen wäre, ist eine weitere Frage.
In welcher Art in diese oder auch noch weitere Gruppen alle Wahl¬
berechtigten einzuteilen wären, ist für die Praxis allerdings eine Ausgabe, die
wohl erwogen werden mußte. Die Zahl der Abgeordneten, die den einzelnen
Gruppen zuzuweisen wäre, würde sich nach der Bedeutung der Stände im
Staatswesen und im Wirtschaftsleben richten, wobei natürlich mich auf das
Zahlenverhältnis Rücksicht zu nehmen wäre, ohne daß jedoch die Bedeutung
eines Standes nur durch die Zahl festgestellt werden dürfte.
Dieses wenige wird zur Erläuterung des Gedankens ausreichen. Die Ein¬
richtung würde die Folge haben, daß die Ständewahlkreise bedeutend größer
als bisher und in jeder Gruppe verschieden sein würden. Das bedeutete frei¬
lich einen Eingriff in die jetzt giltige Stellung der Einzelstaaten im Reiche
insofern, als nicht mehr jeder Bundesstaat unbedingt wenigstens einen Ab¬
geordneten entsenden würde. Es könnte das wie eine Verkümmerung der
Rechte der Einzelstaaten erscheinen; ob es das aber wirklich wäre? Tatsäch¬
lich entsenden mich much dem geltenden Wahlrecht die Bundesstaaten Meiningen,
Waldeck und die beiden Reuß aus ihren Wahlkreisen keinen einzigen Staats¬
angehörigen in den Reichstag. Steht da nicht das Recht der Entsendung von
wenigstens einem Abgeordneten seinein Sinne nach wirklich nur auf dem Pa¬
piere? Und weiter: die beiden Reuß, die Hansestädte Hamburg und Lübeck,
als Staaten sowohl wie auch in den besten Teilen der Bevölkerung, wurden
sie sich nicht dagegen verwahren, wenn man schließen wollte, daß sie mit ihren
sozialdemokratischen Abgeordneten die gesetzmäßige Sondervertretung im Reichs¬
tage in gebührender Weise hätten? Die Rechte der Staaten werden im Bundes¬
rat vertreten; die Rechte der Staatsbürger aber sind bei dein bestehenden Wahl¬
recht wohl schwerlich so gewahrt, daß eine Änderung des Wahlrechts in dem
angeregten Sinne einen Eingriff in die Rechte der Vnndesstcmten bedeuten
könnte. Im Gegenteil, gerade einem Staate wie Hamburg oder Lübeck würde
ein neues Wahlrecht erst die ihm gebührende Stellung im Reichstag schaffen,
und auch dann mehr als jetzt, wenn etwa einmal unter den Vertretern des
Seehandels und der Seeleute gar keine Hamburger oder Lübecker, sondern nur
Bremer oder Stettiner sein sollten.
Man wird den vorstehenden Ausführungen gewiß den Vorwurf macheu
können, daß sie eine der schwierigsten Fragen der Politik in allzu springender
Kürze abtun und eine unendliche Menge von Fragen veranlassen, ohne zu
ihrer Lösung beizutragen. Mehr war aber auch gar nicht beabsichtigt. Nicht
ein Aufsatz sollte es sein, der eine große Aufgabe erschöpfend behandelte, allen¬
falls gelesen und dann weggelegt würde; der Stoff sollte uur angeschnitten
werden, lind diese Ausführungen wollen nur zu weitern Erörterungen für und
Wider anregen. Für mehr ist es noch nicht an der Zeit. Kommt sie aber,
so mögen Berufnere die große Frage von Grund aus zum Besten Deutsch¬
> äufig ist der Wortschatz eines Volkes mit einem Spiegel verglichen
worden, worin man die ganze Geschichte seiner Kultur schauen
könne, oder auch mit einem großen Buche, worin die Entwicklung
des gesamten Volkslebens von den frühesten Anfangen bis zu
den Stufen höchster Vollendung eingetragen sei. Für kein Volk
! aber erscheinen diese Vergleiche zutreffender als für uns Deutsche.
Denn gerade in unsrer Muttersprache haben fast alle wichtigern Stadien der
Kulturentwicklung erkennbare Spuren zurückgelassen, sodaß sogar der modernste
Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts noch täglich Redewendungen gebrauchen
kann, deren — heute freilich meist längst vergeßner — Ursprung auf das „finstre
Mittelalter," ja vielleicht gar auf die halbmythische germanische Urzeit zurückgeht,
die uns der Römer Taeitus in seiner „Germania" schildert.
Diese große Masse alten Kulturguts, das unsre Sprache noch in der Gegen¬
wart mit sich führt, gehört sachlich fast allen Arten menschlicher Tätigkeit an, den
verschiedensten Handfertigkeiten ebenso wie den Künsten und Wissenschaften, dein
Sport und dem Spiel: zwei Gebiete aber treten durch ihren Reichtum an
Worten, Bildern und Gleichnissen noch ganz besonders aus dem ältern Kultur¬
leben hervor: einmal das Kriegswesen und alles, was sich auf Streit, Kampf
und Waffenübung (Fechten, Turniere, Rittertum) bezieht, sodann das gesamte
Nechtswesen, die Rechtswissenschaft und die Rechtspflege.
In Bezug auf das Kriegswesen wird diese Tatsache wohl niemand wunder
nehmen, denn jeder weiß zur Genüge, daß wir Deutsche von jeher ein kriegerisches,
kampfesfrohes Volk waren, bei dem das Waffenhandwerk zu allen Zeiten in
besondrer Sichtung gestanden hat. Wären wir aber auch nicht aus der Geschichte
über die „Schlagfertigkeit" unsrer Vorfahren unterrichtet, schon aus unsrer
Sprache konnten wir darauf schließen. Welche geradezu erstaunliche Menge
von Wörtern und Redensarten in dieses Fach „einschlägt," das lehrt recht
deutlich u. a. die von Hermann Schrader in seinem vortrefflichen „Bilder¬
schmuck der deutschen Sprache" (6. Auflage, Berlin 1901, S. 14 ff.) zusammen¬
gestellte Blütenlese, vorausgesetzt daß man Ausdauer genug hat, sich durch diese
Fülle „schlagender Argumente" bis ans Ende „durchzuschlagen."
Befremdlicher mag es dagegen auf den ersten Blick erscheinen, daß auch
das deutsche Recht einen so weitgehenden Einfluß auf die Gestaltung unsers
Sprachschatzes ausgeübt hat. Denn im allgemeinen bringt der moderne Durch¬
schnittsdeutsche unserm Recht nicht nur ein ziemlich geringes Interesse entgegen,
man darf wohl noch weiter gehn und behaupte», daß heute bei uus kaum eine
Wissenschaft unpopulärer ist als das „trockne" ,ju«, kaum ein Stand beim Volke
weniger beliebt erscheint als der des Juristen. „An den Pforten der Rechts¬
wissenschaft, sagt ein hervorragender neuerer Rechtslehrer, schleicht ein jeder gern
vorüber, der nicht genötigt ist, sich über ihren Inhalt den .Kopf zu zerbrechen,"
und das Studium des „Bürgerlichen Gesetzbuchs" vergleicht derselbe Gelehrte
gar mit einem „Spaziergang durch Dornenhecken," denn Dornenhecken seien es,
„die dem entgegeustarren, der das neue Gesetzbuch lesen will."") In dieser
herben Kritik, die keineswegs ganz vereinzelt dasteht, ist es wohl deutlich genug
ausgesprochen, daß auch das neue „bürgerliche Recht" — trotz seiner ja unver¬
kennbaren Fortschritte, gerade auch in der Fassung des Textes — der großen Masse
unsers Volks doch noch „ein Buch mit sieben Siegeln" ist und bleiben wird.
Nicht immer aber ist das Verhältnis des Volks zu seinem Rechte so un¬
erfreulich gewesen. Einst war sogar das deutsche Recht „in einem für uns kaum
noch vorstellbarer Grade volkstümlich" «Merke). Bis ins Mittelalter hinein
fehlte es nämlich in Deutschland ein einem Jnristenstcmd im heutigen Sinne;
vielmehr waren es anfangs die gesamten freien und wehrhaften Volksgenossen
und später die gleichfalls aus dem Volke hervorgcgangncn Schöffen, die in der
öffentlichen, unter Gottes freiem Himmel abgehaltnen Gerichtsversammlung das
Urteil „fanden," das der „Richter" nur verkündete oder „ausgab." Das Recht
war demnach ein Gemeingut des Volks, und seine Kenntnis pflanzte sich von
Geschlecht zu Geschlecht durch mündliche Überlieferung fort, lange bevor es zu
den erste» schriftlichen Aufzeichnungen kam. Kein Wunder also, daß in diesen
Zeiten das Recht auch in volkstümlichen Formen erschien. Das zeigt sich
zunächst in der gerade bei den Germanen so überaus stark ausgeprägten
Rechtssymbvlik, die v. Jhering einmal (Geist des römischen Rechts, II. 2,
S. 492) treffend „die Sprache des kindlichen Geistes" genannt hat, „eine
Hieroglyphenschrift, der er sich bedient, weil er die Buchstabenschrift der ab¬
strakten Darstellung noch nicht erfunden, für sie noch kein Verständnis hat."
Auch später uoch zeigen sich Erinnerungen daran in der lange vorwiegend
bildlich gebliebner Ausdrucksweise der deutschen Rechtssache, worin uns
übrigens nur einer der Züge entgegentritt, die man wohl als „die Poesie im
Rechte" bezeichnet hat. Denn hierher gehören auch „der melodische Rhythmus
der Stabreime" und die Alliterntionen in den Sprüchen und Nechtsformeln,
die uns an „das Plätschern und Rieseln der Quellen" in den heiligen Hainen
gemahnen, „in denen jene entstanden."*) So glich das altdeutsche Recht einst
wirklich jener „waldesdnftigen Blume," die sich Viktor von Scheffel im
„Trompeter von Säkkingen" an die Stelle des „üppig wuchernden Schling¬
gewächses des Südens," d. h. des römischen Rechts, wünschte. Endlich kommt
dazu noch ein ganz eigentümlicher Humor, der uns bald mehr in schalkhafter
und sinniger, bald mehr in spöttischer und derber Form — besonders in den
ländlichen Rechtsquellen des Mittelalters — begegnet.
Heute findet sich von allen diesen jugendlichen Zügen unsers Rechts nicht
einmal mehr ein schwacher Schatten. Längst ist uns der urwüchsige Humor
unsrer Altvordern abhanden gekommen, auch die farbigen Bilder sind verschwunden,
und die Poesie ist vollends dem Rechtsgebiet in dem Maße fremd geworden,
daß vier heute vorschlüge, ein Gesetzbuch seiner Volkstümlichkeit zuliebe „in
Verse zu bringen" oder auch nur „mit poetischen Bildern zu durchwirken, schwerlich
vor dem Tollhanse sicher wäre" (Gierke). Kurz, an Stelle der einst so sinnlich
lebendigen alten Rechtssprache ist in der Zeiten Lauf — nicht zum wenigsten
durch den Einfluß des lateinisch geschriebnen lüorpus Mris — unser farbloses,
bis zum Toten abstrakt gewordnes, nicht mit Unrecht viel geschmähtes „ Juristen¬
deutsch" getreten. Klasse so heute „zwischen der Rechtssprache und der Volks-
rede ein unüberbrückbarer Abgrund" (Leonhard, a. a. O., Vorwort), so enthält
unsre Umgangssprache andrerseits doch auch viele Bestandteile, die sich bei
näherer Betrachtung als früher aufgenommene Anleihe» ans dem Rechtswesen
darstellen. In der Erinnerung des Volks und ii, seiner Ausdrucksweise sind
eben die einst so populären Vorgänge des ältern Rechtslebens erklärlicherweise
auch dann noch haften geblieben, als schon längst von gelehrten Juristen ein
neues „Recht der Schreibstuben und Pergamentbande" (Jnkob Grimm) gehand¬
habt wurde. Im folgenden sollen um die wichtigsten solcher Wörter, Redens¬
arten und Sprichwörter zusamiilengestellt und erläutert werden, die in unsrer
heutigen Sprache in einem veränderten, und zwar meistens erweiterten Sinne
gebraucht werden, während sie, ursprünglich nnr auf das Rechtsgebiet beschränkt
waren. Dabei wird es die Übersicht nicht unwesentlich erleichtern, wenn statt
einer Einteilung nach rein philologischen Erwägungen (wie etwa Bedeutnugs-
Verengcrnng, -Erweiterung oder -Übertragung) hier einmal eine Gliederung des
Stoffes nach den hauptsächlichsten Zweigen der modernen Jurisprudenz uuter-
«ommeil wird.**)
Beginnen wir die Übersicht mit dem staatlichen Verfassungs- und Ver¬
waltungsrecht als der Rechtsdisziplin, die wegen ihres Zusammenhangs mit
der Politik dem modernen Staatsbürger noch am nächsten liegt und ihn — neben
berühmten Strafprozessen — wohl am meisten zu interessieren Pflegt, so ist
freilich gerade hier die Ausbeute für unser Thema verhältnismäßig gering.
Das in der Gegenwart so fein durchgebildete Staatsrecht ist bekanntlich in
frühern Zeiten gegenüber andern Teilen des öffentliche» Rechts, besonders aber
gegenüber dem Privatrecht etwas stiefmütterlich behandelt worden und hat deshalb
auch nicht vermocht, sich eine solche Volkstümlichkeit zu erwerben, daß sich viele
seiner Satzungen in unsrer Umgangssprache widerspiegeln. Was diese aber
an Ausdrücken und Wendungen dem Staatsrecht entlehnt hat, ist zum Teil
ganz besonders beachtenswert, weil es schon aus den ältesten Zeiten der Rechts-
geschichte herstammt.
Wenn wir z. B. in den Zeitungen lesen, daß irgend eine Partei diesen
oder jenen ihrer Genossen „auf den Schild erhoben" habe, so denken wir wohl
kaum noch daran, daß diese jetzt rein bildlich verwandte Phrase für den Begriff
„jemand zum Führer einer Bewegung machen" nach dem Staatsrecht unsrer Vor¬
fahren einst einen wichtigen realen Vorgang bei der Neuwahl eines Fürsten
(Königs oder Herzogs) bezeichnete, der symbolisch die Übertragung der Herrscher¬
gewalt darstellen sollte und wohl auf uralter germanischer Sitte beruhte. Denn
schon bei Tacitus (Hist. IV, 15) finden wir ihn erwähnt und später bei Gregor
von Tours (Hist. Vr-uro. II., «. 40) auch für die fränkische Periode bezeugt.
Gleichfalls nur rein bildlich fassen wir es heute auf, wenn davon die Rede ist,
daß ein Fürst „auf den Thron erhoben (oder gesetzt)" oder „vom Throne
gestoßen (oder gestürzt)" worden sei, obwohl auch diese Handlungen früher
tatsächlich vorgenommen wurden, und ebenso ist uns in den Zusammensetzungen
„Thronfolge" und „Thronfolger," „Thronwechsel" u. a. in. das erste
Wort jetzt nur zum farblosen Symbol für Herrschaft oder Regierung geworden.
Fast völlig aus dem Bewußtsein geschwunden ist in der Gegenwart auch
die ursprüngliche Bedeutung einzelner Bezeichnungen der altdeutschen Ämter-
versassung. So war der oben beiläufig erwähnte „Herzog" (althochd. dsrixolu)
oder -MZo, altnord. bsrtoM, mittelhochd. IrLi-Mgo) anfangs eigentlich wirklich
das, was das Wort (von Ircvr ^ Heer und MM vou xiob-M, ziehen, wie Bote
von bieten; vgl. das lat. ckux von neue-ers, auch praetor ^ pr^s-nor) andeutet,
nämlich der Mann, der dem Heere als Führer voranzog (Heerführer), während sich
der Ausdruck später allmählich zu einem bloßen erblichen Titel umgewandelt
und damit genau genommen seine „Seele" verloren hat. Gerade so ist uns
das Wort „Graf" (althochd. ZiÄ.on>, grSvjo, mittelhochd. Ars-vo), einst der Name
für den wichtigsten Beamten in der karolingischen Periode, als Amtsbezeichnung
so gut wie völlig abhanden gekommen. Denn nur in der niederdeutschen Form
„Greve" oder „Grebe" kann man es in einzelnen Gegenden als Benennung
einer Dorfobrigkeit anch noch in der neuern Zeit nachweisen. Dieselbe Ent¬
wicklung haben die Zusammensetzungen Zentgraf, Burggraf, Pfalzgraf, Landgraf,
Markgraf u. a. in. durchlaufen.
Andre ehemalige Amtsbezeichnungen haben sich zwar unverändert bis in die
Gegenwart erhalten, ihre Bedeutung aber oft bis zur Unkenntlichkeit gewechselt.
Als eins der merkwürdigsten Beispiele hierfür sei der „Marschall" genannt, der
schon in der merowingischen Königszeit neben dem „Kämmerer," dem „Schenken"
und dem „Truchseß" als Vorsteher eines der vier Hof- und Reichsämter auftritt,
die während des ganzen Mittelalters im „heiligen römischen Reiche deutscher
Nation" eine so wichtige Rolle gespielt haben. Heute ist uns der Name besonders
in den Zusammensetzungen „Hofmarschall" und „Feldmarschall" — also für zwei
besonders hohe Stellungen — geläufig, und doch bedeutet Marschall (althochd.
iNÄiÄN8cÄlc;, mittellat. nriu'ise-glous, so schon in der I-sx Lsliog. und in der I.. ^kam.,
sonst anch MÄrsogllus, mittelhochd. mursotulllc) ursprünglich nichts andres als
„Pferdeknecht," dann später etwa „Oberstallmeister." Denn die erste Silbe: war,
die noch erhalten ist in „Marstall" (anfangs nur Pferdestall, später auf fürst¬
liche Stallungen beschränkt), ist abzuleiten von iruu-lib, um-ab. Pferd (mittelhochd.
msrns, die Stute), wovon anch unsre „Mähre" herstammt, die übrigens ebenso
wie der, wohl vom Klappern der Hufe gebildete „Klepper" — eigentlich ein
Reitpferd für eine Reise — bis ins achtzehnte Jahrhundert nichts Verächt¬
liches an sich hatte. Die zweite Hälfte des Wortes aber, erkennbar much in
dem „Seneschall" und in den Familiennamen „Gottschall" und „Gottschall," ist
entstanden aus „Schalk" (althvchd. soalo, gotisch slcalks, mittelhochd. fötale,),
was zunächst soviel wie „Knecht," Leibeigner, erst später auch einen Menschen
von knechtischer, gemeiner, namentlich auch untreuer und hinterlistiger Ge¬
sinnung bedeutete, in neuster Zeit aber ungefähr gleichbedeutend gebraucht
wird mit „Schelm," einem Wort, das selbst ganz ähnliche Bedeutungswand-
lungeu durchzumachen hatte, ehe es den Begriff eines harmlos neckenden Menschen
annahm, den wir heute damit verbinden. Bemerkt sei noch, daß bei unsern
Nachbarn jenseits des Rheins nicht nur das stammverwandte iTmrvonal ein
fast gleiches Schicksal erlebt hat wie unser Marschall, sondern daß dort auch
uoch durch Vermittlung der lateinischen Wiedergabe des Wortes mit eonuzs
swduli (d. h. „Stallgraf") der ebenfalls sehr vornehme OonnütaNs (Kronfeldherr,
später auch bloß Titel) geschaffen worden ist. Auch der „Kämmerer," einst
nur der „Verwalter einer (fürstlichen) Vorrath- und Schatzkammer," hat mit der
Verfeinerung des schon frühzeitig dem Lateinischen entlehnten Wortes „Kammer"
(althochd. KamÄi-H, mittelhochd. K-unsr, Kainers ^ abgeschlossener Raum des
Hauses, daun besonders Vorrath- und Schatzkammer) zu dem Begriffe „des
gesamten Personals, das zur nähern Umgebung (eigentlich zum Wohnzimmer)
eines Fürsten gehörte" erklärlicherweise eine Standeserhöhung erfahren. Er heißt
seitdem mich meist „Kammerherr" (oder gar Oberkammerherr), wozu die
Ausdrücke „5wnnnerjnnker," „Kammersänger" und „Kammermusik" in Vergleich
zu stellen sind; ja selbst „Kammerjäger" war ursprünglich eine Bezeichnung für
„fürstlicher Leibjäger" und hat den bekannten heutigen Begriff erst infolge eines
ironischen Spielens mit der mehrfachen Bedeutung des Wortes Kammer (heute
fast nur — Schlafzimmer) angenommen. Noch bei einer ganzen Reihe sich auf
das Nechtswesen beziehender Ausdrücke begegnet uns — nebenbei bemerkt —
in unsrer Sprache die „Kammer." So knüpft zunächst unmittelbar an den
Begriff der fürstlichen Schatzkammer an die Bezeichnung „Kammergut"
für ein „Gut, das zum fürstlichen Vermögen gehört" (Domäne, vgl. auch
„Salzkammergut" und „Kammerschulden"), wie denn auch früher die
Leibeignen, die zum fürstlichen, insbesondre kaiserlichen Besitz gehörten,
„Kammerknechte" genannt wurden. Denselben Namen führten im Mittelalter
auch die Juden, die für den ihnen vom Kaiser gewährten Schutz eine bestimmte
Abgabe an „des Reiches Kammer" zu zahlen hatten. Von der Schatz¬
kammer aus erweiterte sich das Wort Kanuner dann allmählich zu dem
Begriff „öffentliche Kasse," „Verwaltung der Finanzen" (vgl. „Oberrechnungs-
kcunmer," daher auch „Kcnneralia" ^ Finanzwissenschaft und „Kameralist").
Weit verbreitet ist ferner noch hente die Bezeichnung Kammer für die ver¬
schiedensten Kollegien, die sich mit öffentlichen (wenn auch nicht oder doch
nicht direkt auf das Finanzwesen bezüglichen) Angelegenheiten beschäftigen.
Das älteste und bekannteste Beispiel dafür ist wohl das kaiserliche „Reichs¬
kammergericht" (eigentlich eine Tautologie, da hierin „Kammer," „kaiserliche
Kammer" schon für Gericht, ursprünglich Gerichtsstube, steht), der 1495 unter
Maximilian dem Ersten eingesetzte oberste Gerichtshof des alten Deutschen Reichs,
der bis zu dessen Auflösung im Jahre 1806 in Wetzlar sein Dasein zu fristen
vermochte und zuletzt durch die Langsamkeit seiner Rechtsprechung geradezu be¬
rüchtigt war. Noch heute aber lebt der Name alter Tradition gemäß fort in
dem „Kammergericht" zu Berlin, d.h. dem Oberlandesgericht für die Provinz
Brandenburg, das zum Teil auch als oberstes Landesgericht für den ganzen
Preußischen Staat wirkt. Ferner kennt unser Gerichtsverfassuugsrecht „Zivil¬
kammern," „Strafkammern" und „Kammern für Handelssachen," die
man übrigens nicht mit den „Handelskammern" („Handels- und Gewerbe-
kammeru/Kvmmerzkammeru"), Organen zur Vertretung kaufmännischer und in¬
dustrieller Interessen in einem bestimmten Bezirk, verwechseln darf (vgl. auch
„Landwirtschaftskammern"). Die Rechtsanwaltsordnung erwähnt an zahlreichen
Stellen die „Anwaltsknmmern," noch andre Gesetze sprechen von „Dis-
ziplinarkammern." Am bekanntesten sind endlich die nach französischem
Vorbilde (olmwbro clef äüputüs) geschaffnen, speziell wieder dem Staatsver-
fassnngsrecht angehörenden Ausdrücke „erste" und „zweite Kammer" für die
beiden zur Mitwirkung an der Gesetzgebung berufnen Körperschaften der Landes¬
vertretung, die freilich in manchen Bundesstaaten noch besondre althergebrachte
Namen führen. Unter diesen sind das preußische „Herrenhaus" und die
württembergische „Kammer der Standesherren" (im Gegensatze zum „Abge¬
ordnetenhaus" und der „Kärrner der Abgeordneten") für den Sprachforscher
insofern ebenfalls eine interessante Erscheinung, als sich in diesen Ausdrücken
noch das Wort „Herr" in seiner ursprünglichen, sonst heute schon fast völlig
abhanden gekommenen Bedeutung („der Vornehme," Adlige) zu erhalten ver¬
mocht hat.
Kehren wir — nach dieser Abschweifung — zu den vier Hof- und Reichs¬
ämtern zurück, so siud zwar der „Schenk," zunächst nnr der Diener, der für die
Getränke zu sorgen hatte (spater etwa: Kellermeister), und der „Truchseß" (ahd.
trugstjs^sstj/.v), eigentlich der Diener, der die Speisen auftrug (dann etwa: Obcr-
küchenmeister), heute als Aintsbezeichnuugeu verloren gegangen, leben aber beide
noch fort in den Namen gewisser Adelsgeschlechter (Schenk zu Schweinsberg,
Truchseß zu Waldburg). Auch hatte sich die niederdeutsche Form für Truchseß,
„Droste," die ebenfalls als erblicher Familicntitel vorkommt (vergl. Droste-
Hülshoff, Droste zu Vischering) als Amtsumne noch bis vor kurzem zu er¬
halten vermocht in dem hannoverschen „Landdrost" (Vorsteher einer „Land-
drostei"), der bis zur neuen Kreiseinteilung der Provinz vom 1. April 1885
dort das Amt eines heutigen Regierungspräsidenten versah.
Während sich bei den bisher erwähnten Amtsbenennnngen durchweg eine
allmähliche Veränderung ihres Inhalts zum Vornehmern verfolgen läßt, enthält
die Sprachgeschichte mich umgekehrt Beispiele sozusagen für das Herabsteigen
mancher Amtstitel von der einstigen Höhe auf eine tiefere Stufe. Hierfür sei es
erlaubt, auf ein nicht rein deutsches, sondern aus dem Lateinischen in unsre
Sprache aufgenommues Wort hinzuweisen, weil man die Erscheinung an ihm
besonders deutlich wahrnehmen kann. Es ist der bekannte Nmtstitel „Re¬
ferendar" (Referendarius, Referendar), der in Preußen und vielen andern
deutschen Bundesstaaten jetzt nur uoch gebräuchlich ist für die nach Ablegung
der ersten Prüfung im Vorbereitungsdienst bei den Gerichten und Verwaltungs¬
behörden beschäftigten jungen Juristen (in Bayern: Nechtspraktikauten, in Hessen:
Aecessisten), obwohl in ältern Zeiten derselbe Name vielfach für sehr hohe Hof-
uud Staatsämter verwandt wurde. So begegnet dieser dem Rechte der römischen
Kaiserzeit entstammende Titel schon früh bei den Langobarden für den Vor¬
stand der königlichen Kanzlei, für den er auch unter den Frankenkönigen — und
zwar schon in der merowingischen Zeit — hauptsächlich vorkommt "(verdeutscht
also etwa: „Reichskanzler"). Seit dem spätern Mittelalter tritt er dann wieder,
namentlich für gewisse hohe Beamte am Reichsgericht, Reichshofrat und bei
der Neichshvfkanzlei, auf, während er in der neuern Zeit nur noch auf engerm
Gebiet (besonders in Baden und in Sachsen-Weimar) sein ursprünglich vornehmes
Gepräge zu wahren, jn teilweise noch zu steigern vermochte („Geheimer Re¬
ferendar").
An eine Reihe andrer älterer Amtsbezeichnungen erinnern endlich in der
Gegenwart nur noch gewisse Familiennamen, wie z. B. Stöcker (Stöcker,
Stockmann), dessen Vorfahren einst die Amtsgeschäfte des (städtischen) Gefängnis¬
aufsehers (Stockwärter, ZtociWÄrtöjrj, Ltooicer, custos oixm) versehen haben dürften,
die zugleich mit denen des Nachrichters verbunden waren. Auch der Eigen¬
name Hcimbürge (nebst den Variationen Heimburg, Heimburger, bürger,
—berger usw.) war einst (am längsten noch in Hessen und im Elsaß) die amt¬
liche Bezeichnung für einen Ortsvorsteher oder den (gewählten) Vorsteher länd¬
licher Gemeindeversammluugen und des Dorfgerichts (Ireimbur^o, Bauermeister,
Greoe usw.). Der heute für dieses Amt gebräuchlichere Ausdruck „Schulze"
(Dorfschulze) ist bekanntlich ebenfalls zugleich eiuer der verbreitetsten Familien¬
namen. Titel wie Name aber gehn zurück auf den altdeutschen „Schultheiß"
(althd. soulllloi/.o, svulcllieitM, ahd. soKrüclireiW, niederd. 8ob.ullo fsoliulllletej,
alae. souläusius, 8vu1lini8n8), worunter ursprünglich wirklich der „Schultheischer,"
d. h. der Beamte zu verstehn ivar, „der die Schuldigkeit zu leisten befiehlt, die
Schuld eintreibt." Später hatte das Amt einen sehr mannigfachen, auch nach
den verschiednen Gegenden wechselnden Inhalt, bis sich dann in der Neuzeit
der Sprachgebrauch allmählich in der schon angegebnen Weise befestigt hat.
Übrigens kommt die Amtsbezeichnung vereinzelt, nämlich in Württemberg, heute
auch für die Vorsteher der Verwaltung von Städten, sogar größern Umfangs,
vor, soociß hier der „Stadtschultheiß" soviel bedeutet wie anderswo der
„Bürgermeister," der uns als „Burgemeister" (burerneistc-r, d. h. Meister der
Burg, Stadt) ebenfalls schon früh in Gesetzen und Urkunden entgegentritt.
Im Mittelalter hatte aber jede einigermaßen bedeutende Stadt nicht nur
— wie heute — ihre eigne Verfassung und Verwaltung, sondern auch ihr
eignes Recht, das Stadtrecht, das nach einer wichtigen Parömie das „Land¬
recht" ebenso brechen sollte, wie dieses das „gemeine Recht," sodaß es jeder¬
zeit an erster Stelle zu Rate gezogen werden mußte. Für dieses „Stadt¬
recht" findet sich seit dem zwölften Jahrhundert namentlich in nord- und
mitteldeutschen Nechtsaufzeichnnngen — seltner auch im Süden — als technisch-
juristische Bezeichnung ein auch, in unsrer modernen Sprache noch erhaltner
Ausdruck, deu wir nnr freilich in einem viel allgemeinern Sinne gebrauchen.
Es ist das interessante Wort „Weichbild" (ahd. vviMleäö, viobilcte, vloll-
mläg, —IiMv u. a. in), über dessen Etymologie die Gelehrten lauge Zeit
recht uneinig gewesen sind. Jetzt darf man wohl mit R. Schröder^) annehmen,
daß der erste Bestandteil das im Niederdeutschen weitverbreitete one (got. veibs,
lat. viens, griech. o/xc-s) ist, das sich in manchen Ortsnamen noch rein erhalten
hat (wie in Bcirdowieck bei Lüneburg, d. h. ursprünglich Lnngobardeuort, ferner
in Osterwilejck in Westfalen und im Harz, Wiek auf Ritgen, Putziger Wiek,
Wik am Kieler Hafen, Whk auf der Insel Föhr), während die zweite Silbe das
Wort dnn in der Bedeutung „Recht" enthält, das entweder abzuleiten ist von
einem althochdeutscher diliclg. oder — wahrscheinlicher — von unserm Bild
(iiNÄM, übt. viliäi, altsächs. bilitlri), das schon früh im Sinne von „Vorbild,"
„Gemäßheit" vorkommt (vgl. biläe-ut, villlou, das heutige „billig" und rm-
diläv, „Unbill"). Danach'muß die Grundbedeutung des Wortes „Ortsrecht,"
,,Stadtrecht," „Marktrecht" gewesen sein, und das wird auch gleich durch
das älteste Zeugnis, die Grttndungsurkuude der Stadt Leipzig aus den Jahren
1156 bis 1170 bestätigt, wonach der neue „suo IlgllsnÄ «t, Na,Aä<zbur^M8i
furo" errichtete Ort vier Stadtkreuze als Sinnbild des Stadtrechts („M'i» srmni
ciuoä vviodilczäe äiviwr siMum") erhielt. So tritt denn „Weichbild" bald
dem Landrecht als ein Gegensatz gegenüber, dann aber erweitert es sich — ähnlich
wie das Wort „Bann" früher'nicht nur Gericht und gerichtliche Gewalt, sondern
mich Gerichts bezirk bezeichnet hat — vom Stadtrechte zum „Stadtrechts gebt et"
oder „Stadtgebiet," wofür es schon am Anfang des dreizehnten Jahrhunderts
vorkommt. Allmählich wurde „Weichbild" ferner auch wohl geradezu zur Be¬
zeichnung von „Stadt" (namentlich kleinern Umfangs, Märkte und Flecken) ver-
warte, so noch im achtzehnten Jahrhundert, z. B, bei Justus Möser in seinen
„Patriotischen Phantasien." In manchen Gegenden aber, besonders im Bereiche
des Mischen und des westfälischen Rechts, verengerte sich andrerseits der Aus¬
druck zu einem juristischen tsrimQus welmiizus zunächst für die städtische Erb¬
leihe, dann auch weiter für städtische Grundstücke, speziell Zinsländcreieu, und
endlich für den von Weichbildgütern zu zahlenden Wertzins oder überhaupt für
Rente von städtischen Grundstücken. Für Lübeck hat man z. B. die „Wiebolds-
renten" noch in einer Verordnung vom Jahre 1848 nachgewiesen. Bis in die
Gegenwart hinein hat sich dagegen von allen ältern Bedeutungen nur die des
Stadtbezirks (Stadtgemeindegebiets) — und zwar als ein Ausdruck der täglichen
Umgangssprache — erhalten, sodciß man etwa bei der Rückkehr von einem weitern
Spaziergang vor die Tore der Stadt zu seinem Begleiter sagen kann, man merke
es an dem regern Verkehr ans dem Wege, daß man sich wieder dem „Weich -
bilde der Stadt" nähere. Da zur Zeit unsrer Altvordern die Stadttore bei
einbrechender Dunkelheit geschlossen zu werden pflegten — eine Sitte, die sich
übrigens sogar in größern Städten vereinzelt bis weit ins neunzehnte Jahr¬
hundert hinein erhalten hat —, so tat man damals gut daran, sich auf Exkursionen
außerhalb der Stadtmauern rechtzeitig an diesen Vorgang zu erinnern, um „noch
vor Toresschluß" wieder zurück zu sein und nicht noch eine besondre Gebühr
für den Einlaß entrichten zu müssen. Heute haben die meisten Städte wohl
überhaupt keine eigentlichen Tore mehr, die Redensart aber lebt zur Bezeichnung
eines zwar noch rechtzeitig, jedoch im letzten Augenblick erfolgenden Erscheinens
(„in elfter Stunde") im Volksmnnde weiter.
Auch an die ehemals viel tiefer greifende Bedeutung des städtischen Bürger¬
rechts und seiner Arten hat unsre Sprache manche Erinnerung bewahrt, so zu¬
nächst in dem Worte „Pfahlbürger" (ahd. u. mutt. puMur^ersöf, oder
viüvurAsrsöj oder -dorAsrssj, palv-, xal- oder KgloorAgr, alae. xlig.1- oder
xiübur^rijij), das im Laufe der Zeiten eine auffällige Begriffsveränderung durch¬
gemacht hat. Bis vor kurzem verstanden Rechtshistoriker und Sprachforscher
unter dieser Bezeichnung — die sich zuerst in der von König Heinrich dein Siebenten
1231 zu Worms entlassenen Loustiwtio in tavorern xrineixuin (Z 10; Avr. Ssim.,
(Horst. II, x. 419) findet — in ziemlicher Übereinstimmung die ohne die vollen
Rechte der eigentlichen Stadtbürger unter dem Schutze einer Stadt lebenden
Vorstüdter, die ihren Namen daher erhalten haben sollten, daß sie eben vor den
Stadtmauern, „außerhalb der Pfähle" der Stadtbefestigung oder Stadtgrenzen,
wenn auch „dicht bei denselben" wohnten. Diese im achtzehnten Jahrhundert
(besonders durch Haltaus, Klossariuin ^«riNÄuivum roodii asvi, 1758) auf¬
gestellte und seitdem herrschend gebliebne Ansicht ist nun aber kürzlich von Karl
Zeumer (in seinen „Studien zu den Reichsgcseken des dreizehnten Jahrhunderts,"
in der Zeitschr. der Savigny-Stiftg. für Nechtsgesch., Germ. Abtlg., Bd. XXIII,
1902, S. 61 ff-, Kap. II: „Pfahlbürger," S. 87 ff.) als „überaus gezwungen
und wunderlich" angefochten worden, zumal da es ihr an einer Begründung
in den Quellen gänzlich fehle. In diesen sei nämlich bis zum vierzehnten und
fünfzehnten Jahrhundert (so z. B. in der Goldner Bulle von 1356, Kap. 16)
der Ausdruck „Pfahlbürger" allgemein für vives nein resiäerckss (so ausdrücklich
unter andern? in den Wormser Beschlüssen von 1254, Z 14; Nein. (Zorro., Ooust. II,
x. 583) gebraucht worden, d. h. für „Untertanen von Fürsten und Herren, welche
das Bürgerrecht einer Stadt erwerben, aber an ihrem bisherigen Wohnsitze im
herrschaftlichen Territorium verbleiben und nur die Freiheiten' und Rechte dieser
Stadt ihren Herren gegenüber in Anspruch nehmen, um diesen die schuldigen
Leistungen zu entziehn" (ni. a. O. S 95). Solche „Ausbürger" konnten „in
landesherrlichen Städten, Dörfern oder Landen wohnen; nur als Vorstüdter
der Stadt, deren Bürgerrecht sie erworben haben, sind sie" — wenigstens in
der ältern Zeit — gerade „nicht zu denken" (S. 95). Mit dieser Tatsache.
wonach die Pfahlbürger „mit den Stadtpfählen . . . nichts zu schaffen gehabt
haben können" (S. 96), hat dann Zeumer auch die Etymologie des Wortes
in Einklang zu bringen versucht, indem er, anknüpfend um die wahrscheinlich
ursprüngliche Form xg.1- oder dg.1hol-A(;r, den ersten Bestandteil des Ausdrucks
von dem althochdeutscher lMo, Mo (in Zusammensetzungen auch denke, pg.1g
oder dg.1, x^l) mit der Bedeutung „Schlechtigkeit, Bosheit, Tücke, Verderben,
Falschheit, falsch" herleitet (S. 98 mit Hinweis auf die althochd. Verbindungen:
böten-g-t, ^ der falsche, tückische Rat, dg-total ^ die falsche, schlechte Tat,
dalcuuuncl — der falsche, ungetreue Vormund und das heutige „Ballast,"
wohl ^ unechte, uneigentliche Ladung), Daneben wird übrigens auch noch eine
andre, aber nahe verwandte Etymologie (Ableitung von einem Adjektiv vent oder
lÄ, das „in Loiuxosltis die gleiche Bedeutung »falsch« gehabt hat") zur Wahl
gestellt (S. 99 u. Anm. 1). In beiden Fällen ergibt sich aber für die Pfahl¬
bürger dieselbe — auch schon den mittelalterlichen Quellen geläufig gewesene —
Bedeutung: „falsche," d.h. unechte, nicht wirkliche, nur scheinbare Bürger, „Loki
eivos," wie sie in einer Klageschrift des Erzbischofs Günther von Magdeburg gegen
den Rat der Stadt vom 2. April 1432 genannt werden, oder „es-ux donrAsoi's,"
wie sie in einer alten französischen Übersetzung einer Urkunde Karls des Vierten
von 1365 heißen (s. S. 101 u. Anm. 1 mit Hinweis auf die Analogie des
französischen lÄulzourg' — Msus tiur^us) im Gegensatze zu den echten, den
wirklichen, in der in Frage stehenden Stadt selbst wohnenden Bürgern.
Welche Erklärung man nun mich dem Worte geben mag, jedenfalls läßt
sich wohl aus der Tatsache, daß es in der Neuzeit ausschließlich zur Charakteri¬
sierung eines Kleinstädters mit „altfränkischen" Manieren und beschränktem
Gesichtskreis, kurz für einen richtigen „Philister" verwandt wird, leicht ein
Rückschluß darauf ziehn, daß die Vollbürger einst mit überlegnem Stolze ans
jene rechtlich tiefer stehenden Genossen hinabgeschaut haben müssen.
Auch die heute ungefähr in demselben Sinne gebrauchten Ausdrücke „Spie߬
bürger" (burschikos: „Spießer") und „Schildbürger" hatten beide ehemals
nichts Lächerliches und spöttisches an sich, sofern man nämlich darunter die
Bürger wird verstehn dürfen, die für die Verteidigung der Stadt gegen ihre
Feinde mit Spieß und Schild bewaffnet waren (vgl. das heute noch tiefer
gesunkne „Spießgeselle," ursprünglich — Waffengenosse). Sie forderten erst
den Spott heraus, als sie auch später uoch mit schwerfälliger Zähigkeit an der
veralteten Art kriegerischer Ausrüstung festhielten, zu einer Zeit, wo außerhalb
der Stadtwälle schon die Feuerwaffen weite Verbreitung gefunden hatten.
Jedoch ist diese Auslegung der beiden Bezeichnungen nicht ganz unbestritten,
und namentlich wird für die Schildbürger von vielen die Herleitung von dem
Städtchen Schilda bevorzugt, von dessen Bewohnern im Volksmunde (besonders
auf Grund des sogenannten „Lalenbuchs," 1597) allerhand Torheiten erzählt
werden, sodaß sie'in den Ruf besondrer geistiger Beschränktheit geraten sind,
ähnlich wie im Altertum die — durch Wieland in die Literatur eingeführten —
Abderiten oder ihre modernen Leidensgeführten, die Schöppcnstedter, Buxtehuder,
oder wie sonst noch in den einzelnen Gegenden unsers Vaterlandes die „Kräh-
winkler" bezeichnet werden mögen.
Von jeher hat in den dentschen Städten das Handwerk, von dem wir
»och heute sagen, es habe einen „goldnen Boden," in Blüte gestanden. Aber
eifrig wachten'in alter Zeit auch die Meister darüber, daß niemand ihnen „ins
Handwerk pfusche," d. h. als nicht zur Gilde, Zunft oder Innung gehörendes
Mitglied das gleiche Gewerbe ausübe. Wer sich dieses herausnahm, der mußte
gewärtigen, daß auf ihn als sogenannten „Böhnhasen" oder „Dachhasen"
Jagd gemacht wurde; denn so 'nannte man die Verfolgung der unzünftigen
Handwerker, ganz besonders der Schneider, die heimlich in ihren Kämmerchen
unter dem Dachboden (Bühne, übt. boSn, boons, bon, tous) zu arbeiten ge-
zwnngen waren, um sich der Entdeckung zu entzieh». Heute unter uns diese
Zustünde schon recht fremdartig an; denn wenn auch noch in unsrer Neichs-
gewerbevrdnung von „Zünften" die Rede und den „Innungen" sogar ein recht
umfangreicher Abschnitt gewidmet ist, so weisen doch diese modernen „Korporationen
von Gewerbetreibenden" bei unsrer grundsätzlich anerkannten Gewerbefreiheit
erklärlicherweise nur noch einen schwachen Abglanz ihrer alten Herrlichkeit auf.
In unsrer Umgangssprache aber haben sich manche der technischen Ausdrücke
aus dem ältern Gewerberecht allmählich zu viel allgemeinern Begriffen umge¬
wandelt. Denn als „zur Zunft gehörig" pflegen wir heute im weitern Sinne
auch wohl Nichthandwerkcr, ja sogar akademisch gebildete Personen zu bezeichnen
(„Zunft der Professoren, der Juristen, der Philologen"), und ebenso hat der
„Pfuscher" seine ursprüngliche Bedeutung, die deutlich noch in den neuerdings
von unsern studierten und approbierten Ärzten so viel geschmähten „Kurpfuschern"
zu erkennen ist, mehr und mehr erweitert, sodaß wir das Wort oft schon schlecht¬
hin für „Stümper" gebrauchen. Heute kann ferner sogar der Gelehrte „sein
Handwerk verstehn," aber freilich auch seine Wissenschaft „handwerks¬
mäßig," d, h, schablonenhaft betreiben, er kann weiter einem andern Kollegen
„ins Handwerk pfuschen," worauf dann dieser es vielleicht unternimmt, ihm
„das Handwerk zu legen," Ja sogar die Wendung „das Handwerk
grüßen," wie man es einst nannte, wenn die Handwerksgenossen beieinander
vorsprachen (um z, B, eine Unterstützung zu verlangen), wird jetzt wohl in
scherzhafter Rede für den Fall gebraucht, daß sich Fachgenossen jeder Art kollegiale
Besuche machen. (Fortsetzung folgt)
uf dem nulli des Leipziger Stadttheaters ist eine Veranstaltung ge¬
troffen, die wahrscheinlich eine eigne technische Bezeichnung hat, da
mir jedoch der rechte Ausdruck nicht bekannt ist, werde ich sie als
schiefe Ebne bezeichnen. Sie würde, wenn sie etwas steiler wäre, auf
jedem Kasernenturnplatz wohlangebracht sein, da sie dazu dienen
könnte, die Mannschaften mit und ohne Gepäck im Erklimmen von
Brustwehren und Eskarpen zu üben, eine Vorübung, die, beiläufig gesagt, keines¬
wegs überflüssig ist, und deren Nutzen z. B. der Teil der sächsischen Truppen, der
um 3. Juli 186K durch die .Wniggrätzer Werke zurückging, in der Praxis zu würdigen
Gelegenheit gehabt hat. In Fällen, wo die Hintere Hälfte der Bühne erhöht wird,
damit sich bessere Gelegenheit zu malerischen Gruppierungen biete, vermittelt die schiefe
Ebne den Übergang zwischen den beiden Bühnenhälften von ungleicher Höhe, und
da die Aufrichtung des gewaltigen Zimmerwerks vielleicht doch jedesmal ein Stück
Arbeit verursacht, so würde es Unrecht sein, wenn man die gute Absicht, etwas schönes
zu leisten, nicht dankbar anerkennen wollte. Das Unglück ist mir, daß es hier bei
der Absicht bleibt, und daß sich die schiefe Ebne sehr schlecht ausnimmt, weil sie,
wo es sich um die Darstellung natürlichen Geländes handelt, nicht Vogel und nicht
Fisch ist, sie gibt dem Zuschauer das Gefühl, daß er einer künstlichen Veranstaltung
gegenübersitzt, ohne daß auch nur der Versuch gemacht wird, ihn über deren Herkunft
aus der Zimmermannswerkstatt zu täusche«. Daraus, daß der Grund und Boden des
Rutil, den der Dichter sehr richtig als eine Matte bezeichnet, und der als solche
am besten nach dem See zu abfallen füllte, aus Balken und Planken hergestellt ist,
würde man sich nichts machen, wenn er so wie immer und nicht künstlich verändert
wäre. Denn daß auf der Bühne das natürliche Gelände nicht dargestellt wird, ist
etwas durch allseitiges Übereinkommen anerkanntes. Auch in den Waldszenen des
Svmmernachtstraums, wo es doch sehr am Platze wäre, sprieße» auf der Bühne
keine Gräser, keine Blumen, und was geschehn muß, bei dieser Gelegenheit der
Einbildung des Zuschauers zu Hilfe zu kommen, beschränkt sich auf die Anbringung
einiger Versntzstücke, worauf die Laube, unter der Titania schlummert, und einige
tropische, bisweilen sogar dem Fabelland angehörende Pflanzen dargestellt sind. Daß
dabei die Bühne, worauf die Liebespaare schlummern, flach und hölzern wie ein
Tisch bleibt, während man doch weiß, wie Waldesgrund, auf dem sich Liebespaare
häuslich einrichten, beschaffe» ist, stört niemand, weil das Tennenartige der Bühne
etwas konventionelles ist, und es jedermann bekannt ist, daß nirgends der Versuch ge¬
macht wird, wirklichen oder mehr oder minder tauschend nachgeahmten Wüit- und
Wiesengrund auf die Bühne zu bringen. Sehr üppige Bühnenleitungen belegen den
Boden mit grünem Tuch, was für jedes behäbig eingerichtete Zimmer paßt und zur
Not auch den grünen Teppich der Wiesen vorstellen kann. Im allgemeinen wundert
man sich nicht, wenn eine als idyllisch gerühmte Rasenbank aus dem sie umgebenden
Dielenbvden, wie ein andres Gibraltar aus der See, hervorwächst, und solange man
nicht an den Erdboden ausdrücklich erinnert wird, läßt man ungerade gerade sein;
nur wenn schiefe Ebnen eigens errichtet werden, fällt einem der starre geradlinige,
brnstwehrartige Bau auf und wirkt geradezu störend.
Gegen Freitreppen und erhöhte Galerien kann man nichts sagen- sie können
so hergestellt werden, daß die Täuschung vollständig ist, und ihre malerische Wirkung
ist uuter Uniständen ganz erfreulich. Wir brauchen nur zu erinnern an die Treppe,
auf der in den Hugenotten Margarete vou Valois herabsteigt, auf die für die
Inszenierung des zweiten Aktes von Lohengrin üblichen erhöhten Galerien und um
König Laurüis letzten Akt, dessen Handlung sich in der Hauptsache auf den einander
gegenüberliegenden beiden Wangen einer Freitreppe abspielt, und der gerade dnrch
diese ungewöhnliche Maßregel sehr malerisch wirkt.
Die schiefe Ebne des Leipziger Theaters kommt auch in Wallensteins Lager zur
Anwendung und wirkt, soweit es sich dabei um Massentableaus bei dichtgefüllter
Szene handelt, ganz gut; ich würde sie aber, wenn ich etwas zu sagen hätte, auch
da nicht vertuenden, weil sie den leichten, natürlichen Verkehr nach der Tiefe der
Bühne zu unterbricht und auch der Tatsache, daß Truppen der Zelte wegen und
aus allerhand andern sehr praktischen Gründen ihr Lager lieber auf eiuer Ebne als
auf dem tiefer liegenden Teile eines treppenförmig abfallenden Geländes aufschlagen,
widerspricht. Ein weiterer Nbelstand ist der, daß durch die schiefe Ebne alle Auf¬
tritte und Abgänge allzusehr auf die Zwischenräume zwischen dem Proszeuium und
den zwei vordem Kulissen jeder Seite beschränkt werden, da jeder, der es mög¬
lich machen kann, das Hinnnfstürmen über den ziemlich unbequem ansteigenden Terraiu-
streifeu, die einzige Art, wie er nach dem Hintergründe gelangen kann, vermeidet.
Als ich beim Beginn der zweiten Szene des zweiten Akts der schiefen Ebne
des nulli ansichtig wurde, die mir, frei herausgesagt, nicht gefiel, war es mir ein
tröstlicher Gedanke, daß sie Melchthals beunruhigende Beweglichkeit einigermaßen in
Schranken halten würde. Prostemahlzeit! Die Uuterwaldner, bekanntlich die ersten
auf dem Platz, waren kaum aufgetreten, als sich auch schon herausstellte, daß Arnold,
worauf ich allerdings hätte gefaßt sein müssen, wie eine Gemse zu klettern verstand,
und daß für ihn, man kann eigentlich sagen, nur für ihn die schiefe Ebne so gut
wie nicht dn war. Den Teil der Szene, der mit den unvorsichtigen Worten Stanf-
fnchers beginnt:
Doch jccho sagt nur, wer die Freunde sind
lind die gerechten Männer, die Euch folgten;
Macht mich bekannt mit ihnen, daß mir uns
Zutraulich nahen und die Herzen öffnen,
hat der Dichter dem Leipziger Melchthal so recht auf den Leib geschrieben: nun
konnte Arnold mit Fug und Recht nach Herzenslust ins Zeug gehn. Wie gern hätte
ich ihn wie den Großvezierssohn, den unglücklichen Bräutigam der Prinzessin Badrul-
budur, durch eiuen Genius kaltstellen lassen, und wie kam der verzweifelte Angstschrei
des Zauberlehrlings:
Stehe, stehe,
Denn wir haben
Deiner Gaben
Vollgemessen!
mich aus meinem Herzen!
Nun, ertrunken, oder wie Goethe sich kräftiger ausdrückt, ersoffen sind wir ja
schließlich ebensowenig wie der Zauberlehrling, aber es war nahe genug daran, und
wer weiß, was geschehn wäre, wenn Walter Fürst und der würdige Pfarrer, der
fromme Diener Gottes, nicht gerade noch zur rechten Zeit mit den übrigen Armem
die Felsen herabgestiegen wären und uns gerettet hätten.
Für die sogenannte Tagung und den Schwur, vielleicht die schönste und wirkungs¬
vollste Szene dieser Art, die je geschrieben worden ist, wird nun freilich die Teilung
der Bühne in zwei dnrch die schiefe Ebne mehr getrennte als verbundne Hälften
von ungleicher Höhe sehr unbequem, und eine Handlung, die eigentlich schon an und
für sich auf jeder Bühne ein Bild von ergreifender Wirkung geben müßte, wird in
Leipzig auf das sonderbarste — man kann wirklich nicht anders sagen als — ver¬
ballhornt. Die Weisung des Dichters, daß die beiden Unterwaldner Landleute ein
Feuer in der Mitte des Platzes anzünden sollen, hat offenbar die Bedeutung, daß
dieses weder rechts noch links, sondern in der Mitte, also dem Souffleurkasten gegen¬
über sein soll; auch daß der Ring als Halb- und nicht als geschlossener Kreis zu
denken ist, versteht sich von selbst, da man in solchen Fällen immer die Rücksicht be¬
obachtet, daß kein bei einer Handlung als sprechende oder handelnde Hauptperson
beteiligter Schauspieler dem Publikum den Rücken zukehre. Statt daß nun die drei¬
unddreißig Eidgenossen, die auf des Pfarrers Rat zu einem Landsgemeindcntag zu¬
sammentreten, möglichst weit vorn einen großen, nach dem Publikum zu offnen Halb¬
kreis um das Feuer bilden und so beraten, indem der Sprechende jedesmal ein paar
Schritte vor, oder wie es in den vom Dichter gegebnen szenischen Weisungen heißt,
in den Ring tritt, ist in Leipzig das Feuer ganz hinten auf der Erhöhung hinter
einem Felsen angezündet, der Ammann und die Hauptsprecher stehn ganz im Hinter¬
grund, und im Vordergrund — hier sträubt sich die Feder — lagert ein Teil der
Landsgemeindemitglieder in malerischen Stellungen, als wenn es sich um Zigeuner
handelte, die sich, hier und dort zwischen Gebüsch und Felsen zerstreut, eilt Rezitativ
mit Kavatine Vorsingen ließen und sich nach Absingung eines mit Schmiedehammern
begleiteten Wanderchors zum Ausbruch und zum Weiterziehn anschicken würden.
Man kann bei Inszenierungen wie bei andern Dingen schon einmal daneben
greifen, aber doch nicht so. Oder ist es der Regie ganz entgangen, daß es sich um
dreiunddreißig ernste, seßhafte und entschlossene Männer handelt, die unter alther¬
gebrachter Förmlichkeit einen Ring gebildet haben und in eine Beratung eingetreten
sind, deren Ergebnis, wie jeder von ihnen einsehen muß, über den Untergang oder
die Befreiung des Landes, über Leben und Tod des Einzelnen entscheiden wird?
Still und ernst wie Männer, die nur ein Gedanke, ein Gefühl beseelt, werden sie
der eine neben dem andern gestanden haben, eher an Bildsäulen als an ermüdete
und des Ausruhens bedürftige Wandrer erinnernd. Sich in einem solchen Augenblick
hinzulegen, würde nicht bloß gegen den Brauch Erwachsener jedes Landes verstoßen
haben, es würde ihnen auch schon an und für sich so wenig in den Sinn gekommen
sein, wie einen Schottisch zu tanzen.
Das im Hintergründe hinter einem Felsen angezündete Feuer mag wegen der
dadurch vermiednen Feuersgefnhr sehr lobenswert sein, aber das ändert nichts an
dem Umstände, daß man sich, wenn man das Feuer verbirgt und weit zurück verlegt,
eine vom Dichter weislich herbeigeführte Gelegenheit zu malerischer Wirkung ent-
gehn läßt. Die Maßregeln, die ein im Vordergrund der Bühne angebrachtes, frei
brennendes Feuer erheischt, sind einfachster Art. Wenn die beiden Unterwaldner,
die Melchthal ausgeschickt hat, mit dem zusammengerafften Reisholz zurückkehren,
stellen sich die Eidgenossen, die zur Hand sind, in möglichst dichtem Knäuel so auf,
daß das Publikum das Aufsteigen des Feuerkasteus aus der Versenkung nicht gewahr
wird. Wenn sie wieder zur Seite treten, ist der Hokuspokus gemacht. Das nur
aus Gasflammen bestehende Feuer brennt lichterloh zwischen angeblich dürren, in
Wirklichkeit aus Eisen nachgebildeten Reisholz, und da weder der Landmnmnnn,
noch der Pfarrer, noch die übrigen anwesenden Männer leichte, wie Lampenschirme
abstehende Gazeröckchen tragen, so ist von Gefahr nicht die Rede. Will man ein
Übriges tun, so läßt man aus ein paar ebenfalls durch die Versenkung mit heraus-
gekommnen Röhren gewaltige Massen Wasserdampfes aufsteigen, die das Bild be¬
leben, indem die sich rauchartig fortwälzenden Schwaden bald diesen, bald jenen Teil
der unbeweglich stehenden Gruppe halb verschleiern oder ganz unsichtbar machen.
Sie rufen wirklich die Täuschung hervor, als rauche ein im Freien brennendes Reis¬
holzfeuer, während die bloßen Gasfeuer ohne Rauch etwas Zahmes, nicht der Wirk¬
lichkeit Ähnliches haben, das einen wie ein mißlungner Versuch anmutet.
Die Leipziger Regie hat die für deu Schluß des Akts gegebne Weisung des
Dichters, daß die leere Szene noch eine Zeit lang offenbleiben und das Schauspiel
der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen zeigen solle, so aufgefaßt, daß sie
die Sonne hinter dem Mythenstein aufgehn läßt, und darin hat sie, wenn man
die Lage des Rutil in Erwägung zieht, vollkommen recht. Aber daß sie uns keine
Gelegenheit gibt, das sogenannte Vorglühen oder mit andern Worten das den
Sonnenaufgang ankündigende Erglühen der höchsten in großer Entfernung seitwärts
stehenden und nach Osten schauenden Bergriesen zu bewundern, wahrend doch Reding
ausdrücklich sagt:
— Doch seht, indes wir nächtlich hier noch tagen,
Stellt auf den höchsten Bergen schon der Morgen
Die glühnde Hochwände aus —
ist ein neuer Beweis, daß sie sich gerade die schönsten und wirklich großartigsten
Effekte entgehn läßt, wenn deren Erzielung mit mehr als gewöhnlichen Schwierig¬
keiten verbunden ist. Jedenfalls darf Reding, wenn das Publikum kein Vorglühn
gewahr wird, weil keins da ist, bei den eben angeführten Worten die Augen nicht
zu dem See wenden, denn warum sollte er, wie der Affe mit der magischem Laterne,
in der kein Licht brannte, uns von Dingen vorsabeln dürfen, wonach wir uus ver¬
geblich die Augen ausgucken? Er muß sich vielmehr dem Zuschauerraum zuwenden;
Man kann dann bei etwas gutem Willen vermuten, daß er das Erscheinen der
glühenden Hvchwcicht über uns, in der dem See entgegengesetzten Richtung wahr¬
genommen habe.
Wer im Angesicht der höchsten Schweizer Berge, z. B. auf dem Gorner Grat
oder der Fnucille, wirklich schönen Sonnenaufgängen beigewohnt hat, und solche sind
bekanntlich selten genug, weiß, daß der Anblick an überirdischer Schönheit die meisten
andern als großartig und wirkungsvoll bekannten Naturschauspiele übertrifft, uicht
bloß wegen des durchsichtigen, intensiv rubinroten Leuchtens der von den Strahlen
des aufsteigenden Souuenballs so früh getroffnen höchsten Spitzen, sondern auch
deshalb, weil diese Spitzen, die man vorher in der Morgendämmerung überhaupt
nicht gewahr geworden war, nach und nach wie Zaubergebilde mit einer Farbenglut,
die sich von Sekunde zu Sekunde steigert, aus den Nebelschleiern hervortreten.
Wenn sich nach dieser Richtung hin eine Regie mit der szenischen Weisung des
Dichters dadurch nbzufindeu glaubt, daß sie hinter einem Gebirgszüge, der Tages-
beleuchtuug darstellt und deshalb mit allen Details gemalt ist, ein erdiges Morgen¬
rot aufziehn läßt — von glühn oder leuchten ist ganz und gar nicht die Rede —,
so ist sie zwar formell im Rechte, denn ein schwacher Versuch, uns einen vom Morgen¬
rot gefärbten Himmel zu vergegenwärtigen, hat sie ja gemacht, aber deu Vorwurf,
daß sie den Zuschauer stiefmütterlich behandle und thu ungefähr mit dem abspeise,
Was auf einem ohne Liebe und Genialität behandelten Kinderpuppentheatcr geleistet
wird, kaun man ihr nicht ersparen. Wie ein Mondregenbogen aussieht, weiß ich
leider nicht, denn ich gehöre zu den vielen, die, wie von der Finde bemerkt, „das
nicht gesehen haben," aber das, was das Leipziger Theater in dieser Beziehung
leistet, genügt mir vollkommen: ich nehme es mit Vergnügen auf Treu und Glauben
als naturgetreu hin und bin, wenn ich wahrend der Eßpause „still meines Weges"
nach dem Büffett gehe, auf die neu erworbne Kenntnis stolz. Sollte es denn für
eine Regie, die Mondregenbogen aus dem Nichts hervorzuzaubern versteht, so schwer
sein, den Prospekt der dem Rutil gegenüberliegenden Gebirge so einzurichten, daß,
man erst die vom Mond beschienenen Eisgipfel und den im Schimmer des Mond¬
lichts glänzenden See, dann das Vorglühen der seitwärts stehenden Bergriesen und-
eutlich, wenn die elektrische Soule des Propheten ihre ersten Strahlen über das
Land sendet, das gespensterhaft Wesenlose der in der ersten Morgenfrühe aus ihrem
Schlummer erwachende» Welt zu sehen glaubt?
Eine grau und violett übermalte Silhouette des gesamten dein Rutil gegenüber
liegenden Gebirgs- und Vorlandes, dem sich unten der See anschließt, und aus der.
die seinerzeit dem Mond oder der Frühsonue als Zielscheibe dienenden Flachen in
Gestalt weißer oder roter Transparente aufgehoben sind, ein diese Silhouette geuau
denkendes Phantom oder Gespenst ans violetter Gaze, worauf ein nur die Hauptzüge
der Landschaft wiedergebendes Hälbrelief durch mehrfach übereinander gefügte Gnze-
lagen gleichsam <z» pium-u'czn, nachgeahmt ist, mehrfache Gazeschleier, die, wenn sie her¬
untergelassen werden, den ganzen Prospekt verhüllen, und endlich ein transparenter
Himmel, der nach oben aufgerollt wird und die Farben des Sonnenaufgangs ver¬
gegenwärtigt, wie sie vom duftigste», zuerst die höchste» Wolkenschichten säumenden
Rosaviolett bis zum blendendsten Zitronengelb, dessen höchstes Licht erst unmittelbar
vor dem Erscheinen der Sonnenscheibe aufblitzt, in den überraschendsten Übergängen
wechseln, sind freilich für eine gelungne Inszenierung des Rütlischwurs unentbehr¬
liche Hilfsmittel. Aber wenn auch deren Beschaffung kostspielig ist, wie herrlich und
wahrhaft künstlerisch sind dafür die Effekte, die man mit ihnen erzielt.
Wenn der Vorhang aufgeht, liegt die Nacht mit geheimnisvollem, blaugrünen
Dunkel über der Matte, den Felsen, dem'See und deu Bergen. Deu Zuschauer
überkommt das Gefühl, daß er einem großartigen und weihevollen Schauspiel bei¬
wohnt: die Natur scheint zu ruhen, weder Fels noch Baum ist deutlich erkennbar,
nur die Gletscher leuchten in liberirdischem, blendendem Glanz aus der Ferne, während
sich Luna in dem von keinem Lüftchen bewegten See spiegelt. Wenn sie — man
muß annehmen, daß die Scheibe des Vollmonds in heiterer Höhe über dem Zuschauer
schwimmt — ihre Rundfahrt in hohem Bogen vollendet hat und mehr und mehr
hinter deu Bergen zu verschwinden beginnt, steigt allmählich an den dem Rutil gegen¬
über liegenden Gletschern ein erst leichter, dann immer dunkler werdender Schatten
empor, bis schließlich Gletscher und Berg im Nebel verschwinden; die Spiegelung
im See hat schon eine Weile vorher aufgehört.
Es ist uun völlig Nacht: auch den See und die Berge würde das Auge ver¬
geblich suchen. Da mit einem mal, etwa, wenn Baumgarten sagt:
Woh halsgefnhrlich ist, da stellt mich hin!
wird an einer Stelle, wo der Zuschauer nur Himmel und Wollen, aber keine Berge
vermutete, ein blaßrosa schimmernder scharf abgegrenzter Lichtfleck sichtbar, der nach
unter zu wächst, und dem noch einige andre folgen. Von den Bergen sieht man
nichts, nur die vom Frührot angestrahlten Wände schwimmen scharf umrissen im
farblosen Chaos. Ihr geradezu durchsichtiges Glühen — darum sind eben die
Transparente unerläßlich — nimmt mit jeder Sekunde zu, und wenn der Höhe¬
punkt dieser Jncandeseenz erreicht ist, und das feurige Rnbinrot wieder zu verblassen
beginnt, werden wie Geister, wie Schemen die Berge selbst sichtbar, indem sie sich
um eine geringe Schattierung dunkler vom Opal des Morgenhimmels abheben. Das
ist der Augenblick, wo sich die Nebelschleier allmählich einer nach dem andern auf
den See herabsenken müssen, und uun setzt sich, während ein zarter rosa Schimmer
die Bühne erfüllt, die den Margenhimmel nach oben aufrollende Walze in Be¬
wegung: es wird Licht: hinter dem Transparent geben die elektrischen Brenner, wie
Vollblutpferde beim Auslauf, mehr als sie haben, die Nebelschleier sind einer nach
dem andern wieder emporgestiegen, mau fühlt an der blendenden Intensität des
Lichts, daß „sie" nun kommen muß, und sie kommt anch wirklich: Strahlen, deren
blendenden Glanz kein Auge aushält, schießen über die Bühne, die undurchsichtige
Gebirgs- und Vvrlandssilhouette versinkt, das allein stehn gebliebne Phantom leuchtet
fenerdurchgluht wie der Himmel, das Orchester jubelt, und im ganzen Hause zweifelt
niemand, daß über den Waldstätten ein neuer Tag, ein neues Freiheitsliebe trium¬
phierend aufgegangen ist.
Das nennt mau eine Inszenierung, und nach einer solchen Nervenanspcmnnng
ist die Buttersemmel mit Hamburger Rauchfleisch, die man zu erkämpfen eilt, schon
als Sedativ am Platze. Wenn aber alles so zugeht wie vor fünfundzwanzig Jahren
im Grimmischen Schießhause, so oft eine wandernde Schanspiclergesellschaft den Tell
gab, muß man sich da nicht vielmehr fragen, ob nach einer so mäßigen Erschütterung
des Nervensystems eine Stärkung wirkliches Bedürfnis sei?
Die beide» Pfeilschüsse, durch die im Tell die Katastrophe herbeigeführt und be¬
endet wird, haben das Eigentümliche, daß wir uns über ihre Wirkungen freuen und
doch mit eignen Augen deutlich sehen, daß in keinem von beiden Fällen ein Pfeil abge¬
schossen, oder wie es Schiller bezeichnet, abgedrückt wird. Zu tun ist zur Abstellung
dieses Übelstandes nichts, als was der Prestidigitateur Seiner Majestät des Schäds von
Persien und andrer gekrönter Häupter in ähnlichen Fällen tut, und was anch
Schiller nicht versäumt hat, nämlich das Auge des Zuschauers auf Zwischenfälle ab¬
zulenken, wie das in Altorf durch Aus, in der hohlen Gasse durch Armgards Dci-
zwischenkunft mehr versucht als erreicht wird. Denn beide Versuche werden bei
der Mehrzahl unsrer Zeitgenossen durch den Wunsch und die Gewohnheit, klar¬
zusehen, im Keime erstickt.
Was insbesondre den Apfclschnß anlangt, so weiß jeder, daß, wenn Ali sagt:
Ich hab ein schwort,
Und nier mir naht —
und wenn sich Berta zwischen ihn und den Landvogt wirft, was beiläufig gesagt
eine sehr schöne eqnestrische, um das jam «1s da>rr«z erinnernde Szene geben müßte,
der entscheidende Angenblick gekommen ist, und aller Angen haften auf dem Apfel,
der vom Pfeil getroffen an die Linde, vor der Waltl steht, angespießt werden müßte,
wie eine Trüffel an eine Poularde, der aber uur fällt und dann, wie Stanffacher
wahrheitsgetreu ausruft, „gefallen ist": so fällt beim Vogelschießen der Reichsapfel,
der Szepter oder eine der beiden Kronen, und es heißt dann ebenfalls: der Reichs¬
apfel, der Szepter ist gefallen. Wenn in diesem spannenden Angenblick ein einziges
mal ein Bühncntell wirklich schösse und den Apfel träfe, so würde diese vor das
Strafgericht gehörende Ungeheuerlichkeit zwar durch alle Zeitungen gehn, aber ich
Mochte zehn gegen eins wetten, daß weder Herr Käßmvdel noch Madame Piepen-
brink in einem solchen Falle auch nur vorübergehende Schwächeanwnndlungen zu be¬
kämpfen haben würden. Denn nnr wenn es auf Tod und Leben geht, wenn der
Künstler im Vertrauen auf die Zentrifugalkraft und die Richtigkeit der angestellten
Berechnungen im Loop oder im Hoop als Antipoden dahinrast, geschieht den
berechtigten Ansprüchen unsrer gebildeten Mitbürger volles Genüge.
Es ist, als wenn ich mich bei der Besprechung des Teils aus den Jnszenierungs-
sorgen nicht herausfinden könnte. Zum Glück habe ich den Leser darauf vorbereitet,
daß meine Bedenken bei diesem Stücke mehr der hiesigen Ausstattung als den Dar¬
stellern gelten. Ich muß noch den Holunderstrauch und die Dekorationen der vor
und in Teils Wohnung spielenden Szenen besprechen.
Wie auf vielen andern Bühnen wird anch ans der Leipziger, deren hohle Gasse
sehr schön, und wahrscheinlich wegen der Russe, von künstlichen Terrainhindernissen
ausnahmsweise frei ist, der Busch, von dem Tell sagt:
Dort der Holunderstrauch verbirgt mich ihm,
Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen,
als ein mit hellen Blütendolden geschmücktes Exemplar dargestellt, und Blüten hätte
er in der Tat auch tragen können, da Kaiser Albrechts des Ersten Ermordung, nach
der sich die Jahreszeit bestimmen ließe, am ersten Mai stattgefunden hat. Aber
Schiller hat des ungeachtet die Handlung nicht in den Frühling, sondern in den
Spätherbst gelegt. Es braucht dafür nur erinnert zu werden an Kuonis Bemerkung,
die Alp sei abgeweidet, an den Plan, die Zwingburgen zu Weihnachten zu über¬
rumpeln, an Stcmffachers Rat: Wer Hirt ist, wintre ruhig seine Herde, an die Ver¬
sicherung, die Walter Fürst dem alten Attinghausen gibt:
Es wird gehandelt werden,
Eh noch das Jahr den neuen Kreis beginnt,
an Stcmffachers Bemerkung in derselben Szene (Akt IV, Szene 2): Das Christfest
abzuwarten schwuren wir. Auch das Lied in der ersten Szene:
Ihr Matten, lebt wohl,
Ihr sonnigen Weiden!
Der Senne mus; scheiden,
Der Sommer ist hin,
würde Kuoui nicht singen, wenn es Frühjahr und er eben im Begriff wäre, das
Vieh in die Berge hinaufzutreiben, und auch an deu gesegneten Ufern des Vier-
waldstätter Sees werden die Äpfel nicht zur Zeit der Holnuderblüte reif. Wenn
wir also nach Schillers eignen Angaben zur Zeit des gegen die Landvögte gerichteten
Aufstands im Spätherbst sind, kann der Holunderstrauch, hinter dem sich Tell ver¬
birgt, unmöglich in Blüte stehn, er muß die bekannten schwarzen Beerenbüschel
tragen, woraus Holundersuppe gemacht wird.
Es ist neuerdings Sitte geworden, Verwandlungen bei offner Szene möglichst
zu vermeiden. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß man sich zur Zeit viel mit
Möbeln und massiven Versatzsiücken, wenn nicht gar mit der Erhöhung eines Teils
der Bühne zu schaffen macht. Solche gewichtige und umfängliche Jmpedimenta er¬
heischen, wenn sie rasch beseitigt oder durch andre erhebt werden sollen, zahlreiche
Maschinisten und Werkleute, die der Natur der Sache unes nicht vor aller Leute
Augen hantieren können, und da es ohnehin ein wenig sonderbar scheinen kann,
wenn sich in einem Stücke, das mit Zauberern und Feen nichts zu tun hat, die
Wände eines Saals zurückschieben und den Bäumen eines Parks Platz machen,
während im Prospekte die Verwandlung sogar dadurch geschieht, daß der Saal zum
Himmel aufsteigt, die Bäume aber und die Ferne von da Herabkommen, so hat man
ziemlich allgemein die Sitte angenommen, die Verwandlung bei heruntergelassenen
Zwischenvorhang vorzunehmen.
In der Hauptsache mag das wohl richtig sein, aber das frühere Verfahren,
wobei im höchsten Falle ein halbes Dutzend dem Stück entsprechend gekleideter
Diener, Knechte, Schiffer, Soldaten usw. die aufgestellten wenigen Möbel abholden
und unter Umständen durch andre ersetzten, hatte anch sein Gutes. Man sparte
Zeit und ging bei der Inszenierung dem Schwerfälligen, Kompakten aus dem
Wege, es war dem Dekorationsmaler überlassen, den Zuschauer durch allerhand ge¬
schickte Kunstgriffe und geniale Einfälle darüber zu täuschen, daß er nur Kulissen
und einen Prospekt vor sich hatte. Auf großen Bühnen, bei denen auch in dieser
Beziehung peinliche Sorgfalt beobachtet wurde, verschwand beim ersten Glockenzeichen
alles, was durch dienende Geister beseitigt werden mußte, beim zweiten fand die
Verwandlung ohne jeden Anstoß und gleichsam im Handumdrehen statt; die Handlung
wurde so gut wie gar nicht unterbrochen, und neben einem sitzende Gesprächsauto¬
maten hatten gar nicht Zeit, für den kurzen Augenblick ihre Fagottwalze in Be¬
wegung zu setzen. Wie man es nun auch in solchen Dingen mit den berühmten
Reihen zu tun hat, bei denen eins aus dem andern folgt, und bei denen man, wenn
Irrtum aus Irrtum, Unerfreuliches ans Unerfreulichem entspringt, von einer Reihe
von Irrtümern, von einer Reihe von Schwierigkeiten, von einem virouins vitiosM
spricht, so hat anch die durch das Vollpacken der Bühne mit Versatzstücken und Möbeln
hervorgerufne Schwierigkeit der Verwandlungen zu der Unsitte geführt, den Ort
der Handlung verschiedner Szenen zusammenzulegen und dadurch die Arbeit in einer
für die szenische Wirkung in den seltensten Fällen vorteilhaften Weise zu vermindern.
So verlegt man Szenen, die im Freien spielen sollen, in ein Zimmer, das ohnehin
der vorhergehenden Szene dient oder doch für irgend einen Teil des Stücks herbei¬
geschafft und vorbereitet werden muß, oder man vereinigt, um einer unbequemen
Verwandlung aus dem Wege zu gehen, mehrere vom Dichter getrennt gehaltene Szenen
in eine einzige. Theaterintendanten und Literaten haben mit Faust, mit Shake-
spearischen und Calderonschen Dramen, ja sogar mit Lustspielen wie Freytags Journa¬
listen in diesem Sinne Umkreinplnngen vorgenommen, die dem ursprünglichen Stücke
so ins Bein schneiden, daß man von einem Sturm, von einem Hamlet, von einem
Wintermärchen in der Xschen Bearbeitung spricht. Glücklicherweise ist man in der
neuern Zeit, wie anderwärts, so auch bei uns in Deutschland von diesem Unwesen
mehr und mehr zurückgekommen. ,
Ich habe meiner Verwunderung über die Art, wie mau auch in Leipzig Resektionen
mit Schillerschen Stücken vornimmt, schon Worte gegeben, und was Maria Stuart
und den Tell anlangt, einige Beispiele angeführt: ich werde bei späterer Gelegenheit
für die Piccolominis und für Wallensteins Tod dasselbe tun. Ebenso unerfreulich ist
es für den Zuschauer, wenn bei einem Stücke wie dem Tell die szenischen Weisungen
als nicht vorhanden angesehen und einfach unbeachtet gelassen werden. Wenn es
dem Regisseur Vergnügen macht, die erste Szene des zweiten Akts, die vor Teils
Hause spielt, und die letzte des Stücks, die sich der Dichter inmitten der ausgedehntesten,
großartigsten Gebirgslandschaft wie eine Art volkstümlicher Apotheose gedacht hat,
in Teils Hausflur aufgeführt zu sehen, so ist ihm das unbenommen! er kann sich
dieses Vergnügen frühmorgens oder Nachts nach Schluß der Vorstellung bereiten:
das ist seine Sache, und niemand hat etwas darein zu rede«. Aber bei einer nicht
als Privatissimum behandelten, sondern für das Publikum bestimmten Vorstellung eine
Szene, in der Tell, die Zimmeraxt in der Hand, das zu seinem Gehöfte führende
Tor ausbessere , ^ , . ^ , ^ , . ^
, "
Jetzt, mem ich, halt das Tor auf Jahr und Tag.
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann,
und die große Schlußszene mir nichts dir nichts in Teils Hausflur abmachen zu
wollen, ist doch ein wenig sonderbar, und das Publikum müßte auf die Enttäuschungen,
die seiner harren, wenigstens dadurch vorbereitet werden, daß auf dem Zettel stünde:
Wilhelm Tell, Schauspiel von Schiller, in Xscher Bearbeitung.
Die vom Dichter für die Schlußszene erteilte Weisung lautet wörtlich wie folgt:
Pnrricida geht auf den Tell zu mit einer raschen Bewegung; dieser aber be¬
deutet thu mit der Hand und geht. Wenn beide zu verschiednen Seiten abgegangen,
verändert sich der Schauplatz, und mau sieht in der letzten Szene den ganzen Tal-
gruud vor Teils Wohnung nebst den Höhen, welche ihn einschließen, mit Landleuten
besetzt, welche sich zu einem malerischen Ganzen gruppieren. Andre kommen über
einen hohen Steg, der über den Schächer führt, gezogen. Walter Fürst mit den
beiden Knaben, Melchthal und Stanffacher kommen vorwärts, andre drängen nach;
wie Tell heraustritt, empfangen ihn alle mit lauten: Frohlocke». Indem sich die
vordersten um den Tell drängen und ihn umarmen, erscheinen noch Rudenz und
Berta, jener die Landleute, diese die Hedwig umnrmeud. Die Musik vom Berge
begleitet diese stumme Szene.
In Leipzig spielt sich diese stumme, von der Musik vom Berge begleitete, ans
malerische Masseneffekte berechnete Szene in dem Teilhaben Hausflur ab, dessen schönster
und gelungenster Schmuck der Kochofen ist. Bei einem angesehenen Bauern, der
seine silberne Hochzeit feiert, kann es, wenn der Tisch daneben im Saale gedeckt ist,
ungefähr aussehen wie in Teils Hausflur während der letzten Szene. Und das soll
uns die von einem freien Volke seinem größten Helden dargebrachte begeisterte
Huldigung veranschaulichen!
Ich begreife, daß man, wenn es einem an Stiefeln fehlt, in gestickten Morgen-
schnhen zum „Becken" Brot kaufen geht. Was in den Jahren 1370/71 die un¬
glücklichen französischen Soldaten an Stelle von leidlichem Kommißschuhwerk zu tragen
gezwungen waren, wird denen von uns, die es noch nicht wußten, durch die in Ur. 18
des laufenden Jahrgangs der Grenzboten veröffentlichte, unterhaltende und äußerst
lehrreiche „Erzählung eines in einem deutschen Lazarett verpflegten Mobilgardisten"
klar. „Seine Füße waren durch Umwicklung mit Schaffell in unförmige Klumpen
verwandelt." Auf dem Rückzug des Napoleonischen Heeres ans Nußland, dessen
Greuel im Übergang über die Berezina gipfelten, mag es noch schlimmer gewesen
sein. Um nur das nackte Leben zu retten, ließe man ja sonst etwas über sich er¬
gehen. Aber warum man sich, ohne daß ein besondrer Notstand vorläge, bei einem
größern Theater, bildlich gesprochen, die Schaffellfetzen an Stelle der Stiefel auf¬
binden lassen soll, sehe ich nicht recht ein. Was insbesondre die letzte Szene an¬
langt, so wäre zu ihrer angemessenen Inszenierung eine Verwandlung bei offner
Szene ganz am Platze. Schiller hat offenbar an eine solche gedacht, der Kochherd
kann ohne Schwierigkeit zwischen zwei Kulissen hindurch zur Seite bugsiert werden,
etwaige Möbel, wenn man deren Aufstellung für nötig hält, verursachen einigen hand¬
festen Schweizern keine Schwierigkeiten, und die den Vorgängen der Gedankenwelt
ähnelnde Wandlung, wodurch sich das den engern Familienkreis bedeutende Haus
des Helden scheinbar zanberhafterweise zu dessen heimischem Tal und zu dessen großer
freier Heimat erweitert, entspricht ganz der Sachlage. Der dem Schauspiel zu Grunde
liegende Gedanke, daß Tell zum Retter seiner Heimat wurde, indem er mit Gefahr
des eignen Lebens seinen Herd und die Seinen schützte, kommt durch diese Szenen-
Wandlung gleichsam allegorisch zum Bewußtsein des Zuschauers, und eines der größten
Schauspiele der europäischen Geschichte, der Sieg eines kleinen aber braven und wehr¬
haften Volks, das dein „Herrn der Welt" gegenüber seine Freiheit zu verfechte»
wußte, endet nicht wie ein kleinbürgerliches Lustspiel in der Stube und am Koch¬
ofen, Sündern unter Gottes freiem Himmelszelt.
Wenn im alten Rom die Tribunen, denen der Schutz der Volksrechte anver¬
traut war, schwiegen und ungerade gerade sein ließen, trat das Volk, meist etwas
unsanft, selbst für seine Privilegien ein. Ebenso muß, wenn die Rezensenten es
schweigend mitansehen, daß der Schluß von Schillers Wilhelm Tell in einer Weise
zusammengeschnürt und ins Alltägliche herabgezogen wird, die man sich mit der letzten
Szene von Wagners Meistersingern nie erlauben würde, das Publikum seine Sache
selbst in die Hand nehmen. Den, der mir fünf Mark wechselt und mir vier Mark
fünfzig Pfennig gutes und fünfzig Pfennig schlechtes Geld gibt, mache ich ans seineu
Irrtum aufmerksam. Bleibt nach Teils Mahnung an Hedwig:
Forsche nicht!
Und wenn er geht, so wende deine Augen,
Daß sie nicht sehen, welchen Weg er wandelt!
der Kochofen „unentwegt" stehn, und drängelt sich, statt daß sich der Schauplatz ver¬
wandle, eine Schweizer Deputation unter Führung des Schwiegervaters über die
Schwelle des Landbefreiers, so müßte im Zuschauerraum eine „Ovation" für den
Bearbeiter entstehn, die die Rezensenten nicht totschweigen könnten, und von der sie
berichten müßten, Bertachen habe nicht zu Worte kommen können, und der Vorhang
sei, ohne daß mau das Stück zu Ende gespielt habe, unter fortwährendem Pfeifen,
Zische«, Trampeln und Johlen des erbitterten Publikums gefallen.
Darf man bei der nächsten Aufführung des Teils auf eine solche wohltätige
und nötige Auflehnung des Publikums gegen den alten Schlendriou hoffen? O nein!
Der dem Befreier des Landes geltende Volksjubel hat keinerlei sensationellen Bei¬
geschmack, die an Nennen und männermordenden Automobilen Geschmack findende,
früher als goldbetreßt, Äorüo bezeichnete Jugend nennt solche Szenen fade und
insi—b—ide; mit Geßlers Tode ist ohnehin für sie das Stück, dessen Schlüsse auch
Herzog Hansens Erscheinen kein rechtes neues Leben in unserm modernen Sinne
einzuflößen vermag, klipp und klar zu Ende, ob es in der letzten Szene noch ein
„Oktoberfest, eine Vogelwiese" gibt oder nicht, ist dem modernen Jünglinge, der
obendrein nicht viel Zeit übrig hat und nach dem Schluß der Vorstellung an fünferlei
Stellen erwartet wird, gleichgiltig, es ist ihm, wie der patentere Ausdruck lautet,
Schnuppe, Von Herrn M— und Madame Pie— braucht hier nichts gesagt zu
werden, die sitze», seit die barmherzigen Brüder gesungen haben:
Rasch tritt der Tod den Menschen an,
wie auf Kohlen, und von dem Theaterpersonal, dem eine Gelegenheit entgeht, sich
ohne Beihilfe der schiefen Ebne malerisch zu gruppieren, ist auch kein Widerspruch
zu erhoffen, Mnsseneffekte in der letzten Szene eines Stücks sind unbequem: Massen¬
effekte gehören in den zweiten und den dritten Akt, damit man — die Deputation und
die „vielen" Landleute der ersten Szene des fünften Aktes ausgenommen — sich
bei guter Zeit die Schminke abwaschen und nach vollzognem Kleiderwechsel — künst¬
licher Waden, Wattongs, bedienen sich nur die Koryphäen — eine „erstklassige" Küche
und ein „erstklassiges" Glas Bier „aufsuchen" kann.
Nur wir, die silberhaarigen, an der alten Tradition hängenden Greise singen
mit Bohemund: ^„ . .......
Zürnend ergrimmt mir das Herz um Busen,
Zu dem Kampf ist die Faust geballt,
"der Radau, wirklichen tätlichen Nadau machen wir schon längst nicht mehr. Das
weiß der Bearbeiter, und so bleibt es denn anch bei der Deputatton und dem Koch¬
en, bis uns der Himmel einen zweiten Felix Mendelssohn schenkt, der, mit Leipzig
und dem Gewandhaus auf irgend eine Art verwandt oder verschwägert, eine Tell-
"nihil schreibt, ohne die, wenn man nicht des Beifalls aller Gutgesinnten verlustig
L^)" will, der Tell fortan nicht mehr aufgeführt werden kann. Dann, aber anch
u ^> ^d ^ Kochofen Beine bekommen, der Schauplatz wird sich verändern,
n die Zuschauer, wenn es deren noch gibt, und wenn sie nicht mit Sang und
^ ng sämtlich ius Lager des Tingeltangels übergegangen sind, werden den ganzen
^"lgruud vor Teils Wohnung nebst den Anhöhen, die ihn einschließen, mit malerisch
gruppierten Landleuten besetzt sehen.
es heiligen römischen Reichs Pfaffengasse war seit Dezennien nicht so
belebt gewesen wie in den Julitagen des Jahres 1792. Bewimpelte
Schiffe glitten zu Berg und zu Tal, auf den Leinpfaden der Ufer leuchten
die Pferde, und lauge Reihen schwerer Reisekaleschen, von glänzenden
Kavalkaden geleitet, ließen den Staub der Landstraßen nicht zur Ruhe
—I kommen. In das schier nnnnterbrvchnc Festgelänte der Kirchen und
Moster mischten sich die Salutschüsse vou deu Stadtmauern und Festungsbastioueu,
und wo ein geschmücktes Fahrzeug vorüberzog, wo ein Wagenzug eine Ortschaft
passierte, da strömte die schaulustige Bevölkerung zusammen und begrüßte nach der
Väter Brauch die Reisenden mit vielstimmigen Vivatrufeu.
Aber das Vivat klang nicht so froh und zuversichtlich wie früher bei ähnlichen
Gelegenheiten. Es lag etwas in der Stimmung des sonst so lebenslustigen rhei¬
nischen Volkes, das der Gewitterschwüle jener Sommertage entsprach und keinen rechten
Festesjubel aufkommen ließ. Es war, als hatten die Meuschen geahnt, daß die selt¬
sam geschulteren, gestickten und verbrämten Gewänder, die mit edelm Pelzwerk be¬
setzten Mäntel und die wunderlichen Hüte mit den waltenden Federn, die jetzt wieder
einmal die Augen auf sich lenkten, bald zum Plunder der Vergangenheit gehören
würden, als hätte» sie geahnt, daß die Herren, die sich hier, gebläht von der Be¬
deutung ihrer Person, ihrer Würden und Ämter, in die Polster ihrer Kutschen
schmiegten oder aus demi Sattel ihrer Rosse den Gruß der Bürger lässig erwiderten,
zum letztenmal nach der freien Reichsstadt am Maine zogen, und daß durch die
vollen Glockenklange, die heute zur Krönung Franz des Zweiten nach Frankfurt luden,
zugleich auch das Sterbeglöcklein der alten deutschen Kaiserherrlichkeit scholl.
Ju jenen Tagen glich Koblenz einem Bienenstocke vor dem Schwärmen. Aber
die Aufregung, die alle Bewohner der Stadt, Noblesse wie Natsstcmd, Bürger wie
Fremde, gleichmäßig ergriffen hatte, galt nicht dein Sohne Leopolds des Zweiten und
seinem Ehrentage; es war auch nicht Freude, was Alt und Jung Schlaf, Appetit
und Lust zur Arbeit raubte, sondern Sorge und Furcht vor der Zukunft. Wohl
bestieg auch der Kurfürst seiue Lustjacht, um rhein- und mainaufwärts zu fahren
und bei der Feier in Frankfurt des Amts zu walten, aber er reiste mit dem aller-
bescheidensten Gefolge und kehrte gar für die kurze Frist, die zwischen Wahl und
.Krönung des neuen Oberhaupts lag, zu einem kurzen Besuche nach Koblenz zurück.
Verwirrung überall: beim Hofe, bei den Direktorien, beim Magistrat und beim
Militär, Verwirrung nicht minder bei den Emigranten, die sich immer mehr als die
Herren der Stadt zu gebärden begannen. Und was war die Ursache dieser allge¬
meinen Kopflosigkeit? Drei Worte, anfangs gerüchtweise gemunkelt und ungläubig
aufgenommen, spater bestimmter wiederholt und lebhafter erörtert, endlich öffentlich
verkündet und durch tausend Anzeichen bestätigt, drei Worte nur, aber inhaltschwer:
Die Preußen kommen!
Clemens Wenzeslans selbst fühlte sich höchst unbehaglich. Für alles, was ge¬
schehn und nicht geschehn war, schien ihn jetzt die Verantwortung treffen zu sollen.
Mau machte ihm zum Vorwurf, daß er die laudslüchtigen französischen Aristokraten
bei sich aufgenommen habe. Ludwig der Sechzehnte beklagte sich bei ihm, die National¬
versammlung stellte ihm ihre Rache in Aussicht, die Verbündeten Monarchen über¬
häuften ihn mit Tadel. Mehr als einmal hatte er die fremden Gäste zum Aus¬
einandergehn aufgefordert, mehr als einmal durch strenge Verbote den Rüstungen
und Truppenansammluugcn auf kurtrierischem Gebiete zu steuern versucht. Aber anstatt
daß die Emigranten abreisten, vermehrte sich ihre Zahl noch von Tag zu Tag, und
um das Verbot bekümmerte sich niemand. Die Franzosen sprachen mit wahrer Be¬
geisterung von der bevorstehenden Ankunft der Preußen, von denen sie glaubten, daß
sie nur ihretwegen kämen, die geistlichen und die weltlichen Stände des Erzstifts
dagegen fürchteten nicht ohne Grund, daß mit den Regimentern, die noch der Geist
des großen .Königs beseelte oder doch zu beseelen schien, eine neue, der milden und
schwachen Herrschaft des Krummstabs feindlich gesinnte Zeit herannahen würde.
Das Volk endlich, durch die Behörden beunruhigt, erwartete auf alle Fälle das
schlimmste. Es rechnete fest darauf, doppelt beraubt zu werden, zunächst durch die
mit den Preußen abziehenden Emigranten, die größtenteils seit Monaten alles schuldig
geblieben waren, und sodann dnrch die Preußen selbst, die, wie seine geistlichen Be¬
rater Prophezeiten, als Ketzer und Söhne des Antichrists zum mindesten Stadt und
Land brandschatzen, wenn nicht ohne weiteres plündern würden.
"
So klang denn der Ruf „Die Preußen kommen! nicht viel anders als etwa
cinhundertfünfzig Jahre vorher der Ruf „Die Schweden kommen!"
Und sie kamen! In unabsehbaren Kolonnen rückten sie an, Bataillon ans
Bataillon, Schwadron ans Schwadron, das Antlitz von der Sommersonne verbrannt,
die Montur mit Schweiß getränkt und mit Staub bedeckt und die engen Gassen
mit einem Duft erfüllend, worin sich das Aroma des Tranks von Nordhausen mit
dem beißenden Parfüm des braunen Krautes der Uckermark mischte.
Aber über den verbrannten Gesichtern, den straffen Zöpfen und den bestaubten
Uniformen flatterten die zerfetzten Fahnen, die Roßbach, Leuthen und Zorudvrs ge¬
sehen hatten, und unter den alten Grenadieren war noch mancher, der bei Minden,
Liegnitz und Torgnu mit dabei gewesen war.
Mit verhaltenem Groll hatten die Koblenzer zugeschaut, wie die fremden Truppen
über die schnell geschlagne Schiffbrücke auf das linke Ufer rückten und in die Stadt
zogen. Jetzt mußten sie Zeuge sein, wie Mannschaften vom Regiment von Thadden
das kurfürstliche Militär vor der Hauptwache ablösten, und wie die meisten öffent¬
lichen Gebäude von den preußischen Behörden mit Beschlag belegt wurden. Alles
schien bis in die kleinsten Einzelheiten vorbereitet zu sein. Es stellte sich heraus,
daß die preußischen Quartiermeister in der kurfürstlichen Residenzstadt besser Bescheid
wußten als die Koblenzer selbst. Mit scheuer Ehrfurcht sah man all die Generale
und Adjutanten, die Kabinettsräte und Mitglieder des Oberkricgskolleginms, die In¬
genieure, Auditeure und Feldgeistliche», mit stillem Grauen den Stabsprofossen und
den Scharfrichter im Kreise seiner Gesellen. Bald erregten die Wagen der Kriegs¬
kasse und des Feldlazaretts, bald die der Feldpost die allgemeine Aufmerksamkeit,
bald erstaunte man über das Heer von Proviant- nud Magazinbeamten und die
Unzahl der Sekretarien, Kalkulatoren und Kopisten.
Und unter all diesen Söhnen des Antichrists war nicht einer, der zu plündern
versucht hätte! Ja mehr als das! Man vernahm, daß der General von Göking beim
Magistrat tausend Friedrichsdor zu hinterlegen sich erboten hatte, man sah, wie ans
den Preußischen Magazinen in Holland ganze Schiffsladungen Lebensmittel anlangten,
odaß die Soldaten nicht einmal zum Fouragieren aufs Land zu ziehn brauchten.
Und man fand, daß der Teufel in Wirklichkeit nicht so schwarz sei. wie man ihn
b'sser gemalt hatte. ^ > ^ s > .
c> 5,^6 gar der Oberstkommandierende der Armee, Herzog Karl Wilhelm
rud.i Vrannschweig, der würdige Neffe seines großen Oheims, doppelt be-
über Ä ^""ö seines Namens und den selbsterrungnen Feldherrnlvrbeer,
Rübenacl ö^'"^ ^" für das Lager in Aussicht genvmmuen Platz in der
.«mit ^ ? inspizieren, da lüftete das nachdrängende Volk ehrerbietig deu
facit? - !p ^ p ^""" ^r H^' ""t freundlichem Lächeln und markiger Stimme
ü^t ^? ^''te! Barhäuptig dürft ihr uur vor Gott und euerm Knr-
umbrauste deu Herzog ein tausendstimmiges Vivatgeschrei!
vbi-ol? ^le Preußen so binnen wenig Tagen die Herzen der Koblenzer cr-
wo^ ? ^""sachter ihnen die Emigranten desto'mehr Verdruß. Die Prinzen selbst
^ ^ " l^lUch beim Einrücken der Truppen abgereist — ein Ereignis, das sich der
lati s s! " ^MM Diuruale mit dem Zusätze „Gott sei Dank! Des bin
/ !I notierte aber ihr Anhang und der größte Teil ihres Hofstaats waren
z irn»geblieben und legten den Behörden immer neue Schwierigkeiten in den Weg,
b?^"i ^ weigerten, ihre Quartiere und Stallungen mit den vorher so sehnlich
s. rvetgewnnschten wettern zu teilen. Schlimmer als dies war noch der Einfluß, den
sin > König von Preußen gewannen. Sie allein, so erklärten sie, seien im-
Mnoe, den Einmarsch der Verbündeten Armeen in Frankreich zu leiten, in ihren
Müden seien die Schlüssel aller Festungen, und sie verbürgten sich dafür, daß die
Klippen der Revolution beim ersten Zusammentreffen mit dem Feinde die Waffen
at^ > """den. Friedrich Wilhelm der Zweite, in den Künsten der Liebe erfahrner
»is in denen der Politik und des Krieges, schenkte den Eingebungen der großsprechc-
lWen Kavaliere sein Ohr und vermochte den widerstrebenden Herzog von Braun-
Wveig zur Unterzeichnung des unglückseligen, von Anmaßung strotzenden Manifests
an die französische Nation, jenes elenden Machwerks eines Abenteurers, das bestimmt
schien, das Schicksal Ludwigs des Sechzehnten endgiltig zu besiegeln.
Einer der wenigen Emigranten, die sich in diesen Julitagen dem politisch¬
militärischen Getriebe fernhielten, war der Marquis von Marigny. Desto eifriger
nahm er dafür um den Festlichkeiten teil, mit denen der Kurfürst die preußischen
Gäste zu ehren suchte, an den Galatafeln, Dejeuners und Soupers — natürlich
wieder auf seine Art und in der gewohnten Umgebung von Bratenspickeru, Kapaunen¬
stopfern und Küchenjnugeu. Wenn er Veranlassung hatte, über die schier unerträg-
liche Hitze zu klagen, so traf die Verantwortung hierfür weniger die Julisvnne als
die Glut der gewaltigen Herde der Schloßküche, denn die Sonne bekam der alte
Herr kaum noch zu sehen. Von früh bis spät war er auf seinem Posten in der
Küche oder hielt sich doch in einem Nebeurnume auf, jeden Augenblick bereit, sein
Ingenium in den Dienst der koutrarevolutiouären Allianz zu stellen. Die Preußen,
die in Koblenz so manchen Wandel geschafft hatten, hatten nämlich auch die Küchen-
vrdnung auf den Kopf gestellt. Jetzt gab es keine von langer Hand wohl vor¬
bereiteten Diners mehr, wie früher, wo man zehn Tage vorher die Einladungen
versandte und zur Zusammenstellung des Speisezettels Muße in Fülle hatte; jetzt
hieß es Nachmittags um vier: In zwei Stunden gedenken des Königs Majestät nebst
den königlichen Prinzen und der Generalität die kurfürstliche Mittagstafel mit Dero
Gegenwart zu beehre«! Und dann mußte in zwei Stunden das geschafft werden,
wozu man sonst ebensoviel Tage gebraucht hatte. In solchen Augenblicken, wo
die erprobtesten Küchenmeister mitunter den Kopf verloren, bewährte sich das Genie
Marignhs. Wie ein Feldherr stand er, umhüllt von Dampfwolken, mit Stock und
Degen inmitten der weißuniformierten Schar, hier zur Besonnenheit ermahnend,
dort die Lässigen antreibend.
Man hatte bestimmt, daß jedes Mahl, bei dem der König zugegen war, nur
ans sechs Gängen bestehn durfte, weil die Sitzungen des Kriegsrath, die Revuen
und Paraden die knapp bemessene Zeit über Gebühr in Anspruch nahmen. Was
aber den Diners und Soupers an Umfang und Dauer abging, das sollten die
einzelnen Platte» durch ihre Auswahl und Zubereitung ersetzen. Eine Aufgabe,
doppelt schwer wegen der heißen Jahreszeit, die das Einlegen großer Vorräte ver¬
bot! Aber Marigny wußte sich zu helfen, und die sechs Gänge wurden jedesmal zur
rechten Zeit fertig.
Ein einzigesmal nur mußten sich die Herrschaften mit fünf Platten begnügen.
Und das kam so. Der Marquis war gerade damit beschäftigt, eine Pastete, die in
der Hauptsache aus Kalbsbröscheu, Krebsschwänzen und Champignons bestand, in den
Backofen zu schieben, als einer der aufwartenden Pagen in der Küche erzählte, daß
der neue französische Gesandte, Herr Bigot de Se. Croix, an der Tafel teilnehme.
Was? rief Marigny, rot vor Zorn, Bigot de Se. Croix? Nun wohl, so
weiß ich, was ich zu tun habe. Für Demokraten sind Krebsschwänze und Cham¬
pignons nicht gewachsen!
Und ehe eine rasche Hand es verhindern konnte, flog die Pastete in das
lodernde Herdfeuer.
Wie alles auf dein Planeten, den wir Erde nennen, nahmen mich die Revuen,
Paraden und Galadiners in Koblenz ein Ende. Der König selbst drängte zum Auf¬
bruch. Am 28. Juli verließ er Schönbornslust und bezog ein Zelt im Feldlager
in der Rubenacher Flur. Am 30. sollte sich die Armee in Bewegung setzen.
Koblenz schien wie ausgestorben. Die Behörden hatten den Kaufleuten die
Genehmigung erteilt, im Bereiche des Lagers Meßbuden zu errichten, ihre Waren
feil zu halten und Weinschank zu betreiben. Die Dominikaner und die Franziskaner
branden Tag und Nacht Bier; wer eines Stückes Vieh habhaft werden konnte, der
wandte sich dem Fleischergewerbe zu, in der Hoffnung, mit Hilfe eines einzigen Hammels
oder Schweines ein reicher Mann zu werden. Das Fahrtor bei der Moselbrücke
wurde während der Nacht uicht mehr geschlossen, und der Gastwirt in Metternich,
einem Dörfchen zwischen der Stadt und dem Lagerplätze, glaubte, das goldne Zeit¬
alter sei angebrochen.
Unzufrieden war nur einer: der Herzog von Braunschweig. Seinen Kriegs¬
plan, zunächst die Maasfestungen zu nehmen und hier in gesicherten Stellungen die
gute Jahreszeit abzuwarten, hatte der König im letzten Augenblick verworfen, indem
er geradeswegs auf Paris zu marschieren befahl. Daran war niemand anders schuld
als die Emigranten, deren Rachedurst nicht früh genug gestillt werden konnte. Und
nun mußte der Herzog noch erleben, daß ihm achttausend dieser Leute zugewiesen
wurden! Er empfing sie mit schlecht verhehltem Ingrimm und beobachtete mit Zähne-
knirschen, wie sie, die weder zu befehlen noch zu gehorche» verstanden, sich uuter
seinen murrenden Kriegern breit machten, allerorten Händel anfingen und mit ihrer
Bagage die Lngergassen versperrten. Wie erstaunte er aber erst, als er bei der
Revue erfuhr, daß mehr als die Hälfte dieser royalistischen Streitmacht aus Weibern,
Kammerdienern, Köchen und Friseuren bestand!
Unter den in Koblenz zurückgebliebnen Franzosen, die dem Abmarsch des Heeres
beiwohnen wollten und in den Morgenstunden des 30. Juli die staubige Straße
zur Rübenacher Hochebne hinaufwanderten, war auch der Marquis vo» Marigny.
Er hatte sich dem Grafen von Cayla angeschlossen, dessen Sohn mit den Preußen
ins Feld rückte. Marigny glaubte zu bemerken, daß ihnen auf ihrem Wege zwei
Männer in immer gleichem Abstände folgten, halt machten, wenn sie stehn blieben,
und wenn sie rascher gingen, auch ihre Schritte beschleunigten. Er machte seinen
Gefährten hierauf aufmerksam und gab der Vermutung Ausdruck, daß die beiden
nchts gutes im Schilde führten und möglicherweise ein paar der von Bigot de
Se. Croix bezahlten Aufpasser seien. Aber der Graf beruhigte ihn bald, indem er
in> ? Keine Sorge, mein Freund! Diebeiden dort sind die harmlosesten
Mer,eben von der Welt. Ich habe mich an ihre Begleitung so gewöhnt, daß ich
ste ungern entbehren möchte.
Und wer sind sie? fragte der Marquis verwundert.
^er paar Bursche, die sich in den Kopf gesetzt haben, über meine Sicherheit
Lalu V"'^ ""^ ""s den Augen zu lassen. Der eine ist Lndendiener bei
ti^ in,..""d Lacomparte. der andre Hausknecht im Knrtrierischen Hofe. Kann man
" "°"en Gäste weiter treiben?
ute
Lager ^ s^"^^^ der freiwilligen Leibgarde gelangten die beiden Herren ins
knechte Rosse ^ bahnten sie sich dnrch das Gewühl der Soldaten, Pack¬
wenn 'ein s/ ^" ^ren Weg. Mehr als einmal mußten sie zur Seite flüchte»,
geruht sie . , ^^Sö"^^''^ Pferd ihnen eutgegeustürmte oder ein stürzendes Zelt-
jnnaen Caw» ^^"S,
/" drohte. Nach langen vergeblichem Suchen fand mau den
tückischem Ben^!>? ^""Wschlissencn Menschen mit schlaffen Zügen und knabenhaft
über nlle Man kam überei», in einer Weinbude, die mit Landsleuten
Bescheid ,1 "° ^vschiedsbouteille nuszustechen. Der junge Graf schien hier schon
einem ? ^ ^" ""^ empfahl seinem Vater den Leistenwein von 1783 als den
daß der n . ^" TM'fin- Als es aber ans Bezahlen ging, stellte es sich heraus,
für ita 5 ^"^ ""de bei sich hatte. Da der Sohn keine Miene machte,
sich . ^"öusprmgen, wollte Mariguy die Begleichung der Zeche übernehme», was
und , ^ ^ ""5 das entschiedenste verbat. Dieser verließ hierauf das Zelt
ruMe „ach wenig Minuten mit dem nötigen Gelde zurück.
'
^te haben wohl einen Freund getroffen? fragte der Marquis.
Mueu Freund? Wie kommen Sie darauf?
um, weil Sie Geld erhalten haben,
belästigt? " ^ ""^ ^ Menschen, der seine Freunde mit solchen Bagatellen
Wer es muß Ihnen doch jemand den Betrag vorgeschossen haben?
Gewiß.
Ein Fremder also?
Ein Fremder? Das gerade nicht. Wenn Sie es denn durchaus wissen wollen:
es war der Ladendiener von Lallier und Lacomparte.
Marigny wollte etwas erwidern, aber das Wort erstarb ihm ans der Zunge.
Mitten in der Menschenwoge, die bei dem Weinzelte vorüber durch die Lagergasse
flutete, hatte er Henri und Marguerite erblickt. Villeroi trug die Uniform der Garden
d'Artois. Der „Demokrat" — denn das war er in den Augen des alten, be¬
dingungslosen Royalisten bis heute geblieben — wollte also teilnehmen an dem
Kampfe, der dem Könige die Freiheit, dem Vaterlande die Ruhe und die Ordnung
wiedergeben sollte! Einen Augenblick lang dachte Marigny daran, aufzuspringen und
seine Kinder zu begrüße«. Aber dann fiel ihm ein, daß es nicht seine, sondern
Henris Pflicht sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun. Henri trug den
größern Teil der Schuld an ihrer Entfremdung, und überdies war er der Jüngere.
Durfte er, ein bejahrter Mann, sich der Gefahr aussehen, hier in Gegenwart so
vieler Landsleute, die alle das seltsame Verhältnis kannten, von seinem Schwieger¬
sohne rin irgend einer kühlen Redewendung abgespeist zu werden? Freilich: Villeroi
zog in den Krieg; an seinem Mute, ja an seiner Tollkühnheit war nicht zu zweifeln;
kaum ein andrer würde sich wie er der Gefahr aussetzen — wer konnte also wissen,
ob unter solchen Umständen auf ein Wiedersehen zu hoffen war? Mußte der Marquis,
dessen Sache es doch war, zu vergeben, nicht dennoch dem Gatten seiner Tochter
entgegengehn, ihm die Hand bieten und ihm sagen, daß er ihm verziehe — ver¬
ziehe um des Degens willen, den er an seiner Seite sähe? Und der Entschluß, die
alte Scheidewand niederzureißen, siegte über Trotz und Stolz und beflügelte den
Fuß des greisen Edelmanns, als er sich durch die Menge Bahn brach und die Lager¬
gasse hiuuntereilre, an deren Ausgang Henris Tressenhut soeben hinter den Drei¬
spitzen preußischer Grenadiere verschwand. Aber das Schicksal schien es anders be¬
stimmt zu haben I Einem Bagagewagen, der zwischen den Zelten gestanden hatte und
nun von kräftigen Armen in die Gasse geschoben wurde, brach ein Rad. Er neigte
sich langsam zur Seite und schüttete seinen ganzen Inhalt an Koffern, Mantelsäcken
und Geschirrkörben mitten in die nach rechts und links auseinanderstiebende Menschen-
menge ans. Nun war der Weg vollends versperrt, und als Marigny auf Seiteu-
pfadeu die Stelle erreichte, wo er Henri zuletzt gesehen hatte, war jede Spur vou
diesem und Marguerite verloren. Was tun? In einer von sachkundigen Beurteilern
auf mehr als fünfzigtausend Köpfe abgeschätzten Menge, die sich zum Aufbruche rüstete
und wie eine aufgestörte Ameisenrepublik durcheinnnderhastete, zwei einzelne Menschen
suchen? Das mußte sogar einem Optimisten, wie der Marquis es war, als völlig
aussichtslos erscheinen.
Soviel jedoch war gewiß: bevor die Kolonnen sich nicht in Bewegung setzten,
würde auch Marguerite nicht zur Stadt zurückkehren. Und bis dahin konnten immer¬
hin noch ein paar Stunden vergehn. Also die Zeit benutzen!
Marigny hielt es nicht einmal für nötig, sich von den beiden Grafen Cnyln
zu verabschieden; er suchte so schnell wie möglich aus dem Gewühl hinauszukommen
und rannte förmlich auf demselben Pfade, den er zum Rnbenacher Plateau hinaus¬
gewandert war, nach Koblenz zurück. An der Moselbrücke mußte er wider Willen
halt machen. Das Regiment von Thndden, das als Besatzung in der Stadt ge¬
legen hatte, rückte gerade ab, um zur Armee zu stoßen, und versperrte auf eine gute
halbe Stunde den Übergang zum andern Ufer. Frauen und Mädchen, durch die
zarten und dabei festen Bande junger Freundschaft mit den abziehenden Kriegern
verknüpft, gaben ihnen eine Strecke weit das Geleite. Den Posten beim Fahrtor
hatte wieder kurfürstliches Militär bezogen. So wäre an dieser Stelle das äußere
Bild der kleinen Residenz wieder das alte gewesen, wenn ihm nicht gänzlich die
gewohnte Staffage der hier verkehrenden Krcmenadmodiatoren, Schiffer und Schürger
gefehlt hätte. Aber die Gassen und die Plätze blieben tot: alles, was Beine hatte,
war auf dem Rübenacher Lagerplatze.
Der Marquis bog in die Weisergasse ein und betrat das Haus worin seine
Tochter wohnte. Auster einer schwarzen Katze, die ans der Türschwelle lag und sich
die glühende Sonne auf den Pelz scheinen ließ, schien es kein lebendes Wesen zu
beherbergen. Wäre der alte Edelmann ein Dieb gewesen, er hätte sich keinen ge¬
legner» Augenblick aussuchen können, um dem Hause, das freilich nicht aussah, als
»b es Schätze enthielte, seinen Besuch abzustatten. Er stieg die Treppe hinauf und
klopfte an die Tür der Villeroischen Wohnung. Als auch ans wiederholtes Pochen
niemand zum Vorschein kam. legte er die Hand auf die Klinke, um zu erfahre«,
ob die Tür verschlossen sei. Und was er zu hoffen kaum gewagt hatte, geschah:
sie ließ sich öffnen.
Drinnen in den engen Räumen wußte er Bescheid. Im Wohnzimmer, wo er
Henri zu dem Bilde gesessen hatte, hielt er sich nicht weiter auf, sondern drang von
hier ans in die Kammer vor, von der er mit Recht annahm, daß sie den jungen
Leuten als Schlafgemach diente. Und hier fand er, was er suchte, nach dessen An¬
blick er geschmachtet hatte, wie der Verdürstende nach einem frischen Trunk: seinen
Enkel. Unbekümmert um die drückende Schwüle und die zudringlichen Fliegen lag
das Büblein in dem zur Wiege hergerichteten Korbe aus grobem Weiden gesiecht und
schlief so ruhig, als habe der Herzog von Braunschweig das Nübenacher Plateau
nur deshalb zum Lagerplätze gewählt, damit jeder, der den Schlummer des kleinen
Frnnzosensprößliugs hätte stören können, aus Koblenz entfernt werde.
Der Großvater beugte sich über das schlafende Kind und betrachtete es mit
Prüfenden Blicken. Mund und Kinn, so sagte er halblaut zu sich selbst, erinnern
um Henri, aber die Stirn und den Ansatz der Nase, die hat der kleine Kerl von
uus. Dahinter — hier fuhr er mit der Spitze seines Zeigefingers ganz leise und
behutsam über die Wölbung des Vorderkopfes —, dahinter steckt die Energie der
Mnriguys! Schade, daß er bei diesen Anlagen sein Leben lang den Namen Villeroi
tragen muß! Wie seidenweich die Härchen sind! Die hat er von seiner Mutter.
Wenn ich nur wüßte, von wem er die Augen hat!
Sollte er das Kind wecken? Nein, das wäre Frevel gewesen! Und der alte
Herr rückte sich einen Schemel an den Korb und ließ sich neben dem schlummernden
Enkel nieder. Wie ärmlich das Bettchen war! Wie dürftig das Hemdchen aus grobem
Barchent! Wahrhaftig, die Kinder seiner Bauern in Aigremont waren besser gebettet
und gekleidet gewesen als der leibliche Enkel ihres Herrn. Er mußte an Margnerites
d ^./^"?Me denken an das geräumige Gemach mit dem Tafelwerk ans Eichen¬
em ab . ^ '7 ^" ^'"'^"?'e reichgeschnitzte Wiege mit den Vorhängen ans
Tüll und an die Hemdchen, Kleidchen und Händchen ans schneeweißem Batist in
denen das runde Kindergesichtchen doppelt rosig, die ^arch?u d ^
schienen waren. Welcher Wandel der Zeiten und Verhältnisse' ° ^
Eine Fliege lief über des Kindes Wange. Es zuckte mit den Wimpern Viel-
leicht würde es jetzt erwachen! Der Großvater war einen Moment unschlüssig ob
er das Insekt verscheuchen oder deu Störenfried, der ihm zum Anblick der Augen
des kleinen Burschen verhelfen konnte, gewähren lassen sollte. Aber die Liebe"über¬
wand Selbstsucht und Neugier. Und da die Fliege unbekümmert um Mnrignys
Blasen und Fächeln ans der kleinen Stiru sitzen blieb und sich, ohne auf die darunter
schlummernde Energie Rücksicht zu nehmen, mit großer Sorgfalt die geschmeidigen
Beinchen putzte, so versuchte der alte Herr, sie mit spitzen Fingern zu ergreifen. Die
Fliege bekam er hierbei zwar nicht, dafür kniff er aber den Enkel ein ganz klein
wenig in die zarte rosige Haut — ein ganz klein wenig nur, aber doch fühlbar
genug, daß der Kleine davon erwachte. Er wandte sich zur Seite, rieb sich mit
den Rücken der runden Händchen das kleine Gesicht und sah den fremden Mann
in> seinem Bettchen verwundert an.
Margnerites Augen! sagte der Marquis, also noch ein Erbteil von der
Familie mütterlicherseits! Weiß Gott, Herr vou Villeroi, ich möchte sehen, was aus
Ihrem Kinde geworden wäre, wenn wir Marignys nicht das Beste dazu acaeben
hätten!
Das Büblein Verzug, durch die ungewohnte Stimme erschreckt, die Mundwinkel
und zeigte Neigung zu weinen.
Holla, kleiner Bursch, du wirst doch vor deinem Großvater keine Furcht haben?
redete ihm der alte Herr zu, indem er seinem Antlitz den freundlichsten Ausdruck
gab, der ihm zu Gebote stand, bedenke, mein Junge, daß du ein Mariguy bist —
morblen, du bist doch ein Marigny, wenn du auch Villeroi heißt! — »ut daß uns
Marignhs die Tränen nicht so locker sitzen. Also die Ohren straff, mein Junge,
und den Großvater ruhig angesehen, er hat noch niemals Kinder gefressen und wird
bei seinem Enkel auch nicht den Anfang machen. Verstehst du mich, Bürschchen?
Den Sinn dieser Rede verstand das Kind freilich nicht, aber es begriff, daß
der fremde Mann keine bösen Absichten hatte. Und da überdies aus der Uhrtasche
seines Beinkleids Berlocken mit drei prächtigen Amethysten baumelten, die herrlich
klapperten und klirrten, wenn sie mit dem Rande des Bettkorbes in Berührung
kamen, so fand der alte Herr gar bald Gnade vor des Bübleins Augen. Die Händchen
griffen ungeschickt nach dem glitzernden Spielzeug. Marigny bemerkte es anfangs
nicht, da er mit den Neigungen kleiner Kinder nicht mehr so recht bekannt war,
dann aber erfüllte ihn dieser Beweis von erstaunlicher Klugheit mit desto größeren
Entzücken.
Nicht wahr, mein kleiner Bursch, das gefällt dir? Die Steinchen möchtest du
haben? Später, mein Junge, später! Aber mit dem Petschaft darfst du ja doch nicht
siegeln, das ist das Marignysche Wappen, siehst du, eine Stadtmauer und darunter
ein steigender Widder, ihr Billerois führt drei Fische im Schilde, der Teufel weiß,
wie ihr dazu gekommen seid.
Diese heraldische Erörterung schien das Büblein höchlichst zu belustige«. Jeden¬
falls lachte es laut auf und fuhr fort mit den Verlocken, die der Großvater von
der schweren Nepetieruhr losgelöst und auf die Decke des Bettchens gelegt hatte, zu
spielen.
Es ist unrecht von deinen Leuten, daß sie dich so allein gelassen haben, sagte
der Marquis; wie leicht könnte dich einer stehlen. Möchtest du Wohl auf Gro߬
vaters Arm kommen?
Das Kind, das begriff, was die gespreizten Hände des alten Herrn zu bedeuten
hatten, streckte beide Ärmchen verlangend nach ihm aus.
El, mein Bürschchen, du verstehst ja jedes Wort, fuhr Marigny fort, erfreut,
daß die Verständigung mit dem Enkel so leicht von statten ging, du bist ja ein
ganz gescheiter kleiner Kerl! Von deinem Vater hast dn das auch nicht, der begreift
weit schwerer. Vierfünftel Marigny — einfünftel Villeroi!
Damit hob er nicht gerade allzu geschickt das Kind aus den Kissen empor, nahm
es auf seinen Arm und tänzelte mit ihm durch die Stube.
Soll Großvater dir ein Liedchen singen? fragte er. Wart einmal, viel¬
leicht fällt ihm eins ein.
Herr Guislard ritt wohl über das Feld,
Ritt heim nach seinem Schloß,
Von schwarzem Stahle war sein Schwert,
Und milchweiß war sein Roß.
Und als er kam wohl an das Tor —
La la la in la—n la la —
Als er merkte, daß er nicht weiter konnte, begann er kurz entschlossen ein
andres Lied-
Den Stab mit Bändern schön geschmückt,
In rosenfarbnem Kleide
Trieb Nanon jeden Sommertag
Die Schäflein auf die Weide.
Kein Mädchen war so Wohlgestalt
Im Land der Normandie,
Und werd ich hundert Jahre alt,
Nanon vergeß ich nie!
Es fiel ihm ein. daß diese Verse nicht eigentlich em Kinderlied seien und so
begnügte er sich damit, anstatt der zweiten Strophe nur die Melodie zu trällern.
Aber der Enkel deutete ihm in nicht mißverstehender We.se an daß er Worte zu
hören wünsche. und so mußte sich der alte Herr denn wohl oder übel dazu bequemen
den nicht ganz einwandfreien Text der Romanze ans den entlegenste Winkeln s nes
Gedächtnisses zusammenzusuchen. Beider zehnten oder elften Srophc heuere
Marigny nicht ohne Befriedigung, daß der Kleine müde zu werden begann und ich
dem Versuche des Großvater, ihn wieder in den Korb zu legen, nicht widersetzte.
Der Gesang wurde nun immer leiser und eintöniger; bei der vierzehnten ^-tropye
fielen dem Büblein die Augen zu. und bei der fünfzehnten verrieten tiefe und regel¬
mäßige Atemzüge, daß der Stammhalter des Hauses Villeroi in jenen Zustand der
Unschuld und Bedürfnislosigkeit zurückversunken war, worin ihn der Großvater an¬
getroffen hatte. . .
^^
Dieser entzog nun, so behutsam er es vermochte, den kleinen Handen die ver¬
locken, befestigte sie wieder an der Uhr und schickte sich an. die Kammer zu verlassen.
Ehe er aber diesen Entschluß ausführte, holte er seine Börse heraus. entnahm ihr
sechs blanke Louisdor. wickelte die Münzen in ein Stückchen Papier und schob sie
besichtig unter das Kopfkissen des schlafenden Kindes. Dann stellte er den Schemel
wieder an seinen Platz und machte sich auf den Heimweg. Er hatte kaum hundert
Schritte tu der menschenleeren Gasse zurückgelegt, als er eine weibliche Gestalt von
der Mvselbrücke her in schnellem Lauf ans sich zukommen sah. Es war die Nach¬
barin oder Hausgenossin des Villeroischen Paares, die er schon öfters in dessen
Wohnung getroffen, und die seiner Tochter mit kleinen Dienstleistungen zur Hand
zu gehn pflegte.
Das drückende Bewußtsein, das ihrer Obhut anvertraute Kind so lange allein
gelassen zu haben, mochte die junge Person zur Eile antreibe». Sie nahm von dein
alten Herrn, der sie mit seinen Blicken verfolgte, deshalb auch nicht die geringste
Notiz. Als sie im Hause verschwunden war, ging der Marquis weiter und murmelte
dabei vor sich hin: Gott sei Dank, nun kaun er nicht mehr gestohlen werden!
Wenn der Name nur nicht wäre! Aber mag er auch Villeroi heißen, so lange er
will — ein echter Mnrigny ists doch!
(Fortsetzung folgt)
Nachdem die Wahlen
0 und 25. Juni die sozialdemokratische Partei mit 81 statt 58 Abgeordneten
zur zweitstärksten des Reichstags gemacht haben, sucht namentlich die liberale
Presse alle möglichen und unmöglichen Gründe ausfindig zu machen, die dieses
si^v^s.i!^» um^t'-t........"vom^>. v^.l..^ x," Il>^t^>>, >^>^>.»-
bedrohliche Wachstum erklären sollen. Vor allem macht sie die Reichsregicrung
dafür verantwortlich. Da füllen gelegentliche Äußerungen des Kaisers über die
Sozialdemokratie ihr mehr Stimmen zugeführt haben, ein wahrhaft kindlicher Ge¬
danke, da doch kein Sozialdemokrat über die Gesinnung des Mvnnrcheu in dieser
Beziehung im Zweifel sein kann, und ihm doch wohl das Recht jedes Staats¬
bürgers, seine Meinung zu äußern, nicht bestritten werden darf. Da wird ihm
törichterweise vorgerückt, daß seine persönliche Meinung über Bismarcks Stellung
zu Kaiser Wilhelm dem Ersten der volkstümlichen Anschauung ganz und gar ent¬
gegenlaufe und viel Verstimmung errege, als ob die siegreiche Sozialdemokratin;
jemals für Bismarck geschwärmt hätte! Da wird die auswärtige Politik des Grafen
Bülolv, die sich im Widerspruch mit der „Volksmeinung" bewegt habe und bewege,
indem sie mit England ein möglichst gutes Verhältnis erstrebe und den Buren nicht
irgendwie zu Hilfe gekommen sei, für eine weitgehende Unzufriedenheit verantwortlich
gemacht. Nun, die Zeiten der Burenschwärmerei, wo man in jedem Buren einen
Helden sah wie 1830 in jedem Polen, sind doch um wohl bei verständigen Leuten
vorüber (wenigstens „gehn" die „Burenbücher" zum Ärger ihrer Verleger gar
nicht), und die Wirkungen, die alle die jahrelang tagtäglich zur Schau getragne
Gehässigkeit gegen die englische Politik und Kriegführung auf die doch ziemlich
wichtige Stimmung des englischen Volks zu unserm Nachteil geübt hat und noch
übt, die sind so klar, daß nur ein Blinder sie nicht sehen kann. Wenn Fürst
Herbert Bismarck in seinem Wahlaufrufe, worin er die Politik des Reichskanzlers,
d. h. die des Kaisers aufs schärfste zu kritisieren für zweckmäßig hielt, sie als „eine
Politik der Verbeugungen" bezeichnete, so hat der frühere Diplomat wohl ganz
vergessen, daß auch der mächtigste Staat mit einer Politik der Grobheiten noch
viel weniger ausgerichtet hat, und daß der alte Satz: tortitor in rs, su-rvitor in
mondo auch für deu Völkerverkehr gilt. Vollends lächerlich ist es, die Kirchenpolitik
des Reichskanzlers, namentlich sein Eintreten für die Aufhebung des Paragraphen 2
des Jcsuitengesetzes für den Zuwachs der sozialdemokratischen Stimmen verant¬
wortlich zu machen. Diese Partei ist doch immer für die Aufhebung des ganzen
Jesuitengesetzes, nicht nur des Paragraphen 2 eingetreten; wer also in blinder Un¬
zufriedenheit dieser Partei seine Stimme zugewandt hat, der hat sich damit gerade
für Graf Bülows Politik ausgesprochen! Daß dieser der römischen Kirche jedes
mögliche Entgegenkommen beweist, kann doch nur einseitigen und kurzsichtigen
Protestanten ein Anstoß sein, denn konfessionelle Politik, das kann nicht oft und
nicht scharf genng gesagt werden, darf ein deutscher Staatsmann nun einmal heute
nicht treiben. Der häufigste Vorwurf endlich ist der, die Regierung habe keine
„Wahlparole" ausgegeben. Gab es wirklich keine? Ist nicht sonnenklar, daß es die
Aufgabe des nächsten Reichstags sein wird, die Handelsverträge auf Grund des Zoll¬
tarifs zu bewilligen und fiir die weitere Verstärkung unsrer Wehrmacht namentlich
zur See zu sorgen? Wozu sollte die Regierung noch einmal ausdrücklich sagen,
daß ihr daran gelegen sei? Eine Wahlparole läßt sich überhaupt nicht künstlich
machen; auch Fürst Bismarck hat eine solche nur dann ausgegeben, wenn sie eben
von selbst kam, wie 1878 und 1887. Was für ein Armutszeugnis auch für das
selbständig denkende deutsche Bürgertum, wenn es immer nach einem Gängelbande
schreit und doch die Hand zurückstößt, die es gängeln Will!
Kurz, alle diese Gründe sind fadenscheinig, künstlich aufgebauscht von einem Teile
der Presse — leider gerade auch von konservativen Blättern— die an der Reichsregierung
fortwährend hernmnörgelt und die Unzufriedenheit mit ihr zu schüren nicht müde
wird. Abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß nun einmal auch der politisch
reifste Wühler allerorten die Neigung hat, seinen Ärger über alles, was ihm im
öffentlichen Leben mißfällt, darin zu äußern, daß er seine Stimme für einen der
Regierung möglichst unbequemen Kandidaten abgibt, daß also zum Beispiel der
Ausfall der Reichstagswahlen in Sachsen wesentlich in dieser Eigentümlichkeit seinen
Grund hat, gibt es nur zwei wirkliche Ursachen für das Wachstum der sozial-
demokratischen Stimmen, nämlich das Wachstum der städtisch-industriellen Arbeiter¬
bevölkerung, das ja vom Bürgertum mit allen Mitteln gefördert wird, und die
Zerfahrenheit der bürgerlichen Parteien, die sich vor der Wahl bis aufs Blut be¬
kämpfen und sich dadurch gegenseitig so ärgern, daß die in der Hauptwahl unter¬
liegende Partei bei der Stichwahl aus bloßer Wut die verwandte siegreiche Partei
im Stiche läßt oder auch gegen ihren Kandidaten stimmt. Darin wird keine
Parteiorganisation viel ändern. Die speziell bürgerlichen Parteien beherrschen eben
die Massen nicht, wie das Zentrum und die Sozialdemokratie; ihre Gefolgschaften
bilden, weil sie im ganzen doch den gebildeten! Schichten angehören, zu wenig von
der Herdennatnr, die Schlagworten und Führern blind nachläuft.
Praktisch betrachtet, d.h. an den Aufgaben des nächsten Reichstags gemessen
ist der Sieg der Sozialdemokratie gar nicht so gefährlich bedeutet nicht einmal
ein entsprechendes Anwachsen der sozialdemokratischen ^sinnnng Von de,i ^
jetzt Anwachsenden 23 Sitzen fallen allein 10 anf Sachsen, no lokale Unchande
den Ausschlag gegeben haben, nnr 13 anf das ganze nbnge Rech. Dle e>n Ge¬
winn der negativsten Partei des Reichstags stehn "rke Verli^'ueist rein negativen ..freisinnigen" Fraktionen gegenüber, die von 43 Abgeordneten
auf 30 herabgekommen sind. Auch andre, jetzt unter allen Umständen oppositionelle
Parteien, Welsen, Elsässer, süddeutsche Volkspartei, Baucrnbündler. haben einzelne
Sitze verloren. Dagegen haben Zentrum. Konservative und Nationalliberale ihren
parlamentarischen Besitzstand so gut wie unverändert behauptet. Es ist also kann
zweifelhaft, daß die Reichsregiernng für ihre wichtigsten Vorlagen eine Mehrheit
finden wird. - -
^.^
Allerdings, zwei nicht eben erfreuliche, aber unvermeidliche Folgen wird die
neue Zusammensetzung des Reichstags habe». Das Gewicht des Zentrums, das
auf der Zersplitterung seiner Gegner bericht, wird noch hoher steigen, und die
Regierung wird trotz alles Geschreis künftig ihm und der römischen Kirche mindestens
dieselbe Rücksicht erweisen müssen wie bisher. Der Svzialdemokmtie aber wird
ein Sitz im Präsidium schwerlich zu verweigern sein. Wir müssen gestehn das?
wir darin gar kein Unglück sehen würden. Ein Sozialdemokrnt. der Anteil am
Präsidium nimmt, muß 'dem Kaiser den Eid leisten und von ihm empfangen werden.
Daß das dem Monarchen eine besondre Überwindung kosten würde, glauben wir
nicht, dazu ist er viel zu unbefangen; hat er doch auch dem sozinldemokrntischen
Minister der französischen Republik, Millerand, eine gewisse Anerkennung gezollt
Vou dem Augenblick aber, wo die Sozialdemokratie einen Präsidenten stellt, muß
sie um der positiven Arbeit des Reichstags teilnehmen, und wird sich, wie das
i» Frankreich und ii, Italien schon geschehn ist, in einen intransigenten, rem
negierenden, die alten Schlagwörter weiter ableiernden Flügel und einen gewiß
noch sehr radikalen, aber doch positiv mitarbeitenden Flügel spalten. Hie Bebel,
hie Vollmcir! Dann wird sie aller Welt zeigen, was sie kann, oder auch, daß ste
'nchts kann. Einen andern friedlichen Weg, sie als Umsturzpartei zu überwinden,
Mbt es nicht mehr. Wenn die „bürgerliche" Presse immer wieder zur Sammlung
^ F"!^""'^ "-"gen die „Neichsfeinde," hier gegen das Zentrum, dort gegen
al7e?n. ""wise. so vergißt sie. daß ein Krieg ans zwei Fronten unter
d°I v s ? gefährliche Sache ist. und daß die ..bürgerlichen" Parteien
el?^ Sie würden natürlich, wenn sie besser zusammenhielten
ine Anzahl Wahlkreise den Sozialdemokraten wieder entreißen können, wie 1887
n wachsen, aber sie würden im Reichstage niemals stark genug sein, eine Ans-
yebung des allgemeinen Wahlrechts oder gar ein neues Svzialistengesetz durchzu-
setzen Oder rechnen sie gar mit einer gewaltsamen Niederwerfung? Dafür würde
der Kaiser, der gleich nach seinem Regierungsantritt zum Fürsten Bismarck gesagt
hat, er wolle nicht „Kartätschenprinz" heißen (wie sein Großvater im März 1848 un-
. verdienterweise geschimpft worden ist), er wolle nicht „bis an die Knöchel im Blute
waten
In
Osterreich ist es jüngst passiert, daß man das uneheliche Kind einer mohammedanischen
Witwe gewaltsam katholisch getauft hat. Das mohammedanische Bosnien gehört zu
dem geistlichen Wirkungskreise des Erzbischofs Stadler in Agram, und dieser sehr
streitbare Herr hat zweifellos direkt oder indirekt auf die Taufe des unehelichen
mohammedanischen Kindes und bei den Bekehrungsversuchen an der Witwe einge¬
wirkt. Zuerst war die österreichische Regierung gleichgiltig, nachher bekam sie aber
doch Angst vor dein Fanatismus des mohammedanischen Bosniens, und die wohl in
ein Kloster verschwundne Witwe kam wenigstens wieder zum Vorschein; was mit
dem getauften unehelichen Kinde geworden ist, hat man nicht gehört. Die anfäng¬
liche Gleichgiltigl'eit der österreichischen Negierung war um so erstaunlicher, weil
man sonst die religiösen Gefühle der Mohammedaner Bosniens sehr zu schonen wußte.
So ist den mohammedanischen Soldaten und Beamten in österreichischen Diensten
die Vielweiberei erlaubt, die sogar das große, tolerante alte Rom den vielen
Soldaten, die die Polygamie aus ihrer östlichen oder ihrer afrikanische» Heimat
mitbringen wollten, nicht erlaubte. Wenigstens kamen nach den Militcirdiplvmeu
des alten Roms, den sogenannten tubul-n? Konost-lo miWivuis, die Ehren und die
materiellen Vorteile langjährigen Kriegsdienstes unter den Fahnen des kaiserlichen
Roms uur dem römischen Soldaten nebst Frau und Kindern zu, der in mono¬
gamischer Ehe gelebt hatte. — Zu dem erzählten Fall, daß sich die katholische Kirche
der unehelichen Kinder Andersgläubiger einfach bemächtigte, um sie zu laufen, finden
wir zufällig Analoga aus der Zeit des „Aneien Regime." Im IZnIIotin ä«z I»
Looiotö alö I'bistoirs an ?rotöstautismo l'raoyiris, das mit den Berichten über die
Stadlersche Angelegenheit zugleich herauskam, steht ein Aufsatz „Zur Geschichte der
religiösen Verfolgungen," der von I>s Liorgs eatboliciuo et los onlÄnts illegitime»
I'i'olWwutK vt lsravÜtöL on ^Isaeo an XVIII"" siöelu et an clöbut alö la, Re¬
volution handelt.
In einer Erklärung vom 13. April 1682 hatte sich der König von Frank¬
reich das Recht zudiktiert, der einzige zu sein, der an unehelichen Kindern Vater¬
rechte ausüben dürfe. Damit war keineswegs die Absicht ausgesprochen, daß der
König materiell für die unehelichen Kiuder etwas tun oder gar sorgen werde.
Nur die Folge trat ein, daß die illegitimen Kinder, anch wenn die beiden Eltern
nicht katholisch, d. h. ketzerisch waren, in der alleinseligmachenden Kirche erzogen
werden mußten. Diese Erklärung war sür ganz Frankreich mit der Aufhebung
des Edikts von Nantes im Jahre 1685 wertlos geworden, dn es von da an
offiziell keine Ketzer im eigentlichen Sinne mehr gab; in dem allein katholischen
Staat existierten sie von Rechts wegen gar nicht. Aber dank der Pression des hohen
katholischen elsässischen Klerus wurde der Zwang im Elsaß, wo viele Lutherische
wohnten, und wo die Calvinisten privilegierten Schutz genossen, trotz aller Schuh¬
briefe und Rechte der Elsässer ein Menschenalter später wieder eingeführt. Ein
Dekret vom l. März 1727 bestimmte, „daß die königliche Majestät von Frankreich
befohlen habe, der Intendant des Elsasses und der Generalprokurator des Rats
sollten sich die Hunde reichen, daß die Erklärung in Zukunft zur regelmäßigen
Ausführung sowohl in Straßburg wie im übrigen Elsaß komme."
Von diesem Datum um folgt eine ganze Serie von Gewalttätigkeiten; und
— was das härteste war — die Maßregel wurde mit rückwirkender Kraft durch¬
geführt. Nicht allein lutherische Bastarde, die direkte Untertanen des Königs von
Frankreich waren, unterlagen dem Zwange, sondern auch die der im Elsaß be¬
güterten fremden Fürsten. Ein fanatisches Werkzeug der Jesuiten, der Sieur
Valentin Nees, Generalprokurator des Oonsoil sonvorg.in ä'^lLaoo, hatte die meisten
Fälle auf seinem Gewissen. So ließ er zum Beispiel 1738 drei Einwohner von
Wolfisheim im Elsaß, einem Dorfe, das dem Landgrafen von Hessen gehörte, nach
Strnßburg schleppen; und diese volljährigen Bastarde lutherischer Eltern, die seit
ihrer Geburt dem lutherischen Glunbeu angehört und ihn als erwachsene Männer
ausgeübt hatten, wurden in strenger Haft gehalten, bis sie ihn abgeschworen hatten.
Der aktenmäßige Aufsatz von Rodolphe Neuß in dem zitierten Bulletin alö is,
soeiüts alö I'liistoiro öde. enthält noch viele Fälle solcher Art, die sich bis 1791,
wo die Revolution diesem Eifer ein Ende machte, ereignet haben. Wie wir an
dieser Stelle (Preußische Toleranz vor Friedrich dem Großen, Grenzboten 1903,
I. S. 240) jüngst erzählten, Hot zu gleicher Zeit mit dieser von katholischen Herrschern
ausgehenden Intoleranz Friedrich Wilhelm der Erste den Katholiken in Preußen
das größte Entgegenkommen bewiesen - was aus den Päpstlichen Nuntialbcrichten
hervorgeht.
Eine Adresse aus dem Elsaß an die ^«somvloe national.» in Paris wollen
wir ,was in. Wortlaut wiedergeben; sie bezeugt, wie bis zum Nevolutio.^ al re d e
Gewissensvergewaltigu»gen fortdauerten, und welche Schliche tue dem KW s ge¬
fügigen Ortsbehörden anwandte», um ihm sein vermeintliches Recht durchführe..
^
MeineHerren, ein >was uicht abgeschafftes Gesetz verlangt, daß die unehe¬
lichen Kinder eines jüdischen Mädchens in der katholischen ^ligw» z°g^werden. Die Jubel von Oberehnheim ist in andern Umständen; die MumzwaMal
des Platzes meint, sie wolle durchbrennen, und berichtet darüber dem Iroonroni-
««nÄal-^naiv. Dieser ordnet ihre Verhaftung uach Fug und Recht am ^los
Salomon. Jude von Danendorff. erklärt vor Urkundspersonen, daß er der ^meer
des zu erwartenden Kindes sei. verlangt die Freilassung des Mädchens und er¬
bietet sich, es zu heiraten. Dus Direktorin», befiehlt darauf der M.unz.palitat das
Mädchen freizugeben unter der Beding.u.g. daß ma» sofort ziir Eheschließung
schreite. Die Mnnizipalität zieht hinaus und macht absichtliche scho.er.gte.den
unter den, Vorwande. daß der Gerichtshof dem Jude» He.ratskonsens gegeben
habe» müsse. Eine neue Verfügung des Direktoriums erfolgt, die d,e Ehe ge¬
bietet, und die von der Mnnizipalität an. Samstag modifiziert wird an welchem
Tage die Jude» »ach ihre». Gesetz »icht heiraten dürfen. Das Mädchen kommt am
Samstage selbst nieder man spiegelt die »kochende Volksseele« vor (uns vuot.on
voM'aire; es gab also schon vor der königlich bayrischen, durch die Kaiserdepesche
an den Prinzregenten erregten »kochenden Volksseele« eine solche acht »unter ultra¬
montane), entführt das Kind in.d tauft es katholisch. Die Hochze.t findet am Sonntag
statt; der Vater verlangt sein Kind, das die Mnnizipalität verwe.ger . da es
christlich sei. Wir könne» »indes tuu. als diesen Fall dem vorps lvA.8it.tit vor¬
loge»." — Die Antwort der ^Zvmbloo ,mtiou-.lo hat Neuß nicht aufgefunden.
Nicht nur der Boden Roms ist uner¬
schpflich, auch das Rom über dem heutige» Bode» der Stadt bietet dem. der -zeit
"ut Lust hat, Romkeuuer im Goethischen Sinne zu werden, immer wieder neue
Anregungen. Schönheiten und Genüsse, die dem eiligen Fremden entgeh... So
Wd seit Jahren römische Mauerspaziergänge meine Lieblingsbeschäftigung in reien
stunden. Gerade die Mauern der ewigen Stadt" führen uus die Berechtig......
5?^" ^ S'daukenlos gebrauchten Bezeichnung für Rom eindringlich vor Angen.
se^M s ^ste.. der ..Roma gnadrata" des Polatins. der Begrenzm.g der ältesten
städtische» Niederlassung, von de..en der Servinsn.auer. die ...it derselbe» Pietät
w.e die mitten in der Weltstadt geschont werden, will ich gar nicht reden Aber
was haben auch die „jungen" nach Christi Geburt gebauten Aurelinnischcn Mauern
erlebt, geschaut und erlitten! Wie haben Belagerungen und Stürme, der langsam
nagende Zahn der Zeit, eilige Resta»ratio»er im Angesicht des Feindes, ruhiger
Ausbau in Friedenszeite» ihre Zeiche» u»d Spuren an diesen altersgrauen Flachen
zurückgelassen! Hastig eingemauerte antike Marmorgebälkstücke findet man neben den
Pompreichen Jnschrifttafeln und Papstwappen der Renaissancezeit, Tafeln zur Er¬
innerung an Waffentate» des jungen Italiens neben den gekreuzte» Schlüsseln, dem
einfache» Abzeichen des wappenlosen Schulmeisters Pnrentucelli, des großen Renaissanee-
Papstes Nikolaus des Fünften, den flachen Ziegel der späten Kaiserzeit, der noch deu
römischen Ziegelstempel zeigt, neben dem formlosen Fettstein frühen.ttelalterlicher
Zeiten, in denen Gefühl für Eleganz und Schönheit der Architektur so tief ge¬
sunken war. Diesen Charakter frühmittelalterlicher Zeit zeigt in ausgesprochner
Weise zum Beispiel der Mauertrakt, an den sich unser protestantischer Kirchhof an-
lehnt. Auf der 900 Meter laugen Strecke von der malerische» Porta Paolo mit
ihrem doppelten Torhause und der in die Befestigung mit eingezognen Cestius-
Pyramide bis zum Tiber hin stützen fünfundzwanzig zum größten Teil wohlerhaltne
quadratische Türme die Doppelmaner», und vom Kirchhof aus kann man ihre innere
Einrichtung, Wehrgttnge, Zinnen und Schießscharten bequem studieren.
Aber auch dus Leben an und neben, vor und hinter den Mauern bietet dein
Beobachter neue Bilder, die er im Innern von Rom nicht findet. Man begleite
mich zum Beispiel zur Porta Angelica unterhalb des Vatikans. Der wohlklingende
Name läßt uicht ahnen, daß um sie herum ein Teil der ärmsten und elendesten
Bevölkerung, der „Terza Roma" des neuen Roms, sein Leben fristet, das durch
Zolas Schilderung so bekannt gelvorden ist. Szenen des Volkslebens, die um
Grellheit des Elends und der Verarmung denen der Cnlate von Neapel, der
Gäßchen von Whitechnpel in London uicht viel nachgeben, bieten sich hier dar.
Wenden wir uns nach links: die hvchgetürmte Mauer Leos des Vierten umgürtet
hier die alte Leostadt und an dieser Stelle die vatikanischen Gärten. Ein präch¬
tiges Wappenschild der Farnese kündet an, daß Paul der Dritte hier zuletzt bauend
eingegriffen hat. Steineichen und Zypressen überragen die Mauerlinie, nud zwischen
ihnen erscheine» festungsartig sich aufbauend Teile des Vatikans. Weiterhin luge»
Obstplantagen und Weinstöcke über die Brüstung und erinnern an die landwirt¬
schaftliche Sorgfalt des regierenden Papstes für die weitausgedehnter Gärten des
Vatikans. An bastiouartigen Vorsprüngen, von denen Wasserbächlein Herabkommen,
an gemnnerte» Schilderhäusern vorbei, die früher Sicherheitswnche», jetzt die ver¬
haßten Zollwächter bei schlechtem Wetter beherbergen — denn die alte Anrelia-
nische Mauer muß heute als el»w äa?la.i'la, Zolllinie, dienen —, geht es weiter;
rechts öffnet sich, wie so oft außen an den Mauern, ein weiter Fernblick auf die
Umgebung der Stadt, auf grüne Hügel, hochragende Pinien, weiße Tenuten, auf
den Monte Mario mit seinem Fort und der Station für Luftschiffahrt und Mar-
conitelegraphie, auf deu prächtigen Viadukt der nach Bracciano führenden Bahn.
Es folgen unter im Tal ausgedehnte Ziegeleiaulagen. Aber die wenigsten Schorn¬
steine rauche». Diese Anlagen entstanden, als mau zu Beginn der achtziger
Jahre für die Terza Noma, einen riesigen Bnunufschwuug erwartete. Aber der
Aufschwung nahm ein Eude mit Schrecke«, der Baukrach kam, und seitdem ist
es dort unten still, und man wartet auf bessere Zeiten. Aber doch schreitet auch
in Rom die Zivilisation vorwärts, und sogar Mächte des Beharrens, wie der
Vatikan, können sich ihr nicht ganz entzieh». Dort oben links auf der Mauer er¬
hebt sich in florentinischen Stil ein Villiuo, wovon unzählige Drahte ausgehn: es
ist die elektrische Lichtanlage des Vatikans, die ihn, Se. Peter und sogar dessen
unterirdische Grotten mit dem Lichte der Neuzeit speist. Aus einsamer Gegend,
wo der Fremde den Stock oder Regenschirm fester faßt, wenn ihm eine zerlumpte
Gestalt begegnet — übrigens ohne Grund, denn der Fremde ist in Rom mindestens
so sicher wie in Berlin oder Paris —, sind wir wieder in einen belebteru Vvr-
stadtteil gelangt, zur altersgrauen Porta Cnvalleggieri. Bei dem Sacco ti Roma 1527
spielte fie insofern eine wichtige Rolle, als hier der Connetnble von Bourbon fiel.
An den Toren der Aurelianischen Mauer häufen sich natürlich die Erinne-
rungen, fie und ihre Umgebung tragen die meiste» Narben aus sturmbewegter Zeit.
Welcher Kontrast zwischen den massigen Nundtürmen der Porta Pineicma, an die
angelehnt einst Belisars Haus stand, und die im Bogeuschlüssel uoch das griechische
Kreuz zeigt, und dem sich hinter ihr erschließenden neuen eleganten Quartier
Ludovisi! Welches phantastische Gemisch von antiken, mittelalterlichen, Neuaissnucc-
und Barockbanteilen an der Porta Maggiore mit dem protzige» Grab des Bäckers
Eurhsaces darau, der Porta Lvreiizo, deren uralt rönnscher Torbogen vor den
mittelalterlichen Türmen in den Boden zu sinke» scheint! Auch auf die römischen
Mauern paßt dus Goethische Wort, daß Rom eine „gar große Schule" und darin
d
Alt sind die römischen Patriziergeschlechter,
aber sie möchten immer »och älter sei», bescmders wen» ein Papst im Spiele ist.
Bei jeder Papstwahl finden sich Gelehrte und Dichter, die den Ossa ans de» Pelion
türmen, um auf deren Spitze de» ueugcwnhltcu Papst zu erhebe». Ganz bescmders
spaßhaft si»d gewisse Abstammungen, wie z. B. die des Alessandro Borgia, die
wir sogar von Pinturicchio bildlich dargestellt auf einer Decke mit dem darunter
befindlichen großen Wandgemälde des Appartamento Borgia im Vatikan sehen.
Zwar gehörte Alexander der Sechste nur durch seine Mutter, ewer Schwester
des Papstes Calixtus des Dritten, dem Hause Borgia an. Sein Vater war ein
einfacher spanischer Edelmann Rodrigo Lenzuola. Mit Hilfe einer griechischen
Etymologie wurde der Name Borgia mit busr^, der Arbeit des Och,en in
Verbindung gebracht; es prangt ja auch ein Stier im Wappen Und welchem Stier
allein durfte die Ehre zu teil werden, Stammvater eines solchen Geschlechts zu
sein? Nur einer Gottheit, nämlich dem heiligen ägyptischen Stier Apis, in ven
sich der Gott Osiris verwandelt.
^,^,^-
Bei Gelegenheit der Ausschmückung der Vatikanischen Prachtsäle. die Alexander
der Sechste für seinen Privatgebrauch Herrichten ließ, berief er die größten Künstler
seiner Zeit. So malte Pinturicchio eine ganze Decke mit folgender Historie aus:
In verschiednen Zwickeln der Decke sehen wir den heilbringenden Wandel des
Osiris. seine Vermählung mit der Zwillingsschwester Isis, seinen Kampf mit Typhon
und seinen Tod Isis sammelt die Stücke der zerrissenen Leiche, msmbra äisesrM,
bestattet sie in einer goldnen Pyramide, aus der im nächsten Bilde der Stier
Apis hervortritt. Dieser wird unter dem Jauchzen des Volkes auf deu Schultern
der Jünglinge herumgetragen und findet zuletzt seinen Platz auf einem Trii.mph-
b°gen in Alexandrien. Diesesmal ist die Stadt Alexandrien die Stadt Alexanders,
des Papstes Borgia. und Apis, die Reinkarnation des Osiris, ist sein Stammvater
und sein Wappenbild. Auf dem Triumphbogen prangt die Inschrift x-lois puto.,. Zu
Füßen des Bogens disputiert zwar die heilige Katharina von Alexandrien vor dem
Kaiser Valerius Maximus. aber das liebreizende Mädchen in blonder Haarpracht
ist Lucrezia. die Tochter des Papstes. Die Höflinge des Kaisers sind ander
Porträts von römischen Zeitgenossen, darunter sehlt nicht der unglückliche Prinz
Ilm oder Zizim. der Bruder des Sultaus Bajazet, den dieser dem päpstlichen
Vorgänger Innocenz dem Achten mit der heiligen Lanze sandte, und der als
Geisel und als Gast in Rom festgehalten wurde. als Prunkstück des Hofes seiner
prächtigen orientalischen Gewänder halber, und zur Freude der Maler.
^ Julius dem Zweiten, der wenig Jahre nach Alexanders Tode auf den Thron
am. war das Andenken an diesen Papst so verhaßt, daß er dessen Gemächer
mena s betrat. Unmittelbar darüber wurde aber das Meisterwerk aller Zei en
geschaffen, die Stanzen Raphaels. die der kunstsinnige Julius in das Leben rief.
^«'"' Nachfolger Leo dem Zehnten vollendet wurden.
Das
.....Appartamento Borgia ist seit ungefähr vier Jahren dem PnbMnmwieder zugänglich, nachdem es jahrhundertelang die gedruckten Bücher der Vatl-
amschen Bibliothek beherbergte. Leo der Dreizehnte hat diese Bücher n einandres Stockwerk schaffen und das Appartamento auf das gewissenhafteste und
wrgfältigste von kompetenten Händen restaurieren lassen. So gebührt ihm das
Verdienst, daß sich jetzt an diesem Juwel der Renaissance die Kunstverständigen
aller Nationen
T. Kellen sagt uns in seiner Schrift: Die Not
unsrer Schauspielerinnen (Leipzig, Otto Wtgand, 1902) nichts neues, aber
eben weil er das altbekannte mit Anführung vieler Zahlen und Autoritäten be¬
stätigt, empfehlen wir diese „Studien über die wirtschaftliche Lage und die mora¬
lische Stellung der Bühnenkünstlerinnen" solchen Eltern, die eine vom Theater¬
zauber berauschte Tochter haben, und solchen Töchtern selbst „als Mahnwort und
Wegweiser." Mit Ausnahme der wenigen, die die nicht unbedeutenden, für Opern¬
sängerinnen bis auf 20000 Mark ansteigenden Kosten der Ausbildung und die
ebenfalls kostspielige erste Ausstattung aus eignen Mitteln bestreiten können, und
denen unverkennbare hervorragende Begabung erste Stellen an großen Bühnen
sichert, können Schauspielerinnen nur durch ein Wunder ehrbar bleiben. Am besten
sind außer den „Stars" noch die Choristinnen und Souffleusen daran, die wenig
auffallen oder dem Publikum gar nicht zu Gesicht kommen, und deren bescheidnes
Einkommen geringern Schwankungen und Abzügen unterworfen ist. Die Einkommen-
verhciltnisfe sind natürlich nicht das einzige, was eine anständige Lebensführung er¬
schwert, aber sie sind um leichtesten darzustellen. Die Gage beträgt um kleinen
Theatern (bei sechsmonatiger Spielzeit) 90 bis 150 Mark für den Monat, an
mittlern (mit sieben- bis achtmonatiger Spielzeit) 150 bis 300 Mark, an größern
mit Jahreskontrakten 200 bis 600 Mark; die großen Einnahmen der Künstlerinnen
ersten Ranges kommen hier nicht in Betracht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß
die Schauspielerin nach Ablauf der Spielzeit ein Paar Monate zu feiern gezwungen
sein kann, daß die harten Kontrakte den Direktor zur Einziehung von Strafgeldern
und andern Abzügen berechtigen, daß die Agenten für die Stellenvermittlung
mindestens ein Zwanzigstel, oft aber viel höhere Summen, bis zu einem Drittel
des Jahreseinkommens eintreiben, und daß die Schauspielerin ihre ganze Garde¬
robe (mit Ausnahme der manchmal nötigen Männerkleider) selbst beschaffen muß,
während sie die männlichen Bühnenmitglieder geliefert bekommen; nur wenn diese
im modernen Gesellschaftsanzug auftreten, tragen sie ihre eignen Kleider. Wie es
die Schauspielerinnen anfangen, für Kostüme mehr auszugeben, als sie im Jahr
einnehmen, wenn sie bei der Bühne bleiben wollen, weiß man ja. Und man kann
nicht einmal die Direktoren, deren durchschnittliche Lage in den Fliegenden Blättern
zwar übertrieben aber nicht ganz unzutreffend geschildert wird, der Ausbeutung
beschuldige»; die Ausbeuter sind: die Agenten und — das liebe Publikum, das
schöne und glänzende Toiletten fordert und schäbig aussehende Schauspielerinnen
auspfeift. Ein wenig hat die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger gebessert,
ein wenig werden die vom preußischen Handelsminister am 31. Januar 1902 er¬
lassenen Vorschriften über Stellenvermittlung helfen. Vereinigungen von Städten,
die Wandergcscllschaften abwechselnd beschäftigen, verkürzen die unfreiwilligen Ferien,
und an manchen Orten unterstützen Damenvereine die Schauspielerinnen bei der
Beschaffung der Kostüme, aber im wesentlichen wird Wohl das Schauspielerinnen¬
elend so lange dauern, bis einmal eine Änderung des Geschmacks zusammen mit
einem wirklichen Kulturfortschritt das ganze Theaterwesen wegschwemmt und die
Volksunterhaltung neu organisiert.
Seit einiger Zeit sind um
den Eingängen zu dem Ausstellungsparke Plakate angebracht mit der Inschrift:
„Die Dauerkarten sind unaufgefordert offen vorzuzeigen." Mein erster Gedanke, als
ich das las, war, dem Pförtner die Bestellung aufzutragen: Sagen Sie dem
Grobian, der das geschrieben hat, er solle sich etwas bessere Manieren anschaffen.
Eine Dauerkarte, die ganze sechs Mark kostet, ist doch wenigstens eine schickliche
Behandlung wert. On sse xris, sagen in solchen Fällen bekanntlich unsre besser
erzognen Nachbarn, und sie drücken sich damit dann auch noch zugleich grammatisch
richtig aus, wogegen der Dresdner Epigrciphiker in seinem Sprachstumpfsinn gar
nicht bis an den Punkt des Nachdenkens gelangt ist, wo sich die unaufgeforderte
Dauerkarte seiner Vorstellung als Unsinn hätte aufdrängen müssen. Noch schlimmer
ist es, daß keiner seiner Vorgesetzten, die dieses Plakat passieren ließen, soviel
Sprachgefühl gehabt hat, das Fehlerhafte daran zu empfinden, und das zeigt wieder
einmal, wie bitter notwendig unser Wnstmcmn ist. Seine „Sprachdummheiten"
sucht man drinnen in der Lehrmittelabteilung vergebens, dafür leistet sich die Aus¬
stellung, die die Kultur der deutschen Städte veranschaulicht, draußen an ihren
Toren eine so exemplarische Dummheit, daß sie verdient, in die nächste Auflage
zu kommen.
Vor oinigor ^non ist
im Vorlago avr Lo/ialistisolion NonatssoluM in Dorum avr orsto Danck viuos groL
iMgologton 'WvrKos: „LoiüiÄlismus und I.anävirtsod»le" von DÄuarÄ vaviÄ
orsoluonon. Dor orsto Danck bolianclolt dosonclors alö Dotriodslrago unä ist vino
mit viel Laoläcountnis unä Loliartsinn äuroligoiullrto >Viäorlogung dos von Narx
l>i» Lautslc^ iminor vivÄor laut vorlluuüigtou sWialäomolciAtiselwll Dogmas, ä»Z
vio im Kowvrbs unä im Ilimäol ».note in Avr I^lmckvirtsodM avr LUembotriv»
rottungslos äuroli äou Kroudotriol» voräräugt verclon ausso. Dor Vol-tassor, solbst
Lüi-ialäomolirat unä als solodvr jvt^t in äou Roiolistag govÄilt, liat in svinow
Duolm vino ^.rvoit K08ouaKsu, Sie voäor alö vissvusvuMIiouM ^ationalölcouomou
rook^ alö xralctisolion Ltaatsmünnor in Doutsolilanä uudoaolitot lassou Könnon, unä
alö garn vosouäors avr vrouöisolion lanävirtseltaltliolion Vorhaltung unä den
prvuüisoovu lanävirtsoliaMolion lutvrvssonvortrvtuvgon dvKorüiAMsvvrte Lolsdrung
in ?ullo diotot.
?roti?aom sima alö virtsollaltsvolitisolio lonclon?: avr ^.rdoit unä iliro Ilauptvoiuto
niont nur lalsoli, snnäorn mau null vou ilir goraäo etant: avr (Foäiogonlioit avr
LtoMvKancllunF, äurok Zio Sieb alö ^rboit ausMioliuot, vino gani-i dosonclors irro-
t'üdrouäo 'Wirliung orvarton. Vor Vortassor gelaugt toi soiuom Dovoiso vou avr
Dill»altdarl<on avr IZolrauvtuug, äati avr lanävirtsolialtliolio Lloiudotriob aom Kroti-
l>otriol>o rottungslos untorliogon ausso, ihn avr umgokolirton IZoKauptung, äalZ avr
Orotibotriob in avr l^ana wirtsoliatt soinor DoistungsuuläliigKoit vogou
unlolilbar äuron aom Hloinvotriol) vordrängt voräo, äaK NaLrogoln, alö
dosonäors /um Lonut/ äos KrolZdotriobos äiouton, als aom Kosamtv/out naontoilig
/u voräammon Solon, unä äal,! äosliald vor allom «tlo im uouou ^olltarit vorgosoliouo
LrlmKung avr Kotroiäo/vllo vorvortou vvoräon ausso.
I)lo vraktisolio Doäoutuug viror äaraul lüuauslautomlon grolZou unä in avr
lat dostoolionä ausgotulirton vissonsolialtliouon ^ri>on liogt aut avr Hauä. RivKt
nur alö Lo/ialäomolcraton, sonäorn auen alö ancloru ^joäor (F0troiäoiiollorüöliuug
viäorsvroolronäou?olitilcor woräou in aom dovorstolionäon uarlamoutarisoliou liämvkou
aus aom Daviäsolion Vuolio >VaKon in Nougo outuolunon ?u Könnon glaudon.
Mturliou ludrt Daviä /uorst alö Lrgobnisso avr lauävirtsoliattlioliou
Kotriobs/ällluug vou 1882 unä vou 1895 ius 'Irotlou. vio /.alilou, alö or /u äiosom
?.vook vor^vouäot unä alloiu poro^ouäou Kann, sinnt tolgonäo. ^.ut alö oinsolnon
(?rööonklassou üolou vou ^jo 100 llolctarou avr lanävirtsoliattlieliou ?läolio:
I)al?u bomorkt Daviä: Ds Solon also goraäo alö Dotriodo avr däuorliolisn Loldst-
>virtsol>a1lor im Vormarsoli bogriikou, ä. ki. alö Dotriodo, alö gro/Z gonug unä niodt
grölZor väron, als nötig soi, viror IZauornlamilio vollo ^rboit unä Kxiston.5: z-u go-
väliron. IZr vorstolio immor untor „Xloinliotriod" uur clioso „olino jscks stän-
äigo kromäo IlilksKrälto unä onno ^sobonorword" ardoitonäo DotriodsKatogorio.
Dra idr goraäo iiabo avr Marxismus aom Mou Dutorgang uropdoüoit oäor violmoilr,
or 1>ado inn solenn als vino sioli vor unsorn ^.ugon adspiolonäo l^atsaoüo ningostollt.
^Vörtlioli sagt or äanu voitor: „In V^irKIiolilioit ortrouto Sinn avr Lauor
KrAktigstor <?osunüds!t, ssin ^pxotit rhor mvdr H,anÄ bsvlss os. I)«r
absoluto /uwaoks, Avr Aio Dotriobo von 2—20 IloKtaron «u vor«viol>non Kadon,
Koträgt niokt wonigor als 65925>9 IloKtaro!"
Diosor statistisollo Dowois ist gar niolits wort. >Vor Aio lanAwirt-
LvKMUellv DstriodsstatistiK Kennt, nuk vissvn, claü äiose VorsodiobunAvn, Aio «um
1'oil nur auf Ava Papier Kostolm, absolut Koinon Loliluti aut eins Aauornclo Lo-
wogung in Avr von DaviA doliauptoton liiolitung orlaudon. Nan Kann KöoKstons
sagon, «lau Aio IZodauptunA von Avr VorArängung Aos Xloindvtriobs Auren Avr KroK-
liotriod in Avr IZotriodsstatistiK von 1895 Koino Dostatigung gotunAon liado. Ob
trot«clom <tlo lüntwieklung Aioso '1'onAon« vortolgt, wissen wir vorläufig nielit. 'Walir-
sokeinliok ist os alior niolit. VislloieKt wirA Aio Volks- un<1 Aio Dotrivds-
«äklung von 1993 DaviA Iteolit godon; violloiolit ador auel niolit.
Dio aus <lor "1'ooImiK Avr DanAwirtsoliatt uncl Avr natürliolion DoAingungon
iliros Dotriods von DaviA liergeloitoton (^rundo tur Aio grölZoro l^oistungstäkigkoit
Aos Xloinbotriods !in Vorgloioli mit aom KroLdotriobo sind «um grnüon ?oil «war
tlioorotisoli im om«viror Ul>or«ougonA, doroektigon al>or auf Koinon ?all, praktisoll
so doclingungslos unA allgomoin Aio nationalükonomisolio ki!xisten«1>oroolitigung Aos
(Ä'cMiotriobs «u dostroiton, w!o DaviA Aas tut. Lr sol«t tur homo Kleindvtrisde, „otro
stänAigo K'omAo Juli'sKrälto nun otro Mdonorworb," >VirtsvliattsdoAingungon voraus,
wio hio violloiolit in <1or I>salio roiokor (lrokstäcito unA in 1nAustriol>o«irKon mit
gutom DoAon unA Xlima angonommon worüon Könnon, ador niomals auok nur lUr
<1on IiunAortston toll «um Doispiol Avr soolis nroulZisolion Ostprovin«on golton worAen.
DaviA sol^vint ltiordoi Aas Dobolsono lAoal als orroiokt, .ja übertroKon vor«usokwodon,
„AalZ Aio groöon LtäAto autliüron «u oxistioron, inAom Aio DovölKorung, umgokokrt
vio bisksr, von Avr LtaAt aut Aas i.anA vanAort, Aort nouo Avr voränAorton Vor-
iialtnisson ontsprooKonAo KomoinAon dilAot unA iilrv inAustriolle Tätigkeit mit Avr
lanAvirtsonaktlioKon vordinAot."
8o hour wir vüi^Solon, Aaü Solon im näoiiston ^akr«oknt, soi os auok untor
^VutwanA von IIunAorton von Nillionon, Avr Staat Aio „1)o«ontralis ation Avr
KovöiKorung" in ^.ngriK' nimmt, so Kann man AoeK Aiosos IZoboisoKo lAoai als
ornstos Uol viror praktisollon Politik niomals anorkonnon, worm os auol, nur auk Avr
vioiton 1'oil Aos lanAwirtsoliat'tliollgn ^roals im DoutsoKon RoioK ausgoAolint vorAon,
uncl volloncls, worm os in oinom ^aKrliunAort auok nur «ur Ilältto orroiolit vorAon
soll. Im Kiiolito Avr Praxis unA Avr tatsäokliolion Vorliältnisso sinA sololio Iton-
strul<tionon icloalor ^iolo niolit nur rivi^es port, sonclorn im lmoliston Kraclo vor-
vvirronA unA irrotünronA. Oio gan«o LtaatsvoisKoit Kodols, OaviAs unA soinor
^'rouiulo loiAot an diosom LirunAtolilvr, Avr hio soliloontliin «ur "I.'orlioit maolit.
8o troilonA DaviA naeligowioson liat, AaK untor IImstänAon, wio hio siok lionto
solion viole'aoli in OogonAon mit last aussolilioNiolioin (ZroLbotriodv vornnAon, Avr Kloin-
dotriod an sioli loistungstäliigor ist als Avr KrolZbotriol), so wonig ist illa irgonA
wolokor Lowois Aalür golungon, clati niolit rook lUr adsolibaro Aoit in Ava weitaus
gröLton 1'oil Aos AoutsoKon Ostons UmstänAo Iiorrsolion, Aio Avr Xloinbotriob als
aussolilioklioko o«1or UborwiogonAo IZotriodslorm unmögliok mlor irrationoll maokvn.
^not niokt im vult'orntoston ist in clom AioKon IZuoKo irgonA om AnroKsodlagonAos
^.rgumont gogon Aio mälZigo LrlwKung Avr <FotroiAo«ülIo Aos nouon Zolltarifs boi-
godraolit, solorn hio «ur Erkaltung Aos <Zroöbotriobs unorläklioli ist. vor Krön-
botriok ist Aa unA lcann liir Älonsolionaltor lnnaus nur «um Kloinon 1'oil Aureli
Xloinbotriod orsot«t worAon. MurAo or olino l>öl»oro ^vllo ruiniort, so wäro Aas
also om soliworor Lolilag tur Aio gosamto VolKswirtsoliatt, Aosson vVdwoKr sioli «u
wiAorsot«on auoli DaviA unA homo Konosson Koino LorvoKtigung Kabon.
DaK DaviA Köln VorstanAnis tur vino Klasso von Damlwirton «oigt, Aio, Avr
unmittolbaron tägliolion DanAardoit üborliooon, in woiton loilon DoutsoKIanAs unA
Dnronas liouto rook om uns<zliät«baros Kosorvoir unA DollworK unabliängigor Xultur-
ontwiolclung ist, nimmt uns niont wunAor. ?ur DaviA unA homo Oonosson wiogt
soldstvorstäntllioli Avr KiolistolAor KuKKauor in Avr Politik viol molir uncl Avr Kultur
niont vvonigor, als om ostoldisokor (?roögrunAbosit«or ükorkaunt .jouais gowogon
liat. Dor Lulidauor laLt sioli violloiolit Aool> nooli odonso wio Avr InAustrioardoitor
ans ^arronsoil Avr „Konosson" tossoln.
Lin im allge¬
meinen seur erirouliebes Dild weist die DntwieKlung der ^Ktiongesollseliatten
der obomiseben Industrie in Deutselilaiid auk. Mancher Sebulmoinung zum
?rotz bat liier das ^.Ktivnweson viel weniger auk Abwege getülirt als im Kissn-
büttenbetrivb oder gar in der vlektriselioii Industrio, ist dabei von bssonilerm
Interesse, dalZ die ebemiselio Industrie zugleiob eine Lxxortindustrie ist, aut
die wir besonders stolz, sein Können. Im kolgenden bal>en wir zohr ^Ktieiigesoll-
sebatten der ebomisebon Industrie als öoispielv livrausgegriffen. Sie Können im
allgemeinen als t^piseb liir die obemisel>e Industrie auf Aktien in Deutseliland
überbauxt gelten.' öl<z Aktion dieser zehn Kosollscbatten worden -in der Derlmor
Börse gvbaiidelt und stellen ein Kapital von 78 Millionen Mark dar, zu aom mock»
ein in der I?orin von ^nleiden investiertes Kapital von etwa 40 Millionen binzu-
Kommt. Das Kapital der an der Berliner Börse überhaupt gollandoltoii Aktion-
gosollsellatton der obeniiselion Iiidustrie ist aut etwa 200 Millionen Mark zu sobätzsn.
^uLerdein bestehn in Doutsobland zalilreiebe ^Ktiengosollsol>afton dieser Industrie,
äsren Aktien nielit in Berlin regelinäkig goliandolt, sondern nur an clon grülZorn
krovinzbörssn im Kurszettel notiert worden. Das Aktienkapital dieser (Zesoll-
seliatton ist aut 75 Millionen zu schätzen, wozu an bleiben nooli etwa 25 Mil-
lionon Kommen.
Die naebstsbeudv Xusammonstollung gibt ^utsebluk über das im .ladre 1902
dividendeuberoebtigto Aktienkapital und die Dividondenbswegung des
letzten .labrzebnts.
Das Kesebät'es.janr der ^Ktiengesellseliat't Milob vomp. laute vom Novemberins zum Oktober, und das der Stettinor Union vom Oktober bis zum SvMmder;° vom unter 1901 eingetragne Dividende gilt liier tur das «esobättsjabr 1901/2.
in»" .1?"^ ^«enannten neusten Krisis sind diese ^Ktiengesollsobaktsn, soweit
sie b./. ^^'-"uden in Betracht zivile, so gut. wie Zar nielit lieimgesuelit woixlön;
wie^eb vorher Keinen so ungesunden „^utsobwung" zu verzeiel.nen
7'°.^°^-SMindustrie. Die Aablon stellen den Kosollsobatton ein geradezu glan-
^mios Zeugnis aus.
Ke.^ !?^Mde Zusammenstellung gibt ein Md der Kursbewegung unsrer^Wellsed^en von 1897 bis zur Kegeuwart.
^ueb in den Kursen zeigt also die eliemisebo Industrie Kaum eine Lpur der
^rliangnisvollon SeliwanKungen, die die Montan- und die sobwere Kisenlndustrig
derzeit durobgemaelit l.aben. ^.bgeseben von einigen ^usnalimen gilt das, wie
^'r ^usdrtieklieli bemerken müssen, auob tur die Kier nicht genannten Oesellsobaften
a«r chemischen Industrie, sowohl tur die. deren Kurse in Berlin, wie tur die. deren
Xnrso nur fru Avr 1'rovinMirson notiort worÄon. Von «Ion odor gonannton (Zlossil-
sokakton sima alö Aktion von LuvKg.ri 1895 nun Lurso von 130,50 omittiort worÄsn;
Krioslioim-Llsiitron our<1s in IZorlin 1896 mit 274,00 oingolüdrt, orlitt srdor diriÄ
Aar-rut Äurolr Äio dolcannts Lxnlusionsi^olirstroniio viror omnünÄIiol^on I^üolcsoiÄag;
NUoK et oval'. wuräo 1394 2U 128,00, Woilsr 1894 ÜU 199,50 UNÄ ^Ibsrt 1895
2u 130,00 omittiort. Von Avr ältorn «Ä0Lo1Isoi»Mon stanÄ 1893 Als ^Ktiongosoll-
sonatt tur ^ni1intadriI<!Z.lion auk 180,50; IZsrvor lÄbortolÄ 248,25; Loiioring 272,00;
Ilövlistor l^rlivorko 360,50 unÄ 8tottinor Union 124,40.
'Wir ausholt os Ava I.osor ndorlasson, Äio AiÄÄon Avr vorstolronÄon ÜKorsiont
mit Avr in Ilokt 24 mitgotoilton Xurson Avr Äoutsolion DisonIrüttonaKtion vor-
ZloioUon. Ixiidtt wirä or sar-ins Als groöo VnrLvIuvÄvnIivit oriconnon, mit Avr Äio
Üürso Äio Aktion Avr oliomisonon Wsrl<o oinorsoits unÄ Äio Avr DisvnKMtvliwerlco
ünÄrorsoit» doimnÄolt Jene. I^s wirÄ Sion wolÄ snirtor Kologondoit godon, Äio I^rgM,
wis woll unÄ warum Äio Aktion Avr eiiomisolion Wort?o soviol wonigor als Lxiol-
Mpivr miÜblAuvdt woräov sima, als Äio Avr Disonliütton zu orörtorn.
Ilior Solon novit icurx oiniM ^.ngabon übor Avr ^uKvniianÄol mit Avr
wiontigston I'roÄuKton Avr onomisolion InÄustrio Zvmaolit. ^iaoli Avr
amtlioiion LtatistiK Aos Ooutsolion lioisiis dotrug an
WänronÄ siolr Koi Avr Nongon vino NoKroiniirlir orgidt, orgibt siolr toi Avr
Wortsn vino Nolrraustulir.
Xum Vorgloioli Stokton wir moon Äio ^autor Aos ^utiouiianäols an Dison unÄ
Disonwaron iiusammon:
Uhr
vor UntorssnioÄ »prinZt in Äio ^.ugsn, unÄ wir vsrwoison wogen Avr Vor-
iiältnisso Avr KisoninÄustrio g.ut alö austuirrlioiion Oarlogungon in Holt 15, 19 unÄ
24 Avr <Zron/.boton. ^.ni Äio Äort an Avr Lntwiolclung unsror DisoninÄustrio
unÄ iiirom Voriiältnis Avr iZanIcon unÄ Avr Lörso goübton Xritilc worÄon wir
un-olistons oingononäor /urüekicommon.
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften, auch wegen des volkswirt¬
schaftlichen Teiles, wolle man an den Verleger persönlich richten <J. Grunow, Firma: F--
Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
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^uswitvn ^>iI>r»n «i»»« Klmuvron, jx>lei-1>iirK«r»
Iloilo» Is>u>«Il»II«.
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^<"mori»s!>^uso vsiSvn Zolivlvrimien Im X»ssv>or
»us teilvlzjg^ »u v«s<mtU<!l» viMons«IulttIloI»orSKV U. .Imurar 1!10ä.
9KU M. ^p^it uncl solvit.
100» M. Olctolx-r.
650 II.jLvptdr, u. gotort.
»°pretti»«I.N ^usdMunx »nee°n«um°».
lökdtkrllkjM c!°.«Rios
ItI»,Iorl.ni-1»»>!. ""^^»^ni d-tus
- ?^?^«»°°-»t«»r. -1- 1-/2 ^W«(189K), üuglvicd
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^ , -—1992. V^K —vsorÄ^sse-vsntsc!nig.nÄ. 27. ^nit.1992.9^—Su<Z.-vöiitsc!ni!>.ii>z.. 2?.^uti.1991. S^ —R.nsiiüa.ii<1s. 29. ^uti. 1992.9 ^ — !Züc>.og.Fsrii, Lirol, Salsviirshio. so. ^nit^xv. 1902. 8^ — öswrrsion(puro 2«. ^.uti. 199». K ^ —
vstsrrsisIi-IFiiglirii. Su.^nK. 190». 8^Lslgisn 1111Ä HoU»nÄ. 22. ^.net.19VV. S,^ — 0 Ksrit,».1ihn. 1«. ^.uti. 1992.8 ^ — Mittslilialisn. 1». ^nel. 199».7,99^ — Unisriis-Uhr. 1». Ä.uII. 1992.9 ^ — Itulisn von Asu ^.Ixsn visuso^xsl. S. ^.nit. 19V!I. 8 ^ — Rivisrs.
n. Südosi?rg.iikrsion. S. ^ut. 1992.K ^ — ?o.ris 11. VniMb. Is. ^iikr.
1999. 9^ (in krunü. SxrkvKv: ?rs,nos:
I.S Nor6.-Dsi. 199!I. b>F.! 1,0 LsorÄ-
viisst. 1992. S ^K.; I.S Su-Ä-Usk. 1901.
9 ^; I-s SniZ.-0v.ssi. 1991. 9 ^K) —
SroKbrit^nnisn. ». ^.nit.. 1899. 19^— I-oiiÄon. 1^> 1991. K ^ —
S.nM»n<1. b. ^un. 1991. Is ^ Kussi-
svlim- Sxr^'Moor 1 ^ — M. ?stsrs-
vnrü- 1901. 4 ^ Son^sÄsn nnÄ
Nor^sson. 9. L-uti. 199». 7,90 ^ —
Lor-ipsi-. »9. ^lin. 199S. » ^ -
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12 ^ - Nordainori^. 189». ^^.(I'»
vnxl. cZanaÄa. 1999. s ^>Löcliler-ZnM. 2. ckristl. ZrunSIsge
?riearicl>§aoi'si.trani!. Kolonie, b.Iiomdurg v.Ä.b.
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M88LNMU88.
Vor einigen Jahren machte die Lr- ^
xählung eines scherzhaften I?egehnisses
clieKunde durch die photographische
liesse. Lin hoffnungsvoller Jüngling
hatte den Lntschluss gefasst, sich mit
der Lichtkunst anzufreunden und er-
stand ?u diesem Zwecke eine Lamera.
Wie erschrak er ahsr, Als die erste ^.uf-
nähme vom Ltapel gehen sollte und
sein enttäuschter LlicK auf die Linsteil-
scheihe des geheimnisvollen Kastens
fiel! Da war ^a
alles verkehrt,
die gan^e Land-
senait stand
buchstäblich aut
elem Kopfl Lo-
fortsandteerden
Apparat dem
ffänoUerZurück,
mit dem Lrsu-
cken,diesen Leh-
ler halcligstadxu-
stellen; er Korne
doch Keine IZil-
der hraucncn,die
auf dem Kopfe
steilen! — Obgleich noch nicht Vielheit
darüber hingegangen ist, sind wir doch
reckt gründlich über derlei optische
Unwissenheit hinweg, l^eut weiss wohl
beinah ^'etes Kind, dass das Kitt auf
der IVlattscheide der Lamera nage-
l<ehrt erscheint, und dass dies natürlich
für die Photographie völlig ohne Belang
ist. Lrot?dem hat das LaienpuhliKum
die Reinheiten des /^.ufnahmewerk^eugs
noch recht wenig schätzen gelernt, Lin
eklatanter Leweis hierfür ist der^dhat/.,
den die pappigen Kästchen, die manschon für ein paar IVIarK bekommt,
finden. Ls gieht immer noch genug
Leute, die nicht einsehen, dass auch
das wenige für solche Ware ausgege-
bene Lreld weggeworfen ist. — Da
muss man sich denn doppelt freuen,
dass unsere grossen optischen Werk-
stätten rastlos um die Verbesserung
des photographischen Küstseugs be-
müht sind und Zugleich durch gedie-
gene I^uolilcationen ?ur allgemeinen
Aufklärung bei-
tragen. Wir sind
heut durch die
LreundlichKeit
d. optischen ^n-
stalt L. ?. Qoer?
in Lerlin-Lrie-
denau z2> in der
Lage, unseren
Lesern ein wirKI.
prächtig gelun-
genes IVIoment-
hild vorzuführen,
das mit einer erst¬
klassiger moder¬
nen Ilandcamera
— dem (-ver? - ^.nscnütx' IVIoment-
Klapp-Apparat — aufgenommen ist.
Diese Lamera ist mit einem vor der
l?Jaede laufenden Lchlitxverschluss aus-
gestattet, der die denkbar vollen-
detste Kegulierung der lVIomentexpo-
sition gestattet, ^.is OHIeKtiv dient
der rühmlichst bekannte (^oerx'Doppel-
^.nastigmat. Lehr ausführliche ^.ufldä-
rung üher diesen vortrefflichen Apparat
finden wir in einer reich illustrierten
IZroscnüre, die die genannte Lirma auf
Wunsch Kostenfrei versendet.
le orientalische Frage, seit zwei Jahrhunderten der Gegenstand
blutiger Kriege lind diplomatischen Spiels, ist durch die jüngsten
Ereignisse auf der Valknnhalbinsel wieder in den Kreis der
^ öffentlichen Erörterung gerückt worden. Der mazedonische Auf-
^^S^OPÄA stand, die Niistungen der Türkei, die Dynamitcmschlnge in
"WM und schließlich die grauenhafte Ermordung des serbischen Kvnigspaars
erinnern Europa wieder recht unsanft daran, daß alle Kunststücke der Diplo-
'"^ vermocht haben, den großen Auflösungsprozeß des türkischen
in, ? ^ Bahnen eiuer friedlichen Entwicklung zu leiten, und daß sogar
um '"^"^ ^^^^ Prozeß äußerlich schou vollendet ist, heftige Erschüttc-
der?!!t ? "'^ bedrohen. Die orientalischen Dinge sind im Laufe
eine but ' ^^nee wohl insoweit geklärt worden, als sich ziemlich deutlich
sich aber ! !^ ""^ '"'^ ^^'ischc Frage unterscheiden lassen; trotzdem ballen
nationale mit wi^ ""^ Bosporus politische und konfessionelle,
baren Knäuel . ' Etliche Interessen immer noch zu einem schier unentwirr-
Knoten herum^' "um dann, wie die Diplomaten an diesem
landlänfine Me,um.' ^" zu können, dann begreift man anch die
und das dV,- A " . ^ ""^ "ut dem Schwerte durchhauen werden könne,
nuper.neidli b sei ? "ü? ^^u, ganz Europa in Flammen setzenden Krieges
Frage sti. ^ ( " ' ""s historische Entwicklung der orientalischen
leichter I "' s- ^'^ ^^"^^ Pessimistisch. Sicher gehn die Gewehre dort unten
überie, Norden und im Westen Europas, aber es darf auch nicht
Nerv ? daß gerade dort, vou wo für ganz Europa erschütternde
bet>'s ^" ^ befürchten wären, bei den an der orientalischen Frage meist
ein s ? Großmächten die Fähigkeit und deshalb auch die Neigung, die orien-
iche Frage mit Pulver und Blei zu lösen, sehr nachgelassen haben.
Das Wesen der orientalischen Frage besteht darin, daß durch den fort¬
schreitenden Verfall des türkischen Reichs im europäischen Staatcnzuscimmen-
^ng Lücken entstehn, die der Allsfüllung bedürfen. Soviel ehedem über die
Lebensfähigkeit der Türkei geschrieben worden ist, heute dürfte kaum mehr
urcu gezweifelt werden, daß der türkische Stamm trotz vieler guten und tüch-
eigen Eigenschaften der Einzelnen nicht mehr imstande ist, einen Staat zu er¬
halten, weil es ihm nicht gelungen ist, in seiner politischen Entwicklung über
die theokratische Ausfassung des Staates hinauszukommen. An einem politisch
und wirtschaftlich weniger wichtigen Punkt hätte sich die Auflösung eines solchen
Staates auch wahrscheinlich schon längst vollzogen, und zwar entweder durch
die erfolgreichen Angriffe einer benachbarten Großmacht oder durch Erhebung
der christlichen Untertanen und dadurch herbeigeführte staatliche Umbildungen;
in der Tat hat auch die Entwicklung an diesen beiden Punkten begonnen,
ohne jedoch in raschem Zuge vorwärts zu schreiten. Der Grund darin ist in
dem Umstände zu suchen, daß sich am Bosporus wichtige Interessen der euro¬
päischen Großmächte kreuzen. Um den Besitz Konstantinopels führen sie einen
jahrhundertelangen erbitterten Kampf, und wie keine der andern den Schlüssel
zweier Weltteile gönnt, so sträuben sie sich auch dagegen, daß aus dem ver¬
fallenden Bau der Türkei ein neues, lebeuskrüftiges Gebilde als Beherrscher
der Dardanellen entstehe. Darin liegt die Erklärung der vielfachen Schwan-
kungen der Orientpolitik der Mächte zwischen konservativen und revolutionären
Grundsätzen, darin liegt die Erklärung der vielen Garantievertrüge, die in den
orientalischen Dingen geschlossen worden sind, und der gleich vielen Ver¬
letzungen, die sie durch die Beteiligten erfahren haben; darin liegt endlich auch
die Erklärung dafür, daß heute gerade unter der Führung der Macht, die am
wirksamsten an der Zertrümmerung des Osmanischen Reichs mitgearbeitet hat
und noch immer Konstantinopel als ihr legitimes Erbe betrachtet, die Aufrecht¬
erhaltung des Status «zu« auf der Balkanhalbinsel als eine Art Glaubens¬
artikel verkündet wird. — „Es gibt ja so viele Zufälle im Leben, und wir
hauchen uur einen" — pflegte der gute Lomeuies de Brienne zu sagen, wenn
seine Freunde sich besorgt über die Finanznot vor der großen Revolution
äußerten. Und so mag sich denn auch die eine oder die andre Großmacht, die
sich durch die andern daran gehindert sieht, die Hand auf türkischen Besitz zu
legen, damit trösten, daß ein Zufall ihr die türkische Erbschaft denn doch einst
in die Hand spielen werde. Damit nun diese Möglichkeit offen bleibe, dürfen
natürlich die Kleinen da unten auf der Balkanhalbinsel nicht zu Kräften
kommen, weil sie sonst vielleicht selbst die Hand nach dem goldnen Byzanz
ausstrecken könnten. Darum die Heiligsprechung des statu« amo ans einem
Boden, wo alles nach Neugestaltung ringt, ein Widerspruch in sich selbst, der
jedoch das Beruhigende an sich hat, daß die Politik der Großmächte wohl
sich selbst zu neutralisieren vermag, mithin ein kriegerisches Eingreifen ihrer¬
seits immer unwahrscheinlicher wird, daß sie aber deshalb nicht imstande ist, das
Hineinwachsen neuer politischer Organisationen in die durch Einschrumpfung
des türkischen Staatskörpers allmählich leer werdende Hülle zu verhindern-
Das spricht schon dafür, daß die weitere Entwicklung der orientalischen Frage
zu europäischen Verwicklungen nicht führen, und daß es gelingen werde, die
unausbleiblichen Erschütterungen, die sie mit sich bringen wird, zu lokalisieren-
Bedenklich bleiben nur die Erscheinungen, die im Westen der Balkanhalbinsel
zutage treten, wo sich parallel mit dem Zersetzungsprozesse der Türkei eine
Gärung auf österreichisch-ungarischen Boden vollzieht, deren Ergebnis noch
gar nicht abzusehen ist. Jede Schwächung Österreich-Ungarns, die sich daraus
ergäbe, würde aber die friedliche Entwicklung der orientalischen Frage ungünstig
beeinflussen, weil dadurch das Gegengewicht gegen die revolutionäre Politik
Rußlands vermindert würde. Wenn heute oft davon gesprochen wird daß
ein Gegensatz zwischen Rußland und Osterreich-Ungarn in der orientalischen
Frage nicht mehr bestehe, so ist das insofern eine TKuschnng, als nur
zur Zeit die gegensätzlichen Bestrebungen der beiden Reiche infolge der an¬
nähernden Gleichheit der Machtmittel einander paralysieren. In dem Augen¬
blicke, wo diese Gleichheit gestört werden würde, würde mich der natürliche
Gegensatz zwischen beiden Reichen wieder erscheinen und im Sinne einer
revolutionären oder konservativen Beeinflussung der orientalischen Frage zum
Ausdrucke kommen, je nachdem Rußland oder Österreich-Ungarn das Über¬
gewicht hätte. Die Beantwortung der Frage, welche Gefahren die Entwicklung
im Orient für Europa birgt, hängt also nicht so sehr von den Ereignissen
auf der Balkanhalbinsel selbst, als vielmehr von der weitem Gestaltung der
Beziehungen Rußlands und Österreich-Ungarns zu der orientalischen Frage
ab, aus die sich uur aus dem bisherigen Verlauf der Dinge Schlüsse ziehn
lassen.
Von einer orientalischen Frage im landläufigen Sinne des Wortes kann
von dem Zeitpunkt an gesprochen werden, wo das Vordringen des Islams
gegen Westen zum endgiltigen Stillstand kam, also vom Jahre 1699 an, wo
Österreich im Karlowitzer Frieden ganz Ungarn und Siebenbürgen dauernd in
Besitz nahm. Ebenso wichtig, wie diese territoriale Veränderung, war aber
die Tatsache, daß sich in diesem Frieden die Pforte zum erstenmal den Be¬
schlüssen europäischer Mächte unterwarf (Österreich, Rußland, Italien, Venedig),
demungeachtet aber Rußland zur Regelung seiner Beziehungen zur Türkei
keinen Vermittler zuließ und in der Tat erst im Jahre 1700 den Krieg mit
der Türkei mit dem Gewinne Asows abschloß. Seit dieser Zeit beginnt die
Ersetzung der Türkei nicht so sehr von innen als von außen, zumeist unter
der Teilnahme der beiden unmittelbaren Nachbarn, Österreichs und Rußlands,
wahrend zugleich der letzte Akt der Tragödie Polens beginnt, die die politische
Entwicklung Europas, "insbesondre aber die der orientalischen Frage in so
außerordentlicher Weise beeinflußt hat. — Es wäre schwer, in der damaligen
Politik Österreichs dem Orient gegenüber einen weitausgreifenden. umfassenden
Plan zu entdecken. Prinz Eugen hatte wohl die große Bedeutung der orien¬
talischen Frage sür Österreich 'erfaßt, aber wenn auch seine Ideen im Wiener
Kabinett gekannt und gewürdigt wurden, so wurden sie doch nicht festgehalten.
Man begnügte sich, eine militärisch günstige Verteidigungslinie zu schaffen,
ging wohl auch, wenn vom Erfolge begünstigt, zuweilen darüber hinaus, ohne
jedoch den Zugang zum Ägäischeii Meer als einen Lebenszweck des Reichs zu
erkennen und zu erzwingen. Allzugroßc Schuld darf man deshalb den Fürsten
>"'d Staatsmännern Österreichs nicht beimessen. Sowohl der universelle Ge¬
danke, der deu Habsburgischen Vorstellungskreis beherrschte, als auch der Um¬
stand, daß der österreichische Staat nicht so sehr das Ergebnis von Eroberungen
als von Vertrügen war. die nach ihrer Nation und nach ihrer Kultur sehr
verschiedne Bestandteile zusammengewürfelt hatten, bewirkten, daß er seine Kraft
an weit auseinanderliegenden Punkten zersplitterte, statt sie in einer bestimmten
Richtung zu sammeln. Anders Rußland. Erst Ende des siebzehnten Jahr¬
hunderts trat es in den Kreis der europäischen Staaten. Ohne alle traditio¬
nellen Beziehungen zum Abendlande hatte es das Glück, zu diesem für seine
ganze Zukunft wichtigen Zeitpunkt einen Mann an seiner Spitze zu finden,
der mit einem klaren Blick und mit einer keinerlei Bedenken lernenden Rück¬
sichtslosigkeit seinem Lande den Weg zu einer allbeherrschender Stellung zeigte.
Mau belächelt heute das apokryphe Testament Peters des Großen, aber man
sollte nicht vergessen, mit welcher eisernen Folgerichtigkeit die russische Diplo¬
matie an dem wirklichen Testament Peters festgehalten hat, sowohl was die
Mittel, als auch was den Zweck anlangt.
Peters äußere Politik strebte drei großen Zielen zu. Die Ostsee und das
Schwarze Meer waren für ihn die beiden Endpunkte der Linie, auf die ge¬
stützt er durch Vernichtung Polens mit den europäischen Staaten in innige
Fühlung zu kommen und sie zu beherrschen suchte. Am klarsten faßte diese
Idee als den gesamten Inhalt der russischen Politik allerdings viel später in
einer aus dem Jahre 1814 stammenden Denkschrift der damalige russische Ge¬
sandte in Paris Pozzo ti Borgo zusammen: „Die Vernichtung Polens als
einer politischen Macht macht den Inhalt fast der ganzen russischen Geschichte
aus; der Plan der Vergrößerung auf Kosten der Türkei war nur rein
territorial, und ich wage zu sagen, sekundär, verglichen mit dem, was an der
Westgrenze vorgegangen ist. Die Eroberung Polens ist hauptsächlich unter¬
nommen worden, die Beziehungen der russischen Nation zu dem übrigen
Europa zu vervielfältigen und ihr ein weites Feld anzuweisen, einen edlern
Schauplatz, auf dem sie ihre Fähigkeiten üben, ihrem Stolz, ihren Leiden¬
schaften, ihren Interessen genügen könne." — Peter dem Großen war es
nicht beschieden, sich am Ziele seiner Wünsche zu sehen — wie reichte auch
ein Lebensalter dazu aus —, er hatte jedoch tüchtig vorgearbeitet. Als er
starb, stand Nußland schon um der Ostsee, und auch der für ihn sonst so un¬
glückliche Türkenkrieg fand in dem 1720 geschlossenen russisch-türkischen Ver¬
trage ein für Rußland sehr befriedigendes Nachspiel. Asow blieb zwar den
Türken, aber der zwölfte Artikel des Vertrags enthielt Bestimmungen, die für
Rußland mehr wert waren. Der Zur versprach dort, sich vom polnischen Ge¬
biete nie etwas anzueignen, noch sich in die Verfassung Polens einzumischen;
da aber Nußland und der Türkei daran gelegen sein müsse, daß der Krone
Polens nicht Souveränität und Erbrecht beigelegt werde, so vereinigen sie sich,
die Rechte, Privilegien und Verfassung dieses Staates aufrecht zu erhalten,
mithin nach ihrem eignen Interesse eventuell mit Waffengewalt zu verhindern,
daß die Krone Polens Souveränität und Erbfolge erhalte, die Rechte und
Verfassungen der Republik verletzt und ihr Gebiet irgendwie geteilt werde. —
Peter der Große, der schon in den Jahren 1712 und 1713 mit Wien erfolglos
über eine Teilung Polens verhandelt hatte, leitete mit diesem Vertrage diese
Teilung ein, indem er den Bestand Polens unter die Garantie Rußlands und
der Türkei stellte, jedoch unter Bedingungen, die die innern Voraussetzungen
für den Fortbestand Polens beseitigten. Peter der Große hatte so Me. Fliegen
mit einem Schlage getroffen; erstens wurden die russischen Absichten auf Polen
gefördert, zweitens aber auch die auf die Türkei. Diese hatte em eut Metres
Interesse an dem Fortbestand Polens, als einer Gewähr gegen russische An¬
griffe auf die Türkei; inde.n Peter aber durch den Vertrag von 1720 die
Türkei wegen der russische» Pläne auf Polen in sein Interesse zog. trug diese
selbst dazu bei. das Hindernis zu beseitige... das Nußland auf dem Wege nach
dem Süden entgegenstand. Der Vertrag von 1720 ist typisch für die russische
Politik. Sie verspricht uicht zu wollen, was sie schon tut oder vorbereitet.
Der zwischen Katharina der Zweiten und Friedrich dem Zweiten 1764 ge¬
schlossene Vertrag ist fast genau so wie der russisch-türkische von 1720. Nach
demselben Zuschnitt und von derselben Unaufrichtigkeit sind aber auch alle
Garantieverträge, die Rußland seitdem der Türkei gegenüber eingegangen ist.
Allerdings fand Peter der Große in Katharina der Zweiten eine würdige
Nachfolgerin.
War unter Peter durch die Zertrümmerung der skandinavischen Macht
Nußland der Zugang zur Ostsee eröffnet worden, so war Katharina mit Er¬
folg bemüht, durch Bestechungen in Stockholm, durch Gewinnung Dänemarks
für russische Zwecke und durch Förderung recht materieller Sonderinteresfen
der hannoverischen Dynastie auf dem englischen Throne alle Versuche zur
Wiedervereinigung der Macht der skandinavischen Staaten zu verhindern und
damit die Machtstellung Rußlands an der Ostsee dauernd zu sichern. Nicht
minder glücklich operierte Katharina im Zentrum der russischen Stellung.
Außer der Pforte und Rußland waren an der polnischen Frage auch die zwei
andern Nachbarn Preußen und Österreich interessiert. Zog Katharina ihre
Pläne auf die Türkei in Rücksicht, dann mußte ihr Österreich als die gefähr¬
lichere Macht erscheinen, zumal da sie auch die stärkere war. Mit richtigem
diplomatischem Scharfblick verband sich Katharina deshalb mit dem ungefahr-
Uchern und schwachem Interessenten. Preußen. Der russisch-Preußische Ver¬
trag von 1764 ist. wie schon erwähnt worden ist. dem russisch-türkischen von
1720 nachgebildet, d. h Rußland und Preußen kommen überein, das Wahlreichw Polen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. In einem Geheim¬
artikel dieses Vertrags verpflichtet sich Preußen aber auch, die Wahl des der
Kaiserin genehmen Poniatowski zum Könige von Polen zu unterstützen, und
w einem weitern geheimen Vertrage von 1767. gegen Österreich zu marschieren,
falls Österreich die in Polen eingerückten russischen Truppe., angreifen sollte. —
Es ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, warum sich Rußland nicht
allein Polen einverleibte.'da es zweifellos in seiner Macht gelegen hätte.
Katharina nahm da einen Überlegnen Standpunkt ein. Eine Annex.on Polens
durch Rußland wäre bei den damaligen Gegensätzen zwischen Preußen und
Osterreich wohl möglich gewesen, aber Katharina hätte damit weniger gewonnen
als durch die Teilung. Wenn auch bezweifelt werden muß, daß em solcher
Handstreich Rußlands Preußen und Österreich dauernd zum Widerstand geneigt
gemacht haben würde, so liegt doch auf der Hand, daß durch die Begünstigung
Preußens in der polnischen Frage dieses in Abhängigkeit vou Rußland kau.,
andrerseits dadurch aber auch Österreich gezwungen wurde, an dem polnischen
Geschäfte teilzunehmen, das, wie man heute weiß, einen sehr zweifelhaften Ge¬
winn abwarf, nach der damaligen Sachlage aber die österreichische Politik in
der verhängnisvollsten Weise lähmte. Durch den Wettbewerb Österreichs und
Preußens in der polnischen Frage wurde der zwischen beiden Staaten schon
vorhcmdne Gegensatz in der deutschen Frage verschärft und beide in einer An¬
gelegenheit festgehalten, deren Fäden Rußland in der Hand hatte, und zwar
gerade zu einer Zeit, wo sich Umwälzungen vorbereiteten, denen allein durch
ein preußisch-deutsches Einvernehmen hätte vorgebeugt werden können.
Nach der zusammenfassenden Darstellung der Ereignisse des Revolntions-
zeitalters durch Heinrich von Sybel ist es klar geworden, daß der Bonapar-
tismus in Frankreich seine Existenz der polnischen Frage verdankt. Militärisch
wären Preußen und Österreich imstande gewesen, die Angriffe der französischen
Revolution zurückzuweisen, wenn nicht die Politik Rußlands die Widerstands¬
fähigkeit der beide» Staaten gebrochen hatte. In Wien, noch weniger aber
in Berlin vermochte die von Frankreich her drohende Gefahr die Kabinette
nicht von der polnischen Beute abzulenken, diesem Danaergeschenk Rußlands,
das zunächst Preußen mit dem Frieden von Tilsit und Österreich mit dem von
Wien, beide aber trotz des Sturzes Napoleons mit einer länger als ein halbes
Jahrhundert dauernden Unterordnung unter Rußlands Führung bezahlten, die
bei aller Unzulänglichkeit des Nusseutums im Militärischen und in der Kultur
ihm den entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der orientalischen Frage
sicherte.
Schon kurz nach dem Tode Peters des Großen, wo dessen Entwürfe in
voller Entwicklung begriffen waren, kam die aktive Orientpolitik Österreichs
zum Stehen. Nach dem Frieden von Pasfnrowitz (1717), wo Österreich ein
Stück der Walachei zugesprochen wurde, war Prinz Eugen gestorben, und der
Friede von Belgrad (1739) zog die Linie, über die Österreich bis auf die
jüngste Zeit nicht mehr dauernd hinausgegangen ist. Zum erstenmal war schon
kurz vor dem Frieden von Belgrad auf dem Kongresse von Namicrow (1736)
der Wettbewerb Österreichs und Rußlands in der orientalischen Frage deutlich
zum Ausdruck gekommen. Österreich forderte damals die Erweiterung seiner
Grenzen in der Moldau und der Walachei bis an die Dumbowitza, in Serbien
bis an den Lond, einschließlich Widdin und Biban, und Novi in Bosnien,
während Rußland die Abtretung der Krim und des Kuban, die Unabhängig¬
keit der Moldau und der Walachei unter russischem Schutze, sowie die freie
russische Schiffahrt im Schwarzen Meere und in den Dardanellen begehrt
hatte. Da Österreich im Feldzuge unglücklich war, Nußland aber damals den
Boden der orientalischen Frage mit fremden Kühen zu pflügen liebte, wurde
aus diesen hochfliegenden Plänen nichts. Immerhin verblieb Asow den Russen,
und bald kam durch Katharina auch das polnische Teilungsgeschäft in Fluß,
Die Großmächte wurden ohne Ausnahme in den Bannkreis der konsequenten,
ihrer Zwecke durchaus bewußten russischen Politik gezogen. Die nordische
Großmacht Skandinavien war vernichtet, Österreich und Preußen waren tödlich
miteinander verfeindet, durch die Teilnahme nu der Teilung Polens jedoch in
den Dienst der russischen Interessen gestellt. England aber dnrch Begünstigung
der herrschenden Dynastie ins Schlepptau genommen, Wohl machte der da¬
malige englische Gesandte in Konstantinopel. Murray. aus die Gefahr einer
Teilung Polens aufmerksam und suchte die Pforte zum Kriege gegen Nußland
^ bestimmen, aber Rußland beruhigte das englische Gelassen durch die Er¬
klärung, daß es sich nur um die Wahrnehmung der Sache der polnischen
Protestanten handle, gegenüber den drangsalierenden Gesetzen, die — das ver¬
gaß man — allerdings zu einer Zeit erlassen worden waren, wo russische
Truppen in Polen den Sinn der Warschauer Gesetzgeber gelenkt hatten.
Murrah aber bekam von Georg dem Dritten eine höchstpersönliche Verwarnung,
die nach der Erklärung, daß die polnische Sache nicht wichtig genug sei, als
daß widersprochen werden müßte, mit folgender geradezu klassischen Sentenz
schloß: „Wenn der Krieg glücklich vou selten Rußlands gegen die Pforte ge¬
führt werde, so müsse dieselbe mehr und mehr die Fähigkeit einbüßen, zu
Gunsten der polnischen Unabhängigkeit aufzutreten, wenn aber unglücklich, so
müsse er um ein Bedeutendes ein Reich schwächen, mit dem Englaud früher
oder später sich in enger Verbindung finden werde." — Man ließ also Polen
vernichten, um der Pforte die Fähigkeit zu erhalten, zu Gunsten der Unab¬
hängigkeit Polens aufzutreten! — Es ist nicht schwer, denselben Gedanken-
gmig auch in der spätern orientalischen Politik der Mächte zu entdecken.
Eine Ahnung der Gefahren, die in dein Anschwellen der Macht Rußlands
lagen, tauchte allerdings schou damals in den Köpfe» deutscher Staatsmänner
auf. Krünitz erklärte! „Die Verbindung Preußens und Österreichs sei der
einzige Damm, den mau diesem über die Ufer getretner reißenden Strom ent¬
gegenstellen könne, der ganz Europa zu überfluten drohe." und in Friedrichs
..Denkwürdigkeiten" findet sich die Stelle: „Preußen hatte zu fürchten. daß
sem (russischer) Verbündeter, wenn er zu mächtig werde, mit der Zeit ihm,
wie den ^ Aussicht war ebenso ge¬
fährlich wie schreckenvoll": zu einem Entschlüsse ver.uochten sich aber weder
Preußen uoch Österreich aufzuraffen. Preußen lag in deu Bauden des 1764
Mit Rußland geschlossenen Vertrags, und Österreich schloß mit der Pforte erst
einen ^nbsidienvertrag. nachdem 1768 schou ein neuer russisch-türkischer Kriegausgebrochen war; aber das polnische Geschüft hinderte beide Reiche, den
einzigen Weg zu gehn, auf dem Rußland mit Erfolg entgegengetreten werden
konnte, den Weg einer gemeinsamen deutscheu Politik. Es mag. wie schou be¬
merkt worden ist, sehr fraglich sein, ob bei dem damaligen Stande der deutschen
Dinge, wo der Kampf zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in
Deutschland schon im Gange war. ein festes Bündnis zwischen beiden Staaten,
wie es zur Abwehr der russischen Eroberuugsgelüste notwendig war. möglich
gewesen wäre, aber es laßt sich doch nicht verkennen, daß sich der preußisch-
österreichische Gegensatz in der deutschen Frage durch die polnische wesentlich
verschärft hatte, was in Bezug auf Rußlnud umso wichtiger war, als diesem
dadurch die Möglichkeit geboten wurde, Preußen und Österreich auseinander-
zuhalten. Österreich mußte uach der Lage der Dinge Preußen den Gebiets¬
zuwachs ans der Teilung Polens mißgönnen, die schon in den preußisch-
russischen Verträgen von 1762 bis 1767 vorbereitet worden war. Zwnr
zögerte man in Wien, bei der Teilung mitzuwirken, aber nicht, weil man die
Bedeutung der polnische» Frage für die Machtverhültnisse im Orient klar er¬
kannte — denn auch für die türkisch-österreichischen Verhandlungen im Jahre 1770
war die Teilung Polens die Grundlage —, sondern wahrscheinlich, weil man
der Führung Rußlands in dieser Sache mißtraute. Kaunitz hatte allerdings
die ganz richtige Empfindung, daß bei einer Teilung Polens Rußland soweit
nach dem Südwesten vorrücke, daß eine russische Besetzung der Moldau und
der Walachei befürchtet werdeu müsse. Wenn das durch den russisch-türkischen
Krieg, der schon im Gange war, verhindert werden konnte, dann war er zur
Teilung Polens bereit, die durch die russisch-preußischen Vereinbarungen aller¬
dings schon unabwendbar geworden war. Unter Vermittlung Friedrichs wurde
von Rußland im Dezember 1771 auf das Begehren der „Unabhängigkeit" der
Moldau und der Walachei verzichtet, wogegen Österreich sich von dem Ver¬
trage mit der Pforte lossagte; die Ergebnisse waren die erste Teilung Polens
(1772), und der russisch-türkische Friede von Kütschük-Kainardschi (1774), den
die Pforte zu schließe,: gezwungen war, nachdem sie 1768 von Frankreich,
dessen damaliger Gesandter in Konstantinopel, Vergennes, die Situation er¬
kannt hatte, zum Kriege gegen Rußland bestimmt, dann aber nach der Ab¬
berufung Vergennes im Stich gelassen worden war.
Der Friede von Kütschük-Kainardschi (1774) ist in doppelter Hinsicht
wichtig. In der von Österreich dabei beobachteten Haltung zeigt sich zum
erstenmal mit aller Deutlichkeit, daß die Orientpolitik Österreichs eine defensive
geworden war, während Nußland seine Offensive verstärkte. Nußland dürfe
nicht die Moldau und nicht die Walachei besetzen, damit es nicht Österreichs
Nachbar werden und nicht die Donau überschreiten könne. Das war Kannitzens
Meinung, und sie wurde für die spätere Orieutpolitik Österreichs maßgebend.
Daß ein großer Staat im Besitze der Donauniederuugen auch Konstantinopel
beherrschen würde, das konnte auch Kaunitz kein Geheimnis sein, mau weiß
ja von Plänen des Kanzlers und Josias Coburgs zur Erwerbung der
Moldau; aber die unter Kaunitz erfolgte Besetzung der Bukowina blieb der
letzte Schritt in dieser Richtung. So sehr später Erzherzog Karl und Radetzky
dazu rieten, sich der Douaumüuduugeu zu versichern, so ließ die Wiener
Politik sich doch in diesem wichtigsten Pnnkte abdrängen und verzichtete damit
auf jede Offensive. Für Nußland war dagegen der Friede von Kütschük-
Kainardschi die Vorstufe zu einem weit ausgreifenden Angriff ans die Türkei.
Der Gewinn des Friedens war für Rußland allein bedeutend genug. Die
Türkei und Rußland schlössen einen Auslieferungsvertrag (dessen Rußland
wegen der polnischen Flüchtlinge bedürfte) und garantierten sich freie Schiff-
fahrt, für die Russen insbesondre auf der Donau. Die Tataren der Krim
wurden mit Ausnahme Kertschs und Jenikales, die an Nußland fielen, „frei,"
während die Donanfürstentümer insofern eine neue Ausnahmestellung erhielten,
als „je nach den Umstünden" der beiden Fürstentümer Rußland ein Recht
eingeräumt wurde, sich bei der Pforte zu ihren Gunsten zu verwenden, und
diese verpflichtet war, diese Vorstellungen in Betracht zu ziehn. — Begründete
dieser Artikel schon ein folgenschweres Einspruchsrecht Rußlands in den Donan-
fürstentüinern, das für Österreich mehr als bedenklich war, so erlangten die
Artikel 7, 8 und 14 eine noch größere Bedeutung. Die Pforte garantierte
darin deu russischen Pilgern den freien Besuch Jerusalems und andrer heiligen
Orte, ferner der christlichen Religion und ihren Kirchen Schutz; endlich aber
erlaubte sie, daß Rußland wie die andern Mächte außer der Hauskirche der
Gesandtschaft in Konstantinopel auch in Galata eine öffentliche Kirche baue,
und räumte für diese Kirche und ihre Bediensteten Rußland ein Einspruchs¬
recht ein. Aus diesem ebenso klaren wie beschränkten Einspruchsrechte Ru߬
lands hat später die russische Diplomatie dank der Unfähigkeit englischer
Staatsmänner ein Einspruchs- und Schutzrecht Rußlands über die ganze
Orthodoxie im Orient ausgebildet, das zu dem formellen Hauptanlassc des
Krimkrieges wurde. Schluß folgt)
le Mißgriffe, die die Politik der Habsburgischen Monarchie nach
deu militärischen Niederlagen von 1859 und 1866 beging, rächen
sich erst in der Gegenwart. Die Landverluste in Oberitalien
HUAsind durch die „Okkupation" von Bosnien und der Herzegowina
_,ausgeglichen worden, und das Ausscheiden aus d^em Deutschen
Bunde hat den: Ansehen und der Großmachtftelluug des Reichs keinen
merkbaren Schaden zugefügt. Nachteile entwickelten sich erst aus der l»^geschaffnen dualistischen Neugestaltung der Monarchie. die schou die politischeBetätigung uach außen hiu nicht mehr in der frühern Weife erlaub DerDualismus verdankt seinen Ursprung dem Bestreben, an Preußen für 18( 6Rache zu nehmen; um die Ungarn dafür zu begeistern, gab man ihnen ,o
Mauch alles, was sie von ihren ..avitischen" Rechten begehrten. So bot die
Lösung der deutsche» nationalen Frage deu Magyaren Gelegenheit, die Baude.
sie als Fessel empfanden, zu zerreißen und sich dem deutscheu Teile der
Monarchie gegenüber in i rem Sinne freiheitlich zu stellen. Seitdem haben
W die errungne nationale Freiheit nicht uur zu befestigen. sondern auch .erweitern gesucht, wobei sie sich anch uicht scheuten, gegen andre Ge^^Wen. um selbst zu herrschen. Was sie sich dabei an nationalen M^e ^erlaubt haben ist bekannt, soll aber in der heutigen Betmchtnng in ' in
Spiel gelassen werden. Den politisch befähigten Köpfen unter den Magyar n.
namentlich Deal nud Andrassy. galt der Ausgleich von 1867 wirt es al
eine dauernde Einrichtung, deren Bestimmungen von den Ungarn wohl unter
allen Umftüuden behauptet aber auch beachtet und gehalten werden un.ßwi.
Sie empfanden sehr wohl, was ihnen ein günstiges Politi ches Geschick chou
nach achtzehn Jahren, seit ihr Aufstand mit russischer Hilfe niedergeschlagen
worden war, jetzt in den Schoß warf, und sie wollten ihrem Volk eine un¬
angreifbare Stellung in der Monarchie sichern. Dagegen ließ es sie sehr kalt,
warum das Hans Habsburg so eilig und gründlich Frieden mit ihnen gemacht
hatte; es ist ihnen nie in den Sinn gekommen, ernstlich an der Revanche für
1866 teilnehmen zu wollen. Als die Kriegspartei in Wien noch eifrig an
Rüstungen dachte und das Bündnis zwischen Frankreich, Österreich und Italien
nur an der Unentschiedenheit Napoleons des Dritten scheiterte, erklärte der
ungarische Ministerpräsident Graf Andrassy schon am 28. Juli 1870 — also
noch vor den deutschen Siegen —, die Regierung hege nicht die Absicht, die
Zeitumstünde zu benutzen und zu dem Stande der Dinge vor 1866 zurückzu¬
kehren, weil das der Monarchie keinen Nutzen, sondern nur Schaden bringen
würde. Es ist auch gewiß ein charakteristisches Zeichen, daß der Bündnis¬
vertrag vom Jahre 1879 zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, der alle
Zwiespältigkeiten zwischen beiden Reichen endgiltig beseitigte, neben dem Namen
Bismarcks auch den Audrassys trägt, der inzwischen österreichisch-ungarischer
leitender Minister geworden war.
Die Traditionen Andrassys und Death, den die Magyaren in dankbarer
Erinnerung den „Weisen der Nation" zu nennen pflegen, sind nicht lange
von den Nachfolgern dieser beiden staatsmännisch hochbegabten Führer ein¬
gehalten worden, auch was noch heute von den gemäßigter» Magyaren dem
Drängen der Unabhängigen gegenüber als Standpunkt Death bezeichnet wird,
geht weit über die damaligen Ansichten ihres „Weisen" hinaus. Wenn er
kurz vor seinem Tode erklärte, seine Aufgabe sei erfüllt, seit die Führer der
Linken, Ghyczy und Tisza, ihre staatsrechtliche Opposition gegen den Aus¬
gleich aufgegeben hätten, so war das eine Selbsttäuschung, die man allerdings
aus den ihn umgebenden Strömungen erklären kann. Aber die rein erhaltende
Politik Death war mit demselben Tage aufgegeben worden, wo die Trümmer
seiner einst ausschlaggebenden Partei von der Linken Tiszas aufgenommen
wurden. Tisza wollte die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit Ungarns
nach jeder Richtung hin zur Geltung bringen, und er tat das auch schon unter
den Ministerien der Deakpartci. Die Zugeständnisse, die die Magyaren in der
Titel- und der Armeefrage schou damals errungen haben, sind keineswegs in
den Ausgleichsgesetzen begründet. Als er Ende 1875 Ministerpräsident wurde,
waren in Österreich die Parlamcntskrise und der Verfall des deutschen
Ministeriums Auersperg schon so weit vorgeschritten, daß von dieser Seite
kein Einfluß mehr geübt wurde. Als der russisch-türkische Krieg kam, hielten
Tisza und Graf Andrassy die Türkenfreunde in Pest zurück und traten für
die Okkupation Bosniens ein, während der Wiener Reichsrat in Opposition
dagegen verharrte. Und als die Deutschliberalen in demokratischer Verblendung
die Frage der Verminderung der Armee aufwarfen, trat Tisza für die An-
drassysche Politik des Berliner Vertrags ein und wußte die Folgen davon
auch auf militärischem Gebiet mit aller Entschlossenheit zu ziehn, obgleich ihn
die böhmische Okkupation in seinem Bemühen, das ungarische Defizit zu be¬
seitigen, sehr hinderte. Aber Tisza war sich klar darüber, was er tat, und
seine Entschiedenheit, durch die er sich die dauernde Gunst der Krone sicherte,
hat ihn in seinen Bestrebungen, Ungarn schrittweise immer selbständiger zu
machen, mehr gefördert, als schließlich für die Gesamtmonarchie gut war.
Die Ungarn haben seit 1867 eine große Reihe politischer Zugestündmssc
an die magyarische Unabhängigkeitspartei errungen, sodaß die politische Gleich¬
heit der beiden Reichshälften, wie sie beim Abschluß des Dualismus verbürgt
wurde, einer vollständigen Ungleichheit Platz gemacht hat, daß mit Hilfe des
Dualismus die Magyaren ihre Vorherrschaft in Ungarn zu einer wahren
Vormacht in der Monarchie umgestaltet haben, was um so leichter ging, als
bei der parlamentarischen Zerrüttung in Österreich von dort ans niemals
Widerstand geleistet wurde, und weil die Krone den äußerlich jederzeit vou
Loyalität triefenden Ungarn immer zu willen war, so weit es eben gehn
konnte. Die Methode, nach der die Magyaren dabei verfuhren, blieb immer
gleich. Durch Schaffung von Prüzedenzfnllcn und einseitige Auslegung der
Äusgleichsgesetze, wobei die Ungarn immer alle einer Ansicht waren, haben
zunächst Tisza und seine politischen Freunde zu der Zeit der noch im Sinne
Death regierenden Ministerien, später nnter ihm die weiter links stehenden
Parteien nach und nach die Ausgleichsbestimmungen im Sinne ihrer Unab¬
hängigkeitsbestrebungen umgewandelt, allemal unter dem nur sanften Wider¬
stände oder sogar der stillen Förderung der ungarischen Regierung. Eine
eigentlich altkonservative Richtung. die dein Einheitsstaat anhing, gab es in
Ungarn so gut wie gar uicht. Männer wie Sennyey, Graf Apponyr (der
ältere) usw. waren dünn gesät, und ihre Ansicht war im Abgeordnetenhause
kaum vertreten. So sahen sich im ungarischen Reichstage alle Regierungen,
anfangs sogar die rein deakistischcn, ohne konservative Unterstützung der Oppo¬
sition der Unabhäugigkeitspartei gegenüber, mit der sie. um die Herrschaft der
liberalen Partei zu behaupten, zeitweilig im magyarischen Chauvinismus wett-
nfern mußten. Sich zu einer konservativen Partei auf dem Standpunkt Death
umzubilden, fehlte ihnen die Neigung. Tatsächlich ist der Anstoß zu den sich
häufenden „staatsrechtlichen Errungenschaften" nach dem Ausgleiche von 1867
unmer von der Opposition ansacgangen. aber diese Anregungen wurden dann
von der liberalen Partei wenn auch in einer die Krone weniger verletzenden
""d die Monarchie weniger schädigenden Gestalt, bereitwillig übernommen,
und die Regierung, die zwar nicht nach dem Wortlaut der Verfassung aber
hergebrachtermaßen eine parlamentarische war. tat niemals ernsthaften Ein¬
spruch, sondern gab der Mehrheit des Hauses nach. Die Krone stimmte in
den meisten Fällen nach einigem Zögern zu, da ihr bei dem parlamentarischen
und nationalen Wirrwarr in Österreich das festgeschlossene Ungarn immer als
^. ^^Stütze erscheinen mußte, während in Österreich die Deutschliberalen und
^ später aus ihnen durch Spaltung hervorgegangnen Gruppen bis auf unsre
^age dem Wahn huldigen, daß die Ungarn ihnen wieder zur verfassungs¬
mäßigen Herrschaft verhelfen würden, und schon aus diesem Grnnde einer
'Nachterweiterung der Magyaren eher beifällig zusahen, als daß sie oppv-
sttionell dagegen auftraten. Die politisch praktischen Magyaren halten von
solchen politischen Theorien blutwenig. Allerdings fußte der Deaksche Aus¬
glich auf dem Grundgedanken: hüben die deutsche, drüben die magyarische
Hegemonie; aber das war bloß in dem Sinne gedacht, daß die Deutschen
wohl in Österreich herrschen, aber vertragsmäßig verhindert werden sollten,
einheitsstaatliche Bestrebungen jemals wieder auf Ungarn auszudehnen. Daß
die Deutschen nicht einmal versteh« würden, ihre Vorherrschaft in Österreich
auf die Dauer zu behaupten, daran hatte der „Weise" des ungarischen Volkes
gar nicht gedacht.
So hatte bei der Schwäche Österreichs und der Nachgiebigkeit der Krone die
ungarische Politik unter Tisza und seinen Nachfolgern Erfolg auf Erfolg erzielt,
aber man konnte voraussehen, daß schließlich einmal ein Punkt erreicht werden
müsse, wo die magyarische Politik der Machterweiterung in Etappen mit den Er¬
fordernissen der Gcsamtmonarchie und den Rechten der Krone nicht mehr in
Einklang zu bringen sei. Auf diesem kritischen Punkt ist man nun auf zwei
an sich ziemlich fernliegenden Gebieten angelangt: in der Erneuerung des wirt¬
schaftlichen Ausgleichs und in der Frage der gemeinsamen Armee.
Es ist schon im vorigen Jahre (Ur. 43 und 44, S. 175 und 235) darauf
hingewiesen worden, daß die zehnjährige Erneuerungsklansel des wirtschaft¬
lichen Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn der hauptsächlichste Aus¬
gangspunkt für die sich fortwährend steigernden innern Schwierigkeiten der
habsburgischen Monarchie ist. Jedenfalls boten die Ausgleichsstreitigkeiten
aller zehn Jahre den Magyaren auch die erwünschte Gelegenheit, ihr Gefühl
der Überlegenheit an den Vorteilen, die sie durch ihr geschlossenes taktisches
Vorgehn erlangten, bis zum Übermut zu steigern. Tisza hatte 1877 und
1887 zwei für Ungarn günstige Ausgleiche durchgesetzt, aber es blieb den
leitenden Kreisen der Monarchie nicht verschlossen, daß damit für die Magyaren
des Guten mehr als genug getan sei, und daß der Ausgleich im Jahre 1897
nicht ohne große Schwierigkeiten zustande zu bringen sein werde. Das war
umsomehr der Fall, als die Nachfolger des Ministeriums Tisza, Szapary
und Weckerle, nach dein Muster aller liberalen Parteien (wie es auch heute
in Frankreich der Fall ist), wenn das Feld der materiellen Interessen abge¬
grast ist, den Kulturkampf eingeleitet hatten, und infolgedessen nun auch in
Ungarn eine tiefe Parteizerklüftung eingetreten war, was wieder ein heftiges
Aufleben der chauvinistischen Strömungen nach sich zog. Dem gedachte man
durch energische Ministerien in beiden Reichshälften zu begegnen. Für Ungarn
wurde Baron Banffy ausersehen, eine Persönlichkeit, die entschlossen war, die
Rechte der Krone gegen die Forderungen des magyarischen Chauvinismus auf¬
recht zu erhalten, die geeignet sind, am letzten Ende die Machtstellung des
Reiches und der Dynastie zu gefährden. Daß er aber im übrigen einem diesen
Nahmen nicht überschreitenden Übergewicht Ungarns keineswegs abgeneigt war,
bewies er durch das Aufwerfen und die erfolgreiche Durchkämpfuug der
Kalnokykrise, in der er es durchsetzte, daß das Ministerium des Äußern in
Zukunft nnr noch mit Zustimmung des ungarischen Kabinetts entscheidende
Schritte unternehmen darf. Sonst war er aber in allen politischen Dingen
ein ehrlicherer Vertrauensmann der Krone als alle seine liberalen Vorgänger.
Er faßte die ihm zugewiesene Aufgabe mit rücksichtsloser Entschiedenheit an,
schwächte bei den Wahlen, allerdings durch Gewaltmittel, wie sie sonst nnr
noch in Galizien. Serbien und Bulgarien möglich sind, die Opposition furcht¬
bar, zertrümmerte sogar die alte liberale Regierungspartei und umgab sich und
einer Reihe politisch bisher kaum genannter Männer, die ihm treu ergeben
und bereit waren, jeden Ausgleich und Österreich abzuschließen, den er gut heißen
würde. Das wäre gar uicht einmal nötig gewesen, denn der österreichische
Unterhändler. Finanzminister von Bninski. machte es den Ungarn sehr leicht
Um seine Forderungen für die Österreichisch-Ungarische Bank durchzusetzen, gab
er alle übrigen Vorteile Österreichs preis. Er ist seitdem Bankgouverneur
geworden, ob xost live oder xroxter nov, wissen wir nicht.
Was Bansfy. dem „Pascha von Bistritz," in Ungarn verhältnismüßig
leicht gelungen war, mißriet in Österreich dem Minister „mit der eisernen
Hand." Badeni, den man ausdrücklich aus Galizien dazu berufen hatte, den
Ausgleich durchzusehen, vollständig. Das politische Chaos, das er hinterließ,
ist bekannt; in Österreich ist der Ausgleich durch den Paragraphen 14 oktroyiert,
in Ungarn auf gesetzmäßigem Wege angenommen worden. Die vom Minister-
Präsidenten Dr. von Körber mit Erfolg betriebuen Abmachungen mit Ungarn
über wirtschaftliche Nebenfragen harren noch der parlamentarischen Erledigung
i" beiden bis jetzt obstruierenden Parlamenten. Ob sich überhaupt noch ein¬
mal Verhandlungen über einen vierten Ausgleich ermöglichen lassen werde.,,
ist nach der bisherigen Entwicklung der innerpolitischen Verhältnisse in beiden
Reichshälften mehr als fraglich. Da aber die Ausgleichsverhandlungcu. ohne
Bcmffys Schuld, nicht den gewünschten glatten Verlauf genommen hatten, er¬
schien seine rauhe Kampfnatur auch den maßgebenden Kreisen nicht mehr am
Platze. Freilich wäre wohl für die dritte Erneuerung des Ausgleichs kaum
auf andre Weise eine Mehrheit zusammenzubringen gewesen, doch Bansfy war
zu gewalttätig und rechtswidrig dabei verfahren, er hielt anch die nicht-
'nagynrischen Völkerschaften in Ungarn mit harter Faust danieder, und diese
hatten bei der Strömung, die nnter Badeni und Thun am Wiener .Hofe
natürlich ^worden war, einflußreiche Fürsprecher. Eigentlich wurde ihm aberder Boden daheim abgegraben. Unter Tisza und Weckerle hatte man sich so
'ehr « die magyarische Begehrlichkeit hineingelebt, daß die Auffassung Bcmffys,um dem Ausgleich von 1867 sei unbedingt festzuhalten, und das Recht der
K'?" sei z.i achten, bei Liberalen wie Unabhängigen auf Opposition Keß."ut namentlich die sogenannte Grafenpartei, die einer parlamentarischen
^idelsrepublik zustrebt, und für die die Krone nur eine dekorative Bedeu¬
tung, etwa wie in England, haben soll, feindete ihn sehr an. Obgleich er
das berüchtigte Ortsnamengesetz einbrachte, das einer großen Anzahl von
Städten ungarische, in der ganzen Welt sonst unbekannte Namen gab. zettelte
»Mi ihm eine Obstruktion im Reichstage an. der Bansfy natürlich hartnäckig
Widerstand leistete. Die Obstruktion, die an Wildheit nichts zu wünschen
"brig ließ, richtete sich anscheinend gegen die Person Banffys in Wirklichkeit
aber gegen den konservativen Standpunkt, den er dem Ausgleich von 1867
gegenüber einnahm, ein Teil der Liberalen, die Nationalpartei und die
Kossuthianer beteiligten sich dabei. Als anch der Präsident des Abgeordneten¬
hauses. Szilagyi. aus der liberale« Partei ausgetreten war. tauchte plötzlich
Koloman von Szell als „ehrlicher Makler" auf. Er erhielt durch Bcmffys
Vermittlung eine Audienz beim Monarchen und kehrte als der künftige Minister¬
präsident zurück.
Herr von Szell ist kein Freund geräuschvoller Kämpfe und brutaler
Gewalt. Unter den gegebnen Verhältnissen mußte deshalb schon sein Amts¬
antritt das Ende der liberalen Partei bedeuten, der Tisza deu Stempel seines
Geistes aufgedrückt, und die beinahe ein Vierteljahrhundert lang Ungarn de¬
spotisch beherrscht hatte. Szells erste Tat war die Vereinigung der unter der
Führung des Grafen Albert Apponyi stehenden Nationalpartei mit der bis¬
herigen Regierungspartei, die dadurch äußerlich wohl zu eiuer ungeheuern
Mehrheit anschwoll, innerlich aber uicht mehr einen dauernden Zusammenhalt
verbürgte. Die neue Partei enthielt zunächst die geringe Anzahl persönlicher
Anhänger Szells, dann die ehemalige Tisza-Banfsygruppe und die seitherige
Nationalpartei, außerdem in der Mehrzahl schwankende Elemente, die sich der
jeweilig in der Partei herrschenden Meinung anzuschließen pflegen. Die An¬
hänger Tiszas und die Nationalpartei sind streng genommen grundsätzliche
Gegner, die nur durch die gemeinsame Opposition gegen die Kossuthianer und
die katholische Volkspartei zusammengehalten werden konnten. Die Tiszagruppe
schien für Szell am meisten bedenklich zu sein, und er schwächte sie darum auch
bei den Wahlen des Jahres 1900, sogar der alte Tisza siel in seinem lang¬
jährigen Wahlkreis Großwardein durch; er ist inzwischen gestorben. Auch Graf
Apponyi schien dem neuen Ministerpräsidenten unbequem zu sein, denn obgleich
dieser wußte, daß die Tiszagruppe alles aufbieten würde, dem bisherigen
Führer der Nationalpartei seinen alten Wahlsitz in Jaszberenhi zu entreißen,
ernannte er trotzdem dort als Wahlkommissar einen wütenden Anhänger der
Tiszapartei, der an Wahlbeeinslussungen das unglaublichste leistete, sodaß
Appouhi nur mit Mühe gewählt wurde. Auch sonst waren die von Szell
angekündigten „reinen" Wahlen nicht ganz zweifelsohne; die Wahlkvrruption
trat ebenso wie früher zutage, und in Pinczahely wurden von dem cmfgebotnen
Militär acht Menschen erschossen. Der „moralische" Erfolg der „reinen"
Wahlen war, daß die große Regierungspartei insgesamt etwa dreißig Mandate
einbüßte, von denen die Mehrzahl den Kossuthianern zufiel, es waren auch
— seit Tiszas Zeiten zum erstenmal wieder — fünf „nationale" (nicht
magyarische) Kandidaten gewählt worden, was den Regierungsblättern einige
Sorge bereitete. Größer war freilich die Gefahr des geringen innern Zusammen¬
halts der Regierungspartei selbst.
Szell war kein Mann von festen Grundsätzen und wurde als Politiker
nie sehr ernst genommen. Auch der alte Deal, der ihm seine Pflegetochter
zur Frau gegeben hatte, schätzte wohl den tüchtigen Viehzüchter von Ratot,
aber von seiner staatsmännischen Befähigung hatte er nnr eine geringe
Meinung. Ehrgeiz und Eitelkeit waren es vorwiegend, die Szell ins politische
Leben zogen. Schon 1865 ließ er sich ins Abgeordnetenhaus wühlen; seine
Stellung als Finanzminister im Kabinet Wenkheim, dem er 1875 neben Tisza
angehörte, war nur von kurzer Dauer, mehr sagte ihm das für glänzende
Repräsentation geeignete Amt des Abgeordnetenhauspräsidenten zu, das er später
längere ^eit bekleidete. Man kann hente noch nicht deutlich erkennen, ob
Szell bei'der Übernahme des Ministerpräsidinms wirklich von der Überzeugung
getragen war. daß in Ungarn die Gewaltherrschaft der Magyaren un Sinne
Tiszas und Banffys nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, oder ob er
mit seiner Absicht einer allgemeinen Vermittlung und Versöhnung, und der
er in Wien einen bedeutenden Eindruck gemacht zu haben schien, einem wert¬
sichtig angelegten Plane der bisherigen Nationalpartei, die wegen ihrer
agrarischen Bestrebungen mit der katholischen Volkspartei und den slawischen
Strömungen, wegen ihrer Selbständigkcitspläne mit den Kofsuthianern durs
sichtbare Fäden verknüpft war, zum Opfer gefallen ist. .
<«Es wäre Unrecht, wenn man nicht anerkennen wollte, daß er viel treff¬
liches geleistet hat. Er hatte znnüchst den parlamentarischen Frieden her¬
gestellt und verschiedne Mißbräuche im öffentlichen Leben, die sich unter der
magyarischen Gewaltherrschaft Tiszas und seiner Nachfolger^ in Ungarn zu
ständigen Einrichtungen entwickelt hatten, auf gesetzlichem Wege abgeschafft.
So hat er das sogenannte Jnkompatibilitätsgefetz zu stände gebracht, das
dem schmählichen geschäftlichen Beutemachen der Politiker en, Ende machte
und bei den ketten Wahlen allein 84 frühere Mandatsinhaber veranlaßt
hatte, auf ihre Wiederwahl zu verzichten, weil sie eine Stellung als Reichs¬
tagsabgeordnete nicht mehr mit ihren Verwaltungsratsposten und andern
bürgerlichen Berufen als vereinbar betrachten durften. Er hat ferner das
Gesetz über die Kurialgerichtsbarkeit geschaffen, wonach die Entscheidung in
Wahlstreitigkeiten nicht mehr der Parlamentsmehrheit sondern einem besondern
Gerichtshofe zusteht, und dadurch sind die offiziellen Kandidaturen sowie die
Ausbeutung der Macht zu Parteizwecken — im Prinzip — beseitigt und der
Weg gebahnt, auf dem einmal die ungarischen Wahlen wirklich gesetzmäßigwerden könnten.
Freilich haben die letzten Wahlen dargetan, wie wenig so tief einge¬
wurzelte Zustünde durch ein solches Gesetz beseitigt werden können, und daßdieses in der Hauptsache vorläufig nur auf dem Papier steht. Aber bei aller
Anerkennung diefer Tntsachen muß man doch zugeben, daß Herr von Szell
für eme so weitausschauende Vcrsöhnungspolitik, 'falls eine solche überhaupt
möglich ist, nicht die nötige staatsmännische Begabung hatte. Berauscht vou
den ersten Erfolgen seiner Versöhnungstntigkeit wollte er alle Ungarn um
sich vereinen, aber er, der der Führer sein wollte, wurde bald der Geführte,
in einzelnen Fällen sogar der Angeführte. Jedenfalls verstand er es nicht,
zu verhindern, daß die Stimmung in der großen Regierungspartei bald aus¬
schließlich von der ehemaligen Nationnlpnrtci beherrscht wurde. Vielleicht um
dem entgegenzuwirken, wahrscheinlicher aber wegen der Stimmung bei Hofe,
wo die Nationalpartei sehr wenig Sympathien hat, vermied es Szell so lange
wie möglich, den Führern dieser Partei die ihnen nach den Parteigebrüuchen
zustehenden und heiß begehrten Ministersitze zu iiberlaffen. Mehrfach wurde
das Gerücht ausgestreut, Horcmszky werde Minister des Innern werden, aber
Koloman von Szell dachte gar nicht daran, dieses für seine Machtstellung
wertvollste Amt ans seiner Hand zu geben. Erst als Szilagyi plötzlich ge-
storben war, wurde Graf Apponyi Kammerpräsident, und Horanszky, für den
Hcgedues Platz machen mußte, erhielt das wenig verheißungsvolle Handels¬
ministerium. Herr von Szell hatte darin Erfahrungen, denn er hatte schon
dem klugen Dr. Kaizl seinerzeit mit der sogenannten Szellschen Klausel in der
Dauer des Bankstatuts nachgeben müssen und stand jetzt in den Zolltarif-
und Ausgleichsverhandlnngen dem ihm weit überlegnen Ministerpräsidenten
Dr. von Körber gegenüber, der früher selbst Handelsminister gewesen war.
Mochte Horanszky, dem man die Verantwortung für die etwaigen Mißerfolge
zuschieben konnte, den verhängnisvollen Posten übernehmen. Horausky starb
übrigens nach wenig Monaten. Wenn aber Szell gemeint haben sollte, das;
er den Grafen Appouyi auf dem verhältnismüßig neutralen Posten des
Kammerpräsidenten „kaltgestellt" habe, so sollte er bald aus seiner Täuschung
gerissen werden. Er hatte ja auch geglaubt, daß es nur der Auflösung der
Nationalpartei und des Eintritts ihrer Mitglieder in die Regierungspartei
bedürfe, sie auch für ihr Programm zu gewinnen, während sich Graf Apponyi
und Horanszky in der Erinnerung an die Vereinigung der Tiszagrnppe mit
der Decikpartei der Erwartung hingegeben hatten, daß es ihnen durch die
Vereinigung möglich sein werde, ihr Programm auf die Regierungspartei zu
übertragen. Sie hatten richtiger kalkuliere, der radikalere Flügel eiuer Partei
pflegt ja in den meisten Füllen die Oberhand zu gewinnen.
(Schluß folgt)
»le Bedeutung des Mittelalters für den Fortschritt der Mensch¬
heit im allgemeinen wurde und wird gewöhnlich sehr verschieden
beurteilt. Während der selbstgefällige Rationalismus des acht¬
zehnten Jahrhunderts über die „Nacht des Mittelnlters" vor-
Inehm lächelte und diese wichtige Periode der Weltgeschichte, in
der sich germanische Kraft mit der Innigkeit und Gemütstiefe des Christentums
vermählte, als Zeit finstern Aberglaubens betrachtete, fanden die Romantiker
des neunzehnten Jahrhunderts in ihrer schwärmerischen Vorliebe für das
Mittelalter nicht Worte genug, dessen dichterische Schütze, poetische Lebens¬
auffassung, Frömmigkeit, Gemüts tiefe usw. zu preisen. Seitdem man sich
einerseits von dem „gottverlassenen Vernnnftkultus" des achtzehnten Jahr¬
hunderts emanzipiert hat und andrerseits ans der romantischen Phantasie-
beranschuug in der Kindheit des neunzehnten Jahrhunderts erwacht ist, ist die
nüchterne Beobachtung und Kritik auf dem Gebiete der historischen Forschung,
die jede Zeitperiode als Glied eines großen Entwicklungsprozesses auffaßt und
beurteilt, zu ihrem Rechte gekommen und hat besonders den langen Zeitraum
vom Untergang der antiken Kultur bis zum Anbruch der „neuen Zeit" zum
Gegenstande fleißiger Forschung gemacht. Von großem Interesse und Wert
ist das Studium des Mittelalters für die theologische Forschung. Das Dunkel,
das uoch über dem Mittelalter richt, hat seine Ursache hauptsächlich darin, daß
das staatliche und das bürgerliche Leben des Mittelalters eigentümliche Formen
zeigt, daß das ganze „Milieu" dieser Zeit uus so fremd anmutet, daß wir
uns erst geistig hineinleben müssen, bevor wir uus ein Urteil bilden tonnen.
Dann werden wir aber anch finden, daß sich die Geister jener Zeit fast mit
denselben religiösen Problemen beschäftigten wie die unsrer Tage, daß die
religiösen Fragen und die Versuche zu ihrer Lösung aber in einem viel größern
Stil behandelt wurden. Besonders in Rücksicht auf den psychologischen Charakter
der Religion.
Sofern man die Religion als eine den Willen bindende Macht betrachtet,
bietet die mittelalterliche Frömmigkeit in dieser Beziehung eine in der Welt¬
geschichte geradezu einzig dastehende Erscheinung, die die lebenskräftigsten Völker
Europas unter eine religiöse Idee zu zwingen, sie uuter die Allmacht des
Papsttums zu beugen vermochte. Und als ein Versuch im großen, den Inhalt
der Religion in die Form des Gedankens zu gießen. zeigt sich die mittelalter¬
liche Scholastik; in ihr ist eine wahre Riesenarbeit niedergelegt, die wohl mit
demselben Recht als ein zusammenhängendes Ganze betrachtet werden kann,
wie mau die Arbeit der modernen Wissenschaft als ein Ganzes betrachtet; denn
Denker schließt sich um Denker, ein Lehrgebäude greift ius andre. Und will
man das Suchen nach der Zusammengehörigkeit mit Gott auf dein Wege der
unmittelbaren Erfahrung, des Gefühls — oder wie mau es nennen will —
verfolgen, so bietet das Mittelalter Gelegenheit, eine Vielhundertjührige, historisch
zusammenhängende und wechselreiche Mystik zu studieren von des alten Scotus
^riMna mystisch-spekulativer Emauatiouslehre bis zu dem asketisch-mystischen
Geologen Thomas a Kempis. Im folgenden soll das religiöse Leben des
^ittetalters jedoch von einen, andern Standpunkt aus betrachtet werden,
nämlich vou seinem Verhältnisse zu andern Lebeusgebieten. da diese Zeit
aucy in dieser Beziehung typische, sozusagen in großem Stil ausgeprägte
Formen aufweise» kann. > a ! u » p
s-^'?^ anschliche Leben ist eine geistige Einheit, weshalb man nur im
bildlichen Sinne vou verschiednen Lebcnsgebieten sprechen kann. da ja jedes
^ebensinteresse in gewissem Maße das ganze Leben umfaßt. Gleichwohl läßt
M) z. B. das „Sittliche" gewissermaßen als etwas Selbständiges im Leben
betrachten, und man kann dieses Gebiet von andern Gebiete» abzugrenzen ver¬
suchen. In einem nahen Verhältnisse zur Sittlichkeit steht das Rechtsleben,
wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Von grundlegender Bedeutung
auch, wie man vom religiösen Standpunkt aus die Berechtigung und die
Aufgabe des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt. Von großer
Bedeutung ist ferner das Verhältnis der Religion (die Religion als Verhalten
des Menschen zu Gott aufgefaßt) zu Wissenschaft und Kunst. Und da auch
der religiöse Mensch ein körperliches Leben lebt, bekommt sogar die Beurteilung
dieses Lebens eine keineswegs geringe Bedeutung für die Charakterisierung
einer Religionsform. Das religiöse Leben muß also in vielseitiger Wechsel-
^
Wirkung stehn zur Sittlichkeit, zum Rechts- und Staatsleben, zur Wissenschaft,
zur Kunst und zum Leben überhaupt. Im folgenden sollen nur die allgemeinen
Grundgedanken, die sich im großen und ganzen in all den berührten Verhält¬
nissen und Wechselwirkungen durchgeführt zeigen, herausgehoben werden.
Vor allem ist es Tatsache, daß das Mittelalter ernstlich bemüht war,
das Gottesverhältnis in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens zu setzen
als ein dieses beherrschendes Interesse. Das Mittelalter wußte nichts von
der modernen Sitte, die Religion sozusagen hinter den Ofen zu stellen, ihr
keine größere Bedeutung für das Leben beizumessen. Die mittelalterliche Welt
ist allerdings in gewisser Hinsicht beschränkt, eng; sie ist dunkel in ihren
Grenzen, unerforscht in ihren Einzelheiten — aber sie hat einen Mittelpunkt
in dem Gott, an den sie glaubt. Die moderne Welt ist weit, sie ist klar be¬
rechnet und mikroskopisch durchforscht, aber ob es ein „Zentrum" in diesem
Chaos wohlbekannter Einzelheiten gibt, ob das Leben ein einheitliches, allbeherr¬
schendes Ziel und einen ebensolchen Zweck hat — das weiß man nicht. Man
hat Klarheit gewonnen über eine weite Fläche, aber in der Tiefe und in der
Höhe herrscht Finsternis. Mau dürfte mithin kaum Ursache haben, sich dem
Mittelnlter gegenüber damit zu rühmen, daß man dessen religiöse Grnndanf-
fassung des Daseins über Bord geworfen habe.
Eine andre Frage ist aber die, wieweit es dem Mittelalter wirklich glückte,
sein Streben, das Verhältnis zu Gott als Kern des Lebens festzusetzen und
damit in wahrhafter Harmonie alle Gebiete des Lebens zu vereinen, durch¬
zuführen. Man hört oft das Schlagwort: mittelalterlicher Dualismus, und
dieses Wort hat etwas wahres an sich. Es bezeichnet, daß man nicht bis zu
einer Einheit vorgeschritten ist, sondern daß man stehn geblieben ist bei einer
unvereinbarer Zwiefültigkeit: Gott und Welt. Das Übernatürliche und die
Natur, das Leben in Gott und das Weltleben, das Religiöse und das Humane
wurden gleichsam als unvereinbare Gegensätze einander gegenübergestellt. Man
hat eben die tief liegende Schwierigkeit in dem Problem: das richtige Ver¬
hältnis zwischen Religion und andern Lebensgcbieten herzustellen, entdeckt.
Diese Schwierigkeit war und ist nicht nur eine theoretische, sondern vor allem
auch eine praktische; denn auf die Frage: Wie kann man ganz für Gott leben,
der ja alles fordert, und zugleich für etwas andres? gibt es nur die Aut¬
wort: Der ganz für Gott leben will, der religiös leben will, muß alles untre
beiseite lassen. Und diese Antwort ist eigentlich das, was im mittelalterlichen
Geistesleben gebilligt und gepflegt wird von Augustin, Hieronhmus und
Gregor dem Großen bis zu dem Augustinermönch Luther: Askese und klöster¬
liche Frömmigkeit. Vita, rsliZiosa ist das Leben des priesterlichen Mönchs,
der allein mit Recht religiös genannt wurde; denn die Abkehrung von der
Welt zu Gott bedeutete im Mittelalter, ins Kloster gehn. Gott und Welt
können nicht mit gleichem Interesse in oder von derselben Seele umfaßt
werden, eins von beiden mußte gewählt werden. Gottesliebe fordert Welt-
Verachtung.
Was das Verhältnis der Religion zur Natur, zum Naturleben (vom
Menschen zunächst abgesehen) betrifft, fo ruhte nach mittelalterlicher Anschauung
über diesem ganzen Gebiet ein gewisser Fluch von UnHeiligkeit. Gott hat
allerdings alles geschaffen, aber es ist, als hätten dämonische Mächte, der
..Fürst dieser Welt" und seine Engel, die Naturwelt in Besitz genommen, da
ihr freies Spiel zu treiben. Man bekommt oft den Eindruck, daß der Teufel
als Herr der Natur aufgefaßt wird und die Schönheit als verführerisches
Blendwerk, durch das der Mensch von Gott fortgelockt werden soll. Hatte
das hellenische Heidentum die Natur vergöttert, so war die Askese die Reaktion
auf diese Anschanung. Im Eremiten- und Mönchswesen begegnet man hänstg
der Sucht, das Naturwidrige als Zeichen von Heiligkeit zu betrachten. Der
..Heilige" ist der gerade Gegensatz zum griechischen Männcrideal in dessen
olympischer, sinnlich-schöner Harmonie. Am schlagendsten tritt die asketische
Lebensanschauung selbstverständlich dort hervor, wo die Triebe des Natur¬
lebens am tiefsten ins Menschenleben eingreifen: im Geschlechtsleben. Auf
diesem liegt ein so schwerer Bann, daß das Sinnliche in dieser Beziehung
immer als unrein und hurtig betrachtet wird. So ist es ein echt mittelalter¬
licher Gedanke, den Peter Abailard vertritt, wenn er den Verlust seiner Mann-
heit als Äußerung von Gottes Güte betrachtet, wodurch er viel geeigneter
zum priesterlichen Amte geworden sei. Ein Engellcben. ein Leben in Jung¬
fräulichkeit ist das Ideal, das zu unaufhörlichen Lobpreisungen Anlaß gibt.
Aus ähnlichen Gründen zieht sich durch das Mittelalter ein beständiger
Kampf gegen Wissenschaft und Kunst als etwas Heidnisches hin. Zu Beginn
der Entwicklung der Kirche hatte man noch die heidnische Kultur, deren Philo¬
sophie und Kunst vor Augen, und es war erklärlich, daß man gegen dieses
Kulturleben eine abweisende Haltung annahm. Aber anch als es sich dann
darum handelte, Philosophie und Kunst im Dienste der Kirche und des Glaubens
zu verwende«, war die asketisch-strenge Geistesrichtung jederzeit bereit, gegen
diese in ihren Augen gefährliche Verunreinigung des christlichen Ideals zu
knüpfen Noch in der Jugendzeit der Scholastik begegnet man dein Ausspruch
- 'nuards, ^ es dem Beruf eines Mönchs im höchsten Grade widerstreite,
steh und dem Swdium weltlicher Bücher u beschäftigen.
z
Was das Rechts- und das Staatsleben, ja das ganze bürgerliche Gesell-
schaft.leben und all seinen Berufszweigen betrifft, war die eigentliche Auffassung
vapor die. daß dieses alles als eine Folge und als ein Zeichen der mensch-
uchen UnVollkommenheit anzusehen sei. Der Besitz und das Eigentumsrecht
galten ebenfalls als ein ganz und gar unchristliches Verhältnis — bekannt
;a. daß viele Kirchenväter geradezu kommunistische Gedanken aussprechen.
>Zdcal ist: nichts zu besitzen. Der eigentliche Ursprung der Staatsmacht sei
eigennütziges Machtgelüste. Das sittliche Leben müsse, so glaubte man, in un¬
mittelbarster Übereinstimmung mit dein Verhältnisse zu Gott stehn. Vom
asketischen und dualistischen Standpunkt aus erhielten aber die sittlichen Ge¬
bote, die sich ja auf die „natürlichen" Verhältnisse des Menschenlebens beziehn,
einen verminderten Wert, weil eben diese „natürlichen" Verhältnisse an steh
als etwas betrachtet wurden, was mit dem Verhältnisse zu Gott nichts zu tun
habe. Vater, Mutter und Obrigkeit zu ehren ist allerdings Pflicht, aber da
es ideal ist, nach Art der Mönche Vater und Mutter zu verlassen und niemals
Vater oder Mutter zu werden, so gehören diese Pflichten gleichsam zu einer
Sekundomoral, einer Sittlichkeit für die, die in der Welt leben. Eheliche
Liebe und Treue gehören auch zu dieser Moral. Keuschheit bedeutet Cölibat.
Wie hoch der sittliche Wert der Arbeit taxiert wurde, läßt sich daraus ent¬
nehmen, daß es oft als ein besondres moi-nun, als etwas vor Gott Verdienst¬
volles angesehen wurde, betteln zu gehn. Der Sittlichkeitsbegriff wurde
geradezu zerspalten, und zwischen seinen Teilen gab es keine Übereinstimmung.
Vom theologischen Standpunkt wurde der Sittlichkeitsbegriff in den Unterschied,
der zwischen „Gebot" und „evangelischem Rat" gemacht wird, gekleidet.
Es fragt sich um: War diese asketische Lebensanschauung wirklich die
alleinherrschende im Mittelalter? Nein, sie war es keineswegs. Nicht Weltver¬
achtung, sondern Weltbeherrschung im Namen Christi war der leitende Grund¬
gedanke. Die Sache erscheint ganz eigentümlich. Eine lebhafte Vorstellung
von dieser sich scheinbar widersprechenden Welt- und Lebensanschauung gewinnt
man, wenn man sieht, wie ein Mann, dessen bedeutendste Publikation den Titel
„Über Weltverachtung" führt — Innocenz der Dritte (1161 bis 1216) —,
gerade der Papst wird, vor dein sich Europas Fürsten und Völker am tiefsten
beugen; ein Mann, der in Christi Namen über Königsthrone verfügt; dessen
Plan es war, die ganze Christenheit in einen Staatenbund unter päpstlicher
Oberhoheit zu vereinen, von Rom aus die ganze zivilisierte Welt zu beherrschen.
Die Anschauung dieses Papstes war typisch. Und doch hat man keinen Grund,
dabei von bewußter Heuchelei zu sprechen. Es ist im Gegenteil sehr wahr¬
scheinlich, daß Innocenz in voller Aufrichtigkeit sei» Buch über die Weltver¬
achtung geschrieben hat. Neben der asketischen Lebenstheoric machte sich eben
eine ganz entgegengesetzte Theorie in Wirklichkeit geltend. Es scheint hierbei
das Gesetz vom Kontrast in Kraft getreten zu sein, wonach der eine Gegensatz
den andern hervorruft. Ein vollkommen durchgeführter Asketismus, eine absolut
weltverneinende und weltverachtendc Lebensanschauung ist ja für das ganze
Menschengeschlecht praktisch unmöglich. Es kann Wohl zu Zeiten scheinen, als
wäre unsre Wissenschaft und Kunst entbehrlich; doch nur zu bald überzeugt
man sich, daß deren Ausschließung aus dem Leben eine geistige Selbstvcr-
stümmlung der Menschheit, ja ihr geistiger Tod wäre. Es mußte sich also
der „Religiöse" dem Schicksal beugen, nicht ausschließlich religiös leben
zu können. Es handelte sich nun um die Lösung des Problems, die beiden
Gegensätze, das Religiöse und Humane, zu vereinen. Die mittelalterliche An¬
schauung über dieses Problem führte zunächst zu dem Resultat, daß nur eine
geringe Anzahl Menschen im wahren und eigentlichen Sinne religiös leben
könne: die Mönche und die Priester. Auf Grund dieser ihrer „höhern"
Stellung werden sie, die „ganz für Gott" leben, eine Art Vikare für die
andern Menschen, und um ihrer Frömmigkeit willen kann den übrigen Menschen
erlaubt werden, „in der Welt" zu leben. Und auf Grund dieser Anschauung
brach sich die mittelalterliche Kirche Bahn zur Weltherrschaft. Die Ausnahme¬
stellung im Verhältnisse zu Gott machte den Weg frei zu einer Art Mittler-
stellnng, und diese priesterliche Mittlerstellnng bahnte den Weg zur Herrschaft
über die Welt. Diese Herrschaft erstreckte sich dann nicht mir' über das poli-
lische, sondern über das ganze Knltnrgelüet. Die Mönche, die von der Welt
Abgesonderten, wurden die Kulturträger. ^ < < ^
Die asketische Welteutfremdnng wurde im ^ident^i Klosterleben ^
frühzeitig ge.mildert. indem in das Klosterleben selbst Teile des humanen
sowie des Knltllrlebens A.isnahme fanden. Man erkannte sehr bald daß s
in hohem Grade ungesund sei. ausschließlich der Betracht.eng zu lewi d^
Gebet und audern gottesdienstlichen Mu.igen. Es tourbe deshalb torpe les
Arbeit in den Klöstern eingeführt. Und so geschah es. daß gerade die Voster
die Ausgangspunkte für die Kultivierung unbebauter Länder wurden. ^e°^
neue Kloster war eine Oase der Kultur. Nicht nur Garten- und Ackerbau
wurde von deu Klöstern betrieben, ihre Bewohner brachten es anch bald zur
größten Kunstfertigkeit in allerlei Handwerken. Was außerhalb der Kloster¬
mauern, draußen in der Welt für ..unheilig" galt, herstammend von den niedern
Bedürfnissen und Beweggründen des, Menschen, das wird innerhalb der Kloster¬
mauern, wo es von den frommen Klosterbrüdern betrieben wrrd en^^^
Arbeit, ein Gottesdienst. Und aus ähnlichen Gründen hält die Wissenschaft
ihren Einzug in die Klostermauern, wo man gar bald findet. daß sie eme
vortreffliche Waffe im Dienste der Kirche werden könnte. Wenn anch anfangs
vielleicht mit heimlichem Beben, wurden doch allmählich mehr und mehr die
Gedanken des Heidentums, wie sie durch Plato und Aristoteles geformt worden
waren, in den Dienst des kirchlichen Denkens aufgenommen. Und so entstand
die Scholastik. Nachdem sich die Kunst als brauchbar w umM-sur Aormm
gezeigt hatte, wurden die herrlichen gotischen Tempel gebaut, Heiligenbilder
gemalt, und das mittelalterliche Kunstleben erreichte seine höchste Blüte an den
Stellen, wo man praktisch das Religiöse und das Humane in harmonische Zu¬
sammenwirkung zu bringen verstand.
Staats- und Rechtsleben wurden wie schon erwähnt worden ist, als zur
niedern „Natur" des Menschen gehörend augesehen. In derselben Weise wie
die Mönche Gelehrte und Künstler wurden wurde auch innerhalb der Kirche
ein immer bestimmteres Rechtsverhältnis ansaebildet. Die Kirche bekommt eine
„göttliche" Rechtsordnung, die sich neben der weltlichen aufbaut. Sie bildet
in sich großartige Verfassungsformen aus. die teilweise, z. B. in den Mönchs¬
orden, die Form einer repräsentativen Republik annehmen können. Für die
Kirche als solche aber wird die Organisation eine absolute Monarchie, eme
Erneuerung des alten römischen Weltreichs. Die Kirche wird ein oiviw8 on.
em theokratischer Staat im Namen Christi. Die Herrschaft, die sich das Papst-
..I-V ^ , ^ ^ . ^.>co^:,^...^ 1111s
IUIIVN och Mittelalters. Und wiewohl der ganze Apparat wie —"
reich gebildet ist, verbirgt er sich unter dem Namen des Christentums und sucht
so über seine „Weltlichkeit" hinwegzutäuschen.
Wühreud der Grundsatz der Weltentsagung in seiner asketischen Form
immer als der geltende verkündet wird, gestaltet sich das Verhältnis der mittel¬
alterlichen Frömmigkeit zu dem „humanen" Leben derart, daß das religiöse
Leben selbst in einen mehr oder weniger unbewußten Verschmelzungsprozcß mit
den übrigen Lebens gebieten tritt. Und ans diesem Wege geht es weiter und
weiter zur Verweltlichung des Christentums. Gottes Reich wird ein Reich
dieser Welt, die Kirche wird ein Staat mit einer ebenso „weltlichen" Politik,
wie die des Kaisertums es war. Der religiöse Kultus wird immer mehr und
mehr von der Kunst durchdrungen, bis schließlich nicht viel andres übrig bleibt,
als ein ästhetisches Produkt mit dem Zweck, ästhetische Stimmung hervorzu¬
rufen. In diesem Eindringen des humanen Lebens in die Kirche liegt natür¬
licherweise eine Kritik der ganzen Entwicklung sowie der asketischen Anschauung,
aber die asketische Anschauung ist damit nicht wirklich überwunden. Das
Humane ist nicht organisch vereint zu wahrer Lebenseinheit mit dem Religiösen,
sondern das Verhältnis bleibt immer ein äußeres. Die Kirche ist und bleibt
die einzige Gesellschaft, vou der eigentlich Gott etwas wissen will, weshalb
sie die Forderung aufstellte, daß eigentlich alles, was andre Lebensgebietc be¬
treffe, von ihr ausgehn müsse. Die Kirche müsse eigentlich der einzige Staat
sein, die Wissenschaft der Kirche die einzige Wissenschaft, der Kirche Kunst die
einzige Kunst; die Kirche müsse eigentlich alles Eigentum besitzen, so gewiß
als die Erde und alles, was darauf ist, des Herrn ist. So schlug die
Weltentsagung um in die Forderung nach absoluter Weltbeherrschnng.
Nun läßt sich aber nicht alles unmittelbar beherrschen, nicht alles un¬
mittelbar in die Hand der Kirche legen. So mächtig sie anch ist, es liegt doch
ein. säkulares, ein weltliches Gebiet außerhalb ihr. Es sitzt ein Kaiser ans
dein Throne, und es gibt ein weltliches Schwert. Es ist auch nicht anders
möglich, als daß die große Masse heiratet, Kinderzeugt und für andre Zwecke
arbeitet, als für rein kirchliche und religiöse. Wie konnte nnn all dies vereint
werden mit den Ansprüchen der Kirche? All diese weltlichen Lebensüußernngen
und Lebensgebietc außerhalb des Gottesverhältuisses und Gottcsreichs zu lassen,
ging nicht gut an. Um Gottes Macht sowie um die seiner Kirche, seiner Stell¬
vertreterin in der Welt, wäre es nicht wohlbestellt, wenn all das menschliche
Leben, das die Kirche nicht unmittelbar mit sich selbst vereinen kann, gleich¬
sam außer ihrem Gebiete liegen dürfte. Wie ließ sich also da der religiöse
Grundgedanke durchführen? Sollte die Kirche in diesem Weltleben etwas
berechtigtes, etwas Gott wohlgefälliges erkennen können, so mußte diese Be¬
rechtigung gleichsam von außen verliehen werden. Eigentlich sollten alle nur
für Gott leben, doch die Kirche hat die Macht, den Menschen in gewisser Hin¬
sicht Ausnahmen zu gewähren, von der Erfüllung der religiösen Pflicht zu
dispensieren unter der Bedingung, daß sich die „in der Welt" Lebenden der
Botmäßigkeit der Kirche unterwerfen und diese Unterwerfung dadurch zeigen,
daß sie die Opfer bringen, die ihnen die Kirche auferlegt. Werden diese Be¬
dingungen erfüllt, so geht die Kirche einen Schritt weiter. Sie gibt dann
dem weltlichen Leben eine religiöse, eine sakramentale Weihe, durch die dieses
an sich gottabgewandte Leben geheiligt wird. Die Macht des Kaisers ist nicht
von Gott. Will er aber Krone und Schwert in die Hand der religiösen
Autorität legen, so kaun er beides als Lehen zurückbekommen, geweiht und
geheiligt zum „Dienste Gottes." Der Papst krönt den .Kaiser, und dieser wird
dadurch „christlich-römischer" Kaiser. Es ist dieses „christlich-röntisch" ein ganz
charakteristischer Ausdruck, ebenso wie die Bezeichnungen ,.allerchristlichster König,"
„Seine katholische Majestät" u, a.
So wurde das Eheleben durch die Weihe der Kirche zu sakramentaler
Giltigkeit erhoben. Überhaupt besteht die religiöse Praxis in einer Serie sakra¬
mentaler Weiheakte, die das ganze Leben umspannen. Jedes Land, jede Stadt,
jede Gilde und ^unse. jeder Beruf, jedes Haus bekam im Mittelalter semen
eignen Heiligen; die Vergnügungen des Volks, das Thenterwesen. ja sogar
das moralisch Zweideutige und Verwerfliche (Zweikampf, Diebs- und Rüuber-
hnndwery wurden und werden noch, insbesondre in den romanischen Ländern,
unter den religiösen Kultus gestellt.
Es liegt wohl die Frage nahe: Wie ist es möglich, daß etwas von Gott
„Abgewandtes" auf solche Weise geheiligt werdeu kaun? Die Sache setzt
natürlich einen mechanischen Gedmilengang voraus. Es handelt sich hierbei
uicht um die Reinheit des Herzens. Die religiöse Weihe ist etwas, was ohne
Reinheit des Herzens erteilt wurde und wird. Es handelt sich dabei nicht
um eine sittliche Veränderung des Menschenlebens. Man dachte und denkt
sich wohl hie und da noch die Weihe der Kirche als eine Art Zaubern, weiße
Magie, unter deren Einfluß das Böse, Dämonische, natürlich Unreine ent¬
weicht. Lx exn-L ovsriM wirkt der Kirche sakramentale Kraft in der Weihe
überall. Man beschränkt sich darum auch uicht auf das Gebiet des persön¬
lichen Lebens; die Weihen erstrecken sich auf das Wasser im Brunnen, die
Waffen des Kriegers usw. Die Bedingung sür die Erteilung dieser Sanktion
an das menschliche Leben ist jedoch, daß dieses sich in all seinen Formen
der Kirche als der religiösen, alles beherrschenden Autorität unbedingt unter¬
wirft. Wird diese Unterwerfung verweigert, und will sich eine Lebensform
losmachen ihr gegenüber zur Selbständigkeit oder Gleichberechtigung mit ihr,um nicht zu sagen zur Oberhoheit über sie, so wird der Segen in der religiösen
Sanktion entzogen, und mit seinen. Gegensatze, dem Bann, alles belegt, was
MI von der Kirche und ihren Geboten'loszumachen sucht. Und die Geschichte
g . daß auch kaiserliche Macht bisweilen zu schwach war. diesen Bann lange
d > 5?^ ab Aquino vertritt in seiner Lehre dieselbe Anschauung,on praktisch durch Gregor den Siebente., zur Geltung gebracht wurde: Ein
H-urst. der von dem wahren Glauben abfällt verliert dadurch die Gewalt über
M.e Untertanen, und der Papst hat das Recht, diese von ihren. Untertanen-
„ /^ueide zu entbinden. In der Form des Interdikts traf der Bannalle Äußerungen des Lebens von der Wiee bis um Grabe.
gzWir haben nun gesehen, daß einerseits die religiöse Anschauung im Mittel-
alter, wenn es die Äußerungen des humanen Lebens zu beurteilen galt, d.e
asketische war, die schlechterdings einen Gegensatz zwischen Religion und allen,
andern Leben enthält; andrerseits. wie diese Anschauung infolge ihrer UnHalt¬
barkeit und Undnrchführbarkeit unaufhörlich in ihr Gegenteil umschlägt dadurch,
daß mau in das Gebiet des religiösen Lebens Politik hineinträgt oder Wissen¬
schaft und Kunst. oder daß man das ganze Menschenleben unter die Zucht und
Weihe der religiösen Autorität zu zwingen sucht. Mechanische Sonderung und
mechanische Verewigung gehen nebeneinander, doch keine von beiden kann die
Alleinherrschende werden, weil die beiden strittigen Ansichten einander beständig
bekämpfen. Unaufhörlich wird die Menschheit hin- und hergeworfen zwischen
den beiden Extremen: Weltverachtung und Verweltlichung, Gehorsam und Auf¬
lehnung gegen die Kirche. Dieses unruhige Hin- und Herschwanken ist eben
ein kennzeichnendes Merkmal des Mittelnlters. Die Menschheit gibt sich bald
der zügellosesten Sinnlichkeit hin, bald wieder tut sie schwere Buße, und der
Übergang aus einen: Extrem ins andre geschieht oft ganz unvermittelt. Einmal
hält der Kaiser dem Papste den Steigbügel, bald darauf zieht er das Schwert,
um ihn zu verjagen. ^5 ^g.)
> n ihrer Eigentümlichkeit und literarischen Bedeutung ist die Stadt
Orange eine in Frankreich einzig dastehende Kunststätte. Alles
scheint sich hier zu verbinden, aus der altberühmten Ortschaft einen
Samuel- und Mittelpunkt aller Verehrer der antiken Kunst und
Poesie, aller Liebhaber der languo et'vo und der provenzalischen
Literatur zu macheu. Keine südfranzösische Stadt hat bedeutendere Denkmäler
der römischen Baukunst auszuweisen, als die Hauptstadt des frühern Fürsten¬
tums Oranien, dessen Name uoch in dem großen preußischen Königstitel er¬
wähnt wird. Seit der furchtbaren Niederlage der Teutonen in dieser Gegend
hat fast jedes Jahrhundert in Orange seiue besondern Spuren zurückgelassen-
Am Eingänge der Stadt erhebt sich der prächtig geschmückte Triumphbogen,
der uns mit seinen Trophäen und Gallierschlachtcu, mit seinen gefangnen Bar¬
baren und Gladiatorcnkümpfeu, mit seinen Speeren, Schilden, Dreizacken und
Waffen aller Art Galliens Eroberung ins Gedächtnis zurückruft. Weiter
zeigen uns die neuentdeckten Trümmer eines ungeheuern Zirkus, wie es die
alten Römer verstanden haben, den unterdrückten Völkerschaften die gewünschten
Belustigungen zu verschaffen. Die zahlreiche» Erinnerungen an den Grafen
Naimbaud den Zweiten, der im Jahre 1099 vor Antiochin fiel, und an seiue
gebildete Tochter, die die Hanptviertel wieder aufbauen ließ, führen uns ins
graue Mittelalter zurück. Die altehrlvürdige, im elften und zwölften Jahr¬
hundert erbaute Kathedrale mit ihrem stark beschädigten Portal zeugt von der
Wut der Religionskriege, und hoch oben auf dem steilen Berge, der Orange
beherrscht, beweisen die sogenannten ()rövo-(ü«mir")-Rinnen des Nassnuischen
Schlosses, daß die Soldaten Ludwigs des Vierzehnten nicht nur in der Pfalz
Verwüstungen angerichtet haben.
Vor allem aber interessiert uns das römische Theater das mit seiner
großartigen Bühueurückwaud die höchsten Gebäude der Stadt überragt und
zur Wiederbelebung antiker Dichtung geradezu bestimmt zu sein cheuit. Der
weite, in deu Felsen gehauene Zuschauerraum, die geräumige, vollständig an ¬
steckte Bühne die vortreffliche Akustik, alles sollte die Mische wi -
"es'mung der provenz ausehen ?Äiore8-Gesellschaft erleichtern, die «us Orm ge
el.i ..französisches" oder bester ein ..lateinisches Vayreuth" machen wollte. 1U d
diese Bezeichnung ist in gewisser Hinsicht berechtigt, uicht N.elk in demi alten,
neuaufblühenden Aransio.' dem Sta.minore der Prinzen von Oramen und vno
Hauses Nassau, deutsche Kunst init Wagnersche Musik nachgeahmt n^erden
sollten. sondern nnr weil Orange seit einigen Jahren eine nationale Kuus -
Wie ersten Ranges geworden ist. wo sich jedes Jahr zehntausend begeisterte
Kunstfreunde bei großartigen Festspielen vereinigen wollen. Erst ,meh und
nach hat man eingesehen, was für Werke auf der Bühne des römischen Theaterv
und Erfolg aufgeführt werden könnten. Zuerst hat mau mit modernen S uclln
einen Versuch gemacht. Es wurden biblische Stoffe wie ..Joseph" vou Mehul
"ut ..Moses" vou Rossini. Kantaten wie die nTriuu.phatoreu" vou Fernand
Michel, neuere Werke wie VWIst und v^tnoo gewählt. Mit solchen Dich¬
tungen wäre jedoch Orange niemals zu einem lateinischen Bayreuth geworden.
Sogar Molieres i.nsterbliche Charakterkoinödien iiehnien sich auf dem Podium
des römischen Theaters etwas fremdartig aus. Eine Aufführung der 1 i-e^usch
riäion^ bewies, wie wenig ein antikes Theater für klassische Sittenkomodien
angerichtet ist. Es war. als ob winzige Drahtpuppen vor einer ungeheuern
Mauer und am Fuße eines hohen Berges gespielt oder geplaudert hatten, ^a
sogar die herrlichsten französischen Tragödien ans dem siebzehnten Jahrhundert,muh solche, die griechische Stoffe behandeln oder nach hellenischen Muster bear¬
beitet worden sind. wie..Iphigenie" oder ..Phädra." eignen sich nicht für taparti e Theater. Raeiues ..Athalie" ,uit der vortrefflicheii Mendelssohuscheu"nött hat i»i Jahre 1899 uoch lange uicht teil Erfolg der griechischem Tra-
godum errungen. Man fühlt eben zu sehr, daß solche Werke für andre Zeiten'"d für einen so glänzenden Hos wie der Ludwigs des Vierzehnten gedichtetworden sind.
Die wahrend achtzehn Jahren hiu und wieder angestellten Versuche habenolglich gezeigt, daß sich kein modernes Werk im römischen Amphitheater be¬
haupten könne. Und da ist man auf den Gedanken gekommen, im antiken
^lMter griechische Tragödien auszuführen. Im August 1888 ist zum ersten¬
mal der „König Ödipus" dargestellt worden. Der Erfolg war so groß, daß
bald darauf die Sophokleische' ..Antigone" und die Euripideische ..-Adesto
mit verschiednen Stellen ans der Gluckschen Musik a'lfgeführt wurden, ^in
Jahre 1900 wurde dem Programm uoch eine Komödie von Ptauwv .,^eu-
dolns" in der Bearbeitung von Gastambide hinzugefügt. Jedesmal S^gre ^sich^ daß uur die griechische Tragödie und höchstens noch die römische Komödie
un antiken Theater gepflegt werden können. ^.
^-»
Wie nnr heroische Werke für das neueingerichtete Podium de. römischen
Theaters passen, so kann man umgekehrt behaupten, daß die Tragödien der
'
griechischen Dichter nuf keiner modernen Bühne einen so tief erschütternden
Eindrnck ausüben wie ans dieser. Ich habe mehrmals den „König Ödipus"
in derselben Bühnenbearbeitung, und wenigstens was die Hauptrollen betrifft,
mit denselben Schauspielern im Pariser IliöMrö lrg,inM» gesehen; niemals
habe ich die ergreifende Wirkung des Stücks so vollkommen gefühlt, wie in
dem antiken Theater zu Orange. Auf deu engen Brettern einer heutigen
Bühne und in der schwülen Luft der meiste» Pariser Theater muß sich ein
griechisches Drama fremdartig ausnehmen. Wie anders wird es aber uuter
dem tiefblauen Himmel des Südens ertönen, wen» der vou Schuld belndue
und nach Sühne verlangende Ödipus die Hand gegen deu Himmel streckt
und die verhängnisvollen Worte ausspricht, die seinen grausigen Entschluß
ankündigen:
Weh! Weh! Es liegt in grausger Klarheit alles da!
Dn Himmelslicht, dich schau ich heut zum letztenmal!
Gezeugt zum Trotz der Götter, ward ich Mörder des,
Der mich gezeugt, nud der Natur zum Trotz vermählt!
Es war ein glücklicher Gedanke, im letzten Sommer zwei griechische Tra¬
gödien aufzuführen, die sich gegenseitig vervollständigen und uns dennoch zwei
verschiedne Auffassungen der antiken Tragik vor Allgen stellen: den Sopho-
kleischen „König Ödipus" und die Euripideischcu „Phvuizieriuueu." Obschott
das erste Stück in Orange keine Neuigkeit mehr ist, so hat es immer den¬
selben Erfolg. Und zwar verdankt es diesen nicht nur der ergreifenden Tragik
des Stoffes, sondern mich der ausgezeichneten Darstellungsknust Monnet-
Sullys, der sich sozusagen in die Rolle des alten Königs hineingelebt hat-
Monnet liebt seinen Helden, wie er das römische Theater liebt, dem er seine
Beförderung zum Offizier der Ehrenlegion verdankt. Und vielleicht wirkt die
Kunst des französischen Schauspielers uoch mehr, wenn man bedenkt, daß ihm
die Gefahr droht, wie sein Held zu erblinden, und daß er wahrscheinlich zum
letztenmal in Orange angehört worden ist.
Sophokles und Euripides kann man heutzutage leichter aufführen als
ihren großen Vorgänger Äschylus, denn seine grausigen Tragödien scheinen
ihre Bühnenfähigkeit zum größten Teil verloren zu haben. Ein Versuch, die
Erinuyeu in der kühne» Vearbeituug des vor wenig Jahren gestorbnen
Akademikers Leevnte de Liste in Orange aufzuführen, hat gezeigt, wie unsre
Zeit solchen bluttriefenden Tragödien frenid gegenüber steht. Kindesverstoßnng,
Ehebruch, Königs- nud Gatteumord, Muttermord, schauderhafte Verfluchung
des Sohnes durch die eigne Mutter, grausige Erscheinung und Umherschleichen
der Nachegöttiuucu in einem einzigen Stück, das schien auf dem Gebiete des
Entsetzlichen die heutzutage erlaubten Grenzen des Tragischen zu Überschreiten-
Sophokles aber sowie Euripides sind uns weniger fremd, denn sowohl in der
Naturwahrheit als auch in der Idealität der Auffassung steht die Charakter--
zeichuuug bei ihnen höher. Ihre Helden und Heldinnen sind unser» Herzen
und unsern Empfindungen näher gerückt als die des Äschylus. Bei ihnen
stehn die übermenschlichen Kräfte des Promethcnsdichters nicht mehr im Vorder¬
gründe: die zartern Regungen der kindliche» oder der mütterlichen Liebe, die
Gegensähe des Meers und des Geschlechts, die staatsmännische Weisheit de.
Herrschers werden viel bestimmter ausgedrückt. Der Knoten wird bei ihnen
durch geschickte Schürzung und dnrch den im Charakter der Helden begrün¬
deten Fortgang der Handlung gelöst. Die Herbheit der alten Borstellnng
von einem blindwaltenden Fatum wird, besonders bei Euripides. aber anch
schon bei Sophokles gemildert. Zwar waltet noch über dem ganzen Geschlecht
des Laios das grausige Schicksal, das Ödipns zum Vatermörder und zur
Blutschande getrieben hat. aber Monnet-Sully hat es eben verstanden, anch
auf die menschliche Seite der alten Tragödie dadurch ein Helles Licht zu werfen,
daß er die Verse betonte, in denen des Königs Herrschsucht. Jähzorn, unbän¬
diger Stolz und aufbrausende Heftigkeit zum Vorschein kommen. In dieser ^e-
ziehnng kann man seit den frühern Aufführungen des Sophokwschen Stücks
einen großen Fortschritt bemerken. Mit feinem Kunstgefühl hat Mounet-
Sullh immer mehr eingesehen, wie sich auch die Tragiker des Altertums be¬
müht haben, ihre Melden nicht völlig schuldlos leiden und untergehn zu lassen.
Besser als manche Kritiker und Philosophen hat er gefühlt, daß der Charakter
des Ödipns nicht durchaus fleckenlos gehalten werden darf, und daß der yetv.
der der Götter Spruch mißachtete und schon bei der Erschlagung des alten
Königs und seines Geleits die Grenzen der Notwehr überschritt, nicht ganz
ohne eigne Schuld dem schweren Geschick verfällt. Mit wunderbarem philo¬
sophischem Takt zeigte er uus in dem rasch auflodernden Zorne des Helden
gegen Kreon, Teiresias und andre aufs deutlichste die Äußerungen einer
unheildrohenden Leidenschaft. Sogar die Reue des unglücklichen Odlpns ist
aufs heftigste betont worden, und'wie wäre diese zu verstehn, wenn jeder
Freiheitsfnnke in ihm erloschen wäre?
Grausige Wolkennacht,
Welche mich schwarz umfängt!
Ewig durchbricht dich nie
Wieder ein Strahl des Lichts,
^wig umgibst du mit Schrecken und Graun mich!
Weh mir und aber Weh!
Ewige Stande und der Greuel Erinnrung
Bmrtert mit doppelten Stacheln die Brust!
Wie sein Bruder hat Paul Mounet als Teiresias die menschliche Seite
des Dramas betont und mit mächtiger Stimme den König gewarnt, sich vor
sich selbst in acht zu nehmen:
Dich bringt zum Fall uicht Kreon, sondern du dich selbst!
Auch Albert Lambert hat in der Rolle des Kreon diese Möglichkeit eines
Widerstands gegen das blindwaltende Verhängnis mit vollem Rechte vctont.
Mit mächtiger Stimme ruft er dem Ödipns zu:
Ringe nicht nach i-dem Preis!
Was du dir errangst, es schlug uicht dir zum Heil im ^eden aus.
Und ebensowenig hat Madame Delvair als Jokaste die Mutter und Ge¬
mahlin des Ödipns ' als völlig schnldfrei dargestellt. Daß ihr Götter und
Orakel nur dann etwas gelten, wenn die Not drängt, hat sie uns aufs deut¬
lichste offenbart.
Somit haben sich alle Darsteller bemüht, dein Chor gegenüber, der das
antike Schicksal vertritt, die menschliche Freiheit und überhaupt den mensch¬
lichen Charakter der Helden zu betonen. Man fühlt, daß es Mouuet-Sully
gelungen ist, seine Mitarbeiter immer mehr für seine philosophische und psycho¬
logische Auffassung des Dramas zu gewinnen. Darin liegt meines Erachtens
die tiefe literarische und philosophische Bedeutung der letzten Vorstellungen.
Aber auch im einzelnen haben es die Darsteller verstanden, ans dem
römischen Podium den Geist der antiken Tragödie zu neuem Leben zu er¬
wecken. Nur wer den Festspielen in Orange beigewohnt hat, wird sich wirk¬
lich eine antike Aufführung vergegenwärtige können. Wie im großen Theater
zu Athen am Südabhange der Akropolis, so auch hier in Orange ans dein
felsigen AbHange des Sankt Eutropeberges erheben sich die Sitzplätze immer
höher und höher, dicht gefüllt von Tausenden und aber Tausenden:
Von Menschen wimmelnd wächst der Ban
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.
Wie zur Blütezeit Athens macht die unter freiem Himmel nmphitheatralisch
gruppierte Menge einen imposanten Eindruck. Am Fuße des ungeheuern
Postszeninms erhebt sich das neueingerichtete Podium. Hinter nrnlten Granat¬
bäumen und dichtbelaubten Feigenbäumen sitzt das Orchester der Loinvclio
?ra,irhg.i3s nnter Laurent Troemes ausgezeichneter Leitung, unsichtbar wie in
Bayreuth. Mit ihren großartigen Säulentrümmern und dem üppigen Pflanzen-
wuchs der südlichen Gegenden hat die Bühne ein prächtiges Aussehen. Sie
versetzt uns auf die Kadmeia zu Theben. In der Mitte des Podiums erhebt
sich der Köuigspnlast des Ödipns mit der breiten Königspforte. Auf dem
Platze vor dem Gebäude ist das Volk um den Altar versammelt. Mit Öl¬
zweigen in den Händen knieen Knaben, Jünglinge und Greise auf den Altar-
stufen. Rechts und links erheben sich die Ruinen der römischen Nebengebäude,
bei denen der Halbzirkel der Znschanersitze endigt. Dort zeigt die Dekoration
die Straße nach der Stadt, hier deutet sie den Weg in die Fremde an. Das
Mitteltor des Palastes öffnet sich, und Mouuet-Smith, im Schmuck seiner
königlichen Würde, tritt langsam und majestätisch hervor — und nun ent¬
wickelt sich vor unsern Angen eine Handlung, so ergreifend und tragisch, wie
man sie in keinem modernen Drama, außer in Raciues „Feindlichen Brüdern"
und Schillers „Braut von Messina," finden kann. Nur in Orange habe ich
wirklich gefühlt, wie sehr der alte thebanische Mythus des Ödipus, der ohne
Wissen seinen Vater ermordet, seine eigne Mutter heiratet und sich endlich
in seiner Verzweiflung die Angen nnssticht, zur tragischen Darstellung geeignet
war. Niemals hat ein Schattspieler besser als Mounet-Sully die eigentümliche
Kunst des Sophokles verstanden, die eben darin besteht, daß erst nach und
nach der Schleier von der unseligen Vergangenheit des Königs enthüllt wird
und mit tragischer Ironie das Geheimnis von Ödipus selbst entdeckt wird,
>!w^sin>i " und wie es in dessenSchrittweise, wie in Schillers ^raM von^Sö n ^ ^ ^^^^ ^ ,^unvollendeten ..Kindern des H^'^^'^^.derbarer Kraft und Wahr-lüngstvergessene Verbrechen an den ^ag. ^^^^ ,^^ur begründetenHeit hat der französische SchansMler den ^ P^simiswns zu verau-und deu energischen Walteren be^ „.senden Gefahrschanlichen gewußt, der ""'^ das halbe Unglückentgegen eilt und das bevorstehende Unheil ,um
zumganzenmacht.
. . ^- :^er Warnung zum Trotze.Und als endlich der König nut sturun cher ^.^^ ^ ^^^^alle Decken von der Vergangenheit recht uno i ^^^^^nlly bis zur höchstendes Königs und Vaters enthüllt, da eryeor i )
denkbare« Tragik:
.....
Tresse Fluch ihn. der im Wald einst.
N
Mich gerettet, mich gepflegt hat
«leckt vom Mord des
Med ich dann bewahrt die Recht..
Ache „icht des Weibes Gatte
Der n Schoß mich einst gehegt,
^ich^ehe. und Verruchten ADer Erzeugerin selbst blutschaudr es^ehe^Und qäbs in der Welt noch grausiger -.«o.
Den Ödipus hätt es getrosten!
^usaacndenWer Monnet-Smith als Ödipus g^^^n tot it^ti^ert^ i^ ^Schauspieler und den Helden so vollkommen, das; er inn Schauspieler! Maudeu andern denken kann. So weit bringt es em großer ^ ^^eskann sich kaum denken, wie eine Ausführung des Odrpu» in ^. ^ ^sein wird, wenn sich Mounet-Sully von der Bühne ^rnctgcz>. g ^ ^^^eierdenn in tragischen Rollen kommt heutzutage kein srauzoMv.dem Dekan der Oornöäio kr^^ise gleich. Wenn
...sebekanntder „König Ädipns" in Orange und in Neuigkeit,war. so sind die Enripideischen ..Phöuizieriuueu" in Frank^et in .So viel ich weiß, ist das Stück bis jetzt ans keiner modernen ^ )^geführt worden, obwohl es schon von den alten Grammatitcrn ^ ^vollendetsten Schöpfungen des griechische« Tragikers erwähntefehlte uns nämlich eine passende Bühucnbearbeitnug- Der i ^.^Übersetzer der „Antigone" und der „Alkestis." Georg klassischenschwierige Aufgabe übernommen. Er hat die griechische ^n.^^Versen ziemlich frei wiedergegeben, und diese Bearbeitung ^ ^ verdankenim UMtre Vr-in^ins ausgeführt werdeu. Ganz ^ " ^ruft Mounet-ohne Zweifel die „Phönizierinnen" ihren Erfolg ^'/^^et wichtigere RolleSullys. Doch in dieser Tragödie spielen die Frauen
als '» !......."v in jenem Drumm. J„ der Rolle der Antigone hat Madame Segond-Weber
v interesse ^er Zuschauer für den alten Stoff gefesselt, während Albert
> "liiert und Jacques Fenoux die nicht weniger schwierigen Rollen der fcind-
ua)en Briider iibernoiin,n.i.
Nach dem aus Phönizierinnen zusammengesetzten Chor benannt, ist das
Drama die eigentliche Fortsetzung des „Königs Ödipns." Das Thema ist
die alte Feindschaft der beiden Söhne des unglücklichen Herrschers und der
Zweikampf des unseligen Brüdcrpnars, der den Höhepunkt des Dramas dar¬
stellt. Ergreifend war die Schauspielerin als Jokaste, die, von Mutterliebe
getrieben, die feindlichen Brüder zu versöhnen sucht. Von großer Wirkung
war auch die von Euripides erfnndne heldenmütige Aufopferung des jungen
Menoikeus, von dessen Tod, nach der Weissagung des Teiresias, der Sieg
der Thebaner abhängen soll.
Den höchsten Grad des Jammers erreicht aber der Schluß der Tragödie,
wo der blinde König, der nicht nur seine beiden Söhne, sondern auch die
treue Gattin verloren hat, durch die Klagen seiner geliebten Tochter Antigone
aus dem Palast gelockt und vom unerbittlichen Kreon ans dem Lande ver¬
trieben wird. Ganz besonders rührend ist Antigone, als sie ans die bevor¬
stehende Heirat mit Haimou, dem Sohne des Kreon, verzichtet, um den un¬
glücklichen Vater in die Fremde begleiten zu können: „Muß ich nicht das
Unglück mit dir teilen, ruft sie aus, mit dir wird mir die Berbannnng glor¬
reich sein. Gib mir die Hand, geliebter Vater, ich werde dich führen, wie
der Wind das Schiff führt; mit dir verlasse ich das Vaterland, um in der
Fremde ein unglückliches Leben zu führen; und, sollte ich sterben, ich werde
dich nicht verlassen."
Man muß zugeben, daß der Anfang des Dramas, trotz der tragischen
Zusammenkunft der beiden Brüder und der homerischen Beschreibung des Zwei¬
kampfs, etwas breit und eintönig war. Aber von dein Augenblick an, wo
Mouuet-Sullh auf der Bühne erschien und mit Frau Segond-Weber die ganze
Handlung des Stückes leitete, waren die Zuschauer wirklich gefesselt, und sie
gaben ihre Befriedigung durch stürmischen Beifall kund. Unvergeßlich wird
mir die hinreißende Begeisterung bleiben, die die neun- bis zehntausend Zu¬
hörer erfüllte, als Mounet-Sullh unes der Aufführung den Namen des Über¬
setzers nannte. Da hatte man wirklich das Gefühl, daß man in Südfrank¬
reich, im Lande der I'ölilzrcis und der OiMliörs, war.
Zum Schluß dürfen wir den tiefen Eindruck nicht vergessen, den die
ernste, andächtige Hnltnng der zahlreichen Zuschauer in uus zurückgelassen hat-
Ergreifender noch als die äußere Anlage wirkt die unaussprechlich eigentüm-
liche Stimmung der Festgüste, die trotz ihrer natürlichen Lebhaftigkeit und an-
gebornen Gesprächigkeit in ihrer vollen Andacht von halb nenn Uhr bis Mitter¬
nacht ausharren. Mau wird sich vielleicht wundern, daß solche Volksmassen,
wie man sie in Orange sehen konnte, in das richtige Verständnis einer antiken
Tragödie eindringen können. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir in
einer Provinz sind, die ein halbes Jahrtausend griechische Sprache, Sitte und
Bildung festhielt, die jahrhundertelang mit dem alten Rom in Verbindung
stand, die an allen Triumphen über transalpinische Völkerschaften teilnahm
und längere Zeit den gebildetsten Römern, ein Stelle Athens, zur Vollendung
ihrer Bildung eine Knnststütte bot. In der Provence kann mau die Namen
der Phozäer und der Griechen, der Gyptis und ihrer Geführten sogar in Volks¬
wirtschaften hören; der Bauer muntert sein Pferd mit dem Imperativ des
lateinische., irv auf. und bis auf unsre Tage haben zahlreiche Frauengestalten
etwas von dem griechischen Typus beibehalten: schöne, regelmäßige Gestchw-
zi'ge. charakteristische griechische Nase, stolze majestätische Haltung, dunkle leb¬
hafte Augen, schlanken Hals und ebenholzschwarzes Haar.
Dieser griechische Ursprung erklärt, warum die einheimische Be^lteruug
der Provence für die gewaltigen Schönheiten der alten griechischen Tragödie
viel empfänglicher ist als das Pariser Volk und überhaupt als irgend em
nördliches Publikum. Sozusagen instinktmäßig fühlen die Provenznlen in den
heroischen Dramen des Sophokles oder des Euripides etwas Verwandtes,
etwas, das sie um ihre Urahnen erinnert. Nur so kann man sich erklaren,
wie die feierliche Aufführung antiker Dramen zu einem wahren und allge¬
meinen Volksfeste werden kann. Und hierin liegt anch der große Unterschied
zwischen dem französischen und dein deutschen Bayreuth. Dort an der Mcnn-
stadt kommt eine aristokratische Gesellschaft zusammen, um einen einzigen Meister
zu feiern. 5>ier in Orange haben wir wirklich ein patriotisches und natwnales
Volksfest, an dem alle Kinder des Landes mit Begeisterung teilnehmen können.
Deshalb auf allen Wegen und Stegen das fröhliche Herbeiströmeu aus alleu
Dorfschaften und Gehöften der umliegenden Gegend; es ist. als ob das ganze
Volk seit dem Anfang des Tages auf den Beinen wäre. Bauernmüdchen um
schönsten Sonntagsstaat. Lnndlente im Kostüm ihrer heimatlichen Berge. Bnrger-
weister mit der breiten Trikoloreschärpe, katholische Pfarrer im schwarzen Talar.
leichte Einspänner, mit fröhlichen Menschen uberladue Fuhrwerke, alles eilt
demselben Ziele zu, alle wollen an dein „Feste des Südens" t> tMe an miäi)teilnehmen. Daher auch die feierliche Stimmung der Massen. Die Vorstellungen
zu Orange sind mehr als ein hohes literarisches Fest, mehr als eine großartige
Wiederbelebung der antiken Kunst. Sie sind das Fest der Provence, die Ver¬
herrlichung des Südens im Gegensatz zum Norden des Landes, sozusagenem Sieg der Provinz liber die Hauptstadt, die in der Wintersaison alles an
Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar.
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit
, Was mein einst war!
Rückert
Butterbtt
Ungemciier Name Bosse wird in einer vor Jahren einmal von mir durch¬
gesehenen Sammlung niederdeutscher Familiennamen als gleichbe¬
deutend mit Büchse, plattdeutsch Busse, bezeichnet. An welche Art
Büchsen dabei zu denken sei, war nicht gesagt. Die Sprachforschung
wird es auch schwerlich ermitteln können, ob die Familien Bosse,S^M> — »»»^ ^lo^rut) criul^ril >^,i»>>.,^, ^ ^>..,.^»^,^ ^lo^,
Busse, Basse, Böse ihren Namen auf eine Schießbüchse, Nadelbüchse,
esse, Sandbüchse oder auf welche andre Art Büchsen zurückzuführen haben,
i verbreitet ist der Name Bosse in der Stadt und dem Herzogtum Braun-
schweig. In dem ehemals hannoversch-lünebitrgischeic Amte Ahldcn liegt el» Dörfchen
immens Bosse, das eine recht armselige Sandbüchse sein soll. Ob wir damit zu¬
sammenhangen, weiß ich nicht. Ein Offizier von Bosse in Hannover hat mir aber
einmal erzählt, daß nach den Überlieferungen seiner Familie alle Bosses aus dem
Nraunschweigischen stammten. Das ist auch mir nicht unwahrscheinlich. Unser
Zweig der Familie stammt nach den Angaben meines seligen Vaters aus dem Dorfe
Walbeck bei Weferlingen oder ans dem benachbarten Schöningen bei Helmstedt,
und das weist also auch uns stark genug auf den braunschweigischen Ursprung hin.
Die Zurückführung des Namens Bosse ans Büchse oder Busse ist aber nicht un¬
bestritten. Als ich im Jahre 18L4 zum mündlichen Vortrag einmal mehrere
Tage in Friedrichsruh war, kam das Gespräch bei Tische auch auf deu Ursprung
unsrer Familiennamen, und ich teilte die vermutliche Zurückführung unsers Namens
Bosse auf Büchse mit. Fürst Bismarck, der sich früher mit solchen Dingen, wie
er sagte, viel beschäftigt hatte, wies diese Etymologie als völlig unrichtig zurück.
Er erklärte es für unzweifelhaft, daß die Namen Bosse oder Busse nichts andres
seien als volkstümliche Diminutivformen (Koseformen) des Vornamens Burghard
(Borghard, Borchert), der im Vvlksmunde in Buse und dann weiter in Busse oder
Bosse (vergleiche auch deu Familiennamen Boshard) umgewandelt sei. Diese Er¬
klärung gefiel mir gut, wenn ich auch ihre Richtigkeit nicht kontrollieren kann. Für
diese Auffassung des Fürsten Bismarck spricht aber, daß in der Geschichte des Stifts
Quedlinburg ein Ritter Bosse von Ditfnrth als stiftischer Lehnsvasall vorkommt.
Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß Bosse hier — ursprünglich wenigstens — der
Vorname gewesen ist.
Ich bin am 12. Juli 1832 in Quedlinburg geboren und am 12. August
desselben Jahres in der evangelischen Markt- oder Benedtktigemeinde dort getauft
worden. Die herrlich am Fuße des Unterharzes, nur eine Meile von der granitnen
Pforte des Bodetals inmitten einer lieblichen und fruchtbaren Landschaft malerisch
liegende, schöne alte Kaiserstadt ist mir fest an das Herz gewachsen. Ihre auf
einer besondern geschichtlichen Entwicklung beruhende Art ist nicht ohne Einfluß ans
mein Leben geblieben. Ich habe mich immer als Quedlinburger gefühlt, und mit
dankbarer Treue werde ich meiner Vaterstadt zugetan bleiben bis ins Grab.
Quedlinburg ist eine Schöpfung König Heinrichs des Ersten, des Vogelstellers
und Städtegründers. Das auf hohem Sandsteinfelsen von ihm erbaute stattliche
Schloß überragt mit der schönen, großen, romanischen Kirche die vieltürmige Stadt.
Heinrich und seine Gemahlin Mathilde sind in der noch hente wohl erhaltnen
Krhpta unter der Schloßkirche begraben, und ihre Gräber sind dort noch jetzt zu
sehen. Ziemlich dicht unter dem Schlosse heißt eine städtische Straße anch heute
uoch der Finkenherd. Nach der wenn auch uicht geschichtlich beglaubigten, so doch
auch nicht widerlegten Sage soll hier der Ort gewesen sein, wo Herzog Eberhard
von Franken, der Bruder des Königs Konrad, dem Sachsenherzoge Heinrich, den
er beim Vogelfang in der Nähe des Harzes traf, die Nachricht von dessen Wahl
zum deutschen König überbracht hat. Geschichtlich unterliegt es keinem Zweifel, daß
Heinrich auf Veranlassung seiner Gemahlin neben der Burg über dem Dorfe
Quitungen an der Bode ein Kloster oder Stift gegründet und „begiftet" hat,
dessen Glieder, Frauen aus edeln Geschlechtern, dort, frei von strengern Kloster¬
gelübden, ihren Unterhalt finden und dabei die Freiheit haben sollte», das Stift
wieder zu verlassen und sogar, wenn es ihnen beliebte, zu heiraten. Unter den
Ottonen wurde dieses Stift weiter ausgebant und reich dotiert. Schon Otto der
Große erklärte diese Stiftung urkundlich für ein freies, dem Kaiser unmittelbar
nnterworfncs Stift, dessen Kapitnlarinnen die Freiheit hatten, sich ihre Äbtissin
selbst zu wählen, und zwar so, daß diese niemand als dem Kaiser selbst und
dessen Nachfolgern zu gehorchen hatte und kein König oder Bischof irgend eine
persönliche Leistung von ihr sollte fordern dürfen. Daraus entwickelte sich dann
allmählich das freie, weltliche Reichsstift Quedlinburg mit der vollen, mir dem
Kaiser unterworfnen Souveränität nicht nur über die Stadt, sondern auch über
das dazu gehörende, zu Zeiten recht beträchtliche Gebiet. So wurde aus dem
Stift ein — zuletzt freilich nicht viel mehr als zwei Quadratmeilen umfassender —
deutscher Kleinstaat mit einer höchst eigentümlichen Verfassung und Entwicklung.
Das Stift gehörte, obwohl ursprünglich unzweifelhaft uiedersächsifch, zum ober-
sächsischen Kreise. Seine Äbtissin war eine unmittelbare Reichsfürstin und hatte
Sitz und Stimme auf dem Reichstage. Es hat bis zum Jahre 1803 bestanden.
Früher stand es unter kursächsischer, seit 1698 unter kurbrandenburgischer nud
sodnnn unter preußischer Schutzherrschaft, bis es infolge des Friedens von Luneville
(1801) und des Reichsdeputationshauptschlnsses (1803) seiue reichsunmittelbare
Selbständigkeit verlor und unter die unmittelbare Herrschaft Preußens kam. Mein
Vater hatte die letzte Äbtissin Sophie Albertine, eine königlich schwedische Prin¬
zessin aus dem Hause Wasa, uoch gekannt. Diese, eine Tochter der Prinzessin
Luise Ulrike von Preußen, einer Schwester Friedrichs des Großen, hatte sich in
Quedlinburg die Liebe ihrer Untertanen in hohem Grade erworben, und als sie
im Jahre 1803 Quedlinburg für immer verließ, um nach Stockholm zurückzukehren,
war der Abschied von ihr rührend und tränenreich gewesen. Sie ist im Jahre 1829
in Stockholm gestorben. Als ich mich im Jahre 1858 in Stockholm aufhielt, wurde
mir dort, nahe bei der Nordbrücke, ihr stattlicher Palast gezeigt, und nie bin ich
dort ohne das Gefühl eines gewissen heimatlichen Zusammenhangs mit diesem Hause
vorübergegangen. Merkwürdig, wie weit in die Welt hinaus solche heimatliche
Beziehungen reichen können. Zur Zeit der Chieagoer Weltausstellung im Jahre
1893 traf ein Bekannter von mir vor dem Eingange zum Uellowstonepark in
Wyoming, also im fernen Westen von Nordamerika, einen deutschen Mann, der
dort mit allerhand Naturmerkwürdigkeiten und Andenken aus dem berühmten
Nationalpark handelte und sich als einen Quedlinburger, namens Otto Schmidt, zu
erkennen gab. Das hatte zu einem Gespräch über Quedlinburg und auch über mich
und mein Ergehen geführt. Dieser Otto Schmidt, der Sohn eines ehrsamen Quedlin¬
burger Glasermeisters, war vor fast sechzig Jahren mit mir in unsrer Vaterstadt
in die Volksschule gegangen. Er sandte mir, feinem alten Schul- und Spielkame¬
raden, über das große Wasser hinüber herzliche Grüße
Natürlich spielte das stolze Kaiserschloß in Quedlinburg mit den sich daran
anknüpfenden geschichtlichen Erinnerungen, die in den Bürgerhäusern der Stadt
lebendig waren, anch bei der heranwachsenden Jngend eine große Rolle. Ebenso
vielleicht noch mehr die Zeit, in der die Stadt zum Bunde der Nansa geholt ut
sich durch die Mannhaftigkeit und den Unabhängigkeitssinn ihrer Bürger hervor
getan hatte. Namentlich aber war es die Fehde, oder wie sich die alten Chroniken
ausdrucken, der Krieg, deu die Quedlinburger Bürger im Bunde mit den Nachbar-
städten Halberstadt und Aschersleben im vierzehnten Jahrhundert gegen die von der
AbKsstn Jutta mit der Vogtei oder Schutzherrschaft über die'Stadt beliehenen
Grafen von Neinstein (Regenstein) geführt hatten. In diesem Kriege hatten die
tapfern Quedlinburger Bürger gegen den sein Schutzrecht arg mißbrauchender
Grafen Albert von Neinstein schließlich obgesiegt und den Grafen in dem sumpfigen
Terrain am Hackelteiche hinter der Bockshornschanze — die Quedlinburger sprechen
diesen Namen aus: Boxohrenschanze — auf dem Wege nach der ihm gehörenden
Gersdorfer Burg im Jahre 1336 gefangen, ihn in die Stadt geschleppt und dort
auf dem Rathause in einem aus starken eichnen Bohlen eigens dazu gezimmerten,
kleiderschrankartigen Kasten zwanzig Monate lang gefangen gehalten, ihm den
Prozeß gemacht und ihn zum Tode verurteilt. Dieses Todesurteil war vom Kaiser
bestätigt worden. Das Tuch war schon beschafft, auf dein der Graf gerichtet werden
sollte, und das Schafott im Felde vor der Stadt hergestellt, als am 20. März 1338,
wahrscheinlich dem zur Hinrichtung bestimmten Tage, der Graf in letzter Stunde
sich dazu verstand, in feierlichen Reversen die Rechte der Stadt und der Äbtissin
anzuerkennen, Urfehde zu schwören und die Mauern der Stadt durch die Er¬
bauung von sieben Türmen zu verbessern. Diese Türme stehn der Mehrzahl nach,
wenn nicht alle, noch heute, und der alte Kasten, worin der Graf geschmachtet
hatte, ist noch jetzt auf dem Rathansboden. Mau kann sich denken, welchen Zauber
die Erinnerung ein jene Zeit auf die Quedlinburger Jugend ausübte. Wie oft
haben wir als Jungen auf dem alten Rathausboden mit den Söhnen des Markt¬
meisters, der zugleich Nathauskastcllan war, oder auch draußen an der Bockshorn-
schanze und am Hackelteich „Albert von Reinstein" gespielt! Mein Landsmann,
der Dichter Julius Wolff, hat diesen Grafen Albert von Reinstein zum Helden
seines bekannten historischen Romans „Der Ranbgraf" gemacht und damit dieser
Episode in der Geschichte unsrer Vaterstadt ein schönes und rühmliches Denkmal
gesetzt.
Dem Schlosse unmittelbar gegenüber, hart an der Stadt, liegt der Münzen¬
berg Mons Sion), ein schroff abfallender Bergkegel, auf dessen Spitze in alter
Zeit gleichfalls ein Frauenkloster, das Marienklvster, gestanden hat. Bis auf ganz
wenige dürftige Mauerresie ist dieses Kloster längst verschwunden. Jetzt ist an
seine Stelle ein Komplex kleiner Wohnhäuser, eine Art Straße, zu der man in
meiner Jugendzeit auf eiuer steilen, wohl über hundert Stufen zählenden Treppe
hinaufstieg. Der Münzenberg war dazumal einigermaßen verrufen. Es wohnten
dort nur arme Leute, und wie man sagte, nicht ganz ehrliche. Man erzählte sich,
daß, wenn auf dem Münzenberge ein Kind geboren würde, der Vater es zum
Fenster hinaushalte und sage: Das alles, was du da unten stehst, gehört dir; nur
darfst du dich nicht fassen lassen. Das war eine Schnurre, die man erzählte, ohne
sie zu glauben. Richtig war nnr, daß dort oben auch eine Anzahl anrüchiger Leute
wohnte. Die Eltern sahen es deshalb nicht gern, daß wir ans den Münzenberg
gingen. Wir aber gingen gern hinauf; denn die kleinen Häuschen nahmen sich
oben ganz nett und ziemlich sauber ans, und die Aussicht von oben auf das
Schloß, die Stadt, deren nächste Umgebungen und weiter hinaus auf die lang¬
gestreckten, blauen Harzberge war unvergleichlich schön.
Die Umgebung der Stadt ist von großer landschaftlicher Schönheit. An den
Münzenberg schließt sich im Südwesten der Osterberg, auf dessen Gipfel die Oster-
und die Johannisfeuer abgebrannt wurden, und um diesen langgestreckt in der Richtung
nach dem Negensteine zu der Laugeberg. Auch im Norden war die Stadt von
Bergen umgeben. Da lagen der Galgenberg, offenbar die frühere Richtstätte, und
der Kanonenberg, auf dem bis zum Ende der stiftischen Zeit die Lärmkanone ge¬
standen hatte. Sie wurde gelöst, wenn von der preußischen Garnison Soldaten
desertiert waren. Die Ärmsten mußten, wenn sie eingefangen wurden, zur Strafe
Spießruten laufen. Mein Vater hatte auch diese entsetzliche Prozedur noch gesehen,
bei der der Delinquent, bevor er seinen Marsch durch die Gasse seiner spalier¬
bildenden und mit Weidengerten auf seinen entblößten Rücken schlagenden Kameraden
antrat, eine Bleikugel in den Mund gesteckt erhielt, um darauf seinen Schmerz zu
verbeißen. Der Knuonenberg wurde hoch überragt durch die Kuppe der Hamwarte,
und hinter dieser lag der poetische Kncknckswinkel, ein einsamer mit Schlchdorn-
büschen und wilden Rosen bestandner, blumenreicher Nasenfleck mitten im Felde.
Mein Vater besaß dort oben ein Ackerstück, und an schönen Sonntngnachmittagen
wanderten wir im Frühling oder Sommer mit ihm hinauf in diesen Winkel
idhllischer Feldeinsamkeit, um uns am Stande der Saaten und an der schönen
Aussicht zu erfreuen. Im Osten der Stadt schloß sich an die Bockshornschanze der
Bleicheberg, ans dem jetzt inmitten schöner Anlagen ein Bismarckturm steht. Jen¬
seits der Bode hinter dem kleinen Lustwäldchen der frühern Äbtissinnen, der Brühl
genannt, erhob sich die jetzt mit Wald nngeschonte Altenburg, ein mit einem Wart¬
turm gekrönter, mächtiger Sandsteinhügel mit einer Reihe großer und tiefer, saal¬
artiger Höhlen. Für uns Jungen die erwünschtesten Spielplätze, namentlich wenn
wir mit Fackeln in die geheimnisvolle Tiefe der Gänge und Sandsteinhöhlen ein-
dringen konnten. Rings um die Stadt zog sich ein Kranz großer, blühender
Gärten, zu denen die alten allmählich in Gärten verwandelten Stadtgraben ge¬
hörten. Dazu die mitten durch die Stadt fließende Vode mit ihren zahlreichen
Mühlen, während ein andrer Arm des Flusses in weitem Bogen die Stadt um-
floß. Und endlich die Nähe des schönen Harzes, und vor diesem die gigantischen
Geschiebe der sogenannten Teufelsmauer. Man kann sich in der Tat kaum eine
Landschaft deuten, deren natürlicher Zauber stärker auf das Gemüt der Jngend
wirken könnte als diese.
Bald nach dem Aufhören des stiftischen Kleinstaats war die französische In-
vasion gekommen. Quedlinburg war dem neuen Königreich Westfalen einverleibt
worden, und die Regierung des Königs Jerome hatte nichts eiligeres zu tun ge¬
habt, als die reichen Stiftsgüter zu parzellieren und sie einzeln gegen bares Geld
zu verkaufen. Ju Quedlinburg hatte sich nnter den stiftischen Zoll- und Steuer¬
verhältnissen die Branntweinbrennerei zu einem blühenden Industriezweig entwickelt.
Fast in jedem fünften Hanse war damals eine Brennerei. Neben dieser Spiritus¬
industrie bestanden einige Tuchfabriken, und an der die Stadt durchfließenden Bove
hatten sich Gerbereien und Färbereien etabliert. Zahlreiche große Mühlen inner¬
halb und außerhalb der Stadt machten gute Geschäfte, und so erklärt es sich, daß
die meist Ackerbau treibenden Bürger durchschnittlich zu Wohlstand gekommen waren,
und daß Quedlinburg nicht ohne Grund weit und breit als eine reiche Stadt galt.
Als die westfälische Negierung die Stiftsgnter verkaufte, nahmen die Bürger, was
sie an barem Gelde irgend flüssig machen konnten, und kauften damit die früher
stiftischen Gärten, Güter und Äcker zu wahren Spottpreisen. Auch mein Großvater
hatte auf diese Weise in der Quedlinburger und der benachbarten, gleichfalls stiftisch
gewesenen Ditfurter Feldmark einen ansehnlichen Grundbesitz erworben. Während
der Kriegszeiten florierte begreiflicherweise das Brennereigeschäft, und so gelang es
den Bürgern, den Besitz ihrer der westfälischen Regierung abgekauften Grundstücke
während der Kriegs- und der danach folgenden knappen Fahre zu halten. Nach
den Befreiungskriegen wurde Quedlinburg wieder preußisch. Die preußische Re¬
gierung erkannte die Verkäufe der Stiftsgüter als giltig an, der Wert des Grund¬
besitzes stieg später ganz bedeutend, und so geschah es, daß eine Anzahl Quedlin¬
burger Bürgerfmniltcn zu sehr beträchtlichem Wohlstande gelangte. Das gilt much
von meinem Großvater Johann Andreas Bosse.
Mau sollte meinen, die Quedlinburger hätten hiernach allen Grund gehabt,
gut preußisch zu sein. Jetzt sind sie es auch, und offiziell waren sie es auch in
meiner Jugendzeit. Es ist mir aber, als ich ein Knabe war, oft genug aufgefallen,
wie kühl die Quedlinburger Bürger, wenn sie nnter sich waren, den preußischen
Verhältnissen gegenüberstanden. Für sie war die gute alte Zeit die stiftische Zeit.
Wenn sie davon erzählten, wurden sie warm und konnten sogar begeisterte Worte
finden. Erklärlich genug. Leute mit einigermaßen engem Gesichtskreise kommen
immer wieder darauf zurück, die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart zu über¬
schätzen. Das ist und war bet den Verhältnisse» Quedlinburgs psychologisch ganz
verständlich. Die Strammheit des preußischen Dienstes, ein gewisses Maß bureau¬
kratischer Rücksichtslosigkeit, die Preußischen Steuerverhältnisse, das alles wich von
der bequemen und mit einem starken bürgerlichen Selbstbewußtsein empfundnen
Behaglichkeit der stiftischen Zeit nicht wenig ab. Bürgermeister und Rat hatten
der Äbtissin gegenüber von jeher ein nicht geringes Maß von Selbständigkeit be¬
ansprucht und auch durchgesetzt. Sie hatten das alles als eiuen aparten Vorzug,
als eine Art Würde empfunden, die sie vor den Nachbarstädten voraus hatten.
Und wenn das auch im achtzehnten Jahrhundert nnr noch wenig materielle Be¬
deutung gehabt haben mag, so hatten sich doch gewisse Formen erhalten, die um
die alte Bürgerherrlichkeit erinnerten. Schon daß Bürgermeister und Rat zu der
fürstliche« Laudesherriu in einem uumittelbnreu Verhältnis standen, daß diese mit
der Pröpstin, Dekcmissin und deren Damen in der Stadt lebten und verkehrten,
daß die Bürgerschaft bei den großen Festlichkeiten auf dem Schlosse gewisse Ehren¬
dienste tat, war etwas Absonderliches, was andre Städte nicht hatten. Der regie¬
rende Bürgermeister war zur stiftischen Zeit mit der Würde eines großen Herrn
aufgetreten. Noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ging er zum und vom
Rathause auf dem breiten Stein in der Mitte der Straße, von zwei „Liktoren"
begleitet, die für ihn Platz schafften. Ich selbst habe als Kind von altern Bürgern
erzählen hören, wie stattlich es sich ausgenommen habe, wenn der altstädtische
Bürgermeister Christian Georg Schwalbe mit Perücke und großem spanischen»
Rohr durch die Straßen der Stadt stolziert sei und die Liktoren vor ihm her ge¬
rufen hätten: ^de op de Halbe/')
Jetzt kimmt der Vorgemeester Schwalbe!
Mit dieser burgemeisterlichen Herrlichkeit war es natürlich zur preußische«
Zeit vorbei. Immerhin ruhte auch in meiner .Wildheit noch ein Abglanz dieser
hoheitsvollen Würde ans dem „Herrn Bürgermeister." Ich habe den letzten stif¬
tischen, altstädtischen Bürgermeister, Schwalbes Nachfolger, namens Donndorf, der
zur westfälischen Zeit „Maire" und zur preußische» einziger Bürgermeister der
Stadt geblieben war, noch gekannt. Er war ein kleiner, freundlicher, höchst wür¬
diger Herr, der nie anders als in hohem Hut und blauem Frack mit gelben
Knöpfen ausging. Dabei trug er ein spanisches Rohr mit goldnem Knopf. Dann
blieben die Leute stehn und grüßten ihn ehrerbietig. Wir Kinder aber ginge» an
ihn Hera» »»d gäbe» ihm voll Ehrfurcht die Hand. Er hatte dabei immer kleine
neue Kupfermünze», Pfennige oder Dreier, in der Tasche, die er a» die Kinder,
die ihn artig begrüßten, verteilte. Wir hatten einen unbeschreiblich großen Respekt
vor dem weißhaarigen alte» Herrn.
Daß sich die ältere Generation der Bürgerschaft mit der preußischen Herr¬
schaft nur langsam und nicht ohne inneres Widerstreben befreundete, hing überdies
damit zusammen, daß ma» sich in Quedlinburg »»geachtet der preußische» Schutz-
Herrschaft früher niemals als preußisch, sonder» ausschließlich als stiftisch angesehen
und gefühlt hatte. Gegen das preußische Wesen hatte ma» sich gewehrt, und man
hatte sich daran gewöhnt, die preußischen Einrichtungen scharf und ganz ungeniert
zu kritisieren. Man hatte sich »ach außen hi» abgcschlosse», und in dieser duodez¬
staatlichen Atmosphäre hatte sich, genährt dnrch die wirtschaftlich günstigen Verhält¬
nisse, ein engherziger, in gewissen, Sinne hochmütiger, kleinstaatlicher und klein¬
städtischer Lokalpatriotismus ausgebildet, der sehr geneigt war, alles, was „draußen"
passierte, mit einer nicht immer berechtigte» Geringschätzung zu betrachten und
die e>igne Persönlichkeit mit großer Rücksichtslosigkeit zur Geltung zu bringen.
Darauf wird es Wohl zurückzuführen sein, daß die Quedlinburger bei ihren Nach¬
barn ini Geruch einer sehr naturwüchsigen, massiven Grobheit standen. In der
Tat gab es in meiner Vaterstadt eine ganze Reihe höchst eigner, grobkörniger
Originale, deren zum Teil witzige, ungeleckte Derbheit alles überstieg, was einem
anderwärts von ähnlicher Art begegnete. Von diesen alten, originellen, groben
Quedlinburger Bürgern zirkulierten in »reiner Jugend eine Menge höchst amüsanter
Geschichte». Sie sind aber meist allzu drastisch, als daß sie sich hier wiedergeben
ließen. Immerhin herrschte durchschmttlich i» den Bürgerhäusern ein guter, höflicher
und sogar feiner Ton, und auf gute, anständige Umgangsformen wurde mit Strenge
gehalten. Vielleicht war das doch auch ein Nachklang der ehemalige» Berühruiig
zahlreicher, besser sitnierter Bürgerfamilien mit de» das Stift regierenden Damen,
oder wie man sich in Quedlinburg ausdrückte, „mit dem Schlosse."
Die Nachrichten über die Geschichte unsrer Familie sind zu meinem Leid¬
wesen recht dürftig. Das Wenige, was ich davon habe ermitteln können, bericht
wesentlich auf mündlicher Überlieferung und reicht nicht über das erste Viertel des
achtzehnten Jahrhunderts zurück.
Mein Urgroßvater Johann Ernst Bosse ist in der ersten Hälfte des acht¬
zehnten Jahrhunderts von Walbeck bei Weferlingen aus als Böttchermeister in
Quedlinburg eingewandert. Er erwarb dort ein Haus, betrieb sein Handwerk und
ist, 79 Jahre alt, im Jahre 1792 ein der Brustwassersucht gestorben. Mein Vater
war damals zwar erst fünf Jahre alt, hing aber an seinem Großvater mit be¬
sondrer Liebe. Er behauptete, daß er selbst mehr nach diesem Großvater als nach
seinem Vater geartet sei, und war, als er noch kerngesund war, überzeugt, daß er
wie sein Großvater einmal an Brustwassersucht sterben werde. Merkwürdigerweise
hat sich diese Annahme auch erfüllt.
Mein Großvater Johann Andreas Bosse war am 3. Februar 1754 geboren
und ist im Jahre 1836 im Alter von 82 Jahren infolge eines Schlagflusses ge¬
storben. Ich entsinne mich nur noch dunkel seiner großen, hagern Gestalt. Auch
er war ursprünglich Böttchermeister gewesen und muß schon als solcher, also auf
dem goldnen Boden des ehrsamen Handwerks, zu einigem Wohlstande gelangt sein.
Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts verkaufte er sein bescheidnes Haus mit
der Böttcherwerkstatt und erwarb das nahe dabei um der Ecke des Klinges dicht
an der Bode liegende große und mit weitläufigen Nebengebäuden versehene Haus,
worin ich geboren bin. In diesem Gehöft betrieb er eine nach damaligen Ver¬
hältnissen schwunghafte Brennerei. Das Brennereigewerbe in Verbindung mit einer
ausgedehnten Viehmastung und einer in mäßigen Grenzen gehaltnen Landwirtschaft
muß damals sehr einträglich gewesen sein. Es entwickelte sich in Quedlinburg zu
einer ganz auffälligen Blüte. Dies hing ohne Zweifel mit den stiftischen Steuer-
und Zollverhältnissen zusammen. Sie waren weit günstiger als in den benach¬
barten unmittelbar preußischen, anhaltischen, braunschweigischen und hannoverschen
Gebieten. Nach diesen hin hatte die Quedlinburger Produktion einen flotten Absatz.
Überdies muß an der nahen braunschweigischen und nnhaltischen Grenze ein starker
und einträglicher Schmuggelverkehr bestanden haben. Über dessen Einzelheiten waren
noch in meiner Jugendzeit, nachdem der Schmuggel an den Landesgreuzen durch
den Zollverein längst sein Ende gefunden hatte, die abenteuerlichsten Schauer¬
geschichten im Schwange. Genug, das Brennereigeschäft meines Großvaters prospe-
rierte in hohem Grade. Das spätere ungewöhnliche Anwachsen seines Wohlstands
verdankte er jedoch hauptsächlich wohl den schon erwähnten Erwerbungen ans den
westfälischen Domäneuverkaufen.
Mein Großvater war verheiratet mit Anna Rebekka gebornen Fritze. Von
beiden existieren noch gute Pastellbilder aus dem Jahre 1867. Danach hatte der
Großvater ein scharf ausgeprägtes, kluges Gesicht. Hell und mit unverkennbarem
Humor blickt sein blaues Auge in die Welt. Die Großmutter erscheint als eine
stattliche, noch immer anmutige Frau mit freundlichen, einnehmenden Zügen. Ihr
rundes, charakteristisches Kinn findet sich bei der großen Zahl ihrer Enkel und
Enkelinnen wieder, sodaß wir, die Kinder ihrer Söhne und Töchter, sehr oft auf
unsre Ähnlichkeit untereinander angeredet und für Geschwister gehalten wurden,
obwohl wir nur Vettern und Basen waren. Das schöne, brciunseidne Kleid mit
erhaben eingewirkten, kleinen Blumensträußen, worin meine Großmutter sich hat
malen lassen, besitze ich noch heute. Es kann sich noch jetzt, nach fast hundert
Jnhreu, sehen lassen und ist tadellos erhalten. Die heutigen Damenkleider werden
schwerlich von derselben Haltbarkeit sein.
Meine Großeltern hinterließen fünf Kinder, zwei Söhne und drei Töchter.
Eine von diesen war die Gattin des Kaufmanns Ludwig Adolf Krnmer. Er besaß
am Markt ein stattliches Haus, dessen erstes Stockwerk die Großeltern bewohnten,
nachdem mein Vater das Haus am Klinge mit der Brennerei im Jahre 1819
übernommen und der Großvater sich zur Ruhe gesetzt hatte. Es gehört zu meinen
frühsten Erinnerungen, daß ich als zwei- oder dreijähriger Knabe von den Fenstern
der Wohnung der Großeltern ans den damals berühmten Seiltänzer Koller gesehen
habe. Dem Krcnnerschen Hanse gegenüber lag auf der andern Seite des Markes
der städtische Ratskeller. Aus einer Dachluke des Ratskellergebäudes war ein Seil
in beträchtlicher Höhe quer über den Markt gespannt und auf dem Boden eiues
der gegenüberliegenden Häuser befestigt. Auf diesem Seil überschritt Koller mit
einer langen Balancierstange den Markt. Sein größtes Kunststück aber war, daß
er aus dem Dachbodenfenster des Rathauses eine zu diesem Zweck besonders kon¬
struierte Schiebkarre mit einem vergitterten Kasten ans dem Seile vor sich herschob,
in der Mitte des Seiles Halt machte, den Kasten öffnete und damit einer Anzahl
Tauben die Freiheit gab, die lustig davonflogen. Bei dieser Gelegenheit wurden
wir bei unserm Großvater mit Kaffee und Pfannkuchen, die man in Quedlinburg
Prilken nennt, bewirtet.
Von den Geschwistern meines Vaters besaß sein älterer Bruder Ernst gleich¬
falls eine Brennerei in Quedlinburg, und zwar am Finkenherde. Er ist früh ge¬
storben und hat nnr einen Sohn, Karl Bosse, hinterlassen. Dieser besaß den ehe¬
maligen großen Propsteigarten vor dem Neuweger Tor. Er war einer der ersten,
die damals die nachher zu großer Blüte gelangte Kunst- und Handelsgärtnerei in
großem Umfange betrieben. Die drei Schwester» meines Vaters waren sämtlich
in Quedlinburg verheiratet und lebten in solidem Wohlstande. Die älteste, Elisabeth,
war die Gattin des Kaufmanns Kohlmann, eine strenge, aber untadlige, kluge Fran.
Ihr Rat gab in allen Familienangelegenheiten den Ausschlag. Die zweite war die
schon erwähnte Gattin des Schnittwarenhändlers Kramer am Markt, eine seine,
wohl allzu zartbesaitete Frau. Sie hat sich nach der Erzählung meines Vaters
darüber zu Tode gegrämt, daß ihr übrigens trefflicher Mann Freimaurer geworden
und dadurch genötigt gewesen sei, ein Geheimnis vor ihr zu haben. Die dritte
war an den Weißgerbereibesitzer Ernst Uhlemann verheiratet. Sie steht mir als
eine kleine, liebreiche Matrone vor Augen. Sie beschenkte uus Kinder, wenn wir
mit einer Bestellung zu ihr kamen, regelmäßig mit den herrlichsten Äpfeln und
Birnen, die sie in ihrem an der Bode gelegnen Hausgarten in Fülle erntete. Sie
las mit Vorliebe Klopstocks Messias und schrieb sich lange Stellen daraus ub. Ich
hatte aber immer den Eindruck, daß sie sich unter dem Druck ihres wortkargen,
mürrischen, ja finstern Mannes nicht recht glücklich fühlte.
Die Geschwister meines Vaters und dieser hielten untereinander gute Freund¬
schaft. Die Großeltern wurden von ihnen respektvoll noch mit Sie angeredet.
Untereinander redeten sich die Schwäger mit „Herr Bruder" um, obwohl sie sich
duzten. Sie besuchten sich von Zeit zu Zeit, um Rat miteinander zu pflegen.
Einen eigentlich geselligen Familienverkehr untereinander aber hatten sie nicht. Ich
entsinne mich nicht, daß diese unsre nächsten Tanten und deren Männer jemals
festlich bei uus gegessen hätten. Das war nicht Mode, mag aber anch an den
eigentümlichen Verhältnissen meines Vaterhauses gelegen haben, die meinen Vater
der Geselligkeit entfremdeten.
Zweifellos gehörte mein Großvater zu den angesehensten Bürgern der Stadt.
Auch seine Kinder hatten sämtlich einen untadligen, guten Namen. Um ihre Hänser
schwebte ein Hauch unantastbarer, bürgerlicher Solidität.
Mein Vater war am 17. April 1787 geboren. Er war ein stattlicher, kern¬
gesunder Mann, freundlichen und wohlgebildeten Angesichts, mit blauen Augen und
vollem, natürlich gelocktem, dunkelm Haar, das er in seiner ganzen Fülle fast ohne
einen Schimmer von grau mit ius Grab genommen hat. Seine Haltung war
gerade, sein Wesen offen und herzgewinnend, sein Gang schnell und sicher. In
seinen Bewegungen lebhaft, ließ er sich gleichwohl in seiner ciußeru Haltung
niemals gehn.
Er war streng in seinen Grundsätzen, mild in seinem Urteil über andre, sehr
schlicht und einfach in seiner Lebensweise, von kirchlicher, aber der Zeit entsprechend
rationalistischer Gesinnung. Diese gewann erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens
eine positivere Gestalt. Er ging gern und fleißig zur Kirche. Der Predigt folgte
er mit Aufmerksamkeit, und er wußte ihren wesentlichen Inhalt mit sicherer Ge¬
läufigkeit wiederzugeben. Er respektierte die Obrigkeit und die ihm zunächst stehende
Autorität, den Landrat, den Burgermeister, die Geistlichen und namentlich die Lehrer
seiner Kinder. Politisch war er seiner innersten Neigung nach liberal. Nicht immer
konsequent in liberalen Anschauungen, aber doch immer geneigt, einem gesunden
Fortschritt zu huldigen, neue Ideen, die er als gut erkannte, zu acceptieren. Vor
dem Alten und Hergebrachten hatte er, nnr weil es das Herkömmliche war,
wenig, und wie ich glauben möchte, zuweilen wohl etwas zu wenig Respekt. Gleich¬
wohl schützten ihn die ungemeine Solidität seiner Persönlichkeit und sein gesunder
Menschenverstand vor Neuerungssucht und unpraktischen Experimenten. Er war gar
nicht philiströs und konnte sich bei heiterer Laune auch Wohl einmal über die klein¬
liche Philister« höher stehender Personen in seiner harmlosen Weise belustigen. Er
war ein Mann der guten Sitte und der bürgerlichen Ordnung, aber von dem
spezifisch preußische» Sinn, wie er sich namentlich seit dem Jahre 1848 — ost
vielleicht etwas gar zu anspruchsvoll und aufdringlich — geltend -machte, hielt er
nicht viel. Über unsre preußischen Könige, von Friedrich dem Großen bis zu
Friedrich Wilhelm dem Vierten, konnte er recht hart und nicht immer gerecht
urteilen. Das lag wesentlich an den Verhältnissen, unter denen er aufgewachsen
war. Uns Jungen wurde in der Schule die preußische Geschichte, wenn auch
ziemlich dürftig, doch immerhin so gelehrt, daß wir stolz darauf waren, Preußen
zu sein. Mit Staunen und nicht ohne eine gewisse Betrübnis merkte ich schon
früh, daß mein Vater und auch einzelne Leute seines Umgcmgskreises dieser unsrer
naiven preußischen Begeisterung oft recht kühl gegenüberstanden. Den alten Fritz
ließ man als Feldherrn und als Kriegshelden allenfalls gelten. Archenholtzens Ge¬
schichte des siebenjährigen Krieges war in meines Vaters Besitz und wurde auch
fleißig gelesen. Aber über die Regierung Friedrichs, über seine Zolleinrichtungen,
seine Münzpolitik, seine mit dem Alter gewachsene tyrannische Strenge und seine
Hofverhältnisse hörte man desto härtere und oft ganz ablehnende Urteile. Friedrich
Wilhelm dem Dritten ließ man für seiue Person ein gewisses Maß von Gerechtig¬
keit widerfahren, aber warm oder gar begeistert sprach man nicht von ihm. Erst
als nach seinem Tode sein „letzter Wille" bekannt wurde, schlug diese kühle
Stimmung uni, und mein Vater kaufte ein damals viel verbreitetes Kunstblatt, auf
dem dieser „letzte Wille" mit goldnen Lettern abgedruckt war. ließ es einrahmen
und hängte es in unsre Wohnstube. Das hinderte aber nicht, daß man die staat¬
lichen Einrichtungen oft sehr herb beurteilte. Für die Armee, oder wie man sich
damals ausdrückte, das Militär hatte man wenig Sympathien, obwohl die Bürger
mit ihrer Garnison, zwei Schwadronen des siebenten Kürassierregiments, jetzt
Seydlitz-Kürassiere, und namentlich auch mit deu Offizieren ans gutem, zum Teil
sogar freundschaftlichem Fuße standen. An Krieg glaubte man überhaupt nicht
Mehr. Das ganze Militärwesen galt darum den alten Bürgern, die nicht Soldat
gewesen waren, als ein ziemlich überflüssiges, kostspieliges Spielwerk. Mein Vater
war ein entschiedner Gegner der Mahl- und Schlachtsteuer, der sogenannten Accise.
Er schwärmte und in gewissem Sinne agitierte er auch für direkte Steuern. Auch
die Maischraumstener für die Branntweinbrennerei mit ihren in der Tat sehr
lästige» Deklarationen und Kontrollen war ihm ein Dorn im Auge. Über alle
diese Dinge habe ich als Kind in meinem Elternhause oft disputieren hören, und
nicht immer war ich überzeugt, daß die kritischen und unzufriednen Stimmen Recht
hätten. Am wenigsten Verständnis hatte ich für die kühle, zuweilen eisige Haltung,
die mein Vater unsrer vielleicht unklare«, aber begreifliche» preußischen patrio¬
tischen Begeisterung entgegensetzte. Ich hing an meinem Vater mit der innigsten
Liebe und dem größten Respekt, und meine Zweifel über die Berechtigung der von
ihm vertretnen politischen Ansichten taten dieser Liebe und diesem Respekt auch
keinen Abbruch. Aber zuweilen empfand ich diese Zweifel doch als einen dunkeln
Punkt, über den ich mir recht törichte Gedanken machte.
Mein Vater war seit dem Jahre 1819 verheiratet mit Dorothea gebornen
Sachse aus dem nahen anhaltischen Städtchen Gernrode. Dieser Ehe waren vier
Kinder, zwei Töchter und zwei Söhne entsprossen. Ich war das dritte Kind und
zwei Jahre älter als mein Bruder Gustav. Er ist später nach Brasilien aus¬
gewandert und dort während des Krieges gegen Paraguay in einem Lazarett ge¬
storben.
Während die Ehe meiner Eltern anfänglich sehr glücklich gewesen war, trat
im Jahre 1835 ein tiefer Riß zwischen ihnen ein. So tief, daß er zur Trennung
der Ehe führte. Meine Mutter zog uach Gernrode, wo ihre Eltern bei einer mit
dem Bürgernieister Sobbe verheirateten jüngern Tochter lebten. Ich erinnere mich
aus jener Zeit nur, daß wir Kinder trotz der Scheidung öfter für längere Zeit
bei der Mutter in Gernrode sein durften. Dort habe ich die Masern überstanden
und die ersten Stiefel bekommen, auf die ich stolz war. Ebenso entsinne ich mich
daß meine Mutter, eine schöne, stattliche Frau, einmal in Quedlinburg war
und mich zu einem Besuche bei Bekannten aus dem väterlichen Hause abholte. Sie
starb, als ich noch nicht vier Jahre alt war, plötzlich an den Folgen eines Nerven¬
fiebers. Diese Krankheit hatte sie sich durch ein heftiges Erschrecken über Diebe,
die Nachts bei ihr einbrechen wollten, zugezogen. Einen tiefen Eindruck hat aber
ihr Tod bei mir uicht hinterlassen. Ich werde davon kaum etwas gewußt und
begriffen haben. Wie ich später erfuhr, ist mein Vater vor ihrem Tode zu ihr
hinaus nach Gernrode geritten, und es hat auch noch eine volle Versöhnung auf
dem Sterbebette stattgefunden. Unser jüngster Bruder wurde in Gernrode erzogen,
tat aber nicht gut und ist später auf meine und meiner Tante Sobbe Kosten nach
Amerika ausgewandert. Dort lebte in Pennsylvanien ein Bruder meiner Mutter,
der hier als das villane, torridls der Familie gegolten hatte. Er sollte drüben
Quäker und seitdem ein ordentlicher Mann geworden sein. Mein jüngster Bruder
aber ist in Amerika vollständig verschollen und später hier gerichtlich für tot er¬
klärt worden.
Die Katastrophe der Ehescheidung hatte meinen Vater bis in das innerste
Mark seines Lebens erschüttert. Noch in späten, Jahren sprach er davon, wenn
auch selten und immer nur kurz und andeutungsweise, mit tiefer seelischer Erregung
als von der furchtbarsten Zeit seines Lebens. Begreiflicherweise hat dieses Ereignis
auch über meine Kindheit manchen düstern Schatten geworfen.
Mein Vater hatte keine wissenschaftliche Bildung empfangen. Er hatte die
Volksschule und dann bis zu seiner Konfirmation das Gymnasium besucht, war aber
nicht über die Tertin hinausgekommen. Dann hatte ihn sein Vater in das Geschäft
genommen und thu schon früh mit selbständigen, geschäftlichen Aufträgen betraut.
Deren resolute und glückliche Erledigung erwähnte er gern und nicht ohne Genug¬
tuung. Als er zur westfälischen Zeit Soldat werden sollte, wurde für ihn ein
Stellvertreter gekauft. Dieser wurde zur Armee nach Spanien geschickt und ist
dort vor Barcelona gefallen. Als es sich später im Jahre 1813 um die Ab-
schüttlung der französischen Fremdherrschaft handelte, trat mein Vater als Frei¬
williger bei den Thaddenschen Jägern ein, equipierte sich selbst und wurde auch
in dem benachbarten Blankenburg ausexerziert. Er ist aber — ich weiß nicht aus
welchen Gründen — nicht mit ausgerückt und hat darum an den Befreiungskriegen
aktiv nicht teilgenommen. Das hinderte aber nicht, daß an den Sonntagsuachmittageu,
wenn seine Freunde und Altersgenossen ihn besuchten, die Einzelheiten der von
diesen mitgemachten Gefechte und erlittnen Strapazen bei uns sehr eingehend er¬
örtert wurden. Einer von ihnen hatte bei Ligny im Vorbeimarschieren Blücher
unter seinem Pferde liegen und Nostiz mit blankem Säbel über ihn wachen sehen.
Wie oft habe ich den berühmten Gewaltmarsch von Ligny nach Quatrebras, die
Ankunft des Blücherschen Korps bei Bellealliance, den Angriff der französischen
Garden und die schließliche Flucht Napoleons von Augenzeugen in höchst lebendiger
Darstellung schildern hören! Man kann sich vorstellen, mit welchem Vergnügen
und welcher Begeisterung wir Jungen diesen Erzählungen atemlos lauschten.
Mein Vater war für die zur Zeit seiner Geschnftsüberunhme einfachen ge¬
werblichen Verhältnisse ein praktischer und ruhiger Geschäftsmann. Was ihm aber
abging, war die kaufmännische Schulung. Er hat diesen Mangel in spätern Jahren
oft bitter beklagt. Er war ungemein wisscnsdurstig und las viel, sodaß er als
gebildeter Mann gelten konnte und galt. Auch schrieb er gewandt nud gern. Aber
seine geschäftliche Buchführung war, obwohl er die Geschäftsvorlommnisse sorgfältig
in seiue gewissenhaft geführten Bücher eintrug, nicht übersichtlich genug, und seine
wiederholten Versuche, dies zu bessern, hatten auf die Dauer keinen Erfolg. Das
Betriebskapital, der Umsah und die Einnahmen aus seinem Grundvermögen,
namentlich die Pachter und die Zinsen, waren nicht immer streug gesondert. Das er¬
schwerte natürlich einen sichern Überblick über seine geschäftliche Lage. Solange die
Konjunkturen günstig blieben, trug das wenig aus. In spätern Jahren aber mußte
er doch allmählich wahrnehmen, daß das Geschäft zurückging und sein Vermögen
sich verminderte. Seine gesamte Geschäftslage mit Klarheit und Sicherheit zu kalku¬
lieren, gelang ihm nur unvollständig. Das bedrückte ihn, und in der Mitte der
fünfziger Jahre entschloß er sich, das Geschäft zu verpachte» und als Rentner zu
leben. Bei seiner einfachen Lebenshaltung reichte sein väterliches Erbe dazu ans.
Solange er aber sein Geschäft betrieb, war er unermüdlich fleißig und rührig. Er
war ein Frühaufsteher und tat seine Pflicht ohne jede Rücksicht auf persönliches
Behagen. Gegen uns Kinder war er gütig und liebreich, in seinen Anforderungen
aber streng. Unarten ließ er nicht durchgehn, und Zärtlichkeiten waren in unserm
Hause nicht Mode.
Die einfache, schlichte Art meines Vaters, sein sicherer Takt, seine Selb¬
ständigkeit und Selbstzucht, seine ernste Pflichttreue, seine durch und durch gesunde,
bürgerlich einfache Lebenshaltung, seine jederzeit hilfsbereite Menschenfreundlichkeit ver¬
schafften ihm »icht nur bei uns Kindern und in unserm Hause, sondern in weiten
Kreisen großes Vertrauen, Ansehen und Respekt. Er war wiederholt Stadtverord¬
neter, und für viele Leute war er in aller Stille Vertrauensmann und autori¬
tativer Ratgeber. Er war durchaus bescheiden und für sich anspruchslos, aber
niemals furchtsam, nie unsicher in seinem Auftreten, dabei durch und durch wahr¬
haftig und Höhergestellten gegenüber ganz unbefangen und von einem edeln Freimut.
Er hielt auf Anstand und gute Sitte auch in äußern Dingen. Bei aller Sicherheit
seines Auftretens ist er mir immer als ein wahrhaft vornehmer Mann erschienen.
Meine spätern Lebensführnngen haben mich vielfach mit den höhern Gesellschafts¬
schichten in Verbindung gebracht. Dabei ist es mir oft zum Bewußtsein gekommen,
welche guten, sichern, gesellschaftlichen Formen mein Vater ans seiner innerlich vor¬
nehmen Gesinnung gewonnen hatte. Er hatte die wahre, rein menschliche Herzens¬
bildung, und diese deckt sich mit echter Vornehmheit. Ohne diese Bildung des
Herzens siud alle vornehmen Allüren doch nur Tünche und Scheinwesen. Wo
über diese Herzensbildung die tiefste Triebfeder des persönlichen Handelns und
Auftretens ist, da sind anch gute äußere Formen nud Manieren ihr natürlicher
Ausfluß. Nur da, wo es so steht, vollenden diese das wohltuende Bild einer har¬
monischen, geschlossenen Persönlichkeit.
Mein Vater hatte nach der Trennung von meiner Mutter eine schou in reifern
Jnhreu stehende Tochter seiner jüngern Schwester, der schon erwähnten Tante
Uhlemann, zur Führung der Wirtschaft in sein Haus genommen. Er selbst war
durch den lebhaften geschäftlichen Verkehr stark in Anspruch genommen und konnte
sich um uus Kiuder tagsüber nicht viel kümmern. Unsrer Cousine Hannchen Uhle¬
mann fiel somit bis zu einem gewissen Grade auch die Pflege und Erziehung der
Kinder zu. Sie mag es auch recht gut mit uus gemeint haben. Die Mutter aber
ersetzte sie uns in keiner Weise. Sie war schon damals eine wunderliche, religiös
überspannte alte Jungfer. Sie gefiel sich in allerhand Seltsamkeiten und Pedan¬
terien, die natürlich auch uns Kindern nicht entgingen. Sie hatte farbige Karten
mit biblischen und andern Sinnsprüchen angeschafft. Jeden Sonnabend Abend be¬
kamen wir von ihr je nach unserm Betragen eine rote, grüne oder weiße Karte,
die wir dem Vater vorzeigen mußten. Diese Einrichtung der farbigen Karten, die
den Kindern am Wochenschluß gleichsam als Quittung über ihr sittliches Verhalten
gegeben wurden, war damals auch in den Volksschulen eingeführt. Es sollte auf
den Ehrgeiz der Kinder wirken. Diese mußten die Karte zu Hause den Eltern
vorlegen und sie am Montag in der Schule zurückgeben. Bewährt hat sich diese
Einrichtung uicht. Die weißen Karten — sie waren die niedrigste Sorte —
wurden wenig oder gnr nicht beachtet. Die grünen und die roten aber wirkten mehr
ans die falsche Eitelkeit der Kinder, als daß sie ein gesunder Antrieb zu Fleiß und
Wohlverhalten gewesen wären. Bei den ärmern Kindern bestand überdies ein
Mißtrauen, als ob bei der Verteilung der Karten die Kinder der angesehenern
und besser gestellten Eltern begünstigt werden mochten. Die ganze Einrichtung
wurde auch in der Schule bald wieder abgeschafft. Ich entsinne mich nnr, daß ich
noch in der untersten Schulklasse solche Karten bekommen habe. Sie waren ein
falsches und unpraktisches pädagogisches Experiment. Am allervert'ehrtesten aber
war die Übertragung dieses Experiments auf das häusliche Leben. Unsre Cousine
Hannchen Uhlemann hat jedenfalls bei uns damit leine besondern Geschäfte gemacht.
Ihre ganze wunderliche Persönlichkeit hatte für uns einen leichten Stich ins
Komische und hinderte den für eine gesunde Erziehung unentbehrlichen Respekt.
Die Ärmste hat später im Jrrenhcinse geendigt.
Uns Kindern aber fehlte die Mutter.
(Fortsetzung folgt)
le in Koblenz zurückgebliebnen Emigranten — Frauen, Greise und
Priester — waren mit den Nachrichten, die sie von der Armee er¬
hielten, keineswegs zufrieden. Ihrer Überzeugung nach war die
Marschroute ganz unzweckmäßig gewählt worden; das Vorrücken der
Streitmacht ging viel zu langsam von statten, und die strategischen
Operationen ließen deutlich erkennen, daß der Herzog von Braun-
schweig den Respekt, den man seinem Feldherrngenie gezollt hatte, durchaus nicht
verdiente. Hätten die Verbündeten nicht besser daran getan, den Oberbefehl einem
der französischen Offiziere anzuvertrauen? Und wenn man den Marschall von Broglio
wirklich für zu alt hielt, waren nicht noch Generale wie Mircm, la Rosiere, Janson
und Martagne da, deren jeder im kleinen Finger mehr Begabung hatte als dieser
deutsche Herzog, der doch nichts weiter war, als der herzlich unbedeutende Neffe
eines berühmten Oheims?
Und als dann endlich Siegesbotschaften anlangten, als Lvngwy genommen
worden war, und Berdnn kapituliert hatte, da zeigten sich die alten Aristokraten
wiederum unzufrieden. Sie gönnten im Grunde ihres Herzens den Preußen die
Erfolge nicht und empfanden die Niederlagen ihrer republikanischen Landsleute als
eine nationale Schmach. Ja sie standen nicht an, die Tat des unglücklichen Komman-
danten Beaurepairc, der nach Unterzeichnung der Kapitulation seinem Leben durch
einen Pistolenschuß ein Eude gemacht hatte, als ein Beispiel antiker Seelengröße
zu bewundern.
Nun durfte man freilich keine Zweifel mehr hegen, das; der Zweck des kriege¬
rischen Unternehmens, die Befreiung des Königs und die Unterdrückung der Revo-
lution, dennoch über kurz oder lang erreicht werden würde, und man tröstete sich
schon damit, daß dieser zu erwartende Erfolg trotz der Beihilfe der Preußen und
Österreicher schließlich doch uur der Intelligenz der Emigranten als der geistigen
Urheber und Leiter des ganzen Unternehmens zuzuschreiben sei. Unter solchen Um¬
ständen machte die Nachricht von der Erstürmung der Tuilerien dnrch den Pariser
Pöbel und die Einkerkerung der königlichen Familie ans die meisten der Flüchtlinge
keinen nllzustarken Eindruck.
Auch Mariguy hatte sich im Laufe der Zeit darau gewöhnt, die Ereignisse
in Frankreich mit philosophischem Gleichmut zu perfolgen. Was die Journale
brachten, und was als dunkles Gerücht die Luft dnrchschwirrte, hatte sich schon
so oft als völlig erfunden oder zum mindesten als übertrieben und entstellt er¬
wiesen, daß thu Neuigkeiten dieser Art nicht mehr aus seiner Fassung zu bringen
vermochten.
Nun wollte es jedoch der Zufall, daß er in einem Wirtsgnrten zu Pfasfendvrf
die Bekanntschaft eines knrhessischen Kuriers machte, der geradeswegs von Paris
kommend in Koblenz einen Rasttag hielt und als Augenzeuge der Vorgänge vom
1V. August berechtigtes Interesse erregte. Der Mann erzählte seine Erlebnisse in
einer ruhigen und beinahe trocknen Art, aber gerade diese Sachlichkeit, die ohne
rhetorische Zutaten die Vorgänge selbst rede» ließ, verfehlte ihren Eindruck auf die
Zuhörer nicht. Er berichtete, wie er fast wider Willen nnter die Volksmenge ge¬
raten sei, die mit den Aufständischen vom Karnssellplatz ans gegen das Schloß vor-
gedrungen wäre, und wie ihn dann die unaufhaltsam vorwärtsflutende Menschen-
woge mit den Bataillonen der Marseiller und Bretagner in den mit Kanonen dicht
besetzten Hof geschwemmt habe, aus dem kein Entkommen möglich gewesen sei. Da
habe er dann Zeuge sein müssen, wie Schweizer und Aufständische sich eine lauge
Reihe banger Minuten unbeweglich und unschlüssig gegenübergestanden hätten, bis
— vou welcher Seite, habe er nicht erfahren können — ganz plötzlich und über¬
raschend der Kampf begonnen worden sei. Er selbst habe, mit audern Unbetei¬
ligten in einen Winkel gedrückt, dem wechselnden Vorrücken und Zurückweichen der
Angreifer ganz gelassen zugeschaut und uur in den Augenblicken Schauder empfunden,
wo die auf die Mauer aufschlagenden Gewehrkugeln ihn mit Kalk und Ziegelstücken
überschütteten. Aber Furcht habe er eigentlich gnr nicht verspürt, auch dann nicht,
als die gegen das Schloß gewandten Kanonen ein mörderisches Feuer auf die braven
Schweizer eröffnet hätten. Als der Donner der Geschütze verstummt sei, habe sich
in den Korridoren des Erdgeschosses ein verzweifelter Kampf zwischen den Be¬
lagerten und den Eindringlingen entsponnen, dann seien die Angreifer und mit ihnen
der Pöbel von Se. Antoine über die Leichen der bis auf den letzten Mann nieder¬
gemachten Schweizer in die Gemächer gedrungen und hätten Möbel und Spiegel
zerschlagen, Vorhänge und Kronleuchter herabgerissen und Gemälde und Gobelins
mit Messern und Piken zerschlitzt.
Er selbst sei auf dem Hofe geblieben und habe zugeschaut, wie ein andrer
Volkshaufe unter der Führung eines bctrunkncn Fleischers die königlichen Staats-
karossen ans den Remisen des Marflalls gezogen und mit Äxten, Schmiede¬
hammern und Brecheisen vollständig zertrümmert hätte. Es sei ein überaus wider¬
wärtiger Anblick gewesen, wie der Pöbel seine Wut an den doch gewiß ganz
unschuldigen Sammetpolstern, Atlnsgardiueu und Wngenlaternen ausgelassen und nicht
ohne Mühe die metallnen Scheibchen mit dem königlichen Wappen ans den.
lackierten Holzwänden der Kutschengehäuse herausgebrochen und in den Kot ge¬
treten habe.
Bei diesen Worten zog der Erzähler eine im Feuer vergoldete ovale Bronze-
Plakette aus der Tasche und warf sie auf den Tisch.
Das habe ich, sagte er, bevor ich den Tuilerienhof verließ, aus dem Schmutze
aufgelesen und mir zur Erinnerung an den 10. August 1792 mitgebracht.
Marigny nahm das Metallplättchen in die Hand und betrachtete es nach¬
denklich. Die drei bourbonischen Lilien, die reliefartig auf dem horizontal schraf¬
fierten Grunde lagen und in der Tasche des wackern Hessen blankgescheuert worden
waren, strahlten Heller denn je in der Sonne des Spätsommertnges. Aber in den
vertieften Lilien ließ sich noch eine schwache Spur vou graubrauner Erde er¬
kennen — Erde nur, aber Erde von Frankreich, Erde von Paris, ein paar win¬
zige Körnchen von dem heiligen Boden, auf dem ein König die Sünden seiner
Ahnen durch das Ertragen von tausend und aber tausend Demütigungen reichlich,
mehr als reichlich gesühnt hatte!
Was verlangen Sie für dieses Stückchen Metall? fragte der Marquis, die
Reliquie behutsam aus der Hand legend.
Es ist mir nicht feil, mein Herr, entgegnete der Kurier, indem er die könig¬
lichen Lilien am Aufschläge seines Ärmels mit großem Aufwands von Kraft abrich,
als bedürften sie noch einer stärkern Politur; solche Andenken verkauft mau nicht.
Übrigens will ich das Ding meiner Frau mitbringen, die kann es als Brosche
tragen. Man braucht nur auf der Rückseite eine Nadel einlöten zu lassen.
Eigentum des Königs von Frankreich zum Schmuck einer deutschen Bürgers¬
frau entweihtI Zum erstenmal kam dem alten Aristokraten die ganze Schwere von
Ludwigs des Sechzehnten unerhörtem Schicksal in diesem Augenblick zum Bewußtsein.
Was alle Schreckensnachrichten der Zeitungen und Briefe ans der Heimat nicht
vermocht hatten, gelang dem elenden Stückchen Metall: es trieb Marigny die
Tränen in die Augen. Und er schämte sich dieser Tränen nicht, er wandte sich
ab und weinte wie ein Kind, weinte um seinen König und um sein armes Vater¬
land, weinte um seine eigne entschwundne Jugend und weinte um die Tränen
selbst, die er hier in ohnmächtigem Zorn und Kummer vergießen mußte. In dieser
Stunde drückte ihn zum erstenmal die Last des Alters und das Gefühl selner Un¬
fähigkeit, den Degen zu führen, aber in dieser Stunde erhielt auch das schwache,
gebrechliche Gefäß seines Körpers einen neuen Inhalt: die Seele eines Helden.
Der biedre Hesse, von der unerwarteten Wirkung seiner Erzählung peinlich
überrascht, wußte in seiner Verlegenheit nichts besseres zu tun, als dem schluch¬
zenden alten Herrn kräftig auf den Rücken zu klopfen, ganz in der Weise, wie man
einem Menschen, der dem Ersticken nahe ist, gewaltsam zur Reaktion seiner Lungen
gegen den in die Luftwege eingedrungnen Fremdkörper zu verhelfen sucht. Als er
hiermit keinen Erfolg erzielte, rief er den Wirt, weil er seine Zeche bezahlen und
fortgehn wollte. Aber Marigny deutete durch Gesten an, daß der Kurier sein
Gast sei, und bestellte unbekümmert um dessen Proteste noch eine Flasche Ingel-
heimer, die sie dann schweigend miteinander austraukeu.
Seit diesem Tage wurde der alte Edelmann das lähmende Gefühl, ein Über¬
flüssiger auf dieser Welt zu sein, nicht mehr los. Zum Unglück hatte er jetzt auch
genügend Zeit, seinen trüben Gedanken nachzuhängen, denn in der kurfürstlichen
Küche gab es nach der Abreise der hohen Gäste für ihn nichts mehr zu tun.
Clemens Wenzeslaus, sonst ein Verehrer der Tafelfreuden, hatte auf die Nachricht
von den Erfolgen der revolutionären Truppen am Oberrhein seinen sonst so ge¬
segneten Appetit zum größten Teil eingebüßt und begnügte sich seit der Einnahme
von Speier durch Custtne mit vier höchst einfachen Gnügen, vou denen nach der
Überrumplung von Worms durch Neuwinger sogar noch einer gestrichen wurde.
Und als dann die niederschmetternde Nachricht kam, daß die Reichstruppen in
Mainz bei einem falschen Alarm auseinandergelaufeu seien, und daß Studenten
zusammeln mit Rhcingaucr Winzern die Verteidigung der Stadt übernommen hätten^
wurde im Koblenzer Residenzschloß schleunigst alles Tafelsilber in Kisten verpackt
und auf das Schiff verladen, das schon längst bereit lag, um die geheiligte Person
des Landesherrn bei den ersten Anzeichen ernster Gefahr stromabwärts in Sicherheit
zu bringen.
Wenn es für Mnrigny in dieser traurigen Zeit noch einen schwachen Trost
gab, so war es das Bewußtsein, daß seine Tochter jetzt mehr als je der Unter¬
stützung bedürfte, und daß er selbst in der Lage war, ihr — wenn anch nur im
geheimen — Wohltaten zu erweisen. Er hatte in Erfahrung gebracht, Marguerite
suche sich durch Anfertigung feiner Stickereien zu ernähren und habe unter den
Damen der Koblenzer Noblesse einen kleinen Kreis von Kundinneu, die ihr die
Arbeiten um ein Billiges abkauften. Das brachte ihn auf den Gedanken, seiner
Tochter einen Teil ihrer häuslichen Pflichten und Sorgen abzunehmen, indem er
jeden Mittag in Mutter Haßlachers Küche höchst geheimnisvoll irgend ein Gericht
kochte und durch einen verschwiegnen alten Lohndiener nach der Weisergasfe bringen
ließ. Der Bote mußte sich Marguerite gegenüber stellen, als käme er im Auf¬
trage einer hochgestellten Dame, die jedoch nicht genannt sein wolle.
Die List gelang, und mehrere Wochen lang wanderte der Topf des vornehmen
Kochs zwischen Kornpforte und Weisergasfe hin und her. Aber eines Tages kam
der alte Herr auf deu nicht gerade glücklichen Einfall, ein Gericht zu kochen, von
dem er wußte, daß es die Lieblingsspeise seiner Tochter war. Und dieses Gericht
wurde zum Verräter. Nie war die Scheidewand zwischeu den Häusern Marigny
und Villeroi dem Einsturz näher gewesen, als an dem Tage, wo Marguerite schon
an dem Dufte ihres Mittagmahls den Urheber und Spender erkannte. Wohl hatte
Henri seiner Fran uns das strengste verboten, sich ihrem Vater zu nähern, aber
sie hätte kein Weib, keine Tochter sein müssen, wenn unter dem warmen Hauche
von soviel sorgender, selbstloser Liebe nicht die dünne Eiskruste ihres Herzens zum
Schmelzen gebracht worden wäre.
Diesesmal setzte sich die junge Frau, nachdem sie ihr Mahl gehalten, uicht
wie sonst sogleich wieder an den Stickrahmen, sondern blieb, das Haupt in die
Hand gestützt, am Tische sitzen. Sie vergegenwärtigte sich noch einmal alles, was
sie seit ihrer Flucht aus Aigremont erlebt hatte, sie rief alle Gespräche, all die
peinlichen Auftritte in ihr Gedächtnis zurück, die dem Brüche mit ihrem Vater
vorangegangen waren, und durchlebte in der Zeitspanne von kaum eiuer einzigen
Stunde zum zweitenmal die lange Kette der bitter-seligen Monate ihrer Braut¬
zeit. Und das Ergebnis ihres Nachdenkens war die Erkenntnis, daß sie selbst es
sei, die die Schuld an dem Zerwürfnis trage. Hätte sie mit ihrem Vater mehr
Geduld und Nachsicht gehabt, hätte sie es verstanden, mit etwas mehr weiblichem
Feingefühl auf seiue Eigentümlichkeiten einzugehn und nach und nach die Gegen¬
sätze in den Anschauungen der beiden Männer auszugleichen, so wäre jene ge¬
waltsam herbeigeführte Entfremdung wahrscheinlich vermieden worden. Sie hatte
den Vater ans eine lieblose und unkindliche Weise verlassen, an ihr war es also
jetzt auch, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
Sie bat die Nachbarin, das Kind zu hüten, warf ein Tuch um die Schultern
und begab sich zum „Englischen Gruß." Die Wittib Haßlacher öffnete ihr die
Tür. In Wesen und Gesichtsausdruck der Alten lag etwas Kaltes, Zurückhaltendes,
ja beinahe Abstoßendes, das Marguerite nichts Gutes ahnen ließ.
Ist mein Vater zuhause? fragte die junge Frau.
Die Wittib lachte laut auf. Ihr Vater? Wie soll ich wissen, ob Ihr Vater
zuhause ist? sagte sie, wie käme ich — eine anständige Frau — dazu, Ihren Vater
zu keimen?
Mein Gott, Madame, entsinnen Sie sich meiner nicht mehr? Wissen Sie nicht,
daß ich die Tochter des Marquis von Marigny bin?
Meine Gute, das glauben Sie doch selbst nicht. Und wenn Sie wirklich so
einfältig sein sollten, sich einzubilden, daß der Herr Marquis Ihr Vater wäre, so
lassen Sie sich von mir belehren, das; Sie mit Ihrer Meinung ans dem Holz¬
wege sind.
Ich verstehe Sie nicht, Madame. Aber ich bitte Sie, mich dein Herrn Marquis
zu melden. Ich muß ihn sprechen.
Das werde ich wohl bleibe» lassen. Gehn Sie Ihrer Wege und lassen Sie
sich nicht wieder in diesem Hanse blicken. Wenn der Herr Marquis Sie hier sieht,
könnte es Ihnen schlecht ergehn. Also seien Sie vernünftig und macheu Sie hier
keine Szenen. Ich weis; alles. Der Herr Marquis hat mir die ganze Ge¬
schichte haarklein erzählt. Er sagte, er sei herzlich froh, Sie endlich los geworden
zu sein.
Vor den Angen der jungen Frau begann es zu flimmern. Sie mußte sich am
Türpfosten festhalte», um nicht zu Boden zu sinken. Kein Zweifel: ihr Vater hatte
die Alte angewiesen, sie »icht vorzulassen! Er verleugnete sie, und seiue Wohl¬
taten waren nichts weiter als Demütigungen — Almosen, wie man sie einem
lästigen Bettler hinwirft, um ihm seine Verworfenheit und sein Elend doppelt
fühlbar zu machen!
Sie wollte noch eine letzte Frage an die Wittib richten, aber ehe sie dazu
kommen konten, flog die Tür ins Schloß. So stand sie auf der Gasse — eine
Verachtete und Verstoßene. Sie wankte nach Hause, entließ die Nachbarin und
warf sich vor dem Bettchen des Kindes auf die Kniee. Hier fand sie Beruhigung
und Trost. Aber mit ihrer Stickerei kam sie an diesem Tage nicht mehr recht
vom Flecke.
Der Marquis, der von dem beabsichtigte» Besuche seiner Tochter im „Eng¬
lischen Gruß" nichts wußte und natürlich den Zusammenhang der Dinge »icht ahnte,
war aufs höchste überrascht, als am nächste» Mittag der alte Lohndiener den
Speisetopf gefüllt, wie er ihn erhalten hatte, zurückbrachte und berichtete, Frau
vou Villeroi habe ihm aufgetragen, der uubeknnnten Spenderin ihren Dank aus-
zusprechen, zugleich aber auch zu sagen, das; sie einer Unterstützung »icht mehr
bedürfe.
Der alte Herr würde diesen neuen Schlag vielleicht schwerer als alles andre
vorher empfunden haben, wenn nicht gerade in diese Oktobertage Ereignisse ge¬
fallen wären, vor denen die persönlichen Sorgen und Kümmernisse eines einzelnen
Menschen zurücktreten mußten. Paris hatte Schule gemacht: auch die sonst so
friedlich-pfahlbürgerliche Residenzstadt an der Mündung der weinfröhlichen Mosel
hatte jetzt ihre Revolution! Natürlich eine Revolution in handlicher Taschen¬
ausgabe, eine Revolution ohne Nationalversammlung und Konvent, ohne Guillotine
und Straßenkampf, aber dennoch eine regelrechte Revolution, wie man sie unter
der gepriesenen milden Herrschaft des Krummstabs noch nicht erlebt zu habe»
vermeinte.
Clemens Wenzeslaus hatte sich nach seinem Lustschlosse Kärlich begeben, um
hier, von der durch die anrückenden Franzosen gefährdeten Residenz weit genug
entfernt, gemächlich abzuwarten, ob und wann die Entwicklung der Dinge seine
Abreise wünschenswert machen würde. Seinem Beispiele folgte die Hofgesellschaft
und ein Teil des Adels. Die Bürgerschaft beobachtete die Vorbereitungen zur
Flucht mit Befremden und fürchtete nicht ohne Grund, der Feind werde sich an
ihren: Besitztum schadlos halten, während die Noblesse alles Hab und Gut von
einigem Werte in Sicherheit gebracht haben würde. Man rottete sich zusammen
und nötigte eine Anzahl adltcher Personen, ihre Kisten und Koffer wieder von den
Schiffen in die Stadt bringen zu lassen. Die Empörung wuchs, als die Absicht
der Regierung, die Stadt dem General Custine sogleich auszuliefern, bekannt wurde.
Nun sah sich der Kurfürst gezwungen, die kleine Garnison durch Truppen zu ver¬
stärken, die schleunigst aus Trier herbeigezogen wurden. Aber während die Bürger¬
schaft, unterstützt von den Bewohnern Ehrenbreitsteins, Horchheims und Pfaffen-
dorfs, Tag und Nacht ununterbrochen am Ausbau der Befestigungen arbeitete,
Wälle und Schanzen aufwarf und Faschinen anfertigte, reiste wider Wissen und
Willen des Kurfürsten der laudständische Syndikus von Lnssnulx an der Spitze
einer Deputation nach Mainz, um Custiue die Schlüssel der Stadt anzubieten.
Diese verräterische Tat einer kleinen Zahl von Feiglingen, die, um sich selbst
zu retten, das Eigentum ihrer Mitbürger und das Leben der in den Mauern der
Stadt weilenden französischen Aristokraten ohne Bedenken muss Spiel setzten, sollte
Koblenz zum Segen werden. Custine, der dieses wichtigsten Punktes am Mittel¬
rhein sicher zu sein glaubte, nahm sich mit der Besetzung der Stadt Zeit. Und
so geschah es, daß das hessische Korps, das der nach den anfänglichen Erfolgen
bald zum Rückzuge aus Frankreich gezwungne preußische Oberbefehlshaber zur
Rettung vou Koblenz vorausgeschickt hatte, die Stadt eher als der Feind erreichte.
Bürger und Emigranten atmeten erleichtert auf und ließen sich keine Mühe
verdrieße», die braven Grenadiere und Husaren, die am 26. Oktober nach anstren¬
genden Eilmärschen über die Moselbrücke zogen, mit dem Besten, was Küche und
Keller boten, zu bewirten.
Hier war Marigny am rechten Platze. Galt es jetzt auch nicht, Geflügel¬
pasteten und Salmis zu bereiten, so zeigte er doch, daß sein Genie selbst den un¬
gewöhnlichen Ansprüchen gerecht zu werden verstand, die völlig ausgehungerte
Soldaten um Speise und Trank stellen. Wo die Kvchfeuer am stärksten rauchten,
die Krautkessel am lustigste» brodelten und die Bratpfannen am einladendsten
zischten und knatterten, da stand ganz gewiß, von Dampfwolken umwallt, der alte
Edelmann und leitete die friedlich-kriegerische» Operationen, bei denen mancher eine
bessere Klinge schlug als vorher draußen im Felde.
Als er eiues Abends mit gründlich durchräucherten Kleidern i» de» Klub kam,
nahm ihn der alte Graf Cayla beiseite.
Entsinnen Sie sich des Ubbo Tallandier? fragte er den Marquis.
Tallandier? Ist das nicht der dicke Rvtkopf, der damals bei dem Jagd frühstück,
das der Steuerpächter Lully in Se. Gerinnin gab, behauptete, uur in England wisse
man Hammelkeule zu braten?
Mag sei», daß er so etwas behauptet hat. Ich erhielt bellte von ihm eine»
langen Klagebrief.
Ans Paris? Er ist nicht geflohen?
Nein. Dazu war er zu beqnem. Er hat den Eid geleistet.
Das sieht ihm ähnlich. Charakterstärke war seine Sache nicht.
Desto mehr Anerkennung verdient sein Neffe. Sie wissen doch, daß Ihr Vikar
Durnnd sein Neffe war?
Ich glaube so etwas allerdings gehört zu haben. Um die verwandtschaftlichen
Beziehungen meiner Leute habe ich mich nie besonders bekümmert. Nun — und
was ist mit Durand geschehn?
Er hat den Eid verweigert »ut »»bekümmert um alle Verbote in der Kapelle
zu Aigremvnt die Messe gelesen.
Auch nachdem mein Gut konfisziert worden war?
Auch dann noch.
Das hätte ich dem kleinen Vikar nicht zugetraut.
Man hat ihm den Prozeß gemacht.
Und der Ausgang dieses Prozesses?
Darüber können Sie noch im Zweifel sei»? Er hat i» de» Sack riefe»
müssen.
Der arme kleine Durand! Graf, lassen Sie uns vor diesem Manne den Hut
abnehme». Er ist als ein Märtyrer gestorben.
Freund, er war mehr als ein Märtyrer. Er starb für eine Sache, an die
er selbst nicht glaubte. Um einer Sache Wille» sterbe», für die man sich begeistert,
das ist leicht, aber Durand starb wie ein Soldat, der auf seinem Posten ausharrt,
weil er seine Pflicht kennt. Er starb, um mit seinem Blute gegen die Ungesetz¬
lichkeit der Konstitution zu protestieren.
Ich hielt ihn stets für einen gläubigen Christen.
Das war er vielleicht auch, aber in anderm Sinne, als Sie anzunehmen
scheinen.
Er schenkte den Armen sein letztes Hemd —
Aber in seiner Wohnung fand man Voltaires Werke. Sein Verteidiger, der
ihn retten wollte, versuchte diese Tntsache zu seinen Gunsten geltend zu machen.
Und das Tribunal maß diesem Umstände keine Bedeutung bei?
Es würde es getan haben, so schrieb mir der Abbe, wenn Durand, der offenbar
nicht gerettet werden wollte, nicht behauptet hätte, er habe Voltaire nur gelesen,
um ihn widerlegen und bekämpfen zu können.
Die Dazwischenkunft eines Dritten machte der Unterhaltung der beiden Herren
ein Eude.
Mau sprach über den unglücklich verlaufnen Feldzug und die verzweifelte Lage,
in die Ludwig der Sechzehnte durch den kläglichen Mißerfolg des mit so großer
Zuversichtlichkeit begonnenen Befreiungswerkes geraten war. Und wie immer, wenn
der Name des Königs genannt wurde, sammelte sich um die miteinander Sprechenden
ein ganzer Kreis von Männern, deren jeder eine neue erschütternde Einzelheit aus
den Pariser Ereignissen zu berichten wußte. Die Frage, ob man es wagen würde,
Ludwig in den Anklagezustand zu versetzen, wurde am lebhaftesten erörtert und
nach den Erfahrungen der letzten Zeit von niemand mehr ernstlich verneint. Als
jedoch einer der Anwesenden die Behauptung aussprach, der Konvent wünsche nicht
nur die Verbannung des Königs, sondern vielmehr seinen Tod, da vereinigten sich
die übrigen zu entschiednen Widerspruch. Die Hinrichtung des edelsten und beste»
aller Monarchen — das würde ein Vorschlag sein, zu dem auch der verworfenste
der Verworfneu seine Zunge nicht leihen konnte!
Marigny hörte diesen Auseinandersetzungen schweigend zu. Er war in der
Gesellschaft der letzte, der an einen solchen Ausgang geglaubt hätte, und hielt schon
die Erörterung dieses Gegenstands für eine Art von Hochverrat. Weit mehr beun¬
ruhigte und schmerzte ihn das, was mau über die Gefangenschaft der königlichen
Familie in den düstern Gemächern des Temple, über ihren Mangel an jeglicher
Bequemlichkeit und die argwöhnische Bewachung durch übelgesinnte Männer ans
den untersten Volksklassen erzählte. Ludwig der Sechzehnte, in glücklichern Tagen
gewohnt, inmitten eines Hofstaats von vielen tausend Köpfen zu leben, hatte für
seine eigue Person und seiue Angehörigen nur noch einen einzigen Kammerdiener
zur Verfügung! Der Mann, für dessen leibliche Bedürfnisse ein ganzes Heer
von Köchen gesorgt hatte, mußte sich jetzt mit den schlechten und sogar halb ver-
dorbnen Speisen begnügen, die man ihm aus einer schmutzigen Garküche in seinen
Kerker sandte!
Andre mochten den Erben des Sonnenkönigs bemitleiden, weil man ihn des
Glanzes der Majestät entkleidet und seinen milden Händen das Szepter der Macht
entwunden hatte, andre mochten den Verlust seiner Persönlichen Freiheit beweinen
und die Demütigungen und Kränkungen beklagen, durch die der vertierte Pöbel
ihm seineu Sturz noch fühlbarer machen zu müssen glaubte, wieder andre mochten
darüber jammern, daß der königliche Weidmann, dem ein Pürschgang durch die
grünen Wälder von Samt Cloud und Fontainebleau die höchste Wonne des Daseins
gewesen war, nun schon seit Monaten in dem engen Zwinger saß, durch dessen
Gitterstäbe kein würziger Hauch aus den geliebten Forsten, kein Standlaut der
Schweißhunde und kein Hallali des Jagdhorns zu dem Gefangnen drang! Was
Marignh bekümmerte, war der Gedanke an die Garküche und an das, was aus
ihr hervorging, an Speisen, die ohne Kunst und ohne Sorgfalt gekocht waren, an
Teller aus grobem Steingut, an rostige Messer und verbogne Gabeln, die locker
und in unsaubern Holzgriffen saßen.
Dieser Gedanke verfolgte den alte» Herrn von jetzt an Tag und Nacht. Die
Plebejischen Messer und Gabeln beunruhigten fortan seine Träume, und mehr als
einmal fuhr er aus dem Schlummer empor, weil er den fettigen Dunst der Gar¬
küche einzuatmen glaubte. Immer aber schwebte über diesen Schreckgesichten das
verklärte Bild des armen kleinen Vikars, der als ein Märtyrer der Pflicht ge¬
storben war, und dessen ernstes Antlitz die Mahnung auf den Lippen zu tragen
schien: Folge mir nach!
Der Marquis empfand, daß er irgend etwas unternehmen müsse. Seine
jungen Standesgenossen hatten getan, was sie vermochte»; es war uicht ihre Schuld,
daß den Waffen der Verbündeten das Kriegsglück nicht hold gewesen war. Nun
mußten die Greise vor! Freilich, zum Fechten war der Arm des alten Edelmanns
nicht mehr gelenkig geung, aber mußte mau, um ein Held zu sein, den Degen
führen? Hatte der kleine Vikar etwa gekämpft? Verdient nicht der die größte Be¬
wunderung, der mit vollem Bewußtsein Leiden auf sich nimmt, gegen die es keinen
Widerstand gibt, und die nur der Tod endet? Ach, wie froh wäre Marigny
gewesen, wenn ihm jemand den Weg nach einem solchen Golgatha gezeigt hätte!
In den ersten Novembertagen rückten die Preußen wieder ein und mit ihnen
ein Teil der französischen Royalisten, die vor drei Monaten in zuversichtlicher Hoff¬
nung auf den Sieg der gerechten Sache von Koblenz Abschied genommen hatten.
Und wieder zogen unabsehbare Kolonne» über die Moselbrücke, aber wie hatte
sich das Aussehe» der Krieger verändert! Drei Monate hatte» ausgereicht, die
Regimenter, die mit dröhnenden Schritt über die vom Alter geschwärzten Stein¬
bogen marschiert waren, in eine Armee von bleichen, hohläugigen Gespenstern zu
verwandeln, denen die bis zu deu Epauletten hinauf mit Schlamm und Lehm
überzognen Uniformen um die Glieder schlotterten. Diese Männer hatte nicht der
Feind besiegt, sie waren höhern Mächten gewichen: ununterbrochne Regengüsse,
grundlose Wege, Nachtlager auf durchnäßter Erde, Mangel um Brot und Fleisch,
und nicht zuletzt der Genuß von rohem Gemüse und unreifen Weintrauben hatten
in ihren Reihen weit ärger gewütet, als es die fürchterlichste Kanonade, das hef¬
tigste Gewehrfeuer vermocht hätten.
Der Marquis vou Marigny versäumte die Ankunft keines Bataillons und
keiner Schwadron. Mit Luchsaugen musterte er Mann für Mann. Wenn sich
eine französische Uniform zeigte, wenn ein roter Mantel, wie ihn die Garden
d'Artois trüge», sichtbar wurde, begann sein Herz zu klopfen. Aber der, auf den
er wartete, kam uicht.
Drei oder vier »ni begegnete er bei seinen Gängen zur Moselbrücke der Tochter.
Sie vermied es geflissentlich, mit ihm zusammen zu treffe», und verschwand, sobald
sie seiner ansichtig wurde, in der dichtgescharteu Volksmenge.
Wenn er unter den Heimkehrenden einen Bekannten erblickte, so begrüßte er
ihn und begleitete ihn eine kurze Strecke, um ihn nach Villerois Verbleib zu
fragen. Den Namen seines Schwiegersohns sprach er zwar nie aus, aber die Ge¬
fragten verstanden trotzdem, wen er meinte, wußten jedoch niemals über das Schicksal
des jungen Landedelmanns, „der ein so geschickter Miniaturmaler gewesen war,"
Auskunft zu gebe». Der eine wollte ihn zuletzt im Lager zu Konz gesehen habe»,
ein andrer behauptete, er habe ihn beim Regiment Hessen-Philippsthal bemerkt, der
dritte meinte, er sei bei Longwy noch gesund gewesen. Nach mehreren bangen
Tagen erfuhr der Marquis endlich etwas Näheres. Der Baron von Gramont,
der den Feldzug als Stabsoffizier des Generals Miran mitgemacht hatte, berichtete,
Villeroi sei am Abend von Valmy verwundet worden. Er habe aus einem Hinter¬
halt eiuen Schuß durch die rechte Hand erhalten. Ob die Verletzung ernster Natur
gewesen und ob vielleicht sogar die Amputation des verwundeten Glieds notwendig
geworden sei, wußte Gramont selbst nicht, anch konnte er nichts Geuauers darüber
angeben, wo sich der Blessierte zur Zeit befände. Er vermutete nur, daß er mit
den vou Trier aus auf Schiffen beförderten Krnnkeutrausporteu eintreffen würde.
Von nun an schenkte Marignh den einmarschierenden Truppen kaum noch Be¬
achtung, überwachte dafür aber um so gewissenhafter die Moselfahrzeuge, die unter¬
halb der Brücke anlegten. Und in der Tat brachten manche von ihnen Verwundete
mit, wenn auch die meisten bis auf den letzten Platz mit den Leuten besetzt waren,
deren Anwesenheit im Feldlager den Herzog von Braunschweig so erbittert hatte.
Sie schienen unter den Strapazen der Kampagne auch am allerwenigsten gelitten
zu haben und die Heimreise durch das liebliche Moseltal trotz der vorgerückten
Jahreszeit mehr als eine Lustfahrt zu betrachten. Hie und da konnte man an
Bord der Kähne sogar ein Weinfäßchen bemerken, um dessen letzten Inhalt sich
jetzt bei der Landung aufgeputzte, aber deshalb nicht minder tatkräftige Dämchen
mit trunkner Livreebedienteu und fluchenden Packknechten stritten.
Wenn Kranke über die schmalen Stege ans Ufer geleitet oder getragen wurden,
war Mariguh regelmäßig einer der Ersten, der sich erbot, sie mit Speise und Trank
zu stärken und ihnen mit kleinen Dienstleistungen an die Hand zu geh».
Und alle nahmen die Hilfe des alten Mannes dankbar an, nur einer, der
den rechten Arm in der Binde trug, wies, als ihm Marignh beim Aufsteigen
behilflich sein wollte, mit der gesunden Hand nach dem Stern des Schiffes und
sagte kühl:
Ich bin Ihnen für Ihre Güte verbunden, mein Herr. Aber dort liegt jemand,
der Ihrer Unterstützung mehr bedarf als ich. Bei dem dort sind Scimariterdienstc
am Platze.
Dann schleuderte er seinen Mantelsack aus Ufer und sprang selbst hinterher.
Der Marquis schritt über den Steg und richtete mit Hilfe des Schiffsknechts
den Kranken, der selner Sorge empfohlen worden war, auf. Es war ein Gendarm,
der mit einer schweren Blessur an der Schulter im heftigsten Wundfieber lag und
von einer Ohnmacht in die andre fiel. Man brachte ihn ins Lazarett, wo er trotz
der sorgsamsten Pflege, die ihm Marignh angedeihen ließ, nach einigen Tagen starb.
Der arme Teufel wußte in lichten Augenblicken nicht genug die liebevolle Auf¬
merksamkeit zu rühmen, mit der sich unterwegs ein an der Hand verwundeter
Kavalier seiner angenommen habe, und sagte kurz vor seinem Tode: Ich hatte das
seltsame Glück, den beiden besten Menschen auf der ganzen Welt begegnet zu sein.
Der eine ist der Artoisgardist, und der andre sind Sie, mein Herr. Möchte der
gütige Himmel Sie beide zusammenführen und jeden von Ihnen mit der Freund-
schaft des andern belohnen! (Fortsetzung folgt)
Von Kaiser Wilhelm wird erzählt, er hätte eine»
der Ritter vom Geiste, die ihm Stoff und Antrieb geben für seine Grundsatzsignale,
gelegentlich gefragt: „Können Sie sich Friedrich den Großen mit einem Parla¬
mente regierend denken?" „Ebensowenig als Ew. Majestät ohne Parlament,"
lautete die schlagfertige Antwort. Gewiß, das leuchtet ein. Seit der Proklamierung
der sogenannte« allgemeinen Menschenrechte sind Parlamente ein notwendiges Glied
in einem geordneten Staatswesen, gewissermaßen Sicherheitsventile, die Explosionen
verhindern und die Überschau der verwickelten Verhältnisse des modernen Staats-
lebens ermöglichen. Sie hemmen und sie fördern, je nachdem. In Zeiten natio¬
naler Erhebung, wenn große Ziele die auseinanderstrebenden Kräfte zu einheitlicher
Wirkung binden, erblüht in ihnen das Selbstgefühl des Staats eindrucksvoll,
zwingend, überwältigend. In dem Gleichmaß der Tage, wo jeder Zeit hat, darauf
zu achten, wo ihn der Schuh drückt, sind sie ein Barometer für den Niedergang
der Ideale und für das Aufsteigen brutaler oder maskierter Jnteressenwirtschaft.
Sie erscheinen dann dem stillen Beobachter leicht als ein notwendiges Übel. Wen
überläuft nicht die Gänsehaut, wenn er an die Rhabarberhelden und Dauerredner
der Obstruktion im letzten Reichstage denkt, an alle die Verstopfungsvirtuosen.
Wozu der Lärm? Note und Bedürfnisse lassen sich nicht totreden und nicht über¬
schreien; sie wollen geprüft und gehoben sein. Der alte Chilon wird immer recht
behalten: „Der Staat befindet sich am besten, wo die Gesetze am meisten und die
Redner am wenigsten Gehör finden."
Und nun haben wir die Wahlen zum neuen Reichstage hinter uns. Die
beiden extremen Parteien, die ihren Schwerpunkt außerhalb der nationalen Interessen-
kreise suchen, das römische Zentrum und die internationale Sozialdemokratie, werden
in ihm das große Wort haben, und, sei es mit „Nägeln und Zähnen," sei es mit
Glaceehandschuhen, ihre Ziele verfolgen. Die Gruppen, denen Deutschland seine
Einigung und seine neu begründete Weltstellung verdankt, sind teils zerrieben, teils
noch mehr als bisher zur Seite gedrängt. Ist das zum verwundern? Ich meine
nicht. Wo im Leben einer Nation keine große Not oder keine große Aufgabe das
Herz erfüllt und die Kräfte auflöst, wo mühsam Reizmittel zur Belebung herbei¬
geschafft und Begeisterungsreden ohne Begeisterung gehalten werden, da sind die
erhaltenden Kräfte immer im Nachteil gegenüber den unzufriednen und begehrlichen.
Diese haben etwas zu erobern. Ihre Schlagwörter erwachsen aus verbitterten Herzen.
Wer Bebel reden hört, wird fortgerissen. Man glaubt einen der alten Wieder¬
täufer aus der Reformationszeit zu hören, einen von den „Zwickauer Propheten,"
die den Himmel ans Erden malten für die „Enterbten." Was Wunder, daß uicht
allein die wohldisziplinierten und Wohl terrorisierten Parteigänger solchem Zuge
folgen, sondern daß sich auch die „verärgerten Biedermänner" anschließen.
Charakteristisch war es in den Vorbereitungen zur Neichstagswahl, wie in
den Parteien, die sich selbst als „Ordnungsparteien" bezeichnen — auch ein un¬
billiges Schlagwort —, nach einer Wahlparole geseufzt wurde. Die Regierung
sollte sie ausgebe». Und die Regierung wollte wieder so korrekt sein, wie noch
nie. Die „Wahlzellen" und die blauen Wahlbriefdeckcu veranschaulichen ihren
Wille», den braven Wähler ganz der eignen Einsicht zu überlassen. Und wir
Deutschen sind gewiß ein sehr gebildetes Volk. Aber wie steht es schließlich doch
mit der Reife und dem Verantwortlichkeitsgefühl des Durchschnittswählers? Das
enthüllen zur Genüge der Inhalt und die Fassung der Wahlaufrufe. Leider muß
hier ohne alle Einschränkung gesprochen werden. An den Anschlagsäulen von Leipzig
Prangten am Tage vor der Wahl in allen Farbentönen vom rot zum lila, gelb
oder weiß diese äoeumonts wiwains der Parteien. Nach ihren zudringlichen Be¬
hauptungen nahm jede für sich allein Licht und Wahrheit in Anspruch, sonst schien
überall Lüge und Finsternis zu herrschen. Die Sozialdemokratie redete von „par¬
lamentarischem Rechtsbruch," von „vandalischem Einbruch in die Kunst und Wissen¬
schaft," von „pfäffischer Vergewaltigung," von „schamloser Answncherung des
Volks," von „Volkstribunen des Brvtwuchers," von „politischen Treberaktien des
Alldeutschtunis," ja von „organisierten Vaterlandsverrat." Der „echt liberale"
Politiker klagt über „Belastung des Volks," über „Verschleppung der Sozialpolitik,"
über „Krämerpolitik," über „reaktionären Antisemitismus," über den „Kotau der
Mittelstaudsbewegung," über „agrarisch-klerikale Reaktion." „Der Geist des Kartells
ist der Geist des politischen Hasses." Jeder nationalgesinnte Bürger, der nicht
für unsern Kandidaten eintritt, ist „Hassens — wert." Feine Wortspiele! Und
der Kartellkandidat bleibt den Gegnern nichts schuldig. Er wird gepriesen als der
allein nationale, als der allein parlamentarisch zurechnungsfähige, als der allein
einflußreiche.
Wo liegt da die Wahrheit? Der Tyrann wird überthrannt. Teilweise find
es schon mehr Stinkbomben als Schlagworte, mit denen geworfen wird. Müßte
der Stnatsanwalt nicht gegen Parteien einschreiten, die solche Vorwürfe verdienen?
Wie eine Vision steigt nur unter diesen Eindrücken die Erinnerung an die Ritter des
Aristophanes auf. Da wird in Athen demi Volkstribunen Kleon, dem Gerber ans
Paphlagouieu, der die schlechten Instinkte seiner mit dem allgemeinen Stimm¬
recht ausgestatteten Athener zu sammeln und zu leiten versteht, der edle Wurst¬
händler von der zurückgedrängten Gegenpartei entgegengestellt. Wahre Schmutz-
schlachten führen sie auf vor dem gekitzelten Demos. Und schließlich siegt der,
dessen Stimme am längsten vorhielt und am lautesten dröhnte. Er verspricht seinem
„Demoslein," dem „Wählerlein" von damals, alles was der andre für sich in An¬
spruch nimmt, im Superlativ. So siegt der Wnrsthändler über den Gerber, und
er siegt auch nicht. Das Wählerlein laßt sich alles gern gefallen und freut sich
an den fetten Bissen auf Unkosten andrer, weil es meint, seinen Vorteil dabei zu
finden. Und dann bleibt ja noch immer Zeit, falls auch der Wursthändler un¬
bequem wird, ihn ebenso bei der nächsten Abstimmung zu beseitigen, wie den alten
Volkstyrannen, den Gerber. Aber endlich der glücklich Erwählte selbst, der die Majorität
auf sich vereinigte, nachdem er sich durch alle Unbilden, Zumutungen, Quälereien des
Wahlkampfs durchgearbeitet hat? Lord Beaconsfield sagte, wie er von neuem Minister¬
präsident geworden war: „So bin ich einmal wieder den fettigen Mast hinaufge¬
klettert." Man versteht diese aus Genugtuung und Ekel gemischte Stimmung.
Nun, so weit wie die Athener sind wir noch nicht, und doch steht es übel
genug. Was für eine Vertretung des deutschen Volks, seiner Kultur, seiner Wissen¬
schaft, seiner Frömmigkeit, seiner nationalen Güter und Beklemmungen zeitigt das
allgemeine gleiche Wahlrecht, das jeden Deutschen mit dem fünfundzwanzigsten
Lebensjahre für fähig erklärt, Wohl und Wehe des Vaterlands mithandelnd zu be¬
stimmen? Wenn im Wettrennen der Sieger seine Mitkämpfer um die Länge einer
Pferdeuase schlägt und deshalb den Gewinn allein davonträgt, so mag das hin¬
gehn. Schön ist diese Art der Entscheidung auch nicht. Aber wenn im Staats¬
leben die Zahl, nicht der Wert, wenn nicht die persönliche Bedeutung und Leistung,
sondern nur die Quautitcit deu Ausschlag gibt für die Zusammensetzung der Körper¬
schaft, die die großen Güter unsrer Macht und Weltstellung Pflegen soll, der
Körperschaft, in der sich ebenso die so verschiednen Interessen wie auch die Intelli¬
genz unsers deutschen Volks widerspiegeln sollen, entspricht das den Bedürfnissen
eines Kulturvolks, das etwas auf sich zu halten das Recht hat? Muß man nicht
fordern, daß alle die, die hierfür mitwirken, unbeschadet aller Verschiedenheit von
Stand oder Arbeit, wirklich einsichtige, vaterlandsliebende, reife Männer sind?
Man muß es fordern. Aber an wen ist diese Forderung zu richten? An die Ge¬
samtheit? An die aufgeregten Massen? Was diese anlangt, behält Talbot alle¬
zeit Recht: „Unsinn, du siegst." Oder an die Staatslenker? Revolutionen von
oben und von unter sind allemal unheilvoll. Nein, jeder Wähler muß diese
Forderung an sich selbst richten, damit er es bewähre, daß auch im Staatsleben
nur durch Opfer und durch Selbstverleugnung das Wohl des Ganzen gefördert
werden kann. Denn trotz aller Torheit und Ungerechtigkeit der direkten und ge¬
heimen Wahl bleibt es eine offne Frage, ob es eine andre Form des Wahlrechts
gibt, die zuverlässig vor Ungerechtigkeiten zu schützen vermag. Wer die Politik des
Aristoteles liest, sieht mit steigender Überraschung, daß in der Tat schon im Alter¬
tum jede mögliche Verfassungsform durchgeprobt ist, Monarchie und Demokratie,
Tyrannis und Oligarchie, Sozialismus und Patriarchismus und so weiter. Keine
ist die beste, aber jede Verfassung wirkt segensreich, die von mutigen, weisen und
Wenn man heute
die Phalanx überschaut, die in allen Ländern Europas und Amerikas den Geboten
des vatikanischen Generalstabs folgt, so unterschätzt man leicht, wie viel von dem
imponierender Eindruck auf die so staunenswert entwickelte telegraphische und brief¬
liche Berichterstattung kommt, die uns zum Zuschauer jedes politischen Vorgangs
in der ganzen Welt macht. Und noch etwas andres: die Kirche übt jetzt ihren
Einfluß in der Öffentlichkeit, in Parlament, Presse und Vereinen, wo sie vor einem
Jahrhundert so gut wie unbekannt war. Das verführt leicht zu einer Überschätzung
ihres Machtgewinns. Auch die vou ihr unabhängigen oder gar ihr feindlichen
Kräfte sind riesig und wahrscheinlich noch weit mehr gewachsen: die Unabhängigkeit
des Denkens, die Fvrschungsfreiheit, die Errungenschaften der Wissenschaft; auch
das Emporkommen der nicht katholischen Großmächte Deutschland, Rußland, Eng¬
land und der Vereinigten Staaten fällt schwer ins Gewicht, denn die katholischen,
Österreich-Ungarn, Italien und sogar Frankreich sind mehr ins Hintertreffen ge¬
kommen; in Frankreich hat die Kirche überdies augenblicklich alle entscheidende
Macht verloren; endlich darf die sozialdemokratische Bewegung der Geister nicht
unterschätzt werden, sie läßt auch die katholische Bevölkerung nicht unberührt. Nur
auf der einen Seite wird der mächtige Ban des Katholizismus vom Licht bestrahlt,
auf der andern liegen tiefe Schatten.
Der Verlust der weltlichen Herrschaft im Kirchenstaat gehört allerdings ganz
und gar nicht zu den Nachteilen, die die Kirche erfahren hat. Er ist ganz bequem,
Volksversammlungen zu rühren, aber die klugen Männer im Vatikan werden einander
im geheimen Wohl gestehn, wie erleichtert sie sind, seit ihnen die Sorge um den
Kirchenstaat abgenommen ist. Diese seltsame politische Bildung war schon beim
Zusammenstoß mit Napoleon ein ganz widerstandsloses Gemeinwesen, ein voll¬
ständiger Anachronismus. Das Fnzit der prächtigen Schilderung Sybels (Ge¬
schichte der Reformationszeit Band 7) lautet: „Niemals ist der Schein löblicher
Zwecke mit schlechtem Mitteln erstrebt, mit verderblicheren Preise bezahlt, mit be¬
schränkterer Wirkung verfolgt worden. Trotz aller ästhetischen Herrlichkeit der
römischen Verhältnisse, trotz aller Gewalttätigkeit und Habgier des französischen
Angriffs muß man es aussprechen: es war eine unermeßliche Wohltat für Rom
und Italien, wen» die Revolution die geistliche Staatsgewalt der nahen Ver¬
nichtung entgegenführte." Damals war die Vernichtung nur vorübergehend, 1814
erstand der Priesterstaat zu Rom von neuem, nunmehr der einzige in der Welt,
denn die geistlichen Staaten in Deutschland blieben seit dem Neichsdeputativns-
hauptschluß aufgehoben. Während die andern Staaten fast ohne Ausnahme ein
neues, zukunftversprechendes Leben begannen, lenkte der Kirchenstaat einfach wieder
in seine ausgefahrueu Geleise ein. Ein einziger Ansatz zu Reformen wurde ge¬
macht, nämlich von Pius dem Neunter. Gleich nach seiner Wahl (16. Juni 1846)
machte er allerlei liberale Zugeständnisse. Er erlaubte die Gelehrteuversammlungen,
setzte deu freisinnigen .Kardinal Gtzzi zum Staatssekretär ein, berief einen Ausschuß
zum Zweck verschiedner Gesetzesreformen und milderte die Zensur. Im Jahre 1847
berief er einen Stantsrnt aus Vertretern der verschiednen Provinzen und begründete
nicht nur einen Ministerrat sondern auch die Bürgergarde. Der Jubel war un¬
ermeßlich. Man sah in ihm den nationalen Einiger. Italiens.
Nur bis zur Revolution von 1848 dauerte diese Tendenz. Dann ergab sich
Pius wieder der strengsten Reaktion, wozu Frankreich ihm die weltliche Gewalt
verlieh. Der Kirchenstaat wurde wieder ein Unding wie zuvor. Döllinger, „Kirche
und Kirchen," sagt: „Der Geistliche, wenn er mit der doppelten Macht, der gericht¬
lichen und der administrativen, ausgerüstet ist, vermag sich nur äußerst schwer der
Versuchung zu erwehren, sein individuelles Dafürhalten, sein subjektives Urteil über
die Personen, sein Mitleid, seine Neigung Einfluß gewinnen zu lassen auf seine
amtlichen Handlungen. Er ist als Priester vor allem Diener und Herold der
Gnade, der Vergebung, des Strnfnachlasses; er vergißt daher allzuleicht, daß in
menschlichen Verhältnissen das Gesetz taub und unerbittlich ist, daß jede Beugung
des Rechts zu Gunsten des einen sich in eine Beschädigung eines oder vieler andern
oder der ganzen Gesellschaft umwandelt; er gewohnt sich allmählich seine Willkür,
anfänglich immer in der besten Meinung, über das Gesetz zu stellen. Die einmal
betretue Bahn führt daun unaufhaltsam immer weiter." Milder kann das nicht
ausgedrückt werden. In Wahrheit dauerte von 1848 bis 1870 das Regiment
der Gesetzlosigkeit, der Polizeilicher Unterdrückung jeder freiern Regung, der wirt¬
schaftlichen Lähmung um. Nun denke man sich einmal ans, wie ein solcher Priester¬
staat den Anforderungen unsrer Zeit hätte Herr werden sollen: den nationalen und
sozialen Bewegungen, der Wirtschaftspolitik, dein stürmischen Verlangen nach un¬
abhängiger Rechtspflege, dem Anarchismus, den Wechselfällen der auswärtigen
Politik und des Parteilebens, um denen so diele klerikale Parlameutsparteien ganz
Enropas beteiligt sind. Stockungen und Wirrnisse wären an der Tagesordnung
gewesen; die besten Freunde der päpstlichen Kirche hätten ihren Kummer darau
gehabt. Daß es, sogar heute noch, wo doch das weltliche Italien von mannig¬
fachen Fehlgriffen und Mißgeschicken heimgesucht worden ist, keine Bevölkerung gibt,
die dem weltlichen Regiment des Papstes abgesagter gegenübersteht, als die stadt-
römische, ist doch ein vielsagender Umstand. Wie wäre das päpstliche Regiment
in den hinter uns liegenden drei Jahrzehnten wohl dieser Schwierigkeiten Herr
geworden?
Im Stillen werden die wärmsten Anhänger des Papstes den Tag segnen,
der ihn von der Last der weltlichen Negierung befreit hat. Die Kirche wurde
nun auf ihre geistliche Macht allein beschränkt, und sie hat damit einen Aufschwung
erfahren, wie er in ihrer fast nennzehnhuudertjährigen Geschichte zu deu größte»
Seltenheiten gehört. Mau kaun vielleicht nur heranziehn: die erste Entwicklung
nach dem Sturz des Heidentums; die Kräftigung der Päpstlichen Gewalt durch
Karl den Großen; die Abstellung der Greuel durch Kaiser Heinrich den Dritten,
womit das Papsttum alsbald den Siegeslauf vou Gregor dem siebenten bis zu
den Bezwingern der Hohenstaufen begann; endlich den Sieg der Gegenreformation.
In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhuudeuts hat das Papsttum einen
ähnlichen Aufschwung erlebt — vorbehaltlich allerdings der Entwicklung auch der
entgegenstehenden Mächte, die wir schou berührt haben, und unter denen die Macht
der freien Forschung so allgewaltig sein wird, daß kein Papsttum dagegen auf¬
kommen kann.
Wir haben es hier aber nicht mit Prophezeiungen, sondern mit den Tatsachen
der Geschichte zu tun. Da tritt nun ausschlaggebend der große Unterschied in dem
Kirchenregiment Pius des Neunten und Leos des Dreizehnter hervor. Der ge¬
meinsame Boden des Jesuitismus hinderte diese Verschiedenheit nicht, denn beider
Ziel war dasselbe. Der Geist des Jesuitismns beherrschte den einen wie den
andern Mann, ja er hatte längst die Übermacht über die ganze Kirche gewonnen.
Auch das hätten wir als ein wichtiges Vorkommnis in der Kirchengeschichte an¬
führen können, daß sich im achtzehnten Jahrhundert der kirchliche Geist stark ab¬
schwächte, sodaß in der zweiten Hälfte der Papst mehr der Wnhlmonarch eines
kleinen Staats als das Haupt einer großen Kirche war. Die Revolution ent¬
wickelte jedoch die Religiosität, der Völker wieder, und in diesem Zuge der Zeit
stellte Pius der Siebente 1814 den Jesuitenorden wieder her. In seiner rast¬
losen Arbeit gelang es diesem allmählich, alle freiern Richtungen zu unterdrücken.
Am Vatikanischen Hofe herrschte er unbedingt, sodnß er das Dogma der unbefleckten
Empfängnis Muria und 1870 das der Unfehlbarkeit des Papstes durchsetzen konnte.
Bei diesem ereignete sich die letzte Kirchenspaltung, die die Geschichte bis jetzt kennt.
Aber nur ein Splitter blieb der Altkatholizismus, trotzdem daß er von hervor¬
ragenden Männern wie Döllinger und Friedrich geführt wurde. Der Jesuiten¬
orden hatte die Zügel schon fest in der Hand.
Ob die Kirche wahrend der sieben Jahre von der Besetzung Roms durch
die Italiener (20. September 1870) bis zum Tode Pius des Neunten (7. Fe¬
bruar 1878) nach dem Wunsche der Jesuiten regiert ist, kann man weder bejahen
noch verneinen. Gekämpft hat der Orden damals leidenschaftlich für den Papst;
ein Gegensatz gegen den polternden, scheltenden Greis, der sein Anathema so fleißig
anwandte, ist nie hervorgetreten. Aber vielleicht wurde deu klugen, welterfahrnen
Vätern doch unheimlich, mis sie sahen, wie die Kirche nicht nnr mit Dentschlnnd,
sondern auch mit der Schweiz, mit Holland, England und sogar mit Österreich und
Spanien in Konflikt kam, während ans Frankreich, trotz Mac Masons Präsident¬
schaft, kein rechter Verlaß war. Es mußte wohl erkannt werden, daß mit dem
Poltern über den „tönernen Koloß," den bald ein Steinchen zerschmettern werde,
in Dentschlnnd kein Umschwung zu erzielen sei, daß dagegen ein „friedliebender
Papst" nach Bismarcks Erklärungen große Aussicht habe, in Deutschland für seine
Kirche Errungenschaften einzuheimsen. Es ist möglich, daß Plus den Ordensleitern
„aus dem Steuer gelaufen" war.
Dafür spricht immerhin die Person des neuen Papstes. Auf dem Boden des
Jesuitismus stand, das mag nochmals betont werden, auch dieser und wird sicher
der neue Papst stehn. Was allenfalls an antijesuitischen Elementen noch in der
Kirche ist, ist viel zu schwach, einen Sieg über den Orden erringen zu können.
Kardinal Pecei war ein Jesuitenzögling. Nie hat er eine Äußerung gemacht, die
einen Gegensatz zwischen ihm und der Gesellschaft Jesu auch nur andeutete.
Toleranz gegen die evangelische Kirche wird kein vernünftiger Mensch von irgend
einem Papst erwarten. Wer sich für das unfehlbare, vom heiligen Geist un¬
mittelbar erleuchtete Haupt der ganzen Christenheit hält, der kann gar nicht zu¬
geben, daß Leute auf den Weg des Heils kommen können, die von seiner Hirten-
schaft nichts wissen wollen. Unter seinen Eneykliken find manche, die die Protestanten
schwer verletzt und sogar Anlaß zu der Forderung gegeben haben, daß die straf¬
rechtliche Ahndung der Beschimpfung der katholischen Kirche aufgehoben werden
müsse, wenn deren Oberhaupt ungestraft solche Beleidigungen der Evangelischen
in Dentschland verkünden lassen könne. Höchst bezeichnend für Leos Mangel an
Beziehung zur modernen Welt war eine Eneyklikci, in der er allen Christen die
Philosophie des heiligen Thomas von Aanino empfahl, daß sie einen Wegweiser
für ihre sorgenvollen Betrachtungen über Gott und Welt hätten. Die Philosophie
dieses alten Scholastikers wurde'zu der offiziellen des Katholizismus unsrer Zeit
gemacht. Daraus ersieht man, wie wenig der Mann, dessen Lebensaufgabe die
Leitung der gläubigen Gemüter sein soll, die Veränderung der Zeiten begriffen
hatte. Es wäre aber auch von den Protestanten töricht, etwas andres zu wünschen,
denn sie müssen sich doch sagen, daß auch ihnen das kleinste Kompromiß unmöglich
ist. Sie halten mit Recht an ihrem Vertrauen auf die freie Forschung ebenso fest,
wie der Katholizismus an seinem unfehlbaren Papst und seiner mittelalterlichen
Weltanschauung.
Aber Leo war ein Weltmann, der nicht wie sein Vorgänger mit dem Kopf
gegen die Wand rannte. Er hatte als langjähriger Gesandter in Brüssel die Welt
kennen lernen und wußte die Menschen zu nehmen. Es muß die Absicht des vom
Geiste des Jesuitismus erfüllten Kardinalkollegiums gewesen sein, einen solchen Manu
mit der dreiteiliger Krone zu bekleiden. Der Gegensatz gegen Pius ist offenbar,
und mau muß daraus schließen, daß der Orden selbst eingesehen hatte, wie verkehrt
das Temperament des letzten Papstes in der letzten Zeit gewirkt hatte.
Für einen „friedliebenden" Papst wie Leo standen namentlich in Deutschland
alle Türen offen. Vismarck war des Zusammenarbeitens mit den Liberalen müde.
Er hatte 1877 zwischen Weihnachten und Neujahr Rudolf von Bennigsen aus
Varziu ziehn lassen, ohne daß es zu einer (wie man nachträglich erfuhr, auch vom
Kaiser perhorreszierten) Verständigung gekommen wäre. Der Kanzler sprach es
offen aus, daß nicht immer ein so nntraitabler Mann wie Pius auf dem Stuhle
Petri sitzen, und daß er mit einem versöhnlichen Nachfolger zur Verständigung
kommen werde. Da starb um 7. Februar 1878 Pius, und schon am 2V. ging
Bismarcks Wunsch nach einem „friedliebenden" Nachfolger in Erfüllung. Auch
Kaiser Wilhelm war des .Kulturkampfes satt. Er stand zu Falk in einem zu¬
nehmenden Gegensatz! dessen Freund und Gesinnungsgenossen, den liberalen Ober¬
kirchenrat Herrmann hatte er schon entlassen und dnrch einen Orthodoxen ersetzt.
Die Attentate förderten die Abneigung gegen Falk. Sie erleichterten auch Bismarck
die Schwenkung, zumal dn die Liberalen das erste Sozialistengesetz abgelehnt hatten
und in der Reichstagsneuwahl schwere Einbuße an Mandaten erlitten. Die Kissinger
Verhandlungen zwischen Bismarck und Masella machten aller Welt den Umschwung
kund. Zu materiellen Vereinbarungen führten diese noch nicht; die sollten erst dnrch
die offiziellen Verhandlungen zwischen dem deutschen Botschafter in Wien und dem
dortigen päpstliche» Nuntius erzielt werden.
Der Friede mit Nom fiel nun allerdings wenig nach Bismnrcks Wünschen aus.
Die Kurie dachte nicht an Nachgiebigkeit und wurde darin augenscheinlich von
Windthorst bestärkt. Statt Zug um Zug (pari x-issa) zur Verständigung zu kommen,
mußte der Staat allein Opfer bringen. Falk schied aus dem Ministerium, neue
Bischöfe wurden wieder eingesetzt, sogar die zuvor vom Staate „abgesetzten" mit
Ausnahme zweier der kompromittiertesten durften in ihre Sprengel zurückkehren.
Ein einziges Zugeständnis schien der Papst machen zu wollen; er sprach in einer
Bulle aus, er könne es dulden, daß die anzustellenden Geistlichen zuvor den Staats¬
behörden namhaft gemacht würden. Dies wurde jedoch zurückgenommen, ehe es in
Kraft getreten war. Der Staat dagegen hob seinen Gerichtshof für kirchliche An¬
gelegenheiten auf, desgleichen die Temporaliensperre, das Gesetz über die Vorbil¬
dung der Geistlichen und das Ordensgesetz. In Kraft blieben im wesentlichen nur
das Zivilehegesetz und das Jesuitengesetz.
Vollständig mißlang der Plan, das Zentrum in einen Flügel der Regierungs¬
partei zu verwandeln. Es hielt sich vollständig unabhängig, nicht nur in Ver-
fassungs- und Steuerfrageu, sondern auch in deu Angelegenheiten der Wehrkraft.
In diesen appellierte Bismarck 1387 an den Papst. Der Staatssekretär Jaeobini
erfüllte seinen Wunsch und erklärte, es sei dem Papst lieb, daß das Zentrum mit
Rücksicht auf die bevorstehende Revision der preußischen Kirchengesetze die Vorlage
über das Septcnnat in jeder möglichen Weise begünstige. Aber das Zentrum wies
diese kirchliche Einmischung in weltliche Angelegenheiten rundweg ub. Seitdem
nahm die Stimmung Btsmarcks gegen das Zentrum wieder einen ganz andern
Charakter an. Daraus erklärt sich sein späterer Haß gegen die Partei Windthorst.
Und doch können wir von Glück sagen, daß der Appell an den Papst nicht zur
stehenden Institution in unsern Angelegenheiten geworden ist.
Die andern Länder waren im Kulturkampf nicht so weit gegangen, hatten
darum auch einen viel einfachern Frieden; namentlich Österreich und Belgien
hatten gar keine Schwierigkeiten, und auch die Schweiz vollzog ihn ohne große
Mühe. In Frankreich ging die Sache umgekehrt. Als Deutschland den Kultur-
kampf führte, war Frankreich klerikal. In den letzten Jahren find die deutsche und
die preußische Regierung auf sehr guten Fuß mit der Kurie gekommen, Frankreich
dagegen hat eine ausgesprochen antiklerikale Kammer. Es werden Gesetze gegen
die ultramontane Kirche durchgeführt, viel schärfer als die deutschen Maigesetze.
Trotzdem bleibt Frankreich immer die „älteste Tochter der Kirche"; gegen Wünsche,
die sogar von deutschen Katholiken eifrig unterstützt wurde«, wie die Errichtung
einer katholischen Fakultät in Straßburg, macht sich die Franzvscnfrcundlichkeit im
Vatikan stark geltend. Mit Mühe erlaugt die preußische Regierung, daß ein Bischof
Korum in seine Schranken gewiesen wird.
An der beispiellosen Teilnahme der ganzen Welt an der Krankheit des
Papstes Leo zeigt sich die große Macht, die die Kirche gewonnen hat. In allen
Ländern, allen Parlamenten hat sie ihre Parteien. Im deutschen Reichstag ist die
römische Brigade die feste Truppe, mit der die Regierung rechnen muß, weil alle
übrigen völlig deroutiert sind. Das erregt Erbitterung; Vorschläge, wie dem bei¬
zukommen sei, sind uoch nicht gemacht. Ein lebhaftes Interesse an der Neuwahl
ist übel angebracht, Grund zu einer Änderung der Verhältnisse von Nom aus liegt
nicht vor. Welcher Kardinal auch den Stuhl Petri besetze» wird, er wird immer
ein Vertreter des im Kardinalkollegium, ja in der ganzen Kirche herrschenden jesui-
dischen Geistes sein. Daß die Wege Leos des Dreizehnter mich für den neuen
Papst vorbildlich bleiben werden, ist durch die Erfolge des letzten Vierteljahr-
Hunderts zur Gewißheit gemacht. Was hatten wir andres zu erwarten als einen
neuen Gegner des Protestantismus und der Freiheit im Denken, Forschen, Glauben?
Was aber hat die Freiheit im Denken, Forschen, Glauben zu befürchten wenn sie
Unter diesem anspruchslosen Titel
hat Emil Butte, der Verfasser der „Naturwissenschaftlichen Plaudereien" und der
„Erfahrungen eiues Hadschi," eine Sammlung kleiner Erzählungen veröffentlicht,
die jüngst in zweiter Auflage erschienen sind,*) und ans die wir unsre Leser, und
zwar ganz besonders die Naturfreunde unter ihnen, aufmerksam mache» wollen.
Wer Kinder und Tiere gern hat, wird sich an diesen Geschichten ganz besonders
freuen und deu Autor um die schöne Gabe, seine Beobachtungen mit feinem Humor
wiedergeben zu können, beneiden. Das „Idyll" zum Beispiel ist eine allerliebste
Geschichte. Es wird darin erzählt, wie zwei durch dein Flntstrom des Pariser
Großstadtgetricbes auf den Sand gespülte Menschenpflänzchen von den grob-gut¬
mütigen Lebensmittelhändlern der Markthalle vor dem Untergänge gerettet und zu
nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft herangezogen werden. Diese „Nützlichkeit"
muß uns, die wir den Geschäftsgebräuchen der Markthalle fernstehn, freilich ein
wenig fragwürdig erscheinen, sie besteht nämlich darin, daß sich Hippolyt, der männ¬
liche Teil des Kindcrvielliebchens, zum Spezialisten in der Kunst ausbildet, die bleich¬
süchtige» Beine veralteter Truthuhne durch eine besondre Behandlung mit Farbe
und Bürste in einen jugendfrischem Zustand zu versetzen, während Phemie, das
Mädchen, eine Virtuosin im Flicken zerbrochner Spargel wird. Wie die beiden so
zwischen Truthähnen und Spargeln heranwachsen und sich schließlich „finden," ist
höchst amüsant, ja beinahe rührend erzählt.
Aber Butte weiß auch andre Saiten anzuschlagen, er findet herzergreifende
Töne, wenn er die Leidensgeschichten von Kindern erzählt, die ein unerbittlicher
Tod dahinrafft, ehe sie noch recht zum Leben erblüht sind, wenn er die sorgende
Mutterliebe feiert oder davon spricht, wie einen Soldaten, der im Kriege bei mancher
Gelegenheit seine Haut in Sicherheit gebracht hat, und der nun mit seiner Kompagnie
zur Teilnahme um Siegeseinzug in Berlin kommandiert wird, plötzlich das Bewußt¬
sein seiner UnWürdigkeit niederdrückt und in den Tod treibt. Rührend in ihrer
Art ist auch die Geschichte eines jungen türkischen Stallbnrschen, der sich für seinen
Herrn Schindel, während andre dessen Dank ernten, bis der Gedemütigte eines
Tages seinen Gefühlen ans eine durchaus urwüchsige Weise Luft macht.
Mau wird an den hier kurz charakterisierten Skizzen erkennen, wie groß das
Stoffgebiet ist, das der Verfasser beherrscht. Ob er nnn einen Beduinenscheich,
wie in der Erzählung „Obeids Werbung," einen Leuchttnrmwärter, wie in dem
„Antlitz der Tat," oder gar einen Laubfrosch, wie in der niedlichen Tierstndie
„Joachim," zum Helden seiner Darstellung macht, immer weiß er die Geschichte
fein zu pointieren und ohne ermüdende Längen durchzuführen.
I^ur äas .Jak,r 1902 Iiat alö
iuntluckv LwtistiK ckvs auswSrtigva Ilkmüols — vir sprevIwQ immvr nur vom Sx^ial-
lianäel — im Zan-im eine Il^inkudr im 'Werte von 5805,8 Nillionon Narlc unä eine
^Vusknlir im ^Vvrto von 4812,8 Millionen »aollKvviosvn. Die Uolirsinkullr oclor Alp
statiMson unxväooktv ^usgadv in avr Ilanäolsdilanx Kvlivk hivi» 6avaol> aut 993,0
Nillionon Narlc. ^acti aom „Statistisolien .lulirdueli" 1903, Leite 96 setzten siel,
äiese Lllmmon et^r llanäolsliilanx von 1902 aus kolMnäcm Ilauptpokiwn «usammon:
In am kolMnäen IZoroelinunMN unä IZetraentungen sind ale Läelmetallo,
soweit sie niokt ausärUelilioli genannt sind, nielit mitZoreeiinet. Unter aom Aalirungs-
unä asu KenuKmitteln Sinn alten Fabrikate, 13. ^uekor, ontlmlton. >Vir kasson
sie liier äurolivog mit am oinseläägigen Rolistokkon nusammon, voboi iliro NeKr-
auskulir verselrvinäet. 1>er NeKreinkunr von Nanrungs- unä von KonulZmitteln unä
Vivd, oÄvr vio wir s,not Zagen Kvnnvn: «lor ^usgado tur äiese Varvn in Ilölre
von 15>42,0 Nillionon nark< stünäe nam obiger Üdersielit <Iio lnäustrie mit einer
aus Svr Alodrausgadv von 1397,4 Nillionon Narlc tur KodstoKs unä alio neur-
«immllwo von 1986,2 Nillionon Narlc tur v'»trita>to resultierenäon Hinnadm« von
588,8 Nillionon Narlc Mgenüder. vaboi wirä aber alö lnäustrie in ibronl Roli-
stokklconto -?u starke belastet, äa unter aom oben in Keelmung gestellton „liobstokken
für InÄllstriWlivnolco" ärei >Varenz;ruppen mit ontlialton sinnt, alö nur vinoin
nielit kostsiustollenäen '1'eil Inäustriexvvoelcen alouer. Dio Lintunr unä ale v^uskubr
äiesor äroi (Brunnen stellte sich 1903 vie kolgt:
Solioiäot man äioso äroi V^arongrunnon aus aom liolistoiklconto avr Inäustrio
aus unä stellt hio — iiusammongokakt — mit iluror ^VusZabo von 103,5 Nillionon
nodon avr ^.usgabo tur „MlrrunZs- unä KonuKmittol, Violi" von 1542,0 Nillionon
als bosonäorn Boston in Roolinung, so vorMöKort sioli alö Limmat»mo avr Inäustrie
um 103,5 Nillionon auk 692,3 Nillionon, unä obonso ornülit sioli auk avr anäorn
Loito alö ^usgabo. in avr Lilanii um 103,5 Nillionon auk 1645,5 Nillionon. A»r
vookung äiosor ^.usgado unsror Ilanäolsbilam? dat also Im .latiro 1902 alö Inäustrio
vino Linnalimo von 692,3 Nillionon oäor 42,1 ?ro?lone boiKotragon.
Molistolionäo >?usammonstol1ung möZo äioso ZoroolinunZ novit Klarer maolion.
'Wir verweisen liier auk ale ontspreelienäen Kvrevdnuuxen in Ilekt 47 6«
vrsniivoten vom 20. November 1902 Seite 397 K.
In rlisser >Veise sinnt als navdstoKoMon !L»Il1on Aos ^»drüoluit« 1893 dis 1902
berechnet.
Nach der Statistik dos auswärtigen Handels sind
IlngedeeKt blieben also von der bier nachgewiesene» Nebrausgaboi
Reebnst man dazu die Nsbreinkubr von Ldelmetallsi;:'
so ergibt sich die von der amtlichen Ltatistili naeligewiesone I^assivsumine der
Handelsbilanz:
of«!UZU ist im .lallrv 1902 Avr Anteil, «Ion die Hxportinduktrio im avr DövKunA
des Oeü/Ils unsrer Handelsbilanz genommen bat, soweit die Statistik Hin naob-
weist, uncl. gröLer gewesen als 1901.
Im.ladre ass g1ä»MoSstsn sogenannten „v^uksebwungs" der doutselien Industrie,
1898, machte dieser Anteil 4,2 Prozent aus, im ^abro der Krisis 36,0 Vrozent und
1902 sogar 42,1 Prozent. Das gewaltige IZmporsennellon der IZxvorto.noto — in
diesem besondern Kinne — des KrisenMires 1901 schien uns in hohem Krade
prodlomatison, vrst rvolit vorüon wir aucti die weitere LrdSnuug im .laln-e 1902 nielit
mit unoinAvselnÄnKtor LvirieäiZuuK begrünen Können. >Var in Sor sogenannten ^.nt-
seKvrmgSMit avr Industrioexvort unnatürlich zurüekgogangsn, so ist er.jot^t un-
natürlich in die Höbe getrieben. Immer wieder muK n>an dabei bedenken, tai?
der dvutsebe Export viol zu sehr in liolistotkon und groben Produkten dor Industrie
bestellt, wodurob in aler ^.utsebwungszeit sein RüeKgaug und in seblsebten Zeiten
seine Steigerung erklärt wird. Ks ist bekannt, dalZ die geradezu lieberbalte
Steigerung der industriellen Tätigkeit im letzten ^labrtünft dos letzten ^abrbunderts
last ganz: aler Erweiterung Ssr industriellen Produktion slcratt galt. Lei normalem
Verlaute Iiätto man äanaeli eine ?erioäe gewaltig gesteigerter ?meint!tivitÄt unsrer
lnäustrio in «1er I^abrilcation von wertvollern, tertigon Kebrauebswaren erwarten
sollen uncl siugleieb natürlich eine bedeutend gesteigerte ^.usiulir von solchen tsillvr»
Exportwaren. IZeidos ist bisher nicht oder so gut wie nielit eingetreten. Vielmehr
bostobt der Lxport naeli <ter Krisis wosentlieb in den» !«un> 'teil notwendigen und
dvsbalb ?u billigenden llinauswerten von Produkten der sogenannten „schweren
Industrie" ?u Verlust oder doch Kaum Gewinn bringenden preisen. Ds soll darauf
heute nielit näher eingegangen worden. Uur darauf sei Kur/, nochmals liingewioson,
daL diese ^Vrt von Lxoort nicht lange grolZ bleiben Kann, und das, wenn sie
üusammensebmilxt, das Bedürfnis Oeutseblands naeli einem groken Export an lertigen
?abrilcaten ganx gewaltig anschwollen aus. Dieses gesunde Lxportbodürtms wird
violleiebt bei den Reiebstagsverbandlungon über die neuen Handelsverträge mit un-
gealintem Kewielit in die V^agsebale Mlou und ^jedom IlbermaK der Sodutii-
/nllansnrüebe der „schweren" Industrie einen Damm iiieben. Die agrarischen Mt-
standiiölle sind etwas gani? andres. Unsre schwere Industrie, Xoble und leisen
namentlich, ist nicht Im Notstand.
VemerKt werden muH erblickt noch, bat in normalen Zeiten die von der
Statistik gobraebten ^.ustubrwerte, soweit sie fertige Kebrauebswaren betreffen,
wohl nicht annähernd den Gewinn anzeigen, den der l^x^ortbandol beim Verl<auk
Im Ausland für das deutsebo Nationalvermögen erlangt, dalZ also in solchen Zeiten
aaeli eine Iwbe Vassivitüt nor statistisebon IIg.nack8dit!ur/ 8elionÄesba-ib nicht immer
tragiseli !«u neiunen ist. ^.ut Äer anatom Leite aber vverclon in leiten, vie ale
(Fegeinvart, wo hier Lx^ert i!um groüon ^oil in den rohen LrMugnissen avr
selnvoren Inäustrle do8lebt — «lie 8vgar im Verlust bringenden l'reisen im ^U8lana
untergeliraebt worden und gegen lLxportxrämion —, dio 8tatistisol>on ^ustubri?ablon
miuiodm»! Köder sein als nor ttvvion, ava 6lo VolKsvirtsvKM Ks.t, »not vvou
sich dio Statistik, >vio blos dio doutsolie sioltvr tut, dio gröüto Rudo gibt, den beim
Export virlcliob erlangten ?rei» nu ermitteln.
vor SsstanÄ <1ör SsutsOksn ILaukkalirtsisciliiK's naoli Asu ^viodtiAsr»
H<ziruaw1lat6ii, Asu VrSIZsn- um<1 Asu ^.ItsrslxlasLsri, l^acuten i»
Hott 27 dor Kronsiboton über den Bestand der deutsobon KauttabrteisolMe an>
1. .lanuar 1902 und Kdor 8vino KntvioKIriNK lo Avr lotütvu .labrxobnten die vivd»
tiMril Daten mitgeteilt vnrden so<i, mögen ne«:b einige Angaben über die be-
clcmtvllÄsrn Ileimatsbäten und über dio Kröövn- und die Altersklassen und der-
gleichen gemavlit wordon. Ds sind dabei überall auob dio nicht nu oigentlielien
IlanÄolsisveeKou dienenden FsKri-ougo wie Ix>tsov-, Iloollseotiseliorei-, Dergungs- und
LMvMsolliKv einbogritten, väbrvnd alle Lriegs-, Regierung«- und l^usttabriiougo in
bon Xablen nielrt ontbalton sind
Der Destand an KeeselilKsn in asu iivanxig bedeutenden deutschen llatvn-
j,Iätxon gebt aus folgender Übersiobt Iiorvor:
I^»ot> <1vu Krönenverligltnissen
l. .lannar 1902 tölgenäermal^en verteilt.6er Kamille Ko-t siel, <ter >!e>l!>u<l a,w
Ls ^parer vorbanclen:
LoKilio mit oinom lZruttoraumgoKalt von mokr als 4000 lonnon sind nur in
ekelt I-IamborAvr und bon Kromor Iläton K«im»tsderveKtiAt, - rmS svsr in bon Hain-
>>urgor Ilätou 116, in bon lZromoi' 61 Kobino. lin Ostsoogobiot Sinn om llaniptor
von 3500 bis 4000 Ion« und droi viunpkvr von 3000 bis 3500 'Ion» Sip MöLton
^abrxougo. Von bon niobt «u oigvntliolion Ilandolsxvoolcon dionondon 597 ?abr-
üougv» vrrmokon nur 7 viror I^ruttoraunigobalt von mskr als 250 'Ions uni nur
«ins viror sololion über 1.000 'l'vns. 1>lo groöv Notir?.alli Sioser ?akr«ougo divide
untor Kundort 'Ions brutto.'
Ülbor das ^teor dor LandtalirtoisobiM gibt navbstobondo KIoii»o ÜborsioKt
^usKunKi
Dom llauptmatorial naoli varon am 1, Januar 1002 von bon l)ami>KoKiKon
1455 an« Dison odor LtaKI, 6 aus Karton Hol«, vins aus voiokom Hol« und vins
aus Hol« und lÄson; von bon Logol- und LeKIonpsoliikton dagogon 726 aus KtaKi
und Kisvn, 1640 aus Ksrtem Hol«, .10 ans voioboin Hol!?. 1.11 aus Karton unä
voiokvm Ilol« nun 9 aus Hol« un«l lÄson.
>Vir DoutsoKon Kabon guton Krund, auf dio lcri-
tisvkon VorAugo, Sip sivk soit oiniger ÜZvit im 'Irustwoson der Voroinigton Ltaaton
abspiolon, gan« bosondors aulmorlcsam soin, vonn vir uns vie-.Kt übor Kur/ odor
lang vor eine KviUoso IZIamago MstvM selon und unsro virtsobaltlioko und soÄalv
XuKunkt niobt unvorantvortliok MtAirävn vollen. Wenn auok dio histor durok Sip
^oitunMN MZangnon ^aobrioliton übor Vorlngonboiton dos NorZansoKon LoKikl-
i'abrtstrusts, übor dio Lobvindoloion in dor llnitod Ktatos LInpbuilding vompanv
und übor dio ^usboutung dos Volks durob dio mvdorno Rogründung von Holting
Ooinpsmvs üborliauot in iliron tatsäoldiolion Kilt/olboiton mit groLor VorsivKt aut-
iiunobnlon sind, da nirgonds in sololiom tinta.ngo dio VrolZlügo antritt, vio
in allom, v/as dio Trusts dvtriM, so ist doob soviol als tatsäoblioli koststobond xu
botraobton, dalZ os mit dom krostlKv dor 'IVustlmnigo IVlorgan und Lobwab und
Konsorton Solon rovbt übol 1>ostollt ist, und dor gosundo Kinn dor ^.morikanor
anlangt — «um in .juristisok otvas govvundnon l^oriolitsurtciilon — gogon dio un-
vrträgliobo ^usboutung und Ilntorjoobnng dos ^Virtsobattslobons dureli vino an
allon Dolivn nun Lndon an 8<mvindol stroitdndo Vortrustung 2it roagioron. Un-
1>ostroitbar ist, daL dor Kurs dor l^rolorod LKaros dos MnrgansoKon vamplor-
trusts im vMvmbor 1902 rook auk 75 stand, im Februar 1.903 auf 43, im nar/
nur 40 und im Aal aut' 30 golnllon war. Ds ist troiliob niollt gan« unmögliob,
dalZ diosor Kursstur« von Ilorrn Morgans llolt'om solbst insxoniort vordon ist, mit
dor Absicht, dio onglisolion und dio andern Vorlcaui'or soinvr ?Iottv, sovoit hio in
l'rolorod LKaros boisaldt wordon sind, «um Lossoldagon dor?anioro ä tout prizx «u
bewegen, und sie so sum vosts» äos Irasts KrMix übors vdr zu I>»«su. ^dor
wahrscheinlich ist, das immorbin niobt. ^.Is der Kebiftabrtstrust ins Loben trat,
/.vvitelts dein NvnsvK A«r»n, A»K homo Dlotto das äkMr xM«.i>Jto <ZvIÄ hol vsitom
nicht wert sei, und das der 'Irust die Febitke im Vergleich mit denen des I>sord-
deutseben Llovds und der Hamburg-^.merikalinie ungefähr doppelt bszablt liabv.
Die blindgläubigen 1'rustfanatiKer, auob in voutsebland, waron aber der Meinung,
daK es trot/dem dem 'prüft gelingen werde (durch sintaobere Verwaltung, Kir-
sa!bränkung der tönern KeKIamo, ^ussvbaltung ungenügend beladnor Lebiüe, Ko-
operationen mit den Morgansc.ben Kisenbabnen und, vorläutig wenigstens, durch
Vereinbarungen mit den doutsebon Kesollsobakten über die Höbe der Kraebten und
eier passagierpreise), niobt nur auf die Koston zu Kommen, sondern auch dem
aniorikanisebon Kapital, vsnn auch unter fromdor flagge, mit 6er Zeit die Herr-
seliaft übor doit vzoanvorl<ohr zwisobon bon Vereinigten Staaten und Duropa su
verse.Iiäffen. DaK die deutsoben (Ztosellsobaften von dem amerikanischen Irust über
Kurz oder lang mit Haut unä Haar aufgefressen worden mülZtvn, betraebtetv man
vieltaeb als solbstverständliob, uncl man rief schon nach Ltaatsbilke durch Vbernabmo
dieser KoseUsebakten auf das Keiob.
DerMorgansebe Lobifkabrtstrust und sein Ankommen mit bon doutsebon Linien
sind seit dem 1. Januar dieses jabres in Kraft. Viel ist deshalb über seine Knt-
wioklung noeli nicht zu sagen, jedenfalls sind Ilisbor die Kraobton niobt gobobon,
aber auch das (Fesebät't der deutsoben Linien ist nicht verdorben worden. V/le vor-
siebert wird, würde das deutsobe <Zesobäft auch durch einen etwa entbrennende»
Konkurrenzkampf des Norganseben Trusts mit der britisoben lüunard-Linie, die
von der Regierung unterstützt werden soll, nielit ernstlich bedroht sein.
Ks wird sich wohl in der nächsten /nen zeigen, ob die KrKlärung Norgans,
seine 'Irusts orfreuten hielt der besten Kesundbeit, VVabrbvit oder Kobwindel ist. >Vir
Doutsebon worden gut tun, in dubio nur an Kobwindol zu glauben, auch wenn sich
der 1rv3t auf Kosten seiner (Gläubiger noch einmal aus der Keblinge sieben sollte.
Ilofkentlieb wird sich die Aufmerksamkeit der öfkontlieben Meinung in Dsutsebland
.jetzt mehr dem praktisebsn 'Wirken der Trusts als den unklaren und übersebwong-
lieben l.ebrmoiuungon darüber zuwondon. Dann wird der Doktrinarismus der
deutschen l^rustsebwärmor — mögen sie nun Dandelsministor, Professoren oder
Bankiers sein — aufhören, ome Kekabr für Deutschlands VolKswirtseKM hin sein,
die er heute in der lat noch ist. Llorade in Deutsobland gilt es, diesem Modo-
doktrinarismus gegenüber die Parole auszugeben: Kampf gegen die Vertrustung
von (bewerbe und Handel.
Dir Notwendigkeit einer »-regelten Zahnpflege ist
dringend. Tiiglich die Mhne reinigen ist wichtiger, als
«»glich das Gesicht waschen.
Eine nnsaitvcrc Mundhöhle ist die beste Brutstätte
ster viele Krankheitserreger (Tnlicrlulose, Diphtherie
usw.) und bildet deshalb eine ernste Gefahr für die
Gesundheit. Schlechte, ungepflegte Ziihne sind eine
ständige NuSgangsstä'lec für allerlei Beschwerden,
namentlich fiir Magenleiden. Reinhaltung und Er¬
frischung der Mundhöhle fördern ungemein daS sub¬
jektive Wohlbefinden.
Ein jeder Mensch ist dem Arzte oder Freunde, der
ihn zur Zahnpflege angeregt hat. zeitlebens dankbar.
Alle hervorragenden Forscher aus den, Gebiete der
Zahnhygiene sind sich dariiber einig, daß die in erster
Linie nötige mechanische Reinigung lZahnbiirste, Zahn¬
stocher) allein nicht ausreicht. Die gleichzeitige An¬
wendung autiseptischer Mundwasser ist unbedingt er¬
forderlich.
Ein gutes Mundwasser soll folgende Eigenschaften
besitzen:
Mittel, die die Mundschleimhaut äsicu. wie über-
mnngansanres Kali. Aormaldchyd, Seife und andere, sind
für die regelmässige Mundpflege eben so wenig geeignet,
wie saure Mundwässer, die die Zähne entkalken.
Nach den übcrctustimmcnden Angaben hervorragen¬
der Forscher») entspricht Odol zur Zeit den obigen drei
Bedingungen am vollkommensten und aus! daher a>«
das beste von allen gegenwärtig bekannten Mundwässern
bezeichnet werde».
In Anbetracht dessen, das! zu Odol nur der denk¬
bar reinste Alkohol sowie, die feinsten und teuersten
ätherische» L>in verwendet werden, niest der Preis des
Mittels (8!> aom ---- 1,5,0 ^«) als ein mästiger bezeichnn
werden.
..Wer Odol konscgucut täglich vors-hriftSmästig
wendet, »de die nach dein Heutigen Staude der Wissen¬
schaft denkbar beste Zahn- und Mundpflege aus."
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KSbiinC-
12.
^1902. S^i —
Norclost-
DsutsoK-
' Is-nei r>öd«t
ol!nsina.rk.
2?. ^.uti.
>902. se^i!-
IXIorci-losse-l^sutsodlo-link. 27. ^.uti.
1902. V ^ — !ZiicZ.-vör>.t«Lu1^iicZ.. 2«. ^.uti.
190». » ^ — R,K.fil^^ncIs. 2g. ^nit. 1902.
L — !Zii<1Iz»ohl.-Q, rirol, L^I^durA
öto. »0. ^uti^xo. I9VS. 8-^/. — östsrrsiok
tnlnw vng-»n). 2«. ^mit. 190». K ^ —
<Zstsrrvio!»-I7v«>»rii. ISO». 8^!
ZZölgisn nnÄ Holland. 22. ^uti.
1900. 6 — oksrit^usu. 1K. L.uti. 1902.
8 ^ — writtslito^ihn. 1». L.us. 190».
7,S0 ^. — I7lltsrii^ihr». 1!!. V^un. 1902.
0 ^S. — It-i-Uhr von thu ^Ixsn Ki»
Uf-ixsl. 5. ^.uti. 190». 8 — Sivisrs,
u. Lü.lZ.ost-?r!er!<rsioIi. ». ^.uti. 1902.
« ^ — IIniMb. Is. L.uti.
1900. i; ^ (in kr»n«. 8>>r»vllo^?r»i»<zö:
Ins Iilor6.-D»t. 190». S.«.; I.s Noi-cZ.-
0n.sse. 1902. S ; LuÄ-use. 1901.
« ,^«.; I.S L^Ä-Onost. IU0I. s> —
(?roSbrii».rliiiöii. ». ^.uti. 1899. 10^
— I^oncion. 14. ^nit. 1901. 0 ^ —
»u1Z1s.riÄ. 5>. 1901. Is.^1 liussi-
»--Kor ^ni-^Iiktllu-or 1 ^ — Se. ?stsrs-
bürg. 1S01. 4 ^ii — Le>tiivs6.fil uncl
ZVorvsssn. 9. ^»it. 190». ?,S0 —
Lr:)ipsi?l. SN. L.u». 190». 8 ^ — lZxa-
nisxi 11. ?ort^Mi. 2. ^.uti. 1899. 1K ^
^^.Avxtsn. S. ^.u«. 1902. 1k> ^ —
Sri0Liisil.I»>iÄ. ». ^uti. 189». 8 ^ —
?s.1it«tinÄ u. Lvi'ihn. 5. ^.uti. iggg.
12 ^ — Norcliunsril?».. 189». 12 ^ (In
VN^I. 8ur^I>«: Oo-i^Äa.. 1900, L ^t!)
IZ^S K^on?
Kunäsods-u tur cksn äoutsokeii ^uristengta-un
VII. .Jul,i-xni>»z 190ki
Ili. II». I'Il. 8<>v''g«I, Nüiiviieu
V»>'luss <I«r IloIninMOIzv» I!»<;I>I>n,n<IIu»k Iluiinnvvl'». I^«!>>i!ix
InbM von Nllillwvi 13 vom 10. >IuU 1ÜV3!
<it«»«t-!«»»««l«x>ni«! »us »^no«n<I««x. ol« reclltl. LWIIimg
»Is«od öl ^s.ouds2lap, störst«?».)'— vio »nriolitixo vueknnß
ij Ul.9 '^.d«. 2 MI. Si». r.o. ^ <icrlvMMrI«it't«n>t ^or. 0rii»v»ü'
^Ivosdurg.) <l«w^ ^««Iitülvl»«».^ ^^llilsti^oliiv yvsvll-
Iioi Maxvi, »us 8 70 ^.K». 2 «.S.S. 2!ur Xu«I>,.
xunx S«« H 7 ».Ktr.v.L. — Jm^«»1>t>i<I>i»^<i». !. <AviIs»öl»«n.
3. ol» ol'oKtlMw» «ovKtsxrunS»»««« <1of »vivkagoliodt» in
»tiAlsnolisil. — «viol»«» »»,1 -D»i>««i«x«««t«ik«>»aux. — »«-
n,i^»e>»,nx«». — Niloliorxviui». — <><>» V!t(!l^vIt«vI>r!No».
I^a K6VA6 as ?g.ri8
<V°rI»x vo» O»l>n»um-I,6vz' in I>nri« >»><I 7Mimi-lx)
I»I>»It von Ur. 14 vom II». >IuII 1903
Is»Ms Vo<I>!l .... VIII« >I'0»«Win>1, <1r» iinrtio.
^.N>ort Lolnn.... I^le I.nie« <!<>»1ir» I» 'I'»I>or«uIv»c>
^n»is LatitknI . . . 8i»ivo»ir« <>'»» «i<!^<> <><!!!<>>.
1>'<^rin,S ni-egl, ^ ^ . l-ostio«.
1!»>>^nSi« rls IVten-iconrt I^all» XVIIl. «xil (1801—18N9.
..... 7/^<1o.<>»<> no'l'iinliuou» I«er IiixMn-
>I>'uro <Z<! It^gninr . . Vit<an>!<>» <>'»» ,1«»»« IIniuin«
(ein>.
s^i^nie» liadut ... I.« <!I>v,»I„ <I» 1V>r <I» I^,>v>>I<>.
Victor NviaiÄ . . . «j»«»1)I«»»»x<)i>ri>,»r«»l.—Il»8«r>>!<>.
?rsis ^sÄss Hsttss L.SV
?u bk^iskkn «iurok jecie KuoKIisnlilllng-:- «erlitt W. Hotel »»er ^alserdof^ -s
Ximuicr von Z.öSMi.an. stulilgsle n. vorueliniste tage Lerlm's.
Dr. 8oll>Mkr^ köllsivii u. L^ikdull^MLt. l. MM
I^teor'LSldst srKUnSsi. v!v Lodulv feste' vntor s^tlivlivr
it«rs«a«rr d«l lliuubnrx, «Zrsvv'« «»rtsil 7'
.11 r . I 7 ° s
M ^ M
F.^.Keile?^l8'.7S^
r«1>riüisi'd >>. pape.: iSoMOru.et»!»«!» kiirliiivk« «>
Il»u» — «l««»«r k.». ««««ri>« n. Iiü»»1v — IliiK«!»-
<°iinx«r «.,7»«,Il»«»>!«r — Sol,«r«n tur »II« Zivoolc«.
n-untnisSori. ItvR'im/W, Ixnl>«igvr«er.118.
Wg.VerK.-RiogsrI.: I«'r!>»Il I'nrlStoln v.S -Il»in»
Kurs, <?r. ^oliiwvlmtr. K - K«I» ». Ill,., UoKostr. 114 »
I>r<>«<>»>», >ViI»Zi^Ik<-v»er. 7 - VI«nI, Kilmtluiorstr.24
^erKÄNÄI^AUS VON ftoisIelniscliem^Äw
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InKalt ciel- Kummer 28 vom y. Juli >yoz:
Lutfteiivoi'te — vie?nlle aer «ottftel» — «is» Heisst..Uj.^^
«es eHrMeittum«"? S. »er ivesensvegrill als I-leall>egM>> ^
Nietzsches Unkisse gegen Paulus, l. öl- »°kek>r»»s
KNcHeupOlitlscl,« ?»->ge»i Z.Kirche un<l Kirchen — ?U,,-'r,
ac» ,,^eicll»«5 LKristi" In eiseuscl,. z. Äarneck> ^^^Äg„.
s. liepsius, b. ner»I>r»ngsp»»l!te — evÄNgeliscH-hö/.ialei/'^^
gress in »«rmstaat. rei?.te- Ztiick - verscilleaene-' ...
Missbrauch Äer sihet »»<! -ter Apostelgeschichte; 0->»'
Kilt Komantilier (r-zuseher): ?ra» are»e (Dose); »e law»>>
sespör-r (pantoppiclan)! Mexan-Ier Mackav; Lclgie» «in
zches rankt par excellenc-i Kleine Mitteilungen.
er Verfasser dieses Aufsatzes hat seine Theorie des Verbrechens
und seine Ansicht über die Reformbestrebungen der Lisztschcn
Schule, deuen er im wesentlichen beistimme, unter anderm im
ersten Bande des Jahrgangs 1895 der Grenzboten Seite 108
und Seite 252 dargelegt. Wenn er noch einmal darauf zurück¬
kommt, so geschieht es, um an einigen Anführungen aus den unter genannten
Büchern*) zu zeigen, wie sich Theorie und Praxis in immer weiteren Umfang
dem Reformgedanken zuwenden, und um die Aufmerksamkeit auf einige die
gegenwärtige Lage beleuchtende Ergebnisse der neusten Statistik zu lenken.
Die Sühne- und Vergeltuugstheorie kaun kaum uoch ein Jurist der alten
Schule aufrecht erhalten zu wollen den Mut haben. Allzu klar leuchtet jeder¬
mann die Erkenntnis ein, daß die heutigen Strafen schon an sich in keinem
Sinn ein Äquivalent der Straftat sind, daß sie noch dazu, wie Aschaffenburg
sagt, für den Verbrecher von Beruf gar kein Strafübel, sehr häufig eine er¬
strebte Wohltat sind, während sie den guten und edeln Meuschen, der mit den
Gesetzen in Konflikt geraten ist, zermalmen, daß man, um ein vernünftiges
Verhältnis zwischen Strafübcl und Straftat Herznsteilen, zu dem „Aug um
Ang, Zahn nur Zahn" zurückkehren müßte, und daß man an die subjektive
Schuld des Verbrechers die Strafe schon deswegen nicht anpassen kann, weil
kein Sterblicher die Art und den Grad dieser Schuld zu ergründen vermag,
weil kein Mensch ein Urteil über seine eigne oder irgend eines andern Menschen
sittliche Würdigkeit oder UnWürdigkeit hat, und vor der Selbstbesinnung der mo¬
dernen Menschheit durch alle die Jahrtausende blutiger Justizgreuel und wahn¬
sinniger Irrungen uur ein Mensch, was auf diesem Gebiete Wahrheit ist,
erkannt und mit dem Worte: Richtet nicht! ausgesprochen hat. Lange vor der
Begründung der Krimiualanthropologie hat übrigens doch schon die preußische
Regierung einmal, ohne die geltende Theorie anzufechten, für die Praxis
die Aufgaben der Anstalt, die man Kriminaljustiz nennt, richtig bezeichnet.
In einer Verordnung von 1799 über eine zweckmäßigere Bekämpfung des
Diebstahls kommt folgende Stelle vor, die Aschaffenburg mitteilt. „Bei dieser
Abänderung der bisherige» Strafgesetze haben wir die landesväterliche Ab¬
sicht, unsern getreuen Untertanen den ruhigen Besitz ihres Eigentums zu
sichern, zur Verhütung des Stehlens und Raubens abschreckende Beispiele auf¬
zustellen, die Verbrecher womöglich zu bessern, und wenn sie keiner Besserung
fähig sind, für ihre Mitbürger unschädlich zu machen." Abschreckung vor dem
Verbrechen, Besserung des Verbrechers und Schutz des Publikums, das siud
in der Tat (nebst einer später zu erwähnenden) die einzigen Aufgaben, die sich
die Obrigkeit auf diesem Gebiete vernünftigerweise stellen kann.
Abschreckung ist die unwichtigste. Wir haben ausführlich gezeigt, das; die
Furcht vor der Strafe nur bei Polizeiverordnuugen, die mit dem Verbrechen
gar nichts zu schaffen haben, unfehlbar wirkt, von wirklichen Verbrechen aber
nur in den verhältnismäßig seltnen Füllen abhält, wo sie mit ruhiger Über¬
legung, mit Abwägung des Für und des Wider von verständigen und unterrichteten
Personen geplant werden, die unter Umstünden eine gesellschaftliche Stellung
verlieren können. Treibt ein Affekt den von Leidenschaft oder Alkohol Trunknen,
oder drängt die Not, oder ist der Verbrecher ein Kind, ein völlig ungebildeter
oder psychisch schlecht angelegter Mensch — alle diese Umstände vereinigen sich
ja bei den meisten Verbrechen —, so existiert der Strafparagraph im Vor-
stellungskreise des Tüters gar nicht. Und wird er daran erinnert, so nützt es
aus bekannten Gründen auch nichts. Je öfter ein Mensch ins Gefängnis oder
ins Zuchthaus kommt und die Strafe an seinem Leibe — eben meistens gar
nicht als Strafe empfindet, desto rascher pflegt er dahin zurückzukehren,
desto weniger schreckt sie also ab. Die Strafe aber durch körperliche Peinigungen
abschreckender zu machen, daran denkt nach dem vernichtenden Urteil, das Krohnc,
die größte Autorität unter den Praktikern, über diesen Vorschlag einiger
Reaktionäre gefällt hat, kein Kriminalist mehr. Wenn nun auch die Spezial-
prüvention, wie Aschaffenburg die Abschreckung nennt, im allgemeinen voll¬
ständig versagt, so sind doch Strafandrohungen keineswegs überflüssig; sie
wirken nicht bloß in den oben erwähnten einzelnen Fällen, sondern auch als
Mittel, das Volk zum Pflichtbewußtsein zu erziehn. Das Gesetz gegen den
unlautern Wettbewerb zum Beispiel, bemerkt unser Autor, veranlaßt zunächst
die Konkurrenten, einander zu überwachen, und bringt mit der Zeit jedem
Geschäftsmann von anständiger Gesinnung die Unanständigkeit mancher Prak¬
tiken, die früher ohne Bedenken geübt wurden, zum Bewußtsein.
Von Besserung kann bei einer Klasse der Delinquenten gar nicht, bei der
Hauptmasse nur in einem sehr beschränkten Maße die Rede sein. Preßsündcr
und politische Agitatoren sind nur in sehr seltnen Fällen Objekte für Besse¬
rungsversuche. Die Kriminalanthropologen sollten in jedem ihrer Werke
wenigstens kurz bemerken — auch Aschaffenburg unterläßt es —, daß me
idealste Sittlichkeit aller Untertanen nicht alle Fülle aus der Welt schaffen
würde, in denen die Obrigkeit Repression für nötig erachtet, die ja daun anders
als Kriminaljustiz genannt werden könnte, und daß gerade ein starkes Rechts¬
gefühl und leidenschaftliche Nächsten- und Wahrheitsliebe dem mit diesen schönen
Eigenschaften Beglückten sehr leicht den Oftrazismns oder ein Ketzergericht zu-
ziehn. Die Masse der eigentlichen Verbrecher aber ist größtenteils unverbesser¬
lich; 93 Prozent der weiblichen, 95 Prozent der männlichen Zuchthäusler sind
nach der Schätzung der amtlichen Statistik „sozial unbrauchbar" oder gemein¬
gefährlich. Bei einer großen Anzahl beschränkt sich die Unverbesserlichkeit
darauf, daß sie von Natur zum Kampfe ums Dasein ungenügend ausgerüstet
sind, darum anders als durch Betteln und Stehlen ihr Leben nicht fristen
können; für diese würde Besserung, wenn sie der Staat ernstlich wollte, be-
deuten: lebenslängliche Versorgung unter strenger Vormundschaft. Daß aber
unsre Strafanstalten die Besserung auch nicht einmal so weit bewirken, wie
sie an sich möglich wäre, ist die Überzeugung aller Sachkenner. Krohne sagt
kurz: Strafvollzug in gemeinsamer Haft heißt den Verbrecher dadurch für seinen
Rechtsbruch strafen, daß man ihn auf Staatskosten weiter im Verbrechen aus¬
bildet. Als eigentlicher Gegenstand der bessernden Tätigkeit bleiben die Kinder
und die „Jugendlichen." Bei beiden bedeutet Besserung soviel wie Nachholung
der Erziehung, die bei den verbrecherischen Kindern ganz zu fehlen, bei den
Jugendlichen höchst mangelhaft zu sein pflegt; in unzähligen Fällen ist ja das
Wohnloch oder die Gosse, in der sie aufwachsen, eine Lasterschule. Sie von
da wegnehmen, nur damit sie in die von Krohne charakterisierte Hochschule
des Verbrechens gesperrt werden, ist das Widersinnigste, was geschehn kann.
Mit dem Gesetz über Fürsorgeerziehung hat ja nnn wenigstens die preußische
Regierung den richtigen Weg beschritten. Aber wenn es durchgreifend wirken
sollte, müßte das Gesetz in einem solchen Umfange angewandt werden, daß
die Durchführung schon an den Kosten scheitern würde, und außerdem wären
noch verschiedne juristische Zöpfe abzuschneiden. Der ärgste sind die Straf¬
verhandlungen gegen Kinder. Von den Kindern, die vor den Strafrichter
kommen, sind nach Aschaffenburg manche innerlich unverdorben, sie haben nur
einer besonders verlockenden Gelegenheit nicht widerstehn können. Für ein
solches Kind bedeutet die Gerichtsverhandlung „eine Makel, die es anch frei¬
gesprochen mit sich herumschleppt, und deren schädlicher Eindruck um so weniger
verwunden wird, je unverdorbner es ist." Für die verdorbne echte Großstadt¬
pflanze dagegen bedeutet die öffentliche Gerichtsverhandlung, bei der sie als
mündige Person behandelt, und durch die sie „berühmt" wird — ihr Bild er¬
scheint ja wohl im Lokalanzeiger —, die feierliche Aufnahme in die in ihren
Augen hochansehnliche Verbrecherzunft. „Das Fürsorgeerziehnugsgesetz berechtigt
uns, nach Abbüßung der Strafe dem weitern Verderben dadurch Einhalt zu tun,
daß wir die versäumte Erziehung nachzuholen suchen. Was bedeutet nun, wenn
sich ein zwölf- oder dreizehnjähriges Kind gegen die Strafgesetze vergangen hat,
die Strafe von wenigen Monaten gegenüber der Fürsorgeerziehung, die bis
zum zwanzigsten Jahre fortgesetzt wird? Wozu erst noch die Strafe, warum,
nicht gleich in eine Erziehungsanstalt? Im Falle der Freisprechung wegen
mangelnder Einsicht gestattete auch die Strafgesetzgebung schon früher die
Zwangserziehung. Wozu dann erst noch das Schauspiel einer öffentlichen
Verhandlung? Nur um festzustellen, ob nicht am Ende doch die Einsicht vor¬
handen war?" Die fehlt ausnahmslos immer! Welcher unterrichtete Manu
wird es für hinreichende Einsicht halten, wenn das Kind die zehn Gebote
herplappern kann! Auch ein Schuldbewußtsein, wie es sogar dem Hunde nicht
fehlt, genügt noch nicht zur strafrichterlichen Verurteilung; ein solches Schuld¬
bewußtsein hat auch dus dreijährige Kind, wenn es schon die Rute hat
fürchten lernen. Und die Hauptsache: die Widerstandskraft gegen Versuchungen,
die oft in heroischer Stärke nötig sein würde, der gefestigte Charakter, diese
Hauptsache kann beim Durchschnittsmenschen vor dem zwanzigsten Jahre nicht
vorhanden sein. Erst in dem Alter, wo sein Körper vollendet ist, und wo er
für fähig erachtet wird, staatsbürgerliche Rechte auszuüben, kann er in vollem
Maße für seine Handlungen selbst verantwortlich gemacht werden; bis dahin
sollten seine Verfehlungen niemals kriminell, sondern immer nur disziplinarisch
gestraft werden; der Unmündige gehört nicht vor den Strafrichter, sondern vor
den Vater, Lehrer, Brodherrn oder Vormund, und wenn sich der Staat seiner
annimmt, so soll er es nicht als Strafrichter, sondern als Obervormund tun.
Der Strafprozeß stellt den Angeklagten und den Staat als zwei Parteien ein¬
ander gegenüber, die gleichberechtigt sind, wenn auch die bei weitem stärkere
der Staat ist. Der Angeklagte wird vorgefordert, weil er den stillschweigenden
Vertrag, der zwischen beiden besteht, gebrochen hat. Wie lächerlich, einen
dummen Jungen, ein albernes Mädchen, ein wehrloses Kind der Staatsgewalt,
und einer so riesenhaften, wie die heutige ist, als Duellanten gegenüberzu¬
stellen! Wie widerlich wirken schon die Formen eines solchen Duells!
Was den dritten Zweck der Kriminaljustiz, den Schutz des Publikums,
betrifft, so beleuchtet Aschaffenburg die Art, wie er heute erstrebt und erreicht
wird, mit einigen Fällen, von denen wir nur einen anführen wollen. „Vor
mir liegt die Strafliste eines vierzigjährigen Mannes, der zur Zeit seine achte
Strafe verbüßt, sämtlich erkannt wegen unzüchtiger Angriffe auf Kinder uuter
vierzehn Jahren. Die erste Strafe von sechs Monaten füllt in das Jahr 1886,
die letzte auf den Juni 1901. Also in fünfzehn Jahren mußte derselbe
Mensch achtmal wegen desselben Verbrechens mit zusammen nenn Jahren
Gefängnis und Zuchthaus bestraft werden; oft liegt zwischen zwei Straftaten
gerade nur die Zeit, während deren der Aufenthalt in der Strafanstalt die
Begehung eines neuen solchen Verbrechens unmöglich machte. In kurzem
wird er entlassen; wie mag das erste der Kinder heißen, die ihm dann zur
Beute fallen werden?" Man braucht nur einen einzigen solchen typischen
Fall ins Auge zu fassen, wenn man die Unvernunft der heutigen Praxis ein¬
sehen will. Kraepelin hat zuerst das entscheidende und erlösende Wort aus¬
gesprochen, und Aschaffenburg eignet es sich an: das Strafmaß muß abgeschafft,
der Verbrecher muß nach seiner Individualität behandelt werden, die, falls
nicht seine offenbare Gutartigkeit die bedingte Verurteilung möglich macht,
erst in der Strafanstalt erkannt werden kann. Sind nur Mängel vorhanden,
die leicht gehoben werden können, so wird er nach kurzer Behandlung ent¬
lassen. Bedarf er einer bessern Ausrüstung zum Lebenskampf, so wird ihm
diese durch Schulung in der Arbeit, die zugleich sittliche Erziehung ist, gewährt.
Zeigt es sich, daß er gemeingefährliche Neigungen hegt und unverbesserlich
ist, so wird er auch dann lebenslänglich in Haft behalten, wenn die Tat,
die ihn ins Gefängnis geführt hat, gar nicht zu den nach unsern Gesetzbüchern
für schwer geltenden gehört. Der norwegische Strafgesetzentwurf vom Jahre
1896 hat zwar das allein Vernünftige noch nicht folgerichtig durchzuführen
gewagt, aber wenigstens einen Anlauf dazu genommen. Wird die gefährliche
Natur des Verbrechers erkannt, „so kann das Urteil bestimmen, daß der Ver¬
urteilte im Gefängnis behalten werden darf, solange man es für nötig be¬
findet, jedoch nicht länger über die sfür sein Vergehn im Strafgesetzbuchs fest¬
gesetzte Zeit hinaus als ihr dreifaches und in keinem Falle länger als
fünfzehn Jahre über die gesetzliche Strafzeit." Abgesehen von dem Mangel
an Folgerichtigkeit — wenn man gemeingefährliche Irre durch lebenslängliche
Einsperrung unschädlich macht, warum uicht auch Verbrecher, moralisch Irr¬
sinnige? fragt Aschaffenburg — ist es auch ein Fehler des norwegischen Ent¬
wurfs, daß er die endgiltige Entscheidung dem Richter überläßt. Eine für
alle Zeiten und alle Völker giltige Straftheorie gibt es uicht, meint Holtzen-
dorf. Aschaffenburg aber sagt: „Für den ^uristischeus Theoretiker, für den
Richter, vielleicht auch für den Gesetzgeber ist eine bestimmte Straftheorie ent¬
behrlich, nicht aber für den Strafvollzugsbeamten. Dieser muß wissen, was
er mit dem Strafgefangneu aufangen soll. Der heutige Zustand ist der: der
Richter erkennt auf eine Haft von bestimmter Dauer und übergibt den Ver¬
urteilten dem Strafvollzug. Für den Richter ist damit der Fall erledigt;
was im Strafvollzug geschieht, das kümmert ihn nicht. . . . Wenn der Chirurg
von einem andern Arzte einen Patienten zugewiesen bekäme, mit der Bitte,
ihm wegen einer bösartigen Geschwulst das Bein an einer bestimmten Stelle
zu amputieren, so würde er den elementarsten Regeln der Heilkunde ins Gesicht
schlagen, wollte er dem Wunsche nachkommen, ohne sich selbst von der Not¬
wendigkeit der Operation zu überzeugen. Dasselbe aber mutet man tagtäglich
dem Strafvollzugbeamten zu. Das Gericht weist ihm einen Gefangnen zu
mit der bestimmten Weisung, ihn so und so viel Jahre festzuhalten." Mag
er nun im Verkehr mit dem Häftling die Überzeugung gewinnen, daß dieser
ganz unschädlich ist und durch lange Haft erst ein Schädling oder wenigstens
eine unnütze Last für die Gesellschaft werden wird, oder die entgegengesetzte
Überzeugung, daß er ein Unhold ist, den auf die Gesellschaft loszulassen
Wahnsinn und Verbrechen ist, er kann am Strafmaß, außer etwa auf dein
Wege eines Begnadigungsgesuchs, nichts ändern; er muß den eiuen zu Grunde
richten helfen und den Gemeingefährlichen am bestimmten Tage auf seine
Opfer loslassen. Diese Zwecklosigkeit und Widersinnigkeit seiner Tätigkeit
lahmen seinen guten Willen und vernichten sein Interesse an seinen Pslegc-
befohlnen. Den Strafanstaltsbenmten allein wird man nun zwar uach unserm
Autor die Entscheidung uicht übertragen können; die Richter sollten, meint er,
den Strafvollzug überwachen und gemeinsam mit den Vollzugsbeamten ent¬
scheiden. In Baden und Württemberg sei das schon einigermaßen der Fall.
„In Württemberg haben in den Strafanstaltskollegien höhere Justiz-, Ver¬
waltung^, Medizinalbeamte, Geistliche beider Konfessionen Sitz und Stimme;
in Baden gehört zu der verstärkten Beamtenkonferenz außer einigen Bürgern
als Vorgesetzter ein Landgerichtsdirektor oder Landgerichtsrat." Es freut uns
sehr, daß unser Autor außer den drei unbestrittnen Aufgaben der Kriminal¬
justiz noch eine vierte in Erinnerung bringt, die im altdeutschen Recht die
einzige war, die heut aber ganz in Vergessenheit geraten ist: die Entschädigung
des Geschädigten; wir haben darüber seinerzeit das Nötige gesagt.
Das Wesentliche von Aschaffenburgs Ansicht über den Strafvollzug findet
sich auch bei Foerfter. „Tritt uns eine derartige Entartung oder Ver-
bildung oder Verkümmerung und Erkrankung der Organisation eines Menschen
entgegen, daß er nicht als sittlich verantwortliches Wesen behandelt werden
kann, so haben wir die soziale Pflicht der Fürsorge für ihn und die Aufgabe,
ihm womöglich wieder zur vollen Verantwortlichkeit und sittlichen Gesundheit
oder wenigstens zu dem für ihn noch erreichbaren Grade von Gesundheit zu
verhelfen. . . . Ergibt die anhaltende Beobachtung eines solchen Menschen
die Wahrscheinlichkeit, daß er in Freiheit eine dauernde Gefahr für seine Mit¬
menschen sein würde, so erfolgt notwendig, selbst wenn die bis dahin ver¬
übten abnormen Handlungen nur verhältnismäßig leichte Vergehungen waren,
lebenslängliche Einschränkung der Freiheit, natürlich mit gewissenhafter unab¬
lässiger Fortsetzung der Prüfung ihrer Berechtigung." (Nur dieser Stelle
wegen haben wir Foersters Buch mit dein vou Aschaffenburg zusammen
genannt; es ist eine Sammlung von Aufsätzen über verschiedne Gegenstände und
enthält n. ni. beachtenswerte Vorschlüge zur Reform des Prüfnngswesens und
des mathematischen Unterrichts. Wenn die Führer der ethischen Bewegung
eine neue Knlturpcriode einzuleiten gedachten, so haben sie ihre eigne Bedeutung
freilich überschützt; aber im kleinen wirken ihre Veröffentlichungen ohne Zweifel
Gutes, namentlich die des Berliner Astronomen, der ebenso edel gesinnt, so
warmherzig und zartsinnig wie sein verstorbner Freund Egidy, dabei aber
klarer, besonnener und auf verschiednen wissenschaftlichen und praktischen Ge¬
bieten bewanderter ist.)
Nun einige charakteristische Züge der gegenwärtigen Kriminalität im
Deutschen Reiche! Im Durchschnitt der Jahre 1882 bis 1891 — es wird
seitdem nicht wesentlich anders geworden sein — wurden von je 10000 Per¬
sonen der Zivilbevölkerung derselben Konfession verurteilt 963 Evangelische,
1153 Katholiken, 325 sonstige Christen, 784 Juden. Die Ursachen der ge¬
ringen Kriminalität der Juden sind bekannt: sie sind wirtschaftlich wohlsituierte
und in Gemeinden stramm organisierte Minderheiten; bei den christlichen
Sekten, denn das sind die sonstigen Christen, erzielt das Zusammenwirken
der beiden Umstände noch erfreulichere Ergebnisse. In Halbasien, wo arme
Juden in Masse beisammen wohnen, verhalten sie sich ganz anders. Der
Unterschied zwischen Protestanten und Katholiken rührt von dem ersten der beiden
genannten Umstünde her. Für Baden hat die Statistik nachgewiesen, „daß
mit geringen Ausnahmen die Protestanten in allen Berufsarten die lohnender»
Stellungen innehaben; die Kapitalrentensteuer betrug 1895 auf 1000 Katho¬
liken 589800, auf 1000 Evangelische 954900 Mark." Die Frage, woher
nun wieder dieser Unterschied kommt, geht uns hier nichts an. In den ver-
schiednen Landschaften wirken dann noch verschiedne andre Ursachen mit. In
Baden machen die Katholiken die Mehrheit aus. Das ganze Rheinland ist
ein Weinland, was besonders der fröhlichen Pfalz zu einem schlimmen Ruf
bei den Kriminalisten verholfen hat. Bayern ist das Vierland. Die polnischen
Landesteile sind, wie der ganze Osten, Schnapsbrenner- und Schncipstrinker-
lünder, ärmer als der Westen und dabei durch die Zweisprachigkeit und durch
den nationalen Kampf mit reichlicher Gelegenheit zu Konflikten gesegnet. —
Die Wirkungen des Alkohols sind so bekannt, daß wir dabei nicht zu ver¬
weilen brauchen. Nur die eine Tatsache Wollen wir anführen, daß von
den in der Zeit von 1872 bis 1895 zum Tode Verurteilten — es waren
ihrer 202 — 59,9 Prozent Gewohnheitstrinker und 43,1 Prozent im Augenblicke
der Tat berauscht waren. Von den Körperverletzungen werden 35,1 Prozent
am Sonntage begangen. Die Zeichnung der Kriminalität der Wochentage
wird fromme Augen schmerzen: der Sonntag hat einen turmhohen Balken,
der Sonnabend als Lohntag und der blaue Montag haben Balken, die nicht
ganz halb so hoch sind, und die Balken der übrigen Tage schrumpfen zu
Würfeln oder ganz niedrigen Klötzchen zusammen. Ein Gefängnisgeistlicher
hat sich dadurch zu dem Ausspruch verleiten lassen: „Das Gesetz über die
Sonntagsruhe ist in der vorliegenden Gestalt ein sehr zweifelhaftes Geschenk."
Ein recht törichtes Urteil! Der Segen der Sonntagsruhe wiegt die paar blutigen
Köpfe tausendmal auf, und eine Bevölkerung, der Kraftübcrschnß und Wein-
odcr Bierrausch das Raufen zum Bedürfnis machen, ist uns entschieden lieber
als ein höchst ehrbares Volk halbverhungerter Weber, dem das Raufen seit
hundert Jahren vergangen ist. Die wüsten Sonntagsvergnügungen legen bloß
den herrschenden Klasse,: die Pflicht aus, durch Wohuungsreform, Vereinshüuser,
Volkstheater, Volks konzcrte, Volksbibliotheken den untern Klassen eine ver¬
nünftige Geselligkeit und Erholung möglich zu machen und sie dafür zu erziehn.
Übrigens bleiben die angestrengten Bemühungen der Alkohvlgegner nicht ohne
Wirkung; die Zeitungen melden, daß in den letzten Jahren der Wein- und der
Bierverbrauch bedeutend abgenommen haben und ein wenig auch der Schnaps¬
verbrauch. Die Kriminalität der Studenten kommt, abgesehen vom Jugendüber-
Mut und der bei den Kommilitonen Ehre eintragenden „Schneidigkeit," ans die
Rechnung der studentischen Trinksitten. Im Jahre 1899 sind von 54000 Studenten
435 verurteilt worden. Wenn man bedenkt, daß sie zum allergrößten Teil
den Gesellschaftsschichten entsprossen sind, deren Kriminalität aus naheliegenden
Ursachen ganz gering ist, daß sie mit einem gesunden Körper und mit nor¬
malen Geistesanlagen ausgerüstet sind, eine sorgfältige Erziehung und einen
gründlichen, bis zum zwanzigsten Jahre währenden Unterricht genossen haben,
daß sie keine Not leiden, und daß sie für ihren Unterhalt nicht zu sorgen
brauchen, daß sie also eigentlich gar keinen Anlaß zu „Straftaten" haben, so
wuß man sich nur darüber wundern, daß die Proletarierjungen, die nnter
gerade entgegengesetzten Bedingungen aufgewachsen sind und sich, ungenügend
ausgerüstet oder mit Hindernissen belastet, vom vierzehnten Jahre ab selb¬
ständig durchschlagen sollen, daß die nicht nach wenig Wochen sämtlich hinter
Schloß und Riegel sitzen. Für etwaige kriminalistische Folgen eines Alkohol-
rausches kommt auch sehr viel darauf ein, ob man sich ihn in einem von der
Polizei beobachteten Lokale anschafft oder in Räumen, in die das Auge des
Gesetzes nicht eindringt, und ob der Bekneipte zu Fuß nach Hause torkeln
muß oder in eine Droschke verladen wird. — Auf hundert männliche Ver¬
urteilte kamen im Jahre 1899 nicht mehr als 19,3 weibliche. Der Verfasser
teilt nicht die besonders von Lombroso vertretene Ansicht, daß der Unterschied
von der Prostitution herrühre, die die zu Vergehungen neigenden Weiber
aufnehme. Die Prostituierten, sagt Aschaffenburg, sind faule, energielose Per¬
sonen; ihnen entsprechen unter den Männern nicht die Verbrecher, sondern die
Bettler und die Landstreicher, die als solche von der Kriminalstatistik nicht berück¬
sichtigt werden. Der niedrige Prozentsatz der Frauen erklärt sich aus der
weiblichen Natur und aus dein Umstände, daß sie sich weniger in der Öffent¬
lichkeit bewegen und weniger Anlaß zu Konflikten, überhaupt weniger Ver¬
suchungen haben als die Männer.
Wie die Schwankungen der Getreidepreise auf die Kriminalität wirken,
ist bekannt; teure Zeiten vermehren die Zahl der Diebstühle, wohlfeile die
der aus Üppigkeit und Übermut stammenden Vergehungen, der Räusche, der
Körperverletzungen, der Sittlichkeitsverbrechen. In neuerer Zeit geben jedoch
die Getreidepreise allein nicht mehr den Ausschlag, da bei gutem Verdienst
leicht höhere Lebensmittelpreise gezahlt werden können, bei schlechtem oder bei
Arbeitlosigkeit auch der niedrigste Preis nicht vor Not schützt. Werden beide
Bedingungen kombiniert, so ergibt sich, wie der Verfasser nachweist, ein ziem¬
lich genauer Pnrallelismus zwischen den Schwankungen der wirtschaftlichen
Lage und den sich in entgegengesetzter Richtung bewegenden Zahlen von Ver¬
brechen der beiden genannten Arten. Die eine Art von Eigentumsdelikten, die
vornehme, kommerzienrätliche, wächst gerade bei gutem Geschäftsgange, wie uns
ohne Statistik der letzte Aufschwung wieder einmal gelehrt hat. Das fort¬
währende Wachstum der Vergehungen der Jugendlichen — ihr Prozentsatz
nimmt stärker zu als der der Erwachsnen — bringt Aschaffenburg richtig mit
dem Umstände in Verbindung, daß sie in immer größerer Zahl auf selb¬
ständigen Erwerb angewiesen werden; man müßte es ja geradezu wunderbar
finden, wenn Unreife, die selbständig erwerben, selbständig Arbeitstellen suchen
müssen und verlassen dürfen, selbständig auch wirtschaften und genießen, wenn
die nicht häufig strauchelten und mit den Gesetzen in Konflikt kämen. Der
neue badische Gewerberat Dr. Bittmcmn sagt in seinem ersten Bericht: „Die
Arbeitgeber klagen vielfach über die Verwilderung der Jugend, von einer er¬
zieherischen Einwirkung ihrerseits ist aber auch nicht die Rede, ebensowenig
geschieht etwas seitens der Eltern. Es wäre zu wünschen, daß sich Vereine
und Gewerkschaften der Jugend annähmen." Da die Krisis der letzten Jahre
die Arbeitgelegenheit vermindert hat, so vermutet der Verfasser, daß die
Statistik der nächsten Zeit eine bedeutende Zunahme der Eigentumsvcrgehungen
ermitteln wird. Selbstverständlich hinken die Kriminaldaten ihren wirtschaft¬
lichen Ursachen nach, weil ja bei der Erhöhung der Lebensmittelpreise und be:
dem Nachlassen des Verdienstes nicht sofort Not eintritt, und weil ein großer
Teil der in einem Jahre begangnen Gesetzesübertretungen erst im folgenden
Jahre abgeurteilt wird. Über die fortwährende Zunahme der Kriminalität,
namentlich der Jugendlichen, haben schon längst alle Zeitungen berichtet.
Aschaffenburg bemerkt einem Optimisten gegenüber: „Ich muß gestehn, daß
ich von »Milderung des beängstigenden Eindrucks unsrer Kriminalstatistik bei
näherm Zusehen« nichts verspürt habe und anch nicht versteh« kann, wodurch
sie begründet werden könnte. Die Statistik zeigt einen Zudrang sozial Ge¬
fährlicher, der bei den Erwachsnen ein wellig abgenommen, bei den Jugend¬
lichen aber zugenommen hat; sie beweist, daß mit dem ersten, bestimmt aber
mit dem dritten oder vierten Urteil auch die Hoffnung vernichtet ist, den Ver¬
brecher seiner traurigen Laufbahn zu entreißen; sie lehrt endlich, daß der
Sturz in den Abgrund meist in sehr kurzer Zeit erfolgt, und daß unser Straf-
shstem dem wachsenden Verderben keinen Einhalt zu tun vermag."
Nach dem wachsenden Verderben würde sich ein wiedererstnndner Mensch
des siebzehnten Jahrhunderts sehr verwundert umschauen, wenn er statt ver¬
ödeter und verbrannter Dörfer unsre wohlangebauten Fluren, unsre stattlichen
Schlosser, Villen und Bauernhäuser sähe, und als Schmuck unsrer Städte nicht
Kränze vou Hexeubraudpfühlen, von Galgen mit baumelnden Leichen und von
Rabensteinen mit faulenden menschlichen Gliedern und Totcngebeinen, sondern
Gartenanlagen voll heiter promenierender Leute und fröhlich spielender Kinder.
Aber diese vergangnen Zeiten dürfen nur nicht zum Vergleich heranziehn; die
»ach furchtbaren Kämpfen und Leiden errungne wohlgefügte bürgerliche Ord¬
nung ist eben einer der zweifellosen Fortschritte des neunzehnten Jahrhunderts,
die wir um keinen Preis gefährden lassen dürfen. Das filigranartig feine Ge¬
webe dieser Ordnung könnte nicht einen Monat bestehn, wenn die ungeheuern
Massen unsrer heutigen Bevölkerungen wieder mit Mordwaffe und Henkerbeil
gegeneinander zu wüten anfangen wollten. Deswegen muß man die Ursachen
steigender Kriminalität als Symptome drohenden Rückfalls in die überwnndnen
Zustände und noch aus einem andern Grunde scharf ins Auge fassen. „Die
Unehrlichkeit ist ein ungemein empfindlicher Gradmesser für die wirtschaftliche
Lage," bemerkt Aschaffenburg. Aber wir müssen hinzufügen, daß dieser Grad¬
messer nicht ausreicht; es müßte eine Statistik der Bettler, Landstreicher und
Prostituierten hinzukommen, und es müßten auch die vielen tausend gezählt
werden, die die Schwierigkeit des Erwerbs bei ungenügender Ausrüstung für
den Erwerb über die Grenze schwemmt. Nachdem man schon lange in Italien
über deutsche Vagabunden geklagt hatte, fäugt man nun in Konstantinopel zu
klagen an, und in England ist die Überflutung Londons mit deutsche« (und
aus Halbasien stammenden jüdischen) Proletariern ein Gegenstand ernster po¬
litischer Erwägungen geworden. Amerika, Australien, Südafrika weigern sich,
>was ferner mittellose und „minderwertige" europäische Allswandrer anfznnehmeii,
und so wird denn die Zunahme des Vagabundcutums und der Eigcutums-
berbrechen mit unsrer wirtschaftlichen Entwicklung gleichen Schritt halten. Was
die Roheitsdelikte betrifft, so wirken einander bei stetem Volkswachstum und
fortschreitender Industrialisierung zwei Ursacheugruppeu entgegen: die Lockerung
und die Auflösung des Gemeinde- und Familienverbands, die Selbstäudigmachuug
der Jugendlichen, die Erschwerung des Fortkommens durch Verschärfung der
Konkurrenz wirken steigernd, die Vermehrung der Zahl der „Minderwertigen,"
der Schwächlinge hemmend; insofern können Roheitsdelikte unter Umstünden als
Zeichen der wirtschaftlichen und körperlichen Volksgesundheit angesehen werden,
während die Vergehungen gegen das Eigentum zusammen mit Landstreichertum
und einer übermäßigen Zahl von Prostituierten Symptome der wirtschaftlichen
Erkrankung des Volkskörpers sind. Nur als Symptom einer solchen Er¬
krankung, also eines sehr ernstlichen Übels, sind die heutige Kriminalität und
ihr Wachstum bedenklich, trotz ihrer großen Zahlen (710564 Kriminalfälle im
Jahre 1899); bei mehr als fünfzig Millionen Einwohnern sind eben alle sta¬
tistischen Zahlen groß. An und für sich bedeutet die heutige Kriminalität, ver¬
glichen mit den Sicherheitszustäuden aller frühern Zeiten, den erfreulichsten
Fortschritt; wir verdanken ihn einerseits der Aufklärung, andrerseits den mo¬
dernen Kommunikatiousmitteln, die den Staat zu einer Präzisionsmaschine
gemacht haben. Leider scheint aber auch der sehr viel weniger erfreuliche Fort¬
schritt der sozialen Erkrankung in unserm Vaterlande unabwendbar zu sein.
Einhalt könnte ihm nnr getan werden, wenn es gelänge, die Gelegenheiten
zu produktiver Arbeit im allgemeinen zu vervielfältigen, besonders aber den
kleinen Grundbesitz im richtigen Verhältnis zur Volkszunahme fortwährend zu
vermehren, so dem Wachstum der proletarischen Schicht zu steuern, die „Minder¬
wertige" schafft und sie noch dazu der Existenzunsicherheit preisgibt und des mo¬
ralischen Halts beraubt, endlich die atvmisierten Massen in das ländliche und
das kleinstädtische Gemeindeleben wieder einzugliedern. Sollte dessen vollständiger
Untergang unabänderlich verhängt sein, so können wir uns von seinem zu¬
künftigen Ersatz durch Neuorganisationen schon deshalb um so weniger eine
Vorstellung machen und an seiner Herbeiführung mit Bewußtsein arbeiten, weil
die Neubildungen, die Zukunftskeime zu enthalten scheinen: Kartelle, Jndustrie-
feudalitüt und das wiederbelebte Innungswesen auf der einen, Gewerkvereine
und Sozialdemokratie auf der andern Seite, in feindlichem Gegensatz zu einander
stehn und einander mit grimmigem Haß bekämpfen.
er Friede vou Kütschük-Kainardschi war für Österreich eine ebenso
schwere Niederlage wie für die Türkei; leider war Joseph der
Zweite mit seiner sprunghafter und sehr oberflächlichen Politik
nicht der Mann, Nußland wieder aus der Stellung zu drängen,
die es 1774 besetzt hatte, zumal da auch die Blindheit Frankreichs
und die deutsche Frage störend wirkten. Ein Versuch Josephs (1777), das
alte österreichisch-französische Bündnis inniger und zum Schutze der Türke:
auszugestalten, scheiterte an der Apathie Frankreichs, indem man in Paris
übersah, daß der das Wesen der orientalischen Frage durchaus nicht verkennende
Kaiser in seinem zumeist recht übel angebrachten Streben nach bloßem Lcmd-
erwerb durch die Zurückhaltung Frankreichs Rußland zugetrieben, und damit
die Voraussetzung für ein österreichisch-russisches Angriffsbündnis gegen die
Türkei geschaffen würde. Daß es dazu kam, bewirkte schließlich der Bahrische
Erbfolgekrieg, der durch den Teschcner Frieden unter der Garantie Rußlands
beendet wurde, das Einspruchsrecht des Zaren in die deutschen Dinge also
festlegte, da im Teschener Frieden der Westfälische Frieden erneuert, mithin
auch dessen ganzer Inhalt unter die Bürgschaft Rußlands gestellt wurde.
Für Joseph war es natürlich verlockend, sich zunächst mit dem Bürgen
des Teschener Friedens auf guten Fuß zu stellen. In diese Zeit fallen
denn einerseits auch die schweren Besorgnisse Friedrichs des Zweiten („Ein
Bund in Dentschland ist das Einzige, was uns bleibt, weil wir durchaus
nicht werden ans Rußland zühlcu können"), andrerseits aber auch die großen
Entwürfe Katharinas und Josephs. Im Plane Josephs lag es, Bosnien und
Serbien zu gewinnen (die Donaulinie war also schon aufgegeben), während
Katharinas Absicht auf den Besitz Konstantinopels als den Mittelpunkt eines
neuen, natürlich unter russischer Oberherrschaft stehenden Reichs zielte. Eng¬
land war vollständig im Schlepptau Rußlands — wie denu überhaupt die
Geschichte der orientalischen Frage unzählige Belege für die Unzulänglichkeit
der Diplomatie der parlamentarischen Staatsmänner Englands bietet —,
Frankreich aber sollte auf Ägypten abgelenkt werden. Von Preußen war nicht
die Rede, obgleich es eine wichtige Karte in Katharinas Hand war. — Frank¬
reich zeigte sich dein ägyptischen Projekte nicht geneigt und suchte den Kaiser
von Nußlnud abzuziehn; aber es genügte zur Vereitlung aller dieser Versuche
die Andeutung Rußlands, daß es sich in diesem Falle wieder Preußen nähern
müsse. Frankreich blieb also in seinein Bestreben, den Ausbruch eines orien¬
talischen Kriegs zu verhindern, nichts andres übrig, als einen Vorschlag zu
machen, der für die spätere Oricntpolitik Europas die Richtung gab: man solle
Rußland die .Krim und den Kuban unter der Bedingung anbieten, daß es auf
dem Schwarzen Meere keine oder nur eine kleine Kriegsflotte von Fahrzeugen
bon zwanzig Kanonen halte. — Nicht die Erhaltung der Türkei, sondern die
Erhaltung des Friedens auf Kosten der Türkei blieb fürderhin der oberste
Glaubenssatz der Diplomatie, d. h. unter den feierlichsten Versicherungen der
Aufrechterhaltung des Status c^no wurde mit der ratenweise erfolgenden Liqui¬
dierung der Türkei begonnen.
Die diplomatische Lage war nach alledem so, daß Nußland (1782) ohne
weiteres im „Juteresse der Wiederherstellung der Ordnung in der Krim" — die
es vorher selbst planmäßig gestört hatte — zur Einverleibung dieses äußerst
wichtigen Gebiets schreiten konnte, dessen Besitz die Existenz einer russischen
Flotte im Schwarzen Meer ermöglichte und damit Rußland auf eine Tagereise
Konstantinopel näherte. Preußen hatte daran kein direktes Interesse, aber es
empfand schwer seine Isolierung. Friedrich erkannte, daß mit jeder Steigerung
der Macht Rußlands die Lösung der deutscheu Frage vou der russischen Politik
abhängiger werde. Dieser Erwägung entsprang der Plan des Fürstenbundes,
eines Bundes Preußens mit Deutschland, den Nußland aber sofort durch seinen
Einfluß auf die deutschen Höfe zu durchkreuzen verstand. Nach dem Tode
Friedrichs zu Beginn des neuen Türkenkriegs nahm Hertzberg die Versuche
Preußens, wieder mit in die erste Linie zu rücken, wieder ans. Gestützt auf
das aus den holländischen Händeln datierende und ursprünglich gegen Oster¬
reich gerichtete Bündnis schlug Hertzberg einen Teilungsplan vor, wonach
Österreich Galizien an Polen abgeben und dafür die Donaufürstentümer er¬
halten, Polen aber Danzig, Thorn und Kalisch an Preußen abtreten sollte.
Hertzberg hatte jedoch mit diesem Versuche, Preußen von Rußland zu eman¬
zipieren und die deutschen Mächte zu einigen, kein Glück. Friedrich der Große
war gestorben, aber die Haltung Preußens in der polnischen und in der
deutschen Frage ließ in Wien kein Vertrauen aufkommen, zumal da mit dem
Nachfolger Josephs, Leopold dem Zweiten, ein Mann auf den Thron der
Habsburger gelangt war, der nicht nur seine eignen Ideen sondern auch die
Geschicklichkeit hatte, sie zu verwirklichen. Leopold hatte schon zu Lebzeiten
Josephs dessen Politik wiederholt mißbilligt. Er erkannte die Vedentung der
polnischen Frage und war sich keinen Augenblick darüber im unklaren, daß
das Bündnis Josephs mit Katharina ausschließlich der Politik Rußlands diene.
Die zu Reichenbach (1790) abgeschlossene Konvention zeigte schon, daß Leopold
auf alle türkischen und bayrischen Eroberungen verzichtete und damit die Voraus¬
setzungen beseitigte, unter denen sich Joseph der Zweite hatte verleiten lassen,
die Eroberungspolitik Rußlands zu fördern. Der Friede von Sistovo (1791)
beendete den letzten Türkenkrieg, den Österreich geführt hat; er trug ihm nur
den Besitz von Alt-Orsowa ein, aber Leopold hatte nun freie Hand gegenüber
Rußland, und sein erstes war die Hebung des Einflusses Österreichs in Polen
durch die Reform der Verfassung (3. Mai 1791). In Berlin erwog man, wohl
nicht ohne Einfluß von Rußland her, einen Feldzug gegen Österreich, in der
Hauptsache rechnete Katharina jedoch darauf, daß die Entwicklung der Dinge
in Frankreich die gesunde konservative Politik Leopolds zum Scheitern bringen
werde, und das umsomehr, als man annehmen konnte, daß Leopold nicht zögern
werde, gegen die Revolution zu Felde zu ziehn, die seine Schwester auf dem
Throne Frankreichs bedrohte. Aber Leopold täuschte die Berechnungen Katha¬
rinas. Wie keiner der durch die Revolution von Osten und von Westen be¬
drohten Fürsten durchschaute er die Sachlage. Ihm war es klar, daß der
Krieg die Gefahren der Revolution ins unendliche steigern würde, und ebenso,
wie er durch die Lösung des Bündnisses mit Katharina Nußland den Boden
für seine erobernde Politik entzog, suchte er mit Frankreich nicht den Krieg?
sondern den Frieden. Er trat mit den Feuillants in Verbindung und setzte
trotz des Widerstrebens Friedrich Wilhelms, den Rußland zum Kriege mit
Frankreich zu bestimmen suchte, indem es ihn als den ritterlichen Vorkämpfer
Europas wider die Revolution apostrophierte, den Berliner Vertrag vom
7. Februar 1792 durch, der Deutschland zur Erhaltung des bisherigen Rechts-
zustandes zu einem reinen Verteidigungsbündnis einte. „Es war — so sagt
Sybel — die Ablehnung aller Eroberungs- und Einmischnngsgelüste, zugleich
aber auch der Wunsch, durch eine imposante Machtentfaltung die Jakobiner
zu Frieden lind Mäßigung zurückzuführen; die politische Aufgabe ließ sich nicht
richtiger ausdrücken." — Die Gefahr schien beschworen, Rußland fand sich
isoliert, da starb Leopold, mit ihm aber der einzige deutsche Staatsmann, der
ebenso dem Genie und den Leidenschaften Katharinas wie der elementaren
Gewalt der französischen Revolution gewachsen war. Sein Todestag, der
4. Mai 1792, ist der Todestag der Hegemonie Österreichs in Deutschland;
seitdem schwang sich aber auch Rußland unaufhaltsam zu eiuer ungeahnten
Machtstellung empor, bis erst nach Jahrzehnten endlich die Lösung der deutschen
Frage und ein Vertrag genau desselben Sinnes wie der Berliner von 1792
Nußland im Westen Halt gebot.
Katharina war zum Beitritt zum Berliner Vertrag eingeladen worden;
ihre Antwort war seine Sprengung. Zunächst wich sie einer bestimmten Ant¬
wort aus, bis der Tod Leopolds sie von schwerer Sorge befreite, und die
Dinge in Paris — die Akten über den Anteil, den die russische Diplomatie
daran hatte, sind noch nicht geschlossen — eine kritische Wendung nahmen.
Zunächst versprach sie den polnischen „Konservativen" militärische Hilfe gegen
die Reform der Verfassung, immerhin legte aber das Bestehen des Berliner
Vertrags ihr noch einige Reserve auf, als Preußen selbst die Grundlage dieses
Vertrags zerstörte, indem es vou Österreich für seine Brnderhilfe gegen Frank¬
reich die Zustimmung zur Besetzung Danzigs und Thorrs, also gerade das
begehrte, was der Berliner Vertrag unter allen Umstündeil zu vermeiden und
zu verhindern gebot. Nun hatte Katharina freie Hand bekommen. In Wien
wurden die Berliner Vorschläge abgelehnt, darob in Berlin große Verstimmung
und Neigung, sich an Rußland anzuschließen, die von Petersburg aus eifrigst
genährt wurde, während Katharina zugleich mit Österreich über eine Verstän¬
digung unterhandelte und dadurch einen doppelten Zweck erreichte; einerseits
hielt sie hierdurch jede ernste Maßnahme Österreichs in der polnischen Frage
hintan, zu deren Lösung Katharina schon 70000 Mann über die Grenzen
geschickt hatte, andrerseits kühlte sie dadurch den Eifer Friedrich Wilhelms für
den Krieg gegen Frankreich bedeutend ab.
So wurden die zweite und die dritte Teilung Polens möglich, während
der Feldzug gegen Frankreich von vornherein aussichtslos geworden war.
Die Eifersucht Preußens und Österreichs auseinander und die dadurch verur¬
sachte Ohnmacht des deutscheu Volkes lieferte Europa deu revolutionären
Gewalten aus. Der Tod der genialen Katharina (1796) änderte daran nichts.
Ihre 34 jährige Herrschaft hatte die Ideen Peters des Großen zum unver¬
wüstlichen politischen Eigentum des Nusseutums gemacht und der russischen
Diplomatie eine Tradition gegeben, die heute noch ihre Triumphe feiert.
Nußland hatte seinen mit Österreich unternommueu Türkenkrieg durch den
Frieden von Jassy (1792) beendet, der Rußland den Besitz der Krim und
Otschakows sicherte und den Dnjester als Grenze zwischen Rußland und der
Türkei zog, während die Donaufürstentümer als „selbständiger Staat" mit einem
Fürsten griechischen Glaubens aufgerichtet werden sollten. — Über der in Italien
siegreichen Republik war indessen das Gestirn Bonapartes aufgegangen. Sein
Aug nach Ägypten brachte Napoleon zum erstenmal mit der orientalischen
Frage in Berührung. Der letzte Zweck, den Napoleon damit im Auge hatte,
ist heute noch nicht aufgeklärt, fest steht jedoch, daß Napoleon sehr bald in
der Betreibung der orientalischen Frage ein Mittel sah, Rußland entweder
seinen Eroberungsplänen gefügig zu machen oder es an ihrer Durchkreuzung
zu verhindern. Zunächst kam unter dem Eindrucke der ägyptischen Expedition
ein Bündnis zwischen Rußland und der Pforte zustande; im Jahre 1802 aber
bestimmte Rußland die Pforte zu einer Neuregelung der staatsrechtlichen Ver¬
hältnisse der Donaufürstentümer in dem Sinne, daß die Hospodare der Moldau
und der Walachei sieben Jahre im Amte bleiben sollten, im Falle von Ver¬
gehen jedoch von der Pforte aber im Einverständnisse mit dem russischen
Gesandten abgesetzt werden konnten. An diese Bestimmungen hielt sich Na¬
poleon, als er nach Austerlitz und Jena an die ihm notwendig erscheinende
Auseinandersetzung mit Nußland ging, das von den alten festländischen Mon¬
archien noch allein aufrecht stand. Sein Plan war, die Macht Rußlands von
der Ostsee, wo sie ihm wegen der alten russisch-preußischen Beziehungen ge¬
fährlich war, nach dem Süden abzulenken. Auf sein Betreiben verletzte die
Pforte die Konvention von 1802 wegen der Donaufürstentümer. Allerdings
setzte sie die ihres Amtes enthobncn Hospodare wieder ein, als Nußland
50000 Mann nach den Fürstentümern abschickte, aber Rußland besetzte im
Februar 1807 trotzdem die Moldau, was den Ausbruch des Krieges mit der
Pforte nach sich zog. Napoleon hatte seinen nächsten Zweck erreicht; Rußland
war an der untern Donan beschäftigt, damit aber auch die Aufmerksamkeit
Österreichs von Deutschland abgelenkt, während England durch eine nutzlose
Flottendemonstration in Konstantinopel zu Gunsten Rußlands bei der Pforte
jedes Ansehen verlor. Dieses diplomatische Vorspiel hatte die Begegnung
Napoleons und Alexanders des Ersten in Tilsit (Juli 1807) wirksam einge¬
leitet, der Zar war in der Stimmung, den Plänen über eine Teilung der Welt
sein Ohr zu leihen. Bessarabien, die Donaufürstentümer und Bulgarien bis
an den Balkan sollte Rußland, Albanien, Thessalien, Morea und die Inseln
Frankreich erhalten, während Österreich mit Bosnien und Serbien abgefunden
werden, Konstantinopel und Rumelien aber der Pforte verbleiben sollten. Aber
Alexander wollte es ohne Konstantinopel nicht tun, Napoleon jedoch hatte
darauf nur die Antwort: „Konftnntinopel niemals!" So führte Tilsit nicht
zu dem von beiden Seiten erstrebten Ziele, zum Teil, weil England alles
aufbot, zwischen der Pforte und Rußland einen diesem erträglichen Frieden
zu vermitteln. Gegenüber der napoleonischen Gefahr hatte England seine
Orientinteressen vollständig in den Hintergrund gestellt und riet zu einem Frieden,
bei dem Rußland die Donaufürstentümer erhalten sollte. Auch Napoleon hatte
der Pforte — der Zusammenkunft Napoleons und des Zaren war die faktische
Einverleibung der Donaufürsteutümer durch Rußland gefolgt — einen ähn¬
lichen Rat gegeben, um Rußland an der untern Donau zu beschäftigen und
dadurch womöglich einen Krieg zwischen Österreich und der Türkei herbeizu¬
führen. Kaum hatte mau in Wien davon Kunde erhalten, als man mit
Napoleon, um ihn von diesem Gedanken abzubringen, in Unterhandlungen
trat, die im Mürz 1812 zu einem gegen Rußland gerichteten österreichisch-
französischen Angriffsbündnissc führten. Nun blieb Nußland nichts übrig als
mit der Pforte den Frieden von Bukarest zu schließen, und zwar unter der
Vermittlung Englands, das es sich ein gutes Stück Geld kosten ließ, durch
Bestechung der türkischen Unterhändler einen Frieden herbeizuführen, der mit
Rücksicht auf die damals sehr üble Lage Rußlands diesem ganz außerordent¬
liche Vorteile brachte: Bessarabien wurde russisch, die Grenze bildeten nun¬
mehr der Pruth und von seiner Mündung ab das linke Donauufer; Rußland
kam also in den Besitz der nördlichen Donaumünduug. — Wie Rußland
diesen Frieden auffaßte, geht aus der Bemerkung Alexanders zu Tschitschagow
unmittelbar nach dein Friedensschlüsse hervor: „Die Geschichte mit Konstanti¬
nipel kaun später wieder ans die Bahn gebracht werden, gehn unsre Sachen
gut gegen Napoleon, so können wir Ihre Pläne gegen die Türken sofort wieder
aufnehmen." Die ärgste Gefahr für Osterreich schien aber abgewandt zu sein,
und Kaiser Franz konnte nunmehr dem Zaren sagen lassen, daß das mit
Frankreich geschlossene Angrifssbündnis nicht ernst gemeint sei.
Bei Leipzig und bei Waterloo endete die Laufbahn Napoleons; der swws
<ZM wurde wiederhergestellt, natürlich mit Ausnahme der Eroberungen Rußlands
im Orient — das war ja nach russischer Auffassung eine Sache, die Europa
nichts anging —, und nach zwanzig Jahren blutiger Kriege brachte die Heilige
Allianz der Welt den Frieden. Begeisterte Federn haben sie als eine einzige
Erscheinung in der Geschichte der Menschheit geschildert und ihr erst jüngst
wieder bei den Haager Schiedsgerichtskonferenzen Zeichen dankbarer Erinnerung
geweiht. Im Grunde genommen war sie nichts andres als ein recht nüchterner
Garantievertrag. Ihre reaktionären Eigentümlichkeiten, die sie später zum
Gegenstand des Abscheus der Liberalen machten, waren Beiwerk, ihr Haupt-
Zweck war die gegenseitige Garantie der polnischen Erwerbungen, von denen
Nußland den Löwenanteil davongetragen hatte. Daß sich gerade Rußland an
die Spitze des Kampfes für die Legitimität und gegen die Revolution stellte,
ist eine der Pikanterien, mit denen die russische Diplomatie die Welt zuweilen
zu überraschen liebt. Rußland war seit Peter dem Großen den Weg gewalt¬
tätiger Eroberungen gegangen, es hatte die Legitimität so gründlich verachtet,
daß es noch knapp vor dem Bukarester Frieden deutsche Städte und Land¬
striche nichtdeutschen Fürsten anbot, um damit ihre Unterstützung zu erkaufen,
es war eine durchaus revolutionäre Macht, und wenn es nach Erreichung
seiner nächsten Zwecke nunmehr das Banner der Legitimität entrollte und
einen Bund stiftete, der den revolutionären Geist niederhalten sollte, der 1792
bon Frankreich ausgegangen war, so konnte es seine Absicht nur sein, durch
Vereinigung aller konservativen Kräfte auf diesen Zweck die Aufmerksamkeit
Europas von dem revolutiouürcn Charakter der russischen Politik abzulenken,
^tut es war nicht so schwer, die von der Furcht vor den Geistern Rousseaus,
Montesquieus, Dantons und Robespierres gepeinigten alten Dynastien in das
Joch der russischen Politik zu zwingen und Alexander den Ersten mit dem
Heiligenschein eines Retters Europas und der konservativen Interessen zu
umgeben. Tallehraud nud Metternich durchschauten allerdings das Spiel,
aber das noch mitten im Wiener Kongresse von ihnen zustande gebrachte
österreichisch-französisch-englische Bündnis (3. Januar 1825), das deutlich seine
Spitze gegen Rußland kehrte, blieb ein wertloses Stück Papier, das über der
schon im September desselben Jahres gestifteten Heiligen Allianz rasch in
Vergessenheit geriet. — Es ist kein Zufall, daß zweimal, in Paris und im
Haag, Nußland in dem Augenblick, wo es das Bedürfnis empfand, gegen die
ganze Welt alte Eroberungen zu sichern und neue vorzubereiten, die Idee des
Weltfriedens in den Vordergrund rückte, und es Ware ein dankbarer geschichts-
philosophischer Stoss, die Heilige Allianz Alexanders des Ersten und das Haager
Schiedsgericht Nikolaus des Zweiten von hier aus zu betrachten. Gewiß
wollte Rußland den Frieden, aber es war weit davon entfernt, ihn als etwas
andres zu betrachten, als eine Gewähr gegen jede Einmischung in seine Er¬
oberungspolitik. Schon Peter der Große hatte sich bemüht, sich zu diesem
Zweck eine Art schiedsrichterlichen Einflusses in den polnischen, deutschen und
skandinavischen Dingen zu verschaffen. Alexander der Erste erreichte dieses
Ziel. Es gab sich als der Schutzherr der nach Frankreich zurückgekehrten
Bourbonen, verfügte auch bald unumschränkt in den deutschen Angelegenheiten,
in der badischen und der bayrischen Sache, und zwang dadurch anch England
zum Beitritt zur Heiligen Allianz.
Für einen Augenblick schien der griechische Aufstand dieses Programm zu
stören, Nußland schien zwischen die „antirevolntionüre" Politik des Hofes und
die konfessionellen Sympathien des russischen Volks für die Griechen gestellt;
aber auch die griechische Sache diente mir dazu, die Machtstellung Rußlands
zu festigen. Die Politik des Petersburger Hofes war jeder Begeisterung für
fremde Interessen unfähig. Während Deutschland, England und Frankreich
vom Griechenfieber geschüttelt wurden, gab Rußland kaltblütig die Griechen
preis, nachdem es sie zuvor gegen die Pforte aufgereizt hatte. Und wie herr¬
lich nahm sich Nikolaus der Erste dabei aus, als er alle seine großen Sym¬
pathien für die Christen im Orient dem antirevolutionären Programm der
Heiligen Allianz zum Opfer brachte! Nesselrode hatte die damalige Politik
Rußlands in folgende diplomatische Formel gefaßt: „Rußland konnte so wenig
wie das übrige Europa in den Triumph einer Revolution willigen, und das
wäre die notwendige Folge eines vollständigen Sieges der Griechen gewesen?
noch auch in die Ausrottung eines christlichen Volkes, die notwendige Folge
eines Sieges der Türkei." Daß Rußland die griechische Revolution geschürt
hatte, ebenso wie es einige Jahre darauf die Serben und die Bulgaren zum
Aufstande reizte, verschwieg Nesselrode; die volle Wahrheit war, daß Rußlands
Bestreben dahin zielte, die Türkei durch Revolutionierung ihrer christlichen
Untertanen fortgesetzt zu schwächen, ohne jedoch diesen Luft und Licht zu einer
kräftigen selbständigen Entwicklung zu geben, mit einem Wort, die neuen auf
der Balkanhalbinsel entstehenden staatsrechtlichen Gebilde sollten von Petersburg
abhängig und willenlose Werkzeuge in der Hand der russischen Politik sein,
was umso leichter schien, als die orientalischen Christen konfessionell nach
Petersburg gravitierten. Es entspricht durchaus dieser Tendenz der russischen
Politik, daß sie seit Peter dein Großen mit eiserner Konsequenz an der Auf¬
fassung festgehalten hat, daß in ihren Händeln mit der Pforte jede Dazwischen-
kunst einer andern Macht ausgeschlossen sei. So hat z. V. Rußland auch
Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als Europa über die
griechische Frage beriet, und zugleich auch in deu Donanfürstcutümern einige
Angelegenheiten man zu ordnen waren, diese als eine Sache behandelt, die
nur Rußland und die Türkei angehe, und ebenso antwortete Rußland, als
Villele ans Anregung Metternichs eine materielle Garantierung des Besitz¬
standes der Türkei in Vorschlag brachte, mit einem entschiednen Nein.
Zunächst wurde durch diese Politik Rußlands Österreich in Mitleidenschaft
gezogen, das nicht zugeben konnte, daß die Entwicklung der Dinge auf
dein Balkan vollständig seinem Einfluß entzogen werde. Metternich durch¬
schaute die russische Politik vollständig, im Gegensatz zu den englischen Staats-
männern mit Einschluß von Canning, die sich von Rußland grausam düpiere»
ließen; jedoch fehlte es einerseits Metternich an der nötigen Energie, ans
seiner Kenntnis der Verhältnisse die praktischen Schlüsse zu ziehn, so war
andrerseits der österreichische Staat auch nicht in der Verfassung, es auf einen
Zusammenstoß mit Rußland ankommen zu lassen. Österreich war auf drei
Seiten engagiert, im Orient, in Deutschland und in Italien. Wir haben
gesehen, daß seine Beteiligung an der deutschen Frage der Errichtung eines
österreichisch-preußischem Bündnisses im Wege stand, das fähig gewesen wäre,
der Revolution von Osten und von Westen standzuhalten; Italien war
aber für Österreich ein ebenso wunder Punkt, an den seine Gegner nur zu
rühren brauchten, um das Wiener Kabinett von allen Plänen im Norden und
im Osten zurückzubringen. Dort nahm ja auch die russische Diplomatie
nach dem Krimkriege Rache an dem „undankbaren" Österreich, einer der
wenigen Fälle übrigens, wo das Petersburger Kabinett die gewohnte Kalt¬
blütigkeit verlor, über das Ziel Hinansschoß und zur Vernichtung der italie¬
nischen Interessen Österreichs beitrug, wodurch es in seiner Entwicklung um
so mehr auf den Orient verwiesen wurde. In dieser Zeit war Österreich aus
deu angeführten Gründen uicht in der Lage, den Orientplünen Rußlands mit
der nötigen Energie entgegenzutreten, zumut da auch die Stellung der Dynastie
in Ungarn unsicher war, wie ja die Jnsurgiernng Ungarns in den Plänen
der russischen Diplomatie wiederholt eine Rolle gespielt hat. Die Sachlage
kennzeichnete Pozzo ti Borgo in einer vom 16. Oktober 1825 aus Paris
datierten Depesche sehr genau folgendermaßen: „Der Haupturheber der kritischen
Sachlage (für Rußland) ist Österreich; wir müssen Österreich den fürchterlichsten
Sturm erwarten lassen für den Fall, daß es sich gegen uus erklären sollte.
Metternich wird, anstatt sich dieser Gefahr nnsznsetzen, sich meinem System
anschließen, das er uicht zu bekämpfen vermag. Metternich glaubt jetzt nicht,
daß wir Krieg führen wollen. Überzeugt er sich, daß wir es wollen, so wird
er den Krieg vermeiden"; und in einer Depesche vom 28. November 1828:
"Wird Metternich eingreifen? Wahrscheinlich uicht, wenn er findet, daß wir
unerbittlich sind, alle Schrecken des Krieges über Österreich auszuschütten und
ihm keinen zu ersparen." — Wohl hatte Metternich in London, in Paris und in
Berlin versucht, Rückhalt gegen die russische Angriffspolitik zu gewinnen, aber
ohne Erfolg. Preußen wurde von Nußland durch die Aussicht auf Landgewiun
geködert, in Paris wcir unter Karl dem Zehnte» Nußland Trumpf, in London
aber besann man sich zu spät, daß Rußland auch Konstantinopel nehmen
könne, und schloß dann in aller Eile mit Wien einen unnützen Vertrag. So
mußte es zu dem Vertrage von Akjerman kommen, worin Nußland einige
Kaukasusfestungen gewann, nachdem es einige Wochen vorher England feierlich
versichert hatte, daß es keine neuen Eroberungen plane, und so ist auch der Friede
von Adrianopel (1828) erklärlich, ein Ereignis, an dem sich, wie an einem Schul¬
beispiele, die starken und die schwachen Seiten Rußlands und seiner Politik
zeigen. Alle seine Eroberungen und seine ganze Machtstellung im Westen
verdankt Rußland uicht seinen Armeen, sondern seiner Diplomatie. Eine große
Tradition schrieb ihr ihre Wege vor und damit die Folgerichtigkeit, die man
in der auswärtigen Politik parlamentarisch regierter Staaten aus begreiflichen
Gründen vermißt; die Rücksichtslosigkeit gegen die innern Interessen des Staates
gab ihr aber das Mittel an die Hand, jeden Augenblick die Welt mit Kriegs¬
drohungen zu erfüllen und gegebuenfalls auch Tausende vou Menschenleben
zu diplomatischen Zwecken zu opfern. Siegreiche Kriege hat Nußland, allein
auf sich gestellt, in Europa niemals geführt, und die Kraft, mit der die ab¬
sterbende Türkei wiederholt den Regimentern des unermeßlichen Reiches wider¬
standen hat, zwingt zu einem durchaus abfälligen Urteil über die kriegerische
Leistungsfähigkeit Rußlands; aber der geringe Wert des Menschenlebens in
Rußland ist seine Stärke in der internationalen Politik. Während die Diplo¬
matie des Westens in dein Bewußtsein der ungeheuer schädlichem Folgen eines
Krieges auf den hochausgebildeten, fein gegliederten wirtschaftlichen Organismus
vor dem Beginn eines solchen zurücksehend, kennt Rußland solche Rücksichten
nicht, und seine darauf beruhende fortwährende Kriegsbereitschaft ist die Voraus¬
setzung seiner diplomatischen Erfolge.
Der Feldzug vou 1828 war militärisch mißlungen, der „glänzende"
Balkanübergang Diebitschs ein Fiasko, das mit der völligen Vernichtung der
russischen Streitkräfte geendet haben würde, wenn uicht die Sendung des preu¬
ßischen Generals Müffling nach Konstantinopel den Stillstand der Operationen
herbeigeführt und Nußland vor einem schimpflichen Frieden gerettet hätte.
Der Sultan wurde damals nicht nur über die militärische Lage der Türkei
vollständig getäuscht, sondern der damalige preußische Gesandte in Konstantinopel,
v. Roher, benutzte einen ihm vom Sultan an die türkischen Bevollmächtigten
übermittelten Befehl, diese zur Unterzeichnung von Bedingungen zu zwingen,
die mittlerweile von Diebitsch einseitig abgeändert worden waren. Preußen
hatte dadurch Nußland zu einem Frieden verholfen, der ihm den Rest der
Donauinseln und die Donaumünduugen, das Land der Tscherkessen und wich¬
tige handelspolitische Vorteile verschaffte, sein Prvtektiousrecht in den Donau-
fürsteutümern befestigte und ihm eine Kriegsentschädigung als Mittel zur Er¬
pressung weiterer Vorteile zusicherte. Nach einem unglücklichen Feldzuge war
das ein unerhörter Gewinn, den Nesselrode in einer Depesche von? 12. Februar
1830 folgendermaßen zusammenfaßte: „Der Friede von Adrianopel hat Ru߬
lands Übergewicht im Osten befestigt. Er hat Rußlands Grenzen verstärkt,
seinen Handel entlastet, seine Rechte gewährleistet, seine Interessen gesichert.
Die Türkei darauf beschränkt, nur unter dem Schutze Rußlands zu existieren,
nur Rußlands Wünschen hinfort ihr Ohr zu leihen, war nach des Kaisers
Ansicht unsern politischen und Handelsinteressen angemessener als irgend eine
neue Kombination, die uns gezwungen hätte, entweder unsre Herrschaft durch
Eroberungen auszudehnen, oder an die Stelle des Osmanischen Reiches Staaten
treten zu lassen, die bald genug mit uns an Macht, Bildung, Kunstfleiß und
Reichtum gewetteifert haben würden. Da wir den Umsturz der türkischen Regierung
nicht gewollt haben, so suchen wir die Mittel, sie in ihrem jetzigen Staude
aufrecht zu erhalten. Die wichtige Sache der Durchfahrt des Bosporus ist in
einer Weise zu Ende gebracht worden, die die andern Mächte und sogar Eng¬
land in Erstaunen setzen wird; denn die englische Flagge wird bei weitem nicht
mit derselben Rücksicht in der Straße von Konstantinopel behandelt wie die
unsrige. Was Serbien anlangt, hat die Pforte mit Gefügigkeit und Eifer allen
Forderungen gehorcht. Die Moldau und die Walachei sind zurückgegeben;
ihre Eroberung wäre uns umsoweniger nützlich gewesen, als wir nun, ohne
Truppen dort zu unterhalten, nach Wunsch nud Willen in Kriegs- und
Friedenszeit über diese Provinzen verfügen. Die Entschädigung wird Sache
der ausgleichenden Unterhandlung sein, die das Osmanische Reich mit einer
unerträglichen Bürde nicht beschweren, in unsern Händen aber die Schlüssel
der Lage lassen wird, von wo aus wir das Reich im Schach halten, sie wird
ferner das Vorhandensein einer Schuld zur Anerkennung bringen, die der
Pforte lange Jahre ihre wahre Lage Nußland gegenüber und die Gewißheit
ihres Verderbens, falls sie ein zweites mal zu trotzen versuchte, im Bewußt¬
sein halten wird." /c> .c < - .^ (Fortsetzung folgt)
err von Szell begann die zunehmende Schwächung seiner Stellung
zu fühlen und hielt es für nötig, sich etwas populär zu machen.
Das trifft man überall am leichtesten, wenn man die national¬
chauvinistische Saite erklingen läßt und etwas von dem „Männer-
stolz vor Königsthronen" zur Schau trägt, der in vormärzlicher
Zeit etliche Jahre Zuchthaus einbrachte, aber heutzutage sehr ungefährlich
geworden ist, bei dem großen Haufen jedoch noch in hohem Ansehen steht.
Als Anlaß benutzte Herr von Szell einen Zwischenfall, der mit der Reise
des Erzherzogs Franz Ferdinand, des Thronfolgers, nach Petersburg in
Verbindung stand. Für diese waren vom Hofe zwei Ehrenkavaliere für den
Erzherzog ausgewählt, von diesem aeeeptiert und vom Kaiser genehmigt
worden, und zwar zur Wahrung der dualistischen Parität, ein österreichischer
und ein ungarischer. Beide waren im Namen des Thronfolgers eingeladen
worden. Wenig Tage vor der Abreise erhob plötzlich Ministerpräsident von
Szell, wahrscheinlich weil einer der liberalen Grafen gern mit wollte, Ein¬
spruch gegen den ungarischen Ehrenkavalier, der allerdings ein Graf Johann
Zichy und der Sohn des Vorsitzenden der ungarischen katholischen Volkspartei,
des Grafen Ferdinand Zichy, war. Szell behauptete, das Mitglied eiuer oppo¬
sitionellen Partei sei kein geeigneter Vertreter für Ungarn. Um des lieben
Friedens willen sprach einige Tage darauf Kaiser Franz Joseph dem Thron¬
folger gegenüber den Wunsch ans, er möge von der Begleitung des Grafen
Zichy absehen. Selbstverständlich entsprach Erzherzog Franz Ferdinand diesem
Wunsch, verzichtete aber auch auf die Begleitung jedes andern ungarischen
Ehren tavaliers. um den Grafen Zichy nicht zu beleidigen, und ersuchte zugleich
Herrn von Szell schriftlich um Aufklärung über die ihn kompromittierende
Angelegenheit. Das Magnatenkvstüm blieb unter diesen Umstünden in Peters¬
burg unvertreten, ohne daß den großen Ehren und der offenbaren Herzlichkeit,
mit der der Thronfolger am Zarenhvfe empfangen wurde, dadurch Abbruch
geschah.
Die reiche hätte nicht viel auf sich gehabt, wenn sie unter deu beteiligten
Kreisen geblieben wäre, aber sie kam in die ungarischen Zeitungen, und zwar
unverkennbar auf Veranlassung der Negierung selbst. Nun bemächtigten sich die
ungarischen Heißsporne der Angelegenheit; die Kossuthianer griffen den Thron¬
folger und die Regierung in der heftigsten Weise an und brachten den Fall
schließlich vor das Abgeordnetenhaus. Hier erwuchs nun Herrn von Szell die
Schwierigkeit, sich und den Thronfolger gegen die übermüßigen Angriffe der
äußersten Linken zu verteidige,,, während die gesamte Parteipresse der Re¬
gierung, das eigentliche Regierungsvrgan ausgenommen, fortfuhr, den Thron¬
folger anzugreifen und Herrn von Szell herauszustreichen. Der Lurn im Ab¬
geordnetenhause zog sich mehrere Tage hin, die nnehrerbietigsten Angriffe der
Koffuthianer, namentlich des Abgeordneten Komjathy, wurden vom Präsidenten,
dem Grasen Apponyi, kaum gerügt und vom Ministerpräsidenten nicht ent¬
schieden genug zurückgewiesen. Herr von Szell stellte den Snchverhalt so dar,
als wenn die Reise des Thronfolgers eigentlich eine private Angelegenheit ge¬
wesen sei, bei der die Beteiligung von Ehrenkavalieren nicht nötig war. Für
die Beseitigung eines ungeeigneten ungarischen Kavaliers habe er Sorge ge¬
tragen. Im übrigen stellte er den Grundsatz auf, daß bei wirklich offiziellen
Gelegenheiten den parlamentarischen und den konstitutionellen Prinzipien
Rechnung getragen werden müsse, d. h. also, daß die Mitglieder des Herrscher¬
hauses sich in solchen Fällen der herrschenden Parlamentsmehrheit zu fügen
hätten.
Wenn Herr von Szell gemeint haben sollte, er könne in dieser Sache
einen populären Sieg davontragen, so dürfte ihn schon der ganze Verlauf,
den sie nahm, eines andern belehrt haben. Die Kossuthianer hatten ihn bitter
verhöhnt, seine Partei hatte ihn zwar gedeckt, doch war in Ungarn die Mei¬
nung über seine diplomatische Befähigung dadurch nicht höher gestiegen, und
mau hielt allgemein dafür, es wäre klüger gewesen, in Petersburg lieber
durch den Grafen Zichy als gar nicht vertreten gewesen zu sein. Am meisten
hatte sich niber Szell in seiner Vertrauensstellung zur Krone geschadet. Kaiser
Franz Joseph gibt, wie auch dieser Fall gezeigt hat, in Einzelheiten gern nach,
aber er ist in Hoheitsfragen empfindlich, und die Theorien, mit denen der
ungarische Ministerpräsident dein Stnndpuukt der äußerste» Linken so nahe
gekommen war, verträgt er nicht. Herr von Szell sollte das bald bitter em¬
pfinden, namentlich bei den Ausgleichs- und deu Zolltarifverhandluugen.
Dr. von Körber war ihm sachlich und diplomatisch ohnehin überlegen, und in
allen kritischen Fällen fand er, ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern, daß
die Krone den österreichischen Auffassungen mehr zuneigte als den ungarischen.
In Ungarn merkte man das, und trotz aller großen Worte in deu Zeitungen
begann der Nimbus Szells zu schwinden. Die Verhandlungen rückten nicht
vorwärts, die zeitweilig auftauchenden Gerüchte, daß Herr von Szell seine
Demission geben werde, schreckten in Österreich nicht und machten nicht einmal
in Ungarn mehr deu gewünschten Eindruck. Als der ungarische Minister-
Präsident in der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses nach Pfingsten, am
15. Mai 1902, erklärte, der neue Ausgleich dürfe nicht schlechter sein als
der gegenwärtige, übrigens sei das selbständige ungarische Zollgebiet so weit
vorbereitet, daß jederzeit binnen drei Wochen die vollständige Lostrennung von
Österreich durchgeführt werden könne, so rief das wohl im Wiener Abgeordnctcn-
hnuse ziemliche Aufregung hervor, doch hielt mau auch da die Erklärung nur
für ein taktisches Manöver, und zwar auch uoch, als Graf Apponyi in einer
großen Rede in Jaszberenyi kurz darauf in der Ausgleichs- und Zolltariffrage
unbedingt für Szell Stellung nahm. Als aber dünn 1)r. von Körber am
30. Mui im Herrenhnuse eine geharnischte Rede über das Verhältnis zu
Ungarn hielt, die in den Worten gipfelte: „Wir wollen Gemeinschaft und
Freundschaft aufrecht erhalten, wollen jedoch nicht die Hand zu einer Gemein¬
schaft bieten, die uns uicht zur Ruhe kommen läßt und wirklich fast keine Ge¬
meinschaft ist," und trotz dieser bisher Ungarn gegenüber ganz ungewöhnlichen
Äußerung im Amte blieb, da verstand man auch jenseits der Leitha, daß die
schönen Tage des Herrn von Szell vorüber seien. Man hatte mir noch nötig,
sich seiner mit guter Manier zu entledigen. Das hatte aber wegen der ge¬
eigneten Nachfolgerschaft zunächst noch seine Schwierigkeiten. Inzwischen be¬
gannen sich die Verhältnisse auch nach einer andern Richtung hin zuzuspitzen.
Seitdem den Ungarn durch den Ausgleich von 1867 mehr als die halbe
Selbständigkeit unerwartet zugefallen ist, geht ihr Sinnen und Trachten auf
eine selbständige ungarische Armee, die nur dem König von Ungarn den Eid
der Treue geleistet hat. Dieses Bestreben trat sofort nach dem Abschluß des
dualistischen Ausgleichs hervor, da man aber die gute Stimmung der Ungarn
bis nach dem deutsch-französischen Kriege für die damaligen politischen Pläne
zur Wiedergewinnung der Stellung in Deutschland nicht verderben wollte, zog
man die Entscheidung hin. In den Delegationen von 1868 wurde die Sache
angeregt, aber nicht zum Austrag gebracht. Der General Grivieie, der dort
die Einheitlichkeit der Armee energisch vertrat und sich dadurch die erbitterte
Gegnerschaft der Magyaren zugezogen hatte, wurde abberufen und durch einen
Uugnrn, den General Ghyezy, einen Bruder des Führers der staatsrechtlich
Oppositionellen, ersetzt. Im Oktober 1870 beantragte Tisza im Abgeordneten-
Hause zu Budapest, die Regierung solle ein Gesetz vorbereiten, das „zur
Sicherung Ungarns und des ungarischen Throns eine nationale und im Lande
garnisonierende, allen Anforderungen eines wohlausgerüsteten Heeres ent¬
sprechende Armee gründet, über die der König ausschließlich durch das ver¬
antwortliche Ministerium in Budapest verfügt, und die unter der Kontrolle
des ungarischen Reichstags steht." Dieser auf Errichtung einer selbständigen
ungarischen Armee hinzielende Antrag wurde von der ungarischen Regierung
nur matt bekämpft, schließlich aber abgelehnt.
Inzwischen war es nämlich dein Grafen Andrassy gelungen, die Organi¬
sation der ungarischen Landwehr, der vielgenannten Honved, auf rein un-
garischer Basis, mit magyarischer Konunandosprache und nur auf den König
von Ungarn vereidigt, durchzusetzen. Man war damals in Armeekreisen nicht
ganz klar über die Landwehreinrichtnng, bei der man wohl auch gern die
preußische Organisation übertroffen hätte. Namentlich um rasch eine größere
Aufstellung von Cadres zu ermöglichen, ging man auf die französische Ein¬
richtung ein, nach der für die Landwehr die Rekruten direkt aufgehoben
werden. Aber auch hierbei ist die Rücksicht auf den Wunsch der Ungarn,
möglichst rasch zu einer starken Honvedtruppe zu gelangen, von großem Ein¬
fluß gewesen. Die Honvedarmee wurde uun schleunigst in Szene gesetzt, und
die Ungarn hatten vorläufig, was sie wollten, ein eignes Heer. Freilich war
durch die staatsrechtliche Sonderstellung der beiden Landwehren, die im Kriegs¬
falle doch organische Bestandteile der gesamten Kriegsmacht des Reichs sein
sollen, der Grundsatz der Gemeinsamkeit durchbrochen. Aber die Magyaren
waren und sind stolz auf ihre Houveds, für deren Vermehrung sie keine Opfer
scheuen. Tatsächlich unterhält Ungarn einen im Verhältnis zur Bevölkerung
doppelt so großen Dienststand von Landwehrtruppen wie Österreich. Das Land
sieht in seiner Honvedarmee ohne Unterschied der Parteien ein nur dem un¬
garischen Königreich ergebnes Heer — für alle Fälle. Für die gemeinsame
Armee haben die Magyaren wenig Interesse und feinden sie mehr und mehr
an. So haben sie ein Jahrzehnt lang die unbedingt notwendige Erhöhung der
Offiziergehülter hintangehalten; der Abgeordnete Pulszky erklärte ganz offen:
„Ungarn hat für die Regulierung der Offiziergagen kein Geld." Natürlich
legen die Ungarn bei der zunehmenden Gegnerschaft gegen das gemeinsame
Heer keinen Wert auf die Berufsfreudigkeit des Offizierkorps. Dagegen wußten
sie zu jeder Zeit alle Anlässe zu benutzeu, auch auf die Armee Einfluß zu
gewinnen. Als die Mehrheit der österreichischen Delegation im Jahre 1871
den Mehrforderungen der Kriegsverwaltung gegenüber die üblichen Schwierig¬
keiten machte, bewilligten die Ungarn alles, aber unter der Bedingung, daß
die ungarischen Regimenter nach der Heimat verlegt würden. Die Folge davon
war die an und für sich nützliche, den deutschen Armeekorps nachgebildete Er¬
richtung der sogenannten Territorialdivisionen, und die Ungarn hatten erreicht,
daß die ungarischen Jnfanterieregimenter von nun an im Lande lagen und
von den Einwirkungen der Reichsidee ferner gehalten wurden.
In deu leitenden Kreisen der Heeresverwaltung hat man die damals be-
gangnen Fehler längst eingesehen, eine gründliche Abhilfe aber unterlassen,
weil sie ein den Ansprüchen und andernfalls am Widerstande der Ungarn ge¬
scheitert wäre. So ist die Neichsnrmee hinter der Entwicklung der Heereskräfte
andrer Mächte weit zurückgeblieben, so vorzüglich sie auch in der innern Aus¬
bildung ist. Man hat mit allerlei „Flickmerk," wie es der Reichskriegsminister
von Bauer schou vor zehn Jahren bezeichnete, aufzuhelfen gesucht, natürlich
aber keine gründliche Abänderung erzielt. Jetzt ist die Landwehr in beiden
Reichshälften an Organisation und Ausbildung den Linientruppen so ähnlich,
daß mau mit geringen Kosten ihre Regimenter in neue Linientruppen um¬
wandeln könnte. Dadurch würde bei der Annahme einer der deutschen Ein¬
richtung nachgebildeten Landwehr aus deu schon auf ungeheure Zahlen an-
geschwollnen Stämmen von ausgebildeten Leuten durch Neubildung von
Landwehrregimentern für den Ernstfall ein enormer, leicht zu formierender
Kräftezuwachs zufließen, der jetzt nur mit ziemlichen Schwierigkeiten zu er¬
reichen sein wird. Es ist alles vorbereitet, man könnte morgen schon mit der
Umwandlung beginnen, aber für die dazu notwendige gesetzliche Änderung sind
die Ungarn in keinem Falle zu haben. Sie würden darauf bestehn, daß die
zur Linie übertretenden Honvedregimenter die magyarische Sprache als
Kommandosprache behalten müßten, worauf die oberste Kriegslcitung nicht ein-
zugehn vermag, weil damit die Zweisprachigkeit auch in die Armee eingeführt
würde. Die Aufhebung der gemeinsamen Dienstsprache und die Einführung
der magharischen Sprache für ungarische Regimenter würde schließlich die
Trennung der Waffenmacht des Reichs in zwei Teile nach sich ziehn. Ist
die Dienstsprache nicht mehr gemeinsam, so tritt notwendig eine Entfremdung
zwischen den getrennten Teilen ein, die Versetzung der Offiziere müßte danach
beschränkt werden, und das Gefühl der Gemeinsamkeit würde endlich verschwinden.
Es geht auch aus militärtechnischen Gründen nicht, und die Erfahrungen, die
man bei Manövern an der mährisch-ungarischen Grenze gemacht hat, zu denen
Honvedtruppen zugezogen waren, haben ergeben, daß sich untere Chargen nicht
zu verständigen vermochten, weil die Ungarn nicht deutsch sprechen konnten
oder — wollten. Man hat daran gerade genug und wird in keinem Falle
ans eine weitere Ausdehnung der Zweisprachigkeit in der österreichisch-
ungarischen Heeresmacht eingehn, und zwar umsoweniger, als dadurch auch
die Ansprüche andrer Nationen geweckt würden, und dann der Nationalitäten¬
kampf nicht mehr von der Armee ferngehalten werden könnte.
Die Honvedarmee ist der größte Stolz der Magyaren; sie hat die un¬
garische Kommnndosprache, sie ist nur auf den König von Ungarn vereidigt,
sie führt ungarische Abzeichen und ist stark an Infanterie und Kavallerie; zu
einer vollkommnen Armee fehlt ihr uur uoch eins: die Artillerie. Man hat
much mehrfach angeklopft wegen Bewilligung von Kanonen für die Hvnveds,
die Kosten würde Ungarn gern tragen, aber man ist auf kurze Ablehnung ge¬
stoßen. Nun würde es bei dem heutigen Ausbildungsstand der beiden Land¬
wehren ganz wohl angehn, ihnen Artillerie beizugeben, aber natürlich würden
die Ungarn für ihre Honvedbatterieu auf der ungarischen Kvmmandosprnche
besteh«, und dnranf kann nicht eingegangen werden. Der auf zwingenden
Gründen fußende Entschluß, der leider einmal vorhandnen Zweisprachigkeit im
Heeresweseu der Monarchie nach keiner Richtung hin eine weitere Ausdehnung
zu geben, ist die einzige Ursache, warum die Krone und die oberste Heeres¬
leitung, obgleich man der magyarischen Begehrlichkeit in so vielen Kleinigkeiten
nachgegeben hat, den Hvnveds niemals auch nur eine Batterie bewilligen
werden, uicht aber etwa die Besorgnis, wie vou manchen Seiten angedeutet
worden ist, daß die Ungarn, sobald sie es zu einer mit allen Waffengattungen
ausgestatteten Armee gebracht haben würden, um eine Wiederaufnahme der
Losreißungsbewegung von 1848 gehn könnten. Daran ist in absehbarer Zeit
nicht zu denken. In den Kreisen der magyarischen Magnaten, die die Fäden
der nationalen Bestrebungen in den Händen haben, ist man keineswegs im
Zweifel darüber, daß sie mit den militärischen Selbstäudigkeitsbestrebungen das
heikelste Gebiet betreten. Sie wissen ganz genau, daß in Heeresfragen auch
die unendliche Langmut des Monarchen ein Ende hat, daß die Deutschöfter¬
reicher darum ihre führende Stellung eingebüßt haben, weil sie vor fünfund¬
zwanzig Jahren begannen, die Verringerung der Armee als Zielpunkt auf¬
zustellen, daß die viele Jahre lang so begünstigten Tschechen dauernd in den
Hintergrund gedrängt worden sind und sich jetzt in ohnmächtiger Obstruktion
verzehren, weil sie mit der Meldungsfrage den Sprachenstreit in die Armee
tragen wollten. Auf unfruchtbare Demonstrationen lassen sich die Magyaren
nicht ein, die vereinzelten Fülle, in denen sich ungarische Reservisten nach dem
Beispiele der Tschechen in ungarischer Sprache meldeten, wurden sofort ein¬
gestellt, dagegen wird die weitsichtig angelegte Taktik, zunächst geringe Zu¬
geständnisse zu erreichen, um durch solche Präzedenzfälle eine leichte Bresche in
die bisher unübersteigliche Mauer der Heereseinheit zu stoßen, unverbrüchlich
festgehalten. Sie wissen, daß mit ihnen die gesamte Nation in letzter Reihe
die Schaffung einer magyarisch kommandierten, selbständigen Armee anstrebt,
und daß nur über die Mittel zur Erreichung dieses Ziels Meinungsverschieden¬
heiten bestehn. Die Mißstimmung darüber, daß die in Ungarn heimischen
Truppenteile uicht die ungarischen Fahnen führen, daß ihre Dienstsprache nicht
magyarisch ist, daß der nationale Teil des Heeres, die Honveds, keine Artillerie
haben, erhalten und fördern sie, mit geschickt verteilten Rollen streben alle
dem gemeinsamen Ziele zu. Es war vorauszusehen, daß in unsern Tagen, in
denen die lange verschobnen Fragen der Änderung des Wehrgesetzes und der
Neubewaffnung der Artillerie dringlich geworden sind, eine große Aktion ein¬
geleitet werden würde, kleine Zugeständnisse zu erlangen, die später leicht er¬
weitert werden können. Das mußte vorausgeschickt werden, wenn man das
eigentliche Wesen der letzten ungarischen Ministerkrise verstehn will. Die Ob¬
struktion gegen die an und für sich unbedeutende Vorlage über die Erhöhung
der Präsenzstandzahl hatte mir eine taktische Bedeutung.
Es ist schon erwähnt worden, wie Herrn von Szells Stellung nach und
nach ins Wanken geriet. Er erhielt noch Anfang April des vorigen Jahres
für seine gesetzgeberischen Verdienste die immerhin hohe Auszeichnung des
Stephcmsvrdcns, wie es aber eigentlich in Ungarn stand, trat wenig Tage
darauf in recht bezeichnender Weise zutage. Der bisherige Führer der National-
Partei, Horcmszky, war zum Handelsminister ernannt worden, und sofort ver¬
lautete, der Honvcdminister, Feldzeugmeister Baron Fejervary, der seit Jahren
im Amte war, wolle seinen Rücktritt nehmen, weil er uicht mit Horcmszky in
einem Kabinett sitzen wolle. Es bedürfte der größten Anstrengungen und Ver¬
mittlungsversuche Szclls, sowie endlich eines äußerst gnädigen Handschreibens
des Monarchen, Fejervary im Amte zu erhalten und keine verfrühte Krise
heraufzubeschwören. Baron Fejervary ist ein treuer Monarchist und unbedingter
Vertreter des Ausgleichs von 1867. Daß sein Vorgehn nicht der Persönlich¬
keit, sondern allein den politischen Ansichten Hvranszkys galt, bewies er, als
wenig Wochen darauf Horauszky auf dem Totenbette lag. Ein neuer Licht¬
strahl blitzte auf, als Graf Appouyi die schon erwähnte Rede am 20. Mai
in Jaszbereuyi hielt, in der er sich so entschieden für Szell und gegen Öster¬
reich in der Ausgleichs- und Zolltarifangelegenheit aussprnch. Die Rede ent¬
hielt aber auch den merkwürdigen Satz, daß man von Herrn von Szell nichts
für den Ausgleich zu fürchten brauche, da er ihn als einen Mann kenne, der
sein einmal gegebnes Wort uuter allen Umstünden halte. Die an dem Grafen
Apponyi sonst nie beobachtete Art eines solchen Hervortretens und die osten¬
tative Betonung vor etwa vierzig anwesenden Abgeordneten, unter denen auch
Kossuthiauer waren, daß Herr von Szell ein Mann von Wort sei, machten
es ziemlich zweifellos, daß Graf Appouyi den Ministerpräsidenten vor aller
Welt an Zusagen erinnern wollte, die er seinerzeit gegeben hatte. Man hat
nie gehört, daß Graf Apponyi und seine Parteigenossen bei ihrem Eintreten
in die Regierungspartei auf ihr besondres staatsrechtliches Programm ver¬
zichtet hätten, ja man weiß nicht einmal, auf welcher Grundlage die Ver¬
schmelzung zustande gekommen ist. Es war aber zu verschiednen malen von
staatsrechtlichen Zusagen die Rede, die Szell gegeben haben sollte. Uuter
diesen Umständen wurde der eigentümliche Vorfall von Jasberenyi in ma߬
gebenden Kreisen sehr bemerkt.
Man konnte uun bald erkennen, wohin die ganze Geschichte gehn sollte.
Natürlich stand die Kossnthpartei im Vordertreffen und begann ihre Agitation
gegen die gemeinsame Armee mit Kundgebungen gegen die Kaiserhymne. Neben
der allgemeinen Abneigung gegen alles Osterreichische wird in Ungarn gegen
diese eingewandt, sie sei 1849 bei der Erschießung der ungarischen Rebellen
gespielt worden, Ums ja an und für sich schon sehr unwahrscheinlich ist; auch
sängen die „Schwaben" danach ihr Lied „Deutschland, Deutschland über alles."
Man will eben eine besondre ungarische Hymne durchsetzen, wie mau ja auch
regelmäßig gegen die schwarzgelben Fahnen der kommandierender Generale
demonstriert. An: tollsten gebärdete man sich bei der Feier des hundert¬
jährigen Geburtstages Ludwig Kossuths am 19. September, an der übrigens
die Regierung nicht teilnahm; bei der Matthias Corvin-Feier in Klausenburg,
wo Erzherzog Joseph anwesend war, wurde die Volkshymne durch das Kossuth-
^led und die ungarische Hymne übertönt. Der Kossntyianer Nessi lobte am
andern Tage im Abgeordnetenhause die Klansenburgcr Jugend dafür, und
Ministerpräsident vou Szell fügte beschwichtigend hinzu, in dem Spielen der
^niserhymne beim Empfang eines Erzherzogs läge keine gegen Ungarn ge-
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richtete Spitze, Da Nessi Reserveoffizier war, so wurde gegen ihn vom
Kommandanten seines Honveddistritts eine ehrengerichtliche Untersuchung ein¬
geleitet. Die Sache kam Anfang November ins Abgeordnetenhaus und führte
zu fünftägigen unerhörten Auftritten; was dabei von der äußersten Linken
gegen die Volkshymne und gegen die Monarchie geäußert wurde, kaun gar
nicht wiedergegeben werden. Der Präsident Graf Appouyi duldete das meiste,
Feldzeugmeister Fejervary versuchte zu beschwichtigen, wurde aber vielfach
durch Lärm unterbrochen und geriet schließlich selbst mit dem Grafen Avponyi
und Herrn von Szell in Zwiespalt, weil er erklärt hatte, er habe aus be¬
sondern! Entgegenkommen zugestimmt, daß das ehrengerichtliche Verfahren
gegen Nessi so lange eingestellt werde, bis ein Beschluß des Hauses darüber
vorliege. Nun warf die Opposition die parlamentarische Frage auf und be¬
hauptete, der Minister habe sich den Beschlüssen des Hauses zu fügen.
Fejervary nahm nichts zurück, obgleich Apponyi und Szell in ihn drangen,
und als am andern Tage Herr von Szell im Namen des Ministeriums eine
Erklärung abgab, die sich den Ansichten des Hauses anschmiegte, begab sich
Baron Fejervary nach Wien, um dein Monarchen Meldung zu machen. Auch
diese Ministerkrise kam nicht zum Ausbruch, denn wenig Tage danach war
Ministerpräsident von Szell „in andern Angelegenheiten" in Wien und hatte
Audienz beim Kaiser. Am 2. Dezember wurde dann die Sache geebnet, indem
sie nicht wieder vor das Haus gebracht wurde, sondern beide Minister im
Finanzausschusse gleichlautende Erklärungen abgaben, die sich von der Auf-
fassung des Honvedministcrs nnr im Wortlaut unterschieden. Man wagte
nicht, den Monarchen zu reizen, doch die Taktik, den Träger der Krone mürbe
zu machen und vor dringliche Entscheidungen zu stelle», bei denen sich etwas
herausschlagen läßt, wurde fortgesetzt.
Als nächstes Operationsobjekt wurde die Nekrutenvorlage ausersehen, der
man schon deshalb abgeneigt war, weil sie die Mannschaften für die Um¬
gestaltung der Artillerie forderte, ohne daß an die ersehnte Honvedartillerie
auch nnr gedacht wurde. Natürlich ging man nicht gleich direkt dagegen vor,
sondern zunächst wurde die Zeit mit allerhand nationalen Spektakeln ver¬
trödelt, weil man Stimmung machen wollte, bis sich herausstellte, daß die
Rekrutenvorlage, die schon zweimal geändert worden war, überall auf Oppo¬
sition stieß, namentlich auch in Österreich, da sie ungeschickt abgefaßt war,
weshalb auch schließlich der Ncichskriegsminister in den wohlverdienten Ruhe¬
stand trat. Trotzdem ging nun? auch nnn noch nicht direkt gegen die Nekruten¬
vorlage vor, sondern obstruierte einstweilen das Budgetprovisorium, das erst
zustande kam, nachdem Herr von Szell am 11. Dezember mit der Oppo¬
sition ein Abkommen getroffen hatte, wonach die Obstruktion aufhören sollte,
wenn vor Neujahr weder die Wehrvorlage noch die Erhöhung der Zivilliste
auf die Tagesordnung gesetzt werde. Aus diesem Übereinkommen ging zweierle:
hervor: zunächst, daß die Opposition die Nekrutenvorlage meinte, wenn ste
das Budgetprovisorium obstruierte, und ferner ließ sich schon damals erkennen,
daß die Neichsregierung die Durchführung der Neubildung und Neubewaffnung
der Artillerie nicht als unbedingt dringend ansah. Nach der Bewilligung des
Budgetprovisoriums ging das Abgeordnetenhaus in die Weihnachtsferien, aber
im neuen Jahre arbeitete sie mit der offnen Obstruktion gegen, die Wehrvor¬
lage. Selbstverständlich mußte zuerst der Versuch gemacht werden, die Ob¬
struktion zu brechen. Ob sich Herr von Szell dazu erboten hat oder dazu
genötigt worden ist, kann gleichgiltig bleiben, jedenfalls zeigte sich an dem
ganzen Verhalten des Abgeordnetenhauses, wie namentlich an der Duldsam¬
keit des Präsidenten Grafen Appvnyi, daß die Obstruktion eigentlich im stillen
von allen Seiten unterstützt wurde. Das hatte zur Folge, daß Graf Apponhi
beim letzten Hofball in der Ofener Burg von: Monarchen gar nicht bemerkt
wurde. Auch diese Affäre wurde noch einmal beigelegt, indem Apponhi einige
Tage danach vom Kaiser in längerer Audienz empfangen wurde. Was dabei
Gegenstand der Unterhaltung war, ist nicht bekannt geworden. Die Obstruktion
ging weiter, das Budgetprvvisorium ging zu Ende, und es trat der sogenannte
gesetzlose Zustand ein, Szell hielt noch tapfer aus oder mußte aushalten, bis
er schließlich Mitte Juni seine Demission einreichte. Der Versuch des Grafen
Stephan Tisza, der der frühern liberalen Partei angehört, ein Ministerium zu
bilden, erwies sich binnen zwei Tagen als unausführbar, darauf trat der bis¬
herige Baums von Kroatien, Graf Khuen-Hedervarh, in den Vordergrund und
bewog die Kossuthpartei durch Zurückziehung der Wehrvorlage, die Obstruktion
einzustellen. Daß diese damit einen Erfolg errungen hat, ist nicht in Ab¬
rede zu stellen, dagegen trifft das Geschrei der Parteipresse, der neue
Ministerpräsident habe vor der Kossuthpartei kapituliert, nicht den Kern der
Sache.
Wie sich die Dinge nun einmal entwickelt haben, ist die Lage die, daß
die Handelsvertragsverhandluugeu in diesem Jahre beendet werden müssen.
Dafür bleibt nur noch ein halbes Jahr. Ob bis dahin der ungarische Reichs¬
tag die Zolltarif- und Ausgleichsverhandlungen zu Ende bringen wird und
will, steht freilich dahin, es ist aber anzunehmen, da Ungarn bei dem Abschluß
der Handelsverträge stark beteiligt ist. Diese brennendste Angelegenheit mit
der noch unlösbar scheinenden Heeresfrage für dieses Halbjahr weiter zu ver¬
quicken, wäre politisch unklug, da sich für die Heeresfrage Raum finden muß,
sobald die wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Abschluß von Handelsver¬
trägen und des Ausgleichs auf längere Dauer gesichert sind. So notwendig
die Umgestaltung der Artillerie auch ist, so macht doch die europäische Lage
die unbedingte Erledigung dieser Maßregel nicht nötig; sie kaun noch ein
Jahr warten, denn für ein immerhin mögliches Einschreiten auf der Balkan¬
halbinsel wird man mit dem jetzigen Artillericmaterial ganz gilt auskommen.
Weitere Verwicklungen sind ganz undenkbar. Die Zurückziehung der Wehr¬
vorlage bedeutet darum keineswegs eine Kapitulation vor der Kossuthpartei,
sondern sie entspricht der nun einmal unabänderlichen handelspolitischen Lage,
und sie läßt auch gar nicht darauf schließen, daß die Heeresverwalruug irgendwie
gesonnen ist, den geheimen Wünschen der Ungarn nachzugeben. Das rasche
Scheitern des Versuchs des Grafen Andrassh, der als energischer Mann be¬
kannt ist, beweist unwiderleglich, daß die Zeit vorüber ist, in Ungarn noch
ein Ministerium uach dem Muster Bauffhs zu bilden; gerade die Episode Szell
hat die Unterlagen dafür zerstört. Graf Khuen-Hedervary ist bei der alten
liberalen Partei keineswegs beliebt, und er wurde, als seine Ministerkandidatur
nach dem Sturz des Kabinetts Weckerle auftauchte, mit Entrüstung abgelehnt.
Aber er ist ein gewandter Diplomat, und es kann ihm schon zugetraut werden,
daß er in dem Parteienwirrwarr, den die einer Versöhnungspolitik im großen
Stile nicht gewachsene Persönlichkeit Szells hinterlassen hat, Fuß zu fassen
verstehn wird. Er ist im übrigen ein getreuer Anhänger des Kaisers und
vielleicht bloß zum Platzhalter ausersehen. Die Demission des österreichischen
Ministeriums ist in der Hauptsache als Schachzug zu Gunsten der Krone
gegenüber Ungarn aufzufassen. Die formelle Berechtigung dazu war voll¬
kommen gegeben, da das Ministerium Körber in Österreich der tschechischen
Obstruktion dasselbe Rekrutengcsetz abgerungen hatte, das nun vor der un-
garischen Obstrnktion zurückgezogen worden war. Dafür gebührte ihm eine
öffentliche Rechtfertigung und Genugtuung. Diese ist dnrch ein ungemein
gnädiges Handschreiben des Monarchen erfolgt, das nach allem Anschein nur
so lange verzögert wurde, bis die gewünschte Wirkung in Ungarn eingetreten
war. Daß das Ministerium Körber weder wegen der Obstruktion der Tschechen
noch der Magyaren zurücktreten werde, ließ sich voraussehen. Graf Khuen-
Hedervary scheint auch in Ungarn sein Ziel zu erreichen. Er oder sein Nach¬
folger braucht ja den Magyaren bloß die Auflösung des Abgeordnetenhauses
und wirklich „reine Wahlen" in Aussicht zu stellen, um sie gefügig zu machen.
^ALS>legen das Ende des Mittelalters zeigt sich immer mehr die Un¬
möglichkeit, die Oberhoheit, die im Namen des Christentums und
der Religion beansprucht wird, aufrecht zu erhalte». Die große
Einigung, die in den Plänen der großen Päpste Gestalt an-
!nahm, wo die ganze Welt der Kirche Untertan sein sollte, ja
es in der Tat nahezu war, zeigt sich schließlich als das, was sie war:
als eine künstlich gemachte und darum nur scheinbare Einheit. Ist die Blüte¬
zeit des Mittelalters charakterisiert durch ein immer stärkeres Gravitieren nach
Rom als geistigem Mittelpunkte, so sind die Zeiten des Verfalls charakterisiert
durch das Bestreben nach Freimachung des gefesselten Lebens.
Es ist eine alte Erfahrung, daß das, was sein Recht nicht zuerkannt
bekommt, sich sein Recht selbst nimmt und dann gewöhnlich mehr nimmt, als
sein Recht. So ist der letzte Rückschlag des Mvnchslebens und priesterlichen
Cölibnts eine immer ärger werdende Sittenlosigkeit. Was Wissenschaft und
Kunst betrifft, konnte es eine Zeit lang scheinen, als wäre die Herrscherstelluug
der Religion auf beiden Gebieten vollständig anerkannt. Insbesondre war
die Kunst eine gehorsame Dienerin der Kirche. Doch es war nur eine äußere,
erkünstelte Unterwerfung. Allerdings mag mancher Scholastiker Glauben und
Wissen miteinander für versöhnt gehalten haben. Die Kirche hatte ja den
alten Aristoteles sozusagen christianisiert und seine Philosophie in ihren Dienst
gestellt! Aber der alte Aristoteles war im Grunde ebensowenig bekehrt als
vorher, und daß die Unterwerfung der Vernunft unter die Gebote des Glaubens
nicht voll gewährleistet war, zeigt sich in der letzten Entwicklungsperiode der
kirchlichen Dogmatik des Mittelalters. Da tritt z. V. die Lehre auf über
Philosophische und theologische Wahrheit, die beide miteinander streiten können,
aber doch beide im Rechte sein können — eine deutliche Auflösung der ganzen
scholastisch gewonnenen „Einheit" zwischen Wissen und Glauben. Mit dem
Auftreten des Humanismus macht sich endlich die Wissenschaft frei und selb¬
ständig und tritt all vielen Orten in einen offnen Gegensatz zu den Lehren
der Kirche. Die Kunst konnte leichter die Taktik befolgen, dem. Anschein nach
unter der Botmäßigkeit und damit unter dem Schutze der Kirche zu bleiben.
In der Kunst der Renciissnnee herrscht aber nicht mehr der Katholizismus der
alten, frommen Maler vor, wie z. B. bei Fra Giovanni da Fiesole. Wiewohl
noch Madonnen gemalt werden, ist doch deutlich ein die Antike und die Natur
verehrender Geist erwacht. Eine vom Kirchenglauben gänzlich freie, „heid¬
nische" Nnturanschnuung durchdringr Kunst und Leben und macht sich derart
geltend, daß sogar Päpste deren Repräsentanten werden. Gerade in den letzten
Tagen des Mittelalters sitzt ein Papst ans dem Stuhle Petri, dessen Interesse
ausschließlich ein ästhetisches ist, Leo der Zehnte, ein echter Heide.
Schon im vierzehnten Jahrhundert hatten Petrarca und Boccaccio das
Kommen der Götter Griechenlands verkündigt, nachdem Dantes DiviuA ooin-
uuz<Zu, das den Besten uuter deu Alte» ebenbürtige Werk des neuen Geistes,
den Sinn und das Vertraue» auch für die Alten geweckt hatte, für die das
Zeitalter reif war. Das fünfzehnte Jahrhundert begrüßte zu Ferrara und
Florenz die persönlichen Boten des Griechentums. Zwar ursprünglich waren
es kirchliche Zwecke, die Johannes den Siebenten Pnläologus zum Kaiserzug nach
Italien bewogen. Ein Uuiousdekret für die morgenlüudische nud die abend¬
ländische Kirche ging aus den Beratungen zu Florenz als erste Frucht hervor.
Seit der Synode von Florenz wurde die Kenntnis des griechischen Altertums
durch Griechen, die als Gesandte oder Flüchtige kamen, in Italien verbreitet,
die das Erbe der schönen Vorzeit in lebendiger Überlieferung brachte:?. Im
Hause der Medici und im Vatikan wurden sie gleich Aposteln empfangen. Der
einheimische Reichtum wurde offenbar, die Klöster taten ihre Gräber auf, die
Auferstehung des klassischen Altertums wurde eine Nationalsache Italiens, eine
Feier der großen Ahnenwelt, deren Trümmer man setzt nicht bloß unter dem
Schutt der Jahrhunderte und nnter der Asche des Vesuvs, sondern auch in des
Volkes Sitten und Gesinnung erkannte. Der Süden bestimmte auch noch dieses-
mal den Norden. Aus Rom nud Florenz, Bologna und Ferrnra zog das klassische
Altertum über die Alpen. Froher Willkomm empfing es. Mit dem wachsenden
Ernst der Studien zerrann aber auch allmählich der Traum von dem Frieden
zwischen der Kirche und dieser neuen „alten" Wissenschaft. Das humane
Leben isoliert sich von dem religiösen und kündigt der Kirche Treue und Ge¬
horsam. Und diese Lvstrennung ist die gerechte Reaktion gegen die Anschauung,
die dem „Humaner" keine selbständige Geltung zuerkennen wollte. Nun glaubte
man in der Antike das Ideal gefunden zu haben. Ein neues Heidentum
macht sich als Fortschritt geltend. Apollo, Venus, Pan finden mehr Ver¬
ehrung als der Christus des Mittelalters, als die Madonna und der Gott
des Mittelalters. Klarer konnte im Gang der Geschichte gar nicht aus¬
gesprochen werdeu, daß dem Mittelalter die Lösung der Frage: Wie läßt sich
eine Einigung zustande bringen zwischen dem religiösen Leben und all den
übrigen Gebieten des menschlichen Lebens? vollständig mißlungen war.
Warum konnte das Mittelalter diese Frage nicht lösen? Zunächst des¬
halb, weil die mittelalterliche Religiosität nicht geeignet war, sich als be¬
herrschende Macht des Lebens zu behaupten; und weil sie auf die Länge weder
für das menschliche Gewissen und das menschliche Rechtsbewußtsein, noch für
das menschliche Wahrheitsgefühl, ja nicht einmal für das christliche Glaubens¬
bewußtsein die zeutrcilc und allbeherrschende Macht zu sein empfehlenswert
erschien. Ein weiterer Grund liegt darin, daß man die humanen Lebens¬
formen geistig nicht zu durchdringen vermochte, weil man sie nicht von innen
zu beherrschen versuchte, sondern sie nur unterwerfe!? wollte. Und von innen
konnte mau sie uicht beherrschen, weil man ihnen nicht Freiheit und Selb¬
ständigkeit, die ihnen als von Gott gegebnen Naturordnungen gebühren, zu¬
erkennen wollte.
Das Mittelalter hat keineswegs nur historisches Interesse; dein: seine
Anschauungen erstrecken sich in ihren Nachwirkungen bis in unsre Zeit. Wir
dürfen nicht vergessen, daß die sogenannte „Neuzeit" ein gar kurzer Zeitraum
ist, und vom Standpunkt der Weltgeschichte liegt das Mittelalter gar nicht
so lange hinter uns. Ja wir können mit Fug und Recht sagen, wenn wir
an die römische Kirche denken: Das Mittelalter ist noch nicht tot. Übrigens
ist der Zusammenhang der Geschichte derart, daß wenn man auch mit der
Denkweise des Mittelalters gebrochen zu haben glaubt, dessen Ideen doch in
der Tiefe wirken, wenn auch durch neuere Einflüsse der Form nach ver¬
ändert.
Die Frage selbst über das Verhalten zwischen Religion und Humanität
ist unstreitig jederzeit von großem Interesse. Und betrachten wir die ver-
schiednen Versuche, die zu ihrer Lösung unternommen wurden, so erkennen
wir leicht wieder die verschiednen Richtungen des Mittelalters. So haben sich
in neuerer Zeit auch innerhalb des Protestantismus kulturscheue Tendenzen
gezeigt. Verschiedne sektiererische Anschauungen sind hervorgetreten, denen zu¬
folge z. B. das Staatsleben und die Teilnahme an der Arbeit für menschliche
Kulturinteressen als unvereinbar zu betrachten seien mit den Forderungen
wahrer Frömmigkeit, Anschauungen, die augenscheinlich Kinder des mittel¬
alterlichen Asketismus sind. Und die puritanischen und pietistischer Strö¬
mungen, die zeitweise auftreten und die Neigung mit sich bringen, Wissen¬
schaft und Kunst als „weltliche," für das Reich Gottes hinderliche Machte zu
verurteilen, enthalten die Erneuerung des mittelalterlichen Dualismus, der
das Leben in unvereinbare Gegensätze spaltete. Übrigens können wir etwas
von mittelalterlichen Dualismus auch noch auf dem Gebiete der Sittlichkeit
spüren, z. B, wenn man die Gebote der allgemeinen Moral als etwas unter¬
geordnetes gering schätzt und eine höhere Sittlichkeit für die „Kinder Gottes"
nnfzustellen sucht, die in der Enthaltsamkeit von dem besteht, was durch be¬
sondre Bestimmungen als Sünde beurteilt wird. Dieser protestantische Aske-
tismus ist allerdings nur eine verblaßte Kopie des mittelalterlichen, doch der
Geist ist derselbe.
Ebenso lebt die Tendenz weiter, im Namen der Religion unbedingte
Unterwerfung aller Äußerungen des menschlichen Lebens unter die Kirche zu
fordern, denn die römische Kirche ist auch heute uoch eine Großmacht und hat
auch heute noch nicht ihre mittelalterlichen Pläne aufgegeben. Allerdings sieht
es nicht danach ans, als würde der Staat sich seiner Selbständigkeit gegen¬
über der Kirche entäußern wollen; aber sie hat keineswegs ihr altes Ideal
fahren lassen: die Herrschaft über den Staat. Und dieses Ideal ist kein leeres
Traumbild, sondern arbeitet mit all der Kraft, die in einem religiösen Glauben
liegt. Die römische Kirche ist eine politische Macht von größter Bedeutung,
und sie versteht es, sich klug der Zeit anzupassen, sodaß sie ebensogut in den
parlamentarischen protestantischen Monarchien und in demokratischen Republiken
„einzugreifen" vermag wie ehedem im christlich-römischen Kaisertum. Ja sie
gibt auch die Hoffnung nicht ans, falls sich sozialistische Stantsformen ver¬
wirklichen würden, auch dann ihre Rolle zu spielen. In unsern Tagen erst
hat sie das Verdammungsurteil über die freie Forschung und über alle Ten¬
denzen ausgesprochen, die ihrem Ideal widerstreiten. In dem 1864 heraus¬
gegebnen Syllabus werden nicht nnr die dem Christentum und der Kirche
feindlichen Bestrebungen der Neuzeit verdammt, souderu auch das Verlangen
nach Freiheit des Glaubens und des Kultus, der Presse und der Wissenschaft,
sowie der Unabhängigkeit der weltlichen Macht von der geistlichen als ketzerisch
verurteilt. Dies bedeutet so viel, als das; alle Grundsätze des modernen
Staats- und Gesellschaftslebens mit dem mittelalterlichen Bann belegt werden.
Und daß die römische Kirche keineswegs gewillt ist, ihre aus dem Mittelalter
stammenden Grundsätze aufzugeben, daß sie durchaus uicht sich „bessern" will —
dafür ist die Annahme des Unfehlbarkeitsdogmas ein klarer Beweis. Denn
in diesem Dogma ist die Bestätigung alles dessen ausgesprochen, was in ver¬
gangnen Zeiten vom Stuhle Petri verordnet wurde. Man darf sich in dieser
Beziehung uicht täuschen lassen von möglicherweise vorkommenden Zugeständ¬
nissen uach entgegengesetzter Richtung; denn es kann ja erlaubt sein, ans
Politik derlei Zugeständnisse zu machen — wenn man uur von seinen Grund¬
sätze» nicht abweicht.
In abgeschwächter Form hat sich der Gedanke von der unmittelbaren
Herrschaft der Kirche über alles menschliche Geistesleben anch innerhalb des
Protestantismus in neuerer Zeit geltend gemacht. Der alte Dualismus lebt
eben heute noch in der Vorstellung mancher Leute. Doch in der Zeit des
jagenden Fortschritts auf allen Gebieten lassen sich die Geister nicht mehr in
Fesseln legen, und sowohl von protestantischer als von katholischer Seite wird
offen und mit immer größerm Nachdruck das Programm der Lostrennung des
„Humaner" von der Kirche vertreten und durchgeführt. Freilich kommt es
dabei hier und da zu einer vollständigen Lossagung von der Religion selbst.
Der Gedanke des Humanismus ist es in seiner heidnischen Form, der fort¬
gelebt hat und groß gewachsen ist im Laufe von vier Jahrhunderten. Mit
Vorliebe datiert die dem Christentum feindliche Strömung in der modernen
Bildung ihre Entstehung auf die Tage des Humanismus zurück, wenn fie
auch ihre großen Erfolge eigentlich dein Aufblühen der Naturwisseuschnft zu
verdanken hat. Die Losung dieser Leute ist gänzliche Befreiung von Religion
und Kirche; der atheistische Staat ist ihr Ideal. Der Grund der Sittlichkeit,
so heißt es, dürfe nicht in der Religion, sondern in der „Natur" oder im
Menschen selbst gesucht werden — was bekanntlich bisweilen dahin aufgefaßt
wird, daß die Triebe der sinnlichen Natur die einzige Richtschnur für unser
Handeln sein sollen. Verfolgt man die Sache genauer, so sindet man, daß
dieser dem Christentum feindliche Humanismus immer betont, daß das Christen¬
tum entweder eine asketisch-negative Stellung gegenüber der Kultur einnehmen
und diese in ihrem Fortschritt hindern müsse, oder daß ihre Stellung eine
herrschende und die Kultur unterdrückende sein müsse. Und in der Tat ist
diese Form des Humanismus und die früher erwähnte kathvlisierende Neligions-
auffassung einig darin, einen ganz und gar unüberbrückbaren Gegensatz auf¬
zubauen zwischen Christentum und Kultur, religiösem Leben und den übrigen
menschlichen Lebensgebieten. Vom römisch-katholischen Standpunkt ist eine
wirkliche Vereinigung des Religiösen und des Humaner unmöglich; da hat man
nur die Wahl: Kirche oder „atheistischer" Staat, Glaube oder Wissenschaft,
Christentum oder Kultur. Der alte Streit aus der Glanzzeit des Papsttums
ist noch nicht erloschen. Für die Protestanten ist noch ein andrer Standpunkt
möglich: der, der im Prinzip, wenn auch nicht in all dessen Konsequenzen,
von Luther aufgestellt wurde. Luther hat sich vou dem mittelalterlichen
Asketismus losgesagt, dessen echter Sohn er ursprünglich war, und sich zu
einer andern Anschauung des humanen Lebens und dessen Stellung im Ver¬
hältnis zuni Religiösen durchgerungen. Er ist eigentlich der erste, der die
mittelalterliche Anschauung überwand und sich darüber erhob. Während der
moderne Humanismus, der moderne Pietismus, der moderne Katholizismus
oder Kryptokathvlizismus nur die mittelalterlichen Negationen erneuern, scheint
Luthers Protestantismus wohl die fortwährend giltige Kritik der mittelalter¬
lichen Religionsanffassung zu enthalten. Luther ist der erste, der den Dualismus
überwand.
Welche Anschnuuug hatte nun Luther von der Sache?
Anfänglich löste er bekanntlich das unklare Zusaminenschn,elzungsprodukt
von „geistlich" und „weltlich," machte einen strengen Unterschied zwischen
Religiösem und Humanem, oder deutlicher gesagt, zwischen Weltlichen und
Göttlichen, auch auf politischem Gebiet. Er legt dar und kritisiert schonungs-
los die Eingriffe der Kirche auf staatliches Gebiet. Er predigt mit Klarheit
und Stärke das Recht der Nationalität, das von der Kirche hintangesetzt wurde.
Er verkündet, daß die Ehe nicht ein „Sakrament," sondern eine „natürliche"
und „bürgerliche" Sache sei. Andrerseits wendet er sich scharf gegen die äußere
Sonderling von heilig und weltlich, die das Mittelalter charakterisierte. Er
will dnrchnns nichts wissen von einem besondern religiösen Stand, einem nach
Mönchsart abgesonderten „heiligen" Leben oder einer doppelten Sittlichkeit.
Luther ermüdet nicht, das nicht unmittelbar religiöse, das natürliche, nationale
und geistige Menschenleben als eine von Gott gegebne Naturordnung hinzu¬
stellen, die in ihrer von Gott verliehenen Freiheit und ihrem Existenzrechte
geachtet und gewürdigt werden solle. Des Menschen natürliche Gaben und
Kräfte sind ihm von Gott gegeben und sollen ausgebildet und geübt werden.
Alles was Gott geschaffen hat, ist gut und darf ohne Gewisseusbeschwerde ge¬
nossen werden. Die ganze Frage ist hiermit auf ein andres Gebiet gerückt.
Es ist nicht die Stellung oder der Stand, die über das Verhältnis eines
Menschen zu Gott entscheiden, sondern dieses müsse auf eine geistige und sitt¬
liche Weise beurteilt werden. Das Verhältnis zu Gott sei eine Herzenssache,
und der ganze Lebenswert beruhe auf der rückhaltlosen Hingabe des Herzens
an Gott allein. Bei Luther ist also der mittelalterliche Dualismus zwischen
einem „Leben in Gott" und dem „Leben in der Welt" überwunden. Gerade
das Leben in Gott hat das Leben in der Welt zu durchdringen, und dieses
Leben in der Welt kann durchdrungen werden von dem Leben in Gott. Denn
Gott hat das Verhältnis zwischen Mann und Weib geschaffen, die Familie und
den Staat, Künste und Wissenschaften, damit wir in all diesem ihm dienen.
Dabei ist Luther aber weit entfernt, die menschliche Natur mit dem Huma¬
nismus zu idealisieren. Diese „Natur" und das ganze Menschenleben sind ihn,
keineswegs geeignet, gleichsam unmittelbar in das Gottesreich überzugehn.
Denn tiefer als das ganze Mittelalter es tun konnte, hat Luther eingesehen,
wie verderbt das Menschenleben ist. Dieses Verderben wird aber sittlich be¬
griffen; es ist durch die Sünde bewirkt, es ist nicht ein Verhängnis, das folgt
aus dem sinnlichen oder irdischen Wesen der Welt oder des Menschen, sondern
eine Schuld, zugezogen durch deu Mißbrauch der Freiheit. Und diesem Ver¬
derben entgeht man nicht dadurch, daß man die Welt flieht und Mönch wird.
Das Menschenleben kann nnr durch die durchgreifende Verttuderung, die Besse-
rung heißt, von dieser Befleckung gereinigt werden und das Ziel erreichen, für
das Gott den Menschen in die Welt gesetzt hat. Hier hilft keine äußerliche
sakramentale Weisung, sondern eine gänzliche Sinnesänderung ist nötig. Wie
soll diese bewirkt werdet?? Darauf antwortet Luther ganz kurz: Predige
Gottes Wort! Damit meint er, daß das Christentum auf dem Wege sittlicher
Überzeugung, mit der Wahrheit geistiger Waffen die Welt erobern soll, sie
unterwerfen soll durch die Umbildung des Menschen, der menschlichen Natur
und Kultur. Es bedeutet, daß man appellieren soll an das Gewissen und
Wahrheitsbewußtsein des Menschen, um ihn so zur Besserung zu führen.
Luther meinte ganz einfach, daß Gottes Wort in der Heiligen Schrift, Gottes
Wort von und in Christus die Macht habe, die Welt und das Menschenleben
umzuschaffen. In den leider oft gedankenlos gebrauchten Ausdrücken „das
Wort," „Besserung," „Glaube" liegt das vom Standpunkt des Mittelalters
Neue, daß das Gottesverhältnis ein wirklich sittliches wird, eine Angelegen¬
heit der freien Persönlichkeit und der sittlich verantwortlichen Menschlichkeit,
und damit sind die „Humanität," des freien Menschen Eigentümlichkeit Aett die
Selbständigkeit der menschlichen Lebensformen nicht uur geduldet, solider«? im
vollen Sinne begründet. Laß den Menschen sich frei entwickeln — aber predige
ihm das Evangelium! Laß den Menschen frei denken, frei forschen, aber predige
das Evangelium in Wort und Handlungen! Laß den Menschen Kunstwerke
schaffen, Gesetze stiften, freie Staaten gründen — aber predige das Evangelium!
Predige Besserung vor Fürsten und Volk, vor Gelehrten und allem Kindern und
Dienern der Kultur! — so könnte man Luthers Programm kurz aussprechen.
Das Unterscheidende der lutherischen Anschauung im Gegensatz zur mittel¬
alterlichen und römischen kann man schon darin erkennen, daß die lutherische
Anschauung eine mehr ethische Anschauung ist. Das Mittelalter dachte durch¬
aus mehr „magisch." Das Göttliche ist für das Mittelalter gleichsam eine
überirdische Natur, die Physisch in die Welt gekommen ist. Die Kirche allein
ist der irdische Träger dieser himmlischen Macht und der irdische Besitzer ihrer
geheimnisvollen Machtmittel. Für das mittelalterliche Denken war ja auch
der Begriff Mensch, sittliche Persönlichkeit mit Verantwortung und Freiheit
etwas Ullbegreifliches. Es ist vor allem Luther, der das Gewissen wieder ent¬
deckt hat, das das unveräußerliche Eigentum der sittlichen Persönlichkeit ist und
nicht beleidigt werdeu darf. In der römischen Kirche ist das Gewissen von
übergeordneter Bedeutung; denn es ist ja z. B. ein verdienstliches, Gott wohl¬
gefälliges Opfer, um der Kirche willen eine wissenschaftliche Überzeugung auf¬
zugeben. Die Kirche ist eben die Herrin des Gewissens. Gegen die Kirche
hat das Gewissen keine Beweiskraft, ebensowenig haben es die Zeugnisse wissen¬
schaftlicher Forschung oder irgend ein menschliches Bewußtsein. Für die römische
Kirche sind mithin alle hierher gehörenden Fragen heute wie vor Jahrhunderten
„himmlische Machtfragen," für Luther sind es sittliche Lebensfragen, Gewissens-
fragen. Bei ihm handelt es sich nicht um „Weltverachtung" im mittelalter¬
lichen Sinne, sondern um innere Erhebung über die Welt im Bewußtsein des
V
me weit größere Anzahl von Ausdrücken, als unsre Umgangs¬
sprache dem sich auf Staats- und Gemeindeverfassung beziehenden
ältern Rechte entnommen hat, sind ihr aus den einzelnen Zweigen
des bisher nur mehr gelegentlich gestreiften Privatrechts zuge¬
flossen, d. h. wohl zu beachten aus dem ältern deutschen Pnvat-
recht, das bei uns vor der sogenannten „Rezeption" des römischen
Zivilrechts allein in Geltung war, nach diesem Zeitpunkt aber nur eine be¬
scheidnere, mehr subsidiäre Stellung einnahm, bis es heute mit den fremdenW
Bestandteilen zusammen zum einheitlichen neuen „bürgerlichen Recht" ver¬
schmolzen worden ist. Während die juristische Terminologie dem römischen
Pandektenrecht des Oorpns jnrl8 eine große Anzahl lateinisch-deutscher Fach¬
ausdrücke zu verdanken hat, die freilich jetzt im Bürgerlichen Gesetzbuche bis
ans einige wenige, auch bei den Laien längst eingelebte (wie etwa „Hypothek"
und „Testament") wieder beseitigt worden sind, kann man dagegen in der Rede¬
weise unsers Volkes fast gar keine nähern Beziehungen zu dem fremden Recht
aufweisen. Bei den wenigen Wendungen, die man darauf zurückgeführt hat,
steht außerdem die Ableitung nicht ganz fest, sodaß sie hier im ganzen über¬
gangen werden dürfen. Nur auf eine, in der Unterhaltung des täglichen Lebens
sehr oft vorkommende sonderbare Redensart sei hier hingewiesen, weil neuerdings
angesehene Sprachforscher ihren früher oft bestrittenen Zusammenhang mit den
Pandekten als zweifellos hingestellt haben. Jeder kennt die Umschreibung
„etwas aus dem Efef (F F) verstehen" für „über etwas ganz besonders
gründlich unterrichtet sein." Man hat sie herleiten wollen von der Abkürzung k. t'.
für das „tort.iK8imo" der (italienischen) Musik, oder gar von dein in neuern
Geschäftsreklamen üblich gewordnen ff. zur Bezeichnung „hoch" oder „extra"
feiner (oder „Prima"-) Waren („Anstich von ff. Kulmbacher" bei den Wirten und
dergl. mehr). Dus allein Nichtige dürfte aber die Abstammung dieser Redens¬
art aus einem jetzt vergessenen juristischen Branche sein. Da nämlich für die
Pandekten auch das Wort „Digesten" als gleichbedeutend vorkommt (,,-1u8ti-
nimri Dig-pödu, 8v» ?Mal<z«ta.ez"), so pflegte dieser Teil des La-M8 jriri8 bei
den ältern Schriftstellern, namentlich den sogenannten Glvssatoren, abgekürzt
mit einem dnrchstrichnen v zitiert zu werden, das häufig einem doppelten ?
sehr ähnlich gesehen haben soll. Wer nun öfter solche Zitate aus den Digesten
machte und etwas aus ihnen zu beweisen vermochte, der galt für einen ganzen
Juristen, für einen gelehrten und wohl unterrichteten Main:. Deshalb pflegte
man später dann auch verallgemeinernd von jemand, der sich hervorragender
Gründlichkeit in irgend einer Sache befleißigte, zu sagen: „Der versteht seine
Sache ans dem F F."
Aus den allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts dürste vor
allem die Regelung der Frage nach der Rechts- und der Handlungsfähigkeit
des einzelne»? Menschen interessieren, womit sich denn auch gleich die ersten
Paragraphen unsers Bürgerlichen Gesetzbuchs beschäftigen. Während danach die
Rechtsfähigkeit schon ihren Anfang nimmt „mit der Vollendung der Geburt" —zu
deren Nachweise frühere Gesetze nicht selten das „Beschreien der vier Wände"
verlangten (s. z. B. Sachs. Lehnr. 20, Z 1) —, tritt die zur wirksamen Vornahme
von Rechtsgeschäften nötige Volljährigkeit heute bekanntlich erst mit der Voll¬
endung des einundzwanzigsten Lebensjahres ein. Für die Erreichung dieses
wichtige,? Zeitabschnitts bediente sich die ältere Rechtssprache der Wendung „zu
seinen Jahren kommen," der das sächsische Recht übrigens noch genauer
das Alter dessen, der nur erst „zu seinen Tagen" gekommen (zwischen 12 und
21 Jahren), als eine rechtlich bedeutsame Vorstufe gegenüber stellte. Jetzt sind
beide Ausdrücke aus den Gesetzbüchern verschwunden, die Volkssprache aber hat
den ersten für den allgemeinen Begriff des „Altwerdens" beibehalten, sodaß
man jetzt nnter einem Menschen, der „zu seinen Jahren gekommen" ist,
schlechthin eine gesetzte und verständige, ältere (schon „bejahrte") Person be-
lireift, ohne dabei gerade an ein genau bestimmtes Lebensalter zu denken.
Wer die Grenze der Minderjährigkeit noch nicht überschritten hat, der braucht
w der Regel auch heute noch einen „Vormund" (althd. lor-unnoto, ahd.
vnrnumt, on'mrinclsc^, vvrmünclv), der für ihn, den „Unmündigen" oder
"Mündel" (mnllllol, inunil>'!i>in. nuuinün^. Mündung), als dessen gesetzlicher
Vertreter Rechtshandlungen vornimmt. Dus Volk hat sich nun den Vormund
Ah den Mann ausgedeutet, der für seinen Schützling, besonders vor Gericht,
'/spricht und ihm gleichsam seinen Mund leiht" (Jakob Grimm) — eine Ees-
mologie, die zum Teil durch den ältern Sprachgebrauch selbst Unterstützung
fand, da nach ihm z, B. öfter die Verbindung „Redner und Vormund" vor¬
kommt und ferner Vormund und Mündel als Bezeichnungen für den gericht¬
lichen Vorsprechcr und seine Partei gebraucht werden. Auch scheint das uns
heute noch geläufige Eigenschaftswort „mundtot" zur Bezeichnung des Ent¬
mündigten für die angegebne Herleitung des Wortes zu sprechen. Trotzdem
muß diese aber als unrichtig bezeichnet werden. Denn „Vormund" wie „Mündel"
haben zunächst beide nichts mit unserm sprech- und Kauwerkzeuge, dein c^>xo^
vo'ol^ein^ zu tun gehabt, gehen vielmehr zurück auf das althochdeutsche Wort
„die Mund" (althd. und ahd. nuurt, nordisch und angels. alma, latinisiert
inunäiurn) mit der Grundbedeutung „Hand," dann auch „Macht," „Schutz"
(vergleiche die ganz analoge Entwicklung des lateinischen MM^), die das Neu¬
hochdeutsche nur noch in deu schon erwähnten Verbindungen und Ableitungen
bewahrt hat, während z, B- das italienische inimovxckclo (oder zrwnckriolclo, vom
althd. murer -<><> durch Vermittlung des mittellateinischen inaurato-Tickuiz) und
ebenso das altfranzösische in-undcnir (von dem mittellateinischen mmuiüun'Nu-.
althd. mmrtporo, altsächs. nnnu>l»>n,, ahd. imrntdor, Qionrxkr, Momber) den
Zusammenhang mit dem Stamme „Mund" (Hand) noch ziemlich deutlich zeigen.
Ob man nun auch berechtigt ist, in dem bekannten Sprichworte „Morgen¬
stunde hat Gold im Munde" den Mund (als „Mund") in der ursprüng¬
lichen Bedeutung „Hemd" aufzufassen, soll hier nicht entschieden werdeu. Da
das Sprichwort überhaupt erst verhältnismäßig jung ist, mag es wohl mindestens
ebensoviel für sich haben, seine Entstehung auf einen „steifleinenen Schul¬
meisterwitz über das Wort g-urora, (e^rrun, in or-s)" zurückzuführen (Brunner,
Deutsche Rechtsgeschichte I, Leipzig 1887, S. 71, Anm t>).
Wie in dein Worte Vormund (in seiner ursprünglichen Bedeutung), so zeigt
sich auch uoch in andern Ausdrücken der altdeutschen Rechtssprache deren Vor¬
liebe für sinnliche Begriffsbezeichnungen, die namentlich gerade in den Ber¬
gleichen der verschiednen Verwandtschaftsbeziehungcu mit den einzelnen Teilen
des menschlichen Körpers deutlich hervortritt. „Das Bild, in welchem sich der
Germane die Sippe veranschaulichte, war uicht das des »Stammbaums« mit
seinen Verästelungen und Verzweigungen, sondern das des menschlichen Körpers
mit seinen Gliedern und Gelenken, und auch uns ist davon übrig geblieben,
daß wir lieber von Verwandtschaftsgliederuug als von Verwandtschaftsverzweiguugl
lieber von Gliedern als von Zweigen der Sippe reden, obschon der Stamm¬
baum bei uns eingebürgert ist" (A. Heusler, Institutionen des deutschen
Privatrechts, II, Leipzig 1886, S 587). So bezeichnete man namentlich den
engern Kreis der Hausgenossen (Eltern, Kinder, Geschwister) als „Schoß" oder
„Busen," während sich die entferntem Sippegenossen nach „Knien" oder
„Gliedern" abstuften, und bei der schon dem ältesten Rechte bekannten An¬
nahme eines Fremden an Kindesstatt (Adoption, Geschlechtsteile) spielte die so¬
genannte „Schoß- (oder Knie)Setzung" als Symbol eine Rolle, womit wohl unser
Ausdruck „Schoßkind" noch in Zusammenhang gebracht werden darf (vergleiche
auch „Busenfreund"). Dagegen kann man zwischen dem Gebrauche des Wortes
„Enkel" für „Kindeskind" (spätcilthd. kirW«MI, ahd. misnlcol, «zuwllvl oder
auch <n>/>!<<?>, milt,'!, eigentlich Verkleinerung von Ahn, ahd. tuo, ahd. -no,
eng, Großvater, also Großvüterchen in absteigender Linie, Grvßvaterkind, Gro߬
kind: engl. N'Rick-sein) einerseits und der nur landschaftlich verbreiteten Ver¬
wendung desselben Wortes für den Fußknöchel andrerseits wohl keinen innern
Zusammenhang nachweisen.en
Besonders innig sind die Beziehungen unsrer Sprache zu dem altdeutsch
Eherecht, wofür matt die Erklärung leicht genng finden kann. Bei uns
nimmt ja das Volk — wie von alter's her — heute noch den regsten Anten
an jeder Eheschließung und an den Zeremonien, die mit diesem bedeutungsvollen
Rechtsvorgang verbunden sind, auch wenn es sich dabei um ganz freinve
Personen handelt. Sprachgeschichtlich interessant sind zunächst schon fast sämt¬
liche jetzt noch fiir den rechtskräftigen, auf Lebenszeit geschlossenen Bund zwischen
Mann und Weil, sowie auch fiir den feierlichen Akt seiner Eingehung gebräuchlichen
Worte wie „Ehe," „Heirat," „Vermählung" und „Hochzeit," da sie alle
ursprünglich in einem andern, und zwar weitern Sinne gebraucht worden find.
"
Um mit dem Ausdrucke „Hochzeit (ahd. IiSodÄt) als dem verhältnis¬
mäßig einfachsten zu beginnen, so bedeutete er zunächst ganz allgemein jede
„hohe," d, h. festliche Zeit, Festzeit, Fest, Feierlichkeit, besonders auch Gelage
bei Hofe (vgl. die „UüobM/nehm" aus dem Anfange des Nibelungenliedes) und
wurde erst allmählich (etwa seit 1200) auf die festlichen Vorgänge bei der Ver¬
mählung beschränkt. Obwohl das Wort schon von Luther nur noch so gebraucht
wird, hat es sich doch vereinzelt noch bis ins siebzehnte Jahrhundert anch in
dem frühern Sinne zu erhalten vermocht. Noch auffälliger erscheint die
Begriffsvercngcrnng, die im Laufe der Zeiten das Wort „Ehe" (ahd. c^vu.,
altsächs. Zo, ahd, Z, seltener ovo) erfahren hat. Denn seine Wurzel findet man
bei fast allen germanischen Stämme,: (mit Ausnahme nur der Nordländer) als
die uralte Bezeichnung der „Friedens- und Rechtsordnung im objektiven Sinne"
(Gesetz, gesetzliche Ordnung, Vertrag! vergl, das latein. a-vPirun). Noch das
Volksrecht der sogenannten chmnavischen Franken hieß „!K>vt>. OIul,rum.voi'um."
Im modernen Sinne soll „Ehe" zuerst von dem Se, Galler Mönche Notker
Labeo (gestorben 1022) gebraucht wordeu sein, aber noch bis Luthers Zeit
war es allgemein üblich, damit auch das Alte und das Neue Testament (Bund,
Zeugnis) zu bezeichnen (so u. a, in Strickers „Pfaffe Amis," v. 362 „von
ckor nnnvc» ß" und im Sachsenspiegel II, Art. 66, H 2), ja sogar in der
Neuzeit erinnern uns noch einige Ausdrücke an den Grundbegriff. Diesen kann
man z. B. noch erkennen in dem Personennamen „Ewald" oder „Eward"
(ez^u't, d. i. der Hüter des Rechts, des Gesetzes), ferner in unserm Eigenschafts¬
wort „echt" (zusammengezogen aus dem niederd. vu^c-In, ahd. izlreckt), das zu¬
nächst nur soviel wie „gesetzmäßig" bedeutete, worauf mich das „echte Ding"
und die „echte Not" des altdeutschen Prozeßrechts (ein juristischer Kunstausdruck
für ein gesetzliches Hindernis des Nichterscheinens vor Gericht) sowie die „Echt-
losigkeit" (von „echtlos," ahd. «zcmwio« oder sin«), d. h. der Zustand des
Friedlosen oder Geächteten, hinweisen. Die mittelhochdeutsche Form Ala.i't (wo¬
von „die Ehehaften" — rechtsgiltiges Hindernis und „Ehaftrecht" oder
„Ehafttaiding" als Bezeichnung für ländliche Ncchtsanfzeichnnngen, Wcistümer)
erscheint heute allerdings schon gänzlich veraltet, dagegen find die „Ehehalter,"
eigentlich mir „die, die ein gesetzliches Verhältnis wahren," namentlich im
bayrisch-österreichischen Dialekt fiir die Gesamtheit des Gesindes, die Dienstboten,
noch bis in die neuste Zeit im Gebrauche geblieben. Nicht ganz sicher ist es,
ob auch das Adjektiv „ewig" (vou ahd. Zwo ^ Ewigkeit, vergl. das verwandte
lat. a-kvrmr und das griech. und as,') auf das althochdeutsche „v^g," zurück¬
geführt werden darf. Die Hypothese wäre sonst sehr verführerisch, da man
daraus schließen könnte, daß gerade die Germanen der Menschheit eine neue
sittliche Auffassung der Ehe gebracht hätten, insofern ihnen in höherm Sinn als
andern Völkern die Ehe als unauflöslich, ewig gegolten habe.
Weniger bedeutsam, aber immerhin eigentümlich erscheint der allmähliche
Bedeutungswechsel, den das Wort „Heirat" (ahd. und ahd. turnt), zusammen¬
gesetzt aus dein ahd. In>v», Gatte, Knecht (vgl. UrwÄ, Gattin, und got. hol^Ä,
Haus. Haushaltung), und iÄt, Rat in der ältern Bedeutung: „das, was jemand
all Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zu Gebote steht" (wie uoch in
Vorrat, Hausrat, Unrath vgl. auch Gerät, zu Rate halten. Rat schaffen u. a. in.),
durchgemacht hat, indem es von dem einstigen weitem Begriff „Haushaltungs¬
vorrat," „Hausbesorguug," „Hauswesen eiuer Familie" zu dem des „Ehestands,"
dann besonders zur „Schließung einer Ehe" übergegangen ist. Bei dem Aus¬
drucke „Vermählung" (von vermählen, spütmhd. voriuslisIcM, gewöhnlicher
mvbslon, mis-Iiolsn) endlich denken wir heutzutage gar nicht mehr daran, daß
in ihm das Grundwort „Mal" oder „Mahl" (ahd. mickig.1, altnvrd. mal, ahd.
eng,no1, alae. in^tius oder wallum) mit der allgenieinen Bedeutung: Volks- (oder
gerichtliche) Versammlung, (gerichtliche) Verhandlung steckt, das noch erkennbar
ist in dem altertümlichen „Mahlstatt" für Gerichtsstätte und auch die Quelle
zahlreicher Ortsnamen, wie Malching, Male bei Brüssel, Meile bei Osnabrück,
Dietmelle bei Kassel, Detmold (ursprünglich ^niotmickli, d. i. Volks- oder Gerichts-
versammlung) u, a. in. gewesen ist. Erst später wurde der ursprüngliche Sinn
des Wortes auf die rechtlichen Vorgänge bei der Eheschließung eingeschränkt.
Es handelt sich — genauer betrachtet — um die sogenannte „Verlobung" im
Sinne des altdeutschen Rechts. Das war zunächst der zwischen dem Bräutigam
und der Sippe (oder dem Vater oder dem Vormund) der Braut abgeschlossene
Vertrag, durch den das Mädchen dem Manne übergeben wurde und bei dem
erst später unter dem Einfluß des Christentums auch auf die Zustimmung der
Braut selbst, wodurch sie sich zur Treue verpflichtete, Rücksicht genommen
wurde. Dieser Akt nun, der in rechtlicher Beziehung schon als Beginn der
Eheschließung galt, wurde meist in öffentlicher Versammlung (in^it^l) vor
der Gemeinde vorgenommen, woraus sich auch der Gebrauch des Wortes ur^Irak
für „Ehevertrag" entwickelte. Ans den Zusammenhang mit der altdeutschen
Verlobung weist heute noch das veraltete Wort „Mahlschatz" (ahd. nrnkol-
8czl>ax) hin, das in den Wörterbüchern erklärt wird als „Brautgabe" oder
„Gabe, die bei der Verlobung gegeben wird," und zwar „als Pfand für die
Einhaltung des Vertrags," während uns die Grundbedeutung in „Vermählung"
ebenso aus dem Bewußtsein geschwunden ist wie in dem stammverwandten
„Gemahl" (echt. Um^niilo, ahd. MMickwlo) und „Gemahlin." Denn so
benannte man anfangs wohl nur die Verlobten (im obigen Sinne) oder die
ganz jungen Eheleute, während wir jetzt darin hauptsächlich bloß eine gewähltere
Form für das, besonders bei Anreden und Adressen sonderbarerweise nicht
mehr recht beliebte „Mann" und „Frau" scheu, das uns schon etwas zu ple¬
bejisch klingt (daher: „Ihr Herr Gemahl" und „Herr Professor X und Frau Ge¬
mahlin"). Ebenso hat ja heute auch „Gatte" und „Gattin" für uns etwas
Vornehmeres, ja fast Poetisches an sich (vgl. Schillers „Glocke": „Ach, die
Gattin ists, die teure"), obwohl einst diese Ausdrücke nur die Personen be¬
zeichneten, die einander gleich stehn und zusammengehören (vgl. Gattung).
Gleichsam der umgekehrte Entwicklungsgang wie bei „Gemahlin" zeigt sich
endlich bei dem Worte „Braut" (echt. und ahd. true, angels. dr^et), das in
älterer Zeit die Bedeutung „Neuvermählte," „junge Frau" (vgl. das heutige engl.
vriclk) hatte und erst dadurch zu dem Begriffe der „Verlobten" übergegangen
ist, daß diese besonders am Hochzeitstage so bezeichnet wurde, auch bevor
noch die Eheschließung vollzogen war. Auch daran haben sich in der Sprache
der Gegenwart noch deutliche Nachklänge in den Bezeichnungen „Brautnacht,"
„Vrautkammer" und „Brautbett" erhalten.
Wie schon aus dem Rechtsinhalt der soeben berührten altdeutschen „Ver¬
lobung" zu entnehmen ist, galt schon zur Zeit der ersten Gesetzesaufzeichnungen
bei den Germanen der sogenannte Frauenkauf (Brautkcmf) oder die Kaufehe
als die normale Eheschließungsform, die sie vereinzelt bis ins spätere Mittelalter
geblieben ist. Höchstwahrscheinlich haben jedoch unsre Vorfahren, ebenso wie
ihre arischen Vettern (die Inder, Griechen, Römer lind Slawen) einst auch die noch
ältere Form des Franenraubs (Brautraubs) oder der Raubehe, wenigstens in ge¬
wissem Umfange, gekannt. Darauf kann man nicht nnr aus ältern Sagen, Dich¬
tungen und einzelnen Bestimmungen der deutschen Volksrechte schließen, daran
erinnern nicht nur noch heute manche in den verschiedensten Gegenden vom Volke
mit Zähigkeit festgehaltne Hochzeitsgebräuche (wie z. B. der Scheinraub und die
Wegsperre), sondern auch in unsrer Sprache findet sich noch eine Beziehung
darauf in dem schon uralten Ausdrucke „Brautlanf" (oder Brautlauft, echt.
prutloukt oder drutlontt) für „Hochzeit" oder „Trauung," der z. B, auch noch
in Schillers „Tell" zu finden ist. Dieses auch den nordischen Sprachen geläufige
Wort ist nämlich nicht etwa von „loben, verloben," sondern von „laufen"
(eurrorv) abzuleiten, weil ursprünglich der Bräutigam wirklich hinter der davon¬
eilenden Braut herlief.
Schon frühzeitig sind auch bei dem Eheschließungsakte mancherlei sym¬
bolische Formen gebräuchlich gewesen, von denen sich setzt fast nur noch das,
übrigens erst verhältnismäßig spät aufgekvmmne Ningwechseln als allgemein
geübte Sitte erhalten hat. In manchen Wendungen unsrer Sprache spiegeln
sich aber noch andre, ältere Gebräuche solcher Art wieder. So pflegt noch
heute der Freier seine zukünftigen Schwiegereltern darum zu bitten, ihm „die
Hand" ihrer Tochter „zu geben," obwohl das früher angewandte Symbol
des Jneinanderfügens der Hände des Brautpaars nicht mehr üblich ist. Auch
gWt wohl mancher dem jungen Ehemanne den guten Rat, rechtzeitig die Zügel
des ehelichen Regiments fest in die Hand zu nehmen, um nicht „unter den
Pantoffel" zu „kommen," wenn ihm auch meist der Ursprung dieser
Redensart völlig unbekannt sein wird. Einst war nämlich der Pantoffel oder
vielmehr der Schuh — denn erst die Modenarren des ausgehenden Mittelalters
haben den welschen Namen eingeführt — nicht etwa ein Sinnbild für die
Herrschaft der Fran über den Mann, sondern gerade umgekehrt das Symbol
der Machtgewalt des Ehemanns, das zunächst namentlich zur Verdeutlichung
des Übergangs der väterlichen Vormundschaft über das Mädchen auf den Gatten
verwandt wurde. Wie im Norden bei der Adoption (der die Ehe im ältern
Rechtsleben überhaupt vielfach analog behandelt wird) der in den Geschlechts-
verbnnd Aufzunehmende nach dem „Wahlvater" in dessen Schuh treten mußte
(wozu vielleicht unsre Redensart „in jemandes Fußstapfen treten" in Be¬
gehung gesetzt werden könnte), so ist Wohl auch am Hochzeitstage ehemals die
Frau in den Schuh des Mannes getreten. An diese Rechtssitte erinnert anch noch
der in manchen Gegenden ans dem Lande bestehende Brauch, die Braut mit
Schuhen zu beschenken. Da nun aber der Bedeutung der Zeremonie zum Trotze
w Wirklichkeit häufig genug nicht der Mann, sondern gerade die Frau die
Herrschaft im Hause an sich gerissen oder — wie das Volk ironisch sagt
„die Hosen angehabt" haben wird, so mag sich nach und nach der Sinn unsrer
Redensart vom „Pantoffelregiment," das die Gattin über den „Pantoffelhelden"
führt, ausgebildet haben. Verständlicher erscheint es uus, daß man eine junge
Frau immer noch „unter die Haube kommen" läßt, obgleich das Tragen
von Hauben, unter die einst das germanische Weib das bis zum Hochzeitstage
frei getragne, dann erst aufgebuudue Haar zu verbergen pflegte, bei unsern Haus¬
frauen nun auch schon längst ziemlich „unmodern" geworden ist. Wer geschickt
darin war, ein Mädchen „unter die Haube zubringen," es mit einem Manne
zu vereinigen, zu „kopulieren" oder, wie die ältere Sprache sich ausdrückte,
zusammen zu „kuppeln" (schon ahd. KuMvlo, !<>>j>n>>!n. fesseln, vereinigen), kurz
trotz etwa entgegenstehender Hindernisse Heiraten zu vermitteln, von dem sagen
Wir wohl scherzhaft, er habe „sich einen Kuppelpelz verdient." Auch
dieses ganz merkwürdige Wortbild darf man wohl aus dem altdeutschen Ehe-
^ehe herleiten, und zwar aus der in der Periode des Frauenkaufs herrschenden
Sitte, daß der Mann dem Vater der Braut (oder ihrer Sippe) eine Gabe als
Kaufpreis, ursprünglich für die Überlassung der Braut, dann für die der inunt-
ichaftlichen Gewalt liber die Fran, darbrachte (das sog. „Wittum," ahd. ^la-urro,
^ckvrQn, ahd. vicksnis, später „Mnntschatz"), die öfter, besonders in der ältesten
Zeit, wo die Jagd noch eine Hauptbeschäftigung war, in Pelze» erlegter Tiere
bestanden haben mag. Im Laufe der Zeiten hat übrigens diese Gabe den
freundlichern Charakter einer Zuwendung an die Braut selbst angenommen, die
ihr als Eigentum für die Wechselfälle des Lebens, namentlich auch nach dem
<-ode des Ehegatten verbleiben sollte. Darin liegt der Ursprung des noch heute,
hauptsächlich in den Kreisen des hohen Adels, fortlebenden Nechtsinstituts des
„Wittums," das später im Sprachbewußtsein an „Witwe" angelehnt wurde
(Witwenversorgung), Hiervon wiederum ist unser Zeitwort „widmen" (echt.
viclÜQöir, ahd. ^viclonuzn) abgeleitet worden, das vorübergehend den engern
Begriff des Schenkeus zu kirchlichen Zwecken hatte, woraus sich erklärt, daß
„Widum" oder „Widem" (neben „Wedum, Weben," zunächst Dotierung einer
Kirche) im Niederdeutschen zum Teil noch heute für „Pfarrhof" gebräuchlich ist.
An die Übergabe der Braut in die Schutzgewalt des Gatten (ers-nullo
vusllas, „Trauung" im ältern Sinne) schloß sich im alten Rechte meist noch
ein weiterer Akt an, nämlich die feierliche „Heimführung" der jungen Frau in
das Haus des Mannes zur Vollziehung des ehelichen Veilagers, woran sich
Erinnerungen sowohl in unsern ländlichen Hochzeitsgebräuchen als auch in unsrer
Sprache erhalten haben, wenn wir auch jetzt die Wendung „ein Mädchen (als
Braut oder Frau) heimführen" in viel allgemeiner,» Sinne verwenden. Auch
das bekannte Sprichwort: „Wers Glück hat, führt die Braut heim" gehörte
ohne Zweifel anfänglich dem Rechtsgebiete an. Erst mit dieser Heimführung
galt eigentlich die Ehe als rechtlich völlig abgeschlossen, oder wie ein Rechts¬
sprichwort sagt: „Wenn das Bett beschritten, ist das Recht erstritten,"
d. h. erst dann traten namentlich auch die vermögensrechtlichen Wirkungen der
Ehe ein, erst dann galten die Gatten als zu der Einheit des gesamten Lebens
und Rechts verbunden, die ältere Gesetze in poetischer Weise mit den Worten
bezeichnen: „Manu und Weib sind ein Leib." Derber sagt ein andres
Rechtssprichwort: „Ist die Decke (d. h. die Bettdecke) über dem Kopf, so
sind die Eheleute gleich reich." Es liegt Wohl nahe genug, hiervon unsre
Redensart „mit jemandem unter einer Decke stecken" abzuleiten, wenn
wir das in dem heutigen übertragnen Sinne: „gleiche Interessen mit jemandem
haben, mit ihm im (geheimen) Einverständnisse sein" freilich sogar mit fremden
Leuten tun können, zu denen wir nur vorübergehend in nähere Beziehungen
treten. Auch der innigste Freundschaftsbund zweier Personen kann jedoch unter
gewissen Verhältnissen so erschüttert werden, daß es zu einem völligen Bruche
kommt, daß die ehemaligen guten Freunde, wie wir auch Wohl sagen, „das
Tischtuch" zwischen sich „zerschneiden." Diese bildliche Umschreibung eines
solchen Ereignisses darf man vielleicht ebenfalls auf das ältere Eherecht zurück¬
führen, nämlich auf deu einst bei Ehescheidungen üblich gewesenen symbolischen
Brauch, daß die Gatten ein Leinentuch faßten und es so'zerschnitten, daß jeder
Teil ein Stück behielt.
An: Morgen nach der Hochzeit pflegte der Ehemann seiner jungen Frau
ein Geschenk', die sogenannte „Morgengabe," zu überreichen. Wie diese schon zur
Zeit der Volksrechte geübte Sitte vereinzelt wohl noch heute beobachtet wird,
obwohl sie dem geltenden Rechte fremd ist, so hat sich auch das Wort in unsrer
Sprache erhalten, ist aber nicht selten mit dem „Wittuiu" oder gar mit der
„Mitgift" oder der „Aussteuer" verwechselt worden. Hierauf wird Wohl auch
am richtigsten der Ausdruck „morganatische Ehe" für die „Ehe zur linken
Hand" zurückgeführt- Da nämlich bei Heiraten von Vornehmen mit Personen
niedern Standes der Frau zwar eine Mvrgengabe, aber kein „Wittum" gegeben
oder andre Zuwendungen gemacht zu werde» pflegten, so entstand dafür die
Bezeichnung einer „Ehe auf bloße Morgeugcibe," die dann in dem barbarischen
Latein (besonders bei den Langobarden) zum ..muirimottiuni g<1 inoiHmratieum"
und daraus wieder zur mvrganatischen Ehe wurde. Insofern Kinder aus solchen
Ehen von den Standesrechten des Vaters gesetzlich ausgeschlossen blieben, nähert
sich deren Behandlung der, die in der Regelnden unehelichen Nachkommen zu
teil wurde. Wie sehr uns die verschiednen ältern Rechtsausdrücke für solche
Sprößlinge schon aus dem Gedächtnisse geschwunden sind, das lehrt recht deutlich
das Vorkommen eines von ihnen in einer, auf den ersten Blick ganz harmlos
erscheinenden Redensart. Deal fast niemand wird es heute sonderlich übel nehmen,
wenn man von ihm behauptet, er habe einen Sonntagsausflug „mit Kind
und Kegel" unternommen, weil seine ganze Familie dabei beteiligt gewesen
sei, und doch wurde sich gar mancher zweifellos beleidigt fühlen, wenn ihm der
eigentliche Sinn dieser dem altdeutschen Rechte entlehnten Stabreimformel
genauer bekannt wäre. „Kegel" (ahd. auch K^Ksl, Kegelsohn), bei dem man
vielleicht an die ganz kleinen Kinder (vgl. „Krabben") zu denken geneigt
ist, bedeutete nämlich in der angeführten Wendung zunächst nichts andres als
das uneheliche Kind im Gegensatze zu dem ehelichen, das „Kvbös^incl^ (Sachsen¬
spiegel I, Art. 51, 2), d. i'. das Kind des „Kebsweibes" oder der „Kebse"
(übt. tckdikH, vllcidisii, LÜopisk, ahd. Kvbjsjkv; vgl. cmgels. oeckW, «Z)als8 —
Konkubine und Magd, nltnvrd. Kskssr ^ Sklave, woraus sich wichtige Rückschlüsse
auf die Behandlung der weiblichen Kriegsgefangnen ergeben) und hat Wohl mit
dem Kegel tinsers'Uuterhaltungsspiels von vornherein nichts zu tun gehabt.
Übrigens scheint der währe Sinn der Redensart etwa schon seit dem Ende des fünf¬
zehnten Jahrhunderts in Vergessenheit geraten zu sein. Daß er bis dahin aber
noch ziemlich allgemein bekannt war, ergibt sich ans verschiednen Zunftordnungen
aus dieser Zeit, in denen verboten wird, „Kegel" als Lehrlinge aufzunehmen.
Auch zur Zeit unsrer Vorfahren war es nicht jedem vergönnt, in den
Ehestand zu treten und eine Familie zu begründen. Wie heute so verpaßte
schon damals gar mancher die richtige Zeit und Gelegenheit dazu und wurde
ein „Hagestolz" oder, wie nur heute vorziehn zu sagen, „ein alter Junggeselle,"
worin eigentlich eine sogenannte ooutriulivtio in aclskow liegt. Dem „Hage¬
stolz" aber hat die Volksetymologie ganz besonders übel mitgespielt, indem sie ihn
in Verbindung und „Stolz" brachte und sich deshalb darunter etwa einen solchen
Mann dachte, dessen Stolz sich dagegen auflehne, das Ehejoch zu tragen. Das
Wort (ahd. Ka^nstalt jäj, später KaMKtiüt oder dgAsstult, aber schon ahd.
ImMstolis) ist jedoch abzuleiten vom althochdeutscher „lin.g-," Hag, d. h. umfriedigter,
umzäunter Grundbesitz (vgl. die Städterinnen Hagen und die vielen Ortsnamen
auf -Hag und -Hagen), und „8t.a1t" (von stellen, bestatten, got. stalclau —
besitzen), bedeutete also so viel wie „Hagbesitzer," Besitzer eiues kleinern, nicht
sehr wertvollen Gutes. Ein solches wurde — nach uralter, bei deu Bauern
bekanntlich noch heute vielfach herrschender Sitte — häufig den jungem Söhnen
einer Familie gegeben, die dann auch noch in einem Abhängigkeitsverhältnisse
zu dem durch deu Besitz des Haupthvfcs (Herrcnhofes oder auch bloß des „Hofes")
begünstigten ältestem Bruder standen und — mit Rücksicht auf ihre ganzen,
einfachern Lebcnsverhültnisse — in der Regel unverheiratet blieben. Wegen
dieses letzten Umstandes wurde dann der Ausdruck Hagestolz schou im frühen
Mittelalter schlechthin für die Unverheirateten gebraucht, während er in einer
engern, technisch-juristischen Bedeutung, nämlich für den Eheloseu, dessen Rachias;
dem erblosen Gut gleich behandelt wird und Gegenstand des namentlich von
Klöstern und Kirchen, aber auch von weltlichen Grundherrn ausgeübte« sogenannten
Heimfallrechts war, erst seit der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, und
zwar zunächst auf dem schweizerisch-schwäbischen Rechtsgebiete, nachweisbar ist
(so z. B. in der Handfeste vom 31. Juli 1291, wonach 'der Abt zu Se. Gallen
den Bürgern der gleichnamigen Stadt das Recht von Kosemitz verlieh). In
dieser Zeck kommt übrigens das Wort auch für unverheiratete Personen weiblichen
Geschlechts („alte Jungfern") vor (so z. B. in den Rechten des Gotteshauses zu
Stein am Rhein, Ende des dreizehnten Jahrhunderts),^) während es sich nach
dem neuern Sprachgebrauch nicht nur bloß auf Männer beschränkt, sondern
unter diesen in der Regel wieder nur die begreift, die über das gewöhnliche
Alter hinaus unverehelicht geblieben sind,
Im Gebiete des altdeutschen Sachenrechts sind die Vorgänge beim Er¬
werbe von Besitz und Eigentum ganz besonders durch eine reiche Nechtssymbolik
ausgezeichnet, womit die zahlreichen Beziehungen, die unsre Sprache gerade zu
diesen Rechtsakten noch aufzuweisen hat, in genauer Wechselwirkung stehn. Schon
die Worte „Besitz," „besitzen" und „Besitzer" gehn auf eine reale Tätigkeit
zurück, die uns in den Zeitwörtern „sitzen" und „setzen" auch in der Gegenwart
geläufig ist, „Besitzen" heißt demnach wörtlich: das Eigentumsrecht dadurch
bekunden, daß man sich auf etwas setzt, z. B, auf einen (dreibeinigen) Stuhl — als
das Sinnbild der Macht (vgl, Kaiser-, Königs-, Richterstuhl usw,). Daher stammt
denn auch das pleonastische „sich in den Besitz setzen," wofür wir als unge¬
fähr gleichbedeutend auch die kürzern Wendungen „in Besitz treten," den
„Besitz antreten" oder „Besitz ergreifen" gebrauchen können, die auf ein eben¬
falls einst wirklich vorgenommnes Betreten oder Anfassen des zu erwerbenden
Gegenstandes zurückgehn (ähnlich auch „die Hand ans und an etwas
legen"). Ferner kann man sich auch heute nicht nur für sein gutes Geld gar
mancherlei „erstehn" (durch Kauf), sondern sogar nach dem geltenden Recht
einen Gegenstand infolge des Ablaufs einer bestimmten Zeitfrist „erhitzen."
Wahrend jetzt übrigens das Bürgerliche Gesetzbuch jemand eine „bewegliche
Sache" zu Eigentum durch „Erhitzung" zuspricht, wenn er sie zehn Jahre lang
ungestört „im Eigcnbesitz" hatte, kannte das ältere deutsche Privatrecht eine
ähnliche Art des Eigentumserwerbs, zunächst an liegendem Gut, in der sogenannten
„rechten Gewere," die an den unangefochtnen Besitz von „Jahr und Tag"
geknüpft war. Darauf beziehn sich die Rechtssprichwörter „Jahr und Tag ist
die rechte Gewere" oder „Jahr und Tag soll ewig gelten," d. h. den Besitzer
vor jeder Klage schlitzen. In der Regel verstand man übrigens unter dieser
Fristbestimmung nicht sowohl dem Wortlaute gemäß genau ein Jahr und einen
Tag, sondern die Zeitdauer von einem Jahre, sechs Wochen und drei Tagen
(f. z. B, Snchsensp, I, Art, 28), was sich aus Besonderheiten in der Berechnung
der altdeutschen Genchtstermine erklärt. Während nun heute die Formel als
juristischer Kunstausdruck schon seit längerer Zeit verloren gegangen ist, lebt auch
sie noch weiter in der täglichen Umgangssprache, die jedoch damit jetzt nur die
Vorstellung eines langen, aber nicht zahlenmäßig begrenzten Zeitraums ver¬
bindet, sodaß man etwa bei dein Wiedererscheinen eines lange für verschollen
Gehaltenen zu sagen pflegt, er sei aus der Fremde „nach Jahr und Tag"
wieder in seine Heimat zurückgekehrt (so auch in der Literatur, namentlich in
den Märchen beliebt).
Auch an die ehemals bei der Entziehung von Besitz und Eigentum geübten
symbolischen Handlungen hat unsre Sprache Anklänge bewahrt. Denn nicht nur
ist uns die „Entsetzung" oder „Absetzung" für den Verlust eines Besitztums
verständlich geblieben (geläufiger allerdings bei „Amtsentsetzung," entsprechend der
„Einsetzung" in ein Amt und dein „Besetzen" einer Amtsstelle), sondern wir
können auch heute noch jemand, der uns in zudringlicher Weise belästigt, „den
Stuhl vor die Tür setzen," wie das einst als symbolische Darstellung der
Ausweisung aus dem Besitze wirklich vorgenommen wurde — ein Seitenstück zu
dem namentlich im Kanzleideutsch noch sehr beliebten „anheimstellen" (oder „anheim¬
geben"), das wohl aus dem feierlichen Stellen eines Gegenstandes (als Wahr¬
zeichen) in eines andern „Heim" oder Haus entstanden ist. Auf die Symbolik
der altgermanischen Besitz-Übergabe oder „Abtretung" (Tradition) ist wohl am
besten auch die bildliche Phrase von den Leuten zurückzuführen, die in ihrem
Leben „nicht auf einen grünen Zweig kommen," d. h, niemals etwas
vorwärts bringen und in behagliche Vermögensverhältnisse gelangen. Einst
wurden nämlich die Landübertragungen nach einem uralten Brauche der indo¬
germanischen Völker bei uns durch Übergabe einer Hand voll Erde oder auch
einer ganzen Erdscholle, in die meist ein Zweig gesteckt war (mit „Nasen und
Zweige" mit „dort unÄ tvvigo"), vollzogen, zum Zeichen dafür, daß der Boden mit
allem, was auf ihm gewachsen ist, dem neuen Erwerberzu eigen gehören sollte.
Da nun der hierbei verwandte Zweig in der Regel ein frischer oder „grüner"
war, so hat sich dann wohl auf Grund dieser Feierlichkeit allmählich die erweiterte
Bedeutung der oben erwähnten Redensart gebildet. Später wurde wohl nicht
selten die Erdscholle auf die Kaufnrkunde oder umgekehrt diese auf jene gelegt,
un, dann vom Käufer von der Erde aufgehoben oder „aufgenommen" zu werden,
wie dies auch bei Urkunden über andre Rechtsvorgänge ganz allgemein bei den
Germanen üblich gewesen ist. Mit dieser symbolischen Handlung bei der „oarws
traMio" hängen aber die uns hente noch ganz geläufigen Verbindungen „eine
Urkunde (oder ein Protokoll, ein Inventar, Geld usw.) „aufnehmen" zweifels¬
ohne zusammen (vgl. auch das verwandte „Protest erheben," z. B. im
Wechselrecht).
Eine große Rolle hat im deutschen Besitz- und Eigentumsrecht von jeher
das in älterer Zeit auch sonst noch (z. B. bei der Brandweise und bei der
Berufung eines Gerichtstages) sehr beliebte Symbol des Hammers (ahd. dawar,
altnord. nairmrr ^ Fels) gespielt, dem man als Waffe des Wettergottes Thor
oder Donar eine heiligende Kraft zuschrieb. Wie einst durch den Hammerwurf
die Grenzen des Eigentums an Grund und Boden bestimmt werden konnten,
so gilt der Hammer schlag auch als Bekräftigungszeichcn für den rechtsgiltigen
Übergang des Eigentums einer Sache an den Meistbietenden, das bekanntlich
bis in unsre Tage — ebenso wie die drei Hammerschläge bei Grundstein¬
legungen — in Übung geblieben ist. Kein Wunder also, daß auch nach unserm
Sprachgebrauch noch heute ein schlecht verwaltetes Besitztum „unter den
Hammer kommen" kann und dann in die Hände eines andern übergeht, dem
„der Zuschlag erteilt" ist (daher auch das Zeitwort „zuschlagen," vielleicht auch
„aufschlagen" für „den Preis erhöhen"). Aus einer zur Entscheidung von Besitz-
ftreitigkciten üblich gewesenen Rechtssitte stammt endlich noch die, Wohl erst später
ans den Kampf übertragne Redewendung „den kürzern ziehen" für „unter¬
liegen," die als eine der vielen sogenannten Ellipsen unsrer Umgangssprache
gar manchem Ausländer wohl schon Kopfzerbrechen bereitet haben dürfte. Sie
erklärt sich aber nicht allzu schwer aus dem altgermanischen Brauche des Lvseus.
Um den rechtmäßigen Besitzer festzustellen, ließ man die Streitenden zwei Gras¬
halme oder Holzstückchen einem Dritten aus der Hand ziehen. Wer dabei dann
„den kürzeren (nämlich: Halm) zog," der hatte verloren.
Da Eigentum und Besitz allemal zuerst im Hirtenleben beginnen, ja
„Besitz" in den ältesten Zeiten geradezu identisch mit „Herde" gewesen ist,
so erklärt es sich, daß man auch später, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse
in Deutschland schon geändert hatten, noch an Ausdrücken zur Bezeichnung des
Besitzes, namentlich des Grundbesitzes, festgehalten hat, die an die frühern
Kulturepochen erinnern. So ist z. B. nach der herrschenden Ansicht das in
Deutschland etwa seit dein elften Jahrhundert auftretende, wenn auch wohl
nicht auf eigentlich deutschem Boden entstandne mittellateiuische Wort lsucluin
(keacluin) zur Bezeichnung des Lehnguts (bönökoiuin) abzuleiten von wo (got.
wllu, ahd. Mu, Vieh; vgl. das en'gi. dös, Lohn, Trinkgeld, Schulgeld) und
"et (-- Gut, Besitz; vgl. „Allod," alae. -llloclis, Moelium, ahd. al-na, eigentl.
^anzbesitz, dann freier Besitz, freies Eigentum im Gegensatze zum Lehn) und
hat demnach ursprünglich nichts andres als „Besitz an Vieh" bedeutet. Nun
waren aber wohl in der Regel die „Lehnsherrn" Eigentümer größerer Ländereien,
'"w vermögende und vornehme Leute oder galten wenigstens dafür in den Augen
ihrer Vasallen oder „Lehnsmannen" — den Vorfahren der heute so weit ver¬
breiteten Familie „Lehmann" —, und von diesem Umstände aus hat dann das
von „tsuänin" abgeleitete Eigenschaftswort „feudal", das ursprünglich nur dem
engen Gebiete des Lehnwesens angehörte, seine Bedeutung allmählich so zu
erweitern vermocht, daß es jetzt „in einem gewissen Jargon schlechthin für
etwas notwendig und selbstverständlich Vornehmes und Großartiges gebraucht
wird." (Cour. Thümmel, Aus der Symbolik des altdeutschen Bauernrcchts,
Hamburg 1887, S. 8.) Neuerdings ist es zwar gegen das noch modernere,
besonders beim Militär beliebte „schneidig" etwas zurückgedrängt worden, doch
pflegt noch immer der flotte Bruder Studio nicht nur in ein „feudales Korps"
einzutreten oder vielmehr „einzuspringen," er bringt es auchfertig, sich eine
„feudale Bilde" zu mieten oder sogar sich eiuen „feudalen Überzieher" beim
Schneider „bauen" zu lassen. Dabei wird man seine Unkenntnis des eigentlichen
Sinnes dieses Adjektivs sogar dann verzeihlich finden, wenn er zu den Themis-
jüngern gehören sollte, denn das einst sehr wichtige Lehnrecht ist ja schon seit
geraumer Zeit aus der Reihe der obligatorischen llniversitätsvorlesungen als
für die Praxis bedeutungslos gestrichen worden.
Wie fast bei allen Völkern auf den unterstell Kulturstufen hat das Vieh
auch bei den Germanen zunächst als Tauschmittel und Zahlungsmittel gedient,
ist also — modern gesprochen— als ältestes „Geld" gegeben und empfangen
worden (vgl. das römische poounia, von poous, Reichtum an Vieh, an beweg¬
licher Habe, dann Reichtum überhaupt, Geld), d. h. als „Zahlung" oder das,
„was als Zahlung galt," Ersatz, Entschädigung, Vergeltung (Geld, ahd.
und ahd. Asie, von „gelten," erst viel später auf das geprägte Zahlmittel,
die klingende Münze beschränkt; vgl. „Entgelt," worin der allgemeinere Sinn
noch erhalten ist). Unsre Sprache läßt heute noch deutlich genug in der Wendung
„eine Schuld beitreiben" oder „eintreiben" die Erinnerung an die pri¬
mitiven Zeiten durchschimmern, in denen die Schuld noch wirklich in „gang¬
barer," d. h. vierbeiniger Münze beglichen wurde, woran auch noch die in
frühern Zeiten gleichfalls gerade für Münzen gebräuchlich gewesene Formel „gäng
und gäbe" (d. h. geeignet zu gehen und gegeben zu werden) anzuklingen scheint.
Im Anschluß hieran sei endlich erwähnt, daß auch im ältern deutschen
Forderungsrechte („Recht der Schuldverhältnisse") gewisse gesetzliche Ansprüche
auf Leistungen bestimmter Arten von Tieren geltend gemacht werden konnten,
die jetzt größtenteils schon wieder in Vergessenheit geraten sind. Das waren die
sogenannten Naturalleistungen von Vieh (Viehzinsen, Blntzchnten usw.), manchmal
mit Rücksicht auf den Fälligkeitstermin noch spezieller als Fastnachtshiihner,
Pfingstlämmer, Martinsgänse n. dergl. in. bestimmt), die neben den „Fronten,"
„Frondiensten" oder „Fronarbeiten" — wie unsre Sprache wohl auch heute
noch besonders schwere Dienste und Arbeiten bezeichnet — zu den hauptsäch-
lichsten Verpflichtungen der Gutsuntcrtanen (Leibeignen, Hörigen) gegenüber
dem Gutsherrn gehörten. Da nun uuter diesen Zinstieren offenbar die
Hühner, Zinshühner (auch Leib-, Hals, Hand-, Rauchhühner usw. genannt)
und „Zinshähne" besonders beliebt gewesen sind und unter den letztem
wieder namentlich solche mit schönem, rötlich schimmerndem Gefieder (oder
vielleicht auch mit besonders rotem Kamm und Kehllappen) bevorzugt sein
dürften, so findet von hier aus der auffällige, jetzt auch für die Gesichtsfarbe
von Meuscheu gebräuchliche Ausdruck „rot wie ein Zinshahn" eine passende
Erklärung tFortsctzung folgt) .
le Lage Ludwigs des Sechzehnten hatte sich noch wesentlich ver¬
schlimmert, seit ans den in einem geheimen Wandschranke der Tui-
lerien entdeckten Papieren offenbar geworden war, daß der König fort¬
gesetzt Beziehungen zu seinen Anhängern im Auslande unterhalten
und Geldsummen zu kontrerevolutionären Zwecken verteilt hatte.
Dennoch hätte er vielleicht noch gerettet werden können, wen« das
Haar, an dem sein Leben hing, nicht zufälligerweise ein Frauenhaar, und noch
dazu vom Scheitel des kapriziösesten Kopfes von ganz Paris, gewesen wäre.
Von den beiden Parteien des Konvents, den Jakobinern und den Girondisten,
zeigten diese, wohl weniger aus Menschlichkeit als ans politischen Gründen, Neigung,
das Leben des Königs zu schonen. Wie aber wollten sie mit ihrer Ansicht gegen
Widersacher durchdringen, die die einflußreichsten Männer und die besten Redner
zu den ihrige» zählten, und in deren Reihen Leute wie Se. Just und Robespierre
faßen? Da geschah das Unerwartete, daß Danton, angeekelt von dem ewigen
Blutvergießen, und Dumouriez, der auf der kreisförmige» Bahn seiner politischen
Überzeugungen wieder einmal beim monarchischen Prinzip angelangt war, Anschluß
an die Gironde suchten. Was hätte diese Partei, verbündet mit dem vergötterten
Führer der Massen und dem siegreichen General der Revolutionsarmee, vermocht!
Aber die dargebotnen Hände wurden zurückgewiesen; Madame Roland, die Gattin
des Ministers, die Egeria der Gironde, die jede Parole ausgab und den Rednern
ihre Themen stellte, wollte kein Bündnis mit Männern, die ihr persönlich nn-
shmpathisch waren. Und so ging das Schicksal seinen Weg. Hätte Danton nicht
ein pockennarbiges Antlitz, hätte Dumouriez weniger grobe Züge gehabt, wer weiß,
ob die Geschichte nicht um einen Königsmord ärmer geblieben wäre!
Immer lauter schallte der Ruf: „Capet auf die Guillotine!" Er erfüllte
die Straßen von Paris, er fand Widerhall in allen Gauen Frankreichs, er drang
bis in die entlegensten Länder der Erde und weckte hier überall das gleiche Ent¬
setzen, den gleichen ohnmächtigen Zorn. Wenn Ludwig der Sechzehnte, der als
König und Mensch nie größer war als auf diesem letzten und düstersten Abschnitte
seines Lebensweges, eines Trostes bedürfte, so mußten ihn die Beweise von Treue
und Opfermut aufrichten, die er jetzt von allen Seiten erhielt. Kühne Männer
und Frauen veröffentlichten, unbekümmert um den ihnen gewissen baldigen Tod,
Rechtfertigungsschriften, in denen sie rückhaltlos die Verdienste des unglücklichen
Monarchen um die Wohlfahrt selner Untertanen hervorhoben; Helden wie der greise
Malesherbes, der unermüdliche Tronchet und der junge feurige Seze erboten sich
freiwillig z» seiner Verteidigung, die ihnen nach menschlicher Voraussicht nichts
andres einbringen, konnte als den dankbaren Händedruck eines dem Tode Geweihten
und den eignen Untergang. Sogar Flüchtlinge stellten sich dem Könige zur Ver¬
fügung, darunter Leute, deren Namen Gewicht und Klang hatte, wie der Graf
von Narbonne, der Marquis von Lally-Tvllendal und Vertraut von Moleville.
, Auch Marigny richtete, von dem edeln Eifer ergriffen, das Äußerste von dem
geheiligten Haupte des Souveräns abzuwenden, einen Brief an Ludwig den Sees-
zehnten, worin er bat, ihn mit der Widerlegung eines oder mehrerer der sieben¬
undfünfzig Anklagepunkte zu betraue«. Von Tag zu Tag wartete er auf Ant¬
wort. Umsonst. Der Brief war wohl überhaupt nicht in die Heerde des Königs
gelangt. Noch einmal schreiben? Ach, das wäre unnütz gewesen! Die Zeit verrann,
verrann unaufhaltsam, und das Lebensschifflein des Angeklagten trieb immer schneller
stromabwärts — dem empörten Meere zu, in dessen Brandung es scheitern mußte.
Jetzt kam die Nachricht nach Koblenz, daß am 26. Dezember, dem Tage, an
demi man in frühern Jahren die Geburt des Heilands gefeiert hatte, der Bürger
Capet zum zweitenmal vor die Schranken des Konvents gestellt worden sei. Und
seltsam! Man vernahm zugleich, daß um diese Zeit, wo alles Alte von einem
riesenhaften Strudel in die Tiefe gerissen zu werden schien, wo Rotten trunkner
Männer und Weiber Tag und Nacht an deu Stätten tanzten, deren Name mit
der Geschichte des Königtums in irgend einer Verbindung stand, und wo in den
Spelunken der Spielpächter Würfel und Karten nicht mehr zur Ruhe kamen,
Tausende und aber Tausende in wahnsinniger Angst in die Kirchen strömten, um,
vor den Gräbern der Heiligen in den Staub gestreckt, durch brünstige Gebete
das Schicksal abzuwenden, das furchtbar drohend über dem Haupte eines jeden
schwebte.
Ob die allgemeine Verwirrung in Paris wirklich so groß war, daß es einem
einzelnen Menschen gelingen würde, ohne angehalten zu werden, bis zu dem Kerker
des königlichen Märtyrers vorzudringen? Das war die Frage, die Marigny nun
ohne Unterlaß beschäftigte. Denn er wollte und mußte zum König, er hatte ein
Recht dazu, denn er trug die Kammerherrnschlüssel, und er glaubte die Zeit ge¬
kommen, manchen versäumten Dienst nachzuholen. Wie dies zu ermöglichen sei,
darüber war er freilich einstweilen noch im unklaren. Er würde damit zufrieden
sein, wenn er die Lage des Gefangnen auf irgend welche Weise erleichtern könnte,
er wollte sich gern mit dem Amt eines Kammerdieners begnügen, oder, noch lieber,
die Funktionen eines Kochs übernehmen. Daß Ludwig der Sechzehnte einen solchen
jetzt am dringendsten brauchte, stand für den alten Herrn felsenfest. Woher sollte
er die Festigkeit der Seele und die Beweglichkeit des Geistes nehmen, deren er
jetzt mehr als je zuvor bedürfte, wenn der Körper entkräftet war? Und dann: im
geheimen vertraute der Marquis darauf, vom Himmel zu einem Werkzeuge seiner
wunderbaren Pläne ausersehen zu sein. Er dachte an die griechische Fabel von
der Maus, die trotz ihrer Kleinheit befähigt war, den in des Jägers Netzen ver¬
strickten Löwen zu befreien.
So rüstete er sich denn zur Abreise. Er begann seine Vorbereitungen damit,
daß er zwei Leintücher auf den Dielen seines bisherigen Wohngeinachs ausbreitete
und auf jedem einen kleinen Berg von Kleidungsstücken und Gebrauchsgegenständen
sehr verschiedner Natur aufschichtete. Da kamen aus den Tiefen des gewaltigen
Kleiderschrankes, aus den Schiebladen der Kommoden, aus Koffern, Truhen und
Mantelsäcken alle die seltsamen Dinge wieder zum Vorschein, über die die Nach¬
mittagssonne des 19. Oktobers 1789 mit vollem Rechte so erstaunt gewesen war, die
Dominos aus schwarzem Tastet, die scharlachnen Westen, die Reitröcke und Jagdhabits,
die Hemden mit den Spitzenmanschetten, die Hcinrbeutel, die Galnnteriedcgen und die
betreßter Stantsröcke, da stellten sich, genan so wie damals, die Mschchen mit
van as lavimäiz und Blütenextrakteu, die Dosen und Büchschen mit Salben und
wohlriechenden Paften und die Futterale mit Schermesseru und Handspiegeln ein,
da gesellten sich wieder spanische Rohre mit goldnen Knöpfen, Pürschbüchsen und
Sonnenschirme zu Büchern, Nippesfigürchen, Hüten, Hirschfängern, Sätteln und
Teemaschinen. Ja, das Chaos schien gegen damals noch größer geworden zu sein,
denn von den Topfen und Tiegeln, Pfannen und Kasserollen, Bratrosten und Reib¬
eisen, Gewürzmühlen und Pasteteuformeu, die jetzt den Wirrwarr im Atelier des
seligen Herrn Haßlacher vermehrten, hatte die Oktobersonne des Jahres 1789 noch
nichts zu sehen bekommen.
Die Wittib, die gerade unter dem Mansardengemach in ihrer Wohnstube beim
Nachmittagskaffee saß und sich der Lektüre des Jntelligenzblattes hingab, wurde
auf das ruhelose Hin- und Herwandern „ihres Franzosen" aufmerksam. Sie wäre
am liebsten sogleich unter irgend einem Vorwande hinaufgestiegen, um sich über
die Ursache dieses seltsame» Gebarens Auskunft zu verschaffen, aber sie wußte, daß
der Marquis solche Besuche uicht liebte, und dann mochte sie sich nicht vor der
Zeit um die angenehm-gruselige Stimmung bringen, in die eine höchst ausführliche
Beschreibung der ingenieuser Erfindung des wackern Doktors Guillot sie versetzt
hatte. Als sie jedoch über ihrem Haupte das Rücken von Möbelstücken oder
schweren Koffern vernahm, hielt sie es doch für ihre Pflicht als Hausbesitzerin und
Wirtin, hinauszugehn und nach dem Rechten zu sehen.
Sie fand Marigny in Hemdärmeln und mit schweißbedeckter Stirn zwischen
den beiden Bergen mehr oder minder nützlicher Gegenstände stehn. Er war damit
beschäftigt, ein Kleidungsstück, von dem nur ein kleiner Zipfel sichtbar war, mit
ungeheurer Anstrengung aus der untersten Lage des einen Hansens herauszuzerren,
um es, nachdem ihm dies schließlich gelungen, auf den andern zu werfen. Dafür
nahm er von diesem wieder eine Kräuselschere, wog sie nachdenklich in der Hand
und legte sie langsam auf den ersten Berg-
Kann ich Ihnen helfen, Herr Marquis? fragte Madame Haßlacher, als sie
merkte, daß der alte Herr in seiner Beschäftigung innehielt und sie mit argwöhnischen
Blicken betrachtete.
Helfen? gab er zurück. Wobei?
Nun — beim Aufräumen. Sie wollen sich wohl anders einrichten?
Nein, Madame. Ich will ausziehn. Ich muß Sie verlassen. Verstehn Sie
mich? Von morgen oder übermorgen an stehn diese Räume wieder zu Ihrer Ver¬
fügung.
Die Wittib stand einige Sekunden lang wie versteinert da, dann stammelte sie
unter Tränen:
Aber ich habe Ihnen das warme Wasser zum Rasieren doch jeden Morgen
Schlag sieben vor die Tür gestellt, und von der — nnn, Sie wissen schon, von
dem Frauenzimmer, das gar nicht Ihre Tochter ist, habe ich doch auch kein
Sterbenswörtchen mehr gesagt. Und dn wollen Sie ausziehn! Ach, liebster Herr
Marquis, von dem ganzen ausländischen Volk — nehmen Sie das einer alten
Frau nicht übel! — sind Sie ja der einzige Anständige. So wie der Erste im
Kalender stand, hatte ich mein Geld, da hat kein Kreuzer dran gefehlt. Ein bißchen
kurz angebunden waren Sie ja — der Wahrheit die Ehre! —, aber dafür sind
Sie ja auch ein vornehmer Herr, und was mein Seliger war, der auch genug
mit Herrschaften zu tun hatte — Sie wissen ja, er hat im neuen Residenzschloß
die schöne Decke gemalt, wo ihm der Zick dabei geholfen hat —, mein Seliger,
der sich immer ein bißchen deutlich ausdrückte — nun ja, dafür war er auch
Künstler, und manchmal trank er auch neu Schoppen mehr als nötig war, nun
ja, dafür ist er auch in der Mosel ersoffen —, der sagte oft genug: Je feiner,
desto gemeiner.
Marigny ließ den Redestrom der guten Alten geduldig über sich ergehn, nicht
belustigt, nicht gelangweilt und nicht gereizt, sondern mit dem imponierender Gleich¬
mut eines Mannes, den nichts mehr aus seiner Fassung zu bringen vermag.
Sind Sie fertig, Madame? fragte er gelassen, während sie sich mit dem
Zipfel ihrer Schürze heftig die Angen wischte.
Ja, du lieber Himmel, was sollte ich denn auch noch sagen? fuhr sie fort.
Ich darf mich ja gar nicht einmal beklagen! Was hat zum Exempel die Heben-
streitiu bei ihrem Franzosen eingebüßt! Neunhundertundzweiundsiebzig Gulden
rheinisch ist er ihr schuldig geblieben. Nichts war ihm fein genng. Die Talg-
uchte hat er einfach auf die Gasse geworfen. Er wäre Wachskerzen gewöhnt, hat
^ gesagt, und mit den Rebhühnern hat er seine Hunde gefüttert. Und die Zoll-
schreiben: Wcndlcmd, die den Vicomte von Chevillvn hatte! Aber der dummen
Person kann mans gönnen. Tat sich immer damit dick, daß ihrer der feinste
wäre. Jawohl! Prostemahlzeit! Bezahlt hat er keinen Kreuzer, und als er
abzog, hat er ihr die Daumen aus den Bettkissen mitgenommen. Aber dafür hat
er auch mit ihren Demoiselles Töchtern scharmntziert, das; es eine Art hatte, und
der Alten kanns passieren, daß sie an einem Tage dreimal Großmutter wird.
Und wenn ich erst an die Gvndorfin denke, bei der das Weibsbild im Quartier
lag, das der Herzog von Guiche mitgebracht hatte! Eine ganz ordinäre Komödiantin
und ließ sich „Ew. Gnaden" oder so ähnlich titulieren. Strümpfe trug sie — so
laug und von himmelblauer Seide, aber Sie hätten einmal die Löcher darin sehen
sollen! Mit der ganzen Hand konnte man durchfahren. Des Morgens um zehn
trank sie im Bett die Schokolade und ließ sich dazu frisieren, und dabei stand dann
allerlei Mannsvolk um sie herum, das las ihr Gedichte vor und fragte, ob sie gut
geschlafen hatte — genan, als ob sie eine veritable Herzogin oder Königin ge¬
wesen wäre. Und als die Gondorfin endlich Geld haben wollte, da hat ihr die
Person gesagt, sie möge nur zum Herzog von Guiche geh», und als sie das denn
auch getan hat, da hat der Herzog sie durch einen Reitknecht ans die Straße
bringen und ihr sagen lassen, ihn ginge das Weibsbild schon längst nichts mehr
an, und zahlen täte er keinen Kreuzer. Sehen Sie, Herr Marquis, das wollen
doch alles reputierliche Leute sein und benehmen sich so lumpig. Alles, was wahr
ist: Sie waren der einzige Anständige!
Der Marquis, der seine Tätigkett wieder aufgenommen hatte und gerade
damit beschäftigt war, von einer roten Sammetweste die silbernen Knöpfe abzutrennen,
schien durch die plötzlich eingetretne Stille an die Gegenwart seiner redseligen
Wirtin erinnert zu werden, etwa wie der Müller zu erwachen pflegt, wenn das
gewohnte Rädergeklapper aufhört.
Sind Sie denn jetzt fertig, Madame? fragte er noch einmal. Und als die
Alte nickte, fügte er schnell hinzu: Ich muß verreisen. Für den laufenden Monat
bezahle ich natürlich.
Kommen Sie denn nicht zurück?
Marigny lächelte wehmütig. Darauf ist kaum zu rechnen. Ich muß nach
Paris —
Maria Joseph! unterbrach ihn die Wittib, jetzt nach Paris? Lesen Sie denn
keine Gazellen? Wissen Sie denn nicht, daß man dort Leute Ihres Schlages nicht
eine halbe Stunde ungeköpft läßt?
Madame, gab Marigny mit großer Ruhe zurück, ich weiß alles. Aber die
Pflicht gebietet mir, dennoch nach Paris zu gehn. Der König bedarf meiner.
Ich bin nur eine einfache Bürgersfrau, bemerkte die Alte kopfschüttelnd, aber
mir könnte der König tausend Gulden bieten und noch ein seidnes Kleid dazu —-
nach Paris ginge ich trotzdem nicht. Lassen Sie sich raten, Herr Marquis, und
bleiben Sie hübsch hier in Koblenz. Es hat Ihnen doch bis jetzt ganz gut bei
uns gefallen, weshalb wollen Sie nun Hals über Kopf weg?
Das verstehn Sie nicht. Madame. Also sparen Sie sich Ihre guten Rat¬
schläge und hören Sie mich ruhig an! Sehen Sie — hier wies er ans den
größern der beiden Berge, dessen Gipfel er noch mit dem Messingbauer des
Kakadus krönte —, diese Dinge muß ich hier zurücklassen. Sie würden mein
Reisegepäck über Gebühr beschweren. Verfügen Sie darüber nach Ihrem Belieben.
Verkaufen Sie die Sachen zu Ihrem eignen Vorteil, oder verschenken Sie sie an
Bedürftige, kurz, machen Sie damit, was Sie wollen.
Aber — Herr Marquis — das ist doch wohl nur ein Spaß von Ihnen?
Den ganzen Haufen wollen Sie mir schenken?
Ich glaube mich deutlich genug ausgedrückt zu habe».
Also es ist Ihr voller Ernst? Nun, da dank ich Ihnen aber auch recht
schön. Die vielen vielen Sachen! Und alle noch wie neu! Ja, das muß man
Ihnen lassen: ordentlich sind Sie immer gewesen. Und den Vogel soll ich auch
bekommen?
Gewiß! Schaffen Sie den Plunder möglichst bald aus meinen Augen. Er
behindert mich beim Packen.
Soll geschehn, Herr Marquis, soll geschehn! Nein die schönen Röcke und
Hosen! Nichts verschlissen und nichts geflickt! Wenn das mein Seliger erlebt
hätte! Wissen Sie, der hatte Ihre Statur, dem hätte das alles gepaßt wie an¬
gegossen. Er hatte überhaupt viel von Ihnen. Den Gang und die seinen
Manieren — er war doch lange in Holland gewesen —, nur das Gesicht war ein
bißchen anders. Oft, wenn ich Sie so über den Vorsaal gehn sah, hab ich schon
gedacht: der leibhaftige Hnßlacher! und nachher bin ich immer ganz melancholisch
geworden. Und als Sie vergangnen Donnerstag des Nachts so spät aus dem
Klub kamen und im Stichdüstern die Treppe hinaufgingen, da hörte sichs genau
so an, wie wenn mein Mann selig mal eine lange Sitzung im Schützenhof ge¬
habt hatte.
Sie begann unter dem ihr zugewiesenen Nachlaß ihres Mieters zu kramen
und jeden Gegenstand, der ihr dabei in die Hände kam, mit kritischen Blicken zu
Prüfen.
An diesem Schuh fehlt die Schnalle, sagte sie, indem sie ihn in das Gesichts¬
feld des Marquis brachte.
Schon möglich, erwiderte dieser, ich vermute jedoch, es ist niemals eine darauf
gewesen.
O bitte sehr! Hier ist der andre. Der hat eine. Haben Sie keine Ahnung,
wo das Ding sein könnte?
Nicht die geringste.
Das ist recht fatal. Was soll man nun mit den Schuhe» macheu? Zwei
Schuhe und eine Schnalle! Ich wette, man findet in ganz Koblenz keine dazu
passende.
Der Marquis nahm ihr den Gegenstand ihres Mißvergnügens ans der Hand,
riß die Schnalle mit einem kräftigen Ruck ab und schleuderte sie ans dem Fenster
über die Dächer der Nachbarhäuser.
So, Madame, ich denke, nun ist der Schade geheilt. Sind Sie um zu¬
frieden?
Die Wittib mochte einsehen, daß tadelnde Ausstellungen an den Geschenken
den Spender verstimmen mußten, und da ihr daran lag, ihn bei guter Laune zu
erhalten, so beschloß sie dem Gespräch eine Wendung zu geben, von der sie sich
eine versöhnende Wirkung versprach.
Wenn ich mirs so durch den Kopf gehn lasse, begann sie, dann muß ich
sagen: Es ist recht schön von Ihnen, daß Sie Ihren guten, armen König einmal
besuchen wollen. Er muß sich doch in dem langweiligen Turm recht einsam fühlen.
Nie einen Menschen zu scheu bekommen, gegen den man sich mal ordentlich aus-
sprechen kann, das muß schrecklich sein. Ich hielts nicht aus. Und dabei soll der
Turm nicht einmal ein Fenster nach der Gasse zu haben. Bloß nach dem Hofe.
Da kann draußen alles mögliche passieren, und der arme König merkt keine Bohne
davon. Und daß sie ihn so scharf bewachen, und daß immer einer mit dem blanken
Säbel vor ihm hergeht, wenn er Mittags im Hofe ein wenig promeniert, das ist
doch auch nicht recht. Und zu essen werden sie ihm gewiß auch nicht allzuviel
geben.
Da sie während dieser Rede den Berg der ihr geschenkten Habseligkeiten unter¬
wühlt hatte, neigte sich der Käfig mit dem Kakadu zur Seite und drohte hinunter¬
zustürzen. Die Wittib fing ihn jedoch noch rechtzeitig auf und stellte ihn auf den
Fußboden. Marigny, der eifrig mit der Durchsicht seiner Papiere beschäftigt war,
hatte von diesem Vorgange nichts bemerkt und glaubte daher, die Alte rede nochvon dem Gefangnen im Temple, als sie jetzt die Frage stellte:
Nicht wahr, zum Frühstück bekommt er einen Zwieback, in süßen Tee einge¬
weicht, und Mittags ein Stückchen Apfel?
Davon weiß ich nichts, sagte der Marquis, aber wenn er wirklich nicht mehr
erhält als das, wird er bald genug verhungert sein.
O Herr Marquis, was denken Sie von mir! Ich werde ihn doch nicht
verhungern lassen! Hanf kann er fressen, so viel er will, und wenn Sie glauben,
daß er von Welschkorn nicht zu fett wird, so soll er das auch haben.
Madame, entgegnete der Edelmann, der jetzt verstand, daß der Vogel gemeint
war, füttern Sie ihn meinetwegen mit Zwiebäcken und Äpfeln, so oft Sie »vollen,
aber erweisen Sie mir jetzt die Gefälligkeit, mich allein zu lassen. Ich habe zu
tun und möchte nicht länger gestört werden. Nehmen Sie die Sachen mit, oder
bringen Sie sie draußen auf deu Vorsaal, aber sorgen Sie dafür, daß ich Luft
und Ruhe bekomme.
Nun machte sich die Wittib wirklich daran, ihren Raub in Sicherheit zu
bringen. Sie raffte mit beiden Armen soviel zusammen, wie sie zu tragen ver¬
mochte, und stieg damit die Treppe hinab. Viermal mußte sie wiederkehren, ehe
alles beseitigt war. Daun holte sie noch den Käfig mit dem Kakadu und kündete
dem Marquis an, daß sie ihn nun nicht weiter belästigen werde.
Als Marigny das leere Laken auf dem Fußboden sah, stieß er einen Seufzer
der Erleichterung aus und zog ans dem Alkoven, wo sein Bett stand, ein eisernes
Kästchen hervor, das er nicht ohne großen Kraftaufwand auf deu Tisch hob und
mit einem kunstvoll gearbeiteten Schlüssel öffnete. Er entnahm dieser Kassette eine
Anzahl kleiner Lederkapseln, deren jede ein auserlesenes Schmuckstück enthielt. Da
kamen herrliche Steine zum Vorschein: Ruhme und Smaragde, Türkise und Topase,
Hyazinthe und Opale, wie man sie in bunter Vereinigung zu Ludwigs des Vier¬
zehnten Zeiten getragen hatte, und die größtenteils noch in deu alten Fassungen
saßen. Aber auch an Diamanten fehlte es nicht. Vierundzwanzig der schönsten
waren zu einem Halsgeschmeide vereinigt, die mittlern fast so groß wie kleine
Haselnüsse, die übrigen wie Erbsen, und wenn auch das Feuer der Steine in der
altmodischen Kasteufassuug nicht voll zur Geltung kam, so sah man doch auf den
ersten Blick, daß diese Juwelen durchweg vom ersten Wasser waren.
Jeder andre würde sich wenigstens einige Minuten am Farbenspiele solcher
kostbaren Nichtigkeiten geweidet haben. Marigny begnügte sich damit, jede Kapsel
zu öffnen, sich vom Vorhandensein des Inhalts zu überzeugen und jedes einzelne
Stück mit dem Verzeichnis zu vergleichen, das zu unterst in der Kassette gelegen
hatte. Er zählte gerade die Opale eines Armbands, als sehr energisch an seine
Tür geklopft wurde. So schnell er vermochte, warf er sämtliche Kapseln in ihren
Behälter, klappte den Deckel zu und breitete seinen Rock darüber, um unberufner
Augen den Anblick des Schatzes zu entziehn. Dann rief er, gereizt wie er war,
mit donnernder Stimme: Herein!
Und wer erschien? Madame Haßlacher.
Sie trug etwas auf der wcitvorgestreckteu flachen Hand und hielt es dem
alten Herrn unter die Nase.
Wissen Sie auch, was das ist, Herr Marquis? fragte sie. Sehen Sie sich
das einmal genau an! Das ist die andre Schnalle! Die stak in der linken
Tasche der tabakbraunen Sammetweste. Eine Schuhschnalle in der Westentasche! Was
soll man dazu sagen! Hätten Sie vorhin die eine nicht weggeworfen, so wären
jetzt alle beide da. Aber was soll ich nun mit dieser anfangen, wenn mir die
andre dazu fehlt? Sie brauchten doch auch nicht gleich so hitzig zu werden.
Madame, wenn Sie die Absicht haben, mir Vorwürfe zu machen, so muß ich
Sie schon bitten, das auf morgen zu »ersparen. Jetzt bin ich beschäftigt.
Vorwürfe? O liebster Herr Marquis, wie käme ich, eine einfache Bürgers¬
frau, dazu, einem vornehmen Kavalier, der mir keinen Kreuzer schuldig geblieben
ist, Vorwürfe zu machen?
Wels wollen Sie denn von mir?
Ach sehen Sie, Herr Marquis, Sie werden sich doch gewiß gemerkt haben,
wohin das Ding, als sich zum Fenster hinauswarfen, geflogen ist, und da wollte
ich recht schön gebeten haben, ob Sie nicht mal nachsehen wollten, wo es liegt.
Ich soll also über die Dächer klettern? fragte Marigny mit ingrimmigen
Lachen.
O nein, das kann ich gar nicht verlangen! Aber Sie könnten sich vielleicht
drüben im Hofe einmal danach umsehen. Wissen Sie, ich möcht es selbst nicht
gern tun, weil ich mit der Meiselbachin, die dort hinten wohnt, vor Jahr und Tag
Streit gehabt habe. Die dumme Person behauptete nämlich, es wäre ihr mit
einem faulen Apfel ein Geraniumstöckcheu von der Fensterbank geworfen worden,
und sie wüßte ganz genau, daß der Apfel aus meinem Mnnsardenfenstcr gekommen
sei. Sehen Sie, seitdem bin ich nicht wieder drüben gewesen. Es ist ja möglich,
daß die Sache ihre Richtigkeit hat, aber deshalb braucht sie es mir doch uicht so
vor den Kopf zu sagen. Beweisen hat sie mir nie was können. Und wenn ich
jetzt hinüber in ihren Hof ginge, dann könnte sie sich einbilden, ich wollte bei ihr
schnüffeln oder wieder mit ihr anbändeln. Das fällt mir aber nicht im Traume
ein. Wenn Sie aber nun gingen, dann wäre das was andres, und zudem reisen
Sie ja bald weg, und wenn Sie erst fort sind, dann kräht kein Hahn mehr
nach Ihnen.
Madame, sagte der Marquis, auf den nicht einmal diese letzte schmeichelhafte
und tröstliche Versicherung Eindruck zu machen schien, sind Sie auch ganz gewiß,
daß die beiden Schnallen zusammengehören?
Darauf will ich jeden Eid leisten! rief die Wittib, überzeugt, es sei ihrer
Beredsamkeit gelungen, den alten Herrn gefügig zu mache«.
Gut, so werde ich dafür sorgen, daß sie wieder zusammenkommen. Geben Sie
einmal her!
Und ehe die Wittib begriff, was Marigny mit diesen Worten meinte, hatte
er ihr das neufilberne Kleinod aus der Hand genommen, das Fenster aufgerissen
und zum Wurfe ausgeholt. Umsonst stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus, um¬
sonst versuchte sie dem Marquis in den Arm zu fallen — man vernahm schon in
der Ferne den Aufschlag eines metallnen Gegenstandes und gleich darauf ein wahr¬
haft teuflisches Hohngelächter, das in die Worte ausklang:
So, Madame, jetzt können Sie beruhigt sein. Sie haben die Schuhe,
Und Ihre Freundin hat die Schnallen. Versuchen Sie, mit ihr handelseinig zu
werden!
Damit schob der Marquis die Alte, die sich von ihrer Überraschung noch nicht
erholt hatte, auf den Vorsaal hinaus und riegelte hinter ihr ab, fest entschlossen,
sich durch keine Macht der Erde mehr in seiner Beschäftigung stören zu lassen.
Er öffnete die Kassette muss neue, überzählte noch einmal die Lederkapseln und
ordnete sie dann so, daß ihm noch genügend Raum zur Verfügung blieb, um
einige andre Gegenstände dazuzupackeu. Unter diesen war anch ein Buch, ein
stattlicher, in weißes Pergament gebundner Quartband. Marigny hatte alles
übrige und einem beinahe geschäftsmäßigen Gleichmut in den Kasten versenkt, aber
von dem Buche schien er sich nicht trennen zu können. Seine Hand streichelte
beinahe zärtlich die schöne, elfenbeinglntte Schale, und seine Finger zitterten, als
er die zierlichen silbernen Schließen öffnete. Und als er nun in dem Buche zu
blättern begann und die mit einer kleinen, gleichmäßigen Handschrift dicht bedeckten
Seiten überflog, traten ihm die hellen Tränen in die Augen. Plötzlich erregte
eine Stelle des Textes seine Aufmerksamkeit. Er überlas sie noch einmal, erhob
M), holte Tinte und Feder, malte zwei Kreuzchen auf das Blatt, eins in die Mitte
des Geschriebnen, das andre an den Rand der Seite und schrieb neben das letzte:
Man statt des Burgunders auch Sherry nehmen. Aber dann nur ein
halbes Glas!
Und ohne erst das Trocknen der Tinte abzuwarten, klappte er das Buch zu
und legte es in den eisernen Kasten. In der ganzen Art, wie er das tat, lag
etwas von der beinahe harten und rauhen Entschlossenheit eines Mannes, der
unter das Konto seines Lebens den Schlußstrich zieht und gesonnen ist, mit allem
zu brechen, was seinem Dasein bisher Wert und Reiz verlieh, Wer nach der
Märtyrerkrone greift, der muß deu Blumenkranz irdischer Freuden fahren lassen.
Ach, und wie sehnte sich der alte Edelmann nach der Märtyrerkrone!
Er entnahm der Schieblade des Tisches einen Papierbogen in Folio und be¬
deckte ihn mit seiner kleinen dauerhaften Schrift. Dann faltete er ihn zusammen
und legte ihn zu oberst in die Kassette, die er darauf sorgfältig verschloß. Den
Schlüssel wickelte er in Papier, das er versiegelte, mit einer Adresse versah und
mit einer seidnen Schnur an dem Bügel des Deckels befestigte. Nun holte er eine
kleine Holzkiste herbei, stellte die Kassette hinein, vernagelte sie und umschnürte sie
mit einem Stricke, dessen Enden er ebenfalls mit Siegeln versah. Nachdem auch
das erledigt war, setzte er sich noch einmal an den Tisch und schrieb ein Billett
folgenden Wortlautes:
Die Pflicht ruft mich nach Paris. Da ich niemand kenne, der meines un-
eingeschränkten Vertrauens würdiger sein dürfte, als Sie, so bitte ich Sie um die
Gefälligkeit, beifolgende Kiste bis zu meiner Rückkehr, über deren Zeitpunkt ich
freilich zur Stunde nichts angeben kann, bei sich aufzubewahren. Im Falle Sie
Nachricht von meinem Ableben erhalten sollten, haben Sie wohl die Gewogenheit,
die Kiste zu öffnen und die darin eingeschlossene Kassette an die auf dem Deckel
näher bezeichnete Adresse weiter zu befördern. Ich weiß, daß Sie einem alten
Manne, der Sie höher achtete, als Sie ahnen, die Erfüllung dieses Wunsches nicht
abschlagen werden, und bitte Sie meiner Dankbarkeit versichert zu sein.
Koblenz, am 13. Januar 1793.
Diesen Brief schickte er zusammen mit der Kiste am nächsten Morgen durch
denselben Lohndiener, der früher schon so oft in seinem Auftrage nach der Weiser¬
gasse gegangen war, an Henri von Villeroi. Der Vorsicht halber folgte er dem
Boten in einiger Entfernung, um die Gewißheit zu haben, daß die Sendung auch
wirklich in das rechte Hans gelangte.
Als der Bote mit leeren Händen wieder auf die Gasse trat, atmete Marigny
erleichtert auf, befahl ihm, sein Reisegepäck auf die Post zu bringe», und kehrte
noch einmal in den „Englischen Gruß" zurück, um von Madame Haßlacher, die
Neigung zeigte, sich in Tränen aufzulösen, Abschied zu nehmen.
Eine Stunde später rasselte der Postwagen mit dein seltsamen Passagier, der
geradeswegs dem Märtyrcrtode entgegenfuhr, über das holprige Pflaster der Mosel¬
brücke. Wer den alten Herrn gesehen hätte, wie er, in mächtige Pelze gehüllt,
ganz behaglich auf dem breiten Ledcrpolster saß und mit einem Korbe liebäugelte,
aus dem Flaschengeklapper ertönte und der feine, würzige Duft einer Wildbret¬
pastete emporstieg, der würde freilich nicht daran geglaubt haben, daß diesem
würdigen Haupt eine Gloriole vorherbestimmt sein könnte!
(Fortsetzung folgt)
Ein Nachwort zu dem
Aufsatze „Kann Deutschland reiten?" lNr. 27.) Die Ergebnisse der letzten Reichstags-
wahlcn in Sachsen haben eine lebhafte Bewegung gegen das sächsische Landtags¬
wahlrecht vom 28. März 1896 angefacht. Die Gründe für den ungeheuerlichen
Ausfall der Wahlen sind zwar ganz gewiß nicht allein in einem „Proteste gegen
die Wnhlrechtsverschlechterung" zu suchen. Sie zu erörtern gehört aber nicht hierher.
Die Tatsache genügt, daß der Kampf um und meist gegen das sächsische Drei-
klassenwahlrccht immer lauter entbrennt, und daß dessen Beseitigung sogar schon als
Stichwort für die bevorstehenden Landtagswahlen ausgegeben worden ist. Dabei
sind die Träger dieser Bewegung durchaus nicht etwa bloß in den Kreisen zu suchen,
die den Ausfall der Reichstagswahlen veranlaßt haben.
Man darf auch annehmen, daß die Regierung selbst einer Erwägung über eine
erneute Änderung des Wahlrechts durchaus nicht grundsätzlich abgeneigt ist. Mag
mau auch von dem Wahlrecht bei seiner Einführung andre Ergebnisse erwartet
haben, als es gezeitigt hat, so hat doch von Anfang an das Gefühl geherrscht, daß
eben in der gebvtnen Schnelligkeit das zunächst erreichbare Mittel ergriffen werden
müsse, um die Sitze der Sozinldemokratie nicht bei den nächsten Wahlen zu eiuer
Zahl anwachsen zu lasse», die ein verfassungsmäßiges Weiterarbeiten unmöglich
gemacht hätte. Jedenfalls darf man annehmen, daß es nicht der Wunsch der Re¬
gierung gewesen ist, der sogenannte „vierte Stand" solle fast gänzlich von
unmittelbarer Vertretung ausgeschlossen werden. Eine Wiedereinführung des vierten
Standes in den Landtag, aber durch wirkliche Vertreter aus seiner Mitte, nicht
durch Bernfsagitatoren, und unter Sicherung einer ihrer Bedeutung für das
Staatsleben angemeßnen Vertretung allerübrigen Stände, erscheint demnach als ein
Ziel, dem Negierung wie Volk gleichmäßig in gemeinsamer Arbeit zustreben können.
Bis jetzt ist trotz der Lebhaftigkeit der Bewegung noch keine der nationalen
Parteien mit einem klaren Vorschlage hervorgetreten. Eine Wiedereinführung des
allgemeinen gleichen Wahlrechts ist selbstverständlich ganz ausgeschlossen, vollends in
der von der Sozialdemokratie gewünschten Form der „Proportivnalwahlen." Deshalb
liegt die Anregung nahe, ob man in Sachsen den weitgehendsten Wünschen ent¬
gegenkommen, geradezu auf das allgemeine direkte Wahlrecht zurückgreifen, es aber
durch verständige Gliederung nach BerufSstäuden tauglich für die Bildung einer
regierungsfähigen zweiten Kammer machen könnte. Für Sachsen, das jetzt in der
Lage ist, in ruhiger Erwägung einen Plan reifen zu lassen, dessen Durchführung
in jedem Falle eine freiheitlichere Gestaltung des Wahlrechts schaffen, würde, winkt
zugleich das Verdienst, ein Beispiel für das Reich zu geben und einen Beweis zu
führen, wie man ein allgemeines gleiches direktes Wahlrecht so gestalten kann, daß
es doch die berechtigten Interessen ebensowohl des Staats wie aller Bevölkerungs¬
kreise wahrt und ein regierungsfähiges Abgeordnetenhaus gewährleistet.
Ans diesen Erwägungen beruht es, wenn ich schon jetzt selbst den Versuch
unternehme. von den für das Reich berechneten Ausführungen meines Aufsatzes
„Kann Deutschland reiten?" die Nutzanwendung für sächsische Verhältnisse zu ziehen.
Sie soll weniger ein Vorschlag als ein Beispiel dafür sein, in welcher Weise etwa
die Gestaltung eines ständischen Wahlrechts erfolgen könnte, denn es unterliegt keinem
Zweifel, daß sowohl die Einteilung sämtlicher Wahlberechtigten in Ständegruppen
wie die Verteilung der Abgeordnetenzahl aus die Ständegruppen in der verschiedensten
Weise erfolgen kaun, daß auch die Beschreibung der Ständegrnppen nicht ohne
Schwierigkeit ist.
Wie die Ausführungen meines Aufsatzes darein, würde es für die Einführung
eines Stttndewahlrechts von Bedeutung sein, daß es an bestehende Organisationen
""knüpfen kann. Für Sachsen bietet sich dazu jedenfalls leichter Gelegenheit als für
das Reich, weil einmal die bestehenden Organisationen im ganzen Lande gleichmäßig
sind, zum andern much die jedenfalls viel beschränktere Zahl der Abgeordneten — auch
wenn man die jetzige von 82 etwas erhöhen wollte — eine weitgehende Gliederung
der Ständegruppen ausschließt. Um zunächst einen Anhalt dafür zu gewinnen, wie
die Berufsstände des Landes so eingeteilt werden können, daß alle Staatsbürger
eingeschlossen sind, bieten die Aufstellungen des sächsischen Statistischen Bureaus
über die Berufszählung von 1895 gute Unterlagen. Das Statistische Bureau bringt
die gesamte Landesbewohnerschaft in folgende Gruppen unter: ^. Landwirtschaft,
Gärtnerei und Tierzucht, Forstwirtschaft und Fischerei; L. Bergbau und Hütten¬
wesen, Industrie und Bauwesen; <ü. Handel und Verkehr; v. Häusliche Dienste und
Lohnarbeit wechselnder Art; D. Alle beamteten Dienste und die sogenannten freien
Berufe; 1?. Berufslose. Alle diese Gruppe« umfassen — außer den Familien¬
angehörigen — einmal die im Hauptberufe Erwerbtätigen und dann die im Hanse
lebenden Dienstboten für häusliche Dienste. Diese letzten würden für unsre Zwecke
also aus den Gruppen zunächst einmal ausscheiden und ganz gut der Gruppe v
zugewiesen werden können. Jedenfalls dürfte damit eine erste, und zwar allumfassende
Sichtung gefunden sein.
Diese Gruppen hätten wir nun, soweit möglich, mit bestehenden Organisationen
in Beziehung zu bringen. Tatsächlich gibt es deren auch ganz geeignete für die
Gruppen ^ bis wenn wir zunächst innerhalb ihrer zwischen den selbständigen Ge¬
werbetreibenden und den Arbeiter» scheiden. Es sind dies der Landeskulturrat sür die
Gruppe und die Handels- und Gewerbekammern für die Gruppen IZ und
Der Landesknlturrat ist ein „Organ der Interessen der Landwirtschaft." Die
Hälfte seiner ordentlichen Mitglieder wird aus den Kreisen der Landwirte ge¬
wählt, und zwar von den Besitzern oder Pächtern landwirtschaftlicher Grundstücke,
auf denen — ohne Gebäude und Hofraum — mindestens 120 Steuereinheiten
haften. Hierin sind also alle Wirtschaften bis zu denen der Kleinbauern ein¬
geschlossen, und zwar umfaßt die Gruppe etwa 52000 Unternehmer auf etwa
71000 selbständige männliche Angehörige der Gruppe ^. Daß die Zahl der Land¬
wirtschaftsbetriebe einschließlich der kleinsten viel größer ist, erklärt sich daraus, daß
hierin auch alle im Nebenberufe mit betriebnen eingeschlossen sind, auf die es hier
nicht ankommt. Von der Gruppe ^ bleiben mithin neben der des Landeskultur¬
rats noch übrig die etwa 19000 selbständig Berufstätigen der Gruppe also
außer den selbständig wirtschaftenden Beamten alle kleinen Landwirte und Gärtner,
kleine Viehzüchter und Fischer, weiter die Gruppe der Betriebsbeamten, die nur eine
geringe Zahl umfaßt, und die der Arbeiter, Einteilungen, die auch das Statistische
Bureau trifft.
Die Gruppen IZ und also kurz Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr,
müssen wir vereinigen, um eine Beziehung zu den Handels- und Gewerbekammern
herstellen zu können. Das wird um so unbedenklicher sein, als sie ohnehin vielfach
ineinander übergreifen. Aus ihnen lassen sich auf diese Art zunächst drei Gruppen
absondern. Die Mitglieder zur Handelskammer werden gewählt von allen den
Personen, die ein Handelsgewerbe im Sinne der Paragraphen 1 und 2 des
Handelsgesetzbuchs treiben und mit einem Einkommen von mehr als 3100 Mark
eingeschätzt sind, jedoch mit Ausnahme der hierunter etwa mit fallenden Hand¬
werker. Die Wähler zur Gewerbeknmmer zerfallen einmal in alle Handwerker mit
einem Einkommen von mehr als 000 Mark, gleichviel, ob sie im Handelsregister
eingetragen sind oder nicht, und in alle übrigen im Handelsregister aufgeführten
Handelsgewerbetreibenden mit einem Einkommen von 600 bis 3100 Mark. Neben
diesen drei gegebnen Gruppen bleiben nun wieder übrig erstens alle nicht im
Handelsgesetzbuch eingetragneu Handels- und Gewerbetreibenden und alle kleinen,
einschließlich der Handwerker, mit weniger als 600 Mark Einkommen, sowie die
selbständig leitenden Beamten; sodann die Gruppe der sonstigen Beamten: technische
Betriebsbeamte, kaufmännisches, Verwaltnngs- und Aufsichtspersvnal; und endlich
die Arbeiter und Gesellen. Daneben stehn noch die Hausgewerbetreibenden, die
das Statistische Bureau zu den selbständigen Gewerbetreibenden rechnet, die man
aber mich, da sie für fremde Rechnung arbeiten, den Arbeitern zurechnen könnte.
Für die Gruppen 1) bis Is fehlt es ein einer Anhalt bietenden Organisation.
Die Gruppe I), selbständige Besorger häuslicher Dienste, wechselnde Lohnarbeiter
und hierzu das häusliche Gesinde der Gruppen ^ bis (?, lassen sich jedenfalls für
Wahlrcchtszwecke ohne Schwierigkeit den Gruppen ^ bis 0 angliedern, zumal dn
ihre Zahl nnr gering ist. Die Gruppe K, Beamte aller Art und Angehörige
freier Berufe, wie Rcchtsanwcilte, Ärzte, Schriftsteller, der man im Gegensatz zum
Statistischen Bureau wohl auch noch die freien Künstler zuweisen könnte, wird
jedenfalls ihre Organisation für Wahlzwecke ohne Schwierigkeit selbst bewerkstelligen,
soweit nicht deren auch in den verschiednen Kammern und Bezirksvereinen ohnehin
schon vorhanden sind und sich nnr für diesen Zweck zu vereinigen brauchen. Die
Gruppe Is der Berufslosen endlich enthält außer den ohnehin wegfallenden Unter¬
stützten und Anstaltsinsassen zunächst Leute, die nach Aufgabe ihres Berufs von
ihrem Vermögen, Pensionen, Renten leben; sie hatten den Berufsklassen ihrer
frühern Tätigkeit beizutreten, ebenso wie die verabschiedeten Offiziere ohne andern
Beruf der Klasse L. Allein die ganz geringe Zahl derer, die nie einen Beruf
ausgeübt haben, und bei denen auch keinerlei nebenbei betriebne Tätigkeit einen
Anhalt gibt, würde also in irgend einer Weise einer der vorgenannten Gruppen
Anzuzählen sein.
In allen Fällen gilt natürlich der Grundsatz, das; der gegenwärtige Beruf
und der Hauptberuf den Ausschlag gibt.
Auf dieser Grundlage ließen sich uun unter den nötigen Ausgleichen und
Zusammenfassungen etwa folgende Gruppen für die Verteilung der Abgeordneten
bilden, die nach den Feststellungen des Statistischen Bureaus und den Unterlagen
des Landcskultnrrats und der Handels- und Gewerbekammern etwa die beigesetzten
Personenzahlen umfassen würden."') Alle diese Zahlen sind freilich ohne jede Rück¬
sicht auf die Altersgrenze der Wahlberechtigung gefaßt, wodurch vor allem die der
Arbeiter (Kleinknechte, Lehrlinge usw.) eine nicht unbeträchtliche Herabsetzung er¬
fahren würden.
^. Landwirtschaft: 1. Gruppe des Landeskulturrats, wozu noch alle unter ent¬
sprechenden Verhältnissen selbständig arbeitenden Beamten treten würden (52000);
II. alle übrigen selbständigen Unternehmer, sowie die Betriebsbcamten (24000);
IH. landwirtschaftliche Arbeiter, im wesentlichen also die reichsgesetzlich Versiche-
rimgspflichtigen, zu denen noch die Angehörigen der Gruppe v des Statistischen
Bureaus, soweit sie regelmäßig in den hierher gezählten Erwerbszweigen arbeiten,
und mit Rücksicht auf ihre Zusammenfassung in der Gesindeordnnng die übrigens
ganz geringfügige Zahl des männlichen häuslichen Gesindes zu schlage» wären
(100000).
L d Industrie, Handel, Gewerbe: I. Gruppe der Handelskammern und die
entsprechenden selbständig wirtschaftenden Beamten (15000); II. Handwerkergrnppe
der Gewerbekammern (63000); III. Nichthandwerkergrnppe der Gewerbekammern
7- beide mit denselben Beamten —, wozu noch die geringe Zahl der übrigen
selbständigen Gewerbetreibenden passen würde (86000); IV. Betriebsbemnte aller
^tre, die bei ihrer Bedeutung in dieser Erwerbsgruppe — technische Beamte, Kauf¬
leute, auch Juristen — jedenfalls gesondert zu führen wären (60000); V. Ge-
werbenrbeiter nebst der Gruppe v ans diesen Berufszweigen «630000).
L- Beamte, Gelehrte, Angehörige freier Berufe (49000).
Eine Erörterung über die Unterbringung der wenigen gänzlich Berufsloseil
lst hier entbehrlich.
Diese Aufstellung ergibt im ganzen neun Gruppen. Die Verteilung der Ab-
gevrdnetenznhl darauf ist nun schou weit schwieriger. Ich kann und brauche aber
^er nicht über Andeutungen in großen Zügen hinauszugehn. Wenn man in Betracht
zieht, daß Sachsen mehr und mehr zu einem industriellen Lande geworden ist, so
erscheint das Begehren von Industrie und Handel nach einer angemcsseuern Ver¬
tretung, das sich jetzt in dem Wunsche nach Vermehrung der städtischen Wahlkreise
gegenüber den ländlichen äußert, nicht unbillig. Jedoch man darf wohl deswegen
die Gruppe ^ I denen von R (Z noch nicht völlig gleichstellen. Sie verdient jedenfalls
weniger wegen ihrer Zahl als wegen der großen Wichtigkeit einer gesunden Land¬
wirtschaft auch in unserm industriellen Lande much jetzt noch eine etwas erhöhte
Berücksichtigung, zumal da sich die selbständigen Gewerbetreibenden auf drei Gruppen
verteilen. Dagegen kommen die Gruppen ^ II und ^ III in ihrer Bedeutung den
andern allerdings nicht gleich. Hiernach ließe sich vielleicht an eine Verteilung der
bisherigen Zahl von 82 Abgeordneten in folgender Weise denken: ^ I 14 Ab¬
geordnete, ^ II und III je 4, L C I—V und H! je 10.
Nach diesem Beispiel — ich möchte noch einmal ganz ausdrücklich betonen, das;
es nicht mehr sein soll — wäre jeder der Ständcgruppen eine angemessene Ver¬
tretung unbedingt gesichert; auch die Arbeiterschaft hätte sie wieder in einer ihr
gewissen Zahl, und zwar wirklich durch Arbeiter, während einem zu weitgehenden
Eintritt berufsmäßiger svzialdemokratischer Agitatoren wohl vorgebeugt wäre. Die
Verteilung aller Wahlberechtigten ans die Gruppen müßte aber, durch eine geeignete
Organisation geregelt, ebenso gut möglich sein, wie sie dem Statistischen Bureau
Alice Salomon hat eine Reihe von Vorträgen
unter dem Titel Soziale Frauenpflichten (Berlin, Otto Liebmann, 1902)
herausgegeben. Sie wendet sich gegen die Übertreibungen der Frauenrechtlerinnen,
glaubt aber mit Recht, daß die soziale Arbeit ein Gebiet sei, ans dem die Frau
dem Manne überlegen ist, und daß die Frauen, indem sie sich diesem Gebiete zu¬
wendeten, die ihnen aus deu heutigen Verhältnissen erwachsende Mission erfüllen
würden. Die Mädchen der höhern und der mittlern Stände sollen in der Schule
lernen, daß sie für den Staat, den Elend und Verbrechen gefährden, der aber
ihnen Recht und Ordnung, Schutz und Sicherheit gewährt, auch etwas zu leisten
verpflichtet siud. Sie beginnt mit den englischen settlements (Niederlassungen von
gebildeten Männern und Frauen in Proletariervierteln nach dem Muster von
Toyubee-Hall), einer Art von sozialer Hilfe, die in Deutschland nicht angebracht
sei, weil wir glücklicherweise große Stadtteile, wo auch nicht ein anständiger und
zu sozialer Hilfe befähigter Mensch wohnte, nicht haben, und zeigt, wie sich die
Frau in der Armenpflege, durch Überwachung des Frauen- und Kiuderschutzes und
durch Förderung der Orgnnisationsbestrebungen der Arbeiterinnen nützlich machen
könne; die Frauen, deren Hauptleiter der Maugel an nützlicher Beschäftigung sei,
sollten den Schwestern zu Hilfe kommen, die als Hausmütter und Fabrikarbeiterinnen
unter der Last doppelter Berufsarbeit seufzen. Das Bestreben, der verheirateten
Frau die Fabrik zu verbieten, bekämpft sie; ohne Not und zum Vergnügen gehe
keine in die Fabrik; das einzige Mittel, die aus solcher Notwendigkeit entspringenden
Übel zu mildern, sei Vervollständigung der Schutzgesetze, namentlich für die Zeit
der Schwangerschaft und des Wochenbetts. Zur städtischen Armenpflege werden
die Frauen jetzt schon amtlich herangezogen; den Anfang haben Danzig, Stolp,
Posen, Glogau, Mannheim, Erfurt, Kolmar, Bonn und Bremen gemacht. Im
Schlußkapitel wird dargestellt, wie die Frauen ihre Macht als Käuferinnen zum
Besten der arbeitenden Klassen ausüben können, indem sie nur in solchen Ge¬
schäften kaufen, die ihren Arbeiter» und Arbeiterinnen anständige Bedingungen
gewähren, und indem sie durch Bekämpfung der Nachlässigkeit im Bezahlen und durch
Verzicht auf die Preisdrückerei die Kvnsumentenmvral verbessern. Das Büchlein ist
zu empfehlen.
In unsrer Schülerbibliothek war eins
der gelesensten Bücher Beckers „Charikles." Der Einfall, das Reisewesen in alt-
.griechischer Zeit erzählend abzuhandeln und die dabei wichtigen Worte und Sprach-
wendungcn "unterhaltsam einzuprägen, erschien uns so vorzüglich, daß wir Beckeru
eine große Nachkommenschaft wünschten. Als sie aber Ende der siebziger Jahre
mit ägyptischen, römischen, altchristlichen Romanen von Ebers und Genossen da war,
gefiel sie uns nicht. Die Verfasser hatten mehr als Becker, sie hatten mit unzu¬
reichenden Kräften Poeten sein wollen; wer seine Zeit lieb hatte, klappte ihre dicken
Bücher bald zu und seufzte: „Philister über dir!" Die literarische Kritik steht
noch heute unter dem Übeln Eindruck dieser mißluugueu Versuche und will grund-
sätzlich von Belehrung in dichterischer Form nicht viel wissen. Das geht wieder
zu weit und widerspricht ausgemachten Interessen und Erfolgen. Der Gelehrte
soll Phantasie, der Dichter soll^Wissen und Kenntnisse haben; die Kunst kann nicht
bloß aus Kultur- und aus Zeitgeschichte wirksame und anschauliche Bilder geben, was
in der Gegenwart ja Scheffels „Ekkehard" am schönsten zeigt, sie kann mich spezielle
wissenschaftliche Fragen popularisieren. Wenn selbst gewagte Leistungen dieser Art.
wie die Jules Verres, außerordentlich starker Teilnahme begegnen, so beweist das,
daß die Menschheit die Verbindung von Gediegenheit und Anmut nach wie vor
hoch hält, und es folgt daraus, daß die Arbeit auf dem allerdings äußerst
schwierigen Doppelgebiet gefördert werden muß, soviel als möglich.
Aus diesem letzter» Grunde wird hier auf zwei Novellen aufmerksam gemacht,
die zu dem Vollendetsten gehören, was in unsrer Zeit aus dem Felde didaktischer
Erzählung gereift ist. Es sind zwei Arbeiten von Rochus Freiherrn von Lilieu-
cro»,*) überschrieben: „Wie man in Aniwald Musik macht" und „Die siebente
Todsünde."
Als Beiträge zur Kunstgeschichte beschränken sie sich nicht auf einen angenehmen
Umguß beknuuter Tatsache», sondern sie haben beide durch Aufstellung neuer An¬
sichten und Ziele, durch den Nachweis unbenutzt gebliebner wichtiger Quellen be¬
deutende» wissenschaftlichen Wert. Die erste müssen alle kennen, die sich mit der
Weiterentwicklung der musikalischen Liturgie der protestantischen Kirche beschäftige»,
ein der zweiten darf kein Shakespearcforschcr vorbeigehn. Die Fragen, die der Ver¬
fasser aus diesen Spezialgebieten hervorgezogen hat, eigne» sich für die sofortige
Behandlung vor einer großen Öffentlichkeit, denn sie sind frei von strittigen Details.
Aus diesen- Grunde hat der Verfasser die beiden Novellen vor einem Menschen-
"leer in Zeitschriften veröffentlicht, wo sie, wie das zu gehn pflegt, die verdiente
Beachtung nicht hinreichend gefunden haben. Die jetzige Buchform wird das be¬
stimmt wieder gut machen, weil wir an Geschichten, die als Kunstwerke das Lese-
publiknm fesseln, uicht reich sind. Die zweite Novelle ist ein Bild aus der eng¬
lischen Renaissancezeit: im Mittelpunkt steht Shakespeare in dem Augeiiblick. wo
er sich mit der Umarbeitung des Hamlets trägt. Der wissenschaftliche Kern ist
die Hindeutung auf de» Zusammenhang, der zwischen diesem Werk u»d der Lehre
vo» de» sieben Hauptsiuiden besteht, die von der Summa, tluzologin des Thomas
von Aquino her die Psychologie des Mittelalters und seiner Künste beherrscht.
Der Leser wird von dieser lehrhaften Absicht der Novelle kaum etwas gewahr,
sonder» freut sich oh»c Niiterbrechnug der prächtigen Schilderungen hochgestimmte»,
Phantnsievollen Festlebens, dnrch das die höhere Gesellschaft der Elisabcthischen Zeit
die Alltäglichkeit überwand und jeder Art vou Heimat, Natur, Häuslichkeit und
Zusammensein ein Stück Paradies abzugewinnen suchte. Nur ein seiner Kenner
on>" Mcnschcnwese» und Geschichte konnte diese ebenso realistischen wie taktvollen
milder aus eine», entlegne» Außen- und Innenleben gebe». Die Novelle würde
unter den Werken Konrad Ferdinand Meyers eine Zierde sein.
Shakespeare ist des allgemeine» Interesses sichrer als die protestantischeinnhenmusik. Wenn trotzdem die erste Novelle mit der Beschreibung des Musik-
Amwnld noch mehr Freunde finden wird als „Die siebente Todsünde,"
so liegt das zunächst daran, daß sie in der Gegenwart spielt, also vom Leser
weniger voraussetzt und verlangt. Dann aber ist es auch unverkennbar, daß sich
der Verfasser in der Welt der Kleinstädter und der Musikanten doch noch wohler und
freier gefühlt hat als bei dem Shakcspearestoff. Die Fabel ist sehr einfach: In dem
paritätischen Städtchen Anwalt, das wir in der Regensburger Gegend zu suchen
haben, hat sich die Tochter des katholischen Apothekers in den Sohn des protestan¬
tischen Kantors verliebt. Der Redens mori des katholischen Teils räumt die
Schwierigkeiten, die der Verbindung des Paares entgegenstehn, hinweg. Er ist die
Hauptfigur der Novelle, eine vorurteilslose, alle Lebensgebiete mit Verstand und
Tüchtigkeit bemeisternde Charaktergestalt, die man nicht wieder vergißt, und ihm
hat Liliencron seine bahnbrechenden Ansichten über die notwendige Anlage von
Kirchenmusik und ihren richtigen Betrieb, daneben auch eine Menge höchst witziger
und unbarmherziger Ketzereien über heutige Musikmoden in den Mund gelegt, die
allein berechtigen würden, ans das Buch aufmerksam zu machen. Der LvKviis
olwri ist also der Träger des wissenschaftlichen und des didaktischen Teils der Novelle.
Aber wiederum merkt der Leser gar nicht, daß er hier belehrt werden soll, und
wie in dieseni einen Fall ist die ganze Erzählung mit einer Virtuosität der Form
geführt, wie sie nur einem Meister zur Verfügung steht. Viele muß es in Er¬
staunen setzen, den Herausgeber der „Allgemeinen Deutschen Biographie," den als
ausgezeichnete» Forscher und strengen Gelehrten bewährten Verfasser zahlreicher
germanistischer und musikgeschichtlichcr Arbeiten mit der freiern Schriftstellerei so
vertraut zu sehen. Die Kenner seiner Lebenserinnerungen,") um deren Fortsetzung
wir im Namen vieler bitten, werden nicht unter den Überraschten sein, noch
weniger die, die dieser von Gott so reich gesegneten Ausuahmsnatur persönlich be¬
gegnet sind. Wir haben nnter unsern Erzählern von Profession keinen, der, sogar
wenn das bekannte eotsriL piu-idus hier zu brauchen wäre, sich mit Rochus von
Liliencron um Humor messen kann. Wie das liebenswürdig und geistvoll sprudelt,
könnte man gleich mit der ersten Seite der Amwalder Geschichte belegen. Wir
wollen aber dem Leser den Genuß nicht vorwegnehmen.
Die Kreuz¬
zeitung macht uns in Ur. 320 freundlich darauf aufmerksam, daß das Reichstags-
präsidinm dem Kaiser nicht den Eid zu leisten habe. Unser Mitarbeiter in Ur. 28
hat also geirrt, indem er als selbstverständlich annahm, was eigentlich selbstver¬
ständlich wäre. Im übrigen wird dadurch seine Argumentation zu Gunsten eines
Anteils der Sozialdemokraten am Präsidium nicht erschüttert. Denn wenn der
Reichstag eine Partei, die die Rechtsgrundlagen des Reichs prinzipiell negiert
und bei jedem Kaiserhoch demonstrativ den Saal verläßt, nicht nur in seinem Schoße
duldet, sondern anch zu seinen Kommissionen heranzieht, mit welchem Rechte will er
sie dann vom Präsidium ausschließen? Dafür könnten doch nur schwerwiegende
Zweckmnßigkeitsgründe sprechen. Und solche sprechen ebenso für als gegen die Zu¬
ziehung. Es gibt eben nur zwei Wege, die Sozialdemokratie als Umsturzpartei
zu überwinden, entweder ihre Entrechtung durch ein neues Sozialistengesetz, unter
Umständen ihre gewaltsame Niederwerfung, oder ihre Erziehung zu einer radikalen
Reformpartei, und dazu könnte ein Anteil am Präsidium mitwirken Weiß die
Die Redaktion
In naenstoKvnÄvr IldorsioKt Kömion wir uns ^oäv8 DinMlions »ut
Äio toto l'vilen:, so Koliodt alios aucili toi soloKon Kologonlioiton ist, ganz ontlialton,
Avril Avr Äoutsolio L!AoKtonmarKt liat hielt in Soiron Vorlmlton ÄuroK RüeKsioliton
aut clioso ?»utile so gut wio gar niolit bostimmon lasson. Dio maKoÄonisolion unÄ
Äio serbisoliotr-^Virron, Äio trostlose /ortalirondoit in <)storroio!i-Dn!;arn, Äio Sieb
immor unangonolnnor ausÄrüoKonÄo undogrünÄoto l^oinÄsoii^Koie in asu ?ur ^on
nood alio üiköntlivliv Noinung in DngliMÄ bostimmomion Äortigon Lroison uncl
Diättorn, alö VvllWllvalasMro, alö Manäsoliuroi unä was sonst nooli tur alio I^ago
in Avr äukorn Politik ins KovioKt kallvn Icünnto, aI1v8 Aas dat alö IZvrlinvr Kürso
last Min! Kalt golassvn. VivUoivKt Kann man Sieb übor Äioso unvorwüstiiolio unä
Mwiü auok borvodtigto ?rioäonsi-uvorsilll>t irouon. MvKt viol ÄNÄvrs flott of mit Asu
lÄnärüoKon, alio alö VorAngo Ahr innorn Politik gomavi^t I>abon. ^uoii ant idro
Dotraolitung Können wir Inor voilkommon voriiiuitton. Ls waron im wosontliolion
rollt wirtsoliattüolio DinZo, Äio tur Äio DowoFungon im IMoKtonmarKt Avr ^ussolÄag
gadou, unä 2war wio om DiioK in Äio Dörsondoriolito Aos tot/ton Ilald.iailrs Wigt,
moist Dingo von soi^r prolilomatisolior IZocloutung.
Das 5at>r 1902 svulok mit vivre novit gostimmton DrwartunAvn. vis IloMnnz?,
äalZ Avr 1'rioäo in LüäatriKa KrÄtiM Impuiso dringou würäo, war voiistänäig toiii-
Msoiüagon. ^.non Äio llotinungon Avr äoutsoi.on KroLinÄustrio our.ion nooii in Avr
iotxton Aonaton Aos alton Äaliros Äurol» mointaoiio ^.uKvrunMN anorkanntor Sack-
vorstiinÄigor soiir I,vrai>goSrüoKt, unÄ was i,n KosonÄorn Äio ^ustulrr naoli Avr Vor-
onugton LtalÄon Kotrat, so war Äio DosorZnis vor oinom unliodsamon LnÄo Aos
ÄortiMn, moiir oÄor wonigor tur Künstliolio Naolio Avr 'Irusts Miialtnon ^ut'se.KwunM
^lomliolr ailgomoin. DbsrrasoKonÄ Kam Äarum Äio solion im Januar Äiosos Aal»roh
lebdatt doginnonito ^utwärtsdovogung Aos ÄoutsoKon Lttolctonmaricts. Loviol auol»
Äarüdor tägiien unÄ vvollontlioli in Avr ZörsondoriolÄon MlosoMvrt worÄon ist,
ViMntlion Jene dis Konto Köln Nonscm sagon luinnon, voiror Äio Aas ganiio orsto
Viortoijadr KoiiorrsoiionÄg VoIÄs>bnuSs>N2 ant oinmal Iiorlcam, unÄ vioviol an nu'
rooll odor MinaoKt var. Ilirs tormollo LoMubigunA tanÄ hio allorÄinZs IlinroiolionÄ
ÄaÄuroK, ÄaL Äio Roioiisdanl! arn 11. I^odruar Avr Oislcontsati! von 4 ant
''^/s?roiiont ormälZigto. Lot^on im ^prit dogann Avr odonsovonig Klar bogrünäoto
liüolcsviüa!;, Äio soZonannto HolÄvorstoit'ung, Äio Äio Roioiisdanlc voranlaöto, am
^- ^uni Avr Diskont vioäor ant 4 ?roiiont orliölron. ^lo vsriautoto, datto ZioK
g;,^ staricor ^.blink äoutsoi>on Kapitals ^um />vook Iioiiorn Kowinns ins
^uslanä, namontlioli naoit Avr Voroinigton Ltaaton, ontwiokoit, oiiZioicK Avr
amorikanisolio „^ntsolnvnn!;" in LWUF ant homo Koollität nood iionto um Köln
^taar Kossor bourtoilt virÄ als am LnÄo von 1902.
Dbvr Äio Lmissionon nouor LitoKton im orston Ilaldjadr 1903 dorioliton wir
am Ki-unÄ clor vorÄionstvollon Statistik Aos „DoutsoKon VKonomiston" dosonÄors.
^or KaKou wir os nur mit Avr Hursdowogungon Avr am NarKt dotinÄli olion
^a-pioro lin tun.'
Wir wollen /unäolist Äio DowogunMN Avr tostvor^insliolion ?apioro do-
laoliton. 8lo giii,^ vonn man Aas gan/o orsto Ilallijalir i 903 mit Äorsoldon I'orioilo
von 1902 vorFloiolit, unstroitis von starke svmntomatlsollvr IZocloutung tur Äio (loutsollo
Virtsol.altliel,o ttosamtla'o,
g
Dio vwM oiMntninliolion LolnoKsalo Avr Doutsodon lioiolisanloilio üoigt
wlMuÄo Dborsiol.t-°
Der starke Abfall der dreixronentigen ^.nleibe ist viel besproelion aber
niemals lielriedigend erklärt worden, ^.in 17. ^prit wurden bokanntlieli 290 Nillionon
NarK neu xur ^eiebnung aufgelegt, und iiwar ihnen Kurse von 92,00. Der Börsen-
Kurs war an diesem ^sage 92,50; am 18. ^.xril 92,70, am 22. ^prit 92,60, am
25. ^urit 92,50. Von Lüde ^.xril bis Kute juni ging er dann bis auf 91,50 nurüek.
Ks ist an?.unebenen, bat die ungobeure Über^oielmung am 17. ^riril hauptsächlich
borbeigetubrt wurde duret^ die Spekulation, durch baldigen Verkauf den Kleinen
Kursgewinn einimbeimsen, den der ^eiebnungskurs vorlüeti. Durch das Übermal!
dieser Spekulation mullto der weitere Rückgang unvormeidlieli werden. Ob uncl wie
bei Künftigen Emissionen solebo Vorkommnisse, die allerdings mehr als Sebön-
lieitstokler aut^ulassen sind, vermieden werden Können, ist reichlich aber erfolglos
erörtert worden. V/ir wollen bior nicht darauf eingobn. jedenfalls aber sollte man
sich doch bemühn, die Bedeutung unsrer drviproMntigon Keiebsauleibo als aus-
geiseiebnetes ^V.nlagepapior auch vor einem ungünstigen Lebein nu sichern. Die bämisolle
I^rente unsrer Llutstreunde jenseits des Kanals über diesen Lebönbeitstobler gibt /u
denken. "Wenn die xartikularistisel^o Iloulmeiorei über die Ksiebs- und die Staats-
n'nanünot in Doutseblaud auch ternvrbin von der Regierung als boroebtigt anerlcannt
wird, obgloieb sie — von der finanziellen Kxiston/unfäbigKöit einiger gar nicht ins
Kewiebt lallender Il.aubstaat.en abgegeben — sowohl für die Kinzelstaaton wie für
das Kelch der >Vabrbeit seliroK widorspriebt, so soll man sielr nicht wundern, wenn
der dsutsede Koiebs- und StaatonKredit darunter einmal ernstlich leiden sollte.
Über die Bewegungen der Kurse deutscher Staatsanloibsn geben folgende
tvpisebe Dsispiolo Auskunft i
^ueb liier gowäkren die Salben — wenigstens der dreipro/.Lntigon I'apivrs — nicht
durchweg ein erlrouliedes IZild, obwohl auch nicht der gröüto 1'ossimist ihn bobaupten
wagen wird, das daraus irgend welcher beroebtigte SebluK auf eine unorfrvuliebv
Finanzlage der betreffenden Staaten gezogen werden Könnte, violinelir Mißt die
amtliebo Statistik unzwsifolbaft ibron glänzenden Zustand. >Vod1 aber ist die l^rage
immer wieder auizuworfen, ob der Übergang mur dreiprozontigou Ansiuö unsern
Verbältnisson überbauet schon entsprach.
!^um Vorgloieb stellen wir die Kurse einiger
Derov-Loaulieu lamentierte Kürzlich in seinem Kennomisto darüber, daL,
wie ör meint, infolge xolitisebor NiKwirtsebait in 1?ranKreie1> an der pariser IZörso
die Kurse der tranzösisebon I'onus geiallon, die der ausländischen dagegen gestiegen
seien. ?ur voutsebland wären solchs Seblüsso in der llauptsaebo Unsinn. Mr
das ist richtig, daÜ bei uns die ab irato vom Koiebstag cri-iwungne realctionäre
LürsonpolitiK den deutsebsn Staatspapioren den Markt arg verdorben bat.
Von kirkar 8vmvtomatisoKor Lecleutung sinnt
^e«lenlalls cLo cleutsolivn Ltaätanleilien, von äonon
tolgeN lassen.tur unser 'Wirtsel>altslel>en
wir einige t^piseke I^oisxi<4o
Diese Gallien sinnt unstreitig ein
LNUlivvg unsrer nationalen I'inauülüMKovois ertronliodon ki'ortseliritts
im ganzen.clor (Ze-
Lio werilen in lolirreieller ^eiso
lielion ?damal>riolo in I'reulZou, «Le.
sz>inlon so /iomliel« ontspreensn.'ergänzt «lurel« nie Kurse «1er 1 an«l soll alt
in idror (Zesamtlioit asu naokstolienäen Lei
Diese Lntwiolclung Sss MorviodtlMton NorKmals tur <Le KroSitiKnigKoit
unsers lanäwirtsoliat'tlioLon Krunädesitxes — troti? avr bekannten Not-
— bvÄark Keines vollem Kommentars. Man vergleioliv nur einmal «Lösen
LtanA ä«zr Dingo mit ckor I^Zo aler I^anSsvbakton in «Ion zwanziger ^laliren.
LnäLen mögen von lostverzinslielientaxieren novb angelul^re sein alio?lana-
»rioto clor Lz?potnöKsnb»nKsn, von Äonen vir absicmtlieli xvvi Derliner
Leisniole ausvälileu.
^ ^"tvioKIrmg ist um so ertreulieber, als Ava KreÄit der IlvnotboKon
Äurob Aas VvrsebulÄen «lor Doiter einiger solobor Institute vor Kurzemdanken lviÄor
so sobvero V^nunter
aveM8ol>lagen vnrÄon fina. Die Gallien bevsison geraÄo clarum
länzonclor.- i- " " «"«vullumn orn on AU»
'^
im allgei»eiiien um so g.°t..ekenbanken
so IZoispiels tdstvorzinsliebor laviere vorclon vollauf genügen, <Le onÄgiltigo
^°r>vinclung der IQ'isis «1i " r 19M in unserm gosamton V^irtsolia sieben mel.r
°aer weniger sobvver zu beklagen l.alten, anter allen Benet zu stellen Keraüo
6in testverMslielmn ?al>lere sel.einen uns in äieser Sinsiel^t b^ins^^ on-
»°mMr, als siolr ain nark<t «1e.^ Diviäen.Imi>axiero, «im ^r Äemnaodst ^)veräon, im ersten Ilaldjadr 190!) eine üdertriedns I.el>l.attigl<eit Knut tat. ^Ileiä ngs
ist niet^t auüer aelit .u las8en , äak im ersten IlalbMr 1902 alö Emission tost-
ver7.ins1ick>er laviere aukorgewölmliel. groko ^nsxrüolie an aom (5ol«lmarlit stellte.
In seiner
Uummer 1073 vom 11. .IM 6. ,1. vorüMntliolito <1er „voutseno Ökonomist" g.u1 Krunä
seiner se^tihti sensu ^.utiieieilnungen eine Lwtistilc aer äoutselien Immissionen im
ersten Lomoster 1903 unä aom VorMren, aer nuensteliencko Daten entnommen sind.
"Wir trennen ctadei alö tost veriiinslieilvn Spiere von clon DiviclemIonniMoron.
^.ut <1le Xiidlen, äoron Ltuäium vir vorläutig äem I^oser überlassen müssen,
vircl gologentlicil !?urüel<zzolcommen verlier.
Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften, auch wegen des volkswirt¬
schaftlichen Teiles, wolle man an deu Verleger persönlich richten <J. Grunow, Firma: Fr.
Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).
^n^eigen
Mleinige Inseralcnannahnie clurch
Hermann Uleigel. verum v., Neue ?riearichstr->sse 41/42
preis tur ale Zweigespanne Nonpareillexeile I Mark. Umschlagseiten erhödle preise
MW?^
fiir^socii s KsUvvus.
^IIre»»n»nivit°«, v«r»»I»»«>, II»»» 1.1!»»x«», in «i»/.ix »cliöxer I.»!so »» >1vrI«!Id<>; x«xv»iidvr <Ivi» I!x>. 8vI»I«»«,
<Jo»> prori»,»»», ilivlnxvr nun <Jor <Z«i»iiI<I«-<>l»1«rio. NoKtrluvnv »«Ivnvlilunx. I.ne. lüiilvr.
-- I!«i»i«v tur Xut«i»»IiiI<!.--I!. ÜOIUtvl'vIck, viisttoi.
Pianos
moilerne» Stils, rlügcl u»-I Pianinos i» vollkommener
Auslührung, sowie auch clculsche Harmoniums, Kslev-
vrgel» »na pianolas in reicher Auswahl cmpliel>le
IW. sback 5odn
Kgl. I?os°pisnosortessbriKant.
Neumarlit i ^VirNeumarkt ix
Re^Un. Lärmen, Vüsselclorf,
k)arnbu>g, Lonclon.
Le> Kant, Miete, Umtausch, ü-paratur o-ter Stimnning
I "'an sich »n -lie mehr als I»in<lertjÄl>rige Krladrung
I <>es llurch vier «Zeiicratlonen bestchenllen Hauses
_ „.—.—....,__.
IdacKl!lip<!tue!'8kei88tun<!büeli«r.
Ssrlin
nnÄ 17m-
Aobunk.
Is. ^uti.
^1902. g^ —
UorÄost-
vsutsod.-
' 1g.n<1 usbst
VÜIIgHliU^.
27. ^.ukt.
1902. 0^ —
Norclvsst-i>Ludsob.Ja,ii<1. 27. ^.uti.
1902. i> <^ — Sil<Z.-IZsiitsoIi1s.ri<Z.. 2«. ^.uti.
190». S ^ii — »iisiii1a.ri<1s. 2g. ^uti. 1902.
«-/<! — silet.?zi>,vorii, ^irol, La.1sdiirx
so. SV.^Vult^go. 1902. 8-//! —Ostsrrsioll
(runo V»UM>). 2». isos. o —
ostörrsioliUiix^rü. 2«.L.uti. 190». 8^ii
LslMSii null Soll-iiisl. 22. ^.uti.
1SV0. K^in —Obsrit-llisn. 1K. L.uti. 1902.
8 ^i! — »littolitÄUsn. 13. ^litt. 190g.
?,S0^ — I7iitöritg.Iisn. Is. ^mit. 1902.
v ^ii — Ibidlisn von <5su ^.Ixsn Kis
Dis^psl. b. ^nel. 190». 8 ^ — »ivisra
u.. Liictost-I^i'a.iilcrsieli. g. ^uti. 1902.
0 ^ — n. IlmssK. Is. ^.ut'l,.
19VS. 0 <in traun. tZpraeliei Zi>rg.nos:
I-ö lilorÄ-Dst. 190». 6,«,; I.S lisorcZ.-
Öligst,. ,902. S^.; I.S LllÄ-ZZlst. 1901.
0 -F,; 1,0 Suet-cZ^sse. 1901. I> ^) —
<Z-i'c>1Zbi'it^iinisii. !!. ^uti. 1S99. 10^
— I^oullon. It. ^uti. I9VI. 0 —
üiiLtnnci.. .->. ^uti. 1901. Is ^ ü-nssi-
»clwr Lurn.'IikUIuvr 1 ^ — Se. ?stsrs-
burZ. I90I. 4 ^ — Soli^sÄöii uncl
I^orvsgsil. v. ^uti. 1903. ?,S0 ^ —
Sobvsi!?. S». ^.uti. I9VS. 8 ^ - Lx^-
riiöxi u. ?c>rtng»1. 2. ^nel. 1899. 10 ^
^SVPtsn. S. ^nit. 1902. 1i> ^ —
Sriood.fil1lei1>1. S. ^«Q. 189S. 8 ^ —
?g,Iästiiig. ii. Lvrisn. S. ^uti. ISO».
12 ^ — vsor<1k>.ir>srilcg.. 189S. 12 ^t! (Il>
iMßl. 8xravii°! Lg-n-uta. 1900. S ^)
La Unser-?ortemonnsie
sus einem Stück eckten 8eel,un6- veter ^suclitenlcäer oline Kant Nut Siclreriieits-lZlixel,
^aliltascke »mal massivem I^eusildei scliioss mit
Stemnel Z,50 iVI. k>o>to 20 ?k, <KacI>n. 40 ?f.)
incl. Stempel mit belieb, Inscbnlt nebst l ?I
?!lrbe u. I Pinsel, vebei is0,0a0Stilet< sinnt schon
veite-alt. IZs ist »meh ü» schön, einen Stempel
mit ^clicsse stets 2ur kehn-I iisdem, um
athun Klinke, Kalten etc. stempeln ?u Können.
Man b-le tur <Zelt billigen preis alö-is virklick
Outes elegant, folia uncl praktisch. Kiele
lassen Sie sich 6och auch eins scliiclicn et!>-ete
aus 6er I^adi-iK vom Isi-k!n6ei-
IKeollo«- Kai8en,
K12, ausi-Iottsnstr. Is.
ferner billigst alle «»utseliulc- n.
»Se!til8tizmne>, Xumei-otoui-g.Wsppsn- u. 8lege>-
Pressen, ollvliös.Ivpenill'ueKei-eien.I.scKsiegel
8iegv>mllrlisn, ttevtogrsplien, em»!>svliilller.
Versinssli-eielien, ssalinenniigsl, ?it»ioller-
Halter, VlsltenKartsn etc. iVInsterb. gr, u. kr
»«kort »usselinelclen; ver I Kaiser-?orten. bestellt n. angiebt, on> e>
nuche ^n?eige gelesen, 6mi lüge ich nocli extra ein Inibscbes OescbenK bei
sicbemngs-SeseMchM
G-g>>. .SSö. jn Mann!>eiM. <Seg>>.
örunclltapital: b INillioncnNIK. —cuilliere 4 Millionen 1NK.
§ce°. TlusZ- nun Harn- <"»^ "aior-n-)
Transport Versicherung,
llnsall Versicherung
insvesonclere alle (lersichernng gegen Alle IlnlälK »lit
uncl 0l>»e präntienriicligeviälir!
rsnil- u. zeereise-llnlall-llcrsichcrung iMllpolicc);
Wse-Malt--
verskdemng
mit unä ohn« prämienrnckge«at>ri auch a»I
iHeöen5Z!eir» mit nur einmiillger Prämienzahlung!
Spei!i->I.^a<ihl»ftrer-UnIsII.(Iersic>,erung.
Kollektiv-Versicherungen. I,aftpf>IcI,tver-
sicderung.
«Zu»5versicderung.
Einbrucli- unc! Vieh;kahl-Ver8in1>erung.
Vertreter an allen Plänen gesucht. r>»l>e Provisionen.
,»ii<i<!i- <»i<!l>t /.u vorn<»',>i«<!l,> »>!l! OiLIi«!!. II»iInn!<l!die <et'»
Ilorl» I'rimlr. II»»!«!»!, i» ^<i^in^<>»)
^rült-
Xi »itlion^vom.81 lieu«.
I R<V Mz^i-K
l>o-t-?n>l>-«M»/l ri.Illi.z.K0 «sollt. Spoüi'aliUit
^ ^it. Vissei-ing, l.ser- >. o»w.
«r»««ii»n<IIun« I« «Silv«,««». (ZoMnNvt 1824.^is^/toe/« ^zenswnat Urtdkamp. Lerlin A.
vorxügliclier MittAg§ti§cI> uioi^er
auch ?ur Mave-?ensionaire. ^^in^
» KerUn flötet „ver iiaiserhof" -»
?immer von Z.50 Il>ki. an. Nnhigstc ».vornehmste »ge Lcrlins.
M»» INOS
uncl llkst^uralt Kor«
--üvlco -
<!>invIott,»n»,tru»«»Löi'lin- I'r>t<:I>t>>!>»
IkItoKsteeIvMn«» Ilvtvl So» SvKIössvri», !t»»von,
2 Zu»»I»n vom Ztnlinlwk I'rio(Ir!<:I>!«<r»»»«
Vornolim»», i>r»t!l!in«xixvK I>!»>«. I>n>Jor»c,r Jm>»rort.
K<»I>« ^ !'f«ini.in!>^, >Jot-?i>ait«mL
or.8c>imiik^8 ?KM0N it. Lr?ikduiiZ8an8t. l^Iinäk
Itvrxoclcirk Ixii in»>>I»>rN, ^rovc!'» i!!u-wu 7.
Lette-Verein
«»»er «em iprotelitora« Zhrer Mai. <>er Xkiiseri» »litt Röuigin.
Kerim H.» Viktoria Luisenplatt d.
Am 4. Nngnst sowie am >. jenes Monats beginnen:
a) In unserer tiewerdcschule: <Ile neuen Kurse liir alle einlache»
uncl leinen Ija>>elarlieiteu, Kuuststickereicn, tur Maschincnslicken u.
vrnamcntüeichncn. iiir Zchnciclern, put?., Masche/.nschneiclen unÄ
Nähen, platten, Frisiere» etc. >>) 1» <Jer Kochschnle: alle neuen
littrse xur Crlcrnttng aler einlachcn denkt leinen Küche, clef IZackcns,
Zervierens, t>hzt- uncl gcntiiscvenvcrtnng. c) /lusliiiclnng ?.ur
Kammcrlnnglcr einel tur cien häuslichen Lernt in cien hicrliir er-
lorclerlichcn Dächern, et) Anlnahme neuer Schülerinnen xur Aus-
hilclnng in iter linclidniclcrei. e) Unentgeltliche Unsliilclung von
Kunststiclierinnen kennt 5chriltset?.erinnen. — vaincnpcnsionat im
Hause. Nähere AusKunll u. /lnmclclnng clurch et, ilcrwallnngsburcau,
geöllnel von ?—b Uhr wochentäglich. Prospekte gratis et. Iraitlco.
IKL^P.ZKUM ^MMZilZiA
Kli»ixrvi<!l> 8n<:I>««n
MKors isokllisolis I^puro>ils1lau! tur LIsIciro- kittet
U^soliiusntövluiilc
Zlslctrotovliiiisvks miet As>soZiiiiends.u-IiÄbors,torisn
soo?lo I-olirkg^rite - AsrLstMßü
I'wAÄmmo vto. KcKtviüos l!tu'<-K ass Sölirstariat
Mo^^ii,^
K-roZS-IiiLdtßrksläk — Ost bßi Lerlm
'VirbvIeutMnaoaßvi,, «>M>>x»vn«r IsMtKvIvnIcliixaUmi»
VorKMoimmigon, XondrAkturv» hev., bot tri-loin venin»ijvl>vn
MjWgWlW I'i'»«l»out« »«L HVm„i,«I». UZMiZWA
RarZ borgen's ^else Kuresu «erimiu.
gesellschaltsreisen. — Zonclerlalirlcn. — UcrKattl I ?s,^>AsjcI»-
^ vo» Cisendal»,-n»c>0amvlschill-?al,ri!arten.^ I Strasse 7!
^7«^-.ruhiger die Wellen vor den Dämmen sind, die im Westen
Deutschlands Kaiser Wilhelm der Erste mit seinem märkischen Deich¬
hauptmann gegen die gallische Sturmflut gebant hat, desto
mächtiger bremsen jetzt von Osten her die slawischen Wogen gegen
das deutsche Volkstum. Der nationale Kampf ist ja selbst in
dem vorherrschenden Bundesstaate des jungen Deutschen Reiches, in Preußen, ent¬
brannt, und es wird der unerschütterlichen Energie der Regierung wie der
hingebenden Mitarbeit der parlamentarischen Parteien bedürfen, soll gegen den
Polnischen „Übermut," der auch eine noch volkstümlichere Bezeichnung verdiente,
ein im deutschen nationalen Interesse liegender Erfolg errungen werden, damit
nicht, wie nach dem großen Kulturkampfe — damals durch die Abschwenkung
der Linksliberalen zur Opposition — oder bei dem Kampfe gegen die Sozial¬
demokratie durch die Lässigkeit der Parteien, ein Umschwung eintritt, der jetzt
in der Stellung des Zentrums als der stärksten und in den Sozialdemokraten
als der ausschlaggebenden Partei seinen Ausdruck findet.
Das ist alles noch in der Ära Bismarck geschehen, von der heute alle,
deren Parteigeschüfte die Negierung nicht besorgen will, einmütig behaupten,
damals sei immer alles klar gewesen, man habe allemal gewußt, wohin die
Negierung wolle. Und doch hat man sie im Stiche gelassen. Was bei der
heutigen Unbelehrbarst des Zentrums, das uicht einmal durch die unzwei¬
deutige Absicht der Polen gewitzigt wird, bei der Neigung aller demokratischen
Schattierungen, die Reihen ihrer Opposition gleichviel woher zu verstärken, bei
der infolge der Agitation des Banernbunds immer weiter fortschreitenden Demo¬
kratisierung der Konservativen, sobald die Landarbeiterfrage ins Spiel kommt,
noch alles geschehn kann, wagen wir gar nicht auszudenken. Möge das
Schwarzseherei sein und — bleiben! Jedenfalls ist der langwierige Kampf gegen
das Polentum erst begonnen und noch nicht gewonnen.
Doch steht es auf dieser Seite uoch verhältnismäßig gut, anders sieht es
V^erreichischen Gebiet aus, wo nicht nur die oberflächlichen Germanisieruugs-
bestrebungM der Habsburger abgeschüttelt werden, sondern auch die alten
Zutschen Einwandrnngen und Marken bedroht erscheinen. Man braucht darüber'
weder die offiziellen Zahlungen noch das angstmeierische Geschrei der angeblich
oder wirklich Bedrohten als absolut stichhaltig anzusehen. Beide geben den
wirklichen Verlust des Deutschtums nicht zuverlässig um, denn es stecken darin
alle die unzuverlässigen Elemente und unsichern Kantonisten, die sich früher zu
den Deutschen rechneten, sich aber heute als Magyaren oder Tschechen ausgeben,
im Grunde aber ihre Stellung zum Deutschtum nicht geändert haben und in
das frühere Verhältnis znrückschwenken würden, sobald sich die Verhältnisse
wieder änderten. Das hat mit Fortschritten oder mit Rückschritten des Deutsch¬
tums nichts zu tun. Zuverlässiger ist schon das Resultat der letzten Volks¬
zählung von 1900, wonach zum Beispiel in Böhmen, wo doch der Rassen- und
der Sprachenstreit am heftigsten tobt, die Zahl derer, die sich der „deutschen
Umgangssprache" bedienen, nicht gesunken, sondern sogar um ein geringes ge¬
wachsen ist. Und dabei gilt gerade Böhmen als der eigentliche Brennpunkt
des erbitterten Sprachen- und nationalen Streits. Jedenfalls ist das Land
nahezu seit vier Jahrzehnten der politische Wetterwinkel Österreichs. Namentlich
seit sechs Jahren — nach den Badenischen Sprachenverordnnngcn, die ebenso
wieder aufgehoben worden sind, wie sie gekommen waren — hat der Zwist
Formen angenommen, die die ganze Monarchie in Mitleidenschaft ziehn zum
schweren Nachteile der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten
des Staatswesens. Es ist an sich natürlich, daß dort, an der äußersten Grenze des
Deutschtums und des Slawentums, ihre am weitesten vorgeschobnen Ausläufer
heftig aufeiucmdcrprallen, und daß auch beide Teile von starkem Volksbewußtsein
erfüllt sind und ebensowohl für ihre gesamte Kampfstellung wie für die einzelnen
Wendungen und die von ihnen angewandten Mittel hohe nationale Ziele und
Aufgaben in Anspruch nehmen. Daß sich gegenwärtig der Kampf hauptsächlich
um die Spracheubcrechtigung dreht, ist bloß eine äußerliche Erscheinung, in
Wirklichkeit handelt es sich um die politische Macht. Schon am 28. Februar
1885 sagte der Abgeordnete E. von Pierer (der jüngere) im Abgeordnetenhause
zu Wien: „Dieser deutsch-böhmische Streit ist die klaffende Wunde in dem
Leibe Österreichs." Es ist seitdem nicht anders geworden.
Die Wichtigkeit, die Böhmen für Deutschland hat, insofern es von Süd¬
osten her bis tief in die Mitte Deutschlands hineinragt, ist wohl von den sonst
klugen und überklugen, lauten und überlauten Leuten, die sich als Wortführer
des Deutschtums ausgeben, noch viel zu wenig, eigentlich gar nicht gewürdigt
worden. Das ehemalige Kurfürstentum Böhmen ist aber dem einstigen Deutschen
Kaiserreiche und dem nachmaligen Deutschen Bunde so lange einverleibt ge¬
wesen und wird von so zahlreichen Deutschen bewohnt, daß es unmöglich mehr
vom deutschen Nationalinteresse losgelöst werden kann, noch ganz abgesehen
von seiner geographischen Lage. Diese hat seinerzeit nach dem Friedensschluß
in Nikolsburg in einigen oberflächlichen Köpfen, die nach einem flüchtige» Blick
auf die Landkarte in der geographischen Abrundung des entstehenden Deutschen
Reiches die Hauptsache sahen, eine kurzlebige Unzufriedenheit darüber hervor¬
gerufen, daß nach den großen Siegen Böhmen nicht von Österreich abgetreten
wurde; heute ist wohl kein Mensch mehr im Zweifel darüber, daß es politisch
klug war, von so wenig durchschlagenden Grundsätzen abzusehen, kein Elsaß-
Lothringen im Osten samt einer unzerstörbaren Rcvanchelust in der österreichischen
Monarchie zu schaffen, und es dieser zu überlassen, sich mit den aufstrebenden
nationalen Bestrebungen des Tschechentums auseinanderzusetzen, das sich im
Herzen der mitteleuropäischen Lande niedergelassen hat und nach eigner Ver¬
sicherung entschlossen ist, sich nicht mit den deutschen Stämmen zu vereinigen,
sondern als „Pfahl im deutschen Fleische" in bewußter Feindschaft mit seinen
Nachbarn weiterzuleben. Das schließt nicht aus, daß gerade die böhmischen
Angelegenheiten ein dringlicher Gegenstand aller Erwägungen über die Zukunft
des deutschen Volkstums bleiben. Daß Deutschland dem deutscheu Einschlag
in der Habsburgischen Monarchie eine besondre Aufmerksamkeit zuwendet, ist
natürlich, das Gegenteil würde überraschend sein. Aber etwas weiteres als den
Ausdruck des Mitgefühls des deutscheu Volkes mit den Schicksalen der Deutschen
in Österreich darf man darin nicht sehen, umsomehr als für absehbare Zeit kein
deutscher Vorteil zu erkennen ist, um derentwillen man wünschen könnte, daß
die österreichisch-ungarische Monarchie aufhöre zu bestehn.
Nicht eine deutsche Frage an sich, sondern eigentlich eine Frage der innern
Politik Deutschlands ist das heutige Wirrsal in Österreich geworden, denn in
Wahrheit geht die Frage nach der Zukunft nicht bloß das deutsche Volkstum
an, sondern sie berührt in demselben Maße den Slawismus. So gerecht soll
man schon sein, das anzuerkennen. Aber der einfachste Egoismus muß den
Reichsdeutschen nahelegen, das österreichische Problem von dem Standpunkte
der eigensten Lebensinteressen zu betrachten, und deshalb handelt es sich dabei
um eine Frage der innern deutschen Politik, nicht der äußern. Das kann gerade
wegen der Wirkung auf die österreichischen Verhältnisse nicht scharf genug betont
werden, denn dort gehn unberechtigtes Mißtrauen gegen vermeintlich reichs-
dentsche Anschläge in dem einen Lager und wahnsinnig ausschweifende Hoff¬
nungen auf deutsche Hilfe in dem andern wild durcheinander. Die slawisch¬
feudale Clique tut so oder glaubt vielleicht wirklich, daß Deutschland nichts
sehnlicher verlange als die Beschleunigung des scheinbaren Zersetzungsprozesses,
damit es seine „protestantische" Hand auf die Gebiete bis zur Adria legen
könne. Die sonderbaren Schwärmer von der deutsch-radikalen Richtung bilden
sich dasselbe ein, aber nicht aus Furcht, sondern in der zitternden Erwartung,
daß ihnen die Reichsdeutschen wegen der unerträglichen Wirren und „Notstünde"
an ihrer Grenze beispringen und sie aus ihrem Staatsverbande aus irgend
welchen nationalen Gründen loslösen müßten. Beide vermögen nicht einzusehen,
daß es auch einen großpolitischen Standpunkt gibt, vou dem aus die nationalen
Wirren in Österreich doch nur einem „Sturme im Glase Wasser" — wenn
auch einem etwas großen — gleichen, von dem aus überschaut werden kann,
°aß sich die Nationen und die Natiönchen in Österreich, nachdem sie sich
genugsam gezankt haben, wieder vertragen werden, und daß das alles nicht an
Höhe hinanreicht, von der aus die Fragen der Großmacht- und Weltpolitik
entschieden werden müssen. Bei dein weit verbreiteten Mangel an praktischem
und Sinn, bei der krankhaften Sucht, alles nach vorübergehenden Wallungen
u höchstens nach den Sätzen des Privatrechts zu beurteilen, sowie bei der
Irrigkeit, sich in die Machtverhältnisse großer Reiche und Zwergstaaten,
großer Nationen und kleiner Stämme ernst hineinzuversetzen, mag die Einsicht
nach dieser Richtung vielfach mangelhaft sein, mögen Gefühle enttäuscht und
Hoffnungen geknickt werden, aber das ist um einmal so auf der Welt und
wird nicht anders werden.
Wenden wir uns besonders wieder Böhmen zu. Der heutige Besitzstand
der beiden dort lebenden Völker ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen
Geschichte, die in der Hauptsache von der orographischen Gestaltung des Landes
bestimmt wurde. Was aus vorgeschichtlicher Zeit auf uns gekommen ist von
Bevölkerungen, deren Namen verklungen ist, und von denen nur vereinzelte Alter¬
tümer Kunde geben, ist nicht viel und beweist nur, daß sich unter den Ein¬
flüssen der süd- und der mitteleuropäischen Hallstattkultur in Nordböhmen, mehr
noch in Mittelböhmen, die erste Eisenzeit zu hoher Blüte entfaltet hatte. Auch
diese Urzeit Böhmens zeigt das Ringen zweier Volksstämme. Als die Be¬
siedlung des alten Germaniens durch die Deutschen begonnen hatte, und diese
von dem Ursitze ihres Stammvolkes des westlichen Zweiges, der Semnonen an
der mittlern Elbe und Saale, aus die Kelten im Westen und im Südwesten
durch den Überschuß ihres Nachwuchses vertrieben, bis sie schließlich auf die
Römer stießen, wehrte ihnen im Südosten ein undurchdringlicher Wald- und
Gebirgsgürtel das Vordringen, und die wahrscheinlich keltische Bevölkerung in
Böhmen blieb von ihnen ungestört. Jedenfalls hatte sich mitten unter Ger¬
manen der keltische Stamm der Bojer dort hinter den Bergen behauptet. Erst
hundert Jahre vor Augustus drang der große Suebenbund in dieses fruchtbare
Gebiet ein, aber das Reich der Markommmeu wurzelte nicht fest in dem neu
erworbnen Boden und brach schnell unter römischen Intriguen zusammen. Auf
dem Reliefband der Triumphsäule des Markus Aurelius sind als Verteidiger der
Pässe des Böhmerwcildes Krieger dargestellt, die sich scharf von den Germanen
unterscheiden, nicht nur in Kleidung und Bewaffnung, sondern auch im Gesichtstypns,
der noch heute so im tschechischen und slowakischen Landvolk vorkommt. Aus diesen
und andern Gründen darf man nicht ohne weiteres abweisen, daß die Vor¬
fahren der heutigen Tschechen Kelten waren, die später ein slawisches Idiom an¬
genommen haben, woran nichts Auffälliges liegen würde. Doch die Tschechen
wollen davon nichts wissen und durchaus Slawen sein. Für unsre weitere
Betrachtung ist es ohne Belang. Daß die deutschen Eroberer und Kolonisten
bald wieder südwärts nach der Donau zogen, ist für die weitere Entwicklung
des Deutschtums im Südosten von Folgen begleitet gewesen, die wir noch heut¬
zutage spüren. Die spätere geräuschlose Besetzung des Landes durch die Slawen
erfolgte von Südosten her. Als dann im Mittelalter das ganze Odergebiet im
Osten von Böhmen wieder dnrch den deutschen Pflug und deutsche Bürger
germanisiert wurde, blieb namentlich die Mitte des böhmischen Ninglandes in
den Händen eines fremden Volks.
Die heutigen Dcutschböhmen sind nun uicht, wie von tschechischer Seite gern
behauptet wird, germanisierte Slawen, deren Sprachgebiet von den Tschechen
wieder „zurückerobert" werden müsse, sondern sie verdanken ihre Wohnsitze einer
alten deutschen .Kolonisation, die in größerm Maße ihren Anfang im dreizehnten
Jahrhundert nahm. In den Grenzländern der Donau und der Oder entstanden
im Mittelalter Marken, in der Ostmark waren die Avaren unter den Karolingern
vernichtet, die Ungarn unter den Sachsenkaisern geschlagen, und das Land durch
Kolonisten aus Bayern besiedelt worden, und der Bauer in Österreich wußte
Wohl, daß er unes deutschem Recht ein freier Mann war. Auch Böhmen besaß
seine weitausgedehnter Marken und behielt sie um so länger, als die Voden-
gestaltung diesem Schutzsystem günstig war. In Böhmen hat, wohl infolge
der innern Schwächung des Deutschen Reichs, die Entwicklung nicht denselben
Verlauf genommen wie in andern Marken, die schließlich die Herrschaft über
die geschützten Gebiete gewannen, aber die in den böhmischen Marken tätigen
Geschlechter der Riesenburg, Lichtenburg und Rosenberg hatten dnrch deutsche
Kolonisation ihren Wohlstand und ihre Selbständigkeit gehoben. Das innere
Land war slawisch geblieben, und die dort zur .Herrschaft gelangenden Herzöge
erwarben auch die Oberhoheit über die Marken, aber sie setzten die ersprießliche
Tätigkeit der Markgrafen fort, und namentlich das Königsgeschlecht der Prze-
mysliden suchte seine Einkünfte durch ausgedehnte Kolonisation zu mehren. Der
ausgedehnte Waldboden, der noch der Kultur entbehrte, bedürfte der schaffenden
Hand, des betriebsamen Geistes und des befruchtenden Kapitals, und nur
der Deutsche war geeignet, diese Bedingungen zu erfüllen und die Einöde in
fruchtbares Land zu verwandeln. Es geschah dasselbe, was anch die Piaster
in Schlesien in ausgedehntem Maße unternahmen. Die Deutschen wurden ins
Land gerufen, bezahlten einen Teil des Kaufpreises für das erworbne Land
und erhielten es zu mäßigem Zins in Erbpacht. Dafür blieben sie freie
Bauern und erhielten das Privilegium, sich nach deutschem Recht in deutscher
Sprache von selbstgewählten Richtern richten zu lassen. Schon Herzog Sobies-
law hatte im zlvölften Jahrhundert den Deutschen in Böhmen besondern Schutz
zugesichert, und König Przemysl Ottokar gewährte den deutschen Gemeinden in
Böhmen das Privilegium der deutscheu Sprache. Die einträgliche Einrichtung
der deutschen Kolonisierung wurde in eine förmliche Ordnung gebracht, und
die böhmischen Könige überließen nicht nur das eigne kulturlose Gebiet den
Deutschen, sondern sie kauften selbst noch umfangreichen Kirchenbesitz dazu, um
ihn der nutzbringenden deutschen Bewirtschaftung zuzuführen.
Die Tschechen waren dazu nicht geeignet. Als die Besiedlung dnrch die
Deutschen begann, saßen sie auf dem leichtern Boden der Ebnen im Innern
und der breiten Flußtäler, der ganze umfangreiche Rand im Norden, im Westen
und im Süden war unbewohnt, und sein schwerer Waldboden wurde allmählich
von den Deutschen als Besitz erworben, angebaut und zu der Blüte gebracht,
deren er sich noch heute erfreut. Es wäre den Tschechen gar nicht möglich ge¬
wesen, dieselben Ergebnisse zu erreichen, denn sie waren dazu an Zahl zu schwach
und saßen als unfreie Bauern auf dem ihnen nicht gehörenden Boden, auf dem
sie kaum ihr kärgliches Dasein hatten. Gerade den Przcmysliden gebührt das
Verdienst, namentlich den Nordosten gegen die damalige polnische Grenze und
un Nordwesten das Gebiet an der obern Eger der Kultur durch freie deutsche
Kolonisten erschlossen zu haben. Neben dieser Besiedlung des ehemaligen Wald¬
gelnets ging eine ausgedehnte Städtegründung einher, indem die Przcmysliden,
namentlich Wenzel der Erste und Ottokar der Zweite, die Marktplatze an den alten
Gauburgen mit deutschen Vürgerkolonien besetzten. Außer Prag gab es im alten
Böhmen keine Stadt, aber auch da entstand am Porschitsch ein deutscher Bnrgflecken,
der vom ersten böhmischen Könige die Bestätigung seiner Gemeindeverfassung erhielt,
die in dem Privilegium gipfelte, daß die Deutschen aus ihrer Mitte deutsche
Richter wählten; ihnen vertraute der Fürst den Schutz der Prager Burg an,
wenn er abwesend war. Die deutschen Städte waren das Rückgrat des böh¬
mischen Staates, von ihnen strömten der slawischen Bevölkerung Bildung und
Wohlstand zu, und die durch die Städte erweiterte Handelsgelegcnhcit gewährte
auch dem slawischen Bauer die Möglichkeit, seine erübrigten Erzeugnisse in Spar¬
pfennige umzusetzen. Hunderttausende von Bauerngründen wurden allmählich
auch an slawische Bauern unter denselben Bedingungen wie an die deutscheu
Kolonisten abgetreten, und so ging zugleich mit der deutschen Kolonisation eine
Art Emanzipation eines großen Teils der einheimischen tschechischen Bauern vor
sich. An der deutschen Kolonisation lag es wahrlich nicht, daß Böhmen nach¬
mals wieder das gelobte Land der Bauernschinderei wurde. Was dem Lande
Böhmen heute noch zu seinem Glücke fehlt, ist die betrübende Tatsache, daß
damals die Germanisation nicht weiter fortgeschritten ist, dank der Fahrlässigkeit
der Habsburger und dem Egoismus des böhmischen Adels, dem tschechische Hörige
lieber waren als freie Bürger und Unwissenheit lieber als Wissen.
Böhmen hatte infolge dieser Entwicklung schon seit Jahren zum Deutschen
Reiche gehört, das allerdings in seinem Verfall seit Heinrich dem Vierten und in dem
Anwachsen der Selbständigkeit der Reichsfürsten den Königen von Böhmen den
Antrieb zur Loslösung gab, wobei sie die Stammesverschiedenheit der Mehrzahl
ihrer Bevölkerung als Anlaß benutzten Von dieser Zeit an beginnt die stärkere
Betonung des Tschechentums, der die Niederlage des mächtigen Königs Ottokar des
Zweiten gegen Rudolf von Habsburg nur geringen Abbruch tat. Der freie Teil des
tschechischen Bauernstandes und die in die deutschen Städte und Märkte im
Innern des Landes zugezognen tschechischen Handwerker trugen zur Hebung
ihres Volksstammes wesentlich bei, und dadurch wurden einzelne Plätze, wohl
auch mit Unterstützung des königlichen Regiments, namentlich nnter den Luxem¬
burgern, tschechisch, aber das ganze Raubgebiet blieb trotz aller Wechselfülle
deutsch; dort saßen die Deutschen fest auf dem von ihnen in zwiefacher Art
aus eigner Kraft erworlmen Boden. Allerdings scheinen die Tschechen die ihnen
wirtschaftlich überlegnen Deutschen niemals sehr geliebt zu haben, trotzdem mußte
Prag gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts als eine germanisierte
Stadt gelten, die nicht nur in Politik und Handwerk, sondern auch in Wissen¬
schaft und Kunst ein selbständiges und kräftiges Leben auswies. Seit 1346
war durch den Luxemburger Karl den Vierten Böhmen der Mittelpunkt des Reichs
geworden, und seit 1348 zog die Blüte der deutscheu Jugend nach der viel-
türmiger Moldaustadt, sich dort an der ersten Universität des Deutschen Reichs,
die nach dem Muster von Bologna und Paris eingerichtet war, die Geheim¬
nisse und die Würden der Wissenschaft und der freien Künste zu holen.
Allerdings muß man zugeben, daß die Universität Prag nicht in dem
Sinne als „deutsche" Wisseusstütte errichtet wurde, daß die deutsche Sprache
als Unterrichtssprache gegolten hätte. Dergleichen war in dieser Zeit undenkbar,
selbstverständlich waren Amtssprache mit Vortrüge lateinisch, die deutsche Sprache
wurde erst durch Hofdekret vom 5. Februar 1787 eingeführt. Noch weniger
konnte aber die Universität Prag bei ihrer Gründung als tschechische Anstalt
angesehen werden, was ja gerade die Geschichte ihrer spätern zeitweiligen Tschechi-
sierung beweist. Die Universität Prag war eine selbständige Genossenschaft der
Studenten, die sich selbst verwaltete und ihren Rektor selber wählte. Die
sendenden waren nach der Stiftungsurkunde entsprechend ihrer Heimat in vier
Gruppen eingeteilt, die „Nationen" hießen. Es gab eine „bayrische Nation"
für die Studenten aus Bayern, Österreich und den übrigen Alpenländern, eine
„sächsische" für Norddeutschland, eine „polnische" für Polen und Schlesien und
eine „böhmische" für Böhmen, Mähren und Ungarn. Jede Nation hatte in
allen Universitütsangelegenheiten statutenmäßig eine Stimme. Nun hatten die
Händel zwischen den fremden Nationen und den Tschechen, zwischen Juristen und
Artisten selten geruht. Die Deutschen in Prag standen unter den Tschechen als
eine bevorzugte Minderzahl der Bevölkerung, an der Universität waren sie die
große Mehrzahl, und es war natürlich, daß sie sich an die aristokratische Partei
in Böhmen, die höhere Geistlichkeit und den deutschfreuudlichcn Adel, anlehnten.
Ebenso natürlich war es, daß sich die tschechische Partei auf ihren wüsten König
Wenzel stützte, der in Deutschland längst aufgegeben worden war, und daß sie die
Stimmungen ihrer Freunde und Verwandten, der tschechischen Bürger und Bauern
vertrat. Der Streit zwischen Deutschen und Tschechen schärfte sich zu Anfang
des fünfzehnten Jahrhunderts über die Lehre Wiklefs zu, und im Jahre 1409
brach die große Trennung aus. Auf Andrängen der Tschechen und des tschechischen
Adels erließ König Wenzel eine Verordnung, die das Universitütsprivileg
umstieß und der „böhmischen Nation" drei Stimmen, den drei andern „Na¬
tionen," die weitaus die größte Mehrheit der Studenten umfaßten, zusammen
nur eine Stimme gewährte. Die Tschechen beriefen sich dabei mit Unrecht ans
Paris, wo die Franzosen auch drei Stimmen, die Fremden nur eine hatten,
aber das entsprach den dortigen Mehrheitsverhältnissen. Man ersieht daraus,
daß die Tschechen schon vor fünfhundert Jahren die Neigung hatten, die große
Nation spielen zu wollen. Es kam zum Bruche, die Deutschen und die Polen
wollten sich die Verletzung der Universitütsrechte nicht gefallen lassen und
schwuren, sie würden von Prag wegziehen, wenn die rechtswidrige Verordnung
nicht zurückgenommen würde. Als wirklich der Rat des Königs, Nikolaus von
Lobkowitz, die neue Verordnung mit Gewalt durchsetzte, den bisherigen deutschen
Rektor aus dem Amte verdrängte und einen neuen Rektor aus der tschechischen
Minorität als gewählt erklärte, da erfolgte der denkwürdige Auszug von mehr
als 5000 deutschen und polnischen Studenten, in der Mehrzahl nach Leipzig.
Dadurch verlor die Universität den Charakter einer großen Akademie und wurde
der Brennpunkt eines leidenschaftlichen Parteitreibens.
Diese Trennung wurde ein schicksalsschweres Ereignis für die Tschechen
und für den lautern Charakter, der bis dahin der Führer einer jugendlichen
und begeisterten Opposition gewesen war. Die national-religiöse Bewegung,
. ^ Wenzel selbst begünstigt worden war, ergriff nach Hussens Hinrichtung
in Konstanz die gesamte tschechische Bevölkerung, die mit tollkühner Energie die
Herrschaft in Böhmen an sich zu reißen trachtete. Als Prag selbst nach wilden
Mordszenen in die Hände der Schwärmer gefallen war, wollte endlich Wenzel
strafend eingreifen, aber ein Schlagfluß machte seinein Leben ein Ende. Sein
rechtmäßiger Erbe war Kaiser Siegmund, aber die tschechischen Kelchbrüder ver¬
weigerten dem „Henker" ihres Propheten die Anerkennung und rüsteten sich
zum Widerstand. Um die gänzliche Ausrottung des Katholizismus in Böhmen
zu verhindern, wurde endlich in den deutschen Nachbarländern das Kreuz ge¬
predigt. Aber die Kreuzheere vermochten nichts auszurichten, vergeblich ver¬
suchte ein solches die von Ziska besetzte Stadt Prag zu erobern; alle Stürme
wurden abgewiesen. Im Jahre 1431 floh ein zweites großes Reichsheer von
14000 gerüsteten Pferden, 80000 Mann streitbaren Volks und einer Wagen¬
burg von 8000 Wagen schmachvoll beim Herannahen der schwächern Hussiten-
scharen wieder über die böhmischen Grenzberge zurück, und seit dieser Zeit wußte
jedermann, daß das Reichsheer in seiner Zusammensetzung aus zahllosen Kon¬
tingenten und uneinigen Fürsten ein ebenso kraftloser Mechanismus geworden
war wie das Deutsche Reich selbst. Von da an begannen die Kriegszüge der
Hussiten gegen die Deutschen; ihre Siege waren freilich nur möglich durch den
schmählichen Verfall des Reichs; die Nebenlünder, namentlich Schlesien, litten
unsäglich. Die Kriege wurden schließlich durch Verträge infolge der Uneinigkeit
der tschechischen Parteien notdürftig beendet, aber bis zum Ende des Jahrhunderts
dauerten vereinzelte Raubzüge tschechischer Haufen und Aufstünde des verwilderten
Volks. Auch ein Teil der deutschen Gemeinden in Böhmen zerfiel während
der Hussitenkriege, und die Grenzen des deutschen Kolonisationsgebiets wurden
durch den Hussitenstnrm nach Osten hinausgedrängt und sind auf dieser Seite
nicht wieder hergestellt worden.
Der Hussitenkrieg hinterließ unfertige chaotische Zustände, das Land ver¬
sank in wüste Anarchie, wurde durch zeitweilige Verbindung mit Ungarn in
eine zwiespältige Stellung zum Reiche gebracht und behielt seine separatistische
Stellung zur Kirche. Erst 1526 siel Böhmen wieder an das Haus Habsburg
zurück. Zwei Jahrhunderte nach der nationalen Universitütsrcvolntion standen
die Tschechen aller Stände wieder in voller Revolution, setzten ihren Landesherrn
ab und wählten sich den Kurfürsten Friedrich von der Pfalz zum König, der
freilich kein volles Jahr regierte, die Schlacht auf dem Weißen Berge gegen
den Kriegsmeister Tilly verlor und anßer Landes flüchtete. Nun brach ein
furchtbares Strafgericht über Böhmen herein, denn der jetzige Kaiser war kein
Luxemburger Siegmund, sondern ein Habsburger und überzeugter Zögling der
Jesuiten, dem es mit der Ausrottung der Ketzer voller Ernst war. Er schlug
aus religiösen Gründen die wesentlich nationale Bewegung der Tschechen nieder.
Die traurigen Exekutionen in Prag am 21. Juni 1621 bezeichnen den Abschluß
der alten Entwicklung Böhmens, Söhne der bedeutendsten tschechischen Adels¬
geschlechter des Landes, hervorragende Bürger und Gelehrte, also die Repräsen¬
tanten seines gesamten Kulturlebens, endeten hier und mit ihnen ihre Be¬
strebungen. Die Geschicke des Landes wurden fortan von Fremden geregelt, die
für die bisherige Entwicklung kein Verständnis und keine Teilnahme hatten. Am
10. Mai 1627 unterzeichnete Ferdinand der Zweite das Patent zur Einführung
der „vernewerten" Lmidesordmmg, und von diesem Augenblick an brach die
bisherige Entwicklung des Landes endgiltig mit den alten Traditionen. Zu
gleicher Zeit wurde auch die deutsche Sprache als gleichberechtigt erklärt, und
sonach das Sprachengesetz von 1615, das der tschechischen Sprache die alleinige
Herrschaft im Lande verschaffen wollte, wieder beseitigt. Durch ein Dekret, das
am 31. Juli 1627 veröffentlicht wurde, teilte der Kaiser mit, daß er eigne
Reformationskommissionen aufgestellt habe, die die Widerspenstigen in der katho¬
lischen Religion unterweisen sollten. Nicht weniger als 728 Edelleute wurden
ihrer Güter verlustig erklärt, viele auf Lebenszeit eingekerkert, die reformierten
und die lutherischen Priester wurden verjagt, mit ihnen wanderten 30 000 fleißige
Familien aus. Was in Böhmen geschah, vollzog sich auch in ähnlicher Weise
in allen österreichischen Ländern, es war ein Völkermord ohne gleichen. Diese
unglückselige Maßregel der Gegenreformation, die mehr als der Krieg zur Ent¬
völkerung des bisher blühenden Landes beitrug, traf in Böhmen Deutsche wie
Tschechen gleich hart, doch haben dort die Verheerungen des Dreißigjährigen
Krieges von Norden nach Westen her ein geringes Vorrücken der deutschen
Sprachgrenze zur Folge gehabt. In Böhmen nahm man noch im Jahre 1730
an, daß der vierte Teil des Grundes, der vor dem Dreißigjährigen Kriege
Ackerboden gewesen war, mit Wald bewachsen sei.
Doch das war noch nicht das größte Unglück. Im Deutschen Reiche stand
es nicht anders, vielfach noch schlimmer. Über zwei Drittel der Bevölkerung
waren in dem Kriege vernichtet worden, der Nest lebte in Armut, Elend und
greulicher Verwilderung. Aber überall in deutschen Landen standen in der
traurigen Zeit nach dem Kriege Tausende, die sich in dem Gefühl stark wußten,
daß auch sie den bewaffneten Verehrern bis zum Tode stand gehalten hatten
wie ihre Väter und Nachbarn. In den bekehrten Ländern des Kaisers war
dieses Gefühl selten, die Starken, die Charaktere der Völker waren hingerichtet,
im Kampfe gefallen, des Landes Vertrieben, die übrigen hatten sich der Not
gebeugt. Die Nachwirkung blieb nicht aus. Anderthalb Jahrhunderte lang
führten die ihrer besten Kräfte beraubten Stämme, Deutsche und Tschechen, ein
unheimliches Traumleben. Dem tschechischen Volke war wenig mehr von seiner
Vergangenheit geblieben als die düstern Erinnerungen seiner Königsstadt, ein
leicht erregbarer Pöbel und die Neigung zu herber Frömmigkeit, die nach wenig
Jahrzehnten vor den neuen Bildern der Heiligen die Ketzer verfluchte, aber
doch hängte vielfach der tschechische Landmann daneben die Bilder von Hus und
Ziskci, zündete wohl auch den alten Ketzern eine Lampe an. Doch es war
em dumpfes Hinbrüten, die führenden Geister fehlten den Deutschen wie den
Tschechen in Österreich.
Auch draußen im Reich ging es nur langsam, aber doch vorwärts. Es
dauerte ein volles Jahrhundert, bis die neu aufblühende Literatur und Wissen¬
schaft wie die kriegerischen Erfolge Friedrichs des Zweiten das Volk zu neuem
.eben weckten. Nie hat eine Literatur eine solche Rolle gespielt und unbewußt
w"'sAufgabe gelöst, wie die deutsche seit 1750. Und gerade darum,
und - ^""se ""d Wissenschaft der Deutschen keinem besondern Zweck diente
nchts wollte als ehrliche Leistungen auf ihrem Gebiete, durchglühten ihren
lautern Flamiilen das Gemüt der Deutschen, bis sie sich wieder eins fühlten
und dadurch gehärtet wurden zu dem Kampf um ihre nationale Einheit und
Selbständigkeit. Auch aus Österreich kamen fast zu derselben Zeit neubelebte
Regungen der Kunst, und es ergoß sich von dn aus über die Welt eine unend¬
liche Fülle von Melodien, ein schier unerschöpflicher Reichtum der Musik, der
Kunst der leidenden Völker. Erst viel später trat anch in Österreich ein Auf¬
schwung der Literatur ein.
Auch in Böhmen gingen die Wiederbevölkerung und die Entwicklung äußerst
langsam vor sich. Die Deutschen waren dabei im Vorteil, denn ihnen kam
aus dem wieder erstarkenden Reich Zuschuß an aufstrebenden Kräften, die Tschechen
waren auf sich selbst augewiesen, der neue Adel und das Beamtentum standen
fremd zu ihnen, aus den stammverwandten, aber in der Kultur zurückgebliebnen
Slowaken konnte ihnen kein fördernder Zuwachs erblühen. Daraus allein
erklärt es sich, daß bis zur Mitte des vergangnen Jahrhunderts die Zunahme des
echten und germanisierten Deutschtums ein rascheres Wachstum zeigte, als die des
Tschechentums; wohl haben die wirtschaftlichen Maßnahmen Josephs des Zweiten
hie und da deutscher Kolonisation nochmals Raum geschafft, doch blieben die
Erfolge für die nationale Entwicklung ziemlich unbedeutend, weil es sich nur
um vorübergehende und nicht nachhaltige Maßnahmen handelte. Bestimmte
zahlenmüßige Angaben liegen darüber nicht vor, auch die spätern Mitteilungen von
Schafarzik und Czörnig aus den vierziger Jahren widersprechen sich und können
nnr als ziemlich willkürliche Schätzungen gelten. Der Grundstock des deutschen
Landes in Böhmen ist aber immer das alte Kolonisten land geblieben, das der
Schweiß deutscher Bauern und Bürger in vielen Jahrhunderten erkauft, redlich
und ehrlich für die deutsche Sprache erworben hat. Wie die Tschechen freudig
verkünden, hat das Jahr 1848 dieser Entwicklung einen Riegel vorgeschoben.
Die neue tschechische Partei hat sehr klein angefangen. Angeregt durch den
Aufschwung der neuen deutschen Literatur und durch den Eifer, mit dem unter der
Napoleonischen Herrschaft die Gebrüder Grimm und andre deutsche Gelehrte
die ruhmwürdigen Erinnerungen der deutschen Vorzeit sammelten, fiel es
tschechischen Forschern ein, die alte tschechische Volksgeschichte anch wieder aufleben
zu lassen. Ihr größter Erfolg und Aufschwung kam von der Veröffentlichung
der sogenannten Königinhofer Handschrift, die Wenzel Hmcka am 16. September
1817 in einem Gewölbe des Kirchturms der Stadt Königinhof gefunden
haben wollte und herausgab. Charakteristisch für die ganze neuere literarische
Bewegung der Tschechen ist, daß sich dieses älteste tschechische Literaturdenkmal,
angeblich aus dein dreizehnten Jahrhundert, als eine Fälschung oder im
günstigsten Falle, wie dies nach den Feststellungen des Professors L. Dvlcmsky
wohl jetzt gelten mag, als ein Scherz in der Manier des Magisters Knips in
G. Freytags „Verlorner Handschrift" herausgestellt hat, den Hcmka selbst nicht
mehr aufklären mochte, nachdem das Erzeugnis seiner Laune zum tschechisch-
nationalen Eigentum erklärt worden war. Die vierzehn Gesänge epischen und
lyrischen Inhalts, die sich als Bruchstück einer größern, verloren gegangnen
Sammluug darstellten, schildern u. a. die Stadt Prag, wie sie erst in späterer
christlicher Zeit gebaut war, sie enthalten grobe Verstöße gegen Sitte und
Gewohnheit der ältern Zeit, aber anfangs dachte niemand an eine Täuschung,
und obgleich die Lieder viel leidenschaftliche Feindschaft gegen die Deutschen
zeigen, wurden sie doch von den gutmütigen Deutschen als ein köstlicher wissen¬
schaftlicher Fund bewundert, übersetzt und gedruckt. Die Tschechen wollten sich die
älteste Schrifturkunde ihrer Literatur auch dann nicht nehmen lassen, als nam¬
hafte deutsche Gelehrte, zuerst FeifM, dann Büdinger, Schembera, Wattenbach,
Knieschek, Lippert. sowie der Slowene Copitar, später auch die Tschechen Gebauer,
Masarzyk, Gott die Unechtheit bewiesen hatten.
Im Jahre 1858 wurde der damalige Redakteur des „Tagesboten aus
Böhmen," Dr. Kuh, der in seinem Blatte mehrere Artikel eines Prager Ge¬
lehrten gegen die Echtheit der Handschrift veröffentlicht hatte, in einer Ehren¬
beleidigungsklage des damaligen Bibliothekars des tschechischen Nationalmuseums,
Wenzel Hanka, zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, eine Strafe, die ihm
jedoch durch einen Guatemale erlassen wurde, und noch dreißig Jahre später
beschloß der akademische Senat der tschechischen Universität in Prag, daß der
außerordentliche Professor der tschechischen philosophischen Fakultät, Kral, drei
Jahre lang dem Minister nicht als ordentlicher Professor vorgeschlagen werden
dürfe, weil er wie Professor Masarzyk die Echtheit der Köuiginhofer Handschrift
bestreite. Das Ministerium hob aber den Beschluß mit der Begründung auf,
der akademische Senat sei zu solchen Beschlüssen nicht berechtigt. Die jüngern
tschechischen Gelehrten haben sich allerdings der Erkenntnis von der Unechtheit der
Handschrift nicht verschließen können, und in den letzten Jahren hat der tschechische
Philologe I. Mandal nachgewiesen, daß die epischen und die lyrischen Lieder der
Königinhvfer Handschrift mit einer einzigen Ausnahme ziemlich wörtlich mit
Liedern zweier russischer Volksliedersammlungen übereinstimmen, die Hanka nach
eigner Aufzeichnung 1813 von einem russischen Soldaten gekauft hat, und
daß ferner die meisten der bisher unaufgeklärten „alttschechischen" Ausdrücke der
Handschrift dieser russischen Liederbücher entnommen sind. Der schon genannte
Professor L. Dolnnsky hat endlich auch direkt erwiesen, daß Hanka nicht etwa
einer Täuschung zum Opfer gefallen ist, sondern die Handschrift selbst an¬
gefertigt hat. Dolansly hat in den farbigen, zur Ausfüllung einer Zeile
dienenden ornamentalen Buchstaben der Handschrift, in denen man bisher nur
Zierstücke sah, ein ganz gewöhnliches Versteckrätsel entdeckt. Er bemerkte
nämlich, daß immer ein aufrechter Buchstabe mit einem umgestürzten abwechselte.
Als er nun die verkehrten Buchstaben aufrichtete, konnte er das Rätsel einfach
lösen, indem er las: V. 11^1» thon. Die Königinhofer Handschrift ist end-
giltig abgetan.
(Schluß folgt)
und den andern Mächten konnten diese Vorteile natürlich kein
Geheimnis sein; man war bestürzt, vergaß aber sich selbst
und den eignen Mangel an Voraussicht anzuklagen. Nichts¬
destoweniger mußte der Adrianopler Friede, „weil er das
europäische Gleichgewicht in empfindlicher Weise störte," die
Keime neuer Verwicklungen enthalten. Vorläufig hatte die diplomatische
Siegeslaufbahn Rußlands ihren Höhepunkt noch nicht einmal erreicht. Die
griechische Frage war ganz im Sinne Rußlands durch Errichtung eines selb¬
ständigen Königreichs gelöst, dessen Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit man
auch fürsorglich sofort durch Verleihung einer möglichst demokratischen Ver¬
fassung unterband; dank der Indolenz Frankreichs und Englands hatte das
Jahr 1830 für Rußland in Polen keine gefährlichen Verwicklungen gebracht,
und die kopflose Politik der verbündeten Kabinette von Paris und London in
der Sache Mehmet Alis zwang die Pforte, bei Rußland Schutz vor dem re¬
bellischen Vizekönig von Ägypten zu suchen. Nußland sah sich dafür mit dem
Vertrage von Hunkiar Skelessi (1833) belohnt. Rußland und die Pforte
kamen überein, sich gegenseitig Ruhe und Sicherheit zu gewähren — wobei
natürlich von vornherein der Stärkere im Vorteil war; damit aber die Pforte
durch die Last dieser Verpflichtung nicht allzuschwer gedrückt werde, begnügte
sich Rußland damit, daß die Pforte gegebnenfalls zugunsten Rußlands die
Dardanellen fremden Kriegsschiffen verschließe. — Rußland betrachtete das
Schwarze Meer danach schon als einen russischen Binnensee, was England
auch sehr bald erfuhr. Als dann Europa die Türkei nach der Schlacht von
Nisib (1839) nochmals vor Mehmet Ali „gerettet" hatte, wurden in einer
Konvention vom 13. Februar 1841 die erwähnten Bestimmungen über die
Meerengen dahin abgeändert, daß die Pforte, solange sie im Frieden wäre,
keine fremden Kriegsschiffe in die Dardanellen und in den Bosporus ein¬
lasse, mit Ausnahme der für den Dienst der Gesandten bestimmten leichten
Stationsschiffe.
Der Zeitraum von 1833 bis 1841 ist zweifellos der, wo Nußland den
Höhepunkt seiner Machtstellung im europäischen Orient erklommen hatte. In
Konstantinopel gebot es fast unumschränkt, die Donanfürstentümer standen,
wenn auch nicht formell, unter seiner Botmäßigkeit, und ein 1840 zwischen
Österreich und Nußland abgeschlossener Vertrag belehrt darüber, daß Nußland
auch das Recht zuerkannt worden war, jeder Macht — auch der Türkei —
die Schiffahrt auf der Donau zu verbieten, falls diese Macht mit Rußland
im Kriege lüge; im übrigen trug es das seinige dazu bei, durch Vernachlässigung
des Zustandes des Fahrwassers den Douauverkehr möglichst zu erschwere». —
Die Gefahr, die Rußland drohte, lag in einer Vereinigung Österreichs, Eng¬
lands und Frankreichs, und deshalb richtete es nun diplomatisch alle seine
Bemühungen darauf, eine solche Koalition zu verhindern und das schon be¬
stehende englisch-französische Bündnis zu sprengen. Zunächst hatten überseeische
Differenzen zwischen diesen beiden Staaten schon Verstimmungen erzeugt, die
Nußland benutzte, sich England zu nähern, und von der Unvermeidlichkeit einer
Katastrophe im Orient ausgehend, den Vorschlag zu macheu, daß sich London
und Petersburg für den Fall des Ausbruchs dieser Katastrophe verstündigen
sollten, um die Übeln Folgen einer solchen für Enropa abzuwenden. Diese
Eröffnungen waren geeignet, England für die nächsten Jahre an Rußland zu
fesseln, nachdem dieses durch die Begünstigung der Einverleibung Krakaus in
Österreich ein Zerwürfnis zwischen diesem und England hervorgerufen hatte.
Rußland unterließ es aber auch nicht, durch Einmischung in die deutschen
Dinge Österreich und Preußen von neuem zu verfeinden, sowie England zu
bestimmen, daß es mit der ungarischen Revolution sympathisiere und „Deutsch¬
land" mißtrauisch betrachte, indem Nußland die Londoner Minister freund¬
schaftlich auf den „maritimen Ehrgeiz" der Deutschen aufmerksam machte.
Die Bewegung des Jahres 1848 bot Rußland natürlich wiederum Gelegen¬
heit, sich als Vorkämpfer der konservativen Interessen zu gebärden. In ihrem
Namen besetzte es die Donaufürstentümer und erpreßte von der Pforte den
Vertrag von Balta Linum (1849), der die russischen Rechte über die Moldau
und die Walachei erweiterte. Die Gelegenheit war ja zu günstig, da Österreich
infolge der ungarischen Revolution ohnmächtig zusehen mußte. Aber Nikolaus
ging in seinem Edelmute noch weiter, indem er seine Truppen in Sieben¬
bürgen einrücken ließ, bis endlich nach der Schlacht von Vilngos Ungarn
zu seinen Füßen lag. Nikolaus war keine romantische Natur, wie Friedrich
Wilhelm der Dritte, die Hilfe, die er damals der habsburgischen Dynastie
bot, sollte ihr ihre Ohnmacht zu Gemüte führen und sie an Rußland ketten,
das, wie Vilagos zeigen sollte, ihr ihre Machtstellung garantieren könne.
Daß „ran in Wien das Demütigende der Politik des Kaisers Nikolaus
empfand, dafür ist der bekannte Ausspruch Felix Schwarzenbergs der beste
Zeuge; er sprach von dem „schwärzesten Undank," den Österreich Nußland in
der Orientfrage werde bezeugen müssen. Vorläufig hatte jedoch die Inter¬
vention Rußlands in Ungarn die Aussicht auf ein längeres Zusammengehn
des Petersburger und des Wiener Kabinetts eröffnet und dadurch eine An¬
näherung zwischen England und Frankreich herbeigeführt. Nußland hatte sich
genötigt gesehen, die Donaufürsteutümer endlich wieder zu räumen, aber
wahrend es durch seine Agenten die Serben und die Bulgaren gegen die
Pforte aufreizte und Montenegro zu einem wichtigen Stützpunkt seiner Politik
es"^' Nikolaus die Annäherungsversuche an England wieder auf, um
Die ^ die Aussicht auf eine Teilung der Türkei in sein Interesse zu ziehen.
^ Fürstentümer sollten ein „unabhängiger" Staat unter russischem Schutze
bleiben. Serbien und Bulgarien könnten dieselbe (!) Regierungsform erhalten,
Ägypten und Kreta dagegen an England fallen. — Man sieht, wie uneigen¬
nützig Kaiser Nikolaus war. Daß dieser Teilungsplau ernst gemeint war, ist
übrigens kaum anzunehmen; England sollte damit wohl nur hingehalten
werden, bis man in Petersburg den geplanten Angriffskrieg gegen die Türkei
diplomatisch vorbereitet hätte, kurz man wollte für diesen Fall ein englisch-
französisches Gegenbünduis verhindern. In diesem Punkte täuschte sich Nikolaus
allerdings. Napoleon der Dritte war ein andrer Diplomat als die Minister
Louis Philipps. Montenegro hatte schon losgeschlagen, und Österreich hatte
durch den Grafen Leiningen in Konstantinopel im Interesse der Erhaltung
des Friedens interveniert, um die Pläne Rußlands zu durchkreuzen. Dies zu
verhindern mußte Nußland durch Mentschikows Sendung den Abbruch der
diplomatischen Beziehungen zur Pforte herbeiführen, ohne daß das Peters¬
burger Kabinett mit dem Londoner vorher vollständig ins reine gekommen
wäre. — Der Ausbruch und der Verlauf des Krimkrieges sind zu bekannt, als
daß er wiederholt zu werden brauchte, uur einige Bemerkungen über die Hal¬
tung Österreichs und die Gesamtlage scheinen am Platze.
Hätte die Revolution 1848, besonders in Frankreich, gesiegt, dann wäre
Kaiser Nikolaus zweifellos die Möglichkeit geboten gewesen, seine Pläne durch¬
zuführen nud mit der Türkei zu Ende zu kommen. Indem es jedoch Napoleon
gelang, die revolutionäre Bewegung zu meistern, schuf er damit nicht nur die
Möglichkeit eines französisch-englischen Bündnisses gegen Rußland, soudern
gab auch Österreich den nötigen Rückhalt, sich trotz seiner voraufgegauguen
Demütigung vor Nußland diesem in den Weg zu werfen. — Die Politik Öster¬
reichs im Krimkriege ist fast durchweg abfällig beurteilt worden. Vom rein öster¬
reichischen Standpunkt betrachtet ist diese Kritik berechtigt; von einer Undank¬
barkeit Österreichs gegen Rußland kann man jedoch nicht sprechen. Es standen
Österreich damals zwei Wege offen, entweder eine Verständigung mit Ru߬
land zum Zweck einer gemeinsamen Intervention in Konstantinopel, oder
aber ein Bündnis mit den Westmächten. Österreich konnte sich für keinen der
beiden Wege entscheiden, sondern wählte, zwischen der Wahrnehmung seiner
Interessen und der Rücksicht auf Rußland schwankend, einen kostspieligen und
nicht sehr rühmlichen Mittelweg, auf dem es wohl die direkte Bedrohung
seiner Orientintcressen verhinderte, sich aber den Haß Rußlands erwarb, ohne
dem Petersburger Kabinette Respekt und den Westmächten Achtung eingeflößt
zu haben. Dabei muß jedoch bemerkt werden, daß Österreichs Tatkraft auch
sehr wesentlich durch die Rücksicht auf Preußen gehemmt war, das unter
russischem Einflüsse stand, und von dem besorgt werden mußte, daß es die
übrigen deutschen Staaten hindern werde, Österreich zu unterstützen, falls es
in einen Krieg mit Rußland verwickelt würde.
Der Krieg war von den Westmächten schlecht vorbereitet worden, und
die Unsicherheit der deutschen Verhältnisse hatte die russische Diplomatie
wesentlich gefördert; trotzdem beweist der scheinbar geringfügige Inhalt des
Pariser Friedens, daß in der Entwicklung der orientalischen Frage eine be¬
deutungsvolle Wendung eingetreten war. Der Pariser Friede berichtigte die
bessarabische Grenze, d, h, Rußland trat die Donaumündungen und eme.n
Streifen bessarabischen Gebietes ab; das sehr.arze Meer wurde neutralisiert,
und Rußland verpflichtete sich, an seiner Küste leine Seearsenale anzulegen
und auf dem Schwarzen Meere nicht mehr Kriegsschiffe zu halten als die
Türkei (je 6 zu 800 und je 4 zu 200 Tonnen); ebenso wurde das Donau¬
delta ueutralisiert. und die Freiheit der Donauschiffahrt dnrch zwei Kommissionen
gewährleistet, deren eine, aus Bevollmächtigten der Vertragschließenden be¬
stehend, die Stromarbeiten übernahm, während die andre, permanente, aus
Abgeordneten der Westmächte zusammengesetzt, die Strom- und Schissnhrts-
polizei ordnete und nach Auflösung jener (europäischen Komnnsfton) für die
Instandhaltung des Fahrwassers sorgen sollte; endlich wurden im Hat Hnmajmm
die schon im Hattischerif von Gülhaue (1839) ausgesprochen Grundsätze über die
Gleichstellung der christlichen Untertanen der Pforte in Glauben, Sprache.
Besteuerung und Ämterfähigkeit genauer gefaßt, zugleich aber auch die Douau-
fürsteutümcr und die orientalischen Christen überhaupt der einseitigen Schutz-
Herrschaft Rußlands entzogen.
Man hat seinerzeit diese Bestimmungen vielfach als unzureichend be¬
zeichnet: zum Teil trifft das auch zu, aber ein ausschließliches Protektorat
Rußlands über die orthodoxen Balkanvölker wurde seit dem Pariser Fnedeu
nicht mehr anerkannt. Das war aber zunächst das wichtigste, weil dadurch die
staatlichen Umbildungen auf der Balkanhalbinsel unter europäische Kontrolle
gestellt wurden. In Petersburg selbst legte man übrigens darauf nicht viel
Gewicht und hoffte nach wie vor. die christlichen Balkanvölker durch die
Gemeinsamkeit des orthodoxen Bekenntnisses beherrschen zu können. Diese An¬
nahme hat sich jedoch nicht als richtig erwiesen: Rußland hatte die Bedeutung
der Konfessionalität überschätzt und die der Nationalität unterschätzt.
Zunächst zeigte sich das in der rumänischen Frage, deren Entwicklung
allerdings alle diplomatischen Berechnungen zusehenden machte. Noch in
Paris hatten Frankreich. England und Österreich einen Garantievertrag zur
Aufrechterhaltung des Besitzstandes der Türkei abgeschlossen, aber Rußland
hatte es sich angelegen sein lassen, sich alsbald mit Frankreich auf guten Fuß
zu stellen und Österreich zu isolieren, um sich an ihm durch Forderung der
italienischen Pläne Napoleons zu rächen. Die Übereinstimmung Rußlands
und Frankreichs zeigte sich auch sofort in der orientalischen Frage, wenn auch
die beiderseitigen Voraussetzungen verschieden waren. — Im Pariser Frieden
waren die Donaufürstentümer unter europäische Garantie gestellt worden,
indem zugleich Reformen angekündigt wurden. Frankreich schlug alsbald die
Vereinigung der Motten und der Walachei unter einem Wahlfürsten vor. in
der Erwartung, daß das so zu schaffende Rumänien schon wegen seiner An¬
ziehungskraft auf die Rumänen in Österreich und in Rußland Frankreich gute
Dienste leisten würde. Rußland ging ans diesen Plan ein. um durch die
Bereinigung ein Gebiet zu schaffen, ans das es zwar nicht mehr einen ver¬
tragsmäßigen, so doch vermöge des gleichen orthodoxen Glaubens den aus¬
schlaggebenden Einfluß ausüben zu können glaubte. Die Türkei widerstrebte
natürlich diesem Plane, und ebenso Österreich, das von der nationalpolitischeu
Organisierung des Numünentmns eine Beunruhigung seiner Rumänen be¬
fürchtete. Die Sache wurde wie so oft nicht durch einen Vertrag sondern
durch den Gang der Ereignisse erledigt, indem 1859 Alexander Cusa in beiden
Fürstentümern zum Hospodcir gewählt wurde. Fürs erste schien Rußland
Recht behalten zu sollen, jedoch mit der Vertreibung Alexanders und der
Wahl des Prinzen Karl von Hohenzollern vollzog sich ein Ereignis, das die
Berechnungen aller Interessenten an der rumänischen Frage täuschte. Gerade
die Vereinigung der beiden Fürstentümer, die Österreich gefürchtet und Nu߬
land gewünscht hatte, hat die wichtige strategische Linie der untern Dornen
dauernd Nußland entzogen, Österreich im Südosten gedeckt und der russischen
Angriffspolitik einen Riegel vorgeschoben, den sie anch 1876 nicht zu sprengen
vermochte.
Freilich hatten sich mittlerweile auch an andern Punkten Ereignisse voll¬
zogen, die das Gesicht der orientalischen Frage gründlich veränderten. Öster¬
reich hatte nicht nur seine italienische»! Besitzungen verloren, sondern war 1866
auch aus Deutschland dauernd ausgeschieden. Seine Entwicklung nach diesen
beiden Seiten war abgeschlossen, zumal da der Verlauf des deutsch-französischen
Krieges und die Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs unter Preußens
Führung die Ergebnisse des Jahres 1866 sanktioniert hatten. Österreich war
unter der Mitwirkung Rußlands geschwächt worden, aber dieses hatte keinen
Gewinn davon; war Österreich vor dem Jahre 1866 nach drei Seiten hin offen
gewesen, d. h. mußte es auf drei auseinanderliegende Punkte seine Aufmerk¬
samkeit verteilen: auf Deutschland, Italien und den Orient, so konnte es nach
dem Jahre 1871 seine tätige auswärtige Politik auf die orientalischen Dinge
beschränken. Ihre auswärtigen Bedürfnisse wie auch der begreifliche Wunsch
der Dynastie, die erlittnen Verluste zu ersetzen, ermöglichten der Monarchie
nunmehr, als weit leistungsfähigerer Konkurrent Rußlands in der orientalischen
Frage aufzutreten. Die Aufgabe der Wiener auswärtigen Politik war ver¬
einfacht worden- Daneben hatte aber auch die Neugründung des Deutschen
Reiches die Beziehungen der Mächte zur orientalischen Frage außerordentlich
beeinflußt.
Das bekannte Wort Bismarcks von den Knochen des pommerschen
Grenadiers, die Deutschland nicht dem Orient opfern dürfe, hat, richtig ver¬
standen, wohl auch heute uoch seine Giltigkeit; aber man würde irren, wollte
man daraus schließen, daß erstens Deutschland kein Interesse an der Ent¬
wicklung der Dinge auf der Balkanhalbinsel habe, und daß es zweitens niemals
in die Lage gekommen sei, sie zu beeinflussen. Wir haben gesehen, daß eine
der Hauptbedingungen für das Anwachsen Rußlands zu einer europäischen
Großmacht die politische Ohnmacht des Deutschen Reichs war; daß die preußisch¬
österreichische Rivalität beide Staaten unter das Gebot Rußlands beugte, und
daß sowohl Kaunitz als auch Friedrich der Große nur in einer Sammlung
der deutschen Kräfte ein Mittel zur Abwehr der europäischen Herrschaft Ru߬
lands sahen. Erst hundert Jahre später sollten sich diese Hoffnungen ver¬
wirklichen. Rußland hatte den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges
benützt, sich der lästigen Beschränkungen zu entledigen, die ihm der Pariser
Friede für das Schwarze Meer auferlegt hatte; Bismarck lieh ihm dabei seine
tatkräftigste Unterstützung, zwischen Berlin und Petersburg bestand eine durch
das persönliche Verhältnis der beiden Kaiser verstärkte Übereinstimmung,
und doch kann man schon fühlen, daß das Vorhandensein eines Deutschen
Reichs an sich ans die russische Eroberungspolitik hemmend zu wirken be¬
ginnt. — In Rußland wirft man heute noch dein Fürsten Undank und Mi߬
gunst gegen Rußland vor; mit Unrecht. Bismarck wollte die Erhaltung des
europäischen Friedens, weil das neue Deutschland dessen zu seiner Kon-
solidierung bedürfte; dadurch kam seiue Politik allerdings in einen gewissen
Gegensatz zu der traditionellen Rußlands; er war bereit, Rußlands Pläne in
jeder Weise zu fördern, aber nur so weit, als sie den Frieden nicht gefährdeten
und damit den deutschen Interessen nicht zuwiderliefen. Die Zeit, wo sich
preußische Minister ihre Instruktionen aus dem russischen Hotel in Berlin
holten, war allerdings vorüber. Bismarck war für ein Zusnmmengehn mit
Rußland, aber wie der alte Metternich einmal sagte, daß nichts nützlicher sei
als das Bündnis zwischen dem Meuschen und dem Pferd, man aber der
Mensch und nicht das Pferd sein müsse, so war auch Bismarck sich dessen
bewußt, daß Deutschland bei einem Zusammenwirken mit Rußland nur dann
nicht der leidende Teil, daß es nur dann imstande sein würde, deu euro¬
päischen Frieden gegen die revolutionären Traditionen Peters des Großen zu
sichern, wenn die Europa mitten durchschneidende Linie von Kiel uach Trieft
von einer im guten Sinne konservativen Politik beherrscht würde. Daß Bis¬
marck das Zeitalter der Revolutionen gut kannte und ihre bewegenden Kräfte
und die Bedingungen ihrer Erfolge richtig einschätzte, beweist seine Haltung
am Ausgang des preußisch-österreichischen Krieges.' Ans seinen „Gedanken
und Erinnerungen" ist bekannt geworden, mit welcher Energie er sich damals
allem widersetzte, was bei dem österreichischen Hof unnötig einen Stachel der
Demütigung und Verbitterung hätte zurücklassen können, denn schon damals
rechnete Bismarck mit einem deutsch-österreichischen Bündnisse, das ganz in
anderm Sinne als die Heilige Allianz eine revolutionäre Entwicklung — die
la acht immer die Jakobinermütze tragen muß — hiutanhnlten sollte. Zum
aktenmäßigen Ausdruck kam dieser Gedanke Bismarcks zuerst in der vom
^4. April 1867 datierten Depesche an Herrn von Werther, die auch schon die
erste Skizze des Defcnsivbündnisses in Verbindung mit der orientalischen Frage
ausweist. Beust trat damals dazwischen. Aber schon von Versailles ans
(Dezember 1870) nahm Bismarck den Plan wieder ans und kam durch die
^alserzusammenkunft in Ischl dem Ziel auch näher. Unterstützt wurde er
^aber durch die Einsicht der damals in Ungarn maßgebenden Kreise. Die
^vue hatte mit den Magyaren Frieden geschlossen und Ungarn seine staats¬
rechtliche Selbständigkeit im Rahmen einer dualistischen Verfassung wieder-
_ , en. Daß diese sich einlebe, war die erste Sorge der ungarischen Staats-
Au"!^' bedurften sie aber des Friedens. Andrassy, der damals das
^is ^"^ " ^er leitete, ging deshalb bereitwillig auf die Pläne
tur^"?^ ""d ein Bündnis der drei Kaiser schien das beste Mittel zu
^ -^erwirklichnng zu sein, da es voraussichtlich auf das Verlangen Nuß-'
leads nach einer Revanche für Scbastopol beruhigend wirken, mindestens aber
zu einem Einverständnis zwischen Österreich-Ungarn und Nußland in der Be¬
handlung der Orientfrnge führen und somit einen Zusammenstoß zwischen diesen
beiden Machten verhindern mußte, — Daß sich diese Erwartung nur zum Teil
erfüllte, daran trugen die Eitelkeit Gortschakows, die Umtriebe Jgnatiews in
Konstantinopel und endlich wohl auch das Bestreben russischer Kreise schuld, sich
dem gewaltigen Einflüsse des Vorhandenseins des neuen Deutschen Reichs zu
entziehen. In Petersburg wußte man wohl, daß Deutschland im eignen
Interesse Plänen entgegentreten müsse, die geeignet wären, die Stellung
Österreich-Ungarns auf der Balkanhalbinsel zu vernichten. Die Annäherung
zwischen Wien und Berlin stellte nun Rußland vor die Alternative, entweder
sich der österreichisch-deutschen Entente anzuschließen und in den orientalischen
Dingen im Einverständnisse mit Österreich-Ungarn vorzngehn, mithin auf jede
einseitige Eroberungspolitik zu verzichten, oder aber zu ihrer Durchführung
eine andre Allianz zu suchen, Frankreich kam zunächst in Betracht, Revanche¬
ideen und monarchische Restaurationsversuche hatten in Paris eine fieberhafte
Stimmung erzeugt, und da man in Petersburg nicht säumte. durch Hinweise
auf angebliche Vorbereitungen Deutschlands zu einem Angriffskrieg gegen
Frankreich dieses zu erhitzen, schien das Dreikaiserbünduis gesprengt und der
Abschluß eines russisch-französischen Kriegsbünduisses in nächste Nähe gerückt
zu sein. Der Sturm wurde jedoch beschwöre», und als im Jahre 1875 in
der Herzegowina ein Aufstand ausbrach, dem russische Agenten nicht fern¬
standen, und sich auch die Serben erhoben, kam es zu eiuer Verständigung
der drei Kanzler, der später im Juli 1876 das russisch-österreichische Abkommen
von Reichstadt folgte, dessen Existenz heute nicht mehr bestritten wird, und
dessen Inhalt nur insofern noch nicht ganz klar ist, als ganz in neuster Zeit
von russischer Seite behauptet wird, daß damals Österreich-Ungarn Bosnien
und die Herzegowina von Gortschakow zwar zugestanden, diese Abmachung
jedoch von Kaiser Alexander dem Zweiten nicht ratifiziert worden sei.
Der wichtigste Punkt in dem sich aus dem Aufstand in der Herzegowina
entwickelnden letzten russisch-türkischen Krieg ist das Eingreifen der rumänischen
Armee, das Nußland die militärischen Erfolge des Feldzugs sicherte und ihm
damit auch die Möglichkeit des Abschlusses des Vertrags von San Stefano
bot. Nußland schien am Ziel seiner Wünsche zu sein; es sollte einen Teil
Armeniens, Kars, Batna und Bajesid und in Europa die nördliche Donau-
mündung erhalten: die Dobrudscha aber sollte an Rumänien abgetreten, Serbien
und Montenegro für unabhängig erklärt und endlich ein autonomes Fürsten¬
tum Bulgarien errichtet werden, das, von der Donan bis zum Ägüischen Meere
reichend, Bulgarien und den größten Teile Rumeliens und Makedoniens um¬
fassen, den Nest der europäischen Türkei also in zwei Teile zerschneiden sollte.
Diese letzte Bestimmung war die wichtigste, aber auch die anstößigste. —
Von einer Andrassy nahestehenden Seite wurde später darüber gesagt: „Der
Vertrag von San Stefano war eine Verletzung alles dessen, was Rußland
bei Beginn des Krieges Deutschland und Österreich-Ungarn versprochen hatte."
Aber die Erkenntnis dessen Hütte Österreich-Ungarn nichts genützt, wenn sich
die Weltlage seit 1828 nicht so gründlich verändert Hütte; wenn nicht durch
die Gründung des neuen Deutschen Reichs eine Macht entstanden wäre, die
schon durch ihr bloßes Bestehen und durch ihre natürlichen Beziehungen im
europäischen Staatenverein Nußland gezwungen hätte, den Vertrag von San
Stefano einem europäischen Kongresse zu unterbreiten. Im Februar 1878
besprach Bismarck im deutschen Reichstag den Stand der Dinge auf det
Balkanhalbinsel. Er legte besondern Nachdruck auf die Erhaltung der seit
hundert Jahren bestehenden friedlichen Beziehungen zu Rußland; indem er
aber die ihm zugemutete Rolle eines Schiedsrichters ablehnte, gab er Rußland
deutlich zu verstehn, daß die deutsche Politik durch Sympathien der Hofkreise
zu einer aktiven Teilnahme für Nußland und gegen Österreich-Ungarn nicht
zu haben sei. — Diese Äußerungen illustrierten am deutlichsten die Ver¬
änderungen, die die Weltlage für den Orient seit der Sendung des Generals
Müffling erfahren hatte. Der Berliner Kongreß und der Berliner Friede
stellte denn auch den Vertrag von San Stefano dahin richtig, daß das neue
Fürstentum Bulgarien auf Bulgarien beschränkt und Ostrnmclien in eine auto¬
nome türkische Provinz verwandelt wurde.
Rußland schien immerhin sehr viel erreicht zu haben. Es gelang ihm,
seine Grenzen wieder bis zur Donaumüudung vorzuschieben und in Bulgarien
einen Staat zu schaffen, der trotz seines Suzeränitütsverhältnisses zur Pforte
eine russische Provinz zu werden schien. Aber bei näherer Betrachtung kommt
man zu dem Schlüsse, daß alle diese Erfolge nur scheinbar waren. Die Ent¬
wicklung Rußlands nach dem Südwesten war schon zum Stillstand gekommen.
Zunächst zeigte sich das in der Gruppierung der Mächte nach dem Berliner
Kongresse. Seine Ergebnisse hatten in Rußland enttäuscht, die Erbitterung
darüber machte, daß der aggressive Charakter Rußlands uach dein Westen hin
noch einmal deutlich hervortrat. Deutschland war der Gegenstand der Ver¬
wünschungen, und wenn man in Petersburg und Moskau auch Unrecht daran
tat, Bismarck der absichtlichen Schmülerung russischer Interessen auf dem Berliner
Kongresse zu zeihen, so war doch das Gefühl richtig, daß das Bestehn des Deutschen
Reichs das Hindernis war, vor dem man hatte Halt machen müssen. Deutsch¬
land zu zerschmettern, dieser Gedanke fand in der russischen Presse immer mehr
Raum, und Bismarck konnte die richtige Antwort darauf nur in dem Ab¬
schlüsse des deutsch-österreichischen Bündnisses finden und dabei den Gedanken
verwirklichen, der Felix Schwarzenberg allerdings in andrer Form als Po¬
rsches Ideal vorgeschwebt hatte. Das deutsch-österreichische Bündnis war als
Bürgschaft gegen die Revolution des Westens und des Ostens gedacht und
hat sich als solche bewährt. — Wie aber die Geschichte aller Völker zeigt,
^aß ihre Taten schon in sich die Korrektur dagegen enthalten, daß sie über
das menschliche Maß hinauswachsen, so hat sich auch Rußland selbst in all
Wren Erfolgen seit dem Jahre 1856 ebensoviele Hindernisse für seine aggressive
^«geschaffen.
haben das Eingreifen Rumäniens in den russisch-türkischen Krieg
als das wichtigste Merkmal des Feldzugs bezeichnet. Es war es nicht nur
^'gen des Endergebnisses für Rußland, sondern auch für Rumänien, indem
die militärische Schlagfertigkeit, die die rumänische Armee bewies, den jungen
Staat mit einem Stolze und einem Selbstbewußtsein erfüllte, die für seine
spätere Stellung zu der orientalischen Frage umso bedeutungsvoller wurden,
als der schlechte Dank, den Rußland dafür hatte, im Herzen des rumänischen
Volks einen spitzen Stachel zurückließ. Die orientalische Politik Rußlands
war nicht mehr so weit ausschauend wie ehedem. Um des momentanen Vor¬
teils willen, den die Erwerbung des rumänischen Bessarabieus bot, wofür Ru¬
mänien das zweifelhafte Geschenk der Dobrudscha erhielt, setzte Rußland seinen
Einfluß in Rumänien aufs Spiel, den es sich einst in blutigen, kostspieligen
Kriegen errungen hatte. Allerdings erhielt Rumänien auf dem Berliner Kon¬
gresse seine Unabhängigkeit, aber nicht in dem Sinne der Pläne des Kaisers
Nikolaus. Das nationale Gefühl der Rumänen, das durch die Vereinigung
der Moldau und der Walachei sehr wesentlich gefördert worden war, nahm
diese Unabhängigkeit ernst, und es bedürfte nur noch der Art und Weise, wie
Nußland sich aus dem Gebiet Rumäniens bezahlt machte, daß Rumänien die
Anlehnung an Nußland als ein schlechtes Geschäft erscheinen mußte. Wichtiger
als der 1883 erfolgte Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis
war für die Entwicklung der orientalischen Frage der in dasselbe Jahr fallende
Besuch des Königs von Rumänien in Berlin, wenn auch der Abschluß eiuer
Militärkonvention, die Rumänien um das Bündnis der mitteleuropäischen
Mächte angliederte, erst später erfolgt ist.
Dieselben Erfahrungen wie in Rumänien sollte Nußland auch in Bulgarien
machen. Auch dort unterschätzte es die organisatorische Kraft des nationalen
Gedankens, indem es, auf das gemeinsame orthodoxe Bekenntnis und allsla¬
wische Sympathien bauend, sich in Sofia eine Expositur des Petersburger
Kabinetts zu gründen glaubte. Schon unter Alexander von Ballenberg ent¬
wickelten sich die Dinge in Bulgarien anders, als man in Petersburg wünschte.
Das Streben Alexanders, sich auf die Bulgaren und nicht auf Rußland zu
stützen, verstimmte an der Newa, und so sehr man in Petersburg ehedem ge¬
wünscht hatte, im Vertrag von San Stefano das neue Fürstentum Bulgarien
so umfangreich als möglich zu gestalten, so sehr war man erbittert, als 1885
wirklich die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien eingeleitet wurde. Noch
hoffte man, daß die nun gegen Bulgarien losbrechenden Serben die Ver¬
einigung rückgängig machen würden, aber in den Schlachten von Slivnitza und
Pirol wurde die serbische Armee geschlagen, und Rußland mußte sich beeilen,
durch schleuniges Eingreifen zu Gunsten Serbiens dieses vor einem Gebiets¬
verluste zu retten. In allen ihren Hoffnungen wegen Bulgarien getäuscht,
griff nun die russische Diplomatie wiederum zu revolutionären Mitteln,
das junge Fürstentum unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Mit der Ver¬
treibung des Fürsten Alexander schien es ihm auch gelungen zu sein, den
bösen großbulgarischen Traum zu verscheuchen. Die Bildung einer revolutio¬
nären Regierung und die Sendung des Generals Kaulbars sollten die Lebens¬
kraft des Landes brechen; aber diese erwies sich stärker als die russische Politik.
Stephan Stambulow stürzte die provisorische Negierung, nötigte Kaulbars zum
Verlassen des Landes und nahm die Idee einer selbständigen Entwicklung
Bulgariens mit aller Kraft wieder auf, nachdem trotz aller Intriguen Ruß-
lands in dem Prinzen Ferdinand von Koburg ein neuer Fürst gefunden worden
war. Stambnlows Politik läßt sich mit wenig Worten bezeichnen: Ver¬
hinderung jeder europäischen Intervention in der orientalischen Frage. Nicht
ein Krieg mit der Türkei, der notwendig die Dazwischenkunft der europäischen
Mächte herbeiführen würde, erschien ihm als das richtige Mittel, die Entwick¬
lung Bulgariens zur orientalischen Vormacht zu fördern, sondern im Gegenteil
ein möglichst inniges Einvernehmen mit der Türkei, durch das die europäischen
Mächte' ferngehalten werden konnten, Bulgarien aber Zeit und Möglichkeit
geboten wurde, in den durch deu allmählichen Verfall der Türkei leer werdenden
Raum hineinzuwachsen. — Eine solche Politik mußte Konstnntinopel für Rußland
unerreichbar machen. „Rußland fand — so bemerkt Anton Springer (Ge¬
schichte Österreichs seit dem Wiener Frieden, 1863) bei Besprechung der
griechischen Frage ganz richtig — die eignen Interessen nicht minder gefährdet
durch ein kräftiges selbständiges Auftreten der christlichen Völkerschaften in der
Türkei wie durch eine starke und ungehinderte Pfortenregiernng. Die im
Glauben oder in der Abstammung verwandten Völker an der untern Donau,
Rumänen und Slawen, haben den hohen Preis des russischen Schutzes erst
erfahren müssen und würden die ihnen aufgedrungne Freundschaft früher und
Ästiger zurückgewiesen haben, wenn nicht spröder Eigenwille und sittliche Ver¬
wilderung hier stets ein wüstes Parteileben befruchtet Hütten, das dann immer
wieder russischen Einflüssen den Zugang verschaffte. Das Ziel der russische»
Staatsmänner blieb stets darauf gerichtet, die christlichen Stämme in der
Türkei in einem Halbwescn von Knechtschaft und Selbständigkeit zu erhalten,
sodaß sie, des russischen Schirmes bedürftig, sich den Wünschen des Peters¬
burger Kabinetts gefügig zeigten, ohne aufzuhören, der Pforte Schwierigkeiten
und Hemmungen zu bereiten. Sie werden nicht gänzlich fallen gelassen.
Dieses verbietet die Rücksicht auf die religiösen Anschauungen im eignen Lande
und auf den Machtzuwachs, der der Pforte denn zufallen würde. Sie werden
aber auch an einer kräftigen selbständigen Entwicklung möglichst verhindert,
damit sie nicht in politischen Dingen etwa nur das eigne Wohl befragen
und schließlich den Eroberuugsgelüsteu Rußlands einen festern Damm ent¬
gegenstellen als bisher die Türken und Tataren."
(Schluß folgt)
er rühmliche Eiser, den die Forschung in den letzten Jahren dem
durch Scheffels Ekkehard weithin bekannten lateinischen Liede
vom Helden Waltharius gewidmet hat, ist nicht unbelohnt ge¬
blieben. Deutlich übersieht man schon jetzt den gewonnenen Er-
_trag, und mit andern Augen sehen wir heute das Gedicht an
>wkob Grimm, der es vor mehr als sechzig Jahren mit andern lateinischen
Gedichten des zehnten und elften Jahrhunderts herausgegeben hat. So scheint
denn der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo es gerechtfertigt ist, auch einem
größern Kreise über den Stand dieser Forschungen zu berichten. Vorausgehn
mag aber das Lebensbild Ekkehards selbst, soweit sich ein solches ans der
Überlieferung gewinnen läßt. Denn wenig uur ist es, was wir von Ekkehard
wissen, dieses wenige aber finden wir in den L!g.8us iric>iiÄ8wrii 8. (Z^tu, die
von dem letzten der vier dem Kloster Se. Gallen als Schüler und Brüder an¬
gehörenden Ekkeharde in der ersten Hälfte des elften Jahrhunderts aufgezeichnet
worden sind. Ist auch diese Chronik keineswegs frei von Irrtümern, namentlich
da, wo sie den Nahmen der eigentlichen Klostergeschichte verläßt, so ist sie doch
für die Kulturgeschichte eine unschätzbare Quelle und da, wo es sich um die
Person des ersten Ekkehards handelt, im ganzen ein zuverlässiger Führer.
In der jetzt zum Kanton Se. Gallen gehörenden Grafschaft Toggenburg,
die man, wenn nicht sonst woher, doch aus Schillers Gedicht „Der Graf von
Toggenburg" wenigstens dem Namen nach kennt, liegt in dem Tal, das von
der rauschenden Thur durchflossen wird, das begüterte Kirchdorf Jonswil.
Eine Viertelstunde davon sieht man auf hoher Felswand die spärlichen Trümmer
einer Burg. Diese Burg — Jonswil genannt, wie das benachbarte Dorf —
gehörte von alters her dem angesehenen Geschlechte, dem der Dichter Ekkehard
entstammte. Hier hatte im Anfang des zehnten Jahrhunderts Othar seinen Sitz,
der Bruder des aus der Geschichte des Klosters Se. Gallen wohlbekannten Rollers,
den man den Stammler oder den Heiligen nannte — als Landgraf gebot er
mächtig im Lande, wußte auch das ihm zugefalluc Erbgut durch Erwerbung
anstoßender Lündereie» zu mehren. Nach seinem Tode fiel der Besitz, da
direkte Erben nicht vorhanden waren, an eine Verwandte namens Kerhildis,
und als diese den Beschluß gefaßt hatte, der Welt zu entsagen, und sich nach
dem Beispiel der heiligen Wiborad und andrer in die Einsamkeit einer Büßer¬
zelle zurückzog, um hier ihre Tage zu beschließen, legte das Kloster Se. Gallen
die Hand auf das Erbe, uicht ohne allerlei Streit mit Seitenverwandten der
Verstorbnen, die nähere Ansprüche auf das Besitztum zu haben glaubten. Die
Einkünfte des Gutes Jonswil aber wurden bald durch eine Stiftung zur Auf¬
besserung der täglichen Mahlzeiten im Kloster bestimmt, und es heißt, daß
Ekkehard diese Bestimmung getroffen habe, sei es, daß ihm als einem Ver¬
wandten der Kerhildis wirklich ein Teil des Erbes zugefallen war, sei es, daß
er als Dekan im Namen des Klosters handelte. Das ist das erstemal, daß
Nur in den Annalen des Klosters Näheres von Ekkehard lesen. Bedeutender
trat er später hervor, als unter dem Regiment des Abtes Kraloh (942 bis 958)
das Kloster von schweren Wirren heimgesucht wurde. Aber um dies klar zu
machen, ist es nötig, etwas weiter auszuholen.
Nach der gewaltigen Feuersbrunst, die im Jahre 937 fast alle Gebäude
des Klosters in Asche gelegt hatte, war die Zucht unter den Brüdern, da
der strengere Zusammenhalt fehlte, in starken Verfall geraten. Dein suchte
Kraloh als Vorsteher des Klosters nach Kräften zu wehren, ohne jedoch bei
den verwöhnten Schäflein die erwünschte Gegenliebe zu finden. Unter den
Mönchen des Klosters war damals ein gewisser Viktor, der aus dem welschen
Graubünden stammte, der Sprößling eines vornehmen Geschlechts, wegen
seiner Kenntnisse als Lehrer an der Schule verwandt und geachtet, aber von
unbotmäßiger, trotziger Gemütsart. Mit dein Abt hatte er schon ärgerliche
Händel gehabt, als dieser noch Dekan war (bei einem Streit zwischen den beiden
wäre es beinahe zu Tätlichkeiten gekommen); jetzt war er erbittert gegen ihn,
weil er seiner Bewerbung um die benachbarte Abtei Pfäfers entgegen getreten
war. Darum schürte er die unter den Brüdern herrschende Unzufriedenheit mit
allen Mitteln. Die Kunde von diesen unerfreulichen Zuständen drang über
die Klostermauern weit in das Laud hinein und traf auch das Ohr Ludolfs,
des Sohnes Ottos des Erste», der damals im Schwabenlande gebot. Möglich,
daß auch direkte Beschwerde» zu ihm gelangt waren, jedenfalls erschien er
Plötzlich im Kloster, um nach dem Rechte» zu sehen. Nun ergriff Kraloh mit
einem Getreuen uuter den Brüdern und wenig Dienern die Flucht und begab
sich zum König Otto, der damals in Franken weilte, worauf Ludolf, was eigent¬
lich nicht seines Amtes war, den Bruder des Geflüchteten zum Abt er¬
nannte. Kraloh aber hatte am Hofe Ottos keine guten Tage. Der König
war ihm nicht sonderlich gewogen, besonders schlimm aber war es für den
Verbannten, daß sich am königlichen Hofe Verwandte seines grimmige» Wider¬
sachers Viktor aufhielten, die uun alles taten, ihm das Leben sauer zu machen,
ja es heißt, daß eiuer von ih»e», der das Amt des Kümmerers bekleidete,
dem an die fetten Bissen des Klosters Se. Gallen Gewöhnten die tägliche Kost
in empfindlicher Weise geschmälert habe.
Schließlich erschien gar noch Enzilin, Viktors Oheim, der auch ehemals
von Kraloh schwer gekränkt worden war, da er ihn, der als Propst der Abtei
Pfäfers angehörte, hatte geißeln und absetzen lassen. Wie Viktor war er ein
Zögling des heiligen Gallus und durch Kenntnisse ausgezeichnet, besonders
verstand er sich auf die Kunst, lateinische Verse zu machen, und indem er seine
Klagen und Beschwerden zierlich in solche zu fassen wußte, gelang es ihm,
Otto, der a» solchen Proben des Geistes und der Gelehrsamkeit seine Freude
hatte, uoch mehr gegen den verhaßte» Kraloh el»z»»ebene». Kurz, es wäre
dem entthronten Abt von Se. Gallen wahrscheinlich schlecht ergangen, wenn
sich nicht der einflußreiche Bischof Ulrich von Augsburg, sein alter Freund
und Mitschüler, für ihn verwandt hätte, derselbe Ulrich, der bald darauf seine
Stadt Augsburg so tapfer gegen die Ungarn verteidigte. Er gewann durch
seine Fürsprache dem Freunde die Gnade des Königs wieder und übernahm
selbst die undankbare Aufgabe, deu wie einen Wolf Gefürchteten zu seiner
Herde zurückzuführen. Zwar dem Bischof selbst wollten die Mönche die schul¬
digen Ehren keineswegs versagen, ja sogar Viktor, der halsstarrigste von allen,
brachte es über sich, dem angesehene» Kirchenfürsten entgegenzugehn und daS
Evangelienbuch zu dem üblichen Kusse darzureichen. Als aber der Abt nahte,
wandte er sich trotzig um, und wiewohl ihn der Bischof bei den Haare» ergriff,
ihn z» zwingen, das heilige Buch auch seinem Begleiter zu überreichen,
fügte er sich nicht, sondern warf das Buch von sich und eilte davon, sodaß
^' Bischof es aufheben und dem Abte zum Kusse Hinhalten mußte. Nun
Gossen die aufsässigen Mönche das Kloster, errichteten aber schließlich, um
eme Verständigung herbeizuführen, eine» Ausschuß, an dessen Spitze unser
Ekkehard stand. Die andern waren Roller, wegen seiner Strenge das Pfeffer¬
korn zubenannt, Gerald, der eifrige, langjährige Lehrer an der Klosterschule,
und der nachmalige Abt Burkhard der Erste. Diese ließen den Bischof in die
Kirche des Klosters ein, indem sie ihn baten, zu den Verhandlungen auch
Amalung, Ekkehards Bruder, zuziehn zu dürfen, der, wiewohl ein Laie, doch
wegen seiner Gottesfurcht bei den Brüdern in besondern^ Ansehen stand und
als welterfahrner, beredter Mann von gewinnendem Wesen als der berufenste
Mittler erschien. Nach längerer Verhandlung kam die Aussöhnung mit vsrüa
und Bruderkuß zustande: Kraloh wird vom Bischof auf den Stuhl des heiligen
Benedikt gesetzt, dann wirft er sich weinend, um Verzeihung zu erflehen, nach
bekannter Klostersitte zu Boden, seinem Beispiel folgen der Bischof und die
anwesenden Brüder. Es war, sagt der Berichterstatter, nach dem Anschein zu
sehen, daß der heilige Geist sein Werk treibe. Amalnng aber stimmte mit
seiner wohlklingenden Stimme die Sequenz an: Lob sei dir, getreuer Gott,
und führte sie, indem die übrigen einfielen, zu Ende. Nur Viktor hatte an
diesen Werken der Liebe und Eintracht kein Gefallen. Wütend stürmte er, als
er den verhaßten Abt auf seinem Sitze sah, aus dem Saal, aber auch ihn
wußte der Bischof durch klugen Zuspruch zu besänftige».
Freilich nur für den Augenblick. Der Groll fraß weiter in seinem Herzen
und brachte bald neues Unheil über das Kloster. Unfähig, das Leben unter
dem Regiment des alten Abtes zu ertragen, erbat er sich Urlaub von seinem
Dekan, um sich nach Pfäfers zu seinem Oheim Enzilin zu begeben, der in¬
zwischen die dortige Abtei erlangt hatte, und entweder hier dauernd zu bleiben
oder mit dein Abt Ränke gegen den gemeinsamen Widersacher in Se. Gallen
zu spinnen. Das erfuhr Kraloh und gab die Weisung, daß bewaffnete Dienst¬
leute des Klosters dem Fliehenden unterwegs auflauern und ihn mit Gewalt
in das Kloster zurückführen sollten. In dem Handgemenge, das sich bei der
Ausführung des Gebots entspann, traf Viktor den Führer der Reisigen so
heftig mit einer Keule, daß dieser halbtot vom Pferde sank, wurde dann aber
von dessen Begleitern ergriffen und von der wütenden Schar geblendet. An
ihrem Führer und dessen Wasserträger nahmen die Verwandten des Geblen¬
deten bald blutige Rache; in: Kloster aber erhob sich, als die Sache bekannt
geworden war, von nettem der allgemeine Unwille gegen Kraloh, dem man
die Hauptschuld an der Untat beimaß; und da auch die aufgebrachten Verwandten
Viktors ihn mit ihrer Rache bedrohten, konnte er nicht mehr wagen, das
Kloster ohne den Schutz Bewaffneter zu verlassen. Zwar erbot er sich, durch
einen feierlichen Eid am Altar des heiligen Gallus seine Unschuld zu bekräf¬
tigen, aber die Sache wurde einstweilen vertagt, und »och ehe er den Nei-
nigungseid leisten konnte, starb er, von beständiger Angst vor Nachstellungen
gepeinigt, in dem benachbarten Herisau, wohin er sich zurückgezogen hatte,
weil er sich im Kloster nicht mehr sicher fühlte. Als König Otto sein Ab¬
leben erfuhr, soll er gesagt haben: So ist denn der Blender seiner Mönche
gestorben! Ist die Äußerung wahr, so beweist sie, daß Ottos Abneigung gegen
den Abt auch damals noch nicht geschwunden war, aber aus seinem ganzen
Verhalten muß man auch entnehmen, daß ihm die Zucht in den Klöstern nicht
allzusehr am .Herzen lag. Übrigens scheint auch Ekkehards Darstellung der
ganzen Angelegenheit nicht ganz unparteiisch zu sein: was Kraloh gegen Viktor
unternommen hat, war doch eigentlich nicht mehr, als seine Amtspflicht gebot,
und daß der Überfall so blutige Folgen hatte, nicht seine Schuld. Aber Ekke-
hard der Vierte war ein entschiedncr Gegner der Clnniacensischen Reform, die
zu seiner Zeit auch in den deutsche» Klöstern eifrig betrieben wurde, und es
scheint fast, als ob er seine Abneigung gegen die auf die Erneuerung der alten
strengen Klosterzucht gerichteten Bewegung auch auf deren Vorläufer übertrage»
hat. Wie dem aber auch sein mag, immerhin gewahrt die oben erzählte Epi¬
sode aus der Geschichte Se. Gallens einen lehrreichen Einblick in die Ver¬
hältnisse des Klosters und ist ein denkwürdiges Zeit- und Sittenbild.
Der unglückliche Viktor aber wurde vou dem Arzt des Klosters, Notker
Pfefferkorn, geheilt und erhielt später von dem Bischof Erchambald von Stra߬
burg (965 bis 991) einen Ruf, die Schule des Domstifts zu leiten. Er
hat auch hier viele Jahre lang erfolgreich gewirkt und die Schule zu hoher
Blüte gebracht, nach Erchambalds Tode aber begab er sich in die Einsamkeit
der Vogesen, bezog in der Nähe des „Langen Meeres" (I^nZsmsr) bei
der sogenannten Schlucht (eine Gegeud, die heute wieder von unzähligen
Reisenden aufgesucht wird) eine durch den Tod ihres Inhabers frei gewordne
Klause und beschloß als Einsiedler seine Tage, von der umwohnenden Be¬
völkerung als Heiliger verehrt. Sein Grabmal hat der Erzähler dieser Vor¬
fälle. Ekkehard der Vierte, dort mit eignen Augen gesehen. Im Jahre 1830
aber ist in der Einsiedlerkapelle bei Gerardmer ein Gewölbe geöffnet und
darin ein Skelett, umschlungen von der eisernen Bußkctte der Se. Galterer
Venediktinermönche, gefunden worden.
Kurz vor seinem Ende hatte Kraloh Ekkehard den Ersten zu seinem Nachfolger
bestellt. Dieser übernahm deshalb nach dem Ableben des Abts unter Zustimmung
aller Brüder die Verwaltung der Abtei, in der sichern Erwartung, daß der König
die Wahl bestätigen würde. Aber noch ehe die Sache erledigt werden konnte, hatte
er einen Unfall, der seine und der Brüder Hoffnung vereitelte. Auf dem Glatteis
stürzte er, als er ausreiten wollte, vor dem Tore des Klosters mit dem Pferd
und brach das Schienbein. Der Bruch heilte schlecht, sodaß er zeitlebens
lahm blieb. Infolgedessen wurde Burkhard, ein Verwandter des Königs
(nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter, der später als Knabe die in
den Og.su« so hübsch erzählte Unterredung mit der Herzogin Hadwig auf dem
Hohentwiel hatte), zum Inhaber der höchsten Würde des Klosters erkoren und
von Otto bestätigt.'
Trotzdem blieb Ekkehards Einfluß ungeschmälert. Mit Erlaubnis und
Unterstützung des neuen Abtes errichtete er eine Kapelle und stattete diese mit
den Reliquien des Täufers Johannes ans, die er, als er vor Jahren in Rom
^ille, vom Papst Johannes dem Zwölften, dessen besondrer Liebling er war.
ins Geschenk erhalten hatte; durch ihre,: Aublick war er selbst, da er in der
Oberstadt am Fieber krank danieder lag, gerettet worden. Seine Milde und
Freigebigkeit waren im Kloster bekannt und gerühmt, auch deu Abt soll er in
"chem Sinne beeinflußt haben, sodnß der Kämmerer niedere, dem die Ver-
waltung des Klosterguts und die Verteilung der Almosen oblag, diesem oftmals
Vorwürfe über seine Verschwendung machte, worauf sich dann der Abt auf
den Dekan Ekkehard als seinen Freund und Helfershelfer im Wohltu» zu be¬
rufen pflegte.
Ekkehards Name ist auch mit der oft nacherzählten Anekdote von dem Land¬
streicher verknüpft, der, indem er sich lahm stellte, die Gastlichkeit des Klosters
in Anspruch nahm. Ihm wurde auf Ekkehards Geheiß ein warmes Bad be¬
reitet, und da ihm das Wasser zu heiß war, so schrie er laut in seiner welschen
Sprache: el milli, pinel gst, oalä sse, worauf der Diener, der das Bad zurichtete,
in der Meinung, der Fremde sei ein Deutscher und beklage sich über die Kälte
des Wassers — aber auch nicht ohne einen Zusatz von Bosheit, weil er sich
ärgerte, daß er den dicken Kerl auf seinem Rücken in das Badezimmer hatte
schleppen müssen —, heißes Wasser herbeitrug und solches in Strömen in die
Badewanne goß. Da sprang der Fremde, seine Lähmung vergessend, aus der
Wanne heraus und suchte, der Tür zueilend, das Weite, während der Diener,
da er den Betrug erkannt hatte, dem Fliehenden nachsprang und ihm mit
einem halbglüheuden Holzhasen, das er dem Feuer entrisse» hatte, ungezählte
Streiche aufmaß. Von dem Lärm herbeigerufen erschien dann Ekkehard, wehrte
dem Wütenden und ließ den betrügerischen Schelm laufen. Vier Neffen hat
Ekkehard dem Kloster zugeführt, darunter Ekkehard den Zweiten, der die Herzogin
Hadwig im Lateinischen unterrichtet hat — dann ist „der edle Weinstock, der
solche Schößlinge entsandte, selbst in guter Reife am Tage des heiligen Felix
(14. Januar 973) eingeherbstet worden." Groß war die Klage um den aller¬
seits verehrten Mann. Weinend ging Juno, Ekkehards Nachfolger im Dekanat
und später des Klosters Abt, als der Leichnam auf der Bahre lag, beiseite
und rief laut: „Sieh, Herr, und betrachte, wen du so eingeherbstet hast."
Das ist so ziemlich alles, was wir von dem Leben Ekkehards wissen, der
den Namen seines Klosters so berühmt gemacht hat. Auch von seinen Dich¬
tungen ist nicht alles erhalten: seine Hhmneu und Sequenzen sind verschollen,
dagegen strahlt sein 'Wg.Ittmriu» nanu tortis noch heute in unvergänglichen
Glanz und ist seit Scheffels Ekkehard auch in der kleinsten Bücherei zu finden.
In den Schulen wird Ekkehards Name neben dem. seines Zeitgenossen, des
großen Königs aus dem Sachsenstmnmc, genannt, und in jedem Handbuch der
Literaturgeschichte steht zu lesen, daß Ekkehard von Se. Gallen den Waltharius
in der Jugend gedichtet hat. So ist es, der Waltharius ist kein Werk des
reifern Alters, sondern ans der Schulbank verfaßt, ein clediwni vu^i^'o, mie
man sich in der Klostcrsprache ausdrückte. Ein Exemplar dieses Gedichts ge¬
langte wenig Jahre vor oder nach Ekkehards Tode nach Straßburg, es
wurde dem Bischof Erchcnnbald übersandt mit eiuer in lateinischen Hexametern
abgefaßten Widmung, als deren Verfasser sich Geraldus nennt, ohne jedoch
von seiner Persönlichkeit etwas andres anzugeben, als daß er ein er^Ms
xkevÄwr, d. h. ein alter sündhafter Mann, und ein esrtus eoräs vt üclolls
g-lumnuL, d. h. in der Sprache des Mittelalters ein treuer und ergebner Diener
seines hochmächtigen Gönners sei. Ekkehards Name wird in der Widmung
gar nicht genannt, und so hat man denn schon früh angenommen, der Ver-
fasser der Widmung sei, wenn nicht der Verfasser des Gedichts, so doch bei
dessen Abfassung wesentlich beteiligt; sa man hat diesen Gerald gar nicht in
Se. Gallen, sondern in Mainz gesucht und vermutet, mit dem in der Wid¬
mung genannten Erchambald sei nicht der Straßburger Bischof, sondern ein
andrer Erchambald gemeint, der später (1011 bis 1020) in Mainz auf
dem erzbischöflichen Stuhle saß. Das natürlichste und deswegen auch das
wahrscheinlichste ist aber doch, was unter andern von Scheffel in seinen präch¬
tigen Erläuterungen zu seiner und Holders Ausgabe des Waltharius geäußert und
ausführlich begründet worden ist, daß der sich Gerald nennende Verfasser der
Widmung kein andrer sei als der schon von uns unter den Gegnern des Abts Kraloh
aufgezählte Mönch des Klosters Se. Gallen, der dort zeitlebens als Lehrer ge¬
wirkt hat und als hochbetngtcr Greis gestorben ist. Er wird, wenn auch uicht
viel älter als Ekkehard, doch dessen Lehrer gewesen sein, er mag Ekkchcird zu
seiner Schnlübung ermuntert haben, er wird das älvtainen äsviwin in-i-Kistro
nach der Sitte der Zeit als Lehrer mit andern Schülerarbeiten in seine Obhut
genommen und aufbewahrt haben und aus diesem Schatze, der l^rgg. ourn, wie
es in der Widmung heißt, eine Abschrift nach Straßburg gesandt haben. Auch
die Veranlassung zu der Sendung läßt sich leicht erraten. Der geblendete
Viktor mag dem Strnßlmrger Bischof, der ein Freund der schönen Wissen¬
schaften war und sich selbst in lateinischer Verskunst versucht hat, von dem
Gedicht des Se. Galler Mönchs erzählt und das Verlangen, es zu erhalten,
erregt haben. Er könnte auch die Absendung der Abschrift vermittelt haben.
Daß Gerald als Ekkehards Lehrer dessen Gedicht durchgesehen und ver¬
bessert habe, ist vielfach angenommen worden, es ist ja auch möglich; immerhin
werden die Änderungen nicht von Belang gewesen sein, umsoweniger, als
Gerald nach der erwähnten Widmung zu urteilen kein großer Meister in der
lateinischen Sprache und Verskunst gewesen ist. Dagegen ist einige Jahr¬
zehnte später das Gedicht, wie es scheint, in durchgreifender Weise überarbeitet
worden, und zwar von keinem andern als dem vierten Ekkehard, den wir als
den Verfasser der Se. Galler Chronik schon mehr als einmal genannt haben.
Er habe, so erzählt er selbst, das von Ekkehard mit unsicherer Kunst (vaell-
lantsi-) entworfne Schulgedicht auf Geheiß des Erzbischofs Aribo vou Mainz.
von dem er als Vorsteher der dortigen Schule berufen war. nach bestem
Kennen und Können verbessert. Er fügt dann hinzu, wie schwer es dem
Deutschen werde, Latein zu schreiben, und warnt besonders vor dem Grundsatz,
den ungeschickte Lehrer ihren Schülern einprägen, daß es geraten sei, zunächst
den auszudrückenden Gedanken in gutem Deutsch zu gestalten und dann die
Worte in derselben Reihenfolge ins Lateinische zu übertragen. In welchem
Maß er selbst dann der an sich richtigen Norm, die sich aus der negativen
Fassung des Gedankens leicht ergibt, bei der Korrektur der Dichtung seines
Namensvetters gefolgt ist, können wir nicht entscheiden, da uns die Rezension
verloren ist. Aber man kann sich ungefähr ein Bild von der Art der Bear-
^"ng machen, wenn man zu dem vorhin Gesagten noch die Grundsätze hält,
derselbe Ekkehard in einer poetischen Epistel an den Bruder Juno, den
nachmaligen Abt des Klosters Gregorienmnnster im Elsaß, über lateinische
Verskunst ausgesprochen IM. Er empfiehlt darin vor allem die sorgfältigste
Wahl des Ausdrucks: die ungewöhnlichen Worte sollen statt der gewöhnlichen
stehn, sodaß etwa für Agruini diri, für pnlczlrsr Lsronu« oder l^olu», für irovilv
«winiug., für 1von8 xuleller xg.rg.ä^8us gesetzt wird. Vor Teutonismeu soll sich
der Poet in acht nehmen, immer soll er der Vorschriften des Donat eingedenk
sein und sein Augenmerk auf die Einflechtung zierlicher Redeblumen richten;
Verse wie der folgende: „At i'ouuzs vitas oidus ni« ugotÄi-^us euxitsv, d. h. Speise
und Trank möge der Zunder des erwünschten Lebens sein," gelten dem Ver¬
fasser der Epistel als Muster des figürlichen Ausdrucks. Das find Grundsätze,
wie sie ähnlich zu alleu Zeiten des sinkenden Geschmacks gepredigt und geübt
worden sind, und man denkt, wenn man sie liest, unwillkürlich an die Künsteleien
der Meistersänger oder an die Verstiegenheit des sogenannten Marinismus,
und wenn Etckehard wirklich bei der Korrektur des Gedichts, was doch am
Ende anzunehmen ist, diese Stilgesetze zur Richtschnur genommen hat, so hat
er eine Verschlimmbessernng geliefert, über deren Untergang man nicht gerade
zu klagen braucht, wenn anch der Philolog im Interesse seiner Wissenschaft
den Verlust bedauern mag.
Woher hat denn nun Ekkehard den Stoff zu seinem Gedicht? Diese
Frage wird sich jedem Leser aufdrängen. Dein? daß der Klosterschüler von
Se. Gallen, wenn auch allerlei Nebenwerk, doch die Grundzüge der Fabel, die
Vergeißelung der Königskinder, ihre Flucht, Walthers Kämpfe am Wasgen-
stein, nicht selbständig ersonnen hat, liegt auf der Hand. Man hat deshalb
nach Jakob Grimms Vorgang allgemein angenommen, daß die Verse Ekkehards
im engen Anschluß an eine alte stabreimende Dichtung entworfen worden seien.
Sicherlich hat es solche Dichtungen auch in Deutschland gegeben, ebensogut
wie in England, wo im achten Jahrhundert der „Mildere" (d. h. Walther)
entstanden ist, von dem heute noch zwei kleinere Bruchstücke vorhanden sind.
Und möglich ist es auch, daß sich trotz der Verfolgung, die auf Ludwigs des
Frommen Geheiß gegen die altdeutsche, aus dem Heidentum stammende Dichtung
unternommen worden ist, ein Exemplar eines alten Waltharilicdes nach Se.
Gallen gerettet hat und dort nach dem Satze: andre Zeiten, andre Lieder
sorgsam gehegt und gepflegt worden ist. Man hat deswegen im Texte des
Waltharins eifrig nach den Spuren einer deutschen Dichtung geforscht. Aber
im ganzen ist doch herzlich wenig dabei herausgekommen, für die Behauptung,
unter den Versen des Se. Galterer Mönches schimmere noch deutlich die alte
Vorlage durch, schwindet mehr und mehr der Boden. Anzeichen der Allite¬
rationen, auf die man sorgsam gefahndet hat, find wenig oder gar keine nach¬
gewiesen, Anklänge an deutsche Redeweise, sogenannte Germanismen sind vor¬
handen, aber was beweisen sie für ein deutsches Gedicht? Sie stellen sich überall
ein, wo ein Deutscher lateinische Verse macht, mögen sie frei entworfen oder
übersetzt sein. Und ebenso steht es mit den Varianten des Ausdrucks, der
Hüufnng gleichbedeutender Wörter und Redewendungen, die bekanntlich ein
charakteristisches Kunstmittel altgermanischer Poesie sind. Wenn Walther in
Ekkehards Gedicht als lAuä^Mis oder torUssiinus oder eslödcrrinius Inzros,
als vir iUustris oder prs-Evipuns, als juvkni8 oonstML, als s-Mons ZAtellos
5
und so fort bis ins unendliche bezeichnet wird, so beweist das im besten Falle
nur. daß dem Dichter der Stil der altdeutschen Poesie nicht unbekannt war.
im Grunde jedoch ist diese Abwechslung nichts andres als der Notbehelf
des Anfängers, der immer uach Varianten sucht, weil es ihm nicht immer
gelingen will, den durch die Situation geforderten oder nächstliegenden Aus¬
druck in den Vers zu bringen.
Und ebenso steht es mit dem oftmals angerufnen Zeugnis der Realien
in Ekkehards Dichtung. Allerdings beweisen der Trotz und der Spott, den
die Helden nach ihrer Verwundung üben, die Heiligkeit der Blutrache, die
Erwähnung Wielands des Schmieds, das Angebot von Ringen und Spangen
als Mittel, den Streit zu schlichten, und andres, daß die Dichtung ihre
Wurzeln tief in das heidnische Altertum hinabsenkt, aber für ein ftabreimeudes
Gedicht folgt nichts daraus. Und nun hat sich gar noch herausgestellt, daß
man in dem Bestreben, heidnische Altertümer im Wnlthariliede zu suchen, viel
zu weit gegangen ist. Wenn man z. B. bei der Äußerung Hadawarts, Walther
werde nicht entkommen, auch wenn er Fittiche anlege und sich in einen Vogel
verwandle, an die altgermanischen Schwanenweiber hat denken wollen, so hat
sich diese Meinung als das Truggebilde einer befangnen und gutgläubigen
Textauslegung erwiesen. Ebensowenig haben die 1?rtmvi nvoulonss mit den
Nibelungen gemein, die sind nicht die Nornen, der I^rwrv.8 nicht das
heidnische Niftheim, und die mächtige Esche, von der es in einem Vergleiche
einmal heißt, daß sie bis zu deu Sternen emporrage, während ihre Wurzeln
bis in die Unterwelt hinabreichen, ist nicht die aus der Edda bekannte Esche
Nggdrnsill. Auch der Ausdruck vunvns, der einmal von der Aufstellung der
Kämpfer gebraucht wird, ist keineswegs auf den altgermanischen Schweinskopf
^ so nannte man die gewohnte keilförmige Schlachtordnung nach der Ähn¬
lichkeit — zu beziehen. Vielmehr sind alle diese Ausdrücke lateinisch gedacht
und stammen fast alle — und damit kommen wir zu einem der wesentlichsten
Punkte unsrer Ausführungen — ans dein Virgil.
Die Abhängigkeit Ekkehards von Virgil ist natürlich längst erkannt
worden, man weiß, daß der junge Dichter von seinem römischen Vorbilde nicht
nur einzelne Ausdrücke, sondern auch Phrasen lind ganze Verse geborgt lind
diese Zutaten wie mehr oder minder glitzernde Steine in das Gefüge
seiner Rede eingesetzt hat. In derselben Weise hat er anch Anleihen bei
der Vulgatn und bei dem Prudentins, einem Dichter des angehenden Mittel-
nlters aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, der vorzugsweise
religiöse Stoffe behandelt hat, gemacht. Ihm daraus einen Vorwurf machen
S" wollen, wäre töricht! seine Vorgänger Nlkuiu, Theodulf, Ermoldus,
N'gellius und andre arbeiten ähnlich wie Ekkehard mit dem Phrasenschatze
des Altertums. Ja bei Lichte besehen machen es alle Dichter so, und nicht
nur die Dichter, sondern alle, die die Sprache zum Zwecke der Mitteilung
handhaben. Wir alle zehren hente noch von der Hinterlassenschaft der
Wihern Geschlechter, wir brauchen die Ausdrücke, die Redewendungen, die ge¬
kugelten Worte, die vor Jahr und Tag geprägt worden sind — lind der Unter-
lchled ist 5,^ daß Ekkehard und seine Vorgänger das mit Absicht und
vollem Bewußtsein getan haben, was wir unwillkürlich und gleichsam mechanisch
tun. Und zumal wer es unternimmt, sich in einem fremden Idiom, sei es in
gebundner oder ungebundner Rede, auszudrücken, wird zunächst Ekkehards
Methode in größerm oder geringerm Umfang befolgen.
Aber nicht nur als Zr-lauf g.c1 ?lirnÄ88um hat Ekkehard deu Virgil be¬
nutzt, er hat ihm auch Einfluß auf die Behandlung der Sachen eingeräumt.
Wenn z. B. Wnlthcr in dem Augenblick, wo er sich zum Auszüge rüstet,
Panzer und Beinschienen anlegt, den Helm mit dem rötlichen Busch anf das
Haupt setzt, Schild und Lanze zur Hand nimmt und sich mit dem zwei¬
schneidigen Schwert gürtet, so gleicht er durchaus einem der Virgilischen Helden
und keineswegs einem Necken aus der Zeit der Völkerwanderung, wie denn
überhaupt die Waffen der in unserm Gedicht auftretenden Helden meist unter
dem Zeichen des römischen Musters stehn. Noch mehr: man kann nicht ver¬
kennen, daß Ekkehard wesentliche Motive der Handlung aus dem Virgil ent¬
lehnt hat, was namentlich bei den Einzelkämpfen am Wasgenstein hervortritt.
Wer das Gedicht kennt, erinnert sich leicht, wie Walther Hagens Schwester¬
sohn Patafrid, als dieser zum ungleichen Kampfe heranstürmt, mit freundlichen
Worten zuredet, er möge vom Kampfe ablassen und nicht in blindem Ver¬
trauen auf seine Kraft sein Leben cinfs Spiel setzen. In ähnlicher Weise
mahnt Äneas in dem Virgilischen Gedichte den Lciusus, er möge nicht ein
Wagnis unternehmen, das über seine Kräfte gehe und ihn in den Tod treiben
werde. Und in die Patnfridepisode ist auch eine längere lehrhafte, fast im
Ton einer Predigt gehaltne Betrachtung über die Verderblichkeit der Habsucht
eingeschoben, die man früher mit übel angebrachten Spürsinn für eine An¬
spielung auf den Fluch des Nibelnugengoldes gehalten hat, während sie in
Wahrheit nicht andres ist als eine Variation zu dem allbekannten Virgilischen
Thema: ^uri saora taire-s, c^uiä non rrwrtg-lig, oog'is psotoiÄ? u. s. f.
Andrerseits kann man Ekkehards völlige Selbständigkeit mehrfach er¬
kennen. Gleich am Anfang des Gedichts wird Hagen als Sprosse eines
trojanischen Geschlechts bezeichnet, eine Anschauung, die erst unter dem
Einfluß der lateinischen Bildung entsteh» konnte, und ebensowenig beruht
es auf alter Sage, wenn wir in unserm Gedicht die Franken in Worms am
Rhein, die Burgunden in Frankreich finden. Bekanntlich saßen zu Attilas
Zeit die Burgunder noch am Rhein, was im Nibelungenliede noch festgehalten
wird. Die große Reiterschlacht, in der Walther vor seiner Flucht Attilas
Feinde bezwingt, ist ebensowenig sagenecht; sie ist augenscheinlich gedichtet
worden unter dem Eindruck der Ungarn einfalle, von denen damals überall die
Rede war. Auch bei dein Gastmahl und bei dein Trinkgelage, bei dem Walther
den Wirt macht, werden Bildung und Sitte des zehnten Jahrhunderts geübt;
mit Unrecht hat man auf die Schilderung eines Gastmahls an Attilas Hofe,
die man bei dem Byzantiner Priscus findet, verwiesen. Wenn das richtig ist,
was folgt daraus? Sicherlich doch, daß wer solche Szenen entwerfen konnte,
auch imstande war, die andern Partien des Gedichts selbständig zu entwerfen
und auszuführen. Und wer das zugibt, wird auch gegen die Annahme nichts
einwenden können, daß wir in Ekkehard trotz seiner Jugend deu eigentlichen
Schöpfer und Dichter des Walthariliedes bewundern müssen. Hätte er ein
altdeutsches Gedicht oder eine Prosaerzühlung (woran man ebenfalls ohne
triftige Gründe gedacht hat) bei seiner Arbeit benutzt und ins Lateinische
übertragen, was in aller Welt Hütte ihn veranlassen sollen, Motive zu streichen
und neue herbeizuziehn, bald uach diesem, bald nach jenem Modell — in der
Gegenwart wie in der Vergangenheit — Nmschnn zu halten, kurz anstatt des
echten ein verfälschtes Bild von der Zeit der Völkerwanderung zu geben?
Natürlich, die Grundlinien waren ihm vorgezeichnet, ans der Luft kann
er den Grundstock der Dichtung uicht gegriffen haben. Hat Ekkehard auch kein
Gedicht gekannt, das die Walthersage behandelte, so ist ihm, sei es in Se. Gallen
oder schon auf dem heimatlichen Gute, die Sage mutmaßlich durch die Erzählung
eines Klosterbruders oder wandernder Spielleute bekannt geworden.
Wie dem aber auch sei, jedenfalls haben wir jetzt Grund zu der Behauptung,
daß Ekkehard den alten Stoff neu belebt, geordnet und unter Benutzung
dichterischer Vorbilder frei gestaltet und die einzelnen Szenen selbständig aus¬
geführt hat. Das ist die Ansicht, die neuerdings wieder einer der ältesten
und bewährtesten Forscher auf diesem Gebiete vertreten hat. Unterstützt wird
diese Hypothese durch die erst neulich aufgestellte, nicht unbegründete Ver¬
mutung, auch die Namen der Kämpfer am Wasgenstein seien uicht sagenecht,
sondern erst von Ekkehard erfunden worden. Dann trifft freilich der von
W. Hertz herrührende Vergleich des Walthariliedes mit einem Germanen ans
der Zeit der Völkerwanderung, der mit römischen Beutestücken behängen ist,
nicht mehr zu: es gleicht eher einem Deutschen aus Ekkehards Zeit, der
römischen Panzer und Waffenschmuck augelegt hat, und während er öffentlich
am Tage zum Christengott betet, des Nachts heimlich unter der Eiche Donars
das Noßopfer schlachtet.
Und so erscheint denn auch die Frage uach dem Schauplatz der Kämpfe
in neuer Beleuchtung. Diesen Platz hat Jakob Grimm auf dem Dvnnou gesucht,
einer mehr als tausend Meter hohen Felsenkuppe, die in der Nähe der Eisen¬
werke von Framont nicht weit von dem Städtchen Schirmeck auf der Grenze
vom Elsaß und von Lothringen an einem Seitental der Breusch liegt. Aber
längst hat man erkannt, daß dies ein Irrtum ist. Dann hat man bekanntlich an
den Felsen gedacht, der an der von Weißenburg nach Bieses führenden Straße
am Fuße des Maimont in der Nähe des Dorfes Obersteinbach liegt. Das
ist der im Mittelalter vou einer Burg gekrönte Wasichcnstein oder Wasgen¬
stein, auch Wassenstein, wo das Geschlecht der Wasichensteiner hauste, das sich
später in zwei Linien spaltete und am Ende des Mittelalters ausstnrb. Die
Örtlichkeit ist von A. Becker in Westermanns Monatsheften (1885) anschaulich
geschildert worden. Aber auch Scheffel hat den Wasgenstein in ein paar
schönen Versen kurz also gezeichnet:
Vergleicht man aber diese Schilderungen mit den zerstreuten Angaben,
die sich über den Schauplatz der Kämpfe im Waltharilied finden, so erkennt
man leicht, daß die Ähnlichkeit nur gering ist. Die Stellen des Gedichts er¬
geben etwa folgendes Bild. Eine enge Schlucht wird gebildet von zwei nahe¬
steheichen, aber sich treffenden Felsen, die sich auf einem Plateau erhebe«, das
nur eng ist, aber doch soviel Raum gewährt, daß einige Pferde dort weiden,
auch ein Reiter mit seinem Roß sich zum Kampfe tummeln kann. Kräuter
und allerlei Gestrüpp sprießen reichlich aus dem Nasen hervor, auch ein paar
Bäume haben dort Platz. Von der Felsplatte hat man eine weite Aussicht
in das vorliegende Gelände, aber nnr ein einziger, schmaler Pfad führt auf
die Höhe, der jedoch von einem Rosse beschritten werden kaun. Aber der
elsässische Wasgenstein sieht doch wesentlich anders ans; hier wird die Schlucht
uicht von überhängenden Felsen gebildet wie im Gedicht, sondern es ist ein
Felsenspalt, der in die Tiefe geht, der vorliegende Raum, auf dem die Kämpfe
hätten stattfinden müssen, ist viel zu eng, die Aussicht versperrt, und für einen
Angriff zu Roß der Aufstieg viel zu steil und unwegsam. Trotz dieser Ver¬
schiedenheiten hat man sich zu der Meinung verleiten lassen, daß Ekkehard
mit seiner Schilderung die bezeichnete Örtlichkeit im Sinne gehabt habe, ja
man hat wohl gar geglaubt, er habe die Stelle selbst aufgesucht und in
Augenschein genommen. Oder wenn dies anch nicht der Fall sei, so habe er
doch (diese Ansicht hat Scheffel vertreten) Mitteilungen erhalten ans dem
Kloster Weißenburg, das mit den beiden Klöstern am Bodensee durch innige
Bande der earitg-L und trAtsririws verknüpft war. Näher der Wahrheit wird
man jedoch kommen, wenn man annimmt, daß in der Sage, die Ekkehard
kannte, eine Felsschlucht im Wasgenwald erwähnt war, wo sich die Fliehenden
bargen, in deren Nähe die Kämpfe sich abspielten, daß aber die Einzelheiten
der Örtlichkeit von Ekkehard nach Eindrücken, die seine Heimat ihm bieten
konnte, erfunden und ausgemalt sind.")
Es ist natürlich, daß die hier vorgetragnen Ansichten nicht allgemeinen
Beifall gefunden haben. Gleichwohl sind die Gegensätze, die die neue Lehre
von der alten trennt, keineswegs uuüberbrückbar, jn in wesentlichen Punkten
— namentlich in der Stellung Ekkehards zum Virgil — ist volle Einhelligkeit
vorhanden. In der Walthariusfrage ist eine Lösung möglich und erreichbar, und
es steht nicht so schlimm wie mit dem berühmten Streit um die Nibelungen¬
handschriften, von dessen UnVersöhnlichkeit seinerzeit Hans Hoffmann in der
Novelle „Die Handschrift ^ und 0" ein tragikomisches Bild entworfen hat.
ir wollen einmal zusammenstellen, was vor fünfhundert Jahren
eine einzige Familie einem einzigen Künstler zu tun gab. Was
und wie hat Donatello, dieser mannigfaltigste aller Plastiker, der
mit seiner Kunst spielte wie jemand, der genießend den Arm bald
bis an die Schulter in die Flut taucht, bald den Finger nur
leicht von dem durchsichtigen Wasser überspülen läßt, für die Medici seiner Zeit,
d, h. zwischen 1425 und 1465, gearbeitet?
Durch seinen Figurenschmuck an der Außenseite von Florentiner Kirchen,
namentlich am Dom, war Donatello um 1420, in der Mitte seiner dreißiger
Jahre, bekannt, populär, berühmt geworden. Die Mediceer haben ihm wieder¬
holt kirchliche Innenarchitektur und -Plastik in Auftrag gegeben. Um 1440
arbeitete er auf Bestellung Cosimos die Süngerempvre in dem linken Seiten¬
schiff von San Lorenzo. Es wurde die reifste der drei schonen Florentiner
Sängeremporen dieses Jahrzehnts. Man gibt heute zwar allgemein der Lucas
della Robbia die erste Stelle: Luca zerlegt die Brüstung in eine Reihe Felder,
deren jedes eine Gruppe singender Knaben, Jünglinge oder Mädchen zeigt.
Die Empore erfüllt aber doch ihren Zweck mir in dem Augenblicke, wo Sänger
auf ihr stehn und musizieren; ist es da nun richtig, dieses leibhaftige Singen
unmittelbar darunter an der Brüstung noch einmal im Bilde ausführlich zu
wiederhole»? Luca hat sich, als er es ersann, die leere Empore vorgestellt und
die Musik mit Hilfe von Psalm 150 als etwas, was mit ihr in künstlerische
Beziehung gebracht werden müsse; Donatello hat sich sowohl die Dvmsünger-
cmporc wie die von San Lorenzo mit singenden Sängern erfüllt gedacht. Mit
dieser und der vielstimmig, in alter Weise oft unharmonisch quellenden Fülle
ihres Gesanges verträgt sich der ausgelassene Puttenreigen, den er auf den vier
Feldern der Domsängerempore dahinwirbeln läßt; das vornehmste Gefäß eines
Sängerchors seiner Intention aber hat er erst in der Empore in San Lorenzo
gegeben, die, rein architektonisch gehalten, wirklich leer sein will, wenn sie leer
ist, nur ein schöner Balkon, der aus der Gesamtarchitektur nicht durch seine das
Auge aufs einzelne ziehende Behandlung herausfallen darf. Und wieviel feiner
war die Einteilung in fünf Felder als in vier — halbieren und wieder halbieren
war Handwerkskunst —, ein wieviel vornehmeres Raumgefühl verraten die breiten
Zwischenglieder gegenüber den schmälern im Dom oder gar dem unmittelbaren
Aneinanderquetschen je zweier Säulen zwischen den Putteugruppen der Prateser
Außenkanzel!
Um dieselbe Zeit, zwischen 1433 und 1443, gestaltete Donatello die Me-
dieisakristei derselben Lorenzokirche im Auftrage der Medici zu einem ganzen
Museum seiner Kunst aus. Giovanni d'Averando, der Ahne des großen Ge-
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schlechts, hatte die Sakristei vor Jahren gestiftet, 1421 begann Brunelleschi
ihren Rohbau, und darin war sie gerade vollendet, als 1429 Giovanni starb;
Cosimo übernahm die Fortführung des Werkes. Schade, daß dabei die Malerei
nicht in dein gewiß ursprünglich in Aussicht genommnen Sinne mit herangezogen
wurde: wir hätten dann ein vollendetes Beispiel damaliger Raumkunst erhalten
in dem Sinne, wie sie sich heute wieder Klinger denkt. So ist zur Ergänzung
von Brunelleschis Architektur nur Donatellos Plastik angerufen worden. Freilich
ein fürstliches Nur! Decken, Wände, Gestelle, Türen hat Donatello hier geschmückt.
In die Deckengewölbe setzte er acht große Tvnmedaillons ein, deren leichte
Reliefiernng doch wohl das technisch entsprechendste ist für die künstlerische Decken¬
absicht, die Michelangelo in der Sistina durch gemalte Scheinplastik zu erreichen
suchte; vier davon zeigen die vier Evangelisten, an Wucht und Pathos der
Auffassung wirklich auch Nächstverwandte der Wünschen Propheten. Auf dem
Beschränk steht die lebhafte, portrütmüßige Büste des jungen Laurentius mit
dem erhobnen Kopf. Über den beiden Türen wurde in nischenartiger Ver¬
tiefungen je ein Heiligenpaar in Hochrelief eingesetzt, Stephanus und Laurentius,
zwei ruhig verhandelnde schone junge Männer, und Kosmas und Damianus,
zwei lebhafter disputierende alte Catonen. Dasselbe Thema zweier Heiligen in
geistigem Verkehr wird dann noch zwanzigmal ans den quadratischen Relief¬
feldern der großen Bronzctürflügel abgewandelt. Betrachten wir die zehn Felder
der Innenseite näher: Witz und Naumsinn paaren sich hier genial in der An¬
ordnung der zwanzig Disputatoren, von denen jeder Buch und Feder als
Gestikulaüouswciffen führt. Die obersten vier Felder sind mit vier räumlich un¬
gefähr gleichmäßig, doch in den Gesten ganz mannigfaltig und drastisch gegebnen
Paaren gefüllt. Dann kommen die beiden Mittelfelder, wo sich die disputierenden
Heiligen um dichtesten auf den Leib rücken. Darauf die beiden vorletzten Felder
von unten, wo sie am weitesten anseinandergestcllt, an die Ränder des Reliefs
gelehnt sind, um du ich die zwischen ihnen zur Geltung kommende leere Fläche
ein bestimmendes Schwergewicht in der untern Hälfte der Tür zu schaffen;
und endlich die beiden untersten Felder, wo das linke Paar aneinander vorbei¬
zuschreiten im Begriff ist, das rechte sich geradezu den Rücken gekehrt hat;
zugleich mit den Disputationen ist die Besichtigung der Tür zu Ende.
In der Florentiner Kreuzkirche sind zwei Nelieftabernakel von Donatello.
Das auffälligere, berühmtere, schönere, die Verkündigung, hat er hier für die
Cavalccmti gearbeitet; das kleinere, ungeschicktre, überladnere, in jeder Beziehung
der Vorläufer zu dem großen, eine sitzende Madonna mit dem Kind und drei
Engeln, ist ein Schmuck der Medicikapelle der Kreuzkirche. Vielleicht ist dieses
Madounentaberuakel die älteste Arbeit Donatellos für die Mediceer gewesen
und »och vor 1430 entstanden. Das Relief steckt in einer doppelten Pfeiler-
nmrnhmung, und jedes Pfeilerpaar trägt einen leicht geschwungnen Bogen; der
innere tritt nach vorn heraus, der äußere, aufwärts gewölbt, liegt auf einem mit
kleinem Zierat und Muscheln beladnen Querbalken; alle vier Pfeiler haben
nur eine kümmerliche Basisandcutung, die beiden äußern tragen als besondern
Neliefschmuck je zwei mit den Füßen aneinander gestauchte antike Hcnkelvasen.
Alles das scheint viel eher den Ausdruck sita gre>t.t63va zu Verdiellen, als das
in jedem dieser Stücke gereinigtere und im ganzen abgeklärtere große Verkün-
dignngstnbernakel. auf das ihn Vasari merkwürdigerweise anwendet. Vielleicht
vermengte er in der Erinnerung beim Niederschreiben beide, sodaß er auch von
dem Mediceertabernakel eigentlich seine Bemerkung gemeint Hütte, daß dieses
Stück in Santa Croce die frühste Arbeit Donatellos sei?
Wir kommen zu Donatellos weltlicher Kunst für den Palast der Mediä
selbst. Auch dorthin lieferte übrigens Donatello natürlich Madonnen zur Haus¬
andacht z die Mauern schmückte er mit großen runden Reliefs nach antiken
Stücken im Besitz der Medici, den Hof mit Brunnen und Statuen. Ein solcher
Brunnenschmuck ist erhalten in der seltsam schwülen, interessanten Judithgruppe.
Auf einem dreiseitigen kleinen Sockel, der wohl auf einem noch größern Unter¬
bau stehend sich aus einem Brmmcnbecken erhob, liegt ein Kissen, ans dem
Holofernes sitzt mit schwer herunterhängenden Armen und Beinen; über ihm
steht Judith, das linke Bein über seine rechte Schulter gestellt, seinen Oberkörper
mit der Linken, mit der sie in seinen Schöpf greift, emporhaltend und mit der
Rechten das Schwert zum Todeshieb schwingend. Aufbau, Gelvandung, Aus¬
druck, alles ist so schwer, ernst und reich gegeben; als der Fuß der Gruppe
noch von Wasserstrahlen umspielt war, muß es ein Anblick gewesen sein, von
dem man sich nur gewaltsam trennen konnte.")
Vielleicht war der berühmte Bronzedavid das beruhigend ansklingende Folge-
und Seitenstück zur Judith. Auch er ist für den Medieeerhof gearbeitet worden,
der Knabe, der den feindlichen Riesen eben erschlagen hat, wie Judith, das Weib,
das den feindlichen Feldherrn zu erschlagen im Begriff ist. Krönte auch er
ursprünglich die Mittelpartie eines Brunnens? Beide Standbilder ergänzen
sich wie das erste Allegro und das Adagio einer Symphonie, deren letzten Satz
man das fließende Brunnenwasser nennen könnte; nnr der große Abstand der
Ausführung läßt das leicht übersehen. Wenn man bedenkt, wie Donatello den
raumkünstlerischen Zweck eines Werkes immer deutlicher herauszuarbeiten bemüht
ist. wie der Bronzednvid bei weitem das schlechthin plastischste Werk Donatellos
ist. auf den Wohl noch der Gattamclatci, aber schwerlich wieder ein so ans den
Moment gestelltes, ins einzelne zurückfallendes Werk wie die Judith entstehn
konnte, muß man den David, gerade auch wegen der einfachen Modellierung
und der Nichtweiterbehaudlnng nach dein Gusse, uach der Judith setzen; er soll
nur ans dem Ganzen wirken. Auch die einfache, zusnmmcngenommnc Haltung
(gegenüber dem Jugeudwerk des steinernen Davids, wo die beiden Häupter zer¬
fahren nuseinanderstreben) läßt nicht nur eine verbesserte Wiederholung eben
jenes frühern Davids, sondern zugleich ein beabsichtigtes Ergänznngsstück zur
Tndith in dem Bronzedavid vermuten: ans die heftige Dissonanz mußte ein har¬
monischer Akkord mit Fermate folgen. Und welche abschließende Befriedigung
mußte für den Künstler darin liegen, nach dem ganz bekleideten ersten David
und all den andern bekleideten Statuen seiner jungen Zeit und nach dem halb
bekleideten, halb versteckten Holofernes hier endlich einen vollständigen, in freier
Luft stehenden Akt zu geben!
An diesem schönen Bronzedavid haftet übrigens noch ein ganz persönliches
Mediceerinteresse. Die Familie besaß unter ihren vielen antiken Münzen und
Gemmen auch einen berühmten Cameo: Amor und Psyche auf einem von
Amoretten gezognen und umspielten Wagen. Holofernes trägt einen Cameo
um den Hals. Auf dem Helm des Goliathhauptes am Bronzedavid sehen wir
den von Amoretten gezognen und erkletterten Wagen. Es war eine Art Marke
Donatellos für Medieeerwerke. Ein drittes Werk, das aufs engste hierher gehört,
ist die Bronzebüste eines knabenhaften Jünglings im Bargello, der durchaus
die Züge des Bronzedavid hat und um den bloßen Hals um Bande einen
großen Cameo trägt: Amor auf dem Streitwagen. Es ist die Portrntbüste
eines der beiden Söhne Cosimos, der zugleich zum David, wenigstens zum
Kopfe, Modell gestanden hat, eine ähnliche Empfehlung des Knaben an das
Heldentum, wie reiche Florentiner damals gern ihre Kinder in Stein oder
Bronze bilden ließen und als kleine Christus- oder Johannesportrüts aufstellten,
ihre Lieblinge damit dem Schutze dieser Heiligen empfehlend. Die Bronzebüste
Donatellos stellt einen kaum achtzehnjährigen Burschen dar; wenn es Cosimos
älterer Sohn Piero wäre, müßte sie also vor 1435 gearbeitet sein, unmittelbar
danach wäre der David zu setzen ; wenn Cosimos jüngerer Sohn Giovanni, dürfte
man sie samt dem David ziemlich an 1440 heranrücken/') Seltsamerweise ist
die Büste lange unter dem Namen Gattamelata gegangen; wußte man früher,
daß sie das Modell des berühmtesten Werkes Donatellos darstellte, und ver¬
wechselte dann eines Tags unter diesem allgemeinen Titel David und Gatta¬
melata?
Mit all diese» bedeutenden, für ihre Zeit wunderbaren Werken sind die
Arbeiten Donatellos für das Haus Medici noch nicht erschöpft. Vasari sah
ein Porträt der Gattin Cosimos, von Donatello gearbeitet; ist es die Frauen¬
büste im South-Kensington-Museum? In Neapel ist ein frappant mächtiger
wiehernder Pferdekopf, der wohl alle andern Pferdeköpfe der Antike und der
Renaissance schlägt, ein Geschenk eines Medici an einen König von Neapel,
auch er ist ein Werk von Donatellos Hand. Wieviel andres mag vernichtet
worden, verloren sein?
Wie Verrocchiv den Donatello in seinen Werken, so oft er sie im Wetteifer
mit seinem größern Vorgänger entwarf, nirgends erreicht, weder in seinem seil¬
tänzerhaften David noch in den mehr äußerlich als innerlich momentan gegebnen
Madonnen, so hat er sich auch nicht einer so fürstlich sorgenden Huld Lorenzos
erfreuen können, wie sie Donatello von Cosimo zu teil wurde. Das merkwür¬
digste Stück aus Verrocchios Mediceerarbeiten ist vielleicht die berühmte Frauen¬
büste, die man als Porträt der Lucrezia Donati ansieht, der Geliebten Lorenzos.
Die schöne Frau, deren jüngeres Antlitz Botticelli in der rechten der drei Grazien
seiner Primavera wiedergab, ist von Verrvcchio als junge Mutter dargestellt
worden: ihre großen vornehmen Hände halten das nur im Relief gegebne Kindlein
fast versteckt an die Brust gedrückt, sodaß die Wirkung des Hauptes zunächst
allein zur Geltung kommt, und doch liegt schließlich in der Darstellung eines
^ >^
WZ>in März 1838 verheiratete sich mein Vater wieder, und zwar mit
Tochter des Struinpfwarenfabrikantcn Eberhard Fritsch in Halle
^ein der Saale. Sie hatte ihrem Großvater von mütterlicher Seite,
l einem wohlbegüterten Landwirt Koch in Quedlinburg, die Wirtschaft
geführt, und nach dessen Tode hatte mein Vater sie kennen ge¬
lernt, Gefallen an ihr gefunden und sich mit ihr verlobt. Sie war
im Jahre 1813 in Halle geboren, bei ihrer Verheiratung also fünfundzwanzig
Jahre alt. Schon als Braut gewann sie unser kindliches Vertrauen. Sie ist uns
eine gute und sorgsame Mutter gewesen. Sie hat meinen Vater lange überlebt,
und ich bin mit ihr bis zu ihrem Tode in Liebe und Dankbarkeit verbunden ge-
blieben. Ihrer Ehe sind noch zwei Kinder entsprossen, Arnold, geboren 1838, und
Anna, ein Nachkömmling ans dem Jahre 1848. Beide haben mir sehr nahe ge¬
standen. Mein Bruder Arnold war von jeher von großer Herzensreinheit, eine
durch und durch gesunde, fröhliche, tief religiöse und praktische Natur. Er wurde
ein tüchtiger Landwirt und starb im Jahre 1863 in Hackpfüffel unter dem Khff-
häuser als Ökonomieinspektor auf dem dortigen gräflich Kalkreuthschen Gute an einer
Darmzerreißung. Wir haben ihn auf dem alten Friedhofe in Roßla beerdigt. Sein
früher Tod gehört zu den schwersten Führungen meines Lebens. Meine jüngste
Schwester Anna verheiratete sich später mit dem Kaufmann Koch in Quedlinburg,
starb aber früh an den Folgen eines Wochenbetts. Sie ruht in unserm Erb¬
begräbnisgewölbe auf dem Brühlkirchhof in Quedlinburg.
Durch die Wiederverheiratung meines Vaters wurde das Leben im Eltern-
Hause wieder traulicher. Ich habe das, so jung ich noch war, dankbar empfunden.
Zuhause war ich das älteste Kind. Meine älteste Schwester war von der zweiten
Schwester unsrer rechten Mutter, der kinderlosen Gattin des Hofgärtners Ernst
Bornemann in Ballenstedt, an Kindesstatt angenommen worden und wurde dort
wie ein Kind des Bornemannschen Hauses erzogen. Im Jahre 1838 verheiratete
sie sich mit dem jüngern Bruder ihres Pflegevaters, dem Oberförster Wilhelm Borne¬
mann in Tilkerode. Seitdem war meine zweite Schwester Friederike im Borne¬
mannschen Hause in Ballenstedt um ihre Stelle getreten. Zwischen uns und den
Ballenstedtern bestand aber unausgesetzt ein reger Verkehr. Die Dienstwohnung
meines Onkels Bornemann war das am iinßersten Ende der weitläufigen Schlo߬
gärten vor Ballenstedt liegende grüne Haus. Dort hatte er seinem Bruder und
meiner Schwester eine überaus glänzende Hochzeit ausgerichtet. Für diese Hoch¬
zeit war auf dem Hofe des grünen Hauses ein besondrer bretterner großer Saal
hergerichtet und mit grünem Tcmnenreisig und Blumen dergestalt bekleidet worden,
daß man von den Holzwänden nichts sah. Hier wurden der Polterabend und die
Hochzeit in großartiger Weise gefeiert. Die Trauung fand in der Schloßkirche
statt, und unvergeßlich ist mir der stattliche Brautzug, der sich an einem herrlichen,
sonnenhellen Herbsttage durch den schönen Schloßgarten hinauf nach der Schloßkirche
bewegte, der Bräutigam in großer Galauniform mit hohen Stiefeln und weißen
ledernen Beinkleidern, neben ihm meine ungewöhnlich hübsche Schwester Julie im
weißen Brautkleide und Myrtenschmuck, und hinter ihnen der lange, festliche Hoch¬
zeitszug. Damals habe ich zum erstenmal die Ahnung eines poetischen Eindrucks
von einer lebensvollen Festfeier bekommen. Freilich stach dagegen die Prosa des
von den: unruhigen, alltäglichen Geschäftsverkehr durchfluteten Vaterhauses in Quedlin¬
burg grell genug ab.
In meinen spätern Jugendjahren habe ich während der Schulferien im grünen
Hause vor Ballenstedt oft sehr glückliche Tage verlebt. Wenn Onkel und Tante
Bornemann mich für einige Tage zu sich einluden, dann wanderte ich mutterseelen¬
allein, aber fröhlich durch die stillen Felder von Quedlinburg über den Bicklinger
Turm nach dem Zehling. So hieß eine Fasanerie und große Obstplantage unter
dem Gegensteine, einem Stück der Teufelsmauer. Vou der Höhe des Zehlings
konnte ich dann das grüne Haus schon liegen sehen. Das Nachtzeug brachte mir
die Botenfrau mit, die an zwei Tagen der Woche regelmäßig von Ballenstedt nach
Quedlinburg und zurück ging. Das grüne Haus war für mich das Ideal einer
mit Geschmack eingerichteten, harmonischen und poetischen Wohnung. Meine Ver¬
wandten waren wohlhabend, der Onkel ein schöner, geistvoller und gebildeter Mann
mit weltmännischen Manieren, die Tante etwas peinlich, aber gegen mich voll
liebenswürdiger Freundlichkeit, ihr ganzer Haushalt ein Muster sauberer Akkuratesse
und eleganter Behaglichkeit. Der Onkel nahm mich dann mit durch die ihm unter¬
stellten herzoglichen Gärten und Obstplantagcn und erzählte dabei von seinen Reisen
— er hatte zu seiner Ausbildung einige Jahre in Holland und Frankreich ge¬
lebt —, und die Tante suchte mich äußerlich ein wenig mehr zuzustutzen, als es
zuhause üblich war. Ich ließ mir das gern gefallen und fühlte mich dort immer
ungemein Wohl. Wenn ich nach Quedlinburg zurück mußte, so hatte ich regelmäßig
einige Tage laug förmliches Heimweh nach Ballenstedt. Davon durfte ich mir
freilich zuhause nichts merken lassen. Aber ich habe, so schnell nach der Art der
Jugend und bei meinem lebhaften Temperament diese Heimwehstimmung auch wieder
verflog, damals oft das klare Bewußtsein gehabt, daß ich mich im grünen Hause
glücklicher fühlte als im väterlichen. Gewiß hätte es nicht so sein sollen. Die
Schuld lag aber doch nicht bloß auf meiner Seite. Das unruhige, geschäftliche
Treiben und Haften im Elternhause trat so stark in den Vordergrund, daß wir
kaum jemals traulich zu deu Eltern flüchte» und unsre kleinen Anliege» vor ihnen
ausschütten konnten. Die schöne, stille, idyllische Harmonie des Zusammenlebens,
die ich im grünen Hause fand, suchte ich daheim nur zu oft vergebens.
Zuweilen durfte ich die Ferien auch in Gernrode im Hanse der überaus lieb¬
reichen jüngern Schwester meiner verstorbnen Mutter verleben. Onkel Sobbe, ihr
Mann, war Bürgermeister und besaß dort ein schön gelegnes, großes, ertragreiches
Landgut, das er selbst bewirtschaftete. Auch dort habe ich mich als Kind immer
sehr wohl gefühlt. Das Leben war hier freier, ungezwungner und in gewisser
Hinsicht großartiger als in Ballenstedt. Der große, überaus wohlhäbige Sobbische
Haushalt war ungemein gastlich. Das Haus wurde kaum leer von Besuch. In
dem viele Morgen großen Garten konnten wir uns nach Herzenslust austoben,
auf die Bäume klettern, von dem im Überfluß vorhandnen Obst aller Art soviel
essen, wie wir Lust hatten. Vor den Fenstern des Wohnhauses lag der Wiesen¬
hof, eine mit Hecken und Bäumen eingefaßte, von Bewässerungsgräben durchschnittne,
große Wiese, die ebenfalls zum Gute gehörte. Da wurden von uns Dämme gebaut
und Wasserrilleu gegraben, Vögel in Sprenkeln gefangen, Schalmeien ans frisch
abgeschälter Weidenriude hergestellt, kurz alle für einen Jungen erdenkliche Kurz¬
weil getrieben. Nachmittags gab es gemeinsame Spaziergänge in den nahen Wald,
bei denen draußen das mitgenommene Abendessen verzehrt, auch gesungen und ge¬
tanzt wurde. Der lebhafte Verkehr von Gästen aller Art im Sobbischen Hanse,
der Umgang mit meinem nur einige Jahre ältern Vetter Eduard Sobbe und mit
dessen Schwester Antonie, einem sehr hübschen, fein erzognen, jungen Mädchen, die
ländliche Freiheit und das Bewußtsein, nicht lästig zu fallen, sondern von der
gütigen Taute mit besondrer Liebe gehegt zu werden, das alles verlieh dem Aufent¬
halte in Gernrode einen noch heute unvergessenen, poetischen Zauber. Ganz gro߬
artig war die Hochzeit meiner Cousine Antonie Sobbe mit dem Gutsbesitzer Franz
Hogrefe. Sie wurde kurz nach der Hochzeit meiner ältesten Schwester und mit
nicht geringerm Anfwnnde auf dem Stubenberge bei Gernrode gefeiert. Mit mir
war eine Anzahl gleichaltriger, entfernter Vettern da, und wir haben uns in dem
Hochzeitstrubel sehr unnütz gemacht und viel Unfug getrieben. Obwohl ich noch
ein kleiner Junge war, machte doch die Traurede in der Kirche einen tiefen Ein¬
druck auf mich. Ja ich kann sagen, das; dies der erste religiöse Eindruck war, den
ich empfangen habe. Der Trantext war aus dem Buche Ruth, Kapitel 1, Vers 16 .
und 17 entnommen: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst,
da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo
du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue
mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheide»." Ich habe diesen Text
und diese Traurede nie wieder vergessen. Die schöne Braut weinte bei der Trauung
bittere Tränen. Sie kam mir, weil sie so weit von dem schönen Gernrode weg-
ziehn sollte, äußerst bedauernswert vor. Sie ist aber in Ostpreußen sehr glücklich
geworden. Ihr Mann war später konservativer Abgeordneter und ist viel später
als seiue Frau, nämlich erst im Jahre 1896 gestorben. Wir sind uns aber selt¬
samerweise im spätern Leben nie näher getreten.
Zu solchen Festlichkeiten fuhr unsre zweite Mutter mit uns. Der Vater blieb,
wenn er es schicklicherweise irgend einrichten konnte, lieber zuhause. Ganz hat er
die Schatten der Vergangenheit niemals mehr verwunden. Je länger, desto mehr
entzog er sich der Geselligkeit außer dem Hause. ZuHanse aber konnte er zu Zeiten
wieder heiter und fröhlich sein. Er hatte ein treffliches Gedächtnis und wußte un-
gemein lebendig und anschaulich zu erzählen.
Am meisten interessierten uns Jungen seine Erzählungen aus der Franzosen-
zeit. An einem Sonntagmorgen des Jahres 1806 — so schilderte er das erste
Eintreffen der Franzosen in Quedlinburg — war ein nahe bei unserm .ftause
wohnender Schneider Kampf, wegen seiner Statur der kleine Kampf genannt,°nach
dein etwa eine Meile westwärts gelegnen Dorfe Warnstedt gegangen, um einem
seiner dortigen Kunden einen neuen Anzug hinaufzutragen. Noch ehe er Warnstedt
erreicht gehabt, hatte er gesehen, daß fremde Truppen ihm entgegemnarschierteu.
Bevor diese seiner habhaft werden konnten, hatte der kleine Kampf flugs kehrt ge¬
macht und war über Hals und Kopf nach Quedlinburg zurückgerannt. In den
Straßen der Stadt hatte er durch den Ruf „Die Franzosen kommen!" die Ein-
wohnerschaft mobil gemacht und in Bestürzung versetzt. Im ersten Schreck hatten
viele Bürger ihre Häuser verschlossen und verrammelt, Geld und Wertsachen
zusammengerafft und sie, so gut es in der Eile hatte gehn wollen, in den Kellern
oder auf den Hausboden versteckt. In der Tat kamen denn auch die ersten
französischen Soldaten dem Schneider Kampf auf dem Fuße nach und drangen in
kleinen Trupps marodierend in die Hänser ein. Die verschlossenen Hanstüren
wurden mit Äxten eingeschlagen, und bald standen anch in unsrer guten Stube
Franzosen vor meinem Großvater und verlangten drohend als I'arAvnt. Mein Gro߬
vater hatte vorsorglich einige Geldrollen voll Groschen und kleinen, sogenannten Silber¬
sechsern zurückbehalten. Davon gab er einige den kauderwelschenden französischen
Soldaten. Sie zerbrachen die Rollen, und als sie die winzigen Münzen sahen,
warfen sie diese auf den Fußboden und drangen mit den Worten: „Nix, Bauer,
nix, as I'ÄiZoiit" oder risn ä'^rZsut auf meinen Großvater ein. In diesem
kritischen Augenblick ertönte in den Straßen der französische Generalmarsch, dessen
Melodie mein Vater uns mit dem untergelegten Texte vorsang: „Kamerad komm,
Kamerad komm, Kamerad komm mit Sack und Pack," Fluchend und lärmend
bückten sich die Soldaten nach den am Boden liegenden kleinen Münzen, rafften
davon zusammen, was sie eben erHaschen konnten, nahmen noch ein paar neue, un¬
mittelbar vorher vom Schuhmacher abgelieferte steife Lederstiefel mit, und weg
waren sie. Für dieses mal war die Gefahr vorüber und alles gut abgelaufen.
Später haben meine Großeltern häufig französische Einquartierung, und zwar immer
Offiziere mit ihren Burschen in ihrem Hause beherbergt und sind immer sehr gut
mit ihnen ausgekommen. Mein Vater war, wenn er davon erzählte, immer voll
Anerkennung für die anständigen und höfliche» Manieren der Franzosen im Gegen¬
satz zu der ungeschlachten Grobheit und Begehrlichkeit späterer russischer oder
bayrischer Einquartierung. Da Quedlinburg unmittelbar nach dem ersten Erscheinen
der Franzosen dem nen gebildeten Königreich Westfalen einverleibt wurde, so war
die Stadt für die französischen Truppen kein feindliches Gebiet, sondern Freundes¬
land. Im allgemeinen haben sich die Franzosen auch bei uns als Freunde betragen.
Immerhin haben sie durch ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit auch in Quedlin¬
burg in manchen Bürgerhäusern viel Verwüstung angerichtet. Für Frauen und
Mädchen waren sie eine große Gefahr. Von religiöser Sitte und Zucht hielten sie
nichts und spotteten darüber. Die althergebrachte Solidität der Bürgerschaft hat
während der Zeit der französischen Invasion schwer gelitten. Freilich machten sie
dem Puder und bei den Männern dem Haarzvpf, aber ohne Zweifel auch in
andern Verhältnissen manchem alten, langen oder kurzen Zopf ohne viel Federlesens
ein Ende.
Vor dem russische» Feldzuge Napoleons hatte ein französischer Offizier bei
meinen Großeltern längere Zeit im Quartier gelegen und sich mit ihnen und den
Kindern des Hauses angefreundet. Als ihm am ersten Morgen uach seiner An¬
kunft Kaffee zum ersten Frühstück serviert wurde, hatte er diesen mit den Worten
zurückgewiesen: ^» es,es, nix xour solclat. Meine Großmutter war in der größten
Verlegenheit, was sie ihm vorsetzen sollte. Da hatte er plötzlich nach seinem Tschako
gegriffen und war fortgeräumt. Er kam aber bald vergnügt schmunzelnd zurück,
und zwar mit einem Hering, den er quer durch den damals üblichen schmalen Latz
seiner Beinkleider gesteckt hatte. Den Hering brachte er in die Küche. Dort suchte
er meiner Großmutter durch Pantomimen und mit den Worten: NslW, niÄclame,
mÄsnxs deutlich zu machen, daß er Heringssalat haben wolle. Der wurde denn auch
gemacht, und zwar nach Quedlinburger Art äußerst schmackhaft. Der Franzose war
glücklich und bekam seitdem täglich seine Portion Heringssalat zum Frühstück. Dafür
war er so dankbar, daß er im Winter 1812/13, als er aus dem russischen Feld¬
zuge mit einem Kvllett, von dem um den Wachtfeuer» die Schöße abgesengt waren,
zurückkam, in Quedlinburg auf das Rathaus eilte und ein Qnartierbillett eben
mousiöur LoWv verlangte. Er erhielt es auch, aber auf den Namen des ältesten
Sohnes meiner Großeltern Ernst Bosse. Als er in dessen Haus geführt wurde,
schüttelte er unwillig mit dem Kopfe und zerriß das Villele mit den Worten: Nix
monsiizui' Vosso. Dann trollte er ab und fand sich auch richtig auf eigne Hand
zu dem Hause meiner Großeltern. Dort wurde er gastlich aufgenommen und er¬
zählte in seiner nur halb verständlichen Art von den Schreckenstagen in Moskau
und den Leiden der Zranclö armöo in den winterlichen Steppen Rußlands und an
der Beresina, Er erhielt seinen Heringssalat und marschierte nach wenig Tagen
weiter nach Westen, der französischen Heimat zu.
Diese und ähnliche Geschichten kursierten in meiner Jugend vielfach in den
Bürgerhäusern meiner Vaterstadt. Auch von dem unglaublichen Treiben des Königs
Jerome und seines Hofes in Kassel wurde viel gesprochen. Wir Jungen haßten
und verachteten diesen König Hieronymus leidenschaftlich. Die Alten aber zuckten
die Achseln dazu und lobten seine persönliche Gutmütigkeit und Leutseligkeit. Sie
wollten ihn nicht als so schlimm gelten lassen, wie er verrufen wäre. Er sei oft
in die Kasernen gegangen und habe dort das Essen der Soldaten gekostet, und
als einmal ein Jahr ohne Krieg vergangen sei, habe er seinen Untertanen sofort
die Steuern für ein ganzes Jahr erlassen. Das wollte uns Jungen nicht ein¬
leuchten, und leidenschaftlich wiesen wir darauf hin, daß er seine Kassen ans dem
Erlöse der massenhaft verkauften Güter gefüllt habe, die nicht ihm gehört hätten.
Die ältern Quedlinburger und ihre Väter hatten aber dabei gute Geschäfte gemacht,
und wenn sie das westfälische Treiben auch nicht billigten, hatten sie doch für den
König Jerome immer eine milde Entschuldigung bei der Hand. Uns Jungen er¬
schien das als eine schier unbegreifliche Wunderlichkeit.
Schon zu Michaelis Z836 — ich war also nur wenig Monate über vier
Jahre alt — schickte mich mein Vater in die unterste Klasse der städtischen Knaben¬
volksschule. Sie war in einem dreistöckigen großen Gebäude in der nur wenig
Minuten von meinem Elternhause entfernten Beckstraße. Ich our ein kerngesundes
Kind mit lebhaftem Temperament und sollte zunächst, wie mein Vater sagte, still¬
sitzen lernen. Geschadet hat mir der frühe Schulbesuch nicht. Ich ging von An¬
fang an gern zur Schule. Der üblichen, mit allerhand Konfekt gefüllten, bunten
Tute, die ich bei meinem ersten Eintritt in die Klasse von dem Lehrer bekam, hätte
es kaum bedurft, mich für die Schule zu interessieren. Mehr als das Zuckerwerk
imponierte mir der neue naturfarbne Tuchrock, den ich aus Anlaß meines ersten
Schulbesuchs erhielt. Bis dahin hatte ich entweder ein „Habit," d. h. eine mit
der hinten zugeknöpften Hose vereinigte Jacke oder einen „Kittel" getragen. Den
Rock empfand ich als einen gewaltigen Fortschritt. Ich muß in dem neuen Rocke
besonders würdig ausgesehen haben. Denn die Meinigen stellten mich darin vor
sich hin und behaupteten, der Junge sähe in dem Bratenrocke wie ein behäbiger
Pachter aus. Eine ganze Weile, wohl solange der Rock hielt, wurde ich zuhause
der „Pachter" genannt und gerufen.
Die Schule, in die ich täglich mit dem Ranzen auf dem Rücken trabte, war
vorzüglich. Sie leistete alles, was man von einer guten Volksschule verlangen
kann. Sie hatte vier Klassen. Jede war mit einem in seiner Art ausgezeichneten
Lehrer besetzt. Lehrer der untersten (vierten) Klasse war Herr Thieme, der dritten
Herr Kleinere, der zweiten Herr Scharfe, der ersten Herr Mahleke. Jeder von
ihnen war streng, ließ keine Unart durchgehn und lebte mir für die Schule. Sie
wußten die ihnen anvertrauten Kinder ungeachtet der in jeder Klasse über hundert
betragenden Schülerzahl den Altersstufen gemäß und bis zu einem gewissen Grade
sogar individuell zu behandeln. Ausnahmsweise wurde in der Schule auch mit
„ungebrannter Asche" gestraft. Das geschah selten, aber wenn es geschah, schmerzte
es empfindlich. Nicht bloß äußerlich, sondern um der Ehre willen auch inwendig.
In der vierten Klasse habe ich nie einen Schlag bekommen; in der dritten hat
mir Herr Kleinere einmal einen mäßigen Schlag mit dem Haselnußstöckchen über
den Rücken gegeben. Der Schlag tat weh, war aber durch unzeitiges Sprechen
während des Unterrichts Wohl verdient. Dieser Nackenschlag war überdies typisch
für meine Zukunft. Denn durch unzeitiges und vorschnelles Reden habe ich mir
später nur zu oft empfindliche Nackenschläge zugezogen. In der zweiten Klasse habe
ich mit drei oder vier Knaben ans wohlhabenden Familien einmal sogar „überge¬
legte" Schläge bekommen, und zwar zu unsrer tiefen Beschämung vor der ganzen
Klasse. Herr Scharfe setzte bei dieser Prozedur den einen Fuß auf die Bank, auf
der wir saßen. Dann legte er uns mit einem scharfen Ruck einen nach dem andern
über sein gekrümmtes Knie, zog mit der linken Hand die Hose prall und versetzte
mit der rechten mit einem Haselnußstock von der Dicke des kleinen Fingers drei
wohlgezielte Hiebe auf das Hinterteil. Sie taten unglaublich weh. Wir strampelten
mit den Füßen und heulten mörderlich. Das half nichts. Dazu ärgerten wir vier
oder fünf Bestraften, da wir die ersten der ganzen Klasse waren, uns über die
wohlgefälligen Gesichter der andern Jungen. Sie lachten zwar nicht, denn das
hätte sie sicher in dasselbe Gericht gebracht; aber wir sahen ihnen das Wohlgefallen
an der unparteiischen Behandlung der Jungen von der ersten Bank an den Augen
an. Und doch war diese Strafe unverdient und eine ganz unverständliche pädagogische
Verkehrtheit. Wir bekamen die Schläge, weil wir trotz vorhergegangner Belehrung
in einem Diktat das Wörtchen „hat" mit einem doppelten t geschrieben hatten.
Das war sicherlich ein Fehler, der seine Rüge und vielleicht auch Strafe verdiente.
Aber eine körperliche Züchtigung würde in einem solchen Falle heute glücklicher¬
weise kein Lehrer mehr anwenden. Es würde ihm auch mit Recht übel bekommen.
Wie der sonst ungemein einsichtige und ruhige Herr Scharfe zu diesem groben
Mißgriff gekommen war, ist mir immer ein Rätsel geblieben.
Immerhin muß ich bezeugen, daß uus die übel angebrachte Strafe nicht ge¬
schadet hat. Wir fanden sie zwar hart und ungerecht, mochten aber wohl das
Bewußtsein haben, daß wir für manche verborgen gebliebne Jungenstreiche Strafe
verdient hatten. Uns zuhause bei den Eltern über erltttnes Unrecht zu beklagen,
kam uns gar nicht in den Sinn. Bei mir wenigstens wäre mit Sicherheit darauf
zu rechnen gewesen, daß der Versuch einer solchen Beschwerde mir noch eine weitere
häusliche Strafe eingetragen hätte. In den Augen meines Vaters war der Junge
dem Lehrer gegenüber von vornherein ini Unrecht.
Auch der Respekt vor unserm Lehrer, Herrn Scharfe, hat unter dieser un¬
gerechten Strafe nicht gelitten, und ebensowenig unser Verhältnis zu den ärmern
Kameraden in der Klasse. Im allgemeinen wurde auch von den Lehrern unsrer
Klippschule von der körperlichen Züchtigung ein sehr mäßiger Gebrauch gemacht.
Nur Herr Mahleke in der ersten Klasse stand in dem Rufe, daß die Jungen zwar
viel bei ihm lernten, daß er aber den Stock etwas gar zu lose sitzen habe. Uuter
uns Schuljuugeu gab es einen Reim auf die vier Lehrer, der, wenn richtig ver¬
standen, ihr Verhältnis zu ihrer Klasse vollkommen zutreffend schilderte. Er hieß:
„Herr Thieme ist ein guter Mann, Herr Kleinere der geht auch »och an, Herr
Scharfe ist ein Kribbelkopp, Herr Mahleke hängt die Jungens opp." Das be¬
deutete, daß Herr Thieme in der Abcklasse am sanftesten, freundlichste» und väter¬
lichsten mit den Kindern umging. Herr Kleinere in der dritte» Klasse zog schon
strengere Saiten auf, machte aber doch auch noch dann und wann einen kleinen
Spaß und streichelte auch wohl dem einen oder andern fleißige» Jungen einmal
liebkosend das Haar. Herr Scharfe, ein hagerer Mann mit einer Habichtsnase,
galt als ernst, streng, aber gerecht u»d kannte kein Ansehen der Person. Herr
Mahleke, unter dessen Schulszepter ich nicht mehr gelangt bin, machte freilich keine
Umstände und galt als gefürchteter Schulthrauu; er brachte aber die erste Klasse
bis zur Koufiriuation sogar über das Schulziel heraus. Namentlich war er ein
vorzüglicher Rechner und Necheulehrer, und nieiu Vater ließ mich später, als ich
schon das Gymnasium besuchte, eine Zeit lang Privatunterricht im Rechnen bei ihm
nehmen, weil er — nicht oh»e Grund — behauptete, daß in den für das praktische
Leben so wichtigen Elementen des Rechnens auf dem Gymnasium nicht alles so
gehandhabt werde, wie es hätte sein sollen. Genug, die Quedlinburger Volksschule
war ausgezeichnet.
Mit unauslöschlichem, dankbarem Respekt denke ich an meine ersten Lehrer
zurück, die nach heutige» Begriffen uuter ganz unglaublich dürftige» Verhältnissen
ihres Amtes mit mustergiltiger Treue warteten und in großem Sege» wirkten.
Der Eindruck, den ich von diesen meinen ersten Lehrern empfangen habe, hat mich
durch das ganze Leben begleitet. Auf diesen Eindruck ist ohne Zweifel der Respekt,
das Interesse, ja die Liebe und Daukbarkeit zurückzuführen, die ich für die preußische
Volksschule und ihre tüchtigen Lehrer allezeit behalten habe. Ich kann bezeugen,
daß einzelne Partien des schulmäßigen Wissens nur bis auf deu heutigen Tag fast
ausschließlich in der Form geläufig sind, in der ich sie in der Volksschule empfangen
und in mich aufgenommen habe. Das gilt sogar von gewissen Teilen der Welt-,
insbesondre der deutschen Geschichte, die uns von Herrn Scharfe in bewunderns-
werter, uns Kinder tief ergreifender Darstellung eingeprägt wurde. Das erste
Erscheinen der Cimbern und Teutonen, Hermann der Cherusker, die Varusschlacht
im Teutoburger Walde, Chlodwig und Karl Martell, Pipin von Heristal und Pipin
der Kleine, Karl der Große und die Bekämpfung der Sachsen, seine Krönung in
Rom, seine Verdienste um die Schule, Karls Söhne, der Vertrag von Verdun
und die Gestaltung Deutschlands unter Ludwig dem Deutschen, aber auch die Ge¬
schichte der spätem deutschen Kaiser, insbesondre die des Städtegründers Heinrich,
seine Kämpfe wider die Ungarn, seine Verdienste um die Städte und das Bürger¬
tum, natürlich auch seine und Ottos des Großen Beziehungen zu Stadt und Stift
Quedlinburg, die Hohenstnnfen, Rudolf von Habsburg und später Maximilian der
Erste und viele andre, kurz die bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte
stehn mir in der Hauptsache noch heute so vor Augen, wie sie uns vor länger als
fünfzig Jnhreu zwar in einfacher, aber Geist und Gemüt der Kinder fesselnder
Form dargestellt worden sind. Heinrich den Vierten, seine Kämpfe gegen Gregor,
die Kreuzzüge, die Grundzüge der Reformationsgeschichte und die Geschichte der Ent¬
deckungen im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, das alles habe ich damals im
wesentlichen so gelernt und in mich aufgenommen, wie ich es — unbeschadet späterer
Ergänzung und Ausgestaltung — in den Grundgedanken noch heute festhalte.
Mir selbst ist das oft wunderbar erschienen, und ich habe es nicht an wieder¬
holter, eingehender Prüfung fehlen lassen, ob das psychologisch möglich sei, und ob
uicht vielleicht der poetische Zunder jugendlicher Erinnerung dabei eine gewisse
Selbsttäuschung herbeigeführt habe. Aber ich bin, je älter ich geworden bin, desto
mehr zu der Gewißheit gelangt, daß ich mich nicht täusche. Ich sehe darin viel¬
mehr auch bei der nüchternsten Erwägung deu untrüglichen Beweis dafür, daß uus
die vaterländische Geschichte von unserm trefflichen Lehrer nicht bloß mit beredten
Lippen, sondern aus einem warmen, begeisterten Herzen heraus gelehrt worden ist.
Das war der gesunde, deutsche Idealismus, der den schlichten, einfachen Volksschul-
lehrer in der Ausübung seines Berufs über die elenden Nöte, unter denen er zu
leiden hatte, weit hinaushob und ihn befähigte, Geist und Gemüt der Kinder zu
Packen und ihnen unvergeßliche, für ihr Leben wirksame Eindrücke zu vermitteln.
Ich bin dafür um so dankbarer, als gerade diese wichtigsten Zeiten deutscher Ge¬
schichte mir während meiner ganzen Gymnasialzeit — kaum glaublich, aber wahr —
niemals wieder im Zusammenhang gelehrt worden sind. Welche Macht übt ein
rechter Lehrer, auch der Lehrer der Volksschule, ja gerade er auf unser Volk aus'
Wie unberechenbar weit wirkt er in die Zukunft hinein! Welche Kurzsichtigkeit,
das acht zu würdigen! -» ^ '
Eine besondre Vorschule für das Gymnasium gab es damals noch nicht. Die
Kunden, die später das Gymnasium besuchen sollten, wurden in die einfache Volks¬
schule geschickt und blieben dort so lange, bis sie für die Sexta des Gymnasiums
reif waren. Ich habe das immer als einen wahren Segen empfunden, daß wir
dort mit Jungen aus alle» Schichten der Bevölkerung auf derselben Bank saßen
und mit ihnen auf gleichem Fuß verkehrten, mit den Kindern der armen Familien
so gut wie mit denen der wohlhabenden.
Mit einigen Jungen aus Arbeiter- und Haudwerkerfnmilieu hatten wir much
außer der Schule vollkommen freundschaftlichen Umgang. Ich weiß keinen einzigen
Nachteil zu nennen, der mir daraus erwachsen wäre. Wohl aber habe ich ans
diesem Verkehr manche reine Freude und manchen Einblick in die häuslichen und
Erwerbsverhältnisse vou Arbeiter-, Handwerker- und kleinen Beamtenfamilien ge¬
wonnen, der mir sonst entgangen wäre.
„ Ich kann die Nachwirkungen dieses Verkehrs und der dabei empfangner Ein¬
drucke durch mein ganzes Leben verfolgen. Mau muß die Verhältnisse der ärmern
su i v ""^ eigner Anschauung kennen, daß man sie ganz verstehn und für die
I^Micr und wirtschaftlichen Anschauungen, Wünsche und Bestrebungen dieser Klassen
s rechte Interesse und einen sachlich zutreffenden Maßstab gewinnen lernt.
Die allgemeine Volksschule, allenfalls in Verbindung mit einem maßvoll be¬
messenen Privatunterricht, ist nach meiner Erfahrung in der Regel eine ganz
passende Vorschule für die künftigen Gymnasiasten, Oberreal- und Realschüler, aus
denen die Arbeitgeber, Beamten, Lehrer und Geistlichen hervorgehn. Die sich
daraus ergebenden persönlichen Berührungen zwischen den verschiednen Schichten
der Bevölkerung geben soziales Verständnis und tragen sicherlich zur Herbeiführung
eines gefunden sozialen Ausgleichs bei.
Ich weiß wohl, daß sich seit meiner Jugendzeit die Verhältnisse mannigfach
geändert haben, und es mag, namentlich in den großen Städten, oft genug schwer,
ja unmöglich sein, zu den einfachen Verhältnissen zurückzukehren, wie sie vor sechzig
Jahren in meiner Heimat waren.
Ich halte es deshalb auch weder für geraten, noch für überall ausführbar,
zur Zeit ohne Rücksicht auf örtliche Verhältnisse die bestehenden Vorschulen einfach
zu beseitigen.
Inzwischen hat sich die Schwierigkeit auch noch dadurch verstärkt, daß für die
allgemeine Volksschule das Schulgeld aufgehoben worden ist.
Aber als Regel möchte ich die allgemeine Volksschule oder auch die Mittel¬
schule auch für die Kinder der in wirtschaftlich günstigern Verhältnissen lebenden
Familien als die empfehlenswerteste elementare Unterweisung ansehen. Freilich
unter der Voraussehung einer planvollen Unterstützung der Schule durch eine ge¬
sunde und christliche häusliche Erziehung.
Eine Verkehrtheit unsrer sonst so vortrefflich eingerichteten Schule ist mir bis
auf den heutigen Tag unverständlich geblieben. Der Klassenlehrer, Herr Scharfe,
gab in der zweiten Klasse den gesamten Unterricht mit Ausnahme von wöchentlich
einer Stunde. Für diese Stunde, Donnerstags von drei bis vier Uhr, war im
Lektionsplan „Lesen im Religiousgesangbuche" vorgesehen. Schon an sich eine
Verkehrtheit, das Gesangbuch als Stoff für die bloße Leseübuug zu benutzen. Diese
Stunde war einem jungen Lehrer, Herrn Kelz. übertragen, der in: Hauptamte an
der Mädchenschule angestellt war. Er mochte einsehen, daß er mit dieser einzelnen
Stunde bei uns nichts auszurichten vermochte. Am wenigsten mit diesem sogenannten
Religiousgesangbuch, einer Sammlung höchst prosaischer, rationalistisch verwässerter
Lieder von schlechten? Geschmack. Es enthielt Lieder für alle möglichen und un¬
möglichen Schulfeiern, z. B. für eine Hinrichtung. Die Lieder enthielten die holprigste
gereimte Prosa, die man sich denken kann, und waren mich pädagogisch mit plan¬
mäßigem Unverstand ausgewählt. So sing z. B. ein Lied mit der Strophe an:
Genug, Herr Kelz wußte weder mit dieser Lektion noch mit dem Lesebuche
etwas anzufangen. Ob es seiner Instruktion entsprach, weiß ich nicht; aber päda¬
gogisch war es ganz richtig, daß er, wenn ein paar Strophen ans dem Gesang¬
buch e gelesen waren, uns eine „Geschichte" aus einem andern Buche vorlas. So
habe ich von ihm den Robinson Crusoe vorlesen hören, und man kann sich denken,
mit wieviel größerer Andacht die Klasse diesen Erlebnissen des Robinson oder
einem Grimmschen Märchen tauschte im Vergleich mit dem hölzernen Neligions-
gesangbuche. Wir hatten den sanften, freundlichen Herrn Kelz sehr lieb und waren
ihm für seine „Geschichten" sehr dankbar. Wenn wir ihm auf der Straße be¬
gegneten, gingen wir an ihn heran, nahmen die Mütze ab, sagten Guten Tag und
gaben ihm die Hand.
Meine Schularbeiten machte ich in der dritten und zweiten Klasse meist
in Gemeinschaft mit einem gleichaltrigen Schulkameraden, August Stoffregen. Er
war der Sohn eines ehrsamen Schnhmachermeisters, ein geweckter, fleißiger und ge-
Wissenhafter Junge. In der Wohnung seiner Eltern war es weit ruhiger als bei
uns zuhause. Da heißen wir gegen Abend in der Werkstatt des Vaters Stoffregen
an einem blank gescheuerten, großen Tische und schrieben unsre „Aufsätze" oder
rechneten unsre Exempel beim Scheine einer grün lackierten, höchst primitiven Öl¬
lampe. Die Schuster galten damals in Quedlinburg allgemein als „sinnierende"
Leute, die bei großer Ehrbarkeit eine absonderliche Neigung zum Nachdenken, Kom¬
binieren und zu allerlei entlegner Weisheit haben sollten. Das traf auch bei
August Stoffregens Vater zu. Er war der Schuster meines Großvaters und eines
etwas wunderlichen Großonkels von mir, namens Vogler, gewesen. Wenn er diesem
ein Paar neue Stiefel brachte, denn fragte ihn der Empfänger: Was kosten sie,
Meister Stoffregen? Zwei Taler und einen Gulden, Herr Vogler. So, hier ist
das Geld, und da habt Ihr noch einen Gulden; dafür zieht Ihr die Stiefeln vier
Wochen lang an und tretet sie aus. Dann bringt sie mir wieder! — Wie Sie
wünschen, Herr Vogler! Damit zog Meister Stoffregen mit feinen neuen Stiefeln
wieder ab,°um sie nach vier Wochen ausgetreten wieder zu bringen. Wenn wir
bei Stoffregeus Schularbeiten machten, so saß der Alte auf seinem Schemel hinter
einer großen, mit Wasser gefüllten Glaskugel, in der sich die Strahlen des da¬
hinter stehenden Talglichts konzentrierter. Von dort fielen sie hell auf seine Arbeit.
Er zog seinen Pechdrnht oder hämmerte seine Absätze zurecht und pfiff dazu ein
Liedchen oder machte seine Bemerkungen über die neue Zeit und die immer ver¬
schrobner werdenden Menschen, die dauerhafte Stiefel und Schuhe statt mit Pech¬
draht mit Holzstiften machen wollten. Eine kleine, ja kleinliche Welt, in die ich
da hineinschaute. Aber in dieser kleinen Welt lebten ordentliche und fleißige
Menschen in bescheidnen, auskömmlichen Verhältnissen ganz zufrieden.
Ein andrer Spielkamerad von mir war Louis Mühlberg, auch ein Nachbars¬
kind. Sein Vater war Tuchmacher, d. h. Arbeiter in einer Tuchfabrik, und seine
Mutter half in derselben Fabrik durch Spulen Geld verdienen. Wenn Louis
Mühlberg seinem Vater das Essen in die Fabrik trug, so durfte ich zuweilen an¬
gehn. Dadurch empfing ich in den großen Fabriksälen einen Eindruck von dem
Klappern und Schwirren der Webstuhle, von dem Hin- und Herhuschen der
Weberschiffchen, von dem Spulen der Frauen, der ernsten, wortkargen Arbeit der
Männer, dem allmählichen Entstehn der Fabrikate, dem Walken und Färben und
Scheren des Tuchs und allem, was dazu gehörte, und was heute in viel größerm
Umfange von Maschinen statt von Menschenhänden geleistet wird. Die Familie
Mühlberg war eine richtige Arbeiterfamilie. Sie lebte in einer kleinen Hinter-
wohnnng eines Nachbarhauses völlig zufrieden, ohne jede Klage und in geord¬
neten Verhältnissen. Wie gern habe ich da Nachmittags mit diesen ehrbaren Leuten
Kaffee getrunken! Dazu gab es mit Mohrrübensaft oder Sirup bestrichnes Schwarz¬
brot, für mich ein Leckerbissen, der mir viel besser mundete mis die weißen aber
trocknen Semmeln, die wir zuhause bekamen.
Einer meiner besten Schulfreunde war Julius Engel, der fleißige, wohl¬
erzogne Sohn eines berittncn Stcueraufsehers mit zahlreicher Familie. Durch den
Verkehr in diesem Hause lernte ich den Haushalt eines knapp besoldeten, aber
höchst rechtschaffnen, gewissenhaften und pflichttreuen kleinen Beamten kennen.' Auchdas ist mir ein Gewinn für das Leben geworden. Der Stolz der Engelschen
Familie war „Potio," das Dienstpferd des Vaters Engel. Mit rührender Liebe
^ unermüdlichem Wetteifer wurde der gute, alte Braune von den Engelschen
Kindern gepflegt. Auch ich sparte mir gern einmal ein Stück Zucker vom Mund
"ki und trug es als Leckerbissen für Potio hin. Wir hatten gehört, daß Pferde,le man mit Zucker füttere, ein besonders glattes und glänzendes Aussehen be-
imnen. Wenn dann Vater Engel, der vor seiner Anstellung im Stcuerdieust
^oerfeuerwerker bei der Artillerie gewesen war, sein Pferd recht glatt und blank
veimegelt hatte, so schrieben wir Kinder das stattliche Aussehen Pvllos mit stolzerGenugtuung »»fern wenigen kleinen Znckerstücken zu. Julius Engel hat spater
mit mir die Klassen des Gymnasiunis bis Prima durchlaufen und wurde dann
Chemiker. Er ist als Direktor einer Zuckerfabrik zu großem Wohlstande gelangt,
aber früh gestorben.
Dieser Verkehr mit den Kindern kleiner Leute hinderte aber keineswegs den
Umgang mit den gleichaltrigen Söhnen angesehener und wohlhabender Familien.
Als ich später das Gymnasium besuchte, traten diese begreiflicherweise mehr in den
Vordergrund. Mein Vater hatte aber gegen den Verkehr mit Altersgenossen aus
unbemittelten Familien durchaus nichts einzuwenden. Er war grundsätzlich für
das Sichheruuterhalteu zu deu Niedrige». Zwei Forderungen prägte er uns immer
wieder ein: Seid bescheiden, und seht jedermann offen und dreist ins Auge! Das
klang fast wie ein Widerspruch, war es aber nicht. Er meinte das Rechte, und
so haben wir es auch verstanden. Hochmut und Überhebung oder, wie man sich
in Quedlinburg ausdrückte, Stolz war in seinen Augen gleichbedeutend mit Dummheit,
und über alles, was als Standeshochmut erschien, konnte er in bittern Worten die
Lange seines Spotts ausgießen. Ebenso widerwärtig aber war ihm die falsche,
zaghafte Verlegenheit und Befangenheit. Er betonte nachdrücklich, daß man mit
einem guten Gewissen jedermann frei und offen ins Gesicht sehen dürfe und solle,
und daß man sich vor keinem Menschen, wäre er auch noch so hoch gestellt, knechtisch
fürchten dürfe. Ihn dnrchdrnug das berechtigte Bewußtsein der Würde eines an¬
ständigen, freien Mannes und Bürgers. Eng zusammen hing damit seine un¬
bedingte Wahrhaftigkeit. Jede Lüge, auch in: Scherz, war ihm ein Greuel. Wahr¬
haftigkeit galt ihm als selbstverständliche Voraussetzung für die Wertschätzung der
Menschen, mit denen er in Berührung kam. Er verlangte von uns das offne
Eingeständnis jedes vorgekommenen Fehltritts. Entsprachen wir dieser Forderung,
so war er bei allem Ernst gütig und mild gegen uns. Er drang darauf, daß
wir auch in der Schule den Lehrern gegenüber nach diesem Grundsatze handelten.
Wie sehr haben wir ihm dafür zu danken!
(Fortsetzung folgt)
s war eine traurige Fahrt, die Mariguy zurücklegte. Sie erschien
ihm doppelt lang wegen der trüben Wintertage, die nicht vor zehn
Uhr Morgens anbrachen und gewöhnlich schon in der dritten Nnch-
mittagsstunde wieder der langsam herabdämmerndcn Nacht wichen.
Und was er während der wenigen Tagesstunden durch die kleinen
Fenster der Postkutsche zu sehen bekam, war auch wenig geeignet,
seinen Sinn zu erheitern. Alles sah grau und trübselig aus: die Landstraße mit
ihren Räderspuren und Meilensteinen, das endlose Einerlei der Weinberge, die
kahlen Höhenrücken mit ihren verfallnen Burgen und die düstern Seitentäler, die
sich hinter schroffen Felshängen in eine ungastliche Öde verloren. Die Landschaft
schien sich immer und immer aufs neue zu wiederholen; der Reisende glaubte die
unvermeidliche Krümmung des Flußlaufes mit der hinter dem Bergvorsprung auf¬
tauchenden ärmlichen Ortschaft most zum hundertste» ninle gesehen zu haben.
Immer dieselben Häuschen mit den getünchten Lehmwänden, dem schwarzen Balken¬
werk und der grauen Schieferbekleidung nach der Wetterseite, immer dieselben spitzen
Türme der winzigen Dorfkirchen, immer dieselben efeuumsponnenen Mauerreste einer
längst überflüssig'gewordnen Befestigung!
Menschen bemerkte der Marquis auf der Landstraße so gut wie gar nicht,
in den Dörfern nur selten. Es war. als hielte die Bevölkerung ihren Winter-
schlaf. um sich für die mühevolle Wiuzerarbeit des kommenden ^"hlings nach
Kräften zu stärken. Und wenn der alte Herr während des Pferdewechsels den
Postwagen verließ und wirklich das Glück hatte, einen der Ortseingesessenen zu
treffen, mit dem er in seinem gebrochnen Deutsch ein Gespräch anzuknüpfen ver¬
suchte, so erhielt er so kurze und unfreundliche Antworten, daß er es meist vorzog,
den unliebenswürdigen Eingebornen stehn zu lassen und mißmutig semen Platz in
der Kutsche wieder aufzusuchen. Der gute Marquis ahnte glücklicherweise acht,
weshalb man in dieser Gegend so wenig von ihm wissen wollte. An seiner Sprache
erkannte man nämlich den Franzosen, an seinem Wesen und seiner Kleidung den
Aristokraten, und mit französischen Aristokraten hatte man im letzten Sommer hier
allenthalben so schlimme Erfahrungen gemacht, daß niemand Neigung verspürte,
die Bekanntschaft mit dieser Sorte Von Menschen zu erneuern. Die Herrschaften
hatten sich schlimmer betragen, als ob sie in Feindesland gewesen wären, hatten
requiriert, was thuen des Mitnehmcns wert schien, und sich nicht gescheut, in Gast-
Höfen und Schenken die Zeche schuldig zu bleiben oder mit falscher Münze zu be¬
zahlen. Von alledem wußte der alte Edelmann, der gewohnt war, seine Standes¬
genossen für ebenso redlich zu halten, wie er selbst es zu sein sich rühmen durfte,
nichts, und er erstaunte deshalb nicht wenig, als in Moselkern ein Mann an den
Postwagen trat, eine lange Liste seltsam geschriebner Namen vorzeigte und sich er¬
kundigte, ob der Herr wisse, wo er die Leute, die so hießen und die aus Koblenz
gekommen wären, jetzt wohl finden könne. Als Marigny. der die Namen nicht
einmal zu entziffern vermochte, der Wahrheit gemäß erklärte, das sei ihm unbe¬
kannt, faltete der Mann das Papier wieder zusammen und entfernte sich mit der
Bemerkung, er hoffe, daß sie allesamt vom Teufel geholt worden seien.
In Kochen hatte der Marquis ein andres Erlebnis, das ihn nicht minder
Peinlich berührte. Es war schon in vorgerückter Abendstunde, als der Wagen vor
der Posthalterei hielt, wo man über Nacht bleiben mußte. Beim Aufsteigen fragte
der Passagier, dessen Uhr stehn geblieben war. einen gerade des Wegs kommenden
Bürger nach der Zeit. Statt aller Antwort schlug ihm dieser den Hut vom
Kopfe und verschwand darauf in einer dunkeln Seitengasse. Der alte Herr, dessen
Geduld nun zu reißen begann, beschwerte sich über das unerklärliche Betragen des
fremden Menschen mit bittern Worten beim Postillon.
Was habt Ihr denn zu ihm gesagt, guter Mann? fragte der wackre Schwager,
für deu es Standesunterschiede nicht zu gebe» schien.
Ich habe ihn sehr höflich gefragt, wieviel Uhr es sei.
Dann seid froh, daß er Euch uicht das Rebmcsser in den Leib gestoßen hat.
Das merkt Euch, falls Ihr wieder mal hier durchpassiert! in Kochern darf man
die Leute uicht uach der Zeit fragen. Das können sie nicht vertragen. Sind von
alters her schon zuviel damit geuzt worden.
Und als ihn Marigny dann um weitere Aufklärung bat, erzählte er geheimnis¬
voll aber mit großem Behagen, die Kochemer hätten vor Jahr und Tag ihre
Sonnenuhr an der Klostermauer mit einem schönen Gehäuse versehen und würden
seitdem von den Nachbarn so gehänselt, daß es schon manchen blutigen Kopf ge¬
setzt hätte.
In der Gaststube der Posthalterei, wo ein paar Bürger »och bei ihrem
Schoppen saßen und die Pariser Ereignisse besprachen, erregte Marignys Erscheinen
erklärliches Aufsehen. Man musterte ihn mit neugierigen Blicken und rückte, als
man seine Nationalität erkannte, beiseite. Die guten Leute wußten nicht recht, was
sie aus einem Manne machen sollten, der wie ein Aristokrat gekleidet war unddabei mutterseelenallein nach Frankreich hineinfuhr. Einer von ihnen, der ein
wenig französisch sprach, redete den seltsamen Reisenden an, in der Absicht, ihn
auszuforschen, hatte jedoch mit seinen Bemühungen kein Glück, da der alte Herr,
durch die schlimmen Erfahrungen des ersten Reisetages gewitzigt, seine Antworten
so knapp wie möglich faßte. Das machte die Gäste noch mißtrauischer. Sie ver¬
muteten, der Fremde sei einer der republikanischen Agenten, die seit einiger Zeit
das Ausland bereisten, um auch jenseits der französischen Grenzpfähle für die neue
Staatsform und ihre Segnungen Stimmung zu machen. Nun sprach keiner mehr
ein lautes Wort, und in weniger als einer Viertelstunde sah sich Marigny allein.
Die Frau des PostHalters, die den Verdacht der Männer teilte und ihrerseits von
den Aristokraten nicht viel hielt, weil einige dieser Herren vom Sommer Her noch
bei ihr in der Kreide standen, glaubte den einsamen Gast unterhalten zu müssen,
setzte sich zu ihm an den Tisch und gab, während sie dazu eifrig strickte, ihrer
Bewunderung für die Helden der Revolution begeisterten Ausdruck.
Als der Marquis sie fragte, ob sie denn kein Mitleid mit dem unglücklichen
König empfinde, blinzelte sie ihm zum Zeichen des geheimen Einverständnisses zu
und meinte trocken, bemitleiden könne sie überhaupt nur jemand, den sie persönlich
kenne, einem König von Frankreich Teilnahme zu schenken sei jedoch schon des¬
halb unmöglich, weil es einen solchen gar nicht mehr gebe. Rede der Herr aber
vom Bürger Capet, so sei ihre Meinung, daß dieser die bösen Tage getrost mit
in den Kauf nehmen dürfe, da er früher ja auch der guten mehr als zuviele ge¬
sehen und tausendmal besser als alle andern Bürger gelebt habe.
Und das Schicksal der Königin rührt Sie anch nicht? fragte Marigny, dem
bei solchen Tischgesprächen die Bratkartoffeln im Munde quollen und der Laudwein
doppelt sauer schmeckte.
Was geht mich die Österreicherin an! Wenn die Mitleid braucht, so mag
sie sich an ihren Herzallerliebsten, den Kardinal Rohan, wenden. Vielleicht kauft
er ihr, um sie zu trösten, ein neues Halsband.
Und die armen Kinder?
Ach — die Kinder! Was verstehn die vom Unglück! Die sind am aller¬
wenigsten zu bedauern. Das muß ich am besten wissen. Als vor zwei Jahren
bei uns die Scheune abbrannte — es war am Sankt Annentag, gerad als mein
Mann den Roggen eingefahren hatte —, da hätten Sie einmal unsern Dritten,
den Clemens, sehen sollen! Außer Rand und Band war er vor Freude über das
Feuer, und als unsre alte Magd, die Lena, ihm die Händchen faltete und ihm
sagte, er sollte zum Sankt Florian beten, daß der Heilige löschen sollt — was
tat der Jung? Heiliger Sankt Florian hat er gerufen, gelt, du bist so gut und
lässest den Sänstall auch noch abbrennen! Die wissen nicht, was Unglück heißt.
Der Marquis verzichtete darauf, die Frau eiues Bessern zu belehren, und
begab sich ermüdet und verstimmt in die kalte Schlafkammer. Das Bett war hart
und feucht, weshalb sich der alte Herr völlig angekleidet auf den Strohsack streckte
und seinen Pelzmantel als Decke benutzte. Er mochte eine gute Stunde so gelegen
haben, als er eine Kutsche vorfahren hörte. In der Posthalterei war schon alles
zur Ruhe gegangen, und es währte eine geraume Zeit, ehe sich, gerade über
Marignhs Kammer, ein Fenster öffnete, aus dein eine weibliche Stimme die An¬
kömmlinge nach ihrem Begehr fragte. Was sie sagte, und was jene erwiderten,
vermochte der Marquis nicht zu verstehn, weil der Hofhund unausgesetzt bellte.
Aber dein alten Edelmann war es, als habe er einzelne französische Worte ver¬
nommen. Dann verstummte das Gespräch, das Fenster schloß sich wieder, und der
Wagen rollte davon.
Am andern Morgen nahm die Wirtin den vermeintlichen Republikaner beiseite
und gab ihm zu verstehn, daß er es nur ihrer Geistesgegenwart zu danken habe,
wenn er jetzt noch lebe. In der Nacht wären zwei französische Aristokraten vor-
gefcchren und hätten nach ihm gefragt.
Nach mir? nannten die Herren denn meinen Namen?
Das nicht. Aber es ist gewiß, daß Sie es waren, den sie suchten. Die
Beschreibung paßte fast in allen Punkten ganz genau. Nicht wahr, Sie kommen
von Mainz?
Nein, von Koblenz.
Die Wirtin lächelte in ihrer listigen Art.
Gewiß, sagte sie, ich verstehe schon. Also Sie kommen von Koblenz. Natür¬
lich, wenn man die Mosel hinausfährt, muß man von Koblenz kommen. Die
beiden fragten, ob ein Landsmann von ihnen bei uns zur Nacht eingekehrt wäre.
Ich sagte: ja. Aber in der sechsten Stunde sei er wieder abgereist. Ohne Gepäck,
wie er gekommen sei. Wahrscheinlich über den Berg nach Eller. Da sind sie
denn wieder fortgefahren. Der verfluchte Demokrat, sagte der eine, hetzt uns durch
Nacht und Nebel. Und wir glaubten ihn heute ganz sicher zu erwischen. Sehen
Sie, wäre mein Mann, der Faulpelz, nicht zu schläfrig gewesen, so wären Sie
jetzt wohl schon kalt wie eine tote Ratte. Aber weil ich ans Fenster ging und
sogleich begriff, was die beiden im Schilde führten, so ist die Geschichte noch mal
gut abgelaufen. Aber nehmen Sie sich in Zukunft in acht. Die Herren tragen
nicht zum Spaß Pistolen im Gürtel.
Ich danke Ihnen für Ihre Sorge um meine Person, gute Frau, entgegnete
der Marquis, aber ich glaube, Ihre Furcht ist unbegründet. Ich bin nicht der,
den jene suchen. Es muß sich hier um ein Mißverständnis, eine Verwechslung
handeln. Wenn von einem Demokraten die Rede war, so kann ich unmöglich ge¬
meint sein. Ich bin Royalist, verstehn Sie?
Die Fran zwinkerte wieder mit einem Auge und nickte. Ich verstehe. Sie
sind Royalist. Man siehts Ihnen ja auch an. Die weiße Kokarde an Ihrem
Hut — l^ha! ... keine Augen im Kopfe haben, wenn man in
^ihnen nicht auf den ersten Blick den Royalisten erkennen wollte! Kleider machen
^ente, und an den Federn erkennt man den Vogel. Schön, mein Herr, ich weiß
^"u, was ich zu sagen habe, wenn wieder einmal ein paar Ihrer Landsleute nach
^hum fragen sollten. Sie sind Royalist! Und dabei stemmte sie die Arme in
die Seiten und schien sich vor Lachen ausschütten zu wollen.
Jetzt erschien der Postillon, um zu melden, daß die Pferde augeschirrt seien,
und sich zugleich von seinen, Passagier zu verabschieden, da er selbst die von Trier
eingetrosfne Postkutsche nach Koblenz zu bringen hatte, während sein Trierer
Kollege die Weiterbeförderung Marignys übernahm.
Der alte Edelmann empfand es wie eine Erlösung, als er glücklich wieder
im Wagen saß und das holprige Pflaster der Moselabderiten hinter sich ließ.
Ohne ein besondres Erlebnis gelangte er an diesem Tage nach Kues, wo die zweite
Nachtrast gehalten wurde. Das Quartier war hier freilich noch dürftiger als in
Kochen, da der Marquis aber der einzige Gast in dem kleinen Dvrfwirtshause
war, so brauchte er sich wenigstens nicht über die zudringliche Neugier fremder,
ihm gleichgiltiger Menschen zu beklagen. Ehe er am nächsten Morgen die Weiter¬
reise antrat, vernahm er durch einen von Trier gekommnen Schiffer, daß in Paris
die Verhandlung gegen Ludwig den Sechzehnten begonnen habe. Nun war keine
Zeit mehr zu verlieren! Wie langsam die Pferde gingen! Wie endlos sich der
Weg dehnte! Umsonst versuchte der ungeduldige Passagier, den Postillon durch
Trinkgelder zur Beschleunigung der Fahrt anzuspornen. Der Mann erklärte, daß
er vor sieben Uhr nicht in Trier eintreffen dürfe; auch könne er bei der Glätte
der Straße — es hatte um die Mittagstunde zu eiseln begonnen — die Knochen
seiner Tiere nicht aufs Spiel setzen. So langte man denn zur vorgeschriebnen Zeit
in der alten Metropole des Mosellandes an.
Als Marigny sich ans der Post nach der nächsten Gelegenheit zur Weiterfahrt
erkundigte, wurde ihm gesagt, daß schon in der Frühe des andern Tags ein Wagen
abgebe, daß es aber wenig Zweck habe, diesen zu benutzen, weil er an der Grenz¬
station Perl den Anschluß an die Diligence nach Diedenhofen doch nicht mehr er-
reiche, und die nächste französische Post erst am 26. Januar abginge. Perl sei ein
ärmliches Nest, wo kaum etwas zu essen zu bekommen sei. Diese Mitteilung reichte
aus, den alten Herrn trotz seiner Ungeduld in Trier zurückzuhalten. Wieviel lieber
freilich wäre er Weitergcrcist, wenn möglich noch an demselben Abend! Was würde
er darum gegeben haben, wenn er die Nacht anstatt in seinem behaglichen Gast-
hvfsbett auf der harten Schwelle des königlichen Kerkers hätte verbringen dürfen!
Aber was nützte alles Klagen? Er mußte eben bis zum 25. in Trier bleiben!
Zum Glück wohnten im „Römischen Kaiser," wo Marigny abgestiegen war,
mehrere seiner emigrierten Landsleute. Mnu kannte sich gegenseitig zwar nicht,
aber die gemeinsame Not und Sorge knüpften jetzt in einer einzigen Stunde festere
Bande der Freundschaft als früher ein jahrelanger Verkehr. Wenn der Marquis
den Schicksalsgefährten trotzdem den Zweck seiner Reise verschwieg, so geschah es,
weil er voraussah, daß sie versuchen würden, ihn von seinem, wie er längst em¬
pfand, aussichtslosen Vorsatze abzubringen. Ach, diese Leute aHuten ja nicht, was
ihn nach Paris trieb! Sie würden seine Gründe weder verstanden noch gebilligt
haben!
Am zweiten Tage nach seiner Ankunft fand Marigny, als er zum Frühstück
in das Gastzimmer trat, seine neuen Freunde in großer Erregung. Man erzählte
ihm, daß frühmorgens ein französischer Patriot, der schon vor Monaten in der
Stadt gelebt und sich den Behörden verdächtig gemacht habe, schwer verwundet
und demi Tode nahe am Katharinenufer aufgefunden worden sei. Der Wirt einer
kleinen Herberge ganz in der Nähe habe ausgesagt, der Fremde wäre erst am
Abend vorher angekommen und nach dem Abendessen noch einmal weggegangen,
um einen Bekannten zu besuchen. Von diesem Gange sei er nicht zurückgekehrt.
Der Chirurgus, der dem Sterbenden Beistand geleistet und seine Wunden unter¬
sucht hätte, sollte auf das bestimmteste erklärt haben, die Verletzungen rührten von
einer sehr schmalen Degenklinge her, wie sie die französischen Kavaliere zu tragen
pflegten. Nun sei es ja möglich, daß sich der Mörder eines französischen Degens
bedient habe, aber damit sei keineswegs bewiesen, daß er selbst auch ein Franzose
sein müsse. Dies sei sogar völlig ausgeschlossen, da man einem Royalisten doch
nicht zutrauen könne, er werde an einem wehrlosen und noch dazu schon bejahrten
Manne einen Meuchelmord begehen.
Obwohl die Emigranten den bisher von keinem Menschen ausgesprochnen Ver¬
dacht, als könne einer von ihnen der Täter sein, im voraus sehr eifrig zurück-
wiesen, verrieten sie durch ihr Benehmen, daß jeder von ihnen dem andern die
Tat wohl zutraute, wie sie auch den Wirt zum Zeugen dafür anriefen, daß sie in
der fraglichen Nacht den Gasthof nicht verlassen hätten.
Marigny machte sich über den seltsamen Vorgang seine eignen Gedanken,
glaubte aber nicht fehl zu gehn, wenn er das Gehörte mit den nächtlichen Erleb¬
nissen in Kochen in Verbindung brachte.
Wie vorauszusehen war, stellte die Polizei auch unter den Gästen des „Rö¬
mischen Kaisers" Nachforschungen an, die freilich nichts andres ergaben, als daß
die Herren in der Nacht zum 23. Januar samt und sonders wie gesittete Bürger
in ihren Betten gelegen hatten. Als ihre Unschuld erwiesen war, glaubten sie es
ihrer Ehre schuldig zu sei», nach Kräften auf die Polizei zu schimpfen, die Mord
und Totschlag mitten in der belebten Stadt nicht zu verhindern wisse und hinter¬
her die ehrenwertesten Leute verdächtigte. Mau erhitzte sich gegenseitig durch solche
Reden immer mehr und faßte endlich sogar den Entschluß, dem Kurfürsten eine
Beschwerdeschrift einzureichen und die strengste Bestrafung der schuldigen Beamten
zu verlangen.
Aber soweit sollte es nicht kommen. Die Nachricht von der Verurteilung
Ludwigs des Sechzehnte« verursachte, daß alles andre in den Hintergrund trat.
Auch die unter den Emigranten, die diesen letzten vernichtenden Schlag gegen das
Königtum und die Dynastie vorausgesehen hatten, waren unter dem Eindruck des
Geschehenen wie gelähmt. Immer gab es freilich noch Einzelne, die sich mit
schwachen Trostgründen über das Unerhörte hinwegzutäuschen versuchten, die sich
an die Mutmaßung klammerten, die Nachricht könne falsch sein, oder der Konvent
würde sich mit der Tatsache der Verurteilung begnügen und die Todesstrafe in
Verbannung umwandeln. Andre sprachen die Hoffnung aus, daß sich die bessern
Elemente der Pariser Bevölkerung angesichts eines so unmenschlichen, aller Ge¬
rechtigkeit hohnsprechenden Urteils ermannen und den König noch in letzter Stunde
mit Gewalt den Händen seiner Feinde entreißen würden. Ach, die Leute, die so
sprachen, wußten nicht, daß drei Jahre genügt hatten, aus der Einwohnerschaft der
getreuen Stadt Paris eine Meute blutgieriger Wölfe zu machen!
Marigny, der, wie immer, das Günstigste für das Wahrscheinlichste hielt, war
davon überzeugt, daß die Revolution, indem sie Ludwig den Sechzehnten dem
Schafott zu überliefern gedachte, sich selbst das Todesurteil gesprochen habe. Der
Konvent war in zwei sich auf das heftigste bekämpfende Parteien gespalten; eine
nur geringe Stimmenmehrheit hatte die Entscheidung herbeigeführt — was konnte
näher liegen, als daß die gemäßigtere Minorität das Urteil anfocht und seine Auf¬
hebung durchsetzte? Wäre der Einfluß der extremen Republikaner erst gebrochen,
so würden sich anch die königstreuen Elemente wieder an das Licht wagen, und dann
müsse es leicht sein, die große Masse, die sich längst wieder nach Ruhe sehne, und
die, schon aus dem Bedürfnis nach Abwechslung, ihre demokratischen Tyrannen ge¬
stürzt zu sehen wünsche, zu einem Kampfe gegen die Revolution zu organisieren.
Jetzt hieß es also: Alle Mann an Bord!
Der arme Marquis von Marigny! Er machte die abenteuerlichsten Pläne,
seinen königlichen Herrn zu retten, er berechnete immer wieder von neuem den
Tag und die Stunde, wo er in Paris eintreffen könnte, und ahnte nicht, daß der
Mann, dem all sein Denken und Sorgen galt, nur noch der Geschichte angehörte,
und daß die sterblichen Reste Ludwigs längst unter einer Schicht ungelöschten Kalks
ans dem Kirchhof von Sainte Madeleine ruhten!
Seinem Vorsatze getreu, reiste der alte Aristokrat am Morgen des 25. Januar
weiter, verbrachte die Nacht schlaflos auf einer Bank in der Gaststube der Post-
halterei und wartete sehnsüchtig auf die Ankunft der Post, die ihn nach Frankreich
bringen sollte.
Frankreich! Vaterland! Trotz der Stürme, die dort drüben tobten, für
Marigny das schönste Land der Erde! Da lagen die sanft gewellten Hügel, mit
frischem Schnee bedeckt, im Scheine der Wintermorgensonne, die Hügel, die er
einst im warmen Abendgolde eines Ottobertags gesehen hatte, als er^ an Mar-
guerites Seite in der bequemen Reisekutsche die Straße nach Deutschland hinab-
fnhrend, hier von der Heimat Abschied genommen hatte. Wie anders sah die
Landschaft heute aus! Mit wie andern Gefühlen schaute der Reisende heute zu
den Bergen Lothringens hinüber!
Er war, um nach der Post auszuspähen, ein paar hundert Schritte weit zu
eiuer Anhöhe emporgestiegen, von der sich das enge Moseltal bis nach Sierk hin
überblicken ließ. Als er dort stand und durch das kleine Perspektiv im Knopfe
seines spanischen Rohrs die schwarzen Trümmer der lothringischen Herzogsburg be¬
trachtete, die das französische Grenzstädtchen zu beherrschen schienen, kam die er¬
wartete Kutsche hinter einem Bergvvrsprnng zum Vorschein, rasselte durch die
schmale Dorfgasse und hielt vor dem PostHause. Marigny begab sich, so schnell er
vermochte, dorthin zurück und bemerkte schon von weitem, daß sich eine Anzahl
Menschen lebhaft redend und gestikulierend um den, wie es schien, betrunkncn
Postillon versammelt hatte, und daß aus den Häusern ringsumher noch andre
herbeiliefen und um der Erörterung teilnahmen. Eine bange Ahnung beflügelte
seine Füße.
Was ist geschehn? fragte er die Leute.
Der König ist tot, sagte einer von ihnen.
Montag früh, zehn Uhr und fünfundzwanzig Minuten, fügte der Postillon
hinzu, indem er sein Gesicht zu einem Grinsen verzog und mit der flachen Hand
durch die Luft hieb, um die Art des Todes anzudeuten. Und um ein Uhr dreißig
Minuten schon begraben. Ja ja, bei uns geht jetzt alles schnell. 'S kann vor¬
kommen, daß einer des Morgens von Hanse weggeht, eine Promenade zu machen,
und des Abends werden schon seine Verwandten geköpft, weil sie des Nachmittags
sein Grab besucht und dabei geheult haben! Er lachte auf eine widerwärtige Weise und
öffnete nicht ohne Mühe den Kasten unter dem Kutschbock, der die Postsachen enthielt.
Zählt sie selber, Postmeister, und seht, obs mit dem Zettel stimmt, sagte er,
während er die Päcke und Briefschaften Heranswarf, Ihr werdet von einem guten
Franzosen hente wohl nicht verlangen, daß er klare Augen hat. Teufel, da fällt
mir ein: ich habe ja mich einen Passagier! Eine russische Gräfin oder so etwas.
Wenn die nur das Laufen nicht verlernt hat! Ist seit Verdun mit keinem Bein
ans dem Wagen gekommen. Aus purer Angst vor den Patrioten. Als ob man
bei uns Zeit hätte, sich mit russischen Gräfinnen abzugeben! Ehe wir mit unsern
eignen Aristokraten nicht fertig sind, fangen wir mit Ausländern nicht um. Das
Hemde ist uns näher als der Rock, und Ordnung ist das halbe Leben.
Er riß den Kutschenschlag auf, dessen Fenster dicht verhängt war, und rief in
das Innere:
Madame, nun können Sie sich beruhigen, wir sind auf kurtrierischem Boden.
Also heraus, wenns gefällig ist, und wenn Sie nicht wollen/daß ich Sie wieder
mit nach Frankreich nehme. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich einen Dvppel-
korn auf Ihr Wohl und eine glückliche Weiterreise trinken.
Eine alte, vornehm aussehende Dame mit schneeweißem Haar streckte den
Kopf ans der Kutsche und fragte, indem sie die Umstehenden mit ängstlichen
Blicken musterte: Meine Herren, darf ich Sie um die Gefälligkeit bitten, mir zu
sagen, wo ich mich befinde?
In Perl, Madame, antwortete der Postmeister, indem er sich einer Hutschachtel
bemächtigte.
Ist das ein deutscher Ort?
Gewiß, Madame. Kurtrierisch.
Sagen Sie mir auch die Wahrheit?
Statt aller Antwort wies der Gefragte auf das Wappen über der Tür der
Posthalterei. Die alte Dame folgte mit den Augen der angedeuteten Richtung,
nickte lebhaft, als sie das rote Kreuz und den Kurhut wahrnahm, und sagte:
Gott und allen Heiligen sei Dank! Ich bin in Sicherheit. Ach, wenn Sie
wüßten, was ich erduldet habe! Ich komme von Paris. Das entsetzliche Volk hat
seinen König getötet — bitte auch noch die Reisetasche! —hingeschlachtet wie ein
Opfertier. Ich habe Menschen gesehen, die ihre Hände in sein Blut getaucht hatten
und wie Wahnsinnige durch die Straßen tanzten — bitte, holen Sie den Koffer
recht behutsam herunter, es sind ein Paar Sevres-Tassen darin! —, durch die
Straßen, die an jenem furchtbaren Morgen ein dichter Nebel bedeckte, als hätte
der Himmel sein Antlitz verhüllen wollen. Die Toren! Sie dachten einen Feind
der Freiheit zu morden und nhuten nicht, daß aus jedem Tropfen vergossenen
Bluts ein Tyrann emporwachsen wird, tausendmal schlimmer und grausamer, als
der schlimmste Autokrat es sein kann!
Sie war inzwischen ausgestiegen und hatte, während sie eifrig sprach, damit
begonnen, ihre Gepäckstücke zusammenzulesen. Aber sie schien niemals fertig werden
zu können, bald vermißte sie eine Hutschachtel, bald eine Decke, bald suchte sie ein
Riechfläschchen, von dem sie behauptete, daß es hinter das Polster des Sitzes ge¬
glitten sein müsse, bald durchwühlte sie das Stroh, mit dem der Boden des Wagens
überschüttet war, nach einem Verlornen Handschuh. Und dabei wurde sie nicht
müde, Einzelheiten aus den Pariser Schreckenstngen zu berichten und dem Himmel
für ihre eigne Errettung zu danken.
Der Marquis stand noch immer auf demselben Fleck und sah der beweglichen
alten Dame bei ihrer Tätigkeit zu, ohne ein Glied zu rege». Von dem, was sie
sprach, und was die andern sie fragten, hörte er nichts. In seinem Ohre klangen
die Worte fort: der König ist tot. Mehr vermochte er nicht in sich aufzunehmen.
Er bemerkte nicht, wie die Pferde losgeschirrt und in den Stall geleitet wurden,
wie man andre herbeiführte und zu beiden Seiten der Deichsel aufstellte, er schenkte
dem Postknechte keine Beachtung, der sein Gepäck aus dem Hause schleppte und
sich anschickte, den schweren Koffer aufzuladen, und erwachte erst aus seinem traum¬
haften Zustande, als ihm der PostHalter die Hand auf die Schulter legte und ihn
fragte, ob er vor der Abreise noch ein Frühstück zu sich zu nehmen wünsche.
Abreise? Wohin?
Nach Diedenhofen.
Richtig! Ich hatte ja einen Platz belegt. Aber ich werde nicht mitfahren.
Lassen Sie mein Gepäck wieder ins Haus bringen. Es hat keinen Zweck mehr,
nach Paris zu reisen. Der König ist tot —
Mausetot! bestätigte der Postillon, der seine Verpflichtung, auf das Wohl der
Russin zu trinken, offenbar sehr ernst genommen hatte, und infolgedessen nur mit
Unterstützung des Knechts auf den Kutschbock klettern konnte.
Marigny maß den Landsmann mit einem Blicke voll Abscheu und begab sich
langsam in das Gastzimmer zurück, wo er die alte Dame zwischen ihren Koffern,
Kisten und Schachteln hinter einem Glase Punsch sitzen fand. Sie war entzückt,
als sie vernahm, daß sie einen Reisegefährten bekommen sollte, und noch entzückter,
als dieser sich ihr als Mnrgnis vou Mariguy zu erkennen gab.
Bis zur Abfahrt des Trierer Wagens hatte man noch eine Stunde Zeit, und
die Gräfin glaubte sich und ihrem neuen Bekannten diese Frist nicht besser ver¬
kürzen zu können als dadurch, daß sie ihm so ausführlich wie möglich über die
Pariser Ereignisse der letzten Wochen berichtete. Der alte Herr hörte schweigend
zu oder gab sich wenigstens den Anschein, als ob er es täte. In Wirklichkeit war
ihm das, was die Dame zu berichten wußte, ziemlich gleichgiltig, und nicht einmal
ihre Schilderung von Verhör und Verurteilung Ludwigs des Sechzehnten vermochte
ihn als etwas der Vergangenheit Angehörendes sonderlich zu erregen. Der König
war tot — dieses Eine wog so schwer, war so ungeheuerlich, daß alles andre
daneben verblassen mußte. Nur als die Russin erzählte, auch der Herzog von
Orleans habe für den Tod seines königlichen Vetters gestimmt, ballte Marigny die
Faust, beruhigte sich aber sogleich wieder und murmelte nnr: Er hat wie ein Orleans
gehandelt. Die Orleans sind von jeher Schurken gewesen.
Die Dame hatte diese augenblickliche Bewegung des Zuhörers wohl bemerkt
und schwieg, um ihm Zeit zu lassen, seinen Zorn zu verwinden. Wie erstaunte
sie, als er plötzlich mit umflorter Stimme die Worte an sie richtete: Madame, Sie
sind Russin, nicht wahr? Man hat mir so oft die russische Kohlsuppe gerühmt.
Könnten Sie mir nicht sagen, wie dieses Gericht zubereitet wird?
Die Gräfin sah ihr Gegenüber einen Augenblick ratlos an. Sie mochte arg¬
wöhnen, daß es mit seinem Kopfe nicht ganz richtig bestellt sei. Da sie aber in
seinen Zügen nichts Verstörtes zu entdecken vermochte, entgegnete sie: Kohlsuppe
ist etwas sehr Gutes. Ich glaube nicht, daß es auf der Welt irgend etwas gibt,
was sich damit vergleichen ließe. Sie ist das Lieblingsgericht der Kaiserin wie
des ärmsten Bauern oder Leibeignen. Aber, wie man sie kocht, weiß ich nicht.
Das überläßt man bei nus der Dienerschaft. Und dann erzählte sie von ihrem
Gute bei Tschndowo, das sie seit vier Jahren nicht gesehen hätte, und von Wassilis,
ihrem älteste» Sohne, der es bewirtschafte, von Dmitrij, ihrem zweiten, der Rat
im Admiralitätskollegium sei und die Gewehrfabrik in Tula leite, und von ihrem
dritten, der zu keinem Berufe Lust gehabt habe, aber ganz ausgezeichnet Violine
spiele. Zuletzt kam sie aus ihre Leute, auf den Kutscher Iwan, der vierundachtzig
Jahre zähle und im letzten Sommer zum fünften male geheiratet habe, auf den
Jäger Boris Feodorowitsch, der ihrem Manne bei einer Bärenjagd das Leben ge¬
rettet, und ans die Kammerfrau Tatjaua, die nach französischen Mvdekupferu die
herrlichste» Kleider anzufertigen verstehe. Und je lebhafter sie vou den Zuständen
ihrer Heimat, die sie bald wiederzusehen hoffte, sprach, desto mehr röteten sich
ihre Wangen, desto Heller leuchteten ihre Augen. Es wcir, als ob all die Schrecknisse,
die sie in der letzten Zeit erlebt hatte, in das Meer der Vergangenheit versanken.
Der alte Edelmann fand, als er neben der Russin zwischen Hutschachteln,
Reisesäcken, Taschen und Pelzen in der Postkutsche saß, daß sich an der Seite einer
so mitteilsamen Gesellschafterin ungleich besser reise als allein, und er bedauerte
beinahe, so bald schon wieder in Trier anzukommen, wo er sich von seiner neuen
Freundin trenne» mußte, weil diese hier einige Rasttage zu halten gedachte. Da
sie aber bei der Fortsetzung ihrer Reise Koblenz berühren und auch dort eiuen
mehrtägigen Aufenthalt nehmen wollte, so erbat er sich die Erlaubnis, ihr in den
„Drei Reichskrouen," die er ihr als Absteigequartier empfahl, seine Aufwartung
machen zu dürfen. So trennte man sich denn in der Hoffnung ans ein baldiges
Wiedersehen.
Bis Kochen verlief Marignhs Weiterreise ohne irgend einen erwähnenswerten
Zwischenfnll, dafür war aber der Empfang, der ihm hier zuteil wurde, desto
seltsamer. Des starken Schneefalls wegen hatte sich die Post unterwegs verspätet
und langte, anstatt um neun Uhr Abends, mit dem Schlage der Mitternacht vor
der Posthallcrei an. Man hatte drinnen im Hanse, wiederum infolge des Schnees,
von der Ankunft des Wagens nichts bemerkt. Als der alte Herr um in die Gast¬
stube trat, wo, wie bei seinem ersten Aufenthalt in diesem Quartier, die Bürger
beim Schoppen saßen und darüber stritten, ob der Konvent den König freisprechen
oder verurteilen werde, fuhren die Gäste bei seinem Anblick wie von der Tarantel
gestochen empor, bekreuzten sich und stürmten durch die Küche davon. Die Wirtin,
die hier in einer Ecke am Herde gesessen und geschlafen hatte, wurde wach und
schaute, um die Ursache des Lärms zu ergründen, in die Gaststube. Als sie
Mariguys ansichtig wurde, prallte auch sie zurück und suchte mit dem Rufe:
Barmherziger Himmel — der tote Demokrat geht um! das Weite.
Nun kam der Postillon herein, und mit ihm kehrten die beherzter« der
Stammgäste zurück, die ihre« Schoppen zu retten gedachten. Und ganz zuletzt
erschien auch die Wirtin wieder, hielt sich aber in der Nähe der Tür. Als sich
nun der unheimliche Gast auf einen Stuhl fallen ließ und ohne die schreckens¬
bleichen Gesichter seiner Umgebung zu beachten, Rührei mit Schinken bestellte,
mochte die brave Frau zu der Überzeugung gelangen, daß ein Mann, der nach
so soliden Dingen Appetit verspüre, kein Gespenst, sondern ein Mensch von Fleisch
und Bein sein müsse, und so ließ sie sich denn zu der Erklärung herbei, ein
Reisender, der von Trier kommend durchpassiert wäre, habe erzählt, dort sei ein
Demokrat von Royalisten erstochen worden. Nach dem nun, was an jenem Abend
geschehen und was sie ihm anch selbst angedeutet hätte, habe sie annehmen müssen,
daß er es gewesen sei, den man in Trier auf eine so schreckliche Weise er¬
mordet habe.
Marigny zuckte die Achseln, ließ sich eine Bouteille Kochemer bringen und
wartete geduldig auf das bestellte Essen. Er war von der Wirtin und den Gästen
so wenig erbaut, daß er es sogar verschmähte, sie von der Hinrichtung Ludwigs
des Sechzehnten zu unterrichten, und sich auch später, als der Postillon die
Schreckensbotschaft verkündete, mit keinem Wort um der Unterhaltung beteiligte.
So kam es, daß man ihn in Kochen auch weiterhin für einen verstockten Demo--
traten hielt, und noch nach Jahrzehnten, wenn Kinder und Kindeskinder fragten,
wie denn eigentlich ein solcher Nevolntionsmann ausgesehen habe, eine Beschreibung
entwarf, die sich in allen wesentlichen Punkten mit dem Signalement ini Reisepässe
des Marquis von Marigny deckte.
(Fortsetzung folgt)
Die Menschen leben von Anfang an in Verbänden,
die mit steigender Kultur immer größer, immer reicher an Beziehungen zu audern
Verbänden und in sich selbst immer verwickelter werden. Die Verbände bedürfen
von dem Augenblick ihrer Entstehung an eines Leiters. Tapferkeit, Klugheit, reli¬
giöses Ansehen sind die Eigenschaften, mit denen man in ursprünglichen Zuständen
in die führende Stellung gelangt. Es hängt von der Anlage des zum Verbände
vereinigten Volkes ab, welche der Eigenschaften, sofern sie nicht gerade beisammen
vorkommen, den Ausschlag gibt; doch wird im allgemeinen in jugendlichen Zeit¬
altern die Tapferkeit deu ersten Rang behaupten. Es bildet sich also die Arbeits¬
teilung zwischen Herren und Priestern und damit, wie bei jeder Arbeitsteilung
auf einem Gebiet, die ständig wiederkehrende Veranlassung zu Reibungen und
Streitigkeiten. „Uralt, sagte Bismnrck in seiner großen Rede über den Kultur¬
kampf vom 10. März 1873, so alt wie das Menschengeschlecht ist der Mnchtstreit
zwischen Königinn, und Priestertum." Beispiele hierfür sind jedem gegenwärtig,
wie aus der alten Geschichte der religiös begabten Juden; Bismarck erinnerte
damals an Agamemnon und Kalchas in Antis. Aber im Altertum, dessen Leben
mehr in dieser Welt wurzelte, siegte doch, im großen betrachtet, das Königtum: nur
der Staat entwickelte sich, aber nicht die Kirche, sondern Nationalreligionen.
Eben dies ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen vorchristlicher und
nachchristlicher Zeit, daß in dieser eine Kirche entsteht. Und wieder sondern sich
hierin Orient und Occident scharf voneinander. Die Gedanken Christi und
Mohammeds haben zum Teil ihren Ursprung in jüdischen Vorstellungen, aber nur
Mohammed gründete ans seine religiösen Ideen zugleich einen Staat und eine
Kirche. Im Morgenlande ruhn beide Organisationen ans derselben Grundlage, und
man kann sie als eine Einheit betrachten. Es gehört zu dem asiatischen Charakter
Rußlands, daß auch hier Staat und Kirche zusammenfallen: das heilige Rußland!
Anders im Abendland. Seine Organisationsformen traten in einen drama¬
tischen Prozeß ein, dem die Wirkungen religiöser, wissenschaftlicher, politischer Kräfte
und ihre Verflechtung reiche Farben gaben, der den Menschen auf allen Höhen
und in allen Tiefen zeigt. Es handelt sich dabei um einen guten Teil der euro¬
päischen Geschichte. Ju der Theorie zwar war dem Christentum der Staat gleich-
giltig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" — dieser und andre Aussprüche
Christi zeugen davon. Wirksamer aber bewahrte die jungen, unvollkommenen Staats¬
bildungen der germanischen und der romanisch-germanischen Völker ihr kräftiger,
ungebrochner Sondergeist vor der Gefahr, in eine geistliche Schablone gepreßt zu
werden, und vor allem schützte sie hiervor die Schwäche der römisch-katholischen
Kirche, die zunächst genug damit zu tun hatte, sich selbst festzusetzen und ihre eigne
Gestaltung zu sichern. So blieben Staat und Kirche getrennt, und es kam erst
später zu den heftigen Kämpfen, die man kennt. Sie konnten bei dem Gegensatz
der Bestrebungen auf beiden Seiten, den schon Augustin in seiner Schrift: of
oivitako asi scharf formuliert hatte, nicht ausbleiben. Das Christentum des Mittel¬
alters gelangte in folgerechter Entwicklung von der Weltverneiuung zur Welt¬
beherrschung, und zu dieser psychologischen Verknüpfung trat seine Verbindung mit
der Anlage des Römertums zu Herrschaft und Verwaltung. Herrentum und Priester-
tum verschmolzen zu einer im höchsten Maße leistungsfähigen Mischung, und in An¬
lehnung um römisch-byzantinische Verwaltungseinrichtungen erwuchs so die katholische
Kirche. Sie hatte, was dem Staat noch fehlte: eine feste Gliederung der Beamten,
ein geschriebnes, durchgearbeitetes Recht, eine geordnete schriftliche Verwaltung, eine
bestimmte Entwicklung ihres Gebiets, ein geregeltes Gesandtschaftswesen, vor allem
eine Idee, die, deutlich durchgebildet, deu ganzen Organismus bewegte.
Der Gang der Kämpfe war der, daß der Staat die Kirche mehr und mehr
auf die eigentlich religiöse Tätigkeit zurückdrängte, wobei ihm weniger seine äußern
Machtmittel als die Wirkungen des Wachstums der in dem Begriff der Kultur
zusammengefaßten Erscheinungen halfen. Der Kampf zwischen Heinrich dem Vierten
und Gregor dem Siebenten drehte sich im wesentlichen um die unklare Stellung
der Bischöfe, die zugleich kaiserliche Verwaltungsbeamte großen Stils waren. Die
Kämpfe der Staufer mit den Päpsten wurden vornehmlich durch die Territorial¬
politik beider Mächte in Italien veranlaßt. Erst in den Streit Kaiser Ludwigs
des Bayern mit der Kurie im vierzehnten Jahrhundert mischten sich dogmatisch-
religiöse Meinungen ein. Die Selbständigkeit errang aber natürlich zuerst der
Staat, dem die Schaffung eines weltlichen Beamtenstandes am schnellsten gelang.
Das war Frankreich, dem die starke Beimischung römischer Elemente dazu half,
und so siegte Philipp der Vierte schon am Beginn des vierzehnten Jahrhunderts
rasch und nachdrücklich.
Jedoch nicht allein in der Verwaltung beruhte die Überlegenheit der Kirche,
sie war auch materiell die größte Macht und wissenschaftlich die einzige. Die Geld¬
wirtschaft mußte sich erst ausbreiten, um dem Staat die Haltung von Beamten in
einem klaren Dienstverhältnis zu ermöglichen, ihn materiell zu kräftigen, und es
bedürfte einer ebenso langen Bewegung, daß eine weltliche Bildung reifen konnte.
Wie sich die Bezeichnung elsro aus olsrivnZ umgewandelt,hat, ist das Wort eine
kleine Erinnerung an jene alten Zeiten.
Von dem Mark der Kirche genährt, wuchs der Staat so zur Mündigkeit heran.
Als er über einen eignen Beamtenstand mit Sicherheit verfügte und ausreichende
Finanzmittel besaß, als die weltliche Bildung die geistliche überflügelte, da war der
Staat als Macht der Kirche gewachsen. Und wo man zudem die kirchliche Lehre
innerlich genügend verarbeitet hatte, da bedürfte es nur des rechten Mannes am
rechten Platze, auch ihre Änderung und Vertiefung zu begründen, sowie die Reinigung
der sie umschließenden Formen von Unreligiösem herbeizuführen.
Es ist die Voraussetzung und das Ergebnis dieser Kämpfe, die nur dann
aufhören könnten, wenn etwa jemals einer der beiden Kämpfer unterginge: sowohl
der Staat wie die römische Kirche sind Organisationen der menschlichen Gesellschaft,
gehn aber von einander entgegengesetzten Ideen aus. Der Staat will dem Menschen
die Existenz sichern, die Kirche will seine religiösen Bedürfnisse befriedigen. Von
beiden Punkten gelangt man zu Verbänden, deren übereinstimmendes Wesen ist, zu
herrschen. Ihre Verschiedenheit liegt in den Mitteln, die sie hierzu anwenden, und
darin, daß der Staat dem Einzelnen ein großes inneres Gebiet freiläßt, ihm eine
„Burgfreiheit der Persönlichkeit" einräumt, während die römische Kirche wenigstens
in der Theorie, und wo sie es vermag, auch in der Praxis den ganzen Menschen
umspannt und ihn völlig für sich in Anspruch nimmt. Man übertreibt, wenn man
die katholische Kirche gar nicht als „religiöses Shstem" anerkennt, sondern sie schlecht¬
weg für ein „religiös maskiertes System" erklären will (so Paul de Lagarde,
Deutsche Schriften Seite 90). Da nun beides, das Leben in dieser Welt und ihre
Beherrschung wie die transcendente Richtung ini Menschen gegründet sind, so kommt
es darauf nu, wie sich diese Bedürfnisse in einer gegebnen Zeit zueinander ver-
hlaten, welches von ihnen überwiegt. Hiervon hängt es ab, wie sich die beiden
Organisationen in einem Volke gestalten.
Will man den Versuch machen, ihre Leistungen miteinander zu vergleichen
und danach ein Werturteil zu fällen, so wird man auf Grund der Erfahrungen
sagen dürfen, daß der Staat überlegen ist. Denn er schützt, kräftig ausgebildet,
den Menschen ihr Dasein und erlaubt ihnen damit auch ihren geistigen und reli¬
giösen Bestrebungen nachzugehn. Die Kirche dagegen, deren Bau gleichsam von
oben beginnt und in der Lust schwebt, hat es noch nie verstanden und muß es
eines ihrer Idee nach gering schätzen, dem Menschen das Leben sicher und behag¬
lich einzurichten. „Staat-Kirche" und „Kirchen-Staat" wollen alles auf einmal
sein und tun und bleiben deshalb hinter dem Staat und hinter der Kirche zurück,
die sich nur der Verfolgung ihrer wahren und reinen Idee widmen.
Wer nüchtern überlegt, wird also nicht zweifelhaft sein können, welcher Ver-
bandsbilduug er den Vorzug zu geben hat. Aber nicht die Vernunft allein ent¬
scheidet dabei, sondern neben ihr tun es die Gefühle der großen Massen und die
Richtung, in der sich ihr Trieb, zu verehren und zu glauben, bewegt. Nur
die Formen, in denen sich dieser mächtige Grundtrieb äußert, und die Gegen¬
stände und Persönlichkeiten, auf die er sich richtet, ändern sich und wechseln; er
selbst dauert mit gleicher Stärke, begeistert die Blutzeugen der Religion wie die
Helden der politischen Geschichte und schart um sie die Tausende und Millionen
d
Johannes Lnngermnnn schreibt über Probleme der
Erziehung (Elberfeld, Bädeker, 1902), und zwar im größten Stil. Sein Vater, der
als Dorfschullehrer mit Erfolg an der Hebung der Sittlichkeit eines ganzen Dorfes
gearbeitet hat, beweist ihm durch sein Leben die Wahrheit des Wortes aus der
dritten der Reden an die deutsche Nation: „Bisher wurde die Menschheit, was sie
eben wurde und werden konnte. Mit diesem Werden durch das Ohngefähr ist es
vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu nichts ge¬
worden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muß sie von nnn an zu allem,
was sie noch weiter werden soll, sich selbst macheu." Der zweite, der pädagogische
Teil des Stcinschen Reformwerks sei unausgeführt geblieben; darum herrschten heute
Klasseninteressen, Verbrechen und Laster. Die Leitung des Volks müsse aus den
Händen der Juristen, die gleich den Ärzten nur „Korrektionsorgane," zur Zeit
noch notwendige Übel seien, in die der Pädagogen übergehn. Diese leisten auf¬
bauende, schöpferische Arbeit, und ihr Standesinteresse fällt mit dem Volksinteresse
zusammen, fordert das Gedeihen des Guten. Den Juristen und den Arzt zwingt
ihr Interesse zu wünschen, daß es niemals an Verbrechen, an selbstsüchtigem Zank
um Mein und Dein, an Krankheit und allerlei Elend fehle. „Der Umwandlungs¬
prozeß darf organisch nur in der Weise vor sich gehn, daß das juristische Organ
in angemessenen Tempo durch das pädagogische Organ überflüssig gemacht und in
demselben Tempo aufgesaugt wird, bis es an unserm Volkskörper allmählich ganz
verschwindet." Demnach müssen die besten Männer, statt wie bisher dem Jnristen-
stande, vielmehr dem Stande der Volkserzieher zugeführt werden. Den toten Punkt
zu überwinden, die große Umwälzung einzuleiten, ist die Hohenzollerndynastie be¬
fähigt und berufen; erfüllt sie ihren Beruf, so wird sie das deutsche Volk und
damit die Menschheit vor dem drohenden Verderben retten. Der Verfasser huldigt
der Darwinischen Entwicklungstheorie und sucht deren Gesetze an der geschichtlichen
Entwicklung des deutschen Volks nachzuweisen. Den verstorbnen Egidy verehrt er
als zweiten Fichte und als den „Märtyrer der Nationalerziehnngsidee."
Beim Durchblättern eines Heftes der Zukunft stieß
ich jüngst auf eine Bemerkung, die mich nachdenklich stimmte. In einer Polemik gegen
Hoensbroech wird da der Legende von der jungen und schönen Schwester Pfört¬
nerin gedacht, die, von Sinnenlust hingerissen, ihrem Kloster entläuft, fünfzehn Jahre
als Dirne lebt, verblüht ins Kloster zurückkehrt, um die verdiente Strafe zu erleiden,
an der Pforte aber die Jungfrau Maria findet, die sie während ihrer Abwesenheit
vertreten hat. Hoensbroech hatte das Blödsinn genannt und dadurch dem Artikcl-
schreiber eine Bemerkung entlockt über mathematisch-logisch-scholastische Jesniten-
seelen, die keine» Sinn für Geschichte und Poesie haben. Aber, ruft er tröstlich
ans, vielleicht hätte Hoensbroech ans dieses Schimpfwort verzichtet, wenn er gewußt
hätte, daß ein englischer Dichter die Legende bearbeitet, und daß ein Feuilletonist der
Frankfurter Zeitung über die Dichtung berichtet hat, entzückt nicht allein von der modernen
Bearbeitung, sondern auch von der Schönheit und Tiefe der alten Legende.
Ein englischer Dichter! Mein Gott, hatte ich zuerst gedacht, das ist ja doch die
vierte der sieben Legenden von Gottfried Keller, die vielleicht jemand ins Englische
übersetzt hat. Stimmt das, dann ists doch schade, daß keine Verpflichtung besteht,
auch an Dichterwerken das Zeichen nuulo in ysrman)' irgendwo anzubringen, denn ich
nehme an, daß der Artikelschreibcr der Zukunft lieber noch den Gottfried Keller als
irgend einen ungenannten Engländer und irgend einen Frankfurter Feuilletonisten
gegen Hoensbroech ins Feld geführt hätte. Aber nein, wir haben es, wie ich sehe,
nicht mit der Kellerschen Dichtung, sondern mit einer selbständigen Bearbeitung
der alten Legende zu tun, und zwar mit einer modernen Bearbeitung. Da ich
nun gern lernen möchte, wie man modern dichtet und schreibt, so habe ich mir die
Kellcrsche Erzählung noch einmal angesehen. Ich finde nun in der Tat einige
Änderungen. Bei Keller ist die Nonne nicht Pförtnerin, sondern verwaltet einen
andern Klosterdienst, das ist jedoch wohl ohne Belang, und ebensowenig hat es zu be¬
deuten, daß die Kellcrsche Nonne noch einige Jahre mehr außerhalb des Klosters
bleibt, wofür sie von Maria auch gebührenderweise getadelt wird: Dn bist ein
bißchen lang ausgeblieben, meine Tochter! Wichtig dagegen ist es, daß in der
neuen Bearbeitung die Nonne zur Dirne wird, und nachdem sie fünfzehn Jahre
ihr wildes Wesen getrieben hat, verblüht und verlebt den Weg in ihr Klosterheim
zurücksucht. An diesem Punkte muß das Kennzeichen der Moderne gesucht
werden. Es ist heute kaum noch möglich, etwas Fuukeluagelueues zu ersinnen, zu
viel ist schon gesungen und gedichtet worden, es ist alles schon dagewesen. Aber
eine unabsehbare Zahl von neuen Erfindungen bietet sich, wenn man alte schöne
Erzählungen und vertraute, ehrwürdige Gestalten in das Milieu der Dirucu-
welt oder einer ähnlichen Welt hineinstellt. Daß sich die Himmelskönigin, die Be¬
schirmerin aller weiblichen Tugenden, für eine Dirne aufopfert, fünfzehn Jahre für
sie dient, damit diese fünfzehn Jahre ungestraft ihrem Dirnenleben ncichgchn kann,
das ist ganz gewiß eine neue Blntenbildung der Legende, und es ist eine sehr
pikante Umbildung, auf die der alte Keller nicht verfallen ist. Zweifellos hatte
auch er den Schein: im Nacken; er läßt die Himmelskönigin ebenfalls die Rolle
der mildreichen und weitherzigen Schützerin eines nach irdischer Liebe hungernden
Weibes übernehmen, aber welch feine Wendung gibt er der Legende, und wie schön
läßt er sie ausklingen. Nicht eine liederliche Dirne, sondern eines braven Ritters
liebendes Weib und Mutter vou acht herrlichen Söhnen wird die entlaufne Nonne.
Und nicht als abgelebtes und verblühtes Weib sticht sie den Weg in die Kloster¬
mauern zurück, sondern strotzend von Leben und Liebe reißt sie sich schweren Herzens
von allem los, was ihr teuer ist, um die verlassene Pflicht wieder zu übernehmen
und ein doppelt schweres Opfer zu bringen. Die Jungfrau aber läßt sie zwar
eine lange Buße durchmachen, gibt dann aber die geprüfte und in ihrem innersten
Herzen geläuterte Frau ihrem Mann und ihre» Kinder» zurück. Das ist alles mit
schalkhaftem Humor geschrieben und klingt lieblich und harmonisch ans, es ist echt
deutsche Arbeit, aber modern ist es wohl nicht mehr. Man muß sich das für den
Fall merken, daß mau etwa einmal auf den Gedanken kommen sollte, eine Novelle
für die „Jetztzeit" zu schreiben.
Stade, ein ehemaliger Gefängnisgeistlicher,
hat uns in zwei Büchern") einen wertvollen Einblick in das Gefängniswesen eröffnet.
Die Erinnerungen aus der Gefänguisseelsorge, die aus reicher Erfahrung geschrieben
sind, wird jeder Theologe, und natürlich vor allen jeder Gefängnisgeistliche, mit
lebhaftem Interesse lesen, aber anch andre als Thcologenkreise werden das Buch
sehr anregend und belehrend finden. Noch mehr gilt dies von dem zweiten Buche,
den Gefängnisbildern. Heute, wo die kriminalistischen Fragen leider immer mehr
um Wichtigkeit gewinnen, wird mancher gern ein Buch lesen, worin er über dieses
dunkle Kapitel aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft klare und gründliche
Belehrung findet. Stade leistet uns diesen Dienst, er führt tief hinein in die Welt
der Verbrecher und in die Rcttnngsarbcit an den Verbrechern. Seine Bücher
tonnen empfohlen werden.
^Va 11. .luui veröilontlielite in der Reuen Kreien Dresse ein
DirvKtor Julius Lteinborg (Lorm) einen in vieler De/ivliuug losvnsvvrton ^uksat/
über den goMU-nÄrtiMN LtanÄ avr virtsvImMiobvn und inÄust»ellen I>ago vvutsvb-
lands. vinir v»r unter anderm bemerkt, clsZ alio Kürso in DoutsoblanÄ Äiuluroii
einen wielitigen 'toll ibror Funktionen eiilgebükt babo, bat sie Kein Zuverlässiger
(zradmossor mobr sei für die wirtseliattliebe Dage des Dandos. Das Dörsongesotü
I»abo es Zuwege govraelit, das hielt die LvoKulation, soweit sie niobt ins Ausland
gedrängt worden sei, im Kogensati^ i^u trüber fast ausschlieslich auf den Kaffer-
n>art<t geworden babo. Dieser aber weise isumoist nur Kleinere Aktienkapitalien aut,
VW an sich schon grölZere Kurssnrüngo vorursaolio, und tvrnvr toblo natürliebor-
weise bier alio Kontromine mit ibrsm in Ilaussosiviton uack» oben, in Daisse/eilen
nach unten moderierenden Düntlusse. ins sei niemals die „Dörso im engern Linne
(los 'Worts," sondern stets das „saebunkuudige DubliKuin," alas ale „ungeroebt-
fertigten Kurssprünge" l^orvorrufe. Dieses saellunkundigo Dublibum babo man durelt
alas Dörsengesotu eliminieren wollen, latsaelro sei, dan man seinen LintiuK ver¬
staubt habe, indem man es völlig auf den Kassonmarlct drängte, der livute auel»
grollentoils bustiinmenä tur «lie Dowegung aler wenigen noch orlaublon Ultimo-
baxiero geworden sei.
Dall alas von einem wirtsebaktspolitiseb ausgesnroclien reaktionären Doiebstage
dureligosetisto, an bösen Dindon dör xarlaineutarisellen Lxnerimentaljurisvrudenx
üderroiebe Dörsengosot/, dessen ^.biuldorung die Regierung, wie es seboint, längst
als notwendig erkannt bat, bat dieses Dörsongosstn die seldiminen Lobädon, die
man Ital troKon wollen, so gut wie gar nicht getroffen, wollt aber die deutsebo
Dörso in nu'on wielitigston und in nationalem Interesse unentbcbrliebon Funktionen
golälmTt bat, darin liat der Artikel der Reuen dreien Dresse jedenfalls Devlit. 'Wenn
er aber die „Dorfe im engern Linuo dos "Worts," d. b. also wohl die wissenden
und LaebKundigen an der Dörso, als so garn unsebulilig an den „ungeroebttertigton
Kurssprüngon," namentliek der Dividendeni>aviere hinstellt, so glauben wir dem
Herrn Lteinberg troiliel^ niollt reckt, eintael» selion dosltalb nicht, weil das „saeli-
unkundige DubliKum" den Herren Laeblcundigen ain deutschen LKoKtenmarKt gerade
in der ,,/Vufsebwungs?.on" von 1896 bis 1900 so siomlieb eine Milliarde dureli die
Kurssxrüngo nu verdienen gegeben l»abon mag. Darin nämlich Ital Lombard in seinem
sonst von Übertreibungen strotzenden Dueboi „Die doutselio Volks wirtscmat't im
neun/ehrten .labrbundort" waltrsel^einlieb Deebt.
Von dem Industrioaktionmarkt baben wir solion wioclorbolt eliaralcte-
ristisebe Salben gobral^lit, und v/ir worden demnäelist auf die Kursbewegungen dieser
Dividondonnanioro im ersten llalbjabr 1903 ?urüeliliominen, obgleiolr auch wir
gerade sie für einen nur mit besondrer Vorsicht ?u brauebendon (Gradmesser unsrer
industriellen Dage anseilen. In navllstebondem worden die Kursbewegungen der
Dankaktien dureli einige Deisnielv veranschaulicht. Kür sie sind unstreitig die
LaebKundigen an der Dörso neur vorantvvortlieli gewesen, und sie sind wolt deshalb
auch als Kradmosser der virtselnütlielion Kosamtlage von etwas grökorm Interesse,
Ah die Kurse der Industrieaktion.
>V!e in licet 30 sind auch liier durchweg die letzten Berliner Nonats-
Kurse autgvtülirt, und die Kurse des ersten llalbjalirs 1903 mit denen von 1902
?um Vergleich gestellt. Notenbanken und IlvpotbeKenbanKon sind nicht beriiel^-
sieldigt worden, /zunächst mögen die Salben tur die sechs bedeutendsten Der-
liner Aktienbanken DIat/ linden.
Dioso focus üankon vortreten om ^.IctionKaxital von inodr als 75>0 Nillionon
Klar!!. Lei «Zrvi Laudvn sind alö Xurso im orsw» NsIdMlir 1902 gostieMN, toi
äroi Laut^on gotallon. I)gA0Hom stanäon toi allon sodis LanKon alö Xurso Dnäo
Januar 1903 Iiödor als Dnclo ^snuar 1902, vädronä Sa« orsts Hs-IbHanr 1903
hol rivi>t vonigor als türk Ranicon viror liursrüolcgang l»ovvirlito. Dadoi
varvn, vio vir holen am 7. Rai mittoilton, alö tur 1902 M/autes» Oiviäonäon
tsi olor Laut<on liölior als alö tur 1901 goüaklton, unä bei !i>voi IZanlcon ^loie^
Koot.
Dioso ronn LanKou vortroton om ^.I<lion Kapital von ot>va 390 Nilliouon Narlc.
Loi siobon von ilmon sima im orston IlaldMir 1902 alö Xurso M^tioMN, odonso
l>ol soolis lZanIcon vom ^uni 1902 dis Januar 1903. Dagogon liolon alö Kurso
im orstsn Ilalbjaor 1903 l>ol eunt llankon, «äkroncl hio toi novi LsuKon gloivlr-
bliobon unä hol ^Noi IZanIcon 8tlogon. ^note toi äioson ronn IZanlcon varon alö
tur 1902 MWlllton Ojviäonäon ^um toll Kölror als (tlo tur 1901 go/alilton, vio
naolistolionäo ^autor MiMn.
Lei allon Will^vim ankgoMirton IZimKon susammvn ist alio lZo^vogung clor
Ijörsonliurso im orst.on 1IaIKjal»r 1903 clanaok gllorclinM ungnnsti^or govoson
als in äorsolbon ?orioclo clos Vorjaliros. ^.bor aut Koinon l^all Icann daraus aut
eins ungünstigoro I^Zo unsrer Kosamtvvirtsolialt oäor aucti nur clos äoutsekon Ilanlc-
V0L0NS im Aosolilo88on v/orüon. OaK Sieb alö IZanlion vor „unFörvodtkortigtov
XurssprKNMn" im lotxton llallijalir niont vvonigor als im ganxon Vorjalir dovallrt
liabon, ist im Intorosso avr Ko8amtlaM unä iliror oignon hour annuorlconnon unä
volü auoli Hovvois tur aom ILinllul! avr LaoliKunäigon aut' alö Iturso. Kogon aom
'1'ivKtMlI im lirisoiMdr 1901 ist dabei olu Seite groöor uvä z-var Äanoraclor i^ort-
soln-ne nun vossorn auüer ^vvikvi. vio selnvorv» Lvmägo, Äio vielen der auigv-
lütirten Danken äureln <Up beklagenswerten, unter äas Ltrakgosot!- lallender Zusammen-
brüelie einiger vom gor DntvruvbmunMN in asu töteten andortliall» bis novi ^dron
zugotügt worilon sind, sind danke ibrsr gesunden I'undierung unÄ KIuMN (ZvsolMt«-
MbMuvF ebne irgouäwolelio, «las Kesamtinteresse lierülirende Lrsoliütterungen lies
deutselion DanKvosous überhaupt vnräborgogangen. Das in der goliässigon aus-
ländisebon I'resso — leider unter dem l-vitali der virtsoliattliokvn Reaction in
Doutsdiliuui — seinerzeit ausposaunte Kerede von dein Krach der doutseben Danken
Ah Vertreter dos sogenannten mobilen Kapitals, und damit zugleich von dem
Xrael> unsers modernen Virtseliattslebeus ni>orbaupt, ist bandgroitiieli Lügen gestraft
worden.
Diesem ,,Lra«I»" aucti tur die ZuKuntt vorzubeugen, ist die LtärKung der
deutseiien Dürso, nieirt ibrv weitere Dnterbindung dringend geboten. Oder glauben
die Herren von der Koalition etwa, unser „mobiles^ Kapital obno lium der deutseiien
VolKswirtsebat't wieder in den Ltrümpten der Lauern und Handwerker „immobilisieren"
zu sollen? Znzutinuun ist dieser gedankenlosen Domaid.ne alles. Lie ist im neuen
Deielistag so stark wie im alten. Die IZanl<on baben schon doslndb allen Kruud,
sich dureli strengste Kelbstzuebt das politiselu; und inoralisebo ^.nsoben im Volk zu
erwerl>en, woran es heute noch leide.
Die Diiasse der
proukiselien Minister vom 19. Närz 1901, die den Lntwurt eines Wolinungs-
gosotzos in Aussicht stellten uiul die Detolgung gewisser Krumlsätze der Wolinungs-
und der DodonpolitiK namontlieli in den Drobstädten anomptaldeu, schienen dureli ihre
weitgeliende iXaeligiebigKoit gegenüber der extrem sozialistisebon ^nseliauuug der
Doilenretormor eine sebarlo Kritik im Interesse der Fundamente unsrer Deebts-
Ordnung berauszulordorn, wogegen der ^jetzt ausgearbeitete Lntwuri eines
prouöisebeu Wolluungsgosotzos, soweit sein Inlialt vor einiger Xsit in der
Uorddoutseben Allgemeinen Zeitung mitgeteilt worden ist, Keine, Veranlassung
zu stärkoin KodenKen zu geben scheint. ^odentalls ist <lie Krriebtung von
Wobnungsämtern wie auch die Dinriebtung einer wirksamen W olinungsauk-
siebt mit Droudeu zu begruben. Oanz besonders ist der IZrlalZ von Vorschritten
Kbor die I Seseballenlie.le un<l die Denutzung von (Zobäuden zum Wohnen und zum
Loldaton (>Vollnordnuugen) erwünsobt, wobei es natürlich auch an Bestimmungen
ni>er die bvgioniselie Dosebali'enKeit der ^ri>eitsraums aller ^.re niobt toblon wird.
Lrst >vorn Vnrsvbritton odor das tur ,Iio Dowolmor zu verlangeinlo Nindestmaü
von Luttraum und von IZodoutlaebe in irgend einer Weise Erlassen sein werden, wird
man auch zu einer halbwegs befriedigenden WobnuugsstatistiK gelangen, während
die bisborigen städtisebonWolinungsstatistiKeu in Drouüen, in denen nirgends ein Unter-
selnod zwiseiion den gi'ööton und den Kloinsten „Grundstücken" un,l ebensowenig
zwischen den gröbton und den Kleinsten Wobnräumon gomaellt wird, oigentlieli sehr
wenig wert sind, um die privaten Dauunternebmungon zur Herstellung von
guten Kiel n o n W o b n u n g on zu bestimm en, sind mit Deebt !Z e. g ü n s ti g u n g o n sololior
Däuser bei den Ltralienlcostonbeiträgen, den Kebübron irr Kanalbonutzung, ^Vasser-
verlirauell und dergleichen un<l sogar l>el der (Febäudostouer in ^ussiel^t genommen.
Daii diese IZegünstigungon nur ^Ktiengesellseliatten und dergleichen, die nach ihren
Satzungen Iiöelistens vier Prozent .laliresgowinn verteilen dürton, oder „Arbeitern,
Handwerkern odor diesen wirtseliattlieb gloielizustellenden Personen" tur ilirv V^olur-
gebäutlo und zwar nur, wenn diese von den liositzern allein odor anhörten von
höchstens zwei andern „Arbeiter-, llandwerker- oder blosen wirtseliattlieli gleieli-
zustellenden Lamilien" bewolurt werden, zugute Kommen sollen, ist eine iZostimmung,
die zwar der in der sozialen (lesetzgobnng seit ^labren Kerrselienden Nauier ent-
spricht, tur die I'raxis aber viel zu erkünstelt ist. Die lZogünstigungen müssen
allen Lrbauer» und IZositzern von Däusern mit guten Kleinen Wohnungen gewübrt
worden, und Lache einer strengen Wobnungsordnung und Wolmungsautsieltt wir«l es
dann sein, darüber zu wachen, ob bon IZodingungon, untor bonen die iZvgünstigungen
gvwälirt worden sind, «lauernd entsprneben wird.
Wenn zur IZeKämptung der Lildung hoher sogenannter Monopol-
preise dos Krund und Loders die trübzeZtige Festsetzung von lZautiuebtliuion
sowio die Anlegung von LtralZon und Ltratlentellen durob die i'olizoi angeordnet,
auok Ltraüon von Zoringor Breite unä Ijaublöolie von gvriuMr 1'ioko verlauft
werden sollten usw., so ist üaMgvn siolior nielits oinAuvonAon, svkvrn alö
erlassonäon KauorÄnungon nur «bordaupt äas in 6or IZvsoliiÄnKunA clos krivat-
oiMntums am Krunü nun Lo6on im Interesse <1of (üvmvin>poris gvliotno Nan vin^u-
Iilütvn Ixzstredt bloidon. von gröktvn "Wort logon wir ani uni-woiclsutiM Vorsvliriktvn,
dio os e.rast;lie.Ilm, die Anlage von grotlindustrivlleu lütadlissoments
<lord, wo sie uivlit Kiugeliören, ihn vorliindvrn, unä namvntlivu dem in aom
Jot-non ^aKiÄvImton immer neur norvorMtrvtnon Müstanäo, nao unsre, (ZroüslÄäte
last ausnalnnlos Industrie- und liugloion InÄustrioarbviterstaüto geworden
sind, wirksam olltgvgon/uarlieiten.
'
Das nouo WodnMSLti! null der erste ANinälegollÄo Lvliritt tur eine nouo Ap-
8un6o vosioÄIuuZsvolitiK worden, un<1 os Iiat 6osIMb von vornlioroin aut die
selnvierige aber nnvrMlidio ^.ulgade avr Doxontralisation der Industrio
üudcsidit ndimsn. Kino von Socialist! sei >en Übel treidungen bouorrsdlts
>VoIinunMnoiitiic, die dio KrotistadtAemeindon Zwingen will, aut Komeiudelcosten den
Inäustrivarlivitoim vortretklielio >VoImnvMN möglidist. dive untor dem Aarlit- odor dem
tlorstellung'siueise z-u Uokvrn, würilo der ^ujiiwt'iuiA dor Arbeiter in bon KroL-
Städten bon grökton Vorsdlnd leisten, dio Vandtludit, na.inontlie.ki im Osten, immer
mokr steigern und so das I'derb am KeKwan/o aut/äumon. Nan dart bon Arbeitern
dio Verantwortliddcoit tur ikre Ddersiedlung in dio Orotistädte mdit modi mein
abndnnen, es sei denn, daK man der LoxialdemoKratie.die (zreseluitto besorgen will.
Das viel -in weit gellende (Zolallen, das in bon letzten kund ballten audi unsre
liöliorn lZeaniten vieltaek den extrem soxialistisdlen vVnseliauungon gerade in der
>VoKnungs- und Bodenpolitik entgegenkraellteu, IM die MeKtaeKtuug der Kostdiendeil
lisditsordnung und damit dio LvgodrUdckvit des Proletariats giuui mese.Iiioden go-
fördert, und diese Bsaintvn Iiadon einen ganz stattlidren Anteil an dem KK'geKnis
der letzten >VaIden aut illr Xonto ?.u uelnnen. (Gerade in der groLstädtiseKen
VVoluiungsi>olitiK wird man sibi in Xuliuntt Killer müssen, den Lo/ialistou /u
.spielen, auok wenn man «las aug'vnliliekliek modi liier und da „omxi'eKIen" mag.
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^ Pianos
moclerncn Stils, ?ii!gel uncl Pianinos in vollkommener
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1'a!'tdil(l„ii.ff uncl Vrii'Iülnsdilllunz in cinr llnuiivirtsclilikt.
moi i 8«I>»»t!i,n<I!l;u I'ülirnu^ om„« Xlviiior»», xnt-llnirxor-
ticllv» »luiüllltlw.
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icitss-l, I.uislZiiKüns (l.8!>-l) IU M!»M,>^nur I»04.
So. vnmvniuslmu» l1R>1> lK°) gkö In. Xpril uncl »olord.
Vildellllsliölis, M^l-Iiiiaunliiius 1k> l vvU A. NKWdor.
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in 28. April 1903 hat der elsaß-lothringische Landesansschuß
einen von sämtlichen Mitgliedern unterzeichneten Antrag Krafft
und Genossen angenommen, worin folgende Änderungen der elsa߬
lothringischen Verfassung gewünscht werden:
Erstens, daß der Reichstag als gesetzgeberische Macht für
Elsaß-Lothringen ausgeschaltet werde. Zweitens, daß dem Landesansschuß
die Befugnisse, die Stellung und der Name eines Landtags für Elsaß-Lothringen
erteilt würden. Drittens, daß bei der Beratung von elsaß-lothringischen An¬
gelegenheiten im Bundesrat die drei von dem Landesherrn zu ernennenden
Vertreter Elsaß-Lothringens stimmberechtigt seien.
Über die Bedeutung des Antrags Krafft sind schon zahlreiche Zeitungs¬
artikel in der elsnß-lothringischen und in der altdeutschen Tagespresse ver¬
öffentlicht worden; mich im Landesansschuß hat eine eingehende Debatte über
den erwähnten Antrag stattgefunden. Bei diesen Erörterungen nun ist eine
solche Fülle von Unrichtigkeiten und Unklarheiten, ein solcher- Mangel an Rechts¬
kenntnis, historischen: Wissen und politischer Einsicht hervorgetreten, daß eine
Aufklärung der öffentlichen Meinung — insbesondere in Altdeutschland —
über die Motive und die Ziele des Antrags sowie über die Folgen seiner
etwaigen Verwirklichung dringend geboten erscheint.
Um die politische Tragweite des Antrags Krafft richtig zu würdigen, muß
man sich zunächst den juristischen Unterschied klar machen, der zwischen Elsaß-
Lothringen und den deutschen Bundesstaaten besteht. Alle Privilegien, die
die deutschen Bundesstaaten vor dem Reichsland Elsaß-Lothringen voraus
haben, kann man auf einen einzigen Satz zurückführen: „Die Zuständigkeit des
Reichs gegenüber den deutschen Bundesstaaten ist beschränkt, gegenüber dem
Reichsland Elsaß-Lothringen unbeschränkt." Das Reich hat gegenüber den
Bundesstaaten nur die Hoheitsrechte, die ihm dnrch die Reichsverfassung selbst
oder dnrch spätere Änderungen darin ausdrücklich beigelegt worden sind; das
Reich hat gegenüber dem Reichsland alle Hoheitsrechte, die überhaupt nur
denkbar sind.
Hieraus folgt erstens: Die Existenz der Bundcsstnaten ist von dein Willen
des Reichs unabhängig, denn keine Bestimmung der Reichsverfassung erlaubt,
einen Bundesstant zu vernichten. Die Existenz des Neichslandes dagegen ist
von dem Willen des Reichs abhängig; das Reichsland ist durch Neichsgesetz
geschaffen und kann durch Neichsgesetz wieder vernichtet werden.
Zweitens: Der Umfang der Bundesstanteu ist von dein Willen des Reiches
unabhängig. Keine Bestimmung der Reichsverfassung gibt dem Reiche die
Befugnis, die Grenzen der Einzelstanten zu verändern; zu jeder Grenzverän-
deruug ist deshalb die Zustimmung des beteiligten Bundesstaats notwendig.
Ein Beispiel bieten die Verträge mit der Schweiz vom 28. April 1878 und
vom 24. Juni 1879 (Neichsgesctzblatt von 1879, Seite 307 bis 311), durch
die eine Grenzregulierung an der badisch-schweizerischen Grenze vereinbart
wurde. Der Umfang des Neichslandes dagegen ist vollständig von dem Willen
des Reiches abhängig; das Reich kann die Grenzen des Neichslandes nach
seinem Belieben verändern und hat sie auch schon wiederholt verändert. Bei¬
spiele bieten die Znsatzkonventionen zu dem Frankfurter Friedensverträge vom
12. Oktober 1871, vom 24. bis 27. August und von 28. bis 31. Angust 1872,
durch die verschiedne Grenzbezirke um Frankreich zurückgegeben wurden.
Drittens: Die Verfassungen der deutschen Bundesstaaten sind von dem
Willen des Reiches unabhängig; eine Änderung dnrch Neichsgesetz ist nur dann
zulässig, wenn ein Verfassungsstreit besteht, und einer der streitenden Teile die
Hilfe des Reiches anruft. Wäre das Reich befugt, jede einzelne Landesver¬
fassung nach seinem Belieben zu ändern, so würde die einschränkende Vorschrift
des Artikels 7ö der Reichsverfassung überhaupt keinen Sinn haben. Von diesem
juristischen Standpunkt aus haben zum Beispiel die mecklenburgischen Mit¬
glieder des Bundesrath, von Vülow und von Örtzeu, in den Reichstags¬
sitzungen vom 2. November 1871, vom 14. Mai 1873, vom 3. Dezember 1874,
vom 5. und vom 20. Dezember 1895 die Anträge Büsing, Baumgarten und
Pachnicke auf Reform der mecklenburgischen Verfassung als eine unbefugte Ein¬
mischung in die innern Angelegenheiten Mecklenburgs bekämpft. Die Ver¬
fassung des Neichslandes ist dagegen vollständig von dem Willen des Reichs
abhängig. Sie beruht auf einem Neichsgesetz (Gesetz vom 8. Juni 1871); sie
ist schon wiederholt durch Reichsgesetze (nämlich dnrch die Gesetze vom
25. Juni 1873, vom 2. Mai 1877 und vom 4. Juli 1879) geändert worden
und kaun auch in Zukunft jederzeit durch Reichsgesetz geändert werden.
Viertens: Die Landtage der einzelnen Bundesstaaten sind von dem Willen
des Reichs unabhängig. Keine Bestimmung der Reichsverfassung erlaubt, den
Landtag eines Einzelstaats aufzuheben. Das Recht der Landtage ist ein un¬
trennbarer Bestandteil des Verfassungsrechts der Einzelstaaten; die Aus¬
führungen, die hier über das Verfassungsrecht der Bundesstciaten gemacht
worden sind, gelten deshalb auch in vollem Umfange für das Recht der Land¬
tage. Dagegen ist der Landcsausschuß von Elsaß-Lothringen von dem Willen
des Reiches abhängig. Er ist durch Neichsgesetz geschaffen und kann durch
Reichsgesetz wieder aufgehoben werden; seine Rechte sind ihm durch ein
Neichsgesetz verliehen und können durch ein Neichsgesetz wieder geändert, be-
schränkt oder ihm gänzlich entzogen werden. Sogar ohne Veränderung des
bestehenden Rechtszustandes kann das Reich dem Landesausschuß alle Macht
und allen Einfluß nehmen: jeder Beschluß des Landesansschusses kann durch
einen Beschluß des Reichstags aufgehoben und ersetzt werden.
Fünftens: Die Vertreter der deutschen Bundesstaaten haben im Bundes¬
rat beschließende Stimme; der Vertreter Elsaß-Lothringens hat im Bundes¬
rat nur beratende Stimme (Paragraph 7 des Reichsgesetzes vom 4. Juli 1879).
Der Antrag Krafft will nun den Unterschied zwischen den deutschen Land¬
tagen und dem elsaß-lothringischen Landesausschuß gänzlich beseitigen. Das
Recht des Reichstags, in elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten mitzu¬
wirken, soll aufgehoben werden. Zu jeder Änderung in der Zuständigkeit des
Landesausschusses und in seiner Zusammensetzung soll die Einwilligung des
Landesausschusses notwendig sein. Dieser soll die parlamentarische Immunität,
das Recht der Jnterpellation und der Wahlprüfung erhalten. Der Antrag
Krafft will ferner den Unterschied abschwächen, der im Bundesrat zwischen den
Vertretern der deutschen Bundesstaaten und den Vertretern Elsaß-Lothringens
besteht. Diese sollen ein beschränktes Stimmrecht erhalten, nämlich ein Stimm¬
recht in allen elsaß - lothringischen Angelegenheiten, dagegen nicht in Reichs-
angelegenheiten.
Von diesen Wünschen des Landesansschusses ist einer längst erfüllt.
Schon im Jahre 1883 hat der Obcrlnndesgerichtsrat Croissant von Kolmar
in seiner anonymen Schrift: „Das Recht der Wiedergewonnenen" nachgewiesen,
daß der Schutz, den der Paragraph 11 des deutscheu Strafgesetzbuchs den
Mitgliedern parlamentarischer Versammlungen gewährt, nach dem elsa߬
lothringischen Ausführnngsgesetz zum Strafgesetzbuch auch den Mitgliedern
des Landesansschusses zusteht. Alle Schriftsteller, die sich seitdem mit dieser
Frage beschäftigt haben, Stöber, Labnnd, Leoni, Rosenberg, sind zu demselben
Resultat gekommen. Auch der Strafscuat des Oberlandesgerichts Kolmar hat
durch den Beschluß vom 3. Dezember 1898 in Sachen Ducharlet diese An¬
sicht als richtig anerkannt. Die Mitglieder des Landesausschusses haben ferner
schon alle Privilegien, die die Reichsgesetze den Mitgliedern gesetzgebender
Versammlungen beilegen, z. B. die in Paragraph 35, 1 des Gerichtsver¬
fassungsgesetzes, in den Paragraphen 382, 904, 905 der Zivilprozeßordnung,
in Paragraph 49 der Strafprozeßordnung erwähnten Privilegien.
Das Recht, die Legitimation seiner Mitglieder zu prüfen, kauu den:
Landcsausschuß unbedenklich eingeräumt werden. Große praktische Bedeutung
hat diese Änderung nicht. Kein Kenner der Verhältnisse wird bezweifeln, daß
die Wahl des sozialdemokratischen Abgeordneten Emmel vom Landesausschuß
ebenso sicher kassiert worden wäre, wie sie vom Bezirksrat und vom Kaiser¬
lichen Rat kassiert worden ist.
Das Jnterpellationsrecht, das die Abgeordneten Krafft, Wetterle, Riff
und Götz in der Landesausschußsitzuug vom 28. April 1903 mit großem
Nachdruck gefordert haben, hat nicht einmal der deutsche Reichstag. Bei der
Beratung der Verfassung des Norddeutschen Bundes sind die Anträge Laster
und Baumstark Aßnumu, die dein Reichstage daS Jnterpellationsrecht sichern
wollten, in der Sitzung vom 29. März 1867 ausdrücklich abgelehnt worden.
In derselben Sitzung führte der Präsident der Bundeskommissarien, Graf
Bismarck, aus: „Ich weiß nicht, welche Gewalt — welche parlamentarische
wenigstens — mich zwingen könnte, zu reden, wenn ich schweigen will."
Der berühmte Staatsrechtslehrer Laband sagt in seinem Werke über das
Staatsrecht des Deutschen Reichs: „Das Jnterpellationsrecht des Reichstags
oder richtiger der Neichswgsmitglieder ist weiter nichts als die allgemeine,
recht vielen Menschen zukommende Fähigkeit, an die Negierung Fragen zu
stellen, die dieselbe nach ihrem Belieben einer Antwort würdigen oder un¬
beachtet lassen kann." Das angebliche Recht der Jnterpellation ist ein inhalt¬
loses Recht. Eine staatsrechtliche Pflicht der Negierung, auf jede überflüssige,
törichte und einfältige Frage eines Abgeordneten oder einer bestimmten Zahl
von Abgeordneten Rede und Antwort zu stehn, kann man überhaupt nicht
konstruieren.
Viel wichtiger als die doktrinäre Frage des Jnterpellationsrechts ist eine
andre Frage, die den Vätern des Antrags Krafft vollständig entgangen ist.
Der Statthalter ist bekanntlich nicht bloß Stellvertreter des Kaisers, sondern
zugleich auch Minister für Elsaß-Lothringen. Zu seiner Zuständigkeit gehöre»
erstens: die kaiserlichen Rechte, deren Ausübung ihm der Kaiser übertragen
hat; zweitens: alle ministeriellen Befugnisse, die die französischen Minister
gehabt haben.
Als Minister für Elsaß-Lothringen trägt er die juristische Verautworrlich-
keit für alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers, die von ihm kontra-
signicrt werden, ferner die politische Verantwortlichkeit für das gesamte Gebiet
der unter ihn gestellten Landesverwaltung von Elsaß-Lothringen. Die politische
Verantwortlichkeit des Statthalters besteht bis jetzt nicht dem Landesausschuß
gegenüber, sondern einzig und allein dem Reichstag gegenüber, wie der Uuter-
staatssckretär Herzog in den Neichstagssitzungen vom 13. und vom 14. Juni 1879
wiederholt anerkannt hat. Soll nun diese politische Verantwortlichkeit des
Statthalters, die in den Verhandlungen des Landesansschnsscs vollständig
mit Stillschweigen übergangen ist, gänzlich erlöschen? Oder soll der Landcs-
ausschuß auch in dieser Beziehung an die Stelle des Reichstags treten?
Kann der Statthalter dem Landesausschuß ebenso fern, bleiben, wie er dem
Reichstag fern geblieben ist? Entspricht es der Würde eines Stellvertreters
des Kaisers, persönlich in die politische Arena hinabzusteigen und parla¬
mentarische Nedekümpfe mit sozialdemokratischen Handelsleute» oder klerikalen
Zeitungschreibern auszufechten? Entspricht es der Würde eines Parlaments,
daß der verantwortliche Minister niemals persönlich dort erscheint, sondern
nur durch untergeordnete Organe mit ihm verkehrt? Alle diese Fragen sind
bei den zahllosen Erörterungen über deu Antrag Krafft nicht bloß ungelöst,
sondern gänzlich unberührt geblieben.
Die drei elsaß-lothringischen Stimmen, die der Antrag Krafft verlangt,
sind neben den 58 Stimmen der deutschen Bundesstaaten nur eine ver¬
schwindende Minderheit. Die Machtverhültnisse im Bundesrat werden hier¬
durch nicht geändert; praktischen Wert hat die Einräumung eines Stimmrechts
im Bundesrat für Elsaß-Lothringen also nicht.
Die Bewilligung der in dem Antrag Krafft enthaltnen Forderungen würde
aller mittelbare Wirkungen haben, die die Urheber dieses Antrags nicht er¬
wähnt, vielleicht auch gar nicht erkannt haben. Wenn das Reich die Zuständig¬
keit des Landesausschusses uicht mehr nach seinem Belieben ändern kann, so
kann es auch die Grenzen des Neichslands nicht mehr nach seinem Belieben
ändern, denn jede Beschränkung des räumliche» Umfangs von Elsaß-Lothringen
enthält eine Beschränkung der örtlichen Zuständigkeit des Landesausschusscs.
Die Erhebung dieser Körperschaft zum Landtage hat also die Verleihung der
Gebietshoheit an das Reichsland Elsaß-Lothringen zur notwendigen Folge.
Die Bewilligung eines Stimmrechts im Bundesrat würde gleichfalls eine
staatsrechtliche Garantie für den Weiterbestand des Neichslands bedeuten.
Nach der Ansicht mancher Staatsrechtslehrer, z. V. Max von Seydels und
Lönings, gehört das Stimmrecht im Bundesrat zu den Sonderrechten, die
nach Artikel 78 Absatz 2 der Reichsverfcissuug uur mit Zustimmung des be¬
rechtigten Staats aufgehoben werden dürfen. Auch ein praktischer Staats-
mann — der sächsische Staatsminister Freiherr von Friesen — hat in der
Sitzung der zweiten sächsischen Kammer vom 23. Februar 1872 erklärt, daß
Artikel 6 der Reichsverfassung, wonach Sachsen vier Stimmen und Schwarz-
burg-Sondershausen eine Stimme hat, „Mra sinzulorum feststellt, die man
diesen Staaten nicht dnrch Majoritätsabstimmungen nehmen könne."
In dem vorigen Abschnitt sind die Bedenken dargelegt worden, die
gegen den Wortlaut des Antrags Krafft bestehn. Auch wenn jedoch dieser
Antrag in seiner gegenwärtigen Form Gesetz würde, so wäre damit die elsa߬
lothringische Verfassungsfrage noch lange nicht erledigt. Nach der offen aus¬
gesprochen Absicht der Antragsteller soll der Antrag' Krafft keinen dauernden
Rechtszustand begründen; er soll nur eine Abschlagszahlung auf die viel weiter
gehenden Forderungen der Elsaß-Lothringer sein; er soll nnr ein neues
Provisorium, eine neue Stufe in der Entwicklung des elsaß-tods ringischen Ver¬
fassungsrechts darstellen, worauf man ein weit entferntes Ziel mit frischen Kräften
erstreben will. Auf die Ausschaltung des Reichstages, die in dem Antrag
Krafft verlangt wird, soll später die Ausschaltung des Bundesrath folgen.
Der Abgeordnete Fürst hat schon in der Sitzung des Landesausschusses vom
28. April 1903 erklärt: „Die Beseitigung des Bundesrath als gesetzgebender
Faktor in Elsaß-Lothringen ist wünschenswert und erreichbar." In derselben
Sitzung äußerte auch der Abgeordnete Wintcrer: „Wir können nicht Herr und
Meister sein, so lange wir an den Bundesrat angeschlossen sind."
Die nächste Etappe soll sodann die Ausschaltung des Kaisers sein. Ein
altdeutsches Blatt, die untioualliberale „Strnßbnrger Post," ist schon unter
Verleugnung aller Parteitraditioncu für die Veseitignng der landesherrlichen
Rechte des Kaisers eingetreten. Das genannte Blatt hat in seiner Nummer 298
vom 29. März 1903 empfohlen, an Stelle des anszuschaltenden Kaisers einen
ans Lebenszeit ernannten Statthalter zu setzen, der nicht im Namen des
Kaisers, sondern im Namen des Reiches regieren und volle Selbständigkeit
gegenüber dem Kaiser erhalten soll.
Die folgende Station auf der schiefen Ebene der Ausschaltungen würde
die Ausschaltung des Statthalters darstellen. Die Straßburger „Bürger-
zeitnng" hat schon die Forderung erhoben, daß der Statthalter durch einen
vom Landesausschuß zu wühlenden und vom Bundesrat zu bestätigende,:
Landespräsidenten ersetzt werden soll! (Ur. 74 vom 28. März 1903.)
Sind die Grundpfeiler des bestehenden Verfnssungsgebäudes — Reichs¬
tag, Bundesrat, Kaiser und Statthalter — beseitigt, so ist die Ausschaltung
des Nestes mir uoch eine Kleinigkeit. Daß der altdeutsche Staatssekretär
fallen muß, ergibt sich mit logischer Notwendigkeit aus dem Dogma „Elsaß-
Lothringen den Elsaß-Lothringern," das der Abgeordnete Krafft in der Sitzung
des Landesausschnsses vom 28. April 1903 unter dem Beifall der ganzen
Versammlung wiederum proklamiert hat. Eine weitere notwendige Folge dieses
Grundsatzes ist die Ausschaltung der Altdeutschen aus der elsaß-lothringischen
Beamtenschaft. Zur Krönung des Gebäudes endlich müssen die Mitglieder
des Landesansschusses, die den Antrag Krafft angenommen haben, selbst aus¬
geschaltet und durch neue Männer ersetzt werden, die ihre Berufung dem all¬
gemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht verdanken- Das Endziel der ganzen
politischen Bewegung, die in dem Antrag Krafft ihren Ausdruck gefunden hat,
ist also die Errichtung eines selbständigen Bundesstaats ans demokratischer
Grundlage, die Begründung einer demokratischen Republik oder — lÄrcko as
rnioux — einer parlamentarischen, auf dem Prinzip der Volkssouveränität
beruhenden Monarchie.
Daß die Elsaß-Lothringer die Umwandlung des Neichslandes in einen
gleichberechtigten Bundesstaat erstreben, ist natürlich und begreiflich. Sie
sind in dieser Beziehung nur die gelehrigen Schiller des Feldmarschalls
von Manteuffel, der ihnen unermüdlich vorgepredigt hat, daß sie ein moralisches
und juristisches Recht darauf Hütten, den Angehörigen der übrigen deutschen
Staaten in jeder Beziehung gleichgestellt zu werden. Durch alle Tischreden
des ersten Statthalters — von seiner berühmten „Dogenrede" um 17. De¬
zember 1879 bis zu seinem Schwanengesang am 13. Januar 1885 — zieht
sich wie ein roter Faden der Gedanke: „Elsaß-Lothringen hat früher dieselben
Rechte gehabt, wie alle übrigen Teile Deutschlands. Durch die Lostrennuug
des Landes sind diese Rechte nicht verwirkt worden, denn die Trennung ist
keine freiwillige gewesen, sondern dnrch die Schwäche des Reiches verschuldet
worden. Mit der Rückkehr des Laudes zum Reiche leben die alten Landes¬
rechte von selbst wieder auf."
Bei der Würdigung dieser Tischreden kommt zunächst in Betracht, daß
sie „persönliche Herzensergüsse," aber keine Amtshandlungen waren, wie
Manteuffel selbst 'am 13. Januar 1885 ausdrücklich erklärt hat. Sie sind
deshalb weder für die Amtsnachfolger des Statthalters noch für die Reichs¬
regierung verbindlich. Eine nähere Prüfung des erwähnten Gedankenganges
ergibt ferner, daß er zu ganz absurden Resultaten führt. Wenn die alten
Landesrechte der elsaß-lothringischen Bürger und Bauern mit dem Heimfnll
an das Reich ip»u.jurs wieder aufleben, warum sollen die alten Landes
rechte der übrigen, gewaltsam von Reiche losgerissenen Elsaß Lothringer,
5. B. der Grafen von Hanau-Lichtenberg, von Rappoltstein, von Horbnrg,
von Leiningen usw., deren direkte männliche Nachkomuren und Erben noch
heute dem deutschen Fnrstenstande angehören, nicht ebenfalls aufleben? Wenn
die Rechte der weltlichen Landesherren wieder aufleben, warum sollen die
Rechte der geistlichen Landesherren, der Bischöfe von Straßburg und Metz,
der Republiken Straßburg, Kolmar, Mülhausen, Hagenau sowie der elsässischen
Reichsritterschaft uicht gleichfalls aufleben? Mit der Zauberformel „Die alten
Landesrechte leben von selbst wieder auf" kann man das ganze Verfnssungs-
recht des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts wieder heraufbeschwören,
womit wohl den Elsaß-Lothringern sehr wenig gedient wäre.
Aus dem alten Landesrecht der Elsaß-Lothringer kann auch kein moralischer
Anspruch auf staatliche Sonderexistenz hergeleitet werden, wie das der Staats¬
sekretär von Hofmann in der Sitzung des Landesausschusses vom 17. Januar
1885 uuter wesentlicher Abschwnchnng der Tischreden Manteuffels versucht hat.
Wenn die Tatsache, daß die Elsaß-Lothringer im siebzehnten Jahrhundert
gleichberechtigte Glieder des Reiches waren, einen moralischen Anspruch auf
politische Gleichberechtigung im zwanzigsten Jahrhundert gewähren soll, so
können auch die Knrpfälzer, Kurköluer, Kurtrierer, Kurmainzer, Holsteiner,
Nürnberger, Frankfurter, Augsburger denselben moralischen Anspruch erheben.
Die Elsaß-Lothringer selbst denken gar nicht daran, ihre Forderung eines
gleichberechtigten Bundesstaats auf alte, vergilbte und vergessene, historische
Rechtstitel zu stützen. Sie gründen ihre Ansprüche auf ein ganz andres
Fundament, auf das angebliche Recht der deutschen „Stämme," eine staatliche
Sonderexistenz zu fuhren. Sie behaupten: „Wenn Bayern, Württemberger,
Badener und Hessen-Darmstädter das Recht haben, einen eignen Bundesstaat
zu bilden, so müssen die Elsaß-Lothringer dieses Recht ebenfalls haben." Da
sie ein Recht auf staatliche Sonderexistenz zu haben glauben, so „betteln" sie
nicht um ihr Recht, sondern sie „fordern" es, wie der Abgeordnete Riff
in der Sitzung vom 28. April 1903 erklärt hat. Ihrem Recht entspricht die
„Pflicht" des Reichs, die gerechte und billige Forderung eines clsaß-lothringischen
Vnndesstaates zu bewilligen, wie der Abgeordnete Fürst in derselben Sitzung
ausführte. Dieser ethnographische Standpunkt der Elsaß-Lothringer ist genau
ebenso verkehrt wie der rechtshistorische Standpunkt Manteuffels. Wenn es
ein deutsches Stammesrecht auf staatliche Sonderexistenz gäbe, so hätten die
Hannoveraner als Nachkommen der alten Niedersachsen, die Kurhessen als
Vertreter des Chattenvolks, die Maiufrcmken im heutigen Bayern und Württem¬
berg einen ganz andern und bessern Anspruch auf Sonderexistenz als die
Elsaß-Lothringer. Von den wunderbaren „Stämmen" der Hessen-Darinstüdter
und der Badener haben 1800 Jahre lang die Deutschen keine Ahnung gehabt,
bis sie Napoleon der Erste plötzlich entdeckte. Die Elsässer und die Lothringer
selbst haben miteinander uicht die geringste Verwandtschaft; sie sind in bezug
auf Abstammung, Sitte, Sprache und Geschichte gänzlich verschieden. Das
einzige gemeinsame Band zwischen ihnen ist das Bewußtsein, daß die Souue
des französischen Weltrnhms auf sie geschienen hat, wie Professor Studemund
bei dem Festakt der Universität Breslau am 22. März 1886 sagte. Die po¬
litische Verbindung zwischen Elsaß und Lothringen ist sehr jung. Beide Länder
haben niemals in der Geschichte einen gemeinsamen Staat gebildet; nicht einmal
Elsaß allein ist ein Staat gewesen. Der heutige Bezirk Lothringen kann als
Fortsetzung des alten Herzogtums nicht betrachtet werden. Er umfaßt nur
einen kleinen Teil dieses Landes, dagegen Teile vieler andrer Territorien:
des Herzogtums Luxemburg, der Fürstentümer Salm und Nassau-Saarbrücken,
der Grafschaften Dagsburg und Rodemachern, des Bistums Metz usw. Wenn
Elsaß-Lothringen den Anspruch auf Bildung eines besondern Staates erhebe«
kann, so kann Lothringen allein denselben Anspruch erheben. Wenn ein Bezirk
eine staatliche Sonderexistenz verlangen darf, so darf auch jeder andre Bezirk,
jeder Kreis, jede Gemeinde, jede Annexe dieselbe Sonderexistenz verlangen.
Die Forderung dieser Verwaltungsdistrikte auf Gründung eines besondern
Staatswesens würde genau ebenso berechtigt oder unberechtigt sein wie die
Forderung der Elsaß-Lothringer!
Die Frage, ob das Reichsland Elsaß-Lothringen in einen Staat umge¬
wandelt werden soll, ist keine Frage des Rechts oder der Billigkeit, sondern
einzig und allein eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit. Bei der Ent¬
scheidung der Frage, ob die Gründung eines neuen Bundesstaats nützlich oder
schädlich ist, kommt nicht allein das Interesse des Reichslandes, sondern in
erster Linie das Interesse des Reichs in Betracht. Der erste Schritt zur Er¬
richtung eiues elsasz - lothringischen Staates ist schon im Jahre 1879 erfolgt.
Bis zum 1. Oktober 1879 war die Landesverwaltung vou Elsaß-Lothringen
ein Zweig der Reichsverwaltung, der unter der Leitung des Reichskanzlers
stand. Durch das Neichsgesetz vom 4. Juli 1879 ist die Unterordnung der
Landesverwaltung unter den Reichskanzler aufgehoben worden; Landesver¬
waltung und Reichsverwaltung sind vollständig voneinander getrennt worden.
Die Folge dieser Trennung ist nun zunächst eine starke Vermehrung der Ver¬
waltungskosten gewesen. Die Einsetzung der Statthalterschaft und des Mi¬
nisteriums fordert einen jährlichen Mehraufwand von 500000 Mark, hierzu
kommt noch eine jährliche Mehrausgabe von 100000 Mark für den Landes¬
ausschuß (49000 Mary, den Bundesrat (30000 Mark) und den Staatsrat
(ursprünglich 35000 Mark, später 20000 Mark). Die Verfassungsreform von
1879 hat also dem Lande in der Zeit von 1879 bis 1903 24 x 600000 ^
14 Millionen Mark gekostet. Das elsaß - lothringische Budget betrug im
Jahre 1879 nur 39 Millionen, im Jahre 1903 dagegen 69 Millionen Mark.
Trotz dieser großen finanziellen Opfer ist eine vollständige Emanzipation der
Landesverwaltung von der Reichsverwaltung doch nicht erreicht worden, wie
die Geschichte des Preßzwangs und des Diktaturparagraphen beweist.
Was die politische» Erfolge der Verfassnngsrefvrm von 1879 betrifft, so
muß die Tatsache anerkannt werden, daß die Aussöhnung der Elsaß-Lothringer
mit deu bestehenden Zustünden im Laufe der letzten fünfzehn Jahre große und
unerwartete Fortschritte gemacht hat. Der soziale Gegensatz zwischen Ein-
gebornen und Eingewanderten, der noch in dem Roman I^ö8 Oben-lei von
Rene Bazin mit den grellsten Farben geschildert wird, ist im Schwinden be¬
griffen; den Anfang einer vollständigen Verschmelzung durch eormubium und
«zomraeroiuin — Heiraten und Familienverkehr — kann man schon deutlich
erkennen. Im Jahre 1879 wäre es gar nicht möglich gewesen, daß die Ge¬
meinderäte der drei größten Städte des Landes — Straßburg, Mülhausen
und Metz — freiwillig Altdeutsche zu Bürgermeistern wühlten, daß Mül¬
hausen (damals die Hochburg des Franzosentums) einen Altdeutschen in den
Landesausschuß schickte, und daß die ebenfalls stockfranzösischen Städte Kolmar
und Metz Altdeutsche durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts auszeichneten.
Bei den letzten Reichstagswahlen hat die Abstammung der Kandidaten nur
eine ganz untergeordnete Rolle gespielt; die Altdeutschen Alexander Hohen-
lohe, Wildberger, Löffler und Beckmann sind von Eingebornen aufgestellt und
unterstützt worden. Bei diesen Wahlen hat ferner der letzte Vertreter der
Protestpartei, Rechtsanwalt Preiß von Kolmar, seinen frühern politischen
Stnndpnukt gänzlich verlassen und das Versprechen abgegeben, sein Mandat
.zum Wohle des Deutschen Reichs, Elsaß-Lothringens und des Wahlkreises
Kolmar ausüben zu wollen." Im ganzen Reichslande gibt es heute keinen
einzigen Politiker mehr, der offen die Wiedervereinigung des Landes mit
Frankreich verlangte. Schluß folgt)
ußland ist seiner Balkanpvlitik bis auf den heutigen Tag treu
geblieben; die Ermordung Stambulows bewies, daß sie bei der
Verfolgung ihres Zweckes auch vor verbrecherische» Mitteln nicht
zurückschreckte, aber ebenso wie Rumänien sich der Übeln und
eigennützigen Vormundschaft Rußlands entzog, so bricht sich
auch unter den Balkanslawen immer mehr die Überzeugung Bahn, daß sie
von der russischen Politik nicht gefördert, sondern mißbraucht werden. — Vor
Jahr und Tag klagte mir der frühere serbische Ministerpräsident or. Wladan
Georgiewitsch: Rußlands ganze Oricntpolitik bestehe darin, Rumänen, Bul¬
garen, Serben und Griechen untereinander zu verhetzen, um jedem dieser
Völker die Aussicht auf eine gedeihliche politische und kulturelle Entwicklung
W nehmen. — Derselbe Gedanke kehrte in einer Rede wieder, die vor einigen
Monaten ein andrer, der Präsident des makedonischer Komitees, Michailowski,
w einer Versammlung in Sofia gehalten hat, und wer Gelegenheit hat, die
bulgarische Intelligenz kennen zu lernen, kann sich davon überzeugen, welche
tiefe Abneigung sie gegen Rußland empfindet, und mit welcher Zuversicht sie
die Anschauung vertritt, daß Nußland auf der Balkanhalbinsel nichts mehr zu
suchen habe. — Fürst Ferdinand von Bulgarien ist kein Staatsmann erster
Güte. Die Eifersucht auf Stmubulows Machtstellung veranlaßte ihn, das
Geniale seines Programms zu übersehen und ungeduldig nach der Königs¬
krone zu greifen, als die Zeit noch lange nicht erfüllt war. So erklären sich
die Irrungen der bulgarischen Politik seit Stambulows Ermordung. Fürst
Ferdinand glaubte sein Ziel mit Hilfe der Intervention der Mächte schneller
erreichen zu können, und als sich die Erwartung als irrig erwies, da suchte
die makedonische Bewegung diese Intervention durch Entfachung eines Auf¬
standes zu erzwingen. nachgerade scheint man aber in Sofia eingesehen zu
haben, daß es besser sei, zu der Stambulowschen Tradition zurückzukehren,
wenigstens wird der letzte Kabinettswechsel in Bulgarien in diesem Sinne ge¬
deutet, und die Sendung Natschowitschs nach Konstantinopel bewies auch,
daß das Ministerium Petrow von der Notwendigkeit der Wiederherstellung
guter Beziehungen zur Pforte durchdrungen ist. Allerdings lassen sich die
Folgen der voraufgegangnen fehlerhaften Politik nicht so ohne weiteres be¬
seitigen, und das durch den makedonischer Aufstand geerntete Mißtrauen der
Pforte läßt sich nicht über Nacht beschwichtigen. Man kann deshalb ganz gut
begreifen, daß die Sendung Natschowitschs keinen vollen Erfolg hatte, wodurch
wiederum die Stellung des bulgarischen Kabinetts sehr erschwert wird. Dem
russischen Botschafter in Konstantinopel, Herrn Sinowjew, kann es nicht gleich-
giltig sein, sich durch die Wiederherstellung eines innigen Einvernehmens
zwischen der Türkei und Bulgarien und diesem Teile der orientalischen Frage
gewissermaßen ausgeschaltet zusehen: und darum nimmt es nicht wunder, daß
die russische Partei in Bulgarien dein stambnlowistischen Kabinett Petrow Prügel
zwischen die Beine wirft, indem sie plötzlich die makedonische Bewegung unter¬
stützt und dadurch die Regierung aus ihrer türkenfrenndlichen Stellung heraus¬
zudrängen sucht.
Es wäre deshalb zu viel gesagt, wollte man die Lage im Osten der
Valkanhalbinsel als durchaus friedlich bezeichnen; immerhin spricht aber die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich die Dinge ohne große, Europa in Mitleiden¬
schaft ziehende Erschütterungen entwickeln werden, weil das nationale und
staatliche Bewußtsein der Rumänen und der Bulgaren der revolutionären Politik
Rußlands das Gleichgewicht hält. Europa ist damit der Sorge, Rußland einst
dauernd in dein Besitze Konstantinopels zu sehen, überhoben. Es gibt hier
im Osten schon lebenskräftige Staatsgebilde, die im eignen Interesse Nußland
den Weg nach dem Südwesten verlegen müssen; und wenn auch Schwankungen
wie in den letzten Monaten nicht ausgeschlossen sind, so wird der Lauf der
Dinge doch immer wieder in das schon zu tief gegrabne Bett der kräftigen
Entwicklung Rumäniens und Bulgariens zurückkehren.
Anders im Westen der Balkanhalbinsel. In allen diplomatischen
Kreisen, mit denen ich während der kritischen Zeit der makedonischer Bewegung
in Berührung kam, hörte ich die Meinung, daß der Schwerpunkt der orien¬
talischen Frage nicht in Makedonien, sondern im Nordwesten der Halbinsel
zu suchen sei. Und in der Tat verschlingen sich hier die konservativsten Reste
türkischer Herrschaft, provisorische Zustände wie die in Bosnien, Ansprüche
eines politisch wenig leistungsfähigen Volks wie der Serben, montenegrinische
Wühlereien, russische Intriguen, österreichisch-ungarische Interessen und itcilie-
mische Begehrlichkeit in einem wüsten Durcheinander, Hier sind noch keine
Ansätze zu einer kräftigen, dauernden Gestaltung der Dinge vorhanden, einer¬
seits weil der serbische Volksstamm politisch weit hinter dem rumänischen und
dein bulgarischen zurücksteht, andrerseits weil hier unmittelbar eine Großmacht
beteiligt ist, in der sich selbst ein Gärungsprozeß vollzieht, den zum Teil die¬
selben Ursachen hervorgerufen haben, die bei dem Zersetzungsprozesse der Türkei
wirksam sind.
Man hat dem gegenwärtigen Leiter des Auswärtigen Amts in Wien,
dem Grafen Goluchowski, häufig den Vorwurf gemacht, daß er sich durch das
Abkommen vom Jahre 1897 mit Rußland habe unnötigerweise die Hände
binden lassen, da Rußland durch die sich damals in Ostasien vorbereitenden
Umwälzungen im europäischen Orient ohnehin zur Passivität verurteilt, mithin
für Österreich-Ungarn die Gelegenheit günstig gewesen sei, Rußland auf der
Balkauhnlbiusel den Raug abzulaufen. Der Versäumnisse des Grafen Go¬
luchowski und seiner jede irgendwelche Verantwortung in sich fassende Tat
scheuenden Politik sind gewiß viele, aber in diesem Punkt irrt die Kritik, da
die Vorfrage, ob Österreich-Ungarn wirklich imstande gewesen wäre, die durch
die ostasiatischen Verwicklungen veranlaßte Passivität Rußlands im Westen in
der angedeuteten Weise auszunutzen, verneint werden muß. — Es ist richtig,
daß die Entwicklung Bulgarieus und die Auflösung des chinesischen Reichs
die Balkanpolitik Rußlands scheinbar konservativ gemacht haben. Nußland
will gegenwärtig aus den schon erläuterten Gründen keine territorialen Ver-
änderungen ans der Balkanhalbinsel, und darum strebte es, als sich die -uake-
douischeu Unruhen regelmäßig alljährlich einstellten und die Dinge in Ost¬
asien reiften, eine Annäherung an Österreich-Ungarn und einen Vertrag an,
worin beide Mächte übereinkämen, jede territoriale Veränderung ans der
Balkanhalbinsel zu verhindern. Das entsprach vollkommen der Richtung der
russischen Politik seit dem Berliner Frieden; wenn man aber behauptet, daß
Österreich-Ungarn aus diesem Abkommen keinen Vorteil gezogen habe, so ver¬
gißt mau, daß Italien seit der Vermählung des gegenwärtigen Königs mit
einer Tochter des Fürsten von Montenegro mit Eifer alte vermeintliche An¬
sprüche auf die Ostküste der Adria geltend macht und sich in die Stellung
eines legitimen Teilhabers an der türkischen Erbschaft zu drängen sucht. Daß
sich König Viktor Emanuel der Zweite nach seiner Thronbesteigung zuerst am
Zarenhof vorstellte, bewies, daß Italien begonnen hatte, tätige Orientpolitik
zu machen; die kühle Ablehnung, die es dabei in Petersburg faud, war aber
die Frucht des österreichisch-russischen Abkommens vom Jahre 1897. Wenn man
nun berücksichtigt, daß Österreich-Ungarn einen russischen Marsch ans Kon-
stcintinvpel nicht mehr zu fürchten hat, dann sprach, vom Standpunkte der
Wiener Politik aus betrachtet, jedenfalls alles für den Abschluß des Überein¬
kommens vom Jahre 1897, da andrerseits wohl ein Einvernehmen Rußlands
mit Italien in der orientalischen Frage erfolgt, und dadurch, ganz abgesehen
von der Rückwirkung auf die gesamte europäische Konstellation, Österreich-
Ungarn gerade wegen der orientalischen Frage in eine recht üble Lage ge¬
kommen wäre.
Durch die Vereinfachung der Aufgaben seiner auswärtigen Politik ist es
Österreich-Ungarn ermöglicht worden, seine Aufmerksamkeit ganz der orien¬
talischen Frage zu widmen, aber es ist bis heute noch nicht zu einer klaren
Auffassung des Problems gelangt; dieselben Gründe, die es hindern, auf
innerpolitischem Gebiete zu geordneten Verhältnissen zu gelangen, hemmen
seine auswärtige, vor allem seine orientalische Politik. Die gänzlich falsche Be¬
wertung und Behandlung der Nationalitütenfrage hat im Innern des Reichs
anarchische Zustände gezeitigt, seiner orientalischen Politik aber die werbende
Kraft genommen und sie zu einer Politik fatalistischen Hindämmerns gemacht,
die von der Hand in den Mund lebt. — Betrachten wir zunächst die Natio-
nalitütenverhältnisse an der save, dem südlichen Grenzflusse der Monarchie,
so finden wir, daß die ganze Ostküste der Adria von Trieft bis zum Skntarisee
landeinwärts bis über die Dran im Norden und an die rumänisch-bulgarische
Grenze im Osten von dem serbokroatischen Volksstamm besiedelt ist, der sich
hauptsächlich konfessionell in die katholischen Kroaten und in die orthodoxen
Serben scheidet. Die Serben bewohnen das Königreich Serbien und das
Fürstentum Montenegro, ferner das türkische Altscrbien, machen die Mehrheit
der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina aus und die Minderheit in
Kroatien, das zum größten Teil von deu Kroaten besetzt ist, die wiederum in
Bosnien in der Minorität sind. Bon den ungefähr vier und ein halb Millionen
Serben lebt mehr als die Hälfte außerhalb des Königreichs Serbien, und es
ist erklärlich, daß ihre Vereinigung zu einem großserbischcn Staate schon seit
langem das Ziel von Bestrebungen ist, denen einerseits von gewissen Parteien
in Serbien, andrerseits von der montenegrinischen Fürstenfamilie gehuldigt
wird. Ebenso wie eine großbulgarische gibt es also auch eine großserbische
Bewegung, zwischen beiden besteht jedoch insofern ein sehr wesentlicher Unter¬
schied, als der großserbische Gedanke nicht auf Kosten der verfallenden Türkei
allein verwirklicht werden kann, sondern auch die Grenzen der österreichisch-
ungarischeu Monarchie durchbricht. Die Einbeziehung aller Serben in das
österreichische Gebiet war deshalb auch seit 1739, wo die Eroberungen des
Prinzen Eugen, nämlich Belgrad und das damalige Serbien, wieder verloren
gegangen waren, lange Zeit ein Ziel der Wiener Politik. In allen Teilungs¬
plänen, die seitdem entworfen wurden, findet sich Serbien bei dem der
Monarchie zugewiesenen Anteil. Aber diese Pläne blieben ans dem Papiere, weil
die Monarchie nicht mehr die Kraft zu militärischen Eroberungen auf der
Balkanhalbinsel hatte. Hätte nicht Josephs des Zweiten mindestens verspäteter
Versuch, die Völker Österreichs zu einen? unterschiedslosen österreichischen Brei
zusammenzustampfen, in so nachhaltiger Weise die Politik seiner Nachfolger
beeinflußt, dann wäre in Wien vielleicht der Gedanke aufgetaucht, mit Hilfe
einer klugen Nationalitätenpolitik zu erreichen, was den österreichischen Waffen
versagt blieb. Davon war man aber in Wien weit entfernt. Der ursprüng¬
lich revolutionäre Charakter der NationalitKtenbewegnng veranlaßte, das; die
österreichischen Staatsmänner in ihr nur etwas Zerstörendes sahen; man ahnte
nicht, daß sie auch eine positive Seite habe, und daß gerade die aufmerksame
Pflege ihrer positiven Kräfte sie, zumal in einem Polyglotten Staate, zu einer
stantserhaltenden Macht machen würde, während der Versuch, sie zu unter-
drücken, ihre zerstörende Kraft ins Unendliche steigern müsse. So ließ man
sich in Wien nach dem Jahre 1848 verleiten, neuerdings zu versuchen, was
schon Joseph dem Zweiten mißlungen war: mit Hilfe des Absolutismus und
auf streng zentralistischer Grundlage ein einheitliches Österreich zu schaffen. —
Das Verhältnis des magyarischen Volksstamms zum Reich und zur Dynastie
bedürfte uach den Ereignissen der Jahre 1848/49 zweifellos einer Neuregelung,
aber es war eine Torheit des borniertesten Josephinismus, einem Volke mit
einer tausendjährigen Geschichte und einer jahrhundertealten Verfassung diese
mit einem Federstriche nehmen zu wollen. Wenn man sich aber dessen schon
vermaß, dann Hütte doch schon die einfachste Überlegung dazu führen müssen,
daß mau dabei der Unterstützung der Südslawen nicht entbehren konnte, deren
man sich schon zur Bekämpfung des Aufstandes von 1848 in Ungarn bedient
hatte. Man tat es nicht, und diese souveräne Nichtbeachtung der im Staate
lebendig gewordnen nationalen Kräfte hatte Wirkungen, die eine bekannte
Anekdote sehr anschaulich schildert. In den fünfziger Jahren treffen sich zwei
alte Bekannte, ein Magyar und ein Kroäk. Beide stimme» darin überein,
daß die Zeiten schlecht geworden seien, und schließlich bemerkt der Magyar
nach lungern Nachdenken: „Jo waißt du, lieber Bruder: ihr hohe vis Be¬
lohnung bekommen, wos wir vis Bestrofung erholten hoben!" — Die Wiener
Politik hatte die Magyaren in einen verzweifelten Kampf gejagt, die Süd¬
slawen aber empfinden lassen, daß es gefährlich sei, sich den Dank des Hauses
Habsburg zu verdienen. Magyaren und Südslawen wurden über einen Kamm
geschoren, und die Gelegenheit, die das Jahr 1849 und der Krimkrieg boten:
die zwei Millionen Serbokroaten der Monarchie zum Kernpunkt einer Organi¬
sation aller Südslawen zu machen, glücklich versäumt. Das absolutistisch-
zentralistische Abenteuer endete, wie es enden mußte, mit dem vollständigen
Siege des Magynrentnms als des politisch stärksten Volksstamms jenseits der
Leitha. Die Niederlage, die damit die Wiener Politik erlitt, beschränkte sich
jedoch nicht auf das innerpolitische Gebiet, sondern schwächte auch die Macht¬
stellung der Monarchie im Orient.
Die dualistische Verfassung der Monarchie von 1867 ist magyarischen
Ursprungs. Ihr Schöpfer ging von dem Gedanken aus, die Länder der
ungarischen Krone unter der Gewalt des Pester Reichstages straff zusammen¬
zufassen, durch eine künstliche Wahlordnung die Nichtmagyaren von diesem
Reichstage nahezu auszuschließen, zugleich aber auch alle ihre vorhnndnen
Verbindungen mit der Krone zu durchschneiden. So glaubte man die politische
und die nationale Herrschaft des Magyarentnms, also der Minorität über die
nichtmagyarische Mehrheit dauernd sichern und im Laufe der Zeit diese Mehr¬
heit auch magyarisieren zu können. Theoretisch wäre gegen ein solches Ver¬
fahren nichts einzuwenden gewesen. Auch eine Lösung der südslawischen Frage
ließe sich auf diesem Wege denken; praktisch kam es aber darauf an, ob das
Magyareutum fähig sei, diesen Prozeß durchzuführen und sich mit den Nicht¬
magyaren Ungarns zu eiuer kraftvollen Einheit zu verschmelzen; und das war
es nicht. Eine geradezu einzige einseitige politische Entwicklung des magyarischen
Stammes hat ihn mit ganz hervorragenden politischen Fähigkeiten ausgestattet,
nur die eine Gabe blieb ihm versagt, auf die ihn umgebenden fremden Volks¬
stämme politisch oder national anziehend zu wirken. Der magyarische Staats-
gedanke gewann keine werbende Kraft; nur soweit die unmittelbare Gewalt
des Staates reicht, findet er bei den Nichtmagyaren Anerkennung, bleibt aber
für ihre Gesamtheit ein drückendes, verhaßtes Joch. — Fürst Bismarck hatte
nach dem Jahre 1866 der Monarchie den wohlgemeinten Rat gegeben, ihren
Schwerpunkt nach Pest zu verlegen. Die Magyaren haben sich das wohl
gemerkt; sie beanspruchen, seitdem die Entwicklung der Monarchie nach dem
Norden und dem Westen hin abgeschlossen war, die Führung im Staat, aber
sie haben bis heute nicht begriffen, daß eine solche Führung nicht nur Rechte
sondern auch Pflichte» auferlegt, und daß die Verlegung des Schwerpunkts
der Monarchie nach Pest das Reich nur dann nicht aus dem Gleichgewicht
bringen wird, wenn das Magyarentum imstande und gewillt ist, eine Politik
zu machen, die den natürlichen Bedürfnissen der Monarchie im Südosten gerecht
wird. Dafür ist man aber in Pest nicht zu haben, denn das Magyarentum
wähnt zwar noch, imstande zu sein, die ungnrlündischen Nichtmagyaren zu
verdauen, fühlt aber doch zu sehr seine Ohnmacht, als daß es an die Assi-
milierung aller Südslawen dächte. Eine sehr interessante Erscheinung ist in
dieser Beziehung ein kürzlich erschienenes Buch: „Großuugarn." Der ungarische
Schriftsteller Hoitsy spricht da mit schwungvoller Begeisterung von dem Beruf
des Magyarentums, die Valkanslawen politisch zu organisieren und zu einem
Großungarn zusammenzufassen, das, von der Adria bis zum Schwarzen Meere
reichend, dem magyarischen Volk eine bedeutende Zukunft sichern würde.
Gewiß viel Phantasie, in der aber auch ein guter politischer Kern steckt, den
der echte Magyar allerdings nicht sieht. Hoitsy selbst ist ja keiner, sondern
ein magyarisierter Slowak, und das erklärt es, daß er sich über den be¬
schränkten Horizont des isolierten und isoliert bleiben wollenden Mngyaren-
tnms zu einem höhern politischen Gedanken hat erheben können. Schließlich
ist den Magyaren daraus kein allzuschwerer Vorwurf zu macheu; der Fehler
ihrer Politik liegt in der Täuschung über die Grenzen der eignen Kraft, in
ihrer törichten Beschränkung auf die Interessen der eignen Vvlksindividualität,
die — was man in Pest allerdings übersieht — der Vernichtung anheim¬
fallen muß, wenn sich einmal der Nahmen der Monarchie löst. Aber in
Wien Hütte man ein besseres Urteil haben können; hier hätte man erkennen
sollen, daß in dem Augenblicke, wo sich das Magyarentum als zu schwach
erweist, die Stämme Ungarns zu einer politischen uno nationalen Indi¬
vidualität zusammenzuschmieden, die darauf zielende Politik den Staat ge¬
fährden müsse. Aber weil die Magyaren den absolutistischen Zentralismus
besiegt hatten, glaubte man, daß sie anch mit ihren nichtmagyarischen Landes-
geuosseu fertig werden würden, indem man ganz vergaß, daß derselbe natio¬
nale Gedanke, der das Magyarentum zum Widerstand gegen die Politik
nach 1849 befähigt hatte, auch den Sndslawen, Slowaken, Rumänen und
Deutschen Ungarns den Nacken steifen lind die Arme stählen würde gegen die
Magyaren.
Durch die dualistische Verfcissuug begab mau sich in Wien jedes Ein-
flusses auf die innere Gestaltung der Dinge in Ungarn und lieferte damit
die für die Machtstellung der Monarchie so bedeutsame südslawische Frage
dem Magyarentum aus, das sie durch seiue seit 1868 befolgte Politik uicht
einer gedeihlichen, sondern einer für den Gesamtstaat kritischen Lösung näher¬
gebracht hat, — Es ist bekannt, wie sehr man sich in Pest gegen die Okku¬
pation Bosniens und der Herzegowina sträubte, und alljährlich kann man in
der ungarischen Delegation das «Hötsrunr osnsso des beschränkten Magharen-
tums hören, daß die Monarchie auf der Balkanhalbinsel nichts zu suchen
habe; wann immer matt in Wien den Versuch machte, tütig in die Entwicklung
der Dinge im Orient einzugreifen, immer trat man seit Andrassy von Pest
aus hindernd dazwischen in der Überzeugung, daß eine tätige Orientvolitik
der Monarchie verworfen werden müsse, weil sie nicht anders als südslawisch
sein könne, dadurch aber die Stellung des Magyarentums gegenüber den
ungarländischcn Südslawen ungünstig beeinflußt werden würde. Indem die
Pester Politik so jede Machtentfaltung der Monarchie in der orientalischen
Frage verhindert, lockert sie aber zugleich dnrch ihre brutalen, gewalttätige»
Magyarisiernngsbestrebungen den Zusammenhang der der Monarchie ange¬
hörenden Südslawen mit dieser und bereitet dadurch die Lösung der süd¬
slawischen Frage außerhalb des Nahmens der Monarchie vor.
Das Zusammentreffen der blutigen Unruhen in Kroatien, dieser natür¬
lichen Wirkung magyarischer Verwaltung, und der letzten Belgrader Palast¬
revolution mag zufällig sein, aber die dabei erfolgte Annäherung zwischen den
einander sonst so feindlichen Serben und Kroaten, sowie der Umstand, daß
bei dem serbischen Thronwechsel großserbische Unterströmungen mittütig waren,
sind eine ernste Mahnung für die Staatsmänner Österreich-Ungarns, daß die
Monarchie mit der bisherigen armseligen orientalischen Politik, die sich auf
ein paar tausend katholische Albanesen stützen zu können vermeint, in schlechter
Kopierung der russischen Politik Bosnien mit Hilfe einer katholischen Pro¬
paganda österreichisch machen will und die Lösung der südslawischen Frage
darin gefunden zu haben glaubt, daß sie Serben und Kroaten gegeneinander
ausspielt, wirkliche dauernde Erfolge nicht erzielen kann.
Leider ist man in Österreich-Ungarn von jeher gewöhnt, die Ursachen
mangelnder Erfolge nicht so sehr in der eignen Politik als in der andrer zu
suche», und darum stößt man auch nicht selten auf die Meinung, daß Deutsch-
land an der wenig erfreulichen Entwicklung der Dinge an der Südoftgrenze
der Monarchie schuld, und das deutsch-österreichische Bündnis ein leoninischer
Vertrag sei, weil es Österreich gar nichts biete, nicht einmal eine Bürgschaft
seiner Machtstellung im Orient. In tschechischen Blättern bildet diese „patrio¬
tische" Klage eine stehende Rubrik, in der österreichischen lind neustens auch
in der ungarischen Delegation hat sie sich eingebürgert, und es ist sehr zu be¬
dauern, daß man sich an verantwortlicher Stelle bisher nicht die Mühe ge¬
nommen hat, an der Hand der historischen Entwicklung der orientalischen
Frage das Ungereimte dieser Angriffe auf das deutsch-österreichische Bündnis
nachzuweisen.
Zunächst wird um, die Frage beantworten müssen, ob Deutschland über-
Haupt um der orientalischen Frage interessiert ist, und ob, wenn das der Fall
ist, sein Interesse sich mit dem Österreich-Ungarns deckt. Von den Gegnern
des deutsch-österreichischen Bündnisses wird gewöhnlich Bismarcks Wort von
den Knochen des pommerschen Grenadiers zitiert, jedoch herausgerissen aus
dem ganzen Zusammenhang seiner damaligen Rede. In der Tat hat Bis-
mnrck nie behauptet, daß es Deutschland völlig gleichgiltig sei, was da drunten
tief in der Türkei vorgehe, sondern nur erklärt, daß die konfessionellen Fragen
im Orient, die Interessen der „christlichen Brüder" auf der Balkanhnlbinsel
für Deutschland keine Sache seien, auch nur die Knochen eines pommerschen
Grenadiers darau zu setzen. Nicht gleichgiltig ist aber Deutschland die Ent¬
wicklung der Beziehungen der an der orientalischen Frage beteiligten Gro߬
mächte zu dem Auflösungsprozeß des türkischen Reiches. Wenn auch nur
mittelbar, nimmt es daran dasselbe Interesse, das schon im achtzehnten Jahr¬
hundert Friedrich deu Großen veranlaßte, das wachsende Übergewicht Ru߬
lands schwer zu empfinden, das Kaunitz veranlaßte, nach einer Einigung
aller Deutschen zu seufzen, und Felix Schwarzenberg von einem mitteleuro¬
päischen Siebzigmillionenreich zu träumen, das stark genug wäre, die beideu
großen revolutionären Mächte Europas, Frankreich und Rußland, in Schach
zu halten. Ans diesem, Deutschland und Österreich-Ungarn gemeinsamen
Interesse ist schließlich das deutsch-österreichische Bündnis erwachsen, das das
seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges erschütterte europäische Gleich¬
gewicht wiederhergestellt hat, und dessen Grundlage die Sicherung des großen
strategischen Dreiecks zwischen der Elbmündung, der Adrici und den Donau-
mündungen ist. Diese Basis fortgesetzt zu verstärken liegt im eignen Vorteil
Deutschlands, und deshalb ist es eine Torheit, zu glauben, Deutschland er¬
schwere Österreich-Ungarn die Wahrnehmung seiner Interessen im Orient.
Niemals konnte allerdings die Erweiterung der Machtstellung Österreich-
Ungarns im Südosten selbst der Gegenstand des deutsch-österreichischen Bünd¬
nisses sein, weil es seiner ganzen Natur nach ein Defensivbündnis war. Ebenso
wie der größte österreichische Staatsmann der letzten Jahrhunderte, Leopold
der Zweite, den mit Preußen geschlossenen Berliner Vertrag, der das euro¬
päische Gleichgewicht wieder herstellen sollte, nur als ein rein defensives
Bündnis auffaßte, und wie dieses in dein Augenblicke zerfiel, wo Preußen dein
Vertrag eine aggressive Absicht unterschob, so konnte der von Bismarck und
Andrassy gewallte Zweck des deutsch-österreichischen Bündnisses nur dann erreicht
werden, wenn es den Charakter eines reinen Verteidigungsbündnisses erhielt
und bewahrte. Ein Verzicht Österreich-Ungarns auf die Wahrnehmung seiner
orientalischen Interessen war damit keinswegs ausgesprochen, sondern die
Orientpolitik der Monarchie nur ans den viel aussichtsvollern Weg moralisch-
politischer Eroberungen verwiesen, deu sie umso eher hätte betreten können, als
das deutsch-österreichische Bündnis Rußland zwang, im Orient die Waffen aus
der Hand zu legen.
Woher es kam, daß Österreich-Ungarn diesen Weg friedlicher Eroberungen
nicht betrat, ist schon vorher erläutert lvorden; daß es so kam, ist jedoch nicht
die Schuld Deutschlands, das es im Gegenteil tief bedauern muß, daß die
innerpolitischc Entwicklung Österreich-Ungarns die Machtmittel seiner orien¬
talischen Politik verringert hat und noch immer mehr verringert. Das mittel¬
bare Interesse Deutschlands und das unmittelbare Österreich-Ungarns an der
orientalischen Frage decken einander vollständig, und wenn heute Deutschland
selbst immer mehr in die Stellung eines unmittelbaren Interessenten einrückt,
indem Millionen deutschen Kapitals in weitausgreifenden Unternehmungen auf
türkischem Boden angelegt werden, so ergibt sich daraus kein Gegensatz zwischen
Wien und Berlin, sondern im Gegenteil eine Verstärkung der Interessen¬
gemeinschaft. Allerdings haben Neid und Mißgunst auch daraus eine Anklage
gegen Deutschland geschmiedet und ihm einen Eingriff in das Interessengebiet
der Monarchie vorgeworfen, und das Gerücht wußte auch vou Friktionen
zwischen den Botschaftern beider Staaten in Konstantinopel, Herrn von Caliee
und Freiherrn von Marschall, zu erzählen; aber nur subalterne Geister eiuer
sich in die Zeit vor 1848 verlierenden Diplomatie können es Deutschland meiden,
daß es in Kleinasien eine Kulturmission übernommen hat, zu deren Erfüllung
Österreich-Ungarn die finanziellen Mittel fehlen. Wäre es der Wiener Politik
vielleicht zuträglicher, wenn Rußland, Frankreich oder England die Führung
des Baus der Bagdadbahn übernahmen? Nur die letzten Rückstände der
Verbitterung über die Lösung der deutschen Frage können in gewissen öster¬
reichischen Kreisen eine solche Mißgunst erzeugen, die nicht nur kleinlich, sondern
auch unpolitisch ist, weil die heutige Machtstellung Österreich-Ungarns gerade
ans dem Ergebnisse dieses Kampfes beruht, und erst die Lösung der deutschen
Frage ein aufrichtiges politisches Zusammenwirken Österreich-Ungarns und
Preußens ermöglicht hat. Eine gefährliche Täuschung ist es deshalb auch,
wenn gewisse Kreise in Österreich zu einem Aufgeben des Bündnisses mit
Deutschland und zu dem Abschlüsse eines solchen mit Nußland raten, da doch
das österreichisch-russische Abkommen vom Jahre 1897 die Möglichkeit einer
solchen Kombination beweise. Übersehen diese klugen Thebaner wirklich, daß
das Abkommen von 1897 nur eine Frucht des deutsch-österreichischen Bünd¬
nisses ist, daß Rußland sich nie zu einer solchen Annäherung an Österreich-
Ungarn verstanden Hütte, wenn nicht durch das deutsch-österreichische Bündnis
Österreich-Ungarn eine Nußland gleichwertige Stellung in der orientalischen
Frage gesichert worden wäre? Ein österreichisch-russisches Bündnis bei der
Auflösung des deutsch-österreichischen würde notwendig einen aggressiven
Charakter haben, genau wie das zwischen Katharina der Zweiten und Joseph
dem Zweiten geschlossene. Es würde aber auch die verderblichsten Folgen
für Österreich-Ungarn und für Europa zeitigen. Durch die Auflösung des
deutsch-österreichischen Bündnisses würde Rußland wiederum freie Hand in der
orientalischen Frage bekommen und Österreich-Ungarn mit sich auf die Bahn
einer revolutionären Politik reißen, dnrch die man in Petersburg noch einmal
und vielleicht mit Erfolg den Versuch machen könnte, mit Hilfe Österreich-
Ungarns über Rumänien und Bulgarin? hinweg die Hand nach dem Goldner
Horn auszustrecken. Österreich-Ungarn würde wohl seinen Anteil an der Beute
erhalten, aber es wäre der Gefangne Rußlands, das, wenn es einmal in
Konstantinopel säße, auf die Südslawen einen viel gewaltigern Einfluß als
heute ausüben könnte und auch uicht zögern würde, durch ihn zu verhindern,
daß Österreich-Ungarn seiner Eroberungen froh würde.
Wahrscheinlich ist indessen eine solche Entwicklung der Dinge nicht, der
gesunde Menschenverstand und die Erfahrungen, die Österreich-Ungarn auf
dem Gebiet seiner Beziehungen zu Rußland so reichlich sammeln konnte, sprechen zu
sehr dagegen. Die dunkelste Partie in dem gegenwärtigen Bilde der orientalischen
Frage liegt denn auch Wohl nicht in dieser Möglichkeit, sondern dort, wo die
großserbischen Bestrebungen des politisch noch wenig leistungsfähigen Serben-
tums mit den natürlichen Ansprüchen und Existenzbedingungen Österreich-
Ungarns zusammenstoßen, ohne daß dieses infolge seiner inuerpolitischen Ent¬
wicklung imstande wäre, seine Machtstellung zu wahren, geschweige denn zu
erweitern. Der unbefriedigende Zustand der Dinge in Bosnien, wo die öster¬
reichische Verwaltung es zick- und planlos versucht, abwechselnd durch Be¬
günstigung der Mohammedaner, der Serben und der Kroaten das Land um die
Monarchie anzuschließen, sowie die traurige Entwicklung der Dinge in Serbien,
wo der politisch durchaus nicht unbedeutende Milan sich vernntztc, Alexander
seine Kindereien treiben konnte, und der russische Einfluß heute noch sich weit
stetiger und kräftiger äußert als im Osten der Halbinsel, sind untrügliche
Zeichen der politischen Ohnmacht Österreich-Ungarns, die eben darauf beruht,
daß es uicht die Fähigkeit hat, sich durch eine großzügige südslawische Politik
zum Schutzherrn der Südslawen im Westen des Balkans aufzuwerfen. Die
dadurch geschaffne Lage erscheint aber in noch weit düsterer Färbung, wenn
man beobachtet, wie das Magharentum, statt seine unzweifelhaften politischen
Fähigkeiten an die Lösung der Orientfrage im Sinne westlicher Kultur,
wozu es geographisch besonders berufen wäre, zu setzen, sie in einem selbst¬
mörderischen Kampf gegen die Krone und den Gesamtstaat, nämlich gegen
seine einzig sichere Grundlage: die gemeinsame, einheitliche Armee, vergeudet
und damit zur politischen Unfähigkeit der Monarchie, ihre Machstellung und
Existenz im Südosten zu behaupten, auch noch die militärische Unfähigkeit fügt,
der diplomatischen Wahrnehmung ihrer Interessen an diesem gefährdetsten Punkte
den gehörigen Nachdruck zu geben. Eine solche Politik muß schließlich eine
Situation schaffen, wo der Staat, nicht mehr in der Lage, auf friedlichem
Wege seine Stellung zu behaupten, zu den Waffen greift und sie vielleicht
unbrauchbar findet. Diese durch die innerpolitische Entwicklung Österreich-
Ungarns immer näher rückende Möglichkeit, die Möglichkeit, daß der Gärungs¬
prozeß im Habsburgerreich mit dem Zersctzungsprozesse der Türkei zusammen¬
fließe, ist gegenwärtig der kritische Punkt in der Entwicklung der orien¬
talischen Frage. Ihr Schwerpunkt liegt heute nicht so sehr in Konstantinopel,
als vielmehr in Pest, dort werden die Würfel schon geschüttelt, die über das
Schicksal der Monarchie entscheiden sollen; wenn es aber dem magharischeu
Chauvinismus gelingt, die einheitliche Armee zu zertrümmern und durch die
Nationalisierung der eignen Armee noch mehr Einfluß auf die Wiener Politik
zu gewinnen, dann scheidet Österreich-Ungarn aus aus den Staaten, die be¬
rufen sind, die orientalische Frage zu lösen, denn dann wird sie auf seinem
Boden von andern gelöst werden. Daß die Magharen dann das Opfer ihrer
eigne» Zuchtlosigkeit sein werden, können sie in der polnischen Geschichte nach¬
lesen, die gerade in bezug ans die orientalische Frage sehr beachtenswerte Ana¬
logien mit der Ungarns aufweist.
er Episode mit der Königinhofer Handschrift ist darum aus¬
führlicher gedacht worden, weil sie typisch für die gesamte neu-
literarische Bewegung der Tschechen ist. Ihre leitenden Gedanken
dabei sind der Deutschenhaß und die Sucht, die Rolle einer großen
Nation zu spielen, zu der sie doch nun einmal vom Geschick nicht
bestimmt sind, und zu der sie es auch nie bringen können. Sie hatten wohl die
Größe und die Wirkung der deutschen Literatur und Kunst vor Augen, als sie
eine eigne schaffen wollten, wobei sie ja sehr Anerkennenswertes geleistet haben.
Aber ihr Weg ist ganz unähnlich dem großen Zuge, den einst die deutsche Blüte
der Kunst und der Wissenschaft genommen hat. Es handelt sich um den modernen
Versuch, den die nationale Anspannung des verflossenen Jahrhunderts auch in
andern kleinen Nationen angeregt hat, sich aus Patriotismus, also aus dem
Bedürfnis eines nationalen Fortschritts, eine tendenziöse Literatur großzuziehn.
Was dort die nicht bewußt erreichte Wirkung war, soll hier der Anfang sein.
So dient Kunst und Poesie von vornherein der Politik, sie wird zum großen
Teil künstlich gepflegt und gepriesen, der wissenschaftliche und der künstlerische
Wert der einzelnen Leistungen gilt in vielen Fällen geringer als der politische
Zweck. Die Wirkung, die zum Teil vorausgenommen wird, kann nicht dieselbe
sein, wie dort, anch kann die größte Regsamkeit, sogar der angespannteste Fana¬
tismus einer kleinen Nation höchstens vorübergehend leisten, was der großen
bei ungestörter Entwicklung aus der innern Fülle von selbst kam. Wohl kann
in den äußern Erscheinungen durch unverdrossene Selbstaufopfrnng manches
erreicht werden, was die eignen Kreise und auch näherstehende, vielleicht den
kleinmütigen Gegner sogar täuscht, aber die Treibhauspflanze wird nie die
wahre Volkskraft der Natur erreichen, nicht weiter fruchtbringende Samen
tragen. Es nützt ihnen nichts, die große Weltbrücke leugnen zu wollen, auf
denen allen Slawen die Weltsprache des Mittelalters, das Latein, der Glaube
des gekreuzigten Christus, alle Wissenschaft, Verkehrsrecht und Kriegführung,
Landwirtschaft und Bergbau, Kunst und Handwerk aus deutschen Landen zu¬
gegangen ist, und dafür kleine slawische Stege zu zimmern, über die das alles
gegangen sein soll. Mit Hankas literarischen Betrüge und Palaekys böhmischer
Geschichtschreibung, die arglos dessen vermeintlichen Funde verwertete, begann
das Tschechentum leise die Fahne zu eutfalten. Vorher schien die tschechische
Sprache fast erloschen zu sein, der durchaus tschechisch gesinnte Franz Pelzel, der
1774 das für lange Zeit beste Handbuch der böhmischen Geschichte herausgab,
sagt darin: „Die tschechische Sprache ist jetzt nur unter einem Teile der Bürger-
schaft, unter dem Pöbel und unter den Ackerslenten im Gange," und in einer Ab¬
handlung der Gesellschaft der Wissenschaften: „Die tschechische Sprache wird
allmählich aus dem Laude verschwinden, und Böhmen das Schicksal von Meißen,
Brandenburg oder Schlesien teilen, und von der tschechischen Sprache nichts
als die Namen der Städte, Dörfer, Flüsse übrig bleiben." Tatsächlich war
noch in den vierziger Jahren das ganze Königreich Böhmen nahezu vollständig
deutsch, und es gab dort auch keinen nur halbwegs gebildeten Bewohner, der
sich nicht vorzugsweise der deutscheu Sprache bedient Hütte. Tschechisch wurde
nnr in entlegnen Ortschaften in einem verkommnen Idiom gesprochen. Vor
dem Jahre 1840 konnten auch auf dem Lande die alten Leute uoch alle deutsch
sprechen, die jungen schon weniger, auf den Kirchhöfen wurden bis dahin nur
deutsche Inschriften angebracht, tschechische tauchen erst nach diesem Zeit¬
punkte auf.
So war bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts das tschechische
Nationalgefühl nur ein unter der Asche glimmendes Fünkchen, das dann,
künstlich angeblasen, im Jahre 184-8 zu einer verzehrenden Flamme aufloderte.
Nach dem Slawenkongrcß wurde die tschechische Partei, die im Grunde dem
Kaiserhause noch ergeben war, von eingedrungnen Anarchisten zum Aufstand
getrieben, verlangte am 10. Juni die Entfernung des Fürsten von Windischgrätz
von dem Kommando in Prag und schritt zwei Tage darauf zur Revolution.
Der Fürst eilte auf die mit Barrikaden bedeckte Straße, man feuerte auf ihn
und erschoß seine ihm aus dem Fenster nachschauende Gemahlin, aber er verlor
seine soldatische Ruhe nicht, schlug die Insurgenten überall zurück und machte
zwei Tage darauf vom Hradschin aus durch Androhung des Bombardements
dem Aufruhr in der Stadt ein definitives Ende. Es war ein Glück für die
Tschechen, daß Fürst Windischgrätz zugleich auch böhmischer Großgrundbesitzer
war, denn obgleich ihm der Kampf sehr teuer zu stehn gekommen war — auch
einer seiner Söhne war tödlich verwundet worden —, verfuhr er doch sehr
glimpflich und nahm sogar seinen Hauptgegner Palacky in Schuh.
Woher das plötzliche Aufflammen des tschechischen Nationalismus gekommen
war, erschien sogar den deutschen Freunden der Tschechen ziemlich unerklärlich.
Man kann aus den Lebenserinnerungen von Alfred Meißner ersehen, wie die
Deutschen in Prag, wie auch Meißner selbst, vorher ganz naiv die tschechischen
Nationalhelden mitgefeiert hatten und eines schönen Tags ganz überrascht
waren, plötzlich in Leuten, mit denen sie jahrelang freundschaftlich verkehrt
hatten, erbitterte Feinde zu sehen. Es ist ja der alte Fehler des deutschen
Liberalismus gewesen, daß er immer einen kosmopolitischen Anstrich hatte,
und daß bei ihm die nationale Ader zu wenig entwickelt war. In dem Wahne
befangen, der auch trotz der lehrreichen Erfahrungen des letzten halben Jahr¬
hunderts noch nicht ganz geschwunden ist, daß eine „freie" Staatsform alle
Völkerschaften friedlich und glücklich machen müsse, übersah man ganz, daß die
scheinbar verwandten Bestrebungen der benachbarten Bolksstämme ein aus¬
gesprochen deutschfeindliches Gesicht hatten. Man half liebevoll den Tschechen
ihre Nationalhelden, die alle Feinde der Deutschen gewesen waren, aus dem
Schütte der Geschichte ausgraben und zu großen weltgeschichtlichen Persönlich-
leiten aufputzen; Anastasius Grün dichtete slowenische Lieder, und daß man
alle polnischen Revolutionäre — nicht bloß die für ihr erträumtes Glück starben,
sondern auch die gewerbetreibenden — über die Maßen feierte, gehörte zum
stehenden Repertoire des Liberalismus. Daß der preußische Verfassungskonflikt
darum so erbittert wurde, weil Bismarck nicht dazu zu bringen war, den pol¬
nischen Aufstand zu unterstützen, ist noch in aller Erinnerung. Nun, heute
hat man die Bescherung.
Also, die Tschechen waren seit 1848 wieder da und sahen gar nicht danach
aus, als ob sie bald wieder in ihr früheres Nichts zurücksinken würden. Es
geschah ihnen auch nichts, denn Österreich hatte in Ungarn und Italien schwer
um seinen Bestand zu kämpfen und mußte froh sein, daß sie wieder eine loyale
Miene annahmen und den Kremsierer Reichstag beschickten. In dem Verfassungs¬
ausschuß, worin dort die österreichischen Völker zum erstenmal einander gegen¬
übertraten, erhob sich sofort der Streit um den historisch gewordnen Landes¬
verband und um die nach der ethnischen Siedelung abgegrenzten Provinzen mit
der Zweiteilung von Böhmen, Steiermark, Galizien und Tirol. Damals waren
die Tschechen noch bescheiden und traten für die nationale Abgrenzung der Pro¬
vinzen und die Zweiteilung ein, die Deutschen blieben bei der historischen Pro-
vinzialeinteilung des Staates. So waren die Deutschen gewissermaßen die Vor¬
kämpfer des historischen Stantsrechts, Palaeky und Rieger waren dagegen die
Wortführer des Rechts der Nationalitäten auf ein eignes nahezu staatliches
Dasein. Auch das Kurienwesen wurde zuerst von den Tschechen vertreten. In
dem heute vergessenen Kremsierer Verfassungsentwurf wurde schließlich ein Kom¬
promiß zwischen der ethnischen und der historischen Richtung von allen Nationen
einstimmig eingenommen, der dahin ging, daß die historische Provinzialcinteiluug
beibehalten werden solle, doch die großen Provinzen in mehrere möglichst national
gesonderte Kreise zu teilen seien, denen eine nahezu provinzielle Selbstverwaltung
gewährt werden sollte.
Der Kremsierer Reichstag und sein Werk verschwanden bei der herein¬
brechenden Reaktion spurlos, aber es mutet heute, nachdem mancherlei Ver-
fassnngsexperimente, Dualismus und Parlameutswirreu über Österreich hin¬
gerauscht sind, sonderbar an, daß genau dieselben Fragen der Länderautonvmie,
nationaler Zweiteilung, Kurier ?e. wieder zum Brennpunkt der innern Friedens¬
bestrebungen geworden sind wie damals, als die Völker Österreichs zum ersten¬
mal berufen worden waren, ihre Meinung über die zukünftige Gestaltung des
Staates zu äußern. Aber damals vertraten die Tschechen die Zweiteilung und
das Kurienwesen, heute tut das die Mehrzahl der Deutschen, und es ist keines¬
wegs eine Inkonsequenz in der Auffassung der österreichischen Politik oder
mangelnde Voraussicht bei den Deutschösterreichern, wenn jetzt der Standpunkt
zwischen ihnen und den Tschechen vollkommen gewechselt erscheint, man hat
einfach eine Folge des geänderten Machtgefühls vor sich. Damals fühlten sich
die Tschechen schwach, heute ist deu Deutschösterreichcrn, gerade je mehr sie sich
in ihren lautesten Schreiern mit ihren Vorfahren, die Österreich gründeten, und
den Siegern, die „die Wacht am Rhein" wirklich schlugen, gleichstellen möchten,
im Innern das Machtgefühl vollkommen geschwunden. Das Territorialprinzip
ist der Ausdruck der Herrschaft, nicht der Gleichberechtigung, es schafft gerade
die nationalen Minoritäten und vergewaltigt sie, ist also die dauernde Grund¬
lage des Natioimlitätcnkampfcs, die Länder zerreißen die Nationen, und es ist
darum kein Wunder, daß die Nationen die Länder zerreißen Wollen, Anhänger
der Lünderciutouomic sind darum auch nur die Nationen in Österreich, die die
Macht im Kronland in der Hand oder die Überzeugung im Herzen haben, daß
sie die Minorität unterdrücken und ihres Volkstums entkleiden werden.
Wie den Deutschösterreichern, und mit ihnen für unsre besondre Betrachtung
den Deutschböhmen, das Machtgefühl abhanden kam, soll in kurzen Zügen gezeigt
werden. Die Ursachen ergaben sich teils aus der äußern, teils aus der innern
Politik der Monarchie, Das ans ängstlicher Zurückhaltung aller Regungen der
Volksseele berechnete Metternichsche Verfahren der innern Politik brach 1848
zusammen, das der äußern in den nächsten achtzehn Jahren. Der Gedanke,
als Reich der Westslawen ein Gegengewicht gegen das ostslawische Rußland zu
bilden, ein Protektorat als Präsident des Deutschen Bundes über Deutschland
direkt und über Italien durch verwandte Fürstenhäuser und den Papst indirekt
auszuüben, war an sich großartig und schien ^die Möglichkeit der Entwicklung
nach drei Richtungen zu gewähren, konnte aber nur durch äußerste Entfnltuug
und Anspannung der eignen Kräfte nutzbar gemacht werden. Da diese ausblieb,
mußte das großgedachte Programm einen rein defensiven Charakter erhalten
und konnte, wie alle rein defensiven Stellungen, nur zu Verlusten führen. Der
erste trat 1859 in Italien ein, worauf eine Politik eingeschlagen wurde, die
darauf hinauslief, sich durch die Wiedergewinnung der ausschlaggebenden Stellung
in Deutschland schadlos zu halten. Die Frage schien sehr günstig zu liegen,
die Unzufriedenheit mit den deutschen Vundesverhältnissen war allgemein, alle
Welt hube» und drüben war darin einig, die preußische Regierung zu hassen
und Preußen zu verachten und zu unterschätzen. Alles ging ganz gut bis zum
Fürstentage in Frankfurt, auf dem Kaiser Franz Joseph geradezu gefeiert wurde,
aber Einer fehlte, und das war der König von Preußen. Die Fürsten der
Mittel- und der Kleinstaaten zeigten auch nicht die geringste Neigung, von ihrer
Souveränität, bei der sie sich ganz gut standen, das geringste für das Kaisertum
zu opfern. So ging es auf diesem Wege nicht, und man unternahm mit Preußen
und ohne den Deutschen Bund den Feldzug gegen Dänemark, der Schleswig-
Holstein befreite, aber schließlich zur Auflösung des Deutschen Bundes führen
mußte, wobei zunächst Bismarcks überlegne Staatskunst alle diplomatischen Vor¬
teile und dann das geschmähte Volk in Waffen, die preußische Armee, auch
alle militärischen Erfolge für Preußen errang, sodaß Österreich aus Deutschland
ausscheiden mußte. Die Deutschösterreicher hatte» diese deutsche Politik mit
Begeisterung mitgemacht, umsomehr, als zu derselben Zeit der Versuch unter¬
nommen wurde, unter Schmerling eine ganz den Traditionen des deutschen
Liberalismus entsprechende Verfassung durchzuführen! von einer Berücksichtigung
der andern Nationen war weniger die Rede als in Kremsier, man schwamm in
der Hoffnung auf die Beglückung Aller dnrch eine liberale Verfassung. Das
Experiment scheiterte an dem Widerstände der Nationalitäten, und am 27. Juli
1865 schloß Beleredi den Reichstag und sistierte die Verfassung.
Um den Widerstand der Magyaren zu brechen, hielt man es für zweckmäßig,
ihrem Pochen auf die ungarische Verfassung, die durch die Revolution nicht
verwirkt sei, das von Palacky nen erfundne böhmische Staatsrecht, das durch
die Schlacht am Weißen Berge ebenfalls nicht erloschen sei, gegenüberzustellen.
Beleredi teilte übrigens vollkommen die politischen Anschauungen der Tschechen,
und wenn man in Betracht zieht, daß seine Berufung an die Spitze des Mini¬
steriums in die entscheidungsvolle Zeit füllt, wo die kriegerische Allseinander¬
setzung mit Preußen drohte, die erst durch deu Gasteiner Vertrag (16. August)
auf ein Jahr vertagt wurde, so fällt noch ein andres Licht auf die unver¬
mittelte Heranziehung der Tschechen. Es bestand noch 1866 die Absicht, Schlesien
wieder voll Preußen abzureißen, und da Schlesien früher zu Böhmen gehört
hatte, so tauchte das Phantom der heiligen Wenzelskrvne aus den Träumereien
der Tschechen plötzlich an das Licht hervor, das einen Anspruch des Königs
von Böhmen an Schlesien begründen sollte. Diese erste offizielle Billigung, wenn
nicht Anerkennung der tschechischen Bestrebungen ist von verhänglnsvollen Folgen
für die hnbsburgische Monarchie gewesen, denn seit dieser Zeit haben die Tschechen
eine amtliche Beglaubigung für ihr „Staatsrecht," und es hängt bloß noch von
den Umständen ub, ob sie auch die Macht erreichen, es durchzusetzen. Daß
Belercdi den Tschechen schmeichelte nud die Deutschen vernachlässigte, verstand
sich von selbst. Schon am 18. Januar 1866 erließ er eine Sprachenverordnuug,
die die deutschen Kinder in Böhmen zwang, Tschechisch in den Schulen zu lernen,
an der Universität Prag sollte nicht mehr bloß Deutsch, sondern mich Tschechisch
gelehrt werden, und Rieger stellte darum auch schou am 29. März im Prager
Landtag den Antrag auf vollständige Tschechisierung der Universität. Aber die
ganze neue tschechische Herrlichkeit zerstob bei dein Donner der Kanonen von
Königgrütz. Die Aussicht ans Schlesien war zerronnen, und damit auch der
Zauber der Wenzelskrvne. Man kehrte einfach zum „System Schmerling,"
natürlich mit andern Männern, zurück.
Graf Beust war zum Ministerpräsidenten berufen worden, daß er die Re¬
vanche für 1866 durchführe. Zu diesem Zwecke wurde der Ausgleich mit Ungarn
geschlossen, eine Versöhnung mit den slawischen Nationen im Auge behalten;
durch die Politik des Liberalismus, der Vorurteilslosigkeit sollten die notwendigen
moralischen Sympathien erobert werden. Man betrachtete in der Tat das Hin-
ansdrüngen Österreichs ans Deutschland als eine dauernde Gefahr für den
Bestand der Monarchie. Die Dentschösterreicher empfanden ebenso und fühlten
sich befriedigt, als man ihren Liberalismus gewähren ließ. Auf der alten
Schmerlingschen Grundlage wurden mit Berücksichtigung der Zweiteilung der
Monarchie die neuen Staatsgrundgesetze aufgebaut. Man bezeichnet sie fälsch¬
licherweise als eine zentralistische Verfassung. Das ist sie wohl der äußern
Form uach, aber dazu fehlen ihr die staatsmmmisch klaren Umrisse und jede
Politische Voraussicht; sie ist nichts als die phrasenhafte Übertragung der libe¬
ralen Theorie der vierziger Jahre, nach der alle Welt durch eine freiheitliche
Verfassung von selber glücklich werden müsse, ans die damals bestehenden innern
Politischen und Verwaltliilgsverhültnisse „der im Reichsrate vertretnen König¬
reiche und Länder" mit der deutlich erkennbaren Absicht, die ungemein praktisch
angelegte Verfassung des Norddeutschen Bundes und auch Preußen an Libe¬
ralismus zu übertrumpfen. Das stimmte ganz gut mit der allgemein gehegten
Nevancheidee für 1866. Es möge nur ein Beispiel herangezogen werden.
Der berühmt gewordne Artikel 19 der Staatsgrundgesetze lautet: „Die Gleich¬
berechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schulen, Amt und öffentlichem
Leben ist vom Staate anerkannt." Was ist Gleichberechtigung? Die Gleich¬
berechtigung ist ein rein negativer Grundsatz, der ebensogut gleiche Freiheit wie
gleiche Knechtschaft bedeuten kaun und über die Natur nationaler Rechte gar
nichts sagt. Kann die ruthenische oder die slowenische Sprache mit der deutschen
Welt- und Kultursprache jemals gleichberechtigt sein oder werden? In abseh¬
barer Zeit gewiß nicht. Man vermag sich nur einen Fall wirklich folgerichtiger
Durchführung des § 19 vorzustellen, etwa wenn Rußland Österreich annektierte:
dann würde natürlich Russisch die Staatssprache, und alle in Österreich „landes¬
üblichen Sprachen" würden gleichberechtigt sein.
Die an sich nur wohlmeinenden, aber durchweg in privatrechtlichen An¬
schauungen befangnen Schöpfer solcher Bestimmungen hatten anch in zahlreichen
Fällen das sichere Gefühl, daß die unbestimmten Ausdrücke aus der liberalen
Phraseologie nicht ausreichen würden, und sie versuchten, durch kleine, oft
advokatorische Bestimmungen den Slawen Hindernisse in den Weg zu legen.
Verhängnisvoll ist von diesen Kniffen die Bestimmung geworden, nach der an
Mittelschulen nur eine Landessprache obligater Unterrichtsgegenstand sein soll.
Da man schon Galizien an die Polen ausgeliefert hatte, so waren diese damit
einverstanden, und die Spitze richtete sich allein gegen die Tschechen, denen man
damit die Beamtenkarriere zu erschweren, im übrigen das deutsche Mittelschul¬
wesen zu heben hoffte. Der Zweck wurde ungefähr erreicht, solange sich die
Deutschen in der Regierung erhielten. Aber seit 1879, wo man das letzte
deutsche Ministerium unmöglich gemacht hatte, ist gerade diese Bestimmung eine
der Hauptursachen der tschechischen Beamteneinwcmdrung in deutsche Bezirke
geworden, denn der tschechische Beamte kann Deutsch, wenn auch häufig nur
dürftig, er muß es lernen, wenn er fortkommen will; dann ist er aber auch
übernll verwendbar, während der Deutsche nur in seltnen Fällen Tschechisch kann
und darum nur im ungemischten Sprachgebiet zu gebrauchen ist. Nun ist
unter den Deutschösterreichern die Erkenntnis schon weit verbreitet, daß die
Deutschen zur Erhaltung ihrer Stellung die zweite Landessprache erlernen
müssen, daß man auch in den Geist dieser Sprache eindringen müsse, wenn
man sie richtig erlernen will, daß man sich ihm aber nicht hinzugeben braucht;
aber der Verwirklichung steht gerade die erwähnte Schulgesetzgebung entgegen,
wonach die zweite Landessprache kein obligater Lehrgegenstand ist. So lange
aber die tschechische Sprache an deutschböhmischen Mittelschulen nicht Zwangs¬
fach und Prüfungsgegenstand ist, wird die deutsche Jugend darin immer wenig
leisten, der Nachteil für die deutschen Beamten bleibt also bestehn. Dieselben
Erfahrungen hatten vor dreißig Jahren schon tschechische Städte an ihren Mittel¬
schulen mit dem Deutschen gemacht. Einige wollten damals, daß ihre Schüler
Deutsch lernen sollten, aber sie konnten bei dem deutschen Unterrichtsminister
Stremayr nicht durchsetzen, daß Deutsch bei ihnen obligat würde, weil er es
nach den Bestimmungen des Mittelschulgesetzes nicht bewilligen konnte. Es mag
an diesen Beispielen genug sein.
In dem Beglückungsrausch der Verfassungsära vergaßen die damals fast
allein ausschlaggebenden Deutschen die Bedeutung der nationalen Angelegenheiten
vollkommen, auch an die Sicherung der eignen Nation und Sprache dachten
sie nicht, in ihrem Sinne verstand sich das alles von selbst. Nun liegt ans
der Hand, daß man auch damals nicht direkt damit kommen durfte, etwa an
die Spitze der Staatsgrundgesetze mit Lapidarbuchstaben zu schreiben: Die deutsche
Sprache ist Staatssprache. Das war auch gar uicht nötig, denn noch galt in
dieser Beziehung so vieles als hergebracht und selbstverständlich, was heutzutage
gerade infolge der unbestimmten liberalen Phrasen der Staatsgrundgesetze
mit dem Anschein vollen formalen Rechts streitig geworden ist. Man hätte
aber mit ganz unverfänglichen Bestimmungen, deren zukünftige Abänderung noch
ausdrücklich der Gesetzgebung vorbehalten werden konnte, damals die deutsche
Sprache als oberste Amtssprache und als offizielle Sprache des Parlaments zu
sichern vermocht. Eine Zweidrittelmehrheit zur Abänderung dieser Bestimmungen
im deutschfeindlichen Sinne hätten alle Gegner des Deutschtums niemals zu¬
stande gebracht, während es heute auch dem festesten Willen der stärksten Re¬
gierung unmöglich sein würde, eine Zweidrittelmehrheit zugunsten der deutschen
Sprache zusammenzubringen. Man hätte jedenfalls dem vorbeugen können,
daß heute im Abgeordnetenhause jeder Tschechischradikale oder Krone seine Rede,
um die „verfassungsmäßige Gleichberechtigung" zu wahren, mit einigen slawischen
Sätzen beginnt, um dann in gutem Deutsch vorzubringen, was er eigentlich
sagen will. Mau Hütte ebenfalls vermieden, daß in dem Kuhhandel über die
Amtssprache in Böhmen die ganz nupolitischerweise in den Streit geworfne
Staatssprache mit der tschechischen Amtssprache gewissermaßen ans gleichem Nivean
behandelt wird. Die deutsche Staatssprache ist allerdings eine 'Ehrensache für
die Deutschösterreichcr, aber sie ist zunächst eine Angelegenheit des Staates.
Mag sich doch die Regierung bei den heutigen Kultur- und Verkehrsverhältnissen,
sowie bei den breiten geschlossenen deutschen Sprachgebieten eine andre Staats¬
sprache suchen, wenn sie kann! Es ist aber ein Fehler der Dcutschösterreicher
gewesen, immer dann aus „Prinzip" oder irgend welchem Grunde Forderungen
aufzustellen, wenn sie gerade beim besten Willen nicht durchgesetzt werden konnten,
und banales nicht nur nichts darin zu finden, sich in die Rolle gedemütigter
Schreier versetzt zu sehen, sondern auch wirklich zu schreien, und wenn es der
Mangel an gesellschaftlichen Formen erlaubt, sogar zu schimpfen. Daß solche
Art und Weise ebenfalls zur Vernichtung des Mnchtgcfühls führen muß, liegt
auf der Hand. Der Machtbewnßte arbeitet ruhig, der Ohnmächtige schreit.
In der ganzen sogenannten liberalen Ära betrachteten die Deutschen das
eigne Volkstum höchstens als Vasallen des liberalen Gedankens, nur einmal
schlug das deutsche Nationalgefühl bei ihnen mächtig durch, das war in den
Tagen der Entscheidung und der großen Siege von 1870/71. Da brausten
alle auf, die Überzeugung, daß es sich um einen Existenzkampf des Deutschtums
handelte, beherrschte ganz Deutschösterreich, die Erinnerung an 1860 erlosch
darum, weil das Slawentum ringsum die Revanche jetzt von den Franzosen
ersehnte. Man zitterte, man jubelte endlich mit den Deutschen. Dieser Be¬
wegung gegenüber war eine Teilnahme Österreichs am Kriege unmöglich, um
so mehr, als es den Ungarn nicht einfiel, dafür die erwarteten Opfer zu bringen,
und die Verhandlungen zwischen Österreich, Frankreich und Italien über einen
Koalitionskrieg gegen Preußen, die in den Jahren 1868 und 1869 eifrig be¬
trieben worden waren, infolge der Saumseligkeit des kranken Napoleons, der
vom Ausbruch des Krieges selbst überrascht wurde, seit einem Jahre stockten und
erst dann wieder aufgenommen wurden, als sich die französische Armee schon
auf Metz rückwärts konzentrierte. Die vereitelte Hoffnung in slawischen und
militärischen Kreisen wandte sich gegen die Deutschösterreicher. Hatte schon
Metternich vor dein „Jakobinismus" der preußischen Landwehr Besorgnisse
gehabt, so schien jetzt bei der allgemeinen deutschen Begeisterung, in der sogar
aus Süddeutschland der Ruf mich dem deutscheu Kaiser dringender schallte als
im kühlern Norden, von der deutscheu nationalen Bewegung in Österreich Arges
zu befürchten zu sein. Man beschloß, ihr durch ein Ministerium Hvhenwart
einen Dämpfer aufzusetzen. Dieses Wiederauftnuchen der Beleredischen Idee
mußte eine Episode bleiben, da die damaligen Voraussetzungen endgiltig ge¬
schwunden waren; bemerkenswert bleibt sie bloß durch die Art und Weise, mit
der man wieder die Tschechen benutzte.
Alljährlich wird noch jetzt in tschechischen Kreisen die Erinnerung an den
12. September 1871 begangen, wo das Reskript an den böhmischen Landtag
erging, das „die Rechte des Königreichs Böhmen" anerkennt und worin die
Geneigtheit ausgesprochen wurde, diese Anerkennung dnrch den Krönungseid zu
besiegeln. Auch diese Herrlichkeit dauerte nur sieben Wochen; am 30. Oktober
hatte die Episode Hvhenwart ein Ende, und der böhmische Landtag wurde durch
ein zweites Reskript auf die Reichsverfassung verwiesen. Die Tschechen könnten
daraus, wie ans der Geschichte der ihnen vom Ministerium mit der unglück¬
lichen Hand gewährten Sprachenverordnnngen, die auch wieder zurückgezogen
wurden, etwas lernen. Nach den Erfahrungen, die man seit der Hohenwartschen
Episode inzwischen mit dem Dualismus gemacht hat, ist an eine Sonderstellung
des Königreichs Böhmen oder gar des Reichs der Wenzelskrone nicht mehr zu
denken. Der Berufung auf alte Staatsschriften und Verträge steht die unum-
stößliche Wahrheit gegenüber, daß vieles im privaten wie im politischen Leben
zu Recht bestand, was nicht mehr besteht, ohne daß es durch die Gesetzgebung
ausdrücklich aufgehoben worden ist, und daß überhaupt 275 Jahre, während deren
eine Staatsform nicht mehr allsgeübt wurde, ein hinreichender Grund sind, sie
als überlebt zu betrachte», um so mehr als sie in den Rahmen der Gegenwart, in
die großsiaatliche Entwickümg des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts,
nicht mehr paßt. Der Hinweis auf das mit Ungarn cingegangne Verhältnis
beweist auch nichts, dieses ist eben eine vollendete Tatsache, zu der man in un¬
klaren Zeiten politischer Verwirrung geschritten ist; man hat aber genug daran.
Nach der Episode Hoheuwart trat das deutschliberalc Regime wieder in
Kraft, für das es kein Segen war, daß die Tschechen dem Neichsrat fern
blieben; der Hecht im .Karpfenteiche fehlte. Die große nationale Bewegung
wahrend des deutsch-französischen Krieges hatte die angenehme Empfindung
hinterlassen, daß man doch eigentlich auch zu den Siegern gehöre; soeben erst
hatte Hohenwart verschwinden müssen, außerdem war man im Besitz des großen
Politischen Arkanums, der liberalen Verfassung, die nun nach der großen euro¬
päischen Wendung erst recht die Völker glücklich machen werde. Aber das wollte
gar nicht kommen, und die Entmutigung ergriff zuerst die Führer. Wie sie
dazu kamen, zunächst Galizien vollkommen an die Polen auszuliefern, dann
das eigne Ministerium zu stürzen und sich schließlich in ohnmächtiger Oppo¬
sition in immer mehr Gruppen zu zerspalten, ist schon in frühern Artikeln be¬
sprochen worden. Bemerkenswert ist nur, daß bei alleu diesen nachteiligen
Operationen die Deutschböhmen die Leitung hatten, oder ihre Wünsche und
Ziele maßgebend waren. Auch fast alle reuommistischen Oppositionsvorstöße
unter dem Ministerium Taaffe und dessen Nachfolgern, bei denen die politische
Niederlage mit Sicherheit vorauszusehen war, auch die Obstruktion unter Badeni,
gingen von Deutschböhmen aus; heute steht die Zweiteilung Böhmens wieder
im Vordergründe der deutschen Forderungen, aber in umgekehrter Front wie
auf dem Kremsierer Reichstage. Es sei hier bemerkt, daß diese Zweiteilung
an sich gar nicht zu verwerfen ist, daß sie in irgend einer Gestalt doch einmal
verwirklicht werden muß, wenn sich in den österreichischen Regierungen, die
überhaupt regieren sollen und wollen, eine gewisse Stetigkeit und damit die
Erkenntnis gebildet hat, daß in Österreich eine Verwaltnngsreform, aber weder
der Zentralismus noch der Föderalismus, die bitterste und größte Notwendigkeit
ist. Die veraltete Ländereinteilung ist in unsern Tagen eine mittelalterliche
Ungeheuerlichkeit, die in allen modernen Staaten längst einer gleichmäßigen
Einteilung in Bezirke Platz gemacht hat, sogar Ungarn hat seit langer Zeit
seine Komitate. Also die Teilung Böhmens in irgend einer Gestalt, mit natür¬
licher Berücksichtigung der Nationalitäten, wird kommen, bedenklich ist darum
nicht, daß diese Forderung vou den Deutschen aufgeworfen wurde, Wohl aber
sind es die Umstünde, unter denen sie entstand.
Wer die gesamte Entwicklung des Dcutschösterrcichertums, die in den letzten
vierzig Jahren fast ausschließlich unter der maßgebenden Führung der Deutsch¬
böhmen vor sich ging, mit aufmerksamen Blicken verfolgt, wird fast nur Ver¬
luste des Deutschtums feststellen, zum Teil sogar mit der bewußten Absicht
— wie bei der Preisgebung Galiziens —, sich ein politisch bequemeres Leben zu
verschaffen. Dasselbe Bequemlichkeitsmotiv ist auch für die Zweiteilung Böhmens
maßgebend. Die übrigen Deutschöstcrreicher würde» ja wohl auch damit zu¬
frieden sein, wenn dadurch endlich einmal eine Beruhigung in den ewigen
deutschböhmischen Querelen erzielt werden könnte, aber sie verhehlen sich nicht,
daß ein so einseitiger Vorgang eine beunruhigende Wirkuug auf andre Kron¬
länder ausüben und dadurch eine zukünftige verwaltungstechnische Teilung der
gesamten Monarchie von vornherein ungünstig und einseitig beeinflussen werde.
In den deutschen Alpenländern weiß man sehr wohl, daß das Eindringen des
Tschechentums in den deutschen Teil Böhmens vorwiegend nicht auf politischen,
sondern auf ökonomischen Ursachen, auf der Zuwcmdrung der billigern tschechischen
Arbeitskräfte beruht. Dagegen würde durch die Errichtung zweier getrennter
nationaler Verwaltungsgebicte in Böhmen den deutscheu Alpenländern ein auto-
uomes tschechisches Sonderglied vorgelegt werden, das sie von der Masse des
deutschen Volkes abschneidet. Außerdem würden die deutschen Alpenlünder von
da aus Tschechisierungsversuchen ausgesetzt werden, die eine wirksame Einleitung
durch die zweisprachigen Beamten finden würden, die in dem einheitlich deutschen
Gebiet Böhmens überflüssig werden und doch meistens in den deutschen Alpenländern
Unterkunft finden müßten. Aber man würde ja in Tirol wie in Steiermark,
ebenso wie in Niederösterreich und den östlichen Sudetenländern gern die Zwei¬
teilung Böhmens durchsetzen helfen, wenn damit die ewige unfruchtbare Beun¬
ruhigung von Deutschböhmen her aufhören würde. Denn seit Herbsts Führung
find alle für Deutschösterreich unglücklich verlaufenen politischen und parlamen¬
tarischen Aktionen von den Deutschböhmen ausgegangen; alle die politischen
Eintagsmeteore, wie der schon zu Lebzeiten verschollene „grobe" Knvtz, stammten
aus Deutschböhmen; als schönerer in Niederösterreich unmöglich geworden war,
fand er ein Mandat in Böhmen, und heute treibt er dort mit seinen Anhängern
politischen Spuk und Mandatsfang, spricht den politischen Verrüterfluch und
den politischen Segensspruch. Bei der vorjährigen Wahl hat er sich nun auch
gegen die Zweiteilung Böhmens ausgesprochen, obgleich er und seine Getreuen
bis dahin dafür waren. Damit dürfte die Zweiteilung wohl wieder auf einige
Zeit aus dein Gesichtskreis entschwinden. Wer aber den Dingen so zusehen
muß, dem kommt es vor, als stünde er vor einem Karussell, wo die hölzernen
Pferde kommen und wieder vorbeifliegen, und die Jungen, die darauf sitzen,
schreien Hurra, denn sie vermeinen, sie süßen auf wirklichen Pferden, und es
ginge vorwärts, während sie sich doch bloß im Kreise herumdrehen.
Wir eilen zum Schlüsse. Die Dinge in Böhmen werden sich aller Voraus¬
sicht nach noch Jahrzehnte hinziehn. Die Tschechen werden in der großen
Politik nichts erreichen, dagegen wird ihre politische Kleinarbeit Früchte tragen,
weil sie darin namentlich ihren nächsten Gegnern, den Deutschböhmen, überlegen
sind. Trotzdem können sie auch auf diesem Wege keine bedeutenden Fortschritte
machen, wie wieder die letzte Volkszählung gelehrt hat. Es nützt ihnen nichts,
wenn sie behaupten, das Resultat sei gefälscht. Gewiß ist auf beiden Seiten
etwas gemogelt worden, warum sollten aber gerade die deutschen Zähler, die
doch die geringere Anzahl sind und einen kleinern Bezirk ausmachen, so viel
mehr gefälscht haben, als die zahlreichern Tschechen, sodciß noch ein Plus für
die Deutschen herauskam? Das glauben auch ernst zu nehmende Tschechen
nicht. Die Ursache, die nicht zu ändern ist, liegt ganz wo anders. Böhmen
liegt nun einmal sozusagen im Schatten des Deutschen Reichs, von den, es nur
durch eine politische Grenze und eine Zolllinie geschieden ist, sonst ist es vou
mehr als 60 Millionen Deutschen umgeben. Die Tschechen mit ihren 6 Mil¬
lionen sind in der heutigen Völkerfamilie nur ein Kleinvolk, wenn anch ein
politisch begabtes und opferwilliges, das aber nie die Wirkung eines modernen
nationalen Staatslebens an sich erfahren hat. Seine nationalen Erinnerungen
und Bestrebungen fußen auf überlebten Rechtszuständen in dem alten tschechischen
Wenzelsreiche, das schließlich nach längern innern Unruhen an andre Gebiete
angeschlossen wurde. Sie haben vermöge ihrer zentralen Lage zweimal in die
Entwicklung des Deutschen Reichs einzugreifen vermocht, waren aber zu wenig
zahlreich, selbständig die Entscheidung herbeizuführen. Das zweitemal entgingen
sie kaum der Vernichtung- Sie glauben heute, weil sie in Österreich stark genug
sind, daheim die uneinigen Deutschen zu quülcu und zuweilen den Gang der
Staatsmaschine in Unordnung zu bringen, daß sie eine große Nation seien. Das
sind sie eben nicht, und für Neugründuug kleiner Nationalstaaten ist in Europa
kein Raum mehr. Sie sind in Österreich selbst bisher benutzt worden, als
Gegengewicht gegen andre zu wirken. Seitdem mau in Wien hat beginnen
müssen, endlich einmal zu regieren, ist für tschechische Sonderbestrebungen auch
in Österreich kein Platz mehr. Sie haben ja selbst die Erfahrung davon machen
können, als sie versuchten, an die Einheit der Armee zu tippen. Auch sollten
sie nicht vergessen, daß sie ihre heutigen politischen Sprünge bloß machen können,
weil der Dreibund besteht. Sobald er aufhört, wird die preußische Pickelhaube
ihren Schatten über die böhmische Grenze werfen und sie daran erinnern, daß
sie nur eine kleine Nation sind, und daß auch gelegentliche Spritztouren nach
Paris und fröhliche Champagnertoaste diesen Umstand nicht beseitigen können.
Die Tschechen haben eine vortreffliche Begabung, aber das reicht zur
politischen Selbständigkeit nicht aus, und ein tschechisches Sprach- und Verkehrs¬
gebiet kann es doch bei der heutigen Entwicklung des Weltverkehrs nicht geben.
Sie schaden sich nur selbst damit, und sie werden ihre tschechischen Sprnchen-
tafeln in Prag trotz alles Terrorismus und einer unglücklichen Gesetzgebung
doch nicht aufrecht erhalten können. Der Bogen ist nun genug gespannt, und
es wird Zeit, daß sie ihre Lage einsehen. Die Gedanken von der großen Nation
müssen sie sich vergehen lassen, denn es kann sehr bald die Zeit kommen, wo
sich die Deutschösterreicher auf sich besinnen und eine vernünftige Politik ein¬
schlagen. Revolutionäre Bewegungen sind auch nicht mehr möglich, und es wird
den Tschechen doch nichts übrig bleiben, als zunächst einen mocws vivsnäi
einzugehen und dann sich wieder dem deutschen Kulturkreis anzuschließen, was
ja keineswegs das Abschwören der tschechischen Sprache bedeutet. Wie die
Sachen in Europa voraussichtlich auf ein Jahrhundert und mehr liegen, ist den
Tschechen, die ihre Zeit versteh,,, nnr zu empfehlen, nach dem Spruch Schillers
zu handeln: „Immer strebe zum Ganzen! und kannst du selber kein Ganzes
w
ern von Berlin, der Stätte seiner mehr als dreißigjährigen Wirk¬
samkeit, ist in diesem Winter ein Mann gestorben, dessen Name
vielleicht den meisten Lesern unbekannt sein wird, weil er niemals
in der großen Öffentlichkeit hervorgetreten ist: der Geheime Ober¬
regierungsrat, Generalarzt g, ig, suiw Dr. Struck. Er gehörte
undt zu den Übermenschen und wurde auch kaum unter die Zahl der medizinischen
Größen gerechnet, weil er als Praktiker niemals Zeit fand, seine Gelehrsamkeit
der staunenden Mitwelt in dicken Bänden vorzulegen; aber er war etwas viel
besseres, ein Arzt von Gottes Gnaden, der nicht nur nach moderner Art die
Krankheit, sondern noch viel mehr den kranken Menschen zu behandeln wußte,
der bis in sein hohes Alter hinein ein halbes Jahrhundert lang in ausgebreiteter
Tätigkeit segensreich gewirkt hat und von allen hilfesuchenden Kranken fast ver¬
göttert wurde. Die stille Arbeit am Krankenbett und im Sprechzimmer würde
freilich das öffentliche Interesse kaum wachrufen, denn das Wort „Die Nachwelt
flicht dem Mimen keine Kränze" gilt in gewisser Beziehung auch für die Ärzte;
aber der Verstorbne hatte ein Leben von geschichtlichem Inhalt hinter sich, um
das ihn mancher beneiden möchte, denn es war ihm vergönnt, fast dreißig Jahre
lang als Hausarzt des Eisernen Kanzlers alle die Ereignisse jener großen, jetzt
so fern liegenden Zeit aus nächster Nähe mit zu erleben und als erster Direktor,
ja gewissermaßen als Gründer des Reichsgesundheitsamts an den Institutionen
unsers Reiches mitzuarbeiten. Sang- und klanglos ist er in Blankenburg am
Harz am 7. Dezember 1902 im Alter von 77 Jahren gestorben, und außer
einigen kurzen Notizen hat man in den Blättern nichts über ihn gelesen. Ich
hatte aber das Glück, dem alten Herrn als Arzt und Freund näher treten zu
dürfen, und habe des Abends im Plauderstündchen in seinem stillen Studier¬
zimmer mancherlei gehört, was mir wohl der Veröffentlichung wert erscheint.
So möge denn hier eine kurze Schilderung seines Lebens Platz finden, besonders
auch der Zeit, wo er unserm großen Bismarck als Arzt zur Seite stehn durfte.
Heinrich Struck wurde am 9. Oktober 1825 zu Bergloh im Hannöverschen
geboren, seine Eltern siedelten aber schon in seinem dritten Lebensjahre nach
Paderborn über, das er immer als seine Vaterstadt betrachtet hat. Nachdem er
seinen Gymnasialknrsus beendet hatte, wandte er sich dem Apothekerfache zu,
entschied sich aber, noch vor dem Abschluß seiner Lehrzeit, für das Studium
der Heilkunde und bezog zuerst die medizinisch-chirurgische Akademie in Münster,
später die militärärztlichcn Bildungsanstalten in Berlin, aus deren Mauern schon
so mancher berühmte Arzt hervorgegangen ist. Nach seiner Beförderung zum
Assistenzarzt wurde er im Jahre 1853 zu dem preußischen Kontingent nach
Frankfurt am Main kommandiert, und hier fand er trotz seiner Jugend bald eine
so bedeutende Praxis, daß auch der damalige Gesandte, Herr von Bismarck, auf
ihn aufmerksam wurde und um seineu Besuch bat. Die denkwürdige Szene,
wie er zum erstenmal dem Manne gegenüber stand, dessen überwältigende Größe
damals noch niemand ahnte, hat mir Struck wiederholt mit folgenden Worten
geschildert: „Als ich in das Zimmer trat, sah ich einen großen, damals noch
nicht korpulenten Mann im Schlafrock auf dem Sofa sitzen, der das kranke dick
geschwollne Bein auf einer Bank liegen hatte und mir schon von weitem die
Hand entgegen streckend sagte, indem er mich aus seinen großen Augen fest
anschaute: Herr Doktor, ich habe Gutes von Ihnen gehört, können Sie mich
bald gesund machen? Ich leide an heftigen Schmerzen, kann mich nicht bewegen
und habe dringend zu arbeiten; sehen Sie zu, daß ich diese böse Krankenstube
bald verlassen kann!"
Herr von Bismarck erlitt damals den ersten Anfall einer akuten Venen¬
entzündung, die später durch das Pflaster des russischen Arztes so bedenklich
Wurde, daß er bis an sein Lebensende daran zu tragen hatte; in diesem Falle
war die Krankheit durch passende Verordnungen bald beseitigt, und Struck wurde
der Hausarzt seines Patienten. Fast aber wäre dieses Verhältnis nicht von
langer Dauer gewesen, denn nach Strncks Beförderung drohte seine Versetzung,
weil die entsprechende Stelle in Frankfurt erst kurz vorher frisch besetzt worden
war. Als alle Vorstellungen bei der Militärbehörde nichts halfen, gab Bismarck
Struck den Rat, abzugehn und sich in Frankfurt als praktischer Arzt nieder¬
zulassen; Struck war auch bereit, aber die Frankfurter Mcdizinalbehörde ver¬
langte von dem preußischen Ausländer ein Examen, womit dieser nicht einver¬
standen war, da ihm das Ansinnen beleidigend erschien, und weil er wußte, daß
die feindlich gesinnten Frankfurter Kollegen ihm eine Falle stellen und zum
Durchfällen verhelfen würden. Als sich Herr von Bismarck noch einmal energisch
ins Mittel legte, gab man sich großmütig mit einem Kolloquium zufrieden, das
aber ebenfalls abgelehnt wurde. Jetzt teilte der preußische Bundesgesandte
amtlich dem hohen Rate der Stadt Frankfurt mit, daß er wegen angegriffner
Gesundheit seinen bisherigen Arzt nicht entbehren könne und deshalb zu seinem
Bedauern genötigt sei, den Wohnsitz in die Nächstliegende preußische Stadt zu
verlegen, falls dein Ausländer Dr. Struck nicht erlaubt würde, sich bedingungs¬
los in Frankfurt niederzulassen. Bismarck erfreute sich damals in den vor¬
nehmen Kreisen Frankfurts einer großen Beliebtheit und galt auch wohl allge¬
mein als das geistig hervorragendste Mitglied der Herren vom deutschen Bundes¬
tage; die Drohung hatte also die gewünschte Wirkung, und Struck erhielt mit
der ärztlichen Approbation zugleich seinen Abschied aus dem Militärdienst und
den preußische»? Sanitätsratstitel. Jetzt nahm seine Praxis noch mehr zu, in
demselben Maße aber auch die Unbeliebtheit bei seinen Frankfurter Kollegen, die
ihn auf der Straße sogar anulkten, als er sich für seine Besuche zum ersten¬
mal eines Wagens bediente. „Hurra, da fährt der Preuße schon in der Kutsche!"
Wenn mir der alte Herr das erzählte, pflegte er jedesmal hinzuzufügen: „Nehmen
Sie sich vor den Frankfurter!, in acht!" ohne dabei zu bedenken, daß ja auch
dort jetzt alles anders geworden ist, und daß die alte Freie Reichsstadt unter
Preußischer Oberhoheit einen Aufschwung genommen hat, der wohl auf das
Gemüt des schlimmsten Partikularsten versöhnlich wirken muß. Sechs Jahre
lang war Struck der vertraute Hausarzt des Herrn von Bismarck, da wurde dieser
abberufen, damit er sich in Petersburg und Paris auf seine höhere Bestimmung
vorbereite; dorthin konnte Struck freilich nicht folgen, er blieb aber auch in der
Ferne der Berater seines Patienten, und als das Pflaster des Petersburger
Quacksalbers den preußischen Gesandten fast an den Rand des Grabes gebracht
hatte, übernahm er wieder die Behandlung und brachte durch passende Kuren
in Bad Nauheim und Wiesbaden die Folgen der Krankheit für längere Zeit
zum Schwinden.
Als nach den Strapazen und seelischen Erregungen des Krieges 1866 die
Gesundheit des Bundeskanzlers besonders zu wünschen übrig ließ, erhielt Struck
ein Schreiben des Herrn von Keudell, der ihn im Auftrage seines Chefs auf¬
forderte, den Wohnsitz nach dein jetzt im Aufblühn begriffnen Berlin zu ver¬
legen, dn ein Mann von seinen Gaben unbedingt in der künftigen Reichshanpt-
stadt wohnen müsse. Das war für einen Arzt, der sich in einer der reichsten
und schönsten Großstädte unter schwierigen Verhältnissen eine glänzende Praxis
geschaffen hatte, eine starke Zumutung, und Struck willigte auch erst ein, nach¬
dem er wiederholt seine Bedenken geäußert hatte, und als ihm die Zusicherung
gegeben war, daß er mit seinem frühern Patent wieder in die Armee eingestellt
und bei der nächsten Gelegenheit zum Oberstabsarzt befördert würde. Nachdem
er einige Wochen bei einem rheinischen Infanterieregiment Dienst getan hatte,
siedelte er am 15. Januar 1867 nach Berlin über, als Stabsarzt im Gnrde-
Feldartillerie-Regiment und als Leibarzt des Bundeskanzlers. Aber es ging
ihm zuerst recht schlecht, denn sein Gehalt war gering, und die Praxis nahm
so langsam zu, daß die Frankfurter Ersparnisse bald aufgebraucht waren; auch
die Beförderung ließ trotz der Kriegsjahre lange auf sich warten, und Herren
mit jüngeren Patent wurden ihm vorgezogen. Dazu kam noch das Gefühl
einer gewissen Schikaniererei durch seine Vorgesetzten, die ihn mit allen möglichen
Extraarbeiten belasteten; so mußte er es sich gefallen lassen, daß ihm Rekruten -
ausbedungen in Berlin aufgebürdet wurden, die man sonst von auswärtigen
Militärärzten besorgen ließ, weil nur diese eine besondre Kommandozulage da¬
für erhielten. Gelegentlich erfuhr er dann auch, nach einem Liebesmahl durch
einen angeheiterten Kameraden, den Grund dieser Zurücksetzung; man hatte sich
geärgert, daß auf Veranlassung des Ministerpräsidenten so ein Frankfurter
Sanitätsrat gleich in dein vielbegehrtcn Berlin wieder in die rince eingereiht
worden war. Struck dachte zu vornehm, als daß es ihm in den inn gekommen
wäre, bei seinem Gönner Klage zu führen; da aber dieser selbst sich gelegentlich
teilnehmend erkundigte, woher es komme, daß er so schlecht aussehe, so mußte
er denn doch seinem gepreßten Herzen Luft machen, daß er mit Nahrungssorgen
zu kämpfen Hütte, daß er auch wegen seiner Wiedereinstellung angefeindet und
bei jeder Gelegenheit mit besondern Arbeiten bedacht würde. „Sie sind aber
doch Oberstabsarzt?" lautete die erstaunte Frage des Fürsten. „Nein, Durch¬
laucht, ich bin noch Stabsarzt, man hat mich bisher übergangen." Einige Tage
später, im April 1872, wurde Struck zum Regimentsarzt der „Franzer" ernanick,
und damit war das schlimmste wenigstens überstanden.
Eines Tages ließ ihn der Fürst zu sich rufen und empfing ihn mit
folgenden Worten: „Wir müssen Ernst machen und endlich das Gesundheitsamt
schaffen, das als sanitäre Aufsichtsbehörde im Reiche fungieren soll; wen könnten
Sie als Direktor vorschlagen?" Ohne sich zu besinnen, nannte Struck die
Namen Virchow und Petteukofer. „Mit Ihren beiden Herrn ist es nichts
— so sagte der Kanzler wenig Tage später —, Virchow ist vom Kaiser ab¬
gelehnt worden, und Pettenkofer will nicht aus München heraus; sagen Sie
mal, wollen Sie Direktor des Reichsgesundheitsamtes werden?" Als Struck
vor Staunen fast aus deu Rücken füllt und erklärt, daß er sich einem solchen
Posten nicht gewachsen fühle, unterbricht ihn der Fürst mit den Worten: „Ach
was, das schlägt in Ihr Fach, Sie sind ein praktischer Mann, und was andre
wissen, können Sie auch lernen; ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit, sagen
Sie Ja oder Nein, wollen Sie nicht, dann finde ich auch noch einen andern,
wahrscheinlich werden aber dann die Juristen dieses Amt wieder für sich beau-
Sprüchen." Dieser letzte Grund war ausschlaggebend, Struck nahm nu und wurde
mit den Worten entlassen: „Gut, nun wählen Sie sich Mitarbeiter und richten
Sie alles ein, wofür Ihnen die Gelder angewiesen werden." Nichts war vor¬
handen, alles mußte erst geschaffen werden, und das gab natürlich Arbeit, die
einen ganzen Mann brauchte, umsomehr, als noch nicht einmal der Begriff des
Reichsgesundheitsamts festgestellt war, worunter man sich zuerst nur eine
medizinal-statistische Behörde dachte, die einlaufende Gesuudheitsberichte zu
bearbeite» hätte. Während Struck noch mit der Einrichtung beschäftigt war,
sagte ihm eines Tages der Kanzler: „Das Zentrum hat im Reichstage Spek¬
takel gemacht, sich über Berliner Brauereien aufgehalten und deren Produkt
»Divideudeujauche« genannt. Sie müssen mir binnen vierzehn Tagen eine
Analyse sämtlicher Berliner Biere schaffen." Nun war guter Rat teuer, denn
diese Anforderung ging ja schon über die ursprüngliche Bestimmung des Gesund¬
heitsamts weit hinaus, und Struck mußte nun auch an die Einrichtung eines
chemischen Laboratoriums denken, das sich aber nicht innerhalb weniger Tage
schaffen ließ. Als er nach Ablauf von zwei Wochen seine gewöhnliche Morgen-
Visite machte, war Fürst Bismarck gerade mit dem Ankleiden beschäftigt; ein
Diener zog ihm die langen Kürassierstiefel an, und gegenüber am Tisch saß
ein Sekretär, dem unterdessen Verfügungen diktiert wurden. „Haben Sie die
Analysen? Die Frist ist um!" mit diesen Worten begrüßte der Kanzler seinen Leib¬
arzt. Auf den Hinweis, daß es unmöglich so schnell ginge, da ja noch nicht
einmal ein Laboratorium vorhanden sei, wandte sich der Fürst an den Sekretär
und diktierte ein in schärfster Form abgefaßtes Monitnm an den Direktor des
Reichsgesundheitsamts, der nach Anhörung der Epistel mit den Worten ent¬
lassen wurde: „Nun richten Sie sich danach und seien Sie fleißig." Geknickt
schlich Struck nach Hause und saß nun Tag und Nacht bei der Arbeit, um die
Wünsche des Chefs zu befriedigen. Da passierte es einst, daß er Nachts zu
ihm gerufen und nicht gefunden wurde; als er nun um andern Morgen noch
hören mußte, daß man sich allerdings über seinen Mangel an Arbeitskraft
nicht wundern könne, wenn der Herr Direktor seine Nächte in Gesellschaften
zubringe, da konnte Struck diesen Vorwurf mit den Worten zurückweisen:
„Allerdings war ich auswärts, aber uicht in Gesellschaft, sondern ich arbeite
jetzt auch Nachts im Gesundheitsamt." Endlich waren die Analysen fertig, und
Struck erhielt als Gegenstück zu der in seiner Gegenwart diktierten Mahnung
ein höchst belobigendes Handschreiben für bewiesenen Eifer.
Daß Fürst Bismarck ein schwieriger und nicht immer folgsamer Patient
war, ist eine bekannte Tatsache; er teilte diese Eigenschaft mit andern großen
Geistern, wie Friedrich dem Großen, der auch nichts von den Ärzten hielt,
obwohl er sie bei jeder Gelegenheit konsultierte. Prometheusgeister wollen ja
oft am wenigsten begreifen, daß menschlichem Wissen so enge Grenzen gesetzt
sind; sie suchen die Schuld in der Person des Arztes, nicht in der Majestät
der Natur, die sich nnr wenig Gesetze vorschreiben läßt! — Strncks Stellung
als Hausarzt des Fürsten war denn auch nicht leicht, und es scheint, daß sein
eignes, etwas pedantisches, zu Konzessionen wenig geneigtes Wesen nicht dazu
beitrug, Gegensätze auszugleichen, die zwischen so verschiednen Charakteren nicht
ausbleiben konnten. Wenn Struck trotzdem fast dreißig Jahre lang der Berater
Bismarcks sein durfte, so spricht dies für das große Vertrauen, das seinem ärzt¬
lichen Wissen entgegengebracht wurde. Auch der schroffe Bruch, der 1882 eintrat,
hatte mit seiner Tätigkeit als Arzt nichts zu tun und war rein persönlicher
Natur. Folgende ergötzliche Geschichte erzählte mir einst Lothar Bücher:
„Der Kanzler litt im Winter an rheumatischen Schmerzen und erhielt die
Verordnung, ein Fichtennadelbad von 28 Grad Reaumur und 15 Minuten
Dauer zu nehmen, worauf er sich eine Stunde in das Bett legen sollte. Die
28 Grnd waren ihm aber zu kühl, weshalb er sich gleich 30 verordnete; dann
fühlte er sich so mollig im Wasser, daß er nicht daran dachte, herauszugehn,
sondern er meinte, die Stunde Bettruhe mit eben so gutem Erfolge im Bade
abmachen zu können. Er blieb also fast anderthalb Stunden in der Wanne,
ließ durch öftern Zusatz von heißem Wasser die Temperatur noch um einige
Grade höher bringen und stieg, rot wie ein Krebs, heraus und arbeitete sofort
angestrengt in seinein Zimmer. Natürlich erkältete er sich noch mehr, die Schmerzen
traten nach der Abkühlung stärker auf, und der arme Doktor war schuld daran."
Einst hatte der Fürst eine Magenverstimmung und bekam für acht Tage
strengste Diät vorgeschrieben, die unter Aufsicht seiner Gemahlin peinlich ein¬
gehalten wurde. Am sechsten Tage hielt er es aber nicht mehr aus; er fühlte
einen schrecklichen Hunger und benutzte die zufällige Abwesenheit der Fürstin,
sich beim Koch sein Leibgericht, Pökelfleisch mit Erbsen und Sauerkraut, zu
bestellen, das er »lebst einem gebratnen Huhn trotz Widerspruch der schleunigst
herbeigeholten Hausfrau mit bestem Appetit und guter Laune verzehrte. Die
reichliche Mahlzeit hatte keinerlei böse Folgen, und als am andern Tage der
Hausarzt erschien, schnob ihn der Fürst mit den Worten an: „Herr, Sie hatten
die löbliche Absicht, mich noch zwei Tage hungern zu lassen, ich habe mich aber
schon gestern satt gegessen und bin infolgedessen heute vollständig gesund."
Wenn mir Struck von seinein großen Patienten erzählte, dann geschah das
ohne Bitterkeit, ja ans seinen Worten schien mir eine gewisse schmerzliche
Resignation zu klingen. Es waren Umstünde rein privater Natur, die das
Band zwischen den beiden Männern zerrissen; hämische Verdächtigungen und
Zwischentrngereieu hatten in der fürstlichen Familie ein Mißtrauen wachgerufen,
das sich später als durchaus ungerechtfertigt erwies. Bismarck war dann hoch¬
herzig genng, seinem langjährigen Arzt die Hand wieder entgegenzustrecken, aber
Struck schlug sie aus, vielleicht weil das Gefühl der unverdienten Kränkung in
ihm zu mächtig war, vielleicht auch weil er befürchtete, das einmal Verlorne
Vertrauen nicht in vollem Maße wiederzufinden. Wie es in der ersten Zeit
nach der Trennung mit seiner Gesinnung beschaffen war, weiß ich uicht; aber
in spätern Jahren beschäftigten sich seine Gedanken viel mit dem gewaltigen
Manne, der auch so tief in sein eignes Leben eingegriffen hatte, und wenn ich
Abends bei ihm saß, dann drehte sich unser Gespräch meist um den Fürsten
Bismarck. Als die Nachricht von dessen schwerer Erkrankung aus Kssingen
nach Berlin gelangte, empfing mich der alte Herr mit den Worten: „Wissen
Sie Neues über Bismarck?" und dann ging er ruhelos im Zimmer auf und ab,
immer vor sich hinsagend: „Wenn man ihm doch helfen könnte, wenn man ihm
doch helfen könnte!" Es ist möglich, daß das Gefühl erlittnen Unrechts in
ihm manchmal die Überhand gewann, ich weiß aber, daß er seinem hohen
Patienten im Herzen nicht gram geblieben ist, denn er wußte am besten, wie
der gewaltige Mann für sein deutsches Volk gearbeitet hat, und daß ein Riese
nicht mit dem kleinlichen Maße gewöhnlicher Sterblichen gemessen werden darf.
Über Strncks Tätigkeit im Neichsgesundheitsnmt ist wenig in die Öffent¬
lichkeit gedrungen, daß er aber in der Einrichtung und Leitung ein hervor¬
ragend organisatorisches Talent bewies, mußten auch die anerkennen, die in ihm
nur deu durch Bismarcks Gunst großgewordncn Streber sahen, dessen Amts¬
führung man prinzipiell herabzusetzen suchte. Erst in den letzten Jahren hat
sich in Fachkreisen immer mehr die Ansicht Bahn gebrochen, daß sich der erste
Direktor des Neichsgesundheitsamts bleibende Verdienste erworben hat, und
daß die ganze Gestaltung dieser jetzt so segensreich wirkenden Behörde im wesent¬
lichen sein Werk war. Fürst Bismarck, der — wie Bücher sagte — die
Menschen nur einmal scharf anzublicken brauchte, um ihren Wert zu erkennen,
hatte mich mit der Ernennung Strncks seinen klaren, immer ans das Praktische
gerichteten Blick bewiese!?. Strucks Werk war die gesamte organisatorische Aus-
gestaltung, die Angliedernng des chemischen und baktcriologischen Laboratoriums
und die Berufung geeigneter Kräfte zur Mitarbeiterschaft; besonders hoch muß
man ihm aber anrechnen, daß er die Leistungen des damaligen Kreisphysikus
Dr. Robert Koch zuerst ganz zu würdigen wußte, und daß er dem noch unbe¬
kannten Manne im Neichsgesundheitsamt eine Arbeitsstätte errichtete. Daß eine
Behörde, die sich ihren Weg gewissermaßen erst suchen mußte, vielfach mit
Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, ist klar, und das Amt des erste,? Direktors
konnte nicht leicht sein; sachliche Gegnerschaften wären zu ertragen gewesen,
Struck hatte aber auch mit persönliche» Anfeindungen zu rechnen, und man vertrat
damals den Standpunkt, daß das verwaltende Amt eines Direktors nicht den
Medizinern gebühre, sondern einem Juristen vorbehalten bleiben müsse. Fürst
Bismarck dachte anders darüber; er war nicht so engherzig, die Juristen für die
einzig brauchbaren Leute zu halten, und hatte absichtlich einen Mediziner an
die Spitze gestellt, weil nach seiner Meinung die Bedürfnisse und Ziele einer
neugegründeten Anstalt an besten von einem Fachmann beurteilt würden. Als
aber »ach dein Bruch jede persönliche Berührung zwischen Struck und seinem
obersten Chef aufhörte, da waren für ihn die Tage seiner Amtsführung gezählt,
und er zog es vor, seinen Abschied zu nehmen. Eine Lichtgestnlt in der Um¬
gebung des Fürsten nannte er den Geheimrat Bucher, der seinen Einfluß nie¬
mals persönlichen Zwecken dienstbar gemacht hätte; obwohl die beiden grnud-
verschiednen Männer in keinerlei Beziehungen zueinander standen, so hatte doch
Bucher den in Ungnade gcfnllnen besticht und seine Vermittlung angeboten, die
freilich ausgeschlagen wurde.
Mit der Übernahme seines Staatsamts war Struck natürlich wieder aus
dem Militärdienst ausgeschieden; aber es ist charakteristisch, daß man ihn, dessen
Einstellung zuerst so angefeindet worden war, später nicht aussen wollte, denn
er wurde it, l-v 5mit,ö gestellt, gehörte bis in sein hohes Alter der militnrärztlichen
Prüfungskommission gls gefürchtetes Mitglied ein und erhielt als Generalarzt
erster Klasse am 25. Januar 1898, dein Tage seines funfzigjährigen Dienst-
jnbilciums, den für Militärärzte seltnen Rang eines Generalmajors. Auch sonst
hat es ihm an Titeln und Ehrenbezeugungen nicht gefehlt; schöner und ehren¬
voller war aber für ihn die Anhänglichkeit seiner Patienten und der Ruf, deu
er sich als helfender Arzt weit über Deutschlands Grenzen hinaus zu erwerben
gewußt hatte. Mit dem Übertritt in den Ruhestand konnte sich der fast sechzig¬
jährige mit ganzer Kraft seiner ärztlichen Praxis widmen, die in den letzten
Jahren einen übergroßen Umfang angenommen hatte, und die von allen Seiten
entgegengebrachte Verehrung und Dankbarkeit halfen ihm über manche bittre
Stunde hinweg. Besonders kränkte es ihn, als von einer bekannten medizinischem
Größe seine fernere Tätigkeit an einer fachwissenschaftlichen Zeitschrift mit der
seltsamen Begründung abgedankt wurde, daß man wohl die Mitarbeiterschaft
des Chefs des Neichsgesundheitsmnts nceeptiert habe, nicht aber die des prak¬
tischen Arztes Dr. Struck.
Meine Bekanntschaft mit Struck datiert aus dem Jahre 1892; er wußte,
daß ich Lothar Bucher in seinen letzten Jahren näher gestanden hatte, und
schrieb mir aus Verehrung für den Toten freundliche Worte, die zu einem
fortgesetzten Briefwechsel und zu persönlichem Verkehr führten. Der alte Geheimrat
war damals schon häufig kränklich, galt aber in Berlin noch für einen der
beschäftigtsten Ärzte, dessen Rat von vornehmen Patienten aus allen Ländern
eingeholt wurde; und wer einmal als Hilfesuchender bei ihm gewesen war, hielt
fest am „ alten Struck," der im Umgang mit kranken Menschen ein Meister war
und oft uoch zu helfe«? wußte, wo sich andre vergeblich bemüht hatten. „Wenn
es mal mit meiner Gesundheit gar nicht mehr geht, dann konsultiere ich deu
alten Struck, und der bringt mich bald wieder zurecht" — so hörte ich oft
sagen; die Bezeichnung „der alte Struck" hatte in Berlin einen guten Klang,
fast so wie hundert Jahre früher „der alte Heult." Er war vor allem Therapeut,
ebenso wie Professor Schweninger, und es ist charakteristisch für den praktischen
Sinn des Fürsten Bismarck, daß er sich seine Leibarzte nicht unter den hvch-
betitelten Koryphäen der Wissenschaft, sondern unter einfachen Männern der
Praxis gesucht hat, die ihr Augenmerk in der Medizin weniger auf wissen¬
schaftliche Probleme, als ans das Heilen gerichtet hatten. Im übrigen bestand
zwischen beiden ein großer Unterschied, der sie fast zu Antipoden machte; denn
während Schweninger bekanntlich durchaus auf dem Boden der sogenannten
Naturheillehre steht, war Struck ein scharfer Diagnostiker, der als ein Meister der
Rezeptierkunst das Heil der Kranken fast nur in der Anwendung von chemischen
Mitteln sah. Moderne ärztliche Kreise nannten ihn denn auch veraltet, und er
hatte unter seinen Kollegen viele Gegner, weil er als Feind jeder Vereins¬
meierei keine Versammlungen besuchte und dem sich immer breiter machenden
Spezialistentum im allgemeinen abweisend gegenüberstand. Wer aber Gelegen¬
heit hatte, die ärztliche Tätigkeit Strncks näher zu beobachten, der konnte sich
davon überzeuge,?, daß alle seine Anordnungen wissenschaftlich tief durchdacht
waren, daß er über eine exakte Beobachtungsgabe und über ungewöhnliche
Kenntnisse in der Pharmakologie verfügte, wie sie an der Universität überhaupt
nicht gelehrt werde». „Ein neues Rezept vom alten Struck ist immer einige
hundert Mark wert," so hörte ich einmal einen bekannten Praktiker sagen!
Geheimrat Struck war eine vornehme, reservierte Natur, etwas pedantisch,
herb in seinen Anschauungen und von vornherein wenig entgegenkommend, weil
ihn die Erfahrungen eines langen Lebens mißtrauisch gemacht hatten; wer aber
das Glück hatte, dem alten Herrn näher treten zu dürfen, der fand unter der
rauhen Schale bald den weichen Kern und einen liebenswürdige« Gesellschafter
von so anregender UuterlMuugsgabe, daß ein Plauderstündchen bei ihm zum
Genuß wurde. Bewuuderuswert erschien mir die Art und Weise seines Um¬
ganges mit Kranken; er war ihnen mehr als Arzt, und es herrschte noch das
patriarchalische Verhältnis, wie man es wohl in alten Geschichten ans der
Zeit unsrer Großeltern lesen, aber nnr selten bei modernen Ärzten finden kann.
Galt es Unglückliche zu trösten, dann fand er Worte aus höher» Sphären,
seine sonst so freundliche Stimmung konnte aber auch in fürchterliche Grobheit
umschlagen Patienten gegenüber, die sich seinen Anordnungen nicht peinlich
gemini fügen wollten. Sein Leben ist Mühe und Arbeit gewesen, und als er
sich endlich im Alter von 74 Jahren zurückzog, um in der stärkenden Harzluft
Blankenburgs Genesung zu suchen, da konnte ihm das Leben nichts mehr bieten,
denn er war durch einen Schlaganfall an den Fahrstuhl gefesselt. „Ich bin
dem Fürsten Bismarck — so lauteten einst seine schwermütigen Worte — nicht
dankbar, daß er tief in mein Leben eingegriffen hat, das brachte mir zwar
einige Titel und Orden, aber keine Befriedigung: mein Ideal war, mich nach
Ablauf meiner Militärzeit in einer kleine» Stadt niederzulassen, und als einfacher
Wald- und Wiescndoktvr wäre ich vielleicht ein glücklicher Mensch geworden."
> le deutsche Sprache hat übrigens noch eine andre Redensart auf-
> zuweisen, in der sich der Vergleich mit einem roten Hahn findet,
^nämlich die bekannte Umschreibung „einem den roten Hahn
^aufs Dach setzen" (oder „stecken," „aufs Dach fliegen lassen,"
Rauch wohl „den roten Hahn krähen lassen" oder fälterj ihn
»-„zum Giebel aufjagen") für: jemandes Haus in Brand setzen.
Qcmnt betreten wir das Gebiet der aus dem ältern deutschen Strafrecht ent¬
lehnten Bestandteile unsrer Sprache, das an Umfang fast noch das der aus
dem Privatrecht herübergenommnen übertrifft. Auch in der vorliegenden Rede¬
wendung ist der Zusammenhang mit dem Verbrechertum älterer Zeiten viel
enger, als man bis vor kurzem noch angenommen hat. Während mau nämlich
msher darin vorwiegend ein poetisches Bild sah, das sich aus den Nachklängen
älterer mythologischer Vorstellungen von dem Feuer als eines lebendigen Wesens
"icht allzu gesucht erklären lasse,'hat jetzt Friedrich Kluge bei seineu verdienst¬
vollen Forschungen über die deutsche Gaunersprache oder das sog. Rotwelsch
den Nachweis geführt, daß dem Aufkommen dieses drastischen Gleichnisses ein
recht realer Vorgang zugrunde gelegen hat. „Mehrere gute Quelleuzeuguisse"
verweisen nämlich „die zuerst bei Hans Sachs belegte Redensart unter die
Mordbrenner/' unter denen es „wie unter Bettlern und Dieben schou im sech¬
zehnten Jahrhundert eine besondre Zeichenschrift" gab, „die man neuerdings als
Gaunerzinken bezeichnet." Eines derselben faßt man nun „als Hahn auf,
der Brandstiftung bedeutet," während „der »rote« Hahn in unsrer Redensart , , ,
wohl ans den Rödel" hindeutet, „womit die Gaunerziuken gern an Kirchen
und Straßenecken oder einsamen Kreuzen angebracht wurden" (Kluge, in der
Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Jahrgang XVI, Ur. 1
jJcm. 1901j, Sy. 8), So ist das Bild vom roten Hahn, das die Gauner unter
sich auch in ihrem Idiom für den Begriff „Brandstiftung" verwandt haben,
allmählich in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, der ja aus dieser
Geheimsprache — durch Vermittlung der Studenten- und Soldatensprache —
gnr manche Bereicherung erfahren hat. Überhaupt verdanken viele noch
heute beliebte, mehr oder weniger bildliche Ausdrücke und Redensarten in
unsrer Sprache ihre Entstehung dem schon früh zu den verschiedensten Spe¬
zialitäten ausgebildeten Treiben des leichtfertigen Gannervvlks. Noch jetzt um¬
schreiben wir z. B gern durch „lange Finger machen" die Tätigkeit des
Diebes, namentlich des Taschendiebes, für den uns wohl auch noch die ältere
Bezeichnung „Beutelschneider" nicht ganz unbekannt geworden ist, wenn wir
sie jetzt auch in der Regel für Geschäftsleute anwenden, die so große Rechnungen
aufschreiben, daß die Geldbeutel ihrer Kunden bluten. Ferner „treiben"
manche Leute auch heute noch „Durchstechereien," wie einst die sogenannten
„Niemenstecher," d. h. „eine Art betrüglicher Landläufer, welche einen Riemen
mit gemachten Krümmen zusammenrollen und andre darein stechen lassen, da
sie dann machen, daß der Stich allemal neben den Riemen geht" (Adelungs
Wörterbuch); ein andrer macht uns „blauen Dunst" vor, wie das einst
wirklich die Gaukler und Zauberer (Nekromanten, Tenfelsbeschwvrer usw.) bei
ihren Geisterbeschwörungen taten, um ihre Zuschauer zu „benebeln"; ja das
„Kippen und Wippen," das eine besondre Form des Münzbetrugs (wohl
durch Abschneiden und Wiegen der Geldstücke) war, lebt sogar als juristischer
Kunstausdruck uoch in den modernen Lchrbttcheru des Strafrechts fort.
Auf die gewerbsmäßigen Ganner, die Bettler, Vagabunden, Gaukler und
sonstige „fahrenden Leute" mögen die mittelalterlichen „Raubritter" stolz
genug herabgesehen haben, und doch müssen wir sie vom Standpunkte des
Kriminalisten aus ebeufnlls zu den — allerdings uur gewalttätiger — Gewohn¬
heitsverbrechern zählen, wie das übrigens auch schon das ältere Recht getan
hat, das sich gerade für sie hänfig der Bezeichnung „schädliche" oder „land¬
schädliche Leute" bediente. Auch um das Tun und Treiben dieser Personen,
der „Schnapphähne," „Strauchdiebe," „Buschklepper," „Stegreifrittcr" — oder
wie sie der Volkshumor sonst uoch später benannte — hat unsre Sprache
Erinnerungen bewahrt, und zwar zunächst an das gerade von ihnen scharf
geübte und nur allzu häusig mißbrauchte Fehderecht. Noch heute können wir
deshalb in übertragnem Sinne jemand „befehden," ihm „die Fehde an¬
sagen" oder den „Fehdehandschuh (auch wohl bloß den „Handschuh") hin¬
werfen," den jeuer dann zum Zeichen der Kampfbereitschaft „aufhebt," ja
wir vermögen unsern Gegner sogar „in eine literarische Fehde zu ver¬
wickeln," ohne freilich bei allen diesen Vorgängen auch uur den Schreibtisch
verlassen zu müssen. Im Mittelalter aber kamen, zu den Exzessen des
Fehdewesens durch die entarteten Ritter noch deren Überfälle und Ausplünde¬
rungen harmloser Kaufmaunszüge hinzu nach dein Motto: „Rauben und Brennen
ist keine Schande, das tun die Besten im Lande," das uns Sebastian
Franck (l, 115») als „Sprüchwort oder Nymliu" der Wegelagerer aus dieser
Zeit überliefert hat. So mag damals trotz der zahlreichen, aber immer wieder
übertretnen Landfriedensgesetze die Unsicherheit, besonders ans den Heerstraßen,
oft groß genug gewesen sein, sodnß „dem Frieden" oder genauer „dem Land¬
frieden nicht zu trauen" war, wie wir noch heute zu sagen Pflegen,
wenn uns etwas nicht recht glaubwürdig, sicher oder „geheuer" erscheint. Eine
andre, dem modernen Strafrecht glücklicherweise — gleich den Raubrittern —
unbekannte besondre Gattung von Missetätern, und zwar weiblichen Geschlechts,
waren in älterer Zeit die Hexen oder vielmehr die unglücklichen Opfer, die ein
fanatischer Aberglaube für solche mit zauberischen, überirdischen Kräften ausgestattete
Wesen hielt., Mit dein Aufhören der entsetzlichen Hexenprozesse sind mich die ver¬
meintlichen Übeltäter, die man einst den Hexen zuschrieb (ausführlich geschildert z. B.
in den Kapiteln XI ff. des berüchtigten, von den Inquisitoren anch als Gesetz
gehandhabten „Hexeuhmnmers" von 1487, gedruckt 1489), im wesentlichen in
Vergessenheit geraten. Nur ein darauf bezüglicher Ausdruck hat sich im allge¬
meinen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart hinein zu erhalten vermocht,
nämlich der „Hexenschuß" (für plötzlich eintretende rheumatische oder gichtische
Steifheit, besonders des Kreuzes), der noch gar manchem von uns Kindern des
zwanzigsten Jahrhunderts zu schaffen macht, obwohl Nur doch an die Ent¬
sendung unsichtbarer, Krankheit dringender Geschosse dnrch Hexen und böse Geister
schon längst nicht mehr glauben.'
Die allgemeinen Lehren des Strafrechts haben in der neuern Zeit
^ zum Teil infolge der Einwirkung des römischen und des kirchlichen Rechts —
ein wesentlich andres Gepräge erhalten, als sie uns zu deu Zeiten des Tacitus,
ja auch „och nach den Volksrechten und den frühmittelalterlichen Rechtsquellen
zeigen. Namentlich haben wir seitdem in der Zurechnung einer Handlang zur
Schuld »»verkennbare Fortschritte gemacht, indem wir von dem ursprünglichen,
vielen Naturvölker» »och jetzt geläufigen Prinzip bedingungsloser Haftung für
den äußern Erfolg, den das'altdeutsche Rechtssprichwort „Die Tat tötet den
Mann" (französisch: „ig !ni> feig'o 1'iwimnv") zutreffend bezeichnet, allmählich
zu immer feinerer Berücksichtigung des schuldhaften Willens vorgedrungen sind
(Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit, Vorsatz und Absicht; Strafbarkeit des
Versuchs und einzelner Vvrbereitnitgshandlungen). In einem wichtigen Grund¬
sätze der Schuldlehre stimmt aber das moderne Recht noch mit dein der alten
Germanen überein. darin nämlich, daß „bloße Bewegungen des Gemüts," also rein
innerliche Vorgänge, die noch gar nicht in äußern Handlungen hervorgetreten
sind, „für den menschlichen Richter, der nicht »Herz und Nieren« prüfen kann,
unzugänglich und daher straflos" sein müssen. (Reyscher in der „Zeitschrift
für deutsches Recht," Jahrg. V. 1841, S. 190.) Während nnn das abstrakt
denkende römische Recht dieses Prinzip mit den Worten: „(ZliAtatwm» xvvuaM
uomo Miwi" ausdrückte (vgl. l. 18. v. 48, 19), haben unsre Vorfahren dafür
einige Rechtssprichwörter gebildet, die dasselbe in einer konkreter», aber nicht
weniger deutlichen Form sagen. So heißt es z. B.: „Ums Denken kann man
niemand henken" oder „Schweigen und Denken tut niemand kränken"
oder auch in ungereimter Rede „Gedanken sind zollfrei" (anch wohl mit
dem Zusätze: „aber uicht höllenfrei"), indem unsern Altvordern „bei der Vor¬
stellung von der Innerlichkeit des Denkens und Empfindens das Bild vom
Zolle vorschwebte, das freilich in Deutschland immer sehr nahe lag" (Rehscher,
a- a. O., S. 191). Gerade diese letzte Fassung des Sprichworts ist aber be¬
kanntlich bis in die Gegenwart hinein bei uns auch in einem ganz allgemeinen,
keineswegs mehr bloß ans die ursprüngliche Bedeutung beschränkten Gebrauche
geblieben — eine Erscheinung, zu der sich noch manche Seitenstücke anführen
lassen. So bezog sich z. V. anch das Sprichwort: „Not kennt kein Gebot" (oder
„Not bricht Eisen") einst wohl nur auf die Not im strafrechtlichen Sinne, den
„Notstand" und die „Notwehr," ebenso wie ganz ohne Zmeifel das bekannte
„Mitgegangen, initgefnngen" (in älterer Fassung: „angehangen"), mög¬
licherweise aber auch das allerdings in mehrfacher Bedeutung vorkommende „Gleiche
Brüder, gleiche Kappen" zunächst strafrechtliche Regeln aus der Lehre von
der „Teilnahme" verdeutlicht haben (vergl. auch „Der Hehler ist wie der
Stehler"). Bei dieser Gelegenheit sei endlich noch des sonderbaren Ausdrucks
„Rädelsführer" gedacht, den wir heute teils als juristischen Fachausdruck für
solche Personen verwenden, die — bei einzelnen bestimmten Delikten — eine
besonders hervorragende, leitende (physische oder psychische) Tätigkeit entfalten,
teils aber auch ganz allgemein in der täglichen Umgangssprache für den hervor¬
ragendsten Anstifter oder Anführer irgend eines Unternehmens (z. B. einer
Verschwörung, eines Arbeiterstreiks n. dergl. mehr) gebrauchen. Über den Ur¬
sprung dieses Worts sind zwar die Ansichten noch immer uicht ganz einig, jedoch
befürworten jetzt wohl die meisten Gelehrten, und zwar Sprachforscher wie
Kriminalisten, die Ableitung von Rad (Rädlein, Ratte, Rädel) als Bezeichnung
für einen .Kreis zusammenstehender Personen (vgl. z. B. Auerbach: „ein Rübchen
junger Bursche"), die früher besonders auch für eine Abteilung von Lands¬
knechten gebraucht wurde. Den Anführer eines solchen kleinen Kreises (Reihers,
Reigens, Ringes) nannte man deshalb den „Rädelsführer" (vergl. das englische
rinAlog/Iki). Daß dann das ursprünglich „neutrale" Wort später ganz über¬
wiegend im bösen Sinne (für Zusammenrottungen usw.) angewandt worden
ist, findet mit Rücksicht auf das bekannte Verhalten der Söldner- und Lnuds-
knechtstrnppen kaum allzuschwer seine Erklärung.
Eine überaus reiche Vermehrung hat unser Sprachschatz dem Strafensystem
älterer Zeiten zu verdanken gehabt. Während wir heute mit berechtigtem Stolze
die Einfachheit und Humanität unsers Strafvollzugs gegenüber den Barbareien
und Willkürlichkeiten in der Krimiualrcchtspflegc früherer Zeiten preisen dürfen,
hat die deutsche Sprache dafür gesorgt, daß wir über die bessern Zustände der
Gegenwart nicht vergessen, auf einem wie langen und mühseligen Wege wir
erst zu ihnen gelangt sind. Und sonderbar, gerade an die Zeiten, wo die
Leibes- und Lebensstrafen am grausamsten, die beschimpfenden Ehrenstrafeu
am mannigfaltigsten waren, also etwa seit dem Allsgang des Mittelalters bis
zum Beginne des achtzehnten Jahrhunderts, haben sich in der Sprache unsers
Volks die meisten Spuren und Anklänge erhalten. Diese Erscheinung aber
wird verständlich, wenn wir bedenken, daß man damals — im geraden Gegensatze
zum heutigen Rechte — die Exekution fast aller Strafarten ja noch in brei¬
tester Öffentlichkeit vornahm, um durch das am Missetäter statuierte „Exempel"
der vcrsaulmelten Menge eine heilsame Schen vor dem Verbrechen einzu¬
flößen, weshalb man wohl sogar die Schulkinder zu den Hinrichtungen hin¬
auszuführen pflegte. Daß diese Art von Volkspädagogik nur seUeu die
gewünschten Früchte gezeitigt hat, ist bekannt; fast immer aber werden die auf
Sinne und ans die Phantasie der Zuschauer mächtig wirkenden Szenen auf der
Richtstätte zum Gegenstände von Gesprächen und Unterhaltungen unter ihnen
gemacht worden sein, bis die darin immer wiederkehrenden, auf Strafen und
Strafvollstreckung hindeutenden Ausdrücke und Wendungen schließlich eine solche
Volkstümlichkeit erlangten, daß sie sich in einem erweiterten, übertragnen Sinne
auch daun noch zu erhalten vermochten, als man die Straffvrmen, auf die sie
sich eigentlich bezogen, mir noch dem Namen nach kannte.
Weit seltner begegnen uns zwar erklärlicherweise in unsrer Sprache Er¬
innerungen an die einfachern Strafarten, die vor der mittelalterlichen Periode
nach den Volksrechten oder gar in der germanischen Urzeit angewandt sind.
Einige Beispiele lassen sich aber doch auch hierfür erbringen. So hat man
». a. in der noch heute ziemlich gelüusigeu Redewendung „jemand für
Vogelfrei erklären" (d. h. ihn verrufen, aus der Gesellschaft ausstoßen) Wohl
nicht mit Unrecht einen Zusammenhang erkennen wollen mit der uralten Strafe
der Friedlosigkeit, die bei den Germanen anfangs die regelmäßige Folge der
schwersten — als „Fricdcnsbrüche" aufgefaßten — Missetaten war. Ein
solcher Friedloser wurde nicht nnr abgeschlossen aus der Friedens- und
Rechtsgemeinschaft, er konnte, ja er sollte auch als Feind des Volks von
jedermann straflos getötet werden, wie das wilde Tier, der Wolf im Walde,
weshalb für ihn auch wohl die Ausdrücke Waldgängcr (angels. v^v-MMriM, im
salfräuk. Gesehen „Iwino, ari por silvsz» og.<lit") und Wolf (aient. varg-r, got.
vaiM, ahd> -v^rrg', alae. ^Argas) vorkommen. Wie ein solches Wild galt auch
er, wenn er erschlagen wurde oder sonst ums Leben kam, als „g.vidu8 xsririiWns "
d- h. zur Speise preisgegeben „den Vögeln in den Lüften," also in diesem
Sinn als „vogelfrei." Bei deu weniger schweren Delikten griff in der Urzeit
zunächst die Privatrache (Fehde) des Verletzten Platz, die aber im Laufe der
Zeiten immer mehr durch die Zulässigkeit einer Sühne, die Erlegung einer
Buße an den Verletzten oder seine Sippegeuvssen zurückgedrängt wurde. Wie
schou das Wort „Buße (althd. KuoW, ahd. rmonv) erkennen läßt, das, stamm¬
verwandt mit „baß," „besser," „best," daher auch „büßen" — ausbessern, ersetzen,
noch erhalten im „Lückenbüßer") ursprünglich so viel wie Besserung, Abhilfe
gegen etwas, dann besonders Schadenersatz, Vergütung, Geldbuße bedeutete und
erst später auch auf das sittlich-religiöse Gebiet übertragen ist, stellen sich diese
Zuwendungen des Schuldigen an die verletzte Gegenpartei als eine Verbesserung
von deren Besitz- und Vermögensverhältnissen dar. Dagegen bestanden sie
ü? der ältesten Zeit natürlich noch nicht in bestimmten Summen geprägter
Münzen — wie wir sie zur Zeit des sogenannten „Kompositionensystems" (von
vmnponvrs — „beilegen," nämlich: die Fehde) in den Volksrechten in sehr
genauer, kasuistischer Weise für die einzelnen Fülle festgesetzt finden —, sondern
in dem damals ja noch allein bekannten Zahlungsmittel, den Viehhäuptern, was
uns auch Taeitus in Kap. 12 seiner „Germania" ausdrücklich bestätigt hat
(„sqnornrn pseorurnWe rnunsro ocmvivti mrilotMitiri?"). Der gewiß nicht selten
gewesene Brauch, auch die Häute geschlachteter Haustiere als Bußgeld zu ver¬
wende», mag dann vielleicht die Veranlassung zur Entstehung des Ausdrucks
„seine Haut zu Markt tragen" geworden sein, der später, als sein ursprüng¬
licher Sinn sich zu verwische» begann, auch auf die menschliche Haut übertragen
wurde. Bei Tötungen bezeichnete mau bekanntlich die Buße speziell als „Wer-
geld," d. h. den Entgelt für den Wert eines freien, wehrhaften Mannes, wörtlich
also „Manngeld," abzuleiten von ahd. ^ver, Manu (tat. vir, sanskr. v!r-i«),
das auch in dem Worte „Welt" (ahd. -veralt, ahd. ^verlr, engl. porta, eigentlich
— Mannes- oder Menschenalter, dann Menschengeschlecht, Menschheit, Zeitalter)
steckt und deutlicher noch in dem „Werwolf" des Volksaberglaubens (wohl
— Mannwvlf) zu erkennen ist Wenn in den mittelalterlichen Rechtsquellen zu¬
weilen auch vou einem Wergelde für getötete Haustiere die Rede ist, so kann
das freilich wohl nur durch eine Art Personifizierung dieser Tierarten erklärt
werden. Mit dem Verschwinden des Rechtsiustituts ' selbst ist unsrer Sprache
auch das Wort „Wergeld" so gut wie abhanden gekommen, dagegen hat sich
der mittelalterliche Ausdruck „Brüche" (niederd. drüks oder droks) für Gcld-
und Viehbuße bis in die Gegenwart erhalten, wenn man nämlich die Ansicht
teilt, daß unsre Redensart ,',in die Brüche gehn" (oder „kommen, fallen."
früher auch „jemand in die Brüche nehmen" strafen) hierauf und nicht viel¬
mehr auf deu uns geläufigeru „Bruch" im Gegensatze zur ganzen Zahl zurück¬
zuführen ist. Wenn Buße oder Wergeld gerichtlich eingeklagt wurden, so hatte
schon in ältester Zeit der Schuldige mich noch einen bestimmten Betrag an die
öffentliche Gewalt, und zwar zunächst als Preis für deren Eingreifen bei der
Wiederherstellung des Friedens, zu entrichte». Das war das sogenannte Friedens-
gelb, das in den lateinisch geschriebn«! Vvlksrechten kreäv.8 oder krsclniri, in
den Gesetzen des Mittelalters aber — namentlich in Niederdeutschland — öfter
„Wette" (vczcläo) oder „Gewelle" (Ac^sÄcks) genannt wird, womit das auch
heute noch an der mecklenburgischen Küste gebräuchliche „Gewett" zur Bezeich¬
nung gewisser, namentlich mit Schiffs- und hafeupolizeilicheu Funktionen aus¬
gestatteter Behörden in einem Zusammenhang steht, während sonst ja „die Wette"
im jetzigen Deutsch (durch Vermittlung des Begriffs „Pfand" als Einsatz bei
einer Wette) längst eine andre Bedeutung angenommen hat.
Auch in der altgermanischen und der fränkischen Periode hat es neben den
Geldbußen schon verschiedne andre Strafen (an der Ehre und an Leib und
Leben) gegeben, nur zeigte sich dabei noch nicht die von raffinierter Grausam¬
keit erdachte Reichhaltigkeit, die sich in spätern Jahrhunderten, namentlich bei den
Todes- und den Körperstrafen, unter dem Einflüsse der mosaisch-christlichen Vcr-
geltungsvorstelluug (Talion) und der Abschrecknngstheorie ausgebildet hat. Des¬
halb machte sich auch erst im Mittelalter das Bedürfnis nach einer nur für
Strafvollstreckungen amtlich angestellten und besoldeten Persönlichkeit geltend,
während man in den ältern, einfachern Zeiten die Exekutionen zunächst öfter dem
Verletzten selbst, bei Tötungen den uüchsten Verwandten überließ oder sie
irgend einem andern, auf verschiedne Weise näher bestimmten Mitgliede der
Gemeinde, wie etwa dem jüngsten Schöffen oder Ratsherrn, übertrug. Häufig
leitete auch der sogenannte Frvnbote (ahd. vrSnvcits, mutt. vronfofbocls, vröno)
den Strafvollzug, jedoch war dieser Beamte noch mit mannigfachen andern
Geschäften, wie z. B. der Ladung der Parteien (auch in Zivilsache»?) betraut und
galt überhaupt — wenigstens im Gebiete des sächsischen Rechts — als un¬
entbehrlich für die ordnungsmäßige Besetzung des Gerichts. Daß der Fronbote
ursprünglich „eine, wenn auch gefürchtete, so doch geachtete und angesehene
Persönlichkeit" gewesen ist, verdient hier besonders deshalb hervorgehoben zu
werden, weil wir für ihn schon ziemlich früh in den Rechtsquellen auch die
Bezeichnung „Büttel" (echt. hüllt oder xnt.it, ahd. dreht, angels. d^nisi,
engl. bsacllv, d. h. wörtlich der „Bieter," Gerichtsbote von ahd. xiots-n
fnnnliarej, ahd. »indem — bieten, gebieten) antreffen, die in uns heute
nicht nur „die Vorstellung eines niedrigsten Gerichtsdieners, eines unter¬
geordneten, unselbständigen Polizeiorgans" wachruft, sondern auch noch eine
weitere, verächtliche Nebenbedeutung angenommen hat, indem sie „zum Bei¬
namen für einen rohen, flegelhaften Menschen geworden, den jeder am
liebsten schon von ferne meidet." (Chr. Eckert, Der Fronbote im Mittel¬
alter usw. Gießener Jnang.-Dissertation, Leipzig 1397, Seite 7, 8.) In ähn¬
licher Weise ist es auch dem Worte „Scherge" (ahd. 8<zg.rio, searo, sovrjo, ahd.
Soneras, selloi^v) ergangen, das gleichfalls einst, namentlich bei den Langobarden,
für gerichtliche Vollstreckungsbeamte gebraucht wurde, uns heute aber fast
nur noch in einem allgemeinern, verächtlichen Sinne („feiler Scherge") geläufig
ist. Das allmähliche Herabsinken dieser Amtsnamen ist ohne Zweifel haupt¬
sächlich daraus zu erklären, daß man sie später u. a. auch für den verachtetsten
aller „unehrlichen Leute," den berufsmäßigen Scharfrichter angewandt hat, der
uns sofort noch näher beschäftigen wird. Zuvor sei nur noch bemerkt, daß
der „Büttel" eigentümlicherweise in neuern Zeiten auch wieder zu Ehren ge¬
kommen ist, nachdem man ihm ein lateinisches Gewand umgehängt hatte. So
kam es nämlich, daß der l>s6eI1u8 (franz. deae-an, nat. diäsllo) oder xe<isto8
des barbarischen Mittellateins (vielleicht durch Anlehnung an xvL, xväi8 ent¬
standen) der Stammvater geworden ist von unsern biedern „Pedellen" an
Schulen und Universitäten (hierfür seit 1350 bezeugt), die jetzt in der Studenten¬
sprache meist „Pudel" genannt werden.
Ganz besonders deutliche Spuren hat in unsrer Sprache der Mann hinter¬
lassen, dem im späten Mittelalter das schwere und verantwortungsvolle Amt
oblag als Diener der irdischen Gerechtigkeit das Schwert zu handhaben, und
dein doch zugleich — ebenso wie allen seinen Nachkommen — der Makel der
„Unehrlichkeit" anhaftete, der „Scharfrichter" oder vielmehr der „Henker."
Denn eigentümlicherweise ist es gerade diese, nur einer seiner ehemaligen Haupt-
täticckeiten entlehnte Bezeichnung des amtlichen Strafvollstreckers, die uns in so
vielen deutschen Ausdrücken und Redewendungen noch heute begegnet, während
doch die Todesstrafe jelck nur noch in wenigen europäischen Staaten dnrch den
„Strang" (Hängen, Henken), in Deutschland aber schon seit geraumer Zeck uur
noch durch Enthnuptuug vollzogen wird. Zahlreiche ältere, ernst auch in den
Gesetzen für „Henker" gebrauchte Benennungen, wie z. B. Freuncmn (lrs^-
in-wQ), Züchtiger (MÄckiZer, xnolckiZ'ör, ÄotckiMr), Feuer oder Vemcr (von
Veine im ältern Sinne von Strafe), Nachrichter (im Gegensatze zum Richter),
sind dagegen heute — mehr oder weniger — ebenso in Vergessenheit geraten,
wie die 'ironischen Bezeichnungen, die sich seinerzeit der Volkswitz für den
Mann des Schreckens ersonnen hatte, wie „Angstmann" oder „Pemlein,"
„Meister 5in»s" oder „Peter", „Schnürhänsleiu," „Meister F,x oder Kurzab,"
„Meister Auweh," oder „Meister Hämmerlein." Wie übrigens der zuletzt
erwähnte Name auch für den Teufel vorkommt, so sind vielleicht mich ni
manchen deutscheu Redewendungen Henker und Teufel miteinander vermischt
worden, wobei es nahe liegt, an eine Vermittlung durch den Ausdruck „Hinter"
(der dünkende, vgl. ahd. niickclm, nenollM, ahd. llinlcen, denken; Wurzel: irrte
aus indogerm. lclieng) für den bvcksfüßigen Teufel (angels. liellvlnnoa) zu
denken 'Wenn wir z. B. einem unliebsamen Störenfried zurufen: „Zum
Henker, laß mich doch in Ruhe" oder „packe dich (scher dich) zum Heuler"
oder ihm wünschen, „der Henker solle ihn holen," oder wenn wir jemand
voll Erstaunen über einen sonderbaren Vorschlag fragen: „Reitet dich denn
der Henker?" oder etwas bekräftigen mit: „Das müßte mit dem Henker
zugehen," etwas ablehnen durch: „Ich kümmere mich den Henker darum"
oder endlich in zorniger Verzweiflung ausrufen: „Das mag der Henker
wissen" (woher das kommt), so liegt in allen diesen Füllen zwar nicht gerade
eure Nötigung vor, das Wort Denker auf Teufel zu beziehen, aber doch sind die
Wendungen gewiß teilweise denen mit Teufel nachgebildet. Ganz zweifellos ist
dagegen der Zusammenhang mit dem Strafvollzugsorgan früherer Zeiten in den
Verbindungen „Henkersfreundschaft," „Henkersdienste," „Henkerlohn"
(übertriebne Forderung für im Grunde geringfüge Leistungen), „Henkersfrist"
(-^ Galgenfrist) und „Henkersmahl"' oder „Henkersmahlzeit." die uns
heute als Abschiedsmahl von guten Freunden aufgetischt werden kann, auch wenn
es sich noch nicht um die Reise ins Jenseits handelt.
Die berufsmäßige Ausübung von Strafvollstreckungen hätte an und für
sich bei den ja ziemlich derben Anschauungen unsrer Vorfahren wohl kaum die
allgemeine Geringschätzung und Verachtung des Scharfrichters zu zeitigen ver¬
mocht, wenn er'nicht zugleich auch fast immer das im wahrsten Sinne des
Wortes „anrüchige" Gewerbe des Abdeckers mit seinen übrigen Amtsgeschäften
vereinigt hätte. In dieser Eigenschaft wird er auch wohl als „Waseumeister"
(von Wasen ^ Rasen, ahd. or-iso, ahd. pfiff), als Filter (von fillen, ahd.
und ahd. vetter, das Fell abziehen). Caviller (Cavalier. vielleicht mit An¬
lehnung an e^ballns), Kafler. Kofler (noch jetck als Familienname erhalten),
als „Schinder" (von schinden, ahd. Soiron, ahd. sollinclen, entsanken, schalen,
hart mißhandeln, dann auch im übertragnen Sinne: plagen, aussaugen, vergl.
Leuteschiiider und sich fabsschinden), zuweilen aber auch als „Schelm" oder
„Rücker" bezeichnet — zwei Ausdrücke, die im Laufe der Zeit einen sehr auf¬
fälligen Bedeutungswechsel durchgemacht haben. „Racker" (abzuleiten nicht
von lÄvIcen recken, auf die Folter spannen, wie Lessrng meinte, sondern
von rücken ^- zusammenfegen) hat zwar zum Teil, namentlich in Nord-
dcutschland, wo es auch als Schimpfwort gebraucht wird, noch seine Grundbe¬
deutung bewahrt (daher auch: „sich jabjrackefrül" im Sinne von „eine mühselige
Arbeit verrichten, sich fabjschinden"), diese im ganzen aber doch schon so ab¬
geschwächt, daß es sogar als Bezeichnung für ein junges Mädchen vorkommt,
um deren Findigkeit, ja unwiderstehlichen Reiz auszudrücken. Die Bezeichnung
„Schelm" aber ist vollends jetzt fast nur noch als Kosename gebräuchlich,
und doch bedeutete gerade dieses Wort (echt. seal-no, ahd. Schelms) ursprünglich
soviel wie — Aas, totes (geschnndnes) Vieh, auch Seuche (Grundbedeutung
vielleicht Geschnittenes, Getrenntes, abzuleiten von der Wurzel stak, schueideii,
trennen, vergl.: Schale). Hierdurch wird auch die Benennung des Abdeckers
als „Schelmenschinder" verständlich. Im Laufe der Zeit wurde dann
„Schelm" ähnlich wie noch heute Aas, Luder und andre Worte vielfach als
Schimpfname für Personen gebraucht und erhielt dadurch die Nebenbedeutung
eines gemeinen, namentlich betrügerischen Mensche», Diesen Sinn hat
das Wort unter andern in dem „Schelmenschelten" des ältern Rechts, in
der uns noch jetzt verständlichen Redensart: „Du sollst mich einen Schelm
heißen" (wenn ich dies oder das tue) und in dem Sprichwort: „Ein Schelm
gibt mehr, als er hat." Kein Wunder also, daß mau als Schelm einst
auch den Nachrichter selbst bezeichnete (vergl,: „Der Schelm von Bergen" bei
Simrock und Heine), Von da aus hat dann das Wort endlich in neuerer
Zeit unter dem Einflüsse der volkstümliche«, derb scherzhaften Redeweise seine
Bedeutung immer mehr gemildert, bis es (ebenso wie Schalk) geradezu zu einem
Kosenamen für einen harmlos neckenden, „schalkhaften" Menschen geworden ist.
Beachtenswert ist es, daß das Wort Schelm in dein Sinne, den es auf
der zweiten Stufe seiner Entwicklung hatte (gemeiner Mensch, Schurke), in
früherer Zeit auch für den verurteilten Missetäter vorkommt. Wenn dieser nach
älteren Sprachgebrauch daher als „armer Schelm" („armer Mensch," „armer
Sünder" oder auch wohl bloß der „Arme") bezeichnet wird, so ist das keines¬
wegs — wie wir heute vielleicht annehmen möchten — als ein vom Mitleid
für die bevorstehenden Qualen des Bedauernswerten diktierter Ausdruck auf¬
zufassen, denn auch das Eigenschaftswort „arm" bedeutet in dieser Verbindung
nur soviel wie „von der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen." Der „arme
Sünder" aber, der z. B. noch in dem österreichischen, unter Maria Theresia
erlassenen Strafgesetzbuch von 1768 als juristische Bezeichnung des verurteilten
Delinquenten vorkommt, ist auch unsrer Volksrede noch jetzt ziemlich geläufig
geblieben, namentlich in zusammengesetzten Formen, wie die „Armesünder¬
miene" („Armesündergesicht") und das „Armesünderglöcklein," dessen
Läuten bei Hinrichtungen z. B. noch ausdrücklich im preußische» Strafgesetz¬
buch von 1851 vorgeschrieben war und altem Herkommen gemäß Wohl jetzt
noch stattfindet, ferner die „Armesünderzelle," die den Todeskandidaten in der
letzten Nacht beherbergt, der „Armesünderstuhl" oder die „Armesünder¬
bank" u. a, in. Auf den letzten Gang eines solchen armen Sünders zur Richt-
stüttc oder zum „Rabenstein" (so genannt nach den vielen Naben, die sich
bentelauernd dort aufzuhalten pflegten) soll sich nach einer Meinung, die manches
für sich zu haben scheint, eine ihrem Ursprünge nach sonst noch bestrittene
Redensart unsrer Sprache beziehen, nämlich: „Manschetten vor etwas
haben." Denn dabei hat man wohl nicht an unser heutiges Kleidungsstück
oder an die einst beim Kampfe der Fechter gebrauchten Manschetten (mMeüottczs
et«z« botto«) zu denken, sondern die Manschetten, die wahre Todesangst, das
wahre „Manschettenfieber" erzeugten, dürften „die Handschellen" gewesen
sein, die der Henker dem armen Sünder auf seinem Gange zum NichtPlatz anlegte.
Unterstützung findet diese Ansicht auch dadurch, daß es im Althochdeutscheu für
die Handschellen ein Wort mannlin, gab, eine Umbildung des lateinischen
ramea, das unsrer Sprache später wieder abhanden gekommen ist, während
sich bei den romanischen Völkern ein gewisser Zusammenhang zwischen den Aus¬
drücken für Handschellen und Manschetten erhalten hat, wie dies z. B. das
italienische ins-rio^ (Ärmel), nmirieo (Griff), umniczbiuo, iNÄMvllottlr (Manschette)
und ins.ki6leg, (Handschellen) und die französischen Wörter is» ir^nellvtwL und
IvL iQ0Q0des8 (Handschellen) noch erkennen lassen. Im heutigen Recht ist eine
Fesselung von Verurteilten und Gefangnen zu einer Ansnahmcmaßregel geworden,
nach unserm Sprachgebrauche aber kann im gewöhnlichen Leben jeder einmal ge¬
nötigt werden, sich von andern „die Hände binden zu lassen" oder den
Ereignissen gegenüber „mit gebundnen Händen" dastehn.
An die mannigfachen einzelnen Exekutionen, die einst von Henkershand auf
dem NichtPlatz vorgenommen wurden, hat unsre Sprache ebenfalls, namentlich
in ihrem Bilderschmuck, noch ein recht deutliches Andenken bewahrt. Beginnen
wir die Übersicht mit den sogenannten „peinlichen" Strafen (von Pein, Peer
— Strafe, ahd, xln-i, ahd. pino von dem lat. posrm, alae, pcMu, ausgesprochen,
vgl. it. par^) an „Leib und Leben," oder wie man in der ältern Zeit sagte,
„an Hals und Hand" (im Gegensatze zu „Haut und Haar," ,,^>r lind nul nu
dar«z," Sachsenspiegel II, 13, § 1), so ist unter diesen wiederum an erster Stelle
des Todes durch Aufhängen am Galgen (ahd. MlM, ahd. ZulM) zu gedenken,
auf dessen einstige weite Verbreitung ja schon die oben erwähnte Bevorzugung
des Namens „Henker" vor allen andern Shnonymen hindeutet. Diese uralte
Strafart, die schon Tacitus (Germania e. 12) für Verräter („xroäitorss se
triUT8t'uMö") erwähnt, war im Mittelalter weit verbreitet, insbesondre aber galt
sie damals in so hervorragendem Maße als die typische Strafe für Diebe,
daß sich Rechtssprichwörter bildeten, wie: „Die Fische sind nirgends besser als
im Wasser, der Dieb als um Galgen, der Mönch als im Kloster," und „Wer
sich des Stehlens getröstet, getröstet sich auch des Galgens," oder, wie es
in Frcidanks „Bescheidenheit" in gereimter Fassung heißt: „Mäuse soll man
fangen, Diebe soll man hangen."
Auch der Volkshnmor hat sich frühzeitig in zahlreichen drastischen Um¬
schreibungen für diese populärste aller Strafen gefallen. Wie man ursprünglich
Wohl die dem Strange verfallenen Missetäter einfach an landlosen, kahlen
Bäumen aufgeknüpft ' haben dürfte (vgl. das „in-boribus susxvnösrs" bei
Tacitus, Germ. o. 12), so wird auch noch in jüngern Quellen der Galgen oft
schlechthin der „dürre Baum" oder „Ast" genannt, woneben man ihn ver¬
einzelt freilich auch poetischer als „grünen" oder (mit Rücksicht auf seine Lage
auf freien, weithin sichtbaren Plätzen) als „lichten" Galgen bezeichnet. Als
er dann später die allbekannte, aus „drei Ballen" geformte Gestalt annahm,
erhielt er Namen wie „Dreibein" oder „himmlischer Wegweiser" oder
— besonders in der Gannersprache „Feldglocke." Dem entsprechen die
noch zahlreichern, den Ernst der Sache scherzhaft umhüllenden Wendungen für
den Tod am Galgen, das Gehängtwerden, wie — schon in älterer Zeit
etwa: „den Ast bauen" (d.h. bewohnen), „den dürren Baum reiten,"
,,ur der Luft reiten" oder „die Luft über sich zusammenschlagen
lafsciV' später noch: „fliegen lernen," „mit den Winden zu Tanze
gehen," „an der Herberge zu den drei Säulen als Bierzeichen aus¬
sauge«," „zum Feldbischof erhöht werden" (der den vorübergehenden
Leuten mit seinen Füßen den Segen gibt), „mit einem Spieß oder Pfeil,
daran man die Kühe bindet, erschossen" oder „mit einer Pfennig¬
semmel ans dem Seilerladen vergiftet werden." Wie sich die beiden
letzten Redensarten speziell auf den beim Hängen zur Verwendung kommenden
Strick (Ltrs,KA, sotiloxk, söll, >viSs) beziehen, das von, Seiler oder „Galgen¬
posamentier" angefertigte Fabrikat aus 5auf, dem „Galgenkraut," so
auch noch eine große Anzahl ähnlicher Wortspiele. Man läßt z. B. den Ge¬
henkten schlechthin „am Hanf sterben" oder „am grünen Baum im Hanf
ersaufen," „mit den Krähen sich durch ein Pfund Hanf beißen" oder auch
„in ein hänfenes Schnupftuch niesen," „das hänfene Pferd reiten,"
„durchs hänfene Fenster sehen" oder „eine .Hanfsuppe essen." Man
ziert ihn ferner mit einem „hanfenen Halsband" oder „Kragen," ladet
ihn zu einer „hanfenen Bratwurst" zu Gaste, traut ihn mit der „Haus¬
brand" oder läßt ihn „mit der Jungfer Hamsin Hochzeit machen," ja mit
ihr gar „einen lustigen Sprung von der Leiter tun." Wie sich einzelne dieser
ältern Redensarten mit unbedeutendem Veränderungen im Volksmunde bis in
die neuere Zeit zu erhalten vermochten (so z.B. „mit des Seilers Tochter"
oder „Jungfer Strick Hochzeit machen"), so spielt auch der -— unserm
Rechte jetzt unbekannte — Galgen noch in überaus zahlreichen einzelnen Wort¬
verbindungen unsrer Sprache eine Rolle. So gibt es bekanntlich noch jetzt
Leute, die eine richtige „Galgenphysiognomie" oder (ein „Galgengcsicht")
haben, und deckt sich deren Trüger mit einem richtigen, durchtriebnen Tunichtgut
oder Taugenichts, der allerlei „Galgenstreiche" (d. h. Schelmen- oder Schurken¬
streiche) verübt, vielleicht gar „falsch wie Galgenholz" ist, sodaß er in
frühern Zeiten leicht Bekanntschaft mit dem Galgen Hütte machen können, so
nennen wir ihn einen „Galgenstrick" (oder auch wohl bloß „Strick," d. h.
zunächst der Strick, mit dem der Verurteilte gehängt wurde, dann der Mensch, der
solchen Strick verdient) oder einen „Galgenbraten" oder „Galgenvogel" (ur¬
sprünglich die Raben und Krnheu, „des Henkers Tauben," auf dem „Rabenstein,"
denen der Gehenkte zur Nahrung diente, dann in übertragnem Sinne dieser
selber), auch wohl einen „Galgenast" (am „dürren Baum") oder einen
„Galgeuschwcngel" (als „Klöppel" in der „Feldglocke"; vgl.: „am Galgen
baumeln" hängen). Wir halten nicht viel von einer „Galgenreue,"
d. h. einer solchen, die zu spät kommt, wie bei dem Verurteilten in seiner
Todesangst, oder auch, die nur um die bösen Folgen der Sünde, nicht
über diese selbst trauert. Ebenso sind wir selten erbaut von einer „Galgen¬
frist," durch die irgend ein unangenehmes, aber unvermeidlich bevorstehendes
Ereignis nur um kurze Zeit hinausgeschoben wird, wie früher manchmal
die Strafvollstreckung für den zum Galgen Verurteilten. Auch wundern
wir uns zuweilen über das „Galgenglück" (Diebes-, Schelmeuglück), das
einzelne Menschen haben, denn das ist ein eigentlich ebenso unerwartetes und
unverdientes Glück, wie es früher manchmal noch dem schon am Galgen
Hängenden zuteil wurde, wenn etwa der Strick riß — ein Vorgang, der
ihm nicht selten die Straflosigkeit gewährte. Gedenken wir endlich noch der
„Galgenfreude" für „Schadenfreude," des „Galgenhumors," eiuer Mischung
von Scherz und Verzweiflung, die auch noch heute mancher unter sehr kritischen
Umstünden zeigt, ähnlich wie sie früher der Todeskandidat auf dem Wege
zum Galgen öfter noch entwickelt haben mag, so sind damit die hauptsäch¬
lichsten, jetzt noch allgemeiner gebräuchlichen Zusammensetzungen mit „Galgen"
aufgezählt. Denn nur auf kleinere Kreise ist wohl der Gebrauch der Ausdrücke
„Galgenschieber" für einen Auditeur (z.V. in der österreichischen Svldateu-
sprache) und „Galgennägel" für ein Gericht Mohrrüben beschränkt geblieben.
Zu erwähnen ist aber noch, daß auch viele unsrer heutigen Flur- und Straßen¬
namen auf die Plätze hinweisen, wo einst die Galgen gestanden haben. Um
diese Wahrzeichen der Gerechtigkeit den sich dem Stadtgebiete Nähernden wo¬
möglich schon aus weiter Ferne vor Augen zu führen, pflegten sie mit Vor¬
liebe auf freiem Felde, an der offnen Heerstraße, an Wegscheider, namentlich
aber auf weithin sichtbaren Anhöhen in der Umgebung errichtet zu werden.
Daraus erklärt sich das häufige Vorkommen der „Galgenberge" in den ver¬
schiedensten Gegenden Deutschlands (so z. V. bei Hildesheim, Wetzlar, Büdingen
in Hessen), die sich übrigens zuweilen eine aus neuerer Zeit stammende euphe¬
mistische Umgestaltung haben gefallen lassen müssen, wie der „Gallberg" bei
Gotha, der „Kahlenberg" bei Zug und Luzern, ja vielleicht auch der weit¬
berühmte „Kohlenberg" bei Basel. Ebenso hat man das „ Galgentor" (z. B.
noch in Nürnberg) in ein „Kalktor" (so in Zeitz) oder in ein „Gallnstor"
(so in Frankfurt um Main), die Galgcngasse in eine „Gallusgcisse" (Frank¬
furt am Main) umgewandelt. Mit dem „Gallenfett" für Galgenfeld, d. h. das
Grundstück, worauf sich der Galgen befand, ist endlich wohl auch der nicht seltene
Familienname Gallenkamp verwandt.
(Fortsetzung folgt)
adame Haßlacher hatte sogleich nach Marlgnys Abreise das „Atelier"
ihres Seligen einer gründlichen Reinigung unterworfen und dann
wieder den Äpfeln eingeräumt. Aber es schien beinahe, als ob sich
die schonen Renetten, Kalvillen und Schlotterkerne in diesen bösen
Zeitläuften ihres alten Domizils nicht mehr erfreuen sollten, denn
kaum hatten sie den Raum mit ihrem feinen Duft erfüllt, so erschien
ein österreichischer Quartiermacher, um ihn sür vier oder fünf blessierte Rotmttntler
in Anspruch zu nehmen. Diese Gefahr wurde zwar zum Glück noch einmal ab¬
gewandt, denn die Wittib erinnerte sich rechtzeitig ihrer Beziehungen zum kurfürst¬
lichen Hofe, rannte in ihrer Herzensangst zum Kapnuncustopfer Schickhausen und
ersuchte ihn, auf dem schon oft begangnen Instanzenwege für ihre Befreiung von
der Last einer Einquartierung zu wirken. Ein paar Körbe der besten Apfel, an
den Hcmptstatiouen des gedachten Wegs zurückgelassen, taten ein übriges, und so
erhielt die wackre Frau denn noch vor dem Eintreffen der Österreicher ein vom
Rate ausgefertigtes und gesiegeltes Zertifikat, worin zu lesen stand, daß sie als
alleinstehende Wittib mit Einquartierung zu verschonen und berechtigt sei, die ihr
zugedachten Soldaten an das Kartäuserkloster zu verweisen.
Trotz eines solchen Schutzbriefs fühlte sie sich aber nicht ganz sicher. Sie
hatte die Erfahrung gemacht, daß in Kriegszeiten Papier wenig gilt, und daß
Militärbehörden die Verfügungen eines hochweisen Magistrats nicht immer respek¬
tieren. Deshalb konnte sie sich, wenn sie allmorgentlich die stark gelichteten Reihen
ihrer Äpfel musterte, eiues bangen Gefühls nicht erwehren.
Heute weinte die Wittib, zwischen deu Strohschütten stehend, sogar helle
Tränen. Aber diese galten nicht den gefährdeten Früchten, sondern dem bisherigen
Inhaber der Mansardenwohnung, der, wie sie soeben von einer Nachbarin, der
Waschfrau des PostHalters Barth, vernommen hatte, vor einer Woche in Trier
eines gewaltsamen Todes verblichen war. Wenn Marigny nur auf ihre War¬
nungen gehört hätte! Sie war nur eine einfache Bürgersfrau, aber daß die Reise
ihres Franzosen ein Ende mit Schrecken nehmen würde, das hatte sie gleich ge¬
ahnt! Nun war er tot. von Meuchelmördern in dunkler Nacht hingemordet in
eiuer Stadt, wo ihn niemand kannte, niemand eine Seelenmesse für ihn lesen
lassen würde!
Sie wählte die größte und schönste Renette aus, um sie zur eignen Tröstung
zu verzehren und so wenigstens einen bescheidnen Leichenschmaus zu Ehren des
Verstorbnen zu veranstalten. Dabei entdeckte sie ein paar faule Apfel, die sie nicht
liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten ver¬
derben, nirgends mehr Giltigkeit als gerade in der Obstkammer hat. Sie nahm
sie von ihrem Siechenbett ans Stroh auf und öffnete das Fenster, um sie nach
ihrer alten Gepflogenheit ins Freie zu befördern. Da sie aber nicht ganz bei der
Sache war, schleuderte sie den guten Apfel ins Ungewisse und behielt dafür die
faulen in ihrer Schürze zurück. Als sie dann, in ihrer Wohnstube wieder ange¬
langt, das Versehen bemerkte, konnte sie nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit
zwischen ihrer Handlungsweise und der des Schicksals festzustellen. Und unter
einem erneuten Tränengusse stammelte sie: Der beste von alleu hat untergehn
müssen, und die andern, die gar nichts langen, leben ruhig weiter!
Etwa um die nämliche Zeit flössen auch noch in einem zweiten Hanse der
Stadt um den Marquis vou Marigny Tränen.
Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Post-
halterei gegangen war, um nach Briefen zu fragen, war, als er wieder einmal
vorsprach, in das Privatzimmer des Postmeisters geführt worden, wo man ihn von
dem in Trier erfolgten Tode des alten Herrn in Kenntnis setzte. Der Postillon,
der am letzten Samstag von Kochen gekommen sei, habe die Nachricht mitgebracht,
es sei derselbe, der den Verstorbnen vor acht Tagen bis zur ersten Station ge¬
fahren habe und thu daher genau kenne und zu beschreiben vermöge. Nach allem,
was der Mann gesagt habe, dürfe man leider nicht daran zweifeln, daß der Herr
Marquis in der Tat der alte Franzose wäre, dessen Ermordung letzten Freitag in
Kochen durch Reisende, die aus Trier gekommen waren, gemeldet worden sei.
Wenn Henri und Marguerite auch keine» Augenblick gezweifelt hatten, daß
Marigny das Ziel seiner Reise unter den gegenwärtigen Umständen nie erreichen
werde, so wurden sie doch durch die so bald schon eingelnufue Nachricht von seinem
Tode muss höchste überrascht und erschüttert. Sie machten sich Vorwürfe, weil sie
jeden Versuch unterlassen hatte», den Vater vou seinem tollkühnen Vorsatz abzu¬
bringen, und suchten sich zugleich wieder vor sich selbst mit dem Hinweis ans die
plötzliche Abreise, die einen solchen Versuch unmöglich gemacht habe, zu rechtfertigen.
Sie hatten beide mit ihrem Kummer soviel zu tun, daß Henri sich erst nach einigen
Tagen der mit der Annahme der bewußten Kiste übernommnen Verpflichtung ent¬
sann, die darin eingeschlossene Kassette weiter zu befördern.
Er holte die Kiste nun aus ihrem Bersteck hervor und öffnete sie in Gegen¬
wart seiner Frau. Das versiegelte Papier, das am Deckel des eisernen Kästchens
befestigt war und offenbar den Schlüssel enthielt, trug die Aufschrift: „An Frau
Marguerite von Villeroi, geborne Marquise von Marigny."
Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und
den Verband seiner Hand, der sich verschoben hatte, wieder in Ordnung brachte,
ich übergebe dir hiermit die Kassette in dem Zustande, wie ich sie der Kiste ent¬
nommen habe.
Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen
los und ließ den Deckel aufspringen. Sie fand znnüchst einen Brief, den sie hastig
auseinanderfaltete und mit ruhiger, nur zweimal von Schluchzen unterbrochner
Stimme dem Gatten vorlas. Er lautete:
Wenn du diese Zeilen zu Gesicht bekommen wirst, werde ich nicht mehr unter
den Lebenden weilen. Aber welches Schicksal mir auch bestimmt sein mag, das
eine weiß ich gewiß: mein letzter Gedanke wird meine Marguerite sein, und den
letzten Atemzug werde ich dazu verwenden, dich und die Deinen zu segnen. Was
zwischen uns gelegen hat, vergiß es, wie ich es längst vergessen habe. Ich habe
nie aufgehört, dich zu lieben, ja als einer, der sich zum Sterben bereit macht,
darf ich es bekennen: ich habe dich nie heißer geliebt, als von dem Augenblick an,
wo ich dich verloren hatte. Was uns trennte, war das, was uns auch verband:
das Blut der Marignys. Deinen Gatten bitte ich für all die Kränkungen, die ich
ihm zugefügt habe, von ganzem Herzen um Verzeihung. Versuche du es, durch
Liebe und Treue gutzumachen, was dein armer Vater an ihm gesündigt hat. Er¬
ziehe deinen Sohn, meinen teuern Enkel, den Gott segnen möge, so, daß er ein
Ehrenmann wie Henri und ein echter Billeroi wird. Ich fürchte ohnehin, daß er
allzuviel von uns Marignys hat. Stirn und Nase wenigstens hat er ganz sicher¬
lich von uns, und dazu noch von dir die Augen und das Haar. Das sind ja
leine Fehler, aber ich glaube, dein Mann wird wünschen, daß er ihm mehr
gliche. Sieh also zu. was du in dieser Hinsicht durch die Erziehung auszurichten
vermagst.
Dieser Brief soll zugleich auch mein Testament sein, und ich bitte dich, ihn
dafür anzusehen, wenn ihm auch die für ein solches Dokument vorgeschriebne
Fassung und die notarielle Beglaubigung fehlen. Dir. liebe Marguerite. als meiner
einzigen Tochter und alleinigen Erbin, vermache ich die in dieser Kassette einge¬
schlossenen nud auf der beiliegenden Liste verzeichneten Juwelen. Es ist das Letzte
von Geldeswert, was mir nach der Konfiskation des Gutes Aigremvnt — die zu
gelegner heit anzufechten ich dir, übrigens empfehle — geblieben ist. Vor etwa
sechs Jahren ließ ich die Steine von Herrn Dnvoisin, Juwelier des Königs,
taxieren. Er berechnete ihren Wert ohne die Fassung, die auch kaum in Betracht
kommt*anf 180000 Livres. Aber das war, wie gesagt, vor sechs Jahren, und
seitdeni ist der Preis der Edelsteine jedenfalls beträchtlich gesunken. Wenn du sie
veräußerst — und dazu möchte ich dir raten —, so tue es nicht in Koblenz, wo
man sie weit unter ihrem Werte bezahlen würde, sondern wende dich nach Frank¬
furt. Am besten wird es sein, du überläßt die Abwicklung dieses Geschäfts
deinem Mann.
Ich bitte dich jedoch, das Armband mit dem großen Opal und die Busen¬
nadel mit den drei Rubinen nicht zu verkaufen, sondern diese Stücke zur Erinnerung
an deine selige Mutter und mich zurückzubehalten. Die goldne Dose mit dem Bild¬
nisse des Kurfürsten von Trier, die er mir selbst verehrt hat, bitte ich Henri als
ein kleines Gedenkzeichen anzunehmen. Die Uhrkette aus dreifarbigen Gold mit
den Amcthystberlocken bestimme ich meinem Enkel. Er äußerte, als ich im Juli
vorigen Jahres das Vergnügen hatte, mich mit ihm zu unterhalten, den Wunsch,
sie zu besitzen. Desgleichen bestimme ich ihm mein von seinem Vater gemaltes
Miniaturporträt. Der Junge soll doch wissen, wie sein Großvater, für dessen Da¬
sein er der letzte Sonnenstrahl war, ausgesehen hat! Des weitern wirst du, liebe
Marguerite, in der Kassette ein Buch finden. Es enthält, von meiner eignen Hand
geschrieben, alle Kochrezepte, die ich selbst zu erproben Gelegenheit gehabt habe,
und die ich mit gutem Gewissen als in jeder Hinsicht bewährt empfehlen kann.
Viele von ihnen beruhen auf mündlicher Mitteilung berühmter Kenner und Fach¬
leute; es genügt wohl, wenn ich dir die Versichrung gebe, daß der Herzog von
Richelieu mit vier Suppen, zwei Fischgerichten, sechzehn Entremets und neun Fleisch¬
speisen vertreten ist. Ihr werdet allerdings zunächst wohl kaum dazu kommen, das
Buch bei der Zusammenstellung und Jubereitnng der Mahlzeiten zu Rate zu ziehn,
aber ich sollte denken, es müßte Henri, der in Aigremont jederzeit ein feines Ver¬
ständnis für außergewöhnliche Platten an den Tag legte, Vergnügen bereiten, hin
und wieder einmal ein wirklich gutes Rezept zu lesen.
Und um, meine Lieben, statt langer Abschiedsworte nur die eine Bitte: Be¬
wahrt euerm Vater und Großvater ein freundliches Gedächtnis!
Geschrieben zu Koblenz am 18. Januar 1793.
?. 8. Die mit einem " bezeichneten Rezepte sind meine eignen Erfindungen.
Die junge Frau legte den Brief auf den Tisch und blickte zu ihrem Mann
empor, der während des Vorlesens neben ihr gestanden und seine gesunde Hand
auf ihre Schulter gestützt hatte. Als sie in seinen Augen Tränen bemerkte, brach
sie in lciutes Weinen ans. Auch das Büblein, das auf einem Teppiche am Boden
saß und sich damit beschäftigt hatte, dem aus Papier geschulteren und mit Wasser¬
farben angepinselten Konterfei des Generals Dumouriez die Stiefel abzulecken,
verzog, durch das seltsame Gebaren der Eltern erschreckt, das angeschwärzte
Mäulchen und machte Miene, in die Sclunerzensäußerungen der Mutter einzu¬
stimmen. Da aber der kleine Claude die von der Mariguyschen Seite ererbte
Hartnäckigkeit nie ausgiebiger zu betätigen pflegte als beim Schreien, so suchten
ihn die Eltern, sobald sie das zu ihren Füßen heranziehende Unwetter bemerkten,
mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu beruhigen, was für sie selbst unter
den gegebnen Umständen eine heilsame Ablenkung bedeutete. Da aber alles nicht
recht verfange» wollte, durchwühlten sie die Kassette nach dem großväterlichen
Uhrgchänge, das denn seine aufheiternde Wirkung auf das Gemüt des Enkels auch
nicht verfehlte. Und weil man nnn einmal mit der Durchmusterung der Schätze
begonnen hatte, so entschloß man sich, diese Beschäftigung fortzusetzen. Marguerite
stellte die Kapseln mit den Schmuckstücken geöffnet im Halbkreise vor sich auf den
Tisch und ließ die Diamanten mit ihren Tränen um die Wette funkeln, während
Henri, nachdem er die Steine flüchtig betrachtet hatte — er war als echter Villeroi
kein Kenner von Pretiosen! —>, nach dem Pergamentbande griff und de^rin zu
blättern begann.
Wenn es wahr ist, daß die Ruhe eines Toten von der gewissenhaften Er¬
füllung seiner letztwilligen Bestimmungen abhängt, so hätte sich Marigny einer
ausgezeichneten Ruhe erfreuen müssen, vorausgesetzt, daß er wirklich tot gewesen
wäre. Aber das Schicksal, das dem alten Edelmann gegenüber manches wieder
gut zu machen hatte, wollte ihm wenigstens schon hier die Freude bereiten, die
andre Testatoren bestenfalls im Jenseits erleben. Und so ließ es ihn denn gerade
in dem Augenblick das Haus in der Weisergasse betreten, wo Marguerite sich das
Armband mit dem Opal über die schmale Hand gestreift hatte und die Bnscnnndet
mit den Rubinen zwischen den schlanken Fingern hielt, wo Henri das Rezept zu
einer „Schildkrötensuppe auf portugiesische Art" las, und der kleine Claude die
Uhrkette in den Händchen hielt und sich mit dein aussichtslosen Versuche abmühte,
den Amethyst mit dem Mariguyschen Wappen in den winzigen Mund zu zwängen.
Die Familie vernahm allerdings uns dem Vorsnale Schritte, aber sie glaubte,
es sei die Nachbarin, die für Marguerite Einkäufe zu machen weggegangen war
und um diese Zeit zurückkehren mußte. Nun wurde an die Tür gepocht und
auf Henris „Herein!" trat ein Mann ins Zimmer, und dieser Mann war der als
tot beweinte Vater!
Das Erstannen des Villeroischen Paares fand allerdings keinen so elemen¬
taren Ausdruck wie das der Kochemer Wirtin und ihrer Stammgäste, aber es gab
sich doch in unzweideutiger Weise als ein grenzenloses, mit Schreck gemischtes Er¬
staunen zu erkennen.
Da bin ich wieder! sagte der Ankömmling. Aus der Reise uach Paris ist
nichts geworden. Der, dem ich mich zur Verfügung stellen wollte, lebt nicht mehr.
Der König ist tot —
Es lebe der König! ergänzte Villeroi die alte Losung der Royalisten.
Henri, wahrhaftig, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Es lebe Ludwig
der Siebzehnte! Und Gott gebe, daß er auch als König leben möge! rief der
Marguis. Und leiser setzte er hinzu: Ich wage kaum noch, darauf zu hoffe». Das
arme, arme Kind!
Ans Marguerite hatte die längst erwartete Nachricht von der Hinrichtung des
Königs keinen sonderliche» Eindruck gemacht. Die Freude über die Rückkehr des
totgesagten Vaters überwog jedes andre Gefühl und äußerte sich zunächst in der
gewiß höchst überflüssigen Frage:
Und Sie sind wirklich nicht ermordet worden, lieber Vater?
Nicht, daß ich wüßte, gab Marigny, der Gleiches mit Gleichem vergelte»
wollte, zurück. Er befühlte sich dabei, als müsse er auch sich selbst von seiner
körperlichen Existenz überzeugen.
Man hat also auch hier das alberne Märchen von meinem Tode erzählt?
fragte er, und ihr habt daran geglaubt?
Würden wir sonst die Kiste geöffnet haben? entgegnete Villeroi, indem er
nach den auf dem Tische ausgebreiteten Kostbarkeiten wies. Der Postmeister ließ
mich zu sich rufen und teilte mir mit, Sie seien am Morgen des 23, in Trier
ermordet ausgefunden worden.
Davon ist mir nichts bekannt, bemerkte Marigny trocken und mit einem leichten
Tone der Verstimmung, zu dem er sich nur zwang, weil er sich nicht merken lassen
wollte, wie froh er im Grunde war, daß dieser Besuch bei seinen Kindern ohne
die herzbewegende Versöhnungsszeue ablief, vor der er sich immer am meisten ge¬
fürchtet hatte. Wie ich sehe, bemerkte er mit einem Anflug von heiterer Laune,
habt ihr auch schon die Erbschaft euers ermordeten Vaters angetreten. Nun, mein
kleiner Bursch — hier beugte er sich zu dem Enkel hinab, hob ihn auf und
tänzelte mit ihm durch das enge Gemach —, da hast du sie jn schon, die Kette!
Früher, als Großvater sichs damals ahnen ließ. Tut nichts, Bürschchen, tut nichts!
Wenn sie dir nur Freude macht!
Wie habt ihr deu Jungen eigentlich genannt? wandte er sich an seine
Tochter.
Claude Henri Bayard! antwortete diese.
Und welches ist der Rufname?
Claude.
Claude? Wahrhaftig? Kinder! Trotz allem habt ihr ihn Claude genannt?
Glauben Sie, Herr Marquis, daß Mißverständnisse geringfügiger Natur uns
hätten davon abhalten können, dem Jungen den Namen seines Großvaters zu
geben?
Ach, die Mißverständnisse! Henri, Marguerite! Wenn ihr wüßtet, wie ich
diese Mißverständnisse schon verflucht habe! Ich habe in mancher schlaflosen Nacht
darüber nachgegrübelt, was an diesen — nun ja, ihr versteht mich schon — die
Schuld tragt. Und da bin ich denn zu der Einsicht gekommen, es sei nichts andres
c>is unsre erbärmliche Charakterfestigkeit. Ja, Henri, das gilt dir mich, du hast
einen ebenso harten Schädel, wie wir Marignhs, also verteidige dich nicht! Der
emzrge Unterschied ist der. daß die Charakterfestigkeit bei uns ihres Ziels bewußter
und nachhaltiger auftritt als bei euch Villerois. Ihr seid sprunghafter in euern
Entschlüssen, ihr verrennt euch heute in dies und morgen in jenes, und dann
wundert ihr euch, wenn ihr weder vorwärts noch rückwärts könnt. — Marguerite,
nimm mir doch einmal den Jungen ab, es kommt mir vor, als ob er nicht so
recht trocken wäre! — In Zukunft werden wir gut daran tun, ein wenig aufein¬
ander Rücksicht zu nehmen, dann werden sich Mißverständnisse sicherlich vermeiden
lassen. Vorausgesetzt übrigens, daß ihr noch Lust habt, mit euerm alten Vater,
der nichts mehr sein nennt als die Kleider, die er ans dem Leibe trägt, zu Ver¬
kehren.
Sind diese Dinge dort plötzlich so sehr im Preise gesunken, daß Sie sie für
nchts rechnen? fragte Villeroi, indem er auf die Pretiosen deutete.
Mein Lieber, entgegnete Marigny. diese Dinge gehören, wie du weißt, nicht
mehr mir. Ich habe nie vernommen, daß ein Testator sein eignes Testament
hinterher angefochten hätte.
Erbschaften können doch erst angetreten werden, wenn der Erblasser auch
wirklich gestorben ist, bemerkte Henri.
Kinder, ihr werdet doch nicht verlangen, daß euer Vater, bloß um eine solche
Formalität zu erfüllen, sich hinlege und sterbe?
Marguerite hatte inzwischen die Kapseln mit den Schmucksachen wieder in die
Kassette gelegt und den Deckel ins Schloß fallen lassen. Ihr Mann zog das
Schlüsselchen ab und hielt es dem Marquis hin. Wir verlangen weiter nichts,
sagte er, als daß Sie den Schlüssel zu sich stecken und bestimmen, wann Sie den
Kasten in Ihre Wohnung gebracht zu haben wünschen.
Geht nicht, mein Freund, geht nicht! Erstens habe ich mich des Besitzrechts
an diesen Dingen entäußert, und zweitens habe ich noch gar keine Wohnung. Ich
bin von der Post sogleich hierher gekommen. Ich glaubte, daß ein tapfrer Soldat,
der der roycilistischen Sache seine rechte Hand zum Opfer gebracht hat, ein Anrecht
darauf habe, die Nachricht vom Tode seines Königs zuerst vor allen andern zu
erhalten. O Henri, setzte er hinzu, und jetzt stiegen dem alten Manne die Tränen
in die Augen, wenn du wüßtest, wie ich dich um deine Verwundung beneidet
habe! Du hast dem Könige wenigstens eine Hand opfern dürfen. Ich wollte
mein Leben für ihn lassen, aber das Schicksal hat mein Opfer zurückgewiesen.
Weil es Sie Ihren Kindern und Ihrem Enkel erhalten wollte! entgegnete
Villeroi.
Zu was wäre ich alter Mann noch nütze! sagte der Marquis, indem er sich
seufzend auf einen Stuhl fallen ließ und dem zu seinen Füßen spielenden Kinde
über das Köpfchen strich. Ich bin ja nie zu etwas nütze gewesen. Und deshalb
wünsche ich auch, daß ihr den Kasten dort behaltet. Ich kann ihn entbehren, ich
werde schon nicht verhungern, aber ihr, ihr seid in Not, ja Henri, leugne es nicht,
ich weiß es wohl: ihr seid in Not, und mit dem Malen ists nun auch vorbei, und
deshalb sollt ihr die Pretiosen behalten. Wenn ich Geld brauchte, hätte ich sie
längst verkauft. Das könntet ihr euch doch selbst sagen. Kurzum, ich will deu
Kasten nicht mehr, er steht mir nur im Wege, und es ist mir auch lästig, ihn Tag
und Nacht bewachen zu müssen. Also tut mir den Gefallen und befreit mich
davon!
Und da jeder der beiden Männer auf seinem Kopfe bestand und keiner dem
andern an Edelmut und Opferfreudigst etwas nachgeben wollte, so drohte der
Starrsinn, der, wie wir wissen, die gemeinsame Eigentümlichkeit der Häuser
Marigny und Villeroi war, einen neuen ernstlichen Zwist herbeizuführen. Aber
da zeigte es sich, daß wenigstens einer der drei Menschen aus den Erlebnissen der
letzten Jahre eine Lehre gezogen hatte und diese Lehre zu beherzigen verstand.
Es war Marguerite.
Wenn hier jemand über die Dinge in dieser Kassette zu bestimme» hat, so
bin ich es, sagte die junge Frau. Sie, lieber Vater, haben freiwillig auf ihren
Besitz verzichtet, und dich, mein guter Henri, geht der Kasten überhaupt nichts an.
Du hast deine Tabatiere, und damit gut! Wünschest du noch etwas zu sagen?
Nein? Dann sei so freundlich und setze dich still hierher! So. Nun weiter! Ich
erkläre hiermit, daß ich das Geschenk annehme —
Das darfst dn nie und nimmer! fuhr Henri auf.
Still, mein Freund! — Daß ich das Geschenk annehme —
Sehr gut! bemerkte der Marquis.
— Aber nur unter gewissen Bedingungen, fügte Marguerite hinzu.
Nichts von Bedingungen! rief Marigny.
Bitte, lieber Vater, unterbrechen Sie mich nicht! Diese Bedingungen sind
folgende: Ich nehme die Juwelen nicht für mich, sondern für Claude an und be¬
trachte mich nur als die Verwalterin des daraus zu lösenden Vermögens.
Vorzüglich! bemerkte der Großvater.
Aber bei dieser Vermögensverwaltung bedarf ich der Unterstützung und des
Rath erfahrner Männer. Dabei rechne ich zunächst auf Sie, Vater. Sie sind in
Geschäften erfahren, Sie besitzen Scharfsinn, Weltklugheit und Vorsicht.
Marigny lächelte geschmeichelt, machte aber, weil die Bescheidenheit es erfor¬
derte, eine abwehrende Handbewegung.
Sodann wähle ich zum zweiten Beirat dich, Henri. Dn kannst als Claudes
natürlicher Vormund Anspruch darauf erheben. Ihr beide würdet alle Verfügungen
gemeinschaftlich zu treffen haben. Im Falle einer Meinungsverschiedenheit behalte
ich mir die Entscheidung vor. Es würde unbillig sein, die Leistungen, zu denen
ihr euch verpflichtet, umsonst zu verlangen. Aus diesem Grunde bestimme ich die
Hälfte der Zinsen zum Unterhalt der drei Vermögensverwalter, während die andre
Hälfte zum Kapital geschlagen werden soll. Zur Ersparung unnötiger Ausgaben
mache ich endlich zur Bedingung, daß Sie, lieber Vater, bei uns Wohnung nehmen.
Wir können Ihnen freilich nur eine bescheidne Kammer zur Verfügung stellen,
über ich dächte, jemand, der von seinem Enkel abhängig ist, müßte damit auch zu¬
frieden sein.
Ich finde, daß Marguerite sehr vernünftig gesprochen hat, erklärte der Marquis,
sehr gescheit, wie man es von einer Marigny nicht anders erwarten durfte. Er
machte eine Geste, die offenbar andeuten sollte, daß er die Komplimente, mit denen
Marguerite ihn bedacht hatte, nun prompt zurückgezahlt habe.
Aber über einen Punkt erbitte ich noch eine Aufklärung, fuhr er fort, in
welcher Weise soll das Kapital augelegt und nutzbar gemacht werden?
Das wäre der erste Punkt, der zu beraten wäre, entgegnete die junge Frau,
ich frage zunächst, ob ihr bereit seid, mit mir zusammen die Verwaltung von Claudes
Vermöge» zu übernehmen.
Was tut man nicht für einen Enkel! rief der Marquis.
Und für eiuen Sohn! ergänzte Villeroi.
Gut! Meine Bedingungen sind also angenommen.
Eine Frage, Marguerite! sagte Marigny. Wir haben immer nur von dem
kleinen Burschen dort gesprochen. Wenn um das Schicksal bestimmt haben sollte,
de>ß — um, du Verstehst mich vielleicht —, ich meine, du und Henri, ihr seid
beide noch jung — und da wäre es doch nicht ganz ausgeschlossen, daß eines
Tags noch so ein kleiner Kerl oder meinetwegen auch ein niedliches Frauen-
zimmerchen ankommen konnte — sollten die etwa ganz leer ausgehn?
^ Die junge Frau schien, obwohl sie sich eifrig mit dem Kinde beschäftigte, die
^rage sehr genau verstanden zu haben. In diesem Falle tritt Teilung zu gleichen
Teilen ein.
Selbstverständlich! warf Henri dazwischen, es wäre Unrecht, wenn wir ein
' " ^r deu andern begünstigen wollten. Meinem Herzen wenigstens werden
ane inder gleich „nahe stehn. Sind Sie nicht derselben Ansicht, Vater?
^cun — entgegnete der alte Herr, darüber ließe sich doch streiten. Eine
Bevorzugung des Erstgebornen ist jn nichts Ungewöhnliches. Ich für meine Person
"'ches dagegen haben, wenn Claude ein wenig besser gestellt würde als
seine Geschwister. Ich habe für den Jungen eine besondre Vorliebe. Das mag
freilich daher kommen, weil ich die Enkel, mit denen ihr mich in Zukunft zu er¬
freuen gedenkt, noch uicht keime. Vielleicht trifft bezüglich dieses Punktes Mar¬
guerite selbst die Entscheidung. ^ " .
r^i heilte meine Bestimmung aufrecht, sagte die junge Frau mit großer Ent¬
schiedenheit, Teilung zu gleichen Teile»!
Gut! Gehn wir also zur Erörterung der Frage über, in welcher Weise das
Capital anzulegen wäre, bemerkte Marigny.
Zunächst müßten die Juwelen zu Geld gemacht werden, meinte Henri.
Und das wird schwer halten, wenn man nicht allzuviel dabei einbüßen will,
Ueber Schwiegersohn. Ich rate zu einem Versuche mit Frankfurt. Natürlich müßte
man abwarten, bis die Straßen wieder frei sind.
Und gesetzt, es gelänge uns, die Steine zu verkaufen — was fangen wir
dann mit dem erlösten Gelde an? fragte Marguerite.
Wir leihen es auf Zinsen aus, erwiderte Henri eifrig.
Jetzt — in diesen unsichern Zeiten? warf der Marquis ein. Ich glaube
nicht einmal, daß wir einen Abnehmer dafür fänden. Der Handel liegt danieder,
die Manufakturen ruhn, und niemand wagt etwas zu unternehmen, weil man nicht
weiß, wils der nächste Tag bringen wird. Dcis beste scheint mir: wir nutzen die
Zeitverhältnisse ans und erwerben hier in der Nähe Grundbesitz. Unser Vaterland
wird uus verschlossen bleiben, solange die Leute, die die Herrschaft an sich gerissen
haben, noch am Ruder sind; der Kurfürst kündigt uns über kurz oder laug die
Gastfreundschaft; und so sind wir gezwungen, uns eine neue Heimat zu suchen.
Ein Land auf der rechten Rheinseite wird uns Sicherheit gewähren, ein Acker¬
oder Weingut, und sei es auch nur klein, wird uns auskömmlichen Unterhalt bieten.
Grund und Boden ist seht um ein Billiges zu haben und läßt sich, wenn bessere
Zeiten eingetreten sein werden, mit Nutzen wieder veräußern; der Ertrag des
Ackers ist jederzeit zu verwerten, und ein Ausfall der Ernte wird sich, wenn wir
einen Teil von Claudcs Kapital als Notpfennig in bar zurückbehalten, verschmerzen
lassen. Wilh meint ihr zu meinem Vorschlage?
Ich halte ihn für gut, sagte Henri. Nur das mit der neuen Heimat will
mir nicht in den Kopf.
Junge, rief der alte Herr, ich hätte nie geglaubt, daß du ein so guter Fran¬
zose sein konntest!
Man lernt sein Vaterland erst in der Fremde recht schätzen.
Und man bleibt ihm nahe, wenn mans im Herzen trägt, setzte Marigny hinzu.
Ich denke, wir werden als deutsche Bauern nicht aufhören, französische Edelleute
zu sein. Doch für heute genug der Zukunftspläne! Laßt uus jetzt an das Aller¬
nächste denken. Ihr wollt mich also wirklich bei euch aufnehmen?
Das war eine von Margnerites Bedingungen, bemerkte der Schwiegersohn.
Gut denn. Aber ihr müßt mir erlauben, die Miete im voraus zu bezahlen.
Ihr werdet Geld gebrauche«. Kinder, verzeiht mir die Frage! Wovon habt ihr
überhaupt in den letzten Monaten gelebt?
Wir haben alles Entbehrliche nach und nach verkauft, erwiderte Marguerite
zögernd.
Und dann beziehe ich vom König von Preußen eine Pension, erklärte Henri,
monatlich fünf Taler. Viel ists ja nicht, aber es reicht für uns aus.
Vom Könige von Preußen eine Pension? fragte der Marquis. Wie geht
das zu?
Ich hatte, kurz vor meiner Verwundung, Gelegenheit, ein preußisches Ge¬
schütz, dessen Bedienungsmannschaft gefallen oder kampfunfähig geworden war, mit
einigen Landsleuten gegen ein Dutzend Nationalgardisten zu halten, bis wir von
hessischen Husaren herausgehauen wurden.
Also ein wirkliches Verdienst. Dann magh eingehn. Es ist sonst bei uns
bisher nicht Sitte gewesen, von einem fremden Souverän Geld anzunehmen.
Was blieb mir übrig, wenn ich Marguerite und den Kleinen nicht Hungers
sterben lassen wollte?
Schon recht, Henri, schon recht! Ich will dir auch keinen Vorwurf uneben.
Aber ich glaube, in Zukunft kannst du auf die preußischen Taler verzichten. Und
wenn euer alter Vater für euch betteln gehn sollte — nicht wahr, Henri, du tust
es mir zu Gefallen?
Eine zustimmende Gebärde des Schwiegersohns schien deu alten Edelmann zu
beruhigen.
Da wir von der Kampagne sprachen — wie haben sich die Rebellen ge¬
schlagen?
Wie die Löwen, Vater, obgleich sie nicht gerade wie Löwen aussahen.
Gott sei Dank! rief der Marquis, mögen sie auch Königsmörder und Schurken
sein, Franzosen bleiben sie deshalb doch. Ich würde es ihnen nie verziehn haben,
wenn sie feige gewesen wären!
Die Rückkehr der Nachbarin machte dem Gespräch ein Ende. Marigny nahm
zuerst die Kammer in Augenschein, die das Villeroische Paar ihm einräume» wollte,
und begab sich dann in Henris Begleitung zur Post, um sein Gepäck in Empfang
zu nehmen und durch einen Lohndiener in das neue Heim schaffen zu lassen.
Als er beim trüben Schein eines Talglichts den Koffer auspackte und seinen
letzten Habseligkeiten in dem schmalen Gelasse ihren Platz anwies, fiel sein Blick
auf die Ansicht des Schlosses zu Aigremont, die Marguerite während seiner Ab¬
wesenheit über dem schmalen Bette an die schmucklose getünchte Wand befestigt
hatte. Er griff nach dem Leuchter und hielt ihn dicht unter das Bild.
Es hatte doch eine stattliche Front, dieses Schloß! sagte er nachdenklich. Ein-
hundertuudachtzehn Pariser Ellen ohne den Seitenflügel — das will schon etwas
heißen! Hier wohne ich nicht ganz so geräumig. Wenn ich die Arme klaftere,
kann ich mich rechts und links an der Wand festhalten. Das hat bei meinen Jahren
ja freilich auch etwas für sich.
Aber Marguerite hat ganz Recht: wenn man von seinem Enkel abhängig ist,
muß man in seinen Ansprüchen so bescheiden wie möglich sein!
(Schluß folgt)
Die Wahlergebnisse in
Elsaß-Lothringen gehören in keiner Richtung zu den besonders in die Augen fallenden
Erscheinnnc.er. wie etwa die in Sachsen, sie verdienen aber nicht runder die Auf¬
merksamkeit aller, die sich nicht mit dem nackten Gegenwartsresnltat begnügen, sondern
dieses ans der geschichtlichen Entwicklung zu verstehn und als vorübergehende die
Keime der Zukunft in sich enthaltende Erscheinung zu deuten wünschen. Bei solcher
Betrachtung gewinnt freilich manches ein andres Aussehen, und Zahlen, die nichts
ungewöhnliches zu enthalten scheinen, beginnen plötzlich, eine ernste Sprache zu reden.
"
„Der Protest ist tot, das Protestlertum ist ausgestorben! das war der ^ubelrnf,
der schon gleich nach den Hauptwnhlen in einem sehr großen Teile der dentschen
Presse erklang und das wichtigste Ergebnis einer Gesamtbetrachtung der Wahlen
auszudrücken 'schien Die Tatsache ist an sich ja unleugbar; sie ist aber zu selbst¬
verständlich, als daß man ihr eine große Bedeutung beizulegen berechtigt wäre. Das
Protestlertum stirbt an Altersschwäche; es verschwindet, weil seine Träger, nämlich
Leute, die zur Zeit des Krieges schon Männer waren, das Los aller Sterblichen
teilen, abzutreten vom Kampfplatz oder wenigstens ermüdet die Waffen sinken zu
lassen. Der Protest war seiner Natur uach notgedrungen an die Generationen
geknüpft, deren jüngste zur Zeit der Losreißung eben zum Waffendienste reif ge¬
worden war; er mag sich in einzelnen Familien, in einzelnen Gemeinden aus
Gründen besondrer, individueller Art noch weiter fortpflanzen, seine Bedeutung als
Massenerscheiuuug mußte vou Jahr zu Jahr immer mehr verschwinden, und wenn
jetzt kein Vertreter des Protestlertums mehr in den Reichstag einzieht, so ist das
sehr erklärlich, wir möchten fast sagen selbstverständlich. Tot ist der Protest zwar
noch nicht, aber er ist zu altersschwach, als daß er sich noch in einer zu greifbaren
Wahlerfolgen führenden Weise betätigen könnte. Er lebt noch und zeigt auch vou
Zeit zu Zeit, daß er noch lebt, und die Regierung der Reichslnnde versäumt nicht,
dein alten Herrn hin und wieder unklugerweise einen Entrüstungsschrei abzupressen,
wie z. B. jüngst, als sie dem französischen General Farny die Erlaubnis veringte,
seinem in Straßburg wohnenden zweiundneunzigjährigen Vater einen -öesuch zu
"lachen. Sie hat ihm diese Erlaubnis einige Wochen später doch gegebei^weil der
alte Herr lebensgefährlich erkrankt war, aber sie hatte durch ihre vorherige Weigerung,
die natürlich in der Presse besprochen wurde, bewirkt, daß unter den Stimmzetteln
für die Neichstagswahlen verschiedne waren, die den Namen des Generals Farnh
trugen. Ob sich der Protest auch in sozinldemokratischen Wahlzettelu kundgegeben
hat? Nein, bei diesen Wahlen nicht mehr; der Protest wählt entweder klerikal
(katholische Landespartei), oder er bleibt überhaupt schmollend zuhause. Daß man bei
den sieben gewählten Klerikalen nicht ans deutsch-nationale Gesinnung rechnen darf,
ist ja klar; aber sie sind doch nicht als Protestler gewählt, sondern als Klerikale,
und man kann sagen, daß der Protest als solcher ini Wahlkampf ausgeschaltet blieb.
Der Klerikalismus hat eine nicht unbedeutende Niederlage erlitten, die um so
bemerkenswerter ist, als er mit allen erlaubten und recht vielen unerlaubten Mitteln
gekämpft hat. Eine geradezu ekelhaft gehässige Wahlagitation verirrte sich in Predigt
und Beichtstuhl, in Wohltätigkeitsanstalten, Krankenhäuser und Schulen und hat
vielleicht gerade durch ihre Zügellosigkeit den angestrebten Erfolg gefährdet. Während
die klerikale Landespartei im alten Reichstage neun Mitglieder hatte, besetzt sie
diesesmcil nur sieben Plätze; drei Wahlkreise, Straßbnrg Land, Metz und Saarburg-
Chateau-Salms, sind ihr verloren gegangen, einen Platz hat sie durch die Ver¬
drängung des Prinzen Alexander Hohenlohe im Wahlkreise Hagenau-Weißenburg
erobert. Inwieweit freilich die ohne Ausstellung eines Gegenkandidaten erfolgte Wahl
des „unabhängigen Lothringers" Labroise, der an die Stelle des alten Küchly
getreten ist, einen Verlust für die Klerikalen bedeutet, ist noch abzuwarten. Denn
die Bezeichnung „unabhängiger Lothringer" ist eine Gesamtetikette, unter der ver-
schiedne Richtungen Platz haben. Mit ihr beliebten sich auch Dr. Jaunez (Metz) und
sein Schwager de Schmid (Saargemünd-Forbach), bei deren Wahl nicht politische
Gründe das Treibende gewesen sind, sondern allein das Geld. Beiden hatten die
Klerikalen zwar eigne Kandidaten gegenübergestellt, ebenso wie dem unabhängigen
Lothringer Meroe; ein Erfolg war jedoch weder erwartet, noch — wenigstens Jaunez
und Schmid gegenüber — ernstlich erstrebt worden. Wild war dagegen der Kampf
in den Kreisen Hagenau-Weißenburg und Straßburg Laud, und wenn der eine dem
Klerikalismus gewonnen, der andre verloren wurde, so lag das dort an dem un¬
vorsichtigen Freimut des Prinzen, hier an der wenig erfreulichen Persönlichkeit des
Reichstagsabgeordneten Hauß. In Hagenau-Weißenburg wäre es der Sozialdemokratie
sehr leicht gelungen, dem Prinzen Hohenlohe zum Siege zu verhelfen; daß sie es
nicht getan hat, war vielleicht ein taktischer Fehler. Der Sieg des liberalen Demo¬
kraten Blumenthal, Rechtsanwalt beim Oberlandcsgcricht in Kolmar, mit andern
Worten, die Niederlage des Klerikalen Hauß ist nur durch die Hilfe der Sozial-
demokraten möglich gewesen. Betrachtet man die Stimmenzahl der Hauptwahlen,
die im Grunde doch noch deutlicher reden als die Wahlerfolge selbst, und zählt
man die für Labroise abgegebnen Stimmen den Klerikalen zu, so ist doch bei stark
steigender Bevölkerungszahl der Prozentsatz der für den Klerikalismus abgegebnen
Stimmen von 41 Prozent auf 40 Prozent gesunken, und er beträgt ohne die
Stimmen für Labroise sogar nur 35,7 Prozent. Bezieht man die Zahl der für die
klerikale Landespartei abgegebnen Stimmen nicht auf die Gesamtzahl der abgegebnen
Wahlzettel, sondern auf die Gesamtzahl der eingeschriebneu Wahlberechtigten, so
ergibt sich, daß diesesmcil von 372 729 wahlberechtigten Elsaß-Lothringern bei der
Hauptwahl 29,9 Prozent für klerikale Abgeordnete gestimmt haben. Und doch gelang
es diesen 29,9 Prozent Wählern, von deu fünfzehn Mandaten, die das Reichsland
hat, sieben zu besetzen, während die 18,4 Prozent sozialdemokratischer Wählern kein
einziges Mandat erobern konnten.
Aber die Sozialdemokratie muß mit dem, was sie erreicht hat, doch sehr zu¬
frieden sein. Ihr Anwachsen im Reichslande verlangt ganz besondre Beachtung. Bei
oberflächlicher Betrachtung der Wahlergebnisse könnte es ja den Anschein haben, als
ob die Behauptung des Staatssekretärs von Koller, im Reichslande sei kein Boden
für die Sozialdemokratie, den Tatsachen entspreche. Für jeden Kenner der Verhält¬
nisse liegt das Gegenteil auf der Hand. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich
ist hier sehr groß; die reichlich vorhandne Industrie bietet, auch wenn sich der
Verkehr zwischen Unternehmer und Arbeiter noch in so stark patriarchalischen Formen
bewegt, wie hier, immer einen guten Nährboden sür die sozialistischen Lehren, denen
entgegenzuarbeiten die oppositionelle Stellung des Klerus keineswegs geeignet ist-
Auch auf dem Lande herrscht neben großer Wohlhabenheit in vielen Dörfern der
Rheinebene doch anch viel Unsicherheit und Armut, namentlich im Gebirge und auch
bei den Nebbnnern. Stoff genug zur Unzufriedenheit ist überall vorhanden, besonders
auch in Lothringen, und gerade die diesjährigen Stimmergebnisse haben gezeigt,
daß die Sozialdemokratie, wo sie mit geeigneten Kräften arbeiten kann, auf große
Fortschritte rechnen darf. Vor allem interessiert natürlich das Wahlergebnis in
Straßburg selbst.
Als seinerzeit Bebel als Reichstagsabgeordneter für Straßbnrg Stadt in den
Reichstag einzog, hatte er nur eine verhältnismäßig beschränkte Anzahl von wirklich
sozialdemokrntischen Stimmen hinter sich. Sein Sieg war nur dadurch möglich, daß
sich der damals uoch recht lebhafte Protest der sozialdemokratischen Wahlzettel be¬
diente, um seinem Unwillen über die politische Lage Ausdruck zu geben. Mit der
Schwächung des Protestes ging Bebels Mandat an den liberalen Demokraten Riff
über, der in politischer Beziehung jedoch von gänzlicher Bedeutungslosigkeit ist und
seinen Sieg wie bisher, so auch diesesmal nur dem Zusammengehen aller nicht-
sozialdemokratischen Parteien zu verdanken hat. Hätte die Sozialdemokratie statt
ihres hiesigen Führers, der ein energischer Mann, aber — kein Elsässer ist, den
gewandten und rednerisch begabten Redakteur des sozialdemokratischen Organs, der
„Freien Presse," Jacques Peirotes, der von Geburt ein Elsässer und seines Zeichens
Schriftsetzer ist, als sozialistischen Kandidaten aufgestellt, so wäre Straßburg zweifellos
im neuen Reichstag wieder durch einen Sozialdemokraten vertreten, nur mit dem
Unterschied gegen das einstige Bebelsche Mandat, daß der Erfolg diesesmal nicht
der Hilfe andrer Parteien, sondern den eignen Parteigenossen verdankt worden wäre.
In dreizehn Wahlkreisen von den fünfzehn reichsländischen hatte die Sozial¬
demokratie Kandidaten aufgestellt, und überall hat sie einen Zuwachs von Stimmen
M verzeichnen, auch da, wo die Wahlarbeit nur ganz geringfügig war. Er beträgt
seit den letzten Wahlen 22603 Stimmen, d.h. 83,7^Prozent des Zuwachses der
Wahlberechtigten, während die Beteiligung an den Wahlen überhaupt nur 75,1 Prozent
betrug. Nach Prozenten betrachtet, sind die sozialdemokratischen Stimmen von
Prozent auf 24,7 Prozent gewachsen, eine Zunahme, die sehr zu denken gibt,
7^"" man weiß, mit wie außerordentlich geringen Mitteln an Geld und Personen
Z!^ein ^ betrieben werden konnte,
-i^o?^ ^wähnt, entfielen von den im Reichslande insgesamt abgegebnen
---"«7b Stimmen
Man kann nicht sagen, daß unter diesen letzten irgend eine Partei besonders
in den Vordergrund träte, es wäre denn, daß man eine Partei der Notabeln kon¬
gruieren wollte. Das Notabelnunwesen hat im Elsaß ein ganz klein wenig ab¬
genommen, in Lothringen steht es noch in vollster widerlicher Blüte, wie sich auchaus den Wahlresultaten ergibt. Als Notnbelnwahleu wären im Elsaß nur die des
Herrn von Schlumberger in Mülhausen und die des Herrn Hoeffel im Wahlkreis
Labern, also in dem schon halb und halb zu Lothringen gehörenden „krummen
^laß," zu nennen; dagegen sind alle vier lothringischen Kreise mit echten „Notabeln"
oeletzt, d. h. mit Leuten, die ihre Wahl lediglich ihren Machtmitteln verdanken,
acht aber irgend einem von ihnen vertretnen Programm. Diese Notabelnwahlen
lind ein charakteristisches Merkmal für die politische Unreife des Landes. Wie sie
gemacht werden, schildert leider nicht unzutreffend ein Bericht der „Freien Presse"
über die Wahl in Metz: „Bei der Generalmusterung der Rekruten hielt der Kreis¬
direktor eine Ansprache an die Bürgermeister, um ihnen das Eintreten für Jauuez
jgemeint ist Dr. Max Jcmnez, der Sohn des gewöhnlich als „Herzog von Lothringen"
bezeichneten Großindustriellen Jaunezj aus Herz zu legen. Die Reisen über Land
besorgte Jaunez Vater, da der Sohn gerade in Paris zur Hochzeit war; da
wurden die Schulsäle zur Verfügung gestellt, und der Bürgermeister trat für den
Negierungskandidaten ein. Das Abschreiben der Listen hatte der Gemeinde¬
schreiber zu besorgen, und die Stimmzettel trug der Gemeindediener aus. Als
am Dienstag Abend die Gemeindediener vom Lande die Wahlergebnisse in
die Stadt brachten, war ihr erster Gang in den Luxhof, wo der Generalstab der
Partei Jaunez beim Champagner saß, die treuen Mitarbeiter in der Amtsmütze
empfing, ihnen brüderlich die Hand drückte und sie reichlich mit köstlichem Stoff
versah."
Und der praktische Erfolg solcher Wahlmache ist, daß Leute in den deutschen
Reichstag kommen, die wie de Schmid und Meroe noch nicht einmal so viel, oder
richtiger, so wenig deutsch sprechen können, wie dem gebildeten Elsa'sser durchschnittlich
zur Verständigung ausreichend erscheint.
Es ist noch viel politische Arbeit im Reichsland zu tun; aber wir wieder¬
holen: der Boden ist dankbar, er würde denen eine gute Ernte geben, die die
Samenkörner reiner edler Freiheit und echter Vaterlandsliebe auszustreuen ver¬
stü
Unsre Schwestern, ein Wort
über und für die Diakonissen, betitelt der Pastor Dr. Theodor Schäfer, Direktor
der Diakonissenanstalt zu Altona, eine (im Stiftungsverlag, Potsdam, Mirbnchstraße 2,
1903 erschienene) Schrift, die wir allen sozial Tätigen empfehlen. Das besitzanzeigende
„unser" bezieht sich auf den Verein Frauenhilfe, auf dessen Wunsch und für dessen
Organ der Verfasser die hier zusammengefaßten Aufsätze geschrieben hat. Es wird
darin gezeigt, daß die Diakonisse nicht überall notwendig ist, nämlich dort nicht, wo
die Verhältnisse übersehbar und geordnet sind, was auf manchen Dörfern und in
manchen kleinen Städten der Fall ist, und wo noch — auf dieses noch sei großes
Gewicht zu legen — patriarchalische Fürsorge den Armen zuteil wird. An solchen
Orten genügt in Krankheitsfällen die Hilfe der Nachbarn, Verwandten, Guts- und
sonstigen Brotherrschaften. Aber solche Verhältnisse werden bekanntlich in dem Maße
seltener, als sich das Großstadtleben ausdehnt und der Kapitalismus mit der
Sozialdemokratie zusammenwirkt, alle etwa noch vorhandnen patriarchalischen Be¬
ziehungen vollends zu vernichten. Und da geht es denn vielfach zu, wie in einer
Wohnung, die Schäfer beschreibt. „Die Kranke liegt im häßlichen Schmutz eines
unbeschreiblichen Betts, zwei Kinder sitzen halbnackt am Tisch und kauen gesottene
Kartoffeln, die ihnen der Vater beim Weggehn gegeben hat, der Säugling liegt im
Kot, an einem mit eingeweichtem Brot gefüllten schwarzen Lappen saugend. Die
Frau stammt aus einem andern Orte, und ihre Angehörigen, die von Hause schwer
abkommen können, haben einen weiten Weg zurückzulegen, wenn sie einmal bei der
Tochter und Schwester rein machen, für Mann und Kinder etwas kochen wollen.
Es kommen ja auch Leute aus dem Orte, tun einige Handgriffe, bringen Speisen
mit; aber von Zeit zu Zeit den Kopf hereinsteckeu, das ist keine geregelte Pflege
und Fürsorge; wie kann dabei ein Mensch gesund werden? Auch lassen es der
Ortsvorstand, der Kirchenvorstand und einzelne Wohltäter nicht an Geldunterstützung
fehlen, allein der Taler kann doch nicht hegen und pflegen." In solchen Fällen
müssen also die Armen geradezu verkommen, wenn keine Schwester am Orte ist;
Vereinsdamen, die ja all ihre eignen häuslichen Pflichten haben, können sie nicht
ersetzen, sondern können nur mit Hilfe der Schwestern die Armen- und Krankenpflege
organisieren und überwachen. Schwestern werden denn auch allerorten verlangt,
aber oft nicht auf die richtige Weise. Der Verfasser gibt an, wie Vereine und
Ortsbehörden Verfahren müssen, um welche zu bekommen, soweit überhaupt welche
verfügbar sind; denn ihre Zahl ist allerdings viel zu gering, trotzdem daß von den
15 000 evangelischen Diakonissen, die es in der Welt gibt, 12 000 auf Deutschland
kommen. Eingefügt ist auch eine Geschichte des Diakonisseninstituts von der Apostel-
zett an.
In äiesom KeblulZartilcol voräen alö Hursbo-
vvogungon avr Juan8trioalction im ersten Ilalbjalrr 1903 botravlitot >voräon. Die
^Iction avr Vor8ielrorung8gosoI1sobatton und avr ^ransxortuntornolrmungon bobalton
>vir oiuor bosonäorn IZosproobung vor. DaK sich äas Dobsn an aer Lörso garn
vorwiegonä nnr alö Juan8trioalction ärobt, ist seiton Irübsr gesagt voräen. Nie
sima ale eigentliolien LvoKnlations- unä Lviolpavioro goworäon, unä goraäo bor
ibnon bogognon wir 8olrr violtaob aom ungoroobttertigton öurssvrüngon, alö äas Kola
k^us aom ?asebon avr groöon Nongo saebnnkunäigor Lpoiculanton unä Lxiolor in
alö 'lasobon avr Kloinon Xabl avr 'Wrssonäon, avr Ilorron äoi' „IZörso Jm engorn
Linno" iiauborn. Im Intorosso ach mobilon Xaxitals in Doutseblanä unä soinor
kroion gowinnbringonäon Arbeit — alö unontbolirliol» ist — Könnton äioso Ilorron
avr Dorfe gar niobts töriobtoros tun, als sah !-u longum. Jhro ?einäo solilioLon
äaraus nur aut aom bösen ^Viktor, alö I^roilroit ?u milZbrauolron, unä bovoison anäorn
äamit alö UotvvonäigKoit avr lluterbinclung unä Vorrichtung ^joäor?roilioit. DaK alö
Ilorron avr IZörso äurolr vino aom Kelägev^inn übor allo8 stoiionäo I'rosso unä äurok
äas v/oitoro ^ulgolnr avr unablrängigon ?rivM»llkMsvI»Mo in Filialen unä ^.gonturon
Avr Lmissionsbanlcon viol i-in Kursbewegungen avr Inäustrioxapiore, alö hio vorlauten
oäor Kauion vollon, -^noir in einer ^Voiso beitragen Könnon, alö am Lpioltisob om
oorrigor 1a tdrtune boäeutot, unä äalZ äas auch ta.t8L.Mion vorkommt, i8t notorisob.
>Vorn sich alö Vissonäen äaäurolr wissentlioli selbst (Zevvinn vorsolratlen, IIr-
>vrssvn<lo abor in Verlust bringen, 8v ist äas vino Oaunoroi, niobt v/onigor voräolit-
uoll als l^alselisxiol, unä hio sollte auelr als solebss erkannt unä gobranämaikt
woräon, vor allein irr Kroiso avr LanKlrorron, aer Ilorron avr Lörsen selbst. Ko-
seluobt äas in binroiobonäom NaiZo? Wir üborlasson alö Antwort äonon, alö es
Mgeltt. Das Ilörsongesetii trat alö IZörsengauneroi Zar niobt oiugosobränkt, unä
vrno VorselrärtunA >virä hio odor80v/eniF om8ol>ränkon.
uaolistolronäom sima solrr vioio ^autor Mgodon, unä avoir viol lin >vonig,
/V?^ baldvegs or8olröntonäos IZilä von aom Xurson äos äurolr homo dunto Viol-
Ls ^s«vit dosonäers ausgoiioielrnoton InäustrioaKtionmarKts gogedon voräon sollte.
^ uisr nur ausgo^palato Lvisxivlo vorMtnlrrt vvoräon, soo/out oss ale In-
In 1 ^^^^ ^ viri^viror (Fosollselratton innorlralb avr oinMluon
^uuusrrioiiwoigo dotrifft. 'Wir Llaubon alö Beispiele naolr beiclon KiobtunALn Irin
^ ^?ovMt i?u liabon, aan unsor Xalrlondilä aom NauxtMgon avr ^VirKliolckoit
Aomlroll ontspiiolrt. I^olrlor Können äaboi untorlaulon, vonn hio nur äas Kosamt-
oua notre Alselion. Das ist, so IwSon mir, niollt avr ?all.
^nuäelist mögen einige Z^autor üdor alö Xurso avr LtoinKolrlonaKtion, alö
loi»on ur Hott 25 8, 740 bosproelron voräon sima, ?lat^ tinäou.
I>le Xurso vom ^uni 1903 stellen beäoutonä üdor aom Hurson vom ^uni 1902;
erst i'coire übor aom ILurson vom Januar 1903 unä vom Januar 1902. I)lo Lud-
^oklung ist üboraus günstig. Im lautonäon ^alrro vurclo avr Irüobsto Llama irr
Marsi orroiolrt; im nvoiton Vivrtol^aur trat om Rückgang om, avr als gesunäe
RoaKtion gogon alö vdortroibung clos orston niolit boäauort voräon lag-um. Nit ^.us-
ng-uno avr llarponor I)orAl?g.ugIition sima im ^nu v/ioäor Kursorlwbungon oingotroton.
/5u vorvoison ist ani Volt 24 avr 0ron!sdoton 8. 679.
Nil ^usng-lnno von 2 HüttonvorKon stanäon alö Xurso im .luni 1903 bölior
als im ^noi 1902, mit ^usnalnno von 5 V^orlcon liölior als Januar 1903 unä mit
^.usnalimo von gloiobKlls 5 V^orlcon bölior als Januar 1902. vor liöobsto 8er>.na
1903 wuräo Lnäo äos orston Viortoljabrs orroiobt, nur hol oinigon niolit g-ukgo-
tdbrton 0osol1soltg,non Mseng-n as-s orst im ^.prit. vor ^nu 1903 braolito «Ion
aom moiston 'WorKon Xursstoigorungon. Von oinom ungünstigon 3eg.nao unä vollonäs
von oinom nngoroobtlortigt nioäriizon Ktanäo avr Xurso lag.um im allgomoinon niobt alö
Roäo sein, vio Ilg-usso im orston Viortoljalir 1903 vo.r äuroli bosonäro vörut>orgDl>onäL
Umstänäo (Zostoigorto ^.ustubr) norvorgoruivn. Lin mäLiZos LtoiMn avr ILurso n^oll
Lnäo ^uni Je^um niolit g,1s unZoroolittortigt orI<Krt voräon. IloKontlioli ontsvriolit os
oinom stoiMnäon Loägri avr inlänäisoliön, kortigo Wg-ron orsougonäLn Inäustrio.
vio Hölio avr viviäonäon tur äas lotsto Ls0SLliMs.jg.iir ist vivit^ob nooli niolit
tostZostollt.
vio Aktion avr 9 orston Kosollsolialton stanäon ILnäo ^uni 1903 lrölior, alö
avr 6 lotston Vosollsonalton nioärigor als Lnäo .luni 1902. IZoi aom Zuerst aul-
golübrton 9 dosollsolig-teor va.r avr ^unilcurs 1903 — mit ^usnÄimo von 2 KosoU-
soimt'ton — g.uoli Kölior als avr .lanuarkurs 1903 unä 1902. ^Jto 9 <Zoso1IsoitMon
vrroiedton im Untorsodioäo von aom IIisonitüttonr>.Iition iliron iiöoliston 8ta,na orst
im ^nrii 1903. Im -tuu 1903 Ils.t alö NoliriüM avr 6oso11sLini1ton viror liüok-
Mng avr I^urso su doKIagon godadt. 0b as,s als om Norlcma.1 avr virlciiolron vago
nu botraoliton ist, muL vorläung bWvoitolt vvräon. Bis Lnäo .luni äoutoton alö
Xurso — vonn üvorlmuvt gut otvas — aut vino niolit unFünstigo DntvioKlung
äiosor Inäustrio bin. varaa ünäort auch Aas IZilä, äas alö 7 zuletst g.utgotubrton
<F0sollsolmtton, äoron ^Iction im ^luni 1903 nioäriZor g.is 1902 stanäon, godon, niolits.
Im.tuu KabvQ übrigons 4 von ilmon Xursstoigorungon ortd-liron. /Vul alö viviäonäon
virä spätor surüolcsulcommon soin.
Kino dosonäro Loaelltung voräionon alö
Vio lüor Iiorrselionäo Doprossion unä nu- Krunä ist bolcannt. Iroti-aom Indor
6 von aom 8 KosoUsollMon im orston IIMMr 1903 eine StoigorunZ avr Kurse
vrtanron; soit.luui 1902 äagogon nur 3 unä soit ^nus-r 1902 nur 2 Kosollsolmtton.
Im ^nu 1903 sima alö Kurso toilvvoiso voit iiurüolcFogangou. «ur hol 2 (-osoll-
soimlton sima sie owas gostioZon. ^net iüor xvoräon alö viviäonäon snätor dosproonon
voräsn. . , - , ^ -
^>^
vio KnwioKiunF avr Kurse avr Aktion unsrer oilomisolion Inäustrro ist
in Hott 28 avr Kronxdoton L. 123 Solon hohl'wonvn >voräon. Mckstoi.enäo /Mon
möMn Aas vita orxän^on.
vor Kurs seinen Knäo 5uni 1903 hol aUon Kosoilsoliatton Iiölior — unä iswar
wilvoiso hour viol Imuor — als im 5anuar 1903, im 5uni 1902 unä im 5anuar 1902.
^lo KosoUsoimtwn iiadon auod im 5u1i 1903 vino Kursstoigorung ortaiiron. CAogon
avr viviäonäon vgl. Hott 23 a. a. 0.)
^um Souluö Norton wir no<in viror IZIid< aut alö
Loi aom orston !?vA1 Koso11soKi>.teor flaua Dnäo 5uni 1903 avr Kurs Iwlior,
voi aom 1vti!ton soeiis äagogon nioärigor ^is am Lnäo ^uni 1902. vio woitorn Vor-
Kioiolm mdgo avr I.osor hottst anstollon. Das LrMdnis Icann nur als günstig do-
?oiolmot vvoräon. Jm 5u1i 1903 ist toilvoiso om XursrüoKganZ oingotroton.
^.n vividondon /abiton die (Fosellsebat'ten, die das Kaloiulerjalir als Kesebät'es-
^abr babon, in den beiden tot/teil -labron folgende Prozents dos ^.IctionKanitals:
(VIs VrsunsolivoiAsr .7ues - LnlUQSi'si isslutö fiir ssuli-^roi 1901/2: 12 "/,; Als UsoKauisc-Ks
Vsdsrsi LoiAu lui' OIctobsr- Loptsmbsr 1901/2: 1ö°/„; als Usodauisodo ^Vvbvrsi Altan
für RA-^.prIl 1901/2: 16"/„; Xra>nstll für Sssttsmdsr-/Vugast 1901/2: 4"/„ unä als Spinnsrsi
Rsnnsr 0°/g.)
Din näboros Lingebn auf die Kago dor 1'oxtilalctiengosellsoliakton belialton wir
uns vor. Dbvnso ivorÄon vir arck Sie in Sif8on Hg^bMrsdorivüt udorliauxt Kurs
registrierten I'atsaebon später fortlaufend /urüekgroiken müssen. ?ur.jetzt müssen
wir es mit dem (Gegebnen genügen lassen.
Wenn wir schon eine ideale Statistik des ^.rbeitsmarkts hätten, so wäre sie
natürlich als Kradmesser tur alö Lage des wirtsobattlieben Köders von grölZtor
Kodoutung. Vorläufig ist dioso Statistik in voutsebland noch in den ersten An¬
fängen, alö zwar für die Zukunft dank der nunmobr erfolgten lAnriebtung viror
besondern Abteilung für ^rboitorstatlstik im Kaiserlichen Ltatistisvben ^me das
beste holten lassen, für das erste IIalb.jabr 199.? aber siebero Lolilüsso noch nicht
erlauben. In dom ersten Heft «los amtliebon „Kolebsarbeitsblatts" wurde
dor ^rboitsmarkt im Unrat Älärz dieses Makros bobandolt. I>sach den Lorieilten
der Industrie Zeigte der ^rboitsmaikt im Mär/ „im allgemeinen eine Tendenz
zur IZosserung"; nach bon Üborsiobten der Krankenkassen war ein „zlomlieb
starkes Steigen dos allgemeinen lZoselläftigungsgrads" anzunehmen; die IZoriebto
der ^.rboitsnaebwolso bezeiebnoton die Lage „im allgemeinen als gebessert."
vor Roral ^xril (liest 2 des Koiebsarboitsblatts)' bedeutet» nach bon verlebten der
Industrio „im Vvrliältnis zum Vormonat im allgemeinen einen Stillstand" z die Über-
siebton der UranKonKasssn Zeigten „ein voitsres Steigen, aber nicht so stark wie im
Vormonat"; nach den Leriebton der ^rbsitsnaebvoiso ersebion die I.ago „nun, toll
veniger günstig als Im Vormonat." Im Rai (Holt 3) gestaltete sich naob bon Leriobton
der Industrio dor ^.rbeitsmarkt „um ein perigos günstiger" al8 im ^xril; die Über-
siebton dor Krankenkassen ergaben, „dalZ /war auch im Rai ein voitores Steigen dos
IZosebättigungsgrades noch oingotreten ist, dalZ diese Steigerung flott aber in engen
Kron/on hält, und bat Koblonbergbau, Notall- und lVlasebinonindustrie und 1'extil-
Industrie an diosor Steigerung nur sehr unbedeutend beteiligt sind, in der 1'oxtil-
industrio sich sogar boroits om 1?,üeKgang zeigt"; sovoit dio KosebättstätigKoit dor
^rboitsnaebvoiso üborliauvt ein Urteil orlaubt, seinen die allgemeine I.ago dos
^.rboitsmarkts im Rai vino „loiebto IZossorung" erlaliren /u baben, doch var „irgond
eine Kenoraiisioi'ung nicht gestattet." Im ^luni (Hott ^l) var nach den Loriebton
dor Industrio „dio Losvl^äktigung der bauntsaeldiebsten Industrien im vesontliebon
aut dein glsieben, vorbaltnismäüig nicht unbefriedigender Stand «lo im Monat Rai
goblioben"; naob den ^aobvoisungsn der Krankenkassen var „/um erstenmal vino
vVbnabmo dos IZeseliMigungsgrads eingetreten." Uaeb bon IZoriobton der ^rlieits-
naebvoiso endlich bat die allgomoino Lage des ^.rboitsmarkts „eine entsel leidende
Änderung im -luni nicht ortäbron."
Dio von orivator Seite borausgegebno „^rboitsmarlitkorrosnonden/" zwingt zu
lceiner vosentliellon Änderung dos amtlich gegebnen Kesamtbiids der allgemeinen
Lage. Soblüsso aut vino entsebeidvnde Sendung /um Lossorn im deutschen Vo^irt-
selmltsloben und Im besondern in der Industrie Kennen aus der vorliegenden
^rbeltsmarktstatlstik nocte nicht gs/ogon vordon, obonsovonig vie daraus eine un-
günstigere Lags gotolgert worden Kann. Lamentationon über ungesunden Stillstand und
^rboitslnsigkoit in der Industrio sind im allgomoinon ganz unbogründot. IloKontliell
bleiben sie es auch im /weiten Ilalbjabr.
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27. ^.nu.
Is02. K^I-
I^orclvsst l^sutsotilaiKl. 27. ^.litt.
1902. V ^ — Siici-vsritsoli1-i.-in1..28. ^.uti.
190». « — «tisiriikvricis. 2». L.uti. 1902.
6 — Lücidlivsrii, Virol, Sg.1i?biircz
se--. »v.^.nit-^0. 1902. 8^ —vstsrrsisti
c.now i7nx!un). 2K. ^.uti. I90S. ö ^ —
Ostsrrsi<-K-I7riMrn. 2S.L.uti. 190». 8^i
tZsigisri rrnci ZZoI1kiri<1. 22. ^uti.
1900. 0 — Obsrits-Uhu. 1«. ^.uti. 1902.
8 ^ — iVIittsiit-ilisri. Is. ^.uti. IM».
7,5,0 «ik — I7ntsrids.1iori. Is. ^.uti. 1902.
K ^ — Itiiiion von <Z.su L.Ixsri bis
Hsoapol. S. ^.un. 190». S^K — Sivioro.
ri. Liiciost-?r-»iicröiLli. S. ^nil. 1902.
S — t?s.ris u.. I7mMb. Is. ^.ut'I.
1900. >i (In er^iii!. 8>>i"tot>(j! ?r!in<ze>i
Ins Avr-Z.-Z!»t. 190». ö.^; I.S Iilor-1-
vussd. 1902. S ; 1,0 LuÄ-Dst. 1901.
v I-s Suci-Onsst. 1901. ii ^) —
(ZroiZbritkiruiisri. ». ^.uti. 1899. 10 ^
— I-ori<Z.or>. 14. ^ litt. 1901. l> —
»ii1Zis.liet. K. ^Vii». 1901. Is ^ iiussi-
birrcz. 1901. 4 ^ — Ssrivscrou miÄ
Morvsxzsu. 9. ^uti. 190». 7,60^ —
Lilli^fil?. »0. ^.uti. 190». 8 - Lpg.-
nisri u. ?ortnss,1. 2. ^.uti. 1899. 1« ^
<L.xzvi>tsii. b. ^uti. 1902. Id —
Srisotrsri.ig.iKl. ». ^.uti. 189». 8 ^ —
?o.tiistir»!i ri. Svrisri. 5. ^uti. 1900.
12 ^ — Morel-irnsriicii. 189». 12 (In
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z. Dass, fiotlieierant
izötei- un« Wei»g»tst>«§je-ier in Nächstem, a/I^h.
emplichlt seine aus eigne» Aeinbergen ge/oge»c» ivcine; pr^
- -"^ Ittiiert Wien »»-> phiiaSeipiila. .-^-^
Lesurher von Kiiäeshcim sinnt nur gcsichtiguug ner licllercicn
^ höllichsl eingelaiien. ---- ^^-------^
Dr. LMMr's pkusion u. L^i6dui>Kali8t. l. Klimas
^uksiclit. Sy»»iorx. i. <Z. I-min. u. v»IÄtß. vmxvgoila.
tereriürm. i?rosx<!like! steilen ?.ur Vortii^ung.
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' .Selene^^QW
Pi^^-//s^ «5s/?«s »5^/-?
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n»kd, Ireol.kein, nur jvSen ^i>. 1'°°^'
«tiiei- 22 lilxri!. ?ro»peint w-t
j^-c tielervn/vn c-mitis um<Z Iriunw.
AZ» !?r»,>^I>rü«<I«» l«, ?o-eh>°>>
le deutsche Kolonialwirtschaft hat sehr empfindlich an Unter¬
lassungssünden, an Fehlern und Erfahrungsmangel zu leiden
gehabt. Das war und ist noch eine notwendige Folge kurz¬
sichtiger, einseitiger Interessenpolitik, die in bedauerlicher Miß-
achtung der zeitgemäßen Entfaltung und Stellung des Reiches
als gebietender Weltmacht und der Pflichten gegenüber seinen Pionieren
in der Ferne die Bestrebungen weitschauender vaterländischer Diplomatie
lähmte — bis die beste Zeit verstrichen war. Als dann endlich die Erkenntnis
langsam durchbrach und auch die Zahl der Widersacher kolonialpolitischer
Forderungen immer geringer wurde, hatten wir beinahe, wie Goethe sagt,
^ick Rechte hingegeben, daß uns auf nichts ein Recht mehr übrig blieb.
dem Anspruch auf so viele gute Besitze und Vorrechte war aber auch
manche Frucht deutscheu Fleißes, deutscher Energie und deutschen Kapitals,
das an der Erschließung überseeischer Gebiete mit mehr als zehn Milliarden
Mark beteiligt ist und dem Reiche ein dementsprecheudes Absatzgebiet gesichert
hat, verloren.
Das Vertrauen und der Nationalstolz unsrer Landsleute, die in fernen
Gebieten unter schwierigen Verhältnissen als Kolonisten gewirkt haben und
gekämpft hatten, waren stark erschüttert; ihre Bitten um Schutz ihrer Unabhängig¬
keit gegen fremd-nntionale Mächte verhallten an dem Widerspruch engherziger
Volksvertretung. Dafür wurde ihnen dann daheim der Vorwurf mangel¬
haften Nationalgefühls gemacht, als sie sich den herrschenden politischen Ver¬
hältnissen unterordneten, fremde Sprachen redeten, die Muttersprache ver¬
lernten usw.
Diese Vorwürfe entsprangen bezeichnenderweise vorwiegend den Kreisen,
deren nationales Empfinden mit dem Horizont persönlicher und eigner Geschäfts¬
interessen abschließt. „Idealisten, Kathedersozialisten und meinungslose Nach¬
beter stimmten ihnen bei und gerieten in heilige Entrüstung über das Kapitel
»Deutschtum im Auslande«." Darüber ist viel geredet und geschrieben worden:
und manche Beschwerden waren auch berechtigt. Was aber diese und weitere
Kreise an ihren Brüdern in der Ferne als nationale Schwäche tadelten, das
übten sie selbst — nach der Erfahrung, daß man die eignen Fehler an andern
am meisten empfindet und — tadelt! Es ist noch nicht lange her, daß man
in unserm Vaterlande die Erzeugnisse unter fremdem Namen über alles schätzte,
daß die beste Reklame fremde Sprache, undeutsche oder auch oft verkehrte
französische oder englische Worte waren. Nicht einmal der Sieg des Niuls
in AsririM^, sowie die damit bewiesene Übermacht der deutschen Technik und
Kultur hat die deutsche Vorliebe für das Nichtdeutsche ganz besiegt. Dennoch
muß anerkannt werden, daß die Herrschaft der fremdsprachlichen Reklame
von der fortschreitenden geistigen Bildung hinabgedrückt, erfreulicherweise immer
tiefer sinkt.
Die auf niedrer Bildungsstufe stehenden Deutschen, die als vaterlands¬
müde Auswandrer, Abenteurer oder aus dringenden Gründen der Heimat
Ratel sagen, haben allerdings das begreifliche Bestreben, sich fremden Ver¬
hältnissen, in denen sie Obdach und Glück suchen, möglichst schnell anzupassen,
ihre Abstammung zu vergessen und zu verleugnen; denn Nationalgefühl und
Pietät haben sie nicht oder jedenfalls viel weniger als Erhaltungstrieb. Um
solche Elemente ist es nicht schade, wir können sie ohne Wunsch und Bedauern
in englischer Liebe und Begeisterung aufgehn lassen. Wir finden sie überall,
leicht erkennbar an ihrer Vorliebe für fremde Sprache, die sie aber ebenso¬
wenig beherrschen wie die Muttersprache.
Die bessern Elemente der deutschen Auswandrer sind und bleiben auch
überwiegend deutsch-national gesinnt, und zwar mit bewunderungswürdiger
Zähigkeit, trotz der oft sehr großen Schwierigkeiten und Nachteile, denen sie
sich dadurch aussetzen. Die Geschichte Samoas lehrt das in schöner Weise,
ebenso wie das zähe Fortbestehn der deutschen Klubs in Australien usw. Die
Schwierigkeiten, die sich deu deutschen Ansiedlern in fremden Gebieten ent¬
gegenstellen, sind ebenso natürlich wie berechtigt durch den nationalen oder
noch mehr durch den internationalen Wettbewerb. Wir Deutschen sind auch
geneigt, uns^über die Engländer zu entrüsten, die sich am Rhein, in Heidelberg,
in Baden-Baden, in Berlin usw. mit ihrer Sprache und Sitte breit machen, nur
weil wir das als eine UnHöflichkeit, eine Mißachtung unsrer Gewohnheiten
auffassen; man sagt: So gut wie wir englisch und französisch lernen und in
England oder Frankreich so sprechen, können die Engländer Deutsch lernen,
wie die Russen. Dabei vergißt man aber, daß die Russen Deutsch lernen, weil
sie noch auf unsre Kultur angewiesen sind, was für die Engländer nicht der
Fall ist oder^wenigstens nicht der Fall war. Auch wir haben einst vom
Westen gelernt und können es in mancher Beziehung noch tun; deshalb war
auch die Vorliebe für die westliche Kultur und Sprache ebenso berechtigt, wie
daß wir sie erlernten und gebrauchten.
Aber die Verhältnisse haben sich in rascher Entwicklung zu unsern Gunsten
geändert. Das gilt auch erfreulicherweise für unsre Weltstellung oder hängt
vielmehr davon ab. Vor 1870 waren die deutschen Auswandrer noch keine
nationalen Elemente in den Augen der englischen Vergrößerungspolitik. Man
Wiegte sich dort noch im Vertrauen auf die politische Zerfahrenheit der
Deutschen, die auch vor zwanzig Jahren noch allen kolonisatorischen Bedürf¬
nissen und Forderungen einen Riegel vorschob. Die Deutschen im Auslande
wurden deshalb besonders von den Engländern als verwaiste, vaterlandslose
Wesen betrachtet, die man gern sah, weil sie tüchtig waren und — sich
fügen mußten, wenn John Bull befahl. Als dann endlich im deutschen Volke
des geeinigten Reiches das Bewußtsein erwachte, daß eine Weltmacht auch
Stützpunkte in der Welt und Fühlung mit seineu Gliedern in fernen Ge¬
bieten braucht, und auch die Handelsinteresscuten, durch die Konkurrenz der
Kolonialmächte beengt, die Notwendigkeit einer starken Flotte — natürlich
uur zum Besten ihrer eignen Existenz — anerkannten, als das Deutsche Reich
in die Reihe der Kolonialmächte eintreten durfte, machte sich eine wesentliche
Veränderung auch in den englisch-deutschen Beziehungen bemerkbar. Jenseits
des Kanals kannte man die Verhältnisse gut genug, daß man aus dieser
Wandlung der deutschen Weltpolitik die richtige Prognose zu ziehen imstande
war. Maki wußte aus Erfahrung, daß nur die Deutschen allen Kolonisten
überlegen waren, daß nur die Erstarkung ihres Nationalgefühls der englischen
Weltmacht verhängnisvoll werden konnte. Dieser Umschwung hatte deshalb
für die britische Weltherrschaft eine tief einschneidende Bedeutung. Mit dem
Augenblick, wo Deutschland begann, sich aktiv an der Teilung der Erde, an
dem internationalen Ausgleich zu beteiligen, wußte das stolze, seegewaltige
Albion, daß seine Allmacht gefährdet, ja erschüttert war. Und von diesem
Augenblick an sahen die englische Politik und instinktiv die englische Nation
ängstlich und eifersüchtig nach Deutschland, obwohl dieses keineswegs dem
verwandten Inselreiche irgendwie feindlich gesinnt war, im Gegenteil, keine
Opfer scheute, die guten Beziehungen zu erhalten. Leider haben uns diese
opferwilligen Bestrebungen bisher keine Früchte getragen; vielleicht reifen sie
später — ans den unschönen Blüten gemeiner Hetzereien und neidischer
Eifersucht des schwer um seine Existenz ringenden, einst so mächtigen Reiches.
Uns Deutschen haben die letzten Jahre der Kolonialpolitik überzeugend
bewiesen, welche Bedeutung sie für uns hat, und deshalb fand die endgiltige
Lösung des Samoastreites allseitigen Beifall auch der Kreise, die einst mit
allen Mitteln gegen eine Einmischung in die Südseckolvnisation protestiert
hatten. Andrerseits aber hat auch gerade die Samoafrage nicht nur unsre
Stellung zu England klar offenbart, sondern auch gezeigt, vou welcher Wichtig¬
keit eine Festigung lind Erweiterung unsrer Weltstellung ist, welche Macht die
deu Erdball umschließende deutsche Nation schon erlangt hat und behaupten
muß, wenn sie im Rate der Völker mit ihren Millionen unter fremden Zonen ein
festes Ganzes bilden will. Welche internationale Machtstellung wir aber durch
unsre Auswandrer erstreben und erreichen können, das haben uns die Deutschen
der Vereinigten Staaten Nordamerikas bewiesen, da auch dort 1899 die letzten
Vorgänge auf Samoa die angloamerikanische Presse zu schuldbewußte,, Wut¬
ausbrüchen gegen Deutschland entflammten, als dann der gebietende Protest
der Deutschen in der internationalen Union erscholl und die Fanatiker ent¬
waffnete. Da erkannten anch die engherzigsten Deutschen daheim, daß ihr
„Vaterland größer" sei, daß das Deutsche Reich nicht nur in seinen Grenzen
mächtig ist, daß aber auch jene Kinder der Nation Recht auf Schutz und
Interesse des Mutterlandes haben. Das würdigt unsre Reichsregierung in
ihrer auswärtigen Politik, und sie findet einen beherzigenswerten Ausdruck in
der Denkschrift des deutschen Marineamts, in der die überseeischen deutschen
Kapitalanlagen ans Grund statistischer Erhebungen im Jahre 1900 dargestellt
worden sind. Der Schlußsatz dieser Denkschrift lautet: „Nicht nur in diesen
oder jenen kleinern Staaten muß Deutschland in der Lage sein, die Arbeit
seiner Staatsangehörigen und deren Erträgnisse zu schützen, sondern vor allem
muß seine Aufmerksamkeit sich darauf richten, zu verhindern, daß andre Gro߬
mächte sich berechtigt oder imstande erachten, die Rechte oder das Interessen¬
gebiet deutscher Untertanen auf dritten Plätzen direkt oder indirekt anzugreifen."
Möge dieses Wort Tat werden und bleiben!
Von allen unsern überseeischen Interessengebieten hat keins so viel von
sich reden machen, wie das fernste und kleinste: Samoa. Und obgleich die
viel übertriebnen aber tatsächlich harmlosen Bürgerkriege und die sensationellen
politischen Konflikte mit ihren oft bis zu drohenden Feindseligkeiten gesteigerten
Ausartungen seit der Teilung Samoas — wir müssen befürchten zu dauerndem
Nachteile Deutschlands — beendet sind, bietet die jüngste deutsche Kolonie
doch beständig noch reichlich Stoff zu öffentlichen Erörterungen und — Klagen.
So wenig sich die Deutschen unter der verhängnisvollen Dreihcrrschaft ihrer
unbestreitbaren Vorrechte erfreuen konnten, so wenig Freude hat Deutschland
jetzt an seinem teuer erkauften Besitzrechte, weil es beschränkt ist, und weil diese
Beschränkung auch von den Kolonialfrennden verkannt oder unterschätzt wird.
Deutsch-Samoa ist nicht mehr das vielgerühmte Samoa; es ist, obwohl
es neun Zehntel des laug umstrittenen Ganzen umfaßt, doch nur ein abhän¬
giger Teil des letzten Zehnecks; und es hat schon jetzt diese Abhängigkeit
beständig zu fühlen, da ihm jede direkte Verbindung mit dem Mutterlande
fehlt. Die vielfach vor dem Abschluß der letzten Verträge mit Amerika und
England erhobnen Warnungen vor einer Teilung werden vielleicht, so muß
man befürchten, in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen.
Die Klagen und die Beschwerden, die jetzt und wahrscheinlich noch längere
Zeit jede Post von Samoa bringt, sind dem gegenüber bedeutungslos nud
auch nnr zum geringsten Teile beachtenswert. Sie sind vor allem die Folge
des allgemeinen Interesses für Samoa, insbesondre allzurosiger, vielfach phan¬
tastischer Schilderungen und teilweise auch geflissentlicher Übertreibungen der
Fruchtbarkeit und Rentabilität des Landes zugunsten kolonialer Gründungen,
für deren richtige Würdigung leider noch das nötige Verständnis fehlt.
Viele Ansiedlungslustige oder auch Heimatmüde sind ohne Prüfung ihrer
eignen Kenntnisse, Fähigkeiten und Mittel freudig den verlockenden Berichten
gefolgt, um das vielgepriesue Jnselparadies mit seinen vielseitigen Reizen
einmal kennen zu lernen und mit dieser Annehmlichkeit praktische Ziele zu
verbinden — wie? das haben jedenfalls nur die wenigsten der jetzt Mißver¬
gnügten und Enttäuschten gewußt, viele haben das wohl kaum ernstlich über¬
legt. Erst als sie am Ziele ihrer Wünsche angelangt waren, ist ihnen klar
und nur zu bald verständlich geworden, daß Beschäftigung und Erwerb auch
auf dem schönen Samoa von denselben Bedingungen abhängen wie daheim,
und daß für Begeisterung, guten Willen und schöne Worte allein noch lange
keine ertragreiche Kokospflanzung zu haben ist. Das hätten sich die Leicht¬
gläubigen beizeiten überlegen sollen, und sie Hütten sich vor allem erst hin¬
reichend über die Verhältnisse erkundigen müssen, ehe sie daheim etwas auf¬
gaben und die kostspielige Reise antraten. Jetzt sollen natürlich die übertriebnen
Berichte, die Verhältnisse dort, die Verwaltung oder die deutsche Kolonial-
gcsellschaft an dem Unglück schuld sein, und man findet überdies noch sonst
allerhand Ursachen und Nbclstünde, und viele Zeitungen und Zeitschriften
glauben ihrem eignen Interesse und dem der Kolonie zu dienen, wenn sie mit
oder ohne eigne Bemerkungen die Klagen und Anklagen unterstützen, ohne
sie selbst erst gehörig zu prüfen. Auf diese Weise ist auch die so spät er-
worbne Kolonie Samoa erstaunlich schnell in dasselbe Getriebe geraten, das
unsre ältern Kolonien zum Teil schon glücklich überstanden haben; aber man
darf hoffen, daß die hier auf ganz andre Weise hervorgerufne Mauserung
schnell und ohne weitere Folgen überwunden werden wird, zumal wenn auch
von amtlicher Seite energisch darauf hingewirkt und möglichst rechtzeitig für
geeignete Maßregeln und Einwirkungen gesorgt wird, bevor tatsächliche Übel¬
stände und Fehler die Entwicklung des Schutzgebiets nachteilig beeinflussen.
Zunächst ist es jedenfalls geboten, daß von maßgebender Stelle dafür
gesorgt wird, daß die Klagen und Gerüchte rechtzeitig aufgeklärt werden, ehe
sie weitere Kreise ziehen, und daß eine Beseitigung vorhandner Mißstände
ohne Verzug veranlaßt wird. Auch dabei macht sich das Fehlen einer direkten
Verbindung mit der Kolonie fühlbar. Ob und inwieweit die gegenwärtigen
Verhältnisse zu Klagen berechtigen, sei solcher Aufklärung überlasten. Sehr
zu bedauern ist es, daß sich das Organ der deutschen Kolonialgescllschaft gerade
dem öffentlichen Interesse für Samoa gegenüber sehr indifferent verhält und
sich fast allein auf verspätete und meist auf schon überholte Nachrichten über
die Vorgänge in der Kolonie beschränkt.
Von der wirtschaftlichen Bedeutung unsrer Kolonien können wir im
allgemeinen sagen: sie liegt in der Zukunft. Kolonialpolitik ist überhaupt eine
Politik der Perspektive und praktisch-nationaler oder richtiger vielleicht diplo¬
matischer Spekulation, und gerade deshalb hat sie bei uns so schwer Ver¬
ständnis und Interesse gefunden. Denn wie die ersten Kolonialdebatten im
Reichstag und die dabei besonders wegen der Südsee und insbesondre Samoas
geäußerten Ansichten der frühern Gegner heute überzeugend beweisen, fehlte
einem großen Teile des deutschen Volks und seiner Vertreter und Führer
noch in den achtziger Jahren völlig jedes klare Empfinden für nicht partei¬
politische Ziele. Das erscheint heute schon verwunderlich; aber vor zwanzig
Jahren war es erklärlich, wenn auch uicht berechtigt — bedauerlich bleibt
es immer.
(Schluß folgt)
lie politischen Verhältnisse im Reichslande haben sich also seit
dem Jahre 1879 bedeutend gebessert. Es fragt sich aber: Ist
diese Besserung durch die Verfassnngsreform von 1879 verursacht
oder wenigstens befördert worden? Hat die Trennung der Reichs-
! Verwaltung von der Lnndesverwaltung die günstige Entwicklung
der politischen Zustände beschleunigt oder gehemmt? In dieser Beziehung ist
nun die Tatsache wesentlich, daß vor der Trennung acht Jahre lang (1871
bis 1879) eine einzige Verwaltungsart konsequent festgehalten wurde, während
nach der Trennung in vierundzwciuzig Jahre» (1879 bis 1903) sechs verschiedne
Verwaltnngsarten versucht worden sind.
Der erste Zeitraum der selbständigen Landesverwaltung ist der Anfang
der Regierung Manteuffels (1879 bis 1881). In diese Zeit fällt die Frei¬
gebung der einheimischen Presse, die Zulassung der verbotnen altdeutschen
sowie der meisten französischen Zeitungen, die Aufhebung des Kriegsgerichts
und die Genehmigung zur Eröffnung eines bischöflichen Knabenseminars in
Zillisheim.
Der zweite Zeitraum umfaßt deu zweiten Abschnitt der Negierung Man-
teuffels (1881 bis 1885). In diese Zeit fallen die Unterdrückung der protest-
lenscheu „Presse von Elsaß-Lothringen," sowie der klerikalen Zeitungen
„Union" und „Se. Odilienblatt," das Verbot der Herausgabe eines neuen
klerikalen Wochenblatts „Elsässer," die Untersagung des Geschäftsbetriebs der
französischen Versicherungsgesellschaften, das scharfe Vorgehn gegen die militär¬
pflichtigen Emigranten, die Einführung der deutsche» Geschäftssprache im
Landesausschuß und die gerichtliche Verfolgung des Prvtestlcrs Antoine, zu¬
gleich aber auch die Dekorierung des klerikalen Protestlers Dupont des Logcs
mit dem Kronenorden zweiter Klasse, die Berufung von Emigrantenvütern
auf Bürgermeister- und Staatsratsposten, sowie das Verbot des Bismarck-
Fackelzugs.
Der dritte Zeitraum reicht von dem Regierungsantritt des Fürsten Chlodwig
Hohenlohe bis zu den verhängnisvollen Neichstagswahlen des Jahres 1887.
In diese Zeit fällt der patriarchalische Aufruf des Statthalters an die Reichs¬
tagswähler in Elsaß-Lothringen vom 15. Februar 1887, der uicht den ge¬
ringsten Eindruck machte.
Der vierte Zeitraum erstreckt sich von den Reichstagswahlen des Jahres
1887 bis zum Sturze des Fürsten Bismarck (1890). In diese Zeit fallen
der Rücktritt des Ministers von Hofmann, die Berufung der Altpreußen Stube
und Köller, die Erweiterung des kaiserlichen Vervrdnungsrechts durch das
Reichsgesetz vom 7, Juli 1887, die Einführung der Berufsbürgcrmeister, die
Verordnung über den Paßzwang, die energische Bekämpfung aller französischen
Demonstrationen mit Hilfe der Polizei- und der Gerichtsbehörden.
Der fünfte Zeitraum geht von dein Sturze des Fürsten Bismarck bis
zur Aufhebung des Diktaturparagrnphcn (1890 bis 1902). In diese Zeit
fallt die Aufhebung des Paßzwangs, die Milderung der Fremdenpolizei, die
Ernennung der elsässischen Abgeordneten Zorn von Bulach und Petri zu
Unterstnntssekretüren im Ministerium für Elsaß-Lothringen, sowie die Ein¬
führung des deutschen Prcßgesetzes.
Der sechste Zeitraum beginnt mit der Aufhebung des Diktaturparagraphen;
er kann als die Zeit des gemeinen Rechts bezeichnet werden.
Die zahlreichen wechselnden Verwaltungsarten, die es seit 1879 im Reichs¬
lande gegeben hat, muß man zum Teil wenigstens auf deu Umstand zurück-
führen, daß der Personenwechsel auf dem Statthaltcrposten häufiger ist als
auf dem Herrscherthron. Hierzu kommt noch etwas andres: die Statthalter
können sich nicht, wie die Thronerben, auf ihren Beruf vorbereite». In der
Biographie des Feldmarschnlls von Manteuffel, die ein begeisterter Verehrer
— der Schleswiger Keck — verfaßt hat, ist offen zugegeben, daß Manteuffel
bei seiner Ankunft im Reichslande noch vollständig im dunkeln darüber war,
wie er seine Aufgabe anfassen solle. Daß besonders die Regierung Man-
teuffels der deutschen Sache in Elsaß-Lothringen nichts genützt, dagegen viel
geschadet hat, ist die Ansicht fast sämtlicher im Reichslande lebender Alt¬
deutschen. Auch Petersen sagt in seinem bekannten Buche: „Das Verfahren
des ersten Statthalters, dem die erforderliche Ruhe und Stetigkeit fehlte, und
der nach Unmöglichen strebte, erwies sich im ganzen als schädlich." Zu dem¬
selben Urteil sind auch manche deutschfreundliche Elsüsser gelaugt. Der Ab¬
geordnete Zorn von Bulach (Sohn) hat um 18. Januar 1883 — also noch
während der Negierung Manteuffels — ganz offen im Landesausschnß erklärt:
"Wenn ein Vergleich erlaubt ist mit den frühern Zuständen, so muß ich sagen,
daß am Ende der Regierung des Herrn von Möller die politische Beruhigung
eme ganz andre war als jetzt." Derselbe Abgeordnete hat ferner in der Sitzung
des Landesansschusses vom 13. Dezember 1883 dem Statthalter vorgeworfen,
er habe durch seine persönliche Politik die Opposition nicht vernichtet, sondern
nur die gemäßigte Partei der Autonvmisten zerstört: „Der Herr Statthalter
hat gedacht, daß mit der großen Liebenswürdigkeit, mit seinem gentlemcm-
artrgen Benehmen, das er jedem gegenüber zeigt, ... er in kurzer Zeit jede
Opposition brechen würde. Wenn dieses Verfahren eines tüchtigen und er¬
probten Diplomaten auf einige Personen Eindruck gemacht hat, die ab und
zu als xersormo sich bei dem hohen Herrn herumtreiben, so glaube ich,
hat es im großen und ganzen wenig genützt."
Noch viel schärfer und härter lautet das Urteil, das ein andrer Elsüsser,
^raf Dürckheim, in seinen „Erinnerungen alter und neuer Zeit" über die
Politik Manteuffels gefüllt hat: „Die guten Vorsätze Manteuffels verfolgten
auf falscher Bahn einen illusorischen Zweck. Durch übertriebne Schonung alle
Renitenten, die verbissenen Reichsfeinde, einzeln zur deutschen Sache bekehren
zu wollen . . , das kann doch wohl als ein unbegreiflicher Irrtum bezeichnet
werden." — „Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten,
Statthalter des deutschen Kaisers, hauptsächlich von Neichsfeinden umgeben zu
sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen
und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr
unbescheidnen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig
entgegenkam. Mit einem Worte: sie sahen alle rändigen Schafe angelockt und
am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde."
Der beste Beweis für das unheilvolle Wirken Manteuffels sind die
Reichstagswahlen vom 21. Februar 1837, die schwerste Niederlage, die die
deutsche Sache jemals in Elsaß-Lothringen erlitten hat. Auf Grund der an¬
geführten Tatsachen erscheint die Behauptung gerechtfertigt, daß die günstigen
politischen Verhältnisse, die heute in Elsaß-Lothringen bestehn, noch viel schneller
und sicherer eingetreten wären, wenn die Verwaltung nach deu bewährten
Grundsätzen des Oberpräsidenten von Möller weitergeführt worden wäre.
Durch die Trennung der Reichs- von der Landesregierung ist nicht bloß
die Macht der Landesregierung erhöht worden, sondern zugleich auch die
Macht des Landesausschusses. Dieser hat nun den Machtzuwachs vielfach
— besonders in sozialpolitischen Fragen — dazu benutzt, notwendige Reformen
zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dieser hemmende Einfluß des
Landesausschusses zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Armenpflege.
In Elsaß-Lothringen besteht nicht die deutsche obligatorische Armenpflege,
sondern die französische Art der freiwilligen Armenpflege. In Deutschland
hat der Arme ein Recht auf Unterstützung, das er zwar nicht durch die
Klage, wohl aber durch eine Beschwerde geltend machen kann. In Elsaß-
Lothringen hat der Arme kein Recht, sondern nur einen moralischen Anspruch
auf Unterstützung; kein Kommunalverband kann gezwungen werden, den mora¬
lischen Anspruch des Armen auf Unterstützung zu befriedigen. Das Maß der
Unterstützung wird in Deutschland durch das Bedürfnis der Armen bestimmt;
in Elsaß-Lothringen ist das Maß der Unterstützung von dein Betrage der vor-
handnen Geldmittel abhängig. Die Mittel zur Unterstützung werden in Deutsch¬
land von den Kommunalverbänden, in Elsaß-Lothringen von den Armenrüten,
Hospizen und Hospitälern aufgebracht; diese Anstalten haben in der Regel
keine festen Einnahmen, sondern sind in der Hauptsache auf freiwillige Zu¬
wendungen von Privatpersonen und Gemeinden angewiesen.
Im Landcsausschuß ist es üblich, große Lobreden auf das französische
Verfahren der freiwilligen Armenpflege zu halten. Der Abgeordnete Winterer
zum Beispiel hat in der Sitzung vom 3. Mürz 1896 behauptet, die freiwillige
Unterstützung sei nicht blos; vorteilhafter, sondern auch edler als die Zwangs¬
unterstützung. Ganz anders dagegen lauten die Urteile, die Fachmänner wie
Ruland und Schwander in ihren Schriften über das reichsländische Armen¬
wesen gefällt haben. Schwander sagt in dem Vorwort zu seinem Buche
„Das Armenrecht in Elsaß-Lothringen" (1899), daß, abgesehen von einigen
großen Städten, die finanzielle Leistungsunfühigkeit der Armenrätc und der
Spitäler überall ein unüberwindliches Hindernis sei, die wichtigen Aufgaben
der heutigen Armenpflege zu erfüllen. In dein Buche von Ruland „Das
System der Armenpflege in Altdeutschland und in den Reichslanden" (1896)
wird unter Anführung eines reichen statistischen Materials und einer Fülle
von Einzelheiten die reichsländische Art der Armenpflege wiederholt als
„jammervoll" bezeichnet. Der deutsche Verein für Armenpflege und Wohl¬
tätigkeit, dem die ersten Autoritäten auf dem Gebiete des Armenwesens an¬
gehören, hat auf der Generalversammlung in Straßburg am 24. Dezember 1896
eine Resolution angenommen, worin er das elsaß-lothringische Verfahren der
fakultativen Armenpflege für ungenügend erklärt und die Einführung der obli¬
gatorischen Armenpflege empfiehlt.
Unter dem schlechten Zustande der Armenpflege in Elsaß-Lothringen
leiden natürlich nicht bloß die einheimischen Armen, sondern vor allem die ein-
gewnnderten Armen. Nach dem französischen Verwaltungsrecht, das noch
heute in Elsaß-Lothringen gilt, können überhaupt nur Inländer, d. h. An¬
gehörige des Neichslandes, einen Unterstützungswohnsitz erwerben. Um nun
zu verhüten, daß die deutschen Bundesstaaten im Interesse ihrer notleidenden
Staatsangehörigen die Ausdehnung des Neichsgesetzes über den Unterstützungs¬
wohnsitz auf Elsaß-Lothringen fordern, hat die elsaß-lothringische Landes¬
regierung in den Jahren 1896 bis 1899 mit den am meisten beteiligten
Staaten Baden, Hessen, Württemberg und Preußen Verträge abgeschlossen, in
denen sie sich verpflichtete, den Angehörigen dieser Staaten, die fünf Jahre
üwg im Reichslande wohnen, aus Landesmitteln volle Armenunterstützung zu
gewähren. Diese Vertrüge haben nun das seltsame Resultat gehabt, daß heute
un Reichslande die Armen mit badischer, hessischer, württembergischer oder
p^ußische^ Staatsangehörigkeit viel besser behandelt werden als die Armen,
die Elsaß-Lothringer sind. Jene werden nach Maßgabe ihres Bedürfnisses
unterstützt, diese nach Maßgabe der vorhandnen Geldmittel. Jene bekommen
die Unterstützung aus der Landeskasse, in der immer Geld vorhanden ist;
diese bekommen die Unterstützung aus der Kasse eines Armenrats, die häufig
^er ist, oder die es überhaupt nicht gibt.
Die geschilderten Mißstünde würden uicht bestehn, wenn die elsaß-loth-
rmgrsche Landesverwaltung ein Zweig der Reichsverwaltung geblieben wäre.
Der Reichstag hat am 26. Januar 1894 die Ausdehnung des Reichsgesetzes
über den Unterstützungswohnsitz auf Elsaß-Lothringen ausdrücklich verlangt.
Der Landesausschuß dagegen hat am 3. Mürz 1896 gegen die Einführung
des genannten Reichsgesetzes protestiert und am 12. Mürz 1902 eine Petition
des Gemeinderath von Kolmar wegen der Reform der Armengesetzgebung ab¬
gelehnt. Stunde die elsaß-lothringische Landesverwaltung unter der Leitung
und der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, so würde die Stimme des
^eichstages für die Regierung mehr Gewicht haben als die Stimme des
Landesausschusses.
Es würde hier zu weit führen, das Verhalten des Landesausschnsses
gegenüber jedem einzelnen Reformprvjekte zu verfolgen. Erwähnt soll nur
noch werden, daß alle Versuche, den schwerfälligen und kostspieligen Apparat
der innern Verwaltung einfacher zu machen, an dem Widerstande des Landes-
ausschusses gescheitert sind; dieser hat nicht bloß die 1892 von der Regierung
vorgelegte Kreisordnung abgelehnt, sondern auch alle Vorschläge aus Ab¬
schaffung der Bezirkspräsidien, die z. B. in den Jahren 1885 und 1886 von
den unterelsässischen Abgeordneten Schneegans, North und Zorn von Bulach
(Sohn) gemacht wurden, zurückgewiesen. Der Landesausschuß hat ferner jahr¬
zehntelang einer Reform des gänzlich veralteten französischen Steuersystems
widerstrebt. Noch am 26. Februar 1885 erklärte der Abgeordnete Dr. Racis
nnter dem Beifall der großen Majorität des Landesausschusses, daß die Ein¬
führung einer Einkommensteuer direkt zum Sozialismus führe. Erst im
Jahre 1901 ist es der Landesregierung gelungen, eine Steuerreform durchzu¬
setzen; bei dem Zustandekommen dieser Reform hat jedenfalls die Furcht vor
dem Eingreifen des Reichstages eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.
Der Landesausschuß hat also auf vielen Gebieten eine zeitgemäße Weiter¬
bildung und Verbesserung der überlebten französischen Institutionen verhindert.
Es erscheint bedenklich, dieser reformfeindlichen Körperschaft, ohne daß zugleich
ihre Zusammensetzung geändert würde, neue Rechte einzuräumen.
Das wichtigste Verfassungsrecht, das im Antrage Krafft verlangt wird,
ist das volle Budgetrecht des Laudesausschusses. Ist dieses Recht einmal be¬
willigt, so kann es ohne Zustimmung des Landesausschusses nicht mehr zurück¬
genommen werden. Zugleich mit der Einräumung des vollen Budgetrechts
müßten deshalb Garantien geschaffen werden, die einen Mißbrauch dieses
Rechts durch den Landesausschuß verhüteten. Welche Begriffsverwirrung über
das Budgetrecht im Landesausschuß besteht, beweist z. B. die Tatsache, daß
in der Sitzung vom 26. Februar 1902 die Gehalte der 64 Oberförster des
Landes mit 18 gegen 18 Stimmen gestrichen wurden! Hierzu kommt der Um¬
stand, daß trotz der klassischen Ausführungen von Labcind unter den Juristen
noch große Unklarheit über die Grenzen des Budgetrechts herrscht. Leoni z. B.
vertritt die Ansicht, die direkten Steuern in Elsaß-Lothringen müßten all¬
jährlich neu bewilligt werden; wenn kein Etatsgesetz zustande komme, so habe die
Regierung keinen Rechtstitel, die direkten Steuern weiter zu erheben. Hiernach
erscheint es notwendig, nach Artikel 109 der preußischen Verfassung ausdrücklich
zu bestimmen: „Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben."
Wenn die Rechte des Landesausschusses verfassungsmüßig gesichert werden
sollen, so ist es nnr recht und billig, die Rechte des Kaisers ebenfalls ver¬
fassungsmäßig zu sichern. Die Erhebung des Landesausschusfes zum Land¬
tage und die Aufrichtung der Monarchie müssen zu gleicher Zeit erfolgen.
Bis jetzt hat noch keine Partei und kein Abgeordneter im Reichslande den
Mut gehabt, offen das Banner der Monarchie zu entrollen und den Kaiser
als Landesherrn zu fordern. In den Programmen der liberalen und der
klerikalen Landespartei ist von den Rechten des Kaisers mit keiner Silbe die
Rede. Bei der Beratung des Antrags Krafft hat der Abgeordnete Riff die
schwierige Frage der künftige» Stellung des Kaisers dadurch umgangen, daß
er die völlig haltlose Behauptung aufstellte, der Kaiser sei schon Landesherr
in Elsaß-Lothringen. Ein einziger Blick in das Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen
genügt, das Gegenteil nachzuweisen. Der Kaiser handelt nicht in eignem
Namen, sondern'in fremdem Namen, im Namen des Reiches. Er ist nicht
Monarch, sondern Regent, „erblicher Vertreter der Gesamtheit," wie ihn die
Motive zum Gesetz vom 9. Juni 1871 nennen.
Wenn die Verfassungsänderung darauf beschränkt würde, den Landesaus¬
schuß in einen Landtag umzuwandeln, so wäre die Landesregierung in finanzieller
Beziehung vollständig von der Volksvertretung abhängig. Der neue Land¬
tag würde diese finanzielle Abhängigkeit zweifellos dazu benutzen, die Lieblings¬
wünsche des alten Landesausschusses durchzusetzen. Zu diesen Liebliugs-
wünschcn gehört besonders die Einführung der französischen Sprache in den
Elementarunterricht der Volksschulen. Am 11. Februar 1885 hat der Ab¬
geordnete Goguel im Landesausschuß festgestellt, daß der Landesausschuß schon
in elf aufeinander folgenden Sessionen die Einführung des französischen
Unterrichts in die Volksschulen verlangt habe. Auch später noch ist diese
Forderung häusig wiederholt worden, z. B. in der Sitzung vom 1. Februar
1898 durch den Abgeordneten Jeanty und in der Sitzung vom 28. Februar
1899 durch den Abgeordneten Winterer. Die drei Bezirksrnte von Unterelsaß,
von Oberelsaß und von Lothringen haben die Einführung des französischen
Elementarunterrichts ebenfalls befürwortet, desgleichen manche Gcmcinderüte,
endlich auch verschiedne Neichstagsabgeordnete, z. B. Schlumberger in einer
öffentlichen Volksversammlung zu Mülhausen am 19. Oktober 1901 und
Vr. Nicklin in einer Wahlrede zu Masmüuster am 24. Mai 1903.
Die Einführung des französischen Unterrichts in die Elementarschulen
würde einen der größten Fortschritte wieder in Frage stellen, den das Deutsch¬
tum seit 1870 im Reichslande gemacht hat. Zur Zeit der Annexion bestand
die Gefahr, daß die städtische Bevölkerung des deutschen Sprachgebiets der
Verwelschung anheimfiele; hente hat die deutsche Umgangssprache in den untern
Klassen dieser städtischen Bevölkerung vollständig gesiegt; sogar ein Teil der
mittlern Stände bedient sich wieder der deutschen Sprache. Franzosen, Belgier,
Niederländer, Dänen, Russen, Polen und Ungarn denken nicht daran, in ihren
an Deutschland grenzenden Provinzen zum Zwecke der Erleichterung des Grenz¬
verkehrs deutschen Elementarunterricht einzuführen; nur dem deutschen Michel
wird zugemutet, die Interessen des Handels und der Industrie über die natio¬
nalen Interessen zu stellen.
Ein zweiter Lieblingswunsch des Landesausschusses ist die Erfüllung der
Forderung: „Elsaß-Lothringen den Elsaß-Lothringern." Dieses Schlagwort,
das Charles Grad in der Sitzung vom 28. Januar 1887 zuerst gebraucht
hat, hat eine doppelte Bedeutung, je nachdem Elsaß-Lothringer im weitern
oder im engern Sinne gemeint sind. Elsaß-Lothringer im weitern Sinne sind
die Eingebornen und die eingewanderten Altdeutschen, soweit diese die clsaß-
lothringische Landesangehörigkeit erworben haben. Elsaß-Lothringer im engern
Sinne sind nur die Eingebornen, die „Autochthonen," d. h. die Familien, die
schon am Tage der französischen Kriegserklärung — 19. Juli 1870 — in
Elsaß-Lothringen ansässig waren. Nach der ersten Auslegung darf der Sohn
eines preußischen Generals, der z. B. in Hagenau in Garnison steht, in Elsaß-
Lothringen weder Forstreferendar noch Regierungsassessor oder Richter werden.
Dasselbe gilt von den Söhnen der Intendantur-, Militnrjustiz-, Post-, Eisen¬
bahn- und Reichsbankbeamten, die im Reichslande ihren dienstlichen Wohnsitz,
aber nicht die elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit haben. Nach der zweiten
Auslegung soll bei Konkurrenz zwischen Bewerbern aus eingewanderten und
autochthonen Familien allemal der Autochthone den Vorrang erhalten. In
der Sitzung des Landesausschusses vom 28. Februar 1901 hat der Abge¬
ordneten Dr. Ricklin ganz offen die Theorie verfochten, daß es zwei Klassen
von Elsaß-Lothringern gebe: Autochthone und Eingewanderte; die Angehörigen
der ersten Klasse müßten bei der Besetzung von Assistentenstellen in den medi¬
zinischen Kliniken besonders berücksichtigt werden; weigere sich ein Professor,
autochthone Assistenten anzustellen, so solle ihm das Gehalt gestrichen werden!
In dem amtlichen Sitzungsbericht sind die Ausführungen des Dr. Ricklin sehr
abgeschwächt; den genanen Wortlaut seiner Äußerungen kann man jedoch aus
der „Straßburger Post" vom 1. März 1901 ersehen. Daß die Ansicht des
Dr. Ricklin nicht allein steht, beweist ein Artikel der „Straßburger Post" über
„Einheimische Beamte" vom 13. November 1896, worin ausdrücklich festge¬
stellt wird: „Man verlangt geradezu, daß die Altdeutschen zugunsten der Ein¬
heimischen zurückgesetzt werden sollen."
Wenn der preußische Staat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts den
Grundsatz „Preußen den Preußen" befolgt hätte, so würde die preußische und
die deutsche Geschichte, ja sogar die Weltgeschichte eine ganz andre Wendung
genommen haben. Unter den preußischen Feldmarschüllen würden die Mecklen¬
burger Blücher und Moltke, der Franke Gneisenau und der Sachse Manteuffel
fehlen; der Hannoveraner Scharnhorst wäre nicht preußischer Kriegsminister,
zwei andre Hannoveraner — Goeben und Hartmann — wären nicht preußische
Generale geworden. Die Eingewanderten Stein, Hardenberg und Scharnhorst
hätten den preußischen Staat nicht reorganisiert; der Kurhesse Motz hätte nicht
den Zollverein gegründet; der Sachse Otto Manteuffel wäre nicht nach Olmütz
gegangen. Niebuhr, Altenstein, Eichhorn, Savigny, Bunsen, Nadowitz, Beth¬
mann-Hollweg, Schleinitz, Leonhard, Miquel, Chlodwig Hohenlohe, Bülow
Vater und Sohn, die beiden Bernstorff und die beiden Hammerstein und viele
andre hohe Beamte hätten nicht einflußreiche Stellungen im preußischen Staats¬
dienst erlangen können; kein einziger von ihnen ist ein preußischer Autochthone
gewesen. In den deutschen Mittelstaaten dagegen besteht eine festgeschlossene
Oligarchie verwandter und verschwägerter Beamtenfamilien, die mit vereinte»
Kräften dafür sorgen, daß die besten Stellen ihrem Klüngel vorbehalten bleiben.
Klassische Beispiele für diese Nepotenwirtschaft, die der unausrottbare Krebs¬
schaden aller Kleinstaaterei ist, geben die Geschichte von Hannover und die von
Württemberg. Daß einmal ein Fremder in einem deutschen Mittelstaat Mi¬
nister wird, gehört zu den größten Seltenheiten.
Die Elsaß-Lothringer nun, die bis vor kurzem in den großen Verhält¬
nissen des französischen Staats gelebt haben, sehen heute ihr politisches Ideal
nicht mehr in dem freien Wettbewerb aller Kräfte, wie er in Frankreich und
in Preußen besteht, sondern in der Beschränkung des freien Wettbewerbs zu-
gunsten einzelner Personen und Familien, die in den deutschen Mittel- und Klein¬
staaten üblich ist; ein schlagender Beweis für die Nichtigkeit des Dichterworts,
daß im engen Kreise sich der Sinn verengert! Die Beschränkung ihres poli¬
tischen Horizonts hat die Elsaß-Lothringer zu politischen Philistern gemacht.
Die notwendige Folge einer einseitigen Bevorzugung der Partikularsten
im Reichslande würde eine neue Stärkung des elsaß-lothringischen Partikula-
rismus sein; die Partikularistische Gesinnung ist in Elsaß-Lothringen schon so
üppig emporgewuchert, daß eine weitere Kräftigung das Reichsinteresse ge¬
fährden muß. Nicht allein die ehemaligen Franzosen sind elsässische und
lothringische Partikularsten geworden; auch manche Altdeutsche sind von
partikularistischeu Ideen angesteckt worden. Bei den letzten Neichstagswahlen
hat der klerikale Kandidat für Hagenau-Weißenburg, der im Elsaß geborne
Sohn eines altdeutschen Beamten, folgende Erklärung veröffentlicht: „Als
Elsässer im Elsaß geboren, mit dem elsässischen Wesen verwachsen, Elsässer
meinem ganzen Fühlen und Denken nach, ferner als überzeugungstreuer
Katholik war für mich f!s nur eine Bekämpfung der Kandidatur des Prinzen
Alexander von Hohenlohe-Schillingsfürst denkbar, der nach meiner Über¬
zeugung mit seinem ganzen Wesen, seiner Beamtenstellung usw. nicht zu einem
Vertreter der Elsässer paßt, der im Augenblick seiner ersten Kandidatur keine
Ahnung von dem elsässischen Volk und seinem Wesen hatte, und dessen poli¬
tische Tätigkeit für das elsässische Volk — gelinde gesagt — eine Enttäuschung
nach der andern war." — In dieser Erklärung ist sehr viel vom Elsaß, dagegen
»ut keinem Worte vom deutschen Vaterlande die Rede; ans dem Sohne des ein¬
gewanderten Deutschen ist ein elsässischer Renegat geworden! Leider steht dieser
Fall nicht allein. In Kolmnr zum Beispiel ist die Wahl des elsässischen Par-
tikulciristen Preiß auch von manchen Altdeutschen unterstützt worden, obwohl
andre Kandidaten vorhanden waren, die den deutschen Standpunkt vertraten.
Die Erfüllung der Forderung „Elsaß-Lothringen den Autochthonen" würde
die Kluft zwischen Eingebornen und Eingewanderten, deren Ausfüllung schon
im Gange ist, von neuem vertiefen und erweitern.
Auf Grund vorstehender Ausführungen gelangen wir zu folgendem Schluß:
Der Erlaß eiues Nerfassungsgesetzes, worin ausschließlich die Rechte des
Landtags berücksichtigt sind, ist unmöglich; das neue Verfassungsgesetz muß
die Rechte der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt gleichmäßig ordnen.
Dagegen ist es möglich, die Zuständigkeit des Lcmdcsausschusses in einzelnen
Punkten zu erweitern. Wenn das Reich das unbeschränkte Recht der Gesetz¬
gebung in allen elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten behält, so ist die
Mitwirkung des Bundesrath bei der Ausübung der Landesgesetzgebung ganz
überflüssig. Es besteht also kein Bedenken, dem Paragraphen 1' des Reichs¬
gesetzes vom 2. Mai 1877 folgende Fassung zu geben: „Landesgesetze für
Elsaß-Lothringen können vom Kaiser erlassen werden, wenn der Landes¬
ausschuß ihnen zugestimmt hat." Wenn der Reichskanzler den: Reichstage
für die Beaufsichtigung der elsaß-lothringischen Verwaltung verantwortlich
bleibt, so erscheint die Verantwortlichkeit des Statthalters gegenüber dem Reichs-
tag entbehrlich. Paragraph 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871 kann also in
folgender Weise geändert werden: „Die Anordnungen und Verfügungen des
Kaisers bedürfen zu ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung des Statthalters oder
seines Stellvertreters, des Staatssekretärs, die hierdurch die Verantwortlichkeit
übernehmen. Die Verantwortlichkeit, die die genannten Beamten bisher dem
Reichstage gegenüber hatten, besteht in Zukunft dem Landesausschuß gegen¬
über." Auf diesem Wege würde zugleich erreicht, was die Abgeordneten Krafft
und Genossen mit der Forderung des Jntcrpellationsrechts erstreben, nämlich
ein formeller Rechtstitel für die ständige Kontrolle der Landesverwaltung durch
den Landesausschuß. Ebenso unbedenklich ist es, dem Landesausschuß die
Prüfung angefochtener Wahlen einzuräumen.
Das Endziel der Entwicklung darf nicht die Oktroyierung eines fremden
Prinzen sein, der im Volk ebensowenig Ansehen und Sympathie genießen
würde wie der Koburger in Bulgarien, auch uicht die Begründung einer
preußischen Sekundogeuitur oder einer Erbstatthalterschaft nach holländischem
Muster. In der Neichstagssitzung vom 8. März 1878 hat der elsüssische Abge¬
ordnete Schneegans beantragt, die Leitung der elsaß-lothringischen Landes-
verwaltung einem Provinzialminister zu übertragen, der unter der Aufsicht des
Reichskanzlers stehn und als dessen Stellvertreter in Straßburg residieren
sollte. Dieser Vorschlag eines Eingebornen enthält noch heute die einfachste
und zweckmäßigste Regelung der Beziehungen zwischen Reich und Reichsland.
Bleibt die formelle Trennung zwischen Reichs- und Landesregierung bestehn, so
kann das Endziel nur die Personalunion mit dem Oberhaupt des Reichs
und des preußischen Staates sein. Die Gleichberechtigung Elsaß-Lothringens
mit den deutschen Bundesstaaten wird nicht durch Partikularistische Sonder¬
politik, sondern nur durch offnen und ehrlichen Anschluß an den Träger der
Reichsgewalt erreicht werden. Es ist möglich, daß ein Teil der nnterelsässischen
und der lothringischen Abgeordneten für eine Personalunion mit Preußen
eintritt. Unwahrscheinlich ist es dagegen, daß sich die große Masse der reichs-
ländischen Klerikalen für die Begründung einer protestantischen Dynastie er¬
wärmt. Noch viel unwahrscheinlicher ist, daß die obcrelsüssischen Demokraten
bei der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie mitwirken. Die Aus¬
sichten für die Bildung eines neuen Bundesstaates Elsaß-Lothringen sind also
vorläufig sehr gering.
Die endgiltige Lösung der reichsläudischen Verfassungsfrage wird erst
dann erfolgen, wenn die Elsaß-Lothringer die Mahnung des Dichters Geibel
beherzigen:
lief, was die Menschheit zum Lebensunterhalt braucht, kann nur
W durch Arbeit in Verbindung mit den im Erdboden und in der
«I Atmosphäre wirkenden Naturkräften hervorgebracht werden. So
»ernähren sich die unzivilisierten Naturvölker, und in andrer Weise
«kann sich auch die Bevölkerung eines modernen Staats ihren
Unterhalt nicht verschaffen. Alle produktive Tätigkeit kann nichts Neues hervor¬
bringen, kann nichts herstellen, was nicht in irgend einer Form schon vorher da
war; es finden immer nur Umgestaltungen oder chemische Veränderungen der vor-
handnen Stoffe statt. Was produziert wird, hat auch keinen dauernden Bestand
und erfüllt seinen Zweck nur, wenn es zur Lebensfristung und Lebensannehm¬
lichkeit verwandt und verbraucht wird. Dabei vermindert sich der Nutzwert,
den die Erde für ihre Bewohner hat, je länger und je intensiver die Aus¬
nutzung der zur Existenz der Menschen dienenden Bestandteile der Erdrinde
bor sich geht, da sich ein Teil dieser Bestandteile nur langsam oder gar nicht
ueuzubilden vermag. Aber durch rationelle Bewirtschaftung, verbesserte Pro¬
duktionsmethoden und namentlich durch die Entdeckung und Benutzung der
Dampfkraft und der Elektrizität, sowie durch die Fortschritte der Chemie wird
^ den Menschen dennoch immer leichter, sich ihren Bedarf zu verschaffen und
ZU einer gesteigerten, bessern Lebenshaltung zu gelangen.
Die damit zusammenhängende umfangreiche, komplizierte Produktion, deren
Aufgabe es ist, immer größere Gütermengen für eine immer größere Menschen-
Zahl herzustellen und zur Verteilung zu bringen, stellt auch an die Organi¬
sation und die Leitung des wirtschaftlichen Zusammenwirkens immer schwierigere
Anforderungen. Es ist ebenso nötig, alles, was die Menschheit braucht, in
genügender Menge zu beschaffen, als auch dafür zu sorgen, daß die produ¬
zierten Quantitäten sämtlich zweckmäßige Verwendung finden. Die jeweilige
Produktionsfähigkeit der Menschen zieht die Grenze für den zulässigen und ist
ebenso das Maß für den nötigen Konsum. Die Menschheit darf sich nicht
eher an einen größern Verbrauch von Bedarfsgütern gewöhnen, als sie dieses
Quantum dauernd und ohne Überanstrengung zu erzeugen vermag; es muß
aber auch alles Produzierte konsumiert werden, da die Produkte sonst keinen
Wert, und die zu ihrer Herstellung aufgewandten Arbeitsleistungen keinen
Zweck Hütten.
So kann eine wirtschaftliche Gemeinschaft in dichtbevölkerten Ländern, wo
sich die Bedürfnisse mit der vorgeschrittnen Kultur vervielfältigt haben, und
wo die Beschaffung der verschiednen Bedarfsgüter Zeit verlangt, nicht von der
Hand in den Mund leben. Es ist ein bestündiger Vorrat der Produkte nötig,
der für einige Zeit den voraussichtlichen Bedarf bestreiten muß. Auch müssen
die der Produktion dienenden Einrichtungen und Vorkehrungen, dem wachsenden
Bedarf vorausschreitend, rechtzeitig vergrößert und vermehrt werden. Diese
Aufgabe zu erfüllen, ist Sache des Geldes, dem ein feststehender Wert beige¬
legt worden ist, und das dadurch eine allgemein giltige Kaufkraft zur Erlangung
jeglicher Nutzgüter und zur Ausnutzung aller sonstigen wirtschaftlichen Leistungen
hat. Das Geld ist zugleich die Form, in der die Menschen ihre Ersparnisse nieder¬
legen, die sie erübrigen, wenn sie durch Fleiß, Tüchtigkeit und Genügsamkeit
mehr erwerben, als sie verbrauchen. Dieses ersparte Geld ist dann das Mittel,
womit alles zur Steigerung der Produktion Nötige angeschafft werden kann, sodaß,
wenn der vorauszusehende, sich mit der Zunahme der Bevölkerung einstellende
und zugleich durch die stärkere Produktion angeregte vermehrte Bedarf eintritt,
es nicht an den nötigen Konsumgütern mangelt. Das Geld kann ausgeliehen,
oder es kann zusammengeschossen werden, sodaß es zu größern Unternehmen
die gemeinsamen Mittel schasst; dabei ist ihm, seiner nutzbringenden Verwendung
wegen, ein Recht auf Zins eingeräumt, wodurch es sich fortgesetzt vermehrt,
oder wodurch es seinem Besitzer eine zum Lebensunterhalt verwendbare Rente
eintrügt.
Das Gold oder das Silber, woraus die Münzen hergestellt werden, hat
den Wert, zu dem es als Geld von Hand zu Hand geht, nnr durch das Über¬
einkommen der Kulturvölker. Wäre diesen sogenannten Edelmetallen kein
solcher allgemein anerkannter Wert beigelegt, so würde sich ihr Preis — wie
bei jeder andern Ware — nach Angebot und Nachfrage, nach der davon ge¬
wonnenen Menge, nach den Erzeugungskosten und nach der Absatzgelegmheit
richten. Würden diese Metalle nicht zu Münzen benutzt, so wäre ihre Ver¬
wendbarkeit und dadurch auch ihr Tauschwert sehr viel geringer. Die Kauf¬
kraft des zur Münze gewordnen Metalls beruht also nicht auf einem Wert,
wie sich dieser bei andern Gütern durch alle ansprechenden Umstände ausbildet,
sondern auf dem ihm verliehenen bevorrechtigten höhern Wert. Es ist eine
Anweisung auf das für den Nennwert der Münzen zu kaufende Quantum
Güter. Nur wenn diese Güter vorhanden sind, und indem sie gegen die
Münzen ausgetauscht werden, kommt die Eigenschaft des Geldes tatsächlich zur
Geltung. In dieser Eigenschaft, als Umlaufs- und Tauschmittel und zugleich
als Maßstab für die Bewertung aller wirtschaftlichen Güter und Leistungen
zu dienen, liegt der hauptsächliche Zweck der Geldmünzen. Daß sich diese
auch — durch nicht völligen Verbrauch des Einkommens der Erwerbenden —
ansammeln lassen, damit sie erst später konsumiert werden oder weiter zu pro¬
duktiven Zwecken Verwendung finden, kommt für das Metallgeld weniger in
Betracht, gehört vielmehr zu den Aufgaben des gesamten, nicht nur des in
baren Münzen bestehenden Geldbesitzes. Das Metallgeld eignet sich nicht
dazu, zurückgelegt zu werden; es hat durch seinen Metallgehalt einen Sach¬
wert, und eine Sache, die der wirtschaftlichen Benutzung entzogen wird, bringt
keinen Ertrag. Nur wenn man sein erworbnes Geld weder in bar noch in
unverzinslichen Geldsurrogaten besitzt, sondern es andern zum Gebrauch an-
vertraut, wirft es einen Nutzen ab. Alles Geld muß, wenn man dafür einen
Gewinn oder Zinsgcnuß erlangen will, in Zirkulation bleiben; es muß, wenn
man selber es nicht in seinein Gewerbebetrieb verwendet, zu solchem Zweck
ausgeliehen werden. So entstanden die Anlagepapiere sowie die verschiednen
sonstigen auf Geld lautenden Wertpapiere, und indem diese ebenso wie die
Geldmünzen kursieren, machen sie eine gewaltige Vermehrung der Umlaufs¬
mittel und des Geldbesitzes aus. Wenn aber schon das bare Geld einen
wesentlich höhern Wert darstellt, als es ohne die Gcldeigcnschast — nur seinem
Metallgehalt nach — hat, so haben alle auf Geld lautenden Papiere gar
keinen eignen Wert, sondern dieser besteht nnr in dem darin ausgesprochnen
Schuldverhältnis und Zahluugsversprechen. Und wie für das Metallgeld,
damit die Ansprüche, worauf es sich beziffert, befriedigt werden können, die
entsprechende Menge käuflicher Güter vorhanden sein muß, so ist solches erst
recht für die dem Geld gleichgcachteteu Schulddokumente nötig.
Zu dem Vermögensbestnnd eines Volks gehören:
1. Verbrauchs- und Gcbrauchsgüter im Handel und bei den Konsumenten,
sowie die Nutzticre.
2. Unfertige Fabrikate nebst Rohstoffen und Hilfsmaterialien, die im Zu¬
stande der Bearbeitung sind. Ferner die angebauten Nutzpflanzen und Forsten.
3. Die Herstcllungsmittel und Verkehrseinrichtungen (Hünser, Fabriken,
Maschinen, Eisenbahnen, Schiffe, Straßen, Kanüle usw.).
4. Der Metallwert der im Lande vorhandnen Geldmünzen; d. h. ihr
Tauschwert, wem, das Metall nicht als Geld zu einem höhern Monopolpreise
Verwendung fände.
Diese teils den einzelnen Volksgenossen, teils der Gesamtheit gehörenden
^ermögensstückc sind aber nicht schuldenfrei. Es haften darauf alle ans Geld
lautenden Anrechte. Wenn jeder vou seinein Besitz an barem Gelde oder an
Papieren, die auf Geld oder Geldeswert lauten, und von seinen ausstehenden
Forderungen die eignen Schulden abzieht, ergibt sich der Geldanspruch jedes
^nzclnen. Durch Addition dieser einzelnen Gcldansprüchc findet man die
Gcsamtsnmme. In dieser sind enthalten: 1. der Nennwert des Metallgeldes,
das Papiergeld und die Banknoten, 3. die Anlagepapiere, als: Staats-
vl'ligationcn. Pfandbriefe, Aktien usw., und der Rest besteht in: 4. den Buch-
fvrderuugcn, o. i. in dem Gesamtsaldo aller nicht schon in den Anlagepapiercn
festgelegten rechnungsmäßigen Beziehungen. Die Anweisungen,' Wechsel,
^.checks usw., die im Umlauf sind, zählen zu den Buchforderungen und sind
one selbständigen Werte. Es sind Schnlddokuinente, die zugleich dazu dienen,
Zahlungen zu vermitteln. Erst wenn ihre Einlösung erfolgt ist, sind die ent-
'prechenden Buchforderungcu — sowohl zwischen Aussteller'nud Bezognein, als
""es gegenüber eventuellen Indossanten — entstanden oder beglichen. Die im
-tuslmide angelegten Gelder gehören zu deu Schulden des Landes, worin
nuche Gelder augelegt sind. Ausländische Forderungen an das Inland sind
Schulden des Inlands. Sobald jedoch die Rückzahlung erfolgt ist, erhebt der
^apttalbesitz seinen Anspruch wieder an das Land, dein die'Kapitalisten an¬
gehören. Es sind dann wieder Angehörige des Heimatlandes die Gläubiger.
Grsn
Wie aus den Aktiven einer solchen Bilanz erkennbar ist, vermag die
Menschheit nicht mehr zu erwerben, als Wohnung, Nahrung und Kleidung
sowie die dazu zu rechnenden sonstigen Bedarfs- und Luxusgegenstände, als
die zur Gütererzeugung bestimmten Herstellungsmittel und als die der Gesamt¬
heit dienenden Anlagen und Einrichtungen. Alle diese Vermögensbestandteile
haben einen Wert, der in Geld ausgedrückt werdeu kaun, und soviel bares
oder in Guthaben bestehendes Geld ein Einzelner hat, so groß ist sein Anrecht
an den Gilterbesitz der Gesamtheit. Dieser Güterbesitz umfaßt also nur Gegen¬
stände, die konsumiert werden oder sich abnutzen und die nnr Wert haben,
wenn sie nutzbringend verwendbar sind. Der Gesamtwert dieser Sachgttter ist
weit geringer als die — zufolge der fehlerhaften wirtschaftlichen Einrichtung —
übermäßig angewachsne Summe der gesamten Geldansprüche, für die es darum
auch in den vorhandnen Sachgütern keine hinreichende Deckung gibt. Aller¬
dings hat man sich daran gewöhnt, auch deu Erdboden als käuflichen Gegen¬
stand zu betrachten und zu beleihen, der jedoch nicht zu den von der Mensch¬
heit erworbnen Gütern gehört.
Die Menschen haben sich durch ihre überragende Intelligenz zu Herren
über alle irdischen Geschöpfe gemacht und eignen sich alles an, was auf und
in der Erde für sie erreichbar und brauchbar ist, aber die Erde selbst und die
in der Natur waltenden Kräfte sind kein menschliches Eigentum und gehören
nicht zu den wirtschaftlichen Gütern, sondern sind als die Grundlagen für
die Entstehung und das Dasein alles Irdischen anzusehen. Der Mensch bedarf
zu seiner Lebensfristung der Atmosphäre und des Weltmeers ebensowohl wie
des Erdbodens. Die Luft und den Ozean kann er nicht parzellieren, und
wenngleich es auf dem Festlande leichter ist, durch Grenzzeichen eine Teilung
zu markieren, so würde dadurch doch ebensowenig ein wirkliches Eigentumsrecht
verliehen. Es kann sich vielmehr immer nur darum handeln, den Grund und
Boden zum Wohnsitz zu benutzen und ihm Nutzgüter abzugewinnen. Der
Erdboden ist auch keine Sache, die nach Gutdünken behandelt, verändert oder
fortbewegt werden könnte. Jeder Bodenbesitz ist von den angrenzenden Grund¬
stücken untrennbar und steht im engsten Zusammenhang mit ihnen, sodaß den
jeweiligen Besitzen: auch nur ein beschränktes Benutzungsrecht zustehn kann.
Keiner darf mit dem Boden anders verfahren, als dies ohne Schädigung des
Gesamtintcresses zulässig ist. Auch geht das Verfügungsrecht eiues gesetz¬
mäßigen Eigentümers nicht so weit, daß er sich seines Grundstücks über die
Grenzen der Hoheitsrechte des Staats hinaus entäußern könnte. Was sich
gegeneinander austauschen läßt, sind greifbare Güter, die der Mensch durch
seine Leistungen und unter Benutzung der Eigenschaften und des Wirkens
der Naturlrüfte erzeugt, oder die er als Naturprodukte in Besitz genommen hat.
Mit einem untrennbaren Teil der Erdmasse unsers Planeten aber kann man
verstündigerweise keinen Handel treiben wollen. Der Staat, oder wer sonst
als verfügungsberechtigt gilt, kann wohl das alleinige Recht, einen bestimmten
Teil des Erdbodens zu benutzen, gegen eine Geldzahlung einräumen oder
übertragen, aber zum wirklichen Eigentum eines Menschen kann der Erdboden
nie werden.
Der Preis für jegliche Art Güter richtet sich — nußer nach andern dabei
ansprechenden Umständen — jederzeit nach den durchschnittlichen Herstellungs¬
kosten. Auch für ein Kunstwerk oder für ein mühelos gefnndncs und in
Besitz gcnommncs nutzbares Naturprodukt wird ein Preis gezahlt, der wenn
auch unbewußt danach berechnet wird, wie viel Zeit und Arbeit und welcher
Aufwand von Kunstfertigkeit zur Herstellung, oder welcher mehr oder weniger
seltene günstige Zufall zur Auffindung eines solchen Gegenstandes in der Regel
nötig ist.
Ein brachliegendes oder auch ein schon benutztes Stück Erdboden ist an
sich kein Gut im wirtschaftlichen Sinn; erst die aus der Erde hervorgeholter
mineralischen Bestandteile oder die gceruteten landwirtschaftlichen Bodcnerzeng-
uisse sind solche Güter. Wollte man den zur Benutzung vorhandnen Boden
als ein wirtschaftliches Gilt ansehen, so müßte man auch die menschliche Arbeits¬
kraft drzu rechnen. Aber wenngleich die Naturbeschaffenheit der Erde und
ebenso die körperlichen und die geistigen Eigenschaften des Menschen mit zu deu
Erfordernissen gehören, eine produktive Tätigkeit ausüben zu können, so sind
sie doch kein in Geld schätzbarer Besitz. Nicht das Vorhandensein des Erd¬
bodens und der Arbeitskräfte, sondern deren geschickte, erfolgreiche Verwendung
ergeben erst den Güterbesitz. Wenn Arbeiten und Kosten zur Urbarmachung,
Bebauung, Anpflanzung usw. aufgewandt worden sind, so werden sie dnrch
den größern Ertrag des Erdbodens erstattet, da sofern dies nicht geschähe,
diese Aufwendungen als unökonomisch angesehen werden müßten. Es ist
darum auch selbstverständlich, daß jemand, der ein so vorbereitetes Grundstück
an einen andern überträgt, für seine darauf verwandten Leistungen eine an¬
gemessene Vergütung erhält. Dagegen hat er keinen Anspruch darauf, für das
Grundstück einen um so viel höhern Preis zu bekommen, als der Boden hinfort
Wien höhern Ertrag liefert. Eine solche Vorwegnähme künftiger Erträgnisse
'se nicht gerechtfertigt; nnr was die vorgcnommnen Verbesserungen tatsächlich
un Arbeit, Ausgaben, Zinsverlust, zeitweilig cntgangnem Nutzen usw. gekostet
haben, ergibt die Summe, um die eine Erhöhung des Preises begründet ist.
Der neue Besitzer wird nie wesentlich mehr für eine solche Verbesserung zahlen
wollen, als wozu er selbst sie hätte vornehmen können.
So wird z. B. auch der Wert eines Werkzeugs oder einer Maschine nicht
danach bemessen, welche Arbeit sich damit leisten läßt. Der Kaufpreis solcher
Gegenstände besteht in den Herstellungskosten nebst dem üblichen Profit des
Fabrikanten. Handelt es sich aber um eine patentierte Maschine, so wird auf
^ en Preis, zu dem auch jeder untre Fabrikant sie würde banen können, noch
eme Vergütung für den Patentinhaber aufgeschlagen, weil dieser allein das
Monopolrecht hat, solche Maschinen zu liefern.
Auch was für ein Grundstück — außer dem Ersatz der zur Steigerung
seiner Produktivität ausgegebnen Kosten — beim Kauf oder bei der Pachtung
gezahlt wird, ist ein Monopolpreis, eine Gebühr für die Einräumung oder die
Übertragung des ausschließlichen Benutzungsrechts. Der Besitz des Erdbodens
'se dadurch zum Monopol geworden, daß es nur einen beschränkten Flächen¬
raum der Erde gibt, der nicht vergrößert werden kann, und auf den die ganze
Menschheit für ihren Lebensunterhalt angewiesen ist, und nach dein um so mehr
Bedarf ist, je größer die Menschenzahl wird, und je mehr ihre Ansprüche
wachsen. Denn die Benutzung des Erdbodens bleibt unvermindert nötig, auch
wenn die vervollkommneten Bestellungsarten größere und leichtere Erfolge
liefern. Alle Monopole (auch Patente, Konzessionen oder dergl.) sind aber
keine Vermehrung des Nationalvermögens, sondern im Gegenteil eine Ver¬
teuerung der Herstellungsmittel und der Erzeugnisse zugunsten Einzelner und
zum Nachteil der Gesamtheit. Und wenn es in einem geordneten wirtschaft¬
lichen Zusammenleben nicht jedem freistehn kann, den Boden beliebig zu be¬
nutzen, so darf doch das Monopolrecht, das nur eine verhältnismäßig geringe
Minderzahl genießen kann, nicht zu einer die übrigen bedrückenden Unbilligkeit
ausarten, es dürfen nicht die Erwerbsverhältnisse der Gesamtheit darunter
leiden- Die bevorrechtigten jeweiligen Inhaber des Bodens sind nur Nutznießer;
es ist ihnen ihr Vorrecht im Interesse der bestehenden, als zweckmäßig erachteten
wirtschaftlichen Organisation eingeräumt worden; nur von diesem Standpunkt
aus läßt sich der Wert des Grundbesitzes richtig beurteilen und abschätzen.
Die oft übertrieben hohen Preise des Bodenbesitzes sind besonders dadurch
entstanden, daß günstige Umstände, auf die die Grundbesitzer gar keinen Einfluß
hatten, die Rentabilität vergrößert haben, und daß der Wert der Grundstücke
daraufhin um so viel höher in Anschlag gebracht wurde. Das ist natürlich
verkehrt und beruht nur auf einem willkürlichen, zur Gewohnheit gewordnen,
gewinnsüchtigen Verfahren. Angenommen, es wäre der von einem Grund¬
besitzer für das Land bezahlte oder ihm bei einer Erbteilung in Anrechnung
gebrachte Preis nicht schon zu hoch, sondern der Bodenbeschaffenheit angemessen,
so würde sich dieser Preis nur insofern vergrößern können, als der Grund
und Boden infolge vvrgenommner Aufwendungen und Veranstaltungen wirtlich
verbessert worden ist. Nicht berechtigt ist es dagegen, wenn man dem Grund¬
besitz einen höhern Wert zuschreibt, weil sich durch vermehrte benachbarte An-
sied!ungen, durch Verkehrssteigerung und durch bessere Verbindungen die
Bodeuerträgnisse leichter und mit mehr Nutzen absetzen lassen. Solche aus
den Gesamtverhältnissen herrührenden Vorteile zu genießen kann auch nur der
Gesamtheit und nicht dem Besitzer eines zufällig so begünstigten Grundstücks
zukommen. Auch der Wert eines Hauses dürfte sich nur nach den Herstellungs¬
kosten richten. Ein höherer Preis infolge besser gewordner Geschäftslage ist
nicht in dem wirklichen Wert des Hauses begründet; es ist eine ungerechtfertigte
Erhöhung des Monopolpreises für das Grundstück. Jede solche höhere
Bewertung des Bodeus muß, in demselben Verhältnis wie sie dem Besitzer
einen unverdienten Nutzen bringt, die übrigen Erwerbskreise belasten und be¬
nachteiligen. Eine höhere Pacht oder eine höhere Hausmiete verteuern die
Produkte, die die Landwirtschaft erzeugt, oder die Waren, die in den Geschäfts¬
häusern feilgehalten werden, oder die sonstigen Erwerbsleistungen, oder die
Kosten des Lebensunterhalts der Mieter.
Das Vermögen eines Landes kann überhaupt nicht dadurch zunehmen,
daß man dein Grundbesitz — d. h. dem Monopolrecht auf Benutzung des
Bodens — einen höhern Wert zuschreibt; um so weniger aber, wenn eine solche
Werterhöhuug nur darauf beruht oder zur Folge hat, daß der Grundbesitzer
auf Kosten der übrigen Angehörigen der wirtschaftlichen Gemeinschaft höhere
Preise erreicht. Die Menge und der Tauschwert von dem, was ein Land
hervorbringt, geben ihm seineu wirtschaftlichen Wert, und dieser Wert ist um
so größer, je weniger Unkosten die Produktion zu tragen hat. Sobald aber
die Kauf- und Pachtpreise höher werden, erhöhen sich auch die Produktions¬
kosten und verringert sich dadurch die Rentabilität der Bodenbeuutzung, Die
Folge davon ist dann, daß die Länder jüngerer Bodenkultur, in denen der
Grundbesitz billiger zu haben ist steine oder nur genüge Pacht oder Hypotheken-
zinsen und nur wenig Steuern zu zahlen hat), und in denen überdies der
Boden ertragreicher ist (keine oder wenig künstliche Düngung verlangt), mit
ihren Produkten deu ülteru Kulturländern unüberwindliche Konkurrenz machen.
Solchen Zuständen und Verhältnissen gegenüber darf eine verständige
Wirtschaftspolitik natürlich nicht untätig bleiben. Sich mit dem Gedanken
beruhigen zu wollen, daß gerade die ausländische Konkurrenz dazu führen
müsse, die zu hohen Preise des inländischen Grundbesitzes und seiner Produkte
herabzudrücken, wäre gewiß nicht richtig. Man würde dadurch die gegen¬
wärtigen Bodeninhaber für die Fehler der vorhergcgangneu Geschlechter büßen
lassen; sie würden verlieren, was die frühern Besitzer des Bodens für diesen
zu viel bezahlt erhielten. Das hieße deu finanziellen Untergang einer großen
Anzahl der jetzigen Landwirte wollen. Es ist aber doch ausgeschlossen, daß
man in einem geordneten Wirtschaftsleben wesentliche Bestandteile der ErwerbS-
kreise dem Rinn überlassen kann, zumal wenn ihre mißliche Lage durch mangel¬
hafte gesetzliche Einrichtungen, die das ungehemmte, übertriebne Emporsteigen
der Bodenpreise zugelassen haben, hervorgerufen ist. Auch sind es die Boden-
Preise oder Pachtsummen nicht allein, von deuen der Ertrag der Landwirtschaft
abhängt. Die Löhne der landwirtschaftlichen Arbeiter spielen ebenfalls eine
große Rolle dabei. Wie bei billigern Arbeitslöhnen eine höhere Pacht
gezahlt werde» kaun, tonnen umgekehrt bei niedrigerer Pacht höhere Löhne
gezahlt werden. Es genügt somit nicht, daß die Inhaber von landwirtschaft¬
lichen Grundeigentum die Hhpothekenzinsen oder die Pacht erschwingen und
dabei wirtschaftlich besteh», d. h. ihre Erzeugnisse zu hinreichend lohnenden
Preisen absetzen können, sondern es ist nötig, daß sämtliche in der Landwirt¬
schaft tätigen Personei? eine ausreichende Existenz finden. Die Gebühr, die
für die Benutzung des Erdbodens gezahlt werden kann, darf uur danach ver¬
anschlagt werden, wie groß der Produktiousgcwiuu ist, wenn alle der Land¬
wirtschaft Angehörigen ihr hinlängliches Allskommen haben. Die Preise für
den Grundbesitz dürfen also nie dauernd höher sein als die Summe, bei der
die Benutzung des Bodens einen zur Ernährung aller ausreichenden Ertrag
abzuwerfen vermag.
Überhaupt erstreckt sich der gemeinschaftliche Besitz der Bewohner eiues
Landes vorzugsweise auf den Grund und Boden. Dieser kommt für die wirt¬
schaftliche Existenz aller — nicht nur der Landwirte und der Inhaber von
Bauplätzen oder von Grundbesitz zu industriellen Zwecken — in Betracht.
Sowohl die vegetative wie die soziale lind die wirtschaftliche Existenz aller
hängt mit dem Erdboden zusammen. Die Gesamtheit der Volksgenossen lebt
auf dem Boden ihres Landes, erhält durch ihn ihren Lebensbedarf und hat
das Land gegen jede Gefährdung zu schützen und zu verteidigen. Es hat
darum auch jeder insofern ein Anrecht auf den Grund und Boden, als dieser
allen eine angemessene Lebensfristung gewähren muß. Die als Mindestmaß
anzusehenden Existeuzbedürfnissc, deren Befriedigung auch dem Ärmsten möglich
sein muß, dürfen nicht wesentlich nnter den durchschnittlichen Verbrauch sinken,
der sich aus dem Bodenreichtum und den klimatischen Verhältnissen des Landes
sowie aus der Kulturstufe und den Lebensgewohnheiten seiner Bewohner ergibt.
Wenn der Boden einem Teil der Bewohner zur Benutzung und Bewirtschaftung
überlassen wird, so darf dies nur zu Bedingungen geschehn, die der Gesamt-
bevölkerung ein angemessenes Dasein verbürgen. Der tatsächliche Wert des
Bodens läßt sich sonnt nnr danach bestimmen, wieviel er den Besitzern ein¬
bringt, nachdem der Lebensunterhalt aller durch die Gesamterzeugnisse des Landes-
bestritten worden ist.
Damit aber das zum Dasein der Gesamtheit Notwendige hergestellt wird,
und damit sich auch jeder Einzelne durch gesteigerten Erlverb eine zunehmende
Behaglichkeit der Lebensfristung zu schaffe» vermag, ist es nötig, daß aller
Boden nach Möglichkeit in zweckmäßiger Weise zur Produktion benutzt wird,
und daß alle arbeitsfähigen Bewohner Gelegenheit zur Bethätigung ihrer
Arbeitskraft finden. Jede Maßregel, die eine solche natürliche Produktions¬
weise zu hindern oder zu beeinträchtigen geeignet ist, schädigt den Wohlstand
des Landes. Eine Einfuhr ausländischer Erzeugnisse, die drzu führt, daß
man im eignen Lande den Boden teilweise brachliegen läßt und die Arbeits¬
kraft der Bewohner nur unvollkommen ausnutzt, ist durchaus unwirtschaftlich.
Wenn ein Land z. B. Getreide billiger einführt, als dies im Inland zu
haben ist, spart es allerdings den Preisunterschied. Wenn aber dadurch die
Produktion der inländischen Landwirtschaft eingeschränkt wird, so steht diese
Ersparnis in keinem Verhältnis zu der Einbuße. Das Volksvcrmvgen wird
um nahezu den ganzen Wert des eingeführten Getreides verkürzt, sofern dieses
(sowie das dazu nötige Saatgut) im Inlande hätte erzeugt werden können,
und sofern die Ertragfähigkeit des Bodens nicht anderweitig zur vollen Aus¬
nutzung gelangt. Es ist auch nicht denkbar, daß eine solche Einbuße durch
die Erträge der ausführenden Industrie ausgeglichen würde. Das wäre nur
möglich, wenn der von dieser geschaffte Gewinn so groß wäre, daß nicht nnr
die sämtlichen in der Industrie beschäftigten Personen, sondern auch die An¬
gehörigen der Landwirtschaft dadurch ihren ausreichenden Lebensunterhalt
erhielten, daß sie also, soweit sie uicht selbst genügend erwerben, durch die
Industrie mit ernährt würden. Das ist jedoch ausgeschlossen. Die Industrie
ermöglicht die Ausfuhr vorzugsweise durch billige Massenherstellung; sie würde
dem Auslande gegenüber ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren, wenn sie auch für
die Ernährung unbeschäftigter oder uicht genügend erwerbender Arbeitskräfte
der Landwirtschaft einzutreten hätte. Es wird der Industrie ohnehin immer
schwerer, mit Vorteil nach dem Auslande zu liefern, da auch die jüngern,
außereuropäischen Kulturstaaten rasche Fortschritte in der Entwicklung ihrer
Industrie macheu. Die Ausfuhrerfolge der Industrie siud zum Teil sogar auf
Kosten der inländischen Landwirtschaft erlangt worden. Die jüngern Kultur¬
länder kaufen die Industrieartikel, wenn sie solche mit ihren landwirtschaftlichen
Produkten bezahlen können, und darauf beruht dann der billige Preis aus¬
ländischen Getreides mit. Sucht also ein Land seine Jndustrieerzeugnisse da¬
durch auszuführen, daß es diese Waren zu niedrigen, einen nnr geringen
Nutzen gebenden Preisen liefert, so zieht es die ausländischen landwirtschaft¬
lichen Produkte heran, verdient also wenig durch eine solche Ausfuhr und
schädigt überdies die eigne Landwirtschaft. Es ist die gemeinsame Aufgabe
der Landwirtschaft und der Industrie, allen Angehörigen des Landes den
nötigen Dascinsbedarf zu verschaffen; nur was beide darüber hinaus herstellen,
darf an das Anstand abgegeben werden; nnr insoweit dürfen ausländische
Erzeugnisse eingeführt werden, als das nicht hindert, die Bodenertragfähigkeit
des eignen Landes und die Erwerbkraft seiner Bewohner ganz auszunutzen.
Zu den idealen Zielen einer Wirtschaftspolitik gehört, daß vom Auslande
nur Bedarfsgüter entbehrlicher Art bezogen werden, daß dagegen alle Artikel,
die zum Lebensunterhalt notwendig sind, im eignen Lande hervorgebracht
werden, oder doch jederzeit dort erzeugt werden können, sobald man ihret¬
wegen nicht ans das Ausland angewiesen sein will. Ein solches Ziel kann
freilich immer nur mehr oder weniger annähernd erreicht werden. Dagegen
muß es als völlig erreichbar angesehen und angestrebt werden, daß überall im
Lande vom Nutzwert des Bodens der möglichste Gebrauch gemacht wird, und daß
alle Bewohner ihre Arbeitskraft möglichst vorteilhaft zu verwerten vermögen.
Die Verhältnisse und die Bedingungen, unter denen die Gütererzeugung in
einem Lande vor sich geht, sind verschieden; Hochland, Ufergebiete, Wald¬
boden, Ackerland usw. bedürfen ungleicher Maßnahmen, die die Erwcrb-
tätigkeit in geeigneter Weise unterstützen und fördern. Die Interessen der
^erschiedncn Erwcrbgrnppen werden oft miteinander in Widerspruch stehn.
Sache der Regierung ist es dann, die widerstreitenden Bedürfnisse gegen¬
einander abzuwägen und ihnen in aller Unparteilichkeit uach Möglichkeit Rechnung
Zu tragen. Es muß jeder seine Berufstätigkeit in ungehinderter, nutzbringender
Weise ausüben können. Das Interesse jedes einzelner Gewerbes muß, wenn
es den Bodenverhältnissen des Landes angepaßt ist, berücksichtigt und gewahrt
werden. Nur so fördert man das Interesse aller; ein Gesamtinteresse an sich,
eine allgemeine Solidarität der Interessen gibt es im Wirtschaftsleben nicht.
Schutzzölle und Eisenbahndifferentialtarife sind hauptsächlich die Mittel, durch
die ein Land seine erwerbtätigen Bewohner gegen eine Konkurrenz des Aus¬
landes schützt, die sonst nicht besiegt werden könnte, und durch die es den
Güterverkehr nach und von den Herstellnngsstellen so regelt, daß alle güter¬
erzeugenden Gewerbe bestehn können. Eine weise, gerechte Handhabung solcher
wntschaftspolitischen Maßnahmen ist nur möglich, wenn die Regierung nicht
etwa die Kapitalbildnng als die Hauptsache ansieht, sondern es als Notwendig¬
rett und als ihre wichtigste Aufgabe erkennt, allen Bewohnern des Landes
zu einer lohnenden Erwcrbtütigkeit zu verhelfen. Wenn dieses Ziel so weit
we möglich erreicht ist, ergibt sich die befriedigende Lösung der finanzpolitischen
Aufgaben von selbst.
Sobald überall im Lande jeder seinen hinlänglichen Lebensunterhalt findet,
und sobald es durch deu gesteigerten inländischen Konsum nirgends an genügend
ergiebiger Erwerbgelegenheit fehlt, wird die Landwirtschaft auch imstande
sein, zufriedenstellende Löhne zu zahlen, und sie wird keinen Mangel an den
nötigen Arbeitskräften haben. Eine völlig unzweckmäßige Maßregel, die sich
gegen eine Krankheitserscheinung richtet, anstatt die Ursache der Krankheit zu
beseitigen, ist die Einführung billiger, bedürfnisloser ausländischer Arbeiter.
Solche Arbeiter fremder Nationalität heranzuziehn, wäre mir in dem Fall,
zulässig, daß in allen Erwerbzweigen die eignen Volksgenossen sämtlich volle
Beschäftigung hätten, und daß noch für weitere Arbeitskräfte Bedarf wäre.
Aller Geldbesitz entsteht durch Erwerbtätigkeit, ans der anch der Renten¬
genuß des Kapitals entsprungen ist. Wenn jemand durch Tätigkeit und Ge¬
schicklich keit oder durch günstige Umstände in ehr Geld erwirbt, als er verbraucht,
so ist dies erworbne Geld das Gegenteil eines geschaffnen Werth; es ist ein
Anrecht an den Güterbesitz aller, und dieser Güterbesitz hat durch deu Geld¬
anspruch, den der eine oder der andre erlangte, keine Zunahme erfahren.
Wer Geld erwarb, erhielt es dadurch, daß jemand seine Leistungen bezahlte.
Welcher Art die Leistungen waren, bleibt sich gleich; es braucht sich nur
jemand zu finden, der gewillt und imstande ist, das Geld, das für eine
Leistung gefordert wird, zu zahlen. Jeder aber, der sein Geld und dessen
Kaufkraft an einen andern gibt, überträgt damit auch das Anrecht, das dieses
Geld an deu Güterbesitz der Gesamtheit hat. Für ihn ist dieses Anrecht er¬
loschen, wenn der dafür von ihm erstandne Gegenwert in irgend einem Genuß
oder in einem Gegenstande besteht, den er verbraucht. Ist es aber ein Gegen¬
stand, den er weiter veräußert, so wird das dafür ausgegebne Geld wieder
erworben. Erst wenn der Gegenstand in die Hände von jemand kommt, der
ihn verbraucht, kann ein Wiedererwerb des sich aus dem gekauften Gegenstand
ergebenden Geldwerth nicht mehr geschehn. Jeder Geldansprnch erlischt also,
wenn man das Geld ausgibt und das dafür Eingetauschte verbraucht. Wird
das Geld ausgeliehen oder im eignen Gewerbebetrieb als Kapital verwandt,
so wächst es durch den Zinsgenuß oder durch seinen Anteil am Geschüfts-
gewinn immer weiter. Dadurch, daß jemand geliehenes Geld zurückzahlt, wird,
wenn der Kapitalist das Geld wieder anderweitig ausleiht, die Gesamtsumme
der Kapitnlansprüche nicht verringert. Deren Vermindrung ist nur dadurch
möglich, daß der Kapitalist entweder selbst sein Geld verbraucht, oder daß er
Steuern zahlt, wodurch das Geld für die Gesamtheit verbraucht wird. Hin¬
gegen muß die Schuldenlast, die auf dem Güterbesitz der Menschheit ruht,
fortwährend wachsen, so lange jeder bestrebt bleibt, durch möglichst großen
Erwerbgewinn seinen Geldbesitz weiter zu vermehren; denn für diesen Geld¬
besitz hat die wirtschaftliche Gesamtheit Güter zu liefern oder Arbeiten
zu leisten.
Sowohl im Handelsgewerbe wie in der Industrie und in der Landwirt¬
schaft wird der Gewinn hauptsächlich dadurch erlangt, daß verhältnismäßig
billig eingekauft und teuer verkauft wird. Jeder, durch dessen Hände Erzeug¬
nisse oder Waren bei ihrer Herstellung oder Wiederveräußerung gehn, sucht
dabei einen möglichst großen Gewinn zu erreichen und erachtet das als sein
gutes Recht, als die wohlverdiente Entlohnung seiner Tätigkeit. Die Hohe
dieses Gewinns ergibt sich in jedem einzelnen Fall aus dem Preise, den der
Käufer dein Verkäufer bewilligt. Der Käufer erwägt jedoch nur, ob er die
Ware zu dem vom Verkäufer geforderten Preise mit Nutzen weiter verwerten
und sie anderswo nicht billiger bekommen kaun. Es werden auch Preise be¬
zahlt, die einen übertrieben großen Nutzen enthalten, weil die Käufer nicht
wissen, wieviel die Verkäufer dabei verdienen, oder weil ein Käufer den Kauf-
gegcnstcind nötig braucht und deshalb gezwungen ist, den verlangten hohen
Preis zu zahlen. Der Käufer, der eine Ware weiter verarbeitet oder sie un¬
verändert wieder verkauft, erleidet durch den Nutzen, den der vorherige Ver¬
käufer gehabt hat, keinen Verlust, sondern die Ware verteuert sich um diesen
Betrag. Alle Geschäftsgewinne, die — vom Anbeginn der Herstellung einer Ware
an bis zum Zeitpunkt ihres Verbrauchs — der eine Geschäftsmann dem
andern zugesteht, werden schließlich von den Konsumenten, von der wirtschaftlichen
Gesamtheit, getragen. Auch wenn jemand für irgend eine Arbeit, die er leistet,
einen Jahresgehalt oder eine Einzclentlohnnng erhält, muß dieses Geld von
der Gesamtheit aufgebracht werden. Von ihr wird sowohl der Gehalt eines
Beamten wie der Lohn eines Arbeiters hergegeben, entweder durch Steuer¬
zahlung oder als ein Teil der Preise, die für die Bedarfsgegenstände und die
Genußmittel bezahlt werden. Jeder Einzelne erlangt somit alles, was er
erwirbt, nnr auf Kosten der Gesamtheit; sein Geldbesitz ist von ihr aufgebracht
wordeu, oder sie haftet für die von ihr zugestandnen Kapitalansprüche. Ob
es ausschließlich die Gemeinschaft der eignen Volksgenossen ist, dem die Kapi¬
talisten ihren Geldbesitz verdanken, oder ob auch das Ausland dazu beigetragen
hat, hängt davon ab, ob ein Land durch die Ausfuhr seiner Produkte mehr
Geld gewonnen, als es bei der Einfuhr fremder Erzeugnisse zugesetzt hat.
Das Vermöge,, der einzelnen Menschen ist, wie es im ununterbrochnem
Ringen beim Erwerb entsteht, auch in fortwährender Veränderung begriffen.
Wenn jemand zu irgend einer beliebigen Zeit feststellt, wie viel er mehr besitzt
und von andern zu fordern hat, als er schuldig ist, so ist das sein augenblick¬
liches Vermögen. Ist dieses Vermögen größer, als es bei der vorigen Bilanz
war, so ist die Differenz der Gewinn ans dem Erwerb. Besteht dieser Gewinn
(oder auch nur ein zeitweiliger Geldbesitz, weil die davon zu bezahlenden
Schulden noch nicht fällig sind) in baren, Gelde oder in fälligen Buch¬
forderungen, so kam, das Geld an andre geliehen werden. Geschieht das,
indem der Verleiher dagegen ein Wertpapier erhält, das ihm eine fortlaufende
Nutzung abwirft, so ist das Geld zum Anlagekapital geworden. Diese Anlage¬
werte sind, soweit sie, ohne daß es einer Legitimation oder einer Session be¬
dürfte, von Hand zu Hand gehn, auch eine Art Geldsurrogat. Sie unter-
scheiden sich von den sonstigen Umlanfsmitteln dadurch, daß sie einerseits den
Vorteil eiues beständigen Ziusgeuusses gewähren, andrerseits aber der Wert-
beständigkeit ermangeln und größern oder geringern Kursschwankungen unter¬
worfen sind. Jedes andre Schulddvkument ist nur eine Bestätigung des zwischen
einem bestimmten Schuldner und einem bestimmten Gläubiger bestehenden Rech-
mingsverhältnisses, und die Forderung ist giltig, wenn auch kein solches Schuld-
dotument ausgestellt ist. Dagegen ist bei einem der üblichen Anlagepapiere
dessen jeweiliger Besitzer der Gläubiger, der nur auf Grund dieses auf den
Inhaber lautenden Wertpapiers seine Forderung geltend machen kann. Für
die in den Anlagepapieren ausgesprochnen Verpflichtungen haftet zwar der
Aussteller, aber so lange dieser nach den Anleihebedingungen nicht zur Rück¬
zahlung verpflichtet ist, kann sich der Gläubiger, wenn er sein Geld zurück¬
erstattet haben will, nicht an den Schuldner wenden, sondern muß die Papiere
zu dem augenblicklichen Börsenpreise verkaufen.
Der wirkliche Wert, den die Anlagepapiere haben, wird durch die dafür
vorhandnen Sachgüter bestimmt! der Kursstand ist dabei nicht maßgebend.
Wenn die Kurse der Staatspapiere, Aktien usw. steigen, ist damit keine Ver¬
mehrung des Volksvermögens verbunden; es vergrößert sich dadurch nur der
Geldanspruch des gegenwärtigen Inhabers der Papiere. Ein Steigen der
Kurse hängt in der Regel damit zusammen, daß die Papiere einen höhern
Zinsfuß als andre zahlen oder voraussichtlich eine hohe Dividende eindringen
werden; wogegen allerdings bei hochverzinslichen Papieren deren Sicherheit
geringer als bei andern zu sein pflegt. Im übrigen richtet sich die Höhe der
Kurse danach, wie groß insgesamt das den Verbrauch übersteigende Einkommen
der Kapitalerwerber ist, und ob demzufolge eine größere oder eine geringere Nach¬
frage nach Anlagepapieren vorliegt. Die wirklichen Werte, die solchen Schuld¬
urkunden zum Unterpfand dienen, haben sich durch einen höhern Kurs der
Papiere nicht geändert, und ebensowenig wird dadurch der Neuuwert der
Obligationen nud der sich nach diesem Nennwert berechnende Zinsertrag be¬
einflußt. Auch bei den Aktien kann deren tatsächlicher Wert nicht wesentlich
größer werden als ihr Nennwert, da der erzielte Jahrcsgewinn an die Aktionäre
verteilt wird. Was davon zur Bildung von Reservefonds zurückbehalten wurde,
ist dazu bestimmt, für den Fall eines Mißgeschicks, mit dessen früheren oder
spüterm Eintritt gerechnet werden muß — oder auch sonst zu nötigen Er¬
neuerungen oder Ausbesserungen —, verbraucht zu werden. Ein vergrößerter
Wert der Aktien kann also nur dann entstehn, wenn aus dem Geschäfts¬
gewinn mehr neue Anschaffungen gemacht wurden, als die alten Bestände
durch Abnutzung an Wert verloren haben, und wenn man, anstatt eine solche
Werterhöhung bei der Feststellung der Dividende mit in Rechnung zu ziehn,
höhere Abschreibungen vornimmt. Beruht die Höhe des Kurses auf Konzessionen,
Erfinderpatenten oder dergl., so entspricht diese durch den Kurs ausgedrückte
Werteiuschätzung nicht dem vorhandnen Vermögensbcsitz, sondern fußt auf den
einen Geschäftsgewinn in Aussicht stellenden Monopolrechten. Wer einen
solchen, das wirkliche Vermögen des betreffenden Unternehmens übersteigenden
Kurs für die Aktien bezahlt, tut das, weil er auf eine hohe Dividende rechnet,
und die Aktien rechtzeitig wieder zu verkaufen beabsichtigt, sobald er befürchten
muß, daß der Dividendenertrag andauernd geringer sein wird. Wenn dagegen
der Kurs uuter den Nennwert oder unter den bisher für ein solches Anlage¬
papier gezählten Marktpreis sinkt, so erleidet allein der gegenwärtige Besitzer
eine Schädigung, weil er die Obligationen oder Aktien nur zu diesem niedrigern
Kurse zu veräußern vermag. Eine tatsächliche Wertverringeruug entsteht nur,
wenn Teile des Vermögens, worauf die Papiere ausgegeben wurden, verloren
gegangen sind oder eine Vermiudruug ihres Tauschwerth erlitten haben.
(Schluß folgt)
meer diesem Titel hatte jüngst Professor Friedrich Paulsen Er¬
örterungen in der Nationalzcitnng veröffentlicht, die sich mit
alten Klagen beschäftigen und in dem Bestreben, für manche
Mißstände auf dem Büchermarkt Besserung anzubahnen, auf die
Zustände im Bücherverlag und Büchervertrieb im allgemeinen
kritisch und wegweisend eingehn. Dabei hatte Professor Paulsen manches sehr
Nichtige und sehr Gute gesagt, aber auch manches ganz Wunderliche und
Schiefe, wie es ja zu geschehen pflegt, wenn man über Dinge spricht, die man
uicht ganz ergründet hat. Entgegen getreten war ihm insbesondre als Ver¬
teidiger des angegriffnen Buchhandels in kluger und sachkundiger Weise der
Vcrlagsbuchhändler Dr. W. Ruprecht. Bei der Kontroverse, die sich entsponnen
hat, hat man sich von dem Ausgangspunkt entfernt und diesen schließlich ganz
beiseite gelassen, hat sich dagegen auf Gebiete begeben, die zum Teil so wenig
aufgeklärt sind, daß sich jede Meinung mit Zähigkeit festhalten und durch
Stichprobe«: beweisen läßt, während erst eine ganz umfassende Statistik Klar¬
heit schaffen könnte, bei der man alle „Faktoren" und „Momente," die mit¬
spielen, richtig ins Auge faßte. Es sind insbesondre die Fragen gemeint, ob
die Vücherpreise in Deutschland eine steigende oder eine fallende „Tendenz"
ausweisen, ob sie in vernünftiger oder in unvernünftiger Weise angesetzt werden,
wie sich die deutscheu Preise zu den ausländischen verhalten usw. Da ist mit
einer Anzahl Stichproben weder hüben noch drüben etwas bewiesen. Die klare
und erschöpfende Statistik aber wird voraussichtlich ergeben, daß so außer¬
ordentlich viel Umstünde der verschiedensten Art in Betracht kommen, daß sich
allgemeine Grundsätze gar uicht aufstellen lassen für einen ganz rationellen
Betrieb: was in dem einen Fall rationell erscheinen wird, wird in dem andern
auch dem überzeugtestcu Tadler der behaupteten Mißwirtschaft als Unsinn
erscheinen, und man wird, wie auf andern Gebieten des menschlichen Lebens,
zu der Resignation kommen, daß es immer Leute geben wird, die rationell
verfahren, und andre, die das Gegenteil tun, und daß es dafür keine Abhilfe
gibt, außer wenn man die individuelle Freiheit überhaupt auf dem Polizei-
Wege aufhebt. Es ist mir die Frage, ob denn der Vernunft zum Siege ver-
holfen sein wird.
Inzwischen ist nnn in der allerletzten Zeit Professor Bücher mit einer
wuchtigen Publikation^) an die Seite Paniscus getreten. Man sieht jetzt,
daß dieser nur als Plänkler für eine Sache vorgeschickt war, in der nun
grobes Geschütz aufgefahren wird, und man sieht nicht mehr einzelne Schützen,
sondern es entschleiert sich eine ganze Schlachtreihe vor den verblüfften Augen
des Zuschauers: der Akademische Schutzverein, der dein mangelhaften Buch¬
handel mit großer Aktion zuleide geht. Die Sache ist interessant, und da uns
ein Rezensionsexemplar zugesandt worden ist, das eine Meinungsäußerung
herausfordert, so wollen wir damit nicht hinter dem Berge halten.
Wir wollen die Hauptziele des Angriffs erst einmal beiseite setzen und
zunächst zu dem Ausgangspunkte der Bewegung der Geister zurückkehren. Es
ist die von Autoren ebenso wie von Verlegern von alters her erhobne „bittere
Klage," daß das deutsche Publikum nicht soviel Bücher kaufe, wie es könnte
und anständigerweise tun müßte. Daran werden dann Untersuchungen ge¬
knüpft, woran das liege, und wie es besser werden könnte. Wir bleiben bei
der Prämisse stehn und fragen, ob sie denn in der Tat richtig sei. Da
möchten wir die Behauptung aussprechen, daß diese alte Klage nichts andres
sei als leeres und abgedroschnes Gerede. Es gibt ganz gewiß in Deutschland
Leute genug, ebenso wie anderswo, die wenig Bedürfnis für literarische Ge¬
nüsse oder geistige Vertiefung haben und mit ihrem Tageblatt zufrieden sind,
aber ein Publikum, das in ein paar Monaten über eine halbe Million für
einen einzigen Roman wie Jörn Abt, an dem die meisten nicht einmal viel Ge¬
schmack finden, willig hergibt, oder in ebenso kurzer Zeit fast zwei Millionen
für Bismarcks Gedanken und Erinnerungen opfert, die es nicht einmal versteht,
ist kein schlechtes Publikum. Und was für Summen hat es für die Buch-
holzens und für die ungezählten Romane der Eschstruth und Ossip Schubins,
für Tolstoi und die Viebig, für Rembrandt als Erzieher und Nietzsche, Suder¬
mann und Ibsen, und wie alle die modernen Größen heißen, übrig, ganz ab¬
gesehen z. B. von deu Konversationslexiken und andern Subskriptionswerken,
die bis in die bescheidensten Kreise dringen, und deren Umsatz viele Millionen
betrügt. Nein, das Publikum kauft und verdaut unglaublich viel Bücher, man
ist manchmal erstaunt, was es alles kauft, und daß es Geld für so etwas
übrig hat. Aber — es kauft, was es will! Die alte und abgedroschne Klage
geht doch nur von den Autoren aus, die es eben nicht will oder ans irgend
einem audern Grunde nicht kauft — etwa weil sie ihm nicht bekannt werden —,
und von den Verlegern, die so unklug waren, Bücher zu verlege», die keinen
Absatz fanden, und Autoren zu glauben, deren Träume Schäume waren.
Das deutsche Publikum kauft gern und willig Bücher, das zeigt jeder
Weihnachtstisch, das zeigt auch das Spottwort von dem Volke der Dichter
und Denker. Denn Dichter und Denker setzen ein Volk voraus, das auf¬
nahmefähig ist; liebte das Volk nicht seine Dichter und Denker, so wären
diese nicht vorhanden, sie können nur einem Boden entsprießen, der ihnen
kongenial ist, und in der Tat sind dem deutschen Volke jederzeit seine Bücher
die liebsten Schütze gewesen, es gibt Geld dafür aus nach Vermögen, und auch
der ärmste Man hat seinen Pfennig für sie übrig. Das einzige, was man
wünschen möchte, ist, daß der goldne Segen auf die rechte Stelle gelenkt würde,
daß nur gute Bücher gekauft würden, und der Schund dem Volke ferngehalten
werden könnte. Die Gründe für die Klagen, die erhoben werden, müssen also
wo anders liegen als in dem Mangel an Sinn für Bücher oder in dein
Mangel an Anstandsgefühl — wie denn auch das alte Gerede über die Leih¬
bibliotheken ganz hinfällig ist; jeder Verleger belletristischer Literatur weiß es,
daß heutzutage die Leihbibliotheken gar keine Rolle mehr beim Gesnmtabsatze
der Bücher spielen; mögen sie früher für den Romanverleger bei der Kalku¬
lation wichtig gewesen sein, jetzt sind sie es jedenfalls nicht mehr.
Dagegen ist das Publikum natürlich geneigt, in den Hauptvorwurf einzu¬
stimmen, der von den Tadlern der bestehenden Verhältnisse, indem sie sich
von den Büchcrkänfern ab und den Buchhändlern zuwenden, erhoben wird,
daß unsre Bücherpreise zu hoch seien. Das ist der wichtigste Punkt der
Kontroversen, die sich augenblicklich abspielen, Ist der Vorwurf in seiner
Allgemeinheit berechtigt? Und wenn er es ist, wer hat die Schuld? Der
Autor antwortet natürlich: der Verleger! In jedem Fall, wo ein. Buch von
ihm nicht gegangen ist, wird er geneigt sein, die Schuld nicht bei sich, sondern
außer bei der Dummheit lind dem Geiz des Publikums in dem Mangel all
Verständnis bei seinem Verleger zu suchen, und zu allererst ist der Vorwurf
bei der Hand, daß dieser einen viel zu hohen Preis angesetzt und dadurch das
Buch geschädigt habe — so lange der Autor selbst erwartete, bei diesem
Preise ein gutes Geschäft zu machen, war er ihm allerdings noch nicht zu
hoch vorgekommen. Er war vielleicht sogar geneigt gewesen, zu fragen: Können
Sie denn das Buch wirklich für den Preis liefern? Setzen Sie es nicht zu
billig an? Werden solche Fragen nicht wirklich oft an den Verleger gestellt?
Die Preisfrage ist eine sehr wichtige Sache für den Verleger, die ihm in
vielen Fällen Kopfzerbrechen macht. Es liegt doch auf der Hand, daß er im all¬
gemeinen beim Verlegen den Zweck verfolgt, ein Geschäft zu machen und sich
Kor Verlust zu hüten; daß er also sehr wohl erwägt, wie er das zustande
bürgt, und damit auch, welchen Preis und welche Auflage — beides steht in
Wechselwirkung — er wagen darf, daß der Preis nicht so hoch sein darf, die
möglichen Käufer abzuschrecken, und nicht so niedrig, daß bei dem möglichen
Absatz nichts herausspringt. Natürlich kann sich auch der klügste Verleger
verrechnen. Aber ganz im allgemeinen anzunehmen, daß die dentschen Ver¬
leger so beschränkte Narren wären, ganz ohne Sinn und Verstand zu hohe
Preise zu machen, das ist doch, gelinde gesagt, eine wunderliche Idee!
Das Publikum aber? Wie stellt es sich wirklich zu den Bücherpreisen?
>5M allgemeinen kann mau annehmen, daß es die Anschauungen seines Geld¬
beutels hat. Hat es mir fünfzig Pfennige darin, so ist ihm natürlich ein
Fünfmarkbilch zu teuer, und es behauptet von jedem, das mehr als fünfzig
Pfennige kostet, daß es zu teuer sei. Gewöhnlich sind solche Ansprüche nur
albernes Gerede. Dem Publikum ist es ganz einerlei, was ein Buch kostet,
wenn es dieses haben will — man frage doch einmal den Verleger von
Dahns Kampf um Rom (der 24 Mark kostet), ivie viel Auflagen und Exem¬
plare er von dem Roman verkauft habe. So sind Hunderte und vielleicht
tausende „teurer" Bücher — zum guten Nutzen der Autoren — verkauft
worden, in mehreren und in vielen Auflagen, die das Publikum eben haben
wollte; andre hat es nicht genommen, auch wenn sie nur fünfzig Pfennige
kosteten, und hätte es nicht genommen, wenn sie für fünfzig Pfennige zu haben
gewesen wären. Es gibt doch auch ein sehr großes Publikum, das dem sehr
häufigen „billig aber schlecht" aus dem Wege geht, weil es den billigen Druck
nicht lesen kann und die schofeln Ausgaben uicht in seinen Bücherschrank
stellen mag.
Haben denn die Leute, die das Publikum anklagen, einen Begriff davon,
wie viel in Deutschland in der Tat alljährlich für Lcsefutter und Geistes-
nahrung ausgegeben wird? Man kann es stark bezweifeln. Eine Statistik
gibt es nicht. Aber man kann sich doch einen Begriff von der Sache machen.
Es gibt jetzt in Deutschland und für den deutscheu Buchhandel überhaupt etwa
4500 wirkliche Sortimentsbuchhandluugeu. Was mag die einzelne Buchhandlung
wohl jährlich absetzen müssen, daß sie existieren kann? Wären es tausend Mark,
so könnte man 4^ Millionen jährliche Ausgabe für die deutschen Bücherkänfcr
rechnen. Aber der Durchschnitt muß mehr als 20000 Mark betragen, die
mehr als 90 Millionen Mark Absatz ergäben; der wirkliche Absatz ist aber jeden¬
falls bedeutend hoher, denn es gibt viel mehr Büchcrverkäufer als diese
4500 Buchhandlungen; vieles wird von Verlegern direkt an das Publikum ver¬
kauft, manche Verleger vertreibe,: ihre Waren überhaupt ganz ohne den eigent¬
lichen Buchhandel, und viele Zeitschriftcnexcmplare, die doch auch mitzählen,
werden bei der Post abonniere. Mag auch der Aufwand für Bier und Tabak
viel größer sein, es wird doch eine anständige Summe für Bücher in Deutschland
ausgegeben. Die Vorwürfe gegen das Publikum sind in ihrer Allgemeinheit
ebenso hinfällig, wie die gegen die Verleger.
Es sind Mißstände vorhanden auf dem deutschen Büchermarkte, das soll
gar nicht bezweifelt werden, und sie sollen genannt werden; aber sie hängen
nicht mit der Kauflust, nicht einmal der Kanfkraft des Publikums zusammen,
obgleich die Mehrzahl unsers Volks nur mit bescheidnen Mitteln rechnen kann,
und ebensowenig mit den Bücherpreisen. So muß jedem, der die Verhältnisse
einigermaßen kennt, ganz abgeschmackt das ewige Exemplifizieren auf das Ausland
vorkommen. Es werden in Deutschland ebensogut billige wie dort teure Bücher
gedruckt. Der Vorwurf, daß unsre Bücher zu teuer seien, erscheint geradezu
lächerlich der Kostbarkeit vieler Publikationen gegenüber, die man im Aus¬
lande machen kann, auch aus dem Grunde, daß man dort einen Sport auch
mit Büchern treibt, der bei uns unbekannt ist, weil man bei uns doch mehr
Bücherleser als „Bibliophile," d. h. Seltenheits- oder Spezialitüteunarr ist;
vollends, wenn man daneben die Preise solcher Bücher hält, insbesondre der
wissenschaftlichen Literatur, die dort wegen des weniger tiefgehenden Bildungs¬
dranges des großen Publikums das mehrfache unsrer entsprechenden Bücher
kosten, weil die bescholtne Kaufwilligkeit unsers Publikums den doppelten und
dreifachen Umsatz ermöglicht. Auf der einen Seite fehlt uns ja die große Aus¬
dehnung des Markes, der den Franzosen und den Engländern die Spekulation
mit billigen Büchern auf große Käufermassen ermöglicht; auf der andern haben
wir bei uns daheim Känferkreise, die man im Auslande vergeblich suchen würde.
Billige Ausgaben werden ebensogut wie bei uns auch im Auslande sehr
häufig erst dann riskiert, wenn das Autorrecht verfallen ist, oder wenn man
sein Geschäft mit den ersten teuern Auflage» (die zum Beispiel bei der Belle¬
tristik in England, das uns immer als der billige Mann vorgehalten wird,
sehr viel höher sind als bei uus) gemacht hat. Auch bei uns macht man
doch billige Ausgabe,?, wenn der Verkauf so groß zu werden verspricht, daß
der Nutzen den von teuern übersteigen kann, und übrigens ist es trotz aller
entgegengesetzten Behauptungen eine unzweifelhafte Tatsache, daß die Bücherpreise
neuerdings bei uns im allgemeinen stetig niedergehn — einzelne herausgegriffue
Beispiele können das Gegenteil nicht beweisen —; schon die Konkurrenz muß
dazu führen. Wollte Gott, sie brächte es so weit, daß einem Haufen Vücher-
fabrikauteu, gewinnsüchtigen Verlegen?, ebenso wie eiteln oder lohngierigen
„Autoren" das Handwerk gelegt würde. Dann würde es besser werden!
Denn das, woran wir kranken, was der wirkliche Grund der berechtigter?
Klagen ist, das ist allein unsre Überproduktion. Könnte der gesteuert werde??,
könnte die Gewerbefreiheit dahin eingeschränkt werden, daß nicht jedem, der
eine?? Bücherkran? auftut, erlaubt wäre, nun auch selbst als Produzent Ware
auf den Markt zu werfen, könnte die Anwendung des Groben?l?lfugparngraphen
von einer intelligenten Justiz dahin ausgedehnt werde,?, daß Unberufnen der
Mißbrauch unsrer Muttersprache zu unnötigen? Geschreibe versalzen würde,
träten sich die einigermaßen und die wirklich Berufnen nicht gegenseitig so
unvernünftig auf die Hacken bei dem Gedränge nach Druckerschwärze, Öffent-
lichkeit und Gewinn, so würden die guten Bücher, die dann nur noch er¬
schienen, einen ungeahnt gute?? Markt in Deutschland finden, und die ver¬
nünftigen Verleger würden in der Lage sein, die zivilsten Preise zu machen.
Überproduktion herrscht auf allen Seiten. Es gibt zu viel Sortimenter —
ste reiße?? sich den knappe?, Bissen gegenseitig aus den? Munde, und sie ver¬
gessen im Kampf ums Dasein die idealen Aufgabe,? des Buchhandels gänzlich,
werden zu gewöhnlichen Bücherhäudlern, denen nicht der literarische Wert der
Bücher maßgebend ist, sondern die Leichtigkeit des Absatzes und die Höhe des
Rabatts, der ihnen geboten wird; sie sind ja auch gar nicht mehr imstande,
ein eignes Urteil über die Menge der Literatur zu gewinnen, und sind froh,
wen,? sie Bücher wie die „Berliner Range" finden, bei denen ihnen der Erfolg
den Weg zu uutzbriugender Tätigkeit weist. Es gibt zu viel Verleger, schon
we?l die vielen Sortimenter auf Gedanken kommen wie Leporello: Schmale Kost
und wenig Geld, das ertrage. Weins gefüllt, will nun selbst Verleger sein! Warum
sollten sie nicht auch in der großen Lotterie mitspielen, die so schöne Gewinne
bringt? So verlegt jeder, der ein Manuskript erhasche,? kann, oder den? die
Erfolge des Marktes schöpferische Gedanken eingeben, mit Verstand oder ohne
Verstand. Und — es gibt zu viele Bücher. Das spüren die Sortimentcr zu
allererst, auf die dieser Literaturplatzregen uiedcrprasselt; sie wissen ja kaum,
wie sie sich ihn vom Leibe halten sollen. Mehr als 25000 neue Bücher in
Zedem Jahr! Wer soll die kennen, wer soll sie beurteile,?, wer sie um den
Man« bringen können?
Das sind hundertmal in? Buchhandel selbst ausgesprochue Tatsachen. Jeder
verständige Buchhändler, Sortimenter wie Verleger, beklagt sie und seufzt über
die Mißstände, die sie im Gefolge haben. Jeder verständige Verleger sieht,
wie dieser zügellose Wettbewerb, diese tolle Überproduktion aller ernsten Arbeit
den Boden abgrübt und der Verflachung die Wege ebnet, wie sie den Ge¬
schmack des Publikums verdirbt und den Sortimentshandel unfähig macht,
der urteilsfähige Wegweiser des Publikums zu sein; und jeder Sortimenter
alten Schlags zuckt die Achseln, wenn er diesen Niedergang des Handels und
des Standes der Literatur wie des literarischen Geschmacks beobachtet. Es
braucht dem Buchhändler nicht erst gesagt zu werden, wo die Schäden sitzen.
Aber wie soll er helfen? Kann er die Gewerbefreiheit aufheben?
Was der Buchhandel vermag, der allgemeinen Anarchie vorzubeugen, das
hat er unter der Führung des Börsenvereins getan, aber er hat es nur auf
bestimmten Gebieten, unter großen Kämpfen und nur bis zu einem gewissen Grade
zu tun vermocht: in der Zusammenfassung der Berufsgenossen, in der Aufstellung
von Verkehrs- und Verkaufsnormen und in der Durchsetzung des Prinzips
eines festen Ladenpreises. Die Kämpfe für diese wichtigen und wertvollen
Dinge haben bis in die jüngsten Tage gedauert; man hat sogar an Schritte
gedacht und sie versucht, den Schäden, die die Gewerbefreiheit mit sich gebracht
hat, dadurch entgegen zu treten, daß man einen Befähigungsnachweis für
den Betrieb des Buchhandels, eine gewisse Summe von allgemeinen Kenntnissen
für die Ausübung des Berufs verlangte und Einrichtungen zu eiuer bessern
Ausbildung der jungen Leute für ihren Beruf anzubahnen suchte. Wenn sich
auch dieses Ziel schwer wird erreichen lassen, so ist doch schon Bedeutendes
für die Gesundung der um der Gewerbefreiheit krankenden buchhändlerischen
Verhältnisse geschaffen worden, und der Stand wird dank seiner erkämpften Ge¬
schlossenheit die Kraft haben, weiteres zu erreichen und sich innerlich immer mehr
zu heben. Und das wird nicht nur zu seinem eignen Nutzen geschehen, sondern
auch zum Nutzen des geistigen Lebens überhaupt, zum Nutzen der deutschen
Wissenschaft. Wie aber stellt sich diese diesen Bestrebungen gegenüber?
Es ist ein wunderbares Schauspiel, das wir da zu sehen bekommen!
Bon einer falschen Prämisse ausgehend kommt man zu einer Untersuchung der
Lage der Dinge, rennt aber völlig an der Hauptsache vorbei, konstruiert sich
einen Popanz, den man mit Wucht zu bekämpfen unternimmt, häuft alle Schuld
auf seinen Nächsten und vergißt, an die eigne Brust zu schlagen.
Der Popanz ist die Verteuerung der Bücher durch die Abschaffung des
Kuudcnrabatts.
Professor Paulsen und Professor Bücher sind ernsthafte Gelehrte. Daß
sie trotzdem auf diesen Popanz hineingefallen sind, ist unbegreiflich. Sind
sie wirklich nicht auf den Gedanken gekommen, daß ein fester Bücherpreis
der literarischen Produktion nur vou Nutze» sein könne? Daß er zunächst
dem Büchervertrieb ein festes Rückgrat geben müsse, damit aber notwendig
dem Verlag und noch weiter den Büchern selbst und ihren Verfassern von
Vorteil werden müsse? Woher haben sie den Beweis, daß daraus eine
Verteuerung der Bücher entstehn müsse, außer vorübergehend für manche In¬
stitute und Käufer, denen ein Vorteil eingeräumt worden war, der immer
schwerer als eine Unsitte empfunden wurde und den ganzen Handel un¬
solid zu machen drohte? Ist es nicht möglich und sogar sehr wahrscheinlich
— schon wegen der Konkurrenz der Verleger untereinander —, daß der
feste Ladenpreis eine Ermäßigung der Bücherpreise zur Folge haben könne?
Sind sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß der feste Bücherpreis dem
Verleger die Möglichkeit gibt, gerade das abzuschaffen, was sie als einen der
Hauptschaden des jetzigen Buchhandels hinstellen, die hohen Rabatte an die
Zwischenhändler? Der feste Preis ermöglicht dem Verleger, den Händlerrabatt
auf das mögliche Minimum hinabzuschrauben und — den Bücherladenpreis
entsprechend zu ermäßigen. Das wird der Gang der Dinge sein, nicht, daß
der Verleger einen um so großem Gewinn zu ungnnsten des Autors schluckt.
Der Verleger hat seine Spekulation auf seinen Nettopreis gegründet; den
Ladenpreis ergibt der darauf zu schlagende Rabatt an den Händler. Je
niedriger der Verleger aber den Ladenpreis ansetzen kann, desto lieber ist es ihm,
denn um so größern Absatz kann er sich versprechen, lind wahrscheinlich wird
weiter der Gang der Dinge sein, das; dem fortgesetzten Anwachsen eines nutz¬
losen Proletariats vou Bücherhäudleru ein Riegel vorgeschoben wird. Kleiner
Nutzen genügt bei großem Umsatz, wer aber seinen Nutzen nicht mehr bei den
Büchern findet, mag zu lukrativern Waren übergehn; es wird niemand ein¬
fallen, dem ehrenwerten Stande der Sortimenter am wenigsten, abkömmliche
Existenzen zu „schlitzen." Es ist doch merkwürdig, wie gewisse Perspektiven ge¬
wissem Verstände einfach verschlossen bleiben, wenn er nur immer auf einen
Punkt starrt!
Diese Erwägungen sind deu beiden gelehrten Herren nicht gekommen;
indem sie aber ihren Popanz in den Mittelpunkt ihres Augrifssfeldes stelle»,
geraten sie an der Hauptsache vorbei. Es muß anerkannt werden, daß sie
vieles Richtige sagen und manche Schäden auf dem Büchermarkt klar erkennen,
aber diese sind keine unbekannten Dinge; die Buchhändler wissen am besten,
wo sie der Schuh drückt. Professor Bücher hat die buchhändlerischen Verhält
nisse sehr genau studiert und bringt seine Ergebnisse in wissenschaftlicher Form
und in der gelehrtenmüßigen Anfänglichkeit. Seine Darstellung hat also
Methode, aber leider bedeutet das hier auch Tendenz. Der Apparat, mit dem
er nachweist, daß die buchhändlerischen Einrichtungen Unsinn seien, ist sorg¬
fältig ausgewählt, und es ist alles zusammengetragen, was dem Zweck des
Verfassers dienen konnte — das gesamte Aktenmaterial des geheimln'indlerischen
Börsenvereins hat infolge einer überraschenden Liberalität offen vor ihm ge¬
legen, und es wird alles vor die Öffentlichkeit gezerrt, was sich für deu
Angriff ausbeuten läßt, auch Dinge, die als ganz interne Angelegenheiten
einer angesehenen und ehrenwerten Korporation Anspruch auf Diskretion
"lachen konnten.*) Aber das Bild ist falsch geworden. Wie schon gesagt
worden ist, sind die buchhändlerischen Einrichtungen mit ihren Borteilen und ihren
Mängeln das Ergebnis langer und zum Teil heftiger Kämpfe, denn die ver-
schiednen Verufsgruppen stehn eben manchen Dingen mit ganz verschiednen Inter¬
essen gegenüber, und jede kämpft natürlich nach Kräften zunächst für die eignen.
Es ist nun selbstverständlich sehr leicht, aus den Debatten, die über die strittigen
Dinge geführt worden sind, immer die Redner als Eideshelfer herbeizurufen, die
das Durchgesetzte als Unsinn bezeichnet hatten, deren Bedenken als die begründeten
hinzustellen, ohne zu berücksichtigen, wie weit sie vielleicht unbegründeten Be¬
sorgnissen entsprungen oder der Mantel für selbstische Interesse gewesen sind,
oder auch nur reine Querköpsigkeit. Den Buchhändlern wird auch Büchers
Beweisführung wenig Eindruck machen; sie kennen die wirkliche Lage der Dinge
selbst doch noch besser, und jedenfalls werden sie argumentieren dürfen, daß
gerade der Umstand, daß sich trotz der langen und scharfen Kämpfe um Sonder-
intercssen die große Masse der Berufsgenossen auf gewisse Dinge, wie vor
allem den festen Ladenpreis, geeinigt hat, daß dieser Umstand die Notwendig¬
keit dieser Dinge beweist. Die jetzt gegen den Buchhandel geführte Aktion
wird trotz ihrer Emphase und der großen Worte, mit der sie eingeleitet ist,
keine Bresche in sein Gefüge legen, er wird mit seinen eignen Angelegen¬
heiten auch ohne das schwere Kopfzerbrechen, das sich andre darüber für ihn
machen, allein fertig werden; sie wird auch die wirklichen Schäden nicht heilen,
die gewiß niemand sehnlicher geheilt sehen mochte, als der ehrenhafte und von
dem Wert seines Berufs überzeugte Teil der Buchhändler selbst, denn sie
haben ihren Grund nicht in den Fundamenten und dem Bau der buchhänd¬
lerischen Organisation, sondern dort, woran die Tadler des Buchhandels blind
vorübergehn, in der Schattenseite der Freiheit von Wissenschaft und Verkehr:
in der Überproduktion.
Warum kniffen die Tadler diese Seite der Verhältnisse außer acht, während
es doch klar auf der Hand liegt und oft genug ausgesprochen worden ist, daß
sie die Hauptwurzel aller vorhandnen Mißstände ist? Oder weshalb berühren
sie sie nur, wenn dein Buchhandel daraus ein Vorwurf gemacht werden kann?
Weil sie sich scheuen — es sei gern angenommen, in der Sorge für die Frei¬
heit der Wissenschaft —, die Augen dafür zu öffnen, wieviel Schuld an dem
Literatureleud und dem Literatenclend auf ihrer eignen Seite liegt, der der
Schreibenden. Diese sind es doch zuerst, die die Überproduktion zuwege bringen
und verschulden. Gibt es denn nicht an Zahl zehnmal mehr Bücherfabrikanten,
Fabrikanten witzloser Bücher und Bücherschundes anf der Seite der Literaten
als auf der der Verleger? Wenn irgendwo die Gewerbefreiheit eingeschränkt
werden sollte, wenn das ginge, so ist es doch auf der Seite der Literaten.
Die Herren Gelehrten werden über das Wort „Literat" die Nase rümpfen
und sich nicht mit allem, was die Feder führt, unter einen Deckel bringen
lassen wollen, wie ja Paulsen auch die Belletristen beiseite lassen will — er
kann es tun, denn sie werden vielleicht zuerst von einer gesunden Konkurrenz
gedämpft und unschädlich gemacht werden —; sie verlangen Schutz für die
wissenschaftlichen Schriftsteller. Ja bezähmen denn diese in irgend einer Weise
ihren Schaffensdrang zum Wohle der Allgemeinheit? Schreiben sie wirklich nur
aus dem ideellen Interesse, Lesern und Studierenden zugänglich zu sein?
Liegt eine Notwendigkeit vor, auch wenn man wirklich nur „ideelles" Interesse
annimmt, daß sie alle gehört werden? Über denselben Gegenstand? Mit be¬
scheidnen berechtigten oder unberechtigten Abweichungen in Einzelheiten? Muß
jeder Lehrstnhlinhabcr jeder Fakultät jeder Universität und jeder Dozent, der
nach einem Lehrstuhl strebt, ein Lehrbuch seines Wissenszweigs schreiben und
gedruckt sehen? Herrscht da nicht eine geradezu lächerliche Überproduktion, und
sucht nicht einer dem andern mit oder ohne Gehässigkeit und Ausfälle auf
die Mitläufer das bißchen — ideale Dasein nnter den Füßen wegzureißen?
Tritt nnr Notwendiges, Förderndes und Ersehntes auf den Markt, und wird
nicht gerade auf den wissenschaftlichen Gebieten unendlich viel leeres Stroh
gedroschen? Ich glaube, man braucht deu Herren nur diese Frage vorzulegen,
und sie werden stutzig werden, Paulsen z. B., wenn man ihn auf ein ihm nahe¬
liegendes Gebiet hinweist, das der „Pädagogik," denn wieviel der unendlichen
Menge der auf diesem Gebiete veröffentlichten Literatur tut etwas andres,
als denselben nahrnngs- und nutzlosen Brei immer wieder durchzukäuen? Ist
es nicht auf allen wissenschaftlichen Gebieten dieselbe Sache, ist das, was
wirklich die Wissenschaft vorwärts bringt und mit Berechtigung auf deu Markt
tritt, nicht dünn gesät unter der Spreu der witzlosen Produktion? Wird nicht
überall künstlich ein Gelehrtenproletariat gezüchtet, das besser bei seines Vaters
Leisten geblieben wäre?
Hier liegt der Grundfehler, nicht darin, daß der Buchhandel seine Mission
verkenne und unfähig sei, seine Geschäfte zu besorgen. Es ist geradezu zum
lachen, wenn mit sittlicher Entrüstung behauptet wird, daß die Aufhebung des
Kundenrabatts, die das große Publikum mit Gleichmut hingenommen hat, die
ganze Nation gefährde, und was sonst noch für blühender Unsinn in Vorrede
und Prospekt des Buches steht. Es ist ein wunderlicher Streich, dieses Buch,
eine Manöverkartnsche, die knallt aber verkrallen muß.
Man kehre doch zunächst vor seiner eignen Tür! Gewiß wird es Ver¬
leger geben — wenn man es aus so vertrauenswertem Munde hört, wird
man es nicht bezweifeln, zumal wenn es eine so kluge Firma wie Teubner
druckt und so dringend empfiehlt, denn sie muß es beurteilen können —, die
selbstisch und rücksichtslos, auch gewissenlos gegen das Volk, die Literatur und
die Autoren handeln, aber es gibt auch Autoren, die es nicht besser machen,
und denen es auch nicht darauf ankommt, einen Verleger hineinzulegen, wenn
sie mir ihren Vorteil dabei haben. Daß sich die Autoren vor Verlegeraus¬
beutung zu wahren suchen, wird ihnen kein Vernünftiger verdenken, andrerseits
wird man annehmen dürfen, daß kein kluger Verleger in der Lust am Ver¬
dienst leicht so weit gehn wird, sich durch Übervorteilen seiner ihm doch sehr
wertvollen Autoren in Gefahr zu begeben, so wenig wie er die Preise so hoch
schrauben wird, daß er sich den Absatz verdirbt.
Die Entstehung des Akademischen Schutzvereins darf man willkommen
heißen, trotz des fatalen Beigeschmacks, den seine erste Beendigung hat, namentlich
wenn er seine Zwecke dahin erweitert, ans die Beschränkung unnützer literarischer
Produktion hinzuwirken. Dann wird er die Erfahrung machen, daß seine
übrigen Zwecke zum guten Teil überflüssig sind; er wird den anständigen Teil
des Buchhandels auf seiner Seite haben und wird in dem organisierten Buch¬
handel keine gefährliche Geheimbündelei mehr sehen, sondern eine Kraft, auf
die er sich stützen kann. „Vereint mit dir!" wird es dann heißen können.
Und das bleibt doch auch das Gebotue und das Vernünftige. Einigkeit macht
stark, Zwietracht säen kann nur Schaden bringen und schwächen in dem
Kampfe gegen Mißstände, die man beseitigen möchte — vorhanden sind sie in
beiden Lagern, die man jetzt unklugerweise gegeneinander aufzubringen trachtet,
statt hüben und drüben die Vernünftigen zu sammeln.
Ans der Sommerfrische
ein Vater ging davon ans, daß man Kinder schon früh zu einer ge¬
wissen Selbständigkeit erziehn müsse. Er ließ uns viel Freiheit, manch¬
mal wohl zuviel. Damit hing zusammen, daß er uns schon frühzeitig
auf seine kleinern oder großem Fahrten und Geschäftsreisen mitnahm,
und daß er jeden schicklichen Ausflug aus dem Elternhause begünstigte.
Ein Junge, meinte er, muß früh wissen, wie es in der Welt aussieht;
er muß soviel wie möglich lernen, mich aus Büchern; aber er muß dabei lebendige
Anschauungen haben, wenn er gedeihen und seine Entwicklung gesund bleiben soll.
In meinem fünften Jahre, unmittelbar bevor ich in die Schule kam, habe
ich meine erste Reise gemacht. Sie galt einem Besuche der Eltern meiner zweiten
Mutter in Halle. Ein Vetter der Mutter fuhr mit eignem Geschirr nach Halle
und hatte sich erbaten, mich mitzunehmen. Da wurde mir mein „Matin," ein
dunkelgrüner Flnuschmantel, angezogen, Wäsche und Nachtzeug wurden eingepackt,
und fort ging es auf offnem Wägelchen über Aschersleben, Eisleben und Alsleben,
wo wir auf einer Fähre die Saale passierten, nach Halle. Die Entfernung betrug
neun Meilen. Bei den Großeltern und den unverheirateten Schwestern meiner
Mutter fand ich die freundlichste Aufnahme. Im Hause der Großeltern wohnten
und verkehrten zahlreiche Studenten. Auch sie nahmen sich meiner um, und im
Butanischen Garten habe ich mit dem einen oder dem andern von ihnen Pferd
gespielt. Nach drei Wochen wurde ich eines Abends in ein Gasthaus vor der Stadt
gebracht und dort von dem Kaufmann Schinerwitz und seiner Frau, die von der
Leipziger Messe kamen und im eignen Wagen nach Quedlinburg zurückführen, in
Empfang genommen. Anderntags in der Frühe ging es zurück nach Hause. Für
einen vierjährigen Jungen war das eine Reise, vou der er etwas erzählen konnte.
Ich muß damals ein frischer und geweckter Knabe gewesen sein. Mein jetzt
kahler Kopf war mit einer Fülle natürlicher blonder Locken bedeckt. Gegen den
Widerspruch meines jeder Eitelkeit abholden Vaters ließ meine Mutter mich die
Locken lang tragen, und diese erregten die Bewunderung nicht nnr unsrer Dienst¬
mädchen, sondern auch aller Tanten und Basen. Vou den Schwestern meiner
Mutter wurde ich in Halle nicht wenig gehätschelt. Ich mußte thue» Lieder Vor¬
singen, die ich zuhause von den Dienstmägden gelernt hatte: „Fuchs, du hast die
Gans gestohlen," „Ich habe den Frühling gesehen," ein sentimentales Liebeslied,
und andre. Das mag im Munde eines vierjährigen Jungen drollig genng ge¬
klungen haben. Jedenfalls wurde ich dafür sehr gelobt und viel abgeküßt. Der
Großvater in Halle gab mir auch Schreibunterricht. Seine etwas geschnvrkelten
Buchstaben gefielen mir aber nicht.
Das unruhige Geschäftsleben in meinem Vaterhause war einfach, ohne jeden
Luxus und in meiner früheste» Jugend nicht ohne patriarchalischen Anstrich. Im
Hause waren verhältnismäßig viel Dienstboten. Neben dem Kutscher, der zugleich
die mit zwei Pferden betriebene Roszmühle besorgte, hatte ein Brcnnmeister für die
Brennerei und die damit verbundne Preßhcfenfabrikation zu sorgen. Zu seiner
Hilfe waren in der Brennerei zwei Mägde beschäftigt, denen zugleich die Wartung
des Mastviehs oblag. Im Haushalt halfen meiner Mutter ein Küchenmädchen und
ein Hausmädchen, zu denen spater noch ein Kindermädchen kam. Unser Haus hatte
eine große, durch zwei Stockwerke reichende, gepflasterte Hnnsflnr. Ans dieser ge¬
laugte man auf einer breiten, schönen Eichcnholztreppc von etwa zwölf oder vier¬
zehn Stufe» auf einen Vorplatz im Hochparterre, und von dort führte eine weitere
Treppe in zwei Absätzen ins° erste Stockwerk. Dort kam man zunächst auf einen
großen, mit Gipsanstrich nnsgcgvssenen Saal, um den herum eine Reihe von
Kammern und die beste Stube mit einer darau grenzenden Gastkammcr lagen.
Diese beiden gut möblierten Zimmer wurden aber nur selten gebraucht, wenn
Fremdenbesuch kam. der mit uns auf gleichem Fuße behandelt wurde, oder wenn
bei den Manövern Offiziere als Einquartierung ins Haus kamen. Vom Saale
aus führten Treppen zu den ungemein weitläufigen Hausboden, uns denen das für
die Brennerei benötigte Getreide und Malz in großen, sorgfältig znsammen-
geschippten Haufen lag. Das ganze Gehöft bildete ein großes Viereck, und die
Boden aller vier Flügel des Hauses standen untereinander in Verbindung. Wer
dort uicht Bescheid wußte, konnte sich gründlich verirren. An den Saal schloß sich
eine lange, offne Galerie, an der über der Brennerei unten uoch eine Reihe von
Kammern für die Dienstboten und andre häusliche Zwecke lagen. Das Leben der
Familie vollzog sich in den Räumen des Hochparterres. Dort lag nach vorn hinnus
d'e dreifenstrige sogenannte gute Stube mit der Aussicht auf die schnell fließende
Bode, auf die Lange Brücke und ans einen jenseits der Bode liegenden, von eungen
Wohnhäusern umsäumten und mit Bäumen bestandnen Platz. Links vom Vorplatz
lag die Wohn- und Eßstube, ans der eine Tür unmittelbar in die durch zwei
Stockwerke gehende Brennerei, das sogenannte Brennhaus, führte. Zwischen dieser
Wohnstube und der guten Stube lag in der Mitte die Küche, während die Waschküche
"nten neben der Noßmühle lag. Das Ganze bildete also mit dem auf zwei Seiten
Von Ställen und Boden umschlossenen Hofe ein ziemlich weitläufiges Anwesen.
An der Fenstcrscite der Wohnstube, deren Aussicht gleichfalls auf die Bode
""d einen gegenüber liegenden, lauschigen, grünen Gras- und Baumgarten ging,
stand ein großer, viereckiger Eßtisch, zwischen ihm und dem Fenster eine mit weißer
Ölfarbe gestrichne Bank ohne Lehne und eine ebensolche an der Wand nach der
Küche zu. Bei Tisch saßen die Mägde und wir Kinder auf den beiden Banken.
An den andern beiden Seiten des Tisches saßen auf birknen Rohrstühlen die Eltern
und die auswärtigen Schüler des Gymnasiums, denen mein Vater einen Freitisch
gewährte. An zwei oder drei Tagen der Woche, zuweilen auch noch öfter, kam
ein solcher Schüler bei uns zu Tisch. Es waren immer Söhne von Landgeist-
ltchen oder Lehrern, denen auf diese Weise die Möglichkeit gewährt wurde, sich in
anständigen Familien durchmessen. Eine schöne und wertvolle Mildtätigkeit, die
für wohlhabende Bürgerhäuser in Quedlinburg damals so ziemlich als selbstverständ¬
lich galt. Davon wurde nicht das mindeste Aufheben gemacht. Daß die Mägde
mit am Tisch aßen, war alt hergebracht. Meine zweite Mutter stellte es aber bald
ab. Diese Tischgemeinschaft mit dem Gesinde hatte ihre nützlichen und guten Seiten,
kam aber allmählich mehr und mehr anßer Gebrauch. Gegessen wurde von blank
geputzten Zinntellern, deren wir eine große Menge besaßen. Auf die Mitte des
Tellers war ein blankes Kreuz gescheuert, Wohl weniger als Symbol als zum
Schmuck. Nur die Suppe wurde von schlichten, Weißen Porzellantellern gegessen.
Eltern, Kinder und Freitischschüler aßen mit silbernen Löffeln, die Dienstboten mit
Zinnlöffeln. Messer und Gabeln waren von Stahl mit schwarzen Holzgriffen.
Einen Braten gab es zu Mittag äußerst selten. Das Essen war aber schmackhaft
und kräftig. Die Zeit des Mittagessens war pünktlich um zwölf Uhr. Abends
aßen die Dienstboten nicht mit uns am Tische. Auch das Abendessen bestand regel¬
mäßig in einem warmen Gericht, einer Eierspeise, Kartoffeln in der Schale mit
einer entsprechenden Zukost oder auch gebratnem Fleisch. Nur des Sonntags kamen
die Dienstboten auch Abends zum Essen. Dann gab es immer einen Braten zum
Abendessen, den die Mutter vorschritt und verteilte. Diese einfache, gute Ernährung
hat sicherlich viel zu meiner gesunden körperlichen Entwicklung beigetragen. Ge¬
trunken wurde bei Tisch überhaupt uicht, weder Wein, noch Bier, noch Wasser.
Dagegen gab es Abends nach Tisch ein Glas leichten Braunbiers oder Broihcms.
Zum zweiten Frühstück oder Nachmittags zum sogenannten Viertemahl (Vesper¬
oder Vieruhrbrot) bekamen wir ein einfaches Butter- oder Schmalzbrot. Belegte
Butterbrode galten als „doppelte Fourage" und als ungehöriger Luxus. War ein¬
mal keine Butter zur Hand, so gab es auch wohl ein einfaches Stück Schwarzbrot,
das mit Salz bestreut war. Dazu sagte die Mutter dann zur Ermunterung jedes¬
mal: „Salz und Brot macht die Backen rot." Manche unsrer Spielkameraden
setzten zwar hinzu: „Aber Butterbröter machen sie noch röter"; allein uns schmeckte
auch Salz und Brot ganz prächtig, und nie haben wir uns über schmale Kost anch
nur andeutend eine Klage erlaubt.
Für den Besuch von Honoratioren hatte mein Vater immer einen mäßigen
Vorrat guten, sogenannten Weißen Franzweins (Haut Sauterue) oder anch roten
Bordeauxweins im Keller. Er bezog ihn von der Weinhandlung Pappe'e und
Buschoff in Braunschweig. Alljährlich einmal stellte sich Herr Buschoff persönlich
bei uns ein, um sich seine Bestellung abzuholen. Er war mit einer Quedlinburgerin
verheiratet, nannte aus diesem Grunde, obwohl die Verwandtschaft kaum noch fest¬
zustellen war, meinen Vater „Herr Vetter" und war der Typus eines elegant ge¬
kleideten, etwas überhöflichen Geschäftsreisenden. Einmal war später auch davon
die Rede, daß ich als Lehrling in sein Geschäft eintreten und Weinhändler werden
sollte. Ich hatte aber keine Lust dazu. Als ich ungefähr elf Jahre alt war, nahm
mein Vater mich einmal mit auf eine Geschäftsreise. Sie führte uns anch nach
Braunschweig, wo wir Herrn Buschoff besuchten. Seine luxuriös ausgestattete
Wohnung machte auf mich einen imponierender Eindruck. Er ging damals mit
uns in das herzogliche Hoftheater. Ich entsinne mich aber nicht einmal mehr,
welches Stück gegeben wurde. Jedenfalls habe ich aber einen tiefern Eindruck
davon mitgenommen.
Mehr als das Theater interessierte mich damals „das Bruch/' ein frucht¬
barer, ehemals sumpfiger, allmählich aber rationell meliorierter Landstrich zwischen
dem Huywalde und dem Elm. Im Bruch und an seinem Rande liegen eine ganze
Reihe stattlicher Dörfer. Diese Dörfer aber waren in meiner Jugend das Hnupt-
absatzgebiet für den in der Brennerei meines Vaters hergestellten Alkohol. Hier
wohnten unsre „Kundleute," das heißt behäbige Bauern, die zugleich Schaukwirte
waren. Von Zeit zu Zeit kamen sie mit ihren stattlichen Gespannen nach Quedlin¬
burg, um dort ihre leeren Brauutweiufcisser wieder füllen zu lassen. Sie spannten
dann in unserm Hause aus, wurden freundlich aufgenommen und als altbekannte
Gäste des Hauses mit einer gewissen Vertraulichkeit behandelt. Sie aßen mit an
unserm Tisch und übernachteten in einem besonders für sie bereit gehaltnen Zimmer,
der Kuudmannskammer. Ju der Frühe des andern Tags fuhren sie dann mit
ihren inzwischen gefüllten Fässern und den etwa sonst noch in der Stadt gemachten
Einkäufen wieder ab. Sie waren auch für uns Kinder gern gesehene Gäste.
Meistens brachten sie uns kleine Geschenke mit: Kiebitzeier, besonders schönes Obst,
Erdäpfel, auch selbst gezimmertes Spielwerk, zum Beispiel eine mannshohe Windmühle
und ähnliches. In ihren laugen, dunkelblauen oder schwarzen, rot gefütterten Röcken
Süden sie äußerst stattlich aus. Sie waren nicht ohne hartköpfiges Selbstbewußt¬
sein, rechte Typen des wohl sanierten niedersächsischen Bauern. Abends nach Tisch
saßen die anwesenden Kundleute mit meinen Eltern, uns Kindern und auch wohl
dem einen oder dem andern Nachbarn in unsrer Wohnstube um den großen Tisch
herum. Dort wurden dann allerlei nützliche, zuweilen sehr lebhafte und ergötzliche
Gespräche geführt. Ich entsinne mich namentlich der bei solchen Gelegenheiten ge-
pflvgueu Unterhaltungen über die damals in der Luft liegenden kirchlichen und
politischen Fragen. In dem Dorfe Anderbeck um Huy und in den benachbarten
Ortschaften wohnte eine große Zahl unsrer Kundleute. In Anderbeck wirkte zu
teuer Zeit ein Pastor König, ein Hnuptführer der sogenannten Lichtfreunde. Diese
Lichtfreunde hielten in den Jahren vor 1848 unter Führung der Pastoren Uhlich
"us Pömmelte und Wislicenus aus Halle auf dem Bahnhofe in Köthen freisinnig
gerichtete, zahlreich besuchte Versammlungen ab, und die dort verhandelten Fragen
bewegten damals die Herzen bis in die Tiefe. Unsre Kundleute aus Audcrbcck
und der Umgegend waren natürlich von der lichtfreundlichen Bewegung ebenso¬
wenig unberührt geblieben wie mein Vater. Nur schnitten sie nach echter Banernnrt
"lie Fragen mehr oder weniger persönlich auf den ihnen bekannten Pastor König
gu- Teils nahmen sie für, teils gegen ihn Stellung, und zuweilen gab es aus
diesem Anlaß an unserm Tische heiße Kämpfe. Doch gelang es meinem Vater
immer, den äußern Frieden wieder herzustellen. Ich war noch zu jung, als daß
die Einzelheiten dieser lebhaften Erörterungen bei mir haften geblieben wären.
Nur eine dieser Szenen ist bei mir unvergessen. Eines Abends hatte man lebhaft
über die Begriffe Gesetz und Evangelium diskutiert. Dabei schlug ein Kundmann
"us Dingelstedt am Huy, namens Römmer, ein kluger Mann, im Eifer des Ge¬
sprächs mit der Hand auf den Tisch und rief ans: Was ist denn ein Gesetz?
Wißt ihr denn, was ein Gesetz ist? Die Anwesenden, auch mein Vater, schwiegen.
Keiner von ihnen mochte wohl im Augenblick den rechten Ausdruck dafür finden,
was für thu der Begriff des Gesetzes bedeutete. Römmer aber sagte ruhig und
würdevoll: Ich will es euch richtig sagen, ein Gesetz ist ein bekannt gemachter
Wille. Dagegen konnte niemand etwas einwenden, und das Gespräch gewann dnrchmese Wendung wieder eine ruhigere und sachliche Richtung. Mein Vater hat später
diese von dem Bauern Römmer aus Dingelstedt gegebne Begriffsbestimmung des
Gesetzes noch oft zitiert. Jedenfalls war sie die erste juristische Definition, die ichw meinem Leben gehört habe. Ich habe sie, so jung ich damals war, nie wieder
vergessen. Als ich später in Heidelberg studierte, spitzte ich die Ohren, als der
-Professur vou Vangerow in seiner Paudektenvorlesung die Frage auswarf: Was ist
ein Gesetz? Lächelnd mußte ich daran denken, daß ich schon als kleiner Knabe aus
dem Munde eines gewitzter Huybaueru eine Definition des Gesetzes gehört hatte,
die im Grunde ungefähr auf dasselbe hinauskam, was der berühmte Rechtslehrer
uns darüber zu sagen wußte.
Auf der oben erwähnten Reise nach Braunschweig besuchte mein Vater mit
mir anch seine Kundleute in den Bruchdörfern. Überall wurden wir gastlich auf¬
genommen. In Adcrstedt haben wir bei einem besonders wohlhabenden Kundmnnn
auch eine Nacht über logiert. Natürlich in haushohen Himmelbetten. Wie schön
waren diese Wanderungen mit meinem Vater durch das Bruch! Er zeigte mir den
üppigen Graswuchs der mit Gräben durchzognen Kunstwiesen, belehrte mich über
die Heu- und Grnmmcterute, über Klee, Luzcrue, Esparsette und Topinambur,
über Raps und Rübsen, Sommer- und Wintergetreide. Er zeigte mir Störche,
Kiebitze und Bekassinen, Rohrdommeln und Wiedehopfe und lobte die wirtschaft¬
liche Lage der Bauern. Das waren frühzeitige Berührungen mit dem praktischen
Leben, mit einer eigentümlichen Welt, die jenseits unsrer Stadtmauern lag. Wie
manche praktische Anschauungen habe ich dadurch vor andern Stadtkindern voraus
gewonnen! Wenn wir uns dann in Jerxheim in die dritte Klasse der damals noch
jungen Eisenbahn setzten oder auf einer Haltestelle ausstiegen, um den Pastor lon-i
aufzusuchen — mein Vater stand mit vielen Lcmdpastorcn der Umgegend auf freund¬
schaftlichem Fuße —, wenn mich der Pastor dann auf MEUW und Milo examinierte
und nnr freundlich den Krauskopf streichelte, wie glücklich war ich! Wer kann er¬
messen, wie weit der Einfluß solcher Jugendeindrücke in das spätere Leben des
Mannes hineinreicht?
Der richtige Gedanke meines Vaters, die Kinder schon früh an ein selbstän¬
diges Handeln zu gewöhnen, führte dahin, daß bei uns von Ängstlichkeit keine
Rede war. In einem Alter, wo andre Kinder noch sorglich behütet wurden und
kaum allein über die Straße gehn durften, schickte er mich schon als Voden über
Land, vorzugsweise nach dem fünf Viertelstunden Wegs entfernten Dorfe Ditfurt.
Er hatte dort eine Menge geschäftlicher und persönlicher Beziehungen. In der
Ditfurter Feldflur besaß er mehr als hundert Morgen an einzelne Bauern ver¬
pachtete Äcker. Auch wohnten in Ditfurt mehrere seiner Hypothekenschilldner, und
die Ditfurter Wirte waren seine Kunden. So fand sich häufig Gelegenheit, Mahu-
nnd andre Briefe nach Ditfurt zu schicken. Ohne jedes Bedenken benutzte er mich
dazu als Boten und überließ es mir, ob ich allein gehn oder irgend einen Spiel¬
kameraden mitnehmen wollte. Schon in meinem siebenten Jahre habe ich solche
Gänge gemacht. Natürlich kamen dabei nur die schulfreien Nachmittage am Mitt¬
woch oder Sonnabend in Frage. Für mich waren solche Gänge eine Lust. Furchtlos
trottete ich deu an Abwechslung reichen Weg immer an der Bode entlang, zwischen
Wiesen und Ackern an den klappernden Mühlen vorbei und sah dabei eine Menge
Dinge, von denen viele meiner Schulkameraden kaum eine Ahnung hatten: Hasen
und Wiesel, Maulwürfe, Fischottern und Wasserratten, schimmernde Eisvögel und
wilde Enten, kurz alles, was draußen kreucht und fleucht. Der Weg ging über
den Klers, die schöne, von Alleen umsäumte große Schützenwiese der Stadt, dann
an der großen Tuchfabrik des Kommerzienrath Krage vorbei auf die Walkmühle
zu — in Quedlinburg sagte man: Walkenmühle —, dann an der ein wenig seit¬
wärts bleibenden Augermuhle vorüber nach der Bleiweißfabrik, die von einem
Herrn Kopp administriert wurde, und von da immer flußabwärts über baumreiche
Wiesen und Anger nach Ditfurt. So lernte ich früh die Antwort auf ein da¬
maliges Lieblingsrätsel der Quedlinburger Jugend: „Was liegt zwischen Kopf
(Kopp) und Kragen?" Wenn der Gefragte antwortete: „Der Hals," wurde er
ausgelacht. Die richtige Antwort war vielmehr: „Die Walkenmühle." In Ditfurt
wurde der Brief abgegeben und je nach Umständen auf Autwort gewartet. In
der Regel setzte man mir eine Tasse Kaffee oder ein Butterbrot vor oder schenkte
mir ein paar Äpfel, und fröhlich trollte ich dann mit oder ohne Begleiter wieder
nach Hause. Natürlich freute ich mich, wenn der Vater zufrieden war und auch
Wohl anerkannte, daß der Junge sich schon nützlich machen könne. Besondre Lobes¬
erhebungen vermied mein Vater, und das war pädagogisch sehr richtig. Der Junge
hatte auszurichten, was ihm aufgetragen wurde. Tat er das, so war das nichts
weiter als seiue selbstverständliche Schuldigkeit. Darüber wurde kein Wort weiter
verloren.
Allen Leibesübungen war mein Vater grundsätzlich zugetan. Sehr früh bekam
ich Schlittschuhe. Im Winter wanderten wir an den schulfreien Nachmittagen nach
der halbwegs nach Ditfurt zu gelegnen Kuhwiese, die von der Bleiweißfnbrik aus
überschwemmt wurde und bei Frostwetter eine herrliche Eisfläche darbot. Schon
im achten oder neunten Jahre bekam ich Schwimmunterricht, und den ganzen
Sommer lang wurde täglich kalt gebadet und geschwommen. Das; ich am Turnen
teilnehmen mußte, verstand sich von selbst, und der einfache Tnrnanzng aus grauem
Drillich wurde auch in der Schule und zuhause mit Vorliebe getragen. Unsre
Lehrer in der Volksschule machten mit ihrer Klasse dann und wann kleine Aus¬
flüge. Entweder nach dem eine Stunde Wegs entfernten Steinholze, einem der
Stadt gehörenden anmutigen Wäldchen, oder auch nach Wcddcrsleben und der
Teufelsmauer, nach dem lieblich am Rande des Harzes liegenden Suderade, oder
nach der Lauenburg und der Georgshöhe, oder gar nach der etwas entferntem
Roßtrappe und dem Hexentanzplatz. Ans diesem bin ich mit Herrn Scharfe schon
als siebenjähriger Junge gewesen. Damals gab es dort noch nicht einmal ein
Wirtshaus. Nur eine Holzhauerköte, das heißt eine aus zusammengestellte» Birken-
stämmen hergestellte Hütte gewährte oben einigen Schutz gegen Wind und Wetter.
Herr Scharfe hob uus Jungen einzeln auf die deu Berggipfel krönende Klippe,
hielt nus fest und ließ uns so auf der einen Seite in den gewaltigen Abgrund
des Bodetals, auf der andern hinaus in die sounenbestrahltc Landschaft nach
Quedlinburg, Halberstadt und Magdeburg zu sehen. Diese Wanderungen stärkten
uus Jungen, so müde sie uns auch zuweilen machten. Bei allen solchen Unter¬
nehmungen durfte ich dabei sein. Ich bekam dann von meinen Eltern ein Zwei-
groschenstück, um ein Glas Zuckerwasser oder Brannbier, zur Not auch wohl ein
unbelegtes Butterbrot kaufen zu können. So habe ich mich früh an das Wandern
und seine anspruchslosen Freuden gewöhnt.
Überzieher für Jungen gab es damals nicht, wenigstens nicht für schulpflichtige.
Wir trugen Jacken oder Röcke, die meist aus den nicht mehr gesellschaftsfähigen
Kleidern des Vaters geschneidert waren. Damit zogen wir auch im kalten Winter
auf die Schlittenbahn, die sogenannte Querbahn am Galgenberge. Da sanften wir.
oft nicht ohne Gefahr, auf unsern eisenbeschlagnen Handschlitten in großen Absätzen
den recht steilen Berg hinab. Eine Mütze hatte ich zwar, trug sie aber nur selten,
zum Beispiel Sonntags beim Kirchgang. Mein Vater sah Mützen als ein für
Jungen ziemlich überflüssiges Kleidungsstück an. Im Sommer klebten wir uns
Papierdrnchen von beträchtlicher Größe, und wenn im Herbst die Felder frei wurden,
ließen wir die Drachen vor den Toren der Stadt steigen. Die Berge vor der
Stadt boten eine Menge Schlupfwinkel. Dort spielten wir Räuber und Gendarm
mit einem Feuereifer, der auch wohl einmal zu einer Prügelei führte. In allen
diesen Dingen wurde mir zuhause volle Freiheit gelassen. Nur hielt mein Vater
und unnachsichtiger Strenge darauf, daß wir regelmäßig unsre Schularbeiten
machten.^ Die Schule ging selbstverständlich jedem Vergnügen vor. Der Schimpf,
in der Schule als faul zu gelten, galt für unerhört unanständig. Immer wieder
wurde uns von meinem Vater als die erste, ja beinahe einzige Aufgabe unsers
Gebens eingeprägt, etwas Tüchtiges zu lernen. Er sprach es oft aus, daß ihm
kein Opfer zu groß sei, und er ging dabei unbedenklich auch über die Schule
hinaus. Ich habe vom zehnten bis achtzehnten Jahre regelmäßig Klavierunterricht
empfangen. Leider schließlich durch meine Schuld mit immerhin nnr mäßigem Erfolg,
^ich hätte viel mehr dabei lernen können und müssen. Ebenso ließ mir mein Vater
sust während meiner ganzen Ghmnasialzeit regelmäßig außer der Schule Zeicheu-
unterricht erteilen. Hier war der Erfolg noch mäßiger als bei dem Klavierspielen.
Das mag zum Teil an den Lehrern gelegen haben. Die größte Schuld daran
habe ich aber mir selbst zuzumessen, meinem Mangel an Eifer und Ausdauer. Ich
habe später eine größere Fertigkeit im Zeichnen und im richtigen Sehen der kon¬
kreten Formen oft sehr schmerzlich vermißt. Mein trefflicher Vater aber ist daran
schuldlos. Er ließ uus jede Gelegenheit, bei der es etwas zu lernen gab, benutzen.
Wurde in der Schule ein Bergwerk gezeigt oder kam eine Menagerie in die Stadt
oder auch einmal ein einzelner Elefant oder ein wanderndes Museum, ein Rezi¬
tator oder ein Mann, der naturwissenschaftliche Vorträge hielt oder vergrößerte
Schattenbilder mit einem sogenannten Hydrooxygengas-Mikroskop zeigte, nie wurde
uns für solche Dinge, und wenn sie sich schließlich als Schnurrpfeifereien ent¬
puppten, der nötige Groschen versagt.
Nur vom Theater hielt mein Vater nicht viel, wenigstens soweit es sich um
uns Kinder handelte. Der Musentempel in Quedlinburg war freilich in meiner
Jugend dürftig genug. Auf dem Mummental, einem Gutshöfe, der für landwirt-
schaftliche Zwecke nicht mehr benutzt wurde, hatte man eine alte, geräumige Scheune,
so gut oder so schlecht es gehn wollte, zum Schauspielhaus ausgebaut. Es war
ein öder, häßlicher Raum, aber doch gaben wandernde Schanspielertruppen dort
von Zeit zu Zeit Vorstellungen. Einige Jahre lang kamen sogar die herzoglichen
Hofschauspieler aus Ballenstedt alljährlich für einige Wochen nach Quedlinburg und
spielten dort, nebenbei gesagt, recht gut. Der Vater der nachmals so berühmt ge-
wordnen Johanna Wagner war in Ballenstedt als Baßbuffo engagiert, und seine
Tochter Johanna, später Frau Wagner-Jachmann, hat in Quedlinburg zum ersten¬
mal als Fanchon die Bretter betreten, die die Welt bedeuten. Natürlich zog uns
Kinder das geheimnisvolle, alte Schauspielhaus mächtig an. Mein Vater aber
wollte nichts davon wissen, und uns ein Theaterbillctt zu kaufen, dazu bekamen
wir kein Geld. Nur wenn einmal während der toten Saison ein sogenanntes
mechanisches oder Puppentheater in das alte Schauspielhaus einzog, und dort die
Erstürmung von Magdeburg durch Tilly aufgeführt wurde, ging mein Vater mit
uns hin. Das genügte uns aber nicht. Es war auch dürftig genug, und es ging
bei diesen Vorstellungen unglaublich kleinstädtisch und harmlos, doch aber nicht ohne
einen gewissen Radau her. Auf den Anschlagzetteln hatte gestanden: „Bei voll¬
ständig besetzten? Orchester." Als wir aber hinkamen und unsre Sitze auf dem
ersten Patz eingenommen, unsre Augen steh auch an das Dunkel des durch einige
Öllampen nur äußerst schwach beleuchteten Raumes gewöhnt hatten, sahen wir, daß
das Orchester nur aus einem stadtbekannten, sehr dicken Musiker namens Elias
und dessen noch jungem Sohn bestand, die sich anschickten, der Vater mit der Geige,
der Sohn mit der Pickelflöte „das vollständig besetzte Orchester" zu spielen. Darüber
fing aber das enttäuschte Publikum an laut zu murren. Man rief Plattdeutsch:
„Wat is denn dat? Dat is kein Orschester. Dat is man bloß Ölglas un sin
Sohne! Ölglas rut!" Dabei erhob sich ein ungeheures Trampeln, Zischen,
Schreien und Quietschen. Elias aber ließ sich nicht irremachen und fing ruhig an,
einen Walzer oder eine Polka zu geigen. Er brachte auch den Lärm wirklich zur
Ruhe, und Tilly im roten Rock eroberte wirklich vor unsern Angen das brennende
Magdeburg. Die Sache hatte uns zwar belustigt; wir behaupteten aber, daß wir
dieses Stück zu Hause auf unserm kleinen Puppentheater viel besser aufführten.
Mein Vater gab zu, daß die Vorstellung Wohl einiges zu wünsche» übrig gelassen
habe. Wenn wir ihn aber quälten, er möge doch mit uns nur ein einzigesmal
in das „ordentliche" Theater gehn, so vertröstete er uns regelmäßig auf seine beiden
Lieblingsstücke, die aber nie gegeben wurden. Das eine war ein Lustspiel: „Sieben
Mädchen in Uniform," und das andre war die Oper „Joseph in Ägypten" von
Mehul. Ich wenigstens habe es nicht erlebt, daß eins dieser Stücke in Quedlin¬
burg gegeben wurde."
Desto größer war meine Neugier auf das „ordentliche Theater. Ich war
ungefähr acht Jahre alt, da kam im Winter die Ballcnstedter Schauspieler¬
gesellschaft nach Quedlinburg. Ihr Regisseur hieß Vollbrccht und wohnte meinem
väterlichen Hause schräg gegenüber. Er hatte einen netten Sohn in meinem Alter.
Dieser Wilhelm Vollbrecht schlängelte sich bei unsern Spielen auf der Straße um
uns heran und erzählte uns, daß an zwei aufeinander folgenden Tagen zwei herr¬
liche Stücke gegeben würden: „Rochus Pumpernickel" und „Der Glöckner von
Notre Dame." In diesen Stücken würden auch Kiuder auftrete», und wenn wir
mitspielen wollten, so sollten wir den zweiten Akt der Zauberflöte umsonst sehen
dürfen. Niemand werde uns erkennen, denn wir würden geschminkt. Es war eine
große Versuchung, und ich erlag ihr. Ich schwankte einen Augenblick, denn ich
wußte, daß mein Vater das Komödiespielen mißbilligen würde. Aber die Ge¬
legenheit, das ordentliche Theater kennen zu lernen, war zu günstig. Von der
bevorstehenden Aufführung der Zauberflöte sprach die ganze Stadt, und besonders
lockte mich die Aussicht, geschminkt zu werden. Das mußte etwas ganz Besondres
sein, da ich gehört hatte, alle ordentlichen Schauspieler würden geschminkt. Ich
ging also Abends mit Wilhelm Vollbrecht und ein paar andern Jungen ins
Schauspielhaus, wurde hinter die Szene geführt, und der Vater Vollbrecht fuhr
mir mit einem roten Pinsel ein paarmal über das Gesicht und sagte, ich sei sehr
schön geschminkt. Meine ohnehin roten Backen mögen ja auch Wohl dadurch »och
röter geworden sein. So liefen wir denn unter Wilhelm Vollbrechts Führung auf
der Bühne wirklich als richtige Straßenjungen hinter dem auf einem Esel reitenden
Rochus Pumpernickel her. Mir war gar nicht wohl dabei zumut, und beim
Fortgchn ans dem Theater hörte ich zu meinem Schreck, daß eine Dame aus dem
Publikum ihre Nachbarin fragte: „Haben Sie den kleinen Bosse gesehen? Er war
unvernünftig geschminkt und lief wirklich hinter dem Esel her." Gleichwohl ging
die Sache gnädig vorüber. Im „Glöckner von Notre Dame" aber wagte ich, so¬
viel ich mich entsinne, nicht mitzuspielen. Als meine Eltern von meinem ersten
Debüt erfuhren, war es zu einer Strafe schon zu spät. Ich kam mit nachdrück¬
lichen Vermahnungen und dem Versprechen davon, es nicht wieder tun zu wolle».
Aber den zweiten Akt der Zauberflöte habe ich damals wirklich zu sehe» bekomme».
Freilich fand ich mich ziemlich enttäuscht.
Schlimmer erging es mir bei einer milder» Schaustellung. Eines Tags erschien
in den Straßen der Stadt ein Bärenführer mit zwei Bären, einem Kamel und
einigen Affen. Er durchzog mit seiner Karawane die Straßen, machte an geeig¬
neten Stellen Halt, ließ die Bären nach seiner Querpfeife tanzen und die Affen
allerhand possierliche Kunststücke machen. Die Melodie des schrillen, einförmigen
Bärentanzes mit Trommelbegleitnng wußte ich zum Schrecken der Hausgenosse»
nur allzugut nachzuspielen. Ich habe damit viel Unfug getrieben und in Ab¬
wesenheit meines Vaters das ganze Haus damit zur Verzweiflung gebracht. Als
der Bärenführer unserm Hanse gegenüber vor der Langen Brücke Halt machte und
seine Vorstellung gab, stand ich natürlich mit der gesamten Straßenjugend der
Nachbarschaft bewundernd dabei. Plötzlich forderte er uns Jungen freundlich auf.
das Kamel zu besteigen. Dieses ließ sich auf die Kniee nieder, und ohne alles
Besinnen ließ ich mich hinaufsehen. Hinter mir saßen allmählich wohl sechs ebenso
leuchtsinnige Jungen auf dem Rücken des Schiffes der Wüste. Kaum hatte sich das
Kamel zu unsrer Genugtuung wieder erhoben, sodaß wir hoch von oben auf die
gaffende Menge herabschauten, da erschien einer der dressierten Affen und' kletterte
mit der nicht mißzuversteheudeu Gebärde, daß er emsig »ach etwas suche, über
unsre bloßen Köpfe. Selbstverständlich unter dem Gelächter des dabei stehende»
yvchzuverehrenden Publikums. Auch mir erschien der Vorgang sehr spaßhaft, aber
gar nicht schlimm. Wir kamen heil und unversehrt wieder herunter und waren
Ms unsern Kamelritt nicht wenig stolz. Vergnügt und ahnungslos ging ich hin-
uver nach nnserm Hause. Von dort aber hatten meine Eltern mit Unbehagen aus
ven Fenstern zugesehen, wie sich ihr mmützer Junge auf dem Kamel vor aller
Welt von einem Affen hatte — auf Ungeziefer untersuchen lassen. Das trug mir
eine empfindliche Strafe ein. Ich fand diese aber empörend ungerecht. Verboten
war mir das Kamelreiten bis dahin nie gewesen, und ich konnte darin durchaus
keine Sünde erblicken. Und doch war dies zwar mein erster, aber nicht mein
letzter Kamelritt gewesen. Auf der Orientreise, die ich als Kultusminister im
Jahre 1898 nach Jerusalem gemacht habe, um dort der Einweihung der Von
unserm Kaiser erbauten Erlöserkirche beizuwohnen, habe ich am Rande der Libyschen
Wüste unter den Pyramiden von Gizeh bei Kairo meinen zweiten Kamelrilt aus¬
geführt. Er war ebenso lustig und vielleicht noch lustiger als jener erste. In
meiner „Dienstreise nach dem Orient" (Leipzig, bei Grunow, 1900) habe ich ihn
beschrieben. Zu meinem Vergnügen dabei hat die Erinnerung an jenen strafbaren
Ritt vor der Langen Brücke in Quedlinburg viel beigetragen. Dieser zweite Kamel¬
ritt wird nunmehr auch Wohl mein letzter gewesen sein. Vergnüglich und harmlos
aber waren sie beide. . - ?" (Fortsetzung folgt)
le Bewohner der Weisergasse waren sich darüber einig, daß man bei
Villerois seit einiger Zeit vorzüglich speisen müsse. Die Franzosen
fingen zwar erst Nachmittags um fünf mit ihrer Kocherei an, aber
dann dufte es auch gleich so köstlich nach Gebratnem, daß man es
drei Häuser weiter ganz deutlich rieche. Am letzten Sonntag, so
ging das Gerücht, sollten sie sogar junge Enten gegessen haben.
Glaubwürdige Leute schworen nämlich darauf, sie hätten in der Asche frischgerupfte
Eutcnfedern gefunden, und die könnten nur von den Ausländischen dorthin geworfen
worden sein. Und ein Paar Tage später zeigte man sich die rote Schale von
einem Krebs, aber von einem Krebs, der sechsmal größer gewesen sein mußte, als
die Krebse, die man in der Laubdach fing. Dieser Fund erregte gewaltiges Auf¬
sehen; ein Flickschuster, der ein Hausgenosse der Franzosen war und für alles
Merkwürdige Verständnis besaß, brachte die sterblichen Reste des Wundertiers zum
Kanonikus von Umbscheiden, damit dieser sie seinem berühmten Natnralienknbinett
einverleibe, wurde aber von dem geistlichen Herrn darüber belehrt, daß der Träger
des seltsame» Panzers der Wissenschaft längst unter dem Namen „Hummer" bekannt
sei und keineswegs zu den Seltenheiten gehöre.
Mehr noch als Entenfedern und Hummerschalen beschäftigte die Phantasie der
guten Leute ein ganzer Kreis von Legenden, dessen Mittelpunkt der alte vornehme
Herr war, der bei Villerois zur Miete wohnte. Man betrachtete ihn mit stillem
Schauder, denn es ging die Sage, er sei vor einiger Zeit geradeswegs von Paris
gekommen, wo er den Kopf schon unter dem Fallbeile gehabt habe und mir durch
ein in den Zopf verborgnes Stück starken Eisendrahtes gerettet worden sei. Doppelt
auffallend schien es, daß ein Mann mit so entsetzlichen Lebenserfahrungen dennoch
meist eine ganz vergnügte Miene zur Schau trug, und wie man ebenfalls ans
sichrer Quelle wußte, noch an den Dingen dieser Welt so großen Anteil nahm,
daß er jeden Mittwoch und jeden Samstag auf dem Markte die Lebensmittel in
eigner Person einkaufte.
In mehr als einer Hinsicht mochten die Nachbarn in der Weisergasse über
den alte» Edelmann und seine Schicksale falsch berichtet sein, das verhinderte aber
nicht, daß sie in xuueko des vergnügten Aussehens Recht hatten. Der Marquis
von Mcirigny sah in der Tat höchst zufrieden und gutgelaunt aus, und er war
dazu auch durchaus berechtigt. Der Verkauf der Pretiosen hatte sich Wider Er¬
warten schnell und mit einem ungeahnt günstigen Ergebnis ermöglichen lassen.
Und das kam so: Als der Marquis seinem Versprechen gemäß die russische Gräfin
in den „Drei Reichskronen" besuchte, erzählte sie ihm von ihrer Absicht, nach
Frankfurt zu reisen und dort deu Beginn der guten Jahreszeit abzuwarten. Ihr
Schwiegersohn, der Fürst Karcunsin, der als außerordentlicher Gesandter der Kaiserin
am Hofe des Großherzogs von Toscana weile, werde sie in Frankfurt abholen und
bis Petersburg begleiten. Marigny bemerkte, er gedenke im April oder Mai eben¬
falls für einige Tage nach Frankfurt zu reisen, und erkundigte sich bei der Dame,
die mit den dortigen Verhältnissen genau bekannt zu sein schien, nach einem zuver¬
lässigen Juwelier. Auf ihre Frage, ob er Juwelen zu kaufen beabsichtige, gestand
er nach einigen Umschweifen, daß er solche vielmehr zu verkaufen habe und dies
am leichtesten in Frankfurt bewerkstelligen zu können glaube. Die Gräfin sagte
hierauf in ihrer lebhaften Art: Liebster Marquis, kommen Sie nicht früher nach
Frankfurt, als bis ich Ihnen die Ankunft Karamsins melden werde. Der Fürst hat
großes Vergnügen an Edelsteinen und dürfte Ihnen, vorausgesetzt, daß Ihre Juwelen
ihm gefallen, einen annehmbaren Preis bieten als die Frankfurter Händler.
Das war ein Vorschlag, der sich hören ließ. Am 4. Juni erhielt Marigny
denn auch einen Brief, worin die Gräfin ihm mitteilte, Karcunsin sei eingetroffen,
und schon am 9. fuhr er selbst an der Seite seines Schwiegersohns durch das
Friedberger Tor in die freie Reichsstadt am Main ein. Man hatte, um eine
unliebsame Berührung mit den die Umgegend von Mainz unsicher machenden fran¬
zösischen Streifkorps zu vermeiden, den' Weg durch das Lahntal und über Butzbach
gewählt, eine Vorsichtsmaßregel, die sich schon mit Rücksicht auf deu kostbaren In¬
halt des Koffers empfahl.
Der Fürst, wie alle wirklich vornehmen und gebildeten Russen ein Mann von
uneigennütziger Liebeuswttrdigkeit. besichtigte die ihm vorgelegten Steine mit großer
Sachkenntnis, sonderte eure kleine Anzahl aus und erbot sich, für die übrigen genau
ein Viertel der Summe mehr zu zahlen, die ein beliebiger, von Marigny zu be¬
stimmender Juwelier bieten würde. Ich mache hierbei, so erklärte er, immer noch
em weet besseres Geschäft, als wenn ich bei einem Händler kaufen würde, da sich
diese Leute für verpflichtet halten, uns Russen den doppelten und dreifachen Preis
abzuverlangen. Die Franzosen gingen auf den Vorschlag ein, ließen die Steine
taxieren und erhielten schon am nächsten Tage dnrch Karamsins Bankier ihr Geld.
Sie konnten, obgleich sie aus dem Nest der Juwelen nnr einige hundert Gulden
lösten, mit dem Ergebnis ihrer Reise recht zufrieden sein, und Mariguy bedauerte
nur, nicht vor Jahren die Herrschaft Aigremont verkauft und alsdann sein gesamtes
Vermögen in Diamanten angelegt zu haben. Der ersten Sorge war man ledig,
nnn stellte sich die zweite ein: die Sorge, ein Gut zu finden, das allen billigen
Anforderungen entsprach. Das war nicht leicht, da der Sommer vor der Tür stand,
und die kurfürstliche Regierung vom Stadtmagistrat immer dringlicher die Aus¬
weisung der Emigranten verlangte. Zum Glück nahmen Bürgermeister und Rat
dieses landesväterliche Gebot nicht allzu ernst. Der Kurfürst selbst weilte in der
Ferne, und die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf Mainz, das die Ver¬
bündeteten mit ihren Belagerungswerken immer enger umklammerten. Vom Ehren-
breitstein wurden die Geschütze stromaufwärts geschafft; holländische Kanonenboote
Passierten die Stadt, und mancher Koblenzer begab sich ans das rechte Rheinufer,
um von den Höhen Schwalbachs und Schlcmgcnbads aus das Bombardement
zu beobachten.
Während alle Welt von kriegerischen Dingen sprach, die Verwundung des
Prinzen Louis Ferdinand beklagte, den durch die Beschießung angerichteten Schaden
berechnete und darüber stritt, was im Falle der Kapitulation mit den Klubbisten
geschehn werde, reisten Marigny und Villeroi, jeder ans eigne Faust, in der Nachbar¬
schaft umher und untersuchten, etwa wie Stare, die sich nach einer Nistgelegen¬
heit umschauen, jeden Winkel. Man konnte sie heute in einem Dorfe und morgen
in einer Landstadt sehen, wo sie Nachfrage hielten, ob nicht ein Gut mittlern Um¬
fangs zum Verkaufe stehe. Bald besichtigten sie einen einsamen Hof in einem ent¬
legnen Seitentale, bald klommen sie zu eiuer halbverfallnen Burg empor, zählten
die noch leidlich bewohnbaren nemme und erkundigten sich bei dem Eigentümer,
dessen Ermittlung gewöhnlich große Mühe verursachte, wieviel Morgen Wald, Wein¬
berge und Ackerland zu demi Anwesen gehörten. Fanden sie einen Besitz, der ihnen
zusagte, so stellte es sich stets heraus, daß er nicht käuflich war, vernahmen sie
dagegen, dieses oder jenes Landgut solle verkauft werden, so wurden sie mi߬
trauisch und kamen dann zu der Überzeugung, daß es eine schlechte Lage habe,
daß der Boden nichts tauge, daß die Gebäude in mangelhaftem Zustande seien,
und daß endlich der dafür geforderte Preis in keinem Verhältnis zu dem wirk¬
lichen Werte des Gegenstandes stehe.
Hatte einer von ihnen etwas entdeckt, was ihm gefiel, so stieß er bei dem
andern auf entschiedne Mißbilligung, da jeder bei seineu Ansprüchen einen andern
Maßstab anlegte, Marigny an Aigremont, und Villeroi an sein Jagdhäuschen
dachte. So waren die Güter, auf die der alte Herr sein Augenmerk richtete, meist
viel zu groß, und die, mit denen sein Schwiegersohn liebäugelte, viel zu klein, als
daß der Kaufpreis und der zu erwartende Ertrag den Vermögensumständen der
Familie entsprochen hätten.
Aber schließlich mußte man doch einmal zum Ziele kommen, und das geschah
an dem denkwürdigen 22. Juli, dem Tage der Kapitulation von Mainz.
Villeroi kehrte spät Abends von einer seiner Forschungsreisen zurück.
Vater! Marguerite! Jetzt habe ich gefunden, was wir suchen! rief er schon
ans dem Vorsaale.
Wenns nur nicht wieder ein Gärtchen mit drei Stachelbeersträuchern und einem
Hühnerställe ist! bemerkte Marigny skeptisch.
Diesesmal nicht, Vater. Eher zu groß als zu klein! entgegnete Henri mit
großer Zuversicht. Sechzehn Morgen Weinberg, zweiundzwanzig Feld, und über¬
dies ein großer Garten mit vielen Obstbäumen. Und das Haus ist sehr ansehn¬
lich, solide gebaut und geräumig und wirft schon für sich allein eine hübsche
Summe ab.
Das Haus bringt Geld ein? Wie soll ich das verstehn?
Es ist ein alter Gasthof mit Ausspannung für zwanzig Pferde, Viehställen,
Kellerhaus —
Henri — ein Gasthof? Gütiger Himmel, habe ich recht verstanden: ein
Gasthof?
Und zwar ein höchst vornehmer. Drei große Säle mit Aussicht auf den Rhein,
achtzehn Logierzimmer.
Was sollen wir denn mit den drei Sälen und den achtzehn Logierzimmern
anfangen?
Dasselbe, was der bisherige Besitzer damit angefangen hat.
Du gedenkst also, die Gastwirtschaft fortzusetzen?
Selbstverständlich! Darin liegt doch eben der Wert des ganzen Anwesens-
Bedenken Sie nur: ein alter, angesehener Gasthof an der Heerstraße! Achtzehn
Logicrzimmer — Stallung für zwanzig Pferde!
Marigny, der den kleinen Cicade auf dem Schoße gehabt hatte, erhob sich,
setzte das Kind auf den Boden und wanderte mit verschränkten Armen auf und
nieder.
Was sagst du zu dem Einfalle deines Mannes? wandte er sich an Mnrgnerite.
Ich muß erst wissen, wo das Gut liegt, erwiderte diese.
Sag nur ruhig, wo die Schenke liegt, bemerkte der alte Herr mit grimmigem
Lachen.
Andernach gegenüber, erklärte Henri. Der Ort heißt Leutesdorf.
Wohl kurkölnisch?
Nein, Lentesdorf gehört zu einer kurtrierischen Enklave zwischeu Kurköln und
der untern Grafschaft Wied. Der Rotwein, der dort wachst, ist vortrefflich.
Das beruhigt mich außerordentlich. Es würde mir nämlich höchst fatal sein,
hinter dem Schenktische stehn und hören zu müssen, wie die Bauern über den
Wein schimpfen.
Wie Sie nur reden, lieber Vater! Als ob jemand daran dächte, Sie mit der
Verwaltung des Gasthofs zu behelligen! Übrigens Verkehren dort auch keine Bauern.
Der Gasthof ist uur für vornehme Reisende. Den Wirt werde ich schon machen.
Und wenn Marguerite sich ein wenig um die Küche und das Gesinde kümmern
wird —
Um die Küche? fragte der alte Herr Plötzlich mit unverkennbarem Interesse.
Ist sie geräumig?
Mehr als geräumig. Man könnte sie beinahe als einen vierten Saal be¬
trachten.
Das läßt sich hören. In allzu kleinen Küchen verdirbt gewöhnlich der Dunst
alle feinern Gerichte. Keller sind doch hoffentlich auch vorhanden?
Die allerbesten. Denken Sie nur: in einem lagen allein zwölf Stückfässer.
Nun ja, Weinkeller werden natürlich vorhanden sein. Ich meine jedoch, ob
auch ein trockner, luftiger und kühler Keller da ist, wo man Fleisch, Fische und
kalte Speisen aufbewahren könnte?
Ohne Zweifel. Andernfalls ließe sich dergleichen ohne Schwierigkeit ein¬
richten.
Und der Kaufpreis?
Ist sehr mäßig. Zwölftauseud rheinische Gulden. Der Besitzer ist alt und
will zu einer in Andernach verheirateten Tochter ziehn.
Du bist also mit dem Manne handelseinig geworden?
Das natürlich noch uicht. Ehe Sie und Marguerite das Gut gesehen haben,
kann von einem Abschlüsse des Geschäfts keine Rede sein.
Mnrigny war aus Fenster getreten und schonte auf die dunkle Gasse hinaus.
In seinem Innern kämpften die mannigfachsten Gefühle.
Kinder, sagte er endlich, indem er seine Wanderung durch das Gemach wieder
aufnahm, wenn ihr einmal darauf besteht, den Gasthof zu kaufen, so kann ich nichts
dagegen tun. Das Geld gehört Claude; ihr seid Claudes Eltern und habt die
Entscheidung zu treffen, wie das Geld angelegt werden soll. Aber tut mir den
Gefallen und laßt mich aus dem Spiele. Ich fürchte, ich habe keine Anlagen zum
Gastwirt. Ich glaube auch uicht, daß ein Marquis von Marigny jemals Wein
verzapft hat. Denn darauf läufts ja doch hinaus. Du, Henri, mit deiner ver¬
stümmelten Hand, du wirst mit dem Zapfkran nie und nimmer fertig werden, das
weiß ich im voraus. Und Marguerite wird mit dem Jungen und den Mägden
mehr als genug zu tun haben.
Ich wiederhole Ihnen, lieber Vater, daß ich gar nicht daran gedacht habe,
Ihre Hilfe in den Gasthofsangelegenhciten in Anspruch zu nehmen. Ich habe
Ihnen, um es gleich herauszusagen, eine ganz andre Rolle zugedacht.
Und welche wäre das?
Die eines Gastes. Sie bewohnen das beste Logierzimmer, erscheinen, wenn
es Ihnen beliebt, an der Wirtstafel und beschränken sich darauf, durch ihre bloße
Anwesenheit das Ansehen des Hauses zu erhalten und zu vermehren.
Der alte Aristokrat schwieg, aber er lächelte, und das war ein Anzeichen, daß
er den Vorschlag des Schwiegersohnes nicht so ohne weiteres von der Hand wies.
Du glaubst also, daß es für euch von Vorteil wäre, wenn ich mich mit
meiner Person und meinem Namen an dem Unternehmen beteiligen würde? fragte
er endlich.
Ich bin davon fest überzeugt, erwiderte Henri mit Feuer. Bedenken Sie nur,
was das sagen will, wenn die Leute sich erzählen: Bei Villeroi in Leutesdorf
wohnt der Marquis von Marigny, Und Sie werden wissen: wo Tauben sind,
fliegen Tauben zu.
Schon recht, schon recht! sagte der alte Herr, indem er an seinem Jabot
zupfte und die gerollten Schläfenlocken seiner Puderfrisur befühlte, als ob er schon
den Ehrenplatz an der Wirtstafel einnehmen wolle, aber ich weiß nicht, ob diese
Beschäftigung ausreichen wird, mich vor Langerweile zu schützen. Wenn ihr arbeitet,
so darf ich mich doch nicht damit begnügen, wie irgend eine kostbare Rarität euer
Heim zu schmücken und Leute anzulocken, die nachher damit prahlen, sie hätten
mit einem echten Marquis aus einer Terrine Suppe geschöpft.
Vielleicht finden Sie Zeit, lieber Vater, hin und wieder dem Koch einen
Wink zu geben und den Speisezettel zusammenzustellen, bemerkte Marguerite.
Seht, Kinder, das läßt sich schon eher hören! Dem Koch einen Wink geben!
Weiß der Himmel, daran werde ichs nicht fehlen lassen! Was tut man nicht für
seinen Enkel! Ein Dutzend Winke jeden Tag, Wenns sein muß? und wenn der
Mensch schwer von Begriff ist, so zeig ich ihm gleich, wies gemacht wird. Meint
ihr überhaupt, fügte er nachdenklich hinzu, daß ein Koch durchaus notwendig wäre?
Glaubt ihr nicht, es genügte, wenn man einen tüchtigen Küchenjungen und eine
saubere Magd nähme, die das Geschirrspülen und Gemüseputzen besorgen müßten?
Für das bißchen Kochen würde ich schließlich schon sorgen. Auf große Diners
werdet ihr euch wohl ohnehin nicht einlassen. Fünf, sechs Gänge, eine ordentliche
Suppe, ein Fischgericht, eine Pastete, ein Braten, ein wenig Geflügel, eine süße
Speise — mehr wird auch der verwöhnteste Reisende in einem Dorfgasthofe um
der Grenze der untern Grafschaft Wied kaum verlangen.
Wenn Sie sich wirklich der Mühe unterziehn würden, die Leitung und Über¬
wachung der Küche auf Ihre Schultern zu nehmen, so wäre mir eine große Sorge
abgenommen, sagte Villeroi, erfreut, daß der Marquis sich mit dem Gedanken des
Gasthofkaufs so bald schon vertraut zu machen begann.
Was meinst du, Marguerite, wandte sich der alte Herr an seine Tochter,
sollen wir nicht gleich morgen früh nach dem Orte — wie heißt er doch? — fahren
und uns unsre zukünftige Besitzung einmal ansehen?
Das Andernacher Postschiff fährt erst am Samstag wieder, bemerkte Henri,
und vorher wird kaum eine Reisegelegenheit zu finden sein.
Bis Samstag warten? Damit uns ein andrer zuvorkommt und uns den
schönen Gasthof vor der Nase wegschnappt? Nein, Henri, das wäre sträflicher
Leichtsinn. Bedenke doch nur: achtzehn Logierzimmer, drei Säle — nicht wahr,
du sprachst doch von drei Sälen? — und eine geräumige, luftige Küche! Wo
finden wir so etwas wieder? Und zu dem Preise? Nein, das dürfen wir uns
nicht entgehn lassen! Ich bestelle sogleich Extrapost. Morgen früh um fünf Uhr
reisen wir —
Schon um fünf, Vater? wagte die junge Frau einzuwenden.
Ist dir wohl zu zeitig? Gut, ich bestehe nicht darauf. Sagen wir also um
halb sechs!
Und wer soll beim Jungen bleiben? fragte Marguerite wieder.
Natürlich ich, sagte Henri. Ich habe mir alles genan angesehen und glaube,
ich kann mir eine zweite Besichtigung ersparen.
Nichts da! Dn mußt unbedingt mitfahren! entgegnete Marignh sehr bestimmt.
Wenn das Geschäft zum Abschluß gebracht werden soll, darfst du nicht fehlen.
Ja, aber Claude?
Den nehmen wir natürlich auch mit. Ich dächte, er hätte das meiste An¬
recht darauf, das Haus zu sehen, das sein Eigentum werden soll. Überdies wird
ihm die Spazierfahrt Vergnügen bereiten. Er hat ohnehin so wenig Zerstreuung.
Er ist aber auch erst fünfviertel Jahre alt, bemerkte Marguerite lächelnd.
^ut nichts' Man könnte ihn feinem Verstände nach für einen Burschen von
drei oder vier Jahren halten. Jedenfalls soll er mit. Ich. als der Großvater
habe auch ein Wörtchen mitzureden. . ^. .
Da man in der Tat nichts Stichhaltiges gegen Claudes Teilnahme an der
Landpartie vorzubringen wußte, setzte der Marquis seinen Willen durch und ent¬
schloß sich sogar, die Stunde der Abfahrt mit Rücksicht auf den Enkel von halb
sechs auf halb sieben zu verschieben.
Das hinderte ihn jedoch nicht, selbst schon vor sechs tadellos frisiert und ge¬
pudert zwischen der Weisergnsse und der Posthalteret auf und ab zu spazieren,
einmal, um durch sein Beispiel die Villeroischc Familie zur Beschleunigung der
Reisevorbereitungen anzuspornen, sodann aber mich, um sich die Gewißheit zu ver¬
schaffen, daß man mit dem Anschirren der PostPferde rechtzeitig beginne. Der gute
alte Herr! In seinem ganzen Leben war er nicht so ungeduldig gewesen wie heute!
Und als man in Andernach glücklich angelangt war und am Ufer vernahm,
daß die Fähre gerade auf der andern Rheinseite sei, wurde seine Geduld auf eine
neue Probe gestellt, die um so härter sein mußte, weil man das Hans, dem seine
Sehnsucht galt, jenseits des Stromes deutlich liegen sah. Es war ein köstlicher
Sommermorgen; der Rhein glitzerte im Lichte der Sonne, über den Schiefer-
Hängen der Uferberge flimmerte die durchglühte Luft, und wo der Blick sich tal¬
wärts in die Ferne verlor, grüßte der düstre Felskoloß des Hammersteius wie ein
trotziger Wächter dieser gesegneten Gebreite herüber. Aber für dieses Landschnfts-
bild hatte der alte Herr kein Auge. Er sah mir das Hans mit dem steilen Dache,
den kurzen Zwiebeltürmchen, der langen Fensterreihe und dem schmalen, schönver-
gitterten Balkon, das hinter Baumgruppen halb versteckt die Reisenden zur Ein¬
kehr zu laden schien.
Es sieht in der Tat recht vornehm aus. bemerkte Marigny. während er dnrch
das kleine Perspektiv im Knopfe seines spanischen Rohres hinüberschaute, zu Henri,
ich finde sogar, daß es in mancher Hinsicht an Aigremont erinnert, obgleich es
natürlich viel kleiner ist. Sieh nur, wie der Schornstein raucht! Ich glaube,
man ist schon mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt!
Das Fährboot kam vom andern Ufer herüber und legte an. Mnriguy, der
mit den Seinen sogleich eingestiegen war, fand es unbegreiflich, daß die Schiffer
nicht gleich wieder abfuhren, sondern im Schatten des Zollhnuscheus in aller Ruhe
ihr Frühstück verzehrten. Aber auch als sie damit fertig waren, machten sie noch
keine Anstalten, sich wieder an die Nuder zu setzen, sondern erklärten geradeheraus,
wegen dreier Passagiere führen sie nicht, und wenn nicht zum mindesten noch drei
weitere kämen, blieben sie bis zum Mittage liegen. Nun zahlte der Marquis das
Fährgeld für sechs Personen. Damit waren die Leute zufrieden, stießen vom Lande
ab, ruderten eine Strecke weit stromaufwärts und ließen den Nachen dann von der
Strömung hinübertreibeu. Als man die Mitte des Flusses erreicht hatte, wurden
auf einem Altane des Gasthvfgartens drei Böller gelöst.
Marigny zog das Schnupftuch und winkte.
Mau hat uns schon erwartet und sendet uns einen Willkomniengruß, sagte er,
strahlend vor Glück. Die Leute gefnlleu mir, sie wissen doch, mit wein sie zu tun haben!
Einen Angenblick später dröhnten von der Höhe des Kranenbergs ebenfalls
Schüsse ins Tal, und auf den Türmen der Anderuacher Pfarrkirche begannen die
Glocken ein wahres Jubelgeläut.
Nun wurde der alte Herr stutzig. Marguerite, wandte er sich an die Tochter,
die, den kleinen Claude auf dem Schoße, neben ihm saß, das ist ja gerade wie
damals, als wir den Winter in Paris verbracht hatten und zu Ostern wieder nach
Aigremont kamen! Entsinnst du dich noch? Da läuteten sie auch das Glöckchen
der Schloßkapelle. und Jacques ließ am Portale die Böller krachen, daß die Pferde
schen wurden und uns beinahe in den Weiher geworfen hätten.
Der Fährmann riß den glücklichen Passagier nur zu bald aus seinem schönen
Wahne.
Mainz hat kapituliert, sagte er, eben ist die Stafette durchgekommen. Nun
werden sie Wohl Frieden machen.
Und so betrat man unter Glockengeläut den Boden der neuen Heimat. Denn
daß der Gasthof gekauft werden würde, stand für die drei Beteiligten längst fest.
Der Kaufpreis war mäßig, das Wein- und Ackerland gut, die Gebäude schienen
im beste» Zustande, und die Küche, die in diesem Falle ja den Ausschlag gab,
übertraf sogar Marignys kühnste Hoffnungen. Und ehe die Sonne hinter dem
Krcmenberge zur Rüste ging, hatte Villeroi den Kaufakt unterzeichnet. Er blieb,
während die andern noch an demselben Abend nach Koblenz zurückführen, gleich in
seinem neuen Besitztum, um die mannigfachen Förmlichkeiten zu erfüllen, zu denen
er der Ortsbehörde gegenüber verpflichtet war. Am 1. September erfolgte dann
die Übersiedlung.
Die Friedenshoffnungen gingen nicht so bald in Erfüllung, der Kanonendonner
schien auf den Höhen des Hunsrückens und der Eifel nicht mehr verstummen zu
wollen, und auch die Stadt, die den königstreuen Franzosen solange Schutz und
Gastfreundschaft gewährt hatte, fiel in die Gewalt ihrer republikanischen Landsleute.
Aber die Kriegswirren, die Tausende und aber Tausende um Hab und Gut brachten,
sollten dem Hause mit dem steilen Dache und den Zwiebeltürmchen Segen bringen.
Seit der Verkehrsstrom von der linken Rheinseite und vom Flusse selbst auf das
rechte Ufer gedrängt worden war, wurden die achtzehn Lvgicrzimmer nicht mehr
leer. Heute kehrten preußische, morgen österreichische, hessische oder nassauische
Offiziere ein, bald kamen niederrheinische Kaufleute, die zur Frankfurter Messe
reisten, bald wohlhabende Flüchtlinge vom linken Ufer, die bei der ersten Nachricht
von der Annäherung des Feindes Hans und Hof im Stich gelassen hatten. Die
lauge Tafel im Speisesaal war stets besetzt, und bei den vortrefflichen Gaben des
Kellers und der Küche vergaß mancher für ein paar Stunden die Aufregung des
Tages und den Ernst der Zeit. Was aber das Seltsamste war: im Gasthofe des
Herrn von Villeroi herrschte ein Ton, der jeden vergessen machte, daß er in einer
Herberge sei, ein Ton, der die vornehmen Gäste wie ein Hauch aus dem eignen
Heim anmutete und die gewöhnlichern mit der gehobnen, beinahe weihevollen
Stimmung erfüllte, die den dentschen Bürger sonst nur auf dem Parkett eines
fürstlichen Hofes befällt. Und dieser aristokratische Hauch ging — darüber waren
sich alle Gäste, so verschiednen Gesellschaftsklassen sie auch angehören mochten,
einig — von dem alten Herrn aus, der das südliche Eckzimmer mit der schonen
Aussicht rheinaufwärts bewohnte und bei jeder Mahlzeit, sobald die Suppe serviert
worden war, sorgfältig frisiert und gepudert, gemessenen Schrittes in den Saal
trat und seinen angestammten Platz am Kopfende des Tisches mit einer leichten
Verbeugung gegen die Nachbarn zur Rechten und Linken einucihm. Er sprach
wenig und nur mit Auserlesenen, aber sein Appetit wirkte gewöhnlich ansteckend
auf die Tischgenossen, und sein Geschmack in Hinsicht auf die Weinkarte war für
alle andern maßgebend. Obgleich er wohlbeleibt war, schien er die Vorliebe starker
Leute für Ruhe und Bequemlichkeit nicht zu teilen: nach jedem Gange der Speisen¬
folge Pflegte er nufzustehn, um sich, wie er sagte, durch eine kleine Promenade
Appetit für die nächste Schüssel zu machen. Daß das Ziel dieser Promenade die
Küche war, wo es immer noch etwas anzuordnen gab, ahnte freilich niemand.
Die Gäste betrachteten ihn mit ehrerbietigen und teilnehmenden Blicken und munkelten
sich zu, der alte Herr habe am Hofe des verstorbnen Königs von Frankreich eine
hervorragende Rolle gespielt und durch die Revolution sein ganzes Vermögen bis
auf die Kleinigkeit von zwei oder drei Millionen Livres verloren. Und oft geschah
es, daß gegen das Ende der Tafel einzelne der Tischgenossen, vom Mitleid über-
waldige, eine Bouteille von demselben Weine bestellten, den der alte Royalist ge¬
rade trank, und an die Erlaubnis baten, mit ihm auf den endlichen Sieg der ge¬
rechten Sache anstoßen zu dürfen. Dann flössen gewöhnlich einige Tränen der
Rührung, da aber Tränen Salz enthalten, und Salz Durst verursacht, so blieb es
nicht bei der einen Bouteille, und Henri, der den Weinkeller unter sich hatte,
stellte dann draußen in selner dunkeln Klause mit Vergnügen fest, daß drinnen im
Speisesaal wieder einmal die gerechte Sache auf der Tagesordnung stehn müsse.
Trotz der Bemühungen der Gäste gelangte freilich das. was man die gerechte
Sache nannte, doch nicht zum Siege. Der jungen Republik waren Schwingen ge¬
wachsen, und zum Erstaunen der Welt bewies sie, daß sie diese Schwingen zu ge¬
brauchen verstand. Ihre ruhmreichen Trikoloren rauschten über den Reisfeldern
Italiens wie über den Sandwüsten Äghptens.
Wenn an der Wirtstafel zu Lcutesdorf der Name des Generals Bonaparte
genannt wurde — und das geschah immer häufiger —, Pflegte der alte, wohl¬
frisierte Herr, der am Hofe des letzten Königs von Frankreich eine so bedeutende
Rolle gespielt haben sollte, in tiefes°Schweigen zu versinken. Er glaubte es seiner
Vergangenheit schuldig zu sein, den Emporkömmling, der Miene machte, Alexander
und Cäsar den Feldherrnlorbeer zu entwinden, unbeachtet zu lassen. Aber tief im
innersten Herzen fühlte der Royalist doch etwas wie Stolz und Genugtuung
darüber, daß der alte Ruhm des französischen Namens wieder aufzuleben begann.
Eines Tags, als Marigny in seinem Wohngemach am Fenster stand und auf
den Rhein hinausschaute, der mit Treibeis ging, trat Marguerite zu ihm, legte
ihre Hand auf seine Schulter und sagte: Vater, ich bringe eine frohe Botschaft.
Der erste Konsul will den Emigrierten die Hand zur Versöhnung reichen. Frank¬
reich steht uns wieder offen.
Nichts von Versöhnung! sagte der alte Edelmann schroff. Was kümmert uns
der erste Konsul! Wenn er der Mann ist, der zu sein er vorgibt, wenn er die
Rebellion verabscheut und der Ordnung zum Siege verhelfen will, so mag er die
Gewalt in die Hände Ludwigs des Achtzehnter legen. Und mit weicherer Stimme
fügte er hinzu: Frankreich wird uns auch ferner verschlossen bleiben. Aber was
tuts? Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Weil wir nicht ins Vaterland
zurückkehren durften, ist das Vaterland zu uns gekommen.
Er öffnete das Fenster und wies nach den Türmen von Andernach hinüber,
auf denen gerade der Sonntag eingeläutet wurde. Hörst du den Klang? fragte
er. Das sind die Glocken französischer Kirchen!
Und seitdem fand man ihn oft, wie er verklärten Blickes nach den Bergen
seines großen Vaterlands hinüberschaute. Die Erfüllung seiner stillen Hoffnungen,
daß der Bruder Ludwigs des Sechzehnten den Thron seines Vorfahren wieder
einnehmen möchte, erlebte der Marquis freilich nicht mehr. Dafür blieb ihm aber
auch der Schmerz erspart, das Vaterland, das ihm so nahe gekommen war, wieder
vom Rheine zurückweichen zu sehen. An häuslichen Freuden fehlte es dem alten
Edelmanns nicht. Er sah den geliebten Enkel zu einem frischen Jüngling heran¬
wachsen und an der Seite des Knaben ein zierliches Schwesterchen erblühen, das
auf den Großvater große Stücke hielt und sich mit unfehlbarer Sicherheit in der
Küche einfnnd, wenn es wußte, daß der alte Herr die Zubereitung einer süßen
Schüssel „überwachte." Diese Vorliebe für die Küche war aber auch das Einzige,
was die kleine Henriette von den Marignys hatte. In allen übrigen Punkten
war sie eine echte Villeroi. Vielleicht floß in ihren Adern sogar ein Tröpfchen
demokratischen Blutes, denn sie heiratete später, bevor Eltern und Bruder nach der
Restauration wieder in die alte Heimat zogen, einen Landsmann mit dem bürger¬
lichen Namen Delveaux, der den Gasthof übernahm und mit Erfolg weiterführte.
Das alte vornehme Haus mit dem steilen Dache und den schmucken Türmchen
steht heute noch. Den Rheinreisenden ist es wohlbekannt, und mancher Wandrer hat
sich in den geräumigen Sälen mit den altertümlichen Ledertapeten an Speise und
Trank nicht minder gelabt als an der köstlichen Aussicht auf den Kranenberg und
die malerischen Dächer und Türme von Andernach.
Stieg aber ein besonders hochstehender Gast ab, den man in außergewöhn¬
licher Weise zu bewirten gesonnen war, etwa ein regierender Fürst oder ein hoher
geistlicher Herr, dann suchte der jeweilige Besitzer aus einem wohlverschlossenen
Wandschrank den alten Lederhaut hervor, der die erprobten Rezepte des großen
Kochkünstlers enthielt, blätterte darin und sagte zum Küchenchef: Als ersten Gang
nach der Suppe nehmen wir Salmi von Enten u, Ja Marigny!
Für die in Nummer 23 der Grenzboten in dem
Artikel „Kartelle oder Monopole" ausgesprochnen Ansichten ist von Interesse, was
der im Juni erschienene Jahresbericht der Handelskammer in Duisburg über die
Praxis der Syndikate bei Gewährung vou Ausfuhrvergütungen sagt:
„Die Ausfuhr von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Walzprodnkten der Eisen¬
industrie hat vielfach die Ausfuhrtätigkeit derjenige» Industriezweige erheblich beein¬
trächtigt, die sich die Weiterverarbeitung dieser Stoffe zur Aufgabe gemacht haben.
Die großen deutschen Hüttenwerke haben die genannten Materialien zu sehr niedrigen
Preisen an das Ausland verkauft, während die Preise für die gleichen Materialien
im Inland verhältnismäßig hoch gehalten wurden. Die Spannung zwischen den
Julandpreisen und den Auslandpreisen war zuweilen so groß, daß die ausländischen
Fabrikanten in ihrer Wettbewerbsfähigkeit den deutschen weit überlegen waren. Die
Syndikate haben zwar durch Gewährung von Ausfnhrvergütungen die Spannung
zum Teil zu beseitigen gesucht, indessen waren die Ausfnhrvergütnngen doch nicht
genügend hoch, und sie erstreckten sich auch nur ans den Teil der verarbeiteten
Materialien, der syndiziert war. Ein durchschlagender Erfolg konnte deshalb mit
der wohlgemeinten Gewährung von Ausfuhrvergütungen nicht erzielt werden, und
die notwendige Folge dieser Mißstände ist gewesen, daß die konkurrierende aus¬
ländische Industrie erheblichen Nutzen daraus zog und ganz erheblich gestärkt wurde
zum dauernden Schaden unsrer einheimischen Industrie. Solche» Vorgängen kann
nur dadurch vorgebeugt werden, daß von den Syndikaten an die inländische Industrie
grundsätzlich ebenfalls zu Ausfuhrpreisen verkauft wird, wenn der Rohstoff oder das
Halbfabrikat nachweislich für die Ausfuhr weitcrverarbcitet wird. Dieser Nachweis
kann immer geführt werden, wenn auch im einzelnen Falle gewisse Schwierigkeiten
zu überwinden sind. Es ist unsers Erachtens nicht notwendig, die Gewährung der
Ausfuhrpreise an die Bedingung zu knüpfen, daß der Industriezweig in einem
Verbände zusammengeschlossen sei; denn der Nachweis der Ausfuhr kann anch von
einem einzelnen stehenden Werke erbracht werden. Andrerseits sind für einzelne
Industrien die Schwierigkeiten der Verbandsbildung, z. B. im Brückenbau, derartig
groß, daß kaum die Aussicht besteht, daß es zu einer Verbandsbildung kommen
wird. Gerade weil wir Freunde der Syndikate sind, glauben wir verpflichtet zu
sein, auf solche Mißstände hinzuweisen, um auf eine Abhilfe bei deu Syndikats-
leitnngen einzuwirken. Wir hegen das Vertrauen zu der Einsicht der Geschäftsleitung
der Syndikate, daß sie den gerechtfertigten Forderungen der weiter verarbeitenden
Industrien Rechnung tragen und demgemäß auch an diese beim Nachweise der Aus¬
fuhr zu Ausfuhrpreisen verkaufen werde. Eine solche Regelung liegt im nationalen
wirtschaftlichen Interesse, nicht minder aber auch im dauernden Interesse der In¬
dustrie», die in den drei genannten Syndikaten vereinigt sind. Selbst wenn die
Marktlage im Inlande günstig ist und der Wunsch zur Ausfuhr zurücktritt, muß
der inländischen Industrie die Möglichkeit gegeben sein, ein den für die Ausfuhr
geltenden Weltmarktpreisen der in Verbänden vereinigten oder der syndizierten
Industrie teilzunehmen, damit sie wenigstens aus diesen Gründen kein Hindernis
findet, die Beziehungen mit dem Auslande aufrecht zu erhalten,"
Die Duisburger Handelskammer bestätigt damit, was schon in den Grenzboten
als großer Nachteil der Kartelle gerügt worden ist. Der von der Handelskammer
borgeschlagne Weg, diese Nachteile auszugleichen dadurch, daß eine Ausfuhrvergütung
auch auf fertige Fabrikate von dem Syndikat, das zu diesen Rohmaterial oder
Halbfabrikat liefert, gezahlt werden möge, ist denn doch sehr umständlich und erlaubt
keine festen Berechnungen, auf die es beim Abschluß von Lieferungsverträgen an¬
kommt. Man kann auch nicht einsehen, weshalb denn die fertigen Fabrikate im
Inlande teurer bezahlt werden sollen, als sie nach dem Auslande geliefert werdeu.
Sehr häufig dienen Kessel, Maschinen, Werkzeuge und dergleichen doch wieder zur
Herstellung von Exportartikeln. Eine inländische Fabrik aber, die ihre Kessel,
Maschinen usw. teurer bezahle» muß als die ausländische, ist dieser gegenüber un¬
günstig gestellt. Oder soll etwa auch eine Ansfuhrvergütung erfolgen für den Fall,
daß die aus dem Rohmaterial oder Halbfabrikat hergestellten feinern fertigen
Fabrikate, z. B. Maschinen, nicht zum Export dienen, sondern erst die mit diesen
hergestellten Waren? In der Praxis würde es zu unerträglichen Zuständen führen,
wenn erst alle diese Nachweise geführt werden sollten. Rohmaterialien und Halb¬
fabrikate sollten überhaupt nicht oder nnr in ganz besondern Fällen nach dem
Auslande zu Vorzugspreisen geliefert werden, keinesfalls aber, wenn solche dazu
dienen klenner, unsrer Feinindustrie auf dem Weltmarkte Konkurrenz zu machen.
Im andern Falle würde doch das Kartell die Wirkung eines Zolls haben.
Die gerügten Mißstände werden aufhören, wenn solche Vereinigungen nach
nationalen, wirtschaftlich gesunden Grundsätzen geleitet werden. Das aber ist nur
möglich, wenn nicht die Industriellen allein die Preise feststellen, sondern wenn
auch der Staat oder eine das Interesse der Allgemeinheit vertretende Kommission
ein gewichtiges Wort bei Normierung der Preise mitzureden hat.
Schon in dem ersten Artikel ist gesagt worden, daß in den. Zusammenfassen
einer Industrie in eine Verwaltung außerordentliche Vorteile liegen können: Übersicht
des Konsums, infolgedessen Vermeidung von Überproduktion, Ausschluß jeder unter¬
bietenden Konkurrenz bis auf die auf dem Weltmärkte. Schließung unrentabler
Werke. Ausnutzung guter Erfindungen nicht nur tu einem Werke, sondern in allen
Werken einer Industrie, die Möglichkeit, auch eine teure und die solideste Einrichtung
zu treffen im Vertrauen auf dauernde Verhältnisse. Fügen wir noch hinzu, daß
eine in großen Zügen geleitete Industrie imstnude wäre, eigue Versuchswerke ein¬
zuführen, deren Ergebnisse der Allgemeinheit zugute kommen würden. Alle diese
Vorteile würden aber erst dann sicher eintreten, wenn diese Vereinigungen nicht den
Charakter von Kartellen, sondern von Monopolen hätten, weil ein Syndikat oder ein
Kartell, wenn es eine Fabrikation wieder rentabel gemacht hat, häufig Anlaß gibt,
daß neue Werke entstehen, die, unabhängig von den beschränkenden Bestimmungen des
Kartells, diesem gefährliche Konkurrenz machen, und wie wir es gesehen haben, sehr oft
dee Auflösung des Kartells notwendig machen. lZementkartell.) Ein solches Monopol
durfte jedoch uicht ein Finauzmonopol sein, dessen Überschüsse in den Staatssäckel
Mßen, sondern alle Überschüsse sollten wieder zum Nutzen der Industrie, zur Ver-
billigung der Fabrikate, zur Herstellung der besten Einrichtungen usw. verwandt werden.
Es wurde gleich das Bedenken ausgesprochen, daß sich Monopole keiner Beliebtheit
erfreue». Monopole beschränken ja die wirtschaftliche Freiheit, aber das tuu Kartelle
auch, oder sie versagen die erwartete Wirkung, wenn außerhalb des Ringes neue
Werke entstehen.
Es läßt sich aber vielleicht eine Form finden für industrielle Vereinigungen,
die, ohne Monopol zu sein, doch dessen gute und wichtigste Eigenschaften zur
Geltung bringt.
Untersuchen Wir zunächst, auf welche Weise eine Industrie in ein Monopol
umgewandelt werden könnte. Um sämtliche Werke einer Industrie in Staatsbetrieb
zu nehmen, müßte eine Abschätzung der einzelnen Werke vorgenommen werden.
Nehmen wir an, daß nach humanen Grundsätzen verfahren würde, indem man
nach dem Buchwerte oder nach dem Kursstande der letzten fünf bis zehn Jahre
angemessene Preise bewilligte und den Besitzern dafür Staatspapiere anshäudigte.
Besitzer oder Leiter, Beamte und Arbeiter bleiben in ihrer Beschäftigung, soweit
nicht etwa unrentable Werke geschlossen werden. Die Besitzer und die Angestellten
der Werke müßten entschädigt oder anderweitig verwandt werden. Der Staat würde
ja damit eine große Schuldenlast auf sich nehmen, die sich jedoch, wenn die Werke
nicht zu unvernünftigen Werten übernommen würden, gut verzinsen würde. Immerhin
würde eine solche Umwandlung tief einschneiden.
Weniger durchgreifen und wirtschaftlich doch ähnliche Erfolge ergeben würde
ein andrer Weg. Sämtliche Werke einer Branche werden nach ihrem Werte und
ihrer Leistungsfähigkeit abgeschätzt und uuter eine Leitung gestellt. Diese Leitung
müßte bestehen aus Industriellen, die von den Beteiligten duzn gewählt werden,
und aus den von der Regierung gewählten Mitgliedern, die den verschiedensten
Berufszweigen entnommen werden müßten, ähnlich wie sich solche im Eisenbahuratc
finden, der bei der Feststellung der Eiseubnhufrachttarife gehört wird. Die Leitung,
nennen wir sie Jndnstrierat, schätzt die Werte ein nach ihrem Werte, verteilt nach
ihrer Leistungsfähigkeit die Liefcrungsquoten, kann Werke schließen unter Entschädigung
und kaun neue Werke konzessionieren, hat aber insofern monopolartige Macht, als
ohne seine Bewilligung neue Werke nicht entstehen können. Man kann annehmen,
daß nnter der Leitung von Interessenten und sachverständigen, unbeteiligten Männern
uuter Wahrung der Interessen der Werkbesitzer nach nationalen und wirtschaftlich
gesunden Grundsätzen gehandelt würde, und Klagen, wie sie so vielfach über das
Gebaren der Kartelle laut werden, gegenstandslos würden. nötigenfalls kann sich
die Regierung Kontrolle und den Vorsitz in der Leitung sichern, sie kaun dies
beanspruchen als Gegenleistung für die Erteilung des monopolartigen Charakters
der Vereinigung. Eine solche Organisation konnte sich ohne große finanzielle
Operationen vollziehen; sie weicht nicht so sehr ab von der unsern Industriellen
schon geläufig gewordnen Kartellbildung, vereinigt aber in sich alle Vorteile, die
von den jetzigen Ningbildungen meist vergeblich erhofft werden, und schließt eine der
Allgemeinheit verderbliche Geschäftspolitik aus. Allerdings verstößt ein solches
mvnvpolartiges Kartell gegen die beliebte Gewerbefreiheit, aber auch die heutigen
Kartelle beschränken die Freiheit der Gewerbtreibenden bedeutend.
Es wurde schon im Juniheft Ur. 23 gesagt, daß uns die Amerikaner in der
Trustbildung voraus sind. Wenn sich diese Bewegung nun auf dem Weltmärkte noch
nicht in dem erwarteten Maße fühlbar gemacht hat, z. B. beim Schiffahrts- und
Steeltrust, so liegt das hauptsächlich daran, daß die übernommnen Werke und Ge¬
sellschaften ganz bedeutend überkapitalisiert sind, auch kommt hinzu, z. B. beim
Steeltrust, der, nebenbei gesagt, mit einem Kapital von mehr als fünf Milliarden
Mark arbeitet, daß die Fabrikation durch Streiken der Hartkohlennrbeiter monatelang
gelähmt war. Beim Schiffahrtstrnst, der ja gegenwärtig an Überkapitalisiernng zu¬
grunde zu gehn scheint, hatten sich glücklicherweise unsre hanseatischen Gesellschaften,
die Hamburg-Amerikalinie und der norddeutsche Llohd, kräftig zu wehren gewnßt-
Ob uns aber nicht andre amerikanische Trusts in der Konkurrenz auf dem Welt¬
markte nötigen werdeu, wenn wir die höchste Leistungsfähigkeit erreichen und der
Konkurrenz wirksam entgegentreten wollen, zu solchen monopolartigen Vereinigungen
überzugehn, ist doch die Frage.
Nicht zu unterschätzen würden auch die Folgen auf sozialem Gebiete sein, die
solche monopolartige Industrien hervorrufen würden. Beamte und Arbeiter können
in Betrieben, die nach menschlicher Berechnung eine dauernd Nutzen bringende Existenz
haben, viel besser gestellt werden, als in Werken, deren Rentabilität durch Schranken-
lose Konkurrenz immer Wieder in Frage gestellt ist. Die Füyorge für alle Be¬
teiligten wird bei fortschreitender Entwickln»«, monopolartiger Gewerbe ein sehr
günstiges Feld finden. Auch von diesem Standpunkt ans, und zwar nicht zum
wenigsten, ist den Vergesellschaftungen mit monopolartigem Charakter das Wort
Zu reden gegenüber Kartellen oder Syndikaten, deren Vestehn jederzeit wieder
Die Archäologische Kommission der Stadt¬
gemeinde Rom hat an die Rückwand eines kleinen Hofes der ersten Etage des
Konservatorenpalastes ans dem Kapitol die wichtigsten Bruchstücke des alten mar¬
mornen Stadtplans, der zur Zeit des Kaisers Septimius Severus und seines
Sohnes Antoninus die Hintere Seite der spätern Kirche S. S. Cosma e Daminno
geschmückt hat, nen anbringen lassen. Begrenzt ist die Zeit der Entstehung durch ein
Fragment mit dem Umriß des Septizoniums, das im Jahre 203 erbaut wurde, und
durch das Todesjahr des Kaisers. 211 n. Chr. Ursprünglich war der Plan ans
140 Tafeln zusammengesetzt, die eine Oberfläche von 269 Quadratmetern einnahmen;
im Laufe der Zeit sind 1049 größere und kleinere Stücke wieder gefunden worden.
Von einer gewaltsamen Zerstörung ist nichts bekannt, die Platten werden sich gelöst
haben und werden dann herabgestürzt sein. Um die Mitte des sechzehnten Jahr¬
hunderts fand man die ersten Überreste, die zuerst in den Farnesepalast wanderten!
ein kleiner Teil davon fand später eine Ruhestätte an den Treppenwänden des kapi¬
tolinischen Museums, während die meisten Stücke in eine Stallmaner verbaut wurden.
aus der sie vor einigen Jahren entfernt worden sind. Erst dreihundert Jahre
nach dem ersten Fund ergab eine Ausgrabung weitere Stücke, zu denen sich andre
bei der jetzigen großen Umwälzung des Forum Romanum gesellt haben. Um der
Eröffnung des internationalen historischen Kongresses eine besondre Würde zu ver¬
leihen, wurde die Archäologische Kommission beauftragt, das ehrwürdige Denkmal
möglichst übersichtlich aufzustellen. Zu dem Zwecke brach man die eingemauerten
Stücke los, vereinigte sie mit den übrigen und studierte eifrig das Zusammen¬
gehörige.
Dabei hat sich herausgestellt, daß einige Stücke, auch auf der Rückseite geglättet,
Spuren el»es ältern, farbig ausgemalten, nicht eingegrabnen Planes ausweisen; daß
die Platten überhaupt von verschiedner Stärke waren, die zwischen einem Minimum
von 45 und einem Maximum von 105 Millimetern schwankt; ferner, daß ver-
schiedne Hände bei der Anfertigung beschäftigt waren, ist lange bekannt; die Um¬
risse der Bauten und die Nnmensbezeichnungen zeigen sehr sorgfältige, aber anch
ungemein nachlässige, flüchtige Arbeit. — Wenn wir nun, wie angenommen wird,
kaum den fünfzehnten Teil des Ursprünglichen haben, der sich auch noch in 1049
Fragmenten präsentiert, die Kommission in der kurzen Zeit von 36 Tagen schon
bekannte Wiederzusammensetznngen kontrollieren, die früher mehr oder minder
genanen Ersetzungen nach Zeichnungen der ans dem Farnesepalast verloren ge-
gnngnen prüfen und obendrein ihr Augenmerk auf neue Ergänzungen richten konnte,
so muß man anerkennen, daß sie eine wahre tour as tores verrichtet hat! Da¬
für bestand sie auch ans den gewiegtesten Fachleuten, den Professoren Laneiani,
Galli, Tommassetti und Maruechi, denen unser Professor Christian Hülsen, der
zweite Sekretär des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, mit un¬
ermüdlichem Eifer zur Seite stand. Und nnn haben wir das prächtige Resultat
der topographischen Wissenschaft vor Augen.
Ans einer Fläche, die eine Kleinigkeit schmäler ist. als das Original sie
aufwies, steht in ernsten, großen Linien hingeworfen der Grundriß der Sieben¬
hügelstadt; man vermeint, sich in ihr bewegen zu können, so klar sind die Ver¬
bindungswege, die sie dnrchziehn. wiedergegeben. Das einzig farbige ist der Tiber-
strvm, der die Stadt von der vierzehnten Region, Trans Tiberim, trennt. Und
auf diese blendende Fläche sind nun die zusammenfngbaren Stücke der Forma Urbis
ausgesetzt, eine geringe Zahl, kaum 167 von den 1049 erhaltnen. Die übrigen,
obgleich sie viel des Interessanten aufweisen, werden hoffentlich auch noch mit der
Zeit bestimmbar werden. Am besten erscheint das Marsfeld. Mit den hier an¬
gebrachten Fragmenten kann man einen großen Teil davon rekonstruieren. Das
große Stück mit den Saepta Julia, das fast den ganzen Platz vom Palazzo Venezia
bis zum Neptnntempel, der heutigen Börse, einnimmt und über den Corso hinüber
Bauten aufweist, die bis an den Fuß des Quirinalberges führen, schließt sich nach
der Rückseite an einen in den letzten Tagen aus vielen Fragmenten zusammen¬
gesetzten, uns früher ganz unbekannten Bau. Es ist das in den Konstantinischen
Rcgionsberichten erwähnte Divorum, ein dreiseitiger Säulengang mit Baumanlagen
und an der offnen Seite mit zwei kleinen davorliegenden Tempeln. Zu der An¬
lage führt ein Triumphbogen. Hülsen sieht hierin den von Domitian erbauten
Porticus Divorum Actes Vespasinni et Titi, die der Kaiser seinem Geschlechte ge¬
weiht hat. Daran schließt sich ein großes Wasserspiel, das Lavaerum, zu dem der
bronzene Pinienapfel im Vatikan gehört haben mag, und weitere Stücke zeigen das
Serapeum, also eine Reihe von Gebäuden, die von der Kirche del Gehn bis zur
Sta. Maria sopra Minerva reichten. Ein andres Bruchstück mit N — KR kann
man als zum Balneum Agrippae gehörend ansehen, und damit lassen sich die großen
Anlagen des Schwiegersohnes des Augustus hinter dem Pantheon bestimmen. Die
Überreste der Hundertsänlenhcille und das Theater des Pompejus reiche» bis zum
Campo ti Fiori; im alten Ghetto folgen auf das Theatrum Bailu die Hallen des
Philippus und der Octavia mit Tempeln, die einerseits an den Cirkus Flaminins
stoßen, sonst aber die Tiberinsel und das Mnrcellustheater in nächster Nahe haben.
Damit sind wir am Fuß des kapitolinischen Hügels angelangt.
Eine andre sichere Reihenfolge geht vom Septizonium aus, schließt sich um den
Cirkus Maximus, gibt die großen jetzt aufgefundnen Lagerräume der Horrea
Germanieiana zwischen dem Clivns Tuscus und dem Clivus Victoriae auf halber
Höhe des Palatin, vom Forum Romanum den Satnrnustcmpel, die Basilica Julia,
das Castor- und Polluxheiligtum, sowie das der Jutnrna und gegenüber einen Teil
des Friedcnstempels und des Nerva-Forums.
Die große Anlage des Templum Clnudii verdanken wir auch den neuesten
Zusammenstellungen, wie man auch für das Colosseum die Ringmauern gefunden
hat; damit sind wir in der Nähe der Trajansthermen und des Porticus Liviae
bei Sta. Maria Maggiore. Unsre Kenntnisse der alten Stadt sind freilich be¬
deutend größer, als die Überreste des Planes uns lehren, und doch hat wiederum
das Divorumfragment erwiesen, von welcher Wichtigkeit es für die Erkenntnis von
Einzelheiten und die Benennung der Lage von Gebäuden sein kann, wie ja auch
schon verschiednemale wichtige topographische Fragen durch diese Fragmente entschieden
In dem kleinen Saale vor der Tribuna der Uffizieu,
der manches vorzügliche Quattrveentoporträt enthält, darunter das von seinem
Schüler Lorenzo da Credi gemalte Verroechios, hängt auch ein Jünglingsportrnt
mit der alten Bezeichnung Lionardo (Ur. 1157). Das Bild gilt aber unter Kennern
schon seit einer Reihe von Jahren nicht mehr als Lionardo. Morelli hat es mit
in den großen Topf getan, den er aus einer Reihe ihm verdächtiger, unter Lionardos
Namen gehender Bilder zusammengestellt und mit der Aufschrift Boltraffio ver¬
sehen hat; Schubring hat zwar diese Bezeichnung nicht acceptiert, meint aber doch
mich: später als Lionardo; Wölfslin erwähnt es nicht.
Zuerst ist von dem Bilde zu sagen, daß es ein Selbstporträt ist. Ja, so voll
sich selbst ins Gesicht gesehen, so senkrecht seine eignen, offnen, mit ruhiger Spannung
endigen Blicke mit all ihrem Jugendfrohsiuu und -freimut aus dem Spiegel heraus¬
geholt hat kaum ein andrer Maler der italienischen Renaissance wieder, geschweige
denn daß jemand den Kopf eines fremden zu porträtierenden Objekts mit so großer
Lebendigkeit bei völlig zentraler Richtung aufgefaßt hätte Unter berühmten Selbst-
Porträts lassen sich, was die äußere Auffassung nur des Kopfes anlangt °in ehesten
der Münchner Dürer, der Nürnberger junge Rembrandt und der Dresdner Mengs
vergleichen.
^^^^^^^^^^^^^genommeneKopf
mit Mütze, sehr eng umrahmt und ziemlich dicht unter dem Halse abgeschnitten - an
ein Mitsprecheulassen der Hände ist noch nicht vou ferne gedacht, auf dein Hinter¬
grund ist nur ein dunkler Streifen abgesetzt erlaubt nicht, an die beiden letzten
Jahrzehnte des Quattrocento zu denken. Das Cinquecento ist bei der 5°"-primi¬
tiven, nicht gewollt einfachen Anlage erst recht ausgeschlossen. Der Halsabfchluß
der Tracht ist genau so wie bei Pieros della Franzesca Herzog von Urbino und
den Jünglingsporträts Antonellos da Messina von etwa 1470. Auch das eingangs
erwähnte Verroechiobildnis zeigt thu uoch so. doch dürfte diese Arbeit Lorenzvs mit
dem Fensterausblick in die Landschaft und Vor allen Dingen den angegebnen
Händen erst um 1480 entstanden sein (auch das dargestellte Alter Verroechios
fordert eine solche Umsetzung), während wir unser Jünglingsporträt nach allem bis¬
her beobachteten nur wenig nach 1470 datieren möchten.
Dem scheint nun allerdings der modernere weiche Flaum der HautmodelUerung
und die vorzügliche Haarbehandluug zu widersprechen. Oder konnte das damals
schon jemand so? Ich weiß nur einen: derselbe, der um 1470 als Geselle
Verrocchios ans dessen Taufe Christi den gewcmdhaltendeu knieenden Engel mit fo
einer entzückend weichen Lichtmodellterung auf Haut und Haar malte, daß die
Hauptfiguren seines Meisters daneben wie Ölgötzen aussähe». Wir haben em
Selbstbildnis des jungen Lionardo vor uns. Die Züge sind ja dieselben wie auf
dem mit Rödel gezeichneten Turiner Greisenkopf/') Vor allen Dingen der Mund
mit der derb nach auswärts gekehrten einzig charakteristischen Unterlippe. Dann
die ganzen Verhältnisse des Kopfes und die namentlich im untern Teil eigentümliche, in
ihrer Flügelung ein wenig an den semitischen Typus erinnernde Nase. Auch die
schönen Augenovale des Jünglings läßt der alte Kopf noch wiedererkennen. End¬
lich der herrliche Reichtum langen Haares, den der junge Bursche, dessen Hand
ebenso gern die Laute wie den Pinsel rührte, hinter die Ohren zurückgenommen
hat, während es bei dem Alten breit und offen wenigstens noch von den Seiten
des Schädels herabwallt, am Gesicht in den Patriarchenbart übergehend.
Steckt nicht ungewöhnliche Kühnheit, Offenheit, Fähigkeit, Kraft in dem
Antlitz dieses Jünglingsbildes? Es sagt: Was kostet die Welt? ich kaufe sie mir!
Im Jahre 1472 wurde der zwanzigjährige Lionardo da Vinci in das Rotbuch
der Florentiner Malerzunft eingetragen; damals wird er das Bild von sich gemalt
haben. Die Frage, ob das Florentiner Exemplar die Originalarbeit von Lionardos
Hand ist, soll dabei gar nicht berührt werden; nur daß dieses Bild als Bild,
gleichviel ob Original oder Kopie, ein Selbstporträt des jungen Lionardo sein muß
sollt
R. to.
^u Anfang des Nonats
liabon in ?otorsknrg <tlo VorboLprooliunMn ismLodon ävutsokon und. russisokon
Staatsmäunorn ubor viror uvuvu ÄvutsoK-russisoKon IIan.ÄolsvvrtraA doZonnvu. Weit
üdor üio Kromson avr boiävn unmittvlbar botoiligten RvioKs Kiuaus sivä alio sivili-
siortvn, an Zor 'UoltvirtsoKaK wtervssiorton Völlror mit gutem Drund gespannt auk
«Ion ^usWng ävs Äamit bogonnonvn VorsuoKs, alö «u ^.ntaug ,1er nvuniiigor.lakre
Inszenierte vuwMisvnv HaMolsvortragspoMK otro Dntvrl>nzoliung autrookt zu er-
Kalten unÄ vomöglivk i-um Dodoilien Xllvr ivoitvr auMubauou. Damals war der
deutsek-russiseke Handelsvertrag der LeKluLstein des neuen Lauch, dessen Rin-
svKUNF erst nack sekarton ^oMämpkon gelang. ^etzt Nlaelion die Vorverhandlungen
mit Rullland den Anfang. Me vollvm Reelle wurde es damals als ein sekönvr
'1'riumxK der dontselien j?ylitik und als ein opovkomaokvnclos l^roignis Kezelelmet,
das zum erstenmal Rußland mit seiner Tradition, fiel zollpolitisoli niemals zu binden,
draoli. und fiel der DandölsvertragspnlitiK Europas aut>e<iueintv. Die unorkörtvn
Lelnnäliungen, die die Degner der Ilandelsvertragsnelitili in Doutseldand seitdem
gerade ant den deutsek-russiseken l'I an dets vortrag «u Kanton nickte müclo wurden,
Kabon die verlmndeton ltegierungon, <Zoll sei Dank, nickte davon al>gel>alton, Mut
<tlo Rortsetzung dieser l'olitik ihn vorsuellon, und sie werden es nioinals vernuigen,
die Kote Anerkennung DvMn «u straldn, die von borutonstsr Ltollo den Ktaatsniiinnvrn
von damals gesollt our<1v. Ilolientlieli täusekon wir uns luvte, wenn wir glauben,
dan die /^aKI der unversöknlieken (Zegner der tlandeIsvortiAgspolitiI<, aucti des
Handelsvertrags mit RuKland, im Deutseken Reielle seit .lalir und 'Pag l>eträelltboli
zllsanlnlengesekmolzon ist. Die gehässigen ^Vngrille, die einige prokorgano — die
leider iliren Kritiklosen KesorKreiso vorreden, claü sie damit pismarekiseke Politik
treiben — selon jot^t gegen einzelne der zu den Petersburger Vorverliandlungen
entsandten Staatsmänner zu riellton für geseilinaekvoll Kanon. verdienen Keine einst-
Kältere IleaeKtung, und linden sie auel nickt, wexlor bei den ^ngegrillnen selbst,
mock l)el iliren vV.uni'aggeI>ern, mock bei der russiseken Regierung, traurig genug
kreiliell ist es, dalZ gerade die sich im besondern Kinne staatserkaltend nennenden
Parteion nickt so weit Herr ilirer Presse sind, dall solelio taktlose VorsueKo, dem
deutschen Volk von vornkerein das Vertrauen zu den Petersburger und den
Ilanllelsvertragsverliandlungon ülivrliaupt zu rauben, wenigstens von dieser Leite
unterbleiben.
Nan sollte dieses lZrunnenvergikton endliek den Loziald<>.mol<raten ni>orlasse».
praktisek viel gvialirlieker und zugleich! hour töriekt ist es, dalZ es hielt die in der
deutseken Presse stark vertrotne ^reilümdolsorlliodoxio auel ^jetzt angesiellts >ter
Petersburger Ronkorenz liielit vorsagt, die Russen in dein WaKno zu bestiirkcüi,
DeutseKland müsse, wenn es leben wolle, oder dock der liekon I>'reiKandelsdoKtorin
wogen seine (Grenzen der pünlukr aus liuLland sperrangelvv<in situm und dann
warton und Kelten, dall fiel auel Ruinart zum l?roii,,anbot bekedron werde. Dio
Deute, dio Kinder diesen Doktrinären stodn, sind, wunderbar genug, zun, groLon
teil Xautlouto, I'raKtilcer im Ilanilel, die genau wissen, dan sie mit diesem Dnsinn
dem Deutseken RoieKe das tieseliält nur verderl>on Können. Rönnen sie nielit jotut
endliek den Uund Kalten? Vorn ibro Rommis in ikrom eignen (ZseseKälto soleka
Dummlieiten maeliten, sie würden sie Ins MrrenKaus seliielcon. IlolsentlieK ist dio
russiselw Regierung mit den ^aliren ldug und übor Doutselllaiids Vollcswirtseltalt genug
unterrlelltet wordon und tadle fiel durck solekes Dereilv nicbt ernstbatt täuseliev-
'
Wir denken nickte daran, die wirtsekattlieko Redürtiustrage aut beiden Leiten
zu erörtern. Lio ist den in Petersburg vorsammelten Dörren und ikren ^uttrag-
geKern bolcannt. Dor primitivste politiseko 'Pakt aus dor doutseken l'rtisso.jetzt
verbieten, dreinzureden. In liulZland verbietet das die Polizei. Das sollte doeli bei
uns nickt wieder nötig werden.-
Unsre werten ^aekbarn in Ost und West sind seit zekn >IaKren Kaum vor
nünttiger geworäon Der NeuinerKantilismus liat ale icöxte oller noeli mekr vor-
virrt vio I'ortsoti-ung «lor llanäolsvortragspolitik aer neunziger 5aure wirä vmlleml.t
selnvsror weräon, als iure Ins--oniorung war. Harte Kämxie sua matt gan?. un-
mögliell ^Vir sinnt gerüstet. Nag clor .iotnt degonnono Vorsueli, aom 1^ reäianäels-
Princip alö im Interesse voutselüanäs unä aer ganzen >VoIt goroektfortigte weitere
Geltung im internationalon MriseKaktslobon äureli neue I4a)»av1svorträgv xu smborn,
aucti nuk aom ersten luci, nickt gelingen, gelingen wirä er äool», trotz, aller lion!-
Meierei unä allem Krötienwalm aer moäisol»su Imperialisten, Merkantilsten un<1
I^roteKtionistvn. ^unäelist Können wir nur abwarten, was bei aom Verliancllungon
IwrausKomint, unä äas wirä wollt rook eine ganno ^Vsilo äauern.
a) vie Lin- unä alö ^uskulir von
werden, vie Stellung äos voutselion Roiolis nun internationalon I-koräomarKt ist
im I.ante aer lobten ?wei 5aKr/cuneo so eigontümlieli, von aer aller übrigen so
auttallonä abveiolwnä, unä svar in ungünstiger ILodtung »dvoiodvnä gvvorSvn,
6aL alö ?rago, vio ale Vorbältnisso nu bossorn seien, niolit länger von aler Ilanä
Mviosen weräen Kann, um so weniger, als äioso eigontümliolio Lage Keineswegs
6urcu natürliolio Losonclorboiton erklärt wirä. ^ .
In naebstebomlem geben wir nunäolist eine vborsmbt aer ouropaisobon
kkoräeaustubrläncler, ä. n. aer Staaten, in Äonen ale ^ustubr von rkvräon die
Link'ulu- aer StüeKiiabl nach überwiegt, unä seltlielZeu äaran äiesolbe Naebwoisung
tur alö ?koräooint'ulirlänäor. vio Züablsn sinnt aer IlanäelsstatistiK aer ver-
selüeänon Staaten Ar 1901^) entnommen unä Können im allgemeinen aom ^.nsnrueb
l^ut Xuverlässiglcoit macklen.
Die xolm ^.ustulirlänäer weisen Zusammen einen ÜdorseliulZ von 16ti(i99 auf,unä alö Link'ulirlänäor ein Nennt von 175775,, snäalZ allo genannten Ki-mäor
^usa.amongst'aKt ein Delikt von runa 9V00 StüeK I>toräon liadsu. «atürliek
Können ale Xaläen von 5aur lin ^akr wookseln, unä wenn 190.1 xum Beispiel
Herwegen unä?innlanä als ^use'ukrlänäer iiguriorteu, so liönnen sie viollemkt äas
^>aur äar^ut unter aom Dinlul>rlänäern stokn, wäkrencl sioli Soliweäen unä Krmolion-
lanä als ^.ustukrläuäor nräsentieron.
vorauf es uns ankommt, neigen ale Aal.lon Kop ale erstaunlich groöe
«lolireintuUr von 4>l'eräon im DeutsoKen Roioli.
Das voutsobo lioiob bat tur ale vom ^.uslancl hol-ognon ?1oräo im ^labro 1901
alö gowaltigo Summe von 78,6 Millionon Mark ausgeben müssen, tur ale ins v^us-
lanä vorkaulton ?koräo dagegen nur 7 Millionen eingenommen, soäak äas DotiÄt
71,6 Millionon ausmaobto. Im .labro 1902 ist avr V^ert aer Lintubr auk 92,4 Nil-
lionon Mark unä avr 'Wort aer ^uskubr auk 7,5 Millionen, der 'Wert ach vensits
mithin aut 37,4 Millionen gestiegen.
Über alö llauptborkunltslänäor unsrer ?koräoeinlubr in aom letzten boiäon
^aliron naob StüoKiiabl unä Wort geben kolgonäo ^ablon ^uskunkt:
'
Wio man sielet, ist avr Wort avr aus am vorsobioänon Länäorn naob Ooutsob-
lanä oingekübrton ?t'oräo — aut ein LtüoK äurolisobnittliob boroobnot — sobr ver-
sobioäon. Man vorgleiebo namsntliol^ ale Linlubr aus Belgien mit avr Dinlunr aus
KulZIanä. Wie ale äoutsobo Statistik lobrt, dostont alö Linkubr aus Belgien,
Dänemark unä l^rankroioli ganx üborwiogonä aus teuern unä sobworen
Bieräon, wäbrenä aus liuülanä unä Üstorreiob-IIngarn last nur loiobto,
aus Ruülanä moist ?1oräe von geringem 'Werte Kommen. Dio goringo Lintubr
aus KrotZbritannion ist violloiobt !«um 'toll äureli aom süäakrikanisobon Kriog
boeintlutit woräon, äoon betrug alö soit 1895 orroiobto büobsto Xabl ach ^laliros 1898
auob nur 2787 StüoK. ^uob alö liüntulrr aus aom Vereinigten Staaten von
NoräamoriKa orroiobto 1898 alö böobsto /abi soit 1895, unä ?.warmit 6919 LWoK,
wäbronä im .tauro 1901 alö lZintubr von ältre noob niobt 400 StüoK ausmaobto.
Die ^.ustubr veutsoblanäs an Btoräon ging 1901 bauptsäobliob naob
aer Lolivoi!? (4251 LtüoK tur 2386000 Mark); naob IZolgien (2712 StüoK t'ur
1531000 Mark); naob aom Moäorlanäon (1488 StüoK tur 1061000 Mark) unä
naon Östorreiob-Hngarn (880 LtüoK tur 731000 Mark).
Im übrigen müssen wir alö IZotraobtung avr ?toräoein- unä ^ustulirisablon
in aom odor autgetübrton xwansiig euronäisobon Staaten äem Bessr überlassen. Im
ganzen wirä man sagon Könnon, äaL lüuropa Soiron Btoräsboäart geraäe äookon
Könnte.
Von asu Vereinigten Staaten von Amerika wuräon in äem KosobättsMbr
^tuu bis 5uni 1900/1901 etwa 82000 ?teräo ausgotübrt, wovon etwa 10000 naon
Xanaäa, 32000 naon Kroöbritannion unä 37 000 naob LüäatriKa gingen. Die Lw-
kubr in alö Vereinigten Staaten soll nur 2944 LtüoK betragen nahen. Die Riebtig-
l<eit äiosor Xaläsn ist natürliob niobt nu Icontrollioren.
Im näobston Ilokt woräon alö von aom Statistiker aer vorsoliioänon iLnäor
über aom ?ioräobostanä, sovoit hio ormittolt voräen Konnton, mitgotoilt v/eräen.
Das Kaisorliobo
Statistisobo ^Val bat Kürsliob alö Übersiobton ach auswärtigen llanäols in aom soobs
Monaton Januar bis ^uni 1903 vsröK'ontliollt. Die Uauvt?ablon sima kolgonäe:
^bgesebon von Ketreiäö, Nein, Volle, >VoIIongarn, naun>volle unä IZaum-
nollenvmrou sivÄ Ar 1903 noed üiv liümdvitsvvrto von 1902 in RooKnuuA gvstvM
^vorclon was alö 'Wert/.adieu natürlioli nroblematisel» maolit. ^.uoli muIZ man bo-
rnoksientigon, äak bei avr heutigen abnormou l^ago unsror ^uskubr alö statistisolion
^ussubr^vorto wohl violtaeb lin uoch, statt — nie es natürliob väro — xu nioärig
Mxenommen sein vvräon. Ks gilt äas bvsonäors tur Äio ^ustudr von Nontan-
I'roÄuKto» (Kolilon unä Lison), alö vir uaeustolionä — obno Äio 'Worte --u bo-
liieksiebtigen — vtvas vÄior botraoutou.
unä Lison>parer Kamen autVon aer l^in- unä ^ustubr von Lison
liodvi«;», IZvK- unä MuKolviso», ISisvnbiÄuiLvIneneu, sol!mioäbaro8 Li8su in Ltäbon
unä ävrgloiel»en, lvupneneisen, Rolisebionen, Ingolf, rolio Vlatton unä rolio Lloobo
aus solimioäbarom Lison, robon Lisenärabt, also auk alö gröbsten ?roäukto
von goringstom Wort
Immer vvieäer aus betont voräon, äak eine so starlco unä vollonäs eino so
stark i-unsiunLnäe ^ustubr von LteinKoblon unä von groben Lisenbüttsni>roäuKten
^vutsvdlimÄ unnatürlich unä sobaälieb ist. IZei äem ^bsooluö neuer NimÄsIs-
vvrtiÄgg erwogen weräen müssen, ob unä volo ale Vsrbältnisso in natür-
leboro Labial-, geleitet vvräon lcönnon, soclaK wir zu aom uns äringenä nottuonäon
, k8virtseb!MiLboii gowinnbringonäon Lxxort von tsrtigon teuern Fabrikaten go-
angon. ^gz^x ^ein^ Kommen wir zum Raubbau.
vör „voutsebe Ökonomist" braobto am
- >1nu tolMnäe iebrisioilo Zusammenstellung ner nroi?ontualvn ^.bnabmo unä ^u-
nabmv aer Linnabmo äsr äeutsoiien Lisenbabnon aus äem ttütorverkeilr von Roral
Nein^ von Januar 1896 bis 5uni 1903.
Das Matt bemerkt unteranäermäa-!u: „Die lÄnnabmen aus aom lÄsonbabn-
Liiwrvoilcolil' iiiläon viuos Ahr dvMicimimä8ton N(?ri<malo vom Ltsmäo aer voll«-
wirtsoliMIicIuzu ^i'doit. Die IlooliKonjunIctui' Kraeltto unausgosWt Al<zi>r<ziumi.iunoit
I>>8 voMmbor 1900 türk 5a,Ilro 1-eng. Nit .7aun!U' 1901 KoMnuon üio Mnävr-
oinnglimon, volcks g.dor mit ^UM8t 1902 ilir Lnäo oriviollwu. I)lo Vorlcoltr»-
stoiKvrunA soll!es im Loptomdor 1902, als» a.ut Jativa I^ivoa-u, vioäor ain unit Iiat
<>on RückKwA vAlironÄ Avr Wlvuüon t'privato nadeiiu Itervits vioÄer oiugvlwlt.^
Moll clor
8eg.ti8til< ctos Voraus Äoutselier Lison- unä 8t»Il1inÄU8trioIIor dotrug all' Roiisi8vu-
moctul^lion im 1>ont8nitor lioiclio und I^uxomdui^
Von 6or 1?i'o<tut<lion von 1903 Kanon aut
Alleinige luseraicnannalime <Iurch
IsermitN» llleigel, Serlinv., Neue ?rieclrichstrasse 41/42
" » preis tur alle öweigespaltne »onpareilleüeile l Mark. Umschlagseiten erhöhte preise «
^MVW
llNUSHe« » IßüKol KvIIvvuv.
^Itrooommloi-t««, vor»«!»»«« N»«s I. «»„««>,, i» »«nSnvr »« ilsr IAd«; ?«««»«>>«r ««in «xl. S<-I>>»!>->,
»«in Ottor»!,^,,^^ Xninxvr »»(I <I«r <Z«i»iiI<I«-<Z»I«i->«. IiI«Ktr!tieI>« L«I«»«I,I»»!?. I.it't. U-iilor.
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copvrigl>I 1902
»riginal-siinlplur von Professor step!»»» SinÄIiig
ein Vorbilde des Großen Generalstabs nach den Begebenheiten
von 1864 1866 und 1870/71 entsprechend hat der Admiralstab
der Marine eine amtliche Darstellung der Tätigkeit unsrer Flotte
anläßlich der chinesischen Expedition unter dem Titel „Die
Kaiserliche Marine während der Wirren in China 1900
bis 1901 Herausgegeben vom Admiralstabe der Marine. Mit 8 Abbildungen
und 20 Plänen und'Skizzen (Berlin 1903, E, S. Mittler und Sohn)" ver¬
öffentlicht, ein nicht nur vom Standpunkt der Interessen der Manne lehr¬
reiches Buch. Als Einleitung dient eine prägnant geschriebn Vorgeschichte
der sogenannten „Boxerbewegung" — eine an sich unrichtige Bezeichnung.
Die irrtümlich „Boxer" genannte I ho chuan - Geheimgesellschaft hatte schon
seit Jahrhunderten bestanden, und soweit bekannt, nur wirtschaftliche Ziele
verfolgt. Ihre Mitglieder beschäftigten sich mit der Ausübung des Waren¬
transports und der Schnichegleitung von Handel und Verkehr. Der Name
bedeutet eigentlich Bund der Patrioten." Die Erregung der Massen und
der Anstoß zu der großen Bewegung ist wahrscheinlich vou einer andern
Geheimgesellschaft „Da dan hui." Gesellschaft des große.. Messers, ausgegangen,
die sich von Anfang an den Widerstand gegen das Vordringen europäischer
Kultur zur Aufgabe gemacht hatte. Die amtliche Darstellung sieht denn auch
die eigentlichen Gründe der Erhebung in dem seit dem japanischen Kriege
schnell und stetig zunehmenden Einfluß der europäischen Kulturbestrebuugen
mit ihren tiefen Eingriffen in die Daseinsbedingungen des chinesischen Volkes.
Die Einführung europäischer Verkehrsmittel beeinträchtigte unzählige Leute in
ihrem bisherigen Gewerbe, der Bnhnban verletzte dnrch die nötige Beseitigung
zahlreicher Gräber die religiösen Gefühle der ungemein abergläubischen Menge
auf das empfindlichste, ebenso stieß die Missionstätigkeit auf einen in den
überlieferten Anschauungen des Volks tief begründeten, von den Mandarinen
genährten Widerstand. ' Nachdem eine im Jahre 1898 bemerkbar gewordne
unruhige Bewegung in Schankung infolge der energischen Vorstellungen der
Vertreter der Mächte im November 1899 in Peking durch Wechsel in der
obersten Leitung der Provinz zum Stillstand gebracht worden war, fing im
Jahre 1900 die Tätigkeit der Messergesellschaft in Tschiki in beunruhigender
Grenlwt
Weise an; erst nach langem Zögern erfolgte durch ein am 14. April 1900 in der
Pekinger Zeitung veröffentliches Kaiserliches Edikt die von den Vertretern der
Mächte geforderte Auflösung der beiden genannten Geheimbünde. Es blieb
jedoch bei dieser papiernen, in ihrer Allsführung mit großer Lässigkeit be-
triebncn Maßregel. Dagegen erfuhr man, daß im Mai ein Kaiserliches Edikt
ergangen war, das allen Generalgouvcrnenren des Reiches anbefahl, ihre
besten Truppen am 1. Juni um Peking zu versammeln. Als Grund für
diesen Befehl wurden große Manöver angegeben. Damals wurde angenommen,
der Hof beabsichtige, die Macht der Generalgouverneure herabzudrücken, indem
er ihnen ihre besten Truppen entzog. Die spätern Ereignisse legen jedoch
die Vermutung nahe, daß es sich um die Vorbereitung zu einem Kampfe
gegen die Fremden handelte, der mit einer großen Volksbewegung eingeleitet
werden sollte. Die Maßregel scheiterte daran, daß sich die gegen den Hof
mißtrauischen Generalgouverneure weigerten, dem Befehle Folge zu leisten.
Zugleich nahm aber die Bewegung einen unerwarteten Umfang an, die „Boxer"
schlugen in Überschätzung ihrer Kraft zu früh los, und die Regierung verlor
die Macht, den Zeitpunkt für den Ausbruch der Bewegung zu bestimmen.
Eine zu Ende März von den Gesandten beantragte Flottendemonstration, die
auch wohl ohnehin ergebnislos geblieben wäre, kam infolge einer Zeitungs¬
indiskretion nicht zustande, in den folgenden Monaten begann die Zerstörung
der Kapellen und Missionshäuser in der Umgegend von Tientsin und die Be¬
drohung der beiden nach Peking führenden Bahnen. In der zweiten Hälfte des
Mais nahm die Bewegung einen ausgesprochen fremdenfeindlichen Charakter an;
die Forderung der in Peking beglaubigten Vertreter der Mächte, sofort Ma߬
nahmen zur Unterdrückung der Boxer zu treffen, wurde vom Hof am 23. Mai
mit einem höchst zweideutigen Erlaß beantwortet. Infolgedessen rückten am
31. Mui die Schutzwachen für die Gesandtschaften in Stärke von 340 Mann
in Peking ein. Schon damals ereignete sich in Tatu ein beunruhigender
Zwischenfall. Als die französischen und die russischen Detachements landen
wollten, wurden sie von chinesischen Offizieren der Takuforts mit der Drohung
zurückgewiesen, daß auf sie geschossen werden würde. In der Tat fielen anch
einzelne Schüsse aus den Forts, die jedoch später als Salutschüsse zu Ehren
eines hohen Mandarinen bezeichnet wurden, sodaß die beiden Detachements am
nächsten Tage unbehelligt landen konnten. Am 3. Juni folgte das deutsche
Detachement in Stärke von einem Offizier und fünfzig Mann, vom dritten
Seebataillon in Tsintau, sowie das österreichisch-ungarische in Stärke von drei
Offizieren und dreißig Matrosen. In den folgenden Tagen begannen die
Feindseligkeiten gegen die Europäer in Peking, die vergeblich auf das am
10. Juni telegraphisch angekündigte Entsatzkorps des Admirals Seymour
warteten, das infolge der Zerstörung der Eisenbahn Peking nicht mehr er¬
reichen konnte. Am 12. Juni sandte der deutsche Gesandte Freiherr von
Ketteler sein letztes Telegramm nach Berlin, worin er sich über den Ernst der
Lage aussprach; am 20. Juni wurde er ermordet, und es begann die acht-
wöchige Belagerung, die erst mit dem Einrücken der Eutsatztruppen am
14. Angust ihr Ende erreichte. In die Zwischenzeit fallen die mißlungne
Entsatzexpedition des Admirals Seymour, die Wegnahme der Takuforts am
17. Juni und die Kämpfe in und um Tientsin.
In Deutschland waren inzwischen in schneller Folge militärische Ma߬
nahmen getroffen worden. Am 13. Juni erging der Befehl, daß die Offiziere
und die Mannschaften des Kreuzergeschwaders, die im Juli hätten abgelöst werden
sollen, in Ostasien bleibe» sollte», die 18 Offiziere und 1242 Unteroffiziere und
Mannschaften, die auf der Ausreise waren, wurden zur Verfügung des Chefs
des Kreuzergeschwaders. Vizeadmirals Bendemann. gestellt. Am 18. Inn
wurde die Mobilmachung und der Transport der Marineinfanterie nach China
befohlen, die ursprünglich beabsichtigte Einberufung der Reserven jedoch auf¬
gegeben; beide Seebataillone wurden vielmehr durch aktive Offiziere und frei¬
willige Mannschaften des Heeres auf Kriegsstärke gebracht, der Panzerkreuzer
..Bismarck," die Kanonenboote „Luchs" und „Tiger." von denen der erste ur¬
sprünglich uach Ostamerika bestimmt war. erhielten Befehl, die Ausreise zu
beschleunigen. „Bismarck," obwohl das Schiff eben erst seine Probefahrten
begonnen'hatte. Am 2. Juli bestätigte ein Telegramm des Admirals Bende¬
mann die Nachricht von der Ermordung des deutscheu Gesandten, tags darauf
wurde die Mobilmachung einer 10000 Mann starken kombinierten Brigade des
Heeres und die Entsendung der 1. Linienschiffsdivision befohlen, außerdem
wurden drei kleine Kreuzer von verschiednen Stationen zu dem Zwecke uach
Ostasien dirigiert, dort gleichfalls in den Verband des Kreuzergeschwaders zu
treten, das damit die Stärke von vier Linienschiffen, vier großen und sieben
kleinen Kreuzern. vier Kanonenbooten und vier Torpedobooten erreichte, die
größte Flottenmacht, die Deutschland bisher im Auslande vereinigt hatte. Die
Bereitstellung der kombinierten Brigade erfolgte auf Grund der Beratungen
der obersten Armeebehörde durch Formierung eines ans Freiwilligen des Heeres
gebildeten Expeditionskorps von 18 000 Mann nnter Generalleutnant v. Lesscl.
Am 16. August wurde Feldmarschall Graf Waldersee zum Oberbefehlshaber
aller verbündeten Streitkräfte ernannt, und es wurden alle Teile des deutschen
Heeres und der deutschen Marine in Ostasien nnter seinen Befehl gestellt.
Hier greift ein Umstand ein, der in der Darstellung des Admiralstabes
uur gestreift worden ist, aber zu feucr Zeit in der Marine viel erörtert
wurde: nämlich daß das Krenzergeschwader nnter den Oberbefehl eines
Generals des Heeres gestellt wurde. Wie man die Dinge damals ansah, war
anzunehmen, daß der Flotte ein tzauptanteil an der kriegerischen Aktion zu¬
fallen werde, und nur ungern sah sich die Marine dabei der selbständigen
Kommandoführnng beraubt. In den Kreisen unsrer Seeoffiziere mag man es
damals peinlich empfunden haben, daß die starke deutsche Flottenmacht in
Ostasien, die zum uicht geringen Teil von Offizieren befehligt wurde, denen
ein wiederholter längerer Aufenthalt dort eine genaue Kenntnis der Verhältnisse,
von Laud und Leuten, von der strategischen und der politischen Wichtigkeit der
einzelnen Küstenplätze, der großen Stromlaufe und ihrer Mündungen, des
Charakters der Bevölkerung verschafft hatte, nun nnter ein Kommando treten
sollte, das mit allen diesen Verhältnissen völlig unbekannt war, außerdem
natürlich geneigt sein mußte, den Schwerpunkt der Aktion in die Tätigkeit der
Landtruppen zu legen, sodaß demgemäß dem kommandierender Admiral des
stattlichen Geschwaders fortan mehr eine beratende als eine selbständig
prüfende und entscheidende Stimme zufiel. Jahrzehntelang hatte man schwer
daran getragen, daß die Marine bis zum Jahre 1888 Generale des Heeres
an ihrer Spitze hatte; jetzt wo sie mit ihren besten Kräften im fernen Auslande
vereinigt war, sich durch ruhmvolles Verhalten in allen während des Junis
und Julis zu Lande und zur See („Iltis") bestandnen Kämpfen der höchsten
Anerkennung würdig erwiesen hatte, sollte sie vor den Flotten aller andern
Nationen, denen ähnliches nicht zugemutet wurde, wieder in die zweite Reihe
treten. Man sah es außerdem auch als ein Präzedens an, daß bei dem
ersten Zusammenwirken vou Flotte und Landarmee, sogar in einen, über¬
seeischen Feldzuge, die Marine uuter deu Oberbefehl eines Generals des
Heeres, war es immerhin ein Feldmarschall und der von allen Mächten
anerkannte Oberbefehlshaber, treten mußte. Alle diese Erwägungen waren
durchaus begreiflich. Aber die Zeit hat erwiesen, daß die Anordnung durchaus
richtig und sachgemäß war. Die Übeln Folgen des fehlenden einheitlichen
Oberbefehls waren in deu Kämpfen um Tientsin in bedenklicher Weise hervor¬
getreten. Gerade weil die andern Geschwader nicht uuter den Grafen Waldersee
gestellt wurden, war es um so nötiger, daß er wenigsteus über die deutsche»
Schiffe frei verfügen konnte. Sodnun ist nach der Wegnahme der Tatuforts
kein einziger Schuß mehr von irgend einem der anwesenden Kriegsschiffe ver¬
feuert worden. Die chinesische Flotte war zu keiner Aktion fähig und wurde
im Jangtse blockiert, der Besorgnis, die einige Zeit auch für Shanghai bestand,
war durch die Anwesenheit starker Land- und Seestreitkräfte ein Ende gemacht.
Mit der Ankunft des Expeditionskorps konnte die Marine alle ihre Landungs-
detachements wieder an Bord nehmen, eine Beteiligung an dein weitern Feld¬
zuge im Jnnern Chinas blieb allein der dein Expeditionskorps als Brigade
angegliederten Marineinfanterie vorbehalten. Dennoch hat das Kreuzer¬
geschwader nicht nur durch seine bloße Anwesenheit große Dienste geleistet, es
ist auch durch Deckung der Truppentransporte, dnrch Übernahme und Leitung
der sehr schwierigen Ausschiffungen für den gesamten Verlauf der Expedition
vom höchsten Nutzen gewesen. Auf die fremden Mächte machte es keinen
geringen Eindruck, daß Deutschland innerhalb einer so kurzen Frist 23 Kriegs¬
schiffe zur Stelle haben konnte, deren Admiral der unermüdliche Vertreter
einer energischen, entschloßneu und umsichtigen Offensive war, und deren
Offiziere und Mannschaften sich bei deu Tatuforts, auf der Seymour-Expedition
und während der Kämpfe bei Tientsin mit Ruhm bedeckt hatten. Gelangte
die Marine später nicht mehr zur Teilnahme an Gefechten, so wußte sie sich
doch anderweit hervorragend zur Geltung zu bringen. Vizeadmiral Bende-
mann hatte namentlich frühzeitig die Sicherung der Verbindung von der See
nach Peking für die Winterzeit ins Auge gefaßt, da für die Monate November
bis März eine Unterbrechung der Verbindung zwischen Tatu-Reede und Tongku,
dem Ausgangspunkt der beiden Eisenbahnen, durch die Eisverhältnisse mit
Sicherheit zu erwarten war. Während des Winters sind die östlich von Tongku
an der Bahn Nintschwang-Tongkn-Tientsin liegenden Peitang-Forts, die
Bucht von Tschiugwangtcm und endlich Schau Hai koan, wo die große Chinesische
Mauer nud die geuaimte Eisenbahn am Strande endigen, mit seinen starken
Befestigungen dieTore für den Zugang nach Peking, Auch die dort stehenden
chinesische« Truppenmassen kamen in Betracht; man hatte sie während des
Julis und des Augusts durch eine uach Schau Hai loca entsandte Kreuzer-
divisivu in Schach gehalten. Nachdem Peking genommen worden war, und
während der zweiten Hälfte des Augusts sowie im Anfang September auf
Tatu-Reede fortgesetzt große Truppennachschübe eintrafen, konnte der Eroberung
vou Schau Hai koan und der Peitaug-Forts näher getreten werden, Admiral
Bendemann telegraphierte am 10. September dein in Singapore eingetroffnen
Grafen Wnldersee: „Ich sehe nächstes Angriffsziel in den Peitcmg-Forts sowie
den Befestigungen bei Pei ta ho und Schau hui loca, um den Rücken frei zu
machen und den Zugang von der See nach Peking während der Frostzcit,
wo der Peiho uuzugünglich ist, in Besitz zu bekommen." Graf Waldersee
antwortete, daß er mit den Plänen einverstanden sei, aber bäte, wenn keine
ander» Befehle aus Berlin vorlagen, mit der Ausführung der Operationen
bis zu seiner Ankunft zu warten. Schon am 23. August hatte Vizeadmiral
Bendemann dem Kaiser eine denselben Gegenstand behandelnde Denkschrift
»versandt, worin er ausführte, die Operation dürfe nicht über Anfang November
hinaus verschoben werden, falls politische Rücksichten eine Hinausschiebnng
verlangten; es sei von ihm mit den Admiralen der Verbündeten, nament¬
lich Admiral Alexejeff, des öfter» erörtert worden. Eine Abschrift dieser
Denkschrift ließ Admiral Bendemann dem Feldmarschall bei seiner Ankunft in
Hongkong am 17. September überreichen. Die Unternehmung gegen die
Pcitang-Forts durfte nicht länger verzögert werden; sie wurden von deu
inzwischen in Tongln ausgeschiffte» Truppen des deutschen Expeditionskorps
am 20, September unter Mitwirkung vou Russen und Österreichern in längerm
Artillcrieknmpf erobert u»d dauernd besetzt, Graf Waldcrsce traf fünf Tage
später Bord S M. S. Hertha auf Tatu-Reede el» und erteilte dem
Admiral Bendemann den Auftrag, die Beteiligung der übrigen Geschwader ein
dem weitern Unternehmen herbeizuführen. Deutscherseits sollte dabei weniger
die Notwendigkeit der Besitzergreifung von Seba» Hai loca als vielmehr die
der zum Ausschiffungsplatz geeignete». Bucht von Tsching wcmg lau betont
werde». Nussischcrseits wurde aber gerade die Besetzung der Forts von Schan
Hai loca verlangt, die den Stützpunkt des linken Flügels der in der Mand¬
schurei operierenden russischen Armee bilden sollten. Russisch-englische Gegensätze
traten bei dieser Operation, die in den Tagen vom 1. bis 3. Oktober geschah,
in bemerkenswerter Weise zutage; sie machte» bekanntlich auch später noch die
Intervention des Oberbefehlshabers nötig. Als bemerkenswert mag auch noch
notiert werden, daß der russische General Linewitsch nach dem Entsatz von
Peking dem Befehlshaber des deutschen Besntzungsdetachements, Kapitän zur
See Pohl, die Einquartierung in den Tsungli Damen, das Pekinger Auswärtige
Amt, abschlug, weil dort ein wichtiges Archiv sei, für das die Russen die Verant¬
wortlichkeit über»omne» hätten. Es sollte das Archiv wohl, vorausgesetzt, daß
es dort noch vorhanden war, »ur vo» russische» Augen eingesehen werde».
Eine besondre Aufmerksamkeit des deutschen Kreuzergeschwaders verlangte
sodann noch das Jangtsegebiet, sowohl weil den dortigen beideu Vizekönigen
außer starken Arsenälen 40000 Mann gut ausgebildeter Truppen zur Ver¬
fügung standen, und die einzig brauchbaren chinesischen Kriegsschiffe auf dem
Strome lagen, als auch weil mancherlei Anzeichen für die Geneigtheit der
Engländer sprachen, sich dort, etwa im Wege der Kompensation gegenüber
russischen Gelnetserwerbungen, festzusetzen, was nicht im deutsche» Interesse lag.
Anfangs waren die europäischen Bewohner Shanghais und der Vertragshäfen
längere Zeit mit Recht um ihre Sicherheit sehr besorgt. Die deutsche Kolonie
in Shanghai wandte sich telegraphisch nach Berlin an den Kaiser, der in seiner
Antwort die Entsendung des „Bismarck" und der Marineinfanterie ankündigte.
Vizeadmiral Seymour war, nachdem er am 12. Juli das Kommando in Tientsin
an den englischen General Dorward übergeben hatte, um 24. Juli in der
Jangtseinündung eingetroffen, um Maßnahmen zum Schutze der Fremden und
des Handels anzuordnen. Er hatte in einer persönlichen Unterredung mit dem
Generalgouvemeur von Nanking, Liu tun pi, diesen überredet, die Landung
von 3000 Mann anglo-indischer Truppen in Shanghai zu erlauben. Unge¬
achtet des Einspruchs der Konsuln der andern Mächte ging die Landung am
19. August vor sich. Die Franzosen schifften zugleich 50 Matrosen, am
3. September noch ein nnamitisches Bataillon aus. Vizeadmiral Bendemann
war seit dem 21. August auf Wusung-Reede, hatte aber uur das General¬
konsulat mit eiuer Wache belegt, dagegen von der Ausschiffung einer Landungs-
abteiluug zunächst Abstand genommen. Erst nach Eintreffen der ersten deutschen
Landtruppen (7. September) wurden auf Allerhöchsten Befehl der Stab und
zwei Kompagnien des ersten ostasiatischen Infanterieregiments in Shanghai
gelandet, zwei Tage später folgte ein japanisches Bataillon, sodaß Mitte
September 5000 Mann Truppen aller Nationen in Shanghai standen; Hafen
und Wusung-Reede waren von Kriegsschiffen überfüllt, auch vor den flußaufwärts
liegenden Häfen waren Kreuzer und Kanonenboote der verschiednen Marineu
stationiert. Entsprechend den Interessen, die England an einem ungestörte!?
Fortgang des Handels hatte, war die englische Flotte im Jaugtsc besonders
stark vertreten, sodaß zeitweise Gerüchte über eine englischerseits beabsichtigte
militärische Besetzung des Jcmgtsetales umliefen/") Admiral Seymour gab
jedoch die Versicherung ab, daß er keinen Befehl zu einem kriegerischen Vor¬
gehen erhalten habe, und daß er dem deutschen Seebefehlshaber unverzüglich
Mitteilung machen werde, wenn ein solcher Befehl eintreffen sollte. Für den
Befehlshaber des deutschen Geschwaders lag somit die Notwendigkeit vor,
jederzeit genügend stark vertreten zu sein, sodaß bei Unternehmungen von
andrer Seite eine den Interessen Deutschlands entsprechende Macht zur Stelle
wäre. Die Tätigkeit der deutschen Schiffe beschränkte sich demgemäß im
wesentlichen auf die Beobachtung der militärischen und der politischen Vorgänge
im Flußgebiet, auf Erkundung und Vorbereitung von Operationen, die im
Falle kriegerischen Einschreitens notwendig werden konnten. Es kam dabei
auch in Betracht, daß der am 14, August nach Hsian fu entflohene chinesische
Hof wesentlich auf die Zufuhr aus den: Jangtsegebiet angewiesen war, Nach¬
richten aus allen Häfen des Flusses bestätigten denn auch, daß Geld, Lebens¬
mittel, Truppen, Waffen usw. den Jcmgtse hinauf bis Wutschang und von da
auf dem Haufluß bis in die Nähe von Hsian fu befördert wurden. Die Ver¬
bündeten unterließen jedoch jede Maßnahme zur Unterbindung dieses Verkehrs¬
weges, um die fremdenfreundliche Haltung der Vizekönige vou Wutschang und
Nanking nicht ungünstig zu beeinflusse« und die anch in diesen Provinzen
vorhandnen unruhigen Massen nicht zu reizen. Deutscherseits erschien es von
Wert, so weit als möglich stromaufwärts auf dem Jaugtse die deutsche Kriegs-
flcigge zu zeigen und zu den dortigen Vizekönigen persönliche Beziehungen auf¬
zunehmen. Von einer angeregten Befahrnng des Stroms durch die Linien¬
division wurde Abstand genommen, damit die Eifersucht andrer Mächte nicht
gereizt würde, dagegen bot die Einführung des für Nanking neu ernannten Vize¬
konsuls Anlaß, dem dortigen Vizekönig einen Besuch abzustatten. Der zweite
Admiral, Konteradmiral Geißler, begab sich in Begleitung des Generalkonsuls
Dr. Knappe in Shanghai am 15. November an Bord des Linienschiffs „Kur¬
fürst Friedrich Wilhelm" nach Nanking. Sowohl auf die Chinesen wie auf
die Europäer, namentlich ans die Engländer, machte es einen tiefen Eindruck,
daß ein 10000 Tonnen-Panzerschiff unbekümmert um die chinesischen Be¬
festigungen und um die dort ankernde chinesische Flotte soweit flußaufwärts
vorgedrungen war. Die chinesische Flotte hatte beim Passieren des „Kurfürst"
den Salut für die deutsche Admiralsflagge gefeuert und durch Antreten der
Besatzungen eine besondre Ehrenbezeugung erwiesen. Die Schiffe schienen
äußerlich gut in Ordnung zu sein, die Besatzungen waren schwach. Der Empfang
in Nanking fand unter Beobachtung des üblichen Zeremoniells statt, der Admiral
und der Generalkonsul erörterten mit dem Vizekonig Liu tun pi namentlich
die politische Lage. Der Vizeköuig lehnte den Schutz durch die deutschen See¬
streitkräfte, den ihm Konteradmiral Geißler für den Notfall anbot, unter Hin¬
weis auf die friedlichen Verhältnisse im Jcmgtsetal und die Nachgiebigkeit°des
Hofes ab und begründete die Notwendigkeit der diesem geleisteten Zufuhren
mit der Zwangslage, in der der Hof sei. Er machte den Eindruck, daß er die
Politische Lage beherrsche und sie in ruhiger und sicherer Weise zu beurteilen
verstehe. Später lag oben vor Harlan in der Regel immer ein kleiner Kreuzer;
das armierte Flußkanonenboot „Vorwärts" ging bis in den obern Lauf des
Jaugtse und dessen Nebenflüsse. Die Linienschiffe „Weißenburg" und „Wörth"
waren im April und Mai 1901 längere Zeit vor Nanking stationiert und
fanden dort beim Vizekönig dasselbe Entgegenkommen, wie der „Kurfürst" es
in den Tagen vom 15. bis 18. November gefunden hatte. Ebenso befleißigte
sich der Generalgouvemeur Tschar tschi tung in Wutschang, gegenüber Harlan,
erner großen Zuvorkommenheit gegenüber den in seinem Gebiete liegenden
deutschen Kriegsschiffen. Die starke Entfaltung und Rührigkeit der Seestreit-
krnfte im Jangtsegebiet war wohl für die endgiltige Lösung der chinesischen
Wirren nicht von zu unterschätzender Bedeutung, da das chinesische Reich da¬
durch an seiner verwundbarsten Stelle berührt und in Furcht erhalten wurde.
Die Marine hat mithin uicht nur während des ersten Teiles des Feldzugs
durch die glänzende Betätigung des „Iltis" bei Tatu und durch die über
jedes Lob erhabne Haltung der Gesandtschaftsschutzwache in Peking sowie der
Landuugsdetachemeuts bei der Expedition Seymour, bei den Kämpfen in und um
Tientsin und dem Entsatz von Peking die wertvollsten Dienste geleistet, sondern
anch während des zweiten Teils, nachdem die Landtruppen die innere Pazi-
fikation übernommen hatten, zum Gelingen des Ganzen durch umsichtige und
entschloßne Verwendung der einzelnen Teile des Geschwaders wesentlich bei¬
getragen, ganz abgesehen von dem Nutzen, den sie den Transporten erwies.
Sie hat darüber hinaus unter deu Flotten aller Nationen durch ihre» Geist
des Mutes, der Tatkraft, der entschlossenen Offensive den deutschen Namen zu
hohen Ehren gebracht; Admiral Seymours Ruf auf dem nächtlichen Rückzüge
von Peking am 22, Juni, wo er der neuen drohenden Gefahr gegenüber die
deutschen Kompagnien an die Spitze rief mit dein historisch gewordnen Befehl:
KsririM» to t'Kg krönt! wird der deutschen Flotte als ein leuchtendes Ehren¬
denkmal verbleiben: ^>
Die Deutschen an die spitze!
Auch der „Nauticns," das „Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen,"")
wächst mit seinen größer« Zwecken, Sein jüngst erschienener fünfter Band
umfaßt schon 530 Seiten, er ist mit 19 Tafeln und 25 Abbildungen im Text
ausgestattet. Einzelner Teile des Inhalts hat sich die Tagespresse bemächtigt,
sich aber dabei freilich meist auf den Abdruck des sorgfältig zusammengestellten
Materials beschränkt. So haben namentlich Abschnitte aus dem Artikel „Die
deutsche Kriegsmarine im Jahre 1902/03" die Runde durch die Zeitungen
gemacht, leider ohne die naheliegenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Inzwischen
sind diese von der Praxis der Dinge gezogen worden. Der Abschnitt über
den Marineetat 1902/03 klagt mit Recht über die Streichungen von 1 Million
Mark für Reparaturzwecke, ferner eines Flußkauonenboots und eines Ver¬
messungsschiffs. Im Reichstage hat man das verhältnismäßig leicht genommen:
die praktische Folgerung aber war die Entlassung einer größern Anzahl Werft¬
arbeiter und ein Erlaß an die Werftdivisionen und sonstigen Kommandoabtei¬
lungen der Flotte, daß die zum Herbst zur Entlassung kommenden Mann¬
schaften auf Beschäftigung auf den Kaiserlichen Werften nicht zu rechnen hatten.
Das ist ein höchst bedauerlicher Zustand, sowohl für die Entlaßnen wie für
die, die keine Beschäftigung auf deu Werften erlangen können, nicht am wenigsten
aber für die Werften selbst, denen an der Erhaltung und sachgemäßen Er¬
gänzung ihres Arbeitermaterials sehr viel liegen muß. Denn wenn je eine
Arbeitsstätte so bedarf eine Kriegswerft eines Personals von der besten Schulung
und der größten Zuverlässigkeit. Die Sinn- und zwecklosen Streichungen aber
bedeuten gar nichts als einen Aufschub auf Kasten der Sache selbst. Es hat
doch keinen Sinn, mit großen Mitteln eine Flotte zu schaffen, aber die Re¬
paratur von zwei Kreuzern, deren die Flotte so dringend bedarf, durch Streichung
der Hälfte der verlangte» Kosten — nebenbei einer einzigen Million — um
mindestens ein Jahr in die Länge zu ziehen! Kommt im nächsten Jahre ein
Seekrieg, so fehle,? diese so sehr notwendige» Kreuzer durch Schuld des Reichs¬
tags, eine Schuld, die sich schwer und kostspielig rächen könnte. Solche kleinliche
Streichungen erinnern an die verärgerte Kinderstube, an deu Snppenkaspar:
„Nein, meine Suppe eß ich nicht." Irgend ein sachlicher Grund für die
Streichung der Reparaturkosten war nicht vorhanden, konnte bei der Gering-
fügigkeit des Betrags auch nicht einmal in der Finanzlage gesucht werden. Das
Jahr 1904 wird der Flotte wesentlichen Zuwachs zuführendie Linienschiffe
„Braunschweig" und „Elsaß" sollen im Sommer und Herbst 1904 für Probe¬
fahrten fertig sein, ebenso soll im Jahre 1904 der Umbau der Braudeuburg-
Division beendet sein, und bis Herbst 1904 sollen auch die letzten im Umbau
begriffnen Küstenpanzer fertig werden. Die vier Schiffe der Brandenburg-Division
erhalten neben allgemeiner EntHolzung und neuen Kesseln größere Kessel- und
Kohlenränme, Verbesserung der Armierung und gepanzerte Kommaudotürme; die
Schiffe der Siegfriedklassc werden durch den Einbau eines 8,5 irr langen Mittel¬
stücks vergrößert, ihr Kohlenvorrat erhöht sich dadurch von 320 auf 580 Tonnen.
Die Artillerie ist um zwei 8,8 ari-Geschütze und sechs 3,7 om-Maschinenkanonen
vermehrt worden; sie haben Gefechtsmasten, wesentliche Panzervcrstärknng der
Kommandotürine usw. erhalten. Die Schiffe mögen dadurch ihren Platz in
der Schlachtlinie etwas besser ausfüllen, dennoch wird die gesamte Marine
sehnlich die Zeit Heranwünschen, wo diese acht Küstenpanzer planmüßig dnrch
vollwertige Linienschiffe ersetzt sein werden. Bis das erreicht sein wird, wird
immer ein ganzes Geschwader fehlen, erst dann können wir von einer wirk¬
lichen „Schlachtflotte" reden. Inzwischen ist zu Anfang Juli die Formierung
der in H 3 des Flottengesetzes vom 14. Juni 1900 vorgesehenen „aktiven
Schlachtflotte" dnrch Kaiserliche Order befohlen worden. Planmäßig sollte
sie ans 17 Linienschiffen (einem Doppelgeschwader in 4 Divisionen und einem
Flaggschiff), 16 Kreuzern (4 großen, 12 kleinen) und deu entsprechenden
Torpedobootsformationen bestehen. Doch sind an neuen Linienschiffen zur Zeit
uur 10 (5 Kaiserklasse, 5 Wittelsbachklaffe) vorhanden, eins davon, „Schwaben,"
sogar noch in der Ausrüstung. Von der dritten neuen Division (Braun-
schweigilasse), von der gleichfalls 5 Schiffe gebaut werden, sind „Braunschweig"
und „Elsaß" vom Stapel gelaufen und in der Ausrüstung begriffen, zwei
andre Schiffe dieser Gattung liegen noch ans dein Stapel, das fünfte") — A —
ist erst durch deu Etat für 1903 bewilligt worden, ebenso das erste für die
künftige neue vierte Division lM Bis zu deren Vollendung, die in den
Jahren 1906 bis 1908 erfolgen wird, verbleibt, also wenigstens bis 1907,
die Brandenbnrgdivision als vierte bei der aktiven Schlachtflotte, während für
das zweite Doppelgeschwader (Ncservcflotte) nur die schon ersatzfällige Sachsen¬
ilaffe und die acht Schiffe der Ägirtlasse übrig bleiben. Von 1907 an wäre»
dann für dieses Doppelgeschwader, während zugleich der Ersatzbau für die
Sachsenklasse begönne, die Brandenbnrgdivision, die Sachsendivision und die
beiden Küstenpanzerdivisionen vorhanden, falls, was immerhin nicht unwahr¬
scheinlich ist, die Brandenbnrgdivision nicht wieder nach Ostasien geht. Es
würden in diesem zweiten Doppelgeschwader noch drei verschiedene Schifss-
gattnngen vertreten sein, die weder im Deplacement, noch in Artillerie und
Panzer, noch in Geschwindigkeit und Kohlenfaffnngsvermögen einander auch
nur annähernd gleichkommen. Das Ausland hat somit tatsächlich noch recht
wenig Grund, sich durch die „anwachsende" deutsche Flotte bedroht zu fühlen,
und der deutsche Philister soll um Himmels willen nicht glauben, daß alles
getan sei, weil die Flotte „bewilligt" ist. Die Aufklärungsgruppen von
16 Kreuzern, die wohl gleichfalls in 4 Divisionen zu formieren sein werden,
sollen endlich im nächsten Jahre auch dienstbereit sein. Es wird hohe Zeit.
Hat sich doch jüngst noch eine französische Stimme bei der Maifahrt unsers
ersten Geschwaders sehr lobend über unsre Linienschiffe ausgesprochen, aber
tadelnd darüber, daß sie ans Mangel an ausreichenden, schncllgehenden Kreuzern
blind seien.
Der Tatsache gegenüber, daß die fremden Mariner Linienschiffe von
15000 bis 17000 Tonnen bauen, ist auch diese Frage für Deutschland einer aber¬
maligen eingehenden Prüfung unterzogen worden. Die Schiffe der Wittelsbach-
klasse weisen etwa 11700 Tonnen auf, mit der Brauuschweigklasse ist mau
auf 13200 Tonnen gegangen. Diese Schiffe haben außer wesentlicher Ver¬
besserung der Panzerung und Verstärkung der Artillerie auch an Kohlenraum
gewonnen, bleiben aber freilich mit ihren 1500 Tonnen Kohlenvorrat gegen
die 2000 Tonnen des neuen englischen Linienschiffes „König Edward VII."
— eiues Schiffs von 16700 Tonnen Deplacement — und gegen die 2200 Tonnen
des amerikanischen Linienschiffs „Connecticut" mit 16000 Tonnen Deplacement
stark zurück; die Wittelsbachtlasse führt 1250 Tonnen Kohlen, ihre Besatzung
beträgt 651, die der Brannschweigklasse 660 Köpfe, die Besatzungsetats der
fremden größern Schiffe sind entsprechend höher. Weshalb Deutschland größere
Schiffe zur Zeit nicht baut, ergibt sich aus folgendem:
Das Deplacement eines Schiffes ist von seiner Länge, seiner Breite und
seinem Tiefgang abhängig. Die geringe Tiefe unsrer Nordseehäfen und der
dortigen Flußmündungen sowie des Großen und des Kleinen Betts macht eiuen
Tiefgang von 7"/,^ Metern zur Bedingung, die Mariner andrer Staaten, die am
Atlantic liegen, können den ihrigen bis ans 9 Meter und darüber erhöhen. Die
Breiteist abhängig von der Breite der Hafeneinfahrten, Schleusen und Docks;
diese nötigen bei uns zu einer Beschränkung auf 22 Meter Schiffsbreite. Die
neue Hafeneinfahrt von Wilhelmshaven wird breiter angelegt, auch ließen sich
die jetzigen Einrichtungen verbreitern, doch muß mit Rücksicht auf die Finanzlage
noch davon Abstand genommen werden. Die Länge der Linienschiffe von
120 Metern könnte wohl ausgedehnt werden, doch wird absichtlich davon
Abstand genommen, weil die schwere Artillerie an den Enden des Schiffes
ihre Aufstellung findet und diese also besonders belastet, auch müssen Länge
und Breite in einem gewissen Verhältnis bleiben. Wie für die Linienschiffe,
ist auch für die Kreuzer die Prinzipienfrage endlich zur Entscheidung
gelangt. Gegenwärtig hat unsre Marine Panzerkreuzer, große (geschützte)
Kreuzer (Herthaklasse) und kleine Kreuzer. Für die Panzerkreuzer wollte man an
einem Deplacement von 9000 Tonnen festhalten (Prinz Heinrich 8931 Tonnen,
Prinz Adnlbert 9048, ebenso Friedrich Karl), während der jüngst vom Stapel
gelassene Roon 9600 Tonnen hält, und zwar glaubte man mit diesem De¬
placement auszukommen trotz der amerikanischen 14000-Tonnenkreuzer, nach¬
dem England auf 9800 Tonnen zurückgegangen war. Jetzt teilt Nauticus
jedoch mit (S. 8), daß bei der fortgesetzt wachsenden Größe der fremden
Panzerkreuzer auch bei uns eine weitere Deplaeementsvergrößerung, die zu¬
nächst der Geschwindigkeit zugute kommen solle, unvermeidlich sei und bei
den folgenden Neubauten zur Geltung gelangen werde. Weiter heißt es
(S. 9): „Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Thp der geschützten Kreuzer,
wie er in der Herthaklasse sich darstellt, in dem Kreuzerball der deutschen
Marine als ein Übergang zu dem heutigen Panzerkreuzer anzusehen ist, bei
dein in Kampfkraft, Geschwindigkeit und Kohlenvorrnt die UnVollkommenheiten
zu vermeiden gesucht werden, die der Herthaklasse anhaften." Trotzdem bleibt
es zweifelhaft, ob nicht mit der Zeit ein Mittelthp zwischen dem etwa 10000
Tonnen - Panzerkreuzer und dem 3200 Tonnen-Kleinen Kreuzer doch nötig
werden wird. Gewiß ist der Panzerkreuzer durch seine Eigenschaften vortrefflich
als Führer der Aufklärungsgruppe sowie der Kreuzerdivision im Anslands-
dienst. Aber namentlich bei diesen bleibt es fraglich, ob sie nicht daneben
wenigstens noch ein 5 bis 6000 Tonnen-Schiff, anstatt mir drei kleine Kreuzer
enthalten sollte.
Von dein Sollbestcmd der Flotte an vierzehn großen Kreuzern gehören
fünf der Herthaklasse an, dazu die Kaiserin Augusta, also sechs Schiffe, die
künftig wohl ausschließlich im überseeischen Statiousdieust Verwendung finden
und nach ihren: Verbrauch durch Panzerkreuzer ersetzt werden dürften. Ans
diese entfallen demnach nach Maßgabe des Flvttengesetzes acht, von denen drei
im Dienst, zwei im Ausbau begriffen sind und eins im laufenden Sommer
auf den Stapel kommt. Es blieben dann zunächst nur noch zwei Panzerkrenzer
zu bauen. Da aber die acht Aufklärungsdivisionen der Schlachtflotte schon
allein acht Panzerkreuzer erfordern, einer wenigstens in Ostasien gebraucht
wird, einer für die amerikanische Division, so werden einschließlich der Material¬
reserve wenigstens noch vier bis sechs Panzerkreuzer nötig sein, die bei den
Beratungen über die Auslandsflotte gefordert werden dürften.
Vom Sollbestand der im Gesetz vorgesehenen 38 kleinen Kreuzer sind
29 im Dienst oder vorhanden, zwei soeben vom Stapel gelaufen, „Bremen"
und „Hamburg," „Ersatz Zielen" steht auf dem Stapel, und zwei sind
in diesem Sommer in Angriff genommen, sodaß noch vier kleine Kreuzer zu
fordern bleiben. Die kleinen Kreuzer repräsentieren bis jetzt gleichfalls die
verschiedensten Typen. Die jüngst vom Stapel gelaufnen „Bremen" und „Ham¬
burg," „Ersatz Zieten" und die neu in Allgriff genommenen kleinen Kreuzer
weisen einige nicht unbedeutende Veränderungen und Verbesserungen auf.
Die Ausschaltung der geschützten Kreuzer und die Vergrößerung der
Panzerkreuzer mußten zu einer Vervollkommnung der kleinen Kreuzer führen.
Es wird bei den fünf gegenwärtig im Bau begriffnen Schiffen dieser Klasse
die Geschwindigkeit von 21 auf 22 Seemeilen erhöht (Maschinen 10000 statt
8000 Pferdekrästc), der Gesamtkohlenvorrat wird statt 550 künftig 800 Tonnen
betragen, die Maschinenräume werden bequemer und luftiger und erhalten
besonders starken Panzerschutz, die Artillerie soll aus zehn 10,5 oro-Kanonen,
zehn 3,7 om-Maschinenkanonen und vier 8 in-Maschinengewehren besteh». Die
Maße sind: Länge 106 Meter, größte Breite 12,8, Tiefgang bei 3200 Tonnen
Deplacement rund 5 Meter. Auch hier scheint man also zu einem bestimmten
Typ gelangt zu sein. Damit haben wir bei den seit dem Jahre 1398 gebauten
kleinen Kreuzern schon drei verschiedne Gattungen zu verzeichnen. Ob in dem
oben beschriebnen Typ nunmehr der „Normaltyp" gefunden ist, bleibt abzu¬
warten. Wünschenswert wäre es.
Wie schon das vorige Jahrbuch bei einer Zusammenstellung der internatio¬
nalen Seestreitkräfte in Ostasien hervorhob, ist in Aussicht genommen worden,
die vertagte Forderung für die Anslandsflotte im Jahre 1904/05
all den Reichstag zu bringen, damit die Neubauten im Jahre 1906 begonnen
werden können. „Es ist dringend erforderlich, daß die Auslandsslotte ebenso
wie die heimische Flotte in sich selbst sowohl nach Zahl wie nach Typen
organisiert wird." Neuerdings gewinnt es den Anschein, als ob wegen der
sonstigen Obliegenheiten des Reichstags (Handelsverträge) die Forderung für
die Auslandsslotte noch verschoben werden würde, und die Bewilligungen erst
für den Etat von 1906 beantragt werden sollen. Auch ist noch nicht erkennbar,
ob die Ansichten über die Organisation und den Umfang der Auslandsflotte
schon völlig feststehn, welche Gefechtskraft man ihr geben, ob man Linienschiffe
oder Panzerkreuzer einstellen will usw. Am zweckmüßigsten wäre ein Ge¬
schwader von acht Linienschiffen (nebst zwei Materialreserven), von dein eine
Division in Ostasien aktiv, die zweite (eventuell in der Heimat) in Reserve
erhalten würde, demgemäß zwei Kreuzerdivisionen für Ostasien, je eine Division
für Ostamerika, Westamerika, Afrika und Südsee. Es würden das 10 Linien¬
schiffe und 24 Kreuzer (ohne Materialreserve) in geschloßnen taktischen For¬
mationen sein, ihre Vollendung wäre bis zum Jahre 1913 in Aussicht zu
nehmen, da ihr Bau neben den Neubauten und Ersatzbauten für die Heimats-
slotte einhergehn müßte. Kann Deutschland in finanzieller Beziehung sowie
in der Heranbildung der Offiziere und Mannschaften das leisten — die tech¬
nische Leistungsfähigkeit steht ja außer Zweifel —, so würden wir ungefähr
um das Jahr 1915 endlich eine der Stellung Deutschlands, seinen überseeischen
und seinen heimatlichen militärischen Interessen einigermaßen entsprechende
Wehrkraft zur See haben. Zwölf Jahre sind freilich eine lange Zeit, es ist
kaum anzunehmen, daß wir noch so lange Frieden behalten, außerdem gehört
dazu eine Volksvertretung, deren Patriotismus dauernd auf der Höhe ihrer
Pflichten steht.
Auf den sonstigen, ebenso lehrreichen wie interessanten Inhalt des Buches
läßt sich nur kurz verweisen. Die Fortschritte der fremden Kriegsmarinen,
die neusten Fortschritte der deutsche» Handelsmarine, die englische, die fran¬
zösische und die amerikanische Handelsmarine sind eingehend behandelt; die
Aufsätze „Weltpolitik und Seemacht/' „Ein Jahr des Fortschritts in China"
und „Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Südamerika" sind sehr
beachtenswert. Nicht minder der Artikel „Artillerie und Panzer", der es
unternimmt, diese schwierige Materie in einer auch dem Laien verständlichen
Weise vorzulegen. Den allgemein interessanten Angaben entnehmen wir, daß
z- B, das Panzergewicht des Linienschiffs Kaiser Wilhelm der Zweite
33,2 Prozent in Prozenten des Schiffsgcwichts beträgt, das Artilleriegewicht 7,6,
der Panzer wiegt also beinahe das Fünffache der Artillerie. Der Panzer
eines Linienschiffs kostet etwa 6 Millionen Mark, der früher etwa 2300 Mark
für die Tonne betragende Preis ist auf 1800 bis 1950 Mark herabgegangen,
je nach der Schwierigkeit der Form. Bei Panzerkreuzern — die an diese
Schiffsgattung zu stellenden Anforderungen werden genau angegeben — sind
die Panzer- und die Artilleriegewichtsprozente zugunsten der Geschwindigkeit
und des Kohlenfassungsvermögeus sehr viel geringer als die bei einem Linien¬
schiff und betragen etwa zwei Drittel davon. Der Panzerkreuzer ist also um
soviel verwundbarer.
Der Artikel handelt eingehend über Panzerschutz, schwere Artillerie, mittlere
Artillerie und leichte Artillerie, über Aufstellung der Geschütze, über Pulver und
Geschosse. Für die Wahl des Kalibers ist nicht das feindliche Kaliber, sondern
der zu durchschlagende Panzer maßgebend. Etwas tröstlich ist es, über den
Wettkampf zwischen Artillerie und Panzer in der Einleitung zu erfahren: „Die
Artillerie soll einen bestimmten Panzerschutz durchschlagen. Der Panzer soll
eine bestimmte Klasse von Geschützen abweisen. Der in diesen beiden Forde¬
rungen liegende Widerspruch würde unendlich sein, wenn man Geschütz- und
Panzerstärke nach Belieben steigern könnte. Das ist jedoch keineswegs der
Fall. Die GeschtttMiber finden ihre obere Grenze in der Handhabung, vor
allem in deu außerordentlich wachsenden Ausbreunuugen."
Ein tüchtiges Buch, dem weite Verbreitung zu wünschen ist, namentlich
bei all denen, die Deutschlands Wohl und Wehe mit zu beraten und mit zu
b
on Kolonien, besonders solchen, die für Deutschland als Reste
aus der großen Teilung der Erde übrig geblieben waren, kann
man nicht verlangen, daß sie sich plötzlich oder auch nnr bald
als Goldgruben erweisen, und anch wenn sie an sich und von
Natur aus gut und produktiv sind, wäre es ein Fehler, sie
unes alten (nicht bewährten) Mustern ü. tont xrix, ohne Rücksicht auf die Zu¬
kunft auszubeuten. Zu solcher Ausplünderung waren und sind, wie jeder¬
mann weiß, unsre Kolonien mit geringen Ausnahmen anch nicht geeignet.
Das ist kein Fehler im Sinne unsrer nationalen Kolonialwirtschaft, die von
jeher nicht auf heute und morgen, sondern auf die Zukunft gebaut hat und
bauen soll.
Samoa ist geeignet, eine Ausnahme zu schaffen, und verleitet dazu, wie
die Zahl der begeisterten kolvnisativnslustigen Landsleute und Interessenten
beweist. Auch die bisherige deutsche Verwaltung der Inseln ist, wenn auch
ohne entsprechende staatliche Unterstützung, auf eine schnelle Erschließung des
Gebiets gerichtet gewesen. Das ist objektiv sehr anzuerkennen, besonders
wegen der mit energischem Nachdruck unternommenen Verbesserung ländlicher
Verkehrsverhältnisse durch Wegebauten sowie durch eine bis jetzt erfolgreiche
Organisation und Beruhigung der Eingebornen.
Das Interesse für die kleine Inselgruppe ist seit vierzig Jahren groß,
seit zwanzig Jahren sehr groß und seit zehn Jahren — zu groß, wie die
Weltgeschichte lehrt. Das ist ein gutes Zeichen für die Inseln; das beste
Kriterium für ihren Wert liegt in der großen, keineswegs erloschnen Liebe
Englands und vor allein der englisch-australischen und pacifischen Kolonien
für Samoa. Diese, man kann sagen, internationale Sympathie für das
kleine Gebiet ist der mit wirtschaftlichem Ruin drohende Unstern für dieses
gewesen, dem die beteiligten Mächte ihre zwecklosen Millionenverluste danken,
ganz abgesehen von sonstigen Opfern. Daß das nichtdentsche Interesse für
Deutsch-Samoa auch heute noch besteht, ergibt sich unter anderm auch aus
der Tatsache, daß nach dem Abschluß des deutsch-englisch-amerikanischen
Teiluugsvertrags vou englischer Seite die ersten Kolonisationsspekulatiouen
und Pflanzungsunternchmungen angeregt und auch gegründet wurden. Die
politische Bedeutung dieser Erscheinung wird hoffentlich an maßgebender
deutscher Stelle nicht unterschätzt; sie findet einen Stützpunkt, um nicht zu
sagen ein Agens, in dem Übergewicht der einst gewichtigen englischen Mission
auf Samoa.
Daß entsprechende Unternehmungen deutschen Ursprungs zunächst noch
rückständig geblieben sind, könnte dem gegenüber verwundern; auch das ist
aber erklärlich und findet wohl zum Teil seinen Grund in den eingangs er¬
wähnten falschen Vorstellungen über Kolonialpolitik, d. h. in dem Mangel
großer Erfolge der deutsch-kolonialen Pflanzungs- und Handelsgesellschaften,
deren Mitglieder oder Teilhaber sich selbst und die Unternehmungen durch
allzugroße Erwartungen geschädigt haben. Man dachte schon zu ernten, wo
die Saat kaum bestellt sein konnte usw. Durch solche in objektiver Würdigung
völlig unberechtigte Enttäuschungen hat erklärlicherweise auch das Vertrauen
des Publikums gelitten; und den Gesellschaften kann man den Vorwurf nicht
ganz ersparen, daß sie oder doch die maßgebenden Personen dabei eine gewisse
Rolle gespielt haben, indem sie selbst die Verhältnisse zu optimistisch beur¬
teilten und darstellten, weil ihnen das richtige Urteil und die praktische Erfahrung
fehlten. Enttäuschungen sind eben eine schlimme und vielfach unterschätzte Folge
auch guter Absichten; sie möglichst zu verhüten ist eine wichtige Aufgabe der
Kolonialpolitik und nicht minder der Kolonialgesellschaft. Die Devise Dr. von
Wißmanns in bezug auf die Arbeiterfrage „Geduld und keine Überstürzung"
(Ur. 3 der Kolouialzeitung, 1902) verdient auch ganz allgemein Würdigung
und Geltung.
Trotz solchen Enttäuschungen und schlechten Erfahrungen werden viele
— Nur wollen hoffen die meisten — Kvlonialunteruehmungen doch noch zu
einem guten Ziele gelangen und allmählich wieder die Vorurteile überwinde«,
zu denen sie teilweise geführt haben. Bedingung dafür ist vor allem erhöhte
Anforderung an Sachkenntnis und Erfahrung der Unternehmer, die samt ihren
Gönnern und Interessenten oft noch in vorschneller Begeisterung manche
Schwierigkeiten und Vorsichtsmaßregeln nicht genügend würdigen. Außerdem
fehlt oft eine gewisse Stetigkeit und Konsequenz in Theorie und Praxis; die
Theorie herrscht leider immer noch zu sehr vor; für koloniale Kulturen ist sie
aber insofern noch bedenklicher als für die Landwirtschaft, als ihre allzusehr
und notgedrungen verallgemeinernden Lehren dem sonst ratlosem Pflanzer und
Unternehmer leicht mehr sind, als sie sein können und sein wollen. Dieselbe
Vvdenqualitüt auf Samoa zum Beispiel kann nicht ohne weiteres nach Kame¬
runer Rezepten beurteilt und behandelt werden; die maßgebenden Verhältnisse
sind überall verschieden und aus Büchern schwer zu erkennen. Auch Geheim¬
rat Wohltmann hat in seinem ersten Gutachten über Samoa bei seinem Besuch
erkannt, daß es von Kamerun sehr verschieden ist.
Die allein schon aus unsern heimischen Erfahrungen und Verhältnissen
höchst selbstverständlichen Grundbegriffe und Regeln für die Beurteilung kolo¬
nialwirtschaftlicher Fragen werden erstaunlich verkannt und unterschätzt. Man
macht überhaupt in kolonialen Angelegenheiten oft ganz merkwürdige Er¬
fahrungen, die aus Rücksichten vielfach verschwiegen werden, obgleich sie
sicherlich von allgemeinem Interesse und lehrreich sind. Solche Erfahrungen
und Aufklärungen sind dem Verständnis und der richtigen Würdigung unsrer
kolonialen Ziele unter Umständen dienlicher als lauge Berichte und einseitige
Urteile über die Kolonien selbst; denn sie sind geeignet, Enttäuschungen zu
verhüten. Ich habe deshalb schon früher einige Fälle kurz angedeutet und
möchte hier eine» weitern nicht unerwähnt lassen. Im Jahre 1901 wurde
ich von der beabsichtigten Gründung einer Pflanzungsgesellschaft benach¬
richtigt und gebeten, dem Ehrenkomitee beizutreten, sowie das Unternehmen
auch anderweitig zu fördern. Infolge der mir gemachten Mitteilungen über
die Absichten und Grundlagen, sowie über die persönlichen Angaben des Leiters
glaubte ich dem Wunsche entsprechen zu sollen, obgleich mir die übliche Re¬
klame mit Ehrenausschüssen und Ehrenkomitees dem praktischen Zwecke solcher
Gründungen nicht sonderlich zu entsprechen schien. Solange wir aber in den
Kolonien selbst nicht hinreichende Kenner und Bürgen für solche Unter¬
nehmungen haben, und solange daheim noch das richtige Verständnis fehlt,
wird es natürlich schwer sein, ohne diese persönliche Autoritätswirknug, die
leider noch oft vorherrschend an Namen und Titel gebunden ist, Kolonial¬
gesellschaften zu gründen. Bemerkenswert an dem betreffenden Beispiel ist,
daß solche „Ehrenmitglieder" nach meinen Erfahrungen mit der Reklame er¬
ledigt sind und nichts mehr von dem weitern Verlauf der Sache, für die sie
sich interessieren sollten, zu hören bekommen-
Der Mangel an richtigem und genügendem Verständnis für unsre Kolo¬
nien ist sehr erklärlich, denn tatsächlich fehlen noch die Erfahrungen, und vor
allem zuverlässige äußere Zeichen der Entwicklung. Gerade die Symptome
aber, die am meisten hervortreten, vorzugsweise bemerkt werden und der Kritik
dienen: die Gründung vou Gesellschaften und deren Fortschritte, waren mit
wenig Ausnahmen bisher leider nicht sonderlich geeignet, für wirtschaftliche Be-
tätigung und praktisches Interesse zu begeistern, und um die nach den bis¬
herigen Erfahrungen weit ersprießlichern lind nutzbringenden stillen Pionier¬
arbeiten einzelner tüchtiger Kolonisten kümmert sich die Allgemeinheit wenig —
viel zu wenig; denn das schätzbarste Kolonisationstaleut der Dentschen liegt,
wie die Entwicklung überseeischer Gebiete lehrt, weniger in großen Unter¬
nehmungen als in der zähen, anspruchslosen Arbeit und Ehrlichkeit des Ein¬
zelnen. Auch die Bedeutung Scimoas können wir positiv oder negativ bisher
eigentlich nnr nach den Erfolgen der „Deutschen Handels- und Plantagen-
gesellschcift der Südseeinseln zu Hamburg" beurteilen; alle neuern Unter¬
nehmungen sind noch zu jung und erlauben deshalb keine zuverlässigen Schlüsse.
Während Samoa und die Südsee überhaupt dein genialen Handelshaus
Godeffroy <K Sohn jahrelang, etwa bis 1874, also in dessen erster Südsee-
erobernngszeit, großen Gewinn abwarfen, wirtschaftete dessen Erbin, die Deutsche
Handels- und Plantagcngesellschaft zu Hamburg, bis 1894 fast ohne solchen,
da sie bis 1889 aus den Einnahmen ihre Pflanzungen erweiterte und erst seit
1894 die eigentliche Ernte begann. Diese wurde durch die schwierigen
politischen Verhältnisse und andre Umstände nachteilig beeinflußt und ver¬
zögert. Seitdem durften die Teilhaber mit dem Erfolge (12 Prozent Dividende)
zufrieden und berechtigt sein, noch viel bessere zu erwarten; wenn sie aus¬
bleiben, darf utan Samoa selbst daran nicht die Schuld geben.
Daß Samoa fruchtbar und für Tropeukulturen in hohem Maße geeignet
ist, beweisen vor allem, oder bisher allein, rationelle Versuche und Kulturen
in kleinen: Maße, wo richtige Auswahl des Landes, sachgemäße Behandlung
der verhältnismäßig einfachen Betriebe vorhanden und ausreichende Kenntnis
der Verhältnisse mit genügend Arbeitskraft vereint waren. Wie ich schon im
zweiten und vierten Jahrgang der „Beitrage zur Kolonialpolitik und Kolonial¬
wirtschaft" bemerkt habe, und wie es auch anderweitig oft genug rühmend
anerkannt worden ist, hat der Verwitterungs- und Verwesungsboden Samoas
ein außerordentlich hohes und vor allem für tropische Dauerkulturen geradezu
unerschöpfliches Produktionsvermögen. Aber anch hier gibt es mehrere „aber,"
wie die Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft ans schlechten Erfahrungen
gelernt hat.
Man muß sich vor der Anlegung von Pflanzungen vergewissern, ob die
sonst nötigen Bedingungen auch vorhanden sind. Das ist zwar eine unsern
Landwirten so selbstverständliche Erfahrungsregel, daß ihnen diese Erwähnung
hier überflüssig erscheinen könnte; und ein tüchtiger Landwirt würde wahr¬
scheinlich, auch unter jenen abweichenden Bedingungen, Fehler vermeiden; da
solche indessen gemacht worden sind und vielleicht immer noch gemacht werden,
andrerseits die Kolonisten, auch die Pflanzer, keineswegs immer erprobte Land¬
wirte sind, so ist eine Mahnung in dieser Richtung sehr geboten.
Die Pflanzer selbst haben das erst kürzlich bestätigt durch Gründung
eines Pflanzervereins und den Wunsch nach einem tüchtigen, in tropischen
Kulturen erfahrenen Fachmann. Der junge Pflanzerverein, dem aber leider
einige der alten erfahrnen Ansiedler noch nicht angehören, hat sich auch die
anerkennenswerte Aufgabe gestellt, Ansiedlungslustigen Auskunft und Rat¬
schläge zu erteilen. Damit ist allen denen, die es nach Samoa zieht, Gelegen¬
heit geboten, sich rechtzeitig über die Aussicht ihrer Wünsche und Absichten zu
orientieren. Nach manchen bisher von Apia gekommenen angeblichen Pflanzer¬
berichten müßte man allerdings auch dann noch Vorsicht empfehlen.
Sennor ist ein Land der Widersprüche. Das gilt auch im Vergleich mit
andern Schutzgebiete». Deutsch-Samoa tritt in mehrfacher Beziehung aus dem
Rahmen unsers Kolonialbesitzes vorteilhaft heraus und verlangt demgemäß
auch eine besondre Beurteilung. Als Beispiel dafür möge die Tatsache dienen,
daß die für unsre Schutzgebiete berechnete und zweifellos sehr zweckmäßige
„Tropische Gesundheitslehre" von Dr. C. Meuse (Süßerotts Kolonialbibliothek)
für Sennor wenig, um nicht zu sagen keine praktische Bedeutung hat, weil
die üblichen Tropenkrankheiten dort unbekannt sind, und das Klima trotz seiner
hohen Wärmegrade (23 bis 31 Grad Celsius) außerordentlich gesund ist. Diese
klimatischen Vorzüge teilen mit Samoa höchstens noch die Karolinen, die
Marianen und die Marschallinseln, deren materieller Wert aber mit Samoa
gar nicht zu vergleichen ist. Die für unsre afrikanischen Kolonien und Neu¬
guinea so wichtigen Lebensfragen für Ansiedler und Beamte sind hier bedeutungs¬
los, falls man nicht in den Bergen Npolns oder Savaiis ein Sanatorium
für jene Gebiete einrichten wollte, für Samoa selbst ist das schon in kleinem
Maßstabe am herrlichen Kratersee Lanutoo geschehen.
Hierbei sei auch der mehrfach geäußerten Ansicht widersprochen, daß das
Klima Deutschen nicht erlaube, ungestraft im Schweiße ihres Angesichts ihr
Brot zu verdienen. Wer Lust hat zu arbeiten, der kann sich diesem nützlichen
Vergnügen ohne üble Folgen hingeben, bisher ist körperliche Arbeit und An¬
strengung in richtigem Maße meines Wissens noch niemand auf Samoa
nachteilig gewesen. Gesundheitsrücksichten brauche» also keinen tüchtigen
Kolonialfreuud vor einer Betätigung auf dem neusten Schutzgebiet abzu¬
schrecken, wenn sonst die nötigen Mittel und Eigenschaften vorhanden sind
und dazu raten lassen.
Die Schattenseiten bei richtigen Kultnrunternehmungen sind verhältnis¬
mäßig klein im Vergleich mit andern tropischen Gebieten und leicht zu ver¬
meide», soweit eure Auswahl des Landes möglich ist; denn der Boden, d. h.
die Bodenkrnme ist außerordentlich fruchtbar, vou einem erstaunlichen Gehalt
an Phosphorsüure und Eisen und reich an Stickstoff; Armut an Kali, wie
Geheimrat Wohltmcmn ermittelt hat, spielt keine Rolle. Außerdem gewährt
dem Boden in tiefern Lagen der nnuuterbrochue Verwitterungs - und Ver¬
wesungsprozeß in höher» Gebieten andauernd neue Zufuhr und Gelegenheit
zur Regeneration. Man kaun ohne Bedenken behaupten, daß jede richtige
Kultur an geeigneter Stelle*) gut, wenn uicht vorzüglich gelingen und
hohe Erträge bringen muß, zumal da elementare Ereignisse, wie sie andre
paeifische Inselgruppen heimsuchen, nach den bisherigen Erfnhrnngcu kaum
zu befürchten sind.
Ich zweifle deshalb nicht an den guten Aussichten der Kakaokulturen
auf Scimoa, auch nicht an der Wahrscheinlichkeit sehr großer Ertrüge — aber
an dem allgemeinen Vertraue« auf lange Rentabilität. Maßgebend dabei ist
die Erfahrung, daß auch Tropenkulturen einer gewissen Periodizität unter¬
worfen sind, deren Erscheinungen man fast als Mode bezeichnen könnte, die
sich nach einer entsprechenden Zeit überlebt. Gerade auf Samoa können wir
zwei solche Modeperioden feststellen, die sich beide überlebten, als sie gerade
auf der Höhe standen: die Baumwollen- und die Kokospalmenzeit. Jetzt
kommt der Kakao — hoffentlich bald mehr! Die Hcmdelsstatistik hat erwiesen,
daß der Kakaokonsum jährlich steigt, ohne daß die Preise fallen, daß also der
Bedarf mindestens ebenso steigt. Bei den gegenwärtigen Preisen ist die Kakav-
knltnr lohnend, sogar sehr lohnend. Also heißt es: Baut Kakao! Und so
geschieht es, natürlich allerorten; der Erfolg nach einer Reihe von Jahren
wird aber sein: Rückgang der Preise und schließlich Überproduktion, nachdem
die Verbillignng des Artikels noch einige Zeit den Konsum bis zum Maximum
gesteigert hat. Dann kommt eine neue Mode. Diese Erfahrungen brauchen
natürlich niemand abzuhalten, die Mode rechtzeitig mitzumachen, zumal
wo auf beste Ware zu rechnen ist, die dann schließlich im endgiltigen Wett¬
kampf ihren Wert behält; das darf man für Samoa erwarten. Aber ein
Weiser Unternehmer wird die Konjunkturen vorweg berechnen und beizeiten,
möglichst ganz im stillen, sein Augenmerk auf andre Bahnen richten. Solche
neue Quellen sind natürlich immer schwerer zu finden, je mehr die Kolonial-
kultnren wachsen und rationell betrieben werden.
Die bisherigen Kulturunternehmuugeu haben, wie kürzlich auch Forst¬
verwalter W. Krüger") sehr treffend dargelegt hat, fast ausnahmlos an
Erfahrungsmangel der Pflanzer laboriert und dementsprechend mit viel
höhern Kosten zu rechnen gehabt als nötig war, weil den betreffenden Per¬
sonen neben praktischer Erfahrung vor allein die dringend erwünschte Kennt¬
nis aus vergleichender Beobachtung fehlte; sie sind Autodidakten, ihre Weis¬
heit stammt überwiegend oder allein von Samoa; wenn sie es trotzdem zu
Erfolgen gebracht haben, so ist das sehr anerkennenswert, aber sie hätten ihre
Erfahrungen besser und billiger sammeln und zu größern Erfolgen fördern
können, wenn sie sich vorher in andern, ältern und vielseitigen Kulturgebieten
ans Ceylon, Java oder Hawai usw. orientiert Hütten. So aber schloß der
Horizont ihrer Kenntnis mit Samoa und — Semmler ab. Sein Hcmd-
und Lehrbuch für Tropenkulturen mag in vieler Beziehung mustergiltig sein;
aber auch die darin aufgespeicherte Menge vielseitigen Wissens bedarf für
richtige Nutzanwendung einer kritischen Würdigung; denn „Eines schickt sich
nicht für alle." Jedem, der sein Glück selbstündig auf Samoa versuchen will,
sei deshalb dringend empfohlen, sich — es ist so bequem und eigentlich selbst¬
verständlich — auf der Ausreise anderwärts Pflanzungen und Methoden an-
zusehen; nicht nur nach dem Grundsatze: „Was ist für mein besondres Vor¬
haben oder Repertoire instruktiv?" sondern: „Was eignet sich überhaupt für
Samoa?" Alles prüfen, und das Richtige anwenden! Die Deutsche Handels¬
und Plantagengesellschaft würde bei aller Tüchtigkeit und anerkennenswerten
Bemühung ihrer Verwalter weit mehr erreicht und weniger Lehrgeld gezahlt
haben, wenn sie dieses Prinzip weise befolgt Hütte. Außerdem wächst mit solcher
Erfahrung auch das Interesse. Auch die Trvpenkultnren arbeiten schon mit
Intelligenz und sind auf solche angewiesen, wenn sie von Nutzen sein sollen.
Das wird leider vielfach noch unterschätzt, weil den meisten, die hinaus¬
gehn wollen, um zu säen, überhaupt jedes Verständnis für Tropcnver-
hültnisse fehlt und dazu auch noch die rechte Möglichkeit, sich beizeiten zu
orientieren und belehren zu lassen; »usre Kolonialliteratur läßt in dieser Be¬
ziehung viel zu wünschen übrig. Manche Kolonisativnslustige wenden sich
schon deshalb an die Deutsche Kvlonialgesellschaft, an das Kolonialwirtschaft¬
liche Komitee oder an das Auswärtige Amt; aber viele kennen selbst diese
dankenswerten Auskunftstellen noch nicht oder wissen sie nicht zu würdigen.
Unsre Kolonialwirtschnst laboriert augenblicklich noch unter der veralteten
Richtung unsrer Landwirtschaft, die gewissermaßen als Lebensberuf für unbe¬
fähigte Sohne betrachtet wurde. Auch für die .Kolonien interessieren sich
hauptsächlich ähnliche Kreise, denen es nicht recht gelingen will, sich daheim
eine angenehme Lebensstellung zu erringen. Das ist ein Nachteil für sie und
ein noch größerer Schaden für die Kolonien. Ich habe bisher mit Über¬
zeugung fast noch keinem „Bewerber" zureden können, sein Glück auf
Samoa zu versuchen; und so geht es wahrscheinlich anch maßgebenden In¬
stanzen. Die Zeit wird kommen, wo auch das anders wird; aber es hat
damit keine Eile.
Langsam aber sicher, wenig und gut, sei der Wunsch für die wirtschaft¬
liche Entwicklung und die Besiedlung Samvas auch im Juteresse des viel¬
gerühmten und interessanten, edeln und schönen Volksstamms, der allzubald
der Zivilisation zum Opfer gefallen sein wird, und mit ihm, das wird die
Zukunft lehren, verliert die „Perle der Südsee" ihren schönsten Glanz.
>us den Anlagepapieren und den Buchfvrdernngen nebst dem
baren Gelde und seinen papiernen Ersatzformen ergeben sich
die Anrechte an den Güterbesitz der Gesamtheit. Ist die Summe
dieser Anrechte größer als die Summe der dagegen vorhandnen
I Güterwerte, so liegt eine Untcrbilanz vor. Das wird in der
Regel der Fall sein, da für den nicht zum Konsum gelangenden Teil der
neuerworbnen Geldansprüche immer erst Güter hergestellt werden müssen. EineWH
K
unzulässige Unterbilanz von ernstlicher Bedeutung und Nachteiligkeit zeigt sich
aber, wenn man das Recht auf Benutzung des Erdbodens und die sonstigen
Monopolrechte als vermeintliche Vermögcnsobsekte angesehen und darauf eben¬
falls Gelder geliehen hat. Die Möglichkeit, durch Benutzung solcher erlangter
Vorrechte Güter erzeugen und Geld verdienen zu können, ist kein Gilterbesitz.
Für alle Schuldpapiere, die auf den Grund und Boden ausgestellt sind, oder
wofür nur dieser als Unterpfand in Betracht kommen kann, sowie für die sich
auf Monopolrechte stützende Kurshöhe der Aktien, Knxe und ähnlicher Anteil¬
scheine sind keine wirklichen Güter vorhanden. Dadurch, daß Schuldpapiere
auch auf solche in verliehenen Rechten bestehenden Werte ausgegeben wurden,
ist eine Überschuldung entstanden. Was die Menschheit als Reichtum zu be¬
sitzen glaubt, sind vorzugsweise solche Vorrechte, die einem kleinen Teil der
Gesamtbevölkerung eingeräumt worden sind. Diese Vorrechte haben nur für
ihre Inhaber Wert; sie geben die Handhabe, außergewöhnlich hohe Geld¬
gewinne zu erlangen, die von den übrigen Menschen bezahlt werden oder
durch menschliche Arbeitleistungen aufgebracht werden müssen.
Nur soweit ein. Überschuß der Geldguthabcn über die wirklichen Güter¬
werte vorliegt, kann dieses Geld — vermindert um die in den bestehenden Ge¬
schäftsbetrieben und in den Haushaltungen nötigen laufenden Ausgaben — zu
neuen Gewerbennternehmen verwandt oder hergeliehen werden. Auch hierbei
ist es nicht ausschlaggebend, wie groß die Summe der Umlaufsmittel ist, die
ein Land hat. Nur soweit das umlaufende Geld in den einzelnen Händen
mit zu den erübrigten Kapitalien gehört, ist es für neue Anlagen benutzbar.
Nur das Geld kann kaufen, das nicht zur Berichtigung von Schulden bestimmt
ist. Wie jeder Privatmann nicht nach Belieben über sein Geld verfügen kann,
sondern berücksichtigen muß, welche fällig werdenden Allsgaben er damit zu
bestreiten hat, so richtet sich auch im Grvßverkehr die Kaufkraft danach, wie
weit der Geldvorrat und die Ausstünde, die flüssig gemacht werden können,
die eingegangnen Verbindlichkeiten übersteigen.
Neu produziertes Gold vermehrt nicht den Kapitalbesitz; u»r was der
Goldproduzent davon mehr gewonnen hat, als die Produktionskosten betragen
haben, und als er zur Bestreitung seiner Lebensbedürfnisse ausgibt, macht
eine Vermehrung des Kapitals aus. Die Leiter und die Aktionäre der Gold¬
minen pflegen ihre Einkommen nur zum Teil zum Lebensunterhalt zu ver¬
brauchen. Sie sind gewöhnlich in der Lage, den größern Teil entweder
in ihren eignen Gewerbebetrieben oder zum Anlnnf von Anlagcwerteu
zu benutze», sodaß diese Summen direkt oder indirekt für neue oder für er¬
weiterte Unternehmen Verwendung finden. Wenn kein neues Gold aus dem
Erdboden gewonnen wird, ist somit der Kapitalznwachs nur dadurch geringer,
daß kein Erwerbseinkommen der Goldproduzenten entstanden ist. Ebensowenig
wie durch eine Vermehrung des Metallgeldes kann durch die Ausgabe von
Papiergeld oder von Banknoten einer Geldknappheit — also dem Mangel an
genügenden disponibel» Geldgilthaben — abgeholfen werden. Der Staat oder
die Banken erhalten, wenn sie ihre Noten in den Verkehr bringen, den Gegen¬
wert dafür in Snchgütern oder in Schuldverpflichtungen, und die Noten werden
immer nur an jemand weitergegeben, der einen Geldanspruch hat. Zur Be¬
friedigung dieses Geldauspruchs bedarf es aber der Noten oder des baren
Geldes überhaupt nicht, da ein Scheck oder dergl. die Zahlung dnrch Über¬
tragung von Bnchforderungen ebensogut zu vermitteln vermag.
Das Geld zu neuen Gewerbeanlagen kann also nur aus den durch Er¬
werbgewinn (einschließlich Rentenbezug) entstandnen Überschüssen, die nicht
konsumiert wurden, entnommen werden. Mehr Geld läßt sich dazu nicht be¬
schaffen, und dieses erworbne Geld muß auch sämtlich zu produktiven Zwecken
Verwendung finden, da es keine sonstige Verwertung dafür gibt! mau müßte
es denn als Barmittel aufsparen wollen, was keinen Ziusgenuß bringt. Durch
den Verkauf schon vorhandner Anlagepapierc entstehn keine Mittel zu Neu¬
investierungen; das Geld und die Schuldpapiere wechseln beim Verkauf der
Papiere mir die Hunde. Der Käufer der Schuldtitel gibt sein erworbnes Geld
an den Verkäufer, und dieser beuutzt es daun zu dein beabsichtigten neuen
Unternehmen. Was von bestehenden Anleihen im Wege der Amortisation
oder in sonstiger Weise zurückgezahlt wird, könnte wieder anderweitig belegt
werden, würde also eine Vergrößerung des zu Neuanlagen verfügbaren Kapitals
bedeuten; aber nur soweit es sich um Staatspapiere und Koinmnnalobligationen
handelt, und auch dabei nur, wenn die Einlösung aus den eingegangnen
Steuern erfolgt und nicht etwa durch Gelder geschieht, die durch eine neue
Anleihe aufgebracht worden sind. Dagegen wird, wenn private Schuldurt'unten
aus dem Erwerbgewinn der Schuldner getilgt werden, das disponible Kapital
nicht vermehrt. Das in solchen Fällen freiwerdende Kapital hat erst von dem
neuerworbncn hergegeben werden müssen, es war also schon als verfügbares
Geld vorhanden, und eine Vermehrung des gesamten, zu Aulagezwccken be¬
nutzbaren Betrages ist nicht geschehn. Die zurückgezahlte Kapitalsumme ist
aus dem Besitz ihres ErWerbers in die Hände des Inhabers eines Schnld-
papiers gelangt, und es bleibt jetzt diesem befriedigten Gläubiger überlassen,
ob er das zurückerhaltne Geld wieder als Kapital anlegen oder es konsumieren
will. Wenn die Kurse der Aulagepapiere gefallen sind, braucht der Käufer
weniger Geld zum Ankauf, es bleibt ihm demzufolge mehr Kapital, das er
anderweitig verwenden kann. Dagegen hat der Verkäufer der Papiere diese
Differenz eingebüßt, sein Erwerbgewinn wurde dadurch um denselben Betrag
geringer, sodaß sich die Geldersparnis des Käufers und die Geldeinbußc des
Verkäufers ausgleichen. Umgekehrt erhält, wenn die Kurse gestiegen sind, der
Verkäufer mehr, und der Käufer hat diesen Mehrbetrag zu zahlen, was sich
ebenfalls gegeneinander ausgleicht. Durch die veränderte!, Kurse der Anlage-
werte in den Händen der Kapitalisten wird also das zu Neuanlagen verfüg¬
bare Kapital weder vermehrt noch vermindert. Zwar sieht der Besitzer von
Anlagepapieren, wenn die Kurse gestiegen sind, darin einen Zuwachs seines
Vermögens, und ein Geschäftsmann, der beim Jahresschluß die Bilanz zieht,
wird einen solchen Kursgewinn dem von ihm im verflossenen Jahr gewonnenen
Einkommen hinzurechnen. Aber realisieren läßt sich der Kursgewinn nur durch
einen Verkauf der Papiere, und der Käufer kaun immer nur jemand sein, der
das zur Bezahlung nötige Geld bar oder in Buchforderungen und es noch
nicht anderweitig festgelegt hat. Ob es inländische oder ausländische Fonds
sind, die veräußert werden, macht keinen Unterschied, und die Gesamtsumme,
die zu Ausgaben flüssig gemacht werden kann, verändert sich dadurch nicht,
wenn man den Vermögensbesitz der gesamten Kulturmenschheit ins Auge faßt.
Ju einem einzelnen Lande ist natürlich die zu Ausgaben, und also auch zu
Neuanlagen, verwendbare Summe geringer, wenn Geld im Ausland belegt
wurde, oder nimmt zu, wenn das Ausland Gelder vorstreckt oder zurückzahlt.
Alles Geld, das in einem Lande zur Erfüllung der wachsenden wirt¬
schaftlichen Aufgaben gebraucht wird, also namentlich: was die Industrie dazu
nötig hat, sich auszudehnen; was zur Vermehrung der Eisenbahnen dient; was
zum Ban von Schiffen nötig ist, was der Staat zur Bestreitung seiner durch
die Steuereiugüuge nicht gedeckten Ausgaben cmzuleiheu gezwungen ist — alles
Geld kann nur aus den neu erübrigten, nicht kvnsumierteu Mitteln der Er¬
werbenden entnommen werden. Die Kapitalien, die schon belegt sind und in
zinstragenden Forderungen bestehn, lassen sich dazu nicht mehr benutzen. Sie
können zur Befriedigung des allgemeinen Geldbedürfnisses uur dadurch bei¬
tragen, daß ihr Zinsertrag die Einkommen der Kapitalisten erhöht, sodaß
dadurch die sich bildenden Summen neuerworbnen Kapitals größer werden.
Denn diese Zinseinnahmen, durch die sich die Erwerbgewinne der Kapitalisten
vergrößern, werdeu nicht etwa aus den den Verbrauch übersteigenden Einkünften
der Schuldner bezahlt, sondern, wie alles erworbne Geld, von der großen
Menge der Konsumenten hergegeben. Jeder Erwerbtütige, der Zinsen zu
zahlen hat, erlangt das Geld dazu ans den für seine Waren, Produkte oder
Leistungen erzielten Preisen, oder durch die Pacht oder Miete, die er erhebt.
Und das Geld, das der Staat zu Zinszahlungen braucht, verschafft er sich durch
die von der Gesamtbevölkerung zu entrichtenden Steuern.
Ein Staat, der mehr Geld ausgibt, als ihm dnrch die Steuern oder
durch die Einkünfte aus den Staatsgewerbebetrieben zufließt, macht Schulden.
Wer Geld leiht und es verbraucht — sei es der Staat oder ein Privatmann —,
verringert seinen Vermögensbesitz. Das Vermögen wird aber nicht verkürzt,
wenn für das angeliehene Geld nützliche Anschaffungen gemacht werden, und
wenn deren sich abnutzender Sachwert dnrch fortgesetzte Aufwendungen, die
als laufende Geschäftsunkosten ausgegeben werden, unvermindert erhalten wird.
Es würde sich dann der Vermögensbestand dadurch, daß Gelder darauf auf-
genommen wurden, nur insofern vermindern, als diese Schulden verzinst werdeu
müssen. Und wenn die mit dem geliehenen Gelde gemachten Anschaffungen
produktiven Zwecken dienen, pflegen dadurch auch die Zinsen aufgebracht zu
werdeu. Das Geld, das sich der Staat durch Anleihen verschafft, muß von
dem neuerworbuen freien Kapital hergegeben werden, das dadurch zum fest¬
gelegten Nentenkapital wird. Wenn der Staat Papiergeld ausgibt, so ist das
eine unverzinsliche Anleihe. Wer Papiergeld besitzt, ist ebensowohl Gläubiger
des Staats, als wenn er dessen Obligationen gekauft hätte. Daß der Staat
bei Anleihen erst einen Geldleiher finden muß, während er sich dnrch die Aus¬
gabe von Papiergeld ohne weiteres die Umlaufsmittel verschafft, ist nur ein
scheinbarer Unterschied. Der Staat kann nicht mehr Papiergeld ausgeben, als
der Verkehr aufzunehmen geneigt ist. Mehr nusgegebues Papiergeld würde
immer wieder — bei Zahlungen an den Staat — in dessen Kassen zurück¬
kehre». Oder das Papiergeld würde dein Metallgeld gegenüber im Verkehr
als von geringerm Wert erachtet werden, sodaß, wenn jemand anstatt mit
barer Münze mit Papiergeld zahlt, er darauf einen Verlust erleiden müßte.
Wenn aber ein solcher Nachteil mit dem Papiergeld verbunden ist, wird es
dein Staat nicht abgenommen werden; ein erzwungner Umlauf von Papiergeld
kann nur in finanziell notleidenden Staaten vorkommen.
Durch Zahlung der Steuern oder der sonstigen Abgaben wird die Kapital-
bildung nur dann beeinträchtigt, wenn solche Unkosten vom erübrigten Ein¬
kommen der Erwerbtätigen bezahlt und nicht auf die Preise aufgeschlagen
werden, die die Gesamtheit für ihren Lebensunterhalt zu zahlen genötigt wird.
Falls die Produzenten, sobald sie höhere Unkosten haben, demgemäß auch die
Verkaufspreise zu erhöhen vermögen, bleibt der Gewinn, den sie haben, un¬
verändert. Die Kapitalbildung nimmt zu, je höhere, gewinnbringendere Preise
den Produzenten von der konsumierenden Gesamtheit bewilligt werden. Da¬
gegen wird die Kapitalbilduug nicht gesteigert, wenn'man sich allgemein zu
vermehrten Arbeitsleistungen zu dem Zweck, dadurch mehr zu erwerben, und
zugleich zu eingeschränkten Verbrauch, zu dem Zweck, mehr zu ersparen, ent¬
schließen wollte. Die Arbeit hat nur dann wirtschaftlichen Wert und findet
nur dann ihren Lohn, wenn sich Abnehmer für das Geleistete und Hervorge¬
brachte finden, während ein ungenügender Verbrauch das Mehrerarbeitete
unverwendbar macht. Im Zeitalter der Maschinenarbeit ist es nicht mehr
dauernd durchführbar, daß der größere Teil der Meuschen Sklavenarbeit ver¬
richtet und darbt, damit eine kleine Minderzahl desto größere Reichtümer er¬
werben und desto üppiger leben könne. Das war möglich, als der Reichtum,
den jemand besaß, in angehäuften barem Gelde, Kostbarkeiten, verwertbaren
Gütermengen und in der Arbeitskraft von Sklaven bestand. Jetzt besteht der
Reichtum zumeist im Besitz von Schuldverschreibungen, die nur Wert haben,
solange dafür Produktionsmittel vorhanden sind, für die es lohnende Ver¬
wendung gibt, und die dadurch auch die den Inhabern der Schnldpapiere zu
zahlende Rente aufbringen. Die mit der Maschinenkraft, die sich fast unbe¬
grenzt vervielfältigen läßt, fortwährend beträchtlich anwachsende Gütererzeugung
verlangt auch einen entsprechenden Massenverbrauch, ohne deu der Kapitalreich¬
tum keinen Zweck hätte und nicht von Bestand sein würde. Wenn die erzeugten
Gütermengen nicht aufgezehrt werden können, und die sie herstellenden Produk¬
tionsmittel keinen Ertrag bringen, verliert der Kapitalreichtum — das sind
die Anrechte auf diese Güter und diese Herstellnngsmittel — seine Grundlagen.
Nur ein im richtigen Verhältnis zu der Produktionskraft und zum Konsnm-
vermögen stehender Kapitalbesitz ist imstande, die Güterwerte, auf die er
Auspruch hat, auch wirklich zu erlangen. Ein maßlos anwachsender Kapital¬
reichtum kann seinen Besitzern nichts nützen und hemmt und erschwert zndeiu
die befriedigende Gestaltung des gesamten wirtschaftlichen Lebens. Das Kapital
kann nur dadurch gewonnen werden, daß die Gesamtheit ihren Lebensunterhalt
zu hoch bezahlt, oder — mit andern Worten — daß sie zu wenig Konsum
gegenständc für ihr Geld erhalt. Durch den Kapitalerwerb wird also die große
Menge verhindert, mehr zu verbrauchen, und zugleich werden durch das so
erworbne Kapital immer noch mehr Produktionsmittel und Konsumgüter ge¬
schaffen. Es zeigt sich daraus, wie unverständig es ist, wenn Einzelne auf
.Kosten aller immerfort große Kapitalsummen erwerben, ohne daß der ver¬
zehrenden Gesamtheit wenigstens soviel Mittel bleiben, daß sie die Güter kaufen
kann, die der Kapitalbesitz zu seiner eignen Erhaltung hervorzubringen ge¬
nötigt ist.
Der Erwerbgewinn besteht nach Abzug der Summen, die jeder Einzelne
für seinen Lebensunterhalt verwendet, in erlangten Geldansprüchen, für die es
noch an Sachgütern als Deckung fehlt, die vielmehr erst mit Hilfe solcher Geld¬
ansprüche hergestellt werden sollen. An sich betrachtet, erscheint es freilich
seltsam, daß die Angehörigen einer wirtschaftlichen Gemeinschaft Geldforderungen
aneinander erlangen müssen, damit der eine sie an den andern gegen Zins¬
vergütung überträgt, und daß erst durch eine solche Kreditgewährung die
Menschen Güter zu erzeugen und ihren Lebensunterhalt zu finden vermögen.
Im Prinzip ist dieses Verfahren aber doch das beste, vorausgesetzt, daß man
die Entstehung und das Wesen des Gelderwerbs nicht verkennt, und daß durch
die Zulassung eines Kapitalerwerbs die hauptsächliche Aufgabe der wirtschaft¬
lichen Organisation, die ausreichende Befriedigung der Lebensbedürfnisse aller,
nicht leidet. Die untereinander erlangten Geldforderungen dürfen nicht für einen
Bermögcnszuwachs der Gesamtheit gehalten werden, und die Kapitalisten dürfen
sich nicht einbilden, ihre Gcloansprüche bestünden in den von ihnen geschaffnen
Werten. Es find Ansprüche, die sich infolge der herrschenden Erwerbart bilden,
ohne daß deren Berechtigung und Angemessenheit in jedem einzelnen Fall kon¬
trolliert werden konnten. Es ist bei der unendlichen Verschiedenheit aller Erwerb¬
leistungen nicht möglich, für jede von ihnen eine ihrem Nutzwert entsprechende
Bezahlung festzusetzen, und noch weniger möglich, diese Bezahlung so zu be¬
messen, daß sie nur gerade zur Deckung des Lebensbedarfs des ErWerbers
ausreicht. Jeder Versuch, die Höhe des Erwerbgewinns allgemein festzulegen,
würde außerdem die Erwerbtätigkeit hemmen und einschnüren und ihr den
wirksamen Ansporn nehmen, den die Möglichkeit und die Zulüssigkeit eines
größern pekuniären Erfolges verleihen.
Wenn es möglich wäre, jedem Erwerbenden einen Erwerbgewinn zu ge¬
währen, der nicht größer wäre, als er ihn zu seinem Lebensunterhalt ver¬
brauchen würde, so könnte kein Knpitalbesitz entstehn. Es würde daun aber
auch nicht mehr erzeugt werden, als der gegenwärtige Bedarf betrügt, und als
mit den gegenwärtigen Herstellungsmitteln geleistet zu werden vermag. Das
genügt jedoch nicht. Der Zuwachs der Bevölkerung und das gerechtfertigte
Bestreben nach Verbesserung der Lebenshaltung verlangen eine fortwährende
Vermehrung der Herstellungs- und Verkehrseinrichtungen, auch müssen diese
Vorrichtungen ihrer Abnutzung wegen bestündig ausgebessert und erneuert
werden. Der Kapitalerwerb ist also nötig, weil erst dadurch eine Ausdehnung
der Produktion möglich wird. Das erworbne Kapital muß den Produzenten
geliehen werden, damit sie Materialien beschaffen und Arbeitslöhne bezahlen
könne», und damit auf diese Weise die mehr gebrauchten Baulichkeiten, Mn-
schinen usw. hergestellt werden-
Man könnte allerdings auch so verfahren, daß jeder sein erworbnes,
nicht zum Lebensunterhalt verbrauchtes Geld an die Gesamtheit zurückgeben
müßte, sodaß dann der Staat allein der Kapitalist sein und es ihm obliegen
würde, das Geld zur Herstellung neuer Produktionsmittel an die Erwerb-
tntigen auszuleihen. Das wäre aber auch nicht das Nichtige. Es ist uicht
wahrscheinlich, daß alle Meuschen genügenden Gemeinsinn haben sollten, freiwillig
einen Teil ihres Erworlmcn zu sparen und dem Staat auszuliefern. Viel¬
mehr ist anzunehmen, daß danach getrachtet werden würde, das erworbne Geld
möglichst völlig zu verbrauchen, was eine unvernünftig verschwenderische Lebens¬
weise hervorrufen müßte. Auch ist es wünschenswert, daß jeder Einzelne von
seinem Erwerb einen Teil zurücklegen kan», damit er in der Lage ist, bei
außergewöhnlichen Vorkommnissen größere Ausgaben als sonst machen zu können,
damit er bei abnehmender Erwerbfähigkeit im Alter nicht zu darben braucht,
und damit er auch seine Kinder auf ihrem Lebenswege und zu ihrem Fort¬
kommen mit Geldmitteln zu unterstützen vermag. Dagegen hat es keine Be¬
rechtigung, so viel Geld verdienen zu wollen, daß man selbst und mit seinen
Kindern und Kindeskindern davon ein untätiges Herrenlebeu führen könnte.
Das einzige Mittel, wodurch sich die Entstehung übergroßer Vermögen
und deren unzweckmäßige, für die Gesamtheit nachteilige Verwendung verhindern
läßt, kaun somit nur darin bestehn, daß die Gesellschaft, indem sie Gebrauch
von ihrem natürlichen Recht macht, über die erworbnen Einkommen mitvcrfügt.
Was ein egoistischer Erwcrbeifer der Gesamtheit im Übermaß entzogen hat,
darf nicht zu einer drückenden Kapitalmacht werden. Der Erwerber hat kein
Recht darauf, das erlangte Geld zu seinein alleinigen Vorteil zu ben»l'.en, es
müssen ihm. soweit es das Interesse der Gesamtheit erheischt, darin Beschrän¬
kungen auferlegt werden; er muß im Wege der Steuerzahlung so viel von
seinem Erwerbgcwinn zurückerstatten, daß dadurch die angemessene Lebens-
fristttng mich derer ermöglicht wird, die uicht die hinreichenden Geldmittel zu
erwerben vermocht haben.
Die Intelligenz nud die Arbeitskraft eines einzelnen Menschen können
nie so weit gehn nud zu so großen Leistungen imstande sein, daß es gerecht¬
fertigt wäre, ihm dafür das Hundert- oder Tausendfache des Einkommens
andrer zu gewähre,?. Auch wenn z. V. jemand neue Mittel und Wege findet,
wodurch Nutzgüter geschaffen werden, oder wodurch die produktive Arbeit er¬
leichtert wird, hat er keinen Anspruch auf eine so hohe Entlohnung. Er konnte
seine Erfindung oder Entdeckung, wenn sie nicht nur auf einem Zufall beruht,
»ur macheu, nachdem viele vvrangegangne Denker und Forscher ihm vorge¬
arbeitet hatten. Er ist nicht berechtigt, den Nutzen, den die Ausbeutung seiner
Ideen bringt, als sein Eigentum, zu betrachten und sich zu hohen Preisen
abkaufen zu lassen. Wenn man ihm das Recht der alleinigen Nutzbarmachung
der Erfindung bewilligt, belohnt man nicht den Erfindergeist, sondern den
Erwcrbgcist, der sich nuf einen geschickten, einträglichen Vertrieb der Erzeugnisse
versteht. Sobald jemand eine Erfindung patentiert wird, ist ihn, ein Vorrecht
verliehen, das den Lebensbedarf aller verteuert, weil die Gesamtheit genötigt
ist, ihm die höhern Preise zu zahlen, die er zufolge seines Monopolrechts für
seine Waren fordert. Da sich das nicht ändern läßt — da durch ein Monopol
immer auch ein Monopolpreis entsteht —, so ist ein gerechter Ausgleich nur
dadurch erreichbar, daß von dem zu hohen Erlverbgewinn ein genügender Teil
an den Staat zurückgezahlt werden muß, der wieder für die Gesamtheit ver¬
wandt werden kann.
Der Erwerbgewinn des Einzelnen auf Kosten der wirtschaftlichen Ge¬
meinschaft muß immer im richtigen Verhältnis zu der ausgeübten körperlichen
oder geistige« Tätigkeit und zu der natürlichen Begrenztheit des Leistungs¬
vermögens eines Menschen stehn. Wenn jeder Einzelne — sei es durch Fleiß
und Geschicklichkeit, durch die Macht erlangter Vorrechte oder durch List und
Skrupellosikeit — mehr als andre zu erwerben vermag, so ist es anch nötig,
die Grundsätze festzustellen, uach denen es ihm nur erlaubt sein kann, sich
Eigentum oder Schuldvcrpflichtuugeu der Gesellschaft anzueignen, um damit
im eignen selbstsüchtigen Interesse zu verfahren. Solche richtigen, zweckmäßigen
Grenzen ergeben sich ganz von selbst. Jeder muß innerhalb eines wirtschaft¬
lichen Verbandes mindestens sein hinlängliches Auskommen haben, und die
erworbnen, nicht aufgebranchten, zum Kapital werdende« Geldforderungen dürfen
in ihrem Gesamtbetrage den Wert der dagegen vorhandnen nutzbaren Sachgüter
nicht stark übersteigen.
Ein Teil des in Anlngewerten bestehenden ältern Kapitals beansprucht
fortgesetzt neuerworbnes, damit die von dem Gelde der Kapitalisten erbauten
und betriebncn Industrieanlagen Beschäftigung haben. Neben den Werken,
die Güter für den eigentlichen Verbrauch herstellen, gibt es große Industrien,
die nur darauf berechnet sind, neue Prodnktions- und Verkehrsmittel (Fabrik-
einrichtnngen, Eisenbahnen, Schiffe usw.) zu bauen. Wenn diese Industrie¬
unternehmen keine lohnenden Aufträge bekämen, könnte das in ihnen angelegte
Kapital keinen Ertrag bringen, würde vielmehr nach und nach verloren gehn.
Was diese Werke, um ihren Betrieb aufrecht erhalte» zu können, an Geld¬
mitteln brauchen, ergibt eine Summe, die unendlich viel größer ist als ihr
eignes Anlage- und Betriebskapital, für das sie die Reute aufbringen müssen.
Das zu ihrer Beschäftigung nötige Kapital muß so groß sein, wie der Wert
der Erzeugnisse, die sie herzustellen imstande sind. Einen Teil dieses Geldes
liefern die schon bestehenden Industrieanlagen und Verkehrseinrichtungen, indem
sie zur Instandhaltung der sich mit der Zeit abnutzenden Betriebseinrichtungen
die dazu nötigen Summen von ihren laufenden Einnahmen ausgeben. Solveit
es sich aber um ganz neue oder wesentlich auszudehnende Betriebe handelt,
ans deren fortwährende Herstellung die Großindustrie zugeschnitten ist, bedarf
es, damit solche Auftrüge erteilt werden können, neuer, zu Anlagezwecken ver¬
fügbarer Erwerbgewinne. An diesen neuerwvrbncn Kapitalien und somit auch
an genügenden Auftrügen für die Großindustrie muß es aber mangeln, wenn
das Verbrauchsvermögen der Menschen dauernd geringer ist als die Herstellnngs-
fühigkeit der Industrie, sodaß ein Übermaß an Bedarfsartikeln vorrätig ist und
angeboten wird, für das es an Käufern fehlt. Eine solche Überproduktion
liegt in allen Kulturländern tatsächlich vor und muß von Jahr zu Jahr größer
werden, wenn immer zahlreichere, immer leistungsfähigere grvßiudustrielle An¬
lagen errichtet werden und nicht zugleich dafür gesorgt wird, daß die Mensch¬
heit mehr zu verzehren vermag.
Anstatt aber darauf bedacht zu sein, die Berbrauchskraft der großen
Menge der Volksgenossen zu steigern, glaubt man, sich dadurch helfen zu
können, daß nur die Naturvölker fremder Länder aufsucht, um ihnen unsre
Knltnrbedürfnisse anzugewöhnen. Das ist aber ein Weg, auf dem das ange¬
strebte Ziel, mehr Absatz für den Überschuß an hergestellten Gütern zu finden,
nicht erreichbar ist. Was die Bevölkerung solcher Länder uns an Judustrie-
urtikeln abnehmen kann, ist sehr geringfügig im Verhältnis zu der durch eine
Ausschließung der neuen Ländergebiete eintretenden weitern Vergrößerung der
Produktion. Sowohl dnrch die Benutzung des Bodens wie auch durch die
Arbeit der Bewohner dieser Länder muß die Menge der zum Verbrauch be¬
stimmten Guter immer noch mehr anwachsen. Die uuzivilisiertcu Völker können
die Gegenstände, für die wir bei ihnen Absatz zu finden beabsichtigen, nicht anders
kaufen, als wenn sie sich vorher das Geld dazu durch ihre uns geleistete
Arbeit erworben haben. Jede nutzbringende Arbeit besteht darin oder hat zur
Folge, daß Gebrauchs- und Verbrauchsgütcr geschaffen werden. Auch muß
jede Arbeit von wirtschaftlicher Nützlichkeit mehr Güter hervorbringen, oder
mehr zu deren Hervorbringung beitragen, als die Arbeitenden für ihre Leistungen
erhalten; nur unter dieser Voraussetzung wird die Arbeitskraft andrer in An¬
spruch genommen. Es wird immer mehr erzeugt, als den Tätigen nebst ihren
Familien zu verbrauchen erlaubt sein kann. Das Mehrerzengte dient dazu,
den Bedarf für die nicht arbeitenden Rentner, Pensionäre usw. sowie den
Luxusbcdarf der Reichen zu liefern. Jeder bezahlt seinen Anteil am Ver¬
brauch aus seinem Einkommen. Was, nachdem der Gesamtverbrauch aller
bestritten worden ist, noch an Erwerbgewinn verfügbar ist, fließt der Pro¬
duktion zu, damit diese mit .Hilfe des Geldes fortschreiten und sich weiter¬
entwickeln kaun. Sobald aber der nicht verzehrte Erwerbgewinn zu groß ist,
findet eine zu rasche und zu starke Vergrößerung der Produktion statt, und
die Erzeugnisse können nicht sämtlich abgesetzt werden. Wenn wir Kolonien
in Besitz nehmen, wird dort nicht nur mehr erzeugt, als die Gütermenge be¬
trägt, die die dortige Bevölkerung uns abnehme» kann, sondern es tragen
z. B. auch die Schiffe nud die Eisenbahnen, die erbaut werde,?, um den
Gütertransport zu besorgen, in größerm Maße dazu bei, die Produktion als
den Konsum zu erhöhen. Auch die Schiffe und die Eisenbahnen müssen, daß
sie sich rentieren, mehr einbringen, als die Gesamtselbstkvsten für die Trcms-
Portleistuugeu betragen. Und mit den, Geschüftsgewiun, der durch die Fracht¬
einnahmen entsteht, läßt sich, wenn die Erwerber diese Einkommen nicht ver¬
brauchen, nichts andres machen, als das Geld entweder direkt (in den eignen
Unternehmungen oder dnrch Beteiligung an andern) oder indirekt (durch Erwer¬
bung von Aulagepapiereu) aufs neue zu produktiven Zwecken zu benutzen.
Zwar wird durch jede Kapitalverwendnng, die der Produktion dient, auch
die Erwerbgelegenheit vermehrt. Wenn Produktionsmittel hergestellt werde»,
erreicht jeder, der dabei Beschäftigung findet, einen Erwerb, mit dem er seinen
Lebensunterhalt bestreiten kann. Das ist jedoch nur ein nebenbei hervor¬
tretender gemeinuützlicher Umstand, der die sonstigen Nachteile eines über¬
mäßigen Wachstums der Großindustrie nicht aufwiegen kaum Das Kapital,
daS den Bau von Produktionsmitteln bewirkt, tut das nicht, um Arbeiter zu
beschäftigen und diesen ihren Lebensbedarf zu verschaffen. Zum Beispiel werdeu
die Hausbesitzer, wenn es für deren Wohnungen an zahlungsfähigen Mietern
fehlt, nicht noch mehr Wohnhäuser und nicht in immer größerer Zahl, als auf
absehbare Zeit verwendbar sind, bauen lassen, nur damit die Maurer und die
Zimmerleute zu leben haben und Miete bezahlen können. Ein solches Ver-
fahren, das überhaupt auf die Dauer nicht durchführbar wäre, kann die wirt¬
schaftliche Lage nicht bessern. Auf solche Weise läßt sich die Schwierigkeit oder
die Unmöglichkeit, für die Übermeuge erzeugter Güter Absatz zu finden, nicht
beseitigen. Und falls die Industrie im Wettkampf mit den ausländischen Produ¬
zenten genötigt ist, ihre Produkte zu uuvorteilhaftcu Preise» zu verkaufen,
werden dadurch auch der Erwerb und die Lebenshaltung der Industriearbeiter
kärglicher. Die Großindustrie wird zu den überstürzten, einander überbietendem
Leistungen durch das fortwährend neucutsteheude und Reute suchende Kapital
angespornt, was dann zur Folge hat, daß sich ebenso die Lebensbedürfnisse zu
immer größerer Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit entwickeln. Da aber, durch
Benutzung der unerschöpflichen Nntnrlräfte, die Jndustrieerzengnisse in großen
Massen hergestellt werden, müßte auch die große Menge der Bevölkerung zu
einer Steigerung ihrer Lebcusausprüche in der Lage sein und die hergestellten
Gütermengen kaufen können. Das ist aber ausgeschlossen, wenn die Mehrzahl
der Menschen mühselig arbeite» und kämpfen muß, um nur das Allernotwendigste
zur Lebensfristnng zu erlangen.
Das neuerwvrbue Kapital kaun nur ans die Produktion fördernd einwirken,
zur Ausdehnung des Konsnms kann es nicht beitragen, da es gerade der Teil
des Erworbnen ist, den die ErWerber nicht verbrauchen wollen, sondern für
den sie zinstragende Verwendung suchen. Der Konsum wird durch die Kapital¬
bildung eher eingeschränkt, da sich aus dem Bestreben, mehr Geld zu erübrigen
und anzusammeln, der Antrieb und die Neigung ergeben, seinen Angestellten
und Arbeitern eine möglichst geringe Entlohnung zu zahlen, sowie anch an
den Ausgaben für den eignen Lebensunterhalt möglichst zu sparen.
Alles Kapital entsteht dadurch, daß den Erwerbenden gegönnt wird, mehr
Geld in der Ausübung ihrer Tätigkeit zu erlangen zu suchen, als sie für ihren
Lebensunterhalt verbrauchen. Dieser llbererwerb darf aber verständigerweise
nur den kleinern Teil des Gesnmtcrwerbs ausmachen. Das im allgemeinen
Interesse nötige richtige, angemessene Verhältnis zwischen dem notwendigen
Mindesterwerb eines jeden und dem zulässigen Übererwerb einzelner wird auf deu
Kopf gestellt, wenn das erworbne Kapital selbständig und mir seiner Vermehrung
wegen tätig ist. Ans seiner ihm zugewiesnen Rolle, den Gewerbetreibenden
Mitwirkung und Hilfe zu leisten, ist es hinausgegangen. Nachdem es so
enorm angewachsen ist, zieht es vor, als Selbstprodnzent aufzutreten, geschäft¬
liche Unternehmen von großem Umfang für sich zu gründen und die Gewerbe-"
tätigleit durch seine Angestellten ausüben zu lassen, sodaß die Hcrstellnngsmittel
und der damit erlangte Erwerbgewinn ausschließlich dem Kapital gehöre«.
Der in Geldforderungen bestehende Kapitalbcsitz findet seinen Gegenwert
(wenn man von den beweglichen Gütern, also den zum Konsum bestimmten
Gebrauchs- und Vcrbrauchsgütern absieht) nnr in den vorhandnen und im
Bau begriffnen Produktiousmittclu, zu denen much die für den Handel, das
Transportgeschäft nud deu Verkehr geschaffnen Einrichtungen zu rechnen siud.
Wenn jemand aus dem eignen Erwcrbcrtrage ein Haus oder eine Fabrik
baut, so ist das sein Eigentum und gehört zugleich zu dem Vermögen des
Landes. Sobald er aber sei» Besitztum durch Hypotheken belastet, ist bis zum
Betrage dieser anfgenommnen Gelder das Hans oder die Fabrik kein freies
Vcrmögensbestandteil mehr, sondern ein Unterpfand für die darauf ausgestellten
Schnldpapiere. Vielleicht baut der Besitzer mit dem geliehen erhaltnen Gelde
noch eine andre Fabrik; aber auch die gehört ihm nur so lange und so weit,
als er nicht dnranf ebenfalls Geld anleiht. Wirkliche Vermögensobjekte ihres
Besitzers können also nur dnrch Verwendung eignen Kapitals oder (wenn kein
Kapital dazu nötig ist) dnrch eigne Arbeitskraft entsteh». Sofern fremdes
Geld — d. h. eine übertragbare, von Hand zu Hand gehende und dadurch
einen allgemeinen Anspruch an den Gesamtgüterbesitz ausmachende Forderung ^
mitwirkte, hat der Vcrmögensbestand bis zur Höhe der angeliehenen Summen
keinen Zuwachs erfahren. Wenn z. B. jemand aus seinem Bankguthaben
einem andern Geld zum Bau eines Hauses leiht, so verwandelt sich dadurch seine
nnfnndierte Bnchforderuug an die Bank in eine fundierte Hypothekenfordernug.
Sein Besitztum ist dadurch jedoch ebenso unverändert geblieben wie das des
andern, dem jetzt freilich das Haus gehört, der dagegen das zum Bau auge-
liehene Geld schuldig wurde. Eine Änderung ist nnr iusoferu eingetreten, als
das Kapital, das als Bankguthaben noch verfügbar war, fest belegt worden
ist, daß dafür jetzt also ein Sachwert vorhanden ist. Der Kapitalist besitzt
nunmehr anstatt seines Geldes (das dnrch den Entleiher für Baumaterialien
und zu Arbeitslöhnen ausgegeben wurde) die Hypothek auf das Haus; und
wenn er sein Geld zurückerhalten will, muß sich dazu erst wieder ein andres,
noch nicht in einen Sachwert ungestaltetes Geldguthabeu finden.
Wenn jemand mit Hilfe entliehenen Geldes Produktionsmittel herstellt,
so liegt sein Vorteil darin, das, er damit durch seiue Erwerbtätigkeit voraus¬
sichtlich einen höhern Prozentsatz verdienen wird, als er an Zins für das
nngeliehenc Geld zu zahlen hat. Eine solche Mitwirkung fremder Kapitalien
wird um so mehr notwendig oder zweckmäßig, je größer der Umfang eines
geschäftlichen Unternehmens geworden ist. Infolge der fortschreitenden Ent¬
wicklung im Gewerbebetrieb entstand die Institution der Aktiengesellschaften,
durch die das Knpitalrisiko, das der Einzelne läuft, eingeschränkt wird. Es
werden nicht nnr neue Unternehmen als Aktiengesellschaften gegründet, sondern
auch sobald ein schon bestehendes industrielles oder kaufmännisches Unter¬
nehmen eines selbständigen Geschäftsmanns eine größere Bedeutung gewonnen
h"t, Pflegt sich ebenfalls die Neigung einzustellen, das Geschäft in eine Ge¬
sellschaft auf Aktien oder mit beschränkter Haftung umzuwandeln. Die Ge-
schäftsinhaber halten es für vorteilhafter und angenehmer, ihr Vermögen in
der Form leicht zu verwertender Nentenpapiere zu besitzen als in den zu ihrem
Geschäftsbetrieb gehörenden Fabrikanlagen, Betriebsmitteln usw, Ihr Besitz
besteht dann nicht mehr in tatsächlichen Gütern, in Produktionsmitteln, son¬
dern in Anrechten darauf, wie solche durch die gegen den eignen Güterbesitz
eingetauschten Obligationen oder Aktien verliehen werden. Wenn jedoch jemand
seinen unverschuldeten, freien Besitz dadurch verringert, daß er Geld darauf
aufnimmt, so verringert sich damit auch das in wirklichen Gittern bestehende
Vermögen des Landes. Als ein solches Vermögen kann doch nur angesehen
werden, was das Land selbst oder seine Bewohner an schuldenfreien Eigentum
haben, über das sie frei verfügen können, und das in außergewöhnlichen Lagen
als Sicherheit zur Erlangung eines Realkredits dienen kann. Das ist aber
nicht mehr möglich, soweit der Gilterbesitz des Staats oder seiner Angehörigen
schon durch aufgenommne Gelder mit Schulden belastet ist. In solchem Falle
sind es nur die Inhaber der Schuldpapierc — die Gläubiger, denen der Güter¬
besitz des Landes und seiner Bewohner verpfändet ist —, an die sich der Staat,
um nötigenfalls Geld zu bekommen, halten kann. Was diese Kapitalisten
besitzen, ist nur insoweit ein Vermögen des Landes und seiner Bewohner, als
die Anlagepapiere nicht etwa ins Ausland gegangen sind, und insoweit die
Schulden an das Ausland nicht mehr betragen, als das Ausland dem Inland
schuldet. Es ist ja durchaus verständlich, daß die Gewerbetreibenden, die ihr
Geschüft und das darin angelegte Vermögen durch eine mit überlegner«
Kapitalien versehene Konkurrenz fortwährend gefährdet sehen, ihren erworbnen
Besitz lieber in Reutenpnpiereu anlegen. Sie erhalten für ihr Geschäft und
die Betriebsanlagen, wenn die Umwandlung in ein Aktieilunternehmen geschieht,
gewöhnlich einen hohen Preis und haben, wenn sie in leitender Stellung in
dem Unternehmen weiter tütig sind, und wenn dieses auch serner prosperiert, ein
gutes Einkommen, ohne genötigt zu sein, ihr Vermögen weiter aufs Spiel zu
setzen. Dieses Verfahren der Gewerbetreibenden ist also von ihrem Stand¬
punkt ans ganz zweckmäßig. Aber die Regierungen sollten die Gefahr erkennen,
die darin liegt, daß nach und nach der Jmmvbilbesitz aufhört, ein freies Eigentum
zu sein, und nur noch ein Unterpfand für die darauf ruhenden Schulden ist. Der
Grund und Boden, die Wohuhnuser, Fabriken, Eisenbcchneu, Schiffe — alles
gehört den Inhabern der Schuldpapiere, die darauf ausgestellt sind. Und
ebenso wie die einzelnen Bewohner des Landes sind auch die Staaten nur
noch zum geringen Teil Eigentümer ihres Grundes und Bodens und der staat¬
lichen Ballwerke und Gewerbebetriebe. Alle Volksvermögen gehören schon
vorwiegend den Besitzern des vaterlandloseu Kapitals, dessen Macht fortwährend
anschwillt, und das durch seinen Einfluß die Staaten wesentlich mitregiert. Das
Großkapital weiß die ihm förderlichen Gesetze zu erwirken, und die Regierungen
sehen in dem Anwachsen des Kapitals ein im Gesamtinteresse zu erstrebendes
Ziel, wahrend in Wirklichkeit die Staatslenker ihre Herrschaft mehr und mehr an
die Großkapitalisten abtreten, deren Steuerzahlnngsvermögen ihnen imponiert.
Aber diese hohe Steuerkraft, dieser imposante Reichtum besteht allein in
Geldansprüchen, die den Besitzern unverdienterweise und in übertriebnen
Maße zugestanden wurden. Es sind Forderungen, die in solcher Höhe gar
nicht zu realisieren sind, sondern von denen mir immer die eine mit der andern
bezahlt werden kann, weil es keine Sachwerte gibt, dnrch deren Ansammlung
und Nichtbenutzung es möglich Ware, den Reichtum tatsächlich zu erlangen,
über den zu verfügen sich der Kapitalist einbildet. Die Stoffe, aus denen
der Erdball besteht, lassen sich nicht in Güter von bleibendem Gebrauchswert
umwandeln. Was von den Menschen geschaffen wurde, muß auch von den
Meuscheu verbraucht werden; was man diesem Zweck entzieht, geht nutzlos
wieder zugrunde. Deu wirklichen Reichtum eines Landes machen — nußer
dem vergänglichen Nutzwert, den die jeweilig vorhandnen Baulichkeiten (Pro¬
duktionsmittel) und die vorrätigen Produkte haben — nur sein Bodenwert
und die Arbeitskraft seiner Bewohner aus.
Wahrlich, unser aufgeklärtes Zeitalter mit all seinen Erfindungen und
Fortschritten, auf seine Einsicht in wirtschaftliche Dinge hat es keine Ursache
stolz zu sein.
n dieser Zusammenstellung scheint eine versteckte Bosheit zu liegen,
aber die Verehrer Ruskins, die sagen werden: Es tut mir lang
schon weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh, müssen ihre
Klage bei der Verlagsbuchhandlung anbringe». Ju der Vorrede
zu der Übersetzung der „Renaissance" des Engländers Walter
Pater (Leipzig, Diederichs) heißt es nämlich, dieses Buch sei als Ergünznng der
deutschen Ausgabe Ruskins gedacht, der mit verbundnen Augen in heiligem
Zorn an der Renaissance vorübergegangen sei (was ja zutrifft), und darum
sei die Verdeutschung „des feinsten englischen Knnstschriftstellers" allen denen
gewidmet, die „soviel innere Ruhe und Muße zu finden vermögen, um in
stillen Stunden mit einem Geistesgeuvsseu Zwiesprache zu halten. Denn
Walter Pater hat nur für solche geschrieben, denen die Kunstbetrachtuug zum
Lebensinhalt geworden ist." Um von dieser Gelegenheit zu profitieren,
denn wir kannten Pater noch nicht, obwohl er schon vor dreißig Jahren ge¬
schrieben hat, schlugen wir zunächst das Kapitel über Sandro Bottieelli auf, einen
der Lieblinge unsers Zeitalters, der, wie es hier heißt, gleich Dante seine ge-
heimnisvolle Stimmung wie einen Doppelgänger mit sinnlicher Erscheinung um¬
kleidet, damit alle daran teilnehmen können. Sandros Männer und Frauen, wird
uns weiter gesagt, sind in ihren wechselnden und ungewissen Seelenzuständen
immer überschattet von der tiefen Traurigkeit der großen Dinge, vor denen
sie zurückbebeu, darum erscheint uns seine Moralität ganz als das große Mit¬
gefühl. Da wir uns hierbei in bezug auf Saudro nichts Rechtes denken
können — es klingt wie ein Zitat aus Maeterlinck, der ja aber erst lange
nach Pater geschrieben hat —, so wenden wir uns, um eine substantielle
Unterlage für unsre Vorstellung zu gewinnen, an das Venusbild der Uffizieu,
das uns Pater auf vier Seite» analysiert. Es könne uns, sagt er, einen un-
mittelbarern Aufschluß über das Wesen des griechischen Geistes geben, als die
Werke der Griechen selbst aus ihrer Blütezeit.
Das ist gewiß mehr, als jemand von Sandra verlangt hat, und wenn
wir uns auch die Augen reiben, wir sehen es nicht, aber Paters Augen sehen
auch offenbar ganz anders als die unser»! „Venus aus dem Meere auf¬
tauchend (in Wirklichkeit steht sie auf einer Muschel), wo die grotesken mittel¬
alterlichen Sinnbilder und eine Landschaft von derselben Empfindung (von
beiden ist nichts zu sehen ans dem Bilde), ja selbst die seltsam knittrigen
Gewandfalte», über und über besät mit einem gotischen Muster von Gänse¬
blümchen, eine Gestalt umrahme», die uns an die fehlerlosen Aktstndien von
Ingres erinnert." Das Master hat aber nichts Gotisches, die Gänseblümchen
sind Kornblumen, lind die knittrigen Gewandfalten umrahmen nicht die völlig
nackte Venus, sondern eine zweite, bekleidete Gestalt, die aber nicht von ferne
an fehlerlose Aktstndien von Ingres erinnern kann, und mit diesen hat end¬
lich auch die Venus nur die Nacktheit gemeinsam, im übrigen aber ist sie der
Medizeerin nachgebildet. Nehmen wir noch hinzu, daß bei Pater eine sinn¬
bildliche Gestalt des Windes über das Wasser hiubläst, während es in Wirklich¬
keit deren zwei sind, die sich umschlungen halten, so hat sich buchstäblich alles
von den Tatsachen, über die er sprechen will, in seiner Vorstellung verändert,
und jeder wird sich selbst sagen, welchen Wert das weitere Gefasel über beab¬
sichtigte, verfehlte oder erreichte Eindrücke von Zeichnung und Farbe bei Sandro
Bvttieelli noch für andre Leute haben kann.
Vielleicht wird mancher denken, alle Beschreibung sei für Pedanten, und
großen Geistern diene das Knnstlverk mir als Anstoß für ihre bedeutenden
Gedanken, wovon wir deswegen noch eine Probe zum .Kosten geben. „Bei
Bvttieelli gehört auch die, welche in ihrer Hand die Sehnsucht aller Völker
hält (er meint die Madonnen), mit zu denen, die weder für noch gegen Gott
sind; auf ihrem Antlitz liegt die Sorge ihrer Seele. Die ganze Mnttercmgst
liegt in der Liebkosung des rätselhaften Kindes. Denn ihre echten Kinder
sind jene andern (er meint die begleitenden Engelgestalteu), unter denen ihr
in ihrem zierlosen (?) Heim die unerträgliche Auszeichnung zuteil geworden ist:
Kinder mit dem traurig fragenden Blick in ihren unregelmäßig geschnittuen
Gesichtern, den man auch bei aufgescheuchten Tieren bemerkt usw." Einige
Seiten später kommt noch einmal „das Gefühl des Drucks der großen Dinge,
vor denen die Menschen zurückbeben." Der Leser wird hiermit von Sandro
genug haben.
Das Kapitel über Luca della Nobbin enthält unter lauter Trivialitäten
auch Ungereimtheiten wie die, daß Mino da Fiesole, der konventionellste
Bildhauer von Florenz, als „Rasfael der Bildhauerei" gebucht wird, und
anstatt das wegzustreichen, schreibt der Übersetzer eine gelehrte Anmerkung
über den obskuren Maso del Rodario zusammen, der da mit ihm und Dona-
tello zusammengestellt und mit der Bemerkung bedacht wird, mau „suche
vergeblich uach mehr als einem schattenhaften Umriß ihrer Erdentage." Von
Vasari scheinen demnach die beiden Herren noch wenig gehört zu habe».
Lionardo da Vinci muß es sich gefallen lassen, daß ein Haufe unechter
Zeichnungen und schlechter Bilder über ihn ausgeschüttet und zu seiner
Charakteristik verwandt wird, die in dem Satze gipfelt: „Er sieht die Dinge
nicht zur gewöhnlichen Nacht- oder Tageszeit, sondern im bleichen Licht einer
Sonnen- oder Mondfinsternis (das letzte muß besonders sehenswiirdig sein) oder
während eines vorübergehenden Regenschauers bei Tagesanbruch (auch das
noch!) oder wie durch tiefes Wasser," Andre haben immer gemeint, er sähe
besonders scharf und alles wie ans der Nähe, und man hat das mit seiner
Kurzsichtigkeit zusammengebracht. Wir tun dem seltsamen Charakteristiker
schwerlich Unrecht, wenn wir behaupten, daß fast alle seine Einzelschildernngen
ebenso verzerrt siud. Von dem weiblichen Profilbildnis der Nmbrosinna, das
man früher Beatrice d'Este nannte, heißt es: „bei der Lionardo eine Vor¬
ahnung ihres frühen Todes gehabt haben mag, denn er nullte sie sehr ernst
und herb-spröde in der feinen Unnahbarkeit, die den Toten eigen, in traurig-
erdfarbnem Kleide, besetzt mit bleichen Edelsteinen." Das könnte Gabriele
d'Annunzio verbrochen haben. Der Geschmack für das Perverse versteigt sich
zum äußersten vor dem Bildnis der Monalisa im Louvre: „Alle Gedanken
und Erfahrungen der Welt haben an diesen Zügen ungeformt, um dem
veredelten Ausdruck sichtbare Gestalt zu geben: der tierische Trieb von Hellas,
die Wollust Roms, das Traumleben des Mittelalters mit seinem, himmel-
suchendcn Ehrgeiz und der ritterlichen Liebcsromantik, die Wiederkehr der
heidnische» Sinnenwelt, die Sünden der Borgia. Sie ist viel älter als die
Felsen rings um sie her; gleich dem Vampir hat sie schon vielemclle sterben
müssen und kennt die Geheimnisse des Grabes; sie tauchte hinunter in den
^ce und trägt der Tiefe verfallenen Tag in ihrem Gemüt; sie hat mit den
Händlern des Ostens um seltene Gewebe gefeilscht; sie wurde als Leda die
Mutter Helenas vor Troja und als heilige Anna die Mutter Marias. Und
das alles war für sie doch nur wie ein Ton der Lyra und der Flöten," doch
wir halten hier inne, dem, ums hat „das alles," auch wenn es nicht zum
Teil an sich so kompletter Unsinn wäre, wie der Altersvergleich zwischen den
Dolomiten in der Landschaft des Bildes und dem Vampir, mit einem Porträt
von Lionardo weiter zu tun, als daß jeder, wenn es ihm beliebt, von jedem
Dinge ans ans alles zu reden kommen kann, und daß er das Wort so lange
behalten wird, bis es seinen geduldigen Zuhörern angebracht scheint, das ein¬
fältige Geschwätz zu unterbrechen.
Etwas besser ist ein Kapitel über Giorgione und seine Schule, wenngleich
anch hier Paters Gewöhnung, Selbstverständliches mit vollen Backen' vor-
zutragen, und seine eigentümliche Art zu sehe» ihm manches verderben. So
hält er z. B. a»f dem „Konzert" des Palastes Pitti den Mönch mit der Ba߬
geige für einen „Schreiber, der den Henkel eines Trinkgefäßes ergreift," und
sein harmloser Übersetzer findet bei diesem Unsinn nichts zu erinnern. Da der
übrige Inhalt des Buches (Zwei französische Fabeln, Joachim von Belley,
Winckelmann) für die Renaissance, von der es handeln will, so unwesentlich
ist, daß ihn keiner vermissen würde, so wären wir schon zu Ende mit dem
„unerschöpflichen Genuß," zu dein uns das Vorwort des Übersetzers eingeladen
hat. Es wird uns da auch noch mitgeteilt, Pater habe den ethischen Kern
alles wahrhaft Ästhetischen im Leben und im Kunstwerk erkannt. „Darum
moralisiert er nicht; seine Moral ist Mitgefühl" (also ganz wie bei scabro
Bottieelli), und „Werke wie diese wenden sich an die Wenigen, denn sie setzen
zweierlei voraus: feinstes Fühlen und feinstes Wissen." Wir meinen vielmehr,
daß sie zunächst sehr unwissende Leser voraussetzen, und daß ferner eine so
übel angebrachte Wichtigtuerei in der Vorrede etwas ganz andres „voraus¬
setzt," nämlich daß der Übersetzer sich hätte bemühen sollen, wenigstens die
gröbsten Unwissenheiten aus seinem Text zu entfernen, z. B. anßer der schon
genannten „das Abendmahl des jungen Raffael voll lieblich milder Feierlich¬
keit im Refektorium von Sand' Ouvfrio zu Florenz," und nicht selbst noch
neue hineinzubringen, indem er z. B. den betenden Knaben des Berliner
Museums als „Advrante" einführt. Wir würden die Kleinigkeit nicht er¬
wähnen, wenn er sich nicht für „die sparsame Anwendung vou Fremdwörtern
in seiner möglichst reinen Verdeutschung" auf die Ratschläge des englischen
Lektors der Berliner Universität beriefe. Der italienische hätte ihm jedenfalls
sagen können, daß „Adornntc" gar kein Wort ist, daß dagegen die für die
Statue oft gebrauchte Bezeichnung Adorant aus dem Lateinischen abgeleitet
worden ist. Was muß sich alles ein Lesepubliknm bieten lassen!
Noch von einem zweiten Buche Walter Paters hat uns bei dieser Ge¬
legenheit Kenntnis zu nehmen lebhaft interessiert, es hat durch seinen aparten
Titel: „Imaginäre Porträts" die Anwartschaft darauf, einer größer« Menge
von Menschen wenigstens dem Namen nach, was ja für viele schon genügt,
bekannt zu werden, und es ist in einer, was den Eindruck betrifft, sehr guten
Übersetzung (von Felix Hubel) und in eiuer wundervollen, einladend feinen
Ausstattung im Inselverlag zu Leipzig erschiene», und was ebenfalls einnimmt,
ganz ohne Vorrede und Standpunktauweisnng. Das erste Porträt: „Ein Fürst
unter den Hofmalern, Auszüge aus einem alten französischen Tagelmch," stellt
Watteau dar in einer etwas weit auseinander gezognen Milieu- und Kostüm-
schilderuug, der doch eigentlich kein tieferes psychologisches Interesse das
Gegengewicht hält. Das zweite: „Denys l'Auxerrois" erzählt von einem
kunstfertigen jungen Mönch in Auxerre, der im dreizehnten Jahrhundert während
eines kirchlichen Volksfestes vou der fanatisierten Menge umgebracht wird.
Das dritte Stück: ,,Sebastian von Storck" führt uns nach Haarlem in die
Blütezeit der holländischen Malerei, deren intime Schilderung in einzelnen
lebendig hervortretenden Personen den Hintergrund für einen mit dem Tode
des Titelhelden endenden kleinen Liebesroman abgibt. Die fein angelegte
Zeichnung eines kränklichen jungen Mannes, sein Verhältnis zu Spinoza und
andre geistige Züge machen dieses Porträt jedenfalls zu dem inhaltreichsten
von alle,?, es setzt aber auch Leser vou nicht gewöhnlicher Bildung voraus.
Das letzte Stück: „Herzog Karl vou Rosenmold" spielt ebenfalls in Holland und
im achtzehnten Jahrhundert; es ist ganz phantastisch gehalten, in verschwimmenden
Umrissen, spnlartig wie eine Phantasie von Theodor Amadeus Hoffmann.
Für unsern persönlichen Geschmack sind alle vier viel zu künstlich, wir geben
aber zu, daß sie in ihrer Art fein und besonders sind, und können uns recht
Wohl denken, daß, wenn sie jemand liest „und auch versteht/' wie wir der
Sicherheit wegen mit der Mutter von Jenn Pauls Quintus Fixlein hinzu¬
fügen wollen, er einen literarischen Genuß davon haben kann, bei dessen Auf¬
nahme er sich selbst sogar noch als beinahe ebenso fein und besonders ver¬
kommen wird. Jedenfalls sind sie etwas andres als die albernen Aufsätze über
die Renaissance.
Wir mochten wohl wissen, und für die Nuskingelehrten müßte es leicht
zu ermitteln sein, ob der ernste und schwere John Ruskin von seinem leicht¬
füßigen Konkurrenten in der Moralästhetik Walter Pater in seinem Leben
Notiz genommen hat. Die Art und Weise konnten wir uns dann schon
selbst denken.
Von den Werken Ruskins liegen uns, seit wir u»S zuletzt in den Grenz¬
boten darüber aussprechen durften (I, 1901, S. 218), wieder vier der bekannten
gefälligen Bände aus dem Diederichsscheu Verlage vor, die von verschiednen
Übersetzern herrühren. Zwei handeln über Kunst: „Vorträge über Kunst"
(Wilhelm Schölermann) und „Moderne Maler," erster und zweiter Teil der
Originalausgabe (Charlotte Broicher), zwei über andre Fragen der sozialen
Kultur: „Der Kranz von Olivcnzweigen, vier Vortrüge über Industrie und
Krieg" (Anna Henschke) und: „Diesem Letzten, vier Abhandlungen über die
ersten Grundsätze der Volkswirtschaft" (Anna von Przychowski). Dazu kommt
»och ein fünfter Band desselben Verlags, ein Buch über Ruskin vou Char¬
lotte Broicher, das nach der Fassung des Titels: „John Nnskin und sein Werk,
Puritaner, Künstler, Kritiker, erste Reihe, Essays" noch eine Fortsetzung er¬
warten läßt.
Charlotte Brvichers Buch hat alle uuvorteilhafteu Eigenschaften einer
Frauenarbeit, wenn sich diese auf ungeeignete Gebiete begibt: es ist ein plan¬
loses Durcheinander von Erzählung ins in die unwesentlichsten Details, von
räsonierender, abschweifender Betrachtung mit unsicher geführten polemischen
Ausfällen gegen alles mögliche, was nicht zur Sache gehört, vou Zitaten und
Buchauszügen aus Taine, Tolstoi, Maeterlinck, Nietzsche, Mulder und allem,
was da kreucht und fleugt. Die Bezeichnung „Essays," hinter der die Un¬
fähigkeit zum Disponieren und Durcharbeiten Deckung sucht, beruht auf einem
heute weitverbreiteten Mißbrauch, wo sich jedes flüchtige Geschreibsel so nennt,
und man vergessen zu haben scheint, durch was für Musterleistungen das be¬
scheidne Wort Essay einst zu Ehren gebracht worden ist. Nun verlangt aber gerade
ein so gedankenreicher, diffuser Geist wie Ruskin, der in seinen'Mitteilungen
aller Ordnung widerstrebt, der sich unaufhörlich widerspricht, korrigiert und
widerruft, ohne sich die Mühe eiuer endgiltigen Abrechnung aufzulegen, ge¬
bieterisch eine streng systematisch durchgeführte Behandlung; wer die nicht
leisten kann, sollte seine Essays lieber über andre Dinge schreiben. Die Ver¬
fasserin steht wesentlich auf dem Standpunkt eines Bewunderers, der sie über
alle erhebt, die diese Bewunderung uicht teilen; sie kündigt Fragen an und
läßt sie wieder fallen, indem sie uns auf eine einsichtsvollere, bessere Zukunft
vertröstet. Wir wüßten auch nicht einen einzigen Punkt zu nennen, der durch
ihre hochtönenden, predigermnßigen Monologe deutlich aufs reine gebracht
wäre. Dagegen wird zwecklose Kasuistik getrieben, über die „zwei Hauptkategvrien
aller führender Geister," oder inwiefern uns Ruskin ein Genie sei oder nicht.
Wortreicher Bekehrungseifer kann doch nicht Sachkenntnis und Gründe er¬
setzen, und die Kenntnis reicht hier nicht über den einen Ruskin hinaus und
nicht einmal wirklich in die Dinge, von denen Ruskin handelt, hinein, alles
ist leicht geschürzter, fröhlicher Dilettantismus.
Die Herren und die Damen, die in der Rnskiumission stehn und die
Propaganda über die deutsche Provinz auf sich genommen haben, müßten sich,
wenn sie Erfolg haben wollen mit ihrer Predigtweise, doch etwas mehr nach
den Ansprüchen des Volks, zu dem sie kommen, einrichten, wie ja auch die
wirklichen Missionare den Bildungsgrad der Wilden, unter die sie geschickt werden,
berücksichtigen und darum vorher keimen müssen. So aber kommen sie sich in
ihrem feierlichen Nedestil vor, als verkündigten sie Geheimlehren, und wissen
nicht, daß sie dem gebildete»? Durchschnittsleser in der Hauptsache bloß Tri¬
vialitäten sagen.
Nnskin ist schon dumm kein Genie, nur auf diesen Ausdruck noch einmal
zurückzukommen, weil ihm der Sinn für das Natürliche und Wirkliche fehlt,
weil er seine Gedankengänge spinnt, ohne zu bemerken, wo ihr Sinn der Welt
der Tatsachen gegenüber in Unsinn übergeht, dann» ist er auch als Svzial-
politiker (im Gegensatz zu Carlhlc) derselbe Phantast wie Tolstoi geblieben,
und praktisch siud ganz allein seine Bestrebungen auf dem Gebiete des Knnst-
nnd Haudwerksunterrichts erfolgreich gewesen. Er ist eine reich begabte, ganz
auf Betrachtung organisierte Natur, höchst eindrucksfähig, von feinster Erreg¬
barkeit und einer, wie man oft gesagt hat, weiblichen Reizbarkeit — das Genie
ist männlich!—, und er ist imstande, alles das in einer wunderbar gefügigen
Sprache auszudrücken; als unterhaltender Schriftsteller und Vortrngsredner
über ernste Gegenstände steht er auf der allerhöchsten Stufe. So lange es sich
um die feinern Genüsse einer litterarischen Unterhaltung handelt, ist darüber
nichts weiter zu sagen; sobald aber Ruskin neue wissenschaftliche Sätze aufstellt
oder gar als Verbesserer der Weltordnung auftritt, muß das allgemeine Hin-
nnd Herreden über den Seher und Propheten ein Ende haben, muß die
nüchternste Kritik ihm ans Schritt und Tritt folgen und unterscheiden zwischen
seiner Zuständigkeit und seiner subjektive», dilettantischen Willkür, und sie wird
finden, daß hier die Grenze» seines Reichs weiter sind als dort. Die Be¬
kanntschaft mit den Werken Carlhles ist bei uns in Deutschland schon alt,
und sie liegt in bessern Händen. In diesen Kreisen ist man früh auch auf
Ruskin aufmerksam geworden, wie das bei dem nahen Verhältnis der beiden
Männer kann? anders sein konnte, man keunt ihn also, lind man sieht ihn als
eine merkwürdige und für die englischen Verhältnisse auch wichtige Persönlich¬
keit an, aber man hat seine allgemeine Bedeutung nicht überschätzt; das blieb
den Dilettanten vorbehalten.
Bon den vier Bänden spricht der „Kranz von Olivenzweigen, vier Borträge
über Industrie und Krieg" (1865), an, meisten a» dnrch die gefällige, einem
bestimmten Zuhörerkreise angepaßte und in mannigfachem Wechsel der Ton¬
arten spielende Gedankenmitteilung. Den Kaufleuten in Brndford, vor denen
er über den Stil einer neuen Börse sprechen soll, erklärt er, daß ihm an
ihrem Unternehmen nichts gelegen ist, sie sollen den Fries ihres Gebäudes
mit herabhängenden Geldbeuteln dekorieren; den Arbeitern in Cumberwell
empfiehlt er, ihre Kanonen so gut wie möglich zu machen; die Kriegsschnler
in Wvolwich fragt er ironisch, was sie denn eigentlich von einem Schriftsteller,
der sich mit Malerei beschäftige, zu lernen erwarteten. Er spottet über die
Bestrebungen zur Ausbreitung des künstlerischen Geschmacks in allen Klassen.
Mein klassifizierender Freund, wenn du deinen Geschmack ausgebreitet haben
wirst, wo werden dann deine Klassen sein? Du glaubst, dn wirst den Grün¬
kramhändler und den Straßenkehrer zu Dante und Beethoven bekehren; wenn
dir das gelingt, hast du einen Gentleman ans ihm gemacht, der seine Arbeit
ebenso widerwärtig finden wird, wie du selbst sie finden würdest. Von solchen
Übergängen ans zeigt er den einzelnen Bernfskreisen die Punkte, an denen
sich ihr Leben mit den Äußerungen der Kunst berührt. Es sind die bekannten
Lehrsätze Ruskins, auf die wir nicht näher einzugehen brauchen, und sie werden mit
dein bei den englischen Schriftstellern beliebten wortreichen Humor vorgetragen,
der noch unserm deutschen Geschmack mit einfachen und oft selbstverständlichen
Dingen zuviel Umstände macht. — „Diesem Letzten, vier Abhandlungen über
die ersten Grundsätze der Volkswirtschaft" (1L60), hätte füglich ungedruckt
bleiben können. Was sich davon anhören läßt, hatte längst Cnrlhle besser
gesagt (in l^se Amel ?rs8ont> 1843 und I^Uhr-ä^- ?Äiuxlllot,8 1850), das
andre ist wissenschaftlich genommen Unsinn, und das englische Publikum, das
diese mißmutigen Deklamationen gegen die Nationalökonomie, als sie zuerst
erschienen, einfach ablehnte, handelte jedenfalls verständlicher als der Heraus¬
geber des deutschen Verlags, der sie uns in einem feierlichen Vorwort nach
mehr als vierzig Jahren noch einmal ans Herz legt. — Die an der Universität
Oxford 1870 gehaltnen sieben „Vorträge über Kunst" (Kunst und Religion,
Moral, Nützlichkeit, Linie, Licht, Farbe) sind offen und kurz gesagt ein unbe-
deutendes Buch, das mau zu seiner Unterhaltung lesen kann, wenn man dazu
die Zeit hat, über das aber ein deutscher Leser, der sich überhaupt für Kunst
interessiert und ein wenig damit beschäftigt hat, längst hinaus sein wird, weil
das meiste darin für ihn Trivialitäten sind. Und doch ist in der Übersetzung
noch vieles gekürzt und andres ganz weggelassen worden. Wenn man statt
dessen umgekehrt nur das, was einigermaßen eigentümlich ist, auszugsweise
wiedergegeben hätte, wie es z. B. der Heitzsche Verlag in Straßburg mit einer
Anzahl Ruskinscher Schriften gemacht hat, so würde das ganze Buch kaum mehr
als ein Dutzend solcher Aphorismen hergegeben haben. Dafür ein Beispiel.
Die höchste Stufe der künstlerischen Entfaltung erreicht ein Volk immer erst
in der Periode seiner durch vielfache Laster befleckten Verfeinerung, und diese
künstlerische Vollkommenheit ist bisher noch für jedes Volk das Zeichen vom
Beginn seines Niedergangs gewesen. Andrerseits gibt es vereinzelt in unbe¬
rührten Gegenden Landbevölkerungen ganz ohne Kunst, die fast so schuldlos
wie die Lämmer sind. Aber die Sittlichkeit, die der Kunst ihre Kraft gibt,
es die Sittlichkeit von Menschen und nicht von Schafherden. Das Gute
entspringt niemals aus dein Bösen, sondern es wird durch den Kampf mit
diesem erst zu seiner vollen Höhe entwickelt, nett völlige Kunstlosigkeit ist Men¬
schen von irgend welcher sittlichen Gesundheit unmöglich. Alle wahrhaft großen
Nationen sind aus Rassen von schöpferischer Einbildungskraft hervorgegangen,
die Künste begleiten ihre Ans- und Abwärtsbewegung als die getreue Chronik
ihrer ethischen Entwicklung, sie zeigen sich oft noch am glänzendste!: unmittelbar
vor dem Räude des Abgrundes, aber deswegen ihnen die Schuld an dem
Untergänge zuschreiben, hieße die Ursache eines Wasserfalls ans seinen Regen-
bogenfarben erklären.
Die „Modernen Maler" gehören wie „Die sieben Leuchter der Bau-
kunst," „Die Steine von Venedig" und allenfalls noch „Sechs Morgen in
Florenz" zu Nuskius Hauptwerken, ans ihnen beruht die Autorität, die er
wenigstens in England als Kunstschriftsteller genießt, und sie enthalten die
meisten ihm eigentümlichen Gedanken. Wir müssen diese Eigentümlichkeit kurz
charakterisieren. Seiner starken Subjektivität ist es nicht gegeben, die Tatsachen
der Kunst, wie sie sind, zu sehen und in einfacher Hingebung an den Gegen¬
stand in sich aufzunehmen, seine Einzelwahrnehmunge» sind voller Fehler,
seine Werturteile willkürlich und von vorgefaßten Meinungen bestimmt, Lob
und Tadel einseitig übertrieben: wenn auf irgend jemand, so paßt auf ihn
die Bezeichnung paradox. In der verschnörkeltsten Spätgotik findet er Vor¬
züge, während ihm alles, was Renaissance heißt, unbesehen für verderbt
gilt. Wem wäre es ferner eingefallen, einen Kanon der sieben großen Kolo-
risten der Welt zu konstruieren aus den Venezianern Tizian, Giorgione, Paolo
und Tintoretto, ans Correggio und zwei Engländern, Reynolds und Turner!
Am bezeichnendsten für seine nbstrnse Geschmnckswillkür ist sein Verhältnis zu
Tintoretto. Ihn, der wunderbare Sachen gemalt, der aber durch seine dem
Michelangelo abgesehene Figurenplastik und die Wildheit seiner Bewegungen
die Harmonie der venezianischen Kunst von Grund ans zerstört hat, diesen
hochbegabten Routinier rühmt sich Nuskin als den größten Venezianer und
damit den größten aller Maler überhaupt erkannt und erwiesen zu haben,
sodaß alle, die jetzt zu Ruskin halten, auch auf Tintoretto schwören, und doch,
wie ist es eigentlich möglich, daß jemand, der beständig mit den Begriffen
Natürlich und Einfach arbeitet, das Künstliche, Ungesunde, Dekadente in dieser
Stilvermischnng nicht einmal bemerkt hat! Rnskin fehlt ganz und gar der histo¬
rische Sinn seines Freundes Carlyle, er hat nur gewisse romantische Empfin¬
dungen für das Vergangne, die er schweifen und spielen läßt, wie es ihm ge¬
fällt, und wie es zu seinen immer lehrhaften Absichten paßt. Deshalb ist es
ein Irrtum, zu meinen, er sei ein Führer, wo es sich um die historische Kunst
handelt. Sie ist ihm ganz gleichgültig, er kennt sie oft nicht einmal so, wie
es bei der Sicherheit seiner Urteile sein müßte, sie ist ihm nur gut zu Bei¬
spielen für seine Lehrsätze. Zu seinen Eigentümlichkeiten gehört auch, daß er
zeichnen und etwas malen konnte, und daß er sich nun allen, die das nicht
verstanden, überlegen deuchte; dieser Vorzug aber, der ihm in dein praktischen,
kunstgewerblichen Unterricht zustellten kam, spielte ihm in seiner Kunstbetrach¬
tung den Possen, daß er sich in technische Dinge und unwesentliche Äußerlich¬
keiten verbiß und über Quisquilien schulmeisterte, während ihm der Blick für
das Ganze verloren ging. Jedes Kapitel der „Steine von Venedig" oder
der „Morgen in Florenz" gibt dazu die Beispiele. Mit einem Worte, zum
Kunsthistoriker und Erklärer'der vergangnen Kunst fehlt ihm so gut wie alles;
wenn er aber der lebenden Kunst gegenübersteht und Unterrichtszwecke verfolgt,
so wird er der praktische und für England auch wichtige Mann, und seine
„Modernen Maler," denen wir uns um zuwenden, sind als ein Lehrbuch für
die Praxis aufzufassen.
Als er die ersten beiden Abteilungen, die bis jetzt allein in der Ausgabe
des Diederichsscheu Verlags veröffentlicht sind, schrieb, war er vierundzwanzig
Jahre alt (1843). Er wollte die Überlegenheit der modernen Landschafts-
malerei über die Kunst aller alten Meister an den Gemälden seines Lands¬
manns Turner dartun und verarbeitete seine Einzelbeobachtungen in ein wort¬
reiches Lehrgebäude, das die Herausgeberin verständig und geschickt gekürzt hat;
diese Arbeit ist sehr viel besser als ihr Buch über Ruskin, vou dem früher die
Rede war. Rnslin hatte die Marotte, seine theoretischen Auseinandersetzungen
in die Terminologie des Lockischen Sensualismus einzuwickeln, und wenn sich
ein ungeordneter Geist für seine Ausdrücke bei einem Philosophen Rat holt,
so kann das schlimm werden. Dieses verdunkelnde Beiwerk hat Charlotte
Broicher weggelassen oder verständlich umschrieben. Sie hätte nnr noch weiter
gehen und uns z. B. die unfruchtbare Haarspalterei, die die künstlerische Phan¬
tasie in k-in<Z7 und lag.Ziu^ion zerlegt, erlassen sollen, und ihr hilfreicher philo¬
sophischer Schutzpatron, auf den sie sich mehrfach mit Emphase beruft, hätte
seine Zeit leicht nützlicher anwenden können.
Versuchen wir nun von dem Inhalt des Buchs eine Vorstellung zu geben,
so dürfen wir die einschachtelnden „Ideen" oder Rubriken des Könnens, der
Nachahmung, Wahrheit, Schönheit usw. sowie den ganzen Apparat der Rus-
kinschcn Begriffsbestimmungen außer acht lassen, da sie den Wert des Ganzen
mehr verdunkeln als ins Licht stellen: dieser beruht ausschließlich auf den tat¬
sächlichen Beobachtungen, die oftmals die Form von praktischen Anweisungen
eines Akademieprofessors annehmen und ausübenden Künstlern sehr nützlich
sein können. Es werden die Unterschiede zwischen Ton und Lokalfarbe be¬
handelt, die Veränderungen der Farben dnrch die stärkern, überwiegenden Ein¬
drücke von Licht und Schatten, die Abstände und Fehler der Nachbildungen
gegenüber dem Naturbilde: die alten Meister bleiben in der Darstellung des
Raums zurück, sie haben kein richtiges Himmelsblau, unterscheiden nicht die
Struktur der Wolken nach den Höhenregionen, malen Regenwolken, Wasser
und Wasserfälle schlecht, legen Nachdruck auf Bäume und vernachlässigen den
Aufbau des Terrains, berücksichtigen am Gebüsch nicht die Schatten der Blätter,
vernachlässigen die Spiegelungen der Gegenstünde im Wasser, die in Form
und Dimension unendlich verschieden sind je nach dem Grade der Bewegung
der Wasseroberfläche, sodaß sie in jedem Falle neu beobachtet werden müssen.
Die Holländer sehen zu viel, die Italiener zu wenig. Turner steht in der
richtigen, erreichbaren Mitte. Er hat, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt
wird, eine Naturwahrheit im einzelnen, in der Stoffbezeichnung, in Licht und
Farbe, wie sie die alten Meister nicht ausdrücken konnten oder wollten. Die
Natur ist viel reicher an Mitteln als die Palette eines Malers und darum
in ihren Wirkungen niemals erreichbar, aber Turner hat die Differenz, soweit
es möglich war, verringert. Unter den „alten Meistern," auf die Ruskiu zu¬
gunsten Turners exemplifiziert, versteht er aber im Grunde genommen nur
zwei, die es bekanntlich mit der einzelnen Naturwahrheit am leichtesten ge¬
nommen haben, Claude Lorrnin und Poussin, und dadurch hat er sich selbst
seine Beweisführung leichter gemacht, als wenn er sein Beobachtungsfeld ge¬
hörig erweitert hätte. Vor allem ist seine Kenntnis der Holländer mir sehr
unvollkommen, und es wäre eine Kleinigkeit, einen Teil seiner Behauptungen
durch Beispiele als falsch zu erweisen. Mehr Vergnügen würde es uns freilich
machen, auf das Nichtige und Gute näher einzugehn, wir unterlassen aber
beides und benützen den uns zustehenden Raum für einige weiter führende
Betrachtungen.
Nach den Anmerkungen der Herausgeberin konnte es scheinen, als wäre
Turner der Bahnbrecher der modernen Landschaftern gewesen, und als müßten
seine Errungenschaften täglich neu durch Nuskius Vermittlung gewonnen werden.
In den gebildeten Künstlerkreisen Berlins hat man aber schon vor vierzig Jahren
die Eigenschaften Turners eifrig erörtert, allerdings auch seine Verkehrtheiten,
von denen bei Nuskin wenig die Rede ist, und wir glauben nicht, daß anch
nur ein deutscher journalistischer Kunstkritiker, der seine Zeit nicht verschlafen hat,
heute noch viel neues aus diesem Buche lernen wird. Wir kennen alle die Fort¬
schritte, die die Landschaftsmalerei des neunzehnten Jahrhunderts auch ohne
Turner gemacht hat, äußerlich durch Eroberung von Gebieten, an die die alten
Meister nicht hiuankommen konnten: Hochgebirge, Ozean, exotische Gegenden,
aber auch intensiv durch Vertiefung der Aufgaben und nicht am wenigsten
beinahe überall in der einzelnen Naturwahrheit. Was nun diese letzte betrifft,
auf die es Nuskin bei seinem Lehrgang hauptsächlich ankommt, so wissen wir
aus den populären Aufsätzen von Helmholtz und den Bekenntnissen nachdenkender
Maler, wie unerreichbar die Malerin Natur ist, und alle Naturwahrheit bleibt
doch immer nur ein Ungefähr. Haben denn nun diese einzelnen Schritte, die
— wie uach einem Stern am Horizont hin — kann: den Abstand von der
wirklichen Natur verringern, in Wahrheit solche Bedeutung für die Absichten
der Kunst? Dann kommen wir konsequenterweise ans die wissenschaftlichen
Genauigkeiten der Momentphotographie, die nur mit dem Verstände anerkennen
müssen und doch auf Bildern so befremdlich und geradezu lächerlich empfinde,?,
z. B. das Gehen im Stechschritt, weil unser Auge anders sieht als die Camera.
Die alten Landschafter haben nicht für Naturforscher und Geographen gemalt,
und die Wirkung eines künstlerischen Nachtbildes hängt nicht von seiner Korrekt¬
heit ab; jeder kann z. B. wissen, daß die Sichel des abnehmenden Mondes
nie am Abendhimmel erscheint, und doch wird sie keinen: von uns, wenn er sie
auf eiuer Abendlandschaft findet, die Stimmung verderben. Es ist merkwürdig,
daß gerade Nuskin, der seiner ganzen Richtung uach Idealist und in seinen
allgemeinen Betrachtungen sogar ein vollkommner Jdeologc ist, dem einzelnen
Kunstwerke gegenüber einseitig den Realismus betont und dabei doch über kritische
Kleinmcisterei selten hinauskommt. Wir wünschen seinen Büchern viele nach-
denkende Leser, aber für die Unmündigen sind sie keine bekömmliche Kost, und
wenn man neuerdings sogar Vvlksabcnde mit Lichtbildervortrügen über Ruskin
veranstaltet, so können wir das nur für eine der vielen Verirrungen unsrer
heutigen sogenannten Kunsterziehung halten. Die Erzieher mögen sich an einem
solchen Abend sehr weise vorkommen. Um so konfuser werden die Zöglinge
uach Hause gehn.
ächst dem „Hängen" ist die für weniger schimpflich geltende Ent¬
hauptung (mit dem Schwerte) schon im Mittelalter, wo man sie
wohl als „Tod mit nasser oder blutiger Hand" dem „trocknen"
Tod am Galgen gegenüberstellte, eine der häufigsten Strafen am
Leben gewesen (vergl. z. B. Sachsenspiegel II, Art. 13, Z 5), die
namentlich für den — nicht durch besondre Umstände erschwerten —
Totschlag die Regel gebildet hat. Auch für diese Exekution aber finden sich in
ältern Gesetzen und gerichtlichen Urteilen — in diesen sogar vereinzelt bis ins
siebzehnte Jahrhundert hinein — allerlei den blutigen Vorgang teils umhüllende,
teils aber auch uoch plastischer ausmalende humoristische Umschreibungen, von
denen uns ebenfalls noch einzelne nach dein gegenwärtigen Sprachgebrauche
geläufig sind. So wissen wir z. B. noch recht gut, wenn wir hören, es sei je¬
mand „umeiuen Kopf" (früher wohl auch „umeineSpcmne") „kürzergemacht"
worden, daß es sich dabei um den eignen Kopf eines Hingerichteten oder Ge¬
töteten handelt, der „vom Nacken getrennt" wurde, ja wir verstehn sogar noch
den grausigen Humor, der in der Ellipse „einen über die Klinge springen
lassen" liegt. Deal auch diese Wendung bezieht sich nicht sowohl auf die
Person des Hingerichteten selbst, als auf dessen Kopf, der uach der Enthaup¬
tung zunächst in die Höhe zu springen pflegt, ehe er auf die Erde fällt.
Deutlich zeigt dies eine Stelle in einem Fastnachtsspiel des fünfzehnten Jahr¬
hunderts, wo es heißt: „cioin llcmpt innotZ nur übsr ein svvrtKlinMir llvMn."
(Ahnt, auch Luther: „Die ihn deu Kopf über eine kalte Klinge hatten hüpfen
lassen.")
. Gemeinschaftlich auf die Todesstrafe», des Hängens und des Enthnupteus
w:rd man alle die Redewendungen beziehen dürfen, in denen noch heute der
"Hals" im Sinne von Kopf oder Leben (gleichsam als pars pro toto) vorkommt.
Wenn auch die Strafen „an Hals und Hand," das hochnotpeinliche „Hals-
gericht," die „Halsgerichtsbarkeit" und die „Halsgerichtsordnungen," die
mise gesetzlich anerkannte Bezeichnungen waren, jetzt veraltet erscheinen, so kann sich
doch ruiner noch jemand „um deu Hals reden," d.h. so ungeschickt vertei¬
digen, daß es ihm „den Hals (oder Kopf) kostet" oder „bricht" oder „an
°en Hals geht," sodaß er dann „(den Hals) herhalten" muß. Daß aber unsre
Erfahren in dem Verlust des Lebens immer eine genügende Sühne, auch für
me schwersten Freveltaten, gesehen zu haben scheinen, deutet das ebenfalls jetzt
was bekannte galgenphilosophische Bonmot an: „mit dem Halse bezahlt
w""r? ^" demselben Sinne wie Hals findet sich auch „Kragen" qe-
"rupe. ^er einem andern „den Kragen umgedreht" hat, den „nimmt"
die Polizei ihrerseits „beim Kragen/' und dann darf er „den Kragen
daran setzen," um sich mildernde Umstände zu erwirken, damit es ihm nicht
„an den Kragen gehe." Wir sind dabei heute geneigt, eine Übertragung von
unserm Kleidungsstück Kragen auf den von ihn? bedeckten Hals anzunehmen,
aber gerade das Umgekehrte ist der Fall, denn „Kragen" hat von vornherein
schon die Bedeutung „Hals" gehabt (vergl. den „Kragen" der Vögel und
„Geizkragen" — Geizhals) und ist erst später auch für das Kleidungsstück in
Gebrauch gekommen, weshalb auch „Halskragen" eigentlich eine Tautologie ist.
Eine der schrecklichsten unter den im Mittelalter nicht seltnen sogenannten
qualifizierten oder geschärften Todesstrafen (wie Ertränken, Säcken, Verbrennen,
Vierteilen, Pfählen u. a. in.) war das „Rädern," das z. B. der Sachsenspiegel
(II, Art. 13, Z 4) für Mörder, Verräter, Mordbrenner (und ihre Helfershelfer)
sowie für Räuber lind Plünderer besonders befriedeter Gegenstände, Gebunde
oder Orte (Pflug, Mühlen, Kirchen, Kirchhöfe) androhte.' Diese Strafe, die
vielleicht an ein uraltes Töten durch fahrende Wagen anknüpft, bestand darin,
daß man dem unglücklichen Verbrecher die Glieder des Körpers mit einem
scharfkantigen eisernen Instrument in der Form eines kleinen Wagenrades zer¬
stieß („brach"), worauf dann der tote Körper wohl auch uoch um die Speichen
des Rades geflochten und dieses so auf einem Pfahl auf dem NichtPlatz auf¬
gestellt zu werden pflegte, wie aus zahlreichen ältern Abbildungen zu entnehmen
ist. Später unterschied man „das Rädern von unten" von dein „Rädern von
oben," das als leichter galt, und bei dem es der Scharfrichter in der Hemd
hatte, durch einen geschickt geführten Stoß ans das Genick oder die Herzgegend
die Leiden des Opfers zu kürzen. Das nannte man den sogenannten „Gnaden¬
stoß geben," eine Redewendung, die noch heute nicht nur im ursprünglichen
Sinne des Wortes in der Jägersprache für die schnelle, völlige Tötung eines
bei Parforcejagden schon halb zu Tode gehetzten Wildes weiterlebt, sondern
mich in übertragnem Sinne (— „jemand nach voransgegangnen Qualen vollends
zu Grunde richten") angewandt zu werden pflegt. Zu den starken Übertreibungen,
in denen sich die Bilder unsrer Muttersprache manchmal gefallen, gehört es aber
offenbar, daß wir uns auch noch jetzt, etwa nach einer großen, ermüdenden
Anstrengung „wie gerädert" fühlen können, ja es sogar fertig bringen, die
Tätigkeit des Räderns selbst auszuüben, wen» Nur nämlich eine fremde Sprache
(oder auch wohl Verse) „radebrechen," mit ihr also gleichsam in derselben
barbarischen Weise verfahren, wie einst der Henker mit dem armen Sünder.
Die verstümmelnden Leibesstrafen, von denen unsre Vorfahren einst fast so
viele kannten, als der menschliche Körper Glieder und Sinnesorgane hat, sind
im heutigen Rechte glücklicherweise längst zur geschichtliche!? Antiquität geworden,
sie haben aber — im Gegensatze zu den verschiednen Todesstrafen — auch in
unsrer Sprache keine hervorragenden Spuren hinterlassen. Denn höchstens kann
man die Redensart „Hand und Fuß haben" hierher rechnen, wenn man ihre
Entstehung nämlich auf die schon in fränkischer Zeit vorkommende und durch
das ganze Mittelalter geübte Strafe des Abhauens von Hand und Fuß zurück¬
bezieht, und zwar genauer auf den Verlust der rechten Hand und des linken
Fußes, die nicht selten als besonders empfindliche Strafe in Sagen, Liedern, aber
auch in Gesetzen erwähnt wird, ebenso wie ans die Verletzung dieser Glieder zuweilen
(z. B. nach spätern friesischen Gesetzen) eine höhere Buße stand. Die Bevorzugung
der rechten Hand, die das Schwert führte und den Speer schwang, erscheint dabei
ohne weiteres einleuchtend, die des linken Fußes aber erklärt sich wohl daraus,
daß mit diesem der Ritter, überhaupt der krieqstüchtige Mann in den Steig¬
bügel („Stegreif") trat. „Die (rechte) Hand und den (linken) Fuß (uoch) haben"
bedeutete demnach zunächst: ein kriegstüchtiger Mann sein. Später aber wurde
„Hand und Fuß haben" auf jede Art von' Tüchtigkeit übertragen. Die früher
weit verbreitete Strafe der Brandmarkung, die noch zu Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts vereinzelt, z. B. in Baden, gesetzlich anerkannt war und in ältern
Zeiten zugleich dem praktischen Zwecke der Wiedererkennung rückfälliger Delin¬
quenten gedient hat. steht gleichsam in der Mitte zwischen den Verstümmlungen
und den'Ehrenstrafen. Denn immer brachte sie dem auf solche Weise Gezeich¬
neten außer den physischen Schmerzen auch noch Schimpf und Schande em.
So erklärt sich unser heutiger Sprachgebrauch, wonach wir immer uoch nicht
mir jemand moralisch „brandmarken," sondern ihm auch das „Brandmal
der Schande" ausdrücken können.
Erstaunlich erfinderisch ist die Sprache unsers Volkes von jeher in ihren
Gleichnissen für die verschiednen Formen der körperlichen Züchtigung gewesen,
die bei uns jetzt als „Kriminalstrafe" gänzlich beseitigt und nur uoch als
Disziplinarmittcl gegen Gefangne in beschränktem Gebrauch ist. Der urwüchsige
Humor. der uns noch heute in unsern volkstümlichen Sprachbildern für das
Prügeln und Geprügeltwerdcn entgegentritt, stammt daher wohl zum größte» Teile
schon aus der „guten alten Zeit," wo gerichtliche Erkenntnisse auf Stock- und
Rutenhiebe „von Rechts wegen" an straffälligen Staatsbiirgern vollstreckt wurden.
So steht z. B. der noch moderne, auf die nach den Schlägen zurückbleibenden
blauen Flecken bezügliche Ausdruck „jemand dnrchbläuen" (oder ihm „den
Rücken blau anstreichen" oder passiv „Bnckclblau bekommen") in Nbereim
Stimmung mit dem Gleichnisse „Speck und Blaukvhl," das für den „Stcmpen-
schlag" schon der ältern Gauner- und Scharfrichtersprache geläufig gewesen
ist. Die hierin zugleich liegende Vergleichung der schlüge mit einer Speise,
einem eßbaren Gericht, ist überhaupt uoch sehr beliebt, wie z. B. „die Prügel¬
suppe" beweist, die wir jemand „einbrocken" oder ihn „aufessen" lassen können
(vergl. die „Hanfsuppe" ^ Galgentod), ebenso wie man auch „Klopfe" (oder
„Klopfflcisch") oder „Stockfisch, jedoch ohne Butter" serviert bekommen kann.
An einen Vergleich mit dem Geld erinnert das „Aufzählen" (oder „Auf¬
messen") der Prügel (in älterer Zeit nach dem Dezimalsystem), das wir heute
auch noch kennen/ In frühern Jahrhunderten sprach man aber sogar von einem
''Stvckschilling" — eine Bezeichnung, in der die bekannte Münze, der Schilling
(abgeleitet wohl von schallen ^- klingen) zu einem ähnlichen Sinne verallgemeinert
erscheint wie etwa in „Kauf- oder Pachtschilling." Bei der ersten Silbe dieser
Zusammensetzung siud wir heute geneigt, allein an den Stock als Züchtigungs-
mstrument zu denken, jedoch verdankt der Ausdruck „Stockschilling" seine Ent¬
stehung zunächst dein Umstände, daß die leichtern, namentlich an jungen Missetätern,
und meist gerade nicht mit dem Stock, sondern mit Ruten vollzogncn Prügel¬
strafen in dem sogenannten „Stockhause," d. h. den, städtischen Arrest- und Ge-
fängnislvkale, durch deu „Stvckwärter" vorgenommen wurden. Daß diese Her-
leitung des Wortes die richtige ist, zeigt sich z. B. recht deutlich darin, daß
man in Nürnberg, wo das Stvckhaus als „Lochgefäugms" bezeichnet wurde,
«»es einen „Lochschillinq" kannte. Das entscheidende Merkmal für diese leichtern
Züchtigungen aber war der Ausschluß der Öffentlichkeit im Gegensatze zu dem
durch Henkershand auf offner Straße verabreichten sogenannten „Staupenschlage,"
so benannt nach der Staupe" (»wxo, Stanpsiinle), wie im Mittelhochdcntfcheii
der ..Schandpfahl" hieß, woran der Delinquent zum Empfange der Streiche
gebunden wurde Deshalb machte diese Strafe den davon Betroffnen auch zu¬
gleich „ehrlos" in den Augen seiner Mitbürger, sodaß schon damals der Ausruf
des Gezüchtigten: „Ich bin ein geschlagner Mann" nicht bloß im wirklichen,
sondern auch in dem weitern Sinne genommen werden konnte, den er heute
allein noch behalten hat. Noch weniger denken wir in der Gegenwart an die
ursprüngliche Bedeutung der Zeitwörter, wenn wir etwa in der Tagespresse — die
dafür eine gewisse Vorliebe hat — lesen, daß jemand in einer Schrift die Un¬
sren unsrer Zeit „gegeißelt" habe, oder auch, daß in einer Neichstagssitznng
ein Gesetzentwurf, um ihn möglichst rasch zu erledigen, „durchgepeitscht"
worden sei. Ja wir veranschaulichen uns kaum noch den einst der Haut der
Soldaten doch äußerst fühlbar gewesenen Vorgang, wenn wir irgendwo „Spie߬
ruten laufen" (auch wohl „durch die Gasse laufen") müssen, d. h. genötigt sind,
uns im Vorbeigehn spöttischen Blicken und Bemerkungen auszusetzen, wie dies z. B.
das Schicksal der unterwegs seekrank Gewordueu uach der Ankunft eines Schiffes
auf der berühmten „Lästerallee" in Helgoland zu sein pflegt. Wenn die Prügel
— wie es auch in älterer Zeit zuweilen vorkam — dem Verurteilten im
Gnadenweg erlassen wurden, so machte man dann nicht selten die eigentlich
verwirkte Strafe doch noch dadurch kenntlich, daß dem Delinquenten vom
Henker eine Rute um den Hals oder auf den Rücken gebunden und er dann
so öffentlich ausgestellt wurde. Damit darf man wohl unser bildliches „sich
selbst eine Rute (auf den Rücken) aufbinden" (— sich selbst eine unangenehme
Last aufladen) in einen Zusammenhang bringen.
Solche Ausstellungen fanden in der Regel statt an dem einst in jeder
Stadt — meist auf dem Marktplatze — stehenden Pranger (ahd. prmiMr
oder dra-nger, verwandt mit got. xrsWan, ahd. M'cmAsn drücken, bedrängen,
übt. viMA — Druck, Bedrängnis, piÄiiMn pressen, drücken), der mundartlich
wohl auch als „Breche" oder „Brechet" (brvL>i<z, prsolle, besonders bayrisch),
„Schreiat" (schwäbisch — Vcrrufsstätte), „Kak" (niedcrd. Kicko, l<»,x, K-ux.)
und öfter als „Schandstein," „Schandsänle," „Schandpfahl" oder „Halseisen"
bezeichnet wird.
Unserm Strafrecht ist auch diese schimpfliche Ehrenstrafe, die sich in
ältern Zeiten großer Beliebtheit erfreute, schon längst nicht mehr bekannt, dafür
aber lebt sie im Bilderschmuck unsrer Sprache noch fort, wonach wir in über¬
tragnem Sinne noch immer jemand „an den Pranger stellen" oder aber
auch selbst vor andern dort „stehen" können. Am Schandpfahle zeigte man
früher wohl auch der Volksmenge die Diebe — vor ihrer Hinrichtung — mit den
um deu Hals gehängten gestohlnen Gegenständen; später war es eine Zeit lang
ziemlich allgemein üblich, den zur Schan gestellten Verbrechern Zettel oder
Tafeln umzuhängen oder auch über ihnen aufzuhängen, die jedermann die Ur¬
sachen der entehrenden Bestrafung verkündeten, die sogenannten „Schandtafeln,"
die in der neuern Literatur nun ebenfalls schon in einem übertragnen Sinne
vorkommen.*) Vielleicht geht hierauf auch die Redensart „einem etwas
anhängen" zurück, die man übrigens auch zurückführen könnte ans die noch
ältere Sitte des Umhüugeus des Klappersteins, Lastersteius (vou Laster im ahd.
Sinne von Schmähung), Pag- oder Bagsteins (von ahd. MM, Streit, Hader),
den bestimmte Missetäter, wie Gotteslästerer, Injurianten und namentlich zänkische
Weiber durch die Straßen der Stadt oder um das Rathaus zu schleppen hatten
(für Mülhausen im Elsaß noch 1781 nachweisbar), vielleicht mich auf das
Tragen der Schandflaschen (oft bloße Holzklötze in Form von Flaschen), das
im wesentlichen für dieselbe Kategorie von Missetätern, nach einem Kalauer
Statut vou 1746 (XII. 2) auch für dem „Laster der Trunkenheit ergebne
Weibspersonen" im Gebrauche gewesen ist. Eigentümlich ist es jedenfalls, daß
sich im Italienischen die Redewendung: ..!>>>>>!<-!«' i! kia««» ack nlcuuw" in dem¬
selben Sinne wie unser „einem etwas anhängen" erhalten hat. Eine symbo¬
lische Andeutung verminderter Ehre lag auch in der schimpflichen Ausstellung
gefallner Mädchen mit einem Strvhkranze, den in manchen Gegenden auch die
Bräute, die nicht mehr Jungfrauen waren, bei der Trauung tragen mußten,
und die man darum Strohbräute (ahd. «drü-brut, schon seit 1400 nachweisbar)
oder (bayrisch) Strohjnngfern nannte. Hiernach hat man dann zunächst das
Wort „Strohwitwe" gebildet für eine Fran, die „Witwe und doch keine
Witwe" ist, weil sie bloß vorübergehend von ihrem — etwa auf die Reise ge¬
gangenen — Manne verlassen ist, 'worauf dann erst in neuerer Zeit auch die,
heute aber gerade besonders beliebte Bezeichnung „Strohwitwer" für einen
Mann in dem entsprechend gleichen Verhältnis entstanden ist. Ob auch die für
gewisse Vergehungen (besonders der Frauen) zum Schimpfe vorgenommene
Kürzung des Gewandes wirklich als die Quelle für unsern Ausdruck „einem
die Ehre abschneiden" betrachtet werden darf, mag hier dahingestellt bleiben;
schon mehr hat es für sich, die Redensart „jemand ungeschoren lassen"
ans das schou in ältester Zeit als eine schimpfliche Strafe geltende Ab¬
schneiden des Haares zurückzuführen, das der freie Germane — im Gegensatze
zu den Unfreien — einst lang wallend zu tragen Pflegte, obwohl auch diese
Ableitung nicht ganz sicher ist. Zuweilen wollte man mit den symbolischen
Ehrenstrafcn nicht sowohl auf das begangne Delikt als auf den Stand des
Täters hinweisen (sogenannte symbolische Standesstrafen), Dahin gehört nach
der richtigen Ansicht z, B, das, besonders für Adliche und Vornehmere üblich
gewesene Hundetrageu, Während eine ältere Meinung dahin ging, in dieser
Strafe eine Andeutung dafür zu sehen, daß der Missetäter eigentlich wert sei,
gleich einem Hunde erschlagen oder — wie das tatsächlich zuweilen ausgeführt
worden ist — neben einem solchen aufgehängt zu werden, will man sie neuerdings
als einen symbolischen Hinweis auf den Stand des Verurteilten auffassen
(Hund — Jagdhund), ähnlich wie der Bauer ein Pslugrad, der Ritter sonst
wohl einen Sattel, ein schriftkundiger Bischof einmal eine Handschrift tragen
mußte. Ohne Zweifel aber hängt mit dieser Strafart des Mittelalters die
zur Zeit in vielen Gegenden noch volkstümliche Redensart „Hunde führen"
oder „tragen" (meist noch mit dem Zusatz einer örtlichen Grenze sGan-
grenze?s, wie namentlich bis Bautzen, bis Buschendorf sbei Nürnbergs oder
bis Eulenbach Malzs) zusammen, wodurch etwas ebenso Mühseliges wie Ent¬
ehrendes bezeichnet werden soll (z.B.: „Ehe ich das tue, will ich'lieber Hunde
fuhren jbis , .s"). Von manchen ist aber auch „den Hund vor die Füße
werfen" und das bekanntere, bezüglich seines Ursprungs freilich sehr umstrittene
"auf deu Hund kommen" noch hierher gezogen worden. Noch einen andern
merkwürdigen Vergleich aus dem Tierreiche, nämlich „den Esel zu Grabe
arten," mie es 'im Bolksmnnde genannt zu werden pflegt, wenn die Kinder
um den Füßen unter dem Tische baumeln, scheint unsre Sprache dem Gebiete
ver schunpflichen Ehrcustrafen früherer Zeiten entlehnt zu haben. Die erwähnte
Lebensart wird nämlich zurückzuführen sein ans das (nach Jeremias, Kap, 22,
^ bis 21 benannte) Eselsbegräbnis (soxnltmn hölen), d, h. die sang- und
^Mlose^namentlich ohne Beteiligung der Kirche stattfindende Einscharrung eines
s? auf dem Schindanger oder doch auf ungeweihtem Plane, wie sie einst
sonders (»ach den Beschlüssen eines Konzils von Rheims, 900 n, Chr.) für
^ und kirchlich Exkommunizierte, ferner für Selbstmörder, auf frischer Tat
fil^' - Gefängnis verstorbne Verbrecher, später vorübergehend anch
bei» s«r bezeichnete die baumelnden Beine der zuschauenden Kinder als die
M ^selsbegräbnis gekanteten Glocken, Nicht selten drohen wir heute wohl
mal s'- "icht sehr gewogen sind, wir würden ihnen nächstens ein-
dcck ? ^uf das Dach steigen," ohne uus dabei zu vergegenwärtigen,
! auch diese sonderbare Redensart (ebenso wie das gleichfalls volkstümliche
antr? den' Dache sein" oder „sitzen" für „hinter ihm her sein, ihn
stam ^" ""^ beaufsichtigen") von einer ältern symbolischen Ehrcnstrafe her-
i^mille^ ^ ^.g, man nämlich früher tatsächlich, um
sjf/.^Schimpf und Schande des darunter Wohnenden abzudecken. Namentlich
" Ehemänner, die sich von ihren Frauen hatten schlagen lassen, findet sich
solche Dachabdeckung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert nicht nur in
Chroniken (z. B. in einem Mainzer Amtsgericht vom Jahre 1666) erwähnt,
sondern sogar in Gesetzen (z. B. in den Blankenburger Statuten von 1594)
vorgeschrieben, ja sogar aus dem achtzehnten Jahrhundert sind uns noch Fülle
ihrer Vollziehung überliefert (so z. V. in deu Jahren 1768/69 im Fürstentum
Fulda). Schon ältere Rechtshistoriker haben sich über den Sinn dieser merk¬
würdigen Bestrafung den Kopf zerbrochen, wie der Göttinger Hofrat Justus
Friedrich Runde, der sin Pulks „Nepetitorium für das peinliche Recht, Bd. II,
Frankfurt a. M. 1790, S, 326) darüber als Vermutung aufstellt, man habe damit
entweder „eine öffentliche Anzeige... geben" wollen, „das; der Einwohner des
Hauses nicht fähig wäre, seines Weibes Haupt zu sein," oder aber man habe ihn
als „einen Mann, der sich dein häuslichen Unwetter so geduldig unterzogen, auch
dem physischen" preisgeben wollen. Für das letztere hat sich im wesentlichen
auch Jakob Grimm in seinen „Nechtsaltertümern" (4. Aufl., Bd. II, S. 321)
ausgesprochen, dem darauf neuere Schriftsteller gefolgt sind. Wie dein nun auch
sein mag, jedenfalls darf man diese eigentümliche Strafe als eine besonders aus¬
gestattete Form der sogenannten „Wüstung" betrachten, die als eine „Abspaltung
der Friedlvsigteit," und zwar nach der vermögensrechtlichen Seite hin (Nieder¬
reißen, Niederbrennen des Hanfes) schon für die älteste Zeit nachweisbar ist.
Einen Anklang an die Strafarten vergangner Tage hören wir wohl noch
jetzt heraus, wenn wir — wie das im übertragnen Sinne ja häufig geschieht —
jemand „ächten" oder „in Acht," „Acht und Aberacht" (d. h. eigentlich
die obere, höhere, nicht die abermalige, wiederholte Acht; ahd. ovNÄlltiz neben
nbMÄllto) oder auch in „Acht und Bann" (weltliche und geistliche Strafe)
„tun" oder „erklären." Dagegen sind wir uns jetzt des ursprünglichen Wort¬
sinns von „Elend" nicht mehr bewußt bei den Verbindungen „jemand ins
Elend stoßen" („schicken, jagen"; auch „ins Elend gehen")^ wie er z. B. noch
Goethe geläufig war („Streifen nicht herrliche Männer von hoher Geburt
nun im Elend"), und noch deutlicher in Uhlands Worten (in der „Bidassva-
Brücke") hervortritt: „Jedem ist das Elend finster, jedem glänzt das Vater¬
land." Denn Elend (ahd. -M-all, klilönti, ahd. oUeuäo) war ursprünglich
nur das andre Land (»Im torra; vgl. anch frühmlat. ^Il-8ictu, ahd. Wi^AWo
Elsaß), das Ausland, die Fremde (im Gegensatze zu in!calli>, Heimat), dann aber
besonders auch die „Verbannung" in die Fremde (vgl. auch das Eigenschaftswort
„elend," zunächst: ausländisch, fremd, z. B. ahd. gllcmäor vom, dann auch heimat¬
los). Wenn sich nun im Laufe der Zeit das Elend zu dem Inbegriffe von
Kummer, Not, Mißgeschick oder Jammer ausgebildet hat, so liegt darin wohl
der sprechendste Beweis für die Liebe des Deutschen zu seinem Vaterlande, des¬
selben Deutschen, der freilich auch wieder seinen Respekt vor der Fremde, vor
dem Ausländischen in seiner Sprache dadurch zum Ausdrucke gebracht hat, daß
er alles Unbedeutende oder Wertlose als — „nicht weit her" bezeichnet.
"
Mit der Ausstoßung ins „Elend, der Verbannung aus Stadt oder Land,
womit Regierungen und Gemeinden einst anch viel Mißbrauch getrieben haben,
stehn wir schon an der Schwelle des modernen Strafensystems/denn auch der
Verbannte war ja in gewisser Weise seiner persönlichen Freiheit beraubt (daher
wohl schon im Abt. Elend auch — Gefangenschaft), wenn auch nicht in dem¬
selben Maße wie bei den heutigen Freiheitsstrafen. Eine Art Übergang zu
diesen letztern von den ältern Strafformen stellt unter anderen die eine Zeit lang,
nach französischem Vorbilde, auch bei uns üblich gewesene Verurteilung zu den
„Galeeren" dar. Daß dies, namentlich wegen der rohen, oft gerazu bestialischer
Behandlung der Sträflinge („Galeerensklaven") durch die Aufseher tatsächlich eine
sehr schwere Strafe war, darau lebt in dem Gebrauche des Wortes „Galeere"
zur Kennzeichnung einer harte», erzwmigneu Arbeit noch heilte eine verschwommene
Erinnerung fort.
Die schon im Mittelalter bestehende» Gefängnisse, in die man auch wohl
Untersuchnugsgesangne mit schon verurteilten Verbrechern aller Grade ohne
Bedenken zusammensparte, und die wegen ihrer mangelhaften Remlnhkeck die
Vrutstätteu des Kerkerfiebers und andrer Krankheiten waren, kann man auch
nicht im entferntesten mit unsern nach den neusten Anforderungen der Hygiene,
ja zum Teil mit einer Art Komfort ausgestatteten Musterstrafanstalten ver¬
gleichen. Und doch „kommt" oder „fliegt" der heutige Gauner oder Vaga¬
bund, ja selbst wohl der Soldat nach seiner Redeweise noch ebenso ins „Loch"
oder wird „eingekocht" oder „beigelocht" wie sein Vorfahr vor ungefähr
fünfhundert Jahren, wo diese Ausdrücke für die Haft in engen, finstern,
meistens unterirdischen Gelassen tatsächlich paßten, ja zum Teil sogar im gesetz¬
lichen Sprachgebrauch anerkannt waren (vgl. das „Lochgefäugnis" in Nürnberg).
Auch die schou früher (bei dem Namen „Stöcker" und dem Ausdruck „Stock¬
schilling") erwälMe Bezeichnung „Stockhaus" oder „der Stock" hat sich in dem
beim österreichische» Militär noch üblichen „Stöckl" für das Arrestlokal zu er¬
halten vermocht. Der Ursprung dieser Worte aber geht zurück auf die Sitte, die
Gefangne» zur Erschwerung ihrer .Haft, auch wohl um sie am Selbstmord zu
hindern, mit Füßen oder Händen in einen ausgehöhlten, verschließbaren Holz¬
klotz, den sogenannten „Stock" einzuzwängen („in den Stock zu legen") oder
auch mit Ketten und Riemen daran zu befestigen. Mit Rücksicht hierauf scheint
die Vermutung, daß auch der „verstockte Sünder" dieser jetzt vergessenen
Einrichtung seine Entstehung verdankt, immerhin manches für sich zu haben.
(Fortsetzung folgt)
under über Wunder! Die Gemeinde Emmerlingen beschließt, aus
freiem Willen eine dritte Schule zu bauen, einigt sich über den Platz,
den Plan und über die Aufbringung der Kosten und legt der König¬
lichen Regierung die Sache fix und fertig zur Genehmigung vor.
Schnlrai Wiersdvrf, ein alter würdiger Herr — Gott habe ihn
- selig - , Pflegte zu sagen, das; er um jede neue Schule seines Bezirks
key ^> ^eben Jahre habe dienen müssen. Hier sollte um der Dienst
le Viertelstunde dauern. Ein Federstrich, und es war alles erledigt,
ki ^ hatten aber auch triftige Grunde vorgelegen, die die Gemeinde Emmer-
ich^" "^mochten, den natürlichen Widerwillen gegen alles, was Geld kostete, zu
Toren"^" ^ ^ Rekrutenvorstellungcn in Hartenburg. vor dessen
lesen ^"""erlingen liegt, waren zwei Emmerlinger gefunden worden, die nicht
sciote " Leiden konnten. Das verursachte ein großes Aufsehen. Der Herr Oberst
dnß es"" ^""true: Sagen Sie mal, Herr Landrat, das ist ja sehr interessant,
Kulturs/k" Kreise, von dem man doch annahm, daß er auf einer hohen
dem, - Mteraten vorkommen. Sagen Sie mal, Herr Laudrat, wie istda . «behaupt möglich?
an d . ^ Landrat ärgerte sich und schnäuzte deu Schulzen von Emmerlingcn
dem P"?^"^ von Einmerlingen sank in sich zusammen und schimpfte dann hinter
sclmli s ^ Landrath auf die Königliche Regierung, deu Landrat, den Kreis-
^ "Nspetwr und alles, was mit der Schule zu tun hatte. Er sei doch kein
Schulmeister, und er stelle doch die Lehrer nicht ein. Und wenn ihnen die Regierung
solche Jaminerkerle wie den Müller zuschickte, bei dem die Kinder nichts lernten,
dann sei es kein Wunder, wenn die Rekruten nichts wüßten. Sie hätten beim alten
Lüttich — er sei ein strenger Lehrer gewesen und hätte feste gehauen — Schule
gehabt und hätten alle etwas gelernt (die Emmerlinger Zuhörer nickten Bestätigung),
aber mit diesem Müller, der so psu ö. xsu gar nichts wüßte und verstünde, und
mit der heutigen Jugend sei es zum katholisch werden.
Als nun im nächsten Jahre wieder ein Jlliterat aus Einmerlingen auftauchte,
erhob sich ein großer Spektakel. Der Herr Oberst bemerkte: Wenn das so weiter
gehe, so müßte man ja, weiß es Gott, in der Kaserne eine Elementarschule einrichten.
Der Herr Landrat machte den Schulzen verantwortlich, und der Herr Schulze die
Königliche Negierung. Die Sache kam in die Zeitungen, man wies auf die Emmer¬
linger mit Fingern. Die Emmerlinger ärgerten sich schwarz, und als bei einer
Jagdverpachtung, bei der der Schulze unterschreiben mußte, der Amtsrat auf der
Suderburg scheinbar verwundert ausrief, der Schulze könne ja seinen Namen schreibe»,
er hätte gehört, die Emmerlinger machten statt der Unterschrift drei Kreuze, da
war dem Fasse der Boden aufgeschlagen. So ging es nicht weiter.
Aber damit, daß man dem Lehrer Müller aufs Dach stieg, war es nicht
getan. Die drei Rekruten waren zwar in der Schule ungewöhnlich dumme Jungen
gewesen, und Müller war zwar ein Schwachmatikus; aber auch einem tüchtigen
Lehrer wäre es unmöglich gewesen, die Aufgabe zu lösen, hnndertnndzehn Emmer¬
linger Kinder in einer Klasse mit Erfolg zu unterrichten. Und das wurde von
Jahr zu Jahr schlimmer, da die Arbeiter in Scharen aus der Stadt nach
Emmerlingen zogen, seitdem der Eisenbnhnfiskns auf der Einmerlingen zugekehrten
Seite der Stadt Reparaturwerkstätten errichtet hatte. Es blieb also nichts andres
übrig, als in den sauern Apfel zu beißen und eine neue dritte Schule zu bauen.
In einer Gemeindeversammlung wurde alles beschlösse» und festgemacht. Die Sache
ging so schnell, daß die zahlreichen Gegenmeinungen nicht Zeit hatten, sich zu gestalten.
Der Herr Kantor verzichtete auf seine Lieblingsidee, daß das neue Haus schließlich
für ihn gebant werde, lind der Herr Schoppe Spitzmaus gab das Geschäft auf,
seinen Garten, der ihm nichts einbrachte, der Gemeinde für schönes Geld als
Bauplatz aufzuhängen. Der Herr Pastor aber legte der Königlichen Regierung den
Plan, den Anschlag und den Gemeindebeschluß vor und machte einen acht Seiten
langen Bericht, worin er alle Gründe für den Plan erwog und ins rechte Licht
stellte, und worin er der Regierung die Sache so zuckersüß machte, daß diese gar
nicht anders konnte, als mit Freuden ihr liat darunter zu schreiben. Er verfehlte
nicht hinzuzufügen, daß man es einem besondern Glncksfnlle verdanke, wenn die
Verhandlungen sobald zu einem glücklichen Ende geführt hätten, und daß es sich
empföhle, die günstige Stimmung zu benützen und weitere Verhandlungen zu ver¬
meiden. Auch sei ein andrer Bauplatz im Orte nicht zu finden.
Der Herr Pastor war in gehobner Stimmung, als er seinen Bericht abgeschickt
hatte, und er erwartete nicht allein eine schleimige Zustimmung, sondern auch ein
Lob für die Willigkeit der Gemeinde und die Umsicht ihrer Vertretung. Aber es
kam lange keine Antwort. Statt dessen lief die alljährliche Rundfrage nach über¬
füllten Schulen ein, und die Aufforderung, zu berichten, was geschehen sei, die
Überfüllung der Schule in Emmerlingen zu „beheben." Der Herr Pastor fiel ans
allen Himmeln. Ja, sein sonst so friedfertiges Gemüt bewölkte sich. Er hatte einen
acht Seiten langen Bericht geschrieben, alle Umstände dargelegt, alle Wege geebnet,
es fehlte nnr noch an der Zustimmung der Regierung. Und diese selbe Negierung
fragte, nachdem sie den Bericht acht Wochen in Händen hatte, an, was geschehen
sei. Dies setzte der Herr Pastor den Herren Amtsbrüdern im Pfarrverein auseinander
und fand volles Verständnis für seine Schmerzen. Da sehe man es einmal wieder,
daß der Ortsschnlinspektor von der Königlichen Regierung als Luft augesehen werde,
und daß „man" darauf ausgehe, die Kirche gänzlich aus der Schule zu verdränge».
Endlich lief ein Schreiben von Königlicher Regierung ein, worin mitgeteilt
wurde, eine Kommission werde am 25. November eine Ortsbesichtignng vornehmen,
jedoch sehe man sich veranlaßt, schon jetzt zu eröffnen, daß wegen des mizureicheuden
Raumes das eingereichte Projekt nicht genehmigt werden könne. Der Herr Pastor
wurde durch dieses Schreiben auf das schmerzlichste berührt. Er trug es' zum Herrn
^lmtsvorsteher, einem kleinen, weißköpfigen Herrn, der viel schnupfte und wenig
redete, es aber faustdick hinter den Ohre» hatte, und setzte ihm auseinander, daß
me Königliche Regierung gänzlich im Unrechte sei, und daß, wo kein Raum sei,
auch die Königliche Regierung keinen Raum schaffen könne.
Am 25. November war miserables Wetter. Es wehte ein eisiger Ostwtnd,
und es herrschte ein leichtes Schneetreiben. Der Ortsvorstand und der Schulvorstand,
der Herr Schulze, der Herr Amtsvorsteher, der Herr Kantor und der Herr Pastor
hatten sich im Kruge versammelt. Zur angegebnen Zeit fuhr ein Wagen vor; es
entstiegen ihm der Herr Geheime Regierungsrat von Haase, Herr Regierungsbaurat
Kroch und Herr Regierungsreferendnr von Bransewitz. Der Herr Geheime Regierungs¬
rat war noch steifbeiniger, als er sonst zu sein pflegte, denn er hatte den Hexenschuß,
der Herr Baurat betrachtete mit offenbarer Geriugschtttznug die Straße von Emmer-
lingen, die auch keine Spur von architektonischer Individualität aufwies, und Herr
von Brausewitz, der mitgenommen war, einesteils weil er das Protokoll führen,
nnderuteils weil er lernen sollte, wie man mit Bauern umgehe, entwickelte die Beweg¬
lichkeit und die Umsicht eines Adjutanten. Man grüßte die Anwesenden flüchtig und
ließ sich von der Corona betrachten, während man sich mit ein paar Gläsern Grog
erwärmte und über das niederträchtige Wetter schalt. Darauf begab man sich zur
Besichtigung; voraus der Herr Pastor, dann die hohen Behörden, dann die Herren
vom Gemeinde- und vom Schulvorstande, und zuletzt der Herr Kantor, der dem
Herrn Spitzmaus auseinandersetzte, er habe es immer gesagt, der Platz rechts vom
Apfelbaum sei falsch, die Schule müsse links vom Apfelbaum stehn.
Emmerlingen liegt auf der Zunge einer Hochfläche und ist eng und stadtmäßig
gebaut. Unten fließt durch nasse Wiesen die sanfter, ein kleiner Fluß, der harmlos
aussieht, aber im Frühling die ganze Ane überschwemmt. Hart an der Kante des
Abhangs liegen Kirche, Pfarre und die zwei Schulen. Die Garten der beiden
ahnten stoßen aneinander, und an der Grenze beider Gärten steht der bewußte
Apfelbaum. Der Herr Geheimrat wickelte sich fröstelnd in seinen Mantel, und der
Herr Baurat sah Garten, Apfelbaum. Schule und Dorf mit verächtlich flüchtigem
^nel an, wie ein Professor die wenig geratne Ausstellung vou Schülerarbeiten.
Na natürlich, der vorgeschlagne Platz war gänzlich ungeeignet. Kein Gedanke
daran, hier eine Schule hiuzubaueu, die den Intentionen des Ministerialerlasses
dom 15. November 1895 entspräche. Der Herr Pastor suchte sein Projekt zu ver¬
teidigen und darzulegen, daß der Platz allerdings etwas knapp bemessen sei, daß
er aber der einzig mögliche sei. Er fand aber mit seine» Gründen gar kein Gehör.
Her Herr Baurat zuckte die Achseln und lachte kurz und trocken. Der einzig
Mögliche Bauplatz — auf dem flachen Lande! Lächerlich. Warum bauen Sie denn
vie Schule uicht da unten hin? fragte er den Schulzen. — Herr Rat, erwiderte
^eher, dort würde sie im Frühjahr versaufen. — Das war denn freilich etwas
andres. Aber das Dorf hatte doch auch eine Grenze nach den Feldern zu. Man
vegab sich dorthin. Na, sehen Sie, sagte der Herr Baurat, hier ist doch Platz die
'Hwere Menge. Wem gehört denn das Laud hier?
Herrn Fettbnck, aber der verkauft nichts.
^ Er wird schon, erwiderte der Herr Regierungsrat. Schicken Sie mal hin.
Herr Fettback möchte mal herkommend
Nach gemessener Zeit, während deren die Kommission Zeit hatte, das flache
»eit zu betrachten, über das der Ostwind in wagerechten Linien die Schneeflocken
meh, kam Herr Fettback an. Man trug ihm die Sache vor, und Herr Fettback
emarte, er verkaufe kein Land.
Ach was, erwiderte der Herr Regierungsrat, Sie werden schon, wenn man
Ihnen ein ordentliches Gebot macht. Was ist denn der Acker wert, Herr Schulze?
Der Herr Schulze stellte mit Hilfe der andern Anwesenden fest, daß der Acker
xsu Z, xsn fünfzehnhundert Mark wert sei. Na, sagte der Herr Geheimrat, die
Gemeinde bietet Ihnen zweitausend Mark. Was sagen Sie nnn?
Ich habe es gesagt, antwortete Herr Fettback gelassen, ich verkaufe kein Land.
Dann wird man Sie expropriieren.
Expropriieren? Mich? Nee, meine Herrn. Und wer soll denn die Expropriatious-
kosten bezahlen? Die Gemeinde nicht, dafür bin ich Ihnen gut, meine Herrn.
Der Herr Geheimrat wurde ungeduldig, bezwang sich aber und beschloß an das
Ehrgefühl und das Gemeindebemußtsein des Mannes zu appellieren. Die Gemeinde
brauche das Land zu einer Schule für ihre Kinder, und für die Kinder müsse ein jeder
gute Bürger Opfer bringen können. Fettback erwiderte: Er habe keine Kinder. —
Der Herr Gcheimrnt drehte sich ärgerlich um, und Herr Fettback ging nach Haus.
Wer ist denn eigentlich der Mensch? fragte er den Herrn Schulzen.
Nu, sagte dieser, es ist doch immerhin ein Mann von xcm -Z, xcm fünfviertel
Millionen, das lebende Inventar nicht mit gerechnet.
Lassen wir also diesen Bauernmillionär beiseite, sagte der Herr Geheimrat,
gehen wir weiter. — Man ging weiter bis zu einem andern Plan. — Wem gehört
dieses Land?
Herrn Spitzmaus, Herr Rat. Herr Spitzmaus ist hier. Fritze, komme doch
mal her. — Spitzmaus kam an.
Verkaufen Sie das Land?
Jawohl, Herr Rat. Die beiden Herren von der Kommission sahen sich mit
Genugtuung an. — Einhundertfünfzig Mark die Quadratrute.
Das ist ja aber ein unerhörter Preis.
Kauns nicht billiger machen. Aber ich habe im Dorfe einen Garten, den kann
ich Ihnen billiger geben.
Man ging weiter. Es folgten feuchte Wiesen, dann fiskalisches Land und dann
die Eisenbahn. Es war tatsächlich so. wie der Herr Pastor gesagt hatte, Bauplätze
außerhalb des Dorfes wnreu nicht zu haben. Darauf besichtigte man den Garten
des Spitzmaus, der völlig unbrauchbar war, und war nach zwei Stunden Ver¬
handeln im Schneetreiben genau so weit wie vorher. Und der Hexenschuß machte
sich empfindlicher fühlbar als je. Sollte man abreisen, ohne etwas fertig gebracht
zu haben? Sollte mau diesem Pastor Recht geben, oder wohl gar das verworfne
Projekt doch noch genehmigen? Der Herr Geheimrat hatte durchaus keine Lust
dazu. Er begab sich in der Hoffnung, daß sich bei nochmaliger Betrachtung der
Sache ein Ausweg finden lasse, zum Schulgärten zurück, besah nochmals den Garten,
die Grenze und den Apfelbaum; es war alles noch so, wie es vorher gewesen war.
Da pirschte sich der Herr Kantor an den Herrn Geheimrat heran und machte
unmaßgeblich darauf aufmerksam, daß wenn man die Schule auf deu Fleck links
Vom Apfelbaum baute, und die Grenze drei Meter verschiebe, alle Schwierigkeiten
in glücklicher Weise überwunden seien.
Der Herr Rat sah sich die Sache an, und sie leuchtete ihm ein. Na ja,
freilich, sagte er. Sehen Sie mal, lieber Brausewitz, links vom Apfelbaum, nicht
rechts davon muß die Schule stehn. Das ist ja eine ganz andre Sache. Herr
von Brausewitz beeilte sich seine lebhafte Zustimmung zu erkennen zu geben und
seine Genugtuung auszusprechen, daß es der hohen Behörde doch noch gelungen
sei, zu einem Ergebnisse zu gelangen. Der Herr Baurat wollte Einwendungen
erheben, aber leider hat die hohe Baubehörde kein eignes Votum, soudern hängt
von der hohern Einsicht des juristischen Chefs ub und muß sich als technischer Beirat
eines hohen Kvllegii vor Augen halten, daß manchmal Reden Silber, und Schweigen
Gold ist. So tat auch Herr Baurat Kroch, obwohl er innerlich nicht einsehen konnte,
daß der Platz links vom Apfelbaum besser sei als der rechts vom Apfelbaum.
Man begab sich in den Krug zurück und verfaßte ein langes Protokoll, worin
Gemeinde und Schuldorfland erklärten, daß sie nunmehr die Überzeugung gewonnen
hätten, die Schule müsse nicht rechts, sondern links vom Apfelbaum stehn, und daß
sie sich unter Aufgabe des am 13. August eingesandten Projekts verpflichtete«, die
Schule auf dem links vom Apfelbaum liegenden, dem Kantorat gehörenden Garten¬
anteil zu bauen.
Jetzt kam der entscheidende Augenblick, wo das Protokoll unterschrieben werden
wilde. Keiner wollte heran, und der Schulze warf einen hilfebittenden Blick auf
en Herrn Amtsvorsteher, der bisher uur geschnupft und geschwiegen hatte.
. , ^^rr Geheimrat, sagte dieser, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf,
me Gemeinde hat der Königlichen Regierung ein Bauprojekt vorgelegt, die König-
Uche Regierung lehnt das Projekt ub, und damit ist die Sache zu Ende. Die
Gemeinde verpflichtet sich jetzt zu gar nichts.
Was wollen Sie denn, erwiderte der Geheimrat ungnädig. Sie sind ja schon
verpflichtet. Sie haben — Sie haben — der Herr Rat blätterte in seinen Akten — für
hundertsiebzig Schüler zwei Lehrer. Nach dem Ministerialerlaß vom 16. De¬
zember 1874 sind Sie einfach verpflichtet, eine neue Schule zu bauen.
Ja, aber nicht links vom Apfelbaum.
Es half nichts. Der Satz mußte geändert werden. Die Vertretung erklärte
also ihre „Geneigtheit," die Schule auf dem genannten Flecke zu errichten. Aber anch
damit war der Herr Amtsvorsteher nicht zufrieden und verlangte, daß noch ein¬
geschoben werde: Unter der Voraussetzung der Zustimmung der Gemeinde. Auch
das mußte zugestanden werden, und nun wurde das Protokoll unterzeichnet. Darauf
wurde der Termin geschlossen, und jedermann ging uach Hause — nnzufriednen
Gemüts. Der Herr Geheimrat, weil das Protokoll nicht so ausgefallen war, wie
er gewünscht hatte, der Herr Baurat, weil er den Platz links vom Apfelbaum für
ebenso ungeeignet hielt, wie den rechts vom Apfelbaum; der Herr Pastor, weil man
Mi sein schönes Projekt zerstört hatte, und er um eine lange Reihe von neuen
Verhandlungen und MißHelligkeiten erwarten mußte, der Herr Amtsvorsteher, weil
hu gar zu geringschätzig behandelt hatte, und Herr Spitzmans, Weiler seinen
garder nicht an den Mann gebracht hatte. Nur der Nerr Kantor schaute in eine
yvNnungsreiche Zukunft. Jetzt konnte er eine Wohnung haben, wie er sie wünschte.
i-, i- ^ "un kein Mensch Eile hatte, den von der .Königlichen Regierung um-
^um Plan wieder aufzurichten, war begreiflich. Vielleicht hätte man die Sache
erHaupt ruhen lassen, wenn nicht die Furcht gewesen wäre, bei der Rekrutierung
vleder mit Jlliteraten anzutreten, und wenn nicht nach einem Vierteljahr eine
rwnernng wegen des Bauplans eingelaufen wäre. Nur einer hatte während-
g.^" H°ud ans Werk gelegt, der Herr Kantor. Denn weil er den glücklichen
Gedanken gehabt hatte, den Platz links vom Apfelbaum zu empfehlen, und weil er
ki s Schulhaus schon als sein Haus betrachtete, so sah er sich als den eigent-
Mn Bauunternehmer an. Er sprach mit den einflußreichsten Persönlichkeiten im
neu Meinung für sein Projekt zu machen, und ließ vom Maurermeister eine
e Zeichnung anfertigen, bei der eine Wohnung in Aussicht genommen war, die
S°nz nach sei^in Herzen war.
dicke ^ ^ Kantor stieß da, wo ers nicht erwartet hatte, auf unüberwind-
imm . ^"ut, beim Herrn Amtsvorsteher. Der Herr Amtsvorsteher war sonst
Als ^ ^ entgegenkommend wie möglich, hier aber war nichts mit ihm anzufangen,
unters. ^ Kantor ihm die Zeichnung mit ausführlicher Erläuterung ihrer Vorzüge
Aber ^ ^' fügte er kein Wort und legte sie, ohne sie auch nur anzusehen, beiseite,
hörst s Postverwnlter, ein Mensch, der immer die Bolzen abschoß, die der Amts-
Er t"t ' hatte, sollte gesagt haben: Was denn dem Herrn Kantor einfiele.
Saki,^ ^ ^ Hauptperson in der Gemeinde. Die Schule werde vom
Nerv gebaut, und nicht vom Herrn Kantor. Und auch nicht für den
V rrn Kantor. Das wurde natürlich ' dem Herr» Kantor hinterbracht und
bewirkte eine tiefe Verstimmung, Der Herr Amtsvorsteher kam aber mit einem
eignen neuen Entwurf heraus, der das Eigentümliche hatte, äußerlich anders aus¬
zusehen als Projekt in Wirklichkeit aber in allen Maßen und Verhältnissen damit
übereinzustimmen. Er zeigte seinen Entwurf dem Herrn Pastor und sagte: sehen
Sie, Herr Pastor, dieser Plan ist eine königliche Mausefalle. Wenn die Regierung
diesen Plan genehmigt, so lassen wir ihn von der Gemeinde ablehnen und kommen
auf Projekt ^ zurück. Wenn die Regierung Projekt K genehmigt, das mit über¬
einstimmt, so muß sie auch ^ genehmigen.
Der Herr Pastor erschrak über die Kühnheit dieses Plans. Aber wird die
Regierung sich darauf einlassen? fragte er.
Dann bauen wir überhaupt nicht, sagte der Herr Amtsvorsteher, oder eröffnen
das Verwaltungsstreitverfahren. Wenn der Regierung daran liegt, hier einen Lehrer
herzubringen, muß sie unsern Plan annehmen.
Der neue Plan L wurde vom Schulvorstaude angenommen; dagegen nahm
die Gemeindevertretung den Plan des Herrn Kantors an. Hieraus entwickelte sich
ein langer Streit, der damit endete, daß von der Königlichen Negierung festgestellt
wurde, die Gemeinde habe nur das Schuletatsdefizit zu decken; zu beschließen und
zu bauen sei Sache des Schulvorstandes. Das rief einen wahren Tumult in der
Gemeinde hervor. Was? Wir sollen nichts zu sagen haben? Das wäre noch
schöner, und das wollen nur einmal sehen! Und wer das Geld gibt, der muß
auch was zu sagen haben. Und wenn wir nichts sollen sagen können, so zahlen
wir nichts. Nicht einen Groschen geben wir. — Der Herr Pastor hatte seine liebe
Not, zum Frieden zu reden.
Es wäre doch merkwürdig, wenn sich nicht, sobald zwei Meinungen gegen
einander stehen, eine dritte dazu fände. Diese dritte Meinung produzierte Herr
Spitzmaus, der behauptete, die meisten Kinder, die in die Schule gekommen wären,
seien Kinder von Eisenbnhnarbeitern. Die Eisenbahn müsse die Schule bauen. Und
da mau bald zu der Überzeugung kam, daß das der Eisenbahn nicht einfalle, so
behauptete er, weil die Schule links vom Apfelbaum zu stehen komme, und weil
da der Kautorgnrtcn liege, so müsse die Kircheuknsse bauen. Und jede dieser
Meinungen fand eine gläubige Anhängerschaft. Anfänglich waren es nnr die ma߬
gebenden Personen, die miteinander in Streit kamen. Das Gros der Gemeinde
kümmerte sich um den Schulbau nicht, da ihnen der eigne Hof näher lag als der
Schulhof. Die Sache lag ja auch in guten Händen, und man hatte doch sowieso
nichts zu sagen. Nachdem sich aber die Entscheidung verzögerte, lind nachdem man
die Erfahrung gemacht hatte, daß man doch mitzureden habe, fand man, daß
die Sache nicht in guten Hände liege, und fing an zu räsonieren. Alles durch-
drang die Schulsäure. Der Friede hatte ein Ende, in den Wirtshäuser» ging es
laut zu, und die Wirte machten gute Geschäfte. Alte Freundschaften gingen
aus dem Leim, Kränzchen trennten sich, Skatpartien und Kegelgcsellschaftcn gingen
ein. Und zuletzt war das ganze Dorf in zwei feindliche Heerlager getrennt, die
sich unter dem Schlachtruf: „Rechts vom Appelboom und links vom Appelboom"
bekämpften. Wer Beziehungen zum Pastor und zum Amtsvorsteher hatte, der war
rechts vom Appelboom, wer es mit dem Kantor und dem Schulzen hielt, der war
links vom Appelboom. Und jeder schob seinem Gegner niederträchtige Beweg¬
gründe unter.
Zwischen den beiden Lehrern aber brach bittre Fehde aus. Daran waren die
beiden Lehrerfrauen schuld, die sich unter bewußtem Apfelbaum über den Zaun
hinweg gezankt hatten. Denn die Frau Kantor betrachtete sich schon als die In¬
haberin der neuen Wohnung und ließ merken, das komme ihrem Manne auch zu,
und ihr Mann werde dann Hauptlchrer und Vorgesetzter des zweiten Lehrers, und
Frau Müller, die ohnehin auf Kantors neidisch gewesen war, war wütend geworden
und hatte der hochmütigen Frau Kantor unliebsame Wahrheiten gesagt. Daraus
hatten die beiden Ehemänner in den Streit eingegriffen, und daraus war ein
öffentliches Ärgernis entstanden. Beide Lehrer hatten sich gegenseitig beim Herrn
Kreisschnlinspektvr verklagt, waren beide ack xmäisnänur vsrlmm in die Stadt zitiert
worden und kehrten zurück dem äußern Schein nach versöhnt, aber bittern Groll
im Herzen. Nun wurden beide, der eine rechts vom Apfelbaum, der andre links
vom Apfelbaum, die ersten unter deu Rufern im Streite.
Inzwischen kam der Entwurf L von der Regierung zurück, die hohe Bau¬
behörde hatte thu genehmigt, aber nicht weniger als siebzehn Erinnerungen in bezug
"uf die Bauausführung gemacht. Die Mitglieder des Schulvvrstandcs entrüsteten
sich. Das wäre doch bloß, sagte man, um die Leute zu schikanieren, und der sonst
w geduldige Herr Pastor warf die Frage auf, ob Verordnungen, über Gesimse und
glasierte Ziegel auch in der Ministerialverordnnng vom 15. November 1895 enthalten
seien. Der Herr Amtsvorsteher aber setzte durch, daß alles glatt genehmigt wurde.
Meine Herren, sagte er, genehmigen Sie nur alles, dieses Schulhaus wird doch
nicht gebaut.
Wieder verging ein Vierteljahr. Der Rekrntierungstermin ging gnädig vorüber.
Das jährliche Überfülluugsruudschreiben lief ein, worin gefragt wurde, was geschehen
sei, die Überfüllung der Schulen in Emmerlingen zu „beheben." Der Herr
Pastor entrüstete sich abermals. Die Gemeinde habe doch alles getan, eine neue
Schule zu bauen. Die Königliche Regierung möge sich gefälligst selbst fragen,
was sie getan habe, es zu verhindern. Der Entwurf L kam zurück. Wieder war
eine Anzahl von Ausstellungen gemacht, die sich auf unwesentliche Dinge erstreckten.
Zu ihrer Beantwortung war ein weiter Termin gesteckt. Der Herr Amtsvorsteher
machte eine verschmitzte Miene, nahm eine Prise und sagte: Man riecht die Mause¬
falle. Aber es hilft nichts, hinein müssen die Herren doch gehn. Die Erinnerungen
wurden prompt erledigt. Auch als noch Wünsche wegen des Stils und der malerischen
Wirkung geäußert wurden, ging mau bereitwillig darauf ein.
Endlich war nichts mehr auszusetzen. Jetzt mußte die Genehmigung erfolgen.
Ehe wir, schrieb jedoch die Regierung, unsre Genehmigung erteilen, müssen
me Besitzverhaltnisse des Grundstücks klar gelegt werden. Ans unsern Akten ist zu
ersehen, daß darüber Zweifel geherrscht haben.
Pfui Teufel! Freilich hatten darüber Zweifel bestanden, ob die erste Schule
eme Kirchenschule sei, oder ob sie der Gemeinde gehöre mit der Verpflichtung, dem
autor die Wohnung zu leisten. Es war deswegen ein langer Prozeß geführt
worden, der der Gemeinde viel Geld gekostet hatte. Noch lebten einige Leute, die
das damals miterlebt hatten. Seitdem war die Besitzfrage wegen der ersten Schule
G >?""^ geworden, an den mit stillschweigender Übereinstimmung aller beteiligten
Kreise niemand anrührte. Und diesen empfindlichen Punkt berührte die Regierung
ü ^""d- Im Gemeindckirchenrate saßen ein paar alte Herren, die sonst in
der Gemeinde nicht viel zu sagen hatten und darum mit desto größerer Eifersucht
er ^ Rechte der Kirche wachten. Besonders war der Kirchenkasseurendcmt, der
"och den Kantvratsprozeß erlebt hatte, Feuer und Flamme, wenn in Zweifel gezogen
rurde, ob das Kantorat der Kirche gehöre. Hier geriet nnn der arme Pastor
Wischer zwei Feuer. Als Mitglied des Schulvorstandes mußte er das Kantorat für
/.^^gemeinte reklamieren, und als Vorsitzender des Gemeindekirchcnrats mußte
r oas Kantorat für die Kirche in Anspruch nehmen. Er mochte es also anfangen,
°e er wollte, er war allemal der geschlagne Mann,
wort ^ ^ Negierung seine verzweifelte Lage vor. Die Regierung ant-
^^"^^ Schulvorstand und Gemeiudekirchenrat seien anzuhalten, sich gütlich zu
auel ^ Einigung wollte je länger je weniger zustande kommen. Nun kam
Ka l ^ Kantor mit seinem Projekte hinzu, wonach die neue Schule zum
aha ^ gegenwärtige Kantorat aber der Gemeinde als dritte Schule
kam 5 " s^re' wodurch die Sachlage noch verwickelter wurde. Es
oarauf an, daß der Gemeindekirchenrat eine zur Abtretung nötige löschungs-
fähige Quittung ausstellte. Der Gemeindekircheurat weigerte sich, diese Quittung
auszustellen. Jetzt schrieb die Regierung, der Schulvorstaud solle deu Gemeinde¬
kirchenrat verklagen. Dem Herrn Pastor wurde es angst und bange. Er erkundigte
sich im Pfarrerverein, was zu tun sei. Dort sagte man ihm: Um Gottes willen
nicht verklagen. Der Herr Pastor ging aber doch noch zu einem Rechtsanwalt,
um sich über die Rechtslage zu erkundigen, und wurde dabei von einem
Emmerlinger der Partei „links vom Apfelbaum" gesehen, worauf sich ein großer
Lärm erhob: Der Pastor will uns verklagen. Und verklagen lassen wir uns nicht,
und der Pastor sollte sich schämen, seine Gemeinde, von der er sein Brot hat, vor
Gericht zu bringen. Daß das alles dummes Zeug war, und daß die Klage sich nicht
gegen die Gemeinde, sondern für die Gemeinde gegen den Gemeindekirchenrat
richtete, änderte an der Tatsache nichts, daß die Gemeinde ganz rcibint wurde. Es
war unmöglich, dem Verlangen der Königlichen Regierung nachzukommen. Glücklicher¬
weise grub man eine alte Verfügung aus, in der verordnet worden war, nachdem
Gemeinde und Gemeindekirchenrnt in einen Kompromiß gewilligt hätten, so solle
später nicht wieder die Besitzfrage gestellt werden. Diese Verfügung schickte man
ein, worauf die Königliche Regierung entschied: Nach neuerdings angestellter Er¬
wägung wollen wir von einer Entscheidung der Besitzfrage vorerst absehen und
erteilen die Bauerlaübnis.
Gott sei Dank, sagte der Herr Pastor. Und der Herr Amtsvorsteher nahm
eine Prise und sagte: Meine Herren, es hat geschnappt, die Mausefalle ist zu,
jetzt muß uns die Regierung auch das Projekt ^ genehmigen.
Projekt IZ wurde natürlich, schon des Kantors wegen, von der Gemeinde
abgelehnt. Der Herr Amtsvorsteher machte einen diplomatischen Bericht, worin er
ausführte, nachdem die Gemeinde Projekt ki abgelehnt habe, bleibe nichts übrig,
als auf das Projekt ^ (rechts vom Apfelbnuni) zurückzukommen, für das die
Genehmigung der Gemeinde vorliege. Die Königliche Regierung werde, nachdem sie
die Bauerlaubnis für L gegeben, die für ^ nicht mehr verweigern können, da ^
und L, dessen Genehmigung erteilt sei, identisch seien.
Die Negierung erwiderte kurz: Es sei kein Grund vorhanden, den abgelehnten
Plan zu genehmigen. Wenn dem Schulvorstande daran liege, einen dritten Lehrer
nach Emmerlingen zu bekommen, so möge er gefälligst dafür sorgen, daß nicht immer
neue Schwierigkeiten gemacht würden. — Noch nie hatte man den Herrn Amts¬
vorsteher so erstaunt gesehen, als damals, als er das Schriftstück in der Hand hielt.
Er vergaß seine Dose, er vergaß alles. Er vergaß auch den Mund zuzumachen.
Das kam ja so heraus, als wollte die Regierung gebeten sein, einen Lehrer ab¬
zulassen. Daran hatte freilich niemand gedacht.
In einer andern, an den Landrat gerichteten Verfügung verfügte die Regierung,
der Gemeinde sei zu eröffne», daß sie nicht berechtigt sei, die Kosten für den
Schulbnu zu verweigern, die Königliche Regierung werde die Gemeinde durch
Zwangsetatisierung anhalten, die Kosten aufzubringen.
Die Gemeinde weigerte sich dennoch und wies nach, daß sie ihre Zustimmung
für den Fall rechts vom Apfelbaum und nicht für den Fall links vom Apfelbaum
gegeben habe. Die Regierung könne sie also nicht zwingen.
Jetzt ordnete die Negierung an, da der Schulvorstand erweiterte Vollmacht
habe, so seien die Kosten in Form von Hausväterbeiträgen als Schulsteuer auf¬
zubringen.
Der Herr Pastor wandte sich an die geschäftserfahrne Stelle des Pfarrer¬
vereins. Daselbst stellte man zunächst fest, daß die Regierung überall geschäftlich
korrekt Verfahren sei. Nur habe sie uicht die Nebenwirkungen ihrer Verfügungen
erwogen. Sie habe in ihrer abgeklärten Nechtsntmvsphäre keine Kenntnis davon, in
welche Farben sich der reine Strahl ihrer Entschließungen im niedern Dunstkreise der
Volksmeinung zerlege, habe auch unter dem, was sie anrichte, nicht zu leiden. Der
Herr Pastor aber dürfe sich keineswegs zur Ausschreibung von Schulsteueru her-
geben. Sie sind doch schließlich Pastor, sagte die geschäftskundige Stelle, und keine
Regierung hilft Ihnen ans der Patsche, wenn Sie sich mit Ihrer Schulsteuer in der
Gemeinde unmöglich gemacht haben.
Ich werde die Ortsschulinspektton niederlegen, sagte der Herr Pastor.
Tun Sie das nicht, erwiderte man. Lassen Sie Ihren Schulvorstand be¬
schließe»: Wir tun nichts. Wir haben zwar das Recht, aber nicht die Pflicht,
Schulsteuern auszuschreiben. Und unter den vorliegenden Verhältnissen verzichten
wir auf den Bau einer Schule. Und dann warten Sie ruhig ab, was kommt.
Dies geschah. Nun hätte zwar die Regierung den Schulvvrstcmd absetzen und
die Schule kommissarisch durch den Landrat verwalten lassen können, aber sie scheute
sich vor diesem äußersten Schritte, um so mehr als der Landrat auf eine Anfrage
berichtet hatte, in Emmerlingen herrsche die reine Revolution, und es sei zu be¬
fürchten, daß das ganze Dorf zur Sozialdemokratin abschwenken werde.
Der Herr Landrat hatte nicht zuviel gesagt. In Emmerlingen sah es böse aus.
Mue neue Partei hatte sich unter der Führung eines Schusters, der nicht gern
saß, über gern Bier trank und gern Reden hielt, und der mit dem Spitznamen
der Lulattich hieß, aufgetan. Das Programm dieser Partei war folgendes: Wenn
dle Regierung die Lehrer anstellt, so mag sie sie mich bezahlen. Und wenn wir
bezahlen sollen, dann verlangen wir das Wahlrecht. Und wenn wir das Wahlrecht
haben, dann setzen wir unsre zwei Lehrer ab und wählen uns Lehrer, die uns passen,
und die es billiger machen. Keine superkluger und auch keine Schlnmmerköpfe. Und
wenn wir eine Schule bauen, denn ist es unsre Schule, und dann bauen wir, wie
^ uns Paßt. Diese Meinung gewann großen Anhang, und sie beherrschte zuletzt
auch die Gemeindevertretung. Durch den langen Streit waren die Gemüter ver¬
ludert. Man war zu Tätlichkeiten und gerichtlichen Klagen übergegangen. Herr
Spitzmaus war nächtlicherweile verhauen worden, dem Herrn Pastor hatten sie
Mre zungen Obstbäume abgeschnitten. Drei Injurienklagen schwebten vor Gericht,
und es war alle Aussicht vorhanden, daß daraus noch Meineidsprozesse hervor¬
gehn würden. Nicht einmal Schützenfest konnte mehr gefeiert werden, weil alles
miteinander verzankt war. Der Schnlbau aber saß rettungslos fest.
Eine lauge Korrespondenz wurde geführt, ein neuer, vom Herrn Landrat an¬
gesetzter Termin zur Findung eines neuen Bauplatzes verlief ergebnislos
Schließlich mußte der Herr Geheimrat selber kommen, um die Gemeinde zu beruhigen
und die Karre ins Gleis zu bringen. Es gab eine lauge erregte und unerfreuliche
Verhandlung, in der die verschiednen Meinungen aufeinander stießen, tausend Neben¬
dinge erörtert wurden, und zweierlei als sicher hervortrat: die Schule darf uicht
links vom Apfelbaum stehn, und ebensowenig darf sie rechts vom Apfelbaum stehn.
Worauf vorgeschlagen wurde, el so baut doch die Schule auf den Apfelbaum!
Das war ein erlösender Gedanke. Des langen Haders müde stimmten alle zu, der
Herr Geheimrat gab seinen Konsens, und man unterschrieb das Protokoll. Punktum.
Aber vier Jahre hatte es gedauert, und es wird noch mehr Zeit kosten, bis die
Folgen des durch den Schulbau entfachten Gemeindekriegs überwunden sind.
Der Herr Geheimrat bestieg in Hartenburg die Eisenbahn und traf im Abteil
mit Herrn von Brausewitz zusammen. — Ach, sehen Sie mal, Herr von Brausewitz,
tagte der Herr Geheimrat, nett, daß wir uns treffen. Ich komme eben von Emmer-
"ugen Erinnern Sie sich noch? Es war scheußliches Wetter damals.
Sind Sie nun mit der Angelegenheit fertig, Herr Geheimrat? fragte Herr
von Brausewitz.
.. . Gott sei Dank. Wir bauen nämlich jetzt die Schule uicht rechts und nicht
"^'sondern an die Stelle des Apfelbaums,
lachte ^ Herren, die für den Humor der Sache nicht unempfänglich waren,
Wäre es denn nicht möglich gewesen, fragte Herr von Brausewitz, damals
Mich das Projekt ^ zu genehmigen? Man hätte damit doch viel Arbeit erspart.
Nein, es war nicht möglich. Wir hatten nämlich damals keine Lehrer
und mußten dilatorisch verhandeln.
Ja aber, verzeihen Sie mir, Herr Geheimrat, wenn man nun gesagt hätte:
Wir haben jetzt Mangel an Lehrern, schiebt euern Bau auf.
Der Herr Geheimrat nahm eine majestätische Miene an und sagte: Die König¬
liche Regierung hat nie Mangel, sie hat nie Unrecht, sie nimmt von sich aus nie
eine Verfügung zurück. Merken Sie sich das, Herr von Brausewitz.
In Bayern hat man
seit Jahren damit gerechnet, daß die pfälzischen Eisenbahnen, die Aktiengesellschaft
find, und für die der bayrische Staat bis zum Jahre 1905 Zinsgarantie leistet, in
diesem Jahre verstaatlicht würden. Die bevorstehende Errichtung eines Verkehrs¬
ministeriums wurde zum Teil mit dieser Maßnahme begründet. Nun erschien vor
einigen Wochen eine offizielle Kundgebung, daß aus technischen und vor allein aus
finanziellen Gründen von der Verstaatlichung abgesehen werde. Diese Nachricht erregte
namentlich in der Pfalz unliebsames Aufsehen und gab der Strömung in der Pfalz, die
die Pfälzischen Bahnen an die preußischen Eisenbahnen angliedern will, neue Nahrung.
Daraufhin wurde abgewiegelt und betont, daß die Verstaatlichn««, nur aufgeschoben
sei, zugleich aber wurde bemerkt, daß an eine Aufgabe der Selbständigkeit der
bayrischen Staatsbahnen niemand denke. Diese für die Kenner bayrischer Verhält¬
nisse eigentlich selbstverständliche Bemerkung wurde von der klerikalen Presse, die in
Bayern die Pflege des Partikularismus in Erbpacht hat, mit hellem Jubel auf¬
genommen. Es ist das auch begreiflich, denn die Partei bestreitet in Bayern zum
Teil ihre Agitationskosten ans der stetigen Verwertung des Partikularismus, und
sie zählt zu ihren gröbsten Regiemitteln das Vorschützen der steten Besorgnis, Preußen
werde in die Sonderrechte der Einzelstaaten übergreifen. Dadurch wird auch der
Stinmienzuwachs erklärlich, den die klerikale Partei bei den letzten Reichstagswahlen
in Bayern erzielt hat. Wir erachten aber dieses ewige Verwerten des Pnrtikularismus,
der übrigens auch hier und da noch kajvliert wird, nicht für eine Gefahr, wohl
aber für ein Übel, das im Interesse des Reichs füglich entbehrt werden könnte.
Und gerade auf dem Gebiete des Post- und Verkehrswesens ist dieser Partikularismus
zu allererst zu entbehren, zumal da seine Pflege hier auch noch recht kostspielig ist-
Die reservatrechtliche Stellung Bayerns auf dem Gebiete des Verkehrswesens ist
bekannt. Sie dauert auch noch auf dem Gebiete des PostWesens fort, und jeder, der
einmal aus andern deutschen Bundesstaaten Marken der Reichspost gesandt erhalten
hat, kann ein Lied davon singen. Obwohl Württemberg mit der Aufgabe seines
Markenreservats, wie die letzten württembergischen Kammerverhandlungen erwiesen
haben, ein gutes Geschäft gemacht hat, ist an die Einführung der Marken der
Reichspost in Bayern gar nicht zu denken. Nun haben die süddeutschen Staaten
gleich Sachsen — Hessen ist ja der preußischen Eisenbahngemeinschaft beigetreten
ihre eignen Bahnverwaltungen. Solche selbständige Bahnverwaltungen sind mindestens -
nicht billig, und von den zehn bayrischen Betrtebsdirektionen könnte die Hälfte jetzt
schon gespart werden. Auch sind die Betriebsergebnisse der süddeutschen Bahnver¬
waltungen finanziell zurückgegangen, und die Stimmen aus dem württembergischen
Landtage, die zu derselben Zeit, wo der bayrische Ministerpräsident in Stuttgart
seinen Antrittsbesuch machte, nach Bayern herüberklangen und sich über die An¬
leitungen beklagten, waren nicht von übermäßiger Freundlichkeit. Es ist auch, ohne
der Zukunft vorzugreifen, höchst wahrscheinlich, daß Württemberg von den süd¬
deutschen Staaten zuerst den Anschluß an die preußische Eisenbahngemeinschaft suchen
wird. In einem solchen engern oder weitern Zusammenschluß, der jede Konkurrenz
ausschließt und eine gemeinsame Verrechnung der Betriebskosten glich et g
auch die Jntunft rufe^s deutschen Eisenbahnwesens, a auf dem ^ et e^s V
kehrs die Schaffnna großer Bezirke und die Zunahme der Zentralisation innrer
notwendiger Werden i ut kleine Verkehrsbezirke immer schwerer i.in ^ Leben -
berechtign»» zu kämpfen haben. Und daran interessiert die Verstaatluhnng d r
Mzi chen Ballen anch Wer die Grenzpfähle Bayerns hinaus^ Em Sorgen
wirtschaftlicher finanzieller und tarifpolitischer Art werden diese Bah« u s r B y,,
inn.er sein. Getrennt von dem rechtsrheinischen Bayern und "wschlos en von d
Bahnen andrer Eisenbahnverwaltungen werden sie immer auf den Kontakt um
diesen Bahnverwaltungen angewiesen sein, wenn sie nicht der Gefahr von
leltnngen ausgesetzt sein wollen. Wir meinen aber, wenn wir diese "u.erbayr he
Frage noch einmal streifen, daß Bayern bei der ständigen Betonung seiner Reservat-
rechte auf dem Gebiete des Verkehrswesens dringende Veranlassung hätte, die Ver¬
staatlichung der Pfälzischen Eisenbahnen baldigst in Angriff zu nehmen. H-ergegen
scheint aber die Finanzlage, die in Bayern alles andre als rostg ist. ein gewichtiges
Wort zu spreche».
Als
besondres Heft hat Eduard von Hartmann seine in Ostwalds A.malen der Natur¬
philosophie veröffentlichte Abhandlung: Die Abstammungslehre seit Darwin
(Leipzig. Veit K Komp.) herausgegeben. Sie ist eine musterhaft klare mit kurze,
völlig objektive Darstellung der Lehren aller deutschen Zoologen. Botaniker. Bio¬
logen und Paläontologen, die sich in den letzten dreißig Jahren um die H-ort-
vildung der Deszendenztheorie und um die Kritik des Darwinismus Verdient ge¬
macht haben. Wir drucken zwei Stellen ab. in denen die Leser eme Bestätigung
vieler unsrer eignen Ausführungen finden werden. Die erste enthält eine Cha¬
rakteristik Häckels. „Seine Verdienste sind groß genug, daß wir seine wissenschaft¬
lichen und menschlichen Schwächen ertragen können. Daß er Spinoza und Kant,
Goethe und Schelling nicht richtig auffaßte, die christliche Dogmatik mit unzuläng¬
lichen Verständnis kritisierte, darüber wäre man schweigend hinweggegangen, wenn
sich nicht zu viele auf ihn als Autorität verlassen hätten. Sein Hauptmangel ist, daß
er die Naturphilosophie mit der Naturwissenschaft identifizieren und die zweite zur
ersten aufbauschen will, anstatt beide deutlich zu unterscheiden. Daher stammt einerseits
seine antiteleologische, mechanistische Weltanschauung und andrerseits sein Unvermögen,
das Tatsächliche vom Hypothetischen zu unterscheiden. Die Unzuverlässigkeit seiner
selbstgefertigten Zeichnungen, die Vermischung von Beobachtung und Phantasie darin,
hat von den Fachgenossen herben Tadel erfahren, um so herber», als die Ab¬
weichungen der Phantasie von der Wirklichkeit immer uach der Seite der zu be¬
weisenden Behauptung hin lagen. Er hat Dinge abgebildet, die bis heute uoch
kein Naturforscher unter das Mikroskop bekommen hat, zum Beispiel menschliche
Embrhonen aus deu ersten zwei Wochen. Mehr noch durch die Art, wie Häckel
auf solche Vorwürfe reagiert hat, als durch die Sache selbst, hat er seinen Kredit
als exakter Beobachter und Forscher beeinträchtigt, ohne seinen Kredit als Natur-
Philosoph zu erhöhen. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten gesteht er theoretischdas Hypothetische seiner Auffassungen ein, im Text seiner populären Schriften be-
. handelt er praktisch seine Hypothesen als sichre Ergebnisse der exakten Wissenschaft,' wo nicht gar als »historische Tatsachen«, und wirkt dadurch irreführend ans den
Laien." Der Schluß vou Hartmanns Abhandlung lautet: ..Es ist der gewöhnliche
Lauf der Dinge, daß jemand, der mit seineu Ansichten gegen die Zeitströmung
schwimmt, verhältnismäßig unbeachtet bleibt u»d keinen Einfluß auf die Ansichten
der Zeitgenossen gewinnt, und niemand darf sich beklagen, der diese alte Erfahrung
?" sich selbst wiederholt findet. Dagegen ist es ein ganz außergewöhnlicher Glücks-
fall, wenn jemand eine solche Umwandlung der Zeitströmung erlebt, daß die von
")in in seiner Jngend erfolglos verfochtnen Ansichten ein Menschenalter später zur
Herrschaft gelangen. Wem ein so seltnes Glück widerfahren ist, der hat wohl
Grund, sich dessen zu freuen, unbekümmert darum, ob sein einstiges Wirken für
die nunmehr zum Siege gelangten Gedanken inzwischen der Vergessenheit anheim¬
gefallen ist. sWir haben in den Grenzboten an dieses Verdienst des Philosophen
sehr oft erinnert.^ Denn wem es Ernst ist mit der Sache, für den sind Personen¬
fragen gleichgiltig. Die biologischen Wissenschaften beurteilen jetzt den Darwinismus
so, wie ich ihn vor einem Menschenalter beurteilt habe. Daß aber die zweckmäßigen
Ergebnisse im Organismus nur aus zwecktätig wirkenden Kräften entspringen
skonnenj, diese andre Seite und Hauptsache in meiner Naturphilosophie des Orga¬
nischen ist noch weit davon entfernt, allgemeinere Anerkennung in den Kreisen der
Biologen zu finden. Wenn ich auch nicht am Siege des neu aufstrebenden Vita¬
lismus in den biologischen Wissenschaften zweifle, so habe ich doch keine Aussicht
mehr, ihn auch noch zu erleben." Warum sich die Naturwissenschafter so sträuben
gegen die Anerkennung der jedem nicht Stockblinden deutlich sichtbaren Teleologie
in der Natur, das wissen wir ja alle, und niemand weiß es besser, als die
Herren selbst.
Über die Ausgrabungen auf der Jusel
Kos und die für das Altertum wie für die Geschichte des Johanniterordens gleich¬
mäßig interessanten Resultate, die der Tübinger Archäologe R. Herzog dort zutage
gefordert hat, haben die Tageszeitungen, die in unserm Zeitalter eine merkwürdige,
von uns wahrlich nicht getadelte Vorliebe für „Archäologisches" haben, berichtet.
Jetzt gibt das kürzlich erschienene Deutsche Archäologische Jahrbuch in seinem „An¬
zeiger" den „Vorläufigen Bericht über die archäologische Expedition auf der Insel
Kos im Jahre 1992," aus dem wir eine an der Freitreppe, die zu dem Asklepieion
führt, von Herzog gefundne Inschrift zur nähern Betrachtung herausnehmen; sie
veranlaßt uns von einem „roten Kreuz" im Altertum zu spreche». Wie heutzutage
Ärzte auch aus solchen Nationen, die bei einem Kriege nicht direkt beteiligt sind,
sich irgend einer der kriegführenden Nationen anschließen, um Verwundeten und
Kranken ohne Unterschied, welchem Lager sie angehören, zu helfen, so laßt sich ein
ähnliches Verhältnis für das Altertum aus einem Briefe der Knosier auf Kreta
herauslesen, der uns in der erwähnten Inschrift erhalten ist. Der Brief, den man
auf einer in zwei Stücke gebrochnen Stele von weißem Marmor in kretischen Dialekt
lesen kann, stammt aus der Zeit der kretischen Wirren von 221 bis 219 vor Christo.
Es geht daraus hervor: Die Gortynier auf Kreta hatten sich von dem koischen Staat
einen Arzt erbeten; denn Kos war ein Zentralpunkt medizinischer Kunst und
Wissenschaft. Die Koer hatten ihrer Bitte bereitwilligst entsprochen und ihnen den
in der Geschichte der Medizin sonst nicht bekannten Hermias als Arzt abkommandiert.
Nun war es in Gorthn, der durch ihre berühmte Verfassuugs- und Gesetzgebungs¬
inschrift bekannten Stadt, zu einem Bürgerkriege zwischen den Alten und den Jungen
gekonunen. Die Alten riefen ihre Bundesgenossen, die Knosier, herbei, die auch
tausend Mann citolische Hilfstruppen mitbrachten. Die Schlacht wurde in der
Stadt Gortyn um den Besitz der Akropolis geschlagen und endete mit der Ver¬
treibung der Jungen. In dieser Schlacht gab es viele Verwundete, und als
natürliche Folge der fehlenden Aseptik viele schwere Krankheiten. Aus diesen rettete
der fremde, kölsche Arzt Hermias „durch seine aufopfernde Pflege," wie es Zeile 12
der Inschrift heißt, viele Gortynier, Knosier und Ätoler und zeigte sich anch sonst
jedermann hilfsbereit. Als es nachher um den Besitz von Phaistos, wo die Italiener
in letzter Zeit so hervorragende Neste ans der mykenischen Zeit ans Licht gefordert
haben und noch Ausgrabungen machen, wiederum zum Kampfe kam, stellte Hermias
mit demselben Eifer und Erfolg seine menschenfreundlichen Dienste als Militärarzt zur
Verfügung. — Von solchen Dingen erzählt die koische Inschrift und zeigt zugleich,
daß sich die militärärztliche Tätigkeit vor mehr als zweitausend Jahren keineswegs
Die agrarisobo Opposition bat ale Massersuot,
äurob die Seblosion Kür/lieu in einem seit Monsol.onaltern nicht erlebten Mano
i-Ämgesuelit worden ist, in unorbörter V/oiso agitatorisch gegen die Regierung aus-
i-ubouton versnobt Die bevorstebendon proukisollen Dandtagswalden waebon äas
vrKISMvK. u»ä loiävr Kat Avr or8to, ungUmMod sodulvi-UM« M--los° >V«otwl
udor Alp Vborsc-KvowmunMll in Sor ..vorluisr «orrosxollÄsiis« Äieso ^-NtaUon /.u
vivoi' vortreKliol.on Einleitung vorbolton. So schart Äieso Doistung dor „Dorlmor
Korrospondonii" auob in der I^erioni-eit getadelt worden muL, so Konnto sie dvob
niemals einem, der aer Wahrheit die Dbro geben will, Sie Meinung beibringen,
6i° Ale agrariselie Agitation, daraut gestützt, den preulZisoben Dandw-reen von dor
Stellung aer Nehrung Laobo, d. b. .u aer Rataswoplio selbst unÄ ^ col .u
orgreite.idem MaKregeln, beizubringen versnob bat Wenn diese ^f^^ion dor Re-
Mrung ale Schuld odor auob nur ale Dauxtsobuld an der ^o^-Ärrigon Wassers-
n°t in ale Lobube .u sobieben versnobt, weil ale /»^eugungsmaü^bmon in
S^kehlen unterlassen oäer niobt mit äem gebotnen ^uwanä unä ^^äruek ^Mwbrt woräon seien, unä vollends, wenn benanntet wirä, äak hob ale Regierung
'üoser IInterlassunFssÜncle sobuläig gemaobt habe, indem sie rü ^r Kroöon wasser-
Wirtsobattliolien Kösel^esvorlago — aer weiten Ranalvorlago -- alö im tntorosso
aer LanäesKultur als nötig anerkannten unä vorgosoldagnen ärei ?tun'ögulierungs-
prchokto von aer ^nnabmo aer im Sobiüabrtsintorosse vorgoseblagnen Ranalbau-
Projekte, namsiitlieli äos MittollanäKanals, abliängig gemaobt habe, so ist dieser
Agitation soliloobtbin ioäo bona ttäos ab^usproolivn.
Die Stromrogulierungsarboiton, ale ?ur ^bnonäung aer äurob ale naturlioben
Verhältnisse von ieber besomlors groLon Ilooliwassorgokabr in Soblosien nötig un«1
mögliob sima, sima äurob das Kösel? vom 3. 5nu 1900 gesickert; die I'room? tut.re
Aase Arbeiten aus, der Staat aber steuert 2u dem ersten Ausbau bis ?u
31,3 Millionon Mark, die Rrovinii bis ?u 7,8 Millionen bei. Da« solollö Arbeiten,deren gewaltiger Umkang Sodom aus avr Ilölie der dafür bewilligten Mittel erkenn-
bar ist, niobt in drei ^abron soweit gvtördort werden Konnten, claK eine Mit so
unorliörter elementarer Kowalt boroinbroobenäo gan? aunorgewölinliolle Katastropbo,
wie ale äiesjäbrigo, abgonanät vuräo, liegt auk der Hand. Lbonso aber auoli
die unvori-eililielio Frivolität äos Vorsuobs, ale Seliulä äaran avr Regierung /usiu-
senroiben.
.„i,Und wie stellt es mit dem Zwsammonliang der ,n der --weiten I^analvorlago
als nötig anerkannten und äeskald von der Regierung vorgeselllagnen ?luürogu-
liorungon im Interesse der K,andosKultur mit der diesMrigen HoeKwasserKatastroplie
in Lelilesion? Diese Vorseliläge botraksn die „Retsiligung des Staats" 1. an der
Verbesserung der Vorilut der untern Oder bis 2U 41 Millionen Mark; 2. an
avr Verbesserung der Vorilutvorbältnisse in der untern Havel bis 9 Millionen
Mark; 3. an dein Ausbau der Spree bis i?u 9,3 Millionen Mark. Diese durck
alö L.hivi>mung der Zweiten Lanalvorlage aukgosoliolmon ?roMto liabsn mit der
^berseliwemmungsgekalir in Seblosien nickte das Geringste ?u tun. V^cum sie schon
im vorigen ^aure durck einen Hexenmeister tix und kvrtig bergostellt genesen wären,
so wäre dadureli dio Ketalir tur Seblosien auel» nicht um einen Limor VVassor
verringert worden. Hier liegt die mala «des der Agitation erst roche aut der Dami
Ltwas gan? andres ist es, ob dio Verkabelung dieser drei I.andysKulturnro^i<r.v
mit den Kanälen-oMten in aer sogenannten groöon wasssrnirtsoliattlielion VoNa^o
"c-Ktig var. Dio Kronöboten Kabon das schon im ?obruar 1901 aut äas vo-
«timmtosto vernoint. Sind die Arbeiten an der untern Oäer unä aer untorn llavol
unä in aer Spree im LanäesKulturintoresse äringenä nötig so bat ale ^S^ung
«w- so data als mögliob, obno ^oäe RUeKsielit aut alö Lanalvorlago, aom ^anätago
^ur Hostenbewilligung ^u unterbreiten. Das ?estbalten an aer VerKoppelung von
^analbau unä Vortlutregulierung -«um S^woeK eines so äurol.siebtigen Kulibandels
wäre gvraäo ^et!?t ein seliwsrer xolitisebsr Robler.
Unstreitig gobülirt aber am k'lunroguliorungen in Leläosien aer Vortritt. Das
wircl heute wolä Koinor mobr leugnen, val ela/u über ale im Keseti- vom
3. ^nu 1900 in Aussicht gonnmmnon 4V Millionen noch weitere Mittel — alten
aus Ltaatstoncls — nötig sein weräon, ist wabrseboinlieb. Ilbor äas Nan ach Rohr
Kann vorläuög niemanä etwas sagen.
l?ur ale vinäerung aer ärüeksnäen l>tot äureb Untorsuebungon unä tur ale
unauksebiobbaron Arbeiten im ötlentliobon Intorosso, woisu ale sanitären NaLrogeln
vor allem gobören, bat Aas Ltaatsministerium /unäebst 10 Mllionen Mark müssig
gomaellt. Das ist roiebliob bemessen, vor I?rivatwobltätigKoit bleibt äaneben iure
groöo ^utgabv. ?ur ale Verwonäung aer Ltaatsmittol gilt auob in cliossm ?allo,
was Ale liegieiung in aer Vorlage vom 3. Februar 1898 — in <lor sie 5 Millionen
leer IZoseitigung aer seblosiseben IloobwassorsoKääon im Lommor 1897 verlangte —
ausgetülirt bat, uncl was Niquol im ^bgsorclnotonbause am 2. Näri? 1898 über
«las NalZ ötlentliebor ^ulwenäungen ?u vntorstütTungsxwsoKen aer übsrkrvigobigen
Majorität clringencl ans Her!? gelegt Kat, woraut' xuruek/ukommon viellsiolit später
nötig wsrclen wirä.
Viel weniger Zuverlässig als ale lAn- uncl aus ^ustubr-
/aläen, alle wir heron mitgeteilt baben, sinnt alle ^adieu, alle uns alle LtatistiK übor
cien ?5oräebestanä aer einzelnen Dänäor bietet. I^amontlieb ist alle inter-
nationale VerglviebbarKeit clieser /autor äoslialb «woilelbakt, weil vielkaeb gewisse
Xatogorion von l'Kzrclen (Nilitärpteräo, goworbliebon Zwecken cliononclo ?lernte) nicht
mitgexäblt :?u sein sebeinon, oline claL Klar lin sollen wäre, ob unä in welchem
Ilmkango alas /utrM. vor gowissonbai'te LtatistiKer Kann oigsntlieli nie obno Oo-
wissensbisse ale ^adieu nebeneinanclor stellen. 'Wir got>on äesbalb ale naoli-
stelionclen auslänäisollen Aablen mit allem or,lonkliollen Vorbehalt. ^dor bessere
Können wir el>en üborbaupt nicht geben.'')
ver ?keräebestanä clef veutsobon lieiobs boliek sic.1^ naob aler /äblung
vom 1. vexomber 19V0 auk 4195361 LtüeK. vio KenauigKoit aer cleutseli^on Viob-
iÄlilung wirä in aom meisten analem Ltaaten auob niobt annäbernä unä wohl in
Koinem einzigen gan/ erreiobt. vio äeutsobo ^aut umkalZt alle vorlianänen?toräe,
also auob alö sobr groLo /^al>l aer gowerliliellen, Veilcolirs- unä vuxuWwoeKeu
verwanätsn unä ale Mlitärptdräe.
vio naellstolionclen i)bor8ieliton sima naeli goograxlnsekon (Frupxon georänet.
pas ^lalir aer lÄliodung ist in Klammern beigefügt.
Diese KruzPe natale so gut wie ausseMoWeli l'lorcleauslulirlänäor unä
liotort von aer Noliraustulu- sämtlielier ouropäiseller ?toräoaus1ulirlänäer molir als
80 l?roi!ont. Ds ist om (Zobiot von ausgesxroolinon ^.ekerbaustaaton unä ^war,
abgeselien von Östorroieli, von Ltaaton mit Spur extensiven vanäwirtsonat'tsdetriebo
unä auen extensiver Vielr/neue. ver l^keräebestanä bostedt vorwiogenä aus leioliten
Lelilägon, /um ?oil von seur oäler Quollt neben aer grotZon Nasse geringen Na-
tsrials, alas ador vieltaol» äuron ^Vusclauor, t'äst immer clureb Genügsamkeit aus-
geiivieluiet ist. vio äurolisolmittliolion ^ustulirworto viuos l?5oräos sima, al>geso1>on
von Österroieli-Vngarn, Spur nieärig; bei Lorbion etwa 195 unä Koi Bulgarien nur
80 NarK. In am vonaulänäern spielt aer I^sel solion eine M-
vinnon auoli Naultioro unä Naulesol oiniM l^Äouwng. Ma alö I>koräo-
bostänäo avr ^üllcoi tolllon uns irgonäv/lo brauolibaro /autor.
Die 2-Mon sima bosonäors voniZ v,ort .um toll ^ veraltet on Ita^'°Um ale Nilitärntoräe oinbosrisson »an. vor vestanä an Inseln ^ ^ Zlaul
eseln unä ac,-loielion überwiegt liier am aer ?tvräe. In Italien sollen 190» an
330000 Nanlosel unä Maultiere unä eine Million Dsel port.anäoii Moosen sein;
in Spanien 1895 etwa 800000 Maulesel uso, unä etwa 700000 Lsel. Spanien ist
I'terävauskubrlanä; v/lo es soboint, fast nur tur Portugal.
pas einÄM xkoräoauskulirlanä ist l.ier ^rankroioli mit einer Nebr-
.uskubr noeli n^leite von 6W0 StüeK. I^rreiel. ^ in ?ranKroiÄl nur ä^vbovaux av torno M-at.le sima, in voutseblanä ale ?keräo aller ^re odor
am «osamtpkoräebostanä sobeint man sieu in I?ranKreieIi noeli selbst unklar .u
Sinn. ^^it vagen Sollät.unMn ach ^Korbauministers sol äieser vestanä v e in
voutselilanä etwa vier Millionen ausmael.on, ^.ueb bei Lelgwn sima nur alö lanä-
v/irtsobaktlioli benutzten ?teräe gekillt, vor kran/ösisolio IZestanä bestellt /ur Zeit
im allgemoinon aus vortvollon Vieren, sowolll loieliten wie Oliveren delilaMS-
vor ^uskulirvort tur das Ltüolc Stolle sieu ratio.u auk 1000 Franken (800 AarK),
sah ist um 300 kranken liölier als avr ^inlulirvort.
volgion Molitot vorniogonÄ solivoro teure I'keräe. Der ^.ustulirvert stellt
»ieli auk 1060, <ter Dintulirvort nur auk 400 kranken tur äas StüoK.
vio ganW Krupps bestellt aus vänäorn mit ontviokoltor Inäustrio unä inton-
sivorm Ackerbau, vor Loäark an loistungskaliigon, Kaltblütigen ?keräon tritt neben aom
^rineoboäark voutsolilancls unä I'ranKroielis an loielitorn ?ioron immer molir liervor.
In äiesor Krunpo Kommt als ttoräoauskulirlanä oigontlioli nur viinomark in
votraolit, vor ^ustullrv/ert tur äas Ltüoll Stolle sioli liier aut' 720 Narlc, avr Lin-
tulirvort auk 370 NarK, wälironä toi KroKliritannion unä Irlanä avr ^uskulir-
vort nooli niolit 440 Aarlc orroiolit, liingeZon avr IÄnkunrv,'ort ni>or 430 Narli lioträgt.
Vdrigons maolito flott 1901 polli llior ale 'vVirlcung äos süäakrilcanisolion Xriogos
stark goltonä. Selion seit Nikko avr neunziger Satire liat alö Ltüoliöalil avr Lin-
tulir ale aer vVuskulir meist dotiÄelltlieli üdervvogen.
In KrolZbritannion unä Irlanä sima, vio in I?ranliroiol!, nur alö in avr vana-
>virtsonakt vorvanäten unä alö ^uolltpkoräo ge?Lille. vor Kosamtdostanä virä
solivorliell liintor aom von I^ranKroioli unä voutsolilanä xurüekdloidon. Lnglanä
Wiolinot flott naoli wie vor äuroli alö Quollt von Vollblut unä von oäolm Halb-
vlut aus, obno alö lcaltblütigon LobläM /u vornaoblässigon. Dänemark /.üobtet
vorwiogonä Haltblüter, unä auoli alö lZostänäe Lebvoäons unä ^or^ogons soll-onsioli üborv/iogonä aus Kaltblütern Zusammen.
odor alö lZostänäe einer ^nxalll auIZorouronäisollor vänäer mögen — mit novit
viel FrüLorn Vorbolialton — kolxenäs Aalilen ?latx tinäon:
Diese gewaltigen I'torÄobestänÄo werÄen, wie wir gesellen lmbsn, nur nu einem
windigen 'loilo nur Deckung Ach ?torÄoboÄarts Duropas berangvMgen. Disber
Kamen sie, tur uns bauptsäebliob Äureb Ale Diokorung von RoKbauton in Do-
traebt. Ob naob DoonÄigung Ach süÄakriKanisebon Krieges, Avr, wie odor mitgotoilt
worÄon ist, einen grolZon toll Avr?tdrÄoauskubr Äer Veroinigton Ktaaton vorbrauebto,
Äioso ^usiubr stärker aut asu europäisebon NarKt goriobtot werÄen wirÄ, bleibt ab-
Zuwarten. Vorläulig ist auk Ava Äeutseben NarKt noch niobts Äavon -zu spüren.
Die amorikanisobon ?5orÄv babon, wie man mort, Ale Äeutsobe I^obonslialtung sobr
schlecht vortragen.
'
Ilur DoutseblanÄ bei seiner ungeheuern Nolireinkubr von I>toräen unÄ Äer
erwiesnon ?atsaebe, ÄalZ sein ?mrÄsstaxeI last i?u einem Drittel aus importierten
?torÄon bostebt, wirÄ, wie wir schon gesagt babon, Ale ornstbatte Drörtorung Avr
?rage i-ur?tiiebt: °Wa8 nun nu einer Ava LoÄari entsproebenÄon Ilobung
aler Äeutsebon ?5srÄe?uedl geheuern? Die I'tdrÄeiiueKt in Am übrigen mittel-
euroxäisoben Ltaaten, Ale unter seur äbnliobon natürlioben DoÄingungon arbeitet
wio die Äoutsebe, bat es ^eÄontalls woll besser verstanÄen, sich Avr DoÄürmisson
Aos NarKtos anzupassen. ^Vober Kommt Aas? Mouth ist töriebtsr als alles ani Am
Zolltarif nu schieben. vor I^terÄsizoll DranKreiobs ist etwas böbor als Avr Äeutsebe.
DnglanÄ, Dolgisn, DollanÄ, Dänemark babon gar Keinen. Die Ilauxtsaobo bleibt
erstens, Ava DeÄürtnis Ach 'Wirtsebaktslebens neben Asim ^rmoobeÄürknis in
Avr staatliebon Fürsorge Ale gebübronÄo liüoksiebt einzuräumen. Die ?raus?oson
babon Aas vornüglieb verstanÄen. Zweitens abor bat unstreitig Ale vor^ügliebo wirt-
sobattliebo Dotäbigung Aos tranxösisebon DanÄmanns unÄ Viob/üebters Aas Löste
Äabei gotan. ^.ut Ale Din^slbeiten Avr ?rago soll bier nicht eingegangen werÄen.
DaK mit Äer ^on Ale ^.usÄvbnung Avr Verwendung von olomontaron AlotorKrätten
Am IZeÄark an ?terÄen wesentlich oinsobränksn virÄ, Kann 2war nicht beiiveitdlt
werÄsn, ist abor statistisch bisbor — vonigstons in DoutsoblanÄ — nicht Klar
naebgevioson. Vorläutig sobeint Ale ^abi namentliob Avr Koverbo/voeKon
ÄionsnÄen ?terÄe noch ?u?unebmon, unÄ in Äer I^anÄvirtsobat't liegt Äio Verv/onÄung
Äer MeKtriiiität unÄ Ach Oampkos als Triebkraft Avr Bewegung im KelänÄe — ab-
gesebon vom Oamptxgug — Avril Äoeb noob sobr in Am ^VinÄoln.
U WrKjgme?
Lxxort uaoli allsu I^äuäkrn äsr LrÄ6. ^A^^ ^L^lLllL."UolmunZs-
üiurioliwiisßu
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optische Anstatt e. ?. Soers.
Mi<Ieiige,eil§ni,!,N.
öevlln-f^ieclensu zö.
1'itris- 22 Iwo <Jo l'lintrvxöt.I.«»<Jo»! 1/K Ilvlb«rü»l!ir<!»s, in!.
« ?» '
^u_^rass. Hoflieferant
-Mpiiebb . weingiitibeiltiie» i» «üSttveim ->/«se
^^^seule sus eignen M-lud-rg-n gezogene» Jo-me
L«»es„^ N!^".u>'-> pdiiaaeipvl-ivra-
von I^iiciesli-im sinnt ü»r Lcsichiigung ater Xellereien
l»»^^^^ bdllichzi eingela-Je».--
^^VlU ^ Aerclen hiermit -ni alle
DeutLcdeDltvv»!
Lebens ° ^ ersicherungsvaM.
M-selbe.^'^"^'^I,an aulmerksam g-möcht.
'— "messe „n,-. gli„z,igx^n IZeckingmigen
- .,^>>it->'aler5t-lierslcl,er«ng«n -..-..n»ra,nsi-ne'ilei,erungen
-iurch welche Söhnen beim eintritt ^»in INMwr,
-------- Töck,«er!,u»s,euer-ve»liet,«»«ngen - , 7"
»urch «eiche löchler» ?.»r Verheiratung sul -lie porte»h-»>es>°
«leise ein bestimmtes Xapiwl gesichert wir-I. -.„-.,^->^'ssp-Kie verser-Ick Ir-mKo un-l i-et- UnsKunIt erteilt b°rc>t«>lUgsl
»le virexn»«. «erw W. ? . eicddon^et.^richtige Vertreter «erilen sngestcllt. -^-^^^^
« Lemm W. flötet „ver Mserdof^ «^>inne, von z,5<z MK. an. Kuhigst- u. vornehmste Lage Lerlins.
«»««i»et A»! iNvz
Vs^I^on ttsRvI
unä No8tkNr!Nie Kön8
7?---Ile1to v^ki^ —: 1'rit°I>«>»n—< I»>,rIal,lMuitritW<, DvlIII^ v»t«r >I«n I^IixI«»
MeKstiZelexenes I^odei Sen icunixi. Seni»ssern> Ickusven,
vxern- uncl 8e1>!mspielii»us> —
2 Alnnton vom «allnliok rrlo<tri«ki«tra»»«
^»rnvllmv«, «rstillitxülxv» »»us. A«<I«r»or liomkort
Xv»8 ^ rkviuiiiiFS, Not-LrMouröviblioweksliataloge, ?eÄ'.e7/7c« Ä-r
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I!«rxv>I»>-r bei II»»>I>»rx, (Zreve^s »»reen 7>
I^art 5langen's WseMeaukernnÄ.
öesellzchsli-reiien. — Son<Je,l->,r>en. — verksul I ?riearlel>-
vo» eisenbshn-»mal v»mplschi»-?ahrlii>rde». ^ I »er»»«e 7!
I^a Revue as karis
lV«rI»x von <ZaIm»n»»I.evv In ?»ri» uns I-vIp^Ix)
I»I>»It von Hr. Ili vom Is. ^»xust 190»
I.»« Xninur« >>« I-> I» I'vllo» (Ir»
in>r1Je>.
I.ettro», s»r In INusIqnv I>»n<z»l««
(!!!!!«!—1»»»). — II.
Dn« Visite »u <!«>ut« <Jo Il!si»»rail
(Ovtobor I«?v).
IIzmnv » I» VIorß«.
I>« l'omminxliuit ?olu«»re.
I>!» H»rhor»mis«.(Zlmrles l'petit . . .
^<tot>,be ^<l»in . . .
^IlünnKilv (limtivr?ils >
Albert ri»oenas , .
^rtbur (üinizuet. , ,
^V. lÄvrton Vullerton >
jjlmils Veäoi .... ritt« <I'0»°ssi»>t (lin).
Victor IZ6r»rei . . . <jnvstl«nsvxt>>ri»ur«s.I.»o»XIII.
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?llntengrö§«e z» ein
ca.Iellina-Marmor .... MK. Z20 —ö-s. ge-es. Verlag von Keller 8 Keiner, öerlw
copvrighl l?02
l^ante
original-SKulplur von ?r»se«§or Stephan SinOIng
preis« nebenstedenclz
er Versuch, in dem engen Rahmen dieser Abhandlung die Stellung
Rußlands in Vorderasien zu charakterisieren, muß sich darauf be¬
schränken, in Umrissen die wesentlichen Ziele seiner Tätigkeit und
die Grundbedingungen seines Vorschreitens hervorzuheben. Ich
werde dabei die Eindrücke zugrunde legen, die ich auf laugen
Streifziigm in dem Gebiete gewonnen habe, das sich vom Schwarzen Meere
Zu den Hängen des Thinnschan und des Pamir, vom Kaukasus zum hohen
^ran^und zur syrischen Küste erstreckt.
^'es Werde ganz absehen von der Frage, wie die heutigen Dinge historisch
geworden sind. Nur auf das eine darf ich kurz hinweisen, wie seit den Tagen
Peters des Großen die Politik Rußlands in den Bahnen geblieben ist, die
Peter ihr gewiesen hat: sie drängt nach Westen, sie beeinflußt den Westen, sie
empfängt vom Westen freundliche und feindliche Gegenwirkung. So geht der
große Zug russischer Politik bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
vorwiegend nach Westen. Endlich aber begann mit Naturgewalt eine kräftige
Umkehr von der bisherigen Richtung. Sie folgte zuerst dem Drängen weiter
und einflußreicher Schichten der russischen Gesellschaft; in der Gegenwart ist
sie der Grundgedanke der russischen Politik. Diese Politik ist getragen von
der innern Stimmung der ganzen Nation, soweit sie überhaupt an politischen
fragen teilnimmt. Immer mächtiger wird in dem russischen Volke die Über-
Zeugung, „Rußlands Hand über ganz Asien" sei das von Gott selbst dem
russischen Volke gesetzte Ziel. So erscheint uns die Kolonisation der Russen
w dem Teile Asiens, der heute ihrer Herrschaft gehorcht, nicht als Selbst-
Zweck. Nußland besitzt die Kolonien nicht um des wirtschaftlichen Erfolges
onem, sie sind ihm nur das Mittel, seine große Politik durchzuführen: das
gewonnene Gebiet soll als neue Provinz dein Reiche angegliedert, mit seinem
lsherigcn Bestände eng verschmolzen werden. Nur dann kann es die feste
rnndlage bilden, auf der sich die weitere Vorschiebung der Grenzen aufzu-
. alten hat. Diesen Gedanken hat ein russischer Politiker vor wenig Jahren
w die Worte gekleidet: „Jede Scholle, die an russischen Stiefelabsätzen hangen
lewt, ist kein Kolonialboden, sondern Rußland selbst. Rußland hat keine
Atomen und will keine Kolonien, es will in Asien nur Rußland. Wo ein
russisches Heer seinen Fuß hinsetzt, schafft es keine Hörigen, sondern russische
Bürger." Diese Worte sind übertrieben, aber sie bezeichnen doch im Grunde
zutreffend die Art, wie in Asien der russische Staat seinem neugewonnenen
Gebiete gegenübertritt.
Diesen wesentlichsten Unterschied zwischen der Kolonisation Rußlands und
der andrer Nationen muß man sich immer vor Augen halten, wenn man die
eigentümliche Stärke des russischen Fortschreitens in Asien, die innern Gründe
seiner Erfolge in den gewonnenen Gebieten erfassen will.
Bei der Betrachtung russischer Kolonisation in Vorderasien unterscheiden
sich scharf zwei Gebiete: das Land östlich und das westlich von dem Kaspischen
Meere, Turkestan und Transkaukasien. In diesen beiden Gebieten hat die
russische Kulturarbeit unter ganz verschiednen Verhältnissen begonnen. Sie
fand in Turkestan ein Land von reicher Produktionsfähigkeit, in der ansässigen
Bevölkerung der Sarten einen tüchtigen Stamm von Arbeitern. In Trans¬
kaukasien bietet das Land zum Teil nur geringen Ertrag; da, wo Klima und
Bewässerung einen gesteigerte:: Anbau zulassen, an den Hängen des Kaukasus,
sind die Verbindungen so ungünstig, daß eine lohnende Ausbeute ausgeschlossen
ist. Die Bevölkerung endlich ist teils indolent, wie die Georgier, teils zum
Landbau ungeeignet, wie die Armenier. So ist in beiden Gebieten die Grund¬
lage der russischen Arbeit eine andre; verschieden muß sie sich betätigen, und
ich werde versuchen auszuführen, wie uns auf der einen Seite, in Turkestnn,
die außerordentliche Leistungsfähigkeit der Russen im Kolonisieren, auf der
andern, in Transkaukasien, die Begrenztheit ihrer Fähigkeiten entgegentritt.
In Turkestan bestand neben der ansässigen Bevölkerung der Sarten eine
zweite, die nomadischen Stämme der Turkmenen in den Steppen zwischen dem
Kaspi und dem Ann-Darja, die für jede Kulturarbeit unverwendbar waren-
Bis zu ihrer Unterwerfung durch die Russen waren die Turkmenen eine furcht¬
bare Plage für die benachbarten persischen Grenzgebiete. Bis weit nach
Chorassan hinein gingen ihre Raubzüge; wen sie nicht als Gefangnen mit¬
schleppten, dem wurden Hände und Füße abgehackt. Gegen Ende der siebziger
Jahre sollen über hunderttausend Perser in turkmenischer Gefangenschaft ge¬
legen haben. Diesem Treiben haben die Russen unter Skobelew nach mehr¬
maligen Mißerfolgen mit der Eroberung von Geol Tepe im Jahre 1382 ein
Ende gemacht. Wieviel Menschen beim Sturme auf die Festung eigentlich
niedergemetzelt wurden, hat man nicht erfahren. Amtlich zugestanden wurden
von den Russen sechstausend. Damals ging eine große Entrüstung über diese
russische Barbarei durch die westeuropäische Welt. Wenn mau aber heute in
der Wüste von Merw dem Turüneuen begegnet, mit dem unbeschreiblichen
Ausdruck von Hinterlist und Grausamkeit in den Angen, so kann man sich
nur schwer des wenig humanen Gedankens erwehren: je mehr von diesen Ge¬
sellen im Feuer der Kosaken liegen blieben, desto besser für die Menschheit.
Mit diesem durchgreifenden Vorgehn von Geol Tepe haben die Russen
ein Resultat erreicht, das weit über den lokalen Erfolg hinaus wirkte. Nicht
nur, daß sich die Turkmenen von Merw ohne einen Flintenschuß ergaben; bis
weit nach Persien und in die asiatische Türkei hinein wirkte die Kunde. Ich
habe es in den entlegnen Tälern, die vom hohen Iran zum Tigris hinab-
führen, erfahren, wie dort noch heute der Reisende, der die weiße Mütze des
russischen Offiziers trügt, mit ängstlicher Scheu betrachtet wird. Irgend, in
Persien, in Afghanistan oder in der asiatischen Türkei wagt ein Räuber den
anzugreifen, den er aus irgendeinem Grunde für einen Russen mit amtlicher
Eigenschaft hält. .
^^^
Im Gegensatze zu den Turkmenen sind die Garten für die russische Herr¬
schaft ein geradezu unschätzbares Kulturelement. Trotz der furchtbaren Sturme.
in denen die alte Zivilisation des Landes zugrunde gegangen ist. trotz der
jahrhundertelangen"Mißwirtschaft der sich beständig befehdenden Emire und
Khane, trotz der schrecklichen Dezimierungen, die die Bevölkerung periodisch
erlitt, trotz alledem steckt ein unverwüstlicher Kern von Intelligenz. Betriebsam¬
keit, technischem Geschick, und was im Orient das beste ist. von Lust an der
Arbeit in diesem Volke, dem nur das eine fehlte, was die Russen ihm geben
konnten: Sicherheit für ihr Leben und ihren Besitz. Schutz vorder unerhörten
Willkürherrschaft ihrer Fürsten. Die Baumwollkultnr Turkestans, auf die man
in Rußland so große Hoffnungen setzt, wäre ganz undenkbar ohne die ge¬
nannten Eigenschaften des Sarten. Heute bekommt er von der Regierung
hundert Rubel Vorschuß und einen Sack Baumwollsamen. Nach zwei Jahren
zahlt er das Darlehn zurück und hesite ein Baumwollfeld mit dem dreifache.,
Werte. Welches hohe Maß von geistiger Biegsamkeit sie haben, geht auch
daraus hervor, daß überall in den Bankinstituten in Samarkand und Taschkend
die Sarten die besten Kunden sind. Sie haben sich in den ganzen modernen
Kredit-- und Scheckverkehr, in alle die Manipulationen, die den in eisten von
uns unser Leben lang ein finsteres Geheimnis bleiben, mit einer Sicherheit
hinein gefunden, wie es vielleicht nur uoch in England bei einzelnen Leuten, die
der breiten Masse des Volkes angehören, der Fall ist.
Diese schnelle Anpassung der einheimischen Bevölkerung an die russische
Herrschaft wäre undenkbar gewesen, wenn nicht durch zwei Umstände Rußland
von Anfang an ihr Vertrauen gewonnen hätte. Das ist zunächst das Ver¬
halten des einzelnen Russen gegenüber dem Eingebornen. Fast alle andern
Kolonialmächte'haben mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die in der Überhebung
des kleinen Mannes über den Eingebornen liegt, und die kein vertrautes Ver¬
hältnis zwischen beiden aufkommen laßt. Davon ist in Turkestan nicht das
geringste bemerkbar. Tatsächlich steht ja auch der gemeine Russe geistig uicht
auf einer wesentlich höhern Stufe als der Eingeborne in seinem ursprüng¬
lichen Zustande. Aber auch der bessere Russe verzichtet dem Asiaten gegen¬
über vollkommen darauf, ein Wesen höherer Ordnung zu sein, und wo er
ihm als Herr gegenübertritt, geschieht es nicht kraft seines angebornen bessern
Rechts als Europäer, sondern nur kraft der absoluten kaiserlichen Autorität,
die hinter dem einzelnen Beamten oder Offizier steht, und gegen die im übrigen
alle, Russen, Turkmenen und Sarten, allein die Pflicht gleichen Gehorsams
haben. An das Gehorchen den Gewalthabern gegenüber ist der Orientale
gewöhnt. Was ihn kränken würde, wäre eine geringere Schätzung als Ein¬
heimischer und Nichtchrist. Aber weder von dem einen noch dem andern ist die
Rede. Tiefer wirkend aber und weit über die Grenzen Rußlands hinaus be¬
deutungsvoll ist die Stellung, die der Staat der mohammedanischen Religion
gegenüber einnimmt. Den größten politischen Fehler, den die Engländer in
Indien machen, sieht der Russe darin, daß sie zu den Mohammedanern Missionare
schicken. Abgesehen davon, daß die Mohammednnermissivn gar keine Erfolge
hat, erbittert sie die Moslim und nährt fortwährend den Haß gegen die
Leute, die trotzdem uicht von ihren Propagandaversuchen ablassen. Die russische
Negierung hat kein Bedenken getragen, ihrer Geistlichkeit die Mohammedancr-
mission ganz zu verbieten. Die russische Kirche ist Staatsanstalt, politische
Rücksichten und Bestrebungen geben ihrer Haltung gegen fremde Religionen und
Konfessionen die Richtung. Dieses Entgegenkommen gegen die Mohammedaner
geht bis in das kleine Leben des Tages hinein. Es geht so weit, daß vor
Gericht und in allen öffentlichen Angelegenheiten der Eingeborne gelegentlich
sogar Russen gegenüber begünstigt wird — um des Eindrucks willen, den das
in den Nachbarstaaten, in Persien und Afghanistan, machen muß.
Dieser Eindruck von der günstigen Lage, die der Eingeborne unter russischer
Herrschaft hat, ist denn auch bei den Nachbarvölkern in hohem Maße einge¬
treten. Um ihn ganz zu würdigen, muß mau immer berücksichtige», auf welcher
tiefen Stufe der Kultur diese Länder stehn, denn in Afghanistan und in Persien
ist tatsächlich kein Mensch heute Abend sicher, daß er Leben und Habe auch
morgen früh noch hat. Kein Recht und keine Staatsgewalt schützt ihn;
auf jedem Schritte begegnet dem Reisenden in diesen Ländern eine tiefe Ver¬
bitterung des Volkes über die bestehenden Verhältnisse. Das Volk sieht in
dein Übergang unter russische Herrschaft eine Erlösung. Nur wenn man dort
im Laude selbst mit den Leuten über ihr Dasein gesprochen hat, wenn mau
Zeuge der Angst und der Bitterkeit geworden ist, mit der sie von ihren
Machthabern sprechen, der Sehnsucht, mit der sie geordneter Verhältnisse ge¬
denken, dann erst kann man ganz ermessen, welchem Segen Rußland diesen
Völkern bringt, indem es ihnen die einfachsten Grundlagen menschlicher Kultur
schafft.
Ich habe schon kurz angedeutet, wie die wirtschaftliche Entwicklung
Turkestans auf der Erweiterung der Baumwollkultur beruht. Auf diese Frage,
auf die wirtschaftlichen Ziele und Bemühungen Rußlands, werde ich nun näher
einzugehn haben.
In Turkestan herrschte seit dem Altertum eine hohe Kultur, bis hier am
Beginne des dreizehnten Jahrhunderts die buddhistischen Schwärme Dschingis
Khans eine Katastrophe brachten, wie die Menschheit kaum eine zweite er¬
lebt hat; die furchtbare Flutwelle, die die normannischen Fürstentümer der
Waräger am Dujepr und an der Oka überschwemmte und sich erst am Fuße
der schlesischen Berge brach, hat hier ihr schrecklichstes Werk getan, und das
geschah darum, weil diesem Lande durch den Feind genommen werden konnte,
was jedem andern unter der furchtbarsten Verwüstung doch bleiben muß: d:e
Ertragsfähigkeit des Ackers.
Die Erde ist hier nur an ganz wenig Stellen imstande, auch nur einen
Halm zu tragen, wo ihr nicht während des ganzen Sommers künstlich das
Wasser znacführt wird. Ein ausgebreitetes Netz von Dämmen und Kanälen
regelte diese Wasserversorgung. Mit ihrer Zerstörung dnrch die Mongo erhörten
mußten weite Strecken des blühenden Landes der Verödung anheimfallen.
Jahrhnndertelanq haben dann die weitesten Gebiete dieses Landes als
Steppen dagelegen. 5ier und da hat die regsame sardische Bevölkerung den
Baumwollbau aufrecht" erhalten. Das; sie zu keiner wirtschaftlichen Bedeutung
wen. lag an der Mißrcgieruug der Khane, die keine energische Tätigkeit auf¬
kommen, keinen Verkehr mit dem Auslande zuließen. Mit dem Einzuge der
russischen Regierung kamen in alle diese Beziehungen geordnete Verhältnisse.
Die Bevölkerung konnte nnn ihre Arbeitskraft frei betätigen. Es ist das
Verdienst des genialen ersten Gouverneurs vou Turkestan, des Generals von
Kaufmann, daß er auf die Bedeutung hingewiesen hat. die das Land für die
wirtschaftliche Entwicklung Rußlands gewinnen konnte.
eRußlands Bestreben, wie das jeder Kolonialmacht, ist. ein selbständiges
Wirtschaftsgebiet zu bilden, d. h. alle Produkte, deren es zur Aufrechterhaltung
seines wirtschaftlichen Lebens bedarf, selbst zu besitzen oder zu erzeugen. Da
nun Rußland klimatisch der gemäßigten und der kalten Zone angehört, muß
es die wenigen Gebiete subtropischen Klimas möglichst ausnutzen, wenn es ti
Produkte gewinnen will, die nur in ihm gedeihen. Von diesem Gedanken aus-
gehend hat auf Anregung des Generals von Kaufmann die russische Re¬
gierung viel Sorgfalt und Kosten auf die Hebung der Baumwollkultur ver¬
wandt. Die Sache schlug ungeahnt ein. Die Provinz Samarkand, namentlich
aber Ferghana erwiesen sich als fähig, so große Mengen zu liefern, daß die
russische Textilindustrie heute die Hälfte ihres Bedarfs an Baumwolle aus
Turkestan beziehn kann. Seit dein Anfang der neunziger Jahre aber ist ein
gewisser Stillstand eingetreten. Allerdings erweiterte sich der Baumwollbau
fortgesetzt, aber doch uicht in dem Maße, wie man es erwartet und gehofft
hatte. Der Grund lag darin, daß die Eingebornen es für unvorteilhaft hielten,
um der Banmwollkultur willen den Anbau von Weizen. Mais. Reis usw. auf¬
zugeben, da sie das alles selbst billiger produzierten, als sie es bei den da¬
maligen Verbindungen von Rußland tauften.
Aus dieser Schwierigkeit boten sich zwei Auswege: die Erbauung von
Getreidezufuhrbahneu weiter ins Innere hinein und die Neubewüsserung großer,
bisher wüstlicgender, aber der Irrigation zugänglicher Ländereien. Schließlich
hat man beides getan. Die bisher nur militärischen Zwecken dienende Bahn
nach Samarkand wurde bis Audidjan in Ostferghana verlängert, die Verbin¬
dung Ferghanns mit dem westsibirischen und dem zentralrnssischen Getreide¬
gebiete, mit Omsk und Orenbnrg, vorbereitet.
Wenn wir die Bedeutung der Projekte, dnrch Ausdehnung des Kanal¬
netzes weiteres zum Baumwollbau geeignetes Gebiet zu gewinnen, darlegen
wollen, bedarf es eines kurze» Blickes auf die topographische Beschaffenheit
von Ferghana. Ferghana ist ein altes Seebecken, ein ovales, rings von
Hochgebirgen umgclmes Tal mit fast horizontaler Bodenfläche. Etwa der
Längsachse dieses Tals folgt der bedeutendste Fluß von Ferghana, der Syr-
Darja. Dieser Strom liefert das Wasser für den ganzen nördlichen Teil des
Landes. Seine südliche Hälfte wird von einer großen Zahl von Flüssen und
Bächen bewässert, die vom Alai dem Syr-Darja zufließen. Diese würden sich
sämtlich mit ihm vereinigen, wenn sie nicht schon ein großes Stück vorher
vollständig durch die Bewässerung der Felder aufgezehrt wären. Auf diese
Weise bleibt zwischen dem Syr-Darja und der südlichen Anbauzone ein breiter
Streifen nnbewässerten, teils Steppen- und teils wüstenartigen Landes übrig.
Hier wächst nur ans dem Grunde nichts, weil das Wasser und der von ihm
mitgeführte fruchtbare Schlamm nicht hingelangt. Die Frage ist nun die:
Soll man das Wasser des Syr-Darja innerhalb des Talkessels von Ferghana
oder außerhalb, jenseits der schmalen Talpforte von Chodshent, in der Hunger¬
steppe verwenden?
Die Wasserführung des Syr-Darja an der Brücke von Chodshent betrügt
in der trocknen Jahreszeit 600000 Liter in der Sekunde. Nach den Er¬
fahrungen, die man in Turkestan und anderwärts gemacht hat, bedarf es zur
Bewässerung eiues Hektars mit Baumwollenknltur eines stündigen Zuflusses
von einem Liter in der Sekunde. Folglich reicht das Sommerwasser des Syr
zur dauernden Bewässerung vou 600000 Hektaren aus. Eingehende Ni-
vellierungsarbeiten haben das Ergebnis gehabt, daß es unvorteilhaft wäre,
diese ganze Bodenmasse innerhalb des Talbeckens von Ferghana zu bewässern.
Man will einen Teil der Hungersteppe hinzunehmen und erreicht das, indem
man von Chodshent aus in ostwestlicher Richtung einen Kanal führt. Bon
dieser Linie aus senkt sich das Gelände gegen Norden in einem Gefälle von
etwa 1 : 3000 im Durchschnitt. Die Bodengestalt kommt also im höchsten
Grade der Irrigation entgegen, die in der Weise auszuführen ist, daß sich an
den Hauptkanal Nebeukcmäle in südnördlicher Richtung ansetzen, die sich nun
fortgesetzt spalten und so ein unendlich feines Kanalnetz über das ganze Gebiet
bilden. Nach Ausführung dieser Projekte hofft man — wohl etwas sangui-
nisch — bei einer Neubewüsserung von 5000 Quadratkilometern Land die
Textilindustrie nicht nur von ganz Nußland auf die turtestauische Produktion
gründen, sondern anch noch einen Teil des mitteleuropäischen Marktes ver¬
sorgen zu können.
Ich bin auf diese Frage etwas näher eingegangen, weil in ihr der Kern¬
punkt der wirtschaftlichen Tätigkeit Rußlands in Turkestan liegt, und weil sie
ferner zeigt, wie groß die Aufgaben sind, die sich Rußland in seiner .Koloni¬
sationsarbeit stellt. In dieser Tätigkeit wird die russische Negierung auf das
wirksamste von ihren Offizieren unterstützt. Ich kann nicht unterlassen, auf
den großen Eindruck hinzuweisen, deu ich von der Tüchtigkeit dieser Leute er¬
halten habe. Man sagt mir allerdings, daß Rußland seine besten und ge-
bildetsten Offiziere hierher schicke. Neben ihrer militärischen Tätigkeit liegt
die Verwaltung lind die wirtschaftliche Hebung des Landes zum größten Teil in
ihren Hunden. Des Morgens bildet der Hauptmann seine Kompagnie aus,
am Nachmittag zieht er mit seinen Leutnants hinaus, vermißt und nivelliert,
bestimmt den Lauf der neu zu bauenden Kanäle. Die Bevölkerung muß die
Arbeiter stellen: so wird eine Quadratmeile nach der andern der Wüste ab¬
gerungen.
Wenn uns so bei der Betrachtung Rußlands in Turkestan ganz wesent¬
lich die Erfolge seiner Tätigkeit entgegentreten, wenn wir deu Eindruck ge¬
winnen, daß'diese Arbeit durchaus im Dienste bedeutender ^dem steht, so
finden wir keinen dieser Erfolge westlich vom Kaspischen Meere, in Trans-
kaukasien. Ich habe schon kurz die Grunde erwähut. die hier von Aufang an
einer kolonisatorisch erfolgreichen Tätigkeit entgegentraten.
Ein großer Teil Transkaukasiens besteht ans dem wenig fruchtbaren
armenischen Hochlande, das zum Anbau von Kulturpflanzen, die für Rußland
vou besondern! NuKen sein konnten. zu kalt ist. In der Ebene des Rion und
der Kura wäre das Klima allerdings heiß genug, hier aber sitzt eme Be¬
völkerung, die zu jeder Kulturarbeit uuverwendbar ist: westlich von Tiflis die
Georgier, faul und indolent, dabei von einem dummen Hochmut erfüllt, östlich
von Tiflis an der untern Knra nomadische Tataren, deren absolute Bedürfms-
losigkeit der schlimmste Feind jeder größern Tätigkeit ist. Das einzige, was
russische Initiative geschaffen hat. sind die Kohlenbergwerke bei Kudus. Sonst
sind die massenhaften SclMc des Bodens entweder unausgebeutet oder werden
von Ausländern erschlossen,' wie die Kupfererze von Alexcmdropol und Kedabcg.
die Naphthareichtümer von Baku. Alles intensive Streben der Russen in
Transkaukasien gilt der Vorbereitung, ihre Grenzen gegen die asiatische Türkei
zu verschieben. Es ist dasselbe Streben, das sie auf ihrer ganzen asiatischen
Front, vom Schwarzen Meer bis zum Stillen Ozean, verfolgen.
Sie suchen zunächst, durch Eisenbahn- und Straßenbauten, durch Gruppierung
ihrer Streitkräfte an den Hauptvormarschstraßen die Bedingungen für die Er¬
öffnung des Feldzugs günstig zu gestalten. In weit höherm Grade als in
unseru Kulturländern bewegt sich in weniger kultivierten Gebieten aller Ver¬
kehr in bestimmten, oft jahrtausendealten Richtungen. In ihnen kommt die
Summe der Erfahrungen über Wegsmnkeit und Verpflegungsmittel, ins¬
besondre über das Vorhandensein von Wasser zum Ausdruck, Erfahrungen,
die sich die militärische Operation zunutze machen muß in demselben Maße,
wie die Wanderungen der Stämme seit den ältesten Zeiten, wie noch heute
täglich der Weg der Karawanen von ihnen bestimmt wird. Wohl kann hier
und da die militärische Notwendigkeit zur Nichtachtung dieser Wege zwingen,
aber die große Operation ist mit unbedingter Bestimmtheit an sie gebunden.
Mit viel höherer Sicherheit also als in West- und in Mitteleuropa kann man
in diefen Gebieten aus dein Wegenetz Schlüsse auf deu Verlauf der einleitenden
Operationen und dn, wo sich sein Ausbau in gewissen Richtungen verfolgen
üHt. auch auf die Absichten der Heeresleitung ziehn.
(Schluß folgt)
n einer Sache, in der so viel Tinte vergossen worden ist, würde
ich das Wort nicht ergreifen, wenn nicht trotz des vielen Schreibens
gerade das Einfachste und Nächstliegende vollständig anßer acht
gelassen worden wäre. Es ist dies die Erforschung der Gründe,
auf denen die in den einzelnen Oberlaudesgerichtsbezirken be¬
stehende ungemein große Verschiedenheit in der Prozeßdauer beruht. Man
hat dies bis jetzt nur bei den rheinischen Oberlandesgerichtsbezirken im Vergleich
mit den übrigen Bezirken getan und beide einander gegenüber gestellt. Ins¬
besondre hat man den Oberlandesgcrichtsbezirk Köln in einen Gegensatz zu
den übrigen preußischen Bezirken gebracht, weil er die meisten Prozeßrück¬
stände in Preußen auszuweisen hatte. Mau schob die Schuld auf die von dem
frühern Verfahren dort herrührenden „Übertreibungen desMündlichkcitsprinzips."
Nun schließen aber, wie wir sehen werden, nicht alle linksrheinischen Bezirke
ungünstig ab, während verschiedne rechtsrheinische eine nicht minder lange Proze߬
dauer aufzuweisen haben. Wenn mau zu einem befriedigenden Ergebnisse
kommen will, bedarf es einer weit gründlichern Untersuchung der deutschen Justiz-
statistik als bisher. Diese bietet nämlich für unsre Frage eine reiche Fundgrube,
indem sie uns nicht nur die Verschiedenheit in den einzelnen Oberlandesgerichts¬
bezirken aufzeigt, sondern auch die Mittel und Wege zur Abhilfe angibt.
Daß die Frage uoch nicht zum Abschluß gelaugt ist, und namentlich der von
verschiednen Seiten befürwortete Vorschlag von Neukamp, ^) dem Richter die
volle Herrschaft über den Prozeß einzuräumen und jede Befugnis der Parteien,
Termine und Fristen zu erstrecken, zu beseitigen, nicht den Beifall der Mehrheit
gefunden hat, zeigt folgender Beschluß des vorjährigen Juristentages: „Eine
Änderung der deutschen Zivilprozeßordnung dahin, daß dem Richter eine größere
Mitwirkung beim Prozcßbetrieb gewährt wird, ist nicht empfehlenswert. Da¬
gegen ist zu erwogen, in welcher Weise der Vereitelung von Verhandlungs¬
terminen entgegenzuwirken ist."
Mit Recht will der Juristentag den Parteibctrieb, der sich im deutschen
Prozeß vollständig eingelebt hat und auch nicht mit einem Federstrich daraus
beseitigt werden kann, nicht angetastet wissen. Aber auch weniger einschneidende
Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Zivilprozeßordnung, von
denen manche, wie die Erhöhung der Zuständigkeit der Amtsgerichte auf 500 Mark
und die Einführung eines Vortcrmins, gewiß geeignet sind, die Prozesse zu
beschleunigen, können nicht in Betracht kommen. Bekanntlich wurden diese
Gesetze einer sehr eingehenden Revision unterzogen und in veränderter Form
am 1. Januar 1900 eingeführt. Unter anderen war beabsichtigt, die erwähnte
Kompetenzerweiterung einzuführen, und über diese Frage ist sehr viel hin und
her geschrieben worden, bis man sich entschloß, wegen der von der Rechts-
anwaltschaft dagegen erhobnen Einwände das ganze Projekt fallen zu lassen.
Nachdem die Sache erst seit drei Jahren zu Ruhe gekommen war. wurden
nichtsdestoweniger auf dem Juristentage Stimmen laut, die Zuständigkeit der
Amtsgerichte auf 500 Mark zu erhöhen. Aber auch über die Frage, welche
Änderungen an den Gesetzen zur Verhütung von Prozeßverschleppungen vor¬
genommen werden sollten, wurde vor dem I.Januar 1900 lebhaft diskutiert.
Für unsre Frage stand also der Justizverwaltung und den Gesetzgebern ein
überreiches Material zur Verfügung. Trotzdem sahen diese beiden revidierten
Gesetze von Änderungen in dieser Richtung mit der einzigen Ansnahme ab.
daß die Einlassnngsfrist von einem Monat auf zwei Wochen herabgesetzt wurde
l§ 262 ^.-P-O)' Nun kann man aber doch nicht Gesetze, die erst vor drei
Jahren'ins Leben getreten sind, aus Gründen, die schon vorher bestanden
haben, und die genügend erörtert worden waren, schon jetzt wieder abändern.
Daraus folgt aber noch nicht, daß in der Verschleppuugsfrage überhaupt nchts
geschehen sollte Es können einfache Maßnahmen der Landesjuftizverwaltnugcn.
Gesetze organisatorischer Natur und Änderungen in der Rechtsanwaltsordnung.
^ bis jetzt noch nicht in Frage kamen, sehr viel zur Verkürzung der Prozesse
beitragen. Will man den weiten und in seinen Ergebnissen unsichern Weg
der Gesctzesünderung nicht betreten, so läßt sich schon jetzt auf dein Verwal¬
tungswege und durch eine- sachgemäße Handhabung der Prozeßordnung sehr
viel im Sinne einer raschem Erledigung der Prozesse erreichen.
s s'^ ^ ^vühut worden, daß in der Prozeßdauer eine sehr große
Verschiedenheit bei den einzelnen Oberlandesgcrichtsbezirken besteht. So schwankte
z. ^. im Jahre 1899") die Erledigung von Anitsgerichtssachen durch kontra-
^morsches Endurteil innerhalb von drei Monaten zwischen 74 und 45,6 Prozent,
7^ Instanz der Landgerichte innerhalb sechs Monaten zwischen
'^'"^ Prozent und in der Berufungsinstanz zwischen 89,1 und
d,L Prozent, endlich die der Oberlandesgerichte zwischen 85,0 und 16,8 Prozent,
-aur haben also ausgezeichnete Bezirke neben ganz schlechten. Prüfen wir
un wie jene zu so günstigen Resultaten gekommen siud. Beruheu sie auf
«raten Gepflogenheiten, dann sollen diese verallgemeinert werden.
Für jeden Prozeß kommen nun zwei Dinge in Betracht: das Gericht
ind die Parteien, die hier mit den Anwälten als identisch angesehen werden
WUen. Auf das Verhalten jedes von beiden kommt es nun vielfach an, ob
cui Prozeß rasch erledigt wird, oder ob er sich in die Lange zieht. Es sollen
deshalb sowohl die Umstände, die bei der Tätigkeit der Richter in Betracht
^ni'um. als auch die untersucht werden, die das Verhalten des Urwalds zum
Prozeß veranlassen. Vorzugsweise werde ich mich dabei auf die drei letzten
Jahrgänge der Justizstatistik Band VIII bis X stützen und daraus den Durch¬
schnitt ziehn, da aus einem Jahrgang noch nicht auf die Regelmäßigkeit einer
Erscheinung geschlossen werden kann. Im Laufe der Darstellung werden wir
nämlich sehen, daß es manchmal vorkommt, daß in einem Jahrgang ein Bezirk
eine sehr günstige Stellung aufweist, während derselbe Bezirk in einem andern
sehr schlecht abschneidet. Zufälligkeiten spielen da eine nicht zu unter¬
schätz
Durch die Art der Behandlung der Sachen können die Gerichte sehr
viel zur Verkürzung der Prozesse beitragen. Da bietet zunächst im Anwalts¬
prozeß die dem französischen Nollenwesen entlehnte Methode, eine größere
Anzahl von Sachen auf eine bestimmte Stunde zu legen und vor Beginn der
Verhandlungen die Prozeßliste mit den Anwälten durchzunehmen und die
Sachen zu bezeichnen, die in der Sitzung vorkommen sollen, ein treffliches
Mittel für die Beschleunigung der Prozesse. Auf diese Weise kaun bis zum
Schlüsse der Sitzung ohne Unterbrechung verhandelt werden, und es entstehn
keine für die Richter unangenehme Pausen. Freilich müssen entweder alle in
den angesetzten Sachen tätigen Anwälte zu Beginn der Sitzung zur Stelle sein
oder jeweilig einen Kollegen zur Abgabe der Erklärung autorisieren, ob in
der betreffenden Sache verhandelt werden soll oder nicht, wie denn ein Hand
in Hand von Gericht und Anwälten wesentlich zur Verkürzung der Prozesse
beiträgt.
Sodann ist von großer Bedeutung, wie sich die Gerichte zur Veweisfrngc
stellen. Es kommt darauf an, ob häufig Beweise angeordnet werden, und ob
das Gericht mehr oder weniger peinlich bei der Würdigung des vorgebrachten
tatsächlichen Materials verfährt. Ferner ist von Wichtigkeit, ob ein Gericht
die Gepflogenheit hat, alle Beweise auf einmal anzuordnen, oder ob es in
einer Sache zwei oder gar mehrere Beweisbeschlüffe erläßt. Für ihr Ver¬
hältnis zur Zahl der erledigten Sachen bietet die Justizstatistik interessante
Aufschlüsse, indem sie zeigt, daß Gerichte mit zahlreichen Beweisbeschlüssen
mehr im Rückstände sind, als solche mit wenigen. So sind z. B. in nach¬
folgenden vier Oberlandcsgerichtsbezirken in erster Instanz auf je hundert End¬
urteile, die weder aus Versäumnis, Verzicht oder Anerkennung ergangen sind,
Bcweisbeschlüsse erlassen worden
Erledigt wurden seit Einreichung der Klagschrift bis zum Endurteil bei
den Amtsgerichten in drei Monaten von hundert Sachen vorstehender Kategorie
und bei den Landgerichten in erster Instanz in sechs Monaten
Nach der Justizstatistik sind in den Bezirken Zweibrttcken und Darmstadt
in den genannten Jahren die meisten, in den Bezirken Hamburg und Stutt¬
gart bei den Gerichten erster Instanz die wenigsten Beweisbeschlüsse erlassen
worden. Dementsprechend schließen Zweibrücken und Darmstadt sehr ungünstig,
Hamburg und Stuttgart sehr günstig ab. Ist es nnn auch richtig, daß die
Zahl der Beweisbeschlüsse die Prozeßdauer nachteilig beeinflußt, so Ware es
doch verkehrt, ihnen eine allzugroße Bedeutung für diesen Punkt beizulegen.
So ist in Zweibrücken die Zahl der Beweisbeschlüsse von 275 Prozen in
1891/95 auf 314 Prozent in 1899 gestiegen, die erledigten Landgcnch v-
prozesse aber auch von 12.0 ans 21.6 Prozent. während man um Fallen
annehmen sollte, bei den amtsgerichtlichen lag freilich ein solches von o3,0
auf 45.6 Prozent vor. Im Bezirk Darmstadt stiegen in den angegebnen Zeit¬
räumen die Veweisbeschlüsse von 230 ans 292 Prozent, die ames- und die
landgerichtlichen Prozesse in demselben Zeitraum trotzdem von 56.0 (33.8)
auf 57.5 (40.1) Prozent. Der Bezirk Kolmar. der in den Beweisbeschlnssen
nicht viel über Hamburg steht, weist einen günstigen Einfluß nur auf die
Dauer der Amtsgerichtsprozesse ans. Es ergingen dort Beweisbeschlüsse in den
Jahrgängen in Prozent ausgedrückt:
In den Rechtsmittelinstanzen sind die Beweisbeschlüsse weit weniger zahl¬
reich als bei den Gerichten erster Instanz. Sie üben somit auch auf die
Dauer der Prozesse dort nicht denselben Einfluß aus wie hier, weshalb sie
auch außer Betracht bleiben können.
Endlich fällt für die Dauer der Prozesse die Art der Beweisaufnahme
ins Gewicht. Nach dem Geiste der Prozeßordnung soll, weil das urteilende
Gericht durch die vor ihm erfolgte Beweisaufnahme ein weit besseres Bild von
den tatsächlichen Verhältnissen bekommt, die Beweisaufnahme vor diesem und
nicht vor einem beauftragten oder ersuchten Richter geschehen. Da aber durch
die Beweisanfuahme vor dem Prozeßgerichte die andern Sachen aufgehalten
werden, so werden die Kollegialgerichte, die die Beweisaufnahme nicht in ihren
Sitzungen vorzunehmen pflegen, auch weit weniger Rückstände auszuweisen
haben als die, die im Geiste der Zivilprozeßordnung handeln.
Eine Einwirkung der Justizverwaltung auf die Gerichte für die Art und
Weise der Behandlung der Sachen muß der Unabhängigkeit des Richteramts
wegen schlechterdings ausgeschlossen sein. Was aber geschehen kaun, ist eine
Vermehrung der Richterkräfte, sei es daß man neue Stellen, sei es daß man
neue Senate oder Kammern errichtet, nötigenfalls zur Teilung allzugroßer
Bezirke schreitet und neue Gerichte schafft. Daß all diese Dinge mit einem
nicht geringen Kostenaufwand verbunden sind, ist ja klar. Doch die Bedeutung,
die eine prompte Rechtspflege für unser gesamtes Wirtschaftsleben hat, recht¬
fertigt diese Kosten vollständig.
Wie die Richtertätigkeit die Dauer der Prozesse beeinflussen kann, so kann
es auch die der Rechtsanwälte. In dem neusten Jmmediatbericht des preu¬
ßischen Justizministers um den Kaiser findet sich folgender Satz: „Wenn die
Rechtsanwälte aus Zeitmangel, Bequemlichkeit oder kollegialen Rücksichten eine
Sache immer und immer wieder vertagen, so werden die Rechte der Parteien
empfindlich beeinträchtigt." Ob Vertretungen aus Bequemlichkeit erfolgen, soll
hier außer Betracht bleiben. Weitaus die meisten Vertagungen kommen wegen
Mangels an Zeit zustande. Der Gegner ist damit aus kollegialen Rücksichten
gewöhnlich einverstanden. Dieser Mangel an Zeit rührt zum großen Teil
daher, daß unsre Rechtsanwälte an verschiednen Gerichten praktizieren, viele
unter ihnen, und zwar gerade die am meisten beschäftigten, begnügen sich nicht
mit einer großen Anwciltsprnxis, wirken in Gemeindeämtern, als Syndici
großer Erwerbsgescllschaften, als Güterpfleger aller Art, sitzen im Verwaltungs¬
rat von Aktiengesellschaften, in den verschiedensten Komitees, sind Notare usw.
Trotzdem ist diese Vielseitigkeit der prozessualer Tätigkeit nicht in dem Maße
hinderlich, wie man eigentlich annehmen sollte. So lehrt uns die Justizstatistik,
daß in Sachsen, wo die außerprozessuale Tätigkeit der Rechtsanwälte sehr um¬
fassend ist, Prvzeßverschleppnngen in weit geringerm Maße vorkommen, als
in Rheinpreußen und in der Pfalz, wo die Anwälte ihre Tätigkeit vorzugs¬
weise auf die eigentliche Anwaltschaft in Zivil- und Strafsachen beschränken.
Ganz besonders häufig sind die Prozeßverzvgerungcn beim Oberlandesgericht
Köln, und gerade dort treten die bei diesem zugelaßnen Anwälte ausschließlich
auf. Es ist, wie eingangs erwähnt worden ist, schon Gemeinplatz geworden,
daß daran der „Mündlichkeitsfanatismus" schuld sei. Daß er dabei mitwirkt,
ist zweifellos, aber die Sache wird doch stark übertrieben. Der Mündlichkeits¬
fanatismus ist für die dortigen Prozeßverschleppnilgen nicht einmal ausschlag¬
gebend, wie ein Blick auf die Oberlaudesgerichte Kolmar und Bamberg aufs
deutlichste beweist. Bei den drei Oberlaudesgerichten wurden in sechs Monaten
in Prozenten ausgedrückt erledigt in den Jahren
Der Durchschnitt für diese drei Jahrgänge betrug in Kolmar 66,6, in Köln
18,9 und in Bamberg 16,8. Nun wird in Kolmar in „rheinischer Weise"
wie in Köln plädiert, trotzdem überschreitet der Kolmarer Durchschnitt den
Kölner um 47,7 Prozent, während Bamberg, wo kein „Mündlichteitsfanatisinus"
herrscht, Köln so ziemlich gleichsteht. Es müssen also andre Gründe in höherm
Maße der raschen Prozeßerlediguug im Wege stehn, als das übermäßig lange
Plädieren und der Mangel an Schriftsätzen. Auf diese Gründe werde ich im
Laufe der Darstellung näher eingehn.
Zur Feststellung, in welcher Weise die Verhältnisse in der Rechtscinwalt-
schaft nachteilig auf die Prozesse wirken, wird man am besten tun, die Dauer
der Prozesse bei deu Landgerichten und bei den Oberlandesgerichten besonders
zu betrachten. Die Amtsgerichte bieten für unsre Frage keine Ausbeute, da
hier kein Anwaltszwang besteht, und die Anwälte mit den Prozeßagenten
und Winkelkonsulcnten in Konkurrenz treten.
Betrachten wir zuerst die Landgerichte, so ergibt sich für die Sachen
erster Instanz, daß in sechs Monaten von je hundert Endnrteilen. die weder auf
Versäumnis, Verzicht oder Anerkennung ergangen sind, gefällt wurden in den
M. den ^res,es.n.. «. dos°n sah^M "» '"^
stehende Reihenfolge:
und für die Berufungsinstanz in den
Die Reihenfolge für den Durchschnitt ist hier folgende:
Die Durchschuittsziffern sind, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bei
den Berufungssachen der Landgerichte höher als bei den von ihnen in erster
Instanz entschiednen, weil sie einfacher sind und schon einmal verhandelt worden
waren; trotzdem ergeben sich auch bei diesen Schwankungen von 85,5 Prozent
bis 17,9 Prozent.
Zu den Bezirken, die am besten abschneiden, gehören Karlsruhe, Stuttgart
und Dresden. Bei den landgerichtlichen Sachen erster Instanz stehn sie obenan,
und von den Berufungssachen haben sie mehr als 80 Prozent in sechs
Monaten erledigt. (Schluß folgt)
er liebenswürdigere von unsern beiden Nachbarn ist seit Jahren
in dein Grade von Dreyfus, den Kongregationen und seinen
Kolvnialpläneu besessen, daß wir eine rheinwärts gerichtete Ex-
iplosivn seines mit Sprengstoff geladner Brununschädels kaum
Imehr zu fürchten brauchen; deshalb können wir uns, ohne eine
Patriotische Pflicht zu verletzen, der angenehmen Beschäftigung hingeben, seine
sehr komplizierte und eben darum sehr interessante Seele zu betrachten und zu
untersuchen. Wer das französische Leben nicht an der Quelle studieren kaun,
nument mit Dank an, was zuverlässige Landsleute, die drüben weilen, erzählen,
und sieht sich nach literarischen Niederschlägen dieses Lebens um. Über einige
solche soll hier berichtet werden; zunächst über die nach dem Tode des Ver¬
fassers veröffentlichte zweibändige Autobiographie des Justizbeamten und Schrift¬
stellers Eugen Mouton.") Er betont/ daß er keine politische Rolle gespielt
Mbe, und daß in seinem Buche von hoher Politik wenig die Rede sei; dieses
^und sollte nach seiner Absicht ein Stück Naturgeschichte des Menschengeschlechts
eroen; denn die Menschen, die die Weltgeschichte machen, seien doch nur ein
lehr kleiner Teil der Menschheit; die ungeheure Mehrzahl erleide die Geschichte
"ur, und von ihr erzähle der Historiker nichts. Das ist richtig. Die Quellen,
woraus man die Geschicke und die Geschichte der Masse der Menschen kennen
eine, sind außer der persönlichen Erfahrung nicht die historischen Werke ältern
^w, sondern Romane und andre Dichterwerke, Lebensbeschreibungen unbe-
rühmter Leute und Memoiren. In neuerer Zeit fängt jedoch auch die Geschichts¬
wissenschaft an, Material zu verwenden, das unter der politischen Oberfläche
des Weltgetriebes liegt.
Eugens Großvater wurde beim Beginn der Schreckensherrschaft als Mitglied
e/"er streng königlich und katholisch gesinnten Marseiller Familie samt seinem
besten Sohne Ludwig zum Tode verurteilt. Sie erfuhren die Verurteilung,ehe sie ergriffen wurden, und entflohen des Nachts. Auf der Canebierc kamen
Ne an der Guillotine vorbei, an der keine Schildwache stand. Der sechzehn-
lahnge Ludwig lief zum Entsetzen seines Vaters hinauf und legte einen Angen-
uk den Hals auf den Halbmond. Unter dem Direktorium von der Emigranten
l> e gestrichen, trat Ludwig ins Heer ein und machte den italienischen Feldzug
net, wobei er sich nicht allein durch Tapferkeit, sondern auch durch Ritterlichkeit
umzeichnete (so befreite er in Bresein ein Mädchen aus den Händen von fünf
^vitalen^ die er zu erschieße» drohte, wenn sie nicht von ihm abließen). Er
avancierte zum Adjutanten des Generals Ernouf, der, zum Gouverneur von
Guadeloupe ernannt, ihn dahin mitnahm, kam nach mancherlei Wechselfällen
ein zweitesmal ans diese Insel als Generalstabschef des Gouverneurs und wurde
nach der Julirevolution als Oberst pensioniert, weil er junge Offiziere, die auf
den abgesetzten König schimpften, an die Rücksicht erinnert hatte, die man dem
Unglück schuldig sei. Der zweite Aufenthalt in Guadeloupe umfaßte die Zeit
von 1825 bis 1829. Eugen wurde als dreijähriges Kind mitgenommen nud
schildert seinen dortigen Aufenthalt als den glücklichsten Abschnitt seines Lebens.
Seine Schilderungen sind so ausführlich, lebendig und genau, daß man trotz
der Rechtschaffenheit, die aus dem ganzen Buche spricht, mißtrauisch dagegen
wird, denn aus der Zeit vor dem zehnten Lebensjahre behält der Erwachsene
im allgemeinen wenig genaue Erinnerungen. Man wird sich die Sache so
denken müssen, daß in der Familie und in der Kreolengcsellschaft, die auch in
Paris ihren Umgang ausmachte, die westindischen Erlebnisse täglich besprochen
wurden, sodaß dem heranwachsenden Eugen reichliches Material zufloß, mit dem
er seine wenigen nebelhaften Erinnerungen zu einem lebensvollen und in der
Hauptsache wahrheitsgetreuer Bilde ausmalen konnte. Daß die Tropenwelt ein
Paradies ist, dessen Wonnen durch Hitze, Fieber und Kriechtiere — in West¬
indien kommen noch die Cyklone und die Ausbrüche der Vulkane hinzu —
mit Qualen vermischt werden, ist uns Heutigen nichts neues. Die Fiebergefahr
verminderte Eugens Vater dadurch, daß er den Gouverneur bestimmte — vor
ihm war dieses einfache Schutzmittel niemand eingefallen —, die Garnison und
die Beamtenschaft auf das nahe, Matouba genannte Hochland nmznquartiercn.
Abgesehen von der Verminderung der Spitalkosteu verdankten ungefähr
300 Menschen jährlich dieser Maßregel ihr Leben. Um ist in dem Buche die
Schilderung der Kreolen und ihres Lebens. Die Kreolen sind, wenn man dem
Verfasser glauben darf, zunächst durch ihre auffallende Schönheit ausgezeichnet,
und zwar die Männer wie die Frauen. Napoleon hat einmal zwei junge
Kreolen, die er auf der Straße traf, und deren Schönheit er bewunderte,
gefragt, ob sie nicht in die Armee eintreten wollten, er werde ihnen sofort das
Leutnantspatent ausfertigen lassen, was denn auch geschah. Und Rothschild
war vor Erstaunen außer sich, als er einmal auf einem Kreolenball zweiund¬
dreißig junge Damen in einer Quadrille vereinigt fand, die nicht allein alle
ohne Ausnahme Schönheiten ersten Ranges waren, sondern unter denen auch
eine jede ihre eigne Schönheit von besonderm Charakter hatte. Und diese
schönen Menschen lebten in einer idealen Geselligkeit miteinander. Sie hatten
die guten Traditionen der vornehmen französischen Gesellschaft mitgebracht und
waren verständig genug, einzusehen, daß man, auf einen kleinen Ramri zusammen¬
gedrängt, ohne die Zerstreuungen, Interessen und Tätigkeiten, die in einer
großer« Welt die Menschen auseinandertreiben, und indem sie der andauernden
unmittelbaren Berührung vorbeugen, die Reibung vermindert!, daß mau sich
unter solchen Umständen das Leben zur Hölle machen würde, wenn man seinen
schlimmen Launen die Zügel schießen ließe. Natürlich waren auch die besten
keine Engel, und es gab böse und schlechte darunter. Aber alle befolgten, wie
auf Verabredung, die Praxis, „ihre guten Eigenschaften im Knopfloch zu tragen
und die schlechten in der Tasche zu behalten." So sah man me etwas andres
als liebenswürdige, heitre, anständige, rechtschaffne und geistreiche Menschen (in.r
einen Dummkopf gab es darunter), in deren Mitte man sich wohl fühlte. Da
der Europäer in den Tropen wenig oder nichts arbeitet, war das Leben em
beständiges Fest, und zwar ein idyllisches. Der Verfasser hat auch in Frank¬
reich hie und da in kleinern Städten Gruppen von Beamten, von Geschäfts¬
leuten, von Kleinbürgern kennen lernen, die ein solches Idyll lebten, aber dieses
nirgends so vollendet gefunden wie in Guadeloupe, wo ihm noch dazu die
Pracht der Tropennatur zum glänzenden Rahmen diente. Was die Moralität
im engern Sinne betrifft, so hatten zwar die Männer ihre Mulattinnen, die
Mädchen aber waren ausnahmslos rein, und die Frauen bewahrten unverbrüch¬
liche Treue. Ob man diese Tugendhaftigkeit nicht am Ende dein Umstände
verdankte, daß man bei offnen Türen lebte, und daß es keinen verborgnen
Winkel gab, wo ein Liebespaar auch nur vier Worte hätte wechseln können,
läßt der Verfasser unentschieden. Als nach den Revolutionen von 1830 und
1848 die alte Gesellschaft in Frankreich verfiel, verschlechterten sich auch in den
Kolonien die Sitten. Vielleicht ist das dem Verfasser nur so vorgekommen;
manchmal widerspricht er sich und findet die schlechte neue Zeit besser als die
gute alte. Mit dem schon erwähnten einen Dummkopf, einem Vicomte, erlaubte
sich die lustige Kreolengesellschaft einmal einen schlechten Witz im großartigsten
Stile. Man schickte ihn nach Cayenne, dem Gouverneur Milius. der als Fach¬
mann in den Naturwissenschaften bekannt war, einige wissenschaftliche Fragen
mit der Bitte zu überbringen, er möge dem Überbringer zur Beantwortung
Stoff liefern. Sie lagen in einem verschlossenen Umschlage, und der von Stolz
über den ehrenvollen Auftrag geschwellte Abgesandte hatte sie gar nicht zu
lesen begehrt. Milius las, ohne seine Überraschung durch eine Miene zu ver¬
raten: „Es sind einige Exemplare von eierlegenden Rindern auszuwählen; der
Charakter des Ochsen Apis ist zu studieren und mit den ähnlichen Arten der
Neuen Welt zu vergleichen." und in diesem Stile mehrere Seiten fort. MRus
versprach dem nengcbacknen Naturforscher, ihn bei seinen Arbeiten zu unterstützen.
Wie das Ergebnis ausgesehen hat. weiß man nicht, denn nachdem der Vicomte
seinem Auftraggeber das Manuskript überreicht hatte, wurde es durch einen
absichtlich herbeigeführten Unfall vernichtet, worüber der Verfasser sehr unglücklich
war, denn er hatte es seiner Tante schicken wollen, die es dazu benutzen sollte,
ihn dem Kriegsminister zu empfehlen. Einem wirklichen Gelehrten spielte ein
Affe einen sehr ernsthaften Streich, den wohl die Phantasie des Berichterstatters
ein wenig ausgeschmückt hat. Der Naturforscher hatte den Auftrag, alle mehl-
haltigen Pflanzen der französischen Kolonien in Amerika zu untersuchen und
Präparate mitzubringen. Er beendete seine Arbeit auf Guadeloupe. An dem
Morgen, wo er sich dem dortigen Gouverneur vorzustellen gedachte, legte er
auf dem Bett die schwarze Uniform zurecht und entfernte sich dann einige Zeit
aus dem Zimmer. Da kam zum offnen Fenster ein Affe herein, stieß das
Tintenglns um. dessen Inhalt sich über die große Tabelle ergoß, die die Haupt¬
ergebnisse der Forschung übersichtlich geordnet enthielt, schmierte die Tinte mit
der Hand auf der ganzen Flüche herum, öffnete dann die Mehlpcckcte — etwa
Grenboe
hundert an der Zahl —, verunreinigte damit die Uniform und schüttete den
Nest auf die mit Tinte besudelte Tabelle. Der Verfasser haßt die Affen und
meint, sie müßten eigentlich ausgerottet werden.
Sehr eingehend behandelt Mouton die Negerfrage. Er beschreibt den
Betrieb auf den Zuckerplantagen. Die Maschinerie der Zuckerbereitung war
noch sehr einfach. Eine Windmühle preßte aus dem Rohr den Saft, der in
Rinnen, die über mannshohe Stützen liefen, zu den Siedekesseln geleitet wurde;
in diesen wurde er zur Beschleunigung der Wasserverdunstung während des
Siedens mit Schaufeln umgerührt. Das ausgepreßte Rohr wurde an der
Sonne vollends getrocknet und teils zum Heizen der Siederei, teils als Streu
für das Vieh benutzt. Einen Teil des Saftes leitete man in die Numdestillation.
Vom Herrenhöfe aus lief eine Allee von Kokos- oder von Zwergpalmen, an
der die Hütten der Neger standen, jede von einem Gemüse-, Blumen- und
Bananengarten umgeben. Bei den wirtschaftlichen unter ihnen fand man Maha¬
gonimöbel, eine Pendule, ein schönes Kruzifix und goldnen Schmuck. Der
Mann hatte einen Biberhut, seidne Kravatten und Lackschuhe. Den Schmuck
will der Neger echt; er würde sich niemals dazu verstehen, falsche Edelsteine
zu tragen. (?) Geht er in die Stadt, fein herausgeputzt wie ein Prinz, so trägt
er die Schuhe, um sie nicht zu bestanden, auf dem Hut und zieht sie erst kurz
vor dem Ziele an. Die Plantagenlandschaft sieht natürlich einförmig aus und
erinnert an die Beauce in Frankreich, wird aber durch die arbeitenden oder hin
und her wandernden Neger, ihre Aufseher, die Herren und das Vieh angenehm
belebt. Auf einer Plantage arbeiten zwei- bis fünfhundert. Als noch keine
Gefahr des Verlustes die Herren bedrohte, noch kein Gesetz ihre unumschränkte
Herrschaft über die Sklaven anfocht, genügte das eigne Interesse, die Kreolen
zu gütigen Herren zu machen; was hätten sie dabei gewonnen, wenn sie die
Schöpfer ihres Reichtums und ihres Glücks schlecht behandelt Hütten? Sie be¬
zeugten den Negern wirkliche Zuneigung, ausgenommen natürlich solchen, deren
Wildheit nicht zu bändigen war, und die von Zeit zu Zeit Mitglieder der
Herrenfamilie vergifteten. Vergehungen wurden mit Schlägen bestraft. (Der
Verfasser erzählt, wie in seinem väterlichen Hanse ein Negermüdchen wegen eines
Diebstahls einige Hiebe bekam, und bemerkt dazu: Wir schlagen unsre eignen
Kinder, wie sollte es da Unrecht sein, eine Negerin zu schlagen, wenn sie es
verdient hat?) Die Frau des Besitzers liebkoste die Kinder der Neger, sorgte
für die Pflege der Kranken, legte für Missetäter Fürbitte ein, war gegen alle
freundlich und waltete, achtzehnhundert Meilen von Frankreich entfernt, als
das Ebenbild der altfranzösischen Schloßherrinnen, die ihren Besitz das ganze
Jahr hindurch nicht verließen und ihr Leben mit Wohltun zubrachten. Der
Neger war dankbar für diese Freundlichkeit, liebte seine Herrschaft und war
stolz auf sie. Es gehört zu den hervorstechendsten Eigentümlichkeiten des
Negers, daß er einen Herrn haben will, und daß er auf seinen Herrn und
auf alles, was zu ihm gehört, stolz ist.
Der Arbeitstag dauert von sechs Uhr Morgens bis sechs Uhr Abends alt
zwei Stunden Unterbrechung für die Mahlzeiten. Nach sechs Uhr pflegt der
Plantagenarbeiter seinen Garten oder fertigt allerlei Kleinigkeiten an, die er
verkauft; die Frau besorgt den Haushalt und die Kinder. In der Nacht aber —
da ist er wieder der afrikanische Wilde. Unter geheimnisvollem Geflüster
treibt er Zaubereien, oder er feiert wilde Tanzorgien. Das ermattet ehr acht
etwa; seine Körperkraft und Elastizität sind unverwüstlich; er bedarf fast gar
keines Schlafes; er mag die Nacht durchtobt oder, was die jungen Männer
oft tun, auf einer meilenweit entfernten Plantage bei einem Mädchen zugebracht
haben, am andern Morgen sieht man ihn vollkommen frisch zur Arbert gehen.
Dabei essen die Schwarzen nicht viel und gar kein Fleisch, das mögen sie acht;
nur Pflanzenkost und Fisch, berauschen sich häufig und erreichen meistens ein
hohes Alter — in einem mörderischen Klima. „Sollten sich die Kulturmenschen
einmal durch ihre Laster umbringen, so würden die Neger die Erde muss neue
bevölkern." Die Orgien findet Mouton an sich nicht schlimm; europäische
Trunkenbolde trieben es am hellen lichten Tage nicht weniger arg als die
Neger des Nachts; was diesen Orgien einen unheimlichen Charakter perlende,
das seien die Verschwörungen, die dabei ausgeheckt würden, und deren Ergebnis
gewöhnlich die Vergiftung eines Mitsklaven oder eines Mitgliedes der.Herren¬
familie sei; der Beweggrund sei gewöhnlich Eifersucht gegen andre Schwarze,
die ihnen um der Herrschaft vorgezogen würden. Christen würden diese Wilden
so wie so nicht; ihr ganzes Christentum bestehe dciriu, daß sie ohne eine Spur
von Verständnis den Katechismus nachplappern, sich der katholischen Symbole
bedienen und die Kirche besuchen. Heiter sind die Neger zu jeder Zeit, während
der Zuckerfabrikation aber steigert sich ihre Lustigkeit zur Ausgelassenheit; der
Zucker, von dem sie während der Kampagne essen dürfen, so viel sie wollen,
macht sie fett, und der Rum, den sie ohne Erlaubnis stibitzen, gibt der ganzen
Plantage Schwung. Im Jahre 1(>85 hatte eine königliche Deklaration die
Rechte nud die Pflichten der Herren geregelt. (Daran hat der Verfasser nicht
gedacht, als er schrieb, die Herren seien gütig gewesen, so lange noch kein Gesetz
ihre Herrenrechte beschränkte.) Diese „vom römischen Recht, vom Christentum
und von der Humanität eingegebne" Verordnung unterwarf alle Lebeusverhült-
nisfe und Vorkommnisse bis zum Begräbnis den genausten Vorschriften. Sie
gebot, den Neger in der katholischen Religion unterrichten zu lassen, bestimmte,
heit arbeitsunfähig gewordnen Schwarzen den Unterhalt zu gewähren, so wurde
der Mensch ins Hospital aufgenommen, und der Herr hatte an dieses für jeden
Tag sechs Sous zu zahlen. Als kriminelle und diszipliuäre Strafmittel wurden
dem Herrn Fesselung. Gefängnis, Schläge, Knebel und Brandmarkung erlaubt,
aber nicht die Folter; auf Überschreitung des Züchtigungsrechts wurden Strafen
gesetzt, als höchste die Todesstrafe. Die Kreolen hatten bei ihrer natürlichen
Güte solche Gesetze gar nicht nötig. Grausamkeiten sind manchmal vorgekommen,
aber die sie verübten, waren entweder Mulatten oder neue Ankömmlinge; sie
wurden uuter dem Beifall der ganzen Kreolcnbevölkerung streng bestraft. Ab¬
gesehen von solchen einzelnen Arkaden, die übrigens in den Kolonien bei weitem
'"ehe so hänfig waren, wie während der Revolutionszeit in Frankreich, erscheint
nach unserm Gewährsmann das Los der Plantagcnsklaven weit milder als das
ihrer Brüder in der afrikanischen Heimat und sogar als das vieler französischer
Bauern und Lohnarbeiter. Das Wort „frei," schreibt er, ist nichts als ein grau¬
samer Hohn, wenn man es auf einen armen Teufel anwendet, der nicht einmal
ein Stück Brot zwischen die Zähne bekommt, falls er nicht einen Brodherrn
findet, der ihn vor dem Hungertode rettet. Das Leben ist mehr wert als die
Freiheit. „Der Sklave kaun wenigstens darauf rechnen, daß er bis zum Ende
seiner Leiden zu essen haben wird. Grabt alle Freien aus, die Hungers ge¬
storben sind oder sich entleibt haben, weil sie keine Arbeit fanden, schichtet sie
auf einen Haufen und zählt sie! Ihr wagt es nicht? Nun, dann gesteht mir
wenigstens im Vertrauen, daß das Los eines Erdarbeiters, eines Kohlcngräbers,
eines Maschinenheizers, el»es Heringfischers, eines Steinausladers auf dem
Seinequai hundertmal grausamer ist, als das der Neger war in der Zeit der
Sklaverei."
Das Los der Neger wurde unter Karl dem Zehnten und Louis Philipp
durch eine Reihe von Verordnungen noch bedeutend verbessert, und der Sklaven¬
handel wurde in den französischen Kolonien definitiv verboten. (Das zuerst
von England erlassene Verbot hatte die bekannten Scheußlichkeiten beim See¬
transport der Schwarzen zur Folge, die trotzdem eingeschmuggelt wurden.)
Durch zahllose unverständige Belästigungen wurde die Sklavenhaltung in dem
Grade erschwert, daß die Herren stürmisch die Emanzipation forderten. Unter
anderm befahlen die Regierungs- und Kammerphilanthropen, daß den Negern
Wolldecken geliefert würden — in einem Klima, wo die Menschen nackt gehn
und liegen würden, wenn ihnen nicht der Anstand leichte Hüllen aus Baum¬
wolle oder Leinwand aufzwänge. So war es denn eine große Wohltat für
die Herren, daß die Revolution von 1848 die Sklaverei abschaffte. Die Lage
der Plantagenbesitzer besserte sich freilich nicht, sondern wurde durch die Kon¬
kurrenz des Rübenzuckers noch verschlimmert.
Vom Neger selbst, meint Mouton, mache man sich in Europa so wenig
ein richtiges Bild wie von der Negersklaverei. Der Neger ist nach ihm ent¬
weder ganz gut oder unverbesserlich böse und schlecht. Der gute ist meist auch
intelligent und unter verstündiger Leitung, die er allerdings nicht entbehren
kann, zu allem zu gebrauchen. Er ist ein vortrefflicher Matrose, Soldat, Hand¬
werker, Vorarbeiter oder Aufseher, ein unübertrefflicher Diener und zeichnet sich
Vorkommendenfalls durch einen Heldenmut aus, von dem der Verfasser einige
Proben erzählt. Verarmt sein Herr, so opfert er sich für ihn auf, indem er
ihm durch Arbeit den Unterhalt erwirbt. Mouton hat einen solchen kennen
lernen, der freilich zuletzt durch Trunk zugrunde gegangen ist; vom Gewohnheits-
trunk wird, wie man sich denken kann, der Neger noch seltener geheilt als der
Weiße. Unrettbar verloren ist ein schwarzer Sünfer, wenn er dazu auch raucht;
der schwere Kolonialtabak, der in Gestalt ungeheurer Zigarren genossen wird,
benimmt ihm vollends alle Besinnung. (Man nennt die langen Zigarren bouts
ckcz nössro; der Neger macht ihren Verbrauch zum Wegemaß: it a es-ut cis
dont av ollsmln et'loi Ä tsUe tendit^divo.) Am glänzendsten entfalten die
Schwarzen ihre Geistesgaben in der Küche; es gibt nach Mondorf Versicherung
keine geschicktem Köche und Köchinnen; unter den schwierigsten Umstanden
stellen sie in unglaublich kurzer Zeit das feinste Diner her. Dadurch werden
sie nicht allein große Wohltäter der Kreolen, sondern geradezu ihre Lebeuv-
retter, denn die 5itze erschlafft den Magen der Weißen dermaßen, daß sie bald
infolge ungenügender Ernährung sterben würden, wenn die Verdauung nicht
durch einen reichen Wechsel appetitreizender Leckerbissen immer wieder angeregt
würde. Übrigens haben die verschieden Negerstämme sehr verschiedne Eigen¬
schaften; die Sklaven von der Guineaküste zog man allen andern vor. Was
die Mulatten betrifft, so sind die Männer abscheulich, die Weiber unbezahlbar
als Nähterinnen. Dienerinnen, Kinderfrauen. Krankenpflegerinnen und —
Freundinnen der jungen Männer. Der häßliche Charakter des Mulatten rührt
von der unbegrenzten Verachtung her, mit der er behandelt wird. Er bean¬
sprucht Gleichberechtigung mit den Weißen (was der Mulattin nicht einfällt),
und diesen Anspruch wehren die Weißen mit demonstrativer Verachtung ab, die
auch jeden weißen Mann trifft, dem man mir ein Tröpflein schwarzes Blut
nachweisen kann. Die Folge ist unversöhnlicher Haß der Mulatten gegen die
Weißen.
Das alles ist nun, bis auf einige Umstünde von untergeordneter Bedeutung,
nicht gerade nen, aber in einer Zeit, wo der Negerhaß der Nachkommen von
Vorkämpfern der Emanzipation in den Vereinigten Staaten und die zahllosen
Fülle von Lynchjustiz, in denen Schwarze die Opfer sind, die Aufmerksamkeit
Europas wieder einmal auf die Sklaveufrage lenken, ist jedes Zeugnis eines
Sachkenners von Wert. Freilich ist dieses Zeugnis wohl nicht ganz unparteiisch,
und man darf bei der Sachkenntnis nicht an die Wahrnehmungen denken, die
der Verfasser als vier- bis siebenjähriger Knabe gemacht hat. Wir haben oben
gesagt, wie wir seine Sachkenntnis verstehn. Zum vollen Verständnis ist sie
übrigens erst im spätern Alter ausgereift. Als Zwanzigjähriger hörte er in
der Kammer den Deputierten Jsmnbert für die Emanzipation sprechen, „deren
Hoherpriester er war." Der Redner schloß mit dem Wort eines Sklaven, der,
auf einem Meeting die Fingernagel in seine Brust einkrallend, gerufen hatte:
„Ich kann nicht einmal sagen, das ist mein Fleisch!" Mouton fühlte sich tief
erschüttert; die Sklaverei erschien ihm als das abscheulichste aller menschlichen
Verbrechen. Später sagte er sich: Wahrscheinlich ist die Negersklaverei nicht
ein Verbrechen gewesen, sondern eine große Wohltat. Sie hat viel tausend
menschliche Wesen den Bestien entrissen, die sich ihre Könige nannten, und hat
sie in zivilisierten Ländern auf Millionen anwachsen lassen; in ihrer Heimat
würden sie vielleicht Schlachtvieh für Menschenfresser gewesen sein oder Blut¬
behälter für götzendienerische und Königsfeste. Wir bleiben eben Kinder; wird
ein Gedanke ausgesprochen, der neu klingt, so bilden wir uns ein, es sei eine
Fackel angezündet worden, deren Licht uns die Wahrheit zeige. In Wirklichkeit
ist die vermeintliche neue Wahrheit nur eine Umgruppierung alter Tatsachen
gewesen. Eine weitere Drehung des Kaleidoskops — und wir sehen die Philan¬
thropen Opfer schlachten, die mit Verwünschungen Verfolgten sich in Wohltäter
verwandeln.
So teuer nun auch unserm Gewährsmann die Erinnerungen aus seiner
in Westindien verlebten Kindheit sind — das Kolonisieren verabscheut er, als
echter Franzose; die paar Dutzend Verschwörer, Intriganten und Quacksalber,
die in Paris die Politik machen, sind ihm nämlich keine echten Franzosen,
„Kaufleute, Reeber, Industrielle, Volkswirtschaftler, Philanthropen, Deputierte
und Minister, die von Stellenbettlern gepeinigt werden, schreien im Chor, um
die öffentliche Meinung und die Regierung fortzureißen und einen Auswandrer¬
strom nach neuen Kolonien in Fluß zu bringen. Zuerst schickt man Soldaten
hin, die wie die Fliegen wegsterben, dann Beamte, die, soweit sie nicht gleich
nach der Ankunft sterben, jedes Jahr sechs Monate auf Urlaub daheim zubringen,
was unserm Budget den Nest gibt. Hat man genug Geld und Menschenleben
verschwendet und sich endlich überzeugt, daß die Kolonie nichts wert ist, so
behält man sie trotzdem, gründet aber eine neue, die sich ebenso schlecht bewährt,
und so immer fort. Man tröstet sich damit, daß man unser großartiges Ko¬
lonialreich so laut wie möglich rühmt, dieses Reich, das nur auf den Landkarten
vorhanden ist. Frankreich ist mit seinem Klima und seinem Boden immer ein
ackerbauendes Land gewesen und wird immer ein solches bleiben. All seiner
Torheiten und seiner Unglücksfülle ungeachtet ist es immer noch das beste Land
ans Erden, wo es sich besser lebt als sonstwo, das schönste Reich nach dem
Himmelreiche, und während die Bewohner andrer Länder in Schwärmen von
Millionen kommen (das ist ein bißchen zu hoch gerechnet), um sich an unsrer
Sonne zu Wärmen und an ihrem Licht zu erfreuen, da glaubt ihr, ihr werdet
die Kinder dieses glücklichen Landes mit schönen Redensarten verlocken, in
fremde Länder auszuwandern, euch dort Geld zu verdienen und Beamtenposten
zu gründen? Und das in einer Zeit, wo alle Welt über die Entvölkerung
jammert? Ist Kolonisation ein Mittel, die Volkszahl zu vermehren? Und
vergeßt ihr ganz, daß euer sicherster Kunde der ist, der unmittelbar in eurer
Nachbarschaft lebt?" Das wäre also eine Stimme aus der unpolitischen Welt,
und zwar aus ihrer intelligentesten Schicht.
Nach der Rückkehr aus Guadeloupe lebte Mondorf Familie mit kurzen
Unterbrechungen in Paris. Hier mußte er nun in die Schule. Man hatte
auf der Insel schon einen Versuch gemacht, aber der Kleine war vor Schulschlnß
nach Hause gekommen und hatte erklärt: Dort ist mirs zu langweilig. Man
hatte ihn zurückgebracht, und da war ihm die Idee der Freiheit aufgegangen
an ihrem Gegenteil. Diese Idee und die Furcht vor dem Gegenteil wirkten
in Paris so stark nach, daß er von einem Diener zur Schule getragen werden
mußte, auf dem ganzen ziemlich langen Wege brüllte, sich aus Leibeskräften
sträubte und nur mit Hilfe einer List ins Schulhaus hineingebracht werden
konnte. Er findet, daß er Recht gehabt hat mit seinein Widerstande. An die
Schnlmarter kann er nicht anders als mit Entsetzen denken. In den untern
Klassen des Gymnasiums fesselte ihn die Schule von acht bis fünf Uhr — das
kalte zweite Frühstück, das er in einer Büchse mitnahm, wurde unter fort¬
währenden. Lernen in der freien Stunde von zwölf bis ein Uhr verzehrt
in den obern Klassen aber von sieben bis sechs, manchmal bis acht Uhr und
noch länger. Die häuslichen Arbeiten waren erdrückend, und nach einer Woche
voller Plagen erwartete jeder mit Zittern am Sonnabend sein „Bulletin";
stand ein Vermerk wegen mangelhafter Leistung oder schlechten Betragens darm.
s° mußte der Schüler auch den Sonntag Vormittag mit Strafarbeiten in der
Schule zubringen. Eugen hat. obwohl er einer der besten Schüler war jeden
Sonntag nachsitzen müssen. Die Revolutionen, schreibt er. hätten dem gesunden
Menschenverstande zum Durchbruch verholfen und Hütten sowohl die Eltern wie
die Lehrer menschlicher gemacht. Damals aber sei es in den Internaten schrecklich
zugegangen, er selbst habe glücklicherweise zu Hause gewohnt. Ewige dreier
Zuchthäuser hätten Kcrkerzellen gehabt; der kleine Sträfling habe, in em ver-
schloßnes Gestell gesperrt, den ganzen Tag Strafarbeit schreiben müsse» und
die Nacht in einem Käfig zugebracht. Die Eltern seien überzeugt gewesen, da,;
solche Martern einen wesentlichen Bestandteil der Erziehung ausmachten, und
daß ein Junge ohne Latein und Griechisch nichts werden könne. Im Internat
seiner Schule' habe ein unglücklicher Junge gewohnt, den sein Vater jede Woche
einmal besuchte, um ihn zu ohrfeige.:. Seine. Mondorf Eltern feien dre leib¬
haftige Herzensgüte, aber trotzdem vom allgemeinen Vorurteil so verblendet
gewesen, daß sie einmal, als der Schnlvorstand Sabotier die Verwandten der
Zöglinge zu einer Abendunterhaltunq einlud, nicht hingingen, weck sie meinten,
sie Hütten sich ihres Sohnes schämen müssen. Dieser war der erste in seiner
Klasse, war aber wegen seines Betragens einigemal bestraft worden. Da es
hauptsächlich die alten Sprachen waren, die Plage verursachten, so übertrug
sich auf sie Mondorf 5aß gegen die Schule. Er beklagt die Renaissance. die
an die Stelle der Wissenschaft vom Leben und von der Wirklichkeit die Be¬
schäftigung mit einer toten Vergangenheit gesetzt habe, als ein großes Unglück
und fordert, daß sich der Unterricht ans die Muttersprache und auf die Realien
beschränke, nicht vor dem siebenten Lebensjahre beginne, und daß die Schul¬
einrichtungen der körperlichen Entwicklung Rechnung trügen. Die Beschäftigung
mit den alten Heiden schädige auch die geistige und die Charakterbildung; sie
sei schuld daran, daß er eine Zeit lang republikanischen Ideen gehuldigt habe.
Eine gründliche Schulreform würde damit beginnen müssen, daß mau die alten
Klassiker ins Feuer würfe; irgend etwas Nützliches habe er in der Schule nicht
gelernt. Ehe die Gymnastalzeit begann, hatte sich die Familie durch den Tod
eines Verwandten veranlaßt gesehen, einige Monate in Südfrankreich zuzubringen.
Eugen schildert die ungeheuerliche Unsauberkeit von Marseille, wo sie noch ihr
Stammhaus besaßen, und erzählt, wie feine Mutter einen armen Bauernjungen,
der geistlich werden sollte aber keinen Beruf dazu fühlte, aus dem Seminar
erlöst und in eine Laufbahn gebracht hätte, die ihn glücklich gemacht habe.
Die Wohnungen der Leute, die nur wohlhabend aber nicht reich waren,
waren damals in Paris beschränkt und mögen es wohl noch heute sein. Eugen
schlief und machte seine Schularbeiten im Salon seiner Mutter, die jeden Abend,
wenn sie nicht auswärts war, Gesellschaft hatte. Der Knabe fühlte sich sehr
Wohl dabei, und es bereitete ihm einen besondern Genuß, bei heitern Gesprächen
hinter seiner spanischen Wand einzuschlafen. Als er älter wurde, nahm er auch
an der Geselligkeit außer dem Hause teil, und mit Entzücken erinnert er sichder Wonne, die er empfand, wenn er mit den schönen Kreolinnen tanzte, deren
Leben, versichert er, in Paris so vollkommen rein verflossen sei wie in West-
indien; die ganze Kreolcngescllschaft habe eine einzige große Familie gebildet;
erst die Revolutionen hätten die Sitten auch dieses Kreises verdorben. (Im
Lob und Tadel der Zeiten widerspricht er sich vielfach, wie schon hervorgehoben
wurde. Einmal bemerkt er, die fortschreitende Versittlichung werde die Trink¬
lieder beseitigen, wie sie in neuerer Zeit schon die Pornographie ausgerottet
habe.) Leider habe kein Krcolenjüngliug eine der schönen Tänzerinnen geheiratet,
für die er schwärmte, weil keiner vermögend genug für soviel Schönheit war,
und die Schönheiten auch nichts hatten; diese haben außerhalb ihres Kreises
geheiratet und mit Ausnahme von zweien nicht einmal gute Partien gemacht,
sondern dunkle Ehrenmänner bekommen. Wer sei schuld daran, daß es so schief
gegangen sei? Zunächst die jungen Damen selbst, da jeder Hut und jedes
Kleid eine besondre Rente erfordere, dann die zu erwartenden Kinder, dn man
auf die Erziehung jedes Sohnes 20000 Franken rechnen müsse. „Wenn ein
anständiger Mann lange und glücklich leben will, muß er Ideale frühstücken
und was Reelles zu Mittag speisen." Noch einmal auf die Schule zu kommen,
so war zwar die Einrichtung abscheulich, der Unterricht aber im ganzen gut.
Des Lehrers der Literaturgeschichte, Naynaud, gedenkt Mouton, weil ihm dieser
majestätische Mann als der Typus des universitsiro jener Zeit erscheint.
Dieser Professor behandelte die Dichterwerke mit Feierlichkeit, „er dozierte nicht,
er pontifizierte." Und er wußte seine Würde auch in kritischen Momenten zu
wahren. Einmal schlug der Blitz gerade hinter dem Fenster ein, vor dem er
saß. Er verließ seinen Sitz und sah hinaus, die Schüler aber benutzten natürlich
die Gelegenheit, sich ein wenig zu rühren. Da nahm er seinen Platz wieder
ein und sagte: „Meine Herren, möge die Unordnung der Elemente nicht ein
Element der Unordnung werden!" Damals steckte Viktor Hugo bis in die
Schulen hinein alles an mit seinem verrückten Wahlspruch: 1o b<za,u, c-'sse 16
>g,ick. Von diesem Unsinn verführt, schrieb Eugen in einem französischen Aufsatz:
„Rötliches Moos bedeckte wie ein Ausschlag den Felsen." Naynaud war wütend
darüber und machte ihm die heftigsten Vorwürfe. Später ist er diesem Lehrer
dafür dankbar gewesen wie allen andern, die ihn von dem heilten, was man
damals in Frankreich Romantik (ronn>Qti8in<z) nannte. Den ersten Stoß ver¬
setzte es seiner Hugolatrie, daß einer seiner Mitschüler in der Ode, die Viktor
Hugo dem Tage der Einbringung der Asche Napoleons, dem 15. Dezember 1840
widmete, die Antithese geschmacklos fand:
>Ioni' bsau, voulus Zloire,
?roi>t oommg Is t,omkög,u.
Seinen Mitschüler Alexander Dumas, den Sohn, machte Naynaud zum Dik¬
tator, d. h. er ließ ihn die Aufgaben diktieren, weil er so schön und so deutlich
vorlas und vortrug. Das war seine einzige gute Schillereigenschaft, in allein
andern war der junge Mensch, der als Mann einen so bedeutenden Einfluß
üben sollte, äußerst schwach. Schluß folgt)
us Bozner Waltherdenkmal ist schön. Immer wieder, wenn man
vom Bahnhof die kurze, breite, schattige Ahvrnstrciße nach der
Stadt zu gegangen ist und den Denkmalsplatz erreicht: die lichte,
schlichte, erhabne Sängergestalt, meist mit einer Taube auf der
Schulter oder auf der Kappe, als ob die Vögel den Scherz-
beinamen „von der Vogelweide" wieder wahrmachen wollten, der ordentliche,
wohlhäbige, sanft ansteigende Platz, zur Seite der entzückende, reich durch-
brochne Pfarrturin leicht aufsteigend und die begrünten, duftigen Berge das
^lib umschließend — immer wieder gibt dieser Eindruck eine eigue Freude,
due sie nur von einem so glücklich individuell geschmückten Raum aus-
gehn kann.
^>in Gegensatz zu dem nahen Trienter Dantedenkmal, das den Gast Trients
ostentativ begrüßt, sobald er den Bahnhof verläßt, ist in Bozen ein Walther
von der Vogelweide, auch wenn Walther kein Tiroler gewesen sein sollte,
gemß ganz gut an seinem Platze. Der eigentliche Minneritter aber des untern
^lsacktals war Oswald von Wolkenstein, der Zeitgenosse König Sigmunds
und der Konzilbewegung, als Dichter ein Spätling von unverwüstlicher Frische,
Ah Musiker charakteristisch für den Ausklang des mittelalterlichen einstimmigen
Gesangs und den ersten Frühling der mehrstimmigen Liedkompvsition.
Vielen Besuchern des freundlichen Grödner Tals ist die Burg Wolken¬
stein oberhalb des gleichnamigen Ortes bekannt: es ist der Stammsitz von
Oswalds Geschlecht. Oswalds Vater hatte die reiche Erbin von Vilanders
geheiratet, dem behaglichen, sonnigen Dorfe oberhalb Klausens am rechten
Eiscicknfer, und von den drei Söhnen beider ist Oswald der mittlere. Kaum
eine unter den bekannten Örtlichkeiten dieses an mannigfaltiger Landschafts-
schvnheit so reichen Stückes deutscher Erde, die nicht irgendwie mit den SclM
Sälen Oswalds oder seines Geschlechts verknüpft wäre. Über dem Kirchturm-
entgang in Waidbruck sieht man das Wolkensteinsche Wappen eingehauen;
oberhalb Waidbruck erblickt der Befahrer der Brennerbahn die schmucke Trost-
burg, noch jetzt der Sommersitz des Grafen Wolkenstein-Trostburg, des Nach-
Wmmen voir Oswalds älteren Bruder. In Brixen, in der Mauer neben der
Qmnkirche, steht das große Marmorbild Oswalds mit der Jahreszahl 1408:
er war damals eben dreißig Jahre alt, eine breitnackige Figur, trug scholl
com langen Vollbart, ans den er nicht wenig stolz war, und hatte auch schon
as rechte Auge eingebüßt, ein Verlust, der in seinen Gedichten oft genug
anklingt. In Neustift bei Brixen, dem nördlichst vorgeschobnen Punkte des
loniugen Südtiroler Fruchtbeckens, ist Oswald 1445 begraben worden. Im
Jahre 1400 tauschte er Häuser in Klausen. Nach Anfang der vierziger Jahre
sehen wir ihn in einem groben Streit mit der großen Bauerngemeinde am Ritten
bei Bozen.
In Oswalds eigentlichste wirtschaftliche und seelische Domäne gelangen
wir, wenn wir von Waidbrnck die neue schattige Bergstraße nach Kastclrut
hinauf einschlagen. Eine Viertelstunde unter Kastelrnt liegt im Grünen am
Waldrande Tisens: dort war Martin Jäger zuhause, dessen schone schlaue
Tochter Sabine lange Oswalds Schatz war. Oswald besaß ein Drittel des
Haucnsteinschen Erbes — die Burg, deren Trümmer noch heute mitten im Walde
nicht weit von dem Sommerfrischorte Seis am Nordfuße des hier königlich ab¬
fallenden Schlern stehn —, die Jügersche Familie die andern beiden Drittel:
Liebe und Erwerbssinn haben Oswald und Sabine lange aneinander festge¬
halten, bald ist eins dem andern hingegeben, bald liegen sie in Streit wegen
der Nutznießung Haucnsteins, die Oswald immer mehr an sich riß. Es kommt
dahin, daß sich Oswald, zu Sabine gelockt, bei ihr von den Jägerschen fangen
läßt, der Prozeß soll ihm gemacht werden, er kommt ins Gefängnis, ins Hals-
eisen, in die Folter, doch kommt er durch und erlangt schließlich den ganzen
Haucnsteinschen Besitz gegen eine Geldentschädigung an die Jägerschen zuge¬
sprochen. Hier hat er dann nach einem sehr bewegten Leben, das ihn fast in
ganz Europa herumgebracht hat, seine ältern Tage als Gatte und Vater in
Ruhe geführt, im Frühling wenigstens immer noch zum Preise der Natur
Lieder und Melodien erfindend, wenn ihm der Heinz Mosmair von Kastelrnt
erzählte, daß es droben auf der Seiser Alpe, der schönsten und größten weit
und breit, mit Macht laue:
Oswald stand im Anfang der vierziger Jahre, als der Tiroler Adel mit
Herzog Friedl mit der leeren Tasche, dem Erbauer des Innsbrucker goldnen
Daches, in Fehde lag. Die Führer des Adelsbundes waren die Starkenberger,
tapfre Mitglieder waren die drei Brüder Michael, Oswald und Lienhard von
Wolkenstein. Herzog Friedrich erwies sich bald als überlegen, die Adlichen
warfen sich zum Teil in die ziemlich unnahbar ans der Höhe zwischen Gries
und Terlcm liegende Feste Greifenstein,") Ein Gedicht Oswalds schildert
einen Ausfall,"
Wie das Wetter geht es hinunter auf die herzoglichen Belagerer, die völlig
überrascht werden:
Belagerungswerkzeug und Zelte werden in Brand gesteckt, und dann geht
es am Berghang hinüber auf die Hofbauern von Se. Georg, zu deren Über¬
fall man sich mit den Herren auf Rafenstein an der Mündung des Talfertals
verabredet hat. Die Armbrüste schwirren, ein höhnischer Gruß wird gegeben,
und schon ist man mitten in: Kampfe:
Aber die Bauern erhalten über die Höhe her Entsatz.
So schließt das Gedicht kurz. Wie mögen die Augen der hahnebüchnen
Herren gefunkelt, wie die Fäuste bei den Kraftstellen auf die Tischplatte ge¬
schlagen haben, als es Oswald, gewiß noch an demselben Abend, in ihrem
Kreise beim Becher vorsang. Denn hier haben wir das unmittelbar, mit dein
Staub und Schweiß des Entstehungstages dran, wovon Uhlcmds Eberhard¬
balladen aus mäßigender Fernsicht erzählen, das Lied vom Kampfe des ver¬
fallenden mittelalterlichen Adels gegen Landesfürst, Städter und Bauern.
Oswalds Liebeslyrik kann ähnlich unmittelbar, derb, humoristisch sein.
So wenn er ein Abenteuer mit einer Grasmüherin schildert oder Bauernszenen
ig. Neidhart. Aus die Fräulein in Konstanz, deren Bekanntschaft er während
des Konzils gemacht hat, ist er gar nicht gut zu sprechen, sie sind ihm zwar
um den Bart gegangen, scheinen ihn dabei aber tüchtig gezaust zu haben.
Einige einfache hübsche Lieder hat er seiner Frau, einer Margarete von
Schwangau, gedichtet; die von Kraft und Empfindung, aber auch von barocken
Wortspielereien überquellenden Wüchterlieder sind vielleicht seinem Verhältnis
zu Sabine entsprungen, das so Übel ausklingen sollte. Im Gefängnis war er
so mißhandelt worden, daß er hinkte und einer Krücke bedürfte; darauf geht
ein Fastnachtgedicht, wohl im Gefängnis in guter Laune ersonnen, und die
Melodie gleich dazu:
Eine Zeit lang war ihm übrigens, als es ihm so schlecht erging, der Humor
ausgegangen; damals dichtete und komponierte er — in allem, was er anfaßt,
kräftig — ernsthaft empfundne und gedachte religiöse Lieder. Meist begnügte
er sich mit einstimmigen Melodien, doch sind auch eine Anzahl primitiver mehr¬
stimmiger Kompositionen in der Wiener und in der großen Innsbrucker Hand¬
schrift seiner Werke überliefert, zu geistlichen und namentlich zu weltlichen
Gedichten. Wir teilen zum Schluß, um auch davon eine Vorstellung zu geben,
die kleine Trinkerfuge mit, bei deren erster Ausführung man vor fünfhundert
Jahren, so simpel sie uns heute vorkommt, fröhlich und stolz genug gewesen sein
mag (Salbe ist Glück):
me große Rolle in unserm Familienleben, insbesondre aber in meinem
kindlichen Leben, spielten die Feste. Allen voran natürlich Weihnachten,
aber auch Ostern und Pfingsten. Denn da war bei uns jedesmal
großes Knchenbncken.
Meine Mutter mengte, wie alle Quedlinburger Hausfrauen, den
—I Kuchenteig zuhause selbst ein. Bewundernd stand ich als kleiner Jungedabei und sah zu, wie der Teig mit Eiern, Butter, Rosinen und Korinthen oder, wieman in Quedlinburg sagte, mit großen und kleinen Rosinen, mit süßen und bittern
Mandeln, mit Hefe, Zucker und Zitronat je nach den verschiednen Kuchenarten zurecht¬
gemacht wurde. Wenn er fertig war, mußte ich um die Ecke unsers Hauses herum
hinüber zum Bäcker Timpe laufen und dort anfragen, wann die Mutter kommen dürfe.
Zur bestimmten Stunde wurde der Kuchenteig in großen Tragkiepen von unsern
Dienstmägden zum Bäcker getragen. An der Hand der Mutter ging ich dann
hinterher. In der Backstube wurden die dicken Teigmassen unter Meister Timpes
sachverständiger Leitung auf einem großen, blank gescheuerten Tische mit Mangel¬
hölzern ausgerollt und auf Bleche geschoben. So gelangten sie in den Backofen.
Wenn dann die großen Kuchen — es wurden unglaubliche Mengen verschiedner
Art bei uns gebacken — schön gebräunt wieder aus dem Ofen kamen, dann be¬
strick) sie die Mutter mit flüssiger, gelber Butter und bestreute sie mit Zucker und
Mandeln. Dann durfte ich unsre Dienstmägde holen, und diese trugen das duf¬
tende, braune Gebäck auf großen Kuchenbrettern stolz nach Hause. In großer
Menge wurde der Kuchen an die Dienstboten, die Waschfrauen und das sonst im
Hause beschäftigte Hilfspersonal, aber auch an arme Leute, deren eine Anzahl zum
Inventar unsers Hauses gehörten, verteilt. Vierzehn Tage lang — so lange reichte
der Vorrat — war dann gute Zeit. Denn der selbstgebackne Kuchen schmeckte uns
herrlich, und gekaufter Kuchen, der übrigens nur ganz ausnahmsweise und äußerst
selten ins Hans kam, konnte damit nicht konkurrieren. Mit dem selbst gebacknen
Kuchen wurde auch nicht gekargt.
Zu Fastnacht, oder wie mein Vater sagte, zum Fastelabeud but meine Mutter
eine gewaltige Menge Pfannkuchen oder Prilken, gefüllte und ungefüllte. Sie
mündeten uns fast noch besser als der Festkuchen. Zu Ostern wurden neben dem
üblichen Kuchen auch noch ganz dünne, süße Eierfladen gebacken. Übrigens gab es
in Quedlinburg zum Fastnachtsdienstag noch ein besondres Gebäck, kleine, runde,
aus Kuchenteig geformte, mit Korinthen versehene Brötchen, Billenbrote genannt.
Sie wurden beim Bäcker gekauft und kamen regelmäßig, aber nur an diesem
einzigen Tage, auf unsern Frühstücktisch. Mein Vater hielt darauf, daß jedes Kind
sein Billenbrot bekam. Wir nahmen sie anch der Absonderlichkeit halber ganz gern,
obwohl sie bei weitem nicht so gut schmeckten wie eine Prilke oder selbstgebackner
Kuchen. Für den Namen Billenbrot fehlt mir jede Deutung. Am Gründonnerstag
endlich gab es Morgens zum Kaffee ebenfalls ein besondres Gebäck, Mandelbrezeln-
Auch sie schickte der Bäcker. Sie waren wohlschmeckend, und jedes Kind erhielt
seine Brezel.
Vor Weihnachten ging es in unserm Hause noch weit unruhiger her als sonst-
Es kamen dann viele Kundleute, die ihre Branntweinfässer füllen ließen, Weihnachts¬
einkäufe in der Stadt besorgten und von den Bäckern ihren erstaunlich großen
Bedarf an Honigkuchen (Pfefferkuchen) mitnahmen. Die Quedlinburger Bäcker
machten zur Weihnachtszeit mit diesen Honigkuchen ein großes Geschäft. Sie ver¬
kauften sie zu vielen Tausenden, und zwar merkwürdigerweise zum doppelten Preis,
d. h. für einen Taler erhielt man eine bestimmte Anzahl, aber mindestens dieselbe
Anzahl bekam man als Zugabe. Unsre Kuudleute nahmen mich zu ihren Einkäufen
häufig mit, und ich habe mich als Junge oft genug über diesen seltsamen Handel
gewundert. Die Bauern fragten dann, nachdem sie die Honigkuchen probiert hatten-
„Wuveel forn Dahler?" Der Bäcker erwiderte: „Drüttig, un drüttig lau." „Nee,
sagte der Kundmann, de Timpen oder bi Dechen oder bi Liesebergen krieg cet
woll sößundrüttig oder achtundrüttig." Dann wurde lange und ernstlich um die
Höhe dieser Zugabe gehandelt. Ich habe es nie verstanden, warum der Bäcker
für einen Taler nicht gleich sechzig oder sechsundsechzig Honigkuchen anbot. Aber
die Bauern wollten das nicht. Sie verlangten eine reichliche Zugabe. Im Gruno>-
vielleicht eine Art Selbstbetrug. Jedoch die hergebrachte Sitte wurde mit Zähigkeit
festgehalten. .
nin
Auch sonst steigerte sich vor Weihnachten das unruhige Geschäftstretbe
unserm Hause. Wegen des in der Stadt und auf dem Lande üblichen Kuchen-
backens en ^ro. wurden riesige Mengen von Preßhefe verbraucht. D'e «gue Pro-
duktion unsrer Brennerei vermochte dann der Nachfrage nicht zu g^MN.
kamen mit der Post oder mit Frachtsnhrwerk »iele Zentner Zufuhr vou a ßer^namentlich von ülzen. Die Händler, die wieder »ufte Hanptabnehmer »
sich förmlich darum. Das gab denn in unserm Hause em lautes, v ^hrs^ich^"ber ungemütliches Treibe», ein förmliches Gedränge und dazu H"'-Herstrcum
der zahlreichen Händler und Kunden. Das ging in der Zeit vor d^ Festen v°in
frühsten Morgen bis in die späte Nacht. Meine Mut er besorgte dieses P^ß-
Hefengeschäft gan. allein neben ihrer Wirtschaft. Noch heute staune ich darüber
wie s^e'Zaun' ferti werden und doch noch Kraft ort Zeit des^ our
dem einen oder dem andern Abend mit uns in die Weihnachtsansstelluug gU geh.
Weihnachtsgeschenke für uus und die Dienstboten zu besorgen )ob aus och d^Weihnachtsbaum hinter unserm Rücken auszuputzen Die Well)nachtsausstelluu^waren nichts weiter als die Verkaufsstätten der Smcluwrenhmtdler ""d
bttcker. Sie hatten dann neben ihrem Verkaufsladen die --gute selld ausgera ^»ut mit alten und neuen Herrlichkeiten ausgestattet. die das Entz»feu der W^regten. Wir Jungen waren regelmäßig schou vorher wrederhol dor g Wesen
um die Ziele unsrer Sehnsucht festzustellen. Wenn dann die ' ""t uns in
die Ausstellungen ging, orientierten wir sie mit verschämter S cherhe t wo das
'chönste Puppentheater, der begehrenswerteste Frachtwagen oder Pferdest"it "d das
eben'ste Zuckerwerk sür den Weihnachtsbaum zu finden sei. Im Gr^ende war e^konventionelles Versteckenspiel. Wenn die Mutter einen um,rar besondern We hnachts-
wünsche zu befriedigen trachtete, wurde der Kauf trotz wAer Gegenwart war
geschlossen, aber unter allerlei Vorsichtsmaßregeln und Fiktionen me tara s ab-
zielten, daß wir nichts merken sollten. Wir schienen anch me etwas zu^ merken
Mit überzeugender Naivität hörten wir. anscheinend ahnungslos, zu. wie dieses
oder jenes Stück für einen auswärtigen Vetter oder Bekannten erstanden wurde.
In Wirklichkeit wußten wir zielt.lich genan. was die Glocke geschlagen hatte. O kind¬
liche, kindische Torheit! Wie naiv waren wir alle. Große und Kleine. Alte und
Junge! Gewisse naive Selbsttäuschungen und Torheiten gehn durch das ganze
ernste Menschenleben. Das ist auch nicht gar so schlimm, wie umncher Mann
meint. In diesem Weihnachtstreiben mit seinen vorausgeplanten Überraschungen
liegt ein poetischer Zug deutscher Mcirchculnst und traulichen Familiensinns. Der
ernsten und tiefen religiösen Bedeutung dieses Festes wird dadurch schwerlich
Eintrag getan.
In ^uedliuburg wurde damals überwiegend nicht am heiligen Abend vor
Weihnachten, sondern in der Morgenfrühe des ersten Weihnachtsfesttages beschert,
wie man in Berlin sagt, aufgebaut. Auch bei uns. Nur die „ganz vornehmen"
Familien befederten schon damals am heiligen Abend. Das waren aber vereinzelte
Ausnahmen. Ein Gottesdienst, eine Christvesper, wie sie jetzt in den evangelischen
Kirchen allgemein üblich ist, wurde damals am Weihnachtsheiligabend noch in keiner
der sieben Kirchen unsrer Stadt gehalten. Etwa um fünf oder sechs Uhr Nach¬
mittags wurde vielmehr im städtischen Waisenhaus, in der Weinkinderschule und in
der Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder eine Wohltätigkeitsbescherung veran¬
staltet. Mein Vater fah es gern, wenn wir Kinder dorthin gingen. Ich tat das
auch gern. Denn zuhause wurde ein diesem Abend noch ein kolossales Scheuern
und Reinmachen des ganzen Hauses gehalten. Das war ungemütlich, wahrend im
Rettungshause, dem Waisenhause oder auch in der Kleinkinderschule die dort ver¬
anstaltete Bescherung mit brennenden Lichtcrbäumen, der Ansprache eines Geistlichen,dem Gesänge der Kinder und deren fröhlichen Gesichtern schon hellen Festglanz in
die Herzen strahlte. Beim Nachhausegehn sah man die meisten Hauser in tiefem
Dunkel liegen. Wir mußten am Christabend, wenn wir nach Hause kamen fiuyWZ Bett. Denn am ersten Feiertag galt es früh aufzustehn. Schon vor sechs Uhr
wurden wir wach und standen erwartungsvoll ans. um in der Wohnstube der Dinge
zu harren, die da kommen sollten. Endlich ertönte aus der guten Stube das hei߬
ersehnte Klingeln, der Vater öffnete die Tür, und nun leuchtete uns der große,
mit allerlei Zuckerwerk geschmückte Christbaum hell entgegen, eine Harzfichte, deren
Duft bis nach Neujahr das ganze Hans erfüllte. Zum Schmuck des Weihnachts¬
baums gehörten eine Reihe von Jahr zu Jahr aufbewahrter Jnventarienstücke, die
jedesmal von neuem Gegenstand unsers bewundernden Entzückens waren: ein kleines
Schilderhaus, eine Marzipantrommel, einige große Znckerfignren und ähnliches.
Unter dem Beinen lagen ans weißgedeckten Tischen unsre Geschenke. Sie waren
nach heutigen Begriffen bescheiden; wir aber fanden sie jedesmal überreichlich und
unsre Erwartungen übertreffend. Da waren die längst ersehnten neuen Kleidungs-
stücke, oder wie wir sagten, „neues Zeug," ein mit rotem Zuckerguß glasierter
großer Honigkuchen mit unserm Vornamen in erhabner weißer Zuckerschrift, ein
gutes Buch, Schreibmaterial und sonst allerlei Nützliches und Notwendiges, auch
— in äußerst mäßigen Grenzen — ein wenig Spielzeug, eine Arche Noahs oder
ein Pferdestall, ein Frachtwagen, mit dem wir Kundmann spielten, oder ein Bau¬
kasten, ein Schachbrett oder ein Gesellschaftsspiel (Post- und Reisespiel, Lotto oder
Hammer und Glocke, auch Schimmelspiel genannt), und einmal sogar — es dünkte
uns kaum möglich — ein Puppentheater mit wirklichen Kulissen und mit zierlichen
Figuren, die man an einem Draht agieren ließ. Einer von uns, in der Regel
ich als der älteste, sagte das Weihnachtsevangelium auf. Weitere religiöse Worte
wurden nicht gesprochen. Auch von einer Krippe mit biblischen Figuren war keine
Rede. Das war damals weder in andern Bürgerhäusern uoch bei uns Sitte,
obwohl unser Haus für kirchlich galt und auch das Tischgebet bewahrt hatte. Man
war damals mit religiösen Kundgebungen, auch innerhalb der vier Wände des
Hauses, sehr schüchtern und zurückhaltend. Alle Äußerungen der religiösen Empfin¬
dung wurden fast ausschließlich in die Kirche verwiesen. Auf diesem Gebiet ist im
allgemeinen ein Zuwenig immer noch besser als jedes Zuviel. Der Zusammenhang
zwischen der Familie und der Kirche kam aber im Hause gar zu wenig zur Geltung,
und dadurch geriet auch das Kirchengehn in die Gefahr der Veräußerlichung.
Namentlich unsre schönen Weihnachtslieder gehören unbedingt in ein christliches
Hans, besonders in ein kinderreiches, und ohne sie fehlt der häuslichen Weihnachts¬
feier eins der wirksamsten, freudenreichsten und gesegnetsten Ausdrucksmittel. Das
ist später anders und besser geworden. Doch darf ich gleichwohl bezeugen, daß
Wir bei unsrer Weihnachtsbescherung sehr glücklich waren. Die Liebe der Eltern
leuchtete uns dabei hell ins Herz hinein, und unsre Kinderherzen waren für diese
Liebe voll tiefen Danks. Wir Kinder hatten zu Weihnachten auch füreinander und
für die Mutter immer irgend ein kleines Geschenk. Mit uns erhielten auch die
Dienstboten eine reichliche Weihnachtsbescherung. Nur mein Vater kam regelmäßig
zu kurz. Er war gar zu bedürfnislos. Nur zwei Weihnachtsgeschenke erhielt er
jedes Jahr, einen neuen Kalender für das kommende neue Jahr und ein schlichtes
Taschennotizbuch mit einem Bleistift.
Während der Weihnachtsbescherung wurde es draußen allmählich Tag. Durch
die Fenster sahen wir in den Nachbarhäusern die Christbäume glänzen, und in
hoher Feststimmung begrüßten wir das helle Tageslicht, vor dem die Wachskerzen
am Christbaume erloschen. Mein Vater schickte mich dann noch zu einigen armen
Familien am Klinge oder in der nahen Stobenstrnße, hier einen Taler und dort
einen als Weihnachtsgabe bei armen Leuten abzugeben. Das brachte ihm viel
warmen Dank ein. Dann aber wurde es Zeit, die neuen „Weihnachtssachen," Rock
Weste, Hose oder Stiefel anzuziehn. Denn fünf Minuten vor neun Uhr ging es
unweigerlich zur Kirche. Schon während der Bescherung hatte mein Vater, mochte
es noch so kalt sein, ein Fenster geöffnet, damit wir hören konnten, wie schön und
feierlich der von der Stadtmusik vom Turme der Marktkirche geblasene Choral
„Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich" durch den stillen Festmorgen schallte.üler
In der Kirche gehörte ich, fast solange ich denken kann, schon als Sch
der Klippschule und später als Glied des Gymnas.alchors ^f den hohen Or^^Von dor sangen die 5Aippschüler einen Teil der Re ponsonen bei d Lo.rgie
An Festtage., aber führte der Chor des Gymnasiums dort mit Beg ng d .
städtischen Mnsikchors eine for.nuche Kantate »uf oder sang ""es an g wisf^tagen eine Motette, Dazu hatte sich dann der Mus.kdirektor des Gy sinus^ der
die Kirchenmusik leitete, noch die frischen Stimmen einiger Madchen ans der höheren
Töchterschule gesichert. Diese mit ihren neuen Weihnachtsmanteln und Hüten, wi
Jungen in unsern neuen Anzügen/ die Musiker mit ihren Instrumenten fa de
sich dann am Weihnachtsmorgen pünktlich ans dem Orgelchor zusammen Metze
kletterte regelmäßig der städtische Musikdirektor David Rose em ungewöhnlich d er
Mann und ebenso ungewöhnlich guter Musikus. keuchend dre steZe Chore^hinauf und begrüßte uns oben aufatmend mit eme.n freundlichen Guten Morgen
-"'genehme Maikü le heute, zwölf Grad unter Null. Rean.nnr^ ^egen d Nahe
des Harzes pflegt es im W meer ohnehin in meiner Vaterstadt recht kalt zu sem.
und Zu Weihnachten haben wir oben auf dem Orgelchor oft weidlich gefroren
Aber der Feststim mung tat das keinen Eintrag, und von K'reden he.z^noch keine Rede. Wenn wir dann mit der vollzählig versammelten eint "n
der gewaltigen Begleitung der schönen Orgel oder abwechse ut .... er P armen^begleitung der Stadt.nnsik sangen: Dies ist der Tag. den Gott gemacht, sen w d
w aller Welt gedacht, so hatten wir einen großen Eindrnck von Weihnachten auch
dann, wenn die Predigt uns nicht gerade am Herzen packte. Daß sie das getan
hätte, kann mau ..icht behaupte... Vor unfern. Herrn Snpperdenten Mer w '
nichtsdestmveniger g walt gen Respekt. Auf die Predigt mußten wir scharf auf¬
passen. Zuhause s/agte mein Vater, mochte er selbst in der Kirche gewesen em
oder nicht, regelmäßig nach Text und Thema. Schon früh habe ich mich deshalb
daran gewohnt, mir die Disposition der gehörten Predigt zu merken und aufzu¬
schreiben. Mein Vater hielt von den Predigten unsers würdigen Superintendenten
sehr viel. Er pflegte ihn zuhause ,.deu Meister" zu nennen und meinte, neben
ihm seien die andern Prediger der Stadt höchstens ..Gesellen." Wenn mem Vater
aus der Kirche kam, und die Mutter ihn fragte: Nun, wie hat der Herr Super¬
intendent gepredigt? war seine regelmäßige Antwort: Ausgezeichnet, wie immer.
Niemand hat unter acht Groschen in den Klingcbentel gegeben. Er wußte recht
gut. daß der Ertrag des Klingebeutels nicht dem Geistlichen zufloß, ja er war
sogar ein geschworner Feind des Klingebeutels und kämpfte für dessen Abschaffung
und Ersetzung durch eine Beckensammlung an der Kirchtür, solange er lebte. Das
hinderte ihn aber nicht, seine Wertschätzung der Predigt regelmäßig durch die lau¬
nige Wendnnq auszudrücken: „Keiner unter acht Groschen."
Die Vormittagskirche danerte bis halb elf Uhr. Um zwölf Uhr wurde zu
Mittag gegessen und um ein Uhr mußten wir Kinder wieder in die Nach.mttags-
kirche. die uns manchmal recht sauer wurde. Nach der Kirche gab es zuhause um
drei Uhr Kaffee und Kuchen, und zwar an den Festtagen Mandelkuchen, der Mir
nie und nirgends wieder fo gut geschmeckt hat wie im Vaterhause. Nachher
wurden die Vettern und Freunde besucht und deren Weihnachtsbescherungen an¬
gesehen. Abends nach Tisch wurden die Lichter des Weihnachtsbaumes nochmals
angezündet.
Am zweiten Festtage Nachmittags brauchten wir nicht zur Kirche zu geh...
Dieser vierte Festgottesdieust galt als ausschließlich für solche bestimmt, die vorher
für den Kirchgang keine Zeit gefunden hatten. Wir fuhren regelmäßig am Nach¬
mittage des zweiten Feiertags nach Ballenstedt, je nach Wetter und Weg entweder
Zu Wagen, oder was natürlich der Höhepunkt des Vergnügens war, zu Schlitten.
Dann fuhren wir nicht den einsamen Feldweg über den Zchling, den ich bei meinen
Fußwanderungen nach Ballenstedt einzuschlagen Pflegte, sondern auf der von zahl¬
reichen Schlitten belebten Chaussee sausten wir über das anhaltische Dorf Niedermit lauten. Schellengeläute — je lauter, desto bester — in wenig mehr als einer
Stunde much dem grünen Hause. Dort trafen wir auch wohl die Tilkcrvdcr Ge¬
schwister, und Onkel wie Tante Bornemann taten das Mögliche, den Aufenthalt
in ihrem Hanse freundlich und gastlich zu gestalten. Später, als ich in die höhern
Klassen des Gymnasituns ausrückte, nahm meine Mutter mich bei solchen Gelegen¬
heiten in Ballenstedt auch mit ins Hoftheater. Dort traf man regelmäßig eine
Menge Quedlinburger. Sie sahen das herzogliche Theater wie eine Art Zubehör
zu unsrer Vaterstadt um, und wenn der herzogliche Hof einmal durch Quedlinburg
fuhr, dann blieben die Bürger stehn und grüßten respektvoll. Auch auf die Schwächen
des letzten Herzogs von Anhalt-Bernburg, Alexander Karl, der geistesschwach war
und zuweilen im Theater auffällig laut sprach und lachte, nahmen die Quedlin-
burger selbstverständlich respektvolle Rücksicht. Näher hatte ihnen freilich der lebens¬
frohe Vater des Herzogs, Alexius Friedrich Christian, gestanden. Zwischen ihm
und deu Quedlinburgeru hatte sich förmlich ein freundnachbarliches Verhältnis aus¬
gebildet. Er wurde, wenn er Quedlinburg passierte, mit Ehrerbietung gegrüßt,
und wenn er bei den: Sternhaufe über Gernrode seine großen Saujagden veran¬
staltete, so fuhr oder wanderte halb Quedlinburg dahin, um sich die Sauhatz mit
anzusehen.
Man erzählte sich in meiner Jngend von einer solchen Sauhatz eine drollige
Geschichte. Ein riesiger Keiler hatte im Saugarten, in den die jagdbaren Wild¬
schweine eingetrieben wurden, die ganze Meute mit seinen Gewehren dergestalt zu¬
gerichtet, daß die Hunde nicht mehr an den gefährlichen Gegner heranzubringen
waren. Der Herzog „Alexis" — so nannten ihn die Quedlinburger — stand mit
seinen fürstlichen Jagdgästen in einiger Verlegenheit abseits von dem wütenden
Schwarztiere. Plötzlich erhob sich draußen vor der Bretterwand der "Saubucht in
der dort zahlreich versammelten Corona ein ungewöhnlicher Lärm und lautes Ge¬
lächter. Der Herzog schickte aus diesem Anlaß einen seiner Leibjäger mit dem
Auftrage dorthin, er solle sich erkundigen, was da los sei. Der Jäger kam mit
mühsam verhaltnen Lächeln zurück und meldete, dort draußen stehe unter dem
Publikum ein ungewöhnlich großer und starker Mann aus Quedlinburg immens
Rabe, der sich berühme, er könne den Keiler mit seinem Taschenmesser abfangen und
zur Strecke bringen. Der Herzog lachte und befahl dem Leibjäger, er möge den
Mann bitten, doch einmal zu ihm, dem Herzog, zu kommen. Der Leibjnger ging
also nochmals aus dem Saugarten hinaus und durch das schon aufmerksam ge-
wordne Publikum auf Rabe zu, grüßte diesen sehr höflich und sagte ihm, Seine
Durchlaucht der Herzog — damals führten die regierenden deutschen Herzöge noch
nicht das Prädikat Hoheit — lasse ihn bitten, ob er sich nicht einmal zu ihm be¬
mühn wolle. Andreas Rabe, ein wegen seiner ungeschlachten Derbheit stadtbekanntes
Original, übrigens ein wohlhabender „Ökonom," wie man damals in Quedlinburg
die Ackerbürger nannte, erwiderte: „Wat? cet soll bi'u Herzog kommen? Wat soll
cet'n da?— „Das weiß ich nicht, sagte der Jäger, aber ich bitte Sie, mitzukommen,
es wird Ihnen nichts geschehn." — „Dat wee cet alleene, sagte Rabe, na, orna
denn niche, cet gab met." Das ohnehin belustigte Publikum brach in lantes Johlen
aus, machte aber Platz, und Rabe schritt hinter dem Leibjäger her in den Sau¬
garten hinein auf den Herzog zu, zog vor diesem seine Mütze ub, machte einen
Kratzfuß und sagte: „Gun Dag ook, Herr Herzog! Hier bin cet. Wat soll cet?"
Höchst belustigt durch die halb verlegner, halb trotzigen Manieren des reckenhaften
Mannes sagte der Herzog: „Guten Tag, Herr Rabe, ich habe gehört, daß Sie sich
berühmt hätten, Sie könnten den Keiler dort mit Ihrem Taschenmesser erlegen." ^
„Beriehmt hebbe cet mel nich, Herr Herzog, aber dat Schwin da, dat is richtig,
dat stak et met nimm Fickenmesser bot. Wenn cet man dörftel" — „Ja, H^'
Rabe, meinte der Herzog, das sagen Sie wohl; aber der Keiler ist wild und der
stärkste, den ich im Reviere habe. Fürchten Sie sich denn gar nicht, daß Ihnen
etwas passieren könnte?" — „Nee, Herr Herzog, wat soll mel passieren? un förchten
den feck kein Rabe ut Quellenborg." — „Nun, Herr Robe, dann versuchen Sie
Ihr Heil, von mir haben Sie Erlaubnis, mit den. Kei er zu mache, wav ^wollen." ..Wat. Herr Herzag? soll cet. soll cet wahrhattg^ ^f'K^.Ja ja. entgegnete der Herzog Aleris. "ber ne men Si sis^in^^^ ^) n
die Jäger anweisen, daß sie Ihnen, wenns not we. zu HMe komme ^gab er der Jag rei einen entsprechenden Wink. ^ --Dat "t Not sag e R^v .
na. denn um. tan!" - Damit zog er ein stattliches, mit einer 6 der in
schnappen der Klinge versehenes Taschenmesser ans ^"'-r ^auf. ließ es einschnappen, schärfte die Klinge auf ferner hockt derueu Hofe in paar
mal hin und h r wie ein Rasiermesser ans einen: Stre.ehre.nen ^ ng dann
"ut kennen ^us but " das Messer in der rechten Faust vor sich herhaltend, aus
den Keil" zu^'^P.W k'um in.d Jagdgesellschaft natürlich in atemloser SpannungDer Keiler, dnrch das Hnßhnßrnfen Rabes gere ze ' ^stürzte ans ihn zu. Ehe er ih.i aber ganz erreicht hatt sy'""^^ ' ^ z»r ^warf sein Messer und eine Mütze zur Erde und ergrch in ! ^ ^beide Gehöre des Keilers, hob das Tier daran em wenig ^ H^e »n^in^s
^ dann mit gewaltiger Kraft hern.n auf deu Rucken, '^"ß d e K ° l e, ^Tann kniete er ans den einen Lauf des Keilers, nahm und d'r rechten Hand su
neben ihm a.n Boden liegendes Messer ans. stiebten Che b s in das Hes
in den Leib und zog es dann der Länge des Deres ""'h^nrch sed^ß ti M
der Leib aufgeschlitzt wurde und das Gescheide her^d.'s Werk von weniger als einer Minnte gewesen. blZ der Kecker . es^Dann nahm Rabe sein Messer, schlenkerte mit den Fingern der rechten H d den
Schweiß '(das Bin bat ab und steckte es ein. Ein ungeheure Her des
Publikums und Bravo der Jägerei hatte sich bei dieser zwar »us vew e e haber immerhin gewaltigen und furchtlosen Kraftleistung erhoben sind gwg aufden Herzog, der sich vor Lachen ausschütten wollte, zu und sagte ruhig. Da
bet dat Schwin. Herr Herzog, et is '» tüchtigen Kärel." - ..Herr ^abe r
d/'r Herzog lachend. Sie haben uns ein riesiges Vergnügen gemach und en e
Kraft bewiesen, die großartig ist. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, ^esdanke Ih„,„ vielmals und möchte Ihnen gar zu gern auch eure Acme Er¬
kenntlichkeit erweisen. Womit kann ich Ihnen dienen?" — ..Med, Herr VerzogEck wüßte nischt, wat cet brüten kunnte." - ..Nun. Herr Rabe, sagte der Herzog.
s° war es ja nicht gemeint. Ich kann nud will Ihnen ja nichts anbieten von
Geld und Geldcswert. Nur eine kleine Frende möchte ich Ihnen machen, nachdem
Sie uns so tapfer geholfen haben. Besinnen Sie sich d°es einmal auf rrgenv
etwas!" brüte nischt. Herr Herzog! Geld hebb' cet wider rang Da
einzigste, wat cet woll brüten künne. dat wörre sann schwien, Herr Herzog! Aal
w»rre grade sann Familjenschwien for meat." - ..Nun, das versieht sich ganz von
selbst. Herr Rabe, sagte der Herzog, der Keiler gehört natürlich Ihnen, den haben
Sie sich ja tapfer verdient. Den lasse ich Ihnen nach Quedlinburg bringen. Er
s°it richtig bei Ihnen abgeliefert werden." — Schmunzelnd fragte Rabe nocheinmal: ,Soll cet 'n hebben, Herr Herzog?" — „Ja freilich, sagte dieser, er
gehört Ihnen, ich schicke ihn." — „Nee. Herr Herzog, fuhr Rabe fort, wenn ectdat schwien hebben soll, dann nehm' cet et guts met. Na, cet danke ovi, Herr
Herzog!" - Damit faßte er mit der einen Hand die Vorderläufe. mit der anderndie Hinterläufe des verendeten Keilers zusammen, schwang das Tier mit gewaltigem
^'mal auf seine Schultern. nahm die Mütze noch einmal vor dem Herzog av un.
wig das Wildschwein aus dem Saugarten hinaus durch das U)in z'llaucyzeuoe
Publikum an seinen Kutschwagen, in den er es hineinwarf. Dann stieg er selb t
"»f und fuhr mit seinem Familienschwei» ab. Der Herzog Alex.no FriedrichChristian aber war durch diese Geschichte in Quedlinburg sehr populär geworden.
Das hinderte freilich die derben Quedlinburger Bürger nicht, bei ihren Hochzeitenund Kindtaufen. wenn sie besonders vergnügt waren, einen Nundgesang ZU singen,der im Grunde nichts andres als ein — wenn auch harmloses — spvrtlied ausden Herzog war. Es lautete:
Bei der letzten Strophe mußte ausgetrunken werden. Das Merkwürdigste dabei
aber ist die kulturgeschichtlich nachgewiesne Tatsache, daß diese Spottverse schon um
die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Mark Brandenburg auf Kaiser Karl
den Vierten gesungen wurden, der dort bekanntlich als ein gestrenger Herr nach
der Zeit der Wittelsbacher wieder Ordnung geschafft hat. Die Quedlinburger
Bürger hatten also nur ein fast fünfhundert Jahre altes Spottlied kopiert und auf
den benachbarten Herzog Alexins von Anhalt-Bernburg umgemodelt. Welche selt¬
samen und kaum erklärlichen Zusammenhänge!
Doch zurück zur Feier unsrer harmlosen Familienfeste. Auf Weihnachten folgt
Neujahr, und auf den Christabend der Silvesterabend. Auch an diesem Tage
wurde zu der Zeit meiner Jugend in den Quedlinburger Kirchen kein Gottesdienst
gehalten. Es gab auch in den Kirchen, abgesehen von den beiden Altarkerzen und
einigen alten, nie mehr gebrauchten Kronleuchtern, keine Beleuchtuugsvvrrichtungcn.
Die Geistlichen sprachen, wenn die Einrichtung von Abendgottesdiensten angeregt
wurde, die Besorgnis aus, daß darin nach den früher gemachten Erfnhruugeu leicht
Unfug vorkomme. Das wurde auch als das Motiv für die Abschaffung der in
frühern Jahren üblich gewesenen Christmetten und Vespern angegeben. Nur in
der Schloßkirche hatte sich die Christmette am ersten Weihnachtsfeiertag erhalten.
Sie fand frühmorgens um fünf Uhr statt, und jeder Besucher brachte sich dazu
sein Licht selbst mit. Zur Christbcscherung in meinem Vaterhause paßte aber die
Tageszeit nicht recht, zumal da der Weg bis hinauf auf das Schloß ziemlich weit
war. Die Schloßgemeinde war auf diese Christmetten nicht wenig stolz und hielt
zäh daran fest. Sie wurden auch aus der Stadt viel besucht. Ich habe nie gehört,
daß dabei Unordnungen vorgekommen wären.
Am Silvesterabend wurde weitaus in den meisten Familien Punsch getrunken
und in den wohlhabender» vorher Karpfen gegessen. Eine Schuppe vou den
Silvesterkarpf?n steckte man sich gern in den Geldbeutel. Sie sollte Glück bringen
und ein Vorzeichen sein, daß man im neuen Jahre immer Geld haben werde. In
den Gasthäusern hatten die Stammgäste am Abend des Silvestertags freie Zeche-
Sie wurden auch dort mit Punsch und Prilken bewirtet. Die Kellner — ^
nannte mau sie damals aber noch nicht, man rief sie vielmehr, weil sie beim
Billardspielcn den Stand des Spiels markieren mußten: Markeur! — schmückten
dann die Stammpfeife und den Stammkrug der Gäste mit einem roten Seiden-
bändchen und bekamen dafür ein sehr mäßig bemessenes Trinkgeld. Von den
heutigen Trinkgeldernnsitten war damals noch keine Rede.
In den meisten Bürgerhäusern, auch bei uns, blieb die Familie bei einem
Glase Punsch zusammen. Nach Tisch, bevor die Punschterriue auf den Tisch kam,
pflegte mein Vater eine Neujahrsbetrachtung oder ans dem Gesangbuch das schöne
Neujahrslied von Paul Gerhardt vorzulesen': „Nun laßt uns gehn und treten mit
Singen und mit Bete» zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft ge¬
geben" usw. Bei dem ersten Glockenschlnge der Mitternachtsstunde gab man sich
die Hand oder auch wohl einen Kuß und gratulierte sich gegenseitig zum neuen
Jahre. In manchen Familien sang man dann das Lied: „Nun danket alle Gott.
In der Volksschule wurde schon vor Weihnachten der „Nenjahrswunsch" geschrieben,
und zwar ans besondern Briefbogen mit einem Vordruck in Goldschrift, die mein
für einige Pfennige beim Buchbinder gekauft hatte. Dieser Neujahrswunsch war
ein kurzes Gratulatiousgedicht. das alle Schüler der Klasse so sauber und schon
wie möglich unter Aufficht des Lehrers nachschreiben und auswendig lernen mußten.
Am Vormittage des Silvestertags gingen die Kinder dann, natürlich ohne Bucher,
in die Schulklasse und erhielten dort jedes seinen Neiyahrswuusch ausgehändigt.
Jedes Kind legte dafür auf eiuen bereitstehenden Teller ein keines für den Lehrer
bestimmtes Geldgeschenk. Davon schlössen sich auch die ärmsten nicht ans Sie
legten wenigstens einen Groschen oder eine Kupfermünze ans den Teller, wahrend
die Kinder der wohlhabenden Familien ein Achtgroschenstück oder gar einen Taler
brachten, alles in Papier eingewickelt, damit man nicht sehen sollte, wieviel jedes
Kind gab. Bei dem ungemein dürftigen Dicnstcinkommcn der Lehrer war das
une sür sie schwer ins Gewicht fallende Ernte. Ich will diesem Brauche der
immerhin seiue Schattenseiten hat, übrigens nicht das Wort reden. Der schriftliche
Neujahrswunsch wurde bis zum Morgen des Neujahrstags mit geflissentlicher
Geheimtuerei vor den Augen der Eltern verborgen. Dann aber wurde er vor
dem ersten Frühstück den Eltern überreicht und das Gedicht dabei aufgesagt. Dafür
steckte dann der Vater ein Geldstück in die verschlossene Sparbüchse.
Am Nachmittag des Silvesterabends wurde von den Kirchtürmen das Neue
J"hr mit allen Glocken feierlich eingeläutet. Wenn irgend möglich, ging mein
Vater mit uus kurz vor drei Uhr vor die Stadt hinaus, das Läuten zu hören
Dieses Gesmntgelänt aller Kirchen klang in der Tat wundervoll und wirkte feierlich
und erbaulich. Abends vom Eintritt der Dunkelheit an kam dann ein ganzes Heer
v°n Ncujahrsgratulanten in unser Haus, die für ihre Gratulation em Trinkgeld
ehielten. Ich übertreibe uicht. wenn ich sage, daß diese Nei.lahr.gratickanwi.
eigentlich Neujahrsschnorrer, zu Hunderten in unser Haus kamen. Sie gebrauchten
meist alle dieselbe Formel: ..Wir wünschen Ihnen viel Glück zum neuen ^ahre,
Gesundheit. Friede und Einigkeit." Manche setzten hinzu: ..Nachher die ewige
Seligkeit." Mein Vater sorgte in. voraus für einen großen Vorrat von Zwei-
groschcustücken und Groschen die an die Gratulanten gegeben wurden. Manche
aber bekamen auch herkömmlich mehr. Die Knechte und Enten (d, h. die Jungen,
die für den Pferde- und Ackerdienst herangebildet wurden) aus den Ackerbürger-
Wirtschaften erschienen mit langen Peitschen, um damit in unsrer großen und hohen
Hausflur, wo es gehörig schallte, das neue Jahr einzuklntschen. Dieses Peitschen-
knallen machte einen ohrbetäubenden Höllenlärm, galt aber uns Kindern als eine
absonderliche Feierlichkeit, die wir um keinen Preis versäumen durften. Wenn die
Knechte das neue Jahr eiugetlntscht hatte», erschienen die Schornsteinfeger, die
Schäfer und die Kuhhirten, die Waschfrauen und allerlei andre Leute dienenden
Berufs. Ein Blinder. namens Mole, der sich jeden Sonnabend seine Gabe holte,
blies um Silvesterabend besonders rührend seine Flöte und sang noch rührender
sein ständiges Lied: „Denkst dn daran, mein tapfrer Lagienka." Dieses Polenlied
war damals durch Holteis Singspiel: „Der alte Feldherr" ungemein populär ge-
worden. Von nationaler Empfindlichkeit hatte man damals in meiner Heimat
keine Ahnung. Der Dichter Karl von Holtet hatte übrigens während der Freiheits¬
kriege eine Zeit lang verwundet in Quedlinburg im Quartier gelegen. Als ich auf
dem Gymnasium in Tertia oder Sekunda saß, kam er auf einer Rundreise, die er
als Rezitator machte, auf einige Tage auch in meine Vaterstadt und las dort im
Saale des Ratskellers öffentlich Shakespeares Julius Cäsar vor. Er wurde mit
Ehrenbezeugungen überschüttet und las in der Tat meisterhaft, wie ich es kaum
jemals wieder gehört habe. Seine Vorlesung machte einen gewaltigen Eindruck,
und die Erinnerung daran steht mir noch heute unvergessen vor der Seele.
Am Tage nach Neujahr begann das Neujnhrblasen der unter David Rohes
Taktstock musizierenden Stadtkapelle. Sie zog dann, von zahlreicher Straßenjugend
begleitet, von Haus zu Haus. In den größern Häusern, die wie das unsrige
genügenden Raum boten, oder, wo das nicht der Fall war. aus der Straße spielte
sie je einige Stücke. Dafür sammelte dann einer der Musiker sür Herrn Rose
dessen Decem el». Merkwürdig, wie viele Menschen sür ihren Unterhalt ans eine
gewisse konventionelle Mildtätigkeit oder auch Bettelei damals noch förmlich ange¬
wiesen waren. In diesem Stück ist seitdem manches besser geworden. Heute würden
Lehrer, Küster, Geistliche oder ein fest angestellter städtischer Musikdirektor von der
weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Qualität wie die David Rohes
sich schwer dazu versteh», solche Liebesgaben für ihre amtlichen Leistungen in solcher
Weise selbst einzusammeln. Damals fand man darin nichts. David Rose war ein
vorzüglicher Dirigent seines Orchesters, hatte einige größere Kirchenmusiken kompo¬
niert und beherrschte die Orchestermusik vollkommen. Er war in Quedlinburg ein
populärer Mann und hat sicher aus dem Neujahrblasen ein gut Stück Geld be¬
zogen. Die Quedlinburger konnten sich auf ihre ungewöhnlich gute Stadtmusik
etwas zugute tun. Diese führte die Mozartschen, Beethovenschen und Haydnschen
Symphonien ganz vortrefflich aus. Im Sommer spielte die Stadtmnsit allwöchentlich
an einem Nachmittag im Brühe, dem unmittelbar vor der Stadt unter dem Schlosse
gelegnen reizenden Stndtpark. Das waren nach ihrem Programm und dessen Aus¬
führung gute Konzerte, auf die von den wohlhabender» Familien abonniere wurde
Zur Brühlmusik gingen namentlich die Mütter dieser Familien mit Vorliebe, um
dort im Freien zu sitzen, Kaffee zu trinken und Musik zu hören. Die Mütter
zogen dazu ihr seidnes Kleid an, die Jungen durften sich in ihrer besten Jacke
mit frischem weißem Kragen als wohlerzogne Kinder präsentieren. Harmlose Ver¬
gnügungen, aber für uns Jungen doch ein Zwang, dem wir uns lieber entzogen.
David Rose aber dirigierte seine Brühl- und andre Konzerte ausgezeichnet. Er
erfreute sich auch eines gewissen gesellschaftlichen Ansehens. Im „Schwarzen Bären,"
damals dein angesehensten Wirtshause der Stadt, saß er als Stammgast unter den
geachtetsten Bürger». Dort trank er Vormittags vor Tisch täglich zum Früh¬
schoppen sein Viertelchen Rotwein. In seiner jovialen Art hielt er, bevor er trank,
das gefüllte Glas mit den Worten gegen das Licht: „Freue dich, Kehle, es kommt
ein Platzregen. Prost David!" Dann antwortete er schmunzelnd sich selber:
„Schön Dank, Rose!" Das war ein geflügeltes Wort geworden. David Rose
war eins der damals noch ziemlich zahlreichen Quedlinburger Originale, und zwar
eins der feinern. Die meisten übrigen, wie zum Beispiel die Brüder Rabe, von
deren einem oben die Rede war, mochten nicht weniger witzig und jovial sein, aber
sie erschienen um ein gut Teil massiver.
Bald nach Neujahr, am 6. Januar, ist der Dreikönigstag. In meiner frühesten
Jugend kamen am Abend drei oder vier mit weißen Hemden über den Kleidern
und einigem Flitter aufgeputzte Kinder und führten in einer Art Wechselrede, und
wenn ich mich recht entsinne, auch mit Gesaug etwas auf, was die Legende von
den heiligen drei Königen darstellen sollte. Von dem Text habe ich nichts be¬
halten. Ich weiß deshalb auch nicht, inwieweit diese Darstellung mehr in evan¬
gelischem oder mehr in katholischem Sinne gemeint war. Die Kinder bekamen
zwar, wenn sie fertig waren, eine kleine Geldspende, aber mein Vater hielt von
dieser Aufführung nicht viel und mag sie sich wohl verbeten haben. Sie hatte auch
vorwiegend das Gepräge eiues Vorwauds zur Bettelei.
In der Passionszeit von Aschermittwoch bis Ostern bestand in Quedlinburg
eine ganz eigne kirchliche Sitte. In den Kirchen der Stadt wurde an den Sonn¬
tagen die sogenannte Passion gesungen, und zwar an, Sonntag Juvoeavit zuerst
in der Ägidienkirche und dann der Reihe nach bis zum Karfreitag jedesmal in
einer andern, mit alleiniger Ausnahme der Markt- oder Benediktikirche. In dieser
hatten sie die rationalistischen Geistlichen abgeschafft. Es war das eine musikalische,
nahezu dramatische, oratorienhafte Darstellung der Passion unsers Heilands mit
eingelegten Chorälen, Arien, Nezitativen nach der Art der Bachschen Matthäns¬
oder Johannespassion. Der Text war in alter, stiftischer Zeit nach den synoptischen
Evangelien zusammengestellt. Auch die Musik war alt, nud wie mau allgemein
annahm, in Quedlinburg entstanden. Das Ganze war aber mehrfach überarbeitet
worden, zuletzt in musikalischer Hinsicht von David Rose, und in der ausgesprochnen
Absicht, es zu kürzen und zu vereinfachen. Ans stiftischer Zeit bestanden noch ge¬
wisse Stiftungen, aus denen dem Gymnasialchor, dessen Dirigenten und der Stadt-
musik bestimmte Bezüge für die Aufführung der Passion zuflössen. Sie wurde
deshalb alljährlich im Winter nen eingeübt. Es gehörten aber zur Passion einige
gute Stimmen: der Evangelist, der in der Form von Rezitativeu die Geschichts--
erztthlnng saug, mußte ein ausdauernder Tenorist sein, die Partie des Jesus er¬
forderte einen kräftigen Baß. Außerdem gab es noch einige kleinere Solopartien,
wie Judas. Petrus, Pilatus, Kaiphas und andre. Den Chor stellte das Volk
oder auch die Pharisäer und die Schriftgelehrten dar. Ich habe die Passion
of^ gehört und wenigstens acht Jahre lang mitgesungen und kann nur bezeugen,
daß sie volkstümlich und durchaus erbaulich wirkte. In dem Gottesdienste, wo die
Passion gesungen wurde, fiel die Predigt aus, und uur das allgemeine Kirchen¬
gebet in abgekürzter Form und der Segen wurden am Schlüsse hinzugefügt. Am
Karfreitag wurde die Passion in der Kirche des benachbarten Dorfes Thale ge¬
lungen. Dann wurde der ganze Gymnasinlchor im Wirtshnuse zu Thale gespeist,
alles aus stiftungsmäßigen Mitteln. Freilich war das Essen schlecht. Es bestand
aus Biersuppe und frischer Bratwurst, und ich ließ es meist stehn, weil es mir nicht
appetitlich geung aussah. Nach dem Gottesdienste Pflegte uns der Pastor von
Thale mit einer Tasse Kaffee zu bewirten. Die schmeckte dann um so besser.
Nach Ostern in der Woche zwischen Jubilate und Cantate wurde damals der
preußische Bußtag gefeiert. Der Kirchenbesuch am Bußtage war nicht stark.
Scharenweis strömten die Quedlinburger an diesem Tage schon Vormittags in den
Harz, Nachmittags aber in das schon erwähnte Steinholz. Ähnlich war es am
Himmclfahrtstage. Es galt aber als Wetterregel, daß es am Bußtage und zu
tznnmelfahrt Nachmittags regelmäßig regne.
Um Abend des ersten Ostertags wurde auf dem Osterberge vor der Stadt
großes Osterfeuer abgebrannt. ' Das Holz dazu wurde, meist von Kindern,
aus der Stadt herangeschleppt, und es nahm sich hübsch aus, wenn plötzlich auf
"-.er ^'wen oder der andern Höhe des vor uus liegenden Harzgebirges gleichfalls
em Fciier aufflammte. In gleicher Weise wurde am Abend des Johannistags,
4> ^uni, ein Johannisfeuer abgebrannt. Der Johannistag wurde in den Volks¬
schulen auch dadurch ausgezeichnet, daß jedes Kind entweder einen Kranz oder einen
-vumienstrauß mit zur Schule brachte. Sie wurden dem Lehrer übergeben und
waren an diesen: Tage ein erfreulicher Schmuck des sonst nicht gerade anmutigen
Klassenzimmers. Es war das offenbar wie das Johannisfeuer noch ein Anklang
an uralte Gebräuche zur Feier der Sommersonnenwende.
Auch am 13. Oktober wurde zur Feier des Andenkens an die Schlacht bei
Leipzig auf dem Osterberge ein Freudenfeuer angezündet. Dieses Feuer hatte aber
ein andres Gepräge. Hier kamen ausschließlich patriotische Gefühle zum Ausdruck.
Der eine oder andre Ökonom ließ ein paar Neisigwellen oder Holzscheite dazu
heranfahren, die Turner umstanden das Feuer und sangen auch wohl ein gut
patriotisches Lied.
Das größte Fest, von den kirchlichen abgesehen, war aber in Quedlinburg
"der Klers" oder Kleers, wie mau das Wort aussprach, d.h. das große Frei-
Meßen und Vogelschießen der Schützengesellschaft, das auf der städtischen Klers-
ane,e abgehalten wurde. Der Name Klers erklärt sich von selbst dadurch. daß die
^mcunfte ans dieser Wiese ursprünglich dem Klerus der Stadt gehörten oder zu-
Später nannte man die Wiese selbst kurzweg „Klers," und von dem Fest-
in ^ "^^'ug sich der Name sodann auf das Schützenfest überhaupt. Man fragte
^uedlmbnrg ohne weiteres: „Wann fängt in diesem Jahre der Klers an?"
on ^ ^ Klers auf? Wie lauge dauert der Klers?" und nahm sich
wird" ^ "während des Klerscs" oder „wenn der Klers vorbei sein
deZ >t 6" erledigen. Daneben behielt das Wort seine ursprünglich örtliche Be-
m^" - „auf den Klers" und kam „vom Klerse," oder man
ucyte ,ete,en Spaziergang „um den Klers herum."
wahrend der beiden Hauptklcrstagc, d. h. am Tage des Freischießens und des
Vogelschießens, fiel in den Volksschulen der Stadt der Nachmittagsunterricht aus.
Die Frauen und die Kiuder bekamen zum Klerse neue Kleider, und die ganze
Stadt war während des Klerses in einer festlichen Bewegung. Schon vierzehn
Tage vorher war auf dem Klerse ein lebhaftes Treiben. Dann wurden die Klers-
bnden dort aufgebaut. Da war auf einer kleinen Erhöhung die große „Schützen-
hüte," vorn der ganzen Länge nach offen, mit vielen primitiv gezimmerten Tischen,
an denen jeder Schützenbruder seinen Platz für den Gewehrkasten zum Laden der
Büchse hatte. Daneben und davor standen die Wirtshausbudcn und die Familien¬
buden. Die Buden der Wirte waren innen wohnlich eingerichtet, die Wände mit
leichten Stoffen drapiert, die Fenster mit Vorhängen versehen, und jede Bude hatte
eine Küche, in der allerlei Festbraten schmorten und Kaffee, Schokolade oder Punsch
bereitet wurde. Auch in den Familienbuden wurde an den Hcmptklerstngen festlich
geschmaust und hinterher auch wohl ein Tänzchen gemacht. Dazu kamen noch eine
Menge von Verkaufs-, Würfel- und Pfefferküchlerbudeu und eine ganze Reihe von
Schaubuden mit wildeu Tieren, Zauberkünstlern, Panoramen, Zirkusvorstellungen
und dergleichen. Kurz, es war ein großes Jahrmarktstreiben, recht kleinstädtisch,
aber heiter, festlich und für die Jugend von unvergleichlichen Zauber.
Am Vormittage des ersten Freischießentages und acht Tage später am
Vormittage des ersten Vogelschießeutnges war großer Auszug der uniformierten
Schützengilde nach dem Klerse. Dann lief alles nach dem Markte, wo sich die
Schützen vor dem Ratskeller versammelten, nachdem vorher in der Stadt General¬
marsch getrommelt worden war. Wenn die Schützen endlich glücklich in Parade
dastanden, auf dem rechten Flügel die große Schützenfahne und die Stadtmusik,
dann erschien auf der Rathaustreppe der Bürgermeister in Frack und weißer
Binde, schritt die Front ab und nahm den Parademarsch ab. Dann ging es mit
schmetternder Musik hinaus nach dem Klerse, und das Scheibenschießen begann.
Die silbernen Schießpreisc prangten dort in einem öffentlich ausgestellten Schau¬
kästen. Wir Jungen aber liefen nach Hause zum Mittagstisch, wurden nach Tisch
sauber angezogen und liefen, mit einem kleinen Taschengelde versehen, hinaus auf
den Klers mitten in das Festtreiben hinein, staunten die Schaubuden an und
gingen auch wohl in die eine oder die andre, soweit das Geld reichte, hinein.
Die Eltern, bei uns meist die Mutter allein, folgten gegen Abend nach, und
dann wurde draußen zu Abend gegessen, und zwar regelmäßig Gänsebraten mit
Gurkensalat.
Uns Jungen interessierte das Scheibenschießen zwar auch, und wir freuten
uns, wenn ein Schuß das eiserne Zentrum traf und dann eine buntkostümicrte
Figur, der sogenannte Kilian, vermöge einer durch den Zeutrumsschuß ausgelösten
Feder hinter der Scheibe emporschnellte. Ungleich größer aber war das Interesse,
mit dem wir das Schießen nach dem großen, buntfarbige», aus Holz geschnitzten
Vogel verfolgten. Dieser war auf einer inmitten eines Gerüstes wohlbefestigten,
sehr hohen Stange, der Vogelstange, befestigt, die zwischen den Schieß- und Scheiben¬
ständen in der Mitte des Platzes stand. Mit stürmischem Jubel begrüßten wir
es, wenn ein glücklicher Schuß die vergoldete Krone oder ein Stück des Schwanzes
oder gar einen Flügel herabholte. Diese Holzstücke wurden gewogen, und je nach
dem Gewicht wurden die Gewinne bestimmt. Mit Spannung erwarteten wir am
zweiten Tage das endliche Herabfallen des letzten zerschossenen Rumpfüberrestes.
Dann zogen die Schützen, den Vogelkönig in der Mitte, mit Musik wieder zur
Stadt. Abends krönte dann ein wirklich großartiges Feuerwerk das Fest, und
dabei war der ganze Klers von Menschen vollgepfropft. Am 3. August, dem
Geburtstage des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten, war Königsschießen, und
an einem andern Tage wurde uach einer auf der Vogelstange befestigten Flatter¬
scheibe geschossen. Das ganze Klersvergnügen dauerte in meiner Jugend drei bis
vier Wochen. Später ist es eingeschränkt worden, und heute wird es an seiner
Bedeutung als Volksbelustigung, um der alle Staude teilnahmen, wohl manche
Einbuße erlitten haben. An einem der Hcmptklerstage wurden damals auch zur
größten Belustigung der Kinder Volksspiele veranstaltet: Hahnenschlagen, Preis¬
klettern und ähnliche. Das ganze Klerstreiben war absonderlich und schlug tue
Schützenfeste der Nachbarorte bei weitem. Immerhin mag die lauge Ausdehnung
des Festes mit reichlichen! Anreiz zu allerlei Vergnügungen und Geldausgaben
wohl auch ihre Schattenseiten gehabt haben. Für uns Kinder aber war es der
Höhepunkt des Vergnügens. ^ .
^c^-^
In Quedlinburg war es üblich, daß in jedem Hause alhnhrlich un Winter
ein Schwein oder deren mehrere für den Hausbedarf eingeschlachtet wurden, und
man bezeichnete auch dieses Hausschlachten als .Schlachtfest." Diese Bezeichnung
war aber unberechtigt. Denn diese Schlachttnge hatten wenig Festliches. Die
ganze Ordnung des Hauses war daun gestört, und von früh bis spät drehte sich
alles um das Schlachten Abbrühen, Wurstmachen, Wnrstkochcn und Einpökeln. Das
einzig Ansprechende dabei war. daß die nächsten Freunde des Hauses dabei freund¬
nachbarliche Hilfe leisteten. Sie halfen das Fleisch stampfen, die Würste zubinden
und ähnliche Handreichung tun. Dafür gab es dann beim Abendessen frische
Wurst aller Art und dazu ausnahmsweise ein Glas Wem. Die fnsche Wurst
mundete ja trefflich und ich sah auch dem ganzen Treiben von Anfang bis zu
Ende mit Interesse zu Aber die geschäftige Unruhe in allen Winkeln des großen
Hauses mutete mich nicht an. Ich war jedesmal froh, wenn das „Schlachtfest"
vorüber war. Hübsch aber war die Freigebigkeit, mit der von der frischen Wurst auch
andern reichlich mitgeteilt wurde. Nicht uur die nächsten Verwandten, sondern
auch die Geistlichen der Gemeinde erhielten am Tage nach dem Hausschlachten
einen Teller mit frischer Wurst zugesandt. Früher sollte angeblich ein Recht der
Geistlichen auf diese Wurstabgabe bestanden haben, und man erzählte sich — acht
»hre einen Seitenblick auf geistliche Begehrlichkeit —. die Bratwurst für den
Pastor habe so lang sein müssen, daß sie dreimal um seinen Leib gereicht habe.
Wenn dergleichen je bestanden hatte, so war diese Abgabe rechtlich längst beseitigt.
Mein Vater hielt aber aus gutem Willen darauf, daß für den Geistlichen jedesmal
eine besonders lange Bratwurst angefertigt wurde.
(Fortsetzung folgt)
s War am 17. Juni 1586 — jedermann kann das Datum in der
Chronik nachschlagen —, als die Gesandtschaft, die König Fredcrik
der Zweite an Königin Elisabeth geschickt hatte, nach Dänemark
zurückkehrte.
Ä'MW^-
>e
Das Kriegsschiff, das Henrik Ramel und sein Gefolge heim-
—! gebracht hatte, lief um die Mittagszeit in den Sund ein, strich seine
^vpsegel zum Salut vor Kronborg und ging südlich vom Schloß vor der langen
-pfahlbrücke vor Anker.MM!
Hier waren immer Leute: die Gehilfen des Zöllners und Stndtknechte,
Pferdehändler und Schiffer, Mädchen und Weiber, Schuljungen und andre Neu-
gierige.
Das Kriegsschiff da draußen mit den drei Mastkörben ließ eine Seepfeife er¬
tönen, ein Boot wurde herabgelassen und steuerte dem Ufer zu, und in dem Vordcr-
Steven erhob sich jemand und handhabte zugleich eine Pfeife und eine Trommel; es
klang ganz lustig über das Wasser hin.
Ob der Narr da draußen wohl glaubt, daß wir hierzulande so weit im
Kalender zurück sind, daß wir noch Fastnacht haben? rief ein langaufgeschvßuer
Schuljunge, indem er sich mit den durchlöcherten Ellbogen vorwärts arbeitete, um
besser sehen zu können.
^.bstino ma.nus, Jens Turbo! entgegnete eine magere Gestalt, an der ein
schwarzer Mantel herabhing wie an einer Vogelscheuche. Z?u<zris Ageot moclsstia —
imprimis coram ing.Z'Isel'o!
Der Schüler grüßte demütig und machte sich so klein wie möglich, denn der,
den er in seiner unbesonnenen Eile beiseite gestoßen hatte, und der ihn nun auf
Lateinisch ermahnte, war kein andrer als der Repetent an der Lateinschule, der
gelahrte Magister Jver Kramme.
Als das Fahrzeug jetzt näher kam, sah man, daß es außer den Bootsleuten
noch sieben Fremde enthielt; zwei von ihnen trugen Mützen, die andern Hüte, alle
aber schwangen sie ihre Kopfbedeckungen und riefen vnssr! odsc-r! und als sie die
Hüte schwenkte», fiel die Sonne auf eine lange, rotgefärbte Reiherfeder auf dem
einen von ihnen.
Was für Kumpane sind denu das? hieß es.
Das sind Moskowiter!
Ach was, Unsinn, Moskowiter haben lange Bärte!
Aber vielleicht Spaniolen?
Nein, es sind Engländer.
Der Mann, der im Vordersteven stand, mit einem lederbraunen Wams und
lcwendelfarbner Hose bekleidet, hielt jetzt, wo das Boot an der Brücke angelangt
war, inne mit seiner Musik, und nun entdeckten die Augen der Einwohner von
Helsingör einen großen Korb mit sonderbarem Inhalt, der mitten in dem Fahr¬
zeuge stand; darin lagen Bärenhäute und Löwenfelle, Helme und bunte Federbüsche,
eine Königskrone, blanke Schlachtschwerter und Gürtel mit großen Schellen.
Es sind Musikanten, englische Musikanten, sagte der Repetent erklärend. Seine
Allergnädigste Majestät der König hat offenbar wieder eine Bande verschrieben, die
ihn mit Musik und Tanz verlustieren und Komödie vor ihm agieren soll.
El, sind das Komödianten? rief der Schüler und machte große Augen.
Lisi'eg, Löitv! antwortete der Repetent.
Als das Wort Musikanten genannt wurde, sah der in dem lederbraunen Wams
auf, nickte und lachte. Versteht jemand von euch, gute Leute, was ich sage?
fragte er auf Englisch.
Über diese Frage lächelte nun mancher, denn nicht nur verkehrten englische
Seeleute fast täglich in Helsingör, sodaß sich alle, die mit ihnen handeln wollten,
gezwungen sahen, ihre Sprache zu verstehn, sondern es waren auch nicht wenig
Engländer ansässig in der Stadt.
Sprecht nur frisch von der Leber weg, rief ihm einer zu. Wir werden den
Sinn schou verstehn.
Wohlan, dann gebt gut acht! antwortete der Engländer, schlug einen Wirbel
auf der Trommel und begann:
Wir englischen Musikanten und Schauspieler gehören zu der wohlbekannten
Truppe des berühmten Jarl von Leicester, dessen Ruf so weit gedrungen ist, daß
es dem großmächtigen König von Dänemark — hier schwenkte er den Hut hoch
in der Luft — gefallen hat, uns in seinen Dienst zu nehmen. Wir sollen ihm
mit Instrumentalmusik und Gesang, mit Tanz, Jnterluden und Jigs nach besten
Kräften aufwarten, aber wenn Seiner Majestät Dienst es gestattet, und die wohl¬
löbliche Obrigkeit dieser Stadt es uns erlaubt — hier lüftete er den Hut —,
ist es unsre Absicht, hin und wieder auch einmal die ehrenwerte Bürgerschaft dieser
Seestadt für ein billiges Geld mit unsern Künsten zu divertieren. Ich bin William
Kemp - berühmt von Sussex bis Northumberland wegen ' ^ ^on dem
ihr schon eine Probe erhalten habt, und wegen memes nar cuta z s, den nnr
niemand ini britischen Reich oder ans dem Kontinen nachmachen t um Der da
mit der roten Reiherfeder - Hut ab. Thomas! - h^t Thomas B er an
mit dem Teufel um die Wette Diskant singen; aber den /eure ihr wohl se
ja erst kürzlich hier gewesen. Der da mit der spitzen Mütze und " Gesicht o
glatt wie das eiuer Jungfer heisst ebenfalls Thomas - Thomas P"pe --, u d
wenn er und George Bryan - das ist der. der da mit der Ge.ge ^ de Hand
steht und noch blaß von der Seekrankheit ist wenn die beiden ^Yrauu od r
Narr. Herkules oder Kambyses spielen, so gibt es memand der nicht lachen oder
weinen müßte Die drei andern dort hinten sind anch große Künstler. inter aus
seine Art -'aber jetzt laßt uus aus Land steigen und die Beine em wenig
vertreten
William. Keil.P schlug abermals einen Wirbel sehr lang ""d sZr kunst^t.
sprang auf die Brück und ließ sich die Trommel humusreicher, der Schuler h
das Glück, die Trommel mit in Empfang zu nehmen, und der Repetent se »d dicht
"eben der Treppe, sodaß er gerade in das Boot h.nuntersehen und den schalt des
Korbes genau in Augenschein nehmen konnte, . -
i...
Thomas Bull - der n.it der roten Reiherfeder Hut - r,ef zetzt.
Ist hier jemand unter auch. ihr guten Leute, der Englisch sprich. und der
"us Ästli r Bar über^eit und für angemessene Bezahlung einen unsrer Kame¬
raden in Kost und Pflege nehmen will? Er ist an Bord zu Schaden gekonunen
und kann vorläufig uicht auftreten. ^
^-Erst setzt sah mau daß hinten im Boot ein junger Mann und etwas bleichem
Gesicht saß, das eine Bein auf der Ruderbank ausgestreckt.
Die Helsingborger sahen einander an. und es entstand ein kurzes Schweigen,dann aber antwortete der Repetent Jver Kramme in fließendem Englisch:
Ich bin nicht abgeneigt, euern Kameraden in mein Haus zu nehmen, und
über die Bezahlung werden wir schon einig werden.
^-.<GutI Dann geht Will mit Euch, entgegnete Thomas Bull. Laß much dir be¬
hilflich sein, mein Imme!
,^.....Er und George Bryan halfen dem Verwundeten aus dem Boot und auf die
Brücke hinauf; der Repetent stand da und nahm ihn in Empfang, reichte ihm beide
Hände und zwinkerte wohlwollend mit seinen kleinen Augen.
Habt Dank' sagte der Fremde mit fester, klangvoller Stimme; jetzt betrete >esalso mit einem Fuß den Boden Dänemarks — damit muß ich mich wohl einst¬
weilen begnügen' — Aber wo ist mein Gepäck?
Mach dir deswegen keine Sorge! Ich bringe dir nachher deinen Quersack unddeine Laute in dein Logis, sagte Bull. Aber nur müssen dich wohl abwechselndbis dahin tragen. Will?
Nein, ihr habt vorläufig mit euch selber genug zu tuu, sagte dieser. Kann"h nur die Arme um die Schultern von zwei braven Männern legen, und istes nicht gar zu wett zu gehn, so komme ich schon hin. Laßt mich nur einen
Augenblick hier an dem Pfahl stehn und mich ausruhn.
, Die Musikanten und ihre Habseligkeiten kamen ans Land, und dann ruderte
das Boot schleunigst nach dem Kriegsschiff zurück, das wieder unter Segel gingund seinen Kurs nach Kopenhagen wieder aufnahm.
Mehr als eines der Mädchen unten auf der Brücke - und mehr a s
une der Frauen — fanden, daß der zu Schaden gekommene junge Man, wie
er so dastand, ungewöhnlich, vielleicht nicht eigentlich schön, aber eigentümlich, Flut
und Gedanken fesselnd sei. Seine Kleidung machte es nicht, denn sie war mit
Ausnahme des breiten weißen leinenen Kragens ganz schwarz — ein schwarzer
Witzer Hut mit schmalem Rand, schwarzes Wams und schwarze Hosen —, aberer trug sie gut, und sie paßte zu seiner schlanken, elastischen Gestalt. Nein, was
die Blicke der Frauen auf sich zog, war sein Antlitz, das mehr dem eines Edel¬
manns als dem eines einfachen Musikanten glich. Die Stirn war hoch — un¬
gewöhnlich hoch —die Nase leicht und fein gekrümmt, und die Augen, diese klaren,
braunen Augen lagen tief unter den kräftigen Brauen und schauten ruhig, voller
Interesse um sich. Der Bart, ein Schnurrbart, den er nach beiden Seiten auseinander
und dann in die Höhe gebürstet trug, war noch ziemlich dünn — der junge Maun
mochte wohl zwanzig Jahre alt sein.
Wie heißt das Schloß da? fragte der Fremde — Will hatte ihn ja Thomas
Bull genannt.
Das ist Kronborg, antwortete Jver Kramme. Früher hieß es der Krug,
seit aber Seine Majestät der König es ganz hat umbauen und herrlich ausstaffieren
lassen, heißt es Kronborg.
Ein prächtiges Schloß, fuhr Will fort. — Aber Ihr sprecht ja Englisch wie
ein Eingeborner, woher kommt das?
Meine Mutter war Engländerin.
El, da sind wir ja halbe Landsleute! Aber jetzt möchte ich doch versuchen,
fortzukommen! Adieu, Kameraden, ans Wiedersehen!
Jver Kramme winkte den Schüler Jens Tuubo heran, Will legte den einen
Arm um seine Schulter, den andern um die des Repetenten, und dann ging es
Schritt für Schritt die Brücke hinab und in die Stadt hinauf.
Zuerst durch das große Strandtor, ein ganzes steinernes Haus von zwei
Stockwerken, wo die Stadtknechte — rot und gelb war ihre Kleidung — mit
langen Partisanen Wache hielten, dann an der Apotheke vorüber, die enge Brücken¬
gasse hinauf und in die Se. Anna-Straße.
Von Zeit zu Zeit mußten sie Halt machen und einige Augenblicke ruhen, denn
es schmerzte Will offenbar jedesmal, wenn der kranke Fuß den Boden berührte,
und seine beiden Stützen, die jeder auf seiner Seite neben den großen flachen
Bürgermeistersteinen mitten in der Straße gehn mußten, waren immer nahe daran,
über das holprige Pflaster zu stolpern, und stöhnten unter der Last — es war
heißes Wetter.
Da kamen neugierige Gesichter zum Vorschein hinter den kleine» flaschengrünen
Fensterscheiben, zwischen Goldlack und Balsaminen, und neugierige Gesichter in
dunkeln Luken und offnen Halbtüren; ringsum starrte mau heraus aus Beischlägen
und Erkern, aus Läden und überhängenden Mansarden, aus allen diesen lustigen,
zufällig angeklebten Ausbauten, die wie ein buntes, fremdes Zeltlager vor der
eigentlichen Häuserreihe aussahen, der Fachwerkhäuserreihe mit den geschnitzten
Balkenköpfen und Türklopfern, mit steifen Inschriften und in Drachenschnauzen
auslaufenden Wasserspeiern, mit spitzen roten Dächern und moosgrünen Stroh¬
dächern dazwischen.
Ehe sie bis an die Ecke der Pferdemühlenstraße gelangt waren, wußte schon
halb Helsingör, daß Jver Kramme einen Gast abgeholt hatte, und was für ein
Gast es war.
Hier ist mein Domizilium, sagte der Repetent, als sie endlich vor dem linken
Flügel des Klosters stehn blieben. Jetzt handelt es sich nur darum, die Treppe
hinaufzukommen, die ziemlich steil ist.
Will blickte auf.
Da lag das alte Karmeliterkloster vor ihm — noch heutigestcigs eines der
schönsten mittelalterlichen Gebäude Dünemarks —, hoch aufragend, mit seine»
schweren, braunroten Mönchsteinen, mit seinen leichten schlanken Spitzbogen, zackigen
Giebeln und der Reihe von Lindenbäumen davor, deren Kronen bis an die kleine»
viereckige» Fenster des obern Stockwerks hinaufreichten.ue
Denn gingen sie hinein, ein Paar Stufen hinab, über abgeschliffne gra
Grabsteine, und dann durch den gewölbten Kreuzgang, über die gelbrotem Ziegel¬
steine, ans denen der Sonnenschein, der gebrochen durch die Apfel- und Rosen-
zweige des Fratergartens hereindrang, die die offnen Arkaden beschatteten, seine
goldnen, unruhig flimmernden Flecke zeichnete.
Die Steintreppe mußte Will hinaufgetragen werden — er war jetzt ganz
blaß vor Schmerzen und Anstrengung —, und dann standen sie endlich vor Jver
Krammcs Tür; Jens Turbo öffnete sie, und Will wurde über die Schwelle in sein
neues Heim geführt.
Mitten in dein Zimmer saß ein junges Mädchen, weiß und rot wie Milch
und Blut, blond und drall, mit klaren, binnen Juugfraueuangen, die offenbar noch
niemals in Liebe zu einem Manne erstrahlt waren. Sie erhob sich, knickste züchtig
und reichte Will die Hand.
Das ist meine Schwester Christence, sagte Jver Kramme; sie spricht Englisch
w gut wie ich. — Dann gab er ihr kurz Bescheid über ihren neuen Hausgenossen
und hieß sie ein Lager in der innern Kammer bereiten. Das war schnell geordnet,
und bald lag Will entkleidet im Bett — Jver Kramme setzte sich auf den Rand
des Lagers.
Willkommen im Kloster, sagte er gutmütig.
Im Kloster? rief Will und richtete sich unwillkürlich halb auf. Habt ihr
noch Klöster in Dänemark?
Nein, versteht mich recht, entgegnete Jver Kramme; es ist einstmals ein
Kloster gewesen — das Kloster der Weißen Brüder —, aber jetzt, seit die reine
Lehre ans Wittenberg zu uns gebracht und alle Papisterei hierzulande verboten
^se, jetzt ist es ein lwsxitiuin für Alte und Schwache, mit alleiniger Ausnahme
dieses linken Flügels, der eine Schule ist — das heißt im untern Geschoß —,
denn hier oben wohnen der Rektor und noch ein Repetent außer mir.
Und Eure schöne Schwester führt Euch den Haushalt?
Ist Christence schon? Ach ja, vielleicht, aber nur den Haushalt führen, das
tut sie. Wie seid Ihr denn zu Schaden gekommen?
An Bord. Vor zwei Tagen bei einem Sturm wurde ich von einem Segel¬
baum umgeworfen, als wir lavierten, aber ob ein Knochen gebrochen oder der Fuß
nur verstaucht ist, das weiß ich nicht.
Das wird sich bald geben, meinte Jver Kramme. Ich habe Jens schou zu
Hans Bartscheer geschickt; er ist ein zuverlässiger Medikus, namentlich wenn der
Abend noch nicht weit vorgerückt ist.
Und Hans Bartscheer kam auch uach einer Weile. Er war ein korpulenter
Maun mit rotem Gesicht und schwarzer Kleidung. Einen Degen hatte er an der
Seite und in der Hand einen Stock mit silbernem Knopf.
Er hatte sich beeilt, so sehr er konnte, und war außerordentlich heiß und
außer Atem, als er aber eine Maß Bier geleert hatte — es war kein Wein im
Hause —, verschmauste er sich wieder und examinierte den Patienten.
Nur Geduld, Geduld! begann er. ?akieutia, das heißt Geduld, und weil ein
Kranker immer Mioutia, haben muß, wird er ja auch patiens genannt. — Kein
^uudfieber? Gar keine auswendig Blcssure? Das ist schade! — Aber hier tuts
weh? Schön! Dann ist allerdings die tllmia. gebrochen, aber das wird wieder zu-
Muinen wachse«, und sollte es nicht hübsch glatt und gerade zusammen wachsen,
dann brechen wir die übuls. noch einmal, ganz oro und Munclo, und passen die
Stücke sauber aneinander. Sollte das alles nicht helfen, und schlägt sich c^riss
dazu, dann können wir jn immer eine kleine hübsche mnxutatio vornehmen, aber
bvrläufig ist das durchaus uicht notwendig: nur Einreiben mit sxiritu sapouaric»
und eine Bandage fest angelegt — werde aber Fräulein Christence darüber Be¬
scheid sagen.
Dann legte Meister Hans eine Binde um Wilts Bein, trank noch eine halbe
">naß Bier und nahm seinen Hut und seinen Stock mit dem silbernen Knopf und
guig weiter zu dem nächsten Patienten — er hatte eine große Praxis und konnte
un Sommer viel Bier vertragen.
Im Laufe des Nachmittags kam Thomas Bull mit Wilts Ranzen und Laute. Er
habe Unterkunft bei einer Landsmännin gefunden, erzählte er, bei einer Witwe namens
Gertrud Claytou, die er von seinem frühern Aufenthalt her kenne; William Kemp
wohne ein Stück außerhalb der Stadt, draußen in dem Vorort Lappen, und auch
alle die andern hatten anständiges Logis zu annehmbaren Preise gefunden.
Dann verabschiedete sich Bull, und nach einer frühen Abendmahlzeit fiel Will
in einen ruhigen Schlaf. Das war seine erste Nacht in Helsingör.
In der Frühe des nächsten Morgens brachte Christenee dem Gaste des Hauses
gesalzucn Hering und Bier und Brot, sah nach dem Verband und legte ihm die
Kissen zurecht. Will versuchte, eine Unterhaltung mit ihr anzufangen, aber das
mißlang, denn sie antwortete kaum auf seine Fragen und immer so kurz wie möglich,
sie war es nicht gewöhnt, mit Fremden zu reden.
Und dann lag Will fast den ganzen Vormittag im Hnlbschlummer da. Schlug
er die Augen auf, so konnte er in den Fratergarten, den alten Kirchhof des Klosters,
hinaussehen, der an drei Seiten von braunroten Flügeln mit offnen Bogengängen
unten und kleinen bleigefaßtcn Fenstern oben umgeben war; der vierte Flügel war
die Klosterkirche Se. Marien. Unten im Fratergarten waren Obstbäume, Rosen
und Hvlunder; ein Stück war ein kleiner Gemüsegarten, das andre lag unbenutzt
da, wilde Blumen wucherten üppig zwischen den verfallnen Grabsteinen.
Das Feuster stand offen, hin und wieder spürte er den starken Duft der
Holunderblüten, und der machte schläfrig.
Von Zeit zu Zeit wurde er durch ein Geräusch geweckt, das von unten, von
der Schule her, zu ihm herausdrang; bald sangen die Schüler ein geistliches Lied,
bald skandierten sie lateinische Verse im Chor, und zwischendurch erscholl Schreien
und Heulen wie von wilden Tieren.
Meister Hans machte Visite und war noch immer der Ansicht, daß eine -unM-
ts-dio „vorläufig" noch ganz unnötig sei; Christeuee guckte fleißig in die Kammer,
ob der Kranke auch etwas bedürfe, stellte frische Blumen auf den Tisch um seinem
Bett, und dann war der Tag vergangen, und es wurde Abend.
Jver Kramme ließ sich auf einem Stuhl vor dem Bett nieder und fing an,
Will auszuforschen.
Wie er eigentlich heiße?
Will.
Aber das sei ja doch nur ein Vorumuc!
New, für ihn sei es Vor- wie Zuname — jedenfalls hier in Dänemark,
fügte er hinzu.
Und er sei Musikant?
Ja, er könne jedenfalls die Laute traktieren und ein wenig dazu singen.
Ob er auch als Schauspieler aufgetreten sei?
Nicht sonderlich, aber hier hätte er ja agieren sollen, wenn ihn nicht das
Unglück mit dem Bein getroffen hätte.
Womit er sich denn früher abgegeben habe?
Mit mancherlei!
Jver Kramme sah Will etwas enttäuscht an, aber dieser lachte nur und fragte:
Könnt Ihr die Flöte spielen?
Nein, das konnte Jver Kramme nicht.
Meint Ihr denn, es sei leichter auf mir zu spielen als auf einer Flöte?
So hörte denn Jver Kramme schließlich auf mit dem Ausforschen; sie sprachen
über das Schauspiel im allgemeinen, und als Will fragte, ob die Dänen much
Komödie aufführten, wurde Jver Kramme ganz beredt.
Ja, das täten sie allerdings, lateinisch wie dänisch, und sie hätten sogar hei¬
mische Poeten, sogar hier in der Stadt gebe es welche. Um nur einen Helsing-
örischen Poeten zu nennen: da war Hans Kristensen sehen, der vor ungefähr
zwanzig Jahren hierorts Schulmeister und Kaplan gewesen war. Er hatte ein
großes Schauspiel geschrieben, das hieß „Kurze Wendung" — und die Handlung
gab Jver Krcnnme so weitläufig wieder, daß sein einziger Zuhörer mehr als ein¬
mal gähnte.
Aber das ist ja keen richtiges Schauspiel, sagte Will, als Jver Kramine
endlich fertig war. Das ist ja nnr Moral oder Philosophie, wie Ihr es nun
nennen wollt, in Dialog gebracht.
Aber Moral muß doch in jedem Schauspiel sein, wandte Jver Kramme ein.
Vielleicht — und vielleicht auch nicht!
Ich habe übrigens selber einmal in einer artigen Komödie mit agiert, fuhr
der für das Schauspiel interessierte Repetent fort.
Ihr?
Ja, damals, als ich in Kopenhagen auf der Universität war. Da wurde aus
Veranlassung der Taufe des Prinzen auf dem Kopenhagner Schloß zwei Tage
nacheinander von swüiosis agiert. Der Schauplatz war der Schloßhof, und rings
umher an allen Fenstern saßen außer Seiner Allergnädigsten Majestät dem Könige
und der Königin viele hochfürstliche Herren und die Räte des Reichs und Adels¬
personen beiderlei Geschlechts. Wir führten „David und Goliath" auf.
Wart Ihr denn David oder Goliath?
Ich war einer von den gewöhnlichen Juden, antwortete Jver Kramme be¬
scheiden. Aber stellt Euch vor: als wir auf den Haufen losstürzten, die die
Philister darstellten, da wollten diese nicht fliehen, wie vorgeschrieben war, aber
dieweil es ihnen schimpflich erschien, im Beisein so vieler hochvornehmer Personen
Reißaus zu nehmen, drehten sie den Spieß herum und schlugen sich mit uns, nicht
Zum Schein, sondern alles Ernstes.
Und die Philister behielten das Feld?
Nein, gottlob nicht, schließlich trug doch Israel den Sieg davon, aber einer
war auf dem Fleck geblieben, der stand nie wieder auf, und zwei sind noch hinterher
U)ren Wunden erlegen.
Geht es immer so heiß her bei Euern Komödien hierzulande? fragte Will
lächelnd.
Nein, nicht immer. Wie zum Beispiel vor zwei Jahren, als man dem Prinzen
w Viborg huldigte, da agierten die Schüler dort ein artiges Schauspiel vor ihm
und dem Allergnädigsten König, eins, das der Pfarrer da drüben, Hieronymus
^ustesen Rauch, abgefaßt hatte. Es hieß „König Salomos Huldigung," und dabei
kamen keine Exzesse vor, soviel ich weiß.
Schreiben denn in Dänemark nur die Geistlichen und die Schullehrer Ko¬
mödien?
In der Regel, ja! Andre ermangeln gewöhnlich der Erudition, die für einen
Höcker das Vornehmste ist. — Es muß übrigens sehr schön sein, fuhr Jver Kramme
ort, eine Komödie, die man selbst geschrieben hat, vor einem vornehmen Auditorium
Wohl agiert zu sehen!
Bewegen sich Eure Wünsche nach der Richtung hin?
col-a^^ Kramme nickte. Es gibt Reputation, und es kann zuweilen auch einen
gefüllten Beutel geben. — Kunst bringt Gunst, wie die Deutschen in Wittenberg
von Hieronymus in Viborg erhielt zehn Rosenobel als Ehrengabe
in König, und der junge Prinz trank ihm selber in spanischem Wein aus einem
!UMien Becher zu.
Was kann man sich mehr wünschen! sagte Will.
-Ja
en, da habt Ihr wahrlich Recht! entgegnete Jver Kramme.
Abeni! ? f dergleichen und anderm kurzweiligen Reden und Schwatzen verging der
^ mo ichnell. Christeuce brachte noch einen Nachttruuk. und Jver Kramme wünschte
'urz darauf eine wohl zu ruhende Nacht.
Will langweilte sich.
Es hing Wohl damit zusammen, daß das Bein besser war; die Schwellung
ließ nach, die Schmerzen waren vorüber, und Meister Hans schien jetzt — nicht
ohne eine gewisse Enttäuschung — jeden Gedanken an s.inputg.tlo aufgegeben zu
haben, ja es war nicht einmal mehr die Rede davon, die übuls, noch einmal tnto
und juenucio zu brechen.
Vergebens bemühte sich Will, eine Unterhaltung mit Christenee in Gang zu
bringen. Sie war eitel Fürsorge für ihn, verschaffte ihm frischen Fisch, Sauer¬
ampfer und Salat und holte oft selbst eine Kanne Danziger für ihn von der Bier¬
frau, aber sie war noch immer ebenso wortkarg, ebenso zurückhaltend — sie hatte
weder Seele noch Leib für ihn.
Jver Kramme kehrte beständig mit Neuigkeiten heim, bald von der Schiffs¬
brücke, bald aus der Stadt.
Eines Tags war eine spanische Galiote, ganz mit köstlichem Alicantewein für
den Keller des Königs beladen, auf dem Lappengrund aufgelaufen, und an Bord
war ein Mohr gewesen rin bunten seidnen Tüchern um den Kopf. An einem
andern Tage war das arge Hexenweib, das schuld daran war, daß Didrik Nemme-
sniders Ehefrau das schlimme kalte Fieber bekommen hatte, endlich gefaßt und auf
die Folter gespannt und mit dem glühenden Becken gebrannt worden, worauf sie
sofort gutwillig ihre arge Bosheit bekannt hatte. Aber dergleichen Neuigkeiten
interessierten Will nicht, und auf die Dauer belustigte es ihn auch nicht, Abend für
Abend die Komödie im Kopenhagner Schloß oder „König Salomos Huldigung"
abzuhandeln.
Eines Morgens, als gerade Jver Kramme in die Schule hinabgehn wollte,
fragte ihn Will, ob er ihm nicht irgend ein englisches Historienbuch zum Zeit¬
vertreib leihen könne.
Nein, ein solches hatte Jver Kramme wirklich nicht; dänische Bücher hatte er
und lateinische, andre nicht.
Dann gebt mir ein lateinisches, bat Will.
Könnt Ihr Lateinisch? rief Jver Kramme überrascht und riß die kleinen Augen
auf. Dann laßt uns doch hinfort Lateinisch miteinander reden!
Nein, sagte Will lachend, sprechen er ich die Sprache nicht, aber einen lateinischen
Autor lesen, das kann ich schon — gebt mir nur einen.
Jver Kramme trat an sein Bücherbrett, nahm einen Folianten heraus und
gab ihn Will.
Das ist die dänische Chronika auf Latein, sagte er, von Saxo, evssnowino
<Ä-g,mena,t.ieus, abgefaßt und in Paris Anno 1514 nach Christi Geburt gedruckt.
Da habt Ihr für lange Zeit zu lesen!
Aber Will blätterte nur darin, las eine oder zwei Seiten und erklärte dann
um die Mittagszeit, wenn in Dänemark weiter nichts Merkwürdiges passiert sei,
als was in dieser Chronik stehe, so habe Dänemark keine Geschichte.
Er ließ sich seine Laute auf das Bett legen, stimmte sie und sing an, einige
Griffe zu tun, im nächsten Augenblick aber legte er sie mißmutig wieder hin, drehte
sich uach der Wand um und entschlummerte.
Jetzt mag ich nicht länger liegen, sagte Will eines Tages. Jetzt müßte ich
wieder anfangen können zu gehn.
Er kam ans dem Bett und kam in die Kleider, aber es war ihm nicht möglich,
sich nur auf das Bein zu stützen, er mußte sich sofort wieder hinlegen.
Da machte ihm Christenee den Vorschlag, da er um doch einmal aufgestanden
sei, in die große Stube hinüberzukommen und das Bein auf die Ruhebank zu
legen, es müsse doch eine Unterhaltung für ihn sein, da hinauszusehen, meinte sie.n
Und eine Abwechslung war es ja auf alle Fälle. Durch die Liudenkrone
sah er nach den Häusern auf der andern Seite hinüber; davor lagen ein paar ganz
kleine Krantgttrten, von Bretterzäunen umgeben, und in dem einen stand ein großer
Kirschbaum mit vielen Früchten. Wenn er sich aufrichtete, konnte er auch sehen,
wer vorüberging: die Schüler strömten zur Schule hinaus, lärmend und ausgelassen.
Bürgersleute und Kriegsleute kamen vorüber, Mägde holten Bier in großen Kannen,
und ein fremder Schiffer, der sich in der Stadt verirrt hatte, blieb stehn und
fragte nach dem Wege zum Ratskeller.
Einen besondern Spaß hatte er auch daran, Jens Turbo, der zweimal in der
Woche um christlicher Barmherzigkeit willen sein Essen in des Repetenten Haus
bekam, die Mittagszeit, wo alle ruhten, dazu benutzen zu sehen, daß er über den
Bretterzaun in den kleinen Garten kletterte, wo der Kirschbaum stand, und dort
von den Früchten Pflückte, obwohl sie noch ganz unreif waren. Will drohte ihm
lächelnd vom Fenster aus, und Jens war auch offenbar ans das schlimmste gefaßt,
"is er das nächstemal bei Jver Krumme eintrat; aber Will nickte ihm beruhigend
zu und gab ihm durch sein Mienenspiel zu verstehen, daß er nichts verraten hätte.
(Fortsetzung folgt)
Mit der vorgedruckteu Aufschrift: „An
die Lehrer der neueren Sprachen des Gymnasiums ..." gelangte dieser Tage an
das Wettiner Gymnasium zu Dresden und vermutlich auch an andre höhere Schulen
Deutschlands eine Drncksenduug, die vom „Sekretariat der deutsch-französischen
— München" ausging. Ein Herr Dr. H. Molennar fordert darin uuter
der Anrede „Werter Herr Kollege" die Neuphilologen zum Beitritt des zu grün¬
denden Bundes auf, indem er mit der e-rxtatio douovolvutiao beginnt: „Als Kenner
Frankreichs stehen Sie dem Projekt einer deutsch-französischen Liga zweifellos sym¬
pathisch gegenüber. Nachdem der beifolgende Entwurf in der gesamten französischen
Presse eine so freundliche Aufnahme gefunden hat, ist es an uns Deutschen, zu
Helgen, daß es auch uus Ernst ist mit der Aussöhnung der beiden großen Nationen,
und daß die stumpfe Gleichgültigkeit der Gebildeten Deutschlands in
dieser Angelegenheit (worüber schon vor Jahren in den Preußischen Jahrbüchern
Klage geführt wurde) einer vernünftigen Auffassung Platz gemacht hat. Es ist die
höchste Zeit, daß die bisherige Kirchturm- und Zipfclmützenpolitik aufhört, wenn
wu es nicht erleben »vollen, daß Deutschland und Frankreich zu Mächten zweiten
Ganges degradiert und wirtschaftlich an die Wand gedrückt werden. Das Ziel der
^/ga ist sann nicht nur ein humanitäres, sondern ein in hohem Maße patrio-
Nches. Da es wichtig ist, daß die Liga unverzüglich konstituiert wird, so
urbem Sie die Sache doppelt fördern, wenn Sie mit Ihrem Beitritt nicht lange
Zögern würden."
Der erwähnte, dieser Aufforderung zum Beitritt beigelegte Entwurf stellt als
<MIe des Bundes in den Vordergrund', „I. mit allen ehrenhaften Mitteln danach
^ ^ ? ' ^ 6»te Einvernehmen zwischen Frankreich und Deutschland wieder her-
n - zunächst dadurch, daß II. die elsaß-lothringische Frage möglichst bald und
uvglichst befriedigend gelöst wird." Hierüber heißt es sofort weiter: „Das »Wie«
^w-^ stellt die Liga zunächst uur zur Diskussion. Aus deu Ansichten ihrer
"'tttglieder wird sich wohl bald ein festes Programm herauskristallisiert haben.
??.^'de Lösungen wären besonders zu erwägen (ohne daß damit andre ausge-
Mosscn oder die genannten aufgedrängt werden sollen):
Die letztgenannte Losung (ä) hätte viel für sich, doch steht hierüber jedem Mit¬
glied der Liga freie Meinungsäußerung zu."
In einem dritten Rundschreiben desselben Sekretariats heißt es schließlich:
„Was uns trennt, ist nur das »Wie?« Diese heikle Frage nun will die deutsch¬
französische Liga lösen helfen, zunächst durch eine offene und freundschaftliche Aus¬
sprache über diejenigen Punkte, welche vor allem das gute Einvernehmen der beiden
großen Nachbarvölker stören. Es wäre jedoch höchst unbillig, hiebei Frankreich
alle, Deutschland gar keine Konzessionen zuzumuten. Wie groß auch immer die
Schädignttgen gewesen sein mögen, die sich die beiden Völker (bezw. deren Re¬
gierungen) in früheren Zeiten gegenseitig zugefügt haben — einer muß einmal die
Hand zum Friede» reichen, und selbst wenn uns eine vorurteilsfreie Geschichts¬
betrachtung zu der Ansicht führen müßte, daß Frankreich dem Deutschen Reiche in
früheren Jahrhunderten ungleich mehr Leid zugefügt hat, als wir den Franzosen,
so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß wir den letzten schweren Hieb geführt
haben; und jeder weiß, daß leichtere aber noch blutende Wunden mehr schmerzen
als schwerere, die bereits vernarbt sind. Deshalb ist es an uus, dem ritterlich
unterlegenen Gegner znerst entgegenzukommen. Als Schwäche kann ein solcher Schritt
dem Sieger nie, wohl aber dem Besiegte» ausgelegt werden. Daher wurde von
dem ursprünglichen Plan, die deutsch-französische Liga gleich von vornherein auch
auf Frankreich auszudehnen, abgesehen, obwohl dem deutsch-französischen
Einvernehmen in Frankreich die Wege vielleicht besser geebnet siud als
in Deutschland. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel (und wir sind von
autoritativer Seite zu dieser Erklärung ermächtigt), daß, wenn der Gedanke
der deutsch-französischen Liga in Deutschland günstige Aufnahme findet, man ihm
in Frankreich freudig zustimmen und jedenfalls eine ähnliche Organisation ins Leben
rufen wird. Es sei aber ausdrücklich betont (und die Beweise hiefür können jederzeit
erbracht werde»), daß diese Idee einer deutsch-französischen Liga von deutscher
Seite ausgegangen ist."
Dieser letztern Versicherung bedürfte es nicht; denn jeder halbwegs gebildete
Franzose würde sich gescheut haben, ernsthaften deutscheu Männern die Beleidigung
zuzufügen, ihnen die Gründung eines Bundes mit Zielen, wie das oben unter II ä
empfohlene, anzutragen! Er wüßte doch, daß nach französischen, Empfinden es
undenkbar gewesen wäre, daß zum Beispiel ein Franzose in früherer Zeit einen
Bund nnter seinen Landsleuten hätte gründen wollen mit dem Ziele, das geraubte
Straßburg an Deutschland zurückzugeben nur um der lieben Freundschaft willen.
Der Franzose, der solches seine», Volke angesonnen hätte, würde als Vaterlands-
feind von jedermann mit gebührender Verachtung bestraft worden sein! — Es ist
aber auch tief traurig, daß sich in deutscheu Lehrerkreisen — und als „Kollege"
bezeichnet sich ja Herr Dr. H. Molenaar — einer findet (hoffentlich ist es nur der
eine!), der den Gedanken denkt und ausspricht, daß wir die Schuld tragen, wenn
Frankreich uns noch immer grollt, der es wagt, die treue Behütung des Erbes
jeuer großen Zeit, das Vermächtnis eines Vismarck, als „die bisherige Kirchturm-
und Zipfelmützenpolitik" zu bezeichnen, der alles Ernstes der Rückgabe eines Teils
des in ehrlichem Kampf Errungnen das Wort redet! Geradezu ungeheuerlich wirkt
es aber, wenn in dem letzterwähnten Rundschreiben in diesen, Gedaiikenkreise
gesagt wird: „Der Kaiser hat seinen guten Willen, ein freundschaftliches Verhältnis
mit Frankreich wiederherzustellen, schon des öftern bekundet, das deutsche Volk als
solches noch nicht. Jetzt ist Gelegenheit dazu geboten." Gott sei Dank, der Schreiber
dieses Satzes kennt unsern Kaiser schlecht, wenn er meint, der Kaiser habe in seinem
Sinne den „guten Willen/' Er kennt aber auch die Franzosen schlecht; denn wer
nur einigermaßen „Kenner Frankreichs" ist, der weiß, daß das französische Volk,
wenn es sich wie ein unartiges Kind durch dauerndes Schmollen seinen Willen er¬
trotzen könnte, hier, wo es sich um Elsaß-Lothringen (Frankreichs beste Svldaten-
quelle) handelt, wenn wir ihm nur den kleinen Finger reichen wollten, gleich die
ganze 5w>d nehmen Würde oder wenigstens nicht eher zufrieden sein wurde als
bis es die ganze .wnd hätte. Wir würden genau auf demselben Punkte stehn
wie vorher; ja das gegenseitige Verhältnis würde sich wahrscheinlich noch ver¬
schlimmern: das französische Volk würde solche Torheit, deren es im umgekehrten
Falle nie und nimmer fähig wäre, mit Recht als ein Zeichen der Schwäche auf¬
fassen, und die alten Rufe uach Wiederherstellung der Rheingrenze würden von
neuem laut ertönen.
,
Doch diese Dinge sind ja so selbstverständlich, daß man sie nicht ernsthaft zu
erörtern braucht. Für den Unterzeichneten, einen Lehrer der neuern Sprachen, er¬
übrigt es sich nur, für seine Person und, dessen ist er gewiß, für die gesamte
Neuphilologenschaft Deutschlnuds Verwahrung einzulegen gegen die Unterstellung,
als ob der deutsche Lehrer der neuern Sprachen diesem „Projekt einer deutsch-
französischen Liga zweifellos sympathisch" gegenüberstünde. Er hofft aber auch,
daß die verschiednen neuphilvlvgischeu Vereine und Verbände, falls die Liga (das
fremde Wort Pnßt für die fremde Sache!) wirklich zustande kommen sollte, noch
gemeinsam Stellung dagegen nehmen werden.
Die Leistungs¬
fähigkeit der Arbeiter in den Vereinigten Staaten von Amerika übertrifft uicht bloß
nach den Angaben der dortigen Unternehmer, pudern auch nach den Berichten der
die Verhältnisse in Gewerbe und Landwirtschaft prüfenden Besucher des Landes
bedeutend die der europäischen Arbeiter. Es wird von den amerikanischen Unter¬
nehmern mit starkem Selbstbewußtsein hervorgehoben, daß sie es verstünden, bei
ehren Arbeitern die höchste Leistung, selbstverständlich mit entsprechendem Verdienst,
zu erreichen. Daß man damit aber auch zu weit gehn kann, dürfte ein Vergleichdes Betriebs der amerikanischen und der preußischen E-,-?"5.'Hom ergeben.
Nach dein amtlichen Bericht der für die Kontrolle der Eisenbahnen in den
-.f. ^"töten Staaten eingesetzten Inwriiwto Oomwvrov Kommission betrug im Jahre
^00 die Länge dieser Bahnen 310000 Kilometer, und die Zahl der an ihnen
beschäftigten Beamten und Arbeiter 1017653 Personen. Der Bericht des Ministers
die Verwaltung der öffentlichen Arbeiten in Preußen (Berlin. Jul. Springer,
3021« ^ Lauge der preußischen Staatseisenbahnen für dasselbe Jahr zu
' Kilometern an, und die Zahl der daran beschäftigten Beamten und Arbeiter
5 400 Personen. Die amerikanischen Bahnen, die zehnmal so lang s 'd hab
"tho nnr dreimal soviel Beamte und Arbeiter beschäftigt als d'e PreußischFreilich ist der Verkehr auf diesem intensiver; auf ihnen wurden 5.)3 ^Wueu befördert und 199927930 Tonnen Güter, auf den amerikanischen Bah er
576865230 Personen und 1101680238 Tonnen Güter. Der Güterverkehr war
"is° nur füufeiuhalbmal so groß, und der Personenverkehr überschritt d u der
preußischen Bahnen nnr um ein Geringes. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß
Personen und Güter in Amerika auf viel längern Strecken befördert werven.
Die Gehalte und die Löhne der Beamten und Arbeiter gibt der amerikanische
Bericht in einer Summe zu 2463375575 Mark an. also durchschnittlich sur leben zu
2410 Mark. Wäre auf den preußischen Bahnen uach dem Verhältnis ihrer ^augeder zehnte Teil davon, also nur 101765 Personen beschäftigt, und zwar zu dem"bigcu Durchschnittssntz von 2410 Mark, so würde der Kostennnfwand 2452o3db0^arrbetragen. Er beläuft sich aber nach dem ministeriellen Bericht auf 370.8 Millionen
Mark für die Beraten und auf 212 Millionen Mark für die Arbeiter (im Durch¬
schnitt auf 1688 Mark für jeden), also auf 582800000 Mark, mithin mehr um
337 546350 Mark. Das ergäbe eine enorme Ersparnis und dazu noch eine Auf¬
besserung der Gehalte und Löhne um 43 Prozent.
Wenden wir uus nun aber zu der Kehrseite der Medaille. Auf den ameri¬
kanischen Bahnen wurden 249 Reisende getötet und 4128 mehr oder weniger ver¬
letzt, also 1 von 134079, auf deu preußischen Bahnen wurden 38 Reisende ge¬
tötet und 211 verletzt, also 1 von 2224627. Auf den amerikanischen Bahnen
wurden 2550 Beamte und Arbeiter getötet und 39643 verletzt, also 1 von 24,
auf den preußischen Bahnen wurden 335 getötet und 801 verletzt, also 1
von 304.
Im Verhältnis zu dem amerikanischen Betriebsergebnis berechnet würde sich
in Preußen die Zahl der getöteten und verletzten Reisenden auf 4131 lind der
Beamten und Arbeiter auf 5074 stellen, wahrend sie in Wirklichkeit 249 bezw-
1136 beträgt. Sonach stünde der oben berechneten Ersparnis an Geld die Opferung
an Leben und Gesundheit von 7820 Menschen gegenüber.
Dein Mangel an Beamten und ihrer Überanstrengung ist wohl auch ein Teil
der Unfälle zuzuschreiben, die Personen auf Wegübergängen und unbewachten Bahn¬
strecken zugestoßen sind. Nach dem Bericht der lutvrst^es Oommorev LommiLswn
sind im Jahre 1900 dabei 4346 Personen getötet und 4680 Personen verletzt
worden. In dem preußischen Bericht finden sich über diese Art der Unfälle keine
Angaben.
Man sollte nun meinen, daß diese erschreckenden Zahlen die öffentliche Meinung
in den Vereinigte» Staaten dazu angeregt hätten, ans Abhilfe zu dringen, und
scharfe Rügen finden sich ja auch wohl in den Zeitungen. So sagte der Leioutiüo
^raerilZÄN zu dem Bericht für das Jahr 1900: „Wir sind nu diese Berichte von
den Unfällen auf unsern Bahne» so gewöhnt worden, daß sie viel von ihrer Be¬
deutung für uns verloren haben, sonst müßte sich doch ein Aufschrei gegen dieses
grausame Hinschlachten von Menschen erheben, und eine Untersuchung nach den
Gründen, sowie nach den besten Mitteln zur Abhilfe verlangt werden. Aber unser
Volk ist sich augenscheinlich der Wichtigkeit dieser Frage noch uicht bewußt ge¬
worden."
Daß ein solches Bewußtsein auch in den inzwischen verlanfnen zwei Jahren
noch nicht durchgedrungen ist, ergibt sich aus dem eben erschienenen Berichte der
Intorstats Oommgrco Lommisswn für 1902. In diesem Jahre ist die Zahl der
Unfälle auf 73250 gestiegen gegen 58185 im Jahre 1900. Es sind 8588 Per¬
sonen, darunter 345 Reisende, getötet, und 64662 Personen, darunter 6683 Rei¬
sende, verletzt worden. Nahezu 3000 Beamte und Arbeiter sind getötet, und über
50000 sind verletzt worden. Die Zahl der Beamten und Arbeiter ist, da die
Länge der Bahnen inzwischen um 15000 Kilometer vermehrt ist, auf 1189315
gestiegen, danach ist 1 von 22 getötet oder verletzt worden. Die Zahl der Rei¬
senden ist auf 649878 505 gestiegen, es ist 1 von 92000 getötet oder verletzt
worden. Das Verhältnis ist also in beiden Fällen noch schlechter geworden als
im Jahre 1900.
Der Loientiüc: ^.asi-lo-rü sagt dazu in seiner Ausgabe vom 11. Juli d. I-
nicht mit Unrecht: „Es sieht in der Tat so ans, als wenn der oft gegen uns er-
hobne Vorwurf, daß wir gegen die Heiligkeit des menschlichen Lebens in brutaler
Die sozialdemokratischen Lehren werden
akademisch! Der ordentliche Professor an der Universität Wien, Anton Menger,
hat eben in einer „Neuen Staatslehre" den Versuch gemacht, den Zukunftsstaat,
oder wie er ihn nennt: den volkstümlichen Arbeitsstaat auf- und auszubauen.
Das Buch ist fesselnd geschrieben, mit eingehender Kenntnis der französischen und
der englischen Sozialisten, während die deutschen Sozialisten stiefmütterlich be¬
handelt werden; der Preis ist von der deutschen Verlagsfirma G, Fischer in Jena
außerordentlich niedrig gestellt, bei 335 Seiten nur 5 Mark, sodaß nichts einer
großen Verbreitung im Wege steht. Von welchem Geiste dieses Buch beseelt ist,
mag ein Beispiel zeigen. Menger betont, daß der Ersatz des positiven Christen¬
tums durch eine Vernunftreligion schwerlich als eine wirksame Triebfeder zur
Sittlichkeit betrachtet werden kann. Darin ist ihm wohl zuzustimmen, aber was
für Folgerungen zieht er daraus für seinen Zukunftsstaat? Die Religion nehme bei
den besitzenden und den gebildeten Volksklassen ab, ihre Stellung im Kampfe mit
deu breiten Volksklassen verstärke sich dadurch bedeutend. Das Bewußtsein der
lassen trete durch den Sozialismus notwendig mit der Gruudauffassnng des
heutigen Christentums in Widerspruch. Der volkstümliche Arbeiterstaat müsse, um
dauernde Institutionen zu schaffen, die sittlichen Motive ins Auge fassen, die eine
gehörig geleitete und organisierte öffentliche Meinung bieten könne. In der
«eitungspresse sei ein wirksames von jedem Dogmenglauben unabhängiges Mittel
suo Förderung der Sittlichkeit gegeben. — Also die öffentliche Meinung und der
ZeitnngschiMer werden dann die Grundpfeiler unsers sittlichen und moralischen
Handelns sein. Welche Tollheit liegt in diesen Gedankengängen!
Der erschlossene Brunnen quillt weiter.
^- Georg Cohn, ordentlicher Professor der Rechte, hat in der am Stiftungsfeste
ver Hochschule Zürich am 29. April 1903 gehaltnen Rektoratsrede Die Gesetze
Hammurabis (Zürich, Orell Füßli. 1903) vom Standpunkte der vergleichenden
Rechtswissenschaft beleuchtet. Er zieht besonders das altgermanische Recht heran
wo behandelt am ausführlichsten die Ehegesetzgebung der Babylonier. — Moritz-^"rgnlies gibt bei Julius Herlitz in Kattowitz (1903) einen in der Konkordici-
des genannten Ortes über Bibel und Babel gehaltnen Vortrag heraus. Er
un"! ^ zu weit gehende Ableitungen des Biblischer ans dem Babylonischen
Se '""^ dagegen u. a. die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die
rudi/^"^' L^and. Die Dokumente, die man heute ausgrabe und mühsam zu me-
h„ ^nahe, seien doch den damaligen Ägyptern ohne weiteres zugänglich und
die Ä ^ gewesen. Den Übersetzern Hütte es nicht unbemerkt bleiben können, wenn
^ ein Abklatsch assyrisch-babylonischer Schriftwerke gewesen wäre, und den
weil Gelehrten würde die Entdeckung um so willkommner gewesen sein,
it 5.^ "und damals eine starke judenfeindliche Strömung gab, sie würden uns also
de>s ."Deckung in Schriftwerken überliefert haben. Margulies glaubt umgekehrt,
I! vieles von dem, was man in den Trümmern Babyloniens findet, jüdischen
bild ^' ^ 6' ^' ^ Nügelwesen, die an Ezechiels Visionen erinnern, Ncich-
mns""^" Visionen seien, eine Hypothese, die uns allznkühn erscheint. Dagegen
seine unbedingt beistimmen, wenn er ausführt, daß Delitzsch die Grenzen
auch ?""""digkeit überschritten habe. Am Schlusz sagt er vollkommen richtig, wenn
Fracie"^ - '»"stergiltigem Deutsch: „Daß die von mir vertretene Hypothese die
von v ^ Realität oder Sagenhaftigkeit der Offenbarung ganz unberührt läßt, ist
aller V^^'"" ^ ich glaube nachweisen zu können, daß die Orthodoxie
auf ^°^it'M Religionen auch die Delitzschische These vou der Einflußnahme Babels
glaub» acceptieren könnte, ohne daß sie deshalb von ihrem Offenbarungs-
zu sein "<^v ^" ^c. aufzugeben brauchte." — Margulies scheint Rabbiner
Pol til^ s' ^ Zeltungsjuden, die ja bet aller sonstigen Gescheitheit nicht eben große
Sturm k ^ ^'^ H''^ ")rer Wissenschaftlichkeit zu beweisen, den neusten
SckrM>">" . Offenbarung begeistert mitgemacht. Weniger wohl ist natürlich ihren
den R„s ^ ^ der Sache, or. Wilhelm Münz, Rabbiner in Gleiwttz, führt
1903 . Kellschriftengelehrten gut ab in der (bei Wilhelm Koebner in Breslau.
und R.^ r ^rise: Es werde Licht! Eine Aufklärung über Bibel
"uaoei. i^r beginnt mit einer satirischen Vernichtung der großen Dichter von
Homer bis Shakespeare und Goethe, die ja alle nnr alte Volkssngeu und Novellen
aufgewärmt haben, und der Philosophen von Plato bis Kant. „Bedenkt mau ferner,
daß das wichtige Wort »und«, das Plato so oft anwendet, bereits Jahrhunderte,
jn Jahrtausende vor ihm von den Vabylonier» und andern Völkerschaften gebraucht
worden war, so wird man eingestehn müssen, daß der als genial gepriesene Plato
eigentlich ein recht unselbständiger Geist ist." Der Verfasser zieht dann eine Reihe
von Schriftsteller zum Zeugnis dafür heran, daß der Geist des Alten Testaments
grundverschieden sei vom babylonischen, und weist dem Berliner Assyriologen unwissen¬
schaftliches und illoyales Verfahren nach, indem er bei Vergleichungen der babylonischen
Schriftwerke mit Stücken des Alten Testaments gerade die entscheidenden Stellen weg¬
läßt, z. B. die Entstehung der Götter im Keilschriftentext, und den hebräische» Bibeltext
falsch zitiert, ferner aus einem abgerissenen Jesajavers das Bild eines blutgierigen
Gottes der Rache konstruiert, das freilich nur solche tauschen kann, die das Buch
des größten der Propheten niemals gelesen haben. Gerade an diesem Buche zerschellt
auch, wie der Verfasser nachweist, der Vorwurf des hochmütigen und engherzigen
Pnrtikularismus und Nationalismus, deu man dem Alten Testament macht. Am
Schluß beteuert Münz: „Ich weiß mich als Jude, als Sprößling jenes Stammes,
der für die religiösen Ideale lebt und stirbt, frei von jedem partiknlaristischen
Monotheismus sein bißchen ungeschickt ausgedrückt; frei von Monotheismus will er
doch nicht sciuj, frei vou Stolz, Eigendünkel und Überhebung meinen andern
Menscheubrüderu gegenüber. Es ist vielmehr mein sehnlichster Wunsch, daß der Geist
Gottes uns Menschen allesamt beglückend und beseligend durchdringe und erleuchte,
und daß wir alle, die wir gottesebenbildliche Geschöpfe siud, in tiefinniger, wahrer
Frömmigkeit, in Gottesfurcht und Nächstenliebe miteinander vereinigt sein mögen/'
Unwissenschaftliche und unehrliche Beweisführung wird Herrn Delitzsch auch
nachgewiesen im 212. Heft der Zeitfragen des christlichen Volkslebens, die E. Frei¬
herr von Ungern-Sternberg und Pfarrer Th. Wahl bei Chr. Belfer in Stuttgart
herausgebe»: Was lehrt uns der Babel- und Bibelstreit? Ein Beitrag von
Theodor Wahl. Der Streit, lautet eines der Ergebnisse, werde unter andern? das
Gute haben, daß sich auch recht radikal gerichtete Bibelforscher auf deu Offenbaruugs-
charakter des Alten. Testaments und auf seinen Wert als Geschichtsquelle besinnen.
Und der durch deu Streit veranlaßte Brief des Kaisers an deu Admiral Hollmann
habe sogar einen Harnack gezwungen, dem Offenbarungsglauben einige Zugeständnisse
zu machen. — Der Verfasser erzählt auch in einer laugen Anmerkung den Streit
der Berliner Assyriologen, die ihren Kollegen heraufbauen wollten (was ja an sich
ganz löblich aber nichts weniger als voraiissetzuugslos ist), mit Hilprecht, wobei sich
jene Herren „eine böse Blcunc geholt" hätten. Mittlerweile hat H. V. Hilprecht
seinen Vortrag: Die Ausgrnbuugeu der Universität von Pennsylvanien im
Beltempel zu Nippur (bei I. C. Hinrichs in Leipzig, 1903) mit 56 Abbildungen
und einer Karte herausgegeben. Er erzählt: „Die Feldarbeiten des große» wissen¬
schaftlichen Unter»ebene»s haben bisher nahezu eine halbe Million Mark gekostet
und sind Von einer kleinen Anzahl angesehener Bürger Philadelphias bestritten
worden. In den erste» beide» kurze» Kampagne» war der damalige Professor des
Hebräischen, jetzige Episkopal geistliche Dr. John Peters Direktor. Auf dessen Ver¬
anlassung wurde im Jahre 1893 unser langjähriges treues Faktotum I. H. Hayues
allem uach Babylonier gesandt. Da aber die Kraft eines Mannes nicht ausreichte,
trat im Winter 1894 bis 1895 der Verfasser in die wissenschaftliche Leitung des
Unternehmens ein und bildete und Hayues zusammen den innern Exekntivausschuß-
Für die wissenschaftliche Oberleitung und den wissenschaftlichen Ertrag der vierten
und erfolgreichsten Expedition ist der Vortragende verantwortlich. Die Feldarbeiten
leitete wieder Hayues mit Ausnahme der letzten drei Monate, wahrend deren der
wissenschaftliche Direktor sich genötigt sah, unterstützt vo« zwei Architekten auch die
Leitung im Felde zu übernehmen. Fast sämtliche wissenschaftliche Mitglieder der vier
Expeditionen haben ihren Dienst demi Unternehme» unentgeltlich zur Verfügung
gestellt. Zu einer Ende kommenden Sommers ausgehenden fügten Expedition, mit
deren Orgc.use.ton ich soeben beschäftigt bin. wurden mir i.u Dezember des lchw.
Jahres etwa zweihunderttausend Mark von Fanden der nwerst^gestellt, während »gleich die beiden Mcieene Gebrüder Clark >Ban Kerf. die scho
del. größten Teil der ersten halben Million gespendet hatten um mi^ w^ u
Dotation von nahezu eiuer halben Million Mark einen ausschlreßlüh um^wissenschaftlicher Untersuchungen bestimmten Lehrstuhl der Assyrwlog.e stiftet in Der
Verfasser schreibt ..ins Leben riefen." aber ein Stuhl lebt doch nicht.) Zuerst art
in dein Vortrage der vom Propheten Jesaja so wunderbar ge^Zustand des jetzt abscheulichen Landes beschrieben, der die Arbeit sehr erschwert,
dann das Trümmerfeld, und von den Ergebnissen einiges mitgeteilt. Es sind ein-
undzwanzig Schichten aufgedeckt worden, die drei Hcmptperioden angehören: der
nachchristlichen (parthischen) bis 1000 nach Christus reichenden der semitisch-baby¬
lonischen (von 4000 vor bis 300 uach Christus) und der prähistorisch-sumerischeu. von
der noch'sechs Schichten zeugen. Die Hauptmasse der Triunmer der zweiten ^besteht aus den Sichten des Beltempels von NiPP.ir. eines r.ehe.cha en Etag^ur.n^Der wertvollste Fund sind die 23 000 Texte der ältern Tempelbibliothek (über ihr
liegt eine jüngere. kleinere). ..die bereits zweihundert Jahre lang in Trümmern lag
ehe Hannunrabi wieder Ruhe und Ordnung im Reiche herstellte." Diese BM^h^h"t a.,s zwei Abteilungen bestanden. einer praktischen in der die G«es- und
Verwaltmigsurkunden aufbewahrt wurden, und einer wis enschaftlichen Der ,w i n
war die Tempelschule angegliedert, von deren Arbeit die noch erbat neu Zeichen-.
Schreib- und Rechenübnngen der Schüler Kunde geben; von mehreren solchen Ubungs-
wfeln sind Abbildungen beigefügt. Was das Ergebnis in relimonswistenschaftlicher
Hinsicht betrifft, so lautet es uach dem Verfasser" die Götter Babels sind tot. wie
die Propheten verkündigt haben, der Gott Israels und der Christen lebt und ist
eben daran, durch die Kulturarbeit der christlichen Völker das tote Land zu neuem
Leben zu erwecken — Im 16. Heft haben wir erwähnt, daß sich Hugo WiuNer.
der die Gesetze Hammurabis deutsch herausgegeben hat (die erste Übersetzung, eine
französische, hat der Domiuikauerpater Scheik geliefert), der Ausicht Stuckens an¬
geschlossen habe, wonach die alttestamentlichen Patriarchen und Könige babylonische
S""man-. Mond-und Sterueugötter sein sollen. Wir freuen uus. ewe neue Schrift
d/s genannten Gelehrten anzeigen zu köunen. die, von solchen Phautasterc.en frei
Abraham als Babylonier. Joseph als Ägypter^ Der ^Hwtergruud der biblische» Vütergeschichteu auf Grund der Keilinschriften dargestell
"v" Hugo Winkler (Leipzig. I. C. Hinrichs, 1903.) Die Patriarchengeschlchte ist
die zur Gesehen te vini ein^ verdichtete Völkergeschichte, wobei meh»usgeschl.sscu ist. daß die dargestellten Typen wirklich als einzelne Personen gelebt
haben. Die Träger des alttestamentlichen Glaubens gehn von Babylon aus das
damals ganz Vorderasien beherrschte und so mächtig war, daß die ägyptischen Könige
w babylonischer Sprache und in Keilschrift mit ihm korrespondierten, wie die Deutschen
"ut dem Sonnenkönig französisch korrespondiert haben. Die Patriarchen zogen aus,
weil sie. dein ältern' reinern Gottesglauben treu, die damals emporkommende Lehre
vini Marduk. dem rettenden Frühjnhrsgott (dessen gereinigte Gestalt später im
Christentum wiedererstanden ist), nicht annehmen mochten. In unmittelbarer Nahe
Ägyptens lebend, sind sie von diesem erzogen worden. Den von einzelnen ägyptischen
Denkern gefundnen Monotheismus zur Volksreligion, zur Weltreligion gemacht zu
haben, ist das Verdienst der jüdischen Propheten. Sie können das vollbringen ine'ner Zeit, wo dem Stamm, dem sie angehörten, wie überhaupt den syrischen Klem-
Itaaten die Ohnmacht der beiden großen Nachbarreiche, die eine Periode des Verfalls
S» überstehn hatten, Selbständigkeit gönnte. Dieser Auffassung können wir beipflichten,
^le die Keilschriftendenkmäler und die Bibel einander ergänzen, sodaß wir jetzt em
ziemlich deutliches Bild von deu Zuständen und Wandlungen dieses die Euphrat-
nnd die Nilländer umfassenden Kulturkreises bekommen, wird in der kleinen ischrift
lehr schön dargestellt.
Daß der Persönlichkeit des großen Reformators eine
gewaltige erziehende Kraft innewohnt, wird niemand bestreiten, der ihn kennt. Es
war deshalb ein glücklicher Gedanke, dem deutschen Volke das Buch Luther als
Erzieher zu schenken (Berlin, Martin Warneck, 1902), und der Verfasser, der sich
wunderlicherweise nicht nennt (was für ein Grund kann den Autor gerade dieses
Buches bestimmen, sich zu verbergen?), hat den Gedanken mit Begeisterung für seine
schone Aufgabe auf das trefflichste durchgeführt. Er läßt Luther reden in seiner
kräftigen, herzlichen Sprache, mit seinem in allen Verhältnissen den Kern der Dinge
treffenden gesunden Menschenverstande und uns zur Besserung und Ordnung unsrer
vielfach so schlecht geordneten häuslichen, wirtschaftlichen und öffentlichen Angelegen¬
heiten mahnen. Er zeigt uns Luthers Freiheitsliebe und Vaterlandsliebe, seine richtige
Art, die irdischen Güter zu gebrauchen, reich zu werde» durch Genügsamkeit und
Wohltun, seiue Behandlung der Unterrichts- und Erziehungsfragen, sein häusliches
und Eheleben, seiue Dienstbvteuzucht, seine Geselligkeit, seiue Politik, seine volks¬
wirtschaftlichen Grundsätze, und wie das alles für unsre heutigen Verhältnisse ver¬
wertet werden könnte und sollte. Und er zeigt vor allem, wie all dieses Gute und
Schöne aus dem tiefen und reinen Born der christlichen Gesinnung Luthers quillt.
Aber gerade hieran hängt sich der einzige Fehler, den wir dem Buche vorzuwerfen
haben. Der Verfasser gibt ihm eine polemische Spitze und stellt Rom als den Feind
hin, der die Entfaltung echt lutherischer Gesinnung hindre und ihren Aufschwung
daniederhalte. Das liegt ja nahe genug und ist ziemlich allgemeiner Brauch bei den
deutscheu Protestanten, aber es ist trotzdem ein Fehler. Einmal verleitet die Polemik
dazu, den Gegensatz falsch zu fassen. Genuß, Luther hat den Glauben so verstanden,
wie es der Anonhmus darstellt; aber neben diesem erbauenden Sinn des lutherischen
Glaubens besteht die unglückliche dogmatische Rechtfertigungslehre mit ihrem ganz
anders gearteten Glauben, dem Gegenstande der theologischen .Kämpfe des sechzehnten
Jahrhunderts, und die Darstellung der katholischen Kirchenlehre über diesen Punkt
ist falsch, wie sich der Verfasser aus jedem Katechismus überzeugen kauu. Selbst¬
verständlich begehen die Katholiken in ihrer Polemik gegen die evangelische Lehre
denselben Fehler; sie machen durch Verschweigen ihr eignes Kirchenwesen schöner
und heben am Gegner vorzugsweise oder allem das Bedenkliche hervor. Aber bei
der ewigen Fortsetzung dieser Praxis kommen wir zu keiner Verständigung, und
die ist doch nun einmal das anzustrebende Ziel. Dann aber lenkt dieser ewige Kampf
gegen Rom, der seit dem Wiederaufleben der konfessionellen Zwietracht um das
Jahr 1830, nebenbei bemerkt, nie einen andern Erfolg gehabt hat als die Stärkung
Roms, die Blicke und die Tätigkeit der gläubigen Protestanten von ihren eigent¬
lichen Aufgaben ab, deren Lösung zugleich eine Niederlage Roms sein würde. Man
mag immerhin dem Papste alles Böse zutrauen; gewiß würde er die Protestanten
mit Feuer und Schwert ausrotten, wenn er die Macht dazu hätte. Aber er hat
sie eben nicht. Er hat nicht einmal die Macht, den evangelischen Gottesdienst, den
evangelischen Religionsunterricht um der Schwelle seines Palastes zu verhindern.
Er kann nicht hindern, daß den Katholiken des ganz katholischen Frankreichs die
öffentliche Ausübung ihrer Kirchengebräuche verwehrt wird, und daß man dort seine
getreusten Garden mit Schimpf und Schande wegjagt. Was könnte er über
evangelische Christen im Deutschen Reiche, über ihre Häuser und Schulen vermögen?
Nichts, rein gar nichts. Der Verfasser weist auf die zahlreiche» Selbstmorde von
Kindern und Jünglingen hin und ruft: „Gebt ihr, die ihr kraft euers Amts auf
dem Katheder oder auf der Kanzel dazu berufen seid, unserm Volke, unsrer Jugend
die gläubige, die poetische, die für alles Große und Schöne, Edle und Erhabne
ausgeschlossene Weltanschauung eines Luther wieder, in der Natur und Gnade, das
christliche Lebensprinzip und das rein Menschliche sich so herrlich verbinden! Lehrt
sie, daß Christentum, im Glauben Luthers erfaßt, Weltüberwindung im Sinne von
Weltverklärung ist!" Eine gute Mahnung fürwahr! Aber wer hindert denn die
Berufnen, es zu tun? Doch nicht etwa der Papst? Einem „modern" gebildeten
pwtestautischeu Lehrer sagen, er solle sich zu Gott aufschwingen und seine Schüler
mitnehmen, das ist so viel, wie einen Vogel fliegen heißen, dem man die Schwingen
ausgerissen hat. Und darin um liegt die Schwäche des deutschen Protestantismus
gegenüber dem katholischen Teil und geradezu eine Stärkung des Ultramontanismus.
Nicht nur unter den akademisch gebildeten, sondern auch unter den mit bloßer
Volksschulüildung ausgerüsteten deutschen Katholiken gibt es Hunderttausende, denen
das spezifisch Romanische und Jesuitische im Katholizismus widerwärtig ist. Aber
ne wagen dagegen nicht aufzutreten, weil sie durch jeden offnen Widerspruch die
«redliche Einheit zu gefährden fürchten, und sie wollen um keinen Preis die kirchliche
buchest gefährden, weil sie aus der Geschichte des Protestantismus die Lehre ziehen
müssen glauben, daß jeder von der Kirche Getrennte dnrch konsequentes Denken
""ciufhaltsain auf der abschüssigen Bahn der Negation bis in den Atheismus hinein-
^utschc, Sie sind überzeugt, daß Los von Rom nicht Hin zu Christus bedeute, bei
°em sie übrigens in jeder Messe zu sein glauben, sondern Hin zu Hcickel, Nietzsche,
i>°ni, Hnminurabi, Wuotan, und wie die modernen Götter sonst heißen. Je grimmiger
^e Polemik auf sie einstürmt, desto fester klammern sie sich an den Papst, der
U)nen den einzigen Halt darzubieten scheint gegen den gewaltigen und unwider-
i
.tehlichen Strom einer dem Nihilismus zutreibenden geistigen Entwicklung. Die
Zutschen Protestanten sollen in größerm Umfange als bisher beweisen, daß mau
"und ohne den Papst den Glauben an deu persönlichen Gott und an den mensch-
Mvordnen Gottsohn festzuhalten vermag; dadurch werden sie den Katholiken Mut
Aachen, dem Papste zu opponieren, so oft seine Werkzeuge undeutsche Anschauungen
Bräuche in die Religionsübung einschmuggeln oder solche mit offner Gewalt
Aufzunötigen versuchen. Auf Grund solcher Erwägungen möchten wir wünschen, daß
^'u pciar Abschnitte des trefflichen Buchs umgearbeitet würden, ehe es die weite
"^rbreitung erlangt, die wir ihm wünschen.
^ Die Weltlage, die
s, .großen mitteleuropäischen Brand vorbereitet hat, ist in den letzten Jahrzehnten
l "Mg durchforscht worden. Von katholischer Seite haben Janssen, Ouro Klopp und
kek '"n^^ Urkundliches zusammengetragen, und die unparteiischen Historiker der
dies ^ bayrischen Akademie der Wissenschaften haben ihre Kräfte fast ausschließlich
und gewidmet. Namentlich Felix Stieve hat durch sein großes Werk „Briefe
<. " -^r Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" und durch zahlreiche Mouo-
n»V ^ damalige Parteiengewirr Licht verbreitet, und er hat nnter
bi? I'" ""^ die Bedeutung der Streit- und Flugschriften aus den Jahren 1555
^ . 9 mifmerksam gemacht. Über diese Literatur hat nun !)>'. Karl Lorenz
D> kleines Buch geschrieben: Die kirchlich-politische Parteibildung in
P s - "d beginn des Dreißigjährigen Krieges im Spiegel der konfessionellen
ist b"? ^lochen, C. H. Beck. 1903). Die Lektüre der damaligen Flugschriften
Ka- ^"""^es nichts für zartbesaitete Gemüter und für Leute, denen moderne
wir v ^ höchstes Gesetz ist; aber Maeterlinckschen Mondscheingespenstcrn ziehen
^ ^uri^cky>all»und die^no, Dsi, den Wohlriechenden Rosenkranz und das
Man , Vettelmünch, das Schlaffkämmerlein und Nhubethlcyn der Abtrünnigen
"'"^.kan. den Evangelischen Hafenkäß und den Römischen Hnfeukäß entschieden
frei'ki/ ^ ^"'^ gesündere Speise sind, und man darüber lachen kann. Es kommen
die Ke'l ? - ^'"^ drin vor, wo nicht bloß der Anstand das Lachen verbietet, und
Aber v ? ! Entrüstung über die Gotteslästerung und die Schamlosigkeit weicht.
Neun l ^ sozusagen ästhetische Seite der Sache ist natürlich nicht die'wichtigere,
""es el^ ^" Flllgschriften nicht allein Stimmungen und Ansichten, sondern
Rcaktim Tatsachen kenne». Lorenz sagt richtig, die an sich notwendige
Relimo s^^" ^ einseitige Auffassung des Dreißigjährigen Krieges als eines
Mdue>, in"^,? ^'"^ gegangen. Das Nichtige liege aber nicht auf der
i^ittelstraßc. „sondern in der Erkenntnis, daß die sozialen Apolitischen!! und
Gre""
wirtschaftlichen Verhältnisse mit den religiösen in der Regel so innig verwachsen
sind, daß, um einen theologischen Terminus technicus zu gebrauchen, geradezu eine
ttnilimrmia iclionratuiu. stattfindet, das eine sich also vom andern gesondert gar nicht
verstehn oder beurteilen läßt." Die konfessionelle Polemik sei Wohl zum Teil leeres
Gezänk gewesen, aber keineswegs ganz allgemein. Denn es habe dem Streit ein
sehr ernsthafter und tiefer Gegensatz zugrunde gelegen und das in der Welt¬
geschichte völlig neue Problem, wie sich zwei Religionen in einem Staate vertragen
könnten und sollten. Dieses Problem habe man sich anfangs gar nicht eingestanden,
weil jede Partei überzeugt war, daß sie zur Alleinherrschaft gelangen müsse und
werde. Die Unmöglichkeit, sich durchzusetzen, konnte jeder nur durch einen blutigen
Krieg dargetan werden, der alle gleichmäßig erschöpfte. Damit war das Problem
allen zum Bewußtsein gebracht und zugleich im Sinne der Toleranz gelöst. Freilich
zunächst nur äußerlich, durch den Zwang einer bittern Notwendigkeit. Die innerliche
Lösung mußte nachfolgen. Sehr langsam nur setzt sie sich durch, aber der Historiker
wundert sich nicht darüber, „denn er weiß, daß das heilige Licht, das die stolzen
Gipfel einsamer Höhen schon längst umflutet, nur langsam und schwer in die dunkeln
Schluchten und Abgründe hinabdringt. Aber hinabsteigen wird es doch!" Harter
Zwang der Verhältnisse war es auch, was damals das uns Heutigen unnatürlich
scheinende Bündnis der Lutheraner mit den Katholiken gegen die Kalvinisten stiftete.
(Nebenher ging noch ein inoffizielles Bündnis der Lutheraner mit den vom Wiener
Bischof Khlesl geführte» gemäßigten Katholiken gegen die Jesuitenpartei.) Beide
waren als Konservative zur Verteidigung der Reichsverfassung gegen die um¬
stürzlerischen Kalvinisten gezwungen, und von diesen waren die Lutheraner auch in
ihrer Religion ganz ernstlich bedroht. Von den heutigen harmlosen und schwachen
reformierten Gemeinden waren eben die damaligen Kalvinisten, wie Lorenz hervor¬
hebt, grundverschieden. Sie waren höchst angriffslustig und nahmen eine Weltstellung
ein, die Welthcrrschaftsgedaukeu zu erzeugen geeignet war. Lorenz entschuldigt die
deutschen Kalvinisten damit, daß sie nicht anders konnten, weil sie in den Augs-
burger Neligionsfrieden nicht eingeschlossen, also eigentlich vogelfrei waren. Diese
Entschuldigung muß man gelten lassen, aber die politischen Ausdehnungsgelüste und
den Territorinlhnnger, die mit dem pflichtmäßigen Streben nach konfessioneller
Gleichberechtigung verbunden waren, lernt man doch aus der Schrift von Lorenz
nur sehr unvollständig kennen, und die politischen Umtriebe Hollands gar nicht;
wer sich darüber unterrichten will, der muß die von Ouro Klopp in seinem vier¬
bändigen Werke: Der Dreißigjährige Krieg bis zum Tode Gustav Adolfs und von
Bezold in seiner Sammlung von Briefen des Pfalzgrafen Johann Kasimir ver¬
öffentlichten Urkunden lesen. (Vielleicht die interessanteste ist das Gutachten „eines
vornehmen Korrespondenzrates" über die Allianz mit deu Generalstaaten im ersten
Bande des Werkes von Ouro Klopp, S. 185.) Lorenz hebt nur die ungeheuerliche
Provokation hervor, die der kalvinistische Pfalzgraf mit seinem böhmischen Abenteuer
wagte, das schon deswegen ein gewaltiger politischer Fehler war, weil es mit un¬
zulänglichen Kräften unternommen wurde. Der Fehler sei dünn, meint er, durch
zwei Fehler der Jesuitenpartei einigermaßen ausgeglichen worden, die den Kaiser
zum Erlaß des Nestitutiousedikts verleitete und zu dem Versuch, Deutschland
absolutistisch zu regieren.
In einem 1Ä-
siiNüuvgsWK xuin i-vmton Vivrtv1sM»rsKstt !-ur Statistik nos voutsvkon IloivKs 1903
nat ^jet/.t äas XaisorlioKo Ltatistisolie ^me ale Lrgodnisse aer inrststatistisoken Lr-
»edungen vom Sommer 1900 vervttentliokt. Ls soll irior vorsuekt v-vräon, äurek
Mitteilung einiger IlauMalüen annäliornä ein Lila aer DnwieKlung ach äeutselien
^alädostanäs seit aer ersten ^.utnaluno von 1878 unä «einer Loseliatlenlieit un
^aine 1900 xu goden. Deiäor stellt einer eingedenäen unä Zuverlässigen ?orst-
Statistik besonilro SoKviorigKvitou selon äeslmld entgegen, von sie lion gewaltigen
UnterseKieä xvvisoken gut dewirtseliattetem unä verwaln-Johlen 'vValäe genau i?u
v'-StSAZv last garn auLvrstanäo ist unä ale in langjakrigon /.wiselienraumon vor-
Muommenon statistiselien iÄliodungen violtaell Liläer ergeben, ale äurek ^t^I.ge
Lintlüsse stark versekoi.on sind. Unstreitig ader stellt ale äoutselio 1? orststatist.K
I<^um Kwter irgend einer auslänäiselieu xurüek, onvvolü ale äeutseke Violstaaterei
Leraäv liier ale Arbeiten Äer KoieiistatistiK mock immer Spur ersekvort.
Vber ale ^orsttläekv im veutsolion KoieK unä nu Vorliältms tiur t-esamt-
Kaelle ng.el> aom l>ist>erigen Lrliei'nngsu gedon tolgonäe Gallien ^.nskuntt.
In aer Neit1878 disVVv ins 1900 Latte ale ?1aeKe um 122942.4 IloKtar .uge-
"omnem. vie ^unawne ist von LrKedung .u Lrdedung /»"Msolirltten I)er eene...
Ung ach pro^entanteils von 1878 dis 1833 ist nicbt äurok einen RueKgang ac.
I''"rstüaelie ver^nlaLt vorcien. . .. . .
,,:,,Unnack.seel.enäer Vl.ersiel.t gel.en «>r .non-Kst e.» I^c. in
^'^uKen unä seinen olu-ielnon ?rov,n^en ,in .laltre 1900 vngiielwn mit
Lage von 1878.
Die I'orsttläeKo nackte aus:
'äem ?^iMung 1'reulZens flaua also 1900 mit 23,72 xrviiont
ttowKs.iureKsLlinitt von 25,89 ?roiisnt -urüok. Unter äemein venig Kinder
Rsiolls- unä s!u-
gleich dem Dandesdurelisobnitt standen Seldoswig-Holstein, Hannover, OstprouLen,
I^osen, ?omnem, Laebson und 'Westnreuüen. v^in waldroielisten waren liessen-
Xassau, I4obenxollorn, IZrandonburg, Rboiniand, Seldosion, Mestlalvn. Von den
>valdarmen Lrovinxen Iial>en nur OstnrouKen und I'osen seit 1878 eine ^.bnabmo
beklagen, wälirond V^oski>reuKon, I'omnem, Saebson, Seldeswig-Holstein und
namontlieb Hannover vino starke x^unalimo »nkvoison. Von «Ion waläroiokvu l^rovinxen
nat nur Rosson-Rassan — die waldroieliste — eine starke ^.bnabme xu verxeiebnen,
Leldesion eine verlialtnismäkig roelit Kleine. (ZroL ist die /5unabme unter Sen
waldroielien Drovinxen nur in Lrandonburg govossv.
Deider verrät uns alö Statistik nickt, wieviel Land (landwirtseliaktlieli benutxtes
oder Ödland) xur I'orstnäelto durelr i^euaultorstung KinxuMkoinnivn ist, und wieviel
ki'orstland xu landwirtsobaitliob benutxtem oder xu Ödland gemacht worden ist.
(Gerade darüber wäre eine ^VusKunt't erwnnselrt. ^n Ödland, «las xur ^.ultorstung
geeignet ist, waren in ganx Lreuöen 1900 noch 544934 Hektar vorliandon, wovon
aut llannover allein 210 643 Hektar, ani V/esttalen 65152 Hektar, aut'Westpreuoen
60371 Hektar, aut Rlioinland 44810 Hektar, ant OstpreuLen 36272 Hektar, ant'
I'osen 34867 Hektar uncl ani Seldeswig-Holstein 30873 Hektar Kamen. Davon
wircl KoikontUoK bis xur näokstsn iüäulunK «lureb Küngroiten clef Staats ein guter
'teil xu ?orstland gemaeld' worden sein. Kanx l»esondors clringoucl erselmint alas
in OstnreulZen. ^uKerdem sinnt aber sielror auoli grüne I^läellen geringer "Weide
und auelt seldeebten ^.cdcorlandes vorhanden, deren ^utlorstung dureliaus wünsebons-
wert ist. Künscitig nessimistiseb ist die ^nnabmo, dall die I'lachen, die autgebürt
liaber, I'orstland xu sein, immer xu Ödland geworden wären. Viellaeb sind auch
gute Vliesen un<1 gute ^VoKer daraus geworden. Das alles liann nur durch Lr-
bel>ungen testgestollt werden, die ins einxolne golin, und nötigt bei Sebluütolgerungen
aus den gegebnen Xalilon xu Vorsicht.
Von den Vorliältnissen im niebtnroutiisellen Deutschland mögen lulgendo
Salben der Staaten mit mehr als 50000 Hektar I^orstrläebo ein IZild geben.
Die l^orsttläebe nackte aus
liier flohe die Bewaldung nur im (?rnöborxogtum Oldenburg und in den beiden
NoeKlonburg nennenswert unter dem Roiebsdurebsebnitt; ^nbalt und Saebson er-
roiebon ihn much domado. Stark abgenommen baben an ?orsttläobe Layern und
Sachsen, stark xugonommen Laden, Oldenburg und beide Mecklenburg.
Im SteinKnblonbvrgbau DroulZens stellt sich das Ergebnis — in 1'omnem
1000 Kg — wie kolgti
Mrüsrvmg ^.dsatü MrävrunK ^.bsats- MrÄoraoZ ^.that-i
Die üelegsebatts/abi >v.i,r im
Im ^raunkobienbergba.u >parerdie ^ablon folgende:
Die Relegseinitts/abi war Im
vio KKrüIiod vom VopM'tomvut nos >Vassor^v«8eilf, «los
KanSolij und lips (Zvvvi'dosin den Uiudoriaiuion berausgegebno,8tatistieK van de
^sosvKoopvNu-t" lor 1901 vntllÄt tolgondc; ^ilMden über 6on offt-uiä avr nivclvr
'Kväisellon Rauitalirtoitiotw und <1en Soovvrlcvlir in den nioclvrliUlckisvKvll vuroMisellvv
^ükou. In den ^!aeiiv>'Lisungon ist vbvraU mit ann r-sottnranmgebalt naei» avr britisodvu
I^egel goreebnet, äivsor RituiuMiisIt abor in XudiKmetvrn ilNMgvdon (1 Register-
WN Z ZZ ^.^^
Von den 8c>8°1so!lMon "»ren N"do 1901 unter andern beimatbeieebtig^
Groningen 151 mit 39 625 Kubikmetern; in vortreebt 51 mit 1"41^ in
Amsterdam 23 mit 50338. Von den vamvlsebikton: in ^.mstordain 10/
Mit 3V0213 Kubikmetern; in Rotterdam 101 mit 485909.>n
0i> unter am autgetüinten Lemiden I^iseberoilabrMugo sind, ist nieitt ^u hellen,-weh leide jede Angabe über am NinSostrimmgelmIt der auixunolrmondvn dewilo.
Vber ale KntvvieKIung ach SoeverKobrs in Asu nieäorländisebon suro-
väisebon Harem im töteten .laiir/ohne geben lolgondo /.aidon dos ^ottoraumgebalts
AubiKiueter) clor in diesen Indor zur Lee angokommnon Lebisso avr verfehle<inen
an Kubikmeter:^la8k»n ^uskuni't. Ls Kamen
Redon avr IcMLZvn ^uualuno 6of Rh-umMdalts Avr ÄoutseKvn SoKiKs AM be-
sonäsrs alio 6c;r Mniscnvn, italinnisoluzn, s<z1i«o<1i8<'.i>hin um<> spanisonen auk. vor
^non der britiKcItiZn ?AgF<z i8t in <1on tot/ton sunt.lÄiron ni<:Ill unorliedlivn ^urüolc-
^ogangon. ^uLor aler drilitzcllvn >vo,ist nur dio ne>rwög!»i!>i<! ?1^A0 — von <1or
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1902. 0^-
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1902. K..^ — silet-Dsiitsolil-iiKl. 28. ^.nfi.
190». S — WisiulMÄs. 29. L.nel. 1902.
S^K — SÄ<ita.^fru, Virol, iZsIüb«?«
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östsrroidi-IIiiiZiirri. 2«./all. 190». 8,^
Lslizisn im<1 Hol1kli<Z. 22. ^.ritt.
1900. 0 ^. — Odsrito-Iisn. 1K. Ä.ut>.. I9S2.
8 ^ — 1Venlo1lig,1ihn. 1». L.rrkl. 190».
7,00 ^! — IIntsritÄlisn. 1». ^.rrkl. 1902.
S ^t! — It!Z,1isii von Asu L.1x>srr bi»
Ms-r.x>s1. S. ^.uti. I9o». 8 — »tvisr»
11. Lricl.ohl-1'rg.iiKrsisii. S. ^.uti. 1902.
K — ?<z.ri» ii. I7rrrAsb. Is. ^.uti.
of MorÄ-ISsK 190L.^K .; °i,s"IVor^-
Onsst. 1902. K ; I^s l^riet-Dst. 1901.
0 I^s S^.<Z.-0nssb. 1901. 0 —
SroLdritluuzjso. ». ^.nQ. 1899. 10 ^
— vonÄon. 14. ^»et. 1901. « ^ —
»«LlanS. b. ^.uti. IUV1. Is Kuimi-
burx. 1901. t ^/ü — Leib vsclsii im6
IVorvs^fil. 9. 190». ?,S0 —
Lstivsi?,. 30. L.ut1. 190». 8 ^! - IZpg.
rüsri 11. ?c>rtvrxs.1. 2. ^.ritt. 1899. 1« ^
^L.szri>tsii. b. 1902. 1k> ^ —
Sriootisn1s.n<Z.. S. ^.ritt. Is9». 8 ^ —
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12 — in'circl.s.irisrilcg.. 189». 12 ^ii (In
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Seethier und die Ostelbier spielen hente in unsern Zeitungen eine
große Rolle. Hütten wir noch ein lebendiges historisches Sprach¬
gefühl, so würden wir lieber Ostalbingien und Ostalbinger sagen,
wie man ja auch von Nordalbingern spricht. Aber der Ausdruck
ist nun einmal geprägt und wird leider oft mit einem gewissen
geringschätzigen Nebensiun, in der Vorstellung, das; diese Landschaften in
mancher Beziehung hinter andern deutschen zurückgeblieben seien, angewandt,
Milz besonders in West- und Süddeutschland, wo man von den Ländern jen¬
seits der Elbe im allgemeinen weder etwas Richtiges weiß noch wissen will.
-!^an ^ nationalen Interesse beklagen, daß zu dem alten Bewußtsein
starker Verschiedenheiten zwischen dem Norden und dein Süden noch das eines
gewissen Gegensatzes zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands ge¬
treten ist, immerhin hat diese Empfindung in: Grunde mehr Berechtigung als
oft künstlich aufgebauschte Vorstellung von einem Gegensatze zwischen Nord
und Süd. Denn nur der Westen bis zur Elbe und zur Saale im Norden, bis
Zum Böhmerwald und zur Enns ist altes deutsches Laud. Der ganze Osten
^t ein den Slawen erst seit dem nennten und zehnten Jahrhundert abgenom¬
menes, erst seit dem zwölftel? und dreizehnten Jahrhundert wenigstens zum
gißten Teil, obwohl noch immer nicht vollständig germanisiertes Erobernngs-
u>>d Kolvnialgebiet, dessen altgermanische, halbnvmadische Bevölkerung dort wenig
puren zurückgelassen hatte. Ohne diese große Erwerbung, auf das sogenannte'eine Deutschland beschränkt, zwischen Romanen und Slawen zusammen ge¬
langt, wären die Deutschen niemals zu einer großen selbständigen mächtigen
^ation geworden. Aber allerdings, der Osten blieb dem Westen gegenüber
vnmer ein verhältnismäßig junges Land, in seineu sozialen, wirtschaftlichen
und politischen Verhältnissen von der ältern und qereiftcrn Kultur des Westciw
verschieden.
Im Westen entwickelte sich früh das städtische Wesen, das vor allem ans
"verde und Handel beruhende, also geldwirtschaftliche Bürgertum zu großer
^edeutung neben dem Adel und dem Klerus. und diese beiden das frühere
^"ttelalter beherrschenden Stände besaßen selten geschlossene große Güter; ihr'
oft bedeutendes Grundeigentum war vielmehr meist als „Streubesitz" in einzelnen
Hufen und Hnfenanteilen über weite Landschaften verstreut und wurde schon
gegen Ende des Mittelalters nicht vom Herrenhöfe aus bewirtschaftet, sondern
war tatsächlich ein Renteninstitut, das auf den festen, kaum veränderlichen
Zinsen der meist persönlich freien, nicht leibeignen Bauern beruhte. Der
koloniale Osten blieb dagegen wesentlich agrarisch-feudal. Eine Ausnahme
machte fast nur das alte Markengebiet der Wettiner, das Land zwischen Saale
und Bober, wo die deutsche Herrschaft schon seit dem zehnten Jahrhundert
feststand, und die Entdeckung des Silberreichtums im Erzgebirge zusammen mit
dem großen westöstlichen Handelswege der „Hohen Straße" seit dem zwölften
Jahrhundert die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte, der des Westens
ähnlich machte. In einem Winkel dieses Gebiets, in der heutigen Oberlausitz
hat sich auch das städtische Wesen, begünstigt von der Abwesenheit jedes fürst¬
lichen Hofes und jedes Bischofssitzes, zu westdeutscher Selbständigkeit und
Bedeutung entwickelt. Im übrigen Nordosten gelang das nur den Küsten-
stüdten längs des Baltischen Meeres, der großen Handelsstraße nach dem
Norden und dem Nordosten; sonst kamen hier und vollends im Südosten nur
einige wenige Städte zu größerer Geltung. Im übrigen herrschte hier der
Adel, der das Land mit seinem Schwert erobert hatte, auf seinen geschlossenen,
selbstbewirtschafteten Rittergütern; er gewann von den Landesherren allmählich
die obrigkeitlichen Rechte als Zubehör seiner Grundherrschaft und drückte auch
die freien deutschen Kolonisten zu fast- rechtlosen Leibeignen und Hörigen herab.
Aber wenn der Osten sozial und wirtschaftlich hinter dem altdeutschen
Westen zurückblieb, so war er ihm politisch ebensoweit voraus. Seitdem das
„reine" Deutschland mit dem Ende der großen Kaiserzeit aufgehört hatte, sich
große politische Aufgaben zu stellen und zu lösen, wurde es durch fürstliche
Erbteilnngen und ständische Gegensätze immer mehr in kleine Territorien zer¬
setzt, die jedes Staates erste und wesentliche Aufgabe, Macht zu sein, gar nicht
mehr erfüllen konnten. Was sie noch trug und erhielt, das war nicht ihre
eigne Kraft, das waren die verkümmerten Rcichsinstitutionen, die hier fortlebten.
In den geistlichen Fürstentümern, der eigentümlichsten Schöpfung des alten
Kaisertums, in den Reichsstädten und in dem reichsunmittelbaren Adel, den
Reichsgrafen und Reichsrittern, fand auch das Kaisertum des späten Mittel-
nlters und der Neuzeit noch seine besten Stützen.
Im Osten dagegen erwuchs aus der alten umfassenden straffen mark¬
gräflichen Gewalt großer Fürstengeschlechter das Territorialfürstentum zu voller
Landeshoheit; es litt weder Reichsstädte noch reichsunmittelbare Bistümer noch
Neichsritter, es gewann mit dem Übergang der meisten Territorien zum
Protestantismus auch die Kirchenhoheit und einen großen Teil des Kirchenguts.
Freilich vermochte es die Macht des Adels nicht zu brechen, vielmehr bezeichnet
das sechzehnte und die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gerade die
Blütezeit des ständisch-feudalen Staats, der, indem er alle obrigkeitlichen Rechte
in ein Zubehör des Grundbesitzes verwandelte, den Staat in eine Verbindung
adlicher, städtischer und fürstlicher Grundherrschaften aufzulösen drohte. Aber
diese Überspannung privatrechtlicher Anschauungen führte gerade hier zu einer
scharfen Reaktion des Staatsgednnkeus: der koloniale Osten wurde die Heimat
und das wichtigste Arbeitsgebiet des neuen fürstlichen Absolutismus, der, am
folgerichtigsten in Preußen, mit seinem stehenden Heere, seinem monarchischen
Beamtentum und seiner merkantilistischen Wirtschaftspolitik die vereinzelten
Territorien zu eiuer machtvollen Einheit zusammenschweißte und den feudalen
Adel in den Staats- und Heeresdienst zog, ihn zu einem monarchisch-militä¬
rischen Adel umbildete. Seine soziale Stellung vermochte der Absolutismus
freilich noch nicht zu erschüttern, ja er verschärfte die Scheidung der Stände, und
er drang auch keineswegs überall durch; Kursachsen und Mecklenburg blieben
ebensogut ständische Länder, wie im westlichen Deutschland Hannover, Württem¬
berg oder Bayern.
Es war nun nur natürlich, daß die großen geschlossenen Territorien des
Ostens nach dem zerfahrnen, wirtschaftlich und sozial gereiftem Westen über¬
griffen, also das Mutterland mit den Koloniallanden zu vereinigen suchten.
Zuerst, noch im Mittelalter, taten das von Meißen ans die Wettiner, indem
sie die Landgrafschaft Thüringen, von der die Kolonisation dieser Marken im
wesentlichen ausgegangen war, und somit die Herrschaft über die ganze große
westöstliche Verkehrslinie von der Werra bis nach Schlesien erwarben. Die
Habsburger hatten aus dem Zusammenbruch ihrer südwestdeutschen Macht¬
stellung noch ansehnliche Gebiete am obern Rhein und an der obern Donau
gerettet, die vorderösterreichischen Lande; sie hatten damit einen starken Ein¬
fluß auf den schwäbischen Kreis, benutzten diesen zur Gründung des Schwä¬
bischen Bundes 1483 und besaßen eine Zeit lang, 1519 bis 1533, sogar sein
Hauptland Württemberg. Sie haben dann fast während des ganzen siebzehnten
Jahrhunderts daran gearbeitet, Bayern, das Mutterland der österreichischen
Koloniallande, zu erwerben. Hätten sie diese süddeutschen Vergrößerungspläne
ausführen können, so wäre, zumal da das Kaisertum tatsächlich in ihrem Hause
erblich geworden war, und da sie bis 1635 die Lausitzer, bis 1742 Schlesien, seit
^713 Belgien besaßen, das Übergewicht des deutschen Elements in Österreich
und dessen herrschende Stellung im Reiche für alle Zeiten gesichert gewesen, nnter
der Voraussetzung freilich, daß sich die Habsburger nicht zu Werkzeugen der
katholischen Reaktion hergaben. Daß dies eben doch geschah, und daß die Habs¬
burger ihre süddeutschen Pläne nicht durchführen konnten, das hat die Trennung
Österreichs von Deutschland vorbereitet und die Neubildung des Reichs auf
einer ganz neuen, von der Tradition nicht getragnen Grundlage entschieden.
Wenn Preußen diese Grundlage bildete, so hängt das mit der Erwerbung
Westdeutscher Territorien aufs engste zusammen; ein auf die ostelbischen Pro¬
vinzen beschränktes Preußen würde sich von Deutschland kaum weniger abge¬
schlossen haben als Österreich. Den Anfang machten die Stücke aus der
Mich-bergischen Erbschaft, Kleve, Mark und Ravensberg 1613, es folgten
1648 die Bischofslande Magdeburg, Halberstadt und Minden, 1707 Tecklenburg,
1713 der Anfall der oranischen Besitzungen Geldern. Mörs und Lingen,
1744 Ostfriesland, gewiß alles zerstreute kleine Gebiete, von denen nur
Magdeburg und Halberstadt mit den ostdeutschen Kernlanden zusammenhingen,
aber sie schoben die Macht der Hohenzollern bis an die untere Maas und
bis an die Nordsee vor. Die großen Erwerbungen von 1815 und 1866
setzten das längst Begonnene nur fort, fügten zu den oftclbischen Kolonial-
landen altdeutsche Gebiete von einer gereiftem Kultur, die jenen an Umfang
nicht mehr so sehr viel nachstanden, wahrend der Staat seine polnischen Pro¬
vinzen großenteils abstieß.
Daß dies nur etwa das Ergebnis einer planmüßigen Politik gewesen
wäre, wird niemand behaupten. Der Große Kurfürst wollte ursprünglich einen
geschlossenen ostdentsch-baltischen Staat zwischen Elbe, Memel und Ostsee mit
der Hauptstadt Stettin begründen; Friedrich Wilhelms des Ersten größte Leistung
war die Eroberung Vorpommerns bis zur Peene, also des Odermündungs¬
landes 1720, und Friedrichs des Großen Absehen war auf die innere Zu¬
sammenfassung und die weitere Abrundung der ostclbischcu Kernlande durch die
Erwerbung Schlesiens, Westpreußens, des Restes von Vorpommern und viel¬
leicht auch Sachsens gerichtet; auf die westdeutschen Provinzen zwischen Weser,
Maas und Nordsee hat er weder seine merkantilistische noch seine militärische
Politik vollständig angewandt, er hat sie zollpolitisch geradezu als Ausland
behandelt, um die junge Industrie seines Ostens gegen den entwickelten Gewerb-
fleiß des Westens zu schützen, und er Hütte sie ganz gern gegen günstiger
liegende Gebiete vertauscht. Wie sehr sich endlich die preußischen Staats¬
männer 1814/15 gegen die Zuweisung der Rheinprovinz gesträubt haben, für
die sie viel lieber ganz Sachsen genommen Hütten, ist bekannt. Und noch 1866
hätte König Wilhelm, wenn es nach ihm gegangen wäre, am liebsten Teile
Sachsens und Böhmens mit Preußen vereinigt und sich im Westen mit einigen
Landstrichen zur territorialen Verbindung zwischen den beiden Hauptmassen
seines Staatsgebiets begnügt.
Und doch sind diese westdeutschen Landschaften von der größten Bedeutung
für die innere Gestaltung des preußischen Staats geworden. In Kleve-Mark
hat zuerst der Berliner Neligionsvcrgleich von 1672 die konfessionelle Ge¬
schlossenheit der deutschen Territorien grundsätzlich gebrochen und die Gleich¬
berechtigung der drei anerkannten Bekenntnisse innerhalb desselben Terri¬
toriums proklamiert; dort siud am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
Einrichtungen vorhanden gewesen oder durchgesetzt worden", die dann für die
innere Neugestaltung Preußens besonders seit 1807 die Vorbilder gaben. Das
war das Werk des großen Westdeutschen Staatsmannes, des Freiherrn Karl
vom Stein, der in diesen Provinzen seine Schule gemacht hatte, und das im
einzelnen nachgewiesen zu haben im ersten Bande seines grundlegenden, ans
den umfassendsten Studien in den Archiven und in der Literatur hervor-
gegangnen Werks über Stein, ist das große Verdienst Max Lehmanns.*) Daß
dabei der Mensch hinter dem Beamten ganz zurücktritt, liegt zunächst in der
Beschaffenheit des Quellenmaterinls, vor allem aber doch in dein Interesse,
das diese Aufgabe einflößt, die innere Geschichte des preußischen Staats zu
schildern.
Ein Vergleich zwischen Stein und Bismarck liegt nahe. Der eine hat
den Grund zu dem neuen Preußen gelegt, indem er provinzielle Einrichtungen
auf den ganzen Staat ausdehnte, der andre hat das neue Deutsche Reich ge¬
gründet, indem er preußische Institutionen auf ganz Deutschland übertrug.
Beide waren praktische Landwirte und stolze Edelleute, aber ohne jede hoch¬
mütige Exklusivität, beide Protestanten, beide geniale Naturen von weitem
Blick, tiefer Leidenschaftlichkeit und unbeugsamer Willenskraft, beide erfüllt von
gesundem Wirklichkeitssinn, Feinde alles Doktrinarismus und aller Schablone,
deshalb auch Gegner der Bureaukratie und Verfechter einer verfassungsmäßigen
Teilnahme des Volks am Staatsleben, soweit sie sich mit einer wirklichen
Monarchie vertrug. Und doch, wie verschieden waren sie wieder voneinander:
Stein ein Westdeutscher, ein Neichsritter, der nur den Kaiser als Oberherrn
anerkannte und sich jedem Landesfürsten ebenbürtig fühlte, ein Deutscher
schlechtweg, Preuße nur durch seine freie Wahl, dem alten ostelbischen Kern¬
lande des Staats innerlich immer fremd; Bismarck von Haus aus ostelbischer
Junker, treuer Vasall seines Landesherrn, lange Zeit nur Preuße, mit dein
Westen Deutschlands wenig bekannt und deshalb auch ohne tiefere Kenntnis
der römischen Kirche. Der eine wurde Preuße und arbeitete für Preußen.
weil er in Preußen die für Deutschland entscheidende Kraft sah. der andre
wurde aus einem Preußen ein Deutscher, weil mit dem Aufsteigen seines Staats
diesem die Pflicht zufiel, Deutschland zu führen.
Wie wichtig die Umgebung für die Gestaltung einer Persönlichkeit ist.
wie aber das Entscheidende doch in ihrem Entschluß, also in ihrem Willen
liegt, das zeigt gerade Steins Entwicklung sehr deutlich. Das Geschlecht tritt
erst 1255 unter den Burgmänner der Grafen von Nassau hervor, deren
Stammburg derselbe Felsen des Lahntals trägt, wie den Stammsitz der vom
Stein. Aber im sechzehnten Jahrhundert war die Familie reichsfrei geworden,
sie gehörte zum rheinischen Kreise der Ncichsritterschaft und trug Lehen von
Mainz, Trier, Pfalz, Hessen und Wied. Während der größte Teil ihrer
Standesgenossen der katholischen Kirche treu blieb, trat die Linie, von der
Karl vom Stein abstammte, mit ihrem Ahnherrn Engelbrecht, Domherrn von
Trier, schon 1525 zum Protestantismus über. Ihr Besitz, ein echter west¬
deutscher Strcubesitz, war über einen weiten Raum auf beiden Seiten des
Rheins verteilt, umfaßte aber auf dem rechten Ufer — der linksrheinische ist
'"ehe genau bekannt — im ganzen nnr 2400 Morgen in etwa 24 Gütern und
Gutsanteilen, also nicht mehr Fläche, als ein mäßiges pommersches Ritter¬
gut. Auch wurde die reichsritterlichc Eigenschaft dieses Besitzes, soweit er mit
gräflich nnsfauischem Grundeigentum im Gemenge lag. von den Grafen fort¬
während bestritten. Um so mehr suchten die Freiherren vom Stein Anlehnung an der
Reichsritterschaft und den benachbarten geistlichen Fürstentümern, deren Bischofs-
stühle und Dvmherrnstellen der Reichsadel herkö minlich erweise besetzte. Steins
Bater, Karl Philipp, war Nitterrat beim mittclrheinischcu Kanton seines Kreises,
dessen Direktorium seinen Sitz in Koblenz hatte, und Kämmerer des Knrfürsten-
Erzbischofs von Mainz.
In solchen Verhältnissen wuchs Karl vom Stein, geboren am 26. Ol-
tober 1757, auf. Sein Vater, häusig abwesend und keine hervorragende Per¬
sönlichkeit, scheint wenig Einfluß auf die Erziehung seiner vier Söhne geübt
zu haben, um so größern die geistvolle, energische, lebensprühende und vielseitig
gebildete Mutter Karoline Langwerth von Simmern, eine der bedeutenden
Frauen dieser an solchen so reichen Zeit. Der längst stark verschuldete Familien¬
besitz des Hauses nötigte die Söhne, in fürstliche Dienste zu gehn, aber nur
einer wandte sich nach Österreich, wo so viele Herren des katholischen Reichs¬
adels einflußreiche Stellungen fanden. Der älteste, Johann Friedrich, nahm
holländische, der jüngste, Ludwig Gottfried, württembergische Kriegsdienste.
Auch der dritte, Karl, wurde für den Eintritt in den Staatsdienst, zunächst
durch eine rein häusliche Ausbildung, vorbereitet.
Er war noch nicht sechzehn Jahre alt, als er hinlänglich gereift erschien,
zu Michaelis 1773 die Universität Göttingen zu beziehn, in der Tat schon
ein in sich gefestigter Charakter, von stolzem Selbstgefühl und festem, oft
schroffem Urteil. Sogar die Handschrift des Jünglings unterscheidet sich wenig
von der des fertigen Mannes. Die von ihm gewählte Hochschule war damals
bekanntlich für Staatswissenschaften und Geschichte die erste Deutschlands, und
ihre Lehrer standen nicht auf dem Boden des Absolutismus, sondern eher des
ständischen Staats, wozu die nahe Verbindung Hannovers und dem parlamen¬
tarischen England das ihrige beitragen mochte. Für England zeigte denn
auch der junge Freiherr früh ein lebhaftes Interesse. Seine Freunde suchte
er sich unter gleichgesinnten und gleichstrebenden Jünglingen; mit dem spätern
langjährigen tatsächlichen Leiter Hannovers, Rehberg, trat er schon damals in
nahe Beziehungen, die beide lange Jahre verbanden; an den poetischen Be¬
strebungen der Hainbündler nahm er dagegen keinen Anteil. Als er zu Ostern
1777 Göttingen verließ, begab er sich nach Wetzlar und trat hier am 39. Mai,
wie Goethe fünf Jahre früher, als Praktikant am Reichskammergericht ein,
begann also die Laufbahn, die ihn in den Reichsdienst führen zu müssen schien-
Eine Reise durch Süddeutschland und durch einige Provinzen Frankreichs im
Frühjahr 1778 sollte die bisherige theoretische Bildung ergänzen. Aber als er
nach Regensburg kam, um dort den Reichstag kennen zu lernen, faßte er,
eben als Friedrich der Große im Bayrischen Erbfolgekriege wieder die Waffen
gegen den Kaiser erhoben hatte, den auffallenden Entschluß, in die Dienste
Preußens zu treten. Nach seinem eignen Geständnis war das Entscheidende
dabei die Verehrung für den König und seine konservative Gesinnung, der
Friedrich damals, indem er für die Erhaltung Bayerns eintrat, als der Ver¬
fechter des Bestehenden gegen österreichische Umwälzungspläne erschien. Die
Mutter unterstützte deu ihr zunächst nicht genehmen Wunsch des Sohnes durch
ein hohe Verehrung atmendes Schreiben an den König vom 9. Januar 1779,
auf das dieser umgehend und prinzipiell zustimmend noch von Breslau aus
antwortete; indes setzte Stein seine Reise noch weiter nach Österreich, Steier-
mark und Ungarn fort und traf erst im Februar 1780 in Berlin ein. Welche
Hoffnungen die Familie schon damals auf ihn setzte, zeigt sich darin, daß sie
ihn 1779 mit Übergehung der beiden ältern Söhne förmlich zum Haupte des
Hauses, zum „Stammhalter" erhob, nachdem der kränkelnde Vater schon 1774
den gesamten Besitz zum unteilbaren Fideikommiß erklärt hatte. Die Ver¬
waltung führte zunächst die tatkräftige Mutter, erst nach ihrem Tode (29. Mai
1783) der „Stammhalter."
Als er in den preußischen Staatsdienst überging, hoffte er zunächst in
der Diplomatie verwandt zu werden. Zu seinem Glück entschied der damalige
Minister des Berg- und Hüttendepartements im Generaldirektorium. Friedrich
Anton Freiherr von Heinitz, der Begründer der sächsischen Bergakademie
in Freiberg 1765, der 1777 aus Sachsen nach Preußen berufen worden
war und sich in zweiter Ehe mit einer Verwandten des Steinschen Hauses
vermählt hatte, in anderen Sinne: Stein wurde seinem Departement zuge¬
wiesen und bereitete sich für diese neue Aufgabe teils durch den Besuch
technischer Vorlesungen in Berlin, teils durch Reisen vor, die ihn mit Heinitz
"n August 1780 nach den westlichen Provinzen und Holland, 1781 durch
Polen bis Wieliczka führten, und hielt sich dann 1782 noch mehrere Monate
w Freiberg auf. Im März desselben Jahres zum Oberbergrat, 1783 zum
Leiter der' westfälischen Bergwerke. 1784 zugleich zum Mitgliede der Kriegs¬
und Domänenkammer in Kleve und ihrer Deputation für die Grafschaft Mark
in Hamm ernannt, nahm er seit dem Mai 1784 seinen festen Wohnsitz in
Wetter an der Ruhr, blieb aber mit der Zentralverwaltung, also mit Heach,
immer in engster Verbindung.
Heinitz. ein geborner Sachse (1725 bis 1802). gehört wie Stein. Scharn-
horst. Gneisenau. Blücher und andre mehr zu den zahlreichen deutschen
"Ausländern," die ihre beste Kraft Preußen gewidmet und seine Größe mitbe¬
gründet haben. Mit der Wirtschafts- und Finanzpolitik Friedrichs des Zweiten
stimmte er keineswegs ganz überein. Er wollte etwa die Mitte halten zwischen
dem alten Merkantilismus und der neuen in Frankreich aufkommenden Physio-
kmtie. deshalb ganz Preußen in ein einheitliches Wirtschaftsgebiet verwandeln,
den Durchgangshandel begünstigen und jede Zollerhöhung vermeiden. Auf
solchen Grundlagen fand sich Stein mit ihm zusammen; aber solange Fried¬
rich regierte, waren diese Gedanken nicht durchzuführen, und Stein blieb zu¬
nächst auf die Verwaltung der Bergwerke beschränkt, wozu bald auch noch die
Oberaufsicht über die Fabriken kam. Eifrig befuhr er die Gruben, die meist
in den Händen von Gewerkschaften waren, und trotz deren Opposition setzte
er eine einschneidende Reform des vernachlässigten Rechnnngswesens unter der
Aufsicht des Staates durch. Fast widerwillig übernahm er 1785 die diplo¬
matische Aufgabe, den Kurfürsten von Mainz zum Beitritt zum Fürstenbnnde
ZU bewegen, deren glückliche Lösung (15. Oktober 1785) die alte Verbindung
des geistlichen Fürstentums mit dem Kaisertum an der wichtigsten Stelle
Zerriß. Daß Friedrich der Große im scheinbaren Widerspruche mit seiner
ganzen Vergangenheit als Verfechter der alten, unbrauchbaren Reichsverfassung,
tatsächlich aber als das anerkannte Haupt der fürstlichen Opposition, also des
Reichsfürstenstandes endete, war sein letzter Erfolg gegen Österreich; mit
seinem Tode (17. August 1786) wurde diese Politik wieder verlassen, der
Fürstenbund zerfiel, und auch im Innern schlug sein Nachfolger Friedrich
Wilhelm der Zweite neue Bahnen ein.
Das wurde vor allem für die westlichen Provinzen wichtig; erst jetzt
traten sie ganz und gar in den Zusammenhang des preußischen Staates ein.
Zu ihrem Minister im Generaldirektorium ernannte der König schon am
5. Dezember 1786 Heinitz; Stein aber, der 1786/87 eine Jnstruttiousreise
nach Euglciud und Schottland gemacht hatte, wurde im November 1787 zum
zweiten Direktor der neuen Kriegs- und Domäneutammer für die Grafschaft
Mark in Hainen und der klevischen Kammer, im Juli 1788 zu deren erstem
Direktor und zum königlichen Kommissar für den klevisch-märkischen Landtag
ernannt. Er erhielt damit eine Stellung, die ihm eine tiefgreifende Wirksam¬
keit ermöglichte und ihn mit allen Kreisen dieser Provinzen in die engste amt¬
liche und persönliche Beziehung brachte.
Sie hatten sehr viele Eigentümlichkeiten, die sie von den Kernprovinzen
im Osten der Weser innerlich schieden. Ihr Gesamtumfang betrug, Ostfries¬
land inbegriffen, damals 237 Geviertmeilen mit 542000 Einwohnern, und
zu den Staatskassen lieferten sie jährlich 1800000 Rcichstaler. Die wertvollste
war die westfälische Grafschaft Mark wegen ihres Bergbaues, ihrer uralten
Eisenindustrie und ihrer Wollen- und Baumwollenfabrikativn, Gewerbe, die alle
längst auf das Land gezogen waren, weil sie auf der ausgiebigen Benutzung
der zahlreichen kleinen Wasserläufe des Sauerlandes beruhten. Kleve, Mörs
und Geldern waren fast reine Ackerbauländer, aber sie lagen an zwei großen,
schiffbaren Strömen, und in Krefeld blühte die alte Seideniudustrie des Hauses
von der Lehen. Die kleinen Emslandschaften, Tecklenburg und Lingen, dürftiger
Moor- und Sandboden, trieben doch Leinweberci und Hausierhandel; von den
Wesergebieten beherrschte Minden den Strom und seine Schiffahrt auf eine
bedeutende Strecke, und Raveusberg hatte eine hochentwickelte Leinenindustrie.
Fast in allen diesen Territorien verbanden sich also Handel oder Gewerbe oder
beide mit dem Ackerbau, und das Gewerbe war weder durch Schutzzölle künst¬
lich aufgezogen noch auf die Städte beschränkt. Deshalb war hier auch die
auf der unveränderlichen Grundsteuer (Kontribution) und der Accise, der
städtischen Verbrauchssteuer, beruhende Steuerverfassung der östlichen Provinzen
niemals ganz durchzuführen gewesen; die Accise war auf die wenigen ge¬
schlossenen Städte beschränkt, und auch Friedrich der Zweite hatte hier nicht
durchgreifen können. Ebensowenig hatte man die militärische Kantonverfassung
Friedrich Wilhelms des Ersten (von 1733) hier völlig durchsetzen können,
Friedrich der Zweite hatte sie in Geldern, Kleve, Mörs, Tecklenburg. Lingen
und Mark 1748 ganz aufgehoben (wegen massenhafter Fahnenflucht der Dienst¬
pflichtigen über die überall nahe Grenze) und durch Werbefrciheitsgelder
ersetzt; mir in Ravensberg und Minden bestand sie in derselben Form wie
im Osten.
Auch die soziale Struktur der Bevölkerung war hier anders als im Osten-
In Kleve-Mark war die Bauernbevölkerung fast ganz frei und saß auf
eignen oder erpachtetcn Höfen, in den übrigen Landschaften war sie hörig-
Aber auch hier gab es keine geschlossenen Rittergüter, sondern nur Rittersitze,
diese gehörten nicht ausschließlich dem Adel und hatten nicht die Gerichts- und
Polizeigewalt über ihre Bauern, waren also auch nicht steuerfrei, ausgenommen
die adlichen (seit Friedrich Wilhelm dem Ersten). Die Stunde, in Kleve-Mark
aus einer kleinen, rasch zusammenschwindenden Zahl altadlicher Geschlechter
und den Vertretern von dreizehn Städten, in Bänden und Ravensberg aus¬
schließlich ans Adlichen, in Mörs auch aus bäuerlichen Abgeordneten gebildet,
standen in voller Wirksamkeit, versammelten sich regelmäßig (die klevisch-
märkischen alljährlich), bewilligten nach dem von der Regierung vorgelegten
Steueretat die Kontribution in einer nach dem Bedarf wechselnden Höhe,
hatten Anteil an der Proviuzinlgesetzgebung und ließen in der Zwischenzert
die laufenden Geschäfte durch eine ständische Deputation besorgen. Außerdem
hatte in Kleve-Mark jedes „Amt" seinen ..Erdentag." eine Versammlung der
Ritter, der Rentmeister der Domänen und der Bauern, jedes Kirchspiel seinen
adlich-bäuerlichen „Kirchspieltag" für die Verteilung der Landessteuern und
Beratung der eignen Angelegenheiten (in Kleve namentlich der Deichbauten).
Auch den Städten hatte Friedrich der Große die ihnen von Friedrich Wilhelm
dem Ersten entzogne freie Ratswahl 1765 zurückgegeben. Alles in allem
hatten also diese Provinzen, besonders Kleve-Mark. eine durchgebildete,
lebendige Selbstverwaltung, die alle Stunde mit Gemeinsinn. Eifer, Sach¬
kenntnis und Selbstbewußtsein erfüllte. Deshalb bedeutete hier die im Osten
so wichtige Einteilung in Kreise unter Landräten aus den eingesessener
Rittergutsbesitzern wenig, sie bestand anch nur in Kleve-Mark und auch hier
erst seit 1753.
Das alles entsprach ganz und gnr dem Sinne Steins, und eben deshalb
^ seine Tätigkeit hier so fruchtbar gewesen. Er ordnete schon 1789 durch
Verträge mit den einzelnen Provinzialständen die unklaren und drückenden
Militürverhültnisse so. daß die meisten Landschaften ein bestimmtes jährliches
Kontingent geworbner Freiwilliger zum Heere stellten (Kleve 150 Mann), und
setzte die Ncubefcstiguug von Wesel durch, dessen Werke im siebenjährigen
Kriege als unhaltbar gesprengt worden waren. Er erreichte 1790 im Ein¬
vernehmen mit den Stünden eine Neuordnung der Accise in der Weise, das;
sie uns eine Mahl-, Schlacht- nud Tranksteuer beschränkt wurde, die Gewerbe-
Produkte also freiließ. Den Ausfall deckte eine direkte Gewerbe- und Klassen¬
steuer in den Städten, eine Verbrauchs- und Gewerbesteuer auf dem Lande;
in einem Drittel der Städte wurde auch jene beschränkte Accise als un¬
durchführbar aufgegeben und durch eine direkte Steuer ersetzt. Wo sie bestand.
blieb die Accise der Verwaltung der Städte überlassen. So genossen diese
Provinzen eine fast völlige Gewerbe- und Handelsfreiheit, die wirtschaftlichen
Schranken zwischen Stadt und Land waren hier gefallen. Aber recht frucht¬
bar wurde das doch erst durch die Verbesserung der Verkehrsmittel. Zugleich
mit der Erbauung der ersten preußische-? Kunststraßen von Magdeburg nach
Leipzig und von Berlin nach Potsdam begann und vollendete Stein, unter¬
stützt durch Beitrüge der Stände, königliche Dispositionsgelder und Anleihen,
den Bau zweier Chausseen in der Grafschaft Mark mit einer Gesamtlänge von
22 Meilen; die preußische Post auf diese neuen Linien zu leiten, gelang ihm
freilich noch nicht. Die warme Dankbarkeit seiner Westfalen zeigte Stein, wie
sehr das alles ihren Bedürfnissen und Anschauungen entsprach.
Doch schon nahte von Westen das Unheil. Der Umwälzung in Frank¬
reich sah Stein, wie die meisten gebildeten Deutschen, mit einer gewissen
Sympathie zu, denn dort wurde zunächst manches verwirklicht, was er selbst
in seinem Kreise erstrebte; er war auch ein Verehrer Montesquieus und ein
Bewundrer Englands. Nur deu drüben bald aufkommenden Radikalismus
haßte er gründlich; in diesem Sinne nannte er die Franzosen eine „scheußliche
Nation," aber er fürchtete sie gar uicht und hoffte von dem Kriege gegen sie,
der 1792 ausbrach, manches Günstige, namentlich die Belebung von Energie
und Mut. Bald riß ihn dieser Krieg selbst in seine Wirbel hinein und über
die Grenzen seiner bisherigen Amtstätigkeit hinaus. Nach dem kläglichen
Rückzüge der Verbündeten aus der Champagne und dem Einbruch der Franzosen
in die Rheinlande, dem Verluste von Mainz und Frankfurt setzte er die
Bildung eines Korps aus Preußen, Hessen und Hannoveranern durch, das
am 2. Dezember Frankfurt erstürmte und dann Mainz einschloß; später sorgte
er durch Vertrüge zwischen den Ständen und der Militärverwaltung für die
Sicherung der Heeresverpflegung im Winter 1792/93. Diese Tätigkeit brachte
ihm eine Erweiterung und Erhöhung seiner amtlichen Stellung. Im April
1793 wurde er zum Präsidenten der märkischen Kammer in Hamm ernannt,
zum Präsidenten der klevischen Kammer designiert; als solcher bezog er am
1. Dezember desselben Jahres das alte Herzogsschloß von Kleve, und dorthin
führte er seine junge Frau, Komtesse Wilhelmine von Wallmoden-Gimborn, mit
der er sich im Juni vermählt hatte.
Eine lange Dauer war dieser Stellung nicht beschieden. Mit dem linken
Rheinufer ging im Oktober 1794 auch der größte Teil von Kleve verloren, und
Stein mußte mit der klevischen Kammer zunächst nach der Festung Wesel, im
Februar 1795 vorübergehend sogar nach Magdeburg übersiedeln. Dabei er¬
wuchs ihm wieder die schwere Aufgabe, als Intendant für die Verpflegung
der nach Westfalen zurückgewichenen Truppen, 40000 bis 50000 Mann, z»
sorgen. Der Sonderfriede von Basel am 5. April 1795 machte dem Kriegs¬
zustande für Preußen und den größten Teil Norddeutschlands ein Ende, aber
er gab schon grundsätzlich das linke Rheinufer auf und überließ die Vertei¬
digung Süddeutschlands den Österreichern, schädigte also das Ansehen Preußens,
das zehn Jahre zuvor so hoch gestanden hatte, aufs tiefste. Erzürnt nannte
Stein den Frieden „eine perfide Preisgebung Deutschlands." Er hatte nicht
Unrecht. Daß das feindselige Verhalten Österreichs und Rußlands im Osten
für Preußen die Fortsetzung des Krieges im Westen unmöglich machte, wußte
er nicht; er sah nur die grenzenlose Unfähigkeit der Zentralverwaltung und
ihr Unvermögen, die dringend nötige Reform des Steuerwesens durchzuführen-
Denn die nach der Weise Friedrichs des Zweiten im Frieden zurückgelegten
Mittel des Staatsschatzes waren zu Ende, und die Aufhebung der adlichen
Steuerfreiheit, mit der jede Finanzresorm beginnen mußte, scheiterte ein der
Selbstsucht des Adels, der zwar herrschen, aber nicht die Lasten des Gemein¬
wesens auf sich nehmen wollte.
Steins Freund Heinitz sorgte wenigstens dafür, daß er die im Westen
begonnenen Reformarbeiten dort weiterführen konnte. Am 12. Mai 1796
erhielt der Freiherr die Ernennung zum Oberpräsidenten aller westlichen Pro¬
vinzen, außer Ostfriesland, mit dem Sitz in Minden. Sein Ziel blieb das
alte: Schonung der landstüudischen Einrichtungen, aber Zentralisation in Handel,
Gewerbe und Militärwesen, sowie Verminderung des Beamtentums. Freilich
arbeitete Stein unter schwierigern Verhältnissen als früher. Das linksrheinische
Kleve mußte er verloren geben, obwohl er eine Zeit lang noch die Hoffnung
gehegt hatte, es wieder zu erlangen; im Jahre 1797 wurde dort die franzö¬
sische Verwaltung eingeführt. Die rechtsrheinischen Provinzen litten schwer
unter den französischen Schutzzöllen und dem fortdauernden Seekriege mit
England. Hier griff Stein direkt durch Unterstützung der Leinenfabrikation,
Verbesserung der Maschinen und Förderung des Gewerbeunterrichts ein.
Vor allem aber strebte er nach möglichster Förderung des innern Verkehrs.
Neue Kunststraßen entstanden in der Grafschaft Mark zur Verbindung einer¬
seits mit dein Hellweg und der Soester Borde, andrerseits mit Wesel, Dms-
burg und Ruhrort, in Minden und Navensberg von der bückeburgischen
Grenze über Minden und Herford nach Bielefeld. An der Weser wurde ein
Leinpfad eingerichtet, dagegen gelang es noch nicht, das alte, verkchrsstörende
Stapelrecht von Minden zu beseitigen. Am Rhein wurde der Schiffahrtsweg
durch einen großen Durchstich zwischen Wesel und Xanten verkürzt. Ein ent¬
scheidender Schritt zur vollen Freiheit des Binnenverkehrs war es, als schon
am 4. April 1796 alle Binnenzölle in der Grafschaft Mark aufgehoben und
durch Grenzzölle ersetzt wurden, ein Vorläufer für das preußische Zollgcsetz
vom 26. Mai 1818, das dasselbe Prinzip auf den ganzen Staat übertrug
und die Gründung des deutschen Zollvereins einleitete. In den offnen Städten
Tecklenburgs und Lingens wurde die Accise durch eine direkte Steuer ersetzt,
w Minden beschränkt. Sogar mit dem Plan zur Einführung völliger Ge¬
werbefreiheit trugen sich Stein und Heinitz. Nicht minder wandte sich ihre
Fürsorge der Bauernbefreiung zu. Die Aufteilung der noch sehr umfänglichen
Gemeinheiten wurde zur Umsetzung lautloser Leute benutzt, die Hörigkeit auf
den königlichen Domänen 1797 aufgehoben, sodaß die Höfe in freies Eigentum
»der in Erbpacht übergingen. Auf den Rittergütern scheiterte diese Reform
an den Gutsherren und an der Schlaffheit der Zentralbehörden; doch gelang
es wenigstens, den uralten aber sehr drückenden Vorspanndienst (sür die Be¬
förderung des Königs, der Beamten und des Militärs) zu erleichtern, wogegen
der höchst lästige Mühlzwang (der Domünenbauern für die königlichen in Erbpacht
gegebnen Mühlen) aufrecht blieb. Für das Armenwesen sorgte ein neues
Landarmcnhaus in Unna. Für die Vereinfachung der Verwaltung geschah
manches. Vor allein übertrug ein von Stein entworfnes königliches Reskript
«in 15. März 1802 die Aufsicht über die städtische Verwaltung den Kammern
an Stelle der Justizbehörden („Regierungen"), machte also an dieser Stelle
der Vermischung von Justiz und Verwaltung ein Ende.
Ganz neue Aufgaben erwuchsen Stein, als ihm im September 1802 die
Verwaltung der westfälischen „ Entschüdigungslande" (nach dem Vertrage vom
23. Mai desselben Jahres), des halben Bistums Münster, des Stifts Pader-
born, der Abteien Essen und Werden, die die alten westlichen Provinzen unter-
einander verbanden und abrundeten, als Oberpräsidenten mit dem Sitz in
Münster übertragen wurde. Seine sachkundige, feste, dabei wohlwollende Art
empfahl ihn ganz besonders für die schwierige Aufgabe, neue widerwillige
Untertanen in die preußischen Verhältnisse einzugewöhnen. Er tat deshalb
auch alles Mögliche, um die landständische Verfassung dieser Territorien zu
erhalten, aber gerade in dem wichtigsten, in Münster, vermochte er das nicht
durchzusetzen; der dortige Landtag wurde schon im September 1802 geschlossen,
im November 1802 aufgehoben, auch die von Stein empfohlne Bildung einer
ritterschaftlichen Korporation nicht genehmigt. Im übrigen blieb gar nicht die
Zeit, die neuen Verhältnisse zu konsolidieren. Stein mußte es erleben, daß
die unverzeihliche Schwäche seines Königs, Friedrich Wilhelms des Dritten, den
Franzosen erlaubte, sich 1803 in Hannover festzusetzen, dicht an der Nord¬
grenze seines eignen Verwaltungsbezirks, und daß der Herzog von Nassau-
Usingen die in seinem Machtbereich liegenden Steinscheu Güter als gute
Beute ansah. An ihn richtete er den berühmten Brief vom 13. Januar 1804,
der das Todesurteil über die deutschen Kleinstaaten aussprach und in der
Einigung und Verstärkung Preußens und Österreichs die Rettung Deutsch¬
lands, des einzigen Vaterlandes, das der stolze Reichsritter anerkannte, sehen zu
müssen erklärte.
Bald sollte er selbst berufen sein, an entsprechender Stelle für die Zukunft
Preußens und Deutschlands zu arbeiten. Seine Oberpräsidentschaft in Münster
war nur eine kurze Übergangszeit. Schon am 27. Oktober 1804 ernannte ihn
der König zum Minister des Fabriken- und Aecisedepcirtements im General¬
direktorium, modern gesprochen etwa zum Handels- und Finanzminister. So
siedelte er nach Berlin über, in die Mitte der altpreußischen Provinzen.
Schon früher war er mit ihnen persönlich in enge Verbindung getreten, denn
indem er aus Abneigung gegen die französische Herrschaft seine Güter auf den:
linken Rheinufer und aus Besorgnis vor neuen Kriegsunruhen auch einen
Teil seiner rechtsrheinischen Besitzungen verkaufte, erwarb er zu Anfang des
Jahres 1802 die große Herrschaft Birnbaum bei Meseritz an der Wcirthe, trat
also in den Grundadel der Ostprovinzen ein.
Mit der Übernahme des neuen Amts beginnt seine Neformtätigkeit für
den Gesamtstaat; die Jahre nach der Katastrophe von 1800, die Jahre seiner
Miuisterpräsidentschaft 1807/8 haben sie nur fortgesetzt, erweitert und vertieft
auf der Grundlage der Erfahrungen, die er sich seit 1783 in den westlichen
Provinzen erworben hatte. Die Aufhebung der bäuerlichen Erbuntertänigkcit
1807, die Städteordnung 1808, die Reform des ostpreußischen Provinziallandtags
mit Zuziehung von Vertretern der Bauernschaft und der Plan eines allgemeinen
Landtags, endlich die Reform der Zentralverwaltung und das, was nach
Steins Rücktritt seine Nachfolger durchgeführt haben, das hatte sein Vor¬
bild in dem, was Stein in den westlichen Provinzen gesehen, gedacht und
durchgesetzt hatte. Ein Grundzug der deutschen Geschichte, daß die Volksteile
und Landschaften empfangend und gebend einander ergänzen, tritt gerade hier
besonders deutlich hervor. Auch für einen zweiten ist Steins Entwicklung
sinnbildlich. Der kaiserlich gesinnte Ncichsritter, der nur in Deutschland sein
Vaterland sah. mußte ein preußischer Beamter und Patriot werden, wenn
er für Deutschland arbeiten wollte, weil die Institutionen des Reichs keinen
sichern Grund mehr dafür boten. So zerfielen das alte Reich und der Reichs¬
patriotismus, sie wurden abgelöst durch die lebenskräftigen Einzelstaaten und den
sich an sie anschließenden Souderpatriotismus, vor allen den preußischen, und
indem sich aus jenen die neue Neichseinhcit bildete, entstand auch ein neues,
nicht an das alte Reich anknüpfendes Nationalgefühl. Für diese Wandlung
ist wieder Bismarck vorbildlich. Kein Wunder, daß bei so verschlungnen Ent¬
wicklungsgange der deutsche Patriotismus noch immer nicht dieselbe Stärke
wie bei früher geeinten Kulturvölkern erlaugt hat.
icht in allen Gebieten der russischen Grenzländer ist der Ausbau
des Verkehrsnetzes in gleichem Maße von der Kriegsbereitschaft
abhängig. In Ländern wie die Mandschurei und Persien, in
denen den Russen keine nennenswerte eigne Kraft entgegentritt,
gewinnen sie nur durch den Ban von Bahnen einen politischen
und militärischen Einfluß, der mit der Zeit ohne Schwertstreich zur vollen
Beherrschung dieser Länder führen wird. In Afghanistan und in Kleinasien
dagegen treten diesem Vorschreiten die Interessen zweier Staaten entgegen,
deren Grundlagen erschüttert würden, wenn sie ein solches Vorgehen Rußlands
duldeten: der Türkei und Indien-Englands.
Unter diesen Umständen hat Rußland seit Jahren die eingehendsten Vor¬
bereitungen getroffen, die Feldzuge, die so unvermeidlich sind, wie die Welt¬
geschichte fortschreitet, günstig zu eröffnen. Für eine Operation gegen Afghanistan
bieten sich den Russen mit Notwendigkeit drei Operationsrichtnngen, die die-
'eiden geblieben sind, seitdem für die Eröffnung des Feldzugs dieselben lokalen
"edingungcn bestehn, wie hente, also seit der Eroberung des Khanats Chotand
l>n Jahre' 1876.B
Nach dein EntWurfe Skobelews waren 1878 die einzelnen Kolonnen in
der Weise angesetzt, daß Kolonne Grotcnhelm von Merw auf Herat, Kolonne
Kaufmann vou Samarkand über Bates und den Bamianpaß auf Kabul, Ko¬
lonne Abrmuow über das Pamir ins Tschitral vorgehn sollte. Allerdings
läßt die geringe Stärke des Expeditionskorps (20000 Mann) es zweifelhaft
erscheinen, ob die Russen ernsthaft an eine Offensive dachten. Näher liegt wohl
die Annahme, daß sie durch eine Demonstration an der Nordgrenze von
Afghanistan einen Druck auf das Verhalten Englands in der türkischen Frage
auszuüben suchten. Dein Vorgehen wurde, als es kaum eingeleitet war, durch
den Beginn des Berliner Kongresses ein Ende bereitet.
Das nächste Ziel der russischen Operation ist eine weiter vorgeschobne
Operationsbasis, die Linie Herat-Kabul zu gewinnen. Die Bedeutung von
Herat liegt wesentlich darin, daß sich in ihm die großen durchgehenden Wege¬
verbindungen vereinigen: die von Kandahar kommende Straße, die einzige ganz
fahrbare, die Afghanistan durchzieht, der Karciwcmenweg, der von Kabul im
Tale des Herirud und weiter auf die Hochfläche von Iran führt, die Straße
endlich, die durch den Sulfikarpaß Afghanistan mit Turkestan verbindet. Da
man hier außerdem reichliche Verpflegungsmittel findet, ist Herat einer der ge¬
gebnen Ausgangspunkte jeder Offensivoperation, mag sich diese auf Kabul oder
auf Kandahar wenden. Diese Bedeutung von Herat hatte schon Alexander
der Große erkannt. Wenn auch hier sicher schou vor seiner Zeit alte Nieder¬
lassungen bestanden, so hat er doch Herat zu gesteigerter Bedeutung erhoben.
Von hier ans nahm sein Feldzug vom Jahre 330 seinen Ausgang, der ihn,
wenn nur den überzeugenden Ausführungen des Grafen Uvrck folgen, von
Herat im Tale des Herirnd aufwärts zum Südhang des Hindukusch führte.
Dieser Wert von Herat hat die Stadt zum ersten Operationsziel der Russen
gemacht, ihm entsprechen die umfassenden Vorbereitungen, die sie zur Sicherung
ihres Vorschreitens in dieser Richtung getroffen haben. Dem Truppentrans¬
port bis in die möglichste Nähe von Herat dient die Bahn, die sich in Merw
an die Hauptlinie anschließt und dein Murghablaufe folgend zunächst bis
Kuschki-Post an der russisch-afghanischen Grenze gebaut ist. Von hier sind
die Russen im Begriff, die Bahn bis zu dem unmittelbar an der Grenze
liegenden Dulhteran weiter zu bauen. Ebenso sind zur Zeit Linien im Ban,
die von Pendjeh nach Merutschak und vou Aschnbad nach Meschhed führen.
An allen Punkten findet die Bahn ihre Fortsetzung in einem brauchbaren Wege
nach Herat.
Um gleich nach der Einnahme von Herat über eine leistungsfähige Etappen¬
linie zu verfügen, hat man die Bahn von Duthtcrau nach Herat vorbereitet.
An den Stationen der Bahn Merw-Kuschki-Post wird das gesamte Material
zum Bau und zum Betrieb der Strecke bis Herat bereit gehalten. Die Traaa
ist längst festgelegt, bei ihrer Länge von etwa hundert Kilometern ist es den
Russen möglich, die Bahnverbindung mit Herat herzustellen, bevor in Europa
die Nachricht vou ihrem Einmarsch in Afghanistan bekannt wird. Damit
kommt ihnen zustatten, daß durch Afghanistan keine Telegraphenverbindung
führt, und die Verbindung zwischen Turkestan und dem europäischen Netz in
ihrer Hand ist. Diese Vorbereitungen setzen unzweifelhaft die Russen in den
Stand, Herat auch in dem sehr unwahrscheinlichen Fall in ihre Gewalt zu
bringen, daß sich die Afghanen mit den Waffen widersetzen. Damit ist ihnen
der beherrschende Einfluß in Afghanistan sicher, die Straßen auf Kandahar
und Kabul liegen ihrem Vormarsch offen. Neben der Operationslinie über
Herat kommen für die Feldzugsentwicklnng zur Zeit noch die Richtungen über
den Bmnianpaß nach Kabul, über Feisabad oder das Pamir auf Tschitral und
über das Pamir auf Gilgit-Srinagar in Betracht. An diese Vormarsch¬
straßen ist jede Operation der Russen gebunden, solange diese von Turkestan
allein ausgeht. Die frühern Fcldzugsentwürfe hatten im wesentlichen den
Vormarsch über Herat oder über Herat und die Bamianpnsse ins Auge gefaßt.
Napoleon der Erste dachte von Asterabad am Kaspischen Meere, vereint
mit einem russischen Expeditionskorps, auf Herat zu marschieren. Ihm schließen
sich Platow Ssuchosenew in seinem EntWurfe von 1854 und General Chrnlew
in dem von 1855 an. Nur als Demonstration wird in dem Entwürfe von
1854 der gleichzeitige Vormarsch über den Bamian empfohlen. Das nach¬
teilige dieser Entwürfe bei einer Anwendung auf heutige Verhältnisse liegt auf
der Hand. Jede Operation, die Herat zum Ausgangspunkte nimmt, muß mit
zwei Nachteilen rechnen: sie richtet sich gegen die Front der feindlichen Ver¬
teidigung, gegen die Linie Kabul-Ghasni-Kandahar, verzichtet also auf den Vorteil
flankierenden Vorgehens in einer operativ vorzüglich wirksamen Richtung, sie
hat ferner mit Operationslinien von außerordentlicher Länge zu rechnen, denn
die Entfernung bis Kandahar betrügt 550, die bis Kabul 650 Kilometer.
Die zweite Straße des Entwurfs von 1854 führt durch Buchara über
Karschi—Masar i Scherif und die Bmnicmpässe auf Kabul. Sehr erschwerend
wirkt der Übergang über den Ann-Darja, der hier in einer Breite von zwei
Kilometern jeden Brückenschlag unmöglich macht, sodaß der ganze Verkehr in
Flößen erfolgen muß. Auch diesen erschwert ein breiter Snmpfstreifcn, der
den Strom auf beiden Ufern begleitet. Es kommt hinzu, daß das Klima in
der Ebene des Ann-Darja und dem angrenzenden Steppengebiet im Hoch¬
sommer sehr ungünstig ist: heiße Winde werden oft gefährlich, Trinkwasser ist,
wenn überhaupt vorhanden, spärlich und schlecht. Eine andre Jahreszeit aber
können die Russen zum Vormarsch nicht wählen, da sonst der Verkehr über
das Pmnir und den Hindukusch in einem Grade erschwert ist, der sogar sür
russische Truppen eine Operation fast unmöglich macht.
Unzweifelhaft beabsichtigen die Russen, hier mit Teilen, vielleicht mit dem
größten Teil des Operationshecres vorzugchn. Das Projekt, von Katta
Knrgan nicht weit von Samarkand eine Bahn nach Karschi in Buchara zu
bauen, ist der erste Schritt zu einem weitern Ausbau der Verbindungen in
dieser Operationsrichtung, auf die auch die Verteilung russischer Truppen an
der Südgrenze von Buchara hinweist. Unmittelbar am Ann-Darja, in Karschi
und Tormys, liegen die Stäbe von zwei Schützenbrigadcn, sechs Bataillone,
vier Sotnicn und eine Batterie — eine Truppeuvertcilung, die man bei der
Schwierigkeit von Verschiebungen in diesem Gebiet gewiß nicht angeordnet
hätte, wenn man diese Truppen anders als in der genannten Richtung ver¬
wenden wollte. Auch diese Straße führt, ebenso wie die von Herat, gegen
die Front der englischen Verteidigung. Erst die Operationslinien mehr im
Osten gewinnen die Wirkung gegen die Flanke und den Rücken der englischen
Stellung bei Kabul.
Die beiden Verbindungen, die den Russen ein Vorgehen in dieser Richtung
ermöglichen, sind die Militärstraße über das Pamir und der Weg von Fcisabad
über Schak. Erst in den letzten Jahren ist durch den Bau einer Straße von
Ferghcma über das Pamir ins Murghabtal die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise auf ein Vorgehn der Russen in dieser Richtung gelenkt worden. Nach
der Eroberung des Khanats Chokcmd machten die Russen Anspruch auf das
Pamir, schenkten dem dünn bevölkerten, produktionsnrmen Gebiet aber sonst
fast keine Aufmerksamkeit, Das machten die Nachbarn sich zunutze. Die
Afghanen besetzten die Landschaften Badachschan und Schugnan und legten
am Pandschslusfe befestigte Posten an. Die Chinesen unternahmen Raubzüge
in das östliche Grenzgebiet. Diesem Verhalten ihrer Grenznachbarn sahen die
Russen auf die Dauer nicht gleichgiltig zu. Ihren Besitz zu sichern, legten sie
im Jahre 1891 am Murghab das Fort Schah Dschan, später Pamirskijpost
genannt, an. Als dann nach der Regulierung der Grenzverhültniffe im
Jahre 1895 die Engländer in dem ihnen zufallenden Gebiete des östlichen
Hindukusch Posten stationierten, antworteten die Russen mit dem Bau der
Militärstraße über das Pamir.
Die Straße schließt sich in Margelan an die Bahn an und führt von hier
über den Talldykpaß (3537 Meter) ins Alaital. Sie steigt daun zum Kvsyl-
Art-Paß (4271 Meter) und füllt wieder zur eigentlichen Hochfläche, dein abflu߬
losen Steppengebiet des Sees Karalul. Vom See steigt das Gelände von
neuem zum Ak-Baikal-Paß (4682 Meter). Von hier führt die Straße im
Ak-Baikal-Tal zum breiten Murghabtcil hinab, an dessen Rande Pamirskijpost
auf einer weithin das Tal beherrschenden Terrasse liegt. Der Bau dieser
Festung und der Straße machte bei dem rauhen Klima und bei der Höhenlage
die größten Schwierigkeiten, um so mehr, als alles Holz und ein großer Teil
des sonstigen Materials von Osch in Ferghana in Tragelasten herbeigeschafft
werden mußte. Der weitere Vormarsch von Pamirskijpost benutzt fast durch-
gehends Saumpfade. Es ist unsern Anschauungen fast undenkbar, daß die
Russen eine solche Verbindung zur Operatiouslinie wählen können. Aber von
der Vorstellung, als seien Operationen nur auf fahrbaren Straßen möglich,
müssen wir überhaupt absehen, wenn wir uns Heeresbeweguugeu im asiatischen
Berglande vergegenwärtigen wollen. Einer der wunderbarsten Eindrücke, die
der Reisende auf den Gebirgspfaden von Mittelasien empfängt, ist der, wenn
ihm die Wanderung ganzer Stämme auf einem Pfade begegnet, auf dem er
eben noch im Zweifel war, ob er sich weiterhin dem Geschick seines Pferdes
überlassen oder auf allen vieren weiter klettern solle. Die Russen haben sich
in Asien viel zu gut akklimatisiert, als daß sie in der Benutzung solcher Ver¬
bindungen eine besondre Leistung sähen.
Eine sehr große Schwierigkeit aber bleibt mit allen Operationen über
das Pamir verbunden: die im Lande vorhandnen Verpflegungsmittel sind — ab¬
gesehen von reichen Viehbestünden — so gering, daß die sich hier vorbe¬
wegenden Truppen fast ausschließlich auf die mitgeführten Vorräte angewiesen
sein werden. Das hat keine Schwierigkeiten bis Pamirskijpost. Bis hierher
können Vcrvflegungsdepots eingerichtet werden, ans denen die Truppe ihren
Bedarf entnimmt. Auch bietet das Land bei günstiger Jahreszeit wenigstens
etwas Weide, vor allem überall reichlich Wasser. Die Versuche, die man mit
dem Anbau von Getreide auf der Hochfläche angestellt hat, haben zu voll¬
ständigen Mißerfolgen geführt. Von Pamirskijpost sind noch 440 Kilometer
bis Tschitral zurückzulegen, wo günstigere Verpflegungsbedingungen eintreten.
Hier kauu nur eine geringe Marschgeschwindigkeit erreicht werden, so daß ein
Monat bis zur Ankunft in Tschitral angesetzt werden kann. Die Notwendigkeit,
für solche Dauer fast alle Verpslegungsmittcl mitzuführen, schränkt also die
Zahl der Truppen, die hier operieren können, derart ein, daß man wohl
annehmen kann, mehr als 5000 oder höchstens 7000 Mann werden sich auf
diesem Wege kaum vorbewegen können. Eine Operation gegen Tschitral wird
aber voraussichtlich anßer der Pamirstraße auch die Verbindung von Feisabad
über Schak benutzen.
Fcisnbad hat als Ausgangspunkt für Truppenbewegungen seit 1898 an
Wert gewonnen, da nun die Schiffahrt ans dem Ann-Darja, die früher nur
bis Palla Hissar reichte, bis dorthin fortgeführt ist. Von Tschardschui an
der transkaspischen Bahn aus vermittelt die Ann-Dcirja-Flottille den Verkehr
auf dem Strome bis zur Mündung der Koktscha, dann auf dieser bis Feisabad,
wo ausgedehnte Naphtha- und Warennicderlagen geschaffen wurden. Doch
darf man den Wert dieser Schiffahrtverbindungen nicht überschützen. Was
unterhalb Tschardschui eine Schiffahrt auf dem Ann fast unmöglich macht:
die Veränderlichkeit des Strombettes infolge der enormen Alluvialmassen, die
der Fluß mit sich führt, das erschwert sie, allerdings in geringerm Maße, auch
oberhalb Tschardschui. Die Dampfer fahren sich so oft fest, daß nur in sehr
beschränktem Maße auf das Eintreffen der von Tschardschui abgehenden Dampfer
in Feisabad gerechnet werden kann. Auch ist die Ann-Dnrja-Flottille nach
Zahl- und Tonnengehalt viel zu klein, als daß sie für Truppen- und Material¬
transporte eine ins Gewicht fallende Rolle spielen könnte.
Wenn auch nach allem der Vormarsch auf Tschital nur mit geringen
Truppen unternommen werden kann, für die russische Armee also uur eine
^Perationslinie von sekundärer Bedeutung darstellt, so kann doch in diesem
Vorgehn eine ganz entscheidende Bedeutung liegen. Mit wenig tausend Mann
vermögen die Russen hier den Aufstand der kriegerischen Afridis zu entflammen.
Seit der rein äußerlichen Unterwerfung der Bergvölker im Feldzuge von 1896
bis 1897 stehn die Engländer mit ihnen fast unausgesetzt im Kriegszustande.
Seitdem hat sich ihre Bewaffnung mit modernen Hinterladern vervollkommnet;
von Bender Abbas am Persischen Golf werden Gewehre in Massen durch
Afghanistan nach Tschitral geschmuggelt, und alle Versuche der Engländer,
diesen Handel zu unterbinden, haben die Lieferungen, die zum größten Teil
von englischen Fabriken ausgehn, nicht zu verhindern vermocht.
Die Bedeutung der östlichen Operationslinie der Russen über Gilgit kann
man zur Zeit schwer beurteilen. Es ist sehr wohl möglich, daß bei dem Bau
n Pamirstraße der Gedanke eines Vorgehens ans Gilgit wesentlich ange¬
sprochen hat. Über Gilgit Srinagar zu erreichen und damit das fruchtbare
Hochland von Kaschmir zu gewinnen, ist gewiß, wenn auch erst in einer spätern
Zukunft, ein Ziel des russischen Vorschreitens. Ein Vormarsch von Kaschmir
urs nördliche Indien würde bei ausreichenden Wegen auf keine Schwierigkeiten
Wen. Aber die operative Front der Russen würde damit eine Ausdehnung
on mehr als tausend Kilometern annehmen. Die Operationslinicn sind an sich
con sehr.lang, getrennt durch ganz unwegsame Gebirgszüge; jedes Zusmnmen-
vrrken wird also illusorisch, wenn der Telegraphendraht nach der Operations¬
asts reißt. Fraglich bleibt also, ob die Russen diese östlichste ihrer Operations-
U'nen benutzen werden.
Die Verbindungen, die Rußlands Front in Turkestan an die Heimat
anschließen, wollen wir später im Zusmumenhnuge mit dem transkaukasischen
Straßennetze betrachten. Zunächst sei hier auf die natürlichen Bedingungen
der Kriegsentwicklung in Transkaukasien hingewiesen. Die Frage mag uner-
örtert bleiben, ob Nußland daran denken kann, durch Kleinasien zu einer
militärisch entscheidenden Operation gegen die Türkei vorzugchu. Für unsre
Zwecke genügt der Hinweis, daß Rußland auf jeden Fall hier eine Neben-
vperation führen wird, deren nächstes Ziel Erserum sein muß. Der Wert von
Erserum liegt in seiner Lage im Zentrum aller Verbindungen des östlichen
Anatoliens. In Erserum vereinigen sich die fahrbaren Straßen von Trapezunt,
Ersingjan und Bitlis, von Ersingjcm führt die wichtigste Querverbiudung durch
Kleinasien über Siwas nach Angora, die einzige fahrbare Straße durch die
kurdischen Berge, über Charput und Djarbekr nach Mesopotamien. So bietet
Erserum das zunächst zu erstrebende Ziel, den natürlichen Ausgangspunkt aller
weitern Operationen, mögen diese sich nach Westen oder nach Süden richten,
mit den Endzielen am Bosporus, am Golf von Alexcmdrette oder am Tigris.
Erserum zu gewinnen, war in allen Kriegen des letzten Jahrhunderts das
öfters erreichte, aber infolge der politischen Isolierung Rußlands nie dauernd
behauptete Ziel.
Niemals sind die Bedingungen des russischen Vorgehns günstiger ge¬
wesen als heute, wo die Festungslinie Batna-Ardahcin-Kars, die 1878 ganz
wesentlich die Mißerfolge der russischen Heeresleitung bewirkt hat, in ihrer
Hand ist und eine Operationsbasis von äußerstem Wert für den Beginn des
Feldzugs darstellt. Seit dem Friedensschlüsse von Berlin haben die Russen
unausgesetzt an dem Ausbau der Straßen gearbeitet, die ihrem Vormarsch
auf Erserum dienen sollen. Diese Straßen decken sich im wesentlichen mit den
Operationslinien vom Jahre 1877: Kutais-Batna-Olth, Achalzich-Achalkalaki-
Olty, Alexandropol-Kars-Sewiu und Eriwau-Bajaset-Diadiu.
Ob noch heute ein Vormarsch von Batna auf Erserum geplant wird, ist
fraglich. Der Grund, der damals hierfür bestand: die Eroberung von Batna
und die Heranziehung der hier eingesetzten Kräfte gegen Erserum, ist mit dem
Besitze von Batna weggefallen. Jedenfalls ist aber anzunehmen, daß diese
Operationsrichtung nach dem Bau der Bahn Tichorjützkaja-Poli eine gesteigerte
Bedeutung gewinnen wird.
Auf dem linken Flügel ihrer Front hatten die Russen 1877/78 gehofft.
Bajaset und das Tal von Alaschkert, damit die alte Karawanenstraße, die
aus Persien nach Ersernm führt, in die Hand zu bekommen, waren aber auf
dem Kongreß von Berlin zur Herausgabe genötigt worden. Die Benutzung
dieser Verbindung als Operationslinie scheint seitdem, wenn auch nicht voll¬
kommen ausgegeben, so doch in den Hintergrund getreten zu sein. Ein aus¬
gedehntes Sumpfgebiet bei Diadin macht sie zu manchen Jahreszeiten kaum
benutzbar. Nur mit den äußersten Austrengungen ist es deu Russen 18?^
gelungen, sie für Feldartilleric fahrbar herzustellen. An die Stelle dieser
Straße ist die Verbindung Eriwan-Jgdir-Kaghsman-Delibalm getreten, die 187/
keine Rolle gespielt hat! Sie ist als Chaussee bis zur türkischen Grenze aus¬
gebaut und 1897 fertiggemacht worden.
Die beiden bedeutendsten Operationslinien sind die Straßen Kutais-
Achalzich-Achalkalaki- Ardahan-Olty undAlexandropol-5!ars -Sarykamisch. Diese
Straßen sind durchgehends bis zur türkischen Grenze (haussiert. Feste Stein¬
drucken führen über die Wasserläufe. Ihre Verlängerung von der russischen
Grenze gegen Erserum finden sie in zwei Straßen: von Olty nach Erserum
führt ein nicht chanssiertcr, aber fahrbarer Weg; die Straßen von Kars und
Kagysman vereinigen sich bei Köpriköi im Araxestal, Von hier führt euie
chmissierte Fahrstraße nach Erserum.*)
Ergänzt wird dieses Straßeunetz dnrch die in den Jahren 1896/97 er¬
baute Bahn Tiflis-Alexandropol-Kars. Der Gedanke einer Verbindung dieser
Bahn mit dem innerrussischen Eisenbahnnetz ist in dem Bau der Bahn
Wladikawkns-Derbend-Baku verwirklicht worden. Von dein ursprünglichen
Plan, die Bahn quer durch den Kaukasus, im Arbon- und Nioutal zu führen,
kam man nach eingehenden Forschungen in den achtziger Jahren^ab, da hierzu
ausgedehnte Tunnelbauten notwendig geworden wären. Die Bahn am Ufer
des Schwarzen Meeres zu führen, war damals noch unmöglich, da sich nicht
absehen ließ, ob Rußland unter allen Verhältnissen imstande sein werde, die
Seeherrschaft im Schwarzen Meere zu behaupten. Im andern Falle aber
hätte diese Verbindung, die unmittelbar an der Küste geführt werden muß.
von einer feindlichen Flotte aus sehr leicht unterbrochen werden können. So
entschloß man sich zu dem Umweg über Petrowsk.
Vorläufig steht uoch jedes Vorschreiten der russischen Macht in Mittel¬
asien auf schwachen Füßen, solange die Verbindungen im Rücken für die ganze
Front von Benna bis zum Pamir aus den einen Schienenstrang Tichvrjütz-
kaja-Bulu angewiesen bleibt, der nur dnrch die Schiffahrt auf der Wolga eine
zweifelhafte Unterstützung erfährt.
Der Krieg in Südafrika hat auf der englischen Seite eine überraschende
Kraftentfaltung gezeigt. England stellte sehr bald eine Macht von 150000 Mann
of Feld und verstärkte diese im Verlauf des Krieges auf 250000 Mann.
Mindestens mit derselben Kraftentfaltung aber muß ein russisches Vorgehn
lehnen, das zum Kampf an der afghanisch-indischen Grenze führt, und es ist
ausgeschlossen, daß die Russen hier mit einen, Operationskorps von 60000 Mann
und 90000 Mann Etappentrnppen, wie Skobeleff rechnete, irgend ein Resultat
^reichen. Die sehr beträchtlichen Nachschübe, die in diesem Fall gebraucht
werden, um die in Turkestan stehenden 83000 Mann auf die notwendige
Operntionsstärke zu bringen, könnte nicht von der einen Bahn Kraßnowodsk-
Merw geleistet werden. Zu ihrer Entlastung dient die schon im Ban begriffne
Bahn Orenburg-Taschkend, die wir vorher als Getreidezufuhrbahn für das
östliche Turkestan kennen gelernt haben.
Um die kaukasischen Bahnen von den Transporten nach Turkestan zu
entlasten, ist eine Bahn längs der Wolga von Kamyschün nach Astrachan im
Bau. Endlich ist eine Vervollständigung des kaukasischen Bcchnnetzes durch
die Führung einer Bahn am Ostufer des Schwarzen Meeres von Jekaterinodar
nach Poli geplant. Nach Vollendung dieser Bahnbauten wird Rußlands
Stellung für eiuen Feldzug gegenüber dem heutigen Zustand außerordentlich
verbessert sein. Schon im Jahre 1905 nach dem Bau der Bahn Oreuburg-
Taschkent steht für den transkaukasischem wie für den turkestanischen Aufmarsch
eine selbständige Bahnverbindung zur Verfügung, die wenig Jahre später nach
Vollendung der Schwarze-Meer-Uferbahu und der Wolgabahn eine abermalige
Verdopplung erfahren wird.
Während die Russen in dieser Weise rastlos an der Ausgestaltung ihres
Eisenbahnnetzes nach rückwärts arbeiten, ist es über die russische Grenze hinaus
bis jetzt nur in Persien vorgeschoben worden. In der Türkei haben sich die
Russen die Bcchnkouzession in Anntolien vorbehalten, in Afghanistan spielt ein
Bahnball bisher überhaupt noch keine Rolle. Ein energischer Versuch Englands
oder Rußlands, hier mit Eisenbahnen vvrzugehu, Hütte bei der scharfen Zu¬
spitzung der Gegensätze in Afghanistan für den andern einen Grund zum Kriege
sein müssen. Dieser Gegensatz hat sich in Persien in der jüngsten Vergangenheit
sehr scharf zugespitzt, seit England in dein Bau seiner Bahn vou Quella über
Nuschti durch Beludschistan ein beschleunigtes Tempo eingeschlagen hat.
Die Engländer beabsichtigen, von Quettci an der afghauistan-beludschista-
nischen Grenze entlang über Kirman, Jsfahan nach dem Schad-el-Arad zu
bauen; von hier ab soll die Bahn quer durch die syrisch-arabische Wüste nach
dem Suezkanal gehn. Haben die Engländer diese Bahn fertig, so beherrschen
sie im ganzen südlichen Persien deu Handel und den politische« Einfluß; ein
Fortschreiten Rußlands zum Indischen Meer wäre dann unmöglich. Das
müssen die Russen verhindern, und deshalb bauen sie jetzt eine Gegenbahn, die
sich in Aschabad an die transkaspische Bahn anschließt und längs der persischen
Grenze nach Süden, zunächst in die Landschaft Seistau, führen soll. Diese
Bahn ist bestimmt, neben der Stärkung des politischen Einflusses in Persien
den Russen eine neue Operationslinie für einen zukünftigen Feldzug gegen
Jndien zu verschaffen. Sitzen sie in Seistau fest, so haben sie im Hilmendtcile
eine sehr günstige Vormarschstraße gegen Kandahar, wo den Engländern nicht,
wie weiter im Norden, bei einem russischen Vormarsch über Kabul die Gunst
des Geländes zur Verteidigung ihrer Grenzen zur Seite steht. Der Schwer¬
punkt der Entwicklung liegt also darin, welcher vou den beiden Konkurrenten
mit seiner Bahn zuerst Seistau erreicht, und während in Afghanistan und in
der Türkei die Dinge einen langsamen Verlauf zu nehmen scheinen, kaun es
wohl sein, daß sie hier in Persien zu eiuer raschen Entscheidung dräugen.
brachten wir nun die Statistik der Rechtsanwälte, so finden
wir, daß in den drei erwähnten Bezirken neben Braunschweig
weitaus die meiste» Rechtsnuwälte, die bei Amtsgerichten zu¬
gelassen waren, deren Sitz nicht mit dem eines Landgerichts zu¬
sammenfällt, auch bei dem übergeordneten Landgerichte zugelassen
gewesen find. So waren am 1. Januar 1899 in den Bezirken Karlsruhe von
200 Lnndgerichtsanwälten 55, Stuttgart von 193 Landgerichtsanwälten 48
und Dresden von 551 Landgerichtsanwälten 147 oder 27,5 Prozent, 24,8
und 2(>,(; Prozent zugleich bei auswärtigen Amtsgerichten zugelassen. I»
andern Bezirken, Braunschweig ausgenommen, wo der Prozentsatz der bei aus¬
wärtigen Amtsgerichten zugelassenen Landgerichtscmwülte zu derselben Zeit
33,3 betrug, ist in den übrigen Landgerichtsbezirken dieser Prozentsatz be¬
deutend niedriger. Insbesondre gilt das für Preußen und für Bayern, deren
Berichte für die Prvzeßdauer im allgemeinen weit ungünstigere Zahlen auszu¬
werfen haben, und wo in der Regel keine auswärtigen Amtsgerichtsanwälte
"el den übergeordneten Landgerichten zugelassen sind. Namentlich gibt die
bayrische Pfalz ein sprechendes Beispiel dafür, wie sehr durch das Unwesen
der Korrespvndenzmandatare, wofür in der Regel die beim Landgerichte nicht
Zugelassenen auswärtigen Amtsgcrichtsanwälte für die Landgerichtssachen ihres
Bezirks angesehen werden müssen, die Prozesse verschleppt werden. Bekanntlich
sind die meisten landgerichtlichen Prvzeßrückstäude im Bezirk Zweibrücken. So
waren am 1. Januar 1901 am Landgericht Frankenthal dreizehn Anwälte, ba¬
ngen allein an den Amtsgerichten dieses Bezirks in Ludwigshafen zwölf,
Neustadt a. H. fünf, Speyer und Dürkheim je ein Anwalt zugelassen. Ähnlich
liegen die Dinge beim Landgericht Zweibrücken; an den Amtsgerichten des
Bezirks waren in Pirmasens drei, und in Se. Ingbert ein Anwalt uur an
diesem Gerichte zu derselben Zeit zugelassen. Kämen diese Anwälte ans Land¬
gericht, so würden sie aufhören, Korrespvndenzmaudatare ihrer dortigen Kollegen
Zu sein, sie würden die aus ihrem Amtsgerichtsbezirk stammenden Sachen eben
selbst plädieren, eine größere Verteilung der Praxis und damit eine raschere
Erledigung der Prozesse wäre die notwendige Folge. Es fragt sich nnn weiter:
besteht zwischen der relativ raschen Prozeßerlediguug in Baden, Württemberg
und Sachsen und den dort bestehende,: zahlreichen Simnltauzulassungen aus¬
wärtiger Amtsgerichtsanwältc ein innerer Zusammenhang? Braunschweig kommt
'Acht in Betracht, weil dort andre Gründe, die in diesen Staaten nicht bestehn,
euier raschen Abwicklung der Prozesse hinderlich sind, von denen weiter unten
le Rede sein wird; es handelt sich also hier um eine Ausnahme, die die
Regel bestätigt.
Die Bejahung der eben aufgeworfnen Frage kann keinem Zweifel unter¬
liegen, wie sich aus folgender Betrachtung ergibt. Es liegt in der Natur
der Sache, daß die nicht am Laudgerichtssitze wohnenden Prozeßparteien,
und das sind, soweit nicht Großstädte in Betracht kommen, weitaus die meisten,
sich auch wegen der Landgerichtsprozesse gewöhnlich an die Anwälte ihres
Wohnorts wenden. Sind diese Anwälte nnn auch beim Landgerichte zuge¬
lassen, so können sie selbst als Prozeßbevollmüchtigte vor diesem auftreten.
Beschränkt sich dagegen ihre Zulassung auf das Amtsgericht ihres Wohnorts,
dann können sie nur als Korrespondenzmandatare des am Laudgerichtssitze
wohnenden Prozeßbevollmächtigtcn ihrer Mitbürger fungieren. Daß dadurch
viel Zeit vertrödelt wird, liegt auf der Hand. Zunächst kann, wenn der am
Sitz eines Amtsgerichts wohnende Landgerichtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter
seiner Ortseingesessenen fungiert, dieser die Prozeßschriften selbst bei Gericht
einreichen und dem Gegner zustellen lassen, und braucht sich hierzu nicht eines
am Landgericht wohnenden Kollegen zu bedienen. Weiter erfolgt die Jnfor-
mationsanfnahme mit größerer Präzision und Schnelligkeit, wenn der am
Amtsgerichtssitze wohnende Anwalt sie für seinen Vortrag vor dem Land¬
gericht vornehmen kann, als wenn er dies für den entfernt wohnenden Prozeß-
bevollmächtigten tun soll, der in vielen Fällen trotzdem genötigt ist, die Partei
kommen zu lassen. In der Juristischen Wochenschrift führt B. A. den inter¬
essanten Nachweis, wieviel Zeit durch das Hin- und Herschreibeu und das
Aktenverfenden zwischen dem Korrespondenzmandatar und dem Prozeszbevoll-
mächtigten vergeudet wird, und sieht in der Stellung und der Tätigkeit der
Korrespondenzmandatare geradezu eine Quelle der Prozeßverzögerungen, ohne
freilich die sich hieraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen. Die weitere Folge
der Tätigkeit der bei den auswärtigen Amtsgerichten wohnenden Anwälte als
Prozeßbevollmüchtigte bei den übergeordneten Landgerichten wird eine größere
Verteilung der Praxis unter den Anwälten herbeiführen. Nichts ist aber einer
raschen Erledigung der Prozesse mehr hinderlich, als die Konzentration der
Praxis in den Händen weniger. Man wird sogar im Zweifel Rückstände bei
Gerichten auf eine ganz unverhältnismäßige Ungleichheit der Praxis unter den
einzelnen Anwälten zurückführen müssen. Nicht nur kann ein überlasteter und
durch Nachtarbeiten nervös überreizter Anwalt bei der großen Menge des vor-
handnen und ihm fortgesetzt neu zufallenden Materials nicht alle angesetzten Sachen
zum Termine fertig bringen, sondern es werden sich durch das Anschwellen
der Praxis bei den verschiednen Gerichten und den verschiednen Kammern und
Senaten desselben Gerichts die Tcrminkollisionen fortgesetzt häufen, was zu
endlosen Vertagungen führen muß. Wird nun ein Anwalt mit einem solchen
Großbetrieb krank, dann gerät die ganze Justiz ins Stocken! Ferner werden
Vertagungen nicht so leicht erzielt werden tonnen, wenn ein Anwalt von
auswärts zugereist kommt, mag auch durch die fortgesetzte Entwicklung des
Verkehrswesens, insbesondre der.Kleinbahnen, die Wahrnehmung der Termine
durch die auswärtigen Landgerichtsanwälte erleichtert werden. Endlich wird
ein weiterer Zeitgewinn durch Zulassung auswärtiger Amtsgerichtsanwälte
beim übergeordneten Landgericht durch die raschere Erledigung der Berufungs-
fachen erreicht, da diese Anwälte schon mit dem Stoff vertraut sind, während
sich ein andrer Anwalt erst in eine ihm bisher fremde Sache einarbeiten muß.
In der Mehrzahl der deutschen Staaten sind die Vorstände der Anwalts¬
kammern, wo die überbeschäftigten Laudgerichtsanwälte in der Regel einen
großen Einfluß haben, insbesondre in Preußen und in Bayern Gegner der
Simultauznlassuugen auswärtiger Amtsgerichtsanwälte. Zunächst wendet man
dagegen ein, daß die Amtsgerichtspraxis darunter leide, und das Winkclkousu-
lententum auf dem Lande wegen der unvermeidlichen Terminkollisionen zwischen
Land- und Amtsgericht begünstigt werde. Daß das erste nicht richtig ist,
beweist die Statistik. So schneiden auch in den Amtsgerichtssachen die drei
erwähnten Bezirke gegen die preußischen und die bayrischen sehr günstig ab.
So wurden von 100 Amtsgerichtssachen durch Eudurteile, die weder auf Ver¬
säumnis, Verzicht oder Anerkennung ergangen sind, innerhalb dreier Monate
erledigt
gerichtsbezirken189S1897 1899schnitt
Was nun das Winkelkonsulententum anlangt, so ist dieses gerade in
Württemberg und in Sachsen von geringerer Bedeutung als anderwärts, was
dort mit Gepflogenheiten des Publikums zusammenhängen dürfte. Die von der
Nechtsanwnltschnft, wenigstens offiziell, so vielfach angefeindeten Winkelkonsu¬
lenten lassen sich übrigens gar nicht verdrängen. Ein Beweis ihrer Unent-
behrlichkeit liegt darin, daß sie sich trotz aller Verfolgungen nach der revv
vierten Zivilprozeßordnung sogar ein Anrecht ans die Parteivcrtretung vor
den Amtsgerichten erworben haben, sofern sie von der Justizverwaltung hierzu
autorisiert sind. Würde diese Art von Konsnlentcn, in Preußen Prvzeßagcnten
genannt, einer Disziplin unterworfen, dann kann gerade durch sie das Winkel-
konsnlententum verdrängt werden, das sich in den Wirtshäusern breit macht. In
den Prozeßagenten erwächst den Anwälten eine anstündigere Konkurrenz, als
dies bei dem Wiukelkousnlententum, der Zufluchtstätte von allerlei problema¬
tischen Existenzen, der Fall ist.")
Es seien nun noch die Verhältnisse in Braunschweig erwähnt, wo die
Simultanzulassung besteht, und trotzdem die Prozeßdaner länger ist als in den
Bezirken Karlsruhe, Stuttgart und Dresden. Da mir dieses Mißverhältnis auf¬
fiel, so zog ich bei einem angesehenen Braunschweiger Juristen Erkundigungen
ein und erfuhr folgendes: Der Bezirk besteht mir aus einem Landgerichte mit
stark beschäftigten drei Zivilkammern, einer Kammer für Handelssachen und zwei
Strafkammern. Außerdem ist dort ein Oberlandesgericht. Die bei diesem zu¬
gelassenen Anwälte siud auch zugleich beim Landgericht zugelassen. Es werden
bei den verschiednen Kammern und den beiden Kollegialgerichten zugleich
Sitzungen abgehalten, sodaß Kollisionen unvermeidlich sind. Das Neben-
einandertagen von Oberlandes- und Landgericht wirkt durch den Umstand, daß
die beschäftigten Anwälte am Landgericht sast die ganze Praxis am Oberlandes-
gericht innehaben, besonders nachteilig auf den Geschäftsbetrieb ein. Während
die Simultanzulassung von Anwälten bei auswärtigen Amtsgerichten beim
übergeordneten Landgericht eine Beschleunigung der Prozesse veranlaßt, führt
die Zulassung von Landgerichtsanwälten bei dem Oberlandesgericht, das den¬
selben Sitz mit dem Landgericht hat, zu Prozeßverschleppungen. In ganz be¬
sondern! Maße gilt das für die bayrischen Bezirke und für Darmstadt — hier
tritt noch hinzu, daß für die Sachen ans Mainz die dortigen Anwälte zugereist
kommen. Nach den angegebnen Zahlen schwankt in Bayern der Durchschnitt
der Landgerichtssachen erster Instanz zwischen 43,3 und 16,7 und der Be-
rnfungssachen zwischen 49,5 und 17,9. In Darmstadt betragen diese 37,5
und 47,7; hier wie dort weit unter dem Durchschnitt der drei erwähnten
Landgerichte. Es ist eben das alte Lied vom überlasteten Rechtsanwalt. Die
Anwälte aus der Provinz schicken ihre Berufungssachen an die am meisten
beschäftigten am Sitze des Oberlandesgerichts wohnenden und zugleich bei diesem
Gericht zugelassenen Anwälte. Daß Preußen günstiger als Bayern und Darm¬
stadt abschneidet, hat seinen Grund darin, daß dort die zuletzt erwähnte Art
der Simultauzulassung nicht besteht: Preußen hat eine besondre Nechtsanwalt-
schaft bei den Oberlandesgerichten. In Laudgerichtssacheu erster Instanz schwankt
hier der Prozentsatz zwischen 63,2 und 40,5 Prozent und in Berufungssachen
zwischen 82,9 und 41,6 Prozent. Auffallend ist der Gegensatz zwischen den
Bezirken Celle mit 63,2 und 82,9 Prozent und Köln mit 40,3 und 41,6 Prozent.
In beiden Bezirken bestand vor 1879 das mündliche Verfahren, und mit Rück¬
sicht auf die bekannte Tatsache, daß man überall den neuen Zivilprozeß an den
alten anzugliedern sucht, dürfte der Schluß gerechtfertigt erscheinen, daß eben
im hannöverschen Prozeß, der früher im Bezirk Celle galt, eine weit gründ¬
lichere Vorinstruktion der Sachen geschieht als im Bezirk Köln, wo vormals
das rheinische Verfahren in Übung war. Hervorzuheben ist noch der Bezirk
Berlin, der nach Celle mit 62,0 und 76,5 Prozent als der beste in Preußen
erscheint. Der Grund liegt in der Größe der Stadt und der daraus hervor¬
gehenden Verteilung der Anwaltsbureaus aus die verschiednen Stadtteile, was
der Bildung von Überbureaus hinderlich ist. Sitzen, wie es in kleinern Orten
hänfig geschieht, die Anwälte auf „einem Klumpen" zusammen, so haben wir
die Misere der übergroßen Anwaltsbureaus und der durch sie unvermeidlich
gewordnen Prozeßverschleppungen. Von den übrigen preußischen Bezirken ist
nichts besondres zu sagen. Die in diesen vorkommenden Schwankungen er¬
klären sich aus besondern lokalen Verhältnissen, ans die hier nicht weiter ein¬
gegangen werden kann. Dasselbe gilt für die nichtprenßischen und die nicht¬
bayrischen Bezirke außer Karlsruhe, Stuttgart, Dresden und Hamburg.
Einer besondern Betrachtung dagegen bedürfen die Verhältnisse in den
Hansastädten. Deren Bezirk gehört mit zu den Bezirken, die die kürzeste
Prozeßdauer auszuweisen haben, indem hier die landgerichtlichen Sachen erster
Instanz 64,4 und die Berufungssachen 83,3 Prozent nach obiger Berechnungs¬
weise aufzeigen. Der Grund liegt in dem hochentwickelten Assoziationswesen, das
bei der Anwaltschaft der Hansastädte besteht. Wahrend sich im übrigen Deutsch¬
land nur zwei Anwälte zu gemeinsamer Praxis vereinigen, treten dort nicht
unter drei, in der Regel sogar vier Anwälte zusammen. Dadurch werden
Terminkollisionen vermieden, und eine raschere Erledigung der Prozesse ist
die notwendige Folge dieser Einrichtung. Zweifellos hat im übrigen das
Assoziationswesen bei der Anwaltschaft mancherlei Nachteile, namentlich bekommt
die Berufsausübung leicht einen rein geschäftlichen Charakter, und die Ver¬
antwortlichkeit der Einzelnen wird abgeschwächt. Darum findet die Vergesell¬
schaftung von Anwälten in dem ausgebildeten Maße, wie im Hamburger Bezirk,
in den andern Teilen des Reichs keinen Eingang, und so ist auch keine Re-
medur der Prozcßverschlcppungen durch eine Verallgemeinerung dieser Gepflogen-
heit zu erwarten.
Dies über die Landgerichte. Aus meiner Betrachtung ergibt sich, daß die
Prozeßverschleppungeu keineswegs eine allgemeine Kalamität sind, sondern
nur durch besondre Gepflogenheiten in den einzelnen Bezirken veranlaßt werden.
Deren Feststellung ist die wesentliche Aufgabe der Reichs-Justizverwaltung,
wenn sie eine Verminderung der Prozeßdauer erreichen will.
Wenden wir uns nun zu den Oberlandesgerichten, so wurden Sachen der
obenerwähnten Art in sechs Monaten, in Prozenten ausgedrückt, erledigt an den
Für den Durchschnitt ergibt sich, i» Prozenten ausgedrückt, mithin nach¬
stehende Reihenfolge:
Also auch hier findet man die allergrößten Schwankungen, nämlich von
83,3 Prozent (Stuttgart) bis 16,5 Prozent (Bamberg).
Aber Kolmar hat viel weniger mündliche Verhandlungen als Karlsruhe.
So fanden statt mündliche Verhandlungen
Der Durchschnitt beträgt in Kolmar 586 und in Karlsruhe 856. Beide
Gerichte haben drei Zivilsenate. Es ist also anzunehmen, daß an der weniger
günstigen Stellung von Karlsruhe die größere Häufigkeit der mündlichen Ver¬
handlungen schuld ist.
Von kleinern Gerichten mit zwei bis drei Zivilsenaten und einer geson¬
derten Rechtsanwaltschaft, die aber weniger günstige Ergebnisse aufzuweisen
haben, kommen weiter noch in Betracht: Jena (54,5 Prozent), Celle (47,8 Prozent),
Frankfurt (39,4 Prozent) und Königsberg (36,1 Prozent). An dem außer¬
ordentlich ungünstigen Ergebnis des Frankfurter Oberlandesgerichts mag wohl
das in der dortigen Gemeindeverwaltung bestehende Advokatenregiment schuld
sein, wodurch viel Zeit für die Prozeßführung verloren geht.
Dagegen weisen mit Ausnahme von Braunschweig (63,1 Prozent) und
Nürnberg (59,7 Prozent) die kleinen mit zwei bis drei Senaten arbeitenden
Oberlandesgerichte, deren Rechtsanwälte aber zugleich auch am Landgericht
tätig sind, weniger gute Ergebnisse auf; so wurden zwar in Rostock (57,5 Prozent)
und Augsburg (51,1 Prozent) etwas über die Hälfte der verhandelten Pro¬
zesse innerhalb sechs Monaten erledigt, dagegen wurde bei den übrigen kleinen
Oberlandesgerichten uicht einmal diese erreicht; so in Darmstadt (47,7 Prozent),
Zweibrücken (45,9 Prozent) und Bamberg gar nur 16,5 Prozent (!). Würde
an all diesen Oberlandesgerichten eine besondre Rechtsanwaltschaft bestehn, so
unterläge es keinem Zweifel, daß hier die Prozesse in viel kürzerer Zeit er¬
ledigt würden. Diese Prozeßtrödelei wird noch dadurch vermehrt, daß die
auswärtigen Anwälte ihre Bcrufnngssachen den auch am Landgericht am
meisten beschäftigten Anwälten übersenden. Besonders kraß sind die Verhält¬
nisse in Bamberg, wo nach Angabe meines Gewährsmannes fast die ganze
Praxis in den Händen von zwei bis drei Anwälten liegt. Daß Braunschweig
und Nürnberg günstigere Ergebnisse als die andern Oberlaudesgerichtc dieser
Gruppe aufzeigen, hat seinen Grund darin, daß dort alle, hier weitaus die
meisten Oberlaudesgerichtsprozesse aus deu Landgerichten Braunschweig und
Nürnberg stammen und von den Anwälten schon in der ersten Instanz verhandelt
worden sind, diese sich mithin nicht in einen ihnen fremden Stoff für die
Berufungsinstanz erst einzuarbeiten brauchten. Der dadurch erreichte Gewinn
an Zeit wird freilich durch die längere Prozeßdauer an den Landgerichten
wieder ausgeglichen.
Besonders nachteilig für die rasche Prozeßerledigung ist die Größe des
Oberlandesgerichtsbezirks. So dauern bei allen Oberlandesgerichten, die mit
mehr als drei Senaten arbeiten, Naumburg (62,7 Prozent) allein ausgenommen,
die Prozesse besonders lange. Zu diesen gehören: Dresden (54,4 Prozent),
München (52.2 Prozent), Posen (44,8 Prozent), Berlin (37 Prozent), Breslau
(35,5 Prozent), Hamm (35.1 Prozent), Stettin (34,4 Prozent), Köln (18,9 Pro¬
zent). Sehr im argen liegen die Dinge in Köln. Der Grund ist keineswegs, wie
schon erwähnt worden ist, und wie der Hinweis ans Kolmar dartut, wo früher
auch rheinisches Verfahren galt, in der Art des Plädierens allein zu suchen,
sondern darin, daß in dein übergroßen Bezirk die ganze Praxis in den Händen
Weniger ruht. Infolgedessen hüufeu sich die Terminkollisionen, lind durch
diese dem Einzelnen aufgebürdete Arbeitslast wird der ganze Prozeßbetrieb
gelähmt. Übrigens scheint dieser Krankheitszustand in Köln chronisch zu sein.
Schon Otto Bahr berichtet,") daß gegen das Ende der siebziger Jahre, weil
sich bei dem Appellationsgericht Köln die ganze Praxis auf ein paar Anwälte
zusammengedrängt hatte, die Sachen erst nach Jahresfrist verhandelt werden
konnten. Ein andrer Ausweg, als die Teilung des Bezirks, die das Gericht
und die „Überbureaus" entlastet, wird kaum gefunden werden können. Die
Errichtung neuer Senate würde, wie das Beispiel von Hamm zeigt, nicht
sonderlich viel helfen, weil die Terminkvllisionen sich dadurch noch vermehren.
>in Hamm war im Berichtsjahr 1897 der Prozentsatz der erledigten Sachen
31,6, im Berichtsjahr 1899 stieg er infolgedessen nur auf 41,2. Auch in Köln ist
in der letzten Zeit ein neuer Zivilsenat eingerichtet worden. Ein statistischer
Nachweis darüber, ob dadurch ein Fortschritt herbeigeführt worden ist, ist mir
acht zur Hand, nach den Zeitungsberichten scheint dort alles beim alten ge¬
blieben zu sein. Wie erwähnt ist, wird durch die Errichtung neuer Senate
"icht viel erreicht. Ein Radikalmittel ist allein die Teilung der übergroßen
Bezirke, daran scheint man aber nicht gehn zu wollen, wenigstens soll der
Plan, in Düsseldorf ein zweites Oberlandesgericht für die Rheinprovinz zu
errichten, aufgegeben worden sein.
Fassen wir nun zum Schluß das in deu vorhergehenden Zeilen Gesagte
zusammen. Es wurde zunächst geprüft, ob zur Verhütung der Prozeßver-
ichleppungen eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Zivil-
Prozeßordnung erfolgen müsse. Diese Frage wurde im Hinblick darauf verneint,
daß man nicht die erst vor drei Jahren revidierten Gesetze schon wieder ab¬
ändern könne, aus Gründen, die schon vor der Revision bestanden haben und
Gegenstand eingehender Erörterungen gewesen sind. Sodann wurde betont,
daß keineswegs die in der Rechtsanwaltschaft bestehenden Verhältnisse allein
an der Verlangsamung der Prozesse schuld seien, sondern hier beide Seiten
der Rechtspflege, die Richter und die Anwälte, eine Rolle spielten. Es kommt
sehr darauf an, wie der Richter die Sache anpackt, ob er einen Überblick
über den Prozeß hat, das Wesentliche leicht herausfindet und den Geschäfts¬
gang richtig zu gestalten weiß. Von besondrer Wichtigkeit ist sein Verhalten
im Beweisverfahren, namentlich ob er es umstündlicher oder einfacher einrichtet
und so Zeit und Kraft spart. Bei den Anwälten kommt es darauf an, ob
sie genügend Zeit haben, die Prozesse vorzubereiten und nicht durch andre
Geschäfte an der Wahrnehmung der Termine verhindert sind. Besonders ge¬
fährlich ist einer raschen Erledigung der Prozesse die Konzentration der Praxis
in den Händen weniger. Ein ausgezeichnetes Mittel zur Beseitigung dieses
Übelstandes liegt in der Zulassung auswärtiger Amtsgerichtsanwülte beim über¬
geordneten Landgericht. Außerdem wird durch eine solche Simultanznlassung
ein direkter Verkehr zwischen Gericht und Prozeßgcgner mit dem auswärtigen
Anwalt herbeigeführt, die lähmende Tätigkeit des Korrespondenzmandatars
wird beseitigt, die Jnfvrmationsaufnahme erleichtert, und die Prozeßführung
wesentlich beschleunigt.
Die Verhütung von Terminkollisionen an den Landgerichten und Ober¬
landesgerichten setzt die strenge Durchführung des Lokalisierungsprinzips voraus.
Umgehungen zu verhüten wäre eine Änderung des Paragraphen 27 der Rechts-
auwaltsordnnng dahin geboten, daß die Vertretung der Parteien und die
Ausführung der Parteirechte vor einem Kollegialgerichte dnrch einen nicht bei
diesem zugelassenen Anwalt, wenn die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse
dies verlangen, nur mit Genehmigung des Gerichts zulässig sein soll. Ein
zurzeit bei mehreren Kollegialgerichten zugelassener Anwalt hätte sich dann zu
entscheiden, bei welchem von diesen er seine Praxis ausüben will. Im Zweifel
würde das Landgericht, in dessen Bezirk sein Bureau liegt, als Gericht der
Zulassung zu gelten haben. Hand in Hand damit hätte eine Verkleinerung
übergroßer Obcrlandesgerichtsbezirke zu erfolgen.
Die stramme Durchführung des Lokalisierungsprinzips und die Neu¬
schaffung von Oberlandesgerichten bedürfen der Mitwirkung verschiedner Kräfte.
Allerlei Interessen kommen dabei ins Spiel, und darum erscheint der Aus¬
gang zweifelhaft. Dagegen können die Justizverwaltungen sofort die Kräfte,
die jetzt in der Führung landgerichtlicher Prozesse in der untergeordneten
Stellung eines Korrespondenzmandatars tütig sind, für diese Prozeßführung in
ihrem vollen Umfange nutzbar machen und so die freie Advokatur zur Wahr¬
heit machen, indem sie, unbekümmert um die Einwendungen der Vorstünde
der Anwaltskammern, sämtliche auswärtigen Amtsgerichtsanwülte bei den über¬
geordneten Landgerichten zulassen. Zweifellos werden, wo nicht lokale Gründe
entgegenstehn, wie in Braunschweig, dadurch gesundere Verhältnisse geschaffen,
und in den meisten Obcrlandesgerichtsbezirken dürften die landgerichtlichen
Prozesse eine ebenso rasche Erledigung finden, wie dies gegenwärtig dank dieser
segensreichen Einrichtung in Sachsen, Württemberg und Baden der Fall ist.
W
Machten Eugen die Schulmarter überstanden hatte, wühlte er die
juristische Laufbahn. Die Erfahrungen, die er als substitue und
als Chef in der Staatsanwaltschaft machte, die Krimiualfülle, die
er erzählt, sein Urteil über das Verfahren, das alles muß für
Juristen sehr interessant sein, aber wegen Mangels an Sach¬
kenntnis verzichten wir auf die Darstellung dieser Dinge und beschränken uus
darauf, sein Urteil über den Richterstand seines Vaterlandes mitzuteilen.
„Zwanzig Jahre Amtsführung an acht Tribunalen in verschiednen Gegenden,
die weit entfernt voneinander liegen, und in politisch verschieden beeinflußten
Zeiten haben an meinem Urteil nichts geändert. Wenn ich bedenke, daß zwar
kein Mensch ein Engel ist, daß aber die Lebensumstände dem einen das Gute
leichter oder schwerer machen als dem andern, so erscheint es mir als ein großes
Glück für einen rechtschaffnen Mann, wenn er als Justizbcmnter leben kann.
Es gibt kein Paradies auf Erden, aber je länger man die Bedingungen be¬
trachtet, die die Moralität beeinflussen, und die von der Gewalt der Dinge so
ungleich unter die verschiednen Berufsarten verteilt werden, desto beneidenswerter
erscheint einem das Los eines Richters. In keinem andern Staude ist ein
Mann so ausschließlich nur von seinem Gewissen abhängig, und seine Berufs¬
pflicht besteht darin, seinen Mitmenschen ihr Eigentum, ihre Rechte, ihre Ehre
und ihr Leben zu sichern swas aber, wie unsre heutigen Kriminalrcformer be¬
haupte«, infolge mangelhafter Gesetze und Einrichtungen so unvollkommen geschieht,
daß die Gewissen mancher Juristen unruhig zu werden anfangen; den Dingen
auf den Grund zu sehen, ist wohl nicht Franzosenartj. Gewiß gibt es keinen
Beruf, in dem man nicht rechtschaffen sein könnte, aber man beleidigt niemand,
wenn man auf den Stand hinweist, der den Frieden des Gewissens am besten
sichert. Zwar habe ich auch unwürdige Justizbeamte kennen lernen, aber ihre
Zahl ist so klein, daß die Seltenheit der Ausnahmen die Würdigkeit des ganzen
Standes nur um so Heller strahlen läßt. Auch die politischen Umwälzungen
andern nichts daran; jede führt dem Stande einige bedenkliche Leute zu, aber
dieser moralisiert und diszipliniert sie entweder oder stößt sie wieder aus. Wie
bei allen Körperschaften, so ist es auch bei den Tribunalen: die kleinsten haben
die besten Mitglieder, weil in großen Kollegien das Gewicht der einzelnen
Stimmen sinkt und dadurch das Gefühl der Verantwortung geschwächt wird;
zudem überwiegt in groß-n Gerichtshöfen die Stimme des Präsidenten. Die
wlzigen Mißbräuche, über die ich mich zu beklagen gehabt habe, habe ich in
den Assisen, dieser absurden Einrichtnno,, angetroffen. Unerträglich waren in
den Jahrzehnten nach der großen Revolution die Betrügereien, Spitzbübereien
und Räubereien der Advokaten, die man sich mit unerklärlicher Nachsicht ge¬
fallen ließ. Unter Louis Philipp jedoch erreichte der Richterstand den höchsten
Grad seiner Unabhängigkeit, Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit und machte dem
Unfug ein Ende, Das ging so schnell, daß sich eine vollkommene Reform voll¬
zog, und strenge Aufsicht zwingt seitdem die Advokaten, so rechtschaffen zu sein
wie die Richter." Mouton fand hie und da noch Spuren der altfränkischen
Etikette, deren Beobachtung bis vor kurzem der richterlichen Aristokratie zur
Währung ihrer Würde gedient hatte. Ein neu angekommener junger Beamter
ist das erstemal beim Präsidenten eingeladen. Er setzt sich zu einigen Damen,
die er kennt, da kommt die Präsidentin und ersucht ihn, ihr seinen Platz ein¬
zuräumen. Er setzt sich zu andern Damen, sofort erscheint die Frau Präsident«!
und richtet dieselbe Bitte an ihn. Er sieht sich verwundert um und bemerkt
nun, daß alle Herren stehn; man sagt ihm dann: im Salon der ersten Prä¬
sidentin und in jedem andern Salon, den sie mit ihrer Gegenwart beehrt, ist
es den Herren verboten, sich zu setzen. Ein Präsident pflegte zu fordern, daß,
wenn er ein Haus betreten sollte, beide Flügel der Einfahrt geöffnet würden.
Einmal blieb er, schon dem Wagen entstiegen, im Schnee und Regen vor der
geöffneten Tür stehn und wartete, bis man mit vieler Mühe den zweiten
Flügel zurückgeschlagen hatte, der seit langer Zeit nicht geöffnet worden und
deshalb eingerostet war.
Da Mondorf richterliche Amtsführung im Jahre 1848 begann, fand er
das Gleichgewicht des würdigen Standes ein wenig durch die Politik erschüttert.
Er selbst macht ungefähr den Eindruck eines aufgeklärten und wohlmeinenden
preußischen Bureaukraten. Er nennt sich liberal, und die Entschiedenheit, mit
der er jede Art von Aberglauben, z. B. das Tischrücken mißbilligt, bezeugt seinen
Rationalismus. Er ist durch und durch human, der Anblick des Elends ist
ihm entsetzlich, er hilft, wo er helfen kann, und er verkehrt gern und gemütlich
mit Leuten niedern Standes, Aber der Demokratie macht er nicht das mindeste
Zugeständnis; für das Volk, das politisiert, hat er nichts als Verachtung. Er
begrüßt es mit Jubel, daß Napoleon Ordnung macht, und schlägt auf seiner
ersten Station, in Draguignan, in Abwesenheit seines Chefs sehr schneidig eine
aufrührerische Bewegung nieder. Mit großer Genugtuung erfüllt ihn eine Ex^
pedition in die Umgegend, wo er, nur von einem Polizeibeamten und einigen
Gendarmen begleitet, mehreremnl inmitten großer drohender Volksmnssen ver¬
handelt und Verhaftungen vorgenommen hat. Er sei überzeugt, schreibt er,
daß er nicht einen Augenblick in Gefahr geschwebt habe. Zuletzt ließen die
Kerls den xro«uronr alö ig, r»xnK1in^!<z leben. Ösen alone g-voir pour alm
pmixls: 11 NF a, <1«z clMAvrcmx HU6 8g, holt^s ein 1«, puero! Die Charakter¬
schilderung jedoch, die er von den Südfranzosen entwirft, schwächt die Kraft der
Folgerungen, die er aus seinen Erlebnissen in Dragnigncm zieht, einigermaßen
ab. Das Volk sei dort schlecht erzogen, wenig intelligent und unverschämt.
Wenn man diese Leute einander schimpfen und drohen höre, überlaufe einen die
Gänsehaut; bei der geringsten Veranlassung drohten sie mit den entsprechenden
Handbewegungen: Ich will dir die Nägel bis zu den Ellbogen, die Haare bis
zu den Schultern abschneiden! Dabei, versichert er, sind sie aber ganz unge¬
fährlich, weil ihre Feigheit ihre Bosheit noch bei weitem übertrifft; diese ent¬
springt aus ungemilderter Selbstsucht und aus grenzenloser Eitelkeit. Es könnte
wohl sein, daß er nicht überall mit einer aufgeregten Volksmenge so leicht fertig
geworden wäre wie bei diesen sich wild und grausam gebärdende» Hasenfüßen.
Übrigens scheint er unter den so beschriebnen Mu.8 an Nieli nur die Prooem-
</aler zu verstehn; in Rodez am Avehron (Grimme) lernt er später einen vor¬
trefflichen Menschenschlag kennen. Am tüchtigsten findet er die Menschen des
östlichen Frankreichs, also die mit dem reinsten Frankenblute, ohne damit die
neuen Nassentheorien stützen zu wollen, von denen er nichts zu wissen scheint.
Auch in der Kirchenpolitik erinnert er an Preußen. Er ist religiös, aber
ohne jede Spur von Bigotterie, und würde, wenn ihm sein Amt Veranlassung
dazu gegeben hätte, unbotmäßigen Mitgliedern des Welt- und des Ordensklerus
den Daumen aufs Auge gedrückt haben, ohne die religiösen Empfindungen des
Volkes zu verletzen und ohne die gesetzmüßige Wirksamkeit der Kirche zu be¬
einträchtigen. Er lernt einen Bischof kennen — den von Lu-,;on in der Vendee,
Bcnlles mit Reinen —, der lebhaft an unsern Komm erinnert. In den ersten
Jahren des zweiten Kaisertums, erzählt Mouton, führte ein Teil des Klerus
einen erbitterten Krieg gegen die Regierung. Bcnlles war einer der ärgsten
Fanatiker; er nahm bei seinen feindseligen Maßregeln keine Rücksicht auf die
Personen der Beamten und hatte kein Mitleid mit den ehrlichen Leuten, die
dabei zu Schaden kamen. Sein Türkenkopf war die Staatsschnle, nicht bloß,
weil sie eben Staatsschule war, sondern anch, weil er ihr durch heftige Angriffe
Schüler entziehn wollte, um sie dem Kolleg zuzuführen, das er selbst gegründet
hatte. Eines schönen Tags ereignete sich folgendes. Das Unterrichtsministerium
verschickte eine Sammelliste an die Lehrer; es handelte sich um einen Zweck,
dessen Förderung als ein Beweis kaiserlicher Gesinnung gelten konnte. Arme
Teufel wie die Lehrer zeichnen in solchen Fällen immer, denn dergleichen Ein¬
ladungen sind ja Befehle der hohen Obrigkeit. Diesesmal aber war einer so
kühn, den Platz neben seinem Namen leer zu lassen. Der Dummkopf, so nennt
ihn Mouton, würde seine Existenz gefährdet haben, wenn nicht der Rektor der
Vendee, Cassin (der roervur hat ungefähr die Stellung eines preußischen Pro-
vinzialschnlrats), für den Widerspenstigen gezeichnet und einen Betrag aus seiner
eignen Tasche für ihn bezahlt hätte. Der Bischof erschnüffelte diese aus reinem
Wohlwollen verübte unkorrekte Handlung (die Mouton, nicht nach deutschem
Geschmack, höchst lobenswert findet) und bestimmte den Lehrer, Cnssin der
Fälschung anzuklagen. Dieser wurde strafversetzt — auf einen bessern Posten
Zwar, ärgerte sich aber trotzdem zu Tode. Den unverträglichen Bischof lobte
man später nach Rom weg, wo er als Mitglied der Judexkongregation reichlich
Gelegenheit hatte, seine Zelotenwut an ketzerischen Büchern auszulassen. Ein¬
mal sah sich Mouton veranlaßt, einem Geistlichen eine scharfe Rüge zu erteilen.
Ungeheuer vou Geschwistern hatten ihren wohlhabenden Bruder durch eine
frivole Anklage auf dem Rechtswege (der in diesem Falle ein abscheulicher Un-
rechtsweg war, was Mondorf Preise der Justiz einiges von seinem Werte nimmt)
ins Bagno gebracht, um sich seines Vermögens zu bemächtigen; die Verurteilung
zu lebenslänglichem Bagno zog nämlich den bürgerlichen Tod nach sich. Nach¬
dem der Unglückliche fünfzehn oder zwanzig Jahre verbüßt hatte, wurde er be¬
gnadigt, und den Brüdern wurde die Pflicht auferlegt, ihm jährlich 800 Franken
zu zahlen. Das war ihnen zu viel, und sie schickten einen Geistlichen zu Mouton,
der ihn bat, das Jahrgeld herabzusetzen. Mouton antwortete: „Herr Abbe, ich
kenne die Lage des Mannes und weiß, was ihn hineingebracht hat. Leider
kann ich ihm sein Vermögen nicht wiedergeben, das ihm seine Familie mit Hilfe
eines seitdem mit Recht abgeschafften Gesetzes entrissen hat. Sie schließen ohne
Zweifel schon aus diesen Worten, daß ich für diese Familie nicht zu haben bin.
Da Sie noch sehr jung sind, darf ich annehmen, daß Sie den Fall nicht kennen;
sonst müßte ich Ihnen mit lebhaftem Bedauern sagen: ich begreife nicht, wie ein
Priester einen solchen Auftrag übernehmen kann."
Auch eine Klosternffäre von der heute in Frankreich, Spanien und Ga-
lizien wohlbekannten Sorte mußte er durchfechten. Ein Mädchen ans wohl¬
habender Familie war von einer Betschwester ins Kloster entführt worden.
Vater und Bruder wollten sie wieder haben. Mouton bearbeitete zweimal
stundenlang die Oberen und setzte die Entlassung der Person durch, die übrigens
selbst ihrer Befreiung widerstrebte und nicht im mindesten erfreut darüber war.
Die Sache war sehr schwierig, weil die Nonnen durch ein verhängtes Gitter
mit ihm verhandelten, sodaß er nicht einmal die Identität der Personen fest¬
stellen konnte, ferner weil der geringste Ausbruch von Heftigkeit ihn vor wahr¬
scheinlich versteckten Aufpassern kompromittieren und ihm das Spiel verderben
konnte, und weil die Person, die sich Oberin nannte, mit unerschöpflicher
Beredsamkeit und großer Geschicklichkeit disputierte und deklamierte, während
andre klagende, weinende, Ohnmachten ankündigende Stimmen den nervenan¬
greifenden Chorus spielten; aber seine „mit Sammet gepolsterte Eisenfaust"
hielt das Schlenke Geschlüpfer fest und zwang es endlich, sich zu ergeben. Da¬
gegen war er ebenso entrüstet wie alle andern Zeugen des Vorfalls, als in
einer Gesellschaft beim Präfekten in Niort ein Herr de Larochejacquelein (ohne
Zweifel ein Sohn des berühmten Royalistenführers) dem ihm gegenübersitzenden
Pfarrer Beschimpfungen des Klerus ins Gesicht rief und das Lied anstimmte:
Beamte vom Schlage Mondorf würden mit Kongregationen und wider¬
spenstigen Bischöfen schon fertig werden, ohne die Religion zu zerstören, wenn sie
ein kluger Staatsmann führte, dem die Monarchie oder eine befestigte Aristokratie
Rückhalt gewährte und eine planvolle Wirksamkeit von längerer Dauer sicherte.
Aber die Kammerjakobiner und eine Negierung, die auf dem unzuverlässigen
Boden wechselnder Majoritäten steht und von Geldmännern abhängig ist, die
können die schwierige Angelegenheit nicht ins reine bringen; die Dinge werden
in Zukunft verlaufen wie bisher: tolle Ausschreitungen des Religionshasses
werden mit ebenso tollen Reaktionen einer fanatischen Bigotterie wechseln.
Die Vendee, die Mouton auf mehreren Stationen kennen lernte, schildert
er als ein Schlaraffenland, wo man damals spottbillig lebte und von Gast¬
wirten wie von Quartierwirtinnen mit Delikatessen gestopft wurde. Soll man
es charakteristisch finden, daß die frommen Vendeer unter andern wunderlichen
Heiligen auch eine Menschenfresserin verehren? Die Frau Beatrix von Fvnte-
nelles ließ sich täglich ein kleines Kind braten. Nachdem sie die meisten Kinder
der Umgegend verzehrt hatte, flohen die Mütter der noch übrigen mit ihren
Lieblingen in die Wälder, und der Verwalter mußte eines Tags der Schlo߬
herrin melden, es gebe keinen Kiuderbraten mehr. Was? rief diese, du hast
jn selbst ein Kind! Sofort läßt du das zubereiten! Die Frau des Verwalters
aber schlachtete statt ihres Söhnchens einen Hund. Die Gnädige war sehr
ungnädig ob des Betrugs: statt des Kindes hast du einen armen Hund ge¬
schlachtet! O, rief ihr zu Füßen fallend der Verwalter, was hat ein Hunde-
nwrd gegen einen Kindermord zu bedeuten! Da gingen der oxrssso die Augen
auf. Sie erkannte ihr Verbrechen, tat Buße und fuhr im nächsten Kloster
stracks gen Himmel. Zu ihrem Grabe aber wallfahrten die Mütter kranker
Kinder nud erlangen von ihr die Heilung. Diese verrückte Geschichte hat
Mouton in einer Ballade besungen, die mit Bewilligung und zur großen Freude
des Dichters für die Bänkelsänger gedruckt worden ist. Auch ein wirklich sehr
hübsches Hochzeitsgedicht hat er gemacht und die Bauernhochzeit, für die es
bestimmt war, mit seiner Gegenwart verherrlicht. In Jonsac hat er mit Arbeitern
Kirchenkonzerte veranstaltet — er hatte einen sehr schönen Bariton und war
ein leidenschaftlicher Sänger —, am Jnnuugsball der Maurer teilgenommen
und sich mit einem Punsch revanchiert, den er ihnen gab. Dabei sang einer
der jungen Männer mit prachtvoller Stimme und unglaublicher Leidenschaft ein
revolutionäres Lied; etwas so ergreifendes, versichert der Staatsanwalt, habe er
or Leben nicht mehr gehört; das schönste aber sei gewesen, daß der Sänger
und die ganze harmlose Gesellschaft von dem gefährlichen Charakter des Liedes
keine Ahnung gehabt hätten. Eine merkwürdige Wahrnehmung macht er in
Fontenay, das ebenfalls in der Vendee liegt. Verbreche» kämen dn wenig vor,
und das sei dem tief religiösen Sinne der Bevölkerung zu verdanken. Ver¬
hältnismäßig häufig sei jedoch — außer Sittlichkeitsvergehen von jungen Leuten —
der Kindermord, und daran sei nun gerade die Religion schuld. In ungläubigen
Gegenden werde eine uneheliche Geburt leicht genommen, in religiösen aber
gelte sie als ein Fluch und treibe die Schuldige zur Verzweiflung: „Der Kinder-
mord ist ein Verbrechen anständiger Personen." In den katholischen Alpen-
lnndern, wenigstens in dem bayrischen und in dem österreichischen Teile, scheint
die Religiosität diese Wirkung nicht zu üben. In der letzten Zeit seiner Amts¬
führung beschäftigten Mouton sehr lebhaft pädagogische Fragen, besonders neue
Unterrichtsmethoden. Er wurde darauf geführt durch die Sorge für seineu
Sohn (er war glücklich verheiratet) und durch den Umstand, daß infolge von
Unordnungen dem Staatsanwalt der Vorsitz im Kuratorium der Taubstummen¬
anstalt übertragen worden war. Zuletzt gründete er noch eine Volksbiblivthek,
dle er in folgender Weise organisierte. Es wurden vierundvierzig verschließbare
und leicht tragbare Kästchen angefertigt, in jedes zwanzig Bücher und ein Ver¬
zeichnis gelegt und durch die Gemeindcdiener vierundvierzig Gemeinden zugeschickt.
Allmonatlich wurden die Kästchen gewechselt. Das sollte nur der Anfang einer
größern Organisation sein, aber das Jahr 1870 machte der Sache ein Ende.
Und das war gut, meint er, denn Volksbibliotheken können zwar unendlichen
Segen, aber in schlechten Händen auch unsägliches Unheil stiften; über die
Gefahr des zweiten sei man noch lange nicht hinaus; möge die Einrichtung,
wünscht er, vorläufig schlafen und erst wiedererweckt werden, wenn Frankreich
wieder vernünftig geworden sein wird!
In der zweiten Hälfte seiner Dienstzeit arbeitete er sieben Jahre lang
täglich sieben bis acht Stunden — das wird wohl ein bißchen reichlich gezählt
sein — an einem großen Werke über die Strafgesetze; später, als sein Kopf
schwächer geworden war, kam es ihm so schwierig (prot'ora sagt er) und lang¬
weilig vor, daß er nicht einmal mehr drin lesen konnte. Sobald es erschienen
war und seinen literarischen Ruf begründet hatte, quittierte er den Dienst gegen
den Rat seiner Frau; es sei das, bemerkt er, der einzige Fall gewesen, wo sie
sich in Beziehung auf das Interesse der Familie getauscht habe. Eine Klatsch¬
geschichte hatte ihm das Mißfallen einiger Gebietenden zugezogen, und wenn
er die Ratstelle in Montpellier, die man ihm schließlich geben wollte, bekommen
hätte, so wäre ihm weder der Ort noch das Amt angenehm gewesen, und dieses
würde er noch dazu als gut kaiserlich gesinnter Mann bei der großen »puration
<Je la mgM8ri-Ätur«z nach 1870 verloren haben. Obwohl er in der Provinz
die Verhältnisse gesunder, die Menschen besser und vernünftiger fand, namentlich
auch, wenn sie das Amt des Geschwornen ausübten, erschien ihm doch das
Leben fern von Paris als eine Verbannung. Dahin siedelte also die Familie
im Sommer 1868 über. Sie hatten ein bescheidnes Vermögen, und seine Zu¬
versicht, mit Schriftstellern werde er sich so viel verdienen, wie ihm sein Amt
gebracht hatte, rechtfertigte der Erfolg. Die Minister empfingen ihn huldvoll.
Zunächst bekam er sogar eine Professur an der neugegründeten veolo Okrscm,
einer mit der Sorbonne verbundnen Anstalt, die in der Kommunezeit wieder
einging; er lehrte dort anderthalb Jahre das Strafrecht. Dann wollte er
Deputierter werden, da die Regierung der anschwellenden Opposition gegenüber
Leute von seinem Schlage, die reden könnten, notwendig brauche; aber damit
war es nichts. Romber fragte ihn, ob er „ein Wahlkollegium" habe. Nein,
er gedenke als Regieruugskandidat gewählt zu werden. Dann haben Sie keine
Aussicht, erwiderte ihm der Minister, die Zeit, wo wir unsre Kandidaten wie
Kokil in die Kammer befördern konnten, ist vorüber. Dafür wurde er beim
„Moniteur" angestellt, der in das „Journal officiel" umgetauft worden war.
Journalist hatte er eigentlich, als Würdenträger, nicht werden wollen, aber,
dachte er, das ist doch mehr ein Negierungsamt als eine Nedakteurstelle. Seine
Würde erlitt jedoch bei der Art, wie er hineinkam, eine kleine Beschädigung-
Er gedachte in demi Blatte der Regierung als gelehrter Jurist zu dienen, der
Leiter aber sprach beim ersten Besuch, den ihm Mouton machte, nicht von dem
großen Werke über die Strafgesetze, das er gar nicht zu kennen schien, sondern
von dem allerliebsten Invaliden mit dem hölzernen Kopf, den der neue Kollege
im Figaro veröffentlicht hatte, und sagte, er möge ihm nur recht viel solcher
lustiger Sachen liefern. Mouton sagte zwar zu, dachte aber dabei: Nee, das
tue ich nicht; den amtlichen Spaßmacher spielen, das paßt weder zu meine»,
Alter noch zu meiner Würde! Über Nacht aber fiel ihm ein schöner Stoff ein,
und am andern Morgen schrieb er den Gorilla, aus dem dann das erste
Kapitel der Reisen des Kapitäns Cougourdan geworden ist. Seine Artikel
wurden so gut bezahlt, daß er schon nach wenig Monaten sein altes Ein¬
kommen hatte. Das Journal officiel und den Verlag Maillet nennt er die
Brunnen seiner literarischen Existenz. Es ist wahr, sagt er, ich habe ihnen
Wasser geliefert, aber ohne sie hätte mein Wasser nicht fließen können. Es
ist übrigens unglaublich, bemerkt er bei der Gelegenheit, wie viel Leute, abgesehen
von denen, die ganz von der Feder leben, mit deren Hilfe ihr Einkommen
verbessern. Viele arme Mütter, Mädchen und Witwen müßten ohne sie Not
leiden. Aber auch unzählige Beamte, bis in die Ministerien hinein, schrift-
stellern fleißig, nicht zu ihrem und auch nicht zu ihres Amtes Schaden. Weit
entfernt davon, daß sie die Schriftstellern diskreditierte, verschafft sie ihnen Ruf
und dient zu ihrer Beförderung, besonders wenn sie Theaterstücke und knusprige
Romane schreiben jsv weit dürften wir in Preußen noch nicht seinj. Was aber
das Amt betrifft, so könnte es dem gar nicht schaden, wenn alle Aktenschmierer
etwas mehr Geist hätten. Der Dienst hat darunter noch nirgends gelitten,
und gerade der angenehme Wechsel der Arbeit schützt vor Übermüdung. Der
Verfasser zählt die Zeitschriften auf, für die er gearbeitet hat, und nennt die
Titel seiner achtundzwanzig Bücher; die meisten mögen wohl nur winzige
Bändchen gewesen sein; in Deutschland sind sie nicht bekannt geworden; er sagt
auch nichts davon, daß eines übersetzt worden wäre. Es ist eine „Moralische
Zoologie" (vielleicht Tiermoral?) darunter und eine anthropologische Abhandlung:
D'un monvsrQöiit c1iAito-c>or8Al <zxc;Ja8ivomoQt proprs ^ I'iiomnis. Er hat
nämlich die Entdeckung gemacht, daß der Meiisch das einzige unter allen Säugetieren
ist, das sich an allen Stellen des Körpers kratzen kann. Wie er sich im Affen¬
hause überzeugt hat, können anch ganz junge Ornngutcms und Schimpansen
mit der Vorderhand die Gegend zwischen den Schultern nicht erreichen und
wehren sich dagegen, wenn der Wärter das Experiment machen will.
Wir erzählen noch kurz den ünßern Verlauf seines Lebens in den letzten
dreißig Jahren. Im Sommer 1870 bekam er den Auftrag, die Strafgesetz¬
gebung der drei skandinavischen Staaten an Ort und Stelle zu studieren. Da¬
neben beschloß er, für eine Literaturkonvention zwischen Frankreich und Schweden
zu wirken. Am 4. Juni reiste er mit seiner Frau und seinem elfjährigen Sohne
ab. Als sie die Wohnung verließen, sagte er ahnungsvoll: Wer weiß, ob wir
nicht bei der Rückkehr Preußen drin einquartiert finden. Bei der Fahrt durch
Deutschland fielen ihm die Truppenbewegungen auf. „Wenn wir nicht bis
zur Kriegserklärung blind gewesen wären, würde uns der Anblick dieser Sol¬
daten zur Umkehr bewogen haben, denn in ihren Mienen, in ihrer Haltung
konnte man es lesen, daß sie zum Siege eilten. Einige Wochen vorher hatte
nnr mein Freund Alphons Penaud, inspsc-tsur c-list der Marine, von der
drohenden Haltung der deutschen Soldaten erzählt, die ihn auf einer Reise über
den Rhein erschreckt habe. Aber damals dachten wir an keinen Krieg (einer
der vielen Selbstwidersprüche aus Vergeßlichkeit, auf die man bei ihm stößt),
höchstens an den dänischen; beim Anblick der würdigen Männer, die uns bald
darauf in Kopenhagen umgaben, wurden wir durch die Erinnerung an ihre
Niederlagen beinah zu Tränen gerührt und bedauerten, daß ihnen Frankreich
nicht zu Hilfe gekommen war," Schweden findet Mouton entzückend, sowohl
das Land als auch die Leute. Das dortige Leben sei eine Idylle, „Die
zivilisierten Menschen sind ja Wohl überall dieselben, aber veränderte Lebens-
bedingungen ändern die Sitten, beeinflussen die Moralität und erzeugen je nach
Umständen das Gute oder das Böse, Wenn die Bewohner eines kalten und
armen Landes nicht von der Plünderung andrer Völker leben können, nicht
einmal in der Form der heute von den Engländern verübten Ausbeutung, so
sind sie gezwungen, sich dnrch ehrliche Arbeit zu ernähren. So lange die
Schweden Europa plünderten, blieben sie Barbaren und waren nicht besser als
ihre Opfer, Ihre jetzige Armut und der Zwang zur Arbeit haben die guten
Keime erschlossen, die bis dahin durch die Laster Europas an der Entfaltung
gehindert worden waren. Man versteht bei diesen rechtschaffnen und durchaus
wahrhaftigen Menschen, was jetzt in Transvaal geschieht, wo ein unter ähn¬
lichen Bedingungen lebendes kleines Volk einem der mächtigsten Volker, dem
aber Ehrgefühl und Rechtschaffenheit fehlen, erfolgreich Trotz bietet." Wäre
Mondorf geographischer Horizont nicht französisch eng gewesen, so würde er von
Völkern gewußt haben, bei denen die Armut weniger liebenswürdige Eigenschaften
ausreift, Besonders die Rechtschaffenheit und Uneigennützigkeit der schwedischen
Gastwirte setzt ihn in Erstaunen, und als er- gar diese edeln Männer über das
Unglück Frankreichs weinen sieht, da schließt er sie für immer in sein Herz.
Namentlich in Dalekarlien erlebt er tröstende Kundgebungen für Frankreich;
wiederholt begrüßt ihn das Volk mit der Marseillaise und mit Vivo Kranes!
ö> das I'L,lIönu>,Nicz! Dort kommt ihm auch die Nachricht von der Kriegs¬
erklärung zu Ohren. Eben hatte er einem Deutschen die Hand gedrückt: „Nie
mehr werde ich mit einem Menschen dieser Nasse einen Händedruck wechseln!"
Im Zelte eines Renntierlappen versinkt er in eine Meditation. Ist nicht das
friedliche Leben dieser noch auf der untersten Kulturstufe zurückgebliebnen
Menschen das denkbar glücklichste? Sie wissen nichts von Politik, von Krieg,
von Büchern, von gelehrter Grübelei. Sie können nicht einmal lesen, aber was
des Lebens Notdurft erfordert, das haben sie; sie haben auch, wessen das Herz
bedarf: sie lieben einander, und wenn sie sterben — sie sind Christen —, so
wird es sich zeigen, daß sie vor Gott so viel wert sind wie wir. Und wie
viele unter uus werden denn der Kulturgüter froh? Mitten im Überfluß dieser
Güter lebt die große Masse, die ja arm ist, nicht viel besser als diese Lappen.
Aus seiner Träumerei weckt ihn die Lappenjnngfrau, die ihm Kaffee präsentiert.
Beim Anblick der schrecklichen Tassen — der Kaffee selbst war gut — gedenkt
er seines schönen Porzellans daheim, und die schmutzigen Felle, auf denen er
sitzt, erinnern ihn um sein schönes Bett; er findet nun, daß die Zivilisation
doch eigentlich nicht so übel ist. Das entzückendste in dein entzückenden Schweden
sind die Gesellschaften beim Könige, nur daß des Verfassers Magen und Kopf
den Anforderungen der schwedischen Gastfreundschaft, der man sich an einer
königlichen Tafel nicht gut entziehe» kann, nicht gewachsen sind. Man trinkt
dort den Likör ans Weingläsern und den Wein aus Biergläsern. Ans der
Heimfahrt vom Diner steckt er zwei Zigarren in den Mund, fingt und tanzt
im Wagen Polka.
Nachdem er noch die Schönheiten des von Schweden grundverschiednen
Norwegens bewundert hat, bestimmt ihn die Kunde von sedem zur Heimfahrt.
Die Familie reist über England. Er findet zwar ausgezeichnete Menschen in
der englischen Aristokratie, aber im ganzen sind ihm die Engländer ein grä߬
liches und verabscheuungswürdiges Volk. Auf ihre Macht und ihren Reichtum
gibt er nichts; deren Grundlage ist unsicher, schmal und unnatürlich; sie besteht
aus der Flotte; diese kaun durch die Erfindung eines Ingenieurs vernichtet
werden, und dann — l'^nxlotorro aurs. vüvu. In Frankreich kommen die
Reisenden zunächst nur bis Laval, wo Mouton, weil sein Geld zu Ende geht,
am Lyceum den Unterricht im Englischen für den erkrankten Lehrer übernimmt.
Die Jungen machen bei ihm gute Fortschritte, aber die Disziplin verursacht
ihm Schwierigkeiten. Eines Tags, wo sie es zu bunt treiben, hilft ihm eine
Kriegslist! mit seiner Löwenstimme kommandiert er: Aufstehn! — Die Arme
kreuzen! — Setzt euch! Den nicht der Stunde Verhalten sie sich mäuschenstill.
Nach dem Schluß schreitet er, mit Mühe das Lachen unterdrückend, majestätisch
hinaus. Es war auf längere Zeit sein letzter Heiterteitsanfnll. Am andern
Tage zwangen die nach Chcmzhs Niederlage bei Le Maus anrückenden Deutschen
zur Flucht.
Unter Abenteuern, die meist nicht sehr heiter waren, erreicht die durch den
Anschluß von Verwandten auf sieben Köpfe angewachsene Gesellschaft am
14. Februar Paris. Er läßt sich in ein Bataillon Nationalgarde einreihen,
verrichtet mit großem Eifer seinen Dienst und müht sich vor Ausbruch des
Bürgerkrieges beim. Zusammentreffen mit Kommunarden vergebens, diesen die
Köpfe zurechtzurücken. Er flieht dann nach Versailles und empfindet nicht das
geringste Mitleid mit den Leuten, die gefangen herübergebracht und erschossen
werden. Er wohnt den Verhören bei und wundert sich, Leute von Stand und
Bildung, auch Damen darunter zu sehen. Noch mehr erstaunt ist er über die
vollkommene Ruhe und Höflichkeit, mit der sie sich alle benehmen. Ihre Ant¬
worten, von denen er nur einige nichtssagende mitteilt, findet er absurd; hätte
er mehr mitgeteilt, so würde man vielleicht daraus ersehen, daß die Leute ihre
guten Gründe gehabt haben, sich der Versailler Regierung nicht zu unterwerfen,
und eben dieser Umstand, daß man andrer Meinung sein könne als die Ordnungs-
menschen, mag ihm absurd vorgekommen sein.
Nach der Wiederherstellung der Ordnung genoß er die Pariser Geselligkeit,
»ach der er sich in der Provinz so gesehnt hatte. Zwar hatte sie der steigende
Luxus schon unter dem Kaiserreich stark beeinträchtigt, aber es gab immerhin
noch Salons, die vor allem Pflegestätten der Musen und des Esprit waren.
Unter ihnen scheint ihm keiner lieber gewesen zu sein als der der göttlichen
Sarah, der er reichlich Weihrauch opfert. Dieser Salon war zugleich Bild¬
hauerwerkstatt, und das macht ihn unserm literarischen Stantsmiwalt doppelt
lieb, denn er modelliert ebenfalls und betreibt auch die Pastellmalerei. In
Versailles hat er einen Kommunardenkopf modelliert, dessen Ausstellung im
Schaufenster „die Polizei des Herrn Thiers" verbot, weil er zu aufregend
wirke. Ein Gönner verschaffte später dem Kunstwerk einen Platz im Salon.
Auch die Musik liebte und übte er, namentlich den Gesang, aber das Piano
Verabscheute er, und nicht einmal Liszt vermochte seinen Widerwillen gegen „die
Maschine" zu überwinde:,. Die musikalischen Genüsse gingen ihm im Alter durch
Taubheit verloren. Im Gespräch verstand er sich einigermaßen zu helfen —
durch eine Erfindung. Er hat gleich andern Schwerhörigen die Erfahrung
gemacht, daß die Heilkuren und die gebräuchlichen Instrumente höchstens die
Wirkung haben, den etwa noch vorhandnen Nest des Gehörs zu zerstören.
Dagegen leistete ihm ein Rohr vortreffliche Dienste, das er sich selbst konstruiert
hatte, und das ihm jeder leicht nachmachen kann. Es ist ein fünfzig bis sechzig
Zentimeter langes, sechs bis sieben Zentimeter weites Rohr aus festem Papier
oder Karton, das vollkommen zylindrisch sein muß, sodaß also beide Öffnungen
gleich weit sind. Der Redende spricht in die eine Öffnung hinein, ohne das
Papier mit den Lippen zu berühren. (Der Verfasser dieses Aufsatzes, der an
demselben Übel leidet, hat Mondorf Erfindung probiert und sehr gut befunden.)
Die Buchhändleranzeige sagt nicht, wann Mouton gestorben ist. Den
letzten Abschnitt seines Buches hat er am 2. Januar 1901 unterzeichnet.
Dieser letzte Abschnitt ist seine „Philosophie." Sie ist in zwei sehr
hübschen kleinen Aufsätzen enthalten, die I^g, vis und of la patrio überschrieben
sind. Jeder besteht aus zwei Teilen, die c-c>mer«z und xour plädieren. Der
Pessimist beweist, daß alles Unsinn, der Optimist, daß der Kern des Lebens
gut und die Vaterlandsliebe vernünftig ist. Was den Verfasser hauptsächlich
berechtigt, die beiden Bände ein Stück Naturgeschichte des Menschen zu nennen,
das läßt sich in einem Bericht darüber nicht wiedergeben. Es sind die zahl¬
reichen Charakterzcichnungen von Personen jedes Standes. Eine wollen wir
wenigstens erwähnen, weil er die Folgerung daraus zieht, der wahre Wert
eines Menschen sei nicht nach seinen Taten und Leistungen, noch weniger
natürlich nach seinen körperlichen und geistigen Gaben zu schützen, sondern nach
der Art und Weise, wie er sein Unglück trügt, besonders, wenn dieses Unglück
ein untragisches graues Elend ist, und seine unbedeutende Persönlichkeit der
Welt verborgen bleibt. Ein Bekannter Mondorf, ein Mann aus guter Familie,
hatte zeitlebens das ausgesuchteste Pech gehabt. Er hatte als Kaufmann durch
nicht vorauszusehende Konjunkturen seine Ersparnisse verloren, hatte dann immer
nur jämmerlich schlechte Posten, bis zu sechshundert Franken hinunter bekommen,
war zeitlebens blutarm geblieben, hatte aber seine Stellung in der guten Gesell¬
schaft behauptet, war nie jemand einen Centime schuldig geblieben und erschien
immer heiter, guter Laune und glücklich. Unterstützung ließ er sich nur in der
Form von Einladungen zu Mahlzeiten gefallen, und da seine Mittel nicht
einmal zu einem Veilchenbukett für die Frau vom Hause langten, revanchierte er
sich damit, daß, wenn Pellkartoffeln auf den Tisch kamen, er sie allen Tisch-
genossen schälte, was er sehr geschickt und elegant zu tun pflegte.
UAUjährend die Deutsche Orientgcsellschaft in den Ruinen Babylons
eifrig nach Denkmälern der Vergangenheit sucht, ist der franzö¬
sischen Expedition, die den heutigen Ort Schuschtür zu ihrer
Operationsbasis gemacht hat, ein großartiger Erfolg beschieden
! gewesen. Es ist wieder einmal gegangen, wie es öfter zu
geschehn pflegt: da, wo sie nicht direkt gesucht wurde, hat sich eine neue Licht¬
quelle für die babylonische Altertumskunde geöffnet. Im Anfang des vorigen
Jahres wurden nämlich in dem erwähnten Orte unter der Leitung von
I, de Morgan mehrere größere Monumente ausgegraben, die von siegreichen
Königen der Elamiter nach ihrer Residenz Susa als Siegestrophäen gebracht
worden waren. Das wichtigste von diesen Denkmälern ist eine schwarze, un¬
gefähr acht Fuß hohe Dioritstele, die Hammurabi, der Hauptvertreter der ersten
babylonischen Dynastie (um 2250 v. Chr,), aufgestellt hatte. Eine Abbildung
dieses Monuments mitsamt dein Text der Inschrift darauf und eine Ent¬
zifferung wurde mit rühmenswerter Schnelligkeit im Oktober vorigen Jahres
von Professor V. Scheik in den Nömoirss as ig. DslöZMon «n ?si8e ver¬
öffentlicht floms IV: löxtös IÄÄinitös-Kömitiau<Z8). Eine Verdeutschung der
Inschrift wurde dann im Dezember vorigen Jahres von H. Winckler unter¬
nommen und unter dem Titel „Die Gesetze Hammurabis" bei Hinrichs in
Leipzig herausgegeben. Jetzt (im März) ist aber auch eine englische Über¬
setzung des Textes erschienen, die unabhängig von Winckler durch den
besten englischen Kenner babylonischer Texte, den Professor C. H. W. Johns
in Cambridge hergestellt worden ist. Sie ist unter dem Titel Ms Olclsst
Ovals c>k I^g.v?8 in ins V/orta bei T. 6- T. Clark in Edinburgh erschienen und
hat nicht nur eine längere Einleitung, sondern hauptsächlich einen ganz detail¬
lierten Index der Gegenstände, die in diesem Gesetzeskodex behandelt sind.
Diese Inschrift verdient aus verschiednen Gründen gar wohl den Namen
eines Gesetzeskodex. Das ist scholl wegen ihrer Eingangspartie der Fall. Denn
darin heißt es z.B.: Mich, Hammurabi, den hohen Fürsten, der Gott fürchtet,
um dem Recht im Lande Geltung zu verschaffen, den Schlechten und Bösen
zu vernichten, damit der Starke dem Schwachen nicht schade, damit ich wie
Schamasch (der Sonnengott) das Land erleuchte, haben Ann (der Gott der
Oberwelt) und Bel (-^ »Herr«, einer der obersten Götter), um das Wohl¬
befinden der Menschen zu fördern, mit Namen berufen." Also danach soll
diese Inschrift eine grundlegende Gesetzgebung für den von Hammurabi beherrschten
59^
Staat enthalten. Ein Gesetzeskodex ist diese Inschrift aber ferner wegen ihres
Umfangs zu nennen. Denn sie umfaßt nicht weniger als 282 Abschnitte oder
Paragraphen. Diese Zahl hat mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden
können, obgleich die Inschrift in ihrem jetzigen Zustande eine Lücke zeigt.
Von den 21 ^- 28 Kolumnen nämlich, in denen die Inschrift auf die Vorder-
und die Rückseite jener Säule eingehauen wurde, sind die fünf letzten Kolumnen
auf der Vorderseite weggemeißclt worden, sodaß nur der Anfang der siebzehnten
Kolumne als eine deutliche Spur davon sichtbar blieb, daß auch dieser Raum
früher beschrieben war. Man wollte wahrscheinlich einer andern Inschrift Platz
machen, die aber dann nicht wirklich hergestellt wurde. Für die so entstandne
Lücke konnte nach Maßgabe der übriggebliebnen 44 Kolumnen ein Umfang
von 34 Paragraphen berechnet und deshalb hinter Paragraph 65 gleich mit
Paragraph 100 weitergezahlt werden. Dies ist glücklicherweise gleichmäßig in
der französischen, der deutschen und der englischen Übersetzung geschehn. Diese In¬
schrift ist also umfangreicher, als das sinaitische „Bnndesbnch" der Hebräer, das in
2. Mos. 20, 22 bis 23, 33 nur 105 Paragraphen enthält, oder das Zwölftafel¬
gesetz der Römer, von dem Schoell ungefähr 100 Paragraphen gesammelt hat.")
Endlich wird die Inschrift auch wegen ihrer systematischen Ordnung mit gutem
Recht ein Gesetzcskodex genannt. Denn ihre einzelnen Bestimmungen können
in folgende Gruppen zerlegt werdem
Die ersten fünf Paragraphen bestimmen die Strafe für verleumderische
Anklage und unberechtigte Verurteilung. — Eine zweite Reihe von Vor¬
schriften (Paragraph 6—25) betrifft Diebstahl und Hehlerei. Tempelrciub
geht dabei in höchst bemerkenswerter Weise voran, und Aneignung fremden
Eigentums, die bei Gelegenheit eines Hausbrandes ausgeübt wird, schließt
diesen Abschnitt in ebenso bezeichnender Weise. — Eine dritte Gruppe von
Rechtsnormen (Paragraph 26—41) regelt die besonders strenge Dienstpflicht
von Militärpersonen und das in bezug auf ihr Lehm anzuwendende Ver¬
fahren. Etwaige Hinterziehung der Militärpflicht wird mit Todesstrafe be¬
droht. Dagegen wird einem Offizier oder einfachen Kriegsmann, der „im
Unglück des Königs" (Euphemismus für: bei einer Niederlage) gefangen
genommen worden ist, sein Eigentum bis zu seiner Rückkehr aus der Gefangen¬
schaft bewahrt. — Das führt den Gesetzgeber darauf, daß er überhaupt die
Pachtung oder die zeitweilige Benützung oder Schädigung eines Grundstückes, Borg
und Verzinsung, Dcpositenwcsen und Schuldhaft regelt (Paragraph 42 — 126).
Höchst interessant ist dabei, daß die Schanklvirtschaften unter besonders strenge
Kontrolle gestellt sind. Denn es heißt z. B.: „Wenn eine Schänkwirtin (!) als
Preis für Getränke Getreide annimmt, und der Preis des Getränkes geringer
als der des Getreides ist, so soll man sie dessen überführen und ins Wasser
werfen" (Paragraph 108). — Eine fünfte Reihe von Abschnitten (Paragraph
127—177) bezieht sich auf die Ehe. den Ehebruch, das Familien- und das Erb-
recht und Kieles andre, was mit der Familie zusammenhängt. Z. B. ist verordnet,
daß eine Ehe nur dann besteht, wenn eine Heiratsurkunde aufgesetzt worden
ist (Paragraph 128). Über die vermögensrechtliche Beziehung der Ehegatten
ist folgendes bestimmt: „Wenn ein Weib, das im Hanse eines Mannes lebt,
ihren Mann sich hat verpflichten lassen, daß ein Gläubiger sie nicht mit Beschlag
belegen darf, und sich eine Urkunde darüber hat geben lassen- wem? jener Mann,
bevor er das Weib nahm, eine Schuld hatte, so darf der Gläubiger sich nicht
an die Frau halten" (Paragraph 151). Im Anschluß an diesen Abschnitt wird
von den erbrechtlichen Verhältnissen solcher Mädchen gehandelt, die sich entweder
einem Tempel geweiht hatten oder Buhldirnen geworden waren (Paragraph
178-182). Auch von Ziehkindern und Adoptierten ist im Anschluß um das
Familien- und das Erbrecht die Rede (Paragraph 183—194). Eine sechste Haupt-
gruppe von Gesetzen (Paragraph 195—227) betrifft das Verbrechen gegen
Leib und Leben, wie z. B. „wenn ein Arzt jemand eine schwere Wunde mit
dem Operationsinesser beibringt und ihn tötet, so soll man ihm die Hände ab¬
hauen" (Paragraph 218). Noch andre Reihen von Vorschriften regeln die
Haftpflicht des Baumeisters (Paragraph 228—233), oder des Schiffers (Para¬
graph 234- 240), des Mieters von Arbeitstieren, oder des Hirten (Paragraph
241—277), oder sie bestimmen endlich die Rückgängigmachung eines Kaufs,
wenn sich hinterher die schlechte Qualität des Kaufobjekts herausstellt (Para¬
graph 278—282).
Über die hohe Wichtigkeit dieses Gesetzeskodex kann niemand im Zweifel
sein. Sie erweckt das Interesse jedes Freundes der Kultnrgcschichtsforschung
und besonders die des Juristen. Ihre Ursprünglichkeit und ihre Eigentümlich¬
keit wird nun freilich erst durch ihre allseitige Vergleichung mit den andern
Gesetzesbestimmungen der antiken Welt festgestellt werden können. Ein Veitrag
zu ihrer geschichtlichen Würdigung kann aber schon jetzt im folgenden gegeben
werden.
Zunächst nach der Ursprünglichkeit der Gesetzgebung Hammurabis zu fragen,
ist weder dadurch, daß Hammurcibi über dem Anfange der Inschrift als vor
dem Sonnengotte stehend abgebildet wird, noch dadurch verboten, daß in der
Inschrift auf kein früheres Gesetz und kein zugrunde liegendes Gewohnheits¬
recht hingewiesen ist. Denn erstens wird diese Abbildung im Eingang der
Inschrift selbst als ein Veranschaulichungsmittel gedeutet, indem es heißt:
„Mich, Hammurcibi, den hohen Fürsten, der Gott fürchtet . . . haben Ann und
Bel berufen, damit ich wie Schamasch (der Sonnengott) über den schwarz-
köpfigen aufgehe, das Land erleuchte." Sodann ist am Schlüsse des Eingangs
Hcunmnrabi selbst als Urheber der Gesetze gemeint, denn es ist gesagt: „Als
Marduk die Menschen zu regieren, dem Lande Rechtsschutz zuteil werden zu
lassen, mich entsandte, da habe ich Recht und Gerechtigkeit . . . gemacht, das
Wohlbefinden der Untertanen geschaffen." Eine solche Einleitung von Gesetz¬
gebungsakten, wie sie den Gesetzen Hammurabis vorangeht, ist ja auch z. B. in
deu Gesetzen des Jndiers Manu zu finden/') und sie war jedenfalls natürlich,
da die Herrscherstellung leicht als ein Geschenk göttlicher Geschichtslenknng an¬
gesehen werden konnte. Zweitens entspricht der Umstand, daß in Hammurabis
Gesetzesinschrift keine Quellen zitiert sind, und daß auf keine vorher bestehenden
Rechtsgrundlagen hingewiesen ist, der Analogie andrer Gesetzbücher und ist in
der Natur der Sache begründet. Auch das Zwölftafelgesetz enthält ja keine
solchen Hinweise, und wenn solche gegeben worden waren, würden sie für die
Untertanen teils überflüssig gewesen sein, und teils würden sie die Autorität der
neuen Gesetzgebung abgeschwächt haben, so oft sich bei der Vergleichung des alten
und des neuen Rechts eine Verschärfung der Pflicht herausgestellt hätte.
Die Eigentümlichkeit von Hammurabis Gesctzeskodex wird am richtigsten
durch seine Vergleichung mit andern Gesetzsammlungen festgestellt, und das Licht
der komparativen Betrachtung wird um so intensiver sein, je mehr die mit ihm
verglichnen Gesetzsammlungen ihm an Alter, Heimat und Kulturboden nahestehn.
Aber gibt es denn solche Gesetzeskorpora, und wo kaun mau sie finden?
Man hat allerdings die sogenannten „Sumerischen Familiengesetze,"
also Bestimmungen über Familienrecht gefunden, die bei der vorsemitischeu
Bevölkerungsschicht des spätern Babyloniens galten (C. Bezold, Ninive und
Babylon, 1903, S. 119). Eine von diesen Bestimmungen lautet: „Wenn eine
Frau sich gegen ihren Mann vergeht und »Nicht bist du mein Mann« sagt,
soll man sie in den Fluß werfen," und die andern Bestimmungen sprechen ganz
analog vom Mann, Vater und Sohn, die das Eheweib, den Sohn oder den
Vater verleugnen wollen (Keilinschriftliche Bibliothek, Bd. IV, S. 4—7, 320 f.).
Man findet sie aber nicht in den Hammurabigesetzen. Doch betreffen sie, wie das
zitierte Beispiel zeigt, sehr extreme Falle, und diese können als selbstverständlich
äußerst strafbar in Hammurabis Gesetzeskodex unerwähnt geblieben sein.
Von außcrbabylonischen Gesetzsammlungen ferner eignet sich keine so sehr
zur Vergleichung mit Hammurabis Gesetzesinschrift, wie die altisraelitische Gesetz¬
gebung, und natürlich kommt da zunächst die älteste von den Schichten in
Betracht, aus denen sich nach dem fast allgemein geltenden wissenschaftlichen
Urteil die legislativen Partien des Pentateuchs aufgebaut haben. Diese älteste
Gesetzcsschicht sind „die zehn Worte," wie es dreimal im Pentatench heißt,
d. h. die zehn grundlegenden Prinzipien (2. Mos. 20, 2—17 ohne die Moti¬
vierungen), und — darüber ist noch weniger Streit — ihre nächste Ausge¬
staltung: das „Buudesbuch" (20, 22 bis 23, 33).
Welche verschiednen Bilder aber bieten sich dem vergleichenden Auge dar,
wenn es die beiden erwähnten Gesetzeskorpora in politischer und gesellschaft¬
licher Hinsicht betrachtet! Hammurabis Gesctzeskodex gewährt uns Einblick in
eine reichgegliedertc Monarchie. Dn ist von dem Könige, seinen kriegerischen
Unternehmungen und seineu Friedensaufgaben die Rede. Um den „Palast
oder Hof" (Paragraph 6), der in charakteristischer Weise schon damals den
Staat oder die Regierung bezeichnete, gruppieren sich Freigeborne (Paragraph
176, 203), Freigelassene (Paragraph 15 ?c.) und Sklaven (Paragraph 7 ze.),
Militürpersonen (Paragraph 26 ?c.) und Leute mit königlichen Lehen (Para¬
graph 40). Wir sehen im Gesetzbuch Hammurabis weiterhin einen hochentwickelten
Zustand des Ackerbaues, der Gartenkultur (Paragraph 27 ?e.) und des Ge-
werdes: nicht bloß Baumeister (Paragraph 228 ?c.), sondern auch Ärzte werden
erwähnt, und zwar auch „der Arzt der Rinder und Esel" (Paragraph 224 f.),
wie ja gewisse Zweige der Wissenschaft und der Kunst auch schon und gerade im
alten Vabylonien eine merkwürdige Höhe der Ausbildung hatten (vgl. den voll
mir neulich herausgegebnen Briefwechsel über „Bnbyloniens Kultur und Welt¬
geschichte"). Wir sehen in Hammurabis Gesetzen die Bevölkerung ferner von
lebhaftem Interesse für Handel und Verkehr überhaupt bewegt: daher die viele»
Vorschriften für Schiffvermietung und die eventuelle Kollision von „Frachtschiff
und Fährschiff" (Paragraph 240). Wieviel einfacher ist das Bild der staat¬
lichen und der sozialen Verhältnisse, das uns aus dem althebräischen Dekalog und
Bundesbuch entgegentritt! Israels Stämme, mit Stammfürsten an der Spitze
(2. Mos, 22, 27), bilden einen Freistaat, nur daß sein Gott als idealer König
mit seinein Gesetz und dessen fortdauernden Interpreten dem Volksgewissen als
oberste Autorität vorschwebt. Die Glieder dieses Gemeinwesens bestehn ans
Freien und Sklaven. Auch die Beschüftignngsarten des Volkes Israel, dem
das Bundesbuch vorgelegt wurde, sind verhältnismäßig einfach: Viehzucht,
Ackerbau und Weinbau (2. Mos. 22, 4) sind erwähnt, wenn natürlich auch
Handwerker zum Bau von Häusern und zur Herstellung andrer notwendigster
Bedürfnisse vorhanden gewesen sind. Gerade diese primitivere Art der poli¬
tischen Verhältnisse des — kurz gesagt mosaischen — Israels erklärt übrigens
eine Verschiedenheit des in Hammurabis Gesetzeskodex und im Bundesbuch
beschriebnen Strafvollzugs, die auf den ersten Blick sehr auffallend ist: das
Gesetz Hammnrabis kennt nicht die Verwaudteurache, die nach dem israelitischen
Gesetz bestand und — für unabsichtliche Tötung, also Totschlag — nur durch
den Schutz der Altarhörner und durch die Wahl von sechs Asylstädten gemildert
Wurde (2°Mos. 21, 12—14 ?c.>.
Welchen Unterschied ferner zeigen die beiden Gesetzeskvrpora, wenn man
ihre Beziehung zu dem, worin alle Menschenkultur schließlich gipfelt, zum
Religiösen in der Weltanschauung ins Ange faßt! Hammurabis legislative
Inschrift setzt den vielgestaltigsten Polytheismus voraus, denn sie nennt ja
gleich in den ersten drei Zeilen vier Götter (Ann, Bel, Ea und Mardnk),
geht aber sonst am Kultus der Götter stillschweigend vorüber, da das Verbot
des Tempcldiebstcihls (Paragraph 6) kaum hierher zu rechnen ist. Vollends
über religiöse Pflichten im engern Sinne, wie über Unterlassung von Götzen¬
dienst und Bilderdienst, lesen wir im Gesetzbuch des babylonischen Herrschers
nichts. Wie streng dagegen ist Verkennung der Einheit und der Geistigkeit Gottes
verpönt in 2. Mos. 20, 2 ff., 22 ff. ?e.! Auch die Zauberei ist vom Babylonier-
könig nicht verboten worden, obgleich das sowohl von Johns in rbs ZZxxositor^
1903, S. 238 als auch von I. Jeremias in seiner Broschüre über Moses
und Hammurabi 1903, S. 40 behauptet worden ist. Beide beziehn sich da
auf Paragraph 1 f.: „Wenn jemand einen andern umstrickt, einen Bann ans
ihn wirft, es aber nicht beweisen kann, so soll der, welcher ihn umstrickt
hat, getötet werdeu." Aber das ist nur gegen eine unbegründete Beschuldigung
gerichtet, die unter Anwendung von zauberischen Formeln ausgesprochen worden
war. Noch weniger deutlich ist ein Verbot der Zauberei an sich in Paragraph 2
ausgesprochen, wo erst von bloßer Verdächtigung die Rede ist, dann erst hinter¬
her der Verdächtigende als ein „Umstricker" bezeichnet wird und — was den
beiden Gelehrten ganz entgangen ist — eine Belohnung erhält, falls seine
Beschuldigung als wahr erwiesen wird, Hainmurabis Gesetze sind weit davon
entfernt, einen so klaren Satz gegen Zauberei zu enthalten, wie der folgende
ist: „Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen!" (2. Mos. 22, 17), Mein
Urteil über Hammurabis Neutralität gegenüber dem Aberglauben wird noch
dadurch gestützt, daß er das Gottesurteil mehrmals als ein giltiges Mittel der
Nechtsfeststellung zuläßt, wie folgende Worte zeigen: „Wenn jemand eine Ver¬
dächtigung gegen eiuen andern ausstreut und der, gegen den die Verdächtigung
ausgestreut ist, zum Flusse geht und in den Fluß springt: so soll, wenn der
Fluß ihn fortrafft, der, welcher ihn umstrickt hat, sein Haus in Besitz nehmen"
(Paragraph 2; ebenso Paragraph 132),
Fassen wir aber bei der Vergleichung der Hammurabigesetze und der
ältesten legislativen Pentateuchschicht nun endlich die Partien ins Auge, die
sich auf dieselben Materien beziehn!
Gewiß fehlt es dn nicht an Füllen wirklicher Gleichheit. Denn in den
Gesetzen Hammurabis heißt es: „Wenn jemand einem andern das Auge zerstört,
so soll man ihm sein Auge zerstören" (Paragraph 196), oder „wenn er einem
andern einen Knochen zerbricht, so soll man ihm seinen Knochen zerbrechen"
(Paragraph 197), und „wenn jemand die Zähne von einem andern seinesgleichen
nusschlägt, so soll man seine Zähne ausschlagen" (Paragraph 200). Wer er¬
innert sich da nicht um die bekannte Formulierung des ins ouvris „Auge um
Auge, Zahn um Zahn ?c." (2. Mos. 21, 24)? Dieses Zusammentreffen des alt-
babylonischen und des althebräischen Gesetzes im Vergeltungsrecht erklärt sich
natürlich aus der den beiden Menschenkreisen gemeinsamen antiken Anschauungs¬
weise lind aus der knappen, gleichsam intransigenten Formulierung dieses Ver¬
geltungsprinzips. Dieser Anlaß ist hinzunehmen, weil es solche wirklich gleiche
Rechtsbestimmungen in deu beiden verglichnen Gesetzeskorpvra nicht weiter gibt,
wie gegen Jeremias (a. a. O., S. 40) bemerkt werden muß. Nicht einmal
Paragraph 22: „Wenn jemand Raub begeht und ergriffen wird, so wird er
getötet" ist gleich mit 2. Mos. 22, 1: „Wenn ein Dieb beim (nächtlichen) Ein¬
bruch ertappt und erschlagen wird, sodaß er davon stirbt, so erwächst daraus
keine Blutschuld," Bloße „Anklänge" von Kodex Hammurabi und Bundesbuch
erklären sich aber noch viel leichter, als ihr oben erwähntes wirkliches Zusammen¬
treffen im ius tiilicmis, aus der ähnlichen Kulturstufe der Völkerschaften, denen
die beiden Gesetzsammlungen dienen sollten.
An andern Punkten weichen das babylonische und das hebräische Gesetzes¬
korpus in ihren Bestimmungen über dieselbe Materie voneinander ab.
Z, V. ist in Hammurabis Gesetzen zwar davon die Rede, daß jemand das
Auge von jemandes Sklaven zerstört, und es ist verordnet, daß er denn die
Hälfte des Preises, den der verletzte fremde Sklave wert ist, zahlen soll (Para¬
graph 199); aber davon, daß der eigne Besitzer eines Sklaven diesen durch
harte Züchtigung verwunden kann und dann dafür bestraft werden soll, ist in
dem babylonischen Gesetz nichts erwähnt. Dagegen in 2. Mos. 21, 26 steht:
„Schlägt einer seinen Sklaven ins Auge, daß dieses verloren geht, so soll er
ihn für sein Ange freilassen."
Überhaupt fehlen in den Gesetzen Hainmurabis solche humanitäre Be¬
stimmungen, wie sie in dem verglichnen althebräischen Gesetzbuch aufs nach¬
drücklichste zugunsten der Witwen, der Waisen, der gedrückten Volksklassen
überhaupt und der Fremdlinge eingeschärft werden (2. Mos. 21, 20, 26 f.; 22,
20ff. 25f.; 23, 3. 6). Andrerseits wird, um mir noch einen Punkt hervorzu¬
heben, über die Erbrechtsverhältnisse von Buhldirnen in Hammurabis Gesetzbuch
so gesprochen (Paragraph 178—182), daß man sich über die Gleichgiltigkeit
wundern muß, mit der ein solcher Abgrund der sittlichen Verirrung behandelt
wird. Man denkt dabei an jenes „schändlichste von den Gesetzen der Bciby-
lonier" (Herodot 1, 199), nämlich daß jedes weibliche Wesen sich einmal im
Leben beim Tempel der Vellt Blut oder Mylitta) einem Fremden preis¬
geben mußte. Welcher Abscheu vor solcher Unzucht spricht sich dagegen im
Alten Testamente aus (1. Mos. 34, 31; 3. Mos. 19, 29 ?c.)!
So könnte ich noch manches zur vergleichenden Würdigung der altbaby¬
lonischen Gesetzesinschrift sagen. Doch meine ich, schon im vorstehenden die kultur¬
geschichtliche Stellung des Hmnmurabi-Kodex hinreichend beleuchtet zu haben.
>s war Sonntagmorgen.
Glockengeläute erfüllte die stille, warme Sommerluft, Christenee
ging zur Hochmesse in die Se. Olaikirche, die Hände über das große,
schwarze Gesangbuch gefaltet, und unten auf der Straße wimmelte
es von geputzten Kirchgängern.
Dann wurde alles still, nach einer Weile aber bremsten die Orgel¬
töne aus der alten Klosterkirche, wo Gottesdienst für Deutsche und Holländer gehalten
wurde, zu den offnen Fenstern herein — Will hatte eine Weile das Gefühl, als
säße er selber in der Kirche und halte Andacht.
Aber die Andacht währte nicht lange. Unten aus dem Kreuzgang her er¬
ichollen lautes Lachen und eine kräftige Stimme; man vernahm Schritte auf der
Treppe, die Tür wurde aufgerissen — es waren William Kemv und Thomas Bull,
dre kamen, um sich nach ihrem Kameraden umzusehen.
Sie hatten viel zu erzählen — namentlich Kemv —, und vor allem natürlich
von ihren eignen Leistungen.
Täglich agierten sie — in der Regel nach der Tafel — vor dem König und
den sämtlichen Höflingen, oben auf Kronborg, und das Schloß selbst mit den
«°>n^w Nügeln und Bastionen, das auf einem ganzen Netz von unterirdischen
Wölbungen und geheimen Gängen ruhe, sei schon allein die Reise wert, sagten sie.
^en Rittersaal mit der künstlich getäfelten Decke, mit dem Thronsessel und allen
^ en köstlichen, gewebten Tapeten konnten sie nicht genug rühmen, und über Mangel
Beifall hatten sie sich auch nicht zu beklagen: der König selber hatte gestern
Verlangt, beiß Kemp seinen Narrentanz noch einmal aufführen sollte, er hatte herz¬
lich gelacht, als Bryan und Pope die Szene zwischen dem Apotheker und dem
Ablaßhändler spielten, und er hatte seiner Zufriedenheit hörbar Ausdruck ver¬
liehen, als Kemp und Bull die Vorstellung mit einem lustigen Jig beschlossen.
Das ist ein König, dem es sich zu dienen verlohnt, sagte er. Er trinkt roten
Wein und weißen Wein um die Wette mit jedem von seinen guten Untertanen,
und neben der natürlichen Majestät, die über seiner ganzen Persönlichkeit ausge¬
breitet liegt, hat er etwas so Mildes, daß man in Versuchung geraten könnte, ihn
für seinesgleichen zu halten.
Jetzt kam Jver Kramme ans der Küche und setzte sich gleich zu den Fremden.
Er schien sehr erpicht, mit ihnen in Unterhaltung zu kommen, und schickte eiligst
Jens Turbo ab, eine Kanne Sekt aus dem Ratskeller zu holen, ermahnte ihn
aber ernstlich, unterwegs nicht aus der Kanne zu nippen.
Der gute Sekt machte sie alle bald lustig, aber Kemp führte doch beständig
das Wort, und nur mit Mühe gelang es Jver Kramme endlich, zu erzählen, wie
auch er einstmals agiert hatte, nämlich in „David und Goliath" im Kopenhagner
Schloß.
Das ist ein herrlicher Wein, sagte Will. Wein ist ein gutes, geselliges Ding,
er löst das Zungenband und macht die Leute ehrlich.
Jetzt begann Kemp, Helsingör zu preisen, und gestand offen, daß er nicht ein¬
mal daheim in Old-England besseres getrunken habe als hier.
Sekt und rheinischer Wein, Romane und Malvasier, sagte er, alles wird ja
übers Meer hierhergebracht — Helsingör ist eine Perle von einer Stadt!
Dies veranlaßte Jver Kramme zu erzählen, wie Sören Norbye seinerzeit auf
Kaiser Caroli Quinti Frage, ob es auch Weinberge in Dänemark gäbe, geantwortet
habe: Ja, einen, Helsingör. Und dies gab ganz natürlich Anlaß, daß man der
großen Kanne noch fleißiger zusprach, sodaß Kemp ganz ausgelassen wurde und ein
Lied sang, das gerade nicht danach angetan war, von Jungfrauenvhren gehört zu
werden. Bull verhielt sich schweigsamer, er saß da und versank zuweilen in seine
Gedanken und war weit weg.
Endlich brachen die Gäste auf — sie mußten sich noch vorbereiten, weil sie
heute Abend agieren sollten —, aber Jver Kramme blieb noch eine Weile bei Will
sitzen; er war sehr redselig geworden.
Zuerst sprach er darüber, wie schwierig es sein müsse, immer neue Szenen
zu schaffen, die dem Könige vorgespielt werden konnten, dann redete er von Wilts
beiden Kameraden; Kemp gefiel ihm am besten, der müsse offenbar ein großer
Schauspieler sein.
Ja, ein drolliger Clowu sei er, räumte Will ein, aber kein richtiger Schau¬
spieler; denn auch wenn er seine Rolle perfekt wisse, halte er sich niemals an das,
was geschrieben stehe, sondern füge von seinem Eignen hinzu. Und das ist ganz
unerlaubt, sagte Will. Nein, er schätze überhaupt Bull weit mehr, sowohl als
Musikanten wie auch als Freund; aber es müsse irgend etwas sein, was Bull zur
Zeit bedrücke, denn so still und einsilbig wie heute Pflege er sonst nicht zu sein.
Allmählich wurde Jver Kramme schläfrig, und obwohl es seine Absicht ge¬
wesen war, noch einmal nach der Schiffbrücke hinunter zu schlendern und zu sehen,
ob das große indische Schiff heute die Anker gelichtet und seinen Kurs nach Süden
genommen habe, blieb er doch daheim.
Es ist jetzt zu spät am Nachmittag und zu heiß, sagte er entschuldigend. Die
Nachmittage sind die xostLriora, des Tages, und die xostsrior» sind gemeiniglich
warm aus diesem oder aus jenem Grunde — deswegen bleibe ich daheim.
Und dann legte er sich auf die Bettbank und schlief bald ein — er schnarchte laut.
Nach einer Weile vernahm man schwere Tritte auf der Treppe, Keuchen und
Stöhnen; die Tür wurde aufgerissen, und in der Öffnung erschien eine Gestalt,
die Will bisher noch nicht gesehen hatte.
- Es war ein bejahrter Mann, groß und sehr stark, mit einem Bauch, den zu
tragen die Beine zu dünn erschienen. Das Gesicht war rat und aufgedunsen, die
Angen klein, der Bart rot, mit grauen Haaren gemischt. Seine Kleidung war ab¬
getragen, die Schuhe, in denen die auffallend großen Füße steckten, waren an den
Schnauzen durchlöchert, und durchlöchert war auch die Lederscheide um den mächtigen
Degen, der hinter ihm dretnschleppte, wenn nicht seine Hand auf dem Knäufe lag.
Jver Kramme fuhr aus dem Schlafe auf und rieb sich die Augen.
Jver, Jver, begann der Fremde mit tiefer, ein wenig belegter Stimme, du
bist ja berauscht! Ich rieche Sekt im Hanse — nein, besudle deine Lippen nicht
mit einer Lüge, denn ich habe selber von meiner armseligen Tür aus gesehen, daß
dieser vermaledeite Spitzbube, Jens, vorhin die Se. Anncistraße mit einer großen
Kanne heraufgelaufen kam, die er hier herein ins Kloster trug. Jver, Jver, du mein
heißgeliebter Brudersohn, du mein einziger Anverwandter, der du da sitzest und
spanischen Wein mit fremden Mannsleuten trinkst, wahrend ich dürsten muß wie
der reiche Mann im Evangelium!
Jver Kramme hatte jetzt den Schlaf aus den Augen gerieben und beeilte sich
zu sagen:
Setzt Euch, Oheim! Geht es Euch gut?
Ja, ich bin soweit gesund und munter, lautete die Antwort, aber mein Geld¬
beutel hat all meine Krankheit auf sich geladen. Bier kann ich nicht gut vertragen,
ausgenommen Braunschweiger Mumme, und davon will mir die Bierfran nichts
mehr auf Borg geben — der Satan zerfetze ihr die Gedärme! Ich muß mich an
Werkeltagen mit sauerm Dünnbier und an Festtagen mit einem Becher Krätzer be¬
gnüge», obwohl mir das Seele und Leber mit Feuer und Schwefel anfüllt. —
Ist denn all der Sekt, den du hast holen lassen, ausgetrunken?
Es wird wohl noch zu einem frischen Krug langen, antwortete Jver mit
einem Seufzer, ging in die Speisekammer hinaus und gab Christenee Auftrag, noch¬
mals nach dem Ratskeller zu schicken.
Jver, Jver, du bist dein seliger Vater — Gott sei ihm gnädig in seinem
hohen Himmel —, wie er leibte und lebte! Auch er bewies mir immer große
Freigebigkeit und konnte mich nie zur Tür hereinkommen sehen, ohne daß er gleich
das Beste aufsetzte! — Ist das der englische Musikant, den du ins Haus ge¬
nommen hast?
Jver Kramme, der Will ganz vergessen hatte, stellte diesem jetzt seinen Oheim
Herrn Johann vor, und Herr Johann begann gleich, ihn auf Englisch an¬
zureden.
Ihr sprecht auch Englisch? fragte Will.
Ich spreche alle Sprachen: Dänisch und Englisch, Moskowitisch, schwedisch
und Deutsch! antwortete Herr Johann.
Dann seid Ihr viel gereist?
Ich? Ich habe die halbe Welt gesehen! Ich habe mich zu Lande wie zu
Wasser in Seiner Königlichen Majestät Dienst gebrauchen lassen, und wer immer
allen voran war, das waren mein Degen und ich — der ist denn auch zackig wie
em Sägeblatt! Ich war in Dithmarschen mit dabei, als wir Meldorf und Heide
verarmten, und ich habe das Mittelländische Meer befahren, im Sturm wie bei
ruhigem Wetter, bis hinab an das Land der Mohren, südlich von der Türkei,
sollte ich nur die Hälfte von dem erzählen, was ich erlebt habe, und dazwischen
wuner einen Schluck trinken, daß mir mein Hals nicht zu trocken würde — drei
Kannen würden nicht reichen, nicht einmal ein Anker! — Ob wohl dieser Sekt bald
kommt? So viel ich weiß, sollte er doch nicht von den Kanarischen Inseln geholt
werden!
Nach einer Weile tum Christenee mit einem Kruge herein; der Oheim wollte
sie auf seinen Schoß ziehen, aber sie entwand sich seinen Armen und ging schnell
wieder hinaus.
Das tat gut! sagte Herr Johann und schmatzte mit den Lippen, als er den
ersten Becher in einem Zuge geleert hatte. Es ist wie Medizin sür mich, die reine
Medizin! All das Saugen und all der Druck vor der Herzgrube ist wie weg¬
geblasen. Nur schade, daß diese Medizin für meinen eignen armseligen Geldbeutel
zu teuer ist!
Und dann streckte er die Beine gespreizt von sich und lehnte sich in den Stuhl
zurück.
Will lächelte hin und wieder über Herrn Johanns Englisch, das gerade nicht
korrekt war, und schien sich überhaupt über seiue Rede» zu ergötzen; er selber
sagte nicht viel, warf nur hin und wieder, wenn die Unterhaltung ins Stocken zu
geraten drohte, eine Frage dazwischen.
Und je mehr der Wein schwand, um so mehr prahlte Herr Johann. Haupt¬
sächlich erzählte er von seinen Kriegstaten; wie er bei Laholm unter Herrn Peter
Straus eignen Augen gekämpft, und wie er vor Meldvrf fünf — oder waren
es gar sechs? — das Gedächtnis ließ ihn zuweilen im Stich — umgebracht hatte,
sechs Dithmarschen mit eigner Hand! Und die Dithmarschen waren alle so groß wie
die Moskowiter, und sie verstanden sich ans die Kunst, sich fest zu machen gegen
Stahl und Blei, sodaß es kein gewöhnliches Abschlachten war.
Plötzlich jedoch überkam Herrn Johann eine elegische Stimmung.
Jver, Jver, sagte er mit weinerlicher Stimme, daß du, an den ich in den
Tagen meines Wohlstands so viel, viel Geld verwandt habe, als dein Vater Euch
hinterlassen hatte, daß du ein so bocksbärtiger, verkrüppelter Schulmeister geworden
bist und kein Kriegsmann! Du siehst aus wie ein im Winde getrockneter Hering
ohne Rogen, Jver — ja, das tust du —, und du gleichst auch aufs Haar einer
zerzausten Krähe, die sich mausert! Das kommt daher, daß dn den Bakel führst
statt eines ehrlichen Degens, Jver, und daß du nie in einer Bataille gewesen
bist — pfui der Schande, Jver!
Ich habe mich auch als ein braver Streiter vor Herrn Peter Straus Augen
gezeigt, wandte Jver Kramme bescheiden ein, und dabei hat es auch zerbrochne
Schädel wie blutige Wunden gegeben!
Du? — Wo war denn das?
Das war auf dem Kopenhagner Schloß, als wir „David und Goliath" agierten,
beeilte sich Jver Kramme zu antworten; und ich war einer von den gewöhnlichen
Juden.
Mummenschanz! rief Herr Johann verächtlich. Ja, darauf bist du immer
ganz besessen gewesen. Komödienspiel von Tobias und Susanne und den heiligen
drei Königen — nicht eine Kanne, nicht einen Krug gebe ich für solche Torheiten!
Wäre es noch eine richtige Fechtschule oder eine ehrliche Bärenhatz gewesen, wie
ich deren so viele in England gesehen habe, das ist doch ein Schauspiel, das sich
des Sehens verlohnt! — Guter Tropfen!
Aber je mehr Herr Johann trank, um so melancholischer wurde er — schlie߬
lich weinte er.
Niemand sorgt für mich alten abgelebten Kriegsmann, schluchzte er; ich habe
keine Sohlen an den Schuhen und keinen Heller in der Tasche, und das bißchen,
was man hat, das stehlen sie einem noch. Ich bin wie der arme Mann im Evan¬
gelium, der nur ein Lamm hatte: ich habe nur einen armseligen Kirschbaum —-
und den plündern sie, ich habe die Spuren unter dem Baume gesehen. Wüßte
ich nur, wer der sackermentische Erzspitzbube ist, der sich in meinen Garten schleicht,
ich wollte ihn auf meinen Degen spießen wie einen Frosch auf dem Reiher¬
schnabel! — Ach, Jver, Jver, ich habe auch zuweilen harte Anfechtungen! Man
hat ja nicht immer gelebt, wie man sollte; alle die Menschen, denen ich in Kriegs¬
zeiten zu Wasser und zu Lande den Garaus gemacht habe, die stehn oft in der
Nacht dicht vor meinem Bette und fordern ihr Leben von mir; und tolle, schwarze
Hunde sehe ich vor meiner Tür stehn, wenn ich des Abends nach Hause komme —
Hunde kann ich nicht leiden! Jver, Jver, ich bin ja nnr ein Kind der Finsternis:
ich weiß nicht mehr, wie eine Kirche von innen aussieht! Aber versprich mir
trotzdem, daß wenn dein alter, ehrlicher Oheim gestorben ist — gestorben in
Armut, wie er gelebt hat —, daß du dafür sorgen willst, daß er zur Erde be¬
stattet wird, wie es sich für einen Kriegsmann geziemt: die Schüler sollen an
meiner Gruft singen — Jens Turbo anch, denn er hat eine gute, starke
Stimme, der Schelm —, die Glocken sollen läuten, von Se. Olai wie von
Se. Marien — eine ganze Stunde —, und mein Degen soll auf demi Sargdeckel
liegen. —
Es war allmählich dämmrig geworden in der Kammer, der spanische Wein
war längst ausgetrunken, und Herr Johann sank tiefer und tiefer in den Stuhl
hinab; hin und wieder weinte er, hin und wieder fluchte er und sang eine Strophe
aus einem unflätigen Liede — schließlich sank der Kopf auf die Brust hinab, und
er schlief ein.
Nicht ohne Mühe gelang es Jver Krumme, ihn zu wecken; er nahm ihn unter
den Arm, lotste ihn die Treppe hinunter, über die Straße und nach Hause.
Als er zurückkam, schüttelte er den Kopf und sagte seufzend zu Will:
Ihr könnt mir glauben, es ist ein großes Kreuz mit meinem Oheim, und es
geht im Laufe des Jahres eine gute Menge Taler drauf, ihn mit Sekt und Mumme
zu füllen!
Aber seid Ihr denn gezwungen, ihn zu füllen? fragte Will.
Es ist meines seligen Vaters einziger Bruder, antwortete Jver Krumme, und
außerdem — hier sah er sich vorsichtig um, als fürchte er, daß ihn jemand hören
könne —, außerdem hat er Mittel, obgleich er immer klagt; woher er sie hat,
weiß man nicht recht — er hat sie wohl in Kriegszeiten erworben —, aber
Christenee und ich haben die Aussicht und das stillschweigende Versprechen, seinen
irdischen Nachlaß zu erben. Es darf auch nicht vergessen werden, daß als mein
Vater so elendiglich ums Leben kam, mein guter Oheim Johann es war, der mich
studieren ließ, zuerst hier in der Heimat und dann in Wittenberg. Aber ein großes
Kreuz ist es, ihn hier so in der Nähe wohnen zu haben. — Ich wünsche eine
geruhige Nacht!
Es war am Johannistage.
^ Die Schüler hatten frei und tummelten sich im Grünen Garten und am Strande.
Jver Krumme ging am Vormittag und am Nachmittag aus, um Neuigkeiten ein¬
zuheimsen, niemand kam zu Besuch, weder Jens Turbo, Meister Hans noch Herr
Johann, und Will saß mißmutig am Fenster, spielte hin und wieder auf seiner
Laute und summte einen Vers aus dem alten Liede von Robim Hood, hörte aber
bald wieder auf.
Auch Christenee war eine Weile ausgegangen und kam erst gegen Nachmittag
wieder nach Hause.
Sie brachte einen großen Strauß wilder Blumen mit und verteilte sie rings-
uncher in Krüge und Becher, aber ein Paar grüne Schosse nahm sie heraus und
stellte sie auf das Bort zwischen deu Fenstern.
Warum tut Ihr das. Jungfer? fragte Will.
^ Das sind Johanniskräuter, antwortete sie. Grünen sie weiter, so lebe ich das
^ahr aus. welken sie, so bin ich bis zum nächsten Johannistag tot.
Dann werden sie sicher grünen, meinte Will.
Gegen Abend kam Jver Krumme nach Hause und berichtete nach seiner Ge¬
wohnheit getreu, was für Neuigkeiten er erfragt hatte. Da waren sichere Nach¬
richten, leider, daß eine Flotte ans den Niederlanden in See gegangen und hierher
miterwegs sei, um den Beschwerden über die Erhebung des Sundzolls größern
^achdruck zu verleihen. Ein junger Bursche hatte in der Nacht im Rausch einen
ver Stadtknechte getötet und saß nun in schweren Ketten in festem Gewahrsam.
Seine Majestät der König wollte aufbrechen und nach Frederiksborg ziehen und
sich dort mit der Jagd verlustiereu.
Ja, die Jagd ist ein königliches Vergnügen, sagte Will. Die Spur des
Hirsches im grünen Walde zu erspähen und ihm das tötende Blei nachzusenden,
sodaß er am Fuß der Eiche niederstürzt — ich kenne keine größere Lust!
Aber die Jagd ist doch nur für hochkönigliche Personen und sür die Lehns¬
männer, denen der allergnädigste König Erlaubnis erteilt, auf seinen Wildbahnen
zu jagen! rief Jver Krumme ganz erschrocken. Habt Ihr denn jemals —
Nur ein oder zwei mal, antwortete Will ausweichend. Und Ihr könnt Euch
beruhigen: ich werde nicht wieder jagen.
In der Kammer nach dem Hofe hinaus saß Christeuee und spann an ihrem
Rocken; die Tür zu deu andern stand offen.
Jver Kramme begann nun über sein Lieblingsthema, Komödienspiel, zu reden.
Über die englischen Musikanten, die den König nun wohl nach Frederiksborg be¬
gleiten würden, wie schwer es ihnen doch gewiß werden müsse, immer etwas Neues
zu finden, womit sie aufwarten könnten, und dergleichen mehr.
Will erwiderte nichts besondres hierauf, seine Gedanken schweiften weit ab.
Nach einer Weile kam es denn heraus, daß Jver Krumme eine Komödie
liegen habe — eine sonderlich moralische Komödie — vou Kain und Abel, und
er war nicht abgeneigt, deu Gang ihrer Handlung zu erzähle». Er begann denn
auch wirklich — mit Kain und Abels erster Kindheit —, Christence aber hatte
inzwischen angefangen am Rocken zu singen, erst leise, eigentlich nur summend, all¬
mählich lauter, rein und volltönend.
Haltet doch inne mit Sprechen, so lange Eure Schwester singt! bat Will. Sie
hat ja eine herrliche Stimme! — Und eine schöne Melodie ist es auch, sagte er
nach einer Weile. Sie umsäuselt das Ohr- wie ein saufter Abendwind, der über
ein Veilchenbect hinstreicht, während der Mondschein ans deu Rasenflächen schläft.
Seid Ihr ein Liebhaber von Musik?
Ob ich die Musik liebe! Ihr könntet ebensogut fragen, ob ich Frnnen liebe
oder überhaupt was schön ist! Wer keine Musik in der Seele hat, wen Töne
nicht zu rühren vermögen, in dessen Herzen wohnt Falschheit und Verrat.
Ist das wirklich Eure Meinung?
Ja, sicher!
Ich mache mir aber weder viel aus Instrumental- noch aus Vokalmusik, be¬
merkte Jver Kramme. Der schönste Wohllaut, den ich kenne, ist korrektes Latein,
fließend gesprochen, wittere ich aber ein schlechtes Latein, so setzt es sich mir in die
Nase und nimmt mir die Luft.
Christence hatte innegehalten mit dem Singen, nicht weil das Lied zu Eude
war, sondern weil sie aufstehn mußte, um neuen Flachs um den Kopf der Spindel
zu winden.
Wie schön Eure Schwester singt! sagte Will. Es geht zu Herzen, wenn ich
auch die Worte nicht verstehe — wovon handelt das Lied?
Es ist ein altes Lied von Ritter Stig Holde, antwortete Jver Kramme gleich-
giltig; es handelt von dem Ritter, der Runen ritzt und sie Klein Kirstin in den
Schoß werfen will, um sich dadurch ihre Liebe zu erzwingen; aber er trifft
fehl, sodaß die Runen Fräulein Negisse in den Schoß fallen, und so wird sie
von Liebe zu ihm erfüllt. — Das Ganze ist nichts als ein häßlicher Papistischer
Aberglaube!
Aber das ist doch ein wundervolles Lied, unterbrach ihn Will. Die Runen,
die er ritzt, die bedeuten doch Verse, Poesie, und die Macht der Poesie ist ohne
Grenzen, sie kommt wie ein brausendes Wetter, wie ein Feuer vom Himmel, das
zündet, wohin es fällt. Deswegen ist es auch das Höchste, das Größte, Poetisches
zu schaffen — Runen zu ritzen, die Herz und Sinn bezwingen.
Ich schreibe doch auch Verse, bemerkte Jver Kramme, aber ich habe nie an
dergleichen gedacht. Verse zu schreiben ist für mich gleichbedeutend mit der Aus¬
übung der Rechenkunst: man muß Silbe zu Silbe addieren, bis man die Summa
der psclos hat, die der Vers braucht.
Welch tiefer Sinn darin liegt! fuhr Will halb für sich fort, ohne ans Jver
Krammes populäre Metrik zu achten. Der Ritter will die eine mit seinen Runen
fesseln, aber sie fallen in den Schoß der andern, und da ist sie gebunden: der
Poet ist selbst nicht Herr der Mächte, die er wnchrnft! — Jungfer Christenee, singt
das Lied noch einmal, Ihr erfreut mich dadurch I
Und Christeuee sang alle Verse, uoch besser, inniger als vorher, und an jenem
Abend mußte Will zugestehn, daß Christeuee die Seele nicht fehle.
Will erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh.
Er hatte unruhig geschlafen, hatte von den Runen geträumt, die der Un¬
rechte» in den Schoß fielen — die im Grunde doch die Rechte war — und sie
mit der ganzen, unbegrenzten Macht der Poesie gefangen nahmen.
Bei ihm drinnen war es noch ganz dunkel — alles war dicht verhängt —,
aber es mußte doch wohl Heller, lichter Tag sein, denn die kleine Kammer uebeunn
— Christences Schlafstube, zu der die Tür halb aufgesprungen war — durch¬
strömte ein schmaler, scharfer Streif goldnen Sonnenscheins, der durch eine Öffnung
zwischen deu Fensterläden fiel.
Will lag mit halbgeöffneten Augen da, ganz still, noch vom Hnlbschlnmmer
umfangen. Da aber wurde ihm ein Anblick, der ihn völlig wach machte.
Christenee stand mit halbentblößten Oberkörper da und kämmte ihr langes
blondes Haar. Er erkannte nur die Umrisse ihrer Gestalt im Dunkel, was aber
in den Sounenstreif hiueiugeriet, das flammte und schimmerte, als sei es das
Licht selbst.
Bald war es ihr Arm, der einen Augenblick in keckem, rhythmischem Bogen über
den Kopf erhoben, den nächsten gesenkt, gestreckt wurde, als werde er matt, willenlos;
bald war es die weich abfallende runde Schulter mit schwach blauenden Adern in
lebendem Marmor, und zuletzt — sie machte eine Bewegung, die Leinwand glitt
herab — zuletzt war es ihr junger Busen selbst, der deu Kuß der Sonne auffing,
weiß wie die schwellende Brust eines Schwans, weißer als alles, was es gab.
Aber war es ein Tropfen Blut, der das gewölbte Heiligtum der linken Brust
färbte? — Nein, ein Muttermal war es, ein kleiner, runder Purpurfleck, röter,
viel röter als Blut, das auf frischgefnllnen Schnee getropft ist.
Will wagte kaum zu atmen, aus Furcht, deu Anblick zu verscherzen, plötzlich
aber war es, als ahne sie, daß Augen auf ihr ruhten: sie glitt hinter die Tür,
spähte zu ihm hinein und beruhigte sich dann, als sie ihn liegen sah, als schlafe er;
aber die Tür zog sie doch leise zu und schloß sie zwischen ihnen.
Es war wie Musik in der Kammer um Will, wie himmlische Geigen und
Flöten.
Jetzt hatte Christeuee in seinen Augen beides, Seele und Leib.
Eigentümlich glücklich, fast feierlich fühlte er sich den ganzen Morgen, als
habe er eine Offenbarung empfangen, eine Schönheitsoffenbarung; er hatte gesehen,
was kein Mann vor ihm geschaut hatte, er hatte ein Geheimnis, dessen Süße darin
bestand, daß er es mit niemand teilte.
Im Laufe des Tages kam Bull; er hatte etwas, was er Will durchaus an¬
vertrauen mußte. Die Witwe Clayton, bei der er wohnte, hatte eine Tochter
Elisabeth, die für sich in der Stadt lebte, und für die war er schon das erstemal,
»is er hier in der Stadt gewesen war, in heftiger Liebe entbrannt; sie sollte, sie
mußte die Seine werden, und sie hatte ihm auch früher gesagt und mit heiligem
Eide bekräftigt, daß er ihr lieber sei als irgend ein andrer. Aber während er
daheim in London gewesen war, hatte sie sich mit einem hier ansässigen Lands¬
mann namens Boltum verlobt — die Pest verderbe ihn —, und die Mutter wollte
nicht, daß diese Verbindung aufgehoben werde, und ob Elisabeth selber es wünsche,
das wußte er auch nicht recht.
Will meinte, Bull müsse ein jämmerlicher Kerl sein, wenn er nicht im¬
stande sei, einen Helsingörer Krämer auszustechen, anch wenn dieser ein englischer
Mann sei.
Ja, Bull hoffte natürlich auch, daß er das könne, aber er war doch ganz
verzweifelt bei dein Gedanken, daß er jetzt mit dem König nach Frederiksborg
gehn und vielleicht mehrere Wochen dort bleiben sollte.
Wenn ich doch an deiner Stelle wäre! sagte Will. Ich sitze hier wie ein
gefesselter Gefangner — Dänemark ist mir zum Gefängnis geworden.
Und für mich gibt es keine Welt außer Helsingör! entgegnete Bull traurig.
Nach eiuer Weile ging er wieder.
Kennt Ihr Elisabeth Clciyton? fragte Will Jver Kramme am Abend.
Elscibe Engelländerin? Nein, nur von Ansehen — sie gehört nicht zu den
Frauen, mit denen ein ehrbarer Mann Umgang pflegt!
Elsabe — bedeutet das Elisabeth in Eurer Sprache?
Ja, so nennen wir sie.
Elisabeth, der Name meiner Königin — es ist der schönste von allen
Namen!
Findet Ihr das? fragte Christence lächelnd. Ich heiße übrigens auch Elisa¬
beth — Christence Elisabeth bin ich getauft worden.
Dann sollt Ihr in meinem Munde Elisabeth heißen, Jungfer — Ihr ver¬
dient den schönsten Namen!
Will saß eine kleine Weile schweigend da und sandte von der Seite einen
Blick zu Christenee hinüber; sie fühlte es, ohne es zu sehen, errötete und holte
den Rocken hervor.
Da überkam es Will plötzlich wie eine Eingebung, sie zu fragen, ob sie jemals
geliebt habe, aber als er die Frage schon auf den Lippen hatte, brach er doch ab
und sagte statt dessen zu Jver Kramme:
Ihr seid nicht verheiratet und uicht verlobt — hat Euch die Liebe noch nie
erfaßt?
Jver Kramme, der da saß und an den Schluß seines „Krim und Abel" dachte,
erschrak sehr über die unvermutete Frage und antwortete zögernd!
Anfangs haben meine Studien und dann mein Amt mir nicht erlaubt, sonder¬
lich an dergleichen zu denken. — Übrigens kenne ich eine Witwe hier tu der Stadt,
fuhr er flüsternd fort, eine tugendsame und gottesfürchtige Frau, wohl konserviert
und nicht ohne Mittel — Jochum Haufens Wittib, und wenn ich einmal Christence
von den Händen habe, so kann es wohl sein, daß ich mich entschließe, meinen ein¬
samen Stand aufzugeben.
Will lachte. Wie alt seid Ihr eigentlich?
Ich werde sechsundzwanzig Jahre, wenn mich Gott den nächsten Michaelistag
erleben läßt.
Man sollte glauben, Ihr wäret siebzig, so weise redet Ihr!
Ich glaube allerdings auch, daß ich um Verstand meinen Jahren immer voraus
gewesen bin, entgegnete Jver Kramme, offenbar geschmeichelt.
Aber Ihr wisset ja gar nicht, was Liebe ist, rief Will. Liebe hat nichts mit
dem kalten Gehirn zu schaffen, sie wird aus Frauenschönheit und Frauenstimmen
geboren und strömt frei mit den Elementen. Sie ist stärker als irgend eine andre
irdische Macht und fühlt doch feiner als die zarten Fühlhörner der Schnecke!
Habt Ihr bei Eurer Jugend schon an die Ehe gedacht? fragte Jver Kramme.
Über Wilts Antlitz huschte es wie eine Wolke.
Für einen jungen Mann ist die Ehe Gift, antwortete er ernsthaft. Jugend¬
liebe wurzelt nicht im Herzen, sondern im Auge, und die erste, glühende Leiden¬
schaft kann gar bald als Leiche daliegen, wahrend ein neues Verlangen ihre Erb¬
schaft antritt! — Heiratet auch Ihr nicht zu bald, Jungfrau „Elisabeth," sondern
bleibt im Kloster, hier ist es sicher zu wohnen!
Bei diesen Worten trat Christenee das Rad des Rockens schneller als bisher,
senkte den Kopf und wandte ihn halb ab.
In der Ehe werden Kinder gehöre», fuhr Will fort, sie werden auch außer
der Ehe geboren, aber eine voll ausgereifte Dichtung wird nur aus der Liebe ge¬
boren — und die ist größer! — Habt Ihr Eure Witwe jemals angedichtet?
Jver Kramme nickte. Nicht gerade angedichtet habe ich sie, aber über sie habe
us gedichtet. Meine Affektion über ihre tugendsame Poesie hat meiner Weißen
Gänsefeder gar manchen Tropfen des ebenholzfnrbnen Fluidums entlockt, und ich
beide feine Fäden aus dem Flachsbüschcl meiner Gedanken gesponnen — nicht aber
"nichte ich ihre Schamhaftigkeit kränken, indem ich sie selber lesen ließe, was ich
von ihr schreibe.
Sie kränken! rief Will. Meint Ihr, es gebe ein vom Weibe gebornes Weib,
das sich gekränkt fühlte, wenn ein Murr ihre Schönheit preist? Empfände ich
Liebe, und wäre ich ein Poet — ich würde meine Geliebte in ein Gespinst von
Poesie, so fein wie das Gewebe der Spinne, hineinziehn. Himmel und Erde sollten
sich wie im Regenbogen in meinen Strophen begegnen, und in ihnen würde ich
den Schleier von ihrer ganzen Schönheit ziehn. stolz darauf, der Welt zu zeigen,
daß sie mir allein gehöre! Um ihre nackten Schultern wollte ich die klingenden
Reime werfen, ich wollte ein köstliches Tuch, aus den feinsten Worten der Sprache
gewebt, um die keuschen Zwillingshügel ihres Busens schlingen und mein Sonett
beschließen, indem ich zur Besieglung einen Kuß — glühend aber andachtsvoll —
auf den Purpurfleck drückte, den nur sie und ich kennen. — Seht, also würde ich
dichten!
Jver Kramme gähnte, Christence aber brachte jäh das Rad ihres Spinnrockens
Ma Stehn; der Faden zerriß, sie ging in ihre Schlafkammer und schob den Riegel
vor. — WH sah sie an diesem Abend nicht wieder.
(Fortsetzung folgt)
An der am 4. August Vollzognen Wahl des neuen Papstes
Pius des Zehnten erscheint uns zweierlei als charakteristisch. Zunächst die nun¬
mehr meh amtlich bestätigte Tatsache, daß Österreich von seinem Rechte der Exklusive
Gebrauch gemacht und diese gegen den Kardinal Rampolla, den bisherigen Staats¬
sekretär, angewandt hat. Bei deu Papstwahlen von 1346 und 1878 hat keine
der drei katholischen Mächte, denen seit dem sechzehnten Jahrhundert dieses Recht
herkömmlich zusteht, Österreich, Frankreich und Spanien, es ausgeübt oder ausüben
können, da beidemal die Entscheidung zu schnell kam; aber 1846 bestand wenigstens
die Absicht in Österreich, Pius den Neunten als einen national-italienisch gesinnten
Bewerber auszuschließen (uur kam der Knrdinal-Erzbischof von Mailand dazu zu
spät), und länger ans die Anwendung zu verzichten wäre bedenklich gewesen, weil
ein solches mehr auf dem Herkommen beruhendes und von der Kirche niemals
ausdrücklich anerkanntes Recht leicht in Vergessenheit kommen könnte. Dafür, daß
dies nicht geschieht, hat nun Österreich gesorgt. Es lehnte Rampolla ab, weil er
der ausgesprochne Vertreter des „politischen" Papsttums und der erklärte Gegner
des Dreibundes war, und insofern, als für keine Macht die Betonung des Politischen,
d. h. der geistlichen Herrschaft zum Schaden des religiöse» Zwecks der Kirche, un¬
bequemer ist als für Deutschland, hat das verbündete Österreich auch in dessen
Interesse gehandelt. Freilich erheben unsre führenden Zentrnmsblätter ein großes
Geschrei über diese angebliche Beeinträchtigung der kirchlichen „Freiheit," indem sie,
wie gewöhnlich bei diesem Punkte, ganz vergessen, daß der gewaltige Einfluß, den
das Papsttum auf die katholischen Untertanen aller Mächte ausübt, und zwar weit
über das religiöse Leben hinaus, notwendig dazu führen muß, daß die Regierungen
Einfluß auf die Leitung der römischen Kirche zu gewinnen suchen, und was sie
davon haben, entschieden festhalten. Jedenfalls werden die Kardinäle Wohl gewußt
haben, warum sie den beanstandeten Rampolla, der anfangs große Aussichten
gehabt zu haben scheint, fallen ließen, und es entspräche wohl dem katholischen
Prinzip der Unterwerfung unter die kirchliche Autorität, wenn sich die Zentrums¬
blätter dieser Entscheidung einfach und ohne überflüssige Kritik gefügt hätten."
Jedenfalls ist durch die Anwendung der Exklusive der Sieg der „religiösen
Partei im Kardinalskollegium gefördert worden, und das ist das zweite Kennzeichen
dieser Papstwahl. Daß unter den Kardinälen wie im römischen Klerus überhaupt
ein Zwiespalt zwischen denen, die nach jesuitischer Auffassung die Behauptung und
die Ausbildung der hierarchischen Gewalt für deu wichtigsten Zweck der Kirche halten,
und denen, für die sie vor allem Heilsinstitut ist, bestand, war kein Geheimnis,
und im Konklave trat er offen hervor, auch unter dem Druck der auswärtigen,
namentlich der deutschen und der österreichischen Kardinäle, deren Einfluß offenbar viel
größer gewesen ist, als ihre Stimmenzahl. Aber daß ein „religiöser" Papst, der
nicht zur Kurie gehörte, der aus den einfachsten Verhältnissen emporgestiegen war,
der als Pfarrer und als Bischof mitten im Leben seiner Nation gestanden hatte, mit
einer so erdrückenden Mehrheit — 56 von 61 Stimmen — gewählt werden
würde, das hatte doch niemand erwartet. Natürlich wurde sofort das Schlagwort
verbreitet, es habe bei dieser Wahl weder Sieger noch Besiegte gegeben, aber wer
glaubt daran? Pius der Zehnte kann niemals vergessen, was Giuseppe Sarto
gewesen ist.
Bei diesem Wendepunkt liegt es nahe, einen Blick auf das vorausgehende
Pontifikat Leos des Dreizehnter zu werfen, von dem sich das des Nachfolgers
jedenfalls wesentlich unterscheiden wird, und wir schließen uns dabei teilweise den
Betrachtungen eines italienischen Beobachters um so lieber an, je näher die Italiener
dein Papsttum stehn, und je unbefangner gerade dieser Beurteiler mit dem klaren
Realismus seiner Nation die Dinge behandelt (Domenico Zanichelli, II port,nos,to
all LoonL XIII., nuova, ^.ntowAill., 1. August 1903). Unzweifelhaft gehört Leo
der Dreizehnte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten ans dem päpstlichen Stuhl.
Seine Erfolge für die Entwicklung und die Geltung seiner Kirche sind unbestritten.
Unter seiner fünfundzwanzigjährigen Verwaltung sind — das hob ein Redner des
Kölner Katholikentages besonders hervor — nicht weniger als 2 Patriarchate,
13 Erzbistümer und 146 Bistümer geschaffen worden, und er hat für die brennende
Frage der Zeit, die soziale, soviel Interesse und Verständnis bewiesen, daß man
ihn mit Recht einen „sozialen Papst" genannt hat. Wie mächtig das Ansehen des
Papsttums und der römischen Kirche gestiegen ist, das zeigt schon ein Blick auf
die deutschen Verhältnisse. Nach dem Kircheufrieden, der mit Pius dem Neunter
niemals möglich gewesen wäre, hat Fürst Bismarck zweimal, im Streit um die
Karolineninseln 1885 und im Kampfe um die Militärvorlage von 1837, also
in rein politischen Dingen, die Intervention des Papstes erbeten, unser Kaiser hat
ihm dreimal seinen Besuch gemacht, ein Souverän dem andern, das Zentrum ist,
freilich erst infolge der unglücklichen Haltung der liberalen Parteien nach 1879
und der Schwäche des kirchliche» Bewußtseins auf protestantischer Seite, aber doch
eben mit energischer und kluger Benutzung der Umstände, zur stärksten und zur
„ausschlaggebenden" Partei des Reichstags emporgewachsen, ohne die und gegen
die das Reich nicht mehr regiert werden kann; das katholische Vereinswesen hat
einen ungeheuern Aufschwung genommen, und eine Kundgebung wie die des eben
nbgchaltneu funfzigsten Katholikentags in Köln muß auch uns protestantischer Seite
als etwas Bedeutsames anerkannt werden.
Gegenüber dem Königreich Italien hat Leo der Dreizehnte die ablehnende Politik
seines Vorgängers fortgesetzt, aber ohne Härte und ohne persönliche Gereiztheit; er
hat sogar unter dem Ministerium Crispi (1887 bis 1896) durch Tosti, den gelehrten
Abt von Monte Cassino, über einen Ausgleich verhandeln lassen, und es ist noch
heute nicht ganz aufgeklärt, woran die Verständigung damals gescheitert ist. Erst
seitdem nahm seine Politik unter Rampollas Leitung einen dem Königreich Italien
entschieden feindlichen Charakter um, sie arbeitete deshalb lange gegen den Dreibund
und lehnte sich möglichst um Frankreich an; ja sie ging hierin so weit, daß sie die
Unterstützung der monarchischen Partei aufgab und die Republik als die legitime
Stnatssorm anerkannte. Aber statt Erfolge zu erfechten, hat Leo der Dreizehnte
auf diesem Gebiete nur Niederlagen erlitten. Er vermochte nicht seine Teilnahme
um der Hunger Friedenskonferenz 1898 durchzusetzen, weil die Großmächte darin
eine .Kränkung Italiens sahen, die sie vermeiden wollten; seine dreibundfeindluhe
Richtung endete mit der Erkenntnis, daß es besser sei, sich mit den nordischen
Mächten, namentlich mit Deutschland, zu vertragen, als sie zu bekämpfen, und alle
Nachgiebigkeit gegen Frankreich verhinderte schließlich nicht, daß dort ein radikales
Ministerium einen neuen Kulturkampf gegen die Ordensgenvssenschaftcn begann, der
möglicherweise zur Kündigung des Konkordats und damit zum Bruche mit dem
Vatikan, aber auch zu einer furchtbaren Spaltung in Frankreich selbst führen wird.
Es ist in der Tat kein Wunder, wenn sich nach solchen Mißerfolgen die große
Mehrheit des Kardinalskvlleginms für einen „religiösen" Papst entschieden hat.
Freilich die Frage, wie sich dieser nunmehr zu Italien stellen wird, ist damit
noch keineswegs entschieden. Als Bischof und als Patriarch hat sich Pius der Zehnte
bekanntlich ganz offen als Anhänger der neuen Ordnung und des Hauses Savoyen
gezeigt; aber die Landschaften, wo er bis jetzt gearbeitet hat, haben niemals zum
Kirchenstaate gehört und sind durch völkerrechtliche Verträge Teile des Königreichs
geworden. Auch in Toscana, Neapel und Sizilien kann der Vatikan die bestehende
neue Ordnung ohne Umstände anerkennen, denn alte päpstliche Besitzrechte kommen
hier uicht in Frage, und die Einziehung der Kirchengiiter hat sich die Kurie
schließlich überall gefallen lassen. Was den Zwiespalt begründet, das ist nur
das Verhältnis zu Rom und zum Kirchenstaat, wenigstens zu dem erst 1870 weg¬
genommenem Pntrimonium Petri. Der Verlust dieses an sich unbedeutenden Ge¬
biets beraubt nach der Auffassung der Kurie den Papst der vollen Freiheit für die
Kirchenregieruug; deshalb hat er seit 1870 nicht aufgehört, gegen diesen Zustand
gu protestieren und die Fiktion von seiner „Gefangenschaft" im Vatikan festgehalten.
Wird Pius der Zehnte imstande sein, hier andre Bahnen einzuschlagen? Mit allem
Nachdruck hat jüngst die Voos nie-IIa Verna, das Organ der Jesuiten, versichert,
dumm sei gnr uicht zu denken. und jedenfalls hat die Haltung des Kardinals Sarto
dem Pnpste Pius dem Zehnten hierin keineswegs vorgegriffen. Aber auch Zanichclli
sagt rund heraus und nüchtern: „Wir glauben nicht an die Möglichkeit einer offnen,
aufrichtigen und vertragsmäßigen Versöhnung des Papsttums mit Italien — für
uns ist das geeinigte Italien mit Rom als Hauptstadt ein Begriff, der auch einem
in monarchisch-aristokratischer Weise den Katholizismus regierenden Papsttum wider¬
spricht, da dieser in Rom seine historische und traditionelle Hauptstadt hat. Für
uns hat die italienische Einheitsbewegung, indem sie kraft einer historischen Not¬
wendigkeit, der sie sich, auch wenn sie gewollt hätte, nicht entziehen konnte, die
Notwendigkeit einer Reform in der äußerlichen Ordnung des Katholizismus herbei¬
geführt, die von unsern größten Denkern gewünscht und vorausgesehen worden ist
und in bestimmterer Form als von den andern von Vincenzo Gioberti, eine
Reform, die sicherlich jeden Grund zum Zwiespalt beseitigen wird.*) Aber bis
diese Reform eintritt, ist der Zwiespalt, sogar die offizielle Feindschaft zwischen dem
Papsttum und Italien unvermeidlich, weil sie das einzige Mittel ist, womit sich
das Papsttum in sozusagen greifbarer Weise die Unabhängigkeit sichern kann, die
es in den vergangnen Jahrhunderten erobern und sichern wollte, indem es sich
immer der Einigung Italiens widersetzte und eine weltliche Herrschaft erwarb. Aus
diesen und andern Gründen war es Leo dein Dreizehnter nicht möglich und wird es
auch seinem Nachfolger nicht möglich sein, zu der Versöhnung zu gelangen, die
viele wünschen, bei der aber das Papsttum und die Kirche von der einen, das
geeinigte Italien von der andern Seite nichts zu gewinnen hätten, sondern aller
Wahrscheinlichkeit nach viel verlieren würden. Aber zwischen dem scharfen Zwie¬
spalt, d. h. der wirklichen und in jedem Augenblicke wirksamen Feindschaft und der
offiziellen Feindschaft, die friedliche Beziehungen nicht ausschließt und jedem Teile
volle Freiheit des Handelns läßt, ist ein großer Unterschied, und zu dieser wird
das Papsttum unvermeidlich kommen." „Wenn die Zeiten noch nicht reif sind für
die Beendigung des Zwiespalts, so schwächt doch jeder Tag die Gründe ab, weil
er die Erinnerung an die Dinge, die ihn hervorgebracht haben, vermindert und
eine größere Annäherung des Papsttums und der Kirche an die für sie durch das
Garantiegesetz (vom 31. Mai 1871) geschaffnen neuen Bedingungen herbeiführt.
Und auf diese Zeit muß Italien mit der Ruhe und der Geduld der Starken und
der Gerechten rechnen. Unter den großen Irrtümern italienischer Regierungen ist ja
niemals der gewesen, eine Politik offner Verfolgung oder Feindseligkeit gegen das
Papsttum und die Kirche zu führen."
Ganz ähnlich hat sich kürzlich der Ministerpräsident Zanardelli geäußert, indem
er trocken bemerkte, es sei eigentlich gar kein Gegenstand der Verhandlungen zwischen
Quirinal und Vatikan vorhanden, denn das Papsttum könne Italien nichts
Schlimmeres antun, als es schon getan habe, und Italien könne ihm nicht weiter
entgegenkommen, als es schon durch das Garantiegesetz geschehen sei. Von Pius
dem Zehnten aber wird erzählt, er habe unter den Glückwünschen zu seiner Wahl
einen von König Viktor Emanuel schmerzlich vermißt, und ein solcher sei dann durch
Vermittlung eines piemontesischen Prälaten doch noch eingetroffen, anch vertraulich
erwidert worden. Es scheint also in der Tat so, als ob der neue Papst geneigt
sei, unter Behauptung des prinzipiellen Gegensatzes, auf die „friedlichen Be¬
ziehungen" einzugehn, die Zanichelli erhofft und als „unvermeidlich" ansieht. Ob Pius
dabei etwa seinen Widerspruch gegen den Besuch katholischer Herrscher im Quirinal
aufgibt, oder die Parole no slotwri irv vlotti fallen läßt, die deu „Katholiken" die
Teilnahme an den Parlamentswahlen verbietet, sie also vom politischen Leben aus¬
schließt zum Schaden der Kirche selbst, ob er einmal von der äußern Loggia der
Peterskirche aus die Massen segnen oder sich gar in der Stadt zeigen wird, wer
will das heute sagen? Aber zu einem wocln8 vivcmcli würde das alles gehören.
Auch der Ton, worin jüngst der Katholikentag über das, was er „die rö¬
mische Frage" nennt, verhandelt hat, ist anders, milder gestimmt als früher. Der
Berichterstatter über dieses stehende Thema, Dr. Rumpf ans München, versicherte
ausdrücklich, die deutschen .Katholiken gönnten Italien seine Einheit, „soweit sie not¬
wendig sei" (was zu beurteilen wir doch den Italienern überlassen wollen), und hätten
durch ihre Proteste gegen die heutigen „Zustände in Rom" deu Dreibund keineswegs
gefährdet, aber die „römische Frage" sei keine nationalitnlienische, sondern eine all¬
gemein katholische Angelegenheit, wie das Papsttum eine internationale Institution,
was sogar Fürst Bismarck anerkannt habe. Also sei es Recht und Pflicht der
Katholiken, für die „Unabhängigkeit" des Papsttums einzustehn, die aber sei durch
die jetzigen Zustände und dnrch den Haß der mächtigen revolutionären Partei in
Italien bedroht. Von einer Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papst-
traf sagte der Redner unmittelbar kein Wort; es soll nur „nicht irgend einer
weltlichen Macht unterstellt werden." Da darf man doch sagen: Diese Forderung
ist ja erfüllt. Denn welcher weltlichen Macht ist denn der Papst jetzt „unterstellt?"
Er gilt aller Welt als Souverän und wird als solcher behandelt, er empfangt fremde
Fürsten und Gesandte, er ordnet Gesandte ub, halt Militär und verleiht Auszeichnungen.
Er ist Souverän in dem vatikanischen Gebiet, und grundsätzlich macht es gar keinen
Unterschied, ob die räumlichen Grenzen dieser Souveränität um einige Meilen
hinausgerückt werden oder nicht. Die Befürchtung, er könne Unannehmlichkeiten
haben, wenn er den vatikanischen Bezirk verlasse, wird nur noch durch die Vor¬
gänge bei der Bestattung Pius des Neunten motiviert. Seitdem find 25 Jahre
vergangen, und in dieser Zeit hat die italienische Regierung hundertmal bewiesen,
das; sie den ehrlichen Willen und die Macht hat, die von ihr selbst verbürgte Un¬
abhängigkeit des Papsttums zu achten und zu schützen. Sie hat auch jetzt wieder
bei deu Leichenfeierlichkeiten für Leo den Dreizehnter durch ihre Truppen die Ord¬
nung aufrecht erhalten bis in die Peterskirche hinein, dies beiläufig auf die Bitte
des Domkapitels, und sie hat die Freiheit des Konklaves gedeckt. Eine europäische
Garantie für die vatikanische Souveränität würde diese uicht besser sichern; man
weiß ja, was solche Garantien nnter Umständen wert sind. Oder war der Bestand
des alten Kirchenstaats nicht auch durch die Wiener Verträge verbürgt, und wer
hat 1860 und 1870 nur einen Finger für ihn gerührt? An der Wiederherstellung
irgend welches ausgedehnter,! päpstlichen Territorialbesitzes hat hente keine Gro߬
macht das allergeringste Interesse; sie wäre zudem ein schreiender Anachronismus
und würde von den Italienern immer verworfen werden, wäre also ohne Gewalt
gar nicht herzustellen und böte deshalb mich nicht die mindeste Bürgschaft un¬
gestörten Bestandes. Denn die radikale Partei würde dadurch aufs äußerste gereizt
werde», und sie ist es gewesen, die zwischen 1860 und 1867 dreimal gegen den
Willen der königlichen Regierung den Stoß auf Rom versucht hat. Die deutschen
Katholiken werden also gut tuu, statt „flammender Proteste" nach seiner Ermahnung
ehrfurchtsvoll abzuwarten," welche Richtung Papst Pius der Zehnte auch in
di
Wenn man einer Mitteilung glauben
darf, die der Krakauer Universitätsprofessor und Advokat Dr. Josef Nosenblntt im
Czns veröffentlicht hat, fühlen sich zahlreiche österreichische Anwärter auf preußische
Fmnilieufideikommisse durch eine Bestimmung bedroht, die in dem Entwurf der
preußischen Negierung zur Neuregelung dieser Materie enthalten ist. Der Entwurf,
der bekanntlich dem nächsten preußischen Landtage vorgelegt werden soll, und dessen
Besprechung in allgemeinen Umrissen in den nächsten Heften der Grenzboten er-
folgen wird, bestimmt nämlich, daß die Anwartschaft ans ein im Königreich Preußen
bestehendes Fninilienfideikommiß dem nicht zustehen soll, der die deutsche Reichs-
"ngehörigkeit nicht hat. Wenn ein solcher Bewerber nicht innerhalb der ihm von
der Fideikominißbehörde zu bestimmenden Frist die deutsche Neichsangehörigkeit er¬
worben hat, soll vielmehr das Fideikommiß auf den Nnchstberechtigten übergehn.
Die zahlreichen österreichischen Anwärter, die sich in ihren Aussichten für
bedroht halten, hätten nach Dr. Rosenblatts Versicherung den Präsidenten der
Brunner Advvkateukmnmer Dr. Klob mit ihrer Vertretung betraut, da sie von der
Ansicht ausgingen, der erwähnte Entwurf widerspreche dem „internationalen Privat¬
recht." or. habe sich an ihn, den Dr. Rosenblatt gewandt, daß er den Anschluß
der Polnischen Fideikommißanwürter an die Aktion „erziele."
An und sür sich wäre in dieser Angelegenheit nieder die Vermittlung des
Herrn Dr. Klob noch die des Herrn or. Rosenblatt, geschweige denn eine Ver¬
öffentlichung der beabsichtigten Schritte durch den Czas nötig gewesen, dn der Ent¬
wurf dem Landtag vorgelegt und dabei allen denen, die zur Teilnahme an der
gesetzgeberischen Tätigkeit des hohen Hauses berechtigt sind, Gelegenheit gegeben
werden wird, ihre und ihrer Gesinnungsgenossen rechtliche Bedenken zu äußern.
Wer solche Mittel nicht sensationeller Art genügen bekanntlich gewissen Kreisen
nicht, und eine kombinierte Aktion unter der erfahrnen Leitung der Herren Rosen-
blatt und Klob schien dem Parteiinteresse ersprießlicher.
Die Mitteilung ist aber namentlich wegen des Hinweises auf ein „inter¬
nationales Privatrecht" von allgemeinem Interesse. Bisher ging man aller¬
seits von der Voraussetzung aus, das bürgerliche Recht sei national und nicht
international, und in diesem Sinne ist von einem deutschen, einem französischen,
einem österreichischen bürgerlichen Gesetz die Rede. Nur den zahlreichen öster¬
reichischen Anwärtern auf preußische Familienfideikommisse ist ein über dem bürger¬
lichen Recht des Staates stehendes internationales Privatrecht bekannt. Was mit
diesem internationalen Privatrecht gemeint ist, sieht man ja. Die zahlreichen öster¬
reichischen Anwärter auf preußische Familienfideikommisse finden es unbillig, daß
eine solche Anwartschaft von einer Bedingung abhängig gemacht sein sollte, die von
der Voraussetzung ausgehe, das preußische Familienfideikommiß sei eine im Interesse
des preußischen Staats begründete und nur mit Rücksicht auf dieses zu recht¬
fertigende Einrichtung, und sie würden es in der Ordnung finden, wenn dem durch
seine Verwandtschaft Berechtigten die Fideikommißnachfvlge wie jede andre Erbfolge
ohne Rücksicht auf die Nationalität zugesprochen würde.
Es soll hier die allgemeine Frage, von welchen Grundsätzen der Staat dem
Familienfideikommiß gegenüber auszugehn habe, nicht aufgeworfen werden, nur des
Umstands soll Erwähnung geschehen, daß der preußische Gesetzentwurf — wie es
scheint sehr richttgerweise — den Grundsatz verfolgt, daß das Familienfideikommiß eine
Ausnahme von der Regel der gesetzlichen Erbfolge und deshalb auf solche Fälle zu
beschränken sei, wo die Förderung von Interessen des Staats klar am Tage liege.
Denn das Familienfideikommiß bedarf, damit es der Absicht des Stifters und dem Nutzen
der Familie diene, der stetigen Nachhilfe der Behörden: es ist deshalb auch folgerichtig,
daß sich diese nicht für Privatzwecke, die dem öffentlichen Wohle fern liegen, bemühen,
und daß ihre Tätigkeit für eine als Ausnahme anzusehende Einrichtung nur unter
enggefaßten Bedingungen vorgeschrieben werde.
Die Begründungsschrift sagt: „Zunächst sollen diejenigen Familienmitglieder
die Anwartschaftsrechte nicht ausüben dürfen, die die deutsche Reichsangehörigkeit
nicht besitzen. Von solchen Personen kann nicht erwartet werden, daß sie sich für
das Wohl des Staates in besonders hervorragender Weise betätigen werden, sie
erfüllen also nicht die Voraussetzungen, aus denen sich die in der Zulassung der
Fideikommißstiftung liegende Bevorzugung einer Familie rechtfertigt."
Und über diese Voraussetzungen äußert sich die Begründungsschrift mit den
Worten: „Allerdings kommt es heute, wo die militärischen und politischen Vorrechte
des Adels sowohl wie seine Beschränkungen im Erwerbsleben in Wegfall gekommen
sind, nicht mehr darauf an, nur adliche Familien, wohl aber überhaupt Familien zu
erhalten, die dem Staate eine Gewähr dafür bieten, daß sich jederzeit Kräfte finden,
die geeignet und bereit sind, die immer ansteigenden Anforderungen freiwilliger
Beleidigung auf politischem und sozialem Gebiet in staatserhaltenden Sinne zu
erfüllen. Diese Gewähr ist vorzugsweise in einer dauernden Seßhaftmachuug solcher
Familien innerhalb des Staatsgebietes zu erblicken, und zwar ist es der
Großgrundbesitzerstand, der besonders berufen erscheint, den eben erwähnten hohen
Erwartungen gerecht zu werden."
Wenn es noch eines besondern Beweises für die Berechtigung des vom Gesetz¬
entwurf eingenommenen Standpunkts bedurft hätte, so würde er durch den Umstand
erbracht worden sein, daß sich, wie uns Ul'. Rosenblntt mitteilt, or. Klob an ihn
gewandt hat, um den Anschluß der polnischen Fideikommißanwärter zu „erzielen."
Staatserhaltende Ziele werden, soweit das Königreich Preußen in Betracht kommt,
von dieser Seite erfahrungsgemäß schwerlich verfolgt werden.
Die lZrnonnung ach Laveri» 1?roiKvrrn
von Ltvngvl «um Roi<-d«8oImti-soKrs<Ar Kst vdoraU in voulsodlimÄ eins Sekr
günstige ^utnalimo gokunävn. Nan Konnt aom Herrn -ruf Soiron Ilvrvortreten in>
lieiolista»'« in aer Reivdstagslmnunission unä sonst als einen Nann, avr äas Rviods-
Knan/.taeK grünclliek vorstellt, avr veilZ, was or will, unä avr sagt, was or tur roelit
Kalt, ob of ita golingoll vircl, alö grünäliek vortalirno LoieKstiu-un-ü-ago aut äas
wette, As-norma MMAdarv vvlvisv /.u KrinMN, wirä alö ZuKuntt !-vis;on. ^-not> wvim
es nun nickt MliwM, vnräv an svivor 'tneKtiKoit gls 8w»thun!M«n>iMll niodt go-
^woitelt weräen äürton, äonn alö ^ukgads, vor avr er flott, Kann sioli auel tur
app Miüiästo» RvieKssvKa.t-!8vKrvMr »1s nnioswi- vrwvisvn, vonn ita nu-de ganz
Mvaltigv Nüvlito, alö auLvi'Külb seiner ^mtssMro livgvv, 2v kullo Javanen. äoäon-
tall« liegt aer VsrsuoK, vino tur alö Dauer wirkliek ausroiollenäe l^inani-rekorm tur
ass RoivK äurok/uärüeken oävr äoek hin^lldaimon, .jot-it --nniwkst in seiner it-mal,
unä wir trousn uns aukriolltig, äak äein so ist. ^.um von soiner KoruksmäLigon
^lit-irboit als ReionWvImtWvKi'otür an avr Muniänung unsrer Zollpolitik Künnvn
^vir nur äas IZvstv in ^oäor ltielitung Kokkon. . -
„,«In «lor I'rosso, ale gowolint ist, nur äann etwa8 hin sagen, wenn sie ovis, <lap
of in liogiorungskreisen »«MnblieKlieK goLMt, ist KvrvorgvKobvn woräen, äak ale
^rnvnnnn« Svs I^rviKorrn von Stengel eine l>esonäro KvvÄir Kiots, äaL bei aom
VorsueK avr lioielisnniu^rotorm alö Interossen aer DivMlstimton gewissondatt do-
^nel8iektigt woräen würäen. >Vir liadsn nie äaran ge/.weitslt unä Kadsn uns
'w'über gekrönt, äak ale loitonäoii Personen in nor RoiollspoiitiK ale doroolitigton
Interessen avr Kinxolstaaton auel, dei aer lieielistinan/.rekorm peinliel» Fe>value
rissen vollen, val Herr von Ltongel äiesein 'Uunselie äureliaus RevKnung tragen
^ra, ize selkstverstänäliel,. Mor wir Kollen von inn», äat! or vdvnso, v,-lo tur
alö LnnäerintvrossLN unä alö Lonäorrooläv avr Ninxolstaaton, auelr tur ale Intoiosson
ach lioieks tur sein gutes RooKt unä tur aom vornünktigen Ausbau seiner I^man!?-
vorkassung 'homo ganxo Xrakt oinsetiien virä. 'Wir liokton äas goraäo äesliald, weil
°r, wenn wir vom bürsten IloKenlnKo adsvkvn, avr erste paper ist, avr xur Lösung
viner M l,l,z^n verantxvortungsvollon ^.utgade avr innern lieiolispolitik deruten ist
unä 8le übernommen liat. i?imo geäeililione lioiell8iilian/rokorin, vino tur äas ReieK
«rsprie.LIiLne I!eseiti"ung avr sogonannton RoioKsnnanxnot ist nur möglivk bei
trouvr Klingebung an aom ki.eiol>sgeäanl<en unä unter ZurüoKveisung ach mit ita
unvortlÄgi;c;l.on 1><>rtiKlllarismus, avr sieu lsiävr seit 3aKren wioäer tur mäolitig
Mnux KM, <kein livieliswagon so manokon Stein in am 'Weg i-u verden, V?ir
Llaudon, aan Ilorr von Stengel als lZavsr ganx do8onäors detaliigt ist, äiesem un-
doroelltigten 1'artiKularismus wirksam entgogon i-u ardoiton, wenn er will. Die Koielis-
unan!?voriÄ88ung muL aom lZeäürtnissen avr iÄnüolstaaton aiigopakt voräen, al,or alö
I''inanxverkas8ung avr IZin/olstaaten muL auel am l^öäürlnisson ach livioks RooKnung
^'0N. Die Kinxolstaaton stokon violtaek vor avr «ut^'olliligl<on mvkr oäor vomgor
äurongreitonäer ?ins.ni-- oäor Stouerretormon. 'V/lo sie sie inavksn, divide rvolltlic.Il
ä>ro Saolie. ^.der es ist ikro ttlielä. unä liegt in ikrom eignen, roeltt voiÄanänen
intero8so, sieu äadoi üdorall als untronnliaro organisolio IZostanätoilo ach ReieKs
tulllon. Kur vonn er äarauk lünvirlct, >virä llorr von Stengel al8 Roienstinanx-
'otorinor «lauornäo Anerkennung ornton. ^.tlo Lin/.oldoiten soiner ^ukgaoe müssen
späterer l^otrael^tung vordekalton dleibon.
E Seit 1883 Kat man avr ?eststollung <los IZosit/.stanäos avr Torsten
oesvnäers naoligokragt, >von äavon alö rationvllo IZowirtseKaktung unä somit avr "Wert
avr 'vV-Mliostünäe ganz l>o8nnäer8 adlmngt. Die /u8an>monset/.ung nack l?ohn!iarten
>var in am äroi Lrllodungsjaliren kolgenäo:
v^ni dost«» KmvirtsvIiMot sind die Kron-, Leimes- und Staatsantoilskorstvn. Lei
den Kemoindetorsten leide 0« — namontlieli ilei clon Kleinern und in den preuiZiselien
VstpwvmM» — vieil'acti hour an der dnrdmns nivut /n ontbelirondon solmrkon
LwÄts»uksient. Iss ist darin seit Non»vllvvalteiil svUvvr Msvndixt vordon. Lei den
?ideikoimniükorston sima die Inuador AlüeKUellvrwoiso meist manelien LoseniÄnKungeu
in der ^dwirtsvliaKnnA untervorken, pas leider bei den andern ?rlvatkarstou gar
niolit der ?mit ist. Viollvielit wird die angestrelite Loloillnnx der I^rivatt'erston dnreli
die La>uls<!>lallen unter lierüeksielitigung dos llolzeilragswerts darin günstig wirken.
Die I^audi-ellaK mülZto dann Xautolon gegen die Rauliwirtseliatt verlangen. Voll-
Kommen genügen würde das »bor noeli nielit. ^.ut die voIKswirtseliat'tlieli so wieli-
tigen (iemeindotorsten Kommen in Lrvuben nur 13,3 I'rozent «1er I'orsttläelie, in
I'oson sogar nur 2, in >VostpreuKen 4,3, in OstpreulZon 5,,3, in Lelilesien 7,9 I'ro/ent;
dagegen im Llminland 39,6 und in llosseu-^assau 34,2 Lrozent. In ljavorn reelles
vom Lliein nouum sie nur 10, dagegen in der 36,8 Prozent ein. KroK ist der
Anteil der <Zomöindetorsten aucti in Laden (45,1 Lrozent), in liessen (36,2 Prozent)
und in >Vürtteniberg (29,7 Lrozent).
Über die Hol/.- und llvtriedsarton in
tolgende .Vngalzen Llatz dindon. l?s Kamenden cleutselien Torsten mögen uoeli
aut Ilooliwalddetriod im ^aure 1900l)avon Kamen
V mit Lielien,
Luelien und
Hektar aut om Lauliliolzlioeliwald waren bestanden 532395) Hektar
212340 Hektar mit LirKen, lÄlen ^ut ^.spoii, 1827 217 Hektar mit
sonstigem Kaudliol!-!. Vom ^adelliolzlioeliwald Kamen 5603128
Lietorn (l'öliron), 13309 Hektar ani Larelien, 2492122 Hektar ant?leuten (Lot-
tanuon) und 298708 Hektar aut kannen (>VeiKtannon).
Im r^iodorwaldketrivb waren 1900 vont.auliliolzwald im ganzen 947 680Hektar,
wovon 446537 Hektar aut liüelienselialwald und 35708 Hektar auf 'Weiden-
liegen Kamen. Im ganzen 325491 Hektar vom Laudliolxwald uncl 1043801 Ilelcwr
vom Uadelliolzwald wurden 1900 als Llänterwald bewirtseliattet.
^.ni die verseliiodnoii Altersklassen verteilte sieu 1900 der Iloeliwald in
Lrozenten wie tolgt:41 öl» so>>is <U>
Der llol/ertrag eiidlieli stellt sieu 1900 tur das tötete al-gelautiio 'vVirtseliatts-
^aur tolgendormalien l Uutxliolz: 20017 896, Lreniiliolx: 17 850 646, s-usammeu also
DerlnioK.: 37868542 l^ostmeter; LtoeK- und Leisliol/l 10472305, LielienIoKe:
134626, 'Weidenruten- 101438 I'estmeter.''
Die Gelderträge sind nielit orliolion worten. Meil der „Aoitseliritt tur Iorst-
und lagäwesen" teilen wir darüber noeli tolgende Xalden mit.
in avr uaelibeuaunwii Zb'orstvorvaltunM» stellt hivi» in äem auMgobneu
l^evlinungsjalir aer LeinertraZ tur aom Hektar
Ls värv sow 2u vünsokon. äaö alio äeutsoben Lin'/olstaatön clvr lKviebsstÄtistiK
aUMIirliol, eine LvstgM-, Vsirtsolmtt- unä Lrtragstatistil! venigstens ibror Stuatskorstou
in eiullvitlivllvr ^.ukmavlmug 2ur VoMZuug solidor. Kino ersebüxtvnäv Statistik
äiosor ^.re auch tur als Komeinäs-, Eiäeil<ommis- unä arare ?rivattorsten im Reich
antxuswllon, ist voMung uninSZIioK.
1)lo voiu Rimigliei, rrouüisoben SlÄtistisoimn IZurvau
KorausMMl'no „ Statisti8obo I^orr»8ponäon/." voiMdntlioKt tnlgsnäo liborsielit
ubvr <1in ZZiMbnisso «lor lilinsoliat-innK zur ^Vareni>an88teuer oaolt aom Sosoti- vom
18. .tuu 1990 in ,Jm .laliren 1901 unä 1902. Es vuräou viukvsoliätxt:
l.viäor gibt Sie „Statistisebv Xorrospouävn/." Koiuo Isi'KNrun^ äiesvr überaus
«tiU'Kön ^.bvalims avr stvuorililic.KtiMU v^aroubäusvr unä vollvuäs aer Stouerbotrago.
t«t daraus ant vin« ^bnabmo ach ^Varonliausbotriobs, oder nur aut eine äureli äas
t-so8(,w Ilvrvoi-Kvrllkuo l/mtonnuiij; vin-iobior Dvtnobv, oäer vt>va aut eine vorämlvrto
^»sIvgllNL ach luluüts äivsvs kragn-UräiMi» Sosotz-es --u soläivöou? — Von lutor-
vssv ist V8 übriMus, äalZ /uglcnvl) ,>iuo Statistik Avr I.aävn!?('s«.'I>at'to in Sroö-
dorlin äurok alö?rosss gott, alö auf amtliedou Drliodungon dorukonä — trotx clos
vielbornmen Linnussos Avr ^VaronMusor — einen nnFoliouorn VbvrkluS »n
i.ääon xoigt. In Dorum Kamen am 1. Doxencker 1900 nur 56 Dino«>Knor auf
.lector I^aäsn, in OKarlottendurg 50, in Lcckönelierg 53, in V^ilmor8äorf 57 U8>v.
Wer Lorlin in aom lotiston 20 ^aliron g-okannt Iiat, voll, «tat in aom nouon
8traZvQ IIau8 tur Haus Aas LrÄgesoKoS nur novi» ?.u iLÄsn oinFvrivntet vvirä unÄ
auen in aom LtraLon, alö vor 20 ^ickron mock vnrviogonä Wolin8tralion varon, alö
Lrägo8oKo8se in I^ääon, ^a toilwoiso auok ale sogonannton „orston" I^tagou in Vor-
Kautsrällino tur DotaUgosoliMo nmgeviuiÄolt voräen sinÄ. tira äieso so mÄodtix an-
M>va<cksno ^aut avr iLäen stellt äuroliau8 niont Isor. I)lo IlaukckoÄtxor visson 8our
gut, vsrum 8lo it>ro IMnsor so eiurielitvu. 'Irot?. illror sodoinbar Kaum vrsekving-
liokon Niotnroiso vormioton sivii alö I.ääon am leielltesten unä hivi«ersten.
Die IZoliauvtunA vom lium av8 I^ÄenFvsoliSÄs äuroli alö ^Varonliäusor selieint
!n Berlin gegenüber avr ungokeuorn Aunalnno avr l^aclongeseliäfto xiomliok autovntdm-.
>>oäenfalls nuk ärinMnä gevvünsollt werden, äalZ VreuKon onälioli vino fortlautonäo
(Zovei-dvstatistiK oinrioktot, unä äalZ alas lioioli 1905 cluroli alö in ^.»ssiekt gonommono
KowerboxaKlung äioson Vorliältnissen grünäliek auf aom Xann füllte. 'Wenn avr
protoktioniszmus sioli voräoppolt, vorointaelit siok alö notwoiulige Statistik, bis äann
äa8 Übormaü alö I.outo xur Vormunde bringt.
Oor liüekgang clos
Xur808 avr äroiproxontigon Roiobsanloibo unä avr sonstigon cloutsobon Ltaatskonäs
foräort, namontliob im VorgloioK mit aom Lursbovogungen anäror, an«;l> tromäor
lestverxinslieluzr I'anioro von notoriseli goringoror t^üto, xum ^saoliäonkon auf.
^.n avr Dorlinor Kürso vuräo in aom lotste» ^labron am I^naiv avr angogobnen
^tomado aer Xurs avr äroiproxontigon Keiollsanloibe vie folgt notiort:
I>aK aom nouon Rückgang irgonävolebo svmpwmatisolio Locloutung für alö
l^ago avr äoutselion VolKsvirtsenM üboikauxt oäor aucti nur avr virklivlivn Finanz-
laxe 6of liviolis unä avr Linxolstaaton — ale Knansinoliti8eil untrennbar 8ma —
xu/usenreide» wäre, ist polli Zanx ausMsoläossen. 'Was avr eigentli<;iio Krun<l avr
nnliobsamon Ursolioinung, va8 iliro MirKung ist, unä vololio Nittol, ilir adxuliolton,
verfügbar sinnt, äarübor 8elioint alö öllontliolro Noinung nooli xiemlieli unklar nu
sein. nervös l>rauol»t man nicht>ath nooli niokt xu voräon. ^dor xum ornston I>Savi>-
«lenken nahen unsre lioiolis- unä Ltaatstinanxnumnvr allon Kruuk. l-argo äarf os
80 niolit voitorAolni. >Vir voräon wolä rook vioclorknlt äarauf xurü<;I<I«>minor
müssen.
v». MrKieM?
Export it3.ok Z.116N iKrläßrn aer Lräß. ^A^^ ^L^lLllLVol-Jo U. 24.
'UollQUIlZZ-
DinriedwiiAsn
— 1Lorrssxc>riÄsii2on. srlzstsn u-n ^.dtlZ. —
MIeinige Inseratenann-ihme ckurch
N Aeigel. »erim l!., Neue xrieclrichsttssse 41/42
xvveigespaltne DonpareMeseile I Mark. Umschlagseiten erködie preise
lin^Sven * Nu«»I vollsvu«.
^trviinnniiivrtv«, varuolonv» >!!«>» l. >>> vinnijx »vlwnvr I^ii.!;» »» <lor ki»>«; xvx>!rin>or noir iiixl. 8vI>In»«,
Opvrnlimi«, iünin^or iiixl >><>r <Z«»i»I<l»-<Z^vrlv. ISIoKtrisolio I!or»»olle»ni;. ^it't. Itiillvr.
'----livinisv kiir ^»winovilv.--1!. 1i,0IU1vtv1«1, DiiPlctor.
Koer::' QWer°Wnocles
!<<no jnrli:grosse ^reisermässigung
optische Anstatt ?. Koer^,
NKtienaeseiischatt.
Vei«lin - fviecienau zö.
IIinn» tjM»r«. — I>»i'i«: 22 «>>« S« I'ISntrvpSt. — l.«»<Jo«: t/V It»U»»rü»<Ar«w«, ÜK!.
^'^Wu^kr, ,>r<öl«ftullrü»t. i?«I<U»>« Il<!>I-tMv I'itris 1!»Il»
>An»,n>rx : in <!—«°>V»<!w!» b!«M?kuM«um«l»no
M»>t>«re. 8er«nx reell — Kein «oK«l»a«I. Vt«K« v»„Il-
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8analogen
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Zrosvnüi'k ausVun8vn grstig u. franko
loi-vn LAULI? Kie., Löi-Jm 8M. 48.
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labi-iÄvrt u, pays. - »«««i«r>,.«»>»«in «ir«S«I>« ».
Il»>i» - IIo»i«ur i'. »>, u.Iiiin»to — IIIr»eIi-
l'iinlsor ». .Iitlrilm»«^»,- — !>!<:Iioroi> tur nit» jüivvelio.
n-uptnwl«ri. tlo»°!I^ipAZsMr. 118.
I!!g.VeiK.-^wlIe> ^r-ti>K^nrtu.»l. soin,v.!>-IIm>>-
Inirx, «r. .7oll-ki»ni»-it». <i - «»In ».ZU,., 11olioi.er. 144 -
«ro-olvii, Vit»c>> »»llorütr. 7- Mo» I, iciu'iitwiorstr. 24
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^r»x»I>!»»IIm>A I» «>'i<I,v«i»«». ciogiliiKlvt 1824.i»..-. VveKniKum ^tvndui'K, 8.»^..
IiI«Iitrnt(»!l>n!K »««».nun«!««. Jut ,I«r^««t»It«iixl «In« I^>I>r»
<,I>ni»!»oIio«'^itlior^^ <Il» «Ion »><>«I<>r»<»>
V«rs«bei<I«t« I»«xln»t borvlt» um» >. OKloIiör »>» »nnnii?»«'
Il«I,»r Vnr>»»roid»ni;Ilnr»u«. ^»»ililirl. I'raxrni»>»v ivvrilvn
ItidI<IiN» Xn»i»IiI»»l? ix^ i'» v»>i>i»>>1u», <In in »Inixon ^>>'
llRÄ'»^»? '
KunäLLdau tur
asu äkutsedsn ^uriLteuLtg-na
VII. .I-titi-Nan^ 1»0Z
SvrausMßvbvn von
Dr. Hs. I/Il. Loer^el, Rumelien
VerlaZ aer LelvinZsoliöii LuoMs-uälmis,
Lamiovei' unä I-öixÄZ
InK-ut von rsllmmvr 16/16 vom 10. ^uxust 1S0Z:
vör r»»»i»ovo Strick,»«»«-«, (vdvrlmiöe«-
Mrlvlitxrst ^ux. l,«»v«»»til»w, OlmrlcvlN) — «««vt«««»«»'
I«xn»S »XnvonOilnx. 0»s ratI>v»vmÄ«in«rKnu»I 6s»
, .^nvollmoniu»»!«»»,'' l>ol Avr S»oI»I»oI»>orvi. (»oivniPorlolits»
me kvlmgug, ^ol,>n!g.) — ^««»vti-oxllrltllc. vor Will.vnd
stritkl'soktiivliv'skilutü SvrL!I»ro uiul S«s I>rio»tKIi»x>:veri'»I>reo.'
(^mtsriiidtor ^osller, i.ünciitu.) — <I«i» ito<'I>txl»i>°»-
^»»--viel-nuni
z. — I^i» Lriot »u» östorreivll. — Uontsol«"'
.iuristonlAZ. — vor voutsolis ^no-Uwvviiän. — Intorimti«'
»»Jor ^moi»le>,v«rbima. — Ziui» »c-gritt So» „Lmilcivr»" »na
„7!»nine«soll»co". — ?n>nos>>hö<!liI«imig»»s. — Wol»or un6
>ion>!tsiu»^v!Udo III »LuwcIlUinlI. - «All.unj; tur Lwcl.'iitvn 6c-r
1!<!cIil>s^öl»»L!iseIii>le. — I^iir »»<> IVillor. <Jor ?n>^'
Anm Vorbot Sor rotormlrti» in z>vins. — ISino K->>!!^to»so»e
clor trvlvüIiMN Uüriolitsburlcvit >>ol viiiom Strvltv «6^r 6«>
VngvviSKvI» >U,or Si« «rmtknaikkvlt Sa» XainmoiPi'i'lei,«. 6»»
»u»wüste<> voriolit? — Viril im vntarIi»ltunM«trsit« ««"
»nsltvlieksn Kind«« I>ol xlvivI>«v!t>MM ^uti»g »ut I^ost'
»tvlluns Ser V»lor«!l>»et S«»»vn «ox«>»»t»n6 «U» '«»«düvidor
>iosonü<»rs KerlivKüivIiliizt? — I>!i»Kulj <i>-r InvlMiZ-'iivorüwU«!'
rung tiur üoii iSrlil-oilun^svortiAg. — 55um I7l4ri»in>olu»<'K>^
<ki!r W7N'. Ltr.v.L. — lirsat?. (ZnrvnU-rnuciiuiixüIiltlt 6ur>'»
ZiloI6ep<lioKt. — Il»t»<!ki«in»ii!rv». ») I-:nI««I«!lauiikvn i»
Mloxontioitvi» clor trrivillixvn <Z<>rivi>t»>»>rKo!t un6 ,Jo» «r«»«-
>>not»i'ol',l>t», l>) SoiiütiM 1Stil»vIl«i6uiigvn. 1. <!>v!w!"!ion.
2. vio vioKtlMtvi» liovl>l»truü>1«»l«v no» Loi<:I,»M!rlvI>t!> >u
««»»lMoltvn. — It«I«I>«. ni»I l,»n<I«»ik«i»>t«!x«I,ni>x. -
»>I>r>!<!liunx»n. — 1ti!<!l>t,r«ol>mi. - vVu« <I«n V».oll/<>!1.«olirll^>!»-
1iÄ L.6VA6 ä6 ?a.ris
<V«rI»x vo» Vidi,n»»»-L<>vo in l'»ri» un<> I-«!i>5>!?1
lui>»1i vn» Ihr. 17 vom 1. ^»i><»in>«,r 1!>«>ü
^n»v»n!r»< >I'»v»ni 1«7«. .
I-«« Xm»«ni 6« Il! '>'». Voll«» l'"^
MrUo)LIl-ulvs i>i>^t!t
Lnui» 7!l»kinn> ,
l?uni Ka6lat .
i^opolci I«cour
Victorvno Itökor»«, <I» l!si»'»lirlii>»! ><»"^
iMni» XIII.
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I.vtirv» «»r I» «««Iqn« i'rin»."'"»
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^V» rim-II ro it'Or-insro. —l-c> I'>'««>'>"
»< I^vonir. ,.
<juo«l!n»«oxtor!<»irv«.—^ö»»^^'
<»»).
?rsis ^jsÄss Hsttss s.so
VW- ?u de^ienkn lini-ok jellv Kulznnsnlllung
s ist begreiflich, daß sich die politischen Parteien, denen schon
das Privateigentum, wie es durch das bürgerliche Recht an¬
erkannt und gewährleistet wird, vielfach als verwerfliche Be¬
schränkung des allgemeinen Nutzungsrechts erscheint, noch weit
weniger mit gesetzlichen Bestimmungen befreunden können, wodurch
Großgruudbesitzern unter gewissen Bedingungen die Möglichkeit geboten werden
soll, Grundeigentum samt dazu geschlagner Kapitalien und Mobilien nicht
bloß von ihrem Vermögen als unveräußerliches und unvcrschnldbares Sondcr-
vermögeu abzutrennen, sondern anch für unabsehbare Zeiten über dessen Ver¬
erbung durch Einzelfolge innerhalb einer bestimmten Familie in rechtsverbind¬
licher Weise zu verfügen, Proudhons Anhänger, denen jedes Eigentum als
Diebstahl an der Gesamtheit erscheint, zum Eintreten für das Familieu-
fideikvmmis; zu bekehren, ist uuter allen Umständen aussichtslos, auch wenn
hierbei gebührendermaßen berücksichtigt wird, daß nur eiuzelue Fanatiker den
Proudhonschen Satz uneingeschränkt verfechten, während ihn die Sozialdemokratie
durch allerhand Einschränkungen zu mildern bemüht ist, deren Dehnbarkeit allen
denen erwünschte Hintertürchen offen läßt, die sich für ihre Person eines be¬
häbigen Besitzes erfreuen und dessen Erhaltung und Mehrung nicht bedroht zu
scheu wünschen.
Aber auch in deu Kreisen derer, denen es um eine dauernde Entwicklung der
bestehenden Staats- und Gcsellschaftsverhältuisse zu tun ist, bekommt man,
wenn von Familicnfideikommissen, insbesondre deutschrechtlichen, die Rede ist,
zweierlei Meinung zu hören. Die einen sind für, die andern gegen solche
Stiftungen eingenommen. Wer dagegen ist, glaubt, daß durch sie die Land¬
wirtschaft oder Handel und Wandel oder gar die bürgerliche Freiheit und Gleich¬
heit gefährdet seien, wer dafür ist, geht davon aus, daß die Familieufideitoimuissc
um des Staates und des königlichen Dienstes willen nicht wohl entbehrt werden
könnten, da nur durch sie umfänglicher Familienbesitz vor Zersplitterung und
Verschuldung bewahrt werden könne, während andrerseits der von der Sorge
um das tägliche Brot befreite Besitzer zur Übernahme von Ehrenämtern und
zur Führung wichtiger Staatsämter nicht bloß finanziell freie Hand erhalte,
sondern für dergleichen auch durch Erziehung und Familientradition in die rechte
Verfassung gebracht werde.
Vom Adel, der bekanntlich von der schon bisher vorhanden gewesenen
Möglichkeit, Familicnfideikommisse zu stiften oder lehnsrechtliche Verhältnisse in
solche zu verwandeln, ausgiebig Gebrauch gemacht hat, kann bei dieser Be¬
sprechung füglich ebenso abgesehen werden, wie andrerseits von den Bedenken
der Sozialdemokraten und der Anarchisten, denn wo es sich um die Vorbereitung
eines allgemeinen Gesetzentwurfs handelt, wie ein solcher bekanntlich dem preu¬
ßischen Landtage vorgelegt werden soll, geht es nicht an, sich darauf zu be¬
ziehen, daß ein beabsichtigtes Gesetz im Interesse dieses oder jenes besondern
Standes liege: es wird sich vielmehr, wie anch die dem Entwurf beigegebue
Begründungsschrift ausdrücklich hervorhebt, um allgemeine Gründe politischer,
sozialer und wirtschaftlicher Natur handeln. Wie sich das Ansehen des Adels
in unsern Tagen auf den Glanz beschränkt, den die geschichtlichen Erinnerungen
jeder Familie auf deren Nachkommenschaft werfen, so ist es für den Staat
und den königlichen Dienst gleichgiltig, ob ein Adlicher oder ein Bürgerlicher
als Fideikommißinhaber in einem Kreise, in einer Provinz Einfluß übt und sich
als Besitzer einer größern Strecke Landes bei der Abwehr staatsfeindlicher An¬
griffe in den vordersten Reihen beteiligt. Was das Gesetz zu fördern und zu
Pflegen bestimmt sein wird, ist nicht der Name und zunächst auch nicht das
Vermögen einzelner bevorzugter Familien, sondern vielmehr auf der einen Seite
die durch Wohlhabenheit und Erziehung bestimmte Brauchbarkeit und Unab¬
hängigkeit einer Reihe von Geschlechtern, auf der andern die nur dem Gro߬
grundbesitze mögliche stetige Bevorzugung gewisser Arten und Methoden der
Bewirtschaftung, unter denen das Forstwesen vornan steht. Daß einem, wenn
man im Staatskalender und in der Armeeliste blättert, so oft Namen alter
Adelsfamilien begegnen, die sich übrigens zum Teil nur einer sehr geringen
Wohlhabenheit erfreuen, kann nur der mit den Verhältnissen nicht Vertraute
als den Ausfluß eines Privilegs ansehen: die häufige Wiederkehr dieser Namen
ist vielmehr ganz im Gegenteil die Folge einer Tradition, die es, wo der
Staat und der königliche Dienst in Frage kommen, der Familie und dem Einzelnen
zur andern Natur macht, Opfer an Blut und an Geld nicht besonders hoch
anzuschlagen. Der Unterschied, an dessen Fortbestehn man glauben möchte,
wenn man liest, wie sich noch heutzutage einzelne Blätter die Zeit nehmen, die
adlichen und die bürgerlichen Inhaber eines Amts oder einer Charge auf¬
zuzählen, ist beseitigt. Es ist heutzutage keine Scheidewand vorhanden, die
jemand, der willig und befähigt ist, sich dem Staat und dessen Dienst zu
widmen, zurückhalten konnte; je mehr Bewerber, um so besser für den Staat.
Wenn aber — denn auch das Unwahrscheinlichste ist ja ausnahmsweise möglich —
ein Verehrer längst entschwundner Zeiten und Anschauungen bei der Errichtung
eines Familienfideikommisses dem Anwärter auch von der Seite der Mutter
stiftsfähigen oder, wie sich die Allerhöchste Kabinettsvrder vom 4. Sep¬
tember 1830 ausdrückt, vollbürtigen oder ritterbürtigem Adel zur Vediugung
machen sollte, nun so wird anch hier eine Schwalbe noch keinen Sommer
machen, und wenn der König die Erteilung der landesherrlichen Genehmigung
davon abhängig machte, daß eine solche vorsintflutliche Beschränkung wegfiele,
so würde der hyperfeudale Stifter die Lacher aller Stände sicher nicht auf seiner
Seite haben.
Dein Laien, wenn er nicht gerade Anarchist, Sozialdemokrat oder sonst
Fanatiker ist, erscheint auf den ersten Blick nichts natürlicher, leichter und ein¬
facher, als daß ein Mann, der über einen großen Grundbesitz verfügt, diesen
zu einem unteilbaren Ganzen zusammenlegt und ihn seiner Familie in diesem
ungeteilten Zustande dadurch zu erhalten versucht, daß er für die sei es bei
seinen Lebzeiten, sei es nach seinem Tode eintretenden Besitznachfolgen eine
Reihe von Bestimmungen erteilt, die von den Grundsätzen des landläufigen
Erbrechts schon um deswillen abweichen müssen, weil der als Fideikommiß ab¬
getrennte Besitz aufgehört hat, zu seiner Hinterlassenschaft zu gehören, und weil
für die Nachfolge im Fideikommiß das dein Erbrechte zugrunde liegende Prinzip
der Erbteilung nicht angewandt werden soll.
Ein solcher Fideikommiß gewordncr Komplex unbeweglicher und beweglicher
Güter würde mit dem Augenblick der erteilten landesherrlichen Bestätigung ohne
die Bei- und Nachhilfe der Behörden ebenso unbehilflich und tot sein wie
eine Mumie in ihrer Zelle. Denn dieser Güterkomplex ist hierdurch einem Be¬
sitzer zugefallen, dem von den Eigenschaften des Besitzers gerade die fehlen,
deren er bedarf, wenn er aus dem toten Gute ein lebendes machen will. In
vielen Fällen muß die Behörde, statt ihn nach bestem Wissen und Gewissen
entscheiden, verfügen, handeln zu lassen, eine der beiden, nicht immer leicht zu
entscheidenden Fragen auswerfen: Wie würde der Stifter, wenn er noch lebte,
entscheiden, verfügen, handeln, oder was würde unter deu vorliegenden Um¬
ständen ein erfahrner sachverständiger Mann als den sichersten, das Fidei¬
kommiß an, wenigsten gefährdenden Ausweg vorschlagen? Mitunter muß sie
sogar, da sich der Wille des verblichnen Stifters nicht ergänzen und noch
weniger abändern läßt, wider besseres Wissen die Hände ruhig in den Schoß
legen und zusehen, wie Zustände, mit denen kein freier Eigentümer Geduld
haben würde, im Namen der Unantastbarkeit fideikommissarischer Bestimmungen
Zum Schaden der Stiftung fortbestehn, obwohl es klar ist, daß der Stifter
die schädigende Eventualität nicht vorausgesehen hatte und ihr, lebte er noch,
mit Maßregeln entgegentreten würde, die das genaue Widerpart von dem sein
würden, was man auf Grund seiner Verfügungen widerwillig aufrecht erhalten
und durchsetzen muß. Das Fideikommiß ist leblos, und dessen Besitzer an
Händen und Füßen gebunden: er darf sich nur rühren, wenn ihm unter
vielerlei Formalitäten die Fesseln für eine einzelne bestimmte Handlung abge¬
nommen werden.
Man sieht leicht: die Hauptgefahr der Fideikommißerrichtung liegt auch für
das Urteil dessen, der mit dem Zweck solcher Veranstaltungen vollkommen ein¬
verstanden ist, darin, daß man etwas Todes, etwas, was sich nicht selbst helfen
kann, auf dem lebendigen Strom der Zeit einschifft und ihm für die Reise nur
mit sehr beschränkte» Befugnissen ausgerüstete Kapitäne, die einander ablöse»,
mitgibt. Daher kommen die vielen Schwierigkeiten, die mit der Behandlung
dieser rechtlichen Materie zusammenhängen, und denen der für das Königreich
Preußen vorbereitete Gesetzentwurf an der Hand der bisherigen Gesetzgebungen
und auf Grund an den maßgebendsten Stellen eingeholter Gutachten durch
möglichst umfassende, eingehende und liberale Bestimmungen zu begegnen be¬
müht ist.
Auf Einzelheiten des Entwurfs einzugehn, dürfte mehr die Sache rechts-
wisseuschaftlicher Fachschriften sein; wir haben es hier nur mit allgemeinen, die
Leserwelt überhaupt interessierenden Gedanken zu tun, und da ist es denn vor
allen Dingen nötig, sich mit Hilfe der dem EntWurfe beigegebnen Begründung
ungefähr ein Bild von dem Rechtszustande zu machen, wie er für die Fnmilien-
fideikommissc zurzeit in den alten und den neuen Provinzen des Königreichs
besteht.
Mau kann wohl sagen, eine Harlekinsjacke könnte kaum bunter sein, und
wenn diese Buntheit auf der einen Seite zeigt, wie schonend der preußische
Staat bei Neuerwerbungen von Land und Leuten mit dem vorgefundnen Recht
zu Werte gegangen ist, so erscheint aus der andern eine möglichst baldige Re¬
gelung dieser bei Abfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches unberührt gebliebner
Materie um so wünschenswerter.
In den sogenannten alten Provinzen sind zwar, was Familienfideikommisse
nillangt, die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts maßgebend, aber auch
hier ist nicht bloß ein andersfarbiger Fleck vorhanden, da in Neuvorpommern
und auf Rügen auch für Fideikommisse das Gemeine Recht gilt, sondern es kommt
auch für die alten Provinzen eine Reihe -späterer Gesetze, Edikte, Deklarationen
und Allerhöchster Kabinettsorders in Betracht, deren genaue Kenntnis zu ge¬
höriger Anwendung der lnndrechtlichen Bestimmungen unentbehrlich ist, und
das Unglück voll zu machen, gibt es in den alten Provinzen noch obendrein
Familienfideikommisse, die ihre besondern Rechtsnormen haben, dn sie älter sind
als das Allgemeine Landrecht.
Das Gemeine Recht dagegen gilt in Schleswig-Holstein mit Lauenburg,
in dem größern Teil der Provinz Hessen-Nassau, im Bezirke des Justizsenats
zu Ehreubreitstein und in den Hvheuzollernschcn Landen. Hannover zerfällt in
zwei Rechtsgebiete, in deren einem das Allgemeine Landrecht, in deren anderm
dagegen ein hannöversches Gesetz vom 18. April 1836 Geltung hat. Für die
Rheinprovinz ist mit Ansncchme des schon erwähnten Ehreubreitstein und
einiger unter dem Landrecht stehender Kreise die Allerhöchste Kabinettsorder vom
25. Februar 1826 maßgebend, und für den Bereich des vormalige» Herzogtums
Nassau ist durch den Paragraphen 38 einer Verordnung vom 31. Mai 1854 vor¬
geschrieben, daß vor der Eintragung jedes Fideikommißvermerks in das „Stock¬
buch" die landesherrliche Genehmigung eingeholt werden soll. Für die vor¬
mals großherzoglich hessischen Gebietsteile kommt einesteils ein hessisches Gesetz
vom 13. September 1858, andernteils ein bayrisches Edikt vom 26. Mai 1813
in Betracht, und damit es auch an hohen geistlichen Autoritäten nicht fehle, so
müssen im Bezirke des Jnstizsenats Ehreubreitstein zwei kurmainzische Verord¬
nungen aus den Jahren 1785 und 1786, im Gebiete des vormaligen Fürsten¬
tums Osnabrück eine fürstbischöfliche Verordnung vom 8. Juli 1748 befolgt
werden. Nur die vormals freie Stadt Frankfurt gibt dem, der sich über das
Preußische Fannlienfideikoinmißrecht klar zu werden sucht, wenig zu schaffen, da
sie auf ihrem Gebiete Familienfideikommisse durch Gesetz vom 28. März 1848
ganz untersagt und diese aus unruhiger Zeit stammende Bestimmung nicht wie
so viele andre Staaten und Gemeinschaften seitdem wieder aufgehoben hat.
Man sieht, es ist die höchste Zeit, daß etwas geschehe, diesem an die
schlimmsten Seiten des heiligen römischen Reichs erinnernden Zustande abzu¬
helfen, und hier tritt nun die Frage, um die sich der Natur der Sache nach
alle übrigen drehn, die Frage, ob man sich für oder gegen die Zulassung von
Familienfideikommisscn aussprechen solle, von neuem in den Vordergrund.
Die Begrnndnngsschrift erinnert an die Dekrete des französischen National-
konvents vom 25. Oktober und vom 14. November 1792, wodurch die fidci-
kommissarischen Substitutionen als unvereinbar mit den Grundsätzen der Freiheit
und der Gleichheit und als nachteilig für die Bodenkultur und die Gläubiger
abgeschafft wurden; auch des Paragraphen 38, Absatz 1 des Gesetzes über die
Grundrechte vom 27. Dezember 1848. durch deu die wenig Tage zuvor von
der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Aufhebung der Familienfidei¬
kommisse angeordnet wurde, wird gebührend erwähnt. Während der seit jenem
Beschlusse vergangnen vierundfünfzig Jahre find die politischen Köpfe von mehr
als einem Gedanken zurückgekommen, der sich im Munde der Philosophen und
der Volksbeglücker recht schön ausgenommen, der aber in der Ausführung deu ge¬
hegten Erwartungen nicht immer entsprochen hatte. So haben Bayern, Sachsen.
Baden, Hessen, die beiden Mecklenburg, Braunschweig und Anhalt in der Zwischen¬
zeit, namentlich aber im letzten Jahrzehnt des vergangnen Jahrhunderts Gesetze,
Edikte und Verordnungen erlassen, die von dem Grundsatze der Beibehaltung
der Familienfideikommisse ausgehn, und nur in Oldenburg, wo übrigens ein
Fideikommiß der großherzoglichen Familie besteht, in Elsaß-Lothringen und in der
bahrischeu Rheinpfalz ist diese Art von Stiftungen verboten. Auch im Herzogtum
Sachsen-Koburg und Gotha ist sie verpönt, soweit dabei nicht bloß die Um¬
wandlung von Lehusgütern in Fideikommisse in Frage kommt.
Die Vegründunqsschrift geht von dem Grundsatz aus, daß es sich bei der
Frage über die Zulüssigkeit der Familienfideikommisse nicht um ethische Er¬
wägungen, sondern vielmehr darum handle, festzustellen, ob die tatsächlichen
Verhältnisse diese Einrichtung wünschenswert machen, und diese Verlegung der
Entscheidung ans das rein praktische, volkswirtschaftliche und politische Gebiet
hat um so mehr Berechtigung, als dem Staate neben der allgemeinen Verant¬
wortung, die ihn für die Ersprießlichkeit der Sache trifft, durch jede einzelne
Fideikommißstiftuug eine nicht unbeträchtliche Mühewaltung erwächst. Wenn es
sich also herausstellte, daß das Familienfideikommiß uur eine privaten Wünschen
und Zwecken zugute kommende Einrichtung wäre, von der sich der Staat als
solcher keinen Nutzen verspräche, so würde man schwerlich darauf zukommen können,
zugunsten des Familienfideikommisses Bestimmungen zu treffen, die, so vorsichtig
sie auch gefaßt sein mögen, doch nahezu auf allen Gebieten der Gesetzgebung
Abweichungen und Ausnahmen von den dort niedergelegten allgemeinen Grund¬
sätzen entweder ausdrücklich anordnen oder stillschweigend in sich tragen.
So oft das Familienfideikommiß auf das Tnpet gebracht wird, ist von
der Förderung der politischen Macht und des sozialen Ansehens einzelner
Familien, dem sxlcmäor kNnilmrum die Rede, und auch Gerber hat der Ver¬
suchung nicht widerstanden, dieses Argument in etwas gequälter Weise für den
gewünschten Zweck zu bearbeiten. Seine Bemerkung, ans deren auf Schrauben
gestellten Wendungen man recht deutlich sieht, wie weit man die guten Gründe
herholen muß, wenn die Verpflichtung des Staates, für den Glanz und das
besondre Gedeihen einzelner Familien einzutreten, nachgewiesen werden soll, sei
hier Wort für Wort wiedergegeben. Sie lautet- „Die Stammgntsstiftung ist
eine Schöpfung, die, wie das Gepräge der Persönlichkeit des Stifters, so auch
die Zeichen fortgesetzter individueller Tätigkeit der Inhaber trägt, von vorn¬
herein als der Boden einer Familiengeschichte gemeint ist und den Zusannncnhang
vergangner und zukünftiger Geschlechter in sichtbarer Weise vermitteln soll.
Und weil eine solche Familiengeschichte in der Regel mit der Geschichte des
Landes durch die demselben gewidmeten Dienste eng verwachsen ist, so wirkt sie
kräftig ein auf das heranwachsende Geschlecht, ein weithin leuchtendes Vorbild
der .Hingebung an das Vaterland zu werden. Um der hohen politischen Be¬
deutung des Großgrundbesitzes willen erscheint die Beibehaltung des Instituts
geboten."
Wem diese Begründung einleuchtet, der halte sich daran. In der Tat liegt
die Sache viel einfacher, und man kommt ohne Schönrederei zu demselben
Ergebnis. Der Staat, wie er heute noch besteht, und wie ihm für lange Jahre
Kraft und Gedeihen zu wünschen ist, kann der besondern Art von Familien nicht
entraten, deren herkömmliche Gesinnung, die sogenannte Familientrnditiou, ihnen
ein uneigennütziges, oft sogar opferfreudiges Eintreten für den Staat und den
königlichen Dienst zu etwas ganz Natürlichem macht, und kleinliches, durch
Nahrungssorgen und gedrückte Verhältnisse herbeigeführtes Elend ist nicht der
Boden, auf dem diese einer freiern, selbständiger,? Entwicklung bedürftigen Na¬
turen gedeihen. Da nun die durch das Bürgerliche Gesetzbuch im Einver¬
ständnis mit dem allgemeinen Rechtsgefühl vorgeschriebne gleichmäßige Erb-
teiluug zwischen Abkömmlingen gleicher Stufe dazu angetan ist, bei Familien,
für die der Gelderwerb als Nebensache gilt, eine Zersplitterung und Verschuldung
des Familiengrundbesitzes herbeizuführen, die leicht in der dritten oder der vierten
Generation aus den Nachkommen eines Großgrundbesitzers betitelte oder unbe-
titelte Proletarier machen kann, so liegt es offenbar im Interesse des Staates,
Stiftungen, die einer solchen Zersplitterung und Verschuldung vorbeugen, Schutz,
Aufsicht und Forderung angedeihen zu lassen. In dem Augenblick, wo das
Familienfideikommiß durch den Eintritt des ersten Besitzers zur vollendeten
Tatsache wird, werden allerdings alle die Jntestaterbeu des Stifters, denen
nur der Pflichtteil verbleibt, um eine Vermögeusaussicht gebracht, und auch
der Anwärter, dem, sei es bei Lebzeiten des Stifters, sei es nach dessen Tode,
der Fideikvmmißbesitz zufällt, erleidet insofern eine Einbuße, als er auf den
Todesfall mir über seinen Pflichtteil verfügen kann, während ihm in Anbetracht
des Hcmptbcsitzes die Hände gebunden sind, aber ein Unrecht geschieht keinem,
denn der Stifter verfügt über das Seine innerhalb eines Kreises, für den er
nach allgemein anerkannten rechtlichen Grundsätzen völlig frei und unbeschränkt
ist. Wenn nun der Staat bei einer solchen Stiftung ebenfalls seine Rechnung
findet, weil ihm mit gutem Grunde an einem gewissem Prozentsatz in ein und
derselben Familie ungeteilt verbleibenden Großgrundbesitzes gelegen ist, so ist
es schwer einzusehen, warum man unter dem Vormunde, es handle sich
um die Wandrung rechtlicher Gleichheit, eiuer Veranstaltung entgegentreten
sollte, die, wenn sie sich auch noch außerdem aus landwirtschaftlichen Gründen
empfiehlt, vielseitigen Wünschen und den Forderungen des allgemeinen Wohls
entspricht.
Man würde sich täuschen, wenn man glaubte, es könne dem Staat an
Vcrwaltungsbecuntcn und an Offizieren schon um deswillen nie fehlen, weil
immer eine genügende Anzahl geeigneter Bewerber durch die Vorteile und den
blendenden, wenn auch nicht immer sich bewahrheitenden Schimmer der Stellungen
angelockt werden würde. Besetzen läßt sich freilich eine Stelle immer, wie ja
Sir John schließlich mit einem vollzähligen Kontingent abrückte, aber da es hierbei
doch vor allem auf die Qualität ankommt, so ist es gut, sich zu fragen. ob em
freier, gebildeter und unabhängiger Mann unter den heutigen Verhältnissen
uicht ein gutes Teil altherkömmlicher Familientradition braucht, wenn er sich
der einen oder der andern von zwei Karrieren zuwenden soll, aus denen widrige
Einflüsse von oben und von unten Bahnen gemacht haben, in Vergleich zu
denen die gefnhrlichsteu .Hindernispisten als ausruhende Spazierwege angesehen
werden können. Den Boden, der höhere Verwaltungsbeamte und Offiziere
hervorbringt, soll der Staat ja warm halten und sich dessen Kultur recht an¬
gelegen sein lassen. Das hat mit dem Adel und den berüchtigten Konnexionen
durchaus nichts zu tun, denn es kommt dabei ausschließlich auf Gesinnungen
und Lebensgewohnheiten an, die gewissermaßen das Harz, der natürliche Aus¬
fluß eines in der Familie stetig erhaltnen Großgrundbesitzes sind, und die man
weder auf Gymnasien noch ans Fachschulen wie den Homunkulus in der Re¬
torte Präparieren kann. So ungern es auch manche Leute zugeben, was der
Staat in dieser Beziehung braucht, sind die Blüten eines Baumes, der außer¬
halb des Königreichs fast nicht mehr angetroffen wird, und dessen Vorkommen
wir nur der diesem durch das hohenzollernsche Herrscherhaus zuteil gewordnen
einsichtigen und liebevollen Pflege verdanken. Man hüte sich zu glauben — und
das soll nur den staatserhaltenden Parteien zugerufen sein —. daß wenn es
einmal den Anarchisten und deu Svzialdemoiraten gegenüber an Rock und
Kragen gehn wird, halbgläubige, kühle, vom Pädagogen „fertig gestellte" Miet¬
linge genügen werden, den Staat vor völliger Zerrüttung zu bewahren. Es
wird wie zu Friedrichs des Großen Zeiten, wie 1813, 1849 und 1870 ganzer,
in der Wolle gefärbter Männer bedürfen, die weder an sich, noch an Weib und
Kind, noch an Geld und Gut denken und die Schlange des Aufruhrs und der
Empörung mit eigner Lebensgefahr zu erdrosseln bereit sind. Reiche Bankiers
und Kaufleute werden sich nach wie vor auf allen Snbskriptionsbogen aus¬
zeichnen, die von ihnen, die es trifft, werden auch, wie sie bisher getan haben, ohne
zu murren dem Vaterlande das Blut ihrer Sohne opfern, aber als die echten
Schwcizergarden, die Mnuu für Manu auf dem Posten fallen, werden sich die
aus den Familientraditionen hervorgegangnen und heransgewcichsenen Kämpfer
ausweisen, und da wir fürs erste keinen deutschen oder preußischen Ludwig den
Sechzehnten zu befürchten haben, dessen Verschwommenheit und Unentschlossenheit
Land und Thron zum Opfer fallen müßten, so kann man, solange die bisherige
Sorte nicht ausstirbt, dem Entscheidungskampfe mit Ruhe entgegensehen. Macht
man dagegen aus den Nachkommen derer, die heutzutage den Staat nicht als
eine zu melkende Kuh ansehen, sondern als etwas, dem man jedes Opfer an
Zeit, Geld und Blut schuldig ist, Proletarier, die der erste beste Windstoß bald
hier bald dorthin verweht, so wird man zu spät erkennen, daß man sich den
festen Boden unter den Füßen weggegraben hat, und auch die Musterknaben,
die alle Examina bestanden haben und jedem Regulativ bis aufs ez entsprechen,
werden uns nicht retten. Nichts ist dem Staate, der ein lebendes, wachsendes
und sich entwickelndes Wesen ist, so gefährlich als schematiches nivellieren, wie
es uns unter der gleisnerischem Parole „Freiheit und Gleichheit" von gewissen
Seiten angeraten wird. Der Staat würde dadurch zum Herbarium gemacht
werden, zwischen dessen Blättern die einst frischen und üppigen Pflanzen entfärbt
und vertrocknet liegen würden, die eine so flach und saftlos wie die andre.
Auf anderen Gebiete liegen die Erwägungen, die von der wirtschaftlichen
Bedeutung des Großgrundbesitzes und von dem heilsamen oder schädlichen Einflüsse
der Familienfideikommisse aus die Landwirtschaft ausgehn, und für deren Beur¬
teilung die Begründnugsschrift wertvolle authentische Unterlagen an die Hand
gibt. Am liebsten möchte man hier die Seiten 13 bis mit 18 dieser Schrift
samt den darauf abgedruckten statistischen Tabellen ihrem vollen Wortlaute nach
wiedergeben; da dies jedoch nicht möglich ist, so sei wenigstens das Haupt¬
sächlichste davon hervorgehoben.
Der Umstand, daß man mit jeder Familienfideikommißstiftung dem Leben
und dem freien Verkehr ein Stück Grund und Boden entzieht, an'vu «zu kalt,
wie sich ein französischer Schriftsteller ausdrückt, cinslcius «Kose ä'Arriü<zi«zI et
ä'ÄtroxluL, und daß man auf diese Weise in gewissem Sinne dem Gesetze des
unausgesetzten Werdens und Sichumgestaltens entgegenarbeitet, hat Männer,
deren Urteil wohl zu beherzigen ist, auf den Gedanken gebracht, daß die Ein¬
richtung des Familiensideikommisses einen lähmenden Einfluß auf die Land-
wirtschaft ausüben müsse. Die bekannten Klagen über die durch Latifundien
uuter Umständen hervorgerufncn Mißstände sind jedenfalls dann nicht unbe¬
rechtigt, wenn es sich um ein Übermaß des in derselben Hand vereinigten
Grundbesitzes handelt, und es kommt auch hier, wie in so vielen andern Füllen,
darauf an, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten und sich klar zu werden,
wo das schädliche Übermaß beginnt, und wo man es dagegen mit einer heil¬
samen Verteilung von großem, Mittlerin und kleinem Grundbesitz über das Land
zu tun hat. Da ist es nun ein unbestreitbarer Vorzug des Gesetzentwurfs,
daß er sich jedes Generalisierens enthält und vielmehr grundsätzlich davon aus¬
geht, daß die Frage, ob die Errichtung eines beabsichtigten Familiensidei¬
kommisses an, Platze sei, je nach den lokalen Verhältnissen des Kreises und der
Provinz zu beantworten sei.
Am Schlüsse des Jahres 1900, heißt es ans Seite 17 der Begründungs¬
schrift, umfaßte die Gesamtfläche der Fideikommisse in Preußen 2177148,4 Im
oder 6,24 vom Hundert der Gesamtfläche des Staates mit einem Grund-
fteuerreinertrage von 26686007,94 Mark ^ 5,97 vom Hundert des Ertrags
der gesamten Staatsflüche. Diese Gesamtflüche verteilte sich folgendermaßen auf
die einzelnen Provinzen:
Nrovim FideikommiMche Gesamtfläche steuerremertrag^ 6 » ^ Hundertteilcn in Hunderttmlen
'
In diesen Zahlen sind die Kron- und die Hausfideikommisfe von vier¬
undzwanzig Mitgliedern aus regierenden Häusern insgesamt mit 198 711 Im
sowie die Güter von achtunddreißig Standesherren mit 285967 Im mitenthalten,
die sämtlich von den Bestimmungen des Entwurfs unberührt bleiben, aber
dieser Umstand ändert nichts an dem für unsre Zwecke äußerst lehrreichen Er¬
gebnisse der statistischen Erhebungen, da aus ihnen deutlich hervorgeht, wie
verschieden in den einzelnen Provinzen das Verhältnis der Fideikommißfläche
zur Gesamtflüche ist. Denn während dieses für Hannover nur 1,96 vom
Hundert betrügt, steigt es für Schlesien auf 14,65 und für Hohenzollern sogar
auf 16,49 vom Hundert. Freilich können solche Zahlen, wie sich die Begrün¬
dungsschrift treffend ausdrückt, „nur auf diejenigen Stellen hinweisen, an denen
eine ungesunde Entwicklung der Besitzstandsverteilung am ehesten zu befürchten
sein würde." und es wird vielmehr von den einschlagenden Verhältnissen des
Orts abhängen, ob eine Vermehrung der Fideikommißgiitcr eines Bezirks und
mit ihr des gebuudnen Großgruudbesitzes wünschenswert erscheint oder nicht.
Da sich die Fideikommißbehörde gegenüber den königlichen Ministerien der
Justiz und für Landwirtschaft, Domänen und Forsten hierüber auszusprechen
haben wird, so darf angenommen werden, daß den hier in Betracht kommenden
tatsächlichen Verhältnissen jederzeit mit Umsicht und Sachkenntnis voll Rechnung
getragen werden wird. Über die künftige Ausbildung der Fideikommißbehörde
ist zurzeit noch nichts beschlossen worden. Man sollte glauben, es würde
sich dabei empfehlen, die Aufstellung der Tatsachen den Kreisbehörden, den
Vorsitz aber und die Berichterstattung dem 5)berpräsidenten zuzuweisen, da
hierdurch auf der einen Seite für eingehende Information gesorgt wäre, und man
andrerseits die Entscheidung über das abzugebende Gutachten nicht allzu aus¬
schließlich dem beim besten Willen zuweilen beeinflußten Urteile des dem Privat¬
interesse zu nahe gerückten Beamten überweisen würde.
Abgesehen von den allgemeinen Bedenken, die gegen die Fmnilienfidei-
kommisse um deswillen geltend gemacht werden, weil sie gewissermaßen dem
natürlichen Gange der Dinge zuwiderlaufen, indem sie das zu binden suchen,
was man sich lieber frei vorstellt, und das unbeweglich machen, was nach den
Gesetzen der Natur und des Lebens dazu bestimmt scheint, beweglich zu sein,
wird von manchen Seiten behauptet, ein Beweis dafür, daß die Fideikommisse
an und für sich der Landwirtschaft und durch sie dem Volkswohlstand unzu¬
träglich seien, werde durch die Tatsache erbracht, daß der Kulturzustand der
laudwirtschaftlich genutzten Fideikommißländereien im Durchschnitt geringer sei
als der des nicht gebundnen Besitzes, der Volkswohlstand werde also durch die
Gebundenheit geschädigt.
Und in der Tat scheint auf den ersten Blick der Umstand, daß wie aus
der oben wiedergegebnen Tabelle hervorgeht, von dem gesamten Grundsteuer¬
ertrag in Preußen nur 5,97 vom Hundert auf die Fideikommisse entfallen,
während deren Fläche 6,24 vom Hundert der Gesamtflüche des Staates aus¬
macht, diesen Vorwurf zu bestätigen. Aber diese Bestätigung ist nnr scheinbar,
und die Begründungsschrift weist eingehend nach, daß sich die durch die stati¬
stischen Erhebungen nachgewiesene Differenz von 0,17 zwischen dem Prozent¬
sätze des Ertrags der Fideikommißländereien und dem ihrer Gesamtfläche in
andrer, der Fidcikommißwirtschaft nicht zum Vorwurf gereichender Weise erklärt.
Es kommt hier nämlich die bekannte.Tatsache in Betracht, daß der Wald,
womit die Fideikommisse fast zur Hälfte bestanden sind, um ein Mehrfaches
geringer als landwirtschaftliches Kulturland eingeschätzt zu sein pflegt, und daß
dagegen da, „wo die Fideikommisse nur zu einem geringen Teile mit Wald
bedeckt sind, ihr Anteil am Reinertrage größer ist als an der Fläche. So stellt
sich zum Beispiel dies Verhältnis im Regierungsbezirke Stettin auf 7,02 zu
5,70, Stralsund 21,13 zu 20,70, Schleswig 9,23 zu 7,50 und im Regierungs¬
bezirk Aurich sogar auf 5,67 zu 2,92; ebenso weisen die Provinzen, in denen
der Fideikommißwald am geringsten ist, einen erheblichen Überschuß des Anteils
am Reinertrag über den Anteil an der Fläche auf, nämlich Ostpreußen 4,43
vom Hundert des Reinertrags gegen 3,48 vom Hundert der Fläche, Hannover
2,91 gegen 1,96, Schleswig-Holstein 9,23 gegen 7,50 und Pommern 10,01
gegen 7,03, obgleich auch in diesen Regierungsbezirken und Provinzen die
Fideikommisse immer noch mehr Holzungen aufweisen als die sonstigen Be¬
sitzungen." Der Ackerboden der Fideikommisse ist mithin, wie das auch mit
Rücksicht auf alle einschlagenden Verhältnisse nicht wunder nehmen kann, kein
geringerer als der des freien Grundbesitzes.
Durch die Erwähnung des Waldes sind wir zu dem Punkte gekommen,
der für die Frage über die volkswirtschaftlichen Vorteile der Familienfideikommisse
geradezu ausschlaggebende Bedeutung hat. Von? Walde gilt noch heute, was
Riehl von ihm sagt, daß er ein treuer Freund und ein großer Wohltäter der
mit ihm bestandnen Gegenden sei. Die Begründungsschrift erwähnt die „soge¬
nannten Schutzwälder, die dem Schutze gegen örtliche Gefahren, z. B. Ver¬
sandung, Steingeröll, Abschwemmen des Bodens, Überflutung, Eisgang, Ein¬
wirkung der Seewinde an der Meeresküste dienen," sie bemerkt, daß „die
Bedeutung des Waldes vornehmlich in seiner Einwirkung auf die Beschaffenheit
der gesamten Witterungsverhültnisse und auf den Wasserhaushalt der Flüsse
sowie in der Möglichkeit gewinnbringender Ausnutzung der zur Landwirtschaft
nicht geeigneten Flächen bestehe." Von nicht zu unterschützendem Werte, fügt
sie mit Recht hinzu, „sei auch die Vermehrung der Arbeitsgelegenheit durch aus¬
gedehnte Waldflächen, namentlich im Winter, die wiederum, wie sich statistisch
mit ziemlicher Sicherheit nachweisen lasse, eine den Abfluß der ländlichen Be¬
völkerung hemmende Wirkung ausübe."
Für die Verdienste des Waldes um den Menschen und die Gesellschaft ist
man lange Zeit blind gewesen, und es ist erstaunlich, wie sich noch heutigen¬
tags Leute über diesen Gegenstand ein Urteil zutrauen, die nie mit offnen
Angen in echten Waldgegenden gelebt haben und ihre Wissenschaft nur aus
Büchern und statistischen Tabellen schöpfen. Wenn sie je in einer Gegend
gelebt hätten, wo sich der kleine Grundbesitz — er wird mitunter sogar als
Zwergbesitz bezeichnet - ohne merklichen Abfluß nach den Industriezentren nur
deshalb erhält, weil es ihm gelingt, Ausgaben und Einnahmen durch den Ver¬
dienst ins Gleichgewicht zu bringen, den er Sommer und Winter in den benach¬
barten, seine Ortschaft zuweilen sogar wie das Meer eine Insel rings um¬
schließenden Forsten findet, so würden sie wissen, welche Wohltat ausgebreitete
Forsten für gewisse Gegenden sind, und nicht in das vielfach mißverstandne
und gemißbraucht Feldgeschrei einstimmen, vor allen Dingen und um jeden
Preis gelte es, „Ackerboden" und wieder Ackerboden zu gewinnen.
Wer mit dem Heer und mit Rekrutierungen zu tun gehabt hat, weiß, daß
kein andres Material den halb auf dem Felde, halb in frischer Waldluft auf¬
gewachsene», durch Feld- wie dnrch Waldarbeit gestählten jungen Mannschaften
gleichkommt, und wer sowohl in reinen Ackcrbaugegendcn als in Landstrichen, die
mit größern Waldungen durchsetzt sind, gelebt und dabei Gelegenheit gehabt hat,
Land und Leute im täglichen Verkehr wirklich kennen zu lernen, der weiß den
Unterschied zwischen Bewohnern von Walddörfern und reinen Ackerbauern zu
würdigen. Wenn Walderdbeeren nicht kleiner zu sein pflegten als Garten- und
Bergerdbeeren, so könnte man den Waldbauern mit jenen, den Feld- und Wiesen¬
bauern mit diesen vergleichen. Ja, die jungen Leute, die im Frühjahr, Sommer
und Herbst meist die ganze Woche mit Ausnahme der Nacht vom Sonnabend
zum Sonntag auch im Walde schlafen und sich zur Winterzeit im Bäumefällen,
Holzhacken und Wurzeluansgraben nur dnrch außergewöhnlich scharfen Frost
oder gar zu widrigen Schneesturm unterbrechen lassen, sind dnrch den frischen
Waldesvdem so verwöhnt, daß sie als Rekruten über den Übelstand, der als
"Muff" bezeichnet wird, noch immer die Nasen rümpfen, wenn sich die andern
schon längst daran gewöhnt haben, und nicht selten allerhand stäupen durch¬
machen, ehe sie die weniger reine und bisweilen allerdings kaum erfreuliche
Luft der Kasernen-Stuben und Schlafsüle vertragen lernen. Wie das Schweigen des
Waldes und dessen kühle, reinere Luft allem, was er enthält, Pflanzen wie Tieren
gedeihlich sind, so erhalten sie auch den Menschen besonders frisch und leistungs¬
fähig, und es ist keine bloße Einbildung, wenn es den Städter und den Feld¬
bauer immer von neuem mit unwiderstehlicher Sehnsucht in den Wald zieht.
Diesen wohltätigen Einfluß des Waldes auf das heranwachsende Geschlecht
haben freilich der Gesetzentwurf und dessen Begründung weniger im Ange ge-
632
habt, aber daß ausgedehnte Fvrstslächen in den allermeisten Fällen ein Segen
für die Gegenden sind, worin wir sie antreffen, darüber ist man sich ja ans
allerhand andern Gründen ohnehin einig. Darum ist auch der von der Be-
gründungsschrift durch statistische Tabellen erbrachte Nachweis, daß die durch¬
schnittliche Bewaldung der Fideikommisse fast das Doppelte der allgemeinen
Durchschuittsbewaldung erreiche, besonders wichtig, er steht wegen der großen
Wichtigkeit der Waldungen für die Landeskultur unter den volkswirtschaftlichen
Gründen, aus denen sich die Beibehaltung der Familieufideikommisse empfiehlt,
obenan. Erstaunlich ist ja das Überwiegen der Forstkultur in der Fideikommiß-
wirtschaft nicht. „Der Forstbetrieb, sagt die Begründuugsschrift in dieser Be¬
ziehung, erfordert ausgedehnte Flächen, weil eine geregelte Schlagwirtschaft mir
auf solchen möglich ist, und sich die Anstellung von höher gebildeten Forst¬
beamten nur für Waldungen von größerm Umfange lohnt. Da ein Ausreifen¬
lassen des Holzkapitals auf dem Stamm oder auch nur eine genaue Einhaltung
des einmal aufgestellten Wirtschaftsplans Opfer bedingt, die der gegenwärtige
Besitzer häufig für den künftigen bringen muß, so Pflegt die Anlegung und Er¬
haltung planmäßig bewirtschafteter Wälder, namentlich solcher mit langen
Umtriebszeiten nur dort üblich zu sein, wo der Besitzer sicher ist, daß das von
ihm gebrachte Opfer entweder ihm selbst oder seinen Nachkommen zugute kommt.
Der letztere Fall trifft bei dem Fideikommißbesitzer zu. Es erscheint daher die
Waldwirtschaft gleichsam als die den Fideikommissen naturgemäße, zumal da
sie auch mir geringes Betriebskapital erfordert. Die statistischen Nachweise er¬
geben denn auch, daß ein verhältnismäßig großer Teil der Fideikommißfläche
der Waldwirtschaft gewidmet ist. Während nämlich der 34862432,6 lig, um¬
fassenden Gesamtfläche des Staates eine Gesamtwaldfläche von nur 8270133,5 da
oder 23,72 vom Hundert gegenübersteht, beträgt die Gesamtfläche aller Fidei-
kommißwaldungen 999990,2 Iisi oder 45,93 vom Hundert der 2177148,4 ils
umfassenden Gesamtfläche der Fidcil'ommisse."
In Hessen-Nassau und in Hohenzollern sind die Verhältniszahlen der Fidei-
kommißwaldfläche in Hunderttcilen der Fideikommißgesamtfläche mit 62,96 und
77,78 die beiden höchsten, während dieselbe Verhältniszahl für Schleswig-
Holstein mit 18,53 die niedrigste in den dreizehn Provinzen ist.
Daß ein Gesetz, das unter Beibehaltung der Familieufideikommisse die
Nenregelung dieser Materie bezweckt, nie besonders populär sein und auf
mancherlei Widerspruch stoßen wird, liegt im Geiste der Zeit, aber die Grund¬
sätze, von denen der Gesetzgeber ausgeht, sind durchaus gesund und liberal:
man kann ihm deshalb um so aufrichtiger und unbedingter beistimmen, je um¬
sichtiger und billiger er hierbei, was die Einzelheiten anlangt, in jeder Weise
verfahren ist. Das Hauptsächlichste der beabsichtigten Neuerungen und der bei-
bchaltnen bisherigen Bestimmungen dem Leser vor Augen zu führen, wird der
Zweck der zweiten Hälfte dieses Berichts sein.
(Schluß folgt)
>
u den Lieblingskindern der amerikanischen Unternehmungslust
gehört die Schiffahrt nicht, wenigstens jetzt nicht. Es gab eine
Zeit, da warf man sich in den Vereinigten Staaten mit großem
5ifer auf die Reederei. Das war in den vierziger und fünfziger
! Jahren des vorigen Jahrhunderts. In England war die Eiche,
der damals allein maßgebende Rohstoff für den Schiffbau. schon sehr spärlich
geworden. Deutschland war noch nicht kapitalkräftig genug, und England
Wetteifer.: zu können, auch waren noch fast alle Länder durch scharfe Gesetze
der Einfuhr von Waren durch fremde Schiffe verschlossen; sogar in England
bestand die von Cromwell erlassene Navigationsakte noch bis 1849; auch
fehlte in Deutschland noch die nationale Zuversicht, der Rückhalt an einer
Kriegsflotte. In deu Vereinigten Staaten dagegen gab es noch unerschöpflich
erscheinende Eichenwälder, das nationale Selbstvertrauen ließ nichts zu wünschen
übrig, und endlich hatte, da die Eisenbahnen nach dem fernen Westen noch
nicht erbaut waren, der Zug dorthin die Menschen noch nicht so erfaßt. Die
nordamerikanische Technik hat von jeher auf eitler großen Höhe gestanden, da
man alles aufbieten mußte, Arbeit zu ersparen. Damals widmete auch sie sich
eifrig dem Schiffbau. In einer gewissen Richtung erreichte sie eine führende
Rolle; sie erfand das „Klipperschiff," einen Segler von langem, schmalem,
außerordentlich „scharfem" Bau, dessen Ladnngsfähigkeit allerdings nicht groß
war, der aber sehr hoch und breit getakelt war, sodaß die Segel im Ver¬
hältnis zum Rumpf dem Winde eine viel breitere Fläche boten, als man sonst
anzuwenden wagte. Diese Klipper waren Schnellsegler ersten Ranges. Dampfer
hatte man damals auf den weiten Ozeanfahrten noch nicht. Da nun die Ein¬
fuhr von Tee neuer Ernte mit möglichster Beschleunigung geschehen mußte,
und der Tee so rasch wie möglich von den Nachteilen des Aufenthalts im
Schiffsraum befreit werden mußte. so fand sich für die Klipper eine überaus
lohnende Verwendung. Ein hohes Alter erreichten sie jedoch sämtlich nicht,
die hohe Takelung war zu gefährlich, und bald machten auch die Fortschritte
der Dampfschiffahrt ihrer Bedeutung ein Ende.
Um 1860 stand die nvrdameriianische Handelsflotte, wenn man die Küsten¬
schiffahrt und die Fahrzeuge auf den großen Seen einrechnete, der englischen
ganz nahe; 1858 hatte sie über fünf Millionen Tonnen. Die englische stand
1859 auf 56090V0. Bald sollte das Schicksal eine jähe Änderung hervor¬
bringen. Die Handelsflotte der Amerikaner war beinahe ausschließlich im
Besitz der Nordstaaten. Als nun 1861 der Bürgerkrieg ausbrach, und die
Südstaaten weder eine Kriegsflotte hatten, und der sie operieren konnten, noch
eine Handelsflotte, die ihren Handel vermitteln konnte, die sie aber auch zur
See verwundbar gemacht hätte, beschlossen sie, die Handelsflotte der Nord¬
staaten zu zerstören. Sie rüsteten Kaperschiffe aus, unter andern die allbe¬
kannten „Alabama" und „Shenandoah," und diese schössen die vortrefflichen
nordamerikanischen Fregatten, Barken, Klipper und Schoner in den Grund
oder verbrannten sie auf offner See; nur die Chronometer pflegten sie an sich
zu nehmen. Nicht nur die Verluste durch die Zerstörung selbst bewirkten eine
Verringerung der nordamerikanischen Flagge, sondern weit mehr noch die Angst
vor den Kapern. Die Eigentümer verkauften, so rasch sie konnten, ihre Fahr¬
zeuge nach England, Deutschland, Frankreich, Norwegen. Ungefähr zu der¬
selben Zeit errang der Eisenschiffbnu seinen völligen Sieg über die Holz¬
konstruktion. Immer mehr drang der Dampfer auf Kosten der Segelschiffe
vor, und für ihn war von vornherein das Eisen der gegebne Baustoff, sogar
Segler baute man seit etwa 1865 mit Erfolg ans Eisen. Damit neigte sich
das Zünglein der Wage wieder entscheidend ans Englands Seite. Denn an
Eisen und Steinkohle war es damals viel reicher als Nordamerika, dessen
Eisenbestände fortan für den Schiffbau nicht mehr in Betracht kamen.
Noch in einer andern Beziehung bedeutete der Bürgerkrieg einen Wende¬
punkt für die nordamerikanische Handelsflotte. Der Kampf zwischen Norden
und Süden betraf nicht nur die Sklavenfrage, er war zugleich ein Kampf um
Schutzzoll und Freihandel. Der Schutzzoll siegte. Eisen, das man damals
noch in Menge aus England bezog, wurde einem hohen Zoll unterworfen,
ebenso alle andern zum Schiffbau nötigen Dinge. Dadurch verteuerten sich
natürlich die Erzeugnisse der amerikanischen Schiffswerften, die ohnehin schon
mit höhern Arbeitslöhnen zu tun hatten. Die Gesetzgebung fühlte sich ver¬
pflichtet, die Schiffbauer zu entschädigen, und bestimmte, daß im Auslande
gebaute Schiffe nur denn unter nordnmerikninsche Flagge gebracht werden
könnten, wenn sie im Kriege gekapert und kondemniert seien, oder wenn sie
wegen Verletzung der Zollgesetze für deu Staat in Beschlag genommen worden
seien. Nun war die Reederei der leidende Teil. Da die in Amerika gebauten
Schiffe nicht mit den englischen, deutschen, norwegischen konkurrieren konnten,
so konnten die Reeber den Schiffswerften auch keine Aufträge geben. Wieder
griff die Gesetzgebung ein, dieses mal um die Reeber zu entschädigen. Sie
bestimmte, daß die Küstenschiffahrt der amerikanischen Flagge vorbehalten
bleiben sollte. Unter Küstenschiffahrt verstand man aber nicht etwa nur einen
Verkehr wie zwischen Boston und Newyork, sondern überhaupt zwischen zwei
Häfen der Vereinigten Staaten, sogar zwischen Boston und San Francisco.
Damit war für die nächsten Jahrzehnte der Entwicklungsgang der amerikanischen
Handelsflotte entschieden: Stantshilfe und Staatsbelüstignng, die einander teil¬
weise kompensierten; die Freiheit litt unter allen Umstünden dabei.
Ehe wir das Ergebnis betrachten, wollen wir noch eines Einflusses ge¬
denken, der stark hervortritt. Die Seeschiffahrt ist ihrer Natur nach ein inter¬
nationales Gewerbe; der Verkehr geht von Land zu Land, da man die fremden
Fahrzeuge nicht ausschließen kann, heutzutage wenigstens nicht mehr. Die
nordamerikanische Volkswirtschaft muß mit einem ganz ungeheuern Waren-
transport rechnen, sie muß um Getreide, Fleischwaren. Baumwolle, Tabak
riesenhafte Mengen ausführen, die ihr sonst wertlos werden. Die Wohlfeilheit
des Transports ist deshalb der Vorteil des ganzen Landes, somit hatte
niemand ein Interesse daran, etwa aus schntzzöllnerischen Gründen die Frachten
zu Verteilern. Der ausländische Schiffer war eben mit einer Entlohnung zu¬
frieden, die dem Amerikaner ungenügend erschien. So wandte sich dann dieser
der Seefahrt immer weniger zu. Er suchte lohnende Beschäftigungen auf in
der Industrie, deren Erträge er durch Schutzzölle hinaustreiben konnte, in der
Landwirtschaft, für die die natürlichen Bedingungen außerordentlich günstig
waren. Er war zuweilen ganz stolz darauf, daß er sich „andre Nationen
halten könne, die ihm die weniger gewinnbringende Arbeit der Seeschiffahrt
abnähmen."
Unter diesen Umständen konnte sich nur die Küstenfahrerflotte und der
Bestand an Schiffen auf den großen Süßwasserseen entwickeln. Die Ozean¬
schiffahrt mußte einen Krebsgang gehn. Daraus, daß die Ozeanflotte (also
ohne Secnflotte und Küstenfahrer) von 2019000 Tonnen netto im Jahre 1861
ans 1359000 Tonnen im Jahre 1864 zurückging, kann man die verderbliche
Wirksamkeit der südstaatlichen Kaperschiffe ersehen. Rechnet man die Küsten-
und die Seeuschiffahrt ein, so sind für 1879 2565000 Tonnen netto, für 1901
aber nur 2310000 Tonnen verzeichnet, und zwar trotz der stetigen Zunahme
der Küsten- und der Seenschiffahrt, die also durch einen stetigen Rückgang der
Ozeanflotte mehr als ausgeglichen sein muß. Am 30. Juni 1899 hatte die
amerikanische Ozeanflotte nur noch 837000 Tonnen brutto, was etwa
500000 Tonnen netto entsprach. Den besten Anhalt für den Rückgang der
amerikanischen Ozeanflotte hat man darin, daß 1860 in englischen Häfen
2730000 Tonnen unter der Flagge der Vereinigten Staate,? ankamen, 1900
uur noch 196000. So ist das Sternenbanner verdrängt worden. — Da¬
gegen ist seit 1859 die englische Handelsflotte von 5609000 Tonnen ans
10169000 Tonnen netto im Jahre 1901 gestiegen. Sogar die damals weit
zurückstehende deutsche Ozeanflotte hat die nordamerikanische weit überflügelt;
rechnet man dieser aber die Süßseen- und beiderseits die Küstenflotte hinzu,
so ist die deutsche mit 2084000 Tonnen (1901) mir noch um 226000 Tonnen
Zurück. Die deutsche ist aber bedeutend wertvoller und leistungsfähiger, weil
sie überwiegend aus Ozeandampfern, zum Teil der allerwertvollsten Klasse
besteht.
Die Gleichgiltigkeit des Amerikaners gegen seine Handelsflotte hat auf¬
gehört. Die Schlagworte vom Schutz der nationalen Arbeit und vom Brote,
das man nicht den eignen Kindern nehmen soll, um es deu fremden zu geben,
werden von den Interessenten der Reederei, des Schiffbaues und der Eisen¬
erz eugnng mit Geschicklichkeit gehandhabt, und sie haben bis zu einem gewissen
Grade ihren Dienst getan. Die Unionsregierung hat im Verein mit dem
Kongreß Prämien ausgesetzt und auch erhöht, die an die Reeber gezahlt werden,
ohne daß diese eine Gegenleistung dafür schuldig wären. Die Prämien Stufen
sich nach der Größe und der Schnelligkeit des Schiffes, sowie nach der Zahl
der zurückgelegten Meilen ub. Man wollte hauptsächlich eine Flotte leistungs-
fähigster Schnelldampfer zustande bringen. Die Erfolge waren jedoch, wie fich
aus den mitgeteilten Zahlen ergibt, gering.
Der Krieg mit Spanien hat den Chauvinismus, oder wie man jenseits
des Weltmeeres sagt, den Imperialismus stark angefacht. Man fühlte doch,
wie wenig man sogar auf einen Krieg mit einer morschen Macht dritten
Ranges, wie Spanien es war, vorbereitet war. Die Kriegsflotte entschied
zwar schließlich deu ungleichen Kampf, aber erst nach langer Zeit und auf
nicht übermäßig ruhmvolle Weise. Seitdem ist das Verlangen nach Ver¬
stärkung der Flotte eine stehende Rubrik in der imperialistischen Presse, und
Präsident Noosevelt gibt ihm in jeder Rede Ausdruck; große Bewilligungen
sind schon erfolgt. Der Beschluß, den Panamakanal zu bauen, entspringt
ähnlichen Gründen. Man hat im Großen Ozean die hawaischen Inseln und
die Philippinen errungen und hat begreiflicherweise das Verlangen, für einen
ausreichenden Flottenschutz zu sorgen. In Ostasien entfaltet man eine endige
Politik. Die Mandschurei will mau nicht in das Eigentum Rußlands über¬
gehn lassen; in den Märkten Chinas, Koreas, Japans sehen die Amerikaner
ein Absatzgebiet ersten Ranges für ihre Ausfuhrindustrie. Die Plänkler des
Chauvinismus haben sich schon so weit vorgewagt, zu erklären, der Große
Ozean müsse unter nordamerikanische Kontrolle kommen. Die Vereinigten
Staaten sehen sich nämlich als die einzige pazifische Großmacht um; nur ihre
Küsten bespülen die Wogen des größten aller Weltmeere; alle andern Mächte
berührten es nur durch Kolonien. Japan, obschon im Besitze von Macht¬
mitteln, und obschon ihm der pazifische Charakter nicht abgesprochen werden
könne, käme als mongolisch nicht in Betracht; die süd- und die mittel¬
amerikanischen Staaten seien zu schwach, als daß sie berücksichtigt zu werden
brauchten.
Wollen die Vereinigten Staaten ihre Machtmittel gegen fremde Länder
wenden, so müssen sie sich vor allem auf die Kriegsflotte werfen. Denn daß
sie in ihrem eignen Weltteil durch fremde Armeen angegriffen werden könnten,
ist ausgeschlossen, ebenso der Transport eigner Armeen nach fremden Welt¬
teilen. Für eine Kriegsflotte ist es aber unerläßlich, daß sie ihre Mann¬
schaften aus den Besatzungen der Handelsflotte rekrutieren kann. Soll sie
groß sein, so muß diese ein beträchtliches Personal bieten können. Das sind
naheliegende Argumente auch für ganz uneigennützige Politiker. In Amerika
werden sie mit lautem Paukenschall verkündet, von Leuten, die an der Reederei,
dem Schiffbau und der Eisenproduktion verdienen wollen. Es wurde auf
diese Weise eine Bewegung zur abermaligen Erhöhung der Schifsahrtssnbvention
durch den Staat entfacht. Die bisherigen Prämien hatten nicht den rechten
Erfolg gehabt, also — das war die immer wiederholte Argumentation — muß
man sie erhöhen. Die Vertreter Maines, des Staates, wo der Schiffbau am
lebhaftesten betrieben wird, arbeiteten einen ganz detaillierten Gesetzentwurf
über die Erhöhung der Subsidien aus. Der Bundessenat hat das Gesetz «in
17. März 1902 mit 42 gegen 31 Stimmen angenommen und darin die Vor¬
kehrung getroffen, daß bis zum 1. Juli 1907 jährlich 5 Millionen Dollars
(21 Millionen Mark) und von da ub 8 Millionen Dollars (34 Millionen
Mary jährlich für Schiffahrtsprämien ausgegeben werden dürften. Wohlge-
merkt: das sollte ein reines Geschenk, ohne Gegenleistung, sein, während die
deutsche Subvention 6,9 Millionen betrügt, und zwar unter ganz bedeutenden
Gegenleistungen, die das Geschäft für die unternehmenden Reedereien sehr
verlustbringend gemacht haben.
Dieses amerikanische Gesetz ist aber niemals zustande gekommen. Es hat
nicht die Genehmigung des Repräsentantenhauses erlangt. Inzwischen war
nämlich gegen die Trusts eine große Erbitterung aufgekommen. Man sah
^~ ob mit Recht oder mit Unrecht, braucht hier nicht erörtert zu werden — die
Prämien als ein Staatsgcscheuk an die verhaßten Trusts (Stahltrust und Schiff¬
bautrust) an. Schon 1900 hat der Gesetzentwurf den Kongreß beschäftigt;
damals stellte man ihn zurück, weil mau fürchtete, er könnte die Präsidenten¬
wahl im November 1900 nachteilig beeinflussen. Im folgenden Winter nahm der
Senat, wie erwähnt, das Gesetz an, aber im Neprüsentantenhause vermieden
seine Freunde eine Abstimmung, weil sie wegen der allgemein gewachsenen Ab¬
neigung eine Ablehnung befürchteten. Dabei ist es bis jetzt geblieben.
Im Frühjahr 1902 kam Morgan mit seinem Schiffahrttrnst heraus. Nach
Ansicht von Kennern der amerikanischen Verhältnisse war das ein Zeichen, daß er
und seine Freunde nicht mehr ans die Annahme des Gesetzes rechneten, denn daß
man dem Obersten des Trustwesens, John Picrpont Morgan, keine Staatssub¬
ventionen bewilligen würde, mußte er gerade so sicher annehmen wie alle Welt.
Als Morgan eine ganze Anzahl englischer Dampferliuien kaufte, blies
die amerikanische Reklame mit vollen Backen: die Kontrolle der Ozeanschiffahrt
muß von England auf die Vereinigten Staaten übergehn. Das war in jeder
Beziehung eine unerträgliche Dicktuerei. Zunächst stand im Wege, daß auch
nach dein neuern Gesetz im Ausland gebaute Schiffe nur durch besondern
Kongrcßbeschluß amerikanische Flaggen erhalten können, und auch nur dann,
wenn der Eigentümer zugleich ebensoviel gleichgroße Schiffe in Amerika er¬
bauen läßt. Einige wenige Schiffe sind so auf diese Weise der muerikanischeu
Flotte hinzugefügt worden. Morgens Schiffe fahren noch heute unter eng¬
lischer Flagge. Und auch wenn der Flaggenwechsel möglich gemacht würde:
^e ganze Morganflotte, die frühern amerikanischen Linien eingeschlossen, hat
"ur 1,1 Million Brnttotonnen. Was bedeutet das gegen die englische
Dnmpferflvttc, die nicht weniger als 13,5 Millionen Bruttotonnen hat!
Die Morgausche Trustunternehmnng füllt nicht eigentlich in den Rahmen
der amerikanischen Handelsflotte. Als amerikanisches Recdereiunteruehmen darf
sie hier aber doch in Betracht gezogen werden. Da ist es denn bezeichnend,
daß die Sache so ganz anders angefaßt worden ist als in England und
in Deutschland. In diesen beiden an der Spitze der Wcltschiffahrt stehenden
Ländern beginnen Fachmänner des Needereigeschäfts eine Unternehmung. Vor¬
sichtig erproben sie den Boden, und erst wenn sie ihn tragfähig finden, dehnen
sie das Geschäft aus. Die großen Linien haben sämtlich ein Alter von
mehreren Jahrzehnten, die beiden deutschen sind 46 Jahre alt. In ihren
Vorstünden, ihrem Verwaltnngspersonal liegt eine ganze Summe von Erfahrung..
Der amerikanische Milliardär macht das anders. Er spintisiert über „Kombi-
Nation," „Kontrolle," „monopolistische Marktbeherrschung." Erscheint ihm der
Augenblick geeignet, so greift er zu. Fachmännische Erfahrung braucht er nicht.
Die dauernde Blüte des Unternehmens ist auch gnr nicht sein Zweck, sondern die
„Mache" des Trusts. Nach der Gründung und nach geschickter mi»<z en sehne
will er nur die Aktien mit gehörigem Profit an das Publikum abstoßen.
Als sich Morgan zu seinem Schritt entschloß, machte es ihm wenig aus,
daß er die englischen Linien weit über ihren Wert bezahlte. Eine solche
„Kleinigkeit" mußte mit dein großen Schwamm ausgewischt werden. Er
gründete eine Gesellschaft, die International Merccmtile Marine Company, mit
60 Millionen Dollars Vorzugs-, 60 Millionen Dollars Stammaktien und
75 Millionen Dollars 4^prozentiger Schuldverschreibungen. Davon sind aller¬
dings nur 52 Millionen Dollars Vorzugsaktien und 48 Millionen Stamm¬
aktien nebst 50 Millionen Schuldverschreibungen ausgegeben worden. Das
sind 150 Millionen Dollars gleich 635 Millionen Mark für eine Flotte von
1,1 Million Bruttotonnen, worunter die meisten Schiffe altere Frachtdampfer
sind. Dagegen steht der Flotte der beiden deutscheu Linien, zusammen von
1233000 Bruttotonnen, von denen die meisten wertvolle Passagierdampfer
und ein immerhin ansehnlicher Teil die herrlichsten Schiffe der Welt betreffen,
nur knapp eine Kapitalbelastung von 300 Millionen Mark gegenüber. Jede
Tonne im Morganschen Trust ist also mehr als doppelt so teuer als jede
Tonne der deutschen Linien. Um so viel ist das Morgcmsche Kapital „ge¬
wässert," d. h. mir fiktiven Werten belastet. Für die Stammaktien dürfte
weder eine Einzahlung geleistet noch sonst irgend ein Aktivum eingebracht
worden sein. Auch wenn man durch dieses Schwiudelpapier einen Strich
macht, bleibt die geringwertige Morgcmsche Flotte für die Tonne noch um
mehr als ein Drittel teurer als die der deutschen Linien.
Die Konzentration des Geschäfts konnte zu Vorteilen führen. Überflüssige
Schiffsexpeditionen konnten wegfallen, ebenso das gegenseitige Unterbieten in
Frachten und Passagepreisen, die Reklame konnte stark vermindert werden; mit
dem Bauen neuer Schiffe konnte man ein langsameres Tempo einschlagen-
Davon ist sehr wenig verwirklicht worden. Der Gang der Geschäfte wurde
an den Börsen von London und Newyork sehr ungünstig geschätzt, sodaß sogar
die Preferrcd Shares (die Vorzugsaktien) unter zwanzig Prozent ihres Werth
gesunken sind, während die Common Shares, die allerdings niemals einen
wirklichen Wert gehabt haben, zu neun Prozent völlig unverkäuflich waren-
Es ist also mit Recht von einem Krach gesprochen, dem der Morgantrust ver¬
fallen ist. Er setzt seine Geschäfte fort, hat sogar eine Halbjahrsdividcnde
von drei Prozent für die Vorzugsaktien erklärt, was aber wohl nur geschehen
ist, um die verlangte Einzahlung der letzten Rate von fünf Millionen Dollars
auf die Vorzugsaktien zu erleichtern. Man kann aber schon jetzt sagen, daß
dieser Angriff des amerikanischen Niesenkavitals auf die freie, fachmännische
Ozcanreederei abgeschlagen ist. Mit der Kontrolle der atlantischen Schiffahrt
durch die Newyorker Milliardäre ist es noch nichts.
Als die amerikanischen Schiffbauer und ihre Mitinteressentcn sahen, daß
aus der erhofften Subsidieuerhöhuug nichts werden könne, traten anch sie zu
einem Trust zusammen. Auch bei ihm spielte die Überkapitalisierung oder die
„Wässerung" eine entscheidende Rolle. Obwohl die eingebrachten Werte nicht
mehr als 14 Millionen Dollars wert gewesen sein sollen, wurden 20 Millionen
Dollars Vorzugsaktien, 25 Millionen Stammaktien und 24 (nach andern Quellen
26) Millionen Obligationen ausgegeben. Zusammen 69 Millionen Dollars.
Einen Teil von diesen Werten haben die schlauen Gründer dem Publikum
aufgehängt. Bald stellte sich aber heraus, daß für die riesigen Werften, so
vortrefflich sie in technischer Beziehung auch eingerichtet waren, keine genügende
Beschäftigung zu haben war. Schon im Ma 1903 mußte man zu einer
„Sanierung" schreiten. Das Obligationskapital wurde von 24 auf 12 Mil¬
lionen Dollars herabgesetzt, die Vorzugsaktien von 20 auf 16 und die Stamm¬
aktien von 25 auf 15 Millionen Dollars. Blieben also 43 Millionen Dollars,
was immer noch viel zu viel war. Man konnte nicht einmal die Obligations¬
zinsen aufbringen. Im Juli sprach das Gericht den Konkurs aus. nachdem
es Morgan. der auch hierbei beteiligt war, nicht gelungen war, entscheidend
zu intervenieren. Dabei gewann man einen Einblick in die Machenschaften
der Trustleutc. Der vom Stahltrust bekannte Schwab soll die Aktien der
Bethlehem Eisenwerke zu drei Millionen Dollars gekauft haben; er verkaufte sie
mit Gewinn an Morgan, und dieser verkaufte sie für nenn Millionen Dollars
an Schwab zurück, der sie dem Schiffbantrust aufhängte. Er erhielt, so wird
berichtet, nominell dreißig Millionen Dollars dafür, nämlich zehn Millionen
Dollars in Obligationen (inzwischen reduziert auf fünf Millionen), zehn Millionen
Dollars in Vorzugsaktien (reduziert auf acht Millionen) und zehn Millionen
Dollars in Stammaktien (reduziert auf sechs Millionen). Wenn nun die Stamm¬
aktien auch von vornherein keinen Cent mehr wert gewesen sind, so sind doch riesige
Schwindelgewinne an den übrigen Papieren und im ganzen gemacht worden, die
allerdings sehr bald das ganze Kartenhaus zum Einsturz gebracht haben. Der
Konkursrichter hat festgestellt, daß der Trust gar nicht für legitime Geschäfts¬
zwecke gegründet worden war. sondern zu unsinnigen Preisen Fabriken zum
Nachteil des gutgläubigen Publikums einbringen sollte. Man sprach von straf¬
rechtlicher Verfolgung der Beteiligten, was in Amerika viel sagen will.
Welchen dauernden Einfluß diese Vorgänge auf die amerikanische Handels¬
flotte haben werden, läßt sich noch nicht übersehen. Die letzten Jahre haben
im Schiffbau eine ungewöhnlich rege Tätigkeit gesehen, die Handelsflotte hat
mehr als gewöhnlich an neuen Schiffen gewonnen und steht wieder in einem
Stadium des Wachstums. Doch betrug die Ozeanflotte Mitte 1901 immer
nur erst 879000 Tonnen brutto, also nnr 40000 Tonnen mehr als zwei
Jahre vorher. Der im ganzen ansehnliche Gewinn entfällt eben beinahe aus¬
schließlich ans die Küsten- und Scenflottc. Es wäre leicht möglich, daß die
Schwindeleien den ganzen Zweig des Gewerbelebens in Nordamerika sehr
nachteilig beeinflußten.
le Grenzboten haben schon wiederholt die große Wichtigkeit des
Versicherungswesens für die Allgemeinheit und für den Einzelnen
besprochen, nicht minder freilich „die unbilligen Versicherungs-
bedingnngen der privaten Versicherungsgesellschaften" gerügt*)
und eine größere Rücksicht auf den Standpunkt des Versicherten
als des minder starken und minder einsichtigen, nnter der Herrschaft des bis¬
herigen Rechts vor „Ausbeutung der Vertragsfreiheit" uicht hinreichend ge¬
schützten Teiles gefordert.
Inzwischen ist die eine Seite des privaten Versicherungswesens, die öffent¬
lich-rechtliche, in dem Reichsgesetze vom 12, Mai 1901 geordnet worden, ein¬
heitlich für das Deutsche Reich und mit der fürsorgliche» Abwägung der
Lebensbedingungen großer Unternehmungen, der Anforderungen des Gemein¬
wohls und der Billigkeitsansprüchc des Einzelnen, wie sie den aus dem Reichs¬
justizamt stammenden Gesetzen eigen ist. Das Gesetz hat anstelle der bisherigen
Buntscheckigkeit, Nechtszersplitterung und Rechtsunsicherheit den Versicherungs¬
unternehmungen das einheitliche deutsche Wirtschafts- und Rechtsgebiet, dessen
sie für eine gedeihliche Entwicklung bedürfen, durch zweierlei erschlossen: durch
die Freizügigkeit, kraft deren die ursprüngliche Znlnssnng zum Geschäftsbetrieb
im ganzen Reichsgebiete berechtigt, und durch die Beaufsichtigung jeder be¬
stehenden Anstalt und ihres gesamten Wirkungskreises durch eine Behörde, das
Kaiserliche Aufsichtsamt für Privntversicheruug zu Berlin. Diese Behörde,
ausgestattet mit großen Machtbefugnissen und einem weitgesteckten freien Er¬
messen in ihrer Anwendung, erteilt den Versichernngsunternehmungen die zum
Geschäftsbetriebe nötige Erlaubnis und kann sie z. B, auch versagen, wenn
nach dem Geschäftsplaue die Interessen der Versicherten nicht hinreichend ge¬
wahrt sind, oder die dauernde Erfüllbarkeit der sich aus den Versicherungen
ergebenden Pflichten nicht genügend dargetan ist; ihr liegt es ob, den ganzen
Geschäftsbetrieb, insbesondre die Befolgung der gesetzlichen Vorschriften und
die Jnnehnltung des Geschüftsplans zu überwachen und Mißstände zu be¬
seitigen, dnrch die die Interessen der Versicherten gefährdet werden; das Auf¬
sichtsrecht steigert sich zu der Befugnis und Verpflichtung unmittelbaren
schärfsten Eingreifens, sobald ans den Ergebnissen des Geschäftsbetriebes die
Notwendigkeit der Auflösung oder des Konkurses, oder die Möglichkeit einer
„Sanierung" hervorgeht.
Das Verhältnis des „Versicherten" zum „Verhinderer," die eigentlich
Privatrechtliche Seite des Versicherungsverhältnisses, ist in diesem Gesetze un¬
mittelbar nur in einzelnen Punkten geregelt, so namentlich die Rechtsverhältnisse
der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und der sogenannten Prämien¬
reserve. Ans den einzelnen Versicherungsvertrag wirkt die Aufsicht insofern
wohltätig, als zu dem Geschüftsplanc, dessen ursprüngliche Fassung und
Änderung von der Genehmigung des Aufsichtsnmts abhängen, auch die
.Allgemeinen Versicheruugsbedingungen" gerechnet werden. Der Gesetzgeber
'»eint: „Je mehr bereits durch das Verwaltungsrecht und die Tätigkeit der
Aufsichtsbehörde die Wirkung erzielt wird, daß die Rechte und Pflichten der
Verhinderer und der Versicherten dnrch die Vertragsbedingungen und deren
praktische Handhabung klar und verständlich hingestellt, daß ausbeutende,
schikanöse, betrügerische oder irreführende Vertragsbestimmungen hintangehalten
werden, um so weniger wird die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Privatrechts
veranlaßt sein, die Vertragsfreiheit der Parteien durch Vorschriften zwingenden
Rechts einznengen."
Was hiernach der Privatrechtsgesetzgebnng vorbehalten ist. damit beschäftigt
sich der kürzlich vom Reichsjustiznmt veröffentlichte Entwurf eines Gesetzes
über den Versicherungsvertrag, der mit scharfem Messer allerlei Mi߬
ständen und Tücken des Versichcrungsrechts zu Leibe geht.
Man darf in dieser Angelegenheit nicht mit geschlossenem Visier kämpfen;
^ gilt, unter den verschiednen möglichen Standpunkten einen auszusuchen, sich
"Zu demselben." wie der Jurist sagt, zu bekennen und von ihm aus auch den
berechtigten Wünschen und Interessen des andern Teils gerecht zu werden.
Die Versicherungsgesellschaften haben schon im Dezember 1901 zu der
bevorstehenden Gesetzgebung Stellung genommen und in zwei Eingaben der
Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privatfeuerversicherungsgesell-
schaften und des Verbands Deutscher Lebensversicherungsgesellschaften ihre
Wünsche dem Rcichsjustizamt und der Öffentlichkeit vorgetragen. Sie gehn
aus von der Identität der Interessen des Versicherers und des Versicherten;
w ihren Darlegungen tritt für die gesetzlichen Normen merkbar die Aufgabe
in den Vordergrund, die Erfüllbarkeit der aus der Versicherung sich ergebenden
Verpflichtungen des Versicherers zu gewährleisten, dem Versichernugsuuter-
nehmen auf die Dauer die Leistungsfähigkeit zu verbürgen. Diese Leistungs¬
fähigkeit des Versicheruugsbctricbes beruht, wie in den beiden Eingaben aus¬
geführt wird, auf den technischen Erfahrungen, die namentlich erworben sind
durch die individuelle Beurteilung und Behandlung der Gefahren; für eine
richtige Wertung der Versicherung ist die Voraussetzung: die Kenntnis der
anzeigepflichtigen Umstünde, d. h. der Umstünde, die ans den Entschluß des
Versicherers, 'sich in den Vertrag einzulassen, Hütten Einfluß haben können,
namentlich derer, die der Verhinderer in den üblichen Fragebogen aufgenommen
hat. Auf einen Kausalnexus zwischen der Falschheit der Anzeige und einem
eingetretnen Schaden kommt es nicht an, da die Erfüllung der Anzeigepflicht
als Voraussetzung des Willens des Versicherers anzusehen ist, sich auf den
Vertrag überhaupt einzulassen, Auch Änderungen der Gefahrumstäude haben
dieselbe Bedeutung und Wirkung auf den Fortbestand der Versicherung. Jede
Verletzung der Anzeigepflicht muß deshalb folgerichtig die Unwirksamkeit des
ganzen Vcrsichernngsvertrags herbeiführen, d. h. für den Versicherten den
Wegfall des Anspruchs auf die Entschädigung. Dieselbe Wirkung ist — zum
Vorteil des glatten Rechnungswesens bei den Versichernngsanstalten, zur Ver¬
meidung jeder Berdunklungsgefcihr und in dem volkswirtschaftlichen Interesse
eines möglichst raschen Schadenersatzes — einer Verletzung der Anzeigepflicht nach
dem Versicheruugsfall oder dem Ablauf der in den Bedingungen festgesetzten
Frist zur gerichtlichen Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs beizumessen.
Wenn sich der betroffne Versicherte dadurch beschwert glaubt, mag er die
Schuld sich selber beimessen — wer verhindert ihn daran, richtige Angaben zu
machen, die Bedingungen zu studieren und ihre Formvorschriften zu erfüllen!
Der Versicherte dagegen denkt vornehmlich daran, daß er, vielleicht
jahrelang, seine Prämie ohne eine greifbare Gegenleistung gezahlt hat. Nun
tritt der Versicheruugsfall ein, und die Entschädigung wird ihm streitig gemacht,
weil er bei dem Versicherungsanträge, eine Nebensächlichkeit nicht richtig an¬
gegeben, eine Anzeige verbummelt oder eine Frist versäumt hat — alles, ohne
daß irgend ein Zusammenhang mit dein Unglücksfall oder seinem Entschädigungs¬
ansprüche ihm erkennbar oder überhaupt vorhanden wäre. Kein Wunder, daß
er die Versicherungsbedingungen, die zu lesen ihm nie eingefallen ist, für eine
Sammlung von Fallstricken erklärt, die sich in zwei kurze Sätze zusammen-
fassen ließen:
Der Richter, der diesen Widerstreit der Anschauungen schlichten soll, ist
dem gegenüber in einer Übeln Lage. Er kaun nicht verkennen, daß jede der
beiden Parteien von ihrem Standpunkt aus durchaus nicht Unrecht hat.
Wenn er nun auch sonst fast immer vou vornherein darauf verzichten muß,
es beiden Parteien recht zu machen, so ist doch gerade hier kaum eine Ent¬
scheidung zu vermeiden, die von der einen oder von der andern Seite geradezu
als ungerecht und der einleuchtenden Billigkeit ins Gesicht schlagend ge¬
scholten werden kann. Die Versicherungsgesellschaften werfen in einer der er¬
wähnten Eingaben mit dürren Worten den Gerichten „eine den Gesellschaften
viel zu feindselige Tendenz der Rechtsprechung" vor; sie behaupten, es sei
„denn anch vielfach recht schwer gefallen, die betreffenden Entscheidungen
juristisch zu begründen, und mau habe zu diesem Zwecke zu Begriffen seine
Zuflucht nehmen müssen, die eine rechtliche Grundlage nicht mehr gehabt
hatten." Das ist nun freilich Ansichtsnche und kann ohne weiteres als Über¬
treibung zurückgewiesen werden; im übrigen ist es nicht mehr und nicht minder
als die einfache Pflicht des Richters, den Versicherten zu schützen und für ihn
Partei zu nehmen, wo es irgend angeht. Bei dem Verhinderer, mag es nun
eine Aktiengesellschaft oder ein Vcrsicherungsverein uns Gegenseitigkeit sein,
vereinigen sich die größere Geldmacht und die überlegne Erfahrung und
Geschüftsgewandtheit in einem Maße, daß das Recht und der Richter davor
ihre Augen nicht verschließen dürfen. Das Recht baut seine Vertragsnormen
auf der Grundlage der wechselseitigen Willensfreiheit auf; es geht davon aus,
daß die sich in einem Vertrage kundgebende Übereinstimmung zweier Willen
durch gegenseitiges Nachgeben, gegenseitige Jnteressenvereinigung herbeigeführt
wird. Es verliert diese Grundlage und wird Unrecht, wenn es dein stärkern
Vertragsteil, der eben durch seine Stärke dem andern seinen Willen schon auf¬
gezwungen hat, die Macht der Rechtsordnung obendrein zur Verfügung stellt,
ohne auf eine Ausgleichung der Machtverschiedenheit bedacht zu sein.
Die wirtschaftliche Überlegenheit der Versicherungsunternehmungen ist schon
so oft betont worden, daß man nicht weiter darüber zu reden braucht. Hier
soll nur eins hervorgehoben werden, weil es weniger an der Oberfläche liegt,
nämlich die Zuständigkeit der Gerichte bei Versicherungsprozessen.
Die meisten Versicherungsbedingungen enthalten die Bestimmung, daß der Er¬
füllungsort für die Prämie der Sitz des Versicherers ist; dies sagt nicht nur.
daß die Prämie diesem geschickt werden muß, sondern auch, daß die Ver¬
sicherungsgesellschaft an ihrem eignen Wohnsitz auf Zahlung der Prämie klagen
kann. Für die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit folgt dasselbe aus der
allgemeinen Vorschrift der Zivilprozeßordnung über den Gerichtsstand bei
Vereiusbeiträgeu. Die Bestimmung klingt recht harmlos, zumal da man beim
Abschluß eines Versichernngsvertrags und bei der theoretischen Betrachtung
der gegenseitigen Machtverhältnisse an die Gestaltung eines Prozesses nicht zu
denken pflegt; überdies berufen sich die Versicherungsgesellschaften mit schein¬
barem Rechte darauf, daß sie sich bei der großen Zahl ihrer Mitglieder un¬
möglich darauf einlassen könnten, jedem einzelnen in seinen heimischen Gerichts¬
stand nachzulaufen. Auch der neue Entwurf hat diese Bestimmung nicht
angetastet, wo sie sich in den Versicherungsbedingungen findet. Gleichwohl
ist ihre völlige Beseitigung mit aller Schärfe anzustreben.
Man versetze sich in die Lage des Bauern, der sein Getreide oder sein
Vieh versichert, sich mit seiner Gesellschaft überworfen und die Weiterzahlung
der Prämie eingestellt hat. Die Klage der Gesellschaft auf die Prämie wird
dann vor dem Amtsgericht 1 zu Berlin erhoben, und er soll sich auf seinem
Dorfe in Westpreußen oder Schleswig-Holstein nicht nur selbst entschließen
und bei Freunden und Bekannten Rats erholen, ob er sich auf den Prozeß
einlassen soll, sondern soll auch in Berlin einen Rechtsanwalt suchen, der ihn vor
dem Prvzeßgericht vertritt, diesem seine Einwendungen klarmachen, Vorschuß
Zahlen und dergleichen — und das alles innerhalb der Einlassnngsfrist, die
nach dem Gesetze nicht mehr als eine Woche zu betragen braucht! Ihm
bleibt kaum ein andrer Weg übrig, als sich an den Rechtsanwalt seines Be-
zirks zu wenden und diesem die Auswahl und den Verkehr mit dem Berliner
Anwalt zu überlassen; tut er das aber, dann kann er mit Sicherheit darauf
rechnen, daß sein Prozeß zu denen gehören wird, die an der Mitwirkung des
sogenannten Korrespondenzmandatars leiden und als solcherart kranke jedem
Prozcßrichter nur allzu bekannt sind. Bei ihnen fehlt eben das lebendige
Verantwortlichkeitsgefühl des alleinigen Urwalds, der nach beiden Seiten, mit
dem Gerichte sowohl als mit der Partei in unmittelbarer Fühlung steht; bei
der Schwerfälligkeit des Verkehrs über zwei Anwaltbureaus geht mauches
verloren; im günstigsten Falle wird das Verfahren verzögert und verteuert,
und die Entscheidung hängt von allerlei Zufälligkeiten ab, da der erkennende
Richter nur auf Grund der Akten urteilen kann und des sichern Anhalts ent¬
behrt, den ihm in vielen Fällen nur die persönliche Vernehmung der Zeugen
und die persönliche Bekanntschaft mit dem Beklagten verschaffen kaun.
Es kommt aber noch eins hinzu. Versicherungsprozesse sind vielfach mit
besondrer Schwierigkeit verknüpft; sie verlangen eine gewisse Gewandtheit in
der Handhabung der Versichernngsbcdingnngen und eine gewisse Vertrautheit
mit der bisherigen Rechtsprechung auf diesem Gebiete; beides kann nur durch
Erfahrung gewonnen werden, zumal da bisher eine für die täglichen Bedürf¬
nisse der Praxis geeignete Zusammenstellung solcher Entscheidungen und des
Versichcrungsrcchts überhaupt fehlt. Die Versicherungsgesellschaften sind hier
von vornherein in der günstigern Lage; sie bedienen sich vor ihrem zustän¬
digen Gerichte immer desselben Urwalds, der die Ansicht des Gerichts aus
jahrelanger Erfahrung kennt und aus den eignen Akten die in frühern Pro¬
zessen zu seinen Gunsten ergcmgnen Entscheidungen heraussuchen kann,
während dem Gegner höchstens zufällig Gelegenheit geboten ist, widersprechende,
gegen die Versicherungsgesellschaft ergangne Urteile kennen zu lernen. Der
Anwalt der Gesellschaft ist also immer in der Lage, seine Einwendungen und
Behauptungen so zu konstruieren, wie sie mit der Praxis des erkennenden
Gerichts am besten zusammenstimmen, der Gegner nicht. Ja, der ständige
Anwalt des Versicherers übt sogar deshalb eiuen größern Einfluß auf die
Praxis des Gerichts aus, weil es schließlich nicht ohne Wirkuug auf die
richterliche Überzeugung bleiben kann, wenn einem dieselbe Ansicht, derselbe
Nechtsstandpunkt Sitzung für Sitzung in derselben Weise vorgetragen wird.
Es gehört das zu dem Unwägbaren, dessen Einfluß man wohl ableugnen, dem
man sich aber niemals entziehn kann. Man kann ihn nur abschwächen, indem
man sich seiner bewußt wird und damit rechnet.
Alle diese Übelstündc würden wegfallen, und damit würden Licht und
Schatten gerechter verteilt werden, wenn man die Versicherungsgesellschaften
zwänge, immer an dem Wohnsitze des Versicherten zu klagen. Eine über¬
mäßige Beschwerung wäre es für sie nicht, da ihnen die Auswahl und die
Bestellung eines Urwalds ebensowenig Schwierigkeit bereiten könnten, wie
dessen sachgemäße Jnstruieruug, schlimmstenfalls mit Hilfe ihrer Agenten. Sie
könnten sich darüber um so weniger beklagen, als sie beim Aufsuchen des An¬
trags dem Versicherten ja auch in seine Heimat nachgegangen sind und bei
der schließlichen Zwangsvollstreckung ihm doch in seine Wohnung nachgehn
müssen. Die Feuerversicherungsgesellschaften, die doch weitaus den größten
Geschäftsbetrieb führen, haben deshalb in ihren Normalbedingungen von 188V
auf die Vereinbarung eines einheitlichen Gerichtsstandes verzichtet und be¬
gnügen sich mit dem ordentlichen Gerichte des Versicherten; die größte von
ihnen, die Goldner Feuerversicherungsbank für Deutschland, verspricht in ihren
Allgemeinen Vcrsicheruugsbcdiugungen, bei dem zuständigen Gerichte der
Agentur Recht zu nehmen, die die Versicherung vermittelt hat. Hiergegen
wird sich nichts einwenden lassen, zumal da es praktisch kaum eiuen Unter¬
schied macht.
Der Schwerpunkt des ganzen Verhältnisses liegt in den Allgemeinen
Versicherungsbedingungen, mit denen die Gesellschaften üblicherweise zu
arbeite» pflegen. Es ist eine bekannte Beobachtung, daß nirgends eine so
harte Verwaltung stattfindet, wie bei Handels- und dergleichen Kompagnien,
und ebenso ist es jedem geläufig, welche starre Einseitigkeit Vertragsformnlaren
eigen zu sein pflegt, die von Interessentengruppen gemeinschaftlich ein für alle¬
mal ausgearbeitet werdeu. Beides trifft bei den Versicherungsgesellschaften
zusammen: wenn man in einem Falle, wo die Billigkeit allzu offenbar mit
dem Buchstabe» des Vertrags in Widerstreit gerät, ans einen Vergleich hinzu¬
wirken versucht, so stößt man bei den Prvzeßbevollmächtigten höchstens ans
ein bedauerndes Achselzucken: „Der Verwaltuugsrat bestehe gerade auf der
Durchführung dieses Prozesses" oder „Ans prinzipiellen Gründen solle gerade
dieser Rechtsstreit durchgesuchten werden." Bei den Allgemeinen Versicheruugs-
bedinguugeu andrerseits liegt es ähnlich wie bei den Mietvertragsformularen
der Hansbesitzerverbünde; hier wie dort eine ans den vereinigten Erfahrungen
und Fachtcnntnissen der sämtlichen Genossen beruhende vertragsmäßige Vor¬
sorge für alle erdenklichen Einzelheiten, und zwar eine Regelung, für die der
Verband, die Genossenschaft die Verantwortung dem Einzelnen abnimmt und
abnehmen muß- denn ohne den Rückhalt an dem Verband, ohne die Mög¬
lichkeit, sich dein mißtrauischen »ut widerstrebenden Vcrtragslustigen gegenüber
auf den in dein Vertragsformnlar niedergelegten Willen der Gesamtheit be¬
rufen zu können, würde der Einzelne es gar nicht wagen, solche Bedingungen
einem „Vertragsfreuude" zuzumuten. Die als Grundlage des Versicheruugs-
vertrags dienenden Allgemeinen Versicherungsbedingnngcn haben denn auch,
wie die Denkschrift der Lebensversicherungsgesellschaften es ausdrückt, „im
Laufe der Jahre einen hohen und man kann sagen allerseits auch ziemlich
gleichmäßigen Grad von Liberalität und Vollkommenheit erreicht." In der
Behandlung solcher Bedingungen erschöpft sich bis heute im wesentlichen das
Praktische Versicherungsrecht. '
Schon die Römer, die doch weder unsre heutigen, von den Hansbesitzer¬
verbänden redigierten Mietvertragsformnlare noch die Allgemeinen Versiche-
rungsbedinguugen kannten, haben die Gefahr gewürdigt, die in einem solchen
Verhältnis liegt: I^too serlxÄr ob»vuriwt>Lili pg,ot>1 noesrv xotlus äsbsrs ven-
clllon <M 1,1 älxcirit, an-M vinpwri, «um xotv.it ro Intvßrg. iZpsrtius cliosrö
oder mit den Worten des Celsus: smoiguitg-s oontilr Ltixulatorom sse. Danach
wird noch heute entschieden, und in der Tat verhilft einem das schauderhafte
Schachteldeutsch, worin ältere Bedingungen vielfach abgefaßt sind, bisweilen
zu der Annahme einer g-moiMiws, bei der die Auslegung zugunsten der
Billigkeit einsetzen kann. Dies hat aber an einem klaren Wortlaut seine un¬
verrückbare Grenze. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch ist dabei stehn geblieben,
daß Vertrüge so auszulegen sind, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf
die Verkehrssitte es verlangen (Paragraph 157); eine Handhabe zur Beseitigung
unbilliger Vertragsbestimmungen bietet es nicht.
Demnach bleibt in der Tat nichts übrig, als hier mit einem scharfen
Schnitte einzugreifen und zwingendes Recht zu schaffen, das von den Ver¬
sicherern weder mit Hilfe der Allgemeinen Versicherungsbedingnngen noch sonst
umgangen werden kann. Hierin liegt die praktische Bedeutung des neuen
Gesetzentwurfs, der seine Vorschriften überall da mit zwingender Kraft aus¬
stattet, wo es zum Schutze besonders wichtiger Interessen der Versicherten
notwendig erscheint. Die Begründung spricht sich darüber mit einiger Zurück¬
haltung aus: „Die Bedingungen enthalten auch jetzt noch hin und wieder
Bestimmungen von übermäßiger Strenge. Diese Bestimmungen werden aller¬
dings seitens der Versicherungsunternehmer nicht immer nach dem Buchstaben
zur Anwendung gebracht. In manchen Fällen aber findet eine solche An¬
wendung doch statt, und sie trifft dann die Beteiligten mit unberechtigter Härte."
Hierzu ist zweierlei zu bemerken:
Erstens: Einem Berliner Richter wird das folgende Geschichtchen nach¬
erzählt, zu dessen Verständnis vorauszuschicken ist, daß in Berlin die Berufungen
und die Beschwerden aus allen 76 Prozeßabteilungen des Amtsgerichts, soweit
eine Versicherungsgesellschaft Partei ist, einer einzigen Zivilkammer, der sech¬
zehnten, zugewiesen sind. Dieser Richter wurde einst von einem Agenten zum
Abschluß irgend einer Versicherung gedrängt; als er ihn gar nicht los werden
konnte, erklärte er endlich: „Ich bin nämlich Mitglied der sechzehnten Zivil¬
kammer," worauf — kein Wort mehr sagen, seinen Hut ergreifen und lautlos
verschwinden für den Agenten eins war. Es ist dies eine Nutzanwendung,
die sich unweigerlich jedem aufdrängt, der sich häufiger mit Versicherungssachen
zu beschäftigen Gelegenheit hat. Allerdings kaun man dagegen einwenden,
daß der Prozeßrichter nur den kleinen Teil der Schadenersatzansprüche kennen
lerne, der streitig werde, während die vielen Millionen sich seiner Kenntnis
entzögen, die freiwillig als Entschädigung gezahlt würden. Das ist richtig.
Andrerseits kann mau aber auch wieder sagen, daß streitig nur die Fälle
werden, in denen der Verstoß gegen die Bedingungen zweifelhaft ist, wo also
ein Prozeß einige Aussicht auf Erfolg verspricht; daß dagegen die Fülle, in
denen ein an sich begründeter Entschädignngsansprnch an eitlem klaren Form¬
verstoß gegen die Bedingungen scheitert, gleichfalls in aller Stille erledigt
werden, indem sich der Versicherte bei der Weigerung der Gesellschaft beruhigt.
Wie es sich damit wirklich verhält, kann dahingestellt bleiben; im allgemeinen
wird man sich dem Eindrucke nicht verschließen können, daß keine einzige Ver¬
sicherungsgesellschaft es verschmäht, sich bei Gelegenheit auch durch eine Hinter¬
tür ihrer Bedingungen vor einem unbequemen Entschädigungsanspruch zu retten.
Es braucht damit noch gar nicht gesagt zu sein, daß der Anspruch an sich be¬
gründet wäre; vielfach mag der Verstoß gegen die Bedingungen auch nur ein
bequemer Vorwand sein, durch den der Verhinderer einen Prozeß abschneidet,
anstatt sich auf eine mühsame und im Ergebnis unsichere Beweisaufnahme
einzulassen.
Zweitens — und das ist für die Allgemeinheit weitaus das wichtigere —
schaden sich die Versicherungsgesellschaften dnrch ein solches Verfahren selber
am allermeisten. Wenn man es recht bedenkt, so ist es schlechterdings kaum
Zu glauben, welcher Grad von Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit für sie dazu
gehört, sich gegenüber einem wirklichen oder auch mir eingebildeten Entschädi¬
gungsanspruch mit irgend einer rein formalen Bestimmung zu verteidigen; es
liegt doch auf der Hand, daß der davon Betroffne nicht nur für seine Person
fortan jeder Versicherung unzugänglich sein wird (daran mag ja vielleicht nicht
allzuviel verloren sein); aber er wirkt darüber hinaus als abschreckendes Beispiel
für seine ganze Umgebung, für seinen Freundes- und Bekanntenkreis, für sein
Dorf. Den augenblicklichen Vorteil einer ersparten Entschädigungssumme er¬
kauft also der Verhinderer mit der Verschüttung einer Quelle für die Aus¬
dehnung des Geschäftsbetriebs, sozusagen mit der Bestellung eines Gegen¬
agenten — ein um so wunderlicheres Verhalten, als allgemein bekannt ist,
in wie hohem Maße das Gedeihen einer Versicherungsunternehmung von den
hohen Zahlen des Versicherungsbestandes, des „Portefeuilles" abhängt, denen
gegenüber die einzelne Entschädigungssumme einfach verschwindet, und welcher
gewaltige Teil der Prämien durch die Agentnrprovisionen und die sonstigen
Aufwendungen verschlungen wird, die man im Versicherungsgewerbc unter den
wohlklingenden Ausdrücken „Organisation" und „Requisition" zusammen¬
zufassen pflegt.
Für die großen, gesunden und leistungsfähigen Versicheruugsuuter-
nehmungen erscheint es aus diesem Grunde geradezu als eine Lebensfrage,
daß jeder schiknnöseu Anwendung unbilliger Bertragsparagraphen vorgebeugt
wird. Man muß hoffen, daß die Beschränkungen des Entwurfs gerade bei
ihnen rückhaltlosen Beifall finden werden, insofern als sie dazu beitragen
müssen, alle Vcrsichcrnngsunternehmungcn, die großen und die kleinen, die
anständigen und . . . die andern zu der freien und großartigen Auffassung in
der Behandlung auch streitiger und sogar zweifelhafter Entschüdiguugs-
ansprüche zu erziehn, die allein dem Versicherungswesen seine volle Ent¬
faltung zum Vorteil des Einzelnen und zum Wohle der Gesamtheit zu ver¬
bürgen vermag. ^„r°..>' (Schluß folgt)
a die Rassentheorie die Germanen auf Kosten der andern Völker
erhebt, hat ihr Hauptvertreter natürlicherweise in Deutschland weit
mehr Anklang gefunden als in seinem Vaterlande, und das An¬
wachsen der Gobineau- und Wagnerliteratur — erst durch Richard
Wagners Freundschaft ist Gobineau bei uns bekannt geworden —
hat jenseits des Rheins die Vernachlässigung des gelehrten Diplomaten in einen
Unwillen verkehrt, der sich in einem dicken Buche Luft macht: I^ez eoircks als
(zsol)mot>.u ot 1'^r/g,ni«in<z Ili8t<>riqu<z ^>ar lernest Loilliurk. ?s,ri3, lidrairik
1903. Das Buch kündigt sich als ersten Band eines Werkes an, das
der Philosophie des Imperialismus gewidmet sein soll. Man begreift, daß
Gobineau besonders in diesen unsern Tagen den Franzosen verhaßt und unbe¬
quem sein muß, wo sie nicht allein' Demokraten, sondern beinahe Sozial-
demokraten geworden sind — in Staatsverfnssuug und Phrase —; wie weit
im sozialen Gebiet und in der Vermögenslage die Gleichheit und die Brüder¬
lichkeit verwirklicht worden sind, das wird sich Wohl bei Gelegenheit einmal
zeigen. In einer geistreichen und gediegne wissenschaftliche Bildung bekundenden
Einleitung behauptet Seilliere, daß die Geschichte immer mehr Geschichts¬
philosophie als exakte Wissenschaft, ja die Dienerin der Leidenschaften derer, die
sie schreiben, gewesen sei, und zeigt, wie man in Frankreich, je nach der politischen
Strömung, bald die Gallier zu Germanen, bald die Germanen zu Kelten ge¬
macht, die fränkischen Eroberer abwechselnd verherrlicht und beschimpft hat, wie
die Geschichtsphilosophie in der mittelalterlichen Universalkirche universalistisch
gewesen und mit deren Zerfall national geworden ist, wie endlich die Opposition
des französischen Adels gegen das absolute Königtum die Verherrlichung der
fränkischen Eroberer veranlaßt und dadurch die moderne Form des Universalismus:
den angelsächsischen und den deutschen Imperialismus angebahnt hat. Der
Inhalt des Buches ist eine scharfsinnige und spöttisch kritisierende Analyse
aller Werke und Schriften Gobineaus. Da der Verfasser dabei historisch ver¬
fährt und die Lebensnmstünde angibt, unter denen jede der Schriften ent¬
standen ist, ersetzt das Buch beinahe eine Biographie. Mit Seillieres Kritik
der Nassentheorie brauchen wir uns nicht auseinanderzusetzen, weil wir unsre
Ansicht über diese Theorie bei vielen Gelegenheiten ausführlich dargelegt haben,
unter anderm in den Aufsätzen über Gobineaus Hauptwerk (Jahrgang 1898
Heft 36, 1899 Heft 10 und 11, 1900 Heft 42). Dagegen wollen wir doch
wenigstens den Umriß des Bildes nachzuzeichnen versuchen, das der Verfasser
von den übrigen Werken und von der Person des Grafen entwirft. Kritisieren
könnten wir dieses Bild nur, wenn wir sämtliche Werke Gobineaus gelesen
hätten. Wir müssen uns aus die Bemerkung beschränken, daß zwar SeMere.
wie wir ans seiner Analyse des Versuchs über die Ungleichheit der Menschen¬
rassen sehen, durchaus loyal verfährt, nichts fälscht und entstellt, daß aber sein
wegwerfendes Urteil über die „Renaissance" Gobineaus. mit der wir die Leser
bekannt gemacht haben, zu der Vermutung berechtigt, seiue Feindschaft gegen
die Rassentheorie habe ihn ein wenig ungerecht gemacht, sodaß er den ästhetischen
Wert einiger der besprochnen Werke unterschätzt. Wir lassen also im folgenden
Seilliere sprechen und übernehmen für seine Urteile keine Verantwortung.
Der Graf Joseph Arthur von Gobineau wurde am 14. Juli 1816 in Ville
d'Nvray geboren; ..sonderbare Ironie des Schicksals, die einen solchen Feind
der französischen Revolution gezwungen hat. mit seinem Geburtstag zusammen
die Erstürmung der Bastille zu feiern!" Sein Großvater war Rat am Parlament
zu Bordeaux gewesen, sein Vater war ein strenger Legitimist und Katholik, der
Voltaire als einen Teufel verabscheute und Karl den Zehnten als einen Heiligen
verehrte. Ein halb verrückter Erbonkel, bei dem Arthur als junger Mann eine
Zeit lang lebte, beteiligte sich nach 1830 an den Verschwörungen zur Wieder¬
herstellung der Vourbonen. Die einzige Schwester ging ins Kloster. Mit
deutschem Wesen wurde er jung vertraut. Sein Lehrer (wohl der Hauslehrer)
hatte in Jena studiert; seine Mutter nahm ihn als vierzehnjährigen Knaben
N"t auf eine Reise nach Baden, wo sie einige Monate verweilten, drei Jahre
studierte er im Gymnasium zu Viel in der Schweiz. Er haßte einen Lehrer,
der ihn zwang, sich übermäßig mit dem römischen Altertum zu beschäftigen (man
sieht nicht, ob der Lehrer im Lateinischen oder der Lehrer in der Geschichte
gemeint ist), und um dem „Tyrannen" zu beweise», daß nicht Faulheit um
seinem Widerstreben schuld sei, warf er sich auf das Studium der orientalischen
Sprachen, die ihn angezogen hatten, seitdem er Tausend und eine Nacht kennen
gelernt hatte. Diese Märchen erschienen ihm als das Höchste in der Poesie;
er selbst unterhielt seine Verwandten und Freunde mit Fabeln eigner Erfindung,
und sei» Stil nahm eine orientalische Färbung an. Dieses Vorwiegen der
Phantasie sollte später seinen gelehrten Forschungen verhängnisvoll werden.
Es kam vor, daß sich, wenn er Märchen erzählen wollte, seine Zuhörer
orientalisch kostümieren und mit gekreuzten Beinen um ihn setzen mußten, und
als er dem Wunsche des Vaters gemäß in Se. Cyr eingetreten war, malte er
manchmal arabische oder Sanskritbuchstaben statt der algebraischen Formeln.
Er setzte es durch, daß er die ihm unangenehme militärische Laufbahn verlassen
und sich den Wissenschaften widmen durfte, konnte aber nun, da er die klassischen
Sprachen vernachlässigt hatte, keine akademischen Grade erlangen. Von
bis 1848 lebte er, von der Gnade seines wunderlichen Onkels abhängig
(der Vater muß also Wohl arm gewesen sein oder sein Vermögen verloren
haben), in Paris seinen Studien und wurde Mitarbeiter der Revue des Deux
Mondes. In dieser Zeitschrift veröffentlichte er uuter andern eine Studie über
Capodistrias. die ihn in Beziehung auf die orientalische Frage und als russen¬
feindlichen Philhellenen sehr unterrichtet, aber im Gegensatz zu seiner spätern
Richtung ein wenig demokratisch zeigt. Alexis de Tocqueville. der von 1848 bis
1851 das Portefeuille des Auswärtigen hatte, stellte ihn in seinem Ministerium
ein, und nach dem Sturz seines Gönners erhielt er einen Sekretärposten bei
der Berner Gesandtschaft. Von Bern wurde er nach Hannover und dann nach
Frankfurt versetzt. An diesen Orten vollendete er sein Hauptwerk, das 1853
und 1855 erschien, und über das wir aus dem oben angeführten Grunde
nichts weiter sagen. Die kritische Analyse des „Versuchs" füllt in dem Buche
185 Seiten. Die Historiker und die Philosophen ließen das Werk unbeachtet;
Remusat erwähnte es gelegentlich mit ein paar Worten. Gobineau hat, gleich
manchem andern Gelehrten in ähnlicher Lage, geglaubt, einige der Tvdschweiger
Hütten ihn geplündert; er meinte Renan und, wie es scheint, anch Taine. Nur
ein Naturforscher, Quatrefages, widmete dem Nassenwerke einen ganzen Artikel
(in der Revue des Deux Mondes vom 1. März 1857); er findet Gobineaus
Begriff von Nasse unklar und bedenklich für die Einheit des Menschengeschlechts
und sucht nachzuweisen, daß er die Wirkungen der Rassenmischung falsch darstelle.
In Deutschland erklärte Ewald das Werk — ein schwerbegreifliches Mißver¬
ständnis — für einen Ausfluß extrem katholischer Gesinnung, und der Philologe
Pott in Halle schrieb ein Buch über denselben Gegenstand, mit besondrer Rück¬
sicht auf Gobineaus Werk. Aus diesem zitiert Schopenhauer in den Parerga
den Satz, der Mensch sei das bösartigste Tier. Fallmerayer schätzte es hoch,
und Prokesch-Osten kannte es wenigstens. Als sich ihm der Verfasser vor¬
stellte, fragte er ihn, ob er mit dem Gobineau, der über die Menschenrassen
geschrieben habe, verwandt sei? Und auf die Antwort: Ich bin es selbst, rief
er: „Sie, ein so junger Mann?" Drouyn de Lhuys sagte ihm als Chef und
Freund: „Ein wissenschaftliches Buch von solcher Tragweite wird Sie in Ihrer
Karriere nicht fördern; es kann Ihnen viele Feinde machen."
In seinem Sinne hat es ihn doch gefördert, denn ohne Zweifel hat man
ihm seinen nächsten Posten mit Rücksicht auf seine Kenntnis der orientalischen
Sprachen verliehen. Er wurde zum ersten Sekretär der Gesandtschaft in Persien
ernannt und reiste Ende 1854 mit seiner Frau und seinem fünfjährigen
Töchterchen dahin ab. Eine solche Reise war damals noch sehr beschwerlich,
auf der Strecke von der Küste des Persischen Meeres bis Teheran sogar gefährlich,
und als er ankam, wütete in der Residenz gerade die Cholera, der fünf Personen
der französischen Gesandtschaft erlange!?. Man kampierte monatelang fern von
menschlichen Ansiedlungen in der Wüste. Sein Kind erkrankte, und die Familie
war nahe daran zu verzweifeln, als ein vom englischem Admiral Lord Lyons
abgesandtes Schiff sie erlöste (wo es sie abgeholt und wohin es sie gebracht
hat, wird nicht gesagt). Gobineaus erster Aufenthalt in Persien dauerte drei
Jahre, und drei Schriften waren die Frucht davon: Irois las su ^.sis, ?'rg,!tü
ckss ÜLritnrss «uirüikorinss und I^czs röliAions se xllilosoxb Is8 su ^.sin. Sie
lassen den Verfasser des „Versuchs" kaum erkennen; seine Jugendschwärmerei
für Persien reißt ihn fort; der Orientalist besiegt den Arier, und er findet die
Mischrasse entzückend, die er hätte verabscheuen müssen. Er bewundert die Kinder¬
liebe der Orientalen, das würdevolle Benehmen ihrer Vornehmen, die Intelligenz
aller — die Schilderung eines Gastmahls erinnert an Platos Symposion
die Hilfbereitschaft bei Bedrängnissen ihrer Brüder, den Wohlstand und die
Rechtschaffenheit ihrer Kaufleute, den Geschmack und den Fleiß der Handwerker;
allerdings, bemerkt er einschränkend, seien diese nur dann fleißig, wenn sie der
bestellte Gegenstand interessiere, und sie hielten nur so lange bei der Arbeit aus.
als das unmittelbare Bedürfnis sie zwinge. Er kann nicht leugnen, daß es
ziemlich anarchisch und ungerecht zugehe in Persien, aber das sei nur Ober-
flüchcnschein; in der Tiefe herrsche Gerechtigkeit und allgemeine Sicherheit,
Zwei Klassen von Menschen taugten nichts: die Frauen und die Christen.
Diese seien wahrscheinlich Überreste einer untersten Bevölkerungsschicht, die zu
bekehren den Mohammedanern nicht lohnte, meint Ewalds ..extremer Katholik."
Dagegen findet er an den Juden auch in Persien ihre sittliche Kraft, die ihnen
alle Katastrophen überstehn helfe, höchst preiswürdig; nur ihr Schmutz gefällt
ihm nicht. Um dieselbe Zeit wie Gobineau veröffentlichte ein englischer Diplomat,
Eastwick. in der von Dickens herausgegebnen Zeitschrift ^.U elf z^' rounä
Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Persien, der sich unmittelbar an den von
Gobineau mischloß; dieser Engländer nun hat alles; das Land, die Menschen,
die Zustände jämmerlich, elend und häßlich gefunden.
Aus seinem Haschischrausch erwacht, hat Gobineau zehn Jahre darauf seine
Zugestündnisse an" den Orientalismus vor seinem Gewissen dadurch zu recht¬
fertigen gesucht, daß er in seiner Histoiro ac8 I'srsss alles Gute. das ihn in
Persien angesprochen hatte, auf das Arierblut zurückzuführen sucht. Natürlich
konnte unter der Herrschaft dieser Tendenz aus der sogenannten Geschichte nur
ein Roman werden. Was seine Quellen betrifft, so verachtete er die griechischen
Geschichtschreiber; er schöpfte fast ausschließlich aus dem Vendidad. aus dem
Heldengedichte des Firdusi, ans ungedruckten orientalischen Manuskripten und
aus der mündlichen Überlieferung. Unter den Manuskripten, die er entdeckt hat.
ist das kostbarste der Kusch-Rauch, den er in seinen letzten Lebensjahren zu
übersetzen und herauszugeben gedachte. Dieses Heldengedicht ist seine Haupt-
auelle für die Geschichte des Cyrus. der unter dem Namen Kusch Pyldendau,
d- h- Kusch mit den Elefantenzähnen, verherrlicht wird. Die europäische Weise,
Geschichte zu schreiben, verwirft Gobineau; unsre Historiker bildeten sich ein,
exakt zu sein, was sie doch unmöglich sein können; er für seine Person treffe
seine Entscheidung (so xrenck mein xarti). kümmre sich wenig um die tatsäch¬
liche Wirklichkeit, begnüge sich mit der relativen Wirklichkeit, mit dem, was er
sich gezwungen fühle, für wirklich zu halten, und erkläre es für sein Recht,
eine Geschichte zu schreiben, die weniger eine Erzählung von Tatsachen sei als
eine Sammlung der Eindrücke, die die Tatsachen auf ihn gemacht hätten. Das
Leitmotiv seiner persischen Geschichte ist der Nachweis, daß die alten Perser-
Helden Feudalherren gewesen sind, als deren getreue Abbilder die Paladine
Karls des Großen erscheinen. Der Herrscher waltet unter ihnen als xriurus
olor xg.rss. Die Satrapen gehören nicht zur Tnfelrnnde der Pairs. sondern
sind Beamte semitischer Abkunft. Die persischen Arier sind freilich leider nicht
ungemischt geblieben (den schlechtesten der in Betracht kommenden Bestandteile
machen die Schwarzen aus, die in den heiligen Büchern der Perser als Dews,
als Teufel erscheinen), aber das arische Blut ist immer wieder durch die Skythen
Turnus aufgefrischt worden, die reine Arier waren. Daß ihnen Cyrus endlichden Weg nach Süden versperrte, war zwar ein Nachteil für die Perser, die
dadurch die weitere Blutauffrischung einbüßten, aber ein unermeßlicher Segen
für die Menschheit. Denn diese reinen Arier wurden dadurch gezwungen, nach
dem nördlichen Europa auszuwandern, wo sie nicht mehr in Gefahr schwebten,
durch Vermischung mit niedern Rassen zu entarten und sich lange Zeit rein zu
erhalten vermochten. Cyrus ist also der größte Mann der Weltgeschichte. (Daß
seit dem Erscheinen dieser Persergeschichte in Deutschland eine andre Theorie
„Mode geworden" ist, die den Ursprung der Arier nach Nordeuropa verlegt,
läßt Seilliere nicht unerwähnt. Er bemerkt, daß bei dieser Lage der Dinge
der in der Zeit der vorwiegenden Snnskritbegeisterung geschaffene Name Arier
der Nasse, die man als die vornehmste preist, eigentlich nicht mehr zukomme.)
In einer Geschichte der Perser konnten die Juden, mit denen sich Gobineau
sonst wenig beschäftigt, nicht ganz übergangen werden. Er findet in der Religion
der Bibel einige Verwandtschaft mit der edeln Zendreligion, bedauert aber ihre
Wiederherstellung unter Cyrus und läßt bei dieser Gelegenheit die Gering¬
schätzung des jüdischen Volkscharakters durchblicken, „die den ganzen Aryanismus
mancher seiner Nachfolger ausmacht," ohne jedoch in irgend einer seiner spätern
Schriften auf diesen Gegenstand noch einmal zurückzukommen. Die Verurteilung
des zweitei? Jerusalems, bemerkt Seilliere ganz richtig, ist ja recht arisch aber
wenig christlich; den Namen eines extremen Katholiken verdient er sich jedoch
gerade bei dieser Gelegenheit dadurch, daß er sich — man sieht nicht, wie er
darauf kommt — zum Glauben an die unbefleckte Empfängnis bekennt.
Die Juden sind nur ein kleiner Bruchteil der Semiten; den Semitismus
im allgemeinen zu behandeln, nötigt ihn die Eroberung des von Semiten be¬
wohnten Euphratgebiets durch die Perser, und hier nun „füllt er in die ex¬
klusive Empfindungsweise und die kindischen Unterscheidungen des »Versuchs«
zurück." Die edeln Immer sind stolz darauf, das Land zu bebauen, aber sie
verschmähen jede erniedrigende Beschäftigung. Nie hat in semitischen, semiti-
sierten oder rvmanisierten Bevölkerungen ein ähnliches preiswürdiges Vorurteil
bestanden, darum kennen es auch die untern Klaffen der modernen Gesellschaft
nicht, die immer alles, was Reichtum und Behagen schafft, gebilligt und be¬
wundert haben, ohne einen Unterschied zu machen zwischen moralischen und un¬
moralischen Mitteln. Gerade die Erwerbsarten, die den Menschen erniedrigen,
statt ihn zu erheben, und die Spekulation auf die lasterhaften Leidenschaften
und die Schwächen der Menge haben diesen nach Gewinn, Genuß und Prunk
gierigen entarteten Bevölkerungen besonders gefallen. Die arische Rasse ist
die einzige, die in der Arbeit eine adelnde Tugend und einen religiösen Akt
sieht, die Faulheit aber als ein entwürdigendes Laster brandmarkt, während
den Semiten und den Finnen jede körperliche und geistige Anstrengung als die
schrecklichste aller göttlichen Strafen gilt. „ Va!ü av l'vxeollöllt Kodwsan!
Nie sonst ist seine Ausdrucksweise in dem Grade hochmütig verletzend, sein
Denken so geblendet durch Vorurteil gewesen!" Noch ungeheuerlicher klingt
die Formel, in der er den Unterschied der Religionen ausdrückt: das Gebet
ist arisch, der Zauber semitisch. Das Gegenteil hat, und zwar gerade mit Be-
ziehung auf Persien, Renan bewiesen. „Die Magie ist den monotheistischen
Semiten widerwärtig; sie sehen darin den gottlosen Versuch, ohne die Erlaubnis
Gottes über die Natur zu verfügen; dagegen findet man den Zauber als die
Grundlage aller into-europäischen Theologie. Die persische Literatur enthält
Rezepte,'nach denen man die Gottheit zwingen kann. Wissenschaft und Magie
stehn beide im Gegensatz zum Monotheismus, denn sie machen das Gebet über¬
flüssig." (Seilliere selbst gehört zu denen, die glauben, daß alle Religionen
ohne Ausnahme mit Zauberei angefangen haben.) Im arischen Kult waren
die Opfer und Zeremonien Huldigungen und Zeichen der Anbetung, die streng
zu fordern die Gottheit ein Recht hatte, im semitischen Kult waren sie klug er¬
dachte Zaubermittel. Der arische Gott war gut, der semitische nur stark und
launenhaft. So waren denn auch die Arier uach dem Bilde ihrer Gottheit ge¬
artet: gütig und sanftmütig; auch daß sie z. B. nach der Empörung Babylons
gegen Darms dreitausend Menschen kreuzigen ließen, spricht nicht dagegen. Im
„Versuch" hat Gobineau gezeigt, daß die Semiten ursprünglich Arier gewesen
seien und durch Vermischung mit Schwarzen ihre Eigentümlichkeit erworben hatten.
In der persischen Geschichte wird er an seiner Theorie ein wenig irre; es er¬
scheint ihm gewagt, die der arischen so vollständig entgegengesetzte Geistesrichtung
der Semiten ausschließlich auf die Beimischung einiger Tropfen Negerblutes
zurückzuführen. Aus der Unterwerfung einer zahlreichen semitischen Bevölkerung
erklärt sich nun auch die Verfassung des persischen Reichs. Die reichen und
hochzivilisierten Semiten waren einerseits in allen Geschäften geübter und in
allen weltlichen Dingen klüger als die arischen Bauern und Barone, andrer¬
seits an unbedingten Gehorsam gewöhnt. Wie sie einen Despoten brauchten,
so lieferten sie diesem auch die geeigneten Werkzeuge zu ihrer eignen Beherrschung,
die Satrapen: Emporkömmlinge und Günstlinge wie Human, die sich, von der
Tafel der Königin kommend, ohne Sträuben an den Galgen hängen lassen.
(Seilliere gedenkt bei dieser Phrase andrer Antisemiten, die den Human als
Judenfeind feiern.)
Die beiden Rassen zu verschmelzen, das war die Hauptabsicht des Zoroaster.
Der ursprüngliche Dualismus der Perser hatte darin bestanden, daß sie sich
und ihr Land für ant, alles, was jenseits ihrer Grenzen lag. für schlecht hielten.
Diese Ansicht konnte nach der Gründung ihres so viele Länder und Völker
umfassenden Reichs uicht aufrecht erhalten werden. Zoroaster verlegte darum
den Dualismus ins metaphysische Gebiet. Ursprünglich hatte man die Natur
für gut angesehen und alles, was Schaden anrichtet, für etwas bloß Zufälliges,
das nicht verdiene, personifiziert zu werden. Jetzt nahm man ein böses Prinzip
"n. führte sogar Götzenbilder ein und einen Stand von Magiern, was einen
Eingriff in die Rechte des priesterlichen Familienvaters bedeutete. Die jensei¬
tigen Velohnnngen und Strafen aber sollten nun nach dem persönlichen Ver¬
dienst und Mißverdienst ausgeteilt werden, während nach der ursprünglichen
Vorstellung der Arier ihnen, und ihnen allein, ihrer Natur wegen und ohne
jedes persönliche Verdienst der Himmel gehörte. (Hier ließen sich hübsche Be¬
trachtungen über die Prädestinationslehre und über die Rechtfertigung ans dem
Glauben allem herausspinnen.) Bei dieser Verschmelzung konnte es nun nicht
fehlen, daß das arische Element von dein weit zahlreichern semitischen nilmäh¬
lich ausgesogen wurde, und daß es dein arisch übertünchten Perserreiche ergingG
wie gewissen Gemälden, deren dunkle Grundierung im Laufe der Zeit hervor¬
tritt. Da nun aber Gobinenu die Kultur des alten Babylons aufrichtig be¬
wundert: seinen rationellen Acker- und Gartenbau, seine Bauten, seine majestä¬
tischen Skulpturen, seine Wissenschaft, so verwickelt ihn die Rassentheorie in
einen schmerzlichen Konflikt. Freilich wird die babylonische Kultur durch die
kleinlichen Interessen und Laster ihrer Träger entstellt, jedoch „die sind am
Ende das unvermeidliche Gepäck aller sehr zivilisierten Menschen" Bcwundruugs-
würdig bleiben trotzdem die Aramäer, die ihre Erobrer an Geist und Kultur
so hoch überragten und einen solchen Einfluß auf die kriegerischen Feudalherren
des Ostens errangen, daß sie ihnen nicht allein ihre Häuser bauten und ein¬
richtete», sondern ihnen auch ihre Sitten aufnötigten. „Niemals hat sich
Gobineau verzweifelter gewunden zwischen den beiden Neigungen, die ihn be¬
herrschten. Sein Individualismus machte ihn zum Utopisten, sodaß er wie
Rousseau die Zivilisation verdammte um ihrer Übel und Ausschreitungen willen
und megen der Opfer an Menschenwürde, die sie auferlegt: zugleich aber zwingt
ihn sein hoch entwickelter Geschmack, sich vor den Leistungen des Gedankens
und der schöpferischen Einbildungskraft zu verneigen. Wo soll man die Grenz¬
linien ziehen zwischen der Kultur des Edelmenschen und der verderben¬
bringenden Zivilisation? Noch öfter werden wir diese Grenzlinie hin- und her¬
schieben sehen in den Werken dieses Geistes, der ganz aufrichtig ist, aber sich
auch ganz dem Eindruck des Augenblicks hingibt."
Auch der Griechen mußte er in einer Geschichte der Perser gedenken. Die
nun haßt er womöglich noch leidenschaftlicher als die Semiten. Darin, was
er über sie sagt, steht er als Original ganz allein; höchstens Dühring wäre
allenfalls imstande, ähnlich zu sprechen; die meisten „Germanisten" fühlen sich
ja dem Hellenismus verwandt. Allerdings, die Hellenen des heroischen Zeit¬
alters läßt auch Gobineau gelten, aber er versetzt sie, um den Griechen der
historischen Zeit auch nicht das geringste Zugeständnis machen zu müssen, in
ihre innerasiatische Urheimat; dort sollen die Helden des Mythus ihre Taten
verrichtet haben, dort sollen sogar die Berge, Flüsse und Städte liegen, die in
den Epen genannt werden. Er beweist das hauptsächlich mit den Wnuderuugeu
der Jo, die Äschylus in seinem Prometheus erwähnt. Die berühmten Griechen
der historischen Zeit malt er so schwarz wie möglich, erzählt, wie die Perser
das geschwätzige und verlogne Griechenvolk verachtet haben, und erklärt, wie
mancher neuere deutsche Historiker, ihre Siege über persische Heere für Auf¬
schneiderei. Ihre Kunst, die so viele geblendet habe (und die, wie sich die Leser
wohl erinnern, aus dem Negerblut stammt), hält den Vergleich nicht aus mit
der assyrischen und noch weniger mit der der neuern Völker. Die Zehntausend
des .Lenophou sind ihm räuberische Vagabunden, die sich uur im höchsten Not¬
falle schlagen, einander betrügen, miteinander zanken und sich nur vertragen,
wenn es einen schlechten Streich auszuführen oder aus einer Klemme heraus¬
zukommen gilt. Auch die Neugriechen macht er schlecht, die er in seiner Ab¬
handlung über Capodistrias verherrlicht hatte. Vielleicht war es seine Sendung
uach Athen (1864), was ihn bewogen hat, die Herausgabe der Persergcschichte,
die ihm dort sehr übel genommen worden wäre, bis 1869 zu verschieben. Daß
er darin die Charakteristik der Griechen, die ja ans der Zeit vor dein athe¬
nischen Aufenthalt stammt, nicht nachträglich gemildert hat, bleibt wunderlich
genug, weil ihn Athen mit solcher Begeisterung für die griechische Plastik er¬
füllte, daß ihm von da ab das Modellieren eine liebe Beschäftigung wurde,
und daß er in der Vorrede zum Amadis schrieb: Der Verfasser dieses Gedichts
„konnte nicht mehr loskommen von diesem klassischen Lande; die attische Ebne,
die Akropolis waren ihm zum Leben notwendig geworden/' In der Perser¬
geschichte aber geht seine Abneigung gegen die Griechen so weit, daß er für
Alexander Partei nimmt gegen seine Generale, die die Anbequemung an die
Persischen Sitten mißbilligten; diese waren ja besser als die griechischen! Daß
die damaligen Persersitten nicht mehr persisch, sondern semitisch waren, ist ver¬
gessen; die Proskynesis wird für eine ganz unanstößige, höfliche Grnßform er¬
klärt; dem unverschämten Kinns, der wie alle Griechen gemein gesinnt war und
Heldengröße uicht gelten lassen wollte, ist ganz recht geschehen, daß ihn Alexander
erstochen hat.
Wir übergehn, was Seilliere noch ans dein Abschnitt über die Parthcr-
herrschaft mitteilt. Er meint, die tollen logischen Sprünge Gobineaus möchten
Wohl nicht ausschließlich aus dem Konflikt zwischen seinen entgegengesetzten
Interessen entsprungen sein, sondern zum Teil aus einer Schwächling seiner
Denkkraft durch Mißstimmung und Kränklichkeit. Er scheine vergessen zu haben,
was in dem Buche steht, als er in der Vorrede zur zweiten Auflage 1882 be¬
hauptete: „Ich habe die Geschichte der Perser geschrieben, um an dem Beispiel
der arischen Nation, die am vollständigsten von ihren Stanmwerwandten ge¬
trennt lebt, zu zeigen, wie wenig Klima, Nachbarschaft und Zeitumstände den
Genius einer Nasse zu ändern oder zu fesseln imstande sind." Hätte er den
Anhalt des Buches vor Augen gehabt, so würde die Stelle lauten: „Ich habe
die Geschichte der Perser geschrieben, um an dem Beispiel der von ihren Stamm¬
verwandten am wenigsten abgesonderten arischen Nation (die Perser sollen ja
von Zeit zu Zeit durch arische Skythen aufgefrischt worden sein) wider Willen
SU zeigen, in wie hohem Grade Nachbarschaft und Zeitnmstünde den Genius
einer Nasse zu ändern und zu fesseln imstande sind." Seilliere gibt dann noch
einen ergötzlichen Abriß der chinesischen Geschichte, die Gobineau geschrieben
haben würde, wenn ihn die Regierung nach Peking geschickt hätte. „Die gelbe
Farbe würde den Operationen seiner Arierchcinie so wenig Widerstand geleistet
haben wie die bräunliche der Iranier."
Man schickte ihn statt dessen ein zweitesmal, und zwar als außerordent¬
lichen Gesandten, nach Teheran (1861 bis 1864), und da reifte denn außer
der persischen Geschichte ein zweibändiges Werk über die Keilschrift. Mit Hilfe
eines gelehrten Rabbinen glaubte er den richtigem Schlüssel der Inschriften ge-
funden zu haben, die in den assyrischen, babylonischen und persischen Ruinen
entdeckt werden. M. I. Oppert erzählt in seinem Artikel über den Gegenstand
in der großen Eneyklopädie, welchem Unglauben die Ergebnisse der ersten Ent-
^iffrer begegneten, und fügt hinzu: In dieser für die Assyrivlogen ohnehin so
schwierigen Zeit „tauchten auch noch Entziffernngsversnche auf, die ja mit Recht
heute vergessen sind, die aber damals dazu beitrugen, die Stunde der gerechten
Anerkennung zu verzögern. Wir erlvühueli nnr die Arbeiten des Herrn von
Gobineau, der dieselben Inschriften nach vier verschiednen Methoden entzifferte
und jedesmal denselben Sinn herausbekam, und der denselben Text auf sieben
verschiedne Weisen las: von der Rechten zur Linken, von der Linken zur Rechten,
von oben nach unten, von unten nach oben, in beiden Diagonalen und end¬
lich — symbolisch." Mit seinen Sprachstudien hängt eine Abhandlung «>>r
<likkül'tut,8 xliöncmröinzL <Is 1s> vis sxoi'ÄcliquL zusammen, die er in der Deutschen
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik veröffentlichte. (1868. Ge¬
schrieben hatte er sie 1867 in Athen.) Mit dein sporadischen Leben meint er
daS von der Materie abgetrennte, lind zwar denkt er dabei nicht bloß an die
Menschenseelen, soudern wie Fechner die alten Gestirngeister wieder zum Leben
erweckt hatte, so verleiht er nach dem Vorgange der Platoniker und der scho¬
lastischen Realisten den Begriffen ein selbständiges Leben, und nicht bloß diesen,
sondern, um die alte Logoslehre anknüpfend, auch deu Sprachen. Er zeigt, was
diese Wesen bei Rassenmischung erleiden, und wie im Himmel der Rasseulogvs
vollständig zu sich selbst kommen und in deu Seelen der Auserwählten herrschen
wird. Als letzte Frucht seiner persischen Studien schrieb er in Stockholm die
Asiatischen Novellen, die 1876 erschienen und bis auf zwei, als das erste von
seinen Werken, ins Deutsche übersetzt worden sind. Er urteilt darin nicht mehr
so günstig über die Perser wie in den oben besprochnen Schriften und ent¬
nimmt deshalb die Helden seiner Erzählungen Nachbarn Persiens vou unzweifel¬
hafter arischen Charakter: kaukasischen und afghanischen Stämmen. Er war
das zweitemal von Teheran durch Rußland zurückgereist, hatte die Bewohner
des Kaukasus kennen gelernt, und es war natürlich, daß er sich für die Schön¬
heit der Tscherkessen begeisterte, die nach dem Zeugnisse eines andern franzö¬
sischen Reisenden sehr streng auf Nassenreinheit halten. Weniger glaublich als
die kaukasischen erscheinen seine afghanischen Helden. Er schildert sie als
heroische Opfer eines beinahe asketischen Pflicht- und Ehrgefühls, wie es in
spanischen Dramen vorkommt. Die Schilderung, die Elphinstonc von den
Afghanen entworfen hatte, berechtigte ihn einigermaßen dazu. Dieser Engländer
meinte, abgesehen von dem Lobe der Tapferkeit und des Unabhängigkeitssinns,
das man den Afghanen spenden müsse, habe es auch politisch sein gutes, daß
die Macht des Emirs über die entferntern Stämme gering sei, daß der Staat
sozusagen in kleine Republiken zerfalle, und das Volk frei bleibe von den
Übeln des asiatischen Despotismus. Ein alter Mann habe ihm gesagt: Es ist
wahr, wir leiden an Unruhen und Blutvergießen, aber einen.Herrn werden wir
uns niemals gefallen lassen. Ein weit weniger schmeichelhaftes Bild entwirft
der englische Militärarzt Bellew vou deu „wilden, mitleidlosen und geizigen"
Afghanen; eine Wanderung durch ihr Land, meint Seilliere, würde Rousseau
sehr gesund gewesen sein; er hätte dort ganz geuau erfahren, wie der Natur¬
zustand aussieht.(Schlus; folgt)
is eine fast ebenso reiche Quelle für die mannigfachsten Wort¬
gebilde und Redewendungen unsrer täglichen Umgangssprache wie
das Strafrecht früherer Zeiten erscheint endlich auch das ältere
deutsche Gerichtswesen, die Gerichtsverfassung und das Gerichts¬
verfahren. Der Grund dafür ist wohl vor allem darin zu sehe»,
..daß sich, ebenso wie einst die Strafvollstreckung, auch der ganze
Prozeß — und zwar ursprünglich sowohl in Zivil- als in Strafsachen -
jahrhundertelang in vollster Öffentlichkeit (und nach dem Grundsätze der
Mündlichkeit oder Unmittelbarkeit) abgespielt hat, sodaß seine einzelnen Vor¬
gänge und die darauf bezüglichen besondern Ausdrücke beim Volle schon fest
eingelebt waren, als später der auf den Prinzipien der Heimlichkeit und Schrift-
uchkeit beruhende „gemeine" Prozeß vorübergehend zur Herrschaft gelangte.
Ganz besonders charakteristisch tritt die innige Beziehung der deutschen
Sprache zu dem Gerichtswesen zunächst schon darin hervor, daß unsre beiden
allgemeinsten Wörter, die wir jetzt täglich, ja stündlich für die verschiedensten
Gegenstände und Begriffe im Munde führen, nämlich „Ding" und „Sache,"
on!sem Nechtszweige entlehnt hüid. „Ding" (echt, und ahd. cuno skillinoj, cking';
altnvrd, tlüuA, langob, t-lliux) bedeutete' nämlich ursprünglich die Gerichtsver-
mmmlung oder Gerichtsstätte, auch wohl die öffentliche Versammlung überhaupt,
woran noch der heutige Gebrauch von „Thing" in den nordischen Ländern zur Be-
Mchnnng der parlamentarischen Versammlungen, wie Folkething, Landsthing,
^torthing usw., erinnert. Weiter umfaßte das Wort die Gerichtsverhandlung
und im Anschluß daran auch wohl andre Verhandlungen oder Angelegenheiten
^'rgl. Luthers Bibelübersetzung: „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle
^nue Dinge beschicken," ferner: „das ist ein ander Ding," „vor allen
-^ngeii," ^guter Dinge sein," „mit rechten Dingen zugehn," auch
"Ichlechterdings," „nenerdings," „allerdings" usw.). Weil aber auch
ver Gegenstand der Gerichtsverhandlung als „Ding" bezeichnet wurde, so
M steh danach schließlich eine Übertragung auch auf jeden andern Gegcn-
mno, ^ „substantielle Sache" überhaupt ergeben; daher auch „die ding-
^este," ein „dinglicher Anspruch" oder die „Dinglichkeit" eines Rechts-
"ryMmsses in der juristischen Terminologie. Ja sogar damit erscheint die Ent-
-omuttigsgeschlchte des Wortes noch nicht völlig abgeschlossen, deun in neuerer
^ ^" ^ verächtlich wohl auch für Menschen („der Dings, Dingsda
^r Duigerich"), namentlich für Kinder oder Mädchen („dummes. einfältiges
-"i g ) gebraucht. Trotz alledem vermag der Sprachforscher auch heute
, ^ ""^'^ Grundbedeutung von „Ding" in verschieden Ausdrücken
"no Redensarten unsrer Sprache zu erkennen. Sie liegt z. B. ohne Zweifel
zugrunde bei den Zeitwörtern „dingen" (ausdingen, abdingen; ursprüng¬
lich — gerichtlich verhandeln, dann verhandeln überhaupt, feilschen, anwerben,
mieten), „(sich) verdingen," „bedingen" (ausbedingen), „jemand dingfest
machen" (— festnehmen zur gerichtlichen Untersuchung). Dasselbe gilt natür¬
lich von den Substantiven „Beding," „Bedingung," „Vcrdingung,"
„Gedinge" („Leibgedinge"). Aber auch in dem bekannten Spruche: „Ällesrj
guten Dinge sind drei" bedeutet Ding zunächst Gerichtsverhandlung oder
Gerichtstermin; er hatte also ursprünglich einen spezifisch juristischen Inhalt,
während wir ihn heute nur in einem ganz allgemeinen Sinne gebrauchen, „etwa
wie in Lessings Minna von Barnhelm der Wirt dies Sprüchlein bei Prüfung
des dritten Glases echten Dcmzigers dem zögernden Just in empfehlende Er¬
innerung bringt" (Cohn, Deutsches Recht im Munde des Volks usw., Heidel¬
berg 1888, S. 4). Wie die Zahl drei — eine mythische Zahl aller Natur¬
religionen — von jeher bei den Germanen als heilig gegolten und in Sage,
Religion, Sitte und Recht eine hervorragende Rolle gespielt hat, so „konnte
auch vor Gericht . . . keine Verurteilung in der Sache selbst ergehn, bevor
nicht eine dreimalige Vorladung des Verklagten stattgefunden, ... es mußten
eben der ordentlichen Gerichtsversannnlungen, der echten oder guten Dinge
sGegens.: gebotene Dinges drei sein" (Cohn, a. a. O.). Erst nach dreimaligem
Nichterscheinen konnte also gegen den Ausgebliebnen ein Kontumazialverfnhren
eingeleitet, und er dnriu verurteilt werden (vgl. z. B. Sachsensp. I I I, Art. 39, § 3),
wie er umgekehrt auch freigesprochen wurde bei dreimaligem Ausbleiben des
Klägers, „wenn dieser ein Gut mit. Beschlag belegt hatte" (vergl. Sachße
in d. Zeitschr. f. deutsches Recht, XVI 1856, 'S. 121/22).
""
Auch unsre Ausdrücke „verteidigen, „Verteidigung und „Ver¬
teidiger," wie noch jetzt gesetzlich der Rechtsbeistand des Angeklagten im Straf¬
prozesse heißt, stehn in einem viel engern Zusammenhange mit dem „Ding"
des altdeutschen Rechtslebens, als man auf den ersten Blick vermutet. Da
nämlich bei den Germanen nach einem wohl alt-arischen Grundsätze die
Rechtspflege ruhen mußte, sobald „die Sonne zu Gnaden gegangen," oder mit
andern Worten jede Gerichtsverhandlung regelmäßig nur bei Tage (vor
Sonnenuntergang) geschehen durfte, so bezeichnete man sie auch wohl — statt
bloß als „Ding" — genauer als „Tageding" (eist. wAaäino, altsächs. clggÄ-
tlungi, clAAtlrinAi, niederd. ZeMäinZ). Daraus entstand dann zunächst das
ältere Wort „Taidiug" oder „Teiding" (schon ahd. wiclwc:, ttüäinA^ „gericht¬
liche Verhandlung, Unterhandlung," später auch „unnützes Geschwätz"; vergl.
„Narrenteidinge" — Narretei) und weiter durch Vermittlung des Zeitwortes
„tÄMclinAkir" (ahd. tÄAo,clinA0n, niederd. äciFeclinASn, cleAeäinß'ein, eigentlich:
eine sRechtsjsache während eines Tages- zu Ende bringen) oder „tkickisnjgcin/
tü.et^njg'6n (verwandt auch mit „betätigen," seit dem vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhundert auch „vortÄclisnsg'fre," uiederl. verclocliMm) unser neuhochdeutsches
„verteidigen" (und das Hauptwort „Verteidigung") sür die Tätigkeit des
Rechtsbeistandes vor Gericht (des „Verteidigers"), dessen jetziger Gebrnnch auch
für „sich wehren" im Kampfe mit der Waffe und dann überhaupt für „sich
verantworten," mithin erst als eine Erweiterung des ursprünglichen, rein juristischen
Begriffes erscheint.
Bei dieser Gelegenheit sei zugleich noch daran erinnert, daß der Ausdruck
„Tagfahrt," d. h. ursprünglich die Fahrt zur gerichtlichen Verhandlung, dann
diese selbst (vergl. das Holland. Dg^v-un-ä Landtag), für den „Termin" zu
einer Gerichtsverhandlung nach dein oberdeutschen Sprachgebrauche noch jetzt
ziemlich allgemein geläufig ist, während sich das einfache Wort „Tag" von
seiner engern Bedeutung „Gerichtstag," „Gerichtssitzung" in gewissen Zusammen¬
setzungen zu dem Begriffe „Sitzung" oder „Versammlung" überhaupt (so
z. B. „Juristen-, Philologen-, Ärztetag"), ja sogar zu einer Bezeichnung von
zeitweise „lagerten" Körperschaften erweiterthat (vgl. „Reichstag/' „Land¬
tag"). Endlich unterliegt es Wohl keinem Zweifel, daß mit der ältern juristischen
Bedeutung des Wortes „Ding" (namentlich im Sinne der Gerichts- bezw. Volks¬
versammlung) auch der Name unsers zweiten Wochentages, Dienstag (nicht
'.Dienstag" oder gar „Diensttag" zu schreiben, obwohl er volksetymologisch an
Dienst angelehnt ist) in Zusammenhang gebracht werden darf. Dafür spricht
nicht nur die ältere nieder- und mitteldeutsche Form „Dingstag" (Dingsdag),
sondern auch der Umstand, daß bei den Germanen, wie nachgewiesen ist, mit Vor¬
liebe der Dienstag (neben dem Donnerstage) zum Gerichtstage gewählt wurde,
Wenn man jetzt auch vorzieht, das Wort zunächst auf den in einer germanisch¬
lateinischen Inschrift als „Nars rillnAsus" bezeichneten germanischen Kriegsgott
^in oder Ao (vergl. das griech. ^sus, altgerm. Ilvvg.2, cmgels. ?lo, altnord. ?yr)
zu beziehen, der übrigens — nach einer weitverbreiteten Ansicht — zugleich auch
Gott des Dinges, d.h. der Versammlungen und der Gerichte, gewesen sein soll.
Diesen Tatsachen entspricht einerseits das französische „mÄrcli" (und das italienische
„MNteäi," latein. Nartis alios), andrerseits das englische „wohn-^" (cmgels.
twvsll-«»', altnord. t^sa^gr, schwedisch tiscl^', dänisch tirsä-ig-) und das ober¬
deutsche, besonders auf alemannischem Gebiete heimische Ziestag (ÄstÄg', nsstig',
Zischtig bei.^edel), das zuweilen vom Volke auch in „Zinstag" umgewandelt
worden ist."
Einen fast noch ausfälligern Bedentungswcchsel als das „Ding hat unsre
"Sache" im Laufe der Zellen durchmachen müssen. Denn „Sache" (ahd.
8Kllllg., sAelliz,, altsüchs. sal«. got. Silly'o, altnord. sole) war einst zunächst nur
gleichbedeutend mit Streit, Kampf, Verfolgung (daher „Ursache" im ältern
Sprachgebrauch oft„Veranlassung zum Streit"), nahm aber schon früh den
Ipeziellern Begriff „gerichtlicher Streit, Rechtshändel, Rechtssache, Streit¬
objekt" um (vergl. Luther: „eine Sache miteinander oder wider einen haben")
und verallgemeinerte sich dann von da ans wieder in ähnlicher Weise wie
„Ätng," sodaß es heute für alle möglichen „greifbaren" Gegenstände (vgl. das
"Sachenrecht" dingliches Recht, 'im Gegensatze bes. zum Personenrechte, und
^ .'beweglichen" und „unbeweglichen Sachen" der Juristen), daneben
awer auch noch — in abstrakter Weise — für jede Art von „Geschäft, Obliegcn-
^it, Angelegenheit, Vorgang" verwandt werden kann (so z. B.: „er macht
et"le Sache'gut," „das ist seine jnicht meines Sache," Sache des Taktes,"
" ^ne böseSa es e," „ u n verrichteter S a es e," „das tut n i es t s z u r (L? a es e,"
"Kur Sache kommen" usw.).
Auch der ältere und engere Sinn des Wortes („Sache" ^ Rechtssache)
^se zwar aus dem Sprachgebrauche der Gegenwart noch nicht ganz verschwunden;
n finden es aber doch nicht mehr bloß komisch, sondern anch schon verzeihlich,
wen» der „in Sachen seines Vaters" vor Gericht geladne junge Bauer mit
w ihm viel zu weiten Kleidungsstücken seines Erzeugers angetan vor den er-
raunten Augen der gestrengen Zerren Richter erscheint. Etwas deutlicher em-
pfinden wir die Beziehung zu der „Sache" als „gerichtlicher Streitsache" wohl
was in den znsammengesetllen Hauptwörtern „Widersacher" (ahd. vict^rsinzln)
^ergl^ hin-in«^ streiten >, d.'h. zunächst Gegner im Rechtsstreite, dann überhaupt
^guer) „Sachwalter" (d. h. der, der jemandes Rechtssache führt, der
'uem^auwalt, Verteidiger), ferner in den dem Juristen noch recht geläufigen
'^. '"Wesen," „Strafsachen" u. a. in. (z. B. Neichsgcrichtseutschei'dungen in
^ vnstuhcn „Kammern für Handelssachen") sowie in dein heute allerdings schon
«nao veralteten Zeitworte „sachfäll ig werden" für „im Prozesse unterliegen."
'l ^ welchen sonderbaren Wegen die Entwicklung unsrer Sprache sich aber
wor? P c^^.! ^"^'^ lehrreiches Beispiel das Schicksal des Zeit¬
ig „tosen." Denn daß auch dieses einst in einem Zusammenhange mit
"^acye un altern Wortsinne gestanden hat, ist heute wohl uur noch dein Sprach-
forscher bekannt. Nach der Wiedergabe der „Sache" (^ Rechtssache) durch
das lateinische viiusa (frz. ollnss, nat. vosu., echt. Kos-Y entstand nänilich zu¬
nächst ein davon abgeleitetes Verbum eausari (— einen Rechtshändel führen,
gerichtlich verhandeln), daraus sodann das deutsche Lehnwort „kosen" (ahd.
Icüsöir), das anfänglich in derselben, später allmählich in der allgemeinern Be¬
deutung „ein Gespräch führen, sich unterhalten, plaudern" gebraucht wurde,
in der neuern Zeit aber schließlich wieder den engern, dem Rechtswegen jedoch
völlig fernliegenden Sinn „ein Liebesgespräch führen" oder überhaupt wohl
allgemein „freundlich plaudern," „schmeichlerisch, vertraulich (wie unter Liebenden)
reden" angenommen hat, nach dem Vorbilde von „liebkosen," mit dem es in
der Literatur zuweilen auch gleichbedeutend gebraucht worden ist.
In der ältern Zeit konnte ein eigentliches Gerichtsverfahren unter Um¬
ständen ganz wegfallen oder doch der Prozeß sehr beschleunigt werden, wenn
ein Verbrecher „auf handfester Tat" — in it^iMti — ergriffen wurde.
Wer eine solche Tat wahrnahm, mußte aber sofort einen lauten Ruf erheben,
der die Nachbarn („Schreimannen") aufforderte, zur Hilfe oder zur Zeugenschaft
herbeizueilen, worauf der Missetäter, falls sein Verbrechen mit Friedlosigleit
belegt war (namentlich auch bei seiner Widersetzung gegen die Festnahme), auf
der Stelle getötet werdeu, sonst wenigstens sofort (ohne Ladung und förm¬
liche Klage) vor Gericht geführt werdeu durfte zum Zwecke summarischer Ab¬
urteilung des Falles. Die Erhebung jenes Rufes an die Gemeindegenossen
aber nannte man das „Gerüste" (ahd. KiruM, ahd. Gloss. ela-mon Acllruolti,
ahd. gxzrllcilts) oder „Gerüchte" — ein juristischer Kunstausdruck, auf den höchst
wahrscheinlich unsre modernen Wörter „Gerücht" (— „Ruf," in dem jemand
steht), „berüchtigt," „ruchbar," „anrüchig" (älter „anrüchtig"), ja
vielleicht auch noch die Redensart „in keinem guten Gerüche stehn" zuriick-
gchn. Die Gerüchtsinterjektionen, die uns allerdings erst durch spätere Quellen
überliefert sind, stammen zum Teil schon aus dein höchsten Altertum und hatten
meist die Bedeutung „Kommt heraus, kommt hierher," wie z. B. das nieder¬
deutsche tioclütk (— ziehet heraus) und das hochdeutsche MtLr, Wwr (^ xislist
Kar), von dem wohl unser „Zeterschrei" herkommt, das wir heute auch bei
gerichtlich völlig belanglosen Vorgängen „erheben" können (vgl. auch „Zeter,"
„Zetterund Wetter," „Gezeter," „zetern," „zetternund wettern" u.a.in.). Einzelne
Ausrufe bezogen sich auch auf die besondre Veranlassung, wie ckibio, iriorclio
(vgl. das noch erhaltne „Zeter und Mvrdio, Zeter-Mordio") oder ivurüi
(als Ausruf zur Unterstützililg bei Feuersbrünsten, „Feuerlärm," noch in neuerer
Zeit vielfach gebräuchlich), während wieder andre Formen des Gerüsts Hilfe,
namentlich bewaffnete Hilfe begehrten, so die Rufe luit'lo, -wApsnio, das
romanische -ulunml (nat. g-rins, franz. Al>!U'in.s, d. h. zu den Waffen), die
Quelle unsers Fremdworts „Alarm" (Alarmruf, Lärm), und endlich das llculu-IIö
(Hcilallgeschrei), das manche anch in dem bekannten Weidmanusruf „Halali"
(bei Erlegung des gehetzten Wildes) haben wieder erkennen wollen.*)
Handelte es sich nicht um „handfeste Tat," so mußte der in seinem Rechte Ver¬
letzte immer ausdrücklich die „Klage erheben," d. h. eigentlich mit lauter Stimme,
mit Wehegeschrei das vorbringen, wodurch er sich gekränkt oder gestört fühlte.
Nur dann konnte ihn der Richter „rovktos llvlvvQ," während andernfalls nach
dem bekannten Motto: „Wo kein Kläger, da (ist janchj) kein Richter"
— das hente auch schon mehr den Charakter eines allgemeinen Sprichworts an
sich trägt — die Sache unverfolgt bleiben mußte. Eingeleitet wurde aber die
Klage durch eine in feierlicher Weise vorzunehmende Ladung des Gegners (Misse¬
täters) zum Rechtsstreite („MMnitio"), bei der sich freilich die Mitwirkung des
Gerichts in.es erst allmählich ausgebildet hat („dannitio"). Ans den Formalitäten
der gerichtlichen Ladung in späterer Zeit verdient ein besondrer Brauch der
namentlich in Westfalen — .ans roter Erde" - tätig gewesenen Femgerichte
hier deshalb besonders hervorgehoben zu werden, weil u. eben der Ursprung
einer deutschen Redensart — nämlich „einen Span wider jemand haden —
zu erkennen ist. Wie Th. Lindner in seinem großen Werke „Die ^eme
(1- Aufl. Münster und Paderborn, 1888. S. 584) ausführt, wurden alle Be-
stimmungen und Gesetze" der Femgerichte „über die Unverletzbarkeit (lyrer)
Gerichts'
boten" immer aufs neue übertreten, „Daher kam man früh daraus,
solche Gefahren möglichst zu vermeide... wie schon die Nuprechtsckien Fragen (vom
Jahre 1408, Z 6) schildern: »Wenn der Verklagte auf einen. Schlosse M in
das man ohne Gefahr nicht kommen kann, so mögen die Schöffen des Rachtv
vor dasselbe reite... in den Türriegel drei Kerbe., hauen und enim Komgs-
pfennig hineinlegen, den Ladebrief anheften und die Wächter rufen, damit sie die
Ladung bestellen. Die aus gehauenen Späne nehmen sie zum Zeichen mit«
Ähnlich laute., die Anordnungen der Arnsberger Refor.nat.on von 1/37 ^'gi.
Lindner. a. a. O. S. 584, wo auch historische Beispiele des Vollzugs a.w den
Jahren 1433 nud 1441). Vou diesem auch sonst wohl noch in Dentschland
l'dlich gewesenen und anscheinend bis in neuere Zeiten sine.n be. de.n oberbay¬
rischen Haberfeldtreiben — dem modernen Seitenstücke zu den Femgerichten —
beobachteten ^ Ausschneiden des Spans als symbolischer Ladung darf man also
Wohl mit Recht die Wendung „einen Span wieder jemand haben" her¬
leite... Der andern - - schon in den Nuprechtschen Fragen gleichfalls er¬
wähnten — Sitte der Femgerichte, nämlich der, die Borladebriefe — nur einen.
Dolche - an dem Tore des zu Ladeuden oder auch wohl in Gartenzäunen.
«" Kreuzwegen usw. anzuheften, zu „stecken" (wofür historische Beispiele be.
Lu.ti.er, S. 583/84), verdankt aber unsre Sprache höchstU'ährscheinlich acht
nur den juristischen Kunstausdruck „Steckbrief," bei dein sich „Bnef" noch
w dem ülteru Sinne von „Erlaß, Urkunde" erhalten hat (vgl. auch Ablaß-,
Adels-, Lehrs-, Meister-, Kauf-, Schuld-. Wechsel-, Frachtbrief und das Zeit¬
wort „verbriefen"), sondern vielleicht auch noch die volkstümliche Redensart es
einem" oder „einem etwas stecken," die übrigens heute in einem mehr-
fachen Sinne aebrcincht wird.
,^,„.
Zur „Hegung" des Gerichts trat n.an in der älteren Zeit murer an örtlich
genau bestinuuten Dingstätten. 'ueist unter einzelnen ^oßen schattigen deu
Göttern ge.oeihten Bäumen (wie im Norden Eschen, sonst besonders Linden
oder Eichen) oder auch unter Baumgruppen, zusammen, worauf noch ^)res-
^neu wie Siebenlinden, Dreieiche.., Sicbeneichen u. a. ..^Später wurde auch vor dem Stadttore, an der Reichsstraße, auf Anhöhen,
un Rücken großer Felsblöcke, bei sogenannten Staffelsteinen (daher auch der
Ortsname Staffelstein bei Bamberg) zu Gerichte gesessen (Stnffelgcr.este). ^.e
Gerichtshegung, die in besondern 'feierlichen Formen (z. B. in.t best.ini.neu
Vegungsfrage..) vor sich ging, wurde äußerlich erkennbar gemacht durch die
Abgrenzung des anfangs' in'der Regel kreisrunden Dingplatzes (vgl. „Ringund Ding." „riuglich, dinglich") durch Pfühle, in der Urzeit, besonders un Norden,durch Haselstübe', die man durch Schnüre (zuweilen durch bloße Seidenfäden,also in mehr symbolischer Weise) mit einander verband (daher der Ausdruck:
"Spannung" des Dings). Auf diese Umhegung des Dingplcitzes, die ihm einen
besondern, strafrechtlich streng geschützten Frieden, den „Dingfriedcn," verschaffte
(woher uns auch noch heute die „Umfriedigung" oder „Einfriedigung"
für Umzäunung geläufig ist), geht auch unser Zeitwort „hegen" zurück
(Grundbedeutung: „umzäunen," danach dann auch Wild, Fische, Fvrstanpflan-
zungen, Wiesen hegen ^ schonen, sorgfältig unterhalten, besonders beliebt in
der reimenden Formel „hegen und pflegen"), ja vielleicht auch die Wendung:
„einem ins Gehege kommen" (vgl. auch „Hag"). Später bevorzugte man
eine festere Umzäunung des Gerichtsplatzes durch einen hölzernen Bretterverschlag
(Geländer), die sogenannten Schranken oder Schrammen, die uns in der Wen-
dung „vor den Schranken des Gerichts erscheinen" noch heute geläufig
sind, obwohl sie ihre frühere Bedeutung längst eingebüßt haben, während es
bei den noch immer viel gebrauchten Redensarten „jemand in die Schranken
fordern," „die Schranken überschreiten (übertreten)" und „für (oder
gegen) jemand in die Schranken treten" allerdings fraglich ist, ob sie sich
schon von vornherein nur auf die Gerichts Schranken oder vielmehr auch — wenn
nicht gar nur — auf die Turnierschranken bezogen haben.
Während in Oberdeutschland (Bayern, Schwaben, Franken) durch das
ganze Mittelalter die „Schrammen" auch die „Gerichtsbänke" bezeichnet haben,
zunächst wahrscheinlich, weil diese gleich an den Jnnenwänden der Umzäunung
befestigt waren — womit das noch jetzt in Süddeutschland gebräuchliche Wort
„Fleisch- oder Brotschranne" für die Bank der Fleischer oder Bäcker ans dem
Markte zu vergleichen ist —, hat der Sprachgebrauch in Niederdeutschland den Aus¬
druck „Bank" unzweideutig vor „Schranne" oder „Schranke" bevorzugt. Hier
befindet sich darum auch das Gericht „binnen den Bänken," und der Kläger
hat seiue Sache „binnen den vier Bänken" vorzutragen. Dem entsprechend wird
auch die „Bank" (d. h. die Gerichtsbank, Dingbank) „gehegt" oder „gespannt."
Innerhalb des Geheges saßen nämlich die Urteilsfinder und später die Schöffen
— im Gegensatze zu dein während der ganzen Verhandlung ans einem Stuhle
thronenden Richter (vgl. „Richterstuhl") — auf ursprünglich wohl steinernen,
dann hölzernen Bänken. Daher sprach man auch einst vorwiegend von der
„Schöffenbank" statt von dem Schöffenkollegium, in ähnlicher Weise wie unsre
Reichsstrafprozeßordnung noch das Wort „Geschwvrnenbank" verwendet,
während die Bezeichnung „Schöffen- oder Schöppenstuhl" erst dem spätern
Sprachgebrauch angehört. Von der Gcrichtsbank ist wohl jedenfalls auch die freilich
nicht recht klare Redensart „etwas (eine Sache) auf die lange Bank schieben"
oder (älter) „ziehen" (Lessing) hergenommen. Vielleicht darf man sie ins¬
besondre darauf zurückführen, daß die Schöffen nur das Aktenmaterial, das
gleich erledigt werden sollte, unmittelbar bei sich liegen hatten, während sie
andre Sachen, mit denen sie sich Zeit nehmen zu können glaubten, weiter zurück
legten, „auf die lange Bank schoben," die übrigens nicht selten zugleich die
Form einer Kiste zur Aufbewahrung der Akten gehabt haben mag (woraus sich
auch die ältere Form „etwas in die langen Truhen legen" erklären läßt).
Auch die bekannten ellenlangen Prozesse beim Neichsknminergerichte mögen seiner¬
zeit dazu beigetragen haben, den verallgemeinerten Sinn jenes Sprachbildes noch
mehr zu befestigen. Man ist aber noch weiter gegangen und hat auch das
einfache Zeitwort „etwas aufschieben" (vgl. „Aufgeschoben ist nicht auf¬
gehoben") als eine Ellipse betrachtet, bei der eigentlich die Worte „auf die
lange Bank" zu ergänzen wären. Mag dies aber auch eine bloße Hypothese
sein, so steht es dagegen wohl jedenfalls fest, daß — wie einst schon der
Sachsenspiegel schlechthin von der „Bank" statt von der „Dingbank" sprechen
konnte — auch heute noch das Volk unter der „Bank" die Gerichts-, namentlich
die Anklagebank begreift (daher „auf die Bank" oder „aufs Baillie
kommen" ^ „gerichtlich belangt werden"). Zum Zwecke der Versammlung
der Dinggenossen an der Gerichtsstätte, dann auch zum Zeichen des Beginns
der Gerichtsverhandlung, besonders eines Kriminalverfahrens, pflegten (auf dem
Lande, in Ansiedl.engen mit Kirchen) die Glocken geläutet zu werden (das sogenannte
Belänten des Dinges), wie Glockengeläute auch erscholl, wenn es nach ruchbar
gewordner Missetat die schnelle Verfolgung und Ergreifung eines sehn tigem
ins Werk zu scheu galt. An solches Läuten der großen Gericht»- (Mord-,
Varu- oder Sturm)glocke auch bei der Erklärung der Redensart ..etwas an
die große Glocke hängen" oder „schlagen" zu denken, erscheint wohl znlas ig
und 'jedenfalls weniger gesucht, als die Herleitung von dem nirgends besagten
Anhängen von Klagezetteln an Glocken oder von der durch Karl den Großen
verbotnen Sitte, Zettel „propwr ^-rnckwcmi" (d. h. zur Abwendung von Hagel¬
schauern) an dem Glockeiistrange zu befestigen.
Schon in ältester Zeit wurde der Prozeß beherrscht von einem steigen
Formalismus, der besonders auch in der genau geordiieteu Rede und Wider¬
rede der Parteien zutage tritt. Frühzeitig begegnet uns deshalb tap ^ort
„Rede" (übt. rväie.,, rc).la,, »ist. schon recke), das wir heute wohl für „Ge¬
spräch" schlechthin, namentlich aber für deu „kuustmäßigeu Vortrag' ^einerlei
welchen Inhalts - gebrauchen, als technische Bezeichnung der „vor Gericht
geführten Rede" (daher auch „Redner" früher soviel wie ^nrsprech, An¬
walt vor Gericht, Wortführer und der noch moderne juristische Ausdruck
„Einrede" ^ Widerrede im Prozeß neben „Einspruch" und „Widerspruch )
Freilich ist das Wort „Rede" zu dieser speziellen Bedeutung selbst erst auf
Umwegen gelangt während es von vornherein einen juristischen Sinn gehabt
hat. Es bedeutete nämlich ursprünglich so viel wie „die vor Gericht abgelegte
Nechmmg" oder Rechenschaft" (vgl. das lat. rickio und MAtro), dann weiter
sowohl die Rechtssache" als auch das „Recht" in objektivem Sinne (j^
l'ustitm, ox, ordo), endlich „das Mittel, wodurch >nan Rechenschaft gewährte," das
eben regelmäßig jn die gerichtliche Rede war. Ans diesem Entwicklungsgange
werden uns auch moderne Wendungen wie „Rede stehen" für „Rechenschaft
geben" und „jemand zur Rede stellen" oder „setzen" für „zur Rechenschaft
ziehen," „Rede und Antwort geben" u. a. in. verständlich; ja auch das Eigen¬
schaftswort redlich" ist zunächst von der Bedeutung „so viel als man verant¬
worten kaun" abgegangen (vgl. die Allitemtion: „recht und redlich.") Daß
auch in dem bekannten, jetzt in ganz allgemeiner Weise verwandteii Sprichworte:
"Eines Manuel Rede ist keines Mannes Rede" die „Rede" urjprniiglich
nur in dem frühern juristischen Sinne (Rede vor Gericht) zu verstehn gewesen
ist. das zeigt ganz deutlich dessen ältere und ausführlichere Fassung: „miiW wMns»
reck i«t sin laid rcxl ur^r sol alis part vkrlivr«zu d«(Z< die die Sprich-
wörtersamuiluugen seit Anfang des sechzehnten Jahrhunderts keimen und
Sebastian Franck schon als Inschriften der Rathäuser zu Nürnberg und
Ulm anführt. Daß uoch verschiedne andre Variationen dieses, anch schon den
Römern geläufig gewesenen Grundsatzes („imckmtnr se »Itsr» p-u^", v. 1. 3, (.va.
>U'»t. 7. 43) bestanden haben, ist sicher; allzu gesucht erscheint es dagegen, mit
Sachße (Zeitschr. f. deutsch. Recht. XVI, S. 93 ff.) auch dem Spruche „Ein¬
mal ist keinmal," der allerdings gleichfalls eine Beziehung zum Rechtsleben
gehabt zu haben scheint, denselben Sinn beizulegen, indem man das Wort
.,'man" in „Einmal" (^ Ein Mal) mit dem altdeutschen (und, altnordischen)weil (natal, in-alunt ^ Gerichtsverhandlung, Klage, Rede) identifiziert. Nochunzulässiger ist es aber, das heute noch oft angeführte Sprichwort „Wer
zuerst kommt, mahlt zuerst" — das z.B. der Sachsenspiegel ganz unzwei¬
deutig als eine speziell das Mühlenrecht betreffende Nechtsparömie erkennen
laßt — dadurch aus den Rechtsstreit der Parteien zu beziehen „Wer zuerstvor Gericht kommt, soll zuerst vom Richter gehört werden"), daß man auch hier
das „malen" (als aus dein althd. mirlr-ckjmi entstanden) in einen Zusammenhangmit dem ..Mal" oder der „Mahlstatt" bringt. Mehr Wahrscheinlichkeit
hat es schon für sich, das Sprichwort „Wer A sagt, muß auch B sagen"
mit dem altdeutschen Gerichtsverfahren in Verbindung zu setzen. Da nämlich
nach der Rechtsterminologie des Mittelalters die Antwort des Beklagten,
namentlich die verneinende (mit dem bestärkenden Eide im Gefolge), das „Be¬
hagen" hieß (niederd. boL!>,i(<zu. oder vorLa-Kvir, später in „versagen" entstellt), so
mag wohl der Volkswitz die Rechtsregel, jeder Angeklagte müsse im Falle
der Widerklage demselben Gericht als Äntworter „besagen," mit einem Wort¬
spiele dahin gefaßt haben: „Wer A sagt (eigentlich: ansagt, anspricht), muß auch
B sagen," d, h. „besagen," Kaum noch einem Zweifel unterliegt es endlich, daß
die sprichwörtliche Beteuerung „Ein Manu, ein Wort" einst nur den
engern juristischen Sinn gehabt hat, mau dürfe das einmal vor Gericht ge¬
sprochn« Wort nicht widerrufen, sodaß sie also mit einem kurzen Schlagworte
den Grundsatz der sogenannten „Unwandelbarkeit des Wortes" charakterisiert,
worin uns die ganze Starrheit des ältern Prozeßformalismus am deutlichsten
entgegentritt (vgl. das französische: „?a,roth rurs toi volos irv xvrit ßtrc; rapoivs").
Gerade infolge dieser Anschauung, wonach Fehler in der Rede von den Parteien
nicht mehr verbessert werden konnten, die natürlich eine große Gefahr für den
des Wortes nicht sehr Kundigen in sich barg, machte sich allmählich eine — ur^
sprünglich unzulässige — Vertretung im Worte durch dafür geschulte Personen
notwendig. Man ließ darum später einen Fürsprecher (echt. kurispreono,
Fürsprech, Sprecher, Vorsprccher, Fürbringcr, Fürleger, Redner, Vorredner, pro-
locmtor usw.) für sich reden, dessen Worte „die (vor Gericht mit erschienene)
Partei unter gewissen Voraussetzungen zu desavouieren und zu verbessern be¬
rechtigt war" (Brunner). Noch heute kennen die deutschen Schweizer einen
„Fürsprech" an Stelle unsers farblosem Nechtsanwalts oder Advokaten; einem
andern „das Wort reden" kaun aber auch im Deutschen Reiche, und zwar auch
außerhalb der Gerichtssäle, heute ein jeder, der zu dessen Gunsten eintreten will.
Früher sagte man Wohl auch statt dessen: „das Wort sprechen" oder „halten,"
weshalb „Bürgerworthalter" noch im neunzehnten Jahrhundert als Be¬
zeichnung des Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung in hannoverschen
Städten vorkam und „der worthaltende Bürgermeister" sogar noch jetzt
als Amtsbenennung in Hamburg üblich ist.
(Schluß folgt)
in nächsten Tage beantwortete Christence kaum Wilts Morgengruß,
und als er später in entschuldigenden und traurigem Ton begann:
Jungfer Elisabeth, zürnt Ihr noch immer? da antwortete sie kurz:
Ich heiße nicht Elisabeth! und verließ schnell das Zimmer.
Will konnte jetzt übrigens, auf einen Stock gestützt, aus einem
Zimmer in das andre gehn; er dachte auch daran, sich die Treppe
hinab zu wagen, in die freie Luft hinaus, gab es aber wieder auf und setzte sich
an einen Tisch vor dem offnen Fenster. Dort schrieb er eine Menge — keine
Briefe —. strich ans und schrieb wieder, aber ehe Jver Kramme zum Mittagessen
aus der Schule kam, hatte er das Papier zerrissen und die kleinen Fetzen im
Winde flattern lassen.-
Als sie bei Tische saßen/ ertönte plötzlich aus der Richtung der Pferdemühlen
strnße her lauter Lärm. Jver Kramme stürzte ans Fenster, wandte sich in die
Stube zurück und rief:
Sie reiten hier vorbei! Kommt schnell her und seht!
Die Sommersonne schien ans bunte Farben, auf Sammet und Seide, blitzende
Ketten und perlengestickte Schabracken; blanke Harnische und funkelnde Spangen,
goldne Dolche und goldne Sporen schimmerten. Musik — Hörner und Trompeten,
Flöten und Pauken — vermischte sich mit dröhnenden Hufschlngeu, mit Schwerterklirren
und klappernden Zaumzeug, mit lustigem Wiehern, mit Lachen und lautem Necken.
Es war König Frederik, der mit stattlichem Gefolge nach Frederiksborg ritt.
Den Zug eröffneten zwei Paukenschläger — wie alle andern zu Pferd —,
dann folgten die Edelknaben, und dann der König. Er ritt einen prächtigen
Schimmel, und gerade als er vor dem Kloster angelangt war, wandte er den Kopf
und sah hinauf. — Jver Kramme verneigte sich tief und erhielt ein gnädiges Kopf¬
nicken als Gegengruß.
Euer König ist ein Manu, sagte Will. Er sitzt wie angegossen im Sattel,
und er trägt den Kopf frei über dem Tollenkragen. Wer ist das, mit dem er
jetzt redet?
Der König hatte sich umgewandt und winkte mit der Hand, und einer vom
befolge war darauf an seine linke Seite geritten.
Das ist Preber Ghldenstjerne, antwortete Jver Kramme.
Guildensteru?
Nein, Ghldenstjerne — Preber Gpldenstjerne. Und der, mit dem Seine
Majestät jetzt redet, ist Jörgen Rosenkrcmds vom Neichsrat — das sind zwei der
vornehmsten Edelleute im Lande.
Die Musik verstummte, der König gab seinem Pferde die Sporen, alle taten
dasselbe, und einen Augenblick später war der letzte Reiter um die Ecke ver¬
schwunden.
Aber drüben auf der andern Seite der Straße unter dem Kirschbaum stand
Herr Johann und reckte den Hals nach den Davonziehenden — er hatte ge-
lenert, gedienert, sodaß er schwitzte, und trocknete nun ganz atemlos die Stirn an
Wren Ärmel ab.
Jver Kramme schüttelte den Kopf, als er ihn erblickte. — Mein guter Oheim
i>t seit vollen acht Tagen nicht hier gewesen, sagte er ganz bedenklich. Das ist
"och niemals vorgekommen, so weit ich denken kann!
Trauert Ihr deswegen? fragte Will.
Und er ist trotzdem jeden Abend betrunken nach Hause gekommen, fuhr Jver
Kramme fort, obwohl er, wie Jens aus sichrer Quelle wissen will, weder bet der
^ierfrcin noch im Ratskeller gewesen ist. Dann ist es wohl leider doch wahr, was
ne vorgestern an der Schiffsbrücke erzählten!
Was war das?
Daß er seinen täglichen Gang ins Schloß hat.
Und wenn das so wäre, so wäre dabei doch kein Unglück?
Es wäre doch ein Unglück, wandte Jver Kramme eifrig ein. Denn er hat
große Freundschaft mit der dicken Speisekammer-Dorthe in des Königs Küche ge¬
schlossen, und die traktiert ihn.
El el!
Und wißt Ihr, was daraus resultiere» kauu?
Nein!
Wenn sie ihn so weit in ihre Netze locken kann, daß er ihr die Ehe ver¬
spricht — so erben Christenee und ich nichts von dem guten Oheim, und das wäre
eine große Kalamität!
Jver Kramme schüttelte abermals den Kopf, seufzte und setzte sich wieder an
den Tisch, niber während der Mahlzeit wurde kein Wort mehr gesprochen.
Am Abend hielt sich Christenee ganz für sich und ließ sich nicht mehr sehen,
«achten das Abendbrot aufgetragen war.
Kommt Eure Schwester nicht zu uns herein? fragte Will.
Sie ist schlechter Laune; weswegen, das weiß ich nicht, antwortete Jver
Krumme. Aber es ist mir im Grunde nicht unlieb, daß wir allein sind, da ich
etwas Sekretes mit Euch zu reden habe.
Auch ich wollte mit Euch reden.
Und worüber wohl?
Ja, seht Ihr, sagte Will, das wenige Geld, das ich Hom daheim mitgebracht
habe, muß nun wohl drauf gegangen sein für alles, was ich Euch schulde, und ob¬
wohl sich mein Freund Thomas Bull, und zwar nicht nnr er allein, sondern
auch die andern guten Kameraden erboten haben, meinen Anfenthalt hier zu be¬
zahlen, so lange ich selber nichts verdienen kann, so möchte ich doch andern nicht
mehr als nötig zur Last fallen. Deswegen ist es meine Absicht, sobald ich meinen
Fuß einigermaßen wieder ansehen kann, nach England zurückzureisen, und ich
würde Euch verdürbe» sein, wenn Ihr eine passende Schiffsgelegenheit erkunden
wolltet.
Ihr dürft nicht reisen! rief Jver Krcimme. Erst müßt Ihr wieder ganz ge¬
sund sein, und dann sollt Ihr mit den andern Musikanten zusammen agieren —
ich habe eine schöne Rolle für Euch!
Davon kann für lange Zeiten keine Rede sein, das fühle ich nur zu gut, ent-
gegnete Will trnnrig.
Macht gar nichts. Ihr könnt ohne Vergütung bei mir wohnen, so lange es
Euch beliebt.
Das kann ich nicht annehmen!
Doch, das könnt Ihr! — Ihr könnt mir ja Eurerseits eine Gefälligkeit er¬
weisen !
Ich?
Ja! — Ihr wißt, ich habe eine Komödie von „Kam und Abel" liegen.
Ja, das wußte Will.
Und nun bekannte Jver Kramme, daß es sein höchster Wunsch wäre, die eng¬
lischen Schauspieler zu veranlassen, die Komödie vor Seiner Majestät dem König auf
Kronborg zu spielen. Jver Kramme war ja allerdings der englischen Sprache
einigermaßen mächtig, glaubte aber doch nicht, daß er imstande sei, das Stück zu
übersetzen — deswegen schlug er Will vor, es zu tun, wenn er nämlich glaubte,
daß er imstande sei, Reime zu finden, und er bat ihn, sich im übrigen dafür
zu interessieren, daß es aufgeführt würde, dann sollte damit sein Aufenthalt bezahlt
sein, bis er sich völlig wieder erholt hätte.
Will glaubte wohl, daß er Verse machen könne — auch welche mit Reimen —,
er wolle gern das Verlangte übernehmen; und sobald er diese Erklärung gegeben
hatte, las ihm Jver Kramme sofort „Kain und Abel" von Anfang bis zu Ende
vor, Zeile für Zeile vom Blatt übersetzend.
Sie hatten eine große Kanne Danziger Bier vor sich auf dem Tische stehn,
und als Jver Kramme endlich mit seiner Komödie zu Ende gekommen war, war
das Bier ausgetrunken, und die Uhr ging stark auf Elf.
Früh am nächsten Morgen machte sich Will an seine Arbeit; er setzte sich in das
Zimmer nach dem Klostergarten hinaus und sing an, das Vorspiel zu übersetze».
Es handelte davon, wie Kain schon in jungen Jahren Schelmenstreiche ver¬
übte und seinem Bruder Abel Früchte stahl, und dies sollte ans eine subtile Weise
den Zuschauern die nützliche Moral einprägen, daß man mit den kleinen Sünden
anfängt und dann mit den großen endet. Will verstand ja nicht dänisch — nur
die Bedeutung einzelner Worte hatte er gelernt —, und Jver Kramme hatte des¬
wegen eine kurze Inhaltsangabe der einzelnen Dialoge in englischer Sprache an
den Rand geschrieben.
Will schrieb, und anfänglich ging es auch ganz fließend: die Worte kamen
Von selber, und die Neune flössen ihm leicht aus der Feder. Amüsant fand er es
aber nicht, und dann siel sein Blick unglücklicherweise in den Fratergarten. Die
Sonne schien dort unten zwischen Schlehdorn und Holunder, er konnte den Duft
des Lavendels bis zu sich herauf verspüren — Rosen waren da auch —, und der
Star saß auf dem Zweige des Apfelbanms und schaukelte sich — er mußte hinaus!
Er nahm seinen Hut, kroch die Treppe hinab und trat in den Klosterhof
hinaus.
Wie herrlich war es doch, wieder einmal die frische Luft zu atmen, den
blauen Himmel über sich zu haben und sich uns dem grünen Nasen auszustrecken!
Er lag lauge dort unten, gegen einen eingesnnknen Grabstein gelehnt, dachte
an vieles und mancherlei — nur nicht an „Kain und Abel" — und pflückte
dann eine Rose, eine helle Moosrose, und einen Strauß Lavendel, ehe er wieder
hinaufging.
In der Stubentür traf er Christence. Sie wollte ihm ausweichen, er aber
i"ßte sie am Arm und sagte:
Jungfer! Verschmähet nicht diesen Strauß — ich war unten und habe ihn
eigens für Euch gepflückt.
Christence hatte ihm sofort unsanft ihren Arm entzogen und tat anfänglich,
als wolle sie gar nicht anhören, was er sagte; aber sie besann sich doch so weit,
daß sie die Blniuen gleichgiltig annahm, einen kurzen Dank sagte und dann ging.
Sie war offenbar noch immer gekränkt.
Nach Tische machte sich Will abermals über „Krim und Abel" her. Dn hörte
^ Christence im Nebenzimmer kramen und sah durch die offne Tür, daß sie vor
des Bruders Bücherbord stand. Sie nahm eins der großen Bücher heraus, öffnete
^ und schlug es wieder zu, worauf sie es vorsichtig wieder an seinen Platz stellte.
Gleich darauf ging sie hinaus.
Will erhob sich, ging in das Nebenzimmer und nahm das Buch, das sie eben
weder hingestellt hatte, den Folianten ganz links in der Ecke — es war dieselbe
atemische Chronika, die Jver Kramme ihm schon einmal in die Hand gegeben
> —' ^e er nnn mit dein Buche dastand, sprang es von selber ans, denn
Mischen seinen Blättern lagen die Rose und der Lavendelstrauß verborgen, die er
^hristcn^ vorher gegeben hatte.
Will lächelte, und unwillkürlich fiel sein Auge auf die ausgeschlagnen Seiten
es Buchs. Er las, zuerst halb geistesabwesend, dann eifriger und eifriger, immer
Leiter, und denn das Ganze noch einmal von vorn. Schließlich machte er mit
.Rotstift einen Strich an den Rand, da, wo er zu lesen angefangen hatte, und
stellte die Chronik dann wieder ans das Bort.
Wieweit seid Ihr denn gekommen? fragte ihn Jver Kramme am Abend — er
^ste^natürlich nur an „Kain und Abel." — Hier, bis dahin — nicht weiter! —
Und Ihr meint, der Sinn ist überall richtig getroffen, und Ihr habt auch die
richtige Anzahl xsäss? Ihr könnt sie an den Fingern abzählen, wißt Ihr, das
tue ich immer.
Leset erst einmal hier, sagte Will, schlug die Chronika auf und reichte sie
dabei fielen die Blumen heraus.
Aber was ist denn das? rief Jver Kramme ärgerlich. Hier ist ein Zeichen
» den Rand gemacht — und wer legt Rosen in mein gutes Buch? — seht, da
se ein häßlicher Fleck auf den Text gekommen! — Christence! — Christence, hast
on mir das angetan?
Christence kam herein und wurde röter als Rose und Fleck zusammen, als
l'e sah, daß ihr Geheimnis entdeckt sei. Sie entschuldigte sich jedoch nicht, nahm
v'e Blumen schnell ans und ging hastig hinaus.
Den Strich mit dem Rotstift habe ich gemacht! sagte Will. Ihr mußt mir
verzeihen, aber leset doch nur — von hier bis da hin!
Jver Kramme fing auch an zu lesen, als er aber ein paar Zeilen überflogen
Mte, sub ^und auf und sagte kühl:
Das ist ja nur die Geschichte von dem verrückten Prinzen Amiet — die
kenne ich sehr gut.
Aber das ist ein besserer Stoff für ein Schauspiel als die Geschichte von
„Kam und Abel"!
Die! Was wollt Ihr damit sagen?
Aber seht Ihr denn nicht, was für eine Tragödie hier verborgen liegt! rief Will.
Tragödie? — Das ist ja lauter heidnisches Gewäsch!
Heidnisch oder nicht heidnisch, es ist eine herrliche Erzählung! Der Prinz,
der sich wahnsinnig stellt, um seinen Vater zu rächen, und nnter dem Schein der
Tollheit die tiefsinnigsten Worte sagt, das kann ja ein prächtiges Schauspiel geben!
Benutzet die Historie so, wie sie ist, schreibt eine Tragödie darüber!
Ich? — Nein! Es würde sich auch schlecht geziemen, Seiner allergnädigsten
Majestät dem König mit einer Komödie über einen seiner hohen Vorfahren auf¬
zuwarten, der den Verrückten spielt — nein, das geht nicht.
Ja, man muß mehr hineinlegen, fuhr Will fort. Der Prinz muß lieben
— die Liebe gehört in jedes Schauspiel —, aber gebt dem dänischen Prinzen nur
eine unglückliche Liebe — oder eine Liebe, die Unglück bringt —, dann schasst Ihr
eine große Tragödie!
Meint Ihr wirklich? Ja vielleicht — aber ich will mich doch lieber an
„Kain und Abel" halten.
Und dann stellte Jver Krumme den Saxo wieder an seinen alten Platz auf
das Bort — betrachtete jedoch vorher noch einmal mit Betrübnis das rote Zeichen
und den argen Fleck, denn er war äußerst sorgsam mit seinen Büchern —, und
dann machten er und Will sich wieder' an die Übersetzung des Vorspiels.
Herrn Johanns Kirschen waren jetzt reif. Rot und golden wie Paradiesäpfel
schimmerten sie lustig zwischen dem Laub; Stare und Spatzen hielten ganz offen
ihren Schmaus in den Zweigen, Jens Turbo im geheimen.
Will saß am Fenster und übersetzte und reimte; da sah er Herrn Johann
heraus in seinen Garten kommen.
Der Alte sah in die Krone hinauf: da hingen abgefressene Kerne und grinsten
ihn an; er sah hinunter um den Stamm herum: da lagen auch blanke Kirschkerne.
Da schüttelte er den Kopf, stellte sich auf die Zehen und sah über den Bretterzaun
auf die Straße hinaus, erst nach rechts, dann nach links, als erwarte er, daß sich
der Kirschendieb zeigen würde, aber es kam keiner, und er ging wieder ins Haus.
Um die Mittagszeit kam er zu seinem Brudersohn heraufgestolpert.
Jver, Jver, begann er, dein armer Oheim ist jetzt nicht viel mehr wert als
ein armer Altenteiler, ein elender Bettler — ich bin arm wie Hiob, aber keusch
wie Joseph! Ach, daß es so weit mit mir kommen mußte! — Hast du übrigens
gesehen, wie Seine Majestät der König, neulich, als er nach Fredensborg ritt, mir
zunickte und mit der Hemd winkte? — Nicht? Ja, das hat er getan. Er weiß
es noch ganz genau, daß ich, als wir Meldorf bekannten, vor seinen Augen zwei
große Dithmnrschen im Zweikampf tötete — den Anblick vergißt Seine Majestät nicht,
wie alt er auch wird! — Aber weißt du auch, was ich weiß?
Nein, das wußte Jver Krumme nicht.
Ich weiß etwas, was dn nicht weißt, und du weißt etwas, was ich
nicht weiß.
Jver Krcunme erklärte, so früh am Tage könne er noch keine Rätsel raten-
Jver, Jver, fuhr der Alte fort, du weißt nicht, daß dein armer Oheim mit
durchlöcherten Schuhen gehn muß, aber das weiß ich; dn dagegen weißt — und
leider weiß ich es nicht —, ob dein Oheim wieder als ehrlicher Kriegsmann mit
heilen Sohlen wird gehn können!
Wollt Ihr nicht einen Krug Bier trinken? fragte Jver Krumme, in der
Hoffnung, so den Sturm zu beschworen.
Nein, ich vertrage zur Zeit keinen Trunk, lautete die Antwort, Ich habe der
Welt entsagt und bin volle acht Tage weder bei der Bierfrau noch im Ratskeller
gewesen. Ich falle ab, ich bin so eingeschrumpft wie ein Borsdorfer um die Pfingst-
zeit — aber heile Schuhe an den Füßen muß ich haben, und wenn du mir nicht
mit ein paar Mark unter die Arme greifen willst, so lasse ich das Becken vor die
Kirchentür stellen.
Ich habe ein Paar Schuhe, die ich nur an Sonn- und Festtagen gebraucht
'ode, und die ganz heil sind, sagte Jver Krumme. Vielleicht kann der Oheim die
gebrauchen?
^ Herr Johann schüttelte überlegen den Kopf, Jver, Jver, du redest, wie dein
^erstand es dir eingibt! Da gehn ja zwei, drei von deinen Schnlmeiflerfüßen in
conr von meinen Schuhen — sieh doch selbst und verhöhne deinen armen alten
Oheim nicht, der dich mit seinen kargen Mitteln hat studieren lassen!
Jver Kramme seufzte, holte einen Beutel aus dem Wandschrank und zahlte
°em Oheim zwei Markstücke hin.
Herr Johann nahm sie, steckte sie schleunigst in die Hosentasche und sagte:
Ich sage dir Dank, Jver! Jetzt kann ich mich doch wieder mit heilen Schuhen
leben lassen — freilich ohne Schnallen, denn dazu langt es nicht, — Gott be-
WNen, liebe Kinder!
Die Unterhaltung war ausschließlich auf dänisch geführt worden, aber Will
? »^„^echten — dank Herrn Johanns eifrigem Gestikulieren — ihrem Gang
vllstcindig folgen können, und sobald der Alte glücklich zur Tür hinaus war, lachte
er und sagte:
Der kauft Sekt und keine Schuhe für das Geld!
Wenn er es nur täte! entgegnete Jver Kramme.
Und warum das?
bekam^' wüßte ich, daß er sein Getränk nicht von Dorthe auf dem Schloß
. .Will tat nun freilich Herrn Johann Unrecht. Eine Stunde später sah er
der Fenster aus den Alten mit ein Paar mächtigen neuen Schuhen in
H"ud nach Hause kommen. Unter dem Beischlag zog er sie an, hängte die
^"en Nagel unter dem Dachfirst nud machte sich daran, den Boden
' er dem Kirschbnnm sorgfältig zu säubern. Dann holte er eine Harke aus dem
- rufe harkte so lange um den Baumstamm herum, bis die Erde so sein und
due ein Sammctteppich: die leiseste Spur konnte mau darin erkennen,
""'sich jemand da hinein wagen sollte.
Dann schnallte Herr Johann seinen Denen um den Leib und wanderte in den
U""n Schuhen der Stadt zu.
Will "s" Nachmittag, als die Schule ans und alles auf der Straße still war, sah
5n s < Fenster ans Jens Turbo sich vorsichtig an Herrn Johanns
nette ^""^.^chen. Der Junge war schon im Begriff, über den Bretterzaun zu
warbt"' anrief und ihn durch Zeichen und Gebärden aufmerksam
^ohn - Baum geharkt worden war" dann zeigte er ihm Herrn
^. s^""''.Schuhe, die unter dem Dachfirst hingen, und machte ihm begreiflich, daß
> e mizuchn und sich erst dann dem Baum mit der verbotnen Frucht nähern solle.
Riesei^s"^ verständnisvoll über das ganze Gesicht, zog die durchlöcherten
Grün>> ""^ dafür, recht deutliche Spuren damit in dem weichen
vor all /"'lassen. Einen Angenblick später saß er oben im Baum, wohlverborgen
^ er äugen, und arbeitete so fleißig, sodaß die Steine nur so herabhagelteu.
brackte ^"^""^^ Turbo nicht; denn eine halbe Stunde später
aller Heimlichkeit eine ganze Mütze voll der schönsten Kirschen,
ver
^ Kramme war unter an der Schiffsbrücke, Christence war in ihrer Kaminer.
G
Jungfer! rief Will. Jungfer Elisabeth! wagte er zu sagen, und Christence kam.
Er bot ihr von den Früchten um, sie setzte sich auch, wenngleich zögernd, und
nahm ein paar Kirschen.
Die habe ich gepflückt! sagte Will.
Ihr?
Ja ich habe sie eigentlich nicht selber gepflückt, aber ich habe einen unsicht¬
baren Kobold, der mir zur Hand geht und mir alles bringt, was ich wünsche.
— Eßt nur, Jungfer, das wenigstens weiß ich, vergiftet sind die Kirschen nicht!
Nicht so wie die, die Düveke geschickt wurden, und von denen sie den Tod
hatte? fragte Christence mit leichtem Lächeln.
Düveke?
Ja, König Christians Geliebte. Es heißt, daß sie hier begraben sei, ent¬
weder unter dem grauen Stein in dem nördlichen Kreuzgang oder in einer Ecke
des Klosterhofs, aber niemand weiß es genau.
Was verursachte denn ihren Tod?
Ihr hört es ja: es waren vergiftete Kirschen.
Was aber war die Ursache, daß man sie ihr sandte?
Wohl ihre Liebeshandel, wie man sagt.
Ja, die Liebe ist entweder das größte Glück oder das größte Unglück, das
einem Menschen begegnen kaun, sagte Will. — Oder wohl im Grunde etwas von
beiden, fügte er hinzu. Und die Liebe ist immer jung, niemals alt genug, daß
sie weiß, was Gewissen ist, nud wenn ein junger Mann erst gebunden ist, so —
Seid Ihr gebunden? fragte Christenee.
Ja, Jungfer — ich bin gebunden!
Christenee sah nieder — sie wagte nicht aufzusehen —, und ihre Hand zitterte
ein wenig, als sie sie wieder nach einer Kirsche ausstreckte — es war die letzte,
die übrig war.
Ohne etwas dabei zu denken nahm sie den Stengel in den Mund, hielt ihn
zwischen den Zahnen fest und ließ die Kirsche ein paarmal auf und niederwippen.
Als Will das sah, sagte er:
Elisabeth! Jetzt kommt meine Lippe als demütiger Pilgrim und bittet um
Ablaß für ihre Sünden. Meine Lippe hat gesündigt, nicht meine Augen, denn das
Auge muß sehen, was ihm Schönes begegnet — vergeht also meiner kühnen Lippe!
Und Will pflückte die letzte Kirsche von Christeneens Lippen, ihre Münde
begegneten sich, und man kann nicht gut wissen, was noch weiter geschehn wäre,
wenn sich nicht Jver Kramme zu sehr günstiger und sehr ungelegner Stunde in
diesem Augenblick ans der Treppe hätte hören lassen.
Als Will, Jver Kramme und Christenee am nächsten Morgen bei ihrem Bier
und Brot saßen, kam Herr Johann hereingestvlpert, ohne Hut, ohne Degen und
ganz verwirrt.
Es währte eine Weile, ehe jemand recht begriff, was er auf dem Herzen
hatte, endlich aber kam es heraus, daß als er nnsgeschlafen hatte und nun nach¬
sehen wollte, ob in dem weichen Erdboden unter dem Kirschbnum Spuren von
Dieben zu sehen wären, es sich herausgestellt hätte, daß die Spuren — denn
Spuren waren da — seine eignen sein mußten, seine und keines andern. Jeder
Zweifel war ausgeschlossen, denn niemand in ganz Helsingör paßten seine Schuhe
Und nun war er ganz außer sich vor Furcht und Angst, denn da er ganz genau
wußte, daß er keinen Fuß in den Garten gesetzt hätte, nachdem er um den Baum
herumgeharkt hatte, mußte er ja entweder im Schlafe gewandelt sein — und das
hatte er noch niemals getan —, oder was noch schlimmer war: es mußte sei»
Doppelgänger gewesen sein, einer, mit dem der Satan sein Spiel in jemands eigner
Gestalt trieb, so wie er es da unter in den Ländern am Mittelländischen Meer
gehört hatte.
Jver Kramme schüttelte bedenklich den Kopf und bekreuzigte sich, Will aber
fragte nur:
Wart Ihr denn nicht gestern Abend berauscht, als Ihr nach Hause kamt?
Freilich, ganz nüchtern war Herr Johann ja allerdings nicht gewesen.
Dann seid Ihr nicht im Schlaf gewandelt, sagte Will, wie auch der Böse
nicht sein Spiel mit Euch getrieben hat, sondern Ihr habt in unmäßiger Trunken¬
heit Eure eignen Kirschen gestohlen!
Davon weiß ich aber nichts mehr! sagte Herr Johann ein wenig unsicher.
Wißt Ihr denn etwa noch, wie Ihr nach Hause gekommen seid — wem Ihr
unterwegs begegnet seid und all dergleichen?
Nein, das wußte Herr Johann nicht.
Da könnt Ihr selber sehen!
Herr Johann saß einige Augenblicke da und besann sich. Dann glitt ein seliges
Wedeln über sein rotes Gesicht, er erhob sich, reichte Will die Hand und sagte:
Habt Dank, junger Mann! Ihr habt mir einen schweren Zweifel von der
Seele genommen, denn man hat ja nicht immer ein Leben geführt, wie man es
hätte tun sollen, und zuweilen kommen die Anfechtungen über einen! — Freilich
War ich gestern Abend berauscht, und jetzt, wo Ihr es sagt, glaube ich auch, mich
erinnern zu können, daß ich selbst in den Baum hinaufgeklettert bin — ja, das
habe ich getan! Wenn ich ein paar von des Königs Romane im Leibe habe, bin
^h so geschmeidig wie ein Wiesel! — Gott befohlen, liebe Kinder!
Damit ging der Alte, und gleich darauf sagte Will zu Jver Kramme:
Jetzt hört! Ich habe mir die Sache genau überlegt, aber es geht nicht mit
"Krim und Abel," so wie es jetzt ist!
Nicht? fragte Jver Kramme bestürzt.
Nein! Wir müssen uus als Anfang für das Stück etwas Lustiges ausdenken,
Lustige und das Tragische muß miteinander vermischt werden!
Haltet Ihr es für notwendig, einen Teufel oder eine Teufeliu einzuführen?
Nein, das ist zu altmodisch! — Aber es braucht auch gar nichts Biblisches
s" sein.
Nichts Biblisches?
Nein, das ist nicht mehr Mode.
^all es auch kein Brudermord sein? fragte Jver Kramme kläglich.
Doch, gewiß!
Und die subtile Moral?
. Die behalten wir bei. — Seht: das Vorspiel handelt von den beiden Brüdern
.Lutern. Der Vater hat ihnen verboten, von seinem Kirschbaum zu pflücken,
o um zu sehe,,, sein Verbot einhalten, harte er ganz fein um den Baum
^f?"^' ^else sehen kann, ob jemand darunter gegangen ist — versteht
zieht < ^ ^ böse Bruder — der, der später der Mörder wird —, der
da« s, großen Verderbtheit die Schuhe des Vaters an, und als der Vater
back! ^ "^M die Spuren mißt, findet er sein eignes Maß und hegt keinen Ver-
gegen den Sohn. — Darüber werden die Leute lachen!
Meint Ihr?
nur ""bedingt! ^ Und das ganze Vorspiel soll als Pantomime agiert werden,
um Gesten — das wird die größte Wirkung haben.
^ttir mit Gesten? Aber alle die guten Verse mit den vielen, vielen Reimen?
lassen! ^ ^ dMke" laßt, könnt Ihr die Verse ja andrücken
Aber w"as weit ^?" ^ ^ ^"^rede Jver Kramme einigermaßen getröstet.
sind geht die Komödie ihren Gang, nur daß es nicht Kain und Abel
rechts < »gieren, sondern weltliche Personen. Der böse Bruder — der nicht
ist i^». ^ gezüchtigt wurde — tötet seinen Bruder um eines Weibes willen: es
'i immer um eines Weibes willen, daß ein Manu getötet wird!
Nein — nein, das gefällt mir gar nicht, erklärte Jver Kramine sehr bestimmt.
Dann laßt ihn lieber um Geldes willen getötet werden — wie es meinem Vater
selig geschah!
Eltern Vater?
Ja! Er war ein wohlangesehener und bemittelter Mann hier in Helsingör,
der sein eignes großes steinernes Haus in der Strandstraße hatte. Das verkaufte
er an Jens Olnfsen in Esrom, und eines Morgens ging er zu ihm — ganz
allein, nur von unserm großen schwarzbunten Hund Snelle begleitet, der mit
großer Treue an ihm hing. Und in Esrom war er auch gewesen, und das Geld
für das Haus hatte er bekommen, denn seine Quittung dafür war da — aber
am Tage darauf, am Abend — es war ein fürchterliches Unwetter mit Sturm und
Donner gewesen —, da fand der Postreiter meinen Vater hinter einem Holzstoß im
Teglstruper Gehege, zwischen dem Schwarzen See und der Landstraße, jammer¬
voll ermordet liegen. Ein dicker, blutiger Vaumast lag neben ihm — damit hatten
sie ihn totgeschlagen — und Snelle war auch umgebracht: der hat seinen guten
Herrn wohl so lange verteidigt, wie er konnte —, und alles Geld war meinem
Vater geraubt — es war ein schwerer Verlust!
Aber das ist ja ganz herrlich! rief Will. Der Hund, der sein Leben für
seinen Herrn läßt, es kann gar nicht besser sein! Das benutzen nur! George
Bryan soll den Hund spielen — er bellt so natürlich, wie es nur ein Köter kann;
wir haben ein schwarzes Bärenfell ans England mitgebracht, das kann er über¬
ziehen. Thomas Bull soll der Bruder sein, der ermordet wird — um eiuer Frau
oder um Geldes willen — es wird ganz tragisch wirken!
Jver Kramme wand sich doch noch eine Weile. Die Komödie, klagte er,
ist ja gar nicht die meine!
Freilich ist sie die Eure! erklärte Will. Wessen sonst etwa? Ich habe ja nichts
weiter getan, als daß ich sie ein wenig alamodisch gemacht habe!
Ja, das ist wahr, weiter habt Ihr ja auch nichts getan. — Ich habe Euch
ja auch selbst von meines Vaters jammervollen Tode erzählt. Und der Bruder¬
mord und die schöne Moral, das ist —
Ja, das ist alles von Euch — ich schreibe es ja nur für Euch auf Englisch
nieder!
So ging denn Jver Kramme vollkommen beruhigt in seine Schule hinab
— er kam an diesem Morgen übrigens eine halbe Stunde zu spät —, und Will
ging auch hinunter, ging durch den nördlichen Kreuzgang über „Düvekes Stein"
und in den Klosterhof hinaus.
Dort ließ er sich von der Sonne wärmen und lauschte fröhlich dem Vogel-
gesang. Er lachte laut auf über seinen Einfall, das Vorspiel in eine lustige Panto¬
mime zu verwandeln und sich dadurch von den vielen Versen zu befreien; darauf
versank er in Gedanken — in Gedanken an die Heimat —, dann dachte er daran,
wie schön Christence an diesem Morgen gewesen sei, und wie lieblich ihr Gesang
geklungen habe — dachte auch daran, daß die Geschichte von Prinz Hamlet — oder
Amiet, hatte es ja wohl in der Chronik gestanden — ein weit besseres Schau¬
spiel geben könne als Jver Krammes Brudermord —, und dann, ja, dann schlummerte
er ein wenig und ging erst um die Mittagszeit wieder hinauf.
Am Nachmittag kam Bull. Er und die andern Musikanten waren wieder
mit dem König aus Frederiksborg zurückgekehrt, Bull aber war äußerst niederge¬
schlagen, denn während er weg gewesen war, hatte der Bräutigam seiner Elisabeth,
dieser verfluchte Boltum, offenbar die Gelegenheit ausgenutzt, und Elisabeth schien
jetzt Bull gegenüber ganz kühl zu sein.
Schlag dir diese Liebe aus dem Kopf! riet ihm Will. Sie macht dich ja noch
ganz verrückt!
Christenee kam mit einem Trank für sie herein, ihre und Wilts Augen be¬
gegneten sich, Bull sah es, und als sie wieder hinausgegangen war, sagte er:
Du hast gut andern predigen — du bist ja selbst verliebt!
Ich? rief Will lachend. Keine Spur! Nur ein wenig Tändelei und
Spielerei: ein Händedruck, eine Blume, ein gutes Wort — ich gebe nicht mehr,
"is ich habe.
Und sie? fragte Bull.
Christence? Mit der steht es ebenso wie mit mir, antwortete Will.
Will sing jetzt an, sich im Freien zu bewegen, und zwar nicht nur im Frater-
garten sondern auch in deu nahen Stadtteilen; ein paarmal am Tage machte er
einen kleinen Streifzug, es ging langsam, aber es ging doch.
Im übrigen war seine Stimmung wie das Wetter im April: er konnte mit
Christence scherzen und ausgelassen sein wie ein großes Kind, und er konnte von
dem schwärzeste» Mißmut geplagt werden. Das war namentlich eines Tags der
Fall, als ihm durch eiuen Schiffer aus Gravesend ein Brief, wahrscheinlich aus der
Heimat gebracht worden war; denn der versetzte ihn in tiefe Schwermut, er saß,
nachdem er ihn gelesen hatte, lange in Gedanken versunken da und zerriß ihn
schließlich in viele kleine Stücke, aber von wem die Nachrichten kamen, und worauf
^e hinausgingen, davon sagte er seinen Hausgenossen nichts.
Im übrigen arbeitete er getreulich an der Übersetzung der Komödie — er
und Jver Kramme hatten sich dahin geeinigt, sie „Agathon und Kakophron oder
der greuliche Brudermord" zu nennen, und sie wurde denn auch endlich fertig.
Das pantomimische Vorspiel machte ja keine Schwierigkeiten, und nach allerlei
Bedenken war Jver Kramme schließlich auch darauf eingegangen, daß beide Brüder
dieselbe Frau, Eucharis, lieben sollten, sie aber liebte nur Agathon, den guten
Binder. Beiden Brüdern wurde nach des Vaters Tode ihr Erbteil ausbezahlt,
aber Kakophron, der böse Bruder, perschwendete gleich das seine mit Trinken und
Würfelspiel. Und dann zog Agathon auf eine lange Reise ans, allein von seinem
treuen Hund begleitet, und zuvor nahm er bewegt Abschied von Eucharis; als er
^er in einem fremden Lande angelangt war, wurde er vou Kakophron in einem
^valde eingeholt, und dieser erschlug erst den Hund und dann den Bruder, worauf
er ihn ausplünderte und ihm alles nahm, was er mit sich führte. Und dann kam,
was für Jver Kramme das Wichtigste in der ganzen Komödie war: der moralische
>^Miß. Kakophron wird von zwei Henkersknechten ergriffen und nach der Nicht-
geführt, und der Richter hält eine lange Parentation an ihn über die Sünde,
dle in der Kindheit mit Kleinem beginne und im Mannesalter mit Großem ende,
worauf Kakophrou auf seine Kniee fällt, freimütig seine Reue bekennt und dann
wie einem Schwert hingerichtet wird.
Groß war übrigeiis Jver Krummes Entsetzen gewesen, als Will, gerade als
^ sast mit dem letzten Reim in der Rede des Richters fertig war, plötzlich die
«eder hingelegt und gesagt hatte:
Es wäre doch weit besser gewesen, wenn man die Brüder zu alten Männern
7^ Zu königlichen Personen gemacht hätte —, und wenn man dann den Sohn des
Gemordeten seinen Vater hätte rächen lassen — er hätte sich erst wahnsinnig stellen
nassen, daß niemand Unrat merkte, und dann den Mörder töten.
Hierauf hatte Jver Kramme ganz ärgerlich geantwortet:
An alledem ist mir Christence Schuld! Hätte sie nicht so unbesonnen die
^Ulmen in Saxonis Chronika gelegt, so hätte weder mein gutes Buch den bösen
oder Fleck bekommen, noch hättet Ihr Eure Gedanken dem törichten Prinzen
^^^ugewnndt! Nein, Königsmord ist ein vermessen Ding, sogar in einem
(Fortsetzung folgt)
Von allen Gefahren, die unsre Zukunft
bedrohen, erscheint die amerikanische als eine der nächsten und bedeutendsten. Das
greisenhafte Europa wird hart bedrängt von der nur zu rasch gewachsneu Enkelin
und muß über kurz oder lang im wirtschaftlichen Kampf unterliegen, wenn es nicht
alle Kräfte anspannt. Die Schilderungen des Geheimrath Goldberger über seine
amerikanischen Eindrücke sind in unser aller Gedächtnis. Sie haben den weitesten
Kreisen ein anschauliches Bild von dem Lande der tatsächlich unbegrenzten Möglich¬
keiten gegeben, und ihr Verfasser kann mit Recht das Verdienst für sich in Anspruch
nehmen, das Verständnis für diesen wirtschaftlichen Riesenbau kräftig gefördert zu
haben. Augenblicklich zeigt allerdings die schwere Krisis in Wallstreet, daß viele
amerikanische Unternehmungen überkapitalisiert sind, und daß also der wirtschaftliche
Aufschwung der Union zeitweise hat ius Stocken geraten müssen. Sobald aber die
Schwierigkeiten in Wallstreet gehoben sein werden, nud das ist bei der glänzenden
wirtschaftlichen Lage des gesamten Westens und der guten Weizenerute sehr wahr¬
scheinlich, werden wir Zeugen davon sein, wie die Jankees mit frischen Kräften
ihren Eroberungsfeldzug auf dem Weltmarkt fortsetzen. Sorgen wir also dafür, daß
uns dieser Kampf nicht ungerüstet finde, und beherzigen wir bei der Wahl unsrer
Waffen die alte Regel, daß man das Gute da nehmen muß, wo man es antrifft.
Die moderne Kriegskunst hat das seltsame Ergebnis gezeitigt, daß die jetzigen Heere
in ihren Waffen und in ihrer Ausrüstung nur in geringfügigen Einzelheiten von¬
einander abweichen. Sobald in einem Heere eine bessere Bewaffnung eingeführt wird,
sehen wir, wie die andern Armeeverwaltungen in kürzester Zeit nachfolgen. Genau
so muß es auch auf wirtschaftlichem Gebiete sein. Wirtschaftliche Waffen, die sich
bewähren, müssen sofort auch von uns angenommen werden, denn sonst werden wir
trotz unsrer bessern Schulbildung und unsrer unzweifelhaft überlegnen Kultur und
Moral durch technische Mittel bezwungen in einem Kampfe, der sonst alle Chancen
des Erfolges auf unsrer Seite bietet. Je eifriger wir also die Arbeitsmethoden
unsrer Handelskonkurrenten studieren und praktisch anwenden, desto sichrer können
wir sein, von ihnen nicht überflügelt zu werden, sondern ihnen imnier hart an den
Gurten zu bleiben.
Amerika ist nicht konservativ und hat keine Vorurteile. Geld zu verdienen ist
dort fast der einzige Zweck des Lebens. Alles, was dazu führt, wird benutzt und
angewandt. Kein Jankee fragt danach, ob sich eine Sache seit zwanzig Jahren
bewährt hat, und ob sie solid ist. Das einzige, was ihn interessiert, ist, ob er sicher
ist, die Sache mit einem möglichst großen Gewinn verkaufen zu können. Deshalb
ist er anpassungsfähig im höchsten Maße. Während wir es als Charakterschwäche
bezeichnen, wenn der Deutsche im Auslande schnell fremdes Wesen annimmt, gilt in
Amerika die a.ÄÄxtivsnsss als die wichtigste Eigenschaft jedes Geschäftsmanns. Mit
peinlichster Sorgfalt wird die Form des Preisangebots so gewählt, daß alle Eigen¬
schaften des zu gewinnenden Kunden berücksichtigt werden. Der Amerikaner versendet
elegant ausgestattete Kataloge in der Sprache des Kunden, gibt seine Preise frei
Hafen oder Bahnstation auf und gibt das genaue Gewicht der Waren an. Der
Empfänger kann also durch Hinzurechnen des Frachtsatzes und der Zölle den Ein¬
standspreis der Ware ausrechnen. Bei deutscheu Waren dagegen ruhen in der Regel
noch Vorfracht und hunderterlei verschiedne Unkosten darauf, die nicht einmal einem
mit den Verhältnissen genau vertrauten Kaufmann eine ungefähre Kalkulation möglich
machen. Außer den Katalogen versenden die Amerikaner oft wertvolle und über¬
sichtlich angeordnete Muster, für die nichts berechnet wird. Der Deutsche verdirbt
sich dagegen durch Kleinlichkeit und Pedanterie vielfach von vornherein das Geschäft.
Sogar das kleinste Muster wird berechnet, und der Exporteur schlägt außer Unkosten
auch noch Kommission darauf. Hat nun bei einer solchen kostspieligen Mustersendung
der Abnehmer wirklich verschiedne Artikel gesunden, wünscht aber diese oder jene
kleine Änderung, so verlangt der deutsche Fabrikant mehr, während der amerikanische
regelmäßig für kleine Abänderungen keine Preiserhöhung eintreten laßt.
Außerordentlich wirksam sind auch die geschickten Reklamen und die musterhaften
Fachzeitschriften der Amerikaner. Für europäische Wegrisse fabelhafte ^umnien werden
hierfür von ihnen ausgegeben und fast immer entspricht der Erfolg dem beabsichtigten
Zweck. Viele bis dahin in einem Lande ganz unbekannte an.erikamsche Artikel finden
Plötzlich eine allgemeine Verbreitung. Forscht man nach dem Grunde dieser auf¬
fallenden Erscheinung, so erfährt man. daß alle Bestellungen direkt bei den amen ansehen
Fabrikanten ans Grund eines Artikels in einer amerikanischen Fachzeitschrift erfo ge
Wd. Diese Fachblätter werden entweder in Englisch oder in der Sprache des be¬
treffenden Landes, in elegantester Ausstattung. mit photographischen Abbildungen,
genauer, auch für den Laien verständlicher Beschreibung der praktischeii Anweiid.eng.
Angabe der Kosten und Mitteilung der Bezugsquellen veröffentlicht. Kein Wunder,
daß sie größern Erfolg in der Gewinnung neuer Kunden für die heumsche ^.idustr.e
haben als unsre zwar wissenschaftlich viel höher stehenden, aber für da- große
Publikum so gut wie unverständlichen Zeitschriften, die keiner lesen Mrd der nicht
Fachmann aus dem Gebiete ist. Der Amerikaner hat eben immer nur das Zie im
Auge, mit allen Mitteln darauf hinzuwirken. daß seiue Artikel überall in der Welt
bekannt werde», und scheut dabei keine Kosten, denn er weiß daß er ein sicheres
und dauernd gewinnbringendes Geschäft macht, sobald es ihm gelungen ist das
Publikum auf seiue Ware'aufmerksam zu mache». In Amerika gibt es M Handels¬
schüler, auf denen nicht nur doppelte Buchführung und kaufmännisches Rechnen,
sondern vor allem mich die Neklamewissenschast gelehrt wird. Der Amerikaner be¬
schränkt sich aber nicht mir darauf, selbst in jeder Weise für seine Waren Reklame
Zu machen, sondern er autorisiert alle Großabnehmer in fremden Ländern, alle
Mittel und Wege zu versuche», seine Sachen bekannt zu mache». Die größte» Summen
werde» hierbei in der bereitwilligsten Weise zur Verfügung gestellt, und alle irgend
wie gewünschten sogenannten Neklameartikel ohne Kvstenberechuuug übersandt. Ein
deutscher Fabrikant oder Kaufmann, der es wagen würde, so vorzngehn, würde aber
uur zu bald in den Ruf eines waghalsigen und unlautern Wettbewerb treibenden
Mannes kommen obgleich die Reklame an sich nicht unehrenhaft und mich nicht
unsolide, sondern' allem ein Kampfmittel im modernen Konkurrenzkampfe ist, wie
jedes andre. , .
^^
Jeder Stillstand ist aber heute zugleich ein Rückschritt, und leder Kaufmann,
der jetzt noch mit derselben Arbeitsmethode auskommen zu können glaubt die vor
Sehn Jahren vielleicht noch gut und erfolgreich war. wird in seinem Geschäfte
zurückgehn, auch wenn er im Augenblick finanziell noch so glänzend dasteht Das
gilt in besondern, Maße auch von der eigensinnigen Beibehaltung des Zwischenhandels
durch den Kommissionär. Es ist allerdings bequemer und weniger nervenaufreibcnd.
"lie oder doch die meisten Geschäfte mit einem persönlich bekannten, der einheimischen
Rechtsprechung unterworfnen Kommissionär abzuschließen. aber die Preiserhöhung,
die dadurch notwendigerweise für die verhandelten Waren entsteht, ist nicht mir
unwirtschaftlich, sondern direkt hindernd geworden für ein sieghaftes Bestehen des
Konkurrenzkampfes mit Gegnern, die ohne Skrupel direkt an die Konsumenten ver¬
kaufe». Der alte deutsche'Kommissionär hat sich überlebt und gehört mit seinen
frühern Verdiensten der Geschichte an. In den Vereinigten Staaten existiert er im
Sinne der alten Tradition schon lange nicht mehr. Gewiß gibt es einige Ausnahme-
artikel, die vorteilhaft durch einen Mittelsmann eingekauft und verkauft werden, und
die Tätigkeit eiues solchen ..Exportkommissionärs" kann für seine Kunden nützlich sein,wenn er sich damit begnügt, seine feste Kommission z» verdienen, anstatt, wie das
oft der Fall zu sein pflegt, von zwei Seiten — vom Fabrikanten und vom Auftrag¬
geber — seine Prozente einzuziehn und überdies noch um Preise zu schneiden, indem
den beiden Kontrahenten verschiedne Preise angegeben werden. Die meiste» Artikel
des Weltmarkts vertragen es aber wegen ihres auf die billigste Basis gesunknen
Einstandspreises überhaupt nicht, daß der Zwischenhandel sie verteuert. Alle Produkte
des Maschinenbaues werden mehr und mehr darauf angewiesen sein, ihren Weg
direkt vom Fabrikanten zum Konsumenten zu finden, dnrch Vermittlung sachverständiger
Reisender oder im Lande domizilierter SpezialVertreter. Es gibt zwar anch in
Deutschland einige Fabrikanten, die direkt mit ihren Konsumenten arbeiten, aber lange
nicht in dem Umfange wie in den Vereinigten Staaten, wo das die Negel ist.
Sehr gute Erfolge hat auch die amerikanische Art gezeitigt, Länder, die man
wirtschaftlich erobern will, durch große Gesellschaften mit bedeutendem Kapital zu
bearbeiten. Oft werden in dem fremden Lande selbst bedeutende amerikanische
Sozietäten gegründet, ganz als ob es sich um eine Gründung im eignen Lande
handelte, und nur die untergeordneten Stellen werden durch Eingeborne mit billigen
Löhnen besetzt. Die deutschen Unternehmer treten dagegen noch immer, von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen, vereinzelt und persönlich in überseeischen Ländern
ans und können deshalb schon jetzt an vielen Orten nicht mehr erfolgreich gegen
den Wettbewerb des übermächtigen amerikanischen Kapitals ankämpfen. Der deutsche
Kaufmann wagt sich niemals an Unternehmungen heran, die nicht von vornherein
eine gewisse Sicherheit bieten, während sich die Amerikaner oft an Sachen beteiligen,
deren Erfolg unsicher ist oder doch erst nach jahrelangem ruhigem Warten eintritt.
Alles irgendwie in Deutschland entbehrliche Kapital sollte aber mit echtem Hanseatischeu
Wagemut in überseeischen Ländern angelegt werden, denn es gilt jetzt, in diesen
nicht nnr unsre politische, sondern vor allem unsre wirtschaftliche Stellung mit allen
Mitteln zu verteidigen. Der deutsche Geschäftsmann beschränkt sich auf rein kauf¬
männische Operationen und steckt nur selten sein Geld in überseeische industrielle
Betriebe, Minenunteruchinnngen oder Landwirtschaftsgesellschaften. Deshalb können
wir täglich die traurige Erscheinung beobachten, daß sich deutsche Männer sogar
dort, wo es thuen nach hartem Kampf gelungen ist, Fuß zu fassen, auf die Dauer
nicht behaupten können, weil keine deutschen Kapitalien hinter ihnen stehn, mit deren
Hilfe sie ihren Besitz bewahren könnten.
Andre Mängel, die uns gegenüber den Amerikanern schaden, bestehn in einer
ungeeigneten und häufig zu gewöhnlichen Aufmachung und Verpackung der Waren,
in dem prinzipiellen Verkauf an Großhändler und in der Unterstützung, die der
amerikanische Kaufmann bei seinen industriellen Landsleuten findet. Insbesondre hat
es die Maschinenindustrie verstanden, Waren herzustellen, die bei gleicher Qualität
billiger im Preise sind als die Produkte der Konknrrenzländer. Anstatt nach alter
Methode Hunderte von Modellen zu schaffen, und jedes Kunden Wunsch, auch wenn
er unberechtigt ist, zu befriedige«, find von der amerikanischen Maschinenindnstrie
ganz bestimmte Modelle geschaffen worden, von denen nicht abgewichen wird, und
die infolgedessen bedeutend billiger hergestellt werden können, als Maschinen, die nach
einem speziell nugefertigten Modell gebaut werden. Nach der Lieferung der Maschinen
kommt dann der weitere Vorteil hinzu, daß die Fabrikanten und deren Filialen
jedes Ersatzstück bei Angabe der Nummer des Modells sofort nachliefern können,
während für die deutschen Maschinen wegen ihrer Spezialisierung Ersatzstücke oft
überhaupt nicht oder doch erst mit großem Zeitverlust gesandt werden können.
Ans diesem Gebiete also, wie auf allen andern, können wir nichts besseres tun,
als die amerikanischen Arbeitsmethoden so schnell wie möglich anzunehmen und
womöglich noch mit deutscher Gründlichkeit zu verbessern. Der erste Schritt zum
Erfolg ist immer der, daß man seine Unterlassungssünden einsieht und sein zukünftiges
Verhalten danach einrichtet. Ist erst unser Handel im guten Sinne „amerikanisiert,"
dann brauchen wir wirklich nicht zu verzagen, denn in vielen andern Dingen, die
auch wichtig für den Welthandel sind, sind wir den Amerikanern überlegen. I»
absehbarer Zeit werden unsre deutschen Reedereien unerreicht von den Amerikanern
dastehn und fortfahren, ein gutes und billiges Bindeglied zwischen Deutschland und
überseeischen Ländern zu sein. Die natürlichen Chancen sind also für uns, wenn
wir nur in richtiger Erkenntnis der gesteigerten Anforderungen des modernen Welt¬
handels auch unser technisches Rüstzeug so vollkommen wie möglich gestalten.
Wie König Albert von Sachsen in seiner
letzten Thronrede unbefangen von der „Neichsregieruug" sprach und damit Wesen
kurzen bezeichnenden Ausdruck, an dem bisher so mancher Konservative Anstoß nehmen
zu müssen glaubte, in die amtliche Sprache einführte, so hat jetzt sem Nachfolger
König Georg nach den glänzenden Kaiserparaden von Zeithain und Leipzig zweimal
den Kaiser als den ..obersten Kriegsherrn," nicht nur als den Oberfeldherrn de5
deutschen Reichsheeres begrüßt und damit dem Bedenken derer ein Ende gemacht,
die in diesem Ausdruck eine Art vou Herabsetzung des Kontingeutsherrn zu sehen
meinten. In ihrer Stellung zum Reich sind beide Wettiner geradezu Vorbildlich.
Übrigens macht der Kaiser eine solche Unterordnung seinen fürstliche» Bundesgenossen
gewiß nicht schwer. In seinen Ansprachen bei solchen Gelegenheiten zeigt er ein
liebenswürdiges Entgegenkommen, und sein äußeres Verhalten, wie es jeder z. -«.
w» der Leipziger Paradetribüne aus gut beobachten konnte, erschien absolut frei
V»n jeder majestätischen Pose; er sah sehr aufmerksam in die Glieder der defilierenden
Truppen hinein, salutierte die Kommandeure und die Fahnen, pr°es oft "ut dem
etwas weiter zurückhaltender König oder mit einem Offizier in seiner Nahe, lachte
gelegentlich, war beweglich und völlig ungezwungen, während sein schönes, dunkel¬
br
In den siebziger
Jahren äußerte ein optimistischer Rezensent des Literarischen Zentralblatts. der
einen fertig qewordnen Band des Deutschen Wörterbuchs anzeigte, die frohe Hoff¬
nung, in nicht zu ferner Zeit den Artikel „Gott" ans Hildebrands Feder lesen zu
können. Diese Hoffnung haben wohl viele geteilt, denn es wäre in der Tat ein
hoher Genuß gewesen, den feinsinnigsten von allen Fortschern des Werkes gerade
dieses Wort, dessen Elpenor ebenso unerforschlich zu sein scheint, wie das Wesen,
das es bezeichnet, behandeln zu sehen; aber die Erfüllung des Wunsches ist uns
nicht beschicken gewesen. Seit er ausgesprochen wurde, ist ein volles Vierteljahr¬
hundert ins Land gegangen: Hildebrand ist. lange bevor er das uferlose Meer der
Compvsita mit ge- durchmessen hatte, abgerufen worden, jener Rezensent (der ver¬
mutlich mit dem Begründer des großen kritischen Organs identisch way hat steh
Wenfalls schon vor Jahren zur Ruhe gelegt, und wir sind von dem Artikel Gott
und von der Vollendung des ganzen Werkes, die die ältere Generation der M
lebenden Germanisten schwerlich schauen wird, noch unendlich weit entfernt.
Freilich, wenn man die stattlichen elf Quartanten, die abgeschlossen vorliegen
v°r sich sieht und sich sagt, daß die Buchstaben ^ bis 5' und S bis R erledigt
s'ut. daß der unermüdlich fleißige Heyne schon bis 8x> vorgedrungen ist daß das
« verhältnismäßig schnell fortschreitet, und daß von. r. V und N ebenfalls schon
verschiedne Hefte ausgegeben siud, so könnte man sich der Täuschung hingeben daß
der Rest doch in absehbarer Zeit zu bewältige» sei. Daß dem leider nicht so ist,
Zeigt ein einfaches Regeldetriexempel. Vergleicht man nämlich den Umfang der
neuesten Hefte mit den entsprechenden Spalten des dreibändigen Heynischen Wörter¬
buchs, so ergibt sich folgendes:
Für die Artikel Getreide bis Gewaltschlag, die bei Heyne einen Raum von
8 Spalten einnehmen, gebraucht der Fortsetzer des K nicht weniger als 4 Hefte;er wird also, wenn er in derselben Ausführlichkeit weiter arbeitet, für den Rest
des K (118 Spalten bei Heyne) noch 59 Hefte in Anspruch nehmen. Analoge
Berechnungen ergeben für den Nest des 8 noch 17, für ^ und v 8, für V 6 und
für V bis 2 58 Hefte, zusammen also 148 Hefte, oder da 14 Hefte schon einen
recht starken Band geben. 10 Bände. Man sieht also, daß beinahe noch die Hälfte
der Arbeit zu tun ist. und daß, wenn jeder von den fünf Gelehrten, die gegen-
wärtig mit der Fortsetzung des Wörterbuchs beschäftigt sind, jährlich zwei Hefte fertig
brächte, noch fünfzehn Jahre vergehn würden, ehe die letzte Lieferung ausgegeben
werden könnte. Tatsächlich stellt sich aber die Sache noch weit ungünstiger, da
nur eiuer von den fünfen, der in lexikalischer Arbeit geübte und durch Assistenten
unterstützte Heyne wirklich im Durchschnitt zwei Hefte im Jahre herausbringt, und
man überdies den unglaublichen Mißgriff getan hat, die Vollendung des ? (das
Malb. Lexer, als der Tod ihn abrief, nur bis zu dem Worte Todestag gebracht
hatte) und die Bearbeitung des II einem zwar nicht kenntnislosen, aber gänzlich
unproduktiven Herrn anzuvertrauen, der seit zwanzig Jahren anßer unbedeutenden
Kleinigkeiten in Zeitschriften nichts publiziert, und obwohl er schon 1895 in den
Dienst des Wörterbuchs gestellt worden ist, noch nicht einen einzigen Bogen ab¬
geliefert hat. Somit können wir, wenn nicht Wandel geschafft wird, unsre Hoffnung
auf Vollendung des Werkes ack «»tenais.« xraoess vertagen.
Dies ist eine höchst bedauerliche und für die deutsche Wissenschaft beschämende
Sachlage. Denn es tut dringend not, daß der Wortschatz der deutschen Sprache
auf einer viel breitern Grundlage, als dies im Grimmschen Werke geschehen ist,
von neuem gesammelt und verarbeitet werde. Davon kann aber vor der Vollendung
des Wörterbuchs uicht die Rede sein, und es müßte darum alles daran gesetzt
werden, es in kürzester Zeit zum Abschluß zu bringen.
Daß nach Jakob Grimms Tode niemand daran gedacht hat, die Fortsetzung
des Werks an einem Orte zu zentralisieren, ist bei der damaligen Zerfahrenheit
der deutschen Verhältnisse nicht wunderbar. Wohl aber hätte man, als „der neue
deutsche Staat das Nationalwerk auf seinen Schoß nahm" (1368), soviel Einsicht
haben sollen, die Arbeit einheitlich zu organisieren, einen (oder zwei) Oberleiter zu
bestellen und der Direktion einen Generalstab von tüchtigen Gelehrten unterzuordnen.
Denn nur durch Zentralisation und zugleich durch Arbeitsteilung kann bei solchen
Unternehmungen (wie das Beispiel des lateinischen Thesaurus beweist) auch in be¬
grenzter Zeit etwas Tüchtiges geleistet werden. Wie die Dinge jetzt liegen, ist
jeder der Fortsetzer des Werks gezwungen, soweit seine eignen und die ihm zur
Verfügung gestellten — recht kärglichen — Mittel es erlauben, sich den ganzen
lexikalischen Apparat, den er braucht, anzuschaffen; jeder sammelt für sich und nach
eignem Gutdünken, ergeht sich in breitester Ausführlichkeit oder befleißigt sich einer
vielleicht noch weniger angebrachten Kürze, und was auf diese Weise zustande kommt,
ist alles andre als ein einheitliches Werk.
Daran ist nun leider nichts mehr zu ändern, und jetzt noch eine andre Organi¬
sation zu schaffen, ist es zu spät. Denn voraussichtlich wird sich keiner von den
Mitarbeitern, die bisher völlig selbständig gewesen sind, einem Oberleiter (und als
solcher könnte nur Heyne in Betracht kommen) unterordnen wollen. Aber es gibt
doch vielleicht eine Möglichkeit, die Räder des arg verschlämmteu Mühlwerks in
raschere Drehung zu bringen. Man setze durch höhere Dotierung die bewährten
Mitarbeiter in den Stand, eine größere Zahl tüchtiger Hilfskräfte anzustellen; wer
sich aber hinlänglich als unbrauchbar erwiesen hat, dem sollte man, wenn nicht
eigne Erkenntnis es ihm sagt, zu versteh» geben, daß es seine Pflicht sei, das
Mandat, dem seine Kräfte nicht gewachsen sind, niederzulegen. Auf diese Weise
iann es am Ende doch noch erreicht werden, daß man in etwa zehn Jahren das
Gebäude glücklich unter Dach bringt. Wurstelt mau aber in der bisherigen Art
weiter, so kann es die Welt erleben, daß im Jahre 1952 von unsern Söhnen und
Enkeln die Säkulnrfeier des unvollendeten Grimm begangen wird, während andre
Völker, die durch unsern Vorgang angeregt ihren Sprachschatz ebenfalls sammeln,
um diese Zeit, obwohl sie weit später angefangen haben, längst fertig sein werden,
weil sie die Sache von vornherein praktischer und planvoller angelegt haben.
Der vierte äoutsobo
LaävorKs unä KevorboKammortag, avr vom 10. bis 12. Soxtombor in
Nünebon abgelialton werdon vird, vird sich mit dom Antrag« an besebäi'tigsn
babon, hol der lioiolisregiorung und dom Reielistage dahin vorstellig vordon,
,,^alZ tur alö solbstänäigen IlanävsrKor die obligatorisebs Alters- unä
^validonvorsioltorung untor ^ugrunäolegung aer Lostimmungon ach
Alters- unä InvaliditätsvorsioKorungsgesotces oingstubrt vird." Aur
Kv8to1it olu Rovllt sur krvivilligov LvtvMguvA an Svr Rsiodsaltvrs- und
iuvalidonvorsioberung tur selbständige Ilandv/erlcer, die rogelmäkig nicht mehr als
^ol vsrsioliorungsxliiolitigo ^.rboitor besobältigeu unä nicht mehr als 3000 Narlc
^^UroseinKommon babon. Die ?roundo dor ^wangsvorsieborung vorlangon dagogon,
«Moon dio I?aobnrosso darüber berichtet bat, neben dor Vorsieborungspüiebt aller
»an6^,g^^. ^ oinom Linlwminon bis i?u 2000 Mark al<z ^usdol>mung dieser
Quelle auk co.'öl weitere Linlmmmenlclassen - von 2001 bis 3000 unä von 3001 bis
^000 Rai'K. 'Mo alö bislierigo Irewillige Versicherung dor solbständigon Hand-
^'erlcor soll x^ii dio vorgosoblagno obligatorische äos tur die ^.rbsitorvorsiobe-
rung go>väl»reor Reiodsi-usodussvs toiUlgMA vorSoo. Liier aom Lotrag, um aom
äigz^ ^usobuL inlolgo avr Hand vorlcorversieberung orlwben würde, sima
vorläung nicht oinmal Vormutungon möglich. ?rotossor Keorg ^älor verlangt tur'
me v<zu nur vorgeseldagne Landvorl^orvorsieberung einen MKrliebsn ^usebuÜ von
^ ^is 20 Millionen Mark, ale, v/le er meint, sxielond duroll Vorsebärtung avr
^'^sobattsstouer autgebraebt werdon Könnton. — Ls selioint so, als ob ale groöe
^ebrcabl avr Ilandworlcslcammorn mit äem ^ntrago äurebaus einverstanden wäre,
^ Spur oikrig äal'ur eintroton volle, weil hio äureb vino so groLartigo soxialpolitisebe
euNünäung alö xiemlieb slvevtiseb gesinnte Nasse ihrer Nanäanton, ä. K. avr
anäverlcor in Staat unä I^ana, onälioll von äem vraktisolion ^ndem, M aer
xistgn^doroolltigung avr nouen Ilgudverlcsorganisation vdvrMUgvn möelito. l^act,
e» /^vitungon sollen alö ^ntragstollor auch im Roiebsamt äos Innern .jotct
eroitvilligliLit golundon baben, aut ale Awangsversieborung aer Ilandworlcoi' von
^ur M zoog M^.^ Linlcommon liinaus einiiugolin, vÄironä noeli vor Jani'MM,
^'lo ^.alle>r beäauernä mitteilt, dieses ^me ale >?v/anAslrounäo mit äem Hiinveis auk
eins Koont avr freiwilligen Versieliorung bis 3000 Narlc angefertigt baton soll, vor'1ami>vvrIcsIiamniM'tag wirä äarudor polli sielirore Auskunft dringen.
^eävnkMz muL man vünsebon, äaL Sieb aer IlanäworKsliammertag toi seinen
esolilüsson unä alö liogiorung I)ol iliren LrKIärungon avr ungolieuorn priniii^iollsn
r>u in^Ictisolien lioäoutung dovuKt bloidon, alö äem vorläulig rin sollr grolZem
o^trivArvln Sellassonsärang unä Selbstvertrauen tormulierton ?ro.ioKt boigolegt
eräiz^ lAuö. äoslialb gau-i bosonäers äanlconsvort, äaL alö vrosänor Ilanä-
- ^ ^^^wmor in einem Lenaratvotum auk alö schweren Loäenlcen, alö aom ?roDl!t
r. . ^utorosso avr IlimÄvvrKvr selbst entgegenstelln, autmerlcsam gvmaebt bat.
Müivioll bat avr Ilanävvorlcer- und avr gani?o sogonannto govorblielio Nittolstanä
nu äooli om gro^os Interesse äaran, äaö er mit einem anäern so^ialpolitiselion
z>t . gemessen virä als ale unsolbstänäigon Arbeiter. Ana praktisob
^ ^ deÄvnKvll, aan das, pas den Ilandworlcorn recht ist, den Lauileuten und
Il>b v^" "'^ ^ bat, auch äiese Ilntsrnolimer mit einem Mr-
sielr" ^"^s"minor bis 2u 4000 nark< iivangsvoiso und mit RoiobWusobuIZ ^u vor-
Lr««""' ^^^^^ nicht. ^Vbor «our man das tut, so vird man niemand einen
^emo^i^^^^ oxtromon, Imnsoo.uonton Socialismus avr Social-
St. ^ob äem vom Xaissrlioben
«-«isusobon ^me borausgogobnon „Reielis-^rboitsblatt" (HoÄ 5 vom 21. August)lgro 6er ^rboitsmarlct im Roral ^nu gogon aom ^uni lcoine boäoutenäon Vor-
andorungon. Der Rosobäktigungsgra<1 in bon liauptsö-obliobsten Industrien war
naoli wie vor „nielit undokriodigend/' Kervorgobobon wird ein leiobter Rüobgang
in der XoKsprodulction, wäbrond dor Koblonborgbau naob wio vor gut besoliättigt
blieb. In der 'lextilindustrio ist die woitoro 'Irübung dor Lage, dio betürobtot
wurde, niobt oingotroton. Nur voroinsolt wird sin RüoKgang dor Leseliäktigung go-
moldet. In der Notallindustrio bat dio Rosserung, dio in den Nonaton vorbor
begonnen batto, Im ^nu noob angobalton, doob sobeinen dio Verbältnisso immer noob
niobt völlig normal nu sein, und os worden Rüolcsoblägo boturobtot. Ravii «Ion Re-
riobton dor Hrg.nlivnlcg.sson iseigt der ^nu eine /.unabrne der Nitgliodor um 5505,
wäbrond dor duni eine /^bnabmo um 13892 aukwios. Dor Vorlcobr an asu ^.rbeits-
naobwoison xoigto im ,tuu im wosentlioben dasselbe Kitt wie im duni.
Die soodon vom Roard ok
Irado im „^.nnual Ltatomont ok the Navigation and Lbipxing ok the Unitod Xing-
dom lor tho Voar 1.902" veröktentliolde Statistik dos IZostands der britisoben Handels-
Hotto am 31. December 1902 umiakt allo nach dom Ilandolssoldkkabrtsgöset? von
1894 im Vereinigton Xönigroiob mit dor Insel Nan und den Kanalinseln und in
den „Rritisolion Rositi?ungsn" — im amtlioben Linno — rogistriorton britisobon
Lobikko. Dann goböron niobt dio ?abri?ougo dor Kriogsüotto. Linbsgrikken sind
erstens und bauntsäobliob dio naob 'toll I dos gonannton Kosovos rogistriorton
?abri?eugo überbauet und Zweitens dio naob toll IV rogistriorton I'iseboroikallr-
«ougo. Lin toll dor I'isoboieikabrxougo, und /war dio gröüern (Loagoing I'isbing
Loats), sind sowold in dio naob 'toll I als auob in dio naob teil II dos Oesot/es
vorgssobriebnen Lebikt'srogistor eingetragen. LoKtion 2 '1'oil I dos KosotMS Kostimmt,
dg,K ^jodos dritisolio Lodii? rogistriort vordon soll, Sodom os niolit untor tdlgoudo
^.usnakmon Alle! 1. ,,Loliitko niolit üdor 15 "Ions Iiruttorg.umgollg.le, dio aussoldioLlioli
in dor Lonilkalirt g.ut bon ?1usf6n und g.n den Küsten dos Voroinigton üönigroions
oder viror Lritisolion IZositxung, in dor dio gosoligtlstulirsndon Ligontumor iliron
>Vonnsiti! ngdon, vorwgrult vsrdon"; 2. „Loniito nielit übor 30 Ions IZruttor^umgoliglt,
dio Kein MN5?os oder kostos Ooolc lig.von und g-ussoldiolZlioli poro-uidt vsrdon in der
?iso1ioroi oder im Küstonvorlcolir gu bon Oost^bon von I>soukundlg.ut odor in d.^rgn-
liogondon Iliikon, odor in dem Kolk von Le. Moroni?, odor g.n bon sollen dor Kangdisolton
Xüste, dio g.n dioson toll grenzen." — ^usgonommon von der Kogistriorung ngoli
?oil I dos Kosotiios sind g.1se> Koinosvogs — vio Kei Vergleichen des dritisvlien und
dos doutsolien Loldkt'si>e8eg.nds oll ».ngonommon wird — g.tlo Lelntlo von 15 liogistertons
brutto und dg-runtor, sondern nur sololio Loldkko dieser trollo, dio ^usseldieklioli
ant den Flüssen und zu der Xusto iliror Hoimg-t verwandt worden. Line Minimal-
groniie dos Rg.umgong.1es dor hin rogistrivrondon und in dor Leg-tistiK ng.onxuwoisondon
Leldkto üdorngunt ist nirgonds gngogobon. Nitgoiiälilt sind ^jedonkglls g.uoli alle nur
g^ut I'lusson verwandt« ?altri!sugö, worm hio nur über 15 'Ions brutto gros sind,
tornor untor dorsolbon Lvdinguug allo Loblopndamnkor, Loblopp- und I^oiobtorsebikt'e
und.laobton. ^uob dio I^isoboreikabriikugo sind nur sowoit niobt in dor Ltatistil: dor
naob "toll I dos KosotMs registriorton Lobikko mitgosiäblt, als sie ?!u den odor untor
1 und 2 angogobnon ^usnabmon goböron. V^ir bosoliäktigon uns bior nur mit dom
vor Raumgobalt ist im naobstobondon durobweg in Kegistertons (Ions) netto
angegeben.
Davon Kamen auk das Vereinigte Xönigreiob mit dor Insel Alan und bon
Xanalinsoln:
^ut die einzelnen IIvnigroieI> o dos Mutterlandes vorteilten sie flott
>vie tdlgt:
Im .tauro 1898 betrug' die in England registrierte vamplertonnago nur
4966801'Ions, in Lelinttland 1485096 Ions und in Irland 156664 Ions. I)lo
Haken mit der grölZten in innon registrierten vamplortonnage waren 1902 in
England: Liverpool mit 1983151 Ions, London mit 1734205 Ions ^ovvoastle
mit 437 520 Ions, Ilartlopool-^ost mit 406148 Ions, Lunderland mit 274615 Ions,
Varditk mit 276253 Ions Ilull mit 211891 Ions, 8vull>ampton mit 109396 Ions;
W 8ol.odei-.ut- Glasgow mit 1213064 Ions, Leitlr mit 115719 Ions Kreenool:
mit 159243 Ions; in Irland: Zellast mit 155029 Ions. ^ulZer ä-os°n ^ihn Uatte
>ivinllalen des Vereinigten Xönigroiolrs eine Damptertonnage von 100000 Ions und
darüber autxuvoisou. , - ^ - ^ ^
, ^vio in den I-Iaton dor Insol Nan und der Kanalinseln rogistr.ordo ?1olle
ist unbedeutend ^ut der Insol 1VI.an waren a>n 31. DvMmber 1902 registriert
W SvMwIntks mit 9393 Ions und 27 vampkor mit 5196 Ions, aut den Lanal-
wsoln 119 8o>'oIsolnKo mit 9441 Ions und 6 vampter mit 139 Ions.
In den nborsoeiselien Lesitxungon Krot!l>ritannions waren am 31. ve-
Mwwr rogistriert
:
^
Vou dor Kolon ialtlotto Kamen 1902 aut Adraltar 9 8egelso1.ii?e (mit
. W9 tous). 24 vampkor (1522); aut Valetta M^a 81 SeMlsewsse (4819)
^ l^mpkor (1529); aut ^estatrilca 89 8egelso1.ille (1538), 3 vampler (132).
«ik Kapland und i^atal 20 8egelsel.iKe (673), 55 Vamptor (4286); aut Nau-
ritius 59 KogolsvlüSo (5334), 3 vampter (99). Server Kamen auk
^uKordem waren in dein seit 1870 in 8e1iangi>al eingorielitoton vritisolien
«vUiiksrvMstor 1902 an dritiselion 8el>i«on registriert: 76 8ogolsoIMe mit 29 809 Ions
und 51 vampter mit 15322 Ions.
^is britisonv LoKikko waren sonavu .1902 üdora-luxe navn 'toll I Aos
Ranüvlssvdlt't'aKrtsZvsetiios von 1894 rogistriort: 22112 SoAsIsoKilko
mit 2905297 'Ions uncl 1379« Damptor mit 8706579 ?vns.
Autor äivson naok ?oil I äos SodiMürtsMsvt-los rogistriorton Kodilko» vsroa
1595 LvAolsvdiSo mit 56167 T'vus raa 1711 Damplor rin 85553 ^vns, «lis als
?isodors1kakr!-vo8o (V'isIunU IZoats) ^ugleiuli in alö uavd ^'vit II äos 6osot«os
vorMsolmodnou dvsonäörn Rogistor avr I^selivroitlotto im Voroinigtou LiMigroiell,
aler Insel Nan unä aom Xanalinsoln eingotragon waren.
Über Äio Kröüo Ahr vsuzd ?sit I Aos LoliiMIu'tsKosotüos rogistriorton LoKiKo
navd ckom Raumgolialt müssen wir uns mit kolMnävn ^.ngadon über alio I'alirz-ouM
on>u 2000 Ions unä clarüdor liegnügon -
Die Insel Nan unä alio Ximaliusolu Iiadcm üborlmuxr Keine Lelutlv von 2000 'Ions
netto uncl äarübvr anzuweisen, Das Ilanptgewielit avr ?lotto äos Nuttorlanclos liegt
also ki>outo wott seinen in aom Dampfern von 2000 ?vns unä äarüdor.'
DKor alö Vorwonclung avr registrierten I^aur/ouM (Homo Iraclo unä Ioroign
"l'raäo), alö 1?ise1>oroi11c>tlo unä alö lZomannung avr Ilanäolsüotto woräon alio Haupt-
/aliion noeü mitgotvilt woräon.
Wer Odol Konsequent
täglich vvrschriftsmähig
anwendet, übt die nach
dem heutigen Stande der
Wissenschaft denkbar
1-rite Zahn- und Mund-
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Loers TrieServinocles
sind im Soutsonon Nooro, in vivlon «»sliiniUsolie» Armeen vkiiüi«» vlnlzvtunrt uwcl
tinrlsn »nött holen i?rio»t>>udlik>>in ^ronristv», Sportloutv^i, rilvatorbssnokorn oto.)
grosse?reisermässigung
viutrvton im l-u>»«».
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Sö«ug Äirolct. »i> lÄbrilc o<lor von Son opUsolion NitnAIunxvi». I'i^islist« Icosteutrsi.
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^Uksivk't ^ - °^IlnSsd. I)i<- Sollulv sont nntvr hoäo<-dor
u. K»er v,,^"^' t. a. llwai. u. v»icUe. vmevxvncl. ?n»t.
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>--<-»«<-«. 1-roxpvI.w Ltvilizn nur Vorwem-S.
üursjvdvrV >>ni »nniinir^ Srovo'« »!utvn 7.s SerNn Ä. ljotei „ner Mserhof" »
Zimmer von Z.ZOMK.->n. Kuliigste ».vornehmste Qige IZcrlins.
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Ses, geseh, Verlag von Keller H Keiner, Lerli»
copvright IY02
Gefangene ZVluttei'
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plintengröt!« of ein
Lronü-..... MK, Is00,—
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«Zsslellina-Marmor .... MK, Z20.—Ses^ geseh, »erlag von Keller S, Reiner, öerlw
copvrigl» Is02
l^ante
0rigin.it.SKnlpInr von ?ro»es«0r Stepftsn SinÄing
preise nebenstekencl
s liegt viel Wahres darin, wenn Kaiser Joseph der Zweite in
seinem Reskripte vorn 11. Mai 1784 sagt: „Welcher Nutzen
daraus für das ganze Reich erwachsen würde, wenn in demselben
nur in einer Sprache gesprochen wird, wird jedermann leicht
einsehen." Am einfachsten wird dieses Ziel erreicht im einheit¬
lichen Nationalstaate; wo sich Staat und Volk decken, da hat die Staatsmaschinerie
die geringsten Reibungswiderstände zu überwinden, und daun findet auch das
Volk die geringsten Widerstände seiner Entwicklung, denn jede Nation wie
jedes Individuum haben das natürliche Recht, sich in ihrer Eigentümlichkeit
entwickeln zu dürfen, in Sprache und Sitte ungehindert leben zu können. Das;
dieses natürliche Recht einer Unzahl von Beschränkungen unterliegt, versteht
sich von selbst. Zunächst stellt der Staat eine Reihe von Anforderungen, denen
man sich in Politik und Sprache zu fügen verpflichtet ist, und darum ist es
eben zweckmäßig und einfach, wenn sich Staat und Volk decken. Das ist aber
nur in wenig Staaten vollkommen der Fall und war es früher überhaupt
nicht. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst waren die in unsern: Sinne
national einheitlich beschaffneu Staaten so durch Dialekte zerrissen, daß in der
Regel der Nordländer den Südländer nicht verstand, und erst die rasche Ver¬
breitung der meist von einem Aufschwung der nationalen Literatur begleiteten
Schriftsprache besiegelte im heutigen Sinne die nationale Einheit des Staates.
So ist es in Frankreich und auch in Deutschland gegangen. Noch bis in das
späte Mittelalter hinein war die Staatssprache des deutscheu Reichs die Sprache
der Kirche, das Lateinische, und erst seit der Zeit Rudolfs von Habsburg
finden sich deutsche Urkunden in nennenswerter Anzahl. Der Staat schuf sich
also in einem verbreiteten Verständigungsmittel eine Amtssprache so lange, bis
die entwickelte Sprache des Volkes diese Aufgabe zu erfüllen vermochte. Ist
die Volkssprache zugleich die Handels- und die Verkehrssprache, so macht sich
dieser Übergang von selbst. Für die Habsburgische Monarchie ließen sich schon
nach diesem geschichtlichen Beispiel Schlüsse ziehen. Es liegt auf der Hand,
daß dort das allgemeine Verständigungsmittel, das allein als Amtssprache des
Staates in Betracht kommen kann, die deutsche Sprache ist, und so weit diese
Angelegenheit überhaupt gesetzlich oder durch deu Gebrauch geregelt wurde, ist
sie es auch tatsächlich. Freilich bei der Sorglosigkeit, womit man namentlich
nach 1866 den Neubau des Staates betrieb, wurde mit gesetzlichen Festlegungen
ziemlich oberflächlich Verfahren, und tatsächlich ist nur an einer Stelle die
deutsche Sprache als Amtssprache verfassungsmäßig anerkannt worden: sie gilt
als Kommandosprache der „gemeinsamen Armee" und der österreichischen Land¬
wehr, aber schon nicht der ungarischen Landwehr (Honved). Im Gebrauch ist
sie bei allen gemeinschaftlichen und allen zentralen österreichischen Behörden.
Sogar bei den Verhandlungen der ungarischen Delegationen wird, namentlich
in den Komnnssionssitzungen, mit Rücksicht auf die gemeinsamen Minister und
ihre Kommissarien die deutsche Sprache häufig angewandt. Die obern Landes-
behörden verkehren mit den Ministerien in Wien ausschließlich in deutscher
Sprache; die Deutschen tun es selbstverständlich, die polnischen Herren in
Lemberg und Krakau, sowie die tschechischen Herren in Prag mit der stillen
Berechnung, daß es nicht gut sei, die hergebrachte Bequemlichkeit in den Wiener
Zentralbehörden durch unzeitgemäß ausgeworfne Sprachenfrageu aufzustören.
Sie wissen ganz genau, daß dort die gefährlichsten und einflußreichsten Gegner
ihrer Sprachherrschgelüste sitzen, und sie wissen ebensogut, daß die Deutschen
gar nicht nötig haben, sich über die Staatssprache zu ereifern, weil es ja
schließlich Sache der Zentralregierung ist, wie sie den Bedürfnisse» einer geord¬
neten Verwaltung gerecht wird. Vorläufig sind sie mit dem, was sie schon
erreicht haben, innerlich zufrieden, äußerlich lärmen sie freilich gegen den
Anspruch der Deutschen auf gesetzliche Erhebung des Deutschen zur offiziellen
Staatssprache. Sogar die slawischen Beamten der verschiednen Kronlünder
müssen sich unterciunuder, und nicht bloß amtlich, sondern auch außeramtlich,
in der deutschen Sprache verständigen, weil der Tscheche nicht polnisch, der
Pole nicht tschechisch und der Slowene keins von beiden kann. Überall be¬
stätigen die Tatsachen, daß Österreich des Deutschtums nicht entraten kann,
daß die deutsche Sprache, mag sie nun Staats- oder Vermittlungssprache
heißen, zu seinein Fortbestande unumgänglich notwendig ist, aber die Aner¬
kennung, daß die deutsche Sprache bei diesem Stande der Dinge einen Mehr¬
wert gegenüber allen andern im Reiche geläufigen Sprachen habe, fällt den
österreichischen Regierungen so schwer, weil sie sich davor hüten, die überreizte
Eitelkeit der slawischen Völkerschaften zu verletzen, und in der Verfassung steht
ausdrücklich die Gleichberechtigung, deren mechanische oder mathematische Be¬
deutung dem Einheitsbedürfuisse des Staates nicht entspricht.
Es ist reiner nationaler Eigensinn, wo doch die Gebildeten aller Öster¬
reich-Ungarn bewohnenden Stämme die deutsche Sprache beherrschen, sie als
Verkehrssprache in Österreich überall im Gebrauch, und dieser Zustand auch
eine durch die Erwerbs- und Kulturverhültnisse hergebrachte Übung ist, sich der
geradezu unentbehrlichen Festlegung eines gemeinsamen Reichsverstündiguugs-
mittcls zu widersetzen. Aber weil es sich nur um einen nationalen Eigensinn
handelt, der im Augenblick durch vernünftige Gründe und bei den staatlichen
gesetzlichen Einrichtungen nicht zu überwinden ist, möge man doch die Sache
vorläufig auf sich beruhen lassen. Die Volksvertreter haben gar nicht nötig,
sich darüber die Köpfe der Beamten und der Militärkommandanten zu zer-
brechen. Die wissen sich schon selbst zu helfen und das Notwendige durchzu¬
setzen. Von dieser Seite hat die deutsche Sprache keine Beeinträchtigung zu
fürchten. Die Zentralbehörden in Wien wurden sich mit Händen und Füßen
dagegen wehren, wollte man ihnen besondre tschechische, polnische und wer
weiß was sonst noch für nationale Abteilungen aufhalsen. Sie können eine
Vermittlungssprache gar nicht entbehren; Sprachenfragen regeln sich schließlich
nach dem Bedürfnis, und somit ist der endliche Sieg der deutschen Sprache
als Staatssprache in Österreich ganz unausbleiblich, aber darum ist es auch
mindestens überflüssig, sie zum Gegenstand eines Parteiprogramms zu machen.
Wenn die Deutschen in ihrem Psingftprogramm unter ihren allgemeinen For¬
derungen die der deutschen Vermittlnngssprache an die Spitze stellten, so hatte
das noch einen Sinn. Das Pfingstprvgramm stand unter dem Eindrucke der
damals noch bestehenden Svrachenverordnungen und trug einen rein defensiven
Charakter, indem es die Linie bezeichnete, hinter die sich die seit Jahren zum
erstenmal wieder geeinten Deutschen niemals zurückdrängen lassen würden,
es verstand sich darum von selbst, daß sie darin auch bestimmt aussprachen,
sie würden niemals ans die deutsche Staatssprache verzichten. Dieses Aus-
sprechen ist nnn nicht dasselbe, als wenn man unter den heutigen Verhält¬
nissen verlangt, daß die deutsche Sprache gesetzlich als Staatssprache anerkannt
werden müsse. Es ist ein taktischer Fehler, daß die Schönererianer vor andert¬
halb Jahren die Forderung der deutschen Staatssprache wieder aufgeworfen
haben, natürlich bloß zu dem Zweck, als die entschiednern Deutschen zu er¬
scheinen und dadurch den andern deutschen Parteien ein paar Mandate abzu¬
nehmen. Die Reichenberger Zeitung sagte damals ganz richtig: „Herr Wolf
möge mit seinem Plane herausrücken, wie er die gesetzliche Feststellung der
deutschen Staatssprache durchsetzen will. Polen, Tschechen, Klerikale, Feudale,
Südslawen, Italiener, Sozialdemokraten und die Regierung wollen nicht, die
deutschen Abgeordneten der Linken werden die Altdeutschen sicher unterstützen,
aber die Zweidrittelmehrheit des österreichischen Abgeordnetenhauses will uicht,
und das weiß Herr Wolf ebensogut wie wir." Es hat immer zum eisernen
Rüstzeug radikaler Parteien gehört, gerade zu einem Zeitpunkt Forderungen
aufzustellen, wenn sie am allerwenigsten durchzusetzen sind, um Verwirrung in
die Massen der Wühler zu bringen und im Trüben zu fischen. Die Verquickung
der Forderung der deutschen Staatssprache mit dem böhmischen Sprachenstreit,
der rein prvvinzialcr Natur ist, bringt leider den praktischen Nachteil mit sich,
daß die zwiefache Natur der deutschen Sprache als gleichberechtigte Sprache
in Böhmen und als Staatssprache für Österreich in dem Kampfgewühl geradezu
verwischt zu werden droht, das natürliche Vorrecht der deutschen Sprache dabei
immer mehr zurücktritt, und sie durch die verfehlte Taktik der Deutschradikalen
auf die Stufe der tschechischen Sprache hinabgedrückt wird. Die Tschechen
werden ja damit zufrieden sein, aber die Deutschen sollten sorgsam darauf
achten, die Frage der deutschen Staatssprache und die Gleichberechtigung des
Deutschen und des Tschechischen in Böhmen und Mähren reinlich zu scheiden.
Die Geschichte der deutschen Staatssprache in Österreich ist nicht von heute,
sondern geht sehr weit zurück. Ebensowenig wie die Germanisierung dieses Landes
vollendet worden ist, ist auch die deutsche Staatssprache eingeführt worden.
Kaiser Joseph der Zweite, der durch liberale Dekrete die Unterlassungen seiner
Vorfahren auf einmal gut machen wollte, erhob auch durch Dekret vom 11. Mai
1784 die deutsche Sprache zum Range der Staatssprache, aber schon am
29. Januar 1790 erfolgte die Zurücknahme; auch die böhmischen Stände hatten
wegen Zurückdrängung der tschechische» Sprache dagegen protestiert. Nach der
Gründung des Deutschen Bundes unter dem Präsidium Österreichs galt in den
dem Bunde zugerechneten Ländern die deutsche Sprache selbstverständlich als
Staatssprache, ohne das; besondre Verordnungen darüber erlassen wurden, für
Böhmen wurde jedoch im Jahre 1817 durch einen kaiserlichen Erlaß die Zwei¬
sprachigkeit der Beamten angeordnet und durch ein Rundschreiben des Ministers
des Innern Bach vom 15. August 1849 erneuert. Es gibt Verordnungen
des Justizministers Freiherrn v. Kraus aus dem Jahre 1852, durch die die
innere deutsche Amtssprache eingeführt wurde, doch sind sie niemals rechtskräftig
veröffentlicht worden, und die Tschechen bestreiten ihre Nechtsgiltigkcit. Durch
die Auflösung des Deutschen Bundes fiel jede staatsrechtliche Grundlage,
die Geltung des Deutschen als Staatssprache anzunehmen; es wäre also ge¬
boten gewesen, in die Verfassung von 1867 ausdrücklich eine Bestimmung auf¬
zunehmen, wenn man die deutsche Staatssprache unanfechtbar sicher stellen
wollte. Da dies aber schon damals init Recht für sehr bedenklich angesehen
und darum unterlassen wurde, so kann man jetzt nach beinahe vierzigjährigen
Bestehen der Verfassung, unter deren Schutz sich die nationalen Eigentümlich¬
keiten und Ansprüche so kräftig entwickelt haben, im Ernste um die Verwirk¬
lichung einer solchen, den leidenschaftlichen Widerstand aller andern Nationa¬
litüten herausfordernden Maßregel nicht denken. Eine parlamentarische Lösung
der Staatssprachenfragc ist für absehbare Zeit unbedingt ausgeschlossen, und
ein Machtspruch der Krone wird nicht erfolgen, da danach nur noch die Wieder¬
herstellung des Absolutismus kommen könnte. Die Slawen stellen sich auf
den Standpunkt, daß es in Österreich von Rechts wegen nur Landessprachen,
aber keine Staatssprache gibt, und finden dafür in dem Artikel 19 der Ver¬
fassung, der von Gleichberechtigung aller Sprachen, aber von keiner Staats¬
sprache spricht, eine starke rechtliche Stütze. Es ist schon in einem frühern
Artikel darauf hingewiesen worden, daß seinerzeit die Verfasfungspartei, wenn
sie auch die deutsche Staatssprache nicht durchsetzen konnte, doch durch eine
Reihe von damals ganz unverfänglichen Bestimmungen der deutschen Sprache
eine unerschütterliche Berechtigung in allen Zentralinstitnten zu verschaffen
vermocht hätte. Daß das angeht, hat Schmerling als Justizminister schon
Z849 bei der Errichtung des Obersten Gerichtshofes bewiesen, der zur deutschen
Verhandlungssprache verpflichtet ist. Bisher hat sich jeder Versuch tschechischer
Advokaten, ihre Sprache dort einzuschmuggeln, als eitel erwiesen, und es wird
sich auch im Abgeordnetenhause, sicher auf lange Zeit hinaus und wahrscheinlich
immer, keine Mehrheit für die Abschaffung der deutschen Verhandlungssprache
des Obersten Gerichtshofes finden, obgleich dazu nur die einfache Majorität
gehörte, weil die Schmcrlingsche Bestimmung keine verfassungsmäßige ist. Es
ist bedauerlich, daß die Deutschliberalen damals so wenig Voraussicht bewiesen
haben, aber daran ist nun einmal nichts mehr zu andern; jetzt heißt es eben,
sich klug uach der gegebnen Decke zu strecken, um so mehr da durch die erbitterten
Sprachenkämpfe der letzten Jahre der Widerstand der nichtdeutschen gegen die
deutsche Staatssprache noch gewachsen ist. Weitere aussichtslose Kämpfe auf
diesem Gebiet führen zu wollen, kann nur Verluste bringen, dagegen läßt sich
das bisher Erreichte oder vielleicht bloß Gerettete mit einiger Umsicht so lange
verteidigen, bis wieder andre Zeiten kommen, die ja eintreten müssen, da der
heutige Zustand der innern Zerfahrenheit in Österreich doch nicht in Ewigkeit
bestehn bleiben kann. Der moderne Radikalismus freilich klammert sich an
Phrasen, hat kein Verständnis für das aus den gegebnen Verhältnissen natürlich
Gewordne und setzt an dessen Stelle seine eignen Phantasiegebilde. Man
sollte sich vorderhand aber dabei begnügen, daß die deutsche Sprache noch
jetzt, trotz der Ereignisse und einer unglücklichen Taktik der Deutschliberalen
während der letzten vier Jahrzehnte, die allgemeine Verkehrssprache und das
einheitliche Verstündiguugsmittel der österreichischen Ämter untereinander ist,
daß somit jeder österreichische Staatsbeamte deutsch können muß, und daß
auch die Periode der Sprachenvergewaltiguug unter Badeni daran nichts ge¬
ändert hat. Nach wie vor liegt die Staatssprachenfrage in Österreich so, wie
es Ministerpräsident I)r. v. Körber am 11. November des vorigen Jahres im
Abgeordnetenhaus« aussprach, daß die Notwendigkeit und nicht zuletzt die
Sparsamkeit zu einer einzigen Sprache in gewissen Verwaltuugssphären nötigten.
Die ganze politische Tragik in Österreich beruht darauf, daß mau uach
dem Jahre 1866 nicht erkannte, daß es mit allen großdeutschen Bestrebungen
für immer vorüber war. Das gilt ebenso für unter wie für oben. Das
Politische Band, das die Deutschösterreicher viele Jahrhunderte lang mit der
großen Mehrheit des deutschen Volkes verknüpft hatte, wurde zerschnitten, und
die Habsburgische Monarchie überucchm wieder ihre historische Aufgabe im Osten.
Aber der Negierung war anfangs und den politischen Parteien ist heute noch
nicht das Verständnis für die Wandlungen aufgegangen, die sich in den sechziger
Jahren vollzogen haben. Die Negierung schuf den Dualismus, dessen Kon-
struktionsfehler heute das Reich in seinen Grundfesten erschüttern, und die
Deutschösterreicher singen noch die „Wacht am Rhein," die schon längst bis
über die Mosel hinaus gesichert ist, ohne daß man ihrer Anstrengung bedurft
hätte. Das Vermögen, die wahrscheinliche Entwicklung der Dinge zu er¬
kennen, ist die Voraussetzung einer guten Politik. Die Negierung hat ihren
Fehler bald eingesehen und schon vor einem Vierteljahrhundert durch die
Okkupation von Bosnien und der Herzegowina, in neuerer Zeit durch ihre
Vereinbarung mit Rußland über die Balkanhalbinsel die ihr gebührende Auf¬
gabe aufgenommen, soweit dies eben bei der innern Zerrüttung des Reiches
durchzuführen war. Deun es bleibt die Aufgabe der zur gemischtsprachigen
hnbsburgischeu Monarchie entwickelten ehemaligen deutschen Ostmark, die ihr
in deutscher Gestalt übermittelte westeuropäische Kultur über die der Türken-
Herrschaft entgleitenden Völkerschaften, zu denen in mehrfachem Sinne anch
die Magyaren gehören, zu verbreiten. Vermag sie das nicht, so werden andre
diese Aufgabe übernehmen müssen. Nicht die Niederlage von 1866, sondern
die in den folgenden Jahren begangnen Fehler in der innern Politik haben
diese welthistorische Aufgabe unendlich erschwert, aber nicht aufgehoben; sie
besteht weiter, und in ihr allein beruht die Bedeutung Österreich-Ungarns für die
übrigen europäischen Staaten, die bisher ohne Ausnahme jeden Schritt in dieser
Richtung mit ihren Sympathien begleitet haben. Bei den Deutschösterreichern,
die zu allererst an dieser großen Kulturaufgabe beteiligt sein sollten, ist leider
nur geringes Verständnis dafür vorhanden, sie kramen noch immer in alten
Erinnerungen an die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich, die doch eigentlich
keine mehr war, herum und zersplittern daheim ihre Kräfte in kirchlichen und
nationalen Fragen, in denen sie auch keinen beherrschenden Standpunkt zu
finden vermögen. Es fehlen ihnen in allen Dingen die großen leitenden
Ideen, die allein die Kraft zu politischen Taten verleihen. Die tiefe Ver-
kennung der politischen Aufgabe der Monarchie nach dem Berliner Kongreß
hat vor einem Vierteljahrhundert nicht nur das letzte deutsche Ministerium
unmöglich gemacht und die Deutschen um die ihnen eigentlich gebührende
Stellung in Osterreich gebracht, sondern auch das politische Übergewicht den
politisch klugem Magyaren bis auf den heutigen Tag in die Hände gespielt.
Die unklare Empfindung, daß schwere Fehler begangen worden seien, hat die
tiefere Einsicht nicht vermehrt, sondern bloß zu einer unheimlichen Partei-
zersplittcrung des Deutschtums geführt, die seine Einflußlosigteit und Ohn¬
macht nur noch vergrößert hat. So ist heute alles auf die beiden an sich
geringfügigen Fragen herabgedrückt: auf den Kampf um Wien, wo die Neste
der kapitalistisch-liberalen Partei mit Hilfe der internationalen Sozialdemokratie
den unzweifelhaft deutschen Christlichsozialen die Herrschaft über die Reichs-
hauptstadt wieder abringen wollen, und den deutsch-tschechische» Spracheilstreit,
der schließlich auf den Standpunkt gesunken ist, ob sich dabei ein paar Beamten¬
stellen mehr für Deutsche oder für Tschechen herausschlageu lassen.
Die Entwicklung des Sprachenstreits in Böhmen ist, wenn man von der
Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge absieht, eigentlich von sehr neuem
Datum. Die gewaltige Bewegung der Geister, die die großen Nationen Europas
zur Zeit der Febrnarrevolutiou erschütterte und in der Errichtung zweier
großer Nationalstaaten ihren Abschluß fand, hatte auch die zahlreichen kleinen
Nationen Österreichs ergriffen. Je größer der Volksstamm, um so größer
waren auch seine Ansprüche. Während die Magyaren und die Polen ein selb¬
ständiges unabhängiges Staatsgebilde aufzurichten gedachten, verlangten die
übrigen Slawen noch auf dein Reichstage von Kremsier, soweit sie überhaupt
da eine Vertretung gefunden hatten, eine ziemlich vollständige Autonomie der
von ihnen bewohnten Landstrecken. Das zu übertriebner Geltung gelangte
Nationalbewußtsein strebt immer mehr der Bildung geeinigter Nationalstaaten
zu, ganz unbekümmert darum, daß die historische Entwicklung und die geo¬
graphische Gestaltung der Länder dieser nationalen Idee in zahlreichen Fällen
die Staatenbildung unmöglich machen, ganz abgesehen von dem durchschlagenden
Grunde, daß zu einem Staate auch das Vermögen zur Selbsterhaltung gehört.
Das schließt die kleinern Nationen im Innern Europas von vornherein von
der selbständigen Staatenbildung aus, die doch nur möglich sein würde, wenn
man solche Zwergstaaten neutral erklären wollte. Dafür besteht aber bei der
heutigen Gliederung der Großstaaten unsers Weltteils keine Neigung mehr.
Die Schweiz, Belgien und Luxemburg haben dank der Eifersucht der Gro߬
mächte untereinander, vielleicht aber noch mehr wegen der parlamentarischen
Zustände, die neutrale Stellung erhalten, in dem heißen politischen Wetter¬
winkel im Südosten von Europa hat jedoch Rumänien auf dem Berliner
.Kongreß seine Neutralität aufgegeben und ist zu einem vollkommen selbstän¬
digen Staate geworden, der sogar noch einer bedeutenden nationalen Ver¬
größerung fähig wäre, wenn Österreich nicht bestünde. Die Magyaren sollten
bei ihren Unabhängigkeitsgelüsten gerade diesen Umstand nicht aus den Augen
lassen, denn wenn sich ihre nationalen Heißsporne heutzutage einbilden, sie
würden nach der Zertrümmerung Österreichs etwa mit einem Staate von der
Bedeutung Spaniens in die Weltgeschichte eintreten, so könnten sie sich darin
gegenüber den aus dem dazu in Aussicht genommnen Gebiete tatsächlich vor-
handnen Kroaten, Serben und Rumänen über ihre Machtverhältnisse sehr
täuschen. Daß die nach 1866 erfolgte Befriedigung der nationalen Ansprüche
der Magyaren auch die Tschechen zu ähnlichen sonderstacitlichen Bestrebungen
ermuntern mußte, liegt um so näher, als sie hierfür nicht nur ebenfalls ein
geschichtliches Recht und die nationale Überlieferung ins Feld zu führen ver¬
mochten wie die Ungarn, sondern die schwankende Politik des Kaiserstaats
ihnen anch zweimal, unter Beleredi und Hohenwart, darin entgegenkam. Das
ist nnn freilich auch schon wieder über dreißig Jahre her, und die heutige
Entwicklung der europäischen Politik läßt keinen Rückschlag nach dieser Rich¬
tung hin mehr erwarten. Es ist begreiflich, daß die Tschechen damit nicht zu¬
frieden sind, aber ebenso sicher, daß sie nichts erreichen können. Für sie gibt
es nur zwei politische Möglichkeiten der Zukunft: entweder sie fügen sich fried¬
lich, und nicht etwa als ständig obstruierender Teil, der österreichischen
Monarchie ein und lassen deutsche Staatssprache, und was sonst noch zu den
Erfordernissen eines Großstaats gehört, ruhig über sich ergehn, wobei sie sehr
viel von ihrem eignen Volkstum bewahren und sogar fördern können; oder
sie helfen mit den Magyaren und den Polen das Habsburgerreich auseinander¬
treiben, und in diesem Falle werden sie unzweifelhaft vom Deutschen Reiche,
das sich weder den Zugang zur Donau noch zur Adria, bis wohin Deutsche
wohnen, durch einen slawischen Zwergstaat versperren lassen kann, einfach
annektiert. Der zweite Fall ist übrigens so unwahrscheinlich wie möglich,
weil Deutschland und Rußland ein großes Interesse am Weiterbestand Öster¬
reichs haben und zu rechter Zeit bereit sein würden, den Slawen und den
Magyaren das Handwerk zu legen, wenn die österreichische Regierung Schwierig¬
keiten finden sollte, allein fertig zu werden. Eigentlich Hütten die Tschechen
alle Ursache, täglich dein Schöpfer dafür zu danken, daß er ihnen zuliebe
Osterreich geschaffen hat. Daß ihre Zahl nicht ausreicht, eiuen selbständigen
Staat zu gründen, mag von ihnen als nationales Unglück empfunden werden,
ist aber nicht zu andern.
Nachdem die Tschechen im Jahre 1848 plötzlich mit nationalen Ansprüchen
aufgetaucht waren und auch in Prag einen Aufstaudsversuch unternommen
hatten, verhielten sie sich unter der darauffolgenden Reaktion vollkommen ruhig.
Unter dem Regime Bach, das in Westösterreich entschieden und planvoll ger¬
manisierte, und unter dem das Beamtentum fast durchweg, auch in Galizien
und Ungarn, deutsch sprach, war auf allen Mittelschulen in gemischtsprachigen
Ländern auch die zweite, also meist uichtdeutsche, Landessprache obligatorisch.
Dadurch wurden der deutschen Intelligenz alle Beamtenstellen offen gehalten.
Diese Einrichtung bestand bis zu deu liberalen Schulgesetzen auch in Böhmen,
und die Tschechen fanden nichts daran auszusetzen. Als die Dentschliberalen
das Heft in die Hand bekamen, schafften sie die zweite Landessprache als
obligatorische,: Unterrichtsgegenstand an den Mittelschulen ab. Das geschah
in der unverkennbaren Absicht, den nichtdeutschen die Veamtenlaufbcchn zu
erschweren, und es gab von nun an in Böhmen und Mähren uur Mittel¬
schulen mit deutscher und mit tschechischer Unterrichtssprache. Das ging alles
ganz gut, solange sich die Deutschen in der Regierung hielten, sobald dies
aber vorüber war, trat die Zweischneidigkeit der Maßregel deutlich zutage.
Als 1879 Graf Taaffe an die Regierung kam, die Deutschen in eine erbitterte
Oppositionsstellung träte»?, und die Tschechen nnn als eine Regierungspartei
am Neichsrat teilnahmen, wurde diesen eine Reihe von Vergünstigungen zu¬
teil. Eine der größten war das sogenannte Sprachenzwcmggesetz, wonach der
Beamte in Böhmen sogar in reindeutscheu Gegenden die Kenntnis der zweiten
Landessprache nachweisen sollte. An und für sich ist daran auch nichts so
ungeheuerliches. Die Beamten des Kronlandes Böhmen bilden eine einheit¬
liche Körperschaft, in der sie rangieren; zweierlei Beamte darin zu schaffen, ist
mit Schwierigkeiten verknüpft und würde ganz verschiedne Avaneementsverhält-
nisse nach sich ziehen. Die ältern Beamten aus der Bachschen Zeit wurden
von der Maßregel auch gar uicht berührt, anders stand es freilich mit dem
jüngern Nachwuchs, unter dem die Deutschen uicht mehr Tschechisch verstanden,
das aber nun von ihnen gefordert wurde. Ob eine gesetzliche Einrichtung an
sich vernünftig und zweckmäßig ist, kommt bei den Partei- und Parlcunents-
kämpfcn nicht mehr in Betracht. Die Deutschen in den Sudeten Andern
empfanden es als ein schweres Unrecht, daß man ihre Söhne nicht mehr an¬
stellen wollte, da sie doch nach den Staatsgrundgesetzen das Recht hatten, sie
bloß eine Landessprache lernen zu lassen. Dieser offenbare Widerspruch in
der Gesetzgebung besteht noch heute, da er bloß durch eine Zweidrittelmehrheit
im Abgeordnetenhaus zu beseitigen wäre, weil die Schulgesetze zu deu Staats¬
grundgesetzen gehören. Eine solche Mehrheit findet sich aber nicht, weil die
Deutschen auf ihrem Recht bestehn, und die Tschechen mit dem bisherigen
Zustande ganz zufrieden sind. Sie liefern Beamte, die mindestens notdürftig
Deutsch versteh», und überlassen es den Deutschen, wie sie unter den obwaltenden
Verhältnissen zurechtkommen. Die Folge von allein ist nun freilich, daß das
Beamtendeutsch in den Sudetenländern immer schlechter wird. Die Deutsch-
böhinen erklären es für eine Irrlehre, daß von Rechts wegen der Tscheche in
ganz Böhmen in öffentlichen Ämtern in seiner Sprache bedient werden müsse,
und sie berufen sich auf den Artikel 13 des Staatsgrundgcsetzes, wonach die
öffentlichen Staatsämter allen Staatsbürgern gleichmäßig zugänglich sein sollen-
Das ist aber ein bloßer Lehrsatz, der die Sprachenbedürfnisfrage gänzlich außer
acht läßt. Deutsche wie Tschechen würden sich sicher einmütig dagegen wehren,
wenn man ihnen etwa Südtiroler, die nur Italienisch verstünden, als Beamte
nach Böhmen setzen wollte, obgleich dies nach dem Artikel 13 vollkommen zu¬
lässig wäre. Übrigens ist der Artikel nach seiner ganzen Entstehungsgeschichte
gegen das frühere Privilegium des Adels auf gewisse Beamtenstellen und
gegen den Ausschluß ganzer Glaubensbekenntnisse von der Staatsanstellung
gerichtet und hat ans die Sprachenfrage der Beamten ursprünglich keine Be¬
ziehung.
Von einer historischen Abneigung der Dentschen gegen die tschechische
Sprache läßt sich eigentlich nicht sprechen, diese ist in den letzten Jahrzehnten
erst künstlich großgezogen worden. Die Notwendigkeit zwingt Tausende von
deutschet, Eltern, ihren Kindern tschechischen Unterricht erteilen zu lassen. In
Böhmen, namentlich in Prag, gibt es hervorragende deutsche Industrielle, die
ihren .Kindern durch Privatunterricht eine gründliche Kenntnis der tschechischen
Sprache beibringen lassen. Sogar im geschlossenen Sprachgebiet vermag man
sich den Forderungen des praktischen Lebens nicht zu entziehn. Ju frühern
Zeiten war der sogenannte „Kindertausch" in Böhmen eine ziemlich weit ver¬
breitete Einrichtung. Tschechische Eltern gaben ihre Kinder ans mehrere Jahre
in eine deutsche Familie, während sie deren Kinder aufnahmen, damit die
Kleinen die für sie nötige andre Landessprache praktisch lernten. Auch heute
finden sich noch öfters in deutschen Blättern Aufforderungen zum Kindertansch,
obgleich namentlich die Dentschradikalen jeden als nationalen Verräter brand¬
marken, der seine Kinder tschechisch lernen läßt. Wenn es der Vorteil des
Kaufmanns erfordert, so lernt er auch die andre Landessprache und gebraucht
sie der Kundschaft gegenüber. Zu seinem Besten dient es auch, daß er in
anderssprachigen Landesteilen bei Amt und Gericht in seiner Sprache ankommen
kann, und wenn sein Billigkeitsgcfühl nicht getrübt ist, so wird er gar nichts
dagegen einwenden, wenn dem anderssprachigen Landsmann dieselbe Mög¬
lichkeit geboten wird. Die UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes beweisen
ferner die zahlreichen „tschechischen Sprachkurse" in deutschen Städten, die
tschechischen Sprachlehrer, die gesucht werden, und nicht minder die sich mehrenden
Ansuchen deutscher höherer Lehranstalten um Einführung des nicht obliga¬
torischen Unterrichts in der tschechischen Sprache, da die Schulgesetzgebung die
Einführung als vollberechtigtes Lehrfach abwehrt. Das Bedürfnis und die Not¬
wendigkeiten des praktischen Lebens erweisen sich auch hier stärker als die
Parteischablone und die überspannte nationale Theorie. In wirtschaftlichen
Dingen verstehn sich die Deutschen und die Tschechen ganz gut, denn der
Gang der Geschäfte stockt nicht, wenn man sich auch in den Vcrtretungskörpern
streitet und schlägt. Die Bauern verkaufen einander ihre Rinder auf dem
Markte, die Arbeiter reichen sich in der Werkstatt das Werkzeug, die Fabri¬
kanten und die Kaufleute schließen ihre Kondore nicht wegen der nationalen
und der Sprachstreitigkeiten. Nationale Bohkottversuche haben nirgends eine
größere Bedeutung erlangt und unterscheiden sich in ihrer Tragweite nicht von
andern aus eigennützigen Absichten und nicht ans nationalen Gründen erfolgten
Anregungen ähnlicher Art. Die gereizter gewordne nationale Kampfcsstellnng
but daran wenig geändert, denn sechs Tage in der Woche ist man wirtschaftlich
tütig, und erst am Feiertag hat man Zeit, national zu sein. In den praktisch¬
bürgerlichen Berufen, in Gewerbe- und Handelskreisen, wie anch im Bauern¬
stande wäre eine alle Schwierigkeiten schlichtende Sprachenformel leicht gefunden,
die werden alle nicht vom „Prinzip" bedrückt. Es sind nur schmale Schichten,
deren ökonomisches Streben zugleich national ist, die darum immer lärmen
und sich nicht verständigen wollen.
Nun ist es freilich eine Tatsache, daß der Deutsche, sei es, weil er weniger
Begabung für Sprachen hat, oder weil die tschechische Sprache für ihn be¬
sonders schwierig ist, diese Sprache weit mühevoller und in der Regel auch
unvollständiger erlernt, als umgekehrt der Tscheche sich die deutsche Sprache
aneignet. Dazu kommt ferner der Unterschied, daß der Tscheche, der deutsch
lernt, eine weitverbreitete Kultursprache erwirbt, deren Beherrschung einen großen
Vorteil bietet, während der Deutsche, der die über ihren kleinen Bezirk hinaus
ganz und gar unbekannte tschechische Sprache lernt, davon keinen andern Nutzen
zieht, als daß er in den Sudetenlüuderu eine staatliche oder private Austeilung
erwerben kann. Demgegenüber muß aber betont werden, daß eine geachtete
Staatsstellung wohl einer solchen Anstrengung wert ist, und daß anders die
Anforderungen, die an das Beamtentum in Böhmen und Mührer gestellt
werden müssen, gar nicht bemessen werden können. Man findet heute dort
nur noch selten einen kaufmännischen Kontorbeamten, von dem nicht die Kenntnis
beider Landessprachen verlangt wird. Es ist in frühern Zeiten mit der Dvppel-
sprachigkeit der Beamten gegangen und müßte doch auch heute gehn, ferner
braucht man gar nicht zu befürchten, daß die Deutschen, wenn sie je nach ihrem
Stande und der Stellung, die sie im Staate einzunehmen wünschen, eine ge¬
nügende Kenntnis des Tschechischen Hütten, damit Opfer des Tschechentnms
werden müßten. Dagegen haben die Tschechen in den letzten Jahrzehnten
entschieden einen geistigen Aufschwung genommen und können nicht mehr im
Stile der Wiener Witzblätter vor dreißig Jahren behandelt werden. Wenn
ihnen auch ihr gesamter Kulturaufschwung im wesentlichen durch das Deutschtum
vermittelt worden ist, so finden wir heute doch in der Gelehrtenwelt eine ganze
Anzahl tschechischer Namen von gutem Klang, ebenso in der .Künstlerwelt, denen
die Deutschböhmen wenig an die Seite zu stelle» haben.
Man sollte demnach bei ihnen nicht so viel von der die andern Nationa¬
litüten turmhoch überragenden deutschen Kultur reden, um so mehr wenn man
so wenig Selbstvertrauen hat, daß man meint, zu dem Vorzug des Deutschtums
in der Kultur müsse anch noch das numerische Übergewicht treten, damit es
sein Volkstum bewahren könne. Denn etwas andres kann doch die begehrte
Zweiteilung Böhmens nicht bedeuten, als daß die Deutschböhmen eilt gesondertes
deutsches Gebiet für sich haben wollen, worin sie ohne Kampf weiter leben
können. Sie sind bereit, sich in das nationale Ausgedinge auf dein von ihren
Vorfahren erkauften, kultivierten und verteidigten Boden zurückzuziehen und
den andern Deutschösterreichcrn die Verteidigung der uralten Ansprüche des
deutschen Volkstums in der Ostmark zu überlassen, und doch verlangt die Ehre
der Deutschösterreicher, daß sie dort siegen, wohin sie das Geschick auf den
Kampfplatz gestellt hat, und daß sie mit den Waffen ihres Geistes siegen.
Das erreicht man aber nicht, wenn man das Schlachtfeld rünmt und sich hinter
sichere Mauern zurückzieht, noch weniger mit der Prahlerei der Schönererianer:
„Böhmen muß germanisiert werden." Wie will man denn das mandelt, wenn
man nicht einmal die Sprache derer, lernen mag, die man germanisieren will?
Die Kenntnis dieser Sprache ist doch das Hauptmittel zum Zweck. Natürlich
soll die Negierung, oder Kaiser Wilhelm, oder sonst wer das Werk übernehmen;
den Deutschradikalen fällt es gar nicht ein, den mühevollen Weg, der nach
langen arbeitsreichen Jahrzehnten dahin führen könnte, einzuschlagen. Es ist
eben leichter, schallende Schlagworte in die Welt zu setzen und die Köpfe damit
zu verwirren, als unermüdet in nationaler Kleinarbeit zu schaffen und jedes
Opfer auf sich zu nehmen, sei es auch die Erlernung der tschechischen Sprache,
um keinen Fußbreit von dem Boden zu verlieren, den der deutsche Vorfahre
in Böhmen schon besessen hat. Die Einführung der tschechischen innern Amts¬
sprache im größten Teile Böhmens ist wohl nur noch eine Frage der Zeit,
und auch dieser Verlust der deutschen Staatssprache wird ans das Konto der
Deutschböhmen fallen. Die Tschechen allein hatten sie nie durchgesetzt, denn
die Regierung hat kein Interesse an dieser Änderung, die übrigens schon Übung
geworden ist, wo die Tschechen unter sich sind. Auch das wäre nicht möglich
gewesen, wenn überall, wie es in frühern Zeiten der Fall war, die entsprechende
Anzahl deutschböhmischer Beamten säße. Die amtliche Einführung wird nun
nicht lange mehr auf sich warten lassen, seitdem die Dentschböhmen die innere
tschechische Amtssprache „konzediert" haben sür den Fall, daß sie sich in ihr
Ausgedinge zurückziehn dürfen. Es ist wohl zuzugeben, daß die Deutschböhmeu
einen sehr energischen Gegner wider sich haben, aber die Tschechen haben ihre
Haupterfolge doch mir durch die Fehler der Deutschen errungen, deren Führer
bis zur Gegenwart fast ausschließlich Deutschböhmen waren. Es ist die höchste
Zeit, daß die Führung der Deutschösterreicher definitiv aus den Händen der
Deutschböhmen in die der Deutschen in den Alpenländern übergeht, damit
klarere Anschauungen für die Führung der nationalen Angelegenheiten zur
Geltung kommeu, als die Kirchtnrinsinteressen der deutschbvhmischcn Bureau¬
kratie. Man wird die Deutschböhmen wahrlich nicht in Nöten sitzen lassen,
aber das deutsche Volkstum besteht doch nicht darin, daß gerade sie allein es
bequem haben.
Es wird häufig von andrer Seite der durch den Stammesgegensatz und
angeblich durch das geschichtliche Bewußtsein erzeugte Widerwille der deutscheu
Beamten, sich die Sprache ihres Todfeindes anzuqnülen, angeführt. Nun, was
der deutsche Geschäftsmann und Privatbeamte tun muß, wird auch für den
Staatsbeamten nicht zu den Unmöglichkeiten gehören. Wie schon angeführt
worden ist, ist es früher auch nicht unmöglich gewesen. Es ist aber leider
eine betrübende Tatsache, daß dem Dentschösterreicher seine innere Geschichte
seit dem Jahre 1859 gänzlich unbekannt ist; die beteiligten Blätter und Par¬
teien haben sorgsam darüber gewacht, daß über die verderblichen Irrtümer,
Fehler und Manieren der damaligen Führer nichts in das deutsche Volk dringe.
Bei dieser Unkenntnis wohl der wichtigsten Abschnitte seiner Geschichte fehlt
dem Dentschösterreicher der klare Blick und die Befähigung zum selbständigen
Urteil. Darum herrscht bei ihm die politische Phrase mehr als anderswo,
weil ihm das Rüstzeug zur politischen Kritik abgeht, die nur durch die Kenntnis
der Geschichte gewonnen werden kann. Das österreichische Deutschtum ist
infolgedessen im Begriffe, sich geradezu waffenlos zu machen, weil es sich ver¬
wirren läßt durch staatsrechtliche Doktorfragen, durch ethnologische Möglich¬
keiten und Unmöglichkeiten, weil es dadurch sich selbst und das hinter ihm
liegende Deutsche Reich mit eiuer geistigen chinesischen Mauer umgibt, die dann
die besser unterrichteten nud positiv handelnden östlichen Völker an den
schwachen Stellen ohne Mühe übersteigen werden. Sie lassen sich immer
wieder in den unfruchtbaren Sprachenkampf verwickeln und weiter darin fest¬
halten, weil es im Interesse der um den Einfluß im Staate ringenden
Gruppen — dem Feudaladel, der als Camarilla, und der Finanzaristokratie,
die als „geheime Nebenregierung" tätig ist — liegt, daß der Kampf um einige
Beamtenstellen mehr oder weniger in Böhmen zwischen den Beamten fortdauert
und die „heiligsten Interessen" der Völker als gefährdet hingestellt werden,
während der wirtschaftliche Wohlstand und die Hebung der Sittlichkeit leiden
und gar nicht zu Worte kommen. Dadurch ist auch der Haß entstanden, der
es angeblich dem deutschböhmischen Beamten unmöglich macht, die Sprache
seines Todfeindes zu erlernen. Was soll denn aus dem Haß eigentlich werden,
der von der einen Seite aus politischem Unverstand und von der andern in
der bestimmten Absicht, daß der Streit fortdaure, eifrig geschürt wird? Wollen
sich die Deutschen und die Tschechen schließlich totschlagen? Das wollen sie
doch im Ernst nicht, und schließlich würde es der Staat nicht leiden. Es muß
also endlich zu einem vernünftigen Ausgleich kommen, und es ist hohe Zeit,
daß sich die Deutschösterreicher, namentlich aber die Deutschböhmen, über den
Ernst ihrer Lage klar werden, nicht immer alles der Regierung in die Schuhe
schieben oder gar auf die Einmischung Deutschlands rechnen, sondern die Ge¬
schichte ihrer Vergangenheit studieren, die damals begangnen Fehler einsehen
und sich mit den geeigneten Mitteln ausrüsten, damit sie in Zukunft nicht
wieder in eine ähnliche Lage geraten können.
(Schluß folgt)
le erste deutsche Nationalversammlung zu Frankfurt war die un¬
gefälschte Repräsentation des Volkes der Deutschen, wie es leibte
und lebte. Sie kam infolge der Pariser Revolution und der März-
bewegnng so rasch zustande, daß ein Einfluß maßgebender
Parteien bei den Wahlen ausgeschlossen war. Die vorwiegende
Stimmung war gegen den ohnmächtigen, auch bei einer Verfafsungsverletzuug,
wie in Hannover, inkompetenten Bundestag gerichtet, die Schaffung der
Reichseinheit unter einem gemeinsamen Oberhaupte blieb der Hauptgedanke,
Das römische Kaiserreich deutscher Nation nahm mit der Entsagung Österreichs
und der Stiftung des Rheinbundes 1806 ein Ende, jn bei der Eigenmächtigkeit
und dem Widerstande der Reichsfürsten war die Zentralgewalt so kläglich, daß
die Einkünfte des gekrönten Oberherrn schließlich im Jahre noch 13000 Gulden
betrugen! Das Interregnum hatte inzwischen 42 Jahre gedauert, unterbrochen
durch wiederholte Aufstände von Deutschtümlern, zur Sprengung des reaktionären
Buudestcigs selbst in Frankfurt am 3. April 1833, Aufstünde^ die empfindliche
Verfolgung nach sich zogen. Es waren Wehen, die keine Geburt zutage
förderten. Da kam der Anstoß von Paris, der eine allgemeine Aufregung
verursachte, die einzelne Vnndesstaaten mit der Auflösung bedrohte.
Die politischen Bestrebungen traten stürmisch bei deu Liberalen zutage,
obwohl von Nationalvereinen noch nicht die Rede war. Das tum noch am
meisten in den erwählten Persönlichkeiten ans Licht, ja der Bundestag selber
sah sich ans kurze Zeit in diesem Sinne reformiert, indem darin z. B. der
mehr als freisinnige Welcker als badischer Gesandter bevollmächtigt war, sofort
aber im Vorparlament seine Stimme als Volksredner erhob. Der Fünfziger¬
ausschuß hielt seine Sitzungen im Kaisersaal des Römers. Der frühere badische
Minister, Freiherr von Blittersdorf, nach dein die bekannten Anlagen in Frank¬
furt heißen, brachte laut genug in Vorschlag, das vom Volke bestellte Parla¬
ment möge sich als Plenum des Bundestags konstituieren, sodaß es als Volks¬
haus den: Fürstenhause gegenüberstünde.
Grundsätzlich wurden in das langersehnte Parlament gewählt alle poli¬
tischen Märtyrer, so Arndt, Jahr, Sylvester, Jordan, der geborne Tiroler,
und von bayrischer Seite Dr. Behr und Eisenmann, die wegen demagogischer
Umtriebe im Polizeistaate gerichtlich zu sechzehnjähriger Festungshaft verurteilt,
1848 aber begnadigt und durch einmütiges Votum beider Kammern je mit
10000 Gnldeii entschädigt wurden. Daß besonders Eisenmann sofort lebhaft
für die konstitutionelle Monarchie eintrat, läßt sie als gewiegte Patrioten und
keineswegs als Männer des Umsturzes erscheinen. Ihnen reihte die Wahlurne
die Göttinger Sieben, einen Dahlmann, Jakob Grimm, Gewinns u. a. an, die
wegen ihres Protestes gegen den hmmoverschen Vcrfassungsbruch abgesetzt worden
waren, sowie die Münchner Professoren, die der ärgerlichen Lota Montez 1847
zum Opfer gefallen waren: aber Lasaulx, Phillips, Sepp, Döllinger nahmen
gemeinsam ihre Plätze auf der Rechten oder im linken Zentrum ein. Daran
reihten sich die letzten Teilnehmer des Wartburgfestes am Jahrestag der
Schlacht von Leipzig, zugleich zur dritten Sükularfeier der Reformation 1817,
vor allen: Jenaer Professoren und Studenten, Burschenschafter, die mit den
Schriften nndentscher Autoren ein Autodafe angerichtet hatten, Zopf und
Schnürbrust dazu ins Feiler warfen, aber auch für Abschaffung der Duelle
eiferten und zuletzt in Eisenach zum Abendmahl gingen. Solche galten für
Huiunelsstürmer. Zu ihnen gehörte auch Heinrich von Gagern, vorher Mit¬
kämpfer in der Schlacht bei Waterloo. Bei den Rednern am Hambacher Feste
1832 galt es schon, sich nicht bloß gegen die Bureaukratie, sondern für eine
deutsche Republik zu ereifern. Sie büßten dafür mit Haft, wie Venedey, der
aber aus Frankenthal entkam, oder retteten sich gleich dnrch die Flucht ins
Ausland. Auch ein cntschiedner Republikaner, Schriftsteller Wirth, wurde durch
die Wahl in die Paulskirche rehabilitiert; aber schon am 28. Juli hielt ihm
Robert Blum die Grabrede.
Sage mau, was mau wolle — eine Versammlung von Männern, die
so viel durchgemacht hatten und ein Herz für das große Vaterland bewahrten,
wie die vom Jahre 1848, fände man heute bei all den Agitationen nicht
wieder: es herrschte im Anfang einmütige Begeisterung. Die durch das öffent¬
liche Vertrauen Erwählten hatten neben erprobten Kämpfer!, auch wohl poli¬
tische Wickelkinder uuter sich, aber die Gefahr der Spaltung ging von Ultra¬
liberalen aus. Staatsmänner, Krieger und Gelehrte, voran General v. Nado-
witz, dann Fürst Lichnowsky, Stiftspropst Döllinger, versammelten sich im
Steinernen Hanse, andre Klubs bildeten sich unter den Namen verschiedner
Gnsthöfe. Man gab zuerst alle Religionsparteien, bestehende und sich
künftig bildende, frei, ebenso alle nichtdeutschen Volksstämme auf deutschem
Bundesgebiete, wobei zunächst an die Polen gedacht war, die heutzutage nicht
mehr für ungefährlich gelten. Schon am 14. Juni, genau vier Wochen nach
dem Zusammentritt (18. Mai), erklärte sich das Haus für Begründung einer
deutschen Marine, was heute, vom tntkräftigen Kaiser aceeptiert, der Grund¬
gedanke unsrer auswärtigen Politik ist. Noch mehr! Von uns Süddeutschen
ging der Antrag ans, Venedig dem Deutschen Bunde einzuverleiben!
Das haben noch alle Parlamentsschriften verschwiegen, vielleicht aus Ehrgefühl,
weil die dabei weniger beteiligten Nordischen mit Ablehnung antworteten.
Wäre der Plan durchgegangen, so wäre Österreich noch heute im Besitze
Venetiens. Und doch hat Deutschland mich im Südosten die nationalen
Interessen zu vertreten: der glänzende Seesieg Tegetthoffs bei Lissn, dem
Schlüssel des Adriatischen Meeres, am 20. Juli 1866 mag dies in Erinnerung
bringen. Gerade jetzt, wo sich der Orient wieder erschließt, darf man daran
denken, daß sich vor der Entdeckung Amerikas am Haupthnndel im Mittel¬
ländischen Meer Augsburger und Nürnberger Handelsfürsten beteiligten und
Deutschland bereicherten, während im Norden die Hansa vom Strand der Ostsee
aus, Lübeck sogar im Innern von Rußland bis Kiew den Handel beherrschte
und von der Nordsee aus im Stahlhofe zu London anch England den Preis
der Waren vorschrieb. Am 20. Juni besann man sich und beschloß in der
Paulskirche einmütig: „ein Angriff auf Trieft von der Seite Sardiniens
(heute des vereinigten Italiens) solle als Kriegserklärung gegen Deutschland
betrachtet werden." Graf Bismarck hätte 1866 füglich aussprechen dürfen: ein
Angriff auf Venedig „werde an die Spitze des deutschen Schwertes stoßen."
Deutschland lag mit Dänemark wegen Schleswig-Holstein im Kriege, und
gerade diese Herzogtümer sandten so wackre Mitglieder, wie die beiden Beseler,
in die Paulskirche, wo Wilhelm B. den cmanzipationslustigeu Jsraeliten Rießer
als Vizepräsident ablöste. Heckscher, gleichfalls Hamburger und Mitglied des
Fünfzigerausschusses vou Gagerns Partei, setzte am 9. Juni dnrch, daß „die
Genehmigung des mit Dänemark abzuschließenden Friedens nicht der National¬
versammlung vorbehalten sei." Er gewann mehr und mehr Einfluß und war
bei der Deputation, die dem Erzherzog Johann seine Wahl zum Reichsver¬
weser mitteilen sollte. Als Venedey von der Tribüne aus auf Belohnung des
Seehelden antrug, der das erste dänische Schiff erobern würde, lachte über
solche Phantasterei mancher in die Faust, und doch bestanden am 5. April 1849
Strandbatterien den Kampf gegen dänischen Ansturm bei Eckernförde, wobei
sie das Linienschiff Christian den Achten in die Luft sprengten und die Fregatte
Gefion kaperten. Ein glückliches Beginnen, denn in ganz Deutschland sammelte
man für die Gründung eiuer deutschen Kriegsflotte. Herwegh, auch
ein Flüchtling und Mitglied der geheimen Propaganda, forderte in seinem
besten Gedichte auf: Die Zukunft Deutschlands liegt auf dem Meere! Damals
dachte niemand, daß demnächst im Auftrag des abgeschafften und dann wieder
erneuerten Bundestags 1852 ein kleinstaatlicher Staatsmann, Hannibal Fischer,
bald die frisch gebauten Seeschiffe, woran sich die ersten Hoffnungen knüpften,
unter den Hammer bringen müßte. Am meisten ging das wohl Rudolf
Jordan zu Herzen, der als Maler gerade in Seestücken seine Meisterschaft be¬
währte und seine Stoffe vorwiegend dem Leben der Küstenbevölkeruug ent¬
nahm, sowie seinem Namensvetter Wilhelm Jordan, der als Marinerat im
Neichsministerium viel zur anfänglichen Organisation der deutschen Flotte bei¬
getragen hatte. Sein Chef Arnold Duckwitz hatte für die Verbesserung der
Weserschiffahrt gewirkt, nicht minder für die deutsch-amerikanische Dampferlinie,
während Meier als Abgeordneter für Bremen sein Memorandum über Zoll-
und Handelsbeziehungen einreichte. Er war als Neichsminister des Handels
ebenso tätig, wie vorher Kollegen von der See aus mit China und Japan
Verträge abgeschlossen hatten. Dies diene mit zum Beweise, welche Männer
die Nation ins Frankfurter Parlament geschickt hatte. Die Versteigerung der
ersten Neichsflotte aber sah alle Welt für einen Racheakt und für absichtliche
Demütigung der deutscheu Nationalversammlung dnrch die wieder dominierenden
Potentaten um.
In der verfassunggebenden Versammlung der Paulskirche, die das deutsche
Staatsleben nen gestalten sollte, saßen statt der 640 erwählten Repräsentanten
der Nation in der Regel nur 580, davon 118 Professoren und, nicht weniger
und wichtiger, Advokaten. An Beredsamkeit blieben die lautesten Stimmführer
hinter den Parlamenten in London und in Paris nicht zurück; tonangebend waren
Abgeordnete aus bisherigen Landtagen, so ein Bassermann, der schon am
12. Februar 1848 wie Heinrich von Gagern am 28. des Monats in der
badischen Kammer den Antrag auf kräftigere Organisation des Deutschen Bundes
eingebracht hatte, indem dieser nur am Gängelband der einzelnen Regierungen
in Bewegung kam und in jedem einzelnen Fall von den eingeholtem Instruk¬
tionen abhing. Mächtige Redner waren Simson, Vincke, Lichnowsky, aber die
von der äußersten Linken, Vogt von Gießen, Wesendonk, Schaffrath brachten
mehr und mehr stürmische Bewegung in den weiten Kreis. Die erste Störung
verursachte Zitz, der radiale Advokat von Mainz, mit einer recht unüberlegten
Anklage. Er rief einen Konflikt mit dem Militär hervor, dessen Beistandes man
bei der wachsenden Unrnhe in den Massen doch bald bedürfte.
Die Beratung der deutschen Grundrechte erfuhr mannigfache Unter¬
brechung, und bald gingen die Wogen höher. Abgeschafft und aufgehoben
wurde, was nur möglich war, so die Handwerkerzünfte, soweit sie nicht,
wie in Preußen, längst aufgelöst waren. Da liefen allseitig Petitionen ein,
besonders aus Bayern, denn die Realrechte repräsentierten ein großes Ver¬
mögen. Sie hatten auch ein langverbricftes Anrecht auf den Fortbestand;
denn nicht bloß die Gesetze des Numa hielten sie aufrecht schon vor dritthalb-
tausend Jahren, sondern in der arabischen Welt wie in Indien bestehn sie seit
unvordenklicher Zeit und noch heute. Damit waren Reife gesprengt, die die
Gesellschaft zusammenhielten, und Grundsteine pulverisiert, »vorauf der feste
Stantsbau ruhen sollte. Mau durfte die Engherzigkeit beseitigen, womit die
Meister cingegangne Gerechtsame an die Zunftlade kauften, wobei zudem nur
Meistersöhne aufgenommen wurden, wie mit vorläufigen Eintrag ins Handwerks¬
buch auch der Schreiber dieser Zeiten. Füglich soll jeder seine Anlagen und Kräfte
verwerten können. Die Gewerbe führten nicht umsonst den Namen „ehrsames
Handwerk"; darin rückte der Lehrjunge zum Gesellen, der Gehilfe zum Meister
vor, wie der Fuchs zum Korpsburschcn und Senior. Ordnung muß sein, und
sie erzwingt sich, damit sich nicht jeder beliebig für einen Meister erklärt, der
nicht erst Geselle war. Wir erleben, wie sich jetzt aus freien Stücken wieder
Innungen bilden, Lehrlinge öffentlich freigesprochen, sogar unter den Angen
ihrer Eltern beschenkt werden, und sich durch die Aufnahme in ehrsamen Hand¬
werkerstand anch den bürgerlichen Stolz aneignen, sich nicht wie gemeine
Menschen wegzuwerfen und den Genossen gar Schande zuzufügen. Sie ver¬
langen die Anerkennung als Korporation.
.Hatte hier das Parlament dem neuerungslustigcn Zeitgeist zu viel nach¬
gegeben, so wurde die Aufhebung der Spielbanken und all der Lottos
mit allgemeinem Jubel begrüßt. Es war in der Tat ein erbaulicher Anblick,
deu Landgrafen von Hessen - Homburg mit solcher Gesellschaft am Spieltisch
sitzen zu sehen, wie er eine Rolle um die andre kommen ließ und das Geld
seiner Uutertciucu verspielte. Bei der Abschaffung kam jedoch ein liberales
Mitglied in grausame Verlegenheit, nämlich der vom Wahlkreise Homburg er¬
wählte Jakob Neuedey. Wie er auf der Rednerbühne jammerte und wider
bessere Überzeugung flehte, das hohe Haus möge doch Rücksicht nehmen und
nicht ohne weiteres und nicht sogleich das Langgcwohnte ans der Welt schaffen!
Er kam so zwischen zwei Feuer. Gewiß war es für die Bankhalter erträglich,
wenn auch gerade die ärmere Klasse die Fortuna herausforderte und dadurch
noch ärmer wurde. Und ist es nicht ein Ärgernis in den Augen von ganz
Europa, daß in Monte Carlo noch eine Gcneralspiclhölle fortbesteht, mag auch
der Fürst von Monaco von seinen wenigen Untertanen wegen des reichen Er¬
trägnisses der Bank für sich keine Steuern einfordern. Wie wenn Dutzende von
fremdem Adel, leichtsinnige Söhne von guten Familien, Brautpaare, die ihr
Glück auf der Hochzeitreise versuchen, Jahr für Jahr ruiniert werden und zum
Revolver greifen, um den Friedhof zu bevölkern! Wieviel solche Skandale
bekommt man zu lesen! Auch für den Staat besteht den Untertanen gegen¬
über das Gebot: Führe uns nicht in Versuchung!
Das Parlament stand auf seiner Höhe bei der Begehung des sechsten
Jubiläums des Kölner Dombaus, wozu der Grundstein am 14.August 1248
gelegt war. Von jeher ist dieser als Symbol des deutschen Neichsbaus be¬
trachtet worden, auch steht der christliche Glaube gleichsam versteinert vor uns.
Welch ein Aufschwung des unvergleichlichen Chores mit den strahlenden Glas¬
gemälden in den Hochfenstern aus der Blütezeit des alte» Reichs! Welche
Entwicklung von Kirchenschiffen und selbständigen Kapellen, welche Mannig¬
faltigkeit der Altäre und stützenden Pfeiler! Die Peterskirche in Nom ist im
Vergleich damit nur ein riesiger Mauerkasten. Diese Nheinfahrt mit dem
Reichsverweser an der Spitze mußte jedem Teilnehmer unvergeßlich sein. Die
Bevölkerung des Rheingaus kam im Gefolge ihrer Pfarrherren mit Fahnen
und Stangen wie in Prozession ans Ufer in der heiligen Erwartung: „Das
tausendjährige Deutsche Reich, es wird sich neu gestalten." Unter dem Ge¬
läute aller Glocken und dem Donner der Kanonen von der Festung Ehren-
breitstein hielt man in der wunderschön gelegnen Rhein- und Moselstadt
Koblenz um, wo sich Bürgermeister und Stadtrat mit der halben Bürgerschaft
zur Begrüßung des Erzherzog - Reichsverwesers herandrängte. Das waren
andre Gestalten, als sie Bassermann in Berlin gesehen hatte, und aus den
Augen blitzte ein heiliges Feuer. Es wurde einem ganz mittelalterlich zumute,
wie wenn die großen Kaiser, die sächsischen Ottonen, die Salier und die
Staufen in feierlichem Triumphzuge die kurfürstlichen Reichsstädte mit ihrem
Besuche beehrten.
Das ist Köln mit seinem hochragenden wunderbaren Dom und den
himmelanstrebenden Türmen! Möge so der Ausbau des Reichs gelingen! Der
gottesfürchtige König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen hatte sich
eigens eingefunden. Erzbischof Geissel mit der ganzen Klerisei wartete zum
Empfang, und das Hochamt begann mit der die Tempelhallen erfüllenden
Instrumental- und Choralmusik. Auch die zahlreichen Protestanten unter den
Parlamentariern waren ergriffen: unangenehm berührte sie vielleicht die laute
Verkündung des Ablasses. Nach der gottesdienstlichen Feier war Galatafel
"n Prachtsanle des Gürzenich, dessen Name wohl ein keltisches Gorsenikum
kundgibt, das durch die Oolonig. Ubioruin. verdrängt wurde. Der König präsi¬
dierte und sprach den Salut. Eine solche Feier erlebt man nicht zum zweiten¬
mal. Bereuen mochte, wer sich ihr entzogen hatte; jedenfalls geschah es nicht
aus konfessionellen Gründen. neugestärkt kehrten die meisten zurück, und nun
guig es wieder ans Werk, die neue Reichsverfassung zu vereinbaren. Daran
wenigstens im Geiste teilzunehmen, auch wohl diesen und jenen Abgeordneten
persönlich zu schauen, kam nach wie vor Alt und Jung aus dem weitesten Um-
laute herbei.
Die Nationalversammlung stellte sich die doppelte Aufgabe, auch das
künftige Verhältnis zwischen Kirche und Staat festzustellen. Wer möchte aus
der Reihe der Paulstirchler, die sich aus Preußen und Österreich, den vier
Königreichen und den dreißig kleinern Staatsgebieten zusammenfanden, die
"mnhaftesten Persönlichkeiten noch ausführlich schildern? Da war es die
hervorragende Gestalt des ersten Präsidenten, Heinrich von Gagern, der mit
seiner mächtigen Stimme die Rotunde beherrschte, obwohl deren Kuppel un¬
mittelbar über der Tribüne die Stimmen der Redner verschlang, wenn einer
nicht einen Brustkasten wie Robert Blum hatte, der als geborner Volksredner
förmlich die Luft erschütterte, Autorität genoß von vornherein General von
Radowitz, den bekanntlich der König von Preußen seiner Freundschaft würdigte.
Daneben saß Fürstbischof Diepenbrock von Breslau, ein Mann, wenn einer
aus Deutschland, würdig, als Nachfolger Petri die dreifache Krone zu tragen.
Er war zugleich versöhnlich, indem er, wie Bossuet mit Leibniz, über die
Wiedervereinigung der Konfessionen mit dem geistreichen Frankfurter
Arzt Dr. Passavant schriftlich verkehrte und zugestand: Wir haben beide gefehlt.
Er war der Vorsitzende unsrer mehr als neunzig Mitglieder zählenden katholischen
Partei im Hirschgraben, überließ aber, selber einst Offizier im Befreiungskriege,
wegen Altersgebrechen früh zum Rücktritt gezwungen, seinen Ehrenplatz an
Radowitz. Dieser verstand es, mit slawischer Schlauheit den Verein zu neu¬
tralisieren mit der beständigen Vorstellung: Wir vertreten hier rein religiöse
Interessen und behandeln keine politischen Fragen — bis er mit einemmal
als Erbkaiserlicher mit Ausschließung Österreichs auf der Rednerbühne erschien
und sich seinen bisherigen Freunden entfremdete. Von da an präsidierte August
Reichensperger, der lebhafte Befürworter der Vollendung des Kölner Dombaus,
Kunstfreund und Tribunalrat.
Die kirchlichen Fragen wurden allerdings mit Zutun des halbgeistlichcn
Klubs entschieden, zum Teil blamierten sich auch die Gegner, z. B. wenn ein
Gritzner beantragte, mit dem römischen Stuhl wegen Abschaffung des
Cölibats der Priester in Verhandlung zu treten. Dieser naive Antrag fand
gleichwohl die Unterschrift nicht bloß von Vogt, Robert Blum, Rüge und
Parteigenossen, sondern auch von Simson, Graf Auersperg, Giskra, Jakob
Grimm, sowie von Stremayr, dem jüngsten Mitgliede der Versammlung
(geb. 1823), der darum als Sekretär den Sitz zuuüchst dem Präsidenten ein¬
nahm. Es ist der noch lebende, spätere langjährige Kultusminister. Allerdings
erschienen auch Karikaturen über die Geweihten, z. B.
Doch nahmen am 20. Juni 20 von den 120 Unterzeichneten ihren Namen
wieder zurück, darunter Simson und Stremayr. Eine weitere Kuriosität war,
daß bei der lauten Abstimmung Jesuiten, Ligoricmer und Redemptoristen für
immer vom Reiche ausgeschlossen wurden, obwohl man so viel Unterricht hätte
voraussetzen dürfen, daß die beiden letzten nur Namen für ein lind denselben
Orden sind.
Die Zeit war kriegerisch angetan, und in der Versammlung saß eine
Kraftnatur, die es vor allem auf die Stärkung der deutscheu Volkskraft
absah. Sonst wartet man hundert Jahre ab, wir nehmen aber aus der jüngst
begangnen Feier des funfzigsten Todestags Anlaß, von ihn: zu sprechen.
Nicht leicht ist ein um Deutschland hochverdienter Mann im Leben mehr
verfolgt und nach dem Tode verdientermaßen mehr verherrlicht worden, als
unser Turnvater Jahr. Daß Turnen der erste Schritt zur soldatischen Aus¬
bildung ist, schien mit der Gymnastik der Griechen vergessen zu sein. Ring¬
kampfe hatten sich zur Not in der Schweiz noch erhalten, die übrigen Deutschen
waren lieber zu gelehrten Stubeuhockern geworden, sodaß noch König Ludwig
der Erste von Bayern seinen Spott darüber ergoß:
Wie! Gymnasien nennen die jetzigen Menschen die Stätte,
Wo man die Jugend versitzt, ach wo der Körper verdirbt?
Den Ort, wo er noch wurde geübt, bezeichnet der Name,
Bei den Hellenen war Tat, aber wir reden davon!
Nach der Schlacht von Jena, wo der fridericianische Militärstaat an
Einem Tage zusammenbrach, war Jahr, eben von Jena, wo er sich 1805 als
Privatdozent habilitiert hatte, zu Blücher nach Lübeck geflüchtet, um in der
Zeit der tiefsten Niedergeschlagenheit voll Patriotismus ins preußische Heer
zu treten. Im Jahre 1811 gründete er in Berlin die erste Turnanstalt, um
selber bärenhaft, wie er von Natur aus war, die Jugend zur Entwicklung der
Körperkraft und zur physischen Abhärtung zu erziehen. Diese neue Kriegsschule
bestand die Probe, denn 1813 trat er mit der Mehrzahl seiner Turner dem
Lützowschen Freikorps bei. Zu dem neuen kriegerischen Geiste und der
glühenden nationalen Begeisterung gesellte sich zugleich die Verachtung fran¬
zösischer Schulerziehung und des Gebrauchs von Fremdwörtern. Jahr hat
das Verdienst, für Nationalität das Wort Volkstum erfunden und eingebürgert
zu haben.
Aber nachdem das Werk der Befreiung gelungen, auch Jahr und die
besten Deutschen den siegreichen Heeren zur Teilnahme am Triumphe nach
Paris gefolgt waren, entband sich bald der Polizeistaat der Dankespflicht,
in Vergessenheit kam das Versprechen, das Deutsche Reich neu und freier zu
gestalten; die Schwärmer für die Einheit und Einigung wurden als Demagogen
verfolgt, voran Jahr. Die Turnanstalt nicht bloß in Berlin, sondern sämt¬
liche im ganzen preußischen Staate wurden 1819 geschlossen. Der Turnvater
kam wegen staatsgeführlicher Umtriebe erst nach Spandau, dann nach
Küstrin, endlich 1820 auf ministeriellen Befehl nach Kolberg, also auf drei
Festungen nacheinander in Haft, und wurde noch 1824 durch das Oberlandes¬
gericht in Breslau zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, dann als Urheber
der deutschen Burschenschaft noch ein Jahrzehnt unter polizeiliche Aufsicht
gestellt.
Die deutsche Erhebung 1848 führte auch Jahr, wie so manchen politischen
Märtyrer, ans Verfolgung und Verbannung befreit, in die erste deutsche
Nationalversammlung, wo er seine Stimme von der Seite der konservativen
Rechten abgab. Aber gerade diese Haltung sollte ihm gefährlich werden. Nach
einem aussichtsvollen Kampfe war am 26. August 1848 zwischen Preußen
und Dünemark der Waffenstillstand von Malmö abgeschlossen. Daß sich
die Majorität der Paulskirche dem Unvermeidlichen fügte, brachte die republi¬
kanische Partei der Deutschgesinnten in stürmische Aufregung. An 7000 Frei-
schärler aus Baden und Hessen, besonders aus der Umgegend von Hanau,
strömten durch die Tore von Frankfurt und wagten sogar einen Sturm auf die
Tore der Paulskirche. Der tüchtige Staatsmann und politische Schriftsteller
Ernst Gagern hatte drei Söhne, von denen Heinrich als Präsident und Max
später im österreichischen Ministerium wirkten, während der ältere, Friedrich
Gagern, schon den Russenkrieg mitgemacht und im Befreiungskriege bei Dresden,
Kulm und Leipzig gefochten, auch im niederländischen Militärdienst bei Quatrebas
Wunden davon getragen hatte, dann erst Stabschef und Generaladjutant des
Königs geworden war und 1844 bis 1846 seine Militärkenntnisse in Ostindien
verwertete. Um aber dem Vaterlande bei der Neugestaltung seine Kraft zu
leihen, übernahm er in Baden das Kommando wider die Aufstündischen unter
dem extremen Revolutionär Hecker. An ehrlichen Krieg gewöhnt, ließ er sich
unter dein Friedensvorgeben von den Rebellen am 20. April 1848 unvorsichtig
vor die Front laden und wurde sofort niedergeschossen.
Dieser Kriegsmann, nun Opfer heimtückischer Treulosigkeit, war zum
General einer Parlamentsarmee ersehen. Noch gedenke ich des Klageworts
aus dem Munde des Präsidenten Gagern auf der Fahrt nach Köln: „Fritz
sollte uicht gefallen sein!" Er war unersetzlich gerade in den Verhängnisvolleu
Septembertagen. Ich erinnere mich auch lebhaft noch der Begegnung mit
Friedrich Ludwig Jahu, wie er mich unter den Arm nahm und durch die
Straßen Frankfurts nach dem Goethehaus marschierte, während er laut
perorierend wiederholte: „Die Turner, meine eignen Leute, haben mich
totschlagen wollen, als ob ich wegen der Abstimmung der deutschen Sache
untreu geworden wäre. Aber zum Glück haben die geübten Arme noch die
Kraft behalten, daß ich siebzigjähriger Mann mich über die Mauer schwingen
konnte."
Jetzt lebt wohl keiner sonst mehr, der mit dem 1778 gebornen Turnvater
Jahr noch persönlich verkehrt hat: er ist am 15. Oktober 1852 in Freiburg
gestorben. Zum Glück liegt die Zeit lange hinter uns, wo deutsche Gesinnung
verpönt, und der Mann mit Gefangenschaft oder Verbannung bestraft wurde, wie
Jahu. Kaum hat ein Mann kräftiger auf die physische Entwicklung der Nation
eingewirkt; die ganze Armee lernt turnen, und einer der ersten Turnlehrer, der
Germanist Maßmann, hat auch in München auf dem Marsfelde die Anstalt
eingerichtet. Vor allem sind die Turner in sich gegaugen, und zwar war es
ein einmütiger Entschluß, daß von den zahlreichen Anstalten jede einen Würfel
zum Denkmal Jcchns beisteuern sollte. Nämlich am funfzigsten Jahrestag seines
Todes spendeten ihm alle Deutschen von Herzen Dank. Ende Oktober 1902
wurde zu Mölln in Lauenburg im Walde als Denkmal ein Findlingsblock
über zwei Meter hoch mit einer Erzplatte und der Inschrift enthüllt:
„Hier kämpfte am 4. und 5. September 1813 das Lützowsche Freikorps
unter Major von Lützow und Turnvater Jahr."
(Schluß folgt)
er Entwurf des Versicherungsgesetzes selbst, um endlich
eins seine Bestimmungen des nähern einzugehn, beschränkt die
zwingende Kraft seiner Vorschriften auf das Unumgängliche und
für beide Teile Nützliche. In einem der oben angeführten
Grenzbotenaufsätze ist gefordert worden, daß bei Abschluß der
Versicherungen die Vertragsfreiheit gänzlich oder doch im weitesten Umfange
beseitigt werde, daß Versicherungsverträge nur nach Maßgabe des Gesetzes ge¬
schlossen werden dürften, und daß nur das Gesetz selbst die ans dem Vertrage
erwachsenden Rechte und Pflichten regeln müsse. Dies schießt aber offenbar
übers Ziel hinaus und wird von dem EntWurfe mit Recht abgelehnt: „Die
Versicherung hat in stetigem Fortschritt ihre Technik vervollkommnet, ihre
Formen vermehrt und ausgebildet, ihr Anwendungsgebiet erweitert; sie hat
damit eine besondre Bedeutung für das gesamte Wirtschaftsleben gewonnen,
und diese Entwicklung ist noch gegenwärtig in vollem Flusse. Die
Gesetzgebung muß jede Maßnahme vermeiden, die hier hemmend und störend
eingreifen könnte; der Versuch, auf die Gestaltung des Rechtsverhältnisses
zwischen dem Versicherten und dem Verhinderer dnrch eine Häufung zwingender
Vorschriften einzuwirken, würde aber diese Gefahr mit sich bringen." Dem
muß zugestimmt werden. Es wäre aussichtslos und verderblich, schon heute
im Gesetze die verschiednen Formen der Versicherung festlegen zu wollen, die
von Tag zu Tag neu auftauche:,, Anklang finden oder verschwinden. Auch
die geläufigem und schon jetzt festgewurzelten Arten der Versicherung (die Ver¬
sicherung der Wohnungseinrichtung gegen Feuer oder Einbrnchdiebstahl, die
gewöhnliche Lebensversicherung, die Unfallversicherung in ihren verschiednen
Zweigen und dergleichen) werden sich schwer in einen ein für allemal verbind¬
lichen Rahmen fassen lassen. Das liegt auch gar nicht in dem Vorteil der
Versicherten; solange man die Versicherungen nicht gänzlich verstaatlicht, wird
weder dem Verhinderer noch dem Versicherten die Möglichkeit verschränkt werden
dürfen, den Gegenstand der Versicherung, das zu versichernde Interesse im
technischen Sinne, nach seinem eignen Vorteil und Willen festzusetzen und uicht
noch dem gesetzlich anerkannten Durchschnitt. Gefahr und Prämie hängen un¬
trennbar zusammen, die Höhe der Prämien bestimmt sich nach dem Umfange
der Gefahr — wie oft wird es gerade in dem Vorteile des Versicherten liegen,
sich gegen eine Gefahr in geringerm Umfang als gemeinhin zu versichern, um
dafür auch die höhere Prämie zu sparen!
Man darf aber auch in diesem Punkte die Einwirkung des neuen Ge¬
setzes nicht unterschätzen. Es stellt für jede der von ihm geregelten Versiche¬
rungen (Schadenversicherung mit den fünf Unterarten Feuer-, Hagel-, Vieh-,
Transport- und Haftpflichtversicherung, und andrerseits Lebensversicherung und
Unfallversicherung) einen gesetzlichen Rahmen auf, der zur Anwendung kommt,
wenn im Vertrage nichts andres bestimmt ist. Eine Abweichung von diesem
Rahmen zu unguusten der Versicherten wird nicht allein, worauf die Be¬
gründung hinweist, der Aufsichtsbehörde Anlaß zu Beanstandungen geben,
sondern vor allem auch von den Versicherungsanstalten selbst ängstlich ver¬
mieden werden; denn man wird nicht leicht der Konkurrenz eine bequemere
und zugleich gefährlichere Waffe in die Hand geben können, als den Vorwurf
einer Unterbietung des Gesetzes, einer ungünstigern Behandlung der Versicherten,
als im Gesetze selbst vorgesehen sei.
Die Hauptsache muß dabei freilich von der eignen Tätigkeit und Vorsicht
der Versicherten erwartet werden, und hier liegt scheinbar eine der Hnupt-
wurzeln aller Klagen über Versicherungsschwindel. Bei vielen Versicherungs¬
bedingungen kann man sich allerdings, wenn man sie mit geübtem Auge liest,
des Eindrucks kaum erwehren, daß eine besondre Kunst aufgeboten worden sei,
sie so zu fassen, daß sie nach viel klingen, aber in Wirklichkeit wenig bieten.
Eine Unfallversicherungspolice zum Beispiel zahlt in langer Reihe alle erdenk¬
baren Eisenbahnunfälle auf, gegen die sie Versicherungsschutz gewährt: Ent¬
gleisung, Zusammenstoß, Explosion der Heizung, Herabfallen von Gepäck¬
stücken usw. Auf einer Eisenbahnfahrt gibt es einen plötzlichen Ruck, dessen
Ursache nicht aufgeklärt werden konnte — wahrscheinlich hatte ein Stein auf
der Schiene gelegen. Ein verhinderter Fahrgast wird durch den Ruck gegen
die Fensterscheibe geschlendert und erleidet eine starke Verletzung — die Ent¬
schädigung wird ihm versagt, weil gerade diese Art von Unfall in der Police
nicht aufgeführt ist und eine Generalklausel („alle sonstigen Unfälle") fehlt.
Ein zweiter Fall: Ein Zigarrenhändler hat anßen an seinem Laden Schau-
kästen mit Zigaretten angebracht, die öfters erbrochen und geplündert werden.
Er versichert sich deshalb „gegen Einbruch im Sinne des Paragraphen 243
Ur. 2—7 des Strafgesetzbuchs," muß sich aber, als sich der Schade wieder¬
holt, entgegenhalten lassen, daß nach zahlreichen Entscheidungen des Reichs¬
gerichts in Strafsachen der Begriff des Einbruchdiebstahls im Sinne des Para¬
graphen 243 Ur. 3 immer ein wirkliches Eindringen des Diebes in das
Gebäude erfordere, daß dagegen hier der Dieb den Kasten von außen, von
der Straße aus erbrochen, also nicht „aus einem Gebäude" gestohlen habe. ^
Gegen derlei schützen schlechterdings nur die eigne Aufmerksamkeit und die un¬
erbittliche Zurückweisung jedes Versicherungsvertrages, dessen Bestimmungen
auch mir in einem einzigen Punkte, oft in einem einzigen Wort unklar oder
unverständlich sind.
Wo der Entwurf am schärfsten eingreift, das ist das Gebiet der Ver-
wirkungsklauseln, mit denen die Versicherungsbcdingungen gespickt zu sein
Pflegen:
„Ist im Vertrage bestimmt, daß die Verletzung einer Obliegenheit, die
nach dem Eintritts des Versicherungsfalles dem Verhinderer gegenüber zu er¬
füllen ist, das Erlöschen der Ansprüche oder einen sonstigen Rechtsnachteil für
den Versicherten zur Folge haben soll, so tritt der Ncchtsnachteil nur ein.
wenn die Obliegenheit arglistig verletzt worden ist,"
„Auf eine Vereinbarung, durch welche hiervon zum Nachteile des
Versicherten abgewichen wird, kann sich der Verhinderer nicht berufen."
Man wird im ersten Augenblick geneigt sein, die Vereinbarung, die an
sich bestehen bleibt, auf die mau sich aber nicht berufen kann, als Seitenstück
zu den viel bespottetem Fiktionen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu betrachten;
diese Form der Unwirksamkeitserklürung hat aber ihren guten juristischen Grund,
auf den hier nicht näher eingegangen zu werden braucht; es genüge, daß damit
der erstrebte Zweck sicher und ohne Winkelzüge erreicht wird.
Zu den Obliegenheiten, die nach dein Versicherungsfalle eintreten, ge¬
hören vor allem die Erstattung der Anzeige des Schadenfalls (rechtzeitig, in
der vereinbarten Form, an der vorgeschriebnen Stelle), die Einsendung fort¬
laufender Krankheitsberichte oder der Schadenberechnung, die Unterlassung von
Veränderungen an den beschädigten Sachen oder die Befolgung der An¬
weisungen des Versicherers über ihre Rettung und Bergung und dergleichen.
In allen diesen und ähnlichen Beziehungen sollen also Versäumnisse dem Ver¬
sicherten nur dann schaden, wenn der Verhinderer nachweisen kann, daß die
Versäumnis arglistig war. Eine Begriffsbestimmung der Arglist ist mit
gutem Grunde nicht gegeben; es ist zu erwarten, daß die Rechtsprechung den
Begriff eng genug fassen wird, allen berechtigten Klagen über Unbilligkeit in
Zukunft vorzubeugen.
Bei einzelnen Versicherungsarten, für die es mit Rücksicht auf deren be¬
sondre Verhältnisse angemessen ist, ist eine strengere Regelung der Pflicht zur
Anzeige des Bersicherungsfalles zugelassen, so namentlich bei der Ver¬
sicherung gegen Feuersgefahr, Hagelschlag und Viehheerden. Auch hier kann
sich aber der Verhinderer nicht auf die Vereinbarung berufen, wenn er in
andrer Weise von dem Versicherungsfnll Kenntnis erlangt hat, oder wenn die
Pflicht zur Anzeige ohne Verschulden, zum Beispiel krankheitshalber, verab¬
säumt worden ist.
Allerlei Mißbrüuchen bei der Schadcnregulierung treten wohltätige Einzel¬
bestimmungen entgegen über Ausschluß jeder kürzern als zweijährigen Frist
zur gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen, über die Unzulässigkeit einer
Zurückhaltung des unstreitigen Teiles der Entschädigung bis zur endgiltigen
Erledigung aller Streitpunkte, und über angemessene Abschlagzahlungen, wenn
der Schade bis zum Ablaufe von zwei Monaten seit der Anzeige des Ver¬
sicherungsfalles ohne Verschulden des Versicherten noch nicht vollständig fest¬
gestellt ist.
Auf die schwierige und umfangreiche Frage der Rechtsstellung der Agenten
soll hier nicht eingegangen werden.
Die zweite, größere Gruppe von Vorschriften umfaßt die Fülle, in denen
es sich um den Einfluß von Handlungen, Unterlassungen und sonstigen Um-
ständen vor dem Eintritt des Versicherungsfalls handelt. Hier wird
der schon in der bisherigen Rechtsprechung und Wissenschaft anerkannte Satz
an die Spitze gestellt, daß das Erlöschen der Ansprüche oder ein sonstiger
Rechtsnachteil den Versicherten dann nicht trifft, wenn er seine Bersänmung
den Umständen nach zu entschuldigen vermag. Die wichtigsten der hierher
gehörenden Fälle sind besonders geregelt: die Zahlung der Prämie und die
Veräußerung der versicherten Sache. Die Nichtzahlung der laufenden Prämien*)
macht nicht ohne weiteres den Anspruch ans Entschädigung hinfällig; viel¬
mehr wird der Verhinderer erst mit dem fruchtlosen Ablauf einer Frist von
mindestens zwei Wochen frei, die er dein Versicherten schriftlich unter aus¬
drücklicher Androhung der Rechtsfolgen zu setzen hat. Hiergegen wird sich
nichts einwenden lassen, ebensowenig dagegen, daß dem Verhinderer das Recht
zugebilligt wird, nach Fristablauf sich durch Kündigung eiues so unpünktlichen
Zählers zu entledigen, zumal da der Versicherte es bis zur Kündigung in der
Hand hat, sich durch Zahlung der Prämie seine Rechte zu erhalten.
Von dem gesundesten Rechtsgefühl zeugt die neue Bestimmung, daß in
dem Falle einer Vernußeruug der versicherten Sache das Versicheruugsvcr-
hältuis auf den ErWerber übergehn soll. Bisher fand sich durchweg die Vor¬
schrift in den Versichernngsbediugungen, daß die Versicherung, oder wie es
meist noch vorsichtiger ausgedrückt wurde, der Anspruch auf Entschädigung
ruhe, bis sich der Erwerber schriftlich dem Versicherungsverträge unterworfen
und die Gesellschaft dies genehmigt habe. Jeder Schade, der vor der Er¬
füllung dieser beiden Bedingungen eintrat, blieb unvergütet. Aus meiner
eignen Praxis stammt der Fall, daß eine Hagclvcrsicherungsgesellschaft für
dasselbe Feld und für dieselbe Zeit die Prämie doppelt einklagte und zuge¬
sprochen erhielt, nämlich von dem ErWerber und von dem Verüußerer des Land¬
stücks, weil der Erwerber unklugerweise mit dem Agenten einen neuen Vertrag
abgeschlossen hatte, anstatt, wie in den Bedingungen vorgeschrieben war, schrift¬
lich und mit Genehmigung der Gesellschaft in den alten Vertrag einzutreten.
Folgerichtigerweise war auch der Veräußerer nicht frei geworden und mußte
die volle Prämie, die die Gesellschaft an den Erwerber auf Grund des neuen
Vertrags erhielt, auch seinerseits bis zum Ablaufe der Versicherungszeit weiter
bezahlen!
Solchen Tücken ist jetzt ein Riegel vorgeschoben: die Versicherung wird
durch eine Veräußerung der versicherten Sache nicht mehr berührt, der Er¬
werber tritt in die Rechte und die Pflichten aus dem Versicherungsverhältuis
ein. Die große Bedeutung, die die Person des Versicherten für den Ver¬
hinderer hat, rechtfertigt es aber, daß ihr innerhalb kurzer Frist ein Kündigungs¬
recht eingeräumt ist, daß die Beteiligten den Besitzwechsel anzeigen müssen, und
daß wenn die Anzeige versäumt wird, mit Ablauf eines Monats auch der Ver¬
sicherungsschutz aufhört.
Für die Viehversicherung und für die Hagelversicherung sind besondre Be¬
stimmungen vorgesehen, die der besondern Art dieser Versicherungen gemäß sind.
Im zweiten Abschnitt ist die große Wichtigkeit hervorgehoben worden, die
die Kenntnis und die Beurteilung der Gefahrumstäude für den Verhinderer
seit. Es versteht sich von selbst, daß die Gesetzgebung dieses in vollem Maße
würdigen und alles vermeiden muß, was der Bedeutung dieses Vcrtrags-
elements irgendwie zu nahe treten könnte. Andrerseits muß aber auch dein
Mißbrauch gesteuert werden, den die Verhinderer gerade mit Verfehlungen in
dieser Richtung getrieben haben. Das Gesetz kann nicht im einzelnen die
Gefahrumstäude bezeichnen, die von Wichtigkeit sind; es muß dem Richter über¬
lassen, dies unter Berücksichtigung der gesamten Sachlage „nach dem ver¬
nünftigen Ermessen der Sachkundigen" zu beurteilen.
Man unterscheidet die Anzeige der Gefahrumstäude bei dein Abschluß des
Versicherungsvertrags und die Gefahrerhöhung. Diese letzte liegt im Sinne
des Gesetzes nicht bei jeder Änderung des ursprünglichen Zustandes, sondern
nur dann vor, wenn sie ans der Änderung eines Umstandes beruht, dessen
uuveründerte Fortdauer der Verhinderer bei der Schließung des Vertrags voraus¬
setzen durfte. Auch das muß nach der Lage des einzelnen Falles entschieden
werden; das Gesetz bestimmt überdies, daß eine Änderung nicht in Betracht
kommt, dnrch die die Gefahr nur in geringer Weise erhöht wird. Für die
meisten Versicheruugszweige ist es üblich geworden, daß der Verhinderer beim
Vertragsabschluß dem andern Teile eine Reihe bestimmter auf die Gefahr¬
umstäude bezüglicher Fragen vorlegt, und daß die Umstände vertragsmüßig fest¬
gesetzt werden, deren Änderung den Bestand des Versichernngsverhültnisfes
beeinflussen soll. Für diese beiden Fälle vertragsmäßiger Festlegung der Gefahr-
umstündc gibt der Entwurf im striktesten Gegensatze zu allem bisherigen Rechte
und zu der Forderung der Versicherungsgesellschaften dein Versicherten die
Befugnis, durch Gegenbeweis darzutun, daß der Umstand für die Übernahme
oder für die Erhöhung der Gefahr in Wirklichkeit nicht groß gewesen ist. Die
Wichtigkeit dieses Satzes für die Erreichung eines der Billigkeit angemessenen
Rechtszustandes kann gar nicht hoch genug angeschlagen werden.
Ferner soll jede Verletzung der Anzeigepflicht oder der sonstigen Obliegen¬
heiten in Ansehung der Gefahrumstände und der Gcfahrerhöhung dem Versicherten
unschädlich sein, wenn er nachweisen kann, daß ihn dabei kein Verschulden
trifft, also nicht uur, wenn ihm bei Anwendung pflichtmnßiger Sorgfalt der
verschwiegne Umstand oder die Unrichtigkeit der falschen Antwort unbekannt
geblieben ist, sondern auch wenn er über die Wichtigkeit in entschuldbarem
Irrtum war. Als letztes Schutzmittel endlich bleibt dem Versicherten der Nach¬
weis offen, daß die Erhöhung der Gefahr keinen Einfluß auf den Eintritt des
Versicherungsfalls oder uns den Umfang der Entschädigung gehabt hat. Hierher
gehört z. B. der Fall, daß der Versicherte in der Nähe des versicherten Hauses
einen feuergefährlichen Fabrikbetrieb eingerichtet hat, und das Haus demnächst
abbrennt, aber nicht infolge des Fabrikbetriebs, sondern etwa infolge von Blitz¬
schlag, Gasexplosion in den Wvhnrüumen oder Brandstiftung. Ebenso würden
künftig auch die bei Lebensversicherungen üblichen Bedingungen beurteilt
werden müssen, die eine Seereise oder einen Aufenthalt außerhalb Europas
verbieten. Kann hier der unter Umstünden allerdings recht schwierige Nach¬
weis geführt werden, daß jeder ursächliche Zusammenhang des Todes mit den
Gefahren der Seereise oder des außereuropäischen Aufenthalts ausgeschlossen
ist, so bleibt der Anspruch auf die Lebensversicherungssnmme in Kraft.
Soweit hiernach eine Verletzung der Anzeigepflicht oder eine Gefahr¬
erhöhung übrig bleibt, ist der Verhinderer von der Pflicht zur Entschädigung frei,
und zwar mit Recht, da er diese Gefahr nicht übernommen hat; außerdem
hat er ein Kündigungsrecht, das er aber nur innerhalb eines Monats nach
erlangter Kenntnis ausüben kann. Unterläßt er die Kündigung, so genehmigt
er damit die höhere Gefahr als Gegenstand des Versicherungsvertrags. Alle
diese Regeln sind mit der Kraft zwingenden Rechts ausgestattet, schließen also
alle anders lautenden Bedingungen aus.
Bedenklich und verwerflich ist hierbei nur eins. Die Praxis des heutigen
Versicheruugswescus hat, wie die Begründung bemerkt, aus den technischen
Unterlagen, deren sie sich bedient, die sogenannte Unteilbarkeit der Prämie ab¬
geleitet, d. h. die Regel, daß die für eine gesamte Versicherungspcriodc, meist
für ein Jahr berechnete Prämie im vollen Betrage zu bezahlen ist, gleichviel
ob der Verhinderer die versicherte Gefahr während des ganzen Jahres oder nur
einen Tag lang getragen hat. Diese Regel wendet der Entwurf auf die
oben besprochnen Fälle an; es ist also jedesmal die Prämie für das ganze
laufende Versicherungsjahr zu entrichten, wenn der Verhinderer infolge unter¬
lassener Prämienzahlung, infolge einer Veräußerung der versicherten Sache oder
infolge einer Gefahrerhöhuug schon unmittelbar nach Beginn des Jahres seinen
Rücktritt vom Vertrage erklärt hat oder von der Leistung jeder Entschädigung
frei geworden ist. Diese Regelung (Verpflichtung des Versicherten zur Leistung
der vollen Prämie, Befreiung des Versicherers von der Gegenleistung) kann
weder juristisch vom Standpunkt des Schadenersatzes gerechtfertigt noch irgend¬
wie mit der Billigkeit in Einklang gebracht werden; eine andre Regelung er¬
scheint dringend geboten. Der Entwurf bietet selbst den Weg dazu: für den
Fall der Nichteinlösung der Police wird vorgeschrieben, daß der Verhinderer
nicht, wie bisher gewöhnlich bestimmt war, die volle oder gar mehrere Jahrcs-
prämien fordern kann, sondern nur eine angemessene Geschüftsgebühr erhält,
d. h. eine Entschädigung für seine Mühewaltung und für seine Kosten, deren
Höhe der Prüfung des Gerichts vorbehalten bleibt. Es ist nicht einzusehen,
weshalb dies nicht auch für die hier fraglichen Fülle gelten soll, natür¬
lich unter Zuschlag einer Risikoprämie für die tatsächlich getragne Gefahr.
Es wäre dies keineswegs, wie die Begründung zu einem dieser Fülle be¬
merkt, „eine unbillige Verkürzung der Rechte des Versicherers," sondern vom
allgemein rechtlichen und Billigkeitsstandpunkt aus handgreiflich das einzig
richtige. Mit der Berufung auf die technischen Grundlagen des Versicherungs¬
wesens läßt sich diese Erwägung nicht aus dem Felde schlagen; denn wenn
sich die Höhe der Prämie nach der erfahrungsmüßigen Gefährlichkeit des über¬
nommenen Risikos bestimmt, so muß die angeblich unteilbare Jahresprämie
für ein Risiko berechnet sein, das ein ganzes Jahr lang getragen wird.
Danach ist sie offenbar zu hoch, wenn das Risiko im Laufe des Jahres weg¬
fällt. Oder rechnen die Versicherungstechniker schon an dieser Stelle damit,
daß erfahrimgsmüßig ein großer Teil der Versicherten durch eigne Ver¬
säumnisse den Entschädigungsanspruch zu verwirken pflege? Das wäre dann
freilich ein Nechnungsfaktor, über den kein weiteres Wort verloren zu werden
brauchte, und dessen rasche und gründliche Ausmerzung für die erstrebte Ge¬
sundung unsers Versicherungsrechts die allererste Voraussetzung wäre.
in Jahre 1869 wurde unser Diplomat nach Rio de Janeiro ver¬
setzt. Das dortige Klima bekam ihm nicht, und die südameri-
knnischen Zustände, wie überhaupt das ganze geschichtslosc und
von einem geradezu tollen Völkergemisch bewohnte Amerika
waren ihm widerwärtig. Nur die persönliche Freundschaft des
Kaisers Dom Pedro, der ihm fortan ein treuer Korrespondent blieb, entschädigte
ihn ein wenig; dagegen ließ ihn, der nur für den Menschen Interesse hatte,
die Pracht der Tropennatur kalt; as8 xa^8ag'68 inväirs nannte er diese un¬
historischen Landschaften. Im Frühjahr 1870 nahm er Urlaub. Während des
Krieges weilte er auf seinem Schlosse Trye-en-Vexin. Als Maire seiner Ge¬
meinde und Generalrat des Oisedepcirtements erwirkte er der Bevölkerung Er¬
leichterungen, die ihm nach Abschluß des Waffenstillstands eine Danksagung
von der Stadt Beauvais einbrachten. Die große Umwälzung wälzte auch sein
Denken und seinen Gemütszustand um. Seilliere nennt den noch übrigen
Lebensabschnitt Gobineaus seine asketische Periode. Von Haus aus war er
dem Asketismus nichts weniger als günstig gestimmt gewesen; feierte er doch
die arischen Helden als Männer der Tat; pessimistische Entsagung, Selbst-
Peinigungen, mystische Träumereien, Gaukeleien und Zauberkünste, wie sie die
orientalischen Magier und Mönche betreiben, gehören wahrlich nicht zum Ideal¬
bild eines homerischen oder germanischen Helden. Und wie ihm denn Buddha
überhaupt schon als Zerstörer der Kasten und Gleichmacher verhaßt war, so
hatte er ausdrücklich auch noch den „individuellen und willkürlichen" Asta-
tismus dieses Religionsstifters verurteilt. Der Aufenthalt in Persien, der
Verkehr mit Weisen orientalischen Stils stimmte ihn milder gegen diese Lebens¬
form. Er begann die Entsagung des Anachoreten erhaben zu finden, erhabner
als den Heldenmut des Kriegers. In Chiron sieht er einen vvrhvmerischen
Asketen, Asketismus sieht er in der Apotheose des sterbenden skandinavischen
Helden, und in seinen nach 1870 geschriebnen Briefen Preise er das Leiden.
Es mutet ein wenig komisch an, daß er nnn den Asketismus nicht bloß für
ernen Grundzug des arischen Charakters erklärt, sondern auch ganz besonders
im beefsteakliebendcn Engländer die Anlage dazu findet; Sonderlingswesen und
hochmütige Absonderung erscheinen ihm als Askese. Er begegnet Engländern,
die als Einsiedler leben, in Amerika wie im griechischen Archipel, Männern
und auch Frauen, in denen die Verfeinerung und die Gewöhnung an üppigen
Komfort zuletzt „das Bedürfnis einer Einfachheit erzeugt haben, die an Bar¬
barei streift, aber niemals gemein wird." Sein Asketismns ist eben ein hoch¬
mütiger Stoizismus, der jedoch mitunter dem leidenschaftlichen Mystizismus der
Tropenbewohner zuneigt. Daß er aber sein neues Ideal gerade bei Engländern
verwirklicht sieht, ist eine Wirkung des Krieges. Dieser mußte die Deutschen
in seiner Achtung heben, und so vergißt er denn, daß er sie im „Versuch" für
Kelten erklärt hat. Und da er doch auch zu sehr Patriot war, als daß er sie
nun sogleich hätte verherrlichen können, wendet er seine Vorliebe zunächst ihren
Vettern, den Engländern, zu. Den Patriotismus mag er nicht gänzlich ver¬
leugnen, obwohl er ihm sauer wird. „Wie kann man Patriot sein, wenn das
Wort Vaterland weiter nichts mehr bedeutet als Gambetta, Grevh, Orleanisten,
Imperialisten und allgemeine Geldgier!" Auch von den Engländern hatte er
früher behauptet, sie seien nahezu keltisiert und romanisiert. Jetzt erfüllen ihn
die deutschen Siege und die Ausbreitung der englischen Macht mit der
Hoffnung, daß diese beiden arischen Rationen den Fortschritt der Entartung, zu
der nun einmal das Menschengeschlecht verurteilt sei, längere Zeit aufhalten
würden.
Zwischen seiner ersten und seiner zweiten persischen Gesandtschaft war er
nach Neufundland geschickt worden. Die Eindrücke, die er dort empfangen hat,
sind in seinen „Reiseerinnerungen" niedergelegt. Sie waren äußerst ungünstig.
Der angelsächsische Militarismus stößt ihn ab. Auch die Farmer sind Speku¬
lanten. Ihre langen dunkeln Röcke von schlechtesten Schnitt, ihre blassen,
runzligen Gesichter, ihre trockne, strenge Rede „sind die richtige Uniform für
Menschen, deren Credo darin besteht, daß sie alle Welt verdammen und sich
selbst ein wenig mit." Es füllt ihn: aus, daß sie den Gruß nicht erwidern und
ohne jeden Anlaß eine drohende und aggressive Haltung annehmen; er kann
nicht begreife», wozu Leute, die eiuen so friedlichen Beruf haben, solches Getue
brauchen. Ein Buch öffnen nach Gobineau diese puritanischen Kolonisten nie¬
mals, weil sie sich selbst für die Inhaber anerschaffner Weisheit halten. Ihre
Schulen — er hat dem Unterricht in einer Normalschnle beigewohnt — töten
alle Fähigkeiten des Herzens und des Geistes, die nicht für den Schacher ver¬
wandt werden können, und machen aus dem jungen Menschenkinde eine Rechen¬
maschine. An die berühmte Sittsamkeit der angelsächsischen Mädchen und Frauen
glaubt er nicht. Kurzum, er sieht das Urteil bestätigt, das er im „Versuch"
über die Nordamerikaner gefällt hat: „Remer Ländern, in die sich ein schmutziger
Völkerstrom ergießt, dessen Wildheit keine wirkliche Lebenskraft ist, den fehlen
die Ideen, die ein großes Volk zu schaffen vermögen." Daß er die französischen
Schisse und Matrosen viel besser findet als die englischen, erklärt sich schon aus
dem Patriotismus, den damals, in der Glanzzeit des zweiten Kaiserreichs, die
Erfolge der französischen Waffen in der Krim und in Oberitalien schwellten.
Zehn Jahre darauf schreibt er eine Novelle: „Die Jagd aus den Caribou"
Mufflon), worin die Charakterzüge, die er bei seinem Aufenthalt in Nord¬
amerika an den Angelsachsen beobachtet hatte, zwar wieder erscheinen, aber zum
guten gekehrt und idealisiert. In einer andern Novelle: ^.Kriviv
ponlo, ist der Held ein Jdealcngländer, ein junger schöner „Asket" von der
oben beschrielmen Art, der auf Naxos ein Mädchen fränkischer Abstammung
heiratet, das ganz das Leben einer homerischen Frau lebt.
Im Jahre 1872 bezog Gobineau seinen letzten Gesandtschaftsposten, den
er fünf Jahre inne hatte, in Stockholm. Hier war es, wo ihn Philipp von
Hertefcld (nach einem deutschen Biographen, Dr. Kretzer, Philipp von Eulen¬
burg) kennen lernte, der ihm befreundet blieb und seine Erinnerungen an ihn
in den Bayreuther Blättern veröffentlicht hat. Hertefcld fand seine Wohnung
orientalisch eingerichtet, einen syrischen Diener und allerlei Gevögel dciriu, den
Hausherrn mit Literatur und Skulptur beschäftigt; sogar einen Buddha „Nir-
wana zuschreitend" hat er damals modelliert. Zu dem andern, das ihn „asketisch"
stimmte, kam noch der Verdruß über die geringe Beachtung, die seine Werke
fanden, ein Verdruß, der ihn verleitete, eine literarische Verschwörung zu arg¬
wöhnen. Die erste Frucht seines Stockholmer Aufenthalts war der Roman
„Die Plejaden." Seilliere findet darin Abschnitte, die man als Litemtnr-
erzeugnissc höchsten Ranges anerkennen müsse, das Ganze aber ungleichmäßig
und unvollständig, sodaß man den Roman ein Drittel von einem Meisterwerk
nennen könne. Gobineau sei eben nicht der Mann gewesen, der planmäßig an¬
gelegte Werke hübsch ordentlich fertig macht, sondern ein Prophet, der unter
dem Einfluß unwiderstehlicher Inspirationen in Stnrmnächten von Blitzen be¬
leuchtete Bruchstücke schaut und wiedergibt. In diesem Roman nun entwickelt
er eine neue Form des „AryaniSmus." Am Lago Maggiore treffen drei
Reisende zusammen, ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher. In einem
Philosophischen Gespräch wirft der Engländer die Bemerkung hin: Wir sind drei
Derwische, Königssöhne, und erklärt sich darüber folgendermaßen: „Der arabische
Märchenerzähler pflegt mit den Worten zu beginnen: »Ich bin ein Königs-
sohn.« Und er, der schmutzige, zerlumpte, hungernde, nicht selten verstümmelte
Bettler meint damit nicht bloß seinen Helden, sondern auch sich selbst. Er will
damit nicht sagen, daß sein Vater ein König gewesen sei; nach dem Vater,
der ein Kesselschmied oder sonst was gewesen sein mag, fragt kein Mensch in
seiner Zuhörerschaft, sondern er stellt mit dieser kurzen Angabe, die ihn der
Notwendigkeit ausführlicher Erklärungen überhebt, nur fest, daß er ein Mensch
von ausgezeichneten Anlagen und etwas vornehmeres als der große Haufe ist.
Das Wort auf mich angewendet, fährt der Engländer fort, bedeutet also: Ich
bin kühn und hochherzig, gemeinen Regungen unzugänglich. Mein Geschmack
ist nicht der Modegeschmack; ich urteile selbständig, liebe und hasse nicht nach
der Borschrift der Zeitungen. Meine geistige Unabhängigkeit, meine unbeschränkte
Freiheit im Meinen sind unantastbare Vorrechte meines edeln Ursprungs; der
Himmel hat sie mir in die Wiege gelegt. Woher anders sollten mir Vorzüge,
die mich von meiner Umgebung absondern und mir ihre Abneigung zuziehn,
wohl kommen, als von meiner königlichen Abstammung? Diese ist es doch,
die den Menschen mehr als irgend etwas andres von der Masse absondert und
Über diese, über die Sklaven und die Untertanen erhebt." Der Deutsche ergänzt
die Worte des Vorredners: „Ja, diese ausgezeichneten Eigenschaften können nur
mit dem Blute eingegossen sein. Ammenmilch kann sie nicht mitteilen, so er¬
habne Ammen gibt es nicht. Der Charakter eines solchen Menschen besteht
aus adlichen, göttlichen Eigenschaften, deren Fülle uralte Ahnen gehabt haben,
die dann im Laufe der Zeit durch unwürdige Mischungen verhüllt und ge¬
schwächt worden, ja äußerlich ganz geschwunden find, die aber unsichtbar fort¬
lebten und nun in dem Königssohne, wie wir ihn meinen, plötzlich wieder¬
erscheinen." „Also würden eurer Ansicht nach, fährt der Franzose fort, durch
die Welt verstreut in allen möglichen Nationen eine Anzahl Personen leben,
in deren jeder kostbare Atome der edelsten Urahnen zusammengetroffen sind,
sich verbunden und die im langen Verlauf unwürdiger Mischzeugungen eiuge-
strömten schlechten Elemente ausgestoßen haben? Diese Leute also, gleichviel
in welcher Gesellschaftsschicht sie der Himmel hat geboren werden lassen, würden
dann die echten Nachkommen der Amelungen und der Merowinger sein." „So
ist es, entgegnet der Engländer. Viele Jahrhunderte sind verflossen, ehe den
Sklaven und Sklavensöhnen, die ihr Haupt erhoben jsiehe Nietzsches Sklaven-
aufstaudlf, die moderne Gesellschaft ihren Sabbat gebracht hat. In all dieser
Zeit sind die Wackern nie ganz ausgestorben. Sie haben die Flut überstanden,
ein vorstehende Steine, an Pflanzenbüschel, an Gesträuch sich anklammernd.
Beschmutzt und zerschundcn sind sie endlich wieder zum Vorschein gekommen,
mit den Denkzeichen an ihrem Leibe, die sie in dem häßlichen Aufenthaltsort
davon getragen haben, und die man in der Geschichte von den drei einüugigeu
Derwischen symbolisiert findet. Die Zahl dieser Aristokraten des Charakters
läßt sich einigermaßen abschätzen; es mögen ihrer dreitausend oder dreitausend¬
fünfhundert sein in Europa." Der Deutsche hält diese Schätzung für sehr über¬
trieben. Also noch lange nicht einmal die obern Zehntausend, von denen die
Sozialdemokraten immer reden, bemerkt Seilliere. Die Masse ist den drei
Königssöhnen eine Horde wilder, bissiger, trübseliger, häßlicher Barbaren, die
alles gesunde Leben vernichten und nichts schaffen wird. Eine Art Aristokratie
dieser Bande sind die Schelme (clröls8); diese haben ihren Nutzen, denn sie be¬
reiten der modernen Welt das Schicksal, das sie verdient, und kann man sie
auch nicht das Salz der Erde nennen, so sind sie wenigstens eine Salzlake.
Unter ihnen stehn die Einfaltspinsel, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, das
Werk der Zerstörer fördern, indem sie die Kleinarbeit verrichten: Schlüssel ab¬
liefern, Türen öffnen, Phrasen erfinden, dann freilich mitunter weinend klagen,
sie hätten sich getäuscht, so was würden sie niemals für möglich gehalten haben-
Zu allerunterst wimmelt das Menschenvieh, das von der ersten dieser drei
Klassen ausgebeutet, von der zweiten losgebunden, herdenweise dem Verderben
(vizrs clss ässtins lAnor68 heißt es euphemistisch) Angepeitscht wird. Über diesem
Chaos, das giftige Dämpfe, Pestbazillen und Heuschreckenschwürme erfüllen,
schweben in heiterm Lichtglanz die dreitausend Auserwählten, die sich von¬
einander angezogen wie die Plejaden zu einer Gruppe vereinigen, und die allein
würdig sind, daß sich eine denkende Seele mit ihnen beschäftige.
Hier müssen wir doch deu Bericht Seillieres auf einen Augenblick unter-
brechen und zwei Bemerkungen einflechten. Die eine, daß wir in diesen
Gobineauschen Figuren die Vorbilder von Nietzsches Zarathustrawelt haben,
worüber wohl der Franzose im nächsten Band einiges sagen wird. Dann, daß
der Materialismus, der in dieser Hypothese zutage tritt, darum einigermaßen
auffällt, weil Gobineau doch immer noch mit einigen Seelenfädcn am Christen¬
tum hängen geblieben ist. So blind konnte er nicht sein, zu übersehen, daß es
in allen weißen Nationen und in allen Ständen Gotteskinder gibt, die die
edelsten Eigenschaften des Geistes und des Herzens offenbaren, und von denen
manche als große Genies berühmt werden. Glücklicherweise lebt von solchen
tüchtigen und guten Menschen in unserm deutschen Vaterland allein schon mehr
als das hundertfache von dreitausend. Anstatt nun zu glauben, daß Gott
seine köstlichsten Gaben unmittelbar spenden könne ohne Rücksicht auf Ab¬
stammung (nur daß gewisse Gaben ohne einen gesunden Leib, der nicht leicht
als ein Sproß entarteter Eltern vorkommt, nicht wirksam werden können), anstatt
dessen denkt er sich die Genialität und den Charakter an materielle Teilchen
gebunden, die sich, jahrhundertelang in einer Flut unedler Elemente verzettelt,
zufällig wieder einmal zusammenfinden und einen Edelmenschen schaffen. Nicht
einmal mit Weismanns unveränderlichen Keimplasma, das übrigens den gräf¬
lichen Anthropologen entzückt haben würde, läßt sich dieser Prozeß einigermaßen
glaubhaft machen.
Jedem der drei „Derwische" gesellt nun Gobineau in dem Roman eine
Gruppe von Landsleuten zu, unter denen besonders wieder einige Engländer
als Idealgestalten hervorragen. Aus dem, was Seilliere zur ihrer Charakte¬
ristik anführt, heben wir nur zwei Stellen heraus, deren erste einen Zug des
französischen Geistes zeichnet, während beide sehr charakteristisch für den Zeichner
sind. Von einem der Franzosen des Buchs wird gesagt: „Wenn sein englischer
Freund eine Idee ausdrückte, so bemerkte Louis weder ihre Quelle noch er¬
kannte er ihre Tragweite. Der ausgesprochne Gedanke erschien ihm gewöhnlich
mehr sonderbar als richtig; richtig aber fand er einen Satz nur dann, wenn
dieser kurz war, vom Bekannten ausging und in einen Gemeinplatz auslief.
Diese Unfruchtbarkeit, die der Franzose mit dem Namen Präzision zu schmücken
Pflegt, erzürnte Wilfrid, machte ihn jedoch nicht blind für die Gradheit und
Biederkeit seines Reisegefährten, welchen Vorzügen eine schlechte Erziehung und
eine falsche Praxis nichts hatten anhaben können." Den gesunden Menschen¬
verstand, „diese Philistertngend," verachtete Gobineau. In einem andern
Franzosen des Romans, Ccisimir Bullet, schildert nach unserm Kritiker Gobineau
sich selbst. Er sagt von ihm u. a.: „Bullet wußte sehr viel, da er beständig
las. besonders historische Werke, und die Prüfung der Taten, die die Geschichte
erzählt, erfüllte ihn mit Ekel vor denen, die diese Taten verrichtet haben. Erschien
eben ein Gegenstand bei einer gewissen Beleuchtung, die übrigens diesen wahr
"der falsch zeigen mochte, bewundrungswürdig, so hatte er die Gabe, sich durch
ondes von den Folgerungen, die sich ihm daraus ergaben, und von der einmal
ungeschlagnen Bahn ablenken und weglocken zu lassen."
Erst nach den Plejciden veröffentlichte Gobineau die früher erwähnten
Asiatischen Novellen, darauf, 1877, die Renaissance, deren literarischen und
sonstigen Wert Seilliere, wie schon gesagt worden ist, gering anschlüge. Uns
haben diese historischen Szenen gut gefallen, und stellenweise haben sie uns er¬
griffen. Das ist nun Geschmacksache, und es hätte keinen Zweck, weiter darüber
zu reden. Anders verhält es sich mit der Frage, ob „Die Renaissance" auf
Richard Wagner den Einfluß geübt hat, den ihr Schemann zuschreibt, und
darüber sowie über das Verhältnis der beiden Männer zueinander im allge¬
meinen lassen wir unsern Franzosen reden. Zunächst führt er folgende Stelle
aus einem Aufsatze von Houston Stewart Chmnberlcnn (in der Revue des Deux
Mondes vom 15. Juli 1896) an: „Es war, wenn ich nicht irre, bei einem
seiner zahlreichen Aufenthalte in Italien, als Wagner den gelehrten Verfasser
der Geschichte der Perser und des Buchs über asiatische Religionen und Philo¬
sophien traf. (Hierzu bemerkt Seilliere, es sei sonderbar, daß gerade diese beiden
Werte genannt würden, die Wagner wahrscheinlich niemals gelesen habe.) Bald
verband sie innige Freundschaft, und Gobineau ist öfter als einmal als will-
kommner Gast in die Villa Wahnfried eingekehrt. Ich glaube sogar, daß neben
Liszt, dem König Ludwig und Heinrich von Stein Gobineau der einzige ist,
der in den letzten Lebensjahren des Meisters sein Freund genannt zu werden
verdient. Doch Stein war zu jung, daß er mehr als Schüler hätte sein können,
und weder Liszt noch der Bayernkönig haben irgendwelchen Einfluß ans Wagners
Denken ausgeübt. Gobineau dagegen hat nicht wenig dazu beigetragen, dem
Lebensideal Wagners, der Erneuerung der Menschheit durch deu Bund der
Religion mit der Kunst, die letzte Gestalt zu geben. Die Ideen des franzö¬
sischen Schriftstellers und die des deutschen Denkers hatten zahlreiche Be¬
rührungspunkte miteinander, und der Grundgedanke des Meisterwerks über die
Ungleichheit der Menschenrassen verbreitete Licht über so manche Frage, die bis
dahin in Wagners Schriften unentschieden geblieben war. Jedoch hat dieser
seine Unabhängigkeit in seinem Verhältnis zu Gobineau so gut behauptet wie
Schopenhauer gegenüber. Wenn Schopenhauer die UnVeränderlichkeit des
Menschengeschlechts lehrt, so behauptet Gobineau seine unheilbare Entartung!
Wagner bestreitet nicht die Entartung, glaubt aber an die Wiederherstellung.
In einer bewundrungswürdigen Stelle einer seiner allerletzten Schriftein
Heroismus und Christentum, schreibt er dem am Kreuze vergossenen göttlichen
Blute die Kraft zu, das Blut der niedern und der Bastardrassen zu verwandeln.
Er ist nämlich, trotz allem, im Grnnde seines Herzens immer Christ geblieben,
und das unterscheidet ihn nicht allein von Schopenhauer, sondern auch von
Gobineau, der am katholischen Glauben festhielt, aber im Denken ein Heide
war" (cM, oaUroliciuiz yn' ig. «roz'ML«, rohes xa.i'tu par 1a psri8Üo). Ähnlich
urteilt Schemann, nnr daß er den Gegensatz zwischen Gobineau und Wagner
übersieht. Seiner Ansicht nach hat Gobineau in der Renaissance zeigen wollen,
wie eine heidnische, der Sinnenlust dienende Kunst das Verderben des Mensche»
beschleunige, uur die religiöse Kunst ihn retten könne, und das sei eben auch
für Wagner der Weisheit letzter Schluß geworden. Daß das die Meinung
Gvbineaus gewesen sei, leugnet Seilliere ganz entschieden. Die Renaissance
konnte doch eben nur dargestellt werden als das Gemisch von Barbarei und
Verfeinerung, das sie wirklich war. Was Savonarola und der greise Michel
Angelo bei Gobineau sagen, macht diesen nicht zum Teilhaber oder gar Urheber
der Wagnerthese; alle Bußprediger sprechen wie Savoncirola, und die meisten
alten Leute verurteilen ihre sündige Zeit wie der greise Künstler. Gerade dem
Grafen Gobineau aber ist es auch in seineu letzten Lebensjahren nicht ein¬
gefallen, dem Christentum Zugeständnisse zu machen. Er zeigt im Ottar Jarl,
wie das Christentum verblaßt, wo immer das alte göttliche Heidentum des
Nordens in den Seelen fortlebt, und er nimmt es den skandinavischen Götter-
söhnen gar nicht übel, daß sie sich gegen Bekehrer gesträubt haben, die ihnen
mundeten, sich in die Asche zu setzen. Wie er im Essai bewiesen hatte, daß
weder der Fanatismus uoch die Gottlosigkeit, weder der Luxus noch die Sitten¬
verderbnis notwendigerweise den Untergang eines Staates herbeiführt, so sagt
er im Ottar Jarl von der englischem Verfassung, die er verherrlicht, Tugend
und Moral seien keine wesentlichen Bestandteile der Mischung, durch die sie zu¬
stande gekommen sei. Der einzige Wandel gegen früher bestand darin, daß er
jetzt die Kunst liebte und rühmte, aber in dieser Beziehung bedürfte doch
Wagner, der von der Wichtigkeit und Wirksamkeit seiner Musikschöpfuugen den
höchsten Begriff hatte, wahrhaftig keiner neuen Offenbarung. In ihrer Welt¬
ansicht sind die beiden Freunde einander immer fremd geblieben. In der Villa
Wahnfried kam das Gespräch einmal auf die soziale Frage, und Wagner be¬
handelte sie vom Standpunkte der Schopenhmicrschen Mitleidmoral. Gobineau
wollte davon nichts wissen; man dürfe nicht in dieser ohnehin elenden Welt
auch noch den Armen dem Reichen, den Dummkopf dem Weisen, den Krüppel
dem Gesunden vorziehn. Übrigens zeige sich eine edle Natur von selbst mit¬
leidig, opferbereit und gleichgiltig gegen die äußern Umstände und bedürfe
keiner Gebote. Der christlichen Entsagung zog er die heidnische Selbstachtung
vor, der weichmütigen Verzeihung die Würde dessen, der sich durch nichts aus
der Fassung bringen läßt und das Unvermeidliche erträgt, ohne zu klagen; vor
allem aber wollte er von keiner Gleichheit der Menschen reden hören, man
wöge sich diese wie immer auch denken. Hier tritt ein zweiter Unterschied
zwischen beiden hervor: Gvbineans fuatürlich nur theoretischer^ Asketismus war
der stolze Stoizismus des über die Begierde» der schwarzgelben Plebs erhabnen
arischen Göttersohns, Wagners ferst recht nur theoretischerf Asketismus beruhte auf
dem Schopenhauerschen Mystizismus, der den Glauben an die im Transcen¬
denten wurzelnde Gleichheit aller Menschen einschloß.
Trotz solchen Gegensätzen hat zwar nicht „Die Renaissance," wohl aber
Gobineaus Grunddogma auf die schließliche Formulierung der Wagnerschen
Glaubenslehre Einfluß geübt. In „Religion und Kunst" gibt sich des Bny-
reuther Meisters Verlangen kund, die Entartung des Menschengeschlechts be¬
weisen zu können, denn seine Mystik steht im Gegensatz zu dem materialistischen
Glnubeu um die aufsteigende Entwicklung, und einer, der sich zum Erlöser be¬
rufen fühlt, bedarf einer crlösnngsbedürftigen Welt. Damit aber die Wieder¬
herstellung möglich erscheine, möchte er als Ursache der Entartung eine durch
den Mangel an Erfahrung verschuldete bloße Jngcndtorheit des Menschen¬
geschlechts umnehmen. Darum würde ihm vielleicht die von Gobineau geoffen¬
barte Torheit der Mißheiraten der Weißen willkommen gewesen sein, wenn er
sie schon gekannt hätte, als er seine Arbeit begann. Da das nicht der Fall
war, mußte ihm vorläufig ein andrer französischer Schwärmer aushelfen, der
1842 verstorbne Vegetarianer Gleizes, von dessen Schrift „Thalysia oder das
Heil der Menschheit" (1873) eine deutsche Übersetzung erschienen war, Wagner
bemächtigte sich sofort der Weisheit „des sanftmütigen französischen Narren,"
und das Leichengift des Tierfleischcs leistete ihm einstweilen den Dienst, den
er brauchte. Die Juden waren ihm ohnehin schon verhaßt, jetzt wurden sie es
noch mehr aus dem Grunde, weil das Alte Testament den Fall des Menschen¬
geschlechts auf den Genuß einer Baumfrucht zurückführt, und weil Jehovah
Abels geschlachtetes Lamm dem unschuldigen Fruchtopfer Kains vorzieht. Nur
eine geologische Katastrophe, die den Meuscheu aus den seligen Gefilden des
Südens in den unwirtlichen Norden versetzte, könne ihn dahin gebracht haben,
daß er, um nicht Hungers zu sterben, die Hand an seine Tierbrüder legte.
Sollte es wahr sein, daß der Mensch in einem kalten Klima einer stickstoff¬
haltigen Nahrung bedarf, als sie die Pflanzen gewahren, so müßte eine all¬
gemeine Rückwanderung in den Süden den Tierschlächtereien ein Ende macheu,
in denen sich der Mensch für die Menschenschlächtereien des Krieges einübt.
Darauf lernt Wagner Gobineau kennen und überrascht nun in „Heroismus und
Christentum" seine Jünger mit der Mitteilung, daß er anßer dem Fleischgenuß
noch eine andre Ursache der Entartung habe kennen lernen „durch einen der
geistreichsten Menschen unsrer Zeit." (Es sei interessant, bemerkt Seilliere, daß
Wagner bei der ersten Erwähnung Gobineaus gerade diese Eigenschaft hervor¬
hebt, weil auch beider gemeinsame Freundin, Malvida von Meysenbug, nach
dem ersten Zusammentreffen mit dein Grafen nichts von ihm zu melden weiß,
als daß er viel osprit S, 1^ rra,in,^i8<z habe.) Er rekapituliert um kurz Gobiuecius
Lehre und erklärt die Mißheiraten für eine solche Jugeudtorheit aus Unerfahren-
heit, wie er sie braucht. Damit hört aber auch die Übereinstimmung schon
auf. Während Gobineau überzeugt ist, daß der einmal begangne Fehler nicht
wieder gut gemacht werden könne, hat Wagner ja die Entartung nur festgestellt
haben wollen, um dem kranken Menschengeschlecht seine Bahreuther Kunst als
Heilmittel verschreiben zu können. Zunächst nun untersucht er, worin eigentlich
der Vorzug der weißen Rasse bestehe, und lehrt mehr schopenhauerisch als
gobineauisch, daß es die Beherrschung und Lenkung des Willens durch den
Intellekt sei, was den Weißen zum höhern Menschen mache. Der Farbige, der
vom blinden Willen in der Form der Leidenschaft beherrscht werde, fühle das
Leiden weniger, weil er nicht mit vollem Bewußtsein leide. Die höhern Naturen
dagegen, wie Tristan und Elisabeth, zwingt das mit vollem Bewußtsein er¬
duldete Leiden, das Geheimnis dieser schlimmen Welt zu enträtseln und dnrch
den Tod den Sieg über sie zu erringen.
Der älteste Typus dieser Weltüberwinder ist Herkules? das Bewußtsein
des eignen persönlichen Werth verleiht einem Herkules, einem Siegfried die
Überzeugung von ihrem göttlichen Ursprung- Aber als arische Helden erringen
sie ihren Sieg nicht in der Form allmählicher quictistischer Resignation, sondern
durch eine gewaltige Willensanstrengung: vom Abscheu vor dem Verderben der
Welt ergriffen schwingt sich der Heros in plötzlicher, wunderbarer Bekehrung
mit einem Ruck auf die höchste Stufe des Heldentums empor und wird ein
Heiliger. Es ist schon gesagt worden, daß Gobineau nach 1870 für diese Auf¬
fassung des Heldentums nicht unzugänglich war, sodaß sich also in dieser Be¬
ziehung allenfalls ein Kompromiß zwischen den drei Weisen aus dem Morgen-
lnnde (oder vier, wenn wir Nietzsche hinzunehmen) herstellen ließe. Dagegen
wäre Gobineau so wenig wie Nietzsche jemals in das Cönaeulum des Montsal-
watsch hineinzubringen gewesen. Bei Wagner ist es der Anblick des Gekreu¬
zigten, der letzten und furchtbarsten Wirkung des allgemeinen Verderbens, was
im Helden den Entschluß der Bekehrung reift, und sollte das Blut des Weißen
ehedem einen Vorzug vor dem der andern Rassen gehabt haben, so verschwindet
dieser doch mit dem Eintritt des Erlösers in die Weltgeschichte. Dessen Blut
ist die Quintessenz des Blutes des Völkcrchaos, der leidenden Menschheit, dieses
Blut gehört als das Symbol der Einheit des Menschengeschlechts allen Rassen,
es hat sich in die Adern der Christenheit ergossen, und deren Blut kann also
nicht unheilbar verdorben sein. Zwischen den Geschichtsphilosophicn der beiden
Männer ist hiernach keine Versöhnung möglich. Was sie verband, sie ihren
Gegensatz vergessen machte, das war die Liebe zu den schönen Künsten. In
dein Buch über die asiatischen Religionen findet Seilliere ein ganz wagnerisches
Kapitel. Es handelt von dem persischen Volksdrama, zu dem die bekannte
Feier, die zu Ehren des ermordeten Kalifen Ali alljährlich begangen wird,
nicht lange vor Gobineaus Ankunft in Teheran umgestaltet worden war.
Der phantasiereiche Mann war entzückt davon. Er fand, daß hier etwas ähn¬
liches geschaffen sei wie im religiösen Volksdrama des Äschylus und in den
mittelalterlichen Mysterien, und er sah damit eine neue Periode für das
Schauspiel anbrechen, das bei uns zu einem leeren Zeitvertreib für gro߬
städtische Müßiggänger herabgesunken sei. Das schrieb er in der Zeit, wo
Wagner dieselbe Idee zu verwirklichen suchte, und wo der Tannhäuser von
dem frivolen Publikum der Pariser Oper ausgepfiffen wurde, zwanzig Jahre
vor seiner Bekanntschaft mit Bayreuth. Diese Seelenvernmndtschaft gerade in
dem, was Wagners Lebensinhalt ausmachte, genügt für sich allein schon, die
lebhafte Zuneigung zu erklären, die die beiden Männer vom ersten Augenblick
ihrer Bekauntschaft für einander empfanden.
Die letzten beiden Werke Gobineaus sind Amadis, eine Rittergeschichte
ni Versen, die vollständig erst nach des Verfassers Tode herausgegeben worden
ist, und die Seilliere sehr schwach findet, und die 1879 erschienene Geschichte
des skandinavischen Seeränbers Ottar Jarl. In diesem Helden verehrte
Gobineau seinen Ahnherrn, und das Buch erzählt, wie Ottar das x^L 6e
in der Normandie erobert hat, und wie seine Nachkommen zu süd-
fwnzösischeu Gobineaus geworden sind. Seilliere unterzieht diesen Versuch einer
Stammbanmkonstruktiou, die das umgekehrte des natürlichen Baumwachstums
sel, indem sie die Wurzeln in die blane Luft hinauswachsen lasse, einer aus¬
führlichen und vernichtenden Kritik. In der Familientradition der bordelai-
sischen Kaufleute und Parlamentsrüte, von denen Gobineau abstamme, sinde
sich keine Spur, die auf normannische Herkunft deute. Mit dieser fabelhaften
Geschichte habe der Dichterphilosoph in der Kunst, seine den persönlichsten
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Herzensbedürfnissen entsprungnen Phantasien in ein historisches Gewand zu
kleiden, das höchste geleistet. Wie ihm die Offenbarung seines Ursprungs ge¬
kommen ist, erzählt der Herr von Hertefeld. Eines Tages erkletterten beide
einen Felsen an der Ostseeküste, auf dem sie von Fichten beschattete Ruinen
cyklopischer Mauern fanden. „Hier, rief Gobineau, hat Ottars Burg ge¬
standen!" Woher wissen Sie das? fragte sein Begleiter. „Ich fühle es,
daß ich von diesem Ort entsprossen bin." Am Schluß warnt Scilliere seine
Landsleute davor, die Phantasien eines Dilettanten, wofür sie Gobineaus
Hauptwerk hielten, nicht zu leicht zu nehmen; diese Phantasien seien, wenn
auch nicht die einzige Quelle, so doch eine der Quellen einer gewaltigen
Strömung jenseits des Rheins, über die er mehr zu berichten verspricht.
,n meinem väterlichen Hause und in Quedlinburg wurde in meiner
i Jugend noch viel Plattdeutsch gesprochen. Niemals freilich in der
Familie oder gar bei Tisch oder in der Gesellschaft. Da galt das
Plattdeutsche für ordinär. Aber die kleinen Leute, die Arbeiter, die
! Dienstboten unter sich, und namentlich die vielen Landleute von aus-
iwärts, die in unser Haus kamen, sprachen, obwohl sie auch Hoch¬
deutsch verstanden und sprechen konnten, mit Vorliebe und fast ausschließlich platt¬
deutsch. So habe ich denn auch als Kind ganz von selbst das Plattdeutsche verstehn
und geläufig sprechen lernen. Unser Plattdeutsch war nicht die wohlklingende, feine
Mundart, wie sie in Mecklenburg und Pommern gesprochen wird und später durch
Fritz Reuter im ganzen deutschen Vaterlnnde so beliebt geworden ist. Unser Platt¬
deutsch klang viel härter und eckiger als das Neutersche. Es entsprach mit seinen
harten Formen, wie cet, deck, meat oder gar cake, decke, mente statt ick, mi, ti usw.
mehr der im Braunschweigischen, Hildesheimischen und Kalenbergischeu üblichen
Sprechweise. Immerhin ist mir die Fertigkeit, mit der ich unser Plattdeutsch völlig
beherrschte, sehr zustatten gekommen. Nicht nur für die Lektüre der Werke Fritz
Reuters und für das Verständnis des Volkslebens in meiner engern Heimat, sondern
später, als ich im Hoyaschen Amtshauvtmann war, auch für den Verkehr mit den
Amtseingeseßnen. Die dortigen Bauern verstanden mich, und ich verstand sie voll¬
kommen. Sie sprachen fast nie Hochdeutsch und freuten sich, wenn ihr Amtshauvt-
mcmn auf gut Plattdeutsch init ihnen verkehrte und verhandelte. Übrigens ließ anch
das Quedlinburger Hochdeutsch manches zu wünschen übrig. Ja man hatte manche
charakteristische plattdeutsche Worte und Wendungen in das Hochdeutsch, ohne sich
dessen bewußt zu sein, herübergenommen. Dies zu entdecken und in Einzelheiten
zu verfolgen, hat mir oft viel Spaß gemacht. Was von solchen Inkorrektheiten
an meiner eignen Sprechweise haften geblieben war, mag spater das Leben nach
und nach einigermaßen abgeschliffen haben.
Ich mag wohl ein ziemlich wilder Junge gewesen sein. Eines Tags, als ich
etwa sechs Jahre alt und Schüler der dritten Klasse der Volksschule war, hörte ich
meinen Vater zur Mutter sagen: „Für den Jungen hält ja weder Rock noch Hose-
Er müßte Hosen von Eisen haben. Ich werde ihm einstweilen ein Paar Leder¬
hosen machen lassen." Zu meinem Schreck machte er mit dieser Drohung Ernst
Eines Tngs nahm er mich mit zu einem in unsrer Nähe wohnenden Beutler-
meister, ließ mir dort Maß nehmen und bestellte für mich eine wildlederne Hose.
Wirklich kam bald nachher die schönste silbergraue Lederhose für mich an und mit
ihr ein Paar neuer, sogenannter steifer Stulpstiefel. Es half kein Sträuben und
Weinen. Am andern Morgen wurde« mir die enge, wildlederne Hose und die
Stulpstiefel angezogen, und ich mußte damit zu Herrn Kleinere in die Klasse gehn.
Diese Tracht war für städtische Jungen damals unerhört. Nur die Bauernjungen
nuf dem Lande trugen sie. In der Schule ergoß sich denn auch von feiten der
andern Jungen über mich eine Flut des verächtlichsten Hohns. Als wir nach der
Schule auf die Straße kamen, um nach Hause zu gehn, wurde ich von den Jungen
nicht nur ausgelacht, sondern auch „ausgeätscht." Einer rief mir zu: „Meßenke."
Schließlich wurde ich wütend und fing an, ans die unverschämten Bengel einzu¬
hauen. Es gab eine richtige Prügelei, aber mehr als über die Prügel ärgerte ich
mich über den unerhörten Schimpfnamen: Meßenke, d. h. Mistenke. Mistenken
hießen in Quedlinburg die jüngsten Ackerknechte der Ökonomen, weil sie den Dünger
auf die Äcker zu fahren hatten. Ich kam, braun und blau geschlagen, nach Hause
und erklärte meinen Eltern heulend, aber mit aller Bestimmtheit, daß keine Macht
der Erde mich mit der Lederhose wieder in die Schule bringen würde. Zu meinem
eignen Erstaunen nahm mein Vater die Sache von der humoristischen Seite. Er
gab nach. Ich durfte die silbergraue, wildlederne wieder ausziehn und ging schon
Nachmittags wieder in meinem gewöhnlichen Anzüge zur Schule. Die Dummheit
der Jungen hatte gesiegt. Ich habe die wildlederne Hose nie wieder in der Schule
getragen. Nur als wir Jungen später anfingen, kleine Theaterstücke aufzuführen,
wurde sie ein äußerst willkommenes Garderobestück, das uus für die Rollen von
Bauernburschen und Bauern gute Dienste leistete.
Während meiner Volksschulzeit verkündeten eines Tags Anschlagzettel von bis
dahin unerhörter Größe, daß die Brillhosfsche Kunstreitertrnppe, damals die be¬
rühmteste ihrer Zeit, nach Quedlinburg gekommen sei und in einem eigens dazu
erbauten Zirkus Vorstellungen geben werde. Für unsre kleine Stadt war das ein
bis dahin unerhörtes Ereignis. Ganz Quedlinburg stand vier bis sechs Wochen
lang ausschließlich unter dem Zeichen des Zirkus. Meinen Vater interessierten die
schönen Pferde und das geschickte Schul- und Quadrillereiten der Brillhoffschen
Gesellschaft, und er besuchte mit uns die Vorstellungen ziemlich häufig, für uns
ein um so überraschenderes Vergnügen, als wir bei seiner Abneigung gegen das
Theater gar nicht auf eine sich öfter wiederholende Erlaubnis zum Besuch des
Zirkus gerechnet hatten. Uns Jungen interessierte dort am meisten der erste Foree-
reiter der Truppe, Ernst Renz. Er war damals ein junger, schöner, athletisch ge¬
bauter Mann, der vorzüglich ritt und auf gesattelten und ungesatteltem Pferden
die unglaublichsten Kunststücke produzierte. Daneben ritt er Pferde zu und ver¬
kaufte sie für seine Rechnung. Damit hat er den Grund zu seinem nachmaligen,
nach Millionen zählenden Vermögen gelegt. Denn nach Brillhoffs Tode übernahm
er die Truppe als Direktor und ist als solcher weltbekannt geworden. Er und ein
andres Mitglied der Truppe, Herr Salomonsti, dessen Bravourstück der Lendenritt
""f ungesatteltem Pferde war, wurden vou uus Jungen als wahre Helden stürmisch
bewundert. Für ein halbes Jahr spielten wir nur noch Zirkus. Ich arrangierte
einen Sechserzug vou Spielkameraden, den ich, ans den Schultern des hintersten
und stärkste» stehend, lenkte. Ebenso produzierte ich auf unserm Saale oder Boden
den Lendenritt des Herrn Salvmvnski auf der Schulter eines etwas größern Jungen
""t erstaunlicher und vielbewnnderter Virtuosität.
Aus gegenüber auf dem andern Bodeufer wohnte ein Fischer Hieronymus,
"der wie seine Bekannten diesen Vornamen aussprachen, Jrvnimus. Er betrieb
einen schwunghaften Fischhandel. Für uns war es ein besondres Vergnügen, dnbei-
zustehn, wie er aus dem vor seinem Hause in der Bode liegenden Fischkasten mit
einem Hnndnetz eine Menge prächtiger, großer Karpfen und Schleie herauszog, sie
mit einem großen Messer gewandt abschlachtete und an die wartenden Dienstmädchen,
dus Pfund für acht gute Groschen, verkaufte. Auch kleine Bitterfische und Schmerlen,
Zählgründlinge und Barsche als Bratfische gab es bei Hieronymus zu kaufen. Die
Schmerle, einer der feinsten Flußfische, die es gibt, verschwindet leider aus der
Bode mehr und mehr, seitdem die wachsende Industrie das Wasser des Flusses
verunreinigt. Jetzt erhält man sie nur noch im obern Bodetal, in Treseburg,
Altenbrak oder Weudefurt, und sie ist allmählich ein Luxusfisch geworden. In meiner
Jugend kamen Schmerlen aber noch oft ans unsern Abendtisch,
Hieronymus hatte eine in Leder gebundue und mit Spangen geschlossene,
wunderschöne und große Familienbibel. Diese Bibel enthielt auf angebnndnen
Blättern Schreibpapiers eine in mancher Hinsicht ganz interessante Hauschronik.
Da waren — schon von den Voreltern des jetzigen Besitzers — alle wichtigen
Familienereignisse, Heiraten, Geburten und Todesfälle handschriftlich eingetragen.
Daneben, ja dazwischen fanden sich aber auch allerhand Notizen aus der Chronik
der Stadt oder der Zeit über Vorkommnisse, die dem Besitzer der Bibel wichtig
erschienen waren, wie die Abreise und der Tod der letzten Äbtissin von Quedlin¬
burg, das Trauergeläut für sie, die höchsten und niedrigsten Getreidepreise, be¬
sonders ergiebige Fischzüge, in der Stadt vorgekommene Mißgeburten, Hinrich¬
tungen, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Ungewitter und Blitzschläge, große Hitze
oder Kälte, die Namen der Bürgermeister und dergleichen mehr. Die Nachbarn
und Freunde des Fischers Hieronymus kannten diese Chronik sehr genau, Sie
genoß eines großen Ansehens, und 'wenn beim Erzählen von solchen Seltsam¬
keiten oder Ereignissen ans der Geschichte der Stadt Zweifel entstanden, galt die
Fnmiltenbibel als unbedingt zuverlässige Autorität.
Zu der Zeit, als der Brillhoffsche Zirkus in Quedlinburg Vorstellungen gab,
hatte an einem Sonntagnachmittag Hieronymus Besuch von ein paar Freunden
und Nachbarn gehabt. Unter ihnen waren auch mein Vater und dessen schon er¬
wähnter Schwager Uhlemann gewesen. Dieser war ein ziemlich mürrischer, wunder¬
licher, verschlossener Kauz. Aber auch er war natürlich bei Brillhvff im Zirkus
gewesen. Die Wunder, die er dort gesehen hatte, hatten es ihm angetan. Er war
Feuer und Flamme für Brillhoff. In der Sonntagsaussprache bei Hieronymus
verstieg er sich so weit, daß er behauptete, Brillhoffs Anwesenheit in Quedlinburg
sei ein so wichtiges Ereignis, daß es in die Familienbibel kommen müsse. Hiero¬
nymus sah aber bei allem Respekt vor Brillhoffs Künsten die Kunstreiterei bedeutend
kühler an. Er erklärte ruhig, aber entschieden, Brillhoff gehöre nicht in die Bibel.
Uhlemann nahm das krumm und plädierte eifrig für seinen Vorschlag. Brillhoff
dürfe nicht bloß in die Bibel, meinte er, sondern er gehöre da hinein. „Rin note
hei!" rief er aus. „Hei kimmt nich rin," sagte Hieronymus, Natürlich lachten
die übrigen Anwesenden. Uhlemann setzte einen Trumpf ans seine Ansicht und
erbot sich, acht Groschen in die Armenkasse zu zahlen, wenn Brillhoff in die Bibel
käme, „Hei kimmt ook for acht Groschen nich rin," sagte Jronimus ruhig. Desto
eifriger wurde Uhlemann. Er bot schließlich einen Taler, zwei, drei Taler, aber
Jronimus war unerbittlich. Schließlich verstieg Uhlemann bei dieser seltsamen
Lizitation sich immer höher, bis er auf zehn Taler kam. Da gab der Fischer nach.
Uhlemann zahlte zehn Taler für die Armenkasse, und für diesen Preis ist Brillhoff
in die Familienbibel gekommen. Mein Vater erzählte diese von ihm selbst mit¬
erlebte Geschichte sehr ergötzlich.
Einige Jahre später hat diese Familienbibel noch einmal eine Rolle gespielt,
aber eine würdigere. Der alte Hieronymus, den ich noch gut gekannt habe, war
bald nach jener Szene bei einer großen Feuersbrunst im Dienste helfender n»o
rettender Menschenliebe umgekommen. Er war mit Wasserherbeischaffen und Löschnngs-
arbeiten wohl allzu eifrig beschäftigt gewesen, hatte sich dabei zu weit vorgewagt
und war von einer einstürzenden Wand erschlagen worden. Ein späterer Bewohner
des Fischerhanses konnte sich mit seiner Frau nicht recht vertragen und ging de?-
halb nach Halberstadt zu dem Justizrat Krüger, der weit und breit als Anwalt
unbedingtes Vertrauen genoß, und bat ihn. die Trennung der Ehe herbeizuführen.
Der Justizrat Krüger, ein ernster evangelischer Christ, fertigte den aufgeregte»
Mann mit dem Bescheid ab, er werde nächstens nach Quedlinburg hinüberkommen,
ihn dann aufsuchen und vor allen Dingen mit der Frau sprechen. Ehe er diese
gehört habe, könne er nichts tun. Bis dahin solle er nur mit seiner Frau aus¬
zukommen suchen. Nach einigen Wochen kam der Justizrat, traf das Ehepaar auch
an und fragte die Leute, ob sie wohl eine Bibel hätten. Da wurde ihm vom
Kaminring die alte große Familienbibel gereicht. Er schlug sie ans und las den
beiden Eheleuten daraus den richtigen Text mit dem Erfolge, daß sie sich die Hand
reichten und miteinander persöhnten. Jedenfalls sind sie nicht geschieden worden.
Mein Vater, der sich bor den Halberstädter Gerichten gleichfalls durch den Justizrat
Krüger vertreten ließ und diesen ungemein verehrte, erzählte diesen Vorgang und
tiefer Rührung und mit dem Zusätze: „Das ist ein Anwalt nach dem Herzen
Gottes." Er hatte vollkommen Recht. Als Referendar habe ich spater bel dem
Justizrat Krüger gearbeitet und in seinem Hanse viel verkehrt. Ich habe dabei
den gescheiten, liebenswürdigen, frommen alten Herrn nicht nur als Juristen
respektieren, sondern ihn auch als Menschen und Christen lieben und verehren
lernen. Ans der feinen und schönen Geselligkeit des Krügerschen Hauses habe ich
viel Segen und gute Anregungen empfangen.
Als ich in der zweiten Klasse der Volksschule saß, kam eines ^ages der
Generalsuperintendent der Provinz Sachsen, Bischof Drösele aus Magdeburg, in
unsre Schule, um den Religionsunterricht zu revidieren. Zuhause hatte ich von
meinem Vater das Lob des Bischofs in allen Tonarten schon oft aussprechen hören.
Mein Vater besaß eine umfangreiche gedruckte Sammlung Dräjekischer Predigten
und las diese mit Vorliebe. Als der feine, sehr ansehnliche geistliche Herr in
schwarzem Frack und schwarzen Collanes, d. h. langen, an beiden Seiten bis unten
hin geknopften, in schwarze Gamaschen auslaufenden Tuchhosen in Begleitung des
Herrn Superintendenten in unsre Klasse trat, waren wir Kinder zu förmlicher
Ehrfurcht vor der vornehmen Erscheinung hingerissen. Ich entsinne mich kaum,
daß ich im spätern Leben jemals wieder vor einem Menschen einen so unbegrenzten
Respekt empfunden hätte, wie damals vor dem Bischof Dräseke. Die Revision in
der Schule verlief glatt und glücklich. Mit herzgewinnender Freundlichkeit richtete
der Bischof einige Fragen an uns und war von unsern frischen, unbefangnen und
sichern Antworten befriedigt. Wie mein Vater erzählte, war er an demselben Tag
"und in der Sitzung der Stadtverordneten erschienen, hatte dort eine beredte An¬
sprache über das Zusammenwirken von Kirche und Stadtgemeinde in Schulange¬
legenheiten gehalten und damit auf die Väter der Stadt einen tiefen Eindruck ge¬
macht. In Quedlinburg hat Dräseke damals nicht gepredigt, wohl aber an demi
folgenden Sonntage Kantate in der Kirche zu Ditfurt. Mein Vater ließ es sich
nicht nehmen, zu diesem Gottesdienst nach Ditfurt zu gehn, und nahm mich mit.
Ich entsinne mich der schönen Wanderung durch den feiertäglich stillen, frischen
Frühlingsmorgen noch deutlich. In der überfüllten schmucken Dorfkirche predigte
der Bischof, anknüpfend an den Namen des Sonntags Kantate, über den Kirchen¬
gesang mit einer lebendigen Beredsamkeit, die auch auf mich unverständigen Jungen
uicht ohne Eindruck blieb. Ich war stolz darauf, den berühmten Kanzelredner „über
das Singen" predigen gehört zu haben.
Der Bischof trug damals über dem Talar das ihm vom König verliehene
einfache goldne Bischofskreuz an goldner Kette. Als ich im Jahre 1892 Kultus¬
minister wurde, fand ich unter den Asservaten der Generalkasse des Ministeriums
dieses von den Erben des Bischofs Dräseke nach dessen Tode zurückgereichte Bischofs-
>-
.euz. Mit Rührung mußte ich darau denken, wie ich vor mehr als fünfzig Jahren
o-e,es schlichte Krenz auf der Brust des Bischofs hatte glänzen sehen. Wer hätte
können? Das Kreuz ist später auf eine noch von mir ansgegcmgne Anregung von
unserm Kaiser einem Würdenträger der evangelischen Landeskirche verliehen worden.
Lie sunt iÄW hominum — se rorum.
Der Gegensatz der Konfessionen war damals in meiner Heimat völlig in den
Hintergrund getreten. In Quedlinburg selbst gab es nur wenige vereinzelte Katho¬
liken. Eine katholische Gemeinde bestand noch nicht. Für die Befriedigung ihres
kirchlichen Bedürfnisses wandten sich die katholischen Einwohner der Stadt entweder
nach Halberstadt oder nach dem zwei Meilen entfernten Dorfe Hedcrsleben, wo
von alters her eine katholische Kirche und Gemeinde bestand. Mein Vater, für seine
Person gut protestantisch, war in religiösen Dingen duldsam. Er war bei der
Taufe eines ihm befreundeten katholischen Landwirth, auf dessen Grundstück später
die katholische Kirche erbaut wurde, Pate gewesen und dazu von dem katholischen
Geistlichen aus Hedersleben ohne jeden Anstand zugelassen worden. Am Fron-
leichnamstage pflegte er nach Hedersleben zu fahren und dort seine katholischen
Bekannten zu besuchen. Dazu hat er mich wiederholt mitgenommen. Natürlich
gingen wir dort auch mit zum Gottesdienst in die katholische Kirche. So habe
ich als Kind den katholischen Kultus zuerst kennen gelernt. Ich bewunderte den
mit Blumen reich geschmückten Altar, auch die reich gestickte» Meßgewänder des
das Hochamt haltenden Priesters, konnte aber im übrigen dem in der Hauptsache
mir wenig verständlichen Gottesdienste keinen Reiz abgewinnen. Ich stand durch¬
aus unter dem Eindruck der damals herrschenden Stimmung. Danach kam wenig
darauf an, ob man Gott auf protestantische oder katholische Art verehre. Jede
der beiden Konfessionen galt für unvollkommen und nur relativ für bevorzugt.
Nur mußte man — das galt als selbstverständlich — bei der Bekenntnisgemcin-
schaft, in der man geboren, getcinft und erzogen war, verbleiben. An Konversionen
aus Überzeugung glaubte man nicht. Kam wirklich ganz vereinzelt einmal ein
Übertritt vor, so schob man ihm äußere, gewinnsüchtige Beweggründe unter. Kon¬
versionen galten deshalb für unanständig. Nur wenn der äußere Vorteil, der
damit erreicht wurde, sehr groß war, also zum Beispiel die Erlangung eines großen
Majorats, eines Fürstentums oder eiues sehr großen Vermögens, dann pflegte man
wieder milder zu urteilen und den Mantel der Liebe nach Bedarf zu erweitern.
Dann waren auch die bekannten drei Ringe jederzeit bereit. Für eine Konversion
aus wirklicher Gewissensnot hatte man kein Verständnis. Daraus erklärt es sich
auch, daß von einer Propaganda weder bei der einen noch bei der andern Kirche
etwas zu spüren war. Man war tolerant gegeneinander, zuweilen tolerant bis zur
Schlafmützigkeit. Die Geistlichen beider Konfessionen — das war hübsch — ver¬
kehrten höchst freundschaftlich miteinander. Man erzählte sich, daß sie sich in Not¬
fällen mich gegenseitig bei der Vornahme von Amtshandlungen vertreten hätten.
Das mag auch bei Taufen wohl einmal vorgekommen sein. Daß es der kirchlichen
Ordnung nicht entsprach, wußte man recht gut. Kurz, die beiden Konfessionen
lebten damals äußerlich in gutem Frieden miteinander. Freilich unter der Asche
glühte doch noch manches von dem alten Gegensatze fort. So entsinne ich mich,
daß ich als Kind ganz erstaunt war, nnssprechen zu hören, einem Katholiken dürfe
man nicht trauen, alle Katholiken seien falsch, man könne sich nicht auf sie ver¬
lassen, sie hielten alles, auch alle Falschheit im Verkehr für erlaubt, weil sie sich
in der Ohrenbeichte hinterher für alle möglichen und unmöglichen Sünden Abso¬
lution verschaffen könnten. Mein Vater schüttelte zu solchen Beschuldigungen den
Kopf und bekämpfte sie. Er berief sich darauf, daß er im Verkehr mit Katholiken
ganz andre und mir gute Erfahrungen gemacht habe.r
In Hedersleben war früher ein Nonnenkloster gewesen. Das Kloster wa
aufgehoben und säkularisiert worden. In meiner Jugend lebten dort aber noch em
paar steinalte Nonnen, denen vom Staate die Wohnung in dem ehemaligen, jetzt
zur Domäne gehörenden Klostergebnude belassen wurde. Als ich zum erstenmal am
Fronleichnamstage mit nach Hedersleben genommen wurde, sah ich dort die beiden
alten Klosterschwestern in ihrer Ordenstracht, und mit unheimlicher Scheu erfüllte
es mich, daß mein Vater an sie herantrat und sich freundlich mit ihnen unterhielt.
Er tadelte nachher auf dem Rückwege das gegen Katholiken und die alten, auf den
Aussterbeetat gesetzten Klosterfrauen bestehende Vorurteil. Vorurteile und Aber¬
glauben bekämpfte er unnachsichtlich.
In Quedlinburg existierten Mönche und Nonnen nur noch in uralten Spuk¬
geschichten, deren eine ganze Menge im Schwange waren. Das meinem väterlichen
Hause gegenüberliegende Gehöft war vormals ein Kloster gewesen, und die alte
Scheune, in der wir dort spielten, zeigte noch vermauerte Fenster mit gotischem
Maßwerk. Dort sollte ein blutiger Mönch spuken gehn. Wenn ich beim Verstecken¬
spielen allein in der Scheune saß, sah ich mich doch nicht ohne Neugier um, ob
sich von dergleichen Spuk nichts zeige. Es zeigte sich aber nichts. Ich bin für
das Spukhafte, für Gespenster, Ahnungen und dergleichen niemals empfänglich
gewesen.
Es gab aber in meiner Jugend Leute in Quedlinburg, die ganz ernstlich an
das Spukwesen glaubten. Wenn große Wäsche in unserm Hanse war — die Seife
dazu kochte meine Mutter selbst —, dann kamen die Waschfrauen. um die Wäsche
einzufangen, schon Nachts um ein Uhr. Diese alten Weiber wohnten jenseits des
Schlosses im Westendvrfe. Jedesmal, wenn sie nach Mitternacht über den Schloß-
Platz gekommen waren, wollten sie einen feurigen Hund gesehen haben, der aus
dem jederzeit offnen Schloßtor heulend auf sie zugesprungen sei. Sie seien dann
schreiend vor dem feurigen Hunde davon gelaufen. Dieser Hund sollte der Hund
der ersten Quedlinburger Äbtissin Mathilde gewesen sein und Quebek geheißen
haben. Von ihm sollte die Stadt ihren Namen bekommen haben. Der Hund
Quebek ist geschichtlich nicht zu kontrollieren. Er hat wahrscheinlich nie existiert,
und der Name Quedlinburg ist auf ihn nicht zurückzuführen. Die Stadt Quedlinburg
führt in ihrem Wappen ein gemauertes Stadttor mit zwei Türmen und zwischen
diesen im offnen Tor einen sitzenden Hund. ein sehr hübsches Symbol treuer Wachsam¬
keit. Für den richtigen Quedlinburger war dieser Hund natürlich Quebek. Worauf
Quedels Verpflichtung zum Spuken beruhte, habe ich nie erfahren können.
Der feurige Quebek und der blutige Mönch waren aber nicht die einzigen
Spukgestalten, mit denen in meiner Jngend alte Weiber die Kinder gruselig machten.
Auch das Gymnasium war in den Räumen eines vormaligen Klosters. Natürlich
spukte es mich da. Auf dem Wege uach Halberstndt kam man in der Nähe des
Dorfes Harsleben an einer einsamen, etwas öden Feldgegend vorbei. Dort floß
ein kleiner Bach, dessen Ufer mit uralten Weidenbäumen besetzt waren. Eine echte
Erlkönigszenerie. Dort sollte oft ein kleines, graues Männchen erscheinen. Manch¬
mal, so hieß es, spielte es dem einsamen Wandrer tückische Streiche, führte ihn
durch Irrlichter vom Wege ab oder tat ihm allerlei Schabernack an. Manchmal
aber sollte es den dort Vvrüberkommenden auch Freundliches erweisen, ihnen Gold
geben und dergleichen. Durch diesen weitverbreiteten Spukaberglauben war diese
Gegend vor Harsleben förmlich verrufen. Von vielen Leuten wurde sie in der
Dunkelheit ängstlich gemieden. Ich habe sie allein und in Gesellschaft Hunderte
von malen zu Fuß passiert, bei Tage, Abends und zur Nachtzeit.
Ähnliche Spukorte gab es in meiner Heimat noch mehr. Die Lust am
Gruseligen und Geheimnisvolleu ist überall gleich. Es ist mir immer merkwürdig
gewesen, wieviel gebildete und sonst ganz verständige, kluge Menschen solche Spuk¬
geschichten mit Vorliebe erzählten und sich erzählen ließen, sogar solche, die sich
-hrer Aufklärung mit Ostentation rühmten oder den religiösen Glauben verspotteten.
Ja gerade solche haben daran oft Wohlgefallen und lassen es ganz ernsthaft dahin¬
gestellt sein, ob an diesen Dingen nicht doch etwas sei. Damit hängen mich die
mystischen und spiritistischen Neigungen zusammen. Wo ich solchen Neigungen und
Erzählungen begegnet bin, haben sie sich jedesmal als Schwindel und Phcmtasie-
kram erwiesen. Ich leugne gar nicht, daß zwischen Himmel und Erde noch manche
Dinge sein mögen, von denen wir nichts wissen; aber Spuk- und Gespenster¬
geschichten haben sich für den nüchternen, gesunden Menschenverstand von jeher als
elendes Blech erwiesen.
Mein Vater bekämpfte alles, was in dieses Gebiet schlug, mit gesunder
Nüchternheit. Er duldete nicht, daß solche Spukgeschichten in seiner Gegenwart
erzählt wurden. Unsre Dienstboten, ebenso wie die Frauen, die zur Aushilfe beim
Waschen, Nähen, Scheuern, Seifekocheu oder dergleichen ins Haus kamen, wußten
sehr wohl, daß „der Herre," wie sie meinen Vater nannten, in diesem Stück keinen
Spaß verstand. Sie sahen sich darum vor. Heimlich freilich, wenn es der Herre
nicht merkte, ließen sie der Lust an gruseligen Geschwätz oft genug die Zügel
schießen.
Nur eine einzige Geschichte dieser Art hat in meiner Jugend einen gewissen
Eindruck auf mich gemacht. Einmal, weil sie mit unsrer Familie zusammenhing,
und sodann, weil sie von Leuten erzählt wurde, deren Glaubhaftigkeit ich nicht an¬
zuzweifeln wagte. Sie bezog sich auf den Tod meines mütterlichen Großvaters
Sachse. Er wohnte in seinen spätern Lebensjahren auf dem Landgute seines
Schwiegersohns, des Bürgermeisters Sobbe in Gernrode. Dieser war eines Tags
ins Feld geritten, um seine Äcker zu besichtigen. Seinen Schwiegervater hatte er
daheim gesund und frisch verlassen. Er ritt um die dritte Nachmittagsstunde auf
der Landwehr, einem einsamen Greuzwege zwischen Anhalt und Preußen und zu¬
gleich zwischen der Gernroder und der Quedlinburger Feldflur, im Schritt ruhig seines
Wegs. Plötzlich hörte er von der Stimme seines Schwiegervaters laut seinen
Namen „Sobbe" rufen. Das sonst sehr ruhige, schwere Pferd — mein Onkel
war ein wohlbeleibter Mann — spitzte die Ohren und wurde unruhig. Weit und
breit war auf dem Felde kein Mensch zu sehen. Sobbe versuchte in der Meinung,
daß seine Phantasie ihm einen Streich gespielt habe, sein Pferd durch Streicheln zu
beruhigen. Da hörte er zum zweitenmal von derselben Stimme den lauten und
deutlichen Ruf: „Sobbe!" Das Pferd bäumte sich, und noch ehe es dem Reiter ge¬
lang, es zu beruhigen, ertönte der Ruf zum drittenmal. Jetzt wurde das Pferd
wild, fiel in Galopp und ging durch, sodaß der Reiter die Herrschaft über die
Zügel verlor. In rasender Eile stürmte das Pferd mit ihm auf dem Wege uach
Gernrode dahin und rannte dort durch das offne Hoftor auf den Sobbischen Guts¬
hof. Dort blieb es, in Schaum und Schweiß gebadet, keuchend und schnaubend
stehn. Die Leute auf dem Hofe meldeten ihrem Herrn mit bestürzter Miene, daß
vor kaum eiuer Viertelstunde Herr Sachse verschieden sei. Mein Großvater war
plötzlich von einem Schlaganfall getroffen, hatte noch ein paarmal nach seinem
Schwiegersohn Sobbe gerufen und war dann gestorben. So hatte, wie mir mein
Schwager Bornemann versicherte, Onkel Sobbe den Vorgang alles Ernstes erzählt.
Mein Vater hat niemals etwas davon erwähnt. Er hätte die Geschichte auch uicht
geglaubt, und in seiner Gegenwart ist nie die Rede davon gewesen. Er stand
ohnehin mit seinem Schwager Sobbe nicht auf intimen Fuße. Sie verkehrten
höflich und freundlich, aber nicht herzlich miteinander.
(Fortsetzung folgt)
hristenee machte sich jetzt gern dies oder das in dem Zimmer bei
Will zu schaffen, namentlich wenn der Brnoer in der Schule oder in
der Stadt war, und fing Will nicht sogleich eine Unterhaltung mit
ihr an, so war sie nicht ängstlich, das erste Wort zu sagen.
Eines Tages, als sie vor dem Bort zwischen den Fenstern stand
und ganz bedächtig Staub wischte, streckte sie plötzlich die Hand aus
und holte den Johannisstrauß herunter — er war verwelkt.
Er hat keine Sonne gehabt, sagte sie. Nun lebe ich auch nicht mehr bis zum
nächsten Johannistage — mir fehlt es vielleicht auch an Sonne!
Ihr glaubt doch nicht ein so etwas! rief Will. — Jungfrauen sollen auch
gar nicht soviel in die Sonne gehn.
Warum nicht?
Weil — ja das versteht Ihr nicht, aber der Schein der Sonne kann auch
zu stark sein, zu fruchtbar — Ihr seid am sichersten hier im Kloster!
Mag sein — aber auch hier könnte es wohl gefährlich für eine Jung¬
frau sein!
Hier?
Ja — Tür an Tür und einem fremden Mann! sagte sie lächelnd.
Das hat keine Gefahr, entgegnete Will. Der Fuchs richtet nie Schaden in
dem Hof an, der seiner Höhle zunächst liegt!
Seid Ihr ein Fuchs, und bin ich eine Gans?
Ihr seid eine schöne Jungfrau! sagte Will, schlang den Arm um Christences
Leib und küßte sie ungehindert wieder und wieder.
Und dann hatte Christence vergessen, daß ihr der Johannisstrauß ver¬
welkt war.
Kemp, Pope und Bryau kamen alle drei zum Besuch ins Kloster; Bull war
nicht mitgekommen. Er ist mondsüchtig, sagte Kemp.
Sie erzählten, der König habe ihnen erlaubt, am kommenden Sonntag Nach¬
mittag eine Vorstellung im Nathanshof für eigue Rechnung zu geben, und jetzt,
wo sich Will doch einigermaßen frei bewegen könnte, wollten sie unbedingt, daß
er mitspiele. Will aber weigerte sich sehr bestimmt: er könne es nicht aushalte»,
lange hintereinander zu stehn, und wenn er nicht ans dem Schlosse vor dem König
agieren könne, so wolle er auch nicht im Ratshof auftreten. — Nein, hier in
Helsingör bin ich eine Privatperson, sagte er, hier muß ich die andern agieren
lassen, hier spiele ich keine Rolle — aber die Zeit wird schon kommen, wo anch
ich auftreten werde!
Jver Krumme, der von der Schiffsbrücke nach Hanse gekommen war, zog
Will jetzt auf die Seite und bat ihn, das Eisen zu schmieden, so lange es warm
sei, nämlich seine Kameraden zu fragen, ob sie nicht „Agnthvn und Kakophron"
einstudieren wollten.
Das tat Will denn auch, und nach allerlei Verhandlungen wurde abgemacht,
daß sie alle — auch Jver Kramme — am nächsten Montag Abend im Rathauskeller
zusammentreffen wollten, sobald die Vorstellung auf dem Schlosse vorbei sei; dort
sollte dann Jver Kramme die Musikanten traktieren, während Will die Komödie
vorlas, und nachher sollten die Rollen verteilt werden.
Mit diesem Vorschlage waren Jver Kramme wie auch die Musikanten ein¬
verstanden, und so wurde er denn endgiltig angenommen.
Und dann kam der Sonntag. Es herrschte an diesem Tage sicher weniger
Andacht als sonst, sowohl in Se. Otai wie in Se. Marien, denn die Gedanken
der Mehrzahl weilten bei der bevorstehenden öffentlichen Komödie im Nathanshofe.
Und nicht nur Jens Turbo und andre leichtsinnige Schuljungen waren während
des Gesangs der geistlichen Lieder wie während der Predigt weit weg, nein, sogar
Jver Kramme ertappte sich dabei, daß er während der eindringlichen Rede des
Gemeindepfarrers an Kemp und Pope und Jnterludien und Tanz dachte.
Gleich nach Tische ging Jver Kramme mit Christence aufs Rathaus — er
wollte sich rechtzeitig einen guten Platz sichern. Will blieb daheim; er habe
keine Lust, seiue Kameraden zu sehen, sagte er, wenn er selbst nicht mit dabei
sein könne.
Gegen fünf Uhr kamen Jver Kramme und Christence zurück, und Jver Kramme
hatte viel zu erzählen. Die Musikanten hatten in einer der Ecken des Rathaushofs
agiert, auf einer Erhöhung, einem Bretterfußboden, der über leere Tonnen gelegt war —
es war ungefähr wie damals, als sie „David und Goliath" in dem Kopenhagner Schlosse
gespielt hatten, sagte er. Aus Popes und Bryans Instrumentalmusik mache er sich
nichts, sagte er, und Kemps Narrentcmz, wo der mit allen Schellen geklingelt und
zugleich auf der Flöte und der Trommel gespielt hätte, sei wohl danach angetan
gewesen, die große Menge zu belustigen, nicht aber vornehme und studierte Per¬
sonen, die andres und mehr verlangten als bloße Lustigkeit. Dagegen war er
ganz außerordentlich zufrieden mit der Komödie von dem Hausierer und dem
Apotheker, die sie zum Schluß gegeben hatten, nicht so sehr wegen des Stücks
selbst, sondern weil er aus der Aufführung klar hatte ersehen können, daß die
Bande sehr wohl geeignet sei, seine Komödie zu besetzen und darzustellen, an die
er selbstverständlich die ganze Zeit, während er dagesessen habe, gedacht hätte.
So angeregt war Jver Kramme, daß er nach dem Abendessen Will und
Christence den Vorschlag machte, daß sie alle drei einen Spaziergang nach Norden
zu den Strand entlang unternehmen sollten; dort sei Will ja noch nicht gewesen, und
wenn sie ganz langsam gingen und sich dort unten ausrüsten, könne er gut mit¬
schlendern. Will hatte auch nichts dagegen einzuwenden, und so gingen sie denn.
Auf der Straße hatte Jver Kramme genug zu tun, erst alle zu grüßen, die
ihnen begegneten — er kannte ganz Helsingör, und ganz Helsingör kannte ihn —,
und dann Will zu erklären, wer es sei! das war der Zöllner, und das war der
reiche Brauer Jeremias; da drinnen unter dem Beischlag vor der Apotheke stand
Hans Bartscheer in Unterhaltung mit dem Apotheker Peither Pester, und der Mann,
der so allein am Ende der Königsstraße ging, war der Henker des Städtchens. —
Und das Paar, an dem wir eben vorüberkamen, waren Elsabe Engelländerin nud
ihr Bräutigam, Boltum, sagte er. Sie sahen ziemlich verliebt aus!
Der arme Bull! erwiderte Will.
In demselben Augenblick verwandelte sich Jver Krammes Gesicht in ein einziges
Lächeln, und seine kleinen Augen verschwanden vollständig, während er eine vor¬
übergehende Fran außerordentlich freundlich begrüßte. — Habt Ihr sie gesehen?
flüsterte er Will zu. Das war Jochum Hansens Wittib. Ihr wißt ja! Und Jver
Kramme war dunkelrot geworden, wie er nnr ihren Namen nannte.
Draußen im Grüne» Garten wurde Jver Kramme ungewöhnlich beredt. Zuerst
erzählte er von dem künstlichen Feuerwerk, das hier mit großer Pracht und großem
Aufwand bei der Einweihung von Schloß Kronborg abgebrannt worden war. Da
war eine Festung mit vier Bastionen dargestellt worden, ans jeder Bastion war
ein Türke gewesen, und es waren daraus über sechstausend Schüsse mit Feuer-
bolzcn, Schwärmern und Raketen abgefeuert worden. Dann erzählte er von dem
Lappcnstein, der hier gelegen habe; der war so groß wie ein ganzes Haus, er¬
klärte er, und den hatte der König von der Stelle wegschaffen lassen, obwohl
niemand geglaubt hatte, daß so etwas möglich sei. Zuerst war er nur ein kleines
Stück weggezogen worden, später war er dann aber als kunäamonium unter die
südöstliche Bastion von Kronborg gelegt worden, sodaß man jetzt wohl sagen kann,
daß selbige ans einen: wirklichen Felsen ruht, sagte er, wahrend das ganze übrige
Schloß auf Kasematten ruht, die wirr und dunkel sind wie die finstern Gänge des
Maulwurfs.
Unten am Strande, wo eine alte Trauerweide stand, setzten sie sich in den
Sand und belustigten sich eine Weile damit, an dein stillen Abend über den Sund
hinauszusehen.
Was für ein Land ist das da drüben? fragte Will.
Das ist ja Schonen! antwortete Jver Kramme.
Wer regiert dort?
Der König von Dünemark.
Dort auch? rief Will. Dann muß es wahrlich doppelt herrlich für Eltern
König sein, auf seinem stolzen Kronborg zu sitzen, das wie ein Schloß vor dem
Sunde liegt, und auf sein Reich jenseits des Wassers hinüber zu sehen! Wie heißt
die Stadt dort drüben?
Helsingborg.
Das ist ja nicht weiter von uns entfernt, als es Hero von Leander war! —
Und die Felsen dort im Norden, was ist das?
Das ist der Knlleberg, wo der Fenerkorb in den Nächten vom Herbst bis zum
Frühling brennt, um den Seefahrern den Weg in den Sund hinein zu zeigen. —
Ja es ist kein Spaß, zur Winterzeit auf der See zu fahren, namentlich des Nachts!
Wenn schweres Wetter ist und starker Sturm, und die Schiffe mit Mann und
Mnns untergehn, dann freut man sich, wenn man ruhig in seinem warmen Bett
liegen kann, wie man sich auch freut, die Tür gut verriegelt zu wisse», wenn mau
im Dunkel» Streit und Lärm auf der Straße hört.
Jetzt kam ein großes Schiff mit vollen Segeln von Norden her.
Gebt nur acht! sagte Jver Kramme. Das muß sein Topsegel vor Kronborq
streichen!
Müsse» englische Schisse das auch tun? fragte Will.
Ja, das müssen alle Schiffe tun, die des Königs von Dänemark Fahrwasser
besegeln, antwortete Jver Kramme nicht ohne Selbstgefühl.
Christence hatte unterwegs einen großen Strauß wilder Blumen gepflückt! da
waren Hahnenfuß, Maßlieb, rote Kuckucksblumen und noch viele andre, sie kannte sie
alle, und Will nannte ihr die Namen in seiner Sprache.
Habt Ihr die Blumen auch lieb? fragte ihn Christence.
Wie die Musik! antwortete Will. Aber noch nie habe ich eine schöne Blume
gefunden, die nicht Farbe und Duft von dem gestohlen hatte, was noch schöner ist:
von einer Frau!
Christence wand einen Kranz von den Blumen, hielt ihn in ihrem Schoß
und sah ihn ein, als überlege sie, was sie damit machen solle; dann warf sie ihn
pwtzlich ins Wasser; er trieb langsam vom Lande ab.
Eure Blumen sehen fast aus wie der Kopf einer Frau, der auf den Wellen
chwimmt, sagte Will zu Christence, als der Kranz so weit draußen trieb, daß man
ihn kaum mehr erkennen konnte.
Oder wie ein Meerweib, meinte Jver Krumme.
Glaubt Ihr an die? fragte Will.
Und dann erzählte Jver Kramme von dem Meerweib auf Snmsö, das dem
Bauern erschienen war und ihm befohlen hatte, zum König zu gehn und ihm zu
melden, daß ihm ein Sohn geboren werden würde. Was auch geschah, fügte Jver
Krannne hinzu, und selbiger junge Prinz ist der erwählte Thronfolger, vor dem
Meister Hieronymus Justesens Komödie in Viborg agiert wurde, wie Ihr wißt.
Die Sonne war jetzt schon lange zu Rüste gegangen, der Mond war aufge¬
stiegen und goß eiuen silbernen Schimmer über das Meer; Kronborg ragte ans
wie ein schwarzer Koloß, aber aus seinem Dunkel glühten die erleuchteten Fenster
wie spähende Drnchenaugen, und von Zeit zu Zeit vernahm man einen Ton von
Pauken und Trompete«.
Macht mir eine Freude, Jungfrau Christence, bat Will. Jungfrau Elisabeth,
fügte er leise hinzu. singt das alte Lied von den Runen, die der einen zuge¬
worfen wurden, aber der andern in den Schoß fielen — das ist ein hohes Lied
von der Allmacht der Dichtkunst!
Und Christenee sang — alle Verse —, nie hatte ihre Stimme so schön ge¬
klungen.
Aber Jver Kramme gähnte und fing an, es langweilig am Strande zu finden. —
Laßt uns heimgehn I sagte er, und sie brachen auf.
Vor dem Kloster trafen sie Herrn Johann.
Er stand mit gespreizten Beinen mutter ans der Straße vor seiner Tür, hatte
den Degen gezogen, obwohl niemand in der Nähe war, und schlug damit auf das
Pflaster, daß die Funken stoben. — Weg und dir, du toller Hund! rief er. Weg
von meiner Tür, oder ich schlage dich tot.
Jver Kramme schüttelte den Kopf. Mein guter Oheim ist berauscht, sagte er,
dann sieht er immer tolle Hunde. — Nun ist er Wohl wieder bei Dorthe auf dem
Schloß gewesen! — Ja, so laßt uns nnr hineingehn!
Montag Abend — jetzt sollte „Agnthou und Kakophron" den Musikanten
im Ratskeller vorgelesen werden.
Als die Uhr sieben schlug, hatte Jver Kramme daheim keine Ruhe mehr, und
es half nichts, daß ihm Will erklärte, seine Kameraden könnten nicht vor acht Uhr
vom Schlosse kommen: er wollte fort, und Will mußte mit.
So kamen sie ins Rathaus und stiegen die steile ausgetretene Steintreppe
hinab, über der Tag und Nacht eine schläfrige Hornlaterne brannte. Weindunst
und Bierdunst — eine feuchte, widerlich süße und zugleich säuerliche Luft schlug
ihnen entgegen: lautes Reden, Lachen und Rufe» drang von unten herauf.
Im Keller war es schon voll von Menschen, das Getränk floß über die Tische,
und mau hörte alle Sprachen.
Hans Bartscheer und der Apotheker saßen in einer Ecke und spielten Fünfkart
init flämischen Karten; der Apotheker, der ein vorsichtiger Mann war, hatte eine
leere Kanne zwischen sich und seinen Mitspieler gesetzt, denn Hans Bartscheer kam
gerade von einem Patienten mit ansteckenden Fieber, und obwohl der brave
Medikus versicherte, er sei „mit ^junixsio geschwängert wie ein geräucherter Hering,"
so konnte der Apotheker es doch nicht leiden, ihn so nahe auf dem Leibe zu haben.
Ein paar von des Königs Leuten hielten sich gesondert an einem kleinen
Tische und waren mit Brettspiel und Würfeln beschäftigt, aber um den großen,
runden Tisch unter der Mitte der Wölbung saßen in buntem Durcheinander Schiffer
der verschiedensten Nationen — Holländisch und Englisch, Deutsch und Spanisch
tönten durcheinander. Der eine verstand in der Regel den andern nicht, aber em
dicker Niederländer mit runder Pelzmütze und ein magerer Engländer mit spitz-
köpfigen Hut waren in Unterhaltung miteinander gekommen, und so gut verstanden
sie sich doch, daß sie in lieblicher Eintracht den Sundzoll auf Englisch und auf
Holländisch verfluchen konnten.
Der Kellerschenk hatte ununterbrochen zu tun. Bald brachte er einen Krug
Sekt oder süßen Muskatwein, bald eine Kanne Rostocker Bier oder Braunschweiger
Mumme. Scharf getrunken wurde überall, und das Einzige, was die Gäste zu
ihrem Getränk aßen, waren ein paar gekochte Taschenkrebse, die sie von dem
Jungen kauften, der mit seinem Korbe von einem Tisch zum andern ging.
Jver Kramme und Will fanden einen leeren Platz und tranken, um sich die
Zeit zu vertreiben, einen Becher Rheinwein, aber Jver Kramme war sehr un¬
geduldig — kamen denn die Musikanten gar nicht?
Jetzt vernahm man Geräusch auf der Treppe — das waren sie wohl! —
Nein, es waren nur die Bürger, die in tiefer Nacht die Wache hatte», und die
jetzt herabkamen, um einen Abendtrunk zu tun, damit sie sich nachher ans ihrer
Runde um so besser lustig und munter halten konnten. Kräftige, handfeste Kerle
waren es, mit Degen und langen Büchsen, die sie an den Schenktisch lehnten,
während sie sichs eine Weile mit ihren Bekannten vergnügt machten.
Eine Trommel und eine Pfeife ertönten von oben her — endlich! Und in
feierlicher, lustiger Prozession marschierten die Musikanten mit Kemp an der Spitze
unter voller Musik rund in dem Keller herum. Unterhaltung, Spiel und Trinken
wurden einen Augenblick unterbrochen, aber als sich die zuletzt Angelangten zu
Will und Jver Kramme gesetzt hatten, und als sie mit ihrer Musik aufhörten, be¬
gann der allgemeine Lärm alsbald von neuem: Kannen klapperten, und Becher
klirrten, Würfel rasselten, und Rufe hallten durch den Raum.
Jver Kramme bestellte gleich zwei große Kannen Sekt — den Musikanten
war es ungeheuer trocken im Halse nach der Vorstellung, sagten sie —, und er
hatte auch das unbestimmte Gefühl, daß sich seine Komödie am besten ausnehmen
würde, wenn die, die sie hören sollte«, erst eiuen oder zwei Becher im Leibe hätten.
Als sie so einträchtiglich beieinander saßen und tranken, erschien plötzlich Herr
Johann.
Jver, Jver, rief er, ich habe deinen Sekt bis oben auf das Schloß hinauf
gerochen, und ich würde kein andres Getränk trinken, wenn mein einziger Bruder-
sohn traktiert! — Macht Platz auf der Bank da für einen ehrlichen alten
Kriegsmann!
Setz dich hierher, Rotweinnase! sagte Brhcm und rückte ein wenig zur Seite.
Ihr habt mehr als eine Schiffsladung Bordeaux im Leibe! fuhr Pope fort.
Und das Haar hängt um Euch herum wie der Flachs an der Spindel! sagte
Robert Percy.
Wißt Ihr, wie Ihr aussehe? fragte Kemp. Ihr seht, weiß Gott, ans wie
ein durchgeschnittner Rettich, in den man eine Fratze geschnitzt hat!
Die andern lachten, und Herr Johann besann sich einen Augenblick, ob er
den Beleidigten spielen und an seinen Degen schlagen, oder ob er mitlachen solle,
aber er wählte resolut das letzte, setzte sich und goß schnell einen Becher hinunter.
Und dann erzählte er von damals, wo er mit dabei gewesen war, als man
Meldorf berannt hatte, und nun waren es neun große Dithmarschen geworden, die
er niedergemacht hatte; später erzählte er auch vou einer schönen Türkin, die ihm
auf der Insel Rhodos ihre Liebe geschenkt hätte, und wie er mannhaft vor Herrn
Peter Straus selig Augen gekämpft habe, was wiederum — selbstverständlich —
^ver Kramme Anlaß gab, in aller Bescheidenheit daran zu erinnern, daß er das
ebenfalls getan habe, als einer der gewöhnlichen Juden ans dem Kopenhagner
Schloß.
Man wurde immer lustiger, Kemp saug ein Lied, Pope spielte eine Stück auf
der Laute, und als der Kerkermeister, der sich einen Augenblick zu ihnen gesellt
hatte, unter der Hand erzählte, daß der junge Bursche, der einen der Stadtknechte
umgebracht hatte und im dunkeln Loch ganz hier in der Nahe saß, morgen hin-
gerichtet werden solle, würde Jver Kramme unblutig und sandte dem armen Sünder
eine Kanne sauern zum Valet.
Der niederländische Schiffer mit der runden Pelzmütze hatte es allmählich
satt bekommen, den Sundzoll zu verfluchen, und hatte sich unaufgefordert neben
Herrn Johann gesetzt. Er erzählte unaufhörlich von seinen merkwürdigen Erleb¬
nissen auf der See und log — wie sich Kemp ausdrückte — in der Stunde eine
dreimastige Pinasse voll; aber Herr Johann blieb ihm nichts schuldig und erzählte
von noch unglaublichem Erlebnissen, und als er schließlich, nach einer längern
Erzählung, auf die verwunderte Frage des Holländers: Aber wie seid denn Ihr
mit heiler Haut davou gekommen? ohne sich lange zu besinnen, antwortete: Wir
gingen mit Manu und Maus unter, Gott und Seiner Königlichen Majestät zu
Willen und zu Ehren! da strich der Holländer sein Topsegel vor ihm, nahm die
Pelzmütze ab, leerte seinen Krug und ging.
Jver Kramme saß indes da wie ein Huhn, das Eier legen will, dachte an
all den teuern Sekt, der zwecklos draufging, und fragte hin und wieder Will, ob
er nicht meine, daß es jetzt Zeit sei, das Stück vorzulesen; Will aber antwortete
beständig, sie müßten warten, bis weniger Gäste und mehr Ruhe im Keller seien,
und die Richtigkeit hiervon mußte Jver Kramme, wenn auch seufzend, anerkennen.
Wie es nun eigentlich zugegangen sein mochte, darüber wußte hinterher nie¬
mand recht Auskunft zu geben, aber plötzlich entstand Uneinigkeit im Rathanskeller.
Es fing damit an, daß der Apotheker und Meister Hans sich über das Spiel ver¬
uneinigten; der Apotheker schalt Hans Bartscheer auf Dänisch einen Sauschneider und
einen Schweinehund, und Hans Bartscheer blieb ihm auf Deutsch keine Antwort
schuldig. Da warf ihm der Apotheker die flämischen Karten an den Kopf, und
Meister Hans, der am Tage der friedlichste Mann in der ganzen Steinstraße war,
focht mit seinem silberknöpfigen Stocke in der Luft herum und rief überlaut:
Solch einem infamen Thericckfresser und Pflasterstreicher soll kein Quartier gegeben
werden — komm heran, Poltron!
Jetzt legten sich andre ins Mittel und nahmen Partei, man stieß gegen eine
Bank, ein Becher wurde verschüttet, und im nächsten Augenblick glich der ganze
Ratskeller einem Schlachtfelde: Kannen und Krüge sanften durch die Luft, Tische
und Bänke wurden umgeworfen, es wurde blank gezogen, geheult und gerufen,
und schließlich kamen die Nachtwächter und die Stndttnechte. Die Mehrzahl der
Gäste entfloh beizeiten, ein paar wurden trotz alles Protestes ins Loch zu dem
Sünder gesperrt, der hingerichtet werden sollte, und dann kehrten Friede und Ruhe
wieder ein.
Jver Kramme, der sich während des Spektakels hinter den Schenktisch gerettet
hatte, setzte sich wieder an seinen alten Platz, und Herr Johann, den niemand be¬
achtet hatte, kam keuchend und stöhnend unter dem Tische hervorgekrochen.
Habt Ihr gesehen, wie ich kämpfte? sagte er. Nicht? Ja, ich lag mir mit
zwei niederländischen Schiffern und einem Spnniolen in den Haaren, aber ich be¬
hauptete meinen Platz! Ich bin ein alter Kriegsmann, uuter einem glücklichen
Sterne geboren, als Mars dominierte.
Oder retirierte! sagte Kemp und strich ein lustiges Stück auf der Geige.
Jetzt saß Will auf dem Rande des Tisches, das eine Bein unter sich gezogen,
und als Kemp seine Gavotte beendet hatte, spielte er wie in Gedanken aus Popes
Laute und summte dazu leise vor sich hin.
Was für ein Lied ist das? fragte Bull.
Das ist eine Melodie, die ich hier in Helsingör gelernt habe! antwortete Will.
Das Lied handelt von der Macht der Poesie.
Ich höre ebenso gern den Teufel selbst, wie ich Geiger und Lautenschläger
höre, erklärte Herr Johann mit lallender Zunge; ich bekomme nur Beklemmungen
der Herzgrube und andre Anfechtungen von dem Quinquilieren,. Alle die Menschen,
denen ich in Kriegszeiten den Garaus gemacht habe, stehn dann vor mir und
fordern ihr Leben von mir, und wenn Kanariensckt mit Zucker darin Sünde ist,
telum habe ich auch in Friedenszeiten schwer gesündigt. — Ach, ich weiß nicht
mehr, wie eine Kirche von innen aussieht, ich bin nicht besser als ein Kind der
Finsternis!
Herr Johann war jetzt in dem letzten Stadium seiner Trunkenheit, er weinte,
und nach einer Weile glitt er langsam von der Bank hinunter, bis sein Bauch
zwischen Tisch und Bank in die Klemme geriet; dann sank sein Kopf auf die Brust
hinab, und er schnarchte laut.
Ihr trinkt stark hier in Dänemark, sagte Will. — Aber laßt uus jetzt die
Komödie lesen!
Und Will las den ganzen „greulichen Brudermord," seine Kameraden er¬
klärten sich bereit, ihn zu spielen, obwohl sie ihn allerdings reichlich lang fanden,
und die Rollen wurden verteilt: Kemp sollte den Vater spielen, Bull Agathon,
Brycm Kcikophron, Pope Euchnris, und Percy erst den Hund, dann den Richter.
Aber Bull, der den Sekt schlecht vertragen konnte, war ganz benebelt und
sagte zu Will, wenn er den Agathon spielen solle, so dürfe seine Geliebte nicht
Eucharis, sondern Elisabeth heißen, das verlange er auf das bestimmteste. Schlie߬
lich wurde er ganz wild und schrie, er wolle hin und Boltnm totschlagen, und
da mußten sie ihn halten und konnten ihn nnr mit Mühe beruhigen.
Es war weit über Mitternacht, als man ausbrach, und auf dem Heimweg
mußte Will Jver Kramme stützen.
Der König war nach Kopenhagen gezogen, und der König wollte drei Tage
wegbleiben, da konnten denn die Musikanten die Zeit benutzen und die neue Ko¬
mödie einstudieren. Zwei Proben sollten sie im Rittersaal haben, wo die Tribüne
errichtet war, und Will hatte es übernommen, seine Kameraden einzuüben.
Jetzt standen er und Jver Kramme nach Tische bereit, zu der ersten Probe
nach Kronborg zu gehn, und Christcnee befestigte eine frische Blume an Wilts Hut.
Danke, Jungfer! sagte er. Wißt Ihr, welchen Namen die Liebhaberin in
Euers Bruders Komödie erhalten hat? — Sie heißt wie Ihr!
Christcnee?
Nein! Ihr wißt doch, daß Ihr für mich Elisabeth heißt! — Lebt wohl,
Jungfer, zu der letzten Probe sollt Ihr mitkommen.
Vor dem Schlosse begegneten sie Herrn Johann. Er parlamentierte mit ihnen
wegen der Erlaubnis, angehn und die Komödie sehen zu dürfen — nicht daß er
sich, wie er selber offen gestand, das geringste aus dergleichen törichten Mummen¬
spiel mache, worin nicht einmal eine ordentliche Fechtschule, geschweige denn eine
Bärenhatz vorkam, sondern einzig und allein aus liebevoller Teilnahme für den
Brudersohn. Will erklärte ihm jedoch, es sei allen, die nichts damit zu tun hätten,
auf das strengste verboten, deu Proben beizuwohnen; diesem Ausspruch mußte er
sich schließlich beugen, und so ging er denn in die Speisekammer zu Dorthe hinab,
während sich die andern in den Rittersaal hinauf begaben.
Dort trafen sie Kemp, Bryan, Pope, Percy und die andern, nnr Bull war
noch nicht gekommen.
Will sah sich in dem prächtigen Saale um; da war genng zu sehen.
Mitten an der einen Längswand stand die Tribüne, auf der die Schauspieler
auftraten, und gerade gegenüber stand der Thronsessel, dessen Baldachin mit roter
und weißer Seide und mit Goldbrokat schön ausstaffiert war, aber der vornehmste
Schmuck des Saales waren doch die Tapeten mit den drei dänischen Königen, die
Hans Knieper gemalt hatte, und die in Slangerup gewebt worden waren.
Das ist ja Euer König! rief Will zu Jver Kramme gewandt, und er zeigte
auf eine der Tapeten. Ich kenne ihn sehr wohl wieder von dem Tage her, wo
er an dem Kloster vorüberritt!
Jver Krcunme ging auch voller Interesse umher und sah sich um.
Seht Ihr, wessen Konterfei wir hier haben? fragte er und zeigte auf eine
Tapete. Lese nur die Inschrift, das ist Euer Amiet!
Ist das möglich? rief Will. Glaubt Ihr, daß es ähnlich ist?
Das kann ich uicht mit Bestimmtheit sagen, entgegnete Jver Krcunme.
Will war in eine der Fensternischen nach Osten getreten und ließ sein Auge
hinausschweifen.
Wohl verstehe ich es jetzt, daß Kronborg als Wache hierher gebaut werden
mußte, denn der schöne Sund ist wie eine leichtsinnige Frau, die jedem ihren
frischen Mund reicht und die Arme Freund wie Feind öffnet. — Ja, hier auf
Kronborg, hier am Sunde hat Prinz Hamlet gelebt!
Ach was, Unsinn! wandte Jver Kramme ein; er lebte ja in Jütland — das
könnt Ihr selber in der Chronik lesen.
Jütland kenne ich nicht, fuhr Will fort, aber Kronborg kenne ich jetzt, und
hier stelle ich mir den Schauplatz für den dänischen Prinzen vor: hier verstellt er
sich, hier liebt er, und hier rächt er den Tod seines Vaters.
Jetzt endlich kam Bull.
Kemp machte seinem Ärger Luft, weil man auf ihn hatte warten müssen, und
Brhan sagte von ihm, er sehe leibhaftig aus wie Agathon, wo er schon ermordet
worden sei. Will aber klatschte in die Hände und veranlaßte die Musikanten,
mit dem Vorspiel zu beginnen.
Die Pantomime verlief recht gut. Mitten auf der Tribüne stand in einem
Kübel ein Orangenbaum, der aus dem Schloßhofe heraufgeholt wordeu war — das
war der Baum mit der verbotnen Frucht —, und Bryan zog als Kalophron des
Vaters — Kemps — große Schuhe an und agierte ganz verständlich, indem er
damit deutliche Spuren in dem weichen Boden um den Baum abdrückte. Dann
kam Kemp, maß die Spuren und fand, daß sie nur auf ihn selber paßten, und er
verlieh mit so großer komischer Kraft dem stupiden Staunen Ausdruck, daß sogar
Jver Kramme, der ein ernster Mann war, laut lachte — er hatte nicht geglaubt,
daß seine Komödie so amüsant sei.
Gerade als das Vorspiel zu Ende geführt worden war, fiel Wilts Blick auf
eine der Tapeten, die sonderbare Falten schlug und sich bewegte, als wenn jemand
dahinter verborgen wäre.
Kemp bemerkte es in demselben Augenblick und rief:
Was ist das? Da ist jemand hinter der Tapete. Und dann lief er hin und
hob sie in die Höhe.
Da stand Herr Johann dunkelrot vor Wärme und Wut.
Jver, Jver. keuchte er, deswegen also durfte ich nicht heraufkommen und deine
elende Komödie sehen! Aber ich habe dich doch angeführt, denn Dorthe hat mir
den Weg gezeigt, der von der Speisekammer die Treppe herausführt, und ich bin
gerade zur rechten Zeit gekommen! Schäme dich, daß du deinen eignen armen
Oheim so verhöhnst! Aber jetzt ist mirs wie Schuppen von den Augen gefallen,
und jetzt weiß ich, daß kein andrer als Jens Turbo meine Kirschen gestohlen hat,
und daß der arge Schelm mir auch noch den Tort angetan hat, sie in meinen
eignen alten Schuhen zu stehlen!
Jver Kramme sah genau so unschuldig aus, wie er es je i» Wirklichkeit gewesen
war, und er erklärte ganz ruhig, das Vorspiel habe nicht er. sondern Will gemacht.¬
Will trat nun hinzu, und es gelang ihm denn anch, Herrn Johann einiger
maßen zu beruhigen, teils indem er auf sein Gerede einging, teils indem er sagte,
daß er, da er uun ja doch einmal herauf gekommen sei, in Gottes Namen hier bleiben
könne, bis das Stück zu Ende sei.
Da setzte sich Herr Johann auf eine Stufe der Tribüne, und die eigentliche
Komödie nahm ihren Anfang.en
Will war unermüdlich in Beschäftigung, er ließ die Schauspieler wiederhol
und verbesserte fortgesetzt.
Nicht mehr sagen, als in deiner Rolle steht, Kemp, hieß es, uno keine Über¬
treibungen, das ist gegen die Natur des Schauspiels! — So, Bryan! Aber die
Bewegungen müssen den Worten entsprechen, und die Worte den Bewegungen! —
Noch einmal, Pope! Und mit Maßen: die Verse dürfen doch nicht gebrüllt werden
wie von einem Turinwächter!
Wilts Kameraden fanden sich in alle seine Aushebungen und richtete» sich
danach, und als sie erst über den Anfang des Stückes hinausgekommen waren,
ging es ohne Unterbrechung weiter. Pope, der Eucharis, oder wie sie jetzt hieß:
Elisabeth, spielte, sprach in hohem, feinem Diskant, Bull sprach zu ihm mit einer
Innigkeit, als habe er wirklich ein Weib vor sich, Bryan war hinreichend dämonisch
als der böse Kakophron, und Percy bellte und heulte ganz natürlich wie der ge¬
treue Hund Snelle, der sein Leben für seinen Herrn ließ.
Aber als diese Szene eben beendet war, und Percy aus dem Bärenfell heraus¬
kroch, um das Gewand des Richters anzuziehn, wurde die Probe jäh dadurch
unterbrochen, daß Herr Johann eine Art Schlaganfall bekam. Er stieß einen lauten
Schrei aus, sank zu Boden und war dann so schwach, daß er nicht imstande war,
ein Wort hervorzubringen.
Jver Kramine richtete ihn mit Hilfe von ein paar Musikanten auf und
sprengte ihm Wasser ins Gesicht; das brachte ihn einigermaßen wieder zu sich, und
als er einen Becher Sekt geleert hatte, der aus der Speisekammer geholt worden
war, konnte er wieder auf den Beinen stehn, aber er war ganz sterbenskrank,
zitterte an allen Gliedern und war der Sprache kaum mächtig. Ein paarmal fing
er an, mit Jver Kramme zu reden, aber was er sagte, war ganz unverständlich,
und das Ende von der Sache war, daß die Spießdreher des Königs den Kranken
in seine Wohnung brachten.
Die Probe ging nun ruhig ihren Gang bis zum Schluß. Percy spielte den
Richter mit großer Würde, und der Gerechtigkeit geschah volle Genüge, indem
Kakophron schimpflich hingerichtet wurde.
Jver Kramme war sehr zufrieden, und Will meinte ebenfalls, daß „der greu¬
liche Brudermord" nach einer weitern Probe dem König sehr wohl vorgestellt
werden könne. ^ . - .
(Schluß folgt)
Ein schönes neues Wort, ein nach Form und In¬
halt gut deutsches Wort, denn eine „Sprachdummheit" ist es merkwürdigerweise
nicht, und die Sache selbst entspricht ganz und gar unsrer nationalen Eigenheit.
Der echte Deutsche befindet sich bekanntlich nur daun wohl, wenn er über die Re¬
gierung und über die Zustände, in denen er lebt, nach Herzenslust schimpfen kann.
Er hat zwar ein gutes altes Sprichwort: „Tadeln ist leichter als besser machen,"
aber er befolgt es lieber nicht. Leider enthält nur das Wort „Reichsverdrossen¬
heit" eine grobe Gedankenlosigkeit oder eine Niedertracht der Gesinnung. Das,
was einen verdrießt, das will man doch beseitigen, um den Verdruß mit der Ur¬
sache des Verdrusses los zu werden, und das entbehrt man mindestens gern. Wer
also an „Neichsverdrossenheit" leidet, der muß folgerichtig meinen, ihre Ursache,
also das Reich, entbehren zu können, denn das Reich verdrießt ihn ja eben, er hat
keine Freude mehr daran, er ist das glänzende Spielzeug überdrüssig geworden und
möchte es wegwerfen, wie ein Kind, das an seinem Pferdchen genug hat. Scherz
beiseite, für viele, sehr viele Deutsche ist der Neichsgedanke immer noch nur so eine
Art Festtagsgedanke, an dem sie sich begeistern wollen, für den sie reden, trinke»
und singen wollen. Wenn ihm da irgend etwas gegen den Strich geht, dann
wird der Durchschnittsreichsbürger mißmutig, er kann sich nicht mehr darüber freuen,
er hätte sich das ganz anders gedacht, und wenn das Reich ihm, wie es eben
ist, nicht mehr gefällt, dann mag es seinetwegen der böse Feind holen. Es müßte
also auch ohne das Reich gehn. Ginge es wirklich ohne das Reich? Nein, und
abermals nein! Wir könnten gar nicht leben ohne das Reich. Es verlohnt nicht,
erst nachzuweisen, daß Deutschlands politische und wirtschaftliche Weltstellung auf
dem Reiche beruht, daß es ohne das Reich wieder ein geographischer Begriff und
der Spielball seiner Nachbarn sein würde, daß die einzelnen Staaten, auf sich ge¬
stellt, mit der alleinigen Ausnahme Preußens ohne das Reich jede Sicherheit ihres
Bestandes verlieren und in Gefahr kommen würden, wieder als eine große Ent¬
schädigungsmasse behandelt zu werden, wie vor hundert Jahren; daß ohne das Reich
weder das Königreich Bayern noch das Königreich Sachsen auf irgend eine längere
Zukunft rechnen könnte. Unsre Fürsten haben diese Wahrheit längst eingesehen und
sind deshalb die festesten Stützen des Reichsbaus geworden, in weiten Kreisen
unsers Volkes, auch in höchst gebildeten, ist man des Reichs überdrüssig, weil nicht
alles immer so geht, wie man es für richtig und ersprießlich hält, und mau be¬
zeugt damit nur die unverbesserliche, unheilbare politische Unreife unsers Volkes.
Oder man frage doch in Frankreich und England, ob es dort so etwas wie „Neichs-
verdrossenheit" gibt. Obwohl auch dort so mancherlei zu finden ist, was dem eiuen
oder dein andern Staatsbürger nicht „Paßt," jeder Franzose und jeder Engländer
würde den Gedanken, daß er seines Nationalstaats jemals überdrüssig sei» könnte,
mit Entrüstung als hochverräterisch abweisen, ja er würde ihn gar nicht begreifen,
so etwas Selbstverständliches ist ihm seine nationale Einheit geworden. Wie weit
sind wir Deutschen doch noch von solcher Gesinnung entfernt!
Das Reich ist für jeden Deutschen das politische Vaterland, das ganze Reich,
und zwar das Reich in seinen bestehenden Grenzen, nicht das „altdeutsche" Traum¬
reich, zu dem einst Deutsch-Österreich, die Schweiz, Holland, Belgien und noch
einiges andre gehören sollen. Denn dieser phantastische nationale Radikalismus
hat vor keiner geschichtlichen Erfahrung und Entwicklung Respekt. Es kommt
durchaus nicht darauf an, daß ein Nationalstaat alle Glieder eines Volkes umfaßt,
es kommt lediglich darauf an, daß ein solcher besteht, daß die Hauptmasse eines
Volkes Politisch geeinigt ist, seine Eigenheit in der Welt zur Geltung bringt und
den nicht mit eingeschlossenen Teilen des Gesamtvolkes einen festen Rückhalt bietet.
Es wäre ja in mancher Hinsicht ganz schön, wenn Deutsch-Österreich zum Reiche
gehörte, aber die Trennung hat schon mit 1156 begonnen und war 1648 inner¬
lich vollendet. Und kein großes Volk Europas ist ohne Rest in einem einzigen
Staatsbäu vereinigt, weder sind es die Russen noch die Franzosen noch die Italiener
oder gar die Engländer. Der Gedanke, Deutsch-Österreich in das heutige Reich aufzu¬
nehmen, ist geunu so vernünftig, wie die italienische Jrredenta und der russische
Panslawismus, über die wir uns so gern aufrege«, und seine Verwirklichung wäre
dem Deutschen Reiche und dem Deutschtum geradezu schädlich. Schon die Furcht
vor solchen Möglichkeiten, denen unsre Reichspolitik doch immer meilenfern gestanden
hat, hat die österreichische Regierung seit langem veranlaßt, die tschechische Anmnßnng
zu begünstigen, um in einem von den Tschechen möglichst beherrschten Böhmen
ein Bollwerk gegen den politischen Zusammenschluß der österreichischen Deutschen und
der Reichsdeutschen zu schaffen. Und was wollten wir mit diesem zähen und
energischen slawischen Stamme machen, die wir mit den um so viel schwächern Polen
nicht fertig werden? Wir konnten diese slawischen Bevölkerungen doch auf die
Dauer weder absolut regieren noch sie in unsern Reichstag zulassen, worin dann
mindestens zwölf Millionen Slawen vertreten wären. Das Zentrum aber würde
ungeheuer anwachsen, denn daß die Deutsch-Österreicher auf Grund unsers allge¬
meinen Wahlrechts wesentlich Zcntrumsleute in den deutschen Reichstag schicken
Würden, das kann trotz dem liberalen Bürgertum und der „Los von Rom-Bewegung,"
die die Massen doch nicht fortreißt, gar nicht zweifelhaft sein. Wie dann unser
Reichstag aussehen würde, das kann man sich leicht vorstellen, und daß mit einem
solchen Reichstage eine deutsch-nationale Politik im Sinne unsrer Liberalen nicht
gemacht werden könnte, daß die politisch in so und so viele Parteien zerfahrenen
protestantischen Landesteile völlig ins Schlepptau der katholischen genommen werden
würden, daß das Übergewicht Preußens, das allem den Bestand des Reichs ver¬
bürgt, dann uicht haltbar Ware, das alles liegt doch wohl auf der Hand. Wer
also den Einfluß des Zentrums nicht ins Ungemessene verstärken und das Reich
nicht mit fremden Bevölkerungsteilen überladen will, wer seine Grundlagen nicht
erschüttern will, der kann den Einschluß Deutsch-Österreichs nicht wollen. Nur den
Kulturzusammenhang mit den österreichischen Deutschen können und sollen wir pflegen,
und das völkerrechtliche Bündnis mit der Gesamtmonarchie müssen wir festhalten,
alles andre ist eine unklare, ja schädliche Träumerei.
Woran liegt es denn nun. daß die Begeisterung für unser Deutsches Reich,
wie es aus den Kämpfen von 1864 bis 1871 hervorgegangen ist, im „Abflauen"
ist. daß die kindische „Neichsverdrossenhcit" überhaupt aufkommen konnte? Abge¬
sehen von unsrer schon charakterisierten Eigentümlichkeit trägt das allgemeine Ver¬
blassen idealer Gesinnung und das Vordrängen einer brutalen Interessenpolitik eine
Hauptschuld. Von unsern großen Parteien haben heute eigentlich nur zwei noch
Ideale, d. h. große, über das materielle Interesse Hinansreichende Ziele, das
Zentrum und die Sozinldemokratie, und darin liegt ihre Stärke. Da dafür gesorgt
ist, daß sie beide diese ihre Ziele nicht erreichen, das Zentrum nicht, weil der
moderne Staat die volle „Freiheit" der Kirche nicht gewähren kann, die Sozial¬
demokratie nicht, weil die Herrschaft des Proletariats kulturfeindlich wäre und also
unter allen Umständen verhindert werden muß, so haben beide Parteien noch lange
Zeit, sich an ihren Idealen zu begeistern. Die andern Parteien sind heute nur
"och verhüllte wirtschaftliche Interessengruppen, die unter verbrauchten, immer
wiederholten Schlagworten für materielle Vorteile streiten und politische Ideale
nicht mehr verfolgen, weil diese ihre Ideale mit der Ausbildung der konstitutionellen
Verfassungen und der Errichtung des Deutschen Reichs längst verwirklicht sind;
erfüllte Ideale aber sind keine mehr. Diese „staatserhaltenden" Parteien könnten
neue Ideale haben, wenn sie mit ganzer Kraft die Wcltpolitik des Reichs unter¬
stützten, aber gerade diese überlassen sie kurzsichtig im ganzen der Regierung, oder
sie bekämpfen sie much geradezu. Deun Schillers Satz: „Es wächst der Mensch
mit seinen größern Zwecken" findet in der jüngsten Geschichte des deutschen Volkes
leider nur wenig Bestätigung. Wie sehr wir vollends von allen unsern alten
Bildungsidealen abgefallen sind, wie sich hier der Haß gegen diese Ideale mit
Platten Bnnauseutum in der unerfreulichste» Weise verbindet, das soll hier nicht
weiter ausgeführt werden. Aber anch die auswärtige Politik der großen Mächte ist
sozusagen ideenlos geworden und wird nur von materiellen Interessen beherrscht.
Das achtzehnte Jahrhundert hatte sein Humanitätsideal, und es ist ein großer
Zug der französischen Revolution, daß sie die Freiheit, die sie daheim errungen
zu haben glaubte, auch andern Völkern bringen wollte. Im neunzehnten Jahr-
hundert begeisterte man sich für die Freiheitskämpfe der Griechen und der Polen,
Napoleon der Dritte stellte das Nationalitätsprinzip auf und verhalf ihm in Italien
praktisch zur Geltung, was keineswegs so ohne weiteres im französischen Interesse
war, und Garibaldi kam 1870 den Franzosen zu Hilfe, nur weil er die Republik,
sein eignes politisches Ideal, verteidigen zu müssen meinte. Von solcher „Schwärmerei"
sind wir klugen Leute jetzt unendlich weit entfernt. Es ist uns ja seit Jahrzehnten
vorgepredigt worden, daß wir mir unsre eignen Interessen zu vertreten hätten, daßuns «lies sonst nichts anginge, und praktisch hat sich daraus die Theorie von der
Nichtinterventionspolitik entwickelt, die jeden Staat sich selbst überläßt und auch die
größten Greuel duldet, wenn sie nur das eigne Interesse nicht berühren. Gewiß,
Gefühlspolitik kann und soll eine große Macht nicht treiben, am wenigsten heute,
wo jeder große Krieg einen ungeheuern Einsatz fordern würde; aber es ist wahrhaftig
kein Ruhm für unsre moderne Gesittung, daß Europa z. B. den scheußlichen
Armeniermorden des Jahres 1898 ruhig zusah, und daß es über die Belgrader
Schlächterei in der Nacht des 10. Juni dieses Jahres nicht einmütig und energisch
seine rückhaltlose Verurteilung aussprach, um diesen Serben zum Bewußtsein zu
bringen, daß sie Barbaren seien, mit denen man nicht mehr Verkehren könne. So
weit haben wir das Bewußtsein der Kulturgemeinschaft und der Pflicht, diese
Kultur zu schützen, verloren! Wenn die Mächte in China leidlich einmütig eingriffen,
so geschah das doch mehr wegen materieller Interessen; als unser Kaiser dabei
einmal die Pflicht, die christliche Kultur da drüben zu schützen, hervorhob, wurde
er von unsrer gesinnungstüchtigen Presse wegen dieses „Rückfalls ins Mittelnlter"
geradezu verhöhnt, und wenn sich diese für die Buren begeisterte, so hatte daran
der unvernünftige Haß gegen England seinen reichlichen Anteil. Nicht mit Unrecht
nennt unser Kirchenhistoriker Heinrich Gelzer die Haltung Europas gegenüber den
Armcniermorden einen „deutlichen Beweis der immer sieghafter um sich greifenden
moralischen Dekadenz unsrer Generation." Wie soll sich nun diese Generation, der
man alle allgemeinen Ideale abgewöhnt hat, und der doch der Neichsgedante noch
keineswegs so in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie längst geeinigten Völkern,
noch besonders für das nationale Ideal erwärmen, das eine frühere Generation
zu den größten Opfern begeistert hat! Die heute vorwiegenden wirtschaftlichen
und sozialen Bestrebungen aber wirken viel mehr trennend als einigend.
Die „Neichsmüden" machen freilich andre Gründe für ihre Verstimmung
geltend und suchen diese vor allem beim Kaiser und beim Kanzler. Oft genug
haben die Grenzboten darauf hingewiesen, daß der Kaiser als eine sehr eigen¬
tümliche und bedeutende Persönlichkeit verstanden sein will, daß er sich das Recht,
eine solche zu sein, nicht durch Zeitungsgeschwätz unberufner Splitterrichter Ver¬
kümmern läßt, daß alles, was er sagt und tut, aus seinem innersten Wesen kommt,
es mag dem oder jenem gefallen oder nicht, daß er endlich nach Bismarcks Prophe¬
zeiung sei» eigner Kanzler geworden ist, und damit zum Leidwesen mancher das
frühere übrigens mehr in der Einbildung bestehende Verhältnis zwischen Kaiser und
Kanzler umgekehrt hat, als wenn dieses das natürliche gewesen wäre! Wir gehn
hier deshalb auf Einzelheiten nicht ein, weil sie zu unbedeutend sind, um die
„Reichsverdrossenheit" irgendwie zu rechtfertigen oder auch nur zu entschuldigen,
und weil an seinem ernsten Willen, „dem Bewußtsein, für 58 Millionen Deutsche
verantwortlich zu sein," wie er jüngst in Merseburg ausgesprochen hat, und der
ungewöhnlichen Fähigkeit, dieser seiner ungeheuern Aufgabe zu genügen, nicht der
leiseste Zweifel erlaubt ist. Aber seine ganze Politik ist seit Jahren fortwährend
kleinlichen und hämischen Angriffen ausgesetzt. Nichts ist dümmer, als der Vor¬
wurf, er secure einen „Zickzackkurs," wenn er schlechtweg die deutschen Interessen
im Auge hat und deshalb weder englische noch russische Politik treibt, sondern eben
deutsche, und es ebensowohl vermeidet, sich mit der einen oder der andern dieser
beiden Mächte zu überwerfen als ihr „nachzulaufen." Er hat in Ostasien mit
Rußland und Frankreich zusammen gegen Japan Front gemacht, als es das deutsche
Interesse verlangte, und er hat sich später dort aus demselben Grunde mit Eng¬
land gegen Rußlands zweideutige, rücksichtslos ausgreifende Politik verständigt.
Gelegentlich wird ihm eine „Politik der Verbeugungen" namentlich gegenüber Nord¬
amerika zum Vorwurf gemacht, die der jetzt zuweilen so reizbare deutsche National¬
stolz als demütigend auslegt; aber man vergißt dabei nicht nur, daß eine An-
remplungspolitik weder imponiert noch gewinnt, sondern auch, daß wir zur See
noch viel zu schwach sind, als daß wir es riskieren könnten, uns mit einer über¬
seeischen Großmacht in einen Konflikt einzulassen. Übrigens möchten wir wissen,
inwiefern denn kaiserliche Aufmerksamkeiten gegen den Präsidenten Noosevelt irgend¬
wie Deutschlands unwürdig wären. Der beste Wächter über die Würde Deutsch¬
lands ist doch wohl der Kaiser.
Ganz besondern Anstoß hat seit Jahren in evangelischen Kreisen die Kirchen¬
politik des Kaisers erregt. Offenbar ist es sein Bestreben, die heillosen Wirkungen
des unzweifelhaft mißlungnen Kulturkampfes auf seine katholischen Untertanen all¬
mählich zu beseitigen. Das ist ihm der Hauptsache nach gelungen, denn man hat
kein Recht, die Äußerungen deutsch-patriotischer Gesinnung, wie sie nicht selten von
katholische» Kirchenfürsten und noch zuletzt auf dem Katholikentage in Köln zutage
getreten sind, für Heuchelei zu halten, wobei wir allerdings den verstockten Parti-
kularismus des bayrischen Zentrums, der mit katholischen Interessen nichts zu tun
hat. beiseite lassen. Und wir fragen: Ist durch ein solches Entgegenkommen die
evangelische Kirche irgendwie geschädigt worden? Sollte sie wirklich so schwach
sein, daß ihr die Rückkehr einiger Jesuiten gefährlich werden könnte? Hat nicht
der Kaiser zugleich den Anstoß zu einem engern Zusammenschluß der evangelischen
Landeskirchen gegeben, der nun glücklich in die Wege geleitet worden ist und nicht
etwa von katholischer Seite bekämpft wird, sondern von einigen rückständigen
protestantischen Kreisen? Hat er nicht erst jüngst wieder Luther als den größten
deutschen Mann gefeiert? Eine konfessionelle Politik kann heute Gott sei Dank ein
deutscher Kaiser nicht treiben; daß es die Habsburger noch im siebzehnten Jahr¬
hundert versuchten, hat den Dreißigjährigen Krieg entzündet. Was Protestanten
und Katholiken trennt, das sind, abgesehen von den Glaubenslehren, allerdings
Prinzipien, die Stellung der Kirche zum Staat und die Auffassung der Kirche als
einer hierarchischen Weltkirche, an deren Zusammenhang auch unsre katholischen Mit¬
bürger selbstverständlich festhalten. Mit dieser Auffassung haben wir Protestanten
uns abzufinden, und wir können das ohne Schaden, mit jeuer ist natürlich nur ein
moäns vivomii möglich, wie bei so vielen prinzipiellen Gegensätzen. Allerdings, wenn
der Papst könnte, so würde er vermutlich den Protestantismus vertilgen wollen.
Aber es gibt ganz gewiß auch auf protestantischer Seite genug Eiferer, die am
liebsten die katholische Kirche, wenigstens in Deutschland, zerstören möchten. Von
dieser veralteten Auffassung müssen wir uns beiderseits aber freimachen. Wir
Protestanten müssen aufhören, die katholische Kirche als etwas eigentlich Unberechtigtes,
womöglich Autiuatiouales zu betrachten, und von den Katholiken müssen wir ver¬
langen, daß sie den Protestantismus als eine berechtigte historische Erscheinung
gelten lassen. Die gegenseitige widerwärtige Verhetzung, wie sie heute auch durch
die Tagespresse geht, ist zwecklos und schädlich. Im Wettkampfe beider Kirchen
liegt das Heil, nicht in der gegenseitigen Bekämpfung und Verunglimpstmg. Das
ist es. was auch die kaiserliche Kirchenpolitik erstrebt.
"
Kurz und gut, die „Reichsverdrossenheit beruht entweder auf einer falschen
Auffassung mancher Verhältnisse, oder auch ans Erscheinungen, die nicht der Mühe
wert sind, daß sich ernste Männer darüber aufregen. Sie ist jedenfalls eine
„Stimmung," und die Deutschen wollen doch wohl keine nervösen Weiber sein, die
sich von „Stimmungen" leiten lassen. Übrigens ist sie größtenteils das Erzeugnis
einer gewissen Presse, nicht der „Volksseele," denn daß der Kaiser trotz dieser Presse
höchst populär ist, das zeigt sich überall, wo er erscheint, und darum vertrauen wir,
daß auch di
Bei den dies¬
jährigen Kaisermanövern an der Saale vom 5. bis zum 11. September waren die
vier Armeekorps, das vierte, elfte, zwölfte und neunzehnte, bekanntlich in zwei Heere
geteilt, svdnß die beiden ersten die Westarmec, die beiden letzten die Ostarmee
bildeten. Die amtliche Bezeichnung unterschied in jetzt herkömmlicher Weise eine rote
und eine blaue Armee, sie unterließ es, sie „preußisch" und „sächsisch" zu nennen,
mit gutem Grnnde, denn bei deu „Sachsen" standen anch vier preußische Kavallerie¬
regimenter, und zu den „Preußen" gehörten selbstverständlich much die ans den
thüringische» Kleinstaaten und aus Anhalt rekrutierten Regimenter. Nichts destoweniger
bürgerte sich die Bezeichnung „sächsisch" und „preußisch"'beim „Volte" sofort ein, und
die Presse mochte das gedankenlos mit. Das hätte nun gar nichts auf sich, wenn nicht
dabei auf sächsischer Seite sofort ein klein wenig von dem eilten Pcirtikularismns
wieder hervorgebrochen wäre. Man ruhen nicht nnr natürlich den regsten Anteil
an dem Geschick der „sächsischen" Truppen, sondern war sogar geneigt, Manöver¬
erfolge, wie die Wegnahme einer „preußischen" Batterie durch die 134er und die
Gefangennahme eines „preußischen" Bataillons durch sächsische Ulanen fast wie
wirkliche Siege zu feiern! Wie gesagt, die Sache hat an sich nichts auf sich,
aber man sollte bei solchen Gelegenheiten lieber alles vermeiden, was die Erinnerung
um alte überwundne Gegensähe wieder erwecken könnte, und deshalb künftig die
Manöverarmeen, bei denen außerpreußische Armeekorps beteiligt sind, womöglich so
zusammensetzen, daß diese nicht eine geschlossene Partei bilden, wie es am letzten
Manövertage in der Tat der Fall war, denn da stand das zwölfte Armeekorps
mit dem vierte« und dem elften zusammen.
Unter den reizenden Makamen des Hariri, die Friedrich
Rllckert übersetzt hat, ist die siebente überschrieben: Nadel und Kamm. An einem
kleinen Ort in der Nähe von Bnsra treten zwei Parteien vor den Kadi, ein Alter
und ein Jüngling, und verlangen Gerechtigkeit. Der Jüngling hat dem Alten eine
Nähnadel verdorben, der alte Mann dafür einem Kamme, der jenem gehörte, einen
Zahn ausgebrochen. Der erzürnte Besitzer beschreibt seinen Kamm gar artig: „Ein
barsches Bürschchen — als wie ein Hirscheber — mit Zinken und Zacken — und
elfenbeinblinkendem Nacken — mutwillig und eitel — will jeden? über die Scheitel —
Jungen die Locken krausen — Alten die Borsten zausen — liebt Putzen und Zieren —
durch Wälder zu spazieren — und fürchtet nicht den Weg zu verlieren — bricht
durch dünn und dicht — und was sich sträubt, das macht er schlicht." Wenn man
aber genauer hinsieht, so gewahrt man mit einiger Enttäuschung, daß im Original
gar kein Kamm steht. Sondern ein andres Toilettenstück des Orients, nämlich der
feine Metallstift, mit dem das sogenannte Kocht, eine schwarze Schminke, ans Augen-
brauen und Wimpern aufgetragen wird. Rückert hat den Kamm als einen be¬
kanntern Gegenstand dafür eingesetzt. Das ist um so ärgerlicher, als die Araber
ebensogut Kämme haben, sie heißen in Syrien Muscht, in Ägypten Mischt, Plural:
Amschät. In diesem Lande brauchen sich freilich nur die Frauen zu kämmen, weil
sich die Männer den Kopf rasieren lassen, eine Sitte, die bis in das graueste
Altertum zurückgeht. Nichtsdestoweniger sind schon in den ägyptischen Gräbern
hölzerne Kämme gefunden worden.
Rückert hat uns also mit seinem Kamm angeführt; aber ein Kamm ist über¬
haupt etwas ganz andres, als sich einer träumen läßt. Der berühmte Anatom Ernst
Heinrich Weber erklärte einmal seinen Zuhörern, daß der Kamm eigentlich eine
Art von Sieb sei. Sofern er zur Reinigung dient, ganz recht: mit dem Kamm
werden die Haare gesiebt wie Mehl, sie gehn durch die Zinken des Kammes hin¬
durch wie durch die Löcher eines Siebes, während die Kleie im Sieb zurückbleibt.
Der Riese Gargautua, der einen ungeheuern Kamm von Elefantenzähnen hatte,
kämmte sich uach dem Sturm auf eine Festung die Kugeln aus, die ihm auf den
Kopf geflogen waren, und die er für Weinbeerkerne hielt. Unsereins siebt sich mit
seinem Kamme nur deu Staub ub.
Hier macht uns aber wieder der Herr Professor etwas vor. Wenn der Kamm
auch eine Bestimmung hätte wie ein Sieb, der Gestalt nach erinnert er doch um
-ein andres Instrument. An die Säge. Mit dieser teilt er sein Hauptmerkmal,
die Zähne oder die Zinken, die den Zähnen einer Säge so ähnlich sind, daß man
den gezackten Grat eines Bergrückens nach Belieben bald mit dem einen, bald mit
dem andern vergleicht. Wir sprechen von Gebirgskcimmen; der Spanier sieht lnnter
Sägen am Horizont. Er hat seinen Monserrat, seine Sierra Morena und Nevada;
Sierra heißt im Spanischen die Säge. Die steinernen Kämme der Indianer, die
mitunter abgebildet werden, sehen wirklich ganz aus wie kleine Sägen; in den
Legenden der Märtyrer kommen sogar eiserne Kämme vor, die von Sägen kaum
uoch zu unterscheiden sind. .Von der Wollkämmerei gar nicht zu reden. Die
Manier, die Zinken des Kamins mit Zähnen zu vergleichen, ist so alt wie der
Kamm; schon die Griechen und Römer haben von den Zähnen des Kammes ge¬
sprochen. Nebenher läuft noch ein andrer Vergleich, der noch mehr Licht auf die
Entstehung dieses merkwürdigen Gerätes wirft.
Die Dichter vergleichen bisweilen die fünf Finger der Hand und einem Kamm;
dieses Bild ist ebenfalls uralt, und es ist um so treffender, als die eignen Finger
wirklich der erste Kamm des Menschen gewesen sind. Man fährt sich hente »och
mit dem fünfzinkigen Kamme durch die Haare, wenn gerade kein andrer da ist.
Freilich war das etwas Mißliches, die Haare mit der Hand zu strählen.
Solange die Menschen keine richtigen Kämme hatten, kamen ste und ihrer
Eitelkeit fortwährend in Konflikt. Man muß nicht denke», daß sie bis dahin auch
noch gar nichts für ihren Haarschmuck getan und einen Kopf gehabt hätten wie ein
russischer Bauer oder wie Curius Dentatns. Die Wilden haben nicht immer wildes
Haar, obgleich sie es noch nicht kämmen. Sie flechten es. sie kräuseln es, sie
pomadisieren es, sie färben es, sie scheiteln es nur nicht. Es ist merkwürdig, wenn¬
gleich sehr bezeichnend, daß die Naturvölker, diese Bettler, die kaum genug habe»,
ihre Blöße zu bedecken, sehr hänfig alles auf den küustltchen Bau ihrer Locken
geben. Ein Papna, ein Ababde braucht so viel Zeit, sich das Haar zu machen, wie
eine Opernsängerin. Infolgedessen muß er ängstlich darauf bedacht sein, alles zu
vermeiden, was seine Frisur in Unordnung bringen könnte, weil sie nicht gleich
wieder herzustellen ist. Er kann nicht einmal ruhig schlafen; er legt seinen Nacken
in den Ausschnitt eines Brettes, in das sogenannte Schlafholz oder die Nackenstütze,
die in allen Erdteilen gebräuchlich ist. ja die sich in veränderter Form sogar in
Jnpan findet. Übrigens stehen bei uns die Frauen noch heute auf diesem Stand¬
punkt, weil ihr Haarputz noch heute ein kleines Kunstwerk ist. Wenn sie nach Tisch
Mittagsruhe halten, legen sie den Kopf nicht gern auf ein Kissen auf, weil sie ihre
Zöpfe zu gefährden fürchten. Als das terrassenförmige Haar- und Spitzengebäude
der Fontcmge noch Mode war, mußte man eigne Wagen bauen, damit die „Fon-
tanje" nicht zerdrückt wurde.
Der Maun, der sich kämmt, braucht sich nicht so sehr zu fürchten, wenn er
über Nacht zum Struwwelpeter wird; ein paar Striche stellen alles wieder her.
Es war deshalb ein großer Fortschritt, als die Menschen anfingen, bei ihrer Frisur
einen Kamm zu Hilfe zu nehmen und sich feiner ausschließlich zu bedienen. Die
Wilden wurden also Kammacher, »ut zwar begannen sie damit, einen einzigen
Finger nachzuahmen. Das heißt, der erste richtige Kamm des Menschen war ein
einfaches spitzes Stäbchen, von der Gestalt einer laugen Nadel, eine sogenannte
Scheitelnadell mit der mau das Haar scheitelte, und mit der die Gräfin Agnes von
Orlamünde, die „Weiße Fran," ihre beiden Kinder ermordet habe» soll. Diese
Nadel war jedoch "ursprünglich nicht ans Metall, weil das die Kopfhaut verletzen
konnte, sondern etwa aus Holz; die ältesten Kämme sind tatsächlich hölzerne gewesen.
Nameiitlich wurde seiner Feinheit und Elastizität wegen das Buchsbaumholz be¬
vorzugt. Oder man nahm ein Horn, das sich wie ein Fingernagel anfühlte!
meinetwegen auch eine Adlerkralle oder einen Elefantenzahn. Mit so einem spitze»
und doch nachgiebigen Instrumente konnte der Afrikaner seine schwarzen, von
Rizinusöl triefende» Locke» schlichte»; eben der nubische Kamm, den die Berabra
und die Ababde beständig bei sich führe», hat noch diese ursprüngliche Gestalt.
Eine erste Vervollkommnung des Geräth lag nahe. Ich meine, es lag nahe,
entweder eine natürliche Gabel, ein Ästchen oder ein zweispitziges Hörnchen auf¬
zutreiben, wie es die Natur darbot; oder das einfache Stäbchen selbst an einem
Ende z» spalte» und zu gabeln. Mit einem guten Kamme macht es sich leicht,
Mgte der Teufel, als er seine Großmutter mit einer Heugabel strählte; in der Tat
ist eine Haarnadel von schwarzem Eisendraht, mit einer Stecknadel vergliche», scho»
ein guter Kamm. Nun hatte man zwei Zinken, und das war schon ein Schritt
weiter in der Kammachcrei. Wenn man die beiden Zinken von neuem spaltete, so
bekam man endlich ein Ding, das wirklich so etwas wie Finger hatte und ganz
aussah wie eine Hand. Solche Kämme haben die Bewohner Neuguineas, die Papua,
die sie ebenfalls beständig bei sich tragen.
Noch weiter ging es aber auf diesem Wege nicht. Mehrzinkige Gabeln konnten
überhaupt nur künstlich erzeugt werden, und mehr als füufzinkige ließen sich nicht
machen, weil das Stäbchen als Halter kaum mehr zu gebrauchen war. Man mußte
sich also entschließen, ein mehr oder weniger breites Kammschild herzustellen, in das
die Zähne entweder eingesetzt oder eingeschnitten wurden; das erstere der beideu
Verfahren war früher in China, zeitweise auch in Europa üblich. Dazu brauchte
man flache Platten, die man aus Horn gewann; mau zerschnitt das Horn mit
Hilfe der Schrotsäge in mehrere sogenannte Schrote und bog diese dann aus¬
einander. Ähnlich wurde auch das Elfenbein, seit alten Zeiten ein sehr beliebtes
und geschätztes Material, namentlich zu fcinzähnigen Kämmen, und das Schildpatt,
eine Spezialität Neapels, hergerichtet; es kommt schon in dünnen, schwachgebogncu
Blättern im Handel vor. So entstand der Kamm, der allmählich breiter und breiter
und einer einfachen, dichten oder lockern Zahnreihe täuschend ähnlich wurde. Wenn sich
die Platte, wie bei unsern Staubkämmen, auf beiden Seiten zähmte, so kam eine
doppelte Zahnreihe heraus. Nur daß hier die Zcihue uicht wie im menschlichen
Munde einander zugekehrt wnreu, sondern mit ihren Wurzeln aneinander stießen.
Nach dem Gebrauch wurde der Kamm auf den Kopf gesteckt, wo er teils zur
Befestigung der geordneten Haare, teils zum Schmucke diente; unmeutlich von den
Frauen. So entwickelte sich aus dem primitiven einzinkigen Kamm die lange
goldne Nadel, der oft die Form eines Pfeils oder eines Degens gegeben wird, und
die man in den Zöpfen der Italienerinnen und der Rheinländerinnen sieht. Aus
der Gabel entstand die unscheinbare Haarnadel, und aus dem gewöhnlichen Kamme
der gebogne Einsteckkamm, der der Rundung des Hinterkopfes folgt. Die Chignon-
kämme sind gar keine Kämme mehr, sie dienen nicht nichr zum Kämmen, man hat
ihre ursprüngliche Bestimmung ganz vergessen.
Von Rom aus wurden die Kämme in der ganzen Welt verbreitet, und die
Barbaren wurden damit beschenkt. Namentlich liebten es die Päpste, fremden
Königinnen und Kaiserinnen dieses Präsent zu machen, das heutzutage anzüglich
erscheinen würde, im Mittelnlter aber großen Effekt gemacht haben mag. Im
siebenten Jahrhundert bekam die Königin der Langobarden Theodelinde von Gregor
dem Großen einen goldnen Kamm geschenkt, der im Dom zu Monza aufbewahrt
wird — um dieselbe Zeit bekam die Prinzessin Ethelburga, die Tochter des ersten
christlichen Königs von England, die Braut Edwins, von Bonifatius dem Fünften
einen elfenbeinernen Kamm geschenkt — und im elften Jahrhundert bekam die
deutsche Kaiserin, die heilige Kunigunde, vom Papst Benedikt dem Achten einen
Kamm geschenkt, der im Domschatz zu Bamberg zu scheu ist. Im Dome zu Osna¬
brück wird der Kamm Karls des Großen, im Schatze zu Quedlinburg der Bart-
kämm Heinrichs des Ersten aufbewahrt. Seitdem vervielfältigten sich die Kämme
auch bei uns, obgleich sich ihre Form uicht mehr verändert hat; nur ein neues
Material ist zu den bisher benutzten hinzugetreten, das Hartgummi, das die Eigen¬
schaften des Horns hat. In Schwaben geht die Sage, daß die heilige Jungfrau
Radegundis, die im dreizehnten Jahrhundert auf dem Schlosse Wellenburg, eine
Stunde von Augsburg, als Magd diente, den Armen und Kranken der Nachbar¬
schaft heimlich Speise zugetragen, und daß sich, als ihr Herr sie einmal dabei er¬
tappte, das Brot in ihrer Schürze in Kämme verwandelt habe, ein Wunder, das
an die Rosen der heiligen Elisabeth erinnert. Sie wird sie wahrscheinlich bei der
Krankenpflege gebraucht und bei sich getragen haben, wie sie jetzt in ihrem Reliquien¬
schrein eingeschlossen sind. So ist dem armen Volke die Hand selbst dnrch die
Kultur in Kämme verwandelt worden, durch die es gesuudete, und deren es als¬
bald die Hülle und die Fülle hatte. Und seitdem ging es nicht mehr an, alle
Vom 21. bis
25. Lvptomdor wirs nah „Intornationalv StatistisoKo Institut" seine Sitzung — ale
neunte — in Berlin ablialten. Die lagssorSnung ist sobr reich. linier anäern
vnrSon in asu kionarsitiüungvn rvtvrisron: am 21. Sextvwbsr I^vassvnr unä KnSio
über l^läebö unä i^ovölkorung avr lÄ'äy; am 22. Kivxis übor ?ortxt!ani!Ung unä
StvrblivKKvit in lumen VerKültnis i-uoinanSvr unä üörSsx unä Uovmarelc über
international« Statistik Sor ^.Ktiengosollsodakton; am 24. Wagner, ?aurs
unä I'opilio über k'manu Statistik, UationalvvrmSgsn uns l^ationaloiu-
Kommon; am 25. Lebmollor über Instoriselm KiNÜustatistiK unä Vfillrolmi und
Nataja über v^rboitorstatistik. Von aom KogonstÄnSon Äer SoKtionsboratungon
Solon liervorgelioben^ Die Steuerbolastung avr einzelnen I^lanäels- unä
lnäustriexv/eige (Referenten: i^ovmarok unä Noron); ^,rmon Statistik (Nisoläor
unä Nünstorberg); Über väliiung aer /.olle auf alio Xonsumontsn unä ale
Inäustriv (^Ktison, liaKalovivü unä Vvos - Kuvot); internationale Nranästatistilv
(ÜlvneK); StvrWollKvit in aom KroLstäStou (ValloS); SparKassonstatistiK <M?-
marvk uns Kvort); Statistik avr ^rboitsvormittlung, avr Streiks unä avr
Lrnäbrung avr ^rboiterbovölkorung (Silbergloit, Vaobor unä Waxv>'oilor);
granlüsokv Statistik unä statistiselio Xarton (Navot).
Ls ist Klar, äalZ om saleüos norsönliolios ^usammonarboiton avr Statistiker
avr vorsobioSnon I-änäor xu einer, vesentliolion ?öräerung avr statistischen Missen-
sebatt unä Netluxiv ausscmlagon mut, auob vorn niobt immer om vraktisok greif-
barer ürldlg goraSo tur alö iutornationale Statistik äabei IieransKonunt. Die
Akkon nambat'ton ?aebmäuner avr Statistik voräon auob bei «Ion Sitzungen äos
Intornationalon Instituts immer seltner. Uouo Nännor treten in ale I^üoKon.
Elogen Sio i^ouon noob mobr leisten als alö ^.teor. l)lo /^on vorlangt os von avr
Statistik unä von Jdmon. Von aom Verlianälungon äos IZorliner LtatistiKortagos
vorclon vir polli einige otvas oingoltenäer besnrsolion müssen.
vio vom nroukisobon Ltatistisolion lZuroau lioraus-
gegobno „Statistisello Xorrospouäon^" voröll'ontliekt fnlgonäo Xalilon avr uso-angs-
Versteigerungen igM. forstvvirtsoliaktliobor (IrnnästüoKo, servil liosikor I^»nS-
unä L'orstvvirtsel>alt als Ilauntboruf trieben. Ls sima — abgoselien von asu Fällen
Ser ^.useinanSersotiiung unä aer Lrbtoilung — uvangsvvisv versteigert vvoräoin
Die (Zosamtiläolio allor taret- unä torswirtsenattlioüon
^minder I^anSvirtv im llauMierut waren, vuräs Im
^»,.> Millionen Hektar ermittelt, «iavon inaokte ale gesamteIjetriebo in I'reulZon,
.ladre 1895 mit runa
versteigerte l^läobe ins
^atro 1898: 0,27 I'ro/ont und im .latro 1901: 0,16 1'roMnt aus. Dio Kosamt/ain
aer land- und torstndrtsoliattlionon Dotrlodo, doron Indabor im Ilauptdorut so 1b-
ständige Landv/irto v/aron, doliot sioli 1895 aut' 1343 563. Davon sind 1395 im
ganMn 0,14 und 1901 0,09 I^ro/ont vorstoigort vordon. Dio ortrouliodo vvlligo
Dodoutungslosiglioit der Xvangsverstoigorungon tur bon xolitisolieu, bon so/Ialon
und bon wirtsodattllollon Lostand dos landvlrtsoliattliodon Krunddosit/os in LreuKon
liogt danaoli Klar aut' dor Iland. Lonr ortrouliolr Ist auod dio starko ^bnalnno
dor ^alt nnÄ dor ?läodo dor vorstoigorton (xrundstüolco im lotüton ^adrsionnt. Ls
Ist dadoi /u boaoldon, dan sioli seit 1897 gerade bei bon däuorliollen Detriobon
vino u^dnanmo inros ^Vntoils sin dor vorstoigorton 1?1äolio Migt, während sioli toi bon
Kroöbotrioden dieser Anteil — allerdings ganii undodoutond — im tot/ton -lanr-
küntt vorgröüort nat. In bon om/viror Lrovin/on stellten sioli im Satire 1901 die
Salben >vio kolgt:
'Worm sioli dio ^.grarior auoii ^jellie nieder domünen, bon Dandvirton om/u-
roden, dio ^.doadmv dor ^vangsverstoigorungon soi om ungünstigos /^oielion, «korn
sie Kommo dalior, dan dio (Gläubiger toi dor gegen värtigen Mtlago dor Landwirt-
svIlM vllo Ilotknung vorloron liätton, durou /^vaugsvorstoigorungon otvas 2!u rotton,
so ist das natürlioli Kollor Unsinn. ?tour ^tauro liält om sololior Zustand dor
Ilotmungslosiglcolt nickt an, olino bon XusammonKrueli dos gan/on ^.grarlcrodits
llordoi/utukron. Leake dosson liadon dio l^and>virto seit /olu .lakron Nilliardon nouon
Xrodits vom sogenannten molitor Kapital KoKnmmon.'
Dio Agrarier sollten ondliol» autköron, in diosor Wolfe bon Dandvvirton das
Vortrauon ?u sioli solbst und ?u dor ^grarnolitilc dos Koions und dor Ltaaton ^u
raubon. Dio günstigo LntvioKluug dor ^vaugsvorstoigorungon in bon tot^ton xonn
.laliron ist /um guton toll dor so ausgosxroolion landwirtseliakstroundliolion 1'olitiK
dor Rogiorungon /u vordanlcon. Daran ist In 'WalirKolt gar niolit /voitoln. ^dor
dio 'Walirboit vird bon nrouLisolion I.andvirton odor seit.lakron durol» dio agra-
risono Agitation vorontltalton.
?>saolldom In Hott 35 dio Lrgobnisso dos
nroulZisobon Xolllonborgdaus im orston Ilalb^aur 1903 mitgotoilt vordon sind,
gokon vir im naolistobondon dio llaunt/aidon über dio XolilonnroduKtion im
Doutsobon Koiob in bon orston 7 Nonaton Januar-,1nu) und im,In1i alloln tur
1903 vorgliolion mit bon ontsxroodondon Salben tur 1902 und sodann dio Din-
und ^.ustulirmongon von Ltoinlconlon und Xolcs tur das doutsolio ^ollgobiot, v/Iodor
«owodl tur dio orston 7 Nonato als auob tur bon ,1nu alloln in bon ^aliron 1903
ttogon 1902 Migt flott dio Produktion in bon orston 7 Monaton von 1903
duroltwog stark angovaonson. Im ^nu alloin tallon dio ^unalimoxroiionto al> toi
vraunlconlon und toi LriKotts. Dagogon sind dio !?unalimonroxonto im .tuu alloin
bei LteinKolilen unä I>el Kotaf gogon alö 7 ersten Nonato Zusammen govaelison,
vio Xunalnno avr StoinKolilon - unä avr LoKsproäuKtion äai4 v^out in bosonäorm
NaLo als ^n^oionon iiunonmonäor RogsamKoit in avr Inäustrio anMsolisn voräon,
pokern niolit vino ontsxroononäe ^unalime avr LtoinKoKIen- unä avr KoKsaustulir
(NonrausluKr) ^u orlconnon v/äre. ?olgonäo ^-mlon godon äarlivor ^utseliluL.
Die Xunanmoxro/.ordo avr Nolirausiulir an Stoinlcoläon unä an Xnlcs üovr-
tiesson in .Ion orston 7 Nonaton alö /.unanmopro^ordo aer I'roäulltion. Im
-tuu allein äagogon lallon umgokolnt alö/unalimoxroMnto äoi Noluaustunr gogon
alö Xunalimeproiionte aer ?roäulction Zan« göö^altiZ ad.
vio
Lotriobslängo avr Lisondalmon untor lioiollsaukielit — alzMsenen von aom llamn-
unä aom Verdinäungsdalmon vorsoliioänor Ltaäto unä inäustriollor vntorncmmunMN,
sowie aom solnnalsimrigon valinon unter oignor Vorv/ultunZ — boliol sioli am
Lnäo 5nu 1903 aut 46360,22 Xilomotor. vio VorKenrsoinnalimen ämsor Nalmon
"trugen
va^u lcemmon aus „sonstigen" Huollon 10306234 Narli, äas sima 3843
wonigor als im Vorjaltr. vio lZinnalimo aus sämtliolion LinnaKmotiuollo»
toti-UF sonaolr im 5nu 174394505 NarK üdorliaupt unä 3766 Narlc aut' 1 Xilowvtvr.
pas sima 8310470 Rail< üdoriiauvt unä 121 N-U'K auf 1 üilomotoi- noir- als un
^nu 1902.
Mdon avr Statistik
äos Lostanäos avr mitisolion Ilanäolsttotto wirä vom Loaiä ok liaiio alljäinüoli vino
«our ausMutiolio Ltatistili avr VorwonäunZ avr nacen ?ol1 I äos Lolnttalirts-
Zosotxos von 1894 im Voroinigton Xönigroioli mit avr Insel Nan unä aom Kanal-
msoln rogistriorton LoliiKo mit Angabe aer nur LomannunZ vorvvanäton ?ol-sonor
voiMdntliolit. Vbor alö RogistriorunZ avr dritisolion SolM'o ist in Hott 37 Sor
<üroni!lloton äas ^Vissensvorte mitgotoilt.
vio Vorvvenäungsstatistilc dollanäolt getrennt erstens: „Vossels emplovocl sollte
diuo äuring tlo voar in tlo Juno ana foroign kranke auel lisking (vMi tlo numdor
o^ persons vmvloveä tlioroin)" unä ^>veitens: „Vossels aotuallv omploveä ana orews
nnäor engagement on vorkam äatos." 'Wir ooriiolcsielttigon nior nur alö erste l>faoti-
>voisunA, ä. n. alö „1'otai runder ol vossels omnlovoä." I<liotlt oindogritton in alö
Vorvonclunzzsstatistil! sima von aom naoll ?oil I äos LeliMalntsZosotMS rogistriorton
SotiNen nur alö „Vossols emplovoä on rivers auel in inlanä Navigation ana vadits."
vio I^av?ivöisullL ^orKUIt in snvoi. Ilauptrulirilcvu: erstens „Vo»so1s vmjüo^va in
?raa!uA" nun Zweitens „Vvssvls emploved in I'isdinK." >Vir lassou Äio. 2!>volo
liudrilc — alö l^iseuorvitlottv — Invr voMuiix »uLor Lvtraolit, social wir es nur mit
den eigentliebon Leobandolssebitten nu tun baben. Diese werden nun der
Verwendung nackt wieder unterschieden in:
Dabei wird unter
verstanden: Vereinigtes„Home ?ra«Je" der Verlcebr innerhalb tolgeiulor Krönten
Königroiel^, Insel Na», Kanalinsoln und ourvMselivs I'vst-
land nwiseltvn Z^the und Vrost. ,,1''orvlM träte" bedeutet den VorKolir über diese
Orm/on Kinaa«. Den IjogriK: XüstentAbrt ((üoasting ti-nie) Kennt die Vorwoinlungs-
slAtistiK gar nicht. Lr ist im llnine traclo mit enthalten. ^Vnd ita wird später
bei IZesnieeliung des Leeverlccibrs in den britischen Hilfen nurüelcgelcnmmon voräon.
Die britischen Kolonien ^l'ossossions) sima in der Verwendungsstatistil: des Imard
ot Irade nicht berüelcsieldigt.
Ouro Zis ?iselmrvitabrxeuge vuräou im ^auro 1902 von den vaod toll I <Jos
LeluttalmtsgesotMs im Vereinigten Königreiche mit der Insel Nan und den Xanaiinseln
registrierton Lelntteu im Leebandelsverlcobr überbauet verwendet (emnlovod in
trading) 5265 Legolsebitt'o mit 1692138 ^ottoregistortons und 6017 Dampier mit
7 973 598 'I'vns; Zusammen 11282 Sebitto mit 9 665736 Ions, Davon waren
Die grökton „in the Imme träte^
!>lettorauingelialt von
Die teils im „home"verwandten LegelsobiKo
nur 700 "Ions, die Damptor einen solchen von nur
teils im ..koreign trruZs" verwandten LegolselnMerreioliten einen
1200 'Ions,
gingen nicht
über 400 'Ions, die Damntor aber über 4000 "Ions hinaus. Von den überbauet im
Leovorlcebr verwandten Dampfern über 2000 4'vns wurden joSood nur 46 auolt'im
„homo träte" verwandt, vväbrend über 1500 nur dem ,/oroign trado" dienten.
'
Nit LinseblulZ der naeli teil 1 dos LelMabrtsge.setML roglstriorton Iiselwrvl-
labri?ougö waren verwandt worden
V^äbronddie i.Iiometräte" verwandten Lebille der 4'onuugo nach
so inemlien unverändert geblieben, die im „Imme" und im „loreign träte" verwandten
aber etwas iiurüelcgegangen sind, neigt der Rauingolialt der nur im „toreign trado"
boseliästigten Leldite eine stetige Xunabme bei ebenso abnehmender 8chi11s/.alt.
Krötiere LebiKo und gro/Zere Reisen, «las ebaralcterisiort die lkntwieklung der bri-
tischen llandelssebittalirt in den letzten ^abren. Lio nul.i wohl dal>el aut ihre
lieebnung Kommen.
U Mr^mei
Export na-ed allen I^näßrn aer Lräs.
— Xorrs8xc>nÄsn,2SA, srlzstsv. s.n. ^.dtlZ.VSilin K. 24.
H^olmuiiAS-
LinriolituiiZöii
Mei, LeppicKe.
^NTSigLN
Alleinige Inscralcnaimahme <>urch
^ermann Äeigel^S^in'k:^ Neue xrieckrichsttasse 41/42
Preis tur Sie -weigespaltne Nonpareille^eile I Mark, llmschl-gseiten erDLdte preise
-TMWZ-i-^n»«^.
NniLSll^I« « UvisS LsIIsvus.
^--'^ «-.......- '»««-SS-' «^««^^^<>>>orni»n,!i, /„in'^örlioini»» Wr ^niomobii«Koer^' crieüerKinocles
im a<!Ut»vI»vn Ilevrv, in Vision ««»üiniiiüedvn /Vrmov» atiiüi«» eingvklilirt
iunior nuolr liviin ?rivati>udlikuin ii'»ni'i!i>.on, t?porUouton, 'I'l><!!to>1«>si,olion> oto.)
immnr griUZoivn ^b»»t!!. is»n«!ü» S00VA KMvIr vmxlv» I>!»I>or xelleksrt.
vio Iiioi^uiol, «l'ioiolitun Vorteil» in lior?aI>riliaUon vrlaulion An» vim>
grosse?reisermäss!gnug
'I>is>loi-Nonoolo» von ZMc, -l?>,—, rrlk«l«r-vino«>«« von MIc, um.
Vptiscfte MsM ?. Loer^
NKiiengeseiiscftiiN.
Berlin-frie<jenau zö.
^" 5... „>,.«1, ,».!„>. ^.....r». - i'l»'^- 22 i'IÄ.er..,.»t. I,«'..,n..- 1/« „«^«r».«.«»
pas wettvollsle Kapital
ist ner Mensch
Staat »na je-ier Kiirger soilie elichen r>anplgr»n->s,l/.
<>°r v«ki<s^ir«zch->«zick>renieaus <im Hugcn lassen: jener,
"w ->in Volkzgesnn-Ilieit ^» »es»««», all-her, »in <Ile
°>Sen° gesimillicit -iach »erniinllige Körvervll-ge »»-I
^«eckniässige Krnäi,r»»g ?.u erhallen, Man «at,le als
^»usgelrank a» Stelle <>«> iicliebl-n ge»»ssandel, et-ne»
"ölige Naiirlir-ni ielill, nach
Sesteilten, im verbrauch s» ung-mei» biNige»
HeichsM - Mao
vireiü-r ilersancl an private. ZavriKpreise 1,40—2,4VM.
PIunÄKarlo». — proben uncl I'reisiisie 0 Koslenios.
RaKso -Lonipagriie
^Keoäov R.eicKmät»
g'offte -ienischeKaK.ispniverlab., r,i»nbnrg-W-»la»b«>I.
^Rep5 u.^ersana§tellen:?5!!?>^
Kresiau.Zu»iicr»Sir.?/lo, Kassel.Kölnisch-Sir.>4, »an-
2i«> Se. Klisabech-Aali <>, »resSen H., Srimaersir. 2,
?r»»«f»re ».IN.. Kaiser Aillielmpassag-, köenne!>.S..
Schillerslr. 57 n. Sr. Uirichstr. 4/5, iiiimbnrg, Msler-
->amen ZS l>I, Hannover, gr. Packholsir. Z4, «SIN. Lif.
marcksir. 2 u. glock-ngass- l, Königsberg i. bei
Mber, Lernt>ar-it, vro<it>aut!°»Sir,, Leipzig, Zol>an»is-
gasscl/Z, INiinclie», clieaiincrslr. 451, Nürnberg, Laro-
iinenstr. 4, Vssen, Millieimpla«?. 4ii, Stettin. Um ö-r-
line, Li>or 4, Ztnitgiirt, Königsir. ZI».I^odsv's
MkllMed^litt
^Itsr -»re niij goselnllsiäix.
Z^K»I < < Il<
Jun «lor vollvn l!';, !»!! <Jo8 IZitin^ers
vusK«Höh z.sBksv «e77lin
»»Niokormit !»!r, IlNiio^me dox X^ikvr» »ixi liiiuix».
lirkiixior vo» Il«I>««'n MitixI«eIi>;I>vn-l>nrkiii»«rI«.
KHMMMSMMMMM
^^o/'/toe/»:
stiivlls
l.lo M»I Kmil«lor
?rnd-
Itr.-titK<zu>of»in.
vor I>'I. inowsivv Kia« uns
t>»ok»n>;. L-liinsoncix. ki-luteo,
xost-I-iaiiooolli »j t N-natu, Sxoüi^iUlt
von Lat. Vissering, I-KKNI. ostfr.
air0Wi»»«>I»»x i» «>la„»in«». cZoxii>n<ick 1824.
K.u« III:illercicn hiermit aut ale
veutscdeIZ1^«riK!
Lebens ° UersicherungsvaM.
1»<<im-«e»«Il!chi>se in Serur aulmerksam gemacht.
Dieselbe schliesst unter <kam günstigsten IZeiiingungen
Milit-ir<>im»t- lie»ick,erungen
cwrch «eiche 5öl>man beim eintritt ?,an Militär,
Töchteriiuzsteuer - Versicherungen
cwrch «eiche Töchtern ?.ur lierheiratuug aut alle vorteiihalteste
Uieise ein bestimmtes Kapital gesichert «ircl.
Prospekte versenclet IranKo uncl jecle ÄusKunlt erteilt bereitwilligst
0 le »Ire «lion. «erim W. «Zicfthornstr. i.
- - Nichtige vertroler «ernten angestellt. —-
>D> NaMrKvit H°
Xrctttmilvvr, i>r«i«!5«Il>-«»t ^ni<to»« lilvilülilv I'iirl» l!>NV
»n<I Ilninburl? iiwl; int!—8VV»<!>>»n bi» M?lui>S ^nim-Juno
c-murren're. ^<r>;»x reoll — Köln Svlnvliulvl. Violv DunK-
««I>r«!b<>n. I'rois Xurton. mit «ZvdmueliRmvvilinnx 2litt.
N^xiv». In«ti1ut I>. I?r^iii! 8tviuvr Lo.
tiki-to 227.
^ ^ ^ 4^
/II /II / I> /!> /Z .
knliriüivit n. <;mpk^ NvMürii.sltilioln kiirXü«I>v n.
nullo — ZIv»««r k.«, v«,v«i->>«! ii. Küiistv — IIir»<!>>-
lünsror n. ,I»x<Il»««»«r — j^olivroii kiir »II» inn'volo.
iinuntniocisii. Idol'Jm»'HV,I^<zipi:iMr8er.118.
IZig.VcnK.-I^ioZcn I. l Il'nuilifurtü.M. Stvinv.9-Ilnni-
Kur», «r. .lodanniüstr. ti - Köln ü. Illi., NoKegdr. 144 -
»r<!»<>»n, VIi»<Ir>>et>!r»er. 7 - N'ion l, K-irntlinorstr. 2t
mu- Kvaiea-Mösele
iZtiioK 22 Murllc. ^ riöspvlct mit «r.
Vr»n-!, Nie^iloii Z», I'ostklieli S.
^<^?SS
>A'LcK^,Tel>!in LV!3.
NvlumntliüN ImI«!» link I':r«u«Jto» nor vIiIiwsiMiu!» Loxinrnnx
8 eil me»! »oll« 0 kli?,j<!r<! vom 6<!»theile!» Kniscir alio lir-
Innbni» <!ibnltoii) in gvutscilio H.<! gimeirtor oinüutrc-loir.
Vivr civr linrnni sollen ni>!ir Di«n»t Kri nor Inlnnwi'ii!, circii
untvr Svr /^!i«.»nx So« t»i>'«Ill»>'« I»i t4«>»»«n,H»«i?s-
Nvrrn (ton-.lui v, lloilibellte- üiviitiUiclr voi^v^Jolle lurttv.
^t^.^.»^tL.^,^^,z^^»), i»«ii»et 1SVS
of^IRon ttoGsI
unÄ R6«taNI Ant ItvN«
Lott«
t!>iiirl»et»>i»er»«!loLgrlin— I'r»«IitI»»u —
Vntvr <I»n ^in<>«>>
lsSolistxelesvnos SotsI (Ion ILVnixl.^ LvUISsxorn, Nusooo,
2 Uinutvii ^ol» I>>null>»k I?r!«<IrI>!ki»irns»s
V«rii«Imi>»i, vrtitliiosülxv» Ital«. Moiivriivr Xomkort
Xuiis <K
s Serur A. fioM.Jer ^aiserdof" «
Ximm-I von Z,S0 Mi!. !»>. stichigste u. V07nei»use- rage Seriw^
Pensionat ^rthliamp. KeMnA
vorxüglicder MittaMiscv «,»i«este.)Z'
anat tur NieDt-pensionsire.
^art Stangen's Wse Kuresez «ern^
?riearicb-
§iri>»se 7'gesellsch-iltsrciscn. — Sonclerl>>>>reen. — llerka»!
^ v»n Kife»b.it>n- uncl vamplschili-?al>r>et>rec».
Hill nött Zilltge Allssilht auf BtlschW?Z» v->r>
n-linn
Vorort
Lorltns finden Eltern für schnlscl,wache Rinder mnrnics ^"1'
Leitung in nix chriäl. Geist crzogeii und zur Schnltüchtigkeit^
Schnlziois.^Alle^chulsssteme ein, (lire^ Aem Gcschüfts»ndem-Hin°"'
buser vornehme Aeser. ,,?iÄes." Slrenübsten -Äierlilg, cel!>^
or. 8oNMr'8 kkllsivll k. MÜK
^utüielit. Kpüüivrjz. i. liindl. v!ri<Zix. vmxoMNÜ,
u. Icntlr. Kircl»! n»> IZrtv. Niisüigi! I!«(Zi»x>lux<!,i. I'^rsto r>-'
Il«rx«et«rr >>»i N»ubi>r?, «rovo's < !in t«u »'
KroLL-I.iMßi'ksläß — 0se bei Lorken
(rinn xn v<>r,v<«!ki««Ili mit >><»- <>liti„>>. IIvil!in«t»N >
IlmkN» Vrivtlr. in «Sx^nx«^) ^ ^ ^
W«WN>
M °I'r«>-I»«>re« »>,^ UK-K^5
Lette verein
in^^^^illo^s«^^
Rerum N.» diktona Luigenpla^ d
Die IilNlSkaitungsschuIc <ich Üette-Vereins, <!le ^?>?<Je>
in S«r eiisiibetfttir. 27 s vel-ma, ist im 0K>öde?i?02
»euer ö,ivrc»ti>erst?. d verlegt morclen. ,
/IitSdiiiiung In >,klar l>rniswirtscha!elichen Arbeite». ^°">«in
Maschen uncl platten > In I>.i»<I>i>'I>ciIcn nuet Schnee-lertt, -^^^
Zortdll-ittng In Klemeut-irKenntnissen, Lurucn tirai se»^"^/ . z»t"
clef iiitrsus ein Z.ehr. Mässige «c-Iingungeu! j-lnlnal>me ««' „s>.
l. Nprii uncl Oktober. (Keine lüll nu-I >'Nttar-AuInal»nu>
NäKere Nusltunlt, schriitlich wie ümm-nich. erteilt alt- "!>^^^ti!
aler liattslialtungsschtilc, Neue liavrcutlicrstr, 0, i'ro-vctiie ^
uncl lratilto.Der Uorst-no^.
cum man sich darüber einig ist. daß Fannlieufideikounnisse dem
Staate von Nutzen, der Entwicklung des Volkswohlstandes nicht
hinderlich und gerade in der Gegenwart, die einer Mobilmachung
aller staatserhaltenden Kräfte zur Abwehr bevorstehender Angriffe
gewidmet sein sollte, besonders wichtig sind — eine Anschauung, der
nicht bloß von den Sozialdemokraten und den Anarchisten, sondern auch hier und
da von staatsfreundlichen Fortschrittlern widersprochen wird —. so ist damit
für einen diese Angelegenheit regelnden Gesetzentwurf nur die allgemeinste
Grundlage gewonnen, und die Schwierigkeiten aller Art. wie man eine gesunde
Entwicklung des schon Bestehenden herbeiführen und Gefährdungen des Volks¬
wohlstandes, die dem lähmenden Einfluß der toten Hand zuzuschreiben wären,
aus dem Wege gehen könne, stellen sich in Menge ein.
Dem Übelstande, daß die Errichtung jedes Familienfideikviumisses eine
Stiftung ist, die ein Mumienboot ans dem rasch dahingleitenden Strome des
Lebens zu verschiffen sucht und diesem Boote Kapitäne und Steuerleute, deren
Hände vielfach gebunden sind, mitgibt, ist schwer abzuhelfen, denn sowie man
die Hände des Kapitäns und des Steuermanns allzu frei macht, verliert der Staat
deu leitenden Einfluß. mit dein er darüber wachen zu müssen glaubt, daß durch
«lie Generationen, und solange das Fideikommiß in Kraft bleibt, den Absichten
des Stifters nachgekommen und dem Gefamtwohl oder dem Interesse der
übrigen Familienglieder nicht zuwidergehandelt werde. Der Entwurf und die
ihm beigegebne Begründungsschrift beweisen, mit welchem Ernste, mit welcher
Sachkenntnis und mit welchem weiten Blick diese Schriftstücke vorbereitet worden
sind: wahres entwicklungsfähiges Leben wird freilich auch durch diese,, Entwurf
den, Familienfideikommisse nicht eingeflößt werde,,, denn das mumienhaft
Unbewegliche liegt schon in seinem Begriff, aber wer beide Schriftstücke mit vor¬
urteilsfreiein Auge mustert, wird zugeben müssen, daß sie von einer durchans
unparteiischen und sachlichen Beurteilung der Verhältnisse ausgehn und im
Juteresse der Gesamtheit sowohl als der uächstbcteiligtc» Privatpersonen ver-
meidliche Übelstände nach Möglichkeit abstellen. Alis alle Einzelheiten des
Entwurfs einzugch» wird rein fachwissenschaftlichen Blättern eher möglich sein.
als den Grenzboten, die sich darauf beschränken müssen, ihren Lesern die Grund¬
züge der beabsichtigten Neueinrichtung zu veranschaulichen und sie auf den durch
die Neuregelung bezweckten und in der Hauptsache wohl auch zu erwartenden
Fortschritt aufmerksam zu machen.
Besonders müssen wir hierbei einige Bestimmungen erwähnen, durch die die Er¬
richtung von Familienfideikommissen in Hinsicht auf die festzulegenden Besitz-
gegeustäude durchaus sachgemäß beschränkt werden soll. Gcldfideikommisse sollen
— wie hierüber auch in Bayern, Sachsen, Baden, Hessen und Braunschweig
dieselben Bestimmungen getroffen worden sind — künftig nicht zugelassen, und
nnr Grundfideikommisse von einer gewissen, dnrch den Jahresertrag gekenn¬
zeichneten Bedeutung erlaubt werden.
Dem reinen Geldsidcikommisse — im Gegensatz zu den später zu
erwähnenden, von den Stiftern als Ergänzungen ihrer Gruudfideikommisse fest¬
zulegenden Kapitalien — spricht die Begründungsschrift die „innere Dnseins¬
berechtigung" ab, da es „von dem Bezugsberechtigten keine eigne Arbeit ver¬
lange und nicht geeignet sei, zur Teilnahme an gemeinnütziger Tätigkeit im
Dienste des Vaterlands anzuregen, deren Wert oft erst durch dem Segen
erkannt werde, den die Früchte der eignen Arbeit bringen." Ob die Begründung
in dieser Form recht stichhaltig ist, mag dahingestellt bleiben. Da man sich
jedoch über vvrhandne Bedenken gegen die Familienfideikommisse nur dnrch die
Erwägung hinwegsetzen kann, daß die Erhaltung eines möglichst stetigen Gro߬
grundbesitzes für den Staat überaus wichtig sei, und daß das Gruudfidei-
kommiß zur Erhaltung und zur Förderung eines solchen Großgrundbesitzes
wesentlich beitrage, so verwahrt dieser Ausgangspunkt den Gesetzgeber dagegen,
daß er die Ausnahme unnötig erweitere und sie nicht vielmehr sachgemäß auf
die Fülle beschränke, in denen ihr nach den Erfahrungen die gewünschte er¬
sprießliche Wirkung nachgerühmt werden kann. Weiter zu gehn und die Aus¬
nahme auf Fideikommisse auszudehnen, die mit dem Großgrundbesitz nichts zu
tun haben, liegt um so weniger Veranlassung vor, als die Absichten dessen, der
ein Geldfideikvmmiß zu errichten wünscht, auch auf andre Weise, und zwar im Wege
der Familienstiftung erreicht werden können. Daß sich die Befugnis ans Grundfidei¬
kommisse beschränken soll, ist deshalb durchaus zu billigen, und Bestimmungen,
die nicht jedermann, der über Grund und Boden zugunsten einer Familie durch
Vererbung in der Einzelfolge verfügen will, in den Stand setzen, das durch eine
Fideikommißerrichtung zu tun, sind ebenfalls gerechtfertigt, da die vorgesehenen
Beschränkungen dem Grundmotive des Gesetzes, das den Großgrundbesitz im
Interesse des Staats stützen und mehren will, durchaus entsprechen.
Nach Paragraph 1 des Entwurfs „kann zu einem nach dem Willen des Stifters
innerhalb einer Familie dnrch Einzelfolge sich vererdenden unveräußerlichen und
nnverschuldbaren Sondervermögen (Familienfideikommiß) Grundbesitz gewidmet
werden, der im Gebiete des preußischen Staats belegen und seinem Haupt¬
zwecke nach zum Betriebe der Land- oder Forstwirtschaft bestimmt ist," und Para¬
graph 2 vervollständigt diese Erfordernisse, indem er bestimmt, „jedes Familien¬
fideikommiß müsse dem Fideikommißbesitzer ein Jahreseinkommen von mindestens
10000 Mark aus Grundbesitz gewähren, der die Grenzen einer Provinz und
der an sie stoßenden Kreise nicht überschreite. Dieses Jahreseinkommen müsse
in Höhe von mindestens 5000 Mark aus einer Besitzung herrühren, die ein
wirtschaftliches Ganzes bilde."
Man überzeugt sich mit besondrer Genugtuung schou durch diese ersten
Paragraphen, daß es dem Entwürfe weniger um den in der Begründnngsschrift
erwähnten Glanz einzelner Familien als um den Staat zu tun ist, in dessen
Nutzen die Erhaltung und die Kräftigung eines stetig waltenden und wirkenden
Großgrundbesitzes liegt. Die Bestimmungen, daß der Grundbesitz im Gebiete
des preußischen Staats gelegen und seinem Hauptzwecke nach zum Betriebe der
Land- oder Forstwirtschaft bestimmt sein soll, weisen ausdrücklich auf diesen
Gedanken als den leitenden hin. Latifundien, die, wie ein Teil Irlands, als
unkultivierte Steppen nur dem Parforcereiter dienen, ohne irgend welchen den,
wirtschaftlichen Nutzen der Gesamtheit zugute kommenden Ertrag zu gewähren,
entsprechen den Anforderungen des preußischen Entwurfs nicht, anch die gewaltigen
Hüuscrkvmplexe, deren Zinsertrag einem Teil des englischen Adels erstaunliche
Einkünfte sichert, scheint die Fassung des Paragraphen, die den Betrieb der Land¬
oder der Forstwirtschaft als den Hauptzweck des Grundbesitzes bezeichnet, von
vornherein im Prinzip als ungeeignete Objekte für eine Fideikommißerrichtnng
auszuschließen.
Wäre es dein Entwurfe. wie man anfänglich glauben mußte, um den
Glanz einzelner Familien zu tun, so könnte es ihm offenbar gleichgiltig sein,
wo der Ertrag, den er zum mindesten fordert, herkommt, ob das zinsenbringeude
Land preußisches oder fremdes ist, ob es aus vielen zerstreuten Parzellen oder
aus einem zusammenhängenden Ganzen besteht, ob es in ein und der¬
selben Provinz und den an sie stoßenden Kreisen oder halb hier halb dort
gelegen ist. Für die Wohlhabenheit und de» Glanz der Familie würde das
keinen Unterschied machen, für ihre Stellung und ihren Einfluß in der Provinz
ist es dagegen ausschlaggebend. Wenn die Mitglieder einer solchen längere
Zeit in der Provinz angesessenen Großgruudbesitzerfmuilie dem Lande, wo sie
geboren und als Kinder aufgewachsen sind, mit Leib und Seele angehören,
wenn sie für die staatsfreundliche Nachbarschaft ein Beispiel, eine Stütze, el»
Sammelpunkt sind, wenn sie den Nährboden liefern, woraus die Regierung
immer von neuem geeignete Träger für ihre hohem Zivil- und Militärämter
zieht, so verdankt der Staat das Stetige und Zuverlässige solcher Beziehungen
der Scholle, mit der solche Familien so lange verwachsen gewesen sind. Und
es lohnt sich für ihn offenbar, nicht bloß alles aus dem Wege zu rünnen.
was der Fortdauer eiues solche» ersprießlichen Zustandes gefährlich werden
könnte, sondern auch selbst alles zu tun. was die bestehenden Zustände zu be¬
festigen und ihnen neue Stützen zu geben geeignet ist. In dem Sinne ist
die Art, wie der Entwurf die Zugehörigkeit des Fideikommißbereichs zu ein
und derselben Provinz betont, für die Absicht, die man verfolgt, sehr bezeichnend,
und niemand, dem die Gefahren der nächsten Zukunft klar vor Augen stehn,
wird darüber im Zweifel sein können, daß es sich bei dem Gesetze nicht um
die Begünstigung adlichcr Großmannsgelüste, sondern im eigentlichen Sinne um
eine staatserhaltende Maßregel handeln wird.
Der von dem Entwurf in Vorschlag gebrachte Mindestbetrag von 10 000 Mark
jährlichen Einkommens ist jedenfalls nach weislicher Erwägung gewählt worden.
In Wahrheit dürfte er eher zu niedrig als zu hoch sein, und es sollte mich
nicht wundern, wenn er im Laufe der Verhandlungen auf Grund vielseitiger
Wünsche erhöht würde. Das badische Gesetz vom 17. Juni 1899, das sich in Para¬
graph 4 des 36. Artikels bei Angehörigen des Ritterstandes mit einem jährlichen
Einkommen von 7000 Mark begnügt, für die Angehörigen des Herrenstandes
aber ein Reineinkommen von mindestens 26000 Mark fordert, dürfte mit diesem
Unterschiede auf richtigem Wege sein, obwohl man ihm darauf wegen der be¬
stehenden Voreingenommenheit gegen feudale Hierarchie schwerlich folgen wird.
In Paragraph 6 heißt es: „Neben land- und forstwirtschaftlichem Grundbesitze
können Vermögensgegenstände andrer Art zu dem Familienfideikommisse gewidmet
werden," und die Begründuugsschrift gibt hierzu ausführliche Erläuterungen,
indem sie hervorhehebt, daß neben land- und forstwirtschaftlichem Grund¬
besitze auch Grundstücke andrer Art, insbesondre solche, die dem Betriebe
gewerblicher und kaufmännischer Unternehmungen dienen, ferner städtische Wohn¬
häuser oder unbebaute städtische Grundstücke, Gebäude zur Unterbringung von
Kunstsammlungen, Bergwerke, selbständige Gerechtigkeiten, Erbbaurechte und
sonstige Rechte an Grundstücken angestiftet werden können.
Der häufigste und wichtigste Fall der Mitstiftnng beweglicher Sachen, sagt
die Begründuugsschrift, werde die Mitstiftung des Inventars sein, im übrigen
würden namentlich Schmucksachen, Gold- und Silbergerät, Gemälde und andre
Kunstgegenstände, Bücher, Möbel und sonstiger Hausrat die Stiftungen ver¬
vollständigen.
Es ist bekennt, daß in England der Wert der sich auf diese Weise sidci-
tommissarisch in der Einzelfolge vererdenden Juwelen, Pretiosen, Gold- und
Silbergefüße, Bücher, Spitzen, indischen Shawls, Gemälde, Statuen und Por¬
zellane zu geradezu ungl an blieben Summen angegeben wird, und daß die sidei-
kommissarische Festlegung dieser Schätze von den Kunst- und Juwelenhändlern
allgemein als der Hauptgrund bezeichnet wird, warum es den? reichern Amerika
bisher noch nicht gelungen ist, diese vom englischen Adel ererbte Pracht durch
bereitwilliges Eingehn auf jede beliebige Forderung an sich zu bringen.
Was Kapitalien (Geld, Geldforderungen und Wertpapiere) anlangt, so dürfen
nach Paragraph 6 des Entwurfs solche „nur gewidmet werden, wenn der Wert
des für die Abfindnngs- und für die Ausstattungsstiftnng ausgesetzten Stiftuugs-
vermögeus das zehnfache Jahreseinkommen aus dem zum Familienfideikommisse
gewidmeten Vermögen erreicht. Kapitalien, die nicht für die Verbesserungsinasse
bestimmt sind, dürfen, mit Einschluß der auflaufenden Zinsen, das Hundertfache
Jahreseinkommen aus dem land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitze nicht
übersteigen und können zum Familienfideikommisse mir gewidmet werden, wenn
zugleich ein den mindestens zehnfachen Betrag dieses Einkommens erreichendes
Kapital für die Verbesserungsmasse ausgesetzt wird."
Obwohl die Ausdrücke Abfiuduugs- und Ausstattungsstiftungeu sowie Ver¬
besserungsmasse in der Hauptsache verständlich sind, so mag doch hier das in
der Begründnngsschrist darüber Gesagte mitgeteilt werden, da der Umstand, daß
diese Stiftungszubehvrc (Pertinenzien) von dem Entwurf als unerläßlich (obli¬
gatorisch) bezeichnet werden, und daß deren Beschaffung als die Bedingung
einer möglichen Mitstiftnng von Kapitalien zum freien Zinsgenusse für den
Fideikommißbesitzer oder dergleichen anzusehen ist, für den einsichtigen und fort¬
schrittlichen Geist, von dem die vorgeschlagnen Neuerungen beseelt sind, das
beste Zeugnis gibt. „Der Entwurf, sagt die Begriindungsschrift, geht davon
aus, daß der Stifter seine verfügbaren Mittel in erster Reihe zur Sicherung
derjenigen Rechtsansprüche verwenden soll, die gewissen nicht zum Fideikommiß-
besitze gelangenden Familienmitgliedern ans sittlichen und sozialen Gründen als
Ersatz für den ihnen durch deu Übergang des Fideikommißvermögens auf nur
ein Familienmitglied entzognen Mitgenuß eingeräumt werden, und in zweiter
Linie zur wirtschaftlichen Erhaltung des Fainilienfideikommisses. Der Entwurf
verlangt daher, daß der Stifter zunächst die Abfindungs- und Ausstattungs¬
stiftung mit einem der Größe und der Bedeutung des Fainilienfideikommisses ent¬
sprechenden Vermögen bedenke und für die Vcrbessernngsmasse (nach H 61 des
Entwurfs ist dies »ein zur Erhaltung und nachhaltigen Verbesserung des
Familienfideikommisses anzusammelndes Kapital«) eine angemessene Summe aus¬
setze. Der Wert des Stiftnngsvcrmögens (für Abfindung und Ausstattung) soll
das zehnfache Jahreseinkommen aus dem gesamten Fideikvmmißvermögen erreichen,
während für die Verbesserungsmasse ein dem zehnfachen Jahreseinkommen aus
dem land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitze gleichkommendes Kapital als
ausreichend betrachtet wird. Diese Verschiedenheit des Maßstabs hat ihren
Grund darin, daß wem? die Abfindungen und Ausstattungen den bezugs¬
berechtigten Familienmitgliedern wirklich einen entsprechenden Ersatz für den
ihnen entzognen Mitgenuß an dem Familienvermögen bieten sollen, das Stiftungs¬
vermögen auch in einem angemessenen Verhältnisse zu dem gesamten Fidei¬
kvmmißvermögen stehn muß, während die Verbesserungsmasfc, da sie nur dem
land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitze zu dienen hat, auch nur in einer
diesem Zwecke entsprechenden Höhe ausgestattet zu werden braucht. Ein Kapital
braucht für die mit selbständiger Rechtsfähigkeit versehenen Abfindungs- und
Ausstattungsstiftnngen nicht ausgesetzt zu werden, sofern nur der Wert des
Stiftnngsvcrmögens überhaupt, das aus Vermögensgcgenständen jeder Art.
z- B. auch aus Grundstücken bestehn kann, der gesetzlichen Voraussetzung ent¬
spricht. Dagegen kommt für die Vcrbessernngsmasse, die nur als ein zu dem
übrigen Fideikvmmißvermögen gehörendes Kapital mit besondrer Zweckbestimmung
gedacht ist, lediglich die Stiftung eines Kapitals in Betracht."
Die Art, wie sich die Höhe der dein Grundfideikommiß beigefügten Kapitnl-
stiftnngen gegenseitig bestimmt, ist auf Seite 59 der Begründungsschrift durch
ein Zahlenbeispiel erläutert, woraus man nnter anderm auch ersehen kann, daß
die von dein EntWurfe vorgeschlagnen verschiednen Minimal- und Maximalgrenzen
dem Stifter ein weites Feld lassen, und daß er Gruudfideikommissen mit keines¬
wegs ungewöhnlich hohem Jahreseinkommen sehr beträchtliche Kapitalien bei¬
fügen kann, wenn er gesonnen ist, von der ihm im Entwurf eingeräumten Befugnis
zugunsten des Fideikommißbesitzers Gebrauch zu machen und ihn innerhalb der er¬
laubten Grenzen mit ansehnlichen Summen zu freiem Zinsgenuß zu bedenken.
Das von der Begründungsschrift angeführte Beispiel geht, um möglichst
einfach zu Verfahren, von der Annahme einer durchgängigen Verzinsung zu vier
Prozent für Kapital- wie Bodenrenke aus. Es wird angenommen, das Fidei-
kommiß, um dessen weitere Ausstattung es sich handle, bestehe einerseits aus
land- und forstwirtschaftlichem Grundbesitz, andrerseits aus einem Bergwerke
und sonstigen Accessorien dergestalt, daß jeder dieser Bestandteile ein Jahres¬
einkommen von 20 000 Mark abwerfe, und der Stifter wünsche diesem Fidei-
kommisse zu freiem Ziusgenusse für den Berechtigten den höchsten Betrag bei¬
zufügen. Da nach Paragraph l! Absatz ?» des Entwurfs solche Kapitalien
das hundertfache Jahreseinkommen aus dem land- und forstwirtschaftlichen
Grundbesitze nicht übersteigen dürfen, so würde sich die in dem angenommenen
Falle mögliche Maximalsuiume ans 100 >< 20000 ^ 2000000 Mark belaufen.
Um jedoch zu dieser Widmung berechtigt zu sein, wird der Stifter zuvor für
die Beschaffung von Abfindungs- und Ausstattungsstiftungen in der Gesamt-
höhe von 1200000 Mark (10 X 20000 -1- 20000 -^-80000, dem vierpro-
zentigen Zinsertrag jener zwei Millionen) und einer Verbessemngsmasse von
200000 Mark (10X 20000) Sorge zu tragen haben. Wenn wir also den
Kapitalwert jeder der beiden Fideikvmmißhälften (des land- und des forstwirt¬
schaftlichen Grundbesitzes und des Bergwerks mit Accessorien) bei vierprozeu-
tiger Verzinsung zu je 500000 Mark annehmen, so gestaltet sich, abgesehen
von den Kosten und dem Stempelbetrage, die in Frage kommende Aufwendung
wie folgt:
Was die Abfindungs- und die Ausstattnngsstiftungen anlangt, so ist deren
gegenseitige Abgrenzung nicht mit besondrer Schärfe erfolgt, obwohl sie sich durch
die Verschiedenheit der Zwecke, denen sie dienen, und namentlich um deswillen
voneinander unterscheiden, weil die Abfinduugsstiftnng regelmäßige Jcchresrcnteu,
die Ausstattnttgsstiftnng einmalige Ausstattungskapitalien auszuzahlen bestimmt
ist. Es wird zwar überall da, wo im Entwurf oder in der Vegründungs-
schrift von ihnen die Rede ist, von dem Grundsatz ausgegangen, daß es sich
dabei um zwei voneinander völlig unabhängige rechtsfähige Stiftungen handle,
aber der für sie vorgeschlagne Minimalbetrag wird durch keinerlei ausdrück¬
liche Bestimmung schon im voraus zwischen sie verteilt. Es soll vielmehr Sache
des Stifters sein, dies zu tun, wenn er die Bestimmung darüber nicht vielmehr
dem an die Genehmigung der Fideikommißbehörde gebunduen Ermessen des
Stiftnngsvorstandes überlassen will. Paragraph 107 ermächtigt diesen sogar,
mit Zustimmung der Fideikommißbehörde die verfügbaren Mittel der einen
Stiftung, soweit sie für deren Zwecke nicht nötig sind, für die Zwecke der andern
zu verwenden.
Es ist selbstverständlich, daß mau bei den im Sinne des Entwurfs ab¬
findungsberechtigten Erben nicht an die pflichtteilbcrechtigten Erben des Stifters
zu denken hat, da diesen vielmehr für den Fall, daß sie durch die Errichtung
des Fideikommisses beuachteiligt sein sollten, derselbe Anspruch auf Ergänzung
des Pflichtteils zusteht, den ihnen Paragraph 2325 Absatz 3 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs an etwaige von dein Erblasser beschenkte Personen einräumt. Sie
sind berechtigt, diese Entschädigungen aus deu Kapital- und Bodenwerten des
Fideikommisses zu beanspruchen, während nach dem Entwurf als cibfindungs-
berechtigt aus den Erträgnissen des Stiftungsvermögens gelten sollen: der über¬
lebende Ehegatte, ein unterhaltsbcrechtigter früherer Ehegatte, die Kinder und
die Enkel eines frühern Fideikommißbesitzers, Enkel jedoch nur, wenn keine ab¬
findungsberechtigten Eltern oder Voreltern vorhanden sind.
Durch diese Bestimmung wird die Härte vermieden, die für die nächsten
Angehörige» des bisherigen, inzwischen verstorbnen Fideikommißbesitzers darin
bestehn würde, daß sie, die sich in dessen Besitzzeit mit ihm des Nutzuießungs-
rechts erfreute», nun mit einemmal beim (Antritte der Nachfolge aller bisher
genossenen Annehmlichkeiten und Beihilfe verlustig gehn und sich gar vielleicht
durch den jähen, unvorhergesehenen Wechsel dem Mangel und der Not preis¬
gegeben sehen sollten. Nach den bestehenden Grundsätzen des Bürgerlichen
Rechts würde für deu Fideikommißnachfolger gesetzlich keine Verpflichtung vor¬
liegen, sich der Angehörigen seines Vorbesitzers anzunehmen, da er seineu
Rechtstitel nicht von diesem, sondern unmittelbar von dem Stifter ableitet.
Doch sprechen Billigkeitsrücksichten dafür, daß im Kreise der Familie auch liebe-
und pietätvollen Erwägungen Rechnung getragen werde, und tatsächlich ist
auch, namentlich in der neuern Zeit, ohne daß es eines gesetzlichen Zwanges
bedurft hätte, der moralischen Verpflichtung, das Schmerzliche eines so plötz¬
lichen Wechsels nach Kräften zu mildern, fast ausnahmlos von der Seite des
Fideitoinmißberechtigten nachgekommen worden. Nur in deu besondern Fallen,
wo dieser durch einen großen, ausschließlich auf ihn angewiesenen eignen An¬
hang ohnehin bedrängt war, ließen bisweilen die von ihm den Angehörigen
des Vorbesitzers bezeigten Rücksichten zu wünschen übrig, und der Umstand,
daß nun diese Entschädigungsfrage ganz seiner Machtsphäre entzogen und als
Gegenstand einer nicht von ihm, sondern von einem eignen Vorstand geleiteten,
nicht auf seinen guten Willen und seine Liberalität, sondern auf gesetzlich ihm
obliegende jährliche Beitrüge angewiesenen Stiftung anzusehen ist, muß als ein
großer Vorzug der beabsichtigten Neuregelung anerkannt werden. Daß damit
"och bei weitem nicht alle die unzähligen kleinen Reibungen, zu denen die
Regelung pekuuiärer Fragen zwischen Angehörigen ein und derselben Familie
Veranlassung zu geben pflegt, wegfallen werden, wird jeder, der aus Erfahrung
mit solchen Wespennestern bekannt ist, gern zugeben, aber es ist damit ein
großer, Erfolg versprechender Schritt zu einer Besserung bisweilen geradezu
unerträglicher Verhältnisse getan, bei denen gewöhnlich die, denen es am wenigsten
zukommt, das große Wort führen, und worunter in der Regel besonders der
Fideikommißbesitzer, der niemals allen Anforderungen gerecht werden kann, das
meiste zu leiden hat. Ganz besonders werden es auch künftighin die Aus-
stattuugsansprüchc sein, durch die der Familien frieden bedroht werden wird, da
hierbei, namentlich wenn der Stiftuugskasse während einer gewissen Zeitfolge viel
zugemutet worden ist, die eiugetretne Ebbe alle Anspruchsberechtigten gefährdet
und den Einzelnen, dem der fürs erste allein noch verbleibende Kassenrest als
Ausstattungsbeitrag zugebilligt werden muß, für alle, die leer ausgehn, zu
einem Gegenstande ihres Neides und ihrer Mißgunst macht.
Auch die besondern Fülle, wo ein Gut der Aufnahme aller dem Fidei-
kommiß gegenüber zu Ansprüchen berechtigten Familienmitglieder dient, werden
durch die neuen Bestimmungen nichts von ihrer für deu Einzelnen mitunter
besonders peinlichen Sonderbarkeit verlieren, da ein solches Haus infolge der
kompliziertesten Familien- und persönlichen Intriguen, bei denen alle Alter und
beide Geschlechter mit einer durch die Jahre und die Tradition gesteigerten
Leidenschaftlichkeit beteiligt sind, anerkanntermaßen jeden Altemänner- und Alte-
weiberspittel an rastlosem, von früh bis abend währendem Unfrieden übertrifft.
Ist es doch, als wenn auf solchen zu Versorgungshüuseru eingerichteten Stamm-
gütern die Verpflichtung, einander als Mitgliedern derselben Familie mit
Achtung und Rücksicht zu begegnen, wie eine Art Eiter wirkte, der jede auch
die leichteste Wunde sofort gefährlich macht und unter der Decke geselliger
Korrektheit wie ein unvertilgbarer Krebsschaden um sich greift. Diese Ver¬
giftung der Charaktere ganzer Generationen, von der sich ja glücklicherweise
andre unter denselben Verhältnissen lebende Familienpensivnüre völlig frei halten,
möchte ich für die eigentliche Kehrseite der für manches Auge so glänzend er¬
scheinenden Medaille ansehen, auf deren Bildseite der Kopf des Stifters mit
der stolzen Umschrift sxlouclori lÄiniIig.ö prangt, einer Medaille, die von manchen
mit den Verhältnissen nicht vertrauten Personen, unter ihnen besonders von
Anarchisten und Sozialdemokraten, für ein Kleinod angesehen wird, das man
den Privilegierten je eher je besser und um jeden Preis entreißen müsse,
während es doch keiner von ihnen in den engen, beschränkten und durch die
gegenseitigen Anfeindungen doppelt unerträglichen Verhältnissen länger als vier¬
undzwanzig Stunden aushalten würde.
Andre Sorge und andre Not werden mit der Verbesserungsmassc ver¬
bunden sein, die dem Fideikommißbesitzer unter gewissen Bedingungen und für
gewisse Eventualitäten zur Verfügung stehen soll, die aber nur da. wo man
ohnehin auf einem grünen Zweig ist, zur Freude und zur Genugtuung gereichen
wird. Wo bei der Stiftung des Fideitommisses diese Besserungsmcisfe sogleich
von vornherein in Höhe des zehnfachen Betrags des Jahreseinkommens ans dem
land- und dem forstwirtschaftlichen Grundbesitz hinterlegt worden ist, wird aller¬
dings, wenn das Fideit'vmmiß von besondern Natur- und Kriegskalamitäten
verschont bleibt, diese zur Erhaltung und nachhaltigen Verbesserung des Un¬
wesens bestimmte Stiftung eine große Hilfe und ein zuverlässiger Rückhalt sein.
Aber ganz ohne einen Beigeschmack von Wermut wird die Verwaltung dieser
Kapitalien für deu Fideikommißbesitzer kaum sein, und der Paragraph 62 des
Entwurfs, der bestimmt, daß er dem Familienrat über die Verwaltung der zum
Familienfideikommisse gehörenden Kapitalien alljährlich Rechnung zu legen habe,
führt, namentlich was die Verwendung der aus der Verbesseruilgsmasse ge¬
wonnenen Zinsen oder gar eines Teils der zu ihr gehörenden Kapitalien an¬
langt, auf ein äußerst dorniges Gebiet. Denn eine Vcrnwgensverwaltnng zur
Zufriedenheit der eigne», mit gesetzlichem Aufsichtsrecht betrauten Familie zu
führen ist ungleich schwerer, als hierin den Ansprüchen Fremder völlig Genüge
zu leisten. ?ot. eapit-g., tot 8M8us heißt es ganz besonders, wenn sich Mit¬
glieder ein und derselben Familie versammeln, um über dem Jahresberichte des
Fideikommißbesitzers. den sie als ihren Mandatar ansehen, zu Gericht zu sitzen.
Die bekannte Wendung: „Lieber Vetter, Sie Hütten doch besser getan usw.,"
zieht sich oft wie der nie fehlende rote Faden der englischen Marine durch alle
Verhandlungen hindurch, und ein mehrwöchiger Aufenthalt in Karlsbad oder
Marienbad ist für den von der Nachbarschaft um seine glückliche, sorgenlose
Existenz beneideten Fideikommißbesitzer in der Regel das unvermeidliche Nach¬
spiel dieser jährlichen Rechnungsablegung. Freilich gibt es auch Familien
— und das sind nicht immer die wohlhabendsten —> wo auch diese Rechnungs¬
ablegung wie alles übrige in Frieden und Freundschaft abgeht, aber da die
unbequeme Gemütsart eines einzigen genügt, die bisherige Harmonie zu stören,
so muß der sich wegen der Verwendungen aus der Verbesserungsmasse vor
dem Familienrate verantwortende Fideikommißbesitzer immer auf den einen oder
den andern unangenehmen Zwischenfall gefaßt sein.
Die Erwähnung des Familienrats bringt uns hier auf zwei weitere Er¬
rungenschaften des Entwurfs zu sprechen: auf die im Gegensatz zu den bisherigen
sehr liberalen Einrichtungen des Familienrats und des Familienschlusses, mit
deren Hilfe der Entwurf sein möglichstes tut, die Fideikommißmumie zu gal¬
vanisieren und an Stelle der bisherigen Schwerfälligkeit der Aufsichtsführuug
einen freiern, neuzeitlichcrn Zug in die Sache zu bringen.
Ob nun nicht doch der Entwurf der Fideitommißbehörde zuviel Anteil an
der Verwaltung und den Beschlüssen der Familie zuschreibt, indem er bald den
Fideikommißbesitzer, bald den Familienrat an das zuvor einzuholende obrigkeit¬
liche Einverständnis bindet, mag dahingestellt bleiben. Es stehn sich, was die
Grenzen der Selbstverwaltung anlangt, so verschiedne Meinungen gegenüber,
und es werden zu deren Begründung einander so widersprechende Tatsachen
angeführt, daß mau, wenn man auch persönlich zu dem ausgedehntesten Um¬
fange der Selbstverwaltung als zu der den größten Erfolg versprechenden Ver-
fahrungsweise das meiste Vertrauen hat, doch Bedenken trügt, damit zu sehr in
den Vordergrund zu treten, weil andrerseits eine Beschränkung der Selbst
Verwaltung gewissen Gefahren begegnet, die unter Umständen durch die völlige
Zügellosigkeit des Einzelwillens herbeigeführt werden könnten.
Während sich bei den meisten Rechtsgeschäften zwei Interessenten gegen¬
überstehn, kommt beim Fideikommiß der fortwirkende Wille des Stifters als
dritter hinzu, und der Entwurf begnügt sich in seiner Gewissenhaftigkeit nicht
damit, die Wahrung dieses dritten Standpunkts dein Vertreter der Anwärter,
dem Familienrate zu überlassen, sondern er zieht in allen wichtigern Fällen die
Fideikommißbehörde als ausschlaggebende Stimme hinzu, sodaß trotz der im
allgemeinen Teile der Begründung ausgesprochnen liberale« Absichten doch
wieder ein bureaukratischer Zug durch die neue Einrichtung geht. Wie es scheint,
sehr zum Nachteile der Sache, da man vielmehr in allen Angelegenheiten. durch
die nur die Interessen der Familie berührt werden, dieser freie Hand lassen
und den umgehenden Geist des Stifters nicht für jede wichtigere Entscheidung
in der Fideikommißbehörde verkörpern sollte. Je mehr Räder man einem
bureaukratischen Uhrwerke einfügt, um so mehr schließt man die Initiative der
Nächstbeteiligten, die doch das eigentlich lebensfähige und belebende Element ist,
aus, und um so mehr läuft man Gefahr, in den alten Schlendrian, wo vor
lauter Bedenken niemand zu handeln wagte, zurückzufallen. Man könnte die
Interessen des Familiengutes unbedingt dem Familienrate und dem Fidei-
kommißbesitzer ohne weitere Einmischung der Fideikommißbehörde überlassen.
Die Fälle, wo sich die beiden nicht einigen könnten, würden überaus selten sein,
und wenn dann ganz ansncchmsweise das Einschreiten der Behörde ausdrücklich
beantragt würde, so müßte das als Beweis gelten, daß der Familienrat und
der Fideikommißbesitzer ihre Sache nicht verstehen, da sie sonst ohne die Bei¬
hilfe der Behörde miteinander fertig werden würden.
Wenn man erwögt, wie oft in Banken und großen Handlungshäusern das
Prinzip des Fideikommisses, das Forterben des ungeteilten Ganzen auf einen
einzelnen Rechtsnachfolger ohne äußerlich wahrnehmbare Anstöße durchgeführt
wird, so fragt man sich, warum ähnliches nicht auch für den Großgrundbesitz
möglich sein sollte, und warum man gerade ihm eine ähnliche Währung der
gemeinsamen Interessen nicht zu freier Verfügung überlassen kann. Sollte nicht
doch die überkommene Gewohnheit obrigkeitlicher Bevormundung auch in diesen
mit so liberalen Absichten verfaßten Entwurf wider Willen Hemmnisse hinein¬
getragen haben, die sich in der Praxis durch eine störende Verschleppung der
Geschäfte fühlbar machen werden, und mit denen ein für allemal aufgeräumt
worden wäre, wenn man sich hätte entschließen können, die Familie nicht als
unmündiges Kind sondern als einsichtigen Erwachsenen zu behandeln, dem man
die Vertretung seiner Interessen ohne fremden Beirat und ohne fremde Hilfe
vertrauensvoll überlassen könne? Vielleicht werden seinerzeit die Verhandlungen
nach dieser Richtung hin der Familie etwas mehr Freiheit und Selbständigkeit
einräumen. Auch darf hierbei nicht nußer acht gelassen werden, daß der Ent¬
wurf dem Stifter mehrfach in ausdrücklicher Weise das Recht einräumt, den
Fideikommißbesitzer sowohl als deu Familienrat für gewisse Fälle von der
Fessel der obrigkeitlichen Genehmigung zu befreien. Es wird deshalb Sache
des Stifters sein, jede ihm in dieser Beziehung durch den Entwurf gebotne
Handhabe in möglichst ausgiebiger Weise zu benutzen: es werden ihm dafür
nicht bloß die einander folgenden Generationen dankbar sein, sondern der Segen
solcher weiser Veranstaltungen wird sich auch in dem besondern Gedeihen der
Stiftung ganz von selbst fühlbar machen.
Was die Begründnngsschrift im allgemeinen über den Familienschluß und
den Familienrat sagt, ist so erschöpfend, daß es hier ohne Weglassung wieder¬
gegeben werden soll. „Die Anwärter, heißt es auf Seite 192 der Begrnndungs-
schrift, bilden zusammen mit dem jeweiligen Fideikommißbesitzer die zum Fidei-
tommißbesitze berufne Familie. Da das Familienfideikommiß allen Mitgliedern
dieser Familie in gleicher Weise gewidmet ist, müssen die Anwärter dasselbe Recht
wie der Fideikommißbesitzer bezüglich solcher Verfügungen über das Familien¬
fideikommiß haben, die dessen Bestehen oder dessen Grundgesetz, die Stiftungs-
Urkunde betreffen. Dieseln Erfordernisse trügt der Entwurf durch die Regelung
des Fcunilicnschlusses Rechnung. Im übrigen ist das Recht des jeweilige»
Fideikvmmißbesitzers aber stärker als das der Anwärter, da ihm das Fidei-
kommiß gehört, er also über den Gebrauch des Fideikommißvermögens zu be¬
stimmen hat, während das Recht der Anwärter sich darauf beschränkt, zu ver¬
langen und dahin zu wirken, daß dieser Gebrauch nicht ein solcher sei, der sie
und ihre Abkömmlinge als künftige Fideikommißbesitzer in der dereinstigen
Nutzung des Familicnfideikommisses benachteilige. Die Notwendigkeit der Be-
tätigung dieses Rechtes führt zur Entstehung eines Kreises gemeinsamer Inter¬
essen unter den Anwärtern. Werden diese gemeinsamen Interessen von ihnen
in wohlverstnndner Weise wahrgenommen, d. h. nicht unter Herborkehrung eines
Gegensatzes zwischen ihnen und dem Fideikommißbesitzer, sondern in dem Be¬
streben, möglichst mit dem Fideikommißbesitzer gemeinschaftlich an der Erhaltung
und Förderung des Fnmilienfideikommisses zu arbeiten und nur solchen Hemd^-
lungen des Fideikommißl'esitzers entgegenzutreten, die das Familicnfideikommis;
schädigen, so dient ihre Wahrnehmung offenbar zugleich dem Schutze der ge¬
samten Fideikommißstiftuug. Daß dieser Erfolg möglichst erreicht werde, muß
das Bestreben des Gesetzes sein. Es ist indes klar, daß er nicht erreicht werden
könnte, wenn den Anwärtern die Mittel und Wege zur Verfolgung ihrer Rechte
gegen den Fideikommißbesitzer völlig überlassen würden. Abgesehen davon, daß
der einzelne Anwärter vielfach nur an sich denken und nach dein Nutzen der
Gesamtheit wenig fragen würde, wäre es den Anwärtern, namentlich bei weit¬
verzweigten Familien, oft auch tatsächlich kaum möglich, sich zu gemeinsamem
Handeln zu vereinigen."
„Der Familienrat, heißt es im Paragraphen 182 des Entwurfs, besteht aus
drei Mitgliedern, mit Einschluß des Vorsitzenden. Die Zahl der Mitglieder
kann in der Stiftungsurkunde bis auf sieben erhöht werden." Es steht ihm
die Vertretung der Interessengemeinschaft der Anwärter im weitesten Umfange
zu. Der Vorsitzende soll — dies ist eine der oben angedeuteten wenig erfreu¬
lichen Bevormundungen — von der Fideikommißbehörde gewählt, auch sollen
die übrigen Mitglieder nach Maßgabe der Stiftungsurkunde von ihr bestellt
werden. Die Mitgliedschaft wird zwar grundsätzlich als Ehrenamt angesehen,
es ist jedoch dem Stifter unbenommen, den Mitgliedern des Familienrats, wenn
er es für angemessen hält, eine besondre Vergütung ihrer Mühewaltung auszusetzen.
Die Beschlußfassung des Familienrats kann je nach dem Wunsche des Vor¬
sitzenden in einer Mitgliederversammlung oder durch eine schriftliche Erklärung
der Mitglieder erfolgen. Stimmenmehrheit entscheidet. Bei Stinnuengleichheit
oder Stimmenthaltung aller übrigen Mitglieder entscheidet der Vorsitzende.
Werden jedoch zu einem Antrage nur zwei einander widersprechende Stimmen
abgegeben, so gilt der Antrag als abgelehnt, auch wenn der Vorsitzende für ihn
gestimmt hat.
Auch der Familienschluß, der es in der Hauptsache nur mit der Abänderung
der Stiftungsurkunde oder der Aufhebung des Familienfideikommisses zu tu»
hat. bedarf der Aufnahme und der Bestätigung durch die Fideikomnnßbehörde.
wenn es sich um eine Änderung der Stiftungsurkunde handelt. Die Aufhebung
des Fideikommisses kann durch den Familienschluß ohne Beitritt der Fidei-
kommißbehörde erfolgen; es kann jedoch in der Stiftungsurkunde ausdrücklich
bestimmt werden, daß die Aufhebung der Stiftung von der Genehmigung des
Königs oder der zuständigen Minister abhängig sein soll.
Der Familienschluß muß mit einer Mehrheit von drei Vierteln der anwart¬
schaftsfähigen Familienmitglieder gefaßt werden. Er bedarf der Zustimmung des
Familienrats, die einstimmig erteilt sein muß, wenn es sich um die Aufhebung
des Familienfideitommisses handelt.
Das Gesagte wird genügen, den Lesern der Grenzboten, denen an einer
geordneten und stetigen Entwicklung unsrer staatlichen Verhältnisse gelegen ist,
den beruhigenden Eindruck zu geben, daß der besprochne Entwurf uicht unter
dem Einflüsse feudaler Mächte zustande gekommen ist, sondern daß er fort¬
schrittlichen Grundsätzen huldigt, ohne dabei das Wohl des Staates außer acht
zu lassen, das nicht ausschließlich auf Freiheit und Gleichheit, sondern eben¬
sosehr auf williger Unterordnung und angemessener Gliederung beruht. Wenn
die hier ausgesprochnen Bedenken wegen zu häufigen bureaukratischen Ein¬
greifens der Behörde anch von andern Seiten empfunden werden sollten, so
wird es leicht sein, den Entwurf im Laufe der Beratung von solchen leichten
Schlacken zu befreien, ohne dadurch das Wesen der beabsichtigten Einrichtung,
der man nor Glück und Gedeihen wünschen kann, zu beeinträchtigen.
> bgesehen von dem Kardinalfehler, daß sich die Deutschliberaleu
unter der Führung des Deutschböhmen Herbst wegen ihres un-
fruchtbaren doktrinären Liberalismus um die Herrschaft bringen
ließen, liegt ihr Hauptmißgriff namentlich für die Sndetenländer
I darin, daß sie von der bewährten Methode Bachs, der Zwei¬
sprachigkeit der Beamten, abgingen und den deutschen Charakter des Beamten¬
tums dadurch wahren zu können meinten, daß sie sich ausschließlich auf die
Pflege der deutschen Sprache zurückzogen. Die Polen und die Magyaren
machen es bei sich wohl ebenso, aber sie haben sich in der Herrschaft erhalten,
während es mit den Dcutschliberalen aus war, gerade nach einem Jahrzehnt,
seitdem die neue Einrichtung getroffen worden war, lind die ersten danach ge¬
bildeten Beamten zum Vorschein kamen. Von dieser Zeit an datiert nun auch
das Eindringen und das Aufsteigen des Tschechentums in der Beamtenschaft.
Anfangs machte sich das nicht so sehr bemerkbar, weil noch genug Beamte
aus der Bachschen Zeit da waren, auch aus Galizien und Ungarn zurück¬
kehrten, wo man sie nicht mehr leiden mochte. Die waren alle gut deutsch.
Aber nach und nach verschwanden aus deu tschechischen Bezirken die deutschen
Beamten vollständig, weil dem jünger» Nachwuchs die Kenntnis des Tschechischen
mangelte, und aus demselben Grunde mehrten sich in den gemischtsprachigen
Bezirken die tschechischen und minderten sich die deutschen Beamten. Das ist
ein ganz natürlicher Vorgang, der aber das tatsächlich vorhcmdne allgemeine
Anwachsen des tschechischen Beamtenheeres noch nicht erklärt. Das Eindringen
des Tschechentnms hat. seit der Tscheche Prazak Justizminister gewesen ist. in
den Justizdienst, seit Kaizls Finanzministerium in das Steuerfach unstreitig
eine mächtige Förderung erfahren, aber auch diese persönliche Einwirkung
genügt um so weniger zur Erklärung, als sich auch auf andern Gebieten des
öffentlichen Dienstes, im Priesterstande und sogar im Offizierkorps, dieselbe
Erscheinung findet. Neuerdings lärmen sogar die Schönereriancr fortwährend
gegen das Ministerium Körber. weil es jüngere tschechische Gerichtsbeamte in
Deutschböhmen anstelle. Wie erklärt sich denn das? Hat man neben dem
allgemeinen Geschrei über die Vcrtschechnng des Beamtentums etwa mich
gehört, daß sich irgendwo beschäftigungslose deutsche Beamte vorfinden? Nein,
die gibt es nicht, es ist in den Sudetenläudern überhaupt so wenig Nachwuchs
an deutscheu Beamten vorhanden, daß man auch in reindeutschen Bezirken
Stellen mit Tschechen und Polen besetzen muß. Die Altdeutschen lärmen
wohl deswegen, aber sie geben sich leider darüber keine Rechenschaft, ebenso
wie sie jahrelang über die Tschechisiernng deutscher Fabrikstädte geklagt
haben, ohne zu erkennen, daß man es da im wesentlichen mit einer wirtschaft
Ueber Erscheinung zu tun hat, indem der billiger arbeitende tschechische Arbeiter
den teuern deutschen verdrängt. Vor zwei Jahren brachte die Leitmeritzer
Zeitung einen Mahnruf an die Deutschen von ..sehr geschätzter Seite," worin
^ hieß: „Es mangelt heute an deutschen Staatsbeamten. Die Zeit der wüsten,
sinnlosen Agitation gegen Staat und Monarchismus hat diesen Maiigel ge¬
schaffen. Der Eintritt in den Staatsdienst wurde ja eine Zeit lang als
»Volksverrat« erklärt: deutsche Beamte wurden von ihren Stammesgenossen
über die Achseln angesehen. Was mit dieser Taktik dem Deutschtum in Böhmen
angetan wurde, das wird sich erst in den nächsten Jahren so recht zeigen.
Heute sind die ersten Beamtenstellen des Reiches noch in deutschen, bürger¬
lichen Händen. Aber es ist kein Nachwuchs da! Tschcchentnm und Feudal-
"del aspirieren auf die freiwerdenden Stellen, und in wenig Jahren werden
dentschbürgerliche Sektionschefs und sogar niedere Beamte in den Ministerien
eine Seltenheit sein. Das alles hat die kurzsichtige Leidenschaft der Fraktions¬
fanatiker verschuldet; man wird einst ihr Andenken nicht segnen können. Nun
aber muß für die Zukunft gearbeitet werden. Mit Verhetzung der Jngend
und heftigen Demonstrationsreden wird nichts besser gemacht. Die Schlappe
der letzten Jahre muß ausgewetzt werden, die Bezeichnung »k. k.« ist keine
Schande, sondern eine Ehre im Staate, dessen Fürst stolz ist, ein Deutscher
z" sein. Ihr deutschen Väter, wahrt unser Recht, unser Besitztum."
Dieser Notschrei aus Deutschböhmen kennzeichnet die Lage deutlich. Auch
die Gablonzer Zeitung sagte, der Ministerpräsident werde die Forderung nach
deutschen Beamten nicht erfüllen können, weil Mangel daran herrsche, und
werde den deutschen Abgeordneten sagen: Sorgt doch im deutschen Volke für
den deutschen Nachwuchs, der Regierung wird es recht sein. Wenn das Blatt
aber dann weiter meint, daran daß der deutsche Nachwuchs nicht nur an Be¬
amten, sondern auch an Priestern fehle, seien zumeist nur die Altdeutschen
schuld, so ist das eine einseitige Parteimeinung, die höchstens für die letzten
Jahre richtig sein könnte. Der Ursprung der deutscheu Verschuldung liegt viel
weiter zurück. Seit einem Vierteljahrhundert — denn man darf auch die
letzten Jahre des Ministeriums Adolf Auersperg dazu rechnen — führen die
Deutschen fast ununterbrochen Krieg gegen die Negierung. Als die Deutsch-
libercileu aus der Regierung gedrängt worden waren, wurde die allgemeine
Losung ausgegeben, den Staat zu boukottieren, denn man hoffte auf diese
Weise am ersten wieder ins Regiment zurückzukehren. Aus dieser Zeit stammt
ursprünglich die Tendenz, daß Deutsche nicht Beamte werden dürften, und
man beging damit denselben Fehler, wie seinerzeit mit der Einsprachigkeit der
Mittelschulen, indem man den Deutschen ein bisher besessenes einflußreiches
Feld verschloß. Daß dabei meist und besonders nach dem Anwachsen der ra¬
dikalen Strömung die Staatsverwaltung mit dem Staat selbst verwechselt
wurde, liegt auf der Hand, und gerade bei den nationaler gesinnten Teilen der
Deutschen stellte sich unter einer so gänzlich verfehlten Parole mit der Unzu¬
friedenheit über die Staatsverwaltung auch eine immer mehr wachsende Ab¬
neigung gegen den Staatsdienst ein. Hand in Hand damit ging zugleich die
Förderung des Widerwillens gegen die tschechische Sprache und die „Berekelnng"
tun einen Wiener Preßausdruck zu gebrauchen) des Priesterberufs, wodurch
die Priesterseminare immer mehr an deutschen Zöglingen verloren, sodaß heute
die geringe deutsche Minderheit unter dem Übermut der tschechischen Mitschüler
schwer leiden muß, und die Kircheubehörden, ob sie wollen oder nicht, gezwungen
sind, tschechische Priester in deutsche Gemeinden zu senden. Noch bedenklicher
ist die Schürung der deutschen Abneigung gegen das gemeinsame Heer. Sie
ist in ihrem Ursprung auch mit dem Sturze des letzten deutschen Ministeriums
innig verknüpft, kounte jedoch bei der großen Beliebtheit der Armee erst infolge
der unsinnigen Agitation der Deutschradikalen gegen das Heer und namentlich
das Offizierkorps zu einer erkennbaren Wirkung gelangen. Aber seit Jahren
tritt die befremdliche Erscheinung zutage, daß die Anmeldung deutscher Zög¬
linge zu den Kadettenanstalten auffallend zurückgeht. Nun sind doch aber
gerade für die Deutschösterreicher die Armee und gute Beziehungen zu ihr von
ganz besondrer Bedeutung, da sie in ihrer ganzen Geschichte eine deutsche
Einrichtung und doch auch in Osterreich das entscheidende Machtmittel ist.
Wenn sich die Deutschen nun gar auch noch von der Armee so zurückziehn,
daß sie ihre Söhne, die bisher doch immer das Hauptkontingent für die
Kadettenschulen stellten, andern Berufen zuwenden, so geben sie anch ihre
Stellung in der Armee ans und begehen denselben Fehler, der schon zur
Slawisierung des Priesterstandes geführt hat. Das ist sicher keine gute Politik,
aber es entspricht ganz dem Temperament des Dentschösterrcichcrs; statt eine
wertvolle Position mit Zähigkeit festzuhalten, verläßt man sie in zähem Trotz,
vielleicht um sie später wieder mit Sturm nehmen zu wollen. Ob das aber,
sogar mit schweren Opfern, gelingen wird, hängt dann doch anch vom Gegner ab.
Es ist die höchste Zeit, daß die Deutschösterreicher, und besonders die
der Sudetenländer, energisch zur Umkehr schreiten, denn sie gehn auf eiuer
zum Abgrund führenden Bahn. Es ist unverständiges Gerede, wenn die
Deutschradikalen vom Ministerium Körber fordern, es müsse zum Beweise des
..Systemwechsels" mit der Ausmerzung tschechischer Beamten. Priester und
Offiziere beginnen; das ist leichter gesagt als getan, denn genügender deutscher
Nachwuchs ist nirgends vorhanden. Der Gerechtigkeit halber muß noch an¬
geführt werden, daß die bedenkliche nationale Verschiebung im Staatsdienste,
in der Priesterschaft und im Offizierkorps nicht allein auf die politische Agi¬
tation zurückzuführen ist. sondern daß auch wirtschaftliche Gründe mitgewirkt
huben. Die Einkünfte der Seclsorgcgeistlichkeit sind so gering, daß anch solche
Berufe, die keine akademische Bildung verlangen, weit bessere Aussichten bieten.
Die mittelmäßige Besoldung der Beamtenschuft, namentlich aber der Offiziere
auch nach der Regulierung, vermochte die deutsche Intelligenz nicht einzuziehn
gegenüber den günstigen Aussichten, die sich vermöge der technischen Fortschritte,
hauptsächlich der Elektrotechnik, und des sich daraus entwickelnden industriellen
Aufschwungs, ausgebildet hatten. Ob sich der Stillstand auf diesem Gebiete
schon in einer vermehrten Zuwendung zur Laufbahn der Beamten und der
Offiziere bemerkbar .nacht, läßt sich noch nicht übersehen. Auch in diesen Be¬
rufen wiederholte sich, was schon oben über das Verhältnis zwischen deutschen
und tschechischen Arbeitern gesagt worden ist. Der Tscheche ist weniger an¬
spruchsvoll und ist mit dem Gehalt der Beamten, Offiziere und Priester zu¬
frieden. Noch mehr zeigt sich dies bei den Unterbeamten, am auffälligsten bei
der Post und auch' beim Gericht. Für diese gering dotierten Stellen sind
eigentlich keine deutschen Bewerber vorhanden; so fehlten in den rein deutschen
Bezirken Böhmens im Jahre 1899 für mehr als dreihundert Stellen deutsche
Bewerber! Unter solchen Verhältnissen muß der Postdienst nach und nach der
Slawisierung verfallen. Es haben also zunächst die aus politischer Tendenz
geförderte Abneigung der Deutschen gegen den Staatsdienst, dann die bessern
materiellen Aussichten in den technischen Berufen und schließlich auch in den
letzten Jahrzehnten die nu verschiednen Stellen unverkennbar vorhandnen Slawi-
sierungsabsichten zusammengewirkt, das Eindringen des slawischen, hauptsächlich
tschechischen Elements in die einzelnen Zweige des Staatsdienstes zu fördern,
aber es muß ausdrücklich betont werden, daß diese Entwicklung nicht etwa erst
die Folge der Badenischen Sprachenverordnungen gewesen ist, obgleich diese
eine Ungerechtigkeit sondergleichen waren.
Für die Sudetenländer kommt nun poch ein andrer Umstand in Betracht.
Da die Abneigung gegen den Staatsdienst so ziemlich allen Deutschöstcrrcichcrn
gemeinsam ist, so fehlt es auch in den südlichern, zum großen Teil rein deutschen
Provinzen an Beamten, und diese ergänzen sich durch deutschen Zuzug aus
den Sudetenländern. Das gilt in der Hauptsache von Wien, hat aber auch
auf Ober- und Niederösterreich, Salzburg. Tirol und Steiermark Bezug. Aus
naheliegenden Ursachen ist Zahlenmaterial über diese Beamtenwandrnng schwer
zu beschaffen, wenn aber aus einer Zusammenstellung des Postassistenten
M. Deutsch hervorgeht, daß in Wien aus dem kleinen Schlesien allein im
Jahre 1901 nicht weniger als 144 im Staatspostdienst angestellte Beamte
waren, so lassen sich Schlüsse ziehn auf den Umfang dieser Heimatskunde der
Beamten aus den Sudetenländern, und man beginnt zu begreifen, warum in
dem ungefähr dreimal größern Dcutschböhmen im Postdienst dreihundert deutsche
Bewerber fehlten und selbstverständlich durch Tschechen ersetzt werden mußten.
Es kann nun freilich deutschen Beamten nicht verwehrt werden, dem Zug nach
der Großstadt zu folgen und der Abneigung gegen die zweite Landessprache
nachzugeben, doch liegt trotzdem eine gewisse nationale Schwäche mit vor,
die sich aus Bequemlichkeit nicht ans die Bresche in der Heimat stellen mag
und den Aufenthalt im lustigen Wien oder in dem fröhlichen Donaugebiet dem
mit allerlei MißHelligkeiten verknüpften Kampfesleben in der Heimat vorzieht.
Jedenfalls stimmt es nicht mit dem Jammergeschrei über die fortschreitende
Tschechisierung der Beamtenwelt überein, wenn man den Tschechen auch aus
diesem Grunde zahlreiche Stellen, die man ganz gut behaupten könnte, frei¬
willig räumte. Würden die nicht mit einheimischen Beamten in den deutschen
Provinzen Österreichs besetzbaren Stellen von Tschechen eingenommen, so
würden diese in der dortigen deutschen Bevölkerung national unschädlich sein,
während sie in den Sudetenländern mit ihren einheimischen Kollegen zusammen
tschechisicrend wirken, was sicher nicht in demselben Maße der Fall wäre, wenn
ihnen eine größere Anzahl der leider abgewanderten deutschen Beamten gegen¬
überstünde. Die Tschechen handeln klüger und konsequenter; allerdings haben
sie es leichter, da sie von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus vordringen,
und auch der Mann, der bloß um des bessern Lebens willen in die noch so
ziemlich deutsche Stadt strebt, ihnen dort nicht verloren geht, sondern als
tschechischer Vorposten wirken muß. Es zeigt sich auch hier bestätigt, daß
große Nationen leichter die Abtrennung von Teilen ertragen als die kleinen,
denn diese suchen den letzten und fernsten Mann zur Mitwirkung und Bei¬
steuer heranzuziehn. Darum ist auch der nationale Einheitsfanatismus am
größten bei kleinen Nationen. Tatsächlich wird der Abwanderung von meist
deutschen Beamten aus den Sudetenländern, die durch Heranziehung tüchtiger
Kräfte in die Zentralbnreaus der Hauptstadt nur zum geringen Teil erklärt
werden kann, bei den Deutschöstcrreichcrn fast gar keine Beachtung geschenkt.
Man lärmt in allen Tonarten über Vertschechung des Beamtentums, gibt sich
aber nur selten Mühe, den einzelnen Gründen nachzuforschen, und noch weniger,
eine umfassende Gegenwirkung einzuleiten. Die Regierung ist schuld, sagt man
wie gewöhnlich. In der Provinzpressc wird nnr selten eine vereinzelte Stimme
laut, die hauptstädtischen deutschen Blätter nehmen nie Notiz davon, denn sie
haben immer ihre eignen Ziele verfolgt und begnügen sich, um diese zu fördern,
gelegentlich die Oppositionslust der Deutschen anzufachen. Gegen die Ab¬
wanderung deutscher Beamten aus den Sudetenländern hat sich bisher über¬
haupt nur eine Stimme erhoben, die des schlesischen Landtagsabgeordneten
Dr. Eduard Türk, der vor einigen Jahren bei einem Ferienkommers deutsch-
schlesischer Hochschüler diese dringend ermahnte, sie müßten einsehen lernen,
daß die großartigsten Demonstrationen und die schönsten Resolutionen nichts
hülfen, sie müßten vielmehr in schweigender Entschlossenheit planmäßig arbeiten '
und das zur Tat machen, was sie in ihren begeisterten Reden und Liedern
verfochten. Die Ostschlesicr dürften nicht nach den Hochschulsahren in die Ferne
ziehn. wo es sich vielleicht schöner und bequemer leben lasse, sondern sie ge¬
hörten in die Heimat, denn da wären sie unersetzlich, um die ostschlcstsche
Heimat wieder zu erobern und zu erhalten. In Deutschöstcrreich sind selten
Worte von so großem. politisch praktischem Wert gesprochen worden. Was
or. Türk da gesagt hat. gilt für alle Deutschen in den Sudctenlündern. dem
geträumten Wenzclsreiche der Tscheche». In reichsdcutschen Zeitungen dringt
nur selten eine zuverlässige Mitteilung über die hier geschilderten wirtlichen
Verhältnisse der österreichischen Beamtenfrcige, denn sie erhalten ihre Nachrichten
größtenteils nach hergebrachten Beziehungen von liberal-kapitalistischer Gerte,
die dieser Angelegenheit keine eingehende Beachtung schenkt, oder zum andern
Teil aus dem alldeutschen Lager, wo man sich in heftigen Klagen gegen den
heutigen Zustand ergeht, ohne daß man auch das Verständnis und den festen
Willen Hütte, dem Ursprung nachzuforschen und sich über wirklich nützliche
Gegenmaßregeln klar zu werden. Mit eitler Rede wird aber nichts geschafft,
klinge sie auch uoch so kräftig.
Verordnungen lassen sich zurücknehmen, aber Beamtenernennungen nicht.
Dieser Leitsatz ist von entscheidender Bedeutung für die Sprachen- und Beamten-
srage in Böhmen. Die Aufhebung der Badenischen Sprachenvervrdnuugeu
haben die Deutschen nach dritthalbjährigen Kämpfen erzwungen, eine Änderung
in der Zusammensetzung des Beamtenstandes — einerlei, ob diese unter dem
Zwang der Notwendigkeit oder durch deutschfeindliche Absicht zustande ge¬
kommen ist — haben sie nicht erreicht, und werden sie auch durch politische
Agitation nicht erreichen, dazu gehören andre Mittel. Die Zeit der Badenischen
Sprnchenverordnungcn ist eine Episode, die wohl deu größten Tiefstand
der Sprachenfrage für die Deutschen bedeutet, aber sie ist keineswegs die
eigentliche Ursache der heutigen Zustände, diese liegt, wie schon aus dem
frühern hervorgeht, viel weiter zurück. In demselben Maße, wie die Slawen
in ihrer Kulturentwicklung fortschritte«, erhoben sie Ansprüche, auch in Amt
und Schule in der Sprache den Deutschen gleichgestellt zu werden. Die Polen
haben, mit Zustimmung der Deutschen, das schon vor mehr als dreißig Jahren
erreicht, den Tschechen brachte erst das Jahr 1830 einen Erfolg. Unter dem
Ministerium Taaffe wurden damals die sogenannten Stremayrschcn Verord¬
nungen erlassen, die von den Deutschen — von ihrem Standpunkt aus mit
vollem Recht — als Mißbrauch des Verordnungsrechts und als Verletzung
bestehender Gesetze bekämpft wurden, ebenso ivie der Erlaß des Justizministers
Prazcck vom Jahre 1886, wegen dessen die deutschböhmischcn Landtags¬
abgeordneten gemeinsam — sie bestanden damals mir aus zwei Parteien —
aus dem Prager Landtag auftraten. Die Tschechen wenden — von ihrem
Standpunkt aus ebenfalls mit Recht — dagegen ein, daß die uuter dem
deutschen Ministerium Hafner für Gnlizieu erlassenen Sprachenverordnuugen.
an deren Aufhebung unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr gedacht wird,
auf derselben Rechtsgrnndlage beruhen, und sie beanspruchen für die zu ihren
Gunsten erlassenen Sprachenverordnungen eine gleiche Geltung wie für die
galizischen. Die Streitfrage ist bloß durch die Gesetzgebung zu lösen, da es
sich aber dabei um eine Änderung der Staatsgrundgesetze handelt, wofür eine
Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhause notwendig ist, so kann bei dem
heutigen Standpunkt der Parteien, bevor nicht ein Kompromiß zwischen
Deutschen und Tschechen vorausgegangen ist, überhaupt keine Entscheidung
herbeigeführt werden. Seitdem durch die Episode der Badenischen Sprachen¬
verordnungen in beiden nationalen Lagern der Radikalismus die Agitation
beherrscht und die friedlichem Parteien Angst vor Mandatsverlusten an die
Radikalen haben, ist jede Verständigung in weite Ferne gerückt, und alle Be¬
mühungen des Ministeriums Körber, durch Verhandlungen einen Kompromiß
anzubahnen, sind erfolglos geblieben. Die deutschen Parteien sind augen¬
blicklich in einer günstigern Lage, weil sich die Deutschradikalen durch die
bösen Anfeindungen zwischen schönerer und Wolf um ihr früheres Ansehen
gebracht haben, die Jungtschechen dagegen obstruieren und intransigiereu
weiter, weil sie alle Ursache haben, sich vor den tschechischen Radikalen zu
fürchten.
Die heute nach Aufhebung der Badenischen wieder geltenden Stremahrschen
Sprachenverordnungen bestimmten, daß bei den politischen und den Justiz¬
behörden in Böhmen und in Mähren die Erledigung und Entscheidung in der
Sprache des eingereichten Gesuchs, die Aufnahme von Parteierklärungen und
Zeugenaussagen in der Sprache der Partei und der Zeugen, endlich die Ver¬
ständigung der Parteien in der bei ihnen vorauszusetzenden Sprache zu er¬
folgen habe; endlich sollten strafgerichtliche Verhandlungen in der Sprache des
Angeklagten durchgeführt werden, außer wo das öffentliche Interesse sz. B. bei
Schwurgerichten) eine Ausnahme erfordert; die Eintragung in öffentliche
Bücher und Register soll in der Sprache der Partei geschehen. Mit Ausnahme
der letzten Bestimmung, die einen ziemlichen Wirrwarr in die Grundbücher
gebracht hat, enthalten die übrigen Anordnungen nichts, was sich nicht voll¬
kommen rechtfertigen ließe und bei Beamten aus der Büchschen Zeit auch
nicht auf die geringsten Schwierigkeiten gestoßen wäre. Für die deutscheu
Beamten freilich, die darauf pochten, nicht tschechisch lernen zu müssen, war
die Sache schwierig; sie konnten nur in deutschen Bezirken gebraucht werden.
Die Badenischen Sprachenverordnungen gingen nun viel weiter, dehnten die
Zweisprachigkeit auf sämtliche Staatsbehörden aus und bestimmten, daß die
Sprache des Ansuchens der Partei auch für die Behandlung in den obern
Instanzen maßgebend sei. wodurch die tschechische Sprache der deutschen als
innere Landessprache vollkommen gleichgestellt wurde. Um diesen Zweck zu
erreichen, wurde als Regel aufgestellt, daß alle Staatsbeamten in ganz Böhmen
und Mührer, die nach dem 1. Juli 1901 angestellt würden, die Kenntnis
beider Landessprachen in Wort und Schrift nachweisen und sich darin einer
Prüfung unterziehn müßten. Namentlich diese Bestimmung zeigte, daß die
Sprachenverordnungen weit über das tatsächliche Bedürfnis hinausgingen und
der frühe Termin von 1901 wenigstens für einige Jahre den deutschen Be-
nmtennachwuchs unmöglich machen sollte. Der erbitterte Widerstand der
Deutschen hiergegen war ebenso begreiflich wie gerechtfertigt, es muß jedoch
darauf hingewiesen werden, daß er schwerlich die ausschreitenden Formen, die
schließlich jeder guten Sitte widersprachen, angenommen hätte, wenn nicht noch
ein andrer Umstand hinzugetreten wäre. Das war der Kampf um Wien. So
lange Badeui gegen die Herrschaft der Christlichsozialen in Wien Stellung
nahm und die Wahl Lnegers zum Bürgermeister nicht bestätigte, waren die
Wiener großen Blätter noch voller Hoffnung, daß er den Deutschen acht zu
nahe treten werde. Als aber zuerst der christlichsozialc Bürgermeister Strobach
und nach dessen baldigem Rücktritt or. Lneger bestätigt worden war, wurde
in der Wiener Presse zum Kampf gegen das Ministerium aufgerufen und
dieser so hitzig geschürt, daß bald die Deutschradikalen die Führung an sich
reißen konnten, was den noch heute bestehenden Parteiwirrwarr im deutschen
Lager zur Folge hatte, weil die Radikalen das Ziel verfolgten, den andern
deutschen „Verrätern" Mandate zu entreißen. Es braucht gar nicht besonders
nachgewiesen zu werden, daß die Agitation gegen die Sprachcuverordnungen
einen andern Verlauf genommen hätte, und daß vielleicht schon ein Kompromiß
zwischen Deutschen und Tscheche» möglich gewesen wäre, wenn Baden nicht
seine Stellung zur Wiener Kommunalfrage geändert hätte. Die Deutschen
waren, wie auch ihr späteres Pfingstprogramm beweist, damals zu allerhand
Zugeständnissen geneigt und Hütten sie auch unter dem Einfluß der haupt-
städtischen Presse gemacht. In gewisser Beziehung ist es darum gut. daß die
Entwicklung so verlaufen ist, denn es wären Stellungen aufgegeben worden,
die unter allen Umständen gehalten werden müssen; jetzt ist Zeit gewonnen
worden zu ruhigerer Überlegung über das Programm und die Taktik des
weitern Vorgehens, wodurch vieles wiedergewonnen werden kann, da die not¬
wendige Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen heute noch in ziem¬
liche Ferne gerückt' ist. Daß sich die Jungtschechcn alle Mühe geben, die Auf¬
hebung der Sprachenverorduungen als Gewalttat gegen das tschechische Volk
hinzustellen, ist begreiflich. Die Partei hat jahrelang ihre freisinnigen
Grundsätze verleugnet und die Hand geboten, daß ihren Wählern durch den
Ausgleich und die Erhöhung der Verbrauchssteuern schwere wirtschaftliche
Nachteile zugefügt wurden. Das geschah alles bloß, um vom Ministerium
Badeni die Sprachenvcrordnungen zu erlangen und sie bis zum Sturz des
Ministeriums Thun aufrecht zu erhalten. Da sie nun aber aufgehoben worden
sind, bleibt den Jnngtschcchen nichts übrig, als mit den tschechischen Radikalen
in der Aufregung der Bevölkerung zu wetteifern, damit sie von diesen bei den
Wahlen nicht gänzlich zur Seite gedrängt werden.
Es ist hier notwendig, einen Blick auf die Stellung des österreichischen
Beamtenstandes und überhaupt der studierten Kreise, sowie ihren Einfluß ans
das politische und nationale Treiben zu werfen. Von verschiednen Seiten ist
schon darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Übergewicht der Beamten
und der Studierten eine der hauptsächlichsten Ursachen dafür ist, daß Österreich
Politisch nicht zur Ruhe zu kommen vermag. Wie auch schou oben ausgeführt
worden ist, wäre eine Verständigung in der Sprachcnfrage in allen wirtschaft¬
lich tätigen Kreisen leicht zu erreichen, praktisch hat sie sich nach dem Be¬
dürfnis schon längst durchgeführt. Bei der ökonomischen Gruppe der Beamten
und der Studierten liegen die Dinge anders, um Amt und Stellung dreht sich
ihre ganze Wirtschaftspolitik. Treten zu dieser materiellen Unterlage noch ein
wenig ideale Überzeugung vom Beruf und Eitelkeit hinzu, so entwickelt sich
ganz von selber die an der Bureaukratie nahezu in allen Ländern beobachtete
Erscheinung, das; sie das Amt für das wichtigste im Staat, wenn nicht für den
Staat selbst hält. Für dieses Amt, für die Standesinteressen kämpft sie mit
Leidenschaft und Erbitterung, alles andre erscheint ihr daneben von mindern
Wert; wenn ihrem Stande eine Richterstelle verloren geht, empfindet sie dies
mit allen Amtsgenossen als unersetzlichen Verlust, während es ihr höchstens
als tief beklagenswerter Umstand erscheint, wenn Handel und Verkehr stocken.
Auch in Böhmen und in Mähren wäre die Sprachenfrage nicht so verwickelt und
schier unlösbar geworden, wenn nicht das büreaukratische Interesse so vielfach
und in so ausschlaggebender Weise mit hineinspielte. Der deutsche Beamte
findet jede Einrichtung doppelt verwerflich, wenn sie seinein Stande eine Stelle
rauben könnte, und der tschechische Beamte benutzt jeden gerechtfertigten An¬
spruch, wie jede günstige Stimmung der Regierung und jeden Fehler seiner
nationalen Gegner, seinem Stande die Aussicht auf neue Stellen zu erschließen.
Leute, die unsre heutige höhere Schulbildung durchgemacht haben, verfallen
dann leicht dem Doktrinarismus und machen rasch ans ihrer Meinung ein
„Prinzip," das bald in Gegensatz zu den praktischen Forderungen der Um¬
gebung gerät. Es kann doch schließlich nicht als Grundsatz gelten, daß der
Beamte selbst über seine Sprachbefähigung bestimmt. Dahin ist es aber durch
den Einfluß der Beamten und der studierten Kreise in Böhmen tatsächlich ge¬
kommen. Den: wirklich vorhandnen Bedürfnis stellt man ein „Recht" gegenüber,
das freilich in den sich teilweise widersprechenden gesetzlichen und amtstechnischeii
Bestimmungen für den Juristen eine Stütze und einen Anlaß zum Einspruch
findet, aber doch gegenüber den realen Forderungen des Lebens und des Staat»?
nicht zur Geltung durchzudringen vermag. Damit ist unendlich viel Kraft in
aussichtslosen Agitationen und ungeheuer viel deutscher Einfluß verloren worden.
Die wirtschaftlichen Kreise kommen daneben nicht auf, ihre Anregungen werden
von dem „prinzipiellen" Standpunkt der Studierten übertönt. Das gilt von
Deutschen wie von Tschechen. Man sehe nach Prag. Dort ist, dank der auch
aus den „liberalen" Zeiten stammenden Stndtcordunng, in die die Regierung
beim besten Willen so gut wie nichts hineinzureden hat, eine Gewaltherrschaft
gegen die alteingesessenen Deutschen eingerissen, wie man sie anch in unsern
Zeiten des Mehrheitsprinzips kaum für möglich halten sollte. Und sieht man
nach den Führern — man braucht nur die Namen zu lesen —, so findet man
die maßgebenden in den Reihen der Studierten. Gewiß sind auch Bürgers¬
leute darunter, aber solche Mitläufer finden sich ja überall, die sich in der
Rolle als Trabanten des führenden „Herrn Doktors" gefallen, seine Papageien
machen und vielleicht durch ihr dadurch vermehrtes Ansehen ihre kleinen Geschüfts-
vorteile haben. Aber die größere Industrie- und Handelswelt ist damit keines¬
wegs einverstanden, wofür auch Beweise vorliegen; sie empfindet am eignen
Leibe, wie der übertriebne und ungerechte Nationalismus für sie mit Nach¬
teilen verbunden ist, und daß das althistorische „hunderttürmige" Prag, das
alljährlich ein Wanderziel für Hunderttausende sein könnte, mehr und mehr
gemieden wird, denn es ist für Reisende kein Vergnügen, ein den Straßen¬
ecken die unverständlichen Ausdrücke „nuce" und „nur" zu lesen und sogar
von anscheinend gebildeten Leuten auf eine höfliche Anfrage um Auskunft wo¬
möglich gar keine Antwort zu erhalten. Gelegentliche Extratouren aus Nu߬
land oder Paris, bei denen in Deutschenhaß geschwelgt wird, treten dafür
keinen Ersatz, denn sie kosten eher mehr, als sie einbringen. Daß die Deutschen
da. wo sie die Mehrheit haben, dem von der „tschechischen Hauptstadt" einge-
führten Terrorismus gegenüber Repressalien üben, ist selbstverständlich, trägt
aber nichts zur Gesundung der Verhältnisse bei. Man empfindet es doch
überall als anmutende .Höflichkeit, sobald man auf fremdem Gebiet öffentliche
Anschläge in der eiguen Sprache liest, und es ist sicher kein Kulturfortschrttt.
wenn dergleichen Dinge zu nationalen Macht- und Herrschaftsfragcn gestempelt
werden.
Der Einfluß des Beamtentums und der studierten Klassen macht sich
aber auch noch in einer andern Richtung im nationalem ^inne bemerkbar und
wirkt in den Sudetenländern schädlich. Die großen Wahlrcchtsvortelle und
die liberale Kommunalgesetzgebung spielen ihnen fast überall einen ausschlag¬
gebenden Einfluß in die .Hände, die weit über die diesen Kreisen sonst be-
rechtigterweise zustehende Stellung hinausgeht. Bei deu städtischen Kommunal-
wnhlen sind die Beamten usw. fast ausschließlich in der ersten Klasse, die die
geringste Wühlerzahl enthält, und darum beherrschen sie leicht diese Abteilung.
Ändert sich die Nationalität der Beamtenschaft, so zieht sie auch sehr leicht
die Gemeindevertretung zu sich hinüber, um so mehr als in gemischtsprachigen
Gemeinden die dritte Wühlerklasse meist von Haus aus vorwiegend slawisch
ist und nur der geeigneten intelligenten Leitung bedarf, sich nach ihrem Volks-
tum zur Geltung zu bringen. Man wird es unter diesen Umstünden begreif¬
lich finden, daß mit der Vertschechuug des Beamtentums in Böhmen und
in Mührer nach und uach eine ganze Reihe von einst deutsch verwalteten und
zu den deutsche» gerechneten Städten und Flecken tschechisch geworden ist.
Unterstützt ist diese Bewegung vielfach durch deu lärmenden Antisemitismus
worden, der die ohnehin gern nach der herrschenden Seite neigenden Juden
w das slawische Lager getrieben hat, sodaß sie entweder sich der Wahl ent¬
halten oder mich mit deu Tscheche» stimmen. Man kann diese zwiefache Ein¬
wirkung in allen der Tschechisieruug anheim gefallnen städtischen Gemeinwesen
beobachten. Auffüllig ist dann immer die plötzlich eintretende Abnahme des
bisher „deutschen" Bürgertums, ein Beweis dafür, wie groß die Anzahl derer
ist. denen die Nationalität wenig gilt, und die meist aus Rücksicht auf ihren
Erwerb mit der Mehrheit gehn. Man ersieht daraus, was sich mit der Be-
hauptung der Beamtenstellen für die Deutschen Hütte erhalten lassen. In
zahlreichen Landgemeinden hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen. Dort
ist in den meisten Fälle» wohl die Tschechisieruug durch die Heranziehung
billiger slawischer und die Abwanderung der höhere Löhne suchenden deutschen
Arbeitskräfte gefördert worden, aber noch mehr schreitet sie in gemischtsprachige»
und sogar früher deutsche» Gegenden dnrch die Besetzung der Beamten- und
der Priesterstellen mit Tschechen fort. Die slawischen Beamten und Geistlichen
treten, im Gegensatz zu den deutschen, fast sämtlich als nationale Agitatoren
auf, sammeln ihre Landsleute bis zum geringsten Tagelöhner um sich, womit
sie zur Geltung und schließlich zur Herrschaft gelaugen, worauf die Ortsver¬
waltung und die Schule tschechisiert werden. Wären nicht diese tschechischen
Agitatoren in den Jntelligenzkrcisen, so würden die nationalen Ansprüche der
zugezognen tschechischen Arbeiter verhältnismüßig leicht und ohne Benach¬
teiligung des deutscheu Volkstums befriedigt werden können. Diese Vorgänge
sind in den Sudetenländern allgemein bekannt, und man sollte meinen, die
Mittel zur Abwehr böten sich von selbst dar. Aber was sich von selbst ver¬
steht, macht sich leider nicht von selbst, am allerwenigsten beim deutschen Poli¬
tiker. Dem genügt es schon, wenn er etwas einsieht, dann äußert er sich mit
kräftige» Worten darüber, trinkt sein Bier aus und geht nach Hause in dem
Bewußtsein, er habe etwas für sein Volk getan, aber er findet nicht die Kraft,
das wirklich zu tun, was er für notwendig hält. Die Regierung soll es
machen, sagt er und gibt auch nicht einen Augenblick der Überlegung Raum,
ob sie das wirklich machen kann, oder da sie ja in der Regel auf die Oppo¬
sition der Deutschen stößt, machen will. Man rüsoniert und legt die Hände
in den Schoß, man wartet, bis jemand komme, der den Staat für die Deutschen
recht bequem einrichte. Jeder Wille, den Staat gestalten zu helfen, die Er¬
kenntnis von der Notwendigkeit der Selbsthilfe scheint bei den Deutschöster¬
reichern erloschen zu sein; die Presse ist auch nicht geeignet, hierzu zu erziehen,
denn sie tadelt und schmäht nur die Regierung wie die andern Nationen
und Parteien, aber dadurch wird bloß dein tatenlosen Eigendünkel Vorschub
geleistet.
Seitdem sich das Deutschtum in Osterreich aus dem nationalen Tiefstand,
den die Badenischen Sprachenverordnungen bezeichneten, wieder emporzuarbeiten
beginnt, scheint es politisch-praktischen Erwägungen zugänglich zu werden.
Hinderlich bleiben wird ja dabei noch immer der alte Grundirrtum der Mehr¬
zahl der Deutschösterreicher,'der die Begriffe deutschnational und antiklerikal
verwechselt; nützlich wird es dagegen sein, daß die politische Hohlheit des
Radikalismus, der während des Kampfes um die Sprachenverordnungen wegen
seiner rücksichtslosen Formen stark in den Vordergrund getreten war, in weiten
Kreisen erkannt worden ist. Man ist in der letzten Zeit wieder zur Belebung
der frühern Obmännerkonferenz der deutschen Parteien geschritten, wodurch wohl
das gemeinsame Vorgehn der bedeutendem deutschen Parteien verbürgt werden
könnte, wenn man wirklich etwas tun will und die frühern Fehler, die immer
wieder zur Spaltung führten, vermeidet. Die Hauptverantwortung dafür wird
ans die stärkste der deutschen Parteien, die deutsche Volkspartei, fallen, die zu
drei Vierteln aus den Alpenlündern gewählt ist und auch schon vor der Episode
der Sprachenverordnnngen Anläufe zur praktischen Politik nahm, bis schließlich
alles der lärmenden Führung der Radikalen und der Mnndatsfnrcht vor ihnen
verfiel. Jetzt wird die Partei den frühern Faden wieder aufnehmen müssen,
und zwar in mutigerer und klugerer Weise als im vergangnen Jahre. Es hat
weder zum Vorteil des Deutschtums noch zum Ansehen der Partei beigetragen,
daß sich diese während der Abstimmung über den Dispositionsfonds aus dem
Sitzungssaale entfernte und ängstlich in den Korridoren lauschte, ob das Haus
die unbedeutende Summe etwa ablehnen werde, was ja an und sür sich wenig
aber doch ein Mißtrauensvotum gegen das Ministerium: Körber bedeutet hatte,
das die deutsche Bolkspartei nicht missen mag. dem sie aber aus Furcht vor
den Radikalen kein Zeichen des Vertrauens zu geben wagte. Ebensowenig
wird es angehn. daß die deutsche Volkspartei wieder einen parlamentarischen
Vorwand benutzt, ans der Obmännerkonferenz zu den. unverkennbaren Zwecke
auszutreten, die Hände für die niederöstcrreichischen Wahlen gegen die Christlich-
sozialen frei zu bekomme». Der Gewinn eines einzigen Landtagsmandats hat
jedenfalls die dnrch die Auflösung der Obmännerkonferenz hervorgerufnc parlcv
meutarische Schwächung der Deutschen im Abgeordnetenhause nicht gerechtfertigt.
Die deutsche Volkspartei muß zu dem Standpunkt zurückkehren. den ihr da¬
maliges Mitglied Dr. Steinwender im Dezember 1898 in Währmg betonte-
»Die Sprachenverordnungen sind nicht das Übel, an dem wir leiden, sie sind
nur eine seiner gefährlichen Erscheinungsformen. Die Krankheit besteht nach
wie vor darin, daß die Deutschen seit zwanzig Jahren zerspalten in viele
Frnktioneu. ohne Einfluß auf die Politik sind, und daß man gegen sie regiert.
Wir haben es seit zwanzig Jahren zu gar nichts als zu einer impotenten
Raunzerei gebracht Wenn wir die Sprachenverordnungen aufheben, stehen
wir dort, wo wir vor zwei Jahren gestanden haben. Die wichtigste Aufgabe
der Deutschen in Österreich ist. nationale Politik zu treiben nach außen und
nach innen. Wir haben seit zwanzig Jahren ein Bündnis mit Deutschland;
es ist gemacht worden, ohne daß die Deutschen etwas davon gewußt haben.
Es ist im Interesse des Staats gemacht worden mit dem Magyaren Andrassy.
Dieses Bündnis mit Deutschland entspricht unsern Gefühlen, es entspricht aber
auch dem Vedürfuis des Staats. Wir müssen sichere Stützen dieses Bünd¬
nisses sein, das können wir aber nur dann, wenn wir mächtig sind. Die
Naunzerei rükt gar nichts, wir müssen trachten. Einfluß auf die Geschicke
Österreichs zu °erhalte». 5>ente kann sich das deutsche Bündnis viel mehr ver¬
lassen auf die Magyaren', als auf die Deutsche., Österreichs. Das ist eme
Schande für uns. Wir haben nicht Demonstrationen zu machen, die dein
Reiche Schwierigkeiten bereiten, sondern zu trachten, selbst zur Macht zu ge¬
langen und aus Österreich einen verläßlichen Bundesgenossen zu machen."
or. Steinwender mußte damals wegen dieser vernünftigen Worte aus der Partei
austreten, weil sie Furcht vor den Radikalen hatte.
Seit jenen Tagen ist die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich zu¬
sammenzuschließen, um politische Macht zu gewinnen, unter den Deutschöster¬
reichern fortwährend gewachsen und hat vor dem Schluß der Abgeordneten¬
sitzung Ende Juni zu der schon erwähnten Wiederbelebung der Obmünner-
konferenz unter dem Namen Vollzugsausschuß geführt, der vierzehn Mitglieder
hat. Der Name tut nichts zur Sache, es handelt sich darum, ob wirklich
etwas, und was geschehe« wird. Die Notwendigkeit drängt dazu, daß politisch
praktische Beschlüsse gefaßt werden, und darum ist ein theoretisches Programm
gar nicht nötig, die Ausarbeitung eiues solche» wäre Zeitvergeudung. Da¬
gegen gilt es. i» alle» politischen Entscheidungen einen praktischen Standpunkt
zu gewinnen und namentlich bei Fragen des Großstaats und der Monarchie
den unfruchtbaren Weg der doktrinären oder taktischen Opposition zu verlassen,
die hauptsächlich dazu geführt hat, daß das Ansehen der Deutschen als aus¬
schlaggebende Macht in Osterreich geschwunden ist, daß all die kleinen Vor¬
teile, die von selbst den Mehrheitsparteien zufließen, den Slawen zugewandt
worden sind und sich im Verlauf eines Vierteljahrhunderts verfehlter Politik
zu einer Summe angesammelt haben, die die Klage über den Rückgang des
Deutschtums nicht unberechtigt erscheinen lassen. Man muß die Wurzel des
Übels erkennen, und dann wird man anch den Folgen vorbeugen. Vor allem
wird es notwendig sein, den Dingen in den Sudetenlündern, und namentlich
in Deutschböhmen, ernst ins Auge zu sehen und auch dort mit der verfehlten
Taktik zu brechen. Die dortige Verschlimmerung ist doch wesentlich dem Um¬
stände zuzuschreiben, daß die Deutschen aus Bequemlichkeit und einer Rechts-
auffassung zuliebe, die sich mit den wirklichen Verhältnissen nicht vertrüge, die
Beamtenstellen gerünmt haben, in die dann der Tscheche eingerückt ist. Das
muß aufhöre», der Deutsche Muß dort jeden Posten verteidigen, und das kann
er am leichtesten als tschechisch redender deutscher Beamter. Es ist die höchste
Zeit dazu, denn die Folgen der bisherigen verfehlten Taktik haben den Höhe¬
punkt noch nicht erreicht. Jetzt muß schon die „Bohemia" den Mangel an
deutschen Beamten zugestehn. Die Beherrschung der zweiten Landessprache
sichert unter allen Umständen gewisse Vorteile, und zwar auch daun noch,
wenn die Bezirke in Böhmen national abgegrenzt werden sollten. Die höhern
Instanzen, die zum Teil zweisprachig sein müßten, würden doch den Deutschen
verschlossen sein, außerdem würde auch uach der Zweiteilung ein gemischt¬
sprachiger Nest übrig bleiben, der aber nach und nach der Vertschcchung anheim¬
fallen müßte, wollte die deutsche Intelligenz sich selbst durch Nichterlernnng
des Tschechischen den Zutritt zur Verwaltung dieser Gebiete versperren.
Wir geben gern zu, daß kein großpolitisches Interesse dabei in Frage steht,
die österreichisch-ungarische Monarchie könnte wohl noch einen stärkern slawischen
Einschlag vertragen, ohne daß sie selbst gefährdet und das Bündnis mit Deutsch¬
land unmöglich würde. Aber es liegt ein Bedürfnis des gesamten deutschen
Volkstums, sowohl im Deutschen Reich wie in Österreich vor, daß sich der
slawische Riegel, der sich bis mitten in das deutsche Volk vorschiebt, nicht ver¬
breitert. Darum ist es zunächst Sache der Führung der Dentschösterreicher,
die Wendung einzuleiten. Die ewige Retirade in Böhmen muß aufhören, die
Zweiteilung, soweit sie von Rückzugsgefühlen diktiert wird, muß man fallen
lassen, und es muß zur Neubewaffuung gegriffen werden, um zunächst den
letzten Nest des Besitzes verteidigen zu können und dann zur Wiedereroberung
der ausgegebnen Stellungen zu schreiten. Gewiß wird es einen erbitterten
Kampf mit den Tschechen geben, der ist aber ehrenvoller als der freiwillige
Rückzug mit „Nechtsverwahrung" und die „Naunzerei" hinterher, und er
würde auch gar nicht zu lauge dauern, denn deutsche Kraft muß deu Sieg be¬
halten über die zähe Beweglichkeit der Tschechen, der deutsche schöpferische
Geist bleibt ihrem Anpassungsvermögen immer überlegen, ernster deutscher
Wille ist stärker, als die schnell auflösende Glut slawischer Begeisterung. Aber
diese deutschen Tugenden werden nicht ererbt, sie müssen von jeder Generntion
neu erworben werden, mit einem strammen deutschen Volksbewußtsein sind
keineswegs alle deutschen Tugenden notwendig verbunden. Das mögen sich
die Deutschbvhmen vor Angen halte», das möge den Führern der Deutsch-
vsterreicher als Richtschnur gelten. Sobald der Tscheche erkennt, das; der
Deutsche — nicht mit dem Munde, sondern mit der innern Glut des wieder-
gebornen Volkstums — den Kampf aufnimmt, wird er bald nachgeben,
denn die Partie steht ungleich, die Tschechen können ihr Sprachgebiet gegen
ein mit zehnfacher Übermacht sie umgebendes Volkstum nicht aufrecht erhalten,
das können sie bloß Schwächlingen gegenüber, die ihre Kraft in Demonstrationen
und Doktrinen vergeuden. Die Tschechen wissen, daß trotz so grober Fehler
ihrer Gegner das Deutschtum in Böhmen der Zahl uach doch nicht zurück¬
gegangen ist, und daß es bei geänderter Taktik siegen muß. Dann erst
werden sie zum Frieden bereit sein, aber solange ihnen die heutigen Aussichten
winken, niemals, aus großen Worten machen sie sich nichts. Das Gefechts¬
feld für die Deutschösterreicher ist klar zu überschauen, klärend und befreiend
für Österreich wird aber schließlich nnr der erstrittue Ausgleich zwischen Deutschen
und Tschechen wirken. Alle Verfassungsänderungs- und Lünderteilungsplänc
sind bis dahin vergeblich, wenn nicht überhaupt schon von Hans aus verfehlt.
> le Literatur gehört in die allgemeine Geschichte des geistigen Lebens
^und läßt mit am deutlichsten dessen intime Regungen erkennen.
Darum unterliegen Werke der Literatur eigentlich zuerst immer
einer ideellen, erst dann einer persönlichen Betrachtung. Es ist
...i nicht anders, als daß, wie Ranke einmal in der Geschichte der
Hupste sagt, alles menschliche Tun und Treiben dem leisen und der Bemerkung
oft entzognen, aber gewaltigen und unaufhaltsamen Gange der Dinge unterworfen
'se. Wenn wir vom Verfasser gar nichts wissen, so lernen wir ihn und seine
<Me durch sein Werk kennen. Das um so mehr, als bei uns der Roman und
"e nicht scharf von ihm zu scheidende Novelle an Schrift und Druck gebunden
"w, während einst in der westeuropäischen Kultur die Kunst mündlich fortge
pMnzter Novelle» bei den Jsländern gedieh (Heusler, Die Geschichte vom Hühner-
thorir. Berlin, 1900). Nachdem sich der Roman ans dem Epos gelöst und
Mu Teil mit Chronik und Biographie vereinigt hat, ist diese nicht-dramatische
Darstellung menschlicher Dinge unter wechselvollen Schicksalen zu einer reichen
^utwnklung gekommen, die beweist, wie sehr sie Bedürfnis ist.
Da wir ein geistiges Erzeugnis im Grunde erst dann verstehn, wenn wir
zu wissen glauben, aus welchem Bedürfnis es entstanden ist, so werden Nur auf
dre doppelte Betrachtung der Tendenz der Zeit und der Persönlichkeit des Autors
Gre
zurückgeführt. Aber diese doppelte Quelle der Erkenntnis wird kompliziert, wenn
wir bedenken, daß die Literatur, zumal des Romans, mehr und mehr international
geworden ist. Fremde, exotische Vorbilder reizen zur Nachahmung, auch wenn
im eignen Volkstum die direkten Vorbedingungen der Fremde gefehlt haben.
Romane werden mit und ohne besondre Tendenz geschrieben, spielen in
früher Vergangenheit oder in der Gegenwart, sind phantastisch-abenteuerlich oder
wollen völlig glaubwürdig sein. Eine so ausgesprochne Tendenz, wie z. B. in
„Onkel Toms Hütte" von der Beecher Stowe, liegt unsern Romanschriftstellern
fern. Sie haben keine Neigung, in den Verdacht zu kommen, als wollten sie
novellistisch ausgedehnte Traktätchen schreiben, obgleich sie wohl gegen einen
Erfolg wie den des genannten Romans nichts einzuwenden hätten. Oder denkt
man an L. Tolstois „Ruum Kareniun," so ist zwar in diesem Meisterwerk stark
betont, daß der Mensch (in diesem Falle Karmin) ein großes Leiden mit
der in der Bergpredigt so paradox zugespitzten Bereitwilligkeit auf sich nehmen
soll. Aber davon abgesehen entwirft dort Tolstoi doch hauptsächlich ein Bild
der „guten" Gesellschaft, das nicht gerade schmeichelhaft ist. Ähnlich ists in
der „Auferstehung," nur daß diese noch schrullenhafter und noch weniger schmeichel¬
haft schildert.
Im ganzen zeigt uns jetzt der Roman nur, wie Menschen mit gewissen
körperlichen und geistigen Eigenschaften nnter bestimmten Verhältnissen der Um¬
gebung sind und handeln. Der ganze mamngfaltige Reichtum menschlicher Ver¬
hältnisse und Gefühle soll dargestellt werden. Damit hängt zweierlei zusammen.
Einmal die Auswahl der Personen nach Stand lind Zahl, sodann die Methode,
sie zu schildern. Der spähende Blick der Autoren mustert die verschiednen Jagd¬
gründe, die eine interessante oder lohnende Ausbeute versprechen. Sie haben
an sich keine Vorliebe für ein bestimmtes Revier, sondern wählen ungefähr alle
die, die ihnen zugänglich sind. Nur selten hören wir. wie von Zola, daß sie
mit erbitterter Zähigkeit ein „Milieu" studieren, das sie benutzen wollen, menn
es auch nicht gerade wohlduftend ist, wie die Markthallen im „Bauch von
Paris," oder staubig, wie in dem großen Univcrsalgeschüft „Zum Glück der
Damen." Die Gesellschaft der „Geheimnisse von Paris" wird nicht mehr bevor¬
zugt. Überhaupt stehn wir mitunter verblüfft davor still, was man einst leiden¬
schaftlich las und liebte. Auch bei uns haben manche den Deutschen des aus¬
gehenden achtzehnten Jahrhunderts so terre Gestalten eine ins Lächerliche
spielende Palma bekommen.
Stellt aber der Roman jetzt ungefähr alles dar, so liegt darin von selbst
eine Neigung zum Realismus oder Naturalismus, die das Epos deswegen nicht
befriedigen kam?, weil die Kleinmalerei mit der epischen Form unverträglich ist-
Doch hat sich der possierliche Enthusiasmus für diese „modernen" Neigungen
nicht auf seiner Stelzenhöhe gehalten. Abwechslung ist süß: ein kleiner Schuß
Symbolismus, vielleicht Wirkung von Ibsen, vielleicht exotische Anregung, soll
mitunter den Trank würzen, freilich am besten mit Naturalismus vereinigt.
Denn dieser ist noch immer beliebt, und die Nacktheit z. B. der „Renate Fuchs"
hat, zumal wo sie nicht symbolisch ist, für manchen Wandrer ihre Anziehungskraft
und macht ihn zum Bewundrer.
Der Roman der Gegenwart zeigt eine offenbare Neigung zur Photographie
und zur Mikroskopie und vermeidet ängstlich den Verdacht, daß er steh seine
Objekte mit Prüderie aussuche. Einige Autoren siud dabei so glücklich wie die
Chemiker. Denn im Gegensatz zu profanen Alltagsmenschen haben diese nut-
unter noch Genuß, wo der Profane nur Schmutz oder Gestank bemerkt
Diese Neigung zur Naturtreue hat etwas - Kindliches; Goethe sagt e.
uns ja. daß dieKiuder die entschiedensten, unbestechbarsten Realisten siud (Duhtnng
und Wahrheit. 17. Buch). Damit bürgt dann die Sprache zusammen, Wird
Jargon und Dialekt (auch im Drama) verwandt, so hat das den Zweck der
Naturtreue. nicht selten auch den Nebenzweck der lächerlichen Kontrastwnknng (wie
bei Aristophanes). Bei uns ists aber damit heiliger Ernst geworden; noch er¬
träglich z. B. in Sudermanns „Johannisfeuer." selten so natürlich begründet
wie bei Reuter. Der Sprachtriumph der Provinz oder der Landschaft durfte
nirgends auch uur annähernd so groß sein wie in Deutschland. Daß die Per¬
sonen des Romans nach ihrem Bildungsstaude reden, statt nut glattgeleckter
gleichmäßiger Eleganz und in Form langer Vorträge, wird uns wünschenswert
erscheinen.' Aber wie weit erstrecken sich, muß mau fragen, das genane Ver¬
ständnis und die intime Genußfähigkeit für die süßen Naturlaute der Eifel
(C- Viebig. Müllerhaunes). Schwabens. Ostpreußens, Schlesiens, des Vogtlandes.
Oberbayerns, das so sparsam ist mit scharfer Aussprache der Konsonanten, und
was dergleichen leckerer Gaumenkitzel mehr ist?
So sind die Kategorien der Romanbcurteilnng sehr mannigfaltig geworden.
Wenn wir von der Sprache absehen, fragen wir nach dem Zusammenhang mit
der Tendenz der Zeit, d. h. mit substantiellen Fragen des öffentlichen Lebens in
Politik, sozialen Bestrebungen und Klassenkampf, mit „umgewerteter" Moral;
nach der Auswahl der geschilderten Volkskreise, nach einer etwa ausgesprochnen
These, nach Einwirkung fremder Muster, Geschlossenheit der Komposition. Aus¬
wahl der Konflikte. Mitteln der Charakteristik, wozu auch die Schilderung der
Bau- und der Naturumgebung gehört, uach der Benutzung des Zufalls und
überraschender Enthüllungen (wie sich z. B. in Dickens „Blcakhol.se" die alte
herzige Gattin von Smallweed als Schwester und Erbin des Makulatur-
Händlers Krook entpuppt), nach der Spannung durch die unerläßliche und nur
ganz allmählich eintretende Aufhellung düstrer Geheimnisse, wie sie Dickens
gleichfalls liebt, u. dergl. in.
Aber die Art der poetischen Produktion hat psychologisches Interesse. Liegen
uns zahlreiche Schriften desselben Verfassers vor, so versuchen wir ans ihnen
zu lernen, anstatt uns an der heute hitziger als je betriebuen Jagd nach Per-
sonciluotizeu über den Verfasser zu beteiligen. Hier brauchen wir glücklicher¬
weise nicht nach Briefen, Lebensnachrichten andrer, Tagebuchnotizcn, angeblichen
Modellen usw. zu suchen, wenn wir als literaturgeschichtsforsche Denker erscheinen
Wollen, die z. B. ein Gedicht mit einer Lebensnachricht kombinieren und dann diese
Kombination als ..Erklärung" dem, der sich verblüffen läßt, an den Kopf schlendern.
Daß Wilhelm von Potenz deu Roman Der Büttnerbauer geschrieben hat
(Vierte Aufl., F. Fontane), hängt gewiß damit zusammen, daß er die ländlichen
Verhältnisse,*) den Betrieb der Wirtschaft, die Tiere, die Menschen und ihre Seele
genau kennt. Realistisch finden wir Haus, Hof, Acker, die Bewegungen des
Reitpferdes, das Abschießen von Fasanen dargestellt. Die Menschen sprechen
leider meist den Dialekt des Fuhrmanns Henschel. Aber weder ist das die
Hauptsache, wie etwa „moderne" Maler bloß ein Mieder oder ein Stück davon
malen, noch tritt uns eine von aktuellen Verhältnissen hergcnommne Tendenz
aufdringlich entgegen, sondern der Verfasser fühlte sich offenbar vom Seelen¬
leben und von der sozialen Eigentümlichkeit angezogen. Eben das ists denn
mich, was den Leser packt.
Der sechzigjährige Bauer Trnngott Büttner ist eine tief sympathische Gestalt.
Da hat er — das ist die Wurzel alles Übels bei der Übernahme des Hofes
einen unglücklichen Erbvertrag schließen müssen, der ihn so belastet, daß er nie
aus der Bedrängnis der Hypothekenzinsen herauskommt. Denn dreißig glänzende
Ernten hintereinander hat er nicht. Hilft ihm niemand in seinem Ringen,
diesem trotz aller Hoffnungslosigkeit zähen Schwimmer, dem leider keine Leuko-
thea einen rettenden Schleier zuwirft? Seine Frau ist uicht schlecht, aber
schon alt und krank und überdies ohnmächtig. Der ältere Sohn ist ein wertloser
Arbeiter; bei den Soldaten hatte er sich nicht rechts und links merken können,
jetzt ist er mitsamt der unliebenswürdigen, sich später aber zu erstaunlichen Lei¬
stungen aufraffenden Frau auf dem Hofe in Haldeman. Der jüngere, tingere
Sohn ist noch bei den Soldaten. Die ältere Tochter arbeitet zwar mit; aber
je näher die Katastrophe kommt, desto mehr wird sie daran gehindert, weil sie
Familienschande über das Haus bringt. Die jüngere Tochter ist noch zu sehr
Kind. Hat er keine Verwandten? Ach ja! Aber der eine ist ein ErzHalunke,
sein Schwager Kaschel, der ihn als Gläubiger drängt und ins Elend bringen
wird: der andre ist sein Bruder, ein wohlhabender Kaufmann, der in der größten
Not schnöde versagt. Traugott Büttner selbst ist unsäglich fleißig und tüchtig;
höchst sparsam: seinen Sonntagsrock trägt er vierzig Jahre, er will nicht ein¬
mal den Kaffee im Hause dulden; trotz seiner sechzig Jahre bückt er sich nach
einem rostigen Hufnagel, geht nie ins Dorfwirtshaus.
lind so hätte er gar keine Schattenseiten? Das wäre übermenschlich; er
hat eine gewisse konservative Beschränktheit. Weder mag er den altüberlieferten
Betrieb andern (S. 159), noch aber ein Stück des ererbten Gutes verlaufen,
das ihm der Graf abnehmen null, der Büttners Besitztum von drei Seiten um¬
klammert. Von der infernalischen Macht eines „Wechsels" weiß der Bauer
nichts. Als er eines Tages, um sich etwas Geld zu schaffen, seinen Hafer zur
Stadt fährt, fällt er Herrn Samuel Harassowitz und Herrn Schönberger in die
Hände, die ihm „zu kulanten Vedinguugeu" Geld leihen. Das ist die unsicht¬
bare Schlinge, die sich schließlich zu dein Strick verdichtet, an dem sich Büttner
hängt. Als der jüngere Sohn von den Soldaten zurückkommt, kau» er nicht
mehr viel helfen. Er sucht Kaschel und den Bruder seines Vaters vergeblich
auf. Leider hat er auch für sein Mädchen und deren Kind zu sorgen: er muß
sie heiraten. In Halbeucm kann er nicht bleiben. So geht er deun — ohne
den Vater vor dem Aufbruch zu sehen — nach lungern Sträuben mit Frau
und Kind unmittelbar nach der Hochzeit ins Land der Zuckerrüben. Mit ihm
die jüngere Schwester, die dort die Geliebte eines Menschen wird, den der
jüngere Sohn vom Militär her kennt und von der Landstraße her aufgenommen
hat, Bon Büttners vier Kindern verlassen also drei , darunter zwei Töchter,
seine ehrbare Art. Der ältere Sohn geht mit seiner Familie aus dem Hanse
in eine elende Baracke, die ihm Herr Hamssowitz anweist; das Kind der ältern
Tochter nehmen sie mit; diese selbst wird von demselben edeln Gönner als Amme
nach Berlin geschickt. So ist der Alte mit seiner schwerkranken Frau ganz allem!
Das Gut wird versteigert und parzelliert. Auf dem Rest des Landes und un
Hause läßt man ihn. weil keiner so gut und treu arbeitet, wie er — obgleich
er sich seit Jahren unter den bittersten Kränkungen immer nur für seine Punger
abgemüht hat. Die Frau stirbt. Herr Harasfowitz verkauft uun das Hans selbst
einem Geschäftsfreunde, der, um den Preis zu drücken, Büttners geliebtes Haus
wiederholt eine Hundehütte nennt. Büttner soll eine Dachkamnier erhalten, und
während unten alles von Handwerkern umgeändert wird, zu alleu möglichen
häuslichen Diensten bereit sein. An sich schon sehr wenig geneigt, sich auszu-
sprechen. hätte er jetzt niemand mehr dazu. In allen, Darben und Arbeiten,
in dem entsetzlichen Kummer dieses langsamen, schrecklichen wirtschaftlichem Sterbens
ist er zum Skelett abgemagert. Lange war er nicht, wie sonst immer, zur
Kirche gegangen Da geht er eines Abends zum Dorfbarbier, läßt sich den
langen, wirren Bart abnehmen und geht am nächsten Tage zum Abendmahl.
Mit den beiden jüngsten Kindern hatte er nicht mitziehen mögen — ni die
große Stadt. Am Nachmittag geht er hinaus. Da ist ein schlanker wilder
Kirschbaum. dessen Krone in voller Blütenpracht steht, bis ins kleinste Ästchen
von zierlichen Blütcukelchen bedeckt, die ersten Bienen schwärmen schon lebens¬
froh in der Krone. Da sieht er, daß der unterste Ast stark genug ist----
Als er vom Leben zum Tode gewürgt wird, sieht er in Vergangenheit und
Zukunft: er sieht seinen Vater und seineu Großvater, deren Beschreibung uns
an einer frühern Stelle gegeben worden war.
Schon die meisterhafte Schilderung der Seelenleiden des Alten erregt
unsre Teilnahme. Darüber hinaus rühren seine Schicksale an die alte düstre
Frage der Gerechtigkeit ans Erden, die jetzt in unsern sozialen Kämpfen mit so
lautem Geschrei gefordert und wahrscheinlich ewig vergeblich erstrebt werden
wird. Das drückt auf Büttner: es gab keine Gerechtigkeit auf der Welt (S. 37).
Welche Schuld hätte er sich vorwerfen sollen? ..Wie konnte es geschehen.^daß
jetzt ununterbrochen schönes Wetter war, wo ein solcher Tag, vierzehn Tage
früher, alles gerettet hätte? Nun war das schöne Heil zunichte geworden . - .
wirklich, es ging zu verkehrt zu in der Welt." Sogar als Soldat hat Büttner
'» zwei Feldzügen seine Pflicht getan. Er ist in seinem Elend so stolz und
ehrbar, daß er zwei Goldstücke zurückgibt, als er hört, daß die ältere Tochter
(die Geberin) ein verdächtiges Leben führe. In all dem Elend arbeitet er bis
zur Aufreibung für andre; nicht aus Egoismus, sondern weil es so sein muß,
ans ererbten Pflichtgefühl. Als ihn dann nichts mehr angeht, fühlt er die
freilich nur kurze und uicht vou Bitterkeit freie Wonne des wirklich Einsamen,
den Stolz, die Verachtung des Bedürfnislosen, der in, Begriffe ist, das letzte
abgetragne Gewand von sich zu werfen.
Und was für Menschen sehen wir sonst noch? Bei den, jungen Grafen ist
ein Güterverwalter. Hauptmann schroff, der ähnliche Schicksale wie Büttner erlebt
hat. Der junge Graf (der, nach einer auf dem Schlosse gefeierten Hochzeit zu
schlichen, noch keine Studien im Notleiden gemacht hat) wird etwas beschränkt
dargestellt. Daß er sich in Berlin gegen Herrn Schmeiß, einen ekelhaften
Anhang von Harassowitz, so offen und von ihm bestimmbar zeigt, scheint mir
nicht genügend motiviert zu sein, besonders wenn man den Verfasser die „alte
Kultur der Edelgebvrnen" betonen hört. Auch auf die Schädelform macht uus
der Verfasser wiederholt aufmerksam. Die Schilderung der Umgebung ist passend,
anschaulich und zweckentsprechend; nur in einem Falle (S 185) finde ich sie
überflüssig. Dagegen ist die Schilderung des Gebarens beim Tennisspiel recht
angebracht (S 340).
Da der Zufall nur unbedeutend wirkt (S. 206, 229), so entwickelt sich
die Handlung in voller Wahrscheinlichkeit und Natürlichkeit aus den innern
Gründen der Personen und der Verhältnisse.
Welche allgemeine Perspektive eröffnet uns um noch die Erzählung des
Verfassers? Die ganze Bauernfamilie zerfällt. Die jüngern Kinder ziehen
in die Stadt, deren Partciversammlungen sogar den gediegnen jüngern Sohn
geblendet haben. Die Bauerngüter zerfallen; die Leute im Dorf wandern nach
Westen auf Zeitarbeit uach „amerikanischem Muster," Kraft wird gegen Geld
verhandelt. Die Liebe zur Scholle und zur engern Heimat schwindet, die Pest
der großen Städte verschlingt den freien Bauernstand. Ob das eine Folge des
„Romanismus" ist?
Hat der Verfasser hier menschliche Schicksale in aktuelle Fragen verwoben
und uus ein düstres Bild gemalt, so hat ein andres Werk (Liebe ist ewig, 1901)
mit Aktualität weniger zu tun und zeigt weniger direkt als indirekt etwas
Komik oder Humor. Auch ist hier die hauptsächlich interessierende Person ein
junges Mädchen, Jutta, die Tochter des reichen Kaufmanns Reimers in
München. Dieser frische Witwer hat Geld in seinen Beutel getan, wie es Jago
dem Rodrigo wiederholt aurae, und gewinnt es über sich, seinen jüngern Sohn,
einen Studenten, dadurch von Fräulein Fanny Spünglein, einem Modell, zu
befreien, daß er das liebe Mädchen für sich übernimmt. Daß die Welt ohne
Liebe nicht sein kann, hat man uns jn in verschiednen Sinne von Empedokles
bis Schiller gesagt. Auch in unsrer Geschichte behauptet sie zäh ihre Herr¬
schaft. Renners älterer Sohn ruiniert sich damit in Südamerika, stirbt dann
in der Heimat; Juttas Vetter Luitpold möchte, obwohl er verheiratet ist, gern
an Jutta heran; diese verlobt sich voreilig mit Bruno Knorrig, dem Sohne des
Kompagnons und dem Freunde ihres Bruders, Reimers Nichte Wally findet ihren
Vetter langweilig, weil er zu kalt ist; das zarte Lieschen Blümer „liebt sich"
mit dem Bildhauer Paugvr, einem robusten Bauernsohn. Ihr kleines Kindchen
(ach ja, auch das hat nicht gefehlt) war aber so klug gewesen, den Rat des
Chors in Sophokles Ödipns auf Kolonos zu befolge», den Platen übersetzt
,,... oder doch früh zu sterben in zarter Kindheit." So fallen die peinlichen Folgen
dieser Existenz weg. Der jüngere Sohn Eberhard kommt in Berlin in eine
achtbare, orthodoxe Familie hinein und verlobt sich — etwas überraschend,
scheint nur — mit der kleinen, klugen, uoch herben Agathe, ehe er mit der
Absicht abreist, Jutta vielleicht doch noch bei Bruno festzuhalten. Das gelingt
ihm nicht, und Bruno ist so -gefällig, in ein amerikanisches Geschäft einzutreten,
das ihn von München und von Dentschlnnd fern hält. Was ist in Jutta ge-
fahren? Sie hat entdeckt, das; Bruno nicht der Rechte für sie ist; er spricht
sie im Grnnde nicht an. Dagegen fühlte sie sich - sie ist selbst künstlerisch
begabt, hat Malunterricht gehabt - dnrch Pangor gefesselt, obgleich er meist
weder fließend uoch elegant über Kunst spricht. Dieser Prozeß des seelischen
Reifens ist nun vom Verfasser interessant dargestellt, und Jutta wird uus auch
dadurch sympathisch, daß sie ihre Liebe durchaus verbirgt. Nur als Eberhard
herausfährt ..du liebst?" - da wagt sie zu nicken. Auf seinen Rat geht sie
mit nach Berlin und wohnt bei jener Predigcrfamilie. wo ste bald den einen
Sohn in geheime Glut perfekt. Davon abgesehen wäre alles schön gewesen;
sie malt mit Erfolg, ist in der Familie wohl gelitten; nur ist die religiös be¬
schränkte Alte gegen alle Katholiken (Jutta ist katholisch) mißtrauisch. Juttas
Gedanken haben bei Paugor geweilt, sie malt ein Bild, das ihn vorstellt Nach¬
dem es vollendet ist. fühlt sie die Leere und Ernüchterung nach dem schaffen.
Um die Entwicklung vorwärts zu bringen - denn wie lauge soll Jutta
in Berlin bleiben? -. läßt der Verfasser Pangor nach Berlin reisen und ^u ta
im Tiergarten treffen. Dieser Zufall scheint gewählt. Juttas vornehme Ge¬
sinnung wieder zu beleuchten. Beide machen einen Ausflug ins Freie; Pangor
WM seinen Aufenthalt verlängern - aber Jutta faßt sich, lehnt alles ab
und - wird zuhause am Abend mißtrauisch empfangen. ..Katholisch bleibt eben
katholisch." sagt die beschränkte Alte. Als Jutta abreisen will, rückt der Sohn
des Hauses, Martin, noch mit seinem Geständnis heraus.
In München hätte sich nun Jutta wohl an ihre Kunst gehalten. Aber
welche Veränderung ist mit Lieschen vorgegangen! Sie ist schwer traun
Pangor ist ohne Urteil für diese Dinge, und als Lieschen endlich einen Arzt
kommen läßt, ist es zu spät. Sie stirbt, nachdem noch auf ihren Wunsch ein
Priester bei ihr gewesen ist. So ist Jutta ganz allein; den Bildhauer meidet
Daß aber ihr lieber Vater ihr in seiner Nichte Wally eine zweite Mutter
gibt, vertreibt sie aus München. Auch Bruno Knorrig hat in Amerika geheiratet,
wie Eberhard seine Agathe.
.^Während Jutta mit diesen beiden in Florenz zusammentrifft, hat Pangor.
nachdem er für Lieschen ein Denkmal geschaffen hat. sein Dorf aufgesucht.
Dort hat er seiue kluge, liebe Mutter. Den Vater und den mißgünstigen
Bruder duckt er dadurch, daß er ihnen das liebe, so selten versagende Be¬
schwichtigungsmittel. Geld, auf den Tisch legt. Das junge Paar bringt ^uttas
stolzer Seele in Florenz die tiefe Wahrheit nahe, daß es doch das einzig
Wertvolle ist, einen Freund im höchsten Sinne zu haben.
Sie kehrt nach München zurück, wohin Paugor mit seiner Mutter über¬
gesiedelt ist. während der verheiratete Bruder den Bauernhof übernommen hat.
Aus der häuslichen Atmosphäre herauskommen zu wollen, veranlaßt sie auch
das zudringliche Wesen des jetzt verwitweten Luitpolds. Leda-ki auis i^ert?
muß man jetzt mit Ovid sagen Die Alte sieht mit gerührter Wonne. daß ihr
Sohn im Atelier seine Braut umschlungen hält. So hat sich ein Traum er¬
füllt, der Jutta einst erschreckt hat. daß sie init Pangor und Lieschen gingen,
und Lieschen plötzlich erklärte, ich werde dir zu schwer, mein Freund. Die
beiden gehn weiter, und Lieschen war plötzlich verschwunden.
Bei dein guten Stil des Verfassers, der in kurzen, charakteristischen Sätzen
fortschreitet und auch geschickt und kurz exponiert, füllt eine Manier nach¬
schleppender Genitive auf; z. B. „er konnte sich nicht des Eindrucks erwehren
der Großartigkeit und Kraft; gerade vorhin war ich auf dem „Tiefpunkte" an¬
gelangt der Verzweiflung; dann würde man vielleicht die richtige Würdigung
haben des Lebens" und dergleichen mehr. Einmal sagt er: per Rad! An einer
andern Stelle lesen wir: „am Orte angekommen . . . wurde der Aufenthalt des
Professors schnell ausfindig gemacht." Vekcmntlich ist schwer zu sagen, wo die
Grenze ist zwischen Sprachgebrauch und Sprachfehler. Der berühmteste deutsche
Partizipialstilist ist ja der königliche bajnvarische Dichter, Ludwig der Erste. Er
singt z
Ein Bruder in Apoll, Grillparzer, sagt einmal (Ahnfrau V, 1):
So kühn ist unser Stilist nicht; ja er kann sich auf ein Beispiel bei Goethe
berufen (Briefe aus der Schweiz, 6. Mai 1779): unser Gepäck auf ein Maul¬
tier geladen, zogen wir heute früh aus. Aber auch bei Goethe fällt uns das
auf. Mir scheint, daß solche Partizipialkonstrnktionen gräßlich sind und nicht
gebraucht werden dürfen. Die zahlreichen Beispiele in Herders Eid muß man
auf das romanische Original zurückführen.
Wir haben die Bauern- und die Bvurgcvissphnre kennen gelernt. In
dieser hat wohl nur Jutta einen Gedanken, eine suchende Seele. Ähnlich, aber
in andrer Art, Thekla Lüdekind. Hier kommt als Neues der Hintergrund eines
herzoglichen Hofes hinzu. Da sehen wir die possierlichen Devotionslnrven, den
Nadlertypus, d. h. deu gekrümmten Rücken nach oben, die Fußtritte nach unten
und das rücksichtslose Jagen nach dem Ziele. Thekla findet aber nicht wie
Jutta, sondern als sie ihren heimlich geliebten Leo hat, da geht ihr all¬
mählich auf, daß es doch nicht der Rechte ist, sodaß es — Kvrrsur — zur
Scheidung kommt. Die Frage der Frauenbildung und der „Emanzipation"
wird zwar berührt, aber nicht aus diesem Boden wächst für Thekla die Kraft
ihrer Entschließungen, sondern aus ihrer eignen Natur, ans ihrer reinen lind
tiefen Weiblichkeit. Man kann fragen, warum die kleine Agathe (das zweite
Kind) überhaupt geboren werden muß? Offenbar, damit Theklns Empfindungen
vorher gezeigt werden. Der Verfasser hat den höchsten Respekt vor diesem
Mysterium. Und warum läßt er Agathe so bald sterben? Wer kann so sicher
in der Seele des Verfassers lesen? Vielleicht, damit sich zeigt, wie anders
Vater und Mutter diesen Fall ansehen. Dem Vater bereiten die vielen Blumen¬
kränze — darunter solche vom Herzog — eine gewisse Genugtuung- Die
Mutter dagegen wird durch diesen Verlust »och mehr vom Vater abgerückt.
Außerdem, wäre Agathe am Leben geblieben, so hätte der Verfasser noch für
eine Person mehr zu sorgen gehabt. Dann wäre auch Leo vielleicht nicht so,
wie durch den Sohn allein (der ihn einmal mit dreizehn Jahren besucht) zu
der reuigen Erkenntnis gekommen, wie übel er daran getan hat, Thekla fahren
zu lassen und statt ihrer Lilly zu heiraten, die er einst, als sie noch etwas
äußere Jugend hatte, nicht gemocht hatte, Thekla dagegen bereitet sich mehr
und mehr eine Atmosphäre von Asketik im Fichtischen suae, Denn er nennt
Asketik eine Übersicht der Mittel, den Gedanken der Pflicht stets in uns gegen,
wärtig zu erhalten. Thekla faßt diese Pflicht ungefähr in die biblische Formel:
Bleibe dir selbst getreu.
Recht und Pflicht der Persönlichkeit werden nun auch in einer Gesellschaft
beleuchtet, die in der.Hauptsache literarisch ist und anscheinend in Dresden lebt.
Das ist'so recht modernes Reden lind aktuelles Treiben, darum zur direkten
lind indirekten Satire geeignet. Anders also als bei Goethe (Venet. Ep. 70):
Gute Gesellschaft hab ich gesehn, man nennt sie die gute,
Wenn sie zum kleinste» Gedicht keine Gelegenheit gibt.
In den Gesprächen umwirbeln uns die Namen Schopenhauer, Nietzsche,
Darwin, Wagner, die ausländischer Schriftsteller, besonders Frankreichs und
Rußlands. Man hat Wilhelm den Ersten lind Bismarck gesehen und empfunden;
in ausführlichen Gesprächen wird zwischen Gegenwart und Vergangenheit ab¬
gerechnet, die Jungen sind etwas wurzellocker geworden, weil sie den wahren
Ernst und die Wurde des Lebens mißverstehn. Weiß man, wie einst in der
sogenannte» Sturm- lind Drangzeit leidenschaftlich nach „Natur" gerufen wurde,
so wird man nach dem Kreislauf der menschlichen Dinge erwarten, daß sich die
Gegenwart wiederum zur Spirale der Zukunft umbiegen wird.
Wir wenden uns zu ein paar Einzelheiten. Fritz Berting, Jurist, ist mit
der Familie ziemlich zerfallen, weil er sich der Literatur zuwendet. Er ist
zuerst noch einer von den Neusten, die sich, wie Mephisto sagt, „grenzenlos
erdreusten." Auch nimmt er ans Berlin ein junges Mädchen mit, die liebens¬
würdige Alma. die trotz dieses Verhältnisses das Beten nicht verlernt hat.
Berting gegenüber steht der tüchtige, sympathische Lehmfink, mich Journalist,
mehr Vertreter des Alten und der wahren Natur. Er hat das Glück, an eine
Universität berufen zu werden, zu der Zeit, wo Berting aus Dresden nach
Berlin geht, da er nach andern Enttäuschungen auch Alma durch den Tod ver¬
loren hat. Diese Ereignisse haben ihn innerlich umgewandelt. Man denkt
dabei an Schillers Wort (1783): „Wie klein ist doch die höchste Größe eines
Dichters gegen den Gedanken, glücklich zu leben" (Schillers Leben von Kciro-
linc von Wolzogen, 1845. S 59). Und was wird aus der kleinen Alma,
die »ach der Mutter zurückgeblieben ist? Es wird uns nur gesagt, daß Lehm-
sinks liebenswürdige Schwester das Kind an sich nimmt, sodaß in diesem Punkte
die Komposition nicht ganz geschlossen ist.
Ein dritter Typus ist Herr „Karol," geborner Silber, der aus dem Laden
seines Vaters heraus in die Literatur und mit unglaublicher Zähigkeit darin
vorwärts gekommen ist. Ihm ist Heine die größte Erscheinung des geistigen
Lebens in Deutschland seit Goethes Tod. Ani Effekt zu machen, behauptet
Herr Silber-Karol, „es herrscht im neuen Deutschland schlimmere Stickluft als
im dunkelsten Europa." Trotz aller Geschäftigkeit findet Herr Silber aber
Zeit — sich taufen zu lassen, obgleich er dadurch uicht gleich ein Amt bekommt,
sondern mir (oder vielmehr) eine wohlhabende Fron, die zugleich Dichterin ist.
Ein Vierter Typus ist der internationale Pole Herr Chubsky, der zwischen
Paris und Warschau hin und her pendelt. Er hat mit Krapülinsli die tiefe
Sympathie für das Nichtznhlen gemeinsam; denn in Dresden läßt er den armen
Berting ein verrücktes Dekadence-Essen und noch mehr -Trinken bezahlen. Ohne
den starken Reiz verschiedner Spirituosen wird der Geist des großen Chubsky
nicht lebendig; höchstens noch durch ein junges Mädchen. Dafür macht sich
dann der treffliche Helfer, der Alkohol, bemerklich, indem der edle Pole eine
Menge modernsten Gefasels von sich gibt, worunter auch die bekannten Redens¬
arten von ÄucWon (Z0im'ö0, wie man Farben riecht, Töne sieht und dergleichen
mehr. Nur möge man sich für diesen Jargon nicht auf Goethe berufen, wenn
er uns auch im Divan (Buch Suleika, Wiederfinden) von einem erklingenden
Farbenspiel spricht und nichts dagegen hat, wenn man die Farbe sogar zu
fühlen glaubt (Sprüche in Prosa V) — „ihr eignes Eigenschaftliche würde mir
dadurch noch mehr beendigt." „Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch,
gclbrot sauer schmecken. Alle Manifestationen der Wesenheiten sind verwandt."
Das sind nur die von den Psychologen mehrfach behandelten Analogien der
Sinnesempfindungen. Jetzt aber taumelt man mit diesen Redewendungen in
den konfusen Gedanken des Übermenschen hinein, der mit hoher Intuition andre
Sinne hat, als der gewöhnliche physiologische Mensch, und sieht, daß ein
Lächeln veilchenfarbig ist usw.
Frau Hilschius ist Schützerin der Literatur; jeden Mittwoch läßt sie eine
Menge Leute in ihren Zimmern essen und trinken (was besonders eifrig und
pflichtgetreu besorgt wird), reden und die Seelen sich zu einer kleinen Wahl¬
verwandtschaft (wie Goethe sagte) suchen. Das ist sehr amüsant geschildert;
besonders sticht Fran Annie Eschauer durch treffende Offenheit hervor. Leider
findet sie bei Berting keine Gegenliebe. Der läßt sich (trotz Alan) von einem
ganz jungen Mädchen nasführen, das auch den großen Chubsky angezogen
hat. Diese junge Dame scheint es vielmehr im geheimen mit dem Mimen
Waldemar Heßlvw zu halten, der einen gesegneten Appetit hat und — auch
anderswo findet man das! — sich beim Verlassen des Theaters durch dichte
Reihen sehr junger Verehrerinnen hindurchdrängen muß.
Als Almas Tod zu erwarten ist, da tritt ihre Seele, einem lichten Engel
gleich, aus ihrer ärmlichen Hülle hervor. „Wie klein, wie lächerlich klein, nichtig
und eitel erschien ihm. . . alles, Ums ihm eben noch so ungeheuer wichtig ge¬
wesen war: sein Streben und Dichten, seine ehrgeizigen Pläne und Hoffnungen!
Wieviel größer, ernster und tiefer war das Leben als alle Schilderungen, alle
Wiedergaben! Wie versank in solchem Augenblicke das, was er selbst und un¬
zählige seiner Kollegen anbeteten, was sie unter dem Namen »Literatur« als
Beruf, Lebenszweck, Stein der Weisen, Gesetz wie eine Gottheit verehrten. Hatte
er, der Schriftsteller Fritz Berting, je etwas beschrieben, würde er je etwas
beschreiben, was nnr entfernt heranreichte an den erhabnen Realismus, der
über jenein eben verlassenen nächtlichen Krankensaale gelegen hatte? Gab es
irgend eine Feder, einen Pinsel, einen Meißel, der das zu meistern vermochte,
was sich täglich, stündlich um uns her zutrug? Ein kleiner Handlanger schien
die Kunst, verglichen mit dem großen Meister Leben. Was kam auf der ganzen
weiten Welt mit der Unendlichkeit ihrer Erscheinungen dem Inhalte gleich der
drei Buchstaben: Tod?"
So haben wir den Schriftsteller Wilhelm von Potenz dnrch einige seiner
Arbeiten begleitet, eine Fülle von mannlichen und von weiblichen Gestalten,
von menschlichen Schicksalen kennen lernen. Man sieht, daß das Leben der
Gegenwart in seinem Geist und in seinen Schöpfungen pulsiert, und daß er
die Probleme, unter denen wir seufzen, mit gefunden künstlerischem Realismus
darstellt. Der Kreis seines Interesses ist weit gespannt; er kennt die Menschen,
er kennt die Bücher, die mit Recht oder Unrecht auch bei uns viel Lärm
machen und die Geister erregen. Er stellt keine Thesen auf, die er im Kunst¬
werk beweisen will, sondern charakterisiert gern auch indirekt dadurch, welche
Schicksale er Personen mit ihren Gedanken erfahren läßt. Wir versagen uus,
schließlich noch einen Blick ans die politisch-sozialen Verhältnisse der Gegenwart
in Deutschland zu werfen und sie mit dem Echo zu vergleichen, das sie bei
diesem Schriftsteller finden. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit L. Tolstoi,
insofern er ans seiner Kenntnis der Verhältnisse heraus und mit demselben
Interesse die Bauern und ihr Verhältnis zum Gutsbesitzer darstellt (Der Graben-
häger), den Gegensatz der „Arbeiter" zu den Besitzenden Aber er hütet sich
vor dem mitunter so breiten Realismus des großen Russen, und man kaun
nicht sagen, daß Potenz eine eigensinnige Vorliebe für einen bestimmten
Stand habe. Die Leute mit einfacher natürlicher Empfindung, die bei Dickens
so gut wegkommen, hat auch Potenz gern. Die Art. wie er Alma sterben
lußt, erinnert an den rührenden Tod von Joe (Bleakhouse, Band III. Ende).
Es macht deu Eindruck, als ob Potenz sich den Plan seiner Romane vorher
genau feststelle, während wir nicht ohne Erstaunen hören, daß Dickens zuweilen
während des Schreibens noch über die Wendung im nächsten Kapitel schwankte
(Dickens Leben von John Forster, deutsch von Fr. Althans).
Was wir wörtlich angeführt haben, mag eine Andeutung von der all¬
gemeinen Lebensnnschnuung unsers Verfassers geben. Man kann mit ihr eine
Stelle in Calderons „Leben ein Traum" vergleichen, womit nur diesesmal vom
Verfasser Abschied nehmein
M
^>ähreud die konstituierende Nationalversammlung tagte, waren die
Galerien unruhig, much immer voll besetzt, und von da aus
verpflanzten sich die unberufner Mitarbeiter nu der Politik auf
die Straße. Neunioueu des Pöbels fanden in der Stadt regel¬
mäßig statt, und wen die Neugierde trieb, der konnte z, B, im
Essighause genug von Weltverbesserung hören. Da sprang z, B. ein Plebejer
auf den Tisch und rief laut: Ich fordre die Anwesenden zur Antwort ans:
Seid ihr bisher mit den deutschen Regierungen zufrieden gewesen? Autwort:
Nein! Nein! Also muß man sie abschaffen, fort mit ihnen! Hoch die Re¬
publik! — Die Proletarier selbst in der wohlhabenden Reichsstadt versprachen
sich von der Umwälzung goldne Berge; daß aber in der Republik auch keinem
die Tauben gebraten in den Mund fliegen, daß von allgemeinem Wohlleben
hienieden überhaupt nicht zu träumen ist, durfte niemand einwenden, der nicht
vor die Tür fliegen wollte. Als ob es von dem guten Willen der Vorstände
abhinge, das Los jedes einzelnen zu verbessern! Aber der Mob gibt sich
blindlings gefangen.
Die Radikalen bearbeiteten den Plebs und konnten nicht einmal abwarten,
bis das Parlament, das vor den Thronen stehn geblieben war, für den Fort¬
bestand der Monarchie gegen die Republik entschied. Der Waffenstillstand zu
Mellins, den Preußen mit der Krone Dänemark abgeschlossen hatte, und den
die Pnulskirche gelten ließ, gab Anlaß zu unerhört tumultuarischen Szenen.
Die Versammlung auf der Pfingstweide war die Einleitung, wobei Zitz rief:
„Man muß Fraktur schreiben, gehört wird man nicht mehr." Es galt die
Sprengung der Nationalversammlung; schon zirkulierte eine Liste mit
den Namen derer von den 258 Votanten für Waffenruhe, die als erklärte „Ver¬
räter des deutschen Volkes, der deutschen Freiheit und Ehre" beseitigt werden
sollten. Der 18. September war zum Angriff bestimmt. Mittlerweile waren
aus Baden, Hessen und namentlich von der Gegend von Hanau her Pöbel-
Hansen bei allen Toren angedrungen und pochten schon an die Pforten der
Paulskirche. Germain Metternich, ein kassierter darmstädtischer Offizier, der
sich so weit vergaß, von deu Galerien aus auf die Deputierten zu spucken,
machte den Anführer zum Barrikadenkampf. Die Barrikade wurde am
Ende der Zeil errichtet. Zum Glück hatte Schmerling, vorher Vnudestags-
prüsident, noch schnell von Mainz die österreichischen Truppen zu Hilfe gerufen,
ehe der Telegraphendraht durchschnitten lvorden war. Die Kaiserlichen rückten
ein, gelangten aber kaum in die Fahrgasse, als es aus den Fenstern knallte,
und ein Offizier vom Pferde geschossen wurde. Es war nicht mehr geheuer,
und vorwitzigen Abgeordneten, die den Kampf mit ansehen wollten, flogen die
Kugeln um die Köpfe. Da die Soldateska nicht deutsch verstand nud ^rennt
oder Feind nicht zu unterscheide., wußte, war mancher sogar den Bajonetten
ausgesetzt. Mit Hilfe von Kanonen wurden die Barrikade» gestürmt, die
Apotheke am Ende der Zeil war mit Kugeln gespickt. Abends lagerten die
Soldaten bei Wachtfeuern auf dem Roßmarkte; es ist mir so gegenwärtig, als
wäre es jüngst vorgefallen. . -
^
Ander./ Morgeus traf um. den Fürsten Lichuowskh vor Beginn der
Debatten zu Füßen der Rednerbühne, wie er wider die Kanaille loszog, ^es
bin nicht abergläubisch, schäme mich aber nicht zu gesteh», es fiel ""r auf
als ob el» Trauerschleier über sein Gesicht gezogen wäre. War es em Ausdruck
des Leidens der Seele, die nach wenig Stunden vom Körper scheiden sollte?
Welch leidenschaftliche Unvorsichtigkeit, daß er noch am Abend mit dem Genera
Grafen von Auerswald zu Pferde stieg, um den revolutionären Haufen auf
der Boruhenner Heide e»tqcgc»zureiten. Bald verwickelte er sich rü die engen
Gassen, sodaß er weder vor- noch rückwärts frei war, sprang vom Pferde
"ut verbarg sich im Keller des nächsten Hauses. Sein Reittier verriet seine
Anwesenheit; schou waren die Nachspürer im Begriff, die uutenrdischen Räume
zu verlassen, als sich eine Megäre noch bückte und unter einer Verschalung
einen Rockzipfel entdeckte. Man schleppte Lichnowsky ins Freie — umsonst
war seine Beteuerung, er wolle in Zukunft ein kräftiges Wort für das Volk
^den. man drang mit Säbeln auf ihn ein. ein Schuß krachte, und er sank zu
Füßen eines Baumes nieder. Inzwischen hatte auch General Auerswald eine
Kugel mitten durch die Stirn erhalte.,.
Die Nachricht verbreitete sich rasch durch die ^-labt; am frühen Morgen
'"achte ich mich auf. nach dem Fürsten zu scheu, und stieß auf den Kollegen
Freiherr» von Ketteler. nachmaligen Bischof von Mainz, der in derselben Ab¬
sicht ausgegangen war. An der Katharinenkirche wurde er als Pfaffe ver¬
höhnt und mmespieen. Endlich fanden wir. was wir suchten, den Leichnam
des Unglücklichen halb entblößt in einer Tischlerwerkstätte. Der eme Arm
war stark zerfetzt, er hatte damit wohl die Hiebe aufgefangen, eine Kugel steckte
"n Leibe. Mein hoclnvürdiger Begleiter ordnete an. daß ihm eine Kerze an¬
gezündet würde; auf den, Rückwege traf ich den General Auerswald unter
Dach ausgestreckt auf einem Lager. Er hatte als Bülows Adjutant den Be¬
freiungskrieg mitgemacht; er stammte aus einen, kriegerischen Geschlecht, aber
es war ihm nicht vergönnt, den Tod in der Schlacht zu finden, und er mußte
durch Meuchelmord eilten.
Doch was ist das i» einer Zeit, wo Kaiser „ut Könige nicht mehr des
Lebens sicher sind, wo ein Schah Nasreddin umgebracht, Sultan Murad im
geheimen erdrosselt, Zar Alexander in die Luft gesprengt und Maximilian von
Mexiko geradezu erschossen, Kaiserin Elisabeth erdolcht, und ein wohlwollender
Monarch wie König Humbert von Italien gemeuchelt wird. Dazu kommt
das gewaltsame Ende der Präsidenten Lincoln, Garfield, Priin, Ccirnot usw-
Man lege der deutschen Nation in so aufgeregter Zeit den blutigen Exzeß
nicht zur Last, An demselben Morgen nach der Heldentat wälzten sich wohl
7000 der Tumultuanten zur Stadt hinaus. Wie die Behörden in Frankfurt
waren auch die Regierungen in den Nachbarländern der Verhältnisse nicht mehr
mächtig. Welche Kämpfe haben alle Staaten Europas zu ihrer Regeneration
durchgemacht! Nun, wo das Verlangen nach nationaler Einigung erfüllt und
das Reich sestgegründet, auch vor äußern Angriffen der Friede gesichert ist,
steht jedenfalls fest, daß die erste deutsche Nationalversammlung notwendig
der Reichsgründung vorgearbeitet hat, und wir müssen die gebrachten Opfer
verschmerzen. Nur war der Plan, deu beiden politischen Märtyrern an Ort
und Stelle ein Denkmal zu setzen, nicht ausführbar — es wäre augenblicklich
wieder zerstört worden.
Die Nationalversamnllung spaltete sich zuletzt in Groß- und Kleindeutsche.
Dieser Ausdruck war von Simon von Trier in Umlauf gesetzt worden im Rück¬
blick ans die römische Hin'irmnm nmgng. se xarva. Man darf es der Linken nach¬
rühmen, daß sie vorwiegend für Großdcutschlaud eintrat. Die Ausschließung
Österreichs, das mit seinen deutschen Landen allein nicht beitreten wollte
noch konnte, ist das unermeßlich große Opfer, das bei der neuen Reichs-
gründung zu bringen blieb. Was durch Konzentration im Innern gewonnen
war, ging nach außen verloren, und der Verlust um Deutschtum ist noch nicht
abzusehen. Daß das Werk der Einigung nicht gelang, gab der nltkniserlichen
Monarchie, die ans der Verbindung mit dem Reiche ihre Kraft schöpfte und
wegen des Übergewichts der ihr einverleibten fremden Völker diesen überant¬
wortet ist, halbwegs den Todesstoß. Heute wäre es nicht mehr möglich, die
Nachkommen der alten Bojohämen zum deutsche» Reichstage einzuladen, und
die Lande, die von uns ans germanisiert oder staatlich geordnet
wurden, sondern sich ab, pochen auf ihre tschechische, magyarische, polnische,
kroatische oder italienische Sprache und trachten möglichst von uns weg und
drohen mit Abfall.
Die Gründe, daß es so kommen mußte, liegen weit zurück. Hätte Öster¬
reich, nachdem es schon den Deutschvrden aufgenommen hatte, ihm freie
Hand gelassen, die Slawen zu germanisieren, und ihm die Vollmacht erteilt,
sich förmlich wie ein Staat im Staate zu konstituieren, er hätte die Ger¬
manisierung vollbracht, wie er nach seiner Übersiedlung nach dein heutigen
Norddeutschland mit deu alten Preußen und Letten, Mnsureu und Kassuben
fertig geworden ist. Jahrhunderte gingen darüber hin, und die heute wider-
willigen Stämme, denen auch das Türkenjoch abgenommen wurde, mußten die
überlegne Zivilisation der westliche» Nachbarn anerkennen. Daß sie sich heute
störrisch gebärde», verursacht großenteils die Laudessperre. Fürst Metternich
trägt hauptsächlich die Schuld, daß Österreich auf wiederholten Antrag von
Bayern dem Zollverein nicht beigetreten ist. Heute braucht man bei jeder
Sendung über die Grenze Vierfache postalische Verbriefnng, Untersuchung des
Gepäcks. Paßport nicht ausgeschlossen. kurz man geht innntten Dentschlands
in die Fremde, und das tut beiden Teilen weh und macht besonders die
Grenzlande unzufrieden. Frankfurt blieb bis zur Stunde seiner alten Herrlich¬
keit als Krönungsstadt eingedenk und ist auch der versöhnende Mittelpunkt ge¬
blieben. Nachdem Österreich im Kampfe mit dem revolutionären Frankreich
für das Reich unsägliche Opfer gebracht hatte, die Rheinbundstaaten einen aus-
wärtigen Herrn über sich anerkannt hatten, gab Habsburg die deutsche Kaiserkrone
für alle Zukunft auf. Mittlerweile ist auch die Bevölkerung im „Reiche anso
doppelte gestiegen. Österreich behielt zwar den Vorsitz im Bundestage und
weigerte sich standhaft, ihn abwechselnd mit Preußen, der Schöpfung der
Hohenzollern. zu teilen. Dieses hatte sich aber klüglich immer mit deutschem
Volke verstärkt, also gerechte Ansprüche, sich als Vor.nacht zu betrachten.
Noch schwebt nur lebhaft vor Augen, wie Giskra. das spätere Mitglied
des Bilrgcr.uinisteri.uns und einer der besten Redner in der Paulskirche. die
Stühle der Vuudestagsgesandten aus dem Gebände von Thurm und TaM.
das dann provisorisch der Reichskanzler bewohnen sollte, zu Tür und M.ster
hinauswerfen half Aber ^ustria doux gab auch bleibend die Vormacht ans.
"ut nachdem der Fürstentag 1863 ohne Resultat verlaufen war. gehörte es
uns nicht mehr an. ,
Mit einemmal sah sich Schmerling vom Reichsnnnister.um ausgeschlossen -
Gagern trat am 15. Dezember an seine Stelle und überließ den Vorsitz i.u
Parlament dein qeboruen Präsidenten Simson von Königsberg. Vergebens
stellte Schmerling'an 4. Januar vor: Österreich deute nicht an einen Unser.et
aus Dcntschlmid' Schon am 15. stand die Verhandlung über das Reichs¬
oberhaupt auf der Tagesordnung. Die Triasidce: Österreich. Preußen und
die unter Bayern vereinten Bundesstaaten, ein Direktorium und die besondre
Nnionsakte. wie Österreich mit dem neuen Reiche in Verbindung treten könne,
kamen in und außer der Paulskirche zur Sprache, und die Auslegung war
goß. Am Abend in der Mainlnst erschien von Tempesta eine Schrift:
-Preußens Verdienste um Kaiser und Reich." worin die Auflösung der
Monarchie Karls des Großen eigentlich Preußen und vorzüglich Friedrich dem
Großen schuld gegeben wurde. 'Mit der Feder wie mit der Zunge kämpfte
man für und wider. Über das Erbkaisertum wurde am 23. ^anuar Be¬
schluß gefaßt. Der Titel für das künftige Reichsoberhanpt. Kaiser der
Deutschen, fand Beanstandung und ist auch heute uicht giltig. So ging es
Schlag auf Schlag fort
Preußen gab die Einverleibuuy des Großhcrzogtums Posen in das Reich
wieder auf. weil sonst auch Österreich für seine fremdvölkischen Provi^en den¬
selben Anspruch hatte. Der badische Volkstribuu Welcker der d.e Wahl des
Königs von Preußen in. Sturme durchsetzen und sich als alleunger Kaiser-
macher in.fwcrfen wollte, legte Protest ein. Endlich ging Simon vou Breslau.
der nachmals im Wallenstüdter See ertrank, mit seiner Fraktion vou der Linien
zur Kaiserpartei über. Gleichwohl kam bei der namentlicher Abstunnmug nur
eine Majorität von vieren, und diese nur durch den Abfall von ebeusovie-
Osterreichern heraus. Simson sprach seinen Segen: ..Der Genus des Vater-
laudes weilte über dieser Stunde!" Aber gleich die ersten Abgeordneten riefen:
„Wählt nicht!" Sepp rief: „Ich wähle keinen Gegenkaiser" und Fürst Waldburg-
Zeil: „Ich bin kein Kurfürst!" Die nächste Folge war, daß Erzherzog Johann
die Würde als Reichsverweser niederlegte. Es war eine Schwcrgcbnrt, und
der neue Herr konnte nur durch einen Kaiserschnitt zutage gefördert werden.
Bei der zweiten Lesung stimmten statt der 267 gegen 263 schon 290 für den
notdürftig Erwählten, während sich 248 der Wahl enthielten.
Arndts Name ist nnn gleich dem des Vater Jahr um seinem Sitze in
der Paulskirche angebracht; aber verschwiegen bleibt das Hui und Pfui, womit
die Linke den Dichter des deutschen Vaterlandsliedes bei seiner Abstimmung
für den Ausschluß Österreichs bedachte, und der Aufstand von hundert Pro¬
testierenden unter dem Rufe: „So weit die deutsche Zunge klingt." Ein Wider¬
spruch war es auch, daß Welcker schließlich der neuen Reichsgründung feind¬
selig gegenüberstand, weil er nicht weiter darüber gefragt worden war und
keine Vcrbesfernngsanträge dazu einzubringen vermochte. Das Endresultat
wurde vom Präsidenten mit dreifachem Hoch! begrüßt, wozu alle Glocken der
Stadt und Kanonensalven mit einstimmen mußten. Auf Arndt erschien sofort
wegen seiner Abstimmung eine Parodie, die Wichmann (Denken ans der Pauls¬
kirche, S. 547) mitteilt. Sepp erklärte Arndts Vaterlandslied, so viel es auch
gesungen werde, für verfehlt, da die Antwort schon in der Frage gegeben sei,
und setzte ihm ein andres entgegen: Was ist des Bayern, Schwaben, Sachsen,
Franken Vaterland? — Das große Deutschland muß es sein!
Am 29. März sollte nach kurzem Beschluß eine Deputation von dreißig
Mitgliedern, Simson an der Spitze, nach Berlin abgehn, um Friedrich Wilhelm
dein Vierten die Kaiserkrone anzubieten. Sie verzögerten die Reise um einen
Tag, um nicht gerade am 1. April einzutreffen. In der kurzen Frist
spielte eine politische Intrigue, von der noch kein Schilderer der
ersten Nationalversammlung Kunde gegeben hat. Das Geheimnis
wurde gewahrt. Dn aber seit einem Menschenalter die vollendete Tntsache der
Reichsgründung vorliegt, ist es kein Vergehen, es zu offenbaren. Nicht umsonst
hatte Friedrich Wilhelm der Vierte zu Köln die Neichsstifter vor ihrer All¬
macht gewarnt: „Bedenken Sie, meine Herren, daß es auch noch Fürsten gibt!"
Ohne langes Besinnen kamen von den NichtWählern einige Dutzende, Buß,
Gfrörer und mehrere Bayern, die natürlich zu Österreich neigten, zu dein Ent¬
schlüsse, eine ehrerbietige Zuschrift an den kaum erkornen Augustus zu richten
des Inhalts: Eure Majestät titulieren sich von Gottes Gnaden und können
doch unmöglich diese Krone von Volks Gnaden dafür eintauschen. Die Wahrheit
zu sagen, haben die meisten Wähler unberufen und ohne Auftrag der Nation
für die neue Krone und damit für den Bruderkrieg votiere, jn Erzdemotratcn
von der Partei der Linken den Aufschlag gegeben, um aus der allgemeinen
Verwirrung Vorteil für die Republik zu ziehn. Die so das Königtum erniedrigen
wollen, geben keine Stützen für den Thron ab. Das Kaiserdiadem wird nach
der Lehre der deutschen Geschichte nicht auf diese Weise vergeben. Die Täuschung
über Verstärkung der von Gott Ihnen anvertrauten Macht könnte nicht lange
währen. Die ehrfurchtvollst Unterzeichneten legen als Mitglieder der National-
Versammlung gewissenhaft dieses Dolm.lent in Allerhöchste Hand und nehmen
die Verantwortung auf sich. . ^. ^
^
Dieses Schreiben kam noch vor Erteilung der Audienz in die Hand des
bedenklichen und für Gemütseiudrücke empfänglichen Hohenzollernfürstcn. und
die Deputation erfuhr am 4. April eine unerwartete Abweisung; die Scheu,
ein Werkzeug von Demagogen zu werden, trug den Sieg davon. Die Rück¬
kehr in die Paulskirche war mit großer Demütigung verbunden. Hiermit
hatte das Parlament eigentlich seine Rolle ausgespielt. Später verlautete, als
wandle den König eine Reue deshalb an. und sein nächster Vcrtraurer,
General vou Radowitz. versammelte deshalb die Getreuen in Erfurt, um das
Versäumte wieder hereinzubringen. Die Stimmung in der Paulskirche war
natürlich geteilt; vor andern gab Dr. Eisenmattn die Parole an die Lands-
leute aus' Jetzt kann der Bayernköuig die Kaiserkrone eintun." Unsereiner
entgegnete- "Aber auf wie lange, denn das sind Machtfragen!" Wirklich ging,
eine andre Deputation uach München ab mit Mathh. dem baldigen Minister
von Baden, als Wortführer. Sie stieß beim Empfang in Nymphenburg aus
Herrn von der Pforten, den Vertreter der Triasidee, der ihnen in großer Uni¬
form entgegentrat. König Max traute sich nicht zu. was der mächtigere
Preuße auf sich zu nehmen nicht gewagt hatte. Welch eine Fügung des Ge¬
schicks, daß der deutscheste unter den deutschen Machthabern. Ludwig der Erste,,
kurz vorher freiwillig vom Throne gestiegen war! Bei seiner nationalen Be¬
geisterung Hütte er sicher die ihm angetragne Krone angenommen und sein
Land in unabsehbare Verwicklung gestürzt.
Endlich trat der Mann auf. den die Vorsehung zur Wiederaufrichtung
des Deutschen Reichs bestimmt hatte, in der Person des Grafen Bismarck,
der das Wort von Blut und Eisen sprach. Die Frage über die Vormacht in
Deutschland sollte mit dem Schwerte gelöst werden, und die Schlacht bei
Königgrütz. an deren glücklichem Ausgang der kaiserlich kommandierende Ungar
Benedek von vornherein verzweifelte, entschied ein neuer Hannibal: General¬
feldmarschall Moltke zugunsten von Preußen. Doch was die Paulskirche an¬
strebte, den möglichst innigen Verband des alten Kaiserstaats mit dem neuen
Reiche, bemühte sich auch der eigentliche Schöpfer des neu geeinigten Reichs
unter Wilhelm dem Siegreichen' durchzusetzen, ja womöglich durch ein Ver-
fasfungsbüuduis bleibend zu befestigen. Er gebot dem siegreichen Heere Ein¬
halt, nicht gegen Wien vorzurücken, und äußerte, als ein Süddeutscher voll
Kummer über den Bruderkrieg sein Herz ausschüttete, als wahrer Friedens¬
fürst: „Ich habe Österreich keinen Zoll breit Landes genommen."
Der Großdeutsche, der zum tapferen gemeinsamen Kampfe gegen den alten
Neichsfeind 1870 die Stimme erhob, beging keinen Wortbruch, sondern gab
uur unter der Macht der Ereignisse den unmöglicher Widerstand auf, ja be¬
grüßte im Ernste den neuen Augustus als Mehrer des Reichs, nachdem
dieser nicht bloß Schleswig-Holstein, sondern auch Elsaß-Lothringen wieder
zu Deutschland gebracht hatte. Aus dem Großstaate ist ein Weltstaat geworden,
und glänzender konnte die Kaiserwürde nicht errungen werden, als nach
kriegerischen Erfolgen, wie sie die Weltgeschichte selten aufweist, dnrch die
Proklamierung in der Herrscherburg des Besiegten.
rsprünglich war das germanische Prozeßrecht von der Auffassung
beherrscht, daß der Beweis nicht sowohl dem Gericht, als dem
Gegner im Rechtsstreit erbracht werde. Deshalb waren auch., die
Beweismittel streng „formal," svdciß ihr Ergebnis eine Über¬
prüfung durch den Richter nicht bedürfte. Das am häufigsten
angewandte Beweismittel war in alter Zeit wohl der Eid mit
Eideshclfern, d. h. der Beklagte, dem regelmäßig die Bemeisrolle zufiel, konnte
sich durch seinen Eid freischwören, wenn eine weitere Bekräftigung durch eine
bestimmte Anzahl mit ihm versippter oder ihm sonst nahestehender Personen, der
sogenannten „Eideshelfer" hinzutrat, die beschworen, daß sein Eid „rein und
unmein" (oder „nicht mein") sei. In dieser in hohes Altertum hinaufreichenden
Formel, die sich übereinstimmend in „Rügen wie in Tirol, in Schweden wie bei
den Angelsachsen" findet, hat das Eigenschaftswort „mein" die Bedeutung von
„falsch, betrügerisch" (frevelhaft, unrein, unheilig), die, früher auch erkennbar in
mancherlei Zusammensetzungen, wie „Meinwerk" oder „Meintat" (— Untat,
Missetat) und in der bis ins sechzehnte Jahrhundert erhaltnen Formel „Mein
und Mord," sich jetzt nur noch in unserm „Meineid" erhalten hat. Denn
darunter ist nicht sowohl — wie einst Gottsched meinte und wie die Volks¬
etymologie wohl noch heute glaubt — ein „vermeinter Eid" als vielmehr
gerade ein falscher, betrügerischer (frevelhafter) Eid zu verstehn. Die „Eides-
helfer" find zwar schon längst aus unserm Rechtsleben verschwunden, in unsrer
Sprache aber ist das Wort, zum Teil uuter Erweiterung des Begriffs, auch in
der Neuzeit noch vereinzelt anzutreffen, allerdings wohl nur in der gewähltem
Ausdrucksweise der Gebildeten, wie denn Bis in arck einmal in einer Reichstags
rede (am 28. November 1885) von den „Eideshelfern" der ultramontanen Zeitung
„Germania" in dem allgemeinen Sinne von „Helfershelfern" gesprochen hat.
Da die Zahl der altdeutschen Eideshelfer regelmäßig sechs betrug, sodaß der
Beklagte mit jenen zusammen „selbsieben" schwur (daher „übersiebnen" ^'
überführen, vor Gericht als falsch nachweisen, in der Literatur zum Beispiel von
Freiligrath verwandt), haben manche auch die sonderbare Beteuerungsformel
„Meiner Six" (— „meiner Sechs," so noch bei Goethe) hierauf zurück¬
zuführen versucht, die danach eigentlich etwa gelautet haben würde: „Ich als
siebenter meiner sechs Eideshelfer schwöre usw.," während sie andre nur für
eine Entstellung aus „meiner Seel" (ähnlich wie „verflixt" ans verflucht) halten.
Von jeher war die Ableistung des Eides bei nus mit symbolischen Feierlich¬
keiten umkleidet, unter denen namentlich das Berühren gewisser Gegenstände
während des Aussprechens der Eidesformel hervortritt die sich entweder auf
die angerufnen Götter und Heiligen oder mich ans die dem Meineide o gen^Strafe'bezog. So schwuren w heidnischer M die Männer wohl ° it Waffe
insbesond e das Schwert (daher „ans die Klinge ^woren ). ^auch auf einen geweihten Ring; Frauen legten die ff^e) Hand ^oder berührten ihren Zopf usw. Nach der Christianisierung de P
täten wurde es üblich, den Eid ans die Nehmen vo^das ...ol>.ni.)s.n" (anch toto, wie der die Gebeine der Heckg n be -
gente Schrein genannt wurde. Damit hängt nnn ledenfallv die was heute
gebräuchliche Redensart „Stein und Bein schwören" zuMnmen. s e^ daß
man ans die Gebeine der Heiligen nur das letzte Hauptwort darm (Be )
bezieht, wobei dann „Stein" Fels. Berg) in einem ähnlichen Su n auf¬
zufassen wäre, wie etwa in dem röniischcn „.lovour laxiäGM znrar« sei es. das,
man - - mit der jetzt wohl vorherrschenden Ansicht - mich den ..Stein ans
christlichen Anschammgcn serai.s zu erkläre» vers.icht indem uiMi ^)^' eilt^der z^
den mit kostbaren JnWelen verzierten Reliquienkästchen in Z"San"" »sang wu^oder als die steinernen Platten des Altars auslegt in oder unter denen ti
Neliguieu bewahrt wurden Erwähnt sei endlich noch, daß nicht nur Ces b^der rechten 5ab bei der Eidesleistung („Schwnrhand " su.her zwei „Schwm-
singer" . das unsre Prozeßordnungen i.och hente ausdrücklich vorschrewe. s ut
auch der Wortlaut rmsrer modernen Eidesformel: ..So wahr in r Go helfe
schon ein hohes Alter haben. Dem. wem, mau d.ehe nicht gar alö ,schon He d n-
Wm vorgebildet" a.löcher darf, so ist sie doch Mer der^a^wird gewesen, da sich in Kapitularien (z. B. ans den Jahren ""d Mdie Worte „8lo i^ äorr8 ^lsrivvt" als eine bei dem Beweise durch Ordalien
"bliebe Formel nachweisen lassen.
„<^„kDiese Ordalien (von dem augels. «nu.I. oräÄ, nilat. oräalir^ altfrauk.
or6öl, altsächs. r>räAi, ahd. nrioilä--., urwili. ahd. rirwilv) oder Gottesurteile
(Gottesgerichte. ju.lioiu an-i), das zweitwichtigstc. auf arischer Grundlage be¬
ruhende Beweismittel des germanischen Rechts, bestanden bekanntlich in der
Ablegung einer Probe des Beklagten für seine Unschuld, wobei nur zum
kleinern Teil dessen Kraft und Geschicklichkeit (wie z. B. bei den. — von
manchen übrigens auch nicht als eigentliches Ordal betrachteten — Zwei-
wipfe mit dem Gegner), in der Regel dagegen bloßer Zufall (wie beim Lo en)°der gar eine Art Wunder den Ausschlag geben konnte. Zur letztem Gruppe
gehören die Wasser- und Fenerordalicn. wie der sogenannt^.Kessclfang (Hcrcuw-
z'ehen eines Gegenstandes aus einem Kessel kochenden Wassers) das Tragen
glühenden Eisens, das Überschreiten glühender Pflugscharen - berühmt durchdie Sage von Kunigunde. der Gemahlin Heinrichs des Zweiten--, das Gehen
durch einen brennenden Holzstoß, wodurch einst Karls des Dicken Gemahlin.
Nnhardis. ihre Unschuld bewiesen haben soll. u. tgi. in. Alle diese Gottes¬
urteile beruhten auf dem Glauben, daß die Gottheit zugunsten des Unschuldigen
^g eingreifen und ihn unversehrt aus der Probe hervorgehn lassen werde.
Auf diesen Beistand einer höhern Macht eben bezog sich auch die Formel „8le ins
nous achnvot" oder „So wahr mir Gott helfe," die bei unserm heutigen Zeugen-
ewe nun eigentlich bedeutungslos geworden ist und auch meist ganz gedankenlosnach geplappert zu werden pflegt. Wie tief aber einst die Ordalien. und namentlichme Feuerproben — trotz des ihnen später von der Kirche entgegengesetzten
Widerstandes — im Volksgemüte gehaftet haben müssen, das zeigt sich nochM den vielen Bildern unsrer Umgangssprache, die sich darauf zurückbeziehenlassen ......
„durchs Feuer gehn" oder diese — ebenso wie zuweilen sich selbst — „weiß
zu brennen" versuchen, wobei sie sich freilich nicht gerne „die Finger ver¬
brennen" mögen. Von der Probe des geweihten Bissens (Prvbcbisseu, juäi-
eirmr oktÄs jpmri8 ot <zö,L<zij, augels. vorsn-Nä), wonach der Beweisführer für
schuldlos galt, wenn er den Imbiß — ein Stück trocknen Gerstenbrotes oder
dünnen Käses von bestimmtem Gewicht — ohne Anstand hinunterschlucken
konnte, dagegen für schuldig, wenn er ihm im Halse stecken blieb, scheint sich
die Redensart herzuleiten: „Da soll mir (doch) gleich der Bissen (Brot) im
Halse (in der Kehle, im Munde) stecken bleiben," oder „ich will mir den
Tod an diesem Bissen essen," desgleichen der Wunsch daß jemand „daran
ersticken" möge. Hierher rann schließlich auch noch die Wendung „Gift auf
etwas nehmen" gerechnet werden — wie ja Giftordalien bei den Natur¬
völkern noch heute weit verbreitet sind -—, während das sinnverwandte „das
Abendmahl auf etwas nehmen" seine Entstehung wohl der sogenannten
Abendmahlsprobe verdankt, einem Beweismittel kirchlichen Ursprungs, dessen
Natur als echtes Gottesurteil übrigeus bestritten ist.
Auch dem gerichtlichen Zweikampfe, der letzten Wurzel unsers heutigen Duells,
worin sich die altgermanische Auffassung des Prozesses als eines Kampfes
(„Rechtsstreits") besonders deutlich widerspiegelt, hat der deutsche Sprachschatz
mehrfache Bereicherung zu verdanken. Hierher gehört z. B. der — in die neu¬
hochdeutsche Schriftsprache übrigens erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
eingedrungne — Ausdruck „Kämpe," den wir heute namentlich für einen
kriegerischen Helden, dann auch wohl in einem mehr übertragnen Sinne für
Vorkämpfer, Verfechter (etwa: der Freiheit oder irgend einer Idee) gebrauchen.
Einst war dies aber die spezielle technische Bezeichnung für die zur Klasse der
„unehrlichen Leute" gehörenden, gemieteten Lohnkämpfer im gerichtlichen Zwei¬
kampfe (ahd. ellsroplio, iWmt'o, Kkinxlrjo, altniederd. Kswpio, cmgels. eGuirm,
ahd. Icvnrpv, Kom>ni>. Kvmxlie, altnord. Ksnrxa, alae. carapio, franz. und engl.
Lliiimplon), die — wie dies schon frühzeitig gestattet wurde — an Stelle der
Parteien selbst den „Kampf," d.h. zunächst gerade den Zweikampf vor Gericht,
untereinander ausfochten, also für ihre Auftraggeber im wahrsten Sinne des
Wortes „in die Schranken traten." Daraus, daß der in solchem Kampfe Über-
wnndne fällt, der Sieger aber stehn bleibt, erhalten wohl Wendungen wie
„sich sein Recht erstehn," „auf seinem Rechte bestehn" und „gut be¬
standen haben" (z.B. heute auch ein Examen) ihre richtige Beleuchtung. In
denselben Zusammenhang scheint aber auch die Redensart „einem die Stange
halten" zu gehören. Sofern sie nämlich noch in dem (früher gebräuchlichern)
Sinne „einem (in schwieriger Lage) zur Seite stehn" oder „seine Partei
ergreifen" gebraucht wird, darf man sie wohl beziehen auf die Tätigkeit des
vom Richter bestellten Aufsehers („Staugers, Stänglers"), des — später dann auch
in den Turnieren auftretenden — „Würtels" oder „Grieswarten" (ahd. Miosvsrto,
frieh. ArstvkrÄlM, abzuleiten von Gries, ahd. grie^, d. h. dem Sande oder
Kiese, auf dem der Kampf stattfand), der als „sekundäre" die .Kämpfenden
nötigenfalls mit einer Stange zu trenne», namentlich aber eine solche zum
Schutze über den zu halten hatte, der zu Falle gekommen war. Wenn sich der
Gefallene wieder aufraffte, um den Zweikampf von neuem zu beginnen, so hatte
er nach altem Sprachgebrauche „sich erholt" — eine Bezeichnung, die dann
von diesem Vorgange beim gerichtlichen Waffe n Streite zunächst auf den gericht¬
lichen Wortstreit, z. B. beim Versprechen in der Rede, übertragen worden ist
und erst von hier aus schließlich den heutigen, noch allgemeinern Sinn an¬
genommen hat (vgl. noch das ältere „sich Rats erholen").
Auch der Beweis durch Zeugen ist schon dem ältern deutschen Gerichts¬
verfahren keineswegs ganz unbekannt gewesen und hat namentlich im Volksrechte
der hallischen Franken eine bevorzugte Stellung eingenommen. Nur war der Begnfs
ein andrer, und zwar engerer als heute, da als Zeugen uur solche Personen
aalten, die bei Vornahme einer rechtlichen Handlung zur Bekräftigung Herder-
gezogen waren (Geschäfts-, Sollennitätszengen) oder Nachbarn, „die über ge-
meindeknndige Verhältnisse und Ereignisse aussagten (Gememdezeugeu). wahr ut
die bloß zufällige Wahrreden.eng eiues Vorgangs oder Ereupussev meh geu^t .
„um die Z ngeuqualität zu begriiudeii" (Brunner). Wahrend steh un cum
„Zeuge" entsprechendes Wort im Altdeutschen noch acht nachweisen las .
begegnen uns im Mittelhochdeutschen die Formen S^mo, hö^u^(lchowi^ ^tuot.. MtüM auch uoch altnhd, „Gezcnge." erst spater in,d seltne
ÄvM), die ohne ZweifA auf das Zeitwort „ziehen" (ahd. Wen^l
entr) zurttckgehu. sodaß der Zeuge eigentlich der zur Gerichtsvcchaudlung G -
zögere," „Zuge ogene" gewesen ist, Dabei wird es sich sogar aufm.gli h in
einen dem Mengen körperlich si.hlbar gewesenen Vorgang gehandelt haben.
Denn das altdeutsche Prozeßrecht verlangte grundsätzlich, daß der Zeuge nicht um
durch „Rede," sondern auch durch „Werk" vou der Partei zum aufmerk¬
samen Sehen und Hören förmlich aufgefordert sei. was besonders dnrch tap
- auf alt-arischer Grundlage erwachsene — Zupfen an den Ohre», spater
wohl auch durch einen Backenstreich zu geschehn pflegte. Daraus erklären sich
dann nicht uur die in ältern Nechtsgnellcn und Urkunden. besonders bei den
Bayern, vorkommenden „te^los xsr mio. travel," sondern auch die noch in
unsrer Zeit allgeniein verständlichen Redensarten „jemand bei den Ohren
kriegen" (^ ihn zur Verantwortung ziehn) und „einem etwas hrnt r
die Ohren schreiben," Der uuter der Herrschaft der sogenannte., gesetz¬
liche.. Beweistheorie ausgebildete Grundsatz des gemeinen deutschen Pro.eh-
rendes. daß dnrch die Al.ssage von zwei „klassischen," d^ h. ^"S "n^"^»
und einwandfreie.i Zeugen immer schon co voller Beweis er^der ich znlekt ans einige Vibelstellen (iusbc ordre 5. Mos. 19.15 in.d Co.^oh
stützt hat zwar heute durch das Prinzip der freien BeweisWne einstige juristische Bedeutu.'g eingebüßt, durch Goethes „Faust" lebt aber
der Spruch: „Durch zweier Zeugen Mund wird allerwcgs die Wahr¬
heit kund." den auch die Sammlnnge» deutscher Nechtssprichwörter verzeichnen.
un Volke noch als eine Art „geflügeltes Wort" weiter.
Während im ältern deutschen Rechte die Folter «n ProMe nur ^'wM (gegen Unfreie) zur A.iweuduug gelangte, hat sich bekam lui d v
Gewaltmitt l zur Eryvu aung eines Gestanden es in der Zeit nach der Auf-
"ahme des rö^c^RZs Kider auch in deutscheu Landen "mener .mehr ein¬
bürgert, bis die mit ihr - ganz beso.^ders in den H^^^" - g>
euch.im Mißbräuche schließlich doch den Wider prnch an geklärter Geister her¬
vorriefen, die j em Z dann - nicht ohne Widersprach der luristi chen
Praktiker ^ fehl ß es Ende bereiteten. He.'te liegen gottlob die Zeiten schon
Mauch weitem et. wo die „peinliche Frage" von den Gerichten noch gegen
Zngeschnldigte'gehandhabt werden durfte, unsre Sprache aber ha in ihrem
Bckderschmnck gar manches festgehalten, was uns hin und wieder auch an d^s
abscheuliche Verirrung des menschlichen Geistes zu ^mahnen vermag
»"neu z.B. uoch jetzt Leute, die sonst gerade nichts mit der taltbw gen
Grausamkeit der frühem Folterknechte gemein haben, jemand -auf die Folter
spannen" und ihn infolgedessen wohl gar '.Folterquawi erde. ^wenn sie ihm etwa ein wichtiges Geheimnis oder eme interessante N gauf dessen Mitteilung er sozusagen geradezu brennt, allzu lauge voren halten
(vgl. denselben. Gebrauch des ranzös. „wottro ^lan'un u, 1-. qri08t.vir oder
^ionuA-1-, c^Wtimr u, ./irol^r'a,i") Aber nicht genug damit, auch einzelne Ar en
der Tortur, die einst besonders im Schwange gewesen si.'d, f echten wir acht selten
»och als Gleichnisse in unsre Rede ein. Wir vermögen z. B. um bildlichen Sinne
unsern Mitmenschen noch heute „Daumschrauben anzusetzen („aufzulegen
oder „anzuziehen"), wenn wir sie mit Gewalt zu etwas treiben oder etwas aus
ihnen herauspressen wollen, ebenso wie wir sie auch noch „schrauben" oder
..aufziehen" können, wenn wir sie in wirklicher oder vermeintlicher geistiger
Überlegenheit zum Gegenstande des Spottes („Schraubereien") machen. Bei
den beiden letzten Phrasen denken wir allerdings wohl kaum noch weder an die
ominösen, einst überaus beliebten Fvlterwcrkzenge, die Danmschrcmben oder
Daumenstöcke, von denen es seinerzeit die mannigfachsten Arten gab, noch an
die ebenfalls weitverbreitet gewesene Tvrtnrart des „Zuges" oder der „Elevcitivn"
oder „Expansion" in ihren verschiednen Formen (wie der „gespickte Hase" usw.).
Nur unklare Vorstellungen haben heute wohl auch manche von den „spanischen
Stiefeln" („Beinschranben"). durch die einst das Schienbein und die Waden
platt gedrückt wurden, obwohl der Vergleich des ..Einschnüreus" in diese
Folterwerkzeuge für die Unterbindung jeglicher freien und selbständigen Ent¬
wicklung in unsrer Sprache längst heimisch und in der Literatur namentlich seit
Goethes Worten im „Faust" über das „vollkAuim in>M<zam": „Da wird
der Geist euch Wohl dressiert, in spanische Stiefel eingeschnürt" recht
beliebt geworden ist. Wenn wir heute auch von bösen Wucherern („Hals- oder
Kehlabschneidern") sagen, daß sie ihre Opfer „schnüren" (— übervorteilen), so
ist vielleicht auch dies von dem Zuschnüren der spanischen Stiefel, richtiger aber
wohl von einer selbständigen Folterart herzuleiten, von der z. V. schon Chr.
Heinr. Grupen in seiner Dissertation „1)«z anpliog-lions rönnenwrrmi, vo."
(Hannover 1754, S. 98—161) eine sehr ausführliche Beschreibung gegeben hat.
Endlich kann man noch die Vermutung aufstellen, daß auch unser bildliches
„einem heiß machen" sich von der u. a. noch in dem österreichischen Straf-
gcsetzbuche von 1768, der sog. „Thcresiana." erwähnten Folterung durch Feuer-
brände herleitet, wenn man nicht vorzieht, auch hierbei an die Feucrordcilicn
zu denken.
Aus dem Worte „Ordal" ist, wie schließlich noch bemerkt sei, auch unser
„Urteil" entstanden, das wir jetzt besonders für die den Prozeß abschließende
gerichtliche Entscheidung (Endurteil) gebrauchen, während das der ältern Sprache
dafür geläufige <tun (ahd. und ahd. tuom, altnord. clcmir), das sich in den
nordischen Sprachen und in England (cloom) im ursprünglichen Sinne zu erhalten
vermochte, uns als selbständiges Wort abhanden gekommen ist und nur noch
als sogenanntes Suffix (^ tum) in Verbindungen wie Königtum, Fürstentum
und dergleichen mehr fortlebt. Diese Wandlung aber dürfte dadurch entstanden
sein, daß das Urteil in älterer Zeit „bei den Westgermanen, wenn der Beklagte
geleugnet hatte. . ., ein zweizüngiges Urteil" war, „nämlich einerseits Beweis¬
urteil, sofern es die Beweisfrage regelte, andrerseits zugleich Endurteil, sofern
es bestimmte, was je nach dem Ausgang des Bewcisverfahrens zu geschehn habe"
(Brunner). Da nun bei der Veweisfrage wieder das Ordal immer eine Haupt¬
rolle spielte, so erklärt es sich nicht allzu schwer, daß bei den meisten west¬
germanischen Stämmen das Wort „Ordal" oder „Urteil" sowohl das suclioium
alvi — worauf es bei den Angelsachsen beschränkt geblieben ist — als auch
das definitive Gerichtsurteil bezeichnete, bis dann mit dem Verschwinden der
Gottesurteile nur noch die letzte Bedeutung übrig blieb.
Bei der Fällung des Urteils hatte der altdeutsche Richter nicht dieselbe
unabhängige Stellung wie heute, wo er unter freier Würdigung der erbrachten
Beweise selbst entscheidet, er war vielmehr — wie schon zu Eingang dieses
Aufsatzes erwähnt worden ist — in ältester Zeit an die Mitwirkung der Gemeinde,
später an die eines Gemeindeausschusses gebunden. So wurde z. B. bei den
Franken das Urteil zunächst durch die sogenannten Rachimburgen („Natsbürgen,"
„Ratgeber"), einen ..höchstwahrscheinlich vom Richter ernannten Ausschuß der
Gerichtsgemeinde" (Brunner) „gefunden," wie man sagte, woran noch heute
unser „für Recht befinden" anklingt. Seit Karl dem Großen aber waren
es die „Schöffen" (ahd. stelle. 8°Koxt°, echt. se-eWn 8oM°. so«uno. altmedd
^.plus. uedrl. 8od0 )me. alae. 8«Mnu8. nat. '°^mo franz .elievin) d e
das Urteil feststellten, das' Recht „schöpften" oder .^fe" ^und got. «l^i-in. ahd. so-tMn, seMW und sooxkon. reellen schKn auch,
ordnen, verordnen bestimmen Wurzel »K»x,!. urverwandt nut ^»Psen est «^k.n
ahd. .ouexksn). es „lichten" oder „kürten (daher koch .Wi^ältern Sprach ^- f stgesetztes Recht, erst späernnt tadewdem Zechen u in ver¬
bunden)/ Der Richter hatte damals also, wie das kleine Kaiserrecht (I. 7)
sich ausdruckt, nur das „zu richten." was die Schöffen .urteüen
-
Es mußte aber früher auch noch du Zustimmung der uwgen hern^stehenden Diugleute, das Vollwort des sogenannten „Umstanden oder de
^ Um-
stände." hinzukonunen. damit das Urteil ausgegeben" werde' o„ ^ De.hal
hatte der Richter auch „nach den Umständen zu richten oder „sich
richten." „den Umständen Folge zu geben" oder --U)nen Rechnung zu
tragen " wie das auch heute - in einem übertragnen S une nicht nur
der moderne NickM um Prozesse, souderu jedermann gar °ftwr Leben in. muß.
Dem Verurteilten aber stand, wie noch heute schou in ^r Ze t das R ^das Urteil anzufechten oder - wie man das damals nanu - e. zu adelt n
d-h. eigentlich es „umzustoßen" (ahd. 'o°it^ naht Melton,
«enslcken, sah^ schmähe n. beschimpfen. Verwandtnut „schalten"; Grundbedcu ung
..stoßen" Anet inter schöffeibarrcie" Mann aus dem Umstände durfte das
Urteil „ u Necht^ w seu" d. h. das gefüllte Er mutus
tadeln ab em be her s an dessen Stell setzen. Da nun gewiß durch solche
Be,nünglüng des rittells dnrch den „Umstand" in der Regel schwierigen
und Weitläufigkeiten hervorgerufen wurden, so mag sich bat.irch zur Laie
der Zeit der Gebrauch der Ausdrücke „Umstände machen." „umständlichein." ja wohl gar ein „Umstandskommissarius sein" für unnoüge Weit¬
läufigkeiten machen" ausgebildet haben (vergl. andrerseits auch: „ohne Umstände.
..keine Umstände machen" usw.).
^ - ^l.^„.., War das Urteil gefallt und lautete es auf Bestrafung des Angeklagten.
o konnte dieser nnr dadurch noch vou ihr errettet werden, daß man Gnade
für (vor) N,ehe eraehn" ließ. Andernfalls wurde zur Urteilsvollstreckung
geschritten, der jedoch seit dem spätern Mittelalter eine bis ins einzelne genan
geregelte Zeremonie, der sogenannte „endliche Nechtstag." vorherzugehn pflegte,der sich als ein Rest des einst ganz öffentlichen Verfahrens noch wett bis in
d" Zeiten des gemeinen Jnquisitionsprozesses hinein zu erha den vermochte
letzter „ut bedeutsamster Akt dieser Feierlichkeit erscheint aber wieder das bei
Verurteilungen zum Tode übliche Zerbrechen eines Stabes, meist iwch der Ver¬
lesung des Erkenntnisses, aber vor dessen Vollstreckung. Über die Beten n.igdieses Vorgangs, der sich übrigens vereinzelt, besonders in Süddeutschland
'was bis in die Gegeiiwart hinein in gewisser Geltung erhalten hat, suo
dle verschiedensten, zuweilen recht gewagten Vermutungen aufgestellt worden,
^etzt wird man sich namentlich an die zum Teil neuen Ergebnisse zu halten
haben, zu denen kürzlich Ernst von Möller in einer der Sitte des Stab-
drechens in allen ihren Beziehungen gewidmeten, recht gründlichen Abhandlunggelaugt ist.*) Danach handelt es sich hier vor allem um denselben, früher meist
weißfarbigen Stab, den der Richter überhaupt als Symbol seiner Machtgewaltuach alter Rechtssittc während der ganzen Gerichtsverhandlung in den Händen
halten sollte. Das Brechen dieses Stabes aber soll nicht sowohl wie bis¬
her meist angenommen wurde — den Tod des Verurteilten als das Urteil
selbst symbolisieren. Da nämlich die Tatsache, daß der in Frage stehende
Stab „der Amtsstab des Richters ist, im Einklange mit der Bedeutung des
Stabbrechens stehn muß, so folgt, daß das Brechen des Stabes sich einerseits
auf den Richter, andrerseits auf den Verbrecher beziehen muß, mit einem Wort,
auf das Verhältnis, in dem beide zueinander stehn. Der Richter wird nach
dem Breche» des Stabes nicht mehr den Verbrecher richten, und der Verbrecher
beim Richter kein Recht und keinen Schutz mehr finden. Der Richter aber
handelt nur als Vertreter der Rechtsgemeinschaft. Darum zieht uicht nur der
Richter, sondern die ganze Rechtsgemeinschcift ihre Hand vom Verbrecher ab,
bricht mit ihm, stößt ihn von sich aus" (von Möller, a. a, O, S> 107). Diese
Erklärung der Nechtssitte stimmt damit überein, daß, wie jetzt kaum noch be¬
zweifelt werden kann, auch in alter Zeit schon über den Friedlosen der Stab
gebrochen wurde „zum Zeichen des Bruchs der Rechtsgemeinschaft mit ihm,
zum Zeichen seiner Ausstoßung aus der Rechtsgemeinschaft" (von Möller,
a, a. O. S. 67), Danach war dann aber auch „das Stabbrechen aus Anlaß des
Todesurteils" eigenlich nur „der symbolische Ausdruck der Friedloslcgung,
die in älterer Zeit bei den Franken oxxressis verbis dem Todesurteile voran¬
ging, später imMeits damit verbunden gedacht wurde" (von Möller, S. 110).
Wie man aber auch das Rechtssymbol des Stabbrechens beim Vollzüge der
Todesstrafe ausbeuten mag, jedenfalls weiß heute wohl jeder Gebildete, was
nach unserm Sprachgebrauche mit der jenem Vorgang entlehnten bildlichen
Wendung „über jemand den Stab brechen" gemeint ist, obwohl sie übrigens
— besonders im Verhältnis zu dem Alter der Nechtssitte — noch recht jung
ist. Der bisher nachweisbare älteste Beleg dafür soll sich nämlich (nach
von Möller, a. a. O. S. 114) in einem Kirchenliede von Leopold Franz
Friedrich Lehr aus dem Jahre 1733 finden, aber erst in den Tagen Schillers
und Goethes hat die Redensart „die Freiheit erlangt, in der wir sie heute
gebrauchen" (von Möller, a. a. O. S. 114). Als eine etwas mildere Form
dafür erscheint wohl auch der Ausdruck „mit einem brechen," d. h. „die Be¬
ziehungen mit ihm abbrechen." Vielleicht hat sich diese Wendung unter Ver¬
mittlung des französischen „roinvrs is, pailw (oder 1s Mu fiat. kost-ueal) s-oso
anelau'un" herausgebildet, das ebenfalls auf einen Fall des rechtssymbolischen
(und zwar wahrscheinlich des bei der Lösung einer lehnsrcchtlichcn Gemeinschaft
üblich gewesncn) Stabbrechens zurückzuführen ist. Endlich kann man noch die
Vermutung aufstellen, daß auch unsre Phrasen „über etwas wegwerfend
urteilen" und „einem etwas vor die Füße werfen" in diesen Zusammen¬
hang zu stellen sind, da es nämlich Brauch war, daß der Richter die Stücke
des zerbrochnen Stabes von sich weg unter das Volk oder ins Gericht, meist
aber wohl geradezu dem Verurteilten vor die Füße schleuderte.
« ^^^.is Will nun am Abend daheim im Kloster saß und sich unter vier
^ Augen mit Christeuce unterhielt, wurde von Herrn Johann geschickt,
ob er nicht hinüber kommen und sich nach ihm umsehen wolle; es
sei etwas sehr wichtiges, was er ihm mitzuteilen habe.en
Will ging sogleich über die Straße hinüber und fand den Alt
um Bett, körperlich scheinbar wieder einigermaßen wohl, seelisch jedoch
arg mitgenommen.
Woher hat Jver das uur erfahren? begann er mit zitternder Stimme. Von
Euch? — Und woher wißt Ihr es? — Aber es ist alles miteinander eitel Dichtung
und Lügengespinst, und niemand kann mir etwas beweisen, niemand! — Ich
habe nie einen Menschen umgebracht, niemals — mir den Hund, der mich an¬
gefallen hatte.
Bei diesen Worten ging es Will plötzlich auf, daß Herr Johann seinerzeit
selbst die Rolle des Bruders Kakophron gespielt haben müßte, und daß die Mord¬
szene in der Komödie einen solchen Eindruck auf ihn gemacht hätte, daß sie ihn
jetzt dahin brächte, sich zu verraten. Deswegen antwortete er auch ruhig:
Euer Brudersohn weiß noch nichts, aber ich weiß alles. Ich weiß, daß Ihr
Euern Bruder draußen im Walde ermordet und ihn ausgeplündert habt.
Das ist nicht wahr! rief Herr Johann und richtete sich im Bett auf, sich
auf den einen Arm stützend. Den Hund habe ich totgeschlagen, ihn nicht.
Ihr lügt! Aber so scharfe Klauen hat der böse Gast, der das Gewissen ge¬
nannt wird, daß er seinen eignen Herrn zerfleischt — Ihr werdet deswegen auch
noch alles gestehn.
Herr Johann trocknete den kalten Angstschweiß von der Stirn und entgegnete
nachdenklich:
Woher Ihr Eure Kenntnis habt, das fasse ich nicht, aber wenn Ihr die Wahr¬
heit wißt, so wisset Ihr auch, daß ich meinen seligen Bruder unvermutet tot im
Walde liegen fand, in der Nähe des Schwarzen Sees; ein schwerer Ast war vom
Sturme heruntergerissen worden und hatte seine Stirn zerschmettert.
Und da?
Da fiel mich der tolle Hund an, als ich sein Wams aufmachen wollte.
Ja, um die Leiche zu plündern! — Und da schlüge Ihr deu Hund tot?
Mit dem dicken Ast, ja — es war Notwehr!
Und Ihr nahmt ihm alles für das Haus, das er verkauft hatte, erhaltne
Geld ab!
Jetzt sank Herr Johann in die Kissen zurück und stöhnte:
Das wißt Ihr auch!
Ich weiß alles! — Wieviel Geld habt Ihr ihm abgenommen?
Zweitausend Taler — nicht mehr.
Jetzt lügt Ihr ja schon wieder.
Und noch fünfhundert — so wahr mir Gott helfe, nicht mehr!
Habt Ihr das Geld noch alles im Besitz?
Bis ans ein paar Hundert. — Aber was wollt Ihr mit mir altem Mann
machen — was verlangt Ihr. daß ich tun soll?
Ihr sollt sofort die zwei Tausend zu gleicher Teilung zwischen Euerm Bruder-
!°du und Jungfer Christenee hergeben.
Alle beiden Tausend!
Ja!
lange^ ^ nicht Zeit bis nach meinem Tode? — Ich lebe sicher nicht mehr
Der Teufel hat die Seinen um Kragen! — Wollt Ihr. daß ich dem Stadt¬
vogt von der Sache erzähle?
Herr Johann seufzte, daß das Bett uuter ihm bebte. -- Was wird Jver
enden. wenn ich ihm freiwillig all das viele, viele Geld gebe? sagte er; er wird
unrat^allem oder glaube», daß ich verrückt sei!
,ouch werde ihm und Jungfer Christenee bringen, was ihnen zukommt, eut-
^Inete Will, und ich werde Euerm Brudersohn sagen, seine Komödie habe solche
^Minderung in Euch erweckt, daß Ihr um derentwillen ihn und die Schwester
wen- ^^ten bedenken wollet. - Das glaubt er gern, fügte Will mit un-
wlllturkchem Lächeln hinzu.
Und ich kann mich darauf verlassen, daß Ihr sonst nichts weiter sagt —
'veoer zu ihm noch zu einem andern?
Das könnt Ihr ruhig tun.
Herr Johann dachte nach. — Und was wollt Ihr selber haben?
Ich? Nichts! — Doch, Ihr könnt mir fünf Dukaten Reisegeld geben, dann
komme ich ehrlich von Helsingör fort.
Herr Johann kroch sperrbeinig aus dem Bett, holte aus einem Versteck einen
eisenverschlagnen Kasten, öffnete das Schloß und zählte unter Seufzen und Stöhnen
zweitausend Taler und fünf holländische Dukaten auf den Tisch. Will steckte sie
in einen Beutel und schickte sich an zu gehn.
Ach ich armer alter Maun, jammerte Herr Johann. Wie soll ich jetzt mein
elendes Leben fristen?
Wie Ihr es bisher getan habt, antwortete Will, und nun könnt Ihr Euch
meinetwegen mit der Dorthe aus der Speisekammer verheiraten, wenn Ihr wollt!
Damit verließ Will Herrn Johann und kehrte in das Kloster zurück.
Aber Jver Kramme wollte es anfangs gar nicht für möglich halten, daß das
Geld wirklich für ihn und Christence sei, und daß es von dem Oheim komme. Erst
nachdem ihm Will mehrmals erklärt hatte, daß es doch um und für sich gar nicht
so wunderbar sei, daß ein dramatisches Meisterwerk, wie das seine, durch seine
Kraft so stark wirken könne, daß einer der Zuschauer — noch dazu ein naher Ver¬
wandter, der einerseits stolz war über sein Verhältnis zu dem Verfasser, andrer¬
seits stark ergriffen durch die Erinnerung an den jammervollen Tod des Bruders —
das Bedürfnis empfinde, seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen, erst da be¬
ruhigte sich Jver Kramme, kniff lächelnd die Angen zusammen und sagte:
So viel hat nicht einmal Meister Hieronymus Justeseu für „König Salomons
Huldigung" in Viborg bekommen!
Nein, das versteht sich, entgegnete Will, aber nun habt Ihr doch deu Beweis
der Allmacht der Poesie handgreiflich erhalten!
Ja, Kunst bringt Gunst! wie die Deutschen in Wittenberg zu sogen pflegten,
entgegnete Jver Kramme.
Einen Augenblick später spürte er doch Gewissensbisse und rief:
Der Einfall mit dem Hund — stammte der nicht eigentlich von Euch?
Nein, antwortete Will, der war doch der Eure.
Wirklich? — Ja, jetzt glaube ich auch, mich dessen zu erinnern. — Ja, ich
machte den Vorschlag, daß die Sache so kommen sollte. — Ihr habt es nnr für
mich in englischer Sprache zu Papier gebracht!
Ganz früh am nächsten Morgen waren Jver Kramme und Christence in ihrem
besten Staat drüben bei dem guten Oheim, um ihm ihren warmen Dank für die
große Gabe zu überbringen, mit der er sie so unvermutet bedacht habe. Aber der
gute Oheim habe sie ganz sonderbar empfangen, sagte Jver Kramme bei der Rück¬
kehr zu Will; er habe nichts von Dank wissen wollen und sich fast so angestellt,
als bereue er seine Wohltätigkeit schon.
Nach einer Weile kam dann Herr Johann selbst in das Kloster herüber. Er
hatte seine Krankheit jetzt ganz verwunden, war aber doch anfänglich ziemlich ein¬
silbig und sah mit scheuem Blick zu Will hinüber. Als dieser jedoch tat, als sei
nichts zwischen ihnen vorgefallen, wurde Herr Johann allmählich dreister, forderte
von dem Brudersohn eine Kanne Sekt, weil es ein gar so schwüler Morgen sei,
und trank sich, da die Kanne sofort geholt wurde, ziemlich lustig, ehe er dann nach
dem Schlosse ging.
Indes dachte Will bei sich, daß wenn Herr Johann noch eine Reihe von
Jahren dem Leben erhalten bliebe, Jver Kramme möglicherweise recht hohe Zinsen
für die zweitausend Taler zu bezahlen haben werde.u
Am Vormittage, während ihr Bruder in der Schule war, kam Christenee z
Will hinein — sie wollte nur'frische Blumen in den blauen Krug setzen, sagte sie.
Jetzt werde ich bald abreisen, begann Will.
Abreisen? wiederholte Christeuee, weg von hier?
Ja, ich muß heim — hier habe ich nichts z» tun!
Und was wollt Ihr denn in England?
Versuchen, mir eine Zukunft zu schaffen.
Es entstand eine Pause. dann sagte Christeuce mit einem erzwnngnen Lächeln:
Ihr wollt vielleicht versuchen, da drüben ein Mädchen mit Vermögen zu finden.-^Und halb zögernd und mit niedergeschlagnen Augen fügte sie hinzu: Die konntet
Ihr wohl auch in Helsingör finden!
Nein. Jungfer, entgegnete Will, ich habe nichts zu suchen, denn ich den schon
gebunden.
Und doch wollt Ihr reise»?
Ja — gerade deswegen!
.
Christence sah ihn fragend, verständnislos an, brach in Trauer ans und verlier
das Zimmer.
Nach einer Weile kam Bull.
Er war ganz außer sich. Seine Elisabeth hatte ihm die Tur vor der Nase
zugeschlagen, als er versucht hatte, sie zu sprechen, und sie hatte gesagt sie wolle
nichts mehr mit ihm zu schaffen haben. Aber ich will noch einmal mit ehr reden!
sagte er. Morgen kommt sie mit ihrem elenden Bräutigam zur Probe, und von
der Bühne herab will ich ihr ein letztes Lebewohl sagen, will ehr ager, wie sehr
"h sie liebe, und sagen, daß ich wohl wisse, daß auch sie mich geliebt hat - Will,
du mußt mir einen Gefallen tun. setze ein paar Worte für Agathon "»f. da, wo
er auf die lauge Reise auszieht und der Geliebten Lebewohl sagt; lege alles was
us dir gesagt habe, da hinein, dann will ich es auswendig lernen und es ehr
morgen ins Gesicht schleudern. „
^Will suchte seinen Freund zu beruhigen, aber das war unmöglich, und schließlich
mußte er denn versprechen, sich ihm zu fügen. .
...Dann ging Bull, um Will Zeit zum Schreiben zu lassen, aber in einer Stunde
wollte er wieder kommen und seine Abschiedsrede abholen.
Will setzte sich an das offne Fenster nach dem Klostergarten hinaus, nahm
einen Bogen Papier und tauchte die Feder ein.
. Er sah hinaus und gewahrte Christence, die ans einem Grabsteine saß se.
nützte die Ellbogen auf ihre Knie und barg das Gesicht in den Handen ^hre
Gestalt war voller Armut. wie sie so dasaß, schlank und doch voll. luugfraulich und
harmonisch. Je>, sie war hinreißend, und wie schön sie sang — nie wurde er
dren Ge an/ver essen können! - Und jenen Morgen als er sie in der ^h af-
ammer gesehen hatte, die warme Sonne ihre junge nackte Schulden lM k sie.
ehen — in.es den würde er nie vergessen können! Und sie. sie! — Warum hatte
er nicht scho?^ ihm doch ohne Worte täglich a.is freien Stiicken
geboten wurde, denn sie. sie - nein, der Fuchs richtet denen Schaden n dem
H°fe an, der seiner e gnen Höhle zunächst liegt, das hatte er selbst gesagt, und
»nßerdem war er doch anch - ach ja. leider Gottes! Aber Christence vergessen
^ seine ..Elisabeth" -. nein, das würde er nie. und sie - nein. auch sie wurde
ihn nie vergessen! .
„,Jetzt erhob sie den Kopf: ganz verweint sah sie ans arme kleine Chnstence
. Und dann wurde dieNdefür Agathon geschrieben! nach einer Welle kam
Bull, und Will las ihm das Geschriebn« vor: ^. . - ...^
.Elisabeth!DieStunde des Abschieds naht! Wir beide werden wohl me
wieder miteinander sprechen. Wissen sollst du aber ehe wir scheide«, daß ich dich
in meinen Gedanken getragen habe. Ich liebe die Süße den.er Stimme wenn dn
die alten Lieder singst und ich liebe deinen weißen lnngfrauluhen Leib, dessen volle
Schönheit nnr der keusche Mond und die kühne Sonne geschaut haben. Auch dn
hast mich geliebt, ich weiß es. und die Erinnerung hierau nehme ich mit nnr in
die ferne Heimat — Elisabeth, ich werde dich nie vergessen!"
Das ist gut! erklärte Bull. Und ich werde das Ganze schon bis morgen aus-
wendig lernen. Freilich habe ich sie nie singen hören, und ich glaube auch nicht
gerade, daß der Mond und die Sonne die einzigen gewesen sind, die ihre Reize
geschaut haben, aber das macht nichts: der Sinn ist da, und ich habe alles gesagt,
was gesagt werden soll. Habe Dank, Will!
Und damit ging Bull.
Früh am nächsten Morgen — es war am 24. August — erschien Pope im
Kloster bei Will und bat thu und Jver Kramine sobald wie möglich zu einer letzten
Probe auf Kronborg zu erscheinen, sintemal ein Eilbote aus Kopenhagen die Nach¬
richt gebracht habe, daß Seine Majestät der König schon am Nachmittag erwartet
werden müsse.
Jver Kramme wurde ganz feierlich gestimmt bei dem Gedanken, jetzt seinem
Ziele so nahe zu sein, er schalt Christcnee, sie solle sich beeilen, und fand, sie habe
noch niemals so viel Zeit gebraucht, sich zu schmücken. Endlich hatte sie ihre Schuhe
mit den silbernen Schnallen an die Füße gezogen und die letzten Falten aus dem
Rock gestrichen, und dann begaben sie sich alle drei gemeinsam auf das Schloß.
Oben im Rittersaal war schon ein kleiner Kreis von Zuschauern versammelt;
die Schauspieler hatten — mit Erlaubnis des Lehnsmannes — ihre Wirtsleute
zur Probe eingeladen, und von den im Schloß Angestellten waren much eine Menge
erschienen.
Bull war — natürlich — noch nicht gekommen. Jver Kramme wurde un¬
ruhig, und Kemp war böse; Will aber ging umher und betrachtete die Königs¬
tapeten und blieb abermals vor Prinz Ainlets Konterfei stehn —- für das hatte
er nun einmal eine besondre Vorliebe gefaßt.
Als eine halbe Stunde vergangen war, erklärte Kemp, jetzt wolle er ans
keinen Fall länger warten: geprobt müsse werden, aber Will wisse ja die ganze
Komödie auswendig, da könne er doch den Agathon in der Probe spielen.
Das tat er denn auch, und er war von ihnen allen der, der seine Rolle
am besten wußte; nicht ein Wort vergaß er, sogar die gestern bestellte Anrede
sprach er, ohne zu stocken, und mit ebensoviel Gefühl, wie Bull mir hätte hinein¬
legen können.
An und für sich Hütte er es sich gern sparen können, diese Worte zu schreiben,
denn Elisabeth Clayton war gar nicht da, und mich wenn sie dagewesen wäre,
hätte sie sie jn uicht aus Bulls Munde gehört.
Als die Probe vorüber war, gingen alle Zuschauer höchlich befriedigt davon,
Will und Jver Kramme aber blieben noch eine Weile mit den Schauspielern zu¬
sammen, um noch einige Einzelheiten für die Aufführung zu besprechen, und um
zu bestimmen, was geschehen solle, falls Bull — was man jetzt ja leider an¬
nehmen mußte — plötzlich krank geworden Ware und gar uicht auftreten könnte;
und schließlich verabredete man dann, daß Will ini Notfall am Abend den Agathon
spielen solle.
Wie sich nnn Will und Jver Kramme auf dem Heimwege der Stadt näherten,
sahen sie schon von ferne, daß etwas geschehen sein mußte; da standen schwatzende
Gruppen, und sobald jemand vorüberkam, wurde er gleich angerufen und bekam
etwas zu hören.
Jver Kramme beschleunigte seine Schritte, und kaum war er an der Ecke der
Königstraße angelangt, als er seine spitze Nase anch schon zwischen die schwatzenden
steckte und fragte, was sich denn Neues zugetragen habe.
Da bekam er denn freilich etwas Neues zu hören!
Bull hatte auf offner Straße Boltnm getötet und saß jetzt im dunkeln Loch
hinter Schloß und Riegel.n
Jver Kramme fragte nach den Umständen, andre kamen hinzu und erzählte
ihrerseits, was sie wußten, und bald konnte er Will und den Musikanten mit allen
Einzelheiten erzählen, wie ihr Kamerad in das Unglück geraten war, ein Totschläger
zu werden.
Bull war an diesem Morgen lange in sonderbarer Unruhe in Gertrud Claytons
Zimmer auf und nieder gegangen, wo er ja einquartiert war, und wo zwei
Mädchen beieinander saßen und spannen. Dann war Boltum dazu gekommen, und
er und Bull hatten anfänglich heftige Worte und dann derbe Hiebe gewechselt.
Bull war darauf auf deu Boden gelaufen, um seinen Degen zu holen. Während¬
dessen lief das eine Mädchen, um Gertrud zu holen, das andre aber verriegelte
die Tür zu dem Zimmer, sodaß Bull nicht zu Boltum hineinkommen konnte. Als
Gertrud kam, lief sie gleich, um ihre Tochter Elsabe zu holen, die ja für sich
wohnte, und als die beiden Frauen dann zu Gertruds Haus zurückkamen, trafen
sie Boltum mit gezogner Waffe auf der Diele. Es war ihnen jedoch, wie sie
»'einem, gelungen, ihn zu beruhigen, und Gertrud, Elsabe und Boltnm gingen nun
einträchtiglich die Straße hinab, aber an der Ecke kam Bull hinter ihnen drein;
Boltum zog sich unter den Beischlag zurück, und hier stieß ihm Bull seinen Degen
durch den Leib, sodaß er tot umfiel. Hans Bartscheer war gleich geholt worden
und hatte die Leiche besichtigt, und er bezeugte, daß Boltnm von vorn nach hinten
Wer dnrch den Leib gestochen worden war. Dann waren die Stadtknechte ge¬
kommen, und nun saß Bull, wie gesagt, im Loch im Rathaus.
Die Musikanten waren vor Entsetzen über das Geschehnis wie gelähmt; jeder
ging schweigend in sein Quartier; Jver Kramme lief zu Haus Bartscheer, um ge¬
nauen Bescheid über alles zu erhalten, was die Leichenbesichtigung betraf, und Will
kehrte in stummer Trauer in das Kloster zurück.
Dort aber stand Christenee und harrte seiner mit glühenden Wangen und
strahlenden Augen, und ehe Will es verhindern konnte, lag sie an seiner Brust,
preßte sich an ihn, gab ihm die heißesten Küsse und nannte ihn mit den zärtlichsten
-"amen.
niedergeschmettert von dem Schmerz über Bulls Schicksal, aber er
ergciß doch seinen Schmerz in einem kurzen, heißen Rausch.
Christenee, sagte er dann und faßte freundlich ihre Hand, kannst dn mir
verzeihen?
Dn sollst mich nicht Christenee nennen, entgegnete sie, ich bin deine Elisabeth —
unt dem Namen hast dn mich ja auf dem Schlosse vor aller Ohren angeredet.
Will sah verständnislos auf und sagte nur: Ich?
Ja, in den schönen Worten, die du bei Agathous Abschied sprachst. — Die
Mök du, und nicht mein Bruder, geschrieben, und erst durch diese Worte erfuhr
ich, daß auch du in Liebe an mich denkst, wie ich schon lange in Liebe an dich
gedacht habe!
Will zog seine Hand zurück und sagte zögernd:
^ geschrieben habe ich sie — aber nur weil der arme Bull, der nun da
^ ' wohin weder Sonne noch Mond scheint, mich so inständig darum bat. Er
bringen^ it" ""^ ""^ ^ Elisabeth Botschaft
Christenee sah mit versteinertem Ausdruck auf, bleich wie eine Leiche.
l,^ > ^ war nicht an mich gerichtet! sagte sie flüsternd, wie vor sich hin. Ich
^ve nur nur angeeignet, was für eine andre bestimmt war! — Aber du darfst
>eyk reisen, du kannst mich jetzt nicht verlassen! fuhr sie heftig fort. Gehst du,
NvI? ^ wie ein kleiner Hund, wohin dn mich gehst, und ich lebe von den
^r°,amen. die deine Liebe mir hinwirft!
n.n- ^hristenee, arme Christenee, entgegnete Will traurig, wäre Geschehenes
Kinder' ^" "'"He"' — Daheim in England erwarten mich Frau und
Christenee stieß einen Schrei aus. einen kurzen, verzweifelten Schrei, brach in
-^raren aus und barg ihr Antlitz in den Händen. So saß sie eine Weile da, da
versuchte Will abermals, ihre Hand zu ergreifen, aber sie entzog sie ihm schnell und
sagte mit tonloser Stimme!
Jetzt erst verstehe ich so recht das alte Lied, das Euch so wohl gefiel: Ihr
habt einer andern die Runen zuwerfen wollen, aber sie sind in meinen Schoß ge¬
fallen — und die Runen zwingen den, den sie treffen!
Damit ging Christenee in ihre Schlafkammer, und Will horte sie drinnen
schluchzen und stöhnen. Er selbst saß zusammengesunken auf der Bank, willenlos
und besinnungslos, und so fand Jver Kramme ihn, als er am Nachmittag zurück¬
kam und berichtete, was er erfahren hatte.
Von Bull konnte er freilich nicht mehr erzählen, als was man schon wußte,
eins aber war sicher, nämlich daß seine Komödie jetzt nicht agiert werden konnte:
es würde infolge des Ereignisses an diesem Abend überhaupt keine Vorstellung
gegeben werden.
Keiner von den drei Hausgenossen sprach ein Wort während des Abendessens —
jeder hatte genug mit seinen Gedanken zu tun. Die Luft war drückend und schwül,
es half nichts, daß Türen und Fenster offen standen.
Will erhob sich plötzlich und griff nach seinem Hut.
Wohin wollt Ihr? fragte Jver Kramme.
Hinaus — in frische Luft — gleichviel, wohin!
Dann gehe ich mit!
Will hatte nicht die Kraft zu sagen, daß er am liebsten allein gehn möchte,
und so machten sie sich denn selbander auf den Weg — Christenee sah ihnen lange,
lange mit feuchten Blicken nach.
Sie schlugen den kürzesten Weg durch die Stadt ein, durch den Grünen
Garten und an den Strand unten bei Kronborg hinab bis um die Terrasse nach
Osten. Dort saßen sie dann zwischen ein Paar mächtigen Kartaunen, während sich
die Dunkelheit herabsenkte, und wechselten nur in langen Zwischenräumen ein paar
gleichgültige Worte. Die Fensterscheiben drüben in Helsingborg fingen das letzte
Gold des Sonnenunterganges auf, dann erloschen mich sie, aber im Rittersaal
wurden die Kerzen angezündet, und von dort herab vernahm man Lachen und
Lärmen — König Frederik hielt einen Schmaus mit seinen guten Mannen und
seinem Hofstaate ab.
Plötzlich erklangen Fanfaren von Pauken und Trompeten, und Jver Kramme
spitzte die Ohren.
Jetzt leert Seine Majestät den Pokal! sagte er. — Ach ja, gerade jetzt hätten
sie meine Komödie dn oben spielen sollen!
Es sind anderwärts Tragödien gespielt worden — hier und dort, entgegnete
Will traurig.
Jetzt wurden im Rittersaal Fenster geöffnet, Reden, Lachen und Becherklirrcn
drangen deutlich herab, Paukenschläge und Trompetenstöße erschollen in kurzen
Zwischenräumen.
Seine Majestät leert oft den Pokal, sagte Jver Kramme, es wird heute Abend
viel Rheinwein draufgehn! Aber Will erwiderte nichts.
Nach einer Weile nahm Jver Kramme wie in Gedanken einen grünen Zweig,
der unterhalb des Lappensteins gestrandet war, und warf ihn in die See — er
trieb in nördlicher Richtung.
Wir haben Flut von Süden, sagte er, um doch etwas zu sagen, aber Will
dachte an Christcnees Kranz, den sie an jenem Abend weggeworfen hatte, und un¬
willkürlich rief er:
Arme Christenee! — Seid gut gegen sie, jetzt und allezeit!
Denkt Ihr an Christenee? fragte Jver Kramme. Ihr seid so in Gedanken
versunken, daß ich glaubte, Ihr dächtet an Prinz Amiet!
Vielleicht an beide! erwiderte Will.
Es war ganz dunkel geworden, ein Gewitter war heraufgezogen, und drüben
über dem Kuttenberg sah man Blitze zucken, und man hörte das Grollen des
Donners.
Es ist ein unheimlicher Abend, wie es ein unheimlicher Tag gewesen ist, sagte
Will. Laßt uns jetzt nach Hause gehn, ehe es alles Ernstes losbricht!
Da klang von Süden her ein kurzer, klagender Schrei, der durch das Wogen-
geplätscher des Sundes und die Fröhlichkeit, die aus dein Rittersaal herabschallte,
drang. Es klang wie der Schrei eines verwundeten Seevvgels oder wie eine
Menschenstimme in höchster Not.
Will und Jver Kramme zuckten unwillkürlich zusammen und sanken fast in
die Kniee, und Will war es, als ob in demselben Augenblick etwas, das er nicht
sah, an ihm vorüberglitte und verschwände — weit, weit weg — weiter als
Himmel und Meer reichten.
Hier ist nicht gut sein, sagte Jver Kramme in großer Bangigkeit, und er eilte
vom Strande hinauf. So klingt, denke ich mir, Meerfrauenschrei!
In, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns trcinmeu
lassen, entgegnete Will ernsthaft und eilte ihm hastig nach; ehe sie aber das Kloster
erreicht hatten, brach das Gewitter über der Stadt los, die Blitze zuckten bläulich,
und der Regen strömte herab.
Christence war noch nicht nach Hanse gekommen, und Will wurde unruhig.
Sie bleibt die Nacht über bei ihrer Tante in Lappen, sagte Jver Kramme.
Das hat sie früher schon oft getan, und es ist ja kein Wetter, bei dem man in der
Nacht nach Hanse geht.
So begaben sich denn Will und er zur Ruhe, Will aber lag fast die ganze
Nacht wach, und wenn er schlief, so erlernte er schwere Träume, träumte von Tod¬
schlag und Blut, von welken Jnngferukränzcn, die auf dunkeln Wellen trieben, und
von Meerfraucuschrei, der gell durch den Sturm drang.
Erst gegen Morgen fiel er in einen ruhigen Schlaf, aus dem er jedoch durch
den Lärm vieler Stimmen, schwerer Fußtritte und lauter Klagen aufgeweckt wurde.
Es war Christence, die heimgebracht wurde.
Ein paar Fischer, die am frühen Morgen draußen gewesen waren, um nach
ihren Netzen zu sehen, hatten ihre Leiche am Ufer unter der grünen Hängeweide ge¬
funden, dort wo sie an jenem Abend mit ihrem Bruder und Will gesessen hatte.
Und bald darauf wußte man alles. Einige Bootsleute und einer von den
Gehilfen des Zöllners hatten um Abend eine Frau auf die Schiffsbrücke gehn sehen;
sie hatten einen Schrei gehört und sie verschwinden sehen, aber ob sie sich selbst
hinuntergestürzt hätte, oder ob sie hinabgeglitten wäre, das wußten sie nicht, und
als sie an die Brücke geeilt waren, war dort nichts zu sehen und nichts zu hören
gewesen — der Strom hatte sie weggetrieben.
Jver Kramme weinte wie ein Kind, Will saß in trnnenloser Trauer da. Und
wie im Traum glitt ihm der ganze Tag hin, und er hörte nur halb, was Jver
Kramme am Abend erzählte, aber so viel verstand er doch, daß Christenee wohl
nicht in der üblichen Weise begraben werden dürfe, daß es ihm aber erlaubt worden
sei, sie in einer Ecke des alten Klosterhofes beizusetzen — der doch einmal geweihte
Erde gewesen war —, sintemal man keine volle Gewißheit hätte, daß sie sich vor¬
sätzlich das Leben genommen habe.
Und Bull? fragte Will, der Antwort bange entgegensehend.
Er soll morgen vor Kronborg geköpft werden, sagte Jver Kramme. Gott sei
seiner armen Seele gnädig! ^ ^
Bei Tagesanbruch sagte Will seinem Freunde Bull das letzte herzergreifende
Lebewohl, und eine Stunde später stand Will von ferne und sah ihn zur Richt¬
stätte führen. Er sah ihn den Hut mit der roten Reiherfeder — die jetzt geknickt
war — abnehmen, und sah ihn vor dem Blocke niederknieen; aber als das Schwert
fiel, wandte er sich ab: er sah es nicht, er hörte es nur.
Dnheim im Klosterhof gruben zwei Männer ein Grab in der nordwestlichen
Ecke unter dem großen Hvlunder.
Will sah sie vom Fenster ans die schwarze Erde aufschaufeln; vermoderte
Knochen und ein morscher, gelblicher Totenkopf kamen aus Tageslicht — so würde
Bulls Kopf auch einmal aussehen. — Und wer war es wohl, der hier für Christenee
Platz machen mußte? War es vielleicht Düvecke, die Buhle des Königs, die ihre
Liebeshandel in den Tod geführt hatten, oder war es mir einer der alten Weißen
Brüder? Hier waren alle gleich, und hier würde vielleicht nach vielen Jahren
wieder einmal ein neues Grab gegraben werden, und dann — diesen Gedanken
konnte er nicht zu Ende denken.
Am Abend wurde Christenee in die Gruft gesenkt.
Jver Kramme sprach ein inniges Gebet, Jens Turbo sang mit tränenerstickter
Stimme zwei Gesangbuchverse, und Will legte tief bewegt einen Kranz von wilden
Vlnmcn auf deu Sarg — weiter war niemand zugegen.
Ihr habt meine gute Schwester auch lieb gehabt, sagte Jver Kramme spater
zu Will. Ihr betrauert sie wie ich, nicht wahr?
Ob ich sie betraure! entgegnete Will. Mein Leben ist bisher trotz allem wie
ein Sommermorgen gewesen, wo die Lerche singend über dem Felde aufsteigt, und
die warme Luft um den grünen Wald zittert. Aber jetzt ist alles um mich her
wie der späte Herbst, wenn nur noch gelbe Blätter an den schwarzen Zweigen
sitzen, auf denen einst die Vögel sangen. Die Sonne ist untergegangen, und die
Nacht kommt, und wenn es wieder tagt, wird doch immer ein Schatten auf mein
Leben fallen — was wird der nächste Tag bringen?
Aber am nächsten Tage war Will verschwunden. Seine Laute und einen
Brief hatte er da gelassen,' worin er Jver Kramme in kurzgefaßten Worten für
alles Gute dankte und ihn but, ihm jeden .Kummer zu verzeihen, den er ihm
möglicherweise bereitet hätte.
Niemand — auch nicht die Musikanten — hatten Kenntnis von seiner Ab¬
reise gehabt, und niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wohin er gereist sei, aber
unten um der Schiffsbrücke erzählte man sich, el» Fremder habe sich am Morgen
nach einem englischen Schiff hinausrudern lassen, das segelklar dn gelegen hätte;
aber ob es uach England oder nach dem Mittelmeer gesegelt wäre, darüber gingen
die Ansichten auseinander, und es wurde auch nie aufgeklärt.
Aber Will war nur für immer aus der Geschichte Helsingörs verschwunden.
Jver Kramme lebte bis zum Jahre 1620.
Einige Monate nach Christences Tode vermählte er sich mit Jochum Hansens
Wittib, und in einer glücklichen Ehe zeugte er mehrere Kinder mit ihr. Er endete
als Gemeindeprediger an Se. Olai und hinterließ, wie aus der Erbtciluug ersicht¬
lich ist, nicht unbedeutende Mittel.
Bis an sein Lebensende erhielt sich seine Neigung, nach Neuigkeiten zu fragen,
und seine große Vorliebe für das Schauspiel, aber er erreichte es niemals, daß
eine von seinen Komödien aufgeführt wurde, und das war ihm bis an seinen Tod
eine große Enttäuschung. Er mußte sich damit begnügen, zu sehen, was andre
produziert hatten, und es war immer seine größte Lust, ein neues Schauspiel zu
lesen oder jedem, der es hören wollte, von den beiden Ereignissen seines Lebens
zu erzählen, die den größten Eindruck aus ihn gemacht hatten: damals, wo er
selbst in „David und Goliath" auf dem Kopenhagner Schlosse agiert hatte, und
damals, wo die englischen Musikanten ans Kronborg den „Grenlichen Brudermord"
einstudiert hatten.
In dem Jahre vor seinem Tode war jedoch etwas eingetroffen, was ihn sehr
erregte.
Ein Schiffer, der in Helsingör beheimatet war, hatte in London ans der Straße
eine gedruckte Komödie gekauft, die er bei der Heimkehr Jver Krumme schenkte, da
er wußte, daß dieser wie vernarrt auf so etwas war.
Die Komödie war ein dünnes Buch in Quart und hieß Hnwlot, ?rir>co ok
I)onmg,i'Je«z.
Mit immer wachsender Verwunderung las Jver Kramme das englische Schau¬
spiel, eine Erinnerung nach der andern tauchte vor ihm auf, allerlei, was er bisher
uur dunkel geahnt hatte, wurde ihm jetzt klar, und als er mit dem Lesen fertig
war, zweifelteer nicht mehr daran, daß der William Shakespeare, dessen Name
auf dem Titelblatt stand, derselbe Will sein mußte, der einmal unter seinem Dach
im Kloster gewohnt hatte.
Er beauftragte den Schiffer, wenn er wieder nach London käme, sich nach be¬
sagtem Shakespeare zu erkundigen, und namentlich danach, ob dieser im Jahre 1586
in Helsingör gewesen wäre. Aber der Schiffer brachte nur die Nachricht mit zurück,
daß der Mann, der das Stück von dem dänischen Prinzen geschrieben habe, schon
seit mehreren Jahren tot sei; ob er in Helsingör gewesen, könne nicht aufgeklärt
werden, aber in dem genannten Jahre sei er weder in seinem Geburtsort noch in
London gewesen, und wo er sich damals aufgehalten habe, wisse niemand.
Obwohl Jver Kramme also keine volle Gewißheit erlangen konnte, war er
doch seiner Sache ganz gewiß. Sein Will und kein andrer war William Shake¬
speare, und diese feste Überzeugung, mit der er zu Grabe ging, hat sich als Familien¬
tradition immer weiter vererbt.
Die Familie Kramme starb zu Anfang des vorigen Jahrhunderts aus, und
die Laute, die Will hinterlassen hatte, ist längst verschwunden, aber ein noch lebender
weiblicher Abkömmling der Krummes hat ihren Großvater — einen jütischen
Pfarrer — erzählen hören, daß er als Kind selbst den Saxo gesehen habe, der
Jver Krammes Eigentum gewesen war.
Es war die Pariser Ausgabe von 1514, und wenn jemand zufälligerweise
ein Exemplar dieses seltnen Buches antreffen sollte, worin sich Pagina 54, dort, wo
die Erzählung von Amiet beginnt, ein Rotstiftstrich am Rande findet und ein Fleck
in der Mitte dieser und der folgenden Seite, so liegt jedenfalls die Vermutung
nahe, daß es Wilts Strich und der Abdruck von Christences Blumen sei.
Die Klagen über unsre Recht¬
sprechung und insbesondre über die unzureichende Befähigung und Ausbildung
unsrer Richter und Staatsanwälte in Handels- und Börseusacheu pflegen gewöhn¬
lich nach großen Bankprozessen aufzutauchen. So haben wir in der Tngespresse
bei den Spielhagenprozessen diese Klagen gehört, und neuerdings hören wir sie
wieder wegen des vorläufigen Ausgangs des „Pommerbankprozesses." Die Ruhe
der Gerichtsferien ist die rechte Zeit für solche Klagen, die ihr Pendant oder
Korrelat in den weitern Klagen über die Prozeßverschleppung haben. Neuerdings
hat auch Professor Hans Delbrück im Augustheft der „Preußischen Jahrbücher"
mehrere Gerichtsurteile aus der letzten Zeit besprochen, sich über den Vorwurf der
Klasseujnstiz ausgelassen und das Verlangen aufgestellt, daß in unserm ganzen
Beamtentum ein andrer Geist heranzuziehen sei.
Diese Betrachtungen verlangen zum Teil Unmögliches. Zunächst möchte ich mich
der Klage über die mangelnde Fähigkeit der Richter und die Staatsanwälte, die
modernen Handels- und Verkehrsverhnltnisfc zu beherrschen, zuwenden. Sie mag
zu einem Teile begründet sein, hat aber Wohl ihren Grund in der Ausbildung der
Juristen. An großen Verkehrszentren gibt es immer Richter und Staatsanwälte,
die die moderne» Handels- und Verkehrsverhältnisse beherrschen und eine eingehende
Kenntnis des Handels- und Bankeuweseus haben. Aber unser wirtschaftliches Leben
steht nicht still, gestaltet sich immer weiter, und zur Beherrschung dieser Ausge¬
staltungen und Neubildungen im wirtschaftlichen Verkehr ist fortwährendes Weiter-
studium und enger Kontakt mit den Regungen des wirtschaftlichen Lebens nötig. Nun
müssen solche in „Handels- und Bvrsensachen" besonders befähigten Kräfte indi¬
viduell behandelt werden, dürfen nicht im laufenden Dienste frühzeitig abgenützt
werden, und es muß ihnen die Möglichkeit gewährt werden, sich weiterzubilden.
Ob eine so individuelle Behandlung von den Justizverwaltungen immer vorge¬
nommen wird, kann dahingestellt bleiben; aber wie z. B. die elektrotechnische In¬
dustrie einzelne Kräfte in Stellung und Bezahlung besonders heraushebt, so sollten
auch die Justizverwaltungeu solche auf einzelnen Gebieten besonders hervorragenden
und erfahrnen Kräfte im Avancement bevorzugen und damit zu gewinnen und
gegenüber den Anerbietungen von Privatunternehmungen zu erhalten suchen. Es
ist für die Vorbereitung und die Leitung eines Prozesses uach Studiuni, Maß von
Kenntnissen oder Arbeitskraft grundverschieden, ob ein Richter oder Staatsanwalt
einen Akt über einen Bandendiebstahl oder über einen Bankprozeß bearbeitet, der
das Eindringen in die feinsten Verästelungen unsers wirtschaftlichen Lebens verlangt.
Und dünn — hier komme ich auf die Regel — ist die Vorbereitung der
Anwärter für den Justizstaatsdienst gerade ans dein Gebiete des Handels- und
des Bvrsenwesens immerhin mäßig. Auf der Universität hat der Student wohl
reichlich Mühe, deu Rechtsstoff in sich aufzunehmen; aber so viel Zeit ließe sich
immer noch erübrigen, daß neben den Vorlesungen über Handels- und Wechsel¬
recht usw. ein handelstechnischer Kurs abgehalten werden konnte, worin den
Studierenden much das Technische des Handels- und des Börsenrechts — ich denke
hier vor allem an die kaufmännische Buchführung usw. — erschlossen würde. Ein
Teil der Klagen würde bei einer solchen Vorbildung, die ihrer Natur uach erst
auf der Universität, nicht schon auf dem Gymnasium beginnen kann, verschwinden;
allen Klagen aber läßt sich nicht abhelfen, da die Befähigung der Einzelnen nicht
gleich ist, und die geschaffne Grundlage allein nicht genügt, sondern jeder Einzelne
für seine Weiterbildung selbst zu sorgen hat. Nun haben freilich während der
Vorbereitung zum Staatsexamen, während der Neferendarzeit, die angehenden
Richter und Staatsanwälte sich soviel mit den Erfordernissen des formellen Dienstes
bekannt zu machen, und die Arbeit zum Staatsexamen absorbiert sie so vollständig,
daß ihnen wenig Zeit zum Studium des Handelstechnischen ueben dem Handels¬
rechtlichen bleibt. Es geschieht hier uur das Notwendige für das Staatsexamen.
Allerdings haben hier die Vorschriften einzelner Jnstizverwaltnugen insbesondre für
die Zeit nach dem Staatsexamen die Ausbildung und die Praxis vou Referendaren
bei großen Bankinstituten vorgesehen. Doch sollte hierfür, zur Ausbildung tüchtiger
Kräfte, die Justizverwaltung mit der Gewährung von Zuschüssen oder Stipendien
einspringen, so lange ein Referendar praktisch bei einem Bankinstitut arbeitet.
Freilich die Gefahr besteht immer, daß sich dann eine tüchtige Kraft von der Justiz
abwendet und in eine reichlich dotierte Privatstelluug tritt, denn die Rang-, Bc-
forderungs- und Gehaltsverhältnisse sind in einzelnen Bundesstaaten für die Justiz-
auwärter uicht verlockend genug, besonders tüchtige Kräfte bei der Justiz festzu¬
halten.
Nun ist es für den Juristen im Dienst — Richter oder Staatsanwalt —, der
sein tägliches, in der Regel voll bemessenes Maß von Arbeit zu bewältigen hat,
eine recht schwere Aufgabe, mit den Vorgängen in unserm wirtschaftlichen Leben in
steter Berührung zu bleiben. Es gehört hierzu ein besondres Maß von Arbeits¬
kraft, und dieses Maß erscheint um so größer, iveuu man erwägt, daß das
Formalistische in der Behandlung der Geschäfte in der Justiz nicht ab-, sondern
eher zunimmt. Mur hört immer von den Maßnahmen zur Verminderung des
Schreibwerks, und das Schreibwerk nimmt immer mehr zu. Die Vollzugsvvr-
schriften und die sie begleitenden Erscheinungen, die Statistiker, Prozeßregister und
Kalender, auch wenn diese Geschäfte zum größten Teil vou Beamten des formellen
Dienstes erledigt werden, enthalten doch vieles, was die rein richterliche Tätigkeit
belastet. Und daun der „Tatbestand" der Zivilurteile, der zuweilen länger wird
als nötig ist und oft die beste Kraft verbraucht, bis man zu den Gründen kommt.
Je mehr mau den Richter von formellen Geschäften entlastet, um so besser ist es
für seine Arbeitsfähigkeit, um so intensiver kann er sich der Erledigung seiner
richterlichen Geschäfte zuwenden nud an seiner Weiterbildung arbeiten. Und hier
könnte eine große Entlastung der Zivilrichter herbeigeführt werden, wenn man ihnen
die Kostenfestsetznngssacheu abnähme. Wohl hat die Novelle zur Zivilprozeßordnung
die Heranziehung des Gerichtsschreibers zur Kosteufestsetzung erlaubt; aber man
könnte, diese dem Gerichtsschreiber vollständig übertragen und der Partei das
Beschwerderecht gegen dessen Festsetzung um den Richter übertragen. Und weil ich
hier auf dem Gebiete des Zivilprozesses bin, möchte ich noch die Frage der Prozeß-
verschleppuug streifen. Die Klagen hierüber tauchen ans einzelnen Oberlandes¬
gerichtsbezirken mehr, aus andern weniger auf. Überlastete Gerichte, zuweilen un¬
genügend informierte Rcchtsnuwälte und die Struktur unsers Zivilprozesses tragen
hieran in ungelenker Gemeinschaft die Schuld.
Die Reform unsrer Prozeszgcsetze vollzieht sich langsamer als die Einführung
des neuen bürgerlichen Rechts. Ans dem Gebiete des Zivilprozesses sollte vor allem,
wie schon oft betont Worden ist, in Landgerichtssachcn durch die Schaffung des
Vortermins, wie im österreichischen Prozesse, ohne Anwaltszwang vor dem Einzel¬
richter die Entlastung der Zivilkammern angebahnt werden. Eine Reihe von Streit¬
sachen konnte dnrch Anerkenntnis, Vergleich usw. vor dem Einzelrichter unter den
Parteien, die keines Urwalds bedürften, erledigt werden. Erst die in diesem Vor¬
termine vor dem beauftragten Richter nicht erledigten Prozesse hätten dann an die
Zivilkammer und damit in den Anwaltszwang überzugehn. Dann läßt auch unsre
Zivilprozeßordnung der Verhaudlnngsmnxime zu viel Spielraum und gibt, vom
Amtsgerichtsprozefse abgesehen, dem Richter zu geringe Befugnisse zur Ermittlung
des wirklichen Scichvcrhalts. Unsre much in wirtschaftlicher Hinsicht raschlebige Zeit
verlangt aber eine rasche Prozeßerledignng. Vou der raschen Entscheidung eines
Prozesses hängt oft das Schicksal eines Menschen ab. Wir haben jetzt die Möglich¬
keit, daß sich auf Grund unrichtiger Informationen oder unterlassener Bestreitung
von „Tatsachen" ein Urteil aufbaut, das der wirklichen Sachlage vollständig wider¬
spricht. Freilich ist es für den Anwalt oft schwer, die richtige Information zu er¬
halten, und es darf nicht verkannt werden, daß im Zivilprozeß die Offizialmaxime
nicht so vorherrschen darf wie im Strafprozeß, und daß im Zivilstreite der Richter
in der Hauptsache immer auf das beschränkt sein wird, was ihm die Parteien
bringen. Und gerade hier spielt anch die Frage der Organisation unsers Anwalt¬
standes eine große Rolle. Diese gesetzgeberische Streitfrage, ob freie Anwaltschaft mit
unbeschränkter Zulassung an den einzelnen Gerichten weiter bestehn soll, oder ob,
wie es früher in einzelnen Bundesstaaten der Fall war, eine Kontingentierung,
daß um den Gerichten nur eine bestimmte Anzahl von Rechtsanwälten zugelassen
wird, wieder eingeführt werden soll, ist schon oft erörtert worden, und ihre Lösung
begegnet vielen Schwierigkeiten. Den Mangel darf man aber jetzt schon nicht
verkennen, daß nicht immer die tüchtigsten Kräfte nach dem Staatsexamen Rechts¬
anwälte werden, und daß die noch nicht allzugroße Erfahrung in der Prozeßführnng
für eine Partei recht kostenreich werden kann. Deshalb ist auch schon angeregt
worden, die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft von der Ableistung einer längern
Vorbereitnngspraxis abhängig zu macheu; aber einer solchen Maßnahme würden
schon gesetzgeberische Bedenken entgegenstehn.
Zum Schlüsse möchte ich mich dem Wunsche zuwenden, daß ein andrer Geist
in unsre Strafkammern einziehen möchte. Auch hier darf man nichts Umnugliches
verlangen. Wenn, wie es schon vorgekommen ist, Strafkammerrichter in der Woche
vier öffentlichen Sitzungen beizuwohnen und dann an den beiden andern Wochen¬
tagen noch geheime Sitzungen abzuhalten haben, so wird für den Strafkammer¬
richter wenig Zeit mehr übrig bleiben, sich in die wirtschaftliche oder die sozial¬
politische Seite des Falles vertiefen zu können. Er wird froh sein, wenn er ge¬
nügend Zeit findet, seine Urteile ausarbeiten zu können. Mit der Notwendigkeit,
unsre Strafkammern zu entlasten, vereinigt sich das Verlangen, die Berufung gegen
die Strafkammerurteile erster Instanz wieder einzuführen. Aber alle diese Neform-
fragen sind auch Geldfragen, und zur Bewilligung der Mittel ist die Justiz un¬
zuständig. Welcher Leistungen unser deutscher Richterstand fähig ist, das hat er
bei dem raschen Übergänge vom alten zum neuen Rechte des Bürgerlichen Gesetz¬
buches gezeigt. Wenn wir einen Ausblick über die Grenzen unsers Vaterlandes
halten, dann können wir im ganzen mit voller Berechtigung auf die Leistungen
der deutscheu Gerichte stolz sein und dürfen nicht die Mängel in der Rechtsprechung
den Personen zurechnen, sondern den Verhältnissen, aus denen sie entstehn, und
sür die der Richterstand selbst nicht verantwortlich ist.
Unser kleines harmloses „Un¬
maßgebliches" in Nummer 37 hat hier und da in der Tagespresse die ganz un¬
begründete Annahme veranlaßt, wir sähen in dieser Bezeichnung eine Veränderung
in der „Stellung Sachsens zu den verfassungsmäßigen Grundlagen des Reichs."
Nichts hat uns ferner gelegen, als zu meinen, König Georg von Sachsen habe
etwas derartiges ausdrücken wollen und womöglich den Rechten seiner Krone, deren
berufenster Wächter er übrigens doch wohl selbst ist, etwas vergeben. Wir haben nur
unsre Freude darüber ausdrücken wollen, daß er ohne Rückhalt dem Kaiser gab,
was des Kaisers ist, denn reichsverfnssungs- oder vertragsmäßig, also rechtlich, ist
der Kaiser nicht nur der Oberbefehlshaber, sondern auch der „oberste Kriegsherr"
auch der sächsischen Armeekorps, insofern er das Jnspettivns- und das Dislvtntious-
recht über sie hat, die kommandierender Generale auf den Vorschlag des Königs von
Sachsen als des Kriegsherrn der königlich sächsischen Truppen ernennt, und insofern
deren Fahneneid die Verpflichtung zum Gehorsam gegen den Kaiser enthält. Den
nicht seltnen ängstlichen und empfindlichen Verwahrungen einzelstantlicher Rechte
gegenüber, die niemand bedroht, schien uns diese Betonung des Reichsgedankens in
solchem Munde besonders beachtenswert und erfreulich. Dasselbe gilt natürlich von
dem Ausdrucke „Reichsregierung" in der letzten Thronrede König Werth. In
der Reichsverfassung kommt er nicht vor, aber es gibt tatsächlich doch eine Neichs-
regierung, sie besteht aus dein Kaiser, dem Bundesrat als der Gesamtheit der einzel-
staatlichen Regierungen, dem Reichskanzler und den Reichsämtern. Warum soll mau
dafür statt des umständlichen und farblosen Ausdrucks „Verbündete Regierungen"
nicht kurzweg „Reichsregieruug" sagen? Was uns bitter not tut, das ist ja die
Stärkung des Einheitsgefühls, und dafür sind Symbole und Namen keineswegs gleich-
giltig. Jedenfalls ist die Wahrung der bekanntlich knapp genug bemessenen Reichs¬
Am Fenster saß der Vater, am Tische schrieb der Sohn. Es
war an einem regnerischen Vormittage gegen Ende der dritten Ferienwoche. In
einem bequemen Korbstuhle sitzend, vertiefte ich mich voll Andacht in ein Buch,
auf dessen Genuß ich mich lange gefreut hatte; voll Andacht, soweit sie nicht durch
meine Frühstückszigarre und meinen Sohn gestört wurde. Meine Zigarre hatte
die unangenehme Eigenschaft, mich erst dann an das Abstreichen zu erinnern, wenn
sich bei der geringsten Bewegung die totreife Asche auf meine Weste oder aus
meine Hose ergießen mußte. Mein Junge saß und schrieb mit einer recht hör¬
baren Feder und blätterte von Zeit zu Zeit noch hörbarer in seinem Buche herum.
Junge, was machst du denn da?
Ich mache meine lateinische Ferienarbeit. Sie ist nicht lang. Unser Klassen¬
lehrer ist gut gewesen. Mit dein Griechischen bin ich nun beinahe fertig.
Das mochte wohl wahr sein. Die erste Woche hatte mein Junge ganz ge¬
bummelt. Dann war ihm das Bewußtsein gekommen, daß in der Untertertia
Griechisch das trnmpfbildende Zentrum ist, und seit zwölf Tagen malte er Formen
im Schweiße seines Angesichts und repetierte Deklinationen und Vokabeln mit weit¬
hin schmetternder Begeisterung, sodaß die beiden ältern Damen, die in der Laube
des Nachbargartens ihre Sommerfrische abzusitzen pflegten, uns spinnefeind wurden
und uns bei jeder Begegnung die bitterbösesten Gesichter schnitten. Also jetzt war
er beim Lateinischen. Nun, um das brauchte mau sich nicht zu sehr zu sorgen.
Nachdem er sich ohne überflüssigen Aufenthalt von Klasse zu Klasse durchgewürgt
hatte, stand er jetzt auf einem leidlichen Durchschnitt, und der lateinische Knoten
schien glücklich gerissen zu sein.
Ich war wieder ganz bei meinem Buche. Meine Zigarre störte mich schon
lange nicht mehr, da sie dieser Zeitlichkeit nicht mehr angehörte und ihre Asche,
soweit sie nicht über Hose und Weste verstreut war, im Frieden des Bechers ruhte.
Vater, ich bin nun fertig.
So, zeig mal her! Höre mal, da scheinen mir noch gehörige Böcke drin zu
sein. Lies es noch einmal durch!
Ich vertiefe mich in mein Buch.
Vater, ich habe es wieder durchgelesen. Kann ich nnn einschreibe»?
Meinetwegen, aber Schmiere nicht so, und mach keine Kleckse!
Ich vertiefe mich in mein Buch.
Vater, ich bin fertig mit Einschreiben.
Hast du es noch einmal durchgelesen?
Ja.
Zeig mal her!
Es ist zwar kein kalligraphisches Meisterstück, sieht aber wenigstens sauber
aus; kein Klecks, nichts durchgestrichen, nichts nachträglich hinein verbessert.
Vater, darf ich jetzt naus?
Na, da geh!
Ich wollte, alle meine Anordnungen würden so rasch befolgt wie diese. Ich
hatte kaum einen Satz weiter gelesen, da war der Tisch abgeräumt und mein
Sohn verschwunden.
Die Ferien verstrichen im Fluge, und schon pilgerte mein Junge jeden
Morgen wieder zum Gymnasium. Am Freitag Abend, ehe er mir Gute Nacht
sagte, druckste er um mich herum. Endlich kam es heraus!
Vater, du sollst auch was unterschreiben!
Er reichte mir ein ausgefülltes Formular, wo mir sein Klassenlehrer hoch-
achtungsvollst mitteilte, daß mein Sohn am Sonnabend Nachmittag von drei bis
vier Uhr eine Arreststnnde zu verbüßen habe, weil seine lateinische Ferienarbeit
ganz liederlich angefertigt sei.
An! das tat weh. Nämlich der Hieb mit dem ganz liederlich. Den Sack
schlägt man, und den Esel meint mau. Der Esel, der bin ich in diesem Falle.
Wenn der Junge ganz liederlich gearbeitet hat, so hat eben das Elternhaus seine
Pflicht nicht getan und es an der nötigen Aufsicht fehlen lassen. Aber, besinne ich
mich recht, ich saß doch damals dabei, und anständig eingeschrieben war die Arbeit
doch schließlich. Hat der Strick am Ende gar ein paar Sätze weggelassen?
Ich ließ mir die unglückliche Arbeit bringen. Richtig, anständig geschrieben
war sie, weggelassen war auch nichts. Aber dicke Kreuze am Rande — die reine
Via Appia mit lateinischen Leichensteinen besetzt — dicke Kreuze, keine Ehren-
krenze, sondern vervielfältigtes Kreuz und Herzeleid — wiesen auf den Sitz des
Übels hin. Hier das deutsche wie durch auaw übersetzt statt durch ut; da c-um
LiM8Ah mit dem Indikativ gesetzt; einmal gar der ^.eousg.t.ivnZ eum IirlüMvo, ob¬
wohl vorher inqM vorkam usw. usw. Es war haarsträubend.
Ich putzte meinen Junge» tüchtig herunter; als er aber weggeschlichen war,
schlug ich an meine Brust, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb folgendes an
den Herrn Dr. Müller:
Hochgeehrter Herr Doktor! Mit großem Bedauern habe ich gesehen, daß
mein Sohn eine so liederliche Ferienarbeit geliefert hat. Zu meinem noch großer»
Schmerze aber muß ich bekennen, daß ich die Hauptschuld trage.
Denn warum habe ich meinen Sohn nicht veranlaßt, seine Ferienarbeit in
den ersten drei Tagen zu machen, als die Erinnerung an die lateinische Syntax
noch frisch und lebendig in seiner Seele war?
Oder, wenn dies nicht möglich war, warum habe ich in sträflicher Nachlässig¬
keit den stillschweigenden Paragraphen der Schulordnung übersehe«, der es den
Eltern zur Pflicht macht, durch tagtägliches Repetieren den aussetzenden Unterricht
zu ersetzen und ihre Söhne in wissenschaftlicher Übung zu erhalten?
Oder, wenn dies nicht ging, warum habe ich die vielen Steine des Anstoßes
und Ärgernisses nicht auf geradem und ungeraden Wege weggeräumt, ehe ich
meinen Sohn die Arbeit einschreiben ließ?
Sie sehen, hochgeehrter Herr Doktor, ich bin mir meiner Schuld voll be¬
wußt, und ich bitte Sie nur, mir auf dieses mein reumütiges Bekenntnis hin
Ihre werte Verzeihung noch einmal gewähren zu wollen, mit der ich verbleibe
Im Anschluß an den
in Hest 37 enthaltnen Artikel möchten wir unsern Lesern sowie allen Freunden
des deutschen Wörterbuchs mitteilen, daß sich voraussichtlich die Germauistische Sektion
der demnächst in Halle lagerten Philolvgenversammluug mit der Frage eingehend
beschäftigen wird, wie eine raschere Förderung der Arbeit an dem natio¬
nalen Werke und damit seine Vollendung in absehbarer Zeit zu er¬
möglichen sind. Da mehrere Mitarbeiter des Wörterbuchs an deu Verhandlungen
teilnehmen werden, so besteht die Hoffnung, daß man in Halle einer befriedigenden
Lösung der Frage einen Schritt näher kommen wird.
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift dos 4. Vierteljahr ihres «>-!. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr ki Mark. Wir bitten, die Gestellung schleunig zu
erneuern.
Unsre Jeser machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß die Grenzbotrn
regelmäszig jeden Donnerstag rrfchrinen. Wenn Unregelmäßigkeiten in der Kieferung,
besonders beim Guartalwechsel, vorkomme», so bitten wir dringend, uns dies sofort
mitzuteilen, damit mir für Abhilfe sorgen Können.
Leipzig, im Keptember i»o:- Verlagshandlung
V/cum «ir lx^ut.e als eines der am meisten be-
sproolmon Lroignissv der Joel-Wu ^Voobe äov ILvvKtrltt Olmmbvrlmns vor-isio^nen
müssen, so Können v,ir dier as-mit voMMZ nur Asu Ausdruck unsers -mkrioKtiFstou
RnAauorns 6arüdvr vorbinden, Ä»Z mit Herrn .Jos uiolit auok Sor (ZKamvorlaimsmus,
vor »Ava ale SenutMüllnorvi vivdvr aus aom britisvkvu Ninistvrrnt nnsgeMMn ist.
vor Lriekvvonsol LMours mit Olmmoorlaiu unä der glvioln-oitiM Molctritt ^vvior aus-
Msprovnnvr Kreiliändler aus ciom Ninisteriuin lälZt lceinon ISivoikel darillior ant-
Kommen, voulu dor Xurs So» MZenvArtiM» Xadinotts gout. 'Wenn unsre LoKutx-
MUortlwäoxiv jvti-t äarilnor trolilookt, das hivi, nun aucti England xu avr allein-
svliNmuolwnäon xrotoktiouistisvllvn Doktrin und Praxis «u nvkoln'vn 8oKvint, so
wvrÄon unsre Staatsmänner, <tlo einen tur Deutseblaim möglielist »'mistigen virt-
sebattlielien modus vivonSi, vor allem die l«!rlialt.ung dos bandelsnolitiseben Friedens
mit England mit Deebt als erstrebenswert erkennen, selnverlieli in Aas I'rolilovKvn
einstimmen. Ddrigons wird nielits die merkantilistiselw Klutwelle in der Welt
schneller ?.um Dreeben IirinMn, nields den überspannten Protektionismus in Deutseli-
lanA selmellor aA absurdum» tülireu, als avr Lieg- äos tüliainberlainismus in iüngland.
Diese Kur virck nächst Am Klngländoru uns vielleiolit am volivston tun, aber sie
wiril grüudlielm und sielmro Ileilung dringen. Der gesunde Nonsebenverstaull
v>ird Deutsellv wie Kugländer bald genug nivkt etwa wieder der alten Kroll^andels-
ortlioilnxie in die ^rue treiben, wohl aber /um gemeinsamen onergiselien Kampf
iur eine liberale IlandolsvertragsnolitiK gegen den l^eonierkantilismus in der ^Velt-
wirtsebatt Zwingen. Vurläung sollen unsre orthodoxen protektionisten ebenso wie
die ortliodoxen Kreibändler den Nund llalton und der deutschen Diplomatie die
Arbeit nicht ersebweron.
/Va September
bat der so^ialdemokratisebe Parteitag nach einer an SoliÄrts iliresgleielieu suebeudon
molirtägigou Kodeseldaelit die von den Vertretern der extremen Kiebtung einge-
brachte ki.esolution (Zehe1-KautsIi>'-8iugor) last einstimmig angenommen. in seinem
grundsät^Iielmu und weitaus wielitigsten 'pelle lautet der Inhalt des üeseldusses
tolgenderinaüen:
„Der Parteitag verurteilt aut das entsebiedonste die rovisiauistiselion Destre-
düngen, unsre bisherige bowäl^rto und sieggekrönte, aut dein Klassenlcampt I>v-
ruliende ^aliena in dem Kinne lin ändern, daK an LtvIIo der Drodorung «ter no-
litiselien NaeKt durim ildervvindung unsrer (-vgner eine Politik des Entgegenkommens
an die bestellende Ordnung der j)ingo tritt. Die Kolgo einer derartigen rovisio-
nistiseben 'lalctik väro, daK aus einer Partei, die aut die möglichst rasebo Um-
Handlung der bestellenden bürgerlie.ben in die su?.ialistisebe (Zesellseliattsordnung
Idnarbeitot, also im besten Kinne des 'vVorts revolutionär ist, eine Partei tritt, die
sich mit der Retormiorung der bnrgerliebon Kesellsebat't begnügt. val>or ist der
Parteitag im (Zegensat^ ^u den in der Partei vorhandnen revisionistiseben pestre-
bungen der Überzeugung, daK die Xlassengegensät/v sich nicht absebväeben, sondern
stetig versebärtvn, und erklärt: dalZ die Partei die VLrantwortlielilceit ablelint tur
die aut der Kanitalistisebon produktinns^voise beruhenden xolitisellen und virt-
seliattlielien Zustände, und daL sie doslialb ^jedo Lewilligung von Mitteln verweigert,
die geeignet sind, die berrseliendo Klasse an der pegierung z-u erlialton."
Oho/old die Antragsteller und ilir ^.nbang in den Debatten mit gröbster ltüek-
siebtslnsigkeit, Keinen /^eitel tai'über gelassen hatten, dalZ der Antrag die sebürtste
Meilei'seldagung der revisionistiseliun Richtung bedeute, stimmten Dr. Dräun, ^.nor,
(Zöliro und auch Vollmar mit seiner bavriseben ^elolgseliatt tur ilir eignes Ver-
dammungsurteil. Mr ete Stimmen wurden dagegen abgegeben, unter andern von
Dernstoin, David, Lia. Wir lullten, da» die Regierungen aus der vernichtenden
Kritik, alö äamit alö sogenannte „Mauserung" orkadren dat, alö gobotno i^olu'o
üiodn, Sio Lo?iMvmoKratou vioSor als oxtrvmo, rovolutiouäro IImstur-iMrtvi sans
jn^rase bvdanäoln unä nie medr in idr als boroedtigto Vortrotung avr äoutseden
^rbeitersedatt selten veram, I)an ale Katdoäorso/.ialiston idro Irrtümer, äoron hio
Sieb in iliror so-sialistisonon DinsvitigKoit soll Fabr-ivlmton soduISig Mwaodt nadou,
.jotnt onälied sinsoden veräon, glauben wir trsilied niodt, odwodl avr sonialäomo-
liratiselm I'artoitag oisonkunäig aom selllimmston KulturKamnt', aom Kämpe' avr IIn-
biläung gegen alö Diläung, nroklamiort unä ale völligo Odnmaedt ävs wissonseltaft-
liodon Lo/ialismus, mäöigonä unä rogulioronä in äiosen Kämpe' oinnugreiken, Klar
vor ^.ugon geluk»re dat. vio LonialäemoKratio will unä aus alö ?ödolderrsedat't
vrstrobon, Sss ist nah Ao! idres LlassonKamxkos unä virS es iunior soin. Wollt
aber solido man glauben, «lalZ onclliolr alö liboraleu godiläeton Nännor in Ilanäol unä
Koworbo, aued alö äured alö antisomitiseden ^.ussolireitungen vorbittorton .Imam,
vinsvdon werclon, vokin unsor gannos Staats- unä WirtselmKsIvbon äuroli alö Sviiial-
äomokratio gobraedt ^voräen nul,!. Lie stedn .jewt vor avr Wadi, ob hio mit avr
Rogiorung aom Kämpe' gegen aom gokäirliedston I^vlna .joäos wadron K,iboralismus
— äonn äas ist alö LoxialäomoKratio — auwvlunon, oäor od hio sioli Suroit woitorvs
I'aKtivreu, Vortusolton unä Lvsollünigvn nu iliron eignen l'otvngiÄborn macklen wollon.
Ilolldn wir, «lab hio nur Losinnung' Kommen. L«mon hol aom vrouöisedon I.anä-
tags^valilon.
Der Voroin iür Su/ialpolitiK I>at in avr
lotxton Woedo in Ilamliurg übor alö.jüngste wirtsedat'eilete Krisis in voutsod-
lanä beraten. Woäer ülier alö drünäe avr Krisis — »avr violmedr äos ungesunden
„vVulsedwungs," aer idr vorder ging unä sie nur i?olgo liadon musste — noed übor
alö NaKnalimon, alö man nur Vorliütung ällnliedor "tordoiton in AuKuntt trollen
Könnte, ist toi aom Leratungon etvas Reedtes derausgvliommon. Kluc last ein-
stimmige ^.dlodnuug svdvint »not <lor Vorsued goi'unam !?u baton, vioäor sin-
mal alle Lodulä avr Börse in alö Leiiuilo i!u sodioden unä alles Heil in aer
«eitern Knvdolung äos IZörsenverlcolirs /u suodon. ^dgostimmt ist clarüdor lroiliod
nicbt voräon, ador avr ^vlilall avr agrariseli-iiünkloriselion IZörsenieiuäe war eklatant.
An beklagen ist, äaK alö Vorsammlung am aut äem Kebiet «ter ^.Ktiongosotii-
gobung violloiodt möglioden lloilmittoln, alö aer (^elioimo Heirat l)r. Iloodt mit
Roolit nur oingedenäen IZospreeluing xu dringon vorsuolite, alö g«;dülironäo IZoaelttung
nicbt gosedonkt Jene. 'Wir veram aut' äiesen „Krisentag" noeli /urüe.I?lcommvn.
Unter aom violon ,,'l'agungon,"
übor alö alö Leitungen in .jüngster Aelt lin doriodten ballon, orwovkto avr IZinnon-
sedikt'adrtsKongrolZ in Nanndeim ein unmittelbar xraktisolms Interesse. Vio
letxtv IloelivassorKatastrovdo in Ledlosion maedt es <ter nreulZiselion Regierung
?ur ?iliol^t, aom äomnäedst neu xu wädlenäen vVbgooränetondauso sol>ala als
möglied vino nouo (rosetiivorlage /u unterbringen, veäurel, natürlieli alö groko
?rago avr proutiiselron MassorwirtsedastsnolitiK mit avr 8elutlÄI>rtsI<anaIbauirage
vioäer xur Diskussion gvstollt >voräon aus, auoli «our — was wir iur solbst-
vorstänälieli ballon — «tlo .jot-se «u gowärt!gen<im Vorsedlägo unä l^oräorungon mit
neuen ZelliöadrtsKanalpro.joKtou unmittelbar niedts /u tun liabon vvorclon. ^ni
äem Kongroö i?u Nannlioim bat avr Vortrotor avr proulZisedon iiogiorung, avr
IlnterstaatsseKretär von Loliul/, ausgesproeden, äak alö nouo Katastroplie in Lodlo-
sion üborall von avr MtvonäigKoit ni>orxougt dabo, <tlo nur ^.lnvenäung solelu;r
Vorkommnisse gebotnen Verbesserungen unä Ueuanlagen „odre alle Lebon vor
am govaltig orsodoinonäon Kosten" äuredxuludron. Nan äark äesdalb wott
erwarten, äalZ alö nouo vassorwirtsediMiedo Vorlago im Kostenpunlcto aom Vor-
wuri avr Ilalbdoit von vorndoroin i?u vormoiäon Sueton vvircl. Lie wirä sieu aber
auch wollt Kaum mit Vorselüägon unä Kolälbräorungen tur «las selllosiselin Iloed-
vassorgodiot bognügon Können, sonäorn /.ugloied alö seinor/on mit avr ^bludnung
ävs Rdoin-Lido-Moiedsellianais nu p'all gekommenen grokon Ltrumreguliorungs-
Projekte an aer untern Oäor, avr untorn Ilavol uncl in avr Sproo vioäor boar-
tragen müssen. Wenn man wein — wir liaber In Ilekt 34 sollen daran erinnert —,
bat dureli das (besetz vom 3. ,Juli 1900 tur Ledlesisn allein zur ReKämpkung der
IloedwassorKatastroxden auk äem linken Oäerukor 40 Millionen Mark angewioson
woräon sind, unä aan alö äroiRro.joKto an aer untern Oäer, Havel un«l Lvreo mit
00 Millionen in Reodnung gestellt woräon sind, so wird man von dor neuen Vor-
lage neue Koldtdrdorungon von woll über 100 Millionen — alle tur Ledlosion do-
willigten 40 Millionen nielit oingoroodnot — erwarten müssen. Und mit Roelit ist
zu sagen i nuche gewaltig ersedeinenäen kosten Können Regierung unä Ranätag
nielit abdalton, idrs Rtliodt zu tun. ^Va allerwenigsten unter IZorutung auk die so-
genannte I^inanznot.
I>lo Ilödv dieser unadwoisdaron neuen ^ukwendungon öktentliedor Mittel tur
alle ^Vdwodr dor IloedwassorKatastropIioil und tur sonstige ZwooKo dor Landeskultur,
das Iioiüt in aer Ilauxtsaedo im landwirtstmaktlielion Interesse liegende ZweeKe,
maedt es avr Regierung unä dem Landtag aber aued dovpolt zur Rtliodt, von vorn-
deroin ale neuen Anlagen im Linne einer oindoitliedon unä allseitigen praktisedon
Wassorwirtseliakt zu gestalten, wodured nielit nur eine mögliedst vollkommene Vor-
dütung von Wassorsedädon aller v^re, sonäern zugloiel» eine mögliedst gewinn-
dringondo Vorwertung avr Mzt nutzlos adklioüondon WassorKräkto im grotion
Ltilo gewälirloistet wirä.
Mit Roelit liat in Manndoim aer Ingenieur ^Vdsokk auk ale Kinnalimen dinge-
wiesen, ale duret vino „eindoitliede >Vassorwirtsedakt" aus avr neu gewonnenen
WassorKrakt na erroieden wären. Wenn ale regulierten WasserKräkte üdorall von vorü-
bereilt auk eine intensive Ausdeutung tur das Llewerde eingerielitot weräen, so
wirä nicbt nur mit avr Zeit äsen groüen ^nlagekanital eine erwünsedto Verzinsung
orwaelison, sonäern es woräon Sieb äaraus tur unsre dewerdo- unä Lesieälungs-
nolitik Drkolgo von günstigster Lodoutung orgoden. ^.uoli avr so hebr im argen
liegenden Reinhaltung aer (Gewässer wirä Sieb dabei gründlied unä naelidaltig
zu Hilko Kommon lasson. Lelteint man.jetzt erkreulielierweiso ontseldossen zu sein, toi
am Koläkoräorungen Ilaldlioiten zu vermoiäen, so möge man Sieb aued äavor buten,
dei aer 5lutzdarmaodung avr dis .jetzt vorgeuäston WasserKrakt daldo ^.rden zu
maedon. Die darin tur unsre WassordautoedniK erwaedsonäo ^.ukgado ist grolZ unä
iäoal, unä wir dürtmr zu clor 'lüedtigkoit unsrer 'loednikor äas Zutrauen baden, das
sie aued (^rolZos leisten weräon, wenn idnen nur nivdt äured Icleinliede Kurz-
siedtigkoit unä LnndorintorossonnolitiK alö 'Woge verlegt weräon.
Wio wir Sodom gesagt baden, wirä äured alö Vorlage, aued wenn sie ale Kanal-
projokto nicbt unmittoldar derüdrt, alö MittollandKanalkrago wieäer aukgerollt
woräon. Lebon ale loiäigo VorciuieKung avr Kanal projekto mit aom dekannton drei
Klutireguliorungen in aer letzten groüen wasserwirtsedaktlieden Vorlago mulZ äadin
küdren. Ks liegt loiäor, wenigstens sedeindar, hebr made, zu sagen: Hat ale Regierung
äamals alö Lluüroguliorungon von aer u^nnalline aer Ranäle addängig gemaodt, so
beäeutot .jetzt ale Vorlage aer I?1uüregulierungen allein einen Vorziedt auk ale
Kanäle. Wir Könnon allo aukrielitigon, aus saedlieden Kründon üdorzeugten Kanal-
kreunäe gar nicbt äringonä gonug äavor warnon, Sieb viror holeten ^.ukkassung aer
Dings dinzugeden unä äaäured idro Haltung gegen ale Vorlago doeintlussen zu lassen.
V^le alö Regierung zu aer Ranalkrago stellt unä zurzeit nur stedn Kann, dat avr
UnterstaatsseKrotär von Ledulz in Manndoim, wenn ale Zeitungen riedtig deriodtst
baden, aom Umständen entsxreedenä hebr Klar unä gut angedeutet: vured ale Ver-
danälungen dos Rongrossos — so soll or gesagt liaber — sei die Ltaatsrogiorung
in idrem Interesse an dem woitern ^usdau der natürlieden und an der Ledakt'ung
Künstlieder >Vasserstraüen gestärkt worden. Nie sei dadured gokräktigt worden in
idrem Vordalton und ökkontliedon ^.uktroton gogonüder den manolmrlei Widerständen,
denen idro Rialto noed violtÄ.ed dogegnot seien. Die Ltaatsrogierung dokko dureli
die Vsrllandlungon dos Kongresses mit dem tosten Rüstzeug ausgerüstet i?u woräon,
„äiesen immor wieäer auktauodonäon Miäorstäuden gegen idro Ranalpläno mit ür-
kolg dogognon zu Könnon." — ^.neu dor aus saodlioden (Gründen üderzeugtoste
Ranalkround wird zugedon, dan die nreulZiseds Regierung nicbt claran äenlcen Kann, so
tala im neuen Landtag eine Majorität tur den MittollandKanal zu finden, und zwar
am wenigsten dann, wenn hio etwa wisäor alö ^lulZroguliorungon, dio dor Landos-
Kultur dionon sollon, mit dor Ranalvorlago als Vorspann zusammenkonneln wollte.
8o etwas Iconnton nur ?vinitor wünselion, donon es allein um das Ilerautdesedwüren
viror politiseksn Lrisis nu tun i8t, möelito ilir ^.usgang auoli nooli so prot)lomatisol^
orsolioinon unä avr Nittsllanälianal äurolr hio gar nickte gokvräort veräon. Die
Icon8titutionoIIo Verfassung gibt avr Nonrnoit äos I^anätags nun oinmai eine go-
sot^Iieno unä tat8actiua;no Aaeitt in ale Ilanä, alö auoir naolr aom r^vno>'al»Ion imm
Xdgooränotonlrau8s tur alö Kegnor av8 Nittoilanälianal8 in alö Wag8oiialo fallen
^'ira. Damit Irak alö Regierung ?^u rselrnen. 1^8 ontspräeiro äadoi am nonigsten
inrer "Waräv nun Dekor Ltastsveislleit, volles sie sieu in äiosvr Dago om Vor-
gütigen äaraus maviren, avr KanaIkoin<Uioi>on Majorität, mit avr 8lo äringonäo
^utgadon lösen aus, bei secier (lelsgonlieit xu^urufen: „Huck gebaut virä or äoob!"
Oio80 go8oeil1imo unä tat8äeliliobe Nacht avr Kanalgeguor virä um niolit8
gemindert äaäurelr, äalZ alö saebliobon Krünäo, mit äonon 8lo alö boiäon I^anal-
vorlagen bekämpft babon, nicht stiobbaltig waren, unä aan avr potiti8obo Lei-
gö8obmaek, aom alö garne I^analopp08ition un8drollig liatto, 8ebarf gotaclolt veräon
mutZto. Die ?rounäe avr I^analprqjolcte avr Regierung wüsssu, vie llerr van Lebuli?
our8out, mit allom Ditor äanin arbeiten, aan alö un8aebliebon unä irrtümlielron
>Viäor8tänäo möglioli8t data nicht mobr ale Nebrbsit im Lanätage unä im D,anas
bintor sieu babon. Dalin gehört eine anäauernäe, om8to, 8aebliebe ^uflclärung8-
arbeit, bei avr man sich ebonsov^orig über ale sebvaebon ?nullo avr bisborigen
üanalvorlago >vio üdor alö om8tbatton Linvonäungon avr Kogner mit allgemeinen
Kevoi8lo8su Doktrinen oäor gar potiti8odor ?dra8on virä lnnvogsot!?en ätirton. Vor
allem babon abor alö sachlich überzeugten Xanalfreunäe ^jet^t alö Aufgabe, rück-
siebtslo8 avr unvabron Loliauptung avr Xanalgegnsr asu Karaus ihn maebvn, äak
ale ganiie Xanalliampagno avr Regierung nielits govssen soi als äas RroäuKt einer
vorüborgobonäen I,anno, avr onägiltig äas Lebenslicht ausgeblason nu Ilaben aer
mannliatton Opposition ?um bobon Ruum goroiono. Da8 ist sinkaoli lFöselneltt8-
kalseliunA, unä nu- goZonüber Iradvn alö enrliebvn Xanalkreunäo allsräing8 niobt
nur,äa8 Roelrt, sonäorn vislmolrr alö Vniolrt, äa8 V^ort: Ana godaut virä or
äoeli! niolit in VorA0880ruhn geraten «u la8son.